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MAX ZIMMERING DIE UNFREIWILLIGE WELTREISE
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Die unfreiwillige Weltreise
DER KINDERBUCHVERLAG BERL...
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MAX ZIMMERING DIE UNFREIWILLIGE WELTREISE
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MAX ZIMMERING
Die unfreiwillige Weltreise
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN 3
ILLUSTRATIONEN: ERNST JAZDZEWSKI
Alle Rechte vorbehalten – Printed in the German Democratic Republic Lizenz-Nr. 304-27o/274/63-(3o-IV A) Gesamtherstellung: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden • 4. Auflage • 1342 ES9D4 4
1.KAPITEL Manfred Kühnemann war alles andere als ein Globetrotter. Nein, zum Bummeln hatte er nie Zeit gefunden, denn er war in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, und da hatte er immer viel zu tun gehabt. Zugegeben: Als er noch auf die Schule ging, war ihm oft der Wunsch gekommen, einmal ganz sorglos und mit recht viel Geld in der Welt umherzufahren. Aber welcher Junge hat nicht irgendwann solche Träume gehabt? Früher begaben sich die jungen Handwerker noch auf Wanderschaft und sahen so ein Stück von der Welt. Doch das gehörte seit dem ersten Weltkrieg der Vergangenheit an. Onkel Bob hatte einmal zu Manfred gesagt: „Leute wie wir reisen gewöhnlich nur unfreiwillig, nämlich wenn uns der Boden unter den Füßen zu heiß geworden ist und uns die Polizei verfolgt. Oder man steckt uns in Uniformen und hetzt uns gegen andere Völker. Da kann es sogar vorkommen, daß wir das Vergnügen haben, auf einem Dampfer, im Unterseeboot oder gar in einem Flugzeug herumzubummeln.“ Onkel Bob hatte ein bitteres Lachen ausgestoßen und hinzugefügt: „Aber dafür bedanke ich mich.“ Das alles hatte er ziemlich leise gesagt, damit es keiner höre, denn zu jener Zeit herrschte in Deutschland das Hitlerregime. Hätte einer diese Bemerkung gehört, dann wäre Onkel Bob wahrscheinlich in einem Konzentrationslager gelandet. Eigentlich sollte ich euch, bevor ich weitererzähle, Manfred und Onkel Bob ordentlich vorstellen, denn das kann ich schon verraten: Die beiden sind die Hauptpersonen in diesem Buch, in dem ich von Manfreds Reise berichten will, und zwar von einer Reise, die uns mit ihm um die ganze Erdkugel führen wird. Sein voller Name lautete: Manfred Robert Ernst Kühnemann. Doch sein Rufname war Manfred, und die beiden anderen Namen kannten wohl nur seine Eltern und der Standesbeamte, der einst den Geburtsschein ausgefüllt hat. Sogar Manfred selbst hatte sie fast vergessen. Geboren war er im Jahre 1923 in der Ziegelstraße in Dresden, und zwar am 16. April. Sein Vater war sein Leben lang ein guter, fleißiger Arbeiter gewesen, ein Tischler. Er würde auch noch im Jahre 1938, in dem unsere Geschichte
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beginnt, bei Müller & Co. Schränke, Tische und Stühle hergestellt haben, wenn er nicht Kommunist gewesen wäre. 1933 kam das Hitlerregime zur Macht und verbot alle Arbeiterorganisationen. Nun war aber Paul Kühnemann nicht von jener Sorte, die sich von einem solchen Verbot einschüchtern läßt. So hatte er weiter in der illegalen Kommunistischen Partei gearbeitet, und als ihm die Nazis daraufkamen, mußte er bei Nacht und Nebel seine Heimat verlassen, um nicht ins Zuchthaus oder ins KZ zu kommen. Schlimmer war es Manfreds älterem Bruder Willi ergangen, der dem Roten Frontkämpferbund angehört hatte. Er war von den Faschisten verhaftet und im Volkshaus, das die Nazis den Arbeitern geraubt und in eine Folterhölle verwandelt hatten, totgeschlagen worden. Das war 1933 gewesen. Manfred war damals gerade zehn Jahre alt. Nach der Flucht des Vaters nach Prag, wo er als politischer Emigrant die Gastfreundschaft der tschechischen Arbeiter genoß, hatte Manfred allein mit seiner Mutter gelebt, war zur Schule gegangen und dann bei einem kleinen Tischlermeister als Lehrling eingetreten. Ein Jahr Lehrzeit hatte er bereits hinter sich gebracht, da starb die Mutter, die schon seit dem Tode Willis vor Gram immer leidender geworden war. Jetzt wohnte der Junge bei Vaters Schwester Adele, einer guten, aber sehr einsamen Frau, die streng am katholischen Glauben hing und der Meinung war, daß ihr Bruder Paul, Manfreds Vater, sich versündigte, wenn er als Kommunist danach strebte, mit Gewalt die schlechte Welt in eine bessere zu verwandeln. Dies müsse man Gott überlassen, pflegte sie zu sagen. Wer Onkel Bob war? Vorläufig nur dies: In Wirklichkeit hieß er Joachim Boberlein, hatte das Schlosserhandwerk erlernt und war im Sachsenwerk Niedersedlitz beschäftigt. Seine Freizeit gehörte dem Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz und der heimlichen Weiterbeförderung antifaschistischer Flugblätter, die er von deutschen und tschechischen Kommunisten über die Grenze gebracht bekam. Das war eine Arbeit, für die er kein Geld erhielt, das war eine Arbeit, die Mühe und die ständige Gefahr bedeutete, von Hitlers Schergen gefaßt und erschossen zu werden, denn in diesen Flugblättern stand die Wahrheit über die faschistischen
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Untaten in den Konzentrationslagern und vor allem über die kriegerischen Absichten der Hitlerregierung. Weil aber Joachim Boberlein die Unterdrückung haßte und den Frieden liebte, riskierte er seinen Kopf für die Verbreitung der Wahrheit. So einer war Onkel Bob, wie ihn Manfred nannte, obgleich der Schlosser Boberlein gar kein richtiger Onkel von ihm, sondern nur ein alter Kampfgefährte und guter Freund, vielleicht sogar der beste Freund des Vaters war. Deshalb ging Manfred an jenem Apriltag, von dem ich gleich berichten werde, gerade zu Boberlein, genauer gesagt, er schlich unauffällig zu ihm hin.
2.KAPITEL Manfred kam von der Arbeit nach Hause. Es regnete, und zugleich blies ein durchdringend kalter Wind, kurz: ein Sauwetter. Jeder zweite Mensch lief mit einem Schnupfen herum oder lag gar mit einer Grippe zu Bett. Auch Manfred fühlte sich seit zwei Tagen nicht ganz wohl; aber da er im allgemeinen über eine gute Gesundheit verfügte und nicht gewohnt war, vor jeder Unpäßlichkeit zu kapitulieren, nahm er davon nur wenig Notiz. Auch hatte er beschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, um die Tante nicht zu ängstigen. Deshalb klang sein Gruß, mit dem er das Wohnzimmer betrat, auch etwas lauter als üblich. Doch über das „Guten Abend, Tantchen!“ kam er nicht hinaus. Ein ungewöhnlicher Anblick bot sich ihm. In der Ecke, in der sich das Kruzifix befand, kniete Tante Adele, sie schluchzte vor sich hin und richtete ab und zu ein flehendes Wort an den elfenbeinernen Christus. Wie sah nur das Zimmer aus! Die Tischdecke lag zusammengeknüllt auf der Erde, der Schubkasten war weit herausgezogen und sein Inhalt, hauptsächlich Nähzeug, auf dem Teppich verstreut. Alle vier Kommodenfächer standen offen und schienen durchwühlt. Sogar die Bilder und Fotografien waren von den Wänden gerissen, und aus dem Kachelofensims hatte jemand ein Stück herausgebrochen. Die Tür zum Schlafzimmer der
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Tante war sperrangelweit offen, und ein Blick überzeugte Manfred, daß auch dort jemand wie ein Räuber gehaust hatte. Manfred eilte auf die Tante zu, die sich erhob, als sie ihn bemerkte, und weinend ausstieß: „Ich hab’s gewußt, daß es mal so kommen wird…“ Das war offensichtlich ein Vorwurf gegen Manfreds Vater. Dann fügte sie aber hinzu, und der Junge beeilte sich, die Tür zu schließen, damit niemand die Worte der Tante zu hören bekäme: „Diese niederträchtigen Menschen, dieses Mordgesindel, dieses braune Pack!“ Schließlich gelang es ihm, Tante Adele zu beruhigen und zu veranlassen, sich aufs Sofa zu setzen. Es dauerte noch eine Weile, ehe Tante Adele fähig war, in zusammenhängenden Worten das Vorgefallene zu berichten. 8
„Die Gestapo war hier … Die gemeinen Kerle wollten wissen, wo sich dein Vater jetzt befindet … und als ich ihnen sagte, daß sie darüber sicher mehr wüßten als wir, was ja nur die lautere Wahrheit ist, fingen sie an zu brüllen, stießen mich durchs Zimmer, sagten furchtbare Worte gegen unseren Heiland und begannen alles zu durchwühlen. Vor einer halben Stunde sind sie wieder weg und haben das Zimmer so hinterlassen, wie du es jetzt siehst … Sie haben nach Briefen gesucht … Wir hätten doch Briefe von Paul bekommen …“ Manfred erwiderte nichts, denn die Briefe, die er von seinem Vater bis vor einigen Monaten in großen Abständen erhalten hatte, waren über einen geheimen Weg an Onkel Bob gegangen, und der hatte sie ihm nur zum Durchlesen an Ort und Stelle gegeben und sofort verbrannt. Manfred hatte versprechen müssen, der Tante nichts von den Briefen zu sagen, um sie nicht unnötig in Unruhe zu versetzen. Auch war es nicht sicher, ob sie nicht, ohne Böses zu wollen, in ihrer Unerfahrenheit etwas an der falschen Stelle darüber ausplaudern würde. Wieder begann Tante Adele zu schluchzen und berichtete zwischendurch in abgehackten Sätzen, daß die Gestapo auch gefragt hätte, warum ihr Neffe nicht der Hitlerjugend angehöre. Ob das auf ihren Einfluß zurückzuführen sei oder ob ihm das etwa der Vater in seinen Briefen befohlen habe. „Nimm das nicht zu tragisch, Tantchen“, tröstete Manfred, obgleich er gar nicht der Meinung war, daß der Sache wenig Bedeutung zukam. Der Tante würden sie nicht viel antun können, denn sie wußte tatsächlich nichts von Briefen, tat nie etwas gegen die Gesetze der Nazis und hatte keinerlei Beziehungen zu Menschen, die den Faschisten verdächtig waren. Am liebsten wäre er unverzüglich zu Onkel Bob hinüber in die Altstadt gefahren. Nur durfte er die Tante nicht mißtrauisch machen. Er wollte sie auch nicht allein lassen, solange sie sich nicht vollständig von ihrem Schreck erholt hatte. „Leg dich ruhig ein bißchen lang. Ich räume inzwischen wieder auf. Sie haben ja nichts Belastendes gefunden. Gerade deshalb haben sie doch alles so durcheinandergeworfen. Sie waren eben wütend, weil sie dir nichts anhaben können.“
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Manfred brachte eine Decke und breitete sie über Tante Adele. Dann machte er sich ans Aufräumen. Fast eine Stunde brauchte er, um der Wohnung wieder ihr normales Aussehen zu geben. Inzwischen hatte auch Tante Adele ihren Schock überwunden. „Die Menschen sind sündig und böse“, sagte die Tante, als sie sich an den Abendbrottisch gesetzt hatten. „Anstatt friedlich ihrer Wege zu gehen und den Lauf der Welt Gott zu überlassen, sind sie zueinander wie die Wölfe.“ „Und weil Vater und Willi das nicht mitmachen wollten, hat man sie verfolgt“, erwiderte Manfred. Aber die Tante winkte nur müde ab. „Ich kenne das: Die einen sagen, dies ist richtig, die anderen wiederum jenes, und dabei schlagen sie sich gegenseitig tot, anstatt daß jeder friedlich seiner eigenen Wege geht.“ Es waren keine neuen Gedanken, die der Junge zu hören bekam. Und da er wußte, daß die Tante sich aufregte, wenn er ihr widersprach, zog er es vor zu schweigen. Nachdem er sein Abendbrot gegessen hatte, nahm er Mantel und Mütze und schickte sich an, zu gehen. Diese Haussuchung durch die Geheime Staatspolizei machte ihm große Sorgen. Ob die Nazis davon erfahren hatten, daß der Vater mit ihm in brieflicher Verbindung stand? jedenfalls war seit Monaten keine Nachricht mehr von ihm eingetroffen, und Onkel Bob hatte gemeint, daß da irgend etwas nicht in Ordnung sei. Um so vorsichtiger mußte er bei seinen Besuchen in der Rosenstraße sein, denn es war durchaus möglich, daß ihn die Gestapo beobachtete. Während der Straßenbahnfahrt hielt er gut Umschau, um festzustellen, ob sich nicht eine verdächtige Person in seiner Nähe aufhielt. Am Postplatz stieg er aus, aber erst als die Bahn bereits ihre Fahrt fortsetzte. So konnte er genau sehen, ob ihm jemand folgte oder nicht. Ein Spitzel hätte nach ihm absteigen müssen, um auf seiner Fährte zu bleiben. Aber die Bahn fuhr weiter, ohne daß noch ein Fahrgast abgesprungen wäre. Beruhigt legte er nun das letzte Stück des Weges zu Fuß zurück. Allerdings blieb er auch jetzt noch von Zeit zu Zeit vor einem Schaufenster stehen und behielt das, was auf der Straße vorging, gut und unauffällig im Auge. Bevor er sich Onkel Bobs Haus näherte, trat er in einen fremden Torweg, und erst als er sich vergewissert hatte, daß niemand hinter ihm um
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die Ecke gebogen war, verschwand er in der Nummer 16, wo Boberlein wohnte. „Machst ja ein ganz ernstes Gesicht“, sagte Onkel Bob, als er Manfred einen Stuhl hinschob. „Hast dich doch nicht etwa mit deiner Tante gezankt?“ „Die waren heute bei uns“, flüsterte Manfred, und Onkel Bob wußte sofort, wen der Junge mit dem „Die“ meinte. „Alles haben sie durchwühlt und nach Briefen von Vater gefragt.“ „Hast du gut aufgepaßt, daß dich keiner gesehen hat, als du zu mitkamst?“ Manfred berichtete genau, wie er sich auf dem Weg von zu Hause bis hierher verhalten hatte. Onkel Bob lobte ihn und ließ sich nun alle Einzelheiten, die Manfred über den Besuch der Gestapo wußte, noch einmal erzählen. „Das ist eine sehr dumme Situation“, erklärte Onkel Bob, der nach dem Bericht des jungen Kühnemann nachdenklich das Zimmer durchmaß. „Eine sehr schwierige Situation.“ Er schwieg und starrte zum Fenster hinaus. Schließlich kam er zum Tisch zurück und setzte sich neben seinen Besucher. „Eine verflixte Situation“, begann er wieder. „Da müssen wir gut überlegen, was zu tun ist. Auf jeden Fall heißt es, auf der Hut zu sein. Ohne Grund kehrt die Gestapo nicht die Wohnung einer Frau, wie es deine Tante ist, von unten nach oben. Sic müssen etwas zu finden gehofft haben. Kann sein, daß das Ausbleiben der Briefe aus Prag mit der Sache in Zusammenhang steht. Möglich, daß sie … aber wozu herumrätseln. Wichtig ist, das Richtige zu tun.“ Onkel Bob zündete sich eine Zigarette an, und als sein Blick auf Manfreds Gesicht fiel, hielt er ihm, was er bisher nie getan hatte, die offene Zigarettenschachtel hin. Manfred zögerte einen Augenblick, aber dann griff er zu, obgleich er noch nie in seinem Leben geraucht und auch noch nie das Bedürfnis danach verspürt hatte. Während er sich ungeschickt von Onkel Bobs Zigarette Feuer nahm, war es ihm, als sei er mit einemmal ein Mann geworden. Nicht eigentlich weil er der Meinung gewesen wäre, daß die Zigarette ihn zum Mann gemacht hätte, sondern weil Boberlein mit ihm
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in einem Ton sprach, der neu war. Wenn hier auf dem Stuhl neben Boberlein nicht er, Manfred, gesessen hätte, sondern sein Vater, würde Onkel Bob wohl kaum anders geredet haben. Aber da war noch ein Gefühl, das gar nicht recht zu dem ersten passen wollte: Am liebsten hätte er seinen Kopf an Boberleins Brust gelegt und sich ordentlich ausgeweint. Wohl nie hatte er sich seit dem Tode der Mutter so einsam gefühlt wie in diesem Augenblick. „Dich mit deinen fünfzehn Jahren werden sie nicht gleich verhaften und ins Zuchthaus sperren, aber in Ruhe lassen werden sie dich auch nicht. Jedenfalls muß man damit rechnen, daß sie dir zusetzen werden, sei es, um sich auf diesem Weg an deinem Vater zu rächen oder auch, um aus dir etwas herauszuholen.“ Onkel Bob sog ein paarmal an seiner Zigarette und blies den Rauch in den Lichtkegel der Lampe. „Wenn ich wüßte, warum keine Post mehr gekommen ist, wäre alles viel leichter. So muß man sich auf Vermutungen verlassen und demgemäß handeln.“ „Aus mir werden sie nichts rausholen“, sagte Manfred etwas verspätet und versuchte ebenfalls, den Rauch ins Licht zu blasen. Boberlein schien einen plötzlichen Entschluß gefaßt zu haben. Er stand auf und nahm eine zusammengefaltete Landkarte vom Regal, auf dem nur wenige Bücher standen. Einmal war es bis zum letzten Eckchen ausgenutzt gewesen, aber als die Nazis an die Macht gekommen waren, hatten die meisten Bücher in ein Versteck gebracht werden müssen, denn Heinrich Heine und Maxim Gorki und Martin Andersen Nexö, Erich Weinert und Johannes R. Becher, Friedrich Engels und Karl Marx, Lenin und Stalin durften in Deutschland nicht mehr gelesen werden. „Am liebsten würde ich ja zu Vater nach Prag fahren“, meinte Manfred zögernd. Er hatte diesen Wunsch schon nach dem Tode der Mutter ausgesprochen, doch Boberlein war dagegen gewesen. Wenn Paul Kühnemann es für angebracht hielte, seinen Jungen nachkommen zu lassen, würde er das schon mitteilen, und solange müßte sich Manfred gedulden, hatte er damals erwidert. Und Manfred hatte auch nie seinen Wunsch wiederholt. Onkel Bob sah von der inzwischen auseinandergefalteten Karte auf und brummte ein langgezogenes „Hm“. Wieder vertiefte er sich schweigend in die Karte.
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„Ich glaube auch: Das vernünftigste wird sein, ich bring dich über die Grenze in die Tschechoslowakei. Um erst eine neue Verbindung nach Prag herzustellen, würden wir einige Zeit brauchen, und wer weiß, was inzwischen alles geschieht. Du siehst, wir haben beide den gleichen Gedanken gehabt. Ich habe mir schon mal auf der Landkarte unsere Reiseroute angesehen. Als Bergsteiger und Skifahrer kenn ich mich im Erzgebirge und in der Sächsischen Schweiz ja wie in meiner Westentasche aus, aber es ist immer gut, sich noch einmal über alle Möglichkeiten zu vergewissern und zu überlegen, welcher Weg im Augenblick der günstigste ist.“ So kamen Onkel Bob und Manfred überein, daß die Flucht über die Grenze am kommenden Sonntag vonstatten gehen würde. Sollten sie Tante Adele in ihren Plan einweihen? Schließlich einigten sie sich, ihr nichts zu sagen. Immerhin war die Sache mit einem großen Risiko verbunden, wenngleich Boberlein davon überzeugt war, daß alles glatt abgehen werde. Er nahm es auf sich, Tante Adele nachträglich zu unterrichten. In Manfreds Kopf war ein tüchtiges Durcheinander, als er den Heimweg antrat. Würde alles gut gehen? Und wenn es nun doch nicht nach Boberleins Plan ablief? Hoffentlich zeigte sich die Gestapo nicht wieder, bevor er sich auf die Reise gemacht hatte. In drei Tagen erst sollte es losgehen, damit man im Strom der Ausflügler untertauchen konnte – falls das Wetter überhaupt gut genug war, um jetzt, Ende April, schon einen größeren Schwarm licht- und lufthungriger Menschen hinauszulocken. Unangenehm, daß alles hinter dem Rücken der Tante gemacht werden mußte! Erst jetzt, da er sie heimlich verlassen sollte, merkte er, wie gern er sie hatte, trotz ihrer Frömmigkeit. Aber Onkel Bob hatte ihn davon überzeugt, daß sie die Tante ganz aus dem Spiel lassen mußten. Jeder zusätzliche Mitwisser war eine zusätzliche Gefahrenquelle. In dieser Nacht hatte Manfred Kühnemann einen langen und wirren Traum von einer wilden Flucht durch den Wald und einem tiefen Abgrund, in den er stürzte, endlos stürzte …
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3. KAPITEL Die drei Tage bis zum Sonntag vergingen für Manfred so langsam, als wären es Wochen. Die Gestapo hatte sich noch einmal eingestellt, am Freitag früh, diesmal allerdings nicht bei Tante Adele, sondern bei Meister Roderich, in der Arbeitsstelle des jungen Kühnemann. Wäre Roderich nicht ein ehemaliger Sozialdemokrat gewesen, hätte Manfred vielleicht gar nichts davon erfahren. Die zwei Geheimen der Nazipolizei hatten dem Tischlermeister, als sie bei ihm Erkundigungen über Manfred einzogen, ausdrücklich nahegelegt – und das war so gut wie ein strenger Befehl – den Lehrjungen nichts von ihrem Besuch wissen zu lassen. Aber Roderich dachte nicht daran, die Sache für sich zu behalten. „Die sind besonders scharf darauf, etwas über den Aufenthaltsort deines Vaters herauszukriegen. Als ob mich das was anginge. Jedenfalls sei vorsichtig und halt schön den Mund. Also kein Wort, daß ich mit dir gesprochen habe.“ Damit entließ er Manfred und schickte ihn an die Hobelbank zurück. Die Zeit bis zum Sonntag war nicht angenehm für den Jungen, denn er lebte in ständiger Furcht, die Gestapo könnte ihn noch in letzter Minute holen. Und der Tante wagte er überhaupt nicht mehr in die Augen zu schauen. Nichts durfte sie von seinen Reisevorbereitungen merken. Er kam sich geradezu wie ein Dieb vor, als er zum Wäscheschrank schlich und seine besten Taschentücher und Hemden herausholte. Viel war es ja nicht, was er mitnehmen durfte, aber auf seine neuen Schuhe und auf den braunen Fischgräten-Sportanzug wollte er nicht verzichten, hatte er doch die Ersparnisse eines ganzen Jahres in diese Kleidungsstücke hineingesteckt. Und die beiden gestreiften Hemden hatte ihm die Mutter kurz vor ihrem Tode gekauft. Sollte er die zurücklassen? Wußte er, ob er je heimkehrte? Gern hätte er auch die Geige und die Briefmarkensammlung mitgenommen. Doch Boberlein war dagegen, und Manfred hatte versprochen, sich ganz an seine Anweisungen zu halten, abgesehen davon,, daß sich Tante Adele sehr wundern würde, wenn er mit Geige und Briefmarkensammlung beladen auf eine Wanderung in die Sächsische Schweiz ginge. Jetzt kam es nur darauf an, sicher über die Grenze zu gelangen, selbst wenn er nur das hinüberbrachte, was er gerade auf dem Leibe trug.
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Schließlich war es soweit. Manfred fuhr mit der Straßenbahn zum Theaterplatz. So sehr er diesen Augenblick herbeigesehnt hatte, so weh war es ihm doch ums Hetz. Natürlich freute er sich auf das Wiedersehen mit dem Vater. Aber immer wieder sah er das traurige, enttäuschte Gesicht der Tante, die noch am Abend von Boberlein erfahren würde, daß ihr Neffe sie beim Abschied belogen hatte und daß sie nun allein blieb. Ihren Mann hatte sie als ganz junge Frau im ersten Weltkrieg verloren, und ihre beiden Töchter waren schon verheiratet und lebten in einet anderen Stadt. Dann wieder beschäftigten sich seine Gedanken mit dem, was unmittelbar vor ihm lag: mit der Flucht. Wenn die Gestapo jetzt noch nicht hinter ihm her war, durfte er mit ziemlicher Zuversicht dem Tag entgegensehen. Schon seit zwei Tagen schien die Sonne wie im Mai, und gerade solches Wetter war für das Gelingen des Planes notwendig. Bemüht, ein recht harmloses Ausflüglergesicht zu machen, stand Manfred auf der vorderen Plattform der Bahn, den Rucksack auf dem Boden zwischen den Füßen, und ließ keinen der einsteigenden Fahrgäste an sich vorbei, ohne in unauffällig zu mustern. Zwei SS-Leute, die neben ihm stehenblieben, flößten ihm Unbehagen ein, doch er sagte sich: Wenn einer hinter mir her ist, dann bestimmt einer in Zivil und kein Uniformierter. Die beiden Nazis unterhielten sich laut und heftig miteinander und schienen nicht auf ihn zu achten. Da hörte er den einen sagen: „Die Tschechen machen sich recht mausig … Wird Zeit, daß der Führer ihnen zeigt, was wir von dieser Mißgeburt von Staat halten.“ Und der andere antwortete: „Verlaß dich darauf, bald holen wir uns das Sudetengebiet, und mit dem Rest machen wir dann auch mal kurzen Prozeß.“ Ein Arbeiter und der Wagenführer warfen sich Blicke zu, die zeigten, daß ihnen die Redensarten der beiden Schwarzbehosten nicht gefielen. Auch Manfred ärgerte sich über die Worte dieser großmäuligen SSMänner. Inzwischen hatte die Straßenbahn die Augustusbrücke verlassen und näherte sich der Haltestelle auf dem Theaterplatz. Manfred stieg aus und
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wartete auf dem Gehsteig, bis er allein war. Erst dann überquerte er die Straße. Auf der anderen Seite, vor dem Portal der Hofkirche, stand wie verabredet Onkel Bob. Er trug eine Bergsteigerkluft, und aus dem umfangreichen Rucksack sahen ein Spatenstil und ein Seilende heraus. „Alles beisammen?“ begrüßte Boberlein den Jungen und klopfte ihm ermunternd auf die Schulter. „Siehst beinahe wie einer von der Zunft aus. Bloß die Radfahrermütze und die Halbschuhe passen nicht ganz dazu. Und sonst hat sich nichts weiter ereignet?“ „Doch! Sie waren vorgestern auch bei meinem Meister und haben sich über mich erkundigt“, flüsterte Manfred, obgleich kein Mensch in Hörweite zu sehen war. „Na ja, du siehst, daß wir uns schon für das Richtige entschieden haben. Dann mal los.“ Sie gingen zur Anlegestelle der Elbdampfer hinunter. Das schlanke weiße Schiff mit seinen Schaufelrädern lag still im Wasser und schickte eine dünne Rauchfahne in die morgendlich klare Luft. Das gute Wetter hatte viele Menschen aus ihren Wohnungen gelockt, und auf Deck herrschte ein buntes Treiben. Kinder liefen an der Reling entlang, stiegen die Treppen zum unteren Deck hinab, kamen lärmend wieder herauf und jagten zwischen Bänken, Ankertauen und Lukendeckeln umher. „Komm, suchen wir uns ein übersichtliches Plätzchen“, schlug Boberlein vor und ging mit Manfred zum hinteren Deck, wo er an der rechten Brüstung noch zwei unbesetzte Plätze fand. Sie nahmen die Rucksäcke ab und machten es sich bequem. Eine alte Frau, den Kopf in einen schwarzen, befransten Wollschal gewickelt, wandte sich den beiden Neuankömmlingen zu und betrachtete sie neugierig. „Da soll’s wohl in die Berge gehn?“ fragte sie und wies auf Boberleins Rucksack. „Ja, in die Schrammsteine. So eine Kletterei in der Frühlingsluft ist der beste Gesunderhalter“, antwortete Onkel Bob und blinzelte Manfred zu. „Daß Sie nur ordentlich aufpassen. Eh’ man sich’s versieht, rutscht man von so ‘nem Felsen ab und bricht sich die Knochen.“ „Wir werden schon vorsichtig sein. Stimmt’s, Willi?“ sagte Boberlein und warf seinem jungen Begleiter einen verschmitzten Blick zu. Der hatte
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nicht sofort begriffen, weshalb er plötzlich als „Willi“ angeredet wurde, und machte ein verwundertes Gesicht. „Mein Junge hieß auch Willi.“ Die Alte seufzte und betrachtete Manfred nachdenklich. „Nur daß er dreimal so alt war wie du.“ Sie wandte sich ab und wischte eine Träne fort. Als sie sich wieder umdrehte, sagte sie: „Mein Willi ist auch immer in die Felsen gegangen. Jetzt ist er für immer oben geblieben.“ „Ja, die Felsen haben schon manches Opfer gefordert“, meinte Onkel Bob. Die Frau sah auf und wollte etwas erwidern, hielt aber ihre Worte im letzten Augenblick noch zurück. Dann bohrte sie ihren Blick in Boberleins Augen, als wollte sie ergründen, was für einen Menschen sie vor sich habe. Schließlich flüsterte sie: „Nicht was Sie denken. Der verstand sich gut aufs Seil und Klettereisen…“ Sie zögerte wieder. „Der ist schlimmer dran, als wenn er abgestürzt wäre. Er ist von da oben nicht wiedergekommen.“ Mehr brauchte die Alte nicht zu sagen. Boberlein hatte alles verstanden. Er begriff, daß die Nazis den Sohn dieser Frau im Konzentrationslager Hohnstein ermordet hatten. Früher einmal war diese Burg auf einem der schönen Sandsteinfelsen eine Jugendherberge gewesen, bis Hitler zur Macht kam und das fröhliche Lachen aus der Jugendburg vertrieb. Über Nacht verwandelte er diese Stätte in eine Hölle für gefangene Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen und Juden. Boberlein hätte gern ein paar tröstende Worte an die Frau gerichtet. Doch solange er den jungen Kühnemann nicht in Sicherheit wußte, mußte er sich an die Regeln der Vorsicht halten. Ein vorübergehender Passagier konnte einen Satz auffangen und Verdacht schöpfen. So begnügte sich Boberlein mit einer teilnehmenden Miene, und wie es schien, tat der Frau schon dieser geringe Ausdruck der Sympathie wohl. Ein langgezogenes Tuten, ein Pfeifen aus dem Dampfrohr und das Zischen und Rauschen der Schaufelräder, die sich langsam unter heftiger Schaumbildung zu drehen begannen, riß die Erwachsenen aus ihren Unterhaltungen und die Kinder aus ihren Spielen. Der Dampfer drehte von der Anlegestelle ab, eine schäumende Wasserfläche um sich, die einem riesigen 17
Bottich mit Schlagsahne oder dem seifigen Wasser eines Waschtroges glich. Manfred, der für einige Augenblicke fast den ernsten Zweck seiner Sonntagmorgenfahrt vergaß, beugte sich wie viele der Passagiere über das Geländer und folgte dem Manöver des Schiffes. Bald waren die Carolabrücke und die Albertbrücke passiert, und auf der linken Seite tauchten die schon vom Frühlingsgrün gefärbten Höhen von Loschwitz auf. Als dann auch die letzte Brücke Dresdens, das stählerne „Blaue Wunder“, erreicht war, sagte Onkel Bob, der seinem jungen Freund den Abschied von der Heimatstadt leichter machen wollte: „Weißt du, ganz ähnlich sieht’s in Prag aus: der Strom, die grünen Hänge auf der einen Seite der Stadt und die Brücken. Da gibt es die Kettenbrücke, das ist fast genauso wie hier mit dem ,Blauen Wunder’.“ Manfreds Gedanken, durch Boberleins Bemerkung angeregt, eilten der Stunde voraus und versuchten, sich die Ankunft in Prag auszumalen. Prag! Eine große Stadt, viel größer als Dresden, groß, wie es sich für die Hauptstadt eines Landes gehört. Alleen, prächtige Paläste und blitzende, schnittige Autos. Allerhand eigenartige Dinge umgeben einen. Die Polizei trägt seltsame Helme, und die Menschen sprechen eine unverständliche Sprache. Doch wie erkundige ich mich da nach Vater? Die Adresse hat Onkel Bob nie erfahren, und vielleicht lebt Vater überhaupt unter einem anderen Namen. Wenn ich ihn nicht sofort finde, wovon kaufe ich mir inzwischen Essen? Wovon bezahle ich die Miete? Man kann sich ja in einem fremden Land nachts nicht in Parks herumdrücken. Dreißig Mark war sein ganzes Vermögen gewesen. Zwanzig Mark hatte Boberlein noch dazugelegt und ebenso viele tschechoslowakische Kronen. Wie Onkel Bob behauptete, stammte das Geld nicht von ihm selbst, sondern von mehreren Genossen, die stets etwas hergaben, wenn einem Menschen wie Manfred Kühnemann geholfen werden mußte. Die fünfzig Mark – einen Zehnmarkschein und zwei Zwanzigmarkscheine -trug er unter einer Einlegesohle im rechten Schuh, die zwanzig Kronen waren im linken untergebracht. Über die ersten Tage würde er also auf jeden Fall hinwegkommen, auch wenn er allein auf sich angewiesen sein sollte. Unheimlich wurde es ihm allerdings zumute, wenn er daran dachte, daß er die tschechische Sprache nicht beherrschte.
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Und immer weiter glitt das Schiff. An Tolkewitz, Wachwitz, Niederpoyritz und an der Werft von Laubegast ging es vorbei. Bald war auch das Pillnitzer Schloß links hinter ihnen geblieben, und die ersten Steinmassive der Sächsischen Schweiz tauchten auf, wenn auch noch fern. Von Zeit zu Zeit nahm ein Zug entgegenkommender Frachtzillen oder ein qualmender Schleppdampfer, der eine Reihe Kähne stromaufwärts zog, Manfreds Aufmerksamkeit in Anspruch. Auch die Boote der Wassersportler, die sich trotz des kaum überwundenen Winters schon munter auf dem Fluß tummelten, und die Wellen, die der Dampfer an beide Ufer schickte, spielerisch ausnützten, erregten sein Interesse. „So ein Segelboot werde ich mir auch noch bauen“, sagte Onkel Bob, „Berge und Wasser, was kann es Schöneres geben.“ Er hatte Manfred untergefaßt und promenierte mit ihm an der Reling auf und ab, genoß die vorbeiwandernde Landschaft und atmete die würzige Luft in tiefen Zügen ein. Als die Schornsteine der Fabriken von Heidenau auftauchten, wies er mit dem Daumen hinüber und brummte: „Da drüben hab ich gearbeitet. Aber mich hatten die Herren Unternehmer nicht gern. Kein Wunder, wenn man als Roter Betriebsrat dauernd mit den Beschwerden der Arbeiter zur Direktion gelaufen kam. Kannst dir vorstellen, wie die aufgeatmet haben, als mich die Nazis dann 1933 verhafteten.“ Onkel Bob sah sich gewohnheitsmäßig nach unerwünschten Zuhörern um. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, daß ihn keiner verstehen konnte, fügte er hinzu: „Na, für ewig ist ja das Tausendjährige Reich auch nicht eingerichtet, und einmal gehören die Fabriken dort uns allen.“ Er lachte vergnügt und schlug Manfred herzhaft auf die Schulter. „Und du verläßt uns auch nicht für immer.“ Der Junge sagte nichts, betrachtete nur liebevoll die gedrungene, breite Gestalt und den kräftigen, mit dichten blonden Locken bedeckten Schädel Boberleins. Bisher hatte er die Freundschaft dieses Mannes als etwas Selbstverständliches genommen, jetzt wurde ihm auf einmal bewußt, daß sie etwas ganz Besonderes war, etwas, das man nicht verlieren möchte. Der Dampfer näherte sich Pirna und drehte langsam zur Anlegestelle ab. „Komm, gehen wir zurück zu unseren Plätzen. Sicher steigen hier wieder viele Leute zu.“
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Es kam auch tatsächlich eine beträchtliche Zahl neuer Fahrgäste an Bord. Was aber Onkel Bob weniger gefiel und was er mit erfahrenem Blick schon vor dem Anlegen wahrgenommen hatte, das war eine Gruppe Uniformierter, die sich als erste dem Schiff näherte. Manfred sah Boberlein kurz an und setzte sich, ohne die Polizisten aus dem Auge zu verlieren. Jetzt kontrollierten sie die Passagiere, die in Pirna das Schiff verließen. Jetzt kamen sie an Deck. Jetzt schlenderten sie zwischen den Fahrgästen umher, die Hände in den Hosentaschen oder unter die Pistolengürtel geschoben. Wie sie die Menschen mit seltsamen, durchdringenden Blicken musterten! Es mußte einem ja angst und bange dabei werden. Die Polizisten wählten sich nach Gutdünken den oder jenen heraus und forderten ihn auf, seine Ausweise zu zeigen oder auch den Rucksack zu öffnen. Bevor sie sich Onkel Bob und Manfred genähert hatten, drückte Boberlein die Hand des Jungen und sagte leise: „Zeig nicht, daß wir uns kennen. Dir kann nichts geschehen, denn dein Ausweis ist in Ordnung, und wenn sie sehen, daß du erst fünfzehn bist, werden sie nicht viele Fragen stellen.“ „Und wenn sie vielleicht nur hergekommen sind, um mich zu suchen?“ „Unsinn. Du siehst doch, daß sie ausschließlich Erwachsene kontrollieren. Wären sie hinter dir her, hätten sie dich schon in Dresden beim Einsteigen festgehalten.“ Boberleins Vermutung erwies sich als richtig. Obgleich Manfred, der überdurchschnittlich aufgeschossen und kräftig war, ohne weiteres für einen Siebzehnjährigen hätte gehalten werden können, glitten die Gestapoaugen schnell über ihn hinweg. Auch für die alte Frau interessierten sie sich nicht. Aber für Onkel Bob. Sie ließen sich seine Papiere zeigen, verlangten, daß er den Rucksack öffne, und wollten genau wissen, was für eine Tour er zu machen beabsichtige und ob die Jahreszeit nicht doch noch etwas ungeeignet zum Klettern sei. Onkel Bob erinnerte sich an das Gespräch mit der Alten. Er wolle in die Schrammsteine, hatte er gesagt, und so wiederholte er das. Und was die Jahreszeit beträfe, spiele das für einen echten Sportsmann keine Rolle.
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Einer der Nazis maß den Mann in der Bergsteigerkluft und bewegte dabei den Unterkiefer wie einer, der sich nicht schlüssig ist, was er denken oder tun solle. Einige Minuten dauerte der wortlose Zweikampf, der Onkel Bob weniger aufregte als Manfred, dessen Blicke unverwandt an den beiden Uniformierten hingen, bis diese ihr Spiel aufgaben und weiterstelzten. Schließlich verließen die unerwünschten Gäste das Schiff, und die Fahrt konnte mit reichlicher Verspätung fortgesetzt werden. „Wen die wohl wieder suchen mögen“, murmelte die Frau, während ihre Blicke den auf Motorrädern am Ufer entlangratternden Polizisten folgten. „Ist doch klar. Die suchen nach Leuten wie Ihren Sohn“, bemerkte Boberlein, indem er sich zum Ohr der Alten neigte. Und nach einer Weile flüsterte er: „Die mutigen Menschen werden zum Glück nicht alle.“ Die Frau nickte und hob ihr Gesicht, in dem Dankbarkeit zu lesen war. „Schau an, Junge, wie schön!“ rief die Alte und wies auf die langsam ansteigenden Sandsteinwände, die das Elbtal links und rechts begrenzen. Es ist wirklich einer jener Anblicke, an denen man sich nie satt sehen kann und die man nie wieder vergißt, und seien sie einem auch nur ein einziges Mal vergönnt. Da leuchten weißlich-gelbe Flächen neuer Steinbrüche zwischen dem verschieden getönten Grün des Nadelwaldes, von dem sich wiederum die roten Ziegeldächer der eingestreuten Häuschen abheben. Und über allem stand der wolkenlose blaue Himmel, aus dem die Sonne herab schien auf Gute und Böse, auf Alte und Junge, und wenn Manfreds Gedanken nicht immer wieder auf den Zweck seiner Reise und auf die noch nicht überwundenen Gefahren zurückgekommen wären, hätte er das alles voll in sich aufnehmen können wie früher, wenn er mit den Eltern oder auch mit der Schule auf einem Dampfer der Weißen Flotte eine Fahrt ins Elbsandsteingebirge unternommen hatte. Als die aufragenden Felsen der Bastei näher kamen, erhob sich die alte Frau und starrte wie gebannt zum Ufer hinüber. Plötzlich schluchzte sie auf und zog sich an ihren Platz zurück. „Dort oben haben sie ihn verhaftet, nachdem er die Flugblätter hinuntergeworfen hatte“, entrang es sich ihr langsam. Sie schien ein uneingeschränktes Vertrauen zu Boberlein und Manfred gefaßt zu haben; vielleicht war es ihr auch gleich, ob ein Unberufener ihre klagenden Worte hörte oder nicht. 21
Onkel Bob zweifelte nicht mehr an der Aufrichtigkeit dieser Frau. Das war keine, die nur Theater spielte, die andere Menschen aushorchte und ihre Meinung herauslockte, um sie dann an die Gestapo zu verraten. Und so fragte er: „Wie heißt du denn, Muttchen? Ich bin ein alter Arbeiterbergsteiger. Sicher kannte ich deinen Willi.“ „Ja, den Homeyer Willi haben viele gekannt“, erwiderte die Alte. Boberlein wußte nun, daß die Frau neben ihm die Mutter eines seiner besten Kameraden war. Aber die Regeln der illegalen Arbeit geboten ihm, zurückhaltend zu sein und nicht davon zu sprechen, daß er mit dem Sohn dieser Frau nicht nur viele Klettertouren unternommen, sondern auch so manche Arbeiterversammlung gemeinsam vor den Angriffen der SABanden geschützt hatte. Als er mit Manfred in Schandau das Schiff verließ, drückte er doch der Alten fest die Hand und sagte: „Auch Ihr Willi wird einst gerächt werden, glauben Sie mir.“
4. KAPITEL Von Bad Schandau aus wanderten Joachim Boberlein und Manfred Kühnemann rechts der Elbe bis nach Schöna. Auf der gegenüberliegenden Seite des Stromes war schon tschechoslowakischer Boden, denn drüben reichte die Grenze bis an Schmilka heran. „Wenn wir gute Springer wären, brauchten wir bloß über die Elbe zu setzen, und alles wäre in Ordnung“, phantasierte Manfred. „Wenn du nicht gerade in den Armen eines tschechischen Grenzers landetest“, dämpfte Boberlein den Gedankenflug seines Schutzbefohlenen. „Und damit du’s weißt: So etwas kann durchaus noch passieren.“ „Was geschieht denn mit mir, wenn sie mich drüben erwischen?“ „Du wirst auf die Gendarmeriestation gebracht und ordentlich ins Verhör genommen. Schlimm ist’s also auch nicht. Du hast ja nichts ausgefressen und darfst immer bei der Wahrheit bleiben. Nachdem sie dich bis aufs Hemd ausgefragt haben, werden sie dich dann nach Prag schaffen und einem Emigrantenkomitee übergeben … Vor ein paar Jahren war’s 22
noch nicht ganz so einfach. Da kam es vor, daß unsere Genossen von der tschechischen Polizei wieder über die Grenze zurückbefördert oder nach Polen abgeschoben wurden. Du kannst dir vorstellen, was da für ein Hin und Her war, denn die polnischen Grenzer expedierten die Abgeschobenen natürlich wieder zurück in die Tschechoslowakei… In letzter Zeit aber sind die tschechoslowakischen Behörden ein wenig freundlicher zu unseren Leuten geworden, weil die Hitlerregierung immer unverschämter gegen die Tschechoslowakei hetzt und sie in den deutschen politischen Immigranten Schicksalsgefährten zu sehen beginnen. Also, daß man dich wieder zurückjagt, brauchst du nicht zu fürchten.“ Sie näherten sich dem Bahnhof Schöna, der letzten Station auf deutscher Seite. Ein langer, abschüssiger Weg führte hinunter zu den Gleisen. Boberlein machte halt und überlegte ein Weilchen. Bis hierher war ja alles glatt abgegangen. Er hatte auch gut darauf geachtet, daß sie nicht einer Polizeistreife in die Hände liefen. Aber nun? Sie befanden sich dicht an der Grenze. Jede falsche Bewegung konnte verhängnisvoll sein, jeder Mensch eine Gefahr. Vielleicht wurden sie bereits beobachtet und wußten nichts davon. Wer nicht von hier stammte, war den Nazis verdächtig. Noch einmal ließ sich Boberlein alles, was er zu Hause, über der LandKarte brütend, geplant hatte, durch den Kopf gehen. Dort zum Abhang drüben mußten sie ungesehen gelangen. Doch was war das? Sein geübtes Gehör hatte etwas wahrgenommen. Motorengeräusch eines Lastwagens. Onkel Bob ergriff Manfred am Arm und zog ihn hinter eine Baumgruppe, die am Rand des bewaldeten Abhangs stand. Von hier aus konnten sie die Straße überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Er hob einen Finger vor den Mund, um dem Jungen zu bedeuten, daß er keinen Laut von sich geben solle. Bald kam auch das Auto über den unebenen Weg geholpert und hielt nicht weit von ihnen an. Es war eine Gruppe von SS-Männern, die vom Wagen sprang, sich nach einem Befehl ihres Anführers in Viererreihen formierte und in der Richtung zur Bahnstation in Bewegung setzte. Die beiden hinter den Bäumen hielten den Atem an. Erst als die SSLeute an ihnen vorbeimarschiert waren und schon ein gutes Stück den Weg zum Bahnhof hinunter zurückgelegt hatten, sagte Boberlein: „Uns
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gilt das wohl kaum. Wahrscheinlich wollen sie einen Zug durchkämmen. Wenn wir uns jetzt sputen, sind wir in einer Viertelstunde drüben. Gib mir deinen Rucksack, da kommen wir vielleicht schneller voran.“ Manfred weigerte sich jedoch, seinen Rucksack herzugeben. Onkel Bob hatte ja selbst eine schwere „Pille“ auf dem Buckel und war auch nicht größer als er. „Na schön, dann trag ihn allein. Aber wenn er dir zu schwer wird, sagst du mir’s. Abgemacht?“ Boberlein begann den Aufstieg. Fast senkrecht ging es bergan. Um nicht zurückzufallen, mußte er sich an den schmächtigen Fichtenstämmen festhalten. Das erforderte Kraft und Geschicklichkeit. Wenn sich jetzt nur kein Stein lockerte und hinunterrollte! Ein unbedachter Schritt, und sie konnten sich verraten. Manfred folgte Onkel Bob dicht auf den Fersen. „Diese verfluchten Aststummel“, ächzte er leise. Einmal stachen sie ihn, dann wieder blieb er an einem mit seinem Rucksack hängen. Doch er durfte nicht zurückbleiben. Meter um Meter arbeitete er sich hoch. Und das trockene Knieholz raschelte und knackte, als hätte es keine andere Aufgabe, als
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verräterische Geräusche zu machen. Ob er es schaffte? Nur nicht schlappmachen, nur nicht lockerlassen. Fünfzehn Minuten durchhalten. Fünfzehn Minuten im ganzen. Das ermunterte ihn und ließ ihn den Schmerz in den Muskeln vergessen. Weiter, immer weiter. Nie hätte Manfred gedacht, daß dieses kurze Stück den Berg hinauf mehr Anstrengung erforderte als die vielen Kilometer, die sie von Schandau bis Schöna hinter sich gebracht hatten. Halt, war da nicht jemand? Manfred erstarrte. Es war nichts, nur ein Erdklumpen, der sich gelöst hatte. Zehn Minuten etwa waren sie aufwärts gestiegen, als Boberlein eine kurze Rast einschob. Gesprochen wurde nicht. Es war eine unheimliche Stille um die beiden. Manfred wagte kaum zu atmen, ja, er hatte das Gefühl, als schlüge sein Herz viel zu laut, so laut, daß es die SS-Leute unten in Schöna hören mußten. Boberlein griff nach seinem Rucksack und machte eine Kopfbewegung. Weiter ging es. Wie lang eine Minute dauern konnte. Höher, höher, noch ein Stück. Manfred faßte nach einem Fichtenzweig, um sich hochzuziehen. Doch da brach das Biest. Einige Meter rutschte er nach rückwärts und riß Laub, Steine und dürre Zweige mit sich. Die Schrammen an den Händen bemerkte er gar nicht, so wütend war er über sich, über diesen steilen Hang und über den Lärm, den der Sturz verursachte. Dann war endlich der Bergrücken erreicht. Onkel Bob gab ein Zeichen. Das hieß: Setzen! Er selbst warf den Rucksack ab und bewegte sich lautlos in südlicher Richtung durch den Wald, der hier oben dünner war. Jetzt durfte Manfred verschnaufen und sich in Ruhe umschauen. Was, schon sieben Minuten vor zwölf? Auf seine Uhr konnte er sich verlassen. Manfred ließ die Zunge über die trockenen Lippen gleiten und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im Magen begann der Hunger zu rumoren. Sollte er etwas Eßbares aus dem Rucksack angeln? Nein, ehe Onkel Bob nicht zurück war, kam das gar nicht in Frage. Fünfzehn Minuten hatte es dauern sollen, um drüben zu sein. Klar, auf Sekunden ließ sich so ein Weg nicht vorausberechnen. Wenigstens konnte er sich inzwischen ein bißchen langstrecken. Wunderbar lag es sich auf dem weichen Nadelteppich. Der lästige Rucksack kam ihm nun als Kopfkissen gerade zurecht.
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Still war es, so still, daß jedes fallende Ästchen zu hören war. Und da war das Rascheln der Zweige, die der Wind bewegte. Oder ging dort jemand? Da! Manfred schreckte hoch. Aber das umheimliche Geräusch war nur das plötzlich einsetzende Klopfen eines Spechtes gewesen. Hier liegen dürfen, ohne Furcht, ohne auf bedrohliche Laute hören zu müssen, einfach ruhen und sich am Blau des Himmels, das durch die Wipfel schimmerte, am Weiß der Birken und am Grün des Waldes erfreuen! Wieder schien es ihm, als stapfte einer irgendwo zwischen den Bäumen herum. Er hatte sich nicht verhört. Es war Boberlein. Manfred sprang auf. Onkel Bob warf sich den Rucksack über. Er lächelte und sagte mit gedämpfter Stimme: „Wir sind schon drüben. Jetzt also ran an den Endspurt.“ Wenn es auch keine Viertelstunde gewesen war, die sich Manfred hatte ausruhen können, so fühlte er sich dennoch wieder frisch und unternehmungslustig. Herrlich! Jetzt war er vor den Klauen der Gestapo sicher. Mit langen Schritten ging der Junge neben seinem älteren Freund her und hätte am liebsten ein Lied angestimmt. Doch Boberlein sprach immer noch flüsternd zu ihm. Wie recht Onkel Bob hatte, zeigte sich bald. Als sie aus dem Wald traten, um ein Stück Schonung zu überqueren, sahen sie drüben auf der Schneise zwei Grünuniformierte, in denen Boberlein tschechoslowakische Grenzer erkannte. „Zur Erde!“ flüsterte er, und Manfred befolgte diesen Befehl blitzschnell. „Wenn sie uns gesehen haben, können wir nicht mehr fort“, fluchte Boberlein leise, „denn eine Kugel in den Hintern kriegen ist unangenehmer, als von denen hier verhaftet werden … Ist ja keine SS …“ Die Grenzer drüben an der Schonung blieben stehen. Hatten sie die beiden in ihrem Versteck wahrgenommen? Boberlein und der junge Kühnemann verharrten in eine Waldfurche gekauert; sie hielten unwillkürlich den Atem an und spähten über die niedrigen Bäumchen hinweg. Die Grenzer schienen sich zu beraten. Oder unterhielten sie sich über irgendeine harmlose Familienangelegenheit? Jetzt hieß es einfach abwarten, bis die Gefahr vorüber war.
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Endlich setzten sich die Uniformierten in Bewegung, und es machte nicht den Eindruck, als wäre ihnen etwas Verdächtiges aufgefallen. In einigen Minuten waren sie wieder im Wald untergetaucht. „Schwein gehabt“, sagte Boberlein erleichtert und richtete sich auf. „Und wenn sie uns entdeckt hätten?“ fragte Manfred, aus dessen Stimme noch die Erregung herauszuhören war. „ich hätte ihnen schon klargemacht, daß wir keine Feinde des tschechischen Volkes sind und auch keine Schmuggler. Möglich, daß sie mich auf ein paar Tage eingesponnen hätten. Aber besser ist’s schon so, denn ich will ja noch heute zurück sein. Erstens muß ich deiner Tante Bescheid geben, damit sie nicht am Ende aus Angst um dich zur Polizei rennt, Zweitens muß ich morgen früh zur Arbeit im Betrieb sein. Wer fehlt, hat unangenehme Fragen über den Grund seines Fernbleibens zu beantworten.“ Sie versuchten es nicht noch einmal, den Weg quer über die junge Kiefernpflanzung zu nehmen, sondern umgingen sie und drangen wieder in den schützenden dichten Wald ein. Da Boberlein nicht das erste Mal einen Verfolgten über die Grenze brachte, kannte er sich gut in der Richtung aus. Es dauerte nur kurze Zeit, und sie erreichten Herrnskretschen. Immer noch galt es auf der Hut zu sein; die Gendarmerie achtete jetzt, da die Hitlerregierung eine immer drohendere Haltung gegen die Tschechoslowakische Republik einnahm, mit besonderer Schärfe auf Fremde. Doch alles ging gut ab. Onkel Bob bewegte sich in dem kleinen Ort, als wäre er hier zu Hause. Mit der gleichen Sicherheit schritt er auf ein Häuslergrundstück ganz nahe an der Bahnstation zu, stieß die grüngestrichene Gartenpforte auf und trat, Manfred vor sich die Stufen zur Haustür hinaufschiebend, in den Flur. Aus dem oberen Stock, zu dem eine enge, ausgetretene Steintreppe führte, kam eine tiefe Frauenstimme: „Wer da? Bist du’s, Pepík?“ „Nein, ich bin’s!“ antwortete Boberlein, ohne seinen Namen zu nennen. „Duuuu!“ erscholl wieder die Stimme von oben, und es war klar, daß Onkel Bobs knappe Auskunft genügt hatte, um die Fragende zu befriedigen.
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Dann kam auch bald die Besitzerin der tiefen Stimme die Stufen herunter. Es war eine kleine, rundliche Frau mit einer umfangreichen blonden Haarkrone und einem freundlichen Gesicht. „Das ist schön, daß man dich wieder mal bei uns sieht.“ Sie schaute Manfred an und warf dann einen fragenden Blick auf Boberlein. „Hat schon seine Richtigkeit“, beruhigte er sie. „Unser Manfred ist in Ordnung.“ Marie reichte Manfred Kühnemann ihre kräftige Hand, an der man die Schwielen der vielen Hausarbeit fühlen konnte. Sie lächelte ihn an. „Willkommen bei uns! Wenn Bob sagt ,in Ordnung’, dann genügt das… Und nun mal hereinspaziert.“ Sie öffnete die Tür zu einer geräumigen Wohnküche und forderte die beiden Ankömmlinge auf, es sich bequem zu machen, während sie selbst eine rotkarierte Schürze vom Haken nahm, sich auf eine niedrige Bank neben dem Ofen setzte und anfing Kartoffeln zu schälen. Gleich darauf stand sie noch einmal auf und zog die Fenstervorhänge zusammen. „Sicher ist sicher. Die Henleinleute schnüffeln in letzter Zeit ein bißchen viel herum. Am liebsten möchten sie unsereinem bis in den Kochtopf schaun. Das haben sie von euern Nazis gelernt.“
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Boberlein brummte: „Hauptsache, ihr hier drüben laßt euch nicht zu sehr von Hitler einschüchtern. Wenn er sich an den Tschechen die Zähne aus beißt, kann ihn das unter Umständen mehr als nur die Zähne kosten.“ „Hoffen wir das Beste“, meinte Marie seufzend. Sie hielt einen Augenblick in ihrer Arbeit inne und zeigte mit dem Kartoffelschäler auf Manfred: „Und was ist mit dir, Junge? Oder seid ihr nur mal andere Luft atmen gekommen?“ Manfred sah verlegen zu Boden und wartete, daß Onkel Bob den Grund der Reise erklärte. Die freundliche Marie vergaß ihre Schüssel und hörte Boberleins Bericht an, von Zeit zu Zeit ein „Jesus Maria!“ ausstoßend. Als Onkel Bob geendet hatte, starrte die Frau eine Weile nachdenklich auf ihre nassen Hände. Plötzlich wendete sie sich wieder den Kartoffeln zu und schimpfte: „Da hab ich nun zwei hungrige Mäuler vor mir, und ich sitze da und tue nichts… Und die Sache mit Manfred wird Pepík schon in Ordnung bringen. Er muß jeden Augenblick eintreffen. Er ist ja jetzt arbeitslos. Aus dem Sägewerk haben sie ihn rausgeschmissen, weil er ein Tscheche ist und obendrein ein Kommunist. Aber uns kriegen sie nicht so schnell kirre, das könnt ihr mir glauben.“ Und man glaubte es ihr, wenn man den entschlossenen Ton ihrer Stimme hörte und die Bewegungen ihrer Gesichtsmuskeln beobachtete. Was diese Frau aussprach, war ernst gemeint. Sogar an der Heftigkeit, mit der sie die fertigen Kartoffeln in den Topf warf, konnte man ablesen, daß Marie meinte, was sie sagte. Während die Gastgeberin das Mittagsmahl vorbereitete, wuschen sich Boberlein und Manfred im Nebenzimmer. Dabei erzählte Onkel Bob alles, was er über die Jelíneks, wie das Häuslerpaar hieß, wußte. Marie war eine hiesige Deutsche, ihr Mann Pepík aber ein Tscheche aus der Gegend von Kladno. Sie waren schon seit zwanzig Jahren verheiratet und hatten zwei Kinder gehabt, die ihnen aber früh gestorben waren. Jelíneks hatte vor vielen Jahren im Bergbau gearbeitet, war bei einer Grubenkatastrophe verschüttet worden und machte seither andere, nicht ganz so schwere Arbeit. Seine Frau war als Dienstmädchen bei einem deutschen Grubenbesitzer beschäftigt gewesen. Gerade um die Zeit von Pepíks Krankenlager hatte sie das Häuschen ihrer Eltern geerbt, und so 29
war die Familie Jelínek nach Herrnskretschen gekommen. Über zehn Jahre lang lebten sie schon in der kleinen Ortschaft, und die Tatsache, daß Pepík ein Tscheche war, hatte unter der deutschsprachigen Bevölkerung nie eine große Rolle gespielt, zumindest nicht unter den Arbeitern, Häuslern und kleinen Bauern. Aber in den letzten Jahren hatte sich das geändert. Seit in Deutschland der Hitlerfaschismus die Macht ausübte, schielten die deutschen Kapitalisten und Grundbesitzer, die hier im Grenzgebiet lebten, immer mehr über die Grenze nach Deutschland – oder ins „Reich“, wie es hieß – hinüber. „Ja“, sagte Onkel Bob mit einem bitteren Unterton, „es gefällt ihnen, daß die Nazis bei uns die Arbeiterparteien verboten und die Gewerkschaften zerstört haben. Da kann man natürlich seine Profite noch bequemer einstreichen als früher.“ „Aber Reklame kann man doch mit so was bei den Arbeitern nicht machen“, wandte Manfred ein. „Du darfst nicht denken, daß diese Gauner das offen zugeben …“ Boberlein rieb sich ächzend das Genick trocken. Nachdem er ordentlich verschnauft hatte, fuhr er fort: „Die reichen Grundbesitzer, die Fabrikanten und Hotelbesitzer hier spielen sich als die Freunde des armen Mannes auf. Daß es euch schlecht geht – so flüstern sie ihnen ins Ohr -daran sind die Tschechen schuld, die in Prag sitzen und über uns regieren. Drüben beim Hitler im Reich dagegen hat jeder seine Arbeit und sein gutes Auskommen.“ „Und das glauben ihnen die Leute?“ „Viele glauben es. Und das mit der Arbeit stimmt ja beinahe. Bloß verschweigt der Heinlein, wie hier der Obernazi heißt, daß es in Deutschland jetzt nur deshalb keine Arbeitslosen gibt, weil der Hitler Granaten und Bomben und Panzer produzieren läßt. Manfred erinnerte sich jetzt daran, daß in der Werkstatt von Meister Roderich zwei Gesellen in den letzten Wochen häufig über die Tschechoslowakei gesprochen hatten. Der eine hatte immer wieder gesagt: „Die Sudetendeutschen werden auch einmal heim ins Reich kommen.“ Der Ausdruck „Heim ins Reich!“ war in der Unterhaltung der beiden stets wieder aufgetaucht. Und nun hörte er dieses Wort aus dem Munde Onkel
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Bobs, nur daß dieser nicht viel davon hielt. Im Gegenteil, Boberlein war der Meinung, Hitler wolle nur die Tschechoslowakei überfallen, und da habe der niederträchtige Kerl sich das mit dem „Heim ins Reich!“ als Vorwand erfunden. Gerade als sie sich frisch gewaschen an den Küchentisch setzen wollten, erschien Jelínek. „Mensch, Joachim, alter Junge!“ grüßte Pepík und umarmte Onkel Bob. Dann drückte er Manfred kräftig die Hand und betrachtete ihn neugierig. „Das ist der Sohn vom Genossen Kühnemann.“ Pepík hob die buschigen Augenbrauen und strich nachdenklich an seinem herabhängenden Schnurrbart herum. „Genosse Kühnemann lebt schon seit zwei Jahren als politischer Emigrant in Prag“, erklärte Boberlein. „Kühnemann?“ wiederholte Jelínek. „Kühnemann? Kenn ich nicht. Vielleicht hab ich schon mal was mit ihm zu tun gehabt, aber vielleicht auch nicht. Es gibt ja Hunderte von euch, die über die Grenze gekommen sind. Und viele von ihnen leben hier unter anderem Namen.“ Er wandte sich wieder Manfred zu und sagte: „Ist ja auch egal. Bist jedenfalls willkommen bei uns, Genosse!“ Genosse hatte er gesagt. Manfred strahlte. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß ihn jemand Genosse nannte. Während des Essens mußte Onkel Bob noch einmal berichten, weshalb er Manfred hergebracht hatte. Obgleich Marie die Geschichte zum zweitenmal hörte, bekam sie feuchte Augen. „Wirst schon deinen Vater wiederfinden“, tröstete sie Manfred und legte ihm noch eine Bratwurst auf den Teller. Eigentlich hätte Pepík die Wurst zum Abendbrot bekommen sollen. Nach dem Essen holte Jelínek seinen Tabaksbeutel und eine klobige Pfeife aus der Tasche und begann sie bedächtig zu stopfen. „Ich denke, wir verlieren nicht erst viel Zeit. Bei uns ist ja so allerhand los, das hat euch sicher Mariechen schon erzählt. Ich bringe Manfred noch heute nach Aussig zur Partei. Dort haben wir auch eine Gruppe reichsdeutscher Genossen, und da entscheiden wir weiter.“ Und zum jungen Kühnemann sagte er: „Wenn alles klappt, bist du morgen schon bei deinem Tatínek in Prag.“ 31
Morgen würde er schon den Vater wiedersehen. Manfred fühlte eine heiße Welle der Freude in sich emporsteigen. Ach, diese verflixten Tränen ließen sich nur mit Mühe zurückhalten. Dann aber kam der Augenblick, da Manfred von Onkel Bob Abschied nehmen mußte. Der hatte den gefährlichen Sprung über die Grenze noch einmal vor sich. Wie sollte man da den Schmerz unterdrücken? Soviel er auch die Lider bewegte, die Feuchtigkeit konnten sie nicht aus den Augen vertreiben. Und wie es ihm schien, hatte auch Boberlein nasse Wimpern, Boberlein, den sich Manfred nie hatte weinend vorstellen können. „Mach’s gut, Junge“, sagte Onkel Bob und begann zu husten, um seine Gemütsbewegung zu verbergen.
5.KAPITEL Pepík Jelínek hatte ursprünglich die Absicht gehabt, den Jungen noch am selben Tag mit der Eisenbahn nach Aussig zu bringen. Aber daraus wurde nichts. Am Nachmittag hatten die Henleinleute einige sozialdemokratische Arbeiter überfallen. Gendarmerieverstärkung traf ein. Ein Arbeiter war schwer verletzt, die Polizei fahndete nach dem Täter. Es war anzunehmen, daß die Kontrolle auf der Straße und in der Eisenbahn strenger als gewöhnlich sein würde. Besser, sie warteten einen oder zwei Tage und hielten Manfred inzwischen im Haus versteckt. Aber schon am nächsten Morgen kam eine Möglichkeit wie gerufen. Pepík, der seit seiner Entlassung aus dem Sägewerk Gelegenheitsarbeiten annahm, sollte für einen erkrankten Kutscher eine Spielzeugfuhre nach Bodenbach bringen. Zeitig, nach einem Frühstück, das Manfreds wegen viel reichlicher war, als es sich die Jelíneks eigentlich leisten konnten, ging es los. Manfred mußte unter die Segeltuchplane des Wagens kriechen, während Pepík auf dem Kutschbock saß. Er hatte vorsorglich beim Aufladen der Kisten einen schmalen Raum gelassen, der es einem Menschen ermöglichte, sich ausgestreckt hinzulegen. 32
„Die paar Kilometer bis Podmokly“ – Jelínek benutzte gewohnheitsmäßig die tschechische Bezeichnung für Bodenbach – „wirst du’s schon unter diesem Dach aushalten. Außerdem ist’s vielleicht gar nicht notwendig, dort zu bleiben. Wenn wir erst einmal aus dem Ort sind, wo sich die Leute alle kennen und Fremde schnell auffallen, kannst du dich zu mir nach vorn setzen.“ „Wenn euch aber die Gendarmerie anhält, noch ehe ihr draußen seid?“ fragte Marie besorgt. „Ein versteckter Mensch ist verdächtiger als einer, der offen auf dem Kutschbock sitzt.“ Das wollte allerdings bedacht sein. Schließlich einigten sie sich darauf, Manfred mit einer alten Arbeitsjacke und einer abgeschabten Mütze auszustaffieren. Außerdem sollte er sich schlafend stellen, und Pepík würde es schon jedem klarmachen, daß Manfred sein Markthelfer sei, der sich bloß ein bißchen ausschliefe. Über Manfred schien ein glücklicher Stern zu wachen. Zumindest sah es erst so aus. Denn sie kamen bis auf die Landstraße, ohne daß sich irgend jemand um den Pferdewagen der Firma Hinrichs gekümmert hätte. Der alte Jelínek hatte schon begonnen, sein Lieblingsliedchen zu singen: Čeresničky, Čeresničky, čeresně, vy jste se mně roszypaly na cestě, kdo vás najde, at’ vás posbirá, ja jsem měla včera večer frajera. Deutsch bedeutet das ungefähr: Kirschlein, Kirschlein, Kirschlein mein, ich ließ euch fallen am Wiesenrain, wer euch findet, der mag euch lesen, ich bin gestern abend beim Liebsten gewesen. Das Liedchen gefiel Manfred, obwohl er den Text gar nicht verstehen konnte. Schon wollte er die Plane zurückwerfen und sich zu Onkel Pepík setzen, als er eine Gendarmeriestreife auf einem Motorrad mit Beiwagen heranbrausen sah. Natürlich hatte auch Pepík die Gendarmen längst bemerkt und sang deshalb lauter und lustiger, um einen recht unbekümmerten Eindruck zu machen. Aber die Leute auf dem Motorrad hielten trotzdem genau neben dem Fuhrwerk an. Jelínek hatte große Mühe, das scheuwerdende Pferd zum Stehen zu bringen.
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Einer der Gendarmen sprang aus dem Beiwagen und fragte Pepík: „Woher und wohin?“ Wahrheitsgetreu gab der alte Jelínek Auskunft. Inzwischen war noch ein zweiter Gendarm herangetreten und begann das Segeltuch langsam zurückzuschlagen. Pepík drehte sich rasch um und brüllte: „He, alte Schlafmütze, pennst wohl schon wieder, anstatt auf die Kisten aufzu- passen!“ Dann sprang er auf die Straße und ging nach hinten. Der Gendarm hatte die ganze Plane beiseite geschoben, sah Manfred neben der Ladung liegen und brummte: „So gut möcht ich’s auch mal haben.“ Jelínek beugte sich über die Seitenrampe des Tafelwagens, stieß den Jungen an, der aus tiefstem Schlaf zu erwachen schien, und knurrte: „Die Jugend von heute … Maria und Josef, als ich so alt war wie du, hätt’ mich mein Chef schon längst rausgeschmissen, wenn ich mich so zwischen die Kisten gelümmelt hätte.“ Pepík spuckte, stieß noch einen unver- ständlichen tschechischen Fluch aus und zog Manfred hoch. Die Gendarmen schoben die Kisten beiseite, hantierten an einer mit einem Kistenöffner herum und nagelten sie wieder zu, als sie nichts Verbotenes fanden. Mit einem kurzen Gruß ratterten sie weiter. Der junge Kühnemann nahm nun neben Onkel Pepík Platz und ließ sich den frischen, nach Mai riechenden Wind um die Ohren blasen. Jelínek spornte das kräftige Pferd an, um recht bald sein Ziel zu erreichen. „Was haben die eigentlich gesucht, Onkel Pepík?“ Manfred bewunderte den Alten mächtig, denn so geistesgegenwärtig war sicherlich nicht jeder. „Einen fünfzehnjärigen deutschen Jungen haben sie bestimmt nicht gesucht, sonst wäre die Sache vielleicht weniger gut abgegangen. Wahrscheinlich suchen sie nach Waffen. Die Nazis wollen hier Unruhe stiften, um gegen uns zu hetzen oder um einen Vorwand für gewaltsames Eingreifen zu haben, und so schmuggeln sie Waffen herüber und rüsten damit die Henleinfaschisten aus. Ich hab dir ja schon mal gesagt: Eine ruhige Zeit hast du dir nicht für deinen Besuch bei uns ausgewählt.“ Sie fuhren immer längs der Elbe, und Manfred genoß die Reise auf dem Kutschbock, als wäre es eine Vergnügungstour. Onkel Pepík kannte
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sich in der Gegend aus wie einer, der hier geboren war, und so konnte er seinem Fahrgast alles erklären. Vor allem aber hatte er einen unerschöpflichen Vorrat an allerlei Liedchen, die er in seiner Muttersprache mit lustigem Mienenspiel vorbrachte. Auf diese Weise verging die Fahrt nach Bodenbach rascher, als Manfred erwartet hatte. Damit sein Schützling etwas zu sehen bekäme, fuhr der alte Jelínek erst einmal über die Brücke nach Tetschen hinüber, das von der Schwesterstadt Bodenbach nur durch die Elbe getrennt ist. Von hier aus hatten sie einen schönen Blick auf das hoch über den Fluß hinausragende alte Schloß, zu dem Manfred am liebsten gleich hinaufgestiegen wäre. Doch Onkel Pepík schüttelte den Kopf. „Wir sind nicht auf einem Sonntagsausflug, mein Junge.“ Zehn Minuten später – sie waren über die zweite Brücke zurück nach Bodenbach gefahren – hielten sie in einer Gasse nahe am Marktplatz.
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„Bin sofort zurück!“ rief Jelínek und sprang ab. Er kam auch gleich darauf wieder in Begleitung eines langen schwarzhaarigen Mannes. Der Fremde stieg hinten auf, und nun ging es um zwei Straßenecken. „Das ist der Genosse Robert … auch einer von euch drüben. Er wird dir alles sagen, was du zu tun hast. Wir werden uns jetzt verabschieden, nicht auf immer, denke ich, aber bis auf weiteres. Vielleicht sehen wir uns einmal in Prag oder auch bei uns zu Hause wieder. Bist jedenfalls immer gern gesehen.“ Onkel Pepík ließ die Zügel in den Schoß fallen, umarmte Manfred, drückte ihm einen langen Kuß auf die Stirn, womit er seinen Schützling in arge Verlegenheit brachte, denn der Junge wußte nicht recht, ob er jetzt Onkel Pepík in der gleichen Weise seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. Doch der alte Jelínek machte es ihm leicht, indem er nach der Peitsche griff und das Pferd mit einem kunstvollen Knall antrieb. Das Tier setzte sich in Trab, und bald waren sie am Ziel. „Da wären wir also!“ rief Onkel Pepík. Genosse Robert sprang auf die Straße und half Manfred vom Bock herunter. Jelínek reichte dem Jungen den Rucksack, brummte noch einen Gruß und rollte mit seinem Wagen davon, um nun auch seine Ladung abzuliefern. Manfred Kühnemann stand ein Weilchen reglos da, den Rucksack in den Händen, und blickte dem alten Jelíneks nach. Er hatte beinahe das gleiche wehe Gefühl wie wenige Tage zuvor, als er sich von Boberlein hatte verabschieden müssen. Erst als Manfred die Stimme seines neuen Beschützers neben sich hörte, wandte er sich um und folgte ihm ins Haus. „Du bist also aus Dresden?“ fragte Robert. Und da er darauf eigentlich keine Antwort erwartete, setzte er hinzu: „Eine schöne Stadt ist das. Ich bin aus Hamburg, habe aber lange Zeit bei Seidel & Naumann in Dresden gearbeitet und bin sozusagen ein halber Sachse geworden … Kühnemann heißt du?“ Sie hatten inzwischen den zweiten Stock erreicht, und Robert klingelte an einer Tür ohne Namensschild. Ein kleiner weißhaariger Mann öffnete, grüßte „Servus!“ und trat zur Seite, um Robert und Manfred an sich vor-
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beigehen zu lassen. Er führte sie in ein wohnlich eingerichtetes Zimmer und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Der Junge bemerkte, wie Robert dem Weißhaarigen, den er mit Karl angesprochen hatte, ein Zeichen gab. Darauf gingen beide hinaus. Manfred war nun allein. Nebenan berieten Robert und Karl über ihn. Warum durfte er nicht dabeisein? Mißtrauten sie ihm? Nein, wie konnte ihm dieser Gedanke überhaupt kommen. Er war doch einer der Ihren. Seit er die Grenze überschritten hatte, war er nie auf Mißtrauen gestoßen. Einer der Ihren bin ich! Manfred stand auf und reckte sich. Ein ganz neues Leben hat für mich begonnen. Morgen sehe ich den Vater wieder, und dann gehöre ich ganz zu dieser großen Familie. Da Manfred nichts Besseres anzufangen wußte, sah er sich im Zimmer um. Ein Thälmannbild zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Wer Ernst Thälmann war, wußte er noch von früher. Über einem Bücherregal hing ein Holzschnitt, und Manfred hätte wetten können, daß er Onkel Pepík darstellen sollte. Aber als er die Unterschrift „Maxim Gorki“ las, mußte er sich von seinem Irrtum überzeugen. Den Namen Gorki hatte er noch nie gehört, aber er entdeckte ihn dann auf einigen der Bücher wieder. Eines davon nahm er sich aus dem Fach und schlug es auf. Der Titel „Unter fremden Menschen“ reizte ihn, in das Buch hineinzusehen. Doch er hatte erst wenige Sätze gelesen, als Robert und Karl zurückkamen. Robert setzte sich zu ihm und schaute von der Seite auf den Buchrücken. 37
„Was, so ein Buch hast du noch nie in den Händen gehabt? Na, du wirst das jetzt alles nachholen können. Allerdings erst, wenn wir in Prag sind. Wir werden Karl fragen, ob er dir diesen Gorkiband leiht. Bis Prag brauchen wir einige Stunden, da hast du Zeit zum Lesen.“ Manfred schlug das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. Er wollte seinen Rucksack nehmen, weil er glaubte, es ginge gleich weiter. „Immer schön mit der Ruhe“, meinte Robert und nahm ihm den Rucksack aus der Hand. „Jetzt mach dir’s erst ein bißchen bequem. Karl brüht uns eine Tasse Kaffee, und ich hole was zu futtern und etwas für dich zum Anziehen.“ Manfred sah an sich hinab. Er trug immer noch die abgeschabte Arbeitsjacke, die ihm Marie mitgegeben hatte. „Zum Anziehen brauch ich nichts. Ich hab ja meine Sachen bei mir. Das da haben mir Jelíneks geliehen, damit ich nicht so auffalle.“ „Unser Pepík ist gelungen“, sagte Robert und lachte herzlich. „Aber ein guter und treuer Kerl. Solche könnten wir viele gebrauchen. Also, dann zieh dich inzwischen um, und ich mach einen Sprung zum Bäcker.“ Als sie zu dritt bei Kaffee und Kuchen saßen, wandte sich der weißhaarige Karl, der wohl eine wichtige Person sein mußte, an Manfred: „Nun hör mal gut zu, Junge: Du bist jetzt wie wir ein politischer Emigrant, und da mußt du auch wissen, wie du dich in Zukunft zu verhalten hast. Wir leben in einem fremden Land, und zwar in einem kapitalistischen Land. Wohl gewährt man uns Gastfreundschaft, und Millionen Menschen hier sind unsere Freunde, weil sie den Faschismus, und ganz besonders das Hitlerregime, genauso hassen wie wir deutschen Antifaschisten. Trotzdem heißt es, immer auf der Hut zu sein. Es gibt auch viele Feinde von uns, und selbst unter den deutschen politischen Emigranten können sich Spitzel der Gestapo befinden. Laß dich also von niemand ausfragen. Zum Beispiel geht es keinen was an, wie du über die Grenze gekommen bist, wer dich herübergebracht hat und so weiter. Du siehst, ich frage auch nicht danach, denn der Genosse, mit dem du über die Grenze gegangen bist, ist ja wieder zurück und würde in große Gefahr kommen, wenn irgendein Verräter seinen Namen erführe und den Nazis nach drüben mitteilte. Auch von Pepík erzähle keinem etwas.
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Die einzige Stelle, bei der du Auskunft zu geben hast, ist unsere Parteileitung in Prag. Dorthin wird dich Genosse Robert bringen. Die Genossen in Prag werden dir auch helfen, deinen Vater wiederzufinden. Ist das alles klar?“ Karl hatte freundlich, aber sehr ernst zu Manfred gesprochen, und der begriff, daß er sich jedes Wort peinlichst einprägen mußte. Er vergaß sogar beim Zuhören seinen Kaffee. „Und noch etwas“, fügte Robert hinzu. „Benimm dich stets so, daß die Menschen, unter denen wir hier leben und die ihren nicht immer reich gedeckten Tisch mit uns deutschen Antifaschisten teilen, sagen: Seht, die Deutschen sind genauso gute Menschen wie wir. Die Nazis haben nämlich das Wort ,Deutscher’ durch ihre Schandtaten und durch ihre niederträchtige Politik schon so verhaßt gemacht, daß wir der Welt zeigen müssen: Die Nazis und das deutsche Volk sind nicht ein und dasselbe.“ „Aber nun trink schon deinen Kaffee aus“, ermahnte ihn Karl. „Und deinen Kuchen hast du ja auch noch da stehn. Sicher denkst du dir: Kaum bin ich hier angekommen, halten die mir schon eine Moralpauke!“ Er ließ ein tiefes Lachen ertönen und sagte: „Weißt du, ich bin mal vor langer Zeit Lehrer gewesen. Aber mich hat man schon von der Schule geschmissen, als wir noch die sogenannte Weimarer Republik hatten. Na, reden wir nicht davon. Du warst ja zu jener Zeit noch sehr jung und wirst das alles erst später einmal begreifen.“ „Manches weiß ich noch“, widersprach Manfred, den es doch kränkte, daß man ihn beinah wie ein Wickelkind zu betrachten schien. „Ich war ja schon im Jungspartakusverband, als die Nazis kamen, und mein Bruder, der Willi, war im Roten Frontkämpferbund … und mein Vater …“ Robert hob den Finger vor den Mund und sagte: „Siehst du, Manfred, jetzt fängst du an zu erzählen. Wenn nun ein Spitzel zuhörte, könnte das für deinen Bruder vielleicht sehr gefährlich sein.“ Manfred wurde rot, denn er sah ein, daß er bereits gegen die Mahnung des Weißhaarigen gehandelt hatte. Aber der Vorwurf wegen seines Bruders war nicht berechtigt, und so erwiderte er ein wenig beleidigt: „Willi lebt ja nicht mehr. Den haben die Nazis ermordet.“ „Ja, so ist es vielen unserer Besten ergangen“, sagte Robert, dem es jetzt leid tat, den Jungen so in Verlegenheit gebracht und ganz ungewollt eine 39
vielleicht noch gar nicht richtig vernarbte Wunde aufgerissen zu haben. Sicher hatte Manfred Kühnemann seinen älteren Bruder sehr verehrt und geliebt. Und um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, holte Robert das Buch von Maxim Gorki und sagte zu Karl: „Das muß ich dir ausspannen. Manfred möchte es gern lesen, und da will ich es ihm schenken. Ich bring dir aus Prag ein neues Exemplar mit.“ „Unsinn, ich schenk’s ihm selbst.“ Und mit einem herausfordernden Blick auf Robert fügte er hinzu: „Nimm’s, Junge, und wenn dir noch eins gefällt, lang ruhig ins Regal hinein. Für unsereinen ist’s sowieso nicht gut, zuviel Kram um sich herum aufzustapeln. Morgen heißt’s vielleicht schon weiterwandern, sei es, weil man von irgendeiner Regierung gehetzt wird oder weil einem die Partei eine andere Aufgabe gibt.“ Karl hielt mitten im Satz an und legte einen Arm um Manfred: „Merke dir, mein Junge, unser Leben ist kein Ruhekissen, aber es ist ein sinnvolles Leben, und darauf kommt es an. Man bleibt jung dabei, selbst wenn man mit der Zeit graue Haare kriegt wie ich.“ Manfred fühlte den festen Druck des Armes, der sich um seine Schulter spannte, und als er Karl ins Gesicht sah, hatte er gar nicht den Eindruck, einen alten Mann vor sich zu haben. Solange er solchen Menschen anvertraut war, brauchte er sich vor dem Leben nicht zu fürchten. Er war stolz darauf, daß sein Vater auch zu diesen Menschen gehörte, die eine große, unzertrennliche Familie zu bilden schienen. Und in diese Familie nahm man ihn nun auf, obgleich er allen, mit Ausnahme von Onkel Bob, bis gestern ein Fremder gewesen war.
6. KAPITEL Auch in Bodenbach mußte der junge Kühnemann noch eine Nacht verbringen, weil Robert ganz plötzlich in einer wichtigen Angelegenheit weggerufen wurde. Daß es sich um einen Transport von antifaschistischen Flugblättern, die noch am 1. Mai in Berlin verteilt werden sollten, handelte, erfuhr Manfred erst viel später. 40
Wenn es nur nach dem Jungen gegangen wäre, hätte der sich auch allein auf den Weg nach Prag gemacht. Er schämte sich sogar ein wenig, daß Karl darauf bestand, ihn nicht ohne Begleitung fahren zu lassen. „Robert hat dort ohnehin noch einige andere Sachen zu erledigen“, erklärte Karl und betrachtete damit das Gespräch als beendet. Der Prager Schnellzug war weniger besetzt als üblich, und es gelang den beiden, Fensterplätze zu bekommen. Manfred hatte sich zwar das Buch „Unter fremden Menschen“ zurechtgelegt, aber dann zog die vorübergleitende Landschaft seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Wald und Feld glänzten in vielen Farbtönungen unter einem blauen Himmel. Lange Zeit war das Band der Elbe, das sich manchmal ein wenig von ihnen entfernte, um bald wieder aufzutauchen, ihr Begleiter. In Aussig stiegen neue Fahrgäste zu. Ein junger Mann in hohen anliegenden Stiefeln, schwarzer Reithose und einem grünen Lodenmantel nahm neben Manfred Platz. Er zog eine Zigarre aus einem Lederetui, biß an beiden Enden ein Stückchen ab und spuckte das Abgebissene geräuschvoll wieder aus. Manfred wandte unwillkürlich das Gesicht von seinem neuen Nachbarn ab. Dabei traf sein Blick auf Robert. Es war keine freundliche Miene, mit der sein Reisegefährte den Mann im Lodenmantel betrachtete. Der aber schien kaum etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Nachdem er seine Zigarre in Brand gesetzt hatte, drehte er sich Manfred zu und musterte ihn ungeniert. „Na, junger Freund, wohin geht die Reise?“ fragte er ohne Umschweife und paffte eine dicke Wolke in die Luft. Auch ohne Roberts warnenden Blick hätte Manfred gewußt, daß er auf der Hut sein mußte. Der Kerl neben ihm glich zu sehr den SS-Leuten, die er von drüben kannte. Aber was sollte er antworten? Würde es nicht seltsam aussehen, wenn er schwieg? Einfach eine beliebige Stadt der Tschechoslowakischen Republik nennen, ging es Manfred durch den Kopf. Doch welche? Wie verhext war das: Es fiel ihm keine ein. Ja, da hatte er doch einen Namen an mehreren Wagen des Zuges gelesen, und zwar mußte es, nach dem Ausmaß der Schilder zu urteilen, sogar eine größere Stadt sein. Und so sagte Manfred mit einer Stimme, der er eine gewisse
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Tiefe verlieh, um dahinter seine Unsicherheit zu verbergen. „Wohin ich fahre … Nach Hause zu meiner Tante nach Nekuřáci!“ „Alberner Bengel!“ zischte der Mann im Lodenmantel. Fast wäre ihm die Zigarre aus dem Mund gefallen. Was hatte er eigentlich Freches gesagt? Manfred begriff weder den Zorn des jungen Mannes neben sich noch das schallende Gelächter aller anderen Insassen des Abteils. Als sich das Lachen etwas gelegt hatte, sprang der Gestiefelte auf, langte nach seinem Jägerhütchen, riß sein Köfferchen vom Gepäcknetz und verließ seinen Platz. Ehe er die Tür hinter sich zuschob, knurrte er irgendeine Drohung, aus der nur die Wörter „aufräumen“, „Pack“ und „bald soweit sein“ herauszuhören waren. „Junge, den hast du aber auf die Schippe geladen“, stellte Robert belustigt fest. Doch Manfred schaute unschuldig auf und brachte damit das ganze Abteil noch einmal zum Losprusten. „Nekuřáci“, klärte ihn nun sein Begleiter auf, heißt doch nichts anderes als ,Nichtraucher’.“ Manfred wußte nicht recht, ob er lachen oder ernst bleiben sollte. Einer der Mitfahrenden, an seiner Sprache als Tscheche erkenntlich, beruhigte ihn: „Tut nichts, junger Mann. Daß du den Faschisten da hinausgeekelt hast, war eine gute Tat.“ „Diese lackierten Dummköpfe“, sagte Robert, „möchten uns nach dem Muster der Nazis regieren. Verdammt, wäre das ein Leben! Wer es aus eigener Erfahrung kennt, bedankt sich dafür.“ „Aber es wird wohl beim Wollen bleiben. Unserem Staat kann nichts passieren. Wenn wir uns nicht von Hitlers Drohungen ins Bockshorn jagen lassen“, meinte einer der Reisegefährten. „Wir haben ja einen Beistandspakt mit Frankreich und der Sowjetunion“, erklärte ein anderer. „Wenn uns das Dritte Reich angreift, wird wohl Hitlers letzte Stunde geschlagen haben.“ „Hauptsache, daß unsere Regierung standhaft bleibt“, fügte der Tscheche hinzu.
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Mit derlei Gesprächen, die immer wieder zu der Bedrohung der Tschechoslowakei durch den deutschen Faschismus zurückkehrten, verging die Fahrt. Und schon fuhr der Zug in eine große, mit rußgeschwärztem Glas überdachte Bahnhofshalle ein, die Manfred ganz an den Hauptbahnhof seiner Heimatstadt erinnerte. „MASARYKOVO NÁDRAŽÍ“ stand da in großen Buchstaben. Sicher der Masaryk-Bahnhof. Robert hatte ihm gesagt, daß sie dort aussteigen würden. „Hast du deine Fahrkarte bereit?“ erkundigte sich Robert, während er seinen Mantel zuknöpfte. Manfred faßte in seine Joppentasche: Da war die Karte. Er warf sich den Rucksack auf und folgte dicht hinter Robert zur Tür. Ein Sprung -und er stand auf dem Bahnsteig der Stadt, in der sein Vater nun seit einigen Jahren lebte. Vielleicht ein paar Stunden, vielleicht noch weniger Zeit trennten Manfred vom Wiedersehn mit ihm. Aus dem Zug, der auf dem Wege nach Prag immer voller geworden war, ergossen sich die Reisenden. Sie flössen zu einem drängenden Strom zusammen, und der Junge wurde wie die anderen vorwärts getrieben. Er mußte sich anstrengen, um Robert nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Glück, daß Robert groß war und die meisten Menschen überragte. Überdies trug er einen grauen Hut mit heruntergeschlagener Krempe. Solange er diesen Hut vor sich hatte, war alles gut. Manfred wurde wie von einem Strudel an dem Bahnbeamten vorbeigezogen. Robert war vor ihm durch die Kontrolle geschwemmt worden und wartete bereits drüben am Zeitungskiosk; jedenfalls erblickte Manfred den grauen Hut auf dem Kopf eines großen Mannes. Doch als er sich endlich zu ihm durchgearbeitet hatte, stellte er nicht ohne Schreck fest, daß der Hut auf dem Kopf eines fremden Menschen saß, der in der Statur genau dem Genossen Robert glich. Der junge Kühnemann spähte nach allen Seiten. Ich werde schon auf Robert stoßen. Warten wir ab, bis sich der Bahnhof geleert hat. So ein Pech! Ich hätte doch besser aufpassen sollen. Aber was, schließlich bin ich fünfzehn und kein hilfloses Baby mehr. Wär’ ja gar nicht so schlimm,
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wenn ich mich nicht gerade in einer fremden Stadt und in einem fremden Land befände. Wie soll ich mich bloß mit den Leuten verständigen? Robert wird schon irgendwo auftauchen. Nur die Ruhe bewahren, nur ruhig, mein Junge. Mensch, jetzt müßte Vater hier vorbeigehen! Der würde Augen machen. Nun fang ich schon an zu spinnen. Nur nicht die Geduld verlieren. Manfred wartete also. Von Zeit zu Zeit sah er auf die große Uhr, die in der Vorhalle des Bahnhofs hing. Wenn Robert ihn suchte, würde er ihn schon finden. Um sich die Zeit zu vertreiben, studierte Manfred die tschechischen Aufschriften und dachte sich, daß es sehr schwierig sein würde, diese Sprache mit den Strichen, Häkchen und Ringelchen über den Buchstaben zu erlernen. Doch wo blieb Robert? Bereits eine Viertelstunde war vergangen, seit er hier neben dem Zeitungsstand verharrte und Ausschau hielt. Allerdings hatte der Bahnhof eine ziemliche Ausdehnung mit vielen verzweigten Gängen und Wartehallen. Um das alles systematisch abzugehen, brauchte man schon eine Zeit. Wieder wanderte sein Blick umher. Als er nichts Neues mehr entdecken konnte, trat er dicht an den Kiosk heran und buchstabierte die Köpfe der ausgehängten Zeitungen. Er entdeckte bald auch einige in deutscher Sprache. Da gab es den „Prager Mittag“, die „Bohemia“, die „Prager Presse“ – und dort: „Die Rote Fahne“. Manfred erinnerte sich, daß die Zeitung, die der Vater häufig mitbrachte, genauso geheißen hatte. Sollte er sich nicht eine Zeitung kaufen, um sich die Zeit mit Lesen abzukürzen? Jetzt fiel ihm auch ein, daß er sein Vermögen, die fünfzig Mark und die zwanzig Kronen, immer noch in den Schuhen versteckt trug. Das Geld würde er sowieso brauchen. Er nahm seinen Rucksack ab, zog sich den linken Schuh aus, und tat so, als wollte er ein Steinchen herausschütteln. Dabei angelte er den Zwanzigkronenschein unauffällig vor. Dann verlangte er die Zeitung, indem er mit dem Finger auf sie zeigte. Die Frau in der kleinen Bude reichte sie ihm und gab eine ganze Menge Wechselgeld zurück. Manfred steckte es ein, ohne nachzuzählen, denn er kannte sich in dem fremden Geld ja doch nicht aus.
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Irgendwo schlug eine Turmuhr und erweckte in ihm das Verlangen, endlich die Stadt anzuschauen, von der Onkel Bob so viel Schönes erzählt hatte. Doch von Robert war immer noch nichts zu sehen, und da hieß es geduldig weiterwarten. Manfred nahm seinen Rucksack, setzte sich unter eins der großen Bahnhofsfenster und entfaltete die „Rote Fahne“. Er überflog ein paar Überschriften, die ganz anders waren als in den Nazizeitungen daheim. Dann sah er sich die Bilder an und vertiefte sich in den Sportteil. Als er auch dort nichts Interessantes mehr fand, blätterte er die Zeitung noch einmal durch, und sein Blick blieb schließlich an einem Gedicht haften, das in großen Lettern gesetzt war. Der Titel lautete „MaiSchwur 1938“, und es begann: Nicht gieren wir nach Streit und Mord, nicht brechen wir gegeben Wort, nicht dürsten wir nach Raub und Blut, nicht nähren wir in uns die Wut, nicht lockt uns Sold und Judaslohn, nicht schicken wir den eignen Sohn zu geißeln fremdes Volk und Land mit Krieg, mit Haß, mit Tod und Brand. Manfred hob den Kopf und sah in beiden Richtungen den Hallengang entlang. Von der hohen Gestalt Roberts war nirgends etwas zu entdecken. Wieder versenkte er sich in die Zeitung und las weiter: Doch wenn man uns mit Knechtschaft droht, wenn einer greift nach unserem Brot, nach unserm Haus, nach unserm Feld und frech ein Ultimatum stellt, wenn einer unser Land begehrt und wenn er uns das Recht verwehrt zu leben, wie es uns behagt, und wenn er zu betreten wagt, sei es ein winzig Stückchen nur von unserm Wald, von unsrer Flur, um aufzurichten seine Macht und uns zu „schenken“ braune Tracht,
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um abzuschaffen jedes Recht um zwischen Stacheldrahtgeflecht zu pferchen jeden, der noch preist des Menschen Wort, des Menschen Geist – Noch einmal blickte Manfred auf. Doch vergeblich. Von Robert keine Spur. So setzte er die Lektüre dieser Verse, die ihn zu packen begannen, fort: Dann zögern wir nicht einen Tag, dann strömt das Volk beim Trommelschlag voll Zuversicht zum Freiheitsheer, dann greifen Hände zum Gewehr, dann schont nicht einer Herz und Blut, dann heißt es: Einheit, Wille, Mut! Dann werden tausend Kräfte frei Ob Deutscher, Tscheche, einerlei. DIES UNSER SCHWUR ZUM 1. MAI! Eine Weile starrte er gedankenvoll in die Zeitung. In seinem Kopf wirbelte all das durcheinander, was er in den letzten Tagen drüben in der Heimat und dann hier in der Tschechoslowakei von den Menschen gehört hatte. So sehr sich die Worte auch widersprochen haben mochten, sie ergaben ein einfaches, klares Bild: Auf der einen Seite war das Hitlerreich, das andere Völker bedrohte, und hier war ein bedrohtes Volk, das Widerstand leisten würde. Er las noch einmal die letzten Zeilen. Es war also gar kein Kampf zwischen Deutschen und Tschechen, wie man aus der Unterhaltung der Gesellen in Meister Roderichs Tischlerwerkstatt hätte glauben müssen. Stand hier nicht deutlich: „Ob Deutscher, Tscheche, einerlei“? Während sich der junge Emigrant bemühte, all das zu begreifen, was sich als Keil zwischen die beiden Länder, von denen eines sein Vaterland war, geschoben hatte, ging Robert vorbei, schon ganz nervös vom vergeblichen Suchen nach seinem Schutzbefohlenen, und gewahrte ihn nicht, weil er gar nicht auf den Gedanken kam, daß sich hinter der Zeitung auf der Bank Manfred verbergen könnte.
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So kam es, daß Manfred seinen Weg in die Stadt allein antreten mußte. Robert hatte kurz darauf die Hoffnung aufgegeben, den Jungen zu finden, und sich – von Gewissensbissen geplagt – auf den Weg zur Parteileitung gemacht, um von seinem Mißgeschick zu berichten.
7. KAPITEL Den Rucksack über, die Sportmütze schief auf dem Kopf und die Hände in den Joppentaschen vergraben, verließ Manfred den Bahnhof und befand sich in einer nicht sehr breiten, aber desto belebteren Straße, durch die auch eine Elektrische fuhr. Sollte er den Weg nach links oder rechts einschlagen? Er sah sich nach beiden Seiten um und entschied sich, nach rechts zu gehen. Vielleicht war es der klobige alte Turm mit dem Torbogen, der ihn anzog, vielleicht war es nur ein Gefühl, das ihn in der Richtung zum Stadtzentrum geleitete. Ein festes Ziel hatte Manfred nicht, denn mit der Möglichkeit, Robert am Bahnhof zu verlieren, hatte er nicht gerechnet. Wie würde er nun das Komitee der antifaschistischen Emigranten finden? Und zu welchem sollte er gehen? Manfred überlegte: Robert hat doch gesagt, es gibt mehrere. Wohin nun? Da sitze ich ja schön in der Tinte. Wenn ich einfach jemand anspreche, werde ich am Ende gar als Spion verhaftet. Man würde mich ja doch nicht verstehen. Daß es nur nicht zu schnell finster wird. Bis ‘zum Abend muß ich das Komitee finden. Ich kann doch die Nacht nicht auf der Straße verbringen. Da: Eine öffentliche Fernsprechzelle. Er ging hinein und machte sich daran, das Telefonbuch zu studieren. Verzweifelt blätterte er. Doch wie sollte er eine Adresse finden, wenn er nicht einmal wußte, wie sich das Hilfskomitee nannte? Zehntausende von Namen reihten sich hier aneinander. Vergebliche Mühe. Von vorn nach hinten und von hinten nach vorn durchwühlte er das dicke Verzeichnis. 47
„Prost Mahlzeit“, brummte er, als er die Tür der Telefonkabine hinter sich zuschlug. Er versuchte sich Mut zu machen, indem er ein Liedchen zu pfeifen begann. Das half sogar. Unterkriegen lassen, jetzt, da er die erste Bewährungsprobe zu bestehen hatte? Nein, er würde sich schon irgendwie durchbeißen. Manfred wanderte weiter, schaute in Geschäftsauslagen, und als er an einem Wurstladen vorbeikam, der schön garnierte Schinken ausgestellt hatte, spürte er plötzlich einen mächtigen Hunger. Am liebsten wäre er auf der Stelle hineingegangen. Er konnte es ja genauso machen wie bei der Zeitung: mit dem Finger auf die Wurst zeigen und dann einen Geldschein hinreichen. Doch nein, vorläufig hieß es mit den wenigen Kronen sparen, zumal er sowieso noch ein Stullenpaket im Rucksack hatte. Er wandte sich also vom Schaufenster mit den verlockenden Dingen ab und ging bis zu dem Platz mit dem massiven Turm. Wieder ließ er den Blick umherschweifen. Der Platz hatte eine unregelmäßige Form. Nach allen Seiten zweigten Straßen ab. Der Turm, den er schon von weitem gesehen hatte, trug viele steinerne Verzierungen. Obendrauf war ein steiles Giebeldach, das von vier Wachtürmchen umgeben war. Die Straßenbahnschienen führten direkt unter dem Torbogen in eine schmale Gasse. Jetzt eine kleine Forschungsreise in dieser Richtung – aber er überlegte: Wenn ich mich immer an die breiten Straßen halte, werde ich mich nicht so schnell verirren. Ich muß mich nun entscheiden – rechts oder links einbiegen? Ich könnte den Schutzmann fragen. Doch er überließ es lieber dem Glück, und seine Hand fuhr langsam über die Reihe der Joppenknöpfe. Links-rechts-links-rechts-links. Also links! Er setzte seinen Weg fort, vorbei an hohen Gebäuden, an denen er das Wort „BANKA“ las. Sicher ein Bankhaus, dachte er. Auch in Dresden bewohnten die Bankfirmen solche großen Steinpaläste. Nach links öffnete sich eine wundervolle Allee, die so breit war wie ein Platz. Doch ein Platz schien es nicht zu sein, denn dies hier dehnte sich vor ihm aus wie eine Straße. Ganz in der Ferne, am Ende der Allee, oder was es immer sein mochte, erhob sich ein imposantes Bauwerk, vor dem ein Reiterstandbild zu erkennen war. Bestimmt war das der Sitz der Regierung.
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Manfred schaute nach dem Straßenschild aus. „Václávské náměstí“ stand darauf. Damit konnte er nicht viel anfangen. So ging er weiter. Da der wogende Verkehr von Menschen, Autos und Straßenbahnen seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog, stieß er mit einer Frau zusammen. „Verzeihung!“ entfuhr es ihm. Die Frau antwortete etwas ihm Unverständliches und schüttelte den Kopf. Während er sich die verrutschte Mütze geraderückte, stieg ihm ein angenehmer Geruch von etwas Gebratenem in die Nase. Seine Augen bewegten sich unwillkürlich in die Richtung, aus der dieser Geruch gekommen war. Er befand sich direkt vor einem Automaten-Buffet. Nachdem er eine Weile unschlüssig mit seinem Geld in der Joppentasche gespielt hatte, trugen ihn seine Beine wie von selbst in das Eßparadies, das mit großen Glasbuchstaben – wahrscheinlich waren sie am Abend erleuchtet – den Namen „Koruna“ trug. Es war ein ziemliches Gedränge, besonders an den Wänden mit den eingebauten Automaten. Manfred trat näher an sie heran und sah über die Schultern der Leute auf die Reihe der Glasfensterchen. Viele Sorten belegter Brötchen lagen dahinter. Eine Münze nach der anderen verschwand in den Schlitzen, die Karussells drehten sich, und die Leckerbissen wanderten zur Öffnung. Manfred fühlte das Wasser im Munde zusammenlaufen. Da, das Lachsbrötchen wäre nicht schlecht. Oder das mit dem Schweizer Käse. Wie im Schlaraffenland – falls man über das nötige Geld verfügte. Die Fischsemmel dort oder das Wurstbrot? Seine Augen hatten schon allerhand verschlungen, als er sich entschloß, auch etwas für Zunge und Magen zu unternehmen. Als ein Plätzchen an den Automaten frei wurde, holte er alle Münzen, die er besaß, aus der Tiefe der Hosentasche und wählte die größte heraus. Mit dem Geld war er noch nicht vertraut, aber diese da schien ihm die richtige zu sein. Hinein in den Schlitz! Das klappte ja wunderbar. Das Karussell setzte sich in Bewegung. Klack, es stand, und das Schinkenbrötchen konnte herausgenommen werden. Wie das schmeckte! Wahrscheinlich war es der
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Hunger, der an seiner Mutlosigkeit, die ihn vor einer Weile beinahe übermannt hatte, schuld gewesen war. Sollte er noch eine Münze opfern? Die kleineren würden nicht funktionieren. Also Geld wechseln. Während er noch überlegte, was jetzt zu tun war, drang ein angenehmer Fettgeruch in seine Nase. Manfred riß den Blick von den Brötchen los. Aha, da drüben wurden Kartoffelpuffer gebacken. Kartoffelpuffer? Auch nicht schlecht. Die sättigten noch mehr, dachte Manfred und stellte sich in die Reihe der Wartenden. Wie verlange ich nur eine Portion? Hoffentlich langt mein Kleingeld. Manfred reichte ein paar Münzen hin und zeigte auf den Puffer. Das ging ja alles wie am Schnürchen. Er bekam sogar noch etwas zurück, ganz abgesehen von dem Teller mit den drei leckeren flachen Dingern. Ach, das Leben war doch schön, auch wenn mal etwas schiefging. Wie ein Sieger mit seiner Beute zog er ab. Er suchte nach einem geeigneten Eckchen, wie es Hunde zu tun pflegen, die einen saftigen Knochen erwischt haben.
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Dort an der Rampe konnte man bequem den Teller abstellen und ungestört essen. Heiß waren die Kartoffelpuffer und ziemlich fettig. Aber sie schmeckten himmlisch. Schnell hatte er einen verdrückt. Gerade begann er mit dem nächsten, da war es ihm, als musterte ihn jemand. Der junge Bursche da, warum starrte er ihn so an? Ein Dieb? Vorsicht, die machten sich gern an Fremde heran, wenn man den Büchern glauben durfte. Doch ihm, Manfred, würde er nichts „abhängen“ können. Viel- leicht war der Junge gar ein Spitzel! Der weißhaarige Karl hatte ihn eindringlich vor solchen Kreaturen gewarnt. Aber ein Spitzel würde ihn wohl mehr aus dem Hinterhalt betrachten. Am Ende hatte der Junge bloß Hunger und konnte sich nichts kaufen? Ohne lange zu überlegen, schob er dem Burschen den Teller mit dem dritten Kartoffelpuffer hin. Ihre Augen trafen sich. Manfred lächelte. Der andere hatte Mißtrauen im Blick und machte erst keine Anstalten, zuzugreifen. Doch dann hob er, wenn auch nur zögernd, die Hand. „Nimm nur, ich bin schon satt“, sagte Manfred. Der Fremde, der schon die Hand nach dem Teller ausgestreckt halte, verzog verächtlich das Gesicht und warf ein paar Worte in seiner Muttersprache hin. Er sah finster auf Manfred und brummte etwas. Wieder hatte der junge Kühnemann nichts verstanden, bis auf ein Wort: „Hitler.“ Und plötzlich begriff er. Hatte er nicht deutsch zu dem Jungen gesprochen? Der andere hielt ihn also für einen Nazi. Wie sollte er ihm begreiflich machen, daß er, Manfred, der Sohn des Kommunisten Paul Kühnemann, kein Hitleranhänger, sondern ein Antifaschist war? Wie er darauf kam, wußte er selber kaum. Jedenfalls zog er ein beleidigtes Gesicht, zeigte mit dem Finger auf seine Brust und sagte: „Thälmann!“ Der fremde Junge, der sich schon entfernen wollte, wandte sich um und maß Manfred wortlos. Schließlich öffnete er wieder die Lippen und erklärte: „Thälmann, to je chlapík!“ Manfred wußte natürlich nicht, daß dies auf deutsch „Thälmann, das ist ein Kerl!“ hieß. Doch das war gar nicht nötig. Die Augen des tschechischen Jungen hatten ihm schon alles gesagt. Und so schob er ihm wieder den Teller hin. Jetzt griff der andere zu und begann zu essen.
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Wenn ich nur tschechisch sprechen könnte, ging es Manfred durch den Kopf. Der Bursche schien es nicht eilig zu haben und wäre vielleicht bereit, ihn ein bißchen zu begleiten. Solch ein Fremdenführer würde nicht schlecht sein. Der junge Kühnemann erfand schnell eine Zeichensprache und versuchte dem neuen, noch unbekannten Bekannten klarzumachen, daß er mit ihm zusammen Spazierengehen wolle. Und er hatte Erfolg. Wieder auf der Straße, stellte sich Manfred vor, indem er sich mit dem Daumen mehrmals gegen die Brust stieß und dabei immer seinen Vornamen nannte. Der fremde Junge tat das gleiche. „Tonda?“ wiederholte Manfred, und der andere nickte und fuhr sich mit den Fingern durch seinen etwas strubbeligen dunkelblonden Haarschopf. Sie mochten eine Stunde durch die umliegenden Straßen gestreift sein. Tonda hatte sich große Mühe um eine Verständigung mit Manfred gegeben, während sich Manfred den Kopf zergrübelt hatte, wie er seinem Begleiter beibringen könne, daß er das Emigrantenkomitee finden müsse. Da kam ihm auf einmal ein guter Einfall. Er zog seine Zeitung heraus und wies darauf. Tonda legte die Stirn in Falten und dachte nach. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, und er rief gleich dreimal: „Ano! Ano! Ano!“ Hieß das nicht „Nein“? Es klang so. Doch die Kopfbewegung Tondas schien eher ja zu sagen. Manfred überlegte wieder, dann begann er die „Rote Fahne“ zu studieren und fand schließlich, was er suchte. Am Kopf der Zeitung in der linken Ecke stand die Adresse der Redaktion: Prag-Karlin, Královská 13. Er hielt Tonda die Zeitung hin und unterstrich mit dem Finger die Stelle, wo die Adresse angegeben war. „Ano!“ rief Tonda erfreut und faßte Manfred unter, als wären sie alte Freunde. Eine Viertelstunde später befanden sie sich in einem großen Hof. Männer und Frauen in braunen oder blauen Arbeitsmänteln liefen hin und her. Auf der rechten Seite stand ein Lastwagen mit riesigen Papierrollen, wie sie für den Rotationsdruck gebraucht werden, und aus einem Gebäude kam das regelmäßige Geräusch der Maschinen. 52
Tonda führte Manfred in das Mittelgebäude und sprach dort einen vorbeihastenden Mann an. Der Angerufene verzog zwar unwillig das Gesicht, hörte sich aber doch an, was Tonda zu ihm sagte. Nachdem er mehrmals ein „Hm!“ gebrummt hatte, veränderten sich seine Züge, und er wandte sich an Manfred. Ein Glück, er sprach deutsch! „Was suchst du, mein Junge? Zur Redaktion willst du?“ „Ich suche den Genossen Robert. Wir haben uns auf dem Bahnhof verloren.“ „Genosse Robert? Keine Ahnung, wer das sein soll. Hier arbeitet kein Robert.“ „Eigentlich suche ich meinen Vater. Genosse Robert wollte mich zum Emigrantenkomitee bringen. Ich mußte von drüben weg wegen der Gestapo.“ Der Glatzköpfige verzog wieder die Stirn. Es sah wie Mißtrauen aus. „Genosse Robert hat mich von Bodenbach hierhergebracht. Auf dem Bahnhof hab ich ihn plötzlich verloren“, beteuerte Manfred. „Na, das werden wir bald in Ordnung gebracht haben. Und woher kennt ihr euch, ihr zwei beiden?“ Der Mann warf einen Seitenblick auf Tonda, der aufmerksam dem Gespräch folgte, bemüht, etwas zu verstehen. „Wir haben uns im Automaten-Buffet kennengelernt.“ „Komisch, komisch“, brummte der Glatzköpfige und unterhielt sich wieder mit dem tschechischen Jungen. Dann winkte er Manfred, ihm zu folgen, und führte ihn durch einige Gänge zu seinem Arbeitszimmer. „Setz dich!“ Er schob ihm einen Stuhl hin. Tonda hatte sich, ohne erst abzuwarten, in einen Ledersessel fallen lassen. Der Redakteur – Manfred war sicher, daß es einer war – nahm den Telefonhörer ab und drehte eine Nummer. Dabei hielt er seine beiden Besucher im Auge, als wollte er sie abschätzen. Die Gegenseite schien sich gemeldet zu haben, denn Manfred hörte den Glatzkopf sagen: „Da hat sich bei mir ein Junge eingefunden …“ Offenbar hatte ihn der Sprecher am anderen Ende der Leitung mitten im Satz unterbrochen, denn er wandte sich Manfred zu und erkundigte sich noch einmal, wie er heiße. 53
Manfred Kühnemann saß wie auf Kohlen. Würde er jetzt endlich an die richtige Stelle gewiesen werden, die ihn mit seinem Vater in Verbindung brachte? Schließlich erhob sich der glatzköpfige Redakteur und lächelte Manfred an. „Da hast du ja allerhand Aufruhr bei den reichsdeutschen Genossen hervorgerufen. Mindestens ein Dutzend hat sich auf die Beine gemacht, um dich zu suchen. Der Genosse Robert ist jetzt unterwegs hierher.“ „Und mein Vater weiß noch nichts davon, daß ich angekommen bin?“ Manfred war enttäuscht. „Darüber ist mir nichts bekannt, mein Junge. Aber das wirst du ja bald erfahren. Und nun entschuldige mich. Ich muß weiterarbeiten. Da habt ihr etwas anzuschauen.“ Er warf den Jungen einen Stoß illustrierter Zeitungen hin und vertiefte sich in seine Manuskripte, die den breiten Schreibtisch bedeckten. Über einen runden Tisch gebeugt, vertrieben sich die beiden Jungen die Zeit, indem sie sich gegenseitig auf interessante Bilder aufmerksam machten. Besonders wurden sie von den Fotografien aus dem Freiheitskampf des spanischen Volkes angezogen. Manfred hatte zwar in den Illustrierten zu Hause viele Bildreportagen über den Krieg in Spanien gesehen, aber dort war alles auf den Kopf gestellt. Die Franco-Faschisten und ihre italienischen und deutschen Kumpane waren darin als die Helden dargestellt und das spanische Volk als ein Haufen Banditen. Was er von den Nazizeitungen zu halten hatte, brauchte ihm keiner zu sagen. Vom Kampf der spanischen Arbeiter und Bauern hatte ihm Onkel Bob erzählt, auch davon, daß deutsche Antifaschisten, gemeinsam mit Freiwilligen aus allen Nationen, auf der Seite der rechtmäßigen, spanischen Regierung kämpften. Nun sah er zum erstenmal Bilder aus dem tapferen Spanien, aus denen die Wahrheit sprach. „Schauen… deutsche Interbrigadisti“, sagte Tonda. Er schob ihm eine tschechische Illustrierte zu. Manfred ließ seinen Blick über die Bilder wandern. Besonderen Eindruck machte ein großes Foto, das mehr als eine halbe Seite einnahm. Es zeigte eine Gruppe Soldaten auf einem Panzer. Sie trugen Baskenmützen oder französische Stahlhelme. Auf den Panzer war in deutscher Schrift 54
gemalt: „Vorwärts im Geiste Ernst Thälmanns!“ Das waren also die deutschen Mitglieder der Internationalen Brigaden, die auf spanischem Boden gegen die vereinten Kräfte des Faschismus kämpften. Wie unterschieden sich doch ihre Gesichter von den Gesichtern der SS und Wehrmachtsoffiziere, die immer stärker die Straßen der Heimat beherrschten! Man sah diesen Panzersoldaten sofort an, daß es Arbeiter waren oder Bauern, auf denen die Uniform nicht anders saß als eine Arbeitskleidung. Da waren ältere und jüngere Männer. Einer, so schien es Manfred, sah genauso aus wie sein Vater. Hätte er nicht gewußt, daß der sich in Prag befand, hätte er jede Wette eingegangen, ihn hier auf diesem Bild vor sich zu haben. Die beiden Jungen hatten sich so in die Betrachtung der Zeitungen vertieft, daß sich Robert erst durch ein lautes Räuspern bemerkbar machen mußte. „Da hast du deinen Ausreißer wieder“, sagte der glatzköpfige Redakteur und trat an den Tisch heran. „Und außerdem hat er sich inzwischen verdoppelt.“ Er zeigte auf Tonda, der den langen, schwarzhaarigen Robert neugierig musterte. „Junge, hast du mir einen Schreck eingejagt! Ich schau mich um, und du bist verschwunden. Eine halbe Stunde lang bin ich durch den Bahnhof geirrt. Aber mein Manfred war nicht zu finden.“ Robert gab ihm einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken und brummte befriedigt: „Also da wärst du ja wieder… Und wo hast du den da aufgegabelt?“ „Das ist mein Freund Tonda. Er hat mich hierhergebracht.“ Der sonst wenig schüchterne Tonda merkte, daß man von ihm sprach, und wurde ganz verlegen. „Na, und wo wohnst du?“ fragte Robert, der schon ein wenig Tschechisch sprach. „Řimská ulice“, gab Tonda zur Auskunft. „Und du hast sicher tüchtigen Hunger“, wandte sich Robert an Manfred. „Ich hab im Automaten-Buffet Kartoffelpuffer gegessen.“ „Hat wohl dein Tonda bezahlt?“ „Nein, ich hab’s bezahlt.“ „Dann können wir also gehen, denk ich.“
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„Und was ist mit Vater?“ „Das werden wir alles auf dem Komitee erfahren“, wich Robert aus. „Vorher gehen wir noch eine Tasse Kaffee trinken. Kannst ja deinen Tonda mitnehmen.“ Manfreds junger tschechischer Freund begann sich überflüssig zu fühlen und wollte gehen. Doch Robert hielt ihn zurück. In einer kleinen Kaffeestube in der Králavská Straße fand Manfreds Irrfahrt einen gemütlichen Abschluß. Tondas Hilfsbereitschaft wurde belohnt: mit einer ordentlichen Portion Buchteln, mit Pflaumenmus gefüllt. Daß der junge Kühnemann sich Tondas Adresse aufschrieb, bevor sie sich voneinander verabschiedeten, brauche ich wohl nicht erst zu sagen.
8. KAPITEL Sie stiegen die Treppe eines alten Mietshauses hinauf. Wäre nicht durch ein kleines Hoffenster etwas Licht auf den Gang gedrungen, hätte Manfred kaum das Schildchen mit der Aufschrift „Verein zur Unterstützung deutscher Emigranten“ entziffern können. Nachdem sie einen leeren Korridor und ein enges Bürozimmer durchquert hatten, kamen sie zum Genossen Eisenbart. Der wurde so genannt, weil er irgendwann einmal als Mitglied der Arbeitersportbewegung einen Meistertitel im Gewichtheben gewonnen hatte. Nach allem, was ihm Robert erzählt hatte, war Manfred darauf vorbereitet gewesen, eine Art Riesen vorzufinden. Doch der Mann, der im Zimmer auf und ab ging und der Stenotypistin einen Brief diktierte, sah keineswegs wie ein Athlet aus, wenn er auch kräftig gebaut war. Er hatte Ähnlichkeit mit Onkel Bob: Er war mittelgroß und hatte ein gutmütiges, intelligentes Gesicht, das Manfred auf den ersten Blick gefiel, obgleich es auf der rechten Seite durch eine tiefe, rotleuchtende Narbe entstellt war. „Du bist also das verlorene Schäfchen.“ Genosse Eisenbart sah den Jungen mit einem raschen Blick von oben bis unten an. „Ich hab dir doch 56
gleich gesagt“, wandte er sich an Robert, „reg dich nicht so auf. In Prag geht keiner so schnell verloren.“ Dann setzte er sich rittlings auf einen Stuhl und lächelte den Jungen an, der inzwischen neben Robert auf dem ledernen Sofa Platz genommen hatte. „Du bist ja ein strammer Kerl geworden“, begann Genosse Eisenbart, als sähe er Manfred nicht zum erstenmal. Und als er den verwunderten Ausdruck im Blick des Jungen gewahrte, fuhr er fort: „Dein Vater hat mir oft von dir erzählt und auch Fotografien gezeigt.“ Er machte eine Pause wie einer, der nachdenkt, drehte sich zur Stenotypistin hinüber und sagte: „Friedel, bringst du mir mal die Briefe von Paul?“ Manfred horchte auf. Sprach er von seinem Vater? War der denn nicht in Prag? Gerade wollte er den Genossen Eisenbart danach fragen, als der ihm zuvorkam: „Dein Vater hat dir schon viele Grüße geschickt. Vielleicht bist du ein wenig enttäuscht, daß er nicht hier ist …“ Manfred fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Er würde seinen Vater also nicht sofort wiedersehen können? Starr blickte er auf Eisenbart, und wenn er nicht die Augenlider ein paarmal auf und ab bewegt hätte, wären ihm sogar die Tränen gekommen. Eisenbart fühlte natürlich, was in Manfred vorging. „Wir sind alle stolz auf ihn …“ Er schob wieder eine kurze Pause ein, griff dann in seine Jackentasche und holte eine illustrierte Zeitung heraus. Der Junge erkannte bald, daß es die gleiche war wie die in der Redaktion: „Da kannst du ihn mit seiner Panzerabteilung in Spanien sehen.“ Manfred nahm die Zeitung und betrachtete das Bild noch einmal. Das war tat- sächlich sein Vater, der Mann auf dem Panzer. Lange sah er auf das Bild. Er hatte vergessen, wo er war, und er merkte auch nicht, daß ihm nun doch ein paar Tränen über die Wangen liefen. Er war traurig, aber in das Traurigsein mischte sich auch Stolz und vor allem eine Liebe, die ganz neu war. Deshalb also war schon seit Monaten keine Nachricht mehr aus Prag gekommen. Ob Onkel Bob etwas davon gewußt hatte? Nein, sicher nicht, denn er hätte es ihm nicht verschwiegen. Die Stimme des Genossen Eisenbart weckte ihn aus seinen Gedanken. „Da hast du die Briefe. Einer ist erst gestern gekommen. Wir konnten sie dir nicht hinüberschicken, weil unser Kurier, der die Briefe früher
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immer nach Dresden gebracht hat, hochgegangen ist. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Gestapo bei deiner Tante und bei deinem Meister war.“ Der junge Kühnemann war von dieser Nachricht über seinen Vater noch immer viel zu aufgewühlt, um sich darüber zu wundern, daß man hier alles zu wissen schien, was zu Hause geschah. „Kann sein“, meinte Genosse Eisenbart, „daß es auch andere Ursachen hat. Vielleicht haben sie durch ihre Spitzel herausbekommen, daß dein Vater drüben in der Elften Internationalen Brigade ist, und haben jetzt eine furchtbare Wut auf ihn. Die Nazis spucken ja Gift und Galle über die deutschen Antifaschisten, die auf seiten des spanischen Volkes für die Freiheit kämpfen. Um so stolzer darfst du auf deinen Vater sein.“ Manfreds Tränen waren versiegt. Er preßte die Briefe aus dem fernen Spanien zwischen den Fingern und lauschte den Worten des Genossen Eisenbart. Ab und zu warf auch Robert etwas ein, und so entstand vor ihm eine immer klarere Vorstellung von dem, was sich in dem Land hinter dem Pyrenäengebirge abspielte. „Ich denke, ich kann mich nun zurückziehen. Mein Zug geht in einer halben Stunde.“ Mit diesen Worten erhob sich Robert. „Dann also auf Wiedersehen. Und wenn du deinem Vater schreibst, richte ihm einen Gruß von mir aus. Schreibst einfach: Der Schwarze Robert aus Bodenbach läßt grüßen.“ Wieder mußte der junge Kühnemann von einem Menschen Abschied nehmen, den er zwar erst seit zwei Tagen kannte, der ihm aber doch schon ans Herz gewachsen war. Ehe Manfred dazu kam, sich bei ihm zu bedanken, hatte Robert die Tür hinter sich geschlossen. „Und wir werden auch gehen“, sagte Genosse Eisenbart. „Übrigens haben wir heute früh eine Nachricht von drüben bekommen. Ich meine, was dich betrifft. Das ist gut, weil wir sonst erst lange hätten nachprüfen müssen, ob mit dir alles stimmt. Manchmal kommen hier nämlich Gestapoagenten an und behaupten, sie seien Antifaschisten und hätten fliehen müssen. Ja, nun fahren wir nach Strasnice ins Emigrantenheim hinaus, damit du eine Bleibe hast.“ „Ich hab aber nicht viel Geld für die Miete. Ich besitze nicht ganz zwanzig Kronen und dann noch fünfzig Mark“, wandte Manfred ein. 58
„Mach dir keine Sorgen“, beruhigte ihn Genosse Eisenbart. „Was du hast, das wird dir als Taschengeld gutkommen. Im Heim draußen lebst du kostenlos… Kostenlos ist vielleicht nicht ganz richtig gesagt. Die Unterhaltung eines solchen Heimes kostet eine Menge Geld, und das kommt von der Internationalen Roten Hilfe und von den tschechischen Werktätigen.“ Manfred erinnerte sich jetzt, daß es damals, als Hitler noch nicht an der Macht war, auch in Deutschland eine Organisation gegeben hatte, die „Rote Hilfe“ hieß. Er hatte damals als Jungpionier sogar Geld für sie gesammelt. Jetzt sammelten vielleicht tschechische und slowakische Arbeiterkinder die Heller und Kronen der einfachen Menschen dieses Landes, um denen, die vom Hitlerregime verfolgt wurden, ein Dach über den Kopf und ein Mahl auf den Tisch geben zu können. In Begleitung des Genossen Eisenbart ging Manfred zum zweitenmal durch Prag. Die Zeit war inzwischen vorgeschritten, und es begann zu dämmern. Dennoch erkannte er die Straßen wieder, die er erst ganz allein und dann mit Tonda durchschlendert hatte. Da waren sie ja wieder an dem Platz mit dem alten steinernen Turm und dem Torbogen. „Das ist der Republikplatz, und das da drüben ist der Pulverturm. Es ist gut, sich so etwas zu merken. Wenn du erst ein paar solche Punkte kennst, kannst du dich nicht mehr verlaufen.“ An einigen Gebäuden sah er Fahnen heraushängen, rote Fahnen, Fahnen mit Hammer und Sichel und viele in dem Blau und Weiß und Rot der Tschechoslowakischen Republik. „Morgen ist der Erste Mai!“ gab Genosse Eisenbart Auskunft. „Und was für ein Erster Mai das dieses Mal wird! Stell dir vor: Alle Arbeiter Prags feiern ihn gemeinsam, alle, ob Kommunisten, Sozialdemokraten oder Volkssozialisten.“ „Sind die denn früher nicht zusammen gegangen?“ „Leider nicht. Hier war’s so wie bei uns vor dreiunddreißig. Sozialdemokraten für sich, Kommunisten für sich. Na, und so sind die Faschisten zur Macht gekommen. Aber die Proleten hier haben inzwischen gelernt, daß nur die Einheit stark macht. Du wirst’s morgen selber sehn. Wir werden zusammen zum Aufmarsch gehn, du und ich, denn vorläufig
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hast du noch keine Ausweispapiere. Es wäre nicht schön, wenn du Scherereien bekämst.“ Sie hatten eine breite Allee erreicht, in der das Automaten-Buffet „Koruna“ lag. Manfred hatte sich diesen Namen, der ihn immer an Kartoffelpuffer und an Tonda erinnern würde, gut gemerkt. „Na, wie gefällt dir der Wenzelsplatz?“ fragte Genosse Eisenbart. Dieser Platz, der in seiner Form eher einer breiten Allee glich, hatte Manfred schon bei seiner ersten Wanderung durch die Stadt beeindruckt. „Da hinten wohnt wohl der Präsident?“ „Nein, der wohnt auf dem Hradschin, das ist die Prager Burg. Das Gebäude am Ende des Wenzelsplatzes ist das Nationalmuseum, und das Reiterstandbild ist der Heilige Wenzel. Das ist sozusagen das Herz von Prag. Wenn irgendwas im Land oder in der Welt vorgeht, dann brauchst du nur hierher zu gehen, und du wirst sehen, was die Prager Bevölkerung von den Ereignissen hält. Und schau mal da hinüber: das Bat’a Warenhaus. Vom tschechischen Schuhkönig wirst du ja sicher schon was gehört haben.“ Manfred ließ seinen Blick hinüber zu dem vielstöckigen Glaspalast gleiten. Es war ein Respekt erweckendes Gebäude. „Junge, wenn das alles erst mal wirklich dem Volk gehört! Das ist’s ja auch, wovor sich die Herren Kapitalisten fürchten. Und deshalb wollen sie am liebsten die ganze Tschechoslowakei an Hitler verschachern. Aber verlaß dich darauf, die Arbeiter werden ihnen schon was husten. Wirst’s morgen sehen …“ Genosse Eisenbart hatte sich tüchtig in Erregung hineingeredet und hätte beinahe die „22“ verpaßt, mit der sie nach dem Vorort Strašnice ins Emigrantenheim fahren wollten. Die Straßenbahnen, stellte Manfred fest, sahen nicht viel anders aus als die in Dresden, nur daß sie rot, nicht wie zu Hause gelb gestrichen waren. Sie mochten eine halbe Stunde gefahren sein, als sie die Endstation erreichten. Zum Heim hatten sie nur ein paar Minuten. Manfred war ein wenig verdutzt, als Genosse Eisenbart vor einem alten Fabrikgebäude haltmachte. Doch es war kein Irrtum: Dies war das Heim. Die Emigranten
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hatten den unfreundlichen Bau mit viel Mühe in ein ganz wohnliches Haus umgewandelt. Das merkte man allerdings erst, wenn man ins Innere des Gebäudes kam. Der Wachdienst grüßte den Genossen Eisenbart herzlich, und auch die anderen Bewohner des Heimes, die gerade vorüberkamen, riefen „Servus, Eisenbart!“ oder „Tag, Georg!“, und so erfuhr Manfred, daß Eisenbart Georg hieß. Nach seinem Familiennamen zu fragen unterließ er, denn das eine hatte er schon gelernt: keine unnützen Fragen zu stellen und keine überflüssigen Antworten zu geben. Daß Genosse Eisenbart eine angesehene Person hier im Heim war, hatte er sofort gemerkt, und daß unter den Menschen in diesem Haus eine gute Kameradschaft herrschte, sollte er gleichfalls sehr schnell erfahren. Es dauerte kaum eine Stunde, und er war ein gleichberechtigter Bewohner des Heimes geworden, der mit fünf Männern die „Sachsenstube“ im oberen Geschoß teilte. In der ersten Nacht, die er in Prag verbrachte, träumte er nicht von Robert und Eisenbart, nicht von Tonda und dem glatzköpfigen Redakteur, nicht von der „Koruna“ und den Kartoffelpuffern, sondern von Spanien und seinem Vater, den er, auf einem Panzer fahrend, in den Kampf gegen die Faschisten begleitete.
9. KAPITEL Hatte ihn jemand an der Nase gekitzelt? Manfred richtete sich auf, gähnte und streckte sich. Es dauerte eine Weile, ehe er völlig wach war. Aufrecht saß er in seinem Feldbett und schaute sich um. Langsam kam die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Tages, bis er endlich davon überzeugt war, daß er nicht nur träumte. Übrigens war er von keinem seiner Zimmergenossen geweckt worden, denn die lagen noch im Schlaf. Wahrscheinlich hatten sich nur die ersten Strahlen der Morgensonne auf seinem Gesicht getummelt. 61
Richtig, er wohnte jetzt in der „Sachsenstube“ im Strasnicer Emigrantenheim, und die fünf Männer, mit denen er den Raum teilte, waren gute Bekannte seines Vaters. Der hatte auch hier gewohnt, bevor er nach Spanien ging, hatte sogar im selben Bett in der „Sachsenstube“ geschlafen. Als der Junge auf seine Uhr sah – er hatte sie am Kopfende des eisernen Bettgestells aufgehängt – war es gerade fünf. Im Haus war es noch still, nur im Hof regte sich schon Leben. Er unterschied zwei weibliche Stimmen und dann das Geräusch von fließendem Wasser. Nicht allzu fern bellten Hunde, und dazwischen krähten immer wieder Hähne; hier wuchsen wohl Stadt und Land zusammen. Wenn Manfred seinen Blick durchs Fenster gleiten ließ, sah er das frische helle Grün der frühlingsjungen Getreidefelder, die sich unmittelbar an die eine Straßenseite anschlossen. Da er das obere der übereinanderstehenden Betten hatte, konnte er die Umgebung des Heims gut überschauen. Anders als am Rand irgendeiner Dresdner Vorstadt sah es hier auch nicht aus. Wenn ihm trotzdem alles neuartig vorkam, so wohl nur deshalb, weil er wußte, daß er sich in einem fremden Land befand. Am liebsten wäre Manfred sofort aufgestanden, aber er wollte seine Zimmerkameraden nicht stören. Er begnügte sich also damit, durch das Fenster zu starren und den Sonnenball zu betrachten, der hinter einer Bodenwelle hochstieg und aussah wie eine oben abgeplattete Apfelsine. Aber je höher der rote Glutball stieg, desto kleiner wurde er, bis er schließlich als kreisrunde, weißglühende Scheibe am Himmel stand. Nachdem Manfred eine ganze Weile hinausgesehen hatte, kroch er noch einmal unter seine beiden Schlafdecken, heftete den Blick auf die obere Kante des Wandmusters, das von seinem Bett aus fast mit den Händen erreichbar war, und ließ sich die Ereignisse der letzten Woche durch den Kopf gehen. Waren es wirklich erst ein paar Tage, seit er von Tante Adele fortgegangen war? Tante Adele, wie gut war sie doch immer zu ihm gewesen! Nun saß sie sicherlich allein daheim und war vielleicht auf ihn böse, weil er sie heimlich verlassen hatte. Die Erinnerung an die Tante machte ihm das Herz schwer.
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Was seine umherwandernden Gedanken aber auch berührten, stets kamen sie auf den Vater zurück: Obgleich er seine Briefe schon mehrmals gelesen hatte, holte er sie unter dem Kopfkissen hervor und las sie noch einmal. Besonders der letzte Brief wollte ihn nicht loslassen. „Ja, Manfred“, schrieb der Vater, „die Lage ist nicht leicht hier. Das zu verschweigen hätte gar keinen Sinn, und Du bist auch schon alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Aber wenn wir in den letzten Wochen auch an einigen Stellen vor der faschistischen Übermacht zurückweichen mußten, so beeinträchtigt das keineswegs unsere Kampfentschlossenheit. Das spanische Volk ist unschlagbar, und seine Heldentaten sind so groß, daß es schwer ist, sie in einem Brief zu schildern. Wenn es nur gegen seine eigenen Faschisten zu kämpfen hätte, wäre der Spuk des Generals Franco längst vorbei. Wir werden hier so lange ausharren, bis die Kampfkraft der Arbeiter außerhalb Spaniens so stark geworden ist, daß sie es den deutschen und italienischen Faschisten unmöglich macht, die Freiheit fremder Völker mit Gewalt zu erdrosseln. Es kann sein, daß Du Dir denkst: Warum steht in diesen Briefen niemals etwas anderes drin, etwas Schönes, etwas Interessantes, etwas Außergewöhnliches. Du hast vielleicht sogar recht. Eigentlich sollte ich auch darüber sprechen, wie herrlich hier der Himmel ist, wie wundervoll es ist, in einem Olivenhain zu liegen und dem Gesang der Vögel zu lauschen. Auch die Berge und das Meer möchte ich Dir schildern. Und wie gut und hilfreich und großzügig die Menschen sind. Ach, es gäbe so viel zu erzählen. Schließlich kämpfen wir ja gerade darum, daß die Menschen diese Schönheit in Frieden genießen dürfen. Doch es will mir nicht gelingen, über all das zu schreiben, während draußen die Explosionen der Granaten zu hören sind. Sicher wirst Du das begreifen; vielleicht noch nicht heute, aber bestimmt morgen, wenn der Kampf vorbei ist, den die spanischen Arbeiter und Bauern für Spanien führen – und wir deutschen Antifaschisten für Deutschland, das heißt für Dich und mich und alle arbeitenden Menschen unseres Vaterlandes …“ Der Brief hatte noch einen Nachsatz. „Was Du auch an Lügen über die ,Roten’, wie es in den Nazizeitungen heißt, lesen magst, laß Dich nicht davon irremachen. Vergiß nie, daß
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Dein Vater einer von diesen Roten ist und daß er für eine gute Sache kämpft. Sorge Dich nicht um mich. Ich bin gesund und munter und denke stets an den Tag, da wir uns wiedersehen werden in einem befreiten Deutschland.“ Am seitlichen Rand des Briefes stand in dicken Blocklettern: „Den Brief verbrenne nach dem Lesen. Sprich mit niemand darüber. Auch nicht mit Tante Adele.“ Hier in Prag war solche Vorsicht nicht mehr nötig, und Manfred konnte die Briefe aus Spanien aufbewahren und sie hervorholen, sooft es ihm behagte. Ein Knarren und Beben holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Als er hinunterblickte, sah er, daß sich der Bewohner des unteren Bettes anschickte aufzustehen. Er hatte schon die Beine auf dem Fußboden und machte nun, indem er kräftig dabei gähnte, einige Freiübungen mit den Armen. Manfred sah auf die Uhr. Es war sechs. Wenn der da unten aufsteht, kann ich es auch, dachte er. Mit einem Ruck schnellte er hoch und ließ die Beine von seiner Höhe hinunterbaumeln. Ehe er sich versehen hatte, fühlte er sich von starken Händen gepackt und nach unten gezogen. Er rechnete schon damit, auf die Nase zu fallen, aber der Mann unter ihm fing ihn geschickt auf und stellte ihn auf die Füße. „Guten Morgen, Manfred! Gut geschlafen?“ Der Junge sah auf. Er hatte mit seinen Zimmergefährten am vergangenen Abend kaum ein paar Worte gewechselt, und dieser da war überhaupt erst nach Hause gekommen, nachdem Manfred schlafen gegangen war. Dennoch kannte der andere schon seinen Vornamen. Offenbar hatte Manfred seine Verlegenheit nicht ganz verbergen können. Ein Arm legte sich um seine Schultern, und eine tiefe, weiche Stimme sagte: „Wir sind ja alte Bekannte, wenn wir uns auch noch nicht gesehen haben. Übrigens habe ich dich sogar schon oft gesehen – auf einem Foto. Dein Vater hat’s nämlich immer wieder herumgezeigt. Alles was recht ist, du hast dir nicht den schlechtesten Vater ausgesucht. Und was mich betrifft: Ich heiße Richard.“ Vom unteren Bett in der gegenüberliegenden Ecke kam der Ruf: „Pfeifenrichard heißt er, und außerdem hat er die Gewohnheit, wenn’s
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sechse schlägt, so’n Krach zu machen, daß kein Mensch weiterschlafen kann.“ Pfeifenrichard lachte gutmütig, ging auf den Protestierenden zu und zog ihm die Decken weg. „Heute ist der Erste Mai; das hat unser Emil wohl wieder verpennt?“ „Was? Stimmt ja. Dann aber raus aus der Flohkiste!“ Emil sprang von seiner Matratze herunter. Noch ehe die Uhr sieben schlug, saß Manfred mit seinen neuen Freunden beim Frühstück, das ihm so gut wie noch nie schmeckte, obgleich es nur aus dünnem Malzkaffee ohne Zucker, zwei dicken Scheiben Schwarzbrot und einem Klecks Marmelade bestand. Pfeifenrichard legte ihm noch eine Scheibe Blutwurst auf den Teller. Abel“ das war schon ein Luxus, der nicht zur Heimverpflegung gehörte. „Ja, mein Junge, fett leben wir hier nicht. Wenn du aber immer daran denkst, daß jedes Stückchen Brot von den tschechischen Arbeitern kommt, die es sich vielleicht mühsam vom Mund absparen müssen, dann schmeckt es so gut wie ein Schnitzel.“ „Also essen wir noch ein Schnitzel“, meinte Emil und langte nach der zweiten Scheibe Brot, die er mit Salz bestreute, weil er die ganze Marmeladenportion auf die erste gestrichen hatte. Als Genosse Eisenbart kam, um Manfred zu holen, stand er schon piekfein angezogen in der Sachsenstube am Fenster. Auf seinem Rockkragen prangte eine rote Maiblume, die ihm Pfeifenrichard geschenkt hatte. Keiner hätte dem jungen Kühnemann angesehen, daß er nichts anderes besaß, als was er am Leibe und im Rucksack über die Grenze getragen hatte. Sein brauner Fischgrätenanzug hatte sich über Nacht ganz tadellos ausgehangen, und auch das gestreifte Hemd war kaum zerknittert. Eisenbarts Lobesworte über die „prima Sonntagskluft“ waren also ehrlich gemeint. Die Sonne schien am wolkenlosen Himmel, und die roten und blauweiß-roten Fahnen vereinten sich mit dem frischen Grün der Bäume und Sträucher. Schon von der Straßenbahn aus konnten sich Manfreds Augen an dem nie erlebten bunten Treiben satt sehen. Immer wieder mußte die Bahn haltmachen, weil ihr einer der Umzüge, die aus den verschiedenen Stadtvierteln mit Gesang zum Zentrum marschierten, den Weg abschnitt. 65
Welch ein Bild war das! Menschen, Fahnen, Transparente, wehende Kopftücher, lachende Augen. Eisenbart bekam zu tun, sein junger Begleiter hielt nicht mit Fragen zurück. Es gab auch wirklich viel zu fragen, denn woher hätte Manfred wissen können, wer zum Beispiel Mao Tsetung war. Noch nie in seinem Leben hatte er diesen Namen gelesen und dieses Gesicht gesehen. Und auch von der tapferen Spanierin Dolores Ibarruri, deren Bild von buntgekleideten Frauen getragen wurde, hatte er noch nie etwas gehört. Nur als sie an den Porträts von Ernst Thälmann, von Lenin und Stalin vorbeifuhren, brauchte er sich nicht an Eisenbart zu wenden. Auch Hitler erkannte er sofort. Zwei jugendliche Arbeiter trugen den „Führer“ zwischen sich auf einem großen Gestell – einen riesigen Hampelmann aus Holz und Pappe, der immer das Maul auf- und zumachte, während sich seine spindeldürren Arme auf und ab bewegten. In den Händen hielt er eine Bombe und einen Geldsack. Manfred freute sich, daß sie das letzte Stück zum Wenzelsplatz zu Fuß zurücklegen mußten. So mitten im Gewühl, zwischen all diesen Männern, Frauen und Jugendlichen, die sich lärmend unterhielten, lachten oder auch ein Liedchen pfiffen, fühlte er sich geborgen und stark: Er war Teil einer großen Gemeinschaft. Jetzt, im fertigen Maischmuck und dichten Menschengewimmel, hatte dieser langgestreckte breite Platz ein ganz anderes Aussehen als tags zuvor. Das Standbild des reitenden, gepanzerten Heiligen Wenzel schien plötzlich lebendig geworden zu sein. Aber was das Seltsamste war: All die vielen Menschen kannten sich, jedenfalls mußte man das annehmen, denn jeder grüßte jeden. Da rief einer dem anderen ein „Nazdar!“ zu, dort wiederum hörte man einen „Cest práci!“ rufen. Junge Burschen hielten sich an der Hand und bildeten lange Ketten, die sich vorwärtsschlängelten, wobei sie meist irgendeine fröhliche Melodie sangen. Am Platz der Republik den kommunistischen Abgeordneten Antonin Zápotocký sprechen zu hören, erwies sich als nicht möglich. Die Menschenstauung wurde immer undurchdringlicher. Weder Straßenbahnen noch Kraftfahrzeuge hätten sich durch die Innenstadt fortbewegen können. In ganzer Breite, Gehsteig und Fahrbahn einnehmend, schoben sich
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die Prager dichtgedrängt durch die Straßen. Prag schien zu einer einzigen Familie geworden zu sein. Sogar die Polizisten zeigten freundliche Gesichter und stimmten in die Losungen ein, die immer wieder aus der Menge erklangen. Eine Weile wurden unsere beiden Freunde von den Wogen hin und her getrieben. Dann begann ein unwiderstehliches Drängen vom Platz der Republik her. Die Kundgebung der Kommunistischen Partei war beendet, und ihre Teilnehmer zogen zum Wenzelsplatz, wo sich Kommunisten, Sozialdemokraten, Volkssozialisten und Parteilose zu einer gemeinsamen Manifestation trafen. Der Platz faßte bald so viele Menschen, daß keine Stecknadel mehr hätte zu Boden fallen können. Alle Fenster und Balkons waren besetzt, selbst an den Kandelabern hingen Kinder und Jugendliche wie die Beeren an einer Traube. Während Manfred damit beschäftigt war, einige an den Häuserfronten angebrachte Inschriften zu buchstabieren, hörte er seinen Namen rufen. Im ersten Augenblick kam es ihm gar nicht in den Sinn, daß er damit gemeint sein könnte. Aber – die Stimme kannte er doch? Natürlich, sie
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gehörte Tonda, seinem neuen Bekannten von der Koruna. Er sah sich um. Da kam es erneut, deutlich und klar, wie aus dem Himmel: „Manfred!“ Jetzt gewahrte er Tonda. Er ritt auf einem dicken Ast des Straßenbaumes, in dessen Schatten sich Manfred befand. „Pojd’ nahoru! – Komm herauf!“ rief Tonda. Vor Freude darüber, den deutschen Jungen erspäht zu haben, riß er sich seine karierte Sportmütze vom struppigen Schopf und schwenkte sie wild durch die Luft. Eisenbart, auf Tonda aufmerksam geworden, warf ihm einige Worte in Tschechisch zu. Offenbar hatte er ihm zu verstehen gegeben, daß er Manfred nicht auf den Baum hinauflasscn würde, denn Tonda machte sich daran, am Stamm hinabzurutschen, nicht ohne den Protest der Menschen hervorzurufen, über deren Köpfen sich das alles abspielte. Kurze Zeit darauf stand er neben Manfred und sprach auf ihn ein. Immer wieder kam in seinem Kauderwelsch aus Deutsch und Tschechisch der Satz vor: „Hitler? Wir kein Angst.“ Er hatte recht. Die halbe Million Prager, die hier im Herzen der Moldaustadt auf dem historischen Wenzelsplatz versammelt war, zeigte keine Furcht. Empörung und Entschlossenheit leuchtete in allen Gesichtern, und wenn aus dem Lautsprecher Worte kamen, die die besondere Zustimmung der Zuhörenden fanden, erzitterte der Platz von Beifallsrufen. Zum Schluß stimmten die Menschen ein Lied an. Da alle die Köpfe entblößten – auch Tonda zog seine Mütze vom Kopf –, erriet Manfred sofort, daß dies die tschechoslowakische Nationalhymne war. Die Melodie erhob sich feierlich langsam und ging dann in einen lebhaften und siegesbewußten Rhythmus über. Auch Genosse Eisenbart, den einen Arm um Tonda, den anderen um Manfred gelegt, sang mit, den Kopf erhoben und die Augen nach oben gerichtet. Manfred erinnerte sich an die Schlußworte des Gedichts aus der „Roten Fahne“: Ob Tscheche, Deutscher, einerlei! Dies unser Schwur zum 1.Mai! Daß er selbst zu dieser Gemeinschaft gehörte, schien ihm etwas ganz Selbstverständliches. Ohne sich dessen bewußt zu werden, versuchte er, die Melodie mitzusummen. „Wir stärker als Hitler“, sagte Tonda, als sie sich mit dem Menschen-
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strom den Platz hinauf zum Museum bewegten. „Pařiž, Praha, Moskva viel stark!“ fügte er noch hinzu. Sie hatten inzwischen das obere Ende des Platzes erreicht. Der Geruch heißer Würstchen schlug ihnen entgegen. Tonda blieb stehen und blähte die Nasenlöcher. „Wie wär’s mit einer Wurst?“ fragte Eisenbart seine beiden Begleiter. Er brauchte die Frage nicht zu wiederholen. Tonda stellte sich sofort in die Reihe der Hungrigen, die sich vor dem Stand des Würstchenverkäufers angesammelt hatte, zog Manfred an seine Seite und sagte, indem er dabei einen schmatzenden Ton ausstieß: „Párky prima!“ Nachdem sie ihre saftigen Würstchen verzehrt hatten, verabschiedete sich Tonda. Manfred mußte versprechen, ihn in den nächsten Tagen zu besuchen. Und Manfred versprach es, denn er hatte seinen neuen Freund bereits ins Herz geschlossen.
10. KAPITEL Lange brauchte Tonda nicht auf Manfred zu warten. Nach drei Tagen hatte der sich die für jeden politischen Emigranten notwendigen Papiere bei den Behörden besorgt und konnte sich nun sozusagen als Prager betrachten. Allerdings durfte er als Ausländer keine Arbeit annehmen. Doch die Genossen im Strasnicer Heim hatten für häusliche Zwecke eine kleine Tischlerwerkstatt eingerichtet. Dort war der blonde Emil aus der Sachsenstube Chef. Also würde Manfred seine unterbrochene Lehre recht und schlecht fortsetzen können. Emil jedenfalls hatte sich bereit erklärt, Manfred als Gehilfen anzunehmen. Mit der Arbeit in der Werkstatt hatte es allerdings noch Zeit, denn im Augenblick stand kein Holz zur Verfügung, und da gab es auch nichts zu tischlern. Es war Sonnabend, als sich Manfred auf den Weg zu seinem tschechischen Freund machte. Diesen Tag hatte er gewählt, weil er sich sagte: Da hat Tonda bestimmt nachmittags keine Schule. 69
In Prag fand sich Manfred schon einigermaßen zurecht, denn er hatte bei. seinen Wegen in die Stadt immer gut aufgepaßt. Auch die tschechische Schreibweise und Aussprache hatte er schon begriffen, ja, er beherrschte sogar zwei Dutzend Wörter. Das hatte er sich vorgenommen: Als erstes erlerne ich die Sprache, denn in einem Land zu leben, ohne seine Sprache zu kennen, das ist beinahe so, als lebte man stumm wie ein Fisch im Wasser, ja noch schlimmer, sind doch im Wasser alle Fische stumm, in Prag aber gehe ich durch belebte Straßen, in denen es nur so summt vor Gesprächen. Den Ratschlag, recht schnell Tschechisch zu lernen, hatte ihm übrigens auch Eisenbart gegeben, der selbst die Sprache seines Asyllandes ganz gut beherrschte. Die Reise dauerte eine halbe Stunde. Manfred nutzte die Zeit, um die Wörter zu wiederholen, die er in ein dafür angeschafftes Büchlein geschrieben hatte. Es waren ein paar ganz verflixt schwere Brocken dabei. Zum Beispiel das Wort „Senf“. Auf tschechisch heißt das „hořčice“. Das „r“ mit dem Häkchen darüber wird aber wie „rsch“ ausgesprochen und das „c“ mit dem Häkchen wie „tsch“. Dann stand Manfred im vierten Stock des Hauses Řimská Nr. 3 und suchte das Türschild mit dem Namen František Novotný. Wie gut, daß er sich auch den Vornamen von Tondas Vater aufgeschrieben hatte. In der benachbarten Wohnung wohnte ebenfalls eine Familie Novotný. Bevor er klingelte, schaute Manfred noch einmal in sein Wörterbüchlein und wiederholte auf tschechisch die Frage: „Ist Tonda zu Hause?“ Eine rundliche, mittelgroße Frau öffnete und sah in fragend an. „Je Tonda doma?“ sagte Manfred, voller Erwartung, ob Frau Novotný das verstehen würde. Die Frau lud ihn mit einer Handbewegung ein, hereinzukommen und rief mit lauter Stimme: „Tonda! Tonda!“ Tatsächlich – Tonda kam und begrüßte den Besucher stürmisch. Ehe sich Manfred versehen hatte, befand er sich in der engen Küche, die den Novotnýs auch als Wohnstube zu dienen schien. Die beiden kleinen Mädchen waren sicher die Geschwister Tondas. Sie schauten sich an, starrten dann auf Manfred und tuschelten miteinander.
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Tondas Mutter stellte Kaffeetassen hin, machte einen gehäuften Teller Schmalzbrote zurecht und forderte den jungen Gast auf, sich zu bedienen. Als dieser ein wenig zögerte, sagte sie, daß dort, wo fünf Münder satt würden, auch ein sechster gestopft werden könne. Im übrigen sei ihr Mann ja glücklicherweise wieder in Arbeit. Manfred brauchte sich also nicht zu genieren, bei ihnen etwas zu essen. Der Junge verstand allerdings kein einziges Wort. Als er aber Tonda und die beiden Mädchen zugreifen sah, nahm er sich auch ein Schmalzbrot und aß mit großem Appetit, obgleich er zu Mittag eine tüchtige Portion Knödel verzehrt hatte. Nach dem Kaffee langte sich Tonda seine Mütze und winkte Manfred, mit ihm zu kommen. Der stand auf, machte eine ungeschickte Verbeugung vor den beiden Schwestern seines Freundes, reichte Frau Novotná die Hand und sagte: „Na shledanou! – Auf Wiedersehen!“ Die beiden schlenderten den Wenzelsplatz hinunter, bogen in den Graben ein, wie die große Straße heißt, die zum Platz der Republik führt. Als sie an einem Straßenverkäufer vorbeikamen, der auf einem Klapptischchen geröstete Erdnüsse verkaufte, blieb Tonda stehen, wühlte in der Hosentasche, brummte etwas und ging weiter. Anscheinend reichte sein Geld nicht, um die verlockenden bräunlichen Dingerchen zu kaufen. Manfred griff nun seinerseits in die Tasche und holte einige Kronenstücke heraus. Doch Tonda schüttelte den Kopf. „Nicht. Andermal.“ Sie blieben ab und zu vor den Auslagen der Geschäfte stehen, und Tonda mußte erklären, wie das oder jenes, worauf Manfred mit dem Finger zeigte, auf tschechisch hieß. Schließlich kamen sie zur Kettenbrücke. „Wie bei uns das Blaue Wunder“, erklärte Manfred. Es gelang ihm aber nicht, dem anderen klarzumachen, daß er eine Brücke in seiner Heimatstadt meinte. Im großen und ganzen jedoch ging die Verständigung immer besser, und er lernte wieder eine ganze Menge neuer Wörter. Oft blieb er stehen und schrieb sie gleich in sein Heft hinein. Sie stiegen den Letná-Berg hinauf und machten es sich auf einer Bank unter den herrlichen alten Parkbäumen bequem. Manfred reckte sich und atmete die wundervolle Mailuft ein. Er kam sich vor wie auf einem
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Ferienspaziergang. Tonda holte ein dickes Stück Baumrinde und ein Klappmesser aus der Tasche und begann, während er ein Liedchen vor sich hin pfiff, die Rinde zu bearbeiten. Es gehörte nicht viel dazu, um zu erkennen, daß er dabei war, ein Schiffchen zu schnitzen. Manfred sah eine Weile der Tätigkeit seines Freundes zu, fragte ihn gelegentlich nach diesem oder jenem Wort, wobei Tonda mit Hilfe von Gesten oder auch von kleinen Zeichnungen, die er mit der Spitze seines Schuhes in den Sand machte, der Verständigung nachhalf. So unterhielten sich die beiden eine ganze Weile. Sie mußten viele Wörter tauschen, ehe sie sich das gesagt hatten, was sie sich hatten sagen wollen. Jedenfalls waren sie bald auf Spanien zu sprechen gekommen, und je länger und eifriger sie sich damit beschäftigten, desto klarer formte sich im Kopf des jungen Emigranten ein Gedanke: Ich melde mich als Freiwilliger zu den Internationalen Brigaden. Aus allen Ländern waren die Freunde des spanischen Volkes nach Spanien gegangen, viele Tausende hatten einen Weg gefunden, um dorthin zu gelangen. Warum sollte es nicht auch ihm möglich sein? Jeder würde seinen Wunsch verstehen, an der Seite des Vaters kämpfen zu dürfen. Hatten nicht Jungen wie er sogar auf den Barrikaden des Jahres 1848 gekämpft? Erst scheute er sich, seinen Gedanken auszusprechen. Vielleicht lachte ihn Tonda aus. Doch schließlich überwand er seine Hemmung und sagte geradeheraus, was ihm auf dem Herzen lag. Und Tonda dachte gar nicht daran, sich über ihn lustig zu machen. Im Gegenteil: Er klappte sein Messer zusammen, schob das halbfertige Schiffchen in die Hosentasche, sprang auf und rief: „Du, Španělsko, ich Španělsko, prima!“ Auf dem Heimweg redeten sie nur noch über ihren Plan. An den Häusern der großen Zeitungen hingen in Vitrinen Fotografien; die Jungen blieben stehen und suchten nach Bildern über den Kampf in Spanien, und von dem Schaufenster einer Buchhandlung konnten sie sich überhaupt nicht mehr trennen: Dort war eine Karte mit der Pyrenäen-Halbinsel ausgestellt. Am Wenzelsplatz verabschiedeten sie sich. Tonda sollte zu Hause nichts von ihren Plänen sagen, aber Manfred würde Genossen Eisenbart fragen, wo man sich als Freiwilliger zu den Internationalen Brigaden nach Spanien melden könne.
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11. KAPITEL So einfach war das gar nicht, mit Eisenbart über ihren Plan zu sprechen. Tonda ging noch zur Schule, und der wollte sich nach Spanien melden? Jedenfalls durfte man von solchen Dingen überhaupt nicht reden? Jedenfalls hatte Manfred wenig Erfolg gehabt, als er sich in der Sachsenstube nach dem Verbleib eines Zimmerbewohners erkundigte, der seit zwei Tagen ohne Abschied fortgeblieben war. „Der kluge Mann fragt weniger und denkt mehr“, hatte ihm Richard Zaurich freundlich, aber doch ernst zugleich darauf geantwortet. Und der blonde Emil hatte nur gesagt: „Na, wo soll er schon hin sein?“ Mehr war nicht herauszukriegen gewesen, und plötzlich war Manfred der Gedanke gekommen: Spanien! Manfred beschloß also, die Sache mit Tonda Novotný noch einmal ordentlich zu beraten. Doch es verging fast eine Woche, ehe er ihn erwischte. „Mensch, wo steckst du bloß!“ rief Manfred, als er ihn schließlich ganz zufällig am Pulverturm traf. Und Tonda sagte etwas auf tschechisch, was ungefähr das gleiche ausdrücken mochte. „Gehen wir in die Koruna Puffer essen“, schlug Manfred vor. Er hatte für seine Arbeit in der Werkstatt ein Taschengeld bekommen und sah keinen Grund, warum er sich nicht wieder einmal etwas leisten sollte. Daß Tonda nicht nein sagen würde, war ihm klar. Der war auch sofort einverstanden und nahm sogar das Risiko in Kauf, von der Mutter wegen späten Heimkommens gescholten zu werden, denn zu Hause wartete man auf ihn mit dem Mittagessen. Mit langen Schritten, die Schultasche hin und her schlenkernd, hielt er sich an Manfreds Seite. „Was los, Španělsko?“ fragte er nach einer Weile. „Nicht so einfach“, bekam er zur Antwort. „Genosse Eisenbart nicht wollen?“ „Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen“, gestand Manfred. „Tak. Eisenbart noch nicht weiß.“
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„Hm“, brummte Manfred. Es war ihm unangenehm, zugeben zu müssen, daß er eigentlich noch gar nichts erreicht hatte. Tonda könnte am Ende annehmen, er, Manfred, sei zu feig gewesen, um mit Eisenbart zu sprechen. Doch Tonda verstand ihn sehr gut. Er hatte selbst schon hin und her überlegt, wie er es seinen Eltern beibringen sollte. Während sie sich mit ihren Tellern in eine abgelegene Ecke zurückzogen, fiel Manfred wieder jener erste Tag hier in der tschechoslowakischen Hauptstadt ein. Hätte er damals nicht gerade Appetit auf Kartoffelpuffer gehabt, oder hätte er den Schwarzen Robert nicht auf dem Bahnhof verloren, wäre ihm Tonda nie begegnet. Die Kartoffelpuffer stillten nicht nur den Hunger, sie hatten offenbar auch die Eigenschaft, wenn sie einem wohlig im Magen lagen, Mut, Optimismus und Unternehmungsgeist gehörig anzuspornen. Die Erwachsenen würden ihnen kaum bei der Verwirklichung ihrer Pläne helfen. Aber sollten sie deshalb das Unternehmen aufgeben? Aufgeben, das entsprach wenig dem Charakter Tondas, und Manfred gehörte auch nicht zu den Naturen, die sich von Schwierigkeiten schnell einschüchtern ließen. Um es kurz zu machen: Die beiden Jungen beschlossen, sich auf eigene Faust nach Spanien durchzuschlagen. Natürlich nicht gleich von den Kartoffelpuffern weg, aber jedenfalls so bald wie möglich. Juni oder Juli würde die günstigste Zeit sein, meinte Tonda, denn da könnte man notfalls auch im Freien übernachten. Zwei Tage nach dieser bedeutsamen Unterredung trafen sich die beiden zukünftigen Spanienreisenden bei Novotnýs in der Wohnung. Tondas Mutter war einkaufen gegangen. Die Mädchen hatte sie mitgenommen. So konnten Manfred und Tonda ungestört ihren Plan entwickeln. Über eines waren sie sich klar: Eine Reise nach Spanien würde eine tüchtige Stange Geld kosten, selbst wenn sie bei Bauern oder einfach in Wäldern oder an anderen geschützten Stellen die Nächte verbrachten. Sicherlich würden sie da und dort auch etwas umsonst zu essen bekommen, aber darauf konnten sie sich nicht verlassen. Als erstes also mußten sie ein ordentliches Reisekapital beschaffen. Schließlich könnten sie ja auch – wenn sie genug Geld zusammen74
bekämen – streckenweise mit der Eisenbahn fahren, denn den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen war nicht empfehlenswert. Jetzt kam es gerade darauf an, schnell nach Spanien zu kommen, wollte man noch von Nutzen sein. Was die Ausrüstung betraf, so meinte Manfred, daß er schon alles Notwendige besitze. Für ihn sei es ja weiter nichts als die Fortsetzung seiner Reise, die er in Dresden begonnen habe. „Und außerdem“ – Tonda fand, sein Freund spiele sich ein bißchen auf – „habe ich Erfahrung, heimlich über Grenzen zu gehen.“ Aber auch für Tonda würden sich ein guter Rucksack und ein Paar feste Schuhe auftreiben lassen. Zuerst müsse man nur eine Kasse anlegen, erklärte Manfred, und begann auch gleich, sein Geld zu zählen. jetzt tat es ihm fast leid, daß er einige Kronen im Automaten-Buffet ausgegeben hatte. Tonda holte seine Sparbüchse – eine Zigarettenschachtel. Allerdings enthielt sie nicht mehr als siebzehn Kronen. Dafür konnte man zwar eine ganze Menge Puffer, belegte Brötchen oder geröstete Kastanien erstehen, aber für eine viele hundert Kilometer lange Reise war das natürlich so gut wie nichts. Manfred war gegen Tonda geradezu ein reicher Mann, denn er verfügte über fünfzig Mark, die er aus Deutschland mitgebracht hatte, und ein paar Kronen waren ebenfalls noch vorhanden. Auf alle Fälle: Für zwei war das zuwenig. Also blieb kein anderer Weg, als auf irgendeine Art und Weise Geld zu verdienen. Das war aber leichter gesagt als getan, denn niemand durfte etwas merken. Manfred erinnerte sich, Jungen gesehen zu haben, die am Wenzelsplatz Zeitungen verkauften. Das würde er auch fertigbringen. Aber wenn Eisenbart oder einer der anderen Genossen aus dem Strasnicer Heim ihn sehen würde? Und was sollte er Emil sagen, wenn er von der Arbeit in der Werkstatt zu häufig fernblieb? Dafür hatte Tonda einen guten Einfall. Man könnte auf den Obstmarkt gehen und den Frauen die Körbe und Netze tragen. Oder auf den Bahnhof. Besonders wenn die Auslandszüge eintrafen, müßte man
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leicht Geld verdienen können, denn Ausländer, so meinte Tonda, hätten ja immer dicke Brieftaschen. „Und die Gepäckträger?“ wandte Manfred ein. Die jedoch fürchtete Tonda nicht. Es hieß nur gut aufpassen, daß man nicht zu sehr auffiel. Oft kämen so viele Reisende, daß die Träger gar nicht ausreichten. Als er sah, daß der Freund noch überlegte, rief er „Zkusme to!“ Das hieß: „Versuchen wir’s!“ Manfred kannte das Wort noch nicht, wollte es sich aber nicht anmerken lassen und nickte deshalb zustimmend. Tonda sprang auf, schlug seinen Freund auf die Schulter und holte seine Mütze vom Haken. In diesem Augenblick erschien Mutter Novotná mit den beiden Kleinen. Als sie ihren Sprößling sah, nahm sie ihm die Mütze aus der Hand und ließ sich von ihm die Schulhefte zeigen. Tonda wurde rot. Erstens hatte er seine Aufgaben noch nicht gemacht, und zweitens gefiel es ihm gar nicht, in Manfreds Gegenwart kontrolliert zu werden. Manfred hingegen war froh, daß er die ganze Sache mit dem Gepäcktragen noch einmal gründlich überschlafen konnte. Er wollte sich schon verabschieden, aber das erlaubte Mutter Novotná nicht. Wer bei ihr um die Vesperzeit zu Besuch war, durfte nicht gehen, ohne sich einen Schluck Kaffee und ein paar selbstgebackene Buchteln einverleibt zu haben. Ja, gut schmeckten die mit Pflaumenmus gefüllten Teigdinger, und sie hätten ihm noch viel besser geschmeckt, wenn sich nicht sein Gewissen gemeldet hätte. Da bewirtete ihn nun die Mutter seines Freundes, und er saß hier und war dabei, ihren Jungen ohne ihr Wissen in ein fremdes Land, wo Krieg war, zu entführen. Doch hatte er ihn aufgefordert, mit nach Spanien zu gehen? Nein, das hatte Tonda selbst verlangt. Oder hätte er sagen können: Ich fahre, und du bleibst hier? Natürlich nicht. Und wenn es um die Hilfe für die tapferen Spanier ging, mußte man schon mal etwas tun, was man sonst vielleicht nicht so ohne weiteres täte. Als er wieder in der Straßenbahn saß und Zeit hatte, in aller Ruhe über seine Abmachung mit Tonda nachzudenken, kam er zu dem Schluß, daß er so handelte, wie Onkel Bob und Eisenbart und auch der Vater 76
handeln würden, wenn sie in seiner Lage wären. Er fuhr gerade an einer langen Mauer vorbei, die in großen, weißen Buchstaben die Losung trug: WER SPANIEN HILFT, HILFT DER EIGENEN HEIMAT! War das nicht eine Bestätigung seines Planes? Ohne es zu merken, begann er ein Lied vor sich hin zu pfeifen. Er hatte es im Emigrantenheim gelernt, und es hatte ihm besonders gefallen. In Gedanken sang er auch die Worte mit: „Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsern Schützengräben aus. Und der Morgen leuchtet in der Ferne …“ Doch was war das? Manfred schaute auf. Da pfiff ja einer mit! Es war ein Soldat, der nicht weit von ihm saß. Der Fremde erwiderte den Blick, als wollte er sagen: Du bist schon richtig, mein Junge!
12. KAPITEL Das war ein Festtag: Genosse Eisenbart kam mit Post vom Vater! Nun hatte Manfred endlich die Bestätigung, daß sein Brief, den er noch am Abend des Ersten Mai abgeschickt hatte, angekommen war. Paul Kühnemann schrieb an seinen Sohn: „Mein lieber Manfred! Ich bin traurig und glücklich zugleich. Traurig, weil Du trotz Deiner Jugend die Heimat verlassen mußtest und nun das schwere Leben eines politischen Flüchtlings zu führen hast. Auch schmerzt es mich, daß die gute Tante Adele nun allein ist und daß Du nicht einmal hast von ihr Abschied nehmen können. Aber daß heute solche Situationen entstehen, ist nicht unsere Schuld, sondern die unserer Feinde. Ich sagte auch, daß ich glücklich bin. Ja, ich bin glücklich, weil wir uns jetzt viel näher sind als bisher. Zwar ist Dresden nicht weiter von hier als Prag, aber allein daß Du mir Briefe schreiben kannst, die alles enthalten dürfen, was Du auf dem Herzen hast, bringt Dich mir nah. Besonders aber bist Du mir nahe, weil Du Dich in einem Lande befindest, das wie kein anderes vom Hitlerfaschismus bedroht ist und dessen Bevölkerung so aufrecht den Erpressungen des deutschen Faschismus die Stirn bietet. 77
Mein lieber Junge! Es ist für mich eine Beruhigung zu wissen, daß Du gute Menschen um Dich hast, die genauso denken wie ich und die Dir so lange Vater sein werden, wie ich nicht bei Dir sein kann. Daß Du schon einen tschechischen Freund hast, habe ich mit Freude gelesen. Gut ist auch, daß Du fleißig Tschechisch lernst. Es ist wichtig, die Sprache seines Gastlandes zu beherrschen. Ich habe mich ebenfalls bemüht, Tschechisch zu lernen, und jetzt lerne ich Spanisch. Denke aber auch an Deinen Beruf. Du mußtest Deine Lehrstelle bei Meister Roderich verlassen. Das ist sehr schade. Wenn Du eine Möglichkeit hast, in Prag Deine Berufsausbildung fortzusetzen, so ergreife sie. Das Tischlerhandwerk ist ein sehr schöner Beruf. Eines Tages wirst Du wieder in die Heimat zurückkehren und friedlicher Arbeit nachgehen. Da wird es sich als notwendig erweisen, etwas zu können. Glaube mir, ich würde lieber den Hobel führen als auf einem Panzer fahren. Krieg ist keine erfreuliche Tätigkeit, mögen uns auch die Umstände zwingen, im Interesse der Freiheit Waffen zu tragen. Hoffen wir, daß es Dir erspart bleibt. Zum Schluß, lieber Manfred, noch einen Ratschlag: Halte Dich immer an das, was Dir die Partei sagt. Bei ihr hole Dir stets Rat, wenn Du ihn brauchst. Wir Kommunisten sind deshalb so stark, weil wir eine große, feste Familie bilden. Wer das Glück hat, ihr anzugehören, wird nie allein sein, ob er sich im Gefängnis, in der Fremde oder im Schützengraben befindet. Es grüßt und küßt Dich Dein Vater.“ Als Manfred den Brief zweimal durchgelesen hatte, war er sehr nachdenklich geworden. Um seinen Beruf sollte er sich kümmern, die tschechische Sprache erlernen, sich immer an das zu halten, was ihm die Partei sagte. Und sich auch an sie wenden, wenn er Rat brauchte. Müßte er nicht doch mit Eisenbart sprechen? Aber der würde bestimmt erklären: Du bleibst hier und lernst, wie es dir dein Vater geschrieben hat. Für Spanien bist du zu jung. Auf einmal wünschte Manfred, einige Jahre älter zu sein. Im Waschraum stand ein alter Spiegel; vor dem betrachtete er sich in
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seiner ganzen Länge und fand, daß er sich, was die Körpergröße betraf, mit vielen erwachsenen Bewohnern des Heimes messen konnte. Auch im Gesicht sah er gar nicht so furchtbar jung aus, wenn er die Stirn ein wenig kraus zog und die Lippen schürzte. Eine Hornbrille würde nötigenfalls das übrige tun, wenn es darauf ankäme, sich vor einer Musterungskommission als etwas älter ausgeben zu müssen. Beim Mittagessen traf er Eisenbart. Während der an einem zäh ausgefallenen Hefeknödel herumschnitt, erkundigte er sich bei Manfred, was denn der Vater geschrieben habe. Jetzt war die Gelegenheit da, über Spanien zu sprechen. Doch wieder hielt Manfred die Gewißheit zurück, daß Eisenbart Einwände gegen den Plan erheben würde. Vor diesem Nein fürchtete er sich, denn er fühlte: Gegen Eisenbarts Entscheidung durfte er nicht handeln. Das war die Partei, und was sie sagte, das galt. In diesem Punkt war er entschlossen, sich streng an den Rat des Vaters zu halten. Andrerseits brauchten die Spanier Hilfe. Schrieb nicht der Vater auch, daß nur die Solidarität der Arbeiter aller Länder dem spanischen Volk die Freiheit erhalten könnte? Wo Hilfe nötig war – wer durfte da erst lange fragen? „Er schreibt das gleiche wie im letzten Brief“, sagte Manfred mit einiger Verspätung, und nach einem Weilchen fügte er hinzu: „Ich soll tüchtig lernen … Er fragt, wie es mir geht.“ Manfred war sich immer noch nicht ganz klar, ob er seine Frage nicht doch stellen sollte. Da erhob sich Eisenbart. Er hatte schon früher sehr viel zu tun gehabt, seit aber Hitlers Kriegsdrohungen gegen die Tschechoslowakei immer frecher wurden, fand Eisenbart überhaupt kaum noch eine freie Minute. Gerade jetzt hatten die deutschen Antifaschisten die besondere Aufgabe, das tschechische und slowakische Volk über den grausamen Charakter des deutschen Faschismus aufzuklären. Da blieb für solche Genossen wie ihn oft nicht einmal die Zeit, um in Ruhe zu essen. Der junge Kühnemann freute sich stets, wenn Eisenbart zu ihm an den Tisch kam und mit ihm ein wenig plauderte, sich nach seinem Befinden erkundigte oder aus einem reichen Schatz von Erinnerungen etwas auspackte und vor ihm ausbreitete. Doch diesmal dachte Manfred: Ein Glück, 79
daß er geht. Der hätte bestimmt gemerkt, daß ich was vorhabe. Und wenn er gefragt hätte? Er holte seine geliebten Briefe aus der Tasche, blätterte darin herum. Hm, was meinst du, Vater? Soll ich … Klar, ich muß! Ach was, ich schreibe einfach, daß ich komme. Aber nein, lieber nicht. Wozu überhaupt darüber reden? Besser kein Wort, schon wegen Tonda. Ich hab’s! Ich schreib: Hoffentlich sehen wir uns bald … Ja, das schreibe ich …, und zwar sofort. Als der Tag kam, für den er mit seinem tschechischen Freund am Bahnhof verabredet war, hatte er die letzten Zweifel niedergerungen. In der Zeitung hatte er wieder einen Bericht über Spanien gelesen, aus dem hervorging, daß Hitler und Mussolini immer mehr Flugzeuge, Panzer und Soldaten schickten. Konnte es da schwerfallen, sich zu entscheiden? So machte er sich mit gutem Gewissen auf den Weg zur Straßenbahn, um in die Stadt zu fahren.
13. KAPITEL Es ging alles viel leichter, als Manfred gedacht hatte. Da er kräftig gebaut war und man ihn gut für einen Siebzehnjährigen halten konnte, vertrauten ihm die Leute ohne weiteres auch ein schwereres Gepäckstück an. Wenn Tonda dagegen einen Koffer tragen wollte, mußte er sich oft einen zweifelnden oder gar geringschätzigen Blick gefallen lassen. Die Arbeitsweise der beiden Jungen war sehr einfach. Sie hatten sich am Fahrplan orientiert, um welche Zeit Auslandszüge einliefen. Es gehörte nicht viel Verstand dazu, von den Gesichtern abzulesen, wer nach einem Träger suchte. Besonders bei den Frauen waren die Aussichten gut, denn die kamen oft mit vielen kleinen Päckchen und Taschen an, und da der Mensch nur zwei Hände hat, war ihnen meist eine Hilfe recht willkommen. Nachdem Manfred und Tonda einige Nachmittage am Masaryk-Bahnhof verbracht hatten, fehlte es ihnen nicht mehr an Erfahrung. Kurz vor Ankunft eines Zuges postierten sie sich in der Nähe der Sperre und ließen 80
erst einmal die Gepäckträger vorbei. Dann war der Weg frei, auf Kundschaft Jagd zu machen. Sogar eine Bahnsteigkarte steckten sie sich vorsichtshalber ein, denn manchmal standen die Reisenden mit ihren Koffern jenseits der Barriere und warteten dort darauf, daß jemand käme, um ihnen das Gepäck zu tragen. Die Bahnsteigkarte benutzten sie allerdings nur selten, denn meist konnte man auch außerhalb der Sperre einen Koffer erwischen. Sie hatten untereinander eine gewisse Einteilung: Die Reisenden mit umfangreichem Gepäck fischte sich Manfred, die anderen blieben für Tonda. Erst hatte sich der ein bißchen dagegen gewehrt, weil er es nicht hatte wahrhaben wollen, daß sein Freund mehr Kräfte besaß als er. Tatsachen bleiben aber Tatsachen. Manfred war nun einmal älter und größer und stärker. So schickte sich Tonda eben darein, und es klappte wunderbar. Abends ging keiner nach Hause, ohne seine zehn bis zwanzig Kronen verdient zu haben. Da alles in eine gemeinsame Kasse ging, war es ohnehin egal, wer mehr einnahm, wenn auch jeder den Ehrgeiz hatte, die höhere Summe abzuliefern. Daß es immer glatt abgelaufen wäre, kann man natürlich nicht behaupten. Es gab Reisende, die sehr knausrig waren und glaubten, Tonda würde mit lumpigen fünfzig Hellern zufrieden sein, wenn er ihnen einen Koffer zur Aufbewahrungsstelle oder zum Taxi getragen hatte. Auch Manfred hatte manchmal das Pech, auf solche Geizkragen zu stoßen. Da er sich aber als Emigrant fürchtete, aufzufallen und mit der Polizei in Berührung zu kommen, zog er es vor, in solchen Fällen zu schweigen. Anders Tonda. Der genierte sich gar nicht, loszulegen, wie er es gewohnt war. Meist hatte er damit Erfolg, denn die Knauser hatten selbstverständlich keine Lust, wegen einer Krone oder zwei einen Menschenauflauf zu verursachen, in dessen Mittelpunkt sie als Ausbeuter eines kleinen Jungen stehen würden. So gaben sie mit saurer Miene und einigen Schimpfworten wie „Flegel“, „Gauner“, „Halsabschneider“ noch etwas zu. Aus dem Geschimpfe machte sich Tonda nicht allzuviel, weil er sich im Recht fühlte. Er dachte sich nur: Gauner und Halsabschneider seid ihr selber! Und diese Methode reichte aus, seine gute Laune zu erhalten.
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Manfred, wie gesagt, mußte als Ausländer und Emigrant schon etwas mehr auf der Hut sein. Vor allem wollte er vermeiden, von Genossen bei seiner Tätigkeit beobachtet zu werden. Besonders fürchtete er, daß einer ihn beim Blonden Emil verraten könnte. So ungern er log – und schon gar einem so guten Freund und Genossen gegenüber wie Emil –, was hätte er anderes tun können, als irgendeinen wichtigen Weg vorzuschützen, wenn er mit Tonda am Bahnhof verabredet war. Einmal wäre die Sache fast schiefgegangen. Ein Zug war eingelaufen. Zwischen den Menschen, die sich durch die Sperre schoben, fiel ihm ein Reisender mit zwei braunen, offensichtlich schweren Koffern auf. Als der Mann aus dem Gedränge heraus war, stellte er seine Last ab und hob den Kopf wie einer, der nach jemand sucht. Da er den Kragen seines grauen Regenmantels hochgeschlagen hatte, konnte Manfred nicht sehen, ob es ein junger oder ein alter Mann war. Mit jüngeren hatte er schlechte Erfahrungen gemacht, die wiesen ihn oft schroff oder verächtlich ab. Wer aber mit zwei so schweren Koffern auf dem Bahnhof herumstand und Ausschau hielt, der wartete sicherlich auf einen Träger. Manfred faßte sich also ein Herz und trat an den Fremden heran. „Darf ich Ihnen tragen helfen?“ fragte er auf tschechisch. Der Mann drehte sich um – und wer war es? Der Schwarze Robert! Beide sahen sich erst ein wenig verblüfft an, und dann packte Robert den Jungen mit beiden Händen an den Schultern und musterte ihn. „Gut siehst du aus. Und wie gerufen kommst du mir auch. Damals haben wir uns verloren, und heute treffen wir uns ganz ungewollt. So ist das manchmal im Leben.“ Manfred faßte sich schnell wieder. Wahrscheinlich hatte der Schwarze Robert alles nur für einen Spaß genommen, für eine Art scherzhafter Begrüßung. Nun kam es darauf an, zu sehen, wo Tonda blieb, damit es keine peinliche Begegnung gäbe. Doch da kam er schon, und von seinem Gesicht war abzulesen, daß er sich an Robert erinnerte. „Na, ihr seid ja noch immer gute Freunde!“ sagte Robert. „Und wie er gewachsen ist, dein Jiří!“ „Tonda“, verbesserte der Junge, während er mit Manfred einen schnellen Blick austauschte.
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Es war gar nicht nötig, etwas Besonderes auszudenken, denn der Schwarze Robert war ohne jeden Argwohn. Froh über dieses Wiedersehen, zündete er sich gemütlich eine Zigarette an und blies den Qualm übermütig in Tondas Gesicht. „Jiří oder Tonda, Hauptsache, man hat das Herz auf dem rechten Fleck.“ Manfred mußte erst übersetzen, denn so viel Deutsch auch sein tschechischer Freund in den letzten Wochen von ihm gelernt hatte, es reichte doch nicht, um Roberts schnell gesprochenen Satz zu verstehen. Nach einigen Zügen aus der Zigarette wandte sich Robert an Manfred. „Kommt mit in den Wartesaal“, sagte er mit gedämpfter Stimme, „und paßt ein bißchen auf mein Gepäck auf. Es sind wichtige Akten drin.“ Er bückte sich und hob die Koffer an. Sie waren tatsächlich schwer, das merkten Tonda und Manfred, als sie, jeder auf einer Seite, tragen halfen.
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Die beiden Jungen brauchten nicht lange mit den Koffern im Wartesaal zu sitzen, denn Robert kam nach wenigen Minuten zurück. „So, und nun kann’s weitergehen. Helft ihr mir noch die Brocken zum Taxi bringen?“ Dann waren die Koffer eingeladen, und Robert setzte sich neben den Fahrer. Tonda hatte gehofft, zum Mitfahren aufgefordert zu werden. Doch darüber fiel kein Wort. Statt dessen holte Robert Geld aus der Tasche und reichte jedem drei Kronen. „Für Würstchen. Die schmecken euch doch immer.“ „Von dir nehmen wir nichts“, sagte Manfred und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Zum Glück waren Roberts Gedanken zu sehr mit seinen Koffern oder besser gesagt mit ihrem Inhalt beschäftigt, den er wohlbehalten bei der Partei abzuliefern hatte. Er hielt Manfreds Ablehnung einfach für Schüchternheit und drückte ihm das Geld in die Hand. Ehe der jedoch Zeit gefunden hatte, es zurückzureichen, war die Tür zugeschlagen, und der Wagen hatte sich in Bewegung gesetzt. Ja, mit solchen Begegnungen mußte man rechnen. Es hieß also, gut aufpassen und nie um eine schlagfertige Antwort verlegen sein, und vor allem mußte man ein sauberes Gewissen haben. Das half immer über Schwierigkeiten hinweg. Die großen Hindernisse waren allerdings noch nicht überwunden. Das Zusammenbringen der Reisekasse war wahrscheinlich sogar die leichteste Sache innerhalb des geplanten Unternehmens. Jedenfalls hatten die beiden, als es auf Ende Juli zuging, neunhundert Kronen beisammen, wenn man Manfreds fünfzig Mark mitrechnete, die etwa die Hälfte davon ausmachten. Neunhundert Kronen. Bald würden es tausend sein. Tausend Kronen! Das war eine ganze Menge Geld. Tonda erklärte, daß er noch nie in seinem Leben eine solche Summe auf einem Haufen gesehen hätte. Jetzt konnte man also den nächsten Schritt wagen; die Ausrüstung. Ein Paar feste Stiefel für Tonda mußte beschafft werden, und dann ein passender Rucksack. Und natürlich zwei gute Schlafdecken. Auch ein Kompaß wäre von Vorteil, meinte Tonda, denn es würde sicher nötig sein,
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ohne Hilfe den richtigen Weg zu finden. Wer zuviel frage, fiele leicht auf, und man müsse damit rechnen, von der Polizei verfolgt zu werden. Dann könnte man auch noch zwei widerstandsfähige Wanderstöcke mit einer festen Spitze gebrauchen. Als eiserne Ration schlug Manfred für jeden ein Kilo getrockneter Pflaumen vor. Schokolade wäre zwar auch sehr gut, sei aber zu teuer. Es war eine ganz schöne Liste, die da zustande kam. Wenn sie das eine oder andere beim Altwarenhändler einkauften, reichten vielleicht hundert oder hundertfünfzig Kronen. Außerdem könnten sie ja auch unterwegs etwas zuverdienen. Bahnhöfe gab es überall. Die Situation sah eigentlich gar nicht ungünstig aus. Wohlgemut, zweihundert Kronen in der Tasche – den Rest hatte Manfred in seinem Rucksack im Heim verwahrt –, zogen sie eines Nachmittags los. Am Abend hatte Manfred bereits Tondas Rucksack auf dem Rücken. Darin befanden sich ein Paar Skistiefel, zwei gebrauchte Zeltbahnen und die Backpflaumen. Die wichtigste Errungenschaft aber war eine große Landkarte von Europa. Bis auf die Skistiefel hatten sie alles bei Trödlern aufgestöbert. Sie waren überzeugt, sehr günstig eingekauft zu haben. Es hatte sie tatsächlich nur hundertzwölf Kronen gekostet, wovon mehr als die Hälfte auf die Schuhe fiel. Mit diesem Reichtum kehrte Manfred in die Sachsenstube zurück. Tonda hatte nicht gewagt, die Sachen mit nach Hause zu nehmen, denn es hätte unter Umständen seitens der Eltern peinliche Fragen gegeben. Verstecken war in einer so kleinen Wohnung eine Unmöglichkeit. Manfred dagegen war überzeugt, daß ihn niemand ausfragen würde. Wo so viele Menschen zusammen lebten, war es nichts Besonderes, daß irgendwo ein unbekannter Rucksack lag. Und er hatte sich nicht geirrt. Keiner beachtete den Rucksack, der nun unter Pfeifenrichards Feldbett Platz gefunden hatte und auf die große Reise wartete.
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14. KAPITEL Der Juli kam. Er war sonnig und warm und lud geradezu ein, ins Freie hinauszugehen, zu wandern, zu baden oder einfach auf einer Wiese an der Moldau in der Sonne zu liegen und in den Himmel zu starren. Jetzt war es an der Zeit, das große Unternehmen zu beginnen. Auch die Wanderstöcke und den Kompaß hatten die Jungen erstanden. Man brauchte sich nur noch genau zu orientieren und die Reiseroute festzulegen. An einem Sonntagnachmittag breitete Manfred seine Karte in der Sachsenstube aus. Er war ungestört, denn seine Zimmergenossen hatten es vorgezogen, den schönen Tag nicht als Stubenhocker zu verbringen. Der Blonde Emil war ins Kino gegangen. Er hatte Manfred eingeladen, ihn zu begleiten. Der war aber nicht zu bewegen gewesen, mitzukommen, was Emil kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm. Manfred war gerade damit beschäftigt, die Entfernung von Prag nach Madrid mit einem Lineal zu messen, als sich die Tür öffnete. Da er sich mit Tonda verabredet hatte, rief er, ohne von der Karte aufzusehen: „Komm, Tonda, ich hab schon angefangen, mich ein bißchen zu orientieren.“ Statt Tondas Stimme aber kam der Baß Eisenbarts: „Guten Tag, Manfred!“ Unser Spanienfahrer war nicht wenig verlegen. Am liebsten hätte er die große Karte schleunigst verschwinden lassen, doch das ging nicht. Er versuchte also, ein recht unschuldiges Gesicht zu machen. Manfred hatte natürlich keine Ahnung, daß Eisenbart nicht zufällig hergekommen war. Wenn er sich in der Vorstellung gewiegt hatte, niemand wäre etwas von seinen Vorbereitungen aufgefallen, so hatte er sich geirrt. Sowohl der Blonde Emil als auch die anderen Genossen der Sachsenstube hatten bemerkt, daß ihr junger Mitbewohner viele Nach-mittage fort war und nie, wie er es sonst getan hatte, etwas von seinen Gängen in die Stadt berichtete. Auch der Rucksack und die beiden Stöcke waren ihrer Beobachtung nicht entgangen. Pfeifenrichard hatte übrigens einmal gefragt, als er beim Saubermachen auf die Sachen gestoßen war,
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was Manfred mit den „Klamotten“ anfangen wolle. Der hatte damals geantwortet, Tonda und er beabsichtigten, einen Ausflug zu machen. Richard hatte sich wohl damit zufriedengegeben. Aber als sich Eisenbart einmal bei ihm nach Manfred erkundigte, hatte er gemeint: „Der Junge treibt da irgend etwas, was er vor uns verheimlicht. Du müßtest dich mal mit ihm unterhalten.“ Und der Blonde Emil hatte hinzugefügt: „In der Werkstatt läßt er sich auch nur gelegentlich sehen. Immer hat er irgendeine Sache zu er-ledigen, erzählt aber nie etwas Genaues.“ Wie gesagt: Von all dem wußte Manfred nichts. Nun saß Eisenbart vor ihm und lächelte ihn an. „Bist wohl ein wenig enttäuscht, daß ich nicht Tonda bin?“ „Tonda wollte mich heute hier besuchen“, druckste Manfred, bemüht, unbefangen in das Gesicht seines erwachsenen Freundes zu blicken. „Wenn ich dich bei der Arbeit gestört habe, gehe ich selbstverständlich wieder“, sagte Eisenbart. Er nahm das Lineal vom Tisch und betrachtete es. „Aber nein, Genosse Georg, du störst mich nicht.“ „Nun. dann ist’s ja gut. Ich bin nämlich gekommen, weil ich mal sehen wollte, was du anfängst. Eigentlich hätte ich es schon längst tun sollen. Dein Vater hat mir geschrieben, ich möchte mich ein wenig um dich kümmern, und ich habe es ihm auch zugesagt. Ich habe regelrecht ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, wie nachlässig ich mein Versprechen erfülle.“ Mit gespanntem Gesicht, den Blick auf die Karte gehalten, hörte Manfred zu. Ob Georg etwas Bestimmtes im Sinn hatte? Wenn nur Tonda nicht gerade jetzt hereinplatzte! Lange brauchte Manfred nicht auf eine Antwort zu warten, denn Eisenbart wollte den Jungen weder auf die Folter spannen noch in Verlegenheit bringen. Während er, wie er es oft zu tun pflegte, mit dem Daumen seine rotleuchtende Narbe im Gesicht massierte, sagte er: „Du bist schon über fünfzehn Jahre alt, hast manches Schwere hinter dir, und so kann man mit dir geradeheraus sprechen, sozusagen als Mann zu Mann. Da ich der Partei und auch meinem Freund Paul gegenüber ein
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Stück Verantwortung für dich trage, will ich ganz offen eine Frage an dich richten, und du wirst sie mir ebenso offen und ehrlich beantworten. Die Sache bleibt, wenn du willst, natürlich ganz unter uns. Vielleicht brauchst du meine Hilfe. Vielleicht fühlst du dich hier nicht wohl. Vielleicht hast du Heimweh … Es gibt ja so vieles, was jeder von uns auf dem Herzen hat.“ Eisenbart machte eine Pause. Er holte eine Blechbüchse und eine Tabakspfeife aus der Tasche und schickte sich an, die Pfeife zu stopfen. Dabei blickte er ganz ungezwungen auf Manfred. Keinerlei Vorwurf war in Eisenbarts Stimme gewesen, und auch in seinen Augen war nichts Verborgenes zu lesen. Dennoch senkte Manfred den Kopf. Er fühlte Röte ins Gesicht steigen und ein Würgen in der Kehle. Auf einmal kam er sich vor wie ein Sünder, und er wußte, daß er es nicht fertigbringen würde, sich hinter einer Lüge zu verstecken. In der Sachsenstube war es ganz still geworden. Nur das Knistern des Streichholzes und des Tabaks war zu hören, als Eisenbart die Pfeife anzündete. Manfred schluckte ein paarmal. Dann faßte er Mut und sagte leise: „Ich will nach Spanien.“ Wieder entstand eine Pause. Eisenbart sog an seiner Pfeife. Als Manfred aufblickte, sah er ein nachdenklich lächelndes Gesicht vor sich. Dann endlich sprach Eisenbart: „Nach Spanien willst du. Ja, Spanien, Spanien … Ich wollte auch nach Spanien, aber die Partei hat gesagt: Du mußt hierbleiben. Und da bin ich eben hiergeblieben. Wer von uns würde nicht schon längst nach Spanien geeilt sein, um unseren kämpfenden Brüdern zu helfen … Du hast ja deinen Vater dort und möchtest ihn gern wiedersehen.“ Manfred nickte und merkte, wie seine Augen feucht wurden. Und da war wieder das Würgen in der Kehle, wenn auch ein anderes als vorher. Ein Schluchzen war es eher. Doch er schluckte einigemal und kam darüber hinweg. „Ich versteh das sehr gut“, meinte Eisenbart. „Du möchtest deinen Vater wiedersehen. Aber schau mal: Es gibt viele berechtigte Wünsche, die nicht so leicht erfüllt werden können. Ich will gar nicht davon
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sprechen, daß du noch sehr jung bist; wenn es der Kampf verlangt, muß natürlich selbst ein Fünfzehnjähriger wie du seine Pflicht erfüllen, und hätte er auch noch das Recht, sein Leben ohne die Pflichten der Erwachsenen zu leben.“ Eisenbart strich ein neues Streichholz an, obgleich seine Pfeife gar nicht ausgegangen war. Gerade als er weitersprechen wollte, öffnete sich die Tür. Es war Tonda. „Wir haben hier …“, stammelte Manfred und bedeutete dem Freund mit einer Kopfbewegung, draußen zu bleiben. Doch Eisenbart rief: „Komm ruhig herein. Wir haben ja keine Geheimnisse.“ Und als sich Tonda auf eines der Betten niedergelassen hatte, winkte ihn Eisenbart an den Tisch heran. „Setz dich nur zu uns. Wolltest du nicht auch nach Spanien?“ Tonda sah hilfesuchend auf Manfred. Eisenbart wußte also alles. Ob er wohl dagegen war? Da lag die große Landkarte. Am Ende besprachen sie gar schon die Einzelheiten. Er schob sich einen Stuhl an den Tisch und spitzte die Ohren, damit ihm nichts entginge. Verstand er Manfred auch schon recht gut, wenn dieser deutsch sprach, so fiel es ihm schwer, den Worten Eisenbarts zu folgen. „Seht, Jungens“, fuhr Eisenbart fort und wandte sich nun an beide, „daß ihr den Plan gefaßt habt, nach Spanien zu gehen, ist eine feine Sache. Das zeigt nur, wie gut ihr begriffen habt, um was es dort geht. Und auch daß ihr ganze Kerle seid, sieht man daraus. Ehrlich gesagt: Ihr gefallt mir. Na ja, vom Sohn unseres Paul Kühnemann hätte ich schließlich nichts anderes erwartet. Hm, und Tonda? Dir sieht man es ja an der Nasen-spitze an, daß du ein ganzer Kerl bist.“ Da Tonda eine Miene machte, als habe er den letzten Satz nicht verstanden, wiederholte Eisenbart seine Worte auf tschechisch, worauf in Tondas Gesicht ein geschmeicheltes Lächeln erschien. „Ach, ist Spanien ein schönes Land!“ fuhr Eisenbart fort. „Ich bin mal dort gewesen, das sind so an die fünfzehn Jahre her. Ich war arbeitslos, und da bin ich über Österreich und die Schweiz nach Frankreich und von dort über die Pyrenäen in das sonnige Land der Stierkämpfer gewandert. Übrigens hatte ich nie Gelegenheit, eine Arena zu besuchen.
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Soll auch gar nichts Verlockendes sein. Was ist das schon für ein Vergnügen, zuzuschauen, wie man Tiere quält. Aber dafür habe ich die Menschen kennengelernt. Schöne Menschen gibt es da, und vor allem gute Menschen. Ich hatte ja kein Geld, aber gehungert habe ich nie, weil die Bauern für einen Wanderburschen immer einen Krug Wein, ein paar Oliven und ein Stück Brot übrig hatten, obgleich sie meist so arm wie die Kirchenmäuse waren. Wie gern würde ich jetzt die Gastfreundschaft vergelten und an der Seite dieser armen Bauern kämpfen, die endlich aus ihrer Armut herauszukommen gehofft haben und die sich von ihren gestrigen Herren nicht ins Elend zurückstoßen lassen wollen.“ Eisenbart fuhr sich über die rote Narbe und schwieg ein Weilchen. Dann zog er die Karte zu sich heran und zeigte mit dem Mundstück der Pfeife auf einen Punkt. „Was ist das?“ fragte er und sah seine beiden Zuhörer an. „To je Praha!“ rief Tonda erfreut, daß er es als erster erkannt hatte. „Stimmt, das ist Prag“, bestätigte Eisenbart. „Das ist also Prag, und das da ist Madrid. Und was liegt dazwischen?“ Manfred beugte sich über die Karte. Er wußte nicht genau, worauf Eisenbart hinaus wollte. Da die Jungen nichts sagten, sprach Eisenbart weiter: „Hier, der rotgefärbte Fleck ist Deutschland oder besser das Nazireich. Ihr wolltet doch nicht etwa durch Deutschland reisen?“ „Da würde mich ja die Gestapo kriegen“, wandte Manfred ein. „Siehst du. Und hier ist Österreich. Das haben die Nazis seit dem März ebenfalls besetzt. Über Österreich könnt ihr also euren Weg auch nicht nehmen.“ Tonda schob den Arm über den Tisch und schrieb großzügig einen Bogen um Deutschland und Österreich. Das ging sehr einfach, denn auf der Karte waren beide Staaten nur kleine Farbkleckse. Eisenbart blickte auf Manfred. „Was meinst du dazu?“ Der kraulte sich den Kopf und erwiderte zögernd: „Das ist ein Umweg. Ein großer Umweg.“ „Nicht nur ein Umweg“, ergänzte nun Eisenbart. „Ihr müßtet durch Ungarn und Jugoslawien. In beiden Ländern herrschen Faschisten. Und dann durch Italien. Wer ist dort an der Spitze? Hitlers Freund Mussolini, der die Schwarzhemden, wie seine Banden heißen, gegen das 90
spanische Volk geschickt hat. Nein, das wäre auch kein Weg für euch gewesen. Vor einigen Monaten konnten unsere Genossen, die nach Spanien gingen, noch über Österreich und die Schweiz. Dieser Weg ist jetzt versperrt. Was bleibt, ist lediglich – das Flugzeug.“ Daß man mit wenig Geld und ohne ordentliche Reisepapiere nicht so einfach nach Frankreich fliegen konnte, das war Manfred und Tonda klar; da brauchte es keiner weiteren Erklärung Eisenbarts. Mit enttäuschtem Gesicht stand Tonda über die Karte gebeugt und wußte nun auch keinen Rat mehr. Manfred ging es nicht anders. Er schämte sich auch ein wenig. Auf all das hätte er selber kommen müssen. Genosse Eisenbart schien die Gedanken des Jungen zu ahnen, denn er tröstete ihn: „Wenn man nicht einmal ein Vierteljahr aus dem Dritten Reich heraus ist, kann es schon passieren, daß man noch nicht genau weiß, wie es heute in der Welt aussieht.“ Manfred antwortete nicht. Mit gerunzelter Stirn und zitternden Nasenflügeln saß er da und starrte auf die Karte, die einem zwar erzählte, was für Länder es gab, wie sie hießen, wo sie lagen, wie groß sie waren, ob es dort Flüsse und Berge gab und noch viele andere Dinge, aber von den Menschen und Regierungen, von Armut und Reichtum, von Freiheit und Unterdrückung sagte sie nichts. Und wie schwer war es doch, diese wenigen Zentimeter, die ihn nach der Karte von seinem Vater trennten, in der Wirklichkeit zu überwinden! Tonda war sicher auch sehr enttäuscht, aber das war doch nicht das gleiche wie bei Manfred. „Da haben wir das alles ganz ohne Zweck gekauft“, sagte Manfred schließlich und blickte nach dem Rucksack unter dem Bett. „Das ist kein Beinbruch“, meinte Eisenbart lachend. „Die Karte brauchen wir auch nicht mehr“, brummte Manfred und wollte sie zusammenraffen. Da legte sich Eisenbarts Hand auf die seine. „Die laß mal ruhig auf dem Tisch. Die Hauptsache habe ich euch noch gar nicht gesagt.“ Manfred sah gespannt auf, und auch Tonda wurde aufmerksam. War noch nicht alles erledigt? Ein neues Fünkchen Hoffnung.
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„Selbst wenn ihr erwachsene Männer wärt, und auch wenn wir ein Flugzeug hätten, um euch geradewegs nach Madrid oder Barcelona zu transportieren, wir würden es doch nicht tun, denn…“ Eisenbart klopfte seine ausgebrannte Pfeife auf dem Handteller aus und beendete seinen Satz: „Madrid liegt heute in der Tschechoslowakei, so wie Prag in Spanien liegt.“ Tonda hatte nicht verstanden und stieß den Freund an. Eisenbart wiederholte in tschechisch, was er gesagt hatte, doch Tonda schien auch jetzt noch nicht zu begreifen, was Eisenbart meinte. „Na, schaut her“, begann der von neuem. „Ihr wißt ja, was für ein Räuberstaat aus Deutschland geworden ist, seit die Nazis an der Macht sind. Seht: Das alles möchten sie einheimsen. Ganz Europa möchten sie auffressen, wenn sie könnten. Und die Tschechoslowakei liegt direkt vor den Tatzen der Bestie. Erst soll Spanien aufgefressen werden, Österreich ist vor ein paar Monaten verschluckt worden, und dann?“ „Sind wir dran“, warf Tonda ein. „Richtig, richtig, mein Junge“, knurrte Eisenbart. „Dann ist die ČSR dran, und die liegt den deutschen Faschisten ganz besonders im Magen, weil sie mit Paris und Moskau einen Beistandspakt abgeschlossen hat.“ Eisenbart begleitete seine Worte mit dem Pfeifenstiel, den er über die ausgebreitete Landkarte gleiten ließ. „Hier liegt Prag wie eine Festung, und die müssen die Nazis erst wegräumen, wenn sie Europa schlucken wollen.“ Die Augen der Jungen folgten der Bewegung der Pfeife. Da lag die Tschechoslowakei als schmaler Streifen zwischen lauter Feinden. Wie gut es doch war, daß es die Sowjetunion gab. Obwohl auf der Europakarte nur ein Teil von ihr zu sehen war, bekam man eine Vorstellung von der Größe dieses Landes. Mit ihm verglichen, erschienen alle Faschistenstaaten zusammengenommen wie ein Zwerg neben einem Riesen. Eisenbart zeigte auf Berlin. „Immer frecher wird dieser Halunke hier, von Tag zu Tag unverschämter. Es kann also sein, daß sich schon morgen das tschechische und slowakische Volk verteidigen muß wie jetzt das spanische. Deshalb heißt es auf der Wacht sein, damit die Nazis die Lust verlieren, auch dieses Land anzugreifen. Wenn das tschechoslowakische
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Volk standhält, so ist auch Spanien damit geholfen. Setzt es sich aber gegen Hitler nicht zur Wehr, so ist auch Spanien verloren. Das wollte ich euch sagen: Wer in diesen Tagen Prag verteidigt, verteidigt zugleich Madrid.“ „Wenn Hitler werden kommen, wir wie Spanelsko kämpfen!“ rief Tonda. „Und wir deutschen Antifaschisten werden gemeinsam mit euch kämpfen“, versicherte Eisenbart und klopfte Tonda herzlich auf die Schulter. Manfred sagte nichts. Er stand nur auf, holte den Rucksack und legte ihn vor Tonda auf den Tisch. „Den kannst du mitnehmen. Er wird dir auch hier nützlich sein. Und dann bekommst du noch deinen Teil vom Geld.“ Tonda wehrte sich. Hatten sie die Ausrüstung nicht gemeinsam erstanden? Und was würde die Mutter sagen, wenn er mit den Sachen nach Hause käme? Doch Manfred bestand darauf, daß der Rucksack mitsamt dem Inhalt nun Tonda gehöre. Auch Eisenbart redete ihm zu und riet, den Eltern die Wahrheit zu erzählen. Wenn sie ihm nicht glaubten, sollten sie einfach das Emigrantenkomitee anrufen und Genossen Georg verlangen. Er würde schon die richtige Auskunft geben. Schließlich schickte sich Tonda darein, daß er nun der Besitzer des vollen Spanienrucksackes war. Die Skistiefel zog er trotz der Juliwärme sofort an und verstaute seine Turnschuhe zwischen den Zeltbahnen. Als ihm aber Manfred auch noch Geld hinschob, schüttelte er den Kopf und rief: „Pro Španělsko!“ Dagegen gab es keinen Widerspruch. Eisenbart zog eine Sammelliste aus der Tasche. Auf dem Kopf des Bogens stand: „Helft den Kindern Spaniens!“
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Tonda und Manfred gaben alles, was ihnen von dem Gepäckträgerlohn übriggeblieben war. Nicht einmal für ein paar Kartoffelpuffer behielten sie etwas zurück. Dafür lud Eisenbart sie zum Eisessen ein. Der junge Kühnemann schrieb am Abend dieses Sonntags einen langen Brief an seinen Vater. Der Brief endete mit den Worten: „Wie gern wäre ich jetzt bei Dir. Aber Du kannst Dich darauf ver- lassen, daß ich auch hier kämpfen werde, wie es sich für einen echten Kommunisten gehört.“
15. KAPITEL Es war für Manfred eine große Enttäuschung gewesen, die Hoffnung, den Vater wiederzusehen, aufgeben zu müssen. Aber er ließ sich von dieser Enttäuschung nicht unterkriegen. Vielleicht wäre ihm das schwerer gefallen, wenn nicht jeder Tag so viele Aufregungen gebracht hätte, daß man gar nicht dazu kam, an sich selbst und an sein eigenes Unglück zu denken. Je weiter das Jahr fortschritt, desto mehr schien sich der Tag zu nähern, da auch das tschechoslowakische Volk gezwungen sein würde, seine Freiheit mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Aber noch war jener Tag nicht da. Seit der Aussprache mit Eisenbart hatte sich Manfred noch fleißiger an das Erlernen der tschechischen Sprache gemacht. Er begnügte sich nicht mehr damit, die Straßenschilder zu studieren oder mit Tondas Hilfe seinen Wortschatz zu erweitern. Abend für Abend saß er über einem Lehrbuch und paukte Grammatik. Wenn er davon genug hatte, nahm er „Rudé právo“ oder eine andere Zeitung zur Hand und las. So war es auch an jenem Septemberabend, an dem er unerwartet von einer bekannten Stimme aus seiner Zeitungslektüre geschreckt wurde. Als er aufblickte, wollte er seinen Augen nicht trauen: Es war tatsächlich Boberlein, der vor ihm stand. Manfred öffnete vor Staunen den Mund, ohne jedoch ein Wort herauszubringen. 94
„Glaub’s schon, ich bin’s!“ begrüßte ihn Onkel Bob und umarmte ihn. Allerdings konnte er nur einen Arm um Manfred schlingen, denn der andere lag in einer Binde. „Du bist’s, Onkel Bob“, stammelte der Junge. Er fand keine weiteren Worte. In seinen Augen mischten sich Überraschung und Freude. „Hat schon seine Richtigkeit“, sagte Boberlein, während er sich setzte und den bandagierten Arm auf die Tischplatte schob. „Ich bin’s. Oder hast du mich für ein Gespenst gehalten?“ „Gespenst! Aber wenn einer so plötzlich auftaucht… Und was ist mit deinem Arm los?“ „Hm, mit dem Arm… Siehst du, beinahe hätte ich dich wirklich nur noch als Gespenst besuchen können. Ich hatte aber Schwein und bin am Leben geblieben. Nur meinen Arm hat’s erwischt. Saß eine Kugel drin.“ Er seufzte und fügte brummend hinzu: „Ausgerechnet den rechten haben die Banditen getroffen. Aber trotzdem – es geht schon weiter.“ „Geschossen hat man auf dich?“ Und Onkel Bob mußte berichten. „Du weißt’s ja, wir haben in letzter Zeit allerhand Flugblätter von hier über die Grenze geholt. Na, und vorgestern ist es eben schiefgegangen. Stell dir vor, ich ziehe los, einen ganzen Rucksack voll mit Material auf dem Buckel. Hatte es gerade erst im Gebirge, bei Zinnwald, übernommen, da kriegt mich doch eine SS-Patrouille… Das heißt, gekriegt haben sie mich nicht, wie du siehst. Also ich sehe die Kerle kommen, bremsen und vom Motorrad steigen. Jetzt bist du geliefert, ist mein erster Ge- danke, mein zweiter aber: Denen darfst du nicht in die Hände fallen! Ich streife den Rucksack ab, werfe ihn ins Gebüsch, und dann hinein in den Wald. Zum Glück habe ich eine Pistole und Munition. Große Helden sind ja die Burschen nicht. Aber ich bin allein, die Nazis zu zweit. Die beiden nun hinter mir her und tüchtig auf mich gepfeffert. Abstand halten sie jedenfalls, weil sie’s diesmal mit einem zu tun haben, der auch was zum Schießen in der Hand hat. So geht’s eine Weile von Baum zu Baum, dann durch die Kiefernschonung … und schließlich in die Richtung zur Grenze. Die SS-Leute brauchen nicht mit Munition zu sparen … ich muß meine paar Patronen zusammenhalten. Da plötzlich, als bekomme
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ich eins mit einem Hammer gegen den Ellenbogen … Tut gar nicht sehr weh, aber der Arm will nicht mehr ganz so, wie ich’s möchte … Doch ich immer weiter. Ich schieße, renne ein Stück, schieße wieder und renne wieder drauflos.“ Der Junge ließ kein Auge von dem Erzählenden. Während er, Manfred, hier vielleicht gemütlich die Zeitung gelesen hatte, war Onkel Bob in Todesgefahr gewesen, allein, ohne Hilfe, irgendwo in einem Grenzwald. Schon immer hatte er Boberlein gern gehabt, jetzt aber spürte er plötzlich den Wunsch, dem erwachsenen Freund durch irgend etwas seine besondere Zuneigung zu beweisen. Aber wodurch? Da erinnerte er sich, daß Mutter Novotná ihm eine Salamiwurst geschenkt hatte. „Wart mal, Onkel Bob“, unterbrach er, von seinem Einfall begeistert, und holte die Wurst von der Wand, wo sie an einem Nagel hing. „Diese Wurst habe ich extra für dich aufgehoben!“ Boberlein lachte, packte die Wurst und versetzte dem Jungen einen freundschaftlichen Hieb damit. „Das ist doch keine Schlagwurst!“ rief Manfred und riß die Wurst wieder an sich. „Ich habe sie wirklich für eine besondere Gelegenheit aufbewahrt. Und ist das etwa keine?“ „Also schön, essen wir sie auf. Aber zurechtmachen mußt du sie schon. Ich mit meinem Arm bin ja im Augenblick zu nichts zu gebrauchen. Da hast du mein Messer.“ Während Manfred die Wurst abpellte und in dicke Scheiben schnitt, erzählte Boberlein weiter: „Hätte es mich am Bein erwischt, war ich erledigt gewesen. Auch wenn’s den Knochen getroffen hätte. So ist’s nur ins Fleisch gegangen, und ich konnte noch halbwegs zurückknallen, denn schießen – nein schießen war das nicht. Hm, wäre die tschechische Grenzstelle nicht so nahe gewesen, hätt’ ich’s kaum geschafft. Aber lassen wir die Wenns und Abers … Da bin ich und esse mit dir Salami. Mehr kann der Mensch nicht verlangen.“ An diesem Abend saßen die beiden noch lange beisammen. Manfred war mit dem spärlichen Bericht keineswegs zufrieden. Auch über zu Hause hatte der Junge tausend Fragen. Vor allem wollte er wissen, was Tante Adele damals gesagt hatte, und wie es ihr jetzt ging.
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Doch auch Boberlein war nicht wenig neugierig, und Manfred hatte ja in den vergangenen Monaten genug erlebt, um etwas erzählen zu können. Daß Onkel Bob nun zu den Bewohnern des Strasnicer Emigrantenheimes gehörte, machte es Manfred um vieles leichter, geduldig auf den Tag zu warten, an dem er wieder mit seinem Vater vereinigt sein würde. Boberlein verstand kein Wort Tschechisch, und so konnte sich der Junge als Dolmetscher nützlich machen, wo immer es notwendig war. Sicher hat so mancher sie für Vater und Sohn oder gar für Brüder gehalten, wenn sie zusammen durch die Straßen Prags gingen, denn an Körpergröße stand Manfred dem stämmigen, aber ein wenig untersetzten Schlosser kaum nach. Häufig waren sie auch zu dritt, denn die Freundschaft zwischen dem tschechischen und dem deutschen Jungen war seit dem gescheiterten Spanienplan noch enger geworden, so eng, daß Frau Novotná Manfred last ein wenig die Mutter ersetzte. Zu dritt waren sie auch an jenem Septembertag, an dem die Prager Arbeiter, nach Waffen rufend, durch die Straßen ihrer Stadt zogen. Ein solches Bild hatte Manfred noch nie gesehen. Hunderttausende fluteten durch die Straßen, aber nicht wie am Ersten Mai in geordneten Zügen. Das war eher wie das Strömen des Wassers, das einen Damm durchbrochen hat und nun ungehemmt seinen Weg nimmt. Mit all diesen Menschen zogen nun auch die beiden deutschen Antifaschisten und der tschechische Arbeiterjunge Tonda Novotný dahin. Die werktätige Bevölkerung der tschechischen Hauptstadt war in den letzten Tagen zu einer einzigen Gemeinschaft geworden, zu der auch die Soldaten und sogar die Polizisten gehörten. Das tschechoslowakische Volk war verraten worden, niederträchtig verraten von den Regierungen Englands und Frankreichs. Die hatten sich zwar als Freunde der Tschechoslowakei und als Feinde Hitlers ausgegeben, als sie aber sahen, daß das ganze Volk gewillt war, sich gegen jeden Angriff Nazideutschlands zu verteidigen, war ihnen das gar nicht recht. Jetzt zeigten sie ihr wahres Gesicht. Das Hitlerreich sollte doch Krieg gegen die Sowjetunion führen. Deshalb mußte es groß und stark gemacht werden. Und so verrieten sie das kleine Land im Südosten Europas, das Land der Tschechen und Slowaken. 97
Wie dieser Verrat aussah? Sehr einfach. Die beiden falschen Freunde im Westen schickten ihre Vertreter auf die Prager Burg zum Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik und ließen ihm sagen, wenn er die Sudeten und alle anderen Gebiete, die Hitler verlangte, nicht freiwillig ausliefere, könne das Land nicht mit ihrer Hilfe rechnen. Und falls die Regierung gar auf den Gedanken käme, die Russen herbeizurufen, würde es ein Krieg gegen die Bolschewiken werden. Es könne dann passieren, daß England und Frankreich Armeen gegen die Tschechoslowakei mobilisieren würden. Nur die Sowjetregierung blieb ihrem Bündnis treu. „Wir wollen Waffen!“ riefen die Arbeiter, die aus den Fabriken kamen. Schon seit den frühen Morgenstunden demonstrierten sie für ihre Forderungen. Einem ihrer Züge hatte sich auch Boberlein mit seinen jungen Freunden angeschlossen. „Ausgerechnet jetzt, wo es ernst wird, lauf ich mit einem zerschossenen Arm herum“, brummte Onkel Bob.
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„Wird schon gut werden, dein Arm“, tröstete ihn Manfred. „Wenn nötig, lernt man’s auch, mit der Linken zu schießen“, meinte Onkel Bob. Vom Altstädter Ring zogen sie zum Pulverturm und dann den Graben entlang zum Wenzelsplatz. Hier waren schon Umzüge aus allen Teilen der Stadt eingetroffen. Nie vorher hatte es so etwas gegeben: Früher, wenn die Arbeiter auf die Straße gegangen waren, hatten die Kaufleute schnell die Rolläden heruntergelassen und die Ladentüren geschlossen. Jetzt standen sie auf der Straße und stimmten in die Rufe ein. „Wir wollen kämpfen!“ rief ein Demonstrant, der vor Boberlein und den Jungen ging. Die Losung wurde von den nächsten aufgegriffen,, und bald erklang sie hunderttausendstimmig über den Platz. Ein zweiter rief: „Lang lebe unser Verbündeter, das Sowjetvolk!“ Ein dritter: „Wir kapitulieren nicht!“ Ein vierter: „Die Wahrheit wird siegen!“ Erneut schallten die Rufe als lautes Echo wider. Die Menschenmasse schob sich den Platz hinauf. Ein Hoch auf die Armee ertönte, und wie auf Verabredung wurden die Soldaten und Offiziere, die sich in der Menge befanden, von den Arbeitern auf die Schultern gehoben und im Triumph mitgetragen. Das Volk zog vor das Parlament, über die Brücke zur Kleinseite und hinauf zur Burg. Und im Menschenstrom waren Manfred und Tonda und Boberlein wie drei bewegte Tropfen. „Wir wollen Syrový!“ tönte es wie eine einzige gewaltige Stimme. „Es lebe Žižka!“ Onkel Bob rief aus vollem Halse mit, obgleich er nicht wußte, wer Syrový war. Sicherlich ein Politiker, zu dem die Bevölkerung Vertrauen hatte. Von Žižka, dem Hussitenführer, der vor fünfhundert Jahren für die Freiheit des tschechischen Volkes so tapfer eingetreten war, hatte er schon gelesen. Allerdings begriff er die Hochrufe auf den toten Žižka erst, als ihm Tonda erklärte, daß General Syrový eine schwarze Binde über einem Auge trage, genau wie einst der große hussitische Feldherr. Müde vom stundenlangen Umherziehen auf dem harten Pflaster Prags, betraten Manfred und Onkel Bob den Speisesaal des Heims. Bergauf und
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bergab waren sie mit den unermüdlichen Arbeiterkolonnen durch die Stadt marschiert. Noch klangen ihnen die Worte der Sprechchöre in den Ohren: „Gebt uns Waffen! Wir werden uns verteidigen! Waffen wollen wir!“ Und nun erfuhren sie, daß die neue Regierung gebildet worden sei. „Siehst du“, sagte Boberlein strahlend, „wenn die Arbeiter es wollen, und wenn die Werktätigen einig sind, können sie alles durchsetzen!“ „Nun wird es wohl gegen die Nazis Krieg geben?“ wandte sich Manfred an Eisenbart, der kurz nach ihnen gekommen war und sich an ihren Tisch gesetzt hatte. Eisenbart strich sich die Stirn glatt. Er sah sehr überanstrengt aus. Mit den Fingern über die rote Narbe fahrend, sagte er: „Wenn die Tschechoslowakei standhält, kann es sein, daß der Frieden erhalten bleibt, weil es Hitler noch gar nicht riskieren kann, einen großen Krieg anzufangen. Wenn aber kapituliert wird, gibt es bestimmt Krieg – nicht heute, aber morgen, denn um. Krieg zu führen, muß er die Tschechoslowakei erst entwaffnet haben. Aber ich bin kein Prophet: Viel- leicht greift er doch an, und es gibt schon jetzt Krieg … Bei der Bestie weiß man nie genau, woran man ist. Jedenfalls werden wir morgen alle drüben auf der Wiese Gräben ausheben helfen. Man muß vorbereitet sein.“ Nachts elf Uhr kam eine Radiomeldung: Mobilmachung! Die neue Regierung, wenn es auch keine Arbeiterregierung war, hatte also den Ruf des Volkes vernommen: „Wir kapitulieren nicht!“ An diesem Abend sollte keiner zeitig ins Bett gehen. Die Sachsenstube hatte sich wie alle anderen Zimmer im Strasnicer Heim in einen kleinen 100
Versammlungsraum verwandelt. Immer neue Fragen: Würde die Regierung die Rote Armee zu Hilfe rufen, auch wenn Frankreich das Bündnis verriet? Würde es Hitler wagen, ein kampfgewilltes, freiheitsliebendes Volk anzugreifen, das nicht so schlecht bewaffnet war wie die Spanier und über gute Befestigungen und eine geschulte Armee verfügte? Und das deutsche Volk? Wie würde es sich im Kriegsfall verhalten? Eine Frage tauchte im Hintergrund der Gedanken auf. Sie wurde schnell wieder verdrängt, keiner sprach davon: die Frage, was mit den deutschen Emigranten werden würde, wenn es den Kapitulanten gelänge, die Oberhand zu behalten. Es war schon zwei Uhr nachts, als Manfred in sein Bett hinaufstieg. Obgleich er müde war, konnte er lange nicht einschlafen. Noch im Traum bewegten sich seine Lippen. Sie murmelten: „Dejte nám zbraně!“ – „Gebt uns Waffen!“
16. KAPITEL Es hatte nichts genützt, daß sich das Volk eine neue Regierung erzwungen hatte. Und der General mit der schwarzen Binde über einem Auge war kein Hussitenfeldherr Jan Žižka. Die Geldsäcke Englands und Frankreichs schickten ihre Minister nach München und ließen Hitler sagen: Wir haben nichts dagegen, daß du dir ein Stück aus dem Leib der Tschechoslowakei reißt. Du mußt nur versprechen, uns in Ruhe zu lassen. Und die tschechoslowakischen Kapitalisten meinten: Da kann man nichts machen. Mögen sich die Nazis eben ein Stück von unserem Staat nehmen. Hauptsache, daß wir weiter recht viel verdienen. Das ist immer noch besser, als dem Volk Waffen in die Hand zu geben und am Ende gar noch unsere Macht und unser gutes Geld zu verlieren. So wurde die Tschechoslowakische Republik verraten. Alles spielte sich in wenigen Tagen ab. Den Menschen sollte keine Stunde bleiben, um zur Besinnung zu kommen und den Betrug zu durchschauen. 101
Als der Oktober ins Land kam, zogen mit ihm die Truppen Hitlers in die Sudeten ein. Jetzt blieb die Tschechoslowakei nur noch ein wehrloser Rumpf, denn die ganzen Befestigungsanlagen und der natürliche Grenzschutz waren verloren. Für die Arbeiter und Bauern begann eine schwere Zeit. Am schwersten aber hatten es die Kommunisten, die den Kampf fortsetzten. Und was sollte mit den deutschen Antifaschisten werden? Sie saßen in einer Falle. Die neue tschechoslowakische Regierung war ein Lakei Hitlerdeutschlands. Bald würde die Gestapo die Auslieferung der ihren Klauen Entflohenen verlangen. Und die Zahl der Deutschen, die nach Prag hatten fliehen müssen, hatte sich noch um viele Kommunisten und Sozialdemokraten aus den besetzten Grenzgebieten vergrößert. Für die deutschen Emigranten war es also an der Zeit, sich nach einem neuen Asylland umzusehen. Leicht war das nicht, da die Beschaffung von Einreisegenehmigungen für Heimatlose, die meist auch Besitzlose waren, Schwierigkeiten machte. Was das für Eisenbart und seine Mitarbeiter im Hilfskomitee bedeutete, könnt ihr euch denken. Da mußten Briefe an die Genossen in anderen Ländern geschrieben werden, da hieß es, Geld zu beschaffen, um später die Fahrkarten kaufen zu können. Vor allem aber galt es, für Hunderte von Emigranten, für die das Komitee zu sorgen hatte, tschechoslowakische Fremdenpässe zu beantragen. Wenn die Visa von dem einen oder anderen Land eintrafen, sollte der Abreise nichts mehr im Wege stehen. Auch den Jelíneks war nichts anderes übriggeblieben, als ihr Häuschen in Herrnskretschen im Stich zu lassen. Nur mit großer Mühe, mit ein wenig Glück und vor allem dank der Schlauheit Onkel Pepíks war es ihnen gelungen, sich aus der besetzten Zone herauszuretten. „Das hättest du wohl damals, als ich dich nach Tetschen gefahren habe, nicht gedacht, wie schnell wir dir nachfolgen würden?“ sagte Onkel Pepík, während er seinen Gorkibart bedächtig durch die verarbeiteten Finger gleiten ließ. Sie saßen in der Wohnküche eines tschechischen Genossen, der die beiden Flüchtlinge bei sich aufgenommen hatte. Tante Marie war recht still. Das paßte gar nicht zu ihr. Ein wenig hatten wohl die Ereignisse der letzten Woche auf sie eingewirkt. Aber
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noch mehr bedrückte es sie, daß sie ohne eine Tätigkeit hier saß, „anderen Leuten zur Last“, wie sie es ausdrückte. Natürlich widersprachen ihr Pepík und Joachim Boberlein heftig. Bei Genossen, die einem Gastfreundschaft boten, sei man nie eine Last. „Stimmt schon“, gab Marie zu und seufzte. „Schlimmer ist, daß wir auch in Prag bald nicht mehr sicher sein werden. Die einheimischen Faschisten fangen an, sich zu regen. Und wer weiß, wann der Hitler die ganze Tschechoslowakei schluckt, nachdem er sie jetzt schon unter seinen Stiefel gebracht hat“, brummte Onkel Bob, mit seinem bandagierten Arm beschäftigt. „Gib her!“ rief Marie, froh, etwas Nützliches tun zu können. Sie rückte zu Boberlein herum und schickte sich an, ihm den Verband neu zu wickeln. Manfred hörte der Unterhaltung zu. Wenn Onkel Bob schon so redete, mußte die Lage für die politischen Flüchtlinge wirklich sehr schlecht sein. Doch er fühlte keine Angst. Er war ja nicht allein, und die Genossen würden schon einen Ausweg finden. Vielleicht würde man sich verstecken müssen und illegal leben. Was ihm mehr Sorge machte, war Spanien. Hatte Eisenbart nicht gesagt, wenn die Tschechoslowakei kapituliert, ist auch Spanien verloren? Noch wurde dort erbittert gekämpft. Aber wie lange würde Spanien standhalten können? Und was geschah mit dem Vater und den anderen Genossen in den Internationalen Brigaden? Auf alle diese Fragen sollte er bald Antwort bekommen. Genosse Eisenbart hatte recht gehabt. Wenn man die Tschechoslowakei an Hitler verkaufte, würde die Kriegslust der Faschisten nur genährt. Die Bestie konnte man nicht zähmen. Das neue Jahr brachte neue Gewitterwolken und das Ende der spanischen Republik. Auch dieses freiheitsliebende Volk opferten die französischen und englischen Großkapitalisten Hitler, in der Hoffnung, daß er sich bald gegen die Sowjetunion wenden werde. Paul Kühnemann hatte sich mit seinen Kameraden der Internationalen Brigaden und mit den letzten kämpfenden Abteilungen der spanischen Volksarmee über die Pyrenäen nach Südfrankreich durchgeschlagen, und dort war er, wie alle anderen, in einem Konzentrationslager gelandet. 103
Manfred erfuhr das durch einen Brief, den ihm ein tschechischer Genosse brachte. Der Überbringer hatte in den Internationalen Brigaden gekämpft, und nun war er über Frankreich in seine Heimat zurückgekehrt. Der Brief, den der Vater hinter dem Stacheldraht des Konzentrationslagers St. Cyprien geschrieben hatte, stimmte Manfred froh und zugleich traurig: Froh war er, weil er nun wußte, daß der Vater lebte, aber traurig machte ihn der Gedanke an die niederträchtige Behandlung, der die tapferen Kämpfer der Brigaden jetzt ausgesetzt waren. Nein, der Vater beklagte sich nicht. Im Gegenteil, er sprach Manfred Mut zu. Doch es gab Sätze, aus denen man herausfühlen konnte, wie es dem Vater und seinen Kameraden erging. „Wir lassen uns auch von der französischen Gestapo nicht unterkriegen“, schrieb er, „mag sie noch so viel von den Nazis gelernt haben. Unsere Freiheitsstunde wird schlagen, und dann werden wir uns wiedersehen. Sei unbesorgt und halte den Kopf hoch – trotz alledem, wie unser unvergeßlicher Karl Liebknecht einst gerufen hat.“ Wenn ich doch jetzt in Frankreich wäre, überlegte Manfred. Ich könnte mich an das Lager heranschleichen und versuchen, dem Vater Lebensmittel hineinzuschmuggeln. Sicher lassen die französischen Faschisten ihre Gefangenen hungern. Vielleicht geben sie ihnen nichts zu trinken und schlagen sie. Es war gar nicht so leicht, den Kopf hochzuhalten, wenn man wußte, daß so viel Unrecht und Gemeinheit in der Welt war und wenn man daran dachte, wie es dem eigenen Vater erging, der sich immer nur für das Wohl der arbeitenden Menschen eingesetzt hatte. Aber noch dunkler sollte der Himmel über Europa werden. Und die dunkelste Wolke zog sich über Prag zusammen. Am 15. März – nie würde Manfred Kühnemann diesen Tag vergessen geschah das, was die Kommunisten vorausgesagt und wovor sie gewarnt hatten, als noch die Möglichkeit bestand, Hitler die Stirn zu bieten: Die Truppen der Nazi-Wehrmacht setzten sich wieder in Marsch. Die Bewohner der Sachsenstube saßen gerade beim Frühstück, als die Tür aufgerissen wurde und Eisenbart hereingestürzt kam. „Sie kommen, Genossen! Sie sollen schon den Flugplatz besetzt haben!“
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Alle hoben die Köpfe. Manfred ließ den Kaffeetopf sinken und vergaß weiterzukauen. Sein Blick blieb an Georgs Narbe hängen, die röter als sonst hervorzustechen schien. Zaurich sprang auf und schlug wütend mit der Faust auf den Tisch, daß die Kanne klirrte. „Diese verdammten Hunde!“ Jeder hatte sofort verstanden, wen Georg mit dem „sie“ meinte. „Und wir sitzen hübsch in der Mausefalle“, knurrte der Blonde Emil und warf seine Marmeladenstulle auf den Tisch. „Ich werde hier die Evakuierung organisieren, und du fährst inzwischen in die Stadt und peilst mal die Lage“, wandte sich Eisenbart an Pfeifenrichard. „Der Kurier steht unten mit seinem Motorrad. Er wird dich hineinfahren und auch wieder zurück.“ Ohne lange nachzudenken, griff Richard Zaurich nach seinem Regenmantel, denn das Wetter war trüb, feuchtkalt und nieselig. „Ich geh mit!“ rief Manfred und machte sich ebenfalls fertig. „Quatsch, du bleibst hier!“ entfuhr es Pfeifenrichard, der schon an der Tür war. „Vielleicht gar nicht schlecht“, meinte Eisenbart. „Er kann im Beiwagen fahren. Es ist immer besser, wenn man zu zweit ist. Wenn du in eine brenzlige Situation gerätst, hast du wenigstens jemand dabei. Ein Junge fällt auch weniger auf.“ Das Motorrad ratterte durch die morgendlichen Straßen. Viel Verkehr war noch nicht. Da und dort sah man Menschen, die zur Arbeit gingen, Gemüsehändler mit Handwagen, oder Mütter, die ihre Kleinen in den Kindergarten brachten. Auch Jungen und Mädchen mit Schultaschen hasteten vorbei, denn der Wind trieb ihnen den kalten Sprühregen ins Gesicht, und die Straße verlockte nicht zum Verweilen. Das Bild begann sich zu ändern, als sie, am Museum angekommen, zum Wilson-Bahnhof abbogen. Hier sahen sie viele Passanten quer über die Allee in der Richtung zur Hybernská eilen. Es gehörte nicht viel dazu, um zu erkennen: Da unten mußte etwas los sein. Der Kurier schlug vor, das Motorrad vor dem Bahnhof zu parken. Sie stiegen ab und schlossen sich den anderen an. Man konnte aus den aufgeregten Unterhaltungen und Zurufen immer wieder das Wort
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„Hitlerovci“ hören. Welchen Haß und welche Verachtung legten sie in das „Hitleristen“, und wie gut konnten Richard Zaurich und Manfred Kühnemann diesen Haß und diese Verachtung verstehen! Je mehr sie sich der Hybernská näherten, desto deutlicher unterschieden sie das Geräusch von Motoren, in das sich der Lärm von menschlichen Stimmen mischte. Da fuhren sie! Junge Gesichter unter Stahlhelmen. Grau war der Himmel, grau die Prager Häuser und grau die motorisierten Soldaten. Die drei drängten sich zum Straßenrand durch, der trotz der frühen Morgenstunde – es hatte gerade erst acht geschlagen – von einer Menschenmenge dicht gesäumt war. Auf die Schreckensnachricht hin hatten die Prager ihre Arbeitsplätze und ihre Wohnungen verlassen und waren auf die Straßen herausgekommen. Tschechische Gendarmen bildeten auf beiden Seiten eine ununterbrochene Kette und bemühten sich, die empörte Menge zurückzudrängen. Ein Schwall von Verwünschungen und Protestrufen ergoß sich vom Spalier auf den Gehsteigen über die Wehrmachtskolonnen. Nur mit größter Anstrengung konnte die Bevölkerung davon abgehalten werden, sich auf die fremden Eindringlinge zu stürzen. In ihrem ohnmächtigen Zorn spuckten die Frauen nach den vorüberrollenden Nazitruppen. „Daß ihr euch nicht schämt!“ rief eine zahnlose Alte, der die Tränen über die zerknitterten Wangen liefen. „Schert euch nach Hause, Lumpen!“ donnerte eine tiefe Männerstimme. „Mörderpack!“ schrie eine Mutter, die ein kleines Kind auf den Armen trug. Manfred ließ seine Blicke umherwandern und sah auch in den harten Gesichtern von Männern feuchte Augen, und wenn er nach den Händen schaute, sah er geballte Fäuste, die sich den Okkupanten entgegenhoben. Manchmal verschmolzen die Rufe zu einem einzigen Aufschrei aus Verzweiflung, Wut, Trotz, Verachtung und Hohn. Die Soldaten hielten die Köpfe steif und die Augen geradeaus gerichtet. Auch wenn sie die Worte nicht verstanden, den Sinn der Zurufe brauchte ihnen keiner zu übersetzen. Vielleicht fühlte mancher den Stolz
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des Siegers in sich, die meisten aber spürten wohl keine Freude. Zu feindselig waren diese Mauern, an denen sie vorbei mußten. Man konnte es vielen dieser Jungengesichter ansehen: So hatten sie sich den Empfang in Prag nicht vorgestellt. „Gehen wir“, flüsterte Zaurich und zog Manfred und den Kurier aus der Umklammerung heraus. „Schnell zurück ins Heim!“ Er sprach tschechisch, denn ein deutsches Wort hätte in diesem Augenblick gefährlich sein können. Wieder ging es über Straßen, die vor Feuchtigkeit glänzten. Die naßkalte Luft zwang Manfred, die Augen zusammenzukneifen und den Kopf hinter dem Zelluloidschutz einzuziehen. Sie mußten sich beeilen, denn wer wußte, wann die Gestapo eintreffen würde. In wenigen Stunden? Oder gar noch früher? Jede Minute war kostbar. Im Heim wurden die Boten von den Genossen umlagert. Es gab keine Panik, obgleich Pfeifenrichards Bericht den letzten Zweifel über den Ernst der Lage zerstreute. „Wer mit Packen fertig ist, verschwindet jetzt. Verhaltet euch wie vereinbart. Die Partei wird mit jedem die Verbindung aufnehmen und für das weitere sorgen.“ Eisenbarts Blick fiel auf Manfred. „Du hältst dich an Boberlein. Er weiß Bescheid.“ Und da war er ja schon. „Schnell, pack deine Sachen zusammen, und dann geht’s ab. Keine Angst, nichts wird so heiß gegessen, wie’s gekocht wird. Und noch eins: Unnötiges Zeug laß ruhig zurück. Nur Dokumente, Briefe und Fotos darfst du hier nicht liegenlassen. Geh schon. Ich komme dir in die Sachsenstube nach.“ Manfred sprang die Treppe hinauf. Kaum fünf Minuten brauchte er, um den Rucksack fertigzumachen. Als Boberlein kam, konnte es losgehen. Onkel Bob kontrollierte noch schnell die Bettstelle des Jungen. Außer ein paar Zeitungen und einer ziemlich löchrigen blauen Arbeitshose war nichts liegengeblieben. „Hast du nicht auch Bücher gehabt?“ „Nur eins… ,Unter fremden Menschen’ von Gorki“, antwortete Manfred. Er hätte es gern mitgenommen, doch Onkel Bob bestand darauf, daß es hierblieb. Ein Buch ließe sich immer ersetzen, der Kopf aber 107
nicht, wenn er einmal ab sei. So nahm Manfred Abschied von diesem Buch, das er schon dreimal gelesen hatte und an dem er hing wie an einem alten, lieben Freund. „Hast du etwas hineingeschrieben?“ Manfred nahm den Band vom Tisch und schlug den Deckel auf. Fein säuberlich stand dort sein Name. Da half nun alles nichts mehr, er mußte, so sehr seine Hand widerstrebte, das Deckblatt herausreißen. „Einstecken und mitnehmen!“ befahl Onkel Bob. Das Blatt verschwand in der Tasche des Jungen. „Gehen wir!“ sagte Boberlein und griff nach dem Handköfferchen, das seinen ganzen Besitz barg, denn er war ja mit leeren Händen über die Grenze gekommen. „Wohin gehen wir?“ erkundigte sich Manfred, als sie auf der Straße waren. „Ich weiß es selbst noch nicht. Erst einmal von diesem Haus fort. Da werden sie sich bald sehen lassen. Und wir sind ja nicht neugierig auf das Gestapogesindel.“ Sie gingen zur Straßenbahn. Obgleich es regnete, blieb Joachim Boberlein auf halbem Wege zur Haltestelle stehen. Es war eine verdammt unangenehme Situation. Da befand er sich auf einer Prager Vorstadtstraße, hatte einen jungen Menschen an der Seite und sollte nun sehen, wie er ihn und sich in Sicherheit brachte. Er ließ sich die Namen einiger tschechischer Genossen durch den Kopf gehen. Die Steiners würden Manfred bestimmt zu sich nehmen. Das waren aber Juden. Die mußten sich vielleicht schon morgen selbst vor den Nazis verbergen. Der Eisenbahner Křižan? Der war bekannt als Kommunist, den durften sie nicht noch mehr gefährden. Marek? Dem war nicht ganz zu trauen. Für Manfred war es nicht sehr schwer zu erraten, worüber Onkel Bob nachdachte. „Wir könnten zu Tonda gehen“, schlug er vor. „Da wird man uns sicher weiterhelfen.“ „Du mit deinem Tonda“, brummte Boberlein, fügte aber gleich hinzu: „Hm, warum eigentlich nicht? Wenn seine Eltern so sind wie er, wäre das für dich kein schlechter Platz.“
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Sie hatten sich nicht getäuscht. Mutter Novotná, die übrigens noch nichts von dem wußte, was sich draußen abspielte, willigte sofort ein. Sie bot auch Onkel Bob Quartier in ihrer Wohnung an. Es sei besser, wenn beide zusammenblieben, meinte sie. Ihr Mann würde bestimmt keine Einwände erheben. Erst müßten sie ja irgendwo untergebracht sein. Das weitere würde sich schon finden.
17. KAPITEL Bald wird es ein Jahr sein, daß ich in Prag lebe, dachte Manfred. Er war auf dem Weg zum Altstädter Ring, wo er vor dem Hus-Denkmal Eisenbart treffen wollte. Boberlein sollte möglichst wenig ausgehen, denn die Gefahr, von Spitzeln – auch unter den Bewohnern des Strašnicer Heimes hatten sich einige befunden – gesehen und verraten zu werden, war groß. Wenn Onkel Bob in die Hände der Gestapo fiel, kostete es ihn den Kopf. Auf einen Jungen aber gab man weniger acht. Überdies sprach Manfred nun schon so gut tschechisch, daß er sich in einer heiklen Situation ganz gut als Einheimischer ausgeben konnte. Vorsichtshalber hatte ihm Vater Novotný den Schädel kahlgeschoren und eine alte Nickelbrille gegeben. So war es gar nicht leicht, ihn wiederzuerkennen. Jedenfalls bewährte sich diese Methode der Maskierung, als er das Denkmal erreichte. Allerdings hatte sich auch Eisenbart verwandelt. Er trug einen Schlapphut tief über die Augen gezogen, eine dickrandige Hornbrille und auf der Oberlippe ein schmales Kavalierbärtchen. Manfred erkannte ihn dennoch ziemlich schnell. Als er an ihm vorbeiging, warf er nur einen Blick in sein Gesicht. Da war die rote Narbe. Sie verriet ihn, obwohl er sie mit Puder betupft hatte. Eisenbart aber hätte den Jungen nie erkannt, wenn dieser nicht noch einmal um das Denkmal herumgegangen wäre und bei der zweiten Begegnung, wie es ausgemacht war, um Feuer für seine Zigarette gebeten hätte. 109
Das mit dem Feuer war eine Vorsichtsmaßnahme: Beobachter würden nicht gleich merken, daß sie hier verabredet waren. Eisenbart holte Streichhölzer aus der Manteltasche. Der Junge wird immer größer, dachte er. Man könnte ihn für achtzehn halten. Er reichte Manfred Feuer. Gleichzeitig schob er ihm ein Bündel Geldscheine in die Hand. „Das ist Verpflegung für vierzehn Tage. Wir treffen uns aber in drei Tagen um die gleiche Stunde wieder, und zwar gegenüber der Altneuschul. Du kennst sie doch, die alte kleine Synagoge in der Pařížská?“ Manfred bestätigte das, bemüht, sich alle Anweisungen genau einzuprägen. „Sag dem Genossen Boberlein, daß wir schon dabei sind, den illegalen Übergang nach Polen, zu organisieren. Von dort geht es weiter nach England. Wann es losgeht, werdet ihr erfahren. Nun haben wir uns lange genug unterhalten. Sollte ich nicht kommen können, oder wenn was schiefgeht, kommt der Blonde Emil an meiner Stelle. Also, Junge, mach’s gut und grüß schön.“ Während Eisenbart mit Manfred sprach, zündete er sich umständlich eine Zigarre an. Wer die beiden gesehen hätte, wäre gewiß nicht auf den Gedanken gekommen, daß es eine geheime Zusammenkunft zweier Kommunisten war. Am festgelegten Tag begab sich Manfred zum Treffpunkt. Diesmal ging Tonda mit. Tschechische Genossen hatten Novotnýs berichtet, daß die Nazipolizei ihre Suche nach den deutschen Antifaschisten verstärke und daß sie sich eines Spitzels bediene. Dieser Lump hatte sich lange Zeit als politischer Flüchtling ausgeben können und kannte nun die Gesichter vieler deutscher Emigranten. Jetzt lauerte er ihnen in Begleitung von Gestapoleuten in den Straßen Prags auf. Also war tausendfache Vorsicht geboten. Manfred ging voraus, und Tonda folgte ihm in einiger Entfernung, um festzustellen, ob sich jemand an die Fersen seines Freundes heftete. Wenn Gefahr war, sollte er das Liedchen „Dreh dich, Mädel, dreh dich, Mädel, immer im Kreis …“ pfeifen. Keiner würde bei dieser lustigen alt- bekannten Melodie ahnen, daß sie als Warnzeichen benutzt wurde. Alles schien glatt zu gehen. Sie gelangten den Wenzelsplatz hinunter und den Graben entlang zum Pulverturm. 110
Gerade war Manfred in die Celetná eingebogen, als sich ein jüngerer Mann, der an der Ecke vor dem Portal des großen Bankhauses gestanden hatte, in der gleichen Richtung in Bewegung setzte. Vielleicht wäre Tonda gar nichts aufgefallen, wenn der Fremde nicht einen Lodenmantel und einen weichen grünen Hut getragen hätte. Daran erkannten die Prager sehr schnell einen Deutschen. Vielleicht sah Tonda schon Gespenster. Aber lieber ein bißchen zuviel als zu wenig Mißtrauen in solchen Fällen, dachte er und behielt den Mann im Auge. An der Ecke, wo der Obstmarkt in die Celetná mündet, blieb der Lodenmantelkerl stehen und betrachtete das Schaufenster der Apotheke. Also doch ein einfacher Straßenpassant? Nein, er war nur stehengeblieben, weil Manfred einige Schritte vor ihm an einer Geschäftsauslage haltgemacht hatte. Tonda ging weiter, überholte den Verdächtigen und drücke sich in einen Hauseingang, von dem aus er leicht den Mann und Manfred zugleich beobachten konnte. War es Zufall, daß sich der Fremde im gleichen Augenblick in Bewegung setzte, als Manfred weiter ging. Sie näherten sich dem Altstädter Ring. Manfred überquerte die Straße und bog rechts in die Kolonnaden ein – und der Mann im Lodenmantel tat das gleiche. Tonda begann sein Liedchen zu pfeifen. Was konnte man noch unternehmen, um dem Freund zu helfen? Während Tonda angestrengt nachdachte, fiel sein Blick auf ein Fahrrad, das an einer der Säulen lehnte. Ohne Zögern ergriff er es, schob es auf das Pflaster und fuhr los. Er machte noch eine kleine Schleife, um den Freund nicht zu überholen. Manfred hatte fast die Dlouhá Straße erreicht und schickte sich an, den Platz zu schneiden. Da trat Tonda fest in die Pedalen, und als der Spitzel – daß es einer war, bezweifelte er nicht mehr – ebenfalls über den Platz gehen wollte, hob er, genau vor dem Fremden, das Vorderrad hoch und ließ sich mitsamt dem Rad auf ihn fallen. Im ersten Augenblick wußte wohl keiner, wer oder was zuoberst lag: der Mann, das Rad, der Filzhut oder Tonda. Auf jeden Fall hatte Manfred Zeit, zur Dlouhá Straße hinüberzurennen und in ihr zu verschwinden. Als sich die an dieser Karambolage Beteiligten erhoben hatten, war der junge Kühnemann nicht mehr zu sehen.
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Der Gestapomann war so wütend, daß er jede Vorsicht vergaß. Er schimpfte wüst auf Tonda – in deutscher Sprache. „Du verflixter Lausejunge, mußt du mir mit deinem Dreckrad in die Quere kommen?“ Er hätte auf Tonda wahrscheinlich auch eingeschlagen, wenn er es nicht so eilig gehabt hätte. Seinen Mantel rasch ein wenig mit der Hand abbürstend, rannte er weiter, blieb jedoch schon nach einigen Schritten stehen, sah sich nach allen Richtungen um, schlug plötzlich einen Haken und machte kehrt, die Hände in die Manteltaschen geschoben und vor sich hin fluchend. Als er an Tonda vorbeikam, warf er ihm einen wütenden Blick zu. Für Tonda war die Angelegenheit allerdings noch nicht erledigt. Selbstverständlich würde Manfred versuchen, schnellstens eine recht große Distanz zwischen sich und den Verfolger zu bringen. Er konnte nicht wissen, daß der Mann im Lodenmantel die Jagd aufgegeben hatte. In solchen Situationen durfte man, um den Partner nicht zu gefährden, auf keinen Fall zum Treffpunkt gehen. Also mußte Tonda versuchen, Eisenbart an der verabredeten Stelle zu treffen, um ihn über das Vorgefallene zu informieren.
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Zuerst aber wollte er das ohne Erlaubnis geliehene Fahrrad an seinen alten Platz zurückstellen. Da kam ihm ein aufgeregt gestikulierender Arbeiter entgegen, und ehe sich Tonda versah, bekam er links und rechts eine Ohrfeige. „Das könnte dir so passen, Fahrräder klauen!“ schimpfte der Mann im blauen Monteuranzug. „Hast du wohl von unseren neuen Herren gelernt?“ „Ich wollte doch nur einen Spitzel anhalten“, entfuhr es Tonda. „Mach keine Flausen, Lümmel! Klauen wolltest du!“ Der Arbeiter nahm sein Rad, besah es, probierte die Räder aus, und als er festgestellt hatte, daß alles in Ordnung war, stieg er auf und fuhr los. „Na schön“, brummte Tonda. Was waren schon zwei Ohrfeigen und ein paar Schimpfworte gegen das, was er von Manfred und vielleicht auch von Eisenbart abgewendet hatte. Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Vorsichtshalber ging er nicht gleich zur Parizská, sondern überquerte den Platz erst einmal in der Richtung zum alten Rathaus, wo, wie immer, einige Leute standen und die berühmte astronomische Uhr betrachteten. Tonda gesellte sich dazu und ging dann unauffällig seiner Wege. Kurz vor der alten Synagoge machte er halt. Er tat, als knüpfe er sich die Schnürsenkel, um sich so zu vergewissern, daß er unbeobachtet war. Dann schlenderte er auf die gegenüberliegende Straßenseite. Vor dem Schaufenster eines Ladens stand ein mittelgroßer Mensch. Das konnte Genosse Eisenbart sein. Tonda näherte sich dem Mann und sah ihm von der Seite ins Gesicht. Er war es. Die Narbe war nicht zu verkennen. „Ich bin’s, Genosse Eisenbart, ich, Tonda Novotný.“ Der Angesprochene wandte das Gesicht ein wenig zu ihm hin. „Du bist’s? Guten Tag, Junge. Dreh dich nicht um. Wenn wir ins Schaufenster blicken, können wir sehen, was hinter uns vorgeht, von uns aber sieht man nur den Rücken … Ja, warum kommt denn Manfred nicht?“ Tonda berichtete kurz, was unterwegs dazwischengekommen war. „Das scheint noch einmal gut ausgegangen zu sein. Bist ein Mordskerl“, lobte Eisenbart. „Komm, gehen wir jetzt noch ein Stück zusammen bis zur Moldau.“ 113
Der Junge war nicht wenig stolz, daß ihm sein Begleiter so viel Vertrauen schenkte, und schritt mit gerecktem Hals neben Eisenbart her. „Hör gut zu und versuche, dir alles genau zu merken.“ Eisenbart sprach langsam, da sein Tschechisch nicht ganz einwandfrei war und es darauf ankam, daß Tonda jedes Wort wirklich verstand. „Am Sonntagabend müssen die beiden in Mährisch-Ostrau sein. Von da aus werden sie über die polnische Grenze gebracht. Bis Ostrau müssen sie mit der Eisenbahn fahren. Dort angekommen, sollen sie sich bei der Adresse, die ich dir mitgebe, melden. Alles andere erfahren sie von dem tschechischen Genossen. Hier ist das Geld für die Fahrkarten nach Ostrau, und zweitausend Kronen kostet das Hinüberbringen … pro Kopf tausend Kronen.“ Zweitausend Kronen! Tonda verschlug es den Atem. Er mußte an das sauer verdiente Geld für die Spanienreise denken. Er stopfte den Wachstuchbeutel, in dem sich das Geld befand, in die rechte Manteltasche und glättete sorgfältig die Patte darüber. „Und nun noch eins“, fuhr Eisenbart fort. „Hier hab ich ein winziges Papierkügelchen. Darauf stehen Name, Adresse und Losungswort für Mährisch-Ostrau. Es ist gut in Stanniol gewickelt, so daß es nicht naß werden kann. Leg es in die Backe. Wenn etwas schief geht, schluck es hinunter. Wenn’s auch ein bißchen größer ist als eine Aspirintablette – es wird schon gehen. Besser aber, du bringst es sicher zu Genossen Boberlein.“ „Ich hab schon mal einen kleinen Frosch verschluckt“, meinte Tonda. „Zehn Kronen hab ich dabei gewonnen!“ Eisenbart konnte sich trotz der ernsten Situation das Lachen nicht verkneifen. „Ich weiß ja, du bist ein tüchtiger Kerl. … Hm, schwieriger wird es mit dem Geld sein, wenn man dich schnappt. Da mußt du einfach sagen, du hättest es gefunden und warst gerade dabei, es zum Fundamt zu schaffen. Wenn man es dir nicht glauben will, zeigst du diesen Zettel. Darauf steht die Adresse vom Fundamt. Sagst einfach, du hättest danach gefragt und man hätte sie dir aufgeschrieben. Sei trotzdem lieber vorsichtig. Du bist zwar minderjährig, aber bei den Nazis kann man nie wissen …“ „Für Manfred und Onkel Bob geh ich auch ins Gefängnis“, versicherte Tonda. 114
„Ich weiß, du bist ein echter kleiner Bolschewik. Nun ist’s aber Zeit, auseinanderzugehen. Verlier das Stanniolkügelchen nicht. Und vergiß nicht: Sonntagabend Mährisch-Ostrau.“ Sie hatten die Brücke erreicht. Da niemand in der Nähe war, riskierte Eisenbart ein „Čest práci!“ und bog rechts zum Moldauufer ein. Gemächlich, um nicht durch Hast aufzufallen, ging Tonda nach Hause. Lieber wäre er im Dauerlauf heimwärts getrabt, denn noch wußte er nicht, ob Manfred die Řimská erreicht hatte.
18. KAPITEL Das schmerzlichste war für ihn der Abschied von den Novotnýs, besonders von Tonda. Da hatte nichts geholfen: So sehr sich Manfred bemüht hatte, die Tränen zurückzuhalten, es war ihm nicht ganz gelungen. Nun saßen sie im Zug, der langsam aus dem Wilson-Bahnhof hinausrollte. Tonda und Mutter Novotná waren bereits außer Sicht. Abschied von Prag! Manfred Kühnemann und Joachim Boberlein blickten aus dem Fenster ihres Abteils. Sie schwiegen. Es fiel ihnen nicht leicht, diese wundervolle Stadt, die Stadt der hundert Türme, das goldene Prag verlassen zu müssen. Der Junge war besonders traurig. Ein Jahr hatte er hier in der Moldaustadt verbracht – und was für ein herrliches Jahr! Nicht daß es immer einfach gewesen wäre, doch wie lieb waren ihm all die hilfsbereiten, prächtigen Menschen geworden, die er hier kennengelernt hatte. Und mit diesen Menschen waren ihm auch die Straßen und die Plätze, die Brücken und der Fluß, die Paläste und Häuser ans Herz gewachsen. Auf Wiedersehen Wenzelsplatz und Graben! Auf Wiedersehen Pulverturm und Hus-Denkmal! Auf Wiedersehen du altes Fabrikgebäude in Strašnice und ihr Parkbäume der Letná! Auf Wiedersehen ihr traulichen, krummen, bergigen Gassen der Kleinseite. Auf Wiedersehen Hradschin! Auf Wiedersehen Tonda! 115
Am liebsten wäre Manfred noch aus dem fahrenden Zug gesprungen, um die Hand Tondas und Mutter Novotnás zu erfassen. Ach, wenn er jetzt mit ihnen wieder heimspazieren könnte zur Řimská! Doch in Prag lauerte das Konzentrationslager für alle deutschen Emigranten, die einst vor Hitler hatten fliehen müssen. Es gab kein Zurück. Jetzt hieß es, sich dem Griff der Henker zu entziehen. Ehe die Grenze nach Polen nicht überschritten war, durften sich Boberlein und Manfred nicht als gerettet betrachten. Was konnte noch alles auf dem Weg passieren: Man mußte mit einer Zugkontrolle durch die Gestapo rechnen, Spitzel konnten mitfahren, um „Verdächtige“ ausfindig zu machen. Zwar hatte ihnen Tondas Vater für den Fall einer Kontrolle falsche Anmeldescheine besorgt, nach denen Manfred und Onkel Bob Jan und Karel Starek hießen, doch das war eine unsichere Sache. Wenn sie auffielen, nützte so ein Papierchen nicht allzuviel. Keinen Augenblick in ihrer Achtsamkeit nachlassend, fuhren sie durch das schöne böhmische und mährische Land. Und es schien, als würde alles glatt abgehen. Im Abteil saß nur noch ein schweigsames altes Ehepaar, und so konnten auch die beiden deutschen Emigranten schweigen. Manfred hätte wohl ein Gespräch riskieren können, Onkel Bob aber hätte sich mit seinen paar Brocken Tschechisch sofort als Deutscher verraten. So kamen sie über Pardubitz und Olmütz ohne Zwischenfall fast bis Mährisch-Ostrau. Da stieg doch noch, verflixt, auf der vorletzten Station eine SS-Streife ein und belästigte mit unverschämten Redensarten und Blicken die Passagiere. Die Kerle sahen in die Abteile hinein, verlangten von dem und jenem, dessen Nasenspitze nicht nach ihrem Geschmack war, die Ausweise und ließen sich sogar das Gepäck öffnen. Als sie das Abteil von Manfred und Onkel Bob betraten, rief der Junge auf tschechisch: „Aufwachen, Papa, das Gepäck wird kontrolliert!“ Boberlein, der sich schlafend gestellt hatte, murmelte etwas Unverständliches in seinen Bart – ja, in seinen Bart, denn er hatte sich seit dem Einmarsch der Nazitruppen in Prag nicht mehr rasiert. Nun zierte ihn ein ganz ordentlicher blonder Vollbart, der durch einen Schnurrbart ergänzt wurde. In dieser Aufmachung war er auch von guten Bekannten nicht sofort als Boberlein zu erkennen, und man konnte ihm ohne
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weiteres glauben, daß er irgendein Zigarrenhändler Karel Starek aus PragŽižkov sei. Das jedenfalls stand auf dem Anmeldeschein. Er brauchte ihn allerdings gar nicht vorzuzeigen. Der Ausruf Manfreds und der nicht sehr erfolgreiche Versuch, seinen „Papa“ zu wecken, wirkte offenbar auf die Nazis so, wie es hatte wirken sollen. Sie warfen noch einen kurzen Blick zum Gepäcknetz und schoben die Tür knallend zu. „Diese Lümmel!“ sagte die Frau. In Mährisch-Ostrau ging alles wie am Schnürchen. Ohne Schwierigkeiten passierten sie die Sperre. Eine halbe Stunde später schloß sich bereits hinter ihnen die Tür bei dem tschechischen Genossen, dessen Adresse Tonda im Stanniolkügelchen heimgetragen hatte. Hier durften sie sich ordentlich ausschlafen, um Kraft für den Sprung über die Grenze zu sammeln. „Wird schon schnurpsen“, meinte Boberlein, als sie sich auf ihren Matratzen für die Nacht bequem machten. Aber so überzeugt, wie er vorgab, war er keineswegs. Wenn er auch bei seinen vielen illegalen Gängen über die deutsch-tschechoslowakische Grenze immer Glück ge- habt hatte, so wußte er doch sehr gut, weiche Gefahren jetzt auf sie lauerten. Vor allem waren die Grenzer des halbfaschistischen Polens keine Freunde der deutschen Emigranten. Wenn sie jemanden erwischten, lieferten sie ihn ohne viel Federlesens an die Nazis aus oder schoben ihn über die Grenze zurück. Manfred aber hätte keinen Zuspruch gebraucht. In den zwölf Monaten seit seiner Flucht aus Dresden hatte er Erfahrungen gesammelt. Den Schritt, den sie am kommenden Tag tun mußten, betrachtete er ganz nüchtern. Als Onkel Bob „Gute Nacht“ wünschte, richtete sich Manfred auf. „Hör mal, Onkel Bob“, sagte er. „Ich hab mir die Sache gut überlegt. Wenn die Nazis oder die polnischen Grenzer hinter uns her sein sollten, trennen wir uns. Einer haut links, der andere nach rechts ab. Ich richte es dann so ein, daß sie mich kriegen und du Zeit hast zu entwischen.“ Auch Boberlein hob jetzt noch einmal den Kopf. Der Junge machte sich also Gedanken über den bevorstehenden Grenzübergang. Daß er bloß nichts anstellte. Was er da vorschlug, kam überhaupt nicht in Frage.
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„Warum soll gerade ich entwischen, wenn was in die Quere geht?“ „Hm, das ist so“, begann Manfred langsam. „Wenn sie mich greifen, stecken sie mich höchstens in Zwangserziehung oder in so was. Kriegen sie aber dich, dann bist du geliefert. Die Hauptsache ist also, daß du ganz sicher hinüberkommst.“ „Gut gedacht und gut gemeint, mein Junge. Aber meine Rechnung sieht anders aus: Beide müssen wir wohlbehalten drüben landen. Kapiert? Du kennst unseren Parteiauftrag, nämlich, daß ich die Verantwortung für deine Sicherheit trage. Und du hast den Auftrag bekommen, dich an meine Anweisungen zu halten. Stimmt’s?“ „Ich dachte bloß …“, wollte Manfred widersprechen, doch Boberlein unterbrach ihn: „Denken ist gut, aber dennoch … das mit dem Kriegenlassen schlag dir aus dem Kopf. Unser Ziel ist, es gemeinsam zu schaffen. Wenn Schwierigkeiten auftauchen, kann sich’s natürlich auch ergeben, daß man sich trennen und allein weiterkommen muß. Aber nicht auf diese Weise. Vor allen Dingen eins: Disziplin. Was das ist, weißt du. Du wirst dich streng an das halten, was ich dir sage, auch morgen, wenn’s hinübergeht. Ehrenwort?“ „Ehrenwort!“ bestätigte Manfred. „Dann also gute Nacht und schlaf gut. Richtig ausgeruht sein ist schon der halbe Erfolg.“ Der neue Tag war ein echtes Kind des April: feucht, kühl, windig. Von Zeit zu Zeit fegten wäßrige Schneeflocken am Fenster vorbei. „Macht nichts“, meinte Holoubka – so hieß der tschechische Genosse, bei dem sie zu Gast waren. „Macht gar nichts. Man kann sich bei solchem Wetter zwar leicht einen Schnupfen holen, aber nicht nur ihr, sondern auch die Gestapohunde und die Grenzer. Und da ziehen die Kerle vielleicht die Nasen ein bißchen ein und passen nicht so genau auf, was draußen vorgeht.“ Erst in der Nachmittagsstunde verließen die drei – Onkel Bob, Holoubka und Manfred – die Wohnung. Es war ein starker Verkehr in den Straßen, da viele Menschen aus den Fabriken und Büros kamen. Auch der Bus nach den Witkowitzer Werken war gestopft voll. Nur mit Mühe hatte Manfred für sich und seinen Rucksack Platz gefunden.
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Jedenfalls konnte ihnen in dieser Enge nichts passieren. Hier wäre es ganz unmöglich gewesen, Ausweise zu kontrollieren oder gar die Fahrgäste selbst zu visitieren. Als sie ausstiegen, trieb ihnen der Wind zusammen mit dem Schneeregen auch den Ruß und den Geruch des nahen Hüttenwerks entgegen, und hinter der dunstigen Wand blitzte es von Zeit zu Zeit feurig auf. Genosse Holoubka führte seine beiden Schutzbefohlenen an der Fabrikmauer entlang bis zu einer kleinen Kneipe, wo die Kumpel vom Eisenwerk vor und nach der Schicht ein Bier zu trinken oder eine einfache Mahlzeit zu verzehren pflegten. Die Gaststube war voll, und an der Theke war ein Drängen und Schieben und gelegentlich auch Schimpfen, daß der Wirt immer wieder zur Ruhe mahnen mußte. Das Wetter hatte die Arbeiter in besonders großer Zahl in das warme Lokal getrieben. Holoubka bahnte sich einen Weg, seine Begleiter hinter sich herziehend. So landeten sie in einem Stübchen hinter dem Schankraum. „Legt eure Sachen ab und macht es euch gemütlich“, forderte er Manfred und Onkel Bob auf. „Ich werd mich mal nach was Heißem umsehen.“ Kurz darauf kam er mit der Kellnerin zurück. Sie brachte für jeden einen Grog. Manfred hatte noch nie so etwas getrunken und nippte erst einmal vorsichtig. Doch das Zeug schmeckte nicht schlecht und verbreitete überdies eine recht angenehme Wärme im ganzen Körper. „Wenn’s auf diese Weise weitergeht, haben wir uns nicht zu beschweren“, sagte Boberlein und schlürfte lang und behaglich aus seinem Glas. „Eines, Genossen, vergeßt nicht“, mahnte Holoubka. „Die Leute, die euch hinüberschmuggeln werden, sind keine Kommunisten. Es sind einfach Tschechen, die für die Nazis nichts übrig haben und für Geld auch ein gewisses Risiko in Kauf nehmen.“ „Kann man sich auch bestimmt auf sie verlassen?“ erkundigte sich Onkel Bob mit einem Zweifel im Blick. „Auf alle Fälle. Außerdem bleibt uns keine Wahl. Jetzt heißt es schnell handeln und Hunderte politische Flüchtlinge und verfolgte Juden wegbringen. Sogar viele Tschechen müssen schon die Heimat verlassen, um ihren Kopf zu retten.“ 119
Draußen war es längst dämmrig geworden, als ein vierschrötiger Mann in Lederjoppe und grauem Filzhut das Stübchen betrat. Holoubka warf den anderen einen beruhigenden Blick zu und begrüßte den Ankömmling. „Euch beide also“, wendete der sich an Manfred und Onkel Bob, indem er ihnen eine breite kurzfingrige Hand entgegenstreckte. Boberlein musterte den Fremden unauffällig. Ein kleiner Rest Mißtrauen war noch bei ihm vorhanden. „Kann’s gleich losgehen?“ fragte Holoubka den Mann. „Deshalb komme ich ja“, erwiderte der. „Und sonst ist alles klar?“ Holoubka machte mit den Fingern eine Bewegung: bezahlen. Boberlein begriff, zog seine Brieftasche und zählte zweitausend Kronen in Fünfzigern auf den Tisch. Der Mann schob das Geld zusammen und verstaute es in der Innentasche seiner Jacke. „Gehen wir. Ich habe den Wagen unten an der Ecke stehenlassen … Übrigens sitzen schon zwei von euren Leuten drin. Ihr werdet also vier sein.“ Manfred warf seinen Rucksack über. Onkel Bob nahm sein Köfferchen. Holoubka verabschiedete sich. Es war nicht ratsam, zu oft mit Ortsfremden und mit dem Mann in der Lederjoppe gesehen zu werden. Wenn einmal etwas herauskam, durften die Zusammenhänge nicht für jeden zu leicht erratbar sein. „War nur ein kurzes Zusammentreffen, Genossen. Aber ihr werdet vielleicht noch ein Weilchen daran denken. Auf alle Fälle: Hals- und Beinbruch! Ewig wird der Hitler nicht machen, und dann sehen wir uns wieder. Čest práci!“ Gleich darauf gingen auch die anderen. Auf dem Weg zum Wagen instruierte sie der Mann in der Lederjoppe. „Wenn dicke Luft ist, fahr ich auf die Seite und schalte alle Lichter ab. Kein Wort darf dann gesprochen werden. Wenn’s aber doch nicht geht und sie stoppen uns, dann kennen wir uns nicht. Ihr habt mich einfach angehalten und gebeten, ein Stück mitgenommen zu werden. Ist das klar?“ „Alles klar“, erwiderte Boberlein. „Und du, Junge, hast du auch kapiert?“ „Alles kapiert!“ bestätigte Manfred.
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In wenigen Minuten hatten sie die Ecke erreicht, wo das Auto wartete. „Hinten müßt ihr zu dritt sitzen. Einer hat vorn neben mir Platz“, sagte der Mann und öffnete die hintere Wagentür. Manfred stieg ein. Da saßen die beiden, die mit ihnen zusammen die Grenze überqueren sollten. Wenn auch sie durch die Partei hergeschickt worden waren, könnten es Bekannte sein. Lange brauchte er nicht im Dunkeln auf die Gesichter zu starren, denn es meldeten sich vertraute Stimmen mit einem „Guten Abend!“ -die Jelíneks. Da waren sie also wieder beisammen. Welch ein Zufall! „Wir fahren bequemer als du damals mit mir in Spielzeug-Hinrichs Fuhrwerk nach Bodenbach“, brummte Pepík, und wäre es nicht finster im Wagen gewesen, hätte Manfred sehen können, daß der Sprecher sich nach alter Gewohnheit an den herabhängenden Schnurrbart griff – der gar nicht mehr da war. Pepík hatte ihn abrasiert, damit er in Prag nicht von Henleinleuten erkannt würde. Tante Marie schlang einen Arm um Manfred und drückte ihm einen knallenden Kuß auf die Wange. Daß der Geküßte vor Verlegenheit ganz rot wurde, sah glücklicherweise niemand. Der Anlasser begann zu knattern, dann ruckte es noch ein paarmal, und der Wagen fuhr an. „Ich bring euch nach Frýdek, das ist jetzt Grenzort geworden.“ Dann schwiegen alle. Sie spähten durch die Scheiben, um keine nahende Streife zu übersehen. Nach Frýdek waren es rund zwanzig Kilometer. Die konnten in ebensoviel Minuten zurückgelegt werden. Der Mann fuhr mit abgeblendeten Scheinwerfern und nicht allzu schnell, um rechtzeitig irgendwo unbemerkt abbiegen zu können. So vorsichtig er aber auch gefahren war – plötzlich leuchtete vor dem Wagen eine Taschenlampe auf. Zwei Männer standen mitten auf der Landstraße und versperrten ihm den Weg. Jetzt wäre es ein Wahnsinn gewesen, einen Fluchtversuch zu machen. „Unterhaltet euch ruhig ein bißchen, aber tschechisch. Tut recht lustig, a1s wenn ihr gerade aus dem Wirtshaus kämt.“ Das war leicht gesagt, sich in solch einer Situation fröhlich zu stellen. Immerhin machte Onkel Pepík einen Versuch, indem er ein tschechisches
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Scherzliedchen anstimmte, und Manfred, der das Lied von Tonda gelernt hatte, fiel in den Refrain ein. Der Mann in der Lederjoppe hielt den Wagen kurz vor den beiden Gestalten an und beugte sich zum Fenster hinaus. Die Leute mit der Taschenlampe traten an den Wagen heran und fragten: „Wie kommen wir nach Frýdek?“ An dem fehlerhaften Tschechisch und am Tonfall erkannten die Insassen des Autos sofort, daß es sich um Deutsche handelte. „Immer geradeaus, so wie wir fahren“, sagte der Mann am Steuer erleichtert. „Können Sie uns nicht ein Stückchen mitnehmen?“ „Leider nicht. Der Wagen ist voll. Aber wenn Sic sich sputen, sind Sie auch zu Fuß in einer halben Stunde dort.“ Die beiden gaben sich damit zufrieden, dankten und setzten ihren Weg in der angegebenen Richtung fort, nachdem sie ihre Taschenlampe ausgeknipst hatten. „Da haben wir Glück gehabt! Das sind sicher Landsleute von euch, die auch hinüber wollen“, meinte der Mann in der Lederjoppe und schaltete den Gang wieder ein. Marie Jelínek seufzte. „Die armen Kerle rennen auch um ihr Leben, Schade, daß wir kein Plätzchen frei hatten.“ Es waren keine zehn Minuten verstrichen, als der Wagenbesitzer auf freier Strecke haltmachte. „Wir fahren nicht direkt bis hin. Das könnte auffallen. Das letzte Stück laufen wir.“ Der Mann führte seine Fahrgäste durch den Straßengraben bis zu einem Haus. Dort klopfte er dreimal. Ein bezopftes Mädchen, das zehn Jahre alt sein mochte, öffnete. „Guten Abend, Božena, ich bin’s wieder.“ „Oh, du bist’s, Onkel Franta.“ Božena schien gut Bescheid zu wissen, denn sie wunderte sich gar nicht, daß Onkel Franta nicht allein kam. Mit einer Handbewegung forderte sie die Besucher auf, hereinzukommen. Von den Eltern der Kleinen wurden die Flüchtlinge freundlich begrüßt.
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Nachdem der Mann in der Lederjoppe dem Hausherrn einige Geldscheine übergeben hatte, verabschiedete er sich, wünschte allen ein gutes Gelingen für die letzte Etappe und ging. „Jetzt habt ihr’s bald geschafft“, erklärte die Frau lächelnd. „Ihr seid nicht die ersten, und bei den anderen ist alles glatt gegangen.“ „Bei schlechten Menschen geht gewöhnlich alles glatt“, scherzte Onkel Pepík. „Beschrei es nicht“, warnte Marie und knuffte ihren Mann in den Arm. „Nur keinen Aberglauben“, gab der alte Jelínek zurück. „Keine Angst, Tante Marie“, sagte Manfred. „Onkel Pepík hat bisher immer recht behalten. „Natürlich, ihr Männer ergreift stets Partei füreinander“, meinte Marie und versuchte ein Lächeln. „Hilft alles nichts, Mariechen“, mischte sich nun auch Boberlein in die Unterhaltung. „Ich muß Pepík schon unterstützen.“ „Hab ja nichts dagegen, daß ihr diesmal gewinnt“, kapitulierte Marie, die sich bereits wieder nützlich machte, indem sie der Hausfrau beim Tischdecken half. Es war die letzte Mahlzeit, die Manfred und seine drei Leidensgefährten vor der Grenze einnahmen. Gleich nach dem Essen mußten sie sich zum Aufbruch bereitmachen. Zuerst ging der Vater des Mädchens hinaus, während die Mutter am Fenster auf ein Taschenlampensignal von ihm wartete. Als das gekommen war, winkte sie den vier Flüchtlingen und ging mit ihnen vor das Haus, wo ihr Mann sie in Empfang nahm. Auch das Mädchen war mitgekommen. Božena hielt ebenfalls eine Taschenlampe in der Hand. Sie wechselte noch ein paar Worte mit ihrem Vater und entfernte sich. Bald war sie von der Dunkelheit verschlungen. Was das wohl bedeutet? überlegte Manfred. Es gefiel ihm, daß die Kleine keine Angst zu haben schien. „Wenn die Luft rein ist, gehen wir hinüber. Sind keine hundert Meter mehr“, flüsterte der Mann. Schweigend sahen alle in die Richtung, in der das Mädchen verschwunden war. Jede Minute erschien ihnen wie eine Ewigkeit.
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Da leuchtete aus einiger Entfernung Bozenas Taschenlampe auf. Das hieß: Ihr könnt losgehen. Sie liefen im Gänsemarsch, als erster der Mann aus Frýdek, hinter ihm Boberlein, dann folgte Marie, der vorletzte war Manfred, und das Schlußlicht machte der alte Jelínek. Wenige Minuten nur stapften sie im Graben die Straße entlang, dann bogen sie zu einem Bach ab: die Grenze. Außer ihrem Führer landeten alle mit nassen Füßen auf der anderen Seite. Nur Tante Marie hatte den guten Gedanken gehabt, schnell Schuhe und Strümpfe abzustreifen. Da inzwischen der Mond herausgekommen war und man sich auf einem ungeschützten Ackergelände befand, mußten sie gebückt weitergehen. Zuerst führte der Weg an den Furchen eines Kartoffelfeldes entlang, dann kam Wiese und schließlich ein frisch gepflügtes Feld. Es war recht beschwerlich vorwärtszukommen, noch dazu mit dem Gepäck. Maries Koffer schleppte der Mann aus Frýdek. Manfred wollte ihr die Handtasche abnehmen, aber da kam er gerade an die Richtige. „Statt daß ich dir Säugling den Rucksack tragen helfe, soll ich dir noch meine Tasche aufpacken?“ antwortete sie flüsternd. Wie gut, daß sie mit den Jelíneks zusammen waren! Was er an Mutter Novotná verloren hatte, ersetzte ihm jetzt Tante Marie.
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Es konnte nicht viel mehr als eine Viertelstunde vergangen sein, als sie vor einem Haus standen. Es sah fast genau so aus wie das in Frýdek. „Hier wohnt mein Bruder“, sagte der Mann. Mit einem Griff über den Zaun nach dem Riegel öffnete er das Gartentor selbst. Einen großen Schäferhund, der ihm entgegengesprungen kam, beruhigte er mit einigen gedämpften Worten. Und da ging die Haustür schon auf. Jetzt konnte nicht mehr allzuviel passieren. Der Gestapo jedenfalls waren sie entwischt, und die polnischen Grenzer hatten sie auch hinter sich gelassen. Wer könnte sich darüber wundern, daß Manfred noch einen kräftigen Kuß von Tante Marie bekam? Diesmal wurde er nicht rot, obgleich es in Boberleins und Pepíks Gegenwart geschah und die neuen Gastgeber dabeistanden.
19. KAPITEL Manfred konnte sich kaum satt sehen an den schäumenden Wellen der Ostsee. Bis an die Kaimauern schlugen sie und spritzten hoch. Das war also das Meer! Immer wieder verfolgten seine Blicke den Flug der Möwen, die um die Schiffsmaste kreisten. Die Kräne, die Schornsteine der Schiffskolosse, das Rattern der Ketten, das Tuten der Nebelhörner - alles, was er sah und hörte, nahm ihn so gefangen, daß ihm Onkel Bob erst einen Klaps auf die Schulter geben mußte, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. An der Seite Boberleins schritt er über den schaukelnden Laufsteg zur ,,Kastelholm“ hinüber. Das Schiff, mit dem sie von Gdynia nach Schweden gebracht werden sollten, war ein kleiner bequemer Passagierdampfer. Verglichen mit den Dampfern der Weißen Flotte, auf denen er so manche Elbtour gemacht hatte, war die „Kastelholm“ schon von recht ansehnlicher Größe. Und wie sie vor Lack und poliertem Holz glänzte! Es machte seinen Tischlerhänden großes Vergnügen, über die Wandtäfelungen zu fahren. 125
Hinter Manfred lagen wieder zwei erlebnisreiche Wochen. Vorn Haus an der Grenze waren sie zu viert mit dem Autobus nach Teschen gefahren. Dort hatten sie sich bei der Jüdischen Gemeinde gemeldet, die ihnen half, nach Krakau weiterzukommen. In der schönen alten polnischen Königsstadt mußten sie fast zwei Wochen auf das Visum nach Großbritannien warten. Die Regierung in London beeilte sich nicht so sehr, den Emigranten ein neues Asyl zu gewähren. Übrigens saßen die Jelíneks immer noch in Krakau. Ihr Visum war noch nicht eingetroffen. Am liebsten wären Manfred und Onkel Bob mit Marie und Pepík in Krakau geblieben. Aber darüber hatten sie nicht selbst zu bestimmen gehabt. „Fahrt nur los!“ hatte Onkel Pepík gemeint. „Wir kommen eben mit dem nächsten Transport nach. Krakau ist doch kein schlechter Aufenthaltsort.“ Ja, Krakau war kein schlechter Aufenthaltsort. Man konnte schöne Spaziergänge unternehmen und dem Treiben in den belebten Straßen zuschauen. Spaß machte es auch, durch die alten Tuchhallen zu schlendern oder draußen auf dem Marktplatz die Tauben zu füttern, die sich ohne Scheu auf den Schultern der Menschen niederließen. Und gern würde Manfred an das Wawel-Schloß zurückdenken, das sich mitten in der Stadt auf einem Berg erhebt. Doch so wie in Prag hatte er die Schönheit dieser Stadt nicht genießen können. In Prag hatte er sich nicht gefühlt wie ein Wild, hinter dem die Jäger her sind. Hier mußte jeder Emigrant die Zunge hüten. Die polnische Regierung war wie Hitler kein Freund von Antifaschisten und schon gar nicht von Kommunisten. Man konnte nie ganz sicher sein, ob man eines Tages nicht doch von der Polizei ergriffen und ans Dritte Reich aus- geliefert werden würde. Auch der tägliche Gang zum britischen Konsulat, um zu erfahren, ob das Visum eingetroffen sei, war lästig gewesen. „Warum fahren wir eigentlich nicht in die Sowjetunion?“ hatte sich Manfred einmal an Boberlein gewandt. Darauf hatte Onkel Bob geantwortet: „Kommunisten suchen sich nicht immer gerade den Fleck aus, wo es sich am bequemsten sitzt.“
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Schließlich waren die Visa für ihn und Onkel Bob eingetroffen. Mit der Eisenbahn hatten sie die Reise nach Gdynia angetreten, waren quer durch Polen gefahren, hatten die Türme und Dächer Warschaus und die strohgedeckten, blaugetünchten Bauernhäuser gesehen, und nun befanden sie sich auf den Planken eines schwedischen Schiffes. Während Manfred neben Onkel Bob an der Reling stand und zusah, wie die Ladung eines benachbarten Frachters gelöscht wurde, begannen die Ankerketten zu klirren. Das Schiff spie Wasser, das Stampfen der Maschinen wurde heftiger, und der schwimmende Leib drehte sich langsam vom Kai weg. Bald waren sie in der offenen See. Die Rauchfahne zog sich als weißlicher Strich über den Himmel. Das Land wurde kleiner und kleiner. Eine Zeitlang zeichnete es sich noch als schmaler Streifen in der Ferne ab; dann verschwand auch der, und nur das Wasser der Ostsee umgab das Schiff. Viele Passagiere machten wie Manfred eine solche Fahrt zum erstenmal und waren, um sich nichts entgehen zu lassen, an Deck geblieben. Manche dagegen hatten die Bequemlichkeit des schmucken Salons vorgezogen, und einige Ängstliche, die sich vor der Seekrankheit fürchteten, konnte man ausgestreckt auf Liegestühlen ruhen sehen. ,,Na, wohin geht die Fahrt, junger Mann?“ fragte ein Mitreisender, der neben Manfred an der Reling stehengeblieben war. Der Befragte sah auf. Der Mann hatte deutsch gesprochen, aber mit ausländischem Tonfall. „Nach England“, gab Manfred zur Auskunft. „Und woher kommen Sie?“ „Aus Prag.“ „Prag? Ist ja ein rechter Umweg!“ „Besser als über ein Konzentrationslager der Nazis“, mischte sich Boberlein in die Unterhaltung. Der Fremde machte Augen wie einer, dem man etwas über den Kartoffelanbau auf dem Mars erzählt. „Für Leute, die aus Deutschland haben fliehen müssen, gibt es heutzutage keinen kürzeren Weg nach England. Wenn wir es uns leisten könnten. ohne Gefahr durch unsere Heimat zu fahren, brauchten wir gar nicht in ein fremdes Land zu gehen“, ergänzte Onkel Bob.
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„Aber, aber“, rief der Mann. „Sehen Sie, wir in Schweden haben keinen Grund, all das zu glauben, was man so über Deutschland erzählt. Ich bin zwar nur ein Kaufmann und kein Politiker, doch ich war in letzter Zeit oft genug in Berlin. Auch in Hamburg und Leipzig war ich. Dort geht alles in bester Ordnung vor sich. Ich habe keine Unruhen gesehen, die Züge fahren pünktlich, und die Leute haben zufriedene Gesichter …“ Manfred warf Onkel Bob einen verzweifelten Blick zu. Was sollte man darauf antworten? Wie sollte er den Mann überzeugen? Auch in Prag hatte er solche Leute getroffen. Wie dieser Schwede hatten sie von der Ordnung und Sauberkeit geschwärmt, denen sie in den deutschen Städten begegnet waren, und wenn man ihnen von den Folterkellern der Geheimen Staatspolizei der Nazis erzählte, hielten sie das für Lügen. Erst als die Gestapo nach Prag gekommen war, hatten sie zu begreifen begonnen, was der Faschismus ist. „Ich gebe zu: Ein bißchen viel Uniformen sieht man da drüben in den Straßen. Wir Schweden lieben das weniger. Aber das ist Geschmackssache.“ Ruhig, wie es Manfred von ihm gewöhnt war, erwiderte Onkel Bob: „Es geht nicht um die Uniform; man muß erkennen, wofür die Uniform getragen wird. Die einen tragen sie, um das Gute zu verteidigen, um ihre Freiheit zu schützen. Die anderen aber hat man in Uniformen gesteckt, um sie gegen das eigene Volk und gegen fremde Völker zu hetzen. Die vielen Uniformen in Deutschland heißen Krieg, wenn nichts dagegen getan wird.“ Noch lange ging das so hin und her. Manfred blieb nur Zuhörer. Er dachte: Wenn ich doch so klug antworten könnte wie Onkel Bob. Und so ruhig! Schließlich schien der Schwede genug von dem Gespräch zu haben. Mit einem freundlichen Gruß entfernte er sich und winkte den Steward zu sich, der gerade Kaffee und Likör auf einem Tablett vorbeibalancierte. „Siehst du“, sagte Boberlein, sich den immer noch nicht abrasierten Vollbart kraulend, „solange sich da Unrecht hinter einer glänzenden Fassade zu verbergen versteht, wird es von vielen Menschen nicht gesehen.“ „Aber es weiß doch jeder, daß Hitler Ernst Thälmann und Tausende anderer Menschen ins Gefängnis gesperrt hat und daß er auf spanische 128
Kinder Bomben werfen läßt und daß er sich Österreich gewaltsam einverleibt hat und daß er jetzt auch noch über die Tschechoslowakei hergefallen ist und …“ Boberlein unterbrach seinen jungen Freund, der über die Unwissenheit des schwedischen Kaufmanns ordentlich in Zorn geraten war: „Reg dich nicht auf. Es gibt eben überall Leute, die einfach Augen und Ohren schließen, um nichts sehen und hören zu müssen. Das ist nämlich sehr bequem. Denk dir, ich stürzte jetzt ins Wasser oder ein Räuber fiele über mich her. Wenn du’s nicht siehst und die Hilferufe nicht hörst, brauchst du auch nicht zu Hilfe zu kommen. Das ist doch sehr einfach … Aber gehen wir lieber ein bißchen spazieren. Es ist herrlich, in Sicherheit zu sein und auf so einem Schiffchen über’s Wasser zu rutschen. Stimmt’s?“ Manfred nickte und folgte Boberlein, der den Weg zum Heck eingeschlagen hatte. Vom Westen her blies eine leichte, kühle Brise. Onkel Bob hatte recht: Wenn man zu den Glücklichen gehörte, die aus der Falle entkommen waren, und überdies eine Seereise als Geschenk mitbekam, so sollte man versuchen, den Augenblick zu genießen. Nur war das nicht ganz leicht. Die Gedanken gaben einem keine Ruhe. Man konnte sie nicht immer in die gewünschte Richtung kommandieren. Besonders war es ein Gedanke, der sich nicht abweisen ließ: Wann würde er den Vater wiedersehen? Eisenbart hatte zwar gesagt, von England aus gäbe es sicher eine Möglichkeit, mit den ehemaligen Kämpfern der Internationalen Brigaden in Verbindung zu treten, doch Manfred hatte gelernt, daß man in diesen unruhigen Zeiten nichts mit Gewißheit voraussagen konnte. Die beiden hatten das Ende des Schiffes erreicht und schauten über den Hintersteven in den brodelnden Gischt, den die Schraube erzeugte. „Stell dir vor, das wäre alles Schlagsahne“, scherzte Onkel Bob und stieß seinen Begleiter in die Seite. Auf einmal meldete sich bei Manfred der Hunger. Wie gut es doch gewesen war, daß Tante Marie noch jedem ein paar Schmalzbrote zugesteckt hatte. Er holte sein Päckchen heraus, was Boberlein veranlaßte, das gleiche zu tun. Von Zeit zu Zeit warf Manfred einen Brothappen in die Luft und freute sich über die Geschicklichkeit der Möwen, von denen die Nahrung aus dem Flug heraus aufgefangen und verschlungen wurde.
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„Da drüben liegt Deutschland“, sagte Boberlein und zeigte in Richtung des Kielwassers. Manfreds Blick lief die leicht gekrümmte Straße entlang, die das Schiff auf der gekräuselten blaugrünen Fläche hinterließ. Dort also lag die Heimat, und man mußte sie meiden. Ein seltsamer Gedanke blitzte in ihm auf: Was wohl mit ihnen geschah, wenn das Schiff kenterte und sie von Deutschen gerettet wurden? Als er Onkel Bob fragte, was der in einer solchen Situation tun würde, bekam er zur Antwort: „Du spinnst oder hast Heimweh!“ Nach einer Weile fügte Boberlein ernst hinzu: „Du behauptest dann, daß du erstens einmal stumm und zweitens ein Eskimo bist.“ Damit war es ihm endlich gelungen, Manfred aus dem Grübeln herauszureißen, ja, er wurde von Manfreds Gelächter angesteckt. Fröhlichkeit lockt an. Bald fanden sich noch mehr Emigrantenpassagiere am Hinterschiff ein. Und es dauerte gar nicht lange, da erklangen auf der „Kastelholm“ deutsche, tschechische und slowakische Volksweisen. Als man sich daran satt gesungen hatte und eine Pause eingetreten war, stimmte Manfred ein Lied an, das zu seinem Lieblingslied geworden war, das Lied der Internationalen Brigaden: Wir, im fernen Vaterland geboren, nahmen nichts als Haß im Herzen mit. Doch wir haben die Heimat nicht verloren, unsre Heimat ist heute vor Madrid. Spaniens Brüder stehn auf der Barrikade, unsre Brüder sind Bauern und Prolet. Vorwärts, Internationale Brigade! Hoch die Fahne der Solidarität. Sofort fielen andere Stimmen ein, und der Ostseewind trug die Melodie spanischer Komponisten und die Worte des deutschen Dichters Erich Weinert über das Wasser hinüber zum Vaterland, dessen Küste vielleicht weniger als hundert Kilometer entfernt und doch für keinen der Singenden erreichbar war. Auch einige Besatzungsmitglieder ließen sich vom Gesang zum Achterdeck locken und blieben dort als aufmerksame Zuhörer stehen.
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Und ein Schiffsjunge, der von einem hängenden Sitz die Rückwand des Brückendecks mit Ölfarbe strich, pfiff mit. Manfred, der das mit besonderer Freude wahrnahm, merkte sofort, daß der rothaarige Bursche das Lied gut kennen mußte – so sicher beherrschte er die Melodie. Am späten Nachmittag tauchte die Küste auf. Die Sonne des frühen Mai stand nicht mehr allzu hoch. Vom westlichen Horizont her begann sich die See mit Quecksilber zu bedecken, und als sich die „Kastelholm“ dem Hafen von Kalmar näherte, war es, als hätte man die Glut aus einem Hochofen über das Wasser ausgegossen. Gern hätte Manfred einen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Aber Emigranten sind keine Luxustouristen. Von der schwedischen Regierung hatten sie nur die Erlaubnis erhalten, mit der Eisenbahn von Kalmar nach Göteborg zu fahren, um dort ein britisches Schiff besteigen zu können. Deutsche und tschechoslowakische Flüchtlinge waren keine besonders willkommenen Gäste in einem Land, das mit Deutschland gute Geschäfte machte. Sie hatten das Schiff verlassen und standen in kleinen Gruppen am Kai. In einiger Entfernung sammelten sich Docker und andere Menschen, die hier beschäftigt waren oder sich aus sonst einem Grunde am Hafen aufhielten. Offenbar war es bekannt geworden, daß mit der „Kastelholm“ Flüchtlinge gekommen waren, und so etwas passierte nicht jeden Tag. Allerdings zeigte sich bald, daß nicht alle nur aus Neugierde herumlungerten. Viele waren auch gekommen, weil sie für die Menschen, die um ihrer Überzeugung willen von Land zu Land gejagt wurden, Sympathie empfanden. Daß dies so war, sollte Manfred erfahren, als sich eine Frau und ein Mann aus der Menge lösten, auf ihn zukamen und ihm ein Päckchen in die Hand drückten. Manfred warf Onkel Bob einen fragenden Blick zu. Der nickte bejahend. In fehlerlosem Deutsch, wenn auch mit fremdem Tonfall, fragte der Mann: „Ihr seid doch die Emigranten aus der Tschechoslowakei?“ „Ja, die sind wir“, erwiderte der Junge. „Da ist eine Kleinigkeit auf den Weg.“
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Die Frau preßte Manfreds Arm wie jemand, der dem anderen Mut machen will. „Eines Tages werdet ihr wieder in eure Heimat zurückkehren“, sagte sie und lächelte. „Und wohin geht jetzt die Reise?“ wandte sich der Mann an Boberlein. „Nach London“, antwortete Onkel Bob. „Das ist eine große Stadt. Als ich noch zur See fuhr, war ich manchmal dort“ Inzwischen waren noch einige Einheimische näher gekommen. Ein Arbeiter in hohen Gummistiefeln und abgewetzter Lederjacke brummte: „Der Herr mit dem Regenschirm hat euch ja in eine schöne Lage gebracht!“ Der Herr mit dem Regenschirm – das war Chamberlain, der britische Ministerpräsident, der auf Fotos und Karikaturen immer mit einem Regenschirm zu sehen war. „Die Engländer werden bald merken, was sie mit ihrem Verrat erreicht haben. Einen Dreck haben sie erreicht.“ „Ich würde nicht alle Engländer in einen Topf werfen“, wandte der ehemalige Seemann ein. „Ich war in England, damals, neunzehnhundertsechsundzwanzig, während des großen Streiks. Die Arbeiter in London oder Wales oder Glasgow sind auch nicht schlechter als anderswo.“ Die Unterhaltung wurde durch die Ankunft der Omnibusse unterbrochen. Es hieß einsteigen. Manfred bedankte sich bei dem alten Ehepaar, das ihn beschenkt hatte, und von dem Mann in den Gummi- stiefeln mußte er sich die Hand drücken lassen, daß ihm die Finger davon schmerzten. „Scheint was zu futtern zu sein“, bemerkte Manfred, als sie im Bus saßen. „Ich hab schon tüchtigen Kohldampf.“ „Kann auch nicht über Mangel an Appetit klagen“, gestand Boberlein. Ihr Hunger wurde bald gestillt. Am Bahnhof führte man den Emigrantentransport in den Speisesaal, und jeder bekam eine große Schüssel Nudeln mit Fleisch, ein dickes Stück Brot und einen Topf Malzkaffee. Da es nicht so einfach ist, ein Eßpaket mit unbekanntem Inhalt zu besitzen, ohne zu öffnen, holte Manfred sein Klappmesser aus der Tasche und machte sich daran, das Geheimnis zu lüften. Was förderte er an den Tag? Käse, Hartwurst und Ölsardinen. Das war eine schöne Ergänzung zum bisherigen Menü. Es ist selbstverständlich, daß nicht
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nur Onkel Bob, sondern auch die anderen Tischgenossen nun ihr Brot nicht mit Salz und Luft zu essen brauchten. „Ob ich meinem Vater Pakete ins Lager schicken kann?“ wandte sich Manfred plötzlich an Boberlein. „Wer weiß, ob sie dort genug zu essen kriegen.“ „Vielleicht ist er gar nicht mehr im Lager. Und wenn er noch dort ist, werden wir schon etwas für ihn tun“, tröstete ihn Onkel Bob. Weiter ging es in Richtung Göteborg. Quer durch den Südzipfel Schwedens eilte der Zug. Draußen war es jetzt dunkel, und da die Emigranten bereits auf ihrer Fahrt durch Polen eine Nacht im Zug ver- bracht hatten, meldete sich bei ihnen die Müdigkeit. Jeder machte es sich so bequem wie möglich und versuchte ein wenig einzunicken. Lange konnte Manfred keinen Schlaf finden. Onkel Bob hatte ihm gleich beim Einsteigen einen Fensterplatz erkämpft. Während einige Reisegefährten schon laut schnarchten, saß er da und sah hinaus ins Sternengefunkel, in das sich immer wieder die Wipfel der Nadelbäume schwarz hineinschoben. Dann waren es die Konturen von Bergen oder auch Häusern und Schornsteinen. Säße doch Tonda jetzt neben ihm! Der hatte eine schlimme Zeit vor sich. Wenn nun die Gestapo herausbekam, daß die Novotnýs zwei deutsche Kommunisten wochenlang bei sich ver- steckt gehalten hatten? Schwer würden sie dafür büßen müssen. Solche Gedanken sprangen ihn wie kleine böse Teufel an; dann fielen ihm die Augen endlich zu. Bis zum Sonnenaufgang hatte Manfred geschlafen, ohne vom Rucken des Zuges auf den Stationen aufgeweckt zu werden. Seine Nachbarn schliefen noch. Nur Onkel Bob war schon wach. Er rauchte eine Zigarette und massierte sich den rechten Oberarm. War auch die Wunde gut verheilt, so machte ihm der Arm doch zu schaffen. Um die Schläfer nicht durch Sprechen zu stören, machte Boberlein nur eine Kopfbewegung zum Fenster hin. Manfred schaute hinaus. Hinter einem schütteren Waldstreifen ging die Sonne auf und verfing sich in den Zweigen, als hätte einer den Wald in Brand gesteckt. Es wurde heller und heller. Das war also Schweden. Felder, Wiesen, Wald und immer wieder kleine Holzhäuser, die mit ihrem farbigen
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Anstrich – einmal rot, einmal blau, einmal gelb – wie Spielzeug aussahen. Auch die Zäune und Brunnen und Bänke, alles machte den Eindruck, als hätte es einer gerade aus der Schachtel genommen und hingestellt zum Anschauen, nicht um darin zu wohnen. Doch es wohnten Menschen darin, das zeigte sich, als der Morgen noch ein Stückchen vorgerückt war und Türen geöffnet wurden: Die Hausschwellen, die Gärten und Wege belebten sich mit Kindern, Eimer tragenden Frauen und Pfeife rauchenden Männern. „Die haben’s gut hier“, entfuhr es Manfred, als wieder eine Gruppe schmucker Häuschen hinter einem Hügel auftauchte. „Denk nur nicht, daß die alle im Paradies leben“, dämpfte Onkel Bob ein wenig die Begeisterung seines jungen Begleiters. „Aber du hast recht. Schweden ist ein reiches Land. Hundertundfünfzig Jahre hat es keinen Krieg geführt und hat gleichzeitig an den Kriegen der anderen nicht schlecht verdient. Besonders durch seinen Stahl, den es in Mengen besitzt.“
20. KAPITEL Auch in Göteborg war der Aufenthalt gerade lang genug, um zum Hafen zu fahren. Wie in Kalmar standen einige Männer und Frauen müßig herum. Sie schienen sich über den Zug der Emigranten zu unterhalten, denen offenbar jeder sofort ansah, daß sie weder gewöhnliche Auswanderer noch Vergnügungs- oder Geschäftsreisende waren. „Mensch, das sieht ja ganz großartig aus“, brummte Boberlein, als er hinter Manfred über den Landungssteg ging. Die „Britannia“ machte in der Tat einen guten Eindruck. Weiß und schlank lag sie im Wasser, das sie sanft umspülte. Es war ein wolkenloser Himmel über einer kaum gewellten blauen Fläche. Onkel Bob hatte recht: Es war ein schönes und sauberes Schiff, das wohl ein armer Tischlerlehrling wie Manfred Kühnemann und ein Schlosser 134
wie Joachim Boberlein nie im Leben betreten haben würden, wenn sie nicht in die Mühle der politischen Weltereignisse geraten wären. Als sie gar eine Schlafkabine zugewiesen bekamen, und zwar eine Zweiter Klasse, weil die Dritte Klasse für die große Zahl der Flüchtlinge nicht ausreichte, konnte Manfred seinen Übermut nicht zähmen. Er streifte die Schuhe ab, kletterte aufs obere Bett und begann dort eine Art Hupftanz auszuführen. „Gehst du von dem schönen weißen Bett runter!“ rief Onkel Bob und drohte mit dem Finger. Manfred sprang herab, in der Hand eine Pergamenttüte. „Das ist wohl für die Seekranken?“ „Wahrscheinlich. Bin ja auch noch nie auf einem anderen Boot gefahren als ‘nem Raddampfer oder ‘ner Zille auf der Elbe.“ „Ich bin!“ meinte Manfred. „Du bist? Ein Aufschneider bist du!“ „Klar doch, auf der ,Kastelholm’!“ „Eins zu null für dich“, mußte Boberlein zugeben. Doch auch eine Schiffskabine Zweiter Klasse ist nur für kurze Zeit ein interessanter Aufenthaltsort, wenn man nicht gerade schlafen will, und
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so begaben sich Manfred und Onkel Bob wieder nach oben. Als sie aufs Deck hinaustraten, fragte sie ein Steward nach der Kabinennummer. Nachdem Boberlein sie ihm genannt hatte, wies er die beiden zu einem Salon, wo sie während der Reise ihre Verpflegung serviert bekämen. „Wie Graf Koks komm ich mir vor“, meinte Boberlein und schlug sofort den Weg zum genannten Speiseraum ein. Plötzlich machte er halt und fuhr sich mit allen zehn Fingern in den Bart. „Eigentlich müßte ich mir meinen Sauerkohl erst abnehmen. In dem Aufzug lassen sie mich am Ende gar nicht an den Tisch.“ Ganz so unrecht schien Onkel Bob nicht gehabt zu haben. Der Steward, der an ihrem Tisch bediente, machte ein Gesicht, als wollte er sagen: Komische Vögel haben wir diesmal an Bord. Aber das beein- trächtigte weder Boberleins noch Manfreds Appetit. Ein treppenartiges Gestell mit vielen Glasschüsseln wurde aufgetragen. Die Schüsselchen waren mit lecker aussehenden Speisen gefüllt. Schon der Anblick war ein Vergnügen und ließ einem das Wasser im Munde zusammenlaufen, vor allem, wenn man an die karge Kost aus dem Strašnicer Heim gewöhnt war und seit der Flucht aus Prag auch nicht gerade im Überfluß gelebt hatte. Ja, was sollte man zuerst essen? Da gab es Russische Eier, Ölsardinen, Gabelbissen, herrlichen rosafarbenen Lachs, Schweizer Käse, Liptauer Käse und Parmesankäse, Krabben, Aal, Mixed Pickles, Karpfen in Aspik, Rollmöpse, Anchovis, gekochten Schinken und kleine schwarze, salzig schmeckende Kügelchen, von denen ein Fachmann in Eßfragen behauptete, das nenne man Kaviar. Auch die meisten anderen Speisen hätte weder Manfred noch Onkel Bob mit den richtigen Namen zu bezeichnen gewußt, ohne sich danach erkundigt zu haben. Da auch zwei Teller, beladen mit herrlichen Weißbrotscheiben, vor ihnen standen, brauchte sich keiner irgendwelche Zurückhaltung aufzuerlegen. Der Hunger fehlte nicht und auch nicht der Unternehmungsgeist, alles, was sich dem Auge bot, auszuprobieren. So langten sie munter zu. Sie waren aufgeklärt worden, daß sie nichts Besonderes aufgerechnet bekämen, da die Verpflegung in der Schiffskarte, die das Hilfskomitee in London bezahlt hatte, enthalten sei.
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Sehr bald stellte sich jedoch heraus, daß selbst der Appetit eines ausgehungerten Flüchtlings nicht von unbegrenztem Ausmaß ist und daß die Augen, wie das Sprichwort sagt, immer größer sind als der Magen. Als sich bei Manfred das Gefühl der Sättigung einstellte, hatte er nur die Hälfte der wohlschmeckenden Dinge gekostet. Das wäre nicht weiter tragisch gewesen, wenn das weiße Jackett des Stewards mit dem herablassenden Gesichtsausdruck nicht erschienen wäre und mit ihm ein Tablett, auf dem sich eine bauchige, Hühnersuppenduft verbreitende Terrine befand. „Prost Mahlzeit!“ knurrte Onkel Bob, als er gewahr wurde, daß alles, was auf dem Tisch gestanden hatte, nur die Vorspeisen gewesen waren und die eigentliche „Arbeit“ erst jetzt losgehen sollte. Manfred hatte den Hosenriemen schon etwas gelockert, doch das änderte wenig an der Tatsache, daß er auch nicht einen Happen mehr zu essen imstande war. Anders Onkel Bob, der immerhin noch einen Teller der duftenden Bouillon zu vertilgen vermochte, was er, ehrlich gesagt, nur noch des Stewards wegen tat. Gesättigt und um die Erfahrung reicher, daß man sich hier auf der „Britannia“ beim Mittagsmahl wie ein Langstreckenläufer verhalten müsse, das heißt, nicht alle Kraft schon am Anfang verausgaben durfte, verließen viele den Tisch. Das war aber erst eine Erfahrung. Eine zweite sollten die meisten Passagiere ein wenig später machen. Die „Britannia“ stach in See. Sie nahm Kurs auf Nordwest. Obgleich es ein wenig kühl war, promenierten die Passagiere auf dem Deck und verfolgten das langsame Verschwinden der schwedischen Küste. Es war kein übermäßig heftiger Seegang, aber es dauerte gar nicht lange, da sah man den einen oder anderen recht still werden und sich irgendwo zu einer Sitzgelegenheit zurückziehen. Die Seekrankheit! Auch bei Manfred begann sich ein seltsames Gefühl im Magen bemerkbar zu machen. Erst wollte er es nicht zugeben, aber was sein Mund nicht verriet, das sagte sein Gesicht. „Am besten, du legst dich ein bißchen unten in der Kabine lang. Das soll ein gutes Mittel gegen die Seekrankheit sein“, riet Boberlein. 137
„Ich? Warum? Mir geht’s doch fein“, schwindelte Manfred. Vielleicht hätte Onkel Bob ihm geglaubt, wenn nicht gerade in diesem Augenblick ein Mann an die Reling gerannt wäre, um seinen Magen noch rechtzeitig ins Meer zu entleeren. Und da überkam es auch Manfred. Er folgte dem Beispiel des Leidensgefährten, der immer noch über das Geländer gebeugt stand und furchtbare Seufzer von sich gab wie einer, der drauf und dran ist, sein Leben auszuhauchen. Onkel Bob eilte seinem jungen Freund zu Hilfe, aber der hatte schon das Schlimmste überstanden. „Mach dir nichts draus, du bist nicht der einzige, der die Fische füttern muß“, meinte Boberlein. Manfred lachte, aber es war ein ziemlich saures Lachen. Ein Genosse, der aus Hamburg stammte und früher als Steuermann auf einem Frachter gefahren war, blieb stehen. „Das Theater kenn ich“, sagte er. „Hier im Kattegat ist’s immer so, und wenn wir in das Skagerrak kommen, wird’s eher noch schlimmer. Dieses verdammte Schlingern macht die Menschen im Handumdrehen fertig. Aber tröste dich, mein Junge, an der Seekrankheit stirbt man nicht. Die kommt und geht, und wenn’s vorbei ist, hast du’s im Nu vergessen.“ „Ich hab wahrscheinlich heute mittag zuviel verdrückt“, entschuldigte sich Manfred kleinlaut. „Wer nichts ißt, fährt auch nicht besser, mein Lieber“, meinte der Hamburger. „Und im übrigen legt’s hier sogar manchen erfahrenen Seebären auf den Bauch. Da hab ich schon ganz andere Burschen als dich wie Reiher kotzen sehn.“ Es war geradezu, als hätte der Riesenkerl, der sich in diesem Augenblick, einige Meter von ihnen entfernt, über die Reling hinweg erleichterte, keine andere Absicht gehabt, als die Behauptung des ehemaligen Seemanns zu bestätigen. Kapitulieren wollte Manfred aber nicht. Er fühlte sich jetzt, nachdem er sich von den vielen Vorspeisen befreit hatte, viel besser. Einen Ratschlag des Genossen aus Hamburg befolgend, unternahm er an Boberleins Seite einen Spaziergang ums Deck herum. „Tief atmen!“ kommandierte Boberlein.
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Das half, fand Manfred, wenn er auch das schwummlige Gefühl nicht ganz los wurde. An diesem Abend verzichtete Manfred auf das Abendbrot. Er hatte sich wohl mit Onkel Bob in den Speiseraum begeben, aber schon der Anblick des Essens verursachte ihm Übelkeit, und er ergriff ohne viel Umstände und ohne noch länger den starken Mann spielen zu wollen, die Flucht. So mußte Joachim Boberlein sein Abendbrot allein einnehmen. Außer ihm waren nur noch zwei Passagiere am Tisch erschienen. So große Mühe sich auch die Schiffsköche gegeben hatten – diesmal blieben ihre Töpfe voll. Der Hamburger hatte recht gehabt. Das Skagerrak war um keinen Deut freundlicher als das Kattegat. Als Manfred nach einer Nacht unruhigen Schlafes erwachte, war es ihm, als läge er nicht in einem Bett, sondern auf einer Wippe, wie man sie auf Kinderspielplätzen findet. Und in regelmäßigen Abständen schlugen die Wellen donnernd gegen die Lukenscheiben. Manfred schaute hinunter. Onkel Bob war schon aufgestanden. Er saß angezogen auf der Bettkante und betrachtete sich nachdenklich im Rasierspiegel. Es war nicht schwer zu erraten, was in seinem Kopf vorging. Sollte er den Bart bis nach England bringen? Die Aufundabbewegung des Schiffes machte es fast unmöglich, sich ohne Gefahr zu rasieren. „Also was sagst du: Runter oder nicht runter?“ wandte er sich nach oben. „Wenn’s sein muß, nehm ich eben ein paar Schrammen in Kauf.“ „Laß ihn doch dran. Mir gefällst du auch so.“ Damit war für Onkel Bob die Sache entschieden. Er würde also bärtig die britische Insel betreten. Wenn es nach Manfred gegangen wäre, hätte dieser Augenblick schon dasein können. Aber vorläufig war noch nicht einmal die halbe Strecke zurückgelegt. Obgleich seine Unternehmungslust zur Zeit sehr gering war, stand er auf und zog sich an, zwischen Kabinenwand und Betten hin und her geschleudert. Waschen mußte er sich, indem er den Schwamm in den Wasserkrug tauchte, denn jeder Versuch, die Schüssel zu füllen, wäre vergeblich gewesen. 139
Da man nur über das Deck zum Speisesaal gelangen konnte, unternahmen sie es, sich am Treppengeländer nach oben zu arbeiten, vorneweg Onkel Bob, hinter ihm Manfred. Oben angekommen, mußte sich Boberlein tüchtig gegen die Tür stemmen, um sie aufzubekommen. Kaum aber war ihm das geglückt, zog es ihn mitsamt der Tür hinaus. Im gleichen Augenblick fegte eine Welle über Bord, und ein salziger Sprühregen peitschte Manfred ins Gesicht. Ohne Boberleins Hilfe hätte der Junge den Speiseraum nie erreicht. Der Wind pfiff übers Deck, und jedesmal, wenn sich der Hinterteil des Schiffes senkte, kam eine tüchtige Portion Wasser über die Reling geschwappt. Onkel Bob faßte Manfred an einer Hand, und mit vereinten Kräften hangelten sie sich an einem Seil, das speziell für diesen Zweck gespannt worden war, vorwärts. Als sie das Ziel dieser Akrobatentour erreicht hatten, waren ihre Regenmäntel pitschenaß. Wie der Steward den Kaffee und die Semmeln herbefördert hatte, war fast unerklärlich. Es war das bewegteste Frühstück, das Manfred je zu sich genommen hatte. Die Tassen rutschten vor und zurück. Die Semmeln hüpften immer wieder aus den Schüsseln, und das Ausschenken war eine artistische Kunst erster Klasse. „Das ist mindestens Windstärke zwölf“, erklärte einer der wenigen Passagiere, die sich den Weg hierher erkämpft hatten. „Aber wo denken Sie hin“, widersprach ein anderer. „Windstärke zwölf? Da lägen wir längst auf dem Meeresgrund.“ In diesem Augenblick hob sich das Schiff, als wollte es kopfstehen. Klirrend sprangen einige Tassen über die Schutzkanten der Tische und gingen in Scherben. Die beiden stritten noch eine Weile, und jeder versuchte seine Behauptung fachmännisch zu beweisen, bis sich der ehemalige Steuermann einmischte. Seiner Meinung nach sei das Windstärke neun, was ja auch nicht gerade eine leichte Brise genannt werden könnte. Da nun unbestreitbar einer gesprochen hatte, der sich auskannte, gab man sich eben mit Windstärke neun zufrieden. Nach dem Frühstück mußte der Weg übers Deck noch einmal unternommen werden. Es war ein wilder Anblick, den das Meer bot. 140
Haushohe Wellen stiegen empor, dann wieder schien es, als versänke alles um das Schiff herum in einem Abgrund. Auf und ab tanzte der Leib der „Britannia“. Wenn Manfred auch immer noch diese dumme Übelkeit in der Magengegend spürte, so wollte er sich doch nicht von ihr unterkriegen lassen. Übrigens hatte ihm der Hamburger erzählt, ein Morgenausflug an Bord sei eine gute Medizin gegen die Seekrankheit. „Also hinaus in den Sturm“, sagte Boberlein und zog den Kopf in den aufgeschlagenen Kragen seines Regenmantels. Vom Speiseraum, der sich auf dem Achterdeck befand, arbeiteten sie sich am Steuerbord entlang. Die Sicherheitsseile liefen über das ganze Schiff. Da es dem Sturm Vergnügen zu bereiten schien, auf diesen Seilen Harfe zu spielen, wurden die beiden gehörig hin und her geworfen. Von besonderem Vorteil erwiesen sich jetzt die Baskenkappen, ein Geschenk von Mutter Novotná. Jede andere zivile Kopfbedeckung hätte es ihnen glatt vom Kopf gerissen. Langsam gelangten sie zum Vorderschiff. Am besten war es, wenn man sich rückwärts, das heißt mit dem Rücken gegen die Windrichtung bewegte. Das ließ einen halbwegs atmen, und man bekam weniger von dem Gischt in die Augen. An einem Quergang unter dem Bootsdeck verschnauften sie. „Das hätten wir geschafft“, sagte Boberlein erleichtert, während er sich mit einem Taschentuch den Bart trockenrieb. „Schön durchgelüftet sind wir ja nun.“ Manfred leckte mit der Zunge über die salzig schmeckenden Lippen. „Wenn wir erst mal drüben sind, ist mein Bedarf an Seefahrten für ein Weilchen gedeckt“, versicherte er. „Einmal werden wir wohl noch auf ein Boot steigen müssen – nämlich wenn wir wieder heim dürfen“, entgegnete Onkel Bob. „Dann werd ich nichts dagegen haben“, erwiderte Manfred. Ein wenig ausgeruht, setzten sie ihren Weg fort. Als sie um das Vorderdeck herumwollten, um nach Backbord zu kommen, sahen sie eine Frau, die sich am Geländer der Ladeluke festhielt und vergeblich versuchte, zu den Ankerspills hinüberzugelangen.
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„Sind Sie verrückt?“ schrie Onkel Bob. Doch der Wind riß ihm die Worte vom Mund. Die See machte einen solchen Lärm, daß ihn selbst sein Begleiter nur mit Mühe verstehen konnte. Jetzt erkannten die beiden auch, was die Frau veranlaßte, da vorn gegen den Sturm zu kämpfen. Zwischen den Ankerspills und einem mit Segeltuch überdeckten Kistenstapel tanzte ein Kinderwagen hin und her. Jedesmal, wenn sich der Bug des Schiffes hob, rollte der Wagen auf die Kisten zu. Tauchte die Spitze des Schiffes hinunter, bewegte sich der Wagen wieder zu den Ankerspills. Lange würde er wohl das Spiel nicht mitmachen, das war sonnenklar. Boberlein sah Manfred an, und Manfred nickte zustimmend. Sie hatten sich sofort verstanden. Kurz entschlossen ergriff Onkel Bob ein loses Seilende, das wie ein gefangener Wurm um sich schlug, und wartete einen günstigen Augenblick ab. Dann sprang er mit einem gewaltigen Bergsteigersatz hinüber zur Ladeluke und schlang das Tau um das Geländer. Manfred folgte ihm, indem er den geschaffenen Übergang benutzte. „Mensch, Frau, Sie gehen ja über Bord, wenn Sie zu dem Wagen hin wollen. So viel ist doch das Ding nicht wert“, überbrüllte Boberlein das Getöse. „Was soll ich machen?“ schrie sie als Antwort zurück. „Soll ich vielleicht drüben mein Mädel auf dem Rücken herumschleppen?“ „Besser ein Kind auf dem Buckel schleppen als von einem Hai gefressen werden!“ Dann ging Boberlein daran, mit Manfreds Hilfe einen Versuch zur Rettung des Kinderwagens zu unternehmen. Eine leichte Sache schien das nicht zu sein. Vom Geländer aus war nicht an den Wagen heranzukommen. Hinüberlaufen war bei dem Sturm gefährlich, denn man konnte auf den glitschigen Planken keinen sicheren Schritt machen und mußte damit rechnen, an die Reling oder gar ins tosende Wasser geworfen zu werden. Was war zu tun? Eine Kette bilden? Das versprach Aussicht auf Erfolg. Da sich Boberlein auf die Frau nicht verlassen wollte, löste er seinen Hosenriemen, verband ihn mit den Gürteln ihrer Mäntel, und an diesem 142
Behelfsseil ließ er nun Manfred zum Kistenstapel hinüberkriechen, während er sich selbst mit einer Hand am Geländer hielt. Am Boden war es zwar naß, aber der Luftwiderstand war geringer. Jetzt mußte der Junge warten, bis der Bug wieder hinaufging und der Wagen bergab zu ihm rollen würde. Da kam er auch schon zusammen mit einer hübschen Portion Wasser. Diesmal allerdings erreichte das leichte Ding nicht die Stelle, an der Manfred lauerte. Aber was war das? Aus dem Kinderwagen kam ein seltsamer Laut. Die Frau hatte doch nicht etwa gar ihr Kleines darin? Das Schiff wurde am Heck hochgehoben, und der Kinderwagen machte seine Tour zurück zu den Ankerspills. Dann begann alles von neuem. Manfred, der inzwischen in den Stricken der Segeltuchplane einen guten Halt gefunden hatte, streckte sich dem näher kommenden Wagen entgegen. Wieder reichte es nicht ganz. Erst nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen hatte er Erfolg und erwischte den Handgriff des Wagens. Jetzt klärte sich auch das Geheimnis des klagenden Lautes, den Manfred gehört hatte: Es war ein nachtschwarzes Kätzchen, das völlig durchnäßt in einer Ecke des Wagens kauerte. Das Fell war dicht an das schmale Körperchen geklitscht; man hätte das Tier im ersten Augenblick für eine Ratte halten können. Als Manfred nach ihm langte, streckte es ihm eine Vorderpfote entgegen, aber mit eingezogenen Krallen. Die Bewegung erinnerte an ein schutzsuchendes Baby. ,,Na, mach schon, mach schon!“ rief Onkel Bob. Manfred verstand zwar kein Wort, aber an Boberleins Gebärden konnte er erraten, was der gerufen hatte. Den Wagen hinter sich herziehend, trat er den kurzen, doch recht schwierigen Rückweg an. Der Kinderwagen war aus Korbgeflecht, und der Wind schickte sich an, das leichte Gefährt aufzuheben und davonzutragen. Wahrscheinlich wäre ihm das auch gelungen, wenn der Junge einen längeren Weg gehabt hätte. Hatten sie den Wagen einmal an der Ladeluke, war es nicht mehr schwer, sich gemeinsam auf den Rückzug nach einer geschützten Stelle zu machen. Die Frau wußte sich vor Dankbarkeit kaum zu fassen. 143
Boberlein aber winkte ab. „Ist doch klar, daß man sich gegenseitig helfen muß … Und schon gar die Emigranten untereinander. Wir Kommunisten sind das so gewöhnt.“ „Ich bin aber gar keine Kommunistin“, entgegnete die Frau. „Wir mußten von Zuhause fort, weil wir Juden sind.“ „Die Solidarität der Verfolgten kennt keine solchen Unterschiede“, erklärte Boberlein, während er sich den Gürtel um den Mantel legte. Manfred war mit dem Kätzchen beschäftigt. „Das nehm ich mit hinunter und trockne es erst einmal. Ob wir es behalten können?“ „Wird wohl nicht gehen“, meinte die Frau. „Man sagt, daß es verboten ist, Tiere nach England zu bringen.“ „Sicher gehört das kleine Biest einem von der Besatzung“, sagte Boberlein. So beschlossen sie, das schwarze Knäulchen ein wenig zu pflegen und es dann seiner Wege gehen zu lassen. Unten angekommen, wurde Mieze mit dem Frottierhandtuch abgerieben und bekam ein Stückchen Wurst. Dann gingen Onkel Bob und Manfred daran, die Kleidung zu wechseln und sich selbst eine herzhafte Massage zu verabreichen. „Warum hast du eigentlich der Frau verraten, daß wir Kommunisten sind?“ fragte Manfred, während ihm Onkel Bob den Rücken warm rieb. In diesem Augenblick wurden sie wieder einmal von einer besonders starken Bewegung des Schiffes an die Kabinentür geworfen. „Deine Fragen können einen manchmal ganz aus der Balance bringen“, scherzte Boberlein. „Aber wie kommst du darauf?“ „Du hast mir doch selber gesagt, wir sollen uns drüben nur als parteilose Antifaschisten bezeichnen.“ „Stimmt, hab ich gesagt, und das hat auch seine Richtigkeit … Einige Abgeordnete der Arbeiterpartei, die für uns Garantien übernommen haben, könnten in Schwierigkeiten geraten, wenn es hieße, sie haben Kommunisten ins Land gebracht. Ja, eigentlich hast du recht. Weißt du, das ist so: Wenn man schon sein halbes Leben der Partei angehört, da entwickelt man einen besonderen Sinn: Man fühlt das mehr oder
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weniger, zu wem und wo und wann man offen reden kann … So, jetzt reicht’s, du hast schon einen ganz roten Rücken.“ Das Kätzchen hatte sich inzwischen erholt. Die Pfötchen leckend, saß es auf Boberleins Bett. Das Schaukeln schien ihm nichts auszumachen, und auch die Schläge der gegen das Schiff prallenden Wogen nahm es nicht zur Kenntnis. Bei Manfred dagegen deuteten sich wieder Anzeichen der Seekrankheit an, und er kletterte auf sein Bett. Sicher war sicher. Auch dieser Tag und die darauffolgende Nacht gingen vorüber. Am Morgen war eitel Sonnenschein. Auf der fast glatten See hinterließ die ,,Britannia“ eine lange, schnurgerade Wasserlinie, und am Horizont zeigte sich als dünner Streifen die Küste Englands. Beim Frühstückstisch sagte der Hamburger: „Los, Kinder, greift noch mal ordentlich zu. Wie’s da drüben mit dem Futter aussieht, weiß keiner.“ Der Steward mußte noch einen Teller mit Broten bringen. Er trug übrigens nicht mehr solch eine hochmütige Miene zur Schau. Vielleicht hatte er inzwischen gemerkt, daß die Emigranten auch einigermaßen zivilisierte Leute waren. Der schmale Streifen hob sich mehr und mehr aus dem Wasser. Die Küste rückte rasch näher. Bald begleitete sie das Schiff an beiden Seiten. Die „Britannia“ hatte die Mündung der Themse erreicht. Das zeigte sich auch an dem zunehmenden Leben auf dem Wasser. Sie begegneten kleinen und großen Schiffen. Motorboote kreuzten auf, eines näherte sich dem Dampfer, der jetzt langsamer fuhr. Die einen meinten, das sei die Hafenpolizei, während andere behaupteten, Lotsen seien an Bord gekommen. Einer erklärte mit wichtigtuerischer Miene: „Polizei und Lotsen!“ Jedenfalls war man angelangt. Unter den Passagieren herrschte eine frohe Stimmung. Die meisten hatten ihr Gepäck schon auf Deck gebracht. Auch die „Wasserleichen“ waren wieder gesund und munter. Und der Himmel war blau und schimmerte wie Seide. Wenn irgendwo ein Wölkchen auftauchte, hatte es der Schornstein eines Schiffes hinterlassen. Der Hamburger wies nach links. „Da drüben ist Gravesend“, und nach der
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gegenüberliegenden Seite zeigend fügte er hinzu: „Und dort drüben Tilbury.“ Die „Britannia“ bog nach rechts. Die Dockanlagen wurden immer größer und deutlicher. Auf Deck ging es geschäftig zu. Jetzt gab es Arbeit für die Besatzung. Taue wurden gelöst, Dampf pfiff aus irgendwelchen Rohren, Wasser plätscherte aus Löchern an den Bordwänden, Möwen flatterten schreiend über das Deck, und in alles mischte sich ein Tuten in vielen Tonarten. Nachdem sie den Tisch, an dem sich alle Emigranten registrieren lassen mußten, passiert hatten, ging es wieder über den leicht schwankenden Landungssteg. Sie betraten den Boden Englands. „Da wär’n wir also“, rief Boberlein und versetzte Manfred einen gutgemeinten, aber nicht gerade sanften Schlag auf die Schulter. Und wer kam ihnen da entgegen? Manfred wollte seinen Augen nicht trauen: Der Schwarze Robert! Er war schon einige Wochen vor der Besetzung Prags mit einem Evakuierungstransport nach London gekommen, arbeitete im Hilfskomitee und hatte dort erfahren, daß Manfred Kühnemann zu der Emigrantengruppe gehörte, die mit der „Britannia“‘ eintreffen sollte. Das war eine Begrüßung! Manfred hatte das Gefühl, als wären ihm ein paar Rippen eingedrückt worden. Als der Schwarze Robert den Jungen losgelassen harte, sah er ihn mit einem Seitenblick auf Boberlein an, wie einer, der fragen will: Wer ist denn der Kerl da? Onkel Bob war nichts entgangen. Er brach in ein schallendes Lachen aus. „Mensch, erkennst du mich denn nicht?“ brachte er endlich hervor. „Bist du’s, Boberlein? Mich laust der Affe, du bist’s tatsächlich!“ „Hat schon seine Richtigkeit“, bestätigte Boberlein, noch immer lachend. „Siehst du, Onkel Bob, der Bart hat seinen Zweck erfüllt. Kein Spitze! hätte dich in Prag erkannt.“ „Auf alle Fälle: Heute wird das Gestrüpp abgeschoren. Schließlich muß man in England wie ‘n Gentleman aussehen“, sagte Boberlein und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. 146
21. KAPITEL „Gentleman“ war das erste englische Wort, das Manfred auf britischem Boden lernte. In der Eisenbahn hätte er eigentlich mit seinen neuen Sprachstudien beginnen können, denn da gab es allerhand Aufschriften. Aber noch fesselten ihn die Wagen selbst, die sogar in der dritten Klasse bequem gepolstert waren, aber viel schmaler zu sein schienen als die daheim. Und dann zog die Landschaft seine Blicke an. Auch hier machte vieles im Vorbeifahren auf ihn den Eindruck, als habe man draußen Spielzeug aufgestellt. Doch was ihn am meisten beeindruckte, war die Farbe: Solch ein Grün hatte er noch nie gesehen. Die Welt hatte sich auf einmal in einen einzigen grünen Teppich verwandelt. Trotz aller unterschiedlichen Farbtönungen hätte er glauben mögen, ein Maler habe mit dem saftigsten Grün seiner Palette das ganze Land angestrichen. Onkel Bob hing gleich Manfred mit beiden Augen an dieser Landschaft. Als Bergsteiger, der, sooft es ihm die Zeit erlaubt hatte, in die Sächsische Schweiz klettern gegangen war, fehlte es ihm nicht an einer engen Beziehung zur Natur. Der Reiz dieses neuen Bildes ließ ihn nicht so schnell los. Erst als ihm der Schwarze Robert eine Zigarette hinüberreichte, wandte er sich wieder seinen Gefährten zu. Während er ein Streichholz anrieb, sagte er mit versonnenem Gesichtsausdruck: „Hier in England möchte man direkt ein Rindvieh sein.“ Er wies mit dem Daumen auf eine mit scheckigen, zufrieden aussehenden Kühen belebte Koppel; kein Mensch hätte sich in diesem Augenblick gewundert, wenn seine Kiefer zu kauen angefangen hätten. Es war nur eine kurze Reise. Der schnell fahrende Zug hatte bald die Vorstädte der britischen Hauptstadt erreicht. „Das soll London sein?“ fragte Manfred enttäuscht, als er die langen Reihen der niedrigen, rußgeschwärzten Backsteinhäuschen sah; Zeile an Zeile bildeten sie schmale Straßen, die sich kreuz und quer zu beiden Seiten des Bahndammes erstreckten, ohne Unterbrechung, so weit der Blick reichte. „Wie hast du dir’s denn vorgestellt?“ fragte Boberlein, seine eigene Enttäuschung verbergend. 147
„Na … so … mit hohen Häusern … großen, weißen Palästen, in denen die Lords und die Bankiers wohnen … Und dann, den Nebel seh ich gar nicht.“ „Entweder Nebel oder Paläste. Beides kann man nicht zu gleicher Zeit sehen“, meinte der Schwarze Robert. „Jetzt sieht man aber keins von beiden.“ „Abwarten und Tee trinken“, mischte sich einer der anderen Emigranten ein. „Beides werdet ihr noch zur Genüge tun können“, sagte der Schwarze Robert, „vor allem, was das Teetrinken anbetrifft. Mit Kaffee ist in England nichts los. Der wird hier mehr oder weniger als eine kontinentale Unsitte betrachtet.“ Sie fuhren und fuhren. Die Häuserzeilen schienen kein Ende nehmen zu wollen. Es war ein seltsamer Anblick: Die ganze Stadt glich einem Stoppelfeld, über das da und dort Käfer und Würmer krochen. Die Stoppeln waren die kleinen Schornsteine, die als ganze Batterien auf den Dächern wuchsen, und die Käfer und Würmer waren die Autos und Omnibusse.
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Endlich schien man sich der City, wie dort das Stadtinnere heißt, zu nähern. Neben den niedrigen ein- und zweistöckigen Häusern tauchten jetzt auch höhere Gebäude auf. Der Verkehr in den Straßen wurde immer dichter, und man konnte Plätze sehen, auf denen ein ameisenhaftes Gewühl war. „Hier möchte ich nicht Taxifahrer sein“, bemerkte Boberlein. „Alles weniger schlimm, als es aussieht“, entgegnete der Schwarze Robert im Ton eines Menschen, der in London aufgewachsen ist. Manfred schob die Arme unter die Traggurte seines Rucksacks. Nun war die neue Exilheimat erreicht: London, das riesige, geschäftige London, die Achtmillionenstadt an der Themse. Wie lange würde sie ihn wohl beherbergen müssen? Und würde sie genauso mütterlich sein wie das gastliche Prag? Als sie an Roberts Seite dem Bahnhofsausgang zustrebten, umgeben von rauchigem Dunst, vom Zischen der Lokomotiven und dem lärmenden Durcheinander einer betriebsamen Menschenmenge, fiel ihm der Tag seiner Ankunft in Prag ein und dann jene vielen Stunden, die er mit Tonda als schwarzer Gepäckträger auf dem Masaryk-Bahnhof und gelegentlich auf dem Wilson-Bahnhof in Prag verbracht hatte. Tonda! Einen Tonda würde er nicht so schnell finden. Vielleicht würde er gar nicht lange in London bleiben, denn schließlich wollte er ja einmal mit seinem Vater wieder vereinigt sein. Konnte der nicht nach England kommen, dann würde er, Manfred, eben nach Frankreich müssen. Als sie aus dem Bahnhof hinaustraten, empfing sie ein nicht gerade harmonisches Gemisch von Huptönen, Klingeln, Rattern und anderen Verkehrsgeräuschen. Vor ihnen war ein großer, unregelmäßiger Platz, in den viele Straßen mündeten. Kreuz und quer, wie es Manfred schien, bewegten sich rote, aufgestockte Obusse, schnittige Luxuswagen, Fuhrwerke mit schweren Pferden und noch schwereren Lasten, Taxis und Radfahrer. Und dort stolzierten zwei der berühmten Bobbies einher – wie die Londoner Polizisten im Volksmund genannt werden – Männer von beträchtlicher Länge, die überdies noch hohe Helme trugen.
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Als die Verkehrsampel den Übergang freigab, führte der Schwarze Robert seine Schutzbefohlenen zur Bus-Haltestelle. Manfred bewunderte die Ruhe und Disziplin der Leute, die sich ohne Streit und Drängeln in einer geordneten Schlange am Straßenrand aufstellten, und wenn der Bus kam, ebenso ruhig einer nach dem anderen einstiegen. Obgleich unten noch genügend Platz war, kletterte Manfred sofort die Treppe zum „Oberstock“ hinauf. Von hier konnte er die Straße gut übersehen. Daß der Bus nicht angefahren wurde oder andere Fahrzeuge rammte, erschien ihm wie ein Wunder. Und ein Wunder war es auch, daß man tatsächlich viel schneller vorwärts kam als die Fußgänger, wenn man bedachte, daß der Bus an den Kreuzungen immer halten mußte. Sie waren nicht lange gefahren, da hieß es schon: aussteigen. Ein kurzes Stück Weg war noch zum Mecklenburg Square, wo sich das Hilfskomitee befand, zurückzulegen. „Angekommen!“ rief der Schwarze Robert, als sie ein großes Gebäude, dessen Eingang von zwei Säulen flankiert war, erreichten. „Wie ist das, wird man hier endlich eine regelrechte Arbeit annehmen dürfen?“ erkundigte sich Boberlein, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Ich möchte mal wieder an ‘ner Maschine stehn. Man vergißt ja direkt, wie ‘ne Feile oder ‘ne Drehbank aussieht.“ „Du bist ein Optimist“, erwiderte Robert mit einem halb spöttischen, halb bitteren Lachen. Er öffnete eine Tür und ließ seine beiden Begleiter eintreten. „So, und nun setzt euch erst mal hin, damit wir uns ungestört ein bißchen ausquasseln können“, sagte er, während er die Tür schloß. Manfred warf den Rucksack ab und machte es sich in einem tiefen Polstersessel bequem. Onkel Bob setzte sich auf die Kante eines Schreibtisches, der das halbe Zimmer ausfüllte, und Robert lehnte sich gegen das Fensterbrett. „Nun hört mal gut zu, Freunde“, fing er an. „Ehe wir euch auf England sozusagen loslassen, gibt es noch einiges zu besprechen. Vor allem zeigt mal eure Pässe.“ Er blätterte in den Dokumenten, die noch vor der Besetzung der Tschechoslowakei ausgestellt worden waren.
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„Die sind ja soweit all right“, brummte er vor sich hin. „Manche Genossen haben nämlich keine ordentlichen Papiere mehr bekommen, und da hat man dann erst allerhand Scherereien … Hm, in deinem Paß steht als Geburtsdatum der dreißigste Januar neunzehnhunderteinundzwanzig – das stimmt doch nicht?“ Er sah Manfred fragend an. „Die Genossen drüben haben das so angegeben, damit ich nicht zu jung erscheine. Sie haben gesagt, die Engländer könnten sonst Schwierigkeiten machen.“ „Stimmt. Kindern würden die Nazis nichts tun, man müßte also erst die Erwachsenen in Sicherheit bringen, hat es geheißen. Haben die eine Ahnung hier, zu was die Faschisten fähig sind! Wie es auch sei: Damit es keine Unannehmlichkeiten gibt, mußt du nun dabei bleiben …“ Er blickte abschätzend auf den Jungen und pfiff durch die Zähne. „Soll mal einer nachweisen, daß Manfred Kühnemann keine achtzehn Jahre alt ist. Wenn’s sein müßte, würden wir dich auch für zwanzig ausgeben.“ Das war natürlich übertrieben, und Manfred wußte das auch sehr gut, aber unwillkürlich straffte er den Oberkörper. Also für achtzehn würde man ihn ohne weiteres nehmen! „Wichtig ist, daß du dir das Datum gut merkst und dich nirgends verplapperst. Auf der Polizei fragen sie manchmal so ganz nebenbei nach solchen Dingen, um einen reinzulegen“, fuhr der Schwarze Robert fort. „Dreißigster Januar neunzehnhunderteinundzwanzig. Ich hab’s schon gut trainiert in Polen.“ „Das ist also klar“, begann der Schwarze Robert wieder. „Heute erledigen wir noch die Anmelderei in der Bow Street, und dann werden wir sehen, wo wir euch morgen unterbringen. Diese Nacht könnt ihr bei mir schlafen, wenn’s auch ein bißchen eng sein wird. Geld kriegt ihr nachher auch noch. Die Unterstützung ist hier ganz gut, denn in England gibt es eine Menge reicher Leute, die ein schlechtes Gewissen haben und sich mit Pfunden, die sie für Emigranten spenden, vorm Fegefeuer bewahren wollen. Und wie überall sind da die Menschen, die aus echter Solidarität und Sympathie helfen. Ja, noch eins! Ihr sollt eure politischen Ansichten selbstverständlich nicht verleugnen. Aber ein wenig Zurückhaltung ist geboten. Es geht auch keinen was an, ob man ein
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Kommunist ist. Wir sind hier nur geduldete Ausländer, und wir wollen auch unsere Freunde, die für uns die Garantie übernommen haben, nicht unnötig in Verlegenheit bringen. Das versteht ihr sicher?“ Nachdem der Schwarze Robert mit seiner Instruktionsstunde fertig war, konnte alles andere seinen üblichen Ablauf nehmen. Das erste war die Registrierung im Hilfskomitee, dann folgte der Weg zur Polizei, und schließlich durfte man ein Weilchen ohne besonderes Ziel durch die Stadt schlendern, die sich jetzt ganz anders darbot als durch das Fenster des Eisenbahnabteils. Da gab es lange, breite Straßen mit großen Geschäften, deren Auslagen zum Stehenbleiben verführten. Dann wieder geriet man in enge, krumme Gassen mit schäbig aussehenden Lädchen. „Die Katze scheint hier ein heiliges Tier zu sein“, stellte Boberlein fest und lenkte Manfreds Blick auf einen Miniaturlöwen, der im Schaufenster eines Lebensmittelgeschäfts gemütlich auf einem Sack mit Reis schlief. Und Onkel Bob hatte gar nicht so unrecht, wiederholte sich doch dieses Bild immer wieder. Manchmal waren es sogar mehrere Katzen, die es sich in den Schaufenstern der Geschäfte bequem gemacht hatten. „Vielleicht gibt es hier so viele Mäuse“, meinte Manfred, als er ein ganzes Rudel Katzen aus einer Toreinfahrt herausstürzen und die Straße überqueren sah. „Ratten soll’s hier sogar noch mehr als Menschen geben“, behauptete Boberlein. „Ich weiß nicht, ob man sie gezählt hat. Aber Mangel an Ratten gibt’s in England gewiß nicht“, bestätigte der Schwarze Robert. „Ich hab erst gestern eine bei uns im Hausflur erschlagen.“ Es war ein lustiger und interessanter Bummel gewesen, und schon das kleine Stück von London, durch das sie gekommen waren, hatte Manfred und Onkel Bob gezeigt, daß weder ihre Heimatstadt Dresden noch das herrliche Prag mit dieser Anhäufung von Häusern, Menschen, Katzen und Hunden vergleichbar war. Sie saßen in Roberts Zimmer beim Abendbrot und hatten ihren Spaziergang fast vergessen, da platzte Manfred plötzlich heraus: „Stellt euch vor, wenn jeder Mensch in London eine einzige Bockwurst kriegen soll, brauchte man mehr als tausend Kilometer Bockwürste.“
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„Du hättest Mathematiker oder Wursthändler werden sollen“, rief der Schwarze Robert und prüfte im Kopf heimlich nach, ob Manfreds Rechnung auch stimmte. Der hatte seinen Gedanken inzwischen weiter ausgesponnen. Tausend Kilometer waren in der Luftlinie ungefähr eine Strecke von London bis Prag. Das wußte er, denn in letzter Zeit hatte er mehr als einmal die Karte von Europa studiert und Entfernungen ausgemessen. „Wißt ihr, was das heißt: Tausend Kilometer Würstchen?“ fing er noch einmal an. „Das ist eine Kette von hier bis zu meiner Tante Adele in Dresden, ja, sogar bis zu Tonda nach Prag würde es langen, und wahrscheinlich blieb da immer noch ein Stückchen davon übrig.“ „Sicherlich würde uns dieser kleine Rest für die nächsten zehn Jahre zum Frühstück reichen“, brummte der Schwarze Robert. „Und er käme uns bestimmt sehr zugute. Würstchen gibt es natürlich auch hier, aber das ist nichts für unseren Geschmack. Doch der Mensch gewöhnt sich an alles: an den schlechten Kaffee, den sie hier kochen, an den Londoner Nebel, der zwar nicht so häufig ist, wie unsereiner vorher gedacht hat, aber wenn er da ist, der Nebel, dann wie sich’s gehört. Und auch mit dem Ruß findet man sich schließlich ab. Schaut euch mal an.“ Er reichte einen Taschenspiegel über den Tisch. Boberlein blickte hinein. Er mußte zu seinem Erstaunen feststellen, daß sein weißes Hemd, obgleich er es erst am Morgen vor dem Verlassen des Schiffes frisch angezogen hatte, am. Kragen schon so schmutzig war wie sonst erst nach mehreren Tagen. Auch Manfred hätte nicht behaupten können, daß sein Hemdkragen besonders sauber aussähe. Jedenfalls würde er von Tante Adele, Mutter Novotná oder Marie Jelínek eine ganz schöne Moralpauke über Sauberkeit und Hygiene zu hören bekommen haben, wenn er so zu erscheinen gewagt hätte. Mitten in der angeregten Unterhaltung ging das Licht aus. Manfred blickte fragend auf den Schwarzen Robert, der sich nur noch als dunkle Silhouette gegen das Fenster abhob. Der begann in seinen Taschen zu wühlen und atmete erleichtert auf, als er einen silbernen Schilling fand.
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„Es werde Licht!“ rief er aus. Und tatsächlich: Es ward Licht, als er die Münze in den Einwurfschlitz der Zähluhr geworfen hatte. Nachdem sich der Gastgeber als Lichtgott betätigt hatte, kehrte er zum Tisch zurück, um sich noch eine Tasse Kaffee einzugießen. Die Kanne war aber leer. „Mußt du eben ein bißchen frischen ansetzen“, riet Boberlein, der auch noch Appetit auf einen Schluck hatte. „Wenn ich einen Schilling für den Gasmesser finde, läßt sich das machen. Vorhin brannte die Gasflamme schon recht dünn.“ Diesmal durchsuchte er allerdings die Taschen vergeblich, und er mußte erst bei den Nachbarsleuten anklopfen, um sich ein Geldstück zu verschaffen. Immerhin, dort hatte er Glück. Bald kochte das Wasser auf dem „Gasring“, wie er den kleinen Kocher bezeichnete, der auf einem leeren Margarinekistchen stand und seine Küche darstellte. „Sorgt man immer für ein paar Schillinge Vorrat, dann hat diese Methode schon ihre Vorteile. Man wird jedenfalls nie mit einer hohen Rechnung für Gas und Strom überrascht“, stellte Boberlein fest, und Robert gab ihm recht. Eine Weile konnten solche Dinge wie die angenehmen oder weniger angenehmen Eigenheiten des riesigen Londons die Gedanken beschäftigen. Aber am Ende kehrten sie doch wieder zu dem zurück, was sie gezwungen hatte, das Heimatland zu verlassen, und was sie dann wieder aus Prag fortgetrieben hatte. Wenn sie sich auch glücklich schätzen durften, selber einer großen Gefahr entronnen zu sein, so wußten sie doch, daß noch viele gute Freunde und Genossen in der Tschechoslowakei zurückgeblieben waren. Auch Eisenbart befand sich noch in Prag, damit beschäftigt, recht vielen deutschen Emigranten den Weg aus der Mausefalle zu ebnen. Wie lange konnte das wohl gut gehen? Je länger die Nazis in der Tschechoslowakei saßen, desto enger würden die Maschen ihres Gestaponetzes werden. Es war gewiß keine leichte Aufgabe, die Eisenbart jetzt im Auftrag der Partei ausführte. „Wer erst einmal in Polen sitzt, ist so gut wie gerettet“, meinte Robert. Boberlein sah die Situation ein wenig schwärzer. In Warschau herrschten halbfaschistische Generale, Kapitalisten und „Pans“, wie man die
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Besitzer der großen Güter auf dem Lande nannte. Würden sie nicht eines Tages Hitler gefällig sein und ihm die deutschen Emigranten ausliefern? Manfreds Gedanken wanderten in viele Richtungen; sie flogen zurück zu Tonda, und sie sprangen hinüber nach Krakau zu Marie und Pepík. Am Ende landeten sie aber immer wieder im französischen Konzentrationslager St. Cyprien, wo sich nach der Nachricht, die ihn vor Monaten in Prag erreicht hatte, sein Vater befand. Wann würde er ihn wiedersehen? Im Hilfskomitee war Manfred zugesagt worden, daß man sich bemühen werde, ihm zu helfen, eine Verbindung nach Frankreich herzustellen. Sobald eine Nachricht da sei, bekäme er Bescheid. Zuerst gelte es allerdings, die in Prag zurückgebliebenen Emigranten zu retten. Das war richtig, und ob es ihm schwerfiel oder nicht, er würde Geduld zeigen, wie es sich für einen Menschen gehörte, der nicht nur an sich, sondern auch an das Wohl der anderen dachte. Inzwischen konnte er versuchen, einen Brief ins Konzentrationslager nach St. Cyprien zu schreiben. Vielleicht war der Vater immer noch dort.
22. KAPITEL Auf dem Polizeirevier in der Bow Street hatte Manfred Kühnemann ein kleines Büchlein mit seinen Personalien und einem Paßfoto ausgehändigt bekommen. Das Geburtsdatum stimmte natürlich nicht, aber das wußten nur der Schwarze Robert, Onkel Bob und er selbst. Auf dem grauen Umschlag des Ausweises stand: „Certificate of Registration“. Auf Seite zwei des kleinen Buches hatte der Polizeibeamte mit roter Tinte eingeschrieben: „Landung gewährt am 3. Mai 1939 unter der Bedingung, daß der Inhaber dieses Ausweises das Vereinigte Königreich wieder verlassen und keine Arbeitsstelle annehmen und keinerlei Geschäft, Beruf oder Beschäftigung im Vereinigten Königreich nachgehen wird.“ Lieber wäre ihm schon gewesen, wenn er sich Arbeit bei einem Tischler oder in einer Fabrik hätte suchen dürfen, um sich seinen 155
Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Doch das war hier noch schwieriger als in Prag. Er mußte wie alle anderen Emigranten von der Unterstützung leben. Aber mit den vierzig Schillingen, die es in der Woche gab, konnte er schon auskommen. Da er und Onkel Bob ein kleines Zimmer in der Marchmont-Street, nicht weit vorn King’s Gross Bahnhof, gemeinsam bewohnten und auch zusammen wirtschafteten, kamen sie mit ihrem Geld ganz gut zurecht. An Arbeit fehlte es den beiden natürlich nicht. Allerdings war es keine solche, wie sie das Certificate of Registration erwähnte. Wenngleich Manfred damit rechnete, daß er vielleicht bald nach Frankreich reisen würde, falls man seinem Vater die Einreise nach England verweigern sollte, so hatte er sich doch gleich darangemacht, Englisch zu lernen. Seine Methode kennen wir bereits aus Prag. Wo immer man ihn sah, ragte aus der linken äußeren Tasche seiner Jacke der Rand eines blauen Notizbuchs: das selbstangelegte, immer weiter wachsende Wörterverzeichnis. Doch das war nur eine Sache von vielen, die Manfreds Tage ausfüllten, jede Woche kamen in ihrem Zimmer und auch in den Wohnungen anderer Genossen ein paar Menschen zusammen. Sie unterhielten sich über die politische Lage und studierten das Buch „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“. Täglich fuhr Manfred für zwei Pence mit der Untergrundbahn nach Belsize Park. Dort stieg er aus und ging zur Upper Park Road in den „Klub“. Das Haus hatte eine englische Organisation, die für das leer- stehende Gebäude zur Zeit keine Verwendung hatte, den deutschen Antifaschisten zur Verfügung gestellt. Hier hatten sich nun die Emigranten ein kleines Theater eingerichtet. Auch ein bescheidenes Restaurant betrieben sie, und einige Zimmer wurden als Büro für den neugegründeten „Freien Deutschen Kulturbund in Großbritannien“ benutzt. So ein Klubhaus kostet viel Arbeit und viel Geld, und je mehr Arbeit freiwillig getan wird, desto weniger Geld braucht man. Deshalb eben fuhr Manfred täglich nach Hampstead, wie das Stadtviertel heißt, in dem der Klub lag. Es gibt wohl viele interessantere Beschäftigungen, als stundenlang Briefmarken auf Umschläge zu kleben. Doch Manfred tat es gern,
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wußte er doch, daß es für einen guten Zweck war. Auch Adressen schrieb er, und wenn es etwas auf dem Abziehapparat zu vervielfältigen gab, ließ er alles andere stehen und liegen und hantierte mit Farbtruhe, Gaze und Gummiwalze herum. Sehr schnell war er ein unübertrefflicher Meister, der es verstand, tausend Blatt abzuziehen, ohne mehr als ein Dutzend davon zu verpfuschen – was mit dem alten Flachapparat eine anerkannte Rekordleistung war. An einem Tag – es war herrliches Juniwetter, und Manfred wäre lieber im Hyde-Park spazierengegangen, als hier Einladungen für einen Kabarett-Abend herzustellen – kam Onkel Bob in den Klub. „Na, was gibt’s Neues?“ rief er von der Türschwelle dem schwitzenden Druckergesellen zu. „Nichts Neues!“ gab Manfred zurück, ohne sich umzublicken, denn er gehörte zu den Menschen, die sich nicht so leicht von der Arbeit ablenken lassen. Boberlein näherte sich dem Tisch und beobachtete den Jungen mit Wohlgefallen. „Und ob es was Neues gibt! Da schau her!“ Manfred wandte den Kopf ein wenig zur Seite und ließ plötzlich seine Walze fallen. Onkel Bob hielt einen Brief hocherhoben in der Hand. Auch ohne die französische Briefmarke zu erkennen, hätte Manfred sofort gewußt, wer der Absender dieses Briefes war. „Für mich?“ Manfreds Stimme zitterte unmerklich. Obgleich kein Zweifel bestehen konnte, daß dieser Brief für ihn war, wartete er ab, bis Onkel Bob den gelblichen Umschlag über den Tisch reichte. „Für wen denn sonst? Natürlich für dich.“ Um seiner Erregung Herr zu werden, betrachtete der Junge den Brief zuerst. Er las die Worte auf dem großen Stempel, der auf der Vorderseite neben der Adresse prangte: „CAMP DE GURS BASSES-PYRENNEES“. Ein anderer Stempel am Rand des Umschlags, der mit einem weißen Papierstreifen zugeklebt war, sagte „CENSURE MILITAIRE“. Auf der Rückseite des Briefes grüßte ihn der Name des Vaters. Dort war zu lesen: „Exp. Paul Kühnemann, Camp de Concentration, Ilot c. Allemande B. 7. Gurs, Bass. Pyr.“
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Also war der Vater noch immer im Konzentrationslager. Manfred legte den Brief auf den Tisch, holte sein Taschenmesser hervor, öffnete es langsam und begann den Umschlag aufzuschlitzen. Boberlein war ans Fenster gegangen, um den Jungen mit sich allein zu lassen. Da er aber selbst darauf brannte zu erfahren, wie es seinem alten treuen Kumpel Paul jetzt erging, trommelte er nervös einen Schlager auf die Scheibe. Als er sich wieder umdrehte, hatte Manfred den Brief bereits gelesen. Nachdenklich stand er gegen die Tischkante gelehnt und faltete das Geschriebene wieder zusammen. „Was schreibt er? Wie geht’s ihm?“ Manfred hielt Onkel Bob den Brief hin und fragte, statt zu antworten: „Weißt du, wie man das macht, wenn man Geld ins Ausland schicken will?“ „Ganz einfach. Da geht man zur Post und basta!“ „Kommst du mit mir? Ich will nämlich gleich welches nach Gurs schicken.“ „Klar, komm ich mit, denn da bin ich sowieso mit von der Partie … Aber erst laß mich mal ein bißchen in den Brief hineinschauen.“ „Und ich werde schnell meine Einladungen fertigmachen … Übrigens hat er meinen Brief nicht erhalten.“ Während Manfred seine Arbeit fortsetzte, las Boberlein, was Paul Kühnemann aus dem französischen Konzentrationslager an seinen Sohn geschrieben hatte: „Mein lieber Junge! Du weißt gar nicht, wie glücklich ich war, als ich erfuhr, daß Du sicher aus dem (es folgten zwei Wörter, die der Zensor mit undurchsichtiger violetter Tinte ausgestrichen hatte) … Prag herausgekommen bist und Dich jetzt in England befindest. Wir haben erfahren, daß leider viele unserer Genossen in der Tschechoslowakei von der Gestapo verhaftet worden sind. Sie haben jetzt die wilde Rache der faschistischen Henkersknechte zu gewärtigen. Uns hier im Lager geht es damit verglichen zweifellos noch gut, wenngleich es kein Vergnügen ist, hinter Stacheldraht zu sitzen. Erst war ich in St. Cyprien, von dort bin ich mit anderen Kameraden nach Gurs transportiert worden. Interbrigadisten vieler
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Nationen und auch eine große Zahl Spanier sind hier zusammen … (der Rest des Wortes war wieder unleserlich gemacht) … und die Wohnverhältnisse … (Rest der Zeile unleserlich). Die Kameradschaft und die Stimmung sind trotz allem ausgezeichnet. Was mich betrifft, kann ich auch über die Gesundheit nicht klagen. Am schlimmsten ist es, zu wissen, daß wir hier nutzlos unsere Zeit verbringen, während wir jenseits des Stacheldrahtes so dringend gebraucht werden. Wer weiß, welches Land morgen seine Freiheit und Unabhängigkeit gegen Hitlers Deutschland, Mussolinis Italien und nun auch Francos Spanien wird verteidigen müssen …“ „Mensch“, platzte Onkel Bob plötzlich heraus, „der Zensor hat vergessen, diese Zeile auszustreichen. Oder der Dummkopf hat nicht gemerkt, daß hier von Frankreich die Rede ist.“ „Er hat noch mehr vergessen“, ergänzte Manfred, der gerade das letzte Blatt Papier in den Apparat legte. Boberlein las weiter: „Man könnte den Mut verlieren, wenn man nicht wüßte, daß die Familie auf dem Posten ist und Onkel Josef schon viele schwierige Situationen zu meistern verstanden hat …“ Über Boberleins Gesicht huschte ein Lächeln, denn es war für ihn klar, daß mit dem Wort „Familie“ die Partei und mit dem „Onkel Josef“ Stalin gemeint war. Als er an die Stelle kam, wo es hieß: „So ein Luxusessen wie im Strašnicer Heim gibt es hier natürlich nicht“, mußte er laut auflachen, denn da hatte Paul Kühnemann den Zensor wieder überlistet. Wer das mehr als bescheidene Heimessen in Strasnice als Luxusessen bezeichnete, konnte nur sagen wollen, daß man im Lager Guts hungerte. „Aber“, schrieb Manfreds Vater weiter, „der eine oder andre hat Freunde außerhalb des Lagers, und so kommen gelegentlich Pakete oder auch Geld, für das man in der Kantine Tabak und etwas Wurst kaufen kann. Da wird natürlich, wie es sich unter Genossen und alten Kampfgefährten gehört, solidarisch geteilt und gemeinsam gefeiert …“ Der Brief schloß mit den Worten: „Für dieses Mal sei es genug. Wir sind überzeugt, daß wir hier nicht für immer festgehalten werden können. Sobald ich wieder in Freiheit
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bin, werde ich alles unternehmen, um mit Dir zusammenzukommen. Um mich mache Dir keine Sorgen. Bleibe der alte und halte fest zur Familie. Weißt Du etwas über Eisenbart und Onkel Bob? Wenn ja, dann lasse es mich wissen. Wenn sie auch in England sind, grüße sie herzlich von mir und sage ihnen, ich möchte ihnen gern wieder einmal die Hand drücken. Am besten gleich daheim in einem befreiten Deutschland. Und Du, mein Junge, wie geht es Dir? Was tust Du? Bist Du gesund? Schreibe fleißig und ausführlich und halte den Kopf hoch, wie es sich für unsereins gehört. Es küßt Dich Dein Vater.“ „Das ist ein Briefchen, Junge, das Freude macht … Und mich hat er auch nicht vergessen.“ Manfred schlüpfte in die Jacke, legte den Brief sorgfältig zwischen die Seiten seines Notizbuches, henkelte sich übermütig bei Onkel Bob ein und schleppte ihn mit sich. „Und nun zur Post. Anschließend geh ich einkaufen und mach noch ein Paket fertig“, sagte er fröhlich; fast sang er es. Die erste Enttäuschung darüber, daß der Vater immer noch im Konzentrationslager gefangengehalten wurde, war schnell einer Freude gewichen: Er konnte jetzt wenigstens etwas für ihn tun.
23. KAPITEL Eine Woche nach der anderen verging. Manfred hatte sich schnell an London gewöhnt, und seine englischen Sprachkenntnisse wurden von allen bewundert. Boberlein, der sich auch Mühe gab, Englisch zu lernen, mußte zu- geben, daß sein junger Freund in dieser Beziehung haushoch über ihn hinausgewachsen war. „Du hast eben noch ein unverbrauchtes Köpfchen“, meinte er. Doch was Manfred auch immer tat, ob er sein blaues Vokabelheft ergänzte, ein Buch las oder im Klub eine Arbeit verrichtete, seine 160
Gedanken waren nie lange ungestört bei seiner Tätigkeit. Er mochte sich noch so große Mühe geben, stets ertappte er sich dabei, wie seine Phantasie umherwanderte. Einmal träumte er an seinem Abziehapparat, daß plötzlich der Vater einträte und einfach sagte: „Da bin ich, Manfred. Kaum hätt ich dich wiedererkannt, so groß bist du geworden.“ Oder während einer Untergrundbahnfahrt sah er sich in Paris am Eiffelturm, den er kurz zuvor im Kino in einer Wochenschau kennengelernt hatte, auf den Vater warten. Wenn er aber in einen richtigen Nachttraum glitt, dann ging es erst los: Mit dem Flugzeug fliegt er als blinder Passagier in einem Koffer nach Frankreich. Unterwegs steigt er aus seinem dunklen Verlies, nimmt sich heimlich einen Fallschirm und springt ab. Der Wind erfaßt ihn und treibt ihn immer weiter nach Süden. Da, in der Ferne taucht Gebirge auf – das müssen die Pyrenäen sein. Ein Blick nach unten. Ist dort nicht ein Lager? Baracken! Baracken! Baracken! Dies kann nur das Lager sein. Zum Glück läßt der Wind nach, und der Fallschirm senkt sich langsam zur Erde. Immer größer wird alles. Was wie ein Moosteppich ausgesehen hat, gibt sich als Wald zu erkennen. Die Wassergerinnsel sind Bäche und Flüsse, und die winzigen Spielzeughäuschen nehmen an Umfang zu. Schon kann man die Rillen der Wellblechdächer unterscheiden. Und winkt da nicht einer mit einer roten Fahne? Natürlich, der Mann in der Uniform und der Baskenmütze eines Tankisten der Interbrigaden, das ist der Vater, der ihn bereits erkannt hat. Der Aufprall bei der Landung ist allerdings schmerzhaft. Manfred wacht auf. Er hatte sich hin und her gewälzt und dabei an der Bettkante gestoßen. Viele solche Träume überfielen ihn, besonders wenn wieder ein Brief aus dem Lager Gurs gekommen war. Geld und Pakete hatte der Vater bestätigt. Obgleich in den Briefen stand, Manfred möge auch ein bißchen für sich selber sorgen und sich nicht jeden Penny absparen, so konnte man doch aus den Briefen lesen, wie glücklich die gefangenen Interbrigadisten über diese Hilfe von jenseits des Stacheldrahtes waren. Auch Tonda beschäftigte ihn oft. Einmal hatte ein tschechischer Genosse, der ebenfalls aus Prag hatte fliehen müssen, einen Brief von den Novotnýs mitgebracht. Es war ein tapferer und zugleich trauriger Brief, 161
aus dem hervorging, daß Tondas Vater verhaftet worden war. Die Gestapo hatte ihn offenbar wieder freigelassen, aber sie mußten ihn dort furchtbar zugerichtet haben. Das mit dem alten Novotný hatte nicht in diesen Worten im Brief gestanden, denn der hätte ja auch in die Hände der Nazis fallen können. Aber Manfred war von Onkel Bob darin unterrichtet worden, wie man bei solchen Mitteilungen die Wahrheit zwischen den Zeilen herauslas. In dem Brief, den Mutter Novotná geschrieben hatte, stand: „Neulich bekam Vater Besuch von der Schwiegermutter. Sie lud ihn, da er wieder arbeitslos war, für einige Wochen zu sich ein. Doch zänkisch wie sie ist, hat sie ihm so zugesetzt, daß ihm die Galle hochgekommen ist. Auch mit den Nieren hat er zu tun und muß viel liegen, weil er häufig Schmerzen hat.“ Tonda hatte einige Zeilen zugeschrieben. Er ging nun nicht mehr zur Schule. Eine Lehrstelle zu finden sei ihm noch nicht geglückt. Dennoch hoffe er, bei einem Autoschlosser angenommen zu werden. Er denke immer wieder an die schönen Spaziergänge auf die Letná zurück und sei überzeugt, Manfred einmal wiederzutreffen. Eine freudige Überraschung für Manfred Kühnemann und Joachim Boberlein war die Ankunft der Jelíneks. Es war ein lustiges Zusammentreffen, könnte man sagen. Ja, ein regelrechtes Zusammentreffen. An einem schönen Nachmittag fuhren Manfred und Onkel Bob vom Hampstead nach Hause. Sie waren zu einem Vortrag im Klub gewesen, hatten dort Abendbrot gegessen und wollten sich im Kino am King’s Gross einen Film ansehen. Aus dem vollgestopften Fahrstuhl in Euston Station wurden sie von den Nachdrängenden hinausgestoßen – direkt auf die Leute, die sich am Fahrstuhlgitter vorbeischoben. Manfred wäre beinahe ein vorwurfsvolles „Können Sie nicht aufpassen!“ entfahren, als er vor sich den wieder gewachsenen Gorkischnurrbart Onkel Pepíks gewahrte. Und die Frau, in deren Gesicht er fast mit der Nase gelandet wäre, war niemand anders als Marie. Die Begrüßung war nicht weniger heftig als der Zusammenprall, und da sie sich mitten im Gewühl vor dem Aufzug abspielte, ging es nicht ohne berechtigtes Murren der aus dem Lift herausquellenden Menschen ab. 162
Die Jelíneks, die übrigens in Begleitung des Schwarzen Robert waren, machten natürlich sofort kehrt, denn sie hatten ja gerade nach Hampstead in den Klub fahren wollen, um Boberlein und Manfred zu treffen. Marie und Pepík waren erst um die Mittagszeit angekommen und hatten noch nicht viel von London gesehen. Jetzt konnte also Manfred, wie vor einigen Monaten der Schwarze Robert, den Alteingesessenen und Fremdenführer spielen. Die Jelíneks und der Schwarze Robert hatten noch kein Abendbrot gegessen, und Manfred schlug vor, bis hinunter zu Lyons Corner House zu gehen, denn dort konnte man gut und billig speisen. Bis dahin brauchten sie allerdings eine ganze Stunde, weil Marie vor jedem zweiten Schaufenster stehenblieb und mit Manfreds Hilfe die Preise studierte. Als das Corner House erreicht und ein freier Tisch gefunden war, kaute Onkel Pepík schon an seinen Bartenden. Auch Manfred hatte wie- der Appetit auf eine Portion Fish and Chips. Dieses Gericht erfreute sich bei ihm besonderer Beliebtheit. Was ist das: Fish and Chips? Ein knusprig gebackenes Stück Fischfilet mit länglich geschnittenen Kartoffelstücken dazu, die gleichfalls in einem Kessel mit siedendem Öl braun gesotten worden sind. An diesem Abend schmeckte es ihm ganz besonders, und das war der Wiedersehensfreude zuzuschreiben. Und schließlich kam ein ganz böser Tag: der 3. September 1939! Am 1. September hatte Hitler wieder einen Nachbarn Deutschlands überfallen. Seine Panzerkolonnen rollten durch Polen, und seine Flugzeuge warfen bereits die ersten Bomben auf die schöne Stadt Warschau. Jetzt trat das ein, wovor die Kommunisten die Regierungen in Paris und in London gewarnt hatten. Die Bestie war von ihnen gefüttert worden. Spanien, Österreich und die Tschechoslowakei hatte sie bereits verschlungen. Polen kämpfte jetzt einen aussichtslosen Verteidigungskampf, nachdem seine Regierung die brüderliche Hand des Sowjetvolkes ausgeschlagen hatte. Und morgen würde sich das Raubtier auf Frankreich und England stürzen.
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Ob sie wollten oder nicht: Die Französische Republik und Großbritannien mußten Nazideutschland, das sie selbst stark gemacht hatten, den Krieg erklären. Es war Sonntag, als die Welt davon erfuhr. Boberlein saß gerade am selbstgebastelten Radioapparat und stopfte Strümpfe. Manfred schrieb einen Brief an den Vater. Auf seinem Schoß schnurrte der Kater Muck, ein wildaussehendes, aber ziemlich friedliches, langhaariges Tier, das ihnen vor zwei Wochen ins Haus gelaufen war und das sie nicht mehr davonjagen mochten. Krieg! „Haben wir’s nicht schon immer gesagt?“ knurrte Onkel Bob und begann im Zimmer auf und ab zu tigern. „Da haben wir nun die Bescherung.“ Er ging zum Radioempfänger und drehte daran, um vielleicht von einem anderen Sender Neues über die Situation hereinzubekommen. Da er keinen Erfolg hatte, schaltete er den Apparat ab und setzte seinen Marsch durchs Zimmer fort. Plötzlich blieb er vor Manfred stehen. „Die haben sich eingebildet, sie könnten die Sowjetunion hineinlegen … Aber Stalin hat ihnen eins gepfiffen!“ Es klopfte. Zwei Emigranten, die eine Etage höher wohnten, kamen aufgeregt ins Zimmer. Sie wollten wissen, was nun werden sollte. Ob es nicht am Ende doch gut sei, daß der Krieg endlich da war. Hitler, der Halunke, würde nun bestimmt zugrunde gehen, meinten sie. „Am Frieden hätte Hitler ersticken sollen! So haben wir uns das gedacht. Jetzt müssen vielleicht wieder Millionen Menschen ihr Leben hergeben.“ „Und die Russen? Werden die tatenlos zusehen?“ fragte der eine. „Daß die mit Deutschland einen Nichtangriffspakt abgeschlossen haben, ist Verrat!“ rief der andere böse. Boberlein fuhr herum und blickte zornig drein. „Verrat? Wer hat denn jahrelang die Hand zum Bündnis gegen den deutschen Faschismus ausgestreckt? War es nicht Stalin? Das hätte den Kapitalisten in England und Frankreich so gepaßt, die Sowjetunion in den Krieg zu locken und sich selber schön draußen zu halten … Sich von der Roten Armee die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen, das hätte denen gefallen!“ 164
„Aber wie, wenn Hitler gar den Krieg gewinnt?“ wandte der erste ein. „Welcher Räuber heute auch ausziehen mag, um die Welt zu erobern, er wird über kurz oder lang untergehen“, sagte Boberlein zuversichtlich. „Die Sowjetunion wird nicht tatenlos zusehen. Jede Minute Frieden, der ihr noch vergönnt ist, wird sie benutzen, um sich zu stärken. Eines Tages wird Hitler ja doch über sie herfallen, und dann wird er sein blaues Wunder erleben.“ „Klingt ja ganz schön, aber ich versteh’s doch nicht“, brummte der zweite und ließ sich neben dem Radioapparat nieder. Manfred hatte der Auseinandersetzung gelauscht. Auch ihm war noch nicht alles klar. Aber Onkel Bob pflegte nie etwas zu behaupten, ohne es vorher gut durchdacht zu haben. Krieg! Jetzt würden die Franzosen endlich die Lager öffnen und die gefangenen Interbrigadisten herauslassen müssen. Als er sich damit an Boberlein wandte, zog dieser nur die Stirn kraus und sagte bitter: „Hoffen wir’s. Zur Zeit möchten gewisse Leute in Paris am liebsten gleich noch die französischen Kommunisten mit in die Konzentrationslager stecken.“ Eine tröstliche Antwort war das nicht. Das Flämmchen der Hoffnung, das Manfred seit seinem glücklichen Entkommen aus Prag in sich genährt hatte, wurde von der grellen Flamme des Krieges verschlungen. „Du meinst, es bestehe keine Aussicht mehr, daß wir uns bald wiedersehen?“ Onkel Bob klopfte seinem jungen Freund auf die Schulter und sah ihn mit jenem Lächeln an, das für Manfred schon immer eine Quelle der Zuversicht gewesen war. „Aussicht? Solange man kämpft, gibt es auch stets eine Aussicht. Frankreich und Großbritannien sind ja Verbündete. Wenn sie drüben deinen Vater erst mal aus dem Lager herausgelassen haben, werden wir weiter sehen.“ Die beiden Nachbarn verließen das Zimmer. „Macht’s gut!“ sagte der eine. „Wie einer das alles kapieren soll …“, brummte der andere beim Hinausgehen. Manfred beugte sich wieder über den angefangenen Brief. Aber die Gedanken wollten ihm nicht recht gehorchen. Sie liefen auseinander wie
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ein großer Quecksilbertropfen, den man zerdrückt. Als sich Muck, der Kater, zu rühren begann, sich buckelnd auf alle vier Beine stellte und zufrieden gähnte, fand sich Manfred aus seinem Nachdenken zurück. Er strich über den gewölbten Rücken des Katzentieres und sagte: „Dir geht’s gut, Muck. Brauchst nur einen gefüllten Freßnapf und ein weiches Plätzchen zum Faulenzen.“ Der Kater miaute zustimmend und sprang von Manfreds Schoß hinunter. Was wußte er von den Sorgen der Menschen? „Na, komm, alter Räuber!“ rief Boberlein. Er goß Milch in die ausgetrocknete Futterschüssel. „Krieg oder Frieden… Solange wir selber was haben, sollst du deinen Teil davon abbekommen.“
24. KAPITEL Manfred hatte sich den Krieg eigentlich anders vorgestellt. War das alles? Jeder, ob Mann, Frau oder Kind, erhielt eine Gasmaske, die in einem Pappkarton lag und mit Hilfe eines Bindfadens umgehängt werden konnte. Die wichtigsten Lebensmittel – wie Fett, Fleisch, Tee, Marmelade, Zucker und Eier – wurden rationiert. Wie ein Jahr vorher die Bevölkerung von Prag, so beklebten nun die Londoner die Fenster ihrer Wohnungen mit Papierstreifen, um dem Zersplittern der Glasscheiben bei Bombenangriffen vorzubeugen. Über das ganze Gebiet der ausgedehnten Themsestadt erhoben sich, wie die Samenlampions des verblühten Löwenzahns auf einer Wiese, die Luftabwehrballons. Die herab- hängenden Taue sollten die feindlichen Flieger daran hindern, tief zu fliegen. Natürlich gab es jetzt mehr Männer in Uniformen, und die Zahl der Frauen, die als Schaffnerinnen auf Bussen arbeiteten oder die man morgens zur Arbeit in die Büros und Fabriken gehen sah, war gewachsen. Sooft es die Zeit erlaubte, saß Manfred am Rundfunkgerät und wartete auf Nachrichten. Vielleicht würden doch eines Tages, angesichts der großen Gefahr, die dem französischen Volk durch den deutschen Militarismus drohte, in Frankreich die fortschrittlichen Kräfte die Oberhand 166
bekommen und die Konzentrationslager öffnen. Immer wieder wurde Manfred enttäuscht: Jenseits des Ärmelkanals nahm die Hetze gegen die Kommunisten von Stunde zu Stunde zu. In den ersten Wochen waren die Nachrichten erfüllt von Berichten über die Kämpfe in Polen und den tapferen Widerstand Warschaus. Aber nur Wochen hielt das Überfallene Land stand, dann zerbröckelte es rasch, und seine unfähige Regierung floh nach Rumänien. Ihre Freunde in Paris und London hatten zwar wegen Hitlers Angriff auf Polen Nazideutschland den Krieg erklärt, doch sie taten nicht viel. Die französische Armee stieß ein paar Kilometer über die Maginot-Linie hinaus und setzte sich dann zur Ruhe. Die Briten machten überhaupt nichts, immer noch von der Hoffnung besessen, Hitlers Krieg gegen Polen würde sich in einen Krieg gegen die Sowjetunion verwandeln, und dann wäre ja alles „in Butter“. Nein, das Radio brachte keine erfreulichen Nachrichten aus Paris. Dafür erschallte zum tausendsten Male ein Schlager, der prahlerisch verkündete, daß die Engländer bald ihre Wäsche auf der Siegfried-Linie, wie der Befestigungsgürtel an der deutschen Westgrenze hieß, zum Trocknen aufhängen würden. Sie hängten sie aber vorläufig noch in den Hinterhöfen oder in den Vorgärten der Häuser auf. Da sie aber doch gern ein paar Deutsche gefangengenommen hätten, so richteten sie Tribunale ein, vor denen die Emigranten erscheinen mußten. Dort sollte festgestellt werden, wer vielleicht ein Hitlerspion sein mochte. An einem trüben Novembertag stand auch Manfred Kühnemann vor einem Londoner Tribunal. Vor ihm befand sich ein länglicher Tisch, dahinter saßen einige Herren mit undurchdringlichen Gesichtern, die man weder als freundlich noch als böse hätte bezeichnen können. Onkel Bob hatte ihn wieder daran erinnert, daß er den Leuten, die ihn ausfragen würden, nicht alles, was er wisse, auf die Nase zu binden habe. Nun allerdings mußte er ohne Boberleins helfenden Rat die Fragen der Männer vor ihm beantworten. Beinahe hätte er sein richtiges Geburtsdatum genannt, was an dieser Stelle recht unangenehm gewesen wäre.
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Es war kein schönes Gefühl, vor fünf Augenpaaren zu sitzen, die ihm musterten, als wollten sie irgend etwas Verborgenes aus ihm herausholen. Und da war noch die Stenotypistin, die ihn neugierig betrachtete. Auch einen Dolmetscher hatten sie da. Manfred kam sich auf seinem Stuhl recht einsam und verlassen vor. Doch er bezwang seine Unsicherheit, indem er sich immer wieder sagte: Du hast ein gutes Gewissen. Wenn das Tribunal wirklich verkappte Nazis entlarven will, kann dir nichts passieren. Du brauchst dich ja nur an die Wahrheit zu halten. „Ihr Vater hat also in den Reihen der Roten in Spanien gekämpft?“ „Auf seiten der Republikaner“, verbesserte Manfred, denn die Frage schien auf etwas Besonderes hinzuzielen. Und da kam es auch schon. „Ihr Vater ist doch Mitglied der Kommunistischen Partei?“ „Das weiß ich nicht … Er ist jedenfalls ein Feind des Faschismus. Deshalb hat er von Deutschland fortmüssen, und deshalb hat er sich auch freiwillig nach Spanien zu den Internationalen Brigaden gemeldet.“
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Die Männer am Tisch sahen sich an, als wollten sie sagen: Ein gerissener Bursche. Manfred dachte sich: Ihr scheint die Kommunisten mehr zu fürchten als die Nazis. „Sie wohnen doch mit einem gewissen Joachim Boberlein zusammen. Ist das ein Kommunist?“ „Herr Boberlein“ – beinahe wäre ihm das Wort „Genosse“ entfahren – “ist ein guter Bekannter meines Vaters und hat mir auch über die Grenze in die Tschechoslowakei gehen helfen. Welcher Partei er angehört, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er die Nazis haßt.“ Dann kamen ein paar harmlose Fragen. Sie wollten wissen, wie es ihm in London gefalle, ob er das Klima vertrage und wo er so gut und so schnell Englisch gelernt habe. Manfred hatte nämlich einige Fragen ohne die Hilfe des Dolmetschers beantwortet, was ihm die Anerkennung von einem der fünf Männer eintrug. Doch die Wachsamkeit des jungen Kühnemann war durch Schmeicheleien nicht einzuschläfern, auch durch die freundlich gewordenen Gesichter ließ er sich nicht beeinflussen. Im Gegenteil: Er wartete auf die nächste verfängliche Frage. Der Vorsitzende des Tribunals hatte sich auch tatsächlich eine solche Frage für den Schluß aufgehoben. „Was würden Sie sagen“, meinte er, „wenn einer Sie als Kommunist bezeichnete?“ Das war wirklich eine heikle Geschichte. Was sollte er jetzt entgegnen? Die Gesinnung verleugnen, das durfte er nicht und hätte er auch nicht fertiggebracht. Aber er brauchte eigentlich nur die Wahrheit zu sagen. Schließlich war er noch kein Parteimitglied, selbst wenn er sich ganz zur Partei gehörig fühlte. Und so erklärte er, ohne zu Boden schauen zu müssen, wie er es immer getan hatte, wenn er gezwungen gewesen war, der Tante Adele gegenüber eine Notlüge zu gebrauchen: „Ich habe noch nie einer politischen Partei angehört. Aber als Antifaschist achte ich die Kommunisten genauso wie jeden anderen, der mutig gegen die Nazis kämpft.“ Der Vorsitzende machte eine Notiz in seine Akten. Dann beugte er sich zu seinem Nachbarn zur Rechten und zu seinem Nachbarn zur
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Linken, tuschelte mit dem einen und tuschelte mit dem anderen und drückte einige Stempel in Manfreds Personalbüchlein. Nachdem er noch seine Unterschrift hineingesetzt hatte, übergab er ihm den Ausweis. Er reichte dem Jungen die Hand und erklärte mit feierlicher Miene: „Sie können gehen. Wir haben Sie als befreundeten Ausländer von allen Beschränkungen befreit, die seit Kriegsbeginn für feindliche Ausländer gelten. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Manfred nahm das Registrationsbuch entgegen und bedankte sich. Das war also besser abgegangen, als er zu hoffen gewagt hatte. Wieder auf der Straße, schaute er in das Büchlein hinein. Da war ein Stempel: „Flüchtling vor der nazistischen Unterdrückung.“ Ein anderer lautete: „Der Inhaber dieses Zertifikates ist bis auf weiteres von der Internierung sowie von den Sonderbeschränkungen, wie sie laut der Fremdenverordnung aus dem Jahre 1920 für feindliche Ausländer gelten, zu befreien.“ Ein guter Tag! Man hatte ihn also nicht, wie einige Genossen, in ein Internierungslager gesteckt. So brauchte er die letzte Hoffnung, den Vater in absehbarer Zeit wiederzusehen, noch nicht begraben. Als er nach Hause kam, begrüßte ihn Boberlein mit einem Brief aus Frankreich. Ein wenig wurde die Freude gedämpft, als Manfred den Poststempel des Konzentrationslagers Gurs erkannte. Das Tor in die Freiheit hatte sich also für den Vater immer noch nicht geöffnet. Onkel Bob versuchte es mit einem bitteren Scherz: „Sollten die Franzosen doch einmal ein paar deutsche Hitlersoldaten gefangennehmen, dann lassen sie dafür vielleicht einige Interbrigadler heraus, um im Lager Platz zu schaffen. Hauptsache, daß nicht auch du noch hinter Stacheldraht gelandet bist. Neugierig bin ich, ob’s bei mir morgen genauso glatt abgeht wie heute bei dir.“ Diesmal ging es gut ab. Doch man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, sagt der Volksmund. Der Winter kam, der Winter ging. Auf der Siegfried-Linie hing immer noch keine englische Wäsche. Und die Franzosen hatten sich sogar wieder in ihre Maginot-Linie zurückgezogen. Kein Mensch trug, wie es die Vorschrift verlangte, seinen braunen Pappkarton mit der Gasmaske bei sich, wenn er die Wohnung verließ.
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Die Leute hatten verschiedene Spitznamen für diesen Krieg erfunden. Die meisten nannten ihn den „Sitzkrieg“, manche sprachen vom „spaßigen Krieg“. „Da ist leider gar nichts Spaßiges an diesem Krieg“, knurrte Boberlein, als die beiden Nachbarn, wie so oft, wenn sie sich ein bißchen über Politik unterhalten wollten, auf ein halbes Stündchen heruntergekommen waren. „Die sitzen sich nun wie zwei Fleischerhunde gegenüber, fletschen die Zähne und fürchten sich voreinander“, hatte der eine gesagt. Und der andere hatte hinzugefügt: „Wirklich, der spaßigste Krieg, den ich je erlebt habe.“ „Spaßige Kriege gibt es überhaupt nicht“, begann Boberlein erneut. „Das Raubtier Hitler verdaut nur, nachdem es Polen aufgefressen hat. Vielleicht wartet es auch darauf, daß man ihm freiwillig wieder einen Brocken in den Rachen wirft. Und die Herren in Paris und London bilden sich wohl ein, daß sie sich kampflos aus der Arena zurückziehen können. Noch immer träumen diese Lumpenhunde davon, den Krieg nach dem Osten gegen die Sowjetunion abzulenken.“ „Nicht so laut“, mahnte einer der Nachbarn. „Wenn man Sie hört, konnten sich die Engländer beleidigt fühlen … Und wir sind hier schließlich Ausländer.“ „Es gibt genug Engländer, die denken nicht anders als ich“, brummte Boberlein. „Sie brauchen sich bloß mal mit unserem Milchmann zu unterhalten“, bestätigte Manfred. Er stand gerade am Rundfunkapparat und stellte ihn auf London ein, da die Nachrichten fällig waren. Als er sie hereinbekam, waren schon einige Sätze verpaßt, doch auch der Rest genügte: Die Hitlerarmee hatte Dänemark und Norwegen überfallen! „Wieder werden einige Millionen Menschen den faschistischen Militärstiefel zu spüren bekommen“, fluchte Onkel Bob. „Was wird aus dem Blonden Emil werden?“ fragte Manfred. Dem Blonden Emil, mit dem er in der Sachsenstube ein ganzes Jahr verbracht hatte, war es nach der Besetzung der Tschechoslowakei gelungen, nach Norwegen zu entkommen. Es schien, als sollte in Europa kein Land übrigbleiben, in dem man vor der Gestapo sicher war. 171
So wie die Nazis in Prag die deutschen Emigranten gehetzt hatten, so würden sie jetzt in Kopenhagen und Oslo hetzen. Und was dem Blonden Emil drohte, hatte vorher schon viele gute Genossen ereilt, mit denen Manfred im Strasnicer Heim zusammengewesen war. Eisenbart war nicht mehr davongekommen. Zaurich, der Pfeifenrichard, war in Polen vom Krieg überrascht worden, und keiner wußte etwas von seinem Schicksal. Und was würde mit dem Vater geschehen, wenn die Nazis Frankreich bezwangen? Doch mit Frankreich und England würde die Hitlerarmee sicher andere Erfahrungen machen, davon war Manfred überzeugt. Auch Onkel Bob teilte diese Ansicht. Joachim Boberlein hatte recht: Es gab keinen spaßigen Krieg. Hitlers Appetit war unersättlich. Die beiden nordischen Staaten hatten ihm gut geschmeckt. Warum sollte er diese Raubtiermahlzeiten nicht fortsetzen? Bei gutem Wetter läßt sich auch marschieren. Und die deutschen Soldaten mußten sich wieder in Bewegung setzen. Der Angriff gegen den Westen begann. Zuerst ging es durch die Niederlande und Belgien, trotz der Neutralität dieser Länder. Der Monat Mai war noch nicht um, da hatten auch die beiden neuen Opfer der faschistischen Militärmaschine kapituliert. Weiter ging es. Die französische Armee war nicht imstande, die Panzerkolonnen der Nazis aufzuhalten, die immer tiefer in Frankreich eindrangen. Mitte Juni fiel Paris, und die britischen Truppen zogen sich, soweit sie nicht in Gefangenschaft gerieten, von Dünkirchen auf ihre Insel zurück. Hitler ist nicht zu schlagen, behaupteten viele Leute. Die Kommunisten aber sagten: Frankreich ist von seinen Großkapitalisten und ihren Generalen verraten worden. „Die Geldsäcke haben aus Angst vor ihrem eigenen Volk den Hitlertruppen die Tore geöffnet!“ schimpfte Onkel Bob. In diesen furchtbaren Mai- und Juniwochen war Manfred kaum noch vom Radiogerät fortzubringen. Wie Millionen andere Menschen schmerzte es ihn, daß das Unrecht einen Sieg nach dem anderen feiern konnte. Und zu diesem Schmerz kam noch die Angst um seinen Vater. Einmal muß sich doch das Blatt wenden, dachte er immer.
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Aber vergeblich wartete er auf bessere Nachrichten – es kamen nur noch schlechtere. Paris, die Stadt der Freiheit und des Frohsinns, wurde wie alle anderen besetzten Großstädte Europas zu einer Stadt der Tränen. Das stolze Frankreich mußte unter dem Nagelstiefel der Hitlerarmee leben, und im südlichen Teil des Landes, den Hitler gnädigst unbesetzt ließ, herrschten die gleichen Leute, die ihr Volk dem Feind ausgeliefert hatten. Von Manfreds Hoffnung, bald mit seinem Vater zusammen zu sein, war nichts übriggeblieben. Würde er ihn denn überhaupt je wiedersehen? Im März war der letzte Brief aus dem Lager gekommen. Seither fehlte jede Verbindung. Waren die Interbrigadisten rechtzeitig entlassen worden, um sich vor den nahenden Naziarmeen in Sicherheit zu bringen? Nein, Sicherheit gab es nirgends mehr in Frankreich, denn auch die französische Regierung, die jetzt im Süden, in der Stadt Vichy, unter dem Verrätergeneral Marschall Pétain ein Lakaiendasein fristen durfte, würde die Spanienkämpfer verfolgen und die deutschen Antifaschisten an Hitlers Gestapo ausliefern. Viele Nächte verbrachte Manfred ohne Schlaf – weil ihn schreckliche Gedanken überkamen. Boberlein meinte, daß Tausende französischer Kommunisten illegal leben mußten. Das würden sicher auch viele deutsche Antifaschisten in Frankreich tun. Manfreds Vater sei ja ein erfahrener Genosse, der es der Gestapo bestimmt nicht leicht machte, ihn zu fangen. Onkel Bobs Worte beruhigten Manfred schließlich. Der Vater würde schon, einen Weg finden … Vielleicht konnte er sich als Franzose ausgeben. Wenn er sich einen herabhängenden Schnurrbart zulegte, so einen wie Onkel Jelíneks, dann würde ihn ganz gewiß niemand erkennen. Schade, daß er dem Vater nie diesen Vorschlag gemacht hatte. Doch, brauchte der Vater überhaupt Ratschläge? Er wußte sicher allein, was man in einer solchen Lage tun mußte.
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25. KAPITEL Es war der 26. Juni des Jahres 1940. Dieses Datum prägte sich Manfred so gut ins Gedächtnis ein, daß man ihn später im Schlaf hätte danach fragen können. Wie so oft schlenderte er in Gedanken versunken nach Hause. In der Hand trug er eine pralle Aktentasche, in der sich der Proviant für eine Woche befand. Da er Onkel Bob im Englischsprechen um viele Längen voraus war, hatte er das Amt des Einkäufers für die gemeinsame Wirtschaft übernommen, und diese Tätigkeit machte ihm viel Spaß, wenn er von dem Schlangestehen vor dem Fischgeschäft und beim Fleischer absah. Hat man jedoch soviel Zeit wie ein Emigrant, dem es nicht gestattet ist, Arbeit in einem Büro oder in einer Fabrik anzunehmen, dann ist es auch nicht so tragisch, eine halbe Stunde mit dem Anstellen zu vergeuden. Die Marchmont Street, in der Manfred Kühnemann und Joachim Boberlein wohnten, war eine kleine belebte Ladenstraße. Kein Wunder, daß Manfred in dem Personenwagen, der vor dem Haus stand, nichts Außergewöhnliches sah. Um so überraschter war er, als er an der Wohnungstür durch einen Spalt – die Tür war nur angelehnt – eine ziemlich laute Unterhaltung hörte. Drei Stimmen waren es. Deutlich unterschied er Onkel Bobs holpriges Englisch und das flüssige Englisch von zwei Londonern. Sollte Boberlein eine Besprechung mit hiesigen Genossen haben? Dann würde es vielleicht stören, wenn er jetzt zu ihnen hineinginge. Seltsam war nur, daß Onkel Bob vorher nichts davon erwähnt hatte. Am besten schaffte er erst einmal die Einkäufe in die Küche und wartete dort, bis die beiden fort waren. Manfred hatte sich gerade in die winzige Küche zurückgezogen und war damit beschäftigt, die Büchsen, Gläser und Tüten aus der Aktentasche herauszunehmen, um sie in den Wandschrank zu räumen, als die Tür geöffnet wurde. Ein schlanker, gutgekleideter Mann erschien auf der Schwelle. Manfred konnte sich nicht entsinnen, ihn je gesehen zu haben. Der Fremde ersparte es ihm, sich lange den Kopf zerbrechen zu müssen: Ein Polizeibeamter, ein Mann vom Scotland Yard, stand vor dem jungen Emigranten. 174
Der Beamte machte einen sehr freundlichen Eindruck, jedenfalls entsprach er keineswegs dem, was sich Manfred unter einem Detektiv, oder was der Fremde sein mochte, vorgestellt hatte. „Do you understand English?“ fragte der Scotland-Yard-Mensch. Sollte Manfred sagen, er verstünde Englisch nicht? Das würde wohl auch wenig nützen, um den Kerl loszuwerden. „Yes, I speak English“, gab er also zu. „You are Mister Kühnemann?“ „Yes Sir!“ Manfred erfuhr nun, daß die beiden gekommen waren, um ihn und. Onkel Bob mitzunehmen. Nein, verbrochen hätten sie nichts, aber im Krieg müsse man schon damit rechnen. Schließlich seien sie Ausländer und noch dazu Deutsche, und die deutsche Armee habe bereits die Kanalküste erreicht und könne den Versuch unternehmen, nach England überzusetzen. Übrigens möge er sich keine Sorge machen. In einigen Tagen sei er wieder frei. „Packen Sie ruhig Ihre Lebensmittel in die Aktentasche. Die Sachen können Ihnen noch von Nutzen sein, und hier würden sie vielleicht verderben“, sagte der Polizist. Demnach ist das mit den wenigen Tagen gelogen, dachte Manfred. Er füllte also die Tasche wieder und folgte dem Fremden ins Wohnzimmer hinüber. Dort traf er Boberlein mitten im Packen an. Onkel Bob schaute auf und warf Manfred einen Blick zu, der eine Entschuldigung zu enthalten schien, so ungefähr, als wollte er sagen: Ich konnte dich nicht mehr warnen. Kam alles zu plötzlich. Auch Manfred begann seine Siebensachen zusammenzusuchen und in den Rucksack zu stopfen. Als der voll war, warf er den Rest seiner Habseligkeiten auf eine Schlafdecke, ein Geschenk der Jelíneks, und band die Enden kreuzweise zu einem festen Knoten. Auch Boberlein bekam nicht alles in sein Köfferchen und mußte einen Margarinekarton als Koffer verwenden. Mit langsamen Bewegungen, wie sie Manfred noch nie bei ihm gesehen hatte, legte Onkel Bob seine Hemden, Socken und was er sonst noch besaß, hinein, räumte dann alles wieder heraus und fing von neuem an, es einzusortieren.
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Auf diese Weise mit seiner Einpackerei beschäftigt, brummte er auf deutsch vor sich hin: „Immer mit der Ruhe. So schnell wird der Hitler nicht in London einmarschieren… Jaja, so ist’s. Wenn man an der Front keine Gefangenen macht, macht man sie eben im Hinterland. Mensch, Manfred, die sollten lieber gewisse Engländer einsperren, die den Hitler überhaupt erst hochgepäppelt haben. Paß auf, Junge, morgen schreiben die vielleicht eine Siegesmeldung: Schlacht bei London erfolgreich beendet, zehntausend deutsche Antifaschisten gefangengenommen. Verluste auf britischer Seite keine …“ Die beiden Scotland-Yard-Leute hatten offenbar nichts verstanden, denn sie verzogen keine Miene. Oder sie taten nur so, als verstünden sie nichts. Vielleicht ahnten sie etwas, weil Manfred beim besten Willen nicht imstande war, ein ernstes Gesicht zu bewahren. Joachim Boberlein hatte sich die redlichste Mühe gegeben, durch Langsamkeit die letzten Minuten in ihrem gemütlichen Zimmer ein wenig hinauszuzögern, doch den Augenblick, da es Abschied nehmen hieß, konnte er nicht verhindern. Die Polizeibeamten nahmen den Schlüssel an sich. Der eine erklärte: „Den schicken wir an das Flüchtlingskomitee. Die werden schon alles mit dem Hauswirt in Ordnung bringen. Aber wie gesagt: In ein paar Tagen sind Sie wahrscheinlich wieder zurück.“ „Es geschieht zu Ihrer eigenen Sicherheit“, fügte der zweite tröstend hinzu. „Süßholzraspler“, preßte Boberlein hervor. „Für meine Sicherheit sorg ich lieber allein.“ Auf der Treppe begegneten sie einem ihrer Nachbarn. Um ihn nicht in die Gefahr zu bringen, am Ende auch noch mitgenommen zu werden, rief Manfred ihm zu: „Nice weather to day, isn’t it?“ Wenngleich das nichts anderes hieß als „Schönes Wetter heute, nicht wahr?“ so merkte der so nach echt englischer Manier Gegrüßte doch, daß hier etwas nicht in Ordnung war, und ging, den Gruß höflich erwidernd, vorbei. Dabei gab er sich Mühe, ein recht englisches Gesicht zu ziehen. Man konnte ihn ganz gut für einen Einheimischen halten, denn er hatte einen Regenmantel an, von Alter ergraut und schmutzig, wie ihn jeder zweite Mann in den Straßen der britischen Städte trägt. 176
Auf Wiedersehen Marchmont Street! dachte Manfred. Wie schnell man doch in einem fremden Haus heimisch werden konnte. Ein Jahr hatte er mit: Onkel Bob hier verbracht, und schon tat es ihm weh, die kleine Wohnung verlassen zu müssen. Die nächste Wohnung war viel kleiner und so geartet, daß wohl keiner Lust verspürt haben würde, sich häuslich in ihr einzurichten. Es war eine Gefängniszelle – vier Schritt lang und zwei Schritt breit. Eine harte Schlafpritsche und eine Toilette stellten die ganze Einrichtung dar. Aber das wäre für Manfred nicht so schlimm gewesen, wenn man ihn nicht von Onkel Bobs Seite gerissen hätte. Auf der Polizeistation war ihnen alles, was sie bei sich führten, abgenommen worden, und dann hatte man jeden in eine andere Zelle gesteckt. Er streifte die Schuhe ab und streckte sich auf das unbequeme Nachtlager. Da es nicht kalt war, legte er sich gleich auf die Decken, ohne sich auszuziehen. Nun hatte er wieder einmal Zeit, über seine Lage nachzudenken. Die Gedanken wollten ihm allerdings nicht recht gehorchen; sie kamen und flogen und verstrickten sich ineinander. Wie er so dalag, allein in einer winzigen, von einer schwachen elektrischen Birne beleuchteten Zelle, deren Fensterloch in einen dunklen Hof hinausführte, fühlte er sich plötzlich so einsam, daß ihm geradezu angst wurde. Wenn er doch mit Onkel Bob hätte in Verbindung treten können! Aber wie? Vielleicht durch Klopfzeichen? So pflegten sich Häftlinge in den Gefängnissen und Zuchthäusern miteinander zu verständigen. Immer wieder hatte er die Genossen darüber sprechen hören. Nun rächte es sich, daß er nicht genau aufgepaßt hatte, auf welche Weise das Klopfalphabet funktionierte. Waren es die Morsezeichen? Die hatte er einmal lernen wollen, aber es war beim Vorsatz geblieben. Eine Weile hatte Manfred, über vielerlei Dinge grübelnd, auf seiner Pritsche verbracht, als sein Blick auf das Heizungsrohr fiel. Es lief nahe dem Fußboden über die Fensterwand. Und da erinnerte er sich daran, daß ihm Pfeifenrichard erzählt hatte, wie gut sich solche Leitungen als Klopftelefon eigneten.
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Manfred stand auf, kniete sich an das rostige Rohr hin und legte das rechte Ohr daran. Zu hören war nichts. Also mußte er versuchen, sich bemerkbar zu machen. Da ihm bei der Aufnahme in dieses unfreundliche Haus alles, was er bei sich zu tragen pflegte, abgenommen worden war, klopfte er mit den Knöcheln. Nachdem er eine Weile in regelmäßigen Abständen leise gegen das Rohr getrommelt hatte, beugte er wieder den Kopf hinunter. Keine Antwort. Mit dieser Tätigkeit beschäftigte er sich, bis ihm die Hand weh tat. Kein Erfolg. Und so streckte er sich auf sein Lager. Einige Stunden vergingen. Von Zeit zu Zeit wiederholte er seine Klopfzeichen, aber niemand antwortete. Dennoch gab er es nicht auf. Gerade hatte er sich zum Leitungsrohr niedergebeugt, als die Tür geöffnet wurde. Der Wachtmeister hieß ihn mitkommen. Draußen bekam er seine Sachen ausgehändigt, wurde in den Hof hinausgeführt und auf einen Polizeiwagen bugsiert. Oben befanden sich Bankreihen, die schon fast alle mit Internierten besetzt waren. Ihre Gesichter konnte er nicht erkennen, denn der Wagen war geschlossen, nur ein Gitter zum Fahrerhäuschen ließ einen schwachen Schimmer herein. Das langte gerade, um die Gestalten in undeutlichen. Umrissen sichtbar zu machen. Ob Onkel Bob im Wagen war? Er hätte fragen können. Aber da man mit vielen Menschen zusammenhockte, von denen man noch nicht einmal die Nasenspitzen richtig gesehen hatte, mochte das unangebracht sein. Doch Manfred hatte einen guten Einfall. Würde es auffallen, wenn er ein harmloses Liedchen sang? Ein Versuch konnte nichts schaden, und so stimmte er „Hänschen klein“ an. Allerdings änderte er den Text: „Boberlein, ging allein in die weite Welt hinein …“ Eine ihm fremde Männerstimme brummte: „Wem ist es denn da noch zum Singen zumute?“ Das war die einzige Antwort. Vielleicht fragte er den Wachtmeister einfach, wo Joachim Boberlein geblieben sei. Schließlich hatte man sie zusammen festgenommen, und keiner würde sich über eine solche Frage wundern können. Eigentlich hätte er es gleich tun sollen, als er aus der Zelle geholt worden war. 178
Zu spät! Die Hinterklappe wurde hochgeschlagen, und der Motor sprang an. Manfred machte sich Vorwürfe. Onkel Bob würde sicher anders gehandelt haben. Doch was half diese Überlegung nun, da sich der Wagen bereits in Bewegung setzte? Sie waren gar nicht weit gefahren, als es schon wieder hieß: Aussteigen! Manfred sprang vom Wagen und schaute sich um. Sie befanden sich in einem Kasernenhof vor einer großen Halle. „Da geht’s hinein“, sagte der Wachtmeister, der sie begleitet hatte. Er drehte abwechselnd die Enden seines langen, hochgezwirbelten Schnurrbarts zwischen den Fingern. Die Internierten nahmen Ihr Gepäck und bewegten sich zum geöffneten Tor des Gebäudes. Der Wachtmeister beugte sich nieder, um einem älteren Mann den Koffer tragen zu helfen. Doch das brachte dem Zwirbelbärtigen einen tüchtigen Anschnauzer von einem jungen Offizier ein. Als sich der Offizier wieder entfernt hatte, schimpfte der Gescholtene seinerseits über „das niederträchtige Biirschchen“, das bestimmt noch niemals an der Front gewesen sei. Siehst wie’n Leuteschinder aus und bist doch ein ganz anständiger Kerl, dachte Manfred. Dem Äußeren nach erinnerte der Wachtmeister
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tatsächlich an einen preußischen Unteroffizier, der gewöhnt war, seine Untergebenen zu drillen und zu schikanieren. Dann stand Manfred in der großen Reithalle, die schon Hunderte von Internierten aufgenommen hatte. Sofort machte er sich auf die Suche nach Joachim Boberlein. Aber der war nirgends zu sehen. Enttäuscht ließ sich Manfred auf seinem Bündel nieder und stierte auf die Menschen, die an einem Tisch nach Essen anstanden. Da er seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, verspürte er plötzlich tüchtigen Hunger und schloß sich der Schlange an. Bald konnte et sich mit einem Napf voll Bohnen, Fleisch und Kartoffeln zurückziehen. An einem zweiten Tisch gab es noch ein Schüsselchen Reis mit Pflaumen. Als Manfred sein verspätetes Mittagsmahl verzehrt hatte, war seine Stimmung beträchtlich gestiegen. Mit leerem Magen ist alles doppelt so schlimm - das Heimweh, die Einsamkeit, der Zorn über erlittenes Unrecht. Lange dauerte der Aufenthalt an diesem Ort nicht. Kaum eine Stunde war vergangen, da wurden die Internierten gruppenweise aufgerufen und in wunderbare rote Omnibusse verladen. Während der Fahrt konnte Manfred noch einmal die abendliche Stadt betrachten. Sie war jetzt nicht mehr so strahlend wie damals, als er sie zum erstenmal sah. Der Krieg hatte die Lichter verlöscht, nur einige blauschimmernde, abgeblendete Verkehrszeichen waren geblieben, um dem Autofahrer den Weg durch die Straßen zu zeigen. Wenn es auch noch keinen Luftangriff auf London gegeben hatte, so mußte man doch auf der Hut sein. Nach einer knappen Stunde Fahrt erreichten sie das Lager. Ein großes Schild über dem Eingang verkündete: KEMPTON PARK RACE-COURSE INTERNMENT CAMP. Also ein Pferderennplatz war eilig aus einer Stätte des Vergnügens in eine Stätte des Mißvergnügens verwandelt worden! Vorbei an Scheinwerfern und Militärposten, von einem kläffenden Sergeanten dirigiert, ging es zur Untersuchung. Hinter langen Tischen saßen Soldaten. Koffer, Rucksäcke und Bündel mußten geöffnet werden. Die Untersuchenden rissen alles rücksichtslos heraus, und die Besitzer der Gepäckstücke konnten nun allein sehen, wie sie ihre Sachen wieder 180
ordentlich zusammenbekamen. Geld, Wertgegenstände und Dokumente wanderten in eine große Tüte, auf die der Name geschrieben wurde. Feuerzeuge und Rasierklingen wurden beschlagnahmt. Die Internierten stritten sich, ob sie das Abgenommene je wieder zurückerhalten würden. Manfred besaß dreißig Schilling; das war sein ganzes Vermögen. Sollte er sie auch in die Tüte stecken lassen? Er beschloß, das Geld zu verstecken. Es waren eine Pfundnote und ein Zehn-Schilling-Schein. Er schob sie unter den Strumpf, indem er so tat, als müßte er sich einen Schnürsenkel neu binden. Die Untersuchung ging gut ab. Er behielt nicht nur sein Geld, sondern bekam obendrein noch eine Nummer, die ihn bis auf weiteres begleiten sollte, und die, wie man ihm sagte, wichtiger als sein Name sei. Sie lautete 54.936. Der Internierte 54.936 wurde nun mit einer Gruppe bereits Untersuchter zum Nachtquartier geführt: Eine große Halle, die mit langen Reihen von Strohsäcken ausgelegt war. Wahrscheinlich hatte sie einst als Pferdestall gedient. Als Manfred ein Plätzchen für sich und seine Sachen gefunden hatte, ging er hinaus zum Essenempfang. Draußen in der langen Reihe der Wartenden gewahrte er zu seiner Freude eine ganze Anzahl Genossen, die er in Strasnice oder hier in London beim Hilfskomitee kennengelernt hatte. Jeder, der ihn kannte, rief ihm einen Gruß oder gar ein Scherzwort zu. Allein war er also doch nicht. Das tröstete ihn ein wenig, wenn er es auch noch nicht verwunden hatte, von Onkel Bob getrennt zu sein. Am nächsten Tag, als Manfred einen Spaziergang durchs Lager machte, gesellte sich ein Genosse zu ihm. Er war Verwalter der Bibliothek im Strašnicer Heim gewesen. „Damit du Bescheid weißt: Die Partei hat dich in meine Dreiergruppe eingeteilt. Wenn was ist, halte dich an mich. Und denke daran, daß sich hier unter der Masse der Internierten auch Spitzbuben befinden können. Hüte deine Zunge und achte auch auf deine Klamotten, damit dir nichts verschwindet.“ Was weiter geschehen würde, wußte Fritz Müller – so hieß dieser Genosse – auch nicht. Manfred konnte also nichts anderes tun als das,
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was alle taten: immer wieder denselben Kreis im Lager beschreiben oder auf seinem Strohsack herumsitzen. Ein ungestörtes Fleckchen, wo man hätte ruhig ein Buch lesen können, gab es nicht. Und da war noch der Hunger. Von zwei Scheiben Weißbrot und einem Klecks Marmelade zum Frühstück wurde Manfred ebensowenig satt wie seine Leidensgefährten. Zu Mittag gab es eine Kelle Eintopf und am Abend noch einmal zwei Stück Brot mit einem Eckchen Käse. Was er auf Anraten des ScotlandYard-Mannes als Proviant mitgenommen hatte, wagte er nicht anzutasten, denn das gehörte auch Onkel Bob, und ohne ihn wollte er keine Ölsardinendose und keine Fleischkonserve öffnen. Jeden Tag kamen die roten Omnibusse mit neuen Ladungen deutscher Emigranten, die nun von der britischen Regierung als verdächtige Elemente behandelt wurden. Immer wenn sich die Tore öffneten und die Fahrzeuge anrollten, eilte Manfred zum Lagereingang. Mit einem der Transporte würde Boberlein doch bestimmt eintreffen. Nach drei Tagen wurde Manfred Kühnemann beim Appell mit vielen anderen zum Weitertransport aufgerufen. Wieder hieß es: Sachen packen! Joachim Boberlein war immer noch nicht da. Am liebsten hätte sich Manfred irgendwo verborgen, überzeugt, daß Onkel Bob eines Tages durch dieses Lager kommen werde. Aber Müller hielt das nicht für richtig. Es sei viel wahrscheinlicher, daß Boberlein sich schon in einem anderen Lager befand. Mit der Versteckspielerei würde man hier sowieso nichts ausrichten. Wenngleich mit einigem Widerstreben, schickte sich Manfred darein und erschien zur vorgeschriebenen Zeit reisefertig am Stellplatz. Da Fritz Müller und einige andere Genossen mit bei diesem Transport waren, wußte er, daß er auch im nächsten Lager Kameraden um sich haben würde. Wohin sie gebracht werden sollten, erfuhren die Internierten nicht. Und war es nicht gleichgültig? Überall warteten Baracken auf sie, von Stacheldraht umgeben. Es blieb also nichts anderes übrig, als sich mit den Tatsachen abzufinden. Am besten, man beschäftigte sich, um die Zeit auszufüllen. Und wieder saß Manfred in einem Zug. Während viele die Gelegenheit nutzten, um Skat oder auch Schach zu spielen, machte er sich über
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seine Sprachstudien. Wie gut kam ihm jetzt sein kleines Oxford-Wörterbuch zustatten, das er sich erst vor einer Woche gekauft hatte, um „David Copperfield“ lesen zu können. So half ihm das Buch von Charles Dickens die Stunden in der Eisenbahn, die ihn ins neue Lager bringen sollte, ohne Langeweile zu verbringen. Schon am frühen Nachmittag war das Ziel erreicht: Huyton. Ganz in der Nähe liege die große Hafenstadt Liverpool, hieß es. Die Gefangenen wußten nie etwas Genaues. Was ihnen die Bewachung sagte, mußten sie glauben. Und unter den Internierten gab es Leute, die alles „auf Ehrenwort“ absolut zuverlässig wußten, nur daß die verschiedenen Behauptungen nicht immer übereinstimmten und man am Ende so klug war wie zuvor. An Müllers Seite marschierte nun Manfred in einer langen Kolonne durch die Stadt. Das Gepäck war auf Lastwagen geworfen worden, so daß der Weg zum Lager eine angenehme Abwechslung gewesen wäre, wenn man sich nicht über die militärische Eskorte mit aufgepflanzten Bajonetten und über die feindseligen Blicke der Bevölkerung, die an den Straßenrändern stand, geärgert hätte. Sicher hielt sie jeden, der da im Zug ging, für einen heimtückischen Hitlerspion. Woher sollten sie auch wissen, daß alle diese Internierten, angefangen vom jungen Arbeitersohn Manfred Kühnemann aus Dresden bis zum weißbärtigen Rabbiner aus Berlin, der, an einem Stock gehend, bemüht war, Schritt zu halten, das faschistische Regime in Deutschland mehr haßten als eine böse Krankheit. Mit der Zeit wurde Manfred der Weg doch ein bißchen zu lang. Es war ziemlich heiß geworden, und die dicke Joppe wurde lästig. Auch die Pappschachtel mit der Gasmaske, die beim Laufen hin und her baumelte, hätte er am liebsten weggeworfen. Die Marschierenden schluckten den Straßenstaub und fluchten über ihr unverdientes Los. Manche versuchten sich durch Galgenhumor mit ihrer Lage auszusöhnen. Hinter Manfred sagte einer: „Die Nazis hätten ihre Freude, wenn sie uns jetzt sähen.“ Ein anderer brummte: „Hätte nie geglaubt, daß die Leute mal meinetwegen Spalier stehen würden.“
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„Und daß ich unter militärischen Ehren durch eine englische Stadt geführt würde, hätte ich auch nie zu träumen gewagt“, fügte ein Dritter hinzu. Schon recht ermüdet, langten sie im Lager an. Es war ein trostloser Anblick, der sich den Internierten bot. Stacheldraht, Wachtürme, eine Reihe Häuser und dahinter eine ganze Zeltstadt. Auf einem großen Paradeplatz mußten die Neuangekommenen in Reih und Glied antreten und warten. Einige Lagerinsassen brachten Wasser. Gierig trank Manfred. Der Marsch vom Bahnhof bis hierher hatte auch ihm die Zunge in einen ausgetrockneten Lappen verwandelt. Dann gab es noch ein Stück Brot von der übriggebliebenen Reisezehrung. Schließlich ging es zum Aufnahmezelt. Wieder marschierte man durch ein Menschenspalier, doch diesmal waren es Leidensgefährten, die sich bereits ein paar Tage hier befanden. Zu Manfreds Freude tauchte da und dort ein bekanntes Gesicht auf. Ein alter Strasnicer drückte ihm schnell einen Apfel in die Hand, und wer trat da aus der Reihe und kam mit großen Schritten auf ihn zugelaufen? Die gedrungene, breite Gestalt Joachim Boberleins!
26. KAPITEL Wohnungswechsel – auch von einem Lager zum andern – bedeutet immer Arbeit und viele Wege. Manfred hatte geglaubt, er wüßte nun allmählich Bescheid, aber hier gab es auch für ihn viel Neues. In einem großen Zelt war die Aufnahme. Da mußte der Neuankömmling einen ganzen Rattenschwanz von Fragen beantworten, die ein mißtrauisch dreinblickender Sergeant ihm stellte. Dann war ein unendlich langer Fragebogen auszufüllen, und zum Lohn dafür gab es ein Zettelchen: die Anweisung für eine Schlafstelle. Das Aufnahmezelt hatte Manfred glücklich hinter sich gebracht, ohne über irgendeine Frage gestolpert zu sein, auch nicht über sein Geburtsdatum. Nun ging es zur nächsten Stelle, wo er ein Gummicape, zwei Decken und einen leeren Strohsack ausgehändigt bekam. 184
„So, und jetzt mach dich heimisch hier“, sagte Boberlein und nahm Manfred einen Teil der Sachen ab. „Ich wohne drüben in der sogenannten Markise, in der Zeltstadt. Deine Anweisung lautet auf eine Schlafstelle im Häuserviertel. Du hast Schwein gehabt, mein Junge, denn da wohnt man besser als in einem Zelt.“ Das Internierungslager bestand aus Neubauhäusern, die vorher noch nicht bewohnt gewesen waren, und aus einer zusätzlich errichteten Zeltstadt. Durch Stacheldraht hatte man den Häuserblock von einem Huytoner Arbeitervorort abgeschnitten. Manfreds neue Gefährten hatten das Zimmer bereits ganz gemütlich hergerichtet: Sie hatten sich aus zwei braunen Wasserröhren und den Verdunkelungsfenstern – das waren feste, gepreßte Pappen – einen Tisch gebaut. Trotzdem fühlte sich Manfred allein ohne Onkel Bob. „Wenn du doch zu mir ziehen könntest oder meinetwegen auch ich zu dir“, sagte er traurig. Boberlein tröstete ihn: „Abwarten, Junge, und Ruhe behalten. Wenn wir hier lange werden bleiben müssen, wird sich schon ein Weg zeigen.“ Er brachte seinen wiedergefundenen Schützling zur Strohausgabe und half ihm, den Strohsack sachgemäß zu stopfen. Dann führte er ihn durch das ausgedehnte Gelände des Lagers. Viele Tausende Internierter waren hier untergebracht. Manche lebten schon seit sieben Wochen innerhalb
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dieses Stacheldrahtgeflechtes – die einen betrauerten untätig ihre widersinnige Lage, die anderen entwickelten eine außerordentliche Regsamkeit und Erfindungsgabe. Wer Geld besaß, konnte sich in der Kantine die bescheidene Lagerkost ergänzen; wer kein Geld hatte, strebte danach, welches zu bekommen. So war ein umfangreiches „Geschäftsleben“ entstanden. Zahlreich waren die Schuhputzer, von denen einige auch mit Socken und Schnürsenkeln handelten. Um die Kunden anzulocken, warben Reklameplakate oder einfach die Stimmen der „Unternehmer“. Ein sehr verbreitetes Gewerbe war das Wäschewaschen. Wäschereibetriebe gab es mindestens ein halbes Dutzend. Mit ihnen wetteiferten die Strumpfstopfer, Schneider, Bügler, Schuster und Friseure. Sogar eine Fischbratküche hatten einige besonders Tüchtige eröffnet. Der Lagervolksmund nannte sie „Heringsbändiger“. Der Geruch, der die Gegend durchzog, war recht verlockend. Manfred dachte zufrieden an seine dreißig Schillinge, die er, im Strumpf versteckt, hergebracht hatte. „Hast du ganz gut gemacht mit dem Geld“, gab Onkel Bob zu. „Denn hier dauert es ein paar Tage, ehe man seine abgenommenen Moneten ausgezahlt bekommt. Aber schmeiß es nicht gleich hinaus. Man weiß nie, wann man wieder zu Geld kommt und wo es mal dringend gebraucht wird.“ Manfred gab sich also Mühe, den Appetit auf gebratene Heringe einzudämmen. Bei ihrem Gang durch das Lager kamen sie an einem Haus vorbei, in dem ein Spaßvogel zu wohnen schien, denn da hing ein Schild „HOTEL“ und eine lange Speisekarte mit zwei Dutzend Luxusgerichten. Ein Haus weiter schrie eine Werbetafel: „Wir erledigen alles: Stopfen, Flicken, Waschen, Geschirrputzen, Strohsackfüllen usw.“ Ein anderes Plakat lautete: „Wir übernehmen Ihr Schlangenstehen vor den Lagerbüros und an der Kantine.“ Manfred hielt das für einen Witz, mußte sich aber von Boberlein eines Besseren belehren lassen: Für Geld konnte man sich selbst hier ein Faulenzerleben erkaufen, und es fanden sich solche, die sich bedienen ließen, und solche, die bereit waren, für andere um ein paar Pence oder Schillinge Lakai zu spielen.
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Schon in wenigen Tagen hatte sich Manfred Kühnemann eingelebt. Und es war gar nicht langweilig. Stets passierten Dinge, die Aufregung und heftige Diskussionen hervorriefen. Einmal hatte sich ein alter Mann aus Verzweiflung über die Trennung von seiner Familie aufgehängt, das andere Mal war ein Genosse ins Lagergefängnis gewandert, weil er mit einer eingeschmuggelten Zeitung ertappt worden war. Dann wieder hatte einer einen vergeblichen Fluchtversuch gemacht. Oder ein Gerücht über die unmittelbar bevorstehende Invasion der Hitlertruppen raste durch das Lager. Solche Nachrichten brachten es sogar zuwege, die Dauerskatspieler und die Schachfanatiker zum Aufblicken zu bewegen. Joachim Boberlein hatte von früh bis abends alle Hände voll zu tun, um mit der Arbeit fertig zu werden, denn er war als „Zeltvater“ für eines der großen Eßzelte gewählt worden. Vor allem aber war er damit beschäftigt, alle Genossen zu sammeln und mit ihnen Parteigruppen im Lager aufzubauen. Von diesen Gruppen durfte natürlich niemand etwas wissen, der nicht dazugehörte. So war es nicht verwunderlich, daß Manfred Onkel Bob recht wenig zu Gesicht bekam. Doch auch er selbst hatte genug zu tun. Da mußte das Zimmer gewischt werden, da hatte er Dienst im Eßzelt, da gab es eine Besprechung aller Genossen, die im gleichen Lagerblock wohnten, da war sein Englischlernen und schließlich sein Tagebuch. Diese täglichen Aufzeichnungen hatte er kurz nach der Ankunft im Internierungslager Huyton begonnen. Die Idee dazu war eigentlich von Onkel Bob gekommen. „Schade, daß keiner festhält, was man hier so alles erlebt“, hatte der einmal gesagt. Es war nur eine nebenbei hin- geworfene Bemerkung gewesen, aber sie war dennoch der Funke zu Manfreds Einfall, ein Tagebuch anzufangen. Jeden Abend vor dem Schlafen- gehen verbrachte er eine halbe Stunde damit, in wenigen Worten die Ereignisse des Tages aufzuschreiben. In diesem Buch, das er in der Kantine für einen Schilling erstanden hatte, konnte man beispielsweise lesen: 28. Juni. Dienstag. Bekam heute die Tüte mit den Gegenständen zurück, die man mir in Kempton Park Race-Course abgenommen hatte. Besonders froh bin ich, daß ich meine Armbanduhr, mein Taschenmesser,
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den Drehbleistift und den Füllhalter wiederhabe. Nicht ausgehändigt worden ist mein Paß und das Registrationsbuch. Endlich haben wir Briefpapier bekommen. Es dürfen nur vierundzwanzig Zeilen geschrieben werden. Die Bogen sind aus besonderem Kreidepapier, auf dem man nicht mit unsichtbarer Tinte schreiben kann. Einen Brief habe ich an Marie und Pepík geschrieben, den zweiten an unseren Klub. Ob die Polizei den Klub geschlossen hat? Hoffentlich werden die Jelíneks nicht auch noch interniert. Sie sind tschechoslowakische Staatsbürger und gelten somit als Verbündete und nicht als feindliche Ausländer. Aber man kann nie wissen, was den britischen Lords noch alles einfällt. Aus den Berichten von Neuankömmlingen erfahren wir, daß es bei der fortschrittlichen englischen Bevölkerung große Empörung über die Internierung der deutschen Antifaschisten gibt. Hier ist jeder damit beschäftigt, einen Antrag auf Entlassung aus dem Lager zu stellen. 30. Juni. Sonntag. In Zelt 3 fand eine große Varieteveranstaltung statt. Was es doch hier alles für Leute gibt. Da ist zum Beispiel ein bekannter Pianist aufgetreten. Es wird behauptet, daß er mit Hilfe des Prinzen von Wales nach England gekommen ist, aber das hat ihn nicht vor dem Lager bewahrt. Auch ein Liliputaner ist aufgetreten. Geärgert hat es mich und viele andere, daß zum Abschluß „God save the king“ angestimmt wurde. Ich finde es charakterlos, die Hymne seines Kerkermeisters zu singen. Die Eintragung vom 1. Juli enthielt die Bemerkung: Es gibt doch Menschen, die aus jeder Situation ihren Vorteil ziehen. Jede Woche bekommen die Internierten pro Kopf zwei Briefbogen. Mancher braucht sie nicht und verkauft sie. Für einen Briefbogen werden bis fünf Schillinge gezahlt. Und am 1. Juli schrieb Manfred weiter ins Tagebuch: Große Unruhe im Lager. Einige hundert, hauptsächlich jugendliche Internierte, mußten sich reisefertig machen. Man munkelt, daß es nach Übersee geht. Deshalb haben sich auch viele freiwillig zum Transport gemeldet. Die anderen wurden dazu gepreßt. Diejenigen, die sich freiwillig gemeldet haben, taten es entweder aus Abenteuerlust, oder weil sie mit der Möglichkeit rechnen, daß die Hitlerarmee tatsächlich über
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den Kanal setzt. Unsere Parteigruppen treten gegen alle auf, die schon so tun, als sei Hitler in England gelandet. Wir verlangen, entlassen zu werden. Wenn es den Nazis gelingt zu landen, werden wir eben an der Seite der englischen Arbeiter gegen die Faschisten kämpfen. Am 3. Juli hatte Manfred keine Zeit gefunden, um eine ausführliche Eintragung vorzunehmen. Nur wenige Worte enthielt diese Seite: Ein neuer Transport wird zwangsweise zusammengestellt. Auch Onkel Bob und viele andere Genossen sind dabei. Ich weiß noch nicht, was ich tun soll. Ein heißer Julihimmel stand über dem staubigen Lagerplatz. Leben wie in einem Ameisenhaufen herrschte zwischen den Häuserzeilen und in der Zeltstadt. Immer mehr Menschen protestierten dagegen, in den neuen Transport eingereiht zu werden. Die reiselustigen Lagerinsassen waren schon mit dem ersten Schub abgegangen. Zurück blieben hauptsächlich Familienväter, die in der Nähe ihrer Angehörigen sein wollten. Manche wußten ihre Frauen auf der Isle of Man – Insel Man – im Internierungslager und verlangten dorthin, aber nicht über den Atlantik, verschifft zu werden. Andere wollten nicht das Risiko einer Seereise im Zeitalter des U-Boot-Krieges auf sich nehmen. Die Kommunisten bestanden darauf, als bewährte Antifaschisten freigelassen zu werden. Überall im Lager rotteten sich die Internierten zusammen und hielten Kundgebungen ab. An allen Ecken und Enden sah man Diskussionsgruppen herumstehen. Am Nachmittag kam Joachim Boberlein zu Manfred und erzählte ihm, daß in der Sitzung der geheimen Parteileitung beschlossen worden sei, einfach nicht am Stellplatz zu erscheinen. Da sich die Mehrheit der Betroffenen gegen den Abtransport erklärt habe, würde es den Militärbehörden schwerfallen, ihren Willen durchzusetzen. Sie müßten sonst mit Gewalt gegen Hunderte von Leuten vorgehen. Manfred freute sich, denn von Onkel Bob, der ja mit auf der Transportliste stand, wollte er sich nicht wieder trennen lassen. Auch nach dem Seefahren sehnte er sich nicht gerade, lag ihm doch die Überfahrt von Göteborg nach Tilbury noch im Magen. Am Abend vor der geplanten Verschiffung wurde Joachim Boberlein zu Leutnant Brown gerufen.
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„Gutes wird er nicht im Sinn haben“, sagte Onkel Bob zu Manfred, bevor er die Tür öffnete zum Büro dieses Offiziers, der seiner Grobheit und seiner Trunksucht wegen berüchtigt war. Wie immer saß Leutnant Brown breitbeinig im Sessel hinter dem langen, rohgezimmerten Tisch und spielte mit einem Bleistift. Als Boberlein seinen Namen genannt hatte, knurrte Brown, ohne auf den Menschen vor sich zu schauen: „You go!“ – „Sie gehen!“ Boberlein verstand. Der Offizier wußte, daß auch er zu denen gehörte, die öffentlich gegen den Abtransport eingetreten waren. Vor Leutnant Brown lag überdies ein ausgefülltes Formular. Boberlein erkannte es – das hatte er geschrieben. Er erwarte, stand darin, entlassen zu werden, da er als Gast des englischen Volkes und als verfolgter Antifaschist nach England gekommen sei. Aha, dachte Boberlein, er hat sich über meinen Antrag geärgert. Ein Nazi wäre dem Kerl da sicher lieber als ein Nazigegner. Trotzdem beherrschte er sich und versuchte dem Offizier klarzu- machen, weshalb er und all die anderen internierten deutschen Emigranten es als Ungerechtigkeit empfanden, wie Feinde gefangen- gehalten und nach Übersee verfrachtet zu werden. Leutnant Brown ließ ihn nicht zu Ende sprechen und brüllte: „Ich habe mit Ihnen nicht darüber zu diskutieren. Hier bestimmen wir und niemand anders. Im übrigen, da drüben befindet sich das Gefängnis“ - er zeigte mit dem Daumen seitlich durchs Fenster – „das ist für Leute, die sich nicht belehren lassen.“ Joachim Boberlein wandte mit betonter Ruhe den Kopf in die angegebene Richtung. Das brachte Leutnant Brown ganz aus der Fassung. Er sprang auf, donnerte mit der Faust auf den Tisch und brüllte: „Don’t look like that!“ - „Schauen Sie nicht so!“ Damit war das Gespräch beendet. Boberlein flog hinaus, von einigen wüsten Flüchen begleitet. „Kein angenehmer Zeitgenosse“, meinte Onkel Bob lächelnd zu Manfred, der draußen erwartungsvoll auf und ab gegangen war.
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Am selben Abend, zum Zeitpunkt, da die Koffer abgegeben werden sollten, erschienen bewaffnete Soldaten in den Zelten und Häusern und zwangen die für den Transport Bestimmten zu packen. Auch bei Boberlein waren sie. Der hatte allerdings seine Sachen vorher zu Manfred gebracht und trieb sich, wie viele andere, irgendwo unauffindbar im Lager herum. Der nächste Morgen kam. Jetzt würde es sich entscheiden. Manfred war als einer der ersten auf der nassen Lagerstraße. Nachts hatte es geregnet, und die Luft war neblig feucht. Als er an Boberleins Zelt kam, waren auch dort schon alle auf den Beinen. „Ich wollte gerade zu dir kommen“, sagte Onkel Bob und faßte Manfred um die Schulter. „Meine Sachen abholen …“ Er machte eine kurze Pause, wie einer, der etwas auf dem Herzen hat und sich erst einen Ruck geben muß, um es auszusprechen. „Ja, Junge, ich fahre nun doch mit.“ „Warum gerade du?“ Manfred blieb stehen. „Komm, es bleibt uns nichts anderes übrig. Die Partei hat beschlossen, daß alle Genossen, die auf der Liste sind, mitgehen. Die meisten Internierten haben gestern abend unter der Drohung der aufgepflanzten Bajonette ihr Gepäck abgegeben, und die anderen werden es jetzt tun. Zwei Dutzend Genossen können sich nicht gegen die Lagerbehörde stemmen. Wenn wir die Masse der Internierten hinter uns hätten, lägen die Dinge günstiger. Wir wollen uns auch nicht von den übrigen Emigranten isolieren. Es wird gut sein, wenn in den Lagern drüben Genossen mit dabei sind. Ob wir hier etwas erreichen oder nicht, ist am Ende eine Frage der Öffentlichkeit. Nur der Protest fortschrittlicher Menschen kann uns aus den Armen der militärischen Willkür und der sinnlosen Internierung herausholen. Aber noch scheint es draußen nicht soweit zu sein.“ Manfred ging niedergeschlagen neben Boberlein her. Kaum achtete er auf Pfützen und Schlammlöcher. Nun würde er wieder allein sein. Wohl blieben noch viele Genossen zurück, aber Onkel Bob war nicht so leicht zu ersetzen. Später, während er Boberleins Bündel zur Sammelstelle trug, war es ihm fast wie damals, als ihm Eisenbart mitgeteilt hatte, daß der Vater nicht mehr in Prag sei. Es wurde Mittag. Appell für die „Abfahrer“. 191
Jeder bekam einen grünen Zettel, der zum Eintritt in das Eßzelt berechtigte. Dort sollte die letzte Mahlzeit im Lager eingenommen werden. Freunde verabschiedeten sich von Freunden, Genossen von Genossen, Väter von Söhnen und Söhne von Vätern. „Vielleicht sehen wir uns bald wieder, vielleicht dauert’s ein Weilchen“, brummte Boberlein. Seine Stimme klang gerade so, als würge er einen Klumpen hinunter: „Du weißt: Unsereiner ist nirgends verloren und hat überall seine Aufgabe. Wir sind noch nicht am schlimmsten dran. Denen im KZ geht es nicht so gut wie uns. Und die Jungens, die Hitler in den Tod hetzt, für eine schlechte Sache, sind auch nicht zu beneiden. Also, mach’s gut!“ Er umarmte Manfred und küßte ihn auf beide Wangen. Dann machte er sich los und begab sich zu seiner Fünfzigergruppe zurück. Manfred Kühnemann schlenderte zum Eßzelt, das von einer dichten Postenkette abgesperrt war. Obwohl er die Augen auf die Vorgänge hinter dem Soldatenkordon gerichtet hatte, nahm er nichts von dem auf, was er sah. Auch vom stärker werdenden Regen spürte er nichts. Erst die Stimme Fritz Müllers, der ihm im Vorbeimarschieren zurief: „Das Wandern ist des Müllers Lust, juchhe!“, brachte seine Gedanken zurück. Das war der Augenblick, in welchem er den grünen Zettel im Schmutz neben der Abfalltonne bemerkte. Er hob ihn auf und drehte ihn ein Weilchen zwischen den Fingern. Und da war er plötzlich, der Gedanke! Mit diesem Zettel würde man ihn zum Eßzelt durchlassen. Sicher hatte ihn einer der zum Abtransport Vorgesehenen verloren oder weggeworfen. Eigentlich formte sich der Entschluß erst richtig, als sich Manfred in seinem Zimmer befand und den Rucksack packte. Schon beim Appell hatte er gesehen, daß die Lagerbehörde den Überblick verloren hatte. Das Regencape über Rucksack und Kopf gezogen, eilte Manfred zum Eßzelt zurück und drängte sich durch die Sperrkette. 192
Er hatte unaufgefordert den grünen Zettel vorgewiesen und auf englisch vor sich hin geschimpft: „Nun hab ich meine Gruppe verloren!“ Die Soldaten ließen ihn ohne weiteres durch. Sie wußten, daß sich die meisten Internierten ursprünglich geweigert hatten, mitzugehen, und so kam keiner auf die Idee, einen durchgelassen zu haben, der gar nicht zu diesem Transport gehörte. Im Eßzelt hockten die unfreiwilligen Globetrotter an den nackten Tischen und löffelten ihre Nudelsuppe. Die Luft war schwer vom Dunst der Speise und von der Regenfeuchtigkeit. Über allem lag das Summen der Gespräche, die um eine einzige Frage kreisten: Wohin wird die Reise gehen? Manfred setzte sich auf den nächsten freien Platz. Vorher hatte er sich gut umgesehen, ob Boberlein irgendwo in der Nähe war. Jetzt wollte er ihm möglichst noch aus dem Wege gehen. Später, auf dem Schiff, würde eben das Donnerwetter über ihn hinwegrollen. Er war bereit, ein paar harte Worte von Onkel Bob einzustecken, Hauptsache, er blieb in diesem öden Lager nicht allein zurück. Boberlein konnte schließlich bei so einer Fahrt ins Ungewisse auch einen guten Kameraden neben sich brauchen. Immerhin war er, Manfred, nicht gerade ein Kücken mehr. Den siebzehnten Geburtstag hatte er hinter sich, und den Ausweispapieren nach war er neunzehn. Erstaunlich, was so ein kleiner Schwindel in den Dokumenten ausmachte. Er kam sich wirklich um zwei Jahre älter vor. Noch ein paar Appelle gab es, bei denen es gehörig durcheinanderging. Manfred rief jedesmal sein „Hier!“, wenn auf einen Namen keine Antwort kam, und keiner merkte etwas. Onkel Bob war bereits mit der ersten Fünfzigergruppe hinausmarschiert, als sich die Gruppe, in die sich Manfred hineingeschoben hatte, zum Abgang formierte. Der große Paradeplatz war abgesperrt, und die Zurückbleibenden konnten sich nur aus einiger Entfernung von ihren Freunden oder Verwandten verabschieden. Dann öffnete sich das Lagertor. Noch einmal wurde jeder nach Streichhölzern oder Feuerzeugen untersucht. Es regnete nicht mehr, aber das Gehen in Reih und Glied über aufgeweichte Straßen war kein Vergnügen. Überdies mußte Manfred seinen Rucksack schleppen, während die anderen ihr Gepäck vorher zur Beförderung abgegeben hatten. 193
27. KAPITEL Der Hafen von Liverpool war erreicht. Das Gummicape über der Schulter, schritt Manfred durch die Postenkette zur Landungsbrücke. Ein provisorisch zusammengebauter Verschlag aus Stahlplatten ohne Fenster und Sitzgelegenheiten empfing ihn. Die Sonne hatte die stählernen Wände erhitzt, und die Ausdünstungen der vielen Menschen erzeugten eine drückende Atmosphäre. Manfred entledigte sich seines Rucksacks und hielt nach Boberlein Ausschau, konnte ihn jedoch nirgends erblicken. Im Verschlag wurde es immer enger. Hunderte standen gedrängt in dem Raum. Aus verschiedenen Lagern waren die Internierten hergebracht worden. Dort wurde italienisch gesprochen – dort deutsch. Wie Manfred von einem Genossen aus dem Lager Seaton erfuhr, befanden sich in diesem Raum auch viele Deutsche, welche die Engländer bei Kriegsausbruch in britischen Häfen von Schiffen heruntergeholt hatten. Diesen Internierten gegenüber galt es sehr zurückhaltend zu sein, da die meisten von ihnen Nazis waren oder gar Gestapoleute. Vielleicht gab es auch Hitlergegner darunter, aber die trauten sich im Kreis der anderen nicht mit der Sprache heraus. Und so war es schwer, sich ihnen freundschaftlich zu nähern. Zum Glück dauerte der Aufenthalt in diesem Stahlkäfig nicht sehr lange. Nachdem ein Offizier die Alten und Kranken aus dem Verschlag geholt hatte, um sie in ihre Quartiere zu bringen, konnte auch Manfred mit einem Schwung Internierter endlich diesen Brutapparat verlassen. Im Gänsemarsch ging es über Deck. Das, Schiff machte einen ganz ordentlichen Eindruck. Für Krieg und den Transport von Gefangenen war es bestimmt nicht gebaut worden, wenn es auch ein grau und grün geflecktes Schutzkleid trug. Manfred ließ seine Blicke umherschweifen. Da hörte er seinen Namen rufen. Es war Boberlein, der hinter einer von Posten bewachten Barriere stand und ihm zuwinkte. Manfred überlegte nicht lange. Er trat einfach aus der Reihe und näherte sich der Barriere. Ehe die Soldaten etwas einzuwenden vermochten, reichte Manfred den Rucksack hinüber und sagte: „Mein Vater.“ Der Trick brachte ihn tatsächlich ans Ziel. Die Posten ließen ihn ohne Widerspruch unter der Barriere hindurchkriechen. 194
„Mensch, Junge, wie kommst du hierher? Hat man dich also auch noch in unseren Transport hineingestopft?“ Manfred mochte nicht lügen. „Freiwillig … Ich wollte mit dir zusammenbleiben.“ Gegen alle Erwartungen machte ihm Boberlein keine Vorwürfe. Im Gegenteil, er schlang seinen Arm um ihn und drückte ihn fest an sich. „Na ja, zu zweit reist sich’s besser!“ Onkel Bob brachte seinen jungen Freund zur Kabine. Es gab hier zwar nur zwei Betten und zwei Strohsäcke auf dem Fußboden, doch zur Not hatte noch ein fünfter Schläfer Platz. Ein dritter Strohsack wurde schnell beschafft, und Manfred richtete sich damit unter einem der Betten ein. Zum Glück waren die Bettgestelle hochbeinig und gewährten für ein solches Notlager gerade noch Raum. Als sie später an Deck ihren ersten Spaziergang machten, kniff Boberlein den Jungen in den Arm. „Entsinnst du dich noch an Kattegat und Skagerrak?“ fragte er. „Du wolltest doch nicht mehr seefahren? Nun hast du dich dazu gedrängelt, als wenn’s ein Extravergnügen wäre. Und dabei weiß kein Mensch, wohin’s überhaupt geht.“ Manfred antwortete nicht. Was war ein bißchen Seekrankheit gegen das Alleinsein? Jetzt, so neben Boberlein, ließ sich die Gefangenschaft viel leichter ertragen. Das Schiff – einige in solchen Dingen besonders geschickte Leute hatten bald herausgefunden: der Blue-Star-Luxusdampfer „Arandora Star“ – war ein notdürftig in ein Truppentransportschiff umgebauter 15oooTonner. Auch das Reiseziel wollten einige von den Offizieren selbst erfahren haben. Es hieß, daß es nach Kanada ginge. Am Abend war die Stimmung unter den Emigranten weit besser als beim Betreten der „Arandora Star“. Die Schiffsbesatzung verhielt sich freundlich zu den nicht alltäglichen Passagieren, und auch über die kanadischen Wachsoldaten konnte sich keiner beklagen. Die Posten wurden von den Quartieren der deutschen Antifaschisten und der Italiener zurückgezogen. Die Verpflegung war über alles Erwarten gut. Wenn sich auch das Wetter als gnädig erweisen sollte, gab es keinen Grund, der Reise über den Atlantik, falls ihnen tatsächlich eine solche Fahrt
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bevorstand, mit schlechten Gefühlen entgegenzusehen. Daß es bei der Essenausgabe ein wenig drunter und drüber ging und daß die Kabinen übermäßig belegt waren, konnte man schon ertragen. Nachts lief die „Arandora Star“ aus. Nur einige Frühaufsteher hatten die englische Küste schwinden sehen oder ein Zipfelchen der Isle of Man irgendwo in der dunstigen Ferne mitnehmen können. Der Morgen gab endgültig Auskunft über das Reiseziel. Das Schiff war schon weit in die Irische See hinausgefahren und hatte Kurs Nordwest. Das konnte nur Kanada sein. Weshalb wäre sonst eine kanadische Bewachungstruppe mitgefahren? Die Soldaten und die Angehörigen der Schiffsbesatzung hatten offenbar die Anweisung, nichts über das Bestimmungsland zu sagen. Doch wer geschickt seine Frage stellte, konnte es mehr oder weniger aus der Antwort erraten. Manfred hatte keine sehr gute Nacht hinter sich, denn die Irische See hat ihre Tücken. Schlingern und damit auch die Seekrankheit ist dort zu Hause. Besonders in den frühen Morgenstunden war sein Magen rebellisch geworden, und viel hatte zur Katastrophe nicht gefehlt. Höchst unangenehm, wenn man seine Schlafstätte unter einem Bett aufgeschlagen hat und auf der einen Seite die Wand, auf der anderen einen schlafenden Nachbarn weiß. Doch bis zur Frühstücksausgabe war der kritische Punkt überwunden. Die See war nur leicht gekräuselt, und der Wind war sanfter als sanft. Dazu ein wolkenloser blauer Himmel und ein Horizont ohne Stacheldraht. Was konnte er sich im Augenblick Besseres wünschen? Manfred und Onkel Bob standen am Bug und genossen die frühe Sonne. „Wie einfach man heutzutage zu einem Freibillett nach fernen Kontinenten kommt“, spöttelte Boberlein. „Kolumbus hat es schwerer gehabt als wir, ein Schiff nach Amerika zu chartern.“ „Join the refuges and see the world!“ ergänzte ein Genosse, der sich gerade zu ihnen gesellt hatte. „Ausgezeichnet!“ Onkel Bob lachte schallend. Es war tatsächlich eine treffende Losung. Eigentlich lautete sie: „Join the army and see the world!“ – „Tritt in die Armee ein und sieh die Welt!“ Diese Aufforderung war in Friedens- und Kriegszeiten auf allen
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Werbeplakaten für das britische Heer zu lesen. Aber paßte das Wort „Flüchtling“‘ nicht viel besser in diesen Satz? Ja, so war es: Werde Emigrant und sieh die Welt. Die Welt war allerdings für Manfred und seinesgleichen auf die wenigen Quadratmeter eines Internierungslagers zusammengeschmolzen. Im Augenblick jedoch bestand sie aus dem Schiff und der weiten See und dem noch weiteren Himmel. Ach, dieser Himmel und dieses Meer und dieses GIitzern des sonnenbeschienenen Wassers! Fast hätte Manfred vergessen, daß überhaupt Krieg ist. Erst als Schwimmgürtel an alle Passagiere ausgegeben wurden, kam die Erinnerung an die Ursache dieser unfreiwilligen Reise. Krieg! Wer mochte daran denken, während die „Arandora Star“ so friedlich durch die gleißende Fläche schnitt und einem die Sonne das Gesicht streichelte und die Augen verschloß? Der Nachmittag kam. Die glühende Himmelskugel hatte den Zenit überschritten. Manfred hatte ein bequemes Plätzchen auf einem gerollten Tau ausfindig gemacht und holte den verlorenen Schlaf nach. Boberlein beriet irgendwo mit einigen Genossen, was man drüben von Kanada aus unternehmen könnte, um die Freilassung zu erwirken. „Unsinn, ein Delphin ist das!“ Diese Worte rissen den jungen Kühnemann aus seinem Nickerchen. An der Reling vor ihm standen mehrere Emigranten und stritten über den schwarzen, glänzenden Körper, der von Zeit zu Zeit im Kielwasser der „Arandora Star“ auftauchte. Manfred erhob sich und trat zu den Kampfhähnen. Zwei Meinungen platzten aufeinander. Die einen behaupteten, es sei ein großer Fisch, der, von den Abfällen der Küche angelockt, dem Schiff folge. Die Gegenpartei wollte den Turm eines Unterseebootes deutlich erkannt haben. „Das war die Rückenflosse“, wiederholte einer, der sich als Sachverständiger aller sieben Meere ausgab, obgleich man ihm die Landratte und zugleich den Prahlhans schon aus ziemlicher Entfernung von der Nasenspitze ablesen konnte. Nachdem Manfred eine Weile zugehört hatte, mischte er sich ein und schlug vor, jemanden von der Schiffsmannschaft zu fragen. Die müßten doch wissen, was ihnen da so beharrlich auf den Fersen war. 197
Als ein Seeoffizier in der Nähe auftauchte, ging Manfred zu ihm. Der Befragte schien nicht überrascht zu sein. „Machen Sie sich keine Sorge. Das ist unser Convoy. Es ist ein britisches Unterseeboot.“ Die Delphinanhänger mußten sich geschlagen geben. Einer meinte nur: „Und wenn’s nun ein deutsches Unterseeboot ist?“ „Das würde sich hüten, stundenlang im Bereich des Schiffsgeschützes hinter uns herzuzockeln.“ Es wurde Abend. Am Himmel funkelten die Sterne. Ein zunehmender Wind stieg auf, und die See begann unruhig zu werden. „Zeit, daß du dich hinlegst“, sagte Boberlein zu Manfred. Manfred war aber weder müde noch lockte ihn der Strohsack unter dem Kabinenbett. So verharrte er an Boberleins Seite und beobachtete das zischende phosphoreszierende Wasser, das wie ein Diamantenregen an den Schiffswänden hochsprühte und mit dem Sternengeglitzer in Wettstreit zu stehen schien. Inzwischen waren die Zeiger auf neun Uhr vorgerückt. Doch niemand hatte Lust, schlafen zu gehen. Das Deck war belebt wie der Prager Wenzelsplatz an einem warmen Sommerabend. Da hieß es plötzlich: „Alle Internierten haben das Deck zu räumen.“ Hatte jemand gegen die Schiffsordnung verstoßen? Sofort begann ein eifriges Getuschel über die Gründe dieser Maßnahme. „Sicher haben sie jetzt ihre militärischen Übungen an Bord“, vermutete Onkel Bob. Er ging mit Manfred in die Kabine. Sie richteten sich für die Nacht ein. Ehe sich der Junge auf seinen Strohsack unterm Bett zurückzog, machte er noch einige Notizen ins Tagebuch: Wir sind schon weit in die Irische See hinausgefahren. Es ist hier ein bißchen eng. Auf der „Britannia“ hatten wir es bequemer. Aber sonst fühlen sich alle sehr wohl. Die Überfahrt nach Kanada verspricht auf alle Fälle interessant zu werden. Wenn wir vergessen könnten, daß wir Gefangene sind, würden wir uns fast wie Vergnügungsreisende vorkommen. Ich bin glücklich, Onkel Bob an meiner Seite zu wissen. Der Gedanke an das neue Lager jenseits des Ozeans schreckt mich nun nicht mehr.
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Übrigens hat er mir keinerlei Vorhaltungen gemacht. Es schien mir sogar, als wäre er erfreut darüber gewesen, mich plötzlich auf der „Arandora Star“ auftauchen zu sehen. Ich glaube, er hat mich ebenso gern wie ich ihn.
28. KAPITEL Hatte er geträumt oder war er tatsächlich aus dem Bett gefallen? Nein, er lag ja unter dem Bett und stieß, als er sich aufrichten wollte, gegen das Geflecht der Stahleinlage über seinem Kopf. Manfred versuchte völlig wach zu werden. Die Dunkelheit um ihn war vom Stimmengewirr der Kabinengefährten erfüllt. „Macht doch mal Licht!“ schimpfte der Besitzer des oberen Bettes schläfrig. „Mir scheint, wir sind auf Grund gelaufen“, sagte Boberlein mit ruhig sachlicher Stimme. Er hatte die seltsame Erschütterung, die durch das Schiff gegangen war, schon mit vollem Bewußtsein wahrgenommen. „Menschenskind, war das ein Bums!“ stellte ein anderer fest. „Ob das ein Torpedo war?“ fragte der vom oberen Bett ängstlich. „Da hätte man doch eine Explosion hören müssen“, meinte Manfred. Mitten in dieses Gespräch hinein lärmte zerschellendes Geschirr. Die Kabine hatte sich plötzlich schräg gelegt, und alles Bewegliche war von den Wandsimsen und vom Waschtisch zu Boden gesaust. Ja, was war wirklich geschehen? Manfred fühlte sich da im Dunkel unter dem Bett gar nicht sehr behaglich. Geschehen war etwas, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er hörte, wie Onkel Bob aufstand und sich zur Tür bewegte. Mit Mühe arbeitete sich Manfred aus seinem Gefängnis unter dem Bett heraus. Was war nur passiert? Eine Havarie? „Ich kann das verflixte Ding nicht aufkriegen!“ schimpfte Onkel Bob. „Hat sich ganz verklemmt.“ „Wart, ich helf dir!“ rief Manfred. Über herumliegende Kleidungsstücke stolpernd, erreichte er die Tür. 199
„He ruck!“ kommandierte Boberlein. Mit aller Kraft warf sich Manfred gegen die stählerne Tür. „Und nochmals: He ruck!“ Erst beim dritten Versuch gab sie nach. „So, das hätten wir geschafft!“ Onkel Bob japste nach Luft. Von draußen kam ein wildes Durcheinander von Flüchen, Hilferufen und Schreien. Auch im Gang herrschte absolute Finsternis. „Und nun?“ fragte Manfred. „Los, fertigmachen … Die Sache sieht faul aus.“ „Wo ist bloß mein Feuerzeug hin“, brummte der im oberen Bett, wild zwischen seinen Decken wühlend. Es war schwer, in dem engen, stockdunklen Raum seine Kleidungsstücke zu finden, Manfred hatte beim Schlafengehen zwar alles sorgfältig zurechtgelegt, doch jetzt war nichts mehr an seinem Platz. Der plötzliche Aufbruch verwandelte die Kabine mehr und mehr in ein Chaos. „Mein rechter Schuh ist weg“, klagte er verzweifelt. „Nur nicht nervös werden“, mahnte Boberlein. Ein Glück, daß ich mit Onkel Bob hier bin, dachte Manfred. Dieser Wirrwarr kann einen ja verrückt machen. Eine Taschenlampe brauchte man jetzt. Ich hätte wenigstens eine Schachtel Streichhölzer verstecken sollen. Die anderen rennen schon raus, und ich – verflucht! – ich suche immer noch nach meinem Schuh. Doch da bist du ja. „Alles beisammen?“ fragte Boberlein. „Meine Schwimmweste ist verschwunden.“ „Hattest du sie nicht unterm Kopf?“ „Nein, am Handtuchhalter müßte sie sein.“ Nach gemeinsamen Anstrengungen ertasteten sie das Ding endlich zwischen den Strohsäcken. „Nun aber los!“ rief Boberlein. Manfred fühlte sich von der Hand Onkel Bobs gepackt und zur Tür gezogen. „Und der Rucksack?“ „Bleibt hier … Wenn nichts Schlimmes passiert ist, finden wir ihn schon wieder.“
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Ohne Boberlein loszulassen, tappte Manfred durch den Gang in der Richtung zur Treppe. Eine mühselige Sache war das. Der schmale Fluchtweg war gestopft voll mit Menschen und Koffern, die von einigen Unvernünftigen mitgeschleppt wurden. Immer wieder stieß er gegen irgend ein Hindernis. Bloß nicht Onkel Bob verlieren! Vom Gangende rief einer: „Geht doch in eure Kabinen zurück. Es ist ja nichts weiter passiert!“ Keiner achtete auf den Rufer. Auch Manfred nicht. Er vertraute ganz auf Boberlein, der sich wortlos seinen Wag nach vorn bahnte, ohne Hast und ohne überflüssiges Verweilen. Was wohl geschehen war? Die Maschinen – ja, die Maschinen waren verstummt. Und warum lag alles im Dunkel? Offenbar waren die Maschinen und die Lichtleitung zerstört. Das konnte kein kleiner Defekt sein. Nicht einmal ein Notlämpchen brannte. „Gehn wir unter?“ fragte Manfred mit einem leisen Zittern in der Stimme. „Keine Ahnung. Jedenfalls sind wir oben besser aufgehoben … Wenn der Kasten absäuft, können die Kabinen und Gänge hier unten schnell zu Mausefallen werden.“ Boberlein rechnete also mit dem Ärgsten. Aber eigenartig: Seine Worte hatten dem Jungen plötzlich alle Angst genommen. Vielleicht war es auch der ermunternde Händedruck gewesen. Sie kletterten über liegengelassene Gepäckstücke, erreichten schließlich die Treppe und dann das Oberdeck. Boberlein machte halt. Manfred vergaß beinahe zu atmen. Es war ein gespensterhaftes Bild. Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand der Posten, so wie am Vorabend: unbeweglich, eine brennende Zigarette im Mund, lächelnd. Begriff der Soldat nicht, was hier geschah? Oder wartete er auf einen Befehl? Wieder glühte die Zigarette auf. Warum rührte sich der Kerl nicht? Oder war er wahnsinnig geworden? Manfred preßte Boberleins Arm. Kein Zweifel: Das Schiff sank! Das Licht des anbrechenden Tages enthüllte alles. Die „Arandora Star“ war verloren. Verloren! Und die Menschen? Wieviel Zeit hatten sie noch? Das Hinterschiff lag schon
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beängstigend tief im Wasser. Und dabei konnte doch kaum eine Viertelstunde, seitdem er aus dem Schlaf geschreckt worden war, vergangen sein. Was nun? Irgend etwas mußte man unternehmen, wenn man nicht mit dem Schiff auf dem Grunde des Meeres landen wollte. Aber seltsam: Es war ihm, als wären seine Füße an die Planken genagelt. Erst Onkel Bobs Stimme riß ihn aus der Erstarrung. „Wir sinken, und wie es scheint, ziemlich schnell“, sagte Onkel Bob. „Ja, wir sinken“, wiederholte Manfred mechanisch und hob den Kopf. „Komm, sehen wir uns nach den Genossen um.“ Manfred griff wieder nach Boberleins Hand und rannte mit ihm am Backbord entlang. Doch nirgends war ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Manfred glaubte nie so wach gewesen zu sein wie in diesem Augenblick. Und doch – das war bestimmt ein Traum, ein beängstigender Traum! Die Morgendämmerung tauchte das Chaos auf Deck in bleiches Licht. Boberlein schien in dem wüsten Durcheinander wie etwas, das gar nicht dazugehörte. Vielleicht war die Gefahr doch nicht so groß? Ein Leck konnte ja repariert und das eingedrungene Wasser herausgepumpt werden. Warum kümmerte sich keiner um ein geordnetes Vorgehen? Schließlich gab es doch einen Kapitän, der das Kommando über das Schiff hatte und für die Sicherheit der Passagiere, und wenn es sich auch um Internierte handelte, verantwortlich war. Nicht von Boberleins Seite weichend, bewegte sich Manfred durch das schaurige Getümmel. Wie Ameisen in einem zerstampften Bau liefen die Menschen kreuz und quer über die Planken, stolperten über Schiffstaue, fluchten, riefen um Hilfe, beteten, jammerten. Sie hatten das tiefliegende Heck erreicht, ohne irgendeinem Genossen begegnet zu sein. Das Gewimmel an Deck wurde immer dichter. „Komm da entlang!“ Boberlein bog zum Steuerbord ein. Zurück ging es, in der Richtung auf den Bug zu. War der wieder um ein Stück aus dem Wasser gestiegen? Wer konnte noch zweifeln, daß es für das Schiff keine Rettung mehr gab? Doch begriffen das auch alle? Da saßen zwei Italiener auf einem Seilhaufen, der eine hatte sein Gesicht dem Himmel zugekehrt und stieß in kurzen regelmäßigen Abständen flehende Schreie aus. Der andere ließ seinen Rosenkranz durch die Finger gleiten und murmelte nur ein Gebet dazu. 202
Die sind verloren, ging es Manfred durch den Kopf. Und warum hocken so viele auf ihren Koffern und starren teilnahmslos vor sich hin oder blicken um sich, als erwarten sie von irgendwoher Rettung? Erkennen sie die Lage nicht? Wurden sie von der Disziplin der Posten, die immer noch an ihren Plätzen standen, getäuscht? Oder waren sie von der Plötzlichkeit des Unglücks so gelähmt, daß sie nicht zu handeln vermochten? Das alles nahm Manfred im Vorbeihasten wahr. Es waren nur einzelne Szenen aus einem wilden Hexensabbat, wie ein zu schnell abrollender Film. Hier ergaben sich die einen der Tatenlosigkeit, dort kämpften die anderen wie die Tiere um Platz in einem der überfüllten Rettungsboote, die bedenklich schwankend an den Seilen der Davits zerrten. Boberlein blieb stehen und hielt Ausschau. Manfreds Blick suchte Onkel Bobs Gesicht. Die zusammengepreßten Lippen zeigten, daß er dabei war, einen Entschluß zu fassen. Höchste Zeit war es, etwas zu tun. Überall schwangen sich schon Menschen über Bord. Da schleppten zwei Männer ein Raft, eines der hölzernen Rettungsflöße, über die Planken. Dort warfen sie leere Fässer, Balken, Taue, Bretter und was ihnen sonst noch an Schwimmbarem in die Hände fiel, über die Reling. Keiner dachte daran, daß die stürzenden Gegenstände so manchen Leidensgefährten, der schon ins Wasser gesprungen war, töten könnten. Ein gellender, grausiger, vielstimmiger Aufschrei ließ Manfred zusammenzucken. Ein vollbesetztes Boot war in die Tiefe gestürzt. In die Schreie mischte sich das Aufklatschen des Bootes und das Aufspritzen der See. „Wir werden auch springen müssen“, sagte Onkel Bob und preßte Manfreds Arm. „Wenn wir noch lange warten, gehen wir mit dem Strudel hinab … Fürchtest du dich?“ „Nein, es wird schon gehen“, sagte Manfred mit einer Ruhe, über die er selbst erstaunt gewesen wäre, wenn er sich in diesem Augenblick darüber Rechenschaft abgelegt hätte. Sie liefen, sich wieder an den Händen haltend, nach Backbord. Manfred spürte plötzlich ein Klopfen im Hals, als wäre ihm das Herz bis da hinaufgesprungen. Aber wieder war es Boberleins Stimme, die ihn beruhigte. 203
,,Der Torpedo muß steuerbords eingedrungen sein, also müssen wir zur anderen Seite, wenn wir nicht riskieren wollen, vom Sog des einströmenden Wassers in den Schiffsleib hineingerissen zu werden.“ An was Onkel Bob doch alles dachte! Und er brachte es heraus, als erklärte er eine Frage im politischen Schulungskursus. Der Druck in der Kehle gab nach. Vielleicht war es auch nur, weil Manfred keine Zeit mehr für angstvolle Überlegungen blieb. Jetzt hieß es handeln, und darauf richtete sich jeder Gedanke. Wenn sich nur das Schiff lange genug über Wasser hielt. Bis so ein Riesenkörper sank, konnte schon ein Weilchen vergehen. Als sie die Reling am Backbord erreichten, ging ein heftiger Ruck durch die „Arandora Star“. Das Heck war um ein weiteres Stück gesunken. Der Bug ragte schon weit aus dem Wasser. „Wenn wir nicht recht schnell vom Schiff Abstand gewinnen, zieht es uns mit in die Tiefe. Also, Junge, erst gehst du über Bord, dann ich. Und nicht vergessen: sofort hinausschwimmen, immer weg vom Schiff.“ Boberlein ergriff ein Seil, das von einem Davit herunterhing. „Jacke aus, Weste um! Ich lasse das Tau mit dir über die Reling hinüberpendeln. Dann heißt’s loslassen. Nach dir springe ich … Und gut aufpassen, daß wir uns nicht verlieren …“ Manfred war bereit. Keine Spur von Angst spürte er jetzt. Sein Hirn dachte nur einen Gedanken: ins Wasser! „Hals- und Beinbruch!“ brüllte Onkel Bob, als er das Seil losließ und Manfred über das Geländer schwang. Mit zusammengepreßten Händen und geweiteten Augen hing der Junge am gespannten Seil, das ihn in den dämmrigen Himmel trug. Schiff und Meer und Wolken wirbelten durcheinander. Und Onkel Bob war plötzlich weit weg und ganz klein. Loslassen! War das seine eigene Stimme gewesen, oder hatte es ihm Boberlein zugerufen? Manfred löste die Finger vom Tau, warf die Arme hoch und streckte den Körper. Senkrecht sauste er hinab ins Meer. Kälte und Dunkel umgaben ihn. Und dann tauchte er wieder auf und sah um sich. Wie gewaltig die „Arandora Star“ von hier aus erschien. Seine Blicke suchten Boberlein. Da! Er nahm gerade Anlauf … und stieß sich ab … und schwebte, am Seil hängend, über Bord.
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„Hier bin ich!“ brüllte Manfred, Boberlein nicht aus den Augen lassend. Doch da plumpste irgendein schwerer Gegenstand in unmittelbarer Nähe ins Wasser. Vor Manfreds Gesicht spritzte die See hoch, und als er wieder aufsehen konnte, war Onkel Bob verschwunden. Weit kann er nicht sein. Ich werde ihn schon finden. Manfred machte einige Schwimmbewegungen, um an einen floßartigen Körper, der nicht weit von ihm auf den flachen Wellen schaukelte, heranzukommen. Vor allem galt es, Abstand vom Schiff zu gewinnen, wie es ihm Onkel Bob eingeschärft hatte. Gerade griff er nach dem Raft – es war ein großer Baderost – als ihn ein unheimlicher Ton zwang, zum Schiff zurückzublicken. Für einige Sekunden vergaß Manfred alles, was um ihn war, als gebe es auf der Welt nur noch die „Arandora Star“. Der gewaltige Schiffsleib hatte sich steil aufgerichtet. Der Bug ragte senkrecht in den Himmel. Aus den Bullaugen zischte das Wasser. An der Reling hingen immer noch Menschen. Hoffnungslose und verzweifelte Schreie erfüllten die Luft. Wieder zu sich gekommen, schwamm Manfred, den hölzernen Rost mit sich schleppend, weiter hinaus, bis ihn eine Explosion zwang, seinen Blick noch einmal nach hinten zu wenden.
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Eine zweite, dumpfe Explosion übertönte alles. Unwillkürlich schrie Manfred auf: „Onkel Bob! Sie sinkt!“ Da, vor seinen Augen stieg eine grauenhafte Fontäne aus Menschen, Wasser und Schiffsbestandteilen in die Luft. Gleich darauf sauste die „Arandora Star“ mit einem gurgelnden Getöse in die Tiefe. Manfred mußte sich anstrengen, um sich von der aufgewühlten See nicht sein Floß wegreißen zu lassen. Doch nach wenigen Minuten beruhigte sich das Element, und diese Ruhe war noch furchtbarer als der Augenblick der Katastrophe. Wo sich eben noch das Schiff befunden hatte, schwammen jetzt auf öligen Wogen Lebende und Tote. Dem gefräßigen Meer war es gleich, ob auf dem Schiff Christen oder Juden oder Atheisten gewesen waren, und auch der Torpedo hatte sich wenig darum gekümmert, ob er das Leben von Nazis oder Nazigegnern, von Deutschen oder Italienern, von Kanadiern oder Engländern vernichtete. Die erregte See hatte sich an der Untergangsstelle durch das schwimmende Öl rasch geglättet, und Manfred versuchte Ausschau nach Onkel Bob zu halten. Um besser sehen zu können, löste er eine Latte aus dem Holzgitter und zwängte sich durch den Zwischenraum. Das Floß umgab ihn nun wie der schwingende Rock einer wirbelnden Eisläuferin. Ohne Anstrengung würde er sich stundenlang so über Wasser halten. Auch war der Oberkörper ein ganzes Stück über dem Wasser, und Manfred vermochte einen weiten Kreis zu überblicken. Onkel Bob finden! Das war jetzt die einzige Aufgabe und der einzige Wunsch. Irgendwo in der Nähe mußte er ja sein. Daß er ihn verfehlt hatte, ausgerechnet in einer solchen Situation! Er, Manfred, war nun mal ein Pechvogel. Ich darf nicht zu weit wegrudern, sonst kommen wir ganz auseinander. Ich müßte rufen. Wie still es ist. Man könnte sich ja beinahe fürchten. Uns muß auch alles zustoßen. Um ihn war Schweigen, in der nur das sanfte, glucksende Plätschern der See hineinfloß. Gerade wollte Manfred ein „Onkel Bob!“ ausstoßen, da hörte er seinen Namen rufen, ganz leise, wie aus weiter Ferne.
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„Hier bin ich!“ antwortete er, die Worte dehnend und beide Hände als Schalltrichter benutzend. „Maaanfreeed!“ kam es zurück. Er war nur ein kleines Stück in der Richtung des Rufenden geschwommen, da entdeckte er ihn endlich. Die Entfernung war nicht sehr groß. Onkel Bob arbeitete sich mit langen Armzügen auf ihn zu. Onkel Bob! Jetzt hatte er ihn wieder. Manfred fühlte Tränen des Glücks in den Augen. Geschickt paddelte er sich Boberlein entgegen, immer bemüht, nicht in die perlmuttern schillernden Ölfelder zu geraten. Joachim Boberlein war ein guter Schwimmer, und Manfred gab ihm nichts nach. So hatten sie sich bald erreicht. Das Raft war zum Glück groß genug, um beide zu tragen. Nachdem Boberlein sich neben Manfred durch die Lücke zwischen den Latten, des Rostes geschoben und ein wenig gespuckt und verschnauft hatte, sagte er in trockenem Ton: „Da wär’n wir also!“ Manfred versuchte zu lächeln. Es gelang ihm nicht recht, denn er fühlte plötzlich einen heftigen Brechreiz zum Hals steigen. Und da kam es auch schon würgend aus ihm heraus. Er hatte zuviel Salzwasser und Öl geschluckt, als er nach dem treibenden Baderost geschwommen war. Sicherlich tat auch die Entspannung nach der anstrengenden und aufregenden halben Stunde, die hinter ihnen lag, das ihre dazu. Als er den Magen entleert hatte, ließ er sich schlaff in seinem hölzernen Korsett hängen und schloß die Augen. „Wird schon wieder gut werden“, tröstete Onkel Bob und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. „Was wohl Vater macht“, sagte Manfred matt und hob die Lider. „Wo er auch sein mag, er läßt sich bestimmt nicht unterkriegen, und wenn er sich mit dem Teufel schlagen müßte.“ Manfred verstand sehr gut, daß diese Antwort eine Mahnung an ihn war. Ich werde schon durchhalten! sagte eine Stimme in ihm. Bis zum letzten Augenblick werde ich durchhalten. Wenn wir gerettet werden, darf Onkel Bob nicht schlechter über mich denken als bisher. Vielleicht werden wir doch noch gerettet, vielleicht sehe ich Vater doch einmal wieder. Nein, Onkel Bob soll keinen Grund haben, geringschätzig über
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mich zu denken. Durchhalten! Zähne zusammenbeißen! Durchhalten! Kopf hoch! So redete er sich selbst zu. Schwer war es, in dieser Situation die Hoffnung nicht zu verlieren. Wie trostlos zeigte sich jetzt das Meer! Solange er das sinkende Schiff vor Augen gehabt hatte, war noch ein Punkt dagewesen, an den sich seine Augen hatten klammern können. Nun herrschte die Einsamkeit: die weite Fläche, Stille, Öde, Wasser, auf dem da und dort irgendein schwimmender Gegenstand oder auch der Körper eines Ertrunkenen auftauchte und wieder verschwand. In größerer Entfernung, wenn er den Blick ringsum wandern ließ, konnte er elf Boote zählen. Das zwölfte war vom Meer verschlungen worden oder wiegte sich ohne Passagiere führerlos auf den Wellen der Irischen See. Da und dort sah er auch Schiffbrüchige, die, an schwimmende Gegenstände geklammert, dahintrieben. Durchhalten! „Man müßte wenigstens was zum Rauchen haben“, brummte Boberlein. Er kramte unter Wasser in der Hosentasche herum und brachte ein Päckchen Zigaretten herauf. Die Zellophanhülle war dem salzigen Bad nicht gewachsen gewesen, und der Inhalt, den sie hatte schützen sollen, quoll als bräunlicher Brei heraus. Onkel Bob schleuderte die Überreste ärgerlich von sich. „Hättest sie ja doch nicht anzünden können“, tröstete Manfred. „Das stimmt wieder mal“, gab Onkel Bob zu. „Meine Streichhölzer werden erst recht hin sein … Ach, die hab ich ja schon heute morgen vergeblich gesucht.“ Eine Weile schwiegen sie und ruderten mit den Beinen, um das Kältegefühl loszuwerden, das sich jetzt erst bemerkbar machte. „Wie lange werden wir hier aushalten müssen?“ fragte Manfred schließlich. Er verspürte Hunger und Durst. „Ein Weilchen wird’s schon dauern … Aber der Mensch hält allerhand aus, wenn’s sein muß … Es gibt Fälle, daß Leute tagelang auf einem treibenden Balken zugebracht haben. Falls aber das Schiff noch um Hilfe gefunkt hat, wird man uns nicht ewig in dieser Soße drinlassen.“ Manfred verstand, warum Boberlein solche Ausdrücke wählte. Sicher wollte er seine eigene Besorgnis verdecken. Das planlose Dahintreiben
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mußte schließlich auch ihn quälen. Aber was war doch Onkel Bob für ein starker Mensch! Vom Augenblick des Erwachens, da der Torpedo in die „Arandora Star“ hineingefahren war, bis jetzt hatte Manfred nur eine unerschütterliche Ruhe an ihm wahrgenommen. Würde er ohne den älteren Freund überhaupt noch am Leben sein? Boberlein hatte ihm gar keine Zeit gelassen, trübe Gedanken, zu haben. Nun krochen sie heran, immer wieder, obgleich er sie zu verscheuchen trachtete. „Was, wenn uns die Nazis herausfischen?“ meldete sich Manfred nach einiger Zeit. „Hierher traut sich kein deutsches Schilf … jedenfalls keines über Wasser.“ „Die in den Booten haben’s gut“, sagte Manfred seufzend. Boberlein schwieg. Schließlich meinte er: „Wir können versuchen, eines der Rettungsboote zu erreichen. Vielleicht nimmt man uns doch auf. Wir riskieren ja nichts dabei. In Bewegung bleiben und ein Ziel vor Augen haben, das ist in unserer Lage die beste Medizin.“ Das Boot, das am nächsten zu sein schien, lag genau in östlicher Richtung unter der Sonne, die am wolkenlosen Himmel hinaufzukriechen bemüht war und die Wasserwüste mit Brillanten und Silber überschüttete. Aber wer hätte jetzt dafür Augen gehabt, jetzt, da man eine Nußschale voll Süßwasser einem Eimer voll Gold vorgezogen haben würde? „Wie spät mag es sein?“ fragte Onkel Bob und wies auf den glühenden Teller über dem Horizont. Manfred schaute unwillkürlich auf seine Armbanduhr, die zwölf Minuten nach sieben zeigte. Auch sie war ein Opfer des Salzwassers geworden. Nach einigem Hin und Her kamen sie überein, daß es nach dem Stand der Sonne gegen acht sein mußte. Also waren sie erst eine Stunde lang im Wasser, wenn diese Berechnung stimmte. Eine Stunde konnte doch ewig dauern! Langsam und regelmäßig mit den Füßen tretend und die Hände als Ruder benutzend, kamen sie gut vorwärts, wenngleich das Boot doch recht weit entfernt war. Wie es schien, bewegte sich ihr Ziel nicht von der Stelle. Die Ruder waren zwar ausgelegt, aber wohl nur, um das Gleichgewicht zu unterstützen.
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Während sie sich auf das Rettungsboot zu bewegten, trieben an ihnen allerlei Gerümpel, Schwimmwesten, leere Tonnen und Bretter vorbei. Manchmal waren es auch Menschen, denen das Meer zum Grab geworden war. Die starren Gesichter der Toten verrieten Manfred nichts über ihre Herkunft. Waren es deutsche Seeleute? Waren es internierte Nazis, die sich von diesem Krieg etwas anderes als den Seetod erträumt hatten? Waren es Engländer? Kanadier? Italiener? Oder deutsche Antifaschisten, die, einst glücklich ihren Verfolgern entkommen, nun doch noch deren Opfer geworden waren? „Hitlers Torpedo!“ knurrte Boberlein plötzlich. Sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Miene. „Hörst du, Manfred, den Triumph soll er nicht haben. Wir wollen länger leben als er. Wir wollen sein Ende mitfeiern, was? Und wenn sie uns als Skelette an Land bringen, wir geben nicht auf.“ „Nein, wir geben nicht auf“, bestätigte Manfred. Schweigend arbeiteten sie sich weiter. Es erwies sich jetzt, daß der Abstand in Wirklichkeit weit größer war, als die Augen sagten. Hier auf der nur vom fernen Horizont begrenzten Fläche des Meeres gab es keine Vergleichsmöglichkeiten. Waren es drei Kilometer, waren es dreißig, die sie von ihrem Ziel trennten? Und bewegte sich das Boot: auch nicht von ihnen weg? Je mehr sie sich von der Katastrophenstelle entfernten, desto unruhiger wurde die See. Wenn die Wellen auch nicht allzu hoch stiegen, so war es doch ein ermüdendes Auf und Ab; einmal glaubte Manfred über den Horizont hinauszusteigen, dann wieder ging es hinunter, und die Linie zwischen Himmel und Wasser schnellte in die Höhe. Auch das Boot tauchte auf und verschwand, um erneut in die Höhe zu gehen. Wie endlos die Zeit war! Das Boot schaukelte wie eine Fata Morgana vor ihnen: Fast greifbar schien es, und dennoch erreichten sie es nicht. Manfred schaute von Zeit zu Zeit auf seine ruinierte Armbanduhr, die ihm nur noch verkündete, wann er ins Wasser gesprungen war. Aber wie lange er nun schon darin zubrachte, das verriet sie ihm nicht. Jedenfalls war es eine Ewigkeit, nach seinem Durst zu urteilen.
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Die Einwirkung des Salzwassers begann sich am ganzen Körper unangenehm bemerkbar zu machen. Da er von der Schwimmweste und dem hölzernen Rost über Wasser gehalten wurde, auch wenn er keine Schwimmbewegungen ausführte, konnte er sich zwar genügend ausruhen, aber ein Gefühl der Erschöpfung nahm dennoch mehr und mehr von ihm Besitz. Und die Sonne war noch lange nicht auf dem höchsten Punkt. Es konnten nicht mehr als zwei bis drei Stunden vergangen sein, seit das Schiff gesunken war. Vielleicht würden sie einige Tage im Wasser zubringen müssen. Bei diesem Gedanken überkam ihn eine Mutlosigkeit, die er nur überwand, weil Onkel Bobs Stimme im rechten Augenblick neben ihm ertönte: „Ich glaube, die haben uns entdeckt!“ Manfred richtete seinen Blick auf das Rettungsboot. Sie hatten sich ihm inzwischen ein gutes Stück genähert. Und bewegten sich dort nicht die Ruder? „Also los, Junge. Woll’n mal sehen, ob wir’s schaffen!“ Wieder nahmen sie ihre Tretmühle auf und paddelten sich mit den Händen vorwärts. Als sie sich eine Ruhepause erlaubten, waren sie bereits auf Rufweite an das Rettungsboot herangekommen. „Könnt ihr uns aufnehmen?“ schrie Boberlein, indem er beide Hände als Muschel vor den Mund hielt. Wenn sie uns doch aufnähmen. Endlich aus dem Wasser herauskommen. Aber das Boot ist ja überfüllt, es liegt schon schräg im Wasser. Nein, sie werden uns abweisen. Manfred mußte sich auf die Lippen beißen und die Augen schließen, um ein plötzliches Schwächegefühl zu überwinden. „Nehmt uns auf!“ rief Onkel Bob erneut. Drüben schienen sie seine Rufe vernommen zu haben, denn es schallte eine Antwort zu ihnen herüber. Was gerufen wurde, war allerdings nicht zu verstehen. Immerhin waren es menschliche Laute, die über das Wasser kamen, und das tat wohl in dieser Einsamkeit. Nicht allein zu sein, war schon viel. Noch einmal nahm Manfred all seine Kräfte zusammen. Und dann hatten sie sich an das Boot herangearbeitet. „Könnt ihr uns aufnehmen?“ wiederholte Boberlein, und Manfred rief das gleiche auf englisch. 211
Im Boot war offenbar ein heftiger Streit ausgebrochen. Jedenfalls war ein lautes Wortgewirr zu hören. Sie steuerten ihr Floß näher an das Boot heran, fast konnten sie die ausgelegten Ruder packen. „Die werden uns nicht aufnehmen“, brummte Boberlein. „Hätt ich mir doch im vorhinein denken können.“ „Macht nichts“, seufzte Manfred. Doch war das nicht der Berliner Kurt? Seit der Besetzung Prags hatte er diesen Genossen nicht mehr gesehen, auch auf der „Arandora Star“ nicht. Aber gab es Gespenster? Nein! Also mußte Kurt mit auf dem Schiff gewesen sein. Inzwischen hatte der andere auch ihn und Boberlein erkannt und winkte lebhaft. „Wir müssen zur Steuerbordseite hinüber“, sagte Onkel Bob. Sie dirigierten ihr „Fahrzeug“ um das Boot herum. „Du versuchst’s zuerst. Mach dich los und sieh zu, daß du an ein Ruderblatt herankommst.“ Vom Bootsrand streckten sich ihnen mehrere Anne entgegen, obgleich der Bootsmann ein eintöniges „full up!“ – „Alles besetzt!“ ausstieß und auch noch einige andere Insassen warnende Proteste hören ließen. Manfred befreite sich von dem Baderost, der ihm so gute Dienste geleistet hatte, und schwamm dicht an das Rettungsboot heran. Es war ihm, als hätte ihm einer neue Energie eingeflößt. „Full up! Full up!“ fluchte der Bootsmann ohne Unterbrechung. Doch auch Boberlein wurde hinaufgezogen und landete mitten in einem Menschenknäuel. Prustend wischte sich Manfred das Wasser aus dem Gesicht. Wie sollte er sich bei seinen Rettern bedanken? Ach, er saß in einem Boot. Und Onkel Bob auch. Fast konnte man glauben, Land unter den Füßen zu haben. Als er einige Worte zu stammeln begann, brummte einer der Männer im Londoner Tonfall „It’s all right!“ und bemühte sich, Manfred neben sich ein wenig Platz einzuräumen. Es war ein britischer Soldat. Bloßköpfig und ohne Tunika hockte er am Bootsrand, zwischen den Zähnen eine kalte Pfeife, die er auch beim Sprechen nicht aus dem Mund nahm. „Come here, old chap!“ rief der Tommy und zog den Jungen an seine Seite. Manfred sah sich nach Boberlein um. Der hatte irgendwo zwischen den Beinen der Männer ein freies Fleckchen gefunden.
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Kurt, der am anderen Ende saß, lächelte Manfred zu und machte eine grüßende Handbewegung. Über das Häuflein Menschen breitete sich bald wieder eine unheimliche Stille. Doch Manfred empfand sie nicht mehr als so peinigend wie das Schweigen, dem sie zu zweit auf ihrem Floß ausgeliefert gewesen waren. Wenngleich er von all den Gefährten, die hilflos waren wie er, um Onkel Bob und den Berliner Kurt kannte, stärkte ihn die Kraft, die aus jeder Gemeinschaft kommt, mag es die zufälligste sein wie die in diesem Rettungsboot.
29. KAPITEL Höher und höher stieg die Sonne. Sie trocknete die Kleider und begann die ermatteten Körper zu wärmen. Sie trocknete aber auch die geplatzten, salzigen Lippen und steigerte das Durstgefühl ins Unerträgliche. Was an Trinkbarem vorhanden war, wurde vom Bootsmann streng gehütet, denn erst ein halber Tag war vergangen. Die Schiffbrüchigen saßen mit hängenden Köpfen da. Keiner spürte Lust zum Sprechen, und was zu sagen war, hatten schon alle gesagt. Nur der Soldat an Manfreds Seite versuchte ab und zu, durch einen trockenen Witz eine Bresche in das Schweigen zu schlagen. Die einzige Antwort war gewöhnlich ein gutmütiger Fluch des Bootsmannes. Es war mehr die Erschöpfung der Nerven als die übliche Müdigkeit, die über Manfred Kühnemann siegte. Jedenfalls war er plötzlich ein- genickt. Da drangen ferne Laute an sein Ohr. Träumte er? Manfred schlug die Augen auf. Ein wirres Durcheinanderreden – alle Köpfe waren zum Himmel gereckt. „Seid doch mal ruhig“, rief einer ärgerlich. „Keep quiet, chaps!“ erklang es auch aus dem Munde des Bootsmannes. Manfred brauchte nicht erst aufgeklärt zu werden, um zu erfahren, was die Schiffbrüchigen in Aufregung gebracht hatte. Jetzt hörte er es: 213
Ganz aus der Ferne kam ein surrendes Geräusch wie von einem Flugzeug. „Keep calm, chaps!“ – „Ruhe bewahren, Jungs!“ rief der schottische Bootsmann, und seine Stimme klang nicht freundlich, denn viele der Insassen waren aufgesprungen, und das Boot geriet bedenklich ins Schwanken. Zwei Italiener, die vor ihrer Internierung in London eine Fischbratküche betrieben hatten, wußten vor Freude nicht an sich zu halten. Sie umarmten und küßten sich und stimmten schließlich ein fröhliches Lied an. „Erst mal sehen, wer da angeflogen kommt“, brummte Boberlein und dämpfte damit die Begeisterung derer, die Grund hatten, nicht in die Hände der Nazis geraten zu wollen. Manfred wandte sich an seinen Tommy: „Jerries?“ Jerries wurden die Deutschen spöttisch von den Engländern genannt. Der Soldat begriff sofort, warum der junge diese Frage gestellt hatte. Er klopfte ihm beruhigend auf die Schulter: „Everything will be all right… These are our boys.“- Alles wird gut werden … Das sind unsere Jungens.“ Sollte dieser Engländer ein so feines Gehör haben, um aus dem fernen Motorengeräusch herauszuhören, was für eine Maschine sich näherte? Und wer konnte sagen, ob das Flugzeug überhaupt ihretwegen kam und sie auch bemerkte? Das Surren verstärkte sich, und da erschien auch schon das Flugzeug am Himmel. Es kam geradewegs auf sie zugeflogen. Als es über ihnen war, gab es Lichtsignale, um mitzuteilen, daß es die Schiffbrüchigen entdeckt habe. Dann, weit hinuntergehend, kreiste es über der Unglücksstelle und warf überall, wo sich ein Boot oder ein Raft mit Menschen befand, Päckchen mit Zigaretten und Schokolade ab. Nicht jede dieser angenehmen „Bomben“ fiel ins Boot, aber mit Hilfe der Ruder wurde alles, was halbwegs in Reichweite auf dem Wasser schwamm, geschickt geborgen. Nun endlich konnte sich der Tommy seine kalte Pfeife stopfen. Der bärbeißige Schotte paffte eine Gold Flake und vergaß auf ein Weilchen sein Fluchen. Es waren genügend Zigaretten abgeworfen werden, und der Bootsmann, der mit peinlicher Gerechtigkeit die Verteilung vornahm, konnte jedem zwei Stück überreichen. Auch einen Streifen Schokolade und ein paar Kekse gab es pro Kopf. 214
Die Stimmung war sofort in die Höhe geklettert, und der Engländer fand jetzt schon eher Beifall mit seinen bissig-humorvollen Bemerkungen. Das Flugzeug war wieder davongeflogen, nachdem es durch eine weitere Serie von Lichtsignalen, die von den Seeleuten ohne Mühe verstanden wurden, baldige Hilfe angekündigt hatte. Boberlein gelang es, sich näher an Manfred heranzuschieben. Er stieß zufrieden den Zigarettenrauch in die Luft und lächelte dem Jungen zu. Nicht alle Bootsinsassen waren so optimistisch wie der englische Soldat, der bis in alle Einzelheiten entwickelte, was ihm seine Frau kochen müsse, wenn er wieder daheim sei. Er war überzeugt, daß ihm die „verdammten fernes“ wenigstens ein paar Tage Urlaub eingebracht hatten. „Noch bist du nicht zu Hause“, brummte einer von den weniger optimistisch Veranlagten. Aber nach etwa einer Stunde kehrte das Flugzeug zurück und zog nun große Kreise über der Unglücksstelle. Und als eine weitere Stunde vergangen war, erschien eine Rauchfahne am östlichen Horizont. Bald zeigte sich auch das Schiff. Es war ein Zerstörer, der sich rasch näherte. Das Flugzeug begann Rauchraketen abzuwerfen, um einem Motorboot, das sich von dem Zerstörer löste, anzuzeigen, wo es Überlebende, auf Flößen oder auch einzeln im Wasser treibend, entdeckt hatte. Das Schiff nahm inzwischen die Insassen der Boote auf. Die Schwarzseher waren verstummt und die Teilnahmslosen aus ihrer Erstarrung erwacht. Alle Augen folgten gespannt der Rettungsaktion. Schließlich war auch ihr Boot an der Reihe, und sie konnten über das Fallreep an Bord des Zerstörers klettern. Als sich der Zerstörer, es war ein kanadischer, mit seiner Fracht in Bewegung setzte, war es bereits fünf Uhr nachmittags. Die Sonne stand im Westen und hatte schon lange mit ihrem Abstieg begonnen. Auf dem Meer schaukelten leere Boote, und im weiten Umkreis der Katastrophe schwammen Flaschen, Rettungsringe, Korkgürtel und allerlei Gerümpel. Wie von einer magischen Kraft angezogen, waren die Blicke vieler Geretteter auf die Überreste der „Arandora Star“ gerichtet. So mancher von denen, die an der Reling standen und nach Westen sahen, hatte dort, wo noch das seltsame Schillern der Ölflecke zu erkennen war, acht Stunden im Wasser gelegen. Viele, die keinen Platz in einem der Boote
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gefunden und die ganze Zeit in der salzigen See zugebracht hatten, ruhten zu Tode erschöpft oder von Krankheit gepackt auf Pritschen, Matten und Feldbetten. Die einen schwiegen vor Entkräftung, andere stöhnten oder erbrachen immer wieder. Achthundert Menschenleben hatte der Torpedo gefordert. Die gleiche Zahl war jetzt an Bord des Zerstörers. Nur die Hälfte derer, die zwei Tage vorher mit der „Arandora Star“ den Hafen von Liverpool verlassen hatten, kehrte auf dem kanadischen Kriegsschiff zu den Britischen Inseln zurück. Unter ihnen Manfred Kühnemann und Joachim Boberlein, die nicht einmal mehr einen Rucksack oder ein Köfferchen besaßen wie vor einem Jahr, als sie über die tschechoslowakisch-polnische Grenze gegangen waren. Egal – sie lebten! Einen Augenblick dachte Manfred an sein Tagebuch; aber mochte es schwimmen. Der Zerstörer dampfte, eine lauge Rauchfahne hinter sich, auf das schottische Festland zu, das nur wenige Stunden entfernt war. Die Internierten spazierten auf dem Deck umher und genossen die stabilen Planken unter den Füßen. Einige waren sogar fröhlich, denn die Matrosen hatten freigebig Rum spendiert. Auch Kleidungsstücke hatte die Schiffsbesatzung aus ihren Seesäcken herausgezogen und den Schiffbrüchigen geschenkt, gleichgültig, ob es sich um Engländer oder Kanadier, um Italiener oder Deutsche handelte. Manfred hielt einen knallroten Pullover mit Rollkragen in der Hand. Er wollte ihn Onkel Bob geben, dessen Hemd an mehreren Stellen geplatzt war. Der aber hatte nur gebrummt: „Hat schon seine Richtigkeit, Behalte ihn hübsch für dich. Dein Hemd sieht nicht besser aus als meins.“ Manfred schlüpfte wohl oder übel in das auffällige Stück, das ihm viel zu groß war. Er bedankte sich bei dem Kanadier. Der winkte mit seiner gewaltigen tätowierten Pranke ab. ,,It’s okay, old boy!“ Der Matrose schickte sich schon an, weiterzugehen. Doch Manfred hielt ihn zurück. Er hätte noch eine Frage: Nämlich, ob man ohne ein neues Wasserbad die Küste erreichen werde. Der Kanadier verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Mach dir keine Sorgen. Wir sind bis zum Rande mit Munition geladen. Wenn uns was passiert, geht’s so schnell, daß du vom Wasser nichts mehr merkst.“
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„Das kommt davon, wenn man zu neugierig ist“, spöttelte Boberlein. Manfred lief rot an. „Du darfst nicht denken, daß ich Angst habe“, verteidigte er sich. „Denk ich gar nicht. Übrigens war’s auch kein Verbrechen, ein bißchen Bammel vor den Torpedos zu haben, wenn man gerade erst aus dem Wasser gefischt worden ist. Aber ich will dir was sagen: Ich habe in meinem Leben noch keinen getroffen, der gleich zweimal auf einer Reise torpediert worden wäre. Verlaß dich drauf, uns passiert nichts mehr.“ Wenn das auch keine zuverlässige Voraussage war, so erwies sie sich am Ende doch als richtig. Ohne Zwischenfall gelangten sie in den Firth of Clyde und erreichten schließlich den Hafen von Greenock in Schottland, nicht weit von der großen Stadt Glasgow. Als Manfred an Boberleins Seite über den Laufsteg zum Kai hinüberging, sagte er aufatmend: „Noch einmal kriegt mich keiner auf so einen Kasten.“ „Auf die ,Arandora Star’ hast du dich ja sozusagen selber bugsiert.“ „Na ja, sozusagen“, murmelte Manfred ausweichend. Und dann hatten sie endlich wieder festen Boden unter sich, unverrückbare, harte Steinquader, über die man sicher gehen konnte, ohne die Beine zu spreizen, um Balance zu halten. Erst jetzt an Land konnten sich Manfred und Boberlein daranmachen, die anderen Genossen zu suchen. Einige hatten sie auf dem Zerstörer entdeckt, aber nicht alle. Aufmerksam musterten sie jede neue Gruppe, die nach ihnen das Rettungsschiff verließ, und immer, wenn ein bekanntes Gesicht auftauchte, preßte Onkel Bob erregt den Arm des Jungen. Doch wo war Fritz geblieben, Fritz Müller, der Bibliothekar aus Strašnice? Sosehr sie am Kai nach ihm suchten, er war nirgends zu finden. Seit der Katastrophe war er von keinem mehr gesehen worden, weder in einem Boot noch auf dem Zerstörer. „Den haben die Faschisten nun auch auf dem Gewissen“, sagte Boberlein halb traurig, halb zornig. Manfred erwiderte nichts. Er mußte an Müllers immer freundliches, zuversichtliches Gesicht denken. „Das Wandern ist des Müllers Lust!“ - das war sein Abschiedsgruß im Lager Huyton gewesen.
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30. KAPITEL Es war doch wie verhext! Zu Hause in Dresden, wenn Manfred mal Lust verspürt hatte, auf dem Gondelteich am Zwingergraben einen Kahn zu nehmen, war es gewöhnlich an den paar Groschen gescheitert, die solch eine Fahrt kostete. Und jetzt – mochte er Lust oder keine Lust zum Gondeln haben – es blieb ihm nicht erspart. Keiner fragte ihn. Er war ein Gefangener, ein Internierter, einfach die Nummer 54.936, und basta! Doch greifen wir nicht vor. Als die Überlebenden von der „Arandora Star“ in Greenock an Land stiegen, gaben sie sich der Hoffnung hin, nicht wieder auf ein Schiff gebracht zu werden. Die britischen Offiziere bestärkten sie in dieser Hoffnung. Was allerdings von solchen Beteuerungen zu halten war, sollte Manfred noch oft erfahren. Von Greenock ging es in ein Lager, wo sie wollene Unterwäsche und khakifarbene schottische Uniformen erhielten. Um sie als Internierte zu kennzeichnen, hatte jede Uniform auf dem Rückenteil einen großen roten Fleck – zugleich Zielscheibe für den Fall, daß einer auf den Gedanken kam, die Flucht zu ergreifen. Dann hieß es wieder einmal Omnibusse besteigen: nach Glasgow. Viel hatte Manfred von der großen schottischen Industriestadt gehört, von Schiffswerften und Armutsvierteln, von Fabriken und Streiks, aber außer ein paar rußgeschwärzten Häusern und einigen verkehrsreichen Plätzen, die auch kein anderes Bild boten als die Londoner Vorstädte, bekam er nichts zu sehen. Ohne langen Aufenthalt wurde die Reise fortgesetzt, nach Woodhouselee, wie Manfred aus einem der Busfahrer herausholte. Allerdings bekamen sie von diesem Ort noch weniger zu sehen als von Glasgow, denn ihr eigentliches Ziel, das Zeltlager, lag außerhalb von Woodhouselee. Auf seinem Strohsack in der Ecke des Schlafzeltes verfaßte Manfred einen Brief an Jelíneks, während Onkel Bob seine vierundzwanzig Zeilen an den Schwarzen Robert schrieb, denn er durfte annehmen, daß der nicht interniert war; jedenfalls hatte bisher keiner Robert in einem Lager gesehen. Manfred überlegte lange und kratzte sich mit dem schwer erkämpften Bleistift im Haarschopf. Zwei Dutzend Zeilen gestattete das Briefformular, und es war so viel zu berichten. Schließlich begann er: 218
„Liebe Tante Marie, lieber Onkel Pepík! Vater hat mich, wie Ihr wißt, nicht taufen lassen. Nun hab ich doch noch meine Taufe bekommen, nämlich in der Irischen See. Vielleicht habt Ihr vom Untergang der ,Arandora Star’ schon gelesen. Angenehm war es nicht, ins Wasser springen zu müssen, aber jetzt ist es ja überstanden. So bin ich um eine Erfahrung reicher. Daß ich noch am Leben bin, verdanke ich Onkel Bob. Wenn ich nicht seinen Rat befolgt und rasch gesprungen wäre, hätte mich vielleicht der sinkende Schiffsleib mit zu den Nixen hinuntergerissen. Leider ist bei dem Unglück Fritz Müller umgekommen. Ihr habt ihn ja auch gekannt. War er nicht tausendmal soviel wert wie alle zusammen, die uns hier eingesperrt haben und an seinem Tode schuld sind …“ Ob man diesen Satz stehenlassen würde? Aber der Zensor las sicher nicht jeden Brief von Anfang bis zum Ende. Ein neues Schreibformular hätte Manfred ohnedies nicht bekommen. Da der Platz aufgebraucht war, fügte er noch ein „Tausend Grüße und einen festen Händedruck von Eurem Manfred“ hinzu.
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Wer angenommen hatte, daß die Internierten endlich ein wenig Ruhe erwartete, sollte schnell enttäuscht werden. Gerade zwei Tage waren ihnen vergönnt gewesen, als wieder zum Appell gerufen wurde. Zu packen gab es diesmal nichts, denn außer der Uniform mit dem Fleck besaß keiner etwas. In Viererreihen, vorbei an gaffenden Frauen und Kindern, die angesichts der furchtbaren Männer mit den furchtbaren roten Punkten auf den Rücken große erschreckte oder kleine haßerfüllte Augen zeigten, marschierten sie zur Bahnstation. Und nach einigen Stunden landeten sie – im Hafen von Liverpool! Es war der 10. Juli, ein heißer Tag, schwül, denn es hatte am Vormittag geregnet. Nun leckte die Sonne den Boden ab, und bei der Berührung mit den glühenden Strahlen begann die Erde heftig zu schwitzen. Am meisten aber schwitzten die Internierten, die lange am Pier herumstehen mußten, ehe sie gruppenweise aufs Schiff geführt wurden. Die „Dunera“ – den Namen erfuhren die Zwangspassagiere allerdings erst später – war gar kein kleiner Kahn. Zwanzigtausend Tonnen schätzten einige, die etwas davon verstanden oder zu verstehen vorgaben; sie warteten am Kai aufs Einschiffen und hatten nichts Besseres zu tun, als über die Größe des Schiffes, über das immer noch unbekannte Reiseziel und über die Nationalität der Soldaten und Seeleute, die die Reling säumten, Mutmaßungen anzustellen. Die einen meinten, es ginge wieder in Richtung Kanada, denn wenn ein Militärkommando so etwas einmal beschlossen habe, bliebe es dabei. Andere beriefen sich auf das Versprechen der Offiziere in Greenock: Nur die Isle of Man käme in Frage. Viele hatten Frauen oder Väter oder Söhne dort in einem Lager. Joachim Boberlein glaubte nicht so recht daran. „Wenn man uns auf eine so nahe Insel bringen wollte“, meinte er, „hätte man uns nicht erst nach Liverpool zu schaffen brauchen. Auch der große Überseedampfer, ich weiß nicht, aber für eine kurze Fahrt hätten sie den nicht nötig gehabt.“ Ein Kommando – und auch die Gruppe, in die Manfred und Boberlein eingereiht waren, setzte sich in Bewegung. „Wenn’s so weitergeht, werden wir noch regelrechte Seebären“, meinte Boberlein und drückte Manfreds Arm.
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„Wie’s aussieht, ja!“ gab Manfred zu. Im Gänsemarsch stampften sie über den schmalen, schwankenden Laufsteg, auf dem in regelmäßigen Abständen Soldaten standen. Es war kein freundlicher Empfang. Die Tommys zeigten finstere Gesichter, und wenn sich einer der Internierten nicht schnell genug bewegte, bekam er einen Gewehrkolben zu spüren; meist gab es noch einige grobe Worte gratis dazu. Onkel Bob wandte sich zu Manfred um, der hinter ihm ging, und knurrte durch die Zähne: „Jetzt sind wir echte Kriegsgefangene geworden.“ Einer der Posten brüllte ihn an: „Hurry up!“ – „Beeil dich!“ Boberlein hätte gern etwas erwidert, aber er nahm sich zusammen. Das war nicht der Ort, seinen berechtigten Zorn zum Ausdruck zu bringen. Mit zusammengepreßten Lippen setzte er seinen Weg fort. An Deck herrschten keine besseren Sitten. Auch hier war es wie Spießrutenlaufen: Püffe, Fußtritte, Flüche! Schmale eiserne Treppen führten zu den unteren Decks, die einen dumpfen Geruch ausströmten und nur von schwachen elektrischen Birnen erleuchtet waren. Eingebaute Drahtgitter unterteilten die Gänge. „Prost Mahlzeit!“ Manfred ließ sich auf einer der ungehobelten Bänke nieder, die ein paar lange, schmale Tische flankierten. Es waren eigentlich keine Tische, sondern schwere, mit Ketten an der Decke aufgehängte Holzplatten. Außer diesen Bänken und Tischen gab es keinerlei Einrichtungsgegenstände. Mehr und mehr füllte sich der Raum. Immer enger wurde er für seine neuen Bewohner. Bald waren alle Sitzmöglichkeiten vergeben. Wer später kam, mußte sich ein Plätzchen auf dem staubigen Fußboden suchen. Aber auch da blieb schließlich kein Fleckchen mehr frei. „Zusammenrücken!“ rief ein Sergeant, der gegen das Geländer der Treppe lehnte und die Neuankömmlinge mit einer schwunghaften Bewegung des Armes hinunterkomplimentierte. Wo für zweihundertvierzig Personen, wie ein Schild angab, Platz vorgesehen war, befanden sich schließlich fast fünfhundert. Die Luft war dick, wie mit Messern zu schneiden. Die Menschen, die hier atmen mußten und in unbequemsten Stellungen irgendwo kauerten, waren nicht gerade gut gelaunt.
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Viele Internierte, die aus dem Lager Huyton kamen und ihre Koffer und andere Habseligkeiten mitgebracht hatten, waren auf dem Weg vom Kai über den Laufsteg bis ins untere Deck von den Soldaten ausgeraubt worden. Nun hockten sie wutgeladen im Bauch des Schiffes und brüteten vor sich hin. Manch einer war noch gar nicht richtig zu sich gekommen. Es wollte ihnen nicht in den Kopf, daß die Engländer, vor denen sie immer eine große Hochachtung gehabt, die sie für „Gentlemen“ gehalten und bei denen sie Zuflucht vor den deutschen Faschisten gesucht hatten, sich zu ihnen nicht besser benahmen als SS-Leute. „Der Mensch lernt nie aus“, klagte bitter einer hinter Manfred und Onkel Bob. Er lag, auf beide Arme gestützt, bäuchlings auf dem Tisch und starrte ins Leere. Da keiner darauf einging, fuhr er fort: „Alle Dokumente und auch die Fotos meiner beiden Kinder haben sie mir weggenommen und zerfetzt. Das ist doch gegen jedes Gesetz. Wir sind Zivilinternierte und stehen unter internationalem Recht.“ „Seit wann fragen Räuber und Faschisten nach Gesetz und Recht“, sagte Boberlein. „Schau uns an. In Kriegsgefangenenkluft laufen wir herum. Das ist auch nicht nach dem Gesetz.“ Ein anderer, der offenbar eine Ader für Humor hatte, rief: „Da sind wir ja auf ein Pick-Pocket-Battleship geraten!“ Damit brachte er nun doch einige zum Lachen, denn „Pick-PocketBattleship“ war eine gelungene Verschmelzung zwischen dem Wort „Pick-Pocket“, was Taschendieb heißt, und „Pocket-Battleship“, auf deutsch Taschen-Schlachtschiff, wie die Engländer einen Typ ihrer kleineren Kriegsschiffe nennen. „Mir haben sie nichts gelassen, meldete sich einer. „Alles ist über Bord gegangen: mein Geburtsschein, mein Doktordiplom, meine Heiratsurkunde. Und meine Uhr und mein Füllfederhalter sind in die Tasche von so einem Gauner gewandert.“ Wieder ein anderer, der völlig gebrochen auf der Bank saß, jammerte: „Ich bin zuckerkrank. Ich hatte zwei Packungen Insulin bei mir. Man hat mir’s weggenommen und ins Wasser geschleudert. Wenn ich kein Insulin bekomme, bin ich in einer Woche tot.“
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Ein schlanker Graukopf klagte: „Meine Brille haben mir die Lumpen heruntergerissen und einfach zertrampelt. Ich sehe jetzt keinen Meter weit. Möchte wissen, was sie davon haben. Ich kann noch verstehen, daß sie Füllhalter und Feuerzeuge klauen. Da sag mir doch mal einer, was wir den Leuten getan haben.“ „Die halten uns wahrscheinlich für deutsche Faschisten“, warf Boberlein dazwischen. „Ach was!“ gab der andere zurück. „Das sind selber Faschisten. Jedenfalls benehmen sie sich so.“ Manfred begnügte sich damit, still zuzuhören. Er hatte beschlossen, ein neues Tagebuch zu beginnen. Nur an einem ordentlichen Notizbuch fehlte es ihm. Zum Glück besaß er ein paar Blatt Toilettenpapier, die er sich aus Woodhouselee mitgenommen hatte. Weder das Papier noch sein Bleistift war den Soldaten der „Dunera“ in die Hände gefallen. So konnte er, wenn er sparsam mit dem Platz umging, wenigstens die wichtigsten Ereignisse der letzten Tage in Stichworten festhalten. Darum bemühte er sich, recht viel von dem, was hier gesprochen wurde, im Gedächtnis zu behalten, um es nachher aufzuschreiben. Es wurde Abend. Hunger meldete sich und bei vielen auch Müdigkeit. Endlich wurde der Posten am Deckeingang zurückgezogen. Manfred ging auf Erkundung, während Onkel Bob, der unter den. fünfhundert Insassen des Decks einige Genossen gefunden hatte, auf den Planken der Ladeluke eine „Sitzung“ abhielt. Die Entdeckungsreise war nicht sehr ergiebig, denn Stacheldraht oder Gitter setzten ihr überall schnell ein Ende. Immerhin konnte Manfred einen Blick in die Küche werfen und feststellen, daß dort Brot geschnitten und auch irgend etwas in großen Kesseln gekocht wurde. Als er an einem Lagerraum vorbeikam, hielt ihn der Posten am Ärmel fest und sagte: „He, wart mal, Kamerad!“ Manfred dachte: Bei mir ist nicht viel zu holen. Um seinen Bleistiftstummel und um das Toilettenpapier hätte es ihm allerdings leid getan. Der Soldat wandte den Kopf nach beiden Seiten, und als er sich vergewissert hatte, daß kein unliebsamer Zuhörer in der Nähe war, flüsterte er: „Ihr dürft nicht denken, daß wir alle so sind. Ihr habt nur Pech:
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Unser Leutnant O’Neil ist ein Schweinehund, und ein Faschist ist er auch. Und dann ist da noch so eine Gaunerclique um den Sergeanten Brown. Na, und wie überall, gibt’s noch einige, die immer mitmachen, ob’s nun gut oder schlecht ist. Ich und viele andere meiner Kameraden wissen genau, daß die meisten von euch deutsche Antifaschisten sind.“ Der Tommy griff in die Tasche und holte eine Zwanzigerpackung Capstan-Zigaretten heraus. „Nimm das, bloß erwischen lassen darfst du dich nicht. Wenn ich hier Dienst habe, komm ruhig zu mir, wenn du was auf dem Herzen hast.“ Der junge Kühnemann ließ das Geschenk in seiner Tasche verschwinden und bedankte sich. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl des Mißtrauens. Vielleicht wollte ihn dieser Posten zu irgendeiner Dummheit verleiten? Aber was konnte das für einen Sinn haben? Außerdem war es jetzt sowieso schon zu spät. Er nickte also dem Soldaten noch einmal zu und ging zurück ins untere Deck, Onkel Bob würde sich bestimmt über die Zigaretten freuen, denn alles, was er an Rauchbarem bei sich gehabt hatte, war ihm abgenommen worden. Joachim Boberlein hatte inzwischen seine Besprechung mit den Genossen beendet: Eine Abordnung der Internierten sollte Beschwerde wegen der ungesetzlichen Behandlung führen. Als Manfred zurückkam, war die Wahl bereits durchgeführt. Drei Mann – ein Pfarrer, ein jüdischer Rechtsanwalt und Boberlein – waren beauftragt worden, mit dem Kommandanten zu verhandeln. Während sich die Dreierdelegation unterwegs befand, um ihren Auftrag durchzuführen, wurden Löffel, Teller und Tassen ausgegeben. Zum Abendessen gab es Brot, geräucherten Fisch und dünnen Tee. Da Manfred schon beträchtlichen Hunger und unerträglichen Durst hatte, schmeckte ihm diese Mahlzeit, als wäre er bei einem Fürsten zu Gast. Ja, Hunger ist der beste Koch. Leider erwies sich nicht auch die Müdigkeit als das beste Ruhekissen. Obwohl, den meisten nach den Strapazen des Tages die Augen zufielen, waren es nur wenige, die wirklich Schlaf fanden, denn es wurden weder Decken noch Strohsäcke oder Matratzen an die Internierten ausgegeben. So mußte jeder selbst sehen, wie und wo er sich in der Enge des überbelegten Raumes ein Nachtlager bereitete.
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Beinahe hätte ich die Abordnung vergessen. An den Kommandanten waren sie nicht herangekommen. Aber an einen Leutnant O’Neil, und der hatte versichert: „Morgen wird alles in Ordnung gebracht werden.“ Als Manfred den Namen O’Neil hörte, erinnerte er sich an den Tommy, der ihm die Zigaretten geschenkt hatte. Der hatte doch auch von einem Leutnant O’Neil gesprochen, von O’Neil, dem Faschisten und Schweinehund. „Kann schon seine Richtigkeit haben“, meinte Onkel Bob, als ihm Manfred die Worte des Soldaten wiederholte. „Mir hat dieser kleine Leutnant mit seiner Reitpeitsche auch nicht gefallen.“
31. KAPITEL Am Morgen war das Schiff bereits ausgelaufen. Doch hören wir uns an, was Manfred Kühnemann darüber in sein Tagebuch schrieb: 11. Juli 1940. Donnerstag. Hinter mir liegt die schlechteste Nacht, die ich seit langem gehabt habe. Im Raum einige Notlämpchen. Furchtbarer Geruch von Ausdünstungen der fünfhundert Menschen. Wie Sardinen aneinandergepreßt. Zum Glück Ventilationsanlagen vorhanden. Wenn einer aufs Klo will, muß er über Körper steigen. Vom harten Lager ganz zerschlagen. Gehe mich waschen, doch habe weder Zahnbürste noch Seife oder Handtuch. All diese Dinge in Woodhouselee durch Rotes Kreuz bekommen, aber Toilettenbündel auf einen Haufen gewandert oder über Bord gegangen. Kann mich gar nicht erinnern, wo man es mir abgenommen hat. Glück, daß Onkel Bob sein Handtuch gerettet hat. Hatte es wie Schal um Hals gebunden. Zähne putze ich mit Finger. Im Waschraum furchtbares Gedränge. Schiff fährt schon, was man selbst noch gar nicht feststellen kann, da hier unten alle Bullaugen dicht verschlossen und Stampfen der Maschinen schon vorher da war. Irgendwer hat es von einem Soldaten erfahren. Schließlich werden auch die eisernen Schutzklappen der Bullaugen geöffnet. Man sieht das Meer. Die Bullaugen befinden sich nur ein kleines Stück über dem Wasser. Zwei Kriegsschiffe von Zeit zu Zeit 225
sichtbar. Angeblich unser Convoy. Auch ein Passagierschiff taucht auf. Über Zigaretten hat sich Onkel Bob sehr gefreut. Hat sie mit den anderen Genossen geteilt. Rauchen verboten, aber auf dem Klo wird es doch getan. Zwei Mann passen auf, sechs rauchen inzwischen. Meist mehrere zusammen eine Zigarette. Trotz der räuberischen Untersuchung beim Betreten des Schiffes allerhand Geld mit eingeschmuggelt worden. Einige Internierte mit Soldaten Handelsbeziehungen angeknüpft und lassen sich Zigaretten besorgen. Sind sogar nicht einmal teuer, da in Schiffskantinen unversteuerte Tabakwaren verkauft werden. Ein paar Leute aus unserem Deck nach oben geholt, um beim Sortieren der Koffer zu helfen. Dabei gesehen, wie Soldaten mit Bajonetten Schlösser sprengten oder Kofferwände aufschnitten und herausnahmen, was ihnen nützlich erschien. Ein Internierter protestierte. Wurde durch Bajonett verletzt und mußte ins Schiffslazarett. Viele halb oder ganz ausgeplünderte Koffer einfach über Bord gegangen. Versprechen O’Neils war Lüge. Ein neuer Name für die „Dunera“ kam auf: „H. M. Luggage-Destroyer“, auf deutsch: „Seiner Majestät Gepäck-Zerstörer“. Aber das Ausgeraubtwerden war nicht das Schlimmste. Uhren, Füllhalter, Taschenmesser, Brieftaschen, ja auch Geburtsscheine und Doktordiplome waren zu ersetzen, wenn man nur mit dem Leben davonkam. Daß es nicht nach der Isle of Man ging, wurde bald klar, denn bis dahin wären es nur wenige Stunden gewesen. Also doch nach Kanada! Darüber konnte es kaum Zweifel geben, denn das Schiff hatte Kurs auf Westen genommen. Die beiden Convoyschiffe waren nicht mehr zu sehen. Offenbar hatten sie die „Dunera“ nur durch die Gewässer mit der größten U-Boot- und Minengefahr begleitet. Vier Tage befanden sie sich bereits unterwegs, doch es wurden keinerlei Instruktionen für den Gefahrenfall gegeben. Joachim Boberlein war nicht untätig. Als die Posten von einigen Gefangenendecks zurückgezogen wurden, machte er sich auf den Weg, um zu erkunden, ob noch mehr Genossen auf der „Dunera“ waren. Über zwanzig machte er ausfindig. Allerdings war das Vorderschiff vom Hinterschiff durch Stacheldraht getrennt, und so konnte er mit den Menschen
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vom Hinterschiff nicht in Verbindung treten. Sicher gab es auch dort einige Genossen. Die Zwischendecks der „Dunera“ boten ein unerfreuliches Bild. Wäre ein Fremder plötzlich hinabgestiegen, er hätte annehmen müssen, in eine Galeere oder in ein Sklavenhändlerschiff geraten zu sein. Es herrschte eine unerträgliche Luft, besaßen doch nur einzelne Seife und Handtuch. Auch die Wäsche konnte nicht gewechselt werden, denn alles war in den Koffern geblieben, und zu denen hatte keiner Zugang. So liefen viele mit nackten, schwitzenden Oberkörpern herum, während ihr Hemd, das sie unter dem Salzwasserstrahl der Duschen gewaschen hatten, langsam trocknete. Zum Glück hatte die Seekrankheit nur am ersten Tag, als sich das Schiff noch in der Irischen See befand, Opfer gefordert. Für die Betroffenen war das recht unangenehm gewesen, denn in der Enge mußte man ein Akrobat sein, wenn man die Toiletten erreichen wollte, um den rumorenden Magen zu entleeren. Manfred war mit einem schwachen Übelkeitsgefühl über die Seekrankheit hinweggekommen. Aber eine andere Krankheit machte sich bemerkbar: schwerer Durchfall, eine Nachwirkung des Salzwassers und des Öls, das er beim Schiffbruch geschluckt hatte. Überdies gab es auf der „Dunera“ mindestens zweimal am Tag Räucherheringe oder Kippers, wie sie auf englisch heißen, und dumpfige, glasige Kartoffeln, die ihm auch nicht sehr gut bekommen sein mochten. „Heut meldest du dich zur Krankenparade“, schlug Onkel Bob vor. „Übertreib ein bißchen. Sag, du hast Leibschmerzen und Magenkrämpfe und noch so’n paar schöne Sachen.“ Manfred sah fragend auf Boberlein. Wozu sollte das gut sein? „Hat schon seine Richtigkeit“, fügte Boberlein hinzu. „Wenn es dir gelingt, daß sie dich im Lazarett behalten, fungierst du dort als Verbindungsmann zu denen im Hinterschiff. Es gibt ja für alle Decks nur das eine Spital, und da kommen auch die von drüben zur Krankenvisite. Bestimmt sind unter den Leuten vom Hinterschiff auch Genossen. Wir müssen wissen, wer dort ist, und ob sie irgendwas brauchen.“ Bei der nächsten Gelegenheit meldete sich Manfred Kühnemann auftragsgemäß zur „sick-parade“. Gruppenweise wurden sie von zwei bewaffneten 227
Posten ins Lazarett gebracht. Da der Weg zum Mittelschiff ein Stück über das Oberdeck führte, bekamen die Internierten endlich ein wenig frische Luft zu atmen und konnten einige Sekunden lang die Sonne genießen. „Mensch, mir fehlt gar nichts. Was erzähle ich dem da unten bloß“, flüsterte Manfreds Nebenmann. „Ich wollte doch nur mal ein bißchen Abwechslung haben.“ „Sagst einfach, du hast Kopfschmerzen und Rückenschmerzen“, riet Manfred. „Das Gegenteil kann dir keiner nachweisen.“ Die Untersuchung ging ziemlich schnell. Der Arzt schaute Manfred in den Mund, tastete ihm den Leib ab, beklopfte und behorchte ihn kurz und sagte: „Zwei Tage zur Beobachtung.“ Das war ein Erfolg. Nun würde er Gelegenheit haben, seinen Auftrag durchzuführen. Von einem Internierten, der eigentlich selbst Arzt war, hier aber nur als Sanitäter Dienst tun durfte, bekam er eine Matratze zugewiesen. Die nächsten beiden Nächte würde er also auf jeden Fall besser schlafen als im Unterdeck. Da die Leute aus dem Hinterschiff schon untersucht waren, mußte Manfred auf den nächsten Tag warten. Zwischen denen, die wie er als Patienten hierbehalten worden waren, befand sich kein Genosse, jedenfalls keiner, den er kannte. Zuerst machte er eine kurze „Inspektion“ durch das Lazarett und entdeckte zu seiner Freude auf der Toilette glattes, weißes Papier, das sich gut zum Schreiben eignete. Einen kleinen Stapel davon ließ er sofort für sein Tagebuch in der Tasche verschwinden. Abends, als keine Kranken mehr zur Untersuchung gebracht wurden und der Lärm abebbte, setzte er sich in eine ungestörte Ecke und schrieb die Eindrücke des Tages nieder: 14. Juli, Montag: Wurde ins Hospital aufgenommen. Leute, die schon einige Tage da, behaupten, daß nur Aspirin oder Tabletten gegen Durchfall oder Verstopfung vorhanden. Trotzdem hier viel besser als im Deck. Es gibt Matratzen und Betten, wenn auch mit unbezogenen Kissen. Alles besetzt, selbst Fußboden mit Matratzen belegt. Wasserklosetts und Badewannen. Man kommt sich vor wie im Himmel, verglichen mit Sardinenbüchse von Deck. Viele Simulanten hier. Hat sich im Schiff schon herumgesprochen, daß im Lazarett angenehmer als anderswo. Einer markiert
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Verrückten. Oder hat er wirklich einen Klaps? Ein Achtzehnjähriger heute eingeliefert. Hat sich bei Einschiffung, als man ihm Fotografien seiner Eltern wegnahm, zur Wehr gesetzt. Von zwei Sergeanten mißhandelt und in Bunker gesperrt. Dort Hungerstreik und dann Selbstmordversuch. Werde mich um ihn kümmern. Er heißt Otto Steiner. Am folgenden Tag fühlte sich Manfred schon viel besser. Ob der gute Schlaf oder die weißen Tabletten die Ursache waren, konnte er schwer sagen. Um zehn Uhr begann die Krankenparade. Vom Hinterschiff kam eine lange Kolonne, hauptsächlich Italiener, die er an ihrer Gefangenenkluft sofort als Überlebende von der „Arandora Star“ erkannte. Doch da – Manfred traute seinen Augen kaum – war der Schwarze Robert, der allerdings Manfred, wahrscheinlich wegen der khakifarbenen Uniform, nicht gleich erkannte. Manfred konnte seine Freude nicht zurückhalten und fiel Robert um den Hals, als hätte er seinen Vater wiedergetroffen. Der Schwarze Robert musterte den Jungen, und als wäre es selbstverständlich, daß Manfred das wissen müsse, fragte er: „Und Boberlein? Wo steckt der?“ „Vorderschiff, unteres Deck.“ „Wart ihr auch auf der ,Arandora Star’?“ „Klar!“ „Wieso ist das klar? Aber klar oder nicht klar: Hauptsache, man hat euch wieder rausgefischt?“ Der Schwarze Robert zog Manfred in einen abseitigen Winkel. „So, hier können wir besser miteinander sprechen. Den Arzt brauch ich sowieso nicht. Hab mich nur zur Visite gemeldet, um mit euch drüben in Verbindung zu kommen. Daß ich gleich dich treffe, ist ja großartig.“ Da Robert nicht wußte, wie lange die Krankenvisite dauern würde, erklärte er zuerst einmal alles, was Manfred an Onkel Bob ausrichten sollte. Auf dem Hinterschiff seien sie zwölf Genossen. Falls die Genossen auf dem Vorderschiff etwas zum Rauchen übrig hätten, würde es mit Freuden entgegengenommen. Vor allem aber sollten sie sich in
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Dreiergruppen aufteilen. Zu jeder müßte mindestens ein guter Schwimmer gehören. Im Falle der Gefahr sollten die Mitglieder der Gruppen füreinander verantwortlich sein. „Die ,Dunera’ ist ein ganz verdammter Kasten“, sagte der Schwarze Robert ärgerlich. „Die Kerle lassen uns rücksichtslos absaufen, wenn uns ein Torpedo erwischen sollte.“ Robert hatte recht: Wenn mit der „Dunera“ etwas passierte, sah es um die Internierten noch trüber aus, als es auf der „Arandora Star“ ausgesehen hatte. Die Krankenkolonne mußte wieder zum Abmarsch antreten. Alles Wichtige war durchgesprochen. Schon wollte sich Robert verabschieden, als er sich plötzlich an die Stirn schlug: „Ach, Junge, die Hauptsache hätte ich beinahe glatt verschwitzt. Kurz bevor sie mich abgeholt haben, ist eine Nachricht von deinem Vater gekommen. Nichts Genaues natürlich. Ein Genosse, der mit der tschechoslowakischen Armee aus Dünkirchen nach England evakuiert worden ist, hat uns erzählt, er hätte mit ihm in Paris gesprochen. Also im Lager ist er nicht mehr. Wie ich meinen Paul Kühnemann kenne, geht er in Paris nicht unter, und wenn die Gestapo hundertmal dort ist.“ Das war eine Mitteilung, die Manfred so aufregte, daß ihm der Arzt gleich weitere zwei Tage Lazarettaufenthalt verschrieb. Bei der Nachmittagsvisite erschien auch Onkel Bob. „Was ist denn mit dir los?“ fragte er erstaunt. „Siehst ja noch kränker aus als vorher. Ich dachte, ein Hospital ist dazu da, um Menschen gesund zu machen!“ Abends schrieb Manfred wieder in sein Tagebuch: 15. Juli , Dienstag: Schwarzen Robert getroffen. Großer Tag! Ach, wie herrlich ist das Leben, wenn man überall Kameraden und Genossen hat. Selbst hier, mitten im Atlantik, erreicht mich ein Gruß vom Vater. Habe Otto Steiner von Vater erzählt und wie ich von ihm Nachricht erhalten habe. Hat dem Jungen mächtig imponiert. Glaube, er hat mich sogar ein wenig beneidet. Hat seine Eltern in Amerika und sollte ihnen folgen. Da hat man ihn in England interniert. Steiners sind Juden und haben deshalb Deutschland vor ein paar Jahren verlassen. Von Politik hat er keine Ahnung.
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Die Eintragung für den 17. Juli lautete: Gestern brachte Pickelbart (das war ein Deckname, den Manfred aus Vorsicht benutzte, denn er mußte damit rechnen, daß sein Tagebuch gefunden würde) vierundzwanzig Zigaretten, die ich heute Robert ausgehändigt habe, also pro Mann zwei Stück. Sind schon eine Woche unterwegs. „Dunera“ hat jetzt Kurs Südwest. Keiner weiß, wohin es geht. Sieht eigentlich nicht nach Kanada aus. Aber Fahrtrichtung besagt nichts. Wegen Torpedogefahr bewegen sich die Schiffe in seltsamen Zickzacklinien, um Feind irrezuführen. Wie die Hasen. Wenn einige hier nicht dauernd vom Torpedieren, von Haien usw. redeten, wäre es ganz erträglich. Haben inzwischen ausgerechnet, daß sich dreitausend Internierte auf der „Dunera“ befinden, davon etwa fünfhundert Italiener. Drei- hundert Internierte aus dem Lager Linkfield sollen irrtümlich auf dieses Schiff gebracht worden sein. Kein Wunder, daß wir wie im Heringsfaß zusammengepreßt sind. Mir geht es ja gar nicht so schlecht. Aber die anderen haben nichts zu lachen. Jeden Tag werden sie zehn Minuten aufs Oberdeck geführt. Das nennt sich „exercises“. Soll Körper durch Bewegung und frische Luft gesund halten. Als ob diese paar Minuten das Leben unter Deck ausgleichen könnten. Gestern habe ich mich zum Essenholen für Lazarett gemeldet und eine Kolonne bei diesen Übungen gesehen. Da die Menschen nur das besitzen, was sie beim Einschiffen auf dem Leibe trugen, und das unten in dem Dreckloch Tag und Nacht anhaben, sehen manche völlig heruntergekommen aus. Auch an Rasierzeug mangelt es. Die unrasierten blassen Gesichter machen einen schrecklichen Eindruck. Die Internierten mußten im Laufschritt übers Oberdeck. Sergeanten schrien immer: „Come on! Close up! Move on! Hurry up!“ und ähnliche Befehle. Während die Leute oben herumgejagt wurden, haben einige Posten noch einmal die Decks nach übriggebliebenen Wertsachen durchsucht. Ihr Anführer war Brown, der den Spitznamen „Löwenjäger“ bekommen hat, weil er den Löwenanteil der geraubten Dinge eingesteckt haben soll. Am 20. Juli schrieb Manfred, der noch immer im Lazarett war: Haben südlichen Kurs. Einige behaupten, es ginge nach Südamerika. Halte das für Unsinn. Was hat Südamerika mit England zu tun? Oder sollten wir etwa nach Britisch Guayana gebracht werden? Abwarten,
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meinte der Schwarze Robert bei der Visite. Bin immer noch im Hospital, leichter Fall von Ruhr. Bin damit noch ganz gut dran. Der Verrückte scheint wirklich verrückt. Ich weiß es selbst nicht. Er bestand heute darauf, in Gummizelle gesperrt zu werden, und gab nicht eher Ruhe, bis er es durchgesetzt hatte. Schlecht geht es dem Zuckerkranken, dem sie das Insulin über Bord geworfen haben. Wenn wir nicht bald Hafen an- laufen, wo Medikament besorgt werden kann, ist es nicht sicher, ob er mit Leben davonkommt. Der Medical Officer heißt Dr. Brook. Anständiger, freundlicher Mensch, ebenso der Medical Sergeant Stanley. Dr. Brook sehr empört über niederträchtige Behandlung seitens Wachmannschaften. Riet uns aber, so schwer es auch sei, nichts Unbesonnenes zu tun. Auf Schiffen läge die absolute Justizgewalt in Händen des obersten Kommandos, und Meuterer könnten auf der Stelle zum Tode verurteilt werden. Wir sollten Beschwerden anbringen, wenn wieder an Land. Mit Otto Steiner gut Freund geworden. Wenn er etwas auf dem Herzen hat, kommt er zu mir, obgleich er ein Jahr älter ist als ich.
32. KAPITEL Die „Dunera“ war schon vierzehn Tage auf hoher See. Immer noch fuhr man in südlicher Richtung. Hartnäckig verbreitete sich das Gerücht, daß es weder nach Kanada noch nach Südamerika, sondern nach Australien ginge, und daß man noch weitere sechs Wochen unterwegs sein werde. Das war eine bedrückende Nachricht, denn bis nach Australien reisen bedeutete, noch lange hilflos den Gefahren des Seekrieges ausgeliefert zu sein. Australien, das hieß auch, die letzte Hoffnung aufgeben, vor Kriegsende aus dem Lager zu kommen und Verwandte und Freunde bald wiederzusehen. Einige hatten gemeint, sie würden in Kanada entlassen werden und in die USA weiterkönnen. Auch damit war es nun vorbei. Manfred war nicht mehr im Hospital und hauste wieder im untersten Deck des Vorderschiffes. Da die Internierten einen geregelten 232
Selbsthilfedienst organisiert hatten, herrschte in dem Galeerenbunker, wie Boberlein das Deck nannte, einigermaßen Sauberkeit. Geraucht wurde nur auf einer der beiden Toiletten, die zum Rauchsalon erklärt worden war. Zwei Gefangene hielten abwechselnd Wache. Ertönte der Ruf „Achtzehn!“, dann mußten die Zigaretten ausgemacht werden. Plötzlich, am Morgen des 24. Juli, lief die „Dunera“ einen Hafen an. Wo war man? Die Internierten standen vor geschlossenen Luken. Nur in den Waschräumen waren die Klappen der Bullaugen geöffnet. Wenn man sich anstrengte, konnte man durch die doppelten dicken Scheiben wenigstens etwas zu erhaschen versuchen. Von den Wachsoldaten erfuhren die Gefangenen, daß man Afrika erreicht habe. Die Stadt heiße Freetown und liege an der Küste des Staates Sierra Leone. Ein Geographielehrer, der aus Magdeburg stammte, klärte die Dunera-Passagiere auf, daß Freetown die Hauptstadt dieser britischen Kronkolonie sei und daß sie den Engländern als Hafen und Flottenstützpunkt diene. Das war alles ganz interessant, aber diese Auskunft hätte Manfred auch in Dresden oder Prag oder London aus einem Lexikon schöpfen können. Nun befand er sich nach zwei gefährlichen und mühseligen Wochen auf dem Atlantik an den Gestaden Afrikas und sollte nichts weiter sehen als ein verschwommenes Stück Kaimauer und ein paar Kräne. Schon die Menschen waren nur halb zu erkennen. Afrika, das war doch der Schwarze Kontinent, also mußte man auch Neger zu Gesicht bekommen. Daß die Löwen nicht gerade am Strand oder im Hafengelände herumlaufen, wußte er. Dennoch mußte es allerhand zu sehen geben, wenn man wenigstens an Deck hinaufgelassen würde. „Paß auf, Junge“, meinte Onkel Bob, „heute werden wir nicht mal unsere zehn Minuten ,exercises’ genehmigt kriegen. In so ‘nem Hafen kommt eventuell dieser oder jener an Bord, zum Beispiel Arbeiter, die Proviant oder Brennstoff laden. Wir, mit unseren unrasierten Visagen und zerrissenen Hemden, sind keine Leute, mit denen Staat zu machen ist. Vielleicht könnte der eine oder andere von uns das Maul aufreißen und ausplaudern, wie’s hier zugeht.“ Da hatte Manfred einen Einfall, der Boberleins vollen Beifall fand: Einen Brief müßte man schreiben, in dem in kurzen Worten alles enthalten
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war, was sich auf der „Dunera“ abgespielt hatte. Er setzte sich auch gleich daran und verbrauchte dafür die letzten Reserven seines Tagebuchpapiers. Die Adresse des Hilfskomitees in London schrieb er auf einen gesonderten Zettel. Die Blätter wickelte er sich um die Wade und zog den Strumpf darüber – für den Fall einer der häufigen unverhofften Taschenkontrollen. Indem er ein recht erbärmliches Gesicht zog und sich den Leib hielt, meldete er sich zur „sick-parade“. Der Trick gelang, und Manfred gehörte zu den Glücklichen, die wenigstens einige Blicke auf Afrikas Küste werfen durften. Bei der Schnelligkeit, mit der er möglichst alles festhalten wollte, sah er kaum Einzelheiten. Aber auch das Ganze gab sich neuartig und ungewohnt, obgleich es nur ein Hafen war mit Kränen, Lagerräumen, mit Geschrei von Menschen und dem Lärm von Maschinen. Und vor allem: Derartige Palmen hatte er noch nie gesehen. Da konnten sich die Hotelpalmen aus Dresden und Prag verstecken! Die hier schienen bis in die Wolken zu ragen und wuchsen nicht aus großen hölzernen Blumentöpfen, sondern unmittelbar aus der Erde heraus. Und dieser Himmel! War es nun Einbildung oder nicht, Manfred hätte schwören können, daß er einem solchen Blau noch nie begegnet sei. Möglich, daß er sich dies nur einredete, weil er vor sich ein Stück des riesigen Afrikas wußte. Doch die kurze Strecke über das Oberdeck war schnell zurückgelegt, mochten die kranken Kranken ebenso wie die gesunden Kranken noch so sehr bemüht gewesen sein, langsam zu gehen, um ein Fetzchen des unbekannten Kontinents mit den Augen zu ergattern. Im Lazarett verdrückte sich Manfred sofort aus der Kolonne, um keine Minute mit unnützem Warten und einer unnützen Untersuchung bei Dr. Brook zu vergeuden. Zwei Ziele hatte er: Erstens wollte er den Hafen von Freetown vom Oberdeck aus in Ruhe betrachten, aber was die Hauptsache war: Er wollte seinen Brief an den Mann bringen. Da er im Hospital den größten Teil der Reise verbracht hatte, fiel es nicht besonders auf, daß er sich bewegte, als wäre er hier zu Hause. Er wußte, daß bei der Ladeluke eine Treppe zum Oberdeck führte. Wenn nicht gerade ein besonders böser Kerl Wachdienst hatte, konnte man nach oben steigen und vom Schutzgeländer der Treppe aus ein wenig Umschau halten.
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Manfred hatte mehr als Glück. An der Ladeluke herrschte reges Leben. Die Bohlen waren abgenommen, und man konnte bis in den untersten Lagerraum schauen. Schwarze Arbeiter waren damit beschäftigt, Kisten, Fässer und Säcke in die Tiefe des Schiffsleibes hinabzubefördern. Die Lasten pendelten an Ketten, und es gehörte viel Geschick dazu, sie unbeschädigt bis nach unten zu bringen. Hier und da mit anpackend, schlängelte sich Manfred die Treppe hinauf und lehnte sich oben gegen das Geländer. Bis zur Reling wagte er sich nicht. Wozu auch? Von diesem Aussichtspunkt konnte er schon einiges seilen. Das also war Afrika! Ganz entsprach es nicht seinen Vorstellungen. Allerdings wäre er kaum imstande gewesen, genau zu sagen, wie er es sich eigentlich vorgestellt hatte. Die Lagerhäuser und Verwaltungsgebäude im Hintergrund hätten auch irgendwo in Europa stehen können. Und doch sahen sie anders aus. War es die Nachbarschaft der fremd- artigen Bäume und Sträucher? Doch plötzlich wurde sich Manfred der Ursache bewußt: Es war das grelle, flimmernde Licht, in das hier alles getaucht war. Zu Hause sahen alle Häuser so aus, als wäre ein grauer Schatten über sie geworfen.
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Was aber Manfreds Blicke am meisten auf sich zog, war das bunte Treiben am Kai. Da kam ein Lastauto angerumpelt, dort bewegte sich ein beladener Ochsenkarren. Ein lumpenbehangener Neger trieb das Tier mit seltsam klingenden Lauten an. Kinder standen herum, ebenfalls nur in Fetzen gekleidet. Die meisten von ihnen waren eher nackt als angezogen. Engländer, in weißen Anzügen und Tropenhelmen, Soldaten, Matrosen liefen über das Hafengelände, und Frauen boten Obst und Gemüse zum Kauf an, bis ein Hafenpolizist kam und sie mit einem Knüppel zu vertreiben suchte. Kaum aber hatte der Beauftragte der Staatsmacht den Vertriebenen den Rücken gedreht, näherten sie sich wieder ihrer Kundschaft. Das alles spielte sich in einiger Entfernung vom Schiff ab, denn bis an den Rand der bewachten Kaimauer wagten sich die Menschen nicht, es sei denn, sie trugen eine britische Uniform. Manfred war aber nicht nur zum Oberdeck hinaufgestiegen, um ein Stück fremde Welt zu betrachten. Er hatte gehofft, hier oben eine Möglichkeit zu finden, seinen Brief loszuwerden. Zwar waren eine ganze Reihe afrikanischer Arbeiter an Deck, doch wie sollte er an sie heran- kommen? Überall standen Posten. So wartete er in der Hoffnung, daß einer nahe genug an ihn heran käme, um ein paar Worte verstehen zu können. Es näherte sich keiner, mochte er ihn noch so sehr herbeisehnen. Und dabei hatten die Neger, die mit schweren Kisten an Bord schwankten und dann, von ihrer Last befreit, im Trab zum Laufsteg zurückeilten, so gute, offene Gesichter, daß er ihnen, ohne lange zu überlegen, seine beschriebenen Blätter anvertraut hätte. Die Arbeiter, die an der Ladeluke neben der Treppe beschäftigt waren, konnte er nicht ansprechen, weil sie unter zu guter Bewachung standen. Inzwischen war sicherlich die halbe Stunde, die für die Visite gewöhnlich gebraucht wurde, verstrichen. Die Minuten, die ihm noch blieben, nutzte Manfred, um einen Blick in die Krankenzimmer zu werfen. Da war ja Otto Steiner. Freudig begrüßten sie sich. „Wir müssen unsere Betten machen“, berichtete Otto. „Eine Gesundheitskommission wird erwartet.“ „Wann?“ „Hätte eigentlich schon hier sein sollen. Aber wer weiß, ob sie überhaupt kommt.“
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Manfred überlegte. Vielleicht war das eine Gelegenheit, seinen Brief jemandem zuzustecken? Wohl kaum. Wer würde schon einer solchen Kommission angehören? Aber man durfte diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen. Da wurde zum Aufbruch gerufen. Jetzt mußte gehandelt werden. Blieb nur noch Ottos Hilfe. „Ich hab einen Brief geschrieben … Nach London … Damit man weiß, was mit uns los ist … Könnte man ihn nicht einem von den Leuten, die hier erwartet werden, anvertrauen?“ Otto dachte nicht lange nach. Er war noch immer voller Zorn auf die brutalen Kerle, die ihn verprügelt und eingesperrt hatten. Zu den ängstlichen Naturen gehörte er auch nicht. „Gib her! Werde mein Bestes versuchen.“ Manfred holte das beschriebene Toilettenpapier aus einem Strumpf und übergab es Otto. Doch plötzlich meldeten sich bei ihm Bedenken. „Wenn’s nun schiefgeht? Du hast schon einmal im Bunker gesessen.“ „Das überlaß mir“, wehrte Otto ab. „Du kannst ja sagen, von wem du’s bekommen hast.“ „Für was hältst du mich?“ protestierte Otto beleidigt. „Wenn ich nicht den Richtigen finde, geb ich’s schon nicht weiter, und geht die Sache schief, bad ich sie selber aus. Ist ja schließlich, für uns alle, dieser Brief.“ Otto Steiner ließ Manfreds Blätter in seiner Jackentasche verschwinden. „Verlaß dich auf mich“, meinte er. „Ich werde das Ding schon schaukeln.“ Wenn das auch kein ganzer Erfolg war, so war Manfred doch zufrieden mit sich. Allein daß es ihm gelungen war, Otto für die Sache zu gewinnen, bereitete ihm Freude. Die Gesundheitskommission kam. Es waren drei Ärzte – zwei Engländer und ein Afrikaner – die mit ihrer Meinung keineswegs zurückhielten, als sie das Lazarett und die Kranken gesehen hatten. Aber sie waren ständig in Begleitung des Leutnants O’Neil. Eine Gelegenheit, einem der Besucher den Brief Manfreds zuzustecken, fand Otto nicht. Die „Dunera“ mit ihrer Menschenfracht stach am nächsten Tag wieder in See. Für die dreitausend Gefangenen änderte sich nicht viel. Die Kleidung wurde nicht besser, die Seife wurde knapper und die Bärte länger, 237
denn nur wenige hatten die Möglichkeit, die durchgeschmuggelten Rasierapparate heimlich zu benutzen. Im Hospital gab es einige Patienten mit einer furchtbaren Hautkrankheit, die das ganze Gesicht mit häßlichem Schorf überzog. Manfreds Tagebuch war schon zu einem ganz beachtlichen Bündel angeschwollen, und er begann sich Sorge zu machen, wie er es an Land bringen würde. Doch Boberlein beruhigte ihn: Man könne es auf die Genossen aufteilen. Ein paar Blätter, die dann auf jeden kämen, würden sich unauffällig hinausschaffen lassen. Trotzdem bemühte sich Manfred, recht klein und bündig zu schreiben, denn mit dem Papier, das er inzwischen wieder ergattert hatte, mußte er sehr haushalten. Er beschränkte sich auch darauf, mehrere Tage in einer Eintragung zusammenzufassen. 27. Juli (Sonntag) bis 7. August (Mittwoch): Man hat das Gefühl, als wollte die Fahrt nie enden. Einer bei „exercises“ Leben genommen. War nicht dabei, aber Augenzeugen berichten: plötzlich über Reling gesprungen und nicht wieder aufgetaucht. Schiffsbesatzung setzte Boote aus, aber Selbstmörder nicht gefunden. Man erzählt, daß ganze Familie des Ertrunkenen nach Bolivien ausgewandert. Er hatte bereits Einreisevisum und wartete auf Überfahrt. Da wurde er interniert. Sein Visum inzwischen abgelaufen. Aus Gram darüber Sprung ins Wasser. Gestern einer der Herzkranken gestorben. Da von unserem Deck, durften wir ihm letzte Ehre erweisen. Er war in Sack eingenäht. Über die Reling Brett gelegt und Toten darauf aufgebahrt. An beiden Seiten standen die Internierten. Pfarrer sprach einige Worte. Dann Brett zum Meer hin gesenkt, der Tote fiel ins Wasser und versank. Auch einige Angehörige der Mannschaft Aufstellung genommen und salutiert. Überhaupt gibt es Unterschied zwischen Schiffsbesatzung und militärischer Bewachungsmannschaft. Leute vom Schiff von Anfang an uns gegenüber anständig, an Räubereien nicht teilgenommen. Am 27. Juli wieder angelaufen. Stadt heißt Takoradi, liegt an der Goldküste. In Freetown soll es nicht genug Süßwasser gegeben haben. Am 29. ging es weiter. Die beiden Tage durfte keiner ans Oberdeck. Nicht mehr gesehen, als durchs dicke Glas der Bullaugen möglich war. Diesmal nicht geglückt, nach oben zu gelangen. Zum Arzt gemeldet, aber Treppe 238
bei Ladeluke gut bewacht. Wenigstens Robert sprechen können, der Furunkel bekommen und einige Tage im Hospital bleibt. Ihm in Freetown gelungen, Brief an Land zu geben. Ein Negerarbeiter hat Brief mitgenommen. War Genosse. Robert doch größeres Geschick in solchen Sachen. In Takoradi „Dunera“ weitere Ladung an Bord genommen. Dr. Brook gelungen, Insulin zu besorgen. Wenn keines bekommen, wäre Zuckerkranker in nächsten Tagen gestorben, denn bis Australien noch mindestens ein Monat. Essen reichlich, aber so eintönig, daß gar nicht mehr zum Ansehen. Immer Kippers und Kartoffeln. Kartoffeln aus vorigem Jahrhundert, so schwarz und dumpfig, Räucherheringe machen Durst. Würde nicht schlimm sein, wenn Tee nicht so knapp. In Waschraum nur Salzwasser. Beim Küchendienst Stückchen Kistenholz ergattert und einen Löffel geschnitzt, da meiner mit Aufwaschwasser weggegossen wurde. Überhaupt werden es immer weniger Löffel. Mindestens Hälfte, wie meiner, ins Meer gewandert. Nun können Haie mit Löffeln essen. Messer und Gabeln können wir ihnen nicht liefern, da selbst keine bekommen. Um Zeit auszufüllen, werden auf verschiedenen Decks Vorträge gehalten. Es gibt hier allerhand gescheite Leute, die viel über Literatur und andere Dinge wissen. Ein Professor hält Vorträge über Hypnose. Macht es auch vor. Bei Onkel Bob und mir erfolglos. Er sagt, wenn man sich innerlich dagegen stemmt, ginge es nicht. Habe mich aber gar nicht dagegen gestemmt. Schauspieler rezitiert stundenlang aus „Faust“ von Goethe. Wie das einer alles auswendig lernen kann, ist mir ein Rätsel. Auch Schillers „Glocke“ kann er auswendig. Anderer hat Gedichte von Erich Weinert, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky vorgetragen. Onkel Bob meint, das müßte ein Genosse sein, kennt ihn allerdings nicht. Aufs neue lief die „Dunera“ einen Hafen an. Zehn Tage waren vergangen, seit sie Takoradi verlassen hatte. Da die Posten schon gesprächiger geworden waren, erfuhren die Internierten sehr schnell, wo sie sich jetzt befanden: Cape Town! – Kapstadt! Ein paar heiße Tage lagen hinter ihnen, denn auf der Fahrt von der Goldküste nach Südafrika hatten sie den Äquator passiert. Nun war die Temperatur wieder erträglicher geworden, wenngleich unter Deck immer 239
noch Treibhausluft herrschte und den Internierten alle Kraft nahm. Die meisten trugen kein Hemd mehr auf dem Leib – nicht weil es ihnen zu heiß war, sondern weil die Hemden vom Schweiß und vom Waschen im Salzwasser zerfressen worden waren. In Kapstadt hatte Manfred mehr Glück als in Takoradi, denn er war mit einem verkorksten Magen wieder auf ein paar Tage ins Lazarett auf- genommen worden und konnte noch einmal einen Blick auf Afrika und auf die große Stadt werfen, die sich an der Küste ausbreitete. Und da war auch der Tafelberg, von dem er schon gehört hatte. Der Berg erhob sich wie eine Torte mitten aus der Häuseransammlung heraus. Wie mit einem Hobel war er oben abgeplattet und bildete selbst einen Teil der Stadt, deren Viertel die steilen Abhänge hinaufkletterten und sich oben fortsetzten. Als der Abend kam und Dunkel sich über Meer und Stadt legte, vermeinte Manfred ein zur Erde gefallenes Stück Himmel da drüben über dem Wasser vor sich zu haben. Stärker und gedrängter leuchteten die Lichter der Stadt, und deutlich konnte er die Bergbahn erkennen, die sich zur Tafel hinaufbewegte. Lange Zeit saß Manfred am oberen Treppenabsatz, neben sich Otto Steiner, und betrachtete das langsam kleiner werdende Bild. Die „Dunera“ zog weiter, und zwischen Schiff und Küste legte sich das nachtschwarze Wasser des Atlantik. Oder waren es schon die Wellen des Indischen Ozeans, den sie überqueren mußten, um nach Australien zu gelangen? „Hier liegt das Kap der Guten Hoffnung“, sagte Manfred träumerisch in die Stille hinein. Otto antwortete erst nach einer geraumen Weile: „Gut sind unsere Hoffnungen nicht gerade.“ „Die Hauptsache, man läßt sich nicht unterkriegen. Ich habe in den letzten zwei Jahren gelernt, daß man selber mit darüber entscheidet, ob die Hoffnungen gut oder schlecht sind.“ „Du hast ja immer eine Antwort“, erwiderte Otto. Aus seiner Stimme klang unverhohlene Bewunderung. Wieder schwiegen sie, ganz von der Schönheit der abendlichen Ausfahrt gefangen. Da platzte Manfred unvermittelt heraus: „Ob wir in Australien Känguruhs zu sehen bekommen?“ 240
„Känguruhs? Du bist naiv. So was gibt’s doch bloß in Schulbüchern und im Zoo. Aber man kann’s nicht wissen: Vielleicht kommen die Tiere zu uns an den Stacheldraht, um zu sehen, wie’s uns geht!“ „Papageien soll’s dort auch geben“, fuhr Manfred unbeirrt fort. „Und Skorpione“, fügte Otto hinzu. „Ich glaube, das beste ist, wir warten ab und lassen uns überraschen.“
33. KAPITEL Salzwasser! Salzwasser! Salzwasser! Und fliegende Fische, die wie Schwalbenschwärme aussehen. Sic kamen aus dem Meer geschossen, hielten sich eine kurze Strecke über Wasser und verschwanden wieder. Weitflügelige Albatrosse tauchten ab und zu in der Nähe des Schiffes auf und tanzten auf den tollsten Wellen herum. Die „Dunera“ pflügte sich geradewegs in östlicher Richtung durch den Indischen Ozean. Soweit es ihre Zwangspassagiere wahrzunehmen vermochten, schlug das Schiff keine Haken mehr. Offenbar brauchte man hier die deutschen U-Boote nicht allzusehr zu fürchten. Das Leben in den Decks wurde immer unerträglicher. Die Menschen waren sich gegenseitig überdrüssig und stritten wegen ganz geringfügiger Dinge. Fast acht Wochen waren sie nun unterwegs. Das eingeschmuggelte Geld hatte sich in Zigaretten verwandelt, und die Zigaretten waren in Rauch aufgegangen. Nun lechzten die Raucher nach ihren Stäbchen, und weil sie keine hatten, wurden sie mürrisch und zänkisch. Kleidung und Schuhwerk zerfielen. Wenn jemand unvermutet die Kolonnen bei ihrem Lauf ums Oberdeck zu Gesicht bekommen hätte, wäre er überzeugt gewesen, eine Horde von Sträflingen aus dem berüchtigten amerikanischen Staatsgefängnis SingSing vor sich zu haben. Bärtig, bleichgesichtig und barfuß trabten die unfreiwilligen Seefahrer über die glitschigen, salzigen Planken. Hatten sie ihre zehn Minuten Luftschnappen hinter sich, hieß es zurück in die 241
Kochkiste. Seit der Station in Kapstadt waren wieder zwei Internierte gestorben: Bei beiden hatte das Herz nicht mehr mitgemacht. Manfreds Tagebuch war nur um wenige Blätter gewachsen. Es gab einfach nichts Neues. Ein Tag verlief wie der andere: Dünner Tee, Räucherhering, Marmeladenbrote, faulige Kartoffeln, und wenn man krank war, kamen Aspirintabletten, Baldriantropfen und Pulver gegen Durchfall oder Verstopfung hinzu. Siebzehn Tage waren vergangen, seit die „Dunera“ Kapstadt verlassen hatte. Siebzehn Tage war das Meer das einzige Panorama gewesen. Manfred konnte sich kaum noch vorstellen, wie es war, keine schwankenden Bretter unter sich zu haben und den Suppenteller nicht mehr halten zu müssen, um die Flüssigkeit vor dem Überschwappen zu bewahren. Aber auch die längste Reise nimmt ein Ende. Als Manfred am 27. August erwachte – es war Dienstag, wie er aus seinem Tagebuch ersah – merkte er sofort am Fehlen der schaukelnden Bewegung und des Maschinengeräusches, daß die „Dunera“ wieder einen Hafen angelaufen haben mußte. Und es konnte nur Australien sein. „In Fremantle sind wir“, begrüßte ihn Onkel Bob, der schon vom Waschraum zurückkam. „Hab ich noch nie gehört.“ „Liegt in der Nähe von Perth.“ „Und wo ist das?“ „Junge, du kannst einem Löcher in den Bauch fragen. Perth liegt an der Küste von Westaustralien. Ob’s stimmt, weiß ich selber nicht. Meine Weisheit hab ich auch nur von unserem Geographieprofessor. Wenn du mehr wissen willst, mußt du ihn fragen.“ Manfred wollte nicht mehr wissen. Was ihn wie alle anderen am meisten interessierte, nämlich ob man endlich an Land gehen würde, wußte der Professor sicher auch nicht. Er machte sich also auf die Suche nach seinem Wachsoldaten, der ihm am ersten Tag auf der „Dunera“ eine Schachtel Zigaretten geschenkt und auch später immer ein paar gute Worte oder sogar einen Apfel für ihn übrig gehabt hatte. Doch er fand ihn nicht. Wahrscheinlich hatte der Tommy auf dem Hinterschiff“ Dienst.
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Wer nichts Ernsthaftes nachweisen konnte, wurde nicht zur Krankenvisite zugelassen. So mußte sich Manfred mit einem Blick durch die Bullaugen begnügen. Das bedeutete, daß er diesmal überhaupt nichts zu sehen bekam, denn das Schiff hatte direkt an der Kaimauer angelegt. Tags darauf war die „Dunera“ wieder auf See. Die Stimmung der Internierten hob sich beträchtlich. Eine ernste Gefahr „abzusaufen“ bestand hier an der australischen Küste nicht mehr. Vor allem wußte man Land in der Nähe. Das Reiseziel konnte nicht mehr allzuweit sein. Manfred begann sein Tagebuch durchzusehen und alles, was ihm nicht wichtig genug schien, zu vernichten. Da holte ihn Onkel Bob in ein Eckchen, wo sie ein paar vertrauliche Worte wechseln konnten. „Was macht dein Magen?“ „Danke, nicht schlecht.“ „Schade“, brummte Boberlein und kratzte sich gedankenvoll das bärtige Gesicht. „Wir müssen unbedingt mit Robert sprechen. Wenn sie uns jetzt ausladen, kann’s passieren, daß wir nicht alle in das gleiche Camp gesteckt werden. Schließlich sind wir dreitausend Mann.“ „Au – au – au“, begann Manfred plötzlich zu stöhnen und preßte die Hände gegen den Magen. „Was ist dir? Schnell, sag doch!“ entfuhr es Boberlein. „Hast doch selber gesagt, daß ich ins Lazarett muß, um mit Robert zu sprechen“, flüsterte Manfred und stöhnte weiter. „Hab ich einen Schreck gekriegt. Na ja, wieder mal eins zu null für dich. Also wirst du’s schaffen?“ „Muß es heute noch sein?“ „Noch heute. Jeden Tag können wir ankommen, und dann ist’s vielleicht zu spät, um etwas zu verabreden.“ Boberlein instruierte ihn genau, und Manfred meldete sich wieder zur „sick-parade“. Er wurde auch ohne weiteres mitgenommen, nachdem er seine Magenkrämpfe noch einigemal öffentlich dargeboten hatte. Der Schwarze Robert war bereits im Lazarett. Er hatte sich die gleichen Gedanken gemacht wie Boberlein, und da er wegen seiner Furunkel, die noch nicht ganz geheilt waren, täglich zum Arzt mußte, hatte er sich am vergangenen Tag einfach auf eigene Faust einen Aufenthalt hier oben „verordnet“. 243
,,Besser wär’s gewesen, Genosse Boberlein hätte diesmal eine Krankheit für sich selber ausgedacht“, meinte Robert. „Aber wie es auch sei: Sage ihm. es geht das Gerücht um, daß man uns vom Hinterschiff in Melbourne ausladen will.“ Robert machte eine Pause. Ein Einfall schien ihn 2u beschäftigen. „Weißt du, ich versuche mal, mit auf’s Vorderschiff zu kommen. Ich mische mich einfach unter euch, wenn ihr zurück zu euerem Deck geht. Falls abgezählt wird, drückst du dich zur Seite, und die Zahl stimmt. Morgen komme ich schon irgendwie hierher zurück.“ „Einverstanden.“ Als die Wache Manfreds Kolonne zusammenrief, stellte sich der Schwarze Robert mit dazu. Die beiden Begleitwachen warfen einen flüchtigen Blick über die kleine Gruppe. Seit Wochen brachten sie solche Trupps von den Decks ins Lazarett, und nie war ihnen dabei jemand verlorengegangen. Wohin sollte einer schon verschwinden? Sie zählten ihre Schäfchen gar nicht mehr. Auch den Internierten fiel das fremde Gesicht nicht auf. Und wenn sie es bemerkt hätten, wäre es ihnen wahrscheinlich gleichgültig gewesen. Joachim Boberlein war freudig überrascht, als er hinter Manfred auch Robert auftauchen sah. „Weißt du, wie du aussiehst mit deinem Vollbart?“ begrüßte ihn Robert. „Keine Ahnung. Sicherlich wie’n Strauchritter.“ „Wie Strauchritter sehen wir jetzt alle aus. Aber genauso sahst du aus, als ich euch in Tilbury vom Schiff abgeholt habe.“ „Tilbury. Ja, das ist schon ein ganzes Weilchen her. Aber denken wir lieber ein bißchen weniger an das, was hinter uns, sondern mehr an das, was vor uns liegt.“ „Deshalb bin ich ja hergekommen.“ Drei Tage nach dieser Zusammenkunft war Melbourne erreicht. Man schrieb den 3. September, genau ein Jahr war seit Kriegsausbruch vergangen. Erst ein Jahr? Den Internierten erschien diese Zeitspanne wie eine Ewigkeit. War man nicht schon eine Ewigkeit auf der Galeere? Auf der „Dunera“ begann es lustig zu werden. Das Wort Melbourne wirkte wie ein Stein, der in einen Bienenstock hineingeworfen wird. In den Gängen und auf den Decks und im Waschraum – überall rotteten sich 244
die Internierten zusammen und besprachen die vielen Gerüchte und Vermutungen, die im Umlauf waren. „Wir werden hier alle auf freien Fuß gesetzt“, behauptete einer; er wollte es von Leutnant O’Neil selber erfahren haben. „Wenn der Schweinekerl so etwas erzählt, ist’s bestimmt Schwindel.“ „Mir hat es der Küchenbulle gesagt. Nur die Italiener werden hier ausgebootet.“ „Und die Nazis vom Hinterschiff“, wollte ein anderer genau wissen. Der Hypnotiseur dagegen – woher er diese Mitteilung hatte, hüllte er in geheimnisvolles Schweigen – verkündete feierlich: „Die ,Dunera’ nimmt in Melbourne frischen Proviant, und dann geht es nach England zurück.“ Boberlein tippte sich nur mit dem Finger an die Stirn. „Weshalb meint ihr“, sagte der Hypnotiseur, „sind wir nicht schon in Fremantle ausgeladen worden? Ganz einfach: Die Australier wollen uns gar nicht haben.“ Manfred meldete sich zur Krankenparade. Den Trick mit den Magenkrämpfen konnte er nicht noch einmal anwenden. So versteifte er sich darauf, der Arzt habe ihn zur Nachuntersuchung bestellt. Es war auch lediglich seiner Hartnäckigkeit zuzuschreiben, daß er sein Verlangen durchsetzte und mitgehen durfte. Im Lazarett erfuhr er, daß die Leute vom Hinterschiff tatsächlich an Land gebracht wurden. Aus den Krankenstuben hatte man sie schon abgeholt. Alle anderen würden nach Sydney weiterfahren, erzählte man. Manfred hielt nach dem Schwarzen Robert Ausschau. Der kam nicht. Keiner der Genossen vom hinteren Schiff ließ sich sehen. Das war ein schlechtes Zeichen. Wahrscheinlich hatte die Ausschiffung schon begonnen. Was tun? Über die Treppe bei der Ladeluke hinauf zum Oberdeck! Er überlegte nicht lange. Wenn er noch etwas erreichen wollte, mußte er rasch handeln. Schade, daß Otto nicht mehr im Lazarett war. Wäre ein guter Aufpasser gewesen. Aber mit „Wenns“ war jetzt nichts anzufangen. Also los zur Treppe! Er erreichte das Geländer, wo er so oft gestanden hatte – und stieß mit Leutnant O’Neil zusammen. Der kleine Offizier – Manfred war beinahe um einen Kopf größer als O’Neil – glotzte den unverschämten Burschen, der es gewagt hatte, 245
vor ihm aufzutauchen, mit seltsam verdrehten Augen an. Es war klar: Wie so oft, hatte der Ire getrunken, und wenn er getrunken hatte, war er gefährlich. Das wußte jeder. Schnell den Rückzug antreten, schoß es Manfred durch den Kopf. Wenn wieder reine Luft war, würde er einen erneuten Versuch unternehmen. Doch O’Neil war nicht in der Stimmung, einen Internierten, der ihm in die Quere kam, ungeschoren zu lassen. „Wohin, Mensch?“ brüllte er. „Ich hab mich in der Treppe geirrt.“ „Was? Treppe geirrt! Und die Eskorte?“ Manfred suchte krampfhaft nach einer glaubwürdigen Erklärung. Doch es fiel ihm nichts Brauchbares ein. Viel Zeit zum Nachdenken war ihm nicht vergönnt, denn schon hatte er einen Schlag mit der Reitpeitsche weg. Und dieser kleine Teufel verstand es, zuzuschlagen. „Was wollten Sie hier oben?“ bellte O’Neil. Manfred spürte eine widerwärtige Alkoholwolke. Am liebsten hätte er dem Leutnant einen Kinnhaken versetzt. Er fühlte einen nie gekannten Zorn in sich aufsteigen. Es war weniger der Schmerz, als vielmehr die ganze aufgespeicherte Erbitterung über die niederträchtige Behandlung während der Wochen auf der “Dunera“, was in ihm hochstieg. Da holte O’Neil wieder aus. Er mußte Manfreds geballte Fäuste bemerkt haben, denn die Schläge landeten auf dem Handrücken des Jungen. Der nahm die Hände nach hinten. Viel hatte er von den Hieben nicht wahrgenommen, so kochte es in seinem Inneren. Doch da war ihm, als hörte er Onkel Bobs Stimme – oder war es die Stimme des Genossen Eisenbart? Die Stimme sagte: „Ruhig, Manfred! Laß dich nicht zur Unbesonnenheit hinreißen. Stark sein heißt oft auch: Gewalt ertragen! Wenn du zurückschlägst, schadest du dir und den andern.“ Und er erinnerte sich der Worte Dr. Brooks: Meuterei auf dem Schiff kann mit dem Tode bestraft werden. Wartet mit euren Beschwerden, bis ihr an Land seid. „Und was ist das?“ gurgelte der betrunkene O’Neil. Er zeigte auf Manfreds Hosentasche, aus der das Ende einer Papierrolle heraussah. Es waren Tagebuchblätter. Manfred riß sich zusammen, zog das Bündel heraus und sagte: „Toilettenpapier!“ 246
Der kleine Leutnant griff nach den Blättern. „Gestohlen! Was?“ Zum Glück war O’Neils Geist schon genügend getrübt. So bemerkte er nicht, daß es beschriebene Blätter waren. Wütend stierte er auf die Rolle. Dann wandte er sich um und schleuderte sie über Bord. Allerdings mißlang seine Absicht, denn ein Windstoß erfaßte das leichte Papier und trug es wirbelnd über die Planken des Decks. Beim Umdrehen hatte der rasende Offizier den Wachposten bemerkt. Nun stürmte er sich auf ihn und begann seine Wut an dem neuen Opfer auszulassen.
34. KAPITEL Die „Passagiere“ des Hinterschiffs hatte man in Melbourne an Land gebracht. Vom Schwarzen Robert war keine Nachricht mehr gekommen. Die „Dunera“ stach wieder in See. Der Hypnotiseur kraulte sich den weißen Vollbart und sprach nicht mehr davon, daß sie nach England zurückgebracht würden. Am 7. September erreichte die „Dunera“ die Stadt Sydney in New South Wales. Zwei Monate war das Schiff unterwegs gewesen. Nach neunundfünfzig Tagen durften die Internierten wieder Landluft atmen, die Luft Australiens, des jüngsten Kontinents. Die Ausschiffung ging ziemlich schnell vor sich. Da die Gefangenen nicht mehr besaßen als ein paar Lumpen, die nach den vielen Wochen Aufenthalt in den dumpfen Zwischendecks übriggeblieben waren, gab es auch nichts mehr zu untersuchen. Mancher hatte nur noch eine löchrige Hose an. Die Postenketten, die den Laufsteg flankierten, begnügten sich damit, die ausgemergelten, bleichen, bärtigen und abgerissenen Menschen hämisch oder nachdenklich zu mustern. Manfred hatte seine Aufzeichnungen unter mehrere Genossen aufgeteilt, und so gelangte sein ganzes Tagebuch wohlbehalten an Land. Die Blätter, die ein Opfer Leutnant O’Neils geworden waren, hatte er nachgetragen. 247
Wie gut taten der blaue Himmel und die Sonne und die frische Brise, die vom Meer kam. Vom Kai aus gesehen, machte die „Dunera“ gar keinen schlechten Eindruck. Ruhig lag sie da und ließ sich vom Wind streicheln. An den Relings standen die Matrosen und Soldaten und sahen herab. Es war ein schweigsamer Abschied. Manfred hielt nach seinem Tommy Ausschau, konnte ihn aber nirgends erblicken. Ihm hätte er gern ein „Auf Wiedersehen“ gewinkt. Auch Stanley, der Sanitäter, und Dr. Brook, der Medical Officer, waren nicht zu erspähen. Lange verweilten sie nicht am Pier. Von australischen Wachmannschaften wurden sie über ein Stück Hafengelände zur Eisenbahn eskortiert, und bald saßen sie in bequemen Waggons in Erwartung der Weiterreise. Wohin? Die Posten schwiegen. Als sich der Zug in Bewegung setzte, knurrte ein älterer schnurrbärtiger Wachsoldat Manfred an: „So ein junger Kerl, aber schon in den Krieg ziehn gegen andere Völker!“ Diese Bemerkung löste ein allgemeines Gelächter im Abteil aus. Der Soldat sah sich verdutzt um. Da er den Grund des Lachens nicht wissen konnte, glaubte er sich verhöhnt und warnte: „Macht euch nur nicht mausig. Wir haben scharf geladen!“ „Ich bin doch gar kein Soldat gewesen“, klärte nun Manfred den Posten auf. „Kennen wir! Warst wohl gar noch bei deiner Mama an der Brust, als man dich gefangengenommen hat.“ Es kostete ziemlich viel Mühe, dem Alten klarzumachen, daß die Dunera-Passagiere keine Fallschirmspringer, sondern deutsche Emigranten waren. Der Australier wurde langsam freundlich und setzte sich auf einen freien Platz. Er nahm seinen breitkrempigen Filzhut ab und machte das rotbraune Lederkoppel locker. „Das ist aber ein verdammter Reinfall“, murmelte er. „Ich hab mich extra freiwillig für diesen Transport gemeldet. Wollte mal ein paar richtige Faschisten zwischen die Finger bekommen. Dachte mir: Jahrelang haben die Nazis die eigenen Arbeiter gepeinigt, und nun woll’n sie noch die anderen Völker unterdrücken. Denen werd ich’s zeigen, hab ich mir
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gedacht. Und da schicken die uns so’ne armen Hunde wie euch.“ Der Soldat schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Und ich Dummkopf melde mich noch freiwillig!“ Joachim Boberlein blinzelte Manfred zu. Von der Unterhaltung ermutigt, fragte einer, ob man hier rauchen dürfe. „Raucht, Kinder, raucht, wenn ihr was habt“, rief der Alte, und als er sah, daß keiner in die Tasche griff, zog er eine Schachtel Zigaretten heraus und ließ sie reihum gehen. Australien zeigte sich also erst einmal von keiner schlechten Seite. Manfred langte zu und rauchte mit, aus Freude über das Verhalten des alten Wachsoldaten. Der Zog fuhr eine Weile zwischen hohen Ziegelmauern, bis der Blick endlich frei wurde. Es ging durch Sydney. „Könnte auch eine amerikanische Stadt sein“, sagte einer, der früher einmal in den USA gelebt hatte. Hohe steinerne Häuser im Zentrum und viele kleine hölzerne Villen in den Vorstädten – Bäume, Büsche, Straßenbahnen, Busse, Autos, Radfahrer, Frauen, Kinder, Pferde, Hunde. Eigentlich war das alles nichts Außergewöhnliches, aber nach den zwei Monaten auf der „Dunera“ empfanden die Internierten jede Pflanze, jede Katze als etwas Neues und zugleich Altes, Vertrautes, das man so lange hatte entbehren müssen und das an die Tage der Freiheit erinnerte. Allzuviel vom neuen Kontinent bekamen sie nicht zu sehen. Nach ein paar Stunden hieß es aussteigen. Doch sie waren noch nicht da. Dennoch wuchs der Optimismus: Vor ihnen öffnete sich das Tor zum Paradies – das Bahnhofsrestaurant. An weiß gedeckten Tischen mit kompletten Bestecken wurde von sauberen jungen Kellnerinnen das Abendbrot serviert. „Hab ich’s nicht gesagt, wir werden hier bestimmt entlassen“, stellte der dicke Fleischer fest, der nicht nur so hieß, sondern auch der Besitzer einer Fleischwarenfabrik in Berlin gewesen war. „Und weshalb werden wir jetzt verfrachtet?“ fragte Boberlein spöttisch. „Weil wir erst mal in die Quarantäne müssen, wie alle Einwanderer.“ „Ich möchte lieber schon wieder ein Auswanderer sein“, erwiderte Boberlein.
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„Na, Sie werden’s ja sehn“, beharrte der Fleischer namens Fleischer. Als sie wieder im Zug waren, richteten sich die meisten für die Nacht ein, was nicht sehr einfach war, weil keiner eine Decke oder ein Kleidungsstück besaß, um sich darauf zu betten oder damit zuzudecken. Und je weiter die Nacht vorrückte, desto kühler wurde es. Manfred und Onkel Bob legten sich, so schmal diese Schlafstätte auch war, nebeneinander auf eine Bank, um sich gegenseitig warm zu halten. Da erlebnisreiche Tage müde machen, schliefen sie trotz aller Unbequemlichkeit rasch ein. Wie immer war Boberlein einer der ersten, der aufwachte. Er trat ans Fenster und betrachtete die ungewohnte Landschaft zu beiden Seiten der Bahnlinie. Kein Berg, kein Hügel, kein Wald war zu sehen. In großen Abständen über die steppige Ebene verstreut, standen Bäume einer ihm unbekannten Art, hie und da kamen sie an armseligen, oft aus Säcken und alten Benzinkanistern zusammengebauten Hütten vorbei und an Schafherden ohne Ende. Schafe schien es hier mehr zu geben als Menschen. Doch was war das? Boberlein rüttelte Manfred wach. „He, Junge, schau das an!“ Manfred sprang schlaftrunken auf, rieb sich die Augen, aber als er den Blick durch das Fenster schweifen ließ, wurde er sofort munter: Känguruhs! Wie Hunde es zu tun pflegen, so rannten die rotbraunen Tiere in raschem Tempo neben dem Zug her. Nein, sie rannten nicht, sie hüpften. Mit langen Sprüngen versuchten sie, mit der Eisenbahn „Schritt“ zu halten. Das gelang ihnen allerdings nur eine kurze Zeit, dann gaben sie den Wettlauf mit ihrem eisernen Gegner auf. Die neue Entdeckung brachte Leben in die Internierten. Selbst die größten Schlafmützen hoben die Köpfe und warteten gespannt auf die nächsten Känguruhs. Viele Stunden vergingen. Einigemal hielt der Zug auf ziemlich stillen Stationen. Immer weiter ging es in die Steppe hinein. Seltener und seltener wurden die Bäume. Nur in der Nähe der einsamen Ortschaften und Siedlungen gab es etwas mehr Grün. Treue Begleiter waren nur die Schafe. Gelegentlich tauchte einmal eine Rinderherde auf.
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Und da! Eine weiße Wolke näherte sich – ein Vogelschwarm, hoch am strahlenden Himmel. Plötzlich machte die Wolke kehrt und schimmerte rot wie ein blühendes Mohnfeld. Es war ein zauberhaftes Schauspiel, das der weiß und rot gefärbte Papageienschwarm bot, wenn er die Flugrichtung wechselte und dabei statt der einen Farbe des Gefieders die andere aufleuchtete. Die Landschaft war zu eintönig, um lange zu fesseln. So machte sich Manfred daran, sein Tagebuch zu ergänzen, nachdem er gleich beim Einsteigen in Sydney einen unverschämt dicken Backen Toilettenpapier beiseite gebracht hatte. Die Skatbrüder und Schachfanatiker hatten ihre selbstgefertigten Spiele von der „Dunera“ mitgebracht und vertrieben sich damit die Zeit. Der Hypnotiseur spazierte von Abteil zu Abteil und behauptete zur Abwechslung, es ginge in die Gruben. Er habe auf der Station Narrandera gelesen „Umsteigen nach Broken Hill Line“. Broken Hill, das habe ihm der Geographielehrer bestätigt, sei das Bergwerksgebiet. Die Sonne kletterte höher, und es wurde heißer und heißer. Ein wolkenloser Himmel stand über der ausgetrockneten Erde, die nur mit bräunlichem Gras bedeckt war. „Die haben uns ja ganz schön verladen“, brummte Boberlein, „so richtig in den australischen Busch.“ „Ob’s da auch Buschmänner gibt?“ Manfred mußte sich belehren lassen, daß es Buschmänner nur in Afrika gäbe.
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„Aber Neger gibt es hier.“ „Vielleicht. Mußt mal die Fachleute fragen. Wir haben ja genug hier, die besser Bescheid wissen als ein Lexikon.“ Manfred verzichtete auf die „Fachleute“, obgleich er gern einiges über Australien erfahren hätte. Als der Alte von der Wachmannschaft vorbeikam, hielt er ihn an. „Sagen Sie, gibt es hier auch Schwarze?“ „Schwarze?“ wiederholte der Befragte. „Hm, Schwarze, ja, die gibt’s auch noch.“ Er setzte sich, nahm seinen Cowboyhut ab und wischte sich die schweißnasse Glatze, indem er mit seiner tätowierten Hand ein großes rotes Taschentuch über den Kopf führte. „Schwarze“, sagte er zum dritten Mal. „Da gibt’s noch ein paar Tausend davon. Es werden aber immer weniger. Früher gehörte ihnen dieses Land, doch dann kamen wir Weißen und haben sie vertrieben. Na, wie’s auch mit den Indianern in Amerika war. Ehrlich gesagt: Hier ist’s wohl noch schlimmer zugegangen. Regelrechte Treibjagden wie auf Kaninchen hat man damals auf sie gemacht, weil man das Land für die Schafe haben wollte. Wird nicht gern davon erzählt. Es ist kein rühmliches Kapitel in der Geschichte unseres Landes. Die wenigen, die übriggeblieben sind, leben nun irgendwo im Innern Australiens als Jäger oder Sammler, nicht viel anders als sie gelebt haben, ehe sie nach hier gekommen sind.“ Der Alte machte eine Pause und brannte sich umständlich eine Zigarette an. Wahrscheinlich hatte er aus Boberleins Blick erkannt, daß der auch gern geraucht hätte, denn ohne zu fragen warf er ihm eine Zigarette in den Schoß. „Was mich betrifft … das heißt meine Vorfahren … Wir Thompsons haben kein Blut an den Fingern … Wißt ihr, was Chartisten sind?“ Boberlein nickte. Manfred schüttelte den Kopf. Er hatte das Wort nie zuvor gehört, und er war nicht der einzige im Abteil. „Chartisten, das waren die ersten in England, die für die Rechte der Arbeiter eintraten. Und da die Reichen im vergangenen Jahrhundert vor solchen Leuten genausoviel Angst hatten wie heute, sperrten sie die Chartisten ein und verfrachteten sie nach Australien, denn das war in jener Zeit die Kolonie, wohin man Sträflinge deportierte. Eines weiß ich jedenfalls: Mein Urgroßvater hat sich an der Menschenjägerei nicht beteiligt.“ Der Mann erhob sich, stülpte den Hut wieder auf und stiefelte weiter.
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„Der gefällt mir immer besser“, gestand Manfred und holte seine Aufzeichnungen heraus, um das eben Gehörte festzuhalten. „Die Welt ist überall rund, und überall gibt’s anständige Kerle.“ Diese Begegnung ließ Manfred den Kopf wieder ein Stück höher tragen. Wohin man kam, stieß mau auf Menschen, mit denen man sich verbunden fühlen konnte wie mit Blutsverwandten. Das war es, was Eisenbart gemeint hatte, als er sagte: Kommunisten sind niemals allein, nicht einmal im Gefängnis. Eisenbart, Genosse Eisenbart! Wie es dem wohl jetzt erging? Und Tonda? Und dem Vater?
35. KAPITEL Der Zug hielt: Station Hay. Endpunkt der Bahnlinie. Die Internierten mußten sich in Viererreihen formieren, und los ging es über einen staubigen Weg, der eigentlich gar kein Weg war. Links eine Siedlung, deren Bewohner vom Säugling bis zum Greis auf der „Straße“ waren, um die
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„gefangenen Faschisten“ zu besichtigen und ihnen durch unfreundliche Blicke klarzumachen, daß man in Hay wenig Sympathie für sie habe. Auf Pferden mit wehenden Mähnen galoppierten Soldaten umher und ließen riesige Sandwolken hinter sich. Auch die unberittenen Wachmannschaften machten einen recht verwegenen Eindruck unter ihren Trapperhüten und in den reichlich mit Leder behängten Uniformen. Nur die Kinder hätten ebensogut aus Dresden, Prag oder London sein können. Mit struppigen Köpfen, offenen Mündern, manches auch einen Finger in der Nase, standen sie da und starrten den seltsamen Zug zerlumpter Männer an, die sehr gefährlich sein mußten. Würde man sie sonst bewachen? Boberlein spuckte aus und brummte: „Sagt ich’s nicht, wir landen am Rand der Welt? Die letzte Bahnstation, dahinter fängt die Wildnis an, der berühmte und berüchtigte australische Busch.“ Sie marschierten durch den trockenen Staub. Aus der Ferne grüßten bereits der Stacheldraht und die wohlbekannten Wachtürme. Hatte man sich auf der „Dunera“ nach der Sonne gesehnt, so begann man sie hier schon wieder zu verfluchen. Da ratterten einige Lastwagen vorbei und wirbelten eine undurchdringliche Wolke auf. „Das sind unsere Koffer“, jauchzte einer. „Ist jedoch nichts mehr drin!“ echote ein anderer. „In der Hitze brauchen wir sowieso nichts!“ rief Manfred. „Ihr von der ,Arandora Star’ habt gut reden. Euch ist ja doch alles abgesoffen. Wir aber haben noch allerhand mit auf die ,Dunera’ gebracht.“ Sie erreichten das Lagertor. Alles war neu. Der Stacheldraht blitzte silbern, das Holz, aus dem die Türmchen und die Baracken gezimmert waren, leuchtete hell, und frisch gezogene Gräben säumten den Zaun. In zwei größeren Gruppen standen sechsunddreißig Baracken mit glänzenden Wellblechdächern. Auf dem Lagergelände befand sich kein Baum und kein Strauch. In der Mitte erhoben sich einige Wirtschaftsgebäude, Küchen, Waschräume und Toiletten. Und jenseits der feindseligen Umzäunung – Öde. Kaum hatten die neuen Bewohner des Lagers das Tor hinter sich, stürmten sie auf die Baracken los, um einen geeigneten Platz zu belegen. Wenn es auch keine großen Unterschiede zwischen den Schlafstellen gab,
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so wollte doch der eine oben, der andere vielleicht gerade unten liegen. Dieser wieder liebte das Fenster an der Nordseite, jener an der Südseite. Vor allem aber wollten Freunde mit Freunden die Baracke teilen. „Du kannst mal da drüben in der Eckbaracke nach zwei Betten sehen“, sagte Boberlein zu Manfred. „Ich schau mich nach den Genossen um, damit wir uns nicht alle in einer Baracke konzentrieren. Lieber verteilen wir uns ein bißchen. Beim Kochen darf man auch nicht das ganze Salz in einen Topf werfen.“ Knapp tausend Internierte fanden in diesem Camp Platz. Die gleiche Zahl war in ein benachbartes Lager gekommen. Nun mußte Boberlein erst feststellen, wer in dieses und wer ins andere Lager geraten war. Man war also in Australien, Tausende Kilometer von Europa entfernt. Von hier würde es nicht so schnell ein Zurück geben, bestimmt nicht vor Kriegsende. So richteten sich die Insassen des „Camp 8, Hay. New South Wales, Australia“, wie die Adresse lautete, auf längere Sicht ein. Jede Baracke wählte ihren Vertreter ins Lagerparlament. Theatervereinigungen – gleich zwei auf einmal – wurden gegründet. Auch mehrere Fußballmannschaften entstanden. Es bildete sich eine Lagerzeitung, die „Camp News“; in die Redaktion wurden Manfred und Otto Steiner gewählt. Das geschah gegen Manfreds Willen und auf Vorschlag Onkel Bobs. Proteste halfen nichts. Boberlein hielt ihm einfach das Tagebuch unter die Nase und behauptete: „Wer das kann, kann auch für die Lagerzeitung schreiben. Im übrigen brauchen wir Menschen wie dich in der Redaktion, damit vernünftige Sachen in das Blättchen hineinkommen.“ Manfred tröstete sich damit, daß ihm Otto, der ein talentierter Zeichner war, als Karikaturist zur Seite stehen würde. So wurde Manfred ein Journalist. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, sich als eifriger Anhänger des Fußballsports zu betätigen. Die Zeitung wurde ohnehin erst in den Abendstunden geschrieben, wenn die Schreibmaschine des Camp-Büros frei war. Dafür hing sie morgens, wenn die ersten Frühaufsteher durch das Lager spazierten, bereits mit allen Neuigkeiten in vier Exemplaren an den Eßbaracken. Auf dem Weg zum Frühstück gab es immer ein ordentliches Gedränge, denn die „Camp News“ brachten Karikaturen und Gedichte über Lagervorgänge und
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manchmal sogar politische Nachrichten, die auf unerklärliche Weise von draußen hereingelangten. Wie sie den Stacheldraht überwanden? Das wußten nur Manfred und Onkel Bob, der sich mit einem australischen Arbeiter angefreundet hatte. Billy, so hieß dieser Australier, brachte täglich eine Fuhre Fleisch ins Lager – und ein paar Zeitungen für Boberlein. Billy war Mitglied der Kommunistischen Partei Australiens. Wie es Onkel Bob fertiggebracht hatte, so schnell an ihn heranzukommen, blieb ein Geheimnis. „Weißt du“, hatte Boberlein gesagt, als er Manfred die erste Zeitung brachte, „wenn ich mit einem Menschen drei Sätze gewechselt habe, dann weiß ich gewöhnlich, was für ein Kerl er ist. Mit der Zeit lernst du das auch noch.“ Manfred hatte eine neue Leidenschaft: Er machte Verse für die „Camp News“. Einmal, als er ein paar Tage auf seinem Strohsack verbringen mußte, weil ihm einer beim Fußballspiel zu derb ins Schienbein gestoßen hatte, schrieb er ein Gedicht, das ihm großen Ruhm im Lager einbrachte:
FUSSBALL Hört mal, Jungens, holzt nicht so. Müßt ihr wie die Stiere rempeln? Holz ist Holz, und roh ist roh, und der Schuh ist nicht zum Stempeln auf den Hintern, daß es knallt. H a l t! Ja, ich weiß schon, es ist schwer, zwischen Stacheldraht zu leben, voller Kraft und dem Begehr, davon etwas abzugeben. Aber warum mit Gewalt? H a l t!
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Wenn – hört eines Freundes Wort täglich drei ein Bein verlieren, wird sich unser Fußballsport in acht Wochen liquidieren. Darum ruf ich, daß es schallt: H a l t! Nachtrag: Stoßt den Ball, ihr Fußballgilden, aber stoßt nicht wie die Wilden. Nur wenige Wochen waren vergangen, da hatte sich das Lager in einen richtigen kleinen Staat verwandelt. War am Anfang das Leben nicht leicht gewesen, weil es an Decken, Kleidung und Schuhwerk, an Zahnbürsten und Handtüchern, an Seife und Rasierklingen, ja selbst an Briefpapier gemangelt hatte, so begann das Stück umzäunter Steppe langsam ein ganz erträglicher Aufenthaltsort zu werden. Die Verpflegung entsprach den Armeerationen, und die waren in einem Land, das mehr Lebensmittel produziert, als es selbst verzehren kann, nicht gering. Die Fleischzuteilung betrug pro Kopf und Tag ein Pfund. Es gab genügend Butter und Honig und Weizengrütze. Bald wurde eine Kantine eingerichtet, und wer ein Bankkonto in England besaß, konnte sich Geld kommen lassen. Die Habenichtse verdienten sich ein paar Schillinge für Zigaretten, indem sie sich zum Küchendienst meldeten oder aus den herumliegenden Holzresten Zigarettenspitzen, Brieföffner und andere brauchbare oder auch weniger brauchbare Gegenstände herstellten. Fanden sie im Lager dafür keine Abnehmer, so verkauften sie diese Dinge an die Wachsoldaten, die gelangweilt am Stacheldraht auf und ab spazierten oder oben auf ihren Türmen saßen, ohne daß je etwas passierte. Wer hätte auch einen Fluchtversuch machen sollen? Weiter als bis zur nächsten, vielleicht mehrere Tagesmärsche entfernten Siedlung würde wohl keiner gekommen sein. Wen hätte der Flüchtende nach dem Weg fragen können. Etwa die Känguruhs oder die Emus oder die Dingos oder die Schafe? Woche um Woche verging. Die Internierten gewöhnten sich an die Hitze des Tages und an die Kühle der Nacht, sie wunderten sich nicht mehr, daß
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am Himmel über ihnen andere Sterne waren als zu Hause. Anders waren die Sternenbilder und anders der Sonnenaufgang, der den Himmel in Gelb, Violett, Orange und noch einige schwer zu beschreibende Farben tauchte. Auch über die seltsamen Insekten, die das Lager bevölkerten, ob es nun Skorpione oder Riesenspinnen waren, wunderte sich keiner mehr. Und als wäre es gar nichts Besonderes, betrachteten die Lagerbewohner das Museum des hypnotisierenden Professors. Der hatte sich Kästen gezimmert und alles, was im Lager umherkroch und hüpfte, sorgfältig in Musterexemplaren aufgespießt. Da gab es Ameisen aller Größen und Heuschrecken, die aussahen wie ein Eukalyptusblatt oder wie ein abgebrochenes Stück Zweig. Natürlich fehlten auch Schmetterlinge, Käfer und Fliegen nicht. Bald hatte er an die fünfhundert verschiedener Insekten beisammen, sogar eine Zikade war dabei. „Mit all diesem Gekreuch und Gefleuch lebt man nun unter einem Dach auf dem gleichen begrenzten Stück Boden in trauter Gemeinschaft“, sagte Otto nachdenklich zu Manfred, als sie beim Insektenvater erschienen, um einen Beitrag für die „Camp New“ zu bestellen. Der Titel sollte lauten: „Vom Tierleben im Lager 8“. Über das Pflanzenleben war so gut wie nichts zu berichten, wenn auch ein unverwüstlicher Gärtner sich darangemacht hatte, die Lagerstraßen mit Blumen zu säumen. Ein gemütliches Leben! Es gab genug Faulenzer, die von ihrem Strohsack nicht herunterkamen. Mancher ließ sich nicht einmal von dem Sand. der sich von Zeit zu Zeit als undurchsichtige braune Wand langsam dem Lager näherte und dann wie ein Regen niederging und selbst bei geschlossenen Fenstern in die Baracken drang, aus der Ruhe bringen. Er kroch eben unter die Decke, und war das seltsame Unwetter vorüber, schüttelte er die dicke Sandschicht vom Bett ab und genoß sein Nichtstun weiter. Als die erste Post eintraf, verwandelte sich das Lager in einen aufgestörten Termitenhaufen. Berichte von den großen Luftangriffen auf London kamen. Die Lagerinsassen hatten zwar gleich nach ihrer Ankunft in Hay vom „Blitz“ gehört, wie die Engländer die Massenangriffe der Nazibomber nannten. Jetzt aber erfuhren sie von ihren Frauen, Töchtern und Bekannten Einzelheiten.
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Manfred bekam zum erstenmal Post, als es bereits Weihnachten geworden war. Der Brief trug den Vermerk: „Not interned in Canada. Try Australia“ – „Nicht in Kanada interniert. Australien versuchen.“ Trotz der Verspätung, den dieser Umweg mit sich gebracht hatte, war das Schreiben von Tante Marie und Onkel Pepík für Manfred ein wirkliches Weihnachtsgeschenk, und für Boberlein nicht minder. Eigentlich hätte auch er einen Brief von den Jelíneks erhalten müssen, aber der war eben nicht mitgekommen. Die beiden schrieben: „Lieber Manfred! Wie glücklich und zugleich erschrocken wir waren, als wir erfuhren, daß Ihr mit auf der unseligen ,Arandora Star’ gewesen seid. Aber Ihr habt es ja überstanden. Dein Brief aus dem Lager Huyton hat uns viel Freude gemacht. Wir hoffen, daß Du weiterhin mit Onkel Bob zusammen bist. Wir haben ihm auch geschrieben. Wenn Du mit ihm bist, grüße ihn herzlich. Für Dich, lieber Junge, haben wir eine gute Nachricht. Durch französische Genossen, die aus einem KZ ausgebrochen und mit einem Boot über den Kanal nach England entkommen sind, haben wir erfahren, daß Paul“ – die Jelíneks benutzten aus Vorsicht nicht das Wort „Vater“ – “noch rechtzeitig aus dem Lager Gurs herausgekommen ist und heute in der Widerstandsbewegung gegen die deutschen Faschisten kämpft. Die Nachricht stammt aus dem Monat Mai.“ „He, warum liest du nicht weiter?“ ließ Onkel Bob hören. „Ist doch herrlich. Hab ich’s nicht immer gesagt: Unseren Paul Kühnemann kriegt keiner unter.“ Manfred war bewegt, als daß er sofort Worte gefunden hätte. Nach einer kurzen Pause sagte er: „Siehst du, so ist das: Vater kämpft, und ich sitze hier unnütz herum.“ „Nicht so unnütz, wie du vielleicht denkst. Die Hauptsache, jeder tut dort sein Bestes, wo er durch die Zeitumstände hingeschleudert worden ist. Aber was schreiben sie noch?“ „Von uns gibt es nicht viel zu berichten“, las Manfred. „Da wir tschechoslowakische Staatsbürger sind, ist die Internierung an uns vorbeigegangen. Ihr hattet ein bißchen Pech, denn bald nachdem man Euch weggeholt hatte, 259
wurde die Internierung von Antifaschisten abgebrochen. Die linken Abgeordneten der Arbeiterpartei und auch ein paar Liberale und Konservative haben Krach geschlagen. Es war ja auch ein hirnverbrannter Unsinn, in einem Krieg gegen Hitler ausgerechnet Nazigegner einzusperren und zu verfrachten. Alle internierten Emigranten sollen das Recht bekommen, einen Entlassungsantrag zu stellen und noch einmal vor einem Tribunal zu erscheinen. Ob man Euch aber aus Kanada zurückbringen wird, ist allerdings sehr zweifelhaft.“ „Von sich selbst schreiben sie wohl gar nichts?“ unterbrach Boberlein. „Nichts von den Bombenangriffen?“ ,,Darüber kann ja nichts drinstehen. Der Brief ist doch bereits im Juli geschrieben.“ „Im Juli? Hm, richtig. Über den ,Blitz’ kann da noch nichts drinstehn. Fast ein halbes Jahr ist also das Briefchen unterwegs. Na, lies weiter!“ „Wir werden dennoch alles versuchen, Euch wieder aus den Lagern herauszukriegen, und inzwischen sammeln wir Geld, damit wir Euch Pakete schicken können, sobald Euer genauer Aufenthaltsort festgestellt ist.“
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Standen in Jelíneks Brief auch nicht die letzten Neuigkeiten, so hätte sich Manfred keinen schöneren wünschen können, und ihr könnt mir glauben, daß er bestimmt zu den Glücklichsten zählte, die in der Neujahrsnacht um das große Lagerfeuer herumtanzten und heimatliche Lieder sangen.
36. KAPITEL Wer sich eingebildet hatte, im Lager 8 bei der abgelegenen Ortschaft Hay, im Staate New South Wales, die Endstation seiner Australienreise erreicht zu haben, befand sich im Irrtum. Eines schönen Januartages wurde beim Lagerappell eine Namenliste verlesen. Das bedeutete wieder einmal Kofferpacken – soweit die Koffer die Dunera-Fahrt überlebt hatten. Und Manfred war dabei. Es hieß, daß man die Genannten in ein klimatisch besser gelegenes Camp bringen wolle. Das mochte sogar die Wahrheit sein. Die Lagerleitung hatte laufend Beschwerden an die Internierungsbehörden geschickt. Viele Lagerbewohner vertrügen die Hitze nicht. Nun hatte die Militärverwaltung eine Liste aufgestellt, auf der alle Alten, Kranken und Jugendlichen standen. Im übrigen kämen die anderen in einigen Wochen nach, wurde behauptet. „Was machen wir jetzt?“ wandte sich Manfred nach dem Appell an Onkel Bob. Er hatte wenig Lust weiterzuwandern, ohne mit Sicherheit zu wissen, ob Boberlein tatsächlich nachkommen würde. „Schwierige Sache. Hier wird es nicht so einfach sein, irgendwo durchzuschlüpfen. Auch mit Verstecken ist in diesem Lager nichts auszurichten. Zuerst wollen wir mal hören, was die Genossen sagen, und dann werden wir sehn, was sich tun läßt. Übermorgen soll’s losgehen. Bis dahin haben wir die Sache schon klar.“ Joachim Boberlein hatte nichts unversucht gelassen, um in den Transport eingereiht zu werden. Er hatte Gesuche geschrieben, durch die Lagerleitung Beschwerde eingelegt, „daß man ihn rücksichtslos von seinem 261
elternlosen Neffen“ trennen wolle. Genützt hatte es nichts. „In drei Wochen schicken wir Sie Ihrem Neffen nach!“ Dieses Versprechen war der einzige Erfolg. Versprechen aber waren, nach allen bisherigen Erfahrungen, eine höchst unsichere Sache. Der Abend des Sonntag rückte heran. Noch vierundzwanzig Stunden. Manfred überlegte hin und her, was er tun könne, um doch im Lager Hay zu bleiben. Nachdem er sinnend immer wieder die Runde am Drahtzaun entlang gemacht hatte, stand sein Entschluß fest. Allerdings wollte er dieses Mal nicht ohne Onkel Bobs Wissen handeln. „Weißt du, daß ich morgen nicht mitfahre?“ fragte Manfred, als er mit Boberlein am Abend den üblichen Verdauungsspaziergang machte. „Was? Wie? Bist du von der Liste gestrichen? Davon weiß ich noch gar nichts. Na, das ist fein. Da ist ja alles in Butter.“ „Gestrichen? Gestrichen hat mich keiner.“ Boberlein blieb stehen und sah den Jungen mit gerunzelten Brauen an. Der hatte sich also wieder etwas ausgedacht. „Hm, da mußt du dich schon deutlicher ausdrücken. Nicht gestrichen und fährst trotzdem nicht mit?“ „Ich verschwinde einfach für ein Weilchen.“ „Hast wohl ‘ne Tarnkappe gefunden?“ „Ich steige auf ein paar Stunden in eine Abfalltonne. Hab mich schon orientiert. Zwei sind noch völlig leer. Dort wird mich niemand vermuten. Und ist dann der Transport abgegangen, komm ich eben wieder heraus. Was kann mir schon passieren?“ „Bunker!“ „Meinetwegen.“ „Sag das nicht, Junge. Außerdem geht’s gar nicht darum. Wenn wir solche Geschichten machen, erschweren wir unsere Bemühungen, die Sache für alle Betroffenen zu regeln. Du bist nicht der einzige. Ja, und dann noch etwas. Wir haben über dich gesprochen. Die Partei ist der Meinung, daß es ganz gut ist, wenn einige von uns mit ins andere Lager gehen. Die zwei Genossen, die außer dir zum Transport gehören, sind nicht sehr gesund. Franz Richter ist schwer magenkrank, und Paul Tobert leidet an Tbc. Soll man sie ganz allein lassen?“
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„Aber ich …“ „Am 16. April wirst du achtzehn. Nach deinen Papieren sogar schon zwanzig.“ „Die Papiere sind mit der ,Arandora Star’ abgesoffen“, wandte Manfred ein. Boberlein faßte den Jungen unter den Arm und ging eine Weile schweigend neben ihm her. Er konnte ihn sehr gut verstehen. Hier, im fremden Australien, hinter Stacheldraht, bedurfte man der Stütze mehr als irgendwo anders. Aber war es nicht besser, Manfred gewöhnte sich früh daran, ganz auf eigenen Füßen zu stehen? Wer wußte, was für Gefahren und Schwierigkeiten die Zukunft bot? Auch Manfreds Gedanken befanden sich in Widerstreit. Achtzehn Jahre wurde er nun bald. Mit achtzehn ist man kein Kind mehr. Und trotzdem krampfte sich ihm das Herz zusammen, wenn er an den kommenden Morgen dachte. „Ich sagte schon: Die Partei ist dafür, daß du gehst. Am liebsten wär’s uns natürlich gewesen, ich hätte die Erlaubnis bekommen, mitzugehen.“ „Ja, aber … ich … mit lauter älteren Leuten …“ „Wer den anderen ein gutes Vorbild ist, erringt sich schon ihr Vertrauen. Auch wenn man jung ist.“ „Aber … ich …“ „Glaub mir, Manfred, ich versteh dich sehr gut. Doch als Kommunist muß man oft hart gegen sich sein. Du mußt dir nur die Frage stellen: Was hätte Vater in meiner Lage getan?“ „Vater? Na ja, Vater … Also gut, ich gehe.“ „Schau mal zum Himmel. Wie verdreht die Mondsichel da oben steht. Ganz anders als bei uns zu Hause.“ „Ja, ganz anders“, sagte Manfred leise. „Und wenn man sich vorstellt, daß dein Vater denselben Mond sieht. Und Eisenbart, falls ihn die Nazis nicht erwischt und umgebracht haben. Und Marie und Pepík …“ „Und Tonda“, ergänzte Manfred, während er eifrig die Augenlider auf und ab bewegte, um die Feuchtigkeit zu vertreiben.
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Am Montag in der Frühe wurde geweckt. Abends, nach einbrechender Dunkelheit, waren die siebzig Internierten bereits am Ziel. Die Reise und die ersten Tage im neuen Lager beschrieb Manfred in seinem Tagebuch: 13. Januar 1941. Morgens 4.15 Wecken. 5.30 Frühstück. Es gab Ei mit geröstetem Brot. Das war wohl zum Trost für den Abschied. 7 Uhr Abmarsch. Onkel Bob hatte sich freiwillig zu den Gepäckträgern gemeldet, um bis zum Schluß bei mir sein zu können. Er war sehr traurig, obgleich er sich Mühe gab, es mich nicht merken zu lassen. Verabschiedung durch den Drahtzaun. Ein alter Mann, der seinen Sohn zurücklassen sollte, fehlte und war unauffindbar. Dem war es nun doch gelungen, sich zu verstecken. Leutnant Smith rief ärgerlich: „Der bekommt achtundzwanzig Tage Bunker!“ Dann marschierten wir zum Bahnhof. Beim Einsteigen befanden sich Hunderte der großen weiß-roten Papageien neben dem Gleis und pickten verschüttetes Getreide auf. Gegen acht Uhr ging es ab. Es war wie immer furchtbar heiß. Langsam belebte sich die Landschaft. Wir sahen viele Kaninchen. Und natürlich noch mehr Schafe. Es soll über hundert Millionen Schafe in Australien geben und nur acht Millionen Menschen. Der Zug hielt in Whitton, Narrandera, Jerilderie, Berrigan und Finley. Schließlich stiegen wir um und kamen nach Shepparton. Dort bekamen wir am Bahnhofsrestaurant Essen. Ich hatte auch schon einen gewaltigen Hunger. Die Gegend dort ist sehr schön. Viele Gärten haben wir gesehen. Auch Palmen. Als wir durch die Stadt fuhren, kamen wir an Lichtreklamen und Kinos vorbei. Am liebsten wären wir aus den Omnibussen gestiegen, die uns von Shepparton weiterbeförderten. Den Namen Shepparton habe ich schon mehrmals auf Obstkonserven gelesen. Die sind also von hier. Obst gibt es in dieser Gegend in großen Mengen. Wir kamen an ausgedehnten Plantagen vorbei. Es dämmerte bereits, doch ich glaube, es waren Pfirsichbäume. Mit Beruhigung stellten wir fest, daß es hier nicht so viele Fliegen gibt wie in Hay. Als wir ins neue Camp einfuhren, war es finster. Der Ort, in dessen Nähe das Lager liegt, heißt Tatura und befindet sich im Staate Victoria. Unser Camp hat die Nr. 3. Es ist nicht so groß wie das in Hay. Jeder bekam seinen Platz in einer der Wellblechhütten zugewiesen. Diese Hütten
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sind in kleine Kammern für je zwei Personen unterteilt. Nachdem ich mein Bündel abgelegt hatte, machte ich mich trotz der Dunkelheit wie alle anderen auf die Suche nach Holz und Nägeln. Otto, der auch mitgekommen ist, tat das gleiche. So etwas braucht man immer, zum Beispiel um sich ein Regal zu bauen. Wer auf den nächsten Morgen wartet, findet nichts mehr. Einige der Internierten waren enttäuscht, denn sie hatten eine Art Sommerfrische erwartet. Nun waren es nur Wellblechhütten. In Hay, so sagten sie, hatten wir wenigstens Holzbaracken. Otto Steiner rief: „Was wollt ihr denn, die Luft ist doch wirklich wie in einem Sanatorium.“ Einer hatte den Ausruf ernst genommen und wollte Otto verprügeln. Ich wohne mit Otto im gleichen Verschlag. Am 14. Januar schrieb Manfred: Bei Tag betrachtet, ist dieses Camp viel besser als das in Hay. Das Klima ist fast wie bei uns zu Hause. Das Lager ist kleiner und bietet Platz für zweihundertvierzig Personen. Wir sind überhaupt die ersten Bewohner hier. Gut, daß ich mir nachts Holz besorgt habe, das Lagergelände war am Morgen beinahe wie ausgefegt. In einigen Hütten fehlten sogar schon Seitenbretter von den Bettgestellen. Wir haben unsere Behausung bereits eingerichtet. Der Kommandant war sehr freundlich. Er wußte, daß wir Emigranten und keine Kriegsgefangenen sind. Habe die Lagerordnung gelesen. Darin steht: „Zur Morgeninspektion hat jeder frisch rasiert zu erscheinen. Es ist jedoch auch gestattet, sich einen Bart wachsen zu lassen.“ Der ganze Tag war mit Großreinemachen ausgefüllt. Mit heißem Wasser haben wir einen Feldzug gegen die vielen Ameisenhaufen geführt. Ameisen gibt es ohne Zahl, und zwar große, rote Biester. Auch Fledermäuse schwirren abends in Mengen herum. Die rot-weißen Papageien sind hier noch nicht aufgetaucht, dafür aber habe ich eine kleine grüne Papageiensorte gesehen, als ich heute am Stacheldrahtzaun stand. Es ist doch komisch, wie sich alles auf den Kopf stellen kann. Zu Hause waren die Papageien hinter Drahtgittern als Gefangene. Wie oft habe ich vor dem Zoo-Laden gestanden und die armen Vögel bedauert, wenn sie vergeblich gegen die Stäbe flogen. Und jetzt bin ich hinter dem Draht und die Papageien draußen in der Freiheit. Wer weiß, was sie über unsereinen denken. Es gibt hier auch viele Sorten anderer Vögel, die uns am
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Morgen mit einem Zwitscherkonzert begrüßen. Bei uns in der Schlafkabine müssen irgendwo zwei Grillen sitzen. Sie haben ohne Unterbrechung gezirpt. Hörte die eine auf, fing die andere an. Otto wurde wütend, weil es unmöglich war, einzuschlafen. Er behauptet, die Störenfriede säßen unter der Decke. Ich denke aber, sie sitzen unter der Holzdiele, die ein Stück über dem Erdboden ist, da die Hütten auf niedrigen Pfosten stehen. An Zeit mangelte es Manfred nicht mehr. In Hay hatte er mit dem Fußball und der Zeitung und dem geheimen Schulungszirkel der Parteigruppe, den Onkel Bob leitete, den ganzen Tag ausgefüllt. Hier bei den Alten und Kranken war mit Sport nicht viel anzufangen. Auch für eine Zeitung fehlten Menschen, und mit einem politischen Zirkel sah es ebenfalls mau aus, denn mit ihm waren nur noch Richter und Tobert, die beiden kranken Genossen, nach Tatura gebracht worden. So konnte er sich mit Muße dem Versemachen widmen. Vor allem drängte es ihn, ein Gedicht über den Abschied aus dem Lager Hay zu schreiben. Die beiden ersten Strophen hatte er schon auf der Fahrt in der Eisenbahn zustande gebracht. Den Rest hatte er in den ersten drei Tagen in Tatura geschrieben. Dies ist das ganze Gedicht, das Otto Steiner übrigens sehr bewunderte:
EIN LETZTER TAG So scheidet man. Man hat nichts zu verlieren, man wechselt Stachel draht für Stacheldraht, man wird woanders auf die Sterne stieren und auf den Wachturm, darauf ein Soldat. Man wird, wie bisher, sich nach draußen sehnen, und Ungeduld bleibt weiter dein Kumpan; in heißen Nächten, die sich schleppen, dehnen, wird sich Verzweiflung deinem Herzen nahm
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Es wird dir morgen so wie gestern gehen; man tauscht die Mark für hundert Pfennig ein – Und doch, am Tore bleibst du zögernd stehen und möchtest gern „Ich will nicht gehen!“ schrein. Man hängt nicht an den länglichen Baracken und nicht am Strohsack, den man flachgedrückt – Und trotzdem bebte man beim Bündelpacken, und als man ging, da ging man leicht gebückt. Da fühlte man, wie reich man war – bis heute, mit wieviel Freunden man das Camp geteilt; auch jener, der das Wort zu sagen scheute, der dachte: „Schade, daß der Tag so eilt.“ Erst wenn man geht, um Lebewohl zu sagen, begreift man voll, was Kameradschaft ist, was Freunde sind in solchen schweren Tagen, da deine Welt nach Zentimetern mißt. Und jetzt, da man sie hinter sich gelassen, fühlt man die Lücke, die die Trennung schlug, da möchte man der Freunde Hände fassen und kräftig drücken – doch schon fährt der Zug. „Ist das nicht ein bißchen zu traurig geraten?“ fragte Manfred. „Wieso? Mir war’s ja auch traurig zumute, als ich von drüben mit fortmußte.“ „Glaubst du, daß man die übrigen wirklich nachschickt?“ „Das müßte ich erst an meinen Knöpfen ausrechnen.“ Manfred faltete das Blatt zusammen und schob es tief in seine Hosentasche, als wollte er es verstecken. „Weißt du, Otto, ich melde mich als Helfer im Hospital. Seit Tagen werden zwei Mann gesucht. Hier, wo’s nur Alte und Kranke gibt, muß man schon ran.“ 267
„Hm, ja, wenn du dich meldest, bin ich der zweite.“ So wurde Manfred Sanitäter. Doch es sollten sich noch weitere Pflichten einstellen. Auf einer Lagerversammlung wurde beschlossen, daß jeder einmal in vierzehn Tagen beim Putzen der großen Kochkessel helfen müsse, wenn er nicht vom Arzt ausdrücklich davon befreit würde. Die Sache funktionierte sehr gut, bis die Reihe an die beiden Friseure kam, bei denen man sich für einen halben Schilling die Haare stutzen lassen konnte. „Wir? Töpfe putzen?“ fragte der eine. „Wir schneiden ja Haare. Ist das kein Dienst an der Allgemeinheit?“ Die Internierten waren anderer Meinung. „Für das Scheren laßt ihr euch gut bezahlen“, erwiderte einer, „also müßt ihr wie jeder andere beim Gemeinschaftsdienst in der Küche helfen.“ Die beiden Besitzer der „Friseurstube“ waren nicht zu überzeugen. „Gut“, erklärten sie, „wir scheuern Suppenkessel, aber dann ist es aus mit dem Haareschneiden.“ Sie sagten es und sie taten es, denn sie waren überzeugt, daß man schon kommen und sie bitten würde, statt die Töpfe von ihrem Fett lieber wieder die Köpfe von ihrer Haarlast zu befreien. „Was kann man da machen?“ fragte Otto eines Tages. „Stell dir vor, wie wir alle in. zwei Monaten aussehen. Wer eine Glatze hat, ist jetzt gut raus.“ „Was ist schon dabei?“ meinte Manfred. „Hier im Camp kannst du ruhig mit langen Locken herumspazieren. Wir sind ja unter uns.“ „Um die Haare geht’s ja gar nicht. Mich ärgert nur, daß die beiden Kerle sich einbilden, uns terrorisieren zu können. Meiner Meinung nach ist das unkameradschaftlich. Oder etwa nicht?“ „Mensch, Otto, ich hab ‘ne Idee. Friseure werden gebraucht? Da sind welche: du und ich.“ „Wie, du willst Haare schneiden? Du hast einen Knall! So was muß man doch gelernt haben.“ „Also, wie ist’s, machst du mit?“ „Na ja, wenn’s absolut sein muß.“ So war nun Manfred auch Friseur geworden. Mit Kamm und Schere bewaffnet, machte er sich über die Schöpfe der Lagerinsassen her.
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Der erste Kopf, den er bearbeitete, war der von Otto. Dann schor Otto ihm den Schädel, und mit dieser Praxis gingen sie erfolgreich an die anderen Köpfe. Da der Friseursalon „Kühnemann und Steiner“, in dem man kostenlos die Haare geschnitten bekam, im Hospital untergebracht war, hatte Manfred immer ein Fläschchen Jod und ein Päckchen Watte bereit, um notfalls ein abgeschnittenes Ohrläppchen zu behandeln. Es dauerte nicht lange, und der Lagerarzt konnte seinen beiden Gehilfen nicht nur die Köpfe, sondern auch den Rest des Körpers der Patienten anvertrauen, denn um im Lager „Arzt“ zu sein, brauchte man nur zu wissen, wie man eine kleine Wunde reinigt, desinfiziert und verbindet und aus welchen Schachteln man bei Durchfall oder Verstopfung die Tabletten zu nehmen hat. Gab es keine verletzten Finger, so konnte man sich der kranken Elster widmen, die im Lager umher- spazierte, als wäre sie der Kommandant. In den Abendstunden meldete sich das Oppossum, das offenbar in einem der zwölf Bäume des Lagers zu Hause war, zur Fütterung. Es zeigte keinerlei Angst und ließ sich durch die Menschen nicht aus der Ruhe bringen. Noch größere Ruhe zeigte die glotzäugige Eule. Zum Ärger der Elstern liebte sie es, sich auf der Linde neben dem Hospital niederzulassen. In Hay hatte es keinen Tag Regen gegeben. Hier hingegen öffnete sich der Himmel um so freigebiger und setzte das Lager unter Wasser. Es stürmte und pfiff, und der Sturm riß immer wieder die schlecht schließenden Fenster und Türen auf. Mancher, der noch vor kurzem auf die Trockenheit und Hitze von Hay geschimpft hatte, verwünschte die Feuchtigkeit und die Kälte von Tatura. Das Gelände war so aufgeweicht, daß sich kaum einer aus der Hütte herauswagte. Im Lazarett herrschte wunderbare Ruhe, und Manfred konnte ungestört lesen oder schreiben. Inzwischen war die Kantine eröffnet worden, und dort hatte er ein dickes Heft erstanden. Ein wenig Geld besaß er jetzt, denn für den Dienst im Hospital erhielt er zwei Schillinge in der Woche, und das Haareschneiden brachte ihm auch etwas ein, obgleich er nichts dafür verlangte. Diese Einnahmen kamen ihm sehr zugute, gab es doch in der Kantine für drei Pence zwei Äpfel, zwei Birnen und einen Pfirsich, so groß, wie er noch nie welche gesehen hatte.
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Es war ein ruhiges Leben. Manfred hätte gar nicht das Gefühl gehabt, daß Krieg war, wenn ihn nicht das nächtliche Scheinwerferlicht und die Posten auf den Wachtürmen daran erinnert hätten. Und dann waren noch die Zeitungen da, die jetzt in bestimmten Abständen ins Lager geliefert wurden. Man konnte sie in der Kantine kaufen.
37. KAPITEL Zur Überraschung der Internierten löste die Militärbehörde ihr Versprechen ein und beförderte eine zweite Gruppe aus dem Lager Hay nach Tatura. Darunter befanden sich auch alle „Angehörigen“, die allein zurückgeblieben waren. Auf diese Weise kam Joachim Boberlein nach Tatura, denn er hatte ja dort seinen „Neffen“. Das erste, was er nach der Ankunft im neuen Lager tat, war ein Besuch im Friseurladen „Kühnemann und Steiner“. Er hatte bereits ein beachtliches Haarpolster im Nacken, und Manfred mußte ein paarmal herzhaft mit der Schere hineinfahren, um Luft zu schaffen. „Es gibt eine Menge neue Nachrichten“, begann Boberlein, als sie unter sich waren. „Meinst du wegen der Dunera-Vorfälle?“ „Nein, daß es deshalb allerhand Auseinandersetzungen in der englischen Öffentlichkeit gegeben hat, ist ja schon lange bekannt. Aber was noch keiner weiß: Sie beabsichtigen, einen Offizier aus London herzuschicken, der unseren Rücktransport organisieren soll.“ „Was? Zurück nach England?“ „Hat schon seine Richtigkeit“, bestätigte Boberlein. „Übrigens“, fügte er hinzu, „brauchst du mich deshalb nicht gleich ins Ohr zu pieken.“ „Beg your pardon!“ rief Manfred. „Gelatscht ist gelatscht!“ brummte Boberlein. „Also, zurück nach England. Wenn’s nur wirklich wahr ist.“ „Ist durchaus möglich. Die Engländer machen solche Sachen. Wo’s jetzt außerdem mit dem Krieg ernst geworden ist, brauchen sie Arbeitskräfte, 270
und schon deshalb sind wir ihnen wahrscheinlich auch ganz willkommen. Auf jeden Fall würde ich vorläufig darüber nicht reden. Stellt sich’s am Ende als eine falsche Information heraus, dann halten sie einen hier für Gerüchtemacher.“ Eine Woche nach der Ankunft Boberleins wurde den Internierten mitgeteilt, daß sie in ein anderes, nur anderthalb Kilometer entferntes Camp transportiert würden. Die Lagerbewohner nahmen die Mitteilung mit Murren zur Kenntnis. Gerade hatten sie sich in den Baracken halbwegs eingerichtet, hieß es wieder wandern. „Könnte auch etwas mit Rücktransport zu tun haben“, bemerkte Boberlein zu Manfred. Schon am nächsten Tag ging es los. Ein paar Minuten Fahrt, und das neue Lager war erreicht. Es war genauso angelegt wie das eben verlassene, nur daß es hier keinen einzigen Baum gab. Dafür gab es Menschen jenseits des Stacheldrahtes, allerdings auch nur hinter Stacheldraht, denn es waren gleichfalls Gefangene. In einem der benachbarten Lagersektoren steckten deutsche Emigranten, die man in Singapur interniert hatte. Im zweiten war ein Teil der Dunera-Leute, die in Melbourne ausgeschifft worden waren. Der dritte Sektor war noch unbelegt. Gleich nachdem die Baracken bezogen waren, sammelten sich die Bewohner der verschiedenen Sektoren am Drahtzaun, um sich zu beäugen.
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Die Posten schlenderten gelangweilt zwischen dem Stacheldraht hin und her und forderten die Internierten auf, nicht stehenzubleiben. Aber ein Spaziergang längs des Zaunes reichte. Es dauerte nicht lange, und Manfred hatte den Schwarzen Robert entdeckt. Einige freundschaftliche Zurufe über den Stacheldraht konnten die Wachmannschaften nicht verhindern. Es lag ihnen offenbar auch wenig daran, zumindest glaubte Manfred das aus ihren Gesichtern lesen zu können. Robert näherte sich dem Zaun, und als der Posten wieder einmal kehrtgemacht hatte, winkte er Manfred, stehenzubleiben. „Wie geht’s bei euch?“ rief er durch den Draht. „Gut geht’s bei uns.“ „Und wer ist noch bei euch?“ „Onkel Bob, Tobert Paul und Richter Franz.“ „Sag Boberlein, er soll nach dem Mittag an den Zaun kommen. Hab ihm verschiedenes zu sagen.“ Abgesehen von einigen Unterbrechungen durch den Posten ging die Unterhaltung am Stacheldraht ganz gut, und Manfred hätte noch eine ganze Weile hier verbracht, wenn Otto ihn nicht ins Hospital geholt hätte. Abends erschien Onkel Bob bei Manfred, der seinen Wohnsitz im Hospital aufgeschlagen hatte. Der Junge schrieb gerade eifrig am Tagebuch. „Wie’s aussieht, wird es Ernst mit der Heimreise“, begann Boberlein. „Robert hat unabhängig von mir die gleiche Nachricht bekommen. Ein Major soll schon in Sydney sein. Bald müßte er hier im Lager auftauchen.“ „Dann wird man uns drüben wohl rauslassen?“ „Für viele soll in England sogar schon die Entlassung ausgesprochen sein. Aber die Australier sagen natürlich: Dann holt euch die Leute zurück! Wir haben sie ja nur in Aufbewahrung genommen.“ „Und wie steht’s mit uns? Ob wir auch abtransportiert werden?“ „Junge, du fragst mehr, als ich beantworten kann. Jetzt heißt es einfach abwarten, bis der Engländer auftaucht. Und was denkst du: Wenn wir nach England zurückfahren können, fährst du mit?“ „Ich? Klar fahr ich mit.“ „Das ist also in Ordnung. Ich muß natürlich die Meinung aller Genossen wissen. Wir wollen niemand zwingen, sich für die Rückreise zu melden. 272
Es ist Krieg – na, du weißt, was einem alles passieren kann. Hm, da will ich dich nicht weiter stören. Hast schon allerhand zusammen- geschrieben. Darf ich mal. hineinschauen?“ „Klar darfst du.“ Joachim Boberlein nahm das Tagebuch und blätterte darin herum, hier und dort einige Sätze lesend: „Wollte heute einen Brief an Onkel Bob nach Hay schreiben. Infolge Hitzefaulheit auf morgen verschoben.“ „Den Brief hab ich nie bekommen. Hast ihn wohl noch ein paarmal aufgeschoben?“ „Entweder war es zu heiß, um zu arbeiten, oder ich hatte zuviel anderes zu tun.“ Boberlein las weiter: „Heute wurde ein zweiter Patient eingeliefert (epileptischer Anfall). Unserem Herzkranken macht die Hitze zu schaffen. Der Gärtner hat sich schwer erkältet. Ich habe ihm einige Tage Hospital verordnet. Gestern hat mich doch tatsächlich einer als ,Herr Doktor’ angesprochen und mir aufgezählt, was er seit Geburt für Krankheiten gehabt hat. Er behauptet, nachts wegen Nierenschmerzen nicht schlafen zu können und wollte eine Morphiumtablette. Ich hab ihm Pyramidon gegeben und gesagt, daß es Morphium sei. Morgen kommt der Medical Officer, da kann er sich richtig untersuchen lassen.“ „Du bist mir ja ein Gauner. Was hat denn der Mann am nächsten Tag gesagt?“ „Am anderen Tag war er wieder da. Er wollte noch so eine Morphiumtablette haben. Es war ihm schon viel besser.“ Onkel Bob blätterte lächelnd um. Was es doch alles auf den wenigen Quadratmetern Lagergelände zu erleben gab. Da war eine ganz aufregende Sache: „Wetter schwülheiß und windstill. Unser Koch hat eine Schlange erwischt. Sie ist etwa fünfzig Zentimeter lang, gelbgrauer Leib und am Kopf zwei schwarzbraune Querstreifen. Ein Posten sagt, es sei eine junge Copperhead. Das Tier könne erst einige Wochen alt sein. Diese Schlangenart werde bis zu sieben Fuß lang und sei sehr giftig. Sie liegt in einem halb mit Wasser gefüllten Eimer und versucht vergeblich, sich in die Freiheit zu schlängeln. Um den Eimer herum stehen fünfzehn Leute und geben Ratschläge, wie man sie töten soll. Leider muß sie getötet werden, denn sie 273
ist zu gefährlich. Aber wie? Keiner will zufassen. Ich hole einen Spaten und einen gegabelten Stock. Da wir sozusagen die Gesundheitsbehörde sind, müssen wir es tun. Otto nimmt den Spaten und ich den Stock, um sie festzuhalten. Ich habe die Schlange fest an den Eimerboden gedrückt, und Otto hat sie erschlagen. Am liebsten hätten wir weggeschaut.“ Tag um Tag verging – ohne etwas Neues. Das Wetter wechselte ständig. Einmal Hitze, dann kühl, Regen, schließlich ein Sandsturm. Dem Garten schien das Klima aber zu gefallen, und in kurzer Zeit schoß das Grün der Karotten, Radieschen, Bohnen, Erbsen und Blumen empor. Manfred tat pflichtgetreu seinen Krankenhausdienst und sorgte dafür,, daß sich abends die Genossen in Ruhe zusammensetzen konnten, um über die politische Lage in der Welt zu sprechen. Noch immer waren die Kriegsnachrichten ungünstig. Gerade hatten die Zeitungen vom Überfall Hitlers auf Jugoslawien und vom heftigen Widerstand der Jugoslawen berichtet. Solche Ereignisse brachten die Lagerinsassen in Aufregung. Wohl saßen sie hier vor den Nazitruppen in Sicherheit, doch sie wußten, daß ihre Zukunft in Europa entschieden wurde. Auch Manfred geriet in düstere Stimmung. Waren denn Hitler und seine Generäle allmächtig? Wenn er nun den Krieg doch gewann? Nie würden die deutschen Antifaschisten ihre Heimat wiedersehen dürfen. Und was würde aus dem Vater werden? Aber jedesmal, wenn er sich mit Onkel Bob unterhielt oder durch den Drahtzaun mit dem Schwarzen Robert, fühlte er sich wieder gestärkt. „Je mehr Völker Hitler unterjocht, desto schwächer werden die Nazis“,, erklärte ihm Boberlein. „Kennst du die Fabel von dem Jungen, der in den Krug griff, um sich Nüsse herauszunehmen? Der Krug hatte einen schmalen Hals, und der Junge bekam die Hand nicht mehr heraus, weil er zuviel Nüsse gegrapscht hatte und sie nun nicht wieder loslassen wollte. Paß auf, eines Tages wird Hitler alles wieder loslassen müssen, falls er überhaupt noch Zeit dazu hat.“ Wenn Manfred nach einer solchen Unterhaltung seinen Patienten einen Verband machte und sie ihn fragten: „Haben Sie gute Nachrichten bekommen“, lautete seine Antwort: „Ja, klar. Wenn Hitler so weitermacht,, ist er bald hin.“
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Mancher schüttelte nur den Kopf. Was die Kommunisten immer für Zeug redeten! Träumer! Phantasten! Schwätzer! Sie wiegten allerdings auch ungläubig den Kopf, als zum erstenmal offiziell bekanntgegeben wurde, daß ein Major namens Layton aus London gekommen sei, um die Dunera-Affäre zu untersuchen und den Rücktransport zu organisieren. Die Mitteilung vom bevorstehenden Besuch Laytons traf am 16. April im Lager ein. Für Manfred war das ein besonderer Tag: sein achtzehnter Geburtstag. „Achtzehn bist du also, man sollte es nicht glauben!“ rief ihm Onkel Bob entgegen, als er ihn am zeitigen Morgen noch vor dem Frühstück im Hospital aufsuchte, um zu gratulieren. „Achtzehn – hat schon seine Richtigkeit“, antwortete Manfred, Boberleins beliebte Redensart gebrauchend. „Ich bring dir eine Kleinigkeit. Haben die Genossen von hier und drüben in der Kantine für dich erstanden.“ Manfred öffnete das längliche Schächtelchen. Ein Füllhalter, und sogar einer mit echter Goldfeder! „Für mich?“ sagte er ganz verlegen und wagte kaum, Boberlein anzublicken. „Für dich. Und vor allem auch für deine Schreiberei … für dein Tagebuch … und für deine Verschen … Machst doch immer noch Gedichte?“ „Hie und da“, gab Manfred zu. Er schämte sich seiner Verse noch ein wenig. Er fürchtete immer, man könnte das Dichten als unnütze Arbeit betrachten.
38.KAPITEL Im Lager ging das Leben seinen alten Gang. Da gab es Streitigkeiten mit dem Kommandanten wegen der unbegründeten willkürlichen Briefzensur oder weil es im Hospital an den notwendigsten Medikamenten fehlte. Dort spielten sich zwischen den Lagerbewohnern heftige Kämpfe 275
ab um die Verwendung der Überschüsse aus der Kantine, die wie alle anderen Lagereinrichtungen von den Internierten selbst verwaltet wurde. Sollte das Geld aufgespeichert oder an die Mittellosen gegeben werden? Die Besitzer eines Bankkontos waren gewöhnlich für Sparen. Dann wieder ging es um den Küchendienst, von dem sich der oder jener mit allen möglichen Ausreden zu drücken suchte. Doch das Interesse der meisten Gefangenen richtete sich auf eine einzige Frage: Wann kommen wir aus diesem Lager heraus? Es gab allerdings auch einige, die den Krieg lieber hier verbringen wollten, als sich auf eine ungewisse, lange Seefahrt zurück nach einem genauso ungewissen Europa einzulassen. Die Nachrichten waren wirklich nicht sehr ermutigend. Hitler hatte Griechenland überfallen. Wieder kämpfte ein kleines Land gegen einen mächtigen Räuber, der über die Grenzen gekommen war, und wieder siegte der Räuber über ein tapferes Volk. Und dann war der sagenhafte Major Layton im Lager. Sein Kommen verursachte Aufregung. Anträge wurden gestellt, Formulare ausgefüllt. Wer würde mit dem ersten Transport gehen? Plötzlich fuhr der Major wieder ab. Alles sei nur Schwindel gewesen, hieß es. Eines Tages aber kam er wieder. Eine Gruppe würde bald fahren. Aus Sicherheitsgründen dürfe das in keinem Brief erwähnt werden. Die Liste wurde bekanntgegeben, als Manfred gerade Dienst im Lazarett hatte. Boberlein erschien auf der Türschwelle und lächelte breit. „Was gibt’s? Was sagt Layton?“ „Na, was denkst du?“ fragte Boberlein zurück. „Wir fahren?“ „Ja, wir fahren.“ „Du und ich?“ „Du und ich!“ „Da haben wir aber Schwein!“ „Schwein? Wenn du nicht mein Neffe wärst, hätten wir’s nicht durchgedrückt.“ Onkel Bob blinzelte Manfred heimlich zu, denn es waren drei Patienten da. Das Verwandtschaftsgeheimnis zwischen den beiden brauchte nicht unbedingt jeder zu kennen.
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Zwei Tage später nahm Manfred Abschied vom Camp-Hospital, von Otto Steiner, der darauf wartete, seinen Eltern nach den USA folgen zu können, und von vielen anderen Lagerbewohnern. Auch dem Schwarzen Robert mußte er wieder Lebewohl sagen. Der stand mit den anderen Genossen am Stacheldraht. Wenn er sich auch nichts anmerken lassen wollte, man sah ihm an, daß er selbst gern zu den Rückfahrern gehört hätte. Noch ein letztes Winken, denn es wurde bereits zum Sammeln gerufen. An zwei weiß gedeckten Tischen nahmen sie das Abschiedsmahl ein. Die Küche hatte sich besondere Mühe gegeben und servierte den Scheidenden ein Festtagsessen. Und dann ging es los – Richtung Shepparton. Im Januar war Manfred schon einmal auf diesen Straßen gefahren, nur in umgekehrter Richtung und allein. Jetzt hatte er Onkel Bob zur Seite, und wenn alles gut ging, würde er in ein paar Monaten außerhalb des Stacheldrahtes sein; fast fühlte er sich jetzt schon wie ein freier Mensch. Vielleicht gefiel ihm auch, deshalb die Landschaft besser als je zuvor. Das leuchtende Grün der Obstplantagen begleitete sie bald wieder. In der Ferne waren sogar Berge zu sehen, ein lang entbehrter Anblick. Die Ungeduldigen hatten geglaubt, man würde sie sofort auf ein Schiff bringen. Aber wohl oder übel mußten sie sich noch mit einem Zwischenlager abfinden. Über die letzten Tage in Australien machte Manfred Kühnemann wieder einige Eintragungen in sein Tagebuch: 25. Mai 1.941. Abfahrt Shepparton 16.45 Uhr. In Seymour Abendbrot im Bahnhofsrestaurant. Dann geht es in einen bequemen Zug. Nachts in der Bahn gut geschlafen. 26. Mai 1941. 7.50 Uhr erreichen wir Goulburn. Hier Frühstück. Gegen zwölf Uhr sind wir in Liverpool (nicht weit von Sydney). Bahnfahrt war sehr interessant. Leider keine Känguruhs gesehen. Die Landschaft ist nicht so eintönig wie von Sydney nach Hay. Dieses Camp ist zwar schön gelegen, aber als Durchgangslager bereits benutzt worden und völlig verdreckt. Wir erhalten Eßbestecke. Sie sind ziemlich rostig. Mittagessen. Wir beziehen eine Hütte, die einen furchtbaren Geruch ausströmt. Die Wände sind mit allerlei Bildern aus Magazinen beklebt. Mit vereinten
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Kräften wird ausgemistet. In einer Stunde sind wir eingerichtet. Mit der Zeit bekommt man darin Übung. Abends werden wir in zwei Gruppen eingeteilt. Was steckt dahinter? Die Sache ist verdächtig. 27. Mai 1941. Major Layton ist gekommen. Die Gruppeneinteilung hat angeblich keine Bedeutung. Wir fahren auf zwei Schiffen, daher mußte nach Anzahl der Plätze aufgeteilt werden. Jeder darf eine Summe von fünf Pfund mitnehmen. Wer kein Geld hat, bekommt zwei Pfund. Das Geld gibt das Hilfskomitee in London. Auf dem Schiff, sagt Layton, fahren wir als freie Passagiere „on parole“, das heißt auf unser Ehrenwort für die Dauer der Schiffsreise freigelassen. Jemand schließt daraus, daß wir den Panamakanal passieren werden. Der Panamakanal gehört den Vereinigten Staaten, und die befinden sich nicht im Krieg. 28. Mai 1941. Wäsche gewaschen. Onkel Bob hat sich seinen Vollbart abgenommen. 29. Mai 1941. Das Essen im Lager ist ganz ordentlich. Am Abend kommen Vertreter des Warenhauses David Jones. Wer Geld hat, kann bei ihnen alles bestellen, vom Anzug bis zum Auto. Ich bestelle ein dickes Notizbuch, Onkel Bob Rasierapparat und mehrere Päckchen Klingen, denn die Reise wird einige Wochen dauern. 30. Mai 1941. Heute werden wieder einmal unsere Fingerabdrücke genommen. Dann unterschreiben wir die Schiffskarten Also fahren wir bestimmt. Einige Leute sind erbost, weil sie auf der Karte gelesen haben „Unter Eskorte“. 31. Mai 1941. Regenwetter und Langeweile. 1. Juni 1941. Es regnet immer noch. Einer zeigt uns ein Zeitungsinserat der Schiffsgesellschaft Aberdeen & Commonwealth Line, die auch uns befördern wird. Dort wirbt man für eine Reise, die von Sydney über Kapstadt nach England führen soll. Demnach, so sagt der Mann mit der Zeitung, geht es wieder über Südafrika. Wir werden schon sehen. 2. Juni 1941. Kleidung wird ausgegeben. Ich bekomme ein Paar Schuhe, ein braunes Jackett und eine graue Hose. Ist etwas zu kurz. Onkel Bob bekommt auch eine Hose, die ihm ein wenig zu lang ist. Wir tauschen, und der Laden ist in Ordnung. Die blauen Arbeitsanzüge und die Militärmäntel, die wir in Hay und Tatura bekommen haben, müssen wir abgeben. 278
3. Juni 1941. Schönes Wetter. Es werden weitere Sachen ausgegeben. Auch Hüte und Mäntel an alle, die so etwas nicht besitzen. Major Layton hat uns zwar aufgefordert, auf dem Schiff nicht als geschlossene Gruppe in Erscheinung zu treten, aber wer uns ansieht, erkennt schon an den gleichen Hüten, daß wir irgendwie zusammengehören. Morgen wird um sechs Uhr gefrühstückt. Wahrscheinlich geht es nun doch los. Abends kommt der Paymaster und zahlt Geld aus: Zwei Pfund an die Habenichtse, und die Besitzenden bekommen fünf Pfund von ihren Konten. Die Offiziere reden uns bereits mit „Gentleman“ an. 4. Juni 1941. Aufstehen, Frühstück, Kofferpacken, Decken abliefern, Gepäck abgeben. Einige Stunden stehen wir noch herum und warten. Endlich geht es los. Kurze Eisenbahnfahrt. Letzte Stunde in Australien. In Sydney Fahrt mit Bus durch die Stadt. Lese irgendwo chinesische Aufschriften. Wahrscheinlich gibt es hier viele Chinesen. Ich habe mir diese Stadt schöner vorgestellt. Viele Straßen erinnern an London. Der Hafen ist erreicht. Zwei Schiffe liegen vor Anker. Ein kleineres und ein größeres. Unsere Gruppe marschiert zum kleineren Schiff. Die Reling ist bereits von Passagieren gesäumt. Die Kabinen werden uns sofort angewiesen. Kabine mit zwei Betten (Nr. 195) für Onkel Bob und mich erhalten. Bereits kurz nach halb eins fahren wir los, passieren die große Brücke, dann sehen wir einige Zerstörer und ein riesiges Passagierschiff. Es soll die berühmte „Queen Mary“ sein. Bald sind wir auf offener See. Zur Freude und Überraschung aller können wir uns tatsächlich vollkommen frei auf dem Schiff bewegen. Es ist die „Largs Bay“, ein schöner, bequemer, mittelgroßer Passagierdampfer von ungefähr 13.000 Tonnen. „Na, was sagst du nun?“ Onkel Bob lehnte sich neben Manfred über die Reling, den neuen grauen Filzhut nach hinten geschoben wie ein echter Müßiggänger, und rauchte eine Zigarette. „Man könnte beinahe denken, daß man träumt.“ Die „Largs Bay“ hatte nur eine Klasse, und den „auf Ehrenwort“ freigelassenen Internierten standen, wie jedem anderen Passagier, sämtliche Bequemlichkeiten des Schiffes zur Verfügung. Sie konnten die Gesellschaftsräume benutzen, in der Kantine kaufen, und sie aßen in den
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allgemeinen Speisesalons. Es gab keine verbotenen Decks und keine Stacheldrahtbarrieren. Sogar von der Bewachung merkten sie nichts, denn die war einer Abteilung australischer Soldaten übergeben worden. Diese Männer fuhren als Holzfäller nach den Britischen Inseln hinüber und kümmerten sich kaum um die Internierten. Sie wußten wohl nicht einmal, wer eigentlich zu denen gehörte, die sie eskortierten. Die vierzig Rückkehrer fielen nicht besonders auf, wenn sie nicht gerade bei windigem oder kühlem Wetter in Hut und Mantel an Deck waren. Die „Largs Bay“ hatte auch eine recht bunte Gesellschaft an Bord. Da war eine Gruppe englischer Seeleute, die – so wurde gemunkelt – von der „Queen Mary“ seien und dort bei einem Streit einen Mann über Bord geworfen hätten. Nun sollten sie in England vor Gericht erscheinen. Und dann waren da noch Matrosen in der Uniform der „Force Navale France Libre“. So nannten sich die Seestreitkräfte des „Freien Frankreich“, das den Krieg gegen Hitler außerhalb des besetzten Frankreichs fortsetzte. Es waren nicht nur Weiße, sondern auch Neger und Malayen. Sie hofften, durch den Sieg über Hitler auch für sich die Freiheit zu erkämpfen. Schließlich befanden sich auf dem Schiff Privatreisende, vor allem Engländer und Schotten, die gerade in Australien waren, als der Krieg ausbrach, und die zu ihren Familien in London oder Manchester, Glasgow oder Birmingham heimfuhren.
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Manfred und Boberlein, zu denen sich Paul Tobert und Franz Richter gesellt hatten, spazierten auf dem Oberdeck umher und atmeten genießerisch die milde Seeluft ein. Die Sonne schien, und über ihnen schwamm der aufsteigende Rauch der Schornsteine in der zitternden Atmosphäre. Ganz weit weg zeigte sich eine Rauchfahne. Sie gehörte der „Themistokles“, auf der sich die zweite Gruppe der Rückkehrer befand. Zwischen dem Horizont und der „Largs Bay“ aber bewegte sich der Begleitschutz: zwei Zerstörer. Australien war längst in westlicher Ferne verschwunden. Um die Maste kreisten noch die letzten Möwen vom Festland. Wären nicht die beiden Kriegsschiffe zu sehen gewesen, man hätte sich mitten im Frieden geglaubt. Es war auch wenig Gefahr im Stillen Ozean, der wirklich ein stilles Meer zu sein schien. Nur zwischen Australien und Neuseeland müßte man ein bißchen aufpassen, meinte einer von den .Freien Franzosen, denn hier in der Gegend hätte sich in letzter Zeit ein deutsches Kriegsschiff gezeigt und Schiffe angegriffen. Doch die Zerstörer würden schon dafür sorgen, daß sich kein solch stählerner Hai an die „Largs Bay“ herantraute. Wohin es ging, war kein Geheimnis mehr, obgleich die Passagiere aus Gründen der Sicherheit nicht über die wirkliche Reiseroute informiert worden waren. Jetzt auf hoher See hätte ein Spion nur noch mit einem geheimen Sender eine Nachricht weitergeben können. Diejenigen, die auf den Panamakanal getippt hatten, behielten recht. Vorläufig aber befand sich die „Largs Bay“ erst auf dem Weg nach Neuseeland. Es war geradezu eine Vergnügungstour. Wie Manfred von einer englischen Studentin erfuhr, kostete die Überfahrt auch einhundertundfünfzig Pfund. Das war eine Summe, für die ein Arbeiter ein halbes bis ein dreiviertel Jahr arbeiten mußte. „Ich sag’s ja: Menschen wie wir kommen nur durch die Dummheit anderer zu solchen Weltreisen“, bemerkte Boberlein. Das Wort „Weltreise“ hakte sich in Manfreds Hirn fest. Abends, nachdem er noch ein Weilchen unter dem klaren südlichen Sternenhimmel an Deck verbracht hatte, setzte er sich in den Schreibsalon und begann ein neues Gedicht. Auch an den folgenden Tagen schrieb er ein paar Verse dazu. Noch ehe sie wieder Land zu sehen bekamen, war er damit fertig. Es war sein längstes Gedicht geworden: vierzehn Strophen. Dennoch sei es hier vollständig wiedergegeben: 281
WELTREISE Geschrieben Anfang Juli auf dem Wege von Sydney (Australien) nach Wellington (Neuseeland).
Die Welt, ich kenne sie wie meine Weste – zwar trag ich keine, doch das macht nichts aus. Die Welt, ich kenn sie wie mein Elternhaus, die Welt, ich kenne sie aufs allerbeste. Was heißt: die Welt? – Ach, die paar Erdenteile sind es nicht wert, daß man von ihnen spricht; und noch dazu in Versen und Gedicht – doch schließlich schreibt man auch aus Langeweile. Was ich vom Globus alles schon gesehen? Falls diese Reise überstanden ist und der Torpedo unser Schiff gemißt und überhaupt nichts Peinliches geschehen – dann habe ich in etwa einem Jahre vier Monate auf hoher See verbracht, einmal die Reise um die Weit gemacht – falls ich nicht träume, sondern wirklich fahre. Dann hab ich jeden Längengrad geschnitten und manchen zweimal, wenn ich Bogen fuhr. In Liverpool begann ich meine Tour; „Dunera“ hieß der edle Wasserschlitten. Nordwestlich trugen uns die ersten Wogen. Wir waren Grönland schon beträchtlich nah, dann ging es westlich, Richtung Kanada, und dann sind wir südöstlich abgebogen.
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Wir haben dreimal Afrika gesichtet; und wenn es auch nur durch die Luke war. Der Tafelberg bot sich in Kapstadt dar, der Berg ist wirklich interessant geschichtet. Wir ließen Afrika im Westen liegen und fuhren östlich auf Australien zu. Wir stellen uns schon um auf Känguruh – anstatt auf Hitze, Moskitos und Fliegen. Fremantle, Melbourne, Sydney! Drei Stationen! Raus aus dem Schiff! Es war auch schon genug, Erlöst, befreit bestiegen wir den Zug, um eine Zeit in New South Wales zu wohnen. Tatura war das nächste Ziel der Reise, im Staat Victoria, im Obstrevier. Und nach vier Monaten beschlossen wir, zurück in Sydney, einen unsrer Kreise. Jetzt sitzen wir von neuem auf dem Kahne, doch sei zur Ehre der „Largs Bay“ gesagt, daß uns das Leben hier ganz gut behagt. Kein Wunder für Dunera-Veterane. Den Rest der Reise kann ich mir ersparen, solange er noch nicht bestanden ist; doch falls uns weder Meer noch Haifisch frißt, sollt ihr noch mehr Details von mir erfahren. Dann werd ich euch noch von Neuseeland sprechen, von Südseeinseln, Fischen, die ich sah, von Mittel-, Süd- und Nordamerika, vom Panamakanal und Wasserflächen.
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Auch den Atlantik werde ich euch schildern, soweit nicht schon in dem Gedicht erwähnt; ist dieses Meer auch ziemlich ausgedehnt, so kennt man es doch allgemein von Bildern. Manfred hatte in einigen Strophen viele Tausende von Kilometern zusammengepreßt. Nur das Erlebnis mit der „Arandora Star“ hatte er, ohne es eigentlich beabsichtigt zu haben, weggelassen. Es war eine zu böse Sache gewesen, um darüber ein paar scherzhafte Verschen zu schreiben.
39. KAPITEL Als Manfred am Morgen des 9. Juni aufs Oberdeck kam, sah er die neuseeländische Küste. Er schlenderte am Backbord entlang, vom Heck zum Bug und wieder zurück, und erfreute sich am herrlichen Anblick des schmalen Landstreifens, der, langsam deutlicher werdend, aus dem Meer stieg. Es lohnte sich, die Aufmerksamkeit dem Wasser zuzuwenden, durch das ganze Rudel Delphine schnitten und die „Largs Bay“ begleiteten. Leicht gewellt und leuchtend blau war die See, nur ein wenig dunkler als der seidenglatte Himmel. Über der Küste schwebte ein weißlichgrauer Schleier, der mit dem Wasserspiegel fast verwachsen zu sein schien. „Sieht’s nicht so aus, als hätte einer dahinten einen Kübel Quecksilber übers Meer gegossen?“ fragte Paul Tobert, der an Manfreds Seite getreten war und gleichfalls von diesem wundervollen Bild gepackt wurde. Wie herrlich war doch so eine Reise. Ein Märchen. In Manfreds Erinnerung tauchte das stickige Zwischendeck der „Dunera“ auf und Bullaugen, deren Glas von Staub, Schlamm und Wellenschaum fast undurchsichtig sind. Davor drängen sich unrasierte, bleiche Gesichter und durstige Augen. Sie sehnen sich nach Licht und möchten einen Schimmer vom sagenhaften Afrika erhaschen. Und hier? Luft und Sonne und eine gleißende See. Manfred hätte am liebsten aufgejauchzt. Er ließ seinen Blick zu den 284
Masten hinaufschweifen. Fast fühlte er sich so frei wie die schwarz-weißgefärbten Möwenschwärme, die sich da oben in der flimmernden Luft schaukelten. Die „Largs Bay“ fuhr in eine von Felsen und Klippen gesäumte Bucht hinein und steuerte auf den Hafen zu. Bald lag sie am Pier. Wellington war erreicht, eine saubere, moderne Stadt – soweit sie sich den Blicken darbot. Kurz nach der Ankunft der .Largs Bay“ traf auch die „Themistokles“ ein und legte am benachbarten Kai an. Die Internierten auf beiden Schiffen drängten sich an die Relings, um sich Grüße zuzuwinken. Alle befanden sich in prächtiger Stimmung, war doch die erste Etappe gut überstanden, trotz des deutschen Piraten, von dem ängstliche Gemüter alle Nächte in ihren Kabinen geträumt hatten. Keiner durfte an Land. Stundenlang auf das gleiche Bild schauen ist auch nicht jedermanns Vergnügen. So bemühte sich Manfred, seine Neugierde mit Hilfe einer Landkarte zu befriedigen. Sic hing im gemütlichen Rauchsalon. Neuseeland bestand also aus zwei Inseln, einer Nordinsel und einer Südinsel. Zwischen beiden lag die Cook-Straße. Wellington, die Hauptstadt, kannte er nun, wenn man es auch als eine recht bescheidene Art des Kennenlernens bezeichnen mußte. Später erfuhr Manfred noch mehr über dieses Land, denn die vier neuseeländischen Soldaten, die hier an Bord kamen, zeigten sich stets bereit, auf seine Fragen zu antworten. Und je mehr sie ihm erzählten, desto mehr bedauerte er, sich mit dem Vorüberfahren begnügen zu müssen. Immerhin konnte sein Tagebuch festhalten, daß dieser Inselstaat von Weißen und von Maoris, der Urbevölkerung, bewohnt wurde, daß es hier Berge so hoch wie die Alpen, tätige Vulkane, Geiser und heiße Quellen gab – von allerhand interessanten Waldtieren und Vögeln gar nicht zu reden. Am nächsten Morgen ging es wieder hinaus, aber wie sich bald zeigte, nur bis in die Mitte der Bucht, wo die „Largs Bay“ keine Hafengebühr zu zahlen brauchte. Am Nachmittag jedoch begannen ihre Schiffsmaschinen auf volle Touren zu kommen. Weiter zog sie ihre Bahn in östlicher Richtung, hinein in die schier endlose Weite des Stillen Ozeans.
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Jetzt gab es nur noch die Wasserfläche. Nicht einmal die Rauchfahne der „Themistokles“ war zu sehen. Auch die beiden Zerstörer hatten sich den Blicken entzogen. Es hieß, sie hätten bereits die Rückreise nach Australien angetreten. Einsamkeit beherrschte Himmel und Meer. Höchstens daß da und dort ein Schwarm fliegender Fische in flachen Bogen über die Oberfläche sprang. Das Wetter war rauh geworden, die See wechselte in eine grau-grüne Farbe über und bedeckte sich mit weißen Wellenkämmen. Bei einigen Passagieren meldete sich das unangenehme Drehen im Leib. Auch Manfred verspürte einen Anflug davon. Doch hatte er gelernt, daß er am besten darüber hinwegkam, wenn er es einfach nicht zur Kenntnis nahm. Auch tiefes Atmen tat wohl. So machte er allein oder in Begleitung Boberleins lange Spaziergänge rund ums Deck. Wenn er genug Luft geschöpft hatte, setzte er sich in einen der Gesellschaftsräume, wo die heimkehrenden Leute von der „Queen Mary“ mit Leidenschaft Lotto spielten. Dabei ließen sie es an derben Worten nicht fehlen, die Freude oder Mißfallen ausdrückten, je nachdem, ob einer die richtige oder falsche Zahl ausrufen hörte. Noch lebhafter ging es bei den Freien Franzosen zu, die musizierten, sangen, lachten und tranken. Einige der Negerjungen unter den französischen Blaublusen hatten sich mit einem Bündel Karten zurückgezogen und eine kleine Spielhölle eröffnet. Lebhaft ging es da zu, doch nie kam es zu Streit, ob nun einer verlor oder gewann. Es gab auch ein Rundfunkgerät im Rauchsalon, aber der Empfang war so unklar, daß es sich kaum lohnte zuzuhören. Manfreds Tagebuchseiten blieben nicht leer. Irgend etwas gab es immer aufzuschreiben: 11. Juni, Mittwoch. Die See ist ziemlich bewegt. Ich habe ein bißchen Schnupfen. Hoffe ihn mit frischer Luft schnell wieder wegzubekommen. Vormittags gemeinsam mit Onkel Bob Hemden, Taschentücher und Strümpfe gewaschen. Auf dem Schwarzen Brett ist eine Boxveranstaltung angekündigt. Morgen ist Antipodentag. Da werden wir noch einmal den 11. Juni haben. Ein Matrose sagte: „Wenn wir den 180. Längengrad östlich von Greenwich schneiden, erwischen wir den Mittwoch noch einmal am Schwanz. Auf dieser Erdenhälfte beginnt der Mittwoch erst, während 286
er auf der anderen, die wir verlassen, gerade zu Ende geht. Man nennt das die Datumsgrenze. Da leben wir einen Tag gratis, ohne älter zu werden. Ich muß mir die Geschichte später auf einem Globus richtig ansehen. Das mit der Wiederholung des 11. Juni stimmte. Am nächsten Tag war Manfreds erster Blick auf die Speisekarte gerichtet, die jeden Morgen schön gedruckt auf dem Frühstückstisch lag. Tatsächlich, da stand es schwarz auf weiß: Antipodes Day, Wednesday. 11th June 1941. Als Manfred sah, daß die Speisekarten vom Tisch verschwanden, steckte er sich schnell auch eine weg. Zu Mittag lag keine Speisekarte mehr da, und die Gäste mußten sich bei den Stewards nach den Gerichten erkundigen. Der Antipodentag zeichnete sich noch durch etwas anderes aus: Es fanden die ersten „Übungen“ statt. Alle Passagiere mußten mit ihren Schwimmgürteln an Deck erscheinen. Dort bekam jeder ein Kärtchen in die Hand gedrückt, auf dem angegeben war, an welcher Stelle er sich im Falle der Gefahr einzustellen habe. Dann wurden noch einige Verhaltensmaßregeln bekanntgegeben. Diese Instruktionsstunde hinterließ bei den meisten ein zwiefältiges Gefühl. Es war beruhigend zu wissen, daß man bei einer Katastrophe nicht sich selbst überlassen sein würde, zugleich aber wurde man an die Möglichkeit eines Schiffsuntergangs erinnert. Manfred verglich seine Karte mit der Onkel Bobs. Sie hatten als Bewohner der gleichen Kabine benachbarte Plätze zugewiesen bekommen. So sah Manfreds Kärtchen aus:
„Aber wir werden uns trotzdem um Franz und Paul ein bißchen kümmern müssen, wenn was schiefgeht“, meinte Boberlein. „Kranke und Alte sind manchmal recht hilflos in solchen Situationen.“ „Uns passiert nichts mehr“, erwiderte Manfred. „Wir sind ja schon mit: Salzwasser getauft. Zweimal wäre ungerecht.“ 287
„Hat schon seine Richtigkeit. In der Lotterie zieht auch keiner zweimal das Große Los.“ In den nächsten Tagen wurden die Übungen wiederholt. Die See war aber so glatt und still und friedlich, daß kein Gedanke an Gefahr aufkam. Trotzdem drang der Krieg bis in die ozeanische Einsamkeit. Das Radio berichtete vom Vormarsch der britischen Truppen in Syrien und von der Versenkung der „Admiral Scheer“, eines großen deutschen Kriegsschiffes. Nachdem die „Largs Bay“ einige Tage lang südöstlich gefahren war, nahm sie Kurs Nordost. Die Temperatur ging von Tag zu Tag in die Höhe, denn der Abstand zum Äquator verringerte sich unablässig. Die „Largs Bay“ war wie eine winzige Welt außerhalb der Welt. Um sie herum Wasser, Wasser ohne Ende. Schon die Wolken waren eine Unterbrechung dieser Gleichförmigkeit. Dafür herrschte auf dem Schiff ein reges Treiben. Im Speisesalon gab es Konzerte, auf dem Verdeck fand die Boxveranstaltung statt, bei der es nicht ohne ein paar blutige Nasen abging. Die Negerburschen aus Neukaledonien, die zu den Freien Franzosen gehörten, trugen die meisten Siege davon. Sie konnten aber nicht nur gut boxen, sondern auch vorzüglich singen und tanzen und ernteten den Beifall aller Zuschauer. So verging Tag um Tag wie eine einzige Sonntagsvergnügungsfahrt. Da platzte eine Nachricht zwischen die Passagiere der „Largs Bay“, die alles vergessen machte – das Lotto, das Musizieren, das Kegeln und das Schachspiel. Hitlerdeutschland hatte wieder einen Vertrag gebrochen und die Sowjetunion überfallen! Der Rundfunkapparat im Rauchsalon funktionierte nicht besonders gut. Streckenweise war das Knacken und Brummen so stark, daß nur Bruchstücke zu verstehen waren. Doch auch diese unverständlichen Sätze sagten genug. Hitler hatte seine Panzer und Flugzeuge nun auch gegen das friedlichste Land der Erde, gegen das Land des Sozialismus, in Bewegung gesetzt. Manfred war gerade mit seinem Tagebuch beschäftigt, als er die Nachricht hörte. Im ersten Augenblick glaubte er, sich verhört zu haben. Hatte Hitlerdeutschland nicht bereits mehr Länder besetzt, als es mit seiner Armee in Schach halten konnte? Und wozu hatte es mit dem mächtigen 288
Sowjetstaat einen Nichtangriffspakt abgeschlossen? Ohne den angefangenen Satz fertigzuschreiben, rannte Manfred los, um Boberlein zu suchen. Eigentlich war das keine schlechte Nachricht. Würde es jetzt nicht bald mit den Nazis aus sein? Gegen zweihundert Millionen Menschen, die ein Sechstel der Erde bewohnen, konnte man keinen Krieg gewinnen, und schon gar nicht gegen diese zweihundert Millionen. Boberlein lag oben auf dem Bootsdeck und sonnte sich. „Was gibt’s?“ fragte er, gegen die Sonne blinzelnd. „Hitler hat die Sowjetunion überfallen!“ Onkel Bobs Augen schienen zu sagen: Mir kannst du keinen solchen Unsinn erzählen. Doch Manfred wiederholte den Satz. „Das ist alles Quatsch. Ihr habt euch verhört. Die alte Kiste da unten funktioniert ja nie.“ Joachim Boberlein war aufgestanden. „Ist’s wirklich wahr?“ „Mit so was würde ich keinen Spaß treiben!“ „Also Krieg gegen die Sowjetunion!“ Boberleins Stimme war rauh. Sein Blick ging über Manfred hinweg, als suche er irgend etwas irgendwo in der Ferne. „Nun geht’s mit dem Hitler zu Ende“, sagte Manfred. Doch Boberlein schwieg weiter. Es war geradezu unheimlich, dieses Gesicht mit den herabgezogenen Augenbrauen und den drei geknickten Stirnfalten. „Die Russen werden’s den Faschisten schon zeigen“, begann Manfred wieder. „Ich weiß, daß dies das Ende des deutschen Faschismus ist. Aber wie viele Opfer das kosten wird. Und diese Schande. Bedenk doch: Deutsche Arbeiter marschieren jetzt gegen das Land, das als erstes die Macht der Arbeiter aufgerichtet hat. Ich entsinne mich einer Zeit, da wir zu Hause durch die Straßen gezogen sind und gesungen haben: ,Und richten sie die Gewehre gegen die Sowjetunion, dann rüsten rote Heere zum Kampf, zur Revolution.’ Hm, dann ist alles anders gekommen …“ Seit den ersten Nachrichten vom Krieg im Osten hatte sich das Leben an Bord verändert. Am stärksten zeigten sich diese Veränderungen bei den deutschen Emigranten. Boberlein, Manfred Kühnemann und alle
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anderen Genossen waren auf einmal politische Auskunftsstellen geworden. Man wollte von ihnen wissen, ob „Rußland“ über Hitler siegen würde, ob es wahr sei, daß dort die Menschen noch ohne Schuhe herumlaufen müßten und ob die Bolschewisten wirklich alle Kirchen zerstört hätten. Wenn der Zeitpunkt für die Nachrichtensendung heranrückte, war der Salon gedrängt voll, und niemand wagte zu husten, damit ja kein Wort verlorenginge. Ein Emigrant, der bisher immer ein unfreundliches Gesicht gezeigt hatte, wenn einer den Namen Stalin aussprach, stieß Manfred vertraulich in die Seite und meinte: „Mensch, jetzt hat sich der Teppichfresser in Berlin ja was eingebrockt. Paß auf: Onkel Joe wird ihm schon zeigen, was ‘ne russische Harke ist.“ Mit Onkel Joe meinte er keinen anderen als Josef Stalin. Und der Teppichfresser? Nun, man erzählte sich, daß Hitler sich bei seinen recht häufigen Wutanfällen in einen Teppich zu rollen pflegte, und das hatte ihm diesen boshaften Namen eingebracht. Manfred Kühnemann schrieb in sein Tagebuch: 26. Juni. Wundervolles Wetter. Es wird immer wärmer. Jeden Tag stellen wir die Uhr um dreißig Minuten vor. Die Stimmung der Passagiere ist gut. Alle halten den Krieg schon für gewonnen. Wieder finden Boxwettkämpfe statt. Für abends ist ein Konzert mit ernster Musik (Beethoven, Schumann, Grieg) angekündigt. Die Nachrichten sind sehr verworren. Einmal heißt es, Schweden sei auf die Seite der Nazis getreten, dann wird wieder das Gegenteil behauptet. Heute sprachen die Mittagsnachrichten vom Vormarsch der Hitlertruppen. Das muß Schwindel sein. Die Rote Armee läßt sich doch nicht so leicht zum Rückzug zwingen. 27. Juni. Radio war wieder nicht zu verstehen. Nachmittags Fortsetzung der Boxwettkämpfe. Über uns schwebte heute ein interessanter großer Vogel. Er war schwarz mit weißen, keilförmigen Flecken auf der Brust, hatte einen langen Schnabel und eine weite Flügelspanne. 28. Juni. Nachmittags wieder Boxen. Es ist ziemlich heiß. Zum Glück weht eine sanfte Brise. Nachrichten gehört. Die Hitlerwehrmacht soll noch im Vormarsch sein, allerdings unter großen Verlusten. Spanien sendet Truppen an die russische Front. Ein deutscher General Schmidt gefallen. Wenn man die Nachrichten hört, wird man ganz traurig. Onkel Bob sagt, 290
man soll nie auf Wunder warten. Der Überfallene ist zu Beginn immer im Nachteil. Bis so ein Riesenland wie die Sowjetunion in Bewegung komme, vergehe einige Zeit. Er sei fest überzeugt, daß die Rote Armee siegreich sein werde. Ich habe mich hinterher geschämt. Boberlein hat recht. Ich muß lernen, Geduld zu haben und der eigenen Sache zu vertrauen. Ich liege im Bett und schreibe. Jetzt fahren wir über den Äquator. Mitternacht ist vorüber. Einige Passagiere sind aufgeblieben wegen der „Taufe“. Ich habe aber keine Lust, hinunterzugehen. Von der Treppe und von den Waschräumen her kommt gehöriger Lärm. Aus dem Gekreische kann man schließen, daß sie dort einige am Wickel haben und mit Wasser bespritzen. Sicher hat der eine oder andere auch eins hinter die Binde gegossen. Der Juni ging seinem Ende entgegen. Am Nachmittag des Neunundzwanzigsten wurde ein winziger grauer Fleck am Horizont sichtbar. Bald darauf war aus dem Fleck ein steil aus dem Wasser ragender Fels geworden. Manfred hatte die Karte im Rauchsalon studiert und tippte auf die Kokosinseln. Obgleich an dem Fels nichts Besonderes zu sehen war, empfand Manfred sofort wieder das eigenartige Gefühl „Land“, das ihn immer gleich stark erfaßte, wenn er lange Zeit nichts als Wasser, Himmel und Wolken vor Augen gehabt hatte. Für die Mannschaft der Luftabwehrgeschütze, die am Heck aufmontiert waren, bot die steinerne Wand eine willkommene Übungsgelegenheit. Die grauen Schutzhüllen wurden von den Rohren gezogen, einige Befehle, und schon zuckten die Mündungsfeuer, gefolgt vom Donner der Explosionen. Die Insel wurde wieder vom Meer verschluckt. Manfred, Boberlein und Paul Tobert machten es sich auf dem Bootsdeck bequem. Hier konnte man getrost das Hemd abstreifen und auslüften. Erst als es am späten Abend zu gewittern begann, räumten sie ihren Platz und beobachteten das zauberhafte Spiel der Blitze. Genau drei Wochen hatte die „Largs Bay“ gebraucht, um von Wellington aus den Stillen Ozean zu überqueren. Und nicht einem einzigen Schiff war sie begegnet. Die „Themistokles“ hatte sich auch nicht mehr sehen lassen. Am 30. Juni zeigte sich in der Ferne ein Gebirgsstreifen.
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Sofort begann das Rätselraten. Ist das Costarica oder Panama? Ist es Festland oder eine Insel? Was es war, erfuhr keiner genau, und jeder konnte sich einbilden, richtig getippt zu haben. Um fünf Uhr nachmittags näherte sich das Schiff dem Hafen der Stadt Panama. Wieder tauchten Delphine auf, dann schwarze große Vögel mit langen Schnäbeln, langen Beinen und mageren Körpern. Aber niemand konnte Manfred sagen, was das für Vögel waren. Den Vögeln gehörte allerdings der Himmel nicht allein: Flugzeuge kreuzten ihre Bahn, viele Flugzeuge. Ein Motorboot kam auf die „Largs Bay“ zu und legte sich längs an ihren Leib. Amerikanische Offiziere stiegen an Deck. Der Himmel hatte sich zugezogen, und ein warmer Regen ging nieder. Doch es gab genügend geschützte Stellen auf dem Oberdeck. Als die „Largs Bay“ schließlich am Kai anlegte, war es finster ge- worden. Der Hafen vor ihnen war ein einziges Lichtmeer, aus dem sich riesige Kräne und Transportanlagen heraushoben. Das Schiff selbst strahlte zum erstenmal in vollem Glanz seiner Scheinwerfer und Lampen. Hier gab es keine Verdunkelung. „Höchste Zeit, daß wir wieder mal eine Zeitung in die Hand bekommen“, brummte Boberlein, der nach Berichten über die Kriegslage im Osten brannte. An Land gehen durften nur die „richtigen“ Passagiere. Die Internierten mußten sich wieder mit dem „Fernsehen“ begnügen. Zeitungen kamen an Bord. Gute Nachrichten brachten sie nicht. Große Schlagzeilen meldeten: „Minsk gefallen“. Manfred hatte eine Zeitung erwischt und zog sich mit Onkel Bob und den beiden anderen Genossen in eine ruhige Ecke zurück. „Die Kerle lügen!“ zischte Boberlein immer wieder. Und er hatte Grund zum Zweifeln. Das Blatt zeigte eine unverkennbare Sympathie mit den Nazis und prophezeite durch den Mund von „Militärfachleuten“, daß die Sowjetunion in sechs Wochen am Ende sei. „Bei denen ist auch der Wunsch der Vater des Gedankens.“ Wenn er nur recht hätte, ging es Manfred durch den Kopf. Er bemühte sich, seine Niedergeschlagenheit zu überwinden. Onkel Bob hat sich noch nie geirrt, warum sollte er sich diesmal irren?
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40. KAPITEL Der Morgen empfing die Passagiere der „Largs Bay“ mit strahlender Sonne und müde machender Wärme. Die Mannschaft, soweit sie nicht Dienst hatte, und die Fahrgäste, soweit es keine Internierten waren, gingen an Land. Sehnsüchtige Blicke der an Bord Zurückbleibenden folgten ihnen. Manfred stand mit den Genossen am Geländer der Ladeluke und ließ seinen Blick über den Hafen schweifen. Völlig verändert sah es jetzt da drüben ans. Wo am Abend das Lichtmeer eine Millionenstadt vorgetäuscht hatte, war nun tiefes saftiges Grün. Nichts von einer Großstadt war zu sehen, nur Meer und die üblichen Hafenanlagen, eingerahmt von der üppigen tropischen Küstenvegetation. Am Strand wuchsen Mangrovebäume mit verästelten Luftwurzeln, die von der Flutwelle unter Wasser gesetzt worden waren. Dahinter dicht bewaldete Hügel, deren Formen den vulkanischen Ursprung noch deutlich verrieten. Geierähnliche Vögel flogen über das Wasser, Pelikane tummelten sich auf Felsvorsprüngen, Möwen flatterten um die Maste und haschten nach Brotstücken. Schmetterlinge schaukelten durch die Luft, bunte, große Falter, hinter denen der Hypnotiseur und Insektensammler herjagte. Es war ein lustiges Bild, denn der „Reptilienjäger“, wie ihn einige nannten, war bloß mit einer Badehose bekleidet und einem Taschentuch bewaffnet, mit dem er nach der ersehnten Beute schlug. Dieses Schauspiel ergötzte auch nur ein Weilchen, und Onkel Bob schlug vor, einen Deckspaziergang zu machen. Als sie an der Landungsbrücke vorbeikamen, stieg gerade eine Gruppe Neger und Mestizen an Bord. Wahrscheinlich waren es Schauerleute. Manfred rief einen der schwarzen Arbeiter an: „Hallo, comrade! Have you got a paper?“ – „Hallo, Kamerad! Hast du eine Zeitung?“ Der Neger blieb stehen und zog tatsächlich eine Zeitung aus der Tasche. Aber sie war in spanischer Sprache. Manfred gab sie ihm mit einem Achselzucken zurück. Der Neger brachte nun eine andere Zeitung heraus und reichte sie ihm hin. „All rubbish!“ – „Alles Dreck!“ sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. 293
Boberlein bot dem Arbeiter eine Zigarette an. Sie kamen bald in ein freundschaftliches Gespräch. Die Zeitungen seien hier fast alle faschistisch beeinflußt, und manche sympathisierten sogar heimlich mit Hitlerdeutschland. „Haben wir schon gestern gemerkt“, sagte Boberlein. „Da es keine anderen gibt, kauft man sie eben“, erwiderte der Neger, als wollte er sich entschuldigen. „Ein schönes Land ist das“, sagte Manfred und wies zu dem grünen Küstensaum hinüber. Der Neger verzog sein ebenholzfarbenes Gesicht zu einem spöttischen Lächeln und spuckte durch die wie Elfenbein glänzenden Zähne. „Ja, ein schönes Land“, wiederholte er Manfreds Worte. „Schön und reich. Meer, Berge, Wälder, Seen! Und was hier alles wächst. Wie im Paradies. Bananen und Orangen und Zitronen und Tabak und Zucker und Reis und Kakao und Kaffee und vieles andere. Aber was hat denn
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unsereiner davon … Uns bleiben ja doch nur die Abfälle. Und daran wird sich auch nicht so schnell was ändern.“ „Durch Kampf hat sich manches auf der Welt geändert“, erwiderte Boberlein. Der schwarze Arbeiter schaute sich nach seinen Kollegen um. Die standen aber noch an der Reling und unterhielten sich mit einigen Leuten von der Mannschaft. „Was haben wir schon für Kämpfe hier gehabt … Streiks … Demonstrationen … Aber solange wir die Gringos nicht aus dem Land gejagt haben, kommen wir zu nichts. Schaut euch um! Das alles gehört den Yankees … alles … Der Kanal und das Land links und rechts … Ja, so sieht’s aus. Und im Rest unseres Landes machen sie auch, was sie wollen. Mit Dollars kannst du dir sogar ‘ne Regierung kaufen.“ Wieder sah sich der Neger um, diesmal aber, als wollte er sich vergewissern, daß er nicht von unberufenen Ohren belauscht wurde. „Caramba!“ fluchte er und sagte etwas auf spanisch. In seinem Zorn hatte er ganz vergessen, daß seine Gesprächspartner nur Englisch verstanden. „Wir werden die Gringos schon noch loswerden, diese verdammten Dollarsäcke …“ Vielleicht hätte er noch ein paar liebenswürdige Ausdrücke für die amerikanischen Herren geäußert, doch da erscholl die Stimme eines seiner Kameraden: „He, Juan!“ Der Schwarze spie über die Reling, hob die Hand grüßend an die Krempe seines Strohhutes und ging. „Daß er gar keine Angst hatte, so zu sprechen“, bemerkte Manfred mit Erstaunen. „Zu jedem hätte er wohl auch nicht so gesprochen.“ „Aber er kannte uns ja überhaupt nicht“, wandte Manfred ein. „Warum sollte er sich vor uns in acht nehmen? Sehen wir aus wie Kapitalisten?“ fragte Paul Tobert. „Das nicht.“ „Oder wie Spitzel?“ „Bestimmt nicht.“ “Oder wie Faschisten?“ fragte Boberlein.
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„Komisch“, überlegte Manfred, „dir traut jeder sofort.“ „Zum Glück nicht“, widersprach Boberlein. „Die Unternehmer zu Hause und die Nazis haben mir nie getraut.“ Sie zogen sich mit der Zeitung in den Schatten zurück. Die Einnahme der Stadt Riga wurde gemeldet. Immer noch marschierten die Naziarmeen vorwärts. Man brauchte nichts über diese Zeitungsleser zu wissen, um an ihren Gesichtern zu erkennen, was in ihnen vorging. „Verlaß dich drauf, Hitler wird doch besiegt werden“, stieß Onkel Bob hervor und schob das bedruckte Blatt weit von sich. „Aber wenn ich daran denke, daß die Faschisten alles zertrampeln und niederwalzen, was sich die Menschen in der Sowjetunion mühselig aufgebaut haben, dann könnte ich vor Zorn wahnsinnig werden.“ In aller Frühe lichtete die „Largs Bay“ die Anker und fuhr in den Kanal, hinein. Die Passagiere hatten Glück: Am Himmel stand kein Wölkchen. Vor einem tropischen Regenguß brauchte sich keiner zu fürchten. Nur die feuchte Hitze setzte ihnen mehr und mehr zu, je weiter die Stunde vorrückte. Es gab aber so viel Neues zu sehen, daß die meisten an Deck blieben. Ein imposanter Anblick, wie die gewaltigen Schleusen das Schiff Stufe um Stufe hoben, um es auf die Scheitelhöhe des Kanals zu bringen;, wie sich das schwere Schleusentor hinter dem Schiff schloß, das Wasser in die Kammer einströmte und das Schiff mit ihm langsam emporstieg, bis das Tor zur nächsten Schleuse geöffnet werden konnte. Drei Schleusen waren zu überwinden. Und dann ging es durch den Kanal, dessen technische Anlagen zur Bewunderung zwangen. Nur wer davon wußte, daß vor einigen Jahrzehnten Tausende von Arbeitern – Neger, Mestizen, Mulatten und Indianer – infolge furchtbarer Arbeitsbedingungen und niederträchtiger Ausbeutermethoden beim Bau dieses künstlichen Wasserweges ihr Leben hatten lassen müssen, betrachtete das großzügige Werk menschlicher Erfindungsgabe mit einigem Nachdenken. „In acht Stunden sind wir drüben im Atlantik“, erklärte einer der englischen Seeleute. „Eigentlich keine schlechte Idee gewesen, die fünfzig Kilometer Land zu durchschneiden. Früher mußten die Schiffe um ganz Südamerika herum, wenn sie von dem einen in den anderen Ozean wollten.“
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„Eine großartige Sache“, gab Manfred zu, ohne einen Blick von der Landschaft zu lassen, die den Kanal an beiden Seiten begleitete. „Was, das ist eine Pracht! Und Geld bringt sie auch ein … Dollars. Natürlich nicht für uns“, sagte der Engländer, der an seinem Dialekt als Londoner zu erkennen war. Je weiter sie fuhren, desto mehr traten die technischen Anlagen zurück, und der Kanal bestand schließlich nur noch aus einer Kette von Urwaldseen. Mangroven, Lianengewächse und großblättrige Stauden säumten die Ufer. Aus einem Wäldchen tönten seltsame Schreie herüber. Ein Lotse, der im Hafen von Panama auf die „Largs Bay“ gekommen war, sagte: „Das ist ein kleiner häuslicher Zank in einer Affenfamilie.“ Neben Manfred stritten einige von den Freien Franzosen, ob die länglichen graubraunen Dinger am Rand einer Insel Krokodile seien oder nur faulende Äste. Den Streit schlichtete ein grüner Papagei, der sich auf einem Geländer niedergelassen hatte und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Der gefiederte Kerl war hier zu Hause und hätte den Passagieren natürlich erklären können, daß es in dieser Gegend gar keine Krokodile gab. Aber wahrscheinlich sprach er nicht französisch. Überdies schien das Tier von den amerikanischen Dollarkönigen erzogen worden zu sein, denn es ließ sich allerlei gute Bissen reichen, ohne auch nur Dankeschön zu sagen, und wenn man sie nicht gleich hergab, hackte es mit dem gebogenen Schnabel danach. Einige Stunden war die „Largs Bay“ durch den Märchenwald gefahren, als wieder die gerade Kanalrinne kam und der „Abstieg“ durch die Schleusen. Am frühen Nachmittag öffnete sich vor den vom üppigen Grün der Tropenvegetation trunkenen Blicken das Karibische Meer. Bald tauchten auch die weißen Gebäude von Colon auf. Der Aufenthalt in der Hafenbucht war nur kurz. Weiter ging es unter glühendem Himmel, der die Passagiere schnell vom Oberdeck vertrieb. Am liebsten hätte sich jeder seiner Kleider entledigt. Die Hemden klebten am Körper, und auf den Stirnen stand der Schweiß, sooft man ihn auch abwischte. Nach der drückenden Hitze des Tages war die hereinbrechende Nacht eine Erholung. Viele Passagiere machten sich ihre Nachtlager an Deck zurecht, die einen auf Liegestühlen, die anderen auf Decken. Aber auch
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im Freien war es keineswegs kühl. Da der Schlaf sich nicht einstellen wollte, begab sich Manfred in den Rauchsalon, um sein Tagebuch weiterzuführen. Nein, es war zu schwül, um einen klaren Gedanken zu fassen. Das beste war immer noch, nach oben zu gehen, in das Sternengefunkel zu blicken und zu träumen – vom Vater, von Tante Adele, von Tonda Novotný und vom Genossen Eisenbart. Es gab ja so viele Menschen, die ihm ans Herz gewachsen waren und um deren Geschick er bangen mußte. Fast empfand er seine eigene Lage als ein unverdientes Geschenk. Er ruhte nun hier, umgeben von den Bequemlichkeiten eines Passagierdampfers, beinahe als freier Mensch, und durfte sich sorglos dem Müßiggang hingeben, während die anderen in dem großen Zuchthaus schmachteten, in das Hitler so viele Länder verwandelt hatte. Doch bald würde er wieder zurück in Europa sein, auf einem jener Flecke, auf den der Nazistiefel noch nicht hatte treten können. Am 2. Juli war an der „Largs Bay“ das Tropenpanorama des Panamakanals vorbeigezogen, am 11. Juli wölbte sich über ihr die graue Wolkendecke eines nördlichen Himmels. Sie hatte Halifax in Kanada erreicht. Tausende Kilometer lagen wieder hinter Manfred. In seinem Tagebuch waren es allerdings nur fünf, nicht einmal sehr eng beschriebene Seiten: 3. Juli. Donnerstag. Es heißt, daß wir übermorgen nach Curaçao kommen, wo das Schiff zum letztenmal vor England in Hafen geht. Es ist sehr heiß. Abends wird die Uhr dreißig Minuten vorgestellt, wir fahren also stark östlich. Nach der Karte kann das mit Curaçao stimmen. Das genaue Ziel haben wir wieder nicht erfahren. Alles raucht jetzt amerikanische Zigaretten („Lucky Strike“ und „Chesterfield“). Zwanzig Stück kosten sechs Pence. Ich habe mir aus Langeweile tatsächlich das Rauchen angewöhnt. Wenn ich in London bin, will ich wieder aufhören. Auch rasiert habe ich mich zum erstenmal. Daran ist Onkel Bob schuld. Er behauptete, ich hätte schon einen Schnurrbart gehabt. Ich habe aber nichts davon gemerkt. 4. Juli. Freitag. Sind genau einen Monat unterwegs. Wetter schön und warm oder auch schön warm. Vormittags kamen wir an Inseln vorbei und an einem Segelboot. Wir sollen heute in Curaçao ankommen. Den Namen kenne ich von Likörflaschen. Viele Passagiere unterhalten sich auch
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schon über Schnapspreise. Das Radio berichtete über eine Rede Stalins, in der die Völker Europas zum Widerstand gegen Hitler aufgerufen werden. Auf dem Schiff befindet sich ein amerikanischer Soldat, der in Panama auf die „Largs Bay“ desertiert ist. Er will mit nach England, um gegen Hitler kämpfen zu können. Abends: Wir sind in Curaçao. Nachdem wir eine Zeitlang in der Bucht gewartet haben, fahren wir in den Hafen der Hauptstadt ein. Sie heißt Willemstadt. Die Insel gehört zu den Kleinen Antillen und ist niederländischer Besitz. Möchte wissen, was die Holländer hier zu suchen haben. Die Stadt sehen wir noch sehr gut, obgleich sich die ersten Dämmerungsschatten zeigen. Überall liegen britische Tanker. Die Stadt reicht bis ans Wasser heran. Sie macht einen ganz holländischen Eindruck, behauptet Paul Tobert, der mehrere Jahre in Utrecht gelebt hat. Die kleinen Giebelhäuser sehen aus wie in einem Spielzeugladen. Es wäre schön, einmal an Land gehen zu dürfen. Drüben auf der Insel brennt ein großes offenes Feuer. Man sagt, das sei Petroleum. Ein Wald von Petroleumtanks säumt die Küste. Onkel Bob will mir einreden, das sei Likör. Das Schiff dampft zum. anderen Ende der Insel und macht an einer riesigen Tankanlage fest. Die Tankvorrichtungen sind bis ins Meer hinausgebaut. Alles glänzt vor Sauberkeit. Kaum zu glauben, daß durch diese blanken Rohre Petroleum fließt. 5. Juli. Sonnabend. Die „Largs Bay“ hat bereits getankt. Wir sehen jetzt Curaçao bei Tag. Felsen, Palmen, Dünen, eine alte Zitadelle. Das Wasser ist bis zum felsigen Grund durchsichtig. Ganz deutlich sieht man Fische und Aale, die sich da unten tummeln. Eine niederländische Zeitung ist an Bord gekommen. Da Paul Tobert ganz gut holländisch versteht, muß er übersetzen. Sofort zu merken, daß diese Zeitung kein Freund der Nazis ist. Sie berichtet von der Wirkung des Appells von Stalin an die Arbeiter der besetzten Länder. In den tschechoslowakischen Skodawerken Sabotageakte, in Rumänien soll ein Munitionszug und in Norwegen mehrere Tankschiffe in die Luft gegangen sein. Angeblich fahren wir jetzt nach den Bermudas, um uns dort einem Geleitzug anzuschließen. Bald kommen wir wieder in den Bereich der Nazipiraten.
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6. Juli. Sonntag. Die Rettungsboote werden herabgelassen, um sie im Notfall bereit zu haben. Ein Passagier fragte den Schiffsoffizier, ob die UBoot-Gefahr sehr groß sei. Er antwortete darauf: „Machen Sie sich keine Sorgen. Die ,Largs Bay’ ist eine ziemlich alte Dame, der ist bisher nichts passiert. Warum sollte ihr jetzt etwas zustoßen?“ Ob er den Mann von der Sicherheit der weiteren Reise überzeugt hat, weiß ich nicht. 7. Juli. Montag. Früh heiß, nachmittags wohltuender Regen. Nachrichten: Die Amerikaner besetzen Island. Starker Widerstand der Roten Armee in Bessarabien. Nachmittags wird ein Mastlicht am Horizont gesichtet. Ein neues Gerücht geht um: Wir würden schon seit Tagen von einem deutschen Kriegsschiff verfolgt. Unsere Kanonen seien bereits bemannt und für den Kampf vorbereitet worden. Ein Passagier, ein alter Mann, ist gestorben, und die „Largs Bay“ hat die Flagge auf Halbmast. 8. Juli. Dienstag. Es heißt, daß wir nicht nach den Bermudas, sondern nach Halifax (Kanada) fahren. 9. Juli. Mittwoch. Das japanische Schiff, das wir im Hafen der Stadt Panama gesehen haben, soll ein getarntes deutsches Piratenschiff gewesen sein. 10. Juli. Donnerstag. Es kühlt sich merklich ab. Wir fahren an der Küste Nordamerikas entlang, von der wir allerdings nichts zu sehen bekommen. Wir sollen ungefähr in der Höhe von New York sein. 11. Juli. Freitag. Es hat sich schon sehr abgekühlt, und ich muß wieder die Jacke tragen. Fünf Uhr nachmittags kommen wir in Halifax an. Riesiger Hafen. Und Schiffe, eines neben dem anderen. Die Landschaft ist wie zu Hause. Überall Nadelwald. Am gestreckten Küstenstreifen fahren von Zeit zu Zeit Eisenbahnzüge mit außerordentlicher Geschwindigkeit vorüber.
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41. KAPITEL Einige Tage lag die „Largs Bay“ still im Hafen. Die Passagiere füllten die Stunden mit Zeitunglesen, Kartenspielen oder müßigem Umherspazieren aus. Ein wenig Abwechslung brachte ein Händler, der mit seinem Motorkutter ans Schiff herankam und allerlei Dinge anbot: Schokolade, Obst, Rasierapparate, Krawatten, Hemden. Seine Auswahl schien unerschöpflich. Feuereimer, an Stricke gebunden, mußten als Aufzüge dienen. Es war ein komplizierter Handel, denn die Verständigung vom Boot bis hinauf zum Deck erforderte eine starke Stimmkraft. Manfred kaufte ein seidenes Tuch, um es Marie Jelíneks als Geschenk mitzubringen. Für Onkel Pepík erstand er eine Tabakspfeife, und damit waren seine beiden Pfund bis auf drei Schilling aufgebraucht. Aber bis nach England würden sie schon ausreichen. Daß sie die schwierigste Strecke noch vor sich hatten, erkannten die Passagiere an dem Eifer, mit dem die Rettungsboote von der Besatzung überprüft und ausprobiert wurden. Am Freitag war die „Largs Bay“ im Hafen von Halifax eingelaufen, am Dienstag setzte sie die Reise fort. Aber sie war nicht mehr ein einzelnes Schiff auf dem weiten Meer, sondern ein Glied in einem großen Convoy, einem Geleitzug von sechzig Schiffen, die unter dem Schutz einiger Kreuzer und Zerstörer darangingen, den Atlantischen Ozean zu überqueren. Es war ein eindrucksvolles Bild, das sich Manfred bot, als er trotz des kühlen, regnerischen Wetters seine Runden ums Deck machte. Wohin er auch die Blicke wandte, überall war der Himmel von den langen milchigen Rauchfahnen der Schiffe durchzogen. Sechzig Schiffe, das war eine Flottille, die mit einemmal gar nicht übersehen werden konnte. Würde der Wolf in die Herde einbrechen und sich seine Opfer holen? Sechzig Schiffe, das war für die U-Boote des Feindes ein leckeres Jagd- wild. Aber wer dieses Wild angriff, geriet selbst in Gefahr, denn ganz wehrlos war keines der Schiffe, auch wenn es nur der Beförderung von Menschen und Lebensmitteln diente. Und die Herde hatte ja auch ihre Wachhunde mit. Doch bald kam der Nebel und zog den Vorhang zu. Es dauerte nicht lange, und er war so dicht, daß man kaum von einem Ende des Decks bis 301
zum anderen sehen konnte. Die Schiffe hatten Lichter angezündet und ließen den Baß der Nebelhörner ertönen, um Zusammenstöße zu ver- meiden. Vorsichtig krochen sie dahin durch den Wattebausch, der das Meer bedeckte. Gespenstisch blickten die verschwommenen Scheinwerferaugen aus der weißlichen Wand. Am nächsten Tag wurde der Nebel noch undurchdringlicher, und am Abend waren nicht einmal mehr die Lichter der benachbarten Schiffe zu sehen. Aber die Nebeldecke konnte nach oben zu nicht sehr dick sein, denn aus dem schwarzsamtnen Himmel leuchteten die Sterne wie Millionen Diamanten. Das Oberdeck bot keinen angenehmen Aufenthalt mehr, und so suchten die Passagiere die Gesellschaftsräume auf. Bald zeigte sich, was für künstlerische Kräfte auf der „Largs Bay“ versammelt waren. Zwei tüchtige Manager hatten während der Wartetage im Hafen von Halifax ein Varieté-Programm zusammengestellt, in dem weder Tanz noch Gesang, weder Akrobaten noch Zauberkünstler fehlten. Eine Schau unter dem Motto „Stars of the Seven Seas“ – „Die Sterne der Sieben Meere“ – lief über die „Planken“. Wieder waren die Jungen aus Neukaledonien mit ihren Liedern die Glanznummer. So schön und unterhaltsam solche Vorführungen aber auch waren, Manfreds Gedanken vermochten sie nicht davon abzuhalten, nach Europa 302
vorauszueilen. Die Nachrichten über die Kriegslage waren schlecht. Noch immer befand sich die Rote Armee in schweren Abwehrkämpfen und ging weiter zurück. Manfred hatte sich aufs Bett gelegt. Er versuchte, seinen Gedanken in einem Gedicht Ausdruck zu geben. Als der Abendbrotgong ertönte, standen die Verse auf dem Papier. „Fahrt im Nebel“ nannte er sie: Die Luft ist mit Nebel geladen, ein milchiger Dunst hüllt uns ein; doch hinter den nebligen Schwaden, im Osten, muß Rußland sein. Wir schwimmen in Wolken und Wellen und doch – durch den weißlichen Flor brechen an zahllosen Stellen kämpfende Heere hervor. Von einer Mauer umschlossen aus daunigem, gasigem Schnee, seh ich Millionen Genossen: die kämpfende Rote Armee. Sag, Schiff, warum kannst du nicht eilen, nicht fliegend durchkreuzen das Meer? Wenn ich doch nicht Tausende Meilen fern von den Kämpfenden wär! Boberlein schwieg, als ihm Manfred das Gedicht vorgelesen hatte. „Ist wohl nicht besonders geraten?“ Der Befragte schüttelte den Kopf und räusperte sich ein wenig. „Mir gefällt’s, mein Junge. Ich bin zufrieden. Mit dem Gedicht … und mit dem Dichter auch.“ Der Nebel dachte gar nicht daran, so schnell zu kapitulieren. Der Convoy, so erzählte man sich unter den Passagieren, habe einen ordentlichen
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Bogen nach Norden gemacht und durchquere die Dunstbänke von Neufundland. Das langgezogene Brummen der Nebelhörner war zur ständigen Begleitmusik geworden. An verschiedenen Stellen des Schiffes wurden wasserdichte Glaskästen angebracht, in denen sich Taschenlampen befanden. Vormittags mußten die Passagiere an Deck. Wieder gab es Verhaltungsmaßregeln für den Fall der Gefahr. Alle wurden angewiesen, die Schwimmgürtel ständig bei sich zu tragen. Endlich, am vierten Tag, war die Nebelzone durchbrochen. Mit erstaunlicher Schnelligkeit lüftete sich der Schleier. Die „Largs Bay“ fuhr im herrlichsten Sonnenwetter, wenn es auch noch ein wenig kühl war. Ein wunderbarer Anblick: Ein großer Teil des Convoys war jetzt zu sehen. Vierzig Schiffe zählte Manfred. Ruhig zogen sie ihren Weg über die blaue Fläche mit den weißen Tupfen der Wellenkämme. Sie hatten fast nördlichen Kurs. Nicht allzuweit mußte die Südspitze Grönlands liegen. Mit einem unangenehmen Gefühl beobachteten die Passagiere, daß die Wachen verstärkt und Tragbahren bereitgestellt wurden. Auch eine kanadische Luftpatrouille gab Anlaß zu ängstlichen Fragen. Doch es passierte nichts. Schon sieben Tage waren seit der Abfahrt von Kanada vergangen. Allerdings war der Nebel wieder da. Zwei Tage hielt er an, dann wich er endgültig dem Blau des Himmels. Dafür kam Wind auf und brachte die See und auch manchen Magen in Wallung. Die Eintragungen in Manfreds Tagebuch wurden immer spärlicher. Sie bestanden fast nur noch aus Wetterberichten. Erst am 25. Juli schrieb er wieder einige Zeilen mehr: Viele Passagiere haben sich Päckchen gemacht, die ihre wichtigsten Dinge – wie Dokumente, Geld, Fotografien, Briefe und ähnliches – enthalten, für den Fall, daß man „umsteigen“ muß. Ich habe ja nur meine Notizen zu verlieren. Trage sie, meine Briefe, meinen Füllhalter, das Taschentuch und die Geschenke für die Jelíneks in einem Wachstuchbeutel, den ich in der Schiffskantine erstanden habe. Aber ich mache mir eigentlich keine Sorgen. Diese Vorsichtsmaßnahme habe ich nur ergriffen, weil es die anderen getan haben. Die Nachrichten beschäftigen sich mit den Japanern und ihrer Aktion in Indochina. Von der Ostfront wird nichts Neues berichtet, außer daß die Nazis Lautsprecher aufgestellt haben
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sollen, um die Rotarmisten zur Übergabe zu bewegen. Ich kann mir das Gelächter auf der anderen Seite gut vorstellen. Vormittag elf Uhr waren Schießübungen. Das Wetter ist trübe. Wahrscheinlich fühlen wir uns deshalb sicher. Spätabends begegnen wir einem Flugzeug. Die Uhr wird um eine Stunde vorgestellt. Bin bis Mitternacht an Deck geblieben. Die See ist ruhig und die Temperatur mild. Es ist so hell, daß man lesen könnte. Habe einen von den Queen-Mary-Leuten gefragt. Er behauptet, es sei das Nordlicht. Ich habe den Eindruck, als wäre es kurz vor Sonnenaufgang. Ein heller Streifen am Horizont verstärkt noch diesen Eindruck. Am 26. Juli schrieb Manfred: Früh begegnen wir wieder fünf Sunderland-Flugzeugen. Nachmittags treffen wir britische Zerstörer, die dem Convoy von England entgegengefahren sind. Der Schutzring ist jetzt ziemlich stark. Die Passagiere fühlen sich dementsprechend sicher. Die „Largs Bay“ fährt in der ersten Linie links außen. Wir sehen von Zeit zu Zeit die Zerstörer vorbei- kommen, die hin und her pendeln. Der Convoy fährt nicht sehr schnell, da das langsamste Schiff die Geschwindigkeit für alle Schiffe bestimmt. Es heißt, daß wir als erstes Glasgow anlaufen werden. Am Mittwoch, dem 30. Juli, sollen wir da sein. Also, bald haben wir es geschafft. Der nächste Tag war wieder kühl und regnerisch. Über einigen Schiffen schwebten Papierdrachen. Warum, war nicht zu erfahren. So stand es den Passagieren frei, allein eine Erklärung zu finden. Die einen behaupteten, die Drachen seien Ziele für Schießübungen der Luftabwehr. Andere meinten, es sei eine Barriere gegen Flugzeugangriffe. Manfred und Onkel Bob saßen gerade mit einigen englischen Seeleuten im Speisesaal und unterhielten sich über die Kriegslage, als zwei heftige Detonationen erklangen. Ein leichtes Zittern lief durch den Schiffsleib. Im Nu begann sich der Speisesaal zu leeren. Da aber die Engländer sitzen blieben und die Freien Franzosen unbekümmert ihr Kartenspiel fortsetzten, rührten sich auch Manfred und Boberlein nicht von ihren Plätzen. Einer der Seeleute sagte ruhig: „Das waren ein paar Unterwasserbomben, Wenn was los ist, wird ein Warnsignal gegeben.“
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Es kam kein Signal. Als Manfred später zur Erkundung auf Deck ging, sah er noch viele Passagiere herumstehen, die schon mit Hut, Mantel und Decke an ihrer Bootsstelle erschienen waren. Ein wenig verlegen, aber doch froh, daß nichts passiert war, traten sie schließlich den Rückweg an. Und dann, am frühen Morgen des nächsten Tages, tauchte wieder Land auf. Der Convoy passierte die Hebriden. Die Passagiere der „Largs Bay“ machten sich schon an ihre Landungsvorbereitungen. Die Internierten hatten einen neuen und doch so alten Gesprächsstoff: Werden wir gleich entlassen oder noch einmal hinter Stacheldraht gesteckt? „Wir werden’s schon noch rechtzeitig erfahren“, meinte Boberlein. „Genieße die Schönheit des Meeres, mein Junge. Hier sind wir als Schiffbrüchige zwar schon einmal entlanggefahren, aber damals haben wir keine Augen dafür gehabt.“ Die Fahrt ging ihrem Ende entgegen. Der Geleitzug der Schiffe teilte sich in zwei Gruppen. Am Himmel kreisten immer häufiger britische Jäger. Da, was war das? Ein großer Frachter, der jetzt unweit der „Largs Bay“ fuhr, hatte bedenkliche Schlagseite. Manfred wandte sich an einen Schiffsoffizier. „Die da? Da sind zwei in unserem Convoy bei Neufundland im Nebel ein bißchen aufeinandergestoßen.“ Es war das herrlichste Sonnenwetter, und die See zeigte sich gnädig. Manfred Kühnemann, Joachim Boberlein, Paul Tobert und Franz Richter hatten sich in Liegestühlen langgestreckt und genossen paradiesische Stunden. Himmel und Meer, Möwen und Masten, alles war in flimmernde Luft getaucht, zu beiden Seiten ein schmaler Landstreifen, der einmal rechts, einmal links näher ans Schiff herantrat. „Dürfte Nordirland sein“, meinte Tobert. „Und das da Schottland“, ergänzte Boberlein. „Oder es sind Inseln“, sagte Franz Richter. „Auf jeden Fall müßten wir’s bald geschafft haben“, schloß Manfred und zog sein Tagebuch aus dem Wachstuchbeutel. „Schade, daß Tonda nicht hier bei uns ist. Er hat doch so große Lust gehabt, ein Stück von der Welt zu sehn.“ „Ein reines Vergnügen war unsere Weltreise auch nicht gerade“, wandte Onkel Bob ein.
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„Ja, eine regelrechte Weltreise“, brummte Franz Richter. „Man sollt’s gar nicht glauben. Genau einmal um den Globus herum sind wir gesegelt.“ „Für nullkommanichts! Gratis und frei!“ fügte Boberlein spöttisch hinzu. „Frei ist ein bißchen übertrieben“, sagte Manfred. „Wir sind auch noch gar nicht da“, gab Tobert zu bedenken. „Hier in dieser Küstengegend sollen so allerhand Minen herumliegen.“
42. KAPITEL Weder Minen noch Torpedos, noch feindliche Luftangriffe belästigten die „Largs Bay“, die jetzt allein unter Volldampf ihren Weg durch den Firth of Clyde fortsetzte, vorbei an dem Städtchen Largs, das dem Schiff seinen Namen gegeben hatte, vorbei an Dörfern und Ortschaften, die sich an die grünen Hügel der Küste schmiegten. Und schließlich am späten Abend warf die „Largs Bay“ in der Bucht die Anker aus. Tags darauf, am frühen Morgen, ging es in den Hafen hinein. Werften, Dockanlagen, Soldaten, und hoch am Himmel die Ballonbarriere. Dunst, graue Häuser, Schornsteine und Hitze. Glasgow! Hier waren sie schon einmal gelandet, damals nach dem salzigen Bad in der Irischen See. Sollte seither nicht viel mehr als ein Jahr vergangen sein? Nein, der Kalender sagte die Wahrheit. Und fast vier Monate hatten sie von dieser Zeit auf See verbracht, als unfreiwillige, moderne Magellans den Erdball umschiffend. Doch weit gefehlt, zu glauben, daß die Internierten ihre Fahrt beendet hatten. Nur für wenige waren die Entlassungspapiere eingetroffen. Die anderen mußten noch einen Tag an Bord verbringen. Die nächste Station würde wieder ein Lager sein, erfuhren sie. Früh halb drei wurden sie geweckt, um drei gab es Frühstück, und um vier saßen sie im Omnibus, der sie durch die verdunkelte Stadt zum Bahnhof brachte. Eigentlich war es erst zwei Uhr morgens, denn während des Krieges hatten die Briten die Uhr im Sommer um zwei Stunden vorgerückt, um das Tageslicht besser 307
auszunutzen. Noch vor der Morgendämmerung fuhr der Zug ab. Als die Sonne aufging, enthüllte sich vor ihnen eine wundervolle Sicht: Schottisches Hügelland! Steinwälle durchzogen die Hänge und Täler und teilten sie in ungleichmäßige Vierecke. Auf den grünen Flecken weidete Vieh. Alles strahlte eine einladende Ruhe aus, alles atmete Frieden. „Damit wir die Britischen Inseln ordentlich kennenlernen, werden wir noch ein bißchen spazierengefahren“, spöttelte Joachim Boberlein. Es ging über Carlisle nach Fleetwood. Und da waren sie wieder auf einem Schiff, genauer: auf einem Schiffchen von siebenhundert Tonnen. Trotzdem fanden tausend Passagiere Platz auf dem Boot, das seine Menschenfracht in vier Stunden hinüber nach Douglas auf der Isle of Man brachte. Als sie durch die Stadt, die in friedlichen Zeiten den Wohlhabenden als Kurort diente, zum Lager marschierten, brummte Boberlein: „Immerhin schon nahe genug an der Front, um Bomben auf den Kopf zu kriegen.“ Man hörte aber aus seiner Stimme, daß er es nicht bedauerte, die Unsicherheit hier für die Sicherheit in Australien eingetauscht zu haben. Manfred meinte nur: „Die Hauptsache, sie lassen uns nicht noch ein Jahr lang herumsitzen.“ „Geduld, Junge. Du bist erst achtzehn und hast noch viel Zeit.“ Wieder umschloß sie Stacheldraht. Das Lager bestand aus einigen Straßenzügen, die von der Stadt abgetrennt worden waren. Im Zentrum des Lagers lag ein großer Park mit vielen blühenden Büschen. Manfred und Onkel Bob zogen in Haus 31. „Nun können wir zur Abwechslung ein bißchen Wohnung einrichten“, sagte Boberlein. „Hast wohl keine Lust mehr dazu?“ Nein, Manfred hatte wirklich keine Lust mehr. Raus wollte er endlich. Raus! Doch drei Monate lang mußte er noch den „Erholungsurlaub“ auf der Internierteninsel verbringen. Es waren drei lange Monate, auch wenn man einmal wöchentlich ins Kino geführt wurde, Bücher lesen konnte und auch die Lagerzeitung Beschäftigung bot. Wie sich Manfred nach „draußen“ sehnte, zeigte sich auch in seinen Tagebucheintragungen, die immer kürzer wurden.
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3. August 1941. Die Katzen haben hier keine Schwänze. Als ich die erste schwanzlose Katze sah, dachte ich, sie sei ein Krüppel. Mußte jedoch bald feststellen, daß hier alle Katzen so herumlaufen. Sie werden gleich ohne Schwanz geboren. Mir sind die Londoner Katzen mit ihren Schwänzen lieber. 4. August 1941. Spaziergang um Douglas herum. Herrlich ist es hier. Eine wunderbare Bucht mit einer Klippe, auf der sich ein Turm erhebt, damit die Schiffe nicht darauf stoßen. Wilde Felsen mit steilen Wänden gehen bis ans Wasser. 4. August 1941. Entlassungsanträge und allerhand Formulare ausgefüllt. 6. August 1941. Das Camp-Theater führte ein Stück von John Galsworthy auf (The Silver Box). 7. August 1941. Der Lagerkommandant wollte unsere Zeitung verbieten. Ist ihm zu kommunistisch. 8. August 1941. Ein Transport Rückkehrer aus Kanada eingetroffen. Brachten eine Menge Zigaretten ins Lager. Wenn ich aus dem Lager komme, höre ich auf zu rauchen. 9. August 1941. Onkel Bob sagt, ich sei alt genug und brauchte zu ihm nur noch „Bob“ zu sagen. Wird eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. 10. August 1941. Brief von Marie und Pepík erhalten. Freue mich schon, ihnen meine kleinen Geschenke übergeben zu können. Wird aber, wie es aussieht, noch eine Weile dauern. 11. August 1941. Heute war Spaziergang. Hatte keine Lust mitzugehen und blieb zu Hause. Brief an die Jelíneks geschrieben. Einige Tage lang trug Manfred überhaupt nichts ein, denn es wurde ein neuer Lagerältester gewählt. Boberlein war mit aufgestellt gegen einen Mann, der im Verdacht stand, ein Spitzel des Kommandanten zu sein. Da gab es viel zu tun, um die Lagerbewohner für Boberlein zu gewinnen. Boberlein wurde gewählt. Der „Wahlkampf“ war vorbei, und die alte Lagerlangeweile begann. Das einzige, was Manfred noch in Bewegung brachte, waren die Rundfunknachrichten. Wie es schien, war es mit den Erfolgen Hitlers zu Ende.
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Dann war endlich der ersehnte Tag da. Manfred saß mit Boberlein auf der Treppe vor dem Haus und streichelte gerade eine weiß-gelb-gefleckte Katze – an die Schwanzlosigkeit hatte er sich inzwischen gewöhnt – , als er von einem Sergeanten zur Kommandantur gerufen wurde. „Ich gratuliere Ihnen“, sagte der Offizier des Sicherheitsdienstes. „In drei Tagen werden Sie entlassen.“ In Manfred schoß ein jähes Gefühl der Freude auf, und gleichzeitig meldete sich ein Bedauern. Was war mit Joachim Boberlein? Sollte er fragen? Er unterließ es. Mit solchen Amtsstellen mußte man vorsichtig sein. Kein Wort mehr sagen, als notwendig war. „Ihr Gepäck bringen Sie morgen gepackt zur Kontrolle. Montag früh ist es soweit.“ Packen war für Manfred eine Sache von fünf Minuten, denn seine Habe bestand aus einem Pappköfferchen, ein wenig Unterwäsche, ein Paar Turnschuhen, Waschzeug und den Sachen, die er anhatte. Das Tagebuch hatte zwar schon einen ganz beträchtlichen Umfang angenommen, fand aber noch in den Jackentaschen und im Mantel Platz. Zur Kontrolle wollte er es nicht geben. Er hoffte, ohne Leibesvisitation durchzukommen. Der Montag näherte sich, und je näher er kam, desto stärker wurde jenes seltsame Gefühl, das er schon bei seinem Abschied vom Lager in Hay empfunden hatte. Boberlein würde allein zurückbleiben, und er fuhr in die Freiheit. Joachim Boberlein sah sehr wohl, was in Manfred vorging. „Endlich werden wir dich los“, sagte er. „Ein gutes Zeichen, daß die Dinge in Fluß geraten sind. Heute du, morgen ich. Sieh zu, daß du gleich ein Zimmer mit zwei Betten kriegst, wenn wir nicht mehr in unsere alte Bude ziehen können. Um mich sorg dich nicht. Du weißt: Wo auch immer ein Kommunist stecken mag, überall hat er eine wichtige Aufgabe. Hier ist’s eben die Funktion, Sprecher der Kameraden zu sein. Gar keine leichte Sache.“ Montag, kurz nach acht, befand sich Manfred schon außerhalb des Drahtzaunes. Der Sergeant hatte ihn nur gefragt, ob er Briefe für irgend jemand mitgenommen habe. Das konnte er mit gutem Gewissen verneinen.
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Jetzt also war er kein Gefangener mehr. Seine Tagebuchnotizen lagen wohlgeborgen in den Taschen. Vielleicht konnte er bereits am Abend Wiedersehen mit Marie und Pepík feiern. Am Lagertor standen die Internierten, in der Mitte Joachim Boberlein, und winkten ihm zu. Aus ihren Blicken konnte er lesen: Ihr draußen sorgt bitte dafür, daß wir auch bald herauskommen! Inzwischen war es November geworden, der 3. November 1941. Der gewohnte Gang über den Laufsteg zur Fähre. Ein begleitender Beamter drückte Manfred Fahrkarten bis London in die Hand und erinnerte ihn daran, daß er weder schreiben noch telefonieren, noch telegrafieren dürfe, ehe er sich nicht in London bei der Polizei gemeldet habe. Das Boot machte los. Allein mit seinem Köfferchen, lehnte Manfred an der Reling und ließ seinen Blick über die rauhgewordene See schweifen. Die Isle of Man verschwand rasch hinter einem dunstigen Schleier. Tief atmend, spazierte er auf dem Deck hin und her. War es der bewegte Seegang, war es der Abschiedsschmerz, oder war es die Vorfreude auf London, was ihm sein Herz klopfen und seinen Magen tanzen machte? Doch sollte er sich jetzt von der Seekrankheit unterkriegen lassen? Er, der alle Meere der Welt befahren hatte? Nein, er war entschlossen, sein Frühstück nicht an die Fische weiterzufüttern. Und er blieb Sieger. Kaum daß er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, fühlte er sich mopsfidel. Noch fideler wurde er, als er in der Eisenbahn saß – Richtung London. Als er die Stadt erreichte, war es bereits dunkel. Die Bahnhofsuhr zeigte die achte Stunde an. Der Himmel war schwarz und besternt. Deutlich hoben sich die gespensterhaften Ballons der Fliegerabwehr vom Firmament ab. Manfred trat aus dem Bahnhof heraus. London im Krieg. Die Autos, die Busse, die Verkehrsampeln, alles mußte sich mit schwachen, abgeblendeten Lichtern begnügen, um es dem Tod, der die Stadt aus der Luft anfallen wollte und schon so grausam angefallen hatte, recht schwer zu machen. Zuerst mußte der Rückkehrer zur Polizei. Während er durch die bekannten und doch fremd gewordenen Straßen schlenderte, wunderte er
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sich, daß nach den schweren Luftangriffen im Herbst vergangenen Jahres die Stadt so unversehrt geblieben war. Doch dieser Eindruck währte nicht lange. Wie finster, wie tot waren die Häuser! Das konnte nicht nur die Verdunkelung sein, das waren doch leere Fensterhöhlen, die ihn schwarz anstarrten. Ausgebrannt reihte sich in manchen Straßen ein Haus an das andere. Hätten ihm nackte Flächen oder Trümmerhaufen ein trauriges Willkommen gesagt, er wäre nicht so erschüttert gewesen wie von diesen stummen Fassaden, hinter denen es kein Leben mehr gab. Da war die Gray’s Inn Road. Wie anders sah sie jetzt aus! Gut erinnerte sich Manfred an den Tag seiner ersten Ankunft in London. Damals hatte ihn der Schwarze Robert auch durch diese Straße geführt. Hier war es. gewesen, wo ihm so viele Katzen über den Weg gelaufen waren. Im Polizeirevier fragte der Beamte, als er Manfreds neuen Personalausweis mit den nötigen Stempeln versah: „Warum sind Sie nicht in Australien geblieben? In Europa ist Krieg.“ „Krieg gegen den Faschismus. Deshalb bin ich ja zurückgekommen.“ Der Engländer lächelte und reichte ihm den Ausweis. „All right, young man… Then good luck!“ Zehn Minuten später stand der junge Kühnemann bereits vor dem breiten Eingangstor der Canterbury Hall, einem gerade fertiggestellten Neubau, als Studentenwohnheim gedacht. Das Hilfskomitee hatte das Gebäude für die Unterbringung der Emigranten aus der Tschechoslowakei gemietet.
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Im zweiten Stock wohnten die Jelíneks. Auch für ihn und Boberlein würde sich hier ein Zimmer finden. Nun war er zurück, ohne Onkel Bob, wie er seinen treuen Freund in Gedanken immer noch nannte. Fast schämte er sich, obgleich er ja keinerlei Schuld daran trug, daß er allein kam. Es war ein schönes, modernes, sauberes Gebäude, das ganz einem großen Hotel glich. In der Empfangshalle stand ein Mann hinter einer Theke. Manfred stellte sein Köfferchen ab. „Da ist er ja, unser Australier!“ Pepíks Stimme war das! Ohne auf den Ort Rücksicht zu nehmen, fiel ihm Marie um den Hals und küßte ihn auf beide Wangen. Er sah auf sie herunter – einen ganzen Kopf kleiner war sie als der große Junge, „Wo hast du bloß gesteckt? Wir waren doch auf dem Bahnhof“, rief Pepík. „Ihr wußtet, daß ich komme?“ „Sonst wären wir doch nicht hingegangen.“ „Onkel Bob ist noch im Lager.“ „Wissen wir … Aber er wird auch bald herauskommen. Doch begeben wir uns erst mal auf unsere Bude. Ein Zimmer haben wir für dich auch schon festgemacht. Die Anmeldung im Büro hat Zeit bis morgen früh.“ Mit Marie und Pepík ging es zum Fahrstuhl. Lautlos trug er die drei zum zweiten Stock hinauf. „Ihr wohnt ja wie die Fürsten.“ „Jedenfalls besser als in einem Internierungslager“, gab Marie zu, während sie Manfred mit liebevollen Augen maß, als wäre er ihr Sohn.
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Bei Kaffee und Kuchen wurde Wiedersehen gefeiert. Marie hatte Manfreds Geschenk, das kanadische Seidentüchlein, um den Hals gebunden, und Pepík rauchte aus der neuen Pfeife. Als sie sich anschickten, zu Bett zu gehen, war es beinahe vier Uhr morgens. Und dabei hatte Manfred erst über einen Bruchteil seiner Reise berichtet. Hätte Marie nicht darauf bestanden, in die Federn zu gehen, wären sie wohl diese Nacht überhaupt nicht zum Schlafen gekommen.
43. KAPITEL Der Winter kam, der Frühling, der Sommer und wieder der Winter. Ein Jahr löste das andere ab. Der Krieg zog sich in die Länge. Im Fernen Osten wehrten sich die Völker gegen ihre japanischen Unterdrücker, in Europa und Afrika kämpften sie gegen die Heere Hitlers und Mussolinis. Die schwerste Last in diesem Ringen mußten die Armeen der Sowjetunion und die Widerstandskämpfer in den besetzten Ländern tragen. Überall waren die Besten und Tapfersten des Volkes für die Freiheit aufgestanden. In den Bergen, in den Wäldern oder als geheime Zellen in den Fabriken hatten sie sich zusammengefunden und führten einen unermüdlichen, zähen und aufopferungsvollen Kampf gegen den faschistischen Feind. Auch der Vater des jungen Kühnemann kämpfte in der Maquis irgendwo in Frankreich. Lebte er noch? War er in die Hände der Gestapo gefallen? Manfred hatte nie wieder eine Nachricht erhalten. Doch es hatte wenig Sinn für ihn, sich darüber den Kopf zu zergrübeln. Sein Vater teilte das Los von Millionen Menschen in den Weiten des Sowjetlandes, in Norwegen, Belgien und den Niederlanden, in Albanien, Griechenland und Jugoslawien, in der Tschechoslowakei und Polen, in Frankreich und in Deutschland selbst. Manfred hatte in einem Rüstungsbetrieb Arbeit gefunden. War es den Emigranten vor dem Krieg verboten gewesen, eine Stellung anzunehmen, 314
so unterlagen sie jetzt wie jeder andere der Arbeitspflicht. Aber es bedurfte keines Zwanges. Jeder Handschlag in einer Fabrik war ein Faustschlag gegen Hitler, das wußten die deutschen Antifaschisten sehr gut. Mit dem Umherreisen war es nun vorbei. Der Globetrotter hatte sich in einen seßhaften Londoner verwandelt. Tag für Tag, und wenn er Nachtschicht hatte, Nacht für Nacht, ging Manfred zur Arbeit. Wurden Überstunden verlangt, dann leistete er Überstunden. Seine Freizeit ver- brachte er wie früher im Klub oder auf Versammlungen. Es gab keine Demonstration für die Zweite Front, bei der Manfred gefehlt hätte. Der Alltag der Kriegsjahre nahm ihn vollständig in Anspruch. Das Tagebuch ruhte unberührt in der Schublade seines Tisches, und kein Gedicht war entstanden, seit er aus dem Internierungslager gekommen war. Manfred feierte seinen neunzehnten Geburtstag, seinen zwanzigsten, seinen einundzwanzigsten. Der Krieg aber war noch nicht zu Ende, obgleich es seit dem großen Sieg der Roten Armee bei Stalingrad jeder wußte: Hitlerdeutschland war das Rückgrat gebrochen. Vielleicht hätte das Nazireich schon kapitulieren müssen. Doch die Regierungen in Großbritannien und den USA schoben die Eröffnung der Zweiten Front, zu der sie sich verpflichtet hatten, immer wieder hinaus. Sie dachten: Je länger sich, die Russen und die Deutschen schlagen, desto einfacher wird es für uns sein, als lachende Dritte die Früchte des Sieges einzuheimsen. So gewann Hitler Zeit. Während seine Truppen im Osten das Aus- reißen lernten, saßen sie noch an der Atlantikküste und setzten ihre „Wunderwaffen“, die sie V 1 und V 2 nannten, gegen England ein. Es waren schwere Monate für das riesige London mit seinen acht Millionen Menschen. Tag und Nacht in kurzen Abständen kamen die ferngesteuerten unheimlichen Flugzeuge an, die eigentlich nur geflügelte Bomben waren, und fielen auf die Stadt herab. Doch die Arbeit mußte weitergehen. Hätten alle in die Luftschutzkeller fliehen wollen, wäre das Leben in London erstorben. Die Betriebe begnügten sich also, Wachen auf den Dächern ihrer Werkhallen aufzustellen. „Doodlebugs“, was soviel wie „Dudelwanzen“ heißt, nannten die Londoner diese Bomben. Kam eines der mörderischen Insekten angeflogen, dann gaben die Wachen ein Zeichen, und die Arbeiter konnten ein wenig Deckung suchen.
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Auch Manfred verbrachte manche Stunde auf einem Hallendach und hielt Ausschau. Und jedesmal, wenn eine Doodlebug kam, stieg in ihm der Zorn hoch. Hatten nicht deutsche Arbeiterhände diese Bomben hergestellt, und wurden sie nicht von deutschen Händen abgefeuert – zur Verteidigung einer ungerechten Sache? Drei Monate lang kamen die V 1 angesummt. Drei Monate, tagein, tagaus wurden Menschen von zusammenstürzenden Häusern begraben, in brennenden Omnibussen getötet oder auf offener Straße zerrissen. Doch Hitler hatte auch seine V 2. Raketengeschosse! Ihre zerstörende Kraft war noch furchtbarer. Keiner konnte sie sehen, keiner konnte sie hören, denn sie rasten durch die Luft wie der Blitz. Nur dem Zufall war es zu verdanken, daß Manfred Kühnemann und Joachim Boberlein nicht das Opfer einer V-2-Rakcte wurden. Sie hatten jetzt eine kleine Wohnung unweit des Bahnhofs King’s Gross. An einem Montag – müde waren sie von der Arbeit gekommen und bereiteten sich gerade ihr Abendbrot – als eine ohrenbetäubende Detonation erfolgte. Ein Beben ging durch das Haus, und die Pfannen an der Wand über dem Herd führten einen Tanz auf. Die beiden ließen alles stehen und liegen und eilten hinunter. Wenige Häuser entfernt – ein Bild des Grauens. Eine Raketenbombe war niedergegangen. Die Kirche, die Schule und die lange Reihe der Wohnhäuser zu beiden Seiten der Straße waren eine einzige brennende Trümmerfurche. Hitlers „Wunderwaffen“ töteten wohl viele Menschen, aber sie vollbrachten nicht das Wunder, das „Dritte Reich“ vor dem längst verdienten Untergang zu retten. Der Zeitpunkt war gekommen, von dem einst Boberlein gesprochen hatte. Die Nazitruppen mußten ihre Beute loslassen, ein Land nach dem anderen wurde ihnen von der Roten Armee und den Partisanen entwunden. Auch im Süden und Westen traten sie den Rückzug an. Die Truppen der Alliierten landeten in Italien und Frankreich. Mit Hitlers V 1 und V 2 war es vorüber. Die Londoner konnten wieder aufatmen, wenn sie auch das Leben von Zehntausenden beklagten und viele Häuser zerstört oder beschädigt worden waren.
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Eines Tages gegen Ende September brachte der Postbote einen ein- geschriebenen Brief vom Hilfskomitee. Es war Sonnabend, und Manfred hatte sich schon fertiggemacht, um den freien Nachmittag mit einem Spaziergang in den Hyde Park auszufüllen. Ein eingeschriebener Brief? Wer wußte, was das Komitee wieder von ihm wollte. Sicher war ein Formular auszufüllen oder etwas Ähnliches. Langsam öffnete er den Umschlag. Er zog einen zweiten heraus. Die beigefügten Zeilen des Komitees brauchte er gar nicht erst zu lesen. Paul Kühnemann hatte geschrieben. Aus Paris. „He, Bob, vom Vater!“ brüllte Manfred, obgleich er wußte, daß Boberlein längst fortgegangen war. Am liebsten hätte er den Brief gleich aufgefetzt, doch er zwang sich zur Ruhe und ging an die Schreibkommode, um die Schere zu holen. Inzwischen las er den Absender. Ja, da war sie, die vertraute Schrift des Vaters. Aber was stand da? „Exp. Marcel Mercier, Paris I9C; 3, Ruc Paul de Kock.“ Schnell klärte sich die Sache mit dem Namen auf. „Mein lieber Manfred! Wenn Dich dieser Brief erreicht, und ich zweifle nicht daran, bist Du bereits über einundzwanzig Jahre alt, also schon ,mündig’, wie man das bekanntlich nennt. Wer aber wie Du allein so viele schwere Jahre der Heimatlosigkeit und des Krieges durchgemacht hat, der ist schon lange ein reifer Mensch geworden. Wir alle sind reifer geworden, auch ich, denn ein Mensch, der wirklich lebendig ist, hört nie auf zu lernen. Noch ist der Krieg nicht beendet, doch es ist nur eine Frage von Wochen oder Monaten, bis der Hitlerfaschismus und seine Verbündeten niedergeschlagen sind. Je schneller das Ende kommt, desto besser für alle Völker, auch für das deutsche, obgleich es mancher Deutsche noch nicht einsieht. Ja, es ist so: Die Niederlage kann ein Sieg sein, wenn auch einer, der teuer bezahlt werden muß. Für uns beide rückt nun endlich der Tag heran, da wir uns wiedersehen werden. Sicher hast Du es in London auch nicht leicht gehabt. Mit Zorn haben wir von den Luftangriffen der Nazis auf Coventry und London gehört. Du kannst Dir denken, wie ich mich um Dich gesorgt habe. Wir haben hier auch kein einfaches Leben gehabt. Vielleicht hast Du Dich 317
gewundert, daß auf dem Umschlag als Absender Marcel Mercier steht. Als ich untertauchen mußte, haben mir die französischen Genossen Papiere auf diesen Namen besorgt, und Du kannst Dich darauf verlassen, daß Leutnant Mercier in der französischen Widerstandsbewegung seinen Mann gestanden hat, wie es sich für einen deutschen Kommunisten gehört. Ich bin überzeugt, daß auch Du Deine Zeit nicht hinter dem Ofen oder in Luftschutzkellern verbracht hast. Ich brenne darauf, Dich wiederzusehen – am liebsten in der Heimat. Inzwischen schreibe mir ausführlich über alles, was Du erlebt und getan hast. Ich selbst habe viel zu tun. Die Gefangenenlager füllen sich immer mehr mit deutschen Soldaten, mit denen man sprechen muß. Wir wollen ihnen helfen, den Irrweg zu begreifen, auf den sie durch Hitler geführt wurden. Vor allem aber bemühen wir uns, ihnen einen Weg in eine neue, bessere Zukunft zu weisen. Das ist jetzt meine Hauptarbeit, die ich mit anderen deutschen Genossen aus dem Maquis teile. Wenn wir uns wiedersehen, werden wir uns viel zu erzählen haben. Wie geht es Genossen Boberlein? Was macht der Schwarze Robert? Schreibe umgehend. Ich warte mit Sehnsucht auf Deine Antwort. Bis ich neue Ausweispapiere habe, kennt man mich hier nur als Marcel Mercier. Beachte das bei der Adresse. Auf Wiedersehen! Es grüßt und küßt Dich Dein Vater.“ Aus Manfreds Spaziergang in den Hyde Park wurde nichts. Den ganzen Nachmittag verbrachte er damit, an seinen Vater einen Brief zu schreiben. Zwölf Seiten! Abends aber feierte er mit Joachim Boberlein, dem Schwarzen Robert, den beiden Jelíneks und noch einigen Genossen im Klub in der Upper Park Road. Sie mochten sich noch so dagegen wehren, er hielt sie alle frei.
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44. KAPITEL In den letzten Tagen des April 1945 schloß die Rote Armee Berlin ein, und in den ersten Tagen des Mai eroberte sie die deutsche Hauptstadt. Auf dem Reichstagsgebäude, das die Nazis zwölf Jahre vorher in Brand gesteckt hatten, um die Kommunisten der Tat beschuldigen zu können, wehte die Fahne mit Hammer und Sichel. Hitler aber hatte sich feig durch Selbstmord der Verantwortung für seine Verbrechen entzogen. Der Faschismus war geschlagen. Endlich war die Stunde gekommen, da den Emigranten, die in die Fremde hatten fliehen müssen, um dem Konzentrationslager oder dem Henker zu entgehen, das Tor zur Heimat wieder offenstand. Das Tor der Heimat stand offen, aber das Hineinkommen war nicht einfach. Die kapitalistischen Regierungen sahen es gar nicht gern, daß jetzt Tausende von Antifaschisten nach Deutschland zurückkehrten. Die würden ja doch nur versuchen, das Volk für den Sozialismus zu gewinnen. So saß auch Manfred Kühnemann noch viele Monate nach Kriegsende in London und wartete auf eine Möglichkeit, heimzukehren. Seit er den ersten Brief von seinem Vater aus Paris bekommen hatte, war mehr als ein Jahr vergangen. Die britische Regierung behauptete, es gäbe nicht genug Schiffsraum, um die Emigranten jetzt nach dem Festland hinüberzubringen. Das war natürlich eine Ausrede. Hatte es nicht an Schiffen gefehlt, als man die internierten Emigranten mitten im Krieg um den ganzen Globus herumfuhr, so konnte es auch nicht an Schiffen fehlen, um sie das kleine Stück über den Ärmelkanal zu schaffen. Die Ungeduld fraß an ihm. Mochte ihm auch in den Kriegsjahren London ans Herz gewachsen sein, wie ihm einst Prag ans Herz gewachsen war, die Heimat konnte es ihm nicht ersetzen. Die Jelíneks waren schon längst mit einem tschechoslowakischen Transport hinübergefahren. Er aber, der sich danach sehnte, endlich den Vater wiederzutreffen, er saß hier fest. Der Vater lebte wieder in Dresden und half beim Aufbau einer neuen Stadtverwaltung. Und schrieb der Vater nicht, daß jeder arbeitswillige Mensch, auf den sich die Arbeiter- klasse verlassen konnte, daheim dringend gebraucht wurde?
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Tante Adele, die den mörderischen Luftangriff vom 13. Februar wie durch ein Wunder überlebt hatte, schrieb ihm allerdings: „Obwohl ich mich sehr nach Dir sehne, Du alter Ausreißer, rate ich Dir, Dich nicht zu beeilen. Hier sind nur Trümmer übriggeblieben, wenn auch der Zufall mich und unser Haus gerettet hat. Es fehlt an allem, an Essen, an Kleidung und an Kohle.“ Es war kein Trost für ihn, daß es ihm in London besser ging. Er wollte nach Hause, wollte wieder zwischen Menschen leben, die in seiner Muttersprache redeten. Er sehnte sich nach der Dresdner Heide und nach der Sächsischen Schweiz und nach den Loschwitzer Höhen. Da hatte er einen Gedanken: die Jelíneks! Sie konnten ihm vielleicht helfen. Wenn sie ihm ein Durchreisevisum für die Tschechoslowakei besorgten, würde er das Hilfskomitee bitten, ihn mit einem tschechoslowakischen Heimkehrertransport über Prag nach Dresden fahren zu lassen. Joachim Boberlein meinte nur: „Und du bildest dir ein, du kriegst ein Visum? Die haben jetzt andere Sorgen in Prag … ganz abgesehen davon, daß wir Deutschen nicht gerade gern gesehene Gäste sind, nach all dem, was den Tschechen von Deutschen angetan worden ist.“ „Aber das waren doch nicht wir, sondern die Nazis.“ „Hat schon seine Richtigkeit. Aber da nun mal die Nazis in den Augen der andren Völker auch Deutsche waren, wird man eben alle Deutschen verständlicherweise mitverantwortlich machen. Wir werden uns gewaltig anstrengen müssen, um wieder Vertrauen bei den Menschen jenseits der deutschen Grenzen zu erwerben.“ Das war gewiß die bittere Wahrheit. Doch hatte ihn Boberlein nicht auch gelehrt, daß man nie die Hoffnung aufgeben sollte, solange auch nur ein Fünkchen Aussicht auf Erfolg bestand? Und so schrieb Manfred an Marie und Pepík, sie möchten bei der neuen Regierung in Prag ein gutes Wort für ihn einlegen. Ihm hinge die Warterei in London zum Halse heraus. Es war November geworden. Bald würde man das Jahr 1946 schreiben. Manfred saß mit Boberlein beim Abendbrot. Sie unterhielten sich über den großen Prozeß, der in Nürnberg vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die Nazi-Kriegsverbrecher stattfand. Da klingelte es dreimal.
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„Mensch, der hat’s aber eilig“, brummte Boberlein. Manfred stand auf und ging zur Tür. Es war der Postbote mit einem Telegramm. Ein Telegramm für ihn? Aus Prag? Hastig entfaltete er es. Ach, was waren das doch für prächtige Kerle, die Jelíneks! Die Nachricht lautete: „VISUM BEWILLIGT STOP LIEGT BEI TSCHECHO- SLOWAKISCHER BOTSCHAFT LONDON STOP LEIDER NUR FÜR DICH STOP BRIEF FOLGT STOP JELÍNEK!“ Boberlein glaubte erst, Manfred hielte ihn zum besten. Dann las er das Telegramm und vergaß auf ein Weilchen weiterzukauen. „Ein Glück, daß wir nicht gewettet haben. Also hast du’s doch geschafft. Gratuliere!“ „Mensch, Bob, ich kann’s noch gar nicht fassen. Aber hier steht’s schwarz auf weiß.“ „Ja, schwarz auf weiß“, wiederholte Boberlein, und in seinem Gesicht stand aufrichtige Freude. „Also wieder eins zu null für dich. Du bist mir ein gutes Stück über den Kopf gewachsen – nicht nur, was die Körperlänge anbetrifft.“ Es war keine leichte Arbeit, rechtzeitig die notwendigen Papiere zu erhalten. Nach einer Woche Herumlaufens und Wartens bei den Behörden, wobei es nicht immer ohne Streit abgegangen war, hatte Manfred Kühnemann schließlich alles beisammen. Noch drei Tage blieben ihm, um sich von Freunden und Genossen zu verabschieden. Und das waren nicht wenige. Im Laufe der Jahre war ihm so mancher Engländer, Schotte, Franzose, Belgier, Holländer und Norweger, mit dem er im Werk am gleichen Fließband gearbeitet hatte, ein guter Kamerad geworden. Die letzten Stunden kamen. Boberlein und der Schwarze Robert begleiteten ihren Schützling von einst, der sich inzwischen in einen starken, hochgewachsenen jungen Mann von zweiundzwanzig Jahren verwandelt hatte, zum Bahnhof. Manfreds Koffer lagen schon bei der Gepäckabgabe. Da noch viel Zeit war, machten die drei einen Spaziergang zum Hyde Park. „Morgen atmest du schon kontinentale Luft“, sagte Boberlein ein wenig wehmütig. „Und auf dein Leibgericht Fish and Chips wirst du zu Hause auch verzichten müssen“, fügte der Schwarze Robert hinzu.
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„Darum wird’s mir wirklich leid tun“, gab Manfred zu. „Und um vieles andere. Unser Klub in der Upper Park Road, die Untergrundbahn, die Hampsteader Heide, die Oxford Street und das chinesische Restaurant in Soho. Ach ja, es gibt so manches, was einem liebgeworden ist und was einem wohl ein Weilchen fehlen wird. Und da habe ich noch gar nicht von den Kumpels aus meinem Betrieb gesprochen.“ Sie erreichten die Parkecke, wo sich der große marmorne Triumphbogen erhebt, und blieben vor einem der Redner stehen, die dort alltäglich auf einer Kiste oder auch hinter einem Pult predigten und die Vor- übergehenden anzulocken versuchten, um sie für die Heilsarmee oder irgendeine religiöse oder politische Sekte zu gewinnen. Mochten die Leute auf den Podien ihr Geschwätz ernst meinen, die Zuhörerschaft betrachtete es mehr als eine Art Belustigung. „Und jetzt gehn wir ins Lyons Corner House“, schlug Robert vor. Die beiden waren einverstanden. Zum letzten Mal aß Manfred ein echtes englisches Mittagessen, bestehend aus Mock turtle soup (auf deutsch: falsche Schildkrötensuppe), Rumpsteak (auf deutsch: Lendenbraten) und Pudding (auf deutsch: Pudding). „Deine Henkerspeise“, spöttelte Boberlein. Man sah es ihm an, daß auch er ganz gern seine Abschiedsmahlzeit gegessen hätte. Ein paar Stunden später rief Manfred Kühnemann von der Reling der „Nightingale“ seinen treuen Freunden „Auf baldiges Wiedersehn!“ zu. London, das große, arbeitsame, verkehrsreiche, lärmende, graue, zerbombte, sonnige und neblige, das ihm viele Jahre die Heimat hatte ersetzen müssen, war nun auch ein Stück Vergangenheit. Es fiel ihm nicht allzu schwer, von der Stadt an der Themse zu scheiden. Das kam wohl daher, daß er nicht mehr wie in den vergangenen Jahren ins Ungewisse fuhr, sondern nach Hause, nach Deutschland, wo der Vater auf ihn wartete. Und viele der liebgewordenen Menschen, die er zurückließ, würden ihm bald folgen, ob es nun Joachim Boberlein und der Schwarze Robert oder all die anderen Genossen waren. Heimkehr! Hatte er sie sich so gedacht? Zwischen jenem Tag, da er sich von Tante Adele für einen „Sonntagsausflug“ verabschiedete, und heute, da er auf einem kleinen britischen Dampfer mit einem Transport
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tschechoslowakischer Repatrianten den Ärmelkanal überquerte, lagen mehr als sieben Jahre. Sieben Jahre mögen in der Entwicklung der Menschheit nicht einmal ein Atemzug sein. Aber diese sieben Jahre waren mehr als ein Atemzug gewesen, denn unter den Kriegstrümmern lagen auch die Sklavenketten vieler Völker begraben. Und Manfred hatten die sieben Wanderjahre von einem Knaben in einen Mann verwandelt. Vom Bug der „Nightingale“ ließ er seinen Blick vorauseilen, voraus zur Küste des alten Kontinents, der dabei war, sich zu verjüngen. Und da würde man auch seine Hände und seinen Kopf brauchen. Der Wind des späten November machte das Schiff auf- und niedertanzen, und Sturmvögel, trieben ihr Spiel auf den Wellen. Von Zeit zu Zeit kühlte ein Schauer zerstobenen Salzwassers Manfreds Gesicht. Wie schön war das Leben, wenn man ein Ziel vor den Augen hatte! Sein Ziel hieß jetzt: Heimat. Und ihr eilte er entgegen. In der Ferne zeigte sich schon ein Küstenstreifen. Das war Ostende, dann kam Vlissingen, und schließlich legte die „Nightingale“ an. Antwerpen war erreicht. Antwerpen! Hier hatten noch vor kurzem die Nagelstiefel der Hitlertruppen das Pflaster getreten. Mit der Herrschaft des Hakenkreuzes war es nun vorbei. Hinter einem Stacheldrahtgitter standen deutsche Kriegsgefangene und starrten mit müden, stumpfen Augen vor sich hin. Vielleicht träumten sie von ihrem Pflug oder von der Maschine, an der sie einst gearbeitet hatten, als sie noch ihrer friedlichen Beschäftigung nachgegangen waren. Sicher dachten sie voller Sehnsucht an ihre Familien. Für die Heimkehrer gab es kein Verweilen. Nicht weit vom Kai wartete eine Reihe Eisenbahnwagen. Bald saugen die rollenden Räder ihr eintöniges Lied. Acht Tage lang zogen draußen die wechselvollen Bilder des armgewordenen Europa vorbei: zerstörte Straßen, gesprengte Brücken, ausgebrannte Lokomotiven, zusammengeknüllte Waggons, an- gekohlte Bäume, geknickte Telegrafenmasten, eingestürztes Gemäuer, tote Fabrikhallen – und armselig gekleidete Menschen mit Hungergesichtern. Der Krieg, das gefräßige Raubtier, hatte die Länder kahlgefressen. Antwerpen! Mecheln! Brüssel! Namur! Stadt auf Stadt, deren Namen Manfred schon irgendwo und irgendwann einmal gehört hatte. Wo sie
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aber auch durchkamen, es war, als wäre alles mit der gleichen grauen Farbe angestrichen: mit der Farbe des November und mit der Farbe der Not. Es war ein schwerfälliges Fahren. Der Zug kroch über Behelfsbrücken, er stand auf den Stationen herum, er verschnaufte auf offener Strecke. Was vor dem Krieg nur Stunden beansprucht hatte, verlangte jetzt Tage. Weiter ging es. Die Grenze von Belgien nach Frankreich wurde überquert. Epernay! Chalons-sur-Marne! Strasbourg! Und dann nach Deutschland hinein. Kehl! Rastatt! Karlsruhe! Pforzheim! Asperg! Ludwigsburg! Ulm! Augsburg! München! Regensburg! Schwandorf! Furth im Walde! Manfred war als Kind kaum gereist, und er hatte all die Städte, die er jetzt passierte, nie gesehen. Dennoch berührten ihn viele dieser Namen wie etwas Altvertrautes. Deutschland! Der Krieg hatte zurückgeschlagen und manche herrliche Stadt in Trümmer gelegt. Kinder bettelten an den Bahnsteigen. Erwachsene lungerten herum und bückten sich nach den Zigarettenstummeln, die aus den Zügen geworfen wurden. Wie hatte sich Manfred auf diesen Augenblick gefreut, auf die ersten Laute seiner Muttersprache auf dem Boden der Heimat. Aber er hatte nicht gedacht, daß es der flehende Ruf eines kleinen Jungen sein würde: „Hast du ein Stück Brot für mich, Onkel?“ Erneut stieg in ihm Zorn gegen die Faschisten hoch, die all das über Deutschland gebracht hatten. Und dann war er in der Tschechoslowakei. Rechts und links begleitete das Grün der dichten Forste des Böhmerwaldes den Zug, bis sich das Abenddunkel über Feld und Hang breitete. Am nächsten Tag langte der Transport in Prag an, im lieben, guten, alten, vertrauten Prag. Allerdings war es nicht sicher, ob er sehr viel davon zu sehen bekommen würde. Der Transportleiter hatte jedenfalls gesagt, daß Manfred sofort weiterfahren müsse, um sich in Tetschen-Bodenbach an einen Umsiedlertransport anzuschließen. Doch wie so oft in den vergangenen Jahren erschien im letzten Augenblick ein rettender Engel. Dieses Mal waren es sogar drei. Sie hießen Marie und Pepík und … Wer war der dritte? Manfred reichte dem
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Fremden die Hand. Der stand breitschultrig vor ihm und lächelte ihn aus einem jungen Gesicht an. „Tonda!“ „Manfred!“ Es war eine stürmische, lang anhaltende Umarmung, die sich erst löste, als Pepíks Stimme ertönte. „Schau ihn an! Wir sind für ihn nur Schuhwichs!“ „Und die Eltern?“ war Manfreds erste Frage. „Es geht ihnen gut. Sie sind älter geworden. Und Vater kränkelt ein wenig, seit ihn damals die Gestapoverbrecher in den Händen gehabt haben.“ Vom Bahnhof fuhren sie mit einem Taxi in die Stadt hinein. Wieviel gab es doch zu fragen und zu erzählen, sie wußten gar nicht, wo sie anfangen sollten. Und so schwiegen sie denn. Ach, du goldenes Prag! Manfred bekam feuchte Augen vor Wiedersehensfreude. Wie in den ersten Tagen seiner Bekanntschaft mit der Moldaustadt las er die vorbeifliegenden Schilder über den Läden, die Straßennamen und die Losungen auf den Spruchbändern, die da und dort ein Haus schmückten. „Wo wohnt ihr jetzt?“ fragte Manfred, als sie sich dem Zentrum Prags näherten. „In Karlín in der Královská. Erinnerst du dich noch, wo die Redaktion der Roten Fahne war? Ich hab dich damals dort hingebracht, als du den Genossen Robert verloren hattest.“ „Wie könnt ich das vergessen haben! Da wohnst du also. Ich hab dir nach Kriegsende in die Římská geschrieben. Der Brief ist aber zurückgekommen.“ „Hat uns auch allerhand Mühe gekostet, die Novotnýs ausfindig zu machen“, warf Pepík ein. „Novotnýs gibt es ja in Prag beinahe mehr, als es Einwohner hat“, fügte Marie hinzu. Wohltuend war der Anblick dieser lebensvollen Stadt, deren Menschen zwar viel gelitten, deren Häuser aber unversehrt geblieben waren. Die Schrammen, die der Maiaufstand hinterlassen hatte, waren gering, verglichen mit den Zerstörungen jener Städte, über die das Feuer des Krieges 325
hinweggegangen war. Die Not lugte auch hier an vielen Stellen hervor, wenngleich sie von der Fröhlichkeit der Prager, aus deren Gesichtern das Glück des Befreitseins leuchtete, überstrahlt wurde. Da war wieder der massive Bau des Museums, da der Heilige Wenzel hoch zu Roß und der Wenzelsplatz. Wie ein breiter prächtiger Teppich entrollte er sich vor Manfreds Blick. Alles war wie einst und doch anders. Vielleicht lag es an dem Betrachter selbst, der nicht mehr mit den gleichen Augen sah wie früher. Vielleicht gab die Erinnerung dem Bild eine besondere Farbe. Hier in der „Koruna“ hatte er den Prager Gassenjungen Tonda zum erstenmal getroffen. Beim Kartoffelpufferessen! Manfred verspürte plötzlich einen riesigen Appetit auf die duftigen, brutzeligen, flachen Dinger. Und hier hatte er mit Eisenbart den großen Maiaufmarsch der Prager Arbeiter mitgemacht. „Entsinnst du dich an Genossen Eisenbart?“ wandte sich Manfred an Tonda. Tonda antwortete erst nach einer kurzen Pause. „Eisenbart … der lebt nicht mehr. Die Nazis haben ihn hingerichtet. Ein halbes Jahr haben wir ihn versteckt. Eine Zeitlang war er bei uns, dann bei anderen Genossen. Ein Spitzel hat ihn schließlich doch erkannt … an der großen Narbe im Gesicht. Ach ja, Eisenbart, das war ein prachtvoller Mensch. Und was für ein Kommunist …“ Es war, als hätte sich plötzlich ein grauer Schleier über die Stadt gelegt. Eisenbart, der kluge, tapfere, hilfsbereite und gütige Genosse, lebte nicht mehr. Doch langsam heiterte sich Manfreds Miene wieder auf. War Eisenbart, waren nicht alle, die wie er den Tod hatten erleiden müssen, Sieger geblieben? „Dort drüben ist jetzt das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei“, sagte Tonda und zeigte auf das imposante Gebäude neben dem Pulverturm. Einst hatten dort die Bankherren gesessen. Prag war nicht mehr das Prag der reichen Nichtstuer, sondern das Prag der Werktätigen, die in den Septembertagen des Jahres 1938 über den Wenzelsplatz zogen und nach Waffen riefen. Es war das Prag von Jan Hus, der vor ein paar hundert
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Jahren das tschechische Volk in den Kampf um seine Freiheit führte, und Klement Gottwald, der heute an der Spitze der tschechoslowakischen Arbeiter und Bauern stand. „Wohin fahren wir jetzt eigentlich?“ „Zu uns natürlich … Maminka hat ja schon den Tisch für die Wiedersehensfeier gedeckt.“ „Und ich hab ihr beim Buchtel backen geholfen“, ergänzte Marie. „Den Bohnenkaffee liefere ich. Hab mich in London ein bißchen damit eingedeckt, und bei euch gibt’s sicher noch nicht viel davon.“ „Nur ich werde sozusagen als Schmarotzer mit am Tisch sitzen“, sagte Onkel Pepík.
45.KAPITEL Für Dezember war es ein recht milder Tag. Manfred saß auf den schrägen Deckplanken einer Elbzille, die einige hundert Menschen in ihre neue Heimat brachte. Die Passagiere des Frachtkahnes waren deutsche Antifaschisten, die aus dem tschechoslowakischen Grenzgebiet nach Deutschland umgesiedelt wurden. Mit roten Fahnen geschmückt, schwamm das Schiff flußabwärts seinem Ziel zu, begleitet von dem bewaldeten Felsenpanorama des Elbsandsteingebirges. In Gedanken versunken, hörte Manfred einen Mann neben sich ausrufen: „Die Grenze!“ Er blickte auf. Am linken Ufer zog sich Herrnskretschen hin. Irgendwo da drüben mußte das Häuschen der Jelíneks sein und die Stelle, an der ihn damals Joachim Boberlein hinübergepascht hatte. Noch ein paar Minuten vergingen, und auf der deutschen Seite tauchte die Bahnstation von Schöna auf. Eine rote Fahne mit Hammer und Sichel wehte dort. Den Menschen, denen diese Fahne gehörte, verdankte er es, daß er jetzt heimkehren durfte – nach sieben Jahren in der Fremde.
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Noch einmal legte die Zille an, um die tschechoslowakischen Grenzer an Bord zu lassen. Lange dauerte die Kontrolle nicht. Dann ging es weiter, immer weiter auf ruhig strömendem Wasser. Mit jeder Minute,, die verstrich, näherte sich der Augenblick, da Manfred seinen Vater wiedersehen würde. Und Tante Adele. Schmilkas Gaststätten lagen friedlich zwischen winterlich-kahlen Bäumen. Ein ganz seltsames Gefühl war in dem heimkommenden Kühnemann. Welch ein Bild – die hellen Sandsteinwände, das dunkle Grün des Nadelwaldes, der Wiesenstreifen, der den Fluß säumte! Schandau! Königstein! Wehlen! Wie oft waren diese Orte sein Ziel an schönen Sonntagen gewesen, um in die Schrammsteine oder zur Bastei zu gehen. Manchmal hatte ihn sogar Boberlein, der alte Bergsteiger, mitgenommen. Mehr und mehr Erinnerungen stiegen in Manfred hoch. Schulausflüge, eine Tour mit dem Vater und Willi, dem Bruder, den die Nazis ermordet hatten. Doch da waren die ersten Häuser von Pirna. Manfred sprang auf und starrte zum Ufer hinüber, wo sich die Anlegestelle befand. Schon von weitem konnte er sehen, daß sich dort viele Menschen eingefunden hatten. Ob der Vater dabei war? Selbst hatte er ihm keine Nachricht geben können, aber die tschechischen Genossen in Tetschen hatten Manfred versprochen, einen Bescheid hinübergehen zu lassen. Endlich drehte das Boot bei und glitt langsam an den Landungssteg heran. Ein sanfter Stoß, und man war angelangt. Die Menschen, die hinter einer Absperrung standen, winkten. Über den Köpfen der Wartenden leuchtete ein Spruchband: „Willkommen in der neuen Heimat!“ Das war für die Umsiedler gedacht, doch konnte es Manfred auch auf sich beziehen. Oder war es nicht eine neue Heimat, die ihn begrüßte? Ein wenig Traurigkeit mischte sich in seine Freude über die Heimkehr,, weil er weder den Vater noch Tante Adele am Ufer entdecken konnte. Es war natürlich möglich, daß sie irgendwo in der Menge steckten. Aus der Entfernung war es nicht leicht, die Gesichter genau zu erkennen. Vorläufig wurde noch niemand vom Schiff gelassen, und keiner durfte heraufkommen. Nur eine kleine Gruppe von Männern, einige in Zivil und einige in der Uniform der neuen Polizei, näherte sich dem Landungssteg. 328
Mit den anderen Passagieren der Zille drängte sich Manfred zur Mitte des Decks, wo die Ankömmlinge an Bord stiegen. Und da entdeckte er ihn, den Vater. Mochte er ihn noch so viele Jahre nicht gesehen haben, er konnte sich nicht irren. Einer der Polizisten war Paul Kühnemann. „Vater, Vater, da bin ich!“ rief er und bahnte sich einen Weg nach vorn. „Manfred!“ Paul Kühnemann schaute den Sohn einen Augenblick an. Das war also aus dem kleinen Jungen geworden, den er vor einem Jahrzehnt zum letzten Mal gesehen hatte. Ein kräftiger Mann, der ihn schon um ein Stück überragte, stand nun vor ihm. Sie umarmten sich und ließen einander nicht so schnell wieder los. Sie musterten sich, lachten, und die Freudentränen stiegen ihnen in die Augen. Die Begrüßung fand erst ein Ende, als der Vertreter der Partei, der mit dem Bürgermeister von Pirna zum Empfang der Umsiedler gekommen war, zu den neuen Bürgern des neuen Deutschlands zu sprechen begann. „Sieben Jahre bin ich dir schon auf den Fersen“, flüsterte Manfred. „Hat lange gedauert, bis ich dich eingeholt habe.“ „So ‘ne Schnitzeljagd über die ganze Erde ist auch nicht von Pappe“, antwortete Paul Kühnemann. „Und jetzt fahren wir nach Hause.“ 329
„Hm, nach Hause … Das müssen wir erst mal sehn. Die Umsiedlertransporte gehn alle durch die Quarantäne. Dauert vierzehn Tage. Das Lager ist gleich hier in der Nähe.“ Manfred blickte den Vater an, als hätte er ihn nicht richtig verstanden. „Es muß sein, Junge. Damit keine Krankheiten eingeschleppt werden. Nach Kriegen ist immer Epidemiegefahr.“ „Kannst du nicht irgendwas tun, um mich freizukriegen? Mir hängen die Lager zum Hals ‘raus.“ „Ich? Junge, als Polizeioffizier muß ich darauf sehen, daß die Gesetze eingehalten werden. Es sind jetzt unsere Gesetze, und wir sind die ersten, die sie achten müssen.“ Manfred lachte und sagte schließlich: „Das fängt gut an. Gleich in der ersten Stunde eine Moralpauke.“ „Wird vielleicht nicht die letzte bleiben.“ „Möchte wissen, wozu die mich nun in England vor der Abreise noch gegen Pest und Cholera und Typhus und all den Kram geimpft haben.“ „Hast du einen Impfpaß, in dem das bestätigt ist?“ „Klar hab ich den.“ „Dann können wir ja einen Versuch machen, ob man ihn anerkennt.“ Der Versuch war erfolgreich, wenn er auch ein tüchtiges Stück Überredungskunst verlangte. So konnte Paul Kühnemann den Sohn in seinem Fahrzeug mit nach Dresden nehmen. Die beiden Koffer kamen auf die Hintersitze, und Manfred nahm vorn neben dem Vater Platz, der den schon recht klapprigen Wagen selber fuhr. Doch wer hätte in einem solchen Augenblick auf so etwas geachtet? Nach Hause! Und neben sich hatte er den Vater. Träumte oder wachte Manfred? Der Wagen sorgte schon dafür, daß seine Insassen nicht zum Träumen kamen. Über Straßen, die der Krieg in schlechtem Zustand hinterlassen hatte und die voller Schlaglöcher waren, ging es heimwärts. „Daß du mit so einer Blechkiste überhaupt noch vom Fleck kommst“, meinte Manfred, als sie den völlig ausgedienten Schlauch des linken Vorderrades flicken mußten. „Ich als alter Panzerfahrer bin an andere Schwierigkeiten gewöhnt. Das hier ist das reinste Kinderspiel. Wenn du wüßtest, mit was für Dingern
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wir in Spanien manchmal herumkutschiert sind … Die Faschisten hatten ja alles in Hülle und Fülle. Aber wir? Na, reden wir nicht davon.“ „Sag mal, Vater, sieht’s in Dresden wirklich so schlimm aus, wie man’s erzählt?“ „Noch schlimmer.“ „Also stimmt’s?“ „Du wirst’s ja sehen. Es muß furchtbar gewesen sein. Bin nun schon ein Weilchen zurück, aber an die Trümmer kann ich mich nicht gewöhnen.“ Manfred brauchte bald nicht mehr zu fragen. Sie hatten die Stadt erreicht, und je weiter sie fuhren, desto schweigsamer wurde er. In London hatte er Ruinen kennengelernt, ganze Straßenzüge, ja ganze Stadtviertel, die von den Bomben in Schutt verwandelt worden waren. Und doch übertraf Dresden alles bisher Gesehene. Oder erschienen ihm hier die Zerstörungen so schrecklich, weil er zwischen diesen Häusern, von denen nur Mauerreste und Ziegelberge zeugten, aufgewachsen war? „Arbeit gibt’s genug. Kaputthauen geht immer schneller als Aufbauen. Was in Hunderten von Jahren fleißige Hände geschaffen haben, ist in Minuten vernichtet worden. Aber wir lassen uns nicht kleinkriegen, was?“ „Bestimmt nicht“, sagte Manfred leise, noch immer erdrückt vom Bild seiner Heimatstadt, die der Phosphorregen so furchtbar mitgenommen hatte. Erst als sie die provisorisch wiederhergestellte Albertbrücke, die heute den schönen Namen „Brücke der Einheit“ trägt, überquert hatten, lichteten sich seine Züge ein wenig. Hier gab es wieder ein paar ganze Straßen, wenn auch da und dort ein Stück aus ihnen herausgerissen war. „Warum hast du mir nicht geschrieben, daß du bei der Polizei bist?“ fragte Manfred plötzlich. „Bin ja erst seit vierzehn Tagen drin. Was, das hast du dir nicht gedacht, daß dein Vater mal Polizist wird?“ „Eigentlich nicht.“ „Denkst du etwa, ich hätte es gedacht? Ja, und was hast du vor?“ Manfred überlegte. Arbeiten natürlich. Doch was – das wußte er noch nicht. „Wie steht’s mit dem Tischlern?“
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„Schlecht“, gab Manfred zu. „Hab ja nicht ausgelernt. In London hab ich dann am Fließband und an der Drehbank gearbeitet. Aber ein richtiger Facharbeiter bin ich nicht geworden. Paar Hantierungen hat man uns beigebracht, und dann los – an ein und derselben Maschine bis zum Schluß.“ „Da mußt du eben noch was Ordentliches lernen“, meinte der Vater. „Lernen? Ich bin doch schon zweiundzwanzigeinhalb.“ In Paul Kühnemanns Gesicht zeigte sich ein Lächeln. Zweiundzwanzigeinhalb! „Gut, daß du das halbe Jahr nicht vergessen hast. Aber für’s Lernen spielt das keine Rolle. Was meinst du, was ich noch zu lernen habe, um als Offizier unserer Polizei das Vertrauen zu rechtfertigen, das die Arbeiter in mich gesetzt haben?“ Sie bogen in die Luisenstraße ein. Noch fünfzig Meter, und sie waren da. Als Paul Kühnemann den Wagen zum Stehen gebracht hatte, wandte er sich Manfred zu: „Eines merke dir: Wir Kommunisten lernen immer.“ „Keine Angst, Vater, ich fürchte mich nicht vor dem Lernen.“ Tante Adele mußte das Kommen des Wagens überhört haben, denn als sie die Tür öffnete, stieß sie einen kurzen Schrei der Überraschung aus. „Unser Manfred! Wirklich unser Manfred!“ Sie schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf beide Wangen. Sie mußte sich auf die Zehenspitzen stellen. „Ja, Tantchen, da bin ich wieder.“ „Und wie groß du geworden bist.“ „Hätte ich denn kleiner werden sollen?“ Die Tante zog den Heimkehrer in die Wohnstube. Dort betrachtete sie ihn mit Wohlgefallen. Was für ein Riesenbengel aus dem Jungen geworden war! „Eh du dich wieder heimlich davonmachst, wie du’s ja zu tun liebst, wollen wir erst mal vespern.“ „Habe nichts dagegen“, sagte Manfred, der schon einen kräftigen Hunger verspürte. „Der Kaffee ist aber nur Ersatz“, entschuldigte sich Tante Adele beim Hinausgehen.
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„Heute wird echter Kaffee getrunken. Wozu hab ich ihn sonst von England bis hierher geschleppt?“ Manfred stand auf und machte sich daran, seine Koffer, in denen sich noch ein paar andere selten gewordene Lebensmittel befanden, auszupacken. Als sie dann beim duftenden Kaffee saßen, sagte Tante Adele: „Und nun möchte ich mal gern hören, was du in den vielen Jahren eigentlich gemacht hast. Das bißchen in deinen Briefen seit Kriegsende sagt doch gar nichts.“ Manfred nippte an seiner Tasse und begann: „Da läßt sich schon einiges erzählen. Weißt du … damals, als …“ Doch das kennen wir ja alles und lassen nun Manfred Kühnemann mit seinem Vater und Tante Adele allein.
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Liebe Freunde –
gut, daß er endlich wieder daheim ist, der Manfred Kühnemann, und schön, daß er nach so langen Jahren seinen Vater wieder in die Arme schließen kann, ja? Habt Ihr auch gespürt, daß dies ein Roman von ganz besonderer Art ist, keine erfundene Abenteuergeschichte? Diese unfreiwillige Reise rund um den Erdball hat Max Zimmering selbst so – oder doch beinah so – erlebt. Auch er mußte vor den Nazis fliehen, auch ihm blieb nirgends Zeit und Ruhe, um festen Fuß zu fassen, er wurde getrieben, von den Faschisten und vom Krieg, den sie angezettelt hatten. Und so sah er – gleich Manfred – ein gutes Stück von der Welt, sah wie er fremdartige Menschen und fremdartige Landschaften, lernte wie er die Freundschaft und das Zusammenhalten der Genossen kennen – und kehrte wie Manfred zurück, als Deutschland wieder Heimat sein durfte. Natürlich möchte Max Zimmering wissen, ob Euch sein Buch gefallen hat, ob’s nicht nur die Spannung war, die Ihr darin gefunden habt, sondern ob Manfreds Schicksal den Weg zu Euren Herzen gefunden hat. Ihr macht Max Zimmering eine große Freude, wenn Ihr ihm einmal darüber schreibt (auch wir im Kinderbuchverlag möchten’s gern wissen). Sendet Eure Briefe an den
Kinderbuchverlag Berlin W 8 Markgrafenstraße 30
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