Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 529 Die Chailiden
Die Uralten von Horst Hoffmann
Im Brennpunkt der Machtkä...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 529 Die Chailiden
Die Uralten von Horst Hoffmann
Im Brennpunkt der Machtkämpfe um Chail
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Nach einer langen und dramatischen Rettungsaktion, die Atlan, nur von wenigen Helfern unterstützt, erfolgreich abschloß, konnte das Schiff schließlich das Mausefalle‐System verlassen und wieder frei seines Weges ziehen. Gegenwärtig hat die SOL ihren Flug im Chail‐System unterbrochen. Atlan, Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch sind von Bord gegangen und auf der Welt der Chailiden gelandet, um das Rätsel des Volkes der Meditierenden zu lösen. Nach mehreren Zwischenstationen, bei denen sich die Geheimnisse, die die Chailiden umgeben, eher noch verdichten, gelangt Atlan schließlich an einen verborgenen Ort, der in mehrfacher Hinsicht ein Zentrum darstellt. Dieser Ort ist Hashilan, und in ihm leben und wirken DIE URALTEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide bei den Uralten. Mussumor ‐ Oberhaupt der Uralten. Targar und Sandun ‐ Mussumors Kontrahenten. Zasvog ‐ Ein Chailide teleportiert zu einer anderen Welt. Shyra ‐ Eine junge Chailidin, der Atlan hilft.
1. Ein rauher, kalter Wind strich über die weißen Dächer der Häuser, die auf halber Höhe auf einem steil abfallenden Hang errichtet waren. Sie schmiegten sich an den Fels, und jeder, der diesen Ort zum erstenmal schauen durfte, mußte unwillkürlich annehmen, daß die Häuser geradewegs aus dem Berg herausgehauen wären. Damit hatte er nicht einmal ganz unrecht. Die großen, meist mehrstöckigen, weißgekalkten Gebäude mit den flachen und kuppelförmigen Dächern waren alle durch schmale Treppen und Wege miteinander verbunden. Mauer stand an Mauer. Ein Haus ging oft nahtlos in ein anderes über, und die Räumlichkeiten endeten in der Regel in Höhlen, die weit in den Fels hineingetrieben waren. Diese Stadt war wie eine große klosterähnliche Anlage. Sie war umgeben von einer mächtigen, ebenfalls weißen Mauer mit Zinnen und Türmchen. Hohe Torbogen bildeten die wenigen Zugänge, was nicht hieß, daß dieser Ort für einen jeden zu erreichen war. Das Gegenteil war der Fall. Hashilan befand sich im Zentrum eines gewaltigen, wildromantischen Gebirges. Schneebedeckte Gipfel, hohe, zerklüftete Massive und unüberwindbare Schluchten sorgten dafür, daß nur jene nach Hashilan gelangten, die nach vielen Jahren intensiver Meditationsübungen die erforderliche Qualifikation erreicht hatten. Sie kamen nicht über die Berge, sondern allein kraft
ihres Geistes. Selbst hier, im Zentrum des Gebirges, gab es keine Wege, die nach Hashilan hinaufführten. Die meisten Chailiden ahnten nicht einmal, daß ein solcher Ort überhaupt existierte. Das rauhe und unwirtliche Klima des weit im Norden des Planeten gelegenen Kontinents Udijar sorgte zusätzlich dafür, dass junge Chailiden, die in der Wildnis das Abenteuer suchten, nicht durch Zufall die Stadt entdeckten – und damit das größte Geheimnis dieser Welt. Chailiden wandelten über die schmalen Wege zwischen den Häusern, die so gar nicht der Architektur in den Dörfern und Städten entsprachen. Männer und Frauen standen beieinander und redeten. Andere waren hinter großen, viereckigen Fenstern zu sehen. Ihnen allen war eines gemeinsam: Sie waren alt, oft sehr alt. Dieses Bild also bot sich dem hochgewachsenen, silberhaarigen Fremden, als er von einer kahlköpfigen Frau, die trotz ihrer Jahre erstaunlich vital wirkte, ins Freie geführt wurde. Wie alle in Hashilan, war sie in einen weißen Umhang aus dicken, schweren Stoffen gehüllt. Der Fremde verbarg sein Erstaunen nicht. Seine Blicke, als er sie über die Stadt schweifen ließ, verrieten Verblüffung, eine gewisse Unsicherheit, aber auch Genugtuung. Er atmete die kühle Luft ein und spürte die Kälte. Sein langes Haar flatterte im Wind. »Das«, sagte die Teleporterin, »ist Hashilan, das Versteck der Uralten.« Atlan nickte nur. Noch fand er keine Worte, und auch die knappe Erklärung der Alten war das erste gewesen, das er von ihr zu hören bekam. Die ungewohnte Kälte hatte ihn wie ein Schock getroffen. Als er in der völligen Dunkelheit der Hütte in Ushun die fremden Hände auf seiner Schulter spürte, da wußte er, daß er im nächsten Augenblick an einen anderen Ort versetzt werden würde – so wie Shyra vor ihm. Und Heldis …
Aber wohin? In dem kurzen Moment vor der Teleportation waren ihm alle möglichen Spekulationen durch den Kopf geschossen. Er wußte, daß er aus Ushun herausgebracht werden würde. Insgeheim hatte er damit gerechnet, sich in einer anderen dieser geheimnisvollen Hütten wiederzufinden. Und nun sah er diese gewaltige Anlage inmitten hoher, zerklüfteter Berge. Trotz ihrer Wildheit war diese Landschaft schön. Nadelbäume zogen sich zwischen den Felsen bis fast zur Schneegrenze hinauf. Blütenduft wurde vom Wind herangetragen. Das Tal am Fuß des Abhangs war ein einziges Meer aus roten, gelben und weißen Gebirgsblumen und grünen Büschen. Hashilan! Nie hatte er diesen Namen gehört. Das Klima verriet ihm, daß er sich nicht mehr auf dem Kontinent Nahar befand. Dort herrschten völlig andere Temperaturen. Selbst in den Nächten war es schwülwarm. Das Versteck der Uralten … Der Arkonide glaubte zu wissen, was er von dieser Auskunft zu halten hatte. Niemand, der über die geistigen Kräfte der Uralten verfügte, brauchte sich wirklich zu verstecken. Dies geschah nur, wenn sie damit einen Zweck verfolgten. Und auch diesen glaubte Atlan nun zu kennen. Vorsicht! warnte der Extrasinn. Du bist schon dabei, dich in reine Spekulation zu versteigen! Warte ab! Auch dieser Schein mag trügen! Atlan lächelte schwach. Ein Teil seiner Verkrampfung fiel von ihm ab. Er fühlte sich nicht mehr völlig allein in dieser fremden Umgebung. Tief atmete er die würzige Luft ein. Die Kälte ließ sich ertragen. Sein Körper stellte sich darauf ein. Atlan drehte sich zu der Uralten um. »Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen«, sagte er. »Ich bin Keliar«, erwiderte sie freundlich. Auch sie lächelte nun. »Du wirst mir die Art und Weise, wie ich dich hierher brachte, nicht übelnehmen, nicht wahr? Wir wußten, daß du darauf gefaßt warst.«
Damit hatte sie recht. Atlan hatte geahnt, daß nur Teleporter die Kinder der Chailiden »verschwinden« lassen konnten. Das gleiche war mit Heldis aus einer der Familien von Ushun geschehen. Und auch das Auftauchen und spurlose Verschwinden des Einbrechers in Mugons Haus hatte nur eine Deutung zugelassen. Dennoch hatte er sich bis zuletzt dagegen gesträubt, diesen einzig möglichen Schluß zu ziehen. Um Gewißheit zu erhalten, war er schließlich in die Hütte des Uralten eingedrungen. Seine Miene verfinsterte sich, als er sich an den Gleiter der Roxharen erinnerte, der unmittelbar vor seiner Versetzung hierher im Bezirk der Familien gelandet war. Die Roxharen waren des Spieles müde geworden, daß die Gefährten mit ihnen getrieben hatten. Das aber hieß, daß sich Bjo und Kölsch nun mit ziemlicher Sicherheit in ihrer Gefangenschaft befanden. Keliar nahm Atlans Hand. Wieder spürte er die Kraft, die von ihr ausstrahlte. »Komm jetzt mit mir«, sagte sie. Ihre großen, grauen Augen blickten ihn an. »Ich bringe dich zu Mussumor.« »Wer ist Mussumor? Auch ein Uralter?« Er schalt sich einen Narren für die Frage. »Es leben nur Uralte in Hashilan? Alle Uralten von Chail?« »Nicht alle«, antwortete sie. »Und nicht nur Uralte. Aber das wird dir Mussumor selbst sagen. Er ist unser Oberhaupt.« Atlan zögerte nicht länger. Keliar ließ ihn los und ging vor. Sie stiegen in den Fels gehauene Stufen hinauf, schritten über Pfade vor und zwischen den weißen Häusern, die gerade breit genug für sie beide waren, und überquerten freie, von blühenden Hecken umsäumte Flächen. Chailiden, keiner von ihnen jünger als sechzig, siebzig Jahre, drehten sich nach ihnen um und grüßten höflich. Atlan kam dies alles vor wie eine Traumwelt. Er hatte sein Ziel erreicht, die Mauer durchbrochen, die die Chailiden um ihre Uralten herum erbaut hatten. Überall war die geistige Kraft zu spüren, die diese Stätte erfüllte.
Selbst die Wände schienen sie auszustrahlen. Er sah die Uralten, Männer und Frauen in weißen Gewändern, und sie kamen ihm vor wie Geschöpfe aus einer anderen Welt. Eine Welt von Teleportern. Eine Welt, in der niemand mehr Furcht zu haben schien, in der die »draußen« herrschenden Gesetze aufgehoben waren. Niemand zeigte Mißtrauen ihm gegenüber, nur Neugier und Verwunderung. Auch das konnte täuschen. Atlan hatte das schier unmöglich Scheinende geschafft und den Weg zu den Uralten von Chail gefunden. Anders betrachtet, hatte er sich ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ohne ihre Hilfe war er für immer in diesem Hort gefangen. Und einiges sprach dafür, daß sie ihn eher als einen unwillkommenen Besucher auf der Welt betrachteten, die sie von hier aus zu beherrschen schienen. Er hatte sie gefunden, nicht aber ihr Geheimnis gelüftet. Er erinnerte sich auch daran, wie jemand versucht hatte, in seinen Geist einzudringen. Jetzt war er nicht mehr so überzeugt davon, daß es dem oder den Unbekannten nicht gelungen war. Dann kannten sie seine Absichten. Und obgleich er das Beste für Chail und die Chailiden wollte, mußte dies nicht auch in den Augen der Uralten das Beste für ihr Volk sein. Vieles sprach dagegen. Noch in diese Gedanken versunken, wurde der Arkonide von Keliar in eines der Häuser geführt, das sich auf den ersten Blick kaum von den anderen unterschied. Keliar blieb am Eingang stehen. Als Atlan sie fragend anblickte, deutete sie wortlos auf eine breite, eisenbeschlagene Holztür am Ende eines hellen Flurs. Atlan gab sich einen Ruck. Er verdrängte seine innere Unruhe, seine Unsicherheit, durchquerte den Flur und öffnete die Tür. Er blickte in einen riesigen Raum mit hohen, weißen Wänden. Rechts und links von ihm befanden sich lange Tische mit vielen Stühlen, auf denen niemand saß.
Ihm genau gegenüber aber, gute zwanzig Meter von ihm entfernt, thronte ein Chailide auf einem Podest, über das kostbare Teppiche gelegt waren. Hinter ihm fiel das Licht der Sonne Guel durch ein großes, ovales Fenster mit ineinander versetzten, bunten Glasscheiben, die ein abstraktes Muster bildeten und die Sinne verwirrten. Atlan ließ sich nicht lange davon beeindrucken. Er war hier, und er hatte das zu vollenden, was er in Ushun begonnen hatte. Er durchquerte den Raum und blieb zwei Meter vor dem Podest stehen. Der Alte beugte sich in seinem reichlich verzierten, schweren Stuhl vor, legte die Arme auf die breiten Lehnen und blickte dem Arkoniden erwartungsvoll entgegen. »Du bist Mussumor«, stellte Atlan fest. Der Alte lächelte, beugte sich noch etwas weiter vor und nickte langsam. »Ich bin Mussumor«, bestätigte er. »Und dein Name ist Atlan. Du kamst auf unsere Welt, um uns vom Joch der Roxharen zu befreien.« Mussumor wies auf einen der in einem Halbkreis vor dem Podest aufgestellten Stühle. »Setz dich nur hin, Atlan«, sagte er freundlich. »Ich denke, daß wir vieles zu besprechen haben.« Atlan kam der Aufforderung nach. Er setzte sich hin, schlug die Beine übereinander und musterte sein Gegenüber genauer. Mussumor mochte nach chailidischen Maßstäben ganze fünfzig Jahre alt sein, vielleicht etwas mehr. Allein das machte es schwer, sich ihn als einen der Uralten vorzustellen – als deren Oberhaupt! Mussumor trug die hier übliche Kleidung. Nichts hob ihn äußerlich aus den anderen Bewohnern Hashilans hervor. Seine Haut war kupferfarben, etwas bleicher als die der Dorfund Stadtbewohner. Nur wenige Falten verrieten sein Alter. Die großen, grauen Augen mit der übergroßen Iris aber schienen diese Äußerlichkeiten Lügen strafen zu wollen. Mussumors Haar war stahlblau, sein Gesicht hager und noch etwas eckiger als das anderer
Chailiden. Du kamst auf unsere Welt, um uns vom Joch der Roxharen zu befreien! Es war, als hallten diese Worte noch immer im Raum nach. Atlan fühlte sich entwaffnet, geradezu überfahren. Diese Worte aus dem Mund eines Chailiden zu hören, war weit mehr als er für den Anfang erwartet hatte. Denn sie bedeuteten nichts anderes, als daß zumindest die Uralten den Roxharen nicht so naiv und arglos gegenüberstanden, als dies bisher den Anschein gehabt hatte. Atlan war darauf vorbereitet gewesen, Türen einrennen zu müssen – und fand sie offen. »Ich sehe, du bist überrascht«, sagte Mussumor. Er erhob sich und stieg vom Podest. Dicht vor Atlan blieb er stehen. »Was erwartetest du, als du dich in die Hütte begabst? Du wußtest nicht, ob es uns Uralte überhaupt gibt. Du gingst einer vagen Vermutung nach und fandest sie bestätigt. Doch auch jetzt ist dein Geist voller Fragen. Bevor du sie stellst, laß mich dir wenigstens einige Erklärungen geben.« Atlan nickte. Darauf wartete er. Mussumor zog sich einen der Stühle heran und setzte sich vor ihn. »Ich selbst gab Keliar den Auftrag, dich zu holen, bevor die Roxharen deiner habhaft werden konnten.« »Sie haben dafür jetzt meine Freunde«, warf Atlan ein. Mussumor winkte lächelnd ab. »Ihnen wird nichts geschehen, sei unbesorgt. Früher oder später werden die Roxharen sie laufen lassen. Ihnen kann es nur darum gehen, sich zu vergewissern, ob deine Gefährten in der von ihnen gewünschten Weise Fortschritte machen.« »Ob sie alles vergessen, was sie jemals gelernt haben«, murmelte Atlan. »Bei einem von ihnen ist es soweit.« »Ich weiß«, sagte Mussumor etwas traurig. »Aber das ist jetzt nicht unser Problem, Atlan. Du glaubst zu wissen, weshalb die Roxharen Chailiden in großer Zahl zu anderen Welten bringen, wo sie angeblich als Lehrer arbeiten sollen. Du bist davon überzeugt, daß
sie das genaue Gegenteil bewirken und diese Völker, potentielle Rivalen der Roxharen im Weltraum, vielmehr in ihrer natürlichen Entwicklung hemmen.« »Auch das weißt du!« entfuhr es dem Arkoniden. »Aber dann verstehe ich nicht …!« Mussumor hob eine Hand. »Du verstehst noch so vieles nicht, mein ungeduldiger Freund. Doch sei versichert, daß wir Uralten das Dilemma unseres Volkes sehr genau kennen. Wir mißtrauen den Roxharen so wie du. Letztlich deshalb gab ich Keliar den Auftrag, dich hierher in Sicherheit zu bringen.« »Dafür danke ich dir«, erwiderte Atlan. »Aber wenn es so ist, daß alle Uralten die Fähigkeit der Teleportation besitzen – warum hast du dann nicht auch Bjo und Kölsch holen lassen?« Mussumor seufzte. »Das waren zwei Fragen auf einmal. Also reden wir zunächst von deinen Gefährten. Es stimmt, daß wir Uralte uns von Ort zu Ort versetzen können. Es gibt nur wenige, die diese Fähigkeit nach vielen Jahren intensiver Meditation entwickeln, und sie alle werden nach Hashilan geholt, bevor sie sich dieser neuen Gabe überhaupt bewußt sind. Manche erreichen dieses Ziel früh, manche erst sehr spät oder überhaupt nicht. Wir überwachen diesen Prozeß, und sobald ein Meditierender sich dem kritischen Stadium nähert, ist es unsere Aufgabe, ihn aufzuklären und auf seinem Weg zu begleiten. Er muß strengstes Stillschweigen geloben, bis er soweit ist, daß wir ihn hierher bringen können. Allein dadurch wird gewährleistet, daß unser Volk nicht weiß, wer seine Geschicke lenkt.« »Wer die Gabe der Teleportation erlangt, ist also ein Uralter«, faßte Atlan zusammen. »Ganz gleich, wie alt er wirklich ist.« Mussumor nickte. »Aber die Hütten in den Dörfern! Sie können nicht alle …« »Wie ungeduldig du bist«, seufzte Mussumor. »Du kannst nicht alle Antworten auf einmal erfahren. Du fragtest nach deinen
Freunden und nach ihrem Schicksal. Die Roxharen werden ihnen nichts anhaben. Aber du willst wissen, was mit ihnen geschieht, wenn sie Chail noch länger ausgesetzt sind.« »Ja«, bestätigte Atlan. »Und mit mir.« Mussumor lächelte nachsichtig. Von ihm strahlte eine Reife und Würde aus, die den Arkoniden verunsicherte. »Es gibt keine gezielte Beeinflussung fremder Besucher, wie du glauben magst, Atlan. Was mit deinem Freund Kölsch geschieht, ist allein die beruhigende, aggressionshemmende Wirkung des mentalen Netzes auf ihn. Technisches Wissen wird nicht wirklich vergessen, sondern lediglich verdrängt, denn jegliche Technik birgt auch den Keim der Aggression in sich. Fast alle Besucher Chails in junger oder ferner Vergangenheit entstammten mehr oder weniger kriegerischen Zivilisationen. Sie waren an Zwänge jeder Art gewöhnt. Auf Chail nun konnten sie bald ein neues Leben nach ihrem eigenen Geschmack beginnen, und sie nutzten diese Gelegenheit – meistens, ohne es bewußt zu wollen.« »Aber dann ist dies nur ein neuer Zwang!« Mussumor antwortete nicht sofort. Sein Blick ging an Atlan vorbei und richtete sich in die Ferne. Der Arkonide dachte an seine Unterhaltung mit den Veraghen, jenen zwölf Reitern, die vor Jahren mit einem Raumschiff nach Chail gekommen waren und nun als Murlenzüchter von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf zogen. Auch sie hatten ihre Technik vergessen. Sie lebten glücklich und zufrieden auf Chail, denn sie waren von ihrem Heimatplaneten geflohen, der von einer unmenschlichen, gigantischen Maschinerie beherrscht wurde. Für sie bedeutete ihr neues Leben gewiß eine Art Selbstverwirklichung, wenngleich sie einen hohen Preis dafür zu zahlen hatten: Ihre Rasse würde auf Chail nicht fortbestehen können. Sie waren unfruchtbar geworden. Atlan stand auf und begann, vor Mussumor auf und ab zu gehen, der ihn nun wieder schweigend beobachtete.
»Mussumor, sollte es für uns eine Rückkehr zu unserem Schiff geben – werden wir dann wieder so, wie wir früher waren? Bjo war noch nicht betroffen, als ich ihn zum letztenmal sah. Kölsch aber denkt nur noch daran, wie er auf den Gemüsefeldern eine möglichst gute Ernte einbringen kann.« »Ihr würdet bald wieder die alten sein«, erklärte der Chailide geduldig. Aber er sagte nicht: Ihr werdet! »Durch das Vergessen aller Zwänge werden unterdrückte Sehnsüchte frei, Atlan. Dein Gefährte scheint also unbewußt davon geträumt zu haben, auf dem Land zu leben.« Auf einem Planeten, dachte Atlan. Ist die Vergangenheit doch tiefer in den Solanern verwurzelt, als man bislang annehmen durfte? Aber gehörte das jetzt hierher? Wütend auf sich selbst, blieb der Arkonide vor dem Uralten stehen und breitete die Arme aus. »Und was, Mussumor, ist das mentale Netz?« »Es sind die geistigen Kräfte aller Chailiden, die unsere Welt umspannen.« Mussumors Stimme verriet, daß er jetzt nicht über dieses Thema zu reden wünschte. Atlan hatte eine entsprechende Frage auf der Zunge, verbiß sie sich aber. Er wußte, daß er die Geduld dieses Mannes, von dem vielleicht sein weiteres Schicksal abhing, nicht über Gebühr strapazieren durfte. Widerstrebend gab er sich so mit der kargen Auskunft zufrieden und fragte stattdessen: »Mussumor, wenn in der Vergangenheit schon mehrmals Fremde auf Chail landeten, waren dann unter ihnen auch Angehörige von Völkern, mit denen ihr vorher geistigen Kontakt hattet?« Wenn der Uralte schon soviel über ihn wußte, so sollte ihm auch klar sein, daß er nicht an die geistige Raumfahrt der Chailiden glauben konnte. Er erwartete eine abweisende oder ausweichende Antwort. Stattdessen aber sagte der Chailide. »Nein, mein Freund. Und ich bezweifle, daß es jemals zu solchen Begegnungen kommen wird, denn die meisten dieser Völker haben nach mehrmaligen Kontakten aufgehört, mit allen Mitteln die
technische Art der Raumfahrt erzwingen zu wollen.« Atlan starrte sein Gegenüber fassungslos an. Dies war ein weiterer Schock für ihn, wenngleich Mussumor schon vorher zugegeben hatte, über die Motive der Roxharen Bescheid zu wissen. Aber was er jetzt ganz deutlich sagte, ließ darauf schließen, daß er diese Entwicklung billigte! »Ihr … wißt es, und ihr tut doch nichts dagegen?« »So kannst du es sehen«, bestätigte der Uralte lächelnd. »Wir wissen, was wir von den Roxharen zu halten haben, aber wir sind nicht deiner Auffassung, daß sie durch ihr Treiben Schaden anrichten. Wir beide gehen von unterschiedlichen Wertvorstellungen aus, Atlan. Du magst das Heil eines Volkes darin sehen, mit Raumschiffen durch das Weltall zu eilen, neue Kontakte zu knüpfen und den eigenen Lebensraum auszudehnen. Und dabei scheinst du zu vergessen, daß es in der Folge nur zu oft zu verheerenden Kämpfen mit anderen raumfahrenden Völkern kommt, die die gleichen Ziele verfolgen.« »Das vergesse ich nicht!« entgegnete der Arkonide heftig. »Ich selbst entstamme einem großen Sternenvolk, und ich durfte ein weiteres Volk auf dem Weg ins All begleiten! Ja, es gab Kriege, furchtbare Kriege sogar! Aber die Menschen haben daraus gelernt, und andere mit ihnen! Sie sind herangereift und wissen, daß es wichtigere Dinge gibt als Vorherrschaft und Expansion um jeden Preis! Durch den Kontakt mit anderen Völkern lernten sie, tolerant zu sein und anderes Leben zu respektieren!« Mussumor nickte ernst. »Siehst du, Atlan, darin unterscheiden wir uns. Dein Volk und die Menschen, von denen du sprichst, hatten einen langen Weg zurückzulegen, bis sie zu dieser Reife gelangten, und die Toten aus den früheren Schlachten fragen nicht danach, wozu ihre Opfer gut waren. Wir Chailiden töten niemanden. Wir erreichen andere Völker und knüpfen die notwendigen Kontakte durch Meditation und indem wir uns in sie hineinversetzen. Das ist wichtiger als aller
Schaden, den die Roxharen in deinen Augen anrichten können. Wir benutzen sie, wenn du so willst, um einige der Unseren auf ferne Planeten zu bringen, damit sie dort ein gutes Werk tun und viele fremde Völker die Kunst der Meditation lehren. Dies ist der bessere Weg, Atlan. Und eines Tages wird es eine große Sternenfamilie geben, geeint durch die Fühler des Geistes.« War das alles, was der alte Chailide ihm zu sagen hatte? Atlan schloß die Augen und atmete tief. War er hierher versetzt worden, um sich dies anzuhören? »Mussumor«, sagte er, so ruhig wie ihm eben noch möglich. »Jedes intelligente Wesen hat ein Recht auf seine Überzeugung. Du aber glaubst, über die Geschicke ganzer Sternenvölker bestimmen zu können! Ihr verschließt die Augen vor der Wahrheit, duldet ein Unrecht, weil ihr indirekt davon profitiert!« »Das genügt!« Die Freundlichkeit war aus den Augen des Uralten gewichen. Der Chailide wandte sich ab und bestieg das Podest. »Vielleicht mußt du so denken«, sagte er leise. »Sicher ist es so. Du weißt immer noch nicht genug über die Chailiden. Geh und sieh dich in Hashilan um! Dann, wenn du einen tieferen Einblick in die Dinge gewonnen hast, sprechen wir uns wieder. Ich bin sicher, daß du unsere Mission dann mit anderen Augen sehen wirst. Sprich mit Uralten und bilde dir dein eigenes Urteil.« »Du kannst mir dabei helfen, Mussumor! Sage mir, welche Aufgaben ihr Uralten in diesem System erfüllt. Wie beeinflußt ihr die Chailiden? Und was habt ihr wirklich mit den Roxharen zu tun?« »Geh und sieh dich um«, lautete die knappe Antwort. »Ich habe keine andere Wahl, oder?« »Allerdings nicht.« Mussumor brauchte nicht deutlicher zu werden. Atlan wußte inzwischen Dinge, die kein »normaler« Chailide je erfahren durfte. Und selbst falls die Uralten ihn hätten ziehen lassen, würde er Jahre
brauchen, um nach Ushun zurückzukehren. Er hätte wie sie Teleporter sein müssen, um diesem Gefängnis zu entkommen. Vielleicht, dachte er, bringen sie mich aber zur SOL zurück, wo ich in ihrem Sinn keinen Schaden anrichten kann. Er mußte Mussumor bei Laune halten. Vorerst aber konnte es nicht schaden, aus der Not eine Tugend zu machen. Hashilan hielt die Antwort auf viele Fragen bereit. »Eines noch«, rief der Arkonide, als er schon die Tür erreicht hatte. »Heldis verschwand aus Ushun, und kurz vor mir Shyra.« »Sie sind beide hier. Suche sie, und du wirst sie finden.« Atlan nickte und drehte sich zur Tür um. Als er die Hand auf dem schweren, verzierten Griff aus Eisen hatte, rief Mussumor: »Warte! Du sollst wissen, daß nicht alle Uralten dir wohlgesinnt sind. Einige wirst du dir zu Gegnern machen, wenn du deine Ansichten zu oft und zu laut vorträgst. Stelle keine Fragen mehr, wenn jemand dir nicht antworten will. Selbst ich kann dich sonst nicht mehr schützen.« Atlan fragte, ohne sich umzudrehen: »Tust du das?« Er erhielt keine Antwort. Verdrossen, nicht viel schlauer als vorher, verließ er das Gebäude. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Atlan stand auf den steinernen Stufen und sah sich um. Kein Chailide zeigte sich. Aber er wurde beobachtet. Er spürte es, obwohl nichts an seinen Geist tastete. Er mußte Shyra und Heldis finden. Vielleicht konnten sie ihm weiterhelfen, und wenn es nur ein kleines Stück war, ein Anfang. 2. »Da ist er!« Targar stand am Fenster seines Hauses und starrte hinaus. Ein
gutes Stück weiter oben auf dem Hang sah er den Fremden, wie er Mussumors Wohnsitz verließ und unschlüssig stehenblieb. »Unser Oberhaupt scheint mit ihm fertig zu sein«, sagte einer der drei anderen im Raum. »Wir könnten ihn holen.« »Dazu ist es noch zu früh, Pogar. Unser Interesse an ihm soll vorerst unbemerkt bleiben. Wir werden warten, bis er ein Quartier angewiesen bekommt, und ihm danach einen Besuch abstatten.« »Wie du meinst, Targar.« Der Chailide nickte. »Und außerdem ist es mir lieber, wenn wir ihm gleich zu Beginn einen Erfolg vorweisen können.« »Das«, sagte die einzige Frau im Zimmer, »liegt nun in erster Linie an Zasvog.« Sie legte ihre Hände um den Kopf desjenigen, der in tiefer Trance auf einer mitten im Raum stehenden, hohen Liege ruhte. Ihre und Pogars Blicke waren voller Erwartung auf ihren Wortführer gerichtet. An Targar lag es nun, die letzte Entscheidung zu treffen – vielleicht die Entscheidung über Zasvogs Tod oder Leben. Targar rückte sich den schweren Umhang zurecht und trat ebenfalls an die Liege. Sein Alter sprach seinem Status als Uraltem Hohn. Targar zählte erst 42 Jahre. Den ungeschriebenen Gesetzen Hashilans zufolge, hatte er an Mussumors Stelle Oberhaupt sein müssen. Doch Mussumors Berater hatten das zu verhindern gewußt. Oberhaupt sollte stets der sein, der am frühesten den Status eines Uralten erlangt hatte, wobei man ihm alteingesessene, erprobte Berater und Beraterinnen zur Seite stellte. Mussumor lenkte die Geschicke der Chailiden nun seit mehr als fünf Jahren. Dies tat er mit fester, aber gütiger Hand, wenngleich nicht alle Uralten Verständnis für seine Politik hatten. Nein, dachte Targar. Ganz bestimmt nicht. In diesen fünf Jahren waren bereits mehrere Chailiden aufgetaucht, die wie Targar die Fähigkeit des Teleportierens früher
erlernt hatten als Mussumor. Doch bisher hatten seine Berater immer entschieden, daß keiner der neuen Bewerber an Mussumors Klugheit heranreichte. Ihre Stimme gab stets den Ausschlag, und daran würde sich auch bis zu Mussumors Tod nichts ändern, wenn nicht … Wenn nicht bald etwas Entscheidendes geschah. Targar legte die Hand sanft auf die Brust jenes Mannes, auf dem seine diesbezüglichen Hoffnungen ruhten. Freiwillig dankte Mussumor nicht ab. Das gleiche galt für die Berater. Sie alle bildeten in Targars Augen eine verschworene Clique, der es vor allem darum ging, die bestehenden Verhältnisse zu konservieren. Nichts sollte sich ändern, ganz gleich, was aus den Chailiden wurde. Wem sein Platz als Oberhaupt der Uralten verwehrt wurde, den speiste man damit ab, daß er nach außen hin ebenfalls als Berater wirken durfte und somit Gelegenheit finden sollte, seinen Standpunkt zu vertreten. In Wahrheit hatte er keinerlei Einfluß. Keine abweichlerische Meinung wurde von Mussumor und seinen Vertrauten geduldet, und durch manche Intrigen gelang es ihnen auch immer wieder, unbequeme Zeitgenossen in den Reihen der Uralten ins Abseits zu manövrieren. Manch einer schon hatte dies nicht länger ertragen und von sich aus schließlich auf sein Recht verzichtet, um fortan allein seinen Pflichten als Uralter nachzugehen. Die anderen aber, die sich nicht so leicht abschieben ließen, führten ein Drohnenleben in Hashilan. Sie warteten auf ihre Stunde, und auch in ihren Reihen blühten und gediehen die Intrigen. Flüchtig dachte Targar an seinen wohl schärfsten Rivalen, an Sandun. Und Targar wußte: Dieser Mann, der die Lehre der Chailiden in ihrer reinsten Form bewahren wollte, noch mehr als Mussumor, durfte nie die Macht in Händen halten. »Targar!« Allia blickte ihn drängend an.
»Wie lange willst du denn noch warten?« fragte sie. »Zasvog wird aus der Trance erwachen, wenn du noch länger grübelst.« Der Uralte nickte. Er legte auch die zweite Hand auf Zasvogs Brust und brachte seinen Mund nahe an dessen Ohr. »Zasvog«, sagte er eindringlich. »Wenn du mich hörst, dann bewege die rechte Hand.« Er mußte die Aufforderung zweimal wiederholen, bevor sich einer der Finger leicht von der Liege hob. »Zasvog, hast du einen Kontakt?« Erneut mußte er warten. Dann hob sich wieder der Finger. Targar nickte zufrieden. Er gab Allia ein Zeichen, und sie zog die Hände vom Kopf des Ruhenden zurück. Pogar ging zum Fenster. Es fiel ihm sichtlich schwer, dies zu tun und vielleicht den langerwarteten Augenblick zu versäumen. Doch jemand mußte aufpassen, daß die vier keinen ungebetenen Besuch erhielten. Eine vorzeitige Entdeckung ihres Treibens war das letzte, das sie nun gebrauchen konnten. »Bist du bereit, Zasvog?« Die Hand zitterte. Diesmal zuckten alle sechs Finger in die Höhe. Nun zog auch Targar sich von der Liege zurück. Er wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Allia, drehte sich kurz zu Pogar um und sah, wie dieser nickte. »Zasvog – versuche es jetzt! Versuche, es zu vollenden!« Weder Targar noch Allia wagten zu atmen. Es war totenstill im Raum. Ihre Blicke waren starr auf den Liegenden gerichtet. Ein Zittern durchlief Zasvogs Körper. Noch einmal hob sich die Hand, als wollte er signalisieren: Wartet noch! Dann aber war die Liege leer. Doch der Triumphschrei blieb Targar im Halse stecken. Fast im gleichen Augenblick, in dem Zasvogs Körper entmaterialisierte, erschien er wieder. Der dumpfe Laut ins Vakuum strömender Luft fand ein Echo, als der Teleporter direkt vor Targars Füßen stofflich wurde, sich in Krämpfen wand und schrie.
Blitzschnell war Allia über ihm und preßte ihm die Hand auf den Mund. Targar und Pogar mußten ihr zu Hilfe kommen, um den Rasenden zu bändigen. Hilflos mußten sie warten, bis er in ihren Händen erschlaffte. Zasvog schlug die Augen auf. Noch bebte sein Körper. Allia nahm die Hand von seinem Mund und wandte sich erschüttert ab. »Es hat keinen Sinn, Targar!« stieß sie hervor. »Es wird niemals gelingen! Wir dürfen ihn nicht länger quälen!« »Nein«, flüsterte Zasvog. Seine Stimme bebte, doch überraschend schnell faßte er sich. Er ließ sich von Targar auf die Beine helfen, griff sich mit beiden Händen an den Kopf und blieb so mit geschlossenen Augen für eine Weile stehen. »Bist du in Ordnung?« fragte Pogar besorgt. »Es … geht schon wieder. Und … fast hätte ich es diesmal geschafft. Ich weiß es, und wir werden es wieder versuchen. Es ist nur …« »Was, Zasvog?« »Angst!« Zasvog machte eine Geste, die Verzweiflung ausdrückte. »Tief in mir ist diese Angst. Ich kann noch so ruhig sein. Im entscheidenden Augenblick schleicht sie sich in mein Bewußtsein und lähmt meine Fähigkeiten. Ich weiß, es ist lächerlich, aber …« »Niemand macht dir einen Vorwurf«, sagte Targar ernst. »Dein Leben ist wichtiger als unser Erfolg.« »Ich werde es wieder versuchen«, wehrte der Teleporter ab. »Es ist nicht unmöglich und auch nicht gefährlicher als ein normaler Sprung. Die Angst in mir ist irrational. Sie ist das letzte und einzige Hindernis. Die Trance allein genügt nicht, Targar. Aber wir haben Mittel, um die Angst zu besiegen.« »Du denkst an Drogen?« fragte Allia entsetzt. »Du willst wirklich mit Drogen versuchen, die Angst abzutöten?« Zasvog nickte. »Aber du kennst das Risiko, das damit verbunden ist!« Der ebenfalls noch verhältnismäßig junge Teleporter blickte sie
lange an. Er setzte sich auf die Liege und ließ sich von Pogar ein Gefäß mit Wein geben. Erst als er es geleert hatte, sprach er wieder. »Ich kenne das Risiko, Allia. Doch ich kenne auch mich und meine Kräfte – und vor allem die Gefahr, die unserem ganzen Volk droht, wenn Mussumor und seine Berater es weiter so lenken wie bisher. Nein, Freunde. Ich hatte Kontakt, und ich weiß, daß ich erwartet wurde. Wir versuchen es wieder, sobald ich mich stark genug fühle und einer von euch genügend Traumbeeren gesammelt hat, um mit ihrem Saft dieses Gefäß füllen zu können.« Er hielt die kleine schmale Flasche in die Höhe. »Es ist allein seine Entscheidung, Allia«, sagte Targar. »So ist es«, bestätigte Zasvog. »Wir werden den Beweis erbringen!« 3. Atlan saß grübelnd in einem Hauseingang und starrte in das Schneetreiben. Mit den weißen, wirbelnden Flocken brachte ein aufflauender Wind noch größere Kälte heran. Er spürte sie kaum. Der Eingang war überdacht. Fünf breite Stufen führten von einem der Wege zu ihm herauf. Links und rechts davon befanden sich vorgeschobene Gebäudeteile mit verglasten Fenstern, was davon zeugte, daß die Uralten in Hashilan wie die Bewohner von Ushun und Syrgan auch Handwerker waren. Oder vielleicht auch nicht. Hatte Mussumor nicht anklingen lassen, daß sich nicht nur Uralte in Hashilan aufhielten? Atlan war auf einem psychischen Tiefpunkt angelangt. Er hätte an eines der Fenster klopfen und Einlaß begehren können. Aber er tat es nicht. Ihm war egal, wer hinter den verschlossenen Türen wohnte. Wenn die Uralten ihn schon so offen ignorierten, würde er sich nicht aufdrängen.
Mit großen Erwartungen hatte er der Begegnung mit ihnen entgegengesehen – und nun diese Behandlung durch Mussumor. Vielleicht war sein augenblicklicher Trotz auch nur die Folge all dessen, was er auf Chail erlebt hatte, was ihn ein ums andere Mal verwirrt und verunsichert hatte. Jedenfalls war er nahe daran, Chail Chail sein zu lassen und sich nur noch zu wünschen, mit Bjo und Wajsto Kölsch auf die SOL zurückzukehren. Dazu mußte er die beiden erst einmal finden. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, zuerst das Geheimnis der Uralten ergründen zu wollen und sich nicht gleich der Blauen Stadt der Roxharen zuzuwenden. Mussumor war so klug. Dann mußte er wissen, wie sehr ihm die Zeit unter den Nägeln brannte. Zerknirscht und wütend hockte der Arkonide im Eingang und wartete darauf, daß das Schneetreiben nachließ, als plötzlich ein Uralter neben ihm materialisierte. Atlan sah auf, ohne daß sich sein Gesicht erhellte. Dieser Mann verdiente wahrhaftig die Bezeichnung »uralt«. Atlan schätzte ihn auf hundert Jahre, wenn nicht noch mehr. »Kummer, Freund?« lachte der Alte und ließ sich neben dem Arkoniden auf die Stufen nieder. »Ach, ich verstehe, du warst bei Mussumor.« »Du sagst es«, knurrte Atlan. Der Uralte rückte ein Stück näher an ihn heran. Er grinste und zeigte dabei ein lückenhaftes Gebiß. »Jaja«, sagte er. »Mit dem Oberhaupt hat manʹs nicht leicht. Ich weiß ein Lied davon zu singen.« Atlan zog eine Braue in die Höhe. »So?« »Ich bin Perqueton«, erklärte der Chailide unaufgefordert. »Atlan«, erwiderte der Arkonide. Erst jetzt musterte er den Alten genauer. Perquetons Umhang war schmutzig und an einigen Stellen zerrissen. Einige dunklere Flicken
waren auf Löcher genäht. Perquetons Haar war zerzaust, sein Gesicht faltig, und sein Blick … Atlans Interesse erwachte von neuem. Perqueton grinste noch immer, und seine alten Augen verrieten nicht gerade sprühende Intelligenz. Dabei war das noch eine vorsichtige Einschätzung seines Geisteszustands. »Du bist also Perqueton«, seufzte Atlan. »Und? Hat Mussumor dich geschickt?« »Mich?« Die Frage schien den Uralten über alle Maßen zu amüsieren. Er kicherte eine Weile in sich hinein. Dann sah er wieder Atlan an. »Ich wäre der letzte, den er dir schicken würde. Man wird sich schon um dich kümmern, und dann muß ich ohnehin verschwinden. Aber bis es soweit ist, kannst du mir von deiner Welt erzählen.« Danach stand Atlan kaum der Sinn. Aber er begriff, daß er hier jemanden gefunden hatte, dem vielleicht mehr zu entlocken war als dem Oberhaupt. »Einverstanden«, sagte er also. »Aber zuerst möchte ich einiges wissen. Zuerst frage ich, dann du. Abgemacht?« »Abgemacht.« Perqueton rieb sich die Hände. »Frag nur.« Atlan zog die Beine an und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Als ob dies Teil einer Zeremonie wäre, tat Perqueton es ihm gleich. »Vor mir kamen zwei Chailiden hierher, junge Leute«, begann Atlan. »Weißt du, wo sie sind?« »Natürlich weiß ich das. Perqueton weiß vieles, denn die anderen, die sich Uralte schimpfen, denken, Perqueton sei ein alter, seniler Trottel, der ohnehin gleich alles wieder vergißt, was er hier und da aufschnappt.« »Also? Wohin hat man sie gebracht?« »Ins Haus der Jungen. Wohin denn sonst?« »Haus der Jungen?«
Perqueton nickte heftig. Wahrscheinlich hatte er zum erstenmal seit Jahren wieder einen aufmerksamen Zuhörer gefunden. Er wischte sich Schneeflocken aus dem langen Haar, das seine Farbe fast völlig verloren hatte. »Natürlich! In Hashilan gibt es neben den Uralten auch einige hundert Kinder und Jugendliche.« Atlan war verblüfft. »Kinder hier im Versteck der Uralten? Weshalb das?« Perqueton kicherte wieder. Er wischte mit einer Hand durch die Luft, als wollte er Schneeflocken fangen. »Es sind alles besonders begabte Jungen und Mädchen, die in Hashilan von frühester Kindheit an intensiv geschult werden. Später werden sie dann unauffällig in die Dörfer und Städte zurückgebracht, wo sie besondere Aufgaben zu erfüllen haben. Du kannst sie dir selbst ansehen. Wenn ich deine Geschichte gehört habe, zeige ich dir das Haus.« Der Chailide klatschte in die Hände. »Also, die nächste Frage, oder hast du keine mehr?« Atlan hätte gerne nachgehakt und gewußt, worin diese Aufgaben bestanden. Aber Perqueton betrachtete diese Angelegenheit offenbar als erledigt. »Einige hundert Kinder«, sagte er. »Und wie viele Uralte gibt es?« »Oh, sehr viele. Früher waren es weniger, denn die meisten hatten nicht mehr viele Jahre zu leben, nachdem sie die Reife erreicht hatten. Heute sind wir etwa zwölftausend an der Zahl.« Zwölftausend Uralte! Atlan mußte diese Auskunft erst einmal verdauen. Zwölftausend! Und sie alle waren Teleporter! »Oh, ich weiß, was du jetzt denkst, Freund Atlan«, lachte Perqueton. »Du denkst dir, daß so viele von uns gar nicht in Hashilan leben können.« Er nickte. »Damit hast du völlig recht. Von diesen zwölftausend lebt immer nur eine kleine Kerntruppe ständig in Hashilan, während die anderen auf ganz Chail von Ort zu Ort springen, um auf die Meditierenden einzuwirken. Sie verfolgen die
Fortschritte, die diese machen, und sind zur Stelle, wenn hier oder dort ein Meditierender die kritische Schwelle erreicht und nach Hashilan geschafft werden muß.« »Und sie entführen die Kinder eures Volkes«, fügte Atlan finster hinzu. Perqueton seufzte und breitete die Arme aus. »Sicher tun sie das. Sie müssen jedes Neugeborene auf seine meditative Begabung prüfen, denn es gibt auch Chailiden, denen diese Begabung fehlt. Diese Unglücklichen dürfen dann nicht in den Dörfern aufwachsen, denn die Erfahrung hat gezeigt, daß sie die Meditierenden stark behindern, auch wenn sie das gar nicht wollen. Bei den Neugeborenen läßt sich das Fehlen dieser Begabung noch sehr leicht erkennen, mußt du wissen.« Wieder klatschte Perqueton in die Hände. Dieses Spiel schien ihm Freude zu machen. »Nächste Frage!« Atlan hob abwehrend eine Hand. Das Schneegestöber ließ nach. Regen mischte sich wieder in die weißen Flocken, und der Wind flaute zusehends ab. Als schwach leuchtende Scheibe war die Sonne am Himmel zu sehen. »Und das findest du in Ordnung, oder?« fragte der Arkonide. »Ich meine, daß Eltern die Kinder geraubt werden und …« »Warte! Du bist ein Fremder und verstehst das nicht. Kinder, die keine Veranlagung zur Meditation aufweisen, werden von uns aus den Dörfern entfernt, das stimmt schon. Aber ihre Eltern erhalten Ersatz. Sie bekommen Kinder zurück, die zur Meditation befähigt sind – Kinder, die in den Städten der Außenseiter geboren werden. Dir mag dies grausam erscheinen, und glaube mir, wir tun dies nicht gerne. Aber es ist nun einmal die einzige Möglichkeit, unsere Kultur zu erhalten. Und die meisten Eltern verstehen das, obwohl sie natürlich nicht wissen, warum ihre Kinder verschwinden müssen.« Atlan gab keine Antwort. Er dachte daran, daß selbst jene Kinder nach Wochen spurlos verschwanden, die von ihren Eltern nicht zur
Hütte des Uralten in ihrem Dorf gebracht wurden. Er wußte, daß längst nicht alle Eltern, denen die Kinder nicht zurückgegeben wurden, einen »Ersatz« erhielten, denn in den wenigen Städten wurden nicht genug Chailiden geboren, um damit die »Verluste« in den vielen Dörfern auch nur annähernd ausgleichen zu können. Auf der anderen Seite, mußte er sich sagen, wäre ein weniger human eingestelltes Volk wahrscheinlich eher auf eine andere Lösung des Problems verfallen – nämlich die nicht meditativ begabten Kinder einfach umzubringen. »Dann sorgtet ihr Uralten also für die Gründung der Städte?« »In weiser Voraussicht taten wir das, und wenn ich ,wir´ sage, dann meine ich unsere Vorfahren. Die Gründung der Städte erfolgte vor langer Zeit – wahrscheinlich schon vor tausend Jahren, als die Uralten damit begannen, die Geschicke dieser Welt in ihre Hände zu nehmen. Vorher waren sie wohl nicht zahlreich genug dazu, und heute noch gibt es viele Dörfer, die ohne einen von uns auskommen müssen. Aber das war eine lange Antwort. Nächste Frage.« Sie drängte sich Atlan förmlich auf. »Welche Beziehung besteht zwischen euch und den Roxharen?« frage er wie aus der Pistole geschossen. Schon glaubte er, von Perqueton auch hierauf ohne langes Zögern eine Antwort zu erhalten, als die Luft vor ihnen zu flimmern begann. Der Regen hatte aufgehört. Die Sonne schien von einem sich schnell aufheiternden Himmel herab. Und vor Atlan und Perqueton materialisierten gleich drei Uralte. »Oh weh!« jammerte Perqueton. »Hättest du nur nicht soviel gefragt! Jetzt werden sie mich wieder davonjagen, und ich erfahre deine Geschichte nicht.« Unter den drei Teleportern waren zwei Frauen, und eine von ihnen war kahlköpfig – Keliar. »Tut mir leid für dich, Alter«, sagte sie spöttisch. »Aber das siehst
du ganz richtig. Wir haben Anweisung, Atlan ein Quartier anzuweisen.« »Wie zuvorkommend«, erwiderte der Arkonide sarkastisch. »Mussumor muß sich wahrhaftig sehr schwer dazu durchgerungen haben.« Keliar antwortete nicht darauf. Sie blickte Perqueton nur auffordernd an. »Ich verstehe schon«, jammerte dieser. »Ich muß wieder einmal verschwinden.« »Ich erzähle dir meine Geschichte später«, vertröstete Atlan ihn. »Wir sehen uns bestimmt noch einmal. Oder mußt du in die Dörfer?« »Dazu bin ich zu alt.« Perqueton rutschte schnell noch ein Stück auf Atlan zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Das Haus der Jungen befindet sich ganz unten am Hang. Es ist das größte von allen! Viel Glück!« Dann war er verschwunden. »Was hat er dir alles gesagt?« wollte Keliar wissen. Atlan stand auf und winkte barsch ab. »Nichts von Bedeutung, oder? Hier gibt es doch nichts, das mich zu interessieren brauchte. Mussumor hat dafür gesorgt, daß ich den Roxharen nicht in die Hände falle. Und allein darum ging es euch doch?« »So darfst du nicht reden«, bat Keliar ihn. »Nein? Ich denke, das liegt ganz an euch.« Sie schüttelte den Kopf, nahm ihn bei der Hand und entmaterialisierte mit ihm. * Das Haus, in das Atlan gebracht wurde, war kleiner als die anderen. Es besaß nur drei Zimmer, aber dafür hatte er es ganz für sich allein.
Die Wände waren gekalkt wie anscheinend überall in Hashilan, und Türen verbanden jeden Raum mit den anderen. Es gab keine Verzierungen an den Wänden, keine Bilder und keine Teppiche auf dem Boden. Das Mobiliar entsprach dem in den Häusern von Ushun und Syrgan. Zwei der Zimmer waren als Wohn‐ und Aufenthaltsräume eingerichtet, mit großen Holztischen und Stühlen. Im dritten stand ein Bett, und hinter einer Trennwand befanden sich Waschgelegenheiten und sanitäre Anlagen. Keliar und ihre beiden Begleiter waren zuvorkommend. Sie übergingen Atlans spöttische Bemerkungen und warteten, bis er sich überall gründlich umgesehen hatte. Er blieb vor ihnen stehen und blickte Keliar aus zusammengekniffenen Augen an. »Mir steht es also frei, mich überall in Hashilan zu bewegen und umzusehen?« »Natürlich«, erwiderte Keliar ernst. »Werdet ihr mich nach Ushun zurückbringen?« »Das kann nur das Oberhaupt entscheiden«, lautete die erwartete Antwort. Atlan verbiß sich eine Entgegnung und verließ das Haus, ohne sich noch einmal nach den Chailiden umzudrehen. Er hörte, wie sie hinter ihm entmaterialisierten. Shyra und Heldis! dachte er. Zuerst einmal zu ihnen! Mittlerweile waren die wenigen freien Plätze, die Treppen und Wege wieder mit Uralten bevölkert. Atlan stieg die Stufen seines Hauses hinab und merkte sich dessen Lage. Er grüßte zurück, immer wieder, wenn ihm Uralte begegneten. Oft sah er sie entmaterialisieren und wieder erscheinen, als machte es ihnen Spaß, den ganzen Tag über nichts anderes zu tun, als zu teleportieren. Oder steckte irgendein System dahinter? Waren es nicht immer die gleichen, die vor ihm materialisierten oder wie zufällig seinen Weg den Hang hinab kreuzten? Wollten sie
ihm überdeutlich zu verstehen geben, daß er beobachtet wurde? Er ignorierte sie, suchte sich seinen Weg zwischen den Gebäuden hindurch, übersprang kleine Mäuerchen und sah bald das Haus vor sich, das Perqueton gemeint haben mußte. Es war tatsächlich fast viermal so groß wie die anderen und im Vergleich zu ihnen fast wie ein Turm. Sechs Fensterreihen übereinander zählte der Arkonide. Hinter dem Bauwerk lag nichts mehr, nur Geröll und Büsche, die auf dem Hang wuchsen. Schon im Eingang hörte Atlan Kindergeschrei und Stimmen von Uralten, die ihn an die geduldigen Lehrer erinnerten. Er betrat einen breiten, weißen Korridor. Zu beiden Seiten gab es Türen, von denen die meisten geschlossen waren. Wo sie offenstanden, turnten Kinder auf dem Gang herum oder balgten sich im Klassenzimmer (nur um solche konnte es sich handeln) über, zwischen und unter Tischen. Auf einem Podest stand ein größerer Tisch, dahinter ein Stuhl und eine Schiefertafel. Wie in alten Schulen auf der Erde, dachte der Arkonide. Unwillkürlich mußte er lächeln. Inzwischen war er nicht mehr überrascht darüber, wie sehr sich die Bilder doch glichen. In Ushun gab es Schänken, wie sie auch auf Terra und anderen ihm bekannten Planeten zu finden gewesen waren. Trotz aller Unterschiede ähnelten sich die Zivilisationen doch sehr. Die Kinder, die ihn sahen, hörten mit ihrer ausgelassenen Spielerei auf und umringten ihn. Aus großen, neugierigen Augen blickten sie ihn an, bis einer von den Jungen sich ein Herz faßte und ihm auf die Arme sprang. »Du bist der, von dem sie alle hier reden!« rief der Knabe aus. »Sag, was tust du hier?« Atlan hob ihn sich auf die Schultern und fing einen anderen auf. »Das, mein Sohn, frage ich mich allerdings auch«, antwortete er lachend. »Aber du bist anders als wir. Bist du ein neuer Lehrer?« »Er ist einer!« rief ein Mädchen. Die Kinder faßten sich bei den
kleinen Händen und begannen, um ihn herum zu tanzen und zu hüpfen. »Er ist ein neuer Lehrer! Die anderen sind dumm. Immer wollen sie, daß wir nur dasitzen und lernen. Sag, Silberhaar, was bringst du uns bei? Nun komm uns nicht mit dem langweiligen Meditieren!« Atlan lachte und machte das Spiel mit. Es hatte etwas Befreiendes. Für Augenblicke vergaß er seine verdrießliche Situation, klemmte sich zwei junge Chailiden unter den Arm und drehte sich mit ihnen so schnell, daß ihre Füße fast waagrecht durch die Luft zappelten. Sicher handelte es sich um besonders befähigte Chailiden‐ Sprößlinge. Aber sie waren keine ernsten, frühreifen Supergenies. Sie waren wie alle Kinder in ihrem Alter. »Nein, nein«, sagte er schließlich, als er die Knaben absetzte. »Ein neuer Lehrer bin ich nicht.« »Das ist dumm!« Irgendwo auf dem Gang wurde eine Tür aufgestoßen, und eine weitere Schar stürmte aus ihren Klassenzimmer. Ein Uralter folgte seinen außer Rand und Band geratenen Zöglingen und raufte sich die Haare, als er Atlan inmitten der Kinderschar stehen sah. »Zurück auf eure Plätze!« brüllte er mit sich überschlagender Stimme. »Wollt ihr wohl!« »Das ist der alte Griesgram Dussel«, flüsterte ein Mädchen dem Arkoniden schnell zu. »Eigentlich heißt er Garjat, aber wir nennen ihn nur Griesgram Dussel. Der versteht keinen Spaß. Wir müssen zurück und wieder meditieren lernen. Aber nachher wartest du auf uns?« »Großes Ehrenwort«, flüsterte Atlan mit Verschwörermiene. »Aber warte. Es müssen noch zwei Neulinge in Hashilan sein. Ein junger Chailide und seine Partnerin. Wißt ihr, wo?« »Seid ihr noch nicht drinnen?« kreischte Garjat. Er schaufelte die Schüler mit seinen langen Armen regelrecht in die Klassenzimmer zurück. Einige fanden wohl großen Spaß daran, ihn zu necken und ihnen nachlaufen zu lassen. Als »Griesgram«, die Hände nach dem
Mädchen ausstreckte, rief sie Atlan schnell zu: »Siehst du die Treppen dort hinten? Du mußt sie bis ganz oben hinaufgehen, wo die Älteren wohnen!« Dann hatte Garjat sie fest im Griff, warf Atlan einen vernichtenden Blick zu und trug sie ins Klassenzimmer. Atlan sah dem Treiben noch eine Weile schmunzelnd zu, wobei immer wieder einige besonders mutige Rabauken versuchten, sich hinter seinem Rücken zu verstecken. Als der Gang wie leergefegt war und Atlan ein Einsehen mit Garjat hatte, beeilte er sich, zur Treppe zu laufen, bevor er das Opfer eines weiteren solchen Überfalls werden konnte. Eine ganz und gar verrückte Welt, dachte er. Auf der einen Seite die gestrengen, würdevollen Uralten, und auf der anderen … Aber auch diese jetzt noch so ausgelassenen Kinder würden eines Tages so sein wie sie. Und vorher? Was war ihre Aufgabe in den Städten und Dörfern? Atlans Lächeln verflog, als er begann, die Treppenstufen hinaufzusteigen. Nur wenige Blicke warf er in die Korridore eines jeden neuen Stockwerks. Auf den ersten beiden tat sich nichts. Dann aber sah er einige bereits zu Jünglingen herangewachsenen Chailiden, die an die Wände gelehnt standen und sich unterhielten. Als sie ihn erblickten, schwiegen sie und starrten ihn nur an. Hinter offenen Türen konnte er Betten und Tische erkennen. Offensichtlich waren die Kinder und Heranwachsenden in diesem Gebäude regelrecht kaserniert. Die Schüler im nächsten Stock waren noch älter. Atlan grüßte, erntete aber nur verschlossene, fast abweisende Blicke. Er verstand. Diese Jungen und Mädchen waren alle schon älter als vierzehn – in jenem Alter also, in dem die Jugendlichen überall auf Chail damit begannen, ihre Erfahrungen in der Wildnis zu sammeln, wo sie ihre altersbedingten Aggressionen abbauen konnten und vor allem die Aufgabe hatten, die Meditierenden mit Nahrung zu
versorgen. Sie jagten Wild oder sammelten Früchte. Dieses Ventil fehlte den hier Kasernierten. Und das Eingesperrtsein tat ein Übriges, um sie wohl ständig gereizt sein zu lassen. Inwiefern die Begeisterung für ihre künftigen Aufgaben dies abzumildern vermochte, war eine weitere Frage. Aber nicht Atlans Problem. Er stieg die letzte Treppe hinauf und fand sich auf einem verlassenen Korridor wieder. »Shyra?« rief er leise. »Heldis?« Niemand antwortete ihm. Zwar wurden einige Türen aufgestoßen, doch aus ihnen schauten nur mürrische, weltabgeschiedene Gesichter heraus. Die Chailiden schlossen sie schnell wieder. Sie waren in dem Alter, in dem andere sich daran machten, eine Familie zu gründen. Da dies das letzte Stockwerk war und daher nicht zu erwarten, daß sich im Haus der Jungen noch ältere Chailiden befanden, lag der Schluß nahe, daß sie kurz vor dem Ende ihrer »Ausbildung« standen und bald schon aus Hashilan hinausgebracht werden würden. Eines Tages würden sie als Uralte zurückkehren. Uralte! Atlan fragte sich, wie man hier wohl einen Zehntausendjährigen bezeichnen würde. »Shyra? Heldis!« Er ging weiter. Der Treppenaufgang lag an einem Ende des Korridors, von dem keine weiteren Gänge abzweigten. Es gab also nur eine Richtung, in der er zu suchen hatte. »Shyra!« Eine Tür wurde aufgerissen. Ein junger Chailide lehnte sich heraus und sagte unwirsch: »Mach nicht solch einen Krach. Du störst uns mit deinem Geschrei!« »Beruhige dich, mein Junge«, murmelte Atlan. Er beachtete ihn nicht weiter. Hinter ihm knallte die Tür zu. »Und ihr redet von Krach. Ihr solltet euch selbst …«
Er verschluckte den Rest. Shyra lehnte plötzlich vor ihm an einer Wand, starr wie eine Statue. Sie sah ihn an, als könnte sie es nicht fassen, daß er vor ihr stand. Ihre schmalen Lippen bebten. »Atlan …«, brachte sie endlich hervor. Dann flog sie auch schon in seine Arme. Er drückte sie fest an sich, hörte ihr Schluchzen und seine eigenen Worte, mit denen er sie zu trösten versuchte. Aber was hatte sie so erschüttert? Warum weinte sie? Er wußte, daß Shyra alles andere als hysterisch war, auch wenn sie oft ihrer Gefühle nicht Herr wurde. Sanft schob er sie von sich und sah in ihre grauen Augen. »Hast du … Heldis nicht gefunden?« Sie nahm die Hände von ihm und schlug sie sich vors Gesicht. »Wenn es nur so wäre!« schluchzte sie. »Hätte ich ihn nur nicht gefunden! Er ist hier, Atlan, in Hashilan! Aber was sie mit ihm machen …!« »Wer?« fragte er schnell. »Mussumor?« »Sie … werden ihn umbringen! Nein, es ist noch schlimmer.« 4. Pogar hatte am Fuß des Abhangs die Traumbeeren gepflückt, während Zasvog sich auf die erneute Wiederholung des Versuches vorbereitete und Targar und Allia sich an verschiedenen Stellen Hashilans zeigten, um so jedes vielleicht aufkommende Mißtrauen von vornherein zu zerstreuen. Natürlich mußten sie damit rechnen, von Sandun und seinen Gefolgsleuten beobachtet zu werden. In zum Teil sehr heftig geführten Rededuellen hatten die beiden Kontrahenten ihre Meinungen jedem Uralten deutlich gemacht. Mussumor schien
dabei nicht daran zu denken, mäßigend auf sie einzuwirken. Im Gegenteil hatte Targar den Verdacht, daß das Oberhaupt den Streit noch schüren ließ, um von sich selbst und seiner falschen Politik abzulenken. Und sie war falsch! Targar fieberte dem erneuten Versuch entgegen. Es mußte gelingen. Der Beweis mußte ganz einfach erbracht werden. Erst dann konnte er in aller Öffentlichkeit vor Mussumor hintreten und den Uralten eine echte Alternative bieten. Targar haßte die Roxharen. Mit ihnen zusammenzuarbeiten, war für ihn der größte Fehler, den Chailiden jemals gemacht hatten. Sie hatten auf Chail nichts zu suchen. Für jeden Chailiden, der an Bord eines ihrer Schiffe ging, mußte dies eine Erniedrigung sein. Sie brauchten die Roxharen nicht. Sie hatten die Kraft in sich, auch ohne deren Technik überallhin zu gelangen. Dies zu beweisen, war seine und Zasvogs Aufgabe. Und dann, wenn erst einmal ein Chailide von einem anderen Planeten zurückgekehrt war, gab es auch für Mussumor kein vernünftiges Argument mehr für die weitere Duldung der Roxharen auf Chail. Das ging Targar noch einmal durch den Kopf, als er nun darauf wartete, daß die Wirkung des Traumbeerensafts bei Zasvog voll einsetzte. Allia machte auch jetzt keinen Hehl aus ihrer Ablehnung der Droge. »Es ist an sich schon verwerflich«, sagte sie, »daß ein Chailide Kraft in den Zauberkräften der Pflanzen sucht, denn es beweist nur, daß er diese Kraft nicht in sich selbst zu finden vermag.« »Zasvog hat die Kraft, und das weißt du«, entgegnete Pogar. »Es gibt keinen anderen in Hashilan, der die Teleportation wie er beherrscht.« »Das mag sein«, erwiderte sie. »Aber auch dann noch, wenn die Droge auf seinen Geist wirkt?« »Sie soll ihm nur die Angst nehmen, weiter nichts«, sagte Targar. Sie lachte trocken. »Das wird sie allerdings tun. Aber er wird im Rausch nicht mehr
fähig sein, seine Kräfte richtig einzuschätzen. Ich sagte dir, Targar, dies ist nicht der richtige Weg zu den anderen Welten.« Der Chailide winkte barsch ab. »Denke an das, was auf dem Spiel steht. Und er tut es freiwillig. Es war seine Entscheidung.« Als sie schwieg, trat er zur Liege, auf der Zasvog inzwischen wieder ausgestreckt lag, und sah in die weit offenen Augen des Teleporters. »Wie fühlst du dich jetzt?« »Gut«, antwortete Zasvog. »Ich spüre die Wirkung der Droge, aber ich habe sie unter Kontrolle.« »Ha!« machte Allia. »Bist du ganz sicher?« wollte Targar wissen. »Zasvog, wenn du den geringsten Zweifel hast, blasen wir den Versuch ab.« »Ich bin mir sicher.« Er schloß die Augen. Sein Atem flachte ab. Targar trat zurück und versuchte, Allias vorwurfsvollem Blick auszuweichen. Zasvog verzichtete diesmal darauf, sich in eine Trance zu versetzen. Nach Minuten, die Targar wie Stunden vorkamen, flüsterte er: »Ich habe Kontakt.« »Er darf es nicht tun!« appellierte Allia ein letztesmal an Targar und Pogar. »Seine Kräfte werden ihn in die Unendlichkeit schleudern! Wer von den Traumbeeren ißt oder ihren Saft trinkt, überschätzt sich selbst grenzenlos!« »Ich … habe Kontakt!« kam es nochmals über die Lippen des Teleporters. »Ich … jetzt!« »Nein!« schrie Allia. Sie wollte auf ihn zustürzen, ihn zu sich selbst bringen, doch ihre Hände griffen ins Leere. »Hast du den Verstand verloren!« Targar war bei ihr und riß sie von der Liege zurück. »Er hätte dich mitreißen können!« Sie starrte auf die leere Liege. Targar hielt sie umklammert. Alle drei Chailiden hielten den Atem an und warteten bange darauf, daß
Zasvog wieder materialisierte. Es geschah nicht. »Er hat es geschafft«, flüsterte Pogar. »Freunde, er hat es wahrhaftig geschafft.« »Ich glaube es nicht«, sagte Allia ebenso leise. »Ich kann es nicht glauben.« »Aber es ist so!« rief Targar triumphierend aus. Er lachte und schüttelte sie leicht an den Schultern. »Allia, hätte er sein Ziel nicht erreicht, wäre er irgendwo zwischen den Welten materialisiert, so hätte es ihn unweigerlich zurückgeschleudert! Zasvog mußte darauf vorbereitet sein, und den entsprechenden Impuls hatte er schon im Augenblick der Entstofflichung in seinem Bewußtsein!« Sie sah ihn an, noch standen die Zweifel in ihrem Blick. Dann aber lachte auch sie, und im Freudentaumel fielen sie sich um den Hals – alle drei. Dabei konnten sie erst von einem Erfolg sprechen, wenn Zasvog auch wieder wohlbehalten zurückgekehrt war. Wie lange das dauern würde, das wußten sie nicht. Aber Zasvog würde sie ganz sicher nicht länger als nötig im Ungewissen lassen. Und als sie sich noch umarmt hielten, flog die Tür auf. Mussumor stand mit seinen Beratern im Eingang. Sandun war bei ihnen. Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht, als er die leere Liege sah und anklagend auf die drei Überraschten deutete. »Da siehst du es selbst, Mussumor!« rief er laut. »Nun frage sie, wo ihr Mitverschwörer Zasvog ist!« 5. »Ich weiß nicht, was sie mit ihm machen«, flüsterte Shyra, das Gesicht in den Händen verborgen. »Ich weiß es nicht, Atlan. Aber ich weiß, daß es ihn töten wird.« Sie saß auf der Kante ihres Bettes, in einem Zimmer, das nicht viel
größer war als drei mal drei Meter. Atlan hatte die Tür verschlossen und sich den einzigen Stuhl herangezogen. Er nahm ihre Hände. »Von Anfang an, Shyra«, bat er sie. »Du mußt mir alles genau erzählen. Du kamst nur kurz vor mir in Hashilan an. Ich hätte dich noch sehen müssen.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Sie brachten mich sofort weg. Zwei Uralte erwarteten mich bereits. Jene, die mich hierher versetzte, gab ihnen geflüsterte Anweisungen und war wieder … verschwunden.« »Keliar«, murmelte Atlan. »Sie sprang zurück nach Ushun, um auch mich zu holen.« »Sie … versetzten mich in einen Raum, der anders war als dieser und alle anderen, die ich gesehen habe. Er war … viel größer und hatte Fenster aus buntem Glas. Wenn die Sonne hindurchschien, dann war es, als löste sich die Welt ringsherum in einem Traum auf.« »Bunte Fenster?« Atlan gab ihr eine Beschreibung von Mussumors Sitz. »Nein, so war es nicht. Der Raum hatte viele dieser Fenster. Aber ebenso viele Uralte hielten sich darin auf. Sie standen um einen langen und hohen Tisch herum, Atlan. Und auf diesem Tisch, da lag …« »Heldis«, flüsterte er. »Heldis.« Allein den Namen ihres Geliebten auszusprechen, kostete das Mädchen Überwindung. »Sie alle waren um ihn herum, und sie hatten die Augen fest geschlossen. Aber sie blickten ihn dennoch an, Atlan, auf eine furchtbare Weise. Sie taten etwas mit seinem Geist, und ich bin sicher, sie tun es noch.« Shyra fuhr sich durch das Haar. »Bei den Göttern der Ahnen, wofür strafen sie ihn?« Atlan schwieg. Er sah das junge Mitglied der Familie Heldim wieder vor sich, wie er an einem Tisch der Schankstube in Ushun saß, mehrere Gläser mit Wein vor sich. Heldis leerte sie schnell, und mit jedem Schluck
wurde er aufgeschlossener und gesprächiger Atlan gegenüber. Er konnte ihm einiges über Ushun und die sechs geheimnisvollen Familien berichten, bevor andere Mitglieder seiner eigenen Familie erschienen und ihn schnell zum Schweigen brachten. Am anderen Tag war er verschwunden gewesen. Nun bestand kein Zweifel mehr daran, daß er von einem Teleporter nach Hashilan gebracht worden war. Aber warum? Weil er zuviel geredet hatte? Weil er gegen die festgefügte Ordnung rebellierte, keine Familie gründen und als freier Handwerker leben wollte? Weil er zwar um die Uralten wußte, aber deren Herrschaft nicht akzeptierte? Atlan fühlte sich mitschuldig am Schicksal des jungen Chailiden, denn er hatte ihn dazu animiert, zu plaudern. »Hast du mit Mussumor gesprochen, Shyra?« »Ich wollte es, aber seine Berater wiesen mich ab. Sie brachten mich hierher und sagten, ich solle warten.« Sie lachte bitter. »Worauf, Atlan?« »Mir erging es ähnlich«, sagte er nachdenklich, »obwohl ich sofort zu Mussumor gebracht wurde.« Kurz berichtete er ihr über die Unterhaltung mit dem Oberhaupt. »Dann sind wir alle drei verloren«, flüsterte Shyra. Atlan war sich dessen nicht mehr so sicher. Natürlich, sie wußten zuviel. Es war zu bezweifeln, daß Mussumor und dessen Berater (von denen er noch keinen zu Gesicht bekommen hatte) sich mit dem Versprechen zufriedengeben würden, nichts von dem hier in Hashilan Erfahrenen zu berichten. Aber die Chailiden verabscheuten jede Form von Gewalt. Ihn, einen Fremden, mochten sie vielleicht zu opfern bereit sein, um das Geheimnis der Uralten zu wahren – aber kaum Shyra und Heldis. Und gerade das, was nach Shyras Worten irgendwo in Hashilan mit Heldis geschah, gab dem Arkoniden eine schwache Hoffnung. Heldis gehörte einer der Familien von Ushun an. Das gab ihm
einen besonderen Status, denn Atlan hatte nach seinen Beobachtungen in der Stadt der Außenseiter Grund zur Annahme, daß eine enge Beziehung zwischen den Familien und den Uralten bestand. Heldis rebellierte gegen die bestehende Ordnung. War es da nicht nur logisch, daß die Uralten ihn hierhergeholt hatten, um seine Ansichten zu »korrigieren« und ihn anschließend nach Ushun zurückzubringen? Heldis hatte viel und oft getrunken – zu oft. War dies letztlich der Grund für seine innere Auflehnung? Hatte der Wein in seinem Bewußtsein etwas bewirkt, das ihn über die Mauern hinwegsehen ließ, die vielleicht in einer langen Ausbildung um sein Denken gezogen worden waren? Atlan legte Shyra seine Überlegungen dar. Zunächst schien sie sich dagegen zu sperren. Doch dann stand sie auf und ging zum Fenster. Eine Weile lang blickte sie nachdenklich hinaus, dann drehte sie sich mit einem Ruck um. »Atlan, ich weiß, daß du mir nicht nur eine falsche Hoffung machen willst, und in einem könntest du recht haben.« Sie deutete auf die Tür, dann auf den Boden vor ihren Füßen. »Einiges konnte auch ich in Erfahrung bringen. All diese Schüler hier – sie werden für Aufgaben vorbereitet, die sie außerhalb Hashilans zu erfüllen haben.« »Weiter«, forderte er sie auf. »Ich konnte einiges von ihnen erfahren. Gerade die älteren sind stur und arrogant. Aber anscheinend fließt noch genug Blut in ihren Adern, um sie einem Mädchen gegenüber gesprächig zu machen. Bald wird eine Gruppe von ihnen Hashilan verlassen. Sie sind noch nicht fähig, sich von Ort zu Ort zu versetzen. Deshalb werden die Uralten sie an ihre Bestimmungsorte bringen.« »Und die wären?« »Eigentlich überall auf Chail. Besonders befähigte Kinder werden, nachdem sie von ihren Eltern zu den Hütten der Uralten gebracht
und dort geprüft wurden, nach Hashilan versetzt, dort aufgezogen und geschult.« »Ich bekam einen Eindruck davon«, sagte der Arkonide lächelnd. »Haben sie diese Ausbildung erfolgreich hinter sich gebracht, so werden sie in die Öffentlichkeit zurückgeführt. Meistens gründen sie neue Dörfer. Es gibt aber auch andere, die erst als junge Männer und Frauen von den Uralten geholt werden, weil sie eine ungewöhnliche Befähigung aufweisen. Auch sie sind zu strengem Stillschweigen über alles, was sie in Hashilan lernten und erlebten, verpflichtet.« Shyra blickte den Arkoniden ernst an. »Sie gehen nicht in die Dörfer, und sie gründen auch keine neuen. Sie arbeiten wie die anderen im Sinne der Uralten – aber in den Städten. Aus ihnen, Atlan, setzen sich die Familien zusammen.« »Die Familien.« Atlan nickte grimmig. »Das ist es also.« Wieder sah er sich in dem kleinen Schuppen nahe dem Haus der Familie Faridar hocken und die Meditierenden beobachten. Schon bald hatte er dabei den Eindruck gewonnen, daß diese Chailiden ihren Geist nicht lediglich ins Blaue schickten, sondern irgend jemanden gezielt beobachteten. Das war also ihre Funktion. Sie wirkten in Ushun und anderen Städten der Außenseiter als Kontrolleure – als verlängerter Arm der Uralten. Sie ließen den Außenseitern ihre Freiheiten, doch achteten darauf, daß eine Grenze gewahrt blieb. Keiner, der in den Städten lebte und mit den Traditionen gebrochen hatte, war demnach wirklich frei. Die Uralten wachten über sie, kannten jeden ihrer Gedanken. »Dann«, sagte er nach einer Weile, »war auch Heldis einmal ein solcher Schüler, ein Kind mit besonderer meditativer Begabung, das hier seine spezielle Ausbildung erfuhr.« Shyra schüttelte den Kopf. »Es muß nicht unbedingt so sein«, entgegnete sie. »Neben den Kindern und Jugendlichen gibt es in Hashilan noch eine andere
Gruppe von Meditierenden, die ebenfalls eine besondere Ausbildung absolvieren. Ich glaube, daß auch einige von ihnen zu den Familien geschickt werden.« »Du glaubst es?« »Völlig sicher bin ich mir nicht. Aber erinnere dich an unseren ersten Besuch bei den Heldim.« »Worauf willst du hinaus?« »Der Schrei. Irgend jemand schrie im Haus der Familie. Denke an die bestürzten Gesichter von Heldim und Yabsul, und daran, wie schnell sie plötzlich bereit waren, uns die Zhittas auf den Hals zu hetzen.« Er erinnerte sich nur zu gut daran. Es war ein Schrei gewesen, wie ihn nur ein Geschöpf in höchster Todesangst ausstieß. Von wem er kam, war nicht festzustellen gewesen. Atlan, Bjo und Shyra hatten eilends die Flucht ergreifen müssen. Das letzte, das er gehört hatte, war ein dumpfer Laut gewesen, als ob jemand bewußtlos geschlagen worden wäre. »Jemand schrie, und dieser Jemand hatte furchtbare Angst, Atlan. Ich kann mir vorstellen, daß ein Chailide solche Angst verspürt, wenn er merkt, daß er nicht mehr er selbst ist.« Atlan legte die Stirn in Falten. »Wenn er merkt, daß er sich in etwas anderes verwandelt. In ein anderes Wesen.« Phantasierte sie jetzt, oder machte es ihr Spaß, ihn auf die Folter zu spannen. Beides konnte der Arkonide sich nicht vorstellen. »Also? Shyra, gib mir keine Rätsel auf, ich habe genug davon.« »Vielleicht schreit ein Chailide so, der sich in einen Roxharen verwandelt.« 6. Jeder in der Meditation fortgeschrittene Chailide besaß die Fähigkeit, seinen Geist in den anderen Chailiden hineinzuversetzen
– und wie geglaubt wurde, auch in den von Wesen auf fernen Planeten. Letzteres betrachteten sie als ihre »geistige Raumfahrt.« Es galt jedoch auf Chail als ungeschriebenes Gesetz, die Gedanken anderer Chailiden unangetastet zu lassen. Es war verpönt, darin herumzuspionieren. Wer es dennoch tat, mußte alsbald damit rechnen, entdeckt zu werden. Auf jeden Fall hatte er bei ebenfalls in der Meditation Erfahrenen nicht lange Erfolg, denn diese spürten das Tasten an ihren Geist in der Regel sehr bald und wußten auch, wie sie sich davor zu schützen hatten. Bei den Jüngeren mochte dies anders sein. Targar aber wußte, was er zu tun hatte, als nun Mussumor und Sandun vor ihm standen. Er sah, daß auch Allia und Pogar den ersten Schreck überwunden und ein mentales Abwehrfeld um ihr Bewußtsein errichtet hatten. Sie stellten sich mit ausdrucklosen Mienen hinter ihn und zeigten ihm damit an, daß er für sie reden sollte. Auch Lügen waren unter den Chailiden verpönt, ja sogar fast unmöglich geworden. In einem Volk von Quasitelepathen war kein Platz für die Lüge. Allein der Gedanke daran, einem anderen bewußt die Unwahrheit zu sagen, wurde bereits als abartig empfunden. Dennoch mußte Targar nun zu einer Lüge greifen, sollte alles, was er, Allia, Pogar und vor allem Zasvog an Risiken auf sich genommen hatten, nicht umsonst gewesen sein. Und Sandun sollte sich nicht des Triumphs erfreuen, der schon in seinen Augen glänzte. Targar und seine Anhänger hätten sich durch eine schnelle Teleportation in Sicherheit bringen und erst einmal ihre weiteren Schritte und die Antworten beraten können, die es Mussumor zu geben galt. Doch das wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen. So bleiben sie. Und es hieß Zeit gewinnen für Zasvogs Rückkehr. Mussumor nickte ernst. »Nun, wo ist er?« fragte das Oberhaupt. »Erzähle mir nicht, daß
Zasvog sich nicht in diesem Raum befand. Er war hier, und wir sahen ihn nicht wieder hinausgehen. Alle Ausgänge wurden von meinen Leuten beobachtet.« Targar blickte Sandun zornig an. »Ich wußte nicht, daß du jetzt schon auf ihn hörst, Oberhaupt«, sagte er. »Mir wurde eine Nachricht zugetragen«, erwiderte Mussumor, »die, gelinde gesagt, höchst beunruhigend ist. Ich bin hier, um mir Gewißheit zu verschaffen.« »Du bist hier, weil Sandun dich auf uns hetzte! Mussumor, durchschaust du denn sein Spiel nicht? Seine Ansichten sind gefährlicher als alles, was wir tun könnten. Hat er jetzt deine Unterstützung darin?« »Rede nicht soviel, Targar«, sagte Sandun hart, »sondern gib dem Oberhaupt eine Antwort. Allerdings glaube ich, daß dein Ausweichen schon Antwort genug ist.« »Ich habe mich nicht zu rechtfertigen!« schrie Targar unbeherrscht. »Vor einem wie dir schon gar nicht!« Er fühlte die Hand auf seiner Schulter, drehte sich zu Allia um und nickte ihr dankbar zu. Dann atmete er tief durch. »Ihr sucht Zasvog. Gut. Aber was gibt euch das Recht dazu? Anders gefragt: Hat ein Uralter nicht mehr das Recht, sich dorthin zu versetzen, wohin es ihn gerade zieht?« Targar lachte spöttisch. »Wie steht es um die Stützung des mentalen Netzes, Mussumor?« »Du redest Unsinn, und ich glaube, das weißt du sehr gut!« mischte sich einer der Berater ein. Mussumor hielt ihn zurück. Streng blickte er Pogar, Allia, dann wieder Targar an. »Die einzige uns interessierende Frage ist, wohin es ihn zog. Natürlich haben wir sein Verschwinden bemerkt, und die dabei freiwerdende mentale Energie gibt uns zu denken, Targar. Ich denke, daß Sandun nicht unrecht hatte mit seinem Verdacht.« »Sag besser Anschuldigung!« Targar kniff die Augen zusammen.
»Was wirft er uns denn nun eigentlich vor?« Sandun schob sich an Mussumor vorbei. Dicht vor dem Kontrahenten blieb er stehen. Sie waren gleichgroß und sahen sich in die Augen. »Ich glaube«, sagte Sandun gedehnt, »daß Zasvog sich nicht mehr in Hashilan aufhält, sondern vielmehr draußen auf Chail! Ich glaube weiter, daß er dort ist, um unser Volk gegen uns aufzuwiegeln!« Fast hätte Targar laut aufgelacht. Nur mit Mühe hielt er sich ernst und machte ein betroffenes Gesicht. Sie wissen gar nichts! durchfuhr es ihn. Sandun ließ uns von seinen Anhängern beobachten, aber er zieht einen falschen Schluß! »Was sollte er wohl für Gründe haben?« fragte er. Mussumor kam ebenfalls näher. Targar wußte das Zucken in seinem Gesicht sehr wohl zu deuten. Auch wenn die Chailiden physische Gewalt verabscheuten, wenn die Anwendung von Gewalt in Hashilan schier undenkbar war, so gab es doch Mittel und Wege, einen Verräter unschädlich zu machen. »Deine Ansichten sind mir bestens bekannt«, sagte das Oberhaupt der Uralten. »Uns allen, Targar! Du forderst lautstark die Abschaffung der bestehenden Ordnung und mußt einsehen, daß du die Uralten nicht überzeugen kannst.« »Ach so? Und deshalb soll Zasvog die Chailiden aufwiegeln? Mir scheint, Mussumor, daß zwar nicht du selbst, aber deine Sinne uralt geworden sind!« »Du sähest nichts lieber«, fuhr Mussumor unbeeindruckt fort, »als daß die Roxharen von heute auf morgen von unserer Welt vertrieben würden. Du stiftest Unfrieden in Hashilan, in dem du lautstark forderst, daß sich die Chailiden nicht länger als Lehrer auf fernen Planeten betätigen sollen.« »Das ist völlig richtig«, gab Targar zu. »Es wäre viel klüger, sich mit dem zu begnügen, was wir bereits erreicht haben. Es ist nicht nur entwürdigend, sich der Technik der Roxharen anzuvertrauen, wodurch wir im Grunde nichts anderes tun, als die Überlegenheit
der Technik über den Geist anzuerkennen. Es ist …« »Deine Worte sind Frevel!« schrie Sandun. »Mussumor, gestatte ihm nicht, daß er unsere heiligsten Traditionen …!« »… außerdem der Anfang vom Ende unseres Volkes«, redete Targar weiter. »Indem wir die fähigsten Chailiden an Bord der Roxharen‐Zellen schicken, lassen wir zu, daß unser Volk allmählich ausblutet! Der ständige Verlust von fähigen Meditierenden wird über kurz oder lang das mentale Netz zusammenbrechen lassen!« »Das genügt!« rief Mussumor aus. »Oh nein, es genügt nicht, Oberhaupt!« Targar bemerkte nicht die warnenden Blicke seiner beiden Anhänger. Er steigerte sich in eine immer stärkere Erregung hinein. »Wir brauchen die Roxharen nicht! Eines Tages werden wir andere Welten auch ohne ihre Hilfe erreichen können – allein durch die Kraft unseres Geistes! Wenn uns dieser Erfolg bislang verwehrt blieb, dann doch nur, weil wir unsere Kräfte in falsche Bahnen lenkten! Wenn wir uns auf dieses eine Ziel konzentrieren, dann werden wir es erreichen!« Allia stieß ihn von hinten an. Targar begriff bestürzt, daß er in seiner Erregung zu weit gegangen war. Er sah den Ausdruck in Mussumors Augen – und Sanduns zufriedenes Lächeln. »Wenn uns dieser Erfolg bisher verwehrt blieb, sagst du?« fragte das Oberhaupt leise. »Bisher, Targar?« * Er schwieg betroffen. Jetzt mußte er sich jedes weitere Wort gut überlegen, um wieder aus der Situation herauszufinden, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte. »Bisher«, bestätigte er. »Es wurde noch nie versucht, zu jenen Welten zu teleportieren, zu denen wir geistigen Kontakt hatten. Ich bin der Meinung, daß es höchste Zeit dafür wird.« »Das also soll Zasvog vorbereiten? Diese Ideen soll er den
Chailiden in den Kopf setzen?« Targar starrte Mussumor an, als zweifelte er an dessen Verstand. War das Oberhaupt tatsächlich so sehr in seinen starren Ansichten gefangen, daß er selbst jetzt, nach Targars unüberlegten Worten, noch nichts begriff? Und Sandun? Ahnte er die Wahrheit? Wieder mußte er an sich halten, um seine Erleichterung nicht zu zeigen. Aber die Unterhaltung drohte in immer gefährlichere Bahnen abzugleiten. Das Verhör, korrigierte Targar sich in Gedanken. Es wurde Zeit, es zu beenden. »Zasvog tut nichts dergleichen«, sagte er grimmig. »Er übt sich in der Teleportation, nichts weiter. Bald wird er zurück sein, und ihr werdet ihn selbst befragen können.« Er stellte sich das Gesicht des Oberhaupts vor, wenn er hörte, was Zasvog berichten würde. Falls er zurückkehrte … Und noch lange stand nicht fest, daß das, was er dann erlebt hatte, günstig für Targars Pläne sein würde. Nur darum hatte er zur Lüge gegriffen. Wäre er sich seiner Sache sicherer gewesen, so hätte er nicht gezögert, Mussumor schon jetzt die Wahrheit zu sagen. Es war zu früh, dazu, die Gefahr, sich durch ein weiteres unbedachtes Wort zu verraten, zu groß. »Dann werden wir seine Rückkehr, von wo auch immer, abwarten«, entschied Mussumor nun. »Bis dahin werdet ihr drei auf einen Ortswechsel verzichten, Targar.« »Du hast kein Recht, uns daran zu hindern.« »Ich bin das Oberhaupt der Uralten, und ihr werdet tun, was ich von euch verlange!« So war es bislang immer gewesen. Niemand, selbst Sandun nicht, hatte sich jemals einem Befehl des Oberhaupts widersetzt. Doch in diesem Augenblick erwachte der alte, immer wieder verdrängte Groll in Targar – die Enttäuschung darüber, wie
Mussumor und seine Berater ihn als rechtmäßiges Oberhaupt um seine Position betrogen hatten. »Es tut mir leid, Mussumor«, sagte er deshalb. »Aber ich denke, daß wir uns erst wiedersehen und sprechen werden, wenn Zasvog wieder bei uns ist.« »Du wirst …!« Sandun sprach ins Leere. Dort, wo Targar eben noch gestanden hatte, schlug die Luft ins entstandene Vakuum. Und bevor Mussumor seinen Beratern befehlen konnte, Allia und Pogar zu ergreifen, entmaterialisierten auch diese. »Brauchst du noch einen Beweis für ihre Schuld?« fragte Sandun hitzig. Mussumor schüttelte den Kopf. »Laßt alle Uralten zusammenrufen«, wies er die Berater an, »und sagt ihnen, daß die drei sofort zu ergreifen sind, sobald sie gesehen werden.« Sandun lächelte zufrieden. »Ich nehme an, Oberhaupt«, sagte er, »daß du nun nicht mehr zögern wirst, Targar und seine Anhänger einer Geisteswäsche zu unterziehen.« Das war die schlimmste Strafe, die gegen einen Chailiden verhängt werden konnte, und sie hatte seit Generationen keine Anwendung mehr gefunden. Nicht wenige, die der Geisteswäsche unterzogen worden waren, hatten dabei nicht nur ihre abartige Gesinnung verloren, sondern auch den Verstand. * Targar materialisierte in einem der Verstecke, die er und seine Anhänger sich für den Fall, daß sie aus Hashilan fliehen mußten, vorsorglich angelegt hatten. Seine Anhänger – das waren nicht nur
Allia, Pogar und Zasvog, die nur besonders entschlossen neben ihm auftraten. An die hundert Uralte sympathisierten mit Targars Ideen. Wie er gehofft hatte, erschienen kurz nach ihm auch die beiden anderen in der Höhle dicht unter der Schneegrenze eines der Bergriesen, die Hashilan umgaben. »Das war absolut unnötig!« schimpfte Allia sogleich. »Targar, jetzt jagt uns ganz Hashilan.« »Nicht ganz Hashilan«, erwiderte Targar, der noch in Gedanken die neue Situation einzuschätzen versuchte. »Wir haben Freunde.« »Die sich ebenfalls in Gefahr bringen, einer Geisteswäsche unterzogen zu werden? Targar, genau das droht uns!« »Zasvog wird zurückkehren, und danach sieht alles ganz anders aus. Außerdem muß man uns erst einmal finden.« Die Chailidin stemmte die Hände in die Hüften. Hilfesuchend blickte sie Pogar an, aber der hielt sich zurück. »Zasvog wird in Hashilan materialisieren«, preßte sie hervor. »Nicht hier.« »Das weiß ich doch.« Targar setzte sich auf einen Stein und fuhr sich mit den Händen durch sein Gesicht. Als er aufblickte, wirkte er müde. Dies allerdings war ein Eindruck, den seine nächsten Worte widerlegten: »Wir haben den Anfang gemacht, Freunde«, sagte er ruhig. »Die Entwicklung, die nun einmal in Gang gesetzt wurde, läßt sich kaum noch aufhalten. Und das ist gut so. Vielleicht bedarf es einiger Opfer, um letztlich unser Volk vor dem Untergang zu bewahren. Aber dazu muß es nicht kommen. Du hast recht, Allia. Mussumor wird uns suchen lassen, und Sandun wird nichts unversucht lassen, ihn darin zu bestärken. Wir müssen in Freiheit bleiben, bis Zasvog zurückgekehrt ist.« Allia schlug die Augen nieder. Leise fragte sie: »Glaubst du denn noch daran?« Targar sprang auf. »Wir müssen daran glauben! Zasvogs Erfolg wird auch unser
Erfolg sein. Er wird eine Lawine ins Rollen bringen und alle, die jetzt noch auf Mussumor und seine Berater hören oder gar mit Sandun sympathisieren, umdenken lassen. Dann müssen sie erkennen, was sie an Unrecht geduldet und unserem Volk seit vielen Jahren angetan haben – seit dem Tag, an dem das erste Schiff der Roxharen landete.« »Wäre es nur so«, seufzte sie. »Käme es nur alles so, wie du es hoffst – und wie wir es hoffen.« »Zasvog wird zurückkehren«, sagte Targar überzeugt. »Bis dahin müssen wir uns verborgen halten und immer darauf vorbereitet sein, fliehen zu müssen.« »Wir gehen nach Hashilan zurück?« fragte Pogar. Targar nickte. »Ich denke, daß es jetzt an der Zeit ist, dem Fremden einen Besuch abzustatten. Während wir auf Zasvog warten, werden wir herausfinden können, ob wir uns von diesem Atlan zuviel versprochen haben oder nicht.« »Du meinst, ob er bereit ist, uns zu unterstützen? Ob er sich mit uns gegen die Roxharen wenden wird?« »Dies und einiges andere. Vielleicht weiß er viel mehr über die Roxharen als wir. Sicher aber kennt er ihre Schwächen besser, denn auch er entstammt einem raumfahrenden Volk.« »Dann«, sagte Allia, »sollten wir uns viel eher fragen, ob er nicht auf ihrer Seite steht.« »Fragen wir ihn! Er suchte das Mädchen, das vor ihm nach Hashilan geholt wurde. Und die befindet sich im Haus der Jungen.« Targar hätte sich diesen Schritt gründlicher überlegt, wäre er nicht allzu sehr mit Zasvog und den bevorstehenden Auseinandersetzungen in Hashilan beschäftigt gewesen. Das machte ihn in gewisser Hinsicht, blind für die Realitäten. Nur so war es zu erklären, daß er nicht zumindest ahnte, wo man am ehesten nach ihm, Allia und Pogar suchen würde.
7. Sie mußte phantasieren! Vielleicht saß der Schock über das, was sie in jenem Raum mit den bunten Fenstern gesehen hatte, doch viel tiefer, als er angenommen hatte. Was sie sagte, war ungeheuerlich. »In einen Roxharen verwandeln?« Atlan hielt es nicht mehr auf dem Stuhl. Er stand auf und packte die Chailidin an den Schultern. »Shyra, was erzählst du da!« Sie nickte heftig, und ein Zittern durchlief ihren Körper. »Es ist so, Atlan! Ich weiß, es klingt unglaublich. Aber ich habe es doch selbst gehört! Ich habe gehört, wie sich zwei der älteren Schüler darüber unterhielten!« »Aber wie soll sich ein Chailide in einen Roxharen verwandeln können? Sicher hast du etwas falsch verstanden.« »Nein, Atlan. Was die beiden sagten, war deutlich genug. Jene anderen Meditierenden, die hier in Hashilan geschult werden, werden gezielt darauf vorbereitet, die Roxharen zu beobachten. Das geht in ihrem Fall so weit, daß sie später versuchen sollen, sich in den Geist eines Roxharen hineinzuversetzen.« Also kontrollieren sie sie! durchfuhr es den Arkoniden. Mussumor gab zu, über die Motive der Roxharen Bescheid zu wissen. Die aber konnte er wirklich nur durch ein »Belauschen« ihrer Gedanken erfahren haben. Doch wenn es Chailiden gab, die die Roxharen belauschten und kontrollierten – hieß das nicht, daß für sie eine Möglichkeit bestand, die Fremden zu steuern? Geschah das etwa? »Aber dadurch werden sie nicht zu Roxharen«, hörte Atlan sich sagen. »Zumindest nicht äußerlich. Vielleicht wissen die Roxharen, daß Chailiden versuchen, sich in sie hineinzuversetzen, und bringen dann diese Chailiden unter ihre geistige Kontrolle. So könnte es gemeint sein.«
»Ist es aber nicht! Atlan, warum willst du nicht endlich begreifen? Ich verstand vieles nicht, aber eines sagten sie ganz klar: Es muß ungemein schwierig sein, sich in den Geist eines Roxharen hineinzuversetzen. Die beiden Schüler wußten ja selbst nicht, wie so etwas möglich ist, aber entsprechende Versuche haben häufig zur Folge, daß die Meditierenden sich körperlich verändern. Sie nehmen in etwa das Aussehen von Roxharen an.« Atlan schwieg. Er sah in Shyras Augen, daß sie von ihren Worten überzeugt war. Aber war so etwas möglich? Atlan war sich dessen bewußt, daß er die meditierenden Chailiden immer noch gefühlsmäßig in die Nähe von Telepathen rückte. Doch auch wenn er sich den Unterschied wieder klarzumachen versuchte, fiel es ihm schwer, eine Erklärung zu finden. Weil du falsche Maßstäbe anlegst! meldete sich der Extrasinn. Weil du etwas begreifen willst, das sich deiner Vorstellungskraft entzieht! Vielleicht gab es eine Vergleichsmöglichkeit. Er dachte an Irmina Kotschistowa, die auch allein durch geistige Kräfte Zellgewebe verändern konnte. Verhielt es sich hier ähnlich? Entwickelten die Chailiden besondere Kräfte, wenn sie sich in Roxharen hineinversetzten? Erforderte dieser Vorgang eine solche vollkommene Abstimmung auf die Roxharen, daß, sozusagen als Nebenprodukt, etwas frei wurde, das die Zellverbände des chailidischen Körpers umgruppierte? Es war kaum zu begreifen, aber doch denkbar. Plötzlich kam Atlan ein verwegener Gedanke. »Shyra«, fragte er, »hast du von den beiden Schülern noch mehr darüber erfahren können? Ich meine, zweifellos leiden die betroffenen Chailiden unsäglich unter der Verwandlung. Sie haben panische Angst davor. Aber was ist, wenn die Verwandlung vollzogen ist?« »Worauf willst du hinaus?« antwortete sie mit einer Gegenfrage. »Ich könnte mir vorstellen, daß die Angst erlischt, wenn die
Verwandlung vollzogen ist.« Bjo Breiskoll, der im Meditationszimmer des Faridar‐Hauses einen Roxharen zu sehen geglaubt hatte, hätte ihm die Antwort liefern können, die Shyra ihm nicht zu geben vermochte. Sie schüttelte nur den Kopf und blickte ihn ängstlich an. »Shyra, vielleicht sollte ich dir jetzt keine Hoffnungen machen, die sich später als unbegründet erweisen können. Aber … wie lange kennst du Heldis nun schon?« »Seit … drei Jahren etwa. Aber was hat Heldis …?« »Du bist in Ushun geboren und aufgewachsen. Damals gab es die Familien schon?« »Ja.« »Und hast du Heldis als Kind jemals gesehen? Versuche, dich zu erinnern. Wann begegnetest du ihm zum erstenmal?« »Vor drei Jahren, als wir uns gleich ineinander verliebten.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Vorher nie. Aber sage mir endlich, was du denkst!« Atlan zögerte. Er hatte sich eine andere Auskunft erhofft. Schon glaubte er, daß er sich nur selbst hatte betrügen wollen, als das Mädchen die Hand hob. »Warte! Wenn es dir darum geht, ob Heldis als Kind in Ushun lebte, dann kann ich dir weiterhelfen. Ich bin ihm zwar früher nicht begegnet, aber Mugon sagte etwas davon, daß Heldim einen Sohn gehabt habe, der schon im Knabenalter eine ungewöhnliche Begabung entwickelte. Ja, es hieß, daß Heldims Sohn schon mit zwölf Jahren zu meditieren begann.« Sie lachte unsicher. »Natürlich glaubte ich ihm nicht. Niemand kann in diesem Alter bereits meditieren. Und Heldim hatte nur einen Sohn. Der ist Heldis, und Heldis selbst wies all diese Gerüchte immer wieder zurück.« »Er sagte aber auch, daß er, wenn er wollte, jederzeit mit dem Meditieren beginnen könnte. Und er log, als er versicherte, bereits in der Wildnis gewesen zu sein.« »Er hat mich nicht angelogen, bestimmt nicht!«
Shyras Worte klangen nicht überzeugt. Und nun begriff sie. »Du meinst doch nicht etwa, daß er … zu jenen gehörte, die hier in Hashilan darauf vorbereitet werden, die Roxharen …?« Atlan nickte schnell. »Warum nicht? Das würde vieles erklären. Falls es sich so verhielt, dann wurde er nach Hashilan geholt und kehrte nach Ushun zurück, um im Kreis seiner Familie die Roxharen zu beobachten. Mit der Zeit merkte er, daß er Gefahr lief, sich zu verwandeln. Er hatte große Angst davor, Shyra. Diese Angst würde erklären, warum er fast jeden Abend in den Schänken saß und trank. Er versuchte zu vergessen. Er sagte dir nichts von seinen Sorgen, weil er dich nicht beunruhigen wollte. Er versuchte, sich zu verweigern, und verschwieg seine Vergangenheit vor dir.« »Ich will es nicht glauben!« rief sie gequält aus. »Shyra, wenn es so ist, dann besteht wirklich Hoffnung. Dann ist er nicht hier, um bestraft zu werden, sondern weil die Uralten irgend etwas an ihm versuchen, um ihn wieder zu jenem Chailiden zu machen, als den sie ihn nach Ushun zurück schickten. Vielleicht wissen sie ein Mittel, um ihm die Angst zu nehmen. Sein Geist war krank. Vielleicht heilen sie ihn.« »Und da sprichst du von Hoffnung?« Shyra wich entsetzt zurück. »Soll ich hoffen, daß sie ihn nach Ushun zurückschicken, damit er zu einem … Roxharen wird? Nein, das kannst du nicht von mir verlangen! Lieber sähe ich ihn tot!« Sie tat ihm leid. Er ging auf sie zu, doch sie wich weiter vor ihm zurück. Er seufzte und sagte ruhig: »Shyra, es bedeutet vor allem, daß ihm keine unmittelbare Gefahr droht. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß sie so schnell mit ihm fertig werden können. Es braucht mit Sicherheit seine Zeit. Und diese Zeit bleibt uns, um etwas zu unternehmen.« Sie lachte verzweifelt. »Und was willst du tun? Mit Mussumor reden? Ihn bitten, Heldis und mich irgendwohin zu schicken, wo wir unser eigenes Leben
führen können?« Sie warf sich aufs Bett und verbarg das Gesicht in den Händen. Ihr Körper bebte. Atlan trat ans Fenster und starrte hinaus. Zu Mussumor gehen und mit ihm reden … Es war noch zu früh dazu. Doch er spürte, daß er allmählich ein Bild von dem gewann, was in Hashilan vorging und das Leben aller Chailiden bestimmte. Viele Fragen harrten noch einer Antwort. Doch er kam voran, Schritt für Schritt. Erst wenn er alles wußte, fand sich vielleicht eine Möglichkeit, Mussumor erneut gegenüberzutreten – und diesmal in einer anderen Position. Er mußte ein Druckmittel gegen den Uralten finden, um seine Freiheit und die von Heldis und Shyra zu gewinnen. Während er noch so dastand und darüber grübelte, wo er weiter anzusetzen hatte, hörte er hinter sich das Geräusch materialisierender Teleporter. Er fuhr herum. Drei Chailiden standen in der Mitte des Raumes. Shyras Kopf ruckte in die Höhe. Sie stieß einen spitzen Schrei aus. »Seid still!« befahl einer der drei. »Wir kommen als Freunde! Ich bin Targar.« Der Name sagte Atlan überhaupt nichts. Verblüfft sah er, wie sich die Frau zur Tür begab und dort zu lauschen schien, während die beiden Männer ihn prüfend anblickten. Sie wirkten gehetzt, alle drei. »Es ist möglich«, sagte jener, der sich Targar nannte, »daß wir schnell von hier fliehen müssen. Dann seid vorbereitet. Wir nehmen euch mit.« Atlan und Shyra wechselten einen schnellen Blick. »Ich wüßte nicht, weshalb wir mit euch gehen sollten«, erklärte der Arkonide etwas unwirsch. »Vielleicht doch, wenn ihr uns angehört habt. Ihr seid nicht freiwillig hier?«
»Nein«, sagte Atlan. »Und keine Freunde der Roxharen? Keine Freunde von Mussumor?« »Freunde der Roxharen ganz sicher nicht«, antwortete Atlan, der sich fragte, was das plötzliche Auftauchen und das seltsame Verhalten dieser drei Uralten zu bedeuten hatte. Oder vielleicht waren sie gar keine Uralten? Zumindest Targar sah noch sehr jung aus. Aber sie hatten sich hierher teleportiert. »Und Freunde von Mussumor? Bislang gab er uns keinen Anlaß zur Freundschaft. Aber vielleicht erklärt ihr uns, was …« »Ich vertraue ihm«, sagte Targar zu seinem Begleiter. »Wir haben gar keine andere Wahl, Pogar.« Der andere schien nicht gerade überzeugt, aber er widersprach nicht. Targar nickte grimmig. »Atlan, viel Zeit dürfte uns nicht bleiben. Also höre …« Und er begann, von sich und seinen Anhängern zu erzählen, legte seinen Standpunkt dar und verschwieg auch nicht das gewagte Experiment mit Zasvog. Je länger er redete, desto gespannter hörte Atlan zu. Hatte er schneller Verbündete gefunden, als er zu hoffen gewagt hatte? »Dann wollt ihr die bestehenden Verhältnisse ändern?« vergewisserte er sich, als Targar geendet hatte. Immerhin war nicht auszuschließen, daß die drei von Mussumor geschickt worden waren, um ihn zu prüfen. »Ihr wollt die Roxharen vertreiben und den Chailiden die Wahrheit sagen?« »Genau das«, bestätigte Targar. »Das Versteckspiel der Uralten muß endlich aufhören. Wir müssen an die Öffentlichkeit treten und einen Teil unserer Aufgaben an die Meditierenden abtreten, damit wir uns völlig auf die Schulung talentierten Nachwuchses und auf die Teleportation an sich konzentrieren können. Unser Volk soll
nicht länger in Angst vor uns leben. Der Schwindel mit den Hütten muß aufhören. Jeder Chailide soll wissen, daß wir nur für sie arbeiten.« Seine Miene verfinsterte sich, und er fügte grollend hinzu: »Jedenfalls sollten wir das tun!« Atlan war beeindruckt. Etwas sagte ihm, daß Targar aus voller Überzeugung sprach. Dieser Mann war ein Rebell, ohne sich gegen die Uralten an sich zu wenden. Er war ein Idealist, und wenn es stimmte, was er über das Experiment mit Zasvog erzählt hatte, dann hatte er wahrhaftig allerhand aufs Spiel gesetzt. Schon jetzt war er entschlossen, sich ihm anzuschließen, zumindest vorerst. Doch noch war es nicht soweit. Noch blieb ihm Zeit für die Fragen, die ihm auf der Seele brannten – und auf die er sich jetzt endlich eine Antwort erhoffen konnte. »Das hört sich alles sehr gut an, Targar«, hörte er sich sagen. »Und wenn es so ist, wie du sagst, hast du meine Unterstützung. Aber von welchem Schwindel mit den Hütten redest du?« »Es ist ein Betrug an unserem Volk«, sagte Targar hart. »Die Uralten kontrollieren die Chailiden. Es gab schon immer Uralte, aber erst seit einem Jahrtausend üben sie diese Funktion aus. Vorher waren sie nicht zahlreich genug, und auch heute noch gibt es viele Dörfer, die ohne einen Uralten auskommen müssen. Ich meine jene von uns, die nicht ständig in Hashilan sind, sondern draußen, in den Städten und Dörfern. Was nun die Hütten angeht, so war deren Errichtung nach Meinung der Uralten ein besonders geschickter Schachzug. Denn es hat sich schon früh gezeigt, daß die Bewohner jener Gemeinden besser zu lenken sind, die glauben, von einem Uralten überwacht zu werden. Da es aber nicht genug Uralte gab und gibt, um für jedes Dorf einen abzustellen, wurden die Hütten errichtet. Sie sind für jedermann tabu, wie du wissen dürftest, und die Chailiden glauben fest daran, daß in jeder Hütte auch ein Uralter lebt.« Atlan nickte. Das wußte er. »Aber dem ist nicht so«, murmelte er.
»Nein. Die Uralten können sich, wenn es gerade erforderlich ist, in jede dieser Hütten teleportieren, um ihren Aufgaben nachzukommen und zur Täuschung der Chailiden die Nahrung abzuholen, die sie uns durch die Luken in die Hütten schieben.« »Und worin bestehen diese Aufgaben?« Atlan fieberte der Antwort entgegen. Er spürte, daß er im Begriff war, das Geheimnis endgültig zu lüften, das diesen Planeten umgab. Immer wieder ertappte er sich dabei, daß er zur Chailidin hinübersah, die auf den Gang hinauslauschte. »Die Beobachtung und Betreuung jener Meditierenden, die im Begriff sind, den letzten Schritt ihrer Entwicklung zu tun. Die Prüfung der Neugeborenen.« Targar zählte noch einmal das auf, was Atlan schon erfahren hatte. Dann aber sagte er: »Die dritte Aufgabe kristallisierte sich erst vor 160 Jahren heraus. Denn da kamen die Roxharen zu uns.« Die innere Spannung, die den Arkoniden ergriffen hatte, war kaum noch zu ertragen. Er erschrak, als er den Ausdruck in Targars Gesicht sah. Seine Blicke klebten an dessen Lippen, und inbrünstig hoffte er, daß jetzt nichts geschähe, das den Redefluß des Uralten jäh unterbrach. »Es ist noch still draußen!« rief Allia, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Es ist zugleich das Schlimmste, was Chailiden je von ihren Uralten angetan wurde«, fuhr Targar düster fort. Natürlich waren mit den 160 Jahren SOL‐Jahre gemeint, denn der kleine Translator brachte alle Maßangaben auf SOL‐Norm. »Bis zum Erscheinen der Roxharen war die Zahl der Uralten stets sehr niedrig, hauptsächlich deshalb, weil die meisten erst als Greise nach Hashilan gelangten und nur noch wenige Jahre zur Erfüllung ihrer selbstauferlegten Pflichten zur Verfügung hatten. Als aber die Roxharen kamen, entdeckten diese die Uralten sehr bald und erkannten auch deren Funktion im Gesellschaftssystem unseres Volkes. Und es lag in ihrem Interesse, die Meditationen auf Chail noch weiter zu
verstärken. Aus diesem Grund nahmen sie Kontakt mit den Uralten auf und belieferten sie mit allerlei Medikamenten und Elixieren, die ihr Leben verlängerten. Die Folge war, daß sich die Zahl der Uralten sehr schnell erhöhte und heute bei 12.000 liegt. Aber diese 12.000 Uralten sind nichts weiter als Helfer der Roxharen, Atlan. Was sie tun, dient den Fremden, und sie weigern sich, das einzusehen.« »Ich weiß«, seufzte Atlan. »Ich sprach mit Mussumor.« »Dann weißt du auch, wie ich das meine. Mussumor und seine Berater geben vor, letztlich zum Wohl der Chailiden zu wirken. Sie reden von einem Geist, der den ganzen Kosmos beseelen soll, von vielen Welten, auf denen Chailiden als Lehrer arbeiten und Sternenvölker mit der Meditation beglücken. Dabei kennt Mussumor die wahren Motive der Roxharen sehr wohl. Entweder ist er zu dumm, diese Gefahr zu begreifen, zu verstehen, daß wir den anderen Völkern kein Glück bringen, sondern sie nur den Roxharen ausliefern – oder er glaubt wirklich daran, ein gutes Werk zu tun, sich die Roxharen nur zunutze machen zu können. Dann muß er erst recht abgelöst werden!« »Die dritte Aufgabe, Targar!« drängte der Arkonide ihn. »Sie kann kaum darin bestehen, das eigene Leben zu verlängern.« »Du hast recht. Wir Uralten bilden mit unseren geistigen Kräften ein Medium, das die Gedankenströme der meditierenden Chailiden bündelt und lenkt. Und dieser Zustand hat dazu geführt, daß um Chail herum das mentale Netz entstand.« Targar schlug die Augen nieder. Leiser, fügte er hinzu: »Hashilan bedeutet Zuflucht, aber auch Einsamkeit, Atlan. Und ich möchte noch eine weitere Bedeutung hinzufügen: Gefängnis. Solange wir uns nicht selbst daraus befreien, werden wir für alle Zeiten Gefangene unserer eigenen Macht bleiben. Die Roxharen werden die Uralten weiterhin mit ihren lebensverlängernden Mitteln ködern und die Abhängigkeit nur noch verstärken. Deshalb muß Schluß gemacht werden – und ein neuer Anfang. Die Chailiden müssen frei werden – in ihrem Denken und ihrem Handeln. Keine
Furcht darf mehr ihre Seelen quälen, keine Ungewißheit und keine Zweifel.« Atlan war erschüttert. Er empfand Mitleid und Bewunderung für diesen Mann, der, auch wenn er Anhänger für seine Ideen gefunden hatte, doch die Mehrheit der Uralten zu Gegnern hatte. Plötzlich hatte er das unbestimmte Gefühl einer Bedrohung. Irgend etwas näherte sich – irgend jemand, obgleich Allia noch scheinbar ruhig an der Tür lauschte. Aber Teleporter waren nicht zu hören. Schnell stellte er die letzte Frage: »Dieses mentale Netz, Targar – ist es sein Einfluß, der Fremde wie uns ihre Fähigkeiten im Umgang mit ihrer Technik vergessen läßt?« »Ich glaube, daß es so ist«, antwortete der Chailide. »Wer sich nicht einzufügen vermag in die Gemeinschaft der Meditierenden, der wird scheitern.« Atlan erschien es eher so, als redete Targar jetzt von Chailiden. Das mochte so sein, weil er plötzlich wieder KʹEshbahs Warnungen im Ohr hatte, Akitar betreffend. Bevor er Targar noch einmal darauf ansprechen konnte, geschah das, was er die ganze Zeit über befürchtet hatte. Drei weitere Chailiden materialisierten im Raum, und nun überschlugen sich die Ereignisse. 8. Targar und Pogar wirbelten herum. Allia stieß einen erstickten Schrei aus. »Sandun!« »Oh ja, Targar!« rief jener der drei Neuankömmlinge aus, der sich sofort auf Targar stürzte und dessen Arm mit beiden Händen umklammerte. »Ich dachte nicht, daß du wirklich so dumm sein würdest, dich ausgerechnet hierher zu begeben. Mag Mussumor draußen nach dir suchen lassen – ich wußte, wo ich dich am ehesten
finden würde.« Sanduns Begleiter packten sich Allia und Pogar, die viel zu überrascht waren, um sich durch einen schnellen Sprung in Sicherheit zu bringen. »Dann … hast du die ganze Zeit über …?« Sandun lachte rauh. »Wir waren draußen, Targar, auf dem Gang. Und wir waren dabei mindestens ebenso still wie deine Allia. Oh, ich denke, daß es klug war, euch reden zu lassen. So haben wir vieles mitbekommen, das Mussumor sehr interessieren dürfte.« Atlan hielt sich zurück. Er wußte nicht, was er von dem plötzlichen Überfall zu halten hatte. Wer waren diese Leute? »Du willst uns zu Mussumor bringen? Du, Sandun?« Targar schien sich gefangen zu haben. »Ich halte ebensowenig von seiner Politik wie du, Targar«, erwiderte der Teleporter. »Aber was besagt das schon, wenn ich dich und deine Freunde erst vom Hals habe. Nach der Geisteswäsche werdet ihr kaum noch in der Lage sein, meine eigenen Pläne zu durchkreuzen.« Geisteswäsche! Für Atlan hörte sich das sehr nach Gehirnwäsche an, und in etwa konnte er sich vorstellen, was damit gemeint war. Er wußte nicht, welche Ansichten Sandun vertrat, aber ihm war klar, daß er schnell handeln mußte. Was die drei vorhatten, lag auf der Hand. Er durfte es nicht zulassen. Ihn schauderte, als er sich vorzustellen versuchte, was geschehen würde, versuchte Targar im gleichen Augenblick fortzuteleportieren wie Sandun – nur in eine andere Richtung. Sandun, wer immer er war, schien den Augenblick seines Triumphs noch auszukosten. Targar mußte sich aus seinem Griff befreien, den Körperkontakt lösen. Aber das konnte er nur mit Gewalt – und die verabscheuten die Chailiden. Atlan tat dies ebenso. Doch jetzt blieb ihm keine Wahl.
Blitzschnell stieß er vor und hieb Sandun die Faust in die Magengegend. Der Chailide schrie erstickt auf, ließ Targars Arm los und krümmte sich zusammen. Targars Augen weiteten sich in Entsetzen, als Atlan dann auch noch einen von Sanduns Begleitern zu Boden schlug und sich demjenigen zuwandte, der Allia festhielt. Seine Faust fuhr ins Leere. Der Uralte hatte sich mit Allia aus dem Raum teleportiert. »Targar! Jetzt schnell weg von hier! Pogar, du nimmst Shyra mit!« Atlan war schon wieder bei Targar und legte die Hand um dessen Gelenk. Doch der Chailide rührte sich nicht. Als ob sein Verstand sich weigerte, das zu begreifen, was er soeben gesehen hatte, stand er da und starrte auf Sandun, der sich schon wieder aufzurichten versuchte. »Was ist?« stöhnte Atlan. »Bring uns fort, bevor …« Er verstummte, als er die Schreie von draußen hörte, die durch das offene Fenster drangen. Sie rissen Targar aus seiner Starre. Der Chailide schnappte nach Luft und fuhr herum. Sandun, der schon die Hand nach ihm ausgestreckt hatte, um sich doch noch mit ihm fortzuteleportieren, zuckte zurück. Seine Augen weiteten sich. Pogar hielt Shyras Hand fest. Er war bereit zur Flucht. Doch der Name, der unten auf den freien Plätzen, den Wegen und Stufen geschrien wurde, lähmte auch ihn. Atlan und Targar stürzten gleichzeitig zum Fenster, wobei sie sich fast gegenseitig behinderten. Der Arkonide beugte sich hinaus und sah unten auf einer freien, felsigen Fläche zwischen dem Haus der Jungen und angrenzenden Gebäuden einen Chailiden reglos liegen. Von überallher strömten Uralte zusammen und starrten ihn an. Ihre Mienen, ihre ganze Haltung verrieten Entsetzen. Und sie schrien: »Das ist Zasvog! Holt das Oberhaupt! Zasvog ist
zurückgekehrt!« »Nein!« brüllte Targar. Das Leben kehrte in Targar zurück, mit solcher Vehemenz, daß Atlan vor ihm erschrak. »Sie dürfen ihn nicht bekommen!« rief der Uralte außer sich. »Es ist zu früh! Pogar!« Er drehte sich um, machte Pogar ein Zeichen und entmaterialisierte mit Atlan. Sandun, der seinen Schrecken ebenfalls überwunden hatte und sich erneut auf den Kontrahenten stürzen wollte, griff ins Leere. Er wirbelte herum und sah gerade noch, wie Pogar mit Shyra verschwand. Targar und Atlan materialisierten direkt vor dem am Boden Liegenden – mitten in der Menge der zusammengelaufenen Uralten. Targar zögerte keine Sekunde. Atlan stellte keine Fragen. Erstens blieb ihm keine Zeit dazu, und zweitens spürte er, daß Targar in diesen Augenblicken genau wußte, was er tat. Der Teleporter hielt mit der Linken Atlans Handgelenk umklammert, mit der Rechten griff er nach Zasvog. Kaum daß er diesen berührt hatte, entmaterialisierte er auch schon mit den beiden Männern. Mit der Luft schlugen Schreie der Entrüstung ins Vakuum. Sandun materialisierte fast zugleich mit Mussumor zwischen den Uralten, die sogleich erregt auf Mussumor einredeten. »Zasvog!« rief eine Chailidin. »Er … lag hier auf dem Fels. Ich entdeckte ihn!« »Er rührte sich nicht!« schrie ein anderer. »Niemand von uns faßte ihn an, aber er muß tot gewesen sein, Mussumor!« »Er sah furchtbar aus!« »Das … war nicht mehr Zasvog! Nicht der gleiche, den wir alle kannten!« Das Oberhaupt verschaffte sich mit Gesten Ruhe. »Er lag einfach hier? Keiner sah ihn materialisieren?« »Ich sagte es
doch!« beteuerte die Chailidin. »Und wir konnten ihn uns ja kaum genauer ansehen. Targar kam mit dem Fremden und entführte ihn, bevor …« »Mit dem Fremden?« Sandun schüttelte unwillig den Kopf. »Überrascht dich das wirklich, Mussumor? Ich wußte, daß Targar ihn aufsuchen würde. Fast hätte ich ihn dir gebracht, aber der Fremde verhinderte es. Er schlug mich brutal zu Boden, und Gerzat liegt jetzt noch dort oben!« Er deutete auf ein Fenster des obersten Stockwerks. Aus fast allen anderen Fenstern des großen Gebäudes lehnten sich nun junge Chailiden heraus und verfolgten neugierig, was sich unter ihnen abspielte. »Vorher aber konnte ich einiges von ihrer Unterhaltung mithören, Oberhaupt!« ereiferte sich Sandun. Kurz gab er den Inhalt der belauschten Unterredung wieder, wobei er sich die Freiheit nahm, diesen über Gebühr zu dramatisieren und auszuschmücken. »Zweifelst du jetzt noch daran, daß Targar ein Verräter ist, der kein Mittel scheut, um alles zu zerstören, was Generationen von Uralten aufgebaut haben? In dem Fremden hat er einen willkommenen Helfer gefunden. Es war ein Fehler, ihm zu gestatten, sich frei in Hashilan zu bewegen!« »Zügele dein Temperament«, sagte Mussumor heftig. »Ob es ein Fehler war, wird sich herausstellen. Wir werden sie finden, wo immer sie sich versteckt halten mögen. Wir kennen jene, die mit Targar und seinen Ideen sympathisieren. Sie werden uns nun sagen müssen, wo …« In diesem Moment materialisierte der Uralte, der sich mit Allia fortteleportiert hatte, mit der Chailidin. Sandun nickte zufrieden. »Du brauchst sie nicht suchen zu lassen, Oberhaupt«, verkündete er grimmig. »Hier hast du jene, die besser als alle anderen Targars Verstecke kennt!«
* Targar und Atlan wurden bereits erwartet. Pogar stand mit Shyra in der Höhle. Beide wichen sie zurück, als sie Zasvog sahen, der schwer neben Targar zu Boden fiel. »Bei den Göttern der Ahnen!« entfuhr es Pogar. »Wie sieht er aus!« Targar ließ die Hand des Teleporters los und holte tief Luft. Atlan befreite sich ebenfalls aus seinem Griff und fing Shyra auf, die sich ihm in die Arme warf. Erst jetzt konnte er Zasvog genauer betrachten. Targar hatte sich neben ihm auf die Knie fallen lassen. Auch in seinem Gesicht stand das Entsetzen geschrieben, und nur zögernd streckte er die Hand nach Zasvogs Kopf aus. »Er ist tot, nicht wahr?« fragte Atlan leise. Targar nickte nur. Atlan glaubte zu wissen, was nun in ihm vorging. Er hatte nicht nur einen Trumpf verloren, eine »Waffe« im Kampf gegen Sandun und Mussumor. Zasvog war sein Freund gewesen, und nun mußte er sich die schwersten Vorwürfe machen. Zasvogs Haut und Bekleidung waren von einer grüngrauen Kruste überzogen. Der Chailide wirkte wie mumifiziert. Seine Augen waren noch im Tod weit aufgerissen und spiegelten kaltes Entsetzen wider – aber auch einen stillen Triumph? »Tot«, flüsterte Targar erstickt. Er schien es immer noch nicht fassen zu können. »Zasvog ist tot. Und ich … ich schickte ihn ins Verderben.« »Es war seine Entscheidung«, kam es von Pogar. Aber es klang nicht sehr überzeugt. Targar schlug die Hände vor sein Gesicht. »Vielleicht ist es die Strafe für unser Tun. Wir wollten das Schicksal herausfordern. Wir glaubten, mit Kräften spielen zu können, die wir nicht wirklich begreifen, geschweige denn beherrschen. Zasvog opferte sich für nichts. Er wollte zu anderen
Welten und scheiterte daran.« »Dann sind auch wir gescheitert«, sagte Pogar erschüttert. Shyra blickte den Toten aus Augen an, die ihre ganze Angst verrieten. Als Atlan näher an ihn herangehen wollte, versuchte sie ihn zurückzuhalten. Sanft machte der Arkonide sich von ihr los und ging neben Targar in die Hocke. Er strich über die grüngraue Kruste. »Er ist nicht gescheitert«, murmelte er. Targas Kopf fuhr herum. In seinen Augen blitzte es auf. »Was sagst du da? Er ist tot!« »Das schon«, gab Atlan zu. »Aber er war auf einer anderen Welt. Er hatte sein Ziel erreicht.« »Wie kannst du so reden?« fragte Pogar. »Hier.« Atlan brach ein handtellergroßes Stück aus der Kruste heraus, die nicht dicker als wenige Millimeter war, und zerbröckelte es zwischen den Fingern. »Was glaubt ihr, was das ist? Wenn er sein Ziel verfehlt hätte und im Vakuum zwischen den Sternen gestrandet wäre – was wäre dann geschehen, Targar?« Der Uralte schien zu begreifen, worauf er hinauswollte. »Er wäre sofort zurückgekehrt.« »Und es gibt nichts im Vakuum, das sich auf seine Haut und Kleidung hätte legen können. Targar, er war auf einem anderen Planeten. Er konnte sogar für Stunden dort leben. Wir werden vermutlich niemals erfahren, was er dort sah oder wem er begegnete. Doch diese Schicht besteht aus erstarrten Mikroorganismen. Vermutlich materialisierte er auf einer Welt, deren Atmosphäre so dicht ist, daß sie von diesen Kleinstlebewesen erfüllt ist wie das Meer vom Plankton. Vielleicht besitzen diese Mikroorganismen eine kollektive Intelligenz, und dann waren sie es, mit denen er geistigen Kontakt hatte. Sie verbanden sich mit ihm und erstarrten, als er nach Chail zurückkehrte. Das alles kann ich nur vermuten, Targar. Aber gewiß ist, daß er vor seinem Tod noch die Kraft und die Konzentration hatte, sich den
Entstofflichungsimpuls zu geben.« Der Arkonide richtete sich wieder auf. »Es war sein und euer Pech«, sagte er, »daß Zasvog sich auf eine Welt versetzte, deren Atmosphäre und Leben ihn langsam umbrachten. Daß er nicht früher zurückkehrte, kann bedeuten, daß er dies zu spät merkte. Es kann auch bedeuten, daß er sich gegen die schmerzliche Erkenntnis wehrte und bis zuletzt glaubte, sich in dieser lebensfeindlichen Umwelt doch noch behaupten zu können. Möglicherweise befürchtete er aber auch, gefährliche Krankheitskeime nach Chail zu bringen. Wir werden es nie erfahren. Daß er dennoch zurückkehrte, geschah vielleicht aus einer Kurzschlußreaktion heraus. Aber ich glaube eher, daß er euch noch im Tod den Beweis liefern wollte, daß es möglich ist, andere Planeten auf dem Weg der Teleportation zu erreichen.« Targar schwieg erschüttert. Er nickte. Erst nach einer Weile stand auch er auf. »Du willst uns nicht nur neuen Mut geben, Atlan«, flüsterte er. »Du glaubst wirklich daran.« »Es gibt für mich keinen Zweifel«, bestätigte der Arkonide. Wieder nickte Targar. »Dann war sein Opfer nicht umsonst. Aber … ich hätte dennoch nicht zulassen dürfen, daß er … es tat.« »Das weißt du jetzt, aber es ist zu spät zur Reue. Targar, du machst ihn durch Selbstvorwürfe nicht wieder lebendig. Zasvog wollte, daß du den Beweis für die Richtigkeit eurer Ideen bekommst – ihn selbst. Wenn du noch etwas für ihn tun willst, so zeige ihn Mussumor. Zeige seinen Leichnam allen Uralten.« »Sie werden uns keinen Glauben schenken, weil sie es nicht wahrhaben wollen«, prophezeite Targar. Atlan wurde sich dessen bewußt, wie sehr er sich bereits für die Sache dieses Chailiden engagierte. Aber durfte er das tun? Mussumor würde Targar, Pogar und Allia die Schuld an Zasvogs Tod geben, und Sandun würde ihn zusätzlich anstacheln und
Vergeltung fordern. Sie – und das galt nun auch für ihn – waren Gejagte, die sich außerhalb der Gemeinschaft der Uralten begeben hatten. Er, Atlan, hatte die »Gastfreundschaft« mißbraucht. Etwas anderes schoß ihm durch den Kopf. Bedeutete Zasvogs geglückte Teleportation auf einen anderen, vielleicht viele Lichtjahre entfernten Planeten denn nicht, daß die geistige Raumfahrt kein Hirngespinst, kein Aberglaube war? Hieß es denn nicht, daß er seine Bedenken über den Haufen werfen mußte? Nach wie vor sträubte er sich dagegen, die geistige Raumfahrt vorbehaltlos zu akzeptieren. Zasvog mochte Kontakt zu den Intelligenzen des Planeten gehabt haben, bevor er sprang. Dies mußte sogar die Voraussetzung gewesen sein. Aber bewiesen war damit noch gar nichts. Sicher, Zasvog hatte einen Kontakt herstellen können. Vielleicht waren alle in der Meditation Fortgeschrittenen dazu fähig. Aber in welchem Umfang? Es mochte ihnen gelingen, sich in Bewohner ferner Planeten hineinzuversetzen. Vielleicht spürten sie diese aber auch nur. Es gab keinen stichhaltigen Beweis dafür, daß die Sache auch umgekehrt funktionierte – daß diese fremden Wesen sich den Chailiden mitteilen konnten, daß es zu einer Verständigung kam. Und allein die konnte die geistige Raumfahrt ausmachen. Andererseits bedeutete Zasvogs Vorstoß die Chance, die Uralten in punkto Roxharen endlich doch noch zur Besinnung zu bringen. Wer von Planet zu Planet teleportieren konnte, brauchte deren Schiffe nicht. Er brauchte sie überhaupt nicht mehr. »Atlan!« Der Arkonide schrak aus seinen Gedanken auf und sah die Blicke der Chailiden auf sich gerichtet. »Was sollen wir tun, Atlan?« fragte Targar. Der Uralte wirkte hilflos. Und in Shyras Augen stand ein stummes Flehen. Atlan wußte, was es bedeutete. Er wußte auch, daß er jetzt die Initiative zu
ergreifen hatte. Und es gab nur einen Weg, der ihm in dieser verfahrenen Situation gangbar erschien. Seine Gestalt straffte sich. Er atmete tief durch und nickte. »Wie viele Chailiden wissen von diesem Versteck?« fragte er. »Einige unserer Anhänger und … Allia!« Targar schien erst jetzt zu bemerken, daß Allia nicht bei ihnen war. Er und Pogar wechselten einen schnellen Blick. »Sanduns Helfer haben sie entführt!« rief Targar aus. »Sicher ist sie jetzt bei Mussumor und soll ihm das Versteck preisgeben. Mussumor kennt die Mittel und Wege, sie dazu zu bringen!« »Dann haben wir keine Zeit zu verlieren, Targar. Ich muß mit Mussumor reden. Ich werde versuchen, ihm einen Handel vorzuschlagen. In der Zwischenzeit bleibt ihr hier.« Shyra klammerte sich an ihn. Er nickte ihr zu. »Vorher muß ich noch eines wissen. Ein Mitglied der Familien von Ushun wurde nach Hashilan entführt.« »Heldis«, sagte Targar. »Ich weiß darüber Bescheid. Er gehörte zu jenen, die die Roxharen beobachten sollen, und war dabei, sich selbst aus Furcht vor einer Verwandlung zugrunde zu richten. Einige Uralte versuchen, ihn zu heilen.« »Heilen!« rief Shyra gequält. »Sie wollen ihn nach Ushun zurückschicken! Er soll die Roxharen wieder beobachten und wird selbst ein Roxhare werden! Du darfst das nicht zulassen, Atlan!« »Das habe ich auch nicht vor«, versuchte er sie zu beruhigen. »Targar, wie sieht diese Behandlung aus, der er unterzogen wird?« »Die Uralten geben ihm einen Teil ihrer Geisteskraft ab, um ihn erneut zu stabilisieren. Danach wird er eine Schulung erhalten.« »Wie lange dauert das? Kannst du dir vorstellen, daß sie schon mit ihm fertig sind?« »Nein. Bestimmt nicht.« »Und wäre es für ihn gefährlich, ihn jetzt einfach aus ihrer Gewalt zu befreien? Ich meine, wenn die Behandlung abrupt unterbrochen
würde?« Targar nickte ernst. Immer noch wirkte er verunsichert. Atlan mußte unwillkürlich an die Kraft denken, mit der dieser Mann für seine Ideen gefochten hatte – und an die Reife und Würde, die von den Uralten ausging. Wenn sie in die Klemme geraten, sind sie nicht anders als jeder einfache Mensch, dachte er. Wie jeder andere Chailide, korrigierte er sich in Gedanken. »Die Folgen wären nicht vorauszusehen«, antwortete Targar. »Er könnte daran sterben.« Shyra stieß einen spitzen Schrei aus. »Dann«, sagte der Arkonide finster, »wird Mussumor noch eine Forderung zu erfüllen haben.« »Ich begreife nicht«, sagte Targar. »Warte ab. Du bringst mich in die Nähe seines Hauses und springst sofort wieder hierher zurück. Wartet, bis ich zurückkehre. Shyra bleibt bei euch.« Sie schüttelte heftig den Kopf. Targar kniff die Augen zusammen. »Zurückkehren? Wie willst du ohne mich …?« »Laß das meine Sorge sein. Unternehmt nichts und vertraut mir. Auch du, Shyra. Wenn ich Mussumor überzeugen kann, wirst du Heldis bald wohlbehalten wiedersehen.« Er streifte ihre Hand ab und streckte Targar seinen Arm hin. »Ich vertraue ihm«, sagte Pogar. »Wir haben gar keine andere Wahl, Targar. Tu, was er von uns verlangt.« 9. Hashilan hatte sich innerhalb weniger Stunden verändert. Keine Uralten teleportierten mehr unbeschwert von einem Ort zum anderen, um durch die dabei freiwerdenden psionischen Energien das mentale Netz zu stützen. Dunkle Wolken zogen über
dem bislang so friedlichen Ort herauf. Die Treppen und Wege waren verlassen. Dafür drängten sich Dutzende vor Sanduns Quartier zusammen und lauschten dessen Parolen. Seine Anhänger um sich geschart, predigte Sandun die reine Lehre von der geistigen Raumfahrt, beschwor die Uralten, den eingeschlagenen Weg nicht zu verlassen und die Allianz mit den Roxharen noch zu verstärken. Er hütete sich zwar, Mussumor direkt anzugreifen, doch waren seine Anwürfe kaum mißzuverstehen. Sandun forderte die Uralten unverblümt auf, Targars Sympathisanten nachzustellen und sie mit geistigen Mitteln zu bekämpften, wo immer sie sie fanden. Er beschuldigte Targar immer wieder des Verrats und nannte Atlan einen Boten des Untergangs, der nur deshalb nach Chail gekommen war, um die chailidische Kultur zu zerstören und den Boden für Chaos und Zerstörung vorzubereiten. Er beschwor die Vision eines von Fremden besetzten Planeten herauf, stellte Atlan als Agenten eines fremden, aggressiven Volkes von Raumfahrern dar, die nur darauf warteten, Chail für sich erobern zu können. »Allein die Roxharen werden uns vor einem solchen Schicksal bewahren können!« rief er in die Menge. »Wer von euch noch daran zweifelte, wer unsere wirklichen Freunde sind, der möge sich jetzt besinnen, bevor es zu spät ist! Wir sehen uns von Feinden aus dem Weltraum bedroht, aber auch von solchen aus unserer Mitte! Die Zeit der Duldung ist vorbei! Wenn wir überleben wollen, müssen wir kämpfen, nicht mit primitiver körperlicher Gewalt, aber mit allen Mitteln unseres überlegenen Geistes und der Kraft der Überzeugung!« Applaus brandete auf, zunächst spärlich, dann immer lauter. Zufrieden sah Sandun, wie immer mehr Uralte erschienen. Manche von ihnen kamen von den Dörfern und Städten zurück, und sie begaben sich nicht zu Mussumor, um diesem Bericht zu erstatten, sondern blieben hier und ließen sich von seinen Parolen
gefangennehmen. Bald waren es Hunderte, die sich vor seinem Haus zusammenscharten. Und es wurden noch mehr. Mussumor saß inzwischen wie zu Stein erstarrt auf seinem Podest, nur von seinen Beratern umgeben, von denen einige für kurze Zeit verschwanden und gleich darauf mit unheilvollen Nachrichten zurückkehrten. »Sandun hetzt die Uralten auf«, sagte Tekat, Mussumors ältester und engster Vertrauter. »Wenn du ihm nicht Einhalt gebietest, Oberhaupt, so wird er einen Sturm entfesseln, der alles hinwegfegt, was wir in tausend Jahren aufgebaut haben.« »Targar ist an allem schuld«, widersprach ein anderer. »Er war es, der sich auf ungeheuerliche Weise über all das hinwegsetzte, was wir bislang für recht und heilig erachteten. Niemand sprach ihm das Recht ab, seine Anschauungen zu vertreten, auch wenn sie falsch waren. Aber niemals hätte er sich über deinen Befehl hinwegsetzen dürfen, Mussumor. Er stieß sich selbst aus unserer Gemeinschaft aus und ist zur Gefahr für ganz Chail geworden.« »Ja«, stimmte ein dritter zu. »Und er hatte Grund zur Flucht. Er wußte, daß Zasvog etwas getan hatte, das ihn das Leben kosten konnte. Vielleicht trieb er ihn gar dazu an. Er hat schwere Schuld auf sich geladen – nicht zu sühnende Schuld.« Mussumor hob einen Arm. »Deshalb sollten wir gerade jetzt versuchen, besonnen zu bleiben und kein voreiliges Urteil zu fällen.« »Du verteidigst ihn auch noch? Dann wirst du auch den Fremden in Schutz nehmen, mit dessen Ankunft in Hashilan alles begann? Wäre er nicht nach Chail gekommen, so wäre das Unglück nicht über uns hereingebrochen.« Vor dem Haus, wo sich auch Hunderte von Uralten drängten, entstand ein Tumult. Schreie wurden laut unter jenen, die ungeduldig darauf warteten, daß ihr Oberhaupt sich öffentlich zur sich zuspitzenden Lage äußerte.
Die Köpfe der Berater fuhren herum. Mussumor selbst nickte nur, als er den Fremden im Eingang erscheinen sah. Mit unbewegtem Gesicht blickte er ihm entgegen, gerade so, als hätte er dessen Kommen erwartet. »Können wir jetzt miteinander reden, Mussumor?« fragte Atlan. * Mussumor sah ihn an, ohne erkennbare Gefühlsregung, scheinbar völlig gefaßt. Die Berater – Atlan zählte fünf Männer und drei Frauen, und diese waren ausnahmslos wirklich sehr alt – hatten sich nicht so gut unter Kontrolle. Einige von ihnen schienen nahe daran sein, sich mit wütenden Anschuldigungen auf ihn zu stürzen. Doch im letzten Moment hielten auch sie sich zurück. Sie wendeten die Köpfe wieder dem Oberhaupt zu, erwartungsvoll und fordernd. »Ich dachte mir, daß Targar dich schicken würde«, sagte Mussumor endlich. Atlan durchquerte gemessenen Schrittes den Raum, bis er vor dem Podest stand. »Ich kam freiwillig, Oberhaupt der Uralten«, sagte er ruhig. »Targar brachte mich auf meinen Wunsch hin hierher. Sucht nicht nach ihm. Er ist zu seinen Freunden zurückgekehrt – und zu Zasvog.« »Willst du dich von ihm zum Narren halten lassen, Mussumor?« ereiferte sich ein Berater. »Wie lange willst du noch Geduld mit diesem Mann haben, der …« Mussumor brachte ihn durch eine Geste zum Verstummen. »Zasvog«, sagte er gedehnt. »Ich nehme an, du kommst seinetwegen.« »Ich bin hier«, entgegnete der Arkonide, »in der Hoffnung, daß ihr euch noch nicht völlig den Realitäten verschlossen habt. Ich bin hier, um dir einen Handel vorzuschlagen, Mussumor. Es mag sein, daß
das, was ich euch anzubieten habe, wertlos ist. Das hängt davon ab, ob ihr gewillt seid, eine vielleicht bittere Wahrheit anzuerkennen – vor allem aber davon, wie sehr ihr schon in die Abhängigkeit der Roxharen geraten seid.« »Du sprichst in Rätseln«, sagte das Oberhaupt. Atlan lächelte trocken. »Darin stehen wir beide uns in nichts nach. Mussumor, du hast zugegeben, über die wahren Beweggründe der Roxharen Bescheid zu wissen. Du hast erklärt, daß ihr die Roxharen letztlich benutzt, um Chailiden auf andere Welten zu bringen, wo sie als Lehrer leben und wirken sollen.« »Das ist richtig«, erwiderte der Uralte. »Mit anderen Worten: Ihr würdet auf die Roxharen verzichten können, wenn es eine Möglichkeit gäbe, ohne ihre Hilfe diese fernen Welten und Völker zu erreichen – körperlich.« »Das sind Targars Parolen!« rief Tekat aus. »Mussumor, ist dir nicht klar, daß Targar diesen Mann geschickt hat, um deine Sinne zu verwirren? Ich begreife nicht, daß du ihm noch die Gelegenheit gibst, hier vor uns zu reden!« Die anderen Berater und Beraterinnen murmelten zustimmend. »Er soll sagen, was er vorzutragen hat«, entschied das Oberhaupt, und Atlan glaubte in diesem Moment, einen Mann vor sich zu haben, dem er nie hätte etwas verbergen können; einen Mann, der Gefangener seiner Position und seiner Berater war, und der allein durch seine Intelligenz und Ausstrahlung in der Lage war, sich ihnen gegenüber zu behaupten. Atlans Vorstellung von einem arroganten und unbelehrbaren Herrscher geriet ins Wanken. »Ich danke dir«, hörte er sich sagen. »Und ich kann dir versichern, daß Targar mich in keiner Weise beeinflußt hat. Falls meine Worte dennoch so klingen, so liegt es einzig und allein daran, daß ich Gelegenheit hatte, mir selbst eine Meinung zu bilden.« »So?« Mussumor lehnte sich in seinem schweren Stuhl vor. »Und
worüber?« »Daß ihr die Roxharen nicht braucht. Daß es für euch Chailiden sehr wohl möglich ist, ohne Raumschiffe andere Planeten zu erreichen.« »Das wissen wir«, wehrte eine der Beraterinnen ab. »Mit der geistigen Raumfahrt.« »Körperlich!« »Zasvog!« entfuhr es Mussumor. Atlan nickte bekräftigend. »Ja, Mussumor. Doch bevor ich weiter darüber rede, möchte ich, daß du Allia hierherbringen läßt.« Tekat wandte sich an sein Oberhaupt. Verzweifelt breitete er die Arme aus. »Du wirst doch nicht auf ihn hören! Er redet blanken Unsinn daher, Mussumor! Zasvog war niemals auf einer anderen Welt!« »Und seine Forderung beweist, daß es ihm nur darum geht, Targar Zeit zu verschaffen!« »Wenn ihr wirklich davon überzeugt seid«, entgegnete Atlan, »verschwenden wir unsere Zeit.« »Nein, warte.« Mussumor stand auf und blieb dicht vor ihm stehen, so daß er den Kopf in den Nacken legen mußte, um zu ihm aufzusehen. Lange blickten sie sich in die Augen. Dann nickte der Chailide. Er winkte einen Berater heran. »Hole Allia!« »Aber …!« »Tu, was ich dir sage. Hole sie her. Er lieferte sich uns aus eigenem Willen aus. Er mag anders denken als wir. Aber er lügt nicht.« Er verschaffte seinen Worten durch eine Gebärde Nachdruck. »Gehorche jetzt!« Der Berater entmaterialisierte. Tekat ergriff Mussumors Arm. »Du scheinst zu vergessen, was dieser Mann mit Sandun tat!« »Und du solltest dir lieber Gedanken darüber machen, was Sandun in diesen Augenblicken heraufbeschwört.« Tekat zog sich zurück und schwieg. Doch die Blicke, die er dem
Arkoniden zuwarf, sprachen Bände. Knisternde Spannung erfüllte den Raum. Wieder mußte Atlan Mussumor in Gedanken Abbitte leisten. Dieser Uralte war im Grunde einsam und ein Gefangener seiner eigenen Macht. Mussumor wartete, bis sein Berater mit Allia erschien. Die Chailidin erfaßte die Situation mit einem Blick. Demonstrativ stellte sie sich neben den Arkoniden. »Und nun«, sagte Mussumor, »sprich, Atlan.« * Sandun hatte den Schock schnell überwunden. Hinter dem Rücken seiner Anhänger, die neben ihm im Eingang seines Hauses standen, war Mussumors Berater materialisiert. Keiner der Zusammengescharten hatte ihn gesehen und erkennen können, als er Sandun zuflüsterte, was sich beim Oberhaupt tat. Der Fremde hatte also die Verwegenheit, vor Mussumor hinzutreten. Sicher hätte er dies nicht getan, wäre er sich seiner Sache nicht vollkommen sicher gewesen. Aber was hatte er Mussumor anzubieten, um seine und Targars Freiheit zu erkaufen? Nur darum konnte es ihm gehen. Der Berater konnte nur Andeutungen machen. Doch die reichten aus, um Sandun aufs höchste zu beunruhigen. Was immer es war – es hing mit Zasvogs Verschwinden und Tod zusammen. Sandun wußte, daß er keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Der Boden war geebnet für die Durchsetzung seiner Ziele. Die Uralten waren auf seiner Seite, über die Hälfte aller in Hashilan seßhaften. Das konnte sich ändern, wenn Mussumor Informationen zugespielt wurden, die dessen Position erneut zu stärken vermochten – die letztlich sogar Targars Verhalten entschuldigen konnten.
Es durfte nicht dazu kommen. Auch Sandun schrak vor der Anwendung physischer Gewalt zurück. Doch nun ging es um mehr als um moralische Bedenken. Die Zukunft seiner Welt stand auf dem Spiel. Mächte hatten sich gegen Chail verschworen, die den Untergang wollten. Nichts anderes war in Sanduns Augen die Abkehr von den uralten Traditionen. Das Licht der Erneuerung mußte dem Dunkel des Verfalls entgegengesetzt werden – bevor es zu spät war. Sandun merkte nicht, wie sehr er sich in seine eigene Angst hineinsteigerte. Er war davon überzeugt, die chailidische Zivilisation retten zu müssen. Denn Mussumor war zu nachgiebig. Er würde sich über kurz oder lang von Targar beeinflussen lassen. So sprach Sandun wieder zu den Uralten. Und diesmal blieb es nicht bei indirekten Anschuldigungen. Sandun schwang sich zum erbitterten Ankläger auf. Er verstand es, die in tiefster Seele schlummernden Ängste seiner Zuhörer zu wecken und aus besonnenen, in vielen Jahren des Meditierens gereiften Männern und Frauen wieder Chailiden zu machen, die bereit waren, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen. Der Berater, der sich schnell wieder fortteleportiert hatte, um Allia zu Mussumor zu bringen, sollte dafür sorgen, daß Mussumor auf die Forderungen Atlans einging. Diese konnten nach Sanduns Überzeugung nur lauten: Laß Targar kommen, garantiere ihm seine Freiheit und Unantastbarkeit und höre ihn an! Wenn es soweit war, schlug Sanduns Stunde. Dann konnte er die Verräter auf einen Schlag loswerden – und Mussumor mitsamt seinen Beratern gleich dazu. Er, Sandun, wußte schon lange, was er als neues Oberhaupt der Uralten – und damit aller Chailiden – dann zu tun hatte. Nicht nur Sanduns Anhängerschaft wurde in diesen Stunden aktiv. Unter den Zuhörern des Fanatikers befanden sich zwei Uralte, die zum kaum viel kleineren Kreis von Targars Sympathisanten
gehörten. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Gesinnungsgenossen jedoch hatten sie ihre Überzeugungen bislang noch nicht öffentlich geäußert, so daß niemand nun Verdacht schöpfte, als sie sich fortteleportierten. Sie materialisierten in einem der Häuser, in denen Targars Anhänger saßen und mit sehr gemischten Gefühlen die Entwicklung der Dinge in Hashilan verfolgten. In knappen Sätzen berichteten sie über Sanduns kühnen Vorstoß. Und sie verschwiegen auch nicht, was sie sich nur allzu leicht zusammenreimen konnten. »Sandun wird nun nicht mehr davor zurückschrecken, selbst Mussumor anzugreifen«, sagte einer von ihnen. »Er sät Verzweiflung und Angst in die Herzen der Zuhörer. Und aus dieser Saat wird Haß und Blindheit erwachsen. Dann ist es ihm ein leichtes, sie zum Sturz des Oberhaupts aufzuhetzen.« Uralte sprangen von einem Haus zum anderen, alarmierten die dort Wartenden und trafen Absprachen. Targars Anhänger versetzten sich in die Nähe von Mussumors Residenz, bereit, im entscheidenden Augenblick einzugreifen. Zwei Uralte sprangen zum Höhlenversteck, in dem sie Targar und Pogar vermuteten, und brachten diesen die erschreckenden Neuigkeiten. Targar sah sich gezwungen, das Abkommen zu brechen, das er mit Atlan getroffen hatte. Er teleportierte sich nach Hashilan, während Pogar und Shyra bei Zasvog blieben und auf den Verbündeten warteten. Der Boden in Hashilan war geebnet. Kräfte des Geistes bauten sich auf, die bislang nur einem Ziel gedient hatten: dem Frieden und der Erhaltung einer Kultur, in der kein Platz für Gewalt gewesen war. Niemals in der überschaubaren Geschichte Chails war dieser Friede so bedroht gewesen wie in diesen Stunden.
10. »Sprich, Atlan! Sage uns, was du zu sagen hast!« Der Arkonide nickte und verschränkte die Arme über der Brust. »Ich sprach von einem Handel, Mussumor«, sagte er ruhig. »Doch was ich euch vorzuschlagen habe, ist kein Handel im üblichen Sinn. Ich denke und hoffe, daß es eine Lösung sein wird, die allen Beteiligten gleichermaßen dienlich ist. Wie ich schon sagte, wird dies allein davon abhängen, wie sehr ihr bereits in die Abhängigkeit der Roxharen geraten seid.« »Wir sind unserem Volk verpflichtet, nicht den Roxharen«, sagte Mussumor ernst. »Das sind sehr schöne Worte. Mussumor, ich bin in der Lage, dir den Beweis zu liefern, daß Chailiden nach entsprechender Schulung ohne die Zellen der Roxharen ferne Planeten körperlich erreichen können. Es geschah bereits, und ich verrate dir kein Geheimnis mehr, wenn ich sage, daß es Zasvog war, der dies schaffte.« »Aber Zasvog war tot, als wir ihn fanden!« warf Tekat ein. Atlan sah ihn an. »Das ist richtig. Aber er starb erst, nachdem er nach Chail zurückfand. Hätte er sich sonst hierher zurückversetzen können?« »Das nicht«, gab Mussumor zu. »Aber er kann überall gewesen sein – überall auf Chail. Wo ist der Beweis für deine Behauptung?« »Zasvog selbst ist der Beweis.« Atlan wandte sich an die Berater. »Mussumor selbst kam nicht mehr rechtzeitig, um den Toten noch zu sehen. War einer von euch zur Stelle?« Nacheinander schüttelten sie die Köpfe. Atlan atmete auf. »Aber euch wurde gesagt, daß Zasvog sich verändert habe. Genau das ist richtig. Seine Leiche befindet sich in einem Versteck. Ich kann sie euch hierherbringen, wenn du bereit bist, Mussumor, Targar und Pogar Freiheit und Unantastbarkeit zu gewähren, bis ihr euch alle von der Wahrheit meiner Worte habt überzeugen können. Danach
bildet euch selbst ein Urteil darüber, ob Targar für oder gegen die Interessen eures Volkes gehandelt hat.« Mussumor schwieg. Einer seiner Berater sagte etwas zu schnell: »Wir sollten ihm die Gelegenheit geben, diesen Beweis zu erbringen.« Es war der gleiche, der Allia geholt hatte. Atlan merkte sich sein Gesicht. Tekat meldete wieder Bedenken an. Von ihm hatte der Arkonide nichts anderes erwartet. Er konnte es ihm nicht einmal übelnehmen. Und auch Mussumor hatte eine schwere Entscheidung zu fällen. »Ich muß eine zweite Bedingung stellen«, erklärte Atlan. »Eine Forderung, die für dich leicht zu erfüllen sein sollte, Mussumor.« Der Uralte kniff die Augen zusammen und musterte ihn mißtrauisch. »Es geht um Heldis«, erklärte Atlan. »Was ist mit ihm?« »Ich weiß, daß er darauf vorbereitet werden soll, nach Ushun zurückzukehren und sich wieder der Beobachtung der Roxharen zu widmen. Ja, Mussumor, ich befolgte deinen Rat, mich in Hashilan umzusehen und umzuhören. Sicher gibt es Hunderte oder Tausende von Chailiden, die wie Heldis die Roxharen beobachten und dabei Gefahr laufen, sich äußerlich in Roxharen zu verwandeln. Heldis wird vielleicht für kurze Zeit ein guter Beobachter sein, wie er es früher einmal war. Aber ich bezweifle, daß ihr die Angst völlig abzutöten vermögt, die ihn bereits einmal aus der Bahn warf. Gebt Heldis frei. Laßt ihn mit Shyra eine neue Familie gründen, eine neue Dorfgemeinschaft. Auf diese Weise wird er eurer Sache besser dienen können.« Atlan glaubte, Mussumor innerlich aufatmen zu sehen. Vermutlich hatte er etwas anderes erwartet. Äußerlich jedoch blieb das Oberhaupt ernst. Durch keine Regung verriet er, was in ihm vorging. Der Uralte winkte alle seine Berater zu sich. Leise besprachen sie
sich, wobei sich wieder jener hervortat, der Atlan bereits aufgefallen war. Bevor er Allia geholt hatte, hatte er aus seiner Ablehnung Atlan gegenüber keinen Hehl gemacht. Nun setzte er sich dafür ein, daß Mussumor auf die Forderungen des Arkoniden eingehen sollte. Weshalb? Atlan zog Allia zu sich heran und flüsterte: »Gab es eine Verzögerung, bevor du hierher teleportiert wurdest? Ich meine, hatte dieser Berater Schwierigkeiten mit den Uralten, die dich aushorchen sollten?« »Keine, Atlan«, antwortete die Chailidin ebenso leise. »Er kam und brachte mich sofort hierher. Warum fragst du?« »Er brauchte zu lange dazu. Er war zu lange fort.« Mussumor schien zu einem Entschluß gekommen zu sein. Seine Vertrauten zogen sich von ihm zurück und stellten sich wieder vor Atlan auf. »Du hast mein Wort«, verkündete das Oberhaupt. »Ich vertraue dir, Atlan. Targar und seinen Anhängern wird nichts geschehen, falls du uns glaubhaft machen kannst, daß Zasvog wahrhaftig das gelang, woran schon viele andere vor ihm scheiterten. Und kannst du uns diesen Beweis erbringen, so soll Heldis freigestellt werden, auf welche Weise er uns dienen will. Er wird hier sein, wenn du uns Zasvog bringst. Allia wird hierbleiben, als Zeichen deines Vertrauens.« »Und Shyra darf mit ihm gehen?« »Ja.« Atlan zögerte nun. Er war davon überzeugt, daß der Berater, der Allia geholt hatte, seine Abwesenheit dazu genutzt hatte, irgend jemandem eine Nachricht zu übermitteln. Er glaubte zu wissen, wer dieser Jemand war. War es unter diesen Umständen noch vertretbar, Targars Versteck preiszugeben? Mussumor konnte leicht von Vertrauen reden, wußte er doch, daß Atlan nur mit Hilfe eines seiner Berater zum Versteck
gelangen sollte. Sein Vertrauen war offenbar nicht so groß, als daß er Allia diese Aufgabe übertragen hätte. Er gab sich einen Ruck. Von vorneherein hatte er sich auf ein gewagtes Spiel eingelassen. Er wußte, daß er sich allein auf seine Menschenkenntnis verlassen mußte, und er vertraute Mussumor. »Ich bin bereit«, sagte er. Mussumor nickte Tekat zu. Der alte Chailide trat zu Atlan heran und nahm dessen Arm. Der Mentalstabilisierte öffnete seinen Geist gerade so weit für ihn, daß er sich ein Bild von der Höhle machen konnte. Er hoffte, daß dies für Tekat genügte. Dann entmaterialisierten sie. * Sie fanden nur Shyra, Pogar und den toten Zasvog vor – nicht aber Targar. Atlans Zorn verflog schnell, als er von Pogar hörte, was ihnen in der Zwischenzeit berichtet worden war. Dafür wuchs seine Sorge um den Frieden in Hashilan. Sandun rüstete zum Kampf. Targar holte seine Anhänger zusammen, um sich Sanduns Gefolgsleuten entgegenzustellen. Daß in der Hitze des »Gefechts« Mussumor im Brennpunkt stehen würde, war abzusehen. Entsprechend bestürzt reagierte Tekat. »Dazu darf es nicht kommen«, flüsterte der Uralte. »Kein anderer als Mussumor ist in der Lage, die Chailiden zusammenzuhalten. Ich weiß, daß viele behaupten, wir als seine Berater würden mit allen Mitteln verhindern, daß andere seinen Platz einnehmen, die die Qualifikation früher erreichten. Aber das geschieht doch nur, weil keiner von ihnen Mussumors Reife besitzt.« Der alte Mann tat Atlan leid. Er legte ihm eine Hand auf die
Schulter und nickte ernst. »Das glaube ich dir, Tekat«, sagte er. »Um so wichtiger ist es nun, Zasvog zu ihm zu bringen. Alle sollen sehen, daß er Chail verlassen hatte.« Der Uralte blickte ihn noch zweifelnd an. Dann senkte er den Blick. »Es tut mir leid, Atlan, daß ich mich in dir getäuscht habe. Es ist ein Beweis für Mussumors Weitblick, daß er wohl niemals an dir zweifelte.« »Schon gut, Tekat. Aber denke daran, daß es einen Verräter in eurer Mitte gibt.« »Solfar!« rief der Chailide leidenschaftlich aus. »Er wird keinen Schaden mehr anrichten.« Sie verloren keine Zeit mehr. Tekat nahm Atlans Arm, nachdem der Arkonide Zasvog aufgehoben hatte, und wartete, bis auch Pogar und Shyra bereit waren. Pogar wirkte verunsichert. Einerseits zog es ihn zu Targar, zum anderen aber schien er begriffen zu haben, was die Stunde geschlagen hatte. Shyra wirkte wie aus einem langen und tiefen Alptraum erwacht, nachdem sie nun Hoffnung hatte, Heldis bald schon als freien Mann wiederzusehen. Gemeinsam teleportierten sie. Zurück im Haus des Oberhaupts, hatte Tekat nichts Eiligeres zu tun, als aufs Podest zu steigen und anklagend auf Solfar zu zeigen. Das genügte diesem bereits. Bevor Tekat auch nur ein einziges Wort der Anschuldigung hervorbringen konnte, schlug dort die Luft ins entstandene Vakuum, wo der Verräter gestanden hatte. »Das war ein Fehler«, sagte Atlan. »Jetzt weiß Sandun, daß wir ihn erwarten.« Schnell klärte er Mussumor über die Zusammenhänge auf. Das Oberhaupt hatte sein Wort gehalten. Heldis stand bei Allia und schloß Shyra in seine Arme. Er wirkte gelöster als in der Schänke, in der Atlan ihn zum erstenmal gesehen hatte. Was immer die Uralten
mit ihm getan hatten, es schien keine Spuren hinterlassen zu haben. Mussumor verbarg seine Bestürzung nicht. »Dann können wir nur noch eines tun«, erklärte er düster. »Atlan, nun hängt alles davon ab, ob du den Beweis liefern kannst, den du versprachst. Dann werden wir vor die Uralten hintreten und ihnen sagen, was geschehen ist. Mögen die Götter verhindern, daß es zu spät ist.« Atlan kam der Aufforderung nach. Er erklärte Mussumor und den Beratern, was er schon Targar und Pogar dargelegt hatte. Nur einmal unterbrach ihn Mussumor und fragte: »Aber könnte er sich diese Kruste nicht doch auf Chail geholt haben?« »Gibt es irgendwo auf Chail einen Ort, an dem dies geschehen sein könnte?« stellte Atlan die Gegenfrage. »Selbst falls die Aufgebrachten nicht an die Mikroorganismen zu glauben vermögen – gibt es auf Chail einen Sumpf oder ein Gewässer, in das Zasvog geraten sein könnte, und in dem Bedingungen herrschen, die das Zustandekommen dieser Kruste erklären könnten?« »Nein.« Mussumor beugte sich selbst über den Leichnam und betrachtete ihn lange. Schließlich richtete er sich vor dem Arkoniden auf. »Ich glaube dir. Ich sehe es mit meinen eigenen Augen und muß dir glauben, Atlan. Targar hat viel gewagt, um diesen Beweis zu erbringen. Wie die Dinge jetzt stehen, werden wir auch ihm Abbitte leisten müssen.« »Targar wird augenblicklich kaum sehr empfänglich dafür sein, Mussumor«, gab Atlan zu bedenken. »Sandun hat Zorn und Verbitterung in die Herzen der Uralten gesät, und Targar wird kaum einen anderen Gedanken als den haben, Sandun zurückzudrängen. Ich fürchte, dazu sind ihm nun alle Mittel recht.« Mussumor nickte traurig. Er wandte sich an Pogar. »Wenn du weißt, wo sich Targar nun aufhält, so gehe zu ihm und
sage ihm, was du hier gehört hast. Richte ihm aus, daß er sich zurückhalten soll und auf keinen Fall zu Feindseligkeiten beitragen!« »Ich werde es versuchen, Oberhaupt«, versprach Pogar. Wieder trafen sich Atlans und Mussumors Blicke, als der Chailide verschwunden war. Mussumor konnte nicht die eine Seite zum Stillhalten bewegen, ohne die andere gleichermaßen zu beruhigen. Das wußte der Uralte. Und er wußte auch, daß Sandun und seinen fanatisierten Anhängern so leicht nicht mehr Einhalt zu gebieten war. Mussumor, der sich in Wahrheit immer um einen Ausgleich zwischen den rivalisierenden Parteien bemüht hatte, stand hilflos da. Er hatte keine Anhängerschaft wie Targar und Sandun, denn er war das Oberhaupt. Ihm zu gehorchen, war immer selbstverständlich gewesen. Er hatte es wohl niemals nötig gehabt, die Uralten mit Parolen und Versprechungen auf sich einzuschwören. Das rächte sich nun. Atlan bezweifelte, daß es mehr als eine Handvoll Uralte gab, die sich nicht in eines der beiden Lager hatten hineinziehen lassen und sich nun schützend vor Mussumor stellen würden. Der Kampf, auch wenn er nicht mit Fäusten ausgetragen werden sollte, würde letzten Endes nicht nur über eine Philosophie entscheiden. Es ging um nichts anderes als um die Macht in Hashilan – und damit über ganz Chail. Es ging um Freiheit oder Unfreiheit der Chailiden. Es ging darum, ob man Atlan, Bjo und Kölsch die Möglichkeit zur Rückkehr auf die SOL bieten würde. Unwillkürlich mußte Atlan wieder an den Einfluß denken, den der Planet (beziehungsweise das mentale Netz) auf Fremde ausübte, und gegen den nur die Roxharen immun zu sein schienen. Er lauschte in sich hinein, wie er es so oft in den letzten Tagen
getan hatte, meist, ohne sich dessen überhaupt noch bewußt zu werden. Noch spürte er keine Veränderung in seinem Denken. Aber war Bjo noch Herr seiner Sinne? Hing nicht auch sein und Kölschs Schicksal direkt vom Ausgang der unabwendbaren Auseinandersetzung in Hashilan ab? Beobachteten die Roxharen von ihrer Blauen Stadt aus die Entwicklung in Hashilan? Durfte Atlan Targar weiterhin den Rücken stärken? Mußte er nicht vielmehr mit Mussumor kämpfen? Das Oberhaupt wußte nun, daß die Chailiden ihr Ziel, auf fernen Welten als Lehrer zu wirken, auch ohne Roxharen erreichen konnten. Aber war Mussumor auch bereit, die Konsequenzen zu ziehen? All das waren Fragen, auf die er sich noch keine Antwort zu geben wagte. So schien ihm nur eines zu bleiben: Er mußte sich, soweit ihm dies überhaupt noch möglich war, aus der Auseinandersetzung heraushalten und den Dingen ihren Lauf lassen. Selten hatte er sich so unsicher gefühlt wie in diesen Augenblicken. War er nicht der Katalysator gewesen, der die Lawine ins Rollen gebracht hatte? Und hatte er dies nicht gewollt? Nur entwickelten sich die Dinge nun nicht mehr in der gewünschten Richtung. Der Lärm von draußen riß ihn aus diesen Gedanken. Atlan fuhr herum und sah Uralte, wie sie im Eingang erschienen und offensichtlich mit ihren Leibern einen Sperrgürtel zu bilden versuchten für jene, die mit Gewalt versuchten, zu Mussumor vorzudringen. Das Oberhaupt der Chailiden reagierte schnell. Mussumor stieg vom Podest herab und schob Atlan sanft auf Heldis und Shyra zu, die verunsichert zur Tür blickten. »Ihr drei bleibt hier drinnen«, sagte Mussumor schnell. »Bleibt zusammen, ganz gleich, was geschehen mag. Du, Atlan, kommst zu mir, wenn ich dich rufe. Ich bitte dich darum.«
Atlan nickte. »Du glaubst wirklich, du kannst sie allein zur Vernunft bringen?« Mussumor bückte sich und hob Zasvog auf. Mit ihm auf den Armen, schritt er zur Tür, gefolgt von seinen Beratern. »Sandun ist draußen!« schrie jemand. »Und … da kommt Targar mit seinen Anhängern!« Würden die Aufgeputschten es wagen, Hand an Mussumor und seine Vertrauten zu legen? Atlan wunderte sich ohnehin darüber, daß sie zu Fuß kamen und nicht einfach vor ihr Oberhaupt hin teleportiert waren. Verriet das einen letzten Rest von Achtung vor Mussumor? Andererseits – bedeutete es für die Chailiden auch Anwendung physischer Gewalt, wenn sie sich Mussumor und dessen Berater einfach griffen und mit ihnen irgendwohin sprangen? Zu einem Ort, von dem es auch für Teleporter keine Rückkehr mehr gab? Atlan mußte an sich halten, um Mussumor jetzt nicht vor das Haus zu folgen. Er konnte nur warten. Allein sein Anblick könnte Sanduns Anhänger zu unkontrollierten Taten verleiten. Shyra nahm seine Hand und drückte sie. Heldis stand wie versteinert. »Ich habe schreckliche Angst«, flüsterte das Mädchen. 11. Die weißen Häuser waren wie mächtige Felsblöcke in einem Meer aus Leibern, einem Hin und Her von langem, blauem Haar und weißen Umhängen, von geschüttelten Fäusten und blitzenden, grauen Augen. Mussumors Wohnsitz, ganz oben am Abhang gelegen, war von Uralten umringt wie die angrenzenden Gebäude. Auf den steinigen Wegen und in den Berg gearbeiteten Stufen drängten sich die
Chailiden Targar und Sandun führten ihre jeweilige Anhängerschaft an. Wo die beiden Gruppen aufeinander trafen, kam es zu kleineren Handgemengen. Ansonsten hielten sie sich noch zurück. Sandun folgten etwa fünfhundert Männer und Frauen, Targar knapp dreihundert. Nur etwa fünfzig Uralte hatten sich vor dem Eingang zu Mussumors Haus zusammengeschart und versuchten, die Stufen abzuschirmen. Hinzu kamen Teleporter, die aus verschiedenen Teilen Chails zurückkehrten und sich neugierig unter die Menge mischten. Auf dem Marsch hierher hatten die Aufgeputschten noch lautstark die Ablösung Mussumors und die Bestrafung, ja sogar die Verbannung der jeweils anderen Gruppe gefordert. Nun, vor dem Haus des Oberhaupts, kehrte für Minuten Ruhe ein, so als seien die Uralten sich im letzten Moment doch noch dessen bewußt geworden, was sie anzurichten im Begriff waren. Nun klangen die ersten Parolen wieder auf, bezeichnenderweise von jenen, die in unmittelbarer Nähe von Sandun und Targar standen. Die beiden Kontrahenten selbst hatten sich, sichtbar für alle, auf den Stufen der Nachbarhäuser postiert, deren Eingänge dem von Mussumors Wohnsitz gegenüberlagen. Sie schwiegen – noch. Diese Situation fand Mussumor vor, als seine Getreuen für ihn eine Gasse bildeten und er vor die Uralten hintrat. Auf der obersten Stufe seiner Treppe stehend, überragte er die Chailiden um mehr als eine Körpergröße und war mit Sandun und Targar auf gleicher Höhe. Die Menge schwieg und blickte zu ihm auf. Nur hier und da wurden noch Rufe laut. Mussumor brachte auch diese letzten Schreier zum Verstummen, als er gebieterisch eine Hand hob. Sandun lächelte überlegen. Targar beobachtete ihn und nickte denjenigen seiner Anhänger beruhigend zu, die sich mit fragenden Blicken zu ihm umwandten. »Hört mich an!« rief Mussumor mit lauter, sicherer Stimme. »Ich
weiß, daß vieles geschehen ist, das euch verwirren, aber auch bestürzen und tief treffen muß. Ebensogut ist mir bekannt, auf welche Weise einige unter uns sich dies zunutze gemacht haben, um Furcht und Zorn in eure Herzen zu säen.« Er vermied es, dabei Sandun oder Targar anzusehen. »Doch bevor ihr all das vergeßt, was uns und unseren Vorfahren heilig war, hört mich an. Dann bildet euch euer Urteil!« »Du kannst uns nicht umstimmen!« rief jemand aus der Menge. »Deine Zeit ist abgelaufen, Mussumor! Viel zu lange habt ihr uns hingehalten und das wahre Oberhaupt vorenthalten!« »Laß ihn reden!« rief Targar. Sandun lachte rauh. »Ja, laßt ihn uns sagen, was wir angeblich nicht wissen!« Mussumor blieb ruhig. Er versuchte einzuschätzen, wie entschlossen vor allem Sanduns Gefolgsleute schon waren, ob es eine Strategie gab, die sie sich zurechtgelegt hatten. Er erkannte seinen bisherigen Berater Solfar bei jenen, die sich um Sandun geschart hatten. Pogar stand bei Targar. Hatte er ihm seine Nachricht übermitteln können? Wieder hob er den Arm. »Vieles ist geschehen«, rief er aus »das uns alle in tiefste Verwirrung stürzte, das aber auch unser aller Leben und unser Denken grundlegend verändern kann!« Er redete über Atlans Auftauchen, über Targars und seiner Freunde Verhalten und Flucht aus Hashilan. Dann kam er ohne Umschweife zum Thema, als schon wieder die ersten Rufe laut wurden. »Viele von euch sahen Zasvogs Leiche vor dem Haus der Jungen. Ihr wißt mittlerweile alle, daß Targar den Toten fortschaffte, ehe wir uns weiter um ihn kümmern konnten. Er hatte allen Grund dazu, denn Targar wußte, daß Zasvog nicht zu einem Ort auf Chail teleportiert war, sondern daß Zasvog das gelang, woran viele vor ihm scheiterten. Zasvog überwand die Angstschwelle in seinem Unterbewußtsein und fand den Weg zu einem der anderen
Planeten. Er versetzte nicht nur seinen Geist auf diese fremde und ferne Welt, sondern auch seinen Körper!« Sandun zuckte zusammen. Schnell sah er sich unter seinen Anhängern um, blickte in erstaunte Gesichter und hörte das Raunen, das durch die Menge ging. »Was für ein Unsinn!« schrie er. »Jeder von uns weiß, daß Zasvog ein guter Teleporter war, vielleicht der beste von uns allen! Mussumor und Targar machen sich dies jetzt zunutze! Glaubt ihnen kein Wort! Es wird vielmehr so sein, daß Targar seinen Freund dazu zwang, einen entsprechenden Versuch zu unternehmen, der im Nichts zwischen den Welten endete und ihn das Leben kostete!« Seine Stimme wurde noch schneidender, als er anklagend auf das Oberhaupt deutete. »Und Mussumor unterstützte ihn dabei! Seine Worte beweisen es! Er und Targar haben sich gegen unser Volk und die heiligsten Traditionen verschworen!« Targar schwieg dazu. Mussumor hatte Mühe, sich im aufkommenden Tumult wieder Gehör zu verschaffen. »Sanduns Worte zeugen von seiner Angst!« rief er in die Menge. »Ich kann euch den Beweis für meine Behauptung liefern – Zasvog selbst. Niemand zwang ihn zu seinem gewagten Versuch, der ihn das Leben kostete. Das streitet niemand ab. Und ihr alle machtet euch auf mein Geheiß auf die Suche nach Targar. Natürlich wird Sandun nun behaupten, dies sei lediglich ein Ablenkungsmanöver gewesen. Doch seht her!« Mussumor drehte sich zu seinen Beratern um. Tekat reichte ihm Zasvogs Leiche. Für jeden gut sichtbar, ließ das Oberhaupt sie sich wieder über die Arme legen. Stimmengemurmel wurde laut, dazwischen wieder erregte Rufe. Mussumor sagte mit den Worten Atlans, was nötig war, um auch die starrköpfigsten Zweifler von der Wahrheit seiner Behauptung zu überzeugen. Wieder sah Sandun die Zweifel in den Gesichtern derer, die noch vor kurzem bereit gewesen waren, mit ihm um die Ablösung ihres Oberhaupts zu kämpfen. Einige wandten sich von
ihm ab und wechselten in Targars Lager. »Es ist Täuschung!« schrie Sandun. »Sie haben irgend etwas mit Zasvog gemacht, um ihre Geschichte glaubhaft erscheinen zu lassen! Seht genau hin! Nicht einmal die Ruhe eines Toten ist diesem Mann heilig, der bis zum heutigen Tag unsere Geschicke leitete!« »Du bekommst Angst, Sandun?« Zum erstenmal wandte sich nun Targar direkt an seinen Gegenspieler. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund. »Du mußt mitansehen, wie dein Lügengebilde zerfällt! Glaubst du denn wirklich, die Uralten nähmen dir deine Geschichte noch ab? Es gab kein Einvernehmen zwischen Mussumor und mir. Niemand außer Allia, Pogar, mir und Zasvog selbst wußte von unseren Bemühungen, den Beweis dafür anzutreten, daß wir keine Roxharen mehr brauchen, um andere Welten zu betreten! Mussumor hätte nie seine Zustimmung dazu gegeben, so daß wir im geheimen arbeiten mußten! Nun aber ist der Beweis erbracht, und es ist an uns, Forderungen zu stellen!« Targar wandte sich Mussumor zu, der sich immer noch mustergültig beherrschte, obwohl er gehofft hatte, daß wenigstens Targar sich in Zurückhaltung üben würde, bis die Wogen der Erregung geglättet waren. »Mussumor!« rief Targar. »Nun, da es keinen Zweifel mehr daran geben kann, daß wir alle in der Lage sind, die anderen Planeten zu besuchen, mit deren Bewohnern wir geistig schon lange in Kontakt stehen, verlange ich von dir als unserem Oberhaupt, daß sofort mit entsprechenden Schulungen begonnen wird! Wir brauchen die Roxharen nicht mehr, und damit wird auch deren Beobachtung überflüssig! Die vielen fähigen Chailiden, die diese Aufgabe bisher zu erfüllen hatten, sollen wie wir Uralte nur noch daran arbeiten, ihre geistigen Kräfte zu vervollkommnen, auf daß sie eines Tages die anderen Planeten besuchen und dort als Lehrer wirken können! Nur noch dieses eine Ziel sollten wir uns stellen! Vertreiben wir die Roxharen und beginnen wir sofort damit!« Applaus für Targar brandete auf. Sandun mußte mitansehen, wie
sich selbst einige seiner Anhänger dem Gegenspieler zuwandten. »Daran, ob du bereit bist, diese Forderung zu erfüllen, sollst du als Oberhaupt gemessen werden, Mussumor!« rief Targar im Bewußtsein des eigenen Triumphs, »tust du es nicht, so wird es Zeit für den Wechsel!« Jetzt konnte Mussumor seine Erschütterung nicht mehr verbergen. Targar riß die Menge mit. Und Sandun, enttäuscht und zornig, machte einen letzten Versuch, die Entwicklung noch einmal in andere Bahnen zu lenken. Doch wie es auch kommt, dachte Mussumor bitter, der Sieger in diesem unseligen Ringen nach der Macht wird meinen Platz einnehmen wollen. »Du vergißt eines, Targar!« schrie Sandun mit sich überschlagender Stimme. »Zasvog starb auf der Welt, die er angeblich erreicht haben soll! Und so wird es allen ergehen, die es ihm gleichzutun versuchen!« Schweigen breitete sich aus. Dann aber geschah etwas, mit dem Sandun nicht gerechnet hatte. Nicht Targar bestürmten die Uralten mit ihren Fragen, sondern wieder Mussumor, der sich so in die Enge gedrängt fühlte, daß er das nun tat, was ihm schon überflüssig erschienen war. Er ließ Atlan holen. Als sie mit dem Fremden neben ihm materialisierte, brandeten Wogen der Entrüstung auf. »Er wird euch sagen, warum Zasvog starb!« rief Mussumor. Und der Arkonide, der das Wortgefecht im Haus verfolgt hatte und sich schnell ein Bild der Lage machte, sah das stumme Flehen in den Augen des Uralten. Er begriff Mussumor nicht, denn indem er das tat, was er von ihm verlangte, spielte er doch wieder nur Targar in die Hände. Doch etwas war in den Blicken des Oberhaupts, das ihn alle Zweifel vergessen ließ. Er ahnte, daß Mussumor einen Trumpf in petto hatte. »Atlan«, rief Mussumor mit hocherhobenen Händen, »kam von
den Sternen zu uns, wie die Roxharen, und er wird euch sagen können, weshalb Zasvog starb – und ob sein Tod nur ein Unglücksfall war.« Atlan trat vor. Mussumor machte Platz für ihn. Der Arkonide sah auf die Menge hinab, sah zu Sandun hinüber, zu Targar. Beide schwiegen sie nun. Doch ihre Blicke waren voller Erwartung, und hinter ihren Stirnen mußten sich nun die Gedanken jagen. Für Sandun dürfte klar sein, daß die Uralten Atlan noch weit weniger glaubten als ihrem Oberhaupt. Targar erwartete das Gegenteil. Atlan fühlte Mitleid mit diesem Mann, der sich im entscheidenden Moment von seinen Gefühlen hatte überrumpeln lassen. Er hätte die Chance gehabt, die Uralten für sich zu gewinnen, wäre er nur besonnener geblieben. »Hast du die Sprache verloren, Silberhaar?« rief jemand aus der Menge. Atlan gab sich einen Ruck. Mussumor wollte von ihm hören, was er dachte. Er würde ihm und allen hier Versammelten die Wahrheit sagen. »Es ist wahr«, sagte er also mit lauter Stimme. »Zasvogs Tod war ein Unglück. Er hatte das Pech, auf einer Welt zu materialisieren, die lebensfeindlich für Chailiden ist. Die Verhältnisse dort brachten ihn nicht gleich um, aber doch im Lauf von Stunden.« »Also würde er leben, hätte er einen Planeten wie Chail betreten!« kam es von Targar. »Vermutlich, ja«, antwortete Atlan über die Köpfe der Uralten hinweg. »Das Problem ist, eine solche Welt zu finden! Erst wenn dies gewährleistet ist, kann man davon ausgehen, daß derjenige, der sich auf sie versetzt, auch wieder lebend zurückkommt.« »Dieses Problem sehe ich nicht«, sagte Mussumor. »Wir haben die geistige Raumfahrt. In der Meditation können wir die anderen Planeten erkunden. Wir können sie durch die Augen der dort
lebenden Völker sehen.« Trieb der Uralte das Verwirrspiel auf die Spitze? Verlangte er darauf eine Antwort? Er nickte Atlan auffordernd zu. »Das bezweifle ich«, sagte der Arkonide, und nur schwer kamen die Worte über seine Zunge. Was er zu sagen hatte, würde nicht nur Mussumor vor den Kopf stoßen. Wollte er das? »Ich bezweifle es nun noch stärker als vor Zasvogs Rückkehr, denn hätte er sich nicht eine andere Welt ausgesucht, wenn er gewußt hätte, daß jene eine ihn umbringen würde?« Ein Schrei der Entrüstung, ausgestoßen aus vielen Kehlen, schlug ihm entgegen. »Du glaubst nicht an die geistige Raumfahrt?« »Ich denke, daß es keinen eindeutigen Beweis für ihr Funktionieren gibt!« rief er zurück. Nun konnte er nicht mehr anders – der Anfang war gemacht. »Bisher hörte ich viel Gerede über die geistige Raumfahrt, doch als ich einmal darum bat, an einer Meditation teilnehmen zu dürfen, wurde ich schroff abgewiesen. Das war in Ungilara. Warum, frage ich euch, wollte man mir diese Möglichkeit nicht geben, wenn alles wahr ist, was von euch behauptet wird? Mussumor wollte, daß ich meine Meinung sage, und es tut mir leid, daß ich wohl ihn wie euch alle enttäuschen muß. Aber solange es keinen echten Beweis für die Existenz der geistigen Raumfahrt gibt, werde ich sie für einen Glauben halten, den ich zu respektieren habe – für mehr nicht!« Ungläubiges, fassungsloses Schweigen lag für Sekunden über dem Schauplatz. Dann fuhren Fäuste in die Höhe. Uralte aus beiden Lagern schrien Atlan ihre Wut entgegen. »Er ist wie die Roxharen!« kam es aus Targars Ecke. »Er hat nie an unsere Fähigkeiten geglaubt!« Zu Atlans maßloser Verwunderung schrie Sandun den Rufer an. »Ihr etwa? Wer bricht denn die uralten Traditionen? Wer frevelt an der reinen Lehre?« Ein hitziges Wort gab das andere, und plötzlich brach der Tumult
los. Uralte stürzten sich aufeinander und schlugen sich. Fassungslos mußte Atlan mitansehen, wie Sanduns und Targars Anhänger sich eine Prügelei lieferten. Und bevor Atlan sichʹs versah, wurde auch er angegriffen. Er mußte sich bücken, um geschleuderten Steinen auszuweichen. Ein halbes Dutzend Chailiden stürmten die Treppe und wollten sich auf ihn stürzen. Für einen schmerzlichen Augenblick fühlte der Arkonide sich ganz auf sich selbst gestellt, allein in einer tobenden Masse, ohne jegliche Unterstützung. Zorn auf Mussumor keimte in ihm auf, denn er mußte nun annehmen, daß der Uralte von Anfang an kein anderes Ziel gehabt hatte, als ihn zu opfern, um selbst noch einmal ungeschoren davonzukommen. Atlan ballte die Fäuste, um seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen, als sich eine Hand um sein Armgelenk legte. Er fuhr herum, um den vermeintlichen Angreifer abzuschütteln, und sah in Mussumors Gesicht. Er sah nur ein Nicken. Dann löste sich die Welt um ihn herum auf. Die Fäuste der Chailiden fuhren ins Leere. Ihre Körper prallten dort, wo Atlan und Mussumor gestanden hatten, hart aufeinander. 12. Er fand sich auf einer weiten Steppe wieder. Die Temperaturen zeigten ihm an, daß er sich wieder näher am Äquator befinden mußte. In der Ferne zog sich eine flache Hügelkette über den Horizont. Doch von Dörfern oder einer Stadt war weit und breit nichts zu sehen. Mussumor! Er hielt noch Atlans Arm umfaßt. Der Arkonide fuhr herum und sah in ein ernstes Gesicht. Er riß sich los.
»Warte!« sagte der Uralte beschwörend. »Bevor du mich nun verurteilst, höre mich an!« »Du hast es gewußt«, knurrte Atlan. »Du wußtest ganz genau, was geschehen würde.« Mussumor nickte und lächelte schwach. »So, wie ich wußte, was du sagen würdest, mein Freund. Es war mir klar, daß du an einem Punkt angelangt warst, an dem du keine Rücksichten mehr nehmen würdest.« Atlan war verwirrt. »Und dennoch holtest du mich?« »Ich sah darin die einzige Möglichkeit, Targars und Sanduns Anhänger so in Wut zu versetzen, daß sie dadurch von ihren eigentlichen Zielen abgelenkt wurden – zumindest vorerst. Wenn ich nach Hashilan zurückkehre, werden die Wogen sich geglättet haben.« »Und man wird dankbar sein, in dir wieder ein schlichtendes Oberhaupt zu haben«, sagte Atlan begreifend. »Du schicktest mich vor, sozusagen als Auslöser des aufgestauten Zornes der Uralten. Targars und Sanduns Leute werden sich gegenseitig die Köpfe einschlagen und danach konsterniert denjenigen bejubeln, der ihnen wieder sagt, woʹs langgeht.« Mussumor breitete entschuldigend die Arme aus. »Du magst es so sehen, Atlan. Doch beurteile die Uralten nicht nach dem, wessen du eben Zeuge wurdest. Sie sind verunsichert. Ihr Weltbild gerät ins Wanken, und deine Worte waren der Funke, alle Ängste und die ganze Verzweiflung freizusetzen, die sie so lange zurückhalten konnten. Sie werden schon bald bereuen, was sie taten, und sich mit Scham an den heutigen Tag zurückerinnern.« Plötzlich materialisierten drei Chailiden nur wenige Meter vor ihnen. Zu seiner großen Erleichterung erkannte Atlan Shyra und Heldis, aber auch … »Perqueton!« rief er überrascht aus. Der seltsame Uralte grinste und zuckte die Schultern.
»Du bist mir noch deine Geschichte schuldig, Atlan.« »Er kennt sie längst«, erklärte Mussumor lachend. »Laß dich nicht durch sein Gehabe und Äußeres täuschen. Perqueton ist mein ältester und treuester Berater – nicht Tekat. Tekat weiß ebenso wenig von Perquetons Doppelrolle wie alle anderen Uralten in Hashilan.« Atlan pfiff durch die Zähne. Shyra kam heran und drückte ihm die Hand. Heldis folgte ihrem Beispiel. »Danke«, sagte der junge Chailide. »Danke für alles, was du für uns getan hast, Atlan.« »Sie werden eine Familie und ein neues Dorf gründen«, erklärte Mussumor. »Aber auch ich danke dir. Du hast dazu beigetragen, daß wir Uralten über vieles werden nachzudenken haben. Oh, du wunderst dich darüber, daß Perqueton und die beiden hier erschienen? Auch dies war abgesprochen.« Atlan sah einen großen Stein und setzte sich darauf. Das mußte er erst einmal verarbeiten. Vergeblich versuchte er, einen Sinn in dieses ganze Verwirrspiel zu bringen. Was wollte Mussumor wirklich? Was würde sich nach seiner Rückkehr nach Hashilan ändern? »Die Zeit wird dies zeigen«, antwortete der Uralte auf eine entsprechende Frage. Er schien auch jetzt nicht bereit zu sein, sich in die Karten blicken zu lassen. »Was aber dich und die beiden betrifft, die mit dir nach Chail kamen, so werden die Dinge schon bald in Bewegung geraten. Ich weiß, worum du dich sorgst. Laß dir deshalb sagen, daß dein Schiff noch über unserer Welt steht.« Atlan fuhr in die Höhe. Er starrte den Uralten an. »Woher willst du das wissen?« Mussumor lächelte geheimnisvoll. »Ein weiterer Gast kam nach Chail, einer von euch.« »Wer?« »Warte es ab. Es wäre vielleicht nicht gut, es dich schon jetzt wissen zu lassen.«
Was sollte das nun wieder? Wer konnte ihm, Bjo und Kölsch gefolgt sein? Akitar? Hatte er doch noch jemanden gefunden, der ihn nach Chail brachte? Was wußte Mussumor, was wußten die Uralten wirklich? Natürlich, die Mitglieder der Familien waren in der Lage, die Roxharen auszuhorchen. Zweifellos gaben sie ihre Informationen an die Uralten weiter. Aber welches Verhältnis bestand wirklich zwischen ihnen und den Roxharen? Atlan hatte geglaubt, Stück für Stück vom Schleier des Geheimnisses gelüftet zu haben, das die Chailiden umgab. Er hatte vieles erfahren – und wußte doch noch viel zu wenig. »Bringe mich nach Ushun zurück«, bat der Arkonide resigniert. Von Mussumor würde er nichts mehr erfahren. Atlans Sinn stand indessen nicht nach Nichtstun. Von Ushun aus war es nicht weit bis zur Blauen Stadt der Roxharen … »Ich denke, du hast eine kluge Entscheidung getroffen«, sagte Mussumor. Er nahm Atlans Hand. »Und ihr beide?« fragte der Arkonide. »Ihr geht nicht in die Stadt zurück?« Heldis lächelte. Shyra sagte. »Nein, Atlan. Richte Mugon aus, daß wir hier ein neues Leben beginnen und auf unsere Weise unserem Volk dienen werden.« Sie reichten sich die Hände. Atlan wünschte ihnen von Herzen Glück. Die beiden Liebenden so zusammen zu sehen, von Hoffnung und Zuversicht erfüllt, entschädigte ihn für vieles. »Ich bin bereit, Mussumor.« Bei aller Verwirrung, bei allem Undurchschaubaren – etwas hatte er in Hashilan zweifellos bewirkt, und er hoffte, daß die Roxharen darauf reagierten. Den Anfang hatten sie gemacht, als sie Breiskoll und Kölsch zu sich holten. Etwas von Shyras und Heldisʹ Zuversicht sprang auf ihn über. Irgendwo in diesem undurchschaubaren Netz aus Verknüpfungen und Verflechtungen war etwas aufgerissen worden. Vielleicht
erwartete ihn in Ushun bereits eine Überraschung. Die beiden jungen Chailiden und Perqueton winkten. Atlan winkte zurück. Und mitten in der Bewegung entmaterialisierte er. ENDE Während es Atlan inzwischen gelungen ist, einen Zipfel der Decke zu lüften, die über den Geheimnissen von Chail liegt, kommt nun ein anderes Wesen ins große Spiel um die Welt der Chailiden. Dieses Wesen ist YʹMan, der seltsame Roboter. Er verläßt die SOL und dringt ein in DAS REICH DER ROXHAREN … DAS REICH DER ROXHAREN – das ist auch der Titel des Atlan‐Bandes der nächsten Woche. Der Roman wurde von Kurt Mahr geschrieben.