Nur die Schmetterlinger beherrschen die hohe Kunst, die Flügel der phantasischen Schmetterlinge mit Sternstaub zu schmücken. Einer von ihnen ist der junge Nadil, der mit einer Gruppe von Freunden nach Mangarath reist, um dort neuen Sternenstaub zu kaufen. Doch die Stadt der Lieder, Klänge und Töne ist nicht so heiter, wie alle annehmen. Welche Pläne verfolgen die Stierwächter? Warum soll niemand mehr Kontakt zu den fliegenden Sternputzern haben? Und was steckt wirklich hinter den gleißenden Lichterscheinungen, die immer häufiger den Himmel erhellen? Nadil kommt einer großen Verschwörung auf die Spur. Nur von seinem Freund Piri begleitet muss er sich auf eine gefahrvolle Reise begeben – ein Abenteuer, das ihn bis weit über die Grenzen Phantásiens hinaus führen könnte ...
Wolfram Fleischhauer studierte Literatur in Deutschland, Frankreich, Spanien und den USA und arbeitete neun Jahre als Konferenz– dolmetscher in Brüssel. Im Knaur Taschenbuch Verlag liegen seine Romane ›Die Purpurlinie‹, ›Die Frau mit den Regenhänden‹ und ›Drei Minuten mit der Wirklichkeit‹ vor. Im Droemer Verlag erschien zuletzt ›Das Buch, in dem die Welt verschwand‹. Mehr Informationen über den Autor finden sich auf seiner Website: www.wolfram-fleischhauer.de
»Was Michael Ende für mich bedeutet? Eine merkwürdige Urlaubs– erfahrung. Ich war damals in die Schweiz aufgebrochen – und fand mich plötzlich in Phantásien wieder. Daran knüpfte sich dann eine noch merkwürdigere Urlaubs-end-erfahrung: Genau genommen fand ich nämlich bis heute nicht wieder so ganz zurück. Aber das ist eine unendliche Geschichte für die ich jetzt etwas längcr ausholen müsste ...« Wolfram Fleischauer
Wolfram Fleischhauer
Die Verschwörung der Engel Roman
DROEMER
Besuchen sie uns im Internet: www.druenter.de vvvvw.wolfrani-fleisehhauer.de Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Buch:
[email protected]
Copyright © 2004 Wolfram Fleischhauer, Berlin und AVA international GmbH Autoren- und Vcrlagsageiuur, Herrsching/Breitbrunn (Germany) Copyright für die deutsche Erstausgabe © 2004 Droemer Verlag. Fin Unternehmen der Droemerschen Vcrlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH ft Co. KG. München Unter Verwendung von Motiven aus der Fernschserie »Tales from the Neverending Story« © 2002 The Movie Factory film GmbH/Muse Entertainment Enterprises, Inc./Medien Capital Treuhand GmbH & Co. 1.KG/MGI Film GmbH & Co. KG 2 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Redaktion: Dr. Andreas Gößling Umsehlaggestaltung: ZFRO Werbeagentur. München Satz: Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Eeck Printed in Germany ISBN 3-426-19646-8 2 4 5 3 1
Für Simon, unseren kleinen Unrubewi
PROLOG
S
ie kauerten auf dem Grat und blickten mit versteinerten Gesichtern in die Ebene von Sirinn-Elial hinab. Sie hatten die ganze Nacht hier gewartet. Niemand sprach ein Wort. Es gab nichts mehr zu sagen. Es gab nur die Ebene von Sirinn-Elial und die unglaublichen Gerüchte, die ihnen in den letzten Tagen zu Ohren gekommen waren. Aratron ließ seine übermüdeten Augen über die schneebedeckten Berge auf der anderen Seite der Ebene schweifen. Das Gebirge dort hatte noch gar keinen Namen. Jenseits von Sirinn-Elial war noch keiner von ihnen gewesen. Unter normalen Umständen wären sie abgestiegen, hätten die Ebene durchquert, am Fuß des Gebirges die übliche Zeremonie abgehalten und dann den neuen Landstrich für Phantásien in Besitz genommen. Sie hätten Späher angefordert, einige treu ergebene Cherubim mit ihren Abteilungen wären zu ihrer Unterstützung angerückt, um die ersten Vorposten zu befestigen und von da aus Stück für Stück diesen noch völlig unbekannten Teil Phantásiens zu erschließen. Doch diesmal war alles ganz anders. Aratron überprüfte, ob seine Gruppe vollständig war. Aber natürlich waren seine Gefährten noch alle da. Wenigstens 9
zwischen ihnen galt weiterhin das alte Gesetz. Die Cherubim Bethor, Phaleg und Hagith kontrollierten die südliche Flanke. Die Sarim Ophiel, Phul und Och hatten sich in nördlicher Richtung sogar noch ein Stück weiter auf dem Grat vorgewagt und konnten von ihrer Position aus nicht nur das nördliche Ende der Ebene von Sirinn-Elial sehen, sondern sogar die verkohlten Reste der Zinnen von Al-Sirinn. Die arglosen Höhenengel von Al-Sirinn, die Beschützer der Windrichtungen, waren schon vor einigen Wochen vernichtet worden. Sie hatten es erst gestern erfahren. Auch die Nachrichten bewegten sich langsamer als früher. Nicht nur die Engelheere. Niemand wusste, warum diese Überfälle geschahen. Wer konnte ein Interesse daran gehabt haben, die Höhenengel von Al-Sirinn zu vernichten? Aratron und seine Gefährten blickten auf die dunkle Ebene hinab. Ein eisiger Wind strich über sie hinweg und zerrte an ihren goldenen Haaren, hoch aufgerichteten Flügeln und silbrigen Mänteln. Die äußere Kälte spürten sie nicht. Gleichwohl fröstelten sie. Denn vor ihren Augen nahm plötzlich etwas Gestalt an, das nichts Gutes bedeuten konnte. Hagith hatte es zuerst gesehen und deutete auf die Stelle weit unter ihnen hin. Aratron musste die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, was dort unten vor sich ging. Es hatte weit hinten in der Ebene von Sirinn-Elial begonnen. Das Morgenlicht hatte die Wiesen dort gerade erst in ein feines, zartes Grün getaucht. Doch plötzlich schlängelte sich eine dunkle Linie durch das Gras. Langsam, aber stetig verschwand das Grün und wich einem schmutzigen Grau. Kurz daraufkam die Linie zum Stillstand. Farbenfresser, dachte Aratron grimmig und wünschte sich, er könnte sofort ein Heer von Cherubim dorthin schicken, um dieser widerlichen Pest Einhalt zu gebieten. Aber gleichzeitig wusste er, dass es nicht klug wäre, jetzt anzugreifen. Ihr Geg10
ner war ihm noch ein Rätsel. Sie hatten keinerlei Anhaltspunkte, was dort vor sich ging. Und das behagte ihm nicht. Nein, er wollte erst beobachten. Mehr konnten sie gegenwärtig nicht tun. Nicht einmal gegen diese feigen Farbenfresser. Phaleg machte ihm ein Zeichen. Aratron schaute in die gewiesene Richtung. Ach, wenn er bisher noch gehofft hatte, dass alle Gerüchte nur Übertreibungen waren, so war diese Zuversicht nun mit einem Schlag dahin. Er hielt den Atem an und krallte sich so fest an den Felsen, dass das scharfe Gestein tief in seine weiche weiße Haut schnitt. Doch Aratron achtete weder auf den Schmerz noch auf das dünne Rinnsal lavendelblauen Blutes, das aus seiner verletzten Handfläche über den Stein und auf den Schnee zu seinen Füßen floss. Es war nicht ihre Gestalt, die ihn so erschreckte. Es war ihre Zahl! Warum waren es so viele? Wie konnte das sein? Die ganze Ebene schien sich mit ihnen füllen zu wollen. Ja, war Sirinn-Elial plötzlich ein monströser Schoß geworden, der unablässig Iblisse ausspie? Allein die heimtückischen Bewegungen der tänzelnden Bestien ließen Aratron zusammenzucken. Wieder kniff er die Augen zusammen. Jetzt sah er alles aus einer größeren Nähe. Wie sich ihre geschmeidigen Leiber in unterdrückter Mordlust umeinander schlangen! Einmal war er Zeuge geworden, wie solch ein Iblis einen Seraph gerissen hatte. Die Bilder würden ihn nie wieder verlassen: das angstverzerrte Gesicht des Seraphen, der den mächtigen Stachel des Iblis im Todesstoß auf sich herniederfahren sah. Selbst das ekelhafte Knirschen, mit dem der giftige Dorn durch den Panzer in das Herz des Engels drang, war Aratron noch im Ohr. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste gewesen. Am ärgsten war, dass diese Bestien ihren Gegnern sogar die Gnade eines würdevollen Todes verwehrten. Nein, 11
der Seraph zitterte noch, wälzte sich in Todesqualen hin und her, da riss der Iblis ihm bereits mit seinen Krallen den Leib auf und versenkte sein gefräßiges Maul darin. Und da der Seraph noch immer nicht tot war, zerrte der Iblis ihn fauchend und knurrend durch den Schlamm und drückte den Kopf des tödlich verwundeten Engels so lange mit seinen schrecklichen Klauen in den aufgeweichten Grund, bis die letzten Zuckungen und Flügelschläge des Seraphen sich in einem lautlosen Zittern verliefen. Und mit einem furchtbaren Schrei riss der Iblis dem toten Seraphen die Flügel ab und hieb seine Zähne in den weichen Rücken des gerissenen Engels. »Aratron, was ist mit dir?«, hörte er eine Stimme neben sich. Es war Phaleg, der ihn jetzt glücklicherweise von diesen schrecklichen Erinnerungen ablenkte und in die Gegenwart zurückholte. »Nichts«, log er und schaute seinen Freund wohlwollend an. Aber nicht einmal der kriegserprobte Phaleg und seine Heere konnten ihn jetzt beruhigen. Irgendwo weit hinter ihnen lagerten sie und warteten auf ihre Befehle. Doch was sollte er nur tun? Sollte er sie wirklich gegen diese Höllenbrut losschicken, ohne zu wissen, wo sie ihren Ursprung hatte? »Was denkst du, wie viele werden es sein?« Phaleg ließ seinen Blick über die Ebene wandern, und seine Mundwinkel zuckten vor Ekel. »Wenn ein Iblis drei von uns vernichten kann, so lauert dort unten der zehntausendfache Tod auf uns«, sagte er grimmig. »Aber sieh, dort ist ... er.« Aratron kniff die Augen noch enger zusammen, damit er weitere Einzelheiten erkennen konnte: die glänzenden, irren Augen dieser Ausgeburten der Hölle, ihr geschmeidiges Fell, ihre gezackten Zähne, ihre messerscharfen Klauen. Doch vor allem sah er ihn: Forcas! 12
Phaleg entfuhr ein unterdrückter Fluch in der Engelsprache. »Nemis tuu-r caphisod!« Aratron erwiderte nichts. Forcas, einer der mächtigsten Thronengel, hatte sich tatsächlich auf die Seite der Dunkelheit geschlagen. Die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit. Forcas hatte das Licht verraten. Er war ein Dämon geworden. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, er hätte es niemals geglaubt. »Geh zu den anderen und sag ihnen, dass wir uns zurückziehen, um die Lage zu besprechen«, flüsterte Aratron. Phaleg nickte und stieß sich rückwärts vom Felsen ab. Aratron sah ihm hinterher, wie er ein ganzes Stück in den Abgrund hinunterstürzte, bis er genügend Geschwindigkeit gewonnen hatte. Er sah zu, wie Phaleg seine beiden Segelflügel öffnete, die Manövrierschwingen quer stellte und zielsicher bei Bethor und Hagith landete. Was für ein großartiger Flieger Phaleg doch war, dachte Aratron stolz. Aber schon im nächsten Augenblick wurde seine Seele wieder schwer vor Sorgen. Was geschah nur in Phantásien? Warum diese Überfälle? Und woher kamen all diese Ungeheuer? Forcas war übergelaufen. Nun gut, letztlich war kein Engel dagegen gefeit, sich zu irren und zu verirren. Die Vergangenheit war voll von Beispielen. Aratron erinnerte sich jetzt wieder daran, welchen Hass Forcas immer in sich getragen hatte. Forcas hatte Phantásien von Anfang an verflucht. Ja, um ein Haar wäre es ihm sogar gelungen, die Erschaffung Phantásiens zu vereiteln. Doch am Ende hatte Aratron sich durchgesetzt. Und Forcas war verschwunden. Insofern hätte er eigentlich sofort an Forcas denken sollen, als die ersten Angriffe geschahen. Aber diese alte Auseinandersetzung war so lange her. Er hatte Forcas einfach vergessen gehabt und bis vor wenigen Augenblicken nie mehr an ihn gedacht. Und 13
jetzt war Forcas auferstanden, und mit ihm ein riesenhaftes Heer der entsetzlichsten Bestien, die Phantásien jemals heimgesucht hatten. Aratron wandte den Blick von Sirinn-Elial ab und schaute in die Richtung, aus der sie gestern gekommen waren. Schneebedeckte Berggipfel säumten dort den Horizont. Hinter diesen Bergen standen ihre Heere, und dahinter begann das Land, das zu schützen ihre Aufgabe war: Phantásien. Er stieß sich lautlos vom Felsen ab und folgte seinen Gefährten, die bereits an einer steil aufragenden Felswand vorübersegelten. Kurz darauf hatten die Engel eine versteckte Schlucht erreicht und versammelten sich dort um Aratron. »Ihr habt mit eigenen Augen gesehen, dass Forcas in Sirinn-Elial ein Heer von Iblissen zusammenzieht«, begann er. »Da wir nicht wissen, wie zahlreich sie sind und was sie vorhaben, halte ich es nicht für klug, sie anzugreifen.« Phaleg unterbrach ihn. »Aratron, sie haben Al-Sirinn vernichtet. Willst du das ungesühnt lassen?« Der kräftige Cherub konnte seine Entrüstung nur mit Mühe zügeln. Auch Bethor und Hagith, die anderen beiden Cherubim, knurrten zustimmend, während die Sarim Och, Ophiel und Phul unsicher zu Boden schauten. Aratron blickte von einem zum anderen. Es war immer das gleiche Bild. Die kriegerisch gestimmten Cherubim konnten es kaum erwarten, sich mit ihren Flammenschwertern auch noch dem übermächtigsten Gegner entgegenzuwerfen. Ein Wink von ihm, und Phaleg, Bethor und Hagith würden sich mit ihren drei Heeren auf die Iblisse stürzen, auch auf die Gefahr hin, von ihnen vernichtet zu werden. Das imponierte ihm durchaus. Er selbst war ja auch ein Cherub und fühlte das Feuer der Rache in sich brennen. Doch das Urteil der besonnenen drei Sarim war ihm ebenso wichtig. Durch ein Nicken 14
forderte er Och, Ophiel und Phul auf, sich gleichfalls zu äußern, aber die drei schüttelten nur stumm die Köpfe. Phaleg verlor die Beherrschung. »Auf euch Sarim ist auch nie Verlass!«, rief er. »Nun, dann gehen wir eben allein. Nicht wahr?« »Und gegen wen kämpfst du überhaupt?«, antwortete Och ruhig. »Tausende von Iblissen haben wir vor uns. Doch wie sind sie hierher gekommen? Was tun sie hier? Wie willst du sie besiegen, wenn du nicht weißt, wer sie lenkt und zu welchem Zweck?« »Sie haben sämtliche Höhenengel von Al-Sirinn vernichtet«, entgegnete Bethor scharf. »Wie viele Erklärungen brauchst du, bevor du dich wehrst?« »Wer seinen Feind nicht versteht«, erwiderte Och, »kann ihn nicht besiegen. Im Gegenteil: Möglicherweise tut er unwissentlich dessen Arbeit.« Phaleg setzte zu einer Antwort an. Sein Kopf war bereits rot angelaufen vor Zorn. Aber Aratron kam ihm zuvor. »Lasst uns jetzt nicht streiten. Phaleg, du weißt so gut wie ich, dass es Irrsinn wäre, ein solches Heer von Iblissen anzugreifen. Selbst wenn wir dieses hier besiegen sollten, wartet hinter der nächsten Bergkuppe vielleicht schon das nächste auf uns. Och hat Recht. Wir müssen versuchen zu verstehen, was eigentlich geschehen ist. Warum diese Überfälle? Wo ist Forcas all die Jahre gewesen? Warum ist er hier erschienen? Wer sind seine Verbündeten? Und was hat er vor?« Die drei Sarim Och, Ophiel und Phul schlugen wieder die Augen nieder und sagten nichts. Die Cherubim indessen starrten Aratron vorwurfsvoll an. Phalegs, Bethors und Hagiths Schwingen hatten sich sogar aufgerichtet, als wollten die drei sich sogleich in die Schlacht stürzen. Doch ohne Aratrons Befehl würden sie das natürlich nicht tun. 15
»Wir wissen jetzt, dass die Gerüchte stimmen«, meldete sich Phul zu Wort. »Forcas hat die Iblisse um sich gesammelt. Und sicher ist er nicht allein. Er muss auch noch andere von uns gewonnen haben.« »Das vermute ich auch«, stimmte Och ihm zu. »Aber ich verstehe nicht, wie er so schnell derart stark werden konnte. Die Ebene ... Ich habe so etwas überhaupt noch nicht gesehen. Es wimmelt ja von diesen Bestien.« Für einen Augenblick verstummten jetzt alle sieben Engel. Ja, sie mussten sich eingestehen, dass sie ratlos waren. Sie konnten sich vorerst nur zurückziehen. Aber was dann? Aratron hörte plötzlich ein leises Geräusch. Er drehte sich um. Die anderen taten es ihm gleich. Das Geräusch kam aus der Richtung, wo hinter einem schneebedeckten Bergrücken die Engelheere lagerten. Waren sie etwa losmarschiert? Ohne einen Befehl? Nein, das war nicht vorstellbar. Doch offenbar war dort irgendetwas geschehen, denn jetzt konnten sie deutlich eine Gruppe von drei Sarim erkennen, die in großer Eile herangeflogen kamen. »Was sind das für Sarim?«, fragte Aratron verärgert. »Wie können sie es wagen, ohne Marschbefehl hierher zu kommen?« Aber weder Och noch Ophiel oder Phul wussten eine Antwort darauf. »Sie gehören nicht zu uns«, sagte Phul. »Ich habe sie noch nie gesehen.« Die Cherubim zogen unverzüglich ihre Flammenschwerter und stellten sich schützend vor Aratron. Doch die heranfliegenden Sarim ließen sich davon nicht beeindrucken. Stattdessen begannen sie laut zu rufen: »Samech caphiod Silandor, samech caphiod silandril!« Aratron erstarrte. Auch die anderen trauten ihren Ohren nicht. Was riefen diese Sarim? Silandor war gefallen? Das 16
Silandril war in Gefahr? Im Nu stiegen jetzt alle sieben Engel auf und erwarteten die Ankömmlinge. Mit einem lauten Rauschen kamen die drei Sarim vor ihnen in der Luft zum Stehen. Einer von ihnen ergriff ohne Umschweife das Wort: »Aratron, Silandor ist gefallen. Es ist entsetzlich. Sie haben Silandor.« Der Engel wurde bleich. »Silandor«, stammelte er und schaute in die Runde. Aber die Gesichter der anderen spiegelten eine noch größere Fassungslosigkeit. Wie konnte das geschehen sein? »Wer hat das getan?«, fragte Aratron. Doch er bekam keine Antwort auf seine Frage. Denn plötzlich geschah etwas Gespenstisches: Die drei Sarim stürzten erschöpft vor ihnen nieder. »Wir ... wir haben alles gegeben, um noch bis hierher zu kommen«, stammelten sie, »... um euch zu warnen ... Aber jetzt ist es zu spät... wir ... vergehen, seht doch, dort, es gibt keine Rettung für uns. Das Silandril ...« Wie zur Bestätigung zog am Horizont ein violetter Schimmer herauf. Die drei Cherubim reagierten zuerst. Im Nu hatten sie ihre riesigen Schwingen geöffnet und schossen mit gezückten Schwertern ein gewaltiges Stück in den Himmel empor. Dort verharrten sie in ihrer vollen Größe und starrten der unheimlichen Bedrohung entgegen. Aratron und die zurückgebliebenen Sarim schauten angstvoll zu ihnen hinauf. Welch ein prächtiges Bild, dachte Aratron noch. Aber er wusste auch, dass dies das Ende war. Dieser violette Schimmer ... das konnte nur eines bedeuten: Silandor war tatsächlich zerstört worden. Wie um alles in der Welt hatte das geschehen können? Sollte Forcas ...? Doch nicht einmal diesen Gedanken konnte er noch zu Ende denken. Mit einem ungeheuerlichen Schrei stürzte Phaleg sich als Erster der Cherubim dem violetten Schimmer 17
entgegen. Er blähte sich auf und schwang sein flammendes Schwert. Heller und heller leuchtete er, aber dann geschah es: Ein weißes, unerträglich gleißendes Licht umhüllte den mutigen Kämpfer, und im nächsten Augenblick war er nicht mehr. Aratron hielt es jetzt nicht länger. Er schwang sich auf, flog zu den Cherubim empor. Als Zweiter hatte sich bereits Hagith dem violetten Licht entgegengeworfen. Ein Zittern überlief ihn. Er zuckte, sammelte seine Kraft, um der furchtbaren, unbekannten Macht Widerstand zu bieten, doch es gelang ihm nicht. Plötzlich zerriss es ihn. Und auch aus ihm floss ein gleißender Lichtschein, der sich in wenigen Augenblicken verlor. Auch Hagith gab es nun nicht mehr. Aratron war endlich bei Bethor eingetroffen, der wie gelähmt seinen verschwundenen Gefährten hinterherschaute. »Es ist sinnlos«, stammelte er und fasste den Cherub bei der Schulter. »Lass uns fliehen, Bethor.« Doch der alte Engelkrieger riss sich los. »Ohne Silandor sind wir verloren«, rief er zornig, »und du weißt es. Nun denn, so sei es!« Und damit schwang er sein Feuerschwert und stürzte dem violetten Licht entgegen. »Wir haben uns getäuscht, Aratron«, rief er noch. »Silandor mag verderben!« Seine letzten Worte trafen Aratron wie Fausthiebe. »Nein, Bethor, komm zurück!«, schrie er verzweifelt. Aber der Cherub flog unbeirrt seinem Schicksal entgegen. Und wie seine beiden Gefährten zerbarst er unter einem Lichtblitz von solcher Helligkeit, dass Aratron geblendet zu Boden taumelte. Doch was er dort sah, steigerte sein Entsetzen nur noch mehr: Was war nur mit den Sarim geschehen? Wirkte diese zerstörerische Kraft nun auch schon hier? Die Sarim wanden sich in furchtbaren Krämpfen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihre Flügel hingen kraftlos herunter, und ein schreckliches Zucken hatte ihre Körper ergriffen. Und 18
dann spürte Aratron selbst, wie alles ringsum ihn zu ersticken begann. Er konnte sich kaum noch bewegen. Seine Hände, seine Flügel versagten ihm den Dienst. Ja, es war, als bewegten sich von allen Seiten riesige Eisenplatten auf ihn zu, um ihn zu erdrücken. Aratron wusste jetzt, was geschehen war. Silandor. Silandor. Immer wieder ging ihm dieses Wort durch den Kopf. Sie waren verloren. Wie hatte das geschehen können? Aber es war zu spät, um darüber nachzudenken. Er musste etwas unternehmen. Ein letzter Gedanke musste zurückbleiben. Das Geheimnis durfte nicht mit ihm verschwinden. Doch in welcher Form sollte er es zurücklassen? Und wer würde es verstehen? Und selbst wenn, war an Rettung dann überhaupt noch zu denken? Mit einer letzten gewaltigen Anstrengung wandte Aratron seinen Blick von seinen sterbenden Freunden ab und schwang sich noch einmal in die Höhe. Gaya von Raginor!, dachte er. Sie würde das Geheimnis aufbewahren. Jemand musste es dort finden. Aratron spürte, dass er nur noch wenig Zeit hatte. Von allen Seiten erdrückte ihn jetzt diese zerstörerische Macht. Er wand sich, schlug mit den Flügeln, kämpfte sich in eine größere Höhe hinauf, wo sich seine ursprüngliche Gestalt noch einmal in ihrer ganzen Schönheit und Größe entfalten konnte. Ein letztes Mal schaute er auf seine toten Gefährten hinab. Dann nahm er sein Feuerschwert, hob es hoch und hieb sich selbst mit einem gewaltigen Streich in der Mitte entzwei. Für einen kurzen Augenblick blieb die Welt stehen angesichts dieser ungeheuerlichen Tat. Die beiden Engelhälften schwebten langsam auseinander und entließen ein kleines, unscheinbares Licht, das wie eine Sternschnuppe davonflog. Dann stürzte Aratrons letzte Gestalt allmählich auf den 19
Boden hinab, erreichte diesen jedoch nicht mehr. Denn schon nach wenigen Augenblicken begann seine Form sich in Licht zu verwandeln, ein Licht, so hell und strahlend, wie es nur der größte aller Cherubim hervorbringen kann.
20
ERSTER TEIL
\1\ Schon aus der Ferne war Mangarath eine Augenweide. Am Fuß des riesenhaften Gebirges Balang-Gir, das sich über den ganzen Horizont erstreckte, lag es leuchtend und glitzernd wie ein kostbares Juwel. Bunte Lichtstrahlen schossen hier und da nach oben und malten leuchtende Farben auf den tiefblauen Abendhimmel. Gewaltige Glastürme, mit Abertausenden kleiner Lichter geschmückt, ragten allerorten empor, unterbrochen von kleineren, doch nicht minder zauberhaft erleuchteten Schlössern und Palästen, die jedes Kind in Phantásien bereits mit Namen kannte, bevor es sie jemals gesehen hatte. Was dort so mattblau schimmerte, das mussten die Mondsteinmosaike der Klangthermen sein. Und die gewaltige Arena, auf deren Zinnen alle Fahnen Phantásiens im Wind flatterten, das war die Heimstatt des Glückschors, wo jeder Besucher begrüßt und besungen wurde. Das war also Mangarath, dachte Nadil und rieb sich geblendet die Augen, während Elfenauge, sein Riesenschmetterling, plötzlich mit dem Flügelschlag innehielt und auf die hell erleuchtete Stadt zusegelte. Und was man aus der Ferne 21
sah, das war noch das wenigste, wie Nadil nur zu gut wusste. Denn Mangarath war vor allem ein Ort der Musik, der Töne und Klänge, so unvergleichlich, dass niemand zurückkehrte, ohne mit großen Augen davon zu berichten. »Ist es nicht großartig«, hörte Nadil jetzt Piris Stimme neben sich. »Ich kann es kaum erwarten, in den Geräuschdom zu gehen.« »Und ich will zuerst im Glückschor mitsingen«, rief Beliar dazwischen und warf ihr langes schwarzes Haar nach hinten. »Gehen wir auch zu den Lärmsklaven?«, fragte Masia, die sich schon bei der bloßen Nennung dieser Fabelwesen zu gruseln schien. »Papperlapapp!«, rief Meister Toralon und ließ seinen Zitronenfalter zwischen die aufgeregt durcheinander redenden jungen Schmetterlinger segeln. »Es gibt doch überhaupt keine Lärmsklaven. Was redest du nur für dummes Zeug. Seht erst einmal zu, dass ihr sicher auf den Boden gelangt«, befahl er streng. »Dann wird sich schon zeigen, wo wir zuerst hingehen.« Nadil sagte dazu nichts. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Mangarath, dachte er. Dort war Saru, sein Großvater, vor wenigen Wochen das letzte Mal gesehen worden. Und seither keine Nachricht von ihm. Nichts. Bisher wunderte sich noch niemand darüber, denn Saru war schon oft für lange Zeit irgendwo in Phantásien auf Reisen gewesen. »Mach dir nur keine Sorgen um ihn«, hatte seine Mutter gesagt. »Er kommt immer wieder zurück, er ist einfach ein unruhiger Geselle.« Aber Nadils Mutter wusste ja auch nicht, was Saru seinem Enkel vor seiner Abreise aus Nevisehr anvertraut hatte. Sie wusste nichts von den Vorgängen in Sirinn-Elial. Ja, es wusste überhaupt niemand davon. Das war ja das Unglück. Und er hatte Saru auch noch hoch und heilig versprechen 22
müssen, mit niemandem darüber zu reden. Erst wenn er aus Mangarath zurück und wieder in Nevisehr sei, dann würde er ihm weitere Einzelheiten berichten. Doch Saru war aus Mangarath nicht zurückgekehrt. Er war einfach verschwunden. Nadil vergewisserte sich, dass er fest im Sattel saß, und ließ seinen Blick über die Schwingen von Elfenauge gleiten. Er war stolz auf seinen Schmetterling, ja, er liebte ihn, Elfenauge war so schön geworden. Nadil war überhaupt stolz darauf, ein Schmetterlinger zu sein. Und endlich war er auch groß genug, um auf einem echten Riesenschmetterling aus Nevisehr durch die Luft zu reiten. »Erst wenn deine Schulter an die Schulter eines Purpurbüffels heranreicht, darfst du auf einen Schmetterling steigen«, hatte Saru ihm immer gesagt. Nun ja, jetzt war es so weit. Aber Saru konnte ihn nicht einmal fliegen sehen. Was für eine Enttäuschung! Die schön bemalten Flügel, für die er sich so angestrengt hatte. Es hatte Monate gedauert, denn so ein Flügel war ja zweimal so lang wie er selbst und fast ebenso breit. Aber es machte ihm große Freude, die Flügel dieser Riesenschmetterlinge mit Sternstaub zu bepudern und ein schönes Muster zu malen. Elfenauge war ihm ausnehmend gut gelungen. Er hatte sich allerdings auch besonders angestrengt, denn es war sein Meisterstück zum Abschluss seiner Gesellenzeit. Und zur Belohnung trug ihn Elfenauge jetzt nach Mangarath. Piri gab seinem Pfauenauge die Sporen, flatterte übermütig vorneweg und rief: »Mangarath, wir kommen!« Dabei warf er vor Begeisterung sein Hütchen in die Luft. Nadil riss Elfenauge herum und fing Piris Hütchen geschickt auf. »Schluss mit dem Unsinn«, brummte Meister Toralon, musste jedoch lächeln angesichts von Piris Übermut. Doch kurz darauf verging ihm das Schmunzeln. »Auf nach Mangarath, auf nach Mangarath«, sangen Masia 23
und Beliar im Chor. Und auch Nadil konnte jetzt nicht mehr an sich halten. »Jippieee!«, entfuhr es ihm. Doch das gewagte Manöver von eben hatte Elfenauge aus dem Rhythmus gebracht. Er taumelte. Nadils rechter Fuß rutschte aus dem Zaumzeug und glitt... o Schreck, über den kunstvoll gepuderten Flügel. Augenblicklich geschah etwas Furchtbares. Elfenauge sackte weg. »Nadil«, rief der Schmetterling, »was hast du getan? Ich kann nicht mehr steuern!« Alles ging so schnell, dass Nadil später nicht einmal mehr wusste, wie es damit zugegangen war. Wäre Meister Toralon nicht sogleich zur Stelle gewesen, so wäre sicher ein Unglück geschehen. Elfenauge trudelte wie ein Herbstblatt durch die Luft. Nadil hielt sich mit aller Kraft fest, doch auf einmal fiel er aus dem Sattel, hielt sich zwar noch am Zaumzeug fest, aber auch er schlitterte jetzt noch über den rechten Flügel. »Nadil, Nadil, was tust du?«, rief Elfenauge. »Der Sternstaub fliegt davon, hilf mir, hiiiilf mir!« Doch alle Hilfe kam zu spät. Elfenauge schoss wie ein Stein hinab, auf seinem rechten Flügel den unglücklichen Nadil, der dort hin und her rutschte und verzweifelt versuchte nicht herunterzufallen. »Hier, halte dich fest, du musst absteigen«, hörte er plötzlich Meister Toralons Stimme über sich. »Ich kann ihn doch nicht allein lassen«, schluchzte Nadil. »Der arme Elfenauge, ich muss ihm doch helfen!« »Du kannst ihm nur helfen, wenn du absteigst. Los, halte dich fest.« Nadil wurde am Kragen gepackt und nach oben gezogen. Meister Toralon hatte erst gar nicht mehr gewartet, sondern ihn einfach ergreifen lassen und aus dem Sattel gelüpft. Jetzt hing er hoch oben in der Luft an den Beinen von Windjunge, 24
Meister Toralons Schmetterling, und sah, wie Elfenauge unter ihm wieder ein wenig zu segeln begann. Er torkelte zwar, doch er fiel jetzt viel langsamer und taumelte halbwegs sicher zum Boden hinab. Kurz darauf waren sie alle heil gelandet und lauschten mit gesenkten Köpfen Meister Toralons berechtigten Vorwürfen: »Und ihr wollt Schmetterlinger sein? Gibt es denn so etwas? Ihr bringt uns ja alle in Lebensgefahr!« Er ging dabei gewichtig auf und ab, während die Schmetterlinge etwas abseits standen und dem erschöpften Elfenauge Mut zusprachen. »Er war einfach unvorsichtig«, hörte Nadil den Zitronenfalter Windjunge sagen. »Er hat es nicht böse gemeint. Sie sind noch jung und ungestüm. Das wird ihnen eine Lehre sein.« »Mir auch«, piepste Elfenauge. »Ich weiß, dass es ein Versehen war, aber schau dir mal meine Flügel an. Wie soll ich denn überhaupt weiterkommen.« »Meister Toralon hat bestimmt noch etwas Staub dabei«, tröstete ihn der Schmetterling Schneeia, der Masia befördert hatte. »Aber die Farbe, die schöne Farbe ist dahin.« Nadil krümmte sich innerlich vor Scham und Wut. Warum war er nur immer so ungestüm. Ach, immer ihm passierten solche Missgeschicke. Meister Toralon hatte tatsächlich noch Sternstaub dabei und besserte Elfenauges Flügel notdürftig aus. Man sah es dem ramponierten Schmetterling an, dass er sich sehr schämte, so geflickt und ausgebessert in Mangarath ankommen zu müssen. Es war nämlich für einen Riesenschmetterling nicht nur eine Notwendigkeit, ein tadelloses Flügelkleid zu haben, sondern auch eine Frage der Ehre. »Ich sehe ja aus wie eine Motte«, klagte Elfenauge, als Toralon fertig geworden war. 25
»Aber immerhin eine bunte Motte«, tröstete ihn Toralon. »In Mangarath lassen wir dich wieder herrichten. Dort bekommen wir so viel Sternstaub, wie wir wollen. Nadil repariert das alles, nicht wahr, Nadil?« Der junge Schmetterlinger nickte beschämt. »Es tut mir so Leid«, sagte Nadil, als er wieder aufsaß. »Ich hatte mir solche Mühe gegeben.« »Ist schon gut«, erwiderte Elfenauge und schnäuzte sich noch schnell den Staub aus der Nase, bevor es wieder losging. »Ich weiß, dass du es nicht absichtlich getan hast. Sei jetzt aber vorsichtig, ja?« Auch Piri, Masia und Beliar schauten kleinlaut drein und nahmen vorsichtig in ihren Sätteln Platz. »So«, rief Meister Toralon, »das ist ja noch einmal gut gegangen. Und jetzt freuen wir uns auf Mangarath. Auf geht's. In die Lüfte mit euch.«
\2\ Wenige Minuten später flatterten sie bereits wieder durch die warme Luft des Sommerabends, und es dauerte nicht lange, da hatten sie den unglücklichen Vorfall vergessen. Ein großartiges Panorama bot sich ihnen dar. Das Glitzer- und Farbenmeer vor ihren Augen wurde immer größer und wundervoller, und zudem vernahmen sie nun auch die ersten Töne und Melodien. Hingerissen lauschten sie. Welch herrliche Geräuschkulisse. Sie segelten langsam hinab, und je näher sie der Stadt kamen, desto voller und vielversprechender wurden die Klänge. Nadil schloss zu Beliar auf. »Ist es nicht wundervoll«, sagte er und warf ihr einen scheuen Blick zu. Sie schaute kurz zu 26
ihm hinüber und lächelte so, dass er fast wieder aus dem Sattel gefallen wäre. Wie schön sie aussah mit ihren wallenden schwarzen Haaren. »Wundervoll?«, erwiderte sie spöttisch. Er wurde knallrot. Beliar grinste. Sie wusste natürlich, dass Nadil sie immer heimlich beobachtete und wohl ein wenig in sie verliebt war. Aber was bildete sich dieser komische Junge denn ein! Wie er schon aussah. Zugegeben, er hatte hübsche braune Augen und einen blonden, lockigen Haarschopf, der ihn sympathisch machte. Aber er schaute immer so versonnen und traurig drein. Und dann auch noch diese karierten Jacken und Westen, in die seine Eltern ihn steckten. Das waren doch Sachen wie für langweilige Erwachsene. Nadil war ihr einfach zu brav, zu gut erzogen. Ja, er wirkte auch oft so in sich gekehrt. Wie langweilig! Und die meiste Zeit saß er sowieso nur mit seinem Großvater herum und hing an dessen Lippen, wenn Saru von seinen Reisen erzählte. Dabei wusste doch jeder, dass der Großvater ein bisschen verrückt war. Nein, mit Nadil konnte man nicht viel anfangen. Er stellte zwar immer mal etwas an, aber eigentlich mehr aus Missgeschick. Ja, er war ein Tollpatsch, dachte sie, warf stolz ihre Mähne zurück und gab ihrem goldschimmernden Zigeunerfalter die Sporen. Nadil schaute ihr wehmütig hinterher. So wie Beliar wollte er gern sein. Wild und frei. Er liebte dieses Mädchen über alles, aber es war hoffnungslos. Sie würde sich immer nur über ihn lustig machen. »Mach dir nichts draus«, sagte Piri, der Szenen wie diese schon oft beobachtet hatte. »Sie ist ein ungezogenes Biest. Kümmere dich nicht um sie.« Nadil erwiderte nichts. Er lächelte unsicher und schielte dann zu Masia hinüber. Aber Masia flog brav hinter Meister 27
Toralon her und war bemüht, ihren Schneefalter auf Kurs zu halten. »Warum ist sie nur so giftig?«, fragte er traurig. »Weil sie dich ärgern will«, erwiderte Piri. »Mädchen sind so. Wenn man sie nicht beachtet, dann beklagen sie sich. Und wenn man sie beachtet, dann beklagen sie sich auch.« »Masia ist nicht so«, entgegnete Nadil. »Na, dann rede doch mit ihr«, sagte Piri und grinste. Nadil runzelte die Stirn. Machte sein bester Freund sich jetzt auch noch über ihn lustig? Aber er hatte keine Lust, mit ihm zu streiten. Warum faszinierte Beliar ihn nur so, fragte er sich. Vielleicht weil sie all das hatte, wonach er sich sehnte? Vor allem Selbstvertrauen. Sie ließ sich nie etwas gefallen und war auch nie um eine Antwort verlegen. Außerdem fand er sie wirklich wunderschön mit ihrem schwarzen Haar und der feinen dunkelblauen Zeichnung auf ihrem hübschen Gesicht. Schmetterlinger bemalten nicht nur Schmetterlinge, sondern auch sich selbst. Und Beliars Mutter hatte ein ganz besonderes Talent dafür, das sie jedoch allein in den Dienst ihrer Tochter stellte. Viele waren neidisch auf Beliars schöne Gesichtsbemalung, und nicht wenige versuchten sie zu kopieren, was aber niemandem gelang. Nadil seufzte. Piri hatte Recht. Beliar würde sich nie für ihn interessieren. Er war einfach langweilig. Wieder schaute er zu Masia hinüber. Sie hatte noch nie versucht, Beliar nachzuahmen. Masia war Masia. Um sie war etwas Zeitloses. Aber vor allem war sie blass und schwächlich. Ihr blaues, glatt herunterhängendes Haar verlieh ihr zwar eine gewisse Eleganz, aber sie wirkte fast durchsichtig. Der stämmige Piri neckte sie gern, indem er ihr empfahl, zum Frühstück doch lieber Ölblumensaft zu trinken und nicht immer nur vom Morgentau zu nippen. Sie sehe ja schon sei28
ber bald wie ein Tautropfen aus. Aber sie erwiderte meist nur, sie wolle ja nicht wie er einen Bauch wie eine Öllampe bekommen. »Achtung!«, rief jetzt Meister Toralon. Und schon waren sie am Boden. Elfenauge klappte sogleich seine geflickten Flügel hoch und blieb verschämt stehen, während Taublume, Goldling, Schneeia und Windjunge ihre prächtigen Schwingen noch ein paar mal majestätisch auf und ab bewegten, bevor sie sie ebenfalls über ihren Körpern gegeneinander legten. »Ist hier das Sternputzerviertel?«, fragte Nadil Meister Toralon. »Nein, aber das Sternputzerviertel ist heutzutage ganz von Mangarath eingeschlossen. Deshalb müssen wir hier draußen landen, denn in der Stadt ist es zu eng für Riesenschmetterlinge. Sehr unpraktisch, aber nicht zu ändern.« »Herzlich willkommen in Mangarath«, flötete eine Stimme. »Oh, welche Ehre, Schmetterlinger. Herzlich willkommen.« Ein kleiner Flötenalb kam auf sie zugehopst und pfiff ihnen eine kurze Melodie. Der Wicht ging Nadil nur bis zur Kniescheibe, machte aber mit seinem Flötenschnabel einen gehörigen Lärm. »Welche Herberge, bitte?«, fragte er. Meister Toralon verbeugte sich. »Mit wem habe ich die Ehre?« »Ich bin Xapas, erste Empfangsflöte.« »Angenehm. Ich bin Meister Toralon axis Nevisehr. Das sind meine Schülerinnen und Schüler. Man erwartet uns im Sternputzerviertel.« »Hi?«, pfiff der Flötenalb. »Dort gibt es aber keine Herberge.« »Ja, das macht aber nichts«, erwiderte Meister Toralon. »Wir wohnen bei Josian Pegario, unserem Sternstaublieferanten. Schmetterlinger steigen immer dort ab, das ist Ihnen ja wohl bekannt.« 29
Der Flötenalb zog die Augenbrauen zusammen, wobei ihm ein merkwürdiger, leiser Pfiff entglitt. »Ähem, es tut mir Leid«, sagte er, »aber das muss ein Missverständnis sein. Besucher werden ausschließlich in den Klangherbergen untergebracht.« »Durchaus«, sagte Meister Toralon. »Das weiß ich doch. Wir sind aber keine gewöhnlichen Besucher. Schauen Sie, das sind meine Meisterschüler, die gerade ihre Prüfung bestanden haben. Sie werden die nächsten Jahre des Öfteren hierher kommen, um Sternstaub abzuholen. Deshalb sollen sie Herrn Pegario und seine Sternputzer kennen lernen. Also bitte, Herr Xapas, pfeifen Sie uns doch eine Kutsche her. Wir sind müde von der langen Reise.« Der Flötenalb rieb sich den Hinterkopf. »Aber ... das geht nicht. Wissen Sie denn nicht, dass es eine neue Regel gibt?« Meister Toralon stutzte. Nadil beobachtete seinen Lehrer aufmerksam. Er kannte Toralon nur zu gut. Widerspruch war ihm zuwider. Und in Gegenwart seiner Schüler von einer Empfangsflöte belehrt zu werden, das war eigentlich schon eine Provokation. Doch wundersamerweise lächelte Meister Toralon jetzt und sagte einfach: »Ich kläre das, wenn wir am Sterntor eintreffen, ja? Nun holen Sie uns bitte eine Kutsche.« Und damit drehte er sich einfach um, ging zu seinem Zitronenfalter und machte Anstalten, seinen Koffer abzuladen. Der Flötenalb blieb noch einen Moment lang stehen, schaute dann grimmig die jungen Schmetterlinger an, die peinlich berührt dastanden, drehte sich um und stöckelte auf seinen dürren Beinchen davon. »Was hat denn dieser Wichtigtuer?«, fragte Beliar. »Flötenalbe sind einfach nervig«, meinte Piri und strich sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn. »Ich hasse Flöten.« Masia sagte nichts, sondern blickte dem Flötenalb nur ver30
ständnislos hinterher. Nadil schaute sich misstrauisch um. Ein seltsamer Empfang, dachte er und spürte eine nervöse Unruhe in sich aufsteigen. Aber die Sache würde sich bestimmt gleich aufklären. Tatsächlich traf kurz darauf eine Kutsche ein. Zwei Flötenkutscher, das waren also Flötenalben, die als Kutscher arbeiteten, saßen auf dem Kutschbock. Gezogen wurde das Gefährt, das wie eine halbierte Pauke aussah, von zwei Brummlerchen. Nadil trat unwillkürlich einen Schritt zurück, denn diese Zugvögel, die deshalb so hießen, weil sie in ganz Phantásien eingesetzt wurden, um Lasten zu ziehen, waren ihm noch nie so ganz geheuer gewesen. Sie waren nämlich ganz schön groß und schwer und walzten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. »Einsteigen, bitte«, pfiffen die Kutscher. Die fünf müden Reisenden stiegen ein. Xapas stand in einiger Entfernung und schaute unfreundlich zu ihnen herüber. »Sie kümmern sich doch um die Schmetterlinge, nicht wahr?«, rief Toralon ihm noch zu. »Selbstverständlich. Selbstverständlich«, flötete der Alb und verbeugte sich. »Einen schönen Aufenthalt in Mangarath.« Dann entschwand er ihren Blicken.
\3\ Die Brummlerchen hoppelten los und machten ihrem Namen alle Ehre. Sie brummten. Aber das Gegrummel dieser immer schlecht gelaunten Vögel, die keine Lerchen sein und vor allem nicht zwitschern wollten, war nicht lange zu hören. Denn die Kutsche fuhr direkt auf das gewaltige Eingangstor 31
von Mangarath zu und dahinter in die Arena des Jubelchors der Glückssänger hinein. Es war wirklich eindrucksvoll. Selbst der kühlen Masia blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Ein riesiges Stadion wuchs vor ihren Augen empor und umschloss sie von allen Seiten. Alle Ränge waren gefüllt. Tausende und Abertausende von Phantásiern aus allen Ecken und Winkeln des Reichs waren dort versammelt und sangen wie aus einer Kehle. Alle trugen lange weiße Roben, und das sah schon lustig aus, denn was einem Purpurbüffeljäger Eleganz verlieh, wirkte bei einem Steinbeißer, der aussah, als habe man ihm ein Lätzchen umgebunden, eher komisch. Doch die Macht des Chorgesangs war überwältigend. Nur die Brummlerchen blieben unbeeindruckt und zogen die Kutsche rasch voran, so dass das Gefährt mit den Schmetterlingern schon bald die Arena hinter sich gelassen hatte. »Wie schade«, rief Masia, »was für ein toller Chor!« »Wir haben ja eine Woche Zeit«, beruhigte sie Meister Toralon. »Ihr könnt morgen den ganzen Tag dort mitsingen, wenn ihr wollt.« Was für ein merkwürdiger Gesang, dachte Nadil. Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, alles vergessen zu haben. Wo waren sie hier? Warum waren sie hergekommen? Aber die eigenartige Vergesslichkeit verflüchtigte sich gleich wieder. Außerdem wurde er jetzt durch die vielen Attraktionen abgelenkt, die ihren Weg säumten. Sie fuhren am Museum der Töne vorbei, an dessen Eingangstor viele Besucher auf Einlass warteten. Das Gebäude selbst verriet von außen wenig über seine sagenhafte Sammlung. Nadil und seine Gefährten starrten mit immer größer werdenden Augen auf die vorüberziehenden Sehenswürdigkeiten. Da schimmerte die lichtblaue Mosaikkuppel der Klangthermen. Gleich daneben 32
wuchs der Geräuschdom steil in den Himmel hinauf. Durch die prächtigen Pfeiler und Streben hindurch konnte man in der Kuppel einige Besucher in der Luft schweben sehen. Ja, so ein Schwebeflug auf den unsichtbaren Klangwolken des Geräuschdoms war ein absolutes Muss bei jedem Besuch in Mangarath. So mancher Phantásier blieb zwei Tage dort, und andere wollten überhaupt nicht mehr herauskommen. Zwischen dem Garten der säuselnden Blumen und dem Klapperwald, der direkt gegenüberlag, bogen sie in eine kleine Seitenstraße ein. Hier standen einige Herbergen, und vor einer davon hielten die Brummlerchen an. Meister Toralons Gesicht verdunkelte sich. »Das ist doch nicht die Möglichkeit«, knurrte er. »He, Flötenkutscher. Wir wollen zum Sterntor.« Aber die beiden machten keinerlei Anstalten weiterzufahren. »Befehl ist Befehl«, piepsten sie im Chor. »Uns wurde gesagt, wir sollten Sie ins Zischadin bringen.« »Und ich sage Ihnen, wir wollen zum Sterntor!«, rief ToraIon. »Geht das nicht in eure Holzschnäbel? Zum Flötentor ... äh, zum Sterntor!« Er hatte sich aufgerichtet und staubte sogar ein wenig vor lauter Wut. »Machen Sie hier nicht solch ein Theater!« Wie aus dem Nichts standen plötzlich vier Stierwächter neben der Kutsche. Nadil durchfuhr ein gewaltiger Schreck. Sogar Beliar kauerte sich furchtsam zusammen. »Wo kommen die denn her?«, flüsterte Piri, aber Masia gab ihm rasch einen Knuff. »Sei still«, wisperte sie. »Das gibt bestimmt Ärger.« Meister Toralon schaute sich erstaunt um. Dann stieg er einfach aus und trat vor den Stierwächter hin, der ihn angesprochen hatte. »Ehrwürdiger Wächter von Mangarath«, begann er feierlich und verbeugte sich nach Schmetterlinger33
Art, indem er seine Arme auf dem Rücken kreuzte. »Ich wünsche lediglich, zu meinem Zielort gebracht zu werden, und diese Flöten hier verweigern mir die Weiterfahrt. Das ist alles.« »Er will zum Sterntor«, protestierten die Flöten. »Zu den Sternputzern. Xapas hat uns aufgetragen, sie hier im Zischadin abzusetzen.« »Zum Sterntor?«, brummte der Stierwächter. Nadil konnte die Augen nicht von dem Wächter wenden. Bei allen Namen der Kindlichen Kaiserin: ein Wächter von Mangarath! Hier, keine Armeslänge von ihm entfernt. Und nicht nur einer. Nein, gleich vier davon! Die tapfersten Krieger Phantásiens. Die Bezwinger des Nichts. Die Retter der Welt und die Begründer Mangaraths. Er war fassungslos. Man sah nur ihre Köpfe, denn die hünenhaften Krieger waren in dunkle Umhänge gekleidet. Aber Nadil wusste aus vielen Erzählungen, welche unbändige Kraft in den schwarzen, muskelbepackten Körpern der Wächter von Mangarath ruhte. Nur ihre Köpfe ähnelten denen von Stieren. Ihre Körper waren von einem feinen, glänzenden schwarzen Fell bedeckt, das dem Fell eines Panters glich. Doch ihre Gestalt war eigentlich die eines Zyklopen. Ja, es hieß, die Wächter von Mangarath seien in grauer Vorzeit von sterbenden Zyklopen erträumt worden. Aber sonst war kaum etwas über sie bekannt. »Was wollen Sie dort?«, fragte der Stierwächter unfreundlich. »Was ... was wir dort wollen?« Meister Toralon schien nun endgültig die Fassung zu verlieren. »Also entschuldigen Sie mal. Seit undenklichen Zeiten kommen Schmetterlinger hierher, um Sternstaub zu holen. Das war schon so, bevor Mangarath überhaupt erbaut wurde. Wir wohnen immer bei Herrn 34
Pegario, wenn wir das Sternputzerviertel besuchen. Würden Sie also bitte die Freundlichkeit haben ...« »Die Regeln haben sich geändert«, schnitt ihm der Wächter das Wort ab. »Sie wohnen hier im Zischadin und sonst nirgends. Wenn Sie Herrn Pegario sehen wollen, dann hier im Zischadin. Ich lasse ihn sogleich holen. Auf Wiedersehen.« Er warf noch einen finsteren Blick auf die vier verschüchtert dasitzenden Kameraden, machte dann auf der Stelle kehrt und eilte mit seinen Begleitern die Straße hinab. Ihre schweren Hufe klapperten auf den Steinen, und ihre mächtigen Hörner ragten über die dunklen, breiten Hinterköpfe in die Luft. »Na so was«, sagte Piri und wollte einen Scherz machen. Aber es fiel ihm keiner ein. »Ist doch eigentlich egal, wo wir wohnen«, schlug Masia vor. »Oder?« »Also, wie die sich aufspielen, hu, hu«, äffte Beliar den Anführer der Wächter nach. »Ich finde, ein Affenkopf würde denen besser stehen. He, schaut mal. Ein Wolkenschlucker.« Piri und Masia sahen sich nach dem Wolkenschlucker um, der auf der anderen Straßenseite gerade eine Wolke verschluckte, die sich zu weit heruntergewagt hatte. Doch Nadil konnte seine Augen nicht von Meister Toralon abwenden, der noch immer wie versteinert neben der Kutsche stand und den Wächtern hinterherschaute. »Es ist doch nicht schlimm«, sagte er vorsichtig. »Vielleicht gibt es bei den Sternputzern irgendein Problem. Wir können ja auch hier wohnen, oder?« Toralon dreht sich zu ihm um und schaute ihn lange an. Aber er erwiderte nichts.
35
\4\ »Woher soll ich wissen, wo das Sterntor ist?«, sagte Beliar. »Ich war doch auch noch nie hier.« »Vielleicht hat deine Mutter es dir ja erzählt«, entgegnete Nadil. »Nein. Hat sie nicht.« Sie saßen im Eingangsraum des Zischadins an einem Stalagmiten-Tisch und warteten auf die anderen. Um sie herum zischte und waberte es überall. Unter den Tischen stiegen manchmal kleine Dunstwölkchen empor, und Nadil hätte sich gewünscht, dass ein paar Wolkenschlucker hier vorbeikämen, denn der warme Dampf machte einen ja ganz nass. Wo kam denn dieser Dampf überhaupt her?, wunderte er sich und schaute nach unten. Aber dort sah er nur ein dickes, rostiges Eisengitter über einer kleinen Öffnung, hinter dem es stockdunkel war. Beliar hatte den Vorfall von eben wohl schon vergessen und wartete ungeduldig darauf, dass sie endlich ihre Besichtigungstour beginnen würden. Sie hatte sich umgezogen und trug nun einen weißen Anzug mit auberginefarbenen Tupfen, den wohl ihre Mutter genäht hatte. Sie sah hinreißend aus. »Wo bleiben die anderen denn nur?«, fragte sie. »Findest du es nicht komisch, dass wir hier wohnen müssen?«, bohrte Nadil weiter. »Eigentlich finde ich nur dich komisch, Nadil«, sagte sie spitz. »Jetzt sind wir endlich in Mangarath und du willst unbedingt zu diesen Sternputzern. Ehrlich gesagt: Ich bin sogar froh, dass wir im Zischadin sind und nicht da draußen bei den langweiligen Staubsammlern. Hier ist es doch viel lustiger.« Nadil schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Stattdessen sagte er nur: »Beliar, wie kommt es 36
eigentlich, dass du immer alles lächerlich machst? Du warst doch auch neugierig darauf, das Sternputzerdorf zu sehen. Und jetzt tust du so, als wäre es dir egal.« Das saß. Offenbar hatte er einen wunden Punkt bei ihr getroffen. Sie schnitt eine Grimasse. »Lass mich in Ruhe«, sagte sie schroff, stand auf und ging an den Nachbartisch. Im gleichen Moment betraten die vier Stierwächter die Herberge. Nadil duckte sich auf seinem Stuhl und betrachtete sie scheu. Sie führten einen Mann mit sich. Das musste Josian Pegario sein. Er war sehr hoch gewachsen, kaum kleiner als die Stierwächter, die allerdings viel stämmiger waren als der feingliedrige Sternputzer. Da Pegario ein goldenes Gewand trug, auf dem das Zeichen seiner Zunft aufgestickt war, hob er sich besonders von seinen dunklen Begleitern ab. Plötzlich fiel Pegarios Blick auf Nadil, und sein Gesicht hellte sich auf. »Nadil. Nadil Maramor!«, rief er aus. Und bevor die Wächter noch reagieren konnten, glitt er zwischen ihnen hindurch und kam auf den jungen Sclimetterlmger zu. Nadil wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Der Mann kannte ihn? Er hatte ihn doch noch nie gesehen. Dennoch erhob er sich sogleich, denn einen so wichtigen Mann durfte er ja wohl nicht im Sitzen empfangen. Er warf Beliar einen unsicheren Blick zu, aber die betrachtete nur staunend die Szene. »Lieber Nadil«, sagte Pegario. »Solch eine Freude, dich endlich kennen zu lernen. Dein Großvater hat mir so viel von dir erzählt. Und diese Ähnlichkeit! Es ist unglaublich.« »Danke ... Herr Pegario«, stammelte Nadil. »Es ist auch für mich eine große Freude.« »Ein Jammer, dass wir gegenwärtig keine Gäste aufnehmen können«, fuhr Pegario fort. »Wie gern hätte ich dich meiner Familie vorgestellt. Aber es wird ja nicht für lange sein, nicht wahr? Wo ist denn Meister Toralon abgeblieben?« 37
»Er ist noch oben mit den anderen«, mischte sich Beliar ein, die herangetreten war. »Wer bist du denn? Nadil, willst du mir nicht deine Freundin vorstellen?« »Ich heiße Beliar und bin nicht Nadils Freundin«, erwiderte sie mürrisch. »Hm, nun ja.« Nadil war schon wieder rot geworden. »Warum dürfen wir denn nicht bei Ihnen wohnen?«, fragte er schnell, um vom Thema abzulenken. »Ach«, sagte Pegario mit einem kurzen Seitenblick zu den Wächtern, die sich in geringer Entfernung postiert hatten. »Das ist nur vorübergehend, eine Sicherheitsmaßnahme. Nächstes Mal holen wir das alles nach. Bis nachher.« Und plötzlich umarmte er Nadil einfach, küsste ihn auf beide Wangen, ging dann wieder zu den Wächtern und stieg mit ihnen die Treppe hinauf. »Wer war denn das?«, fragte Beliar, nun wieder etwas versöhnlicher. »Ich weiß es nicht«, antwortete Nadil. »Ich meine ... es war wohl Herr Pegario, aber ich habe ihn noch nie vorher gesehen.« »Aber er kennt wohl dich?« »Nein, meinen Großvater.« Nadils Stimme belegte sich. »Du weißt ja, dass ich ihm sehr ähnlich sehe.« Beliar zuckte mit den Schultern. Das Thema interessierte sie nicht weiter, und Nadil hatte keine Lust, ausgerechnet mit ihr das Verschwinden seines Großvaters zu erörtern. Piri und Masia erschienen auf der Treppe und standen kurz darauf bei ihnen. Masias schönes blaues Haar war zu einer Haube hochgesteckt, auf die sie ein wenig Sternstaub gestreut hatte, der hell glitzerte. An jedem Zeh trug sie einen Ring und 38
an den Armen mindestens ebenso viele Reife, die bei jeder Bewegung klapperten. Auch Piri hatte sich ein wenig herausgeputzt und trug auf seinem Hemd aus Schneeseide sogar einen Babyschmetterling, ein kleines Pfauenauge, das wie eine Fliege an seinem Kragen saß und dort bedächtig seine hübschen kleinen Flügel auf und ab bewegte. Nadil kam sich in seiner Nesselhose und der karierten Weste wieder einmal sehr altmodisch gekleidet vor. Ja, so ein Hemd aus Schneeseide hätte er auch gern gehabt. Aber seine Familie hätte sich das nicht leisten können, und außerdem gab es bei ihm zu Hause so etwas wie eine stille Übereinkunft, dass solche Äußerlichkeiten nicht wichtig seien und man darauf nichts geben solle. Nadil verstand das nicht. Wenn es angeblich nicht wichtig war, konnte man sich dann nicht ebenso gut ein wenig lustig anziehen? Aber seine Eltern hatten da sehr strenge Vorstellungen. »Gehen wir?«, fragte Piri. »Und Meister Toralon?«, wollte Beliar wissen. »Er hat eine Besprechung mit diesem Herrn Pegario, der gerade gekommen ist«, sagte Masia. »Wir treffen ihn später wieder.« »Was ist denn mit dir los?«, fragte Piri und knuffte Nadil freundschaftlich. Nadil starrte auf einen kleinen, runden Gegenstand, den er soeben in seiner Hosentasche gefunden hatte. »Was ist denn das?«, fragte Masia. Nadil ließ das Amulett in seine Hosentasche zurückgleiten und sagte: »Ich komme auch erst später. Ich muss ... ich muss ...« Aber was er musste, erfuhren die drei nicht, denn er ging einfach auf die Treppe zu und eilte hinauf. Piri schaute ihm nach. »Was hat er denn?« »Ach, lass ihn doch«, maulte Beliar. »Offensichtlich muss er 39
mal. Können wir jetzt nicht endlich losgehen? Ich kann es kaum erwarten.« »Meister Toralon hat gesagt, wir sollen ihn in zwei Stunden am Eingang zu den Klangthermen treffen«, erklärte Masia. »Na also, dann nichts wie los«, rief Beliar. »Wo fangen wir an?«
\5\ Es war nicht irgendein Gegenstand. Nadil hielt das Amulett vorsichtig in der Hand und betrachtete es mit einer Mischung aus Freude und Unbehagen. Was sollte das nur bedeuten? Wie kam Sarus Amulett zu Josian Pegario? Und warum hatte der es ihm heimlich zugesteckt? Er musterte den dunkelgrünen Stein. Das Amulett war nicht viel größer als eine Münze und schmiegte sich weich in seine Handfläche. Aber Nadil wusste, dass es aus dem härtesten Stein geformt war, den es in Phantásien gab: Malatist. Wo Saru das Amulett hergehabt hatte, das wusste Nadil nicht. Von einer seiner vielen Reisen natürlich. Ja, Nadil wusste nicht einmal, wo man Malatist-Gestein finden konnte. Aber Saru hatte dieses Amulett stets gehütet wie seinen Augapfel. »Irgendwann erzähle ich dir mal die Geschichte dieses Amuletts«, hatte er manchmal gesagt, als Nadil noch auf seinem Schoß gesessen und seinen Geschichten zugehört hatte. Und jetzt war Saru verschwunden und ausgerechnet dieses Amulett lag in Nadils Hand. Doch warum hatte Pegario es unbemerkt in seine Hosentasche gleiten lassen? Das konnte doch nur ein Zeichen sein? Aber was sollte es bedeuten? Er schaute um die Ecke des höhlenartigen Ganges und sah an seinem Ende gerade noch einen der Wächter in einem 40
Durchgang verschwinden. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Dennoch schlich er den Gang entlang bis zu der Stelle, wo die Wächter und Pegario abgebogen waren, und schaute vorsichtig um die Ecke. Dort befand sich ein weiterer Gang und an seinem Ende ein Raum, dessen Tür sich gerade schloss. Nadil ging darauf zu. Als er näher gekommen war, konnte er zwar Meister Toralons Stimme hinter der Tür hören, aber was der Lehrer sagte, war nicht zu verstehen. Nadil bog nach rechts ab. Hier war es stockdunkel. Er ging unsicher einige Schritte weiter. Plötzlich sah er einen Lichtschimmer an der Decke und vernahm jetzt deutlicher Pegarios Stimme: »Wir haben auch keine Erklärung dafür«, sagte der Sternputzer gerade. Dort oben war ein Spalt zwischen den Steinen. Nadil streckte sich, ertastete in der Dunkelheit eine Fuge und zog sich die Wand hoch. »Und solange wir nicht wissen, um was es sich handelt, soll niemand davon erfahren«, fuhr Pegario fort. Josian Pegario und Meister Toralon saßen sich an einem Stalaktiten-Tisch gegenüber, der von der Decke herabwuchs. Der Anführer der Stierwächter stand hinter Pegario, die anderen drei hatten sich entlang der Wände postiert und die Arme über der Brust verschränkt. »Jiinn-Garagor«, wandte sich Pegario an den hünenhaften Wächter in seinem Rücken, »vielleicht können Sie Herrn Toralon noch einige Einzelheiten erklären.« »Es gibt nichts zu erklären«, antwortete dieser mit bedrohlichem Untertan. »Die Sternputzer können weiterhin ihre Arbeit tun. Aber da Sie, Herr Pegario, Ihre Leute offenbar nicht unter Kontrolle haben, gibt es keine andere Möglichkeit, als das Sternputzerviertel abzuschotten. Sonst müssen wir Sie ganz aus Mangarath verweisen, und Sie wissen, was das bedeutet.« 41
Pegario hob abwehrend die Hände. »Nein, nein, natürlich wollen wir das nicht.« Wieder Toralon zugewandt, erklärte er dann: »Die Situation ist noch sehr gespannt, verstehst du. Seit Saru hier war, hat sich das nicht mehr beruhigt. Die Leute haben einfach sehr große Angst.« Meister Toralon nickte. »Aber ich dachte, die Angelegenheit wäre erledigt? Warum hat Saru sich denn überhaupt eingemischt?« »Nichts ist erledigt«, raunzte Jiinn-Garagor, und seine Augen blitzten zornig auf. »Sie wissen so gut wie ich, wie schnell sich Panik ausbreitet, wenn wir nicht vorsichtig sind. Die Erscheinungen nehmen zu, ja, es ist in den letzten Monaten sogar noch schlimmer geworden. Und wenn wir nicht so vorsichtig wären ... bei allen Kammern des Elfenbeinturms! – dann wäre vielleicht schon alles verloren.« Meister Toralon schaute Pegario bestürzt an. »Aber ... ich meine, weiß denn immer noch niemand, was es damit auf sich hat?« Pegario sah unsicher vor sich hin, während Jiinn-Garagor an seiner Stelle antwortete. »Nein, wir wissen nicht, was es ist. Aber wir haben es unter Kontrolle. Kümmern Sie sich darum, dass Ihre Leute nicht die Nerven verlieren, und wir sorgen dafür, dass diese Erscheinungen aufhören. Wir arbeiten daran.« Eine beklemmende Stille trat ein. Pegario versuchte sie ein wenig aufzulockern. Er lächelte Meister Toralon an und sagte: »Wir liefern euch natürlich wie immer den Staub. Daran ändert sich nichts. Wie immer fliegen wir jeden Abend hinauf, putzen die Sterne und holen den Staub für die Schmetterlinge. Aber ich muss meine Leute vorerst an einer sehr kurzen Leine halten. Es geschieht ja nicht so oft, doch 42
wenn es geschieht, dann brauche ich Tage, um sie wieder zu beruhigen. Es wäre Wahnsinn, jemanden von außen zu ihnen zu lassen, denn sie würden natürlich davon erzählen, obwohl ich es ihnen strengstens verboten habe. Und du weißt ja, was für ein Unheil Saru angerichtet hat mit seiner Neugier und seinen seltsamen Ideen. Es gab regelrechte Tumulte im Rat.« »Kein Wort von Saru!«, zischte Jiinn-Garagor. »Aber was ist denn mit ihm passiert?«, fragte Toralon, der jetzt ziemlich irritiert klang. »Wir haben seit Wochen keine Nachricht von ihm. Nadil, sein Enkel, ist übrigens mit mir gekommen. Er macht sich große Sorgen, weil niemand von Saru gehört hat.« Er blickte um sich. Jiinn-Garagors eine Augenbraue war bei der Nennung von Nadils Namen hochgerutscht. »Sarus Enkel?«, fragte er in eisigem Tonfall. Nadil blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Aber er rührte sich nicht in seinem Versteck, sondern lauschte weiterhin gebannt dem Gespräch. »Dieser Verräter hat einen Enkel? Nun, ich hoffe, der ist nicht so verrückt wie Saru. Vielleicht sollten wir ihn sicherheitshalber gleich einsperren.« »Unsinn«, entfuhr es Toralon. »Nadil ist ein prächtiger Junge, der noch nie etwas Schlechtes getan hat. Aber kann mir jetzt bitte jemand sagen, was mit Saru geschehen ist?« Wieder entstand ein unbehagliches Schweigen, das schließlich von Pegario unterbrochen wurde. »Er hat versucht, in Silandor einzudringen«, sagte er tonlos. Toralon starrte mit ungläubiger Miene in die Runde. »Was?«, entfuhr es ihm. »Das hätte ich nie gedacht... Hat er es tatsächlich getan?« »Du siehst, wir haben keine andere Wahl«, sagte Pegario. »Niemand darf etwas erfahren. Können wir auf dich zählen?« Jiinn-Garagor machte seinen Leuten ein Zeichen, dass er das Gespräch als beendet betrachtete. Nadil ließ sich sogleich 43
wieder auf den Boden gleiten und eilte, so schnell er konnte, in die Empfangshalle zurück. Etliche Fragen gingen ihm durch den Kopf, während er durch die Gänge huschte. Das Problem mit Saru? Was für ein Problem? Sein Großvater war doch kein Problem? Wovon sprachen diese Leute nur? Was sollte er denn verbrochen haben? Und was war mit den Sternputzern geschehen, dass man sie von allen anderen Phantásiern fern halten musste? Sogar von den Schmetterlingern aus Nevisehr! Nadils Beine zitterten, aber er schaffte es immerhin, sich zusammenreißen, und gelangte unbemerkt auf die Straße hinaus. Er war völlig durcheinander. Viel hatte er ja nicht mit angehört, aber es genügte, um ihm Mangarath von einem Moment zum anderen als bedrohlich und unheimlich erscheinen zu lassen. Dieser Jiinn-Garagor war ihm schon jetzt verhasst. Wie der über Saru gesprochen hatte. Aber Nadil war viel zu verwirrt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Mit Erleichterung sah er in der Kuppel des Geräuschdoms etwas Weißes mit auberginefarbenen Tupfen durch die Luft segeln. Wenn Beliar dort war, konnten auch die beiden anderen nicht weit sein.
\6\ Jiinn-Garagor vergewisserte sich, dass Pegario und Toralon getrennt eskortiert wurden. Der Schmetterlinger würde ihm keine Probleme bereiten, dachte er. Aber diesem Pegario traute er einfach nicht über den Weg. Der Sternputzer war zu plötzlich umgeschwenkt. Noch vor einigen Wochen hatte er diesen Saru im Rat unterstützt. Jetzt, nach allem, was geschehen war, musste er natürlich einsehen, dass er zu einem 44
gefährlichen Verräter gehalten hatte. Entsprechend hatte er das Lager gewechselt. Aber irgendetwas an Pegario gefiel ihm einfach nicht. Wusste der Sternputzer etwas? Sollte er ihn nicht vorsorglich beseitigen lassen? Aber das Risiko war groß. Ihr stärkster Trumpf war die allgemeine Ahnungslosigkeit. Solange niemand wusste, was in Mangarath überhaupt geschah, konnten sie ihre Pläne ungehindert vorantreiben. Jiinn-Garagor warf seinen Kopf stolz in die Höhe und schnaubte zweimal hörbar aus. Er fühlte sich so stark wie schon lange nicht mehr. Pegario hatte Angst gehabt. Er hatte es genau gespürt und sich daran regelrecht berauscht. Jetzt war er in Hochstimmung. Alles lief nach Plan. Niemand konnte sie aufhalten. Er durchschritt einen Torbogen, lief eine dunkle Gasse entlang und gelangte an deren Ende zu einer schweren Holztür. Er klopfte, zweimal lang, zweimal kurz. Die Tür öffnete sich und er trat ein. Ein unverwechselbarer Geruch signalisierte ihm sofort, dass die Person, mit der er verabredet war, schon eingetroffen war. Jiinn-Garagors Nüstern zitterten erregt. Dieser Geruch war wie eine Droge für ihn. Er roch die Gewalt darin, den kolossalen, unerbittlichen Willen, dem sich niemand entziehen konnte. Und dann sah er die Gestalt. »Sei gegrüßt, ehrwürdiger Forcas«, sagte er und verbeugte sich tief. Der Angesprochene nickte leicht. Sein Gesicht lag halb im Dunkeln, was die unheimlichen Züge noch verstärkte. Sein Kopf war länglich und hager. Tiefe Falten durchzogen seine hohlen Wangen und durchfurchten selbst die zusammengekniffenen Lippen. Eine scharf geschnittene Nase stand darüber, doch wenn man in dieses Gesicht blickte, wurde man vor allem von den Augen gefangen genommen. Ja, sie waren so entsetzlich, dass man unweigerlich den Eindruck gewann, in 45
diesem Kopf müsse noch ein zweites Wesen von geradezu unvorstellbarer Hässlichkeit stecken, das sich des Engels als Maske bediente. Jiinn-Garagor schauderte stets ein wenig beim Anblick dieser grünen, von schmalen schwarzen Schlitzen durchzogenen Augenbälle, die ihn eiskalt anblickten. »Sei gegrüßt, ehrwürdiger Jiinn-Garagor«, kam die Antwort näselnd aus dem kaum geöffneten Mund des Engels. »Du hast dich verspätet.« »Ein kleiner Zwischenfall. Nichts von Bedeutung.« Der Geräuschteppich von Mangarath drang auch in dieses verborgene Zimmer und füllte die Gesprächspausen der beiden Gestalten. »Noch ein Zwischenfall?«, erwiderte Forcas. »Es gibt deren zur Zeit etwas viele, findest du nicht?« Jiinn-Garagor trat von einem Bein auf das andere. Der bedrohliche Unterton in Forcas' Stimme war ihm nicht entgangen. »Ich versichere dir, dass es nicht der Rede wert ist«, beeilte er sich zu sagen. »Was ist geschehen?«, fragte Forcas scharf. »Ein ... ein paar Schmetterlinger wollten im Sternputzerdorf absteigen. Sie wussten noch nichts von der neuen Regel. Ein Missverständnis. Nichts weiter.« »Schmetterlinger?«, zischte Forcas. »Schon wieder?« Jiinn-Garagor biss sich auf die Lippen. Warum hatte er die Sache überhaupt erwähnt? Natürlich würde Forcas sogleich an den Zwischenfall mit Saru erinnert werden. Und das war das Letzte, was Jiinn-Garagor jetzt wollte. Der Fall war glücklicherweise erledigt. Saru war beseitigt. Sie hatten ihren Fehler wieder gutgemacht. »Ja«, antwortete er unsicher. »Aber das muss nichts bedeuten. Schmetterlinger kommen seit ewigen Zeiten hierher, um Sternstaub zu holen.« 46
»Dieser Saru war auch einer von ihnen. Wer sagt dir, dass sie nicht nach ihm suchen?« Jiinn-Garagor machte eine wegwerfende Handbewegung. »Niemand weiß, was mit ihm passiert ist. Keiner wird ihn jemals finden. Du kannst ganz beruhigt sein.« Forcas richtete seine ekelhaften Augen auf ihn und durchbohrte ihn geradezu mit seinem Blick. Wenn er erfährt, dass Sarus Enkel in der Stadt ist, gibt es ein Unglück, dachte JiinnGaragor. Forcas würde ihn sicher sofort verhaften lassen, und dann gäbe es Unruhe. Nein, er würde Forcas nichts davon sagen. Dieser Nadil war zwar mit Saru verwandt, aber solange er sich nicht auffällig verhielt, würden sie ihn in Ruhe lassen. Alles hing davon ab, dass niemand Verdacht schöpfte. Doch das begriff Forcas einfach nicht. »Es geht also alles seinen geplanten Gang, oder irre ich mich?«, fragte Forcas. »Du irrst dich nicht«, antwortete Jiinn-Garagor, erleichtert, dass sie endlich auf ein anderes Thema zu sprechen kamen. »Die Erscheinungen nehmen zu, aber niemand kümmert sich im Augenblick ernsthaft darum. Die Musik« – er machte eine lässige Handbewegung –, »sie wirkt Wunder.« Forcas nickte, augenscheinlich zufrieden. »Es dauert nicht mehr lange.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Wir haben gestern Pandriel genommen. Es war ein Fest. Du hättest deine Freude daran gehabt.« Jiinn-Garagor setzte sich. »Du überraschst mich«, sagte er. »Ich hatte gehört, die Belagerung würde wohl noch den ganzen Winter dauern.« Ein kühles Lächeln huschte über Forcas' Gesicht. Jiinn-Garagor war versucht zu fragen, durch welchen heimtückischen Trick es dem Engel gelungen war, Pandriel zu nehmen. Aber er wusste, dass Forcas es eilig hatte. Ihm genügte außerdem 47
die Vorstellung, die Schneeelfen von Pandriel einem Heer von mordgierigen Ibüssen ausgeliefert zu sehen. Fürwahr, es musste ein Fest gewesen sein. »Und Albion?«, erkundigte er sich knapp nach dem Herrscher der Schneeelfen. Forcas zog etwas aus der Tasche und warf es Jiinn-Garagor vor die Füße. Der hob das verschmierte Bündel auf, faltete es auseinander und betrachtete das makabre Mitbringsel. Es war ein Elfenherz. Mattsilbrig schimmerte es wie ein kleiner toter Vogel in der groben schwarzen Hand des Stierwächters. »Lass es dir gut schmecken«, zischte Forcas. »Es müsste äußerst nahrhaft sein. Es wird dir die nötige Kraft geben, damit du die Zügel in der Hand behalten kannst. Die Erscheinungen werden bestimmt noch stärker werden. Sei also vorbereitet und kümmere dich darum, dass alles ruhig bleibt. Der Ring um Mangarath ist nun bald geschlossen, und wir können beginnen, den Angriff vorzubereiten. Brauchst du Hilfe? Soll ich dir ein paar Iblisse schicken?« War Forcas verrückt geworden – Iblisse in Mangarath? Jetzt schon? Jiinn-Garagor schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das ist nicht notwendig.« »Nun gut, ich verlasse mich auf dich.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das Problem mit diesem Schmetterlinger ist also endgültig erledigt?« Jiinn-Garagor war auf der Hut, denn er kannte Forcas' Heimtücke. »Saru wird uns nie wieder Probleme machen«, erklärte er mit ruhiger Stimme. Forcas' Augen blickten noch kälter als zuvor. Er misstraut mir, dachte Jiinn-Garagor panisch. Oder wollte er ihn nur verunsichern? »Saru ist tot«, sagte er. »Das hoffe ich«, erwiderte Forcas. »Wo ist seine Leiche?« Der Stierwächter runzelte die Stirn. »Im Lärmkrater.« 48
»Verbrannt?« Jiinn-Garagor nickte. »Bist du sicher?« »Ja. Todsicher.« Forcas hob leicht den Kopf. »Gut. Sehr gut. Weiß jemand davon?« »Nein. Er gilt als verschollen.« Forcas erhob sich. Er war nicht ganz so groß wie JiinnGaragor, aber der Stierwächter wusste sehr gut, welche übermächtigen Kräfte in dem Besucher wohnten. Ein leises Rascheln erfüllte den Raum, als Forcas seine blutroten Schwingen auf und ab bewegte. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, wird der Zeitpunkt nicht mehr fern sein. Ich verlasse mich auf dich.« Forcas schloss die Augen, ein klares Signal, dass er das Gespräch als beendet betrachtete. »Du kannst ganz beruhigt sein«, antwortete der Stierwächter gehorsamst und ging langsam rückwärts zur Tür, die sich wie von Geisterhand geöffnet hatte. Dann stand er wieder draußen in der Gasse. Die Musik Mangaraths floss über ihn hinweg, und nur das Elfenherz in seiner Hand erinnerte ihn daran, wem er soeben noch gegenübergestanden hatte. Mit einer gierigen Bewegung verschlang er es und spürte sogleich, wie die Todesangst, die darin aufbewahrt lag, in seinen Körper drang. Er lächelte zufrieden, während ein schauriges Glücksgefühl durch seine Adern floss und seinen muskulösen Körper noch ein wenig weiter anschwellen ließ. Ach, es gab nichts Schöneres, als die Todesangst eines unterlegenen Gegners zu spüren.
49
\7\ Nadil hatte den Geräuschdom kaum betreten, da fiel alles Schwere und Bedrückende von ihm ab. Im ersten Augenblick wunderte er sich noch, was für eine merkwürdige Musik das war, die ihn da plötzlich umhüllte und ergriff. Doch dann fühlte er sich schon hochgehoben und sanft emporgetragen. Es war wie ein warmer, unsichtbarer Wind. Und doch war es kein Wind, denn obwohl sein ganzer Körper von einer angenehmen Kraft umhüllt war, spürte er eigentlich nichts, weder auf seiner Haut noch an seinen Haaren. Er schwamm in einer Musik, die aber wiederum keine Musik war. Es waren vielmehr Geräusche, die weit unter ihm aus dem bunten Marmorboden des Geräuschdoms auf geheimnisvolle Weise hervorquollen und jeden, der sich darauf bewegte, sanft nach oben schweben ließen. Es war wundervoll. Durch die Steinstreben, welche die Kuppel des Doms trugen, sah Nadil nun das feenhafte Panorama von ganz Mangarath in all seiner Pracht. Er entdeckte sofort das Zischadin, wo er soeben noch angstvolle Momente erlebt hatte. Von hier aus sah er jetzt auch, dass gleich dahinter der Klapperwald begann. Und nicht weit davon entfernt befand sich der Garten der säuselnden Blumen. Im Trommeltal, das er nun auch sehen konnte, begann gerade die Paukenparade, und das Gedröhne der Rhythmen war sogar durch die Klangwolken des Geräuschdoms hindurch zu hören. »Da bist du ja endlich«, rief Piris Stimme neben ihm. »Wo warst du denn?« »Ich hatte meinen Weitseher vergessen«, log er und griff an seine Westentasche, um sich zu vergewissern, dass er dieses wichtige Reiseutensil auch nicht verloren hatte. »Seid ihr schon lange hier?« 50
»Zu lange für meinen Geschmack. Ich bin jetzt schon ziemlich oft durch die Kuppel geflogen und würde gern weitergehen. Aber Masia und Beliar wollen noch bleiben.« Nadil warf einen Blick nach oben. Beliar schwebte glückselig zwischen zwei Schreckelfen und einem Sandwicht. Ihr schönes schwarzes Haar floss nach allen Seiten weg. Etwas weiter oben segelte Masia vorüber. Fast wäre sie mit einem grünen Querbold zusammengeprallt, aber das sah natürlich nur so aus, denn im Geräuschdom gab es keine Zusammenstöße. Die Klangwolken, auf denen mar herumschwebte, glitten immer in letzter Sekunde über- oder untereinander weg. Ja, man saß in einer solchen Klangwolke fast wie in einer Seifenblase, in die keine andere Seifenblase eindringen konnte. »Dann lass uns doch allein weitergehen«, schlug Nadil vor. »Hat Meister Toralon euch gesagt, wo wir auf ihn warten sollen?« »Ja«, antwortete Piri. »An den Klangthermen.« »Na also. Dann gehen wir einfach schon vor. Die Mädchen können sich hier auch allein amüsieren, oder?« Piri nickte freudig und machte Anstalten hinabzusegeln. Es war jedoch nicht ganz einfach, wieder herunterzukommen. Die schönen Geräusche trugen einen immer wieder empor. Erst als sie sich die Ohren zuhielten, sanken sie zu Boden. Nadil landete direkt neben einem der Geräuschlöcher und warf einen kurzen Blick hinein. Das Loch sah genauso aus wie die Öffnung unter dem Stalagmitentisch im Zischadin und war gleichfalls durch ein schweres Eisengitter verschlossen. Darunter herrschte tiefste Finsternis. »Wo kommen diese Geräusche eigentlich her?«, fragte Nadil, als sie wieder auf der Straße waren und zum Platzschotenplatz liefen. 51
»Irgendwo von da unten«, antwortete Piri und grinste. »Von den Lärmsklaven.« Nadil schüttelte den Kopf. »So ein Quatsch. Glaubst du diese Ammenmärchen vielleicht?« »Nein, natürlich nicht. Aber was fragst du mich auch?« »Ich frage ja nur«, verteidigte sich Nadil. Plötzlich fühlte er sich wieder bedrückt. Das Gespräch, das er belauscht hatte, ging ihm wieder durch den Kopf. Pegario hatte ihm dieses Zeichen nicht umsonst so verstohlen zugesteckt. Aber sollte er Piri davon erzählen? Nein. Er würde erst einmal den Mund halten. Aber was ging hier nur vor sich? Auf dem Platzschotenplatz war ein mächtiges Gedrängel. Überall steckten die Besucher ihre Pengstängel, die man an jeder Ecke kaufen konnte, in die Schlünde der prallen Schoten, die von knorrigen Knarzranken herunterhingen, und schrien vor Freude, wenn die Schoten mit einem lauten Knall aufplatzten und Schotenschrot über die Umstehenden versprühten. Die vielen kleinen Explosionen erzeugten ein einziges ununterbrochenes Geknatter, und der ganze Platz war knöchelhoch mit Schotenschrot bedeckt, von dem allerdings niemand wusste, wozu er diente. Man wusste nur, dass die Brummlerchen das Zeug regelmäßig wegkarrten. Piri und Nadil amüsierten sich eine Weile, pusteten sich gegenseitig den Schotenschrot aus den Haaren und ließen ihre Pengstängel durch die Knarzranken tanzen, bis sie, erschöpft und auch schon ein wenig betäubt von dem Geknatter, den Weg zu den Klangthermen einschlugen. Doch als sie den Platzschotenplatz verließen, geschah plötzlich etwas Wunderbares. Sie blieben wie angewurzelt stehen, rissen die Augen auf und starrten in den Abendhimmel hinauf. Hunderte von kleinen Sternschnuppen schossen dort oben durch den Weltraum, gleißende Lichtstriche hinter 52
sich herziehend, die einen zauberhaften Glitzerteppich auf den nun tiefrot gefärbten Himmel legten. Dieses Spektakel dauerte gut und gern zwei Minuten. Ganz Mangarath starrte zum Himmel hinauf, und weder der Lärm der Platzschoten noch die allgegenwärtige Musik konnte jetzt das vielstimmige »Ahhh« und »Ohhh« übertönen, das den Mündern der staunenden Besucher entwich. Auf einmal ließ ein gigantischer Lichtball das gesamte Firmament bis weit hinter die Grenzen Balang-Girs strahlend hell aufleuchten. Ein Komet!, schoss es Nadil durch den Kopf. Rauschte dort ein Komet heran? Aber die Erscheinung war viel zu langsam für einen solchen Himmelskörper. Es sah auch eher so aus, als fliege das Licht rückwärts. Vielleicht ein Komet, der nicht kommt, sondern geht – ein Gehmet? Ein so schwerfälliges, intensives Leuchten hatte Nadil jedenfalls in seinem Leben noch nicht gesehen. Ja, es sahso aus, als schäle sich dort eine Sonne aus einem erkalteten Stern heraus, langsam und kraftvoll, wie bei einem Weltbeginn. »Was für ein Feuerwerk!«, flüsterte Piri. »Wie haben sie das nur wieder gemacht? Das waren sicher die Sternputzer. Vielleicht können wir deshalb nicht zu ihnen, weil sie da oben beschäftigt sind.« Nadil antwortete nichts. Dieses großartige Schauspiel wollte er sich nicht durch Grübeleien verderben. »Was schwebt denn dort herab?«, fragte Piri jetzt. »Nadil, du hast doch deinen Weitseher dabei, oder?« Nadil griff in seine Westentasche, holte seinen Gucko hervor und gab ihn Piri. Der Weitseher hatte offenbar geschlafen und blinzelte geblendet. Doch dann rollte er seine scharfen Äuglein hin und her und streckte aufgeregt seinen langen Schwanz in die Luft. Piri setzte den kleinen Lurch auf seine Handfläche und 53
hielt diese neben sein Ohr. »Und, Gucko, siehst du was?«, fragte er. »Grrrruuhhh, grrrruuuh«, zirpte der kleine Scharfseher und stellte auch noch seine Stielaugen auf. »Zu viel Licht. Viel zu viel Licht.« »Ja, aber weiter unten, da, wo das Licht aufhört, da rieselt doch etwas auf Balang-Gir herab, oder?« »Grrrruuhhh, grrrruuuh,« hörten sie erneut, und dann: »Ich sehe nur Staub. Weißen Staub. Aber er rieselt nicht auf Balang-Gir, sondern weit davor, auf Mangarath.« »Auf Mangarath?«, schaltete sich Nadil ein. »Das kann ja nicht sein, Gucko. Wir sind doch in Mangarath.« Ein vorwurfsvolles Stielauge war plötzlich auf ihn gerichtet. »Grrrruuhhh, grrrruuuh, doch, auf Mangarath. Aber vor Mangarath. Es sind Staubfedern.« »Staubfedern?« Piri nahm seine Hand vom Ohr und schaute den Gucko an. Doch der hatte sich schon wieder flach hingelegt, die Stielaugen eingefahren und den Schwanz um seinen Kopf gekringelt. Piri runzelte die Stirn und gab Nadil den Weitseher zurück. Der steckte ihn etwas beschämt ein. »Es ist nur ein MoosGucko«, versuchte er sich zu rechtfertigen. »Er ist außerdem noch jung und nicht sehr ausdauernd. Ich habe ihn noch nicht lange.« »Ist ja auch nicht so wichtig, was da herunterrieselt.« »Staubfedern?«, sagte Nadil kopfschüttelnd. »Naja, du musst ihn eben besser unterrichten.« »Er war bisher immer recht genau«, verteidigte sich Nadil. »Macht ja nichts, er hat sich eben verguckt. Vielleicht ist dein Gucko ein Vergucko.« Piri lachte los, glücklich, dass ihm mal wieder ein Witz gelungen war. Darüber verpassten sie fast die letzte Explosion 54
dort am Himmel, ein intensives, tiefdunkles Glühen, so dass Nadil angesichts des unbegreiflichen Phänomens ganz seltsam zumute wurde. Staubfedern? \ Als sie bei den Klangthermen eintrafen, stand Meister ToraIon bereits am Eingang und ließ seinen Blick suchend über die Menge schweifen. »Hier sind wir«, rief Piri freudig. Meister Toralons Gesicht hellte sich auf. »Sind die Mädchen noch nicht da?«, fragte Piri dann. »Doch«, erwiderte Toralon, »sie konnten es nicht erwarten und sind schon hineingegangen.« Er musterte Nadil. »Ist etwas mit dir, Nadil?« »Nein, was soll denn sein?« Nadil hatte Toralon eindringlich angesehen, aber sein Lehrer ließ sich von dem Gespräch, das er im Zischadin geführt hatte, nichts anmerken. Piri setzte sich auf einen Steinsockel neben der Treppe, der augenblicklich zu summen begann. »Hi, hi, das kitzelt«, rief er aus. »Die Klangthermen gehören zu den ältesten Bauwerken in Mangarath«, erklärte Meister Toralon. »Die Summsteine dafür mussten aus dem Sirenenland geholt werden, was nur unter großen Schwierigkeiten gelang. Denn die Sirenen sind ja bekanntlich nicht sehr großzügig, und was sie einmal haben, lassen sie auch nicht mehr los.« »Und wie hat man sie überlistet?«, fragte Piri und räkelte sich auf dem summenden Stein. »Das war eine ziemlich schwierige Sache.« 55
Nadil setzte sich jetzt auch hin. Was für ein merkwürdiger Stein. Er war ganz warm und vibrierte leicht, wie ein lebendiger Körper. »Die Stierwächter haben sich mit den Echoelfen zusammengetan«, fuhr Toralon fort. »Die Echoelfen haben die Sirenen vom Summsteinbruch weggelockt, und so konnten die Stierwächter unbehelligt die Steine mitnehmen.« »Mitnehmen?«, fragte Nadil mit großen Augen. »Diese riesigen Steine?« »So ein Stierwächter kann einiges tragen«, führte Meister Toralon aus. »Aber du hast natürlich Recht. Sie haben die Steine nicht aus der Sirenenschlucht geholt und dann auch noch hierher getragen. Den Transport haben Glücksdrachen übernommen.« Piri und Nadil schwiegen beeindruckt. Ohne dass sie es wussten, lief ihnen beiden gleichzeitig ein Schauer der Ergriffenheit den Rücken hinab. Du liebe Güte! Hier waren Titanen am Werk gewesen. Ein Heer von Stierwächtern. Eine Armada von Glücksdrachen. Was diese Steine aus den Sirenenschluchten wohl für eine Geschichte erzählen könnten! Und sie saßen jetzt auf solch einem Stein, den ein Glücksdrache über Tausende von Meilen nach Mangarath getragen hatte. Es war einfach gewaltig! »Aber ich dachte, die Klangthermen seien aus Mondstein gebaut«, wandte Nadil ein. »Nein. Nur die Mosaike auf der Kuppel, die sind aus Mondstein«, belehrte ihn Meister Toralon. Piri schaute versonnen die bläulich schimmernde Kuppel hinauf. »Einfach großartig«, sagte er. Nadil wurde unruhig. Meister Toralon wollte sie nur ablenken. Er konnte es richtig spüren, dass der Mann an etwas ganz anderes dachte. Am liebsten hätte er ihn direkt gefragt. Vor 56
allem brannte er darauf zu erfahren, was mit Saru geschehen war. Weshalb wurde darum ein solches Geheimnis gemacht? »Ja, großartig«, sagte Nadil. »Aber eines frage ich mich doch.« »Und das wäre?«, erkundigte sich Toralon. »Was bewachen die Wächter von Mangarath eigentlich?« Toralon schaute ihn verblüfft an. Dann zuckte er mit den Schultern. »Tja, das weiß ich auch nicht«, seufzte der Schmetterlinger und hüllte sich fester in seinen Mantel. »Aber die Stierwächter wissen es ja wohl, oder?«, fügte Nadil hinzu. »Oder kann es sein, dass man Wächter genannt wird und nicht einmal weiß, was man bewacht?« Meister Toralon schaute nervös um sich. »Ich glaube nicht, dass wir diese Frage hier diskutieren sollten«, sagte er mit einem Anflug von Strenge in der Stimme. »Die Stierwächter mögen es nämlich überhaupt nicht, wenn man über sie redet.« »Vielleicht ist in Mangarath ja ein Schatz versteckt?«, schlug Nadil vor. »Schluss jetzt«, fuhr Toralon ihm über den Mund. »Über die Stierwächter spricht man nicht, und basta.« Nadil schoss die Zornesröte ins Gesicht. »Die Stierwächter, die Stierwächter«, platzte es aus ihm hervor. »Erst lassen sie uns nicht zu den Sternputzern, und jetzt soll man nicht einmal über sie reden.« »Nadil«, sagte Meister Toralon noch strenger und schaute nervös um sich. »Benimm dich!« Einige Passanten schauten neugierig zu ihnen hin. Auch Piri war überrascht von Nadils heftiger Reaktion. »Was ist denn mit dir los?« »Nichts«, zischte Nadil verstimmt. »Aber seit Jahren verspricht man uns, in Mangarath das Sternputzerdorf sehen zu dürfen, und jetzt?« 57
»Es geht nun mal nicht«, erklärte Toralon streng. »Und warum?« »Weil es nicht geht. Punkt und Schluss.« »Aha«, schimpfte Nadil. »Eine schöne Stadt ist das hier. Überall spielt Musik und fliegt man auf Klangwolken umher, aber alles, was wirklich interessant ist, wird verschwiegen. Die Aufpasser bewachen etwas, das niemand kennt, und sprechen Verbote aus, die keinen Grund haben. Wirklich ein schöner Ort. Kein Wunder, dass mein Großvater mich immer gewarnt hat, nach Mangarath zu fahren.« Nadil konnte gar nicht so schnell zucken, wie ihn Meister Toralons Ohrfeige traf. Piri stand da wie vom Donner gerührt. Was war denn mit den beiden los? Meister Toralon schäumte plötzlich vor Wut, hielt sich jedoch im Zaum. Nadil bebte. Er starrte Meister Toralon hasserfüllt an. »Du gehst sofort in die Herberge«, befahl Toralon mit schneidender Stimme. »Piri, du bringst Nadil zurück, und ihr wartet dort auf mich. Verstanden?« Damit raffte er seinen Mantel zusammen und stolzierte durch die Menge davon. »Bist du verrückt geworden, so mit Meister Toralon zu sprechen?«, flüsterte Piri. »Was ist denn in dich gefahren?« Nadil wandte sich brüsk zum Gehen und antwortete nicht. Piri kletterte von seinem Stein herunter und schloss zu ihm auf. »Nadil, antworte mir gefälligst. Was soll denn das?« Aber Nadil wollte nichts sagen. Wenn er den Mund geöffnet hätte, dann hätte er sicherlich losgebrüllt vor Wut. Etwas an Meister Toralon hatte ihn soeben zutiefst empört. Wie der Mann vor diesen Stierwächtern buckelte. Irgendetwas stimmte doch hier nicht. Aber wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass die Bemerkungen über Saru, die er vorhin belauscht hatte, diese bittere, ja giftige Stimmung in ihm ausgelöst hatten. Und gleichzeitig begriff 58
er nicht, warum Pegario ihm das Amulett zugesteckt hatte. Wollte der Sternputzer vielleicht mit ihm allein sprechen? Hatte er Meister Toralon gegenüber Theater gespielt, weil die Stierwächter dabei waren? Er musste ihn aufsuchen. Jawohl, das würde er tun. Irgendwie unter vier Augen mit ihm allein sprechen. »Nun lauf doch nicht so schnell«, hörte er Piris keuchende Stimme hinter sich. »Verdammt, Nadil, was ist denn nur los mit dir?« Er blieb stehen und wartete auf seinen Freund. Der konnte ja wirklich nichts dafür. »Piri, bist du mein Freund oder nicht?«, fragte er, als der schwer atmend neben ihm stand. »Äh ... was, ja, natürlich bin ich dein Freund.« »Hier ist irgendetwas faul. Ich will herausfinden, was. Hilfst du mir?« Piri schüttelte den Kopf. »Ich will gar nichts herausfinden«, sagte er mit weinerlicher Stimme. »Ich will hier meinen Spaß haben. Was ist denn bloß in dich gefahren?« Nadil wandte sich ab und ging rasch weiter. »He, Nadil.« Er spürte, dass sein Freund ihn an der Jacke festhielt. »Hör mal, wir gehen jetzt ins Zischadin und warten auf Meister Toralon, ja? Dann versöhnst du dich mit ihm und alles ist gut, einverstanden?« »Ich gehe überhaupt nicht ins Zischadin«, versetzte Nadil. »Ich gehe zum Sterntor.« »Was?« »Du hast mich genau verstanden.« Piri war blass geworden. Sogar das Pfauenauge an seinem Hemdenkragen sah plötzlich verschrumpelt aus. »Das dürfen wir nicht. Es ist streng verboten.« »Seit wann denn? Und warum überhaupt? Ich will wenigstens wissen, warum es verboten ist. Saru hat mir immer 59
gesagt: Wenn dir jemand etwas verbieten will und dir nicht erklärt, warum, dann kümmere dich nicht um das Verbot.« Pili schüttelte energisch den Kopf. »Nadil, mach keinen Unfug.« Nadil ging einfach weiter, während Piri neben ihm herstolperte. »Ich finde schon einen Weg. Also, kommst du jetzt mit oder nicht?« »Aber Meister Toralon ...« Nadils Augen blitzten angriffslustig, und er schnitt Piri einfach das Wort ab. »... ist nicht mehr unser Meister. Wir sind jetzt selber Meister. Hast du das vergessen?«
\8\ Bevor sie richtig wussten, wie es geschehen war, fanden sie sich plötzlich in einem Teil von Mangarath wieder, den sie nicht kannten. Hier waren kaum Besucher unterwegs, und es stellte sich auch gleich heraus, warum. In diesem Viertel gab es weder Herbergen noch Klangwunder. Es gab nur hoch aufragende Mauern. Aber sie konnten nicht weit von der Arena der Glückssänger entfernt sein, denn ihr Gesang hallte von den Wänden wider. »Wir werden uns verlaufen«, wimmerte Piri. »Ach was«, erwiderte Nadil. »Das Sterntor muss hier ganz in der Nähe sein.« »Woher willst du das wissen?« »Von Saru. Er ist oft hier gewesen, sogar schon, als es Mangarath noch gar nicht gab.« »Nicht gab?«, fragte Piri jetzt verwundert. »Was meinst du denn damit?« Nadil blieb stehen und schaute seinen Freund an. »Sag mal, 60
machst du dich über mich lustig?«, fragte er dann. »Du weißt doch so gut wie ich, dass Mangarath gerade mal zehn Jahre alt ist. Früher war hier nur das Sternputzerdorf. Es ist immer hier gewesen.« Piri kratzte sich am Kopf. »Ich... ich kann mich gar nicht so recht daran erinnern«, sagte er dann. Nadil runzelte die Stirn. »Nicht erinnern?«, fragte er dann. »Also so etwas. Das weiß doch jedes Kind. Die Stierwächter haben vor einigen Jahren Mangarath erbaut, um Phantásien vor dem Nichts zu retten.« Nadil wollte weitersprechen, aber plötzlich wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Irgendetwas in seinem Kopf war seltsam. Eben war da noch ein Gedanke gewesen, doch jetzt war er nicht mehr da. Warum hatten die Stierwächter Mangarath erbaut? Um das Nichts zu besiegen? Ja, das wusste er. Aber wie war es damit eigentlich zugegangen? Während er darüber nachdachte, gingen sie weiter, und nicht lange darauf sahen sie in der Ferne das Sterntor aufragen. Doch was war das? Nadil reagierte schnell und zog Piri hinter einen Mauervorsprung. Vorsichtig schauten beide hervor und betrachteten fassungslos das Bild, das sich ihnen darbot. Das Sterntor war zugemauert! Oder vielleicht sollte man besser sagen: Es war in einer riesigen Mauer verschwunden. Mit Mühe konnte man noch den geschwungenen Bogen erkennen, der das Tor einmal eingerahmt hatte, aber das war auch schon alles. Nur eine kleine Holztür, die von zwei Stierwächtern bewacht wurde, zeugte davon, dass es hier einmal einen Durchgang gegeben hatte. Piri und Nadil betrachteten stumm den eigenartigen Ort. Dann zeigte sich jedoch, dass offenbar nicht nur sie vom Verschwinden des Sterntores überrascht worden waren. Soeben traf nämlich eine Gruppe Rennschnecken auf dem Platz vor 61
dem Tor ein und wurde von einem der Stierwächter barsch zur Umkehr aufgefordert. »Wir möchten das Sterntor besichtigen«, hörten sie eine Schnecke sagen. »Aber offensichtlich haben wir uns verrannt. Wo bitte finden wir das berühmte Tor zum Sternputzerviertel?« »Das Tor ist geschlossen«, brummte ein Stierwächter und trat auf die Rennschnecken zu. »Aber warum denn?«, riefen die Schnecken aus. »Aus Sicherheitsgründen. Los, weg hier. In diesem Teil von Mangarath sind Besucher nicht zugelassen.« Nadil und Piri schauten sich erstaunt an. »Siehst du«, flüsterte Nadil. »Das ist doch nicht normal. Irgendetwas stimmt hier nicht. Findest du das nicht eigenartig?« Piri schaute furchtsam zu den Rennschnecken hinüber, die jetzt kehrtmachten. »Ich weiß nicht.« »Schau mal, dort!« Piri fuhr erschrocken herum und sah in die Richtung, die Nadil ihm gewiesen hatte. Seine Augen wurden weit. »Oh«, wisperte er. »Sternputzer.« Und tatsächlich: Da kamen sie lautlos vom Himmel herabgesegelt. Eine ganze Staffel. Es mussten gut und gern zweihundert sein. Sie schwebten herab und landeten irgendwo außer Sichtweite hinter der hohen Mauer. »Das Sternputzerviertel ist völlig eingeschlossen«, flüsterte Nadil. »Und wir sind nicht die Einzigen, die sich darüber wundern. Die Rennschnecken fanden es genauso seltsam. Das Sterntor war früher nie bewacht. Das ist einfach nicht normal!« »Ich gehe jetzt«, sagte Piri und machte auf dem Absatz kehrt. Nadil wartete noch einen Augenblick. Aber dann sah er 62
ein, dass er hier nichts ausrichten konnte. Das Sternputzerviertel war zu gut bewacht. Er käme dort nie hinein. Die nächste Sternputzerstaffel segelte herab. Nadil schaute neugierig zu ihnen hin. Aber aus der Entfernung konnte er nicht viel erkennen. Plötzlich setzte sich einer der Stierwächter in Bewegung. »Halt! Wer ist da?«, rief er. Nadil drehte sich um. Piri stand mitten auf der Gasse im Blickfeld des Wächters. »Verdammt«, entfuhr es Nadil. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein! »Halt! Stehen bleiben!« Aber Piri rannte auf und davon. Nadil sali den Stierwächter loslaufen. Noch eine Sekunde lang zögerte er. Dann stürzte auch Nadil hinter dem Mauervorsprung lervor und folgte Piri. Er hatte keine Wahl gehabt. Der Wächter hätte ihn mit Sicherheit entdeckt. Nadil rannte, so schnell er konnte. Piri war nur wenige Schritte vor ihm, doch der Stierwächter hinter ihnen war auch nicht weit entfernt. Plötzlich war Piri verschwunden. Im nächsten Augenblick sah Nadil auch, wohin: Eine schmale Gasse bog hier nach rechts ab. Er lief hinein. Nach wenigen Metern zweigte eine noch kleinere Passage ab und führte in einen dunklen Gang. Nadil konnte nichts sehen. Aber er hörte Piris davoneilende Schritte. Ohne zu überlegen, stürzte er hinterher, denn nicht weit hinter sich hörte er das Schnaufen des heraneilenden Stierwächters. Der Gang wurde immer schmaler. Oje, wenn es eine Sackgasse war? Aber er hatte keine Wahl. Da griff eine Hand nach seinen Haaren. Erschrocken blieb er stehen. »Psst, hier herauf«, hörte er Piris Stimme. Und im nächsten Augenblick spürte er, wie Piri ihn nach oben zog. Aber wo waren sie jetzt? Nadil sah sich suchend um. Überall lag Schmutz herum. Über ihren Köpfen schien sich eine 63
Treppe zu befinden. Und etwas weiter entfernt sahen sie einen Lichtschimmer. »Schnell, dort entlang«, wisperte Piri. »Wir sind im Stadion der Glückssänger. Wenn wir uns unter die Sänger mischen, wird er uns niemals finden.« Und schon eilten sie weiter, unter den Stadionsitzen hindurch bis zu einem der Aufgänge, wo ein erstaunter Wolkenschlucker, der dort Umhänge verteilte, ihnen eine Robe aushändigte. »Wo kommt ihr denn her?«, fragte er noch. Aber sie rissen ihm nur die Roben aus der Hand, streiften sie rasch über und beeilten sich, die Ränge hinaufzugelangen und sich unauffällig unter die Sänger zu mischen. Ihre Herzen pochten wild. Aber der Stierwächter war nirgends zu sehen. »Er ist bestimmt gar nicht aus dem Schacht herausgekommen«, flüsterte Piri. »Das Loch in der Decke war zu klein für ihn.« Nadil nickte. Die Angst saß ihm noch im Nacken. Das war ja gerade noch mal gut gegangen. »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte er verzagt. »Lass uns eine Weile singen«, schlug Piri mit zitternder Stimme vor. Offensichtlich hatte die ganze Aufregung ihm auch gehörig zugesetzt. Nadil vergewisserte sich, dass auch wirklich kein Stierwächter in der Nähe war, und betrachtete dann die Umgebung. Weit unter ihnen trippelte eine Herde Zwergelefanten durch die Arena und blieb in diesem Moment stehen. Der Glückschor um sie herum sang aus tausend Kehlen. Was für eine Musik! Nein, eigentlich war es gar keine richtige Musik. Jedenfalls wurde Nadil ganz anders davon. Es hatte etwas Hypnotisierendes. Seine Gedanken gehorchten ihm nicht mehr. Er fühlte alles Schwere von sich abfallen. Ja, er vergaß fast, dass er soeben noch furchtbare Angst ausgestan64
den hatte. Er wollte nur noch hier stehen und singen, wie tausend andere um ihn herum auch. Plötzlich sang er, wie er in seinem Leben noch nie gesungen hatte. Ein nicht abreißender Zug von Neuankömmlingen bewegte sich währenddessen andächtig durch die Arena. Auf die Zwergelefanten, die sich allmählich wieder in Gang setzten und freudig drauflostrompeteten, folgten Himbeergnitzen, Sumpftrolle, gerindete Wourkas, gelbe Duftkröten, Ratzspatzen, Brüllpilze und sogar ein gestreifter Gollop. Nadil begriff jetzt, warum der Glückschor diesen Namen trug: Ein solches Glücksgefühl hatte er überhaupt noch nicht erlebt. Im Geräuschdom schwebte man auf Klangwolken herum, aber hier flog einem buchstäblich das Herz zum Himmel. Er schaute um sich und betrachtete die entzückten Gesichter der anderen Sänger. Viele von ihnen hielten die Augen geschlossen und wiegten sich im Rhythmus der Melodie, die einfach jeden völlig verzauberte. Etwas kitzelte ihn im Ohr, doch er achtete kaum darauf, so überwältigt war er von dem Erlebnis. Piri schien es ähnlich zu gehen. Er hielt die Augen halb geschlossen und genoss die milde Ekstase, in die ihn diese herrliche Musik versetzte. Auf einmal sah Nadil etwas Merkwürdiges. Direkt vor ihm stand ein Zentaur. Er hatte ihn schon mehrfach neugierig betrachtet, denn die Gelegenheit, einen Zentauren aus der Nähe zu sehen, bot sich nur selten. Ja, es war überhaupt eigenartig, ein so scheues, einzelgängerisches Wesen, das sogar noch jenseits der Sümpfe der Traurigkeit lebte, hier im Glückschor anzutreffen. Doch was Nadil besonders verwunderte, war das Verhalten des Zentauren. Der hatte nämlich soeben etwas erhascht, das an ihm vorbeigeflogen war, und dann in sein Ohr gesteckt. Nadil kniff die Augen zusammen und versuchte zu er65
spähen, was das wohl sein konnte. Und da geschah es schon wieder. Auch andere Glückssänger griffen nach irgendetwas, das über ihnen herumflog. Aber was war es nur? Er schaute nach oben. Und dann sah er es. Über ihm schwirrten Raupen durch die Luft, winzig kleine Raupen, die ein bisschen wie Kaulquappen aussahen, glitschige schwarze Bällchen mit einem Schwänzchen, an dessen Ende bei manchen auch ein dünner schwarzer Schleier hing. Einige Kugelraupen hatten einen weißen Punkt auf dem Bauch, aber eigentlich sahen sie alle gleich aus. Und dann durchfuhr es Nadil: das Kitzeln im Ohr. Natürlich. Es waren überhaupt keine Raupen. Es waren Ohrwürmer. Igitt! Er schüttelte sich und spürte, wie der kleine Ohrwurm, der kurz zuvor unbemerkt in sein Ohr geschlüpft war, wieder herauspurzelte. »Piri«, rief er. »Piri!« Aber sein Freund hörte ihn nicht. Er sang nämlich laut und kräftig und merkte gar nicht, was für eine Ohrwurmwolke sich da gerade über ihm zusammenzog. Doch Nadil sah es jetzt ganz deutlich. Überall schwirrten die ekligen Würmer herum, und viele Sänger steckten sich die kleinen Biester auch noch extra in die Ohren. »Piri, Piri!« Nadil schüttelte ihn. Endlich schaute sein Freund zu ihm hin. »Was ist denn?«, rief er unwirsch. »Komm mit, ich will hier nicht bleiben.« »Aber wieso denn? Es ist doch herrlich hier!« »Hast da mal nach oben geschaut? Hier fliegen überall Ohrwürmer herum!« Piri zuckte mit den Schultern. »Na und? Was hast du denn gegen Ohrwürmer?« Nadil schüttelte sich. »Ich mag sie nicht«, schrie er durch den Jubelgesang hindurch, der ihm jetzt schon eher wie ein 66
Getöse vorkam. Er mochte Musik ja sehr, aber der Gedanke, so einen schwarzen Glibberwurm im Ohr zu haben oder ihn sich womöglich auch noch freiwillig hineinzustecken, gefiel ihm überhaupt nicht. »Ich gehe ins Zischadin zurück.« Piri verzog unwillig das Gesicht, folgte aber schließlich seinem Freund, der sich bereits einen Weg durch die dicht stehende Menge bahnte, die Hände schützend auf seine Ohren gelegt.
\ Es zeigte sich, dass Piri mit seiner Vermutung Recht gehabt hatte. Meister Toralon war noch nicht im Zischadin eingetroffen, und es dauerte noch fast eine Stunde, bis er mit Masia und Beliar im Schlepptau die Eingangshalle betrat. Die Mädchen hatten knallrote Köpfe von den heißen Klängen der Thermen und konnten kaum an sich halten vor Begeisterung und Mitteilungsdrang. »Ihr habt das Beste verpasst«, platzten sie wie mit einer Stimme heraus. »So etwas gibt es nicht noch einmal.« Während der nächsten zehn Minuten mussten sich Piri und Nadil eine nicht enden wollende Beschreibung anhören. Das Wechselbad von heißen Rhythmen und kühlen Hängen hatte die Mädchen ganz kirre gemacht. Sie kicherten ständig und übertrafen einander in den schrillsten Schilderungen. Nadil und Piri erzählten natürlich nichts von ihrem Ausflug in die Nähe des Sterntors und zu den Glückssängern, auch wenn es Piri schwer zu fallen schien, den Mund zu halten und den Mädchen diesen Triumph zu lassen. »Morgen ist auch noch ein Tag«, erstickte Meister Toralon glücklicherweise den drohenden Wettstreit im Keim. »Es ist spät. Ab in die Muscheln.« 67
Nadil musterte seinen Lehrer unsicher, aber der schien auf den Vorfall von vorhin genauso wenig zurückkommen zu wollen wie er selbst. Meister Toralon ignorierte ihn einfach, ordnete an, wann man sich zum Frühstück treffen würde, und trieb sie dann vor sich die Treppe hinauf. Im Grunde war Nadil froh, dass der Zwischenfall damit erst einmal begraben war. Er musste über so vieles nachdenken. Als sie in ihrer Schlafhöhle angekommen waren, kroch er so schnell er konnte in seine Schlafmuschel. Er bat sie, ihre Lichtperle noch ein wenig leuchten zu lassen, und war froh, als die Muschel sich mit einem leisen, schmatzenden Geräusch über ihm schloss. Endlich war er allein. Er setzte sich hin und lauschte. Irgendetwas war merkwürdig. Aber es dauerte einige Momente, bis er erkannte, was: Sogar hier drinnen hörte er ein Summen. Es gab in dieser Stadt wirklich keinen Ort, wo kein Geräusch zu hören war. Die Vorfalle des Tages zogen an ihm vorüber. Eigentlich war heute alles schiefgegangen. Das Missgeschick mit Elfenauge, der beschädigte Flügel, Beliars patzige Art, die unheimlichen Stierwächter, die Begegnung mit Josian Pegario ... Wie sollte man nach solch einem Tag einschlafen können? Er griff in seine Tasche und holte das Amulett hervor. Das Gespräch, das er belauscht hatte, ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er wartete, überlegte. Endlich berührte er die leuchtende Perle über seinem Kopf, und sie erlosch augenblicklich. Dann strich er über die schimmernde Innenhaut seiner Muschel. Langsam öffnete sie sich. Sofort drangen die Geräusche Mangaraths wieder ungedämpft an sein Ohr. Die Muscheln seiner Freunde waren alle geschlossen. Nicht einmal ein Lichtschimmer war zwischen den Ritzen zu sehen. Nadil glitt lautlos zum Boden hinab. Er konnte nicht schlafen. Er musste zu Josian Pegario. 68
\9\ »Was willst du damit sagen?«, fragte Jiinn-Garagor erregt. »Du hast sie nicht erwischt?« Der Offizier schüttelte den Kopf. »Ich habe sie verfolgt, aber sie sind im Stadion der Glückssänger verschwunden. Dort konnte ich sie unmöglich finden.« »Und du hast keinerlei Anhaltspunkte, wer es war oder was sie am Sterntor wollten?« Der Offizier schwieg, den Kopf gesenkt, und einen Augenblick lang hörte man nichts als das Summen des riesigen Summsteins, aus dem Jiinn-Garagors höhlenartige Behausung herausgeschlagen worden war. »Nein, leider nicht«, sagte er schließlich. »Aber seit dem letzten Zwischenfall sollen wir doch alle Vorfälle dieser Art melden. Deshalb bin ich gekommen.« »Melden!«, schrie Jiinn-Garagor. »Ja, natürlich sollt ihr solche Vorfälle melden. Aber vor allem sollt ihr sie verhindern! Was helfen mir diesen vagen Angaben? Zwei Unbekannte haben das Sterntor ausspioniert und sind weggelaufen, als ihr sie entdeckt habt. Ihr wisst weder, wer sie waren, noch was sie dort wollten.« »Es müssen Leute aus der Stadt gewesen sein«, verteidigte sich der Offizier. »Diese Gasse, diese Flucht durch die Unterbauten des Stadions ... Ein Auswärtiger hätte diesen Weg nie gefunden.« »Umso schlimmer«, dröhnte Jiinn-Garagor. »Das heißt also, dass wir Spione in der Stadt haben, von denen wir nichts wissen, irgendwelche Leute, die um das Sternputzerviertel herumschleichen.« »Die Leute sind neugierig«, versuchte ihn der Offizier zu beschwichtigen. »Jeden Tag kommen einige und wollen das 69
Sterntor sehen. Es ist eben sehr bekannt, und viele wissen noch nicht, dass es geschlossen wurde.« »Ja, eben. Aber diese beiden haben sich versteckt. Das waren keine normalen Neugierigen wie die Rennschnecken, von denen du erzählt hast. Oder?« »Nun ja«, gab der Offizier zu, »es stimmt schon, dass sie uns heimlich beobachtet haben.« Jiinn-Garagor erhob sich und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Doppelte Bewachung. Ab sofort. Kein Risiko. Verstanden? Los jetzt. Wegtreten!« Der Offizier verließ mit gesenktem Kopf das Zimmer. JiinnGaragor blieb zurück und starrte wutentbrannt auf die Tür, die sich hinter dem Stierwächter schloss. Schon das zweite Missgeschick an einem Tag, dachte er. Wenn Forcas davon erfahren würde. Aber das war unwahrscheinlich. Forcas hatte die Stadt ja bereits wieder verlassen. Damit war Jiinn-Garagor als oberster Stierwächter Herr der Situation und brauchte nur dafür zu sorgen, dass seine Leute nicht nachlässig wurden. Aber wie? Die Sache mit diesem Saru war noch keinen Monat her, und schon wurden sie wieder unaufmerksam. Dabei war die Situation noch immer angespannt. Er spürte es. Die Sternputzer waren zwar völlig demoralisiert von den Erscheinungen am Himmel und hatten eingewilligt, um des lieben Friedens willen Ruhe zu bewahren. Aber dieser Saru hatte mit einigen aufpeitschenden Reden fast einen Aufstand herbeigeführt. Und dann war er sogar nach Silandor hineingelangt. Um ein Haar wäre alles verloren gewesen. Und jetzt war Forcas höchstpersönlich gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Welche Schmach. Die Stierwächter von Mangarath, die Retter Phantásiens, sollten nicht in der Lage sein, für Ruhe und Ordnung zu sorgen? Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Er schaute nach oben. 70
Seine Summsteinhöhle verfügte über eine hohe, gewölbte Decke, aus der in der Mitte eine schachtartige Öffnung nach draußen führte. Aus dieser Öffnung drang, allmählich stärker werdend, ein brummendes Geräusch, welches das andauernde Summen des Steins allmählich übertönte. Dann ragten plötzlich sechs lange, schwarz behaarte Insektenbeinchen aus dem Loch hervor. Aha, dachte Jiinn-Garagor, da kommt sie ja schon. Und er schaute zufrieden zu, wie sich eine ausgewachsene Quäldrohne aus dem Schacht herabließ. »Guten Tag, Skrißßßisss!«, sagte er und musterte die Drohne, die jetzt auf Brusthöhe vor ihm in der Luft stand und misstrauisch um sich blickte. Skrsss, skrsss, machten ihre grünlich schillernden Flügel, die in atemberaubender Geschwindigkeit auf und ab schlugen. Ansonsten blickte die Drohne ihn wortlos an und streckte ihren langen, haarigen Rüssel, aus dem viele kleine Häkchen hervorwuchsen, neugierig in der Luft herum. »Wasss gibtsss?«, zischelte sie dann und rieb ihre beiden Hinterbeine aneinander, ohne ihre Stellung zu verändern. Dabei fuhr mehrmals ein langer, glänzender Stachel aus ihrem Hinterteil heraus. »Ärger«, knurrte Jiinn-Garagor. »Setz dich bitte hin und hör auf so herumzubrummen.« Skrißßßisss rollte ihren Rüssel ein und ließ sich vor JiinnGaragor auf dem Tisch nieder, der gerade groß genug für sie war. »Ich hoffe, niemand hat dich gesehen. Du bist ja wohl in der Dunkelheit geflogen, oder?« »Gewisss!«, zischelte die Quäldrohne und verzog ihr Gesicht. »Und es haben dich auch keine Sternputzer oder Schmetterlinger gesehen?« 71
»Diesesss Geschmeisss!«, giftete das Insekt und schüttelte sich. »Niemand weissss, dassss Skrißßßisss hier issst...« »Gut«, schnitt Jiinn-Garagor ihr das Wort ab. »So soll es auch bleiben. Aber ich will, dass du von jetzt ab jede Nacht über dem Sternputzerviertel patrouillierst. Es könnte nämlich sein, dass jemand versucht, dort einzudringen, und falls dies geschehen sollte, musst du das verhindern, verstehen wir uns?« »Gewisss«, antwortete Skrißßßisss und schlug nervös mit den Flügeln. »Kein Sternputzer wird mir entkommen!« »Unsinn«, rief Jiinn-Garagor, »die Sternputzer lässt du natürlich in Ruhe. Es sei denn, sie versuchen außerhalb des Sternputzerviertels zu landen. Aber das werden sie nicht tun. Außerdem kümmern wir uns um solche Fälle. Du sollst dich nur um jeden anderen Eindringling kümmern, der versuchen sollte, das Sternputzerviertel aus der Luft zu erreichen. Niemand darf zu ihnen. Verstehen wir uns?« Anstelle eine Antwort begann Skrißßßisss wieder mit den Flügeln zu schlagen und schoss plötzlich durch den Raum. »Gewisss, gewisss«, zischte sie, und es klang, als könnte sie es kaum erwarten, den ersten Eindringling anzufallen. »Dann los jetzt, auf deinen Posten.« Die Quäldrohne verschwand auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war, und kurz darauf waren wieder nur das Summen der Steine und das nervöse Klopfen von JiinnGaragors Finger auf seinem Tisch zu hören. Er überlegte, was er sonst noch tun konnte, um die Sicherheit Mangaraths zu verbessern. Aber mehr fiel ihm gegenwärtig nicht ein. Kein Grund, nervös zu sein, dachte er und legte seine Hände übereinander.
72
\ 10 \ Allein durch die Straßen von Mangarath zu gehen war ein völlig anderes Gefühl, als wenn Piri oder die ganze Gruppe ihn begleiteten. Die vielen Geräusche bekamen auf einmal etwas Bedrohliches. Vielleicht lag es auch daran, dass seine Sinne jetzt geschärfter waren, denn einerseits hatte Nadil Angst, einem Stierwächter in die Arme zu laufen, andererseits musste er immer wieder an Saru denken. Was war nur mit dem Großvater geschehen? Warum verheimlichte Meister Toralon, dass er durchaus etwas über Sarus Schicksal wusste? Und warum war Toralon überhaupt so merkwürdig zu ihm? Was auch immer Saru getan hatte: Der Lehrer schien damit nicht einverstanden zu sein, und vielleicht war er deshalb so unfreundlich zu ihm – weil er Sarus Enkel war? Je länger Nadil darüber nachdachte, desto stärker wurde die Erinnerung an seinen Großvater. Ja, er konnte ihn fast vor sich sehen: Saru in seinem bunten Reisemantel. Wenn er von seinen Reisen zurückkehrte, hatte er immer die unglaublichsten Abenteuer erlebt. Nadil kannte überhaupt niemanden, der so viel in Phantásien herumgereist war wie Saru. Eigentlich reisten Phantásier nicht viel. Sie blieben am liebsten unter sich und meistens, wo sie waren. Doch Saru war immer unterwegs gewesen. Es hielt ihn nie lange in Nevisehr, und am Bemalen von Schmetterlingsflügeln hatte er auch nie besonderen Geschmack gefunden. Auf Schmetterlingen herumfliegen, ja, das war schon eher seine Sache gewesen, und daher hatte er auch so viel gesehen, so zum Beispiel in Lilliput die berühmten, in den Boden gerammten Pflöcke, an denen man vor Urzeiten einen fremden Riesen festgebunden hatte. Einmal war Saru sogar einem Allerleirauh begegnet, das allerdings schon ziemlich durchsichtig geworden war. Und 73
auf einer dieser Reisen hatte er beunruhigende Gerüchte gehört: Ganz weit entfernt, an den äußersten Grenzen Phantâsiens, sei vor einigen Jahren etwas Schreckliches geschehen. An einem Ort namens Sirinn-Elial habe sich ein grässliches Unglück ereignet. Saru hatte ihm jedoch nie Einzelheiten mitgeteilt, und so wusste Nadil bis heute nichts Genaues. »Ich weiß noch nicht genug darüber«, hatte Saru immer gesagt. »Aber ich werde es herausfinden, und dann wirst du der Erste sein, der es erfährt. Doch so lange musst du das alles für dich behalten, denn alle Phantásier, die von Sirinn-Elial wissen, schweben in Lebensgefahr. Vergiss das nie und erwähne den Ort mit keinem Wort. Versprichst du mir das?« Natürlich hatte Nadil Wort gehalten. Aber jetzt, da Saru verschwunden war, musste er da nicht etwas unternehmen? Ach, er durfte nicht zu sehr an ihn und seine Abenteuer denken. Er musste vielmehr einen Weg finden, durch das Sterntor hindurchzukommen, um mit Pegario zu sprechen. Die abgelegene Gasse, von der aus man das Sterntor unauffällig beobachten konnte, war nicht schwer wiederzufinden. Es sah genauso aus wie zuvor. Allerdings lehnten jetzt nicht zwei, sondern vier Stierwächter an der Mauer neben der kleinen Holztür und unterhielten sich. Nein, dort war kein Durchkommen. Nadil musterte die Mauer. Sie war viel zu hoch. Dort hinaufzuklettern war ausgeschlossen. Er kehrte um und ging in einem großen Bogen um das ganze Sternputzerviertel herum. Doch gleichgültig, aus welcher Richtung er sich dem Viertel näherte, er traf immer nur auf eine hohe Mauer, vor der Stierwächter patrouillierten. Offenbar gab es überhaupt keinen normalen Eingang mehr zu diesem Viertel. Nach einer Weile war er wieder in der Nähe des Sterntors angekommen. Nein, es war sinnlos. Hier konnte er nichts tun. Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand auf die Stirn. 74
Warum war er denn nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen? Es gab doch eine einfache Lösung. Er machte auf der Stelle kehrt, schlug den Weg zum Stadion der Glückssänger ein, schlich in die Arena und ließ sich vom Strom der abreisenden Besucher durch das Stadttor treiben. In diesem Gewimmel würde er nicht auffallen. Und tatsächlich: Schon bald lag das Stadttor weit hinter ihm. Brummlerchen hoppelten links und rechts an ihm vorbei und beförderten Besucher zu den weit vor der Stadt liegenden Stallungen. Nadil blieb nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen, und so dauerte es fast eine Stunde, bis er die Stallungen von Mangarath erreicht hatte. Hier gab es für jedes Fortbewegungsmittel und jede Gepäckart eine eigene Unterkunft: riesenhafte Bäume für Flugdrachen, weitläufige Parkschluchten für die Tretroller der Steinbeißer, ein Wattefeld für die zerbrechlichen Häuschen der Rennschnecken und natürlich einen Seerosenteich, auf dem die Schmetterlinge schliefen. Nadil zog seinen Weitseher aus der Tasche, denn in der Dunkelheit hatte er große Schwierigkeiten, seinen Schmetterling zu finden. Der Gucko erspähte Elfenauge mühelos auf einer der vielen Blüteninselchen, und kurz; darauf saß Nadil bereits auf dem Rücken des Schmetterlings und flog zum Himmel hinauf. »Geht es schon nach Hause?«, fragte Elferauge verschlafen und offenbar auch ein wenig überrascht. »Nein, Elfenauge«, erklärte Nadil. »Ich möchte jemanden besuchen, und der Weg ist etwas zu weit. Siehst du die dunkle Stelle dort unten?« Der Schmetterling zog einen weiten Kreis über der glänzenden Stadt und drehte seinen Kopf suchend hin und her. »Dort, wo die Mauer steht?«, fragte er. »Ja. Kannst du einmal darüber hinwegsegeln? Aber ganz 75
lautlos und unauffällig, bitte. Die Leute dort schlafen nämlich schon.« Nadil hatte kein besonders gutes Gefühl dabei, den Schmetterling anzulügen, aber wie sollte er ihm die ganze Situation auch erklären? Womöglich hätte Elfenauge sich sogar geweigert, ihn in das verbotene Viertel zu bringen. Nein, eine kleine Notlüge war in dieser Situation die beste Lösung. Elfenauge war ein hervorragender Flieger, und lautlos zu segeln machte ihm überhaupt keine Mühe. Mit einigen starken Schwingenschlägen stieg er hoch hinauf, spreizte seine Flügel dann zu ihrer ganzen Breite auseinander und schoss in einem großen Bogen abwärts, direkt auf das Sternputzerviertel zu. Nadil jauchzte innerlich. Was für ein großartiger Schmetterling Elfenauge doch war, sogar mit einem notdürftig geflickten Flügel! »Jetzt etwas langsamer«, flüsterte Nadil. Elfenauge gehorchte. Geräuschlos glitten sie durch die sternenklare Nacht. Unter ihnen zog das Sternputzerviertel vorüber. Nirgends war Licht zu sehen. Ja, es schien fast, als wäre hinter der Mauer, die das Viertel umschloss, überhaupt kein Leben vorhanden. Nadil überdachte noch einmal seinen Plan. Hineinkommen konnte er auf diese Weise vielleicht. Aber wie sollte er eigentlich wieder zurückkommen? Sollte er Elfenauge bitten, auf ihn zu warten? »Kannst du auf einem der Dächer landen?«, fragte Nadil, als sie über das dunkle Viertel hinweg waren. »Natürlich«, erwiderte Elfenauge stolz. »Ich kann überall landen.« Und kaum gesagt, holte er wieder Schwung, machte kehrt und hielt direkt auf ein Dach inmitten des Viertels zu. Die Oberfläche der Dächer schimmerte im Mondlicht. Elfenauge verlangsamte seinen Flug. Ja, dachte Nadil, das wäre wohl die beste Lösung. Elfenauge sollte auf einem der Dächer 76
warten. Da kam es ihm ja jetzt fast zugute, dass er kaum noch farbigen Staub auf den Flügeln hatte. So war er in der Nacht wohl kaum zu sehen. Aber was war das? Skkrssss! Skkrsss! Ein scharfes Fauchen zerschnitt plötzlich die Stille. Elfenauge zuckte zusammen. Pfeilschnell schoss etwas Dunkles heran. Die Bewegung war so rasend schnell, dass Nadil überhaupt nicht erkennen konnte, was es war. Wäre Elfenauge nicht noch schneller ausgewichen, so wären sie unweigerlich mit dem unbekannten Angreifer zusammengestoßen. Doch Elfenauge schlug instinktiv einen Haken und wechselte dann blitzartig erneut die Richtung. Nadil verlor den Halt. Er stürzte und sah erst im Fallen, was da in der Dunkelheit auf sie gelauert hatte: eine Quäldrohne! Elfenauge war verloren, schoss es ihm durch den Kopf. Und zugleich sagte er sich, dass er sich getäuscht haben musste. Eine Quäldrohne flog hier frei herum? Solch eine Bestie? Über dem Sternputzerviertel? Nein, das konnte doch überhaupt nicht sein. Mehr Zeit zum Überlegen hatte Nadil nicht. Er schlug auf. Wenigstens war er weich gefallen, auf weichen Sand. Aber nein, es war natürlich Staub. Sternstaub. Überall auf der Straße, knöcheltief. Sogleich peinigte ihn ein schrecklicher Juckreiz in der Nase, aber er wagte nicht zu niesen. Außerdem musste er zusehen, dass er den Staub so schnell wie möglich von seiner Jacke herunterklopfte, denn schließlich war Sternstaub in Phantásien ja dazu da, Schmetterlinge in die Luft steigen zu lassen und nicht etwa Schmetterlinger. Ja, mit Sternstaub war überhaupt nicht zu spaßen, denn wer weder Flügel noch Flugübung hatte, der konnte sich leicht den Hals brechen, wenn er damit herumspielte. Nadil gelang es jedoch, den Staub abzuschütteln, so dass er nicht hilflos davonschwebte, sondern schonbald fest auf dem 77
Boden stand. Dann blickte er in den dunklen Nachthimmel hinauf, aus dem er soeben heruntergefallen war. Aber weder die Quäldrohne noch Elfenauge waren zu sehen. Die Nacht schien alle beide verschluckt zu haben. Hoffentlich war seinem Schmetterling nichts zugestoßen, dachte er voller Reue. Er musterte seine Umgebung. So wohnten also Sternputzer, in achteckigen Lehmhäuschen, die mit dunkelblauen, sternförmigen Kacheln verziert waren. Er schlich vorsichtig an den Häuschen entlang. Nirgends ein Licht. Und kein Lebenszeichen von den Bewohnern. Wo waren sie nur alle? Konnte er es wagen, an eine Tür zu klopfen? Er nahm allen Mut zusammen und ging auf eine Haustür zu. Im gleichen Augenblick hörte er hinter sich ein Geräusch. »Psst.« Nadil fuhr herum. Im ersten Moment dachte er, die Quäldrohne hätte ihn verfolgt und flöge zischend auf ihn zu. Aber dann sah er, dass da jemand vor ihm stand. Die Gestalt war entweder aus dem Nichts aufgetaucht, oder er hatte sie in der Dunkelheit übersehen. »Was machst du hier, bei allen Sumpftrollen?« Nadil riss die Augen so weit auf, wie er nur konnte, doch in der Dunkelheit vermochte er nur die Umrisse einer Gestalt auszumachen. Es musste ein Sternputzer sein. »Ich ... ich suche Herrn Pegario. Josian Pegario.« Die Gestalt kam näher. »Bist du völlig verrückt geworden?«, flüsterte der Unbekannte. »Wie bist du hier hereingekommen?« »Ich ... ich ...« Aber da hob der Sternputzer plötzlich die Hand. »Psst«, zischte er und hob lauschend den Kopf. Und dann hörte auch Nadil das Geräusch. Ein dumpfes Grollen wälzte sich heran. Im nächsten Augenblick ergriff der Unbekannte ihn am Arm und zog ihn hinter sich her zwi78
sehen zwei Häuser. Das Grollen kam näher. Jetzt erkannte Nadil auch, was für ein Geräusch das war. Es waren Hufe, die auf den sandigen Boden stampften. Bei den Sümpfen der Traurigkeit: Die Stierwächter waren hinter ihm her! »Los, da hinein«, befahl der Unbekannte und stieß Nadil auf eine Tür zu, die sich sofort hinter ihnen schloss. Keinen Augenblick zu früh: Die Straße erbebte unter dem Getrappel der vorbeistürmenden Wächter. Nadil kauerte sich angstvoll in eine Ecke des Raumes, in den sie geflüchtet waren. Durch das Fenster sah er für einen Augenblick die furchterregenden Fratzen seiner Verfolger. Was hatte er nur getan? Wie hatte er nur wagen können, hierher zu kommen? »Los, hier hinaus«, rief sein unbekannter Beschützer. Er öffnete eine andere Tür, die in einen Keller führte, und Nadil folgte ihm. Von dort schlichen sie in einen weiteren Keller und dann über eine Treppe in ein benachbartes Haus. So ging das eine ganze Weile, und Nadil hatte längst jegliche Orientierung verloren, als der Unbekannte endlich innehielt. »Hier warten wir, bis die Gefahr vorüber ist. Es ist vorläufig der sicherste Ort.« Nadil ließ sich zu Boden sinken. Er war völlig außer Atem. »Danke«, brachte er heraus. Der Fremde nickte und fragte dann: »Wer bist du?« »Ich heiße Nadil Maramor.« »Nadil Maramor«, wiederholte der Unbekannte langsam, als handle es sich bei diesem Namen um eine Beschwörungsformel. »Der Enkel von Saru?« Nadil nickte. Offenbar kannte ihn hier jeder. »Und du? Wer bist du?«, wollte er wissen. Der Unbekannte verbeugte sich. »Ich bin Janarax«, sagte er, fuhr mit der Hand durch die Flimmerhärchen an seinen 79
Beinen, bekam etwas Sternstaub zu fassen und streute ihn über Nadil aus. »Willkommen bei uns.« Der Staub ließ Nadils Haare für einen Augenblick zu Berge stehen, aber es war nun einmal die Sitte der Sternputzer, Fremde mit einer Prise Sternstaub zu begrüßen. Janarax musterte ihn. Dann sagte er kopfschüttelnd: »Wie konntest du es wagen, zu uns zu kommen? Weißt du nicht, dass es streng verboten ist?« Nadil spürte, dass seine Haare wieder auf seinen Kopf herabschwebten. Er zuckte verdrießlich mit den Schultern. »Warum ist es denn neuerdings verboten, dass Schmetterlinger das Sternputzerviertel besuchen?«, fragte er zurück. Janarax nahm eine Holzkiste, die neben ihm an der Mauer lehnte, und setzte sich Nadil gegenüber auf den Boden. »Du bist wirklich Sarus Enkel, daran kann kein Zweifel bestehen. Du siehst ihm nicht nur ähnlich, du hast auch sein Temperament.« Nadil schaute finster vor sich hin. »Ich möchte zu Josian Pegario«, sagte er dann. »Weißt du, wo ich ihn finden kann?« Janarax nickte. »Ja, sicher. Ich bringe dich gleich zu ihm. Aber sage mir doch, warum du gekommen bist.« Nadil musterte den Sternputzer jetzt aufmerksam. Er musste sehr viel älter sein, als er ursprünglich gedacht hatte. Janarax hatte langes weißes Haar, das zu einem Zopf gebunden war, der zwischen den Flügeln auf seinem Rücken bis über seine Hüfte hinabfiel. Doch das Auffallendste waren seine Schwingen. Sie schimmerten in einer matten Bernsteinfarbe, ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Sternputzer mehrere hundert Jahre alt sein musste. Sein Gesicht wirkte indessen noch recht jung, auch wenn es eine Menge Falten hatte. Das lag wohl an seinen Augen: blaugrüne, sternklare Augen, die sehr aufmerksam und lebendig, zugleich jedoch seltsam kalt wirkten. 80
»Niemand darf zu euch«, sagte Nadil leise. »Warum ist das so?« »Der Rat von Mangarath hat es so entschieden. Unserem Volk geht es nicht gut. Eine unbekannte Krankheit. Daher wurde beschlossen, Mangarath nicht mit unseren Problemen zu gefährden. Das ist alles.« »Krankheit? Was für eine Krankheit?« »Das wissen wir selbst nicht. Du solltest wirklich Josian fragen. Er kann dir das alles sehr viel besser erklären als ich.« Nadil schaute verdrießlich vor sich hin. »Weißt du denn, wo Saru hingegangen ist?«, fragte er dann zaghaft. Janarax schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß es nicht. Niemand weiß es.« »Aber du hast ihn gekannt? Er ist doch auch hier gewesen, nicht wahr?« Janarax setzte eben zu einer Antwort an, da öffnete sich eine Tür an der Wand, die Nadil bisher überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Der Sternputzer zuckte zusammen. »Hier bis du also«, erklang eine Stimme aus der dunklen Öffnung in der Wand. Nadil bebte vor Angst. Jetzt war alles vorbei. Die Stierwächter. Sie hatten ihn aufgespürt. Aber im nächsten Augenblick atmete er erleichtert auf: Im Türrahmen stand Josian Pegario.
\ 11 \ »Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte Pegario erfreut und ging auf Nadil zu. Und dann fügte er mit einem mürrischen Seitenblick auf Janarax hinzu: »Du hast ihn also gefunden?« 81
Janarax nickte. Er war aufgestanden, und sein Gesichtsausdruck hatte sich schlagartig verändert. »Und warum versteckst du ihn hier?«, fragte Pegario scharf. »Er hat mich vor den Stierwächtern gerettet«, warf Nadil ein. Warum war Pegario denn so böse auf Janarax? Aber Pegario hörte gar nicht auf ihn, sondern fixierte Janarax. Der hob stolz den Kopf und machte ein ernstes Gesicht. Zwei weitere Sternputzer waren hinter Pegario erschienen und standen wie angewurzelt neben der Türöffnung. »Du bringst ihn unnötig in große Gefahr«, erwiderte Janarax ernst. »Warum tust du das, Josian? Ist einer nicht genug? Bring ihn zurück.« Pegario schnaufte hörbar aus. »Das werde ich nicht mit dir besprechen«, antwortete er knapp. »Komm, Nadil, wir müssen miteinander reden.« Nadil wusste jetzt überhaupt nicht mehr, wie ihm geschah. Warum war Janarax auf einmal so kalt und abweisend? Er hatte ihn doch gerade erst gerettet? Aber offenbar hatte er ihn auch absichtlich hier vor Pegario versteckt. »Nadil«, sagte Janarax und wandte sich direkt an ihn. »Du weißt nicht, worauf du dich hier einlässt.« »Deshalb werde ich es ihm erklären, dann kann er selbst entscheiden«, schnitt Pegario ihm das Wort ab. Die beiden starrten einander an. Plötzlich machte Janarax auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. »Komm«, sagte Pegario. »Hier entlang.« »Aber was ist denn mit ihm ... Ich meine, er hat mir geholfen.« »Das ist auch seine verdammte Pflicht, Nadil. Die Pflicht eines jeden hier.« Sie durchquerten einen höhlenartigen Gang, der leicht 82
abwärts führte, und erreichten bald schon einen kleinen Raum, der offenbar Pegarios Wohnstube war. Hier gab es nur wenige Möbelstücke: einen Tisch, drei Stühle und in der Ecke ein schmales Bett. Daneben war ein Kamin. Vor dem Fenster hing ein kleiner Käfig von der Decke herab. Nadil musterte den Käfig ungläubig. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Darin saß eine absolute Seltenheit: ein ausgewachsener Smaragd-Gucko. Pegario brauchte vermutlich einen ganz besonderen Weitseher, um sich dort oben zwischen den Sternen zu orientieren. Aber ein Smaragd-Gucko, das war wirklich bemerkenswert. Davon hatte es in ganz Phantásien nur drei Exemplare gegeben. Und zwei davon hatte vor Jahren das Nichts verschluckt. Somit lebte hier der Letzte seiner Art! Aber Nadil hatte keine Zeit, das seltene Wesen zu bestaunen. Pegario wies ihn an, Platz zu nehmen. Dann schickte er seine beiden Begleiter hinaus, schloss die Tür und setzte sich ebenfalls. »Hast du Hunger oder Durst?«, fragte er und schob auch schon ein kleines Tablett mit einem Glas Platzschotensaft und ein paar Knallnüssen vor Nadil hin. Aber Nadil mochte nichts essen. Er war viel zu aufgeregt und verwirrt. »Weiß Meister Toralon, dass du hier bist?«, fragte Pegario dann. Nadil schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin heimlich gekommen. Elfenauge hat mich hergebracht. Ein« Quäldrohne hat uns angegriffen. Ich hoffe nur, dass Elfenauge entkommen konnte.« Pegario schwieg einen Augenblick lang. Dann sagte er: »Wenn Elfenauge ein so guter Flieger ist, wie ich gehört habe, wird er es schon geschafft haben.« »Aber seit wann gibt es hier Quäldrohnen?«, fragte Nadil entrüstet. »Das ist ja lebensgefährlich.« 83
»Nadil, hier hat sich einiges verändert. Deshalb bin ich auch froh, dass du mein Zeichen verstanden hast und hergekommen bist.« Er lächelte und fügte hinzu: »Saru hat immer gesagt: ›Wenn mir etwas zustößt, dann wird Nadil kommen und mich suchen.‹ Ja, das waren seine Worte.« Nadil brauchte einen Augenblick, bis er diese Botschaft verdaut hatte. »Aber ... ist Saru denn ... tot?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Pegario mit trauriger Miene. »Bevor er verschwand, gab er mir jedenfalls das Amulett und sagte: ›Wenn ich nicht in wenigen Tagen zurück bin, dann gib es Nadil. Er wird wissen, was zu tun ist.‹« Nadils Herz platzte fast vor widerstreitenden Gefühlen, vor Stolz und Kummer, vor Freude und Traurigkeit. Saru war ihm plötzlich wieder so nah, und gleichzeitig mehrten sich die Anzeichen, dass ihm etwas Furchtbares zugestoßen war. »Aber was ist denn nur geschehen? Ich verstehe das alles nicht«, sagte er. »Und ich weiß schon gar nicht, was ich tun soll.« »Wir wissen ja auch nicht, was wir tun sollen«, erwiderte Pegario und schaute Nadil mit einem milden Lächeln an. »Deshalb ist Saru doch hier gewesen. Aber er hat das Geheimnis auch nicht lösen können.« »Welches Geheimnis?« »Das Nichtnichts.« »Das was?« Nadil sah seinen Gastgeber ungläubig an. Aber der lächelte noch immer und schüttelte dann langsam den Kopf. »Hast du das Lichtgewitter heute Abend gesehen?«, fragte Pegario. »Das Feuerwerk? Ja. Sicher.« »Feuerwerk?«, wiederholte Pegario und legte seine Stirn in Falten. »Das erzählen sie euch da draußen? Ein Feuerwerk?« 84
Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber gut, was sollen sie euch auch anderes sagen.« Nadil verstand überhaupt nichts mehr. »Was sollen denn diese Lichtblitze sonst sein, wenn es kein Feuerwerk ist?« Pegario lehnte sich zurück. »Dann hat Saru dir gar nichts davon erzählt? Ich meine, er hat dir nichts gesagt, bevor er wegging? Gar nichts?« Nadil biss sich auf die Lippen. Sollte er von ihrem Geheimnis erzählen? Konnte er Pegario trauen? »Nein«, sagte er schließlich. »Ich weiß von nichts.« »Auch nicht von Sirinn-Elial?«, fügte Pegario hinzu. Nadil senkte beschämt die Augen. Dann spürte er Pegarios Hand auf seiner Schulter. »Ich verstehe dich, Nadil. Du hast Recht, misstrauisch zu sein. Aber du kannst mir vertrauen. Ich weiß nicht so viel über diese Dinge wie Saru, aber ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen... vorausgesetzt, dass du helfen willst.« Nadil erwiderte nichts. Er schämte sich noch immer. Aber er hob die Augen wieder und nickte. Pegario atmete tief durch. Dann setzte er sich bequemer hin und begann zu erzählen. »Was ich dir jetzt sage, wissen nur ganz wenige in Phantásien, und das muss auch so bleiben. Da wir, also ich und meine Sternputzer, so oft dort oben am Himmel unterwegs sind, haben wir es als Erste bemerkt, und deshalb ...« »Was bemerkt?«, unterbrach ihn Nadil. »So gedulde dich doch, dazu komme ich gleich. Es begann vor einigen Monaten. Von einem Tag auf den anderen tauchten über dem Gebirge Balang-Gir merkwürdige Lichtblitze auf. Erst dachten wir uns nichts dabei. Wir vermuteten, dass es einfach Gewitter waren. Doch dann wurden einige von uns mitten im Heimflug von einem solchen Lichtregen über85
rascht. Wir sahen es ganz aus der Nähe und ... ja, wie soll ich es dir beschreiben? Es war damals noch viel kleiner und kürzer, nicht so gewaltig wie heute, aber im Grunde war es damals auch schon so.« Pegario verstummte für einen Augenblick, als müsse er erst einmal die Wörter zusammensuchen, um die Beobachtung zu beschreiben. »Es ist ein Licht, das ungeheuer traurig macht«, fuhr er dann fort. »Alle, die ich kenne, die jemals in die Nähe dieser Lichtbälle gekommen sind, sagen das Gleiche. Man fühlt sich danach furchtbar niedergeschlagen, ja, richtig verzweifelt.« »Aber wo kommt das Licht denn her?«, warf Nadil ein. »Sind es Explosionen?« Pegario schüttelte den Kopf. »Wir bemühen uns schon seit geraumer Zeit, das herauszufinden. Und allmählich glauben wir, dass das Licht von verbrennenden Vögeln stammt.« Nadil riss die Augen auf. »Verbrennende Vögel?« »Ja. Denn wir finden manchmal verbrannte Federn, die durch die Luft segeln, wenn das Lichtgewitter vorbei ist. Es müssen Vögel sein, riesenhafte Vögel, die aus irgendeinem Grund über der Wüste von Mangarath abstürzen und verglühen.« Jetzt wurde es Nadil aber doch unheimlich zumute. Er dachte an das Feuerwerk von heute Abend. Diese gigantischen Lichtbälle sollten von verglühenden Vögeln stammen? »Aber... das müssten ja richtige Ungeheuer sein«, rief er aus. »Ja, durchaus«, bestätigte Pegario. »Deshalb glauben manche von uns ja auch, dass es sich um Drachen handelt. Oder um Greife.« »Wohnen in Balang-Gir Greife?«, fragte Nadil. »Ich weiß es nicht, Nadil. Alles, was ich dir erzähle, sind Vermutungen, denn nach Balang-Gir kann man ja bekannt86
lieh nicht gehen. Aber unsere Chronisten haben in ihren Büchern einen Hinweis gefunden, wonach es durchaus schon vorgekommen sei, dass Greife, wenn sie alt werden und sterben möchten, auf ihrem letzten Flug verglühen. Einer von ihnen macht das sogar schon seit einer Ewigkeit so, er verglüht und ersteht aus seiner eigenen Asche wieder auf.« »Über Mangarath verglühen also Glühgreife?«, folgerte Nadil. »Vielleicht«, bemerkte Pegario schulterzuckend. »Es kann aber auch sein, dass dort oben Feuerdrachen miteinander kämpfen und sich gegenseitig verbrennen, nicht wahr? Aber je länger ich darüber nachdenke, desto entschiedener komme ich zu dem Schluss, dass das alles nicht sein kann. Denn Glühgreife und Feuerdrachen, selbst wenn sie verbrennen, müsste man doch sehen können. Ich meine, wenigstens bevor sie verbrennen. Aber dort oben ist einfach nichts zu sehen. Dort oben verbrennt nichts.« »Nichts zu sehen?«, wiederholte Nadil ratlos. »Nein, das stimmt ja auch nicht. Man sieht Licht. Aber es ist... wie soll ich sagen, es ist einfach ein unmögliches Licht, das es sonst nirgendwo gibt, in ganz Phantásien nicht.« Nadil legte die Stirn in Falten. »Woher kommt es denn? Weiß man darüber etwas?« Pegario wiegte den Kopf. »Es muss aus dem Land der Leere kommen«, antwortete er. »Das ist zwar keine Erklärung, aber eben die einzige Vermutung, die uns noch geblieben ist. Die Erscheinung muss irgendwo hinter Balang-Gir entstehen. In völlig unregelmäßigen Abständen kommt das Licht über das Gebirge und verglüht über der Wüste von Mangarath.« Nadil stutzte. »Habe ich dich richtig verstanden«, fragte er. »Hast du gesagt: Das Licht verglüht?« »Ja, ich weiß, das klingt merkwürdig«, erklärte Pegario in 87
bekümmertem Tonfall. »Aber nur halb so merkwürdig, wie es in Wirklichkeit aussieht, wenn man dort oben am Himmel unterwegs ist und das Ganze aus der Nähe sieht. Das Licht ist so hell, dass man es gar nicht ansehen kann. Man hört auch nichts. Es ist ganz still dort oben. Ja, es ist geradezu so, als ob dort gar nichts wäre. Doch dieses Garnichts leuchtet heller als alles, was man sich vorstellen kann. Es ist geradezu so, als ob ... ja, als ob dort oben Sichtbarlosigkeit verglühte.« »Sichtbarlosigkeit?«, rief Nadil aus. »Du meinst Unsichtbarkeit?« »Nein!« Pegario schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Es ist etwas anderes als Unsichtbarkeit. Es ist wie das Gegenteil davon, aber anders herum.« Nadil schwirrte der Kopf. Das Gegenteil von Unsichtbarkeit, aber andersherum? »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte er. »Eben«, rief Pegario triumphierend. »Das ist ja der Kern der Sache. Es ist wie das Nichts. Aber es ist nicht das Gleiche. Es ist wie ein Nichts, das nicht nichts ist. Ein Nichtnichts. Und es leuchtet.« Nadil blieb der Mund offen stehen. Ein Nichtnichts? Vom Nichts hatte er ja schon viel gehört. Begegnet war es ihm bisher noch nicht, und wer immer ihm davon erzählt hatte, hatte seine liebe Not gehabt zu erklären, was das Nichts eigentlich sei. Und jetzt sollte es auch noch ein Nichtnichts geben? »Es ist eben unerklärlich«, sagte Pegario resigniert. »Das Nichts habe ich schon einmal gesehen. Es ist grauenvoll, aber auch faszinierend. Ja, ich habe so manchen gekannt, der sich sogar absichtlich hineingestürzt hat, solch eine Anziehungskraft hat es. Doch was sich hier über unseren Köpfen abspielt, ist etwas ganz anderes.« »Aber ... wie anders?« 88
»Das Nichts«, erklärte Pegario, »ist etwas, wo alles weg ist, wo vorher einmal etwas war. Aber das Nichtnichts ist ein Nichts, wo noch nie etwas war. Mit dem Nichts hat es nur gemeinsam, dass es genauso unbeschreiblich ist. Aber das Nichtnichts ist auf eine ganz andere Weise unbeschreiblich als das Nichts. Nichtnichts eben.« Allmählich begann Nadil zu begreifen. Bei allen Wünschen der Kindlichen Kaiserin! Deshalb war man in Mangarath so nervös! Das war der Grund, warum niemand mit den Sternputzern reden sollte! Hier, in Sichtweite des Jubelchors der Glückssänger, explodierten leuchtende Nichtnichtse am Himmel! Ach du liebe Zeit. Wenn sich das herumspräche? Allein das Gerücht, dass sich irgendwo in Phantásien ein Nichts gezeigt hatte, ließ ganze Landstriche vor Angst erzittern. Doch ein Nichtnichts? Das war ja mindestens doppelt so gefährlich wie ein Nichts. Ja, vielleicht war es sogar tausendmal gefährlicher. »Das ist ja furchtbar«, flüsterte er. »Und Saru hat ...?« Pegario nickte langsam. »Saru wollte uns helfen herauszufinden, was es mit dieser Sache auf sich hat, denn das Wichtigste ... ja, das Wichtigste weißt du ja noch gar nicht.« Nadil nahm jetzt doch einen Schluck Platzschotensaft zu sich. Während er trank, bemerkte er plötzlich, dass der Smaragd-Gucko ihn aufmerksam beobachtete. Doch kaum trafen sich ihre Augen, drehte der Weitseher seine weg und legte sich wieder hin. »Die Stierwächter waren sehr besorgt über diese Entwicklung und fragten uns ständig, was wir dort oben beobachteten. Es geschah nämlich immer wieder, dass meine Sternputzer derart verstört von der Arbeit zurückkehrten, dass sie überall in Mangarath herumerzählten, dort oben am Himmel explodierten Nichtnichtse. Die Stierwächter wollten das unterbinden, denn sie sagten, es sei niemandem damit gedient, 89
die Besucher oder Einwohner von Mangarath zu beunruhigen. Außerdem reagieren die Stierwächter immer sehr empfindlich, wenn von einem Nichts die Rede ist, denn sie haben das Nichts ja vor Jahren besiegt. Ich bekam die Weisung, dafür zu sorgen, dass meine Sternputzer sich still verhielten. Aber das ging nicht lange gut. Denn bei uns hatten sich mittlerweile zwei Gruppen gebildet. Die eine schlug sich auf die Seite der Stierwächter und war wie sie der Meinung, man solle einfach abwarten, bis die Sache sich vielleicht von selbst erledigen würde. Doch eine andere Gruppe hatte den Eindruck, dass diese Lichtbälle etwas bedeuten müssen und dass es kein Zufall sein kann, wenn sie ausgerechnet über Mangarath niedergehen. Ich versuchte neutral zu bleiben, aber kann man das denn? Angesichts der tief bedrückten Gesichter, die ich jeden Tag vor mir sah? Je mehr Nichtnichtse über unseren Köpfen explodierten, desto gespannter wurde die Stimmung. Das war der Zeitpunkt, als Saru hier eintraf.« »Und dann«, fragte Nadil gespannt. »Was geschah dann?« »Saru hielt eine flammende Rede. Wer dieses Nichtnichts totschweigen wolle, der könne sich ebenso gut gleich ins Nichts stürzen. Er könne gar nicht glauben, was hier geschehe. Ach, er war einfach immer so direkt und undiplomatisch. Jedenfalls war danach alles noch gespannter, und die Stierwächter begannen damit zu drohen, jeden zu bestrafen, der irgendwelche aufwieglerischen Geschichten über das Nichtnichts verbreite. Sie erließen neue Regeln. Plötzlich durfte man Mangarath nur noch durch das Haupttor betreten und verlassen. Die Situation wurde immer ekelhafter. Und Saru, ja, er war nicht ganz unschuldig daran, dass alles eskalierte. Denn er verkündete plötzlich, er werde die Angelegenheit aufklären, und niemand könne ihn daran hindern. Und dann verschwand er.« 90
Nadil sprang auf. »Er verschwand? Hier in Mangarath?« »Nein. Das heißt, wir wissen es nicht genau. Nur einer weiß etwas Genaueres darüber...« Jetzt hielt es Nadil nicht mehr. »Josian Pegario, willst du damit sagen, dass die Stierwächter meinen Großvater ... Ich meine, haben sie ihm etwas angetan?« Pegario hob beschwichtigend die Hände. »Nein, nein. Was denkst du denn. Das würden sie niemals tun. Niemand hier hat Saru ein Haar gekrümmt. Es gab Streit, viele böse Worte gingen hin und her. Aber so etwas? Nein, nein.« »Aber du hast gesagt, jemand wisse darüber Bescheid. Warum kann man diesen Jemand nicht fragen?« Jetzt war es an Pegario, einen Schluck zu trinken. »Saru hatte einen Helfer. Er heißt Lariax. Ich kannte ihn gut.« »Und«, fragte Nadil ungeduldig. »Wo ist dieser Lariax?« Pegario schwieg einen Augenblick lang und schaute Nadil ernst in die Augen. »Ich weiß wirklich nicht, ob es richtig ist, was ich hier tue«, sagte er dann. »Denn wenn ich dir sage, wo du Lariax findest, dann begibst du dich vielleicht in große Gefahr.« »Das hat Janarax auch schon gesagt«, gab Nadil mit fester Stimme zurück. »Pegario, du musst mir alles erzählen. Deshalb hast du mir doch Sarus Amulett gegeben. Er braucht mich. Vielleicht wartet er jetzt in diesem Augenblick auf meine Hilfe. Bitte, ich muss mit diesem Lariax sprechen. Jetzt gleich.« Pegario stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Die Gewissensqual stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Es war Sarus Wunsch, Nadil«, sagte er. »Er hat immer gesagt: »Nadil wird mich finden, wenn ich es allein nicht schaffen Aber dennoch, mein Junge, du musst dir diese Entscheidung sehr gut überlegen. Und wenn du Lariax siehst, dann weißt du auch, 91
was dich erwartet, wenn die Stierwächter dich fangen sollten, denn die Situation ist jetzt noch viel gefährlicher. Seit dem Zwischenfall mit Saru ist unser Viertel hermetisch abgeriegelt. Jiinn-Garagor lässt alles kontrollieren.« »Das ist ungeheuerlich«, rief Nadil. »Wie kann er das tun?« »Die Stierwächter sind die Herren in Mangarath. Und ich weiß allmählich nicht mehr, wem ich überhaupt noch trauen kann. Aber bitte, Nadil, ich erfülle nur Sarus Wunsch, wenn ich dir all diese Dinge erzähle. Du bist völlig frei. Du bist nicht verpflichtet, dich in diese Angelegenheit einzumischen.« Nadil zögerte keine Sekunde. »Ich will mit Lariax sprechen«, sagte er. »Am besten jetzt gleich.« »Er verbüßt eine der schrecklichsten Strafen, die es in Mangarath gibt«, warnte Pegario. »Ich kann dich nicht einmal dorthin begleiten, so grauenvoll ist es dort. Es ist dort so heiß, dass unsere Flügel schmelzen und unsere Flimmerhärchen versengt werden. Deshalb musst du allein gehen. Ich kann dich nur in die Nähe des Ortes bringen. Dann bist du auf dich allein gestellt. Willst du das wirklich tun?« Nadil schluckte. Aber dann nickte er. »Wenn ich Saru helfen kann, dann will ich alles dafür tun. Was ist das für ein Ort?« Pegarios Stimme zitterte ein wenig, als er weitersprach. »Der Ort hat keinen Namen, denn niemand soll wissen, dass es ihn überhaupt gibt. Aber komm, ich bringe dich hin.« »Wohin?« Nadils Gesicht versteinerte vor Schreck, als Pegario ihm endlich sagte, wohin sie gehen würden. »Zu den Lärmsklaven.«
92
\ 12 \ Elfenauge flog in Windeseile durch die Nacht. Die Lichter von Mangarath lagen schon weit hinter dem Schmetterling, aber noch immer verfolgte ihn das schrille Geräusch der unerbittlich hinter ihm herfliegenden Quäldrohne. Noch machte sich Elfenauge keine Sorgen wegen des widerlichen Angreifers. Hoffentlich hatte sich Nadil bei seinem Sturz nicht verletzt, dachte er. Doch weshalb um alles in der Welt hatte er mitten in der Nacht dieses abgedunkelte Viertel von Mangarath besuchen wollen? Sein Verfolger war wieder näher gekommen, aber einige kräftige Flügelschläge brachten Elfenauge erneut in einen sicheren Abstand zu ihm. Was wollte diese Quäldrohne nur von ihm? Wollte sie vielleicht die ganze Nacht mit ihm um die Wette fliegen? Elfenauge fühlte sich stark und ausdauernd genug, diese Herausforderung anzunehmen. Doch wohl war ihm dabei nicht. Wenn er sich umblickte, traf ihn stets der hasserfüllte Blick dieses widerlichen Insekts, dessen Stachel ein Schmetterling nichts entgegenzusetzen hatte. Elfenauge konnte nur immer weiterfliegen und hoffen, dass sein Verfolger irgendwann aufgeben würde. Urd normalerweise war das auch so. Er hatte noch nie gehört, dass Quäldrohnen ihre Opfer länger als einige Augenblicke verfolgten. Entweder überfielen sie einen aus dem Hinterhalt und stachen sogleich zu, was ja wohl die Absicht dieser Drohne gewesen war. Oder sie stürzten sich auf verwundete oder kranke Opfer, die ihnen nicht entkommen konnten. Aber seit wann verfolgten Quäldrohnen Schmetterlinge über solche Entfernungen? Sie flogen jetzt schon eine gute Stunde. Nachdem Elfenauge erkannt hatte, dass sein Verfolger nicht gleich aufgeben würde, hatte er es natürlich vermieden, zum Seerosenteich 93
zurückzufliegen, denn seine Freunde wollte er nicht auch noch in Gefahr bringen. Daher war er in Richtung Balang-Gir losgeflogen, hatte sich aber nach einigen Augenblicken besonnen und war nach Süden abgeschwenkt. Aber natürlich hatte er nicht im Traum daran gedacht, bis in die Nähe von Garsiran zu fliegen. Doch da die Quäldrohne nicht von ihm ablassen wollte, würde er die Nachtalbenstadt wohl oder übel demnächst erreichen. Und was dann? Landen konnte er nicht. Das bösartige Surren hinter ihm ließ daran keinen Zweifel. Nun gut, einige der Nachtalben von Garsiran wären mit Sicherheit unterwegs. Und wenn sie ihn sehen würden, verfolgt von einer mordgierigen Quäldrohne, würden sie ihm sicher zu Hilfe kommen. Nachtalben mit ihren Silberschwertern würden mit einem solchen Ungeheuer kurzen Prozess machen, das wusste er. Mit Nachtalben war nicht zu spaßen, und vermutlich würde sein Verfolger es sich gut überlegen, ob er ihm überhaupt in das Gebiet um Garsiran folgen sollte. Doch Elfenauge musste schon bald feststellen, dass er sich geirrt hatte. Denn als er weit unter sich den Fluss Bator entdeckte, der die Provinz Garsiran von Mangarath abgrenzte, da kehrte die Quäldrohne nicht etwa um, sondern beschleunigte sogar plötzlich und schoss mit ausgefahrenem Stachel auf ihn zu. Elfenauge wich dem Stoß durch einen Haken aus und flog steil nach oben. Und noch bevor die Drohne sich neu orientiert hatte, war er bereits ein gutes Stück über ihr. Der Schreck ließ Elfenauge noch schneller fliegen, und schon bald hatte er seinen alten Abstand wiedergewonnen. Doch die Quäldrohne verfolgte ihn unbeirrt. Jetzt wurde es dem Schmetterling doch ein wenig bang ums Herz, denn er erkannte auf einmal, dass er diesen Verfolger ohne Hilfe einfach nicht loswerden konnte. Was wollte die Drohne nur von ihm? Was hatte er ihr denn getan? 94
Freilich, Quäldrohnen waren bösartige Gesellen, die fast jeden angriffen, der ihnen in die Quere kam. Aber diese hier schien es ausschließlich auf ihn abgesehen zu haben. Und das war völlig unbegreiflich. Sollte er wirklich bis Garsiran fliegen müssen, um diesen Quälgeist loszuwerden? Ein gellender Pfiff durchschnitt plötzlich die Nacht. Was war denn das? Elfenauge schaute kurz hinter sich. Die Quäldrohne war dicht hinter ihm, und jetzt gab sie auch noch diese schrillen Pfiffe von sich. Was sollte das nur bedeuten? Im nächsten Augenblick schoss ein dunkler Schatten auf Elfenauge zu. Der Schmetterling reagierte sofort. Ein Haken nach unten, zur Seite und sofort wieder nach oben – und er hatte wieder Raum gewonnen. Doch jetzt waren da schon zwei Quäldrohnen. Wo war die andere nur hergekommen? Direkt von vorn war sie auf ihn zugeschossen. Und da erklang schon wieder ein Pfiff. Elfenauge schaute sich gehetzt um. Auch noch eine dritte Drohne? Von welcher Seite würde die ihn wohl angreifen? Er musste sofort seine Flugbahn ändern. Ohne auch nur einen Augenblick abzuwarten, bog er jäh nach unten ab und flog senkrecht auf den Boden zu. Keine Sekunde zu früh, denn wo er soeben entlanggeflogen war, erschien plötzlich eine weitere Drohne. Ihr Stachel ging ins Leere. Aber Elfenauge war ihm nur knapp entkommen. Nach Garsiran, dachte der Schmetterling panisch, das war seine einzige Chance. Die Nachtalben mussten ihm helfen. Er beschleunigte seinen Flügelschlag. Das machte ihm keiner nach. Wenn er es drauf anlegte, holte niemand ihn ein. Und tatsächlich vergrößerte sich der Abstand zu seinen mittlerweile drei Verfolgern jetzt beständig. Sie stießen auch keine Pfiffe mehr aus, sondern hatten Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Euch werde ich es zeigen, dachte Elfenauge grimmig. Ich werde alle Nachtalben Garsirans auf euch 95
hetzen, ihr feigen Mörder. Es konnte nicht mehr weit sein. Unten auf der Ebene sah er bereits Ölblumenfelder und die Hügelkette, die Garsiran vorgelagert war. Nur noch wenige Augenblicke, und die Nachtalbenstadt würde hinter den Hügeln zum Vorschein kommen. Ja, eigentlich war es seltsam, dass er noch gar keinen Nachtalb gesehen hatte. Doch was er dann erblickte, lähmte ihm fast die Flügel. Denn als er die Hügelkette endlich überflogen hatte, sah er nur einen riesigen schwarzen Fleck. Wie konnte das sein? Wo waren die Zinnen und Türme der Nachtalbenstadt? Hatte er sich in der Richtung geirrt? Aber das war doch unmöglich. Er war ja schon oft hier gewesen. Er zögerte. Was sollte er jetzt nur tun? Die Quäldrohnen hatten seine kurze Verwunderung genutzt und waren ihm wieder bedrohlich nahe gekommen. Nein, dachte Elfenauge, Garsiran muss dort unten sein. Sie schlafen wohl oder haben alle Lichter gelöscht. Garsiran muss hier sein. Er flog jetzt direkt auf die schwarze Fläche zu, wo er die Stadt vermutete. Doch je näher er kam, desto größere Panik ergriff von ihm Besitz. Was war das für ein grässlicher Geruch? Der Gestank von Verbranntem stieg ihm in die Nase. Und jetzt erkannte er auch erste Umrisse der zerstörten Stadt. Was war hier geschehen? Alles war verbrannt. Die gesamte Stadt – einfach niedergebrannt. Und nirgends ein einziger Nachtalb. Elfenauge taumelte kurz. Nein, hier konnte er auch nicht bleiben. Niemand würde ihm hier helfen. Auf einmal hörte er wieder das Pfeifen. Doch diesmal kam es nicht von hinten. Nein. Es kam plötzlich von allen Seiten. Elfenauge fuhr herum. Eine Falle, dachte er, ich bin in eine Falle geflogen ! Er riss seine Schwingen herum, schlug einen Haken, versuchte wieder Höhe zu gewinnen, aber plötzlich kamen die heranschnellenden Schatten von allen Seiten. Dem ersten 96
konnte er noch ausweichen. Und auch der zweite Stoß aus der Dunkelheit verfehlte ihn knapp. Doch dann durchfuhr ihn plötzlich ein brennender Schmerz im Unterleib, und im nächsten Augenblick spürte er zwei weitere Stacheln in sich eindringen. Er bäumte sich auf. Aber wie ein glühender Strom schoss jetzt das Gift der Quäldrohnen in seinen tödlich verwundeten Leib. Elfenauge zuckte. Seine Flügel schlugen unregelmäßig gegeneinander. »Ahhhh ...«, stöhnte er, und dann versagte ihm die Stimme.
\ 13 \ Sie marschierten durch ein Gewirr von Höhlen und Gängen, in denen Nadil sich schon nach den ersten Schritten hoffnungslos verirrt hätte. Alles sah so ähnlich aus. Nach jeder Abzweigung gähnten drei völlig gleiche kreisrunde Höhlenöffnungen vor ihnen, und warum Pegario sich einmal für die linke, dann für die rechte oder die in der Mitte entschied, war dem Schmetterlinger unerklärlich. Sicher war nur, dass es abwärts ging. Zu den Lärmsklaven? Dann waren die Geschichten, die man sich erzählte, doch nicht erfunden? Es gab sie wirklich, die unglücklichen Geschöpfe, die in den Kellern von Mangarath eine furchtbare Strafe verbüßen mussten? »Was sind das für Höhlen?«, fragte Nadil nach einer Weile. »Es sind die Höhlen von Silandor«, bekam er zur Antwort. Silandor?, dachte Nadil. Ein merkwürdiger Name, den er bei dem belauschten Gespräch von Toralon und Pegario schon einmal gehört hatte. »Und wozu dienen diese Höhlen?« »Das wissen wir nicht. Früher, bevor Mangarath erbaut 97
wurde, war hier einmal ein Bergwerk. Aber es ist jetzt verlassen.« Nadil spürte, dass es allmählich wärmer wurde. »Und wonach wurde hier geschürft?« Pegario ging etwas langsamer, die Wärme machte ihm offenbar zu schaffen. Außerdem marschierte es sich mit diesen Härchenhosen wohl nicht so leicht. »Nach irgendeinem wertvollen Metall, glaube ich. Aber die Stollen sind schon lange verfallen.« »Und wie weit führen diese Höhlen hinab?« »Sehr weit, denke ich«, sagte Pegario. »Manche behaupten sogar, früher hätte es durch diese Höhlen hindurch eine Verbindung nach Balang-Gir gegeben, aber das ist sicher eine Legende.« »Nach Balang-Gir?«, fragte Nadil erstaunt. »Aber BalangGir ist doch unerreichbar?« »Ja, schon«, räumte Pegario ein. »Deshalb muss es auch eine Legende sein. Aber es gibt da eine alte Geschichte, die besagt, dass Balang-Gir nur deshalb unerreichbar sei, weil man es sehen kann. Daher sei vor Urzeiten ein Volk, das damals hier gelebt hat, auf den Gedanken gekommen, einen Tunnel zu dem Gebirge zu graben. Und angeblich habe dieses Volk dabei Balang-Gir nicht nur erreicht, sondern es soll sogar durch die weiche Unterseite in das Massiv selbst eingedrungen sein und dort etwas gefunden haben, das damals sehr wertvoll gewesen sein muss. Jedenfalls gibt es noch alte Handelsstraßen, die Silandor früher einmal mit allen Teilen Phantásiens verbunden haben.« Nadil staunte. »Dann ist dieses Bergwerk ja sogar noch älter als das Gemäuer der Klangthermen?«, fragte er ungläubig. Pegario lachte. »Natürlich. Es heißt sogar, Silandor sei so alt wie Phantásien selbst.« 98
»Und warum ist es heute verlassen?« Pegario setzte zu einer Antwort an, aber dann schien er seine Meinung zu ändern. »Das wird Lariax dir erklären können. »Und die Bewohner, diese Silandorianer, wo sind sie hingegangen?« »Die Bewohner hießen nicht Silandorianer«, korrigierte Pegario. »Der Name Silandor stammt von dem Stoff ab, der hier einst gefunden wurde.« »Und was ist das für ein Stoff?« »Du weißt doch«, erklärte Pegario geduldig, »dass in Phantásien alles verschwindet, das keinen Namen hat. Und umgekehrt ist es natürlich genauso. Wenn eine Sache einmal verschwunden ist, geht normalerweise auch bald der Name verloren.« Nadil schaute nachdenklich vor sich hin. Was war Phantásien doch für ein merkwürdiges Land. Unter jedem Stein gab es ganze Welten zu entdecken, wenn auch viele davon schon lange verschwunden waren. Der Tunnel nach Balang-Gir beschäftigte ihn. Balang-Gir war deshalb nicht zu erreichen, weil man es sehen konnte? So ein Unsinn. Andere Berge konnte man doch auch sehen, und die waren nicht unerreichbar. Nun ja, alte Geschichten waren oft etwas unlogisch. Inzwischen war es richtig heiß geworden. Pegario verlangsamte seinen Schritt, blieb schließlich stehen und lauschte. Nadils Herz schlug heftig, so aufgeregt war er. Doch dann stellte er fest, dass das Pochen in seiner Brust nicht nur von seinem Herzen stammen konnte. Weit gefehlt. Sein ganzer Körper, ja die ganze Höhle hatte zu pochen begonnen. Und hinter den Erschütterungen vernahm Nadil auf einmal noch etwas. Aber was war das nur? Ein noch weit entferntes, 99
dennoch klar hörbares, helles, kreischendes Geräusch. Es dauerte nicht lange, und dieses Geräusch wurde von einem brüllenden Geknatter abgelöst, das seinerseits gleich von einem metallischen Knirschen übertönt wurde. »Was ist denn das?«, fragte Nadil verzagt. »Dort vorn beginnen die Verliese von Mangarath«, flüsterte Pegario. »Wir sind hier direkt unter dem Geräuschdom. Allerdings viele hundert Fuß darunter. Hier müssen die Lärmsklaven die Klangbälge treten. Ohne sie wäre in ganz Mangarath kein einziger Laut zu hören.« »Aber ... was soll das eigentlich heißen: Lärmsklaven? Das hört sich ja grauenvoll an.« »Wir wissen auch nicht, wie es so weit kommen konnte. Es gibt einfach so vieles hier, das wir nicht begreifen. Aber dort vorn, wenn du hier weitergehst, findest du Lariax. Er verbüßt seine Strafe dafür, dass er Saru geholfen hat. Sei nur vorsichtig. Manche Lärmsklaven sind durch die lange Strafe, die sie absitzen müssen, sehr böse geworden. Also sieh dich vor.« Nadil war jetzt völlig verunsichert. Sollte er wirklich weitergehen und diesen schrecklichen Ort aufsuchen? Doch der Gedanke an Saru vertrieb seine Zweifel. Er musste es tun. Er würde zumindest mit diesem Lariax sprechen, und dann, wenn es ihm danach zu unheimlich werden sollte, konnte er ja immer noch umkehren. Pegario griff in die Tasche seines Mantels und holte etwas Sternstaub hervor, den er auf Nadils Haar ausstreute. »Viel Glück«, sagte er leise. »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich tue. Bitte sei vorsichtig. Ich warte hier auf dich.« Nadil fasste sich ein Herz und ging ohne ein weiteres Wort los. Schon nach wenigen Schritten raubte ihm die zunehmende Hitze fast den Atem. Was für ein seltsamer Ort war dies nur! Er schaute nach oben auf das grünlich glänzende 100
Gestein. Irgendwo weit über ihm stand der Geräuschdom. Noch vor wenigen Stunden war er dort auf Klangwolken sorglos durch die Luft gesegelt. Und jetzt war er hier unten in einem glühend heißen Lärmverlies. Er folgte der Höhle, die allmählich breiter wurde, bis die Wände schließlich ganz aus seinem Blickfeld gerieten. Stattdessen öffnete sich vor seinen Augen ein Krater, aus dem nicht nur ein unbeschreiblicher Lärm drang, sondern auch ein intensives, orangefarben glühendes Licht an die Felsendecke strahlte. Als er näher an den Rand des Kraters herangekommen war, wurde die Hitze noch stärker. Der Schweiß floss in Strömen an ihm herunter. Die Felsenwände zitterten unter dem Krach. Doch Nadil ging weiter, bis er endlich über den Rand sehen konnte. Was für ein Anblick! Am Fuß des tiefen Kraters waberte eine rot glühende Masse. Wie heiß musste es erst dort unten sein, wenn schon hier oben die Hitze kaum auszuhalten war? Am Rand dieses Kraters waren kleine Galerien aus dem Fels gehauen worden, und auf jeder von ihnen stand eine kompliziert aussehende Maschine. Doch als Nadil näher kam, erkannte er, dass es Musikinstrumente waren. Oder besser: Teile von Musikinstrumenten. Denn keines war vollständig, vielmehr schienen sie alle kreuz und quer durcheinander gewachsen. Nadil erkannte ein halbes Piano, dessen Saiten durch Flöten ersetzt worden waren. Manche der Flöten mündeten in einen Geigenhals und endeten zu guter Letzt als Schraube. Nadil ging näher auf das merkwürdige Ding zu. Da bewegte sich doch etwas im Bauch dieses halben Pianos. Ein kleines, dunkles Wesen huschte beständig auf den Flöten hin und her und schlug mit einem Xylophonschwengel auf die Löcher ein, was einen furchtbaren Lärm ergab. Er ging noch näher 101
und riss die Augen auf. Ja, das war doch nicht möglich! Aber er täuschte sich nicht. Das dunkle Wesen sah aus wie ein Sternputzer. Aber sein Flimmerhaarhöschen war zu einem schmutzigen Stück Schorf zusammengeschmolzen, das um seine Beine hing. Und die Stummel auf seinem nackten Rücken zeugten davon, dass dort wohl einmal Flügel gewesen sein mussten, die nun gleichfalls der Hitze zum Opfer gefallen waren. Was für ein bemitleidenswertes Geschöpf, dachte Nadil erschrocken. Was für ein grauenhafter Ort! Er hielt sich die Ohren zu, denn der Lärm wurde jetzt einfach unerträglich. Auf der nächsten Galerie strömte aus einem Gewirr von glänzenden, goldenen Metallrohren ein derart schrilles und kreischendes Geschmetter, dass Nadil fast kehrtgemacht hätte. Der Lärmsklave dort war ein Sandwicht, der mit dicken Backen und hochrotem Kopf unablässig in einen Posaunenhals hineinblies, der sich irgendwo in dem Gewimmel aus halben Trompeten, Fagotten und Klarinetten verlief. Nadil ging zu ihm hin und versuchte sich durch den Lärm hindurch Gehör zu verschaffen, aber natürlich war das hoffnungslos. Schließlich ruderte er mit den Armen, und der Wicht bemerkte ihn endlich. Er kletterte an den Rand der Galerie und setzte sich auf die Balustrade. »Ehhh, Besuch«, quietschte er überrascht. »Was machst du denn hier?« »Ich suche Lariax!«, schrie Nadil. »Nasenwachs?«, quietschte der Wicht zurück. »Nasenwachs gibt's hier nicht.« »Nein, Lariax!«, brüllte Nadil und kam noch etwas näher, der Hitze zum Trotz. »Ehhh, Lariax. Ja, der ist dort drüben, am Kettenkessel.« 102
Der Wicht deutete auf eine graue Tonne, die halb über dem Abgrund hing und bedenklich hin und her rollte. »Danke!«, brüllte Nadil und ging weiter, schon jetzt fast heiser. Noch so eine gebrüllte Unterhaltung, und er würde seine Stimme verlieren. Jeder Lärmsklave hier war offenbar für eine bestimmte Lärmart zuständig. Der ganze Kraterrand war mit den merkwürdigsten Maschinen und Instrumenten voll gestellt, an denen die bemitleidenswerten Sträflinge arbeiten mussten. Über dem Krater liefen die Höhlenwände zu einer Kuppel zusammen, und dort gab es eine recht große, runde Öffnung, die Nadil auf einmal bekannt vorkam. Es dauerte einen Augenblick, doch dann erkannte er das Muster der Eisenstreben dort wieder. Es war das gleiche Muster wie auf den Eisengittern in den Steinböden der Gebäude von Mangarath. Hier wurden also die vielen Geräusche erzeugt, die in Mangarath all die wunderbaren Klänge entstehen ließen. Aber wie konnten denn aus solch einem Lärm angenehme Klänge werden, fragte er sich. Noch ein Rätsel in dieser schon sehr rätselhaften Nacht. Lariax sah wirklich bemitleidenswert aus. Er stand in einer hausgroßen Blechtonne und schlug immer wieder schwere Ketten gegen die Wände, was ein klirrendes Donnern oder donnerndes Klirren erzeugte. Nadil hielt sich entsetzt die Ohren zu. Das war ja nicht zum Aushalten. »Lariax!«, brüllte er. »Lariax!« Erst der zweite Ruf, bei dem Nadil glaubte, seine Kehle würde gleich zerplatzen, ließ Lariax aufschauen. Ach, was für ein grauenhaftes Los. Der arme Sternputzer hatte alle seine Flügel eingebüßt, und seine Haut war ganz schwarz von der Hitze und dem mit Schweiß vermengten Ruß aus dem Krater. »Was willst du?«, schrie er und schlug eine schwere Kette gegen den Blechboden, so dass alles um ihn herum erzitterte. 103
Aber Nadil konnte nicht mehr schreien. Er machte ihm Zeichen, dass er mit ihm reden wolle, und entfernte sich dann ein Stück. Die Hitze und der Lärm zusammen waren jetzt einfach zu viel für ihn. Es dauerte eine Weile, doch schließlich kletterte Lariax aus seinem Blechhaus heraus, warf ein Tuch über seine Schulter und kam auf Nadil zu. Er musterte ihn mürrisch, aber plötzlich wurden seine Augen groß und weit. Und ehe Nadil sich versah, hatte der Sternputzer ihn am Kragen gepackt und hob ihn in die Luft. »Du. Du wagst es, hierher zu kommen!« Und damit flog Nadil auch schon krachend auf den Boden. »Halt! Halt!«, flehte er. »Bitte, Lariax, tu mir nichts. Ich bin Nadil.« Der Sternputzer stand über ihm und schaute verächtlich auf ihn herab. Doch dann schien er seinen Irrtum bemerkt zu haben. »Verflucht«, rief er und spuckte aus. »Solch eine verfluchte Ähnlichkeit aber auch! Ich dachte, du wärst Saru. Mit eurer Gesichtsbemalung seht ihr ja wirklich alle gleich aus.« »Ich ... ich bin sein Enkel«, stammelte Nadil und tastete seine Glieder ab. Zum Glück war nichts gebrochen. »Bitte, Lariax, tu mir nichts. Ich möchte dich nur fragen, wo Saru hingegangen ist. Das ist alles.« Lariax' Augen blitzten zornig auf. »Hingegangen? Zur Hölle ist er hoffentlich gefahren, der verrückte alte Kauz. Schau doch, was ich ihm verdanke. Hier sitze ich und schlage Kettenlärm, weil mich dein Großvater beschwatzt hat.« Nadil hatte sich wieder halbwegs aufgerappelt. »Saru wäre sicher genauso erzürnt wie ich, wenn er sehen würde, wie ihr hier unten Lärm machen müsst. Das hat Saru sicher nicht gewollt, ganz egal, was er von dir verlangt hat.« Lariax ließ sich auf dem Felsen nieder und stützte den Kopf in die Hände. »Das weiß ich ja auch«, jammerte er plötzlich. 104
»Ich bin ja auch nur so verzweifelt, denn ich muss hier als Lärmsklave leben, weil Saru unbedingt nach Silandor hineinwollte. Hätte ich ihm nicht geholfen, dann wäre mir dieses schreckliche Schicksal erspart geblieben« »Nach Silandor?«, fragte Nadil verwundert und ließ sich neben Lariax nieder. »Aber sind wir denn hier nicht in Silandor?« Lariax schüttelte den kahlen Kopf und strich sich über seine blanken Schenkel, wo kein einziges Staubfanghärchen übrig geblieben war. »Ach, das hier ist doch noch gar nichts. Das hier sind die Verliese von Mangarath. Silandor beginnt erst darunter. Deshalb wurde Mangarath ja überhaupt gebaut, um alle Eingänge des Bergwerks von Silandor für immer zu verschließen.« Nadil schüttelte verwundert den Kopf. »Und warum das? Warum sollte das Bergwerk denn verschlossen werden?« Lariax schaute Nadil an. »Ihr Schmetterlinger wisst aber auch überhaupt nichts. Da hat Saru schon Recht gehabt. Was lernt ihr denn eigentlich, außer Flügel anzumalen?« Er schwieg einen Augenblick lang, schnäuzte sich umständlich die Nase und sagte dann: »Durch Silandor kam doch das Nichts nach Phantásien.« »Was?« Mit einem Satz stand Nadil wieder auf seinen Beinen. »Ist das dein Ernst?« Lariax nickte. »Ja. Das Nichts zu besiegen ist eine Sache. Aber es muss ja irgendwo herkommen, nicht wahr?« Nadil nickte. Daran hatte er überhaupt noch nicht gedacht. »Und woher kommt das Nichts?«, fragte er furchtsam. »Aus dem Land der Leere natürlich. Balang-Gir schützt uns davor, denn Balang-Gir kann niemand erreichen. Daher war Phantásien lange Zeit vor dem Nichts geschützt. Aber diese Leute von Silandor haben einen Tunnel nach Balang-Gir 105
gegraben, und durch diesen Tunnel konnte das Nichts nach Phantásien hereinkommen. Aber damit ist Schluss, seit die Stierwächter Mangarath erbaut haben und der Tunnel nach Balang-Gir mit Summsteinen verschlossen wurde.« Nadil lauschte atemlos. Beim letzten Wunsch der Kindlichen Kaiserin. Hier irgendwo unter ihm lauerte das Nichts! In irgendeiner dunklen Höhle wartete es, um wieder nach Phantásien hereinzukommen. Welch schreckliche Vorstellung. Und dorthin sollte Sara gegangen sein – nach Silandor? »Aber warum wollte Saru denn nach Silandor gehen, wenn dort das Nichts war?«, fragte er. »Weil Saru verrückt war. Er glaubte, dass das alles nicht wahr sei. Er war davon überzeugt, dass Silandor eine ganz andere Bedeutung haben müsse. Er meinte, die Stierwächter seien bösartige Betrüger. Ja, sie seien sogar mit dem Nichts im Bunde. Ich sage dir ja, er war völlig durchgedreht. Ich begreife gar nicht mehr, warum ich ihm überhaupt geholfen habe. Aber Saru hatte so eine unwiderstehliche Art. Er konnte so gut sprechen und Dinge erklären, die sonst niemand erklären konnte. Ach, wenn ich nur nicht mehr dieses Geklapper hören müsste!« »Du musst doch gar nicht!«, sagte Nadil auf einmal forsch. »Wer zwingt dich denn, hier auszuharren in diesem schrecklichen Krater.« Lariax sah Nadil müde an. »Ach, was weißt du denn schon. Ich kann hier nicht weg. Genauso wenig wie der Sandwicht dort oder die Himbeergnitzen dort drüben, die Kreidequietschen erzeugen müssen. Irgendjemand muss doch diese Geräusche machen.« »Aber warum denn?«, fragte Nadil. »Weil es sonst still wird«, jammerte Lariax. »Und wenn es zu lange still wird, dann kann das Nichts aus Silandor 106
herauskommen. Und das darf nicht geschehen. Ach je, ich muss zurück. Ich muss zu meinen Ketten zurück.« Und schon humpelte Lariax wieder in Richtung des Lärmkraters davon. Nadil war mit zwei Sätzen bei ihm und hielt ihn fest. »Aber eines hast du mir noch nicht gesagt«, rief er und versuchte das rasende Geklirre von Hunderten zersplitternder Flaschen zu übertönen, die soeben in den Krater geschüttet wurden. »Wo ist der Eingang zu Silandor?« »Der Eingang ist der Ausgang«, sagte Lariax und deutete auf den Krater. Nadil starrte auf die schroffen Felswände und die glühend heiße Masse auf seinem Grund. »Dort?«, fragte er. »Dort kann doch niemand hinein. Das ist unmöglich.« »Eben«, bestätigte Lariax. »Das habe ich Saru ja auch gesagt.« »Und was hat Saru erwidert?« »Der Ausgang ist der Eingang, hat er gesagt. Die Wahrheit ist immer andersherum. Oben ist unten und unten ist oben, links ist rechts und rechts ist links, und solches Zeug. Ich sage dir ja, er ist verrückt geworden.« Dann schlug er wieder mit seinen Ketten: draaang, draaaang. Nadil schaute ihm bekümmert zu. Der arme Lariax. Solch eine Fronarbeit. Dann richtete er seinen Blick verzweifelt auf die Kraterwand. Hier und da waren große schwarze Löcher in der rußigen Felswand zu sehen. Aber um sie zu erreichen, hätte man fliegen können müssen, und erstens hatte er keine Flügel, und zweitens gab es wohl in ganz Phantásien keine Schwingen, die einer solchen Hitze lange genug standgehalten hätten. Wer immer in eines dieser Löcher hineinwollte, dessen Flügel wären auf halber Strecke verbrannt. Bedrückt ging er den Weg zurück. Pegario erwartete ihn an 107
der gleichen Stelle, wo sie sich getrennt hatten, und erhob sich, als er Nadil kommen sah. »Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte er. Nadil nickte stumm. Pegario verkniff sich weitere Fragen. Der Gesichtsausdruck des jungen Schmetterlingers war beredt genug. Sie machten sich auf den Rückweg, und erst nach einer Weile fand Nadil die Sprache wieder. Er schilderte, was er gesehen und gehört hatte, und zog den einzigen Schluss, der ihm logisch erschien: »Saru muss versucht haben, in Silandor einzudringen. Und dabei ist er wohl abgestürzt.« Seine eigenen Worte ließen ihn schaudern. Allein der Gedanke! Sein Großvater war in diesen glühenden Krater gefallen? Entsetzlich. »Ich weiß nur, dass Lariax und Saru im Geräuschdom dabei überrascht wurden, als sie das Gitter auf dem Marmorboden entfernten«, erzählte Pegario. »Als die Stierwächter kamen, um sie aufzuhalten, sprang Saru in den Schacht. Lariax sprang hinterher, aber er wurde kurz darauf aus dem Schacht herausgeholt und weggebracht. Doch Saru wurde nicht gefunden.« Pegario machte eine kurze Pause. Dann fügte er hinzu: »Es tut mir Leid, Nadil, aber er muss in den Krater gestürzt sein.« Nadil versuchte das grässliche Bild nicht in sein Bewusstsein zu lassen. Aber es gelang ihm nicht. Immer wieder sah er Saru, wie er aus der Felsenkuppel über dem Krater fiel und in das rot glühende Feuer hinabstürzte. Welch schreckliches Ende. Und warum nur? Warum hatte er das getan? Schließlich erreichten sie wieder Pegarios kleine Stube. »Ich bin so müde«, sagte Nadil. »Kannst du mich unbemerkt nach Mangarath zurückbringen?« Pegario schaute ihn an. Sein Gesicht wirkte unendlich 108
traurig, als habe Nadil ihn enttäuscht. Aber was sollte er denn tun? Er konnte hier nicht helfen. Saru war ein mutiger, erfahrener und weiser Mann gewesen. Doch selbst er war hier in sein Verderben gestürzt. Nein, ich muss zurückgehen, dachte Nadil. Er hatte sich schon in viel zu große Gefahr begeben. »Ich werde Janarax holen lassen«, sagte Pegario matt und verließ den Raum. »Er wird dir zeigen, wie du in die Stadt zurückkommen kannst.« Kurz darauf traf Janarax ein. Ein triumphierendes Lächeln umspielte seinen Mund. »Ich bin froh, dass du vernünftiger bist als Pegario«, sagte er leise, während sie durch das dunkle Sternputzerdorf schlichen. Nirgends brannte Licht. Nur der Mond erhellte ein wenig die Umgebung. Nadil erwiderte nichts. Er war zu müde, zu erschöpft. Er machte sich jetzt auch Sorgen um Elfenauge. Wenn ihm etwas zugestoßen war, würde er sich sein Leben lang Vorwürfe machen. Kurz darauf standen sie an der hohen Mauer, die das Sternputzerviertel gegen die anderen Stadtteile abgrenzte. Janarax kniete nieder und hob ein Holzverdeck hoch. Nadil sah undeutlich einige Treppenstufen. »Dieser Gang führt in die Mauer hinein und dann ein Stück nach oben in einen kleinen Raum«, flüsterte er. »Wenn du dort angekommen bist, wende dich nach rechts. Viel Glück.« Und damit verschwand er in der Dunkelheit. Nadil tat wie geheißen, stieg erst einige Stufen abwärts und dann etwa zwanzig Stufen nach oben. Um ihn herum war es völlig dunkel. Er erreichte einen Absatz und tastete sich vorsichtig voran. Das musste der Raum sein, von dem Janarax gesprochen hatte. Aber wo war der Ausgang? Er bewegte sich ein wenig nach rechts – und plötzlich war da kein Boden 109
mehr. Er versuchte sich festzuhalten, aber vergeblich: Er stürzte in die Tiefe. Doch sein Fall war nur kurz. Als Nadil den ersten Schreck überwunden hatte und sich benommen umschaute, sah er, dass er außerhalb der Mauer auf der Erde saß. Er erhob sich und schlich eilig davon. Er wollte so schnell er konnte zum Zischadin, denn er war nun ernsthaft besorgt, dass sein Fernbleiben vielleicht doch bemerkt worden war. Doch als er das Muschelzimmer betrat, war alles ruhig. Nichts regte sich, als er seine Muschel öffnete. Nur bevor er sie schloss und durch das Fenster einen Blick auf den nächtlichen Himmel warf, erschreckte ihn ein kurzes, weit entferntes Leuchten am Himmel, so hell und glühend, dass der Eindruck auch hinter seinen geschlossenen Lidern noch lange anhielt.
\ 14 \ »Du kommst spät, Janaël«, sagte die Stimme, als Janarax die Tür hinter sich geschlossen hatte. Der Angesprochene musterte sein Gegenüber mit einem prüfenden Blick. »Du siehst müde aus, Forcas«, sagte er dann. »Sag mir doch, hat Pandriel dich derart mitgenommen?« Forcas machte eine wegwerfende Handbewegung. »Pandriel gibt es nicht mehr. Wir haben jetzt fast alle. Jazeriel, Bethnael, Egibiel. Es ist fast niemand mehr übrig.« Janarax hatte begonnen, seine Hände zu reiben. Eine merkwürdige Veränderung ging plötzlich mit ihm vor. Die gedrungene Gestalt des Sternputzers begann sich zu strecken. Die langen Flimmerhärchen an seinen Oberschenkeln glätteten sich und verschmolzen mit seiner Haut, unter der sich auf 110
einmal dicke Muskelstränge wölbten. Das Gleiche geschah mit seiner Brust und seinen Oberarmen. Doch die bemerkenswerteste Veränderung erfolgte auf seinem Rücken: Aus den durchsichtigen Sternputzerflügelchen wuchsen plötzlich Federn hervor und verwandelten sich allmählich in mächtige Schwingen. »Eine lästige Verkleidung, nicht wahr, Janaël, die Gestalt eines Sternputzers«, sagte Forcas mit seiner näselnden Stimme. »Es dauert ja nicht mehr lange«, erwiderte Janaël und blähte sich zu seiner vollen Größe auf. Er nahm jetzt fast den ganzen Raum ein. Sein Kopf reichte bis unter die Decke. Seine Schwingen berührten die Tür. »Ich bin froh, dass du noch nicht abgereist bist«, fuhr er fort. »Ich fürchte, wir haben schon wieder ein Problem.« Forcas' Augen verengten sich und ruhten abwartend auf Janaël, der sich inzwischen vollständig in einen Engel verwandelt hatte. »Heute Nacht ist ein Schmetterlinger ins Sternputzerviertel eingedrungen.« »Wie konnte das geschehen?«, fragte Forcas scharf. Janaël zuckte mit den Schultern. »Eine unserer Quäldrohnen hat zwar den Schmetterling erwischt, auf dem er gekommen ist. Aber der Schmetterlinger selbst muss vorher abgesprungen sein. Glücklicherweise fiel er mir sozusagen direkt vor die Füße, aber ich hatte keine Zeit, mich eingehend um ihn zu kümmern. Pegario kam dazwischen.« »Pegario! Immer wieder dieser Pegario«, zischte Forcas. Dann verstummte er, seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und eine unheilvolle Stille trat ein. Janaël fuhr fort: »Pegario hat ihm wohl einiges erzählt und ihn außerdem zu den Lärmsklaven geführt. Danach habe ich ihn in die Stadt zurückgebracht.« 111
»Und warum hast du ihn nicht gleich den Stierwächtern übergeben?« Janaël wartete einen Augenblick mit seiner Antwort. Dabei beobachtete er genau Forcas' Gesicht. »Der Schmetterlinger war nicht irgendwer«, sagte er dann bedächtig. Forcas' Miene wurde noch düsterer. Janaël wartete abermals einen Augenblick, um den Moment so richtig auszukosten. »Es war Sarus Enkel«, sagte er endlich. »Nadil Maramor.« Er sah, dass Forcas sich beherrschte. Doch seine Augen verrieten ihn. Wie immer. Sie glühten plötzlich wie flüssiges Eisen. Janaël triumphierte innerlich. Er hatte ja immer gesagt, dass dieser Saru gefährlich war. Aber niemand hatte ihm geglaubt. Und was war geschehen? Der listige Schmetterlinger war wie vom Erdboden verschluckt. Angeblich war er im Lärmkrater verbrannt. Doch solange sie das nicht mit Sicherheit wussten, blieb der Vorfall beunruhigend. Und jetzt tauchte auch noch sein Enkel hier auf. »Jiinn-Garagor hat mir versichert, dass die Sache mit diesem Saru erledigt ist«, brachte Forcas zwischen zusammengepressten Zähnen heraus. »Jiinn-Garagor hat einen großen Kopf, damit mächtige Hörner darauf Platz haben«, erwiderte Janaël, »das ist aber auch schon alles. Saru wollte nach Silandor. Warum? Wieso weiß ein Schmetterlinger überhaupt etwas von Silandor? Dahinter kann nur Aratron stecken.« Forcas Mundwinkel zuckten, als jetzt auch noch dieser Name fiel. »Und weiter?« »Der Junge muss irgendetwas wissen, sonst hätte er nie versucht, heimlich in das Sternputzerdorf einzudringen. Das bedeutet, dass wir uns zu sicher gewähnt haben.« »Aratron hat Phantásien verlassen«, sagte Forcas in 112
schneidendem Ton. »Er kann nicht zurückkommen. Unser Plan ist hundertprozentig. Und sie wissen es. Sie haben aufgegeben. Nichts kann uns mehr aufhalten. Wir werden unseren Plan zu Ende führen. Kein miserabler Schmetterlinger wird mich davon abhalten. Töte ihn. Sofort!« Janaël sagte nichts. Aratron mochte Phantásien verlassen haben, dachte er. Aber er hatte irgendetwas zurückgelassen, das ihnen gefährlich werden konnte. Aratron würde nicht einfach aufgeben. Und die größte Gefahr lauerte immer da, wo man sich dem Sieg am nächsten wähnte. »Ich würde das nicht tun«, entgegnete er. »Er kann uns vielleicht zu Saru führen, falls der noch lebt.« Forcas warf den Kopf hoch. »Ich habe einmal auf dich gehört, Janaël. Und was ist geschehen? Dieser Saru ist in Silandor eingedrungen.« »Du hast nicht auf mich gehört, sondern auf Jiinn-Garagor«, erwiderte Janaël ruhig. »Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir Saru beobachtet und herausgefunden, was er plant. Wie die Dinge liegen, ist Saru vermutlich tot, aber wir wissen es nicht genau. Eine unangenehme Situation.« Forcas hatte wutschnaubend zugehört. Janaël spürte, dass er mit dem Feuer spielte, aber er kannte Forcas auch lange genug, um zu wissen, wie weit er gehen konnte. »Was schlägst du vor?«, fragte Forcas schließlich, ohne seinen bohrenden Blick von Janaël zu wenden. »Wir beobachten den Jungen. Ich habe das Gefühl, dass er uns noch nützlich sein kann.« Forcas schaute stumm vor sich auf den Boden. Janaël wartete. An der Art und Weise, wie Forcas seinen Kopf hielt, konnte er ablesen, dass er soeben eine Nachricht bekam. Einer seiner Leute erstattete ihm wohl gerade Meldung, und was immer die Botschaft enthielt, sie schien Forcas zufrieden 113
zu stellen. Ein eisiges Lächeln umspielte nämlich jetzt seine Lippen, die leicht auseinander glitten und seine scharfen, dreieckigen Zähne entblößten. »Garsiran ist gefallen«, sagte er und setzte eine Miene auf, deren Brutalität sogar Janaël erschreckte. »Und wir haben sie lebend. Zweitausend Nachtalben.« Er rieb sich die Hände. »Sind wir uns also einig?«, fragte Janaël, die Gunst des Augenblicks nutzend. Forcas hatte sich schon erhoben. Garsiran rief ihn. Alles andere schien ihn nicht mehr zu interessieren. »Tu, was du für richtig hältst. Aber sorge in Mangarath für Ruhe, bis wir so weit sind. Ich zähle auf dich.«
\ 15 \ Saru war nicht verrückt!, sagte Nadil sich immer wieder, während er und seine Freunde ihren zweiten Tag in Mangarath verlebten. Wenn Saru sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um in die verschollene Stadt Silandor hineinzukommen, dann musste es dafür einen gewichtigen Grund gegeben haben. Aber er mochte überlegen, so viel er wollte – was konnte er denn schon tun? Er dachte an Lariax und dessen schreckliches Los. Die Erinnerung an ihn verdarb ihm schnell den Spaß an dem schönen Gesumme und Gesäusel hier oben. Er lag mit Piri ausgestreckt auf den Summsteinen der Klangthermen und grübelte vor sich hin. Manchmal musterte er die verzückten Gesichter der Besucher, die um ihn herum ihre Klangbäder genossen. Doch die meiste Zeit ruhte sein Blick auf den Gitterabdeckungen in den Marmorböden. Dort unten, tief unter den schönen Mosaiken, schuftete ein Heer von Lärmsklaven, um all diese Töne zu erzeugen. 114
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Piri nach einer Weile. »Was starrst du denn so vor dich hin?« »Ich frage mich, wo diese Geräusche herkommen.« Piri stutzte. »Na, aus dem Boden.« »Ja, das sehe ich auch. Aber dieses Loch dort, das muss doch irgendwo hinführen, oder?« »Naja, in die Klanghöhlen eben«, schlug Piri vor. »Aha. Und wie sieht es da aus?« Piri zuckte mit den Schultern. Aber an seinem Gesichtsausdruck sah Nadil, dass er die Neugier seines Freundes geweckt hatte. Der rothaarige Schmetterlinger ließ sich auf einer schönen, prallen Basswolke über das Schnatterbassin gleiten und schaute neugierig durch die Gitterabdeckung. Er schien dort nichts Interessantes entdecken zu können, doch Nadil machte dafür eine umso bemerkenswertere Beobachtung: Mehrere Stierwächter, die bisher unauffällig im Hintergrund das bunte Treiben der Besucher verfolgt hatten, richteten sich auf und beobachteten Piri mit gespannter Aufmerksamkeit. Erst als er zu Nadil zurückschwebte, entspannten sie sich wieder. »Da ist gar nichts«, meldete Piri. »Alles schwarz.« »Ich würde zu gern wissen, wo das hinführt«, sagte Nadil. »Vielleicht gibt es ja doch Lärmsklaven. Gehst du mit?« »Wie? Da hinein? Spinnst du?« Piri ließ sich neben ihm nieder, steckte sich ein vorbeifliegendes Tremolo in den Nacken und ließ sich davon massieren. Nadil richtete sich auf. »Du traust dich ja wahrscheinlich nicht. Aber ich will mir ansehen, wo diese Geräusche herkommen.« Piri hatte die Augen geschlossen und genoss sein Tremolo. »Ich mich nicht trauen? Pah. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, was daran interessant sein soll, in so einen Schacht zu kriechen.« 115
»Siehst du, du hast Angst.« »Ich? Angst? Pah.« Nadil fuhr fort, ihn zu necken. »Wetten wir, dass du dich nicht traust?« Piri lächelte überheblich. »Dafür braucht man doch keinen Mut. Natürlich traue ich mich.« Nadil überlegte schon weiter, während er Piri noch provozierte. Wie sollten sie unbemerkt ein solches Gitter entfernen? Und war es nicht unfair, Piri in diese Sache mit hineinzuziehen? Aber er hatte Angst, allein zu gehen. Er wollte seinen Freund dabeihaben. »Ich schaue mich mal ein wenig um«, sagte er, schwang sich aufsein Trommelfell und segelte so unauffällig wie möglich in den nächsten Saal. Hier war etwas weniger Betrieb. Es gab viele kleine Nischen, in denen man eine prickelnde Akkorddusche nehmen konnte. Aber die meisten Duschen waren verlassen. Nur zwei gestreifte Gollops saßen unter ihrer Brause, schienen jedoch eingeschlummert zu sein. Jedenfalls war hier im Moment kein Stierwächter zu sehen. Kein Wunder. Es gab kein Gitter im Boden, sondern nur kleine Öffnungen in den Duschnischen, viel zu schmal, um hindurchzukriechen. Im nächsten Saal konnte man die Hand nicht vor Augen sehen. Feuchtwarme Mollschwaden nahmen Nadil die Sicht. Erst nach einer Weile unterschied er schemenhaft Gestalten, die hier vor sich hin schwitzten. Er rutschte von seinem Trommelfell, nahm auf einer der umlaufenden Bänke Platz und musterte die Umgebung. Hier war auch kein Gitter zu sehen. Aber woher kamen dann die ganzen Mollschwaden? Er bückte sich und betrachtete den Boden zwischen seinen Beinen. Aha. Die Öffnung für den Dampf befand sich unter den Bänken. Er ließ vorsichtig seine Hand hinabgleiten und 116
rüttelte leicht an dem Gitter. Nein, es bewegte sich kein bisschen. Sicher waren nach dem Vorfall mit Saru alle Zugänge überprüft worden. Es war aussichtslos. Ratlos schaute Nadil vor sich hin. Wie hatte Saru es nur angestellt, nach Silandor hineinzukommen? Wenn überhaupt, dann musste der Weg durch einen dieser vergitterten Schächte führen. Aber durch welchen? Und wie sollte er hindurchkommen? Er setzte sich wieder aufrecht hin, und dabei schlug ihm das Amulett gegen die Brust, das er um den Hals trug. Er nahm es in die Hand und musterte es. Konnte dieses Amulett ihm helfen? Hatte Saru es ihm deshalb zukommen lassen? Nadil streifte es ab und untersuchte es genauer. Aber er konnte nichts Besonderes daran entdecken. Ein runder, grünlicher Stein war es, sonst nichts. Er drückte ihn gegen die Steinbank, auf der er saß, und versuchte einen Strich damit zu ziehen. Aber der Stein war nicht zum Malen geeignet. Stattdessen machte Nadil eine erstaunliche Entdeckung. Neben ihm klaffte plötzlich ein tiefer Einschnitt im Stein. Noch einmal fuhr er mit dem Amulett über die Steinbank. Das war ja großartig. Dieses Amulett schnitt mühelos tiefe Kerben in Summsteine hinein. Im nächsten Augenblick lag Nadil auf den Knien vor der Bank und zog die Kante des Amuletts über einen der Gitterstäbe. Es durchschnitt das Metall ohne die geringste Mühe. Erschrocken fuhr er hoch. Damit also hatte Saru sich seinen Weg gebahnt. Erneut musterte er den merkwürdigen Stein, roch daran, fühlte, ob er denn nicht wenigstens warm geworden war. Aber nein, er lag so unscheinbar in seiner Hand wie zuvor. Nadil streifte sich das Amulett wieder über und kehrte zu Piri zurück. Der Geräuschdom, dachte er. Wenn Saru dort in den Schacht eingedrungen war, dann hatte er bestimmt einen 117
guten Grund dafür gehabt. Aber wie sollte er es dem Großvater nachmachen? Selbst mit dem Amulett ging das nicht. Der Geräuschdom war doch immer voller Besucher. »Ich gehe jetzt in den Geräuschdom«, erklärte Nadil, als sie die Klangthermen verließen. Er stand damit recht allein. Meister Toralon wollte zu den Glückssängern, die Mädchen strebten zum Platzschotenplatz. Da Piri beides bereits kannte, schloss er sich am Ende doch Nadil an. Sie flogen eine Weile im Geräuschdom herum, ließen sich dann auf einer der vielen Streben nieder und sonnten sich. Der Himmel über ihnen war strahlend blau. Kein Lüftchen regte sich. Ganz Mangarath summte und brummte, klapperte und klingelte. Doch plötzlich geschah es wieder. Das Blau über ihren Köpfen wurde jählings strahlend weiß. Der ganze Himmel schien sich aus sich selbst herauszuwölben und dann durch sich hindurchzufallen. Nadil purzelte vor Schreck fast von seiner Strebe herunter. Aber nicht nur er. Alle Besucher hingen plötzlich verstört an den Simsen und starrten gebannt auf das Schauspiel über ihnen. Das war die Gelegenheit! Nadil zögerte keine Sekunde. Er ließ sich zu Boden sinken und kam direkt auf dem Gitter zu liegen. Ein Lichtblitz zuckte durch die Kuppel über ihm. Alle schauten nach draußen. Das Lichtgewitter wurde immer schlimmer. Er nahm das Amulett und begann die Eisenstangen durchzuschneiden. Es war großartig. Das Amulett glitt durch das Eisen hindurch wie durch Butter. »Nadil, was tust du da?«, hörte er plötzlich Piri, der neben ihm zu Boden gesunken war. Doch Nadil antwortete nicht. Eine ungeheure Aufregung hatte ihn ergriffen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Jeden 118
Augenblick konnte er entdeckt werden. Ohne ein weiteres Wort rollte er sich zur Seite und schnitt die letzten Streben des Gitters entzwei. Mit lautem Krachen brach es auseinander und stürzte in den dunklen Schacht hinunter. Piri starrte ihn entgeistert an. »Aber... was machst du da?« Da glitt Nadil schon in das Loch hinein, Und dann ging alles rasend schnell. Auf einmal ertönte ein ungeheuerliches Gebrüll. Zwei Stierwächter kamen hereingestürmt, direkt auf Piri zu. Der nächste blendende Blitz ging über Mangarath nieder und tauchte den Geräuschdom in gleißendes Licht. Piri erschrak, wollte weglaufen. Doch wohin? Wie von einem fremden Willen gesteuert, glitt auch er in den Schacht hinein. Und kaum war er gesprungen, merkte er auch schon, dass dieser Schacht eine furchtbare Falle war: Es ging steil abwärts! »Hiiiilfe«, schrie er. Aber der Einzige, der ihn hörte, war Nadil. Und der rutschte selbst unweigerlich abwärts. Sehen konnte er nichts, doch allmählich vernahm er Geräusche. Ein Dröhnen und Krachen drang an sein Ohr. Dann ein Klirren und Schmettern. Es wurde immer heißer. Beim letzten Glücksdrachen: der Lärmkrater! Dieser Schacht musste zum Lärmkrater führen. Sie waren verloren. Noch wenige Augenblicke, und sie würden verglühen. Nadil warf sich verzweifelt herum, versuchte mit seinen Händen irgendetwas zu packen, das ihm Halt bieten könnte. Aber es war hoffnungslos. Seine Fingernägel zersplitterten. Sein Kopf schlug gegen einen Vorsprung. Und es wurde immer lauter und heißer. Dann sah er den ersten Rotschimmer. Es war vorbei. Noch wenige Sekunden, und ... Aber da flog er bereits durch die Luft. Ein tosender Lärm raubte ihm fast die Besinnung. Und diese Hitze! Seine Haare begannen zu brennen! Er schlug sich mit den Händen gegen 119
den Kopf. Wie in einem Traum sah er plötzlich Lariax, der ihm wie erstarrt nachschaute. Er flog in den Krater. Es war vorbei. Plötzlich wurde alles um ihn dunkel und still. Er flog noch immer, aber was geschah jetzt? Wo war die Hitze geblieben? Und der Lärm? War er schon tot? Bewegte er sich überhaupt noch? Wo war Piri? Und auf einmal spürte er, dass ihn irgendetwas trug. Er war in irgendetwas drin, das ihn langsam abbremste und sanft absetzte. Es vergingen noch einige Augenblicke, dann landete plötzlich Piri neben ihm. Der arme Piri. Er hatte überhaupt keine Haare mehr!
\ 16 \ »Oje, oje«, hörte Nadil seinen Freund jammern. »Wo sind wir denn nur?« Aber darauf hatte Nadil auch keine Antwort. Verstört blickte er um sich. Sie waren in ein tiefes Loch gefallen. Mehr konnte man einfach nicht sagen. Weit über ihren Köpfen gab es eine schwarze Stelle in dem ansonsten grünlich schimmernden Gestein um sie herum. Dort mussten sie herausgefallen und dann hier gelandet sein. Nadil versuchte aufzustehen, und wundersamerweise gelang ihm das auch ohne Schwierigkeit. Es tat ihm überhaupt nichts weh. »Bist du verletzt?«, fragte er Piri, der noch immer benommen am Boden lag, so wie er dort gelandet war. »Ich weiß es nicht«, wimmerte sein Freund. »Ich glaube schon.« »Versuche doch einmal aufzustehen«, riet ihm Nadil. Piri tat es. Auch er konnte sich genauso gut bewegen wie vorher. »Ah!«, schrie er plötzlich auf. »Was ist denn das?« Nadil fuhr herum und schrak ebenfalls zusammen. Da 120
schwebte etwas um sie herum. Rauch? Nein, es war kein Rauch. Es war wie Luft, aber man konnte es sehen. Auf einmal schien in der sichtbaren Luft ein Gesicht auf. Aber es zerfloss sogleich wieder. Dann war es plötzlich an einer anderen Stelle. »Wer bist du?«, fragte Nadil mutig, auch wenn ihm die Stimme zitterte. »Nur keine Angst, nur keine Angst«, säuselte das Gesicht. Nadil fühlte sich schwer werden. Auch Piri machte eine Bewegung, als müsse er sein Gleichgewicht suchen. »Ich trug euch herab, nur keine Angst. Nun geht, wie ihr wollt. Das Glück sei euch hold.« Die Luftschwaden schwammen allmählich nach oben. Das Gesicht schwamm gleichfalls darin herum, immer wieder von einer anderen Stelle herunterlächelnd. »Wer bist du?«, fragte Nadil erneut. »Wohin gehst du?« »Ich bin der Äther, alles trägt er, fürchtet euch nicht, denn nichts verrät er.« Im nächsten Augenblick gab es ein saugendes Geräusch, und die Erscheinung verschwand durch die Höhlendecke. »Jedenfalls kann er nicht gut reimen«, meinte Piri nach einer kurzen Pause. Der Äther? Von einem Äther hatte Nadil noch nie etwas gehört. »Nadil«, stöhnte Piri, »was ist denn nur passiert?« »Ich ... ich weiß es auch nicht so recht«, stammelte er. »Wo sind wir denn hier?«, wimmerte Piri. »Wie sollen wir hier wieder herauskommen?« Das wusste Nadil auch noch nicht. Aber er durfte sich das doch nicht anmerken lassen. Die Eindrücke des schrecklichen Absturzes spukten noch in ihm herum. Und wenn er Piri so anschaute, seinen Kopf mit den versengten Haaren, dann 121
konnte es nur eine Erklärung geben: Sie waren aus der Kuppel über dem Lärmkrater herausgefallen, durch den Keller der Lärmsklaven hindurchgeflogen und in einem der Löcher in der Kraterwand verschwunden. Der rasche Sturz hatte ihnen allerdings das Leben gerettet, denn wenn sie nicht wie zwei Geschosse über die Krateröffnung hinweggerast wären, dann wären sie in dieser Gluthitze sicherlich umgekommen. Nadil griff sich an den Kopf. Aber wo früher einmal blonde Locken waren, spürte er nur verkohlte, dünne Haarreste, die zwischen seinen Fingern zu Staub zerfielen. Piri fing an zu lachen. »Hi, hi, wie du aussiehst. Hi, hi.« »Meinst du, du wärst besser dran?« Sein Freund verstummte und griff sich nun gleichfalls an den Kopf. Dann schaute er bestürzt um sich. »Ein Spiegel. Ist hier nirgendwo ein Spiegel? Ich habe keine Haare mehr!« »Du siehst wahrscheinlich genauso aus wie ich«, beruhigte Nadil. »Komm, lass uns erst einmal schauen, wo wir hier sind.« Sie gingen unsicher ein paar Schritte voran und blieben gleich wieder stehen. Zu beiden Seiten erhoben sich grünlich schimmernde, glatte Felswände, die hoch über ihren Köpfen in einem Bogen zusammenliefen. Der Grund unter ihren Füßen war weich. Ein feiner Staub lag überall und dämpfte ihre Schritte. Piri ging in die Knie und ließ den Staub durch seine Finger rinnen. »Ist es Sternstaub?«, fragte Nadil. Sein Freund schüttelte den Kopf. Dann schnüffelte er daran. »Es riecht nach nichts. Ich glaube, es ist einfach Sand.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Wie still es hier ist, nicht wahr?« Nadil lauschte. Ja, die Stille hier war wirklich bemerkenswert. Man hörte überhaupt nichts. 122
Sie marschierten los. Aber Piri hielt plötzlich wieder an. »Wir müssen uns doch irgendwie orientieren.« Nadil deutete auf den Boden. »Wir haben doch unsere Spuren in diesem Sand hier. Zurück finden wir immer.« »Und die Stierwächter?«, wisperte Piri. »Sie werden uns sicher verfolgen und bestrafen, meinst du nicht?« Das war natürlich eine Möglichkeit. Aber Nadil glaubte nicht daran. Je länger er über alles nachdachte, desto stärker wurde in ihm die Überzeugung, dass er genau dort angekommen war, wo vor einigen Wochen auch Saru gelandet sein musste. Sein Großvater war im Geräuschdom durch ebendiesen Schacht verschwunden. Lariax war gefangen worden. Aber Saru war bestimmt genau wie sie abgestürzt und hier unten angekommen. Und offenbar war ihm damals kein Wächter gefolgt, oder? Also würden sie es auch diesmal nicht wagen. Wer stürzte sich schon freiwillig in einen glühenden Krater? Ja, wussten sie überhaupt von diesem Eingang nach Silandor? Mussten sie nicht denken, dass jeder, der durch den Schacht stürzte, im Lärmkrater verglühte? Der Weg ging leicht abwärts. Manchmal rückten die Wände ein wenig zusammen, aber die Höhle blieb immer so hoch, dass man die Decke kaum sehen konnte. Dunkle Stellen über ihnen wiesen darauf hin, dass dort wohl Felsstücke herunterhingen, aber was genau sich da oben so dunkel abzeichnete, war nicht zu erkennen. »Ich fürchte mich«, wimmerte Piri. »Wie sollen wir denn jemals hier herausfinden? Wir werden uns verirren!« Nadil wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er sollte Piri die Wahrheit sagen, dachte er dann. Sie waren in Silandor, daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie waren in diesem uralten Bergwerk, von dem Lariax ihm erzählt hatte. Aber sollte er Piri wirklich von seinem Ausflug ins Sternputzer123
viertel berichten? Würde der Freund ihm keine Vorwürfe machen? Nein, er würde noch warten. Vielleicht kamen sie hier ja unbemerkt wieder heraus? Die Stierwächter hatten vielleicht gar nicht gesehen, wer da im Boden verschwunden war, so schnell war das alles gegangen. Fast wünschte Nadil, es wäre so. Wäre er doch nur nicht so unvorsichtig gewesen. Aber Piri schien sich auch schon wieder beruhigt zu haben. »Ob das eine natürliche Höhle ist?«, fragte er, nachdem sie ein Stück weitergegangen waren. »Ich glaube nicht«, antwortete Nadil. »Schau doch, die Wände, überall sind Kratzspuren von Hämmern oder Meißeln.« Die Höhle wurde allmählich breiter. Dann sahen sie eine runde Öffnung, und dahinter schien sich eine Grotte zu öffnen, in der es heller war als hier in der Höhle. Sie blieben stehen und lauschten. Noch immer drang kein Laut an ihr Ohr. Auch die Luft um sie herum stand völlig still. Nadil fiel auf, dass es hier weder warm noch kalt war. »Was meinst du?«, flüsterte Piri, die Augen furchtsam auf den Durchgang gerichtet. »Soll ich vorgehen?« »Nein. Kommt nicht in Frage. Wir gehen zusammen.« Vorsichtig schlichen sie auf die Öffnung zu. Ein riesiger Abgrund tat sich vor ihnen auf. Sie tasteten sich Schritt für Schritt voran, und noch immer war hinter der Stelle, wo die Höhle endete, kein Grund zu sehen. Und als sie endlich bis auf Armeslänge an den Durchgang herangekommen waren, da wurden ihre Augen weit vor Staunen: Ein riesenhafter, kugelförmiger Raum tat sich vor ihnen auf. Nadil schluckte. Ganz Nevisehr hätte hier Platz gefunden. Doch der kugelförmige Raum war völlig leer. Nur zu ihren Füßen, tief unter ihnen, schimmerte ein See, und in dessen Mitte stand irgend124
etwas, das sie jedoch aus dieser Entfernung nicht erkennen konnten. Nadil griff unwillkürlich an seine Jackentasche, doch o weh, sein Weitseher war verschwunden. Piri bemerkte den Schreck in Nadils Augen. »Du hast ihn verloren?« Hastig durchsuchte Nadil alle seine Taschen. Dann nickte er traurig. »Der arme Gucko. Wenn er in den Krater gefallen ist...« »Vielleicht hast du ihn ja schon oben im Schacht verloren«, versuchte Piri ihn zu trösten. Nadil erwiderte nichts und nahm den Anblick dieser riesigen Höhle in sich auf. »Was mag das nur sein?«, flüsterte er beeindruckt. »Kannst du erkennen, was dort unten im Wasser steht?« Piri schüttelte den kahlen Kopf. »Schauen wir doch einfach nach«, schlug er vor. Zu beiden Seiten führte eine schmale, aus dem Fels herausgeschlagene Galerie an den steil abfallenden Wänden entlang. Es erinnerte Nadil ein wenig an die Steingalerien in den Verliesen der Lärmsklaven. Nach einigen Schritten entdeckten sie, dass in regelmäßigen Abständen Leitern in den Stein gemeißelt waren, die direkt nach unten führten. Doch Nadil schwindelte beim Blick in die Tiefe. Auch Piri schaute nur kurz nach unten und trat dann an die Felswand zurück. »Das ist aber sehr hoch«, sagte er. »Wir haben keine Wahl«, erwiderte Nadil. »Ich gehe vor.« Und ohne sich weiter zu besinnen, schwang er sich auf die Leiter und begann mit dem Abstieg. Zunächst gruselte ihn, wenn er daran dachte, dass er in schwindelerregender Höhe eine Felswand hinabstieg. Doch dann schloss er die Augen und konzentrierte sich mit all seiner Willenskraft auf seine 125
Bewegungen. So erspürte er Stufe um Stufe, und als er den Boden erreichte, da war es fast so, als erwache er aus einer milden Trance. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er rieb sich die Augen und schaute nach oben. Wie furchterregend hoch war diese Galerie! »Mach die Augen zu, wenn du absteigst«, rief er zu Piri hinauf. »Denke an etwas anderes, dann ist es ganz einfach.« Aber Piri bewegte sich nicht. »Ich ... ich kann nicht«, hörte Nadil ihn leise sagen. »Es ist wirklich ganz leicht«, rief er wieder. »Schließ nur die Augen.« Und tatsächlich, nach einer Weile sah er die kleine Figur seines Freundes ganz langsam die Leiter herunterkommen. Stufe um Stufe verringerte sich der Abstand, und als Piri neben ihm angekommen war, blieb er einfach stehen, die Augen geschlossen, und bewegte sich nicht mehr. »He, Piri, aufgewacht«, sagte Nadil und knuffte ihn sanft. Piri schüttelte sich und schaute verwirrt um sich. »Wie ... was ist passiert?« »Nichts. Du bist eingeschlafen.« »Eingeschlafen – beim Klettern?« Nadil starrte die Felswand hinauf. »Ja, mir ging es auch so. Komisch, nicht wahr? Eine merkwürdige Leiter.« Sie sahen sich um. Wenige Schritte entfernt von ihnen schimmerte die Oberfläche des unterirdischen Sees. »Schau nur«, rief Piri, »das Wasser ist so glatt wie ein Spiegel. Man kann die Decke darin sehen, sogar noch klarer und deutlicher als von oben.« Seltsam, dachte Nadil. Aber Piri hatte Recht. Wenn er den Kopf hob, sah er die Decke nur undeutlich, doch gespiegelt im Wasser konnte man erkennen, dass es dort oben auch Höhlen und Gänge geben musste. 126
»Los, lass uns schauen, was dort in der Mitte des Sees steht«, schlug er vor. Allmählich hatte sich eine brennende Neugier in ihm entfacht. Würde er hier vielleicht eine Spur von Saru finden? War sein Großvater bis hierher gekommen? Außerdem war er jetzt stolz, diese unterirdische Welt entdeckt zu haben. Diese völlige Stille! Das war doch fast noch aufregender als das Getöse von Mangarath. Nadil marschierte auf die Mitte des Sees zu. Kleine Stege führten dorthin und endeten auf einer Felsplatte. Doch als er näher kam, stutzte er. Was stand denn dort? Er blieb stehen und drehte sich zu Piri um, der mit furchtsamer Miene folgte. Auf der Felsplatte stand ein großes Ei auf einem Sockel. Nadil maß es mit prüfendem Blick. Es musste etwa so groß sein wie er selbst und war anscheinend aus dem gleichen Stein geschlagen, aus dem dieses ganze Bergwerk bestand. Um den Sockel herum lagen merkwürdige Gegenstände. Als er näher kam, sah er, dass es Werkzeuge waren. Ein Hammer, eine Schaufel, ein schwerer Glockenschwengel, an dem sogar noch ein halb vermodertes Seil hing. Doch alle diese Werkzeuge waren zerborsten. Der Hammer, dessen Stiel fast so groß war wie das Ei, neben dem er lag, war zerbrochen. Das Schaufelblatt war gleichfalls gesplittert. Piri war neben ihn getreten. »Was ist denn das?« »Keine Ahnung«, murmelte Nadil. »Kaputte Werkzeuge.« Piri ging auf den Sockel zu und schaute sich das Ei genauer an. »Jemand hat versucht, hier Stücke herauszuschlagen«, sagte er dann. Er untersuchte den Sockel. »Grüner Stein. Er muss ziemlich hart sein.« Nadil konnte Piri ansehen, dass er das Gleiche dachte wie er selbst. Wenn dieser Stein so hart war, dass kein Werkzeug ihn auch nur ankratzen konnte, wie war dann diese riesige Höhle gegraben worden? Auch er ging jetzt auf das Ei zu und 127
betrachtete es genauer. »Schau mal«, rief er aus. »Da sind Wörter eingraviert!« Piri reckte sich und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Aratron«, buchstabierte er. »Bethor, Phaleg, Hagith ...« Insgesamt sieben Namen waren dort eingemeißelt. Noch merkwürdiger waren die Zeichen darüber.
»Hast du so etwas schon einmal gesehen?«, fragte Nadil. Piri fuhr mit dem Zeigefinger über die Gravur. »Nein. Noch nie. Und schau mal, da steht noch etwas.« Eine Rosette rahmte die Namen und die dazugehörigen Zeichen ein. Wenn man aus dem richtigen Winkel darauf schaute, sah man, dass sich auch hinter der Rosette ein Schriftzug verbarg. Nadil las ihn, und zugleich lief ihm ein Schauer den Rücken hinab. Hier war also das Geheimnis von Silandor. Hier war es in grünen Stein gemeißelt: sieben Namen, sieben Zeichen und eine umlaufende Schrift, die das alles umrahmte: »Silandril«. Aber was sollte dieses Wort bedeuten?
\ 17 \ Eine ganze Weile lang blieben sie ratlos vor der seltsamen Statue sitzen und sprachen kein Wort. Die Stille um sie herum erschien ihnen immer intensiver. Vielleicht lag es auch daran, dass sie zuvor in Mangarath gewesen waren, wo ja an jedem erdenklichen Ort Geräusche zu hören waren. Aber so ganz 128
ließ sich damit die Intensität der Stille hier unten nicht erklären. »Man hört die Stille fast, findest du nicht auch«, sagte Piri nach einer Weile. Nadil nickte, erwiderte aber nichts. Ein ungutes Gefühl begann sich in ihm breit zu machen. Hatte Pegario nicht gesagt, hier unten befinde sich irgendwo der Tunnel, der ins Land der Leere führe, aus dem das Nichts nach Phantásien gekommen sei? War diese Stille vielleicht das erste Anzeichen dafür? Ein Vorbote des Nichts? Lauerte es hier irgendwo auf sie? Und musste er Piri nicht endlich sagen, was er wusste? Sein Freund erhob sich plötzlich. »Dort drüben führt ein Gang weiter in das Bergwerk hinein«, sagte er und marschierte auch schon los. »Irgendwo müssen diese ganzen Höhlen ja hinführen, meinst du nicht?« Nadil blieb noch sitzen und schaute Piri hinterher. Dann nahm das seltsame Wasser des Sees wieder seine Aufmerksamkeit gefangen. Es glänzte wie ein richtiger Spiegel. Er ließ seine Hand hineingleiten, und sofort verschwand der Effekt durch die Wellenbewegungen, die er ausgelöst hatte. Erst als er seine Hand stillhielt und das Wasser sich wieder beruhigt hatte, reflektierte sich die Decke wieder darin, und zwar so eindringlich, als wäre sie gar nicht zwanzig oder dreißig Fuß über ihm, sondern nur wenige Fuß entfernt. Was waren da oben eigentlich für Höhlen und Stufen?, fragte er sich. Da erklang plötzlich Piris Stimme. »Nadil, Nadil, komm schnell!« Er sprang auf und eilte in Piris Richtung. Als er den See überquert hatte, gelangte er an eine Felswand. Ein Torbogen war dort eingemauert, und darunter stand Piri. »Da ist ein Friedhof!«, rief sein Freund atemlos. »Knochen und Schädel.« 129
Nadil ging durch den Torbogen und betrat die Vertiefung, die schon nach wenigen Metern in eine kleinere, kuppelartige Aushöhlung mündete. Der Raum hier sah fast genauso aus wie die Höhle mit dem See, nur kleiner und ohne Wasser. Stattdessen war der Boden übersät mit ausgebleichten Gebeinen und Schädeln. Aber noch etwas Merkwürdiges fiel Nadil auf. »Siehst du die Wände?«, fragte er Piri, der neben ihn getreten war. »Dort sind lauter zugemauerte Stellen.« Piri spähte furchtsam im Raum umher. »Nadil, lass uns zurückgehen. Vielleicht können wir mit diesem Äther verhandeln, dass er uns wieder hinaushilft. Hier unten gefällt es mir nicht.« »Gut«, stimmte Nadil zu, »aber lass uns noch nachschauen, was in diesen Nischen ist. Geh und hol den kaputten Hammer.« Piri runzelte die Stirn, aber schließlich brach er auf, das Verlangte zu holen. Nadil musterte indessen die Knochen, die vor ihm auf dem Boden lagen. Die Wesen, zu denen sie gehört hatten, mussten recht groß und stark gewesen sein. Er nahm einen Schenkelknochen in die Hand und stellte fest, dass er so groß war wie sein ganzes Bein. Dann betrachtete er die Schädel etwas genauer. Es waren nicht mehr als zehn oder zwölf. Sie lagen verstreut herum. Und dann weiteten sich Nadils Augen entsetzt. Auf den Stirnknochen gab es Höcker. Hier lagen ... erschlagene Stierwächter! Nadil stand noch immer reglos da, als Piri zurückkehrte, mühsam den schweren Hammer schleppend. »Was ist denn los?«, fragte Piri, als er seinen Freund erblickte. Nadil schaute ihn an. »Ich ... ich muss dir gleich etwas sagen, Piri. Aber lass uns erst eine dieser Nischen öffnen.« »Was willst du mir sagen?«, fragte Piri in alarmiertem Tonfall. 130
»Ich glaube, wir können nicht zurück«, murmelte Nadil. »Wir müssen herausfinden, was es mit diesem Bergwerk auf sich hat. Schau, diese ganzen Knochen. Jemand hat diese Stierwächter hingerichtet.« Piri ließ seinen Blick über die Gebeine schweifen. »Meinst du wirklich?«, fragte er leise. Nadil nickte. »Aber warum?« »Ich weiß es nicht. Aber komm. Lass uns die Nischen öffnen.« Piri bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. »Nadil, das kann doch nicht dein Ernst sein. Ich möchte zurück. Ich habe nichts getan. Ich bin doch nur in ein Loch gefallen.« Aber Nadil hatte bereits den Hammer gehoben und ließ ihn nun mit einem schweren Schlag gegen eine Mauer krachen. Das Metall schlug pulvernd ein großes Stück heraus. »Es ist nur Ziegelstein«, rief Nadil triumphierend und schlug erneut zu. Ein noch größeres Stück brach heraus. Nach drei weiteren Schlägen klaffte bereits ein Loch in der Mauer, und plötzlich brach die Hälfte davon einfach weg. Er konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen. Allmählich lichtete sich der Staub und enthüllte ein grausiges Bild: In der Nische saß ein Wesen, das keiner Kreatur ähnelte, die Nadil oder Piri jemals zuvor gesehen hatten. Die Gestalt sah aus wie ein vertrockneter Zwerg. Sie trug nur eine dunkelbraune Kutte und Sandalen. Doch so genau konnte man das gar nicht erkennen, denn sie war von Kopf bis Fuß mit einer wallenden silbergrauen Haarpracht bedeckt. Kopfhaar und Bart vereinigten sich unter dem Kinn und wuchsen dann gemeinsam bis auf den Boden hinab. Vom Gesicht war nicht viel zu sehen, aber Nadil und Piri waren sich einig, dass die Gestalt schon lange tot sein musste. 131
»Eine Mumie?«, flüsterte Pili und wich einen Schritt zurück. »Ja«, wisperte jetzt auch Nadil. »Schau nur, die langen Nägel an den Fingern und Zehen.« Der Zwerg hatte in diesem Gefängnis wohl noch eine ganze Weile gelebt, bis er vermutlich erstickt war. Oder waren sein Haar und seine Finger- und Zehennägel nach seinem Tod noch ein paar Monate weitergewachsen? Seine Augen waren geschlossen, die Lider eingefallen, die Haut lederartig mit vielen kleinen Runzeln. »Warum hat man den armen Kerl denn hier eingemauert?«, fragte Piri halblaut. Nadil überlegte fieberhaft. Hier war etwas Furchtbares geschehen. Er musterte nervös die anderen Nischen. Dort würden sie sicher das Gleiche vorfinden. Und wer immer all diese Stierwächter und Bergwerkzwerge hier unten ermordet oder eingemauert hatte, hatte offenbar ein großes Interesse daran, dass niemand davon erfuhr. Doch sie wussten jetzt davon. War Silandor deshalb so gut bewacht? Und hing das alles mit den Sternputzern zusammen? Aber wie? Auf jeden Fall waren sie in großer Gefahr. Mit Sicherheit würde man sie verfolgen, und wenn bisher noch niemand auf ihrer Spur war, dann gab es dafür sicher nur einen Grund: die Zeit. Das Bergwerk musste noch einen anderen Eingang haben, einen weniger gefährlichen, von wo man diese Höhle auch erreichen konnte. Und es konnte nicht mehr lange dauern, bis man sie finden würde. Nadils Knie wurden weich. Würde man sie dann auch hier einmauern? »Wir müssen so schnell wie möglich hier raus«, sagte er auf einmal und ließ den Hammer einfach fallen. Piri schaute ihn alarmiert an. »Nadil, du verschweigst mir doch irgendetwas, nicht wahr?« 132
Nadil schnitt eine Grimasse. Nicht jetzt, dachte er, erst mussten sie sich irgendwie in Sicherheit britigen. »Nein«, sagte er forsch. »Das heißt, ich weiß ein paar Dinge, die ich mit dir besprechen will, aber nicht jetzt. Erst müssen wir...« Doch der Satz blieb ihm im Hals stecken. Das Geräusch war zwar noch weit entfernt, aber sie hatten es beide deutlich gehört: Ein lang gezogenes, furchtbares Brüllen hallte schwach von den Wänden wider. Piris Zähne schlugen aufeinander. Auch Nadils Herz schien plötzlich wie aus Watte. Die Stierwächter! Sie waren ihnen auf der Spur. »Los. Nichts wie raus hier«, rief er. Aber wohin? Sie rannten ein Stück den Tunnel entlang, der aus der Friedhofshöhle wegführte. Plötzlich blieb Nadil wieder stehen. »Es geht abwärts, immer weiter abwärts«, rief er aufgeregt. »So kommen wir hier nie heraus.« »Aber zurück können wir jetzt auch nicht mehr«, rief Piri. Wie zur Bestätigung erklang erneut ein grollendes Brüllen, jetzt schon etwas näher. »Was sollen wir tun, Nadil, bitte, du musst etwas tun!« Doch Nadil wusste es auch nicht. Er schaute hilflos um sich. Sie saßen in der Falle. Dieser Schacht führte immer tiefer in das Bergwerk hinein. Die Wächter würden sie unweigerlich einholen. »Wenn wir nur dort oben hinauskönnten«, sagte Piri dann. Nadil hob den Kopf. Ja, da war wieder die Decke zu sehen und undeutlich einige Vorsprünge, hinter denen weitere Höhlen verborgen schienen. Aber dort kämen sie unmöglich hinauf. »Der Ausgang ist der Eingang«, murmelte Nadil plötzlich. 133
»Was sagst du da?«, fragte Piri. Er war ganz bleich vor Angst. »Lariax«, rief Nadil aus. »Die Wahrheit ist immer andersherum!« Mit einem einzigen Satz machte er kehrt und lief in die Knochenhöhle zurück. Piri blieb völlig verdutzt stehen. Jetzt war alles zu spät. Nadil hatte den Verstand verloren. Aber Nadil hielt jetzt nichts mehr. Oben ist unten und unten ist oben, hörte er in seinem Kopf. Links ist rechts und rechts ist links. Das waren Lariax' Worte gewesen. Das Wasser. Der Spiegel. Die eigenartige Decke. Das war vielleicht eine Möglichkeit. Er rannte durch die Knochenhöhle, ohne nach links oder rechts zu schauen, lief unter dem Torbogen hindurch und direkt auf den Höhlensee zu, in dem das spiegelnde Wasser schimmerte. Am Ufer kniete er sich hin und schaute hinein. Doch ein furchtbarer Schreck ließ ihn zurückprallen. Die Fratze eines Stierwächters schaute ihm aus der Spiegelung hasserfüllt entgegen. Und im nächsten Augenblick hörte er über sich ein Brüllen, das ihm durch Mark und Bein ging. Nadil fuhr herum und schaute nach oben: Weit über ihm stand sein Verfolger auf der Galerie und machte soeben Anstalten, die Steinleiter hinabzuklettern. Und da war noch einer, und noch einer. Sie waren zwar noch nicht so nah, wie die Spiegelung sie erscheinen ließ, doch in wenigen Minuten würden sie hier unten ankommen. Er durfte keine Zeit verlieren. Wenn es eine Rettung gab, dann in diesem Spiegelwasser. Aber ein Behälter – er brauchte einen Behälter! Er sprang auf und eilte in die Knochenhöhle zurück. Die abgeschlagenen Häupter! Anders ging es nicht. Im Nu hatte er zwei Totenköpfe ergriffen, lief damit zum See zurück, kniete nieder und füllte die Schädelknochen mit der glänzen134
den Flüssigkeit. Erneut erklang das unbarmherzige Gebrüll der rasch herabsteigenden Stierwächter. Aber Nadil kümmerte sich jetzt nicht darum. Er musste so schnell wie möglich zu Piri zurück. Und er durfte das kostbare Wasser nicht verschütten. So rasch er konnte eilte er durch die Höhle und warf dabei schon den einen oder anderen Blick in die makabren Gefäße, die er vor sich hertrug. Doch er konnte darin nichts sehen. Das Wasser kräuselte sich durch seine Bewegungen. Er begann zu schwitzen. Sein Herz raste vor Angst. Wenn das nicht funktionierte, waren sie verloren. »Wo warst du denn?«, schrie Piri ihn an, als er endlich wieder bei ihm eintraf. »Hörst du nicht, sie müssen gleich hier sein.« »Hier! Nimm!«, befahl Nadil und drückte dem vor Angst schlotternden Piri einen der Schädel in die Hand. »Halte ihn so ruhig du kannst und schau hinein.« Piri wusste überhaupt nicht, was er sagen sollte. »Sieh mich nicht so an und tu, was ich dir sage«, flehte Nadil seinen Freund an. »Dieses Bergwerk ist verwunschen. Alles steht hier auf dem Kopf. Wir sehen es nur nicht. Um hinauszugelangen, müssen wir an der Decke entlanglaufen. Halte den Schädel so ruhig du kannst, dann spiegelt das Wasser die Wirklichkeit. Los, mach schon.« »Aber die Wächter«, wimmerte Piri, und Tränen rannen ihm die Wangen hinab. »Sie sind doch gleich hier.« »Du musst das Wasser ganz ruhig halten, bis die Reflexion einsetzt. Dann können wir ihnen entkommen. Ich bin sicher. Es muss so sein. Die Sternputzer haben es mir gesagt.« »Die Sternputzer? Du warst bei den Sternputzern?« »Nachher, Piri, nachher erkläre ich dir alles. Jetzt tue, was ich dir gesagt habe, oder wir werden hier umkommen.« 135
Damit drehte Nadil sich um und starrte in seinen mit Wasser gefüllten Stierschädel. Das Gebrüll der Stierwächter kam näher. In wenigen Augenblicken würden sie hier eintreffen. Nadil sammelte seine ganze Kraft, um der Angst zu widerstehen. Nicht weglaufen, sagte er sich und starrte auf die Wasseroberfläche zwischen seinen Händen, die allmählich ruhiger wurden. Die Decke begann sich abzuzeichnen. Immer klarer und näher sah er sie vor sich. Er ging einen Schritt, und die Decke bewegte sich mit ihm. Das Gebrüll kam noch näher. Seine Hände begannen zu zittern, das Bild verfloss, und er stand wieder hier unten, ging wieder auf dem Höhlenboden abwärts. Doch dann nahm er sich zusammen und wurde noch ruhiger. Er ging langsam vorwärts, immer das Bild im Auge, das sich zwischen seinen Händen befand. Und auf einmal hörte er Piri: »Nadil, Nadil, der Weg führt aufwärts.« »Psst«, zischte Nadil, »kein Laut. Sie sind gleich unter uns.« Und tatsächlich, es war unfassbar: Sie liefen an der Decke entlang, die sie in ihren eigenen Händen gespiegelt vor sich hertrugen. Weit unter ihnen preschten die Stierwächter dort vorbei, wo sie soeben noch gestanden hatten. Ein heiseres Gebrüll erfüllte das Bergwerk. Dann waren die Wächter vorbei, und nur das donnernde Klopfen ihrer Hufe hallte noch eine Weile von den Wänden wider. »Sie werden sicher gleich zurückkommen«, flüsterte Nadil. »Lass uns jetzt keinen Fehler machen. Je langsamer wir gehen, desto sicherer können wir ihnen entkommen. Schau nur immer in den Wasserspiegel.« Behutsam die Stierschädel tragend, arbeiteten sie sich Schritt für Schritt voran. Noch zweimal tobten unter ihnen die Verfolger vorbei, brüllend und fauchend, weil sie keine 136
Spur der beiden Eindringlinge mehr finden konnten. Nadil und Piri schlichen währenddessen wie zwei unendlich langsame Schatten weit über ihren Köpfen auf der Decke dahin und verschwanden schließlich in einem der vielen verborgenen Schächte. Sie konnten später selbst nicht genau erklären, wie es mit dieser Flucht zugegangen war. Es kam ihnen vor, als seien sie sowohl viele Jahre als auch nur einige wenige Stunden durch Silandor spaziert. Irgendwann hatten sie jedenfalls festgestellt, dass das Wasser in ihren Behelfsgefäßen verdunstet war und sie also endgültig in der gespiegelten, aufwärts führenden Welt angekommen sein mussten. Sie warfen die unheimlichen Schädel weg und kletterten weiter und weiter hinauf, bis sie auf einmal eine Veränderung des Lichtes bemerkten. Das grüne Gestein schien immer dünner zu werden. Dann fanden sie sich auf einer Treppe wieder, die spiralförmig nach oben strebte. Je weiter sie hinaufstiegen, desto heller wurde es. Schließlich spürten sie, dass die Luft frischer wurde. Die Spiraltreppe wurde enger und enger – und plötzlich endete sie vor einer ovalen Öffnung. Silbriges Mondlicht schimmerte dort draußen. Sie erklommen die letzte Stufen, zwängten sich durch die ovale Öffnung und traten ins Freie. Ein von Sternen übersäter Nachthimmel spannte sich über ihnen. Weit und breit war nichts zu sehen als eine endlose, bläulich schimmernde Wüste. Erschöpft setzten sie sich hin und lehnten sich gegen die Felswand, aus der sie soeben herausgekommen waren. Und es dauerte nicht lange, da waren Nadil und Piri eingeschlafen.
137
\ 18 \ Damit hatte er nicht gerechnet. Janaël ging nervös in seinem Zimmer auf und ab und wartete. Jetzt hatte sich endgültig gezeigt, dass Jiinn-Garagor und seine ganze Truppe eine Bande von Versagern war. Sie waren nicht einmal in der Lage zu verhindern, dass zwei Schmetterlinger in Silandor eindrangen. Und dann waren sie auch noch zu ungeschickt, sie wieder einzufangen! Er ließ die Flucht, wie Jiinn-Garagor sie ihm geschildert hatte, immer wieder an seinem geistigen Auge vorüberziehen. Aber das plötzliche Verschwinden der beiden Schmetterlinger wurde dadurch nicht weniger rätselhaft. Sie hatten nur etwas mehr als eine Stunde Vorsprung gehabt. JiinnGaragor und seine Leute mussten den langen Weg durch die Katakomben der Lärmsklaven nehmen und konnten erst von dort in das ansonsten völlig abgeriegelte Bergwerk eindringen. Dennoch hatten sie die beiden Schmetterlinger schon bald eingeholt. Aber wie waren sie dann nur entkommen? Wo waren sie hingegangen? »Von einem Augenblick zum anderen verschwunden«, hatte Jiinn-Garagor immer wieder beteuert. Genauso wie vor einigen Wochen dieser Saru. Gab es einen geheimen Ausgang aus Silandor, den diese Schmetterlinger kannten? Waren sie womöglich in die Wüste vor Mangarath gelangt? Aber das war doch unvorstellbar! Alle Gänge des Bergwerks führten in die Tiefe. Es gab nur einen Eingang: durch die Verliese der Lärmsklaven. Wer völlig wahnsinnig war wie dieser Saru und seine beiden Komplizen, der stürzte sich vielleicht in den Schacht unter dem Geräuschdom und setzte bei diesem Sturz durch den Lärmkrater sein Leben aufs Spiel. Aber weitere Eingänge gab es einfach nicht. Oder wollte ihm vielleicht jemand weis138
machen, man könne durch die glühend heiße Lava des Lärmkraters hindurchschwimmen? Nein, das war unmöglich. Silandor war für alle Zeiten verschlossen worden. Es gab nur den einen geheimen Zugang durch die Verliese. Und die Stierwächter waren die einzigen Phantásier, die davon wussten. Nein, Saru und diese beiden vorwitzigen Burschen mussten sich irgendwo tief in Silandor versteckt halten. Hatten diese Schmetterlinger vielleicht besondere Fähigkeiten? Konnten sie sich unsichtbar machen? Nein, das hätte er gewusst. Es musste eine Erklärung geben. Und er musste ihre Spur wiederfinden, koste es, was es wolle. Janaël trat ans Fenster und schaute nachdenklich in den Nachthimmel. Wie lange würde es denn noch dauern, bis die beiden Iblisse endlich eintrafen? Er würde jetzt kein Risiko mehr eingehen. Dieser Nadil und sein Kumpan mussten unbedingt gefangen werden. Bestimmt steckte Aratron hinter all diesen Vorfällen. Niemand sonst wusste überhaupt von der immensen Bedeutung Silandors. Aratron musste einen Weg gefunden haben, diesen Saru auf die Spur zu setzen. Und jetzt waren schon drei Phantásier in die Sache verwickelt. Drei?, dachte er dann. Nur drei? Warum also solch eine Aufregung? Er ballte die Fäuste und beschleunigte seine Schritte. Drei waren drei zu viel. Nur noch wenige Wochen. Es durfte jetzt einfach nichts mehr dazwischenkommen. Silandor war die einzige Schwachstelle in ihrem Plan. Wenn jemand das Geheimnis dieses Bergwerks erfuhr, war das ganze Vorhaben gefährdet. Und dieser Hinweis konnte nur durch Aratron nach Phantásien gekommen sein. Aber wann? Und wo? Und was wussten diese Schmetterlinger wirklich? Er atmete laut aus. Aratron und seine verwünschten Kom139
plizen! Sie waren an allem schuld. Sie hatten Phantásien erschaffen. Und jetzt, obwohl sie einsehen mussten, dass dies ein fataler Fehler gewesen war, weigerten sie sich hartnäckig, es aufzugeben. Dabei hatte sich doch gezeigt, dass die Menschen Phantásien nur missbrauchten. Wie armselig und hässlich alles geworden war. Und das war überhaupt nicht die Folge der Zerstörung von Silandor, wie Aratron und seine Anhänger behaupteten. Nein, das hatte alles schon viel früher begonnen. Und genau das war es ja, was Aratron, Hagith, Bethor und die anderen sich nicht eingestehen wollten: dass der Fehler schon im Keim von Phantásien enthalten gewesen war. Aratron und seinesgleichen waren Träumer. Gefährliche Träumer. Verräter an der Wahrheit waren sie. Und sie würden für ihren Irrtum bezahlen. Allein der Gedanke an Aratron machte ihn so wütend, dass er zweimal mit seinen großen Gleitschwingen schlug und dabei einen Stuhl umwarf, der krachend auf den Boden fiel. Die beengten Verhältnisse hier in Mangarath zerrten an seinen Nerven. Die Gestalt des Sternputzers Janarax, in die er sich die meiste Zeit zwängen musste, war ihm gänzlich unerträglich. Die wenigen Stunden während der Nacht, da er seine Engelsgestalt annahm, verschafften ihm zwar etwas Linderung, aber auch diese Gestalt war ihm zunehmend lästig. Ach, wann würde er endlich wieder im Land der Leere sein, befreit von all dieser Enge. Er sehnte sich nach der klaren Reinheit dort, nach dem unendlichen Raum, der wohltuenden Leere, von der diese bemitleidenswerten Wesen hier überhaupt keine Ahnung hatten. Sie waren sogar so töricht gewesen, die Leere mit dem Nichts zu verwechseln. Ja, diese Dummheit hatte Forcas wirklich listig ausgenutzt. Und die Stierwächter glaubten selbst daran, Phantásien vor dem Nichts gerettet zu haben. 140
Janaël lachte leise in sich hinein. Diese Ironie der Geschichte war doch wirklich zu komisch. Die angeblichen Retter hatten ihr eigenes Grab geschaufelt. Und niemand hier hatte auch nur die leiseste Ahnung von all diesen Dingen. Die Angst, die Angst vor dem Nichts war ein mächtiger Verbündeter, dachte er. Noch mächtiger als das Nichts selbst. Ja, wer hätte das gedacht. Auf dieser Angst ließ sich ein ganzes Reich erbauen. Es klopfte zweimal heftig gegen die Tür. Mit einem Satz war Janaël am Eingang und öffnete. Lautlos huschten zwei dunkle Schatten über die Schwelle, und im nächsten Moment schloss die Tür sich wieder. Janaël starrte in die Dunkelheit. Er sah nur die Umrisse der gefährlichen Bestien, ihre mächtigen Schädel, die Löwenschnauze und den gewaltigen, gebogenen Schwanz, an dessen Ende der gefürchtete Skorpionstachel glänzte. Es gab einen guten Grund, warum er keinerlei Licht in diesem Raum brennen ließ und sogar die Fenster hatte zuhängen lassen: Selbst er hütete sich vor dem Blickkontakt mit Iblissen. Denn diese Bestien waren derart aggressiv, dass sie es nicht ertrugen, angeschaut zu werden. Nur wenige Wesen hatten jemals einem Iblis in die Augen gesehen und später noch davon erzählen können. Die beiden heimtückischen Kreaturen wahrten ebenfalls respektvollen Abstand zu ihm. Denn sie wussten natürlich, dass ihnen hier ein mächtiger Äon-Engel gegenüberstand, ein Wesen also, zu dessen Erschaffung das Licht eines ganzen Tages aus der Weltzeit hatte geopfert werden müssen. Da er hier in Mangarath Gestalt angenommen hatte, verfügte er zwar momentan nur über einen Bruchteil seiner Kräfte, die für Phantásier unvorstellbar waren. Doch wie es genau darum bestellt war, konnten sie nur schwer abschätzen. Daher hielt sich die Vorsicht auf beiden Seiten gegenwärtig die Waage. 141
»Hier sind wir«, sagte einer der beiden Iblisse ohne weitere Umschweife. »Warum hast du uns kommen lassen?« Janaël räusperte sich. »Sei gegrüßt, Teped. Guten Tag, Nerod. Es gibt ein kleines Problem«, begann er langsam, »das ihr für mich erledigen sollt...« Teped und Nerod fauchten angriffslustig. »Wo ist das Problem?«, fragte Nerod dann. »Drei Schmetterlinger sind in Silandor eingedrungen und dort verschwunden«, antwortete Janaël. »Die Stierwächter haben keine Spur von ihnen finden können. Daher befürchten wir, dass sie den Ausgang in die Wüste von Mangarath entdeckt haben. Ihr sollt sie verfolgen und aufspüren.« Die Iblisse ließen sich auf dem Boden nieder. Ihre Augen glühten bedrohlich in der Dunkelheit, aber Janaël hütete sich nach wie vor, sie anzuschauen. »Warum wir und nicht die Stierwächter?«, wollte Teped wissen. »Die Stierwächter brauche ich hier«, log Janaël. Der Auftrag war zu wichtig. Jiinn-Garagor war ein Versager. Er konnte nicht riskieren, dass noch etwas schief ging. »Die Wüste von Mangarath ist bereits Engelgebiet und damit Grenzland von Phantásien«, wandte Nerod ein. »Wir können dort nicht hingelangen. Und die Phantásier, die du suchst, auch nicht.« »Stimmt«, pflichtete Janaël ihm bei. »Eigentlich können Phantásier dort nicht hingehen. Es sei denn, ein Engel führt sie.« Eine kurze Pause entstand. Die Iblisse zuckten nervös. Offenbar gefiel ihnen diese Auskunft überhaupt nicht. »Du hast uns doch gesagt, es gäbe keine Engel mehr in Phantásien«, zischte Teped wütend. »Auch Forcas hat uns versichert, dass Phantásien von allen Engeln befreit sei.« Wie 142
zur Bestätigung ließ Nerod seinen Stachel mehrmals auf den Boden aufschlagen, was ein klackerndes Geräusch ergab. »Das stimmt auch«, beruhigte Janaël die beiden Iblisse. »Forcas und ich sind die letzten Engel, die sich noch in Phantásien aufhalten. Die anderen sind verschwunden. Das garantiere ich euch.« »Wie konnten die Schmetterlinger dann nach Mangarath gelangen?«, fragte Nerod mit gepresster Stimme. Janaël fragte sich kurz, ob Iblisse überhaupt die Richtigen für diese Aufgabe waren. Sie hatten offenbar mehr Angst vor Engeln, als er vermutet hatte. »Aratron muss ihnen eine Botschaft hinterlassen haben«, erwiderte er. »Eine andere Erklärung habe ich nicht. Aber ich verspreche euch, dass euch kein Engel in die Quere kommen wird. In der Wüste von Mangarath gehen nur noch Engeltrümmer nieder. Seit Jahren ist es keinem Engel, der euch gefährlich werden könnte, mehr gelungen, nach Phantásien zu kommen. Ihr könnt euch auf uns verlassen. Silandor ist zerstört. Euch kann nichts geschehen. Dass Aratron eine geheime Botschaft hinterlassen hat, die diese Schmetterlinger offenbar gefunden haben, ist ein Missgeschick, mit dem wir nicht rechnen konnten. Aber die Schmetterlinger sind euch schutzlos ausgeliefert. Aratron kann hier nichts für sie tun. Er kann ihnen nicht zu Hilfe kommen. Verfolgt und vernichtet sie, bevor sie nach BalangGir gelangen. Sie dürfen auf keinen Fall Balang-Gir erreichen. Versteht ihr?« Teped und Nerod leckten sich das Fell und schienen sich wieder etwas beruhigt zu haben. »Spürt sie auf. Sie können euch nicht entkommen. Greift erst an, wenn ihr alle drei gefunden habt. Und macht es gründlich. Ich will, dass nichts von ihnen übrig bleibt, versteht ihr?« 143
Die Iblisse nickten. Dann rissen sie ihre Mäuler weit auf, entblößten ihre Reißzähne und ließen ein furchtbares Brüllen ertönen, das sich in einem nicht weniger schreckerregenden Fauchen verlief. Janaël lächelte zufrieden. »Gut«, sagte er, »ich verlasse mich auf euch. Nun hört, wie ihr in Silandor die Grenze zu Phantásien überschreitet und wie ihr in die Grenzregion der Engelwelt gelangen könnt.« Damit griff er hinter sich und brachte eine kleine Holzkiste zum Vorschein. Er stellte sie vor den Bestien hin, öffnete sie und holte zwei Spiegel daraus hervor. »Wenn ihr den Höhlensee erreicht habt«, so begann er, »dann nehmt diese beiden Spiegel und begebt euch in die Gruft der Ruhewinzer...«
144
ZWEITER TEIL
\1\ Sie schliefen nicht lange, die Kühle der Nachtstunden weckte sie schon bald wieder. Nun hatte Nadil endlich Gelegenheit, Piri alles zu erzählen, was ihm seit ihrer Ankunft in Mangarath zugestoßen war. Er ließ nichts aus, weder wie Pegario ihm das Amulett zugesteckt hatte noch seinen Besuch im Sternputzerviertel und bei den Lärmsklaven. Er erzählte vom Nichtnichts, von den Lichtbällen, die traurig machen, und von der Sichtbarlosigkeit. Piri hörte schweigend zu und stellte nur wenige Fragen. Jetzt, da die ersten Sonnenstrahlen allmählich ihr Versteck erwärmten, überkam sie erneut die Müdigkeit, doch nun war Piri zu aufgewühlt, um noch einmal schlafen zu können. »Du glaubst also, Saru ist das Gleiche passiert wie uns?«, fragte er. Nadil nickte. »Saru hat mich vor Mangarath gewarnt, bevor er aufgebrochen ist«, erwiderte er. »Er war fest davon überzeugt, dass dort irgendetwas nicht stimmt. Dass er dieses Amulett hinterlassen hat, als er in Silandor eindrang, kann kein Zufall gewesen sein. Er wollte, dass ich ihm folge. Wir müssen ihn suchen.« 145
Piri rieb sich fröstelnd die Oberarme. »Diese Stierwächter«, sagte er, »was hätten sie wohl mit uns gemacht, wenn sie uns dort unten gefangen hätten?« Nadil schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber vor allem verstehe ich das alles überhaupt nicht«, sagte er. »Warum wird dieses Bergwerk so eifersüchtig bewacht? Warum soll niemand davon wissen? Und warum hat man es geschlossen?« »Vielleicht wollen die Wächter von Mangarath einfach niemanden beunruhigen«, schlug Piri vor. »Denk doch nur, was geschehen würde, wenn sich in Phantásien herumspräche, dass unterhalb von Mangarath eine Höhle existiert, aus der das Nichts nach Phantásien gekommen ist. Dann würde doch niemand mehr Mangarath besuchen wollen, meinst du nicht?« »Hm«, brummte Nadil. »Aber denk doch mal nach«, sagte er. »Eigentlich ergibt das doch überhaupt keinen Sinn.« »Was ergibt keinen Sinn?« »Das Nichts«, erklärte Nadil. »Ich meine, wenn das Nichts in diesem Bergwerk wäre, dann müsste das Bergwerk doch eigentlich verschwunden sein, oder?« Piri blickte Nadil verblüfft an. »Ich kenne mich damit nicht aus«, sagte er. »Vielleicht hat das Nichts nur Silandor verschluckt, das Bergwerk aber übrig gelassen.« Nadil schüttelte langsam den Kopf. »Wir sind doch darin herumgelaufen. Ich weiß ja nicht viel über das Nichts, aber nach allem, was ich gehört habe, ist das Nichts eben nichts. Silandor ist aber nicht nichts.« »Nicht nichts?«, wiederholte Piri amüsiert. »Du klingst ja schon wie Pegario.« Nadil schaute Piri an, und seine Wangen wurden rot vor Aufregung. »Eben, das ist es ja, was mich so verwundert«, rief 146
er aus. »Diese Lichtbälle, diese verglühenden Glühgreife. Es ist doch eigenartig, dass diese Lichter nur hier in Mangarath auftreten. In ganz Phantásien gibt es so etwas nicht. Am Himmel explodieren Nichtnichtse, und tief unterhalb von Mangarath hat man einen Ort verschwinden lassen, aus dem angeblich das Nichts herauskommen kann, was aber nicht sein kann, weil dort ja gar nicht nichts ist, sondern Silandor.« Piri rieb sich die Schläfen. »Du phantasophierst mal wieder. Mir ist das alles zu kompliziert«, sagte er seufzend. »Ich bin sicher, dass diese Explosionen und Silandor irgendwie zusammenhängen«, fuhr Nadil unbeirrt fort. »Deshalb ist Saru hier eingedrungen. Er muss etwas gesucht haben.« Plötzlich fuhr Piri hoch. »Nadil, mir ist etwas Furchtbares eingefallen«, rief er mit großen Augen aus. »Der eingemauerte Greis ... Vielleicht... vielleicht werden alle Eindringlinge, die in Silandor erwischt werden, so bestraft?« Nadil wurde ganz starr vor Schreck. »Du meinst, Saru...?« Piri schaute ihn bekümmert an. »Wir hätten die anderen Nischen auch öffnen sollen«, sagte er traurig. »Aber dazu war doch gar keine Zeit«, antwortete Nadil. Der Gedanke war niederschmetternd. Konnte das sein? War Saru dort unten jämmerlich gestorben? Eingemauert von diesen Stierwächtern? »Das glaube ich einfach nicht«, sagte er. Einen Grund für seinen Zweifel konnte er nicht nennen. Aber es durfte einfach nicht wahr sein. »Auf jeden Fall wissen wir jetzt, dass diese Stierwächter Lügner und Betrüger sind!«, fügte er wütend hinzu, um sich wenigstens auf diese Weise Luft zu verschaffen. »Es muss in Mangarath einen geheimen Eingang nach Silandor geben. Wie lange haben sie gebraucht, um uns einzuholen? Eine Stunde, zwei Stunden?« 147
»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Piri leise. »Ich habe den Eindruck, schon ganz lange hier zu sein, du nicht?« »Ja, doch. Aber das bilden wir uns nur ein.« »Woher weißt du das?«, wollte Piri wissen. »Deine Frisur«, sagte Nadil spöttisch. Piri fuhr sich mit der Hand über den Kopf, der noch immer fast kahl war mit Ausnahme kleiner, verkohlter Haarreste, die verloren abstanden. »Die Stierwächter wissen also, wie man nach Silandor hereinkommt«, fuhr Nadil fort, »ohne durch den Lärmkrater zu fliegen. Aber den Ausgang kennen sie offenbar nicht, sonst wären sie längst hier.« Piri legte die Stirn in Falten und schob seine Unterlippe vor, was er immer tat, wenn er überlegte. »Und was schließt du daraus?« »Damit ist erwiesen, dass sie etwas verheimlichen. Und ich möchte wirklich zu gern wissen, was.« Piri schüttelte den Kopf und blickte skeptisch drein. »Und wenn wir Pech haben, enden wir wie dieser arme Greis oder wie Lariax, der im Lärmkrater schuften muss.« »Der Greis war uralt«, entgegnete Nadil. »Hast du nicht gesehen, wie verschrumpelt er aussah? Er muss seit vielen Jahren in dieser Nische gesessen haben.« Piri streckte seine Hände in die Sonne und genoss die Wärme der Lichtstrahlen. »Vielleicht haben diese eingemauerten Greise den Tunnel nach Balang-Gir gegraben?«, spekulierte er. »Als die Stierwächter kamen, um den Tunnel zu schließen, haben sie sich gewehrt. Es gab einen Kampf, einige Stierwächter wurden getötet, doch am Ende wurden die Greise besiegt und zur Strafe eingemauert. Und damit endlich Ruhe herrscht, hat man das Bergwerk verschlossen und alles vertuscht?« Nadil schaute erstaunt auf. Wie Piri auf diese Idee kam, 148
wusste er nicht, aber es klang interessant. »Und die Namen auf dem Ei«, fragte er, »was sollen diese Namen wohl bedeuten?« »Vielleicht sind das die Namen der Gründer von Silandor?«, schlug Piri vor. »Aber wer waren sie?«, fragte Nadil. »Was taten sie in Silandor?« Darauf wussten sie beim besten Willen keine Antwort. Sie schwiegen eine Weile. Nadil ließ seinen Blick über die jetzt sonnenbeschienene Gegend schweifen. Es war eine Wüste, eine leere, sandige, steinige Wüste, die sich bis an den Fuß des Gebirges Balang-Gir erstreckte. Eine große Mutlosigkeit machte sich in ihm breit. Was sollten sie denn jetzt nur tun? Piri schien ähnliche Gedanken zu haben, denn er stand auf, schlug sich den Staub von der Hose und schaute sich unschlüssig um. »Ich gehe mal dort hinauf und schaue, ob ich etwas entdecken kann.« Ehe Nadil sich versah, war Piri auch schon über einige Steine ein Stück nach oben geklettert. Er beobachtete, wie sein Freund die Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können, doch offenbar gab es auch von dort oben wenig zu entdecken. »Hier ist nichts«, rief Piri, »vielleicht...« Aber da blieb ihm das Wort im Hals stecken. »Nadil! Das ist ja unerhört.« Er fuchtelte mit den Armen. Nadil sprang auf und schaute fragend zu ihm hinauf. »Was ist unerhört?« »Weißt du, wo du gerade stehst?«, fragte Piri lachend. Nadil schüttelte ungeduldig den Kopf. »In einem Ohr«, rief ihm sein Freund zu. »Du stehst in einem großen Ohr. Komm herauf und sieh es dir an.« 149
Damit stieg Piri noch weiter hinauf, während Nadil neugierig hinter ihm herkletterte. Und tatsächlich: Als er Piri endlich eingeholt hatte und die beiden sich umdrehten, sahen sie, dass sie aus einem steinernen Ohr in diese Wüste herausgeklettert waren. Die Windungen und Wülste, welche die Ohrmuschel bildeten, zogen sich in beide Richtungen weit in die sandige Ebene hinein. Hatte vielleicht ein Fluss, der hier einmal geflossen war, diese eigenartige Form in den Fels gegraben? Oder befanden sie sich auf einer riesigen Statue, die im Sand vergraben lag und von der nur noch das Ohr zu sehen war? Sie saßen staunend da und versuchten sich auf diese Erscheinung einen Reim zu machen. Und dann war es Nadil, der eine weitere Entdeckung machte: »Schau mal, dort«, sagte er atemlos und deutete auf eine Stelle in der Wüste. »Dort im Sand, siehst du das?« Piri kniff die Augen zusammen. »Ja.« Aber dann sagte er nichts mehr. Denn was sollte das nur bedeuten. Dort drüben lag – ein riesiges Bein.
\2\ Die Stimme überraschte ihn völlig. Meister Toralon fuhr herum und starrte in die Dunkelheit. Im ersten Augenblick konnte er in dem schlecht beleuchteten Gang des Zischadins nichts erkennen, aber dann trat eine Gestalt aus dem Dunkel, und schließlich schälte sich das Gesicht von Josian Pegario unter einer dunklen Kapuze hervor. »Josian«, stammelte Toralon. »Wie kommst du hierher ... Was ist nur geschehen?« »Ich ... ich muss mit dir sprechen, Toralon. Psst, komm hier 150
herüber, ich befürchte manchmal, sogar die Wände haben hier Ohren.« Toralon ließ sich nicht lange bitten, sondern folgte Pegario in einen schmalen Flur, der in einen wenig benutzten Teil des Zischadins führte. Die Wände hier waren nur grob behauen, und außer einigen Nischen waren noch keine Zimmer in den Fels geschlagen worden. In eine dieser Nischen verschwanden die beiden und ließen sich dort nieder. »Es ist furchtbar«, begann Pegario und schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich hätte Jiinn-Garagor und seinen Leuten niemals vertrauen dürfen. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Und jetzt ist Nadil...« Die Stimme versagte ihm. Toralon schaute ihn ernst an. »Aber was ist denn nur geschehen?«, fragte er. »Seit vielen Stunden suche ich Nadil und Piri schon. Man hat mir gesagt, sie hätten sich in irgendeinem Keller verlaufen, und man versuche noch, sie zu finden. Pegario, willst du etwa sagen, dass ihnen etwas Ernsthaftes zugestoßen ist?« »Ach, wenn du wüsstest«, jammerte der Alte und legte seine Stirn in tiefe Falten. »Ich habe dir ja gar nicht die ganze Wahrheit erzählt.« »Welche Wahrheit?«, wollte Toralon wissen. »Von Saru ... und von Silandor.« Toralon wurde ganz starr vor Schreck. »Silandor«, stammelte er, »sie sind doch wohl nicht...« »Doch«, rief der alte Sternputzer bekümmert aus. »Und es ist meine Schuld!« Toralon wurde immer sprachloser, während Pegario ihm schilderte, wie er Nadil heimlich Sarus Amulett zugesteckt hatte, wie dieser nachts in das verbotene Viertel eingedrungen und was danach alles noch geschehen war. »Aber warum hast du das nur getan?«, fragte Toralon 151
entrüstet. »Nadil ist genauso ein Hitzkopf wie sein Großvater. Und du weißt doch, was das Nichts in Phantásien angerichtet hat. Niemand, absolut niemand darf nach Silandor hinein. Das haben wir doch beschlossen. Warum hast du Nadil überhaupt davon erzählt?« Pegario schwieg mit unglücklicher Miene. Dann richtete er sich plötzlich auf, sah Toralon fest in die Augen und sagte: »Weil ich glaube, dass Saru Recht hatte. Toralon, ich glaube, wir haben uns geirrt, und wenn wir nicht bald etwas tun, dann wird ein Unglück geschehen.« »Aber ... aber, Josian,... ich – was ist denn nur mit dir passiert? So kenne ich dich gar nicht! Erinnerst du dich vielleicht nicht mehr, wie es war?« »Doch, Toralon, ich erinnere mich. Wir hatten alle solche Angst vor dem Nichts, dass uns jedes Mittel recht war, um es aufzuhalten. Und als die Stierwächter kamen und sagten, Silandor sei an allem Schuld, da waren wir froh, dass wir endlich die Ursache gefunden hatten. Aber haben wir jemals einen Beweis dafür bekommen?« »Das Nichts ist verschwunden«, wandte Toralon ein. »Es ist seither in Phantásien nicht mehr gesehen worden.« »Eben. Das sagen die Stierwächter. Aber Saru hat etwas anderes behauptet. Er sagte, das Nichts sei jetzt überall und vor allem hier in Mangarath, wo man es angeblich besiegt hat. Es ist überall, wir können es nur nicht sehen, weil es eine andere Gestalt angenommen hat.« »Aber du weißt doch so gut wie ich, dass das Unsinn ist«, warf Toralon ein. »Das Nichts hier?« Pegario blickte traurig zu Boden. »Ich kann es dir ja auch nicht erklären«, sagte er mit leiser Stimme. »Aber ich muss nur meine Sternputzer anschauen, wenn sie abends nach Hause geflogen kommen. So niedergeschlagen, so tief ver152
zweifelt sind sie wegen der Erscheinungen dort oben am Himmel. Und man gestattet ihnen nicht einmal, darüber zu sprechen. Man sperrt uns ein und übertönt alles mit Geräuschen, nur damit niemand diese tiefe Traurigkeit bemerken kann, die dort vom Himmel regnet.« Toralon schwieg einen Augenblick und überlegte, was er tun sollte. Was Pegario ihm da erzählte, grenzte an Hochverrat. Aber der Sternputzer fuhr schon fort: »Toralon, du musst doch auch bemerkt haben, wie sich alles so merkwürdig verändert. Hast du dich einmal aufmerksam umgesehen? Ich meine, die Besucher, die von überallher nach Mangarath strömen, warum kommen sie hierher? Was suchen sie nur in dieser Lärmstadt? Wenn man sie fragt, dann wissen sie es nicht. Sie wollen sich amüsieren, sagen sie. Aber hast du das Gefühl, dass das alles ist? Nein, Toralon, schau sie dir doch an, wenn sie wie betäubt durch die Klangthermen schwimmen oder im Geräuschdom herumschweben. Sie wissen überhaupt nicht mehr, wer sie eigentlich sind und was sie hier tun. Sie kommen, weil eine ungewisse Angst sie hertreibt. Aber sie wissen nicht einmal, wovor sie Angst haben. Sie beginnen alles zu vergessen. Wer sie sind und wozu sie überhaupt da sind. Und deshalb verlangen sie nach immer mehr Lärm, weil der Lärm ihnen beim Vergessen hilft.« Toralon wusste nicht, was er sagen sollte. So hatte er Pegario überhaupt noch nicht erlebt. War er vielleicht zu oft den traurig machenden Lichterscheinungen begegnet? »Und jetzt ist auch noch Nadil verschwunden«, fuhr der alte Sternputzer fort. »Ich bin so unglücklich, Toralon. Ich habe das Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen wird. Saru war kein Dummkopf. Und auch sein Enkel ist kein Narr.« »Aber du bist einer«, entgegnete Toralon energisch. »Jo153
sian, weißt du überhaupt, was du sagst? Was wird geschehen, wenn die Stierwächter davon erfahren?« Pegario hob den Kopf und schaute ihn lange an. »Toralon, die Stierwächter arbeiten für eine fremde Macht. Ich weiß nicht, wer sie sind. Aber einer von ihnen lebt unter uns.« Toralon bekam große Augen. »Er heißt Janarax«, fuhr Pegario fort. »Ich habe ihn schon länger im Verdacht, denn er ist so ganz anders als wir. Gestern habe ich mich endlich durchgerungen, ihn überwachen zu lassen. Als Nadil zurück nach Mangarath musste, ließ ich ihn durch Janarax an den geheimen Durchgang in der Mauer bringen. Doch gleichzeitig sorgte ich dafür, dass Janarax beschattet wurde. Und, Toralon, mein Verdacht hat sich bestätigt. Nur wenig später traf sich Janarax im Verborgenen mit einem Komplizen. Ich weiß nicht, was für ein Wesen sich im Sternputzergewand dieses Janarax verbirgt, aber ich schwöre dir, er ist keiner von uns.« Toralon wurde nun wirklich unbehaglich zumute. Aber Pegario machte auf ihn nicht den Eindruck, verrückt geworden zu sein. »Nun«, fragte Toralon sein Gegenüber, dem vor Aufregung der Schweiß auf der Stirn stand, »was um alles in der Welt hat dein Späher denn entdeckt? Sind vielleicht reißende Gmorks unter uns? Oder bedrohen uns Janissenhorden?« »Ich weiß es nicht, Toralon, aber wir alle haben dieses merkwürdige Gefühl, wenn wir ihm begegnen.« »Was für ein Gefühl?«, fragte Toralon. »Dass Janarax ... kein Phantásier ist.« Der Schmetterlinger schüttelte ungläubig den Kopf. Doch Pegarios Gesichtsausdruck ließ keine Zweifel zu. Der Mann mochte erregt sein, furchtsam, übermüdet und verzweifelt, aber er war seiner Sinne offenbar mächtig. »Kein Phantásier?«, hauchte Toralon kaum hörbar. »Was sollte er denn sonst sein?« 154
»Saru hat mich gewarnt. Ich habe ihm nicht geglaubt. Er sagte mir, eine fremde Macht habe den Stierwächtern geholfen, Silandor zu zerstören. Und jetzt sei ganz Phantásien von ihnen bedroht.« »Phantásien zerstören? Wer sollte denn so etwas wollen?« »Toralon, ich weiß doch auch nicht, was ich glauben soll. Ich verstehe das alles nicht. Was hat dieser Janarax hier verloren? Warum mischt er sich in falscher Gestalt unter uns? Und sein Komplize, der die Stierwächter beherrscht, was plant er?« Aber darauf wusste der Schmetterlinger keine Antwort. Er starrte fassungslos vor sich hin und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Doch es gelang ihm nicht. »Aber wenn dieser Janarax kein Phantásier ist, wie du sagst, was ist er dann? Ein Menschenkind vielleicht?« Pegario schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist kein Menschenkind.« »Dann verstehe ich die Welt nicht mehr«, sagte Toralon. »Woher soll Janarax denn kommen, wenn nicht aus Phantásien oder der Menschenwelt?« Pegario schwieg. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Schließlich flüsterte er: »Aus dem Land der Leere, Toralon. Ich glaube, er kommt aus der gleichen Region, wo diese Nichtnichtse herkommen, die über uns explodieren.« Toralon schüttelte den Kopf. »Und wie kommst du darauf?« »Wegen der Traurigkeit. Wir alle haben das gleiche Gefühl, wenn wir ihm begegnen. Er löst eine verzweifelte Angst in uns aus, eine bittere Traurigkeit, die wir sonst nur von den Begegnungen mit diesen Nichtnichtsen kennen.« Toralon wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte. Wie merkwürdig war doch diese ganze Sache. »Was schlägst du vor«, fragte er schließlich, »Pegario, was sollen wir tun?« 155
Der Sternputzer schüttelte den Kopf. »Ich weiß es ja auch nicht. Aber irgendjemand von uns muss herausfinden, was hier geschieht. Ich kann hier nicht weg. Erstens muss ich mich um meine Sternputzer kümmern. Und außerdem wäre es zu auffällig. Aber du und die beiden Mädchen, ihr könntet ...« Er brach ab, doch Toralon hatte längst verstanden. »Du willst, dass ich die Gegend auskundschafte? Ist das dein Ernst?« Pegario nickte müde. »Ja, Toralon, ich wüsste nicht, wem ich sonst vertrauen könnte. Wir Sternputzer und ihr Schmetterlinger sind seit ewigen Zeiten miteinander verbunden. Von allen Besuchern, die nach Mangarath strömen, seid ihr die einzigen, die wirklich einen Grund haben, hierher zu kommen. Die anderen sind mir fremd. Sie fallen hier ein, taumeln durch die Geräuschbäder, welche die Stierwächter aufgebaut haben, und ich habe zunehmend den Eindruck, dass sie überhaupt nicht so recht wissen, warum sie alle herkommen. Die Angst führt sie her, die Angst vor dem Nichts oder dem Nichtnichts oder was weiß ich. Sie stopfen sich die Ohren voll mit allen nur denkbaren Geräuschen, aber wenn ich in ihre Augen sehe, dann wirken sie alle so leer, als hätte die Angst sie längst von innen ausgehöhlt.« Toralon erwiderte nichts. Ja, er wusste schon, wovon Pegario sprach. Er hatte die Veränderung Mangaraths in den letzten Jahren ja miterlebt. Es wuchs und wuchs, und der Strom der Besucher wurde immer mächtiger. Aber niemals hätte er geglaubt, dass eine fremde Macht Mangarath möglicherweise für dunkle Absichten benutzte. Doch wenn zutraf, was Pegario beobachtet hatte, dann war höchste Vorsicht geboten. »Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte er schließlich. »Die Mädchen sind geschickte Fliegerinnen, und nichts spricht 156
dagegen, einen kleinen Ausflug zu machen. Aber wie kann ich mit dir in Kontakt treten? Du wirst so gut bewacht. Wie bist du überhaupt hergekommen?« »Alles geht heute drunter und drüber, weil Nadil und Piri in Silandor eingedrungen sind. Aber in wenigen Stunden werden die Wachen sicher überall verstärkt werden, und dann werde ich keine Gelegenheit mehr haben, mich frei zu bewegen. Sogar Janarax ist seit einigen Stunden verschwunden, doch er wird sicher bald zurück sein. Ich muss mich also beeilen, in mein Viertel zurückzukehren. Erkunde die Umgebung und sieh zu, ob du etwas entdeckst.« »Und du, was willst du tun?« Pegario schlug die Augen nieder. Dann seufzte er und sagte: »Ich werde versuchen nach Silandor hineinzukommen.« Toralon wurde bleich. Sollte er sich mit Pegario wirklich verbünden? Und wenn doch alles nur ein Irrtum war? »Warte, bis ich zurück bin«, sagte er. »Vielleicht gibt es ja doch für alles eine harmlose Erklärung. Silandor ist zu gefährlich, überstürze es nicht.« »Gut«, lenkte Pegario ein. »Ich warte also auf dich. Aber wie willst du mit mir in Verbindung treten?« »Das überlege ich mir, wenn es so weit ist. Ich finde schon eine Lösung. Vertraue mir.« Pegario warf ihm noch einen eindringlichen Blick zu, dann schlug er die Kapuze über seinen Kopf und schlich davon. Toralon blieb in der kalten Nische zurück. Wo sollte er nur beginnen? Schließlich erhob er sich und machte sich auf den Weg. Zuerst einmal weg hier, dachte er, zu den Schmetterlingen und dann in die Lüfte. Hier konnte er nicht klar denken.
157
\3\ Als sie das steinerne Bein erreicht hatten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und brannte erbarmungslos auf sie herab. »Ganz schön heiß hier«, stöhnte Piri und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nadil bemerkte die Hitze nicht so sehr, denn was sich seinen Augen darbot, war derart seltsam, dass er gar keine Zeit hatte, auf etwas anderes zu achten. Überall im Wüstensand lagen die Reste von zertrümmerten Statuen herum. Das Bein, das da vor ihnen im Boden steckte, war nur der Anfang. Einen Steinwurf entfernt lag ein Unterarm mit einer Hand, auf deren Rücken lauter kleine Schuppen glänzten. Piri strich über das Bein, das fast zweimal so groß war wie er selbst. »Stein«, sagte er kurz und knapp. »Vielleicht lebt hier irgendwo ein Bildhauer?« Nadil musterte das Gebilde. Dann schaute er sich um und betrachtete die Umgebung. »Hier liegen lauter Bruchstücke von Statuen herum«, erwiderte er. »Aber nirgends gibt es große Steine, die man behauen könnte.« »Vielleicht werden hier missratene Statuen deponiert?«, schlug Piri vor. Nadil zuckte mit den Schultern. Wie dem auch sei, dachte er, sie würden jetzt einfach weiterwandern. Irgendjemand musste hier ja wohnen, wenn überall kaputte Skulpturen herumlagen. »In welche Richtung sollen wir denn gehen?«, fragte Piri. Aber bevor Nadil antworten konnte, geschah es plötzlich wieder: Ohne die geringste Vorwarnung wurde der ganze Himmel strahlend weiß. Das Licht war so hell, dass die beiden 158
Schmetterlinger sich ängstlich in den Sand warfen. Ein ungeheuerlicher Lichtstrom schoss über sie hinweg. Doch diesmal spürte Nadil etwas, das ihn an eine Äußerung Pegarios erinnerte: Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt vor Traurigkeit. Er hob leicht den Kopf und versuchte durch die gleißende Helligkeit hindurch etwas zu erkennen, aber es war einfach unmöglich. Erst als die Erscheinung abklang und das zarte Blau des Himmels über ihren Köpfen zurückkehrte, konnten sie wieder Einzelheiten unterscheiden. »Schau nur!«, rief Piri aufgeregt. »Es schneit!« Ja, Nadil sah es auch. Es war so, als fiele zwischen ihnen und dem Gebirge Balang-Gir eine Portion Schnee vom Himmel. Sie mussten jetzt dem Schauplatz der Lichtexplosionen viel näher sein, denn sie konnten den weißen Niederschlag auch ohne Weitseher erkennen. »Was ist das nur?«, flüsterte Piri. Aber Nadil war schon aufgesprungen und losmarschiert. Wenn sie sich beeilten, konnten sie vielleicht sehen, wo der Schnee niederging? »Komm, schnell«, rief er Piri zu, der sich jetzt auch aufrappelte und Nadil folgte. Im Sand zu laufen war gar nicht so einfach, und sie kamen nur langsam voran. Doch schon nach wenigen Minuten griff Nadil seinen Freund plötzlich am Arm und rief: »Piri, sieh doch, dort... da bewegt sich etwas.« Sie blieben stehen und kniffen die Augen zusammen. Auf der trostlosen Ebene, die sich wie ein unendlicher hellbrauner Teppich bis an den Horizont erstreckte, war auf einmal ein helles schneeweißes Bündel aufgetaucht. Eine längliche Form wuchs daraus hervor, die sich in unregelmäßiger Folge auf und ab bewegte. »Es sieht aus wie ein Flügel«, meinte Piri. Ja, was da im Wind hin und her geworfen wurde, erinnerte 159
wirklich an eine Vogelschwinge. »Ein Vogel«, flüsterte Nadil halblaut vor sich hin. »Was sagst du?« »Es muss ein Vogel sein, aber ein sehr großer. Ein gestürzter Greif vielleicht. Pegario hat doch davon erzählt. Schnell, vielleicht ist er verletzt?« Sie eilten auf die Stelle zu. Balang-Gir türmte sich bedrohlich vor ihnen auf. Es war schon ein unglaubliches Gebirge, dachte Nadil. Ja, wenn er nicht genau gewusst hätte, dass es unerreichbar war, hätte er geglaubt, dass sie ihm näher gekommen waren. Die schwindelerregend hohen Felswände hatte man von Mangarath aus jedenfalls nicht so gut sehen können. Vielleicht war dieser weiße Vogel von den heimtückischen Winden des Gebirges erfasst und zerschmettert worden? Etwas Weißes wirbelte über ihnen durch die Luft. Nadil streckte sich und haschte danach. »Das ist gar kein Schnee«, sagte er erstaunt. »Schau doch, es sind Federn. Federn von diesem Vogel dort.« Er wollte Piri die Feder reichen, doch bevor er dazu kam, wurde sie plötzlich grau und hart. Sie schauten sich ratlos an. »Die Feder... sie ist versteinert«, sagte Nadil. Piri nahm sie in die Hand und strich darüber. Dann ließ er sie fallen. Mit einem leisen Kling schlug sie auf. Neugierig gingen sie weiter auf das weiße Bündel zu. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass sie richtig gesehen und sich dennoch geirrt hatten. Da lag tatsächlich ein Flügel, aber was daran hing, war kein Vogel. Eine schneeweiße, gefiederte Schwinge bewegte sich dort im Wind. Nadil und Piri blieben furchtsam in einiger Entfernung stehen. Überall um sie herum fielen sanft Federn herab, die sich jedoch in Stein verwandelten, als sie den Boden erreich160
ten. Jetzt konnten sie schon das Knattern und Reißen des Windes hören, der das Federkleid dieser hin und her geworfenen Schwinge zerzauste und in alle Richtungen zerblies. Auf einmal ragten zwei weitere, kleinere Schwingen aus der Mulde empor, in der das leblose Geschöpf lag. Auch sie wurden heftig durcheinander gewirbelt. Der Wind sichelte durch das Gefieder und entließ einen Schwärm Federn in die Luft. Was für ein unheimlicher Anblick! Sie tanzten wie schwerelose weiße Blüten umher und fielen dann wie Kieselsteine zu Boden. Die beiden Schmetterlinger betrachteten das stumme Schauspiel vor ihren Augen. Das war ihnen jetzt doch unheimlich. Träumten sie? Was war das für ein Vogel, dessen Federn einfach so versteinerten? »Los«, sagte Piri dann. »Vielleicht können wir ihm noch helfen.« Sie nahmen all ihren Mut zusammen und gingen nun zielstrebig auf das abgestürzte Wesen zu. Und dann sahen sie endlich, was dort am Boden lag: Im Staub, eingekeilt zwischen scharfen Steinen, dem trostlosen Geröll am Fuß des Gebirges Balang-Gir, lag ... ja, was nur? »Ein Sternputzer?«, flüsterte Piri. Aber Nadil schüttelte den Kopf. »Das ist kein Sternputzer«, erwiderte er leise. »Sieh doch, die Flügel.« Das musste Piri zugeben. Diese Schwingen waren keine Sternputzerflügel. Vier, nein, sechs Flügel zählten sie. Zwei große und vier kleinere. Sie ragten verrenkt und schrecklich zerzaust aus dem Rücken des unbekannten Wesens heraus, ein Spiel des Windes, der unbarmherzig daran zerrte. »Aber was ist das denn sonst?«, fragte Pili, ohne den Blick von der leblosen Erscheinung zu nehmen. »Ein Flügelphantasier!«, flüsterte Nadil verstört. »Aber was 161
für einer? Wo kommt er her?« Er setzte sich in den Sand, ohne die Augen von dem reglosen Geschöpf vor ihm abzuwenden. Schweigend betrachteten sie den merkwürdigen Fund. Plötzlich machte Piri einen Satz rückwärts. »Nadil«, rief er mit zitternder Stimme. »Er hat sich bewegt.« Nadil hatte es auch gesehen und war gleichfalls aufgesprungen. Der Flügelphantasier hatte versucht, den Kopf zu heben. »Er ist gar nicht tot«, flüsterte Piri. »Psst«, zischte Nadil und ging langsam in die Knie. Ein Windstoß erfasste das Haar des Wesens und enthüllte für einen Augenblick sein Gesicht. Nadil wäre vor Schreck fast umgefallen: Dunkle, glühende Augen hatten ihn angestarrt. Er lebt!, durchfuhr es ihn. Sie mussten ihm helfen. Aber wie? Und war dieser Flügelphantásier nicht vielleicht gefährlich? »Wir ... wir sind Schmetterlinger«, stammelte er, als müsse er sich selber erst wieder davon überzeugen. »Schmetterlinger aus Nevisehr. Das ist mein Freund Piri. Kannst du uns verstehen?« Der Angesprochene rührte sich zunächst nicht. Dann ging ein leichtes Zittern durch seinen Körper. »Was sagt er?«, flüsterte Piri, der wieder näher gekommen war. Nadil hatte auch einen Laut vernommen, aber verstanden hatte er nichts. Jetzt bewegte die Gestalt ihren Mund erneut und sprach mühsam einige Worte. Aber Nadil verstand wiederum nichts. »Was sagt er?«, fragte Piri erneut. Nadil schüttelte stumm den Kopf. Diese Sprache hatte er noch nie gehört. »Caphiod samech shindaleth ...«, flüsterte der Flügelphantäsier. Offenbar bereitete ihm das Sprechen große Schmerzen. 162
»Samedi caphiod Silandor, samech caphiod silandril aïn thethio zade...« Die beiden Schmetterlinger schauten sich ratlos an. Der Unbekannte verstummte wieder. Seine tiefdunkel glühenden Augen schlossen sich, und sein Kopf sank in den Wüstensand. Noch einmal bewegte er die Lippen. »Samech caphiod Silandor, samech caphiod silandril.« Dann verstummte er endgültig. »Er versteinert«, flüsterte Piri. »Schau doch, er wird ganz hart und grau.« Nadil wich entsetzt ein Stück zurück. »Ich will nach Hause, Nadil«, wimmerte Piri. »Lass uns zurückgehen. Ich will nicht versteinern.« Nadil war noch immer wie gelähmt von der Erscheinung. »Er hat von Silandor gesprochen«, erwiderte er dann. »Hast du nicht gehört? Er hat Silandor gesagt und Silandril.« Piri vergrub den Kopf auf den Knien. »Ich will nichts mehr davon hören«, sagte er. »Es ist schrecklich hier. Warum kehren wir nicht um?« Nadil verschränkte die Arme und schaute um sich. So weit das Auge reichte, sah er jetzt überall versteinerte Flügelphantasier liegen. Wie lange ging das wohl schon? Wie kam es nur, dass in der Wüste von Mangarath Flügelphantasier vom Himmel regneten? »Wir können nicht zurück, Piri. Wir müssen versuchen, Saru zu finden. Komm, dort vorne ist eine Bergkuppe, vielleicht sehen wir von dort etwas. Es kann doch nicht sein, dass hier überhaupt niemand lebt.« \ Tatsächlich gab es in ihrer unmittelbaren Nähe zwei Lebewesen. Aber Piri und Nadil hätten die beiden Kreaturen auch 163
dann nicht sehen können, wenn sie sich aufmerksam umgeschaut hätten. Die Iblisse kauerten in einiger Entfernung im Wüstensand. Ihre natürliche Farbe diente ihnen hier als nahezu perfekte Tarnung. Alles, ihr furchterregender Rachen, ihr geschmeidiger Körper, ihre Tatzen und Klauen sowie der gefürchtete Schwanz, der in einen tödlichen Skorpionstachel auslief, verschmolz bis zur Unsichtbarkeit mit dem Boden. Wer auch nur wenige Schritte neben den beiden Iblissen vorbeigelaufen wäre, hätte sie kaum wahrgenommen. Und so bemerkten die beiden Schmetterlinger nichts von ihren Verfolgern, die sie mit der eisigen Ruhe siegesgewisser Jäger beobachteten. Sie würden jetzt noch nicht angreifen. Janaël hatte von drei Schmetterlingern gesprochen. Doch da vorne kämpften sich nur zwei durch den heißen Sand. Also würden sie abwarten. Lautlos erhoben sich die beiden Kreaturen und hefteten sich, die Köpfe gesenkt und die Ohren gespitzt, auf ihre Spur.
\4\ So hatte Meister Toralon sich noch nie durch Mangarath bewegt. Aber Pegarios Schilderungen hatten ihn zutiefst verunsichert. Und als er am Zischadin feststellte, dass dort bereits Stierwächter Stellung bezogen hatten und jeden hereinkommenden Gast aufmerksam musterten, da ahnte er, dass Nadils und Piris Tat jetzt auch für ihn und die Mädchen Konsequenzen haben würde. Er machte auf der Stelle kehrt. Nadil und Piri in Silandor! Er konnte es nicht fassen. Was sollte er nur in Nevisehr sagen, wenn er ohne sie nach Hause käme? Erst Saru und jetzt auch noch diese beiden. Es war entsetzlich. Die Mädchen waren heute Morgen allein in den Schnalzcanyon 164
gegangen. Sie wollten sich doch nicht den Spaß verderben lassen, nur weil Nadil und Piri in irgendein Kellerloch gefallen waren. Wenn sie wüssten! Ja, wahrscheinlich würde er ihnen bald sagen müssen, wie ernst die Situation war. Er entfernte sich so schnell wie möglich vom Zischadin und bog in den Klapperwald ab, der gleich an der nächsten Ecke begann. Hier war so viel Betrieb, dass man ihn nicht leicht finden würde. Bald stellte er außerdem fest, dass hier im Augenblick keine Stierwächter zu sehen waren. Stattdessen wimmelte es von Klopftrollen, denen es im Klapperwald offenbar gut gefiel. Überall konnte man sie sehen, zu zweit oder in Gruppen, wie sie mit dem Klapperwald verzückt um die Wette klopften. Zum ersten Mal fiel Toralon auf, wie anstrengend es eigentlich war, die ganze Zeit Geräusche hören zu müssen. Ja, wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass es hier wirklich von Mal zu Mal schlimmer wurde. Und Mangarath wuchs auch so schnell. Jedes Mal, wenn er herkam, waren wieder neue Geräuschattraktionen errichtet worden. Doch die Zahl der Besucher stieg genauso schnell, so dass das Gedrängel immer das Gleiche blieb. Er musste die Mädchen finden, entschied er dann. Und danach würden sie ihre Schmetterlinge holen und erst einmal aus Mangarath verschwinden. Aber konnte er Nadil und Piri einfach so im Stich lassen? Verwünschter Ungehorsam! Warum war ihm dieses Missgeschick passiert? Doch ebenso wenig wollte er wegen Nadils und Piris Leichtsinn mit JiinnGaragor aneinander geraten. Und hier konnte er ohnehin nicht nachdenken. Als er den Schnalzcanyon erreichte, sah er Beliar und Masia schon aus der Ferne, denn die beiden hatten sich in die oberste Schnalze hochgeschnalzt. Der Schnalzcanyon war 165
eine ganz neue Sache: Man konnte dort nach Herzenslust mit der Zunge schnalzen. Mit jedem Schnalzer wurde man ein Stückchen hochgehoben, und wer am lautesten und schnellsten schnalzte, der flog am höchsten. Der Schnalzcanyon war sehr beliebt. Ein paar hundert Phantásier schnalzten dort um die Wette, was ein ganz schönes Geschnatter ergab. Toralon ließ sich am Rand des Canyons nieder und beobachtete eine Weile lang das stumpfsinnige Treiben. Wie konnte eine so eintönige Beschäftigung nur auf so viel Interesse stoßen? Beliar und Masia entdeckten ihn schließlich. Er winkte ihnen zu, und kurz darauf standen sie vor ihm. »Was ist los? Wo sind Piri und Nadil?«, fragte Masia, noch ganz außer Puste. Toralon antwortete nicht gleich, sondern zog die beiden hinter sich her bis zu einer etwas geschützten Stelle, wo man ihr Gespräch nicht so leicht belauschen konnte. Beliar wurde sogleich misstrauisch. Was war denn mit Meister ToraIon los? »Ich kann euch jetzt nicht alles erklären«, flüsterte er. Beliar wollte etwas sagen, aber stattdessen schnalzte sie nur dreimal mit der Zunge. Masia kicherte. »Schluss mit dem Unfug«, unterbrach Toralon sie scharf. »Wir gehen jetzt sofort zu unseren Schmetterlingen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist.« »Aber ... was soll denn nicht in Ordnung sein?«, fragte Beliar, die ihre Zunge jetzt wieder in der Gewalt hatte. Doch Toralon war zu nervös für weitschweifige Erklärungen. »Das will ich ja eben herausfinden«, erwiderte er kurz angebunden. »Wenn alles in Ordnung ist, dann ist alles in Ordnung. Und wenn nicht alles in Ordnung ist, dann können wir es nur in Erfahrung bringen, wenn wir zu ihnen gehen, oder? Also los, gehen wir.« 166
Beliar und Masia schauten sich ratlos an. Wieso redete Toralon denn so wirr? Aber sie folgten ihm, »Nadil und Piri haben sicher etwas ausgefressen«, flüsterte Beliar ihrer Freundin zu, während sie sich dem Stadttor näherten. »Und wir müssen das jetzt ausbaden.« Masia nahm die Situation geduldig hin. »Nein, Meister Toralon hat ja Recht«, flüsterte sie zurück, »wir haben uns zwei Tage nicht um die Schmetterlinge gekümmert. Das ist wirklich nicht nett von uns.« »Ach was, die sind doch gut versorgt. Ich wette, Nadil hat etwas angestellt.« Natürlich war es so, dachte Beliar weiter. Der komische Junge machte doch immer Dummheiten. Erst stürzte er fast mit Elfenauge ab, dann sägte er im Geräuschdom ein Gitter durch und fiel in ein Loch hinein. Es war doch immer irgendetwas mit ihm. Und anstatt noch eine Weile weiter schnalzen zu dürfen, mussten sie jetzt aus Mangarath heraus zu den Schmetterlingen. Beliar stöhnte. Womöglich mussten sie gleich auch noch Flügel bürsten! Wenn Meister Toralon erst einmal Schmetterlinge inspizierte, dann gab es doch immer etwas zu tun. Doch als sie am Seerosenteich angekommen waren und die Blüteninselchen ihrer Schmetterlinge gefunden hatten, befiel auch Beliar ein beklemmendes Gefühl. Was war denn mit den Schmetterlingen los? Warum ließen sie ihre Köpfe so hängen? Und wo war Elfenauge? Sie ruderten rasch zu ihren Faltern hinüber und lauschten dann betroffen den Schilderungen der vier übrig gebliebenen Schmetterlinge. »Und seither haben wir Elfenauge nicht mehr gesehen«, schloss Schneeia ihren Bericht. Beliars Schmetterling ließ den Kopf hängen, als fühle sie sich schuldig. Aber konnten sie denn etwas dafür, wenn Nadil auf eigene Faust mit Elfenauge davongeflogen war? 167
»Und ihr habt keine Ahnung, wo er hinwollte?«, fragte Meister Toralon erbost. »Nein, wir wurden ja erst wach, als die beiden schon über den See davonflogen«, erklärte Windjunge, dessen Flügel trotz des prächtigen Sonnenscheins nur matt glänzten, so niedergeschlagen war er. Toralon schaute düster vor sich hin. Wenn Elfenauge tatsächlich schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen worden war, dann musste ihm etwas zugestoßen sein. Und das bestätigte nur, dass Pegarios Verdacht nicht ganz unbegründet war. »Lasst uns aufbrechen«, befahl er. »Wir müssen ihn suchen.« »Aufbrechen?«, riefen Masia und Beliar wie aus einem Mund. »Aber wohin denn? Und was ist mit Nadil und Piri? Wir können sie doch nicht einfach zurücklassen.« Toralon wand sich innerlich, aber er wollte den Mädchen jetzt noch nicht erzählen, was Pegario ihm gesagt hatte. Erst einmal weg aus Mangarath. »Wir müssen versuchen, Elfenauges Spur zu finden.« Er schaute suchend um sich, und sein Blick fiel auf Taublume. »Taublume«, sagte er mit einem glücklichen Funkeln in den Augen, »du bist doch der beste Spurensucher von uns. Willst du uns nicht zeigen, was du kannst? Spüre Elfenauge auf.« Piris Schmetterling hatte die ganze Zeit verdrossen abseits gestanden. Dass er jetzt ganz allein war, schien überhaupt noch niemandem aufgefallen zu sein. Daher lächelte er ToraIon glücklich an. »Ich will tun, was ich kann«, erwiderte er. Taublume verfügte über die längsten Fühler, die er jetzt stolz ausrollte. Dann erhoben sie sich in die Lüfte. Sie gewannen rasch an Höhe und flogen zunächst in einem großen Bogen über die Geräuschstadt hinweg, die unter ihnen blitzte 168
und glitzerte. Taublume führte die Gruppe an, Toralon flog auf Windjunge dicht hinter ihm, und Masia und Beliar folgten auf Schneeia und Goldling. Schon bald lag Mangarath so weit unter ihnen, dass kein Laut mehr zu ihnen hinaufgelangte. Ja, eine wunderbare Stille hüllte sie ein, und es dauerte nicht lange, da war ihnen gerade so, als ob sie aus einer merkwürdigen Betäubung erwachten. Sie wussten erst gar nicht so recht, wie ihnen geschah, aber selbst Beliar, die sich doch mit solcher Begeisterung in das Getöse von Mangarath gestürzt hatte, wirkte plötzlich nachdenklich. Ach, die frische Luft, die herrliche Ruhe, der weite Horizont – das war doch etwas ganz anderes. Eine richtige Erholung war es. Nur schade, dass der Anlass so traurig war. Taublume ohne Piri – nein, das war ein niederschmetternder Anblick. Zu ihrer Überraschung stellte Beliar fest, dass sie auch Nadil vermisste. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Wenn er jetzt neben ihr herfliegen würde, dann würde er sie verstohlen beobachten, weil ihm ihre schwarze Mähne so gut gefiel. Er würde sie verliebt betrachten, irgendwann würde er ihr sicher wieder sagen, wie wunderbar er es hier oben fand, und eigentlich hatte er ja auch ein wenig Recht. Es war wirklich großartig, auf einem Schmetterling herumzufliegen, den man auch noch selbst bemalt hatte. Sie seufzte ein wenig, doch dann verwarf sie diese Gedanken. Nadil, ach nein, das war doch einfach ein komischer Junge. Taublume schien plötzlich eine Witterung aufgenommen zu haben. Er flog scharf nach rechts und drehte dann steil abwärts, direkt auf das Sternputzerviertel zu. Doch nach einem kurzen Stück bremste er ebenso scharf ab und flog sogleich wieder steil in die Höhe. Die anderen konnten ihm kaum folgen, so abrupt waren seine Flugbewegungen. 169
»Was ist denn los?«, rief Toralon, als er Taublume endlich wieder eingeholt hatte. Der war ganz bleich geworden und flog nervös hin und her. »Elfenauges Duftspur führt über das Sternputzerviertel. Aber dann ist da noch eine Spur in der Luft. Und die macht mir furchtbare Angst.« »Kannst du sagen, was für eine Spur das ist?«, fragte Beliar. Taublume schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es riecht sehr gefährlich.« »Vielleicht eine Flugspinne«, schlug Masia vor. »Aber die fliegen doch nur nachts?« »Nein, Flugspinnen kann ich drei Meilen gegen den Wind riechen. Das ist etwas ganz anderes. Ich fliege jedenfalls nicht mehr über dieses Viertel.« Toralon stutzte. »Aber warum ist Elfenauge denn darüber geflogen?« Doch die Antwort kam ihm sogleich von selbst. Aha, so war Nadil also in das Sternputzerviertel hineingelangt. Und Elfenauge war angegriffen worden. Von etwas, das Taublume wohl gewittert hatte, das er jedoch nicht kannte. Er gab Windjunge die Sporen und schloss zu Taublume auf. »Hör zu, du musst diese Spur verfolgen, auch wenn es dir nicht behagt. Elfenauge muss von diesem Ding, was immer es war, überrascht und dann verfolgt worden sein. Wir müssen ihn finden.« Taublume machte ein ängstliches Gesicht, aber schließlich gehorchte er. Er flog einen großen Bogen, rollte seine Fühler noch weiter aus und flog plötzlich in einer gerade Linie über Mangarath hinweg, direkt auf Balang-Gir zu. Im nächsten Augenblick drehte er jedoch nach Süden ab und hielt nun diese Richtung. Toralon und die Mädchen folgten, so gut sie konnten, denn Taublume legte plötzlich ein atemberaubendes Tempo vor. 170
»Kannst du die Spur auch wittern?«, fragte Toralon seinen Schmetterling. Der schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete Windjunge, »nicht sehr gut. Manchmal spüre ich einen Hauch davon, aber so wie Taublume kann niemand von uns wittern.« Toralon nickte. Deshalb flogen Schmetterlinge ja immer in Gruppen. Sie teilten sich die Arbeit. Es gab unter ihnen Jäger wie Elfenauge, die ungeheuer geschickt fliegen konnten. Späher konnten enorm gut sehen. Dann gab es Täuscher, die unterschiedliche Formen annehmen konnten, um Feinde zu täuschen. Und Taublume war eben ein ganz besonders guter Spurensucher, weil er mit seinen langen Fühlern auch noch die schwächste Duftspur zu wittern vermochte. Toralon schaute sich kurz nach Beliar und Masia um, aber die beiden hatten keine Mühe, ihm zu folgen. Dann schaute er nach unten. Die Wüste von Mangarath lag unter ihnen, und wenn er den Kopf zur Seite drehte, sah er am Horizont die schneebedeckten Gipfel von Balang-Gir schimmern. Diese merkwürdige Wüste von Mangarath, dachte er. Niemand konnte dort hingehen. Eigenartig. Dabei lag sie zum Greifen nahe. Aber er wusste so gut wie jeder Phantásier, dass dies eine Täuschung war. Wer immer versuchte, in diese Wüste oder zum Gebirge Balang-Gir zu gelangen, stellte bald fest, dass man dieser Region unmöglich näher kommen konnte. Man konnte wochenlang daraufzufliegen, der Abstand blieb immer gleich groß. Toralon hatte sich nie gefragt, warum dies so war. Jetzt tat er es, aber eine Antwort hatte er freilich nicht darauf. Beliar erschien plötzlich neben ihm. »Wohin fliegt Taublume denn nur?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht«, antwortete Toralon. »Aber wenn er diese Richtung beibehält, dann werden wir bald den Fluss Bator überqueren und nach Garsiran gelangen.« 171
»Zu den Nachtalben?« Toralon nickte. »Ja. So sieht es aus.« »Aber was sollte Elfenauge von den Nachtalben gewollt haben?« »Ich fürchte, er wollte sie um Hilfe bitten«, erwiderte ToraIon. Ja. Eine andere Erklärung gab es nicht. Irgendetwas hatte ihn verfolgt. Um die anderen Schmetterlinge nicht zu gefährden, war er immer weiter weggeflogen in der Hoffnung, den Verfolger abzuschütteln. Doch als dieser nicht aufgab, musste er sich Hilfe suchen. Und was lag da näher als die Nachtalben von Garsiran? Nun, dann würden sie Elfenauge vermutlich in der Nachtalben-Festung finden. Toralon atmete auf. Bei Nachtalben war man sicher. Das war bekannt. »Wir werden ihn bestimmt gleich finden«, sagte er. »Weiter als bis Garsiran wird er nicht geflogen sein.« Doch bevor er seinen Satz richtig beendet hatte, schlug Taublume plötzlich wieder einen völlig unerwarteten Haken und schoss zur Seite weg. Was war nur mit ihm los? Die anderen verlangsamten ihren Flug und segelten unschlüssig im Kreis. »Was ist denn los?«, fragte Toralon. Aber Taublume konnte kaum sprechen. »Hier wird die schreckliche Witterung ganz stark«, rief er mit bebender Stimme. »Ich habe Angst davor. Es muss etwas Furchtbares passiert sein!« »Was willst du damit sagen?«, fragte Toralon und schaute suchend um sich. Er konnte überhaupt nichts Außergewöhnliches entdecken. »Es werden immer mehr Spuren«, wimmerte Taublume. »Elfenauge muss in einen Hinterhalt gelockt worden sein. Schau, von hier sind zwei weitere Verfolger hinzugekommen, einer von unten und einer von oben.« Trotz der Angst, welche die Geruchsspuren ihm einflößten, 172
flog Taublume zweimal die Flugbahn der Verfolger nach. Toralon und die Mädchen beobachteten ihn stumm. Es war wirklich unheimlich. Und dabei war jetzt heller Tag. Armer Elfenauge. Welch grauenvolle Erfahrung, nachts von drei unbekannten Kreaturen angegriffen zu werden. »Und du kannst uns nicht sagen, von wem die Spur stammt?«, rief Toralon beunruhigt. »Nein«, erwiderte Windjunge. »Ich habe so etwas überhaupt noch nie gerochen. Aber es ist entsetzlich. Zwanzig Flugspinnen riechen nicht so stark und bedrohlich wie eine dieser Spuren.« »Dort!«, schrie plötzlich Masia. »Kindliche Kaiserin, steh mir bei. O nein! Schaut doch. Dort unten!« Sie riss Goldling herum und stürzte in halsbrecherischem Tempo auf eine kleine Felsengruppe zu, die für Toralon aus dieser Entfernung nichts Auffälliges hatte. Doch als er Masia folgend ein Stück näher gekommen war, erkannten auch seine Augen, was das junge Mädchen aus der Entfernung sofort bemerkt hatte: Ein notdürftig geflickter Schmetterlingsflügel schaute dort zwischen den Steinen hervor. Er war eingerissen, und die zerfetzten Teile schaukelten leicht im Wind. Dann sah Toralon nur noch verschwommen, denn Tränen begannen seine Augen zu füllen. Elfenauge, sprach er stumm zu sich selbst. Und es klang wie ein Gebet.
\5\ Sie marschierten Stunde um Stunde, ohne den Eindruck zu haben, überhaupt vom Fleck zu kommen. Balang-Gir säumte den Horizont, doch der Abstand verringerte sich einfach nicht. Und plötzlich standen sie auch noch vor einem Ab173
grund. Er war so tief, dass sie kaum den Boden erkennen konnten. Allerdings gab es von hier aus etwas zu sehen, das ihnen Hoffnung machte. Der Abgrund mündete nämlich in ein breites, von hohen Felsen gesäumtes Tal, und am Ende dieses Tales sahen sie einen kleinen Turm. Sonst war nichts zu erkennen. Aber ein Turm: Das konnte immerhin bedeuten, dass sich dahinter vielleicht eine Stadt befand. Auf jeden Fall lebte dort unten jemand. Aber wie sollten sie dorthin gelangen? Nadil ging in die Knie, legte sich dann auf den Bauch und schaute an der steil abfallenden Felswand hinab. Hier ging es nicht weiter, aber als er den Kopf nach rechts wandte, entdeckte er in einiger Entfernung einen etwas tiefer liegenden Felsvorsprung, den man vom Rand des Abgrundes erreichen konnte. »Vielleicht ist dort ein Weg?«, sagte er und ging auf die Stelle zu. Piri folgte unschlüssig. Er war müde von dem langen Fußmarsch, und die Aussicht, in diesen Abgrund hinabsteigen zu müssen, hob seine Stimmung nicht gerade. Ach, wenn sie doch ihre Schmetterlinge dabeihätten. Wie viel schneller kämen sie dann voran. Nadil war mittlerweile auf den Felsvorsprung hinabgeklettert und prüfte die Umgebung. Aber nein, es gab hier keinen Weg nach unten. Doch plötzlich wäre er fast umgefallen vor Schreck. Er hatte gerade wieder zu Piri hinaufsteigen wollen, da blickte ihn aus der Felswand ein Auge an. »Piri«, sagte er, »hier ist...« Aber weiter kam er nicht. Denn plötzlich war da ein zweites Auge. Dann ein drittes. Ein Auge nach dem anderen öffnete sich. Die ganze Felswand vor ihm begann plötzlich zu blinzeln. »Piri«, stammelte Nadil. »Komm schnell her, das ist ja ...« Mit einem Satz war sein Freund neben ihm. Inzwischen 174
blickten gut zwei Dutzend Augen aus dem Gestein hervor. Und dann geschah etwas noch Seltsameres. Das Gestein färbte sich an manchen Stellen dunkel. Piri erkannte zuerst, was da geschah. »Die Augen weinen«, rief er. Und tatsächlich: Ein feines Rinnsal schlängelte sich den Fels hinab und auf sie zu. Es umfloss ihre Füße und sickerte über den Felsvorsprung in den Abgrund hinab. »Wer bist du?«, fragte Nadil etwas mutiger. Doch die Augen reagierten nicht. Sie waren starr auf die beiden Schmetterlinger gerichtet und weinten. Aus dem Rinnsal war nun schon ein kräftiger Tränenfluss geworden, der ihre Füße umspülte. Nadil trat zur Seite. Aber was war das? An der Stelle, wo er soeben noch gestanden hatte, war eine harte, feste Mulde entstanden. Piri trat gleichfalls zur Seite. Und siehe da, auch sein Fußabdruck war dort klar zu sehen. »Die Tränen«, sagte Piri. »Schau, sie lagern ihr Salz ab.« Er kratzte mit dem Fingernagel über die Kruste, die sich so schnell um seinen Schuh herum gebildet hatte. »Sieh nur, ganz hart.« Nadils Augen begannen zu glänzen. »Ich habe eine Idee. Vielleicht können wir so eine Treppe bauen.« »Wie? Was meinst du?« »Hier. Lege dich einmal so hin, dass die Tränen dort gegen die Wand zurückfließen.« Piri tat wie ihm geheißen. Im Nu bildete sich entlang seines ausgestreckten Körpers eine kleine Salzwand, die den Tränenfluss gegen den Fels zurücklenkte. Mit einigen Handgriffen leitete Nadil die Flüssigkeit über den Felsvorsprung und versuchte nun den Tränenstrom so zu lenken, dass die Salzablagerung allmählich eine Stufe bildete. Zuerst gelang es ihm nicht, und das Salz wuchs ihm auch so rasch an Ärmel 175
und Händen fest, dass er sich viel bewegen musste, um es abzuschütteln, bevor es zu hart wurde. Doch allmählich wurde er geschickter. Und die Tränen flossen jetzt noch stärker. Piri schaute skeptisch zu. Vor allem beunruhigte ihn der Blick in die Tiefe. Das war ja noch schlimmer als die Steinleiter über dem Höhlensee von Silandor. Und wollte Nadil tatsächlich versuchen auf diese Weise in diese Schlucht abzusteigen? Was sollte das überhaupt für eine Schlucht sein, in die man nur über eine Treppe aus Tränen gelangen konnte? Nadil indessen hatte schon die dritte Stufe geformt und stand triumphierend mitten in der Felswand, umspült von Tränen, die aus den Augen des Felsens hervorquollen. »Es funktioniert«, rief er freudig. »Komm, Piri, das muss der Weg nach unten sein. Es ist ganz einfach.« Und schon hatte er die nächste Stufe geformt. Piri wurde es immer schwindliger, aber was sollte er denn tun. Zurückbleiben? Nein, das kam nicht in Frage. Er würde einfach nicht in den Abgrund hinabsehen, sondern immer nur gegen den Felsen schauen. Er betrat die erste Stufe. Dabei wäre er vor Schreck fast doch abgerutscht, denn direkt vor ihm öffneten sich schon wieder zwei Augen und weinten ihm entgegen. War denn dieses ganze Tal von Augen übersät? Schritt für Schritt tastete er sich seinem Freund hinterher, der geduldig und ohne auszuruhen aus dem Tränensalz eine lange, lange Treppe baute, bis hinab auf den Grund des Tales. So stiegen sie langsam tiefer und tiefer. Noch an den hoffnungslosesten Stellen, wo der Fels senkrecht abfiel, vermochte Nadil das Tränentreppchen weiterzubauen. Ja, es gab einfach kein Hindernis für sie, solange nur die Tränen dieser merkwürdigen Schlucht nicht versiegten. Endlich erreichten sie den Boden. Es war kühl und still hier unten. Die beiden atmeten tief durch, legten den Kopf in 176
den Nacken und blickten fasziniert die riesenhafte Felswand hinauf, an der sie in den letzten Stunden heruntergeklettert waren. Dann schauten sie um sich. Die Felswände standen hier eng aneinander. Dazwischen schlängelte sich ein Weg leicht abwärts. Ein feiner weißer Salzstaub lag darauf. Plötzlich ergriff Piri seinen Freund am Arm. »Nadil«, rief er mit stockendem Atem und deutete auf eine Stelle auf dem Weg. »Schau doch, dort.« Jetzt sah Nadil es auch. Ganz deutlich waren da Fußspuren zu erkennen. Er eilte einige Schritte vor und beugte sich zu den Spuren herunter. Und dann machte er einen Luftsprung. »Es sind Schmetterlingerspuren, Piri!«, rief er. »Saru muss durch dieses Tal gekommen sein!« Piri schaute auf die Spuren. Ja, es gab keinen Zweifel. Diese Spuren stammten von einem Schrnetterlinger. Ganz deutlich sah man die doppelt gerundete Form des Abdrucks. Nur Schmetterlinger trugen solche Schuhe. Nadil war aufgesprungen und losmarschiert. »Juchuuu!«, jubelte er. »Wir werden Saru finden. Ich werde meinen Großvater wiedersehen!« Piri blieb noch einen Augenblick stehen. Auch er freute sich, dass sie endlich eine Spur gefunden hatten. Doch zugleich überkam ihn plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Er drehte sich um und schaute die Felswand hinauf. Der Tränenstrom war versiegt. Die Augen im Fels hatten sich wieder geschlossen. Nur die Stufen, die in der Sonne schimmerten, zeugten noch von ihnen. Die Augen selbst aber waren verschwunden. Und dennoch fühlte Piri sich auf einmal beobachtet. Er schaute nach links, dann nach rechts. Aber wohin er auch sah, er entdeckte nur Salzberge, Salzklüfte, Salzgrotten. Nirgends war ein Lebewesen zu sehen. Schließlich zuckte er mit den Schultern und machte sich auf, um Nadil einzu177
holen, der bereits ein ganzes Stück weit marschiert war. Zwei Spuren sah Piri vor sich im Salzstaub. Und er hinterließ jetzt eine dritte. Viele Stunden später sah noch immer alles gleich aus, und die beiden hatten nicht den Eindruck, dass sie überhaupt vom Fleck kamen. Erst ganz allmählich weitete sich der Weg. Die Schlucht wurde flacher und flacher, der Salzstaub unter ihren Füßen begann sich mit Sand zu vermischen. Dann erkannten sie in der Ferne den kleinen Turm, den sie vom Rand des Abgrundes aus schon gesehen hatten. Eine weiße Rauchfahne schlängelte sich dort in den Himmel hinauf. Eine Siedlung, dachte Nadil erleichtert. Endlich eine Siedlung. Vielleicht würden sie dort Saru antreffen. Seine Spur war ja noch immer deutlich sichtbar. Als sie den Turm fast erreicht hatten, sahen sie dahinter am Horizont Balang-Gir aufragen. Wie immer wirkte es zum Greifen nah und war doch unendlich weit entfernt. Mit letzter Kraft stolperten sie auf den Turm zu und suchten nach Anzeichen von Bewohnern. Doch da war niemand. »Hallo!«, riefen sie, »ist da jemand?« Keine Antwort. Piri lief um den Turm herum. Er war verwittert und offenbar uralt. Aber es war eigentlich nichts Auffälliges daran. »Hallo«, rief Nadil erneut und klatschte jetzt auch noch in die Hände. »Ist da jemand?« Auf einmal erschien oben zwischen den Zinnen ein Gesichtchen. Was war denn das für ein Wesen? Zwei große, runde braune Augen spähten zu ihnen herab. Sie standen in einem Gesicht, das mit einem struppigen Bart völlig zugewachsen war. Falls dieser Turmbewohner einen Mund und eine Nase hatte, so waren sie jedenfalls nicht zu sehen. Große Ohrmuscheln standen aus der Haarpracht heraus und drehten 178
sich jetzt in ihre Richtung. »Aha!«, vernahmen sie die Stimme der Figur dort oben. »Bist du wieder zurück?« Zurück? Wieso zurück? Nadil konnte sich keinen Reim auf diese Frage machen. »Ich bin Nadil aus Nevisehr«, rief er. »Und das hier ist mein Freund Piri. Auch ein Schmetterlinger. Wir suchen Saru Maramor! Ist er vielleicht hier?« Das Männchen dort oben legte seine Ohren flach und schüttelte kurz den Kopf. »Nicht so laut bitte, ich bin sehr empfindlich.« Und dann fügte er hinzu: »Du siehst gut aus, Saru. Ich habe dir ja gleich gesagt, dass du es lieber lassen sollst. Hi, hi, es geht eben nicht, hi, hi!« Nadil war wie vom Donner gerührt. Der Mann hielt ihn für Saru, genauso wie Lariax ihn mit seinem Großvater verwechselt hatte. »Ich suche Saru«, rief er aufgeregt. »Weißt du, wo er ist?« Die Figur auf dem Turm stutzte und kratzte sich am Kopf. »Du suchst dich selber, Saru? Das ist aber komisch! Wenn dich mal nicht die Glottoplytten erwischt haben. Aber ich habe dich ja gewarnt. Nun ja, komm erst einmal herauf.« Im nächsten Augenblick fiel etwas aus dem Turm heraus und entrollte sich über die ganze Länge. »So etwas aber auch«, sagte Piri und musterte argwöhnisch das schwarze Ding, das vor ihnen in der Luft baumelte. Entweder es war ein Bart, der zu einer Sprossenleiter geflochten war, oder eine Sprossenleiter, aus der Barthaare herauswuchsen. »Nun macht schon«, ertönte die Stimme über ihnen erneut. »Ich will nicht den halben Tag hier zwischen zwei Zinnen sitzen.« Als sie oben angekommen und zwischen den Zinnen hindurchgestiegen waren, merkten sie erst, wie erschöpft sie 179
waren. Sie ließen sich auf den Boden sinken und atmeten erleichtert durch. Der Turmbewohner rollte seinen Bart wieder auf, verstaute ihn unter seinem Gesäß und setzte sich darauf. »Ah, wie angenehm«, seufzte er und schürte ein Feuerchen, das neben ihm brannte. Sonst gab es hier nicht viel. Ein paar Tonschalen standen herum, in denen verschiedenfarbige Pulver aufbewahrt wurden, aber das war auch schon alles. »Ach, du bist ja gar nicht Saru«, rief er plötzlich aus. »Nein«, sagte Nadil, »ich habe es ja schon zweimal gesagt: Ich heiße Nadil, und das hier ist mein Freund Piri.« Der Turmbewohner musterte die beiden argwöhnisch. »Und woher kommt ihr?«, fragte er dann. Nadil deutete in die Richtung der Salzberge. »Ah, aus dem Tal der Tränen«, sagte das Männchen, stocherte in dem Feuerchen herum und warf etwas Pulver hinein, so dass sich auf einmal eine blaue Rauchsäule daraus hervorkringelte. »Und wie heißt du?«, fragte Piri. Das Männchen schaute ihn freundlich an und wackelte mit den Ohren. »Wie du willst.« Piri runzelte die Stirn. »Hast du denn keinen Namen?« »Doch, schon, aber ich habe ihn vergessen. Ich bin ja hier ganz allein, da brauche ich keinen.« Das war allerdings einleuchtend. »Und wie lange bist du schon hier?« »Das habe ich auch vergessen«, erhielt Piri zur Antwort. »Aber Saru, mein Großvater«, warf Nadil ein, »der ist hier gewesen?« Sein Gegenüber nickte und warf wieder ein wenig Staub ins Feuer. Der Rauch wurde daraufhin grün. »Hi, hi«, kicherte das Männchen, »Saru war eine ganze Weile hier.« 180
»Und wo ist er jetzt?« Nadil beschloss, sich für diesen komischen Kauz einen Namen auszudenken, denn irgendwie musste er ihn doch ansprechen. »Er ist dorthin gegangen«, sagte der Turmbewohner und deutete nach Balang-Gir. »Hi, hi, dabei geht das ja gar nicht, hi, hi. Ich habe es ihm ja immer gesagt: Hier ist die Grenze, am Ende des Tals der Tränen. Aber er wollte ja nicht hören.« Nadil rutschte ein wenig hin und her. Der Steinboden war doch sehr unbequem, denn sie hatten ja keinen Bart, auf den sie sich setzen konnten. »Die Grenze wovon?«, fragte er dann. »Von Phantásien natürlich«, erwiderte das Männchen. »Ich bin der Grenzwächter von Phantásien«, fügte es dann stolz hinzu. »Keiner ist so weit gekommen wie ich. Jawohl!« Grenzwächter?, dachte Nadil verwundert. Er hatte immer geglaubt, dass Phantásien unendlich groß war. Und hier sollte die Grenze sein? Er schaute ratlos auf die Wüste und das Gebirge am Horizont, das wie immer nah und fern zugleich schien. Dorthin war Saru also gegangen. Er war wie sie durch das Tal der Tränen gelaufen. Ein Glück. Er war nicht in Silandor eingemauert worden! »Aber diese Wüste hier«, sagte Nadil nach einer Weile, »die führt doch irgendwohin. Und dahinten am Horizont ist Balang-Gir. Also kann die Grenze doch gar nicht hier sein.« Der Grenzwächter lächelte mitleidig. »Du bist schon der rechte Enkel von Saru. Der wollte auch immer mit mir phantasophieren. Dabei ist es doch ganz einfach. Schau mal, Phantásien muss natürlich irgendwo zu Ende sein, das ist doch logisch, oder?« Nadil nickte stumm. »Aber gleichzeitig«, fuhr der Grenzwächter fort, »können wir uns nicht vorstellen, dass Phantásien irgendwo endet, nicht wahr?« 181
Nadil nickte erneut. Ja, genau so war es. »Siehst du, genau deshalb gibt es Balang-Gir. Es ist die Grenze Phantásiens. Weil Phantásien aber nirgends endet, kann niemand dort hingehen. So einfach ist das. Balang-Gir ist das Gebirge der Unendlosigkeit, der Sichtbarlosigkeit, der Vorbeilosigkeit, was immer du willst. Näher heran kann man nicht.« Er schlug sich stolz an die Brust. »Niemand ist BalangGir näher gekommen als ich. Ich bin der Grenzwächter Phantásiens.« Nadil lauschte stumm und betrachtete immer wieder die Wüste und das Gebirge dahinter. Unendlosigkeit. Sichtbarlosigkeit. Vorbeilosigkeit. Das wurde ja immer schöner. Je näher man der Grenze von Phantásien kam, desto unlogischer wurde alles. Aber befriedigend fand er diese Erklärung keineswegs. »Und was ist hinter Balang-Gir?«, fragte Piri. »Nichts«, sagte der Grenzwächter und lachte fröhlich. »Nichts!« »Nichts«, wiederholte Piri matt. »Wie, nichts?« »Nichts. Gar nichts. Hinter Balang-Gir beginnt das Land der Leere. Aber man kann dort nicht hingehen. Es ist unmöglich. Man kann nur versuchen, ihm so nah wie möglich zu kommen. Aber man kann dort nicht hinein.« »Aber es kommt doch etwas daraus hervor«, entgegnete Piri hartnäckig. »Und wenn etwas daraus hervorkommt, dann kann es doch nicht leer sein?« »Was kommt denn schon daraus hervor«, protestierte der Grenzwächter. »Nur Nichtse, die am Himmel explodieren. Ist ja logisch. Aus der Leere kann nur nichts kommen. Und ein leeres Nichts implodiert natürlich.« »Implodiert?«, wiederholten Piri und Nadil wie mit einer Stimme. 182
»Ja, sicher. Ein Nichts ist ja schon etwas, das nicht da ist. Wenn man aber etwas, das nicht da ist, ausleert, dann wird es noch weniger. Weniger als nichts kann es aber nicht geben, deshalb implodiert ein leeres Nichts automatisch. Ist doch klar. Das hat sogar Saru verstanden.« Die beiden Schmetterlinger schwiegen verblüfft. Nadil dachte an Pegario. Der hatte gesagt, die Lichtblitze seien Nichtnichtse, die explodierten. Und jetzt sollten es leere Nichtse sein, die implodierten. Wie dem auch sei, verstehen konnte man das alles nicht. »Aber Saru«, fuhr Nadil jetzt fort, »er ist nach Balang-Gir gegangen, oder?« »Hi, hi, ich sage dir doch, man kann dort nicht hingehen. Saru hat es versucht, ja. Und er ist nicht zurückgekommen. Aber nach Balang-Gir kann er nicht gegangen sein, denn das geht nicht. Bestimmt haben ihn die Pensaren aufgefressen. Oder die Glottoplytten haben ihn erwischt.« Pensaren? Glottoplytten? Nadil und Piri schauten sich ratlos an. Auch davon hatten sie noch nie etwas gehört. Dieser Grenzwächter war zwar nicht gerade leicht zu verstehen, aber offenbar hatte er eine Menge Informationen, die ihnen vielleicht noch von Nutzen sein konnten. »Kannst du uns denn sagen, wann Saru aufgebrochen und in welche Richtung er gegangen ist?«, fragte Piri. »Warum wollt ihr das wissen?«, entgegnete das Männchen. »Wollt ihr ihm etwa folgen? Das würde ich nicht tun. Hier ist die Grenze von Phantásien. Hier geht es nicht weiter, und hier bleiben könnt ihr auch nicht, denn mehr als einen Grenzwächter braucht Phantásien nicht. Das habe ich Saru ja auch gesagt.« Nadil verlor allmählich die Geduld. »Ich möchte aber meinen Großvater finden«, sagte er. »Vielleicht ist er irgendwo 183
dort draußen und braucht Hilfe. Außerdem muss es doch irgendetwas bedeuten, dass diese leeren Nichtse auf Phantasien herabregnen.« Der Grenzwächter strich sich über seinen Bart und dachte nach. »Ich kann euch nur das Gleiche sagen wie Saru. Er war auch so verbohrt und wollte unbedingt nach Balang-Gir. Aber es geht nicht. Niemand kommt an den Glottoplytten vorbei. Und erst recht nicht an den Pensaren. Und erst jenseits des Waldes der Pensaren beginnt der Aufstieg nach Balang-Gir. Doch selbst wenn ihr das schaffen solltet, was habt ihr davon? Dahinter ist das Land der Leere. Ihr könnt also ebenso gut gleich umkehren.« Piri hatte offenbar wieder etwas Mut gefasst. Jedenfalls sagte er in trotzigem Tonfall: »Wir können nicht zurück. Wir müssen herausfinden, was diese Explosionen bedeuten. Bitte hilf uns. Was sind Glottoplytten und Pensaren?« Der Grenzwächter schaute die beiden bekümmert an. Seine Augen wirkten noch größer und brauner, und seine Ohren hingen ein wenig herunter, so missmutig war er angesichts dieser beiden verstockten Schmetterlinger, die unbedingt in ihr Verderben laufen wollten. »Reicht euch denn nicht, was mit Saru geschehen ist?«, fragte er erzürnt. »Was ist denn mit ihm geschehen?«, wollte Nadil jetzt endlich wissen. »Das seht ihr doch. Er ist nach Balang-Gir aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Er hat mir Löcher in den Bauch gefragt. Pandarax, fing er immer an, so sage mir doch ...« »Pandarax!«, rief Nadil aus und klatschte in die Hände. »So heißt du also. Pandarax. Pandarax.« Der Grenzwächter schaute verdutzt vor sich hin. Dann verzogen sich seine vielen Barthaare zu einem Lächeln, und seine Augen blitzten fröhlich auf. »Potzblitz!«, rief er aus. »So 184
etwas aber auch. Das hatte ich wirklich komplett vergessen. Tss. Tss. Tss.« »Siehst du«, schaltete sich Piri ein, »wie gut, dass wir hier vorbeigekommen sind. Sonst wüsstest du nicht einmal mehr, dass du Pandarax heißt und ein Sternputzer bist.« Jetzt blieb Pandarax der Mund offen stehen. Er schüttelte ungläubig den Kopf, dann kullerten auf einmal kleine Tränchen aus dem Haargestrüpp hervor. »Ach ja«, jammerte der Grenzwächter, »das ist ja wahr, ich habe kaum noch eine Erinnerung daran. Ach je, wie schrecklich!« »Du weißt überhaupt nicht, wie du hierher gekommen bist?«, fragte Nadil voller Mitgefühl. Pandarax hatte sich auf den Boden gekauert. »Nein«, wimmerte er, »es ist alles ganz durcheinander in meinem Kopf. Ich glaube, ich bin hier heruntergefallen, als vor vielen Jahren diese Explosionen begannen. Und jetzt bin ich schon so lange hier und vergesse immer wieder alles. Mein Kopf wird immer leerer ...« Nadil runzelte die Stirn. Was war nur in Phantásien los, dachte er. »Also gut«, schniefte Pandarax und putzte sich die Nase. »Ihr habt mir eine große Freude gemacht mit eurem Besuch. Ich will euch sagen, was ich weiß, und dann tut, was ihr wollt. Ich werde euch nicht begleiten, denn es ist sinnlos, das habe ich ja schon gesagt. Aber hört: Wenn ihr diese Grenzstation verlasst, dann kommt ihr in eine der gefährlichsten Regionen, die es in Phantásien gibt. Bereitet euch vor. Schon nach wenigen Stunden Fußmarsch werden euch die Glottoplytten angreifen. Es sind entsetzliche Quälgeister. Es heißt, die einzige Möglichkeit, sich gegen sie zu wehren, sei, ganz stark an eine einzige Sache zu denken. Aber wie das funktionieren soll, kann ich euch nicht sagen.« 185
»Aber was tun diese Glottoplytten denn so Schreckliches?«, wollte Piri wissen. »Soviel ich gehört habe, reden sie«, gab Pandarax zurück. »Sie reden und reden und reden.« »Und was ist daran so schlimm«, fragte Piri verwundert. »Sie hängen dir die ganze Zeit in den Ohren und reden und reden. Angeblich wird man davon unweigerlich verrückt und endet selbst als einer von ihnen.« »Gut, gut«, schaltete sich Nadil ein, der Piri bereits wieder furchtsam werden sah. »Wir haben uns aber entschieden. Mit diesen Glottoplytten werden wir schon fertig.« »Ich kann es euch nur wünschen. Aber seid vorbereitet. Möglicherweise ist der erste Glottoplytt, der euch begegnet, dein Großvater.« Diese Aussicht ließ Nadil doch zweimal schlucken. O weh, wenn Pandarax Recht hatte? Das wäre ja entsetzlich. Nadil hatte zwar keine Vorstellung davon, wie ein Glottoplytt aussah und was er mit einem anstellen konnte, aber dem Namen nach zu schließen, mussten diesen Biester recht unangenehm sein. »Was ist mit den Pensaren?«, fragte er schließlich, um vom Thema abzulenken und diese ganzen schlechten Nachrichten so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Pandarax hob beschwörend beide Hände und schüttelte den Kopf. »Wenn ihr wüsstet, worauf ihr euch einlasst«, jammerte er. »Die Pensaren sind das Allerschlimmste, das Allerallerschlimmste. Sie fressen euch einfach auf, mit einem einzigen Bissen. Und das Schlimmste an ihnen ist: Man sieht sie nicht kommen. Man kann sie nicht hören, so lautlos bewegen sie sich, obwohl sie riesengroß sind. Sie sind einfach plötzlich da, und dann – dann gibt es keine Rettung mehr. Ein 186
Biss mit ihren Reißzähnen, ein Schlag mit ihren Tatzen und Krallen, und alles ist vorbei. So schnell geht das.« »Aber ... aber«, Piri suchte nach Worten, »wie wissen wir denn dann, wann wir im Land der Pensaren sind, wenn man sie gar nicht sehen kann, bevor sie einen angreifen?« »Oho, das ist einfach«, erklärte Pandarax. »Es heißt: Wer an den Glottoplytten vorbei ist, was aber wie gesagt gar nicht geht, der sieht Balang-Gir auf einmal ganz nah vor sich. Man ist dann zwar noch nicht dort, aber man hat die erste Grenze der Grenze durchbrochen. Balang-Gir wird einem fortan mit jedem Schritt näher kommen.« Pandarax schüttelte es vor Grauen. Allein der Gedanke daran, im Land der Pensaren unterwegs zu sein, schien ihm Angstschauer durch sämtliche Barthaare zu jagen. »Wenn Balang-Gir näher kommt, dann ist es so weit. Dann seid ihr im Land der Pensaren.« »Und gibt es denn überhaupt keinen Schutz gegen diese Unholde?«, fragte Nadil ungeduldig. »Kann man nicht an ihnen vorbeischleichen?« »Vorbeischleichen?«, rief Pandarax aus. »An Pensaren vorbeischleichen? Hi, hi, hi. Ihr seid mir ja zwei naive Burschen. Ach, was verschwende ich denn überhaupt meine Zeit mit euch. Ruft mich, wenn ihr wieder loswollt. Hat man so etwas denn schon gehört?« Und damit verschwand er kopfschüttelnd in seinem Turm.
\6\ Es war hoffnungslos. Er konnte die beiden Mädchen nicht mehr einholen. Sie würden vor ihm an der Unglücksstelle eintreffen. Toralon machte sich Vorwürfe, während er Windjunge antrieb, die beiden zu überholen. Aber Windjunge 187
kannte ihn und ließ sich nicht dazu hinreißen, Manöver zu fliegen, die den alten Lehrer in Gefahr gebracht hätten. Nein, das halsbrecherische Tempo von Masia und Beliar konnte er mit Toralon auf dem Rücken nicht halten. Sicher anzukommen war wichtiger. Toralon hätte ihnen den grauenvollen Anblick gern erspart. Doch jetzt war es zu spät. Als er endlich gelandet war, standen die beiden Mädchen wie gelähmt da und starrten auf den entsetzlich zugerichteten leblosen Körper von Elfenauge. Die anderen Schmetterlinge hatten sich sogleich ein wenig entfernt, denn dieser Anblick war zu viel für sie. Die Köpfe unter die Flügel gesteckt, standen sie abseits, und nur das Zittern ihrer zusammengelegten Schwingen gab Aufschluss darüber, was sich in ihnen abspielen musste. Was für ein entsetzliches Ende hatte Elfenauge ereilt! Der Schmetterling sah wie zerfetzt aus. Von seinen vier Flügeln fehlten zwei vollständig. Die anderen beiden hingen gerade noch so an seinem Körper fest, waren jedoch heillos zerrissen. Elfenauges Kopf war nicht zu sehen. Er steckte zwischen den Steinen, als hätte der arme Schmetterling am Ende versucht, durch die Erde zu entkommen, weil ihm der Weg durch die Luft versperrt gewesen war. Seine Beine hatten sich tief ins Erdreich eingegraben und waren dort erstarrt. Doch das Schlimmste waren die vielen Stichwunden auf seinem Körper. Ein gutes Dutzend zählte Toralon bei einem ersten flüchtigen Blick. Aber das waren vermutlich noch gar nicht alle. Die weiche Unterseite des unglücklichen Geschöpfes wies sicherlich noch weitere Stiche auf. Die Wunden waren entsetzlich anzusehen: tiefschwarze, an den Rändern ausgefaserte Einstiche, in die so viel Gift hineingespritzt worden war, dass es den Körper unnatürlich aufgebläht hatte. Hie und da tropfte noch immer ein wenig schleimige Flüssigkeit 188
aus dem toten Schmetterling heraus. Toralon wandte sich fassungslos ab. Nein, dieser Anblick war unerträglich. Die Mädchen sagten noch immer nichts, doch ebenso wenig gelang es ihnen, den Blick von dem toten Freund zu nehmen. Beliars Augen waren weit aufgerissen und glänzten. Masia weinte stumm. Toralon schaute sich nach Taublume urn. Der hatte sich noch weiter entfernt als die anderen und spähte ununterbrochen in alle Richtungen. Er war sichtlich nervös. Toralon ging zu ihm. »Was ist hier passiert?«, fragte er leise. »Hast du eine Idee?« Taublume nickte und flüsterte: »Das waren Quäldrohnen, Toralon. Hast du die Stiche gesehen? Es ist ungeheuerlich. Wie kommen Quäldrohnen nach Mangarath?« »Quäldrohnen«, wiederholte Toralon ungläubig. »Bist du sicher?« »Ja. Völlig sicher. Das erklärt auch den Geruch. Ich konnte ihn nicht erkennen, weil es Quäldrohnen in unserer Gegend seit ewigen Zeiten nicht mehr gibt. Sie sind doch schon vor wer weiß wie vielen Jahren vertrieben worden und haben sich bis hinter die Zyklopengräber zurückgezogen. Man braucht viele Monate, um dorthin zu kommen, und auf dem Weg gibt es zahllose Völker, die niemals Quäldrohnen passieren lassen würden. Wie kommen sie jetzt hierher? Und warum haben sie Elfenauge ermordet?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Toralon bekümmert. »Aber wir werden es herausfinden.« »Gar nichts werden wir«, protestierte Taublume mit zitternder Stimme. »Wir müssen so schnell wie möglich hier weg. Vielleicht sind die Drohnen noch hier. Hast du gesehen, wie viele Einstiche er hat? Es müssen fünf oder sechs Angreifer gewesen sein.« 189
»Eben«, unterbrach ihn Toralon. »Das ist ja das Seltsame.« Taublume streckte seine Fühler in alle Richtungen. »Und wo sind eigentlich die Nachtalben?«, fragte er. »Wieso lassen Nachtalben zu, dass vor den Toren ihrer Stadt Quäldrohnen herumfliegen und einen Schmetterling ermorden? Toralon, hier stimmt etwas nicht. Wir müssen sofort von hier verschwinden.« Toralon schaute sich unschlüssig um. »Wir fliegen nach Garsiran«, sagte er dann. »Die Nachtalben werden vielleicht etwas wissen.« Taublume wirkte nicht sehr überzeugt, aber er widersprach nicht. Toralon kehrte zu den Mädchen zurück, die sich auf den Boden gesetzt hatten und wie betäubt vor sich hin starrten. Er ging zwischen ihnen in die Hocke, legte seine Arme um sie und sagte: »Ihr müsst jetzt tapfer sein. Hier ist etwas Schreckliches geschehen, aber wir werden diejenigen zur Verantwortung ziehen, die das getan haben.« Masia schaute ihn mit verweinten Augen an. »Aber Elfenauge«, wimmerte sie, »er wird davon auch nicht wieder lebendig.« »Feige Mörder«, stieß Beliar zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Wir müssen sie verfolgen. Weiß denn niemand, wer das getan hat?« Toralon streifte Beliar mit einem erstaunten Blick. Dieses Mädchen war entweder bemerkenswert mutig – oder leichtsinnig und naiv. »Wir fliegen jetzt sofort nach Garsiran und sprechen mit den Nachtalben. Dann sehen wir weiter.« »Und Elfenauge«, schluchzte Masia, »soll er einfach so ...« »Wir können ihm jetzt nicht helfen. Später lassen wir ihn holen und bringen ihn nach Nevisehr, wo er hingehört.« »Wo ist denn eigentlich Nadil?«, fügte Masia hinzu. »Wa190
rum hat er denn nicht auf Elfenauge aufgepasst? Er ist an allem schuld.« »Still jetzt«, befahl Toralon. Das hatte ihm noch gefehlt. Über Nadil, Piri und Silandor wollte er jetzt erst recht nicht sprechen. Das würde die Mädchen nur noch mehr beunruhigen. Er spürte Beliars Blick auf sich ruhen. Sie musterte ihn eindringlich. Bestimmt ahnte sie, dass er ihnen etwas verheimlichte. »Los. Vorwärts«, sagte er barsch und erhob sich. »Ich will nicht, dass heute noch ein Unglück geschieht.« Diesmal führte Toralon die Gruppe an, während sie direkt auf Garsiran Kurs nahmen. Er dachte an Darian, den König der Nachtalben. Der würde ihm sicher erklären können, was vorgefallen war. Ja, wenn in Phantásien irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging, dann würde Darian davon wissen. Schmetterlinger kamen zwar viel herum, aber das war natürlich kein Vergleich mit den Entfernungen, welche Nachtalben zurücklegten. Man bekam sie selten zu Gesicht, doch welcher Reisende in Not hatte nicht schon erlebt, dass ihm in letzter Sekunde ein Nachtalb das Leben gerettet hatte! Dabei waren sie stumm und so gut wie unsichtbar. Doch selbst in den entlegensten Regionen kümmerten sie sich bisweilen um Phantásier in Not. Was ihre eigentliche Aufgabe war, wusste man nicht. Das war eben das Geheimnis der Nachtalben. Toralon wusste nur, dass Darian ein Heer von Schreibalben beschäftigte, welche die vielen Beobachtungen der von ihren Flügen heimkehrenden Nachtalben aufzuschreiben hatten. Auf diese Weise war Schloss Garsiran mit den Jahrhunderten fast so etwas wie ein Archiv Phantásiens geworden. Ein merkwürdiges Archiv allerdings, denn die Nachtalben wachten eifersüchtig über ihren Schatz und ließen niemals zu, dass jemand in ihren Aufzeichnungen las. Sie waren nämlich der festen Überzeugung, dass jedes Ereignis, 191
sobald es aufgeschrieben worden war, erlöst sei und es ein Frevel wäre, es durch Lektüre wieder zum Leben zu erwecken. Ja, die Nachtalben glaubten mit ihrer Tätigkeit die Welt zu Ende erzählen und so erlösen zu müssen. Es war schon ein seltsames Völkchen, aber hilfsbereit und absolut vertrauenswürdig. Das schöne Schloss der erlösten Erinnerungen Phantásiens gehörte zu den siebenundsiebzig phantásischen Wundern. Toralon erinnerte sich: Vor Jahren war er einmal dort gewesen, und das Schloss war wirklich so schön und herrlich anzusehen, dass man vor Glück weinen musste, wenn man es zum ersten Mal sah. Vielleicht würde es die Mädchen und auch die Schmetterlinge ein wenig aufheitern, dachte er. Aber er bezweifelte es. Elfenauges Tod hatte sie alle zu sehr verstört. Ach, wie grau und trostlos wirkte plötzlich alles, selbst die Aussicht, bald Garsiran sehen zu dürfen. Soeben überflogen sie die Nebelbänke von Uriah, und dahinter schimmerten die ersten Klippen des Eismeers. Jetzt war es nicht mehr weit. Bald würde man die glitzernden Zinnen Garsirans schon am Horizont erkennen können. Doch plötzlich überkam Toralon erneut eine große Unruhe. Zwischen den ausfasernden Nebelbänken unter ihm waren merkwürdige dunkle Stellen sichtbar geworden. Was war denn das? Er drosselte die Geschwindigkeit und lenkte Windjunge ein wenig hinab, um besser sehen zu können. Jetzt erkannte er, dass die dunklen Stellen sich bewegten. Überall auf dem Eis schlängelte sich etwas durch die Einöde. Er ging noch etwas tiefer. Pelzige Wesen waren es, die in dicht gedrängten Rudeln voranpreschten. Toralon spürte ein Frösteln auf dem Rücken. Das konnte doch nicht sein. Nein, so etwas doch nicht. Aber Taublume, 192
der jetzt zu ihm aufschloss, bestätigte ihm, dass er nicht träumte. »Iblisse«, flüsterte Taublume so leise, als fürchte er, die Bestien könnten sie selbst in dieser Höhe hören und angreifen. »Toralon, siehst du das nicht? Wir müssen umkehren. Erst Quäldrohnen und jetzt auch noch Iblisse. Bei allen Zinnen des Elfenbeinturms, Phantásien ist aus den Fugen.« Der alte Schmetterlinger wusste überhaupt nicht, was er erwidern sollte. Die Angst lähmte ihm fast den Atem. Quäldrohnen. Iblisse. Immer wieder schossen ihm diese Wörter durch den Kopf. Doch sie richteten darin nur Verwirrung an. Es konnte einfach nicht sein. Davon hätte man doch schon längst gehört haben müssen. Diese entsetzlichen Wesen lebten doch schon lange nicht mehr hier. Was wollten sie? Und in solch riesiger Zahl! Mit einem Ruck riss er Windjunge herum, flog in einem Bogen um die anderen und rief: »Los, rasch, folgt mir. Keine Widerrede!« Sein Gesicht war so ernst, dass Beliar und Masia überhaupt nicht auf die Idee kamen, um eine Erklärung zu bitten. Toralon lenkte Windjunge steil aufwärts. Sie stiegen höher und höher. Die dunklen Punkte verschwammen, die Nebelbänke schmolzen zu kleinen Tupfen zusammen. Dann nahm Toralon plötzlich wieder die vorherige Richtung auf, flog so schnell er konnte auf Garsiran zu und begann kurz darauf zu kreisen. Die Mädchen taten es ihm gleich. Ganz langsam und lautlos sanken sie herab und schauten dabei neugierig nach unten. »Was ist da unten?«, fragte Beliar. Allmählich schälten sich undeutlich riesenhafte Konturen aus dem Nebel. »Meister Toralon«, flüsterte Masia mit unsicherer Stimme. »Was ist das für ein zerborstener Berg?« 193
Toralon hatte keine Worte mehr. Die Zerstörung war schon aus dieser Ferne sichtbar. Wie musste es nur vor Ort aussehen? Sie näherten sich vorsichtig, segelten durch die kalte Luft und starrten stumm auf die Trümmer dort unten. Die Mädchen wussten natürlich gar nicht, welch riesenhafte Festung dort einmal gestanden hatte, wo jetzt nur noch geborstene und umgestürzte Brocken herumlagen. Welche furchtbare, zerstörerische Kraft hatte hier gewirkt? Garsiran, das immer hier gestanden hatte – einfach zertrümmert und geschleift. Und wo waren die Bewohner? Wo war Darian mit seinen Nachtalben? Wer hatte das getan? Jetzt entdeckte Toralon auch in den Trümmern der Festung kleine Rudel davoneilender pelziger Punkte. Iblisse!, dachte er grimmig. Hunderte! Tausende! Wo kamen all diese Bestien nur her? Warum hatten sie Garsiran angegriffen und zerstört? Warum nur? Toralon drosselte seinen Sinkflug, und die Mädchen taten es ihm gleich. Taublume verharrte auf der Stelle. Es war nicht klug, noch weiter hinabzusegeln. Man würde sie entdecken. Jetzt war es Toralon, der nervös zu Taublume hinübersah und dann die Umgebung prüfte. Taublume hatte Recht gehabt. Sie waren in höchster Gefahr. Deshalb war Elfenauge ermordet worden: damit er nicht entdeckte, was sie jetzt gesehen hatten. Ein Heer von Iblissen zog mordend durch die Lande und marschierte – auf Mangarath zu. Sie mussten umkehren und so schnell wie möglich Pegario informieren. Vielleicht konnte er zu all diesen Dingen etwas sagen? »Beliar, Masia, Taublume, rasch, wir müssen zurückfliegen.« Ohne noch einen Blick auf das vernichtete Reich der Nachtalben zu werfen, stiegen sie so hoch sie konnten und eilten dorthin zurück, woher sie gekommen waren. 194
\7\ Zunächst begegneten Nadil und Piri weder einem Glottoplytten noch einem Pensaren. Sie marschierten auf BalangGir zu, überquerten Sandhügel nach Sandhügel, schauten manchmal zurück und sahen den Eingang zum Tal der Tränen und den Wachturm davor immer kleiner werden, aber das Gebirge vor ihnen am Horizont kam einfach nicht näher. Am ersten Tag sahen sie weit und breit nur Sand. Am zweiten Tag stießen sie bisweilen wieder auf Statuentrümmer, die sie aber achtlos liegen ließen. Am dritten Tag waren wieder nur Sand und Geröll zu sehen, so weit das Auge reichte. »Wahrscheinlich hat Pandarax Recht gehabt«, stöhnte Piri irgendwann. »Es ist einfach wie verhext. Wir können BalangGir nicht erreichen.« Nadil antwortete nicht, aber in seinem Innersten musste er Piri zustimmen. Es war aussichtslos. Dafür war das Gebirge ja da: damit man es nicht erreichte. Am vierten Tag wurde die Hitze allmählich so unerträglich, dass sie ihre Köpfe, auf denen jetzt wieder die ersten Härchen sprossen, dick einwickeln mussten, um keinen Sonnenstich zu bekommen. Noch immer änderte sich die Landschaft nicht. Sand und Geröll, so weit das Auge reichte. »Vielleicht ist das ja auch alles nur ein Märchen«, schlug Piri einmal vor. »Das mit den Glottoplytten und den Pensaren. Woher will Pandarax das überhaupt wissen? Es gibt so viele Geschichten, von denen keiner weiß, ob sie stimmen oder nicht.« Nadil wusste auch nicht, was er noch glauben sollte. Pandarax' Schilderungen hatten sich sehr gefährlich angehört, aber außer Hitze, Sand und versteinerten Flügelwesen gab es in dieser Wüste anscheinend nichts. 195
Merkwürdig war nur, dass sie sich beobachtet fühlten. Nadil dachte zunächst, er bilde es sich ein. Doch als er sich einmal argwöhnisch umdrehte, weil er wieder glaubte, einen Schemen gesehen zu haben, da bemerkte er, dass es Piri offenbar genauso ging. Sie blieben beide stehen und schauten auf die Landschaft hinter sich. »Hast du auch etwas gesehen?«, fragte Nadil. Piri nickte. »Ja«, sagte er, »ich habe schon seit Tagen das Gefühl, dass uns jemand beobachtet.« »Seit Tagen?«, fragte Nadil. »Ja. Seit dem Tal der Tränen. Aber es muss Einbildung sein.« »Hm«, machte Nadil. Sie blieben noch einen Moment stehen und schauten sich um. Aber da war nichts. »Zu dumm, dass ich meinen Weitseher verloren habe«, bemerkte er verdrossen und griff in seine Westentasche. Aber sie war immer noch leer. »Komm, lass uns weitergehen«, ermunterte Piri ihn. »Hier herumzustehen bringt auch nichts.« Sie wandten sich wieder in Richtung Balang-Gir. Plötzlich sahen sie in der Ferne etwas stehen und zuckten zusammen. War das möglicherweise ein Glottoplytt? Doch als sie näher kamen und das Geschöpf, das da in der Wüste stand, genauer betrachteten, erkannten sie, dass es wieder nur einer jener fremdartigen Flügelphantasier war. Doch diesmal ein lebendiger! Er stand dort und hielt die Arme ausgebreitet. Auf den ersten Blick sah er wie eine Statue aus, aber dann drehte er sich leicht nach links und rechts, verbeugte sich ein wenig und wirkte jedenfalls überhaupt nicht so versteinert wie die anderen, die sie bisher gesehen hatten. Beruhigt durch den einigermaßen vertrauten Anblick, gingen sie auf ihn zu. 196
»Sei gegrüßt«, sagte Piri und verbeugte sich, als sie bei ihm angekommen waren. Der Geflügelte schaute sie freundlich an und lächelte, legte die Hände gegeneinander und drehte die Augen zum Himmel. Er besaß nur vier Flügel und war merklich Heiner als die anderen Figuren, die sie bisher gesehen hatten. Dafür sprach er jedoch eine verständliche Sprache. »Seid gegrüßt«, säuselte er. »Das Heil sei mit euch auf all euren Wegen.« Damit drehte er sich wieder ein wenig zur Seite, als habe ihn dieser einfache Satz schon restlos erschöpft. Nadil und Piri sahen sich an. Wie antwortete man auf so etwas? »Ist dies das Land der Glottoplytten?«, fragte Nadil vorsorglich, denn man konnte ja nie wissen. Aber der Flügelmann wusste das offenbar nicht. »Ich bin Jesahel«, sprach er leise. »Und ich bin Nadil, ein Schmetterlinger«, erwiderte Nadil. »Und das ist mein Freund Piri.« Aber viel mehr als ein mildes Nicken war aus Jesahel nicht herauszuholen. Er war zwar nicht versteinert, schien aber dennoch recht leblos. »Bist du ganz allein hier?«, fragte Nadil. Jesahel schüttelte nur stumm den Kopf, faltete die Hände wieder vor der Brust zusammen und strahlte schweigend vor sich hin. Die beiden schauten den Geflügelten noch einen Augenblick lang an, dann verabschiedeten sie sich artig und marschierten weiter. »Ich glaube, der weiß überhaupt nicht, was er hier tut oder woher er kommt«, sagte Piri. Nadil konnte nur zustimmen. Ihm war soeben ein Gedanke gekommen, doch bevor er ihn aussprechen konnte, erklang plötzlich ein Summen über ihren Köpfen. Sie duckten sich und schauten nach oben.
197
»Ach du liebe Zeit«, entfuhr es Piri, »Brummlerchen!« »Quatsch«, entgegnete Nadil, »Brummlerchen fliegen doch nicht.« Aber so ganz falsch lag Piri auch wieder nicht mit seiner Vermutung. Was da heranflog, erinnerte durchaus an Brummlerchen. »Huh«, rief Nadil, »sie kommen direkt auf uns zu. Hilfe!« Aber es war schon zu spät. Die beiden summenden Dinger stießen mit einem lauten Plock! gegen seinen Kopf. Ein wildes Flügelschlagen folgte, dann fielen zwei Bündel aus Federn und wild herumrudernden Ärmchen und Beinchen vor Nadil in den Sand und veranstalteten dort ein gehöriges Sandgestöber. Nadil und Piri wichen verwundert zurück und schauten zu, bis die beiden Geschöpfe, die da aus der Luft gefallen waren, sich beruhigt hatten. Es waren possierliche, rotbackige Dinger. Nadil erinnerten sie ein wenig an junge Sumpftrolle, die ja auch splitternackt und glitschig glatt waren. Aber diese beiden Winzlinge waren nicht dunkelgrau wie Sumpftrolle, sondern hatten eine rosige Hautfarbe. Auch waren ihre Gesichter hübscher, ja sie sahen eigentlich recht niedlich aus. Sie besaßen acht Flügel aus gelbem Flaum, sechs auf dem Rücken und zwei an den Fersen, die unablässig flatterten. Piri betrachtete die beiden abgestürzten Flieger und musste lachen. »Wer seid ihr denn«, fragte er und hob einen von ihnen auf. Wie leicht, dachte er. Die wiegen ja fast gar nichts. »Entschuldigen Sie bitte den Zusammenstoß«, piepste der gefiederte Knirps. »Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt.« Nadil und Piri schauten sich an und prusteten los. Der Arme hatte nämlich von dem Aufprall eine Beule auf der Stirn davongetragen, was wirklich zu komisch aussah. Piri setzte den kleinen Flieger sanft neben seinem Kamera198
den im Sand ab und kniete sich vor die beiden hin. »Wir müssen uns entschuldigen«, sagte er. »Schließlich sind wir hier fremd und offenbar ein Hindernis auf Ihrem Spazierflugweg.« »Keine Ursache«, sagte der andere, der bei näherem Hinsehen etwas älter schien als sein Begleiter. Viel größer war er jedoch nicht. »Aber jetzt müssen wir weiter«, rief er. »Auf Wiedersehen.« Und ohne ein weiteres Wort flatterten die beiden davon. »Verstehst du das, Nadil?«, fragte Piri. »Also, die Flügelphantásier hier sind alle etwas merkwürdig, findest du nicht?« Nadil schaute schweigsam den davonfliegenden Knirpsen hinterher. Ja, fliegen war eigentlich auch zu viel gesagt. Sie flatterten torkelnd durch die Luft und stießen sogar gegeneinander. Ein Wunder, dass sie nicht gleich wieder herunterfielen. Ein Gedanke, der ihn seit längerem beschäftigte, kehrte in sein Gedächtnis zurück. »Piri«, sagte er, »du hast doch auch gehört, was Pandarax gesagt hat, nicht wahr?« »Was meinst du?« »Das mit dem Land der Leere. Dass man dort nicht hingehen kann.« »Ja, klar. Und?« »Ich finde das seltsam«, murmelte Nadil. Piri setzte sich hin, zog seine Schuhe ans und schüttelte den Sand heraus, der sich darin angesammelt hatte. »Was findest du seltsam?«, fragte er dann. »Dass Phantásien zwei Ausgänge haben soll«, erklärte Nadil. Piri stutzte und schaute seinen Freund verwundert an. »Zwei? Wieso zwei?« »Du kennst doch die Legenden von der Grenze Phan199
tâsiens. Es heißt, dass es jenseits von Phantásien ein Land geben soll, wo die Menschen wohnen, oder erinnerst du dich daran nicht?« Piri nickte. »Ja, schon. Aber ehrlich gesagt, hat mich das nie besonders interessiert. Das ist doch so weit weg, und wie du sagst, kann man dort ja auch nicht hingehen.« »Eben«, erwiderte Nadil. »eigentlich heißt es doch, Phantasien sei grenzenlos. Bis auf eine Ausnahme: die Welt der Menschen. Doch jetzt gibt es auf einmal zwei Grenzen.« Piri zuckte mit den Schultern. Es schien ihn nicht weiter zu stören. »Worauf willst du hinaus?« »Vielleicht ist das Ganze ein Missverständnis«, wunderte sich Nadil. »Ich frage mich, ob das Land der Leere nicht vielleicht das Land der Menschen ist. Vielleicht sind diese geflügelten Wesen, denen wir begegnet sind, gar keine Phantásier, sondern Menschen?« »Hm«, bemerkte Piri und kratzte sich am Kopf. »Du weißt doch auch, dass es in Phantásien so gut wie keine Menschen gibt. Ich habe gehört, dass – wenn überhaupt – immer nur ein Mensch in Phantásien sein kann. Sie sind hier äußerst selten. Und umgekehrt ist es ja genauso. In der Menschenwelt gibt es ja auch keine Phantásier.« »Ja, schon. Aber diese verglühenden Wesen. Vielleicht sind das Menschen – Menschen, die zu uns kommen wollen und es aus irgendeinem Grund nicht können?« Piri bekam große Augen. »Du meinst, sie wollen mit Gewalt zu uns herein?« Nadil nickte. »Ja. Vielleicht wollen sie uns etwas Wichtiges sagen, und wir können sie nicht hören, weil irgendetwas sie daran hindert, zu uns zu kommen? Vielleicht brauchen sie unsere Hilfe.« Jetzt wurde Piri doch ein wenig hellhörig. »Du meinst, wir 200
müssten zu den Menschen gehen, um ihnen zu helfen? Ist es das, was du sagen willst?« Nadil schaute ratlos auf das unerreichbare Gebirge am Horizont. »Ist das nicht eine Möglichkeit? Vielleicht schickt irgendjemand Boten nach Phantásien. Wer anders als die Menschen sollte das tun? Und aus irgendeinem Grund kommen sie nicht zu uns durch, sondern verglühen.« Piri schien nicht viel von dieser Idee zu halten. »Wenn du mich fragst, dann gehört das Land der Leere zu Phantásien, auch wenn es dort keine Phantásier gibt. Jedenfalls kann es nicht sein, dass dort Menschen sind, die uns Botschaften schicken, sonst wäre das Land der Leere ja nicht leer. Oder gibt es vielleicht leere Botschaften?« Diese Überlegung war nicht von der Hand zu weisen. Nadil verzog den Mund. Ein Land der Leere konnte er sich einfach nicht vorstellen. Es müsste doch mit dem leibhaftigen Sumpftroll zugehen, wenn es ihnen nicht gelingen sollte, wenigstens einen Blick darauf zu werfen. Auf einmal hörte Nadil etwas. Troll kroll froll machte es in seinem Kopf. »Was sagst du?«, fragte er Piri. Aber Piri blieb jetzt auch stehen, schaute sich zu ihm um und fragte: »Was?« Was pas mas tas las fas fes fus mus ..., sauste es Nadil durch den Kopf. Er wollte den Mund öffnen, um etwas zu erwidern, aber da sah er, dass Piri sich bereits die Ohren zuhielt. Und er selber tat es ihm sogleich nach, denn die Wortstummel, die ihm durch den Kopf schossen, waren ja noch schlimmer als Himbeergnitzen oder Ohrwürmer. Er konnte plötzlich überhaupt nichts mehr richtig erfassen. Ein Silbenwirbel raste ihm durch den Kopf, dass ihm Hören und Sehen verging. Ohren zuhalten nützte gar nichts. Glitz, pitz, fitz, schrie jetzt irgendetwas in Nadils Kopf. 201
Piri schien es indessen nicht besser zu gehen. Er hielt sich verzweifelt die Ohren zu und schaute sich wild nach allen Seiten um, gerade so, als bewerfe ihn jemand mit Steinen, denen er auszuweichen versuchte. Aber sie waren doch hier völlig allein! Was war denn das nur für ein furchtbares Gekeife? Keife, seife, reife, meife, schrillte es ihm in den Ohren. Nadil hielt es nicht mehr aus und machte einige Schritte rückwärts. Und dann war plötzlich wieder Ruhe. »Piri, hierher, komm zurück!«, rief er seinem Freund zu. Aber der drehte sich hilflos um die eigene Achse und schaute mit gequälter Miene um sich. Nadil gab sich einen Ruck, hielt sich die Ohren zu, stürzte zu ihm hin und schubste ihn mit seinem Körper aus der Gefahrenzone heraus. Wie ein unsichtbarer Wespenschwarm schossen ihnen die giftigen Silben hinterher, aber es gelang ihnen gerade noch, sich in Sicherheit zu bringen. Keuchend standen sie an einen Felsen gelehnt. »Was um alles in der Welt war denn das?«, fragte Piri mit noch immer zitternden Knien. »Das müssen diese Glottoplytten sein«, erwiderte Nadil außer Atem und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Pandarax hätte uns ruhig sagen können, dass man sie genauso wenig sehen kann wie die Pensaren.« »Entsetzlich«, fluchte Piri und schaute mit finsterer Miene den Weg hinab, auf dem dieses Silbenfeuer begonnen hatte. »Das ist ja nicht zum Aushalten. Ich dachte, mein Kopf zerspringt gleich.« »Aber es ist doch auch ein gutes Zeichen«, erwiderte Nadil optimistisch. »Wir sind auf dem richtigen Weg. Wenn wir an den Glottoplytten vorbeikommen, dann haben wir es fast geschafft.« »Ich gehe keinen Schritt weiter!«, protestierte sein Freund. 202
Nadil ließ seinen Blick über die Gegend schweifen. Innerlich jubilierte er. Sie würden es schon irgendwie schaffen. Sie waren auf dem richtigen Weg. Das war das Wichtigste. Jetzt fiel ihm auch auf, dass die Landschaft sich hier allmählich veränderte. Es ging aufwärts. Einige große Felsbrocken säumten den Weg, der vor ihnen lag. Hier begann der Aufstieg nach Balang-Gir, daran konnte kein Zweifel bestehen. Und von so ein paar närrischen Silben, die hier herumschwirrten, sollten sie sich aufhalten lassen? Es wäre doch gelacht, wenn sie an diesem Hindernis nicht vorbeikommen würden. Die Pensaren, nun ja, das war schon etwas anderes. Aber darüber könnten sie nachdenken, wenn sie an den Glottoplytten vorbei waren. »Pandarax hat gesagt, wir müssten nur ganz fest an eine Sache denken, wenn die Glottoplytten uns angreifen«, versuchte er seinem Freund Mut zu machen. »Das kann doch nicht so schwer sein, oder?« Piri schüttelte den Kopf. »Ich will aber nicht«, jammerte er. »Ich kann das nicht.« »Doch, natürlich kannst du das«, sagte Nadil. »Lass es uns wenigstens versuchen. Woran denkst du am liebsten, hm?« Piri verzog das Gesicht. »Im Moment denke ich an nichts anderes als an Taublume. Ich habe dieses Marschieren nämlich satt.« »Also gut«, sagte Nadil und versuchte so fröhlich wie möglich zu klingen, obwohl ihm auch nicht wohl war bei dem Gedanken, sich wieder diesen Glottoplytten auszuliefern. »Ich gehe vor, einverstanden?« »Aber ... aber wie?«, stammelte Piri. »Woran willst du denken?« »Ich denke an Elfenauge«, sagte er. Ja, der Gedanke an seinen Schmetterling war ihm in den letzten Stunden auch 203
schon des Öfteren gekommen. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. »Und wenn ich mit Elfenauge diese ekligen Silbenschwärme bannen kann, dann kannst du es auch.« Doch Nadil hatte sich wohl etwas zu optimistisch in dieses Abenteuer gestürzt. Kaum war er ein Stück Wegs gegangen, da sauste es schon wieder los: Elfenauge, weifensauge, delfen, delphin, schnellphin, grelldien, snellquiem, prellsien, prellsen, knellsen ..., schoss es ihm mit einer Geschwindigkeit durch den Kopf, dass ihm sogleich schwindelig wurde. Und was noch schlimmer war: Auf einmal verlor er den Boden unter den Füßen, begann in der Luft zu schweben und kam überhaupt nicht mehr vom Fleck. »Hilfe, Hilfe, Piri, hilf mir«, schrie er verzweifelt. Trinkbier, findihr, klingsehr, sehrschwer ..., klingelte es überall um ihn herum – und er wäre gewiss ohnmächtig geworden, wenn er nicht einen Stoß gespürt hätte, der ihn plötzlich unsanft zurück und dann zur Erde befördert hätte. Piri schaute ihn triumphierend an und zog sich die Finger aus den Ohren. »Siehst du!«, rief er. »Es ist sinnlos. Noch eine Minute länger, und du wärst davongeflogen.« Nadil rappelte sich auf. Er war benommen, doch er wollte sich keineswegs geschlagen geben. »Ich lasse mich doch nicht von ein paar verrückten Silben ins Bockshorn jagen«, stieß er zwischen einigen schweren Atemzügen hervor. »Diese Glottoplytten sind nichts anderes als ein erzgemeines Echo.« Er konnte sich kaum beherrschen vor Wut. So kurz vor dem Ziel sollten sie scheitern? »Die sollen mich kennen lernen«, rief er aus. »Da bin ich aber mächtig gespannt«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Nadil und Piri fuhren herum. Und im ersten Augenblick glaubten sie zu träumen. Das konnte doch nicht sein! Sie 204
rieben sich die Augen. Doch dann entfuhr Nadil ein solcher Freudenschrei, dass selbst Pandarax auf seinem Grenzturm ihn gehört haben musste. Denn auf einem Felsvorsprung nur einen Steinwurf von ihnen entfernt stand kein Geringerer als Saru Maramor! Doch im gleichen Augenblick geschah etwas Entsetzliches. Ein furchtbares Gebrüll hob an. Der Freudenschrei blieb Nadil in der Kehle stecken. Piri fuhr erschrocken herum. Was bei allen Zyklopen war denn das? Zwei dunkelbraune Schatten rasten auf sie zu. Ein furchterregendes Fauchen eilte ihnen voran. Wo kamen diese Bestien her? Direkt aus der Wüste? Und was für Ungeheuer waren das nur? Gelähmt vor Angst schaute Piri auf die heranschießenden Leiber, die mächtigen Tatzen, die aufgerissenen Rachen mit den gezackten Reißzähnen. 0 Graus! Was schwebte da über ihnen in der Luft? Ein grauenerregender Stachel, der in wenigen Augenblicken auf sie niederfahren würde. »Nadil ...«, stammelte Piri und wich zurück. Aber Nadil stand wie festgenagelt und starrte den Bestien entgegen. Sie waren verloren. Iblisse!, durchfuhr es Piri jetzt wie ein Peitschenschlag. Das mussten Iblisse sein! Seine Lippen begannen zu zittern. »Nadil«, sagte er noch einmal. Vor Angst schwanden ihm die Sinne. Das Letzte, was er wahrnahm, war ein brennender Schmerz auf seiner Brust. Die Klauen der Bestie hatten sich durch sein Hemd gebohrt. Gleich würde der Skorpionstachel auf ihn niederfahren! Doch dann erschallte eine mächtige Stimme – Sarus Stimme, deren durchdringender Ton laut und klar die Wüstenluft durchschnitt: »Samech caphiod Silandor ... Samech caphiod Silandril...«
205
\8\ »Wie konntest du die Schmetterlinger vergessen«, zischte Forcas und starrte Janaël mit blitzenden Augen an. »Wir hatten doch ausgemacht: Alle Flügelphantásier müssen vernichtet werden. Alle!« Janaël schaute missmutig zu Boden und versuchte erst gar nicht seinen Fehler zu rechtfertigen. Er hatte die Schmetterlinger einfach übersehen. Sie hatten ja auch selbst keine Flügel, sondern ritten nur auf harmlosen Wesen herum, die welche besaßen. Er hatte sich auf geflügelte Phantásier konzentriert, auf Nachtalben, Elfen, Feen, Glücksdrachen und dergleichen. An die dummen Falter hatte er überhaupt nicht gedacht. Wie sollten diese niederen Wesen ihnen denn gefährlich werden? Schmetterlinge waren doch so harmlos wie Himbeergnitzen. Aber Forcas hatte natürlich Recht: Diejenigen, die auf den Schmetterlingen herumflogen, konnten ihnen durchaus gefährlich werden. Ein bedauerliches Versehen. Aber er würde das wieder gutmachen. »Dieser Elfenauge ist gestoppt worden«, sagte er tonlos. »Die Quäldrohnen haben ganze Arbeit geleistet. Noch weiß niemand, was wir vorbereiten. Und dabei wird es auch bleiben.« Forcas erhob sich und ging einige Schritte auf und ab. »Und die Eindringlinge in Silandor?«, raunzte er. »Was ist mit ihnen? Hast du sie gefunden?« Janaël ballte die Hände in seinen Taschen zusammen, ließ sich jedoch nichts von seiner Unsicherheit anmerken. »Die Sache ist erledigt«, sagte er in entschiedenem Tonfall. »Ich habe ihnen ein Kommando hinterhergeschickt, das mich noch nie enttäuscht hat. Wir können diese Schmetterlinger getrost vergessen.« Forcas durchbohrte ihn geradezu mit seinem Blick. »Was 206
macht dich so sicher, Janaël? Hast du ihre Leichen dabei? Wo ist der Kopf von diesem Saru, hm?« »Ich fürchte, diejenigen, die ich auf ihn angesetzt habe, werden nicht einmal das von ihm übrig lassen. Forcas, ich bitte dich, zwei meiner besten Iblisse jagen diese Schmetterlinger. Ein Iblis könnte Hunderte von ihnen vernichten, bevor du diese Höhle durchmessen hast. Sie haben überhaupt keine Chance. Du kannst beruhigt sein. Lass uns lieber besprechen, wie es weitergehen soll. Wo stehen deine Truppen?« Aber Forcas war nicht so leicht zu beruhigen. »Du machst zu viele Fehler, Janaël«, sagte er drohend. »Bisher hat Jiinn-Garagor alle Fehler begangen«, entgegnete Janaël kühl. »Und es war deine Idee, die Stierwächter zu unseren Verbündeten zu machen, Forcas. Ich war von Anfang an dagegen, weil ich sie für zu dumm hielt.« »Wir hätten alles von Anfang an allein machen sollen«, knurrte Forcas mit schmalen Lippen. »Ich hasse alle Phantásier. Wir hätten uns niemals auf einen von ihnen verlassen sollen.« Janaël schüttelte den Kopf. »Wir benötigen sie, um sie zu zerstören«, sagte er. »Und es wird uns gelingen. Wir dürfen jetzt nur nicht die Nerven verlieren, Forcas. Sag mir bitte, wie lange brauchst du, um die letzten Völker auszuschalten?« Forcas setzte sich wieder hin und schien sich allmählich zu beruhigen. »Wir haben Garsiran, wir haben Pandriel. Jetzt müssen wir also auch noch Nevisehr nehmen, was ich nicht geplant hatte. Das wird die ganze Sache um einige Wochen verzögern. Ich muss die Gegend auskundschaften, einen Angriffsplan erarbeiten und die eigentliche Arbeit erledigen. Wie groß ist dieses Volk der Schmetterlinger überhaupt?« »Einige tausend sind es schon«, antwortete Janaël. »Und die Schmetterlinge? Wohnen sie auch in Nevisehr?« 207
Janaël fluchte innerlich. Warum hatte er Nevisehr nur übersehen? »Ich weiß es nicht«, sagte er, »aber ich werde Quäldrohnen losschicken, um es herauszufinden ...« »Gar nichts wirst du«, schnitt Forcas ihm das Wort ab. »Die Quäldrohnen bleiben von jetzt ab, wo sie sind: gut verborgen hier in dieser Schlucht. So ein Leichtsinn, sie jetzt schon einzusetzen.« »Aber immerhin haben sie diesen Elfenauge erwischt, bevor er entdecken konnte, was in Garsiran geschehen ist«, verteidigte sich Janaël. »Das mag ja sein«, fuhr Forcas ihn an. »Aber es ist trotzdem zu riskant. Wenn Iblisse gesehen werden, ist es schon schlimm genug. Aber eine Quäldrohne – das wird alle Flügelphantasier in helle Aufregung versetzen. Ich will sie mir für den großen Schlag aufheben. Das ganze Heer auf einmal. Wir treiben die letzten Flügelvölker zusammen, und dann schlagen wir zu. Verstehen wir uns?« Janaël nickte. »Du bist der Anführer, Forcas«, sagte er unterwürfig. »Jawohl, das bin ich«, sagte Forcas und schnaubte. »Aber dir ist es doch genauso wichtig wie mir, dass wir diese Sache endlich zu Ende bringen. Erinnerst du dich nicht, wie oft wir darüber gesprochen haben, wann sich endlich eine Chance bieten wird? Jetzt stehen wir kurz davor, unseren Traum zu erfüllen, Janaël. Wir dürfen uns nur keinen Fehler mehr erlauben.« Janaël nickte stumm. Er wusste ja, dass Forcas Recht hatte. Das Vorhaben war so gewaltig. Sie durften einfach kein Risiko eingehen, dass jetzt noch etwas dazwischenkam. Sie waren kurz vor dem Ziel. Silandor war so weit zerstört, wie es in ihrer Macht stand. Und bald würde es auch keinen Flügelphantasier mehr geben, der in die geräuschlosen Wei208
ten des Himmels entkommen konnte, um sich ihrem Machteinfluss zu entziehen. Nein, bald hätte die Angst vor dem Nichts alle Wesen Phantásiens in die Falle von Mangarath gelockt. Und dann war Phantásien verloren. Das wusste er. Und sie wären endlich befreit. Endlich würden sie ihre Allmacht und Würde zurückgewinnen und niemals wieder solch ein kümmerliches Dasein fristen müssen, zu dem Aratron sie immer gezwungen hatte. Nein, dachte Janaël. Bis zu seinem letzten Atemzug würde er kämpfen, um endlich frei zu sein.
\9\ »Samech caphiod Silandor ... Samech caphiod Silandril!« Sarus Stimme dröhnte durch die Wüste. Nadil hatte die furchtbaren Bestien heranstürmen sehen. Eine von ihnen hatte sich bereits auf Piri gestürzt, während die andere zum Sprung auf ihn selbst angesetzt hatte. Doch da wurde plötzlich der Himmel über ihnen so strahlend weiß, so hell und lichtdurchflutet, dass die Ungeheuer innehielten und verwirrt um sich blickten. Sarus Stimme erklang erneut. »Samech caphiod Silandor... Samech caphiod Silandril«, rief er laut und deutlich. Und da brach auf einmal ein solches Lichtgewitter über ihnen los, dass Nadil Hören und Sehen verging. Eine grelle Explosion blendete ihn. Dann wurde er von einer mächtigen Kraft erfasst und einige Meter weit weggeschleudert. Sein Hinterkopf schlug gegen einen Stein, aber was war das schon gegen die ungeheure Energie, die überall um ihn herum in der Luft vibrierte? Windstöße sausten über ihn hinweg. Aber nein, das war kein Wind. Denn zugleich schien alles um ihn herum in eine lähmende Langsamkeit, in 209
völlige Stille getaucht zu sein. Wieder fühlte er sich hochgehoben. Und dann zerriss ein weiterer Lichtblitz den Himmel, so gleißend, dass er ernsthaft befürchtete, im nächsten Augenblick würden ihm die Augen verbrennen. Doch zugleich war gar nichts zu sehen. Nadil schauderte. Welch rätselhafte Kraft hatte Saru da entfesselt? Wo war er jetzt überhaupt? Und was war mit Piri? Aber er konnte nichts sehen. Er war ein Spielball dieser lautlosen Explosionen um ihn herum. Er konnte nichts tun, als sich ihnen ergeben, ganz gleich, wohin sie ihn trugen. Er sah nichts, hörte nichts. Er spürte nur die Anwesenheit von etwas, das so riesenhaft und kolossal war, dass jegliche Gegenwehr sich erübrigte. »Samech caphiod Silandor ... Samech caphiod Silandril!« Immer wieder erklangen die fremdartigen, beschwörenden Worte. Und das lautlose Lichtbrausen um ihn herum nahm noch immer zu, schloss ihn ein in einen Wirbel aus solcher Helligkeit, dass er selbst schon wie ein brennendes Licht seine Gestalt zu verlieren drohte. Was geschah mit ihm? Dann spürte er eine heftige Bewegung. Etwas schleuderte ihn weit in die Luft hinauf. Tief unter sich sah er die beiden dunkelbraunen Schatten in unterschiedliche Richtungen davonschießen. Dann verlor auch er das Bewusstsein. \ Als Nadil wieder zu sich kam, war es tiefe Nacht. Er lag auf etwas Weichem. Er öffnete die Augen und sah über sich eine feucht schimmernde Fläche. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er offenbar in einer Höhle lag. Irgendwo brannte ein Feuer. Er konnte es knacken hören und roch auch den Rauch. Er versuchte den Kopf zu heben, doch es gelang ihm 210
nur mit großer Mühe. Er erkannte, dass Piri neben ihm lag, gleichfalls in dicke Decken eingewickelt. Sein Freund schien noch zu schlafen. Jedenfalls rührte er sich nicht. Vor dem Feuer saß gebückt eine Gestalt und stocherte mit einem Stock in der Glut herum. Nadil musste lächeln. Es war Saru, dachte er, und ein Glücksgefühl durchfuhr ihn. Saru, wollte er rufen. Aber seine Stimme versagte den Dienst. Sein Großvater schien jedoch bemerkt zu haben, dass er sich bewegt hatte. Er drehte sich zu ihm um, schaute ihn an und lächelte gleichfalls. »Warte noch einen Augenblick, bevor du zu sprechen versuchst«, sagte er freundlich. »Von solch einer Begegnung, wie du sie hinter dir hast, muss man sich gründlich erholen.« Nadil ließ den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. Dann spürte er, dass seine Kräfte allmählich zurückkehrten. Er wartete noch eine Weile, versuchte dann erneut aufzustehen, und diesmal gelang es ihm. »Willkommen, Nadil«, sagte Saru und erhob sich gleichfalls. »Da haben wir ja gerade noch mal Glück gehabt. Um ein Haar hätten diese Iblisse euch erwischt. Habt ihr denn nicht gemerkt, dass sie euch verfolgt haben?« Nadil schüttelte verwirrt den Kopf. Iblisse? Verfolgt? Er verstand überhaupt nichts. Saru umarmte ihn und schlug ihm dann auf die Schultern. »Hauptsache, du bist hier. Ich hatte ehrlich gesagt gar nicht mehr damit gerechnet, dass sich noch jemand auf den Weg machen würde, um mir zu helfen. Aber du bist gekommen.« »Wo sind wir hier?«, fragte Nadil. »Und wo sind diese Bestien?« »Die Iblisse?« Saru drehte sich wieder um und legte ein paar Zweige ins Feuer. »Aratron ist uns zu Hilfe gekommen. Für diesmal hat er sie noch verjagen können. Aber wenn wir 211
nicht bald einen Weg finden, Phantásien zu befreien, dann werden wir diesen Ungeheuern irgendwann völlig ausgeliefert sein. Auch mir sind noch nicht alle Zusammenhänge klar. Aber jetzt werden wir es schon schaffen. Ach, ich bin wirklich froh, dass ihr gekommen seid.« Ein leises Rascheln ließ Nadil herumfahren. Aber es war nur Piri, der ebenfalls erwacht war und sich aufgerichtet hatte. »Wo bin ich«, fragte er und sah verwirrt um sich. »In Sicherheit«, beruhigte ihn Saru. »Komm ans Feuer, damit ihr mir in Ruhe erzählen könnt, was euch bisher alles zugestoßen ist. Wie steht es in Mangarath?« Nadil und Piri hatten zwar selbst viele Fragen, aber Saru bestand darauf, als Erstes zu erfahren, was seit seiner Flucht in Mangarath alles geschehen war. Die beiden berichteten, was sie wussten. Saru hörte aufmerksam zu. Manchmal zuckte er mit den Mundwinkeln oder schüttelte missbilligend den Kopf. Ein anderes Mal, als er etwa erfuhr, wie sie aus Silandor entkommen waren, da leuchteten seine Augen stolz, nur um sich gleich wieder zu verdüstern, als sie die Trümmer der Flügelphantásier erwähnten. Sarus Turban vibrierte oft vor Freude oder Zorn, je nachdem, welche Episode Nadil oder Piri ihm schilderten. Der Großvater war zwar immer noch eine beeindruckende Erscheinung mit seinem schön bemalten Gesicht und dem bunten Reisemantel. Doch als Nadil genauer hinsah, erkannte er, dass seine Gestalt nur von einem starken Willen getragen wurde, der in seinen Augen leuchtete. Wenn dieser Glanz bisweilen erlosch, sah man, dass er es eigentlich verdient hätte, mit Mütze und Pantoffeln an einem schönen, warmen Kaminfeuer zu sitzen und seine müden Glieder auszuruhen, anstatt sich wie ein einsamer Sucher in der Wüste von Mangarath mit Glottoplytten und Pensaren herumzuschlagen. 212
»Das habt ihr großartig gemacht«, sagte Saru endlich. »Jetzt werden wir es schaffen, ins Land der Leere zu gelangen, um herauszufinden, wie wir Silandor befreien können.« »Aber warum bist du denn ganz allein aufgebrochen?«, fragte Nadil. »Weil ich niemandem mehr trauen konnte. Die üble Wirkung von Mangarath breitet sich doch überall aus. Und sollte ich meine Zeit damit verschwenden, Glückssänger und selig dahintaumelnde Besucher des Geräuschdoms zu packen und zu schütteln, damit sie endlich aufwachten? Dafür ist gar keine Zeit mehr. Wir müssen Phantásien retten. Ich weiß auch noch nicht, wie, aber die Antwort muss im Land der Leere zu finden sein. Also müssen wir Balang-Gir überqueren und ins Land der Leere gehen.« »Weißt du denn, wie wir dort hinkommen können?«, fragte Piri. »Ja, ich glaube schon. Allerdings weiß ich nicht, wie es dann weitergehen soll. Denn seht ihr, das Land der Leere ist wirklich leer. Man kann sich dort nichts vorstellen. Gar nichts. Deshalb habe ich bisher auch gezögert, allein dorthin aufzubrechen, denn wenn ich im Land der Leere verschwinde, ist ja auch niemandem gedient.« Saru wurde plötzlich still und schaute traurig in den Himmel hinauf. »Phantásien ist in einem furchtbaren Zustand«, sagte er dann mit belegter Stimme. »Irgendetwas ist geschehen, das zu den merkwürdigsten Erscheinungen führt, für die niemand eine Erklärung hat. Und niemand will sich darum kümmern. Alle haben solche Angst.« »Aber von welchen Erscheinungen sprichst du?«, fragte Nadil und schaute bekümmert in Sarus sorgenvolles Gesicht. »Ihr wisst ja wohl noch, dass vor einigen Jahren das Nichts in Phantásien gewütet hat, oder?«, fragte Saru zurück. 213
Nadil und Piri nickten. Die ganzen Geschichten, die sich um das Nichts rankten, kannten sie zwar nur vom Hörensagen, aber sie wussten, dass es eine furchtbare Bedrohung gewesen war, der erst in letzter Minute Einhalt geboten werden konnte. »Schon bald nachdem das Nichts besiegt worden ist, sind mir merkwürdige Gerüchte zu Ohren gekommen. Es hieß, in einem der Grenzgebiete Phantásiens sei es zu einem schrecklichen Zwischenfall gekommen. Ich war natürlich neugierig und wollte Genaueres wissen, aber niemand kannte die Einzelheiten. Ja, ich konnte nicht einmal feststellen, woher das Gerücht überhaupt gekommen war.« »Aber was besagte denn das Gerücht?«, fragte Piri. »Es besagte, dass in Sirinn-Elial das Ende Phantásiens begonnen habe.« Die beiden Jungen schauten Saru erschrocken an. SirinnElial, dachte Nadil. Bei ihrer letzten Begegnung in Nevisehr hatte der Großvater diese Region erwähnt, aber er hatte ihm nicht erzählt, weshalb von Sirinn-Elial eine so furchtbare Gefahr ausging. Saru fuhr fort: »Niemand wusste etwas Genaues, aber ich traf doch immer wieder Phantásier, die auch davon gehört hatten. Doch niemand nahm das Gerücht wirklich ernst. Das war auch verständlich, denn gerade erst war ja der furchtbare Schatten des Nichts gewichen. Die Freude darüber war so groß, dass niemand auf den Gedanken kam, im gleichen Augenblick könnte eine noch viel größere Bedrohung entstanden sein. Ich glaubte es ja selbst nicht so recht. Aber das Gerücht ließ mir keine Ruhe. Daher machte ich mich auf nach Sirinn-Elial.« »Aber wo ist Sirinn-Elial?«, fragte Nadil. »Sirinn-Elial ist das südliche Grenzgebiet Phantásiens. So 214
wie im Westen Balang-Gir Phantásien gegen das Land der Leere abgrenzt, so beginnt hinter Sirinn-Elial das Land des Namenlosen. Kaum ein Phantásier ist jemals dort hingelangt. Ja, ich glaube, es ist überhaupt noch niemand von uns dort gewesen. Aber das Gerücht kam von dort. Also machte ich mich auf den Weg dorthin. Und je näher ich Sirinn-Elial kam, desto stärker wurde meine Überzeugung, dass das Gerücht zutraf. Denn was ich entdeckte, war zutiefst verstörend.« Saru unterbrach sich, und auf seinem Gesicht war leicht abzulesen, was in ihm vorging. Er war völlig aufgewühlt. »Aber was hast du entdeckt«, fragte Piri ungeduldig. Auch Nadil lauschte jetzt atemlos. Sarus Stimme zitterte, als er weitersprach: »Phantásien verdoppelt sich. Es ist so unheimlich, dass ich es gar nicht richtig beschreiben kann. Aber so ist es. Seit die Stierwächter das Nichts besiegt haben, verdoppelt sich alles. Zunächst glaubte ich zu träumen. Aber als ich sogar an einer Kopie des Elfenbeinturms vorbeikam, da konnte es einfach kein Traum mehr sein.« »Ein zweiter Elfenbeinturm?«, fragte Piri erstaunt. »Ja«, bekräftigte Saru, »je weiter ich bei meiner Reise nach Sirinn-Elial herumkam, desto öfter fand ich mich an Orten wieder, die genauso aussahen wie andere Orte, an denen ich zuvor gewesen war. Sie waren nicht identisch, es gab schon geringfügige Unterschiede, aber immer öfter fand ich fast alles genauso vor, wie ich es einige Monate zuvor in einem ganz anderen Teil von Phantásien schon einmal gesehen hatte. Die gleichen Geschöpfe, die gleichen Bauwerke, die gleiche Szenerie. Und wisst ihr, was noch merkwürdiger war?« Die beiden schüttelten die Köpfe. »Vergesslichkeit griff überall um sich. Mehr und mehr 215
Phantásier, denen ich begegnete, erinnerten sich nicht mehr daran, wer sie waren.« »Pandarax«, sagte Piri leise. »Ja. Der ist auch so ein Fall«, bestätigte Saru. »Aber es ist überall so. Man bemerkt es nur, wenn man sich so viel durch Phantásien bewegt wie ich. Dann aber es ist offensichtlich. Überall gibt es plötzlich Nachbildungen von etwas, das es vorher nur einmal gegeben hat. Früher gab es überhaupt nichts zweimal. Phantásien war so mannigfaltig, so unendlich vielgestaltig. Aber irgendetwas Merkwürdiges ist geschehen.« Er schaute verstört vor sich hin. Dann fügte er hinzu: »Es gibt immer weniger und davon immer mehr. Alles ähnelt sich. Ich machte mir große Sorgen und nahm mir vor, die Kindliche Kaiserin aufzusuchen. Aber selbst das war auf einmal nicht mehr möglich.« »Nicht möglich?«, rief Nadil aus. »Warum denn? Jeder darf doch zur Kindlichen Kaiserin gehen? Oder ist das seit neuestem auch schon verboten?« »Nein, verboten ist es nicht. Aber die Frage ist: Zu welcher Kindlichen Kaiserin sollte ich gehen, wenn es plötzlich zwei gibt, die in zwei Elfenbeintürmen sitzen, jede von einem Hofstaat umgeben ist und behauptet, die wahre Herrscherin Phantásiens zu sein?« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Mittlerweile glaube ich sogar, dass alle beide falsch sind.« Jetzt verschlug es Piri und Nadil endgültig die Sprache. Das war ja richtig unheimlich. »Irgendetwas Schlimmes war passiert«, fuhr Saru traurig fort. »Wenn zwei Kindliche Kaiserinnen existierten, gab es vielleicht auch noch irgendwo eine dritte? Doch welche war die Richtige? Wo war sie nur hingekommen? Sie musste doch auch noch irgendwo existieren. Ich war so verzweifelt, dass 216
ich beschloss, Gaya von Raginor zu befragen, ihr wisst schon, das Baumorakel vom Anfang der Welt.« Die beiden nickten stumm. Ja, davon hatten sie schon gehört, wenn es auch für ihre Ohren genauso sagenumwoben klang wie die Schlucht der Sirenen, aus denen die Summsteine für die Klangthermen geholt worden waren. Gaya von Raginor, das Weltorakel! Wo war Saru in seinem langen Leben eigentlich nicht gewesen? Und er hatte den Mut aufgebracht, sie zu befragen! Dabei wusste jeder in Phantásien: Wer Gaya eine Frage stellte, setzte sich der Gefahr aus, in einen Baum verwandelt zu werden, falls Gaya die ihr gestellte Frage als unwichtig erachtete. Der riesige Wald um sie herum zeugte ja von diesen Fragern, die allesamt viele Meilen nach Raginor gereist waren, um eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten. Viele unglückliche Liebende waren darunter, verzweifelte, des Lebens überdrüssige Wahrheitssucher, die allen Warnungen zum Trotz zu Gaya gegangen waren. Gaya beantwortete nur Fragen, deren Antworten man nicht in sich selbst finden konnte, und davon gab es nicht viele. Wer also keine echte Frage zu stellen hatte, der büßte seinen Frevel, das Orakel beleidigt zu haben, indem er in einen Stein, einen Busch oder einen Baum verwandelt wurde. »Ich hatte natürlich große Angst«, fuhr Saru fort, »als ich Gaya gegenüberstand, denn ich habe so manchen gekannt, der in Raginor als Baum geendet ist. Gaya stand da, wie sie seit Tausenden von Jahren in Raginor steht, ihr mächtiger Stamm tief in der Erde verwurzelt.« »Und welche Frage hast du ihr gestellt?«, wollte Piri wissen. »Ich fragte sie, warum sich in Phantásien alles verdoppelt.« »Und was hat sie dir geantwortet?« 217
Sarus Augen wurden matt vor Trauer. »Sie schwieg lange. Fast einen ganzen Tag lang hörte ich nur das geheimnisvolle und Trost spendende Rascheln des Windes in den Blättern ihrer riesenhaften Krone. Und dann geschah etwas Seltsames: Gaya begann sich zu verwandeln. Und dabei flüsterte sie kaum hörbar ihren letzten Orakelspruch. Ich wusste freilich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dies ihre letzte Weissagung sein würde, denn ich hatte höchstens damit gerechnet, selbst in einen Baum verwandelt zu werden. Niemals hätte ich gedacht, dass meine Frage ... ja, dass meine Frage Gaya selbst verwandeln, sie verschwinden lassen würde.« Piri und Nadil rissen die Augen auf. »Aber ... ist sie ... nicht mehr da?«, stammelte Piri nach einer Weile. Saru schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist weg. Schon seit vielen Monaten.« »Und außer dir und Jiinn-Garagor weiß niemand davon?«, rief Nadil. »Nein«, bestätigte Saru. »Denn auch sie hat sich mittlerweile verdoppelt. Eine Kopie Gayas ist wenig später auf den Nebelinseln entstanden. Es ist genauso wie mit dem Elfenbeinturm und der Kindlichen Kaiserin.« Er legte etwas Holz nach. »Als das Nichts nach Phantásien kam, verschwanden die Dinge, weil das Nichts sie verschluckte«, sagte er. »Jetzt verschwinden die Dinge nicht, indem sie verschwinden, sondern indem sie sich verdoppeln. Ich habe keine Erklärung dafür.« »Aber wie lautete denn die letzte Prophezeiung des Orakels von Raginor?«, fragte Piri mit angehaltenem Atem. Saru schloss die Augen und rezitierte den Spruch aus dem Gedächtnis:
218
Das Nichts ist in allen Gestalten. In der Leere ist alles enthalten. Wer sie fürchtet, vergeht, Wer dort eingeht, entsteht Und wird Phantásien erhalten. »Und weiter?«, fragte Nadil nach einer Pause. »War das alles?« Saru nickte. »Ja. Mehr sagte Gaya nicht. Aber ihre Verwandlung begann. Ein helles Licht begann aus ihr herauszufließen. Ich war geblendet und spähte zwischen meinen Fingern hindurch, aber ich konnte einfach nichts erkennen. Und dann schwanden mir die Sinne. Ich kann es überhaupt nicht erklären. Ich war bewusstlos, doch wie im Traum sah ich plötzlich eine merkwürdige Gestalt vor mir. Sie war doppelt so groß wie ich. Ihr Körper war gewaltig. Das Wesen besaß vierundzwanzig Schwingen, die es eine nach der anderen aufrichtete, so dass ich fast glaubte, einem Drachen oder Greif gegenüberzustehen. Sein Gesicht war schrecklich und furchterregend, doch zugleich strahlte es eine grenzenlose Milde aus. Ich habe niemals vorher ein Gesicht gesehen, das mir zugleich solche Furcht und solchen Trost geschenkt hat. Dieses gewaltige Wesen hätte mich mit einem Wimpernschlag vernichten können, das spürte ich. Aber zugleich war ich mir sicher, dass es mir nichts tun würde. Außerdem träumte ich ja. Ich war mir sicher, dass ich träumte. Und dennoch erlebte ich alles, als wäre ich wach. Ich spürte, dass diese Gestalt etwas von mir wollte. Sie wollte mir etwas sagen, aber aus irgendeinem Grund war das nicht möglich. Ich sah, dass sie gleich wegfliegen würde, und flehte sie an, mir zu sagen, was ich tun sollte und was der Orakelspruch zu bedeuten hatte. Doch das fremde Wesen sprach unsere Sprache nicht mehr. Es redete in Zungen, die ich noch nie gehört hatte. Ich 219
vernahm Wörter, aber ich hatte keine Ahnung, was sie bedeuten sollten. ›Toth Aratron‹, verkündete das Wesen mit donnernder Stimme und richtete seine Schwingen auf. Ich vermutete, dass dies sein Name war. Aber sonst verstand ich nichts.« »Aber was hat die Erscheinung denn sonst noch gesagt?«, wollte Piri wissen. Saru schüttelte den Kopf. »Ich darf den Satz nicht laut wiederholen, denn ihr habt ja gesehen, welche Wirkung das hat.« »Du meinst«, fragte Nadil, »wenn du diesen Satz sagst, dann kommt dieser Aratron und macht solch ein Lichtgewitter, das die Iblisse vertrieben hat?« »Ja«, antwortete Saru. Dann nahm er einen Zweig zur Hand und schrieb in den Staub: »Samech caphiod Silandor. Samech caphiod Silandril.« Nadil und Piri buchstabierten die Worte stumm. Dies war also die mächtige Formel, die jenen Aratron herbeirufen konnte. Das war ja gewaltig! Diese Worte hatten ihnen heute das Leben gerettet. »Und was geschah, nachdem Gaya sich in diesen Aratron verwandelt hatte?«, fragte Piri atemlos. Saru verwischte sorgfältig die in den Staub geschriebenen Worte. »Ein unglaubliches Gefühl überkam mich, als wäre alles um mich herum zugleich da und verschwunden. Das Licht vor mir wurde so intensiv, so hell, dass ich überhaupt nichts mehr erkennen konnte, und irgendwann muss ich gänzlich ohnmächtig geworden sein.« »Genauso wie wir vorhin?« »Ja. Und als ich wieder zu mir kam, war die Stelle, an der Gaya gestanden hatte, leer. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Orakelspruch war mir ein Rätsel. Von der Rede des fremden Wesens waren mir nur sein Name und ein Wort in 220
Erinnerung geblieben: Silandor. Davon hatte ich schon einmal gehört. Silandor, das war der alte Name Mangaraths. Sollten die Wächter von Mangarath den Schlüssel zu diesen merkwürdigen Vorgängen haben?, fragte ich mich. Und so ging ich nach Mangarath, um herauszufinden, ob dort nicht jemand über diese ganze Angelegenheit etwas wusste.« Saru machte eine Pause, beugte sich vor und schaute zum Himmel hinaus. Die Erinnerung schien ihm unangenehm zu sein, denn er legte seine Stirn in tiefe Falten, presste die Lippen aufeinander und brauchte eine ganze Weile, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Nadil und Piri rückten näher an das Feuer heran. Die Kühle der Nacht drang in die Höhle. Offenbar würde es eine längere Geschichte werden, die sie gleich zu hören bekamen.
\ 10 \ »Ich ging nach Mangarath und dort zu Jiinn-Garagor, denn ich hatte damals noch großen Respekt vor den Stierwächtern und vertraute ihm. Aber das sollte mir übel bekommen. Er hörte sich meine Geschichte an. Dann schlug er mir anerkennend auf die Schulter, beglückwünschte mich, dass ich gleich zu ihm gekommen war, und sagte, ich könne mich glücklich schätzen, diesem schrecklichen Flügelphantásier entkommen zu sein. Ja, er könne gar nicht glauben, dass Gaya von Raginor, die solch ein hohes Ansehen in Phantásien genossen hatte, einem unbekannten Betrüger als Maske gedient haben sollte. Aber das bestätige nur, dass man enorm auf der Hut sein müsse vor gefährlichen Fremden, die in Phantásien ihr Unwesen trieben. Ich war ein wenig verwundert über Jiinn-Garagors Reak221
tion. Von was für gefährlichen Fremden er denn spreche, fragte ich ihn. Da behauptete er, es seien noch immer die Kräfte am Werk, die das Nichts nach Phantásien hereingelassen hätten. Ja, er habe sogar Gerüchte über eine regelrechte Verschwörung gegen Phantásien gehört, und man könne gar nicht vorsichtig genug sein. Das Nichts lauere überall, und nur sie, die Stierwächter, könnten uns davor schützen.« Eine Verschwörung gegen Phantásien? Nadil und Piri schauten sich ratlos an. Aber Sarus Gesichtsausdruck war so ernst geworden, dass die beiden sich nicht trauten, irgendwelche törichten Fragen zu stellen. Ja, der alte Mann wirkte plötzlich regelrecht angsteinflößend auf sie. Denn was er da vor ihnen darzulegen begann, war einfach ungeheuerlich. »Phantásien«, so fuhr Saru fort, »ist schon immer der Spielball von Kräften gewesen, die wir selbst wohl nie ganz begreifen werden. Wir wissen nicht, warum wir da sind und wer unser Schicksal lenkt. Wir wissen nur, dass die Menschen eine gewisse Macht über uns haben. Doch das ist nicht alles. Es gibt noch eine andere Macht, die um uns herum wirkt. Aber sie hat kein Gesicht und keinen Namen. Von ihr wissen wir nur, dass sie bisweilen Boten nach Phantásien schickt, die hier irgendwelche Aufträge erfüllen.« Saru schwieg einen Augenblick lang, als sei ihm gerade etwas Wichtiges zu dieser ganzen Sache eingefallen, aber dann fuhr er fort, ohne den beiden jungen Schmetterlingern, die ehrfürchtig an seinen Lippen hingen, einen Hinweis auf seine Gedanken zu geben: »Merkwürdigerweise gibt es viele Berichte über diese Boten, aber gleichzeitig heißt es, sie könnten in Phantásien keine Gestalt annehmen, ohne zu sterben. Schon in den ältesten Chroniken Phantásiens tauchen sie auf. Man nennt sie dort Malak oder Malachim. Manche Gelehrte behaupten sogar, 222
diese Malachim hätten Phantásien erschaffen. In der berühmten Ahasva-Chronik, die im Silbergebirge aufbewahrt wird, ist eine Geschichte überliefert, wonach ein Streit unter den Malachim zur Gründung Phantásiens geführt haben soll. Diese Geschichte wird in der späteren Chronik von Qualumpur anders erzählt. Dort steht nämlich, eine namenlose Macht habe Phantásien erschaffen, weil ein Teil der Malachim sich mit den Menschen verbündet hatte, um die namenlose Macht zu vernichten. Ich gebe diese Geschichten hier natürlich nur in groben Zügen wieder, denn sie sind ja, wie alle Chroniken Phantásiens, in Tamarind-Versen geschrieben, die bekanntlich sehr schwer zu lesen sind. Tatsache ist, dass die Malachim mit Phantásien in die Weltgeschichte eingetreten sind, aber wohl auch vorher schon da waren. Daher gehören sie eigentlich nicht nach Phantásien, sondern sind mit der namenlosen Macht verbunden, von der wir überhaupt nichts wissen.« Saru atmete tief durch und gab seinen Zuhörern so Gelegenheit, eine Frage zu stellen, aber die beiden waren wie verzaubert von seinen Ausführungen. Beim Glanz der Kindlichen Kaiserin, dachte Nadil, wo sollte diese Geschichte sie denn noch hinführen? »Die Rolle der Malachim in der Geschichte Phantásiens ist kaum zu rekonstruieren, denn jede Epoche hat eine andere Haltung ihnen gegenüber eingenommen. Mal wurden sie verehrt als Boten des Lichtes, dann wieder hieß es, sie seien mit bösen Mächten im Bunde, und man fürchtete sie. Es soll Epochen gegeben haben, da lebten Tausende, ja Millionen von Malachim in Phantásien. Ganze Heere gab es angeblich, die in fernen Provinzen erbitterte Schlachten gegen grässliche Ungeheuer führten, die damals Phantásien unsicher machten. Doch dann verschwanden sie wieder und ließen Phantásien 223
im Stich, was dazu geführt hat, dass sie in manchen Überlieferungen den Ruf von Handlangern des Bösen bekommen haben. Doch ich schweife ab. Irgendwann wird jemand diese Geschichte vielleicht einmal erzählen, aber ich muss mich jetzt auf die Episode von Mangarath und Silandor beschränken.« Er blickte seine beiden Zuhörer scharf an, als wolle er sich vergewissern, dass sie ihm auch aufmerksam lauschten. Dann fuhr er fort: »In der Zeit, als das Nichts Phantásien heimsuchte, wurde im ganzen Reich nach der Ursache dafür gesucht. Manche folgten der Kindlichen Kaiserin, die ja prophezeit hatte, nur ein Menschenkind, das einen neuen Namen für sie fände, könne das Nichts aufhalten. Und das erwies sich wohl auch als richtig. Aber einige Bewohner Phantásiens fragten sich zur gleichen Zeit, wo das Nichts denn überhaupt hergekommen war. Wie war es nach Phantásien hineingelangt? Während die Kindliche Kaiserin mit ihren Beratern versuchte, ein Menschenkind zu finden, das Phantásien retten würde, machte sich eine kleine Gruppe von Phantásiern daran, die Ursache dieser schrecklichen Bedrohung zu erforschen. Die besten Krieger und Späher wurden losgeschickt, um überall herumzufragen, ob man nicht den Ort finden konnte, wo das Nichts nach Phantásien hereingekommen war. Spähschlangen durchschlängelten jede Fuge und Ritze des Landes. Dolchfalken zogen weit oben am Himmel ihre Kreise, um Ausschau zu halten. Neptunia, die Mutter der Meeresriesen, wurde geweckt, und sie stellte ein riesiges Heer von Seeelfen und Tangnixen zusammen, die alle Meere, Seen und Flüsse Phantásiens durchschwammen, um das Einfallstor des Nichts zu finden. Ja, und es gelang sogar, die edelsten und stärksten Kämpfer Phantásiens für diese Suche zu gewinnen: die Stier224
kämpfer von Zyklopien, die heutigen Wächter von Mangarath.« Saru raffte seinen Mantel etwas enger um sich. Nadil konnte sich nicht mehr bremsen. »Und die Stierwächter haben die Quelle des Nichts in Silandor gefunden?«, fragte er aufgeregt. »Sie haben Silandor zerstört und Mangarath darüber errichtet?« Saru nickte. »Ja, so ist es geschehen. Nach vielen Monaten vergeblichen Suchens erfuhren die Stierwächter von einem Volk, das seit Urzeiten tief unter der Erde damit beschäftigt sein sollte, einen Stoff herzustellen, der alles auslöschen kann. Niemand hatte dieses Volk jemals gesehen, denn wer bei ihm Aufnahme fand, der verschwand auf Nimmerwiedersehen in ihrer unterirdischen Stadt. Aber so manche Familie in Phantásien wusste von einem Sohn oder einer Tochter, die von diesem Volk aufgenommen worden waren. Es rankten sich viele Geschichten um diese Unterirdischen. Doch niemand wusste so recht zu sagen, wer sie waren und was sie in Phantásien überhaupt taten. Als die Stierwächter davon erfuhren, machten sie sich gleich auf den Weg dorthin, denn ein Stoff, der alles auslöschen konnte – das war doch genau das, was Phantásien bedrohte. So gelangten die Stierwächter in die Nähe von Balang-Gir. Und als sie herausfanden, dass hinter Balang-Gir das Land der Leere begann, da waren sie sich sicher, dass das Nichts nur aus diesem Teil von Phantásien stammen konnte. Denn die Leere und das Nichts sind ja das Gleiche, dachten sie und machten sich also daran, die unterirdische Stadt zu suchen. Sie suchten und suchten und fanden schließlich den Eingang. Dann drangen sie in die unterirdische Stadt ein, um herauszufinden, ob dort das Einfallstor des Nichts verborgen war. Doch sie stießen auf erbitterten Widerstand. Der einzige Eingang zu Silandor befand sich damals genau an der Stelle, wo heute der Geräuschdom 225
von Mangarath steht. Soviel ich weiß, erreichte man die Pforte von Silandor durch eine merkwürdige Gesteinsformation in der Erde: eine Treppe, die durch eine Ohrmuschel abwärts führte.« »Was?«, rief Piri aus. »Aber durch diese Pforte sind wir doch auch hindurchgegangen!« »Ja, natürlich«, sagte Saru. »Der Ausgang sieht genauso aus wie der Eingang. Nur ist der Eingang verschwunden, weil der Geräuschdom darauf errichtet wurde. Deshalb kann man ihn nicht mehr sehen. Die Bewohner von Silandor wollten unter keinen Umständen die Stierwächter einlassen, die, wie sie behaupteten, in ihrer Stadt unermesslichen Schaden anrichten würden. Daher beschloss Jiinn-Garagor, mit seinen Leuten gewaltsam dort einzudringen. Und es kam zu einem entsetzlichen Kampf.« »Aber wer waren denn die Bewohner von Silandor?«, fragte Piri. »Dazu komme ich gleich«, antwortete Saru. »Die Verteidiger von Silandor waren merkwürdige Wesen. Sie hatten Flügel und trugen Flammenschwerter. Schon bald ging das Gerücht um, dass es sich um diese fremden Malachim handeln musste, die ja in Phantásien immer nur heimlich ihr Unwesen trieben. Die Malachim beschützten die eigentlichen Bewohner von Silandor, die tief in der Erde versteckt lebten. Viele Stierwächter wurden bei den Kämpfen getötet, aber auch viele der Malachim, die sich ihnen mit aller Kraft entgegenwarfen. Die Eroberung Silandors nahm Monate in Anspruch. Doch je tiefer die Stierwächter in Silandor eindrangen, desto stärker wurde ihre Überzeugung, dass sie die Quelle des Nichts wirklich entdeckt hatten. Die Bewohner des Bergwerks waren für sie böse Zauberer, die unbemerkt daran arbeiteten, Phantásien zu zerstören. Sie waren angeblich mit 226
ebenjenen bösen Malachim im Bunde, von denen es jetzt hieß, sie hätten von jeher versucht, uns zu vernichten. Ja, tief im Innersten der unterirdischen Stadt fand man eine Inschrift auf einem Stein, die einen Pakt der Malachim mit den Bewohnern von Silandor besiegelte.« Piri sagte leise die Namen vor sich hin: »Aratron«, buchstabierte er. »Bethor, Phaleg, Hagith ...« »Du sagst es«, bestätigte Saru. »... nebst Ophiel, Phul und Och. Diese sieben Malachim sollen die Verschwörung angestiftet haben.« »Aber worin bestand denn diese Verschwörung«, wollte Nadil wissen. »Darüber kann man nur spekulieren. Jiinn-Garagor behauptet, ganz Silandor sei vom Nichts erfüllt gewesen. Die Bewohner des Bergwerks hätten einen unterirdischen Geheimgang nach Balang-Gir gegraben und von dort in das Land der Leere gehen können. So hätten sie unablässig das Nichts aus dem Land der Leere herbeigeschafft und nach Phantásien gebracht.« »Und wozu sollten sie das getan haben?«, fragte Piri. »Darüber habe ich auch viel nachgedacht. Vielleicht hat die namenlose Macht den sieben Malachim den Auftrag erteilt, Phantásien zu zerstören. Oder es war wirklich eine Verschwörung dieser bösen Malachim. Vielleicht hat sich Jiinn-Garagor aber auch geirrt, und was er in Silandor gesehen hat, war gar nicht das Nichts, sondern etwas ganz anderes. All das werden wir wohl nie erfahren, denn die Bewohner von Silandor sind tot und Mangarath ist ihr Grabmal.« Die jungen Schmetterlinger blickten sich betroffen an. Sie beide dachten an den vertrockneten Mann in der zugemauerten Nische. Was für ein schreckliches Ende. Nadil fand als Erster die Sprache wieder. »Aber haben die 227
Bewohner von Silandor sich nicht gerechtfertigt? Haben sie nicht erklärt, was sie in diesem Bergwerk taten?« »Nein«, sagte Saru. »Als die Stierwächter die Malachim besiegt hatten und das Innerste des Bergwerks betraten, da waren die Bewohner dort wie zu Stein erstarrt. Sie rührten sich nicht, sondern saßen einfach reglos da. Niemand konnte sie zum Sprechen bringen. Sie reagierten auch nicht, wenn man sie schlug oder verletzte. Sie waren wie tot, eben versteinert.« Wie die Flügelphantasier, die ihnen begegnet waren, dachte Piri. »Und Jiinn-Garagor ließ Silandor verschließen?«, fragte Nadil. »Ja«, beendete Saru seine Geschichte. »Da man es nicht zerstören konnte, denn ganz Silandor war aus einem grünen Stein herausgeschlagen, den kein bekanntes Werkzeug auch nur ankratzen konnte, und da man jedoch große Angst hatte, dass das Nichts durch das Bergwerk hindurch nach Phantásien kommen konnte, verschloss man den Ort und errichtete darauf Mangarath.« »Und die Bewohner?« »Wurden eingemauert. Es wurde sogar ein Krater geschlagen, und Vulkania entsandte einen ihrer entsetzlichen Söhne, der in diesen Krater einzog, damit niemand jemals wieder nach Silandor hineinkommen würde. Und seit jenen Tagen erscheinen diese merkwürdigen Lichtblitze am Himmel. Die Stierwächter sind überzeugt, dass dieses Licht von den Malachim stammt, die nun keinen Eingang mehr nach Phantásien finden können und mit Gewalt versuchen einzudringen. Doch da Silandor versperrt ist, gelingt ihnen das nicht, und sie verglühen immer wieder am Himmel. Und dies soll auch so bleiben, denn es ist das Zeichen des Sieges über das Nichts.« 228
Das Feuer war niedergebrannt. Die drei saßen stumm in der Höhle und schauten hinaus in den Nachthimmel. Die Sterne glitzerten, und über Balang-Gir ging soeben der Mond auf. Nadil hatte so viele Fragen. Ach, es war alles so verwirrend, und die Müdigkeit machte ihm jetzt auch zu schaffen. Ein letztes Mal erhob Saru seine Stimme: »Aber all dies kann nicht die ganze Geschichte sein«, sagte er und rieb sich die Schläfen. »Doch ihr solltet euch jetzt noch ein wenig ausruhen, denn wir haben einen langen und gefährlichen Weg vor uns.« »Aber gehen wir denn wirklich in das Land der Leere?«, fragte Piri. »Natürlich«, erwiderte Saru. »Denn wenn der Orakelspruch stimmt, können wir nur dort die Wahrheit erfahren.«
\ 11 \ Beliar, Masia und die vier Schmetterlinge lauschten mit großen Augen Toralons Bericht. Was für eine unglaubliche Geschichte! Nadil und Piri waren in eine verbotene unterirdische Stadt eingedrungen? Und Saru Maramor, Nadils kauziger Großvater, der war vor geraumer Zeit auch schon dort verschwunden? Und eine fremde, unheimliche Macht trieb in Mangarath ihr Unwesen und war möglicherweise verantwortlich für diese grässlichen Vorfälle: Elfenauges Tod und die Zerstörung von Garsiran? Toralon hatte sich am Ende doch entschlossen, den Mädchen und den Schmetterlingen alles zu erzählen. Er wusste allein nicht weiter. Nach einem langen Rückflug, bei dem wohl jeder von ihnen seinen eigenen, bedrückten Gedanken nachgehangen hatte, waren sie nun wieder auf dem See229
rosenteich versammelt und berieten, was sie als Nächstes tun sollten. Nach Mangarath zurückkehren? Oder nach Nevisehr? Oder sollten sie gar versuchen, Nadil, Piri und Saru zu folgen, und ebenfalls in Silandor eindringen? »Ich begreife das nicht«, sagte Masia kopfschüttelnd. »Warum hat Nadil uns denn gar nichts von all diesen Dingen erzählt? Und Pegario ... wie verantwortungslos von ihm, Nadil in all diese Vorfälle hineinzuziehen. Jeder weiß doch, wie sehr er an seinem Großvater hängt. Womöglich ist Saru in Silandor ein Unglück zugestoßen, und Nadil und Piri ist jetzt das Gleiche widerfahren.« »Was ist überhaupt Silandor«, fragte Beliar. »Ich habe davon noch nie zuvor gehört.« Alle Blicke richteten sich auf Toralon, aber der schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht so genau«, sagte er. »Angeblich ist durch Silandor das Nichts nach Phantásien gelangt, deshalb haben die Stierwächter es verschlossen.« Niemand sagte etwas darauf. Das Nichts. Wie grauenvoll. Beliar fand schließlich als Erste die Sprache wieder: »Soll das heißen, dass Mangarath ausgerechnet dort errichtet wurde, wo das Nichts am nächsten ist?« Toralon nickte. »Ja, denn Mangarath soll ja dazu dienen, das Nichts in Schach zu halten. Solange immerzu Geräusche und Musik ertönen, kann das Nichts nicht aus Silandor herauskommen. Denn Silandor ist mit Summsteinen verschlossen worden, und darüber schwebt unablässig der Geräuschteppich von Mangarath. So wurde das Nichts besiegt.« Wieder legte sich Schweigen über die kleine Gruppe. Der Geräuschteppich von Mangarath drang bis zu ihnen hin, aber keiner von ihnen hatte auch nur die geringste Lust, noch einmal die Stadt der Klänge und Töne zu betreten. Im Gegenteil. Das Glitzern und Funkeln dort drüben hatte jetzt etwas 230
Bedrohliches. Die Schmetterlinge saßen traurig da, ließen ihre Flügel hängen und erwarteten offenbar, dass Toralon einen Vorschlag machen würde, was sie als Nächstes tun sollten. Der alte Lehrer überlegte auch fieberhaft, aber es fiel ihm nichts ein. »Dieser Jiinn-Garagor war mir gleich verdächtig«, sagte Beliar und warf energisch ihre Mähne nach hinten. »Es würde mich gar nicht wundern, wenn die Wächter irgendetwas Böses im Schilde führen.« »Aber was nur?«, fragte Masia. »Meinst du vielleicht, die Stierwächter haben Quäldrohnen und Misse nach Mangarath geholt? Das kann ich nicht glauben. Warum sollten sie das getan haben? Sie sind doch die Retter Phantásiens. Warum sollten sie jetzt unschuldige Völker vernichten wollen?« Toralon schaute nachdenklich zu Boden. Wenn nur Saru hier wäre. Der kannte sich in Phantásien doch viel besser aus. Beliar sah plötzlich starr geradeaus, als hätte sie eine Eingebung gehabt. »Was ist denn mit dir?«, fragte Masia. »Ich überlege die ganze Zeit, und ich kann mir nicht helfen, etwas ist wirklich eigenartig an der ganzen Sache.« »Ach ja«, fragte Toralon. »Was denn?« »Nun, als wir vor zwei Tagen hier angekommen sind, hieß es, wir dürften nicht zu den Sternputzern. Das Sternputzerdorf ist ja von allen anderen Phantásiern sogar richtig abgeschottet.« »Ja, und?«, fragte Masia. »Jetzt haben wir erfahren, dass am Himmel von Mangarath irgendwelche Dinge explodieren, die dort herumfliegen. Pegario sagt, dort verbrennen Vögel oder Drachen oder so etwas, nicht wahr?« 231
Toralon und Masia nickten, aber sie begriffen nicht, worauf Beliar hinauswollte. Sie fuhr fort: »Jetzt ist Elfenauge ermordet worden, als er nach Garsiran flog. Fällt euch dabei denn gar nichts auf?« Die Schmetterlinge, die abseits auf ihren Seerosenblättern saßen, blickten nun auch neugierig auf Beliar. Aber einen Zusammenhang schienen sie ebenso wenig zu erkennen. »Sternputzer, verbrennende Vögel oder Drachen, Elfenauge, die Nachtalben. Es ist doch eigenartig.« »Was ist eigenartig?«, knurrte Toralon, der allmählich die Geduld verlor. »Naja, all diese Zwischenfälle betreffen Flügelphantásier«, erklärte Beliar. »Ich frage mich, ob es noch weitere Opfer gibt. Und wenn ich darüber nachdenke, dann habe ich in den letzten zwei Tagen in ganz Mangarath nur Boden- und Wasserphantâsier gesehen, aber keinen einzigen Flügelphantäsier. Nirgends ein Glücksdrache oder eine Elfe. Nur Steinbeißer, Wolkenschlucker, Gmorks, Gollops, Brummlerchen und dergleichen.« Beliar schaute triumphierend im Kreis herum. Doch dann verdüsterte sich ihr Gesicht. »Und wenn es stimmt, dass irgendjemand Flügelphantásier angreift, was ist denn dann mit uns?« Masia stieß einen Entsetzensschrei aus. »Aber wir sind doch ...« Sie warf einen verstörten Blick in die Runde. Doch Toralon schnitt ihr das Wort ab. »Nein, wir sind keine Flügelphantásier.« »Aber wir fliegen dennoch herum«, rief Beliar. »Und vielleicht sind wir nur deshalb bisher noch nicht angegriffen worden – weil man uns übersehen hat.« Sie sprang auf. »Toralon, wir müssen so schnell wie möglich nach Nevisehr. Elfenauge ...« Aber das konnten die anderen sich jetzt auch selbst zu232
sammenreimen. Falls man sie, die Schmetterlinge und die Schmetterlinger, wirklich vergessen hatte, dann offenbar nur bis gestern. Aber stimmte Beliars Vermutung denn? Oder konnte das alles Zufall sein? »Wir müssen uns trennen«, befahl Toralon. »Jemand muss Pegario informieren. Wir können nicht alle nach Nevisehr fliegen und Mangarath im Stich lassen. Außerdem wüsste ich wirklich zu gern, ob Beliar Recht hat. Taublume, würdest du nach Pandriel fliegen, um dort nach dem Rechten zu sehen? Wenn die Schneeelfen auch überfallen worden sind, dann wissen wir, dass Beliar Recht hat. Aber wer soll Pegario warnen?« »Das werde ich tun«, sagte Beliar sofort. Es hatte schon die ganze Zeit in ihr gegärt. Nadil, dieser seltsame Junge, hatte den Mut aufgebracht, in die verbotene Stadt Silandor einzudringen, während sie auf Klangwolken herumgeflogen war und im Schnalzcanyon Schabernack getrieben hatte. War sie denn nicht genauso mutig wie er? »Das kann ich nicht zulassen«, sagte Toralon. »Ich bin für euch verantwortlich.« »Nein, Toralon«, erwiderte Beliar. »Masia und ich sind seit einigen Tagen Meisterinnen, du bist nicht mehr unser Vormund. Und es gibt auch gar keine andere Möglichkeit. Du hast dich mit den Stierwächtern bereits angelegt. Dich werden sie bestimmt schon suchen. Mit uns hatten sie noch nicht zu tun, und wir sind viel wendiger und geschickter als du. Wir kommen bestimmt unbehelligt zu Pegario. Wenn Nadil es geschafft hat, dann schaffen wir das auch. Außerdem reicht es, wenn einer von uns unsere Leute in Nevisehr warnt. Uns würde dort ohnehin niemand glauben. Aber auf dich, Toralon, auf dich werden sie hören. Es ist die beste Lösung. Nicht wahr, Masia?« 233
»Ich soll mit dir ... ins Sternputzerviertel fliegen?«, fragte Masia und sah ihre Freundin erschrocken an. »Ja. Das schaffen wir schon.« »Und die Quäldrohnen?«, ließ sich jetzt Taublume vernehmen, der dem ganzen Gespräch mit skeptischer Miene gelauscht hatte. »Das lass nur meine Sorge sein«, rief Beliar. »Quäldrohnen greifen nur Flügelphantasier an, nicht wahr? Also ist die Lösung ganz einfach. Wir gehen zu Fuß.«
\ 12 \ Saru weckte Nadil und Piri noch vor der Dämmerung und bat sie, ihm zu folgen. Schlaftrunken gehorchten die beiden und stapften hinter ihm her. Saru schien sich hier schon sehr gut auszukennen, jedenfalls waren sie kaum eine halbe Stunde marschiert, da sahen sie plötzlich in der Ebene vor sich einige Lichter, die sich beim Näherkommen als viele kleine Feuer herausstellten. Als sie noch näher gekommen waren, erkannten die jungen Schmetterlinger, dass diese kleinen Feuer sich bewegten. »Was ist das?«, fragte Piri und kniff die Augen zusammen, als ob ihm das in der Dunkelheit helfen würde. »Flammengeister«, erwiderte Saru, »ich genieße seit geraumer Zeit ihre Gastfreundschaft. Man muss sehr vorsichtig sein und darf ihnen nicht zu nahe kommen. Aber wenn man das beachtet, kann man sehr angenehm mit ihnen verkehren.« Flammengeister wurden fast nirgends in Phantásien geduldet, da sich jeder an ihnen verbrannte. Und wer sein Feld oder gar sein Haus verloren hatte, weil ein gedankenversun234
kener Flammengeist mit seinen Kindern zufällig vorbeigekommen war, der klagte natürlich zu Recht und jagte diese eigentlich harmlosen Geschöpfe mit Schimpf und Schande davon. So kam es, dass Flammengeister gemeinhin an Orten lebten, wo sie nichts verbrennen konnten, vornehmlich in sandigen oder steinigen Regionen, wo außer ihnen niemand war. Und wie immer bei Leuten, die unter sich bleiben, weil niemand sie haben will, kursierten eigentlich nur schlechte Geschichten über sie. »Bei den Flammengeistern kann man sich sehr gut verstecken«, fuhr Saru fort. »Sie sind außerdem wirklich sehr freundlich und hilfsbereit. Aber ihr solltet vielleicht lieber hier warten, damit ihr euch nicht verbrennt. Ich werde kurz zu ihnen gehen, denn sie müssen mir etwas besorgen.« Damit ging Saru den Hügel hinab, und es war erstaunlich mit anzusehen, wie plötzlich inmitten der vielen kleinen Flammen ein schwarzer Fleck entstand, der sich langsam durch die Feuer hindurchbewegte. »Schau«, sagte Nadil, »sie weichen vor ihm zurück, damit sie ihm nicht wehtun.« »Und ich habe immer gehört, Flammengeister seien aggressiv und bösartig«, entgegnete Piri. »Ich auch«, bestätigte Nadil, »aber wenn man zu ihnen nach Hause kommt, ist es offenbar anders.« »Schau, Saru kommt schon zurück«, sagte Piri dann verwundert. Und tatsächlich: Der dunkle Fleck wanderte wieder den Hügel hinauf, begleitet von einem winzigen Funken, der über ihm schwebte. Kurz darauf stand Saru wieder bei ihnen, beleuchtet von einem kleinen Flammengeist. Nadil und Piri blieben die Münder offen stehen vor Staunen. So etwas Schönes hatten sie noch nie gesehen. Der Geist sah wie eine hübsche kleine Elfe aus, nur dass sie eben lichterloh 235
brannte. Überall züngelten winzige gelbe Flammen aus ihr hervor und warfen einen warmen Lichtschimmer auf die Umgebung. Saru verbeugte sich vor seiner kleinen Begleiterin und verabschiedete sich in einer Sprache von ihr, die Nadil und Piri nicht verstanden. Dann wandte er sich mit allen Anzeichen von Zufriedenheit den beiden zu und sagte: »So, jetzt ist alles vorbereitet. Sobald die Sonne aufgegangen ist, brechen wir nach Balang-Gir auf. Vorher sollten wir noch zwei Stunden ausruhen. Da drüben ist eine weitere Höhle. Kommt. Es wird ein langer Tag werden.« Der Flammengeist schwebte noch einen Augenblick vor ihnen in der Luft und genoss offenbar die Bewunderung, die ihm von den beiden jungen Schmetterlingern entgegengebracht wurde. Dann schoss er davon, und nur ein kurzer Funkenregen blieb zurück. »Wo bleibt ihr denn?«, hörten sie Saru rufen und beeilten sich, ihm zu folgen. \ Sie waren tatsächlich noch einmal eingenickt, und diesmal war es etwas Warmes und Feuchtes, das Nadil weckte. Er fuhr hoch und blickte in zwei große, freundliche braune Augen, die ihn neugierig anblickten. Ein weicher, nach Milch duftender Atem floss über ihn hinweg, gefolgt von einer nassen Zunge, die ihm über das Gesicht fuhr. Erschrocken drehte er sich zu Seite. Was war denn das nur? Drei zottelige Tiere standen plötzlich um ihn herum. Sie sahen wie Schafe aus, wenn man davon absah, dass sie acht Beine hatten. Allerdings hatte ihr Fell eine etwas eigenartige Farbe, und als Nadil genauer hinsah, bemerkte er, dass es kein gewöhnliches 236
Fell war, sondern ein prächtiger Haarputz aus hauchfeinen silbernen Fäden, die bei jedem Lichteinfall einen anderen Glanz erzeugten. Und da bereits die Morgensonne schien, schimmerten diese Besucher wie achtbeinige Schmuckstücke. »Was sind denn das für Tiere?«, flüsterte Piri, der auch aufgewacht war. Nadil schaute zu Saru hinüber, aber dessen Schlafplatz war verlassen. Mit einem Satz sprang er auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und fragte: »Wo ist Saru?« Da fiel ein Schatten durch den Höhleneingang, und der alte Schmetterlinger wünschte ihnen einen guten Morgen. »Ich habe nur schon mal nach dem Wetter geschaut«, rief er gut gelaunt und kraulte eines der Tiere, das sich ihm gegen die Beine schmiegte. »Seid ihr ausgeruht? Dann lasst uns aufbrechen.« »Was sind das für Tiere?«, fragte diesmal Nadil. »Mondkälber«, antwortete Saru. »Die liebenswertesten Geschöpfe, die ich kenne. Schau doch, wie freundlich sie dich angucken.« Das stimmte. Die großen braunen Augen blickten so weich, sanft und unschuldig, dass man diese Tiere gleich in die Arme nehmen mochte. »Kommen sie mit uns?«, fragte Piri. »Ja, sie werden uns einen wichtigen Dienst erweisen müssen, aber das erkläre ich euch später.« Sie marschierten los, Saru mit den Mondkälbern vorneweg, Nadil und Piri hinterdrein. »Was will er nur mit diesen Tieren?«, flüsterte Piri. »Die Glottoplytten werden uns doch sofort bemerken, wenn wir wie Viehtreiber durch die Gegend marschieren.« »Saru wird schon wissen, was er tut«, erwiderte Nadil. Aber auch ihm war nicht ganz geheuer bei der Aussicht, heute 237
schon wieder in ein Silbengewimmel hineinzulaufen. Und was war eigentlich mit den Iblissen? Trieben sich diese Bestien nicht auch noch irgendwo in der Nähe herum? Sara hielt schließlich an und deutete den Weg hinab. »Hier beginnt wieder Glottoplyttengebiet. Ihr habt diese Biester ja gestern schon kennen gelernt, nicht wahr?« Die beiden nickten. »Eigentlich können sie einem Leid tun«, fügte Saru hinzu. »Glottoplytten sind nichts anderes als verstoßene Wortstummel, die niemand haben will. Daher heften sie sich wie Kletten an jedes freie Wort, das in ihre Nähe kommt. Und wenn man nicht aufpasst, dann ist man in kurzer Zeit völlig von ihnen überwuchert.« Piri schob die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der Brust. Saru musste lächeln. »Du brauchst aber keine Angst haben, Piri. Es gibt ein Wort, an dem sich alle Glottoplytten Phantásiens die Zähne ausbeißen. Du musst nur mit diesem Wort alle anderen Wörter und Wortstummel aus deinem Kopf heraushalten, solange wir durch Glottoplyttengebiet gehen. Dann kann dir gar nichts passieren. Ich verspreche es dir.« Piri nickte skeptisch, sagte jedoch nichts dazu. Nadil war indessen auch nicht viel besser zumute. »Hast du es ausprobiert?«, fragte er vorsichtshalber. »Ausprobiert? Nein, habe ich nicht. Aber ich weiß, dass es funktioniert.« »Wie kannst du sicher sein, wenn du es nicht ausprobiert hast?«, wollte Piri dennoch wissen. Saru schaute ihn kurz an. Dann zuckte er mit den Schultern, erhob sich, ging einfach den Weg ein Stück hinab und blieb schließlich stehen. Nichts geschah, nur dass Saru die Augen geschlossen hielt und so aussah, als konzentriere er sich auf irgendetwas. 238
»Vielleicht sind dort gar keine Glottoplytten«, flüsterte Piri seinem Freund zu. Nadil war nicht weniger skeptisch, aber würde Saru sie hinters Licht führen? Nie und nimmer. »Wenn er sagt, dass dort welche sind, dann ist es auch so.« »Aber vielleicht sind gerade heute keine da«, wiederholte Piri. »Unsinn«, erwiderte Nadil. »Wenn Saru sagt, dass er weiß, wie man sich gegen sie schützt, dann weiß er es auch.« »Zufrieden?«, fragte Saru, nachdem er zu ihnen zurückgekehrt war. »Los, setzt euch hin, ich zeige euch, wie man das macht. Es ist ganz einfach. Macht erst einmal die Augen zu. So. Jetzt stellt euch eine große, schwere Glocke vor. Sie ist direkt über euch wie ein großer Regenschirm. Nun kommt die Glocke langsam herab, ganz langsam, bis sie euch fast zugedeckt hat. Und jetzt sagt ganz leise om, ganz, ganz leise. Aha, merkt ihr, wie das Om die Glocke zum Vibrieren bringt? Es erfüllt die ganze Glocke, om, om. Es wird nicht lauter, aber es wird immer dichter, immer fester. Ihr seid in der Mitte, und um euch herum ist überall das Om und hüllt euch ein. So, und jetzt lasst ihr die Glocke allmählich verschwinden. Ihr braucht sie nämlich gar nicht. Und wo eben noch die Glocke war, ist jetzt nur noch der dunkle, warme, schützende Klang, durch den kein Glottoplytt hindurchkommen kann.« Die beiden öffneten die Augen wieder und blinzelten verstört. Das war aber ein merkwürdiges Gefühl. So einfach sollte es sein, Glottoplytten zu übertölpeln? Aber Saru ließ ihnen keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Er schnipste zweimal mit den Fingern, trieb die Mondkälber vor sich her und marschierte los. Schon nach wenigen Augenblicken war er ein gutes Stück auf dem Weg vorangekommen, und nichts deutete darauf hin, dass um ihn herum Millionen und Aber239
millionen fieser Silben in der Luft herumschwirrten, die jeden Augenblick über ihn herfallen konnten. »Und die Mondkälber«, fragte Piri, »was ist mit denen?« »Offenbar haben sie keine Wörter im Kopf, an denen die Glottoplytten sich festhaken können«, vermutete Nadil. Die beiden Freunde zögerten noch einen Moment, dann gab sich Piri als Erster einen Ruck. Er schloss die Augen. Nadil betrachtete ihn argwöhnisch. Doch dann tat er es ihm gleich. Die Glocke sank auf ihn herab. Um ihn herum wurde es warm und dunkel. Er sah sogar das Metall der Glocke glänzen und spürte die schützende Nähe der eisernen Wand. Er sprach die Zauberformel aus, und augenblicklich begann es in seinem Kopf zu summen. Om, om, vibrierte alles um ihn herum. Und dann war die Glocke weg. Er öffnete die Augen, sah den Weg vor sich und Piri, der bereits darauf entlangging, Saru hinterher. Und um ihn herum war alles wie in Watte gepackt. Ein unbeschreibliches Gefühl von Selbstvergessenheit überkam ihn. Ja, es war fast das gleiche Gefühl, wie auf einem Schmetterling zu reiten. Nur war kein Schmetterling da. Der Weg führte schon bald wieder aufwärts. Graue Felsen erhoben sich zu beiden Seiten, und dazwischen standen kleine Gruppen von Bäumen, die bisweilen auch einer saftigen Wiese Platz machten. Offenbar war die Wüste hier endlich zu Ende, dachte Nadil. Wie ein Geschosshagel traf ihn sogleich die Folge seiner Unvorsichtigkeit. Fende, lende, kende, rende, sende, pende, brüllte es in seinem Kopf. Mit Müh und Not gelang es ihm, sich in diesem Silbenregen wieder unter seine Om-Glocke zu denken und mit Sarus Zauberformel das Gekeife und Geschnatter der unerlösten Wortstummel zum Verstummen zu bringen. Danach war er vorsichtiger. So stiegen die drei Schmetterlinger und ihre achtbeinigen 240
Begleiter Stunde um Stunde höher hinauf. Der Weg war zwar noch recht breit und leicht begehbar, aber zum Horizont hin wurden die Berge immer schroffer. Als sie jedoch ein hoch gelegenes Plateau erreicht hatten, zeigte sich, dass sie zunächst noch ein anderes Hindernis überwinden mussten: Ein riesiger Wald trennte sie von dem dahinter liegenden Gebirge. Und dann bemerkte Nadil etwas noch viel Gewaltigeres: Zum ersten Mal waren sie Balang-Gir näher gekommen. Saru und Piri saßen bereits auf dem Fels und ruhten sich aus, als Nadil bei ihnen eintraf. Die drei betrachteten die Aussicht. Nadil und Piri erinnerten sich nur zu gut daran, was Pandarax gesagt hatte: Das vor ihnen musste der Wald der Pensaren sein, das letzte Hindernis vor dem Aufstieg ins Land der Leere. Saru streichelte gedankenversunken ein Mondkalb, das sich neben ihm hingelegt hatte. »Dort unten müssen wir warten, bis der Mond aufgeht«, sagte er dann. »Eine Zauberformel gegen Glottoplytten kann man relativ schnell erlernen, aber um sich gegen Pensaren zu wappnen, braucht man viele Jahre. So viel Zeit haben wir jedoch nicht.« Piri zog seinen linken Schuh aus und massierte sich die Zehen. »Wie sehen diese Pensaren denn aus?«, fragte er unsicher. »Das weiß niemand, denn wer sie einmal gesehen hat, ist verloren.« Diese Neuigkeit war nicht gerade sehr beruhigend. »Was passiert denn, wenn man sie sieht?«, fragte Nadil. Saru rieb sich die Schläfen. »Ich habe einmal viele Tage lang mit Josian Pegario darüber gestritten. Am Ende haben wir sogar eine Wette abgeschlossen und uns vorgenommen, in den alten Chroniken nachzuschauen. Aber da die Chroni241
ken sich widersprechen, haben wir uns bis heute nicht einigen können.« »Und was steht in den Chroniken?«, wollte Piri wissen. »Nun, in der Ahasva-Chronik steht, Pensaren seien die schlimmsten Ungeheuer Phantásiens. Wer ihnen in die Hände falle, verschwinde für alle Zeiten aus Phantásien. In einer Anmerkung steht allerdings, dass diese Überlieferung sich auf sehr lückenhafte Quellen stützt und ›aus Phantásien verschwinden‹ möglicherweise auch bedeutet, dass man in die Menschenwelt abstürzt.« »In die Menschenwelt?«, rief Nadil aus. »Wie soll denn das gehen?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Saru und streichelte dem Mondkalb neben sich die weiche Schnauze. »Aber so steht es nun mal in der Ahasva-Chronik.« »Und wie lauten die anderen Überlieferungen?«, fragte Piri. Saru schwieg einen Augenblick lang. »In der QualumpurSchrift gibt es ein eigenes Kapitel über Pensaren«, begann er hörbar widerstrebend. »Dort heißt es, sie seien sowohl die Bewacher als auch die Vorboten des Landes der Leere. Daher hätten sie keine Gestalt.« »Also sind sie unsichtbar?«, warf Piri ein. »Nein«, entgegnete Saru. »Sichtbar und unsichtbar sind Wörter, die im Land der Leere keinen Sinn haben. Pensaren sind genauso gestaltlos wie das, was sie jagen.« Er legte eine Pause ein, und eine unheimliche Stille machte sich zwischen den dreien breit. Das, was sie jagen?, dachte Nadil und fühlte eine Gänsehaut auf dem Rücken. »Pensaren haben weder Augen noch Ohren. Da sie gestaltlos sind, haben sie auch keine Sinne, wie wir sie kennen. Sie riechen nichts, schmecken nichts, können keine Witterung aufnehmen, hören nicht das Rascheln von Blättern oder das 242
Knacken von Zweigen, wenn man durch ihren Wald geht. Aber stattdessen gibt es etwas, das sie über Hunderte von Meilen erspüren können und das jeden in ihre Fänge führt.« Saru verstummte erneut, bevor er das Ungeheuerliche endlich aussprach. »Gedanken«, sagte er. »Pensaren sind die entsetzlichsten und grausamsten Gedankenjäger Phantásiens. Wer immer durch ihren Wald hindurchgeht und dabei auch nur einen einzigen Gedanken denkt, der ist verloren. Sie spüren ihn, riechen ihn, hören ihn, wittern ihn, was weiß ich. Sie haben eine Gedankennase, Gedankenohren, Gedankenaugen. Dabei haben sie weder Nase noch Ohren oder Augen. Alles in ihnen wittert nur nach einer einzigen Sache: nach einem Gedanken. Wehe, ihr kommt in ihre Nähe und habt auch nur die Spur einer Vorstellung oder Idee in eurem Kopf. Sofort fallen sie über euch her und vernichten euch, reißen euch in Stücke.« »In Stücke«, murmelte Piri. »Aber warum denn?«, fragte er dann. »Warum tun diese Pensaren das?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Saru. »Aber wenn ich länger darüber nachdenke, dann kann ich es mir schon erklären. Denn wenn hinter Balang-Gir das Land der Leere beginnt, darf dort natürlich nichts hingelangen. Nicht einmal ein Gedanke, oder?« Piri schaute bekümmert zu dem Wald hin, der jetzt im Mittagslicht wie ein ganz normaler, friedlicher Wald aussah. »Aber wenn das so ist, dann ist unsere Reise hier zu Ende, oder? Wenn nicht einmal ein Gedanke ins Land der Leere gelangen kann, wie sollen wir dann jemals dort hinkommen?« Saru schaute Piri lange an. Dann sagte er: »Es hat ja noch niemand versucht. Ich glaube auch, dass man das Land der Leere nicht betreten kann. Aber Balang-Gir ist ja noch nicht 243
das Land der Leere. Das Land der Leere liegt hinter BalangGir.« »Aber wie sollen wir durch den Pensarenwald kommen?«, wollte Nadil wissen. »Ganz einfach: Wir müssen aufhören zu denken«, sagte Saru lachend. Piri und Nadil schauten sich verdutzt an. Nicht denken? »Ich weiß«, sagte der Alte und schmunzelte. »Das ist für Leute eures Alters nicht so ganz einfach. Aber ein paar schlichte Übungen, und ihr werdet es schon lernen.« »Was für Übungen?«, wollte Nadil wissen. »Nun, ganz einfach. Zwei Wochen lang müsst ihr versuchen, mit einer Hand in die Hände zu klatschen. Wenn ihr das geschafft habt, macht ihr euch so schwer, dass die Welt stehen bleibt. Das dauert ein paar Jahre. Und als letzte Übung müsst ihr versuchen, ein Mondkalb zu werden. Wenn ihr so alt seid wie ich, seid ihr so weit und wir können aufbrechen.« Einen Augenblick lang dachten die beiden, Saru sei jetzt endgültig verrückt geworden. Aber dann lachte der alte Mann verschmitzt. »Hi, hi, Spaß beiseite. Dafür habe ich die Mondkälber ja mitgebracht, denn die sind uns, was die Pensaren betrifft, haushoch überlegen. Wir könnten selbst in hundert Jahren nicht so leer werden wie die Seele eines Mondkalbs, nicht wahr, du?« Und damit herzte er wieder das zottelige Tier, das sich an Saru schmiegte und ein zufriedenes Schnaufen hören ließ. »Kein Phantásier ist so ruhig wie dieses Wesen. Mondkälber sind die glücklichsten Geschöpfe Phantásiens, denn in ihnen ist noch nie auch nur die geringste Spur eines Gedankens gewesen. Deshalb haben sie auch keine Angst. Nicht einmal vor Feuergeistern, die in ihrer Nähe wohnen. Und das 244
Beste ist: Kein Pensar kann ein Mondkalb aufspüren. Da sie nicht denken können, sind sie völlig geschützt.« »Ja, aber wir ... wir sind doch keine Mondkälber«, rief Piri. »Und ich will auch keines werden«, fügte er trotzig hinzu. »Hm, das wäre auch gar nicht so einfach«, entgegnete Sara und ließ seine Augen ironisch blitzen. »Aber man muss ja auch nicht zu Wasser werden, um einen See zu überqueren. Wofür gibt es Kähne? Diese Mondkälber werden uns durch den Pensarenwald bringen.« Nadil verstand nicht. »Meinst du, wir sollen auf ihnen reiten?« »Ja. Allerdings.« »Aber was ändert das? Die Pensaren werden uns doch trotzdem finden.« Sara holte ein Fläschchen aus seiner Tasche und hielt es gegen das Sonnenlicht. Eine blaue Flüssigkeit war darin enthalten. »Nein, werden sie nicht, denn wir werden so tief und fest schlafen, dass kein Gedanke aus unserer Seele aufsteigen kann.« Sara hatte wirklich an alles gedacht, sagte sich Nadil. Sogar ein Schlafmittel hatte er besorgt. War das ganze Vorhaben nicht trotzdem irrsinnig? Sie sollten schlafend auf Mondkälbern durch den Wald der schlimmsten Ungeheuer Phantásiens reiten? »Aber ... ohne Waffen?«, rief er aus. »Ich meine ... ohne jeglichen Schutz?« »Gegen Pensaren gibt es nur diesen Schutz«, antwortete Sara. »Was für Waffen sollte es gegen Pensaren geben? Nadil, ich habe es dir doch erklärt. Gegen Pensaren hilft nur eines – ein Mondkalb zu werden. Auf jetzt, genug geredet, wir müssen zum Pensarenwald absteigen und uns heute Nachmittag noch Sättel flechten. Bis dort unten sind es noch fast drei Stunden Fußmarsch.« 245
»Aber ... bitte, Saru, wie sollen die Mondkälber denn den Weg finden?«, rief Piri verzagt. »Was, wenn sie sich im Wald verirren? Dann wachen wir vielleicht auf und ...« Er ließ den Satz unvollendet. Nadil konnte ihm nur zustimmen. Was für ein Plan! Das konnte doch nur schiefgehen. »Deshalb habe ich ja Mondkälber mitgenommen und nicht etwa Purpurbüffel oder Brummlerchen«, beschwichtigte Saru. »Diese Mondkälber finden den Weg. Wenn man sie sich selbst überlässt, folgen sie immer dem Mond, egal, wo sie sich befinden. Und der Mond steht derzeit über Balang-Gir. Wir müssen nur warten, bis er aufgegangen ist, dann nehmen wir das Mittel und überlassen uns den Mondkälbern. Sie werden den Weg schon finden. Nur Mut. Außerdem gibt es keine andere Möglichkeit.« Als sie den Waldrand erreicht hatten, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Die Baumfront sah unheimlich und abweisend aus. Die Stämme standen so dicht beieinander, dass die Kronen sich berührten. So gelangte kaum Licht in den Wald, und zwischen den Stämmen sah man daher nichts als ein gähnendes Dunkel. Nadil schauderte bei dem Gedanken, auf einem Mondkalb dort hineinzureiten, aber er folgte Sarus Anweisungen, schnitt mit Piri auf der Wiese lange Weidengrashalme ab und begann Zaumzeug und Sättel daraus zu flechten. Das konnte er immerhin, denn für ihre Schmetterlinge flochten sie das Sattelzeug auch immer selbst, wenngleich aus feineren Gräsern. Die Mondkälber grasten unterdessen friedlich, während Saru gedankenversunken dabeisaß und in den Wald hineinstarrte. »Wunderbar«, rief Saru zufrieden aus, als die Tiere gesattelt waren. »Da kann doch wirklich keiner sagen, ihr verstündet euer Handwerk nicht. Wenn Toralon euch sehen könnte, wäre er stolz auf euch.« 246
Toralon? Die Erwähnung ihres Lehrers kam Nadil eigenartig vor. Wie lange schien es her zu sein, dass sie mit Toralon, Beliar und Masia nach Mangarath gekommen waren! »Und was machen wir jetzt?«, wollte Piri wissen. »Wir warten, bis es dunkel geworden ist. Sobald der Mond aufgeht, trinken wir das Schlafmittel und sitzen auf.« »Aber was geschieht, wenn wir auf Pensaren treffen, bevor wir eingeschlafen sind?« »Das wird nicht geschehen. Ich lasse euch erst losreiten, wenn ihr ganz tief schlaft.« »Und du?«, fragte Nadil besorgt. »Was machst du?« »Macht euch um mich keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen.« Die Sonne ging langsam unter. Eine Weile lag noch alles um sie herum in ein kühles Blau gelöst, doch dann brach rasch die Nacht herein. Kurz darauf stieg der Mond empor, und ein silbriger Schimmer legte sich auf die Wiese, was den Wald, der wie ein schwarzes Loch vor ihnen klaffte, noch unheimlicher erscheinen ließ. Schließlich war es so weit. Nadil und Piri nahmen auf ihren Mondkälbern Platz. Die Tiere waren noch an einem Busch festgebunden, zogen jedoch schon seit geraumer Zeit an ihren Leinen und versuchten nachdrücklich in Richtung des aufgehenden Mondes loszumarschieren. Nadil wurde ganz anders, als er Sarus Fläschchen an die Lippen setzte und sich die kühle blaue Flüssigkeit in den Mund tröpfeln ließ. Die Mondkälber würden sofort auf den Wald zulaufen, wenn Saru sie losband. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er sah, dass Piris Hände zitterten, als auch er das Schlafmittel zu sich nahm. Doch dann verschwammen Nadils Sinneseindrücke bereits. Er wehrte sich noch dagegen, versuchte zu sagen, dass er noch gar nicht eingeschlafen sei und Saru die 247
Tiere bloß noch nicht losbinden möge, denn wenn er zu früh in den Wald der Pensaren geriet, dann könnte es geschehen, dass ... \ Saru sah den beiden hinterher. Die Mondkälber schritten gemächlich, aber zielstrebig auf den Wald zu. Im nächsten Moment waren sie außer Sicht. Saru lauschte angestrengt in die Stille hinein. Er wartete lange, schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, doch kein Laut drang aus dem Wald hervor. Sein Plan ging auf. Er rieb sich die Hände und überprüfte ein letztes Mal die geflochtenen Stränge seines Zaumzeugs. Danach saß er jedoch nicht auf, sondern führte sein Mondkalb nur etwas näher an den Waldrand heran und band es dort erneut an einem Busch fest. Er holte das Fläschchen mit dem Schlafmittel aus seiner Manteltasche, wog es eine Weile unschlüssig in der Hand, schaute dann in die treuen braunen Augen des Tieres neben sich und steckte die Flasche wieder ein, ohne daraus getrunken zu haben. »Jetzt wollen wir doch einmal sehen«, murmelte er und setzte sich ins Gras. Er hielt die Augen geöffnet und starrte den Wald an. Allmählich ging dort eine Veränderung vor sich. Das Dunkel zwischen den Baumstämmen wurde auf einmal noch schwärzer. Ja, es war, als ob die Finsternis sich dort auf unerklärliche Weise weiter und weiter verdichtete. Sarus Augen blieben unverwandt auf diese Nachtschwärze gerichtet und hatten nun selbst schon einen dunklen Ton angenommen. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Schwarz, das jetzt dort zwischen den Bäumen hervortrat. Es pochte, loderte, züngelte, und doch war es nur ein tiefes, dunkles, völlig ein248
heitliches Schwarz, aus dem sich ganz allmählich eine grauenerregende Fratze herausschälte. Sarus Augen zuckten ganz leicht, als die Fratze plötzlich wie eine Viper auf ihn zuschnellte und ein furchterregendes Maul mit scharfen Reißzähnen entblößte. Doch Saru blieb still. Seine Augen waren jetzt völlig schwarz geworden und spiegelten nicht einmal mehr den geringsten Lichtschimmer, den der aufsteigende Mond auf die Wiese warf. Der Kopf des Ungeheuers zerfloss nun wieder zu pochender Dunkelheit, die sich wie ein fauliger Schlick lautlos zurückzog. Saru saß noch immer unbeweglich auf seinem Platz. Doch dann durchlief ihn ein leichter Schauder, und er bewegte sich ein wenig. Er schloss die Augen, ruhte noch einen Moment aus, erhob sich endlich und ging langsam einige Schritte rückwärts. Dann setzte er sich wieder ins Gras, atmete tief durch und wartete, bis er völlig aus seiner vorherigen Versunkenheit aufgetaucht war. Nein, er war diesen Pensaren auch nicht gewachsen. Er war noch nicht einmal auf einen Steinwurf an den Waldrand herangekommen, da hatten sie ihn schon gewittert. Er schüttelte resigniert den Kopf. Blieb nur zu hoffen, dass sein Plan funktionieren würde, denn wenn nicht, dann würden sie alle drei verderben. Das war ihm jetzt klar. Welch entsetzliche Fratze! Was für eine furchtbare, alles zerstörende Kraft wohnte in diesen Pensaren. Er schüttelte sich. Dann nahm er das Fläschchen zur Hand, trank einen großen Schluck und kehrte rasch zu seinem Mondkalb zurück. Es knuffte ihn zärtlich in die Seite, als er sich daranmachte, in den Sattel zu steigen, gerade so, als wollte es ihn dafür trösten, dass er für diese Art von Kampf nicht gerüstet war. Saru löste die Leine zur Hälfte, wartete, bis seine Lider schwer, seine Sinne gedämpft wurden. Und im letzten 249
Augenblick, gerade bevor sein Bewusstsein erlosch, ließ er die Leine los. Das Tier setzte sich sogleich in Bewegung. Im nächsten Augenblick war die grässliche Fratze wieder da. Das Dunkel bäumte sich auf, schoss aus dem Wald hervor, direkt auf das Mondkalb und den schlafenden Saru zu, der bereits reglos auf seinem Sattel zusammengeknickt war. Ein weit geöffneter Rachen jagte auf ihn zu. Doch im letzten Augenblick schoss das hervorschnellende Ungeheuer an dem gemächlich in den Wald hineintrottenden Mondkalb vorbei und schnappte ins Leere. Verwirrt machte es kehrt, verharrte über den beiden Eindringlingen und erstarrte in der Bewegung, wie um sich neu zu orientieren. Doch wo waren die Eindringlinge jetzt? Das schwarze Ungeheuer funkelte bedrohlich, aber da war nichts mehr, was es hätte jagen können. Langsam sank es wieder zu Boden, mehr und mehr an Schwärze zunehmend, bis es wieder vollständig in der umgebenden Dunkelheit verschwunden war. Doch was war das? Auf der Lichtung vor dem Pensarenwald war Bewegung entstanden. Zwei dunkle Schatten schlichen dort heran. Eng gegen den Boden gepresst, tasteten sie sich vorsichtig auf den Waldrand zu. Manchmal hoben sie ihre Häupter und ließen ein leichtes Knurren hören. Aber bei aller Anspannung schienen die beiden Iblisse doch sehr unschlüssig zu sein, ob jetzt der richtige Augenblick gekommen war, die Schmetterlinger erneut anzugreifen und endgültig zu vernichten. Solange dieser alte Schmetterlinger in der Nähe war, hatten sie es nicht gewagt, denn Saru schien über gewaltige Kräfte zu verfügen. Was sollten sie jetzt tun? Verstärkung holen? In diesem Wald konnten sie die Spur der Schmetterlinger leicht verlieren. Außerdem waren diese drei jetzt ein leichtes Ziel. Sie hatten offensichtlich einen Schlaftrunk zu sich genommen und waren auf Mondkälbern 250
in diesen Wald hineingeritten. Was sollte das nur bedeuten? War das ein Trick? Wollten die Eindringlinge sie in die Irre führen? Teped und Nerod berieten sich und kamen zu keinem befriedigenden Ergebnis. Am Ende beschlossen sie die Verfolgung fortzusetzen. Sie wälzten sich im Gras, um für alle Fälle eine gut riechbare Spur zu hinterlassen, und krochen dann vorsichtig auf die ersten Bäume des Pensarenwaldes zu. Sie hielten einigen Abstand voneinander, um im Fall einer unbekannten Gefahr einander zu Hilfe kommen zu können. Doch das sollte ihnen wenig nutzen. Denn kaum hatten sie die ersten Bäume hinter sich gelassen, da verdichtete sich die Nachtdunkelheit über ihnen lautlos zu einer ungeheuerlichen Schwärze, aus der allmählich eine Fratze von so abstoßender Hässlichkeit gerann, dass selbst die widerliche und furchterregende Erscheinung eines Iblis daneben verblasste. Aber weder Nerod noch Teped bemerkten, was sich über ihren Köpfen zusammenbraute. Sie bleckten die Zähne, versuchten die Witterung der Schmetterlinger aufzunehmen und verharrten bis zum letzten Augenblick in der Pose der unerbittlichen Jäger, nicht ahnend, dass ihr Schicksal längst besiegelt war. Ohne die geringste Vorwarnung stürzte plötzlich ein riesiger Rachen auf sie nieder. Teped fuhr noch erschrocken herum und sah, wie Nerod von einer pulsierenden schwarzen Masse zermalmt wurde. Dann fühlte er selbst, wie ein unerträglicher Schmerz durch seinen Körper fuhr, hörte seine Knochen krachen und verlor das Bewusstsein. Das Ganze hatte nur wenige Augenblicke gedauert. Kein Geräusch zeugte von dem Zwischenfall. Alles war still, und man sah nichts weiter als eine verlassene Lichtung, auf der silberfarben das Mondlicht schien. 251
DRITTER TEIL
\1\ Sie erwachten in einer felsigen Schlucht. Die Sonne stand hoch am Himmel, aber ihre Mondkälber hatten ein schattiges Plätzchen gefunden, wo sie geduldig warteten. Noch benommen von dem starken Schlafmittel, schauten Saru, Piri und Nadil sich um: Es war gelungen. Weit unter ihnen lag der Pensarenwald, so dunkel und undurchdringlich, wie sie ihn am Vortag von der anderen Seite aus gesehen hatten. Und vor ihnen, zum Greifen nah, wuchsen die Felswände von BalangGir steil empor. Saru strahlte. »Bei allen Glücksdrachen«, rief er aus, »wir haben es geschafft!« Dann klopfte er Nadil und Piri auf die Schultern und sagte: »Das habt ihr sehr gut gemacht. Jetzt müssen wir nur noch dort hinauf.« Er deutete auf das Felsmassiv, das sich vor ihnen auftürmte. »Und die Tiere? Was machen wir mit den Mondkälbern?«, wollte Nadil wissen. »Wir binden sie hier an«, erwiderte Saru. »Dort oben werden sie uns wenig nützen. Aber vielleicht brauchen wir sie, wenn wir auf diesem Weg zurückkehren.« 253
Sie brachen auf. Der Weg war steil und beschwerlich, aber zumindest gab es einen Pfad, der immer tiefer in die Schlucht hinein und an deren Ende in langen, gewundenen Serpentinen allmählich nach oben führte. Stunde um Stunde wanderten sie den Berg hinauf, ohne irgendjemanden anzutreffen. Manchmal blieben sie stehen, um Luft zu holen und nach Phantásien zurückzuschauen. Doch sie mochten so hoch steigen, wie sie wollten, jenseits des Waldes der Pensaren, der nun weit, weit unter ihnen in blassem Grün schimmerte, war einfach nichts zu sehen. Weder die Wüste, die sie durchquert hatten, noch das Tal der Tränen oder gar Mangarath. Phantásien war einfach nicht mehr da. »Merkwürdig«, sagte Nadil. »Als wir noch in Phantásien waren, konnten wir Balang-Gir zwar sehen, aber nicht erreichen. Und jetzt haben wir das Gebirge erreicht, können jedoch Phantásien nicht mehr sehen.« »Ja«, murmelte Saru. »Diese Sache ist wirklich verzwickt. Ich bin gespannt, was wir vorfinden werden, wenn wir erst einmal oben auf dem Gipfel angekommen sind.« »Und wenn hinter dem Gipfel tatsächlich das Nichts ist?«, fragte Piri beunruhigt. In den letzten Stunden war ihm wieder durch den Kopf gegangen, was die Stierwächter behauptet hatten: dass im Land der Leere das Nichts wohne und alles getan werden müsse, damit es nicht nach Phantásien hereinkommen könne. Vielleicht war ihr Ausflug hierher doch ein Fehler gewesen, ein Frevel an den geheimen Gesetzen Phantásiens, die ja sogar Saru nicht alle kennen konnte? Nadils Großvater wusste auch keine Antwort. »Lasst uns erst einmal schauen, was wir auf der anderen Seite vorfinden.« Allmählich kam der Gipfel näher. Es wurde kälter. Das Gestein um sie herum war teilweise schon mit Eis und Schnee 254
bedeckt. Die Sonne schien zwar und wärmte sie, aber die Luft war noch kalt von der letzten Nacht. Saru ging unermüdlich weiter, und Piri und Nadil folgten, so gut sie konnten. Schließlich erreichten sie den Gipfel. Und vor ihnen lag plötzlich ... die Leere. Keiner der drei sprach ein Wort. Ja, was hätte man angesichts dieser Leere auch sagen sollen? Was da vor ihnen lag, hatte weder eine Farbe noch eine Form. Es war nicht weiß und nicht schwarz, nicht hell und nicht dunkel. Es war genauso, wie alle es genannt hatten, die mit den explodierenden Nichtnichtsen in Kontakt gekommen waren: Was da vor ihnen lag, war nur als Sichtbarlosigkeit zu umschreiben. Es war ... unbeschreiblich. Sie vermochten auch gar nicht sehr lange in diese endlose Leere hineinzublicken. Ihnen wurde schwindelig, ihre Augen begannen zu schmerzen, ja sie mussten sich bald schon hinsetzen, weil ihnen der Anblick dieser Leere den Atem nahm. Doch dann entdeckten sie etwas Unerwartetes: Am Fuß von Balang-Gir, an der Stelle, wo die Phantásien abgewandte Seite des Gebirges an das Land der Leere grenzte, befand sich eine Stadt. Sie konnten nur Umrisse erkennen, aber es gab keinen Zweifel: Dort unten war eine Siedlung, die in die Leere hinein- oder aus ihr hervorzuwachsen schien. Doch aus der Entfernung war das alles natürlich nicht besonders gut zu erkennen. »Was ist das für eine Stadt?«, fragte Piri. Er bekam keine Antwort. Saru starrte angestrengt in die Ferne, aber sie waren zu weit weg. Man konnte keine Einzelheiten erkennen. »Seht doch, dort! Flügelphantasier!«, rief auf einmal Nadil. Und tatsächlich: Hoch über ihnen zog eine Gruppe geflügelter Wesen vorüber. Aber hatten sie Phantásien denn nicht verlassen? 255
»Malachim«, flüsterte Saru. »Ich verwette meinen im Lärmkrater verbrannten Haarschopf, dass dies ihre Stadt ist. Es gibt sie also wirklich. Und hier leben sie, im Grenzgebiet zwischen Phantásien und dem Land der Leere. Dort unten, seht ihr?« Nadil und Piri wussten nicht, was sie erwidern sollten. Malachim? Saru hatte ja schon von ihnen erzählt. Aber was genau waren Malachim? Waren sie friedlich oder gefährlich? »Was sollen wir jetzt tun?«, wollte Piri wissen. »Was für eine Frage!« Saru schüttelte verwundert den Kopf. »Wir gehen dort hinunter.« »Aber ... wir wissen doch gar nicht, ob wir dort willkommen sind.« Saru marschierte einfach los. Nadil und Piri blieben noch einen Augenblick stehen. »Warum bist du denn immer so ängstlich?«, flüsterte Nadil. »Weil ich Angst habe, verdammt noch mal. Wer weiß, was uns dort erwartet!« »Komm schon, Piri, es wird schon nicht so schlimm werden. Es sind doch nur harmlose Flügelwesen, vermutlich genauso harmlos wie die, die wir in der Wüste gesehen haben.« Widerstrebend setzte Piri sich in Gang. Aber geheuer war ihm die Sache nicht, im Gegenteil: Je näher die Stadt kam, desto unheimlicher erschien sie ihm. Wie konnte man nur in ständiger Nachbarschaft mit dieser bedrückenden Leere leben, fragte er sich. Freilich, überall sah man jetzt Dächer und Zinnen hinter der Stadtmauer aufragen. Offenbar wohnten dort sehr viele dieser Flügelwesen. Am Himmel sahen sie immer größere Gruppen vorüberziehen. Aber ihm war dennoch unwohl. Als sie endlich vor der Stadtmauer angekommen waren, erblickten sie zwei sehr hoch gewachsene Exemplare dieser 256
Flügelwesen. Allem Anschein nach bewachten sie dort etwas. Ein Tor oder ein Eingang in die Stadt war allerdings nirgendwo zu sehen. Die beiden Gestalten waren ungemein groß. Sie überragten die Schmetterlinger um das Dreifache. Sie trugen weiße Roben, die mit einem Gürtel aus kleinen, beständig funkelnden Blitzen zusammengehalten wurden. Ihre Gesichter wirkten sanft und klug, aber zugleich schimmerte etwas Unberechenbares darin. Piri musterte sie argwöhnisch. Was für wundervolle Schwingen sie hatten! Diese beiden besaßen nicht weniger als zwölf Flügel auf dem Rücken, ein jeder mit Tausenden kleiner Federn bestückt. Was war dagegen schon ein Schmetterlingsflügel, dachte Piri voller Bewunderung. Er beschloss, sobald er irgend konnte die hiesigen Flügelmacher aufzusuchen, um ihr Handwerk zu begutachten. Aber noch waren sie ja gar nicht in der Stadt und mussten zunächst einmal Zugang erhalten. »Wer seid ihr?«, fragte da auch schon einer der beiden Wächter und breitete herrisch seine Schwingen aus. »Wir sind Schmetterlinger aus Nevisehr«, erklärte Saru und verbeugte sich. »Wir sind gekommen, um mit dem König der Malachim zu sprechen. Ihr seid doch Malachim, oder? Die beiden wechselten irritierte Blicke. »Es gibt keinen König der Malachim«, erhielt Saru dann zur Antwort. »Nun, dann möchten wir zum Großfürsten der Malachim«, versuchte es Saru erneut. Aber damit kam er auch nicht weiter. »Fürsten und Könige gibt es hier nicht«, wurde er belehrt. »Hm«, sagte Saru, jetzt seinerseits ein wenig irritiert. »So sagt mir doch, ehrwürdige Malachim, wer ihr seid und wer dieser Stadt vorsteht.« Die beiden Malachim verbeugten sich nun auch, und einer 257
von ihnen antwortete: »Wir sind Arsarsbial und Egrumial, Torwächter aus dem sechsten Himmel, Dominium der Prinzipalen, Diener unter Nisroc, Beschützer der achten und der siebzehnten Stunde, Träger des mystischen Namens von Shemhamphorae, Anwärter auf den Titel Archons im vierundachtzigsten Glied, Bewahrer der Siegel des vierten Ostens und Knappen des heiligen Sefiroth im vierten der achtundzwanzig Häuser des Mondes.« Die drei Schmetterlinger wussten nicht so recht, was sie auf diese Aufzählung antworten sollten. Offenbar nahm man es hier mit Titeln und Rangordnungen sehr genau. Saru versuchte sich darauf einzustellen: »Ehrwürdige Arsarsbial und Egrumial, Torwächter aus dem sechsten Himmel«, begann er und fügte geduldig Titel an Titel. »Wir sind unter vielen Gefahren aus Phantásien zu euch gekommen, weil wir eure Hilfe brauchen. Bitte lasst uns ein und führt uns zu jemandem, dem wir unser Anliegen vortragen können. Wenn es keinen König oder Fürsten bei euch gibt, so führt uns zu einem der ehrwürdigen Malachim, die ihr in euren Titeln erwähnt habt. Führt uns zu Archon, zu Nisroc, zu Sefiroth oder zu Shemhamphorae, wenn das möglich ist.« »Oder vielleicht können wir mit Aratron sprechen«, sagte Nadil dann, »oder mit Bethor, Phaleg oder Hagith.« Die Nennung dieser Namen, die ja auf dem grünen Stein von Silandor verzeichnet waren, hatte eine bemerkenswerte Wirkung auf die beiden Malachim. Sie richteten sich zu ihrer vollen Größe auf, rissen die Augen auf und wurden ganz steif. Arsarsbial blickte Nadil durchdringend an. »Wer hat dir gestattet, diese Namen auszusprechen?«, rief er zornig. »Niemand darf diese Namen aussprechen.« »Verzeiht, Arsarsbial und Egrumial, Torwächter aus dem 258
sechsten Himmel, Dominium der Prinzipalen, Diener unter Nisroc«, rief Saru geistesgegenwärtig dazwischen und warf Nadil gleichzeitig einen strengen Blick zu. »Wir sind Schmetterlinger. Wir wissen so wenig über eure Sitten und Gebräuche. Sagt uns doch bitte, wo wir jemanden finden, dem wir unsere Fragen vortragen können.« Die Malachim beruhigten sich wieder. Nadil schwieg, aber tief in seinem Innern regte sich schon jetzt ein gehöriges Misstrauen. Diese Malachim gefielen ihm überhaupt nicht. Was waren das denn für seltsame Gestalten? Außer ihren vielen Titeln schienen sie nicht besonders viel im Kopf zu haben. Die Malachim indessen wussten offenbar auch nicht so recht, was sie mit diesen merkwürdigen Besuchern anfangen sollten und wo Schmetterlinger einzuordnen waren. Schließlich sagte Egrumial: »Vielleicht solltet ihr mit einem Metatron sprechen.« Saru hob eine Augenbraue, erwiderte jedoch nichts. Er hatte noch nie etwas von einem Metatron gehört, aber im Augenblick ging es wohl darum, erst einmal in diese Stadt hineinzugelangen. »Ich werde jemanden kommen lassen, der euch führen wird«, sagte Egrumial. Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß er sich vom Boden ab, schlug zweimal kräftig mit seinen zwölf Flügeln, was einen gehörigen Windstoß verursachte, und verschwand jenseits der Mauer. Arsarsbial blieb allein bei ihnen zurück. Er beachtete die drei Besucher jedoch nicht weiter, sondern polierte die Blitze an seinem Gürtel oder schaute unbeteiligt über sie hinweg in die Ferne. Sie warteten schweigend. Piri und Nadil wechselten viel sagende Blicke. Aber Saru fixierte sie streng. Lasst euch nichts anmerken, schien er sagen zu wollen, wir werden schon herausfinden, was wir herausfinden wollen. 259
Es dauerte nicht lange, da gab es erneut einen kräftigen Windstoß, und Egrumial landete wieder auf seinem Platz. Arsarsbial schaute ihn fragend an, doch Egrumial nickte nur. Dann fassten die beiden sich an den Händen, bildeten einen Bogen, und – Zauberei über Zauberei – die Mauer öffnete sich. Ein weiterer Malach wurde dahinter sichtbar, sehr viel kleiner als die beiden anderen, aber offensichtlich von höherem Rang. »Willkommen in Dorsilan«, sagte er und verbeugte sich. »Ich bin Mahamiel, Wächter der sieben himmlischen Hallen, Vorsteher der dritten Höhe, vierzehnter Anwärter auf Sefiroth, Letzter der Sarim und fünfter Weiser der Seher von Lilith, einfacher Uriel und Taufgeist von Rimmon, königlicher Gesandter im dritten Hause der Senziner und Schwertträger von Metatron der sechsundsiebzig Namen. Seid gegrüßt.« Saru übernahm die Vorstellung, nannte ihre kümmerlichen Namen und bedankten sich höflich dafür, dass sie die Erlaubnis bekamen, den Malach Metatron zu sprechen. Doch als sie losspazierten, stellte sich heraus, dass sie sich das wohl zu leicht vorgestellt hatten. »Zu welchem der sechsundsiebzig Metatron soll ich euch bringen?«, fragte Mahamiel und wedelte mit einem Strauß wohlriechender Blätter, den er in seiner linken Hand trug. »Sechsundsiebzig Metatron?«, wiederholte Saru. »Ja, Metatron der sechsundsiebzig Namen«, erklärte Mahamiel freundlich. »Ich kann, da ich Schwertträger aller Namen bin, jeden davon herbeibeten, doch muss ich wissen, welchen Metatron ihr sehen möchtet. Midrash? Oder Miton? Malmeliyah? Oder vielleicht Hatspatsiel?« »Ach, Mahamiel«, begann Saru, »wir sind so verwirrt. Wir kennen uns hier überhaupt nicht aus und wollten doch nur jemanden finden, der uns sagen kann, warum in der Wüste 260
vor Mangarath so viele versteinerte Malachim niedergehen. Kannst du uns nicht jemanden nennen, der darüber vielleicht etwas weiß?« »Versteinert?«, wiederholte Mahamiel mit den vielen Titeln verwundert. »Davon habe ich noch nie etwas gehört. Und Mangarath? Wo liegt denn Mangarath?« »In Phantásien«, schaltete sich jetzt Nadil ein, der allmählich ungeduldig wurde. Saru klopfte ihm leicht auf die Schulter, damit er sich nicht so ereiferte. Glücklicherweise war Mahamiel ein sanftmütiger Zeitgenosse und ließ sich von Nadils Ärger nicht anstecken. »Wir Malachim leben in Dorsilan«, sagte er knapp. »Und was tut ihr hier?«, fragte Nadil. Die Frage schien Mahamiel unbegreiflich zu sein. »Tun? Was wir hier tun?« Jetzt plusterte er sich doch entrüstet auf. »Ich bin Mahamiel, Wächter der sieben himmlischen Hallen, Vorsteher der dritten Höhe, vierzehnter Anwärter auf Sefiroth, Letzter der Sarim und fünfter Weiser der Seher von Lilith, einfacher Uriel und Taufgeist von Rimmon, königlicher Gesandter...« »Du hast völlig Recht«, unterbrach Saru den armen Malach. »Nadil, was stellst du nur für dumme Fragen. Wer so viele wichtige Ämter innehat, den fragt man doch nicht, was er tut!« Dabei zwinkerte er Nadil zu, und er warf auch Piri einen Blick zu, der besagte: Fragt nicht so viel, sondern beobachtet lieber. Wir werden schon jemanden finden, der uns Auskunft geben kann. Nadil verstummte resigniert und schaute sich um. Jetzt, da sie die Mauer hinter sich gelassen hatten, konnten sie viele Einzelheiten unterscheiden, die aus der Ferne nicht zu sehen waren. Dorsilan war an einer abschüssigen Gebirgsflanke gebaut, und so konnte man schon von hier aus erkennen, was 261
einen weiter unten erwartete: Prächtige Straßen waren zu sehen, Stadtviertel mit großen Palästen und Gärten, von Kanälen durchzogen, die in glitzernde kleine Seen mündeten. Je weiter sie in die Stadt hineingingen, desto schöner wurde alles. Und jetzt sahen sie auch die Bewohner. Dutzende, nein, Hunderte geflügelter Wesen saßen auf den Dächern, segelten durch die Luft, hockten auf Simsen, schliefen in Bäumen oder gingen miteinander spazieren. Die drei Schmetterlinger wussten gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollten. In den Himmel über ihren Köpfen etwa, wo riesige Schwärme majestätisch vorüberzogen, flirrende Wolken von unzähligen geflügelten Wesen, die wer weiß wohin unterwegs waren. Oder auf die vielen unterschiedlichen Geschöpfe, die sich auf einer riesenhaften Kuppel, welche alles andere in dieser Stadt überragte, niedergelassen hatten. Nadil erkannte einige der Wesen wieder, die ihm schon in der Wüste begegnet waren, etwa jene geflügelten Knirpse, die ihm gegen den Kopf geflogen waren. Sie bevölkerten hier die Simse. Es gab auch sehr viele von der Art desjenigen, der in der Wüste von Mangarath herumgeirrt war. Doch daneben flogen hier noch zahllose andere herum. Manche hatten nur zwei Flügel, andere vier oder acht. Es gab Malachim, die einen Fischleib hatten. Andere sahen aus, als seien sie aus Marmor oder Granit, wieder andere schienen aus Holz geschnitzt, bewegten sich jedoch geschmeidig und flogen genauso kunstvoll und geschickt wie ihre Brüder oder Schwestern, deren Körper aus Fleisch und Blut zu bestehen schienen. Interessant waren auch einige große dunkelblaue Wesen, die schlafend von den Dächern der Häuser herabhingen. Ihre Gesichter waren nicht zu sehen, aber allein ihr tiefblaues Gefieder hatte etwas Majestätisches. »Das sind Nocturne«, bemerkte Mahamiel. »Sie schlafen 262
tagsüber. Und dort oben, das sind Parzianer.« Sie hoben die Köpfe. Weit über ihnen zog eine gewaltige Gruppe von sehr langen, silbrig glänzenden Malachim vorüber, deren Haar wie ein langer Nebelschweif hinter ihnen durch die Luft tanzte. »Sie heißen auch Throne oder gesichtslose Tröster«, ergänzte Mahamiel. »Und die Malachim, die man dort unten auf den Plätzen stehen sieht?«, fragte Saru. »Das sind Prinzipalen«, erklärte Mahamiel. »Sie sorgen gemeinsam mit den Potentaten, den so genannten Mächten, für Ordnung. Und neben ihnen stehen einige Virtuden, die für die Mächte arbeiten.« Nadil räusperte sich, sagte aber nichts. Saru schaute argwöhnisch zu seinem Enkel hin, beließ es jedoch dabei und fragte stattdessen, ob dies alle Rangordnungen seien. »Nein«, erwiderte Mahamiel, »wir sind hier im Bezirk MDLXVI von Dorsilan.« »Und wie viele Bezirke gibt es?«, wollte Piri wissen. »Tausende«, lautete die Antwort. Je länger sie Mahamiel zuhörten, desto offensichtlicher wurde es, dass selbst ein Wächter der sieben himmlischen Hallen, Vorsteher der dritten Höhe, vierzehnter Anwärter auf Sefiroth und was sonst noch alles nicht genau wusste, wie viele Malachim und Hierarchien es überhaupt gab. »Niemand hier weiß wirklich Bescheid«, klagte Nadil, als Mahamiel sie kurz verließ, um sich bei einem Prinzipalen nach dem Weg zum nächsten Metatron zu erkundigen. »Die Malachim von Dorsilan sind genauso dumm und unwissend wie diese anderen, die mir in der Wüste von Mangarath gegen den Kopf geflogen sind.« Saru nickte bekümmert. Aber offenbar wusste er im Augenblick auch nicht weiter. »Warten wir erst einmal, bis wir 263
diesen Metatron gesprochen haben. Vielleicht kann der uns weiterhelfen.« Nadil ließ seinen Blick über die Dächer schweifen und schaute dann lange auf das Land der Leere. Was für ein merkwürdiges Land! Es übte schon jetzt eine ihm unerklärliche Anziehungskraft auf ihn aus. Und hatte das Orakel von Raginor nicht gesagt, nur wer dort hineingehe, könne Phantásien erhalten? Doch zugleich erfüllte ihn diese Leere mit Schaudern. Wenn er länger hinschaute, wurde ihm regelrecht schwindelig. Nein, damit war nicht zu spaßen.
\2\ Taublume flog in Windeseile vorneweg, und Windjunge beeilte sich mitzuhalten. Toralon machte sich Vorwürfe. War es richtig gewesen, die Mädchen allein zu lassen? Hätte er nicht bei ihnen bleiben sollen? Nein, sie mussten so schnell wie möglich so viele Phantásier wie möglich warnen, dass ein Heer von Iblissen im Anmarsch war. Wie konnte das nur geschehen sein? Und wer steckte wohl dahinter? Toralon flog so hoch, wie er konnte. Meist behielt er Taublume im Auge, denn der witterte aufmerksam nach allen Seiten hin, ob nicht irgendwo Spuren von Quäldrohnen zu finden waren. Aber glücklicherweise schien das nicht der Fall zu sein. Doch die Bewegung dort unten am Boden war nicht weniger beunruhigend. Immer wieder entdeckte er kleine Gruppen von pelzigen schwarzen Punkten, die sich zu einem immer größer werdenden Rudel zusammenrotteten. Sie quollen aus Felsnischen hervor, krochen aus Erdlöchern und stiegen aus Baumwipfeln hinab. Glücklicherweise war er mit seinen beiden Schmetterlingen um ein Vielfaches schneller 264
als diese Bestien dort unten am Boden. Aber das war auch schon der einzige beruhigende Umstand. Wenn sie so weiterflogen, würden sie Nevisehr rechtzeitig vor dem Eintreffen dieser Angreifer erreichen. Aber was dann? Wie sollten sie sich gegen Tausende Iblisse zur Wehr setzen? Er gab Windjunge die Sporen und schloss zu Taublume auf. Dem stand auch die Angst ins Gesicht geschrieben. »Taublume«, sagte Toralon, »siehst du, was ich sehe? Dort unten, überall Iblisse. Sie sammeln sich, und wenn ich mich nicht irre, dann ziehen sie in die gleiche Richtung wie wir.« »Ja«, erwiderte der Schmetterling aufgeregt, »ich denke auch schon darüber nach, was wir tun können.« »Und was schlägst du vor?« »Ich sehe nur eine Möglichkeit«, rief Taublume gegen den kräftigen Gegenwind, der plötzlich aufgekommen war. »Wie viele Schmetterlinge sind zur Zeit in Nevisehr?« Toralon überlegte. »Jedenfalls nicht genug«, sagte er dann schnell. »Vielleicht dreißig.« Taublume nickte. »Ja, viel mehr werden nicht da sein. Daher habe ich mir Folgendes überlegt: Du musst alle Bewohner von Nevisehr so schnell wie möglich auf dem Hauptplatz sammeln. Ich fliege eine Schleife zu den Blaumohnwiesen und hole so viel Verstärkung, wie ich bekommen kann. Dort müssten zur Zeit einige tausend Schmetterlinge sein. Ich bringe sie so schnell ich kann nach Nevisehr. Bereite du dort alles vor.« Damit schoss Taublume auch schon davon. Toralon gab Windjunge die Sporen und spürte wieder etwas Zuversicht. Ja, so könnte es gehen, wenigstens die unmittelbare Gefahr wäre auf diese Art und Weise gebannt. Aber die Blaumohnwiesen – das war eine gehörige Entfernung. Und dann musste Taublume ja auch noch rechtzeitig wieder in Nevisehr ein265
treffen, bevor die Iblisse ... Nein, daran durfte er jetzt überhaupt nicht denken. Es musste einfach klappen. Er legte sich flach auf Windjunge und signalisierte dem Schmetterling, noch schneller zu fliegen. Und der tat dies auch, indem er eine leichte Schräglage einnahm und dann steil abwärts stürzte. Nach über einer Stunde kam endlich der Wald von Nevisehr in Sicht, und kurz darauf sah Toralon die Schmetterlingerhäuschen. Sein Herz machte einen Sprung. Zu Hause!, dachte er, froh, dass alles unversehrt dalag. Windjunge schoss direkt auf die Hauptstraße hinab. Viele Schmetterlinger waren dort gerade unterwegs, denn heute war Markttag. Ein glücklicher Umstand, dachte Toralon. So habe ich sie fast alle schon auf einem Fleck. »Fliege direkt auf den Markt«, rief er Windjunge zu. Und der ließ sich das nicht zweimal sagen. Indessen hatte man sie dort unten offenbar bemerkt. Einige Köpfe reckten sich, und Hände zeigten auf sie. »He, was soll denn das?«, rief jemand, während Windjunge jetzt ganz dicht über den Köpfen der Schmetterlinger flog. »Wer fliegt denn hier herum?«, rief ein anderer. »Ein Riesenschmetterling, so schnell und so nah an unseren Häusern. Das ist doch viel zu gefährlich. He, lande gefälligst außerhalb der Stadt, wie sich das gehört.« Aber Windjunge ließ sich nicht beirren. Auch wenn seine großen Schwingen den Fassaden der Häuser jetzt schon gefährlich nahe kamen, manövrierte er geschickt und hielt direkt auf den Marktplatz zu. »He, das ist doch Toralon«, erklang eine Stimme. »Toralon, bist du verrückt geworden, hier herumzufliegen?« Gleichzeitig stürmten die Schmetterlinger auf der Straße panikartig nach links und rechts auseinander, denn so ein 266
Riesenschmetterling, der mitten in ihrer Stadt die Kontrolle verlor und abstürzte, konnte leicht zwanzig oder dreißig von ihnen unter sich begraben. Jetzt krachten auch schon die ersten Fensterscheiben, denn Windjunges Schwingen hatten eine ganze Batterie Blumentöpfe von einem Sims gefegt, und einige davon waren gegen geschlossene Fenster geknallt. »Hilfe, Hilfe«, hörte man nun überall rufen. Schmetterlinger hechteten in Hauseingänge. Andere flüchteten unter Heuwagen oder krochen unter Tische, auf denen Obst und Gemüse zum Verkauf auslagen. Endlich lag der Marktplatz vor ihnen. Windjunge versuchte zu bremsen, bäumte sich auf und schlug zweimal stark mit seinen riesigen Schwingen, um seine Geschwindigkeit zu drosseln. Das führte allerdings zu einem noch größeren Durcheinander. Er hätte doch wissen müssen, was für einen Windstoß solch ein Bremsmanöver auf einem so kleinen Raum verursachen würde. Aber er hatte es so eilig gehabt und nicht daran gedacht. Von einer Sekunde zur anderen fegte ein solcher Wind über den Marktplatz, dass man hätte meinen können, vier Herbststürme hätten sich hier verabredet. Alles flog wild durcheinander. Die Stände fielen um, Schmetterlinger-Männer und -Frauen wurden kreuz und quer durcheinander geblasen. Von den Dächern der angrenzenden Häuser flogen die Ziegel weg, als wären sie nur aus Staub. Und als Windjunge endlich auf dem Dach des Brunnens in der Mitte des Platzes landete und seine mächtigen Schwingen zusammenlegte, da war in einem Umkreis von dreißig Fuß jeder Marktstand weggefegt. Toralon glitt von Windjunge herunter und betrachtete bekümmert das Durcheinander. Ach, du liebe Zeit. So hatte er sich seine Ankunft in Nevisehr nicht vorgestellt. Der ganze Platz war wie erstarrt. Die Schmetterlinger wussten über267
haupt nicht, was sie zu solch einer Unverfrorenheit sagen sollten. Sie lagen zwischen ihren Marktständen, tasteten ihre Glieder ab, um zu sehen, ob sie sich nicht alles gebrochen hatten, und rappelten sich jetzt allmählich auf. »Toralon!«, erklang eine Stimme. »Bist du des Wahnsinns? Was in drei Sumpftrolls Namen fällt dir ein, mit einem Riesenschmetterling mitten in der Stadt zu landen?« Toralon hob die Arme, um das einsetzende Stimmengewirr zu unterdrücken. Von allen Seiten hagelte es Vorwürfe und Verwünschungen. »Packt eure Sachen«, rief er. »Ihr müsst so schnell wie möglich Nevisehr verlassen. Iblisse sind im Anmarsch. Wir müssen weg hier, so schnell wir können!« Ein großer Schmetterlinger trat vor und baute sich direkt vor Toralon auf. »Hast du den Verstand verloren«, fragte er. »Wo kommst du überhaupt her?« »Staros«, sagte Toralon, denn er kannte den Anführer der Garde natürlich, »in meinem Leben habe ich noch nie so klar gesehen wie jetzt. Und es gibt nur einen Grund, warum ich diese Wahnsinnslandung mitten in Nevisehr durchgeführt habe: Ihr seid alle in Lebensgefahr. Phantásien wird von einer fremden Macht angegriffen. Ich habe jetzt keine Zeit, euch alles zu erklären. In weniger als einer Stunde wird hier ein Heer von Iblissen einfallen, um euch alle zu vernichten. Taublume ist zu den Blaumohnwiesen geflogen, um Schmetterlinge für euch zu holen. Also macht schnell, ihr habt wenig Zeit. Aber wenn ihr sofort handelt, können wir uns retten.« Staros schaute Toralon mürrisch an. Doch der dringliche Ton schien Eindruck auf ihn zu machen. Außerdem hatte das Wort Iblisse eine bemerkenswerte Wirkung getan. Auf dem Platz machte sich eine betroffene Stille breit. »Er hat Recht«, sagte nun auch Windjunge. »Ihr dürft keine Sekunde mehr verlieren. Alle Flügelphantásier sind in 268
Lebensgefahr.« Und als noch immer alle wie erstarrt dastanden und keine Bewegung in die Umstehenden kam, fügte er hinzu: »Stellt euch vor, Garsiran ist gefallen. Die Nachtalben sind vernichtet. Elfenauge ist von Quäldrohnen ermordet worden. Wollt ihr noch länger warten?« Diese schrecklichen Neuigkeiten lösten die Lähmung, die alle befallen hatte. Garsiran vernichtet? Die Nachricht flog von Mund zu Mund. Auch Staros schien jetzt endlich zu begreifen, dass Toralon ihnen keinen Streich gespielt hatte, sondern wirklich höchste Eile geboten war. »Los, bereitet euch zur Flucht vor!«, rief er und sprang dann auch selbst davon, um seine Familie zu holen. Toralon fiel ein Stein vom Herzen. Das war geschafft. Jetzt musste nur noch Taublume rechtzeitig eintreffen. »Los«, sagte er zu Windjunge und stieg wieder in den Sattel. »Lass uns schauen, wie viel Zeit wir noch haben.« Windjunges Flügelschläge warfen diesmal nur noch Kisten und halb zerbrochene Markstände durcheinander, denn die Schmetterlinger waren längst ausgeschwärmt, um ihre Siebensachen zu holen. Einige liefen auch schon direkt aus der Stadt hinaus, wo eine Gruppe von Riesenschmetterlingen zur Bemalung auf einer Weide stand. Gut, gut, dachte ToraIon. Sie werden uns gleich folgen und mit eigenen Augen sehen, was für ein Unheil sich da zusammenbraut. Windjunge schoss davon. Sie stiegen hoch hinauf, flogen etwa zwanzig Minuten, und dann sahen sie die ersten Iblisse, die einen Hang hinabströmten. Aber wie viele waren es jetzt schon geworden! Wie konnte das nur sein? Keine Wesen Phantásiens konnten sich derart vermehren. Woher nahmen sie nur die Kraft, so viele zu sein? Doch bevor der Anblick des nahenden Unheils Toralon und 269
Windjunge allen Mut nehmen konnte, sahen sie auf einmal aus westlicher Richtung eine gigantische Wolke von Riesenschmetterlingen auf sich zukommen. Taublume hatte es geschafft! Toralons Herz wollte zerspringen vor Freude über diesen Anblick. Der ganze Horizont verdunkelte sich jetzt. Auch die Iblisse schienen es zu bemerken, denn plötzlich hielt das Heer der Bestien inne und reckte die Köpfe. Und als sie sahen, was dort am Himmel an ihnen vorüberzog, da drang ein tausendfaches boshaftes Brüllen aus ihren Kehlen und erschütterte die Luft. Doch die Schmetterlinge ließen sich nicht beeindrucken. Einer Wolke gleich, zogen sie vorüber, angeführt von Taublume, und nahmen Kurs auf Nevisehr. Toralon jauchzte. Ihr Plan war aufgegangen. In kurzer Zeit wäre jeder Schmetterlinger sicher auf dem Rücken eines Riesenschmetterlings weit oben in den Lüften Phantásiens, wo kein Iblis ihnen etwas anhaben konnte. Was sie dann tun würden, wusste er noch nicht. Sie konnten natürlich nicht ewig herumfliegen, und außerdem bestand noch immer die Gefahr, dass bald wieder Quäldrohnen auftauchen würden. Aber darüber würde er nachdenken, wenn erst einmal alle seine Gefährten in Sicherheit waren. »Los«, rief er Windjunge zu. »Schnell zurück.« »Aber wohin sollen wir gehen, wenn wir Nevisehr verlassen haben?«, fragte nun auch Windjunge. »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Toralon. »Uns wird schon etwas einfallen. Vielleicht haben die Mädchen etwas herausgefunden, das uns helfen kann.«
270
\ 3\ »Tavtavel wird euch empfangen«, sagte Mahamiel, als er zurückgekehrt war. Er führte sie durch eine leicht abschüssige Gasse auf ein geschwungenes Tor zu. Dahinter befand sich ein Garten. Sie durchquerten ihn rasch und gelangten schließlich vor eine hoch gewachsene Hecke. Auf halber Höhe davor schwebte eine schöne weiße Wolke, und darauf saß ein Malach, der eigentlich wie ein Vogel aussah, allerdings wie ein Vogel mit vierundzwanzig Flügeln. Soeben zupfte er an einer Blume herum. Offensichtlich war er mit Gärtnerarbeit beschäftigt. Er ließ sich von der Ankunft der Schmetterlinger nicht stören, sondern schwebte leise summend an der Hecke entlang und entfernte hier und da ein welkes Blatt oder eine vertrocknete Blüte. Erst als Mahamiel ihn ansprach, drehte er sich um, musterte die Ankömmlinge und segelte dann sanft und lautlos zu ihnen herab, wobei er seine Wolke in der Luft zurückließ. »Ehrwürdiger Tavtavel, zweiundfünfzigster Metatron, Bewahrer der Zeit, großer Siegelhalter des Weisen von Aruth, Wächter von Kokabel, vierter Diener der Diener der Gnade, neunter Irin und daher zugleich erster Hutriel, Radon der zwanzig Gesandten, Hüter der Schriften von Azbugah, Großmeister von Byleth und Balberith, vierzehnter der Sänger der Chöre Amiziras ...«, begann Mahamiel und zählte so viele weitere Titel auf, dass es Nadil ganz schwindlig wurde. »Ich bringe dir drei Schmetterlinger. Sie kommen aus Phantásien und suchen jemanden, der ihnen etwas über versteinerte Malachim erzählen kann. Ich dachte, du kannst ihnen vielleicht Auskunft geben?« Tavtavel hob seinen eindrucksvollen Kopf und legte bedächtig seine vierundzwanzig Flügel zusammen. Dieser 271
Malach, das sah man sofort, war von einer ganz anderen Sorte. Er war noch größer als Egrumial und Arsarsbial, zudem mit einem wuchtigen Schnabel und messerscharfen Krallen an seinen muskulösen Zehen ausgestattet. Bei aller Ruhe und Gefasstheit strahlte er etwas Kriegerisches aus. »So, so«, sagte er, nachdem er die Besucher eine Weile lang betrachtet hatte. »Phantásier.« Sonst äußerte er vorerst nichts, sondern hob nur einen seiner vier kräftigen, von Narben übersäten Arme, die er bis dahin vor der Brust verschränkt hatte, und machte Mahamiel ein unmissverständliches Zeichen, sich zu entfernen. Nachdem Mahamiel gegangen war, lud Tavtavel die Schmetterlinger ein, Platz zu nehmen, und als sie sich gesetzt hatten, ließ er sich gleichfalls auf der Wiese nieder. »Was führt euch her?«, fragte er und richtete seine dunklen, matt schimmernden Knopfaugen auf Saru. Saru erzählte von Mangarath und Silandor, von den Lichtexplosionen und den Trümmern, von ihrer langen Reise und dem Grund ihres Besuchs. Tavtavel lauschte, ohne ihn zu unterbrechen, blickte nur bisweilen von einem zum anderen. Seine Miene indessen blieb völlig ausdruckslos. »Und ihr glaubt, dass wir euch sagen können, was in Phantásien geschieht?«, fragte er, als Saru fertig gesprochen hatte. »Wir hoffen es inständig«, antwortete Nadils Großvater. Tavtavel sah sie lange an. Dann sagte er: »Ich denke, unser Gespräch wird eine Weile dauern, und dazu sollten wir es uns etwas bequemer machen.« Er erhob sich und führte die Schmetterlinger weiter in seinen Garten hinein, bis zu einem hübschen See. Kleine Lämmerwolken schwammen darin. Tavtavel segelte kurz über den See hinweg und trieb die luftigen Wolken mit sanf272
ten Flügelschlägen ans Ufer. »Bitte setzt euch. Auf dem Wasser ist es kühler.« Es war ein wunderbares Gefühl, nach dem langen Marsch, den die drei hinter sich hatten, auf einer Wolke zu sitzen, die im Wasser schwamm. Sie versanken fast vollständig darin. Von Piri und Nadil schauten nur noch die Köpfe hervor. Tavtavel indessen schien überhaupt kein Gewicht zu haben, denn er schwebte über seiner Wolke, als er zu erzählen begann: »Ich habe viele Jahre in Phantásien gekämpft. Es war eine aufregende Zeit. Ich gehörte der Armee der Soldatenengel an, damals freilich noch nicht im Rang eines Metatron, sondern als einfaches Mitglied der unteren Triaden. Erst später kam ich zu den Cherubim.« »Soldatenengel?«, platzte Piri heraus. »Cherubim? Was sind Cherubim?« »Wir sind alle Malachim«, antwortete Tavtavel. »Doch in Phantásien nennt man uns Engel. Malachim-Cherubim sind Kämpfer, Soldatenengel eben. Ihre Flammenschwerter leuchten weithin in alle Richtungen, und wenn eine Armee von Cherubim in einen nachtdunklen Teil von Phantásien einfällt, wo außer Werwölfen, Schlangen, Würgeriesen und Sumpfvipern seit Jahrtausenden nichts gedeiht, dann ist das ein Fest des Lichtes und der Hoffnung.« »Und gibt es Cherubim auch hier in Dorsilan?«, fragte Piri weiter. »Sicher«, entgegnete Tavtavel und reckte kurz seinen Hals. »Aber natürlich sind es nicht die gleichen herrlichen Krieger, die einst in Phantásien gekämpft haben. Sie sind alt und schwach. Ihr Feuer ist erloschen, so wie auch ich nur noch ein Schatten des Engels bin, der ich einmal war.« Er machte eine kurze Pause. »Ja, ich kann mich an viele Schlachten erinnern«, fuhr er fort, »die wir im Land der Feuer273
drachen und Lindwürmer geschlagen haben. Aufgrund meiner Erfolge beim Kampf gegen die Drachen wurde ich, wie gesagt, schon bald in den Rang eines Engels der Mächte erhoben, und danach wurde ich natürlich nur noch in ganz entlegenen Gebieten Phantásiens eingesetzt, wo so unvorstellbare Gewalten wüten, dass dort niemand hingelangen kann, bevor wir diese Regionen befriedet haben.« »Niemand?«, fragte Saru. »Was meinst du damit?« »Kein Phantásier eben«, ergänzte Tavtavel. »Aber Drachen und Lindwürmer sind doch auch Geschöpfe Phantásiens, oder nicht?« »Ja, sicher«, lenkte Tavtavel ein. »Ich muss Begriffe aus eurer Sprache verwenden, sonst begreift ihr das alles nicht. Ich sage Engel, weil ihr euch einen Malach gar nicht vorstellen könnt. Ebenso spreche ich von Drachen und Lindwürmern, weil es für das namenlose Grauen, das an jener Grenze Phantásiens herrscht, in eurer Sprache keine Wörter gibt. Diese Wesen sind von unbeschreiblicher Bosheit. Sie stammen aus einer Region, die an das absolute Dunkel der Zeit angrenzt: Bir-Ariman, was in eurer Sprache so viel bedeutet wie Schoß des Grauens. Wie gesagt, das ist nur eine kümmerliche Bezeichnung für diesen Abgrund des Horrors, aus dem unablässig die entsetzlichsten Erscheinungen geboren werden, die wir Engel, als wir in Phantásien waren, in Schach halten mussten.« »Mussten?«, fragte Saru erschrocken. »Tut ihr das denn heute nicht mehr?« »Nein«, antwortete Tavtavel. »Wir haben uns schon lange aus Bir-Ariman zurückgezogen. Und wenn ich sehe, wie viele Engel mittlerweile hier in Dorsilan darauf warten, ins Land der Leere zurückzukehren, dann können nicht mehr viele von uns in Phantásien sein.« 274
Die Schmetterlinger schauten einander entgeistert an. Wieder fand Saru als Erster die Sprache wieder: »Ehrwürdiger Tavtavel, zweiundfünfzigster Metatron, Bewahrer der Zeit, großer Siegelhalter des Weisen von Aruth ... heißt das, dass Phantásien den Kräften von Bir-Ariman ausgeliefert werden soll?« Der alte Engel schaute nachdenklich vor sich hin. Dann antwortete er: »Es ist für uns sehr schwierig zu beurteilen, was wirklich geschehen ist. Wir Engel sind Instrumente. Wir können nicht über das urteilen, was wir tun. Wir tun es einfach. Und wenn unsere Zeit gekommen ist, wenn wir unsere Aufgabe erfüllt haben, dann werden wir aus Phantásien abberufen und kommen hierher, nach Dorsilan, wo wir unsere Tage fristen, bis wir in die Unendlichkeit eingehen, aus der wir gekommen sind.« Pili starrte voller Unbehagen vor sich hin. Bir-Ariman. Davon hatte er noch nie gehört. Was für ein schrecklicher Ort. Und wenn die Engel aus Phantásien verschwunden waren, war dann Phantásien nicht schutzlos diesen Kreaturen aus Bir-Ariman preisgegeben? »Das heißt, die Engel hier in Dorsilan sind alle gar keine wirklichen Engel mehr?«, fragte Nadil und richtete sich alarmiert auf. Tavtavel schaute Nadil lange an, und es sah fast so aus, als ob er lächelte, soweit das bei einem Vogelgesicht überhaupt möglich war. »Alle Malachim kommen aus dem Land der Leere. Malachim sind Boten des Unvorstellbaren. Ja, wahrhaftige Malachim sind absolut unvorstellbar. Ihre Allmacht und Größe ist nur so lange vollständig, wie sie keine Gestalt annehmen. Tun sie dies, so verringert sich ihre Macht. Je mehr sie zu Engeln werden, das heißt, je sichtbarer sie werden, desto 275
machtloser werden sie auch. Das geht so weit, dass sie sich selbst vergessen können, wenn ihre Gestalt zu klein, zu kümmerlich geworden ist.« »Wissen deshalb so viele von euch hier nichts von Phantásien?«, fragte Nadil. Tavtavel nickte. »Je geringer die Form ist, die ein Malach annehmen muss, desto weniger weiß er über sich und den Ort, wo er Gestalt angenommen hat. Solche Engel haben eigentlich nur noch ihren Namen, ansonsten sind sie unwissend und leer.« Saru, Nadil und Piri lauschten gespannt, doch sie hatten Mühe, Tavtavel zu verstehen. »Aber wer gibt euch denn eure Gestalt?«, fragte Nadil. Tavtavel zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Wer gibt denn euch die eure?« Darauf wussten die drei Schmetterlinger allerdings auch keine Antwort. »Wie dem auch sei«, fuhr Tavtavel fort, »wir haben unsere Aufgaben erfüllt. Seitdem ruhen wir aus und harren der Ewigkeit, in deren Gegenwart wir tagaus, tagein leben und in die wir von Dorsilan aus wieder eingehen werden.« »Heißt das, ihr geht alle in die Leere ein, die dort unten beginnt?«, schaltete sich Saru ein. Tavtavel nickte. »Ja. Dort kommen wir her, dorthin kehren wir zurück.« »Aus dem Land der Leere?«, fragte jetzt wieder Nadil. »Ich verstehe das nicht. Ein Land, aus dem Engel kommen und in das alle Engel wieder zurückkehren, kann doch nicht leer sein.« »So ist es aber«, erwiderte Tavtavel. »Das Land der Leere ist die Heimat des Unvorstellbaren. Daher ist es leer. Wir sind die Boten des Unvorstellbaren. Daher kommen wir von dort und kehren dorthin zurück.« 276
Saru überlegte. Der Spruch des Orakels von Raginor kam ihm in den Sinn: Das Nichts ist in allen Gestalten. In der Leere ist alles enthalten. »Ehrwürdiger Tavtavel«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Du weißt aus unseren Schilderungen, dass Phantásien in einem bedenklichen Zustand ist. In der Wüste von Mangarath versteinern Engel, die vom Himmel herabgestürzt sind. Hast du dafür eine Erklärung? Kommen diese Engel vielleicht aus Dorsilan? Haben sie eine Botschaft für uns?« »Ja, es ist merkwürdig, nicht wahr?«, erwiderte Tavtavel. »Phantásier kommen zu uns, und versteinerte Engel stürzen auf Phantásien nieder. Aber du irrst dich, diese Engel können nicht von hier kommen. Das ist noch nie geschehen. Wir alle kommen aus dem Land der Leere und nehmen in Phantásien Gestalt an. Wenn wir unsere Aufgabe dort erfüllt haben, kehren wir nach Dorsilan und von hier aus ins Land der Leere zurück. So ist es schon immer gewesen. Das ist das ewige Gesetz.« »Nun gut«, fuhr Saru fort. »Dann ist es wohl so, dass irgendwelche Engel aus dem Land der Leere nach Phantásien kommen wollen. Aber aus irgendeinem Grund verglühen sie, bevor sie Phantásien erreichen, und regnen als Trümmer auf die Wüste von Mangarath hernieder.« Tavtavel legte eine seiner längeren Gedankenpausen ein. Dann sagte er: »Wenn es so ist, wie du sagst, dann wird es wohl so sein.« Saru verzog irritiert das Gesicht. »Kannst du uns das etwas genauer erklären?« »Nein«, erwiderte Tavtavel. »Ich kann gar nichts erklären. Wir gehorchen einer inneren Stimme, die uns sagt, was zu tun ist. Eines Tages wurden wir aus Phantásien abberufen und machten uns auf nach Dorsilan. Da bemerkten wir, dass 277
offenbar keine großen Engel mehr nach Phantásien gelangen konnten. Sie verbrannten am Himmel, bevor sie Phantásien erreichten. Nur ganz kleine oder einfältige Tröster kamen bisweilen noch durch. Aber keine Cherubim oder Sarim, geschweige denn Metatron oder Throne.« Die Schmetterlinger schauten sich betroffen an. »Aber warum denn nur«, rief Nadil. »Warum wurdet ihr aus Phantásien abberufen?« »Wir gehen nicht gern nach Phantásien«, sagte Tavtavel. »Wenn wir zu euch kamen, dann weil Aratron uns führte. Doch Aratron hat Phantásien verlassen und ist ins Land der Leere zurückgekehrt. Daher folgen wir ihm. Wo immer Aratron hingeht, dorthin ziehen auch die Engelheere.« Aratron. Der Name löste ein unheimliches Echo in den Schmetterlingern aus. »Und weiß man, warum Aratron Phantásien verlassen hat?«, fragte Piri. Tavtavel plusterte sich ein wenig auf und hob seinen Kopf. Nadil war beeindruckt. Was für eine mächtige Gestalt dieser Engel hatte! Er musste im Kampf ein furchtbarer Gegner sein. »Weil Silandor zerstört wurde«, antwortete Tavtavel. »Silandor!«, wiederholte Saru, und sein Gesicht hellte sich auf. »Aber was ist in Silandor gewesen?« »Das weiß ich nicht«, sagte Tavtavel. »Das weiß nur Aratron.« Aratron. Sie mussten Aratron finden, dachte Nadil. »Und wo ist Aratron? Können wir mit ihm sprechen?« Tavtavel schüttelte den Kopf. »Wie sollte das möglich sein? Aratron ist, wie gesagt, im Land der Leere. Wenn er in Phantásien wäre, könntet ihr ihn vielleicht sprechen. Aber wenn selbst gewöhnliche Cherubim und Sarim nicht mehr nach Phantásien gelangen können, wie sollte der Größte von 278
uns allen dies noch vermögen? Nein, Aratron könnt ihr nicht finden. Er ist unvorstellbar. Er hat keine Gestalt, keine Form mehr. Er ist im Land der Leere, und dorthin kann kein Phantásier vordringen.« »Aber die Leere ...«, stammelte Nadil. »Können wir denn nicht... ich meine, gibt es keine Möglichkeit, irgendwie dort hineinzukommen?« Tavtavel betrachtete Nadil mit einer Mischung aus Missmut und Verwunderung. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Das ist unmöglich.« Und er breitete seine Schwingen aus, erhob sich in die Lüfte und rauschte ohne ein weiteres Wort über sie hinweg.
\4\ Masia glaubte sich verhört zu haben. »Was hast du vor?«, fragte sie. »Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte Beliar. »Ich wüsste nicht, wie wir sonst in das Sternputzerviertel hineinkommen sollten.« »Aber ... aber willst du damit sagen, dass wir ...?« »Ja. Es ist der einfachste Weg. Schneeia, Goldling. Traut ihr euch das zu?« Die Schmetterlinge schauten sie nicht weniger fassungslos an als Masia. Aber Schneeia schien ebenso viel Unternehmungsgeist zu besitzen wie ihre Reiterin. »Wenn ihr euch das traut, dann versuchen wir es. Ich bin noch nie so hoch geflogen, aber warum nicht.« Beliar wartete erst gar nicht, bis Masia noch weitere Einwände vorbringen konnte, sondern schwang sich auf Schneeias Rücken. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, denn in 279
der Dämmerung kommen sie zurück. Wir müssen sie außerhalb der Sichtweite von Mangarath abpassen. Los, Masia, komm schon!« Nach diesen Worten stieg Beliar bereits pfeilgerade zum Himmel hinauf. Masia schauderte. Zu den Sternen? Auf einem Schmetterling? Aber Goldling schien von Beliars und Schneeias Tatkraft angesteckt zu sein. »Komm schon«, rief er ungeduldig und schlug mit seinen riesigen Schwingen. »Denke an Elfenauge! Wir müssen etwas unternehmen.« Masia gab sich einen Ruck und stieg in ihren Sattel, sprach ein stilles Gebet und krallte sich fest. Im Nu ging es hinauf. Die Schmetterlinge schienen wie berauscht von der Idee, zu den Sternen zu fliegen. Von selbst wäre ihnen das sicher nie eingefallen, aber jetzt ergriff sie offensichtlich ein Ehrgeiz, den Masia nie in ihnen vermutet hätte. Ach, wenn das nur gut ging. Sie waren ja jetzt schon in einer schwindelerregenden Höhe. Doch das war gar nichts gegen die Strecke, die noch vor ihnen lag. Die Sterne waren noch immer kleine Punkte dort oben am Himmel. Masia schloss die Augen. Sie spürte Goldlings kräftigen Flügelschlag. Aber eine ganze Weile traute sie sich nicht, die Lider zu heben. Allmählich wurde es kalt. Sie blinzelte ein wenig. Goldlings Flügel, durchfuhr es sie dann. Waren sie überhaupt gegen solch eine Kälte gewappnet? Sie waren doch dafür gemacht, in der warmen Sommerluft herumzufliegen und nicht in den eisigen Höhen des Sternenhimmels. Hatte Beliar daran gedacht? Sie schloss zu ihr auf und rief ihr zu, was ihr eben durch den Kopf gegangen war. »Der Staub, mit dem wir ihre Flügel bemalen, kommt doch von hier oben!«, rief Beliar. »Schau doch, wie herrlich sie fliegen.« 280
Und tatsächlich: Sowohl Schneeia als auch Goldling schienen hier oben in ihrem Element zu sein. Schneller und schneller stiegen sie und wirkten überhaupt nicht geschwächt von der Kälte. Dafür fühlte sich Masia umso schlechter. 0 Graus, wie tief unter ihr lag jetzt Phantásien. Ein Zittern durchlief sie, wenn sie hinabblickte. Alles begann sich zu drehen. Und ihr Atem ging stoßweise, denn die Luft hier oben war nicht nur kalt, sondern auch dünn. »Schau mal dort!«, rief Beliar. »Von hier aus kann man über Balang-Gir hinaussehen.« Masia schaute über ihre Schulter in die Richtung des Gebirges. Ja, tatsächlich, man konnte darüber hinwegsehen. Aber was war denn das? Dort war ... nichts! Masia wäre fast von Goldling heruntergefallen. Auch der Schmetterling zuckte zusammen. »Beliar!«, rief Masia verstört. »Siehst du das?« Auch Beliar hatte die Erscheinung natürlich längst gesehen. Und zu Masias Entsetzen riss sie nun auch noch Schneeias Zügel herum und begann in die Richtung dieses Nichts zu fliegen. »Was tust du?«, rief Masia. »Beliar, nicht dorthin!« Doch Beliar schien vom Anblick dieses Nichts dort hinten magisch angezogen zu werden. Masia schaute hilflos um sich. Und was war denn das? Die Sterne waren jetzt schon ganz nah. Dort schwebten sie, große, glänzende, leuchtende Kugeln, und dazwischen sah sie auch die ersten Sternputzer umherfliegen, Dutzende, Hunderte. Eilig schössen sie über die Kugeln hinweg und putzten sie mit ihren kleinen Bürsten. Einige Sternputzer hatten Beliar offensichtlich bemerkt und gesehen, dass sie Schneeia nach Balang-Gir lenken wollte. Sie ließen von ihrer Arbeit ab und flogen auf sie zu. Sie winkten und riefen: »Halt, nicht dorthin! Halt!« 281
Aber sowohl Schneeia als auch Beliar schienen völlig willenlos geworden zu sein. Sie flogen einfach weiter. Doch da geschah etwas Ungeheuerliches: Aus dem Nichts hinter Balang-Gir stieg auf einmal ein Lichtball herauf. Masia kniff geblendet die Augen zusammen. Die Sternputzer hielten gleichfalls inne und steckten alle zugleich die Köpfe schützend unter ihre Flügel. Nur Beliar hielt ungebremst auf den Lichtball zu. Und dann passierte es: Der Lichtball wurde immer heller, dehnte sich, beulte sich aus wie flüssige Luft... und dann zerriss es ihn, begleitet von einer so donnernden Stille, dass selbst Masia dachte, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. Doch wie heftig traf die Explosion erst Beliar! Schneeia überschlug sich vor Schreck und Beliar stürzte von ihrem Rücken. Masia schrie auf. Aber die Sternputzer hatten schon reagiert. Blitzschnell flogen sie dem abstürzenden Mädchen hinterher, ergriffen Beliar und hielten sie fest. Als Masia bei ihnen eintraf, hing Beliar bewusstlos in der Luft, gehalten von sechs Sternputzern, die Masia vorwurfsvoll anstarrten. »Was tut ihr denn bloß hier oben?«, fragten sie atemlos. »Seid ihr verrückt geworden, in ein Nichtnichts hineinzufliegen? Was habt ihr überhaupt hier verloren?« Masia wusste nicht, was sie sagen sollte. Schneeia hatte sich glücklicherweise selbst wieder gefangen und kam jetzt auch herangesegelt. »Wir ... wir müssen unbedingt mit Herrn Pegario sprechen«, rief sie verzweifelt. »Deshalb sind wir zu euch gekommen. Es sind schreckliche Dinge geschehen, und wir müssen Herrn Pegario davon berichten.« Die Sternputzer blickten sich vielsagend an. »Wer seid ihr«, fragte einer von ihnen. »Wie sollen wir wissen, ob wir euch vertrauen können?« »Wir sind Freunde von Nadil – Nadil Maramor«, sagte Masia. 282
Die Wirkung war bemerkenswert. Augenblicklich änderte sich der Gesichtsausdruck der Sternputzer, und sie machten sich Zeichen, aus denen Masia Erleichterung und Freude las. »Steig ab«, riefen sie ihr dann zu. »Eure Schmetterlinge sollen allein zurückfliegen. Sie sind zu auffällig. Wir bringen euch zu Josian, aber ohne eure Schmetterlinge.« Absteigen? Masia steckte der Schreck von eben noch in den Gliedern. Und jetzt sollte sie absteigen, in dieser Höhe! »Ich ... das kann ich nicht«, rief sie und starrte in die Tiefe. »Was ist, wenn ihr mich fallen lasst?« »Das wird nicht geschehen«, sagte ein Sternputzer. »Komm, wir bringen dich nach Mangarath. Bei uns bist du in Sicherheit. Wir verstecken dich. Es gibt keinen anderen Weg.« Masia versuchte aufzustehen, doch kaum sah sie in die Tiefe unter den Schwingen ihres Schmetterlings, da drohten ihr die Sinne zu schwinden. »Nein«, rief sie wieder, »ich kann nicht!« »Doch, du musst, versuche es.« Sie löste ihren linken Fuß aus dem Steigbügel und versuchte aufzustehen. Aber es war einfach alles zu viel für sie. Sie ruderte mit den Armen in der Luft und begann sich im Kreis zu drehen. »Hilfe, Hilfe«, rief sie noch, dann fiel sie zur Seite und verlor das Bewusstsein. \ Als Masia wieder zu sich kam, schaute sie in die Augen von Josian Pegario. Er saß über sie gebeugt neben dem Lager, auf das man sie gebettet hatte, und lächelte freundlich, als er bemerkte, dass sie ihn wahrnahm. »Willkommen bei uns«, flüsterte er. »Geht es dir gut?« Masia nickte matt. Dann kehrte die Erinnerung an ihren 283
Ausflug zu den Sternen zurück, und sie fuhr hoch. »Wo ist Beliar?«, fragte sie und schaute sich suchend um. »Im Nebenzimmer«, sagte Pegario. »Es ist alles in Ordnung. Meine Leute haben euch unbemerkt hergebracht. Deiner Freundin geht es gut. Aber sie schläft noch.« »Der Lichtblitz«, flüsterte Masia, »sie ist in diesen Lichtblitz hineingeflogen.« »Ja, ich weiß. Doch ihr ist nichts geschehen. Sie muss nur ein wenig länger ausruhen als du. Aber so sage mir doch, wo ist Meister Toralon? Warum seid ihr zu den Sternputzern hinaufgeflogen?« Masia richtete sich jetzt endgültig auf, und die Worte sprudelten regelrecht aus ihr heraus. Sie erzählte, was mit Elfenauge geschehen war, und von den Quäldrohnen. Sie berichtete mit aufgerissenen Augen von der Verwüstung Garsirans und von den Iblissen, die sie gesehen hatten. Pegario lauschte, und sein Gesicht wurde immer ernster. »Und Toralon«, fragte er dann. »Wo ist Toralon hingegangen?« »Nach Nevisehr«, antwortete Masia. »Nach Nevisehr? Aber warum denn das?« »Weil er Angst um unser Volk hat. Die Quäldrohnen und Iblisse scheinen vor allem Flügelphantásier anzugreifen. Daher befürchtete Toralon, dass als Nächstes vielleicht die Schmetterlinge und Schmetterlinger überfallen werden.« »Flügelphantásier?«, wiederholte Pegario langsam und runzelte die Stirn. »Ja. Und Toralon lässt dich fragen, ob du dir das erklären kannst.« Pegario stand auf und begann durchs Zimmer zu laufen. Seine Gedanken irrten in alle möglichen Richtungen. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Er versuchte ein Muster zu 284
erkennen, aber es gelang ihm einfach nicht. Wer konnte ein Interesse daran haben, Flügelphantasier zu vernichten? Waren es vielleicht die gleichen Kräfte, die auch schon Silandor zerstört hatten? Silandor lag tief im Boden verborgen. Flügelphantasier, seine Sternputzer etwa, verbrachten die meiste Zeit weit über dem Boden, außer Sichtweite der meisten anderen Phantásier. Gab es hier einen Zusammenhang? Sollten alle, die besonders hoch über oder tief unter der Oberfläche von Phantásien lebten, vernichtet werden? Aber warum nur? Da erschien Beliar im Türrahmen. In ihrem Gesicht spiegelte sich noch der Schreck der Begegnung mit dem Lichtball am Himmel. Sie blinzelte, strich sich die zerzausten Haare aus der Stirn und schaute Pegario und Masia an. »Wo bin ich?«, fragte sie. »Was ist geschehen?« Masia ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Dann führte sie ihre Freundin vorsichtig zu einem Stuhl und erzählte ihr, was vorgefallen war. Beliar lauschte fassungslos. »Dieses Licht ...«, sagte sie. »Diese lautlose Explosion ... es ist... es ist ungeheuerlich. Was ist das für ein Licht, Pegario?« Der Sternputzer zuckte mit den Schultern. »Das versuchen wir schon seit Monaten herauszufinden. Deshalb ist Saru in Silandor eingedrungen, und aus dem gleichen Grund sind Nadil und Piri ihm gefolgt. Irgendetwas in Phantásien muss aus den Fugen geraten sein, und diese Lichterscheinungen scheinen uns warnen zu wollen. Aber sie machen uns nur traurig und verzweifelt. Verstehen können wir das alles nicht. Hast du etwas sehen können, als der Lichtball vor deinen Augen explodierte?« Beliar schaute stumm vor sich hin. Masia wunderte sich. Was war nur mit ihr geschehen? So kannte sie Beliar überhaupt nicht. Sie hatte sich völlig verändert. 285
»Dieses Licht ist so stark«, begann Beliar. »Ist dies das Nichts, Pegario? Hätte es mich verschluckt, wenn ich das Bewusstsein nicht verloren hätte?« Pegario schüttelte den Kopf. »Nein, Beliar, es ist nicht das Nichts. Es sieht nur so aus, aber es ist etwas anderes.« »Aber was zog mich daran nur so mächtig an?«, fragte Beliar traurig. »Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ging dir das nicht auch so, Masia?« »Nein«, erwiderte Masia. »Aber ich hatte auch fast die ganze Zeit die Augen geschlossen. Ich fürchtete mich so vor dieser Höhe.« »Was du hinter Balang-Gir gesehen hast«, schaltete sich Pegario ein, »ist das Land der Leere. Aber es besteht keine Gefahr, dort hineinzufallen, denn man kann dort nicht hingelangen. Selbst wenn du tagelang darauf zufliegst, kommst du nicht hin.« Beliar nickte matt. »Das Land der Leere?«, wiederholte sie. »Aber wenn das Land der Leere leer ist, wieso kommen dann diese Lichtblitze daraus hervor?« »Genau das fragen wir uns auch schon lange«, erklärte Pegario. »Vielleicht werden Saru, Nadil und Piri es herausfinden. Saru wollte versuchen Balang-Gir zu überqueren. Aber vielleicht sehen wir sie auch nie wieder. Ach, es ist schrecklich.« Beliar richtete sich auf. Allmählich schien sie ihre alte Fassung zurückzugewinnen. Ihre Wangen hatten wieder eine gewisse Röte, und ihre schönen Augen glänzten wieder lebendig. »Wir müssen irgendetwas unternehmen«, sagte sie. »Dort draußen sammeln sich Ungeheuer. Wir können doch nicht einfach zusehen, wie sie über unschuldige Phantásier herfallen!« »Aber was sollen wir denn tun?«, fragte Pegario und schaute bekümmert vom einen Mädchen zum anderen. 286
»Die Wächter von Mangarath!«, rief Beliar. »Sie sind doch zu unserem Schutz da. Wir müssen die Stierwächter informieren. Sie müssen uns helfen.« »Die Stierwächter!« Pegario sah sie erschrocken an. »Die sind doch für das ganze Elend mitverantwortlich. Immerhin haben sie das Unheil ausgelöst. Sie werden uns nicht helfen. Im Gegenteil. Wenn sie erfahren, dass ihr hier seid, werden sie euch zur Strafe in den Lärmkrater werfen.« Beliar und Masia schauten Pegario erstaunt an. »Wohin?«, fragte Beliar. Pegario biss sich auf die Lippen. Ach, jetzt war es auch egal. Sollten die Mädchen es doch erfahren. »Der Lärmkrater schützt Mangarath vor dem Nichts«, sagte er. »Die Stierwächter haben ihn errichtet, um dem Nichts für alle Zeiten den Zugang nach Phantásien zu versperren. Die Lärmsklaven müssen dort Lärm machen, damit es in Mangarath niemals still wird. Denn durch die Stille ist das Nichts nach Silandor und damit nach Phantásien gekommen.« Beliar runzelte die Stirn. Lärmsklaven? Dann war das also gar kein Märchen. Es gab sie wirklich! »Wurde Silandor deshalb zerstört?«, fragte sie. »Damit es keine Stille mehr geben kann?« Pegario nickte. »Ja, die Stierwächter sind überzeugt, dass in der Stille das Nichts verborgen ist.« Das Mädchen überlegte. »Die Stille«, sagte sie dann. »Ist das nicht merkwürdig?« »Was ist merkwürdig?«, fragte Masia. »Nun, wenn das so ist, dann verstehe ich jetzt, warum Flügelphantásier vernichtet werden sollen.« Pegario und Masia schauten sie neugierig an. »Wo ist denn die Stille?«, fragte Beliar. »Tief unter uns gab es sie, doch sie wurde zerstört. Silandor wurde verschlossen, 287
weil dort offenbar die Stille war. Und wo gibt es sonst noch Stille? Am Himmel. Doch den Himmel kann man nicht verschließen, nicht wahr? Also muss man Sorge tragen, dass dort niemand mehr hingelangt.« »Du meinst ...?« Aber Pegario beendete den Satz nicht, denn Beliar kam ihm zuvor: »Jemand möchte offenbar die Stille aus Phantásien vertreiben. Und jetzt verstehe ich auch, was dort oben explodiert. Es ist gar kein Licht. Dort oben explodiert die Stille, die sich dagegen wehrt, aus Phantásien vertrieben zu werden. Ich habe es ja am eigenen Leib erlebt. Und du doch auch, Pegario, nicht wahr? Das Nichtsnichts oder wie immer du es nennst, das muss die Stille sein!« »Aber warum sollte jemand die Stille vernichten wollen?«, fragte Masia. »Eben das müssen wir herausfinden«, erwiderte Beliar, die nun auch ihren alten Kampfgeist wiedergefunden hatte. »Es muss einen mächtigen Grund dafür geben.« »Aber wen willst du fragen?« Sie erhob sich, und ihre Augen blitzten: »Diejenigen, die an der ganzen Sache schuld sind: die Stierwächter.«
\5\ Bedrückt verließen die drei Schmetterlinger Tavtavels Garten und spazierten eine ganze Weile lang ziellos durch Dorsilan. Nach dieser Unterredung kam ihnen die Stadt nur noch wie ein ungastlicher Ort vor. Piri und Nadil schauten manchmal erwartungsvoll zu Saru hin, aber selbst der alte, erfahrene Phantásienreisende schien mit seinen Ideen am Ende. Jetzt hatten sie zwar herausgefun288
den, dass tatsächlich Silandor an den merkwürdigen Erscheinungen in Phantásien schuld war. Ja, die Zerstörung des Bergwerks hatte zur Folge gehabt, dass sich die Engelheere aus Phantásien zurückgezogen hatten. Aber viel mehr wussten sie auch nicht. Weder was das Geheimnis von Silandor gewesen war, noch was sie tun konnten, um den Schaden vielleicht wieder gutzumachen. »Eins ist klar«, gab Saru nach einer Weile zu bedenken. »Wir Phantásier sind schuld am Rückzug der Engel. Alles ist so gekommen, weil die Stierwächter Silandor zerstört haben.« »Aber was ist Silandor?«, fragte Piri. »Es ist doch nichts weiter als ein Labyrinth aus Höhlen!« »Nein«, warf Nadil ein. »Silandor muss von den Engeln selbst erschaffen worden sein. Der Ort trägt ja sogar den Namen ihrer Stadt. Dorsilan. Silandor. Das sind die gleichen Buchstaben.« Piri stutzte. Ja, das war ihm noch gar nicht aufgefallen. »Das würde auch die Inschrift erklären«, ergänzte Saru. »Aratron, Bethor, Phaleg und die anderen haben Silandor also erschaffen, stellvertretend für Dorsilan ... Begreift ihr das?« Nein, weder Nadil noch Piri konnten sich auf all diese Dinge einen Reim machen. Außerdem waren sie müde. Saru spürte, dass seine beiden Begleiter erschöpft waren, und schlug vor, eine Herberge für die Nacht zu suchen. Aber wo schlief man hier? Die Straßen waren zwar gesäumt von den mannigfaltigsten Behausungen, und um sie herum war auch ein Kommen und Gehen von Engeln jeglicher Art, aber auf Besucher schien diese Stadt nicht eingestellt zu sein. Sie befragten einige Sarim, die mit den Köpfen nach unten von einem Giebel herunterhingen, die Flügel zusammengelegt und die Arme über der Brust gekreuzt, ob sie vielleicht wüssten, 289
wo es in Dorsilan eine Herberge gebe. Aber die Engel runzelten nur die Stirn und schüttelten stumm den Kopf. Auch sich zu orientieren war nicht ganz einfach. Mehrmals verlor sich die Straße, die sie entlanggingen, ohne Vorwarnung einfach in der Leere. Plötzlich klaffte ein Abgrund vor ihnen, und in alle Richtungen dehnte sich nur noch ein riesenhafter leerer Raum. Immer wieder betrachteten sie stumm die merkwürdige Erscheinung. »Es ist wirklich erstaunlich«, sagte Saru, »es ist wie das Nichts und dennoch ganz anders.« »Du hast das Nichts schon einmal gesehen?«, fragte Piri. »Ja«, antwortete er mit ernstem Gesichtsausdruck. »Und ich kann dir sagen, es ist ein furchtbarer Anblick.« »Aber wie sieht es denn aus?« »Das ist ja das Merkwürdige. Es sieht genauso aus wie das hier, aber andersherum. Das Nichts sieht aus wie ein gefräßiges dunkles Loch. Aber das hier ... ich kann mir nicht helfen ... es sieht aus wie ein Loch in einem Nichts.« Ein Loch im Nichts, dachte Nadil kopfschüttelnd und starrte in den leeren Raum hinaus. Irgendwie musste man diesem Rätsel doch beikommen können. Wenn man nur mit diesem Aratron sprechen könnte! Sie kehrten wieder um und wanderten weiter. Es begann zu dämmern. Der Himmel färbte sich golden, dann blutrot, dann dunkelviolett, woraufhin rasch die Nacht herabsank. Weit über ihren Köpfen zogen Engelschwärme ihre Kreise, und auch um sie herum landeten viele von ihnen, vermutlich um sich einen Schlafplatz zu suchen. Aber keines der geflügelten Wesen schien von ihnen Notiz zu nehmen. Am Ende folgten sie einfach einer Gruppe von Engeln, die ihnen vertraueneinflößend schien, in ein Gebäude hinein, das wie eine halbierte Kugel aussah. Darin befand sich allerdings nichts, was 290
ihnen als Schlafplatz hätte dienen können. Die Engel jedoch verteilten sich in dieser Halbkugel und schwebten dann reglos in der Luft. »Hier ist es ja wie im Geräuschdom von Mangarath«, flüsterte Piri. »Ja«, erwiderte Nadil leise. »Aber merkst du den Unterschied? Es gibt keine Klangwolken. Es ist völlig still hier.« Die drei nahmen den Anblick des riesigen Kuppelsaals mit den darin umherschwebenden Engeln in sich auf. Als keiner der Malachim Anstalten machte, sie zu vertreiben, ließen sie sich vorsichtig am Rand des Saals nieder. Der Boden war zwar hart, aber wenigstens war es hier warm und trocken. Mehr und mehr Engel trafen ein, suchten sich einen Platz in der Kuppel, steckten ihren Kopf unter die Flügel und schienen sogleich einzuschlafen. Die Phantásier beobachteten dies noch eine Weile lang. Dann wurden sie selbst schläfrig, und schon bald hatte die Müdigkeit sie übermannt. Aber nach einer Weile erwachte Nadil wieder. Obwohl er todmüde war, konnte er einfach keine Ruhe finden. Tavtavels Erzählung ging ihm im Kopf herum. Irgendetwas an seinen Ausführungen beschäftigte ihn. Es war ein Gedanke, der einfach keine klare Form annehmen wollte. Aber er spürte, dass die Antwort ganz nah sein musste. Er erhob sich und ging neben dem schlafenden Großvater in die Hocke. »Saru«, flüsterte er und zupfte ihn am Ärmel, »wach auf.« Saru öffnete die Augen. Er hatte offenbar auch noch nicht sehr tief geschlafen. »Was ist?«, flüsterte er. »Komm mit nach draußen«, bat Nadil. »Ich kann nicht schlafen. Und ich möchte dich noch etwas fragen.« Sie verließen lautlos den Kuppelsaal und begaben sich auf den Platz davor. Es war jetzt völlig still in Dorsilan. Die Engel 291
schienen allesamt zu schlafen, bis auf die Nocturnen, aber auch von diesen Nachtengeln war weit und breit nichts zu sehen. Ein schwarzer Himmel wölbte sich über ihnen, und nur vereinzelt konnte man einen Stern schimmern sehen. »Was möchtest du mich fragen?«, sagte Saru nach einer Weile. »Bir-Ariman«, antwortete Nadil. »Dieser Name geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Erinnerst du dich, was Tavtavel über Bir-Ariman gesagt hat?« »Dass es ein Ort des Grauens ist.« »Ja. Das auch. Aber vor allem sagte er, dass unsere Sprache es eigentlich gar nicht gestattet, einen solchen Ort zu benennen. Am Rand von Phantásien gibt es also offenbar eine Region, in der die Dinge namenlos sind. Und nur dort hielten sich früher die Engel auf, im ›unbefriedeten‹ Teil Phantásiens. Erinnerst du dich nicht?« »Doch«, sagte Saru, und sein Tonfall verriet, dass Nadils Überlegungen ihn neugierig machten. »Aber worauf willst du hinaus?« Nadil dachte noch einen Augenblick nach. »Alles liegt so verworren in mir, Saru«, sagte er dann, »aber ich glaube, wenn ich dir erzähle, was ich denke, dann wird es mir klarer.« Saru lächelte. »Das ist oft so. Also bitte, fahre fort.« »Wenn es stimmt, was Tavtavel gesagt hat, dann sind die Engel bis vor kurzem immer in Phantásien gewesen. Aber offenbar hielten sie sich nur in den Regionen auf, die noch namenlos waren, oder?« Saru nickte. »Ja. So habe ich es auch verstanden. Tavtavel hat ja sogar Sirinn-Elial erwähnt, den Teil von Phantásien, der an das Land des Namenlosen angrenzt.« »Eben«, rief Nadil aufgeregt. »Aber das Namenlose – das ist doch das Nichts, oder?« Er schaute Saru erwartungsvoll an. 292
Sein Großvater schürzte die Lippen und schien zu überlegen. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Ja, schon. Aber was hilft uns das?«, fragte er. Nadil rieb sich die Schläfen. »Da ist irgendetwas Wichtiges, das wir einfach nicht sehen. Aber wir müssen versuchen, es zu verstehen. Lass uns noch ein wenig weiterdenken. Wenn die Engel in Phantásien sind, dann sind sie immer dort, wo das Nichts ist. Das hat Tavtavel gesagt, nicht wahr?« »Ja. Das hast du ja eben schon festgestellt.« »Warte!«, rief Nadil. »Hast du mir nicht einmal erzählt, die Engel gehörten eigentlich nicht nach Phantásien?« Saru überlegte. »Das stimmt. In den alten Chroniken werden sie meist sehr negativ dargestellt.« »Eben«, sagte Nadil. »Und jetzt haben wir auch die Erklärung dafür: Die Engel gehen mit dem Nichts um, also sind sie uns Phantásiern natürlich verdächtig.« Saru schwieg verblüfft. »Ja«, sagte er dann, »das wäre durchaus eine Erklärung. Manche Chroniken behaupten sogar, die Engel wären die schlimmsten Feinde Phantásiens.« »Ja. Weil sie mit dem Nichts umgehen. Aber die Frage ist doch: Was tun sie mit dem Nichts?« »Tavtavel sagte, dass sie es bekämpfen«, überlegte Saru, wusste aber auch keine rechte Antwort. »Das namenlose Grauen jedenfalls, das in Bir-Ariman wohnt, wurde von ihnen in Schach gehalten.« »Eben!«, rief Nadil. »Das bereitet mir ja solches Kopfzerbrechen!« »Was meinst du damit?« »Nun ja, einerseits gibt es das Nichts von Bir-Ariman, das die Engel mit aller Kraft bekämpft haben. Andererseits aber haben sie mitten in Phantásien etwas erschaffen, um den Kampf gegen Bir-Ariman überhaupt zu ermöglichen: Silan293
dor. In Silandor soll jedoch ebenfalls das Nichts gewohnt haben. Deshalb haben die Stierwächter Silandor ja zerstört. Aber jetzt haben wir erfahren, dass dieser Vorfall dazu geführt hat, dass die Engel Phantásien verlassen mussten. Und das kann nur eins bedeuten: Es muss zwei Nichtse geben.« Saru schwieg verblüfft. So hatte er die ganze Angelegenheit noch gar nicht gesehen. »Du meinst also, dass das Nichts von Bir-Ariman nicht das Gleiche ist wie das Nichts von Silandor?« »Es kann nicht das Gleiche sein«, bekräftigte Nadil seine Schlussfolgerung. »Warum sollten die Engel einerseits das Nichts bekämpfen, um es andererseits für sich zu nutzen? Das ist doch kaum vorstellbar, oder?« Es vergingen einige Augenblicke, dann führte Saru den gleichen Gedanken anders zu Ende: »Es sei denn, das Nichts hat zwei ganz gegensätzliche Seiten, die wir nicht unterscheiden können.« »Zwei Seiten?«, wiederholte Nadil. »Ja, eine gute und eine schlechte vielleicht.« Und dann fügte Saru hinzu: »Ich muss immer wieder an das Orakel von Raginor denken. Das Nichts ist in allen Gestalten. In der Leere ist alles enthalten. Ich habe diesen Spruch hundertmal zu begreifen versucht, doch es gelang mir einfach nicht. Aber vielleicht ist das die Antwort? Das Nichts und die Leere sehen sich ja zum Verwechseln ähnlich. Aber Gaya von Raginor sagt, es sei nicht nur nicht das Gleiche, sondern das eine sei sogar das Gegenteil vom andern. Das Nichts ist in allen Gestalten. In der Leere ist alles enthalten.« Eine Weile lang schwiegen die beiden. Was konnte damit nur gemeint sein? »Aber wenn Silandor so wichtig war«, fragte Nadil dann, »warum haben die Engel es nicht entschiedener verteidigt? Warum haben sie Phantásien verlassen? Und 294
wenn sie Phantásien verlassen haben, heißt das, dass die Scheusale aus diesem schrecklichen Bir-Ariman uns demnächst angreifen und vernichten werden?« Saru blickte ratlos zum Himmel hinauf. Nadil erhob sich und ging ein paar Schritte auf und ab. »Saru, wir müssen dort hingehen«, sagte er schließlich und deutete auf die Leere. »Ich verstehe diesen Orakelspruch nicht, aber die letzten beiden Verse sind klar: Das Orakel oder, besser, Aratron sagt, dass wir in die Leere hineingehen müssen, wenn wir Phantásien retten wollen.« »Aber wie sollen wir das anstellen?«, fragte Saru. »Wie soll man dort hineingehen? Das ist doch unmöglich!« »Viele Phantásier haben sich doch in das Nichts gestürzt«, antwortete Nadil. »Wenn man sich ins Nichts stürzen kann, dann ist es ja wohl auch möglich, in die Leere hineinzuspringen, oder vielleicht nicht?« Saru erhob sich jetzt auch und ging auf seinen Enkel zu. »Nadil, aus dem Nichts ist noch keiner zurückgekommen. Und wenn es mit der Leere genauso ist?« »Aber ich glaube, wir haben keine andere Wahl.« »Nadil, mein lieber Nadil, das kann ich nicht zulassen. Ich denke, wir haben noch nicht alles versucht. Es gibt noch so viele Engel hier. Vielleicht finden wir ja doch noch einen, der uns mehr sagen kann?« Nadil erwiderte nichts und schaute düster in die Nacht. »Ich habe ein komisches Gefühl, Saru«, sagte er schließlich. »Ich spüre, dass ein Unheil geschehen wird, wenn wir nichts unternehmen. Diese Iblisse, die uns verfolgt haben ... Warum hat Aratron uns vor ihnen gerettet? Ich bin sicher, dass er uns erwartet. Aber wir ... wir haben nicht einmal den Mut, es zu versuchen.«
295
\6\ Jiinn-Garagor hatte schon den ganzen Tag über ein merkwürdiges Gefühl gehabt. Irgendetwas war anders geworden. Forcas hatte Mangarath verlassen. Das allein war nicht verwunderlich. Er kam ohnehin nicht oft hierher. Man konnte seine Besuche an einer Hand abzählen. Aber wo war Janaël? Seit zwei Tagen hatte ihn niemand mehr gesehen. Und das war in mehrfacher Hinsicht beunruhigend, denn schließlich überwachte Janaël die Sternputzer, von denen Forcas doch immer wieder gesagt hatte, dass sie keinen Augenblick unbeobachtet bleiben sollten. Und jetzt hatte ihn auch noch dieser Pegario rufen lassen. Jiinn-Garagor hatte wenig Lust, sich mit ihm zu treffen. Er hatte so viele andere Dinge zu tun. Mangarath musste vergrößert werden. Aus vielen Gegenden Phantásiens lagen Anfragen für Geräuschattraktionen vor. Ja, viele Städte baten darum, einen eigenen Geräuschdom zu bekommen. Das war ein gutes Zeichen. Wenn eines Tages überall Geräuschdome standen, war Phantásien auf Dauer gegen das Nichts gesichert. Bedenklich war eigentlich nur zweierlei: Von den Schmetterlingern, die in Silandor eingedrungen waren, fehlte weiterhin jede Spur. Und die Erscheinungen am Himmel wurden immer schlimmer. Fast stündlich gab es dort oben jetzt die ungeheuerlichsten Lichtexplosionen. Irgendwann mussten sie einen Weg finden, diese Erscheinungen zu stoppen, denn so viel Ablenkung konnte man in Mangarath gar nicht erzeugen, dass die Lichtgewitter nicht doch irgendwann zu Unruhen führen würden. Aber sie würden das nicht zulassen. Nein, sie hatten das Nichts besiegt, und sie würden auch diese Lichtgewitter unter Kontrolle bekommen. Denn Forcas hatte es ihm ja immer wieder gesagt: Es sind die letzten Versuche 296
des Nichts, nach Phantásien hineinzugelangen. Nicht mehr lange, und diese größte aller Bedrohungen wäre ein für alle Mal besiegt. Seine Stierwächter durften nur nicht nachlassen, und vor allem mussten sie dafür sorgen, dass niemand Silandor betrat. Jiinn-Garagor passierte das Sterntor und machte den Wachen dort ein Zeichen, dass er allein weitergehen würde. Bei Pegario konnte ihm nichts geschehen, und er wollte seine Leute lieber auf ihren Posten wissen. Jiinn-Garagor spazierte durch die dunklen Gassen des Sternputzerviertels und dachte daran, wie es hier ausgesehen hatte, als sie vor Jahren das verborgene Bergwerk endlich entdeckt hatten. Ohne Forcas hätten sie es freilich niemals gefunden. Ja, alle Phantásier waren ihm zu Dank verpflichtet. Aber wer wusste denn schon von ihm? So gut wie niemand. Nun, wahrscheinlich war das auch besser so. Ein kleines, unscheinbares Dorf hatte hier einst gestanden, bewohnt von einfältigen geflügelten Wesen, die zu den Sternen hinaufflogen, um dort Sternstaub zu holen. Ein völlig harmlos aussehendes Dorf war es gewesen. Und doch hatte sich genau hier, in dieser friedlichen und unbedeutenden Gegend, das Tor zur Vernichtung Phantásiens befunden: Silandor, der Hort der Ruhewinzer. Was für ein harmloses Wort. Ruhewinzer! Verräter waren sie. Gefährliche Hexenmeister, die unermessliches Unheil über Phantásien gebracht hatten. Nun, sie hatten sie besiegt. Es war nicht einfach gewesen und hatte viele Opfer gefordert. Doch Forcas hatte ihnen stets alle Waffen und Techniken besorgt, die sie brauchten, um Silandor zu erobern und für immer zu verschließen. Ach, was für ein Kampf war das gewesen! Noch jetzt erfüllte ihn die Erinnerung daran mit Genugtuung. Und dennoch ... manchmal plagte ihn auch ein leiser Zwei297
fei. Vor allem, wenn Forcas auftauchte. Er machte ihm Angst. Aber gut. Im Krieg musste man sich eben manchmal mit Leuten verbünden, die man unter normalen Bedingungen vielleicht nicht unbedingt zu seinen Partnern machen würde. Forcas war jähzornig und gefährlich, aber er stand bedingungslos auf ihrer Seite. Wenn nur die anderen Phantásier nicht so störrisch und misstrauisch wären! Er bog um eine Ecke und sah in der Ferne das kleine Haus von Josian Pegario. Hinter den Fenstern brannte Licht. Er beschleunigte seinen Schritt, denn er wollte das Gespräch schnell hinter sich bringen und dann seinen Kontrollrundgang fortsetzen. Doch was war das? Vor seinen Augen schwebte plötzlich etwas in der Luft. Jiinn-Garagor blinzelte. Aber er konnte nicht genau sehen, um was es sich handelte. Dazu war es zu dunkel. Er schlug mit seiner großen Pranke in die Luft, um den feinen Staub, der ihn jetzt regelrecht einhüllte, zur Seite zu wedeln. Doch es wurde immer mehr. Er begriff überhaupt nicht, was geschah, bis ihn auf einmal ein furchtbarer Schreck durchlief. Was war denn das? Er begann zu schweben! Er riss den Mund auf und wollte um Hilfe schreien, doch da spürte er, dass sich wie aus dem Nichts ein Knebel auf seinen Mund legte. Und gleichzeitig schlangen sich dünne Fäden um seinen Körper. Im Nu war er gefesselt. Er zuckte und warf sich mit aller Macht hin und her, doch auf einmal entdeckte er, dass er von zahllosen Sternputzern umzingelt war. Manche flogen über ihm und bepuderten ihn unablässig mit Sternstaub. Andere umkreisten ihn flink und umwickelten ihn in Windeseile mit Schnüren, in denen er wenig später hoffnungslos gefangen war. Jiinn-Garagor tobte innerlich. Ein Überfall!, durchfuhr es 298
ihn. Die Sternputzer wagten es, ihm aufzulauern! Pegario! Dieser Verräter. Kurzen Prozess würde er mit ihm machen, wenn er erst aus diesen Fesseln befreit wäre. Aber ein Blick nach unten machte ihm klar, dass das nicht so einfach werden würde. Was hatten sie denn nur mit ihm vor? Er schwebte hilflos in den Himmel hinauf. Der Sternstaub, der unablässig auf ihn niederfiel, ließ ihn schneller und schneller nach oben steigen. Bei allen Sumpftrollen! Er wurde entführt! Und was war das? Plötzlich wurden seine Augen ganz starr vor Staunen. Die Sternputzer hatten begonnen, ihn wie einen wehrlosen Ballon hinter sich her über die Wüste von Mangarath zu ziehen. Am nachtdunklen Horizont zeichneten sich schwarz die Umrisse von Balang-Gir ab. Doch aus diesem Nachtdunkel erschienen auf einmal flirrende Formen, die auf ihn zuschössen. Von allen Seiten kamen sie. Jiinn-Garagor hörte auf zu zappeln und ergab sich vorerst in sein Schicksal. Denn was sollte er gegen eine solche Übermacht ausrichten? Tausende von Schmetterlingen tanzten um ihn herum durch die Nacht. Und auf jedem Schmetterling saß ein Schmetterlinger und starrte ihn hasserfüllt an. Was wollten diese Schmetterlinger von ihm? Wie kamen sie überhaupt hierher? Zunächst würde er auf all diese Fragen keine Antwort bekommen, denn es sah so aus, als wollten die Sternputzer und Schmetterlinger ihn quer durch Phantásien fliegen lassen. Sie wurden immer schneller und rauschten wie ein riesenhaftes Flugschiff, das aus Tausenden und Abertausenden Schmetterlingen und Sternputzern bestand, durch die Nacht. Einmal entdeckte Jiinn-Garagor aus den Augenwinkeln Josian Pegario, der in Begleitung eines SchmetterlingerMädchens flog, deren langes, wehendes schwarzes Haar ihm bekannt vorkam. Ja, natürlich, sie gehörte doch zu der Gruppe, die vor einigen Tagen mit diesem Toralon angekommen 299
war, der Gruppe, in der sich auch jener Nadil befunden hatte, der ihm all diesen Ärger bereitete. Jetzt wusste er wenigstens, wo die Verräter herkamen. Ach, wenn er sich erst von diesen Fesseln befreit haben würde, dann sollten diese Leute ihn kennen lernen. Ein Stierwächter von Mangarath ließ sich nicht ungestraft überfallen! Er würde sie alle in den Lärmkrater stecken und höchstpersönlich an einem Tausendposaunenbalg festschmieden. Aber was war denn das? Tief unter sich sah er plötzlich etwas schimmern. Es sah aus wie eine leuchtende Schlange, die dort unten durch die Nacht schlich. Aber das musste ja eine riesengroße Schlange sein? Erst dann erkannte JiinnGaragor seinen Irrtum. Nein, das war der Fluss Bator, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Aber wo flogen sie denn nur hin? Nach Garsiran? Da spürte er auch schon, dass es abwärts ging. Die meisten Schmetterlinge blieben in der Höhe zurück, doch er und eine kleine Zahl von Sternputzern sanken auf einmal rasch abwärts. Jiinn-Garagor zerrte an seinen Fesseln. Ja, wenn er erst auf dem Boden wäre, dann würde er es diesen Verrätern zeigen. Immer weniger Sternstaub fiel auf ihn nieder, und so schwebte er sanft zu Boden. Nur noch fünfzig Fuß, dann vierzig, zwanzig. Doch plötzlich fiel wieder eine größere Ladung Staub auf ihn und er blieb zehn Fuß über dem Boden in der Luft hängen. Was sollte denn nur dieser Schabernack? »Jiinn-Garagor«, sagte plötzlich eine Stimme. »Sieh her und betrachte dein Werk!« Er fuhr herum. Wer sprach da in so einem Ton mit ihm? »Toralon!«, wollte er ausrufen, als er den Schmetterlinger erkannt hatte. Aber der Knebel saß so fest auf seinem Mund, dass nur ein Brummen zu hören war. Im nächsten Augenblick begann es unter ihm zu leuchten. 300
Eine Staffel grüner Glühkröten war dort aufmarschiert und hatte sich um einen Felsblock geschart. Eine nach der anderen glühten die Kröten grün auf und erleuchteten eine Stelle ... Aber was war das? Das war doch ... bei allen Sumpftrollen, das war ein völlig zerfetzter Riesenschmetterling! Welch grausige Wunden! Jiinn-Garagor betrachtete erschrocken den toten Schmetterling. Dann schüttelte er sich in stummem Protest. Was hatte er denn damit zu tun? Er gab sich doch überhaupt nicht mit Schmetterlingen ab. Er hatte Mangarath zu bewachen. Das hier, das ... das musste auf Forcas' Konto gehen. Während er noch überlegte, wurde er plötzlich wieder mit Staub bestreut und schwebte erneut nach oben. Wie lange sollte das denn noch so weitergehen? Aber als er kurz darauf die Ruinen von Garsiran erblickte, da wusste er, was diese Entführung bezwecken sollte. Die Spuren der Verwüstung, die Forcas angerichtet hatte. Die Schmetterlinger und die Sternputzer hatten sie entdeckt. Und fürwahr, das Ausmaß der Zerstörung war so ungeheuerlich, dass eine Entdeckung nicht ausbleiben konnte. Aber was konnte er dafür? Er erfüllte doch nur seine Pflicht. Jetzt ging es wieder abwärts, und diesmal landete er endlich auf dem Boden, wenn auch zwischen den verkohlten Trümmern von Garsiran. Er witterte nach allen Seiten. Welch entsetzlicher Gestank nach Feuer, Schwefel, Blut und tausendfachem Tod. Doch jetzt musste er sich endlich befreien. Er ging vor einem scharfkantigen Felsbrocken in die Hocke und schnitt daran seine Fesseln entzwei. Dann riss er den Knebel von seinem Mund und richtete den Blick auf die Versammlung von Sternputzern und Schmetterlingen, die in sicherer Entfernung über seinem Kopf schwebten und ihn ernst anblickten. 301
»Was wollt ihr von mir, he?«, rief er ihnen zornig zu. »Ich habe das hier nicht zu verantworten.« »So?«, meldete sich Toralon und lenkte Windjunge aus der Versammlung der anderen heraus und näher zu JiinnGaragor. »Meinst du nicht, dass du uns eine Erklärung schuldest? Mit welchem Recht werden mit dem Einverständnis der Stierwächter ganze Völker vernichtet? Kannst du uns das erklären? Wie kann es sein, dass Iblisse und Quäldrohnen hier ihr Unwesen treiben – und die ehemals edelsten Kämpfer Phantásiens tun nichts, um uns gegen sie zu schützen? Jiinn-Garagor, kannst du uns das bitte erklären?« Jiinn-Garagor biss sich auf die Lippen und schaute verwirrt um sich. So etwas hatte auch er noch nie gesehen. Was war denn nur mit Garsiran geschehen? Es war nicht nur zerstört worden. Nein, man hatte den Eindruck, als wäre es geradezu ungeschehen gemacht worden. Er dachte an Pandriel, an Albion, dessen Herz Forcas ihm ja vor einigen Nächten zum Zeichen seines Triumphes in die Hand gelegt hatte. Doch dann stieg wieder die Erinnerung an das Nichts in ihm auf und bestärkte ihn in seiner Haltung. »Ihr begreift das alles nicht!«, schrie er sie an. »Ihr habt keine Ahnung, welche viel grässlichere Gefahr durch diese ausgewählten Opfer gebannt wird. Wem habt ihr es denn zu verdanken, dass es euch überhaupt noch gibt? Ihr wärt alle längst vom Nichts verschlungen worden, wenn wir euch nicht gerettet hätten. Und nun muss bisweilen ein Opfer gebracht werden, damit der Schutz aufrechterhalten bleibt. Das ist bedauerlich, aber es ist so.« Die Stille, die folgte, war mehr als bedrohlich. Sogar die Glühkröten, die mitgekommen waren und Jiinn-Garagor umringt hatten, flackerten vor Angst. Die Sternputzer und 302
Schmetterlinge schienen wie versteinert vor Entsetzen. Dann brach eine gellende Stimme das Schweigen: »Soll das heißen, dass wir alle sterben müssen, damit das Nichts nicht wiederkommt?«, rief Beliar. »Und wenn dem so ist, was ist denn dann der Unterschied zwischen dir und dem Nichts? Beide wollt ihr uns auslöschen!« Schon wieder dieses Mädchen, dachte Jiinn-Garagor. Musste er jetzt vielleicht auch noch mit einem Schmetterlinger-Mädchen diskutieren? Doch gleichzeitig wurde ihm klar, dass sie natürlich Recht hatte. Forcas hatte gesagt, alle Flügelphantásier müssten verschwinden. Warum das so war, wusste Jiinn-Garagor zwar nicht, aber Forcas war eben Forcas. »Ich ... ich weiß nur, dass es die einzige Möglichkeit ist, Phantásien zu retten«, stammelte er, mittlerweile doch ein wenig verunsichert. »Wer sagt das?«, erwiderte Toralon scharf. Jiinn-Garagor schaute grollend auf die Versammlung, die ihn feindselig umzingelt hatte. Sie waren in der Übermacht. Er konnte sie nicht überwältigen. Und an Flucht war im Augenblick auch nicht zu denken. Wie sollte er denn bloß nach Mangarath zurückkommen? »Wer sind die Leute, die euch all diese Dinge befehlen?«, wiederholte Toralon. Sollte er es ihnen sagen? Der Stierwächter trat nervös von einem Bein auf das andere. Dann setzte er sich auf einen Felsbrocken und schaute ratlos um sich. Welch unglaubliche Zerstörung. Nun schoss ihm auch noch das Bild des zerfetzten Schmetterlings durch den Kopf. Quäldrohnen. Iblisse. Wenn man länger darüber nachdachte, war es schon eine schlimme Sache. Hatten sie sich vielleicht geirrt? Waren Forcas und Janaël ihnen vielleicht gar nicht gut gesinnt? Er blickte wieder zu den Schmetterlingen und Sternputzern 303
hinauf, die auf seine Antwort warteten, Flügelphantasier, die nach Forcas Befehl eigentlich vernichtet werden sollten. Jiinn-Garagor schüttelte plötzlich den Kopf. Dann machte er Toralon ein Zeichen. »Kommt näher«, sagte er matt. »Ich werde euch erzählen, wie das alles gekommen ist. Denn ... ja, ich weiß ja auch nicht mehr, was ich noch glauben soll.«
\7\ Am nächsten Tag kamen Saru und die beiden jungen Schmetterlinger auch nicht viel weiter. Sie hatten sich vorgenommen, so viele Engel wie möglich zu befragen, ob es nicht doch einen Weg zu Aratron gab. Bisweilen ließ sich einer von ihnen auch dazu herab, kurz mit den seltsamen Besuchern aus Phantásien zu sprechen. Doch sobald die Rede auf Aratron kam, brachen sie das Gespräch abrupt ab und ließen die Schmetterlinger stehen. Die drei hatten auch bald genug davon, immer wieder das Gleiche zu erzählen und im Gegenzug einfach gar nichts zu erfahren, abgesehen vielleicht von immer längeren und sonderbareren Titeln, welche diese Wesen mit sich herumtrugen, als wäre es ihr kostbarster Besitz. Und wahrscheinlich war das auch gar nicht so ganz falsch. Ja, außer ihren Titeln hatten diese Engel gar nichts. Keine Erinnerung, keine Erwartung, keinerlei Kenntnisse über irgendetwas. »Diese Engel sind allesamt dumm und einfältig«, schimpfte Nadil. »Es lohnt sich überhaupt nicht, mit ihnen zu sprechen.« Aber das war nicht so ganz richtig. Tavtavel war immerhin ein interessanter Gesprächspartner gewesen, wenn er auch nichts mehr von den Phantásiern wissen wollte. Immerhin hatte seine Erzählung einen Teil der Vorgeschichte Silandors 304
erhellt. Und so schlug Saru vor, nach einem anderen Metatron zu suchen, der vielleicht weniger unfreundlich war als dieser Tavtavel. Sie durchstreiften Dorsilan, vermieden es, Aratron zu erwähnen, und fragten stattdessen nach Engeln, die in SirinnElial gewesen waren. Und schließlich stießen sie sogar auf einen, der in einem Heer gedient hatte, das in der Nähe von Sirinn-Elial aufmarschiert war. Die Geschichte, die er erzählte, stimmte im Wesentlichen mit dem überein, was Tavtavel ihnen schon gesagt hatte. Doch was aus Aratron geworden war, konnte er auch nicht erklären. Immerhin erfuhren sie auf diese Weise, dass einer von Aratrons vielen Titeln »Wächter von Silandor« lautete. Der Engel war also mit dem Schutz des Bergwerks betraut gewesen. Ja, er und seine sechs Gefährten hatten es sogar erschaffen. Als es bedroht war, taten sie alles, was in ihrer Macht stand, um es zu verteidigen. Wie der Engel ihnen erzählte, riskierten sie sogar, drei riesige Engelheere dorthin zu beordern. Ebendies konnten die anderen Engel Aratron offenbar nicht verzeihen. Aratron habe eigenmächtig gehandelt und alle Engel in große Gefahr gebracht. Daher wolle niemand in Dorsilan an ihn erinnert werden. Auf die Frage, warum Phantásien sich zu verdoppeln begann und in Mangarath Engeltrümmer vom Himmel fielen, wusste der Engel allerdings auch keine Antwort. Phantásien, so sagte er, sei ihnen immer fremd gewesen. Kein Engel habe sich dort jemals gern aufgehalten, um den aussichtslosen Kampf gegen die Kreaturen von Bir-Ariman zu führen. Eigentlich habe es so kommen müssen. Aratron habe an etwas festhalten wollen, dessen Zeit abgelaufen war. Daher sei er gescheitert. Dieses Gespräch ließ die drei Schmetterlinger noch nieder305
geschlagener zurück, als sie ohnehin schon waren. Jede neue Nachricht verschlimmerte nur alles. Den Engeln war Phantásien nicht nur egal, sie wünschten sich sogar, dass es verschwinden möge! Oder wie sollte man dergleichen Äußerungen sonst verstehen? Gab es denn überhaupt niemanden hier, der für ihr Schicksal ein wenig Mitgefühl aufbrachte? Ach, es war schrecklich. »Wenn euch das alles so sehr interessiert«, schloss der Engel, bevor er weiterflog, »dann solltet ihr Hasmityah aufsuchen. Er weiß am meisten darüber.« »Und wo finden wir ihn?«, fragte Saru, obwohl er kaum noch Hoffnung hatte. »Er wohnt im letzten Bezirk.« »Im letzten Bezirk? Aha. Und welche Nummer hat der?«, wollte Nadil wissen. »Der letzte Bezirk hat keine Nummer. Deshalb ist es ja der letzte. Dort wohnen Engel, die sich bereit machen, in die Leere einzugehen«, erklärte der Sarim. »Dies ist mit einer ganzen Reihe von Übungen verbunden. Man muss viel Zeit im Angesicht der Leere verbringen. Deshalb liegt der letzte Bezirk schon in der Leere. Man kommt nur über einen schmalen Pfad dorthin.« »Nun, wenn dem so ist, dann müssen wir eben dorthin gehen«, beschloss Saru. Sie brauchten fast den ganzen restlichen Tag, um sich zum letzten Bezirk durchzufragen. Als sie ihn in der Ferne entdeckten, betrachteten sie die Aussicht mit mehr als gemischten Gefühlen. »Das ... das sieht aber nicht sehr einladend aus«, sagte Piri. Der letzte Bezirk war tatsächlich nur über einen sehr, sehr schmalen Pfad zu erreichen, der von Dorsilan aus hinüber306
führte. Im Grunde war es auch kein Bezirk, sondern lediglich ein winziges Plateau am Ende des Pfads, der vielleicht sechzig Fuß lang war. Auf der Plattform stand ein einziges Häuschen, und davor, dahinter, daneben, darüber und darunter war – nichts. Die drei Schmetterlinger schluckten. Und wenn sie ausrutschen würden? Ein ungeschickter Schritt, und sie würden unweigerlich in die Leere stürzen. Saru beobachtete Nadil. Das Gespräch vom Vorabend war ihm noch deutlich in Erinnerung. Und die Art und Weise, wie Nadil jetzt in die Leere hinausblickte, beunruhigte ihn. Doch bevor er etwas sagen konnte, marschierte Nadil auf einmal los. »Halt«, entfuhr es Saru. »Nadil, wo gehst du hin?« Nadil wandte sich um und sah seinen Großvater verblüfft an. »Wir müssen doch dort hinübergehen, oder?« Piri verzog das Gesicht. »Aber der Pfad ist wirklich sehr schmal«, sagte er und schaute wieder zu Saru. »Piri hat Recht«, meinte Saru. »Es sieht wirklich gefährlich aus.« Nadil schaute von einem zum anderen. »Gefährlich?«, fragte er dann. »Ich verstehe euch nicht. Hier finden wir vielleicht endlich eine Antwort, und ihr wollt nicht über diesen Pfad gehen?« Wie zur Bestätigung sahen sie plötzlich dort drüben einen Engel aus dem Häuschen herauskommen und ein Stückchen weit über den schmalen Pfad balancieren. Er bewegte sich äußerst langsam. Aber das Seltsamste an ihm war etwas ganz anderes: Der Engel war halb durchsichtig. An manchen Stellen konnte man sogar durch ihn hindurchsehen. Die drei betrachteten verwundert das Schauspiel vor ihren Augen. Plötzlich erhob sich der Engel und entschwand rasch ihren Blicken. »Dort verschwinden sie also«, bemerkte Nadil zufrieden. 307
»Kommt. Vielleicht ist das der Ort, wo wir endlich etwas über Aratron erfahren können.« Widerstrebend setzten sich Saru und Piri in Marsch. Worauf hatten sie sich nur eingelassen. Piri schauderte vor dem Anblick, der sich vor ihm auftat. Diese Leere machte ihm mehr und mehr Angst. Saru bewegten noch ganze andere Befürchtungen. Nadil wurde von dieser Leere immer stärker angezogen, das spürte er. Wenn er dort hineinspringen würde. Ach, er würde es sich nie verzeihen, ihn hierher gebracht zu haben! Aber seine Sorge war unbegründet. Der Pfad war zwar wirklich sehr schmal, doch sie bewegten sich vorsichtig voran und erreichten glücklich das Plateau. Nadil ging sofort auf das kleine Haus zu. Es war ein merkwürdiges Gebäude. Ja, genauso wie der Engel, den sie aus der Ferne gesehen hatten, schien es sich schon halb in Luft aufgelöst zu haben. Überall schimmerte die Leere hindurch. Die Fenster hingen nur halb in den Rahmen, im Boden klafften große leere Stellen, und der offensichtlich einzige Bewohner des Häuschens war nicht weniger von der Leere angefressen. Die halb durchsichtige Gestalt, die in dem Häuschen auf einem von der Leere durchlöcherten Kissen saß, war etwa doppelt so groß wie Tavtavel. Trotz seines halb abhanden gekommenen Zustandes konnte man leicht sehen, dass es ein noch mächtigerer, noch kriegerischerer Engel gewesen sein musste. Die Zahl seiner Schwingen war auf Anhieb überhaupt nicht auszumachen. Sein Kopf war besonders eindrucksvoll: Große, dunkle Augen lagen unter einer breiten Stirn, aus der zwei mächtige Hörner hervorwuchsen. Eine Nase hatte dieser Engel nicht, dafür aber zwei breit auslaufende Nüstern und darunter ein spitzes Maul, aus dem links und rechts mächtige Reißzähne hervorragten. 308
Die drei Phantásier verbeugten sich schüchtern. Aber der Engel schien sehr viel gefährlicher auszusehen, als er war. »Wer seid ihr?«, fragte er mit einer leisen, angenehmen Stimme. Dabei gelang es ihm sogar, mit seinem furchterregenden Maul zu lächeln. Diesmal übernahm Nadil die Vorstellung. Ihre Anwesenheit in Dorsilan hatte sich offenbar noch nicht bis hierher herumgesprochen. »Phantásier?«, sagte der Engel verwundert. »Hier in Dorsilan? Das ist ja noch nie vorgekommen.« Er runzelte seine mächtige Stirn, auf der sich auch schon hier und da die Leere einen Platz erobert hatte. Piri starrte wie gebannt darauf. So etwas Merkwürdiges. Man konnte teilweise durch die Stirn hindurchsehen. »Und wer bist du?«, fragte Saru. »Ich bin Hasmityah«, begann der Engel, und Saru bedauerte sogleich seine Frage, denn natürlich zählte der Engel, wie es sich gehörte, seine dreiundsiebzig Titel auf. Die drei warteten geduldig, bis er endlich an das Ende gekommen war. Dann erzählte Saru erneut ihre Geschichte: wie sie sich von Mangarath durch Silandor hindurch nach Balang-Gir begeben hatten, um eine Erklärung für die Lichterscheinungen zu finden, die so traurig machten. Er erzählte von den Engeltrümmern, vom Angriff der Iblisse, von den beunruhigenden Verdoppelungen in Phantásien und erklärte zum Schluss, dass sie gern mit Aratron sprechen würden. Hasmityah lauschte aufmerksam. Doch Nadil hatte den Eindruck, dass der Engel zugleich weiterhin damit beschäftigt war, sich mehr und mehr in Luft aufzulösen. Und wie zur Bestätigung verschwand plötzlich sein Unterleib. »Ehrwürdiger Hasmityah«, sagte Nadil rasch, »Hüter der Lüfte, zwölfter Ritter von Pandriel... Wir sind gekommen, um 309
etwas über die Leere zu erfahren, in die du bald eingehen wirst. Sag bitte, können wir Phantásier dort auch hingehen, wo du bald sein wirst?« Hasmityah überlegte eine ganze Weile. Dann sagte er: »Unsere Welten grenzen aneinander und durchdringen sich zum Teil. Aber sie können nicht ineinander aufgehen. Das ist unmöglich. Ebenso wenig wie ein Engel in Phantásien Gestalt annehmen kann, kann ein Phantásier ins Land der Leere gehen.« »Aber ehrwürdiger Hasmityah«, entgegnete Saru, »es gibt doch Engel in Phantásien. Ich habe sie doch mit eigenen Augen gesehen.« Der alte Metatron schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, Phantásier, du kannst ja gar nicht wissen, was du gesehen hast. Vielleicht bist du der Vorstellung eines Engels begegnet, das mag sein. Aber ein wirklicher Engel ist unvorstellbar. Wir kommen aus der Leere und gehen wieder in sie hinein. Wie sollte man uns da sehen können?« »Aber ... ich kann dich doch sehen«, rief Saru verwundert aus. »Du sitzt ja hier vor mir und sprichst mit uns!« »Sicher«, sagte Hasmityah und lächelte geheimnisvoll. »Aber was du siehst, ist kein Engel. Du siehst nur die Vorstellung davon. Das ist etwas anderes. Engel sind Boten des Unendlichen, des Unvorstellbaren. Wenn wir Gestalt annehmen, dann sind wir schon keine Engel mehr.« Und wie zum Beweis wurde Hasmityah mit einem Mal fast völlig durchsichtig. Du liebe Zeit, dachte Piri, zugleich fasziniert und verstört. Gleich ist er weg. Auch Nadil war alarmiert. Endlich hatten sie einen Engel gefunden, der ihnen offenbar ein paar Antworten geben konnte, und schon löste er sich vor ihren Augen in Luft auf. 310
»Aber so sage uns doch«, rief er aufgeregt, »können wir Phantásier nicht trotzdem irgendwie in die Leere hineingehen?« Wieder schwieg Hasmityah lange. Gleich ist sein Kopf weg, dachte Nadil beunruhigt. Und dann erfahren wir gar nichts mehr. Aber Hasmityahs Kopf blieb noch einen Augenblick erhalten. »So wie ein Engel immer in der Leere ist«, sagte er, »ebenso kann ein Phantásier immer nur in Phantásien sein. Das ist so und wird immer so bleiben.« »Und was geschieht, wenn ich in die Leere hineinspringe?«, fragte Nadil hartnäckig. Hasmityah schloss die Augen. Ach je, dachte Saru, nun wird er bestimmt böse. Genauso wie Tavtavel. Aber das war nicht der Fall. Hasmityah blieb freundlich. Aber plötzlich war sein Kopf verschwunden. »Halt, so bleibe doch noch einen Moment!«, rief Nadil bestürzt. »Bitte hilf uns doch!« Aber es war zu spät. Hasmityah löste sich auf. Oder vielmehr: Die Leere brach aus ihm hervor und überflutete ihn. Es war ein so merkwürdiges Phänomen, dass die drei nur stumm dastanden und wie gebannt zuschauten. Dann war Hasmityah verschwunden. Ratlos und enttäuscht verließen sie den Ort wieder und balancierten über den schmalen Pfad zurück in die Stadt. Es war einfach hoffnungslos. Es war völlig sinnlos gewesen, nach Dorsilan zu gehen. »Wir können hier nichts ausrichten«, sagte Saru. »Ich schlage vor, wir kehren nach Phantásien zurück. Die Engel können uns nicht helfen.« »Was?«, widersprach Nadil. »Nach Phantásien? Saru, das kann doch nicht dein Ernst sein. Wir sind so weit gekommen. 311
Die Antwort muss hier irgendwo liegen. Wir müssen etwas unternehmen. Wir dürfen jetzt nicht umkehren!« »Aber was willst du denn tun?«, fragte Piri resigniert. »Es bleibt nur noch eine Möglichkeit«, verkündete Nadil mit fester Stimme. »Wir ... wir müssen in die Leere hineinspringen.« Piri schaute Nadil entsetzt an. »Du willst in die Leere springen? Einfach so? Da mache ich aber nicht mit.« Doch Nadil hörte gar nicht, was Piri sagte. Ihm war soeben noch eine ganz andere Sache eingefallen. »Pegario«, flüsterte er plötzlich, als stünde der alte Sternputzer neben ihm. »Was ist?«, fragte Saru verstört. »Pegario«, wiederholte Nadil laut. »Er hat mir damals etwas Merkwürdiges erzählt. Er redete immer von einem Nichtnichts. Ich habe das damals nicht begriffen.« »Und jetzt, begreifst du es jetzt?«, fragte Saru. »Das Nichts ist dort, wo vorher einmal etwas war und nun alles weg ist. Aber Pegario sagte, was da am Himmel verglühe, das sei wie ein Nichts, wo vorher noch nie etwas war. Etwas, das unvorstellbar ist.« Er machte eine Pause. »Etwas Unvorstellbares, das verglüht, Saru, das müssen Engel sein. Hasmityah hat es doch eben noch gesagt: Engel sind unvorstellbar. Wenn wir sie sehen, dann sind es schon keine Engel mehr. Also erscheinen sie uns sichtbarlos. Ja, so muss es sein.« Nadil wurde immer aufgeregter. »Es ist doch ganz einfach: Mit dem Nichts hat dieses Unvorstellbare nur eines gemeinsam – es ist genauso unbeschreiblich. Aber auf eine ganz andere Weise als das Nichts, denn es ist ja nicht das Nichts, sondern sein Gegenteil: ein Nichtnichts.« »Ich gebe es auf«, sagte Piri, »ich verstehe nur noch nichtnichts.« »Eben«, rief Nadil triumphierend. »Man kann es nicht ver312
stehen. Man muss hineinspringen, um es zu verstehen. Es ist wie mit dem Nichts, nur andersherum. Vielleicht ist das der tiefere Sinn des Orakelspruchs? Ja, so muss es sein!« »Was muss wie sein?«, fragte Saru. Nadil war überhaupt nicht mehr zu bremsen: »Alles in Phantásien hat seine Entsprechung, sein Gegenteil. Auch das Nichts. Es bedroht uns. Wir haben immer geglaubt, das Nichts sei etwas Absolutes, wogegen niemand etwas tun kann. Aber das stimmt nicht. Vielleicht haben die Engel uns deshalb das Nichtnichts gegeben – um uns vor dem Nichts zu schützen. Dafür hatte das Nichtnichts seinen Platz in Phantásien. Die Engel haben es nach Silandor gebracht, und dort wurde es von diesen Greisen verwahrt. Aber weil das Nichtnichts genauso aussieht wie das Nichts, haben die Stierwächter es zerstört. Sie haben einen furchtbaren Fehler gemacht. Sie haben irrtümlich genau das zerstört, was Phantásien vor dem Nichts geschützt hat: das Nichtnichts. Deshalb gerät alles aus den Fugen. Eine wichtige Lebenskraft von Phantásien ist zerstört worden!« »Nadil, wovon redest du?«, ließ sich Piri vernehmen, der seinen Freund mit wachsender Sorge betrachtete. »Was für eine Kraft denn bitte? Silandor ist nur eine leere Höhle. Du redest völlig wirr, ist dir das eigentlich klar?« Nadils Augen begannen zu glänzen. »Wirr? Ha, ha! Ich bin nicht wirr. Es ist ja ganz einfach. Man muss nur alles vom Kopf auf die Füße stellen. Das Nichts ist unvorstellbar. Deshalb haben wir solche Angst davor. Aber nicht alles, was unvorstellbar ist, ist das Nichts! Ich kann es auch nicht besser erklären. Trotzdem bin ich mir jetzt völlig sicher, dass es so ist. Und ich weiß jetzt auch, was wir tun müssen. Wir müssen hineinspringen. Das ist der einzige Weg – in das Geheimnis hinein. Wir müssen in die Leere hineinspringen, um sie zu 313
verstehen. Das ist die einzige Rettung für uns. Es geht nicht anders.« Und damit sprang Nadil tatsächlich auf und stürmte los. »Bei allen Purpurbüffeln, wo rennst du hin?«, schrie Saru. »Nadil! Bleib stehen!«, rief Piri. Aber Nadil war nicht mehr zu bremsen. Er hüpfte wie ein Besessener auf und ab, lachte und gluckste. Saru und Piri setzten ihm nach. »Er ist verrückt geworden«, rief Piri. »Saru, tu doch irgendetwas. Er hat den Verstand verloren.« Doch der alte Mann war viel zu langsam, um mit seinem Enkel und dessen Freund Schritt halten zu können. »Piri, ich flehe dich an, halte ihn auf.« Piri blieb stehen und schaute unschlüssig erst auf Saru, der sich keuchend gegen eine Mauer lehnte, und dann auf Nadil, der wie von Sinnen eine breite Gasse hinabstürmte, von der man überhaupt nicht sehen konnte, wo sie hinführte. »Ich werde ihn schon einholen«, sagte Piri und nahm ohne weitere Verzögerung die Verfolgung auf. Doch Nadils Vorsprung war bereits zu groß. Er konnte ihn nicht einholen. Der Abstand zwischen den beiden wurde sogar immer größer. Woher nahm Nadil nur die Energie, so schnell zu laufen? Noch konnte Piri ihn sehen. Da, jetzt wurde Nadil von einigen großen Engeln aufgehalten, die ihm in den Weg traten. Aber nein, er wich ihnen aus, huschte zwischen ihnen hindurch. Und was war das? Wo führte denn diese Gasse hin, in die er jetzt einbog? Piri traute seinen Augen kaum. Wollte Nadil seine Drohung wirklich wahr machen? Ah! Jetzt blieb er endlich stehen. Kein Wunder. Denn der Abgrund dort vorn war ja noch furchterregender als das Tal der Tränen oder die Leiter über dem Höhlensee von Silandor. 314
Piri verlangsamte sein Tempo. Er wollte Nadil ja nicht erschrecken, er wollte ihn nur zur Vernunft bringen. Sein Freund stand dort vorn, ganz am Rand der Stadt, die an dieser Stelle gefährlich weit in die Leere hinausragte. Piri konnte kaum die Augen daraufrichten, so eine Angst bekam er jetzt vor diesem Abgrund, der keiner war, denn ein Abgrund, der keinen Grund hatte, nicht einmal ganz, ganz weit unten, das war einfach nur ein Ab... ein Ende, ein Nichts eben. Da drehte Nadil sich zu ihm um. Er lächelte, sagte aber nichts. Dann spürte Piri, dass jemand hinter ihn getreten war. Er wandte den Kopf. Da stand Tavtavel. Und der richtete auch sogleich das Wort an Nadil: »Komm zurück, Phantásier«, sagte er drohend. »Du weißt nicht, was du tust.« Aber Nadil schüttelte den Kopf. »Nein, Tavtavel«, rief er. »Du hast Aratron und die anderen im Stich gelassen. Ihr alle habt ihn im Stich gelassen. Ich werde das nicht tun!« Und ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, breitete die Arme aus, ging einen Schritt, dann noch einen – und dann fiel er nach vorne und verschwand. »Naaadiiiiil!«, schrie Piri auf. Piri wollte zum Rand des Abgrunds gehen, doch Tavtavel hielt ihn fest. Vielleicht war Nadil nur abgerutscht und klammerte sich dort noch irgendwo an. Aber Tavtavels Griff ließ Piri keinerlei Bewegungsfreiheit. Langsam zog der mächtige Engel ihn vom Rand der Leere zurück und stieß ihn unsanft vor sich her, nach Dorsilan hinein bis zu Saru, der niedergeschlagen an einer Straßenecke kauerte.
315
\8\ Die Szenerie war gespenstisch. In das fahle grünliche Licht der Glühkröten getaucht, saßen Beliar, Toralon, Pegario und noch einige weitere Sternputzer und Schmetterlinger um Jiinn-Garagor herum und lauschten dem Stierwächter, während sich über ihnen am Himmel ein immer größer werdendes Heer von Flügelphantásiern zusammenzog. Doch die Zuhörenden blickten nicht nach oben. Jiinn-Garagors Erzählungen hatten sie völlig in Bann geschlagen. »Und dann kam eines Tages Forcas zu uns und sagte: ›Wenn ihr das Nichts besiegen wollt, dann müsst ihr Silandor zerstören. Die Ruhewinzer von Silandor sind an dem ganzen Unglück schuld. Ihr müsst Silandor vernichten, und wenn ihr mir vertraut, dann wird euch das auch gelingen.‹« Und JiinnGaragor erzählte, wie sich ein ganzes Heer von Stierwächtern nach Mangarath in Gang gesetzt hatte, wie sie im Sternputzerdorf den Eingang nach Silandor entdeckt und versucht hatten, dort einzudringen. Beliar hatte unterdessen die Gesichter der Sternputzer gemustert. Ja, manche von ihnen erinnerten sich natürlich daran, dass die Stierwächter gekommen waren, aber was in Silandor tatsächlich geschehen war, das hatten sie nie erfahren. Sie hatten ja nicht einmal von der Existenz des Bergwerks gewusst. »Je tiefer wir eindrangen«, fuhr Jiinn-Garagor fort, »desto stiller wurde es. Meine Leute bekamen Angst, denn wir fürchteten hinter jeder Abzweigung ins Nichts zu stürzen. Doch dann wurden wir plötzlich angegriffen. Forcas hatte uns gewarnt. ›Die Ruhewinzer‹, so sagte er, ›sind wehrlos. Sie können nur leben, solange es völlig still ist. Deshalb haben sie sich ja auch so tief in der Erde eingegraben. Sie brauchen 316
das Nichts, um existieren zu können. Sie leben davon. Das leiseste Geräusch lähmt sie. Doch sie werden von gefährlichen Dämonen geschützt: den Äthariern. Es sind kaum sichtbare Luftgeister, die alle Eindringlinge durch ihre säuselnden Stimmen betäuben und in Tiefschlaf versetzen können. Wer ihren Einflüsterungen erliegt, wird nie wieder erwachen.« Sie mussten zuerst überwunden werden, durch Geräusche, durch Gesang, durch unablässiges Erzeugen von Lärm. Wir brauchten Wochen«, erzählte Jiinn-Garagor weiter, »bis wir uns durch die Schächte und Gänge ins Herz des Bergwerks vorgearbeitet hatten. Ich weiß nicht mehr, wie viele dieser Dämonen wir erschlugen. Sie griffen uns immer härter an, doch obwohl ihnen viele Wächter zum Opfer fielen, setzten wir uns durch und gelangten schließlich an einen unterirdischen See und von dort in die Höhle der Ruhewinzer.« Es wurde totenstill in der Runde, während Jiinn-Garagor die letzte Episode des Falls von Silandor erzählte. »Forcas' Prophezeiung war eingetroffen. Als wir die Höhle der Verräter erreichten, saßen sie dort wie gelähmt. Es waren Greise, alte, runzlige Wesen, die sich offenbar in Erwartung ihres nahen Todes dort zusammengetan hatten. Unser Eindringen hatte ihrem Treiben ein Ende gesetzt. Wir versuchten natürlich, sie zu befragen, warum sie das Nichts nach Phantásien geholt hatten. Doch sie waren wie zu Stein erstarrt.« »Aber wo war denn das Nichts?«, fragte Pegario. »Wie konntest du denn sicher sein, dass diese armen Wesen überhaupt mit dem Nichts in Verbindung standen?« Jiinn-Garagor sah ihn durchdringend an. »Das kann nur jemand fragen, der nicht dabei gewesen ist«, erwiderte er drohend. »Dieses Bergwerk war erfüllt von den Vorboten des Nichts. Die Stille dort war unerträglich. Wir spürten die 317
gleiche Beklemmung, von der auch all jene berichtet hatten, die dem Nichts nahe gekommen waren. Es war furchtbar dort unten. Und was hatten denn diese Greise überhaupt so tief in der Erde zu schaffen? Warum hatten sie sich vor allen Phantásiern so tief in diesen Höhlen versteckt, wenn nicht, weil sie ein schreckliches Geheimnis verbergen wollten? Sie waren mit den Äthariern im Bunde, den üblen Schlafdämonen. Und außerdem fanden wir den Tunnel.« »Welchen Tunnel?«, fragte Beliar. »Den Geheimgang nach Balang-Gir, den Weg ins Land der Leere, aus dem das Nichts kommt. Sie hatten einen langen Tunnel dorthin gegraben ...« »Seid ihr etwa dort hindurchgegangen?«, unterbrach ihn Toralon. Jiinn-Garagor schüttelte entsetzt den Kopf. »Bist du von Sinnen? Niemals hätten wir das gewagt. Aber wir konnten ja erkennen, wohin der Tunnel führte: direkt nach Balang-Gir. Also war bewiesen, was Forcas behauptet hatte: dass diese Greise dem Nichts einen Zugang eröffnet hatten.« »Und was tatet ihr dann?«, wollte Pegario wissen. »Wir holten Summsteine und verschlossen den Tunnel. Dann wollten wir die Greise aus dem Bergwerk herausschaffen, aber das ging nicht. Wir konnten sie nicht mitnehmen. Ebenso wenig wie unsere gefallenen Kameraden. Forcas erlaubte es uns nicht. Niemand sollte erfahren, was dort unten geschehen war. Also mauerten wir die Greise ein, damit niemand je wieder diese entsetzliche Höhle oder den Tunnel nach Balang-Gir öffnen würde. Auch unsere toten Kameraden mussten wir dort zurücklassen, als Mahnung und als Wache. Und danach verschlossen wir das Bergwerk. Nie wieder sollte jemand dorthin gelangen können.« Der Stierwächter hielt einen Moment inné. »Forcas sagte 318
uns, was wir als Nächstes tun sollten«, fuhr er fort. »Der Eingang war mit Feuer zu verschließen. Also gruben wir neben dem Bergwerk einen tiefen Schacht, bis wir auf einen von Vulkanias weit verzweigten Feuerströmen stießen, und lenkten ihn in den Eingangsstollen von Silandor. So entstand ein Krater, den niemand durchschreiten konnte. Dann befahl uns Forcas, die Kraft dieser Hitze zu nutzen, um Geräusche zu erzeugen. Denn nur Geräusche konnten das Nichts und seinen entsetzlichen Vorboten, die Stille, besiegen. Mangarath sollte der erste Ort in Phantásien werden, wo die Stille endgültig besiegt und überwunden war. Und von Mangarath aus, dem Ort der besiegten Stille, sollte in ganz Phantásien das Nichts ausgerottet werden.« Die Schmetterlinger und Sternputzer schauten sich verstört an. Hatten sie richtig gehört? Deshalb waren diese Ruhewinzer vernichtet worden? Weil sie in der Stille gelebt hatten? Und aus dem gleichen Grund sollten jetzt alle Flügelphantásier ausgelöscht werden? Pegario sprach zuerst aus, was wohl alle dachten. »So ein Irrsinn! Jiinn-Garagor, glaubst du etwa wirklich, dass die Stille und das Nichts das Gleiche sind? Wie konntest du diesem Forcas nur vertrauen!« Jiinn-Garagor schaute verwirrt um sich. »Aber es ist doch so«, verteidigte er sich matt. »Oder was glaubt ihr denn, woher das Nichts kommt?« Darauf hatte freilich niemand eine Antwort. »Wer ist dieser Forcas überhaupt?«, fragte Beliar. »Wo können wir ihn finden?« »Ihn finden?« Jiinn-Garagor lachte laut auf. »Forcas finden? Was glaubt ihr eigentlich, mit wem ihr es zu tun habt?« »Eben«, sagte jetzt Toralon. »Wir würden es gern wissen, denn ich habe den Eindruck, dass dieser Herr mehr Unglück 319
über uns gebracht hat, als du und deine Wächter überhaupt wahrhaben wollt. Also noch einmal: Wer ist Forcas?« Jiinn-Garagor versuchte erneut seine Zuhörer durch einen bösen Blick einzuschüchtern, aber das gelang ihm nicht mehr. Und allmählich waren auch seine eigenen Zweifel so stark geworden, dass er sich kurzzeitig sogar fragte, wie er überhaupt dazu gekommen war, ein paar harmlose Greise, die nichts getan hatten, als in der Stille zu leben, zu verfolgen und einzumauern. »Forcas ist ein Flügelphantásier«, sagte er schließlich. »Aber ich weiß nicht, woher er kommt.« »Du weißt nicht, woher er kommt?«, wiederholte Pegario mit schneidendem Spott in der Stimme. »Du hast dich von jemandem zu einem Krieg hinreißen lassen und weißt nicht einmal, wer er ist?« »Phantásien stand am Rande der Vernichtung«, verteidigte sich Jiinn-Garagor. »Ihr wisst alle noch sehr gut, wie die Situation war. Wir haben uns damals an jeden Strohhalm geklammert. Und schließlich hatte unsere Unternehmung ja auch Erfolg. Das Nichts verschwand, kaum dass Silandor zerstört war.« Dagegen war zunächst nichts einzuwenden. Aber hier erhob nun Windjunge seine Stimme. Der Schmetterling hatte die ganze Zeit über der Versammlung geschwebt und aufmerksam zugehört. »Das ist nicht wahr«, sagte er. Alle Blicke richteten sich auf ihn. »Was ist nicht wahr?«, ließ sich Beliar vernehmen. »Das Nichts begann schon vorher zu verschwinden«, sagte der Schmetterling. »Ich habe es selbst gesehen.« »So?«, rief Jiinn-Garagor höhnisch. »Jetzt bin ich aber gespannt.« »Ich war damals in einem Teil von Phantásien unterwegs, 320
der fast vollständig vom Nichts zerstört war. Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, denn wohin ich auch blickte, überall war die wabernde Nachtschwärze schon im Vormarsch. Mittendrin war nur noch ein Ort erhalten: das Haus des Alten vom Wandernden Berg. Ich flog darauf zu, denn es war meine letzte Hoffnung. Und plötzlich geschah etwas Seltsames: Die Nachtschwärze verwandelte sich. Alles wurde grün. Ein riesenhafter Wald wuchs vor meinen Augen aus dem Nichts heraus. Leider verschwand dadurch auch das Haus des Alten vom Wandernden Berg, den ich deshalb nicht mehr kennen gelernt habe. Aber ich war natürlich überglücklich, gerettet worden zu sein. Und dies geschah, bevor Mangarath erbaut wurde. Das weiß ich ganz genau. Jemand anderes hat das Nichts besiegt. Nicht die Stierwächter. Da bin ich mir sicher.« Jiinn-Garagor sah plötzlich aus, als hätte ihm jemand seine schönen Stierhörner gestutzt. Er ließ sich auf den Boden sinken, nahm seinen Kopf zwischen die Hände und rieb sich die Schläfen. Die Schmetterlinger und Sternputzer schauten ihn vorwurfsvoll an, doch als er endlich wieder den Kopf hob, um etwas zu sagen, da blieben ihm die Worte im Hals stecken. Er wusste nicht mehr weiter. Ein erster Schimmer kündigte die Morgendämmerung an. Die Glühkröten leuchteten allmählich schwächer. Oben am Himmel zog die Schar der Sternputzer und Schmetterlinge aus Nevisehr abwartend ihre Kreise. Es war Beliar, die das allgemeine Schweigen brach. »Du hast dich geirrt, Jiinn-Garagor. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Denn weißt du, was viel schlimmer ist?« Der Stierwächter schaute sie an, unfähig, etwas zu erwidern. »Dieser Forcas hat dich benutzt. Und du weißt nicht einmal, wozu. Wenn die Ruhewinzer nicht für das Nichts verantwort321
lieh waren«, rief sie zornig, »warum sonst mussten sie dann sterben? Und warum will dieser Forcas, dass es in Phantásien keine Stille mehr geben soll?« Jiinn-Garagor wusste keine Antwort. Und selbst wenn er sie gekannt hätte, so hätte er keine Zeit mehr gehabt, sie zu äußern. Denn plötzlich durchschnitt ein gellender Pfiff die Stille. Die Sternputzer und Schmetterlinge schraken zusammen. Was war das? Am Himmel über ihnen war eine ruckartige Bewegung entstanden. Ja, es war gerade so, als wäre dort eine riesenhafte Woge schlagartig herumgeworfen worden. Hunderte von Schmetterlingen und Sternputzern stürzten jählings in die gleiche Richtung davon. Und im selben Augenblick gellten als Antwort auf den einzelnen Kampfruf zahllose Pfiffe durch die Nacht. Quäldrohnen!
\9\ Saru und Piri warteten. Stunden. Tage. Aber die Leere hatte Nadil verschluckt. Immer wieder trat Saru an den Abgrund hin, der keinen Grund hatte, und starrte in den bodenlosen Raum hinaus. Aber da war nichts. Einfach gar nichts. Er war so verzweifelt, dass Piri manchmal befürchtete, er würde Nadil hinterherspringen. Doch am Ende tat er das natürlich nicht. Aber Saru war am Boden zerstört. Manchmal weinte er leise, oder er schlug sich mit den Händen auf die Brust. »Es ist alles meine Schuld«, jammerte der alte Mann. »Warum habe ich euch überhaupt mitgenommen? Ach, es ist schrecklich.« Piri wusste nicht, wie er Saru trösten sollte. Ratlos und 322
verzweifelt verließen sie Dorsilan schließlich am übernächsten Tag. Es hatte keinen Sinn, noch länger hier zu warten. Sie marschierten den ganzen Weg zurück, von Bezirk zu Bezirk, und erstiegen dann mühsam das Gebirge Balang-Gir. Am Abend erreichten sie den Gipfelgrat, von wo aus sie Dorsilan und das Land der Leere zum ersten Mal gesehen hatten. Sie warfen einen langen und schmerzlichen letzten Blick auf den Ort, wo sie ihren lieben Freund und Enkel verloren hatten, und machten sich dann an den Abstieg. Die Nacht verbrachten sie in einer verlassenen Höhle, und als sie am nächsten Morgen erwachten, da erblickten sie weit unter sich den ersten Grünschimmer des Pensarenwaldes. Erneut wunderten sie sich, dass dahinter nichts von Phantásien zu sehen war. Es war doch hoffentlich nicht verschwunden oder von Iblissen zerstört worden? Ihre Mondkälber warteten treu und zuverlässig an der Stelle, wo die drei sie zurückgelassen hatten. Der Anblick von Nadils Mondkalb versetzte ihnen erneut einen Stich ins Herz. Aber sie mussten sich mit dem Verlust des Freundes wohl endlich abfinden. Glücklicherweise stand der Mond am Abend in der richtigen Richtung, und so gelangten sie in der folgenden Nacht unbehelligt durch den Pensarenwald hindurch und zurück nach Phantásien. Am nächsten Morgen lag der Wald bereits weit hinter ihnen. Die Mondkälber waren einfach weitergelaufen und hatten sogar schon das Glottoplyttengebiet durchquert, so dass ihnen die Quälsilben diesmal erspart blieben. Im Land der Flammengeister angekommen, gab Saru die Mondkälber wieder frei. Sie trotteten davon, als hätten sie nicht die leiseste Erinnerung daran, dass sie den gefährlichsten Wald Phantásiens durchquert hatten. Und tatsächlich wussten sie das ja auch nicht, ebenso wenig, wie ihnen klar war, dass um 323
sie herum Flammengeister durch die Gegend spazierten. Anderenfalls hätten sie dort nicht wohnen können. Saru erkundigte sich noch, ob sie wichtige Neuigkeiten aus Phantásien erhalten hätten, aber die Flammengeister wussten nichts zu berichten. Nein, sie hätten nichts gehört, aber da sie ja so weit entfernt von allen anderen Phantásiern siedelten, war das auch kein Wunder. Pandarax, der Grenzwächter am Eingang zum Tal der Tränen, staunte nicht schlecht, als er Saru und Piri aus der Wüste herausspazieren sah. Aber wenn sie gedacht hatten, dass der einsame Sternputzer, der sich nicht einmal an seinen Namen erinnerte, ihnen etwas über den Zustand Phantásiens sagen konnte, so hatten sie sich geirrt. »Alles wie immer«, lautete die Auskunft des bärtigen Grenzbewachers. Wie sehr Pandarax mit dieser Einschätzung irrte, bemerkten sie rasch, als sie das Tal der Tränen durchquert und den Abgrund der weinenden Augen erklommen hatten. Die Wüste von Mangarath war kaum wiederzuerkennen. Meterhoch türmten sich hier die Engeltrümmer. Und die Lichtgewitter hatten eine solche Intensität gewonnen, dass Saru und Piri bei jeder neuen Explosion zwischen den teilweise riesigen Bruchstücken der geborstenen Engelstatuen vor dem grellen Licht Zuflucht suchten. Aber nicht nur die Intensität des Lichts hatte zugenommen. Die Stimmung, welche jede Explosion hinterließ, war jetzt sogar hier am Boden spürbar. Saru und Piri wurden ganz stumm vor Trauer und Verzweiflung. Anfänglich dachten sie noch, dass es ihr Kummer über Nadils Verschwinden war, der ihnen so zu Herzen ging. Aber dann stellten sie fest, dass die Lichtströme eine ganz besondere Melancholie in ihnen auslösten. Ja, solch eine Traurigkeit hatten sie überhaupt noch nicht erlebt. Es war so viel Hoffnungslosigkeit darin, so viel vergebliche Sehnsucht. 324
Schließlich gelangten sie wieder an das Ohr-Tor von Silandor. Die riesige Ohrmuschel lag vor ihnen in der Abendsonne. Als sie sich noch einmal umwandten, war der Horizont erfüllt von dem nun wieder weit entfernten und doch riesenhaften Gebirge Balang-Gir. Ansonsten war in alle Himmelsrichtungen nur Wüste zu sehen. Sandhügel, Geröll, bizarre Steinformationen, von denen man aus der Ferne auch nie sagen konnte, ob es von den Elementen zerriebene Felsen oder vom Himmel geregnete Engeltrümmer waren. Umherwandelnde und durch die Luft irrende Engel waren ihnen indessen auf ihrem Rückweg nicht begegnet. Alles schien tot und erstarrt. Und jetzt, mit heraufziehender Nacht, erstarb selbst der Wind. Sie ließen sich in der ausgehöhlten Ohrmuschel unweit des Eingangs von Silandor zur Nachtruhe nieder und entzündeten ein kleines Feuer, um sich zu wärmen. Lange sprach keiner der beiden ein Wort. Schließlich fragte Piri, ob Saru eine Erklärung dafür habe, dass man Mangarath von hier aus nicht sehen konnte. »Ich denke auch schon lange darüber nach«, antwortete Saru. »Und ich habe nur eine Erklärung dafür: Irgendwo in Silandor dreht sich alles um.« Piri zog skeptisch die Mundwinkel nach unten. »Aber das würde ja bedeuten, dass Mangarath unter uns ist. Etwa im Boden?« »Ja und nein«, erwiderte der alte Schmetterlinger. »Es gibt viele Stellen in Phantásien, wo sich etwas umzudrehen scheint. Vor einigen Jahren habe ich mich auf dem Weg nach Pandriel in einem Wald verirrt. Irgendwann gelangte ich in eine Tautrinkerstadt. Die Tautrinker schauten mich nicht sehr freundlich an, denn sie mögen keinen Besuch. Ich erklärte ihnen, dass ich eigentlich auf dem Weg nach Pandriel sei. Da 325
führten sie mich in den Wald zurück, wo ich mich verirrt hatte, und zwischen zwei Bäumen hindurch, die mir zuvor gar nicht aufgefallen waren. Dann sagten sie: »Du musst rechts oder links an diesen beiden Bäumen vorbeigehen, dann kommst du nach Pandriel.« Ich verstand nicht, denn hinter diesen beiden Bäumen begann genau der gleiche Weg, egal, ob man nun links oder rechts herumging. Aber sie wiederholten nur, was sie bereits erklärt hatten, liefen zwischen den beiden Bäumen hindurch und machten sich auf den Heimweg. Also ging ich links an den Bäumen vorbei, doch natürlich sah ich sogleich die beiden Tautrinker durch den Wald spazieren. Ich folgte ihnen rasch, denn ich wollte sie zur Rede stellen und fragen, was dieser merkwürdige Scherz zu bedeuten hätte. Aber sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte sie nicht erreichen. Sie waren die ganze Zeit vor mir auf dem Weg, aber es war offenbar wirklich nicht derselbe Weg. Sie wurden kleiner und kleiner, entfernten sich immer mehr, und schließlich war ich allein. Kurz darauf sah ich den Waldrand und dahinter die ersten Wolkenketten von Pandriel.« Piri staunte nicht schlecht über diesen Bericht. »Aber umgedreht hat sich Phantásien dort nicht«, sagte er dann. »Nein«, antwortete Saru, »doch es gibt in Phantásien offenbar Stellen, wo sich zwei Reiche überschneiden. Sie sind sich dort so ähnlich geworden, dass man sie verwechselt, und wenn man nicht aufpasst, gerät man zufällig von einem ins andere. So hatte ich mich ja verirrt. Die beiden Bäume, zwischen denen ich hindurchspaziert bin, standen sowohl in Pandriel als auch im Land der Tautrinker.« »Und welche Reiche überschneiden sich in Silandor?«, fragte Piri. Saru zuckte mit den Schultern. »Offenbar ist Silandor ein Teil von Mangarath und ein Teil von Dorsilan.« 326
Plötzlich schauten die beiden sich an. »Bei allen Wünschen der Kindlichen Kaiserin! Piri! Vielleicht ist ja...?« Saru sprang so schnell auf, dass er mit einem Fuß ins Feuer stieß und einen richtigen Funkenregen erzeugte. »Wenn Silandor nach Dorsilan hineinragt und Dorsilan zum Land der Leere gehört, dann ist Silandor mit dem Land der Leere verbunden ...« »... und Nadil«, fuhr Piri aufgeregt fort, »ist dann vielleicht ...« »Ja«, unterbrach ihn nun wieder Saru. »Was hat dieser Hasmityah noch gesagt? Phantásier bleiben immer in Phantásien ...« Aber Piri ließ ihn nicht ausreden, so aufgeregt war er plötzlich: »Und außerdem heißt es doch, durch Silandor sei das Nichts nach Phantásien gekommen. Aber wir wissen jetzt, dass es gar nicht das Nichts war, sondern die Leere! Vielleicht mündet die Leere von Dorsilan in Silandor! Und vielleicht ist Nadil also ...« »... in Silandor!« Sie schauten sich aufgeregt an. An Schlaf war jetzt natürlich nicht mehr zu denken. Rasch löschten sie das Feuer und machten sich auf den Weg in das Bergwerk hinein.
\ 10 \ Jiinn-Garagor blickte verwirrt um sich. In der Luft war ein Brausen, aber er konnte nicht genau erkennen, was vor sich ging. Das Brausen wurde stärker. Immer wieder wurde es von gellenden Pfiffen durchschnitten. Er warf sich zu Boden. Kein Zweifel, es waren Quäldrohnen in der Luft. Aber wie viele? Vor Schreck erloschen die Glühkröten. Beliar und Masia hatten noch einen letzten Blick gewechselt, bevor sich Tora327
lons warnende Stimme erhob: »Los, weg hier!«, hörten sie ihn rufen und hatten gerade noch Zeit, sich an ihren Schmetterlingen festzuhalten, die in panischer Angst losflatterten. Beliar spürte, dass Schneeia am ganzen Leib zitterte. Und auch sie selbst war im ersten Moment wie gelähmt vor Angst. Was geschah hier? Wo kamen diese Quäldrohnen so plötzlich her? Aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Aus der Dämmerung schoss plötzlich etwas auf sie zu. Schneeia wich blitzartig aus und stieg dann jählings himmelwärts. Beliar wäre fast von ihrem Schmetterling gestürzt. »Halt dich fest«, keuchte Schneeia. »Ich muss Haken schlagen, das ist unsere einzige Chance.« Doch Beliar sah selbst, welches Glück sie hatte, auf Schneeia zu sitzen. Direkt neben ihr hatte eine Drohne soeben einen weniger wendigen Schmetterling kurzerhand mit ihrem Stachel durchbohrt. Beide stürzten, ineinander verknäult, zum Boden hinab. Kurz bevor sie aufschlugen, ließ die Quäldrohne von ihrem in Todeskrämpfen zuckenden Opfer ab und griff bereits den nächsten Schmetterling an. Schneeia flog einen panischen Zickzackkurs und erreichte eine sichere Höhe, wo sich gegenwärtig weder Schmetterlinge noch Quäldrohnen aufhielten. Im gleichen Augenblick traf Masia auf Goldling dort ein. Plötzlich explodierte der Himmel. Ein riesenhaftes Licht erhellte für den Bruchteil einer Sekunde die Ebene von Garsiran und warfeinen grellen Schein auf das grässliche Schauspiel: Unzählige Quäldrohnen waren in die Schar der Schmetterlinge und Sternputzer eingefallen und stachen alles nieder, was ihnen in die Quere kam. Die Flügelphantásier waren in heller Aufregung. Jeder suchte das Weite. Beim nächsten Blitz sah man bereits Dutzende von zuckenden Opfern sich am Boden wälzen. Beliar und Masia flogen noch weiter in den Himmel 328
hinauf und kreuzten verzweifelt über dem Schlachtfeld. Sie waren hin- und hergerissen zwischen Todesangst und grenzenloser Wut über diesen feigen Angriff. Plötzlich erstarben die Lichtblitze so unvermittelt, wie sie begonnen hatten. Aber die Morgendämmerung schritt rasch voran und beleuchtete zunehmend das furchtbare Schauspiel. »Wir müssen etwas tun!«, schrie Beliar. »Schau doch, sie sind in der Minderheit. Wenn wir uns zusammentun, können wir sie vielleicht vertreiben.« »Aber wie denn?«, schrie Masia zurück. »Wir haben ja keine Waffen!« Das war allerdings richtig. Und plötzlich wurden sie auch selbst angegriffen. Sechs Quäldrohnen lösten sich aus dem Gewimmel von Schmetterlingen und Sternputzern und kamen direkt auf sie zugeflogen. Weder Schneeia noch Goldling warteten, bis Beliar oder Masia reagierten, sondern sie flogen sogleich los. Pfeilschnell tauchten sie ein Stück ab, gewannen rasch an Geschwindigkeit und flogen dann hintereinander drei so scharfe Haken, dass die Quäldrohnen zunächst wieder von ihnen abließen, um sich langsamere Opfer vorzunehmen. Entsetzt sah Beliar, wie es in rascher Folge vier jüngere Schmetterlinge erwischte. Gnadenlos stachen die Drohnen auf sie ein, ließen die verwundeten Opfer wimmernd und zuckend zu Boden taumeln. Und schon hatten sie das nächste Opfer im Auge. »Sie werden uns alle vernichten«, rief Beliar. »Masia, wir müssen etwas tun! So überlege doch.« »Ich weiß doch auch nicht«, rief Masia. »Wo sind den Toralon und Pegario?« Aber von den beiden war nichts zu sehen. Mittlerweile war es zwar hell genug, aber in dem Kampfgewimmel konnte man beim besten Willen keine Übersicht gewinnen. 329
»Jiinn-Garagor«, rief Beliar. »Er muss uns helfen. Er ist schuld an dieser ganzen Sache.« Sie wollte Schneeia herumreißen. Aber Schneeia sträubte sich. »Wir... wir können doch nicht dorthin zurück«, rief der Schmetterling. »Wir werden umkommen.« »Wir müssen es versuchen«, rief Beliar. »Los. Wir können die anderen doch nicht im Stich lassen.« Widerwillig flog Schneeia einen engen Kreis und suchte in dem Gewimmel unter sich eine Lücke. Aber überall tobte jetzt der Kampf. Die ekelhaften Quäldrohnen waren wie von Sinnen und trieben scharenweise Schmetterlinge und Sternputzer vor sich her, die verzweifelt versuchten, nach irgendeiner Seite zu entkommen. Doch die Drohnen jagten im Rudel, schnitten den Flüchtenden den Weg ab, stachen unbarmherzig die langsamer werdenden Flügelphantásier tot und setzten sogleich den nächsten Opfern nach. Dann aber entdeckte Masia etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte. »Sieh nur, Beliar, dort drüben trudeln zwei Drohnen durch die Luft.« Und tatsächlich: Ein paar Sternputzern war es mit dem Mut der Verzweiflung gelungen, Sternstaub auf die Quäldrohnen zu schütten. Diese manövrierten unkontrolliert durch die Luft und taumelten richtungslos umeinander. »Flieg dorthin«, rief Beliar. »Los, dort kommen wir durch!« Wie zur Bestätigung wirbelte nun von mehreren Seiten Staub durch die Luft. Einige andere Sternputzer hatten sich offenbar auch auf ihre einzige Verteidigungswaffe besonnen. Masia und Beliar umflogen geschickt die Staubwolken. Die Drohnen hingegen waren vorübergehend abgelenkt und offenbar unschlüssig, wie sie auf diese Taktik reagieren sollten. Manche von ihnen flogen direkt in den Staub hinein und 330
ruderten dann hilflos in der Luft, in der sie gegen ihren Willen weiter und weiter nach oben trieben. Jiinn-Garagor lag noch immer wie betäubt am Boden und betrachtete das unwirkliche Schauspiel über ihm. Verstreut um ihn herum lag ein gutes Dutzend totgestochener Schmetterlinge. Auch ein paar Schmetterlinger waren zu sehen, die bei den Angriffen abgestürzt waren. Sie lagen zerschmettert auf den Felsen, entsetzlich zugerichtet. Beliar schluckte. Aber sie hatten jetzt keine Zeit für Mitgefühl. Sie mussten etwas tun. »Jiinn-Garagor«, schrie sie, »du musst uns helfen! Du bist der Einzige, der gegen diese Drohnen ankommt. Los, bitte, tu doch etwas.« Der Stierwächter starrte Beliar an. Er? Was sollte er denn tun? Er erhob sich zwar, aber dann streckte er nur seine leeren Hände aus und sagte: »Was soll ich denn machen, he? Ich habe keine Waffen dabei.« »Deine Hörner«, schrie Beliar. »Komm! Setz dich auf Schneeia. Wir müssen es diesen Quäldrohnen zeigen!« Jiinn-Garagor glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Was schlug dieses Schmetterlinger-Mädchen ihm da vor? Aber ihr hochroter Kopf, ihre wehenden Haare und blitzenden Augen ließen keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen. Ohne ein weiteres Wort landete sie mit ihrem Schmetterling neben ihm und befahl ihm aufzusitzen. Er nahm vor ihr Platz, und im nächsten Augenblick stiegen sie schon in die Lüfte. »Los, Schneeia«, rief Beliar mit dem Mut der Verzweiflung. »Nieder mit ihnen!« Ihr Eifer schien auf den Schmetterling überzuspringen. Trotz der nun erheblichen Last flog der Schmetterling rasch und wendig durch das Kampfgetümmel und wich Angreifern, die ihnen in die Quere kamen, geschickt aus. Goldling und 331
Masia folgten ihnen und taten das Ihre, um die Drohnen abzulenken. Jiinn-Garagor hatte inzwischen Beliars Plan begriffen. Er lag flach auf Schneeias Rücken und reckte seinen massigen Kopf so weit vor, wie er konnte. Immer weiter schob er sich nach vorn, an Schneeias Hals geklammert. Seine mächtigen Hörner ragten nun schon über den Kopf des Schmetterlings hinaus. »Deine Fühler«, rief Beliar ihrem Schmetterling zu. »Du musst deine Fühler einrollen!« »Das kann ich nicht«, rief Schneeia zurück. »Ich brauche sie zur Orientierung.« »Lass sie einfach nach unten hängen, wenn ich es dir sage«, brummte Jiinn-Garagor. »Ich werde nicht lange brauchen, um diese verfluchten Bestien eine nach der anderen aufzuspießen. Los, die da vorne. Geh sie von der Seite an. Los, auf sie!« Ein Zittern überlief Schneeia. Schmetterlinge waren eigentlich sehr friedfertige Wesen, doch der Stierwächter auf ihrem Rücken weckte offenbar ihren Jagdinstinkt. Ohne noch länger zu zögern, schoss sie auf eine Quäldrohne zu, die vom Sternstaub irritiert durch die Luft taumelte. »Jetzt!«, schrie Jiinn-Garagor. Schneeia ließ ihre Fühler sinken, und im nächsten Augenblick gab es ein furchtbares, knirschendes Geräusch. Ein starker Ruck ging durch Schneeia hindurch. Beliar riss die Augen auf. Was für ein Anblick! Die Quäldrohne zappelte auf Jiinn-Garagors mächtigen Hörnern. Ein gellender Todesschrei entwich ihr. Dann warf der Stierwächter seinen Kopf kurz nach hinten, und die Drohne flog in hohem Bogen über Beliar hinweg. Eine schreckliche Wunde klaffte an ihrem Unterleib. Beliar jubilierte innerlich und umarmte vor lauter Freude den kräftigen Rücken des Wach332
ters. »Los, die Nächste«, schrie Jiinn-Garagor und ließ zugleich ein furchtbares Kampfgeheul ertönen. Die Wirkung war bemerkenswert. Ja, es schien fast, als wäre das ganze Kampfgetümmel für einen Augenblick erstarrt. Erst der gellende Todesschrei der aufgespießten Quäldrohne, dann der Kampfruf des Stierwächters. Damit hatten die Quäldrohnen offenbar überhaupt nicht gerechnet. Der Todesschrei einer Quäldrohne war schon Überraschung genug für sie. Doch dazu noch das Angriffsgeheul eines Stierwächters, das jeder Phantásier fürchtete, das war zu viel auf einmal für sie. Sie verharrten einen Moment lang unschlüssig in der Luft und versuchten auszumachen, woher diese unerwartete Gefahr kam. Schneeia wartete keine Sekunde und stürzte sich auf die nächste Drohne. »Jetzt!«, schrie Jiinn-Garagor erneut, um Schneeias empfindliche Fühler zu schonen – und schon zappelte die nächste aufgespießte Drohne auf seinen Hörnern, stieß einen lang gezogenen Todesschrei aus und flog im nächsten Augenblick in hohem Bogen auf die verwirrt in der Luft schwebenden Angreifer zu. Das war zu viel für die Drohnen. Sie machten allesamt kehrt und schossen davon. »Sieg! Sieg!«, schrien die Sternputzer überglücklich und schütteten so viel Sternstaub auf die davonfliegenden Drohnen, wie sie in der Eile ausleeren konnten. Schneeia gebärdete sich jetzt selbst wie eine Drohne. Wieder und wieder schnitt sie einer davonfliegenden Quäldrohne den Weg ab und gab Jiinn-Garagor Futter für seine spitzen Hörner. Noch drei-, viermal erlegten sie auf diese Weise eine der grässlichen Bestien, dann erstarb auch noch das letzte Pfeifen in der Ferne. Schneeia, Jiinn-Garagor und Beliar flogen noch einen letzten Kreis. Und dann geschah es. 333
»Vorsicht!«, brüllte Toralon, der in diesem Moment auf Windjunge herangeflogen kam. Schneeia schlug einen Haken, buchstäblich im letzten Augenblick. Eine merkwürdig aussehende Drohne hätte sie um ein Haar von hinten überrascht. Aber was war das? Das war keine Drohne. Und es war auch kein Schmetterling oder Sternputzer. Es war ... ja, was nur? Ein Flügelphantásier? Aber was für einer? Die Gestalt sah aus wie ein Sternputzer, nur viel größer. Außerdem war sie schwarz, mit einem schrecklichen Gesicht und riesenhaften Schwingen, die mit jedem Augenblick größer zu werden schienen. Jetzt hatte der fremde Angreifer sich erneut in Angriffsstellung gebracht. Sein Augen glühten zornig, und plötzlich erkannte JiinnGaragor sein Gesicht. »Janaël!«, schrie er. »Du Verräter!« Der Angesprochene zischte etwas Unverständliches und schlug bedrohlich mit seinen riesigen schwarzen Schwingen. Im Nu waren sie umringt. Von allen Seiten kamen jetzt Schmetterlinge und Sternputzer herbeigeflogen. Auch Pegario erschien und starrte ungläubig auf den fremden Flügelphantasier. Das war doch ... Janarax! Aber was war mit seinem Körper geschehen? Und plötzlich geschah es wieder. Der Himmel über ihnen bäumte sich auf. Das Licht verdichtete sich zu einem unerträglich hellen Ball, wurde heller, intensiver, ja, immer strahlender wurde es, und mit einer plötzlich einsetzenden, riesenhaften Stille verglühte der Lichtball vor ihren Augen. Janaël wankte. Ein wütender Schrei entfuhr ihm. Er schlug mit seinen Schwingen und wollte sich anscheinend erneut auf Jiinn-Garagor und Schneeia stürzen. Doch da begann der Himmel abermals zu vibrieren. Ein neues Verglühlicht schälte sich aus der Luft heraus und wurde stärker und stär334
ker. Janaël starrte hasserfüllt um sich. Doch dann, bevor sich die nächste Riesenstille über ihnen entlud, schlug er wütend mit seinen Schwingen, erhob sich über die jetzt unüberschaubare Zahl von Schmetterlingen und Sternputzern, die ihn eingekreist hatten, ließ ein furchtbares Lachen ertönen und flog davon, den Quäldrohnen hinterher. Das Licht verglühte, eine neuerliche Stille ergoss sich über Garsiran. Die Schlacht war zu Ende.
\ 11 \ »Sieh nur«, rief Piri, »dort liegen noch die zwei Schädel, die wir als Gefäße für das Spiegelwasser benutzt haben.« Er bückte sich, hob sie auf und reichte einen davon Saru, der den Gegenstand nachdenklich betrachtete. »Ist Nadil auf diesen Gedanken gekommen?«, fragte er. Piri nickte. Dann fügte er hinzu: »Wie hast du eigentlich den Ausgang aus Silandor gefunden?« »Genauso wie ihr«, antwortete er. »Aber ich habe das Wasser in den Händen getragen.« »Haben die Stierwächter dich auch in der Knochenhöhle überrascht?« »Nein«, entgegnete Saru. »Ich habe sie kommen hören, als ich die Inschriften auf dem Ei studierte.« Sie kletterten langsam die gewundene Treppe hinab und begannen den Abstieg in die Tiefen des Bergwerks. »Und wie hast du die Zauberwirkung des Wassers entdeckt?«, fragte Piri nach einer Weile. »Die Stierwächter selbst haben es mir gezeigt. Ich sah sie zuerst weit über mir als Spiegelung auf der Wasserfläche. Dabei entdeckte ich auch die Höhlen und Schächte an der 335
Decke über ihnen. Doch das Merkwürdige war, dass sich die Schatten der Stierwächter über ihnen an der Decke ganz anders verhielten, als dies normalerweise der Fall ist. Sie bewegten sich in die umgekehrte Richtung. Da verstand ich: Die Spiegelung im Wasser war mehr als eine Spiegelung – sie zeigte die Stelle an, wo zwei unterschiedliche Reiche aneinander grenzen. Und so schöpfte ich etwas von dem Wasser aus dem Becken, hielt es ganz still, bis es zu einer spiegelnden Fläche geworden war, und fand mich plötzlich zwischen den Schatten der Stierwächter oben an der Decke wieder.« Piri erinnerte sich nur zu gut an dieses Abenteuer. Doch jetzt kam ihm ein beunruhigender Gedanke, den er gleich loswerden musste: »Aber Saru, wie sollen wir denn überhaupt in das andere Reich zurückgelangen? Wir haben doch kein Spiegelwasser mehr!« »Darüber denke ich auch schon länger nach«, erwiderte Saru. Sie liefen nun schon seit einer ganzen Weile stetig abwärts, aber es sah nicht so aus, als würden sie irgendwo ankommen. Hinter jeder Biegung führte die Höhle einfach weiter. Sie wurde allmählich größer, aber weder waren an der Decke irgendwelche Ausgänge zu sehen, noch öffneten sich zu ihren Füßen irgendwelche Passagen, die in den anderen Teil von Silandor geführt hätten. Ja, Piri hatte sogar den Eindruck, dass sie immer wieder an derselben Stelle vorbeikamen, was jedoch nicht sein konnte, da die Höhle ihre Form allmählich veränderte. Aber dennoch, mehr und mehr verdichtete sich auch bei Saru der Eindruck, dass sie überhaupt nicht vom Fleck kamen. Schließlich blieb er stehen. »Wir laufen im Kreis«, sagte er verstimmt. Piri ließ sich auf den Boden sinken und stützte seine Hände 336
auf. »Wir haben kein Spiegelwasser«, wiederholte er. »Ohne Spiegelwasser kommen wir nicht auf die andere Seite.« »Eben. Also müssen wir uns selber helfen. Komm näher, Piri.« »Was hast du vor«, fragte der junge Schmetterlinger. »Wir brauchen einen Spiegel, in dem sich zwei Reiche überschneiden können«, sagte Saru ruhig. »Hier ist nirgendwo ein Höhlensee, und auch an den Höhlenwänden kann ich nirgendwo einen solchen Spiegel entdecken. Aber je länger ich über dieses Bergwerk nachdenke, desto klarer wird mir seine eigentliche Natur. Wenn man es verstehen will, muss man erkennen, dass es wirklich auf dem Kopf steht.« »Auf dem Kopf steht«, wiederholte Piri. »Was soll das heißen?« »So arbeiten die Engel offenbar: Sie führen uns in etwas hinein, von dem wir glauben, dass es zu etwas führt, das außerhalb von uns ist. Aber das ist ein Irrtum. Eine Täuschung. Wir sind gar nicht außerhalb. Wir sind drin.« »Wo drin?« »In uns selber. In unserem eigenen Reich. Aber jeder hat dabei seinen eigenen Zauberspiegel, mit dem man in alle anderen Reiche gelangen kann. Siehst du es nicht, Piri?« Nein, Piri sah gar nichts, nur Sarus Gesicht, das von seinem eigenen nun gar nicht mehr weit entfernt war. »Siehst du den Zauberspiegel nicht, Piri? Er ist direkt vor deiner Nase.« Zauberspiegel? Wo war hier ein Zauberspiegel? Piri sah nur Sarus Augen, die ihn eindringlich anschauten. Doch was war plötzlich mit diesen Augen los? Er hatte sie so angesehen, wie man Augen normalerweise anschaut. Doch jetzt sah er auf einmal in sie hinein! Und was erblickte er da? Sein Spiegelbild. Aber es war anders. Das war nicht 337
Piri, wie er sich kannte, sondern ein ganz anderer Piri. Ja, es war Piri in – Sarus Welt! »Saru«, stammelte er verblüfft, »was ist das?« »Das ist unser Zauberspiegel«, erwiderte Saru. »Das ist unser Tor in andere Welten. Komm, sieh noch tiefer hinein, sind dort nicht viele Abzweigungen und Wege, die wir normalerweise nie sehen können? Ich sehe mich auch in deiner Welt. Schau, wie anders, wie reich, wie überraschend neu dort alles ist. Und dort hinten, schau, wie wundervoll, lass uns in diese Richtung gehen.« Piri konnte es nicht fassen. Es war wie damals, als er plötzlich an der Decke entlangspaziert war, die er vor sich in einem hohlen Schädel getragen hatte. Jetzt war er in Sarus Auge in diese andere Welt hinübergeglitten. Und ebenso wie das Spiegelwasser allmählich verschwunden war, als die andere Welt sie aufgenommen hatte, blickte Piri irgendwann nicht mehr in das Gesicht des alten Schmetterlingers, sondern sah plötzlich weit entfernt den Höhlensee. Doch der stand auf dem Kopf. Da wurde es Piri zu viel. Alles begann sich zu drehen. Er schloss die Augen, doch auch das änderte nichts. »Saru«, stammelte er und tastete nach allen Seiten. »Ich bin doch da«, hörte er dessen Stimme und spürte plötzlich die Hand des alten Mannes auf seiner Schulter. »Wir sind schon drüben«, fuhr er beruhigend fort. Und tatsächlich: Als Piri die Augen wieder öffnete, drehte sich die Welt vor seinen Augen langsam um die eigene Achse und lag dann so vor ihm wie damals, als er zum ersten Mal hierher gekommen war. Da lag der Höhlensee mit dem merkwürdigen Standbild in der Mitte. In der Ferne konnte er die steil nach oben führende Steintreppe sehen, die er mit Nadil heruntergeklettert war. Und linker Hand sah er jetzt den Ein338
gang zu der Höhle, wo sie die vielen Knochen und die zugemauerten Nischen entdeckt hatten. Saru ging voran. Er betrat den schmalen Weg, der zum Standbild auf dem See führte, und ging langsam darauf zu. Piri folgte ihm. Und dann standen sie plötzlich wieder vor dem steinernen Ei, lasen die Inschrift und betrachteten die eigenartigen Zeichen darunter: Aratron, Bethor, Phaleg, Hagith ... Nichts hatte sich hier verändert. Oder doch? »Fällt dir etwas auf?«, fragte Saru nach einer Weile. Aber Piri fiel gar nichts auf. Er fühlte sich nur zunehmend unbehaglich. Alles war so merkwürdig hier. »Die Werkzeuge«, rief Saru plötzlich aus. »Sie sind verschwunden.« Piri schaute vor sich auf den Boden. Ja, tatsächlich. Neben der Statue hatten Werkzeuge gelegen, als er und Nadil das erste Mal hier vorbeigekommen waren. Saru war bereits wieder losmarschiert, überquerte den schmalen Pfad und ging auf die Höhle zu, die zu den zugemauerten Nischen führte. Piri folgte ihm in sicherem Abstand. Er wurde immer verzagter. Ach, wenn sie doch endlich hier heraus wären. Er sehnte sich nach Nevisehr, nach blauem Himmel, nach einem schönen Flug auf Taublume durch die morgendliche Landschaft. Er hatte genug von Nichtnichtsen und dunklen Höhlen, in denen es so still war, dass man vor dem eigenen Schlucken erschrecken konnte. Jählings blieb er stehen. Diese Stille. Ja. Auch das war anders geworden. Letztes Mal war es auch schon still hier gewesen. Aber nicht so still. Er spitzte die Ohren. Ja, er konnte durchaus Sarus Schritte hören, die sich in der Höhle vor ihm entfernten. Aber die Stille hinter diesem Geräusch ... So etwas hatte er noch nicht gehört. Gehört? Er war wohl wirklich auf dem besten Weg, den Verstand zu verlieren. Wie sollte man 339
die Stille hören können? Aber genau das geschah jetzt. Er hörte – nichts! Ein Schauder lief ihm den Rücken hinab. War möglicherweise doch das Nichts in diesem Bergwerk? Lauerte es ihnen hier auf? »Saru!«, rief er. Aber der alte Mann antwortete nicht. Auch seine Schritte waren nicht mehr zu hören. »Saru! Wo bist du?« Keine Antwort. Er ging tastend ein paar Schritte weiter. Die Höhle wurde breiter. Gleich würde er den Ort erreichen, wo sie auf die zugemauerten Nischen gestoßen waren. Aber warum gab Saru keine Antwort? Piri fröstelte. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinab. Sein Herz raste. Noch wenige Schritte, und er würde die Höhle mit den Knochenresten erreichen. Und dann entdeckte er endlich Saru. Und er sah auch, warum der alte Mann nicht geantwortet hatte: Stumm vor Staunen stand er dort und starrte die Wände an. Piri kam näher. Überall lag Schutt herum, herausgebrochene Steine türmten sich unter den Mauernischen. Und die Nischen – sie waren leer. »Was ist hier geschehen?«, fragte Piri nach einer Weile. Saru deutete auf die Mauernischen. »Jemand hat sie aufgebrochen. Und die Greise ... sie sind weg.« Er bückte sich und hob einen Gegenstand auf. Es war eine Eisenstange. Er betrachtete sie kurz, dann warf er sie wieder hin. »Die Stierwächter?«, fragte Piri. »Meinst du, die Stierwächter sind hier gewesen?« Saru zuckte mit den Schultern. »Möglich. Oder jemand anderes.« Dann wandte er plötzlich alarmiert den Kopf. »Sag mal, Piri, hörst du das auch?« »Was?«, fragte der zurück. »Diese ... Stille?« 340
Piri nickte. »Ja. Aber wie kann das sein? Wie soll man Stille hören können?« Saru tastete sich langsam durch die Höhle und hielt den Kopf ein wenig geneigt, um besser lauschen zu können. »Es ist wirklich rätselhaft. Man kann es überhaupt nicht beschreiben, aber ich höre die Stille. Und hier ... hier wird es noch stärker. Komm her, Piri, hier ist es ganz stark.« Piri beobachtete Saru argwöhnisch. Er wollte weg von hier. Er wollte nicht noch tiefer in dieses Bergwerk hinein. Und dort, wo Saru jetzt stand, ging die Höhle weiter. Jetzt drehte der alte Mann sich sogar um und machte Anstalten, dort hineinzugehen. »Ich gehe keinen Schritt weiter«, protestierte Piri. »Ich habe genug, Saru, ich will hier raus.« »Ich doch auch, mein Junge, ich doch auch. Aber kennst du denn den Weg? Durch den Lärmkrater können wir nicht zurück. Wir müssen einen anderen Ausgang suchen. Und hier ... hier unten waren wir noch nicht.« »Aber diese Stille ...«, widersprach Piri. »Wenn es ... das Nichts ist?« Saru blieb stehen und zögerte jetzt offenbar auch weiterzugehen. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Wir haben keine Wahl. Wir müssen nachschauen. Oder was schlägst du vor? Sollen wir einfach hier warten, dass irgendetwas geschieht?« Piri setzte sich zögerlich in Bewegung. Die Knochen klirrten und knirschten unter seinen Schuhen. Doch schon nach wenigen Schritten umschloss sie eine noch viel intensivere Lautlosigkeit. Je tiefer sie in Silandor eindrangen, desto stärker wurde dieser Eindruck. Piri begann es zu grausen. Er hörte ein Rauschen in seinen Ohren, er hörte seinen Herzschlag, und dann vernahm er ein unheimliches, dunkles Pochen, das aber wiederum überhaupt nicht da zu sein schien. 341
Plötzlich verengte sich die Höhle. Eine kreisrunde Öffnung lag vor ihnen, gerade groß genug, um sie passieren zu lassen. Und wenige Schritte dahinter schien jemand zu sitzen. Sie blieben stehen und versuchten auszumachen, wer das sein mochte. Doch wer immer es war, er hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Aber der Umhang! Wie war das möglich? Piri krallte sich an Saru fest. »Er ist es«, flüsterte Saru. »Piri, schau doch. Es ist Nadil.« Ohne ein weiteres Wort stürzte er auf die runde Öffnung zu, hob den Fuß und machte Anstalten hindurchzusteigen. Die Figur drehte sich um. Ja, es war Nadil. Aber was war denn mit ihm los? Er schaute Saru an, gerade so, als habe er ihn erwartet. »Nadil!«, entfuhr es Saru. »Mein Junge, ich kann es ...« Nadil hob herrisch den Kopf, legte den Zeigefinger der linken Hand auf seine Lippen und gebot ihm mit einer eindeutigen Geste der rechten Hand zu schweigen. Saru blieb wie angewurzelt stehen. Und dann sah er plötzlich, dass Nadil nicht allein war. Aber was, um alles in Phantásien, waren das für Wesen?
\ 12 \ »Wer war denn das?«, fragte Toralon, nachdem der schwarze Unbekannte verschwunden war und die meisten der Flügelphantásier sich wieder auf dem Boden versammelt hatten. »Das war Janarax«, antwortete Pegario langsam. »Er hat jahrelang bei uns gelebt.« »Aber ... ich meine, wie kann das sein?« Toralon suchte nach Worten. »Ist er ein Sternputzer?« 342
Pegario schüttelte den Kopf. »Nein. Offensichtlich nicht. Es sieht so aus, als ob er die Gestalt wechseln kann.« »Er hat für uns gearbeitet«, mischte sich Jiinn-Garagor in das Gespräch ein. Alle Augen waren plötzlich wieder auf den Stierwächter gerichtet. Er war von Schneeia abgestiegen und wischte sich die Schmutzreste der Schlacht von den Kleidern. Seine Hörner glänzten feucht, sein Gesicht war blutverschmiert, aber alle betrachteten ihn voller Ehrfurcht und Bewunderung. Jiinn-Garagor hatte sie alle gerettet. »Er heißt nicht Janarax«, fuhr der Stierwächter fort. »Sein wirklicher Name ist Janaël. Er und Forcas stecken hinter all diesen Vorfällen, die sich seit der Zerstörung von Silandor in Phantásien ereignet haben. Janaël dürfte nicht zufällig hier aufgetaucht sein. Dass er die Quäldrohnen losgeschickt hat, kann nur bedeuten, dass der Angriff begonnen hat.« »Was für ein Angriff«, wollte Pegario wissen. »Der Angriff auf euch, auf alle Flügelphantásier. Es ist immer ihr Plan gewesen, alle Flügelphantásier zu vernichten.« »Aber warum denn nur?«, schaltete sich Beliar ein. »Weil Flügelphantásier mit dem Nichts paktieren, wie Forcas immer gesagt hat. Sie werden jetzt, da ihr geheimer Plan entdeckt ist, vor nichts mehr Halt machen. Ich bin sicher, dass Forcas seine Iblisse auf Mangarath hetzen und die Stadt übernehmen wird.« »Aber es muss doch einen Grund dafür geben, Jiinn-Garagor«, rief Beliar erneut. »Was bezwecken sie denn nur damit?« Der Wächter ließ sich erschöpft zu Boden sinken. »Der Lärmkrater, der Geräuschdom, die Klangthermen, das ist nur der Anfang. Forcas und Janaël wollen Mangarath auf ganz Phantásien ausdehnen. Überall sollen weitere Mangaraths 343
entstehen, und dazwischen soll kein Reich mehr bestehen bleiben, das nicht von Geräuschen erfüllt ist. Damit niemals mehr das Nichts nach Phantásien kommen kann.« Die Umstehenden schauten betroffen vor sich hin. Mangarath überall? Keine Stille mehr. Es war einfach nicht zu glauben. »Diese Leute sind verrückt geworden!«, schrie Beliar zornig. »Los, wir müssen sie aufhalten. Wir müssen zurück nach Mangarath und die anderen warnen!« Sogleich kam Bewegung in die Zuhörer. Die Schmetterlinge, die in wachsender Zahl über dem Versammlungsort schwebten, applaudierten mit ihren Flügeln. Die Sternputzer schwangen angriffslustig ihre kleinen goldenen Bürsten. »Ihr?«, donnerte auf einmal Jiinn-Garagor. »Ihr wollt gegen Iblisse kämpfen? Womit denn?« Pegario und Toralon gingen auf den Stierwächter zu. »Du musst uns helfen«, sagte Toralon. »Ihr seid die stärksten Kämpfer Phantásiens. Du musst deinen Leuten befehlen, Mangarath zu verteidigen. Aber diesmal gegen unsere wirklichen Feinde.« »Ich werde mein ganzes Volk zu den Sternen hinaufschicken, um so viel Staub wie möglich zu holen«, rief Pegario. »Schau doch, du hast fast allein eine ganze Armee von Quäldrohnen in die Flucht geschlagen. Sie rechnen doch überhaupt nicht mit Widerstand. Wenn wir sie überraschen ...« »Dazu ist jetzt zu spät«, sagte Jiinn-Garagor, »Janaël hat gesehen, wie wir gekämpft haben. Er wird Forcas informieren, und die Iblisse werden vorbereitet sein. Außerdem sind Iblisse etwas ganz anderes als Quäldrohnen. Niemals könnten wir ihnen widerstehen. Sie sind zu flink. Und es sind viel zu viele.« Resigniertes Schweigen fiel über die Versammlung. Jeder 344
schien nachzudenken. Aber niemand hatte einen rettenden Einfall. »Verdammt«, rief Toralon nach einer Weile, »wir müssen doch irgendetwas tun können!« Beliar richtete sich plötzlich auf. »Wir können nur eines tun«, rief sie mit lauter Stimme. Alle schauten zu ihr hin. Masia trat unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Was war denn schon wieder in Beliar gefahren? »Wir wissen nicht«, fuhr das Mädchen fort, »was Forcas und Janaël bezwecken. Aber wir wissen, dass ihnen eines über alles geht: Mangarath.« »Ja, und?«, fragte Pegario ungeduldig. »Inwiefern hilft uns das weiter?« »Ganz einfach«, sagte Beliar. »Alle Verbrechen, die diese beiden fremden Flügelphantasier begehen, haben nur ein Ziel: Sie wollen die Stille vernichten. Wenn wir sie besiegen wollen, dann müssen wir ihren Plan vereiteln.« »Was soll das heißen?«, fragte Toralon. »Was ist das wichtigste Instrument ihres Plans«, fragte Beliar zurück und gab die Antwort gleich selbst: »Mangarath. Die Geräuschstadt. Warum das so ist, wissen wir nicht. Aber Mangarath ist offenbar von grundlegender Bedeutung für sie. Sie verabscheuen die Stille wie die Pest. Sie brauchen den Lärm. Deshalb wollen sie uns Flügelphantasier vernichten – weil wir ihren Geräuschattraktionen leicht entkommen können. Diese Fremden können offenbar ohne Mangarath nicht sein. Aber wir Phantásier, wir können es durchaus. Also bleibt uns nur noch eine Möglichkeit: Wir müssen Mangarath zerstören. Wir müssen die Stille wiederherstellen. Vielleicht kann das sie besiegen.« »Die Stille?«, murmelte Jiinn-Garagor. »Wie soll die Stille ein Heer von Iblissen aufhalten können?« »Ich weiß es nicht!«, rief Beliar verzweifelt. »Aber es muss 345
irgendwie damit zusammenhängen. Jiinn-Garagor, schicke deine Leute den Iblissen entgegen und halte sie so lange auf, wie du kannst. Wir werden nach Mangarath gehen und die Stadt zum Verstummen bringen.« Alle starrten ungläubig auf das Schmetterlinger-Mädchen. Was für ein Gedanke! Was sollte dies nützen? Aber vielleicht hatte sie ja Recht? Wenn diese Fremden alles daransetzten, die Stille zu vernichten, vielleicht lag dann tatsächlich ihre Rettung darin, diese Stille zu schützen? »Ich stimme Beliar zu«, sagte Masia. »Einen Versuch ist es jedenfalls wert. Was sollen wir denn sonst tun?« Toralon kratzte sich am Kopf. Auch Pegario wurde unsicher. So viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Der Lärmkrater. Die Gespräche mit Saru. Die Erscheinungen am Himmel. Die überraschendste Reaktion kam von Jiinn-Garagor. Er schaute Beliar durchdringend an, und dann sagte er: »Bei allen Kammern des Elfenbeinturms. Ich will gegrillt und gebraten werden, wenn dieses Mädchen Recht hat. Aber ihre Idee ist so verrückt, dass etwas daran sein muss. Also gut. Los, fliegt mich zurück. Ich rücke noch heute mit meinen Leuten aus und ziehe diesen Iblissen entgegen. Und wehe, ihr bringt Mangarath nicht zum Verstummen.« »Aber ... wie sollen wir das denn nur bewerkstelligen«, fragte Pegario. »Ich meine, wie sollen wir vorgehen?« »Ganz einfach«, rief Beliar. »Wir müssen das Zentrum von Mangarath zerstören, sein geheimes, inneres Zentrum: den Lärmkrater.« »Aber wie zerstört man einen Lärmkrater?«, fragte Toralon. Wieder machte sich ratlose Stille breit. »Wir werden schon eine Lösung finden«, rief Beliar. »Zuerst befreien wir die Lärmsklaven. Vielleicht wissen sie ja, was das 346
Geheimnis dieses Kraters ist. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren.« »Das Mädchen hat Recht«, stimmte Jiinn-Garagor zu. »Wenn wir uns nicht beeilen, dann kommen wir gar nicht mehr bis Mangarath, bevor Forcas und Janaël dort einmarschiert sind. Wir müssen aufbrechen.« Und damit war er schon auf Schneeia gestiegen. Unruhe kam auf. Manche Schmetterlinger wollten sogleich losfliegen, andere zögerten noch. War es nicht Irrsinn zu glauben, sie könnten dieses Heer von Iblissen allein durch Stille aufhalten? Und wie sollten sie Mangarath denn in so kurzer Zeit zum Verstummen bringen? Auch Pegario und Toralon zögerten. »Was ist denn mit euch!«, brüllte Jiinn-Garagor. »Meint ihr vielleicht, ihr könntet etwas verhindern, indem ihr einfach davonlauft?« Der Wächter hatte wirklich eine bemerkenswerte Wandlung durchgemacht. Er schien auf einmal nicht nur stark und mächtig, es ging jetzt auch eine unbegreifliche Energie von ihm aus, die auf die anderen übersprang. Wenn sogar er, der bis vor kurzem noch für diese Fremden gearbeitet hatte, sich jetzt mit allen seinen Truppen auf ihre Seite stellte, war das denn nicht ein Zeichen? Warum zauderten sie noch, sich diesen Fremden, die ihnen Iblisse und Quäldrohnen auf den Hals hetzten, entgegenzustellen? Mehr und mehr Sternputzer und Schmetterlinge erhoben sich jetzt in die Lüfte und formierten sich für den Rückflug. Sie würden kämpfen. Sie würden die Lärmsklaven befreien, den Krater zuschütten und Mangarath zum Verstummen bringen. Und wenn das nichts helfen würde, dann hatten sie es wenigstens versucht. Tausende von Flügeln begannen zu schlagen, ein Brummen und Brausen erhob sich, Sandkörnchen und Staub wirbelten auf, Windstöße zerrten an ihnen. 347
Und dann setzte sich die riesige Wolke der verfolgten Flügelphantásier in Richtung Mangarath in Bewegung, an ihrer Spitze Schneeia, gelenkt von Beliar mit Jiinn-Garagor als furchteinflößender Galionsfigur. Es war ein gewaltiger Anblick. Doch was war das schon im Vergleich zu dem Aufgebot, das zur gleichen Zeit auf der anderen Seite von Mangarath zusammengezogen wurde?
\ 13 \ Nadils Gebärde war eindeutig. Sie sollten zu ihm kommen, aber keinen Lärm machen. Er gestikulierte, schaute sie durchdringend an und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie ihm unbedingt gehorchen sollten. Sowohl Saru als auch Piri waren viel zu verblüfft, um zu protestieren. Gehorsam schritten sie durch die enge Öffnung im Fels. Ein kleines Stück den Höhlengang hinab standen die merkwürdigen Greise. Das grünliche Licht beleuchtete sie nur schwach, aber Piri erkannte sofort, dass es sich um die Wesen handeln musste, die in den Nischen eingemauert gewesen waren. Jedenfalls sahen sie genauso aus wie das verwelkte Männlein, das sie damals entdeckt hatten. Aber waren sie denn nicht tot? Oder hatte Nadil sie hierher getragen und hintereinander aufgestellt? Nadil griff nach Piris Hand, lächelte glücklich und drückte sie fest. Das Gleiche tat er mit Saru, warf ihnen jedoch im selben Augenblick flehende Blicke zu, nur ja kein Geräusch zu machen, sondern nur still die erstarrten Greise zu beobachten. Sein Freund war am Leben, dachte Piri voller Freude. Er 348
war in die Leere gesprungen und hier in Silandor wieder aufgetaucht. Also musste es doch eine Verbindung geben, einen geheimen Gang vielleicht, der unter Balang-Gir hindurchführte? Und diese Verbindung war sicher weniger beschwerlich als der Weg durch die Wüste von Mangarath, das Tal der Tränen, das Glottoplyttengebiet und den Pensarenwald. Dann stimmte die Legende also doch. Diese Greise aus Silandor hatten eine Verbindung ins Land der Leere gegraben. Aber das war auch schon alles, was Piri begriff. Nun gut, Nadil würde es ihnen sicherlich erklären. Saru schien ähnlich zu denken, denn er umarmte seinen Enkel nur kurz und fügte sich dann dessen Wünschen, ließ sich lautlos auf dem Höhlenboden nieder und beobachtete die Greise. Sie standen dort noch immer wie versteinert. Aber offenbar waren sie nicht tot, denn sie standen ja aufrecht. Hatte Nadil sie aufgeweckt? Rätsel über Rätsel. Doch nach einer Weile ging mit den erstarrten Gestalten eine gespenstische Veränderung vor sich. Sie begannen sich zu bewegen. Ganz langsam zunächst, kaum sichtbar, wie die Schatten von Bäumen, die dem Lauf der Sonne folgen. Und dann setzten sie sich tatsächlich in Marsch. Wer um alles in Phantásien waren diese Wesen?, fuhr es Piri durch den Kopf. Und was hatten sie vor? Wo gingen sie so unendlich langsam hin? Nadil schien von dem Anblick wie verzaubert zu sein. Seine Augen glänzten. Sein Gesicht leuchtete vor Erregung. War etwas mit ihm geschehen? Aber nein, es war immer noch Nadil. Er sah etwas mitgenommen aus. Sein Umhang war staubig, seine Kleidung teilweise zerrissen, als sei er lange durch unwegsames Gelände gelaufen. Aber ansonsten war er unverändert. Jetzt erhob er sich und machte ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen. Geräuschlos wichen die drei Schmetterlinger zurück, auf die schmale Öffnung im Fels zu, glitten 349
einer nach dem anderen hindurch und schlichen dann zum Höhlensee zurück. Erst dort richtete Nadil zum ersten Mal das Wort an sie. »Wie ich mich freue, euch zu sehen«, flüsterte er kaum hörbar. »Nadil, bitte, wie bist du hierher gekommen?«, fragte Saru. »Ich weiß es nicht genau«, flüsterte Nadil. »Als ich in die Leere fiel, endete alles um mich herum. Es war, als schliefe ich mit offenen Augen. Ich weiß nicht einmal mehr, wie lange ich dort war, denn es ist wirklich so, wie Pandarax gesagt hat: Man kann sich dort nichts vorstellen, nicht einmal sich selbst. Es ist, als falle man durch sich selbst hindurch, ohne überhaupt vorhanden zu sein. Aber dabei geschieht etwas Ungeheuerliches.« Er verstummte und warf einen sorgenvollen Blick in die Richtung der Greise. »Folgt mir«, sagte er dann. »Wir dürfen sie jetzt nicht stören. Das geringste Geräusch lässt sie erstarren. Deshalb waren sie all die Jahre wie tot hier unten begraben. Die Stierwächter hatten sie mit Summsteinen eingemauert.« Saru und Piri schauten ratlos auf Nadil. Was erzählte er da? Aber Nadil hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt und ging auf die steinerne Treppe zu, die auf der anderen Seite des Höhlensees steil nach oben führte. Wieder dort hinauf, dachte Piri beklommen. Kannte Nadil den Weg nach draußen? Saru und Piri wechselten erneut einige Blicke, ehe sie Nadil folgten. Sie brauchten etliche Minuten, bis sie die Steinleiter erklommen hatten, verschnauften kurz und marschierten dann ein Stück in die Höhle hinein, die Piri jetzt wiedererkannte. Hier waren sie vorbeigekommen, nachdem sie aus dem Lärmkrater herabgestürzt waren. Erst nach einigen hundert Schritten hielt Nadil an und bedeutete ihnen, eine Pause einzulegen. 350
Piri hielt es nicht mehr aus vor Neugier. »Nadil, bitte erzähle uns doch endlich, was dir zugestoßen ist. Wie bist du hierher gekommen? Was ist in der Leere mit dir geschehen?« »Wer in die Leere hineinspringt, erfährt alles«, sagte Nadil, noch immer mit gedämpfter Stimme, aber nicht mehr flüsternd. Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Es ist genauso, wie das Orakel es gesagt hat. Ich glaube, ich habe Aratron gehört.« »Gehört? Wie gehört?«, rief Piri. »Hast du ihn gesehen?« »Nein. Es gibt dort nichts zu sehen. Da ist nichts. Aber es ist nicht nichts. Ich weiß auch nicht, wie ich es beschreiben soll. Aber als ich plötzlich wieder in der Höhle stand und auf Silandor zuging, da hatte ich alles erlebt. Ich verstand es auf einmal. Deshalb wusste ich auch, was ich zu tun hatte.« Saru und Piri schauten einander ratlos an. »Aber ... was ist alles?«, wollte Piri dann wissen.
\ 14 \ Sie kamen von allen Seiten. Schon beim Anflug auf Mangarath konnten sie es sehen. Eine pelzige Flut zog sich ringförmig um die Stadt zusammen. Beliar entschlüpfte ein leiser Schrei. Wie war das möglich? Woher kamen all diese Ungeheuer? Und niemand dort unten in der Stadt schien irgendetwas zu bemerken. Die Wolke von Schmetterlingen und Sternputzern war nicht mehr weit von Mangarath entfernt. Noch waren sie hoch oben am Himmel, aber in der gleichen Weise, wie das Iblisheer die Ebene um Mangarath erfüllte, verdunkelten jetzt die letzten Flügelphantásier den Himmel darüber. Jiinn-Garagor schüttelte nur immer wieder fassungslos den Kopf. Iblisse, so weit das Auge reichte. Und die Quäldroh351
nen konnten auch nicht weit sein. Was sollten sie gegen solch ein Aufgebot nur ausrichten? »Schnell«, sagte er, gerade so, als wollte er sich damit selbst Mut machen. »Lass uns landen.« Aber Schneeia wollte nicht. Wie alle anderen flog sie einen großen Kreis über Mangarath und verspürte immer weniger Neigung, sich dort unten einzumischen. »Es ist doch völlig hoffnungslos«, rief sie. »Sollten wir nicht lieber fliehen, solange wir noch können?« »Nein!«, rief Beliar. »Wir können nicht fliehen. Den nächsten Quäldrohnenschwarm werden wir nicht mehr vertreiben können. Und dann? Wir müssen uns dieser Gefahr stellen und sie besiegen. Los. Es gibt keine andere Möglichkeit. Bring uns hinunter.« Schneeia gehorchte. Sie stellte ihre Schwingen quer und schoss hinab. Beliar schaute zurück und sah, dass Toralon, Pegario und Masia ihnen folgten. Eine kleine Schar von Sternputzern und Schmetterlingen flog hinter ihnen her. Aber die große Mehrheit der Flügelphantásier blieb noch weiter oben zurück. Vielleicht war das auch richtig so, dachte Beliar. Vielleicht sollten sie nicht gleich alle dort unten landen. Nun ging es schnell abwärts. Die Geräusche von Mangarath drangen schon an ihr Ohr. Sie kamen ihr jetzt völlig unwirklich vor. Diese Geräuschstadt mitten in der Wüste, im Nirgendwo, umlagert von einer entsetzlichen Gefahr. Und niemand schien etwas davon zu bemerken. Doch das war ja kein Wunder. Einmal in dieser Stadt, konnte man die Vorgänge außerhalb nicht mehr wahrnehmen. Auch sie hörte jetzt nur noch Musik, Geklapper, Gesang, Gepfeife und Geträller. Alles war wie gestern. Und doch war alles ganz anders. 352
Sie landeten im Sternputzerviertel. Jiinn-Garagor sprang sofort von Schneeia herunter und eilte davon, um seine Leute zu sammeln. Beliar sah ihm hinterher. Ob die Stierwächter etwas ausrichten konnten? Sie waren furchtbare Kämpfer und in ganz Phantásien gefürchtet. Aber gegen solch eine Überzahl? Mitten in ihre Überlegungen hinein erklang ein Kampfruf. Es war ein tiefer, furchtloser, dunkler Ruf, lang gezogen wie das Heulen eines Werwolfs, rau wie das Fauchen eines Gmorks, kraftvoll und zuversichtlich wie der Gesang eines Glücksdrachens. Und im nächsten Augenblick erschallte ein hundertfaches Echo. Aus jeder Ecke der Stadt erklang jetzt Kampfgebrüll. Jiinn-Garagors Stierwächter antworteten dem Schlachtruf ihres Anführers. Für einen kurzen Augenblick übertönte das unheimliche Gebrüll alle anderen Geräusche der Stadt. Doch als es verebbt war und die Geräuschattraktionen wieder das Übergewicht gewonnen hatten, da ertönte auf einmal aus weiter Ferne ein ganz anderer Klang. Es war ein unheimliches Fauchen, untermalt von einem hellen, schneidenden Pfeifton, den Beliar und die anderen sofort als den Kampfruf der Quäldrohnen erkannten. Sie durften keine Zeit mehr verlieren. Die Iblisse waren zwar noch ein Stück entfernt, aber der Angriff hatte bereits begonnen. »Los«, rief Pegario und half Toralon beim Absteigen. »Hier geht's lang. Zum Lärmkrater. Zu den Lärmsklaven!«
\ 15 \ Nadil wischte sich das Gesicht ab, denn der Aufstieg hatte ihn angestrengt. Doch noch bevor er wieder ganz zu Atem gekommen war, begann er zu erzählen. 353
»Am Anfang«, sagte er, »gab es Phantásien nicht. Und auch die Menschenwelt war noch nicht erschaffen worden. Am Anfang war alles eins. Und diese Einheit war vollkommen. Man kann sich das nicht vorstellen, denn Vollkommenheit ist nicht vorstellbar. Deshalb kann die Vollkommenheit nur in der Leere wohnen. Die Wahrheit der Welt ist zu groß für die Welt, zu allumfassend. Es gibt keine Vorstellung, die diese Wahrheit ganz aufnehmen könnte. Sie sprengt jegliche Vorstellung. Ja, sie ist einfach unvorstellbar, weil sie eben alles ist. Und doch hat alles, was es gibt, in dieser Unvorstellbarkeit seinen Ursprung. Phantásien, die Menschenwelt, alles kommt von dort.« Saru blickte nachdenklich vor sich hin, sagte jedoch nichts. Piri wollte eine Frage stellen, aber bevor er sie formuliert hatte, entfiel sie ihm wieder. Die Stille hier unten hatte diese merkwürdige Wirkung auf ihn. Seine Sinne waren geschärft, doch es fiel ihm schwer, einen Gedanken zu fassen. Ja, es war hier fast wie unter der Om-Glocke, mit der sie durch das Glottoplyttengebiet gelangt waren. »Wir wissen nicht«, fuhr Nadil fort, »warum das Unvorstellbare irgendwann begann Form anzunehmen. Man sagt, es sei die Sehnsucht der Wahrheit nach sich selbst gewesen, die dazu geführt hat, dass die ersten Formen und Vorstellungen über das Unvorstellbare entstanden sind. Jedenfalls wurde aus dem Alles irgendwann etwas: Formen.« »Und welche Formen waren das?«, wollte Saru wissen. »Musik«, antwortete Nadil. »Damit begann es. Dann kamen, glaube ich, die Zahlen. Später erst die Farben und schließlich die festen Körper und ihre Verhältnisse zueinander. Am Ende entstand daraus die Welt der Menschen.« Saru nickte. Musik, dachte Piri. Ein schöner Gedanke. Alles sollte mit Musik begonnen haben. 354
»Am Anfang«, erklärte Nadil weiter, »war jede Form der Ausdruck einer Sehnsucht des Unvorstellbaren nach sich selbst. Jegliche Erscheinung war ja nur ein Spiegel des Unvorstellbaren. Die ersten Menschen wussten dies noch. Sie verfügten über einen Sinn, der ihnen gestattete, in jedem Augenblick ihres Daseins das Unvorstellbare hinter den Erscheinungen wahrzunehmen und sich daran zu orientieren. Ja, eigentlich stellten sie sich das Unvorstellbare gar nicht vor. Vielmehr war es ein Teil von ihnen. Das Unvorstellbare war einfach da, und jeder Mensch kannte es. Es war ihm vertraut und er vertraute darauf.« »Und Phantásien«, warf Piri ein, »was war mit Phantásien?« »Phantásien gab es damals noch nicht«, erwiderte Nadil. »Es war auch noch gar nicht notwendig. Doch dazu komme ich gleich. Denn erst muss ich erzählen, was mit den ersten Menschen geschah. Allmählich verloren sie nämlich ihren Instinkt für das Unvorstellbare. Niemand weiß so recht, wie es dazu kam. Aber der Grund war wohl einfach der, dass die Menschen sich mit zu vielen Vorstellungen vom Unvorstellbaren umgeben hatten. Sie hatten es verstellt. Ja, sie drohten an ihren Vorstellungen zu erblinden.« Nadil schwieg einen Augenblick lang und lauschte angestrengt in die Stille hinein. Aber es war kein Laut zu hören. Die Ruhe wurde immer intensiver. Er lächelte zufrieden. Dann fuhr er fort: »Nun hat das Unvorstellbare zwar keine Gestalt. Aber es hat sehr viele Diener: die Engel. Die zunehmende Blindheit der Menschen alarmierte sie. Sie schwärmten aus und erfüllten die Welt. Millionen und Abermillionen von Engeln opferten sich und nahmen eine vorstellbare Gestalt an, um die Menschen auf diese Weise an das Unvorstellbare zu erinnern. Es war ein schweres Opfer für die Engel, in der Welt der Menschen Gestalt anzunehmen, denn sie ver355
loren dadurch ihre unvorstellbare Größe und Würde und wurden Gefangene der menschlichen Vorstellungen. Ihr Opfer war auch vergeblich. Sie mussten zusehen, wie sie immer kleiner und machtloser wurden, denn die Vorstellungen, welche die Menschen sich von den Engeln machen, sind sehr klein und kümmerlich.« Piri und Saru lauschten gebannt. Woher wusste Nadil denn all diese Dinge? »Lange Zeit«, erzählte Nadil weiter, »ertrugen die Engel stumm ihr Los und harrten aus. Aber irgendwann revoltierte ein Teil von ihnen und verlangte, den Menschen die Vorstellungskraft wieder zu nehmen, da sie diese nur für niedere Zwecke missbrauchten. Sie nähmen den Spiegel der Wahrheit für die Wahrheit selbst. Sie zwängen alles in ihre begrenzte Vorstellungswelt hinein. Die Engel klagten fürchterlich, die Menschen nützten ihre Vorstellungen nur noch dazu, das Unvorstellbare zu verstellen und zu leugnen. Fast wäre es zu einem offenen Aufstand gekommen. Doch einer kleinen Gruppe von Engeln gelang es, die anderen zu überzeugen, dass man den Menschen noch eine Chance geben müsse. Denn den Menschen ihre Vorstellungskraft zu nehmen hätte bedeutet, sie für immer von der Möglichkeit, die Wahrheit der Welt zu spüren, abzuschneiden. Und das sollte nicht geschehen. Aber wie konnte man die Situation in den Griff bekommen?« »Wie hast du das alles erfahren?«, fragte Saru. »Bist du Aratron also doch begegnet?« Nadil schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »man kann ihm nicht begegnen. Jedenfalls nicht so, wie wir uns begegnen. Aber wer in die Leere hineingeht, dem eröffnet sich diese Wahrheit wie von selbst. Es ist gerade so, als laufe man an einem Sommertag durch einen Garten, und plötzlich geht ein 356
Licht an und man erkennt, dass der Sommertag in Wirklichkeit finstere Nacht gewesen ist. Wie das Orakel gesagt hat: Das Nichts ist in allen Gestalten. In der Leere ist alles enthalten. Genauso ist es. Ich kann es nicht besser erklären. Jede Form ist nur eine Annäherung an die Vollkommenheit. Doch verglichen mit der Vollkommenheit ist jede Form nichts. Die Vollkommenheit selbst ist formlos.« Die beiden Zuhörer wussten nicht, was sie darauf erwidern sollten. Also sprach Nadil weiter: »Aratron konnte die anderen Engel dazu bewegen, ein Land zu erschaffen, das groß genug war, weitaus gewaltigere Vorstellungen aufzunehmen, als in der Menschenwelt möglich sind. Und so schufen die Engel Phantásien, das unermessliche Reich der unerhörtesten Vorstellungen. Wann immer ein Mensch die Verbindung zur Unvorstellbarkeit, zur Vollkommenheit suchte, war ihm in Phantásien ein unendlich großer Raum dafür gegeben. Keine Grenze behinderte ihn. Keine Vorstellung war zu groß, um in Phantásien Gestalt annehmen zu können.« Saru nickte zufrieden. Ja, das war sein Phantásien. So hatte er es immer erlebt. Bis vor kurzem jedenfalls. »Aber wo sollte Phantásien sein?«, fragte Nadil. »In der Menschenwelt? Das war zu gefährlich. Mit dem Leben in der Menschenwelt hatten die Engel bisher schon schlechte Erfahrungen gemacht. Aber zu weit entfernt durfte es auch nicht sein, denn sonst würde kein Mensch sich die Mühe machen, dorthin zu gehen. Es musste also ein Ort gefunden werden, der sowohl in der Menschenwelt als auch außerhalb von ihr war.« Sowohl in als auch außerhalb der Menschenwelt, wiederholte Piri stumm in seinem Kopf. Was für ein Ort sollte das nur ein?
357
\ 16 \ Sie eilten durch die Gassen des Sternputzerviertels. Pegario lief vorneweg, Toralon, Beliar und Masia folgten dicht hinter ihm. Die Schmetterlinge waren wieder aufgestiegen. Sehnsüchtig sah Masia Goldling hinterher. Hätten sie nicht doch einfach alle fliehen sollen? Irgendwohin? Phantásien war doch riesengroß. Unterdessen hatten sie ein Haus erreicht. Pegario öffnete die Tür, sie traten ein, blieben jedoch nicht stehen, sondern folgten dem alten Sternputzer sogleich durch eine weitere Tür, hinter der sich ein in den Fels gehauener Durchgang öffnete. »Was ist das für eine Höhle?«, fragte Beliar. »Ist dies schon Silandor?« »Nein«, antwortete Pegario, »Silandor beginnt erst viele hundert Fuß unterhalb von Mangarath und unserem Dorf. Das hier sind Höhlen, in denen wir unseren Staub lagern.« Es ging rasch abwärts. Nur gut, dass Pegario sie führte. Bei den vielen Abzweigungen hätten sie sich niemals zurechtgefunden. Aber die engen, verwinkelten Gänge, die sie durcheilten, gaben ihnen ein Gefühl von Geborgenheit, vor allem wenn sie daran dachten, was sich über ihren Köpfen zusammenbraute. Beliar wollte gar nicht daran denken. Was taten die Stierwächter wohl? Und die Besucher von Mangarath? Die wussten ja von gar nichts. Sie hätte einiges darum gegeben zu sehen, was sich dort oben abspielte. Aber sie hatten hier unten ja auch keine leichte Aufgabe. Sie sollten den Lärmkrater zerstören. Den Lärmkrater. Was für ein Wort. Sie konnte sich darunter gar nichts vorstellen. Allmählich schienen sie ihm näher zu kommen. Jedenfalls 358
wurde es merklich wärmer. Ein rötlicher Schimmer war schon auf den Felswänden zu sehen, und ganz entfernt hörte man bereits Geräusche. Ein gedämpfter Knall hallte von den Wänden wider. Dann hörte man nervöses Rasseln, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Plötzlich zischte es, und dann klirrte es wie von tausend zerspringenden Glasscheiben. Pegario blieb auf einmal stehen. »Halt«, rief er keuchend. Auch die Schmetterlinger hielten an. »Was ist?«, fragte Toralon. »Ich kann nicht weitergehen«, antwortete Pegario. »Die Hitze ... Sie lässt meine Flügel schmelzen. Ihr müsst allein zum Krater gehen.« Die drei schauten Pegario irritiert an. »Aber was sollen wir dort tun?«, fragte Masia. »Wir wissen doch gar nicht, wie wir den Krater zum Verstummen bringen können.« »Wie ist dieses Ding überhaupt entstanden?«, fragte Beliar. »Und wie funktioniert es?« Pegario lehnte sich erschöpft gegen die Felswand und fächelte sich Luft zu. Auch die Schmetterlinger schwitzten gehörig. »Der Lärmkrater wurde gegraben, um Silandor gegen unerwünschte Eindringlinge zu verschließen. Aber er treibt mit seiner Hitze auch alle Geräuschattraktionen an.« »Aber woher kommt denn der Lärm?«, wollte Beliar wissen. »Von den Lärmsklaven. Sie leben dort und machen diesen furchtbaren Radau.« »Das heißt, wir müssen nur diese Sklaven befreien, dann wird es ruhig, ist das richtig?«, schaltete sich Toralon in das Gespräch ein. »Ja, sollte man meinen«, erwiderte Pegario. »Aber ganz so einfach ist es nicht. Die Lärmsklaven sind nämlich fest davon überzeugt, dass sie durch ihren Lärm das Nichts in Schach halten. Die Stierwächter haben ihnen furchtbare Angst ein359
gejagt. Deshalb ist es so gut wie unmöglich, sie von ihrem Tun abzubringen. Und der Lärmkrater selbst ist unzerstörbar. Ihr spürt die Hitze ja schon hier. Und wir sind noch gut eine Meile von ihm entfernt. Dort ist es so glühend heiß wie in einem Ofen. Selbst ihr könnt es dort wahrscheinlich nicht länger als ein paar Minuten aushalten.« »Und wie können es dann die Lärmsklaven ertragen?«, wollte Masia wissen. »Die Angst vor dem Nichts«, erwiderte Pegario. »Wer nur genügend Angst hat, der ist zu allem fähig.« »Aber was tun wir dann hier?«, fragte Masia. »Wenn das so ist, warum verschwenden wir unsere Zeit in diesen Höhlen?« »Weil wir etwas tun müssen!«, rief Beliar. »Wir können doch nicht einfach nichts tun und zusehen, wie diese Iblisse und Quäldrohnen alle unsere Freunde umbringen.« Toralon schüttelte den Kopf. »Nein, das können wir nicht, aber vielleicht war es etwas überstürzt, hier hinunterzugehen. Pegario, haben wir überhaupt eine Chance, den Lärmkrater zu zerstören?« Pegario schüttelte resigniert den Kopf. »Ich wüsste nicht, wie. Zyklopen könnten das vielleicht. Aber wir? Womit auch?« Die Schmetterlinger schauten sich ratlos an. Beliar schnaubte. »Ich gehe jetzt dorthin und sehe mir das an. Wer kommt mit? Niemand rührte sich. Beliar drehte sich um und marschierte los. Aber dann setzte auch Toralon sich in Gang und folgte ihr. Masia und Pegario blieben zurück. Einige Minuten später hatten sie den glutrot ausgeleuchteten Kuppeldom erreicht. Die Hitze nahm ihnen den Atem. Doch mehr noch überfiel sie sogleich eine überwältigende Hilflosigkeit. Ein ohrenbetäubender Lärm ließ ihnen Hören und Sehen vergehen. Die Lärmsklaven an ihren Maschinen 360
auf der Galerie, die den Krater säumte, schufteten wie besessen. Toralon und Beliar wichen bereits nach wenigen Augenblicken in schützende Entfernung zurück. Das war ja nicht auszuhalten. Und diese grässliche Hitze. Sie hatten nicht einmal vermocht, in den Krater hinabzusehen, so heiß war die Luft darüber. Verdrossen schlichen sie zurück. Pegario und Masia erwarteten sie mit ausdruckslosen Gesichtern. Masia richtete ihren Blick auf ihre Freundin, aber diese wich ihr aus. »Hm«, sagte Beliar nach einer Weile und zupfte sich ein paar von der Hitze zusammengebackene Haarsträhnen vom Kopf. »Gibt es keinen anderen Eingang nach Silandor als durch den Lärmkrater?« »Warum?«, fragte Toralon. »Nun, hier können wir wirklich nicht viel ausrichten. Aber wenn wir nach Silandor selbst gehen könnten, findet sich vielleicht dort eine Möglichkeit, diesem Lärmkrater beizukommen. Von irgendwo bezieht er doch seine Kraft.« »Es gibt noch einen Eingang«, bestätigte Pegario. »Aber der liegt weit entfernt von hier, außerhalb von Mangarath, und nur die Stierwächter wissen genau, wo er ist.« »Außerhalb von Mangarath?«, wiederholte Beliar verblüfft. »Warum sagst du uns das erst jetzt?« »Weil ... weil ich dachte, ihr wolltet zu den Lärmsklaven«, rechtfertigte sich Pegario. »Von Silandor war doch gar nicht die Rede.« »Aber das bedeutet, dass dieser Forcas und Janaël nach Silandor gelangen können, ohne Mangarath überhaupt zu betreten!« »Ja, vermutlich schon«, räumte Pegario ein. »Aber was sollen wir schon dagegen tun?« »Was wir tun sollen?«, rief Beliar erregt. »Sie daran hindern! Irgendetwas in Silandor ist offenbar von äußerster 361
Wichtigkeit für sie. Wir müssen herausfinden, was das ist.« Dann schlug sie sich mit der Hand vor die Stirn: »Saru, Nadil und Piri sind nach Silandor gegangen, oder? Es gibt doch noch einen Eingang ... im Geräuschdom!« Pegario nickte. »Ja. Das ist auch ein Weg. Aber niemand, der ihn gegangen ist, ist jemals zurückgekommen.« Doch Beliar achtete nicht auf den Einwand. »Das Fußbodengitter im Geräuschdom«, rief sie aufgeregt. »Schnell, vielleicht ist es noch nicht zu spät.« Die anderen drei schauten sie skeptisch an. »Du mit deinen Ideen!«, rief Masia. »Erst schlägst du vor, dass wir zu den Lärmsklaven gehen, ohne zu wissen, wozu, und jetzt willst du im Geräuschdom in diesen Schacht springen. Wer weiß denn, ob man sich da nicht den Hals bricht. Ich habe genug von deinen Ideen. Ich will nach Hause.« Beliar starrte sie wütend an. Aber Masia ließ sich nicht einschüchtern. »Du bist genauso verrückt wie Nadil!«, schrie sie. »Du bist wie er!« Beliar wurde blass vor Zorn. So eine Beleidigung. Einen Moment lang zögerte sie noch, dann schluckte sie die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, einfach herunter. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und stürmte davon. »Beliar«, hörte sie noch Toralons Stimme. »Warte!« Aber anstatt zu warten, lief sie nur noch schneller. Sie würde nach Silandor gehen, so schnell sie konnte. Und nichts würde sie aufhalten.
\ 17 \ »Es war Aratron«, sagte Nadil, »der die Lösung fand. Es gibt nur einen Ort, so erklärte er, wo jeder Mensch leicht hingehen kann und der dennoch für alle anderen Menschen unerreich362
bar ist. Dieser Ort ist die eigene innere Stille. Dort sollte die Heimat Phantásiens sein. Dort sollte ein jeder Mensch sein Fenster zur Unendlichkeit bekommen. Und damit stets genug Stille sein und dieses Fenster sich niemals schließen würde, schuf Aratron mit seinen sechs Helfern in Phantásien, unweit der Grenze zum Land der Leere, das Bergwerk von Silandor. Dort setzte er die Ruhewinzer hinein, damit sie auf ewig die Stille vom Anfang der Welt kelterten und so die Stille nach Phantásien brachten. Auf diese Weise konnte jeder Mensch, wann immer er wollte, in diese Stille hineingehen. Und in dieser Stille konnten die Boten des Unvorstellbaren manchmal den Menschen begegnen. Die Engel waren zufrieden. Schon bald wurde Phantásien zum Schauplatz der größten und tiefsten Geheimnisse der Welt. Alles konnte dort geschehen. Noch die ungeheuerlichsten Vorstellungen konnten dort Gestalt annehmen. Ja, wann immer die Menschen zwischen ihren kleinen, kümmerlichen Vorstellungen zu erstarren drohten und etwas bisher Unvorstellbares notwendig war, um die Welt wieder gesund zu machen, konnte dieses Undenkbare den Weg über Phantásien nehmen und auf diese Weise zu den Menschen gelangen.« Nadil sprach jetzt immer schneller. »Doch dann geschah wieder etwas, das Aratron nicht hatte vorhersehen können: So wie die Menschen einst das Unvorstellbare zu fürchten begonnen hatten, bekamen sie jetzt auf einmal Angst vor ihrer inneren Stille. Sie erschien ihnen leer und bedrohlich. Sie begriffen allmählich überhaupt nicht mehr, was sie mit der Stille anfangen sollten. Ja, wann immer sie sich zeigte, versuchten sie sie zu meiden und zu übertönen. Und es kam, wie es kommen musste: Phantásien begann wieder zu schrumpfen. Das Nichts breitete sich darin aus. Denn im Lärm kann das Nichts wunderbar gedeihen. Lärm ist die perfekteste 363
Tarnung für das Nichts. Und dann geschah die Katastrophe: Plötzlich hieß es, die Ruhewinzer seien schuld am Nichts. Die Phantásier waren schon so verwirrt, dass sie das Nichts mit der Stille zu verwechseln begannen. Das Nichts und die Stille seien ein und dasselbe, hieß es. Um Phantásien vor dem Nichts zu retten, müsse man Silandor zerstören.« Er unterbrach sich. Seine spärlich nachgewachsenen Augenbrauen hatten sich protestierend aufgerichtet, und seine Wangen schimmerten rötlich vor Erregung. »Die Stierwächter eroberten Silandor. Die Engel, welche Silandor bewachten, wurden nach langen Kämpfen vernichtet, die Ruhewinzer unterworfen und – da man sie nicht töten konnte – eingemauert. Silandor wurde verschlossen. Am Eingang wurde ein glühender Lärmkrater ausgehoben, damit niemand jemals wieder in das Bergwerk eindringen konnte. Und die Stierwächter erbauten Mangarath, die Stadt der Summsteine, der Glückssänger, des Geräuschdoms. Es durfte keine Stille mehr sein. Denn die Stille galt nicht mehr als Fenster zur Unendlichkeit, sondern als Vorbote, ja, als Komplizin des Nichts.« »Komplizin des Nichts«, murmelte Saru. »Es ist wirklich unglaublich. Wie konnte das denn nur geschehen? Warum haben wir das nicht bemerkt?« »Wie hätten wir es denn bemerken sollen?«, entgegnete Nadil. »Als Aratron und seine Helfer von der Katastrophe erfuhren, versuchten sie verzweifelt, nach Mangarath zu eilen, um Silandor zu befreien. Doch dabei machten sie eine furchtbare Entdeckung: Sie konnten gar nicht mehr dorthin gelangen. Dieser Teil Phantásiens war schon zu klein für sie geworden. Er konnte ihr mächtiges Wesen nicht mehr aufnehmen. Es war bereits nicht mehr genug Stille für sie vorhanden, um so gewaltige Engel vorstellbar zu machen. Schon 364
ein einfacher Engel ist eine riesenhafte Vorstellung. Es ist sehr viel Ruhe und Stille notwendig, damit er annähernd Gestalt annehmen kann. Und wie sollte erst ein Aratron oder einer seiner Helfer jetzt noch nach Mangarath gelangen? Bethor und Hagith versuchten es in ihrer Verzweiflung trotzdem. Schließlich hatten sie Silandor mit erschaffen. Sie konnten es nicht einfach kampflos aufgeben. Gegen alle Anzeichen, dass es bereits zu spät war, stürzten sie sich auf Mangarath, sammelten all ihre kolossalen Kräfte in der kleinsten Gestalt, die ihnen möglich war, und versuchten in Mangarath Form anzunehmen. Aber es war vergeblich. Ihre riesenhaften Schwingen, die ganze Welten in sich bergen können, zogen sich zu kleinen Flügeln zusammen, ihre großartige Erscheinung zerschmolz zu einer winzigen Größe, wurde immer begrenzter, kleiner, niedriger – und dann geschah es: Bethor und Hagith verglühten am Himmel über Mangarath, noch bevor sie die Stadt überhaupt erreicht hatten. Ihr Dasein hatte ihre Form einfach gesprengt. Sie konnten im Kleid einer so kleinen Vorstellung einfach nicht mehr nach Mangarath gelangen. Sie implodierten! Aratron traute seinen Augen nicht. Wie war das möglich? Wie hatte so etwas geschehen können? Er wollte hinterherstürzen, aber seine Gefährten hielten ihn zurück. Was für ein Wahnsinn!, riefen sie. Wenn schon von Bethor und Hagith keine Vorstellung mehr in Phantásien existieren konnte, wie sollte erst die viel gewaltigere Macht eines Aratron dort noch Eingang finden?« Saru und Piri blickten betreten vor sich hin. Nadils Schilderungen dieses Dramas hatten sie ganz kleinlaut werden lassen. Jetzt begriffen sie, was sie in der Wüste von Mangarath gesehen hatten. Bei allen Wünschen der Kindlichen Kaiserin! Seit so vielen Jahren regneten also Engel auf Mangarath nieder und verglühten, implodierten, versteinerten, weil es dort 365
keine ausreichende Vorstellung mehr von ihnen gab. Es war entsetzlich! Sie flogen in ihr Verderben, und dennoch gaben sie nicht auf.
\ 18 \ Am Himmel tobte der Kampf. Beliar hörte das Pfeifen bereits, bevor sie aus Pegarios Haus trat. Doch der Anblick selbst war noch viel schlimmer. Scharen von Quäldrohnen durchpflügten das Heer der Schmetterlinge, die scheinbar in wilder Flucht über Mangarath hin und her jagten. Aber bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass von Flucht noch keine Rede sein konnte. Im Gegenteil: Die Schmetterlinge kämpften! Auf einigen von ihnen saßen jetzt Stierwächter. Wie geflügelte Rammböcke schossen sie dahin und warfen sich mit dem Mut der Verzweiflung den Drohnen entgegen, die offenbar noch immer nicht fassen konnten, dass man ihnen solchen Widerstand leistete. Allerdings waren sie noch immer in der Überzahl und stachen erbarmungslos jeden Schmetterling nieder, der ein unvorsichtiges Flugmanöver machte. Beliar löste sich aus ihrer Erstarrung und lief los. Einige verendende Schmetterlinge wälzten sich vor ihr auf dem Weg, überall taumelten getroffene Falter vom Himmel herab, stürzten auf die Dächer, schlitterten zu Boden und blieben gekrümmt liegen, keuchend, klagend, sterbend. Aber auch eine Quäldrohne krachte jetzt direkt vor ihr aufs Pflaster. Aus ihrem aufgeschlitzten Leib floss ein gelblicher Brei heraus und ergoss sich auf den Weg. Beliar wich dem übel stinkenden Brei aus und lief so schnell sie konnte zum Sterntor. Es war verlassen. Keine Wächter bewachten mehr den Eingang. Sie schlich durch die Holztür hindurch. Sie musste unbedingt 366
zum Geräuschdom kommen. Aber wo war der? Sie kannte diesen Teil von Mangarath nicht. Und weit und breit niemand, den sie fragen konnte. Ein Geräusch ließ sie erstarren. Was war das? Ein entsetzliches Fauchen drang an ihr Ohr. Bei allen Sumpftrollen! Keine dreißig Schritte von ihr entfernt erhob sich ein Schatten. Im gleichen Augenblick jagten sechs Stierwächter an ihr vorbei auf den Schatten zu. Beliar duckte sich. Die Wächter trugen lange schwarze Stangen, an deren Ende eine gebogene, säbelartige Klinge aufragte. Der Schatten schoss aus der Dunkelheit hervor, wich aus, rollte sich zur Seite, und hinter seinem Rücken sprang plötzlich ein furchtbarer Stachel hervor, direkt auf den ersten Wächter zu. Doch der hatte sich vorgesehen. Er machte einen Satz, der Stachel verfehlte ihn knapp, und mit einer flinken Wendung, die Beliar diesen muskulösen, schwergewichtigen Stierkämpfern niemals zugetraut hätte, ließ er seinen Stangensäbel auf den Schwanz des Angreifers herunterfahren und hieb mit einem Streich den Stachel ab. Der Iblis heulte auf. Im nächsten Augenblick durchbohrten ihn die Stangensäbel der anderen Wächter. Er taumelte, wälzte sich im Staub. Doch die Stierwächter waren schon über ihn hinweggestürmt und um die nächste Ecke verschwunden. Beliar zitterte. Wenn solch ein Iblis sie erwischen würde, dann wäre sie erledigt. Und wo war nur der Geräuschdom? Sie flüchtete rasch in eine schmale Gasse. Wo waren denn nur die Besucher und Einwohner von Mangarath alle hingekommen? Die Häuser waren leer, alle Türen standen offen. Sie betrat das nächstbeste Haus und stürmte die Treppe hinauf. Sie musste sich einen Überblick verschaffen. Alles war verwüstet. Die Bewohner mussten Hals über Kopf geflohen sein. Aber wohin? 367
Schließlich erreichte sie den letzten Stock. Doch sie war immer noch nicht hoch genug. Beliar kletterte auf das Fensterbrett und zog sich am Dachfirst hinauf. Das war einfach, klettern konnten Schmetterlinger gut. Sie kroch auf allen vieren aufs Dach hinauf und richtete sich auf. Dann wurden ihre Augen weit. Was für ein Anblick! Überall wurde gekämpft. In fast allen Straßen, die sie von hier einsehen konnte, warfen sich Stierwächtertruppen den ersten in Mangarath eindringenden Iblissen entgegen. Noch konnten sie den Iblissen standhalten. Es waren ja auch noch nicht viele Invasoren. Aber wenn man sich anschaute, was vor der Stadt geschah, da konnte einem jede Hoffnung schwinden. Aus allen Himmelsrichtungen kamen weitere Iblisse herbei. Ja, sie behinderten sich fast gegenseitig, was der einzige Vorteil der Stierwächter war. Die hatten sich am Haupttor postiert und verteidigten es mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Jetzt konnte Beliar auch sehen, wohin die Besucher und Einwohner allesamt geflohen waren: ins Stadion der Glückssänger. Es platzte aus allen Nähten. Vielleicht war es klug gewesen, alle Phantásier dort hinzubringen, denn so war eine Festung entstanden, die leichter zu verteidigen war. Aber wie lange konnten die Stierwächter dieser Übermacht standhalten? Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis sie überrollt würden. Da, gerade war ein Stierwächter von einem Iblis, der ihm in den Rücken gefallen war, durchbohrt worden. Beliar traten Tränen in die Augen vor Wut. Diese Bestien! Ah, aber er zahlte sogleich für diesen gemeinen Mord. Schneeia schoss vom Himmel, und der Stierwächter, den sie trug, durchbohrte den Hals des heimtückischen Iblis. Der Schwanz der Bestie stach noch nach ihnen, aber der Stierwächter parierte den Stoß mit seinem Säbel und hieb ihn einfach entzwei. Mit 368
einem entsetzlichen Fauchen brach der Iblis zusammen und verendete zuckend. Schneeia schoss wieder in den Himmel hinauf, auf zwei Quäldrohnen zu, die sich soeben auf sie stürzen wollten. Doch im letzten Moment schlug sie einen Haken und entkam. Beliar hielt es nicht mehr auf dem Dach. Das konnte sie nicht tatenlos mit ansehen. Und hier oben konnte sie auch nicht helfen. Sie musste nach Silandor hineingehen. Das war die letzte Möglichkeit. Wenn es dort keine Hilfe gab, waren sie verloren. Sie suchte den Horizont nach dem Geräuschdom ab, sah ihn westlich des Stadions aufragen, prägte sich die Richtung ein, kletterte dann vom Dach, ließ sich auf das Fensterbrett hinunter und lief so schnell sie konnte die Treppe hinab. Schon nachdem sie wenige Straßen hinter sich gebracht hatte, erkannte sie die Gegend wieder. Aber sie musste vorsichtig sein. Auf den breiteren Wegen wurde überall gekämpft. Geduckt schlich sie durch die engsten Gassen, die sie finden konnte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte keine Waffe, nichts, um sich zu verteidigen. Aber sie hatte Glück im Unglück. Niemand achtete in diesem Durcheinander auf ein Schmetterlinger-Mädchen, das im Schatten der Häuser am Gewirr der Kämpfenden vorüberglitt und schließlich in den Geräuschdom huschte.
\ 19 \ »Aber warum hat Aratron nicht einfach geringere Engel nach Phantásien geschickt«, fragte Saru. »So hätte er die Stierwächter doch auf ihr Versehen hinweisen können.« Nadil schüttelte den Kopf und erklärte: »Das wäre vielleicht 369
die letzte Möglichkeit gewesen. Aber du vergisst, dass die meisten Engel in Phantásien immer nur widerstrebend Gestalt angenommen haben. Erinnerst du dich, was Tavtavel uns erzählt hat? Engel sind Boten des Vollkommenen und fühlen sich als ein Teil davon. In Phantásien wird ihre Vollkommenheit verringert. Deshalb meiden sie uns. Sie wollen nicht nach Phantásien kommen. Allein Aratron konnte sie überzeugen, dieses Opfer zu bringen. Und dies auch nur in den Grenzgebieten, wo die ersten Vorstellungen entstehen. Denn dort können sie sich noch weitgehend frei entfalten und Phantásien vor den schrecklichen Vorstellungen beschützen, die ebenfalls dort geboren werden. Doch je vorstellbarer, je fassbarer und anschaulicher die Gestalt eines Engels wird, desto machtloser wird er. Daher will kein Engel in Phantásien sein. Manche von ihnen hassen uns sogar. Und sie hassen Aratron dafür, dass er sie gezwungen hat, hier zu dienen. Darum hatten die aufrührerischen Engel leichtes Spiel bei ihrer Revolte. ›Wie lange wollt ihr euch noch von diesen kleinen Vorstellungen der Menschen versklaven und erniedrigen lassen?‹, fragten sie. ›Sind wir Engel nicht Teil der Vollkommenheit? Warum zwingt man uns dann, der Unvollkommenheit zu dienen?‹ Und da diese verschwörerischen Engel klug waren, kannten sie natürlich das Geheimnis von Aratrons Macht: Silandor.« Nadil schaute kurz zu Boden und fügte dann hinzu: »Aus Angst vor dem Nichts ist Silandor zerstört worden. Wir Phantásier sind schuld, aber was sage ich: wir und die Menschen, denn wir gehören ja zusammen. Zum zweiten Mal wurde aus Angst das Fenster zur Unendlichkeit verschlossen. Die Seele Phantásiens ist vernichtet. Offenbar ist es eine große Versuchung, im Gefängnis kleiner Vorstellungen zu leben, anstatt im unendlichen Raum das Unvorstellbare zu bestaunen.« 370
Piri rutschte nervös hin und her. Worauf wollte Nadil denn mit all diesen Ausführungen hinaus? Konnten sie denn überhaupt etwas tun? Konnten sie, einfache Schmetterlinger, denn in diese verfahrene Situation eingreifen? Aber Nadil erzählte schon weiter. »Nach der Zerstörung Silandors wandten sich die stolzen Engelheere erbittert von Aratron ab. Er konnte nichts mehr tun. Die Engel verließen in Scharen Phantásien. Sie würden sich nicht noch einmal in der Vorstellungswelt der Menschen versklaven, sich als dumme Putten, einfältige Tröster oder naive Wetterengel törichten Wünschen ausliefern. Sie hatten genug von den beschränkten Engelordnungen und stumpfsinnigen Titelreihen, in denen sie leben mussten, damit die Menschen sich darin bespiegeln konnten wie eingebildete Affen. Nein! Die Engel brauchten die Menschen ja nicht. Und so kehrten sie nach Dorsilan zurück, um dort ihren Heimweg ins Land der Leere anzutreten.« Dorsilan, dachte Piri. Jetzt verstand er endlich, was Nadil da erzählte. All diese Engel, die sie in Dorsilan gesehen hatten, das waren nur die kümmerlichen Reste einstiger Boten der Unendlichkeit! Wie schrecklich. Es war ja nur der letzte Abklatsch von etwas gewesen, dessen wirkliche Größe sich einfach niemand mehr auch nur annäherungsweise vorstellen konnte, weil es Silandor nicht mehr gab. Diese Engel, es waren nichts als ... verkrüppelte Vorstellungen! »Aber was geschah mit Aratron?«, wollte Saru wissen. »Aratron wusste, dass er niemals wieder nach Phantásien gelangen würde. Es war zu spät. Ihm blieb nur ein einziges Mittel: eine Botschaft an uns. Du, Saru, hast sie bekommen.« Sarus Augen blitzten auf. »Gaya von Raginor!«, flüsterte er. »Er hat sich im Orakel versteckt?« »Ja. Bevor er verglühte, entleibte er sich und hinterließ die 371
geringste ihm mögliche Form am einzigen Ort Phantásiens, den vielleicht jemand aufsuchen würde, wenn es mit Phantásien zu Ende ging.« Piri schauderte bei diesem Satz. Zu Ende ging. Meinte Nadil das ernst? Konnten sie denn wirklich nichts tun? »Und die Lichterscheinungen«, rief Saru, »die Explosionen am Himmel waren die verzweifelten Signale jener Engel, die uns warnen wollten?« »Ja«, bestätigte Nadil. »Einige wenige Engel gaben nicht auf. Immer wieder brachen sie aus dem Land der Leere zu uns auf in der Hoffnung, doch noch eine Form vorzufinden, die es ihnen gestatten würde, einen Schimmer des Unvorstellbaren nach Phantásien und somit zu den Menschen zu tragen. Doch sooft sie auch versuchten, ihr riesenhaftes Dasein auf ein jetzt noch Menschen erkennbares Maß zu reduzieren, jedes Mal implodierten, verglühten oder versteinerten sie. Nein, die Verbindung war gerissen. Solange die Stille vom Anfang der Welt in Balang-Gir nicht mehr gekeltert wurde, konnte Phantásien keine Gestalten des Unvorstellbaren mehr aufnehmen. Ohne Silandor war alles sinnlos.« Saru rieb sich die Stirn. »Und wir haben so lange gebraucht, ihre Signale zu verstehen«, flüsterte er bekümmert. Doch die Engel hatten nicht aufgegeben. Er hatte jetzt den Eindruck, hier unten in der Stille ihre Gedanken lesen zu können: Würde irgendwann ein Phantásier sich zu fragen beginnen, warum über Mangarath der Himmel brannte, warum Engeltrümmer die Wüste bedeckten und warum Phantásien an nur noch sich wiederholenden und kopierenden Vorstellungen zu ersticken begann? So hatte das also angefangen. Die Lichtgewitter über Mangarath – das war nichts anderes als der verzweifelte Versuch der Engel, in einem Phantásien Gestalt anzunehmen, das für so kolossale Vorstellungen kei372
nen Raum mehr bieten konnte. Und warum? Weil es einen Stoff gab, ohne den das Unvorstellbare sich nicht ausgestalten konnte: die Stille. Deshalb musste es in Phantásien immer auch einen Ort geben, wo die Stille hergestellt wurde. Denn nur sie ragte hinein in die Unendlichkeit, aus der alles kam. Nadil erhob sich. »All dies habe ich erfahren, als ich in die Leere hineingesprungen bin. Denn wer in die Leere geht, der wird immer diese Geschichte erfahren. Das Unvorstellbare kann sich nur durch eine Geschichte mitteilen. Es will immer zu den Menschen sprechen. Aber das kann es nur durch Vorstellungen tun, durch Geschichten, durch Bilder. Und so besteht immer die Gefahr, dass das Unvorstellbare durch diese Vorstellungen allmählich verstellt wird. Und dann entstehen solche Dinge wie die Lärmstadt von Mangarath, welche die Stille vernichten will.« »Aber was sollen wir denn jetzt nur tun?«, fragte Pili. »Das Wichtigste haben wir schon getan«, erwiderte Nadil. »Wir haben die Ruhewinzer befreit. Wir müssen nur hier ausharren und die Stille bewachen, bis die Ruhewinzer das Silandril aus Balang-Gir herbeigeholt haben. Nur ein Tropfen davon muss nach Phantásien gelangen. Dann kann alles beginnen, damit fängt alles an: mit einem Tropfen Silandril, der Stille vom Anfang der Welt.« Er verstummte. »Und dann?«, fragte Piri ungeduldig. »Was muss dann noch getan werden?« Nadil verschränkte die Arme und blickte seine beiden Begleiter an. Dann jedoch drehte er sich plötzlich um und schaute hinter sich. Aber was sah er da? Da war doch gar nichts. »Wir Phantásier können nicht mehr tun als Silandor befreien und die Stille zurückbringen«, sagte er. Aber zu wem sprach er denn nur? War da noch jemand? Piri starrte angestrengt in das Zwielicht der grünlich schim373
mernden Höhle. Jetzt war ihm fast so, als sei da tatsächlich etwas. Ja, da war ein Gesicht, ein paar Augen, die über eine bedruckte Seite huschten. Ganz kurz nur waren sie zu sehen. Sie blinzelten ungläubig, dann waren sie wieder verschwunden. Nadil drehte sich wieder zu ihnen um und sagte enttäuscht: »Nun ... wir werden unsere Aufgabe erfüllen. Bald wird das Silandril wieder in Phantásien sein, und die Boten des Unendlichen werden zurückkommen können. Ich weiß nicht, in welcher Form. Das können wir nicht wissen. Denn das ist Sache der Menschen. Irgendwo muss ein Mensch an sein kleines, stilles Fenster zur Unendlichkeit treten und ohne Angst hineinschauen. Erst wenn das geschieht, ist wieder alles möglich.« Er warf den Kopf herum. Was war das? Ja, Saru und Piri hatten es auch gehört. Ein Brausen und Rauschen erhob sich plötzlich. Und wo kam dieser Wind her? Nadil wurde bleich. Doch dann verzog sich sein Gesicht in grenzenloser Wut. »Das müssen sie sein«, zischte er. »Los, ihnen entgegen!« »Wer denn?«, fragten Saru und Piri wie aus einem Mund. Aber da sahen sie es schon. Und sie trauten ihren Augen nicht.
\ 20 \ Beliar musterte misstrauisch die Umgebung. Aber ihre Vorsicht war unbegründet. Der Geräuschdom war völlig verlassen. Sie schlich an der Wand entlang, um den Klangwolken auszuweichen, die sie unweigerlich nach oben getragen hätten. Doch sie wollte jetzt nicht nach oben. Sie wollte dort in die Mitte des Doms, wo ihr offenbar jemand zuvorgekommen 374
war. Dort ragte nämlich ein hochgestelltes Gitter in den Raum hinein. Der Schacht, in dem Nadil und Piri verschwunden waren – jemand hatte ihn erneut geöffnet. Sie versuchte auszumachen, ob sich dort jemand befand. Aber außer dem aufragenden Gitter konnte sie nichts erkennen. Keine Gestalt, keine Bewegung. Ihr Herz schlug aufgeregt. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Entweder sie blieb hier stehen und hoffte, dass ein Wunder geschah, oder sie sprang wie Nadil und Piri in diesen Schacht hinein. Sie stieß sich von der Wand ab, hielt sich gegen die Klangwolken die Ohren zu und ging direkt auf das Loch im Boden zu. Es war tatsächlich nicht mehr und nicht weniger: ein schwarzes Loch, aus dem Wärme, Wind und Geräusche zu ihr heraufstiegen. Ihre Haare flogen um ihren Kopf und nahmen ihr kurzzeitig die Sicht. Sie hatte keine Wahl. Ja oder nein. Sie schloss die Augen und sprang. Schon im nächsten Augenblick bereute sie es. 0 nein, das war ja furchtbar. Sie rutschte steil abwärts. Sie riss die Augen wieder auf, aber sie konnte nichts sehen. Ihr Körper wurde hin und her geworfen. Ihr Kopf flog plötzlich hart gegen den Fels, und ein brennender Schmerz ließ sie für einen Moment ganz steif werden. Sie streckte die Arme aus, um die Abwärtsfahrt zu bremsen, aber dabei handelte sie sich nur Schürfungen ein. Es war hoffnungslos. Und dazu diese Hitze. Es wurde immer schlimmer. Sie konnte kaum noch atmen. Und dann flog sie plötzlich auf ein Feuer zu. Sie schrie laut auf. 0 nein, diese Gluthitze, dieser unerträglich heiße Wind. Ihre Haare begannen zu brennen. Sie musste die Augen aufs Neue schließen. Doch dann war das Feuer auf einmal wieder verschwunden, und sie sank sanft in eine kühle, dunkle Stille hinab. Beliar kauerte sich zusammen, rührte sich nicht mehr. Erst 375
nach einer Weile bemerkte sie, dass sie auf einem weichen Untergrund lag. Sie öffnete die Augen und richtete sich ein wenig auf. Grünlich schimmernde Felswände umgaben sie. Eine Höhle. Sie war in einer Höhle gelandet. Sie erhob sich, tastete ihre Glieder ab und stellte fest, dass sie zwar ziemlich viele Stöße abbekommen hatte, aber sich so gut bewegen konnte wie zuvor. Und dann erst begriff sie: Sie war in Silandor. Das musste das geheimnisvolle Bergwerk sein. Aber wohin jetzt? Den Spuren nach, die sie jetzt auf dem Boden vor sich entdeckte? Dort waren die Abdrücke von drei Schmetterlingern zu sehen. Beliar jubilierte innerlich. Saru. Nadil. Piri. Sie waren hier gewesen. Aber es gab noch weitere Spuren, Abdrücke, die sie nicht einordnen konnte. Die Spuren ähnelten denen von Vogelkrallen. Doch der hintere Teil erinnerte eher an eine Tatze. Beliar legte ihre Hand darauf. Sie füllte den Abdruck nicht einmal zu einem Drittel aus. Ob es hier unten gefährliche Wesen gab? Sie schaute verunsichert um sich. Aber da waren nur diese steil aufragenden, grünlich schimmernden Felswände. Sie ging ein paar Schritte, blieb wieder stehen und lauschte. Und dann fiel es ihr auf: Eine ungeheure Stille herrschte hier. So etwas kannte sie überhaupt nicht. Aber da war noch etwas. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum, aber sie spürte, dass in dieser Stille irgendetwas war, das nicht dazugehörte. Es war gerade so, als sehe sie in der Nacht etwas, das noch schwärzer als die Nacht war. Aber wie konnte das sein? Sie war doch allein hier. In dieser absoluten Stille würde sich jeder verraten. Und dennoch ... Beliar tastete sich weiter den Gang entlang. Die Höhle wurde allmählich breiter. Aber es war niemand zu sehen. Trotz der Wärme fröstelte sie. Ihr Kopf fühlte sich so kalt an. Sie strich über ihr Haar. Was war das? Ihre Haare ... Sie waren 376
nicht mehr da! Fassungslos tastete sie mit beiden Händen ihren Kopf ab. Doch sie bekam nur zerbröselnden Staub zu fassen. Ihre Haare waren verbrannt! Wie sah sie jetzt nur aus? Sie riss sich zusammen. Nun ja, es war nicht zu ändern. Erneut konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung. Da war doch etwas. Sie spürte nun ganz deutlich, dass sie nicht allein war. Abermals blieb sie stehen. Das war ja nicht zum Aushalten. »Hallo?«, rief sie zaghaft. Aber was war das? Warum klang ihre Stimme so gedämpft? »Hallo!«, rief sie erneut. Doch sie hörte sich selbst kaum. Alles war gedämpft. Die Stille umschloss sie immer mehr. Und plötzlich fuhr sie zusammen. Sie riss den Kopf hoch. Aber es war bereits zu spät. Dort waren die Augen gewesen, die sie beobachtet hatten: ganz weit oben, über ihrem Kopf. Und jetzt rasten sie auf sie zu. Und was für Augen! Beliar schlug beide Hände vor das Gesicht. Nein, das war ja entsetzlich! Im nächsten Moment spürte sie einen brennenden Schmerz in den Schultern. Sie riss die Arme hoch und schrie auf. Sie wurde hochgehoben, doch auf einmal stürzte sie und schlug hart auf den Boden auf. »Forcas, so warte doch«, zischte eine Stimme. Dann hörte Beliar Flügelschlagen. Windstöße rissen an ihr. Ein Fauchen ertönte, das in ein bedrohliches Knurren überging. Dann erklang eine andere Stimme: »Was tut sie hier? Wer ist sie?« »Eben«, antwortete die andere Stimme. »Vielleicht können wir sie noch gebrauchen. Wenn ich mich nicht irre, gehört sie zu diesen Schmetterlingern.« Endlich brachte Beliar den Mut auf, die Augen zu öffnen. Ach, hätte sie es doch gelassen. Was war denn das? Zwei gelbgrüne Augenschlitze starrten sie hasserfüllt an. Sie brannten in einem Gesicht von abstoßender Bosheit. Tiefe Falten durchzogen die hohlen Wangen und durchfurchten selbst die Lippen eines fest zusammengekniffenen Mundes, in 377
dessen Winkeln sich ein zäher Geifer gesammelt hatte. Dieses Gesicht wich nun von ihr zurück und machte einem weiteren Platz, das dahinter im Raum schwebte. Es wirkte nicht weniger unheimlich, aber bei weitem nicht so abstoßend. Dunkle Knopfaugen schimmerten darin. Den Rest des Gesichtes konnte man nur ahnen. Mund und Nase waren kaum zu sehen, denn sie waren wie der ganze Kopf hinter einer dünnen, durchsichtigen Haut verborgen. Was waren das nur für Wesen? Ihre Körper schwebten über Beliar in der Luft, und sie erkannte jetzt, dass sie von riesigen schwarzen Schwingen getragen wurden, die beständig auf und nieder gingen. Aber es waren weder Iblisse noch Quäldrohnen, das stand fest. Sie sahen aus wie Greife, doch zum Greif fehlte ihnen der Hinterleib. Nun, Halbgreife vielleicht? Jedenfalls mussten sie mit Feuer zu tun haben, denn ihre Schwingen waren angesengt und ihre Kleidung voller Asche. Dann ging ihr ein Licht auf. Nein, sie waren ja auch durch den Lärmkrater geflogen. Sie mussten sich dort verbrannt haben, genauso wie sie selbst. Der Greif mit den giftgrünen Augenschlitzen bäumte sich auf und sagte: »Wir können nicht länger warten, verdammt noch mal. Wer weiß, wer sich noch alles hier herumtreibt. Los jetzt, wir müssen die Sache zum Abschluss bringen.« »Wir nehmen sie mit«, erwiderte der andere mit dem verhäuteten Gesicht. Schon fühlte Beliar sich erneut ergriffen und hochgehoben. Der Schmerz, der sie durchfuhr, war so schneidend, dass sie nicht einmal schreien konnte. Er nahm ihr den Atem. Sie würde sterben. Diese Ungeheuer würden sie erdrücken. Ihre Augen verdrehten sich vor Schmerz, und sie nahm kaum wahr, wie sie von den Klauen dieses Ungeheuers tiefer und tiefer in das Bergwerk getragen wurde. Sie huschten lautlos 378
dahin. Diese Halbgreife waren exzellente Flieger, das stand fest. Und sie benötigten nicht einmal Licht, um sich zu orientieren, denn bisweilen durchflogen sie völlig dunkle Stollen. Gelähmt von dem erbarmungslosen Griff der Krallen hörte Beliar nur Gesprächsfetzen der beiden. »... stimmt etwas nicht... Stille zu stark ...« »... hat die Ruhewinzer ...jemand hier gewesen ...« »... Jiinn-Garagor ein Verräter ... dir gleich gesagt...« »... kein Pardon ... Ruhewinzer vernichten ...« Beliar verlor fast das Bewusstsein. Sie konnte die Schmerzen kaum noch ertragen. Die Krallen drangen ihr ins Fleisch. Sie würde sterben, es war ihr Ende. Plötzlich stoppten sie abrupt. Was war das? Wer stand dort im Weg? Sie hob leicht den Kopf, so weit sie es noch vermochte. Ach, sie träumte wohl schon. Sie bildete sich tatsächlich ein, Schmetterlinger zu sehen. Da winkte ihr doch wahrhaftig jemand zu, der wie Nadil aussah. Wie Nadil ohne Haare. Und Piri war auch da und sah genauso geschoren aus. Eine schöne Einbildung. So war es wohl, bevor man aus dem Leben schien. Man erinnerte sich an seine Freunde. Und der dritte Mann dort? Wer war der? Ein neuerlicher scharfer Schmerz durchfuhr sie, und sie fühlte, dass sie herabfiel. Beliar schlug auf den Boden auf und hörte im gleichen Augenblick Nadils Stimme: »Keinen Schritt weiter. Hier endet eure Macht. Ich verbiete euch den Weg, im Namen Aratrons, im Namen Phantásiens!« Beliar musste lächeln. Nadil. Er war es wohl wirklich. Mutiger Nadil. Diese Ungeheuer würden sich doch von ihm nicht aufhalten lassen. Aber immerhin war sie losgelassen worden. Und jetzt kniete Piri über ihr, während Nadil und Saru auf die beiden Halbgreife zugingen, die drohend in der Luft schwebten und sich jeden Moment auf sie stürzen würden. 379
»Beliar«, rief Piri leise, »Beliar, bist du es?« Sie vermochte nur stumm zu nicken. »Du blutest ja ...« Sie konnte in seinen Augen sehen, dass er sie erst allmählich erkannt hatte. Sah sie so entstellt aus? Sie wollte etwas sagen. Aber sie konnte nicht. Ihre Augen wanderten wieder zu Nadil und Saru und zu den beiden Halbgreifen, die sie jetzt gleich vernichten würden. Sie wollte ihre Freunde warnen. Sie sollten doch weglaufen. Aber sie hatte keine Stimme. Stattdessen hörte sie Nadil rufen: »Ihr habt verloren, ihr Elenden! Silandor ist frei.« »Nur zu, Phantásier!«, fauchte der Greif mit den ekelhaften Augen. »Bleib, wo du bist, damit ich zusehen kann, wie Janaël dir die Haut abzieht.« Ein irres Lachen erklang aus seinem Mund. »Los, Janaël, das müssen doch die drei Phantásier sein, von denen du mir gesagt hast, dass sie uns keine Probleme mehr bereiten werden, nicht wahr?« Der Angesprochene schlug wütend mit den Flügeln und ließ jetzt ebenfalls ein zorniges Fauchen ertönen. Man konnte sehen, dass er seine Kraft sammelte. Im nächsten Augenblick würde er auf Nadil herabschießen. Aber Nadil stand völlig ungerührt da und fixierte die beiden Angreifer. »Euer Plan ist gescheitert«, rief er. »Und ihr könnt es selbst hören. Lauscht doch nach Silandor hinein. Ihr kennt doch diesen Klang sehr viel besser als wir. Er ruft euch zum Gehorsam auf. Nur noch wenige Augenblicke, und das Silandril wird Phantásien erreichen. Und Aratron wird zurückkehren und euch für all das bestrafen, was ihr uns angetan habt.« »Wir euch angetan?« Forcas spuckte die Worte regelrecht aus. »Schau doch einmal uns an, was mit uns geschehen ist. Aber davon spricht niemand. Wie man uns entwürdigt, erniedrigt, zu erbärmlichen Krüppeln degradiert. Aber das ist vorbei. Jetzt wird man uns kennen lernen!« 380
Einen Augenblick lang waren nur schwarzes Gefieder und das Rauschen von Flügeln wahrzunehmen. Was für ein Hass, dachte Saru. Was für ein unbändiger Hass. Das waren sie also: die beiden Engel, die sich gegen Phantásien verschworen hatten. Aber offenbar waren sie doch ein wenig verunsichert durch Nadils Rede. Saru schaute staunend auf seinen Enkel. Und dann entdeckte er, dass der leise die Lippen bewegte: »Samech caphiod Silandor«, flüsterte er kaum hörbar, »samech caphiod silandril.« Sofort tat Saru es ihm gleich. Aber würde Aratron sie hier unten hören können? Im nächsten Augenblick schoss Janaël auf Nadil herab. Ein irres Fauchen begleitete den Angriff. Nadil konnte dem Stoß nichts entgegensetzen. Die Klauen kamen direkt auf ihn zu und wollten sich in seine Brust graben. Gleich würde der wutrasende Janaël den kleinen Schmetterlinger nach oben in die Luft zerren und an den harten Malatist-Wänden zerschmettern. Doch in seinem Zorn hatte sich Janaël zu schnell auf Nadil gestürzt. Seine Krallen prallten gegen Nadils Brust und schleuderten ihn nach hinten, bevor Janaël zupacken konnte. Der Engel musste seinen übermäßigen Schwung erst auffangen, indem er einen scharfen Haken nach oben schlug, der ihn fast an die Decke der Höhle führte. Doch schon schoss der andere Engel heran. Piri, der noch immer neben Beliar im Staub kauerte, verbarg den Kopf zwischen den Händen. Das war das Ende. Sie hatten keine Chance gegen diese furchtbaren Wesen. Aber was tat Saru denn da? Er legte die Hände an den Mund und rief, so laut er konnte: »Samech caphiod Silandor, samech caphiod silandril!« Piri zitterte vor Angst. Nein, das würde ihnen nicht noch einmal helfen. Und da verstummte Saru auch schon. Ein furchtbarer Windstoß zischte über Piri hinweg. Er schaute auf. Wo war Saru? Beim Leben der Kindlichen Kaiserin! Dieses Ungeheuer 381
hatte ihn in den Klauen. Und jetzt nahm es Anlauf, um ihn an den Felsen zu zerschmettern. Und schon schoss der andere Engel wieder auf Nadil hinab, der ein Stück weiter zerschlagen am Boden lag, das Gesicht blutig von seinem Sturz, das Hemd über der Brust aufgerissen von den Krallen, die ihn dort knapp verfehlt hatten. Ein zweites Mal würde er nicht so viel Glück haben. Ach, alles war verloren. Jetzt hing Nadil auch schon wehrlos in der Luft, dem Zorn und Hass dieses Ungeheuers ausgeliefert. Im nächsten Augenblick wäre die Reihe an ihm selbst und an Beliar. Und dann wäre alles zu Ende. Die schwarzen Schwingen dieser Bestien schlugen jetzt mehrmals so stark, dass ein richtiges Brausen durch die Höhle fuhr. Doch auf einmal wurden sie langsamer. Was war das? Piri hielt sich die Ohren zu. Das ... das war ja unerträglich. Auch Beliar, die bisher wie betäubt vor ihm gelegen hatte, riss die Augen auf. Die ganze Höhle begann zu pulsieren. Es schien, als krieche aus jedem Winkel eine ungeheuerliche, unsichtbare Kraft hervor. Von einem Augenblick zum anderen war jedes Geräusch verschwunden. Aber nicht nur das, auch die Flügel der beiden Ungeheuer, die soeben noch kraftvoll geschlagen hatten, standen fast still. Es war gerade so, als wären sie plötzlich in durchsichtigen Honig gefallen. Mit größter Anstrengung versuchten sie ihre Opfer, die noch immer hilflos an ihren Krallen hingen, gegen die Felswände zu schleudern. Aber sie kamen nicht mehr vom Fleck. Alles um sie herum begann in lähmender Lautlosigkeit zu erstarren. Piri versuchte aufzustehen und wegzulaufen. Doch auch er vermochte sich nicht zu rühren. Von allen Seiten drückte die unsichtbare Kraft auf ihn. Was geschah hier? Er riss den Mund auf, um zu schreien, aber kein Laut drang durch die Luft. Luft? Das war doch gar keine Luft mehr. Sie hingen 382
hier in dieser Höhle wie in einer klebrigen Masse. Und das Gewicht um sie herum nahm immer noch zu. Piri schaute suchend zu Nadil hinauf. Aber der lächelte nur und blickte dabei triumphierend seinen Peiniger an, der sich unter ungeheuerlicher Anstrengung von der Stille, die ihn fester und fester umschloss, freizumachen versuchte. Doch je mehr er zuckte und zappelte, desto fester wurde alles um ihn herum. Seine Klauen öffneten sich, und Nadil war plötzlich frei. Aber auch das änderte nicht viel. Sie alle hingen jetzt wie in einen zähen Stoff eingegossen in der absoluten Stille. Das Silandril!, ging es Piri durch den Kopf. Diese Ruhewinzer mussten ihr Ziel erreicht haben. Und das war also das Ergebnis. Die Stille vom Anfang der Welt war überall um sie herum, und diese Stille war mit so unendlich vielen möglichen Vorstellungen angefüllt, dass sich darin keine Gestalt bewegen konnte. Oje, sie würden zerdrückt werden. Und wie zur Bestätigung dieser Furcht ließ plötzlich eine schwere Erschütterung die Wände erzittern. Piri versuchte trotz allem seinen Kopf zu heben. Ganz langsam wanderte sein Blick die Felswände hinauf, vorbei an Nadil und Saru, die gleichsam in der Luft kleben geblieben waren, und über die beiden grässlichen Ungeheuer hinweg, die ebenfalls fast reglos mitten in der Höhle schwebten. Er schaute schließlich zur Decke der Höhle hinauf, die nun stärker und stärker vibrierte. Piri hielt es kaum noch aus. Und auf einmal brach die Decke auf. Ein größer werdender Riss fraß sich in Windeseile in beide Richtungen davon, wurde tiefer und tiefer, brach unaufhaltsam weiter und weiter empor, bis auf einmal ein heller Lichtschein ihre Augen blendete. Doch sie hatten kaum geblinzelt, da geriet um sie herum alles aus den Fugen. Das Licht über ihnen saugte sie an. Die beiden geflügelten Ungeheuer wurden als Erste nach oben gerissen. Aber sofort folgten ihnen 383
die Schmetterlinger. Wehrlos schossen sie nach oben, gefangen in einem Wirbel aus Licht und Stille, vorbei an geborstenem Malatist. Piri konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Silandor gab sie frei, zuckte es ihm durch den Kopf. Das Bergwerk der Ruhewinzer ... es explodierte. Aber nicht nur Silandor war geborsten. Auch der Himmel über ihnen, auf den sie jetzt zurasten, hatte sich geöffnet. Piri traute seinen Augen nicht. Was war geschehen? Er konnte in den Himmel hineinsehen, und dort ... ja, er kannte doch diesen Anblick. Das war ja unglaublich. Er sah ... die Leere. Die gleiche Leere, die sie in Dorsilan gesehen hatten und vor der ihm so angst und bange geworden war. Aber jetzt – jetzt wölbte sie sich über ihnen wie ein rettendes Land, denn aus dieser Leere erschienen nun Heere von Engeln. Groß, hell und strahlend stürzten sie herab, Feuerschwerter in ihren Händen, Lichtspuren hinter sich herziehend. Wo waren die beiden schwarz gefiederten Gestalten hingekommen? Piri vermochte sie nicht zu sehen. Aber jetzt konnte er sich wieder bewegen. Er flog noch immer aufwärts. Die riesenhafte Kraft, die das Bergwerk gesprengt hatte, trug ihn noch immer empor. Und auf einmal waren überall Schmetterlinge. Von allen Seiten kamen sie herbeigeflogen. Piri hielt sich am nächstbesten fest und schwang sich auf seinen Rücken. Der Kampf um Mangarath tobte noch immer. Quäldrohnen schossen hin und her. Am Boden wälzten sich Iblisse und Stierwächter im Kampf. Doch Piri hatte dafür zunächst keine Augen. Wo waren seine Gefährten? Da schloss auf einmal Schneeia zu ihm auf, die völlig erschöpfte Beliar auf ihrem Rücken. »Sieh doch, Piri«, rief sie, »ein Wunder! Wir bekommen Hilfe. Tausende von Flügelphantásiern regnen vom Himmel herunter, lauter Kämpfer mit Flammenschwertern. Piri, Piri, sieh doch nur!« 384
\ 21 \ Aber das brauchte Beliar ihm nicht zweimal zu sagen. Piri nahm begierig das ganze Panorama in sich auf. So etwas Unvorstellbares! Der Himmel war aufgerissen, und Abertausende von Engeln schwebten nach Phantásien herein, jagten mit ihren Flammenschwertern die Quäldrohnen vor sich her, stürzten sich unten in den Straßen von Mangarath in Scharen auf die Iblisse, die keineswegs vor ihnen zurückwichen. Doch durch diese Verstärkung bekamen die Stierwächter innerhalb der Stadtmauer jetzt zunächst die Oberhand. »Piri!«, erklang eine Stimme neben ihm. Er fuhr herum. Es war Nadil, der auf Taublume saß. »Schau, wer uns gefunden hat«, rief er freudig. »Komm, suchen wir die anderen.« Sie flogen los. Das Gewimmel um sie herum war völlig undurchschaubar. Schmetterlinge mit Stierwächtern, Sternputzer, Quäldrohnen und Engel lieferten sich wilde Verfolgungsjagden, wobei das Kriegsglück durchaus noch schwankte. In einiger Entfernung jedoch begannen sieh zwei große Fronten am Himmel herauszubilden. Eine pulsierende, lang gezogene dunkle Wolke schob sich vom Horizont heran. Zuerst sah es so aus, als nähere sich eine riesenhafte Sichel, die direkt in den Strom der herabsegelnden Engelheere hineinfahren wollte. Plötzlich verformte sich die Sichel jedoch. Die zahllosen schwarzen Punkte, aus denen sie gebildet war, formten sich von einem Moment zum anderen zu einem riesenhaften Netz, das den halben Horizont verdeckte. Und dann sahen Nadil und Piri auch, was dort geschah. Janaël und Forcas führten dieses neue Quäldrohnenheer an und befehligten es wie eine einzige Waffe. Sie führten es zwischen sich und richteten es gegen den aufgerissenen Himmel selbst, gegen die Leere, aus der ihre Widersacher nach Phantásien hereinströmten. 385
Die Engel hielten inne. Sie sammelten sich gleichermaßen, formierten sich zu einer gewaltigen Front, die sich höher und höher ausdehnte. Das Netz der Quäldrohnen flog heran. Die Engel hoben ihre Flammenschwerter. Und auf einmal geschah etwas Unglaubliches. Nadil und Piri wären vor Schreck fast von ihren Schmetterlingen heruntergefallen. Was war das nur für ein riesenhaftes Gesicht? Wie aus dem Nichts war es plötzlich da, beherrschte den gesamten Himmel über Phantásien. Welch riesenhaftes Engelsgesicht erhob sich dort? Denn dass es ein Engel war, daran konnte kein Zweifel bestehen. Aber was für eine unvorstellbare Gestalt und Ausdehnung hatte dieses Gesicht? Der aufgerissene Himmel mit der Leere dahinter, das war nur eine lichte Stelle in seinem Haar, mit der der Wind spielte. Die beiden Heere, die sich über Mangarath gegenüberstanden, die unzählbaren Quäldrohnen und die nicht minder unermesslichen Engelscharen – es waren nur winzige Spuren in diesem Gesicht, kleine Rinnsale, die aus seinen Augen zu kullern schienen. Und seine Augen – was für Augen das waren! Das Gebirge Balang-Gir säumte ihren unteren Rand wie ein Kranz versteinerter Wimpern. Seine Stirn erstreckte sich unermesslich in den Sternenhimmel. Piri und Nadil erschauerten. »Aratron«, flüsterte Nadil. »Schau nur, Piri, das muss Aratron sein. Dieses ... gigantische Haupt, allein sein Augenlid ist größer als Balang-Gir ... Ich ...« Aber da verschlug es ihm die Sprache. Denn jenes Lid hatte soeben ganz kurz geschlagen und die schwarze Wolke, die sich bedrohlich genähert hatte, einfach zerstoben. Ein Lidschlag ... und Forcas und Janaêl waren nicht mehr. Das Quäldrohnenheer, zerstreut in alle Himmelsrichtungen, in die allerfernsten Gebiete Phantásiens. Und immer mehr Engel schälten sich jetzt aus der Leere. Sie wurden größer, mäch386
tiger. Thronengel nahmen Gestalt an, mit Schwingen so groß wie die Segel von Schiffen. Ihr Erscheinen wendete in den Straßen von Mangarath endgültig das Kriegsglück. Die Iblisse begannen zurückzuweichen. Nadil und Piri flogen kreuz und quer über der Stadt hin und her und konnten von dem Anblick gar nicht genug bekommen. Plötzlich war Beliar neben ihnen und strahlte sie erschöpft und freudig an. Und Pegario erschien, begleitet von Masia und Toralon. Sie winkten einander zu, deuteten immer wieder zugleich glücklich und fassungslos auf die davoneilenden Iblisse, auf die herabschwebenden Engelheere, auf das geborstene Silandor, aus dem noch immer der Nachhall der Stille vom Anfang der Welt nach Phantásien hineinströmte. Nein, begreifen konnten sie das alles noch nicht. Aber wozu auch? Nadil blickte hinter sich, auf Balang-Gir. Das riesenhafte Gesicht dort begann zu verblassen. »Aratron«, stammelte er. Wie unvorstellbar groß musste er sein, dieser Engel, der Forças, Janaël und ihre sämtlichen Quäldrohnen mit einem einzigen Lidschlag aus Phantásien vertrieben hatte. Ach, und was war Phantásien überhaupt. Kaum mehr als die Träne eines Engels, ein winziger Spiegel des Unvorstellbaren. Aber immerhin ein unverzichtbarer Teil davon. Seine Brust blähte sich auf vor Glück. Er reckte sich und jubelte vor Freude, so laut er konnte.
387
EPILOG
A
lle waren gekommen. Pegario und die Sternputzer standen Spalier, während Taublume, Goldling, Windjunge und Schneeia den Wagen mit Elfenauges sterblichen Überresten durch die Ruinen von Garsiran zogen. Niemand sprach ein Wort. Nadil führte den Trauerzug an. Jiinn-Garagor und zwei seiner Offiziere gingen neben dem Wagen her. Saru, Piri, Masia und Beliar folgten schweigend in einigem Abstand. Es war nur einer von zahllosen Trauerzügen, denn die Schlacht um Mangarath hatte trotz der Hilfe der Engel sehr viele Opfer gefordert. Aber für Nadil war es der traurigste. Er fühlte sich schuldig an Elfenauges Tod und hätte einiges gegeben, um die Zeit zurückdrehen zu können. Sein Herz war schwer. Auch dass all seine Freunde mit nach Garsiran gekommen waren, konnte ihn nicht so recht trösten. Der Zug erreichte den ehemaligen Hauptplatz der Nachtalbenstadt. Es war nicht mehr viel davon vorhanden. Verkohlte, eingestürzte Mauern ragten in den grauen Himmel. Dürre Kraulkrähen flogen dazwischen herum und ließen, unbeeindruckt von der feierlichen Versammlung, ihr heiseres Krächzen ertönen. Die prächtig geschmückte Bahre, auf der Elfenauge seine letzte Reise heim zu den Blaumohnwiesen 389
von Nevisehr machen würde, stand bereits dort. Sechs Schmetterlinge der Jägergarde umstanden das aus Blaumohnblumen geflochtene Gefährt. Ihre hochgestellten Schwingen ragten pfeilgerade in den Himmel. Elfenauge wurde auf die mit Seerosenblättern gepolsterte Bahre gebettet. Nadil schluckte. Jetzt war es gleich vorbei. Die Jäger würden langsam aufsteigen und Elfenauge nach Hause bringen. Ach, er war untröstlich. Pegario sprach einige Worte des Dankes für den toten Schmetterling, erinnerte noch einmal an seine Tapferkeit und versicherte, dass sein Schicksal in Mangarath und in ganz Phantásien unvergessen bleiben würde. Dann flog er zu Elfenauges Ehre persönlich über ihn hinweg und schüttete eine Hand voll des kostbarsten phantâsischen Sternstaubs über ihm aus: Abendsternstaub. Die Bahre begann zu schweben. Die Jäger erhoben sich feierlich und stiegen langsam in die Lüfte hinauf. Dann lenkten sie ihre Fracht nach Osten und flogen ohne weiteren Aufschub in Richtung Nevisehr davon. Für kurze Zeit konnte man sie noch erkennen. Dann verschmolzen sie mit dem grauen Himmel. Zwei Seerosenblätter tanzten noch eine Weile über Garsiran durch die Luft. Taumelnd sanken sie zu Boden und verschwanden irgendwo in der Trümmerlandschaft. Nadil starrte vor sich auf den Boden. Dann spürte er, dass jemand neben ihn getreten war. Er schaute auf. Es waren Saru und Beliar. Der alte Schmetterlinger legte eine Hand tröstend auf die Schulter seines Enkels. Beliar hingegen lächelte ihn einfach an und sagte: »Komm, Nadil. Wir haben uns etwas ausgedacht, um diesen Tag, der so traurig angefangen hat, etwas freudiger zu beenden.« Der Trauerzug begann sich aufzulösen. Die Stierwächter marschierten bereits in Richtung Mangarath davon. Pegario 390
und seine Sternputzer machten sich für den Abflug bereit. Sogar die Schmetterlinge erhoben sich jetzt eiligst in die Lüfte. Doch eine kleine Gruppe löste sich aus der Schar und segelte auf sie zu. Es waren Masia, Toralon und Piri, die auf Goldling, Windjunge und Taublume herankamen. Schneeia flog etwas abseits. Hinter ihr erblickte Nadil einen unbemalten Riesenschmetterling, den er nicht kannte. Es war, der Form seiner Flügel nach zu schließen, ein Jäger. Jetzt überholte er Schneeia, kam direkt auf Nadil zu und landete zwischen ihm und Beliar. »Die Schmetterlinge möchten dir danken, Nadil«, sagte er und verbeugte sich. »Deshalb sollst du von allen der einzige Schmetterlinger sein, der seinen eigenen Schmetterling haben wird. Niemand anders wird mich fliegen als du, und ich werde immer nur für dich da sein, dein ganzes Leben lang.« Nadil schaute ergriffen in die Runde. Dann musterte er den Schmetterling. Er war sehr jung, aber jeder erkannte auf den ersten Blick, dass er ein großartiger Flieger und Jäger werden würde. Er war noch ganz weiß, völlig unbemalt. Und als hätte Beliar seine Gedanken geahnt, sagte sie jetzt: »Auch die Sternputzer haben ein Geschenk für dich. In Nevisehr wartet eine Ladung des kostbarsten Staubs auf dich: Abendsternstaub, Morgensternstaub, Staub von den seltensten Gestirnen, die jemals über Phantásien geleuchtet haben.« Nadil wusste überhaupt nicht, wohin er noch schauen sollte. War das nicht ein bisschen zu viel der Ehre? »Aber ihr habt doch alle mitgeholfen«, rief er unsicher. »Saru, dir müssen wir doch vor allem danken.« Saru schüttelte den Kopf. »Nein, Nadil. Nur einer von uns hat den Mut aufgebracht, in die Leere zu springen. Dir gebührt der größte Dank.« 391
Nadil betrachtete den Schmetterling. »Wie heißt du?«, fragte er dann. »Kannst du dir das nicht denken?«, entgegnete der Schmetterling und lächelte geheimnisvoll. Nadil überlegte. Ach, nur ein Name kam ihm in den Sinn. Der Name des unglücklichen Freundes, an dessen Tod er sich so schuldig fühlte. Doch der Schmetterling vor ihm war so ganz anders. Er konnte Elfenauge nicht ersetzen. Und er sollte das auch nicht. Nein, Elfenauge würde nicht vergessen, seine Geschichte würde immer wieder erzählt werden. Doch was war mit dieser anderen Geschichte, die jetzt auch zu Ende war? Und plötzlich wusste er die Antwort. Er trat vor ihn, betrachtete bewundernd seine Flügel, streichelte ihm freundschaftlich den Nacken und schwang sich dann mit einem Satz auf seinen Rücken. »Du heißt Ruhewinzer, nicht wahr?«, rief er. Die anderen klatschten in die Hände. Der Schmetterling richtete sich stolz auf und schaute zufrieden um sich. »Dann lasst uns aufbrechen«, rief Beliar. »Ja, fliegen wir endlich los«, unterstützte sie Piri. »Aber wohin denn?«, wollte Nadil wissen. Doch er bekam keine Antwort. Masia, Piri, Toralon und Beliar flogen schon davon. »Folge ihnen nur«, sagte Saru. »Wir sehen uns bald wieder. Ich muss nun auch los.« »Aber kommst du nicht mit uns?«, fragte Nadil bekümmert. »Nein, mein Junge. Ich muss zur Kindlichen Kaiserin gehen und ihr alles erzählen, was sich hier ereignet hat. Außerdem kennst du mich doch, ich bin zu unruhig, um immer in Nevisehr herumzusitzen.« »Aber ... aber was geschieht denn jetzt mit Mangarath und Silandor?«, fragte Nadil. 392
»Das sind jetzt nur noch Geschichten, Nadil. Wir werden sie aufzeichnen, damit sie nicht vergessen werden. Aber die Ruhewinzer sind dort nicht mehr. Silandor ist nur noch eine leere Höhle.« »Und das Silandril? Wo ist das Silandril hingekommen?« Saru hob die Augenbrauen und schüttelte leicht den Kopf. »Das wüsste ich auch gern, aber ich bin sicher, dass Aratron diesmal einen Ort gewählt hat, den nicht einmal die Engel kennen. Ich hoffe es jedenfalls. Auf bald, mein Junge.« Damit marschierte er davon, drehte sich noch einmal kurz um, winkte und verschwand. Nadil schaute in den Himmel. Seine Freunde waren schon fast außer Sichtweite. »Auf geht's, Ruhewinzer«, rief er. »In die Lüfte mit uns.« Bald darauf hatte er sie eingeholt. Als Beliar ihn kommen sah, blieb sie etwas zurück und wartete, bis er ganz zu ihr aufgeschlossen hatte. »Wohin fliegen wir denn?«, fragte er. »Dorthin!«, antwortete Beliar und lächelte ihn auf eine Art und Weise an, dass er fast von seinem Schmetterling heruntergefallen wäre. Ihr schönes Haar war zwar im Lärmkrater verbrannt, und im Augenblick trug sie einen Turban, bis es wieder nachgewachsen wäre. Aber selbst damit sah sie einfach umwerfend aus. Dorthin?, dachte er dann. Aber das war doch die falsche Richtung. »Das geht nicht!«, warnte er sie. »Man kann nicht nach Balang-Gir gelangen. Es ist unerreichbar.« »Nicht mehr«, erwiderte sie. »Es gehört jetzt zu Phantásien. Aratron hat uns ein neues Land geschenkt. Du wirst schon sehen.« »Aber ... was für ein Land?« »Saru sagt, es sei zwar nicht so vollkommen wie das Land 393
der Leere, aber auch so unvorstellbar, dass man es nieht beschreiben kann. Man muss hineingehen, um es erfahren zu können.« Nadil starrte verwirrt auf die Gebirgskette am Horizont. Ein neuer Teil Phantásiens? Und das Land der Leere, wo war es denn hingekommen? Aber dann fiel ihm ein, was Saru gesagt hatte. Natürlich. Aratron hatte für Silandor und die Ruhewinzer sicherlich einen anderen Ort geschaffen, irgendwo in Phantásien. Balang-Gir jedenfalls war nicht mehr die Grenze zur Leere. Und tatsächlich, das Gebirge der Unerreichbarkeit kam jetzt rasch näher. Sie flogen darauf zu wie auf eine ganz normale Bergkette. Doch was schimmerte dahinter? Nadils Augen wurden größer. Das war ja wundervoll. So etwas Schönes hatte er ja noch nie gesehen. Aber was war das denn nur? »Beliar«, flüsterte er, »das ist ja ... schöner als alles, was ich mir vorstellen kann. Schau doch nur, wie ...« Sie nickte erfreut. Da geschah plötzlich etwas Eigenartiges. Toralon, Piri und Masia machten kehrt. Sie winkten, schauten kurz zu ihnen herüber und flogen davon. Nadil begriff gar nichts. Er schaute verunsichert zu Beliar hinüber. Doch Beliar schien gar nicht verwundert zu sein. »Sie können nicht weiter«, sagte sie schelmisch. »Dieses neue Land hat nämlich eine merkwürdige Eigenschaft.« Sie lenkte Schneeia näher zu Ruhewinzer, streckte den Arm aus und hielt Nadil die Hand hin. »In dieses Land kommt man nur zu zweit hinein, Nadil. Aber keiner weiß, mit wem es funktioniert. Ich will es mit dir versuchen. Kommst du mit?« Nadil wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Er nahm ihre Hand. Er wollte etwas sagen, aber die Berührung verschlug ihm die Sprache. Schweigend flogen sie auf dieses neue Land zu, das hinter Balang-Gir entstanden war. Und mit jedem Flügelschlag wurde Nadil glücklicher. 394
»Beliar«, fragte er schließlich, kurz bevor sie Balang-Gir überquert hatten. »Wie heißt es denn, dieses Land?« »Es hat zugleich viele und keinen Namen«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. »Es heißt nämlich immer so wie die Person, mit der man es geschafft hat, dieses Land zu finden.« Und kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da waren sie auch schon darin angekommen. Es war wirklich das wundervollste Land, das man sich vorstellen konnte. Und Nadil würde sich sein ganzes Leben an den Tag erinnern, als Beliar es ihm hatte zeigen wollen. Doch dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
395
396