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Terry Eagletons ethnographische Streifzüge offenbaren die kulturelle Größe Irlands, seine Sprache, seine Geschichte, seine Eigenheiten. Vor allem aber gibt Eagleton Einblick in die Mysterien der Insel, die in einem Witz, einem Wort verborgen sein können. Seine Einsichten serviert Eagleton schlückchenweise dem Alphabete folgend, beginnend mit A wie Alkohol (überraschende Erkenntnis: 30 Prozent aller Iren sind Abstinenzler – doch gleicht der Rest der Bevölkerung diese Schwäche selbstlos wieder aus). Am Ende entsteht aus den rund 100 Stichwörtern ein ebenso unterhaltsames wie interessantes Portrait der Iren. «Sein Büchlein ist ein Zwitter zwischen Vademecum und Satire für IrlandLiebhaber und alle, die es werden wollen, vielleicht aus diesem Grund eine umso vergnüglichere Lektüre.» Hans-Christian Oeser, Neue Zürcher Zeitung
Terry Eagleton ist Warton Professor für Englische Literatur am St. Catherine’s College in Oxford. Er hat sich weltweit als Literaturtheoretiker einen Namen gemacht und ist Verfasser zahlreicher Theaterstücke. Zuletzt ist von ihm auf deutsch erschienen: Was ist Kultur? (2001).
Terry Eagleton
Die Wahrheit über die Iren Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Mit 12 Vignetten
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe Januar 2003 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de © 1999 Terry Eagleton Die Originalausgabe erschien unler dem Titel: The Truth about the Irish New Island Books, Dublin 1999 © der deutschsprachigen Ausgabe: 2000 Verlag C.H. Beck oIIG, München ISBN 3-406-466370 llmschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlaggestaltung: Catherine Collin unter Verwendung einer Fotografie von © LOOK / Karl Johaentges Satz: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg www.fgb.de Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · ISBN 3-423-20592-X
Für Michael Henry
Die Iren von A bis Z
S
áÉ sind gerade, aus Sydney oder Sacramento, Salisbury oder Siena kommend, auf dem Dubliner Flughafen gelandet. Nun brauchen Sie ein Beförderungsmittel in die Stadt. Folgen Sie auf dem Flughafen den Schildern mit der Aufschrift «Zu den Eselskarren», und Sie gelangen auf ein weitläufiges Feld, auf dem es nur so wimmelt von handgezimmerten Holzkarren, vor denen je ein Esel angespannt ist. Für den Preis von einem Glas Whiskey kutschiert Sie ein Wagenlenker in grünem Kittel durch belaubte, sich stadteinwärts windende Straßen, singt ein gälisches Liebeslied und genehmigt sich ab und zu einen Schluck Poteen, den schwarz gebrannten Kartoffelschnaps, der einem das Gehirn vernebelt. Einfache Bauersleute treten aus Lehmhütten am Straßenrand, streuen dreiblättrigen Shamrock-Klee vor Ihre Füße und rufen Ihnen «Lang lebe Euer Ehren!» zu. Anmutige junge Fräulein in grünen Miniröcken locken Sie verführerisch mit der einen Hand und zupfen mit der anderen die Harfe. Wenn Sie durch das alte Stadttor rollen, ist eine Band kiltgewandeter Dudelsackpfeifer schon zur Stelle und entbietet Ihnen mit Danny Boy ein herzliches irisches Willkommen. Feierlich hebt man Sie vom Wagen und legt Sie unter ein Fäßchen, das eine Gallone Guinness enthält und das Sie, wie es der Brauch verlangt, binnen drei Minuten leeren müssen. Gelingt es Ihnen nicht, das Zeug in der festgesetzten Frist in sich hineinzuschütten, trifft Sie ein alter irischer Fluch, und Ihre Kreditkarten werden in Frösche verwandelt. Vergessen Sie, was Sie gerade gelesen haben. Es ist erstunken und erlogen. Es gibt keine Esel am Dubliner Flughafen. Es gibt sogar in ganz Irland nur noch herzlich wenige Esel1 – genausowenig wie einfache Bauersleute, teils weil c~âíÉåI=ãáí=ÇÉåÉå=páÉ=ÄÉá=cêÉìåÇÉå=báåÇêìÅâ=ëÅÜáåÇÉå (im folgenden FFE): Nicht viele wissen, daß Esel ihrer Gangart wegen in Irland so nützlich waren. Sie setzen die Füße nämlich anders auf als Pferde, in einer Schrittfolge, die es ihnen ermöglicht, Moorgebiete mit einer schwebenden Bewegung zu durchqueren. Hätten die Iren Pferde benutzt, wären sie womöglich auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
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Die Iren von A bis Z
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es Bauern sowieso nicht gibt, teils weil Bauern ungefähr so einfach sind wie die Relativitätstheorie. Die zweite große Enttäuschung Ihrer Reise steht Ihnen nun unmittelbar bevor: Irland ist so modern wie das x-beliebige Land, aus dem Sie kamen. Gut, mehr oder weniger. Ausgenommen natürlich, Sie sind Eskimo. (Die erste große Enttäuschung ist übrigens, daß es regnet. Wie am nächsten Tag auch. Und am übernächsten wieder ...) Die Iren fahren Auto, zocken an der Börse und tragen Hosen statt Kilts. Computer, Big Macs, japanische Küche, schlechte amerikanische Filme im Fernsehen, eine ansehnliche Zahl von Millionären, großzügige Steuererleichterungen für ausländische Investoren, eine blühende Filmindustrie namens Paddywood und mehr Rechtsanwälte als Kobolde – das alles gibt es dort. Tauschwährung ist nicht mehr, wie noch im frühen Mittelalter Irlands, die Kuh. Wenn Sie Amerikaner sind, hierher gekommen, um alldem zu entgehen, so bedenken Sie bitte: Es liegt teilweise an IHNEN, wenn Irland so ist, wie es ist. Sie möchten, daß die Iren anders sind, und die Iren möchten sein wie Sie. Das erste, was Sie brauchen, wenn Sie nach Dublin kommen und da leben wollen, ist nicht etwa ein Amulett, um die Feen in Schach zu halten, sondern eine Alarmanlage zur Abschreckung von Einbrechern. In den ärmeren Stadtvierteln blüht die Drogenkriminalität. Sozialer Verfall greift sowohl in den Städten als auch in ländlichen Gegenden stark um sich. Die schlechte Nachricht für romantisch veranlagte Touristen lautet also: Irland ist up to date. Jemand hat einmal gesagt, Irland habe zwar die Kobolde eingebüßt, dafür aber eine Goldader gefunden. Die ganze Wahrheit ist das aber auch nicht. Die ganze Wahrheit über Irland ist nämlich so schwer zu finden wie irische Kohle. Irland ist eine moderne Nation, hat sich aber erst in jüngster Zeit modernisiert und führt sich im Augenblick eher auf wie die Klofrau, die den Lottogewinn abgesahnt hat. In vieler Hinsicht ist das Land seinen Traditionen verhaftet. Die Homosexualität zum Beispiel wurde erst 1993 straffrei gestellt, und Schwangerschaftsabbrüche sind weiterhin illegal, ausgenommen, das Leben der Mutter ist in Gefahr. 8
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In manchem ähnelt Dublin dennoch mehr Kairo als Cambridge. Autos sind auf den Gehwegen geparkt, und auf den Straßen türmt sich knöchelhoch Abfall. Es gibt sogar die eine oder andere Moschee. Wie in Kairo lungern arbeitslose Männer herum, die einem für ein Trinkgeld helfen, einen Parkplatz zu finden. Bei orange leuchtenden Ampeln dürfen Sie in Dublin weiterfahren, wohingegen Sie bei Rot halten können, falls Ihnen danach ist und Sie Lust haben, mal kurz zu verschnaufen. Dublin hat Pferde und Karren zu bieten, fünfjährige Bettler, grellbunte Ikonen und Statuen nationaler Freiheitskämpfer. Und in halsbrecherischem Tempo radeln Leute auf überfüllten Gehsteigen. Dublins wichtigste Hauptstraße, die O’Connell Street, ist von ehemaliger 18.-Jahrhundert-Pracht zu einer Ansammlung schäbiger Fast-Food-Spelunken verkommen. Ein Kritiker nannte ihre Architektur einmal «neon-klassizistisch». In dieser Straße stehen Statuen der irischen Politiker Daniel O’Connell und Charles Stewart Parnell, und hier befand sich auch ein Lord-Nelson-Denkmal, das die IRA in den sechziger Jahren in die Luft sprengte. Der irische Dichter W. B. Yeats bemerkte dazu einmal, die Straße bewahre die Erinnerung an drei der bekanntesten Ehebrecher in der Geschichte. Eine Kasbah werden Sie in Dublin allerdings nicht finden, dafür aber Temple Bar, ein Bohème-Viertel mit Kunstgalerien, Boutiquen und vegetarischen Kneipen, in denen sich abends die Jeunesse Dorée der Stadt trifft, um einander anzuglotzen. Bis zu ihrem Verbot fanden dort jedes Wochenende 26 Single-Parties statt. Und 36 000 Besucher streifen Tag für Tag durch das Viertel. Vor allem Amerikaner finden Irland meist unhygienisch, ineffizient, in bezug auf das Rauchen alarmierend rückständig und mit Duschgelegenheiten unterversorgt. Man kann auf der Straße Bier trinken, die Dose gleich dort, wo man steht, zu Boden fallenlassen und sich für ein Nickerchen auf dem Gehweg ausstrecken, ohne daß jemand groß Einwände dagegen erhöbe. Dennoch erinnert Dublin eher an Boston als an Bagdad. War Ihre Reise also wirklich nötig? Falls Sie auf Exotik aus waren, hätten Sie sich vielleicht besser nach Papua-Neuguinea aufmachen sollen. Doch halten Sie ein, bevor Sie gleich Die Iren von A bis Z
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wieder ein Flugzeug besteigen! Die irischen Mythen können Sie ja gleich am Flughafen abfertigen lassen, so genießen Sie Ihre Ferien um so mehr. Mag ja sein, daß Dublin die schäbigste Hauptstadt Europas ist, wie ein Kritiker sie einmal nannte, jede Menge heruntergekommene Quartiere mit Drogenproblemen hat, aber sie ist auch eine pulsierende, aufgeschlossene, freundliche, überschäumende Metropole mit einer seltsam karnevalistisch anmutenden Atmosphäre. Und das Irische Fremdenverkehrsamt zahlt mir nicht einmal etwas für diese Feststellung. Mag ja sein, daß der Erfolgsgedanke die Iren heute fest im Griff hat, trotzdem pflegen sie ihre Freundschaften intensiver und geben sich im großen und ganzen mehr der Muße hin als andere Völker. Das liegt daran, daß die Iren im Grunde nie eine industrialisierte Nation waren und dadurch nicht mit den Anforderungen konfrontiert wurden, die das zwangsläufig mit sich gebracht hätte. Die Entwicklung von einer vorwiegend Landwirtschaft betreibenden Bevölkerung zu einer Nation des High-Tech-Zeitalters vollzieht sich bei den Iren mit einem Sprung. Das Industriezeitalter wird schlicht ausgelassen. Noch immer machen sie keine Religion aus der Arbeit, wie es andere Völker tun, und stehen auch nicht um sechs Uhr morgens auf, um anschließend zehn Kilometer zu joggen, einen Liter Grapefruitsaft herunterzustürzen und dreimal nacheinander zu duschen. Schon die bloße Vorstellung würde vielen Iren kalte Schauer über den Rücken jagen. Sie sind nicht so schrill wie die Amerikaner und nicht so verklemmt wie die Engländer. Der Rest dieses Buchs ist der genaueren Betrachtung einiger bekannter Irlandklischees gewidmet – schauen wir mal, wieviel Wahrheit tatsächlich in ihnen steckt. Zwei allgemeine Bemerkungen, bevor wir beginnen. Erstens: Mit «Irland» meinen wir die Republik Irland; Nordirland ist etwas vollkommen anderes und erforderte ein eigenes Buch. Zweitens: Manche Menschen hegen vage den Verdacht, es sei rassistisch, von «den Iren» oder «den Ukrainern» zu sprechen, so als seien alle Angehörige einer Nation gleich. Es gibt in der Tat viele unterschiedliche Iren, was in diesem Buch, wie ich hoffe, deutlich werden wird. Richtig ist aber auch, daß sich bei Menschen, die lange Zeit dieselben Le10
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bensbedingungen teilen, allmählich bestimmte kulturelle Gemeinsamkeiten herausbilden. Dies nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen ist genauso engstirnig wie die Vorstellung, jeder Ire sei bloß der Klon eines zweiten. Ich sah einmal eine Fernsehdokumentation über Peru, in der ein Armeeoffizier seine Untergebenen anbrüllte: «Männer, vergeßt nie, daß ihr Peruaner seid!» Das hört sich seltsam an, zumindest für uns Nicht-Peruaner. «Peruaner sein» besagt ja im Grunde genommen nicht viel. (Für Peruaner selber vielleicht genausowenig.) Das ist so, als sagte man: «Vergeßt nie, daß ihr aus East Cheam kommt» oder: «Denkt immer daran, daß ihr aus South Bend, Indiana, stammt». Andererseits kursieren über die Iren in der ganzen Welt ausgeprägte Vorstellungen, die zugleich höchst widersprüchlich sind. Sie gelten als kindisch und verschlagen, als genial und angriffslustig, als geistreich und dickköpfig, als flink und langsam, als redegewandt und tölpelhaft, gelassen und heißblütig, verträumt und bodenständig, lügnerisch und treu. Ergo sind sie entweder schizophren oder stellen alle Gesetze der Logik auf den Kopf. Wir beginnen – was sonst! – mit Alkohol, dem Aaaaaa im irischen Alphabet.
Alkohol
A
ääÉ Welt weiß, daß die Iren ein besonders trinkfreudiges Volk sind. Trotzdem muß es nicht unbedingt stimmen. Nach einer Schätzung haben die Iren den geringsten ProKopf-Verbrauch an Alkohol oder «Gurgelwasser», wie sie ihn manchmal nennen, von allen Ländern der Europäischen Union, Griechenland und Italien ausgenommen. Zwischen 20 und 30 Prozent aller irischen Männer und Frauen sind vollkommen enthaltsam. Das mag an einem Samstagabend in Dublin zwar anders aussehen, ist aber trotzdem wahr. Nationen wie Irland, in denen starkes Trinken Brauch ist, bringen gewöhnlich auch Abstinenzler hervor, genauso wie in Bevölkerungen, die unter Fettleibigkeit leiden, Gesundheitsfreaks heranwachsen. Die Iren verstehen sich aufs Trinken, doch sie akzeptieren es sofort und sind nicht Alkohol
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verärgert, wenn man ein Glas ablehnt. Deutsche und Italiener wären in einem solchen Fall eher verstimmt. Daß die Iren sich den Ruf erwarben, starke Trinker zu sein, verdankten sie eher irischen Auswanderern im Ausland als den Landsleuten daheim. Auswanderer haben Heimweh, das sie ertränken müssen. Traditionelle Enthaltsamkeit vermag den überraschend niedrigen Pro-Ropf-Konsum von Alkohol jedenfalls nur zum Teil zu erklären. Viele Iren rühren nie einen Tropfen an, während der Rest der Bevölkerung diese Schwäche selbstlos dadurch wettmacht, daß er Fusel in großzügigen Mengen in sich hineinschüttet. Übrigens wird in Irland kaum in den eigenen vier Wänden getrunken. Im Jahre 1994 gaben die Iren insgesamt 2,46 Milliarden Pfund für Alkohol aus, was pro Kopf der erwachsenen irischen Bevölkerung durchschnittlich mit tausend Pfund zu Buche schlägt. Und wenn man Abstinenzler und Kinder nicht mitzählt, ist Irland ganz schnell wieder an der Spitze der europäischen Alkoholtabelle. Viele irische Pubs arbeiten mit Verlust. Noch 1914 war die Guinness-Brauerei die größte in der Welt und der bei weitem größte Arbeitgeber im Land.2 Viele Iren schufteten hart dafür, daß es dem Rest der Menschheit die Beine wegzog. Noch immer exportiert die Brauerei fast eine Million Pints Stout pro Tag, doch ein Teil der Iren trinkt heute weniger, nicht zuletzt des horrenden Preises wegen, der für das Zeug verlangt wird. Immenser Alkoholgenuß bleibt irischer Brauch – ich habe einen irischen Freund, für den der tägliche Konsum von zehn Pints Stout reine Routine ist. Wenn andere Iren nicht oder nur in Maßen trinken, dann deshalb, weil die Trunksucht der Iren als ein Zeichen für die geringe Selbstachtung einer kolonisierten Nation galt. Man hatte sonst nicht viel zu tun, und das Trinken war eine Flucht aus Armut und Hoffnungslosigkeit. Es gab nur die Möglichkeit auszuwandern. Es existierte ein schwungvoller Schwarzmarkthandel mit Poteen, den die Briten im Jahre 1831 untersagten. Das Wort FFE: Wenn Sie glauben, Guinness sei so irisch wie Shamrock, lautet die schlechte Nachricht, daß die Brauerei heute ein multinationales Unternehmen ist. Die Familie Guinness hält nur noch zwei Prozent der Anteile und stellt kein Mitglied des Aufsichtsrats mehr.
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Alkohol
«Poteen» steht nicht für eine bestimmte Sorte Alkohol, sondern generell für Hochprozentiges, das illegal gebrannt wird. Poteen kann man aus Kartoffeln, Getreide, Zucker und sogar Sirup herstellen. Er wird noch heute in Irland destilliert, obwohl man bei Entdeckung eine Strafe von bis zu 1000 Pfund gewärtigen muß. Poteen zu brennen ist eine Sünde und mußte seit jeher einem Bischof gebeichtet werden, da ein Priester auf der Rangskala der Sterblichen viel zu niedrig stand, um es mit einer derart gewaltigen moralischen Verfehlung aufzunehmen. Es gibt Poteen inzwischen als Handelsmarke, verbotene Früchte schmecken allerdings, wie man weiß, süßer. Um zu prüfen, ob ein Poteen trinkbar ist, zündet man ihn am besten an. Verbrennt er mit lila getönter Flamme, ist er ungiftig, wenigstens vielleicht, verbrennt er jedoch mit roter Flamme, ist er vermutlich giftig. Kommt es bei dieser Feuerprobe zur Explosion, so daß man sich die Haare abfackelt, ist das kein Grund zur Sorge: Wer das Zeug trinkt, hat Schlimmeres zu befürchten. Nun, wo die irische Bevölkerung länger auf den Beinen steht, liegt sie seltener flach. Berichte früherer Zeiten über die Iren erzählen von ihrer Vorliebe für Hochprozentiges, allerdings auch von ihrem Kampfesgeist, ihrer Impulsivität und ihrer Freude am Phantasieren. Ihren Alkoholkonsum reduziert haben bestenfalls diejenigen, die es zu etwas gebracht haben, und das Trinken bleibt eine Zuflucht für das gewachsene Heer der Armen. Wein ist mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch von fünf Flaschen im Jahr noch immer ziemlich unpopulär, wohingegen das Stout alkoholischer Spitzenreiter ist. «Stout» bedeutet «stark» und ist Alkohol
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die Abkürzung für «Stout Porter», das im 19. Jahrhundert in Großbritannien populärste Getränk. Porter war ein Bier von dunkler Farbe und verdankt seinen Namen den Lastenträgern auf dem Londoner Markt, den «porters». Die schlimmsten irischen Pubs, aber auch die besten, sind nicht bloß zum Trinken da. Meiden sollte man die Pubs, die sich in Fastfood-Spelunken mit Dudelsackmusik, einarmigen Banditen und riesigen, jedes Gespräch vereitelnden Fernsehapparaten verwandelt haben. Die wirklich guten Pubs sind die, in denen Trinken und geselliges Beieinander, Diskussionen und Livemusik-Darbietungen zusammengehören oder in denen man einfach Zeit zum Nachdenken findet, vergleichbar dem Café im alten Pariser Stil. In den meisten irischen Pubs sind Kinder so willkommen, wie sie es in englischen nicht sind. Die Iren mögen Kinder und unterscheiden sich damit von Nationen, die Kinder abgöttisch lieben, wenn es die eigenen sind. Engländer bekommen weiche Knie, wenn man eine Katze im Kinderwagen die Straße entlangschiebt; bei einem Baby passiert ihnen das nicht. Meinungsforscher fanden vor ein paar Jahren heraus, daß Iren vier oder fünf Kinder für ideal hielten. Kleiner sollte eine Familie nicht sein. Mit dieser Auffassung weichen sie deutlich vom Familienbild des restlichen Europa ab – und auch von der gegenwärtigen irischen Lebenswirklichkeit. Irische und englische Pubs gleichen sich insofern, als man in Ruhe gelassen wird, wenn man ungestört sein Glas trinken möchte. Sucht man dagegen Kontakt, gibt es kein Entrinnen. Wer nicht aufpaßt, wird in Grund und Boden geredet. Es gilt in Irland als unhöflich, die Einladung auf ein Glas auszuschlagen. Sie können auch etwas Alkoholfreies bestellen, doch sollten Sie die Gefälligkeit erwidern und denen, die Sie eingeladen haben, umgekehrt auch ein Glas ausgeben. Die gastfreundlichen Iren runzeln über jeden die Stirn, der nicht seinen Beitrag zu einem freundlichen Miteinander leistet. Ein Ire mag Speis und Trank ablehnen, wenn man ihn einlädt, doch das geschieht in der Regel bloß aus Höflichkeit, und man muß die Einladung mit Nachdruck wiederholen. Vielleicht stammt diese Sitte aus Zeiten, in denen man tatsächlich nicht genug zu essen hatte, das man mit anderen teilen konnte. Die irischen Gesetze der Gastfreundschaft forderten 14
Alkohol
trotzdem, daß man mit einem Fremden, der die eigene Behausung betrat, das Wenige teilte, das da war, und ihm, wenn nötig, Obdach für die Nacht bot. Noch heute kann es passieren, daß ein Ire, der aufgefordert wird, am Tisch der Familie Platz zu nehmen, erwidert: «Ich habe schon gegessen», obwohl das nicht unbedingt stimmen muß. Wenn die per Gesetz festgelegte Sperrstunde für Pubs heranrückt, ruft der Mann am Tresen vielleicht: «Los jetzt, die Polizei steht schon vor der Tür» oder «Wißt ihr nicht, daß bei euch zu Hause die Räuber sind?» Doch kein Gast rührt sich. Alle wissen, hier wird bloß gescherzt. Wie überall ist auch in Irland der Alkoholgenuß strikt an bestimmte Zeiten und Anlässe gebunden. Man trinkt, wenn man traurig ist, aber auch, wenn man glücklich ist oder sich langweilt, wenn etwas Angenehmes geschieht oder wenn man sich allein fühlt, um sich aufzumuntern, jedoch auch in Gesellschaft. Trinken ist okay, wenn man im Urlaub ist, aber auch bei der Arbeit, um den Druck ein wenig zu mildern. Vorbildhaft ist, wenn man nur zu den Mahlzeiten trinkt, jedoch ist gegen einen Schluck zwischendurch auch nichts zu sagen, wenn man nichts Besseres zu tun hat. Spricht man dem Alkohol nur bei diesen Gelegenheiten zu, besteht kaum Gefahr, es zu übertreiben. Statt «er war betrunken» sagen Iren lieber: «der Trunk überkam ihn». Damit wird auf charmante Weise zum Ausdruck gebracht, daß man zwar betrunken war, aber nicht selber dafür gesorgt hat.
Anglo-irische Beziehungen
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~ÜêÜìåÇÉêíÉä~åÖ gehörte Irland den Briten, heutzutage aber setzen viele von ihnen keinen Fuß dorthin. Zwischen beiden Tatsachen besteht womöglich ein Zusammenhang. Engländer verbringen ihre Ferien gern in Schottland oder Wales und kommen erst jetzt in wachsender Anzahl für ein Wochenend-Besäufnis nach Dublin. Die meisten sehen mehr ihre umhertorkelnden Füße als etwas von der Stadt. Das wäre sie zu Hause billiger gekommen. Aus dem Munde von Engländern klingt der Name des Landes wie «Eye-land», da sie, anders als die Iren, ein Problem mit Anglo-irische Beziehungen
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der Aussprache des «R» haben. Die meisten Engländer überlassen diesen einmalig schönen Winkel Europas jedoch den Franzosen und den Deutschen, deren Weg nach Irland viel weiter ist. Die Briten kommen inzwischen zwar häufiger als Touristen nach Irland, trotzdem hört man die Feststellung «Komisch, aber ich bin noch nie in Irland gewesen» von ihnen noch bemerkenswert oft.3 Im britischen Fernsehen bekommen die Engländer nur die Nordiren vorgeführt, die sich gegenseitig in die Luft jagen. Also fürchten sie, man könne ihnen in der Wildnis von Connemara den Kopf wegschießen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, von einem Schaf angefallen zu werden, statistisch gesehen höher ist. Hier wirkt sicher auch nach, daß die britischen Kolonialherren die Iren jahrhundertelang als Unterlegene betrachteten. Das Oxford English Dictionary beschrieb die Iren in früheren Ausgaben noch als schlechtgelaunt und unlogisch. Die englische Einstellung zu den Iren ist eine bizarre Mischung aus Zuneigung, Verkrampftheit, Herablassung und Feindseligkeit. Engländer halten Iren für originell, willensschwach, aggressiv und widerspenstig und können sich nicht recht entscheiden, ob sie das besonders vergnüglich finden oder ob es ihnen schlicht zuwider ist. Wenn man einmal erlebt hat, wie zwiespältig Menschen auf einen Betrunkenen reagieren, der in der Öffentlichkeit aus voller Kehle singt und herumtorkelt, ist man Zeuge der Mixtur aus Mißtrauen und Zuneigung, Verlegenheit und Neid geworden, die die Engländer den Bewohnern ihrer keltischen ExKolonie entgegenbringen. Obwohl die britische Herrschaft in Irland in mancher Hinsicht den Grundsätzen der Aufklärung folgte, behandelten die Briten, als das Land ihnen gehörte, die Iren oftmals recht schäbig, ja sogar brutal. Dies offen auszusprechen ist in Irland derzeit aber nicht opportun, und zwar aus einer Reihe von Gründen. Erstens befürchten die Iren, es könne der IRA Auftrieb geben, die in der Republik Irland nur wenig 3 FFE: Irland hat inzwischen mehr Touristen als Einwohner. Die Besucherzahlen belaufen sich auf rund fünfeinhalb Millionen pro Jahr, denen eine Bevölkerung von 3,8 Millionen gegenübersteht.
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Anglo-irische Beziehungen
Unterstützung findet. Zweitens sind die Iren und die Briten inzwischen Partner in der Europäischen Union, und manche Iren möchten diesen beschämenden Teil ihrer Geschichte am liebsten hinter sich lassen. Sie haben andere Dinge im Kopf, wollen schnell Geld machen und beweisen, daß sie ebenso gute Informatiker sind wie alle anderen auch. Was interessiert da die Vergangenheit. Drittens stellen junge Menschen einen großen Anteil an der irischen Gesamtbevölkerung, und viele von ihnen finden Geschichte, Politik und nationale Fragen so langweilig wie Algebra oder Julie Andrews. Man glaube also nicht, daß man sich bei Iren einschmeicheln kann, indem man über die Briten vom Leder zieht. In den Ohren von Nationalisten mag so etwas zwar Musik sein, aber wer Nationalist ist und wer nicht, ist auf den ersten Blick kaum festzustellen – zumindest nicht in der Republik Irland. In Nordirland behaupten protestantische Unionisten, sie würden katholische Nationalisten an ihrem Augenabstand erkennen, und umgekehrt. Die Iren kommen besser mit den Amerikanern aus, mit denen sie auch eine historische Beziehung verbindet, an die sie sich lieber erinnern. Mithin unterscheiden sich Iren und Engländer auch darin, daß die Iren die Amerikaner mögen, was für die Engländer im großen und ganzen nicht zutrifft. Die offene, ungezwungene irische Lebensart steht der amerikanischen Kultur viel näher als der der zurückhaltenden und hierarchisch orientierten Briten. Kein anderes Volk ist den Iren gegenüber über lange Zeiten so großzügig gewesen wie das amerikanische. Im 19. Jahrhundert konnten sich manche Dörfer im irischen Westen nur dank des New York Police Department über Wasser halten. Ohne das Geld, das ausgewanderte Iren als New Yorker Polizisten nach Hause schickten, hätten sie keine Existenzgrundlage gehabt. Noch heute unterstützt Amerika die grüne Insel durch Tourismus und durch Investitionen in die irische Wirtschaft, was den Iren mehr nützt als heimliche Waffenlieferungen. Nach einer langen, turbulenten Ehe kam es 1922 zwischen Iren und Engländern schließlich zur Scheidung, und Irland wurde teilweise unabhängig. Heute reagieren beide Seiten mit der Nervosität geschiedener Partner aufeinander, die sich vertraut und fremd zugleich sind. Wie geschiedene Paare Anglo-irische Beziehungen
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kennen sie einander besser als jeder Dritte, haben letztlich aber nie verstanden, was der andere wirklich wollte. Irland stand England immer so nahe, daß es sich nicht ignorieren ließ, und war ihm gleichzeitig so fremd, daß es unverstanden blieb. Da die Iren weiße, englischsprechende Westeuropäer waren, unterstellten die Briten ihnen, sie seien so ähnlich wie sie selbst, und übersahen die kulturellen Unterschiede zwischen beiden Völkern. Die Briten vergaßen, daß die Iren nur deshalb Englisch sprachen, weil die Engländer ihr Land besetzt und ihnen die Sprache aufgezwungen hatten. Es zeugt von der Eigentümlichkeit der anglo-irischen Beziehungen, daß es für die Inselgruppe, die Großbritannien, Nordirland und die Republik Irland einschließt, keine umfassende Bezeichnung gibt. Man kann nicht von den britischen Inseln sprechen, da die Republik Irland nicht britisch ist. Als die gesamte Insel noch britisch regiert wurde, hieß das Gebiet Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland. Seit der Unabhängigkeit des Südens ist die offizielle Bezeichnung Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland. Kein geopolitischer Begriff jedoch erfaßt diese Inselregion. Es gab unterdessen Bemühungen, den Begriff IONA- Islands of the North Atlantic (Inseln des Nordatlantiks) – einzuführen, der auf kluge Weise keltische Mystik und geopolitische Modernität vereint. Genauso seltsam ist es, von der Republik Irland als dem «Süden» zu sprechen, da ein Teil davon – Donegal zum Beispiel – sich in Wahrheit im Norden befindet. Vieles ist in Irland auf den Kopf gestellt. Wie man die verschiedenen Teile Irlands bezeichnet, läßt erkennen, welcher politischen Richtung man anhängt. «Eire» ist noch immer der offizielle Name der Republik, ein irischer Nationalist würde ihn freilich nie verwenden. Er würde so nämlich sein Einverständnis damit bekunden, daß die Insel für immer zweigeteilt bleibt und daß der eine Teil folglich einen anderen Namen benötigt. Die Sprache ist in Irland ein politisches Minenfeld: Ob man eine Stadt im Norden Derry oder Londonderry nennt, hängt von den jeweiligen religiösen und politischen Anschauungen ab. Katholische Nationalisten sprechen von Derry, wohingegen protestantische Unionisten Londonderry sagen. 18
Anglo-irische Beziehungen
Aran-Inseln
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ë gibt sie – sie sind real und mythisch zugleich. Die drei kargen, wunderschönen Inseln liegen dreißig Meilen vor der Küste von Galway, und eine von ihnen, Inishmore, beherbergt Dun Aengus, ein Fort, das als das großartigste Denkmal aus der europäischen Frühzeit bezeichnet wird. Mag die eine Hälfte auch bereits im Ozean versunken sein, so tut dies der Pracht und Herrlichkeit der anderen Hälfte keinen Abbruch. Die Inseln sind überzogen mit Kirchenruinen und Hochkreuzen, den Resten von Klostersiedlungen, Rundtürmen und Ringwällen aus frühgeschichtlicher Zeit. Neuen Boden gewannen die verarmten Inselbewohner künstlich aus Sand und Tang. Auf den Inseln lebt ein Volk irischsprachiger Fischer, die teilweise noch ihre berühmten pampooties, die aus einem Stück Kuhhaut bestehenden Schuhe, tragen. Wenn Sie sich nach etwas sehnen, das das Ende der Welt und der Garten Eden zugleich ist, brauchen Sie nicht weiter zu suchen. Nebenbei: falls Sie es doch tun, ertrinken Sie. Im Laufe der Jahre haben die Aran-Inseln so viele Anthropologen angezogen wie das Amazonasbecken. Manch ein Araner hat sich schon verwundert gefragt, ob die Welt jenseits der Inseln ausschließlich von Linguisten und Anthropologen bewohnt ist. Auf dem Festland kursiert auch das Gerücht, die Aran-Inseln seien vom irischen Tourismusbüro eigens zu dem Zweck aufgeschüttet worden, Wissenschaftlern nicht die Arbeit ausgehen zu lassen. Und bei den Einheimischen handele sich in Wahrheit um arbeitslose Schauspieler aus Dublin, die sich mit einem altsprachlichen Kauderwelsch hervortun, um Touristen mit ihrer gälischen Schlauheit zu beeindrucken. Anderen Gerüchten zufolge werden die Inseln zu Saisonende zusammengerollt und nach Galway geschleppt, wo Arbeiter an den Felsen herummeißeln und ihnen ein noch zerklüfteteres Aussehen verpassen. Um die Jahrhundertwende machten sich viele glühende irische Nationalisten aus der Dubliner Mittelschicht, mit Kladden und irischen Wörterbüchern ausgerüstet, zu den Inseln auf, um dieses unverfälschte Alt-Irland zu erhalten. Die Insulaner, die nur eines wollten – weg von dieAran-Inseln
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sen verdammten Felsen und ein anständiges Leben auf festem Grund führen –, konnten diese Schwärmer einfach nicht ernst nehmen. Wo wir gerade von Anthropologen sprechen: Man erzählt sich die Geschichte eines amerikanischen Vertreters dieses Fachs, der im tiefen Westen Volksmärchen sammelte und der dabei in ein Dorf geriet, dessen Einwohner über einen ungewöhnlich reichhaltigen Vorrat an solchen Märchen zu verfügen schienen und sie meisterhaft vorzutragen vermochten. Der Anthropologe fragte eine vom Alter gezeichnete Frau mit schwarzem Umschlagtuch, woher das ihrer Meinung nach wohl komme. «Ich vermute, Sir», erwiderte sie, «das hat etwas mit den vielen amerikanischen Anthropologen zu tun, die nach dem Krieg zu uns kamen.» Und bitte überlegen Sie es sich zweimal, bevor Sie sich einen Aran-Pullover kaufen. Es sieht nämlich nicht jeder gut darin aus. Man muß die richtige Statur und Gesichtsfarbe dafür haben.* Und als Tourist mit einem Aran-Pullover am Leib in Irland herumzuspazieren, das wäre so, als flaniere ein britischer Tourist im Stars-and-Stripes-Anzug die Park Avenue entlang oder als stehe ein Bolivianer mit Melone und Nadelstreifenhose auf dem Trafalgar Square herum. Wenn Sie sich aber unbedingt zum «eejit» (irisch für «Idiot») machen wollen, wird Sie niemand daran hindern.
Auswanderung
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í®åÇáÖ beschäftigte man sich in Irland mit der Frage, wie man es anstellt, von dort wegzukommen. Die geographischen Gegebenheiten, ungewöhnlich insofern, als die Berge sich an der Küste entlangziehen, anstatt sich im Landinneren aufzutürmen, seien, so glaubt man, eigens deshalb so eingerichtet worden, daß die Einwohner nicht auswandern können. Die zweite Methode, sie im Lande zu halten – und so im Mittelalter praktiziert –, war ein vom Parlament verabschieMan sagt, die Frauen der Fischer hätten ihren Männern Pullover mit unterschiedlichen Mustern gestrickt, um sie im Falle eines Schiffbruchs identifizieren zu können.
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detes Gesetz, das ihnen ein Verlassen des Landes nicht gestattete. Da nur ein Sohn aus einer oft großen Rinderschar die Farm der Familie erben konnte, mußten die übrigen Kinder in Irland seit jeher entweder Nonnen und Priester werden oder ins Ausland gehen, da es im Land selber nur herzlich wenig andere Arbeit gab. Weil die Auswanderer häufig zu den mutigen und risikofreudigen Menschen gehörten, hat das Land viele gute Leute verloren.5 Schon bald lebten außerhalb Irlands mehr Iren als auf der Insel. Heute haben mehr als ein Drittel aller in Irland Geborenen ihr Zuhause in Übersee. 44 Millionen Amerikaner berufen sich auf eine irische Abstammung, viele davon auf eine schottisch-irische Herkunft, und fast ein Drittel der Australier ebenfalls. Tatsächlich waren zwischen 1929 und 1949 fünf von sechs australischen Regierungschefs direkte Nachfahren von Iren.6 Nicht weniger als zweieinhalb Millionen Menschen verließen zwischen 1848 und 1855 als Folge der Großen Hungersnot das Land. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten nur 60 Prozent aller in Irland Geborenen noch dort. Männer und Frauen verließen das Land in mehr oder minder gleicher Zahl, obwohl weit mehr Frauen ein Schiff nach England bestiegen als eines nach Australien oder Neuseeland. Nur ein geringer Prozentsatz derer, die auswanderten, verfügten über besondere Fähigkeiten oder über Kapital; in der Hauptsache wurden sie als Arbeiter oder Hausangestellte eingestuft. Ihre Beweggründe, das Land zu verlassen, waren vielfältig: teils blanke Not, teils aber auch die vage Aussicht auf ein besseres Leben in Übersee. Manche gingen aus purer Unternehmungslust.7 Dies soll z. B. für viele irische Frauen, die in die Vereinigten Staaten auswanderten, zutreffen. Aus politischen Gründen emigrierten nur wenige Iren. 5 FFE: In der Zeit zwischen den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts und den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kehrten sechs Millionen Menschen Irland den Rücken. 6 FFE: Der Gründer der argentinischen Marine, William Brown, war ein gebürtiger Ire aus dem County Mayo, und der aus dem County Offaly stammende Bernado O’Higgins war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Führer der Unabhängigkeitsbewegung in Chile. 7 FFE: Die Sterberate unter irischen Auswanderern in britischen und amerikanischen Städten war höher als in dem von der Hungersnot gebeutelten ländlichen Irland.
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Zwischen bestimmten Orten in Irland und einigen Gegenden in Übersee bestanden feste Verbindungen, so zwischen Waterford und Neufundland, Wexford und Argentinien, Clare und Australien, Kerry und Neuseeland, Derry und Philadelphia. In den dreißiger Jahren wurde ein Dorf in der Grafschaft Clare durch die Überweisungen aus Shanghai ökonomisch über Wasser gehalten. Ein Dorfbewohner war nach Shanghai ausgewandert und dort Polizist geworden. Andere folgten seinem Beispiel. Der Preis für die Schiffspassage nach Kanada war niedriger als der nach den USA. Und wer kaum Geld hatte, konnte nur nach England ausreisen, weil es dorthin noch billiger war. Gewiß entschied sich manch einer dafür aber auch in der verzweifelten Hoffnung, von England aus sei es leichter, nach Hause zurückzukehren. Eine nicht geringe Anzahl ging aber auch dorthin in dem Glauben, es sei ein gutes Sprungbrett, um sich später woanders niederzulassen. Nur wenige Auswanderer kehrten nach Hause zurück, und dort, wo sie gelandet waren, erwiesen sie sich als recht flexibel. Im Ausland waren mittlerweile irische Viertel entstanden, in denen viele Neuankömmlinge fürs erste einen Unterschlupf fanden. Von dort aus suchten sie nach weiteren Möglichkeiten. Es ist beeindruckend, wie gut sich die irischen Auswanderer an ihre neuen Lebensverhältnisse angepaßt haben. Sie hatten ein Talent dafür, sich unter den schlechten Arbeitsplätzen die besten zu sichern. Die Vereinigten Staaten nahmen mehr irische Auswanderer auf als jedes andere Land. Die Neuankömmlinge, meist Landbewohner, mußten sich so zwangsläufig an ein Leben in der Großstadt gewöhnen.8 So waren um 1890 auch nur zwei Prozent aller irischen Einwanderer in der Landwirtschaft beschäftigt, und in England ergab sich eine ähnliche Situation. Im Jahre 1855 stellten Iren über ein Drittel der New Yorker Einwohnerschaft. Sie blieben aber nicht nur an der Ostküste, sondern ließen sich auch im Mittleren Westen, im Süden, im Gebiet der Rocky Mountains und an der Westküste nieder. FFE: Im Jahre 1870 stellten die Iren in den 27 bevölkerungsreichsten USamerikanischen Großstädten jeweils die größte Gruppe von Einwanderern der ersten Generation.
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Auswanderung
Es stimmt nicht, daß die Iren im Ausland in Ghettos lebten. Straßen, in denen nur Iren wohnten oder gar ganze irische Viertel waren im Gegenteil recht selten. Der größte Teil der Kanada-Auswanderer war protestantisch, ebenso der prozentual hohe Anteil der Auswanderer nach Schottland und Neuseeland. Manche Historiker sind überzeugt davon, daß das Bild vom irisch-amerikanischen Katholiken dringend der Revision bedarf. Wegen des Zustroms ursprünglicher Kanada-Auswanderer in die Vereinigten Staaten sei, so ihre Auffassung, die irisch-amerikanische Bevölkerung vielmehr größtenteils protestantischer Herkunft gewesen. Die offizielle Geschichtsschreibung sieht das anders. Dennoch blieb der Katholizismus von enormer Bedeutung. Er trug entscheidend dazu bei, daß die irischen Einwanderer ihre nationale Identität bewahren konnten, zumal sich nur eine kleine Minderheit für politisch-nationalistische Ziele einsetzte. Die Iren im Ausland hielten an ihrem Glauben fest und bewahrten sich so ihre Kultur. Der Katholizismus war auch ein Gegengewicht zu ihrer neuen, wie viele meinten, gottlosen und materialistisch eingestellten Umwelt. Viele Einwanderer schlossen Ehen nur innerhalb ihrer ethnischen Gruppe. Noch besser war es, wenn der Auswanderung
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zukünftige Ehepartner aus dem gleichen Landstrich in Irland stammte. Damit versuchten die Einwanderer auch, den Gefühlen von Entwurzelung, Einsamkeit, Unsicherheit, versperrtem sozialen Aufstieg und Entfremdung entgegenzuwirken. Manchmal begegneten sie natürlich auch bösartigen rassistischen Vorurteilen, was umgekehrt wieder dazu beitrug, die soziale und politische Solidarität der Iren zu stärken. Die Iren importierten zwar ihren politischen Apparat in die Vereinigten Staaten – dies war sogar eines der größten Geschenke, das sie der amerikanischen Kultur machten –, ihr sozialer Aufstieg vollzog sich jedoch nur langsam und ungleichmäßig. Doch gibt es Anhaltspunkte, daß sich die Iren im Ausland um ihr Vorankommen weniger sorgten als andere ethnische Gruppen. Der Wunsch auszuwandern hält bis in die Gegenwart an, allerdings unter anderen Vorzeichen. Heute kehren eher aufstrebende Städter aus der Mittelschicht und nicht vorwiegend geknechtete Landarbeiter dem Land den Rücken. Auch wandert eine große Zahl dieser Menschen nur für ein paar Jahre aus. Sie suchen nach neuen intellektuellen Herausforderungen. Bei ihnen ist es keine Frage des Überlebens. Abgesehen von diesen NIPPLEs (New Irish Professional People Living in England) ist die Zahl derer, die das Land unfreiwillig verlassen, aber weiterhin beunruhigend hoch. Man schätzt, daß eine Viertelmillion junger Iren illegal in den USA lebt. Dadurch hat die irische Wirtschaft ein Sicherheitsventil, und sie erscheint gesünder, als sie es in Wirklichkeit ist. Schätzungen zufolge sind zwischen 1982 und 1992 rund zwanzigtausend junge Iren ausgewandert, und nach wie vor gibt es in Großbritannien große irische Arbeiterghettos. Drei Viertel des britischen Baugewerbes befinden sich in irischer Hand. Bei einem «Paddy» denkt man in Großbritannien immer noch eher an einen Dachdecker als an einen Architekten.9 Viele der dort lebenden Iren sehnen sich nach Hause zurück. An den Tagen unmitFFE: Von allen ethnischen Gruppen in England haben die Iren die geringste Lebenserwartung und die höchste Suizidrate; und sie stellen den höchsten Anteil von Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern.
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Auswanderung
telbar nach einem von der IRA in Großbritannien verübten Bombenattentat taten Iren zuweilen klüger daran, wenn sie den Mund nicht aufmachten und ihre Nationalität nicht preisgaben. Die Auswanderung hat eine tiefe Wunde in die irische Psyche geschlagen. Bei den Daheimgebliebenen verstärkte sich das Gefühl der Einsamkeit und des Versagens. Es ist tief demoralisierend, in einem Land zu leben, von dem alle um einen herum abspringen wie von einem lecken Floß. Gleichzeitig fühlt sich dieses Land verantwortlich für die psychischen Beschädigungen derer, die sich mittellos an fremden, oft feindselig eingestellten Orten wiederfanden. Die Iren sind stolze, oftmals eigensinnige Menschen, und es trifft sie sehr, wenn man sie, die Neuankömmlinge, als Schnorrer und «Hereingeschneite» abqualifiziert. Manchen Iren war eingeimpft worden, die gottlosen Angelsachsen als ihnen geistig Unterlegene zu betrachten, und so war es besonders kränkend, wenn sie nun die Drecksarbeit für sie machen sollten. Manche Auswanderer, vor allen die in den Vereinigten Staaten, entwickelten eine fast krankhafte Sehnsucht nach der irischen Heimat, eine Mixtur aus phantastischer Übersteigerung, falschem Heldenpathos und ungesundem Sentimentalismus. Die verlor sich auch nicht, als sie sich schon längst in Machtpositionen hinaufgearbeitet hatten, die sie nicht einmal im Traum für eine Rückkehr nach Hause wieder aufgegeben hätten. Wie viele irische Phänomene hat auch die Auswanderung etwas von Doppel-Denk. Manch einer mag ja durchaus den Wunsch haben, in der National Library nach seinen irischen Vorfahren zu fahnden, doch möchte der Betreffende wirklich wieder in Irland leben? Und wer die irischen Helden verehrt, weiß der auch etwas von der gepfefferten Einkommenssteuer? Eine der frustrierendsten Begleiterscheinungen der irischen Auswanderung kennen regelmäßige Benutzer der National Library in Dublin nur zu gut. Mit Beginn der Touristensaison wird die Auskunftsstelle von einer immer größer werdenden Anzahl von Menschen irischer Abstammung bestürmt, die nach Vorfahren suchen. Manchmal haben sie nicht mehr als einen kleinen Zettel mit den Worten Auswanderung
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«Murphy, Mayo», den sie den schwer geprüften Bibliothekaren erwartungsvoll hinüberreichen. Dann ist die Zeit gekommen, sich zu wünschen, die Auswanderer wären doch lieber geblieben, wo der Pfeffer wächst.
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äë Autofahrer sind die Iren Barbaren, zumindest in der Hauptstadt. Da sie seit ewigen Zeiten an keinem Krieg mehr teilnahmen, haben sie sich darauf verlegt, einander auf den Straßen zu massakrieren. Mit der Zahl seiner Verkehrsopfer hält Irland einen traurigen Europarekord. Im Verhältnis sterben auf irischen Straßen doppelt so viele Menschen wie auf britischen. Es ist gefährlich, sich allzu genau an die Verkehrsregeln zu halten, da dies nicht genügend Autofahrer tun. Übertritt man die Regeln hingegen systematisch, so schafft man es vielleicht, von einem Ende einer Stadt zum anderen zu gelangen – eine Garantie ist das freilich nicht. Die Dubliner Autofahrer sind auffallend ungeduldig und unhöflich. Wie die Briten fahren die Iren links, obwohl das nicht immer zu sehen ist. Sollte Irland jemals zum Rechtsverkehr übergehen, so könnte das nur in einem schleichenden Prozeß geschehen, da die meisten Dinge in diesem Land Zeit brauchen: zuerst die Busse, dann die Lastwagen, zuletzt die Privatautos. Größer wird das Massensterben auf den irischen Straßen dadurch auch nicht. Ein Nachteil der irischen Modernisierung besteht darin, daß Dublin, vormals die Hauptstadt einer kleinen Kolonie mit ziemlich schmalen Straßen, inzwischen aus allen Nähten platzt und jährlich Tausende weiterer Autos auf ein marodes, schlecht angelegtes Straßennetz drängen. Im Jahre 1998 wurden über 145 000 Neuwagen registriert. Stadtplanung und -sanierung wurden in Dublin sträflich vernachlässigt, statt dessen haben sich Grundstücksspekulanten unkontrolliert über die Stadt hergemacht. Wenn manche Iren könnten, wie sie wollten, würden sie das Dublin Castle abreißen und an seiner Stelle ein Parkhaus errichten. Neben prachtvollen Gebäuden aus dem 18. Jahrhundert hat Dublin auch abscheuliche moderne aufzuweisen. Staatsbürgern26
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ches Verantwortungsgefühl hat in Irland kaum Tradition. In der Kolonialzeit schoben die Iren diese Verantwortung auf ihre britischen Herrscher ab und betrachten sich seitdem vornehmlich als passive Konsumenten und nicht als aktive Bürger. Erhabenes und Schäbiges bilden in Irland ein selten krauses Durcheinander. Es ist noch nicht lange her, da ersparte man sich das Einholen einer Baugenehmigung, wenn man im Garten vor dem eigenen Haus ein fünfzehngeschossiges Hotel errichten wollte; man legte einfach los und baute es. Das Land ist übersät mit häßlichen eingeschossigen Wohnhäusern. Die Luftverschmutzung ist zwar nicht hoch, doch nur deshalb, weil es wenig Industrie gibt. Busse verkehren in Irland nach einem astrologischen Kalender, der uns übrigen Sterblichen unbekannt ist. Das Parken ist zwar durch Vorschriften geregelt, aber wie viele andere Vorschriften befolgt man sie nicht allzu streng (siehe Nonchalance). Einem häßlichen irischen Witz zufolge bedeutet eine gelbe Linie am Straßenrand absolutes Parkverbot, eine Doppellinie jedoch absolutestes Parkverbot. Mit ziemlicher Verspätung beginnen die Iren jedoch derzeit, ihre Umwelt bewußter wahrzunehmen. Hielten sie den Umweltgedanken früher für ein Hirngespinst, vergleichbar mit Feen oder rosa Elefanten, so fangen sie nun allmählich mit dem Aufräumen an, nicht zuletzt deshalb, weil sonst die Touristen abgeschreckt werden könnten. Doch die werden inzwischen selber zur Umweltbelastung ...
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áÉëÉë Schild, das «Bar und Bordell» bedeutet, sieht man oft an Häusern in Irland. Klopfen Sie nur unerschrocken an, und lassen Sie sich nicht täuschen von der anheimelnden, höchst achtbar wirkenden Erscheinung der Madame, die Ihnen aufmacht. Blumengemusterte Schürze und grauer Haarknoten hin oder her – sie ist mit allen Wassern gewaschen. Schildern Sie ihr nur frank und frei Ihre absonderlichsten sexuellen Phantasien, und sie wird Ihnen mit Freuden zu Diensten sein. B&B
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Bäume ... gibt es in Irland nicht viele, da der Großteil der Wälder schon vor Jahrhunderten für wirtschaftliche und militärische Zwecke gerodet wurde.10 Dafür aber ist «tree, Baum» für manche Iren die Zahl, die nach der Zwei kommt. Beeinflußt von ihrer Muttersprache, sprechen sie das th als t aus. «tree trees» kann also «three trees, drei Bäume» oder «three threes, drei Dreien» bedeuten. Mit dem großen «tinker» kann Plato gemeint sein und nicht der Kesselflicker ein paar Häuser weiter, der Töpfe und Pfannen wieder in Schuß bringt. Da Iren das th also sowieso als t aussprechen, ist es durchaus denkbar, daß das Wort «Thames» (Themse) speziell für sie erfunden wurde. Zum Ausgleich für die vulgäre Ausdrucksweise der Unterschicht prononcieren manche Iren solche Wörter übertrieben, nämlich so, wie sie geschrieben werden. Und um die Sache noch komplizierter zu machen, sprechen einige Iren das t mit einem Anflug von th aus und sagen «throuble» anstelle von «trouble». Der Buchstabe s am Anfang eines Wortes wird oftmals als sh gesprochen, so daß aus einem «stick», einem «Stock», ein jiddisch klingendes «shtick» (Faxen) wird. Das «aitch», der Buchstabe «h», wird in Irland «haitch» gesprochen. Anders als Engländer, die das «aitch» manchmal unter den Tisch fallenlassen, hängen die Iren eines an. Manche Iren sagen nicht «film», sondern «filum», «modren» anstelle von «modern» und sogar «sallat» anstelle von «salt» (Salz). Der Dubliner Akzent ist anders als alles, was man sonst in Irland, ja sogar auf der ganzen Welt zu hören bekommt. In Abwandlung eines Worts von George Bernard Shaw könnte man sagen: Engländer und Iren unterscheiden sich durch ihre gemeinsame Sprache.
FFE: Traditionelle irische Wohnhäuser sind deshalb so schmal, in der Regel nur eine Raumlänge tief, weil Bauholz für Querbalken schwer erhältlich war.
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~ë irische Wort für «klein». Da es ziemlich ähnlich klingt wie «big» (groß), vor allem, wenn es die Iren im Norden aussprechen, nährt dies das Vorurteil, daß Iren alles verkehrt anpacken. Iren sind im Durchschnitt größer als Engländer oder waren es zumindest im 19. Jahrhundert. Wir wissen das aus britischen Militärakten, die Angaben über die Physis von Soldaten enthalten. Viele Iren waren zu dieser Zeit in der britischen Armee. Andere Menschen zu töten war allemal besser, als selber zu verhungern. Michael Collins und Eamon de Valera, die beiden großen Führer der irischen Unabhängigkeitsbewegung, waren als Der Große respektive Der Lange bekannt. Über de Valera, der hager und schlaksig war, hieß es einmal, er sehe aus wie ein glattgezogener Schnörkel aus dem Book of Keils.11 Die kleinsten Dinge in Irland waren weiland die Feen. Früher mußte man sich Kosenamen für sie ausdenken wie «die Guten» («die Kleinen» ist eine Erfindung heutiger Zeit), sonst konnten sie schnell unangenehm werden und einem rheumatische Entzündungen in den Gelenken verpassen, einem das Getreide faulen lassen oder die kleinen Kinder fortlocken. Im letzteren Fall haben wir es hier mit der ersten überlieferten Entführung durch Außerirdische zu tun. Eine alte Irin, gefragt, ob sie an die Feen glaube, erwiderte: nein, geben tue es sie aber trotzdem. Heutzutage ist das Kleinste in Irland der eigene Kontostand nach einem in der Stadt verbrachten Abend. Ein weiterer verwirrender Aspekt des Landes ist, daß die von den Iren «Big Houses» genannten Herrenhäuser so groß oft gar nicht sind. Wer früher im «House» wohnte, gehörte zur landbesitzenden Gentry, gewöhnlich englischer Abstammung. Derart prachtvolle Häuser findet man heute immer noch, obwohl die IRA viele davon während des Unabhängigkeitskriegs niederbrannte. («Wen, sagten Sie, darf ich melden?» soll der Überlieferung nach einmal der kühle Butler eines solchen Herrenhauses die Plünderer gefragt haben, bevor sie mit der Hälfte des Mobiliars zur Tür hinausEin weiteres Stück Irland, das aneinandergereiht eine gewaltige Länge ergäbe, ist die Küste, die fast bis nach New York reichen würde.
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stürmten.) Solche adeligen Herren besaßen oft Tausende von Morgen Land und verpachteten sie an Hunderte von Kleinstpächtern. Ihre Gutsverwalter trugen ständig Waffen mit sich herum, insbesondere wenn sie die Pacht kassierten, denn die Eintreibung der Pacht war ein Brauch, der irischen Farmern aus unerfindlichen Gründen gar nicht gefiel. Womöglich lag das schlicht daran, daß ein Großteil von ihnen in bitterer Armut lebte und die zwölf Kinder oft nicht einmal ein Paar Schuhe hatten. Wie sollten sie denn ihrem Herren gutes Geld für das Privileg zahlen können, daß sie von zwei oder drei Morgen steinigen Ackers Hungers leiden durften. Im 18. Jahrhundert sollen die anglo-irischen Gutsbesitzer ein wilder Haufen gewesen sein. Viele von ihnen verbrachten ihre Zeit auf der Jagd, mit Duellen oder schlugen sich gegenseitig die Schädel ein, warfen einander aus Fenstern und forderten sexuelle Gefälligkeiten von den Töchtern ihrer Pächter. Alkohol importierten sie nach Irland in phänomenalen Mengen – gegen Ende des 18. Jahrhunderts rund fünfzehn Millionen Gallonen Wein jährlich, die sie sich selber durch die Gurgel jagten. Ein Teil von ihnen war verarmt, während andere in einer Woche mehr in sich hineinstopften als ihre Pächter in einem ganzen Jahr. Größtenteils lebten sie nicht auf ihren Ländereien, sondern frönten in London der Völlerei und ließen sich auf ihren irischen Gütern kaum blicken. Es gab auch humane, anständige Gutsbesitzer, doch zu viele von ihnen waren krakeelende, unflätige und streitlustige Gesellen, die von Pferden mehr verstanden als von Menschen (siehe Pferde). Hin und wieder wurde einer von einem ausgepreßten Pächter umgebracht. Der irische Dichter Louis McNeice schrieb über die Herren, sie täten sich durch «nichts anderes als hinterhältige Jovialität, obsolet gewordenen Wagemut und ein Händchen für Pferde» hervor. Viele Angehörige der anglo-irischen Gentry verließen Irland, als es 1922 seine Unabhängigkeit erlangte, weil sie befürchteten, daß unter dem neuen Regime kein Platz mehr für sie sei. Ein kleiner Rest lebt aber weiter in Irland, milde Exzentriker in verfallenden Herrensitzen mit undichten Dächern, ein paar kostbaren Porträts und ausgestopften Pächterköpfen an der Wand, die sie an die Pracht und Herrlichkeit vergangener Tage erinnern. 30
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Begorrah
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å ganz Irland ist kein Mensch bekannt, der dieses Wort je verwendet hätte, genausowenig wie Amerikaner «Jeepers creepers» (Mannomann!), Briten «Top hole, old sport» (Famos, alter Junge!) oder Schotten, die etwas auf sich halten, «Hoots mon» (Ist mir schnurz, Mann) sagen. Begorrah ist ein Ammenmärchen wie der fidele Old King Cole aus Rinderreimen. Allerdings war zu den Zeiten, als ein Dubliner Theater, das Gate, von einem berühmten homosexuellen Pärchen geleitet wurde und in einem zweiten, dem Abbey, irische Stücke zur Aufführung gelangten, als Bezeichnung für beide Häuser tatsächlich der Ausdruck Sodom und Begorrah in Umlauf.12 Sollten Sie während Ihres Aufenthalts in Irland doch jemanden «Begorrah» sagen hören, so können Sie sicher sein, daß es sich um einen Geheimagenten des irischen Tourismusbüros handelt, der Ihrem Affen Zucker gibt. Die Iren enttäuschen ihre Gäste nämlich nicht gern. Wenn ein Ire Ihnen sagt, der Ort, nach dem Sie suchen, sei gleich um die Ecke, so heißt das vermutlich, daß er drei Busreisen entfernt ist. (Sind Sie Amerikaner, so denken Sie daran, daß «nur die Straße runter» im irischen Englisch wie im englischen Englisch bedeutet, Ihnen steht noch ein langes Stück Weg auf dieser Straße bevor.)
Blarney «Die besten Redner seit den alten Griechen», so beschrieb der Dubliner Oscar Wilde die Iren und hatte dabei nicht zuletzt sich selbst im Sinn. Das Lob ist aber nicht bei allen Iren gerechtfertigt. Wie überall gibt es auch in Irland Menschen, die keine drei Wörter aneinanderzureihen vermögen, es sei denn, sie sitzen am Tresen und fordern «Noch ein Guinness!». FFE: An der Stelle, wo heute das Abbey Theatre steht, befand sich früher ein Leichenschauhaus. Einige erkennen hierin den Grund dafür, daß gar manche heutige schauspielerische Darbietung so wenig lebendig wirkt. Nach dem Abriß des alten Theatergebäudes im Jahre 1961 wurden die Steine zur Pflasterung eines Fußwegs in einem Friedhof wiederverwendet. Das Abbey war das erste staatlich geförderte Theater in der englischsprachigen Welt.
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Die Iren verfügen jedoch über eine große Tradition der mündlichen Überlieferung von Volksmärchen und des Geschichtenerzählens, die bis zu den Anfängen ihrer Historie zurückreicht. Die irische Literatur ist voll von Wortspielen, Rätseln und phantastischen Elementen. Manche meinen, die rhetorische Begabung der Iren ließe sich dadurch erklären, daß sie seit jeher arm waren, denn Worte kosteten nichts und mit dem Ausspinnen von Geschichten konnte man der harten Wirklichkeit entfliehen. Ein Reichtum an Worten vermochte den Mangel an Nahrung aufzuwiegen. Andere wieder sehen den Zusammenhang darin, daß die Iren gern zum Zeitvertreib ihre britischen Oberhäupter hereinlegten. Das Wort «blarney» leitet sich von dem im 16. Jahrhundert lebenden Earl of Blarney her, der wie alle Klanchefs seiner Zeit aufgefordert war, eine fremde Monarchin, Englands Königin Elizabeth I. nämlich, seiner Loyalität zu versichern. Den wohlgesetzten, blumigen Worten seiner Ansprache ließ sich jedoch nicht entnehmen, ob Blarney sich unterwarf oder nicht. Scharfe Kritiker der Iren, zu denen auch einige Iren selbst zählen, sehen in der irischen Eigenart, mit Worten einzulullen und viel Wind zu machen, eine Ausdrucksform der chronischen Unfähigkeit der Iren, der Wahrheit über sich selbst ins Auge zu blicken. (Der irische Gelehrte John Pentland Mahaffy bemerkte einmal, er sei als Kind nur ein einziges Mal geschlagen worden – als er die Wahrheit gesagt hatte.) Diesen Kritikern zufolge war es allemal leichter, die eigenen Schwächen den Briten anzulasten, als die Verantwortung
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dafür selbst zu schultern. Wenn man Abend für Abend aus dem Pub hinausgetragen werden mußte, lag das eindeutig am britischen Imperialismus. Nach dieser Theorie ist «blarney» ein Symptom für die Kluft zwischen der Wirklichkeit irischen Lebens und dem, was man dafür ausgab. Die offizielle Staatsbezeichnung für Irland ist zum Beispiel Eire, doch den Namen verwendet kaum jemand. Die Landessprache ist Irisch, doch die große Mehrheit der Bevölkerung spricht sie nicht. Politiker schicken ihren öffentlichen Ansprachen häufig ein paar Worte Irisch voraus, was ungefähr den gleichen Stellenwert wie ein Räuspern hat. Gesetze gibt es in Hülle und Fülle, doch in bestimmten Kreisen ist es üblich, es damit nicht zu genau zu nehmen. Die irische Verfassung erhebt traditionell Anspruch auf die Souveränität über den Norden, und viele Iren verkünden laut ihre nationalistischen Gefühle, doch der Norden ist gleichzeitig ein wunder Punkt und dem Ausland gegenüber so peinlich, daß ihn viele Iren am liebsten nicht beachten würden. Der Katholizismus ist in Irland tief verwurzelt. Laut Meinungsumfragen jedoch pfeifen 78 Prozent seiner Bevölkerung bei moralischen Fragen auf die Kirche und folgen ihrem eigenen Gewissen. Die Iren versammeln sich fromm zur Messe, doch ein großer Teil von ihnen glaubt, daß die irische katholische Kirche schon mit einem Bein im Grab steht. Immer mehr Iren sehen stillschweigend über sexuelle Permissivität hinweg, während sie in anderen Lebensbereichen christliche Werte aber weiter hochhalten. Lange Zeit war die Ehescheidung nicht möglich, doch die Menschen – einschließlich des derzeitigen Premierministers – leben ganz offen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften zusammen. Lippenbekenntnisse zur Tradition werden reichlich abgegeben, nur darf sie praktischen Alltagsdingen wie einer Pferdewette hier und da nicht in die Quere kommen. Ein Politiker faßte es einmal mit den Worten zusammen, daß das irische Volk nicht bereit sei, Symbole über Bord zu werfen, denen es in der Praxis sowieso keine Bedeutung beimesse. An weiteren Ungereimtheiten herrscht kein Mangel. Die traditionsreiche irische Kultur soll gepflegt werden, doch die meisten Menschen schauen sich im Fernsehen lieber australische Seifenopern an. Die Iren lieben ihr Land, haBlarney
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ben aber unglaublich viel Kraft investiert, um es zu verlassen. Familiäre Werte stehen hoch im Kurs, doch das hielt manche Iren nicht davon ab, die Auswanderung, die ja immerhin den Zerfall von Familien zur Folge hatte, als nationales Allheilmittel zu empfehlen. Die Nation ist stolz auf ihr neugewonnenes Selbstvertrauen, verdankt ihren ökonomischen Aufschwung jedoch weitgehend ausländischen Geldquellen. Sie ist auch stolz darauf, ihre Abhängigkeit von Großbritannien abgeschüttelt zu haben, geht statt dessen nun aber vor Brüssel in die Knie. Die Iren möchten als Nation etwas Besonderes sein – und gleichzeitig wollen sie so sein wie andere Nationen auch. Der weit größte Teil Irlands ist ländlich, dennoch ist es in manchen Kreisen schick, über die unbedarfte Landbevölkerung die Nase zu rümpfen. Auf die Schönheit ihrer Landschaft legen die Iren Wert, doch vor der Umweltverschmutzung verschließen sie die Augen. Doch zurück zum Thema «blarney»: Wie viele unterjochte Völker benutzten die Iren die Sprache dazu, ihre wahren Gedanken vor ihren Herrschern zu verbergen. Manche irischen Kleinbauern gingen ihrem englischen Gutsherren erst wortreich um den Bart und schlichen sich dann bei Anbruch der Dunkelheit hinaus und zündeten sein Getreide an. Wenn die Iren hervorragende Schriftsteller sind, so teils deshalb, weil man zum Schreiben keine so kostspielige Ausstattung benötigt wie beispielsweise für Opern oder Sinfonien. Teils liegt es auch daran, daß Englisch, die Sprache, in der die meisten heute schreiben, nicht ihre Muttersprache ist, so daß Iren sie zuweilen auf eine Art verwenden, die einem besonders nachgeht. Eine Möglichkeit, aus dem Land herauszukommen, bestand seit jeher darin, sich sprechend oder schreibend davonzumachen. Die meisten irischen Schriftsteller landeten in London, da Irland kaum eigene Verlage besitzt. Und so manche Iren wurden elegante Redner im Unterhaus. Ihres Reichtums beraubt, waren die Iren gezwungen, von ihrem Köpfchen zu leben. Und das bringt uns zu Oscar Wilde zurück, einem der größten irischen Köpfe überhaupt.
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Blarney
Bodhran (Gesprochen bow-rawn). Ein großes, rundes, dickhäutiges Ding, in der Regel unbeweglich, auf das man mit einem Stock einschlagen muß, um etwas aus ihm herauszubringen. Überall sonst auf der Welt bekannt als der Angetraute. In Irland dagegen ist es ein Musikinstrument, einem überdimensionierten Tamburin vergleichbar, das mit der Hand oder mit einem Knochenschlegel gespielt wird. Man sieht es in Pubs zusammen mit anderen traditionellen irischen Instrumenten wie Fiedeln, Banjos, Blechflöten und den uilleann genannten Dudelsäcken, die im Unterschied zu den schottischen Dudelsäcken mit dem Ellbogen gedrückt werden (siehe Musik). Harfen werden Sie allerdings nicht zu Gesicht bekommen. Die Harfe ist zwar ein nationales Symbol, kommt aber in der irischen Volksmusik kaum zum Einsatz. Eine Harfe durch eine Pubtür zu bugsieren ist auch nicht so leicht. Wie manches andere in Irland ist der bodhrán (was wörtlich «Schwerhöriger» bedeutet) nicht so alt, wie es den Anschein hat, sondern kam erst gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts auf. Bodhrán-Plage lautet übrigens der Sammelbegriff.
Brendan der Seefahrer
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áå Heiliger aus Kerry, was an sich schon eine ungewöhnliche Kombination ist. Brendan verbrachte seine frühe Kindheit in der Obhut von Engeln und wehrte als junger Bursche einen Anschlag auf seine Tugend dadurch ab, daß er einer verspielten kleinen Prinzessin, die auf seine Kutsche hatte aufspringen wollen, eine tüchtige Abreibung verpaßte. Nachdem er verschiedene Karrieremöglichkeiten ins Auge gefaßt hatte, entschied er sich dafür, Heiliger zu werden. Er bekam den Tip, Skandale dadurch zu vermeiden, daß er sein heiliges Handwerk nicht bei einer Frau erlernte – ein Ratschlag, der darauf hindeutet, daß Frauen damals zu den wichtigsten Autoritäten klösterlichen Lebens gehörten. Da Brendan keine der bestehenden Klosterregeln nach seinem Geschmack fand, verfiel er auf die Idee, seine Brendan der Seefahrer
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eigenen zu verfassen – oder sie sich vielmehr von einem Engel in die Feder diktieren zu lassen. Er wurde daraufhin zum Priester geweiht. Einer der Lehrer Brendans war mit dem Wohlgeruch des Paradieses auf den Kleidern von einer Seereise nach Irland zurückgekehrt. Unterwegs war er nämlich zufällig auf das Gelobte Land für ambitionierte Heilige gestoßen. Von dem Duft beeindruckt, faßte Brendan den Entschluß, selbst die Segel zu setzen. Er legte mit seinem Schiff ab und steuerte verschiedene Inseln an, so auch eine, wo er den Leichnam einer schönen jungen Frau fand, gut dreißig Meter groß, die durch einen Speerstoß den Tod gefunden hatte. Brendan erweckte sie wieder zum Leben und taufte sie, mußte ihr aber die letzten Sakramente spenden und sie beerdigen, als sie in seinen Armen abermals verschied. Mit Frauen hatte Brendan nie Glück. Auf dem Weg zu einer anderen Insel stieß er auf Judas Ischariot, den die Wogen hin und her warfen und dem ewiglich ein flatternder Umhang ins Gesicht schlug. Brendan dünkte dies eine ziemlich milde Strafe für den Verrat an Christus, wurde von Judas jedoch darüber aufgeklärt, daß dies nicht seine Buße, sondern seine Freizeitbeschäftigung war, da die Bestrafung sonntags und an hohen Feiertagen ausgesetzt wurde. Diese Geschichte erinnert an den Witz über den Neuankömmling in der Hölle, der herumgeführt und dabei auch in einen Raum gebracht wird, in dem die Verdammten zu Tausenden bis zur Taille in Exkrementen stehen, Tee trinken und miteinander plaudern. Und als der Neue gerade still für sich denkt, daß dies zwar unangenehm, aber doch nicht so schlimm sei, wie er befürchtet hat, kommt ein kleiner Teufel in den Raum gestürzt und ruft: «Okay Jungs, Ende der Teepause, alle Mann wieder in den Kopfstand!» Obwohl Brendan dem Wasser zugetan war, verfluchte er nicht weniger als fünfzig irische Flüsse. Als Buße überquerte er einst die See nach Großbritannien, was für einen Iren Strafe genug wäre. Einigen Lesern wird es gewiß Kummer bereiten zu hören, daß das meiste hiervon ins Reich der Mythen gehört. Zweifellos hat es Brendan gegeben, und vermutlich hat er im 6. Jahrhundert ein Netzwerk von Klöstern aufgebaut, die über den Seeweg miteinander verbunden waren. Gut möglich, daß er auch tatsächlich bis nach Ame36
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rika gelangte, mithin der allererste irische Auswanderer war. Man hat nachgewiesen, daß das technisch durchaus möglich war: Die damaligen mit Tierhaut bespannten Boote waren zu einer solchen Passage durchaus in der Lage. Zudem gab es zahlreiche kleine, von Heiligen bewohnte Inseln im Atlantik. Außerdem lassen die Legenden über Brendans Reisen eine ausgezeichnete Kenntnis des atlantischen Ozeans erkennen. Für irische Mönche des Mittelalters bestand der Hauptzweck ihrer Seereisen jedoch nicht darin, neue Kontinente zu entdecken, sondern im wahrsten Sinne ihr Gottvertrauen unter Beweis zu stellen, indem sie ohne Paddel in See stachen. Gut möglich, daß sie dabei zufällig auch auf ein paar neue Kontinente stießen.
Brendan der Seefahrer
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Bretha Crolige
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áå juristisches Dokument aus irischer Frühzeit, das über die drei Frauen Auskunft gibt, die ein Mann von Rechts wegen haben darf – Hauptfrau, Konkubine und Geliebte – und diese Polygamie mit frömmlerischer Berufung auf das Alte Testament rechtfertigt. In Irlands Frühzeit war die Polygamie gängige Praxis der Oberschicht, und Scheidung und Wiederverheiratung waren an der Tagesordnung. Die Polygamie überlebte in gewissen Formen bis zum Ausgang des Mittelalters. Sklaverei existierte im frühen Irland ebenfalls, und die Wikinger lieferten zuverlässig Nachschub: Kriegsgefangene oder die Nachkommen von Armen, die in Hungerzeiten in die Sklaverei verkauft worden waren. Dank dieser Sklaven stand den Mönchen eine unterwürfige Bevölkerung zur Verfügung, die die Drecksarbeit in den großen Mönchsklöstern verrichtete, was sehr praktisch war, weil sie selber dadurch den Kopf für Höheres frei hatten, zum Beispiel für die Ideale der Freiheit und der christlichen Nächstenliebe. Das Rechtssubjekt der frühen irischen Gesellschaft war die Familie, nicht das Individuum. Es war eine aristokratische, in hohem Maße standesbewußte Kultur mit Königen an der Spitze und Leibeigenen am unteren Ende der Pyramide. Wer einem Bischof einen Fußtritt verabreichte, mußte mit einem erheblich höheren Strafmaß rechnen als beim Treten eines Bauern. Wer es im Leben zu etwas bringen wollte, wurde Vasall eines reichen Herren, der dem Betreffenden für seine militärischen Dienste Schutz gewährte. Auch erhielt man von seinem Herren einen Anteil der geraubten Beute, dazu etwas Land und ein paar Rinder als Lehen. Als Gegenleistung dafür verlangte der Herr bloß einen beträchtlichen Anteil von dem, was der Vasall produzierte. So hatte man für ein Lehen bestimmter Größe an seinen Herren abzuliefern: eine festgelegte Anzahl unbezahlter Arbeitsstunden eine Milchkuh die Hälfte des Talgs eines einjährigen Stierkalbs einen Kessel frische Milch zur Zubereitung von Süßrahmkäse mit Butterflocken
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Bretha Crolige
einen Krug Rahm zwanzig Brotlaibe einen Block Butter, siebzehn Zentimeter breit und acht Zentimeter dick zwei Handvoll Walisische Zwiebeln und zwei Stangen Walisischen Lauch eine Speckseite, 75 Zentimeter lang ein weiteres Kalb. Der Lehnsherr hatte auch das Recht, einmal im Hause seines Untergebenen ein Fest ausgerichtet zu bekommen, was zu einer ruinösen Angelegenheit werden konnte, wenn man bedenkt, wieviel diese Herren zu essen und zu trinken pflegten. Manche Historiker sind der Ansicht, der Vasall sei besser dran gewesen, wenn er gleich Selbstmord begangen hätte. Es war aber nicht nötig, sich selbst umzubringen – das nahmen einem Krankheiten ab. Im Zeitraum zwischen dem 7. und dem 9. Jahrhundert trafen große Epidemien jede Generation. Ruhr, grippale Lungenentzündung, Pest, Pocken, Tollwut und Hungersnot wechselten sich ab. Die einzigen Heilmittel waren Beten und das Auflegen heiliger Reliquien auf den Leib. Zur Überraschung eines so gläubigen Volkes halfen die nicht immer.
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áÉ sind ein Werkzeug, das die Iren listig dazu nutzen, zu ihrem alten, einfachen Lebensrhythmus zurückzukehren. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, was geschieht, wenn Sie – in Irland oder anderswo – heute in einem Hotel einchecken oder ein Flugticket kaufen wollen? Der Mensch hinter dem Schalter hackt eine geschlagene Viertelstunde auf seiner Tastatur herum. Er schreibt offensichtlich an einem Buch und fügt, während Sie warten, gerade ein neues Kapitel hinzu. Der Vorteil von Computern ist, daß man mit ihnen dem Tempo und der Hektik des modernen Lebens entfliehen kann, wohingegen der Hotelangestellte früherer Zeiten schlicht nach einem Gästebuch Computer
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griff und Ihren Namen binnen fünf Sekunden hineingekritzelt hatte. Computer sind Teil einer Verschwörung. Sie zwingen zur Rückkehr zum gemächlichen Schrittmaß vortechnischer Zeiten. Deswegen begegnet man ihnen in Irland so häufig.
Craic (Ausgesprochen «crack» und nicht mit einer speziellen Form von Kokain zu verwechseln) Das irische Wort für «Spaß» und «es sich gutgehen lassen». In der Regel meint man damit eine Mischung aus Musik, Trank und Unterhaltung. Der Begriff ist überstrapaziert, rapide nähert er sich dem Status von «begorrah» an. Ist irischer «craic» also nur Humbug? Die Frage meinen Sie ja wohl nicht ernst. Nur wenige Nationen auf der Erde wissen besser, wie man sich vergnügt, als die Iren. Das hat Gründe. Einer ist, daß bei ihnen, anders als bei den Angelsachsen, der Puritanismus keine wesentliche Rolle gespielt hat. (Im protestantischen Norden liegen die Dinge – wie so oft – etwas anders.) Die Iren haben im allgemeinen ein reines Gewissen, ausgenommen beim Sex, den sie wie die meisten anderen Völker auch unterdrücken und über den sie den Mantel des Schweigens breiten. Bei der jüngeren Generation, die alles umkrempelt, gehören die sexuellen Komplexe ihrer Eltern, die durch den römischen Katholizismus noch verstärkt wurden, wohl der Vergangenheit an. Die alte gälische Kultur war derb, unverblümt und gelegentlich obszön. Als die Iren jedoch begriffen, daß eine zu große Kinderzahl ökonomisch unklug war, begannen sie ihre Sexualität zu reglementieren und ihre Fruchtbarkeit einzudämmen. Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts wies Irland im europäischen Vergleich die höchste Zahl an Ledigen und sehr späten Eheschließungen auf. Dreißig Prozent aller irischen Männer und 23 Prozent aller irischen Frauen gingen damals überhaupt keine Ehe ein. Und es gibt ihn heute immer noch, den Iren, welcher da meint, fünfzig sei eigentlich ein bißchen früh, um sich an die Kandare nehmen zu lassen. 40
Craic
Abgesehen vom Sex, sind die Iren ungehemmter und geselliger als die Angelsachsen. (Wie so oft in Irland ist das aber nur die halbe Wahrheit, denn es heißt von den Iren auch, sie hätten einen Hang zu Grübelei und Melancholie; ein Eindruck, den auch ihre traurig klagende Musik vermittelt. Vielleicht ist der Kummer ein Überbleibsel aus einer trostlosen, von Hungersnöten geprägten Vergangenheit.) Die Engländer halten es für vertretbar, einander nach der, sagen wir, achten Begegnung mit Vornamen anzureden. Aber selbst dann winden sie sich noch vor Pein, so als sei ihnen ein unanständiges Geräusch entfahren. Wie die Amerikaner sprechen die Iren einander gleich mit Vornamen an und erkundigen sich bei jeder Begegnung nach dem Befinden ihres Gegenübers, was Engländer kaum tun. Engländer haben eine panische Angst davor, die Privatsphäre eines anderen Menschen zu verletzen. Eher würden sie einen in Elend und Einsamkeit sterben lassen, als an der Haustür zu klopfen. Bei aller Direktheit im Umgang miteinander ist die irische Kultur aber ungewöhnlich komplex und vielschichtig. Es ist eine Kultur für Eingeweihte, voller Codes, Andeutungen und Signale, die ein Außenstehender erst entziffern muß. Hinter der vorgekehrten Offenheit erweist sich die irische Gesellschaft als gut behütetes Terrain, viel weniger leicht zugänglich, als es zunächst scheint, und mit einer spürbaren Diskrepanz zwischen öffentlichem Anstrich und privater Wirklichkeit. Es ist eine in sich geschlossene Gesellschaft, aber auch eine, die im eigenen Saft schmort. Bei den Iren, selbst denen in den schicken Vierteln von Dublin, ist das Klüngel- und Cliquenwesen viel weiter verbreitet als bei ihren britischen Nachbarn. Sie tratschen und ziehen gern über andere her und sind unendlich neugierig. In Irland kann es einem passieren, daß man eines Morgens aus dem Fenster schaut und seinen Nachbarn erblickt, der einem den Rasen mäht. Widerführe einem solches in Canterbury oder Chicago, riefe man vermutlich die Polizei. In Irland allerdings weiß der Nachbar besser, was bei dir gerade ansteht. Jemand hat einmal von der hervorragenden Dubliner Akustik gesprochen und damit sagen wollen, daß einer, der in einem Winkel der Stadt flüstert, in einem anderen noch zu hören ist. Craic
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Das mag ein Überbleibsel aus dem alten ländlichen Irland sein, wo das Leben klangebunden und man mehr für sich war als in Cheltenham oder Kalifornien. Es rührt auch daher, daß Irland ein kleines Land ist, in dem kein Punkt weiter als 70 Meilen von Meer entfernt ist und jeder jeden kennt. Sie können Gift drauf nehmen, daß der Schwager Ihres Friseurs nur zwei Häuser neben einem Großcousin Ihres Schönheitschirurgen wohnt. Wenn Sie möchten, daß die Telefongesellschaft Ihren Apparat repariert, so rufen Sie dort nicht etwa an, es nimmt höchstwahrscheinlich eh keiner ab (irische Telefongesellschaften haben offenbar kein Telefon), aber falls Sie doch jemanden erreichen, können gut und gern Monate vergehen, bis die Gesellschaft dazu kommt, die Sache in Angriff zu nehmen (siehe Nonchalance). Nein, Sie sprechen mit dem Menschen, den Sie ständig im Supermarkt treffen, mit dem Burschen, der auf dem linken Auge ein bißchen schielt und von dem Ihnen jemand erzählt hat, er sei der Bruder einer Frau, die mit einem Angestellten bei Telecom Eireann verbandelt ist, und es dauert keine Woche, und Ihr Apparat klingelt wieder. Ein irischer Witz veranschaulicht, was ich meine. Drei Bewerber um den Posten des regierungsamtlichen Statistikers sind zum Vorstellungsgespräch geladen. Jeder der Kandidaten erhält die Aufgabe, drei und vier zusammenzuzählen. Der erste kommt auf sechs, der zweite auf fünf und der dritte auf sieben. Welcher der drei bekam den Job? Der natürlich, der ein Cousin des Ministers war, Dummerchen. Geldverdienen ist heute in Irland zwar die wichtigste Beschäftigung, trotzdem gehen die Iren ihr noch nicht so verbissen nach wie ihre angelsächsischen Pendants. Während in britischen Telefonverzeichnissen Geschäftsnummern an erster und Privatnummern an zweiter Stelle aufgeführt sind, ist es in Irland genau andersherum. Ein Land, in dem der Gedanke des Unternehmertums seit jeher schwach entwickelt war, betrachtet das Fortkommen im Leben immer noch mit skeptischem Blick. Wenn man in einem Geschäft eine Ware bezahlen will und es fehlen bis zum geforderten Preis noch wenige Pence, muß man 42
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mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht extra einen größeren Geldschein wechseln lassen. In New York wäre so etwas undenkbar. Ich erinnere mich an das Erstaunen, mit dem ein amerikanischer Freund reagierte, als ich ihm von dem Brauch irischer Bauleute berichtete, in die Fundamente neuer Häuser ein paar Münzen als Glücksbringer hineinzulegen. Mein Freund war so perplex von dieser für ihn neuen Sitte, als hätte ich von Iren erzählt, die ein Neugeborenes geschlachtet und es unter den Dielenbrettern vergraben haben.
Cuisine
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êáëÅÜÉ Cuisine ist ein Mythos, auch wenn manche Restaurants einem heute weismachen wollen, daß es sie gibt. Im wesentlichen handelt es sich bei der irischen Küche um phantasievoll auf den Tisch gebrachte Kombinationen von Fisch und Kartoffeln.13 Ein Irish Stew ist kein ursprünglich irisches Gericht, denn nur wenige Iren waren so begütert, daß sie sich Fleisch und Gemüse leisten konnten. Das Irish Stew wurde für irische Arbeiter in Großbritannien erfunden. Irish Coffee ist zwar irisch, heutzutage jedoch zusammen mit den Kobolden und dem Book of Kells hauptsächlich etwas für Touristen.14 Es gibt inzwischen viele irische Restaurants, die mit den französischen in kulinarischer Raffinesse konkurrieren wollen, ansonsten jedoch ist Irlands wichtigster Beitrag zur kosmopolitischen Küche tiefgefrorenes Schweineschmalz, in das alles hineingedippt wird, ausgenommen vielleicht die Zehennägel (aber nicht einmal das ist gewiß). Die irische Kost war seit jeher recht einfach. Zum Frühstück verspeiste man eine Portion Kartoffeln. Zu Mittag gönnte man sich ein Erdäpfelgericht. Zum Abendbrot kaute man – nur zur Abwechslung – auf ein paar
FFE: Irland importiert heute den Großteil seiner Kartoffeln. FFE: Irish Coffee ist die Erfindung eines Kochs auf dem Flughafen von Shannon und diente in den Anfängen des Luftverkehrs dem Auftauen der Piloten, die die Transatlantikrouten flogen. 15 14
Cuisine
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«praties» herum (es handelt sich, Sie haben’s schon erraten, um das irische Wort für Kartoffeln). Wenn sie Glück hatten, gab es Buttermilch, um das Ganze runterzuspülen, und wenn sie nahe genug an der Küste lebten, konnte sich ein Fisch auf ihren Teller verirren. Für eine Fischverarbeiturigsindustrie, die diesen Namen auch verdient, fehlten den Iren die Mittel. Deshalb starben in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Kartoffelernten ausblieben, auch Millionen Iren oder wanderten aus: Sie hatten nichts anderes zu essen. Getreide wurde zwar angebaut, doch das mußten sie verkaufen, um dem Gutsherren die Pacht bezahlen zu können. Wenige Jahrzehnte später war die irische Bevölkerung um die Hälfte dezimiert. Dennoch gibt es bestimmte Gerichte, die von sich behaupten, traditionell irisch zu sein. Sie können zum Beispiel boxty probieren, eine anspruchsvollere Variante des Reibekuchens. Alternativ gäbe es carrageen moss blancmange (ein Algen-Moos-Flammeri). Die schlechte Nachricht ist, daß dieses Gericht tatsächlich aus Moos besteht, gemixt mit Milch, Zucker und Zitronenschale. Falls Sie eine Schwäche für Schafsblut haben, können Sie jederzeit drisheen kosten, eine Speise, in der das Zeug pintweise enthalten ist. Mit einem halben Pint Schweineblut und einer Handvoll Innereien wiederum läßt sich ein wunderbarer schwarzer pudding zaubern, nach dem man frisch gestärkt in den neuen Tag starten kann. Dann gibt es grunt-Suppe, die sich leicht zubereiten läßt, wenn Sie herausfinden, was grunt ist. Mehrfach schon sind Menschen darüber verhungert. Wenn Sie Preßkopf machen wollen, vergessen Sie nicht, vorher Augen, Hirn und Knorpel aus dem Schweinskopf zu entfernen und dem Tier auch die Pfoten gründlich abzuschrubben. Wenn Sie Schweinsfüße süßsauer zubereiten, erhalten Sie ein Gericht namens crubeens. Sollte nichts davon Ihnen zusagen, können Sie immer noch eine Grassode in kochendes Wasser werfen und das Beste hoffen. Die Iren essen zuviel, im Durchschnitt sechzig Prozent mehr als die empfohlene Kalorienmenge. Außerdem ernähren sie sich ungesund: wenig frisches Obst, lieber Kohl als Salat, Fleisch lieber als Fisch (trotz der Schwärme direkt vor ihrer Küste). Sie verzehren nur etwa halb soviel Fisch 44
Cuisine
wie die Spanier, verschlingen jedoch eine erschreckende Menge an Milchprodukten, wie es seit jeher Brauch ist. Sie sind ganz versessen auf Süßes und immer noch europäischer Spitzenreiter im Kartoffelverzehr. Als oral fixierte Nation geben sie sechzehn Prozent ihres Geldes für alkoholische Getränke und Tabakwaren aus, fünfmal soviel wie die Spanier und achtmal soviel wie die Luxemburger. Das irische Traditionsgericht, das sich am leichtesten zubereiten läßt, ist unter dem Namen Kartoffeln und Stippe bekannt. Irische Landarbeiter aßen ihre Kartoffeln gern mit ein wenig Salz bestreut, doch wenn kein Salz da war, stippten sie ihre Kartoffel in den leeren Teller, der in der Mitte des Tisches stand und in dem üblicherweise das Salz war. Bei traditionellen irischen Speisen beläßt man es manchmal lieber bei der Vorstellung, daß man sie zu sich nimmt.
Despard, Charlotte
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å eine berühmte französische Familie hineingeboren, wuchs Charlotte Despard im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf und machte sich durch ihre Arbeit für die Londoner Armen einen Namen als «Mutter von Battersea». Sie trat in die Independent Labour Party ein und wurde später Mitglied der britischen kommunistischen Partei. Als Ehrenvorsitzende der Women’s Social und Political Union, eines Suffragetten-Bundes, sah sie Gefängnisse mehr als einmal von innen. Sie war Pazifistin und Feministin und eine prominente Figur in der Kampagne gegen den Ersten Weltkrieg. Auch gehörte sie zu den ersten Vorkämpferinnen für die Rechte der Tiere. Despard mußte es erleben, von berittenen Polizisten auf dem TraDespard, Charlotte
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falgar Square verhaftet zu werden, doch das tat, was man ihr hoch anrechnen muß, ihrer Liebe zu Pferden keinen Abbruch. Stets darauf bedacht, neue Kampfgenossen zu finden, trat Despard in spirituellen Kontakt mit dem italienischen Revolutionär Mazzini, der sich durch die Tatsache, daß er bereits tot war, nicht vom beiderseitigen geistigen Austausch abhalten ließ. Despard eröffnete in London auch eine Abstinenzlerkneipe, deren Name – Despard Arms – einen unweigerlich an eine vegetarische Metzgerei denken läßt. Im Alter von 77 Jahren und noch immer rastlos auf der Suche nach neuen Horizonten, erweiterte Despard ihren Wirkungskreis durch einen Umzug nach Irland, wo sie sich mit Maud Gonne (siehe Gonne) in der Frauenliga zur Verteidigung republikanischer Gefangener zusammentat. «Maud Gone Mad and Charlotte Desperate» (Maud mit der Marotte und die verzweifelte Charlotte) wurde das Gespann despektierlich genannt. Despard machte sich auch bei der Irish Vegetarian Society unentbehrlich, deren Präsidentin eine Mrs. Ham und deren Vizepräsidentinnen Mrs. Hogg und Mrs. Joynt waren [A.d.Ü.: «ham» ist der Schinken, «hog» das (Mast)schwein und «Joint» der Braten]. Als Mitkämpferin in den Reihen der Opposition gegen die Teilung Irlands gründete Despard eine Marmeladenfabrik für Arbeitslose und trat der Irish Workers’ Party bei. Schon bald fand sie sich von der irischen Regierung als gefährliches, subversives Element abgestempelt, das wegen seiner nichtirischen Herkunft abgeschoben werden sollte. Eine ihrer größten anderen Leistungen bestand darin, daß der Dichter William Yeats sie herzlich verachtete. Im Jahre 1952 reiste sie in die Sowjetunion, ein Land, dem sie eine naiv unkritische Bewunderung entgegenbrachte. Sie gründete auch ein Arbeiterkolleg in Dublin, das von einem aufgebrachten Mob zerstört wurde. Im Alter von neunzig Jahren, fast erblindet und mit Rheuma und Arthritis geschlagen, ließ Charlotte Despard sich in Nordirland nieder und führte ihre Arbeit in Belfast fort. Nach Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs in den dreißiger Jahren setzte sie es sich in den Kopf, nach Spanien zu reisen, konnte dann aber doch überredet werden, sich 46
Despard, Charlotte
mit Auftritten gegen den spanischen Faschismus bei internationalen Protestkundgebungen zu begnügen. Sie starb völlig verarmt, umgetrieben von der Frage, welches Land sie als nächstes erobern könne.
Dolmen
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çäãÉå sind Monumente aus der Steinzeit und überall in Irland zu finden. Sie bestehen gewöhnlich aus einem Deckstein und mehreren Tragsteinen, aufrecht stehenden Steinplatten oder -blöcken. Das ganze Land ist außerdem mit etwa 30 000 bis 40 000 alten, zuweilen als raths bezeichneten Forts überzogen, bei denen es sich in der Regel um ringförmige, von einem Graben umgebene Erdwälle handelt, unter denen sich kunstvoll angelegte Höhlen mit Falltüren und Geheimgängen befinden können. Sie wurden vermutlich nicht als militärische Stützpunkte, sondern als Gehöfte und Viehpferche genutzt. Man findet auch tumili (alte Grabhügel), cairns (künstlich angelegte lose Steinhaufen) und crannogs, in Seen angelegte künstliche Inseln. Gallans sind Steinsäulen, zuweilen mit Ornamenten verziert, die einzeln oder zu mehreren aufgereiht vorkommen und zuweilen Inschriften in Ogham tragen, der ältesten in Irland bekannten Schrift, die aus einem einfachen Kerbensystem besteht. Irische Gelehrte haben inzwischen Abstand von der These genommen, daß ein Teil dieser Grabstätten früher auch als Bushaltestellen dienten. Beides zu verbinden wäre für das heutige Irland keine schlechte Idee, wenn man bedenkt, daß ein großer Anteil der irischen Bevölkerung beim Warten auf Busse aus Kummer und Frustration, der Witterungsbedingungen wegen, denen man dabei ausgesetzt ist, oder schlicht aufgrund natürlicher Alterung verstirbt.
Dolmen
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Dracula
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áÅÜí jeder weiß, daß Dracula Ire war. Er stammte aus Dublin, nicht aus Transsilvanien. Der erste DraculaRoman war das Werk des Dubliner Schriftstellers Bram Stoker, eines Staatsbeamten, der es zum Theaterleiter brachte. In ihrer Zeit haben die Iren eine ganze Reihe von Ungeheuern und Blutsaugern hervorgebracht, dieser jedoch ist der bekannteste. Es ist eine Beleidigung für die Iren, daß Dracula sich seine Gewohnheit, tagsüber zu schlafen und nachts herumzuwandern, bei den Landsleuten abgeguckt hat, die morgens nicht aus dem Bett finden.
Dublin 4
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~ë Ungeheuer von Loch Ness halten manche Menschen für ein Phantasiegebilde, eine Meinung, der sich das Ungeheuer selbst vermutlich nicht anschließen würde. Mit Dublin 4 verhält es sich genau andersherum: Die Menschen, die dort leben, tun es als fixe Idee ab, wohingegen viele, die nicht dort wohnen, es für real halten. Dublin 4 ist weniger ein exakt lokalisierbares Viertel (obwohl es einen Dubliner Postbezirk mit dieser Ziffer gibt) als vielmehr ein Ausdruck zur Bezeichnung für eine bestimmte intellektuelle Elite in der Stadt. Zu ihr gehören Schriftsteller, Fernseh- und Rundfunkleute, Journalisten, die liberale Mittelschicht und Akademiker generell. Um ein vollwertiges Mitglied von Dublin 4 zu sein, muß man Polenta essen, seine Kinder in Privatschulen schicken, dem ländlichen Irland gegenüber eine überlegene Einstellung an den Tag legen, die katholische Kirche und die althergebrachten politischen Einrichtungen kritisieren, seinen Urlaub in der Toskana oder der Provence verbringen, ein Cottage im Westen Irlands sein eigen nennen, den Nationalismus für einen gräßlich alten Hut halten und Mary Robinson, die fortschrittlich gesinnte ehemalige Präsidentin Irlands, als göttliches Wesen ansehen, noch ein, zwei Stufen über der Jungfrau Maria stehend. Um zu Dublin 4 zu gehören, muß man auch die Existenz von Dublin 4 für ein 48
Dublin 4
Hirngespinst halten, für den Ausdruck des Sozialneids der Masse, die eben Speck und Kohl verzehrt und nicht Polenta, ihre Kinder in staatliche Schulen schickt, sich Urlaub nicht leisten kann und auf die Frage «Haben Sie Marx gelesen?» antwortet: «Nur auf dem Klo.» Bewohner von Dublin 4 neigen zuweilen dazu, sich selbst für liberal zu halten, während sie den Rest der Iren in proletenhafter Borniertheit und ländlicher Dumpfheit versunken wähnen. Mit dieser Ansicht sind sie ihrerseits auf dem Holzweg. Meinungsumfragen zeigen, daß die Iren zu vielem keine konservativere Einstellung haben als andere Europäer. Sie denken genauso liberal wie andere Europäer über berufstätige oder ledige Mütter, und sie akzeptieren nun endlich auch die sexuelle Freiheit unverheirateter Paare. Die Iren neigen viel eher als das restliche Europa zu der Auffassung, daß Arbeit und Familie gleichermaßen wichtig sind, und eheliche Treue ist für sie ein hohes Gut. Vielfach vermischen sich heutzutage bei den von den Iren hochgehaltenen Werten typisch moderne und typisch traditionelle Denkweisen. Deutlich konservativer als ihre europäischen Nachbarn sind die Iren in bezug auf Autorität. Insgesamt gesehen respektieren sie Autoritäten weit mehr als beispielsweise Franzosen oder Italiener. Hier wirkt ganz klar der irische Katholizismus oder, wenn man historisch noch weiter zurückgeht, die dem Lehnsherrn gezollte Achtung nach. In Irland räumt man der Redefreiheit keine so hohe Priorität ein wie in anderen europäischen Ländern. Die Iren haben sogar einen großen Teil ihrer Energie darauf verwendet, sie zu beschneiden (siehe X-Strahlen).
Dun Laoghaire (gesprochen «Dunleary») Dieser Ort liegt südlich von Dublin, hier legen die Schiffe nach England ab. In seiner Nähe landete im Jahre 1821 König George IV., um seinen loyalen irischen Untertanen einen Inspektionsbesuch abzustatten. Zeitzeugen zufolge war er «sprachlos», als er vom Schiff taumelte, und seitens der Iren wurde loyal der Verdacht geäußert, daß dies wohl nicht an der herrlichen irischen Dun Laoghaire
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Landschaft gelegen habe. Der König preschte dann zu einer Stippvisite bei seiner Mätresse davon und sagte die geplante Rundreise durchs Land ab. Das war eine herbe Enttäuschung für die Notabilitäten, die sechs Monate darauf verwendet hatten, ihre ländlichen Anwesen auf Vordermann zu bringen, um den König würdig empfangen zu können. Weniger enttäuscht war wohl das einfache irische Volk. Offiziell begründet wurde die Streichung des Besuchsprogramms mit dem Hinscheiden der Gattin Seiner Majestät. Zynische Iren argwöhnten indes, daß der König in seinem Rausch keinen Fuß vor den anderen zu setzen vermochte. Wieder auf dem Heimweg und noch etwas wacklig auf den Beinen, erwies der König den Iren die große Ehre, Dun Laoghaire in Kingstown, also nach ihm selbst, umbenennen zu dürfen. Bei der erstbesten Gelegenheit jedoch änderten die undankbaren Iren den Ortsnamen wieder in Dun Laoghaire um, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die Briten nicht wissen, wie man das ausspricht.
Ehestiftung
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ã alten Irland wurden Ehen oft durch einen professionellen Heiratsvermittler gestiftet. Oft genug wurden Ehen geschlossen, damit die Betreffenden nicht auswandern oder Nonne oder Priester werden mußten. Manch einer heiratete womöglich auch, um an eine Mitgift zu gelangen, übernahm dann die Farm des eigenen Vaters und bekam jede Menge kleiner Knechte, Kinder genannt, die ihm halfen, den Betrieb am Laufen zu halten. Ehestifter standen auf Märkten und bei geselligen Zusammenkünften bereit, die Sache einzufädeln, zwischen den beiden Familien zu verhandeln und, da sie über juristische Kenntnisse verfügten, auch gleich den entsprechenden Vertrag aufzusetzen. Ein Schwein zu verkaufen ging kaum anders vonstatten. Erwies sich der Ehevertrag allerdings als Fehler, kam man in einem Land, in dem Scheidung unbekannt war, sein Lebtag nicht wieder aus ihm heraus. In der Stadt Lisdoonvarna im County Clare, die leider nicht so schön ist wie ihr Name, gab es einen florierenden Heiratsmarkt. Nach dem Einbringen der Ernte
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Ehestiftung
zogen die Junggesellen in die Hotels der Stadt, junge unverheiratete Frauen strömten herbei, und gar mancher vorteilhafte Ehehandel wurde erfolgreich abgeschlossen. Zum Teil geht das in Lisdoonvarna heute noch so. Sie betrachten die Iren ja vielleicht durch eine rosarote Brille, die Iren selber sich aber gewiß nicht.
Erfinder
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ë ist kaum bekannt, daß der erste lenkbare Torpedo von einem Iren erfunden wurde. Iren erfanden auch die Dampfturbine, den Teilchenbeschleuniger, die Landungsboote, die am D-Day im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kamen, die Stenographie, das U-Boot und die erste praktische Anwendung der Farbfotografie. Der erste Panzer der Welt wurde von einem Dubliner mitentwickelt, und ein Ire konnte als erster erklären, warum der Himmel blau ist. Letzteres ist besonders verblüffend, da der Himmel über Irland selten diese Farbe hat. Das Wort «Bürokratie» wurde von der irischen Schriftstellerin Lady Morgan geprägt. Die meisten dieser Tatsachen sind weithin unbekannt, hauptsächlich deshalb, weil sie langweilig sind. Manche nationalistisch gesinnten Iren jedoch drängen darauf, sie aller Welt dadurch zur Kenntnis zu bringen, daß man beispielsweise Teilchenbeschleuniger, blaue Himmel und Stenokürzel auf Briefmarken druckt. Es gibt auch Aktivisten, die sich dafür einsetzen, dem lenkbaren Torpedo in Dublins O’Connell Street ein Denkmal zu setzen, falls man je genau wissen wird, was das eigentlich ist. Manche Nationalisten glauben, daß ein Ire schon lange vor den Amerikanern auf dem Mond war und dort ein Standbild der Heiligen Jungfrau aufgestellt hat, das mit Hochleistungsteleskopen gerade eben noch auszumachen ist. Ein weiterer berühmter irischer Erfinder war der heilige Brendan (siehe Brendan der Seefahrer), der diversen Legenden zufolge ein bis dato unbekanntes Phänomen namens Amerika entdeckte. Besonders erfinderisch sind die Iren, wie man weiß, in Pubs. Zu den irischen Erfindungen gehört auch die politische Massenbewegung. Ihr geistiger Urheber war, zumindest in Erfinder
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Europa, der im 19. Jahrhundert tätige nationalistische Anwalt Daniel O’Connell, dessen Statue, seit dem Osteraufstand mit Einschußlöchern versehen, ein Ende der O’Connell Street beherrscht. Was sich an Massenprotesten und Bürgerrechtsdemonstrationen seither so vielfältig auf der ganzen Welt ereignet hat, darauf hat Irland das Patent. Die Iren waren die erste Nation, die das Potential von Volksbewegungen zur Durchsetzung politischer Reformen erkannte. O’Connell führte zunächst eine Kampagne für die Befreiung der Katholiken, danach eine für die Aufhebung der Union zwischen Großbritannien und Irland. Das Niveau der politischen Bildung bei den Iren war dadurch hoch, auch wenn viele von ihnen unterdrückt, des Schreibens und Lesens unkundig und verarmt gewesen sein mochten. Zudem besaßen sie große Kenntnisse, Massen zu organisieren, lange bevor sie über einen eigenen souveränen Staat verfügten. Durch Klubs, Zeitungen und geheime Treffen gelang es dem unermüdlichen, bewundernd als «Befreier» bezeichneten O’Connell, eine riesige Anzahl einfacher Menschen in seine politischen Bewegungen einzubeziehen. Er trotzte schließlich einem widerwilligen Großbritannien das Recht auf katholisch besetzte Stühle im Parlament ab und war selbst der erste, der einen solchen einnahm. Die sogenannten «Penal Laws» des 18. Jahrhunderts hatten irischen Katholiken dieses Vorrecht genommen und ihre Bürgerrechte auch in anderen Bereichen beschnitten. O’Connell erreichte seine Ziele mit einem Minimum an Gewalt; in früher Jugend hatte er einmal einen Mann bei einem Duell getötet und setzte seither lieber auf den Druck der Massen als auf die Anwendung körperlicher Gewalt. Extravagant und ungewöhnlich, dazu ein ausgezeichneter Redner, stand dieser schlaue alte Haudegen in dem Ruf, im 19. Jahrhundert der populärste Politiker Europas gewesen zu sein. Bei seinen eigenen Leuten stand er in fast gottgleichem Ansehen. Er wußte sie aufzumuntern und ihnen nach dem Munde zu reden. Daß er von vielen Briten verachtet wurde, gereichte ihm in den Augen seiner Mitkämpfer nicht zum Schaden. O’Connells Experiment mit einer Politik für die Massen sollte im späteren 19. Jahrhundert von dem protestanti52
Erfinder
sehen Landbesitzer Charles Stewart Parnell wiederholt werden, dessen Statue das andere Ende der O’Connell Street schmückt. Unnahbar, zurückhaltend, englisch im Habitus und verstörend rätselhaft in seinen öffentlichen Reden, verkörperte Parnell das genau entgegengesetzte Temperament von O’Connell. Er war jedoch ein nicht minder kluger politischer Kopf. Parnell war einer der Mitbegründer der Land League, die den irischen Grundbesitzern durch politischen Druck eine Senkung der Grundpacht abrang und zur größten Massenbewegung im damaligen Europa wurde. Durch sie kennt die Geschichte das Wort «Boykott», das auf Captain Charles Boycott zurückgeht, den Erfüllungsgehilfen eines Gutsherren, dem die erzürnten Pächter die kalte Schulter zeigten. Zyniker behaupten, die Iren hätten bloß das Wort «ostracism» (Ächtung) nicht aussprechen können. Die durch die Land League ausgelöste Bewegung sollte mit dem Untergang der anglo-irischen Gutsherren enden, deren Ländereien durch den britischen Staat enteignet und an ihre vormaligen Pächter verkauft wurden. Parnell erlebte jedoch auch einen persönlichen Untergang, als sein ehebrecherisches Verhältnis mit der Frau eines Kollegen ans Licht kam und von seinen Feinden dazu benutzt wurde, ihn zu stürzen. Als er einmal mit der fraglichen Dame überrascht wurde, flüchtete er über eine Feuerleiter; und als seine Statue in der O’Connell Street errichtet wurde, gab es den Vorschlag, an ihrem Rücken eine bis zum Boden reichende Feuerleiter anzubringen.
Fahrende
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ÜÉã~äë tinkers (Kesselflicker), heute jedoch travellers (über Land Fahrende) genannt. Es gibt mehr als zwanzigtausend von ihnen in Irland, aber auch mehrere tausend in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Die travellers sind keine aus Indien nach Europa gekommenen Zigeuner, sondern eine in Irland und Großbritannien beheimatete Volksgruppe. Manche halten sie für die Nachkommen einer Schicht von Handwerkern aus dem vorkeltischen Irland, die bei der Ankunft der Kelten entwurzelt Fahrende
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wurden. Im Irland des 16. und 17. Jahrhunderts übten die Fahrenden oft hochqualifizierte Handwerksberufe aus, waren aber auch Dichter, Ärzte, Seher und Druiden. Sie handelten mit kunstvollen Metallarbeiten, wurden Pferdehändler und Blechschmiede und waren mit ihrer eigenständigen Subkultur und dem informellen Vertrieb ihrer Erzeugnisse und Dienstleistungen in ganz Irland präsent. Hauptsächlich kamen sie auf ländlichen Märkten zusammen, die gegenwärtig im Schwinden begriffen sind. Heute betätigen sie sich auch als Schrotthändler, viele von ihnen leben jedoch von Sozialhilfe. «Travellers» nomadisieren nicht das ganze Jahr; knapp die Hälfte von ihnen verfügt über einen festen Wohnsitz in Armensiedlungen und kämpft, oft mit unzureichenden Mitteln, um ein Überleben unter widrigsten Bedingungen. Die Fahrenden sind die Sündenböcke der irischen Gesellschaft schlechthin. In einer Nation, in der Landbesitz seit jeher das A und O war, haben Besitzlose wenig zu melden. Immer wieder wurden die Fahrenden von Bürgerwehren angegriffen oder durch die lokalen Behörden von ihren Wohnplätzen verwiesen. Es ist zur kollektiven irischen Neurose geworden, sie permanent zu vertreiben. Der gegen die Nichtseßhaften gerichtete Rassismus ist in Irland außerordentlich weit verbreitet, nicht zuletzt deshalb, weil das von räumlicher Nähe wie engen Gruppenbindungen geprägte irische Leben keine Außenseiter zuläßt. Systematisch hat man die fahrenden Leute zuerst von allem ausgeschlossen, ihnen einen Platz in der Sozialstruktur der Gesellschaft verwehrt. Anschließend wurden sie als schmutzige, kriminelle Analphabeten und Schnorrer im Wohlfahrtsstaat dämonisiert. Sie haben eine niedrigere Lebenserwartung als Seßhafte und eine der höchsten Geburtenraten in der Europäischen Union. Der Kindstod kommt bei ihnen häufig vor, ebenso genetisch bedingte Erkrankungen, da sie ihre Ehepartner bevorzugt aus der eigenen Gruppe wählen. Aber langsam beginnen sich die Fahrenden zu wehren und verfügen über eloquente politische Sprecher, die ihre Sache vertreten. Angesichts des in Irland immer mehr um sich greifenden Rassismus sind die Aussichten für die Fahrenden jedoch nicht erfreulich. 54
Fahrende
Feen
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ÉäÄëíîÉêëí®åÇäáÅÜ gibt es in Irland keine Feen. Das war einmal und ist nicht mehr. Der Überlieferung nach fand die letzte große Versammlung irischer Feen im Jahre 1839 statt. Dort kamen sie zu dem Schluß, daß sie in einem sich rasch modernisierenden Land nicht mehr gebraucht wurden. Tags darauf gingen sie auf ein Schiff und verließen Irland. Niemand weiß, wohin sie gesegelt sind; manche glauben, nach San Francisco.
Frauen
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áÅÜí alle irischen Frauen sind Grace O’Malleys, doch nach gängiger Vorstellung sind sie allesamt stark, klug, lebensbejahend und denken praktisch. Das liegt womöglich daran, daß sie so viele hoffnungslose Männer am Hals haben. Der irische Mann nämlich gilt, auch wenn er gelegentlich laut schreit und prahlt, als emotional verkümmert und zur Sentimentalität neigend. Was daher rühren mag, daß er als später Hochzeiter zu lange am Schürzenband seiner Mutter oder «mammy» hing. Irische Frauen hingegen sind alles andere als sentimental und schwärmerisch. Ihnen blieb in einer ländlichen Kultur, in der sie einen großen Teil der Verantwortung zu tragen hatten, auch nichts anderes übrig. Die sittsame englische Rose gedeiht in der irischen Erde nicht so leicht. In der keltischen Gesellschaft besaßen Frauen ein ungewöhnliches Maß an Freiheit. Sie konnten sich von ihren Männern scheiden lassen und übten politische Macht aus. Unter dem «Common law», dem an den Königlichen Gerichtshöfen in England entwickelten Recht, das die Engländer der irischen Gesellschaft aufzwangen, war eine verheiratete Frau jedoch de facto Eigentum ihres Mannes. Der durfte sie zwar nicht gerade töten, verkaufen oder ernstlich verletzen, konnte aber sonst alles mit ihr machen. Nichtsdestotrotz registrierten Besucher Irlands im 18. Jahrhundert verblüfft die Offenheit und Ungezwungenheit, mit der Frauen dort über Sexualität sprachen, und die SelbständigFrauen
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keit ihres Auftretens, ein Zug, der bei irischen Frauen noch heute spürbar ist.15 Heute ist Irland eine patriarchalische Gesellschaft, und der als Katholische Kirche firmierende Klub zölibatär lebender Männer tut, was er kann, damit Frauen an dem ihnen zugewiesenen Platz bleiben. Im Jahre 1948 zog die irische Regierung ernsthaft in Erwägung, jungen Frauen das Recht auf Auswanderung zu versagen – lange bevor die Ostdeutschen die Berliner Mauer ersannen. Die Rolle der Frau war, zu Hause zu bleiben, so viele Kinder wie möglich zu gebären und ein leuchtendes Beispiel irischer Bescheidenheit und Selbstaufopferung zu bieten. In einer Ausgabe der irischen Verfassung findet sich im Index unter dem Stichwort «Frauen» der Verweis «siehe Familie, Sexualität». Ein Gesetz von 1925 untersagte die Scheidung, und zwei Jahre darauf schloß ein weiteres Frauen vom Schöffenamt aus. Im Jahre 1935 wurden Verkauf und Einfuhr von Verhütungsmitteln sowie Werbung dafür unter Strafe gestellt, und katholische Bischöfe verurteilten den modernen Tanz und «Unschickliches» in der weiblichen Bekleidung. Mit den irischen Tänzen konnten sich manche Kleriker gerade noch abfinden, denn sie waren zu anstrengend, als daß man sie lange durchgehalten hätte. Verheirateten Frauen war der Eintritt in den öffentlichen Dienst verwehrt, und Abtreibung war völlig indiskutabel. Fast dreißig Jahre lang wurden Frauen Rechtshilfe und Arbeitslosenunterstützung vorenthalten; es gab keine finanzielle Unterstützung für alleinstehende Mütter oder von ihren Ehemännern verlassene Frauen und keinen Schutz für Frauen, die von ihren Männern geschlagen worden waren. Bis 1965 konnte ein Mann seine Frau von jedem Erbanspruch ausschließen. Außer in der Krankenpflege und in der Hauswirtschaft, im Lehrerberuf und als Sekretärin standen Frauen kaum berufliche Möglichkeiten offen. Vieles davon verändert sich jetzt im Zuge einer der tiefgreifendsten sozialen Umwälzungen, die das Land je erlebt hat. Durch den Beitritt zur Europäischen Union war Irland FFE: Bis ins 12. Jahrhundert hinein beruhte die Ehe in Irland auf einem jährlichen Kontrakt. Man konnte sich von seinem Angetrauten einfach dadurch trennen, daß man am 1. Februar zur Tür hinausspazierte.
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Frauen
gezwungen, Gesetze zur gleichen Entlohnung von Frauen einzuführen, eine Maßnahme, die die damalige irische Regierung zu verhindern versuchte. Dennoch sind im Niedriglohnsektor immer noch prozentual doppelt so viele Frauen beschäftigt wie Männer. Der Anteil berufstätiger Frauen hat sich seit den sechziger Jahren vervierfacht. Verschiedenen Erhebungen zufolge ist die Beschäftigungsquote bei irischen Frauen aber immer noch eine der niedrigsten in der westlichen Welt. Ungeachtet dessen befürworten die Iren in gleichem Maße wie alle anderen europäischen Nationen die Berufstätigkeit von Müttern. Verhütungsmittel sind inzwischen leicht zugänglich, dies jedoch erst nach einem erbitterten Kampf, in dessen Verlauf irische Feministinnen den Zug nach Belfast bestiegen, dort welche kauften, damit nach Dublin zurückkehrten und sie einer Riege von Polizeibeamten ostentativ unter die Nase hielten. Straffrei gestellt wurde die Empfängnisverhütung erst 1980 und auch nur für Verheiratete. Die Familiengröße sank zwischen 1960 und 1990 von durchschnittlich fünf auf zwei Kinder. Heute werden rund achtzehn Prozent aller irischen Kinder außerehelich geboren. Scheidung ist ein erst neuerdings geltendes Recht. Eine Abtreibung auf eigenen Wunsch lehnen die Iren mehrheitlich strikt ab, ein kleiner Prozentsatz sogar jede Abtreibung. Eine Irin muß noch heute nach Großbritannien reisen, wenn sie eine Abtreibung vornehmen lassen will. Jedes Jahr machen sich Tausende von Frauen auf diesen Weg. Angesichts der Rigidität von Kirche und öffentlicher Meinung ist es wenig wahrscheinlich, daß sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Die irischen Frauen haben also mitnichten schon alle Ziele erreicht. Irland ist bei all diesen Fragen tief gespalten, und überkommene und moderne Wertvorstellungen stehen miteinander in heftigem Widerstreit. Die Legalisierung der Ehescheidung beispielsweise war ein mühsamer Prozeß. Auf dem Lande lebende Frauen haben es besonders schwer: Von sozialen Dienstleistungen abgeschnitten, erledigen sie den Hauptteil der Farmarbeit und erhalten dafür nur wenig Anerkennung. In manchem ist das alte Irland zwar tot und begraben, moralisch und psychologisch gesehen lebt es Frauen
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aber munter weiter. Es gibt eine erfrischend neue Aufgeschlossenheit, jedoch auch geistige Orientierungslosigkeit und Besorgnis. Ein Beobachter des Landes äußerte einmal, Irland befinde sich gegenwärtig in einem Prozeß, in dem es alle überlieferten Werte zerschlage und zum Verkauf anbiete. Es ist eine zwischen Tradition und Moderne, zwischen dem Bischof von Rom und dem Vertrag vom Rom befangene Nation. Bei ihrer Wahl zur ersten Präsidentin Irlands sagte Mary Robinson: «Die Hand, die die Wiege schaukelte, hat inzwischen am System gerüttelt.» Die Präsidentschaft von Mary Robinson, der liberalen Anwältin und Kämpferin für die Rechte der Frauen, wurde für viele ihrer Mitstreiter zum Symbol für das neue, aufgeklärte Irland mit seiner Betonung kultureller Vielfalt, seiner kosmopolitischen Vision und seinem Eintreten für die Entrechteten. Dennoch halten viele irische Frauen beherzt an ihren konservativen Ansichten fest; der Kampf zwischen Traditionalisten und Modernisierern kann in Irland keinesfalls mit dem Geschlechterkampf gleichgesetzt werden. Genausowenig ist es ein Kampf zwischen Stadt und Land. Doch Präsident der Republik ist abermals eine Frau, Mary MacAleese, und zum ersten Mal ist der Platz an der Spitze des Staates besetzt von jemandem, der aus dem Norden stammt. Vielleicht ist das ein gutes Omen für die Zukunft dieser geteilten Insel.
Fugghan
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áÉ irische Aussprache eines sattsam bekannten Schimpfworts. Die Iren fluchen deutlich mehr als viele andere Völker, aber je nach Herkunft sehr unterschiedlich. Manche Iren aus der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht geben «fugghan» genausooft von sich wie die Engländer «sorry», die Franzosen «alors» oder die Amerikaner «hi». Für sie hat das Wort den Charakter eines Fluchs verloren und ist statt dessen zum bedeutungslosen Füllsel geworden, vergleichbar mit dem derzeit unter jungen Amerikanern grassierenden «like». Doch ein Indiz ist das Wort allemal: entweder für die Tugend der Iren oder für die Tat-
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Fugghan
sache, daß wildes Fluchen alter irischer Brauch ist. Die in wohlgesetzten Worten ausgesprochene Verwünschung eines irischen Barden konnte einem das Augenlicht trüben oder das Vieh verenden lassen. Die häufige Verwendung von «fugghan» läßt aber nicht auf eine ordentliche Koitusfrequenz schließen, wie man nach den vielen Kindern, die man überall sieht, zunächst meinen möchte. Bei der unglaublich großen Fruchtbarkeit der Iren ist es dennoch denkbar, daß die Zahl der Geschlechtsakte nicht höher liegt als die der Kinder, welche, zugegeben, hoch ist, aber weit höher sein könnte.
Füße, linke und rechte «Mit welchem Fuß gräbst du?» Diese Frage bedeutet in Nordirland: «Bist du Katholik oder Protestant?» Katholiken graben angeblich mit dem linken, Protestanten mit dem rechten Fuß. Der Ursprung dieser sonderbaren Frage läßt sich zurückverfolgen bis zu zwei unterschiedlichen Spaten, die seit alters her in Irland verwendet wurden, der eine im (überwiegend katholischen) Munster und in Connacht, der andere im (teilweise protestantischen) Ulster. Einer der Spaten hatte die Kerbe für den Fuß, mit dem man grub, auf der linken Seite, der andere hatte sie rechts. Leider stellt der Volksmund die Dinge verkehrt herum dar. Es war nämlich der «katholische» Spaten, welcher die Baste auf der rechten Seite hatte, wohingegen sie beim «protestantischen» links war. Manch einer im Norden meint, neben dem, was unmittelbar ins Auge springt – wo einer lebt, welche Schule er besuchte, was für einen Namen er trägt – gebe es noch unzählige weitere Anhaltspunkte, die einem helfen, Protestanten und Katholiken auseinanderzuhalten. Es ist wenig wahrscheinlich, daß ein Mensch namens Siobhan Murphy Protestant ist, und Willy Hanna heißen auch nicht viele Katholiken. Es gibt aber auch feinere Unterschiede. So neigen beispielsweise Katholiken aus dem Norden wie die Iren aus der Republik dazu, den Buchstaben aitch als haitch auszusprechen. Füße, linke und rechte
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Von einem Touristen erzählt man sich, er sei in Belfast einer Meute betrunkener religiöser Fanatiker in die Hände gefallen. «Bist du Protestant oder Katholik?» herrschten sie ihn an und stießen ihn gegen eine Mauer. «Weder noch», stammelte er. «Ich bin Atheist.» «Aber was für einer, ein protestantischer oder ein katholischer?» Lassen Sie sich durch diese Geschichte nicht von einem Besuch des Nordens abschrecken. Die Leute dort haben soviel damit zu tun, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, daß sie sich um solche wie Sie nicht kümmern.
Gälisch
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êä~åÇÄÉëìÅÜÉê sind oft ganz erpicht darauf, Gälisch zu hören.16 Der korrektere Begriff wäre «Irisch», da es verschiedene Varianten von Gälisch gibt, die auch außerhalb Irlands gesprochen werden. Iren, die ihre Sprache als Gälisch bezeichnen, signalisieren damit sogar eine feindselige Einstellung zu der Kultur, die die Sprache symbolisiert. Fast alle Iren lernen ihre Muttersprache in der Schule, außerhalb des Sprachraums aber sprechen viele Irisch genauso gut wie die Angelsachsen Französisch, grauenhaft nämlich. Die irische Sprache steht schon lange mit einem Bein im Grab, und das aus vielerlei Gründen: 1. Der Großen Hungersnot fielen vor allem ärmere Iren zum Opfer. Sie stellten die Bevölkerungsgruppe, von denen die meisten Irisch sprachen. Die Hungersnot trieb weitere Millionen dieser ärmeren Iren ins Exil und damit in andere Sprachwelten. Der Niedergang des Irischen hatte jedoch bereits vor der Hungersnot eingesetzt. 2. Im Unterschied zum Guinness tat das Irische einem nicht gut. Wer es zu etwas bringen, etwa im Beruf vorwärtskommen oder wer nach Großbritannien, Australien oder in die Staaten auswandern wollte, hatte, wenn er Englisch sprach, FFE: Das Wort «gälisch» leitet sich vermutlich von einem walisischen Wort her, das «wild», «ungezähmt» bedeutet.
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Gälisch
einen Vorsprung. Doch das allein erklärt nicht den Niedergang einer Muttersprache. Kleine Nationen wie Dänemark oder Finnland haben auch eine «größere» Sprache gelernt, ohne die eigene aufzugeben. 3. Die britische Kolonialpolitik stand der einheimischen Kultur feindlich gegenüber und unterdrückte oder behinderte sie. Die irische Sprache war davon nicht ausgenommen. Manche Iren machten dabei aber auch nur zu willig mit. Außerdem entstanden gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts, gerade als das Irische wiederbelebt wurde, einige der größten auf Englisch verfaßten Werke der irischen Literatur – ein außerordentlich ungünstiges zeitliches Zusammentreffen. 4. Als der größte Teil Irlands zu Beginn dieses Jahrhunderts endlich die nationale Unabhängigkeit erlangte, boxten irische Regierungen eine ungeschickte und unrealistische Politik zur Wiederbelebung der irischen Sprache durch. Viele Kinder, gezwungen, Irisch in der Schule zu lernen, empfanden das als lästige Pflicht und vergaßen – zusammen mit dem gleichseitigen Dreieck und dem Geburtsdatum von de Valera – auch die Sprache wieder, so schnell sie nur konnten. Der Verfassung nach ist Irisch immer noch erste Landessprache, doch das gehört in den Bereich irischer Fiktionen wie die Beteuerung des Gastes im Haus seines Nachbarn, er habe schon gegessen. (In manchen Kreisen glaubt man, daß sogar die irische Verfassung, ein angeblich Irisch geschriebenes Dokument, zuerst Englisch verfaßt und dann übersetzt wurde.) Rund 30 Prozent der Iren geben bei Umfragen an, daß sie die Sprache sprechen, fraglich ist nur, ob sie das auch Irisch sagen könnten. 5. Irland liegt zu nahe an Großbritannien, um dem Einfluß des Englischen zu entgehen, und ist heute kulturell zu eng mit den Staaten verbunden. Die Waliser haben es mit dem Erhalt ihrer Muttersprache besser gemacht, dabei trennt sie von den Engländern nicht einmal ein Meer. Die englischsprachigen Iren sind einerseits englischem Schund bei Film, Musik, Fernsehprogrammen und Zeitungen oft schutzlos Gälisch
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ausgeliefert, andererseits hat sie das aber auch ins Zentrum der internationalen kulturellen Bühne katapultiert, vor allem ihre Literatur, ihr Kino und ihre Popmusik. Die Gewinne überwiegen also die Verluste. 6. Das Erlernen der irischen Sprache wird heute manchmal mit militantem Nationalismus verwechselt, weswegen sich ein Teil der Iren davor scheut. Und da der Großteil des Landes jetzt unabhängig ist, gibt es eh keinen Grund mehr, es mit dem Irischen zu übertreiben. Nationalsprachen sind oft das Mittel, gegenüber einer stärkeren politischen Macht die eigene Identität zu behaupten, so zum Beispiel durch die Pflege des Katalanischen im Nordwesten Spaniens. Da die Republik Irland ihre britischen Herren inzwischen seit fast acht Jahrzehnten los ist, besteht wenig Anlaß, mit der Sprache politische Zugehörigkeit zu demonstrieren. 7. Irisch zu lernen erfordert einen größeren hirnchirurgischen Eingriff. Es ist ein wunderbar reiches, differenziertes und ausdrucksstarkes Idiom, keineswegs jedoch leicht anzueignen. Beispiel: das Wort Tanaiste, das stellvertretender Premierminister bedeutet, wird in etwa wie «Tawnishta» ausgesprochen. Das Wort für den Premierminister, Taoiseach, wird «Tee-shuck» gesprochen – nicht zu verwechseln mit «tea-shop», was eine englische und keine irische Institution ist. Ausländer, die längere Zeit in Irland gelebt haben, schnappen gewöhnlich aber doch ein, zwei Wörter der Sprache auf. Aer Lingus zum Beispiel.
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Gälisch
In den «Gaeltachts» genannten Gebieten entlang der Westküste leben die meisten derer, die Irisch als erste Muttersprache sprechen. Ihre Zahl beläuft sich auf circa dreißigtausend Personen, ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Monoglotte Iren, solche, die nur Irisch sprachen und sonst nichts, starben im vergangenen Jahrhundert aus. Während das Irische in den Gaeltachts an Bedeutung verliert, lebt es im übrigen Land in bescheidenem Maße wieder auf. Die Zahl der Schulen, in denen der Unterricht nur irisch abgehalten wird, der Schriftsteller, die ausschließlich irisch schreiben, der begeisterten Einzelpersonen, die ihr Irisch in Abendschulen auffrischen, wächst kontinuierlich. Am schnellsten regeneriert sich die Sprache in den nationalistischen Kommunen von Nordirland, wo man sie lernt, um sich der eigenen kulturellen Identität zu versichern. Vielleicht meinen Sie anfangs, viele Dubliner zu hören, die Irisch sprechen. Dieser Eindruck entsteht allerdings nur deshalb, weil deren Englisch für Touristen schwer zu verstehen ist. Wenn jemand «ya fugghan gobshoite» zu Ihnen sagt, so ist das – ob Sie es glauben oder nicht – Englisch. Bleiben Sie nicht zu lange stehen, wenn Sie dies vernehmen.
Gay Byrne
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êä~åÇë führender, kürzlich in Pension gegangener TVMogul, Gastgeber von Quasselrunden und Meinungsmacher. Der wahrscheinlich mächtigste Mann im Lande (siehe
Gott).
Geschichte
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ëí wie Pubs und Müll in Irland auf Schritt und Tritt anzutreffen. Für die Briten bedeutet Geschichte, was sie schon alles gemacht haben, für manche Iren, was man schon alles mit ihnen gemacht hat. Die irische Geschichte ist eine tragische Abfolge von Kriegen, Fremdherrschaft, Aufständen, Hungersnöten, religiöser Verfolgung, drückender Armut und nicht fahrplangemäß verkehrenden Busse. Daraus kann man Geschichte
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ersehen, warum die Iren auch die findigsten Menschen in der ganzen Welt sind. Ohne ihren Einfallsreichtum wären sie schon geschlossen in die Dubliner Bucht gesprungen. Daß die Iren allesamt regelrecht besessen sind von ihrer Geschichte trifft nicht zu, daß viele ein stärkeres Geschichtsbewußtsein haben als Angehörige anderer Nationen allerdings schon. Kein Wunder, sind doch überall in Irland geschichtliche Zeugnisse zu bestaunen und ist die Vergangenheit ein Faktor, der die irische Gegenwart noch immer entscheidend formt. 1998, im Jahr der zweihundertsten Wiederkehr des Aufstands der United Irishmen, bereiste eine Gruppe irischer Historiker das ganze Land und sprach vor dem unterschiedlichsten Publikum, zu dem sogar das Hurling-Team von Wexford gehörte, über das Ereignis. Manche Iren scheren sich jedoch nicht mehr um ihre Vergangenheit als Bill Gates um die Pilgerväter. Die Geschichte verkommt im heutigen Irland immer schneller zu einem Warenpaket, geschnürt für den touristischen Konsum. Wie so oft erweist sich das, was eigentlich für die Iren bestimmt sein sollte, als allein besuchertauglich. In einer Hinsicht jedoch unterscheidet sich das Geschichtsverständnis der Iren von dem der Engländer. Im Gedächtnis der Briten verblaßt ein in der Vergangenheit geschehenes Unrecht mit fortschreitender Zeit. Im irischen Denken sind vergangene Ungerechtigkeiten Teil der Gegenwart. Sie verschwinden nicht einfach dadurch, daß sie vor langer Zeit geschahen. Im 19. Jahrhundert hielt manch irischer Farmer, dessen Land zweihundert Jahre zuvor von den Briten konfisziert worden war, es dennoch für seinen rechtmäßigen Besitz. Die Iren sind ein konservativer Menschenschlag. Sie sind nicht die Anarchisten oder Revolutionäre, als die sie manchmal angesehen werden. Auch wenn sie Gewalt anwendeten, so geschah das bei ihnen oft mit dem Ziel, zu einem früheren Zustand zurückzukehren oder wenigstens den Status quo zu erhalten.
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Gewalt
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áÉ Iren stehen in dem Ruf, ein notorisch aggressiver Haufen zu sein und sich gegenseitig dauernd an die Kehle zu gehen. Obwohl sich das Wort «Hooligan» von einem alt-irischen Vornamen herleitet, haben wir es wieder mit einem dieser altersschwachen Klischees zu tun. Im 19. Jahrhundert gab es zwar viele sporadische Aufstände gegen die britische Herrschaft, insgesamt vermutlich jedoch weniger Gewalt als in Großbritannien selbst. Erhebungen gegen den Staat gab es reichlich, doch nur eine davon, im Jahre 1798, war von einem Blutvergießen in nennenswertem Ausmaß begleitet, und das zum Großteil wegen der Brutalität der Briten. Wohl führten die Iren früherer Zeiten auch gegeneinander Krieg, aber sie hatten auch außer Kartoffeln anzubauen nichts anderes zu tun, und das war eben nicht so aufregend wie einander die Schädel einzuschlagen. Diese sogenannten «Fraktionskämpfe» waren jedoch eher Rituale als tiefgreifende Konflikte, selbst wenn dabei viele Menschen verletzt oder gar getötet wurden. Die Iren waren nun einmal ein unbändiges, händelsüchtiges Volk. Vielleicht erklärt sich diese Eigenheit damit, daß sie auf einer kleinen Insel zusammengepfercht sind. Während des Spanienkrieges soll es in einem Gefangenenlager, in dem IRAGefangene untergebracht waren, drei Fraktionen gegeben haben: die Pro-Franco-, die Anti-Franco- und die BrendanBehan-Fraktion. Zu Beginn der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts kam es in Irland zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen jenen, die den anglo-irischen Vertrag anerkannten, und jenen, die ihn ablehnten. Zu einem während dieses Konflikts am Abbey Theatre in Dublin aufgeführten Theaterstück wurde den Zuschauern im Programmheft versichert, daß alle Schußgeräusche von der Bühne stammten und daß sie ihre Plätze beibehalten konnten. Irland hat schon seit grauer Vorzeit niemals gegen eine andere Nation Krieg geführt, wohl aber haben Iren häufig an den Schlachten anderer Völker teilgenommen. Die irische Marine ist so klein, daß sie bequem auf einem Rudersee Platz fände. Noch kleiner ist nur die der Schweiz. Irland war im Zweiten Weltkrieg neuGewalt
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tral und hat sich seither von militärischen Bündnissen wie der NATO ferngehalten. Sein internationales Ansehen beruht nicht darauf, daß es überall in der Welt militärisch präsent ist, sondern auf seinen kulturellen Leistungen. In jüngster Zeit haben sich irische Truppen mehrfach an Friedensmissionen der UN beteiligt. Im Rahmen der Vereinten Nationen gehört Irland zu den erklärten Gegnern des Militarismus und setzt sich für die Verteidigung der Menschenrechte ein. Obwohl die Iren nicht zu den wohlhabenden Nationen gehören, beteiligen sie sich in der ganzen Welt an Projekten zur Linderung von Armut und Not, und zwar durch finanzielle und personelle Hilfe, letztere meist in Gestalt von Missionaren. Manche erklären dieses karitative Engagement damit, daß die Iren am eigenen Leib erfahren haben, was Hungern bedeutet. Vielleicht liegt es aber am Gefühl für moralische Verantwortung, das bei den Iren, einer der gläubigsten Nationen der Welt, noch lebendig ist. In einem Land, in dem der Gedanke staatsbürgerlicher Verantwortung für das Gemeinwesen kaum ausgeprägt war, konnte die Religion diese Lücke mit den ihr innewohnenden Werten füllen – und das obwohl die Kirche mit ihrer Strenge und Autorität das Leben so vieler Iren beschädigt und zerstört hat. Vermutlich liegt es auch an dieser religiösen Erziehung, wenn deutlich mehr Iren als andere Europäer glauben, daß man die eigenen Eltern ungeachtet ihrer Fehler lieben und achten solle. Jedenfalls ergab dies eine Meinungsumfrage. In Irland nimmt die Drogenkriminalität rapide zu. Einer Schätzung zufolge ist das Heroinproblem in Dublin im Verhältnis genauso groß wie in New York. Es gibt verödete Stadtlandschaften, die Nährböden für die Drogenmafia sind und in denen Rivalitäten zwischen Gangs mit Waffengewalt ausgetragen werden. Das soziale Klima in Irland ist heute rauh, stark von Gewalt geprägt. Die Verbrechensrate ist seit den sechziger Jahren steil angestiegen. Dennoch wurden 1996 nur 42 Morde registriert, eine Zahl, die besonders Amerikaner geradezu idyllisch finden könnten. Ein Mord macht in Irland Schlagzeilen, was sich von Miami nicht behaupten läßt. (Autounfälle sorgen ebenfalls für Schlagzeilen.) Amerikaner, die eine Zeitlang in Irland leben, lernen 66
Gewalt
ein sich nach und nach veränderndes Körpergefühl kennen. Hat er einmal begriffen, daß er in Mullingar mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überfallen wird, beginnt sich der verkrampfte, stets wachsame Körper eines New Yorkers zu entspannen. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß man zu jeder beliebigen Nacht- oder auch Tagesstunde gefahrlos durch den Phoenix Park schlendern kann. Auch in Irland ist man inzwischen nicht mehr so sicher, obwohl immer noch um einiges sicherer als in manch anderem Land. Die Wahrscheinlichkeit, erschossen zu werden, ist in Belfast wesentlich geringer als in Chicago. Wie die britische Polizei ist auch die irische, die Garda Siochana, unbewaffnet. Waffen tragen nur die Beamten in Zivilkleidung.17 Noch vor kurzem hatte Irland die niedrigste Rate an Tötungsdelikten in ganz Europa, sowohl in absoluten Zahlen als auch pro Kopf der Bevölkerung. Die Gefängnisse jedoch sind überfüllt. Es gibt ungefähr 10 500 Polizisten im Land, einschließlich mehrerer hundert weiblicher Beamte, denen es nach langem Bedenken ihrer Vorgesetzten schließlich gestattet wurde, von ihrer Weiblichkeit abzusehen und die Röcke gegen Hosen einzutauschen. Der Job eines Polizisten gilt unter arbeitslosen Jugendlichen als krisenfest, und es herrscht trotz langer Ausbildungszeit kein Mangel an Bewerbern. Meinungsumfragen zufolge genießt die Polizei bei der irischen Bevölkerung hohes Ansehen – gewiß mehr als bei jeder anderen europäischen Nation, obwohl die Garda wie jede andere Polizeibehörde auch korrupte Beamte und Schläger in ihren eigenen Reihen hat. Die Verehrung der Briten für ihre Polizei hat spürbar nachgelassen, nicht zuletzt wegen einer Reihe von grotesken Justizirrtümern. Zum Teil betrafen diese auch Iren, die zu Unrecht als Terroristen verurteilt wurden. Bei der Garda gibt es inzwischen eine spezielle Anti-Drogen-Einheit, deren Arbeit von Tag zu Tag notwendiger wird. Außerdem ein Betrugsdezernat, das die fragwürdigen Geschäftspraktiken irischer Banken im Auge behalten soll. Überall im Lande sind heute Bürgerwachen aktiv. Vorzustellen hat man sich das so: Die Bürger beobFFE: Zwischen 1970 und 1990 wurden in Irland nur zwölf Polizeibeamte ermordet.
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achten von ihren Fenstern aus die Straße. Sie sehen genau hin, wenn jemand Ihre Eingangstür aufbricht und mit Ihrem Videorecorder das Weite sucht. Irischen Polizeibeamten ist es untersagt zu streiken. Kürzlich jedoch, als die Forderung nach höheren Löhnen durchgesetzt werden sollte, meldeten sich achtzig Prozent der Polizisten krank und schlossen sich danach einer Großdemonstration im Stadtzentrum von Dublin an. Die Gesundheitsbehörde rätselt noch immer, wie es sein kann, daß so viele Polizisten genau zur selben Zeit erkrankten.
Giant’s Causeway
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áåÉ weitere herbe Enttäuschung auf Ihrer Reise. Der große englische Schriftsteller Samuel Johnson wurde einmal gefragt, ob der Causeway sehenswert sei. «Sehenswert schon», erwiderte Johnson, «aber nur, wenn man nicht extra dafür hin muß.» Er hatte vermutlich recht. Reißen Sie sich kein Bein heraus, um diese nur mäßig interessante Ansammlung von Säulen zu sehen. Die umliegende Gegend, die Küsten und Täler von Antrim, lohnen das Hinfahren schon eher. Und wenn Sie schon einmal da sind, wäre es ja kaum die feine Art, nicht auch einen Blick auf den Causeway, immerhin Weltkulturerbe, zu werfen. Unter den dortigen Basaltsteinen befindet sich einer, der aussieht wie eine Orgel, auf der zweimal im Jahr der legendäre Riese Finn MacCool gespielt haben soll, einmal am 12. Juli (einem Tag, der den nordirischen Protestanten heilig ist) und einmal am 17. März (dem katholischen Feiertag zu Ehren von St. Patrick). So führt Finn die lange Reihe Liberaler an, welche meinten, sie könnten sich im Nordirland-Konflikt bei beiden Seiten beliebt machen. Finn gelang das nicht, denn zu seiner Zeit war der Konflikt noch gar nicht ausgebrochen; andere hatten keine Chance, weil er viel zu lange vor ihrer Zeit ausgebrochen war.
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Giant’s Causeway
Glück
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êçíò dauernder Nässe von oben, trotz des Preises für ein Guinness, trotz der Tatsache, daß unmittelbar nördlich von ihnen dreißig Jahre lang ein Krieg tobte, und trotz der zweiten Tatsache, daß sie in einem großen Teil der Welt als Lügner und Taugenichtse gelten, sind die Iren ein glückliches Volk. Woher wir das wissen? Aus einer Erhebung, bei der 1990 nach der individuellen Lebenszufriedenheit gefragt wurde. Über neunzig Prozent der irischen Teilnehmer an der Umfrage gaben an, sie seien glücklich. Im Gegensatz dazu fühlen sich Spanier, Italiener, Franzosen und Portugiesen geradezu elend, obwohl das Wetter bei ihnen weitaus schöner ist. Kompliziert wird es dann, wenn man der philosophischen Frage nachgeht, ob jemand wirklich glücklich ist, wenn er das von sich behauptet. Zwar neigen die Iren dazu, zu allem gute Miene zu machen und noch fröhlich zu grinsen, wenn ein Mungo sie angreift, aber ein solcher Glücksüberschwang überrascht denn doch. Die älteren Bürger Irlands waren deutlich zufriedener als die jüngeren, und die Hausfrauen waren insgesamt glücklicher als die berufstätigen Frauen. In puncto Vertrauen zu anderen erreichten die Iren großartige Werte. Ein hoher Prozentsatz war sogar stolz auf seine Nationalität. Ein Paddy zu sein ist eben besser als Prozac.
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áÉê haben wir es wieder mit einem der zahlreichen irischen Phänomene zu tun, die real und mythisch zugleich sind. Maud Gonne wurde als Tochter eines britischen Offiziers in England geboren. Im Alter von vierzehn Jahren nahm sie einen Heiratsantrag an, der ihr von einem Franzosen bei Mondschein im Kolosseum von Rom gemacht wurde. Mauds Eltern hatten allerdings andere Zukunftspläne für ihr Kind. Durch ihren Liebhaber geriet sie später in einen zwielichtigen Kreis politisch rechtsstehender französischer Antisemiten und beteiligte sich an einer geheimnisumwitterten Mission nach Rußland, die das Ziel hatte, die Unterstützung des Zaren für eine politische VerGonne, Maud
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schwörung gegen die französische Regierung zu gewinnen. Trotz ihres späteren Radikalismus sollte Gonne manch unschöne antisemitische Neigung beibehalten und alles Britische als Teufelswerk betrachten. Nachdem sie ihr Betätigungsfeld nach Irland verlagert hatte, wurde sie zur treibenden Kraft einer Kampagne gegen die Zwangsräumungen im Westen. Sie begegnete dem Dichter William Yeats und traf ihn, seinen eigenen Worten zufolge, «wie ein Gongschlag». Yeats verliebte sich hoffnungslos in Gonne, doch es bleibt weiter umstritten, ob die Beziehung jemals vollzogen wurde. Das Paar soll ab und zu gemeinsam auf der Erde gelegen, die Ohren an den Boden gedrückt und Feenmusik gelauscht haben. Zumindest behaupteten sie das. Sehr zu Yeats’ Verdruß heiratete Maud aber den Trunkenbold John MacBride, dessen einzige Leistung im Leben darin bestand, für seine Beteiligung am Osteraufstand von den Briten erschossen zu werden. Während der Flitterwochen mit MacBride schmiedete Gonne, die sonst nicht viel zu tun hatte, ein Komplott zur Ermordung Königin Victorias. Als aus dem Plan nichts wurde, mußte Gonne sich widerwillig damit zufriedengeben, gegen den Staatsbesuch der Königin in Irland zu protestieren, und bekam zum ersten Mal polizeiliche Gewalt zu spüren. Nach einer Tour durch die USA, bei der sie feurige Vorträge hielt, kehrte sie in den Westen Irlands zurück und organisierte dort die Hungerhilfe. Man wählte sie zur Präsidentin der republikanischen irischen Frauenbewegung, und sie wurde eine enge Freundin des aus der Arbeiterklasse stammenden Sozialisten James Connolly, der für seine Teilnahme am Osteraufstand ebenfalls hingerichtet werden sollte. (Connolly schielte stark, eine Folge dessen, daß er als Kind einer armen Familie ständig bei unzureichender Beleuchtung gelesen hatte.) Gönne spielte in nationalistischen Theaterstücken mit und engagierte sich für die Kinder der Armen. Sie wurde 1917 inhaftiert, kehrte den Spieß jedoch später um, gegen die britische Justiz nämlich, und wurde Richterin bei den (damals illegalen) Sinn-Fein-Gerichten. Während des Bürgerkriegs, der auf die Unabhängigkeit folgte, pflegte sie Verwundete und gründete eine Frauenliga namens The Mothers, die republikanische Gefangene be70
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treute. Entlohnt wurde ihr diese Arbeit im Jahre 1932, als die irische Regierung alle politischen Häftlinge aus den Gefängnissen entließ. Maud half bei der Gründung der Workers Party of Ireland, schloß sich indischen Nationalisten an und unterstützte Frauenrechtsbewegungen im Kampf gegen den patriarchalischen Irischen Freistaat. Sie starb 1953, spät genug, um noch zu erleben, daß Irland seine letzten politischen Bande mit dem Vereinigten Königreich kappte. Zwei ihrer Lieblingskleider aus ihrer Zeit als Debütantin bewahrte Maud ihr ganzes turbulentes Leben hindurch auf.
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áåÉ in Irland erstaunlich populäre Gestalt, nur übertroffen von Bono, dem Leadsänger der Rockgruppe U2. Vor ein paar Jahren gaben 98 Prozent der irischen Katholiken an, an Gott zu glauben – der Katholiken wohlgemerkt, nicht der Iren insgesamt. Da fragt man sich, was die restlichen zwei Prozent der Katholiken wohl geantwortet haben. Verglichen mit anderen Europäern, glauben doppelt so viele Iren an Himmel, Hölle und den Teufel. Seit dem Niedergang der irischen Sprache ist der Katholizismus für die Iren das Fundament ihrer Identität. Trotz der immer rascher fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft, nicht zuletzt unter der Jugend, zählen die Iren nach wie vor zu den frömmsten Menschen der Welt, jedenfalls der erstaunlich hohen Anzahl regelmäßiger Kirchgänger nach zu urteilen. Noch vor wenigen Jahren besuchten über achtzig Prozent der irischen Katholiken regelmäßig den Gottesdienst (im angeblich katholischen Frankreich nur dreizehn Prozent). Jetzt sind es nur noch 55 Prozent. Daß die Alternative zum Kirchgang der direkte Abmarsch in die Hölle sein kann ist doch ein gewaltiger Ansporn, am Sonntagmorgen aus dem Bett zu finden. Die Zahl derer, die regelmäßig beichtet, ist ebenfalls hoch, auch wenn es manchmal peinlich werden kann. («Wo hat er dich berührt, mein Kind?» «Auf dem Kanaldamm, Vater.») Rund 95 Prozent der Iren sind getaufte Katholiken. Wenn man auf dem Oberdeck eines Busses sitzt und sich plötzlich Gott
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alle bekreuzigen, fährt der Bus mit Sicherheit gerade an einer Kirche vorüber. Vor Jahren konnten die Stewardessen der Aer Lingus nur per Dienstanweisung dazu gebracht werden, sich beim Abheben des Flugzeugs nicht zu bekreuzigen. Passagiere hatten diesen Anblick nicht sonderlich beruhigend gefunden. Es sollen sich sogar schon Iren bekreuzigt haben, wenn sie an einem Postamt vorübergingen. Postämter sind heilige Stätten, seit die Dubliner Hauptpost im Jahre 1916 zum Schauplatz des Aufstands wurde, der mit der politischen Unabhängigkeit endete (siehe Ostern 1916). Viele Iren schlagen heute jedoch eher das Kreuz, wenn sie an einer Bank vorüberkommen. Irland ist überzogen mit Nonnen- und Mönchsklöstern, Schreinen, Statuen der tanzenden oder der weinenden Jungfrau. Auf seinen Straßen wimmelt es von Männern und Frauen in absonderlicher Tracht, besser bekannt als Priester und Nonnen.18 Um Priester machte man seit jeher einen weiten Bogen, weil man ihnen die Macht zuschrieb, daß sie einen Menschen in einen Esel verwandeln, Getreide verfaulen oder Glieder schrumpfen lassen konnten, wenn der Betreffende sich ihren Anordnungen widersetzte. Heutzutage macht man den weiten Bogen eher deshalb, weil sie im Verdacht stehen, Kinderschänder zu sein. In Irland gibt es mehr Heilige als Psychiater, und manche von ihnen haben sich auf die Heilung von Halskrankheiten oder das Wiederfinden verlorener Handtaschen spezialisiert. Wer eine Bitte anbringen will, sollte sich aber nicht mit der unteren Führungsebene abgeben, sondern sich gleich ans obere Management wenden. Der Katholizismus glaubt an absolute Werte, die die Iren jedoch zu relativieren wissen. Meinungsumfragen zufolge halten sie strikter an der Unterscheidung zwischen Gut und Böse fest als andere europäische Nationen. Einfache Iren spielen sich kaum als Moralapostel auf. Sie sind ein tiefreliFFE: Irlands wichtigste heilige Stätte ist Knock in der Grafschaft Mayo, angeblich ist hier der drittgrößte Madonnenschrein in Europa nach Lourdes und Fatima. Knock hat sogar einen eigenen internationalen Flughafen. Als die Madonna im Jahre 1879 erschien, soll der Pfarrer, wie man sich erzählt, sie keines Blickes gewürdigt haben. Er war der Meinung, sie sei in seiner Kirche sowieso immer anwesend.
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giöses Volk, aber weder Eiferer, Fanatiker und Moralisierer wie einige US-amerikanische Prediger noch ölig-glatt wie manch anglikanischer Kleriker in England. Die frühe keltische Kirche hatte ein entspanntes Verhältnis zu Autorität, Sexualität und der Rolle der Frau; St. Brigid hätte womöglich sogar Bischöfin werden können. Gott sah man eher als Befreier denn als Richter. Im heutigen Irland hindert die Religion niemanden daran, seinen Spaß zu haben. Es gelingt den Iren, den Glauben an absolute Dinge mit Toleranz gegenüber menschlichen Schwächen zu verbinden – das ist sogar eine ihrer großen Fähigkeiten. Sie kommen mit Scheitern besser zurecht als mit Erfolg, den sie eher mit Argwohn betrachten. Im allgemeinen nehmen sie ihren Glauben ernst, ohne scheinheilig zu sein. An Gott zu glauben bedeutet jedoch nicht notwendig, auch an den Bischof oder gar den Papst zu glauben. Kein Wunder, war es doch ein Papst, der einem englischen König im Mittelalter seinen Anspruch auf Irland zuerkannte und ihm schriftlich zu seinem militärischen Sieg gratulierte: «Sie haben einen wunderbaren und ruhmreichen Triumph über die Menschen Irlands errungen», schrieb er, «die sich sonst in einem gegenseitigen Abschlachten zerstört hätten ... Die Iren sind ein unzivilisiertes und undiszipliniertes Volk.» Doch die Iren sind nicht nachtragend: Als Papst Johannes Paul II. Irland besuchte, war fast die ganze Bevölkerung auf den Beinen und jubelte ihm zu. Abgesehen von Vatikanstadt muß Irland eines der wenigen Länder in der Welt sein, in dem die Mehrheit der Bevölkerung den römischen Pontifex mit eigenen Augen gesehen hat. Wie viele katholische Nationen hat Irland eine ausgeprägte antiklerikale Tradition, dabei steht es in puncto Klerikerdichte pro Quadratmeter kaum hinter Vatikanstadt zurück. Radikale Priester und Nonnen, die die offizielle Kirche kritisch betrachten, gibt es viele. Eine Untersuchung zeigt, daß mehr irische Katholiken von der Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels der Kirche überzeugt sind als die Bürger jedes anderen katholischen Landes. Das ist wohl weniger ein Indiz für den Radikalismus der Iren als vielmehr eines für den bestürzenden Zustand ihrer Kirche. Die Meinung, die katholische Kirche hielte die staatliche Politik im Gott
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Würgegriff, sage der Regierung, was diese zu tun habe, ist weit verbreitet. Die Wirklichkeit freilich sieht anders aus. Statistiken belegen, daß die irischen Bischöfe nur selten bei politischen Entscheidungen eingegriffen haben. Der Verfassung zufolge hat die katholische Kirche keine privilegierte Stellung in der irischen Gesellschaft mehr. Ihre inoffizielle Macht ist jedoch immer noch enorm. Erst kürzlich tat ein irischer Bischof in einer Aufwallung von christlicher Demut kund: «Wir, die Bischöfe, sind Christus.» Heute indes möchten immer mehr Iren wissen, ob Christus sich als irischer Bischof sieht. Der Gottesdienstbesuch ist, wie wir gesehen haben, rückläufig, vor allem bei der Jugend, den Arbeitslosen, den Bewohnern ländlicher Regionen und den Intellektuellen. Ohne die Arbeitslosigkeit, die Menschen zögern läßt, sich an gesellschaftlichen Ritualen zu beteiligen, wäre die Zahl der Kirchgänger vermutlich signifikant höher. So ist die «Säkularisierung» in Irland nicht bloß Folge des Umsichgreifens «aufgeklärter» Ansichten. In gewisser Hinsicht ist sogar genau das Gegenteil wahr. Die katholische Kirche stürzte durch eine Reihe spektakulärer Sex-Skandale in eine tiefe Autoritätskrise. Vorbei sind die Zeiten, wo ein Bischof noch von der Kanzel sagen konnte, er kenne viele glücklich verheiratete Paare, die sich zwanzig Jahre lang des Geschlechtsverkehrs enthalten hätten. Und die traurige Wahrheit ist, daß Irland seit dem frustrierend kurzen Auftritt der Madonna in der kleinen Stadt Knock im Jahre 1879 kein weiteres offiziell anerkanntes Wunder erleben durfte. Das ist eine beschämend lange Zeit für eines der frömmsten Völker der Welt. Gott sollte sich schleunigst darum kümmern. Aus der katholischen Kirche auszutreten ist indes nicht einfach, da die Kirche solche Menschen als «Abgefallene» einstuft. So wird dafür gesorgt, daß diejenigen, die außerhalb der Kirche stehen, trotzdem noch irgendwie in ihr sind. Die Kirche ist eine Körperschaft, bei der man nicht kündigen kann, da man nur von einer in eine andere Kategorie geriete, etwa so, als sei man nun ein auf dem Lande und nicht mehr in der Stadt lebendes Mitglied eines Klubs. Als abgefallener Katholik gehört man zu einer illustren Gesellschaft und steht nach Ansicht mancher Leute in der Rang74
Gott
Ordnung direkt hinter den Heiligen. Ganz oben ist Gott, dann kommen die Heiligen, die abgefallenen Katholiken, die Kleriker und zuletzt die einfachen Gläubigen und die Protestanten. Doch sogar die Protestanten könnten gute Katholiken sein, wenn sie nur aufhören würden, dauernd die Bibel zu lesen. Empfängnisverhütung ist offiziell eine Todsünde. Doch die Iren scheint das kaum zu beunruhigen, wenn man sieht, wie eifrig sie Drogerien aufsuchen. Scheidung ist ebenfalls eine Todsünde, doch der irische Staat läßt sie jetzt zu. Menschen leben wieder offen ohne Trauschein zusammen, wie sie es im Mittelalter taten. Die Abtreibung ist illegal, doch die Mehrzahl der Iren ist dafür, daß Informationen verbreitet werden, wie man in Großbritannien eine Abtreibung vornehmen lassen kann. Letztlich geht es um die freie Auslegung von Regeln, auch wenn Gott sie sich ausgedacht hat.
Gubu
J
çìêå~äáëíÉå~âêçåóã für «Grotesk, unglaublich, bizarr und unerhört». Mit diesen Worten nahm ein früherer irischer Premierminister die Nachricht auf, daß ein der Polizei entwischter Krimineller ausgerechnet im Hause des Generalstaatsanwalts aufgegriffen worden war. Das ist ein bißchen so, als müsse man erfahren, daß der Bildungsminister nicht lesen kann oder daß der Gesundheitsminister an AIDS erkrankt ist. An politische Skandale haben sich die Iren inzwischen zwar gewöhnt, aber das war wohl doch zuviel.
Heaney, Seamus
E
áåÉê der bekanntesten lebenden Iren und ein echter irischer Exportschlager. Heaney hat eine Werkstatt in Dublin, in der er kleine Leckerbissen, besser bekannt als Gedichte, fabriziert, die per Schiff in die ganze Welt expediert werden und noch ganz frisch sein müßten, wenn sie bei Ihnen eintreffen. Manche sind leicht zu schlucken, an Heaney, Seamus
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anderen hat man eine Weile zu kauen und zu verdauen. Die Stücke sind alle handgefertigt und haben einen authentischen irischen Geschmack. Bleiben wahrscheinlich länger im Gedächtnis haften als die Songs von Bob Geldof.
Heckenschulen
M
áí der Einführung der «Penal Laws», der Strafgesetze gegen Katholiken, an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert wurde den Katholiken von den Briten auch die Betreibung eigener Schulen verboten. Sie unterrichteten einen Teil ihrer Kinder daraufhin an Plätzen, die Heckenschulen genannt wurden, weil man sich bei gutem Wetter im Freien versammelte. Arme Bauernkinder waren berühmt, weil sie Vergil und Homer aufsagen konnten, doch davon mag vieles Legende sein. Vermutlich wahr sind die zahlreich überlieferten Geschichten über irische Kinder auf dem Lande, die täglich barfuß drei oder vier Meilen weit zur Schule gingen. Die Iren haben großen Respekt vor Bildung, und selbst arme Familien boten einem Wandergelehrten ein Obdach für die Nacht.19 Edmund Burke, der größte politische Kopf, den Irland hervorbrachte, und einer der besten Redner, den das Unterhaus erleben durfte, erhielt seine erste Bildung in einer Heckenschule im County Cork. Unter Heckenschulen könnte man sich etwas Romantisches vorstellen. Doch wie die meisten irischen Idyllen hat auch diese ihre unerfreuliche Kehrseite. Manche Schulmeister waren Trinker, Hochstapler und Pedanten und traktierten ihre Zöglinge mit hochtrabend klingendem Unsinn. Es kam vor, daß sie Kinder brutal schlugen. Später errichtete der Staat ein flächendeckendes Netz von Schulen für alle irischen Kinder, die jedoch von den Leuten zu Recht als Instrumente britischer Propaganda beargwöhnt wurden. Die Beschäftigung mit irischer Geschichte und Literatur war verboten, und ein von den Schülern gesungenes Lied handelte von der Freude, «ein glückliches englisches Kind» zu sein. 19 FFE: 1862 sollen zur Grundsteinlegung für die Katholische Universität zehntausend Dubliner Arbeiter aufmarschiert sein.
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Heckenschulen
In einigen dieser Schulen mußten die Kinder ein Stück Holz um den Hals tragen. Ein Kind, das versehentlich ein irisches Wort aussprach, bekam von seinem Lehrer eine Kerbe in das Holz geschnitten. Am Ende des Schultags wurde das Kind mit den meisten Kerben geschlagen. Eine unfeine Art, den Iren ihre Sprache auszutreiben. Die Lehrer, die sich dazu hergaben, waren meist jedoch selber Iren. Aber vermutlich haben die irischsprechenden Eltern der Kinder die Kerbholz-Methode gebilligt, weil sie wollten, daß die Kinder im Leben vorankamen. Und ohne Englischkenntnisse ging das nicht. Heute gibt es in Irland keine Heckenschulen mehr. Dafür aber vier Universitäten: das Trinity College, die National University (mit Fakultäten in Dublin, Galway, Maynooth und Cork) und zwei technisch ausgerichtete Universitäten in Dublin und Limerick. Die mit Abstand älteste davon ist das im späten 16. Jahrhundert von Königin Elizabeth I. gegründete Trinity College. Das heutige Hauptgebäude stammt jedoch aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die längste Zeit seines Bestehens war das College ein Hort englisch-protestantischer Macht in Irland. Katholiken wurden lange Zeit nicht aufgenommen, und als sie die Möglichkeit bekamen, untersagten die katholischen Bischöfe ihnen den Besuch. Man muß dabei an einen alten Groucho-Marx-Witz denken: Er, Groucho, würde in keinen Klub eintreten, in dem Leute wie er zugelassen seien. Das Trinity war eine Art Oxford, nur am Fluß Liffey gelegen, voller englischer und anglo-irischer Aristokraten, die es nicht geschafft hatten, ans richtige Oxford zu kommen. Viele verbrachten ihre Zeit mit Cricket und Crocket und sprangen gern mit einer Gallone Bier im Bauch von Dächern. Eine Zeitlang sprach man vom Trinity nur als der «stummen Schwester» von Oxford und Cambridge – weil nie ein Laut aus seinen Mauern drang. Die Professoren waren vollauf damit beschäftigt, Sherry zu süffeln und Wildschweinbraten in sich hineinzuschaufeln. Wie sollten sie da noch Zeit haben, sich mit etwas so Vulgärem wie dem Lesen von Büchern zu befassen, geschweige denn, welche zu schreiben. Trotzdem brachte das Trinity eine glanzvolle Reihe irischer Schriftsteller und Denker hervor, angefangen von Heckenschulen
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Jonathan Swift und Edmund Burke bis hin zu Oscar Wilde und Samuel Beckett. Heute sind 90 Prozent der Studenten am Trinity Katholiken, es ist eine bedeutsame Lehranstalt, leider nur überfüllt. Die Anlage kann nicht erweitert werden, weil sie mitten im engen Stadtzentrum liegt. Heute studieren dort rund 10 000 Menschen. Um ein Bild von der Platznot zu haben: Stellen Sie sich vor, die gesamte Oxford University müßte in einem Oxforder College residieren. In der hervorragenden Bibliothek des Trinity drängen sich die Leiber wie in einem Fußballstadion. Das einzige Buch, das zudem auch noch die Mehrzahl der Touristen zu sehen bekommt, ist das Book of Kells. Neben der Bibel gehört es zu den Büchern, die am meisten verehrt und am wenigsten gelesen werden. Das irische Bildungsniveau ist allgemein sehr hoch, nur auf manchen Gebieten – Mathematik, Naturwissenschaften, moderne Sprachen – ist der kulturelle Rückstand offensichtlich. Fast eine Million der insgesamt dreieinhalb Millionen Iren hat studiert. Diese enorme Zahl bildungshungriger Köpfe strapaziert die Kräfte eines armen Landes bis an seine Grenzen. Die Schulen sind häufig miserabel ausgestattet, da die Geldmittel sehr knapp sind, trotzdem werden Lehrer relativ anständig entlohnt und genießen ein ziemlich hohes Ansehen. Irland gibt für die Bildung seiner Einwohner recht wenig aus. Auf der internationalen Liste rangiert es weit unten. Das Verhältnis der Lehrer/Schüler-Zahlen ist ungünstiger als in den meisten anderen europäischen Ländern. Bildung ist in Irland teuer, und da Eltern ihre Kinder häufig finanzieren müssen, sind die Nachkommen der weniger Begüterten an den Hochschulen skandalös unterrepräsentiert. Der Schulbesuch beginnt im frühen Alter von vier Jahren. Die meisten Schulen werden konfessionell geführt, wenngleich sie staatlich finanziert werden. Circa achtzig Prozent der weiterführenden Schulen befinden sich im Besitz und unter der Kontrolle katholischer Orden. Schicke Internate gibt es natürlich auch.
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Heckenschulen
Herrengedeck
W
~ë ein und dieselben Wörter einer Sprache in verschiedenen Sprachräumen bedeuten, begreift man erst, wenn man sie in der jeweiligen Region gesprochen gehört hat. Dies trifft auf viele Wörter im irischen Englisch zu, so auch auf «himself» und «herself». «Himself» bezeichnet das Oberhaupt der Familie, wenn beispielsweise gesagt wird: «Himself will be wanting his breakfast.» Das Wort kann sich aber auch auf einen anderen, gerade anwesenden Mann von Rang und Bedeutung oder auf einen bestimmten Herrn beziehen, von dem gerade die Rede ist. Gleiches gilt für «herself», womit die Ehefrau oder die Mutter in der Familie oder, noch allgemeiner, eine Frau von Rang bezeichnet wird. Erst der Kontext erklärt, welche dieser Bedeutungen intendiert ist. Eine deutsche Übersetzung des obigen Beispiels, etwa mit «er wird sein Frühstück wollen», enthält die in «himself» implizierte Statusanzeige nicht. Wird einem männlichen Namen ein «the» vorangestellt wie etwa bei «the O’Donoghue», so handelt es sich bei dem so Bezeichneten um das älteste männliche Mitglied seines Klans. Auch die Bedeutung weiterer Eigentümlichkeiten irischer Redensarten erschließt sich nur durch den Zusammenhang, wie das einem Satz angefügte «so» illustriert: «I’ll put the suitcase there, so.» Begleitet wird dieses «so» beim Abstellen des Koffers von einem leichten Einatmen, das zwischen einem Zeichen für Zustimmung und einem unmißverständlichen Gefühlsausdruck changiert. Von Frauen hört man ein solches «so» häufiger als von Männern, und junge Leute verwenden es kaum.
Himmel
E
ë gibt kaum Schöneres in Irland: Der unablässige Wechsel von Himmel, Licht und Wolkenformationen ist eine der Freuden der Landes und – im Unterschied zum Giant’s Causeway – auch noch kostenlos zu bewundern. Weniger schön ist, daß die Sonne sich im Durchschnitt nur drei StunHimmel
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den pro Tag zeigt. Dank milder Temperaturen bleibt Irland jedoch das ganze Jahr hindurch grün. Dem Tourismusbüro wird so erspart, es anzustreichen. Die dunstige, feuchte Atmosphäre der Insel mischt, dämpft und bricht Farben, so daß ein Ort immer anders aussieht.
Hungersnot
W
Éê in Irland von «Hungersnot» spricht, meint gewöhnlich die Große Hungersnot von 1845–49, die ungefähr eine Million Todesopfer forderte und in den folgenden zwei Jahrzehnten weitere Millionen Menschen ins Exil trieb. Diejenigen, die den Tod fanden, starben, wie es für Hungersnöte typisch ist, eher an Krankheit als an Auszehrung. Es gab in der irischen Geschichte eine ganze Reihe von Hungersnöten, manche vielleicht sogar schwerer als die, welche unter dem Namen Große Hungersnot in die Geschichte eingegangen ist. Einzigartig macht dieses Ereignis zum einen, daß es länger dauerte als die meisten anderen Hungersnöte in Irland – die Kartoffelernte blieb über Jahre aus –, und zum anderen, daß ein so großer Teil des Landes davon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Manche Regionen traf es härter als andere; im Westen Corks, in Mayo und in Donegal waren die Verhältnisse schlimmer als im Osten des Landes. Die kleine Stadt Clonakilty im Westen Corks hatte besonders schwer zu leiden, und noch etliche Jahre später fügten ältere Menschen, wenn sie den Namen dieser Stadt aussprachen, stets die Wendung «So helf uns Gott» hinzu. Gut möglich, daß Sie unterwegs auf einen der seltsam anmutenden Friedhöfe für die Opfer der Hungersnot stoßen, wo die Menschen ohne Särge in Gruben verbrannt wurden. Särge waren teuer, und so benutzte man einen wiederverwendbaren, dessen Unterseite sich aufklappen ließ und den Leichnam freigab. Wie vieles andere in Irland ist auch die Große Hungersnot noch heute ein Anlaß für Zwistigkeiten. Welche Auffassung jemand dazu vertritt, offenbart, ob der Betreffende Nationalist oder ein Kritiker des Nationalismus ist. Und das hat unmittelbaren Einfluß auf das politische Geschehen. Für manche Iren sind diejenigen, die noch immer die Große 80
Hungersnot
Hungersnot beklagen, krankhaft auf die Vergangenheit fixiert und arbeiten, wenn sie England des Genozids beschuldigen, letztlich nur der IRA in die Hände. Nach Ansicht dieser Iren war Irland damals hoffnungslos überbevölkert und die Hungersnot eine Naturkatastrophe, die wohl unvermeidlich war, zu der es einfach kommen mußte. Die Iren waren viel zu abhängig von einer Monokultur, der Kartoffel; sie bauten zwar auch andere Feldfrüchte an, mußten diese jedoch an den Gutsherrn verkaufen, um die Pacht bezahlen zu können. Die britische Regierung, so wird behauptet, tat, was in ihrer Macht stand, um mit der Tragödie fertigzuwerden, doch von dem ungeheuren Ausmaß des Leids wäre jede damalige Regierung überfordert gewesen. Die Ursache von Hungersnöten ist im allgemeinen nicht Nahrungsknappheit. Bei den meisten Hungerkatastrophen sind Nahrungsmittel sogar in ausreichendem Umfang vorhanden. Das Problem besteht vielmehr darin, die vorhandene Nahrung und die hungrigen Menschen zusammenzubringen. Hungerkatastrophen entstehen deshalb, weil Menschen sich keine Nahrung kaufen können – nicht etwa deshalb, weil keine da wäre. Ob diese Situation auch bei der Großen Hungersnot in Irland gegeben war, hängt vom Standpunkt des einzelnen ab. Die Kartoffelfäule, der Jahr um Jahr die Ernte zum Opfer fiel, hat offenbar überall im Lande zu einer Lebensmittelknappheit geführt. Nationalisten werfen hier zornig ein, daß während der Hungerperiode weiter Naturalien nach Großbritannien exportiert wurden. Überliefert sind Berichte über verzweifelte Männer und Frauen, die Lebensmitteltransporte überfielen und von britischen Soldaten mit Schlägen zurückgedrängt wurden. Manche Historiker meinen jedoch, daß durch einen Verbleib dieser Eßwaren im Lande die Katastrophe nicht wesentlich gemildert worden wäre. Zudem seien während der Hungerjahre mehr Lebensmittel ein- als ausgeführt worden. Die Sache hat aber noch eine zweite Seite. Es mag ja sein, daß in Irland selber nicht genügend Nahrungsmittel vorhanden waren, im Vereinigten Königreich aber gab es mehr als genug. Und Irland war zu dieser Zeit Teil Großbritanniens. Die britische Regierung indes betrachtete die HungersHungersnot
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not als rein irisches Problem und schob die Verantwortung dafür, wie ihr zu begegnen sei, auf die irischen Gutsherren ab, die größtenteils selber in ernsten finanziellen Schwierigkeiten steckten. Hätte die britische Regierung ähnlich gehandelt, wenn in Kent oder Yorkshire eine Hungersnot ausgebrochen wäre? Wahrscheinlich nicht. Die Behauptung, die britischen Maßnahmen zur Linderung der Not seien angemessen gewesen, läßt sich kaum aufrechterhalten. Hochrangige Vertreter der britischen Regierung waren damals schon dieser Ansicht. Die Regierung richtete Nahrungsmittellager ein, die dann aus unerfindlichen Gründen wieder geschlossen wurden. Sie eröffnete Suppenküchen, jedoch erst, nachdem schon Tausende ihr Leben verloren hatten. In blindem Vertrauen auf die Kräfte des freien Marktes und aus Furcht, das private Unternehmertum zu untergraben, weigerten sich die Briten lange Zeit, kostenlos Nahrung zu verteilen. Sie gaben zehn Millionen Pfund für die Hungerhilfe aus. Der Krimkrieg kostete sie siebzig Millionen Pfund. Und – ihr größtes Verbrechen in diesem Zusammenhang überhaupt – sie erklärten die Hungersnot offiziell für überwunden, lange bevor dies tatsächlich der Fall war. Außerdem: Wenn so viele Iren einzig und allein auf die Kartoffel angewiesen waren, hatte das nicht auch etwas mit dem Gesellschaftssystem zu tun, das die Briten und die irischen Grundbesitzer in Irland installiert hatten? Es läßt sich kaum beweisen, daß die Briten in Irland bewußt und planvoll Völkermord betrieben, wie irische Nationalisten behaupten. Manche Historiker jedoch sind der festen Überzeugung, daß die Briten Irland hätten retten, zumindest vor dem schlimmsten Unheil bewahren können, wenn sie den Willen dazu gehabt hätten. Sie taten es nicht, wohl deshalb, weil das Durchfüttern Hungernder nicht zu den vordringlichen Anliegen britischer Politik gehörte. Sie erkannten in der Hungersnot wohl eher die langersehnte Gelegenheit zur Neuordnung der dahinsiechenden irischen Wirtschaft, bei der man mit unwirtschaftlich arbeitenden Grundbesitzern und Pächtern aufräumen konnte, unrentable kleine Farmen durch Tod und Vertreibung los wurde. Deren Ackerflächen legte man zu größeren und rentableren 82
Hungersnot
Einheiten zusammen. So ließ sich auch die Abhängigkeit des Landes von der unzivilisierten Kartoffel verringern. Die irischen Grundbesitzer spielten in den folgenden Jahren eine grausame Rolle bei der Vertreibung Tausender kleiner Farmer von ihrem Land. So unglaublich es auch scheinen mag, vermochte doch der eine oder andere in der britischen Regierung in dieser entsetzlichen Katastrophe gar das Walten der göttlichen Vorsehung auszumachen. Pech für die Iren, daß zu diesen Visionären ausgerechnet die mit der Hungerhilfe betrauten Beamten gehörten. In ihren Augen war die Hungersnot insgeheim ein Segen – Gottes ganz spezielle Methode, mit der er die unbedarften Iren ins moderne Zeitalter führte. Von einem der angesehensten Ökonomen Englands (einem Nassau Senior) ist die Bemerkung überliefert, er fürchte, daß eine Million Tote in Irland «kaum ausreichen, um allzuviel zu bewirken». Ob man das Völkermord nennen will oder nicht, hängt vielleicht davon ab, wie man das Wort definiert. Die Große Hungersnot hatte noch andere katastrophale Auswirkungen. Fast hätte sie das Aussterben der irischen Sprache bedeutet, denn ein Großteil der Umgekommenen oder Ausgewanderten waren Arme, in der Regel die Menschen, die Irisch sprachen. Zwar lebten auch nach der Hungersnot noch Menschen in Irland, die des Irischen mächtig waren, es aber nicht sprachen, weil sie Unheil damit verbanden. Schon zuvor war das Irische im Schwinden begriffen gewesen, zum einen wegen des zunehmenden Einflusses des Englischen, zum anderen, weil es mit dem Makel der Armut und Unwissenheit behaftet war. (Befragt, ob er Irisch spreche, erwiderte ein Ire damals linkisch, er sei ja sicher ungebildet, aber so ungebildet nun auch wieder nicht.) Die Hungersnot beschleunigte den Niedergang des Irischen, bis ein Verein namens Gälische Liga am Ende des 19. Jahrhunderts den Kampf zu seiner Wiederbelebung aufnahm. Endgültig verschwand mit der Hungersnot auch ein Teil der alten, ebenfalls seit geraumer Zeit dahinsiechenden irischen Kultur. Danach war man nüchterner und klüger, wurden der Landbesitz zur nationalen Obsession, die Ehe bis ins mittlere Alter hinausgeschoben und die sexuelle ReHungersnot
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produktion streng reglementiert aus Furcht, es könne noch einmal zu einer Überbevölkerung kommen. Vorbei war es nach der Hungersnot auch mit dem Respekt, den man den Briten oder den Grundbesitzern in gewissem Maße noch erwiesen hatte. Sie wurden nun geschmäht und waren endgültig in Mißkredit gefallen. Mit der Hungersnot bildete sich auch im Ausland das Gefühl einer nationalen Identität heraus, vor allem in den Vereinigten Staaten. Und sie schürte einen schwelenden Haß auf die Briten, der zur Formierung der revolutionären Irischen Republikanischen Bruderschaft führen sollte. Als die IRB im Jahre 1916 für politische Reformen auf die Straße ging, kam eine Entwicklung, die über fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte, zum Abschluß. Die Große Hungersnot war ein Trauma für das irische Volk, von dem sich seine kollektive Psyche, wenn es denn so etwas gibt, nie völlig erholt hat. Auch wenn die Hungersnot eine gigantische Auswanderungswelle und jene gefürchteten «Sargschiffe» bedeutete, auf denen so viele Flüchtlinge den Tod fanden, so war sie doch auch die Geburt einer neuen, selbstbewußteren irischen Nation im Ausland. Sie trug dazu bei, daß Iren sich überall in der Welt niederließen und ihren Blick nach außen richteten, über die engen Grenzen ihrer kleinen Insel hinaus. An die Große Hungersnot erinnert heute ein Nationalmuseum in Strokestown im County Roscommon. Die Ironie des Schicksals zeigt sich auch hier wieder. Zum einen befindet sich das Museum in einem ehemaligen Gutshaus, dessen Besitzer während der Hungersnot rund dreitausend Menschen von ihrem Land verjagte und daraufhin von seinen Pächtern umgebracht wurde. Zum anderen findet sich der Besucher nach Beendigung des Rundgangs in einem ziemlich guten Restaurant wieder.
Iren, die
E
áå=legendäres Volk. Es gibt keine Volksgruppe, die als Iren bezeichnet werden kann, sondern nur gälische Iren, normannische Iren, Anglo-Iren, schottische Iren, dänische Iren und inzwischen hier und da sogar ein paar chine84
Iren, die
sische Iren. Die Dubliner unterteilen sich in die von der Nordseite (die Arbeiterklasse, die nördlich der Liffey wohnt), und die von der Südseite (die Mittelklasse südlich der Liffey). Die Menschen von der Nordseite haben wir in Filmen wie Die Commitments kennengelernt. Über sie sind geschmacklose Witze im Umlauf: «Woher weiß man, wann eine von der Nordseite einen Orgasmus hat?» «Sie läßt ihre Chipstüte fallen.» Hinterwäldler und blasierte Städter, Yuppies und Bauerntrampel, Heilige und Satanisten, Landfahrer und Seßhafte, Nationalisten und Anti-Nationalisten, Heroinsüchtige und solche, die nach heiligem Wasser süchtig sind, geheimnisvolle Mönche und atheistische Intellektuelle – sie alle zusammen sind das irische Volk. «Culchies» (vom Namen einer irischen Kleinstadt abgeleitet) ist der verächtliche Ausdruck, den Dubliner für jene Iren parat haben, die schon dadurch schwer genug gestraft sind, daß sie nicht in der Hauptstadt leben. «Culchies», das sind Deppen, Idioten und Witzfiguren, die ihren Kohl mit der Heugabel essen und Pasta für den Namen eines Priesters halten. Für die so Geschmähten wiederum ist Dublin ein brodelnder Sumpf der Korruption, gegen die Gomorrah das reinste Paradies ist. Die «Culchies» argwöhnen, daß die aufgeblasenen, furzenden, Tofu essenden «jackeens» (die Dubliner) gar keine richtigen Iren seien. (Und das, obwohl ein Witzbold einmal sagte: In den Augen Gottes sind wir alle Iren ...)
Dann gibt es noch die Iren aus Cork. Wie Gott sind die Leute aus Cork eine Klasse für sich. Cork, eine hübsche, hügelige Hafenstadt an der Südküste, ist, obwohl sie nur ein Achtel der Fläche von Dublin einnimmt, Irlands zweitgrößte Stadt. Einem Corker gegenüber sollten Sie sich diese BeIren, die
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merkung jedoch verkneifen, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Die Bewohner Corks haben von Dublin geschweige denn von Denver oder Delhi noch nie gehört. Sie halten ihre Stadt für die einzige auf der Welt und führen sich auf, als gehöre sie ihnen höchstpersönlich. Wohlgemerkt: die Welt, nicht die Stadt. Sie sind ein ganz eigener Menschenschlag und sprechen einen Akzent, der nur per Simultanübersetzung durch Kopfhörer zu verstehen ist. Ihren Kritikern gelten die Corker als dünkelhafte Angeber, sich selbst als die herrlichsten Geschöpfe, die je Gottes Erde zierten. Stimmen könnte beides. Wer meint, es gäbe so etwas wie einen irischen Akzent, hat sich schwer getäuscht. Die Farmer von Kerry sprechen mitnichten wie die Metzger von Dublin, und die einzelnen Schichten pflegen ihre sprachlichen Eigenheiten. Spricht einer mit einem Tonfall, der wie ein leicht abschätziger Singsang klingt, so stammt derjenige unfehlbar aus Nordirland. Gründe für abschätzige Äußerungen gibt es zur Genüge.
Irische Nation «Eine Nation», sagt eine Figur in dem Roman Ulysses von James Joyce, «das sind die Leute, die am selben Ort wohnen.» Oder, möchte man im Falle Irlands hinzufügen, die Leute, die vom selben Ort wegwollen. Keine Erfahrung ist in Irland natürlicher als die, dem Land den Rücken zu kehren. Im Verlauf der letzten einhundert Jahre hat sich das Land geleert wie ein brennendes Gebäude, und die Iren, die ihr Glück anderswo versuchen wollten, sind in alle Winde zerstreut. Das hat zu einer merkwürdigen Situation geführt. Während bei den meisten Nationen das Land und die es bewohnenden Menschen eine Einheit ergeben, befinden sich im Falle Irlands das Land an dem einen und die Mehrzahl der die Nation bildenden Menschen an einem anderen Ort. Wenn Irland ein bestimmter geographischer Punkt ist, so ereignete sich ein Großteil irischer Geschichte woanders. Es ist kein Wunder, daß das Land selber eine unwirkliche Dimension bekommt. Für viele seiner früheren Bewohner 86
Irische Nation
und für deren Nachkommen ist es zu einem Reich mythischer Erinnerung geworden, zu einer imaginären Landschaft, die mit der physischen Realität immer weniger gemein hat. Irland wird zu einem Museum, zu einem Trugbild, einer tröstenden Fiktion, einem Phantasiegebilde. Das Land, an das sich viele Auswanderer und Menschen irischer Abstammung, die es niemals mit eigenen Augen gesehen haben, wehmütig erinnern, ist ein Phantom wie Atlantis. Irland hat mehr Ähnlichkeit mit Camelot als mit Kambodscha; es ist ein Land, in dem die Zeit auf magische Weise zum Stillstand gekommen ist. Vielleicht wird es gar zu einem geistigen Disneyland, mit dem alles kompensiert werden kann, was der eigenen schäbigen Existenz fehlt. Nicht allein deshalb ist die irische Nation nur schwer dingfest zu machen. Fraglich ist nämlich auch, wie viele Nationen auf der Insel leben. Hier dürfte selbst ein flinker Rechner seine Not haben. Ein irischer Republikaner braucht nur bis eins zu zählen, weil ein weiterer Teil dieser einen Nation heute von Großbritannien okkupiert wird. Manche Republikaner konzidieren, daß es auf der Insel scheinbar zwei unterschiedliche Nationen gibt, jede mit ihren eigenen Bräuchen, Währungen, politischen Institutionen und Aussprachebesonderheiten. Doch dieser Schein trügt, in Wirklichkeit sind jene Protestanten aus dem Norden, die sich selber als Briten betrachten, Iren und wissen es bloß nicht. Die Grenze zwischen den beiden Teilen ist folglich real und in gewissem Sinne auch eine Augenwischerei. Wie die unglückselige Frau, die der Zauberkünstler in zwei Stücke sägt und die doch als Ganzes wieder aufersteht, ist das Land im Grunde geeint, auch wenn es aus zwei Teilen zu bestehen scheint. Falls es je zu einem vereinten Irland kommt, kann es triumphieren wie die zersägte Frau, zum Beweis, daß die Teilung keinen Schaden angerichtet hat. Für einen Unionisten aus dem Norden wiederum gibt es auf der Insel die Republik Irland und eine Provinz Großbritanniens, die den Namen Nordirland trägt. Manche nordirische Protestanten verstehen sich gar als Briten und als Iren. Und um die Verhältnisse noch komplizierter zu machen, fühlen einige von ihnen («Loyalisten» eher als «Unionisten») sich im staatsbürgerlichen Sinne primär an die ehemalige Irische Nation
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Provinz Ulster gebunden, deren einer Teil sich heute auf dem Territorium der Republik Irland befindet. Und als ob alles das nicht schon verwirrend genug wäre, gibt es in Irland noch die Fraktion, die den Konflikt um den Norden dadurch lösen will, daß Nordirland ein autonomer Staat werden soll, von Dublin wie von London unabhängig. Im großen und ganzen jedoch fühlt Belfast eine größere Nähe zu Glasgow als zu Dublin. Für einen Unionisten aus dem Norden ist die Republik Irland eine nicht minder fremde Welt als Bulgarien. Und sie ist genausowenig wie Bulgarien berechtigt, sich in die inneren Angelegenheiten des Nordens einzumischen. Unionistischen Falken stellt sich das Problem so dar, daß Fremde, die sich Iren nennen, in ihrer Mitte leben, einen Keil zwischen sie treiben und dem britischen Staat gegenüber illoyal sind. Viele Katholiken aus dem Norden glauben nun wieder genau das Gegenteil. Der Boden, auf dem sie leben, ist ihre Heimat, und die fremden Eindringlinge sind vielmehr die Protestanten. So gesehen ist es nur verständlich, daß der Nordirlandkonflikt nicht durch ein paar schlaue Ideen gelöst werden kann. Wie flüssiges Quecksilber bekommt man das Irische nur schwer zu fassen. Die Zahl derer, die auf der Insel lebt und sich nicht als Iren betrachtet, ist gar nicht so gering, dafür ist die Zahl der Männer und Frauen, die nie einen Fuß auf die Insel gesetzt haben und sich dennoch als Iren betrachten, relativ groß. Wieder andere sehen sich zugleich als Iren und als Nicht-Iren. Hängt es also von der Zugehörigkeit zu einem Staat ab, ob man Ire ist, oder nur von der eigenen Einstellung? Ist es eine kulturelle Frage oder eine der ethnischen, politischen oder territorialen Zugehörigkeit? Ist Ire sein genauso wie Belgier sein, oder ist es mehr wie Buddhist sein? Ist jemand Ire, weil er meint, er sei es? Und wo genau befindet sich das Land eigentlich? Irland ist ein Teil Europas und zugleich ein Ding für sich, gelegen am äußersten westlichen Rand, wo eine größere Insel, Großbritannien, ihm auch noch die Sicht versperrt. (Dabei liegt Großbritannien näher an Frankreich als an Irland.) Der irische Schriftsteller James Joyce nannte das Land einen «nachträglichen Einfall Europas». Irland ist Teil dessen, was auf Landkarten gelegentlich als «Peripherie des Atlan88
Irische Nation
tiks» bezeichnet wird, entsprechend mühsam ist der Zugang zu den europäischen Märkten. London hingegen wird dem europäischen «Kern» zugerechnet. Dasselbe gilt für Edinburgh, obwohl es geographisch gesehen vom Herzen Europas genauso weit entfernt ist wie Dublin. Die Marktchancen von Dublin und Belfast sind vergleichbar mit denen von Warschau, Lissabon und Bukarest. Sie rangieren unter ferner liefen. Dublin ist London geographisch wesentlich näher als ökonomisch. Physisch steht es Canterbury nahe, psychologisch in vieler Hinsicht Chicago. Und geistig ist es Rom verwandter als Reading. Der Ozean, der Dublin von New York trennt, bildet zugleich die Brücke, über die Millionen von Menschen hin und her gewandert sind. Und wie nahe sind sich Irland und Großbritannien? Von manchen Orten auf der grünen Insel erkennt man die britische Küste, aber das kann leicht zu falschen Schlüssen führen. Bevor Irland die Unabhängigkeit errang, war es Teil der Britischen Inseln. Die beiden Länder teilten die gleiche politische Souveränität und waren, was ihre Kultur anbetraf, oft Lichtjahre voneinander entfernt. Wie ein konfuses, sich streitendes Paar wußten die beiden Nationen nie ganz genau, ob sie nun fest miteinander gingen, sich scheiden ließen, glücklich verheiratet oder durch eine Mußehe aneinandergekettet waren. Sie hatten Mühe herauszufinden, ob die zwanghafte Faszination, die sie füreinander empfanden, unsterbliche Liebe oder eingefleischter Haß war. Wenn die irische Nation so schwer auszumachen ist, dann nicht nur deshalb, weil ein großer Teil von ihr sich außer Landes befindet. Sie selbst muß mit «Einwanderern» zurechtkommen, die in Gestalt transnationaler Konzerne die irische Wirtschaft bereits beherrschen. Auch mit anderen Neuankömmlingen, die politisches Asyl beantragen oder einfach ein menschenwürdiges Leben suchen. Im Mittelalter schauten die Iren durch Großbritannien hindurch auf das restliche Europa. Dort fühlten sie sich heimisch, waren sie ein fester Bestandteil der europäischen katholischen Christenheit und zugleich eine Region mit einer unverwechselbaren Kultur. Die irische Kirche zum Beispiel war ihrem Selbstverständnis nach nie «römisch»; sie hatte eine Irische Nation
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eigenständige Tradition und eine eigene Identität. Mönche, Gelehrte und Raufleute reisten zwischen Irland und dem europäischen Festland hin und her, nicht anders als heute Geschäftsleute, Rockgruppen und junge Leute, die für kurze Zeit Arbeit suchen. Da sowohl Irland als auch Großbritannien inzwischen Mitglieder der Europäischen Union sind, begegnen sie einander nun öfter im Beisein Dritter und stehen sich nicht mehr verbissen in direkter Konfrontation gegenüber. Die Union kann die Rolle des Anstandswauwaus oder des Eheberaters übernehmen. Die Konflikte im Norden haben auch dazu beigetragen, daß Irland nun einen anderen Platz auf der Weltkarte einnimmt. Manche glauben, eine positive Entwicklung Nordirlands setze voraus, daß es sich als europäische Region betrachtet und nicht auf seine Beziehung zu London und Dublin fixiert bleibt. Da aber die Vereinigten Staaten ein wichtiger Vermittler bei den Verhandlungen zur Lösung dieses politischen Konflikts sind, haben beide Parteien eine große Nähe zu Washington entwickelt. Der Nordirlandkonflikt hat der Insel einen Ruhm beschert, auf den sie gut hätte verzichten können. Von Adelaide bis Buenos Aires ist Irland heute ein Synonym für nationale Spaltung. Wenn sie zu einem Anliegen der gesamten Weltgemeinschaft wird, könnte dies auch ein Weg zu ihrer Überwindung sein.
Irischer Westen
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áåÉê der schönsten Flecken der Welt, nicht nur Europas. Seine Menschen sind genauso herzlich und menschlich, wie die Legende es will. Wenigstens zum größten Teil. In einem Dorf im Westen betrat ich einmal einen kleinen Laden und erkundigte mich nach dem Weg zur Bank. Man beschrieb ihn mir, und als ich die Bank betrat, rief der Ladeninhaber gerade dort an und fragte nach, ob ich auch hingefunden hätte. In Tokio ist mir so etwas noch nie passiert. Der Tourist aber sieht nur die äußeren Erscheinungen, und die sind atemberaubend: die Klippen von Moher, die bizarre Mondlandschaft des Burren, die steinigen Felder 90
Irischer Westen
von Connemara. Die spektakulärsten Gegenden Irlands sind leider auch die ärmsten. Die schöne Oberfläche verbirgt, daß der Westen Irlands sich in großen Schwierigkeiten befindet. Seit Jahren ist die Region verwaist wie ein ausgebranntes Gebäude, wandern die Menschen von dem unfruchtbaren Land und den unwirtschaftlichen Farmen ab in die großen Städte. Ganze Ortschaften verfallen, und es bleiben nur einzelne einsame Männer und Frauen zurück, unter denen der Anteil psychisch Kranker erschreckend hoch ist. Bei den Männern ist er sogar höher als bei den Frauen, was dem sonst in Europa vorherrschenden Trend zuwiderläuft. Die einheimische Industrie wurde durch multinationale Unternehmen verdrängt, landwirtschaftliche Großbetriebe haben kleine Farmen in den Ruin getrieben, verschwunden sind auch viele Kleinbetriebe. Der irische Westen ist eine ökologische Zeitbombe: der Lachs von Industriechemikalien vergiftet, die Hügelketten von zu großen Schafherden kahlgefressen, die ganze Region das Opfer nur minimaler Gewerbeaufsicht und planloser Entwicklung. An dem Gerücht, die Schafzüchter im Westen, die pro Kopf ihrer Tierherden eine staatliche Beihilfe erhalten, strichen die Steine auf ihren Feldern weiß an, damit sie sich vom Beobachtungssatelliten fälschlicherweise ausnehmen wie Schafe, ist aber nichts dran. Die gute Nachricht ist, daß der Westen sich wehrt – mit kreativen Projekten und viel Gemeinsinn. Galway zum Beispiel hat den Sprung von einer verschlafenen ländlichen Provinz zum glanzvollen Zentrum moderner Industrie geschafft und zieht sogar New-Age-Aussteiger, Künstler und irische Muttersprachler an. Sehen Sie aber zu, daß Sie wieder fort sind, bevor auf die Klippen von Moher noch ein Supermarkt hingeklotzt wird. Irlands Westen wurde oft genug als zeitlose bäuerliche Welt angesehen, in der man Irland noch in seiner reinen, unverfälschten Gestalt kennenlernen konnte – das Ammenmärchen schlechthin. Große Landstriche im Westen waren nur im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert über längere Zeiträume besiedelt, als die irische Bevölkerung rasant zunahm und bis zur Westküste ausweichen mußte. Zu dieser Zeit florierte hier die Wirtschaft, und vor Irischer Westen
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lauter Menschen sah man die Landschaft nicht mehr. Es war alles andere als ein keltischer Garten Eden, eher eine relativ fortschrittliche Region, mit der es wirtschaftlich aufwärtsging. Die Vorstellung vom Westen als einem alten Paradies, in dem die Zeit zum Stillstand gekommen ist, kam gegen Ende des letzten Jahrhunderts auf. Wie die meisten Träume von der einfachen, ländlichen Idylle war sie eine Illusion der Städter.
Joyce
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áåÉê der führenden Wirtschaftszweige Irlands, T-Shirts, Sommerschulen, Kneipenbesuche und ein Haufen Kitsch inklusive. Gerüchten zufolge kommt das alles von einem irischen Schriftsteller namens James Joyce, aber das stimmt vielleicht gar nicht und spielt ja auch keine Rolle. Lesen Sie selbst, wie der legendäre Joyce geschrieben hat: He addle liddle phifie Annie ugged the little craythur. Wither hayre in honds tuck up your part inher. Oftwhile babulous, mithre ahead, with goodly trowel in grasp ... Die einen halten Joyce für den größten irischen Schriftsteller, die anderen halten die Sprache, in der er geschrieben hat, für Albanisch, und die dritten halten ihn für einen Legastheniker.
Juden
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Éê glaubt, es gäbe in Irland keine Juden, liegt falsch. Juden leben seit dem frühen Mittelalter dort, und aus dieser Zeit datiert ein Dokument, dem zufolge fünf Juden den Hochkönig von Limerick besuchten. Daß sie wieder nach Hause geschickt wurden, ist ebenfalls überliefert. Sephardische Juden ließen sich in Irland nieder, nachdem sie an der Wende zum 16. Jahrhundert aus Spanien und Portu92
Juden
gal ausgewiesen worden waren. Ende des 19. Jahrhunderts strömten weitere Juden ins Land, auf der Flucht vor den europaweiten Pogromen. Heute zählt die Gruppe der Juden kaum 2000 Mitglieder, die fast ausschließlich in Dublin und Belfast leben.20 Dublin hat ein hochinteressantes jüdisches Museum in einem Viertel, das früher «Klein-Jerusalem» hieß und einen Besuch durchaus lohnt. Es gibt derzeit in Irland wenig antijüdische Ressentiments. Der Grund ist einfach: Die Iren lassen Juden heute nicht mehr ins Land. Es ist beschämend, daß die irische Regierung während der dunkelsten Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung bis auf wenige Ausnahmen jüdische Flüchtlinge von ihren Küsten fernhielt. In den dreißiger Jahren gab es eine irische faschistische Bewegung, nach ihrem Mickey-Mouse-ähnlichen Aufputz «Blauhemden» genannt. Antijüdische Vorurteile waren in Irland weit verbreitet. Um die Jahrhundertwende hatte es in der Stadt Limerick ein antijüdisches Pogrom gegeben. Irland war im Zweiten Weltkrieg neutral, und die Regierung zensierte Berichte über Konzentrationslager und andere Nazigreuel. Solche Nachrichten, so meinte man, würden die Stimmung im Lande aufheizen und die «moralische Neutralität» des Staates gefährden. Der damalige irische Premierminister kondolierte Deutschland zum Tode Hitlers ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Nachrichten über die Todeslager durchsickerten. Iren und Juden wurden oftmals miteinander verglichen: Beide Völker sind besonders schöpferisch, leben über den ganzen Erdball verstreut und sind seit jeher Opfer rassistischer Vorurteile. Ein Gelehrter verstieg sich im 18. Jahrhundert gar zu der These, daß die Iren Juden seien. Der Held des größten irischen Romans, der je geschrieben wurde, des Ulysses von James Joyce, ist ein Dubliner Jude. In beiden Kulturen ist die Mutter eine starke Frau mit emotional prägendem Einfluß und großer Aufopferungsbereitschaft. (Wie viele irische oder jüdische Mütter müssen her, um eine Glühbirne auszuwechseln? Keine, ich sitze gern im Dunkeln.) Jesus Christus, seit jeher der wichtigste Mann 19
FFE: Ein früherer Präsident Israels. Chaim Herzog, war Ire.
Juden
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in Irland, war ebenfalls Jude. Woher wir das wissen? Weil er bis zum dreißigsten Lebensjahr bei seiner Mutter wohnte, weil er ins Geschäft seines Vaters eintrat, weil seine Mutter glaubte, er sei Gott, und Jesus glaubte, sie sei Jungfrau. Besucher des Landes, vor allem Amerikaner, wird verblüffen, daß sie auf der Straße keine Menschen mit schwarzer Hautfarbe sehen. Irland ist keine multikulturelle Gesellschaft, da man seit jeher aus diesem Land und nicht in dieses Land floh. Dublin dürfte die am wenigsten kosmopolitische aller europäischen Hauptstädte sein. Man darf auch nicht vergessen, daß die Iren, obwohl selber kolonisiert, ihrerseits eine wichtige Rolle in der Kolonialpolitik des britischen Reiches spielten. Viele Iren waren am Sklavenhandel beteiligt und wurden hochrangige Beamte in den Kolonien. Viele irische Missionare teilten die Mentalität des britischen Vormachtsanspruchs. Noch 1959 erklärte der damalige irische Premierminister, seine Regierung hege «nichts als freundschaftliche Gefühle für Südafrika». Irland befindet sich nach langem Winterschlaf nun auf dem Weg in eine ethnisch buntere Gesellschaft; allein in Nordirland leben bereits 20 000 Angehörige ethnischer Minoritäten. Die vielgerühmte irische Gastfreundschaft wird daher demnächst ihre wichtigste Probe bestehen müssen. In einem einfachen irischen Lied heißt es zwar: «Immer in die gute Stube rin», doch die Hereingebetenen hießen zu dieser Zeit Timothy und Caitlin, und nicht Abdul oder Gargi. Werden die Iren Fremde so willkommen heißen, wie sie selber oft von anderen Nationen empfangen wurden – mit offenen Armen? Oder entwickeln sie die Abneigung, der sie einst selber ausgesetzt waren? Noch wissen wir es nicht. Die Iren streiten gerne, kommen aber miteinander im allgemeinen gut aus, da Freundschaften stärker wiegen als Meinungsverschiedenheiten. Wichtiger als Konflikte ist das Gefühl, in einem Boot zu sitzen. Und Konflikte gibt es zuhauf. Die Iren tolerieren Fremde, die ihnen spürbaren Nutzen bringen: Touristen, transnationale Konzerne, Grundstücksspekulanten und Studenten, die Studiengebühren zahlen. Bekannt ist der ständig zunehmende irische Rassismus. Es gab ihn, noch bevor Ausländer in nennenswerter Zahl ins Land gekommen sind. Der irische Staat begrenzt die Einwande94
Juden
rungsquote mit rigoroser Härte und diskriminiert bestimmte Einwanderer und Asylsuchende. Rassistische Übergriffe hat es auf irischen Straßen auch schon gegeben, und manche Iren stellen die Einwanderer auf eine Stufe mit den «Kesselflickern» oder Fahrenden (siehe Fahrende) und begegnet ihnen mit virulenter Feindseligkeit. Es bleibt abzuwarten, wie weit die irische Herzlichkeit tatsächlich reicht. Bei fremden Einwanderern ergrimmt manch irisches Auge, statt zu lächeln.
Kartoffeln
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ì einem bestimmten Zeitpunkt in der irischen Geschichte lebte ein Drittel der Bevölkerung, die sogenannten «Kartoffelleute», fast ausschließlich von dieser herrlichen Feldfrucht. Für manch einen mag das nicht allzu verlockend klingen, doch man muß bedenken, daß die Kartoffeln, von denen die meisten Iren damals lebten, besser schmeckten als heute. Die Iren mochten ihre Erdäpfel. Sie sind sehr nahrhaft und haben einen hohen Mineralstoffgehalt, aber nur einen geringen Fettanteil, so daß die Iren zwar ärmlich gekleidet und bescheiden behaust waren, aber wenigstens etwas Vernünftiges zu beißen hatten. (Warm hatten sie es, dank des vielen Torfes, auch). Natürlich nur so lange, wie die Kartoffelernte nicht ausblieb; wenn dies geschah, kam es weithin zur Hungersnot. Kartoffeln waren billig, reichlich vorhanden, leicht anzubauen und zuzubereiten, gediehen in dem kalkarmen, sauren irischen Boden und laugten ihn nicht übermäßig aus. Frost ist eher ihr Feind als Regen, so daß sie ausgezeichnet in das feuchte, gemäßigte Klima des Landes paßten. Die Kehrseite war, daß sie sich schlecht lagern und transportieren ließen. Viele Iren mußten deshalb Jahr um Jahr die Zeit zwischen zwei Ernten fast ohne Kartoffeln durchstehen. In solchen Fällen fuhren die Männer als Saisonarbeiter nach England, wo sie johlend als Kartoffelfresser begrüßt wurden. Das war ein schlechter Scherz, denn in erster Linie waren sie ja nach England gekommen, weil sie eben keine Kartoffeln zu fressen hatten. Kartoffeln
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Aus den Problemen des Kartoffeltransports erklärt sich, warum die Kartoffel sich schnell über die ganze Insel ausbreitete. Sie kam im 17. Jahrhundert nach Irland und war zunächst dem Adel vorbehalten, doch schon im 18. Jahrhundert wurde sie zur Winterspeise der Armen. Dann wurde der Topinambur eingeführt, der das ganze Jahr über eßbar war, so daß Erdäpfel zu einem Hauptnahrungsmittel wurden. Manche Engländer sehen in der Kartoffel eine der wesentlichen Ursachen für die irische Rückständigkeit. Ihr Anbau machte nicht allzuviel Arbeit und leistete damit der Trägheit Vorschub. Zudem stuften die Engländer Getreide höher ein als Kartoffeln. Knollen waren in ihren Augen keine kultivierte Speise, eher Fraß für die Tiere. Sogenannte «Cottiers» pachteten in Irland von ihrem Grundherren einen schmalen Kartoffelacker zusammen mit einem Häuschen; landlose Arbeiter, die nicht einmal einen solchen Acker ihr eigen nennen konnten, rangierten ganz unten auf der gesellschaftlichen Skala. Sie mieteten sich ein Stück Acker von ihrem Grundherrn, in der Regel zu einem exorbitant hohen Zins, und bauten dort eine kaum verlockende großknollige Sorte an, die mit wenig Düngung auskam.
Kells, Book of
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ç hinreißend nun auch wieder nicht. In den Augen einiger Wissenschaftler ein Musterbeispiel dekadenter Kunst. Alle diese kunstvollen Spiralen, Ranken und Girlanden lassen doch eine zwanghafte Fixierung auf die Form und nicht auf das Inhaltliche selbst erkennen. Bei diesem überbordenden Dekor wird das Detail wichtiger als das Ganze. Hinter der ornamentalen Feinheit vieler aus dem Mittelalter überlieferter keltischer Handschriften verbirgt sich eine eigenartige Logik. Sie werden das Book of Kells während Ihres Aufenthalts in Irland trotzdem anschauen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche oder der Gang ins Badezimmer. Amerikaner sollten daran denken, daß Badezimmer in Irland und in Großbritannien, wie das Wort schon sagt, dazu da sind, daß man dort badet. Wenn man sich also im Zug oder im Pub nach dem Weg ins Bad 96
Kells, Book of
erkundigt, ist das ein bißchen so, als frage man in der UBahn nach dem Swimming-pool oder im Taxi nach der Bibliothek. In Großbritannien fragt man als Angehöriger der oberen Mittelschicht nach der Toilette, als Angehöriger der unteren Mittelschicht nach dem Klosett und als einer aus niederen vulgären Kreisen nach dem Lokus. Manche Briten werden Ihnen weismachen wollen, daß die roten Kästen mit dem Schlitz in der Oberseite, die überall auf der Straße stehen, die Toiletten seien. Glauben Sie das nicht, denn man will Ihnen nur einen Streich spielen; in Wahrheit sind das nämlich die Briefkästen. Glauben Sie auch kein Wort, wenn man Ihnen erzählt, daß das englische Tourismusbüro Clowns beschäftigt, die mit blauen Helmen und Uniformen auf den Straßen umherspazieren und daraufwarten, daß Touristen ihnen eben diese Helme vom Kopf stoßen. Die Briten wollen bloß, daß man Sie verhaftet. Zeigen Sie auch jedem Schlauberger die kalte Schulter, der Sie ermuntert, allen Mitreisenden überschwenglich die Hand zu schütteln, nachdem Sie das Abteil eines englischen Zugs bestiegen haben. Besucher Britanniens sollten sich einprägen, wie man reagiert, wenn man nicht verstanden hat, was ein Gesprächspartner gerade sagte. Merken Sie sich also schichtenspezifische Ausdrücke. «Aye?» spricht der Prolet, «Pardon?» der Mensch aus der unteren Mittelschicht. «Sorry?» hört man nur aus der Mittelschicht und «What?» aus den höchsten Kreisen. Wenn Sie die Queen sind, sagen Sie am besten gar nichts – ihre Gelegenheiten zum Plaudern sind selten. Die Briten nehmen es mit solchen Dingen sehr genau, und Sie müssen damit rechnen, ausgewiesen zu werden, wenn Ihnen hier Fehler unterlaufen.
Kelten
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áÉã~åÇ=weiß, wann genau die Kelten nach Irland kamen, doch ihre Ansiedlung dürfte einige Zeit beansprucht haben, wenigstens die letzten Jahrhunderte vor Christus. Einige gelangten vermutlich aus dem römischen Britannien ins Land, andere wieder kamen direkt vom KonKelten
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tinent. Die Kelten stammten ursprünglich aus einer Region nördlich der Alpen, siedelten aber schon bald überall, angefangen vom Donaubecken in Mitteleuropa bis hin nach Spanien und Kleinasien. Altertumswissenschaftler meinen in der Steinzeitkultur Irlands östliche, ja sogar indische Einflüsse zu erkennen. Die britischen und irischen Kelten haben sich selbst allerdings wohl kaum als Kelten bezeichnet; es nennt sich ja auch kein Übergewichtiger selbst Dicker. Der Name «Kelten» kam erst im 18. Jahrhundert in Gebrauch. Nach den Griechen und den Römern besaßen die Kelten die bedeutendste Kultur des frühen europäischen Mittelalters. Neben Latein ist das Irische die Sprache, deren Entwicklung am längsten und am besten dokumentiert ist. Nur in Irland überlebte eine Sprache, für die sich eine direkte Abstammung von den frühen Kelten, unbeeinflußt vom römischen Reich, belegen läßt. Richtig in Schwung kamen die Kelten auf der Insel im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus. Sie verjagten die Römer und sollen splitternackt in den Kampf gezogen sein, in der Hoffnung, ihre Feinde würden züchtig die Augen schließen und in diesem Moment könne ein rascher Hieb in den Leib seine Wirkung nicht verfehlen. Sie seien der Trunksucht, der Poesie und dem Kampf verfallen gewesen, sagen die einen, während die anderen die Kelten für brillante Versager halten. Die Kelten überrannten riesige Königreiche, installierten in den eroberten Gebieten aber nicht ihre Macht. Für die Römer waren sie edle Wilde. Streitlustig und ungebärdig, ewig in interne Fehden verstrickt, waren sie nicht imstande, gemeinsam gegen einen Feind anzugehen. Die Kelten verstanden sich auf Kunst und Viehraub, hatten aber nicht das Zeug zum politischen Schulterschluß.
Keltischer Tiger
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ÉäÉÖÉåíäáÅÜ wird er auch «Grüner Tiger» genannt. Der Ausdruck bezeichnet den gegenwärtigen irischen Wirtschaftsboom. Nach Jahrzehnten der Stagnation und des Protektionismus öffneten die Iren sich in den sechziger Jahren für ausländische Investoren und traten 1973 der Europäi98
Keltischer Tiger
sehen Gemeinschaft bei. Seitdem erleben sie einen ökonomischen Aufschwung. Auf den gesamten Zeitraum dieses Jahrhunderts bezogen, war die Steigerungsrate des irischen Nationaleinkommens wohl die niedrigste in ganz Europa. Heute jedoch schwimmen die Iren auf der höchsten Wohlstandswelle ihrer bisherigen Geschichte. (Wenn Sie das hier zu lesen bekommen, können sie natürlich schon wieder in eine Rezession gestürzt sein.) In manchen Wirtschaftsdaten hat Irland inzwischen sogar seinen alten Sparringspartner Großbritannien auspunkten können. So lag 1996 das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung erstmals in der irischen Geschichte höher als das der Briten. 1998 erzielte das größte irische Bankenkonsortium einen Reingewinn von über achthundert Millionen Pfund. 1995 gaben die irischen Verbraucher 22 Milliarden Pfund für Waren und Dienstleistungen aus. Iren besitzen inzwischen mehr Videospiele als jedes andere Volk der Erde, was den irischen Augen gewiß nicht guttun wird (siehe Schönheit). Irland belegt heute den elften Platz in der Rangliste international wettbewerbsfähiger nationaler Ökonomien und liegt damit vor Großbritannien. Doch nicht jeder Ökonom hält derartige Statistiken für aussagekräftig. Denn Irland ist nach wie vor auf massive finanzielle Unterstützung aus Europa (rund 1,2 Milliarden Pfund jährlich) angewiesen und zählt neben Griechenland und Portugal zu den drei ärmsten Ländern Europas. Die Beihilfen sollen aber in den nächsten Jahren um 80 Prozent gesenkt werden. Erfolg verpflichtet. Bis in die sechziger Jahre hinein hatte Irland Ähnlichkeiten mit einem Dritte-Welt-Land. Das hat sich inzwischen geändert. Geblieben sind Spuren aus dieser Zeit, die sich besonders im irischen Denken zeigen. Jemand hat einmal gesagt, Irland sei ein Land der ersten Welt mit einem Gedächtnis der dritten. Es ist auch ein Land mit hohen wirtschaftlichen Erwartungen, dem die Ressourcen fehlen, sie alle zu erfüllen. Zu welcher Welt, ob zur ersten oder zur dritten, Irland nun eigentlich gehöre, darüber wurde erbittert gestritten. Es gibt ja nicht vieles in Irland, worüber nicht erbittert gestritten worden wäre. Bis etwa in die sechziger Jahre hinein war es wohl gerechtfertigt, Irland als Dritte-Welt-Land Keltischer Tiger
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zu bezeichnen. Heute zählt es zur Gruppe der reichen Nationen. Doch der Wohlstand eines Landes ist nicht der einzige Maßstab für seinen Rang in der Welt. Der Reichtum Irlands ist relativ, da das Land noch viele Symptome klassischer Unterentwicklung aufweist. Seine Wirtschaft ist weiterhin einseitig ausgerichtet und stark von ausländischem Kapital abhängig. Eine eigene industrielle Basis ist kaum vorhanden. Die Briten trugen zur Industrialisierung Irlands nicht signifikant bei, das Land wurde im Gegenteil das ganze 19. Jahrhundert hindurch sogar de-industrialisiert. Wie manches Dritte-Welt-Land hat es ein politisches System, das auf Begünstigung und auf Klanwirtschaft beruht. Wichtig ist, wer mit wem zufällig am Tresen eines Pubs sitzt. Viele rechtlichen und politischen Institutionen stammen noch aus den Zeiten kolonialer Herrschaft. Wie andere unterentwickelte Länder hängt es auch kulturell am Tropf entwickelterer Staaten. Trotz starker eigener Traditionen lebt Irland kulturell im Schatten Großbritanniens und der USA. Das irische TV-Netzwerk beispielsweise importiert ausländische Produktionen in großen Mengen. Denn die irische Mentalität hat auch Züge, wie sie überall auf der Welt sichtbar sind – leichte Ware wird gern konsumiert. Und Irland ist eine Migrantengesellschaft, die bis vor kurzem – darin der Türkei oder der Karibik vergleichbar – der eigenen Bevölkerung zu Hause nicht genügend Arbeitsplätze anzubieten hatte. Es wäre töricht, Irland mit Nigeria oder Nepal gleichzusetzen. Es ist kein Dritte-WeltLand, hat in mancher Hinsicht aber etwas von einem Anderthalb-Welt-Land an sich. In einem Sinne existiert das alte Irland weiter fort. Nach wie vor steht einer Vielzahl von Dörfern und Kleinstädten nur eine Handvoll größerer Ansiedelungen gegenüber, werden über 80 Prozent aller Flächen landwirtschaftlich genutzt und ist Dublin für das Land untypisch. Gebildete Iren sprechen vom «ländlichen Irland» zuweilen so, als sei das eine bestimmte Gegend, vergleichbar etwa dem Lake District in England. Das ist irreführend: Irland ist überwiegend ländlich, und das «ländliche Irland» ist kein eingrenzbares geographisches Gebilde. Tipperary ist völlig verschieden von Donegal. Sich modern gebende Iren reden sich gar 100 Keltischer Tiger
ein, das ländliche Irland sei verschwunden – eine Ansicht, die manchen Farmer in Kerry überraschen dürfte. Es hat sich von Grund auf verändert, sagen sie. Das hat das urbane Irland aber auch und müßte, nach dieser Logik, ebenfalls verschwunden sein. Doch wollen wir gerecht sein: Konsumgesellschaft, Tourismus, Massenmedien, zunehmende Mobilität und neue Industriezweige haben dazu beitragen, daß der Abstand zwischen Land und Stadt sich verringert. Die Landwirtschaft war lange Zeit der wichtigste industrielle Sektor Irlands. Sie beschäftigt heute mit elf Prozent nur noch einen kleinen Teil der Bevölkerung. Zählt man jedoch all die Menschen hinzu, die in der verarbeitenden Industrie indirekt von der Landwirtschaft abhängig sind, ergibt sich ein wesentlich höherer Anteil – fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Landwirtschaftliche Produkte werden in beträchtlichem Umfang ausgeführt. Das zweite, nicht minder wichtige Exportgut ist Irland selbst. Die Witz-Postkarten und die Kitsch-Handtücher sind Teil jener Strategie, mit der das Land permanent seinen touristischen Klischees neue Nahrung gibt, ohne im mindesten an den Schwindel zu glauben. Das Irentum ist ein berauschendes Getränk, das keiner besser zu destillieren vermag als die Iren selber. Zu reichlich konsumiert, erzeugt es noch mehr Hirngespinste, Halluzinationen, falsche Hoffnungen, Weinerlichkeit, Draufgängertum und unechte Fröhlichkeit, als es Bushmills je vermochte. Das Land ist auf dem Wege, ein einziger riesiger Themenpark, so etwas wie ein keltisches Disneyland zu werden, in dem Queen Maeve die Rolle der Minnie Mouse einnimmt. Eine nur minimale staatliche Kontrolle der Finanzströme, die niedrigsten Unternehmenssteuern, die Europa zu bieten hat, und gute wirtschaftliche Beziehungen, das sind die Bedingungen, unter denen in den letzten Jahrzehnten ausländisches Kapital nach Irland floß. Iren können im Gegensatz zu anderen Europäern wilden Streiks und Protestaktionen wenig abgewinnen. Hilfreich ist auch, daß sie Englisch sprechen und ein für die Ansiedlung von Ausländern so attraktives Land haben. Irland führt auf dem Weltmarkt bei Erzeugnissen der chemischen Industrie und der Elektronik. Aber 35 bis 40 Prozent seiner Wirtschaft befinKeltischer Tiger 101
den sich in ausländischem Besitz. Ein hoher Prozentsatz der Exportgüter stammt aus diesem Bereich. Einer vorsichtigen Schätzung zufolge fließen jährlich Gewinne in Höhe von einer Milliarde Pfund aus Irland ab. Nur ein Bruchteil der Gewinne wird im Land selbst reinvestiert. Fast möchte man meinen, die Iren haben sich selbst ein Bein gestellt, als sie transnationale Konzerne anlockten, Subventionen und Steuererleichterungen anboten und viele Beschränkungen aufhoben. Die positive Folge ist ein gewisser Wohlstand für einige, die negative besteht darin, daß das Land, das jahrhundertelang die vor der Küste schwimmende Farm Großbritanniens war, heute in Gefahr ist, zum Steuerparadies für das amerikanische Big Business zu werden. Irlands prekärer Wohlstand fließt also zu großen Teilen aus äußeren Quellen zu. Im Kern beschränkt er sich auf ein paar Hightech-Unternehmen, die sich in US-amerikanischem Besitz befinden. Bei der wachsenden Zahl der Armen ist davon nichts angekommen, und Haushalte mit einem hohen Familieneinkommen sind in Irland immer noch in der Minderzahl. Einer Erhebung zufolge gaben zwei Drittel der Iren an, persönlich nicht von dem Boom zu profitieren. Die Arbeitslosenquote ist im vergangenen Jahrzehnt auf 21 Prozent gestiegen, eine schwere Last, die ein nicht gerade reiches Land durch Sozialfürsorge auszugleichen hat.21 Auch die Bildungsausgaben belasten das Land schwer, da das Kinderkriegen einer der wichtigsten Wirtschaftszweige ist.22 Lange Zeit hatte Irland mit Spanien die höchste Arbeitslosenquote in der gesamten industrialisierten Welt; sie kann in städtischen Randgebieten bis zu siebzig Prozent oder mehr betragen. Rund eine Million Iren leben schätzungsweise an oder unterhalb der Armutsgrenze. Ein Drittel davon sind Kinder. Neben den USA hat Irland den höchsten Anteil an Niedriglohnjobs in der entwickelten Welt. Irland hat inzwischen auch seine Langzeitarbeitslosen. Sie leben vielfach in städtischen Ghettos, deren bloße NaFFE: Rund 35 Prozent aller Iren sind auf Sozialhilfe angewiesen. FFE: Dublin hat die älteste Entbindungsklinik Europas, die Rotunde – was ein ausgezeichneter Name für eine solche Einrichtung ist. Das Land ist berühmt für das Können seiner Geburtshelfer, und Ärzte dieser Fachrichtung zieht es scharenweise aus dem Ausland hierhin.
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men Bessergestellte schon schaudern lassen. Eine neuere Untersuchung zeigt, daß die Bewohner der meist heruntergekommenen, mit öffentlichen Mitteln errichteten Sozialwohnungskomplexe im europäischen Vergleich, was ihren Zugang zu Bildung, Konsum, Freizeit und Kinderbetreuung betrifft, am schlechtesten abschneiden. In einem dieser Wohnsilos in Dublin gibt es für die Versorgung von 15 000 Menschen nur einen Laden; in einer anderen, von fünftausend Menschen bewohnten Anlage gibt es weder eine Schule noch eine Arztpraxis, weder Telefonzellen noch Briefkästen. Statt dessen haben diese Wohnkomplexe die größte Selbsthilfegruppen-Dichte. Irlands bewährter Ausweg aus der Arbeitslosigkeit – die Auswanderung – ist heute versperrt. So schwillt das Heer derer, die keinen Job haben, weiter an. Auch der Massenexodus aus dahinsiechenden ländlichen Regionen in städtische ist kein Ausweg. Nur ungefähr ein Drittel aller irischen Farmen sichern ihren Betreibern die Existenz, und Bodenschätze, deren Abbau Arbeitsplätze bedeutete, hat das Land zu wenig. Die Iren werden niedriger entlohnt als die Briten, im allgemeinen aber höher besteuert, und die Lebenshaltungskosten sind ein Fünftel höher als auf der Nachbarinsel. Touristen, die glauben, Irland sei ein billiges Vergnügen, weil ein armes Land, steht ein schwerer Schock bevor; nach einem Abend im Pub kann futsch sein, womit man zwei Wochen auskommen wollte. Nach Jahrhunderten drückender Armut haben die Iren eine Abwechslung verdient. Luxusgüter, manchmal aber auch schlicht nur Lebensnotwendigkeiten, von denen sie früher nur träumten, können ihnen heute gehören. Doch wie stets hat alles seinen Preis. Die Menschen werden immer zynischer und gieriger, das Land wird immer öfter von Skandalen erschüttert, die Kluft zwischen Einkommensmillionären, die in Irland einen Status wie Popstars genießen, und dem Heer der Arbeitslosen wird immer tiefer. Keine Frage, der keltische Tiger brüllt, aber Tiger kommen in Irland nur in eng begrenzten Gebieten vor, Zoos genannt. Wie den Wirtschaftsboom gibt es sie nicht überall im Land. Wer sich, und das galt lange Zeit, als Ire zu erkennen gab, gestand damit ein, halb Clown und halb Geistesgestörter zu Keltischer Tiger 103
sein. Heute ist Ire sein so cool, wie es in den Sechzigern cool war, wenn man aus Merseyside stammte. Es kommt nur auf die richtige Mischung an: Unkonventionell soll man schon sein, aber auch arriviert, man soll ein bißchen aus dem Rahmen fallen, aber gleichzeitig beruhigend normal sein. Nun, wo die Iren zu Hause selbstbewußter geworden sind, finden sie auch im Ausland mehr Aufmerksamkeit – ein Vorgang, der allerdings auch umgekehrt funktioniert. Je mehr sich das Land dem «Mainstream» angleicht und Anschluß an die Welt findet, desto größer wird auch das Selbstvertrauen, mit dem es seine eigene unverwechselbare kulturelle Identität entdeckt. Je mehr die Iren aussehen wie alle anderen auch, desto selbstverständlicher können sie seltsamerweise sie selbst sein. Das überrascht auch wieder nicht in einer Welt, in der kulturelle Identitäten zu einer Ware auf dem globalen Markt geworden sind. Zugleich ist es bemerkenswert, wie diese beiden Aspekte irischer Identität sich gegenseitig verstärkten. Die Situation früher kolonialer Zeiten, in denen die Iren nie sie selbst sein konnten, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, sich für andere annehmbar zu machen, hat sich in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Diejenigen, die sich förmlich überschlagen, um «in» zu sein, zeigen damit nur, daß sie die eigentlichen Außenseiter sind, wie die fatale Biographie des Dubliner Schriftstellers Oscar Wilde gut veranschaulicht. Die Iren haben nicht mehr das Gefühl, sich ständig selbst auf die Schulter klopfen zu müssen. Denn eine permanente Bejahung der eigenen Identität – mag das manchmal auch notwendig sein – hat auch ihre Schattenseiten, sie macht dann kaum noch Freude. Zu dem, was Irland einzigartig macht, gehört auch seine Geschichte von Hunger, Rückständigkeit und politischer Abhängigkeit. Kein Wunder, daß das Land ausschließlich mit sich beschäftigt war. Doch genau deshalb könnte es sich jetzt auch öffnen. Ihrer eigenen leidvollen Geschichte wegen sollten die Iren Mitgefühl mit anderen kleinen, kämpfenden Nationen in der Welt haben. Ob das Land diesen politischen Weg einschlagen oder ob es als zweite Schweiz enden wird, bleibt jedoch abzuwarten.
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Kerryman
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~ÅÜ einhelliger Meinung kultivierter Iren ist ein Kerryman ein unterbelichteter, sturer Bauer. Und als solcher Zielscheibe mancher Witze dieses Zuschnitts: «Was ist das Vorspiel eines Kerryman?» Antwort: «Bridget, ich komme.» Es gibt auch den über einen Kerryman, der von Kerry nach Cork zog, woraufhin der durchschnittliche Intelligenzquotient in beiden Grafschaften sank.
Killarney
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çÅÜ eine große Enttäuschung auf Ihrer Reise. Diese triste Kleinstadt wird von mehr Touristen heimgesucht als jeder andere Ort Irlands – nicht etwa, weil es dort viel zu sehen gäbe, sondern weil sie das Tor zu den Lakes of Killarney ist, einer der schönsten Gegenden des Landes. Wenn Sie die Möglichkeit haben, per Hubschrauber anzureisen und direkt über den Seen abzuspringen, ersparen Sie sich viel Mühe.
Kinder
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áÉ Iren wurden manches Mal wie Kinder von oben herab behandelt – was eher ein Witz ist, da irische Kinder im großen und ganzen beeindruckend reif wirken. Sie sind weniger spröde und «lieb» als angelsächsische Kinder, und sie sehen sich selbst als nichts Besonderes an. In einer ländlich geprägten Gesellschaft mußten Kinder seit jeher mit ihren Eltern mitarbeiten; Sentimentalität war ein Luxus, den Iren sich nicht leisten konnten. (Unsentimental ist auch ihr Verhältnis zu Tieren, ganz anders als bei den Engländern, für die Vierbeiner hauptsächlich zum Hätscheln da sind.) Eine große Rolle spielt sicher auch, daß irische Kinder in der Regel eine ganze Menge Geschwister haben und so elterliche Verantwortung übernehmen müssen. Sie selbst stehen kaum einmal im Mittelpunkt. Weniger freundlich ausgedrückt: Die Iren haben eine tiefverwurzelte autoritäre Einstellung, die Kindern wenig freie Hand läßt. Ältere Kinder Kinder 105
sind einem starken Druck ausgesetzt, und die Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen steigt ständig. Das Schulabgangszeugnis ist zu einer nationalen Obsession geworden, die institutionalisierte Hilfsangebote wie Privatunterricht und professionelle Beratung sowie Beinahe-Nervenzusammenbrüche in großer Zahl hervorgebracht hat. Wie immer man das Phänomen erklären will – mit irischen Kindern braucht man jedenfalls nicht gönnerhaft zu sprechen. Sie wissen sich gewöhnlich im Beisein Erwachsener zu behaupten und müssen nicht durch Zurschaustellung von Albernheiten um Aufmerksamkeit buhlen. Wie es in dem alten Sprichwort heißt: Kinder mögen derb sein, aber niemals lächerlich.
Land der Heiligen und der Gelehrten
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áÅÜí ganz falsch, zumindest nicht für einen bestimmten Zeitraum. Im sogenannten finsteren Mittelalter, als Barbaren in Europa einfielen, war Irland eines der wenigen unversehrt gebliebenen Zentren der Zivilisation, nicht zuletzt seiner geographischen Abgeschiedenheit wegen, die es vor einer Invasion bewahrte. Die Römer warfen nur einen kurzen Blick darauf und fanden, daß es zu teuer käme, den steinernen Müll wegzuräumen. Die Periode vom 6. bis zum 8. Jahrhundert war in Irland das goldene Zeitalter der Manuskriptillumination und eines differenzierten Rechtssystems. Ohne die Iren wäre das Lateinische vermutlich spurlos untergegangen. Grund genug, daß Schulkinder die Iren nicht leiden können. Die irische Kultur jener Zeit war außerordentlich selbstbewußt und offen für Einflüsse aus aller Welt. Irland war damals das intellektuelle Zentrum Europas: Seine Klöster waren berühmt als Stätten der Gelehrsamkeit, ausländische Wissenschaftler kamen in Scharen ins Land, und irische Mönche bereisten als Lehrer und Missionare ganz Europa, so wie das Netz ihrer Missionen noch heute den Erdball überzieht. Ein irischer Priester, der heute, sagen wir, nach Birmingham geschickt wird, versteht sich durchaus als Missionar. Manche Mönche legten Zeugnis für ihren Glauben ab, indem sie ohne Nahrungsmittel, ohne Wasser und ohne 106 Land der Heiligen und der Gelehrten
Ruder mit ihren Booten in See stachen. Hin und wieder stellte sich heraus, daß man auf diese Art recht kommod in den Himmel kam anstatt nach Europa. Die irischen Barden, die über viel Macht und Einfluß verfügten, waren Dichter, Zauberer, Anwälte und politische Berater zugleich. Sie reisten ungehindert von einem irischen Königreich ins andere, eine Freiheit, die selbst die Könige nicht hatten. In späteren Zeiten schlugen sie sich als Wanderdichter und Harfenspieler durch, manche von ihnen waren blind, fanden Unterschlupf im Schloß eines Herrn, verdienten sich ihr Abendessen durch Singen und belegten das Haus mit einem Fluch, wenn die aufgetischten Speisen hinter ihren Erwartungen zurückblieben. Diese Kultur verfiel jedoch mit dem 17. Jahrhundert, als der gälische Adel, der ihr Träger war, aus dem Lande gejagt und ins politische Exil getrieben wurde. Keine andere Nation von so bescheidener Größe hat eine so großartige Zunft von Schriftstellern aufzuweisen. Die irische Sprache hat die älteste Nationalliteratur in Europa hervorgebracht, eine Literatur von eigenwilliger Schönheit und Vielfalt. Gelegentlich ging allerdings auch mal etwas daneben. So gelang es beispielsweise einem Gelehrten im 8. Jahrhundert, der ein Wörterbuch des Irischen schrieb, den Buchstaben S komplett zu vergessen. Irland hat jedoch alles wieder wettgemacht, nachdem vier Iren – Yeats, Shaw, Beckett und Heaney – den Nobelpreis für Literatur zuerkannt bekamen.23 Nur Frankreich hat den Literaturnobelpreis häufiger eingestrichen. Die Literatur gehört in Irland mittlerweile zur Tourismusindustrie. Zu Dutzenden werden überall im Lande literarische Sommerschulen abgehalten, die Gerüchten zufolge in zwei Kategorien fallen: In der einen wird in den Unterrichtspausen getrunken, und in der anderen wird zwischen den Trinkpausen unterrichtet. Wenn jemand 1893 in Irland einen grausigen Limerick auf die Rückseite eines Briefumschlags gekritzelt hat, können Sie sicher sein, daß über denjenigen heute eine jährliche Sommerschule abgehalten wird. FFE: Die Iren kaufen pro Einwohner mehr Gedichtbände als alle anderen englischsprachigen Nationen.
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Viele große «englische» Literaten sind in Wahrheit Iren – was die Briten manchmal gern vergessen. Die Engländer nehmen die Iren in ihre Mitte auf, wenn es ihnen paßt, und sie lassen sie fallen, wenn es ihnen nicht paßt. Als der irische Schauspieler Richard Harris für seine Rolle in einem britischen Film mit einem Preis ausgezeichnet wurde, titelten englische Zeitungen: «Englischer Schauspieler gewinnt Preis». Als derselbe Harris wegen ungebührlichen Verhaltens in einer Bar verhaftet wurde, lautete die Schlagzeile: «Irischer Schauspieler an Kneipenschlägerei beteiligt». Ein zweiter irischer Schauspieler, Peter O’Toole, wurde schon öfter als jeder andere für einen Oscar nominiert – erhalten hat er bisher keinen einzigen. Dadurch ist O’Toole den Iren lieb und teuer, denn ihnen wird mulmig, wenn sich Menschen, insbesondere Iren, eines zu großen Erfolgs erfreuen. Daß Menschen, die Bedeutendes leisten, in den Verdacht geraten, an einer seltenen Geistesstörung zu leiden, hat in Irland Tradition. Engländer wiederum sehen den irischen Schriftsteller gern als einen, der sich permanent mit Guinness und Whiskey das Hirn vernebelt, und liegen damit arg daneben. Von ein paar herausragenden Ausnahmen abgesehen, gibt es unter irischen Autoren viel weniger Alkoholiker als unter den amerikanischen. Es fällt einem doch kaum ein amerikanischer Schriftsteller von Rang ein, der über einen signifikanten Zeitraum hinweg einmal nüchtern war. Irische Autoren behalten einander wachsam im Auge, um nur ja nicht zu verpassen, welcher von ihnen bei einem prestigeträchtigen Londoner Verlag unterkommt. Der Kolonialismus lebt in kulturellen Angelegenheiten munter weiter. Alle irischen Künstler sind von der Einkommenssteuer befreit, was in einem Lande, in dem die Einkommenssteuer einen empfindlichen Anteil der Einkünfte ausmachen kann, der schönste Anreiz ist, den man sich je träumen ließ, sich die Haare lang wachsen zu lassen und sich einen Stift oder einen Pinsel zu kaufen. Millionäre gibt es unter den Iren nicht viele, manche werden aber besteuert, als seien sie welche. Ein erlesener Kreis von Künstlern erhält Stipendien vom Staat und bildet einen Zirkel, dessen Leitbild noch immer der Barde vergangener Zeiten darstellt. Irland ist gestopft voll mit Dichtern, Literaturzeitschriften und Theatertruppen, rühmt 108 Land der Heiligen und der Gelehrten
sich einer blühenden Filmindustrie und einer der schönsten Volksmusiktraditionen der Welt. Man rechnet zuversichtlich damit, daß in Kürze auch Heilige in den Genuß der Befreiung von der Einkommenssteuer kommen werden. Gelegentlich begegnet man in Irland einfachen Leuten, die nicht zur Schicht der Intellektuellen zählen und trotzdem etwas von Joyce, Yeats oder Heaney gelesen haben. Und wenn sie sie nicht gelesen haben, so haben sie doch zumindest von ihnen gehört, wohingegen ein einfacher Engländer von T. S. Eliot wahrscheinlich noch nie gehört hat. Einer meiner Freunde begegnete in Dublin einmal einem Taxifahrer, der gar nicht wieder aufhörte, von dem großen irischen Schriftsteller Orson Welles zu schwärmen. Der Mann meinte vermutlich Oscar Wilde, obwohl der junge Orson Welles wiederum – seltsamer Zufall – sein schauspielerisches Handwerk in Irland erlernt hatte. Irische Intellektuelle sind eine zungenfertige, streitsüchtige Bande, die pausenlos über sich selbst und ihr Land schwadroniert.24 Die Iren sind sich selbst ein Quell unaufhörlicher Faszination, ein typisches Merkmal kleiner, konfessionell geprägter Nationen (unter anderen). Deshalb lesen manche Iren derzeit auch gerade dieses Buch, das Sie auch in der Hand halten. Französische und englische Intellektuelle machen nicht viel Worte darum, daß sie französische oder englische Intellektuelle sind – das haben sie nicht nötig. Nur wer eine Randexistenz führt, hat ein Identitätsproblem und prüft sich daher dauernd selber. Es ist noch nicht lange her, daß Irland einen bekannten Intellektuellen als Premierminister hatte. Wenn ihm Vorschläge unterbreitet wurden, soll er gesagt haben: «Das ist ja in der Praxis alles gut und schön, aber funktioniert es auch in der Theorie?» Irische Intellektuelle sind also – wie überall in der Welt – eine eigene Spezies, aber viele sind doch bodenständiger als ihre britischen Pendants. Den einen oder anderen trennen vielleicht nur ein, zwei Generationen von der Farm. Irland hat mehr von einer allen gemeinsamen Kultur als England, obgleich es auch hier 24 FFE: Ab und zu sprechen sie auch über andere Dinge. Der Begriff «Elektron» wurde von einem irischen Wissenschaftler geprägt.
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deutliche Abstufungen gibt. So wirbt beispielsweise ein angesehener Professor am Trinity College im Fernsehen für Autos, obwohl allgemein bekannt ist, daß er gar nicht Auto fahren kann. Snobismus ist unter den Iren weniger weit verbreitet als in England, obwohl es auch hier exklusive Zirkel gibt: die Anhänger des Pferderennsports, die Leute aus dem Big Business, die Filmstars und die Angehörigen des alten anglo-irischen Adels. Einen Menschen namens Guinness wird man am Tresen eines Pubs, wo das Produkt verkauft wird, wahrscheinlich nicht antreffen. Der eine oder andere aus dieser aristokratischen Familie erträgt nicht einmal den Anblick dieses Zeugs.
Lasterhaftigkeit
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~ëíÉêÜ~ÑíáÖâÉáí ist in Irland unbekannt, dafür sorgt schon die Kirche. Wir können also gleich übergehen zu...
Lästerzungen ... von denen es verhältnismäßig viele gibt. Die Iren sind meisterhafte Spötter, nicht zuletzt über sich selber. Sie reagieren allergisch auf Pomp und Bombast und tun nichts lieber, als etwas aufs rechte Maß zurückzuschneiden. Es ist eine verblüffend zwanglose Kultur, in der auf Förmlichkeit oder Geheimnistuerei wenig Wert gelegt wird; möglich, daß der ältere Herr mit der pockennarbigen Nase, der da an der anderen Seite des Tresens steht, der Premierminister ist. Er hat vielleicht ein, zwei Aufpasser dabei, aber gewiß kein ganzes Budel bewaffneter Sicherheitsbeamter. Bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die in Großbritannien oder den USA nicht im Traume daran denken würden, im Telefonbuch zu stehen, findet man im irischen. Es ist eine in vernünftigem Maße egalitäre Gesellschaft, doch auch hier wird wie fast überall die Kluft zwischen Arm und Reich ständig größer. Jemand hat einmal gesagt, die Amerikaner hätten keine Klassenstruktur, die Briten hätten nichts als Klassenstruktur, und die Iren 110 Lästerzungen
hätten zwar eine Klassenstruktur, bloß hätte bisher noch niemand entdeckt, wo. Mit aufgeblasener Rhetorik und Selbstdarstellung gewinnt man bei Iren keinen Blumentopf. Schwärmt ein Amerikaner ihnen etwas von seinen wirklich wundervollen Kindern vor, berichten Iren ihm voll Wonne, daß ihre eigene Brut lauter Junkies und Knastbrüder sind, selbst wenn sie in Wahrheit als Physiker in der Forschung arbeiten. Im Gegensatz zum Herumwitzeln der Amerikaner oder zur unverbindlichen Herzlichkeit mancher Briten ist der irische Humor abgründig, hat zuweilen schwarze Seiten und ist latent aggressiv. Wenn Iren den Mund aufmachen, dann oft, um Dampf abzulassen, und nicht, um Zustimmung kundzutun. Nur wenige Nationen haben ein so genaues Gespür für das Lächerliche, nicht zuletzt, wenn es sie selbst betrifft. Die Iren haben eine dynamische Wirtschaft, aber keine dynamische Mentalität. Prahlerei und Übertreibung sind seit jeher irischer Brauch; man treibt damit den eigenen Kurswert wieder in die Höhe, wenn andere einen herabgesetzt haben. Die Barden in der frühen irischen Gesellschaft hatten unter anderem die Aufgabe, ihre Geldgeber mit überschwenglichem Lob zu überhäufen, was eine mögliche Erklärung dafür ist, wo das irische Talent zur Übertreibung herkommt. In einer seit jeher mit Armut geschlagenen Welt, in der der Gewinn des einen nur allzuoft der Verlust des anderen war und in der man einander zu gut kannte, um sich Bären aufbinden zu lassen, wurde Aufschneiderei aber auch mit Stirnrunzeln quittiert. So wird in irischen Gesprächen Leistung oft auch heruntergespielt. Man hat am Abend zuvor kein FünfGänge-Menü zu sich genommen, sondern nur einen Happen gegessen. Das Bagatellisieren kann groteske Formen annehmen. Ein Freund, der Arzt ist, erzählte mir von einem Anamnesegespräch mit einem Patienten. Hatte der Patient schon einmal an einer schweren Erkrankung gelitten? Nein, nein, keineswegs. Bestimmt nicht? Na schön, vor einer Weile habe er mal «ein bißchen Krebs» gehabt. In dieser Hinsicht haben die Iren viel mit den Engländern gemeinsam, die zu ähnlicher Untertreibung und Reserviertheit im Persönlichen neigen. Während die Engländer jeLästerzungen 111
doch eine Nation jammernder Masochisten sind, die nichts schöner finden, als nörgeln zu können (aus dem Grunde hat Gott ja auch ihr entsetzliches Wetter geschaffen), spotten die Iren über sich selbst und lamentieren nicht ständig. Sie setzen sich gern selber herab; nur wenn ein anderer das tut, richten sie mit der Empfindlichkeit von Leuten, auf denen dauernd herumgehackt wird, ihre Stacheln auf. So erzählt ein Ire Ihnen vielleicht, wie empörend er die Korruption innerhalb der katholischen Kirche findet oder wie ihm das sentimentale Gerede von der Grünen Insel auf den Wecker geht, stimmen Sie als Außenseiter jedoch in diese Kritik ein, kehrt derselbe Ire zehn Minuten später auf einmal den Patrioten heraus.
Liffey, Wasser der
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áÉ Liffey ist Dublins wichtigster Fluß, und ihr Wasser gilt als die Ingredienz, welche das Guinness so wunderbar macht. Deswegen ist das irische Guinness auch um Klassen besser als das in London gebraute. Es schmerzt mich, Ihnen mitteilen zu müssen, daß dies wieder nur ein Märchen ist. Aus dem Fluß kam das zum Guinnessbrauen verwendete Wasser nie. Jeder, der einmal einen flüchtigen Blick auf die Liffey geworfen hat, wird dies mit Erleichterung vernehmen.
Limerick
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çããÉå Limericks aus Limerick? Niemand weiß es, aber vermutlich nicht. Die als Limerick bekannte Versform hat eine lange Geschichte und mit der irischen Stadt gleichen Namens, soviel wir wissen, nichts zu tun. Einer Theorie zufolge erfanden die Leute aus dem Stegreif Limericks, wenn sie beisammensaßen und damit alle Zeit zum Nachdenken hatten. In den Denkpausen sangen ein paar ein altes Lied, welches da lautete: «Oh won’t you come up, come all the way up, come all the way up to Limerick?» So soll es zu dem Namen gekommen sein. An dem Gerücht, es gäbe 112 Limerick
auch einen «Cork», ein nicht endenwollendes episches Gedicht, das aus nichts als Prahlerei bestehe, ist jedoch kein Wort wahr. Wahr ist jedoch, daß es eine Versform namens Skibbereen gibt, die von einem der größten lebenden irischen Denker, dem gälischen Gelehrten Seán Mac Réamoinn, erfunden wurde. (Skibbereen ist eine Kleinstadt im County Cork, berüchtigt dafür, was ihre Bewohner während der Großen Hungersnot zu erdulden hatten.) Sie besteht aus zwei sich reimenden Zeilen, deren erste man selbst erfindet und deren zweite einem alten irischen Lied entstammt: «Noch ein Grund, weshalb ich fortging aus Skibbereen.» Ein fertiger Skibbereen geht dann zum Beispiel so: «Sie brachten mir bei, daß Knutschen Sünde war und der Ulysses
obszön (englisch ‹obscene›). Noch ein Grund, weshalb ich fortging aus Skibbereen.» Jetzt sind Sie dran. Es gibt auch eine Gedichtform namens Listowel, die irgendwo in der Mitte zwischen einem Limerick und einem Skibbereen liegt. Mit der kleinen Stadt Listowel in Kerry verhält es sich nämlich genauso. Sie liegt zwischen den beiden anderen. Limerick befindet sich an der Mündung des Shannon, des längsten Flusses von Irland, sogar von Großbritannien. Sein Becken nimmt mehr als ein Fünftel der Gesamtfläche des Landes ein. Der Dichter Robert Graves sagte einmal, in Limerick sei noch jeder an Trunksucht gestorben, ausgenommen die Gebrüder Plymouth, bei denen sei die Todesursache religiöse Schwermut gewesen. Niemand weiß, ob das stimmt, aber vermutlich nicht.
Limerick 113
Markievicz, Constance
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áÉ ist die bedeutendste Rebellin Irlands überhaupt. In Sligo als Kind wohlhabender Eltern geboren, schloß Connie Markievicz sich gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts der irischen nationalistischen Bewegung an, wurde Mitglied des Exekutivrats der Sinn Fein und schrieb Artikel für die erste Frauenzeitung in der irischen Geschichte. Gründung und Ausbildung der nationalistischen Jugendorganisation, in etwa ein revolutionäres Pendant zu den Pfadfindern, gehen ebenfalls auf Markievicz zurück. Selber bis an die Zähne bewaffnet, wie es von ihr überliefert ist, konnte man sie leicht mit einem Vertreter einer Waffenfirma verwechseln. Als überzeugte Sozialistin spielte sie eine führende Rolle bei der Einrichtung von Suppenküchen zur Speisung der hungernden Dubliner Bevölkerung während eines Arbeitskampfes im Jahre 1913. Sie heiratete einen extravaganten polnischen Grafen und verwandelte sein Haus, sehr zu seinem Verdruß, in etwas wie eine revolutionäre Kommune. Markievicz wurde zum Oberst in der irischen Bürgerarmee ernannt, entwarf für sich selbst eine frauentaugliche Uniformvariante und nahm aktiv am Osteraufstand von 1916 teil. Sie wurde von den Briten zum Tode verurteilt, ein Verdikt, das sie offenbar mit Freuden annahm, wurde ihres Geschlechts wegen jedoch begnadigt und mußte dann den ersten von mehreren Gefängnisaufenthalten erdulden. Im Jahre 1918 wurde sie Labour-Sprecherin der ersten (offiziell illegalen) Sinn-Fein-Regierung. Sie verhinderte, daß wichtige Staatspapiere den britischen Behörden in die Hände fielen, indem sie mit den Dokumenten im Taxi durch Dublin kutschierte und sie schließlich im Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts deponierte, wo sie durch ein Preisschild mit einer unerschwinglich hohen Summe verdeckt waren. Das Geschäft befand sich unmittelbar gegenüber dem Hauptquartier der Black und Tans, jener kunterbunt zusammengewürfelten Truppe von Schlägern, die von der britischen Regierung angeheuert worden waren und als Söldner während des Unabhängigkeitskampfs bei der Unterdrückung der Iren helfen sollten. Bei einer Reihe von Arbeitskämpfen intervenierte Markievicz in ihrer Eigenschaft 114 Markievicz, Constance
als Labour-Ministerin zugunsten der betroffenen Arbeiter; so auch einmal in einer Fabrik, die Rosenkränze herstellte. Noch während ihrer Haft im Londoner Zuchthaus Holloway wurde sie als erste Frau ins britische Unterhaus gewählt, lehnte es als gute Republikanerin jedoch ab, den Sitz anzunehmen. Sie wurde abermals inhaftiert, sorgte dafür, daß sie wegen Verschwörung vor ein Militärgericht gestellt wurde, und floh während des Bürgerkriegs, der auf die irische Unabhängigkeit folgte. Ein letztes Mal wurde sie ins Gefängnis geworfen, jedoch nicht von den Briten, sondern just von dem irischen Freistaat, an dessen Entstehung sie maßgeblichen Anteil gehabt hatte. Markievicz setzte ihre Arbeit unter den Mittellosen in Dublin fort, fand sogar noch Zeit, eine Theatergruppe zu leiten, und starb im Jahre 1927. Die irische Regierung untersagte die öffentliche Aufbahrung ihres Leichnams. Von ihren Freunden aus der Oberschicht gemieden und mehr als einmal von der Polizei zusammengeschlagen, gab sie ihr Vermögen und ihre Herkunft für die Sache eines radikalen Republikanismus auf und half einer hungrigen Arbeiterklasse zu überleben. Deren Zuneigung war es und nur wenig mehr, was sie ins Grab mitnahm.
Milesius
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ÉÖÉåÇ®êÉê König und Stammvater des irischen Volkes. Glück für ihn, daß er nicht existierte, denn er hätte eine Menge Fragen zu beantworten.
Moore
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áå Sechstel Irlands besteht aus Mooren. Kein anderes europäisches Land weist mehr davon auf, Finnland ausgenommen. Die meisten Moore befinden sich in den Midlands und im Westen. Für den Besucher ist ein Moor bloß ein Moor: ein wilder, rauher, feuchter, trister Landstrich, den man am besten so schnell wie möglich hinter sich läßt, damit nicht auf einmal das Moor hinter einem her ist (siehe Moore 115
unten). Das geschulte Auge des Geographen jedoch weiß Moore in Arten zu unterscheiden, in «Hochmoore» und «Flachmoore». Flachmoore (blanket bogs) sind, wie das Wort schon sagt, ausgedehnte, relativ ebene Moorflächen, die in niederschlagsreichen Gebieten entstehen, was üppiges Pflanzenwachstum begünstigt. «Hochmoore» (raised bogs) bilden sich in niederschlagsarmen Gebieten. Sie befinden sich an den Berghängen und an der Westküste Irlands und bilden kleine Erhebungen, die mit Heidekraut, Stechginster und Birken bewachsen sind. Die irischen Moore mögen reizlos aussehen, ohne sie jedoch wären die Iren gegen militärische Invasionen weniger geschützt gewesen. Berge und Moore ließen Eroberungen des Landes zu einer nachgerade unlösbaren Aufgabe werden. Durch ihre Moore waren die Iren auch der Kälte weniger ausgesetzt. Der Torf, den sie mit einem «slean» genannten Spaten stachen, war jahrhundertelang für die Mehrheit der Bevölkerung das einzige Brennmaterial. Heute ist das Torfstechen kommerzialisiert. Gut möglich, daß Sie auf Ihren Reisen Arbeiter sehen, die den Torf maschinell abbauen und auf Wagen verladen. Er wird zu Torfbriketts verarbeitet oder in den sieben Torfkraftwerken des Landes genutzt. Durch die jahrelange Torfgewinnung erschöpft, sind die irischen Moore heute große Naturreservate von weltweit einmaliger Bedeutung als geologische Formation. Neben ihrer industriellen und wissenschaftlichen Nutzung werden sie heute zunehmend zu Regionen des Tourismus und der Erholung. Moore haben auch immer die Phantasie beflügelt, sind Orte, in denen Natur intensiv erlebt werden kann. Für ein traditionell mit dem Land verbundenes, heute jedoch zunehmend urbanisiertes Volk sind Moore ein kostbares Gut, sind ein geistiges wie materielles Erbe von unschätzbarem Wert. Moore sind natürliche Museen, in denen lebendige Zeugnisse der Vergangenheit aufbewahrt sind. Mit den Jahren kommen alle möglichen Werkzeuge und Utensilien an die Oberfläche, ganz zu schweigen von den gelegentlichen Leichen, alle beängstigend gut erhalten. Moore sind Zeitkapseln, in denen Gegenstände aus Holz oder Kleidungsstücke, 116 Moore
die sonst zersetzt worden wären, erhalten blieben – und zwar tipptopp. Manche dieser Artefakte waren ursprünglich nur verlorengegangen, andere mögen, aus rituellen Gründen vergraben worden sein, und noch andere sollten vermutlich später wiederentdeckt werden. Vielleicht haben unsere frühen Ahnen sie vergraben, weil sie künftigen Generationen von Archäologen etwas Gutes tun wollten. (Im Nationalmuseum von Kairo befindet sich ein Stück Seil mit einem Knoten, über dessen Funktion Altertumsforscher sich die Köpfe zerbrachen, bis sie darauf kamen, daß ihre weitblickenden Vorväter ihnen mit diesem Stück Seil nur mitteilen wollten, wie sie Knoten knüpften.) In Mooren sind millionenfach Pollenkörner erhalten, mit denen Wissenschaftler Flora und Fauna vergangener Zeitalter rekonstruieren können. Daraus erfahren wir vieles über die Wälder, die das Land einst reich bedeckten. Wenn Moore die Vorstellungskraft der Iren schon immer angeregt haben, dann vielleicht teils deshalb, weil sie die Gegenwärtigkeit des Vergangenen so anschaulich demonstrieren. Mit einem Moor und dem, was darin bewahrt ist, hat man die Vergangenheit nicht hinter sich, sondern spürbar unter den Füßen. Nur wenige Meter unterhalb der modernen Welt, in der man sich befindet, lagert unentdeckt Geschichte. In diesem Sinne fassen die von ihrer Geschichte gequälten Iren ihre eigene Vergangenheit auf – nicht als Abfolge von Ereignissen, die vorbei sind und hinter einem liegen, sondern vielmehr als eine, die bis in die Gegenwart hinein fortwirkt. Im County Donegal gibt es ein Straßenschild, das den Weg zur «Flucht der Earls» weist und sich auf einen Vorfall im frühen 17. Jahrhundert bezieht. Das ist so, als wiese ein englisches Straßenschild den Weg «Zur industriellen Revolution» oder ein amerikanisches «Zum Unabhängigkeitskrieg». Das Moor bewahrt Gegenstände in einer Form lebendigen Todes, und dieses Verständnis des Todes als Teil des Lebens ist seit jeher Thema der irischen Kultur (siehe Totenwache). Hieraus erklärt sich auch, warum die Iren Gespenstergeschichten über alles lieben, in denen die Schatten der Toten durch die lebendige Gegenwart geistern. Das Land ist voller Ruinen und Zeugen einer Vergangenheit, die keine Ruhe geMoore 117
ben will, voll von den Gespenstern derer, die durch Krieg oder Hunger umkamen und nicht einfach, wie es sich gehört, in ihrem Grab liegen wollten, sondern wiederkehren und sich den Lebenden in den Weg stellen (siehe Dracula). In den letzten Jahrzehnten wurden religiöse Konflikte, deren Ursprung bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, auf offener Straße ausgetragen. Was scheinbar sicher unter der Erde ruht und den Blicken entzogen ist, wird plötzlich an die Oberfläche geworfen wie eine Moorleiche. In der irischen Literatur wird die Zeit versinnbildlicht als Kreisbewegung und nicht als ein zuversichtliches Voranschreiten in eine schöne neue Welt. Dafür wiegt das Gewicht der Vergangenheit in Irland einfach zu schwer. Will man sie unter den Teppich kehren, kehrt sie zurück, um einen abermals zu plagen. Für Touristen, die ja gerade deshalb nach Irland kommen, weil hier alles so hübsch alt ist, lohnt es sich, diesem Gedanken einmal nachzuhängen. Es stimmt nicht, daß Moore reglos sind und sich nicht rühren. Die meiste Zeit mag das zwar so sein, ab und zu erfährt man jedoch davon, daß sie sich auch herumwälzen. Vor einigen Jahren fuhr ein Mann im Auto an der nördlichen Küste des County Mayo entlang, als er plötzlich entsetzt gewahrte, daß sich ihm auf der Straße langsam ein Moor näherte – durch eine Absenkung des Bodens war es ins Rutschen gekommen. Und schon bald erzählte man sich, daß, Jahre nachdem Leute Irland in Richtung Fremde verlassen hätten, das Land nun verzweifelt selber auszuwandern versuche. Moore sind nicht das einzige in Irland, was sich manchmal in Bewegung setzt, wo es doch eigentlich stillhalten sollte. So weiß man beispielsweise von heiligen Brunnen, daß sie, wenn keiner hinschaut, von einem Feld auf ein anderes hüpfen. Ein Brunnen, dessen heiliges Wasser wirklich etwas taugt, mit dem man seine Migräne oder seinen Ischias heilt, kann über Nacht sogar mehrere Felder überspringen. Auch Statuen der heiligen Jungfrau überkommt gelegentlich der rätselhafte Drang, ein bißchen herumzustromern. Besonders die athletisch Gebauten ziehen riesige Mengen von Zuschauern an, die geduldig ausharren, bis die Statue ein Bein ausschüttelt oder ihnen zuzwinkert. Ganz so lustig, wie es sich 118 Moore
anhört, ist das nicht. Vorfälle dieser Art ereignen sich häufig in ländlichen Regionen, in denen Einsamkeit, Frustration und die Sehnsucht nach etwas Aufregendem schnell sonderbare Wunder bewirken kann. Wahr ist, daß die Jungfrau, wenn sie sich einmal blicken läßt, mit eher vagen, wolkigen Ausdrücken vom Weltfrieden spricht, ganz so wie ein UN-Generalsekretär. Tanzende Statuen und wandernde Brunnen können jedoch auch von der Sehnsucht nach einer besseren Welt sprechen, was keinen überrascht, der einmal die langweiligeren Seiten des irischen Lebens kennengelernt hat.
Musik
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Éåå man behauptet, daß man jederzeit in einen irischen Pub in einer städtischen Seitenstraße oder draußen auf dem platten Lande hineinspazieren kann und dort in eine spontane Darbietung wundervoller Musik gerät, klingt das wie eine Münchhausiade. Ist es aber – alles in allem – nicht. Man trifft beinahe überall auf Spitzenmusiker. Ein irischer Musiker wird nämlich fast immer als Spitzenvertreter seines Fachs apostrophiert. Eine gute Voraussetzung für den Fortbestand der irischen Volksmusik ist, daß sie sich leicht mit moderneren Rhythmen verbinden läßt. Die irische Musikszene hat ein paar wunderbar kreative Verbindungen von traditioneller Tonkunst mit Rock, Punk, Klassik, Cajun und der Musik amerikanischer Indianer hervorgebracht.25 Das Schönste, was einem in Irland zu Ohren kommen kann, ist – abgesehen von der Mitteilung «Die Getränke gehen auf mich» – der unbegleitete Gesang einer Frau. Bei dieser alten Liedform, den in der Landessprache vorgetragenen «sean-nos», wird die Stimme zum Instrument, dient weniger zum Ausdruck der individuellen Persönlichkeit. Der Sänger bringt die Tradition zu Gehör, strebt nicht vordergründig nach Originalität und reduziert persönliche Emotionen auf ein Minimum. Irischen Musikern liegt nichts an greller Selbstdarstellung, FFE: Händel schrieb einen großen Teil des Messias in Dublin, und die Stadt erlebte 1742 auch die Uraufführung.
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Musik 119
und man weiß von Geigenspielern, die ihrem Publikum den Rücken zukehren. Und selbst wenn irische Musiker Publikum haben, benehmen sie sich manchmal so, als wäre keines da. Ein großer Teil der alt-irischen Musik entstammt der mündlichen Tradition, gesammelt und notiert von Wissenschaftlern, die das ganze Land durchkämmten auf der Suche nach alten Käuzen, die voller Lieder steckten. Einer dieser Experten fragte einmal eine alte Frau, wo sie ein bestimmtes Lied herhabe, und bekam zur Antwort, sie habe es einen blinden Harfenisten aus einem Dorf hinter dem Berg singen hören. Und woher hatte der es? Der Experte ließ nicht locker. Von seinem alten Onkel, erwiderte sie, der ein umherziehender Kesselflicker gewesen sei. Und woher hatte der es? Aus dem Radio. Dieser kleine Scherz hat einen ernsten Hintergrund. Vieles von dem, was die Menschen für traditionelles irisches Liedgut halten, ist nämlich keines, und manche dieser Lieder sind nicht einmal irischen Ursprungs. Den Text zu Danny Boy hat kein Ire geschrieben. Echte irische Sänger und Musiker würden nicht einmal im Grabe den sentimentalen Blödsinn vortragen, den manche Besucher für typisch irisch halten. Eine andere Geschichte erzählt man sich in Irland über drei Geigenspieler bei einem Musikfestival. Der erste trat in 120 Musik
einem teuren schwarzen Anzug und mit einer Stradivari in einem reich verzierten Geigenkasten aus florentinischem Leder auf die Bühne. Er nahm die Violine mit makellos manikürten Fingern aus dem Rasten, klemmte sie sich schwungsvoll unters Rinn und strich mit dem Bogen darüber. Bei Gott, getaugt hat der nichts. Dann trat der zweite Fiedler auf, einer von der Glitzerfraktion im paillettenbesetzten Jackett mit getüpfelter Fliege, der eine schön polierte, mäßig teure Geige auspackte. Er klemmte sie sich unters Kinn, warf seine ölig glänzenden Locken zurück, bleckte die Zähne und strahlte die Zuhörer mit einem funkelnden Lächeln an und begann zu spielen. Bei Gott, getaugt hat der nichts. Danach kam ein dritter Fiedler auf die Bühne geschlurft: ein gebeugtes, keuchendes Männchen in einem bierfleckigen Jackett und mit streichholzdünnen Beinchen, dem das Hinterteil zur Hose herauslugte. Er hatte keinen Geigenkasten, nur ein ramponiertes altes Instrument, auf dem er seit seiner Jugend herumkratzte. Das Publikum hatte inzwischen die Geduld verloren und hörte kaum noch zu. Doch der kleine Alte hob sich mit zitternder Hand die Geige unter das ergraute Rinn und begann langsam und zärtlich zu spielen. Bei Gott, getaugt hat der auch nichts.
Nein
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Ωê «nein» gibt es in der irischen Sprache kein Wort, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben, als Sie Iren fragten, ob sie etwas trinken wollten. Es gibt aber auch kein Wort für «ja», was man daran erkennt, daß Iren auf die Frage, ob sie verheiratet sind oder eine Arbeit haben, eher mit «bin ich» oder «hab ich» antworten als mit einem schlichten «ja». Viele Redensarten im irischen Englisch (offiziell als HibernoEnglisch bezeichnet) sind aus der irischen Sprache übernommen. Ein Beispiel dafür ist: «Are you after having your dinner?» (Bist du nach dem Essen?), was nichts anderes heißt als: «Hast du schon gegessen?» Im irischen Englisch gibt es Ausdrücke, die sich für Fremde originell anhören, so Nein 121
zum Beispiel ,contagious to‘, das in der Bedeutung von «near, nahe, angrenzend» verwendet wird, in England aber «ansteckend, giftig» heißt. Manche Wissenschaftler meinen, solche Malapropismen seien dadurch zu erklären, daß die Iren Englisch ursprünglich aus Lehrbüchern und nicht durch Nachahmung gesprochener Sprache gelernt hätten. Man denke nur, wie sich unser heutiges Schullatein für einen alten Römer anhören mag. Daß Engländer die Iren stets für dumm hielten, wird mit diesem manchmal abweichenden Sprachgebrauch begründet. (Schließlich muß man seine kolonisierten Untertanen für schmutzig, faul und beschränkt halten, sonst ließe es sich kaum rechtfertigen, daß man ihnen ihr Land stiehlt und ihr Territorium besetzt.) Eine Sprache ist gleichermaßen Denkweise wie Mittel zur Kommunikation, und die Iren mußten das Englische ihren doch eher anderen Denkmustern und kulturellen Traditionen anpassen. Bei dem, was allgemein als «Irish bull» abqualifiziert wird, handelt es sich um Ausdrücke, die angeblich sehr schön zeigen, wie unlogisch das Irische – vom englischen Standpunkt aus betrachtet – ist. Fragt man einen Iren auf der Straße nach dem Weg zur Bank, so will die Legende, daß er erwidert: «Well now, I wouldn’t start from here (Hier würde ich nicht losgehen).» In Wirklichkeit veranschaulicht der sogenannte irische Unsinn bloß ein anderes Denken. Mit dem Verlust ihrer eigenen Sprache haben die Iren tragischerweise auch den Kontakt mit einer Vielzahl ihrer geistigen Quellen und vieles von ihrer ursprünglichen Identität verloren. In der Republik Irland hegt mancher die irrige Ansicht, «nein» sei das einzige Wort, das Nordiren aussprechen können. Das kommt daher, daß die Unionisten aus dem Norden bisher noch jeden Vorschlag, von dem man sich einen Wandel des Status quo erhoffte, abgelehnt haben. Einmal hängte man als Antwort auf einen solchen Plan im Rathaus von Belfast City ein riesiges Transparent mit der Aufschrift «Ulster Says No (Ulster sagt nein)» aus dem Fenster. Weihnachten (Noël) war nicht mehr fern, und jemand meinte, die Ratsherren brauchten nur noch ein «el» ans Wortende anzuhängen, schon hätten sie die Kosten für einen Weihnachtsgruß gespart. 122 Nein
Newgrange
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ëí ein dreißig Meilen nördlich von Dublin gelegenes Galeriegrab aus der Steinzeit, in dem heidnische Könige bestattet sind. Es ist eine der größten neolithischen Fundstätten Europas, älter als Stonehenge oder die Pyramiden. Der Name, der seltsamerweise klingt wie der eines Dorfes in Surrey, bedeutet «das Grab von Grainne». Sie war eine Heroine im alten Irland. Den eigentlichen Grabhügel begrenzt ein Kreis aufrecht stehender Menhire, und ein Gang von neunzehn Meter Länge führt ins Innere der Grabkammer. Die Grabkammer selbst, fast fünftausend Jahre alt, ist knapp sechs Meter hoch, die Decksteine wurden von ihren Erbauern reich mit Ranken und Spiralornamenten verziert. Wer sie waren, darüber ist so gut wie nichts bekannt, nur daß sie vielleicht im dritten Jahrtausend vor Christus aus Frankreich nach Irland kamen. Vielleicht glaubten sie, wer hier, ihrer Vorstellung nach vielleicht im unmittelbaren Zentrum der Welt, bestattet sei, dem sei eine rasche Wiedergeburt sicher. Am Tag der Wintersonnenwende dringen bei Sonnenaufgang die Strahlen der Sonne in die Grabkammer ein und illuminieren sie für siebzehn Minuten. Falls dieses Phänomen kein Zufall ist, müssen ihm komplizierte Berechnungen vorausgegangen sein, die – nach allem, was wir wissen – ohne Computer angestellt wurden. Man hat dort allerdings ein kleines Fossil ausgegraben, bei dem es sich um eine neolithische Maus handeln könnte.
Nonchalance
G
ÉÜ∏êí nicht ganz in den Bereich der Fabel. Die Iren können zwar genauso jähzornig oder verklemmt sein wie alle anderen auch, nehmen das Leben allgemein aber gelassener als Berliner Banker und Börsenmakler aus Surrey. Das kostet manchmal Nerven. Wenn ein irischer Klempner Ihnen versichert, er werde den Abfluß am Dienstag reparieren, ist es ziemlich unwahrscheinlich, daß er auch wirklich kommt. Vielleicht läßt er sich am Freitag Nonchalance 123
blicken und hält die Verspätung für keiner Erwähnung wert. Gut möglich, daß er sogar recht ungehalten wird, wenn Sie ihn darauf ansprechen. Freitag ist schließlich nicht so weit von Dienstag entfernt, selbst wenn Ihre Küche in der Zwischenzeit überschwemmt war und Ihre Sprößlinge dabei ertrunken sind. Mitteilungen wie «Die Besprechung beginnt Punkt acht» braucht man in Irland nicht wörtlicher zu nehmen als Sätze wie «Eifersucht ist ein grünäugiges Ungeheuer» oder «Seine Großzügigkeit hat mich einfach umgehauen». Glauben Sie niemandem, der Ihnen sagt, a) er werde anrufen, b) er werde schreiben, c) der Scheck sei schon in der Post. An der Tagesordnung sind in Irland Flunkereien wie «Wir gehen nur auf eins» – ein Glas in den Pub. Solcherlei gehört zu den bekannteren irischen Fiktionen, der Ulysses von James Joyce fällt in die andere Kategorie. Die irische Nonchalance hat aber auch Vorteile. Wenn Sie sich zufällig einmal drei Tage verspätet haben, bestehen gute Chancen, daß niemand das merkt. Auch in Irland erledigt man Dinge, nur halt in gemächlicherem Tempo als in Los Angeles. Die Iren sind nicht faul, nur gelassen. Manche praktizieren eine als Dochismus bekannte Philosophie, bei der es sich nicht etwa um eine Spielart des Buddhismus handelt, sondern die von dem «doch» kommt, mit dem so viele Sätze beginnen: «Doch, ja, es ist noch genug Zeit... Doch, das mach ich schon noch.» Gelingt es, einen Iren menschlich anzurühren, so kann das den Gang der Ereignisse erheblich beschleunigen. Wenn die Maler seit sechs Monaten einen Bogen um das feuchte Schlafzimmer machen, sagt man, ein Baby sei unterwegs – schon legen sie los. Den Vietnamesen, die als Flüchtlinge nach Irland gekommen waren und die irische Regierung schon vor siebzehn Jahren um eine Nachzugsgenehmigung für ihre Verwandten gebeten hatten, dürfte das allerdings nur ein schwacher Trost sein. Sie warten nämlich immer noch auf Antwort. Dieser Schlendrian ist sicherlich wenigstens zum Teil ein Relikt der ländlichen Lebensweise früherer Zeiten. Bei einer so kleinen Farm, wie sie die meisten Iren seit jeher nur besaßen, lohnte es sich nicht, wenn man sich bei der Arbeit 124 Nonchalance
sonderlich ins Zeug legte. Mühe und Lohn der Mühe standen in krassem Mißverhältnis. Baute man mehr Feldfrüchte an, so minderte das nicht die dem Grundherrn geschuldete Pacht. Der Wohlstand des einzelnen hing von der Größe der Farm ab, die er besaß, nicht von der Arbeit, die er in ihre Bewirtschaftung steckte. Die Iren sahen also nicht ein, warum sie sich abrackern sollten, und bei manchen hat sich daran bis heute nichts geändert. Iren arbeiten bestenfalls, um zu leben, und unterscheiden sich damit von anderen Völkern, die leben, um zu arbeiten. Schlimmstenfalls sind die Iren nur hinter Geld her wie alle anderen auch. Vorschriften gibt es hier so viele wie in anderen Ländern auch, manche jedoch sind bloßer Zierat. Es liegt Jahrhunderte zurück, daß ein irischer Gelehrter sich einmal damit brüstete, in seiner Gegend sei seit Jahrzehnten kein Gesetz übertreten worden. Er vergaß freilich zu erwähnen, daß es dort auch keine Gesetze gab. Einer meiner Freunde, ein Deutscher, der in Irland sein Auto anmelden wollte, erhielt die Auskunft, er müsse Dokumente beibringen, welche belegten, daß er früher in Deutschland, heute jedoch in Dublin lebte: die Telefon-, Gas- und Stromrechnungen zweier Jahre, die Urkunde über den Verkauf seines Hauses, Briefe von seinen Anwälten, früheren und derzeitigen Arbeitgebern und so weiter. Völlig konsterniert von dieser Aussicht teilte mein Freund der Behörde mit, er könne die Dokumente nicht alle beibringen. «Na schön», beschied man ihm achselzuckend, «dann halt wenigstens ein paar davon.» Aus diesem einfachen Satz erfährt man eine Menge über die Iren.
Nordirland
K
ÉáåÉ irische Kartoffel kann heißer sein. Selbst die Bezeichnung «Nordirland» ist politisch umstritten. Unionisten sind mit diesem Namen zufrieden, Nationalisten jedoch würden eine Formulierung wie «die sechs Counties» vorziehen. Sagen Sie nicht «Großbritannien und Nordirland» in einem Atemzug, wenn Sie mit Unionisten reden, da für sie Nordirland ein Teil Großbritanniens ist. Genauso sollten Sie Nordirland 125
irischen Nationalisten gegenüber nicht vom «mainland» sprechen, wenn Sie Großbritannien meinen, denn für sie ist Irland das «mainland». Im Grunde kann man zu dem Thema nichts sagen, ohne sofort ein paar Millionen Menschen vor den Kopf zu stoßen. Also dann. Nordirland ist nicht dasselbe wie Ulster. Ulster ist eine der vier Provinzen Irlands, und drei ihrer Counties gehören zur Republik Irland. Die anderen sechs Counties der Provinz Ulster bilden Nordirland, das offiziell Teil des Vereinigten Königreichs ist und seit kurzer Zeit versuchsweise von Belfast aus regiert wird. Diese Region ist der einzige Teil Irlands, in dem Protestanten die Bevölkerungsmehrheit stellen. Die Unionisten sind diejenigen, die wollen, daß sich daran auch nichts ändert, daß die Verbindung zu Großbritannien erhalten bleibt, wohingegen die Nationalisten diese sechs Counties in die überwiegend katholisch dominierte Republik Irland integriert sehen wollen. Das würde bedeuten, die Briten dazu zu bringen, sich aus dem Norden zurückzuziehen, die Grenze aufzuheben, das heute existierende Nordirland ab- und statt dessen ein geeintes Irland zu schaffen. Die meisten Nationalisten wollen das auf friedlichem, verfassungsmäßigem Wege erreichen, nur eine Minderheit will die Veränderung durch Gewalt erzwingen. Der bekannteste Verfechter der Gewaltoption ist die IRA, für die im Norden der Name Provos geläufiger ist. Nehmen wir als erstes den nationalistischen Standpunkt. Die Nationalisten sprechen den Briten das Recht ab, in Irland zu sein, weil es nicht ihr Land ist. In ihren Augen ist die ganze Existenz Nordirlands ein Relikt des überlebten britischen Imperialismus. Für sie ist die britische Präsenz im Norden genauso skandalös, als hielte Großbritannien immer noch Kanada oder Indien besetzt. Nordirland, sagen sie, ist ein künstliches Staatswesen, das zur Zeit der irischen Unabhängigkeit geschaffen wurde, damit die Protestanten (von manchen abwertend als «Schnauzen» bezeichnet) sich im Norden ihre politischen und ökonomischen Privilegien sichern konnten. Sie wollten keine Vereinigung mit dem ärmeren Süden Irlands, weil sie dadurch die Vorteile eingebüßt hätten, die sie als britische Staatsbürger genießen. 126 Nordirland
Manche von ihnen demonstrieren auch eine unangenehme Überheblichkeit gegenüber Katholiken, die für sie nur eine Bande unbedarfter Moortrampel sind. Bei der Festlegung der Grenzen von Nordirland hat man es bewußt so arrangiert, daß die Protestanten die Katholiken zahlenmäßig übertrafen, um sich ihnen gegenüber als Herren aufspielen zu können. Nordirland wurde so etwas wie ein Apartheidsstaat, in dem die zahlenmäßig große katholische Minderheit als Bürger zweiter Klasse behandelt und bei der Zuteilung staatlich finanzierter Wohnungen, bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und in anderer Hinsicht diskriminiert wurde. Die irischen Katholiken wurden so Fremde im eigenen Land, gezwungen, unter britischer Herrschaft zu leben, was viele von ihnen verabscheuten. Ihre kulturelle Identität wurde ihnen verweigert, und als sie in den späten sechziger Jahren begannen, sich gegen alles das aufzulehnen, führte das nur zu einer noch stärkeren Unterdrückung durch die Protestanten, zur Entsendung britischer Truppen in den Norden, zum Wiedererstarken der IRA und zu den Schießereien und Bombenanschlägen, die immer noch nicht aufhören. Wenn die Unionisten darauf beharren, daß sie auch weiterhin Briten sein wollen, ist das für irische Nationalisten nur die Verbrämung des Anspruchs, weiterhin Macht über die Katholiken im Norden ausüben zu wollen. Welchen Standpunkt nehmen nun die Unionisten zu alledem ein? Die Unionisten sind Protestanten meist britischer Herkunft, die im 17. Jahrhundert von den Briten in Irland angesiedelt wurden. Irisches Land wurde beschlagnahmt und ihnen zugeteilt, gleichzeitig viele gebürtige Iren auf weniger ertragreiche Böden abgedrängt. Die Protestanten aus dem Norden kamen also als koloniale Siedler ins Land. Aber das ist lange her, sagen die Unionisten. Wenn jemand nach drei Jahrhunderten ununterbrochener Ansiedlung kein Recht auf den Platz hat, an dem er lebt, ganz gleich, wie der Betreffende ursprünglich einmal dorthin gelangte, dann sind das düstere Aussichten. Nach dieser Logik müßten die Amerikaner alle dahin zurückkehren, wo sie früher einmal hergekommen waren, und die Iren müßten ganz Irland an die zurückgeben, die dort schon lebten, als sie selber erst Nordirland 127
ankamen, sollten diese Leute zufällig noch da sein, was sie natürlich nicht sind.26 Manche Unionisten räumen ein, daß sie die katholische Minderheit schäbig behandelt haben – aber eben nicht alle. Für einige sind Katholiken nur «Teagues» oder «Fenierschweine». Trotzdem, so behaupten die Protestanten, seien sie eine eigenständige Volksgruppe und hätten das Recht auf Bewahrung ihrer Kultur und auf eine autonome Regierung. Was Katholiken recht ist, müsse ihnen billig sein. Sie werden sich nicht durch Gewaltanwendung dazu zwingen lassen, sich einer in ihren Augen fremden Nation anzuschließen, der Republik Irland, in der ihre protestantische Kultur Gefahr läuft, ausgelöscht zu werden. Wie stellt sich das alles nun aus der Sicht der Republik Irland dar? Nur eine verschwindend geringe Zahl ihrer Bürger unterstützt die IRA, obwohl viele in einem weiteren, vageren Sinne doch Nationalisten sind. Viele von ihnen sähen ein wiedervereinigtes Irland letztlich gern, auch wenn das unter Umständen hieße, daß Dublin die Rechnung für den Norden zu begleichen hätte, für eine ökonomisch kränkelnde Region, die sich die Republik im Grunde nicht leisten kann.27 Und manche in der Republik sind nicht sonderlich begeistert von der Vorstellung, eine Million übelgelaunte Protestanten aufgehalst zu bekommen. Die Republik Irland ist nicht zuletzt deshalb von innenpolitischen Konflikten weitgehend verschont geblieben, weil sie durch die Schaffung von Nordirland einige ihrer Probleme über die Grenze «exportieren» konnte. Diese Grenze schweißt die Republik Irland künstlich zusammen. Nordirland belegt jedenfalls auf der Prioritätenliste der Republik Irland nur einen kläglichen hinteren Platz. Le-
FFE: Die ersten Bewohner Irlands vor Ankunft der Kelten, einige Jahrhunderte vor Christi Geburt, bezeichnete man mit dem irischen Wort für «Leute mit Beuteln» als firbolgs. Der Überlieferung nach trugen sie in Lederbeuteln Erde, die magische Eigenschaften besaß, mit sich herum. Der männliche Teil dieses Volkes ist ausgestorben, nur der weibliche, die bekannte Stadtstreicherin mit ihren Tüten, hat überlebt. 27 FFE: Die britische Regierung gibt jährlich mehr als drei Milliarden Pfund für die wirtschaftliche Förderung Nordirlands aus, ungefähr ein Drittel des Bruttosozialprodukts der Provinz. 26
128 Nordirland
benshaltungskosten, Gesundheits- und Bildungsfragen beschäftigen die Menschen hier viel mehr als die Misere ihrer Glaubensgenossen im Norden. Viele in der Republik wollten dem Problem schon ganz den Rücken kehren und betrachten es als Hindernis auf dem Weg hin zu einer modernen Gesellschaft. Zum einen schreckt es ausländisches Kapital ab, zum anderen trägt es den Iren international den Ruf ein, sie seien eine Bande von Fanatikern und Verrückten und lebten noch im 17. Jahrhundert. Gleichzeitig spielt die Dubliner Regierung aber eine Schlüsselrolle bei den Friedensverhandlungen, auch wenn die Unionisten das als Einmischung einer fremden Macht in die inneren Angelegenheiten Nordirlands ablehnen. Zu guter Letzt der Blick von der anderen Seite des Wassers. Eine knappe Mehrheit der Briten sähe es gern, wenn ihre Truppen und ihre Regierung sich aus Nordirland zurückzögen. Mögen die Unionisten sich zwar als Briten sehen, «Festlands»-Briten sehen Unionisten oft ganz anders. Für viele von ihnen ist Nordirland ein ständiges Ärgernis, das sie nur zu gern los wären. Warum nicht einfach unsere Boys abziehen? Sollen die nichtsnutzigen Micks die Sache doch unter sich ausmachen! Die britische Regierung wiederum wittert politische Gefahr, wenn der Eindruck entstünde, sie ließe Terroristen gewähren, und fühlt sich den Unionisten gegenüber in der Verantwortung. Dabei hat die Regierung auch erklärt, sie verfolge mit ihrem Verbleib in Nordirland keine eigenen Interessen, was umgekehrt gar nicht nach dem Geschmack der Unionisten war. Die Zukunft des Nordens, so sagen die Briten, mögen die Iren selbst entscheiden. Die Frage ist nur: wer von den Iren? Die Unionisten fordern ein Selbstbestimmungsrecht über ihre Zukunft, die Nationalisten sagen, die Entscheidung solle beim ganzen irischen Volk liegen, sowohl nördlich wie südlich der Grenze. An Vorschlägen, wie das Problem gelöst werden kann, herrscht kein Mangel – zumindest auf dem Papier. Man könnte die Grenze aufheben und ein vereinigtes Irland schaffen und den Protestanten im Norden ihre kulturelle Autonomie und ihre Bürgerrechte garantieren. Man könnte ihnen sogar die Selbstverwaltung im Rahmen eines föderalen Irlands garantieren. Das einzig Mißliche dabei ist, daß Nordirland 129
manche Unionisten der Dubliner Regierung nicht einmal glauben würden, wenn sie verkündete, Regen sei naß, geschweige denn, wenn sie beteuert, man werde die Rechte der Protestanten respektieren. Dabei ist eigentlich nicht ersichtlich, weshalb die Irische Republik die Protestanten verfolgen sollte, vorausgesetzt, sie schlössen sich ihr an. Im Gegenteil, dort vollzieht sich gerade ein rascher Wandel hin zu einer säkularen, pluralistischen, liberaleren Gesellschaft, woraus folgt, daß die Protestanten im Norden weniger zu befürchten hätten, wenn sie ihr beiträten. Scheidung und Empfängnisverhütung wären ihnen nicht mehr – wie noch vor wenigen Jahren – untersagt, sie müßten sich allerdings mit einem niedrigeren Lebensstandard zufriedengeben. Viele Protestanten im Norden sind tief beunruhigt von der Aussicht, unter die Fuchtel der katholischen Kirche zu geraten, und ganz unbegründet ist diese Furcht nicht. Die Macht der katholischen Kirche wird in der Republik heute aber von allen Seiten bedroht. Alternativ dazu könnte man auch an der derzeitigen Teilung der Insel festhalten, dafür aber den Katholiken im Norden mehr Rechte und mehr Macht einräumen. Versuche, das zu tun, hat es schon gegeben, stellt viele Nationalisten jedoch nicht zufrieden, und für manche Unionisten wären größere Machtbefugnisse der Katholiken im Norden der Anfang vom Ende eines protestantischen Nordirland. (Oder, wie es ein protestantischer Priester aus dem Norden drastisch ausgedrückt hat, der Anfang vom Ende der scharlachroten Frau.) Man könnte aber auch das ausprobieren, was unter dem Begriff der «gemeinsamen Souveränität» firmiert, die von Großbritannien und der Republik Irland gemeinsam getragene Verantwortung für den Norden. Derzeit findet diese Idee aber weder bei Unionisten noch bei Nationalisten Anklang. Eine weitere Alternative wäre die eines unabhängigen, weder von London noch von Dublin regierten Nordirland, eine Option, die sich gut mit der von der Europäischen Union verfolgten Politik größerer regionaler Autonomie vertrüge. Abgesehen von anderen Schwierigkeiten ist aber nicht klar, ob ein solches unabhängiges Nordirland ökonomisch lebensfähig wäre. Inzwischen wurde ein neues Abkommen unterzeichnet, das Nordirland seine eigene demokratische Versammlung 130 Nordirland
zugesteht und institutionelle Verbindungen zwischen beiden Teilen der Insel sowie zwischen Irland und Großbritannien vorsieht. Eine praktischere Lösung wäre, wenn man dort, wo heute die Grenze verläuft, eine Linie ausstanzte, deren obere Hälfte wegrisse und sie aufs Meer hinaustreiben ließe. Falls Sie eine Idee haben, wie sich die Krise beenden läßt, schreiben Sie Ihre Lösung umgehend auf eine Postkarte, und schicken Sie sie unter dem Stichwort «Nordirland: die Lösung» an die Verleger dieses Buchs. Der Einsender der einfallsreichsten Lösung gewinnt einen Urlaub für zwei Personen in Tallaght, einem für seine Schönheit berühmten Fleckchen der Insel. Nordirland jedoch ist mehr als nur der Zankapfel von Fanatikern. Es ist eine der zauberhaftesten Gegenden Irlands mit einer herrlichen Landschaft, einer atemberaubenden Küste und warmherzigen, vertrauenswürdigen und aufmerksamen Menschen. Ihre protestantische Kultur, auf die diese Menschen zu Recht stolz sind, ist vielschichtig, tief verwurzelt und faszinierend. Aus verständlichen Gründen zieht Nordirland heute zuwenig Touristen an, aber genau deshalb sollten Sie hinfahren. In Washington oder Kapstadt ist die Wahrscheinlichkeit, erschossen zu werden, wesentlich größer.
O
E
áåÉ in Irland, vor allem im Westen und im Norden, bemerkenswert häufig anzutreffende Blutgruppe. Ihr Vorkommen in Europa ist auffällig auf die Peripherie beschränkt, auf Schottland, Island, das Baskenland und die westliche Mittelmeerregion. Unter den Bewohnern der Aran-Inseln wiederum ist der prozentuale Anteil der Blutgruppe A hoch, was, wie manche meinen, die Folge eines etwas zu freizügigen Umgangs mit Cromwells Soldaten ist. Nicht weniger als achtzig Prozent der Iren sollen leicht pigmentierte Augen haben. Das zu wissen bringt Touristen zwar wenig, kann als Eröffnung für ein Gespräch in einem Nachtklub aber jederzeit von Nutzen sein. O 131
Oirisch
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åÖÉÄäáÅÜ das, was aus Iren herauskommt, wenn sie «irisch» sagen. Meist aber unzutreffend. Das Wort bezeichnet außerdem die bewußte Zurschaustellung des Irentums, etwa dadurch, daß man einen grünen Hut trägt oder daß man auf der Straße herumtorkelt, ein gemurmeltes «Bejasus» auf den Lippen. Daß jemand sein Irentum vorführt, erlebt man in Irland kaum, da Iren in aller Regel nicht öfter über die Tatsache, daß sie Iren sind, nachdenken als Truthähne über die Tatsache, daß sie Truthähne sind. Wenn es überhaupt einmal vorkommt, dann vermutlich Ihnen zuliebe. Hier und da kommt ein irischer Kauz Ihres Wegs, der jemanden braucht, bei dem er Ire sein kann. Sie müssen bedenken, daß vieles im Lande anders wäre, wenn Sie, der Tourist, nicht da wären. Zum Beispiel gäbe es keine strohgedeckten Cottages, die zwar erst 1989 gebaut wurden, sich aber kläglich mühen, so auszuschauen, als stünden sie bereits seit der Invasion der Wikinger herum. Die Iren reagieren verständlicherweise empfindlich, wenn jemand ihnen mit dem Stereotyp des «Oirischen» kommt, immerhin hat man sie zu ihrer Zeit schon als Affen, Schlägertypen, Trunkenbolde, Schwätzer, Lügner, Müßiggänger, Prahlhänse, Clowns, Dumpfbacken, Kinder und Weiber etikettiert. Andererseits haben viele Iren nichts dagegen, wenn alle Welt sie für charmant, wortgewandt, geistreich und phantasievoll hält. Lassen Sie Ihren Klischees also getrost freien Lauf, wenn Sie müssen, aber achten Sie darauf, daß es schmeichelhafte sind.
O’Malley, Grace
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áå böses irisches Weib. Sie begehrte im 16. Jahrhundert gegen Königin Elizabeth I. auf und war vierzig Jahre lang die treibende Kraft hinter antienglischen Erhebungen im Westen des Landes. O’Malley befehligte eine große Privatarmee sowie eine Flotte und war eine ausgezeichnete Militärstrategin. Durch Verwandte und Verbündete beherrschte Grace die Mehrzahl der Festungen an der West132 O’Malley, Grace
küste. Als Piratin berüchtigt, kreuzte sie ständig in den Gewässern vor der Westküste und machte den Engländern das Leben schwer. Hatte sie ein Auge auf ein nettes Schloß geworfen, so sicherte sie es sich dadurch, daß sie seinen Besitzer probeweise für ein Jahr ehelichte. Gegen Ende des Jahres warf sie ihn hinaus, nachdem sie dafür gesorgt hatte, daß sie in der Zwischenzeit von ihm schwanger geworden war und einen Erben hatte. Dann brach sie abermals einen militärischen Konflikt mit den Engländern vom Zaun, mußte jedoch Verluste hinnehmen und schloß, als sie Elizabeth I. in London aufsuchte, mit ihr ein Abkommen. Hätte Grace im Irland der dreißiger oder auch der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts gelebt, hätte man ihr befohlen, zu Hause zu bleiben und die Zugbrücke zu wienern.
Ostern 1916
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áå Datum, das dem irischen Gedächtnis eingeprägt ist wie der Unabhängigkeitstag in den Vereinigten Staaten oder der Waffenstillstandstag in Großbritannien. Es war der Ostermontag, an dem eine Gruppe nationalistischer Revolutionäre das Hauptpostamt in der Dubliner O’Connell Street besetzte und die Stadt mehrere Tage lang gegen die Feuerkraft der britischen Armee hielt. Der Aufstand sollte fünf Jahre später indirekt zur politischen Unabhängigkeit Irlands führen. Wie viele Aufstände war auch dieser ein konfuses Unternehmen. Ein irischer Schriftsteller schrieb einmal: «Die Geburt einer Nation ist niemals eine unbefleckte Empfängnis.» Aus symbolischen Gründen hatte man den Aufstand für den Ostersonntag geplant, er begann jedoch erst tags darauf. Bei den Rebellen handelte es sich größtenteils um Dichter und Intellektuelle, kaum vielversprechendes Material für einen militärischen Coup. Einer der Teilnehmer zog mit Stockdegen und wehendem Umhang in den Kampf, ein zweiter erschien im Kilt und spielte in den Pausen zwischen den Kampfhandlungen auf dem Dudelsack. (Vielleicht hatte ihm niemand gesagt, daß der Kilt als Import aus dem Ausland Ostern 1916 133
nach Irland gelangt war.) Ein dritter Rebellenführer hatte ein Faible für keltische Ringe und Armbänder und heiratete am Vorabend seiner Hinrichtung noch in einer mitternächtlichen Zeremonie im Gefängnis. Trotz ihrer Theatralität waren die Aufständischen tapfere Patrioten, bereit, ihr Leben fürdie politische Freiheit zu opfern. Angeführt wurde der Aufstand von Patrick Pearse, dem Sohn eines englischen Steinmetzes, dessen Statuen das Dach der Bank of Ireland in College Green zieren. In der heutigen Pearse Street in Dublin hatte er seine Werkstatt. Pearse Junior führte eine kleine Schar seiner Freiwilligen durch die O’Connell Street, dem Anschein nach zu bloßen Marschierübungen, ließ plötzlich wenden und stürmte das Gebäude des Postamts. Den Schalterbeamten wurde bald klar, daß die Männer nicht hereingekommen waren, um Briefmarken zu kaufen. Von den Stufen des Gebäudes verlas Pearse darauf seine berühmte Proklamation einer provisorischen Irischen Republik, nur um die amüsierten Passanten wissen zu lassen, daß es nicht Straßentheater war, was sich hier vor ihren Augen abspielte. (Die Druckerpresse, auf welcher die Proklamation gedruckt worden war, hatte man zufällig aber doch im Abbey Theatre aufgestellt, und der erste Mensch, der bei dem Aufstand sein Leben verlieren sollte, war ein Schauspieler am Abbey.) Die Rebellen schwärmten dann in die Stadt aus, um überall Kopien der Proklamation zu verteilen, merkten jedoch, daß sie den Kleber vergessen hatten. In der Zwischenzeit wurden strategisch wichtige Punkte in ganz Dublin besetzt. Einer davon, Jacob’s Keksfabrik, ein eher unspektakulärer revolutionärer Schauplatz, stand unter dem Kommando des Dichters und Universitätsdozenten Thomas MacDonagh. Zu dessen höheren Offizieren gehörte John MacBride, ein vernagelter Trunkenbold, der in Paris einmal eine Rede in so schlechtem Französisch gehalten hatte, daß seine Zuhörer meinten, er spräche Niederländisch. MacBride, der als Gast einer Hochzeitsgesellschaft nur zufällig in Dublin weilte, merkte, daß ein Aufstand im Gange war und schloß sich ihm fröhlich an. Für seine rasche Begeisterungsfähigkeit sollte er später hingerichtet werden. Zu den anderen besetzten Gebäuden gehörte eine Kornmühle, 134 Ostern 1916
befehligt von dem Mann, der später Führer des irischen Freistaats werden sollte, dem Mathematiker Eamon de Valera. De Valera war in New York geboren worden, ein glücklicher Umstand, der ihn vor der Todesstrafe bewahrte. Die britische Armee, die von dem Aufstand total überrascht worden war, reagierte rasch, und fast eine Woche lang tobten in Dublin die Kämpfe. Die meisten Bürger gingen trotzdem seelenruhig ihren Geschäften nach: Die Irish Times erschien wie gewohnt, und im Shelbourne Hotel wurde jeden Tag der Tee gereicht, wie es noch heute Brauch ist. So manche einfache Dubliner trugen ihr patriotisches Scherflein zur Schwächung der britischen Wirtschaft bei, indem sie Geschäfte in der O’Connell Street plünderten, wo man auch Gassenkinder ansichtig wurde, die mit Kartons voller Schokolade davonstolperten. Manche ihrer Erziehungsberechtigten konnte man dabei beobachten, wie sie ohne Hast in den Schaufenstern Schuhe und Schmuck anprobierten oder, wenn es ein neuer Anzug sein sollte, sich gar völlig entkleideten. Ein britisches Kanonenboot fuhr in die Liffey ein und begann auf die Rebellen zu feuern. Die schneidige, bei den Dubliner Armen überaus beliebte Constance Markievicz (siehe Markievicz) befehligte einen Trupp Aufständischer, der in St. Stephen’s Green Schützengräben aushob. Dies war eine im Wortsinne kurzsichtige Aktion, da der Park von hohen Gebäuden umringt war, von denen die Briten leicht auf sie schießen konnten. Von dem Aufstand erwartete man sich eine das ganze Land entflammende Signalwirkung, und es kam auch zu ein paar Kampfhandlungen in Galway und andernorts, eine allirische Erhebung wurde indes nicht daraus. Teils lag das daran, daß die Mitglieder der Irish Republican Brotherhood, jenes Vereins, der die Speerspitze der Rebellen stellte und der Vorläufer der heutigen IRA ist, durch eine Reihe verschlüsselter Botschaften, welche die Rebellion zunächst als noch im Gange, später jedoch als abgeblasen erklärten, in tiefe Verwirrung gestürzt wurden. Der Sache der Aufständischen nicht dienlich war auch das Scheitern eines Plans, welcher vorsah, deutsche Waffen für die Rebellen auf dem Seeweg ins Land zu holen (Großbritannien befand sich damals im Krieg mit Deutschland). Roger Casement, der für Ostern 1916 135
den Transport verantwortliche Offizier, ging von einem deutschen U-Boot aus an Land und wurde prompt verhaftet. Auch er sollte von den Briten hingerichtet werden. Eine irische Krankenschwester, die in der O’Connell Street die Verwundeten pflegte, wurde später von den Briten mit einer Rolle in dem West-End-Stück Three Cheers gewürdigt. Brände breiteten sich rasch überall in der Hauptstadt aus, und mancherorts kam es zu erbitterten Häuserkämpfen. Der verantwortliche General der britischen Truppen gab später indirekt zu, daß einige seiner Männer Greueltaten begangen hatten. Unbeteiligte Zivilisten wurden willkürlich von britischen Soldaten ermordet, was ein britischer Offizier später so kommentierte: «Die Iren sollten uns dankbar sein. Mit einem Minimum an Opfern unter der Zivilbevölkerung ist es uns gelungen, einige drittklassige Poeten aus dem Weg zu räumen.» Als das Dach des Postgebäudes unter dem Gewicht der Rebellen immer mehr nachgab, evakuierten diese ihren Stützpunkt und entschlossen sich schließlich zur Kapitulation, um weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Ein Aufständischer wurde mit einer weißen Fahne vorgeschickt und ohne weiteres von den Briten erschossen. Schließlich versuchte eine junge irische Krankenschwester ihr Glück im Kugelhagel und wurde vom britischen Kommandanten empfangen. Die Bilanz des Aufstands waren mehrere hundert Todesopfer, ein Sachschaden in Höhe von zweieinhalb Millionen Pfund und eine in Trümmern liegende O’Connell Street. Als die entmutigten Rebellen sich zurückzogen, wurden sie von manchen ihrer Mitbürger, für die sie ja gekämpft hatten, mit Hohn und Spott übergossen. Davon in Kenntnis gesetzt, daß es in Dublin eine Rebellion gegeben hatte, sagte der englische Premierminister: «Na, das ist doch mal was» und ging zu Bett. Nun jedoch verwandelten die Briten ihren Sieg selber in eine Niederlage, indem sie die Anführer des Aufstands erschossen. Einer von ihnen, der Labourführer James Connolly, war bei den Schießereien am Dubliner Postamt am Fuß verwundet worden und mußte auf einem Stuhl sitzend hingerichtet werden. Als das Leben von sechzehn Rebellen auf einen Streich ausgelöscht wurde, schlug die Stimmung unter 136 Ostern 1916
der irischen Bevölkerung in Wut um. Manche beteten für ihre toten Helden, manche beteten sie sogar an. Wenige Jahre später fuhr die nationalistische Sinn-Fein-Partei (die ironischerweise nichts mit dem Aufstand zu tun hatte) einen überwältigenden Sieg bei allgemeinen Wahlen ein und rief ein eigenes irisches Parlament aus. Es kam zum Krieg zwischen Irland und Großbritannien, der 1921 mit dem angloirischen Vertrag über den Irish Free State endete, dessen Geburtsstunde das Jahr 1922 wurde. Zumindest ein berühmter Ire, Oscar Wilde, wäre über dieses Arrangement nicht glücklich gewesen, hätte er es noch erlebt; er war nämlich der Auffassung, Irland solle Großbritannien regieren. In mancher Hinsicht bleibt der Osteraufstand rätselhaft. Glaubten die Nationalisten allen Ernstes, sie könnten es mit der Macht der britischen Armee aufnehmen, oder war ihre Aktion nur auf ein symbolisches «Blutopfer» hin angelegt, das ihre Genossen zum Volksaufstand anstacheln sollte? Waren sie Kämpfer oder Märtyrer? Hätten sie womöglich gar siegen können, wenn ihr ursprünglicher Plan nicht gescheitert wäre? War die Erhebung ganz und gar überflüssig? Großbritannien hatte den Iren das politische Selbstbestimmungsrecht ja schon in Aussicht gestellt, weitere Maßnahmen für die Dauer des Ersten Weltkriegs jedoch ausgesetzt. War der Aufstand ein Akt des Heroismus oder des Verrats, mit dem man den Iren, die im Ersten Weltkrieg an der Seite Großbritanniens kämpften, in den Rücken fiel? Wie so viele Ereignisse in der irischen Geschichte ist der Osteraufstand heute in Irland Gegenstand erbitterter Kontroversen. Aus Furcht, der IRA in die Hände zu spielen, zögert die irische Regierung merklich, die Wiederkehr dieses Ereignisses zu feiern. Das letzte Gedenken, das diesen Namen verdient, fand 1966 statt. Damals würdigte man den Aufstand unter anderem durch die Errichtung einiger abscheulicher Häuserblocks mit Arbeiterwohnungen am Stadtrand von Dublin, zu deren Wiederabriß sich die Iren seither aber auch noch nicht durchringen konnten. Kritiker des irischen Nationalismus vermögen in der Erhebung nur die abenteuerliche Verrücktheit einer Bande romantischer Idealisten zu erkennen; seine Verteidiger weisen daraufhin, daß der Aufstand relativ unblutig verlaufen sei und schließOstern 1916 137
lieh indirekt doch zur politischen Unabhängigkeit geführt habe. Die Briten hätten dieses Versprechen – Home Rule für Irland – ja womöglich gehalten, für manche Iren hatten sie aber schon zu viele Versprechen gebrochen, um noch glaubwürdig zu sein. Mehr noch, hätten die Rebellen gesiegt, so hätten sie Irland aus dem sinnlosen Gemetzel des Ersten Weltkrieges herausgeführt und somit Menschenleben gerettet, statt zu vergeuden. Die politische Unabhängigkeit wurde jedoch mit weiterem Blutvergießen erkauft, diesmal unter den Iren selbst. Von den Protestanten im Norden dazu gedrängt, bestand die britische Regierung darauf, die Insel zu teilen, so daß die wohlhabenden, überwiegend protestantischen Counties im Norden Teil des Vereinigten Königreichs blieben. Der damalige britische Premierminister drohte den Iren sogar mit Krieg, wenn sie nicht spurten. Heraus kamen dabei die Bildung von Nordirland und ein blutiger Bürgerkrieg im Süden zwischen jenen, die diesen anglo-irischen Vertrag widerstrebend akzeptierten – den Anhängern von Michael Collins –, und jenen, die ihn rundweg ablehnten – den Gefolgsleuten de Valeras. Die beiden größten politischen Parteien des Landes, Fine Gael und Marina Fáil, sind aus diesem Konflikt hervorgegangen, und lange Zeit spielte es in Irland eine erhebliche Rolle, auf welcher Seite die eigenen Vorväter im Bürgerkrieg gestanden hatten. Irland war kaum zur Ruhe gekommen und hatte eine gewisse Stabilität erreicht, als der Konflikt wieder aufbrach. In den späten sechziger Jahren kam es im Norden zum Krieg zwischen den Katholiken, die sich niemals mit der Abspaltung von ihren Landsleuten im Süden abgefunden hatten, und den Protestanten, die innerhalb des Vereinigten Königreiches verbleiben wollten. Der anglo-irische Vertrag von 1921, der einem großen Teil des Landes die Unabhängigkeit beschert hatte, erwies sich auch als Wegbereiter für künftige Katastrophen.
138 Ostern 1916
Patrick
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ê ist Irlands Schutzheiliger. Als solcher hat er die folgenden Nachteile:
1. 2. 3. 4. 5.
Wir wissen eigentlich nicht, wer er war. Wir wissen eigentlich nicht, wo er herkam. Er war nicht der erste christliche Missionar in Irland. Es hat ihn möglicherweise zweimal gegeben. Er hat möglicherweise gar nicht existiert.
Abgesehen davon ist er ein fabelhafter Schutzheiliger. Er kam vermutlich als Sklave nach Irland und war der erste in der Geschichte, aus dessen Feder schriftliche Zeugnisse gegen die Sklaverei überliefert sind. Er soll außerdem alle Schlangen aus Irland vertrieben haben. Manche Leute meinen, daß die Schlangen schließlich in der City Hall von Chicago gelandet sind. Viele heilige Stätten in Irland sind besonders eng mit St. Patrick verbunden. Eine davon ist Lough Derg im County Donegal, wo der Heilige gefastet und die auf Station Island, der Insel in diesem See, hausenden bösen Geister vertrieben haben soll. Im Mittelalter besuchten hochgestellte Männer aus ganz Europa die Stätte, und möglicherweise ist sogar Dantes Göttliche Komödie davon beeinflußt. Noch heute drängt sich jedes Jahr von Juni bis August ein Strom von Pilgern nach Station Island. Die als St. Patricks Purgatory bekannte Pilgerreise dauert drei Tage, an denen täglich nur eine aus trockenem Brot und Schwarztee bestehende Mahlzeit gestattet ist. Die Pilger müssen barfuß gehen, bestimmte strenge Bußübungen absolvieren und die erste Nacht wachend in der Basilika auf der Insel verbringen. Trotz der extremen Strenge nimmt eine große Zahl einfacher Iren diese Pilgerreise regelmäßig auf sich. Andere Pilger erklimmen Irlands heiligen Berg, den Croagh Patrick in Mayo, und das sogar barfuß. Die Iren mögen Experten im Spaßhaben sein, sie sind aber auch Profis der Selbstzucht.
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Pferde
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Éåå die Engländer vernarrt in Hunde sind, sind die Iren verrückt nach Pferden. Pferde sind in Irland Religon und Sport zugleich, sind Kultus und ein immens lukrativer Wirtschaftszweig. Nach allgemeiner Ansicht ist Irland der beste Platz auf der Welt für die Pferdezucht, und zu den Pferdezüchtern, die hier ihrer Arbeit nachgehen, gehört inzwischen auch eine erkleckliche Anzahl arabischer Multimillionäre. Manche Vertreter des anglo-irischen Adels alter Prägung stiegen anscheinend nur von ihren Pferden, wenn Schlafenszeit war, und selbst dann merkte man ihnen deutlich an, daß sie ihre Rösser am liebsten ins Bett mitgenommen hätten. Sie zogen Vierbeiner ganz klar den Zweibeinern vor, selbst wenn auf den fraglichen zwei Beinen ihre Frauen und Kinder standen. In dem Roman Gullivers Reisen des Anglo-Iren Jonathan Swift sind Pferde außergewöhnlich verständige Wesen, dem Menschen haushoch überlegen. Der irische Dramatiker Brendan Behan schilderte einen angloirischen Gentleman einmal als berittenen Protestanten. Auf den satten Weiden im Landesinnern gibt es Gestüte in Hülle und Fülle, und die 27 Rennplätze werden jährlich von über einer Million Wettbegeisterter besucht. Neben Sinead O’Connor und Pierce Brosnan sind irische Pferde einer der herrlichsten und begehrtesten Exportartikel. Der jährlich durch den Export von Pferden erzielte Reinerlös beträgt über 65 Millionen Pfund. Die Dubliner Pferdeschau ist ein glanzvoller Höhepunkt im jährlichen Event-Kalender, wohingegen auf dem Land die traditionelle Jagd floriert. Pferderennen sollen in Irland weniger exklusiv sein als in England, doch das ist fraglich, da hier seit jeher ein kleiner Kreis von Gentlemen mit militärischer Strenge den Ton angibt.
Phoenix Park
M
áí fast 1800 Morgen Fläche nicht nur der größte Park Irlands, sondern auch einer der beeindruckendsten von Europa. Der Name «Phoenix» hat mit dem Vogel aus der Mythologie nichts zu tun, sondern geht auf die falsche Über-
140 Phoenix Park
setzung eines irischen Ausdrucks zurück, der «klares Wasser» bedeutet und sich auf eine Quelle in diesem Park beziehen soll. Der Park beherbergt einen Zoo, die Villa des Präsidenten von Irland, die Residenz des US-amerikanischen Botschafters, ein Krankenhaus und ein Denkmal zu Ehren des Herzogs von Wellington, das größte Monument Europas überhaupt. Wellington war Ire, doch wie viele Iren, die es in England zu etwas gebracht hatten, verleugnete er seine Herkunft. Sein einziger patriotischer Kommentar zu seinem Geburtsland bestand in der Bemerkung, daß es einen nicht automatisch zum Pferd mache, wenn man in einem Stall geboren worden sei. Der Dubliner Oscar Wilde kam als Oxford-Student nach England und entledigte sich mit seinem Fährticket auch gleich seines irischen Akzents. Winston Churchills Privatsekretär war Ire, und dessen Vater wiederum war sogar Revolutionär und gehörte der Fenier-Partei an, doch das ahnte niemand. Iren, die sich englischer geben als Engländer, nannte man früher shoneens oder Castle Catholics: Das waren die Leute, die sich skandalöserweise ins Dublin Castle einladen ließen, wo sich in kolonialen Zeiten der Sitz der britischen Behörden in Irland befand. Seit jeher nehmen Iren Engländern gegenüber eine Haltung ein, bei der äußerlich demonstrierter Respekt mit heimlicher Verachtung einhergeht. Dank Irlands Mitgliedschaft in der Europäischen Union löst sich das Land jedoch allmählich aus seiner Haßliebe zu den Briten. Es richtet heute den Blick auf Brüssel, Paris und Berlin und nicht mehr ausschließlich auf London. Wenn der Meeresspiegel nur um hundert Meter sinken würde, wäre Irland sogar mit dem europäischen Festland verbunden. Das Land ist heute selbstbewußter und weltoffener, ganz so, wie es in seiner Glanzzeit im Mittelalter auch war, obwohl das etwas übertrieben sein kann. Die Iren wissen nach wie vor weitaus mehr über Engländer als über Österreicher und sind womöglich, was ihre Bereitschaft, Fremdsprachen zu erlernen angeht, träger als die Briten. In mancher Hinsicht ist Irland weiterhin eine geschlossene, exklusive Gesellschaft. Kleine Völker aber sind am Geschehen in der Welt interessierter als große, da sie nicht überleben können, wenn sie nicht über ihre GrenPhoenix Park 141
zen hinausschauen. Amerikaner, die für ihre wackligen geographischen Kenntnisse berühmt sind, sagen deshalb vorsichtshalber auch Sachen wie «Paris, Frankreich», falls Sie etwa dachten, Paris läge in Thailand. Auch die Briten sind manches Mal, vergleicht man sie mit den Iren, die größeren Provinzler und mißtrauen den Europäern weit mehr. (Erinnern Sie Engländer bloß nicht daran, daß sie selber Europäer sind – viele wollen das nämlich nicht wissen.) Die Briten kamen mit anderen Nationen hauptsächlich dadurch in Kontakt, daß sie sie kolonisierten, was nicht die effektivste Art und Weise ist, einander kennenzulernen. Nach dem Verlust ihres Weltreichs fällt es ihnen nun manchmal schwer, mit anderen Völkern von gleich zu gleich zu verkehren. Die Iren tun dies nun zum ersten Mal in ihrer jüngeren Geschichte und machen ihre Sache gut, verhandeln beispielsweise geschickt in der Europäischen Union. Nichts davon hat etwas mit dem Phoenix Park zu tun, aber für ihre Gedankensprünge sind die Iren schließlich berühmt.
Politik
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êä~åÇ hat einen Präsidenten, der überwiegend repräsentative Aufgaben hat, einen Premierminister oder Taoiseach und ein Parlament oder Abgeordnetenhaus namens Däil (gesprochen: Doil). Die beiden wichtisten politischen Parteien sind Fianna Fäil (gesprochen: Feanna Foil) und Fine Gael (Feena Gael). Wie viele Konkurrenten in der heutigen Politik lassen sie sich kaum auseinanderhalten. Beide entstanden während des irischen Bürgerkriegs um den anglo-irischen Vertrag von 1921. Fianna Fäil lehnte den Vertrag damals ab, wohingegen Fine Gael ihn unterstützte. Fianna Fäil, mit ungefähr vierzig Prozent aller Wählerstimmen die bei weitem bedeutendste Partei in der irischen Republik, ist traditionell die Partei der kleinen Farmer und der städtischen Arbeiterklasse. Mit moralischem Konservatismus und (zumindest für ihre Gegner) Klüngelpatronage, religiösem Frömmlertum und überlebten nationalistischen Ressentiments verfolgt sie einen populistischen Kurs. Fine Gael hingegen hat ihre Klientel bei den kleinen Ladenbesit-
142 Politik
zern, Akademikern und Vertretern des Big Business. Beide Parteien stehen im politischen Spektrum wohl mitte-rechts. Es existiert auch eine Labour Party, die älteste politische Partei Irlands, die aber wie so viele Labour Parties der Gegenwart mit ihrer sozialistischen Politik Schiffbruch erlitten hat. Außerdem gibt es links und rechts der Genannten noch die eine oder andere kleinere Partei. In der irischen Politik war die «nationale» Frage dominierend, ja zuweilen sogar einziges Thema. So gibt es in Irland, dessen Bevölkerung überwiegend auf dem Lande lebt, beispielsweise keine Partei, die speziell die Sache der Farmer vertritt, wie es etwa in Norwegen der Fall ist. Anders als in Großbritannien ist die irische Politik nicht Ausdruck von Klasseninteressen. Es ist eine der Stärken von Fianna Fáil, daß sie ihre Anhänger in allen gesellschaftlichen Schichten findet. Persönlichkeiten zählen mehr als Ideologien. Die Besonderheiten des irischen Wahlsystems bringen es mit sich, daß Parteien, die einander eigentlich in den Haaren liegen sollten, sich gemeinsam in der Regierungsverantwortung wiederfinden können, was die Austragung grundsätzlicher Differenzen eher erschwert. Bestimmte Prinzipien und Überzeugungen spielen eine untergeordnete Rolle in der irischen Politik, weil irische Politiker sich auf ihren Wahlkreis konzentrieren und sich nicht in einem allgemeineren Sinne als «Volksvertreter» begreifen. Als Wähler gibt man seine Stimme dem Teachta Dála (dem Abgeordneten oder Parlamentsmitglied) aus dem eigenen Wahlbezirk, und der sorgt als Gegenleistung für diese Gefälligkeit dann dafür, daß die Schlaglöcher vor deiner Haustür zugemacht werden. Irland ist ein extrem zentralistisches Land, und nur das bietet zuweilen die Gewähr, daß manches wirklich erledigt wird. Abgeordnete müssen viel Zeit damit verbringen, ihrer Wählerschaft den Hof zu machen, lassen sich bei ihren Tanzveranstaltungen sehen und prägen sich die Namen von sieben Sprößlingen ein. Wichtiger als die politische Funktion ist oft das persönliche Verhalten. In Irland spielen Seilschaften eine große Rolle. Politische Korruption, Tendenz steigend, bleibt da nicht aus. In Ländern, in denen die Familie einen hohen Stellenwert besitzt, sind MafiaGruppierungen keine Seltenheit. Politik 143
An der Klage, irische Politik sei auf die lokale Ebene begrenzt, ist sicher manches übertrieben. Es gibt Anzeichen dafür, daß Iren regionale wie auch nationale Belange im Auge haben. Außerdem vertrauen sie in stärkerem Maße als die meisten anderen europäischen Nationen auf ihre politischen Institutionen, was aber nicht an den Institutionen liegen kann. Für dieses Jahrhundert nimmt sich Irlands politische Bilanz recht kläglich aus. Das Land ist geprägt von ökonomischer Stagnation und politischem Isolationismus und hat es nicht vermocht, seine natürlichen Ressourcen zum Wohle seiner Menschen zu nutzen. Endlich unter der Tatze des britischen Löwen hervorgekrochen, gelang es den Iren nicht, eigenständige Institutionen zu schaffen. Herausgestellte Symbole nationaler Einheit erwiesen sich oft als leere Gesten: Die irische Sprache zum Beispiel dient nur noch zeremoniellen Übungen. Auch konnten die verschiedenen irischen Regierungen der Massenemigration nicht Einhalt gebieten. Noch in den krisengeschüttelten fünfziger Jahren wanderten mehr Menschen aus als im letzten Vierteljahrhundert britischer Herrschaft. Die Probleme, denen sich die Nation gegenübersah, waren aber auch gewaltig. Als erstes Land, das sich im 20. Jahrhundert aus kolonialer Abhängigkeit befreit hatte, konnte Irland auf kein Vorbild zurückgreifen, an dem es sich im Prozeß seiner Identitätsfindung hätte orientieren können. Das Erbe der britischen Herrschaft bestand – neben einigen Errungenschaften der Aufklärung – in einer Geschichte von Armut, ökonomischer Rückständigkeit, politischer Unterdrückung und geringer Selbstachtung. Hinzu kamen heftige religiöse Konflikte. Irland war eine kleine, abgeschottete Insel mit einer bitteren Geschichte. Moderne Bürgerrechte waren weitgehend unbekannt. Das Land besaß im Grunde nie ein eigenes politisches Staatswesen: Die gälische Gesellschaft bestand aus einer Vielzahl kleiner Königreiche, und als der zentralisierte Staat endlich kam, erschien er in Gestalt imperialistischer Okkupation. Staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl war kaum entwickelt – nach Meinung vieler die eigentliche Ursache dafür, daß sich bis heute auf irischen Straßen der Unrat türmt. Und es war eine von den psychischen Wunden der Hungersnot, der 144 Politik
Massenauswanderung und des chronischen Mangels an Selbstachtung tief gezeichnete Nation. In Anbetracht dessen gereicht es den Iren zur Ehre, daß ihr Land während dieses Jahrhunderts relativ friedlich, stabil und demokratisch blieb. Despotismus, politischer Extremismus oder die ausufernde Korruption, mit denen so viele andere postkoloniale Nationen geschlagen waren, haben in Irland keine entscheidende Rolle gespielt. Das Land konnte sich vielmehr einen politischen Grundkonsens, wie einengend und hemmend auch immer, bewahren. Mag der Staatsmann, der Irland durch die frühen Dekaden der Unabhängigkeit lenkte, Eamon de Valera, auch ein rückwärtsgewandter, in sich gekehrter Autokrat gewesen sein, ein Hitler oder Mussolini war er nicht. Und die an Autorität und Familie festhaltende katholische Kirche war nicht nur eine repressive Kraft, sie verhalf auch zu Stabilität. Jedenfalls blieb Irland mancher Konflikt erspart, der andere moderne Staaten erschütterte. Angesichts der nur schwach entwickelten Industrie und der überragenden Bedeutung der nationalen Frage konnte sich keine Politik entwickeln, die Klasseninteressen artikulierte. Die nationale Einheit wurde möglich, weil die sie bedrohende Kraft – der protestantische Norden – hinter eine politische Grenze zurückgedrängt worden war. Die Republik Irland hat die Teilung vielleicht nicht herbeigewünscht, in gewisser Weise aber davon profitiert. Typische Probleme des modernen Lebens blieben den Iren lange Zeit dadurch erspart, daß sie sich der Modernisierung verweigerten. Statt dessen hingen sie weiter der Vorstellung an, in einer Idylle voller wohlgestalteter, züchtiger Jungfrauen und athletischer, moralisch aufrechter Männer zu leben. Irland entging den Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs, indem es neutral blieb. Ethnische Konflikte blieben der Nation bislang erspart, weil sie Menschen eher aufgab als aufnahm. Irland sperrte seine ledigen Mütter in Anstalten ein, schützte seine Frauenschläger und Kinderschänder vor öffentlicher Bloßstellung und schaute weg, wenn ein Teil seiner Landbevölkerung durch Vereinsamung, die die Seele verkümmern läßt, psychisch krank wurde. Geisttötende Monotonie, nicht Verbrechen oder das Böse prägten für lange Zeit das Land. Politik 145
Irlands unter Verschluß gehaltene Vergangenheit holt das Land nun ein: Frauen lassen sich nicht mehr den Mund verbieten, pädophile Priester werden öffentlich demaskiert, Immigranten zwingen das Land, sich mit seinem latenten Rassismus auseinanderzusetzen, und die Moderne hat Einzug gehalten. Das Land hat einen Weg gefunden, wie es mit seinem alten Schreckgespenst Großbritannien zusammenleben kann, hat seine schönsten Traditionen wiederbelebt, hat sich seinen Humor, seine Ironie und seine Lebensfreude bewahrt und seine Rolle auf der internationalen Bühne gefunden.
Q
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áåÉë des großen Rätsel Irlands ist, daß es dort nichts von Bedeutung gibt, was mit dem Buchstaben Q beginnt.28 Irische Gelehrte verfaßten schon Bücher zu diesem Dilemma und hielten Konferenzen darüber ab; und die irische Regierung bietet jedem, der ein interessantes irisches Wort mit Q findet, eine Belohnung von zwanzigtausend Pfund. Vielleicht sind Sie ja in Ihrem Urlaub der Glückliche. Manche Iren haben bereits erwogen, Queen Elizabeth auch als Queen of Ireland einzusetzen, damit dieses drängende Problem endlich vom Tisch ist. Neidisch blickt man nach Nordirland, denn in Belfast gibt es eine Queen’s University, was dem Norden einen unfairen Vorteil verschafft. Die irische Regierung hat bereits gefordert, die Universität nach Dublin zu verlegen, aber Ulster sagt nein. Es liegen Vorschläge vor, man möge Dublin in «Quilly» oder «Quantock» umbenennen. «Quäker» wäre eine weitere Möglichkeit, da Quäker wegen der Hilfe, die sie den Iren während der Großen Hungersnot leisteten, in hohem Ansehen stehen. (Es leben heute einige tausend Quäker in IrFFE: Es gibt allerdings die Hoffnung, daß das Wort «Quiz» von einem im 18. Jahrhundert lebenden Dubliner Herrn erfunden wurde. Er hatte gewettet, daß er ein neues Wort in die Sprache einführen könne, indem er das Wort «Quiz» mit Kreide an Wände malte. Damit hatte er die Wette gewonnen. Da niemand wußte, was dieses Wort heißen sollte, erlangte es die Bedeutung, die es heute hat.
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146 Q
land.) Die katholischen Bischöfe haben das jedoch einstimmig abgelehnt, ebenso jene abstruse Idee, Dublin solle künftig «Queer» heißen. Wir schalten daher um zu ...
RTE
R
~Çáç Telefis Eireann, der irischen Rundfunk- und Fernsehanstalt. Sie ist öffentlich-rechtlich, sendet im Gegensatz zur BBC jedoch Werbung.29 Amerikaner, die sich in Irland zu einem gemütlichen Fernsehabend niederlassen, werden womöglich mit Bestürzung feststellen, daß es nur vier einheimische Fernsehkanäle gibt, obwohl auch englische Sender zu empfangen sind. Ein Kanal sendet Irisch, er bietet auch interessante Kulturprogramme an. Wenn man jedoch die Seifenopern sieht, ist man froh, sie nicht zu verstehen. Amerikaner werden womöglich auch enttäuscht feststellen, daß sie viele der Sendungen bereits kennen. Das irische Fernsehen kauft Unmengen in den Staaten ein, teils deshalb, weil ihm die Mittel zur Herstellung eigener Filme fehlen. Die Qualität des irischen Fernsehens ist nicht gerade umwerfend. Nach Meinung des alteingesessenen politischen Establishments geben bei RTE wie in anderen Bereichen der irischen Massenmedien Linke, langhaarige Liberale und schwule Anarchisten den Ton an. Der schon seit geraumer Zeit anhaltende Kleinkrieg zwischen Teilen der irischen Medien und der katholischen Kirche spiegelt die tiefe Spaltung Irlands in Traditionalisten und Progressive wider. Ein ewiggestriges Mitglied des Dáil nörgelte, daß es vor dem Aufkommen des Fernsehens in Irland keinen Sex gegeben habe. Die einflußreichste Fernsehsendung im Land, Gay Byrnes The Late Late Show, ist die Live-Talkshow mit der bisher längsten Lebensdauer in der ganzen Welt. Hier wurde erstmals in Irland öffentlich über das Tabuthema Sex gesprochen, und auch andere Medien tragen zum Abbau von Vorurteilen bei. Die führende irische Tageszeitung, die FFE: RTE unterbricht sein Programm zweimal täglich zum Gebet, um zwölf Uhr mittags und um sechs Uhr abends.
29
RTE 147
Irish Times, ist liberal-protestantisch ausgerichtet und spielt in Irland die Rolle des seriösen, ambitionierten Nachrichtenlieferanten, der BBC vergleichbar, die diese Funktion seit jeher in Großbritannien wahrnimmt.30 In einem Lande, das sich demokratisch nennt, befinden sich übrigens rund neunzig Prozent der Sonntagszeitungen und achtzig Prozent der Tagespresse im Besitz eines Mannes, Tony O’Reilly. Das Beste am öffentlich-rechtlichen Programm sind die morgendlichen Radiosendungen mit Hörerbeteiligung, die vorbildhaft demonstrieren, was ein gesellschaftlich verantwortungsbewußtes Radio zu leisten imstande ist. Bei diesen Programmen handelt es sich nicht um den sonst üblichen Mix aus Werbung, Jingles, Polemik auf Stammtischniveau und geistlosem Gedudel. Die Zuhörer haben hier Gelegenheit, sich über Ängste, Meinungen und soziale Belange auszutauschen, sich heftig zu streiten und obendrein noch über sich selbst zu lachen. Ein solches Programm ist nur in einem kleinen Land wie Irland möglich. Der vorherrschende Ton dieser Sendungen ist freundlich (aber nicht herzlich), ungezwungen (aber nicht vertraulich), humorvoll und ironisch. Für jemanden, der aus einer größeren Nation stammt, ist dieses Gemeinschaftsgefühl, das freilich harte Auseinandersetzung nicht ausschließt, sehr beeindruckend. Man rechnet fast damit, daß ein Rundfunkreporter meldet, in der O’Connell Street habe sich ein Pflasterstein gelockert, man möge also aufpassen. Wie in Britannien sind irische Nachrichtensprecher, Reporter und Moderatoren Männer und Frauen wie du und ich und keine Leute, die aussehen, als kämen sie gerade auf einen Sprung vom Drehort eines Hollywoodfilms oder als bestünden sie ganz aus Plastik.
30 FFE: Von dem Dramatiker Brendan Behan, dessen einzige Ähnlichkeit mit Hitler darin besteht, daß er auch als Anstreicher angefangen hat, erzählt man sich, er habe einmal die Aufgabe gehabt, das Gebäude der Irish Times zu streichen, und zwar zu einer Zeit, als er für die Zeitung gelegentlich auch Artikel schrieb. Die Legende will es, daß er von der Leiter durchs Fenster nach innen ins Gebäude stieg, wenn seine journalistischen Fähigkeiten verlangt wurden, und anschließend wieder ins Freie kletterte und weiterstrich.
148 RTE
Rätsel
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êä~åÇ gibt einem drei große Rätsel auf. Das erste ist, warum es nichts von Bedeutung mit dem Buchstaben Q gibt (siehe Q). Das zweite ist, warum die Jungfrau Maria für ihr Erscheinen ausgerechnet ein so abgelegenes Nest wie das Dorf Knock wählte und nicht während eines internationalen Fußballspiels im Dubliner Sportstadion landete. Sie hätte dadurch eine größere Öffentlichkeit erreicht und für mehr Glaubwürdigkeit gesorgt. Das dritte Rätsel ist, aus welcher Quelle das immense Privatvermögen des früheren Premierministers von Irland und Führers von Fianna Fáil, Charles Haughey, stammt. Bekannt auch als der «Boß» oder der «Great National Bastard», erfreut sich Haughey eines luxuriösen Lebensstils, besitzt ein Herrenhaus vor den Toren Dublins und eine Privatinsel vor der irischen Küste, gibt bei alledem aber ganz passabel den «einfachen Mann aus dem Volke». Nach der Devise «Man muß allen alles sein» war Haughey gälischer Klanführer, hartgesottener Gauner und entschlossener Macher in einer Person, war geschickter Pragmatiker und Hüter der geheiligten nationalen Flamme. Haughey hat inzwischen zugegeben, daß er Zuwendungen eines prominenten irischen Geschäftsmannes angenommen hat, doch das öffentliche Händeringen über dieses Eingeständnis bestätigt nur ein weiteres Mal, daß zwischen dem, wie die Verhältnisse sein sollten, und dem, wie sie sind, eine Kluft besteht – was jeder Ire weiß. Es war ein klein wenig so, als müsse man entsetzt feststellen, daß die Madonna keine Jungfrau ist.
Rundtürme
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áÉ werden sie in Irland ziemlich oft antreffen: schmale Bauwerke, die aussehen wie Raketen aus Stein, gewöhnlich neben einer Kirche. Irische Gelehrte waren überzeugt davon, daß diese Türme aus frühester Vorzeit stammen und von den Druiden oder Phöniziern errichtet worden sein mußten. Lautstark debattierte man darüber, ob es sich dabei um Tempel des heiligen Feuers, die Turmwohnungen von Rundtürme 149
Hexenmeistern, Säulen zur Himmelsbeobachtung, phallische Symbole eines alten Fruchtbarkeitskults oder schlicht um Türme handelte, um die man zur Ehre der himmlischen Mächte herumtanzte. Jemand verstieg sich sogar zu der Behauptung, irische Mönche hätten sie mit Fett bestrichen und hernach fröhliche Stunden auf Rutschbahnen verbracht. Wie üblich ist die Wahrheit prosaischer. Die Türme stammen vermutlich aus dem Mittelalter und waren eine Kombination aus Glocken- und Aussichtsturm, Lagerplatz zur Aufbewahrung kostbarer Gegenstände und Versteck, wenn man in mittlerer Entfernung den heranrückenden Feind erspäht hatte. Deswegen befinden sich die Türen auch ein ordentliches Stück vom Boden entfernt: Man konnte in ihnen verschwinden und hinter sich die Leiter hochziehen. Die Rundtürme sind nicht mit den Martello-Türmen zu verwechseln, runden Bauwerken aus napoleonischer Zeit, die man gelegentlich an der irischen Küste sieht und die als Wachttürme errichtet wurden, damit man rechtzeitig vor französischen Invasoren warnen konnte. Irland mußte schon deshalb von britischen Truppen besetzt werden, weil es Britanniens ungeschützte westliche Flanke darstellte. Ein gewiefter Feind hätte durch die Hintertür Irland nach Großbritannien schlüpfen können. Die Franzosen waren Englands Uralt-Feinde und zufällig, wie die Iren, katholisch. Im 16. Jahrhundert wurde in Paris ein irisches College für die Ausbildung irischer Kleriker errichtet. Viele irische Rebellen, die aus ihrem Land fliehen mußten, die sogenannten «Wildgänse», endeten als Söldner in der französischen Armee. Eine Allianz zwischen Frankreich und Irland war daher für England immer eine Bedrohung. Zu einer solchen Krise kam es dann tatsächlich Ende des 18. Jahrhunderts, als die revolutionären United Irishmen die gleichermaßen revolutionären Franzosen einluden, die Insel zu besetzen und den Iren bei der Vertreibung ihrer englischen Herren zu helfen. Das Unternehmen scheiterte jedoch kläglich. Die französische Flotte versuchte an der Südküste Irlands zu landen, wurde indes von schlechtem Wetter zur Umkehr gezwungen. Der Führer der United Irishmen, Wolfe Tone, schnitt sich, nachdem er von den Engländern gefangengenommen worden war, selbst die 150 Rundtürme
Kehle durch, allerdings so stümperhaft, daß er erst lange später eines qualvollen Todes starb. Dies verschaffte seinen englischen Widersachern vermutlich insgeheim eine stille Befriedigung, war hiermit doch bewiesen, daß die Iren sogar zum Selbstmord zu dumm waren. Teile der französischen Armee landeten im Westen Irlands und rückten ins Landesinnere vor, mußten in ihrer Empörung jedoch feststellen, daß die irischen Kampfgenossen in Lumpen gekleidet waren und Heugabeln mit sich führten. Die Rebellen wurden von den Engländern geschlagen, die hernach fortfuhren, sie in großem Stil zu foltern und zu töten. Die irischfranzösische Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union zeitigt weniger blutige Ergebnisse. Eine interessante Fußnote zur Geschichte der anglofranzösischen Beziehungen ist der Versuch eines Iren, der die Königin Marie Antoinette während der Französischen Revolution retten wollte. Der Mann war Offizier in der irischen Brigade der französischen Armee, und sein Plan sah vor, die Königin aus ihrem Gefängnis zu befreien und sie in sein Haus in Dingle zu entführen. Die Königin erwärmte sich sogar für dieses Vorhaben, bis sie erfuhr, daß ihr Mann und ihre Kinder sie nicht begleiten sollten. Wenn sie nicht so sehr an ihrer Familie gehangen hätte, hätte sie ihre Tage damit beschließen können, den Sonnenuntergang über der Halbinsel von Dingle zu beobachten, anstatt gar nichts zu sehen, weil man ihr in Paris den Kopf abschlug. Außer diesen Rundtürmen werden Sie in Irland auch eine Menge verfallener Behausungen zu sehen bekommen, die größtenteils aus dem letzten Jahrhundert stammen. Ihre Bewohner gaben sie auf, als der Hunger sie außer Landes trieb oder der Grundherr sie von ihrem Acker verjagte, weil sie die Pacht nicht mehr aufbringen konnten. Solche Räumungen waren längst nicht so weit verbreitet, wie man früher annahm, aber in den Jahren zwischen 1846 und 1853, im Zeitraum der Großen Hungersnot, wurden immerhin rund siebzigtausend Familien vertrieben. Manche Grundbesitzer machten sich die Hungersnot zunutze, schafften sich zahlungsunfähige Pächter vom Hals und legten anschließend ihr Land zu größeren, profitableren Einheiten zusammen. Rundtürme 151
Wie wir bereits festgestellt haben, meinten manche Engländer, Gott habe in seiner demographisch weisen Vorsehung beschlossen, Irland dadurch zu retten, daß er eine Million seiner Bevölkerung umbrachte und ein paar weitere Millionen ins Exil trieb. Heutzutage stehen mit den Kontrazeptiva weniger drastische Mittel zur Begrenzung der Bevölkerung zur Verfügung. Und wenn Menschen einst dachten, hungernde Massen seien Gott wohlgefällig, so scheint die katholische Kirche heute zu glauben, daß es Kondome sind, die ihn ärgern.
Schönheit
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ëí Irland einer der schönsten Flecken Erde auf dem Planeten? Unbedingt, aber der Dank dafür gebührt nur zu einem geringen Teil den Iren selbst. Sie haben bekanntermaßen kein Auge für Schönes (anders liegt der Fall bei ihrer atemberaubenden Musik oder ihrer großartigen Literatur). Das erklärt den überall knöchelhoch stehenden Unrat und die mit Spucke überschwemmten Straßen. Der irische Dichter Paul Durcan schrieb über das Restaurant in der Dubliner Nationalgalerie, das einzig Mißliche daran sei, daß man zuvor erst an den Bildern vorbeimüsse (was scherzhaft gemeint war). Es liegt schon ein paar Jahrzehnte zurück, daß die Iren in einem kollektiven Anfall von Vandalismus einige ihrer unschätzbaren georgianischen Gebäude abzureißen begannen und nur mit Gewalt davon abgehalten werden konnten. Diese Gleichgültigkeit, so meinen manche, habe ihre Wurzel in der Kolonialgeschichte des Landes. Die Iren hätten sich gelegentlich aufgeführt, als gehöre das Land gar nicht ihnen – und lange Zeit gehörte es ihnen ja auch nicht. Es gehörte, falls Sie nicht aufgepaßt haben, zu Großbritannien, und ein vom Krieg zerrissener Teil im Norden gehört immer noch dazu. Doch Einstellungen ändern sich: Aus Umfragen wissen wir, daß die Zuversicht, Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen zu können, bei Iren heute größer ist als bei manchen anderen europäischen Nationen. Früher jedoch waren die Iren zu arm, um sich den Kopfüber Schönes 152 Schönheit
zu zerbrechen. Das Land war zum Kartoffelanbau da, nicht zum Betrachten. Wer auf dem Gebiet der Architektur Herausragendes leisten will, benötigt Muße, finanzielle Mittel und Stabilität, und gerade daran haperte es in Irland oft. Musik und Literatur hingegen überstehen historische Umbrüche, die das Land so zahlreich erleben mußte, besser. Die Iren sind lausige Städteplaner, da sie als ein vorwiegend auf dem Lande lebendes Volk für sich selber ja auch kaum Städte errichteten. Dublin, Limerick, Wexford oder Waterford wurden von den plündernden Wikingern angelegt, und die wußten mit Hämmern umzugehen. Sogar der Name «Irland» ist skandinavischen Ursprungs. Dublin, im 9. Jahrhundert gegründet, ist im Vergleich zu anderen europäischen Ansiedelungen eine relativ junge Stadt. Die älteste Stadt Irlands, seit jeher auch das Zentrum kirchlicher Macht, ist Armagh. Dublin war für die Wikinger eine Zwischenstation auf der Seereise nach Afrika, wo sie sich am Sklavenhandel beteiligten. Die Wikinger halfen bei der Sicherung vieler kostbarer irischer Gegenstände: Sie raubten sie und bewahrten sie in ihren Schatzkammern auf, die dann später von uns entdeckt wurden. Die Zentren der gälischen Zivilisation im Mittelalter waren die Klöster, nicht die Städte. Irische Dörfer sind meist öde aussehende Ortschaften, gewöhnlich von einer breiten Hauptstraße durchzogen. Links und rechts davon sind ein paar spärliche Häuser und Pubs in die Landschaft gestreut. Durch eine breite Hauptstraße ließ sich nicht nur das Vieh besser treiben, sondern kamen auch britische Truppen, die irische Rebellen aufspürten, schneller voran.
Schwerhörigkeit
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áå merkwürdig weitverbreitetes irisches Leiden, vor allem unter Männern mittleren Alters. Lauschen Sie mal, wenn zwei sich unterhalten, dann werden Sie merken, daß alle naslang einer oder beide «ah?» sagen, ein Geräusch irgendwo zwischen Ächzen und Knurren. Manchmal sagt der eine schon «ah?», noch bevor der zweite überhaupt ein Wort gesprochen hat. Er kann gar nichts mißverstanden haben. Schwerhörigkeit 153
Mit dem Zustand irischer Ohren hat das nichts zu tun, alles aber mit der ärgerlichen Angewohnheit, seinem Gegenüber nicht zuzuhören. Vor allem dann nicht, wenn das Gegenüber die eigene Frau ist. Bei den Iren ist es auch Sitte, einer gerade zum besten gegebenen Bemerkung «What?» nachzuschicken, so als habe man nicht gehört, was man selber gerade gesagt hat. Die schlechtesten Ohren haben die Soldaten der irischen Armee. Eine erstaunlich hohe Anzahl von ihnen hat Hörprobleme, wohl eine Folge der Schreiappelle und Schießübungen. Mit dieser Begründung jedenfalls gewann ein Soldat eine Schadensersatzklage. Seit diesem Fall sind plötzlich viele Armeeangehörige so gut wie taub. Weitere Klagen könnten den Staat theoretisch über fünf Milliarden Pfund kosten. Wer hat behauptet, der Begriff «military intelligence» sei ein Widerspruch in sich?
Seamus und Sinead
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êÉå, die ihrer eigenen Sprache nicht mehr mächtig sind, ist sie wenigstens manchmal in ihren Namen erhalten geblieben. Es ist immer noch sehr populär, seinem Kind einen irischen Namen zu geben, nicht zuletzt deshalb, weil ein paar sehr schöne zur Auswahl stehen. Seamus läßt sich als James übersetzen, Sinead als Jane, Sean als John, Siobhan (gesprochen: Shevawn) als Joan, Liam als William, Proinsias als Francis und Maire als Mary. Padraic ist eine der irischen Namensformen von Patrick. Sollten einem die eigenen Sprößlinge nicht behagen und möchte man sie in Verlegenheit bringen, wenn sie ins Ausland gehen oder auch nur aufs Postamt, kann man seine Söhne jederzeit Maolbheannachta, Toirdealbhach oder Mathghamhain und seine Töchter Aoibheann, Lasairfhiona oder Meadhbh nennen.31
31 FFE: Der häufigste Vorname in Irland ist Murphy und bedeutet auf Irisch «Seehund». Umgangssprachlich sind «Murphies» auch Kartoffeln.
154 Seamus und Sinead
Shamrock
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áÉ denken, Shamrock sei eindeutig als Kleeblatt zu bestimmen. Leider Fehlanzeige, zumindest vom Standpunkt des Botanikers. Ein Shamrock ist einfach jede Pflanze mit dreizähligen Blättern, die zusammen eine Einheit bilden. Deshalb versinnbildlicht ein Shamrock die Dreifaltigkeit. Im 19. Jahrhundert bekam ein irischer Botaniker fünfunddreißig verschiedene Shamrocks aus allen Teilen des Landes für eine wissenschaftliche Untersuchung zugesandt. Es kam heraus, daß sie zu vier vollkommen unterschiedlichen Pflanzenarten gehörten. Shamrock ist natürlich grün, wie es sich für Irland ziemt, doch Grün ist erst seit kurzem die Symbolfarbe des Landes. Manche Gelehrte meinen, es habe das frühere Blau abgelöst. Wenn Sie einen Iren sehen, der Grün trägt, denken Sie daran, daß diese Kleiderfarbe nicht viel aussagt. Genausogut könnte ein Mexikaner sie tragen. Eine grüne Flagge mit einer goldenen Harfe war lange Zeit das Nationalsymbol Irlands. Henry VIII. fügte zur Harfe noch eine Krone hinzu, um zu demonstrieren, wer hier das Land regiert. Die nachgeborenen irischen Nationalisten behielten die Harfe manchmal bei, entfernten aber die Krone. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte Irland keinen Alleinanspruch auf diese Farbe, sondern sie symbolisierte Freiheit und Revolution überhaupt und verhieß so die frühlingshafte Erneuerung des Lebens. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde in Irland die Farbe Orange zum Symbol für protestantische Loyalität zur englischen Krone und Verfassung. Nach Irlands politischer Union mit Großbritannien im Jahre 1800 wurde der Union Jack zum neuen Nationalsymbol. Das Rot auf dem Weiß sollte auch Irland versinnbildlichen, man meinte, darin ein St.-Patrick-Kreuz zu sehen. Das war sehr aufmerksam von den Briten, auch wenn sie sich in bezug auf das Aussehen eines St. Patrick-Kreuzes geirrt hatten. Als Dreingabe zu diesem Irrtum wurde (und wird) der Union Jack oft genug verkehrt herum aufgehängt. Im 19. Jahrhundert wurde die grüne Flagge mit der goldenen Harfe weiter von den irischen Nationalisten verwendet, die die Einheit mit Großbritannien ablehnten. Sie erfanden aber auch eine eigene Version der französischen Shamrock 155
Trikolore, die grün, weiß und orange war. Das Weiß sollte die Verbindung zwischen Grün (gälische Katholiken) und Orange (Protestanten im Norden) darstellen. Für manche deutet die Dreifarbigkeit allerdings auf gegenseitiges Nichtverstehen hin. Diese Flagge wehte während des Osteraufstands im Jahre 1916 auf dem Dubliner Hauptpostamt – direkt neben der grünen, damit auch ja alle zufrieden waren. Die Trikolore sollte später zur offiziellen Flagge der Republik Irland werden. In Nordirland steht sie weiterhin für den katholischen Nationalismus, wohingegen Protestanten dort den Union Jack aufziehen.
Shillelagh
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áå Dorf im County Wicklow, kein alt-irischer Knüppel, ganz gleich, was in den Andenkenläden auch behauptet wird. Der Ort Shillelagh, ein waldreiches Fleckchen Irland, stellte früher Spazierstöcke aus Eiche her, die gelegentlich auch als Waffen eingesetzt wurden. Der SchwarzdornKnüppel aber, der heute unter der Bezeichnung «shillelagh» feilgeboten wird, hat mit alldem nichts zu tun. «Shillelaghs» sind so trügerisch wie der Glaube, die Iren seien ein besonders streitsüchtiges Völkchen (siehe Gewalt).
156 Shillelagh
Sparschweine
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ÅÜïÉáåÉ zählten dereinst zu den wichtigsten Angehörigen der irischen Nation. Die körperliche Berührung eines Schweins oder eines Esels galt seit jeher als Heilmittel bei den verschiedensten menschlichen Gebrechen. Es heißt, in manchen Landesteilen habe man es mit dem direkten Kontakt ein wenig übertrieben. Für die armen Farmer stellten Schweine so etwas wie eine Sparkasse dar. Man verfütterte Kartoffeln an die Tiere, wie man vielleicht Geld in ein Bankhaus trug, und später hob man die «Ersparnisse» wieder ab, das heißt verkaufte die Schweine, wenn ihre Zeit gekommen war. Ein Schwein war eine Zaubermaschine, die Kartoffeln zu Geld machen konnte, war so etwas wie eine grunzende, sabbernde Versicherungspolice. Anders als Farmtiere, die man melken, scheren oder um ihre Eier erleichtern konnte, wird ein Schwein (übrigens das einzige in Irland seit jeher heimische Farmtier) nur zu dem Zweck gefüttert, es später zu schlachten. Es ist schon so ein hartes Los, ohne daß «Schwein haben» obendrein noch zum Synonym für Glück werden mußte. Wie andere Haustiere auch lebte das Schwein oft im Haus bei der Familie und schnüffelte in einer Ecke des Wohnzimmers herum. Der irische Schriftsteller Flann O’Brien erzählt von einem Regierungsinspektor, der sich in eine solche «schweinische» Behausung bemühte und forderte, daß die Familie sich von ihren Tieren trennte und für sie einen separaten Stall errichtete. Als er nach einem Jahr zurückkehrte, um die Zustände bei der Familie zu überprüfen, lebte das Schwein immer noch im Haus. Der Stall war zwar gebaut, aber leer. Nach dem Grund dafür gefragt, gab die Familie an, sie habe eine Weile schon versucht, es in dem Stall auszuhalten, es dort aber so bitter kalt gefunden.
Sparschweine 157
Sport
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áÉ Iren erfreuen sich im allgemeinen körperlicher Robustheit. Die ewige Kartoffelspeise mag ja langweilig gewesen sein, dafür enthält sie aber, wie wir gesehen haben, fast alles, was man für eine vernünftige Ernährung braucht. Ein Farmer, der ins Ausland emigrierte, war aufgrund seiner Körperkraft für das Ausheben von Gräben und für den Straßenbau gut konditioniert. Durchhaltevermögen plus Risikofreudigkeit plus Wagemut der Iren ergeben eine sportbegeisterte Nation, die hervorragende Athletinnen und Athleten hervorgebracht hat. Sport ist im Grunde die moderne Version des alt-irischen Klansystems und populär bei einem Volk, das gemeinsame Betätigung schätzt, einsame Vergnügen jedoch nicht. Die Iren sind auch begeisterte Angler. Nur in England wird diese Sportart noch eifriger betrieben, vielleicht weil die Engländer noch reservierter sind und das Alleinsein suchen. Die Iren spielen Fußball, Rugby und ein wenig Cricket. Dazu kommen ihre eigenen Nationalspiele wie Hurling und gälischer Fußball, eine Mischung aus Rugby und Football. Hurling ist das aufregendste und schnellste Feldspiel der Welt, camogie seine von dreizehn Frauen auf einem kleineren Feld gespielte Version. Das Mannschaftsspiel erinnert an Hockey und wird mit einem flachen Eichenschläger und einem Ball, der etwas größer ist als ein Tennisball, gespielt. Es gibt über 250 Golfplätze in Irland, und der Pferderennsport ist für seine Anhänger eine Religion. Noch immer kann es zu heftigen Meinungsverschiedenheiten über die Unterschiede zwischen englischen und irischen Sportarten kommen, bei denen puristischere Iren Rugby und Football als imperialistische Anschläge auf das Irentum geißeln. Die Gaelic Athletic Association (GAA), die seit 1884 den irischen Nationalsport wiederbelebt, ist eine sehr einflußreiche Organisation, deren Macht vielleicht nur von der katholischen Kirche übertroffen wird. Sportlich betrieben wird außerdem das Verdrehen von Straßenschildern in ländlichen Gegenden, um Touristen zu verwirren, und unter Busfahrern gibt es ein beliebtes Spiel, das darin besteht, vier Busse, die im Abstand von jeweils zehn Minuten hätten ankommen sollen, eine Stunde lang stehenzulassen, um dann zusammen vorzufahren.
158 Sport
Tara
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~ê~ ist der Sitz der alten irischen Könige im County Meath und eine der heiligsten Stätten des alten Irland. Doch entgeht dem unkundigen Besucher dieser Aspekt des bescheiden wirkenden Hügels leicht.32 Ein weiteres Beispiel für das irische Talent zur Untertreibung. Verfallene Paläste werden Sie in Tara nicht finden, die hat es hier nämlich nie gegeben, doch wird weiter eifrig Erde umgegraben. Tara ist kein verfallenes Windsor Castle, sondern vielmehr ein Ort mit großer Geschichte. Wenn Tara heute nicht sonderlich beeindruckend aussieht, so deshalb, weil es schon zu seinen Glanzzeiten nicht sonderlich beeindruckend aussah. Vor ein paar Jahren hatte eine etwas abseitige politische Partei den glorreichen Einfall, die irische Hauptstadt Dublin nach Tara zu verlegen – doch da war der Lockruf Dubliner Pubs vor. Es gibt nämlich keine Temple Bar in Tara, ein eindeutiger Standortnachteil. Tara war im Grunde eine schlaue Erfindung von Politikern der irischen Frühzeit, die damals schon genauso gerissen waren wie heute. Man meinte, Irland, wo die politische Macht auf viele kleine Königreiche verteilt war, müsse endlich auch auf der Höhe der Zeit sein und so wie andere Länder auch eine Monarchie haben. Und so machten die Politiker dem Volk weis, genau diese stelle Tara schon seit unvordenklichen Zeiten dar. Das einzige Handicap der Theorie war, daß sie nicht stimmte. Die Mächtigen verkauften dieses abenteuerliche Märchen ihren Gefolgsleuten dennoch, und die nahmen es nur zu gern an. Jahrhundertelang schwadronierten danach irische Gelehrte ernst und feierlich von Tara als dem Sitz irischer Hochkönige, eine Behauptung, die ungefähr soviel historische Wahrheit enthält wie die Geschichte von Schneewittchen. Es ist etwa so, als käme die heutige US-Regierung zu dem Entschluß, die Nation brauche eine Königinmutter, und machte dem amerikanischen Volk weis, genau das sei Meryl Streep die ganze Zeit über gewesen. 32 FFE: Es heißt, von Tara aus habe man alle vier irischen Provinzen Überblicken können.
Tara 159
Wie die meisten Legenden enthielt auch diese ein Körnchen Wahrheit. Es gab tatsächlich einmal ein bedeutendes Königreich in Tara, das allerdings außerhalb Irlands lag. Tara war vielmehr das souveräne Zentrum mehrerer Königreiche im Norden der Insel, und als diese Souveränität an Brian Boru, der aus der südlichen Hälfte des Landes stammte, abgetreten wurde, kam auf einmal die Idee auf, Tara sei nun die Schaltzentrale des ganzen Landes. (Brian stammte übrigens aus dem Kennedy-Klan und war somit der Verwandte eines späteren politischen Führers.) Tara ist der Ort, wo St. Patrick der Legende zufolge das Heidentum in Irland besiegte. Auch zu den frühen Barden gibt es eine Verbindung, so daß Tara zu einem Symbol irischer Kultur wurde. James Joyce bemerkte einmal, der schnellste Weg nach Tara sei das Boot nach Holyhead – was heißen sollte: Der sicherste Weg, ein großer irischer Schriftsteller zu werden, besteht darin, so bald wie möglich aus dem Land zu verschwinden.
Tipperary
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ëí es weit bis nach Tipperary? Nein. In Irland ist kein Weg von A nach B ein weiter Weg. Von Tibet mag es ja weit sein bis nach Tipperary, aber das ist ein Problem der Tibeter. Die Insel hat eine Gesamtfläche von circa 84 000 Quadratkilometern, mißt an ihrer breitesten Stelle 275 Kilometer und an ihrer längsten 486 Kilometer. Passen Sie also auf, daß Sie nicht irgendwo abrutschen. Irland liegt auf gleicher nördlicher Breite wie Neufundland, ist eine der windigsten Regionen der Welt, und im Südwesten regnet es an zwei von drei Tagen. Die Insel besteht zum größten Teil aus einer sanft gewölbten Kalksteinebene, die mit Torfmooren und zahlreichen Seen bedeckt ist. Diese Ebene ist an der Küste fast vollständig von einem Hochlandgürtel, teils aus Granit, umringt. Die Berge des Landes sind sehr niedrig und erreichen nur selten eine Höhe von mehr als tausend Metern. Vor der irischen Küste liegen über fünfhundert Inseln, von denen heute nur 64 bewohnt sind. Im allgemeinen sind die Kü160 Tipperary
stenregionen reizvoller als das Landesinnere. Während der Eiszeit war die ganze Insel mit Gletschern bedeckt, wovon heute noch spektakuläre Täler, Mulden, Hügelketten und Bergseen zeugen. Ohne die Eiszeit wäre eine Einrichtung wie das Irische Tourismusbüro heute vermutlich überflüssig. Die Kalksteinebene im Landesinnern mit ihrem üppigen Weideland und ihren Rinderfarmen auf sanft geschwungenen Wiesen ist für eine landwirtschaftliche Nutzung besser geeignet. Hier werden auch die irischen Vollblüter gezüchtet. Die Farmen im regenärmeren Osten und Südosten produzieren Weizen, Gerste, Kartoffeln und Zuckerrüben, und ihre Erträge zählen zu den höchsten Europas. Im Süden und im Südwesten wird hauptsächlich Milchwirtschaft betrieben, wohingegen man westlich des Shannon wie überhaupt in allen hügeligen Regionen Schafzuchtbetriebe findet. Manche Farmer im Westen führen trotz staatlicher Beihilfen einen zähen Kampf ums Überleben, und die Abwanderung aus diesem Gebiet ist zahlreich. Irland wurde geologisch noch vor Britannien eine Insel, und das hatte Auswirkungen auf den Artenreichtum seiner Pflanzen- und Tierwelt. Maulwürfe und Wiesel kommen in Irland nicht vor, und es gibt nur zwei Mäusearten im Gegensatz zu vier in Großbritannien. Für manche irische Nationalisten ist das eine nationale Schande, und sie fordern die Regierung in Petitionen zur Einfuhr weiterer Mäusearten auf, damit sie sich ihren britischen Nachbarn gegenüber nicht unterlegen zu fühlen brauchen. Die Iren haben eine getüpfelte Nachtschnecke, die andernorts kaum vorkommt, doch die ist den Nationalisten nur ein schwacher Trost. Wären die Normannen nicht gewesen, gäbe es auf der Insel nicht einmal Kaninchen. Andererseits haben die Iren vier Millionen Schafe, und das bei fast vier Millionen Einwohnern. Welches Land kann da mithalten? In den irischen Küstengewässern wurden bereits über zwanzig Walarten gesichtet, dazu Delphine und Riesenhaie. Zum Glück für die irischen Schwimmer sind die Zähne der Riesenhaie besonders klein. Daß es in Irland keine Schlangen gibt, gehört ins Reich der Mythen. Grasschlangen kommen hier und da vor; an denen ist St. Patrick, als er die SchlanTipperary 161
gen aus Irland vertrieb, anscheinend achtlos vorübergegangen.33 Irland teilt sich in die vier alten Provinzen Leinster, Munster, Connaught und Ulster. Seltsamerweise bedeutet das irische Wort für Provinz jedoch «ein Fünftel». Also können die Iren entweder nicht zählen, oder sie haben eine ihrer Provinzen in einem Moment der Geistesabwesenheit verlegt und finden sie nun nicht wieder. Vielleicht liegt es aber nur wieder an der irischen Sitte, zu übertreiben. Des Rätsels Lösung besteht vielleicht darin, daß die fünfte Provinz aus der Grafschaft Meath – was auf Irisch «Mitte» heißt – besteht.
Tories
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å=Großbritannien bezeichnet dieses Wort die Konservativen. Im alten Irland nannte man so Banditen und Straßenräuber, von denen manche zum irischen Adel gehörten. Sie waren von ihrem Besitz vertrieben worden und hatten sich darauf verlegt, die Hügel mit einer Pistole unsicher zu machen. Es waren Robin-Hood-Gestalten, vom Nimbus des Helden umgeben. Sie waren die Stützen der alten gälischen Feudalordnung, die die Engländer mit den von ihnen eingeführten Neuerungen vernichten wollten. Das Wort «Tory» fand so Eingang in die englische politische Sprache und bezeichnete fortan einen Menschen, der die Vergangenheit erhalten möchte. Für die heutigen Gegner der englischen Tories bedeutet das Wort immer noch Plünderei und Raub am hellichten Tage.
Totenwache
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áÉ Iren, die schon fidel zu leben wissen, vermögen noch aus dem Tod ein Fest zu machen. Bei einer Totenwache wird der Leichnam des Verstorbenen im Haus der Familie aufgebahrt. Verwandte und Nachbarn kommen vorbei, um FFE: Ein Großteil aller in der Welt vorkommenden Populationen der Grönland-Bleßgans überwintert in Irland. Die Künstler unter ihnen sind von der Einkommenssteuer befreit.
53
162 Totenwache
ihr Mitgefühl auszusprechen, gemeinsam etwas zu essen und zu trinken, miteinander zu sprechen, zu musizieren und manchmal sogar zu tanzen. Das Wachen kann einige Tage dauern. Der Brauch ist im heutigen Irland durchaus noch lebendig, allerdings eher auf dem Lande, und letztlich heidnischen Ursprungs wie so vieles aus der irischen Kultur. Keltische Religion, heidnische Rituale und christliche Glaubensvorstellungen waren seit jeher miteinander vermischt. Die Totenwache ist Ausdruck der Furcht vor dem Tode: Man bereitet dem Toten einen anständigen Abschied; er könnte ja zurückkommen und einen verfolgen. Sie ist aber auch Ausdruck des Glaubens, daß Leben und Tod miteinander verbunden sind. Die Iren versuchen nicht, den Tod aus ihrem Leben herauszuhalten. Eine Totenwache konnte zu einer ausgelassenen Veranstaltung werden, wenn man bedenkt, wieviel Alkohol dabei konsumiert wurde. Man drückte dem Leichnam auch eine Flasche Whiskey in die Hand, steckte ihm eine Pfeife in den Mund oder schleifte ihn, wenn die Sache wirklich außer Rand und Band geriet, über die Tanzfläche. Das war eine Bekundung der Freundschaft, die man für den Toten empfand, kein Ausdruck von Mißachtung. Es war der Versuch, ihm einen Ausgleich für das Pech, tot zu sein, zu bieten. Wenn ein Verwandter in die Vereinigten Staaten auswan-
Totenwache 163
derte, wurde für ihn in Irland eine «amerikanische Totenwache» abgehalten. Für viele Iren war die Auswanderung nach Großbritannien oder Amerika tatsächlich ein wenig wie die Reise in den Himmel, obwohl sie für manche zweifellos auch etwas von einer Höllenfahrt an sich hatte. Die alte irische Volkskultur hatte deutliche karnevalistische Züge. Bei festlichen Gelegenheiten liefen die Menschen nackt herum, zogen die Kleider des anderen Geschlechts an, simulierten Hochzeiten und vergnügten sich mit sexuellem Schabernack. Manche ihrer Spiele verhöhnten die Kleriker oder sogar Christus. Der im 18. Jahrhundert lebende Dichter Brian Merriman schrieb in irischer Sprache ein derbes, frivoles Gedicht mit dem Titel The Midnight Court (Das mitternächtliche Gericht), in dem geschildert wird, daß der Dichter, ein Junggeselle, einschläft und einen Traum hat. Eine monströse Fee erscheint ihm und schleppt ihn vor den Königlichen Frauengerichtshof. Er wird angeklagt, viel zu keusch zu leben, während die irischen Frauen sich vor Kummer über mangelnde sexuelle Erfüllung verzehren. Die Frauen beschweren sich über das Fehlen geeigneter Ehepartner und das Elend ehelicher Verbindungen zwischen lebenslustigen jungen Frauen und greisen Männern. Zugunsten ihrer Frauen erklärt die Königin den Dichter der asozialen Keuschheit für schuldig und fordert, ihn zu bestrafen, woraufhin er zum Glück erwacht. Die Iren waren seit alters her Bilderstürmer, und ihre volkstümliche Kultur konnte derb, drastisch und mitreißend lebendig sein. Mit der Großen Hungersnot im letzten Jahrhundert gingen Teile davon unwiederbringlich verloren. Die Kirche war solchen Festlichkeiten immer abhold und sah darin eine Bedrohung ihrer Macht. Züge dieser satirischen Kultur haben sich in der irischen Neigung zu Pietätlosigkeit und Lästerei bis heute erhalten. Die Iren zerren zwar keine Toten mehr auf die Tanzfläche, aber vielleicht ja Sie, wenn sie richtig in Stimmung sind.
164 Totenwache
Unikum
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êä~åÇ ist in mehrfacher Hinsicht ein einzigartiges Land, doch nicht immer ist der Anblick, den es einem bietet, rundherum positiv: 1. Irland ist das westlichste Land Europas. In Dingle, der wunderschönen Halbinsel im Westen, ist Europa Nordamerika am nächsten. 2. Irland ist das einzige katholische Land in Westeuropa, sieht man von dem offiziell katholischen, in Wahrheit aber gottlosen Frankreich ab. 3. Es ist der einzige keltische Nationalstaat in der Welt. Die anderen keltischen Völker – Walisen, Schotten, Bretonen, Manxmen und Cornishmen – haben keinen unabhängigen Staat, obwohl manche sich einen wünschen. 4. Irland hat die jüngste Bevölkerung Europas. 1991 waren 44 Prozent der Iren unter 25 und noch 27 Prozent unter vierzehn Jahre alt. Im Trinity College im Stadtzentrum von Dublin drängen sich etwa zehntausend Studenten. Kommen Sie also lieber nicht hierher, wenn Sie sich so alt fühlen, wie Sie sind. Die jungen Leute verstärken Ihr Gefühl nur noch mehr: Dauernd hält Ihnen jemand die Tür auf oder schaut durch Sie hindurch auf einen anderen, der so alt ist wie derjenige selbst. 5. Irland ist das bevölkerungsärmste Land Europas. Es passiert immer noch, daß Sie, im Westen unterwegs, meilenweit keinen Menschen treffen, ausgenommen andere Touristen, die sonst auch niemanden sehen, ausgenommen Sie. Seltsamerweise verfügt Irland – im Verhältnis zur Einwohnerzahl – über das größte Straßennetz in der Europäischen Union. Für den irischen Schriftsteller Samuel Beckett war die «spärliche Besiedlung» des Landes einer seiner angenehmsten Züge, womit er sagen wollte, daß er seine Landsleute nicht ausstehen konnte. Unikum 165
6. Irland ist das am stärksten zentralisierte Land in der Europäischen Union. Im Mittelalter war es nichts als ein Flickenteppich aus Königreichen ohne echtes politisches Zentrum, weswegen manche Menschen denken, die Iren seien von Natur aus Anarchisten. Heutzutage jedoch steht alles im Schatten Dublins, und fast ein Drittel der irischen Gesamtbevölkerung von 3,8 Millionen Menschen lebt dort. Die Hauptstadt läßt den regionalen Behörden nur wenig Entscheidungsbefugnis. Das stößt gerade bei abgelegenen Regionen auf tiefe Empörung, denn sie müssen wegen trivialer Angelegenheiten, die sie selbst viel besser regeln könnten, die Zustimmung Dublins einholen. Ein Grund, weswegen es in Irland so lange dauert, bis etwas erledigt ist. 7. Mit einer Einkommenssteuer von rund 46 Prozent sieht Irland sich gern als das Land mit der drückendsten Abgabenlast in Europa. Ob das tatsächlich stimmt, steht auf einem anderen Blatt, aber für manche erklärt sich daraus, daß Iren nicht um halb sieben in der Früh ins Büro eilen. 8. Die Iren sind das Volk im nordwestlichen Europa, das die längste Zeit ohne Unterbrechung auf ein und demselben Territorium siedelt. Trotz ihrer von Invasionen und Umstürzen geprägten Geschichte leben hier länger als irgendwo sonst auf dem Globus die gleichen Menschen am gleichen Ort. 9. Irland war vermutlich das einzige Land, in dem die christliche Religion ohne Blutvergießen eingeführt wurde. 10. Es hat vermutlich ein größerer Teil der Bewohner sein Land verlassen, als das bei jedem anderen europäischen Volk der Fall war. 11. Irland war die erste Nation, die in diesem Jahrhundert die politische Unabhängigkeit errang. Es ist die erste moderne postkoloniale Gesellschaft. 12. Sigmund Freud bemerkte einmal, die Iren seien das einzige Volk, das man nicht psychoanalysieren könne. Die Iren 166 Unikum
halten sich natürlich zugute, daß sie das ja auch nicht brauchten; andere meinen aber, sie seien sowieso hoffnungslose Fälle. 13. Mit Spanien hatte Irland bis vor kurzem die höchste Arbeitslosenrate in der industrialisierten Welt. 14. Irland ist das erdbebensicherste Gebiet der Erde. Hier wurde noch niemals ein Epizentrum registriert. Als Grund dafür, sich in Irland niederzulassen, mag das dem einen oder anderen paranoid vorkommen, Leute aus San Francisco aber finden die Vorstellung womöglich verlockend. 15. Irland hat proportional den höchsten Anteil an Kirchgängern in ganz Westeuropa. Im Osten werden die Iren allerdings von den katholischen Polen übertroffen. Die polnische Kirche hat aber auch den unfairen Vorteil, daß sie – anders als die irische – in der jüngsten Vergangenheit verfolgt wurde. 16. Irland hat die älteste Whiskey-Destillerie der Welt, gegründet 1608 in Bushmills an der Küste des County Antrim. Whiskey brannte man dort jedoch schon seit dem 13. Jahrhundert. Shakespeare schenkte der Welt den König Lear, die Iren spendierten ihr diesen harten Tropfen. Wie der Scotch wird der irische Whiskey hauptsächlich aus gemalzter Gerste hergestellt. Nur werden sie unterschiedlich destilliert. 17. Die Iren sind das erste Volk, das eine Feministin, Mary Robinson, zum Staatsoberhaupt gewählt hat. Gerüchteweise heißt es, Königin Elizabeth II. führe ein Doppelleben, treibe sich mit männlichem Haarschnitt und Latzhose in Kneipen herum, doch der Buckingham Palast dementiert. Muß er wohl, oder? 18. Irland hat die älteste Nationalliteratur in Europa und eine der phantasievollsten dazu. 19. Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von drei Kilo sind die Iren die größten Teetrinker der Welt und rangieren damit noch weit vor den Engländern. Tee hat eine lange TraUnikum 167
dition in Irland: Schon die Schwiegertochter des Milesius, des (mythischen) Urvaters des irischen Volkes, hieß Tea. 20. Auf einen Einwohner Irlands kommen mehr Hunde als in jedem anderen europäischen Land. Das Verhältnis der Iren zu ihren Hunden ist im allgemeinen jedoch weniger sentimental als bei den Briten, Ausdruck des Unterschieds zwischen einer vorwiegend ländlich und einer eher städtisch geprägten Nation.
Verdrossenheit
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Éãéçê®êÉ Gemütslage der Übersetzerin, als sich partout kein deutsches Wort mit V einstellen wollte, das als Übersetzung für ein Stichwort im Original dieses Buchs getaugt hätte. (Zum Thema Auswege und wie man sie beherzt beschreitet siehe auch Zoologischer Garten, Dublin.)
Wilde
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ÉêΩÜãíÉê irischer Schriftsteller. Wilde, eine in Dublin populäre Gestalt, sammelte Zeugnisse irischer Volkskunst und war ein bedeutender Gälizist. Seines schäbigen Äußeren wegen zwar als der schmutzigste Dubliner bekannt, war er einer der angesehensten Ärzte Irlands und wurde von Königin Victoria zum Königlichen Augenoperateur in Irland ernannt. Wilde, dem Züge eines Schwerenöters nachgesagt werden, soll auch den schwedischen König am Auge operiert und, als der König vorübergehend erblindet war, seine Gattin verführt haben. Für bestimmte Innenohrbeschwerden ist heute immer noch die Bezeichnung Wilde-Syndrom geläufig. Wilde heiratete die extravagante Jane Elgee, eine feurige nationalistisch gesinnte Dichterin und Rebellin, die sich selbst «Speranza» nannte. Sie veranstaltete rauschende Feste und lebte in einer Welt exotischer Phantasien. Einmal erhob sie sich mitten in einer Gerichtsverhandlung und verlangte, daß man sie anstelle ihres Fenier-Genossen anklage. Sie hatten auch einen Sohn, der hieß Oscar. 168 Wilde
X-Strahlen
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Éåëìê ist ein trübes Kapitel in Irland. Es gab einmal eine Durchleuchtungseinrichtung namens Committee of Evil Literature, deren Aufgabe darin bestand, alle Bücher zu verbieten, mit denen die Bischöfe nicht einverstanden waren – in der Regel betraf das Bücher, die die Bischöfe nicht kapierten.34 Das Röntgenauge des kirchlichen Zensors durchleuchtete beispielsweise Schriften mit Titeln wie What To Do on a Date (Wie verhalte ich mich bei einer Verabredung), in denen jungen Leuten allen Ernstes geraten wurde, in einer belebten Straße einen Bummel zu machen und dabei über ein so persönliches Thema wie internationale Politik zu sprechen. Ein Zensor aus der Frühzeit des irischen Films antwortete einmal auf die Frage, ob er denn etwas von Kino verstehe: «Nein, aber ich kenne die zehn Gebote.» Sex galt als englische Verschwörung zur Vergiftung unschuldiger irischer Seelen. Es waren die Briten, die die Unsitte der Kopulation nach Irland eingeschleppt hatten; vor dieser Zeit waren irische Kinder die Frucht von Gebeten. Heute wird die Zensur nicht mehr so streng gehandhabt, obwohl Irland zu den wenigen Demokratien gehört, in denen Bücher verboten werden können. Es ist erst wenige Jahrzehnte her, daß der angesehende irische Romancier John McGahern als Lehrer entlassen wurde, weil er Bücher schrieb, in denen Masturbation vorkam. Im irischen Kino bekommt man die allüblichen trüben Streifen zu sehen. Gelegentlich werden Filme nur in einer geschnittenen Fassung gezeigt oder ganz verboten. Spürbar ist die Lockerung auch daran, daß mittlerweile sogar Softpornos nach Irland gelangen. Den Playboy findet man inzwischen in «normalen» Läden und in den diversen SexShops sowieso. Im Stadtzentrum von Dublin gab es einen Rotlichtbezirk, wo sich auf einem halben Dutzend Straßen ungefähr 1600 Prostituierte drängten; es heißt jedoch, die34 FFE: James Joyces Roman Ulysses war in Irland zu keinem Zeitpunkt verboten, obwohl es sich dabei um die sexuell freizügigste Literatur handelte, die bis dahin im Lande entstanden war. Bücher wurden nur verboten, wenn sie dem Zensor angezeigt wurden, und den Ulysses hatte niemand angezeigt. Vielleicht deshalb, weil keiner genug davon verstand, um zu begreifen, daß er verboten gehörte.
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ses Viertel sei nur von britischen Soldaten frequentiert worden. Wenn Sie das glauben, glauben Sie mühelos auch an Kobolde. In Dublins dunklen Ecken gehen die Prostituierten nach wie vor ihrem illegalen Gewerbe nach, wenngleich ohne große Skandale. Von zensierenden Eingriffen verschont bleibt bei den Iren die Sprache, in der sie einander die Meinung sagen. Öffentliche Debatten können in Irland böse, verletzend und sehr persönlich geführt werden, was der Kameradschaftlichkeit im Umgang miteinander in der Regel keinen Abbruch tut. Aus den Fraktionskämpfen, bei denen rivalisierende Gruppen im alten ländlichen Irland einander mit Knüppeln traktierten, sind inzwischen heftige Wortgefechte über die Meinungsführerschaft geworden. In einem Land, in dem die meisten Meinungsführer miteinander im College waren, spielt die Individualität beim Widerstreit von Ideen eine große Rolle. Die Aufsässigkeit der Iren ist die Kehrseite ihrer Vertraulichkeit. Man sagt sich hier offener als in Britannien, was man denkt, aber man zankt sich auch mehr. Die Kultur dieser rhetorisch gewieften, kämpferischen, mit sich selbst beschäftigten Gesellschaft führt ein höchst lebendiges, aber nach außen abgeschottetes Dasein. Was intellektuelle Debatten angeht, so haben manche Iren überhaupt keine Manieren. Es wurden hier schon Argumente mit der Begründung für unmaßgeblich erklärt, sie seien ja schließlich in Schankwirtschaften vorgetragen worden.
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Yeats, William Butler
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êáëÅÜÉê Dichter. Yeats glaubte an Feen, Kobolde, Magie, Spiritismus, Aristokraten, Astralleiber, Wiedergeburt, Gewalt, Elite, Diktatur und daran, daß die Armen zwangsweise daran gehindert werden sollten, sich zu vermehren. Er lebte in einem Turm und glaubte, daß Geister ihm seine Gedichte in die Feder diktierten. Freilich war Yeats nicht der einzige irische Dichter, dem sein Werk eingegeben worden war, in den anderen Fällen jedoch waren die Geister alkoholischer und nicht engelhafter Natur. Der Demokratie, starken Frauen, dem modernen Leben oder Menschen, die ihm auf den Kopf zu sagten, er rede lauter Unsinn, vermochte Yeats nichts abzugewinnen. Als Kandidat für einen Lehrstuhl am Trinity College wurde er abgelehnt, weil sich in seinem Bewerbungsschreiben bei dem Wort «Professor» ein Fehler eingeschlichen hatte. Eines der großen Rätsel Irlands ist, daß Yeats trotzdem zu den bedeutenden Dichtern englischer Sprache zählt.
Zoologischer Garten, Dublin
L
çÜåí den Besuch eigentlich nicht, aber welches andere Wort mit Z fiele Ihnen denn ein? Í
Da wären wir also. Von dem irischen Dramatiker George Bernard Shaw stammt die Bemerkung, etwas zu lernen sei zuerst immer so, als verliere man etwas. Man lernt über Irland aber nichts, wenn man nicht ein paar Mythen über Bord wirft. In den Volksmärchen bringen Feen gelegentlich ein Kind aus Fleisch und Blut zum Verschwinden, indem sie es einfach in Luft auflösen und anstatt seiner ein Feenkind zurücklassen. Dieses Buch wollte genau das Gegenteil tun: mit ein paar Feenmärchen aufräumen und sie durch ein Stück Realität ersetzen. Die schlechte Nachricht ist, daß es in Irland keine Kobolde gibt, Esel kaum in nennenswerter Zahl und nur wenige Menschen, die Irisch sprechen, dafür Zoologischer Garten, Dublin 171
aber verfallende Landstriche, zuviel Verkehr, eine gepfefferte Einkommenssteuer, den Playboy, hohe Lebenshaltungskosten, in manchen Gegenden eine massive Arbeitslosigkeit, unsaubere Straßen und rassistische Spannungen. Es dauert auch, bis der Klempner kommt und etwas repariert. Kein Mensch sagt «Begorrah», Taxifahrer geben nicht unvermittelt alte irische Poesie zum besten, das Guinness ist nicht mehr irisch, und mit Q am Anfang gibt es nichts. Die gute Nachricht aber ist, daß die Iren humorvolle, lebenslustige und gastfreundliche Menschen mit einer großartigen Kultur und einem der schönsten Länder auf der Welt sind. Das ist ein fairer Tausch, geben Sie’s zu.