Buch Kait ist die letzte Überlebende ihrer Familie, die von den machthungrigen Sabirs fast ausgelöscht wurde. Auf der F...
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Buch Kait ist die letzte Überlebende ihrer Familie, die von den machthungrigen Sabirs fast ausgelöscht wurde. Auf der Flucht vor ihren Feinden sucht sie nach dem sagenumwobenen magischen Spiegel, von dem sie sich erhofft, dass er ihre Verwandten wieder zum Leben erwecken kann. Auf ihrer Spur ist der größenwahnsinnige Crispin Sabir, den es ebenfalls nach dem Spiegel gelüstet er hofft, dass das Artefakt ihn zum Gott macht. Beide erliegen einem schrecklichen Irrtum. Denn in dem Spiegel sind die Geister von Drachen gefangen von bösen Zauberern, die einst die Welt mit finsterer Magie eroberten. Ungeduldig erwarten sie den Tag, an dem sie befreit werden, weil sie ihr Schreckensregime aufs Neue errichten wollen.
Autorin Holly Lisle wurde 1960 in Salem (Ohio) geboren und zog mit ihrer Familie durch die gesamten USA und bis nach Costa Rica und Guatemala. Sie hat in Restaurants gesungen, Musik unterrichtet und professionell gezeichnet, bevor sie sich als Autorin in enger Zusammenarbeit mit Marion Zimmer Bradley selbstständig machte.
Bereits erschienen: DER MAGISCHE SPIEGEL: 1. Der Schlaf der Zauberkraft (26550), 2. Die Weissagung (26551) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Holly Lisle Die Weissagung Der magische Spiegel 2
Aus dem Amerikanischen von Michaela Link
BLANVALET Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Secret Texts II. Vengeance of Dragons« bei Aspect/Warner Books, Inc., New York Für Joe, in Liebe und Dankbarkeit
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält RecyclingAnteile. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH. Deutsche Erstveröffentlichung 1/2001 Copyright © der Originalausgabe 1999 by Holly Lisle All rights reserved Published in agreement with the author, c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, USA Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Design Team München, Collage nach Ilja Repin Satz: deutschtürkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media, Pößneck Verlagsnummer: 26551 Redaktion: Patricia Haas V. B. ■ Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3442265517 www.blanvaletverlag.de 13579 10 8642
Was in "Der Schlaf der Zauberkraft geschah... In der Welt von Matrin und vor allem in den iberischen Ländern, wo die letzten wahren Menschen leben, war das Studium der Magie tausend Jahre lang ebenso verboten wie verachtet aber Kait Galweigh lebt mit den geheimen, sorgfältig verborgenen Narben der alten und gefährlichen Magie. Als Tochter der mächtigen Familie Galweigh und viel versprechende Juniordiplomatin ist Kait eine Narbige. Ihr Wesen zwingt sie zur Verwandlung, ein Charakterzug, der selbst die Mitglieder ihrer eigenen Familie dazu veranlassen würde, sie unverzüglich hinrichten zu lassen. Als sie ihre Kusine als Anstandsdame zu deren Hochzeit in die Familie Dokteerak begleitet, kommt Kait einer Verschwörung zwischen den Dokteeraks und den alten Feinden der Galweighs, den Sabirs, auf die Spur. Die beiden Familien planen, die Galweighs bei der bevorstehenden Hochzeit gemeinsam auszulöschen. Kait überlebt eine haarsträubende Flucht aus dem Haus Dokteerak, wobei ihr ein Fremder hilft, der wie sie durch den Verwandlungsfluch ein Narbiger, ein Kamee, ist. Sie fühlt sich zu dem Fremden hingezogen und muss zu ihrem Entsetzen feststellen, dass es sich um einen Sohn der Familie Sabir handelt, des ältesten und schlimmsten Feindes ihrer eigenen Familie. Sie kehrt in die Botschaft zurück, wo sie die Galweighs von dem geplanten Verrat der Dokteeraks und der Sabirs informiert und versucht, sich den attraktiven Sabir-Karnee aus dem Sinn zu schlagen. Ihre Familie ergreift sowohl militärische als auch verbotene magische Maßnahmen, um die Verschwörung zu vereiteln und die Verschwörer zu vernichten. Die Sabirs hatten jedoch nie die Absicht, die Macht mit den Dokteeraks zu teilen; stattdessen benutzen sie sie, um die Armee der Galweighs aus der Reserve zu locken. Dann löschen sie an zwei sorgfältig organisierten Fronten sowohl die Armee der Dokteeraks als auch die der Galweighs aus und wenden Verrat und Magie an, um das Haus Galweigh in der Prachtstadt Calimekka zurückzuerobern. Aber mit großem Energieaufwand eingesetzte Magie ist immer von einem gewaltigen Rückstoß begleitet. Die Zauberer beider Familien, die sich Wölfe nennen, rechneten damit, mit ihren Zaubersprüchen auf unvorbereitete Ziele zu stoßen. Doch ihre Angriffe treffen zur selben Zeit aufeinander, und die magischen Rückstöße löschen die Mehrheit beider Familien aus. Gleichzeitig geschehen noch zwei andere Dinge, die beide unerheblich zu sein scheinen. Zum einen weckt die magische Explosion ein Artefakt namens Spiegel der Seelen. Der Spiegel, eine wunderschöne und vielschichtige Schöpfung der Alten vor dem Ende des Zaubererkriegs vor tausend Jahren, hat nur auf eine so machtvolle Rewhah gewartet. Diese signalisiert ihm, dass die Welt zur Benutzung von Magie zurückgefunden hat ... Und was wichtiger ist, zu einer Magie der richtigen Art. Der Spiegel weckt die Seelen, die in seinem Seelenbrunnen warten, und diese greifen nach Menschen, die ihnen vielleicht helfen können. Zweitens wird durch die Rewhah ein junges Mädchen namens Danya Galweigh grausam vernarbt. Danya Galweigh ist eine Kusine von Kait und wurde von den Sabir-Wölfen entführt und als Opfer missbraucht, nachdem die Galweighs deren Lösegeldforderung nicht nachgekommen waren. Danya verändert sich bis zur Unkenntlichkeit, und das Kind, das sie, ohne es zu wissen, erwartet ein Kind, das sie unter Folter und Vergewaltigung während ihrer Gefangenschaft empfangen hat , ist ebenfalls verändert, aber auf weniger augenfällige Art und Weise. Die Gewalt der Rewhah schleudert Danya in das eisige Ödland im Süden der Veral-Territorien, wo sie ohne die Hilfe eines mysteriösen Geistes, der sich Luercas nennt, sterben würde. Kait findet das Haus Galweigh in den Händen der Sabirs vor und erfährt, dass viele Mitglieder ihrer Familie hingerichtet wurden. Sie stiehlt das Fluggerät der Galweighs und fliegt auf der Suche nach Hilfe zu der nahen Insel Goft, wo die Familie Galweigh andere Besitztümer hat. Das Oberhaupt dieses geringeren Zweigs der Familie Galweigh sieht jedoch im Niedergang der Hauptlinie seine Chance, nach oben zu kommen, und befiehlt, Kait töten zu lassen. Eine Geisterstimme, die behauptet, eine lange verstorbene Ahnin Kaits zu sein, warnt diese vor dem geplanten Verrat, und sie entkommt abermals, diesmal nachdem sie aus der Schatzkammer des Hauses Geld gestohlen hat. Der Geist sagt ihr, auf welche Weise sie ihrer Familie darüber hinaus helfen kann, obwohl er ebenfalls erklärt, dass inzwischen alle tot seien. Seinem Rat folgend, heuert sie im Hafen von Goft ein Schiff an, das sie auf der Suche nach dem Spiegel der Seelen über den Ozean bringen soll. Der Geist sagt ihr, dass dieses uralte Artefakt es ihr ermöglichen würde, ihre ermordete Familie von den Toten zurückzuholen. Sie versichert sich der Hilfe des Kapitäns, Ian Draclas, indem sie ihm erzählt, sie sei auf der Suche nach den verlorenen Städten der Alten. An einem solchen Ort würde ein Mann sein Glück machen können.
An Bord des Schiffs stößt sie auf einen Mann namens Hasmal rann Dorchan, dem sie in der Vergangenheit einmal kurz begegnet ist. Hasmal, ein Zauberer der Sekte, deren Anhänger als die Falken bekannt sind, ist ebenfalls auf der Flucht. Er versucht, dem Verhängnis zu entrinnen, das ihn einem Orakel zufolge befallen würde, falls er mit Kait zusammen ist. Er ist nicht begeistert, sie zu treffen. Hasmals Orakel verhöhnt ihn und erklärt, dass er, um sich zu schützen, Kait in die Magie einweihen müsse. Sie studiert die Magie, leugnet aber die Existenz des verhängnisvollen Schicksals, von dem Hasmal behauptet, dass sie es miteinander teilten. Kait wird von Träumen heimgesucht, in denen der Sabir-Karnee ihr erscheint; schließlich gewinnt sie die Überzeugung, dass er ihr übers Meer folgt. Um sich von der zwanghaften Anziehung zu befreien, die er auf sie ausübt, gibt sie dem Werben des Schiffskapitäns nach, und sie und Ian Draclas werden ein Liebespaar. Aber Kaits Verlangen nach dem Sabir-Karnee wird nur schlimmer. Als das Schiff sich seinem Bestimmungsort nähert, segelt es mitten hinein in einen Zaubererring, einen Ort, an dem magische Reste aus dem Zaubererkrieg vor tausend Jahren noch immer so stark sind, dass sie alles beherrschen, was sich in ihrer Reichweite bewegt. Hasmal wirkt einen Zauber, um das Schiff zu befreien, und Kait rettet in ihrer Karnee-Gestalt dem Kapitän das Leben. Durch diese Tat wird Kait jedoch als Ungeheuer und Hasmal als Zauberer entlarvt, und die Mannschaft wendet sich gegen sie beide. Sie erreichen das Ufer und entdecken die Stadt, aber während Kait, Hasmal, Ian und zwei seiner Männer sich aufmachen, den Spiegel der Seelen von seinem fernen Versteck herbeizuschaffen, zettelt die Mannschaft eine Meuterei an und setzt Kait und ihre Gefährten in der unerkundeten Wildnis von Nord-Novtierra aus.
Buch 1 Solander der Wiedergeborene wird kommen im Sturm des Drachenodems. Wanderer und Bleibende werden vereint die Drachen töten. Geboren aus Blut und Schrecken wird sich zuletzt die opalene Stadt Paranne erheben. Vincalis der Agitator Aus den Geheimen Texten, Band 2, Stück 31
Kapitel 1 'Der Schrei war die erste Warnung. Als sie ihn hörte, wusste Kait Galweigh sofort, dass etwas nicht stimmte. Die zweite Warnung, die eine halbe Sekunde später kam, war der harte, metallische Geruch von menschlichem Blut, durchmischt mit abstoßendem Raubtiergestank. »Weg hier!«, hörte sie Hasmal rufen. »Die Kluft!« »Schlingen!« »Die Götter stehen uns bei! Ich glaube, er ist tot.« Kait hörte hastige Schritte, laute Schreie und das Heulen von Tieren. Die Gerüche und Geräusche und die Angst trafen sie wie ein Schlag; ihr Körper reagierte, bevor ihr Verstand dazu in der Lage war. Ihr Blut begann zu kochen, ihre Haut und ihre Muskeln schienen sich zu verflüssigen, und der menschliche Teil ihres Wesens, der im Wald nach essbaren Pflanzen gesucht hatte, verwandelte sich, um das Ungeheuer zu umarmen, das in ihr wohnte; sie wurde zu dem Wesen, das sie gleichzeitig hasste und brauchte. Nachdem die Frau weggeschmolzen war, blieb an ihrer Stelle nur ein Tier übrig, fellbedeckt, mit Reißzähnen, vierbeinig, voller Jagdhunger. Sie war jetzt eine Karnee im Blutrausch und stürzte sich in die Gefahr. Sie hetzte über den Berggrat und blieb schlitternd stehen, als sie das Bild sah, das sich ihr bot. Die Angreifer hatten ihre Leute in eine schmale Spalte der Felswand, die ihr Lager nach Norden hin begrenzte, zurückgetrieben. Turben lag blutend auf dem Boden. Die drei anderen benutzten das reichlich vorhandene Schiefergeröll als Waffe; Seite an Seite nahmen sie den Feind mit Hilfe von notdürftig angefertigten Schlingen unter Beschuss, wobei sie 11
dafür sorgten, dass der Hagel von messerscharfen Steinscherben keine Sekunde lang abriss. Kait konnte ihre Angreifer nicht sehen, vermochte aber anhand der Geräusche, die sie machten, ihren Standort zu erkennen; sie benutzten die Ruine als Schutzschild. Und sie waren besser bewaffnet als die Menschen. Kait konnte das Sirren von Bogensehnen hören, das Zischen schwerer Pfeile, die durch die Luft flogen, das Klappern und Klirren, wenn die Pfeile von der Felswand abprallten und noch mehr Geröll lösten. Da sie besser bewaffnet waren und ihre Beute bereits in die Enge getrieben hatten, mussten sie einfach siegen. Es sei denn, Kait fand eine Möglichkeit, die Lage zu ihren Gunsten zu wenden. Sie sprang den Felsen hinunter, und loses Gestein rollte hinter ihr her. Aber weder ihre Feinde noch ihre Freunde würden jetzt auf sie achten mit vier Beinen bewegte sie sich anders als ein Mensch und vermittelte den Eindruck, als entferne sie sich aus der Gefahrenzone. Sobald sie unten im Tal war und der Wind ihre Witterung in die andere Richtung trug, lief sie, den Bauch über den Boden schleifend, in einem weiten Bogen um die Angreifer herum. Sie war schnell und leise genug, um sie vollkommen zu überraschen, als sie aus dem Gebüsch hervorschoss, um sich von hinten auf sie zu stürzen. Als sie auf den, der ihr am nächsten stand, zustürmte, konnte sie sie zum ersten Mal deutlich sehen. Sie waren größer als jeder Mensch, ausgezehrt wie Geister, und raues Fell hing in zerlumpten, Moosübersäten Fetzen von ihren Skeletten. Kaits Schätzung nach wogen sie zwanzig bis fünfundzwanzig Stein mehr als das Vierfache eines durchschnittlichen Menschen. Sie bewegten sich auf vier Beinen, erhoben sich aber unbeholfen auf zwei Beine, um Steine zu werfen oder ihre Pfeile abzuschießen, und sie verständigten sich mit rauen Silben, die kaum mehr als ein wortloses Grunzen waren. Aber sie sprachen, und sie stellten Waffen her, 12 und ihre Gesichter, die noch etwas Menschliches hatten, wenn auch ins Großflächige und Knochige verzerrt, verrieten ihren Ursprung im Zaubererkrieg. Sie waren Narbige Ungeheuer, deren Vorfahren vor tausend Jahren Menschen gewesen waren. Einen Augenblick lang erstarrte Kait in tödlicher Angst. Ihr Leben lang hatte sie grauenvolle Geschichten über narbige Ungeheuer gehört und darüber, wozu sie fähig waren außerdem wusste sie, wozu sie selbst fähig war, und diese Tatsache verlieh den Geschichten zusätzliche Glaubwürdigkeit. Aber am Ende spielte es keine Rolle. Ihre Freunde brauchten sie. Sie stürzte zurück, hielt sich dabei dicht am Boden und ging direkt auf das hintere Bein der Kreatur los, die ihr am nächsten war. Und bevor eines der vier Tiere auf ihr Erscheinen reagieren konnte, hatte sie ihre Fangzähne in das rechte Bein des Ungeheuers gesenkt und bereits die Sehnen durchtrennt. Das Ungeheuer schrie, und sein Blut sprudelte Kait in den Mund. Sie sprang weiter und spürte, wie die Kampflust der Karnee in ihren Adern brodelte, genährt von dem tobenden Strom ihrer Furcht und ihrer Entschlossenheit. Das Tier, dessen Sehnen sie durchtrennt hatte, stand nur noch auf drei Beinen und drehte sich, so schnell es dazu in der Lage war, zu ihr um. Die Mordlust stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ein zweiter Narbiger hatte sich in Kaits Richtung gedreht und legte jetzt einen Pfeil auf die Sehne. Sie wirbelte herum und warf sich auf eines der beiden Ungeheuer, die noch immer auf ihre in die Enge getriebenen Freunde feuerten. Ein Pfeil schürfte die Haut ihres Rückens auf, heißes Feuer zuckte durch ihren Leib, aber sie lief weiter. Sie sprang hoch, um an den Unterleib der Kreatur zu gelangen. Die Krallen ausgefahren und nach vorn gebogen, die Zähne gebleckt, riss sie die ungeschützte Haut ihres Gegners auf, und die feuchte, stinkende Masse seiner Gedärme wälzte sich auf sie herab. Das Tier stieß einen schrillen Schrei aus seine Stimme war viel zu hoch für seine Größe und schlug wild auf sie ein. Der 13 Schwung ihrer Bewegung brachte sie für ihn außer Reichweite, warf sie aber beinahe den zwei anderen Ungeheuern in die Arme. Eines ließ seinen Pfeil in ihre Richtung fliegen; das andere streckte schmutzverkrustete Krallen nach ihr aus, die genauso lang waren wie ihre Hände. Allerdings geriet das Ungeheuer bei diesem Vorstoß in die Schusslinie seines Gefährten, der daraufhin in wütendes Gebrüll ausbrach und Kaits Angreifer so erschreckte, dass beide sie verfehlten. Kait brachte sich in Sicherheit, bevor die Narbigen ihren Angriff besser organisieren konnten, und rannte hinaus in den Hagel der Schiefersteine. »Zielt nicht auf mich!«, schrie sie und konnte gerade noch einen Blick auf die bleichen Gesichter ihrer
Freunde werfen, die aus dem Schutz der Felsspalte hervorspähten. »Ich werde sie vom Lager weglocken. Hasmal lege ein ... ein Bannfeuer.« Sie hörte einen ihrer Freunde rufen: »Kait!« Ein anderer brüllte: »In Ordnung«, und sie hoffte, dass Hasmal sie verstanden hatte. Ihre durch die Verwandlung veränderte Stimme war tief und rau, mehr das Knurren eines Tieres als die Sprache einer Frau. Bei den Göttern, sie hoffte, Hasmal konnte sich zusammenreimen, was sie vorhatte, und würde tun, was sie von ihm wollte. Das Ungeheuer, dem sie den Bauch aufgeschlitzt hatte, lag am Boden, aber die anderen waren mit ihren langen Beinen in einem Höllentempo hinter ihr her. Sie hetzte direkt zu dem Bach, der in die Bucht mündete, und setzte mit einem Sprung darüber hinweg. Auf der anderen Seite verlief parallel zum Wasser ein Wildpfad. Kait folgte dem Weg; grasende Tiere hatten einen großen Teil des Flussufers kahl gefressen, so dass es für ein Wesen von Kaits Größe nicht schwierig war, dort entlangzulaufen. Die Ungeheuer, die sie verfolgen, waren viel größer als sie und hatten mit Zweigen und Sträuchern zu kämpfen, die in Augenhöhe über dem Weg hingen. Kait konnte hören, wie sie ihr nachsetzten und immer weiter zurückfielen. Sie begannen zu heulen, und in ihren Stimmen schwang ohnmächtige Wut mit. 14 Sie würde es schaffen. Sie würde überleben. Sie würde genug Zeit haben, um zum Strand hinunterzukommen, in die Bucht hinauszuschwimmen ... Plötzlich stand ein weiteres Ungeheuer vor ihr noch ein Mitglied der Jagdgesellschaft, das seinen Rudelgefährten zu Hilfe kam. Kait stieß einen gellenden Schrei aus, weil sie nicht mit dem Erscheinen der Bestie gerechnet hatte, aber ihr Gegner war nicht überrascht, sie zu sehen. Er kniff die Augen zusammen und sprang los. Sie konnte ihm kaum entkommen, sie war klein und schnell, ihr Feind war groß und langsamer als sie, aber nicht langsam genug. Er sprang brüllend zur Seite, um ihr den Fluchtweg abzuschneiden. Hinter ihr hörte sie eines der anderen Ungeheuer antworten. Sie sprachen miteinander. Es lag nahe, diese Wesen als Tiere anzusehen, aber das waren sie nicht. Kait kletterte in Windeseile einen kräftigen Baum hinauf und bohrte dabei ihre Krallen in die Borke. Das Ungeheuer reckte sich unter ihr in die Höhe und schlitzte ihr mit seinen Krallen einen ihrer Hinterläufe auf; ein kurzer, betäubender Schmerz schoss ihr Rückgrat hinauf. Sie trat mit beiden Beinen um sich, bis die Kreatur unter ihr sie nicht mehr halten konnte. Schließlich klammerte sie sich an einen der oberen Zweige, wo ihr von den Bestien keine Gefahr drohte; aber sie sehnte sich trotzdem nach der Sicherheit der Bucht. Langsam wurde die Zeit knapp. Sie begann mit dem mühseligen Unterfangen, sich durch das Netzwerk ineinander verschlungener Zweige zu bewegen, über die sie ihr Ziel erreichen würde. Sie hörte das Sirren einer Bogensehne, und ein Pfeil bohrte sich in ihre Flanke. Sie schrie auf und spürte, wie ihr heißes Blut das Bein hinunterlief. Der schwere Pfeil brachte sie aus dem Gleichgewicht, und der Schmerz tat ein Übriges, indem er ihr den Mut zum Kampf raubte. Sie starrte zu Boden; einer ihrer Angreifer verfolgte sie durch die Bäume und wartete nur darauf, zu einem 15 weiteren gut gezielten Schuss ansetzen zu können. Sie hastete weiter und hörte, wie ein zweites Ungeheuer von der Seite näher kam. Ihr Vorsprung wurde immer geringer. Beeil dich mit dem Feuer, Hasmal, betete sie. Wenn er es schaffte, würden ihre Freunde überleben; sie würden eine Möglichkeit finden, den Spiegel zu dem Wiedergeborenen zu bringen, auch wenn sie selbst starb. Sie mussten einfach Erfolg haben Solander, der Wiedergeborene, hatte ihr gesagt, dass er den Spiegel brauchte. Den Spiegel, der angeblich die Toten wieder ins Leben rufen konnte, der ihr, Kait, eines Tages ihre ermordete Familie zurückgeben würde. Aber bevor er das tat, sollte der Spiegel Solander helfen, seine Welt des Friedens und der Liebe zu erschaffen eine Welt, in der Geschöpfe ihrer Art nicht länger gejagt, gefoltert und abgeschlachtet, sondern akzeptiert wurden. Sie hatte nie erwartet, dass sie einmal etwas entdecken würde, für das es sich zu sterben lohnte, aber eine Welt, in der kleine Kinder nicht mehr ermordet wurden, weil sie als Narbige geboren waren für eine solche Welt lohnte es sich zu sterben. Für das Leben ihrer Familie lohnte es sich. Wenn ihre Freunde weiterleben konnten, um Solander den Spiegel zu bringen ... Sie riss mit Zähnen und Klauen den Pfeil aus ihrer Seite, kämpfte den Schmerz nieder und huschte auf drei Beinen über den nächsten Zweig. Die Karnee-Verwandlung begann die Wunde zu schließen, aber der Prozess kostete Kait einen großen Teil ihrer Energie. Ihr Körper würde sich förmlich selbst verschlingen, um sich zu heilen; wenn sie das hier überlebte, würde sie einen höllischen Preis dafür
zahlen. Dann hörte sie hinter sich das Knistern von Feuer und konnte zum ersten Mal Rauch riechen. Das Zauberfeuer würde sich durch nichts aufhalten lassen, weder durch Regen noch durch grünes, feuchtes Holz oder ungünstige Winde. Es würde alles Brennbare auf seinem Weg verzehren, würde im Wald einen perfekten Kreis der Zerstörung schaffen und erst Halt machen, wenn die Energie, mit der Hasmal es genährt hatte, verbraucht war. Es würde schneller brennen als jedes normale Feuer und voll ausgewachsene Bäume binnen Sekunden zu Asche machen. Wenn sie ihm nicht ausweichen konnte, würde es auch sie verbrennen. Der Bach verlief direkt unter ihr, so dass sie ihn mühelos erreichen konnte. Aber die Ungeheuer hielten die Wildpfade zu beiden Seiten des Baches besetzt; wenn sie weiterleben wollte, musste sie es bis zur Bucht schaffen. Und die Zeit wurde knapp. Die Ungeheuer schnupperten, witterten den Rauch aber sie ahnten nicht, wie schnell das Feuer kommen würde. Kait wusste es. In ihrer Verzweiflung warf sie sich mitten in den überfluteten, eiskalten und von Felsbrocken übersäten Bach. Das Wasser zerrte an ihren Beinen, während sie sich verzweifelt bemühte, Halt zu finden; es riss sie von den Füßen und warf sie nach vorn. Sie kämpfte aus Leibeskräften, um den Kopf über Wasser zu halten. Die Strömung war schnell, grausam schnell; tagelange Regenfälle hatten das normalerweise friedliche Gewässer zu einer tödlichen Falle gemacht. Es schleuderte sie gegen tückische Felsbrocken und riss sie gleichzeitig stromabwärts mit sich. Bei jedem krachenden Zusammenstoß wusste sie, dass es noch schlimmer kommen würde. Die Strömung ließ sie einen Augenblick lang rückwärts kreisen, bevor sie sie endgültig unter Wasser saugte. In diesem Moment sah sie, wie die Welt hinter ihr, einem gewaltigen Schmelzofen gleich, aufloderte; eine Wand aus blauweißem Feuer näherte sich. Das Feuer verbreitete sich schneller, als der schnellste Mensch laufen konnte. Sie sah noch die von den Flammen nachgezeichneten Silhouetten der Ungeheuer, dann ging sie in dem schlammigen Wasser unter, war gefangen im wilden Herzen der Strömung, die sie mit dem Kopf voran durch tiefe Schwärze katapultierte. Sie hielt den Atem an und legte sich die Vorderläufe über den Kopf, in der Hoffnung, sich auf diese Weise vor Felsen schützen zu können, aber die Strömung warf sie seitlich gegen das nächste steinerne Hindernis, und als sie mit dem Kopf dagegenschlug, war sie vor 16 17 Schmerz wie gelähmt. Sie bekam Wasser in die Lungen und würgte; dann warf die Strömung sie wieder in die Höhe, als wolle sie mit ihr spielen. Sie nutzte die Chance, das Wasser auszuspucken, und saugte von giftigem Rauch erfüllte, glutheiße Luft in ihre nassen Lungen. Dann wurde alles noch schlimmer. Der Fluss verwandelte sich in einen Wasserfall, der über die Klippen in die Tiefe stürzte und sich in die Bucht ergoss. Die Strömung zog sie unerbittlich über den Felsvorsprung, und ein Sturzbach von dröhnendem Wasser erfasste sie. Das Gefühl, zu schweben, schien eine Ewigkeit zu dauern und gleichzeitig sofort vorüber zu sein, abrupt beendet von entsetzlichem Schmerz. Sie krachte gegen scharfe Felsen, Wasser drosch auf sie ein, und ihr ganzer Körper war zerschmettert und schrie vor Qual. Der Schmerz war in ihr und um sie herum; in diesem Augenblick, der eine Ewigkeit war, bestand sie nur aus Schmerz, während ihr Blut kochte und ihre Haut brannte und ein Feuer in ihr explodierte, das heißer war als das Zauberfeuer, das die Welt um sie herum zerstört hatte. Dann ... Nichts.
Kapitel 2 'Der Schleier verbindet alle Welten jene, die sind, jene, die waren, und jene, die eines Tages sein werden; innerhalb der Grenzen des Schleiers existieren sie alle gleichzeitig. Der Schleier ist NichtZeit, Nicht-Ort, Nicht-Ding; unendlich, erschreckend, unergründlich. Seine Winde wehen durch die Wirklichkeiten, seine Stürme verzerren sie, und selbst sein Schweigen wirft lange Schatten. Galaxien und Seelen reisen als Ebenbürtige durch den Schleier. In ihm werden Sterne und Götter und Träume geboren, leben die ihnen bestimmte Zeitspanne und sterben. Der Schleier ist weder Himmel noch Hölle, obwohl Menschen aus unzählbaren Wirklichkeiten ihn das eine oder andere oder beides genannt und auf ihre »Irrtümer« Geschichten, Religionen und Zivilisationen erbaut haben. Der Schleier ... ist. Ohne Gefühl, ohne Wandel und unwandelbar und so unendlich viel für jene, die ihn zu erreichen und zu nutzen wissen.
Dem Ruf einer einzigen machtvollen Seele folgend, fand sich im Schleier der Sternenrat wieder zusammen, und seine Mitglieder strömten wie Sterne in einer winzigen, implodierenden Galaxie seiner Mitte entgegen Hunderte strahlender Lichtpunkte, die sich einem immer heller werdenden Zentrum entgegenkatapultierten. Die Seele, die den Rat einberief, trug den Namen Dafril. Dafril sehnte sich nach der Unsterblichkeit des Schleiers, der Macht der Götter ... und einem Körper aus Fleisch und Blut. Als Dafrils Seele geglaubt hatte, Kait Galweigh zu ihrem Avatar machen zu können, hatte sie begonnen, ihre Gedankenmuster auf eine weibliche 19 Weise zu formen. Jetzt waren die Dinge in Bewegung geraten. Kaits Gefügigkeit wurde immer zweifelhafter, daher begann die Seele, sich einer männlichen Existenzform anzunähern. Tausend Jahre zuvor hatten es, oder vielmehr er, und seine Freunde einen Plan ersonnen, der ihnen alles bringen sollte, wonach sie sich sehnten. Und endlich waren sie dem Ziel ihrer Träume nah. Wir haben zwei Punkte auf unserer Tagesordnung, eröffnete Dafril seine Rede, als alle Ratsmitglieder versammelt waren alle, bis auf eine verschwundene Seele namens Luercas. Zuerst müssen wir unsere Avatare vorbereiten, denn die Stunde unserer Rückkehr naht. Danach müssen wir darüber befinden, wie wir mit den Mächten verfahren wollen, die sich in unserer Abwesenheit gegen uns gestellt haben. Wir haben tausend Jahre auf die Planung unserer Wiederkehr verwandt, sagte Mellayne leise. Wenn wir jetzt nicht wissen, was wir erreichen wollen, wie sollen wir es dann jemals wissen? Manchmal sind noch im letzten Augenblick Änderungen notwendig, sagte Dafril, und dies ist der letzte Augenblick. Wir konnten zuvor nur Vermutungen darüber anstellen, was für eine Art von Welt uns bei unserer Rückkehr erwarten würde jetzt wissen wir, womit wir es zu tun haben werden. Wir konnten früher nur ahnen, was für ein Menschenschlag die Welt bewohnen würde. Und wir haben nie damit gerechnet, dass in unseren eigenen Reihen ein Verräter sein könnte aber jetzt müssen wir, da Luercas verschwunden ist, vermuten, dass er sich uns in den Weg stellen will. Ich dachte, der Spiegel würde uns nur in dem Fall wecken, dass sie wieder eine echte Zivilisation aufgebaut haben, sagte Schamenar. Ich kann nicht glauben, mit was für primitiven Bedingungen wir es zu tun haben. Selbst in ihrer größten Stadt herrscht ein solcher Schmutz, dass einem der Atem stockt. Notdürftige Abwasserkanäle in der Gosse; Tierkot auf den Straßen; geschlachtete Tiere auf offenen Märkten; Räume, die nur von Feuer beleuchtet werden. Und die Krankheiten der Menschen ... Würmer und Eitergeschwüre, Rachitis, Ausschlag, Influenza, Diabetes, die Rattenpest und Dinge, deren Namen ich vorher noch nie gehört habe. Die Menschen sind unwissend, fügte Tahirin hinzu. Abergläubisch, grausam, gewalttätig, unehrlich und die meisten von ihnen sind für die Dauer ihres kurzen, ignoranten Lebens auch noch brutal. Wie sollen wir mit diesen Menschen arbeiten? Dafril sog Energie aus dem Schleier und ließ seine Leuchtkraft anschwellen, um seinen Gefolgsleuten Mut zu machen. Das ist die Welt, in die wir kommen. Das ist das Los, das wir gezogen haben. Sie haben aufgebaut, was sie konnten jetzt werden wir alles besser machen. Nur wir können unserer Heimat die Zivilisation zurückgeben. Wir können ihre Krankheiten heilen; wir können ihre Städte modernisieren; wir können sie lehren und sie auf einen neuen Weg bringen. Die weißen Städte werden sich wieder erheben, und wir werden in Himmelswagen durch ihre Straßen fahren, parfümierte Luft atmen und uns an herrlichen Speisen gütlich tun. Der Wind wird wieder die Weißen Glocken spielen, und hunderttausend Springbrunnen werden singen und für eine kühle Brise sorgen, und Kältelampen werden die dunkelsten Winkel erhellen. Denkt daran. Denkt daran, was wir schon einmal getan haben, und seid gewiss, dass wir es wieder tun können. Ich wünschte, ich könnte mir auch so sicher sein, sagte Werris. Dafril spürte ihre Furcht. Tausend Jahre passiven Wartens lagen hinter ihnen, und diese Zeit wog schwer. Während dieser Zeit hatten sich seine Gefolgsleute an die Einschränkungen der Körperlosigkeit gewöhnt, und sie fürchteten alles, was nach Veränderung, Herausforderung und Gefahr aussah. Genau das stand ihnen jedoch jetzt bevor, und er spürte, dass viele seines Volkes den Wunsch hatten, so weiterzumachen wie bisher, sich an Bekanntes zu klammern. Er verspürte dieselbe Furcht, und in einem kleinen Winkel seines Wesens konnte er denselben Wunsch nach Beständigkeit wahrnehmen, aber er erinnerte sich auch an den Hunger, den er aus dem Leben mit hierher gebracht hatte. 21
Das Leben war das einzige Spiel, das sich zu spielen lohnte. Mehr als eine Million Menschen wohnen in Calimekka, rief er ihnen ins Gedächtnis. Und die Stadt wächst mit jedem Tag weiter. Ihr könnt einer Million Seelen viel leichter die Zivilisation bringen, als wenn ihr es nur mit hundert Seelen zu tun hättet, dann ihr werdet mehr Menschen haben, mit denen ihr arbeiten könnt. Wir werden sie ... besteuern. Wir werden jeder lebenden Seele in der Stadt eine gerechte Steuer auferlegen. Mit dieser kleinen Steuer verschaffen wir ihnen all die guten Dinge, die sich selbst zu erarbeiten ihnen das Talent, die Intelligenz, die Vorstellungskraft oder der Ehrgeiz fehlte. Wir werden unsere zivilisierte Stadt haben, und die Menschen dort werden ein gesundes Leben führen und vor Gewalt geschützt sein, in einer Welt, die weder Krieg noch Hungersnot oder Seuchen kennt. Was könnte vernünftiger sein? Hm. Ja. Warum sollte jemand etwas dagegen haben, dass wir ihnen ein besseres Leben ermöglichen wollen? Außer Solander natürlich, sagte Sartrig. Und seinen Falken. Und offensichtlich auch Luercas. Dafril wusste, dass in diesen Worten einiges an Wahrheit lag. Solander, der ihre Pläne vor tausend Jahren so gründlich vereitelt hatte, war irgendwie zurückgekehrt. Er hatte sich einen Körper gesucht, einen unglaublichen Körper, den er auf unterschwellige Weise magisch geformt und gehärtet hatte, so wie Feuer Stahl härtete und jetzt hatte er einen Körper, der der Unsterblichkeit würdig war. Er war noch nicht geboren, aber er und dieser wunderbare Körper warteten auf sie, auf die Mitglieder des Sternenrates, allzeit wachsam, allzeit bereit, sich gegen sie zu erheben, und wie immer auf der Seite von Schmutz und Unordnung und Chaos. Sie würden sich sehr schnell um Solander kümmern müssen. Und um Luercas ... Luercas war vor tausend Jahren Dafrils engster und mächtigster Verbündeter gewesen. Er war Dafrils Freund und Gefährte gewesen, er hatte seine Träume von einer leuchtenden weißen Stadt 22
und von Unsterblichkeit geteilt, einer Unsterblichkeit, die sie inmitten von Schönheit, Luxus und Kunst zubringen wollten. Luercas hatte mit Dafril gemeinsam darum gekämpft, die anderen zu retten, die denselben Traum träumten, als am Ende dann alles schief ging. Aber als der Spiegel der Seelen dann wirklich die vielen hundert Geschöpfe weckte, die in seinem Seelenbrunnen festgehalten worden waren und die jetzt innerhalb des Schleiers ihre Freiheit zurückgewonnen hatten da war Luercas verschwunden. Und Dafril konnte nicht umhin, sich zu fragen, was seine Abwesenheit bedeutete, ob die kalten, verzerrten Kreaturen, die zwischen den Welten lauerten, seine Seele verschlungen hatten oder ob eine unvermutete Bitterkeit oder eine betrügerische Seite seines Wesens ihn veranlasst hatte, sich gegen den Sternenrat zu wenden. Dafril konnte nicht glauben, dass Luercas, der immer die vorsichtigste und geduldigste aller Seelen gewesen war, unvorsichtig geworden war und sich hatte verschlingen lassen. Also blieb nur eine Möglichkeit... Verrat. Sartrigs Geistlicht verdunkelte sich, als er, das älteste Ratsmitglied, hervortrat. Ich habe ein Problem. Ich habe mir einen wunderbaren Avatar erwählt einen jungen Wolf mit Namen Ry Sabir , einen kräftigen Mann mit guter Erziehung, mit einer Ausbildung in der Kunst der Magie und einem von Magie geformten Körper. Aber er verfügt über Kenntnisse, die es ihm ermöglichen, sich vor mir abzuschirmen, und er kämpft bei jeder erdenklichen Gelegenheit gegen meinen direkten Einfluss. Solange er mich für den Geist seines verstorbenen Bruders hält, ist er zumindest geneigt, meinen Rat anzuhören. Aber er ist sehr unlenkbar und sehr stark. Ich weiß nicht, ob ich, wenn der Augenblick kommt, seine Magie würde durchdringen können, um ... um ihn zu führen. Dafril spürte die Angst hinter Sartrigs Worten, und ihr Echo zitterte durch seine eigene Seele. Die Männer und Frauen in dieser neuen Zeit und dieser neuen Welt waren nicht mehr rein menschlich eine interessante Nebenwirkung der in dem letzten Kampf zwischen seinem Volk und den Falken benutzten neuen 23
Waffen. Er und seine Gefährten waren einer Begegnung mit den ersten Früchten dieser Nebenwirkung wahrscheinlich um Haaresbreite entgangen. Tausend Jahre hatten die solchermaßen veränderten Menschen die Menschen, die von den Bewohnern Calimekkas die Narbigen genannt wurden zu Geschöpfen von ungeheurem Liebreiz gemacht; einige Vertreter ihrer Rasse in dieser neuen Zeit boten Möglichkeiten, an die er vor tausend Jahren nicht einmal im Traum gedacht hätte. Der Avatar, den er bevorzugte, war eine junge Frau mit Namen Kait Galweigh, ein starkes, schönes Mädchen von hoher Geburt mit einer interessanten Veranlagung. Sie war eine Gestaltwechslerin und verfügte damit über ein Talent, das er unwiderstehlich fand. Sie hatte einen guten Ruf, besaß die notwendigen
Beziehungen zu den herrschenden Parteien Calimekkas und war seit einiger Zeit nicht nur bereit, sondern geradezu begierig, seinem Rat zu lauschen, denn sie hielt ihn für eine lange verstorbene Ahnin. Aber in den letzten Wochen hatte sie zunehmend Verdacht geschöpft; sie war in höchst unglückselige Gesellschaft geraten, an jemanden, der ihr eine magische Ausbildung gab und es ihr damit ermöglichte, Dafril aus ihrem Geist auszusperren. Daher hatte er sich einen Ersatzavatar gesucht. Auch wenn Kait ein verlockendes kleines Ding war, er hatte die Tatsache akzeptiert, dass sie, wenn der große Augenblick kam, möglicherweise für ihn nicht erreichbar sein würde. Seine zweite Wahl war auf ein anderes Exemplar dieser wunderbaren Gestaltwandler gefallen einen mächtigen Zauberer, der Freunde an nützlichen Stellen hatte und der genauso schön war wie Kait. Zu seinem Verdruss war er nicht mehr so jung wie sie. Er war auch keine Frau, und der Gedanke der Weiblichkeit hatte Dafril fasziniert. Außerdem war der von ihm erwählte Avatar grausam und bekannt für Perversionen von einer Art, die Dafrils Abscheu erregte. Und er hatte Feinde. Aber Dafril kam zu dem Schluss, dass er mit Crispin Sabirs Mängeln durchaus fertig würde, falls Kait sich für seine Zwecke als ungeeignet erwies. 24
Auch eine andere Tatsache machte Crispin für Dafril interessant, obwohl er noch nicht wusste, wie er diesen Umstand nutzen konnte. Crispin war der Vater des Körpers, den Solander bewohnte. Dafril konnte den schwachen Widerhall spüren, den das Bindeglied der Vaterschaft zwischen den beiden geschaffen hatte. Wenn er einen Weg fand, diese Tatsache zu nutzen, konnte sein Feind diese Verbindung jedoch auch gegen ihn, Dafril, benutzen ... Sofern er davon wusste. Wenn nicht, nun ja ... Für den Augenblick war es jedenfalls etwas, das sich im Kopf zu behalten lohnte. In der Zwischenzeit hatte sich der Avatar, zu dem Sartrig sich hingezogen fühlte, ebenfalls als einer der wenigen Gestaltwechsler auf der Welt erwiesen. Diese flexiblen Körper waren eine ungeheure Versuchung, brachten aber neben großen Möglichkeiten auch besondere Probleme mit sich. Halte eine Alternative bereit, sagte er. Was das betrifft, solltet ihr alle mindestens eine Alternative haben. Wenn uns der Spiegel erst durch den Seelenbrunnen in die Welt zieht, werden wir nur einen einzigen Augenblick Zeit haben, um unsere Avatare zu erreichen. Wenn sich euer Avatar in diesem Augenblick nicht in Reichweite des Spiegels befindet oder euch in irgendeiner Weise verschlossen ist, werdet ihr ohne einen Anker zurück in den Schleier geschleudert und seid uns für alle Ewigkeit verloren. Das Schweigen, das dieser Feststellung folgte, war voller Angst. Jemand, der sich weit hinten in der Schar der Ratsmitglieder befand, brach das Schweigen schließlich, indem er das Thema wechselte. Dann bliebe uns nur noch das Problem von Luercas und von Solander und dessen Gefolgschaft zu lösen. Dafril dachte einen Augenblick über diesen Einwurf nach. Beides ernsthafte Probleme, obwohl ich denke, dass Solander das geringere ist. Wir haben ihn schon einmal besiegt und können das wieder schaffen, obwohl er bereits einen neuen Körper hat und dieser Körper nach seiner Geburt wahrhaft ihm gehört. Er wird ein Säugling sein und dann ein Kind, und solange er hilflos ist, ha 25
ben wir Zeit, uns vorzubereiten. Wir wissen von seiner Anwesenheit, und wir wissen von seinen Anhängern; sie sollten eigentlich kaum eine Gefahr für uns darstellen. Luercas ist ein anderes Thema. Wir müssen akzeptieren, dass mit jedem Augenblick, in dem er sich vor uns versteckt und unsere Rufe missachtet, die Wahrscheinlichkeit wächst, dass er eine Verschwörung gegen uns plant. Mich tröstet auch die Tatsache nicht, dass er nur einer ist, während wir viele sind, denn auch wenn wir die Kraft der Vielzahl haben, können wir nicht davon ausgehen, dass er wirklich allein ist er hatte immer schon die Gabe, an den unwahrscheinlichsten Orten Verbündete zu finden. Wir wollten ihm Barmherzigkeit erweisen, ihm die Chance geben, sich uns wieder zuzugesellen, fuhr Dafril fort, wie es jenen geziemt, die wir lieben und unsere Freunde nennen; aber obwohl es mir widerstrebt, es zuzugeben, muss ich jetzt einräumen, dass jene unter euch Recht hatten, die sich für seine Vernichtung aussprachen. Wenn ihr nach ihm sucht, sucht in Gruppen, die groß genug sind, um ihn zu besiegen, falls ihr ihn findet. Er ist alt und gerissen, und er hat in der Alten Welt Dinge überlebt, die sich die meisten von euch nicht einmal vorstellen können. Wenn ihr ihn findet, versucht nicht, mit ihm zu diskutieren, gebt ihm keine Vorwarnung, dass ihr ihn erreicht habt. Löscht ihn aus. Denn wenn ihr das nicht tut, fürchte ich, wird er euch auslöschen.
Kapitel 3
Die Windsbraut fuhr durch raue See in Richtung Süden, entlang der unkartografierten Küstenlinie von Nord-Novtierra. Ry Sabir lehnte an dem geschwungenen Schott der Kajüte und blickte stirnrunzelnd durch das Bullauge auf die zerklüftete schwarze Linie des Landes, das im Osten am Horizont aufragte. Eine Übelkeit erregende Angst machte sich in seinem Magen breit. Kait war in Schwierigkeiten. Das Band, das sie aneinander kettete was immer es eigentlich war und wo es herkommen mochte , hatte ihn Furcht, Zorn und Schmerz empfinden lassen ... und jetzt nichts mehr. Nichts war das Schlimmste von allem. Er drehte sich wieder zu seinen Leutnants um und sagte: »Ich habe bisher nicht darüber gesprochen, weil es nicht notwendig war.« Seine fünf Leutnants, die gleichzeitig seine besten Freunde waren, hatten sich alle in dem kleinen Raum zusammengefunden. Sie hatten die Kajütentür verschlossen und verriegelt und saßen jetzt dicht an dicht auf den beiden unteren Kojen. Yanth, der hochdramatisch mit schwarzen Seidenhosen und einem schwarzen Seidenhemd bekleidet war und sein langes blondes Haar mit einer schwarzen Kordel zusammengebunden hatte, sagte: »Ich fürchte, jetzt ist es notwendig. Wann immer einer von uns darauf zu sprechen kommt, was wir tun werden, wenn wir wieder zu Hause sind, hast du nur Schweigen für uns. Oder du wendest den Blick ab, du wechselst das Thema oder spottest über den Gedanken an eine Rückkehr nach Calimekka. Und kein einziges Mal hast du uns gesagt, wie du deinen Leuten eine Galweigh als Braut präsentieren willst. Wir sind der Meinung, dass das einiger Planung bedarf, dass man zumindest darüber nachdenken muss.« 27
Trev, Jaim, Valard und Karyl nickten. Yanth fuhr fort: »Du verbirgst etwas vor uns, und das Problem, mit dem du dich herumschlägst, betrifft uns alle. Wir sind entschlossen, die Wahrheit aus dir herauszubringen, egal, was wir dafür tun müssen.« Bei den letzten Worten errötete er, und die senkrechten Narben auf seinen Wangen traten wie zwei Streifen weißer Farbe hervor. Das war der Augenblick, den Ry gefürchtet hatte, der Augenblick, da seine Freunde sich nicht länger von ihren Fragen ablenken ließen, der Augenblick, in dem er sich der Wahrheit würde stellen müssen. Er schob seine Sorgen, was Kait betraf, beiseite sie würden auch später noch da sein. Er hatte Probleme, die seine unmittelbare Aufmerksamkeit erforderten. »Es spielt keine Rolle, dass du einer Familie der Hauptlinie entspringst und wir nicht«, sagte Jaim. »Es spielt keine Rolle, dass Treff überhaupt keiner der großen Familien angehört. Wir werden herausfinden, was du vor uns verbirgst, bevor wir weiterfahren, oder wir fahren überhaupt nicht weiter.« Yanth ließ sich von seinem Ärger leiten. Das war seine Art. Und er konnte sich genauso schnell abkühlen, wie er sich erhitzte. Wäre nur Yanth bei ihm gewesen, hätte Ry dem Konflikt, den seine Freunde suchten, aus dem Wege gehen können. Aber Jaim ließ sich nicht schnell zu einer Entscheidung verleiten. Er wog die Dinge ab, dachte nach und stritt mit sich selbst, bis jeder glaubte, er würde niemals ja oder nein sagen ... Und dann konnte er ohne jede Vorwarnung zu seinen Schlussfolgerungen kommen. Wenn es erst einmal so weit war, konnte ihn nichts mehr davon abbringen. Wenn Jaim zu dem Schluss gekommen war, dass er die Wahrheit wissen musste, würde er eher verhungern als von seinem Vorhaben ablassen. Und er würde Ry mit sich verhungern lassen. Wenn Jaim etwas sagte, wusste Ry, dass ihm keine andere Wahl mehr blieb. Sie waren seine Freunde, waren seit vielen Jahren seine Freunde gewesen, aber wenn er ihnen in die Augen blickte, sah er kei 28
ne Wärme und keine Bereitschaft mehr, über seine Scherze zu lachen und sich auf ein andermal vertrösten zu lassen. Er konnte die Anfänge von Wut und Angst bei ihnen riechen, und er wusste, dass er sich endlich der Tatsache würde stellen müssen, was er ihnen angetan hatte. Er wusste nur nicht, wie er vorgehen sollte. »Meine Mutter ...«, begann er und hielt inne. Sie sahen ihn erwartungsvoll an. Er schluckte und schmeckte die Scham auf seiner Zunge. »An dem Tag, an dem wir in See stachen, bin ich zu ihr gegangen, um ihr mitzuteilen, dass ich fortgehen würde. Ihr wart alle bereits auf dem Schiff und habt auf mich gewartet, aber meine Mutter
weigerte sich, mich gehen zu lassen. Nach all den Todesfällen ...« Er schloss die Augen und dachte an die furchtbare Auseinandersetzung mit seiner einst so schönen Mutter, die in ihrem Krankenbett lag, von Narben entstellt, dass man sie nicht mehr wieder erkannte. Und das alles, weil der Vernichtungskrieg seiner Familie gegen die Galweighs gescheitert war. »Sie wollte nichts von dem hören, was ich zu sagen hatte. Sie bestand darauf, dass ich, da mein Vater tot war, die Führung über die Wölfe übernehmen solle. Ich weigerte mich und sagte ihr, dass ich Kait verfolgen wolle. Sie war außer sich vor Wut und fragte, ob ihr alle mich begleiten würdet. Ich sagte ihr, dass ich allein segeln würde dass ihr alle tot wäret.« Er hörte, wie sie scharf den Atem einsogen, sah das Erschrecken und das Entsetzen in ihren Mienen, und er blickte zu Boden, außerstande, ihnen in die Augen zu sehen. »Du hast ihr gesagt, dass wir tot sind?« Karyl, Rys Cousin, ließ sich auf die Koje fallen und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Tot? Du... Idiot« »Ich hatte Angst, dass sie sich an euren Familien rächen würde, wenn sie wusste, dass ihr mir dabei helft, mich ihr zu widersetzen.« Yanth war so blass geworden, dass seine Narben völlig verschwanden. »Tot. Also, welche Vorteile hast du uns deiner Meinung nach damit verschafft, dass du uns für tot erklärtest?« »Ich habe ihr erzählt, ihr wäret als Helden gestorben ... im 29 Kampf gegen die Galweighs auf deren Familiensitz.« Er zuckte die Achseln. »Damals schien es mir eine gute Idee zu sein.« Er sah, wie seine Freunde bei diesen Worten zusammenzuckten. Und sie hatten ganz Recht, dachte er. Er wagte es nicht einmal, sich daran zu erinnern, wie oft er diese Worte schon ausgesprochen hatte. So viele seiner Katastrophen hatten sich ihm irgendwann einmal als gute Ideen dargestellt. Zu seiner Verteidigung fuhr er fort: »Eure Familien erfreuen sich jetzt einer hohen Gunst. Einer sehr hohen Gunst. Trev, deine Schwestern werden, wenn sie das heiratsfähige Alter erreichen, Sabirs des ersten Ranges vorgestellt werden, und sie werden die Chance auf jeden Titel bis hinauf zu dem der Paraglesa haben. Valard, dein Bruder und dein Vater haben bereits den Titel eines Paraten zugesprochen bekommen. Und was euch Übrige betrifft eure Familien waren bereits Paraten. Aber sie werden nicht tot sein ... und wenn meine Mutter auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, dass ihr mir bei meinem Unternehmen helfen wolltet, dann wären sie jetzt tot, und ihre Köpfe würden die Stadtmauern schmücken.« Valard verschränkte die Arme vor der Brust und sah Ry an; seine grünen Augen brannten. »Das scheint mir doch übertrieben zu sein. Wie groß können die Schwierigkeiten gewesen sein, in denen du stecktest? Und während wir tot sind und nie mehr nach Hause zurückkehren können, ohne unsere Familien zu zerstören, wirst du als Held nach Hause fahren, ja?« Er war immer bereit gewesen, alles für Ry zu tun, aber in diesem Augenblick machte er ein Gesicht, als hätte er es sich anders überlegt. »Entweder wir kehren gemeinsam als Helden zurück oder keiner von uns. Soweit es alle anderen betrifft, bin ich genauso tot wie ihr.« Das machte sie für eine Sekunde sprachlos. »Sie halten dich auch für tot?«, fragte Karyl. »Also, wie hast du denn das bewerkstelligt? Und warum?« 30
»Ich habe es so aussehen lassen, als hätte die unheilige Dreiheit mich getötet, weil sie wusste, dass ich mich um die Führung der Wölfe bewerben würde. Ich habe das ebenso sehr getan, um meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich mich ihren Forderungen beugen würde, wie um aus dem Haus zu kommen, ohne ihr gegenüber wortbrüchig zu werden. Sie hat mir nämlich gesagt, dass sie mich, falls ich nicht bleiben und um die Führung der Wölfe kämpfen würde, zum Barzanne erklären würde. Aber sie hat dabei nicht bedacht, dass die Dreiheit mich wirklich getötet hätte, wäre ich geblieben, um mich ernsthaft um die Macht zu bewerben. Und es erschien mir weit besser, im gesetzlichen Sinne >tot< zu sein, als wirklich zu sterben. Und erheblich besser, als Barzanne zu sein.« Seine Freunde waren tief betroffen. »Deine Mutter wollte dich zum ...« »Zum Barzanne erklären.« »Bei meiner eigenen Seele.« »Hätte sie gewusst, dass ihr noch lebt und mir zur Seite steht, hätte sie euch zweifellos auch zu Barzannes gemacht.« Er sah ihnen in die Augen. »Dann wäre es euren Familien nicht so gut
ergangen.« »Nein.« Sie nickten, stimmten ihm zu, waren bereit, ihm zu verzeihen. »Es tut mir Leid«, sagte Ry. »Ich hatte nie die Absicht, euch in solche Schwierigkeiten hineinzuziehen. Ich hätte nie gedacht, dass es sich als ein solcher Fehler erweisen würde, Kait Galweigh zu folgen.« Seine Freunde sahen einander an, zuckten die Achseln und sahen dann ihn an. Jaim sagte: »Der Mann, der in die Zukunft sehen kann, macht keine Fehler. Aber solch ein Mann ist kein Mann. Er ist ein Gott.« Yanth schüttelte langsam den Kopf, dann grinste er. »Wie wahr. Und du hältst dich nur für einen Gott.« »Ihr hasst mich nicht für das, was ich Euch angetan habe?«, fragte Ry. 31 Valard seufzte. »Noch nicht. Finde eine Möglichkeit, wie wir als Helden nach Hause zurückkehren können, dann werden wir dir alles verzeihen.« Karyl stützte sich auf den Ellbogen und lächelte. »Zumindest musst du eine Insel für uns finden, auf der schöne Mädchen wohnen, die wir zu Frauen nehmen können. Dann musst du uns nur noch einen Lebensstil ermöglichen, wie ein Parat ihn für sich beanspruchen kann. Mit einer schönen jungen Frau, meinem eigenen Land und ordentlichem Wetter kann ich fast alles vergeben und vergessen.« »Und das ist deiner Meinung nach das Mindeste, was ich für euch tun kann, ja?« Jetzt war es Ry, der lächelte. »Reicht es nicht, dass wir alle am Leben und gesund sind?« Yanth zupfte an seinem Hemd und strich die Seide glatt. Er machte sich nicht die Mühe aufzublicken, als er sagte: »Ah, aber wir kennen dich doch. Du wirst, bis wir einen sicheren Hafen finden, alles in deiner Macht Stehende tun, um uns umzubringen. Dich eingeschlossen.« Jetzt blickte er doch auf, und seine Augen waren voller Lachen. »Alles, was wir wollen, ist eine bescheidene Entschädigung für die Hölle, durch die du uns mit Sicherheit führen wirst.« Ry beschloss, ihnen zu sagen, was er wusste, obwohl er nicht verraten würde, auf welchem Wege er diese Kenntnisse erhalten hatte. Wenn der Geist seines toten Bruders durch den Schleier gegangen war, um ihm seinen Rat anzubieten und seine Hilfe zu erbitten, war das gewiss ein Geheimnis, das nur sie beide etwas anging. »Ich habe mit Hilfe von Magie in Erfahrung gebracht, dass Kait nach einem Artefakt sucht, mit dem man die Toten ins Leben zurückrufen kann. Ich werde sie als meine Ehefrau nach Hause bringen aber wir alle werden das Artefakt nach Calimekka bringen, das und dazu alle anderen wunderbaren Dinge, die wir in dieser Stadt der Alten finden. Mit einem Schiff voller solcher Reichtümer wird meine Mutter in der Lage sein, meinen Vater wieder zum Führer der Wölfe zu machen und meinen älteren Bruder zurückzuholen. Und wir, wir werden Helden sein.« Und ihm selbst würde das abgeschiedene Leben in dunkler Magie und Intrigen erspart bleiben, das seine Mutter für ihn geplant hatte. Yanth runzelte die Stirn. »Ich finde trotzdem, du hättest uns das früher sagen müssen, und sei es nur, um uns wissen zu lassen, dass für uns bei der Suche nach Kait genauso viel auf dem Spiel steht wie für dich.« »Ich hatte keine Ahnung, ob sie ihre Stadt oder den Spiegel der Seelen finden würde und warum sollte ich Euch Hoffnung machen, falls alles vergeblich war? Oder, was das betrifft, warum sollte ich Euch wissen lassen, wie schlimm es um uns stand, solange ich noch hoffen konnte, dass die Dinge sich zum Besseren wenden würden? Wenn ich in letzter Zeit durch Kaits Augen geblickt habe, habe ich sowohl Ruinen als auch ein Artefakt gesehen, bei dem es sich meiner Meinung nach um den Spiegel handelt jetzt wisst ihr also Bescheid über die Schwierigkeiten, in denen wir stecken, und ihr wisst, dass wir hoffen dürfen, uns aus dem Schlamassel auch wieder zu befreien. Und in der Zwischenzeit könnt ihr beruhigt sein, dass Eure Familien in Sicherheit sind.« Was er nicht wusste und was er ihnen nicht sagen würde, war, ob Kait noch lebte. Vielleicht hatte er sie alle ganz umsonst auf die andere Seite der Welt fahren lassen die unerklärliche Verbindung, die zwischen ihm und Kait bestand, war so stumm, als hätte sie nie existiert. Er war ihr durch die halbe Welt gefolgt, ein Wahnsinn, den er sich selbst immer noch nicht erklären konnte. Er hatte seinen
Namen, seine Familie und seine Zukunft für eine Fremde weggeworfen, die zu den Erzfeinden der Sabirs zählte, eine Frau, die er nur ein einziges Mal in Fleisch und Blut gesehen hatte, und das in einer dunklen Gasse vor den Leichen von Männern, die sie zu töten versucht hatten. Er wusste nicht, ob sie ihn lieben konnte. Er wusste nur, dass sie allen Grund hatte, ihm zu misstrauen und ihn vielleicht zu hassen. 32 33
Und jetzt konnte er nicht einmal mehr sagen, ob sie noch lebte. Er blickte durch das Bullauge. Irgendwo da draußen war sie. Und er würde alles darum geben, sie noch lebend zu finden.
Kapitel 4 Imogene Sabir hatte ihren Stuhl bedächtig unter den breiten Sonnenstrahl geschoben, der durch das hohe Fenster ihres Arbeitszimmers fiel. Obwohl sie das Sonnenlicht nicht sehen konnte, konnte sie es fühlen; seit dem Angriff auf die Galweighs, als die Rewhah der magische Rückstoß, der aus der Benutzung von Magie als Gewalt resultierte sie beinahe vernichtet hätte, sehnten ihre Knochen sich nach Wärme. Finder Malloren stand vor ihr, aber nicht in der Haltung tiefster Unterwürfigkeit, wie sie einem Mann in seiner Stellung ihr gegenüber zugekommen wäre. Er verwechselte ihre Blindheit mit dem Unvermögen zu sehen, was ein Irrtum war, ein Irrtum, für den sie ihn eines Tages würde zahlen lassen. Mit ihren geschärften Karnee-Sinnen und ihrem magischen Wahrnehmungsvermögen konnte sie nicht nur seine Position im Raum erkennen, sondern auch seine geistigen Eindrücke von ihr auffangen. Ihr Geruchssinn spürte ein Geheimnis auf, von dem er glaubte, es vor jedermann verbergen zu können; irgendwann in der Zukunft konnte sie ihm damit drohen, dieses Geheimnis aufzudecken. Auf diese Weise würde sie ihn wahrscheinlich buchstäblich zu ihrem Sklaven machen. Sobald sie Zeit für solche Vergnügungen hatte, würde sie ein wenig mit dem Finder spielen. Inzwischen hörte sie sich jedoch erst einmal das Ergebnis seiner letzten Jagd an. »... Es ist so lange her, dass es sehr schwierig war, jemanden am Hafen zu finden, der sich noch an irgendetwas erinnerte. Ich musste viel Geld an Leute zahlen, die mich vielleicht mit Leuten zusammenbringen konnten, die vielleicht dabei gewesen waren. Es war schwierig ...« 35
»Aber wenn Ihr versagt hättet«, fiel sie ihm ins Wort, »würdet Ihr jetzt nicht vor mir stehen und erwarten, Euren Lohn zu erhalten. Ich weiß bereits, dass mein Sohn noch am Leben ist. Diese demütigende Szene, die Crispin inszeniert hat, war mir Beweis genug. Ich möchte nur noch den Rest der Geschichte in Erfahrung bringen.« »NNNun ... ja ... aber ich wollte Euch erklären, wie überaus schwierig ...« »Eure persönlichen Schwierigkeiten interessieren mich nicht. Mich interessieren nur Eure Resultate. Ich bezahle Euch für Resultate und für die Kosten, die Euch auf der Suche nach ihnen entstehen. Wenn Ihr für die dramatische Darstellung Eurer Geschichte bezahlt werden wollt, schlage ich vor, dass Ihr Euch einem anderen Berufszweig zuwendet.« Sie spürte sein Erröten weil sie ihn demütigte, weil er es sich gefallen lassen musste und schließlich, weil es ihn ärgerte, seine Geschichte nicht so erzählen zu dürfen, wie es ihm gefiel. Sie spürte auch ein Gefühl der Frustration bei ihm. Zweifellos hatte er damit gerechnet, eine Prämie zu bekommen, wenn sie hörte, wie viel Arbeit vonnöten gewesen war, um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Sie lächelte und spürte sein Zurückprallen. Auch das belustigte sie. Sie wünschte nur, sie hätte sehen können, was die Katastrophe aus ihr gemacht hatte. Aus der Art, wie ihr Gesicht sich anfühlte, und aus den Reaktionen anderer konnte sie erahnen, dass von ihren menschlichen Zügen nur wenig übrig geblieben war. Wahrscheinlich bot sie einen grauenvollen Anblick, aber sie konnte ihr eigenes Spiegelbild nicht sehen in ihren Gedanken war sie noch immer so schön wie an dem Tag, an dem sie auch noch den letzten Rest ihres Augenlichts einbüßte. Es machte ihr nichts aus, Grauen erregend zu sein. Ihre Schönheit hatte ihr gute Dienste geleistet, aber das war vorbei. Sie hatte indessen herausgefunden, dass Angst und Schrecken die Menschen genauso gefügig machten, wie Schönheit es je vermocht hatte. 36 Er sagte: »Ja. Natürlich. Ich kann für die Namen nicht garantieren die Leute, die ich aufgespürt habe, waren sehr erpicht darauf, dass ihre Namen in keinen offiziellen Unterlagen erschienen. Sie wollten
nicht einmal, dass man ihre Namen aussprach. Ironischerweise war es gerade das, was mich letztendlich zu ihnen führte. In der Nacht, in der Euer Sohn verschwand und angeblich ermordet wurde, verbrachten fünf junge Männer den größeren Teil der Stunden Dard und Telt in einer Hafentaverne mit Namen Zum Feuerschlucker; sie verbrachten ihre Zeit dort mit Trinken, Spielen, Würfeln und Wetten. Sie gehörten offensichtlich den höheren Klassen an vier von ihnen trugen deutlich sichtbar Schwerter, und der fünfte war mit zwei langen Dolchen bewaffnet. Alle gut gekleidet. Aus Augenzeugenberichten weiß ich, dass einer groß und schlank war, mit blondem Haar und Narben im Gesicht; meine Quellen bezeichnen ihn als einen prahlerischen Dandy, der ganz in Seide gekleidet war. Ein anderer war etwas kleiner, hatte braunes, zu einem langen Zopf zurückgekämmtes Haar und machte auf die, die ihn sahen, einen eher stillen Eindruck. Nachdenklich. Eine Hure, die dort arbeitet, sagte, sie habe sich auf seinen Schoß gesetzt und versucht, ihn zu überreden, mit ihr nach oben zu gehen, aber er habe sich geweigert, obwohl er durchaus interessiert gewesen sei. Er sagte, er warte auf einen Freund und müsse, wenn dieser Freund käme, sofort abmarschbereit sein. Er wollte ihr nichts über den Freund erzählen und auch nichts darüber, wo ihr Ziel sei er weigerte sich so beharrlich, darüber zu sprechen, dass sie sich an ihn erinnerte. Er nannte sich übrigens Parat Beyjer.« »Parat Beyjer, hm?« Imogene kicherte und war ganz gegen ihre eigene Absicht entzückt. »Parat Beyjer? Und sag mir, hießen seine Freunde Soin, Gyjer, Torhet und vielleicht ... Farge?« Sie hatte ihn schockiert. »Woher wisst Ihr das? Ich meine, keiner von denen hieß Torhet, aber es gab einen Gyjer. Und auch einen Farge. Ein anderer hieß Rubjyat.« 37
»Die Jungen haben eine klassische Erziehung genossen. Beyjer war im klassischen Mythos des alten Ibera der >Gott des Grüns<, als Ibera noch Veys Traroin hieß und einen Großteil des heutigen Strithia einschloss, damals, als es noch ein Mitgliedsstaat des Reiches von Kasree war. Gyjer war im selben Mythos der >Gott des Purpurs<. Farge war der >Gott des Blaus< und Rubjyat der >Gott ohne Farbe< ich hätte nicht erwartet, dass einer der Jungen sich für ihn entscheiden würde.« Imogene spürte, dass sie das Interesse des Finders geweckt hatte. Sie spürte, dass er sich vorbeugte, und hörte eine leichte Beschleunigung in seinem Puls und seinem Atem. »Warum nicht?« »Der Gott ohne Farbe stand mit Katastrophen im Zusammenhang. Ich dachte, dass die Jungen sich diesen Namen für meinen Sohn aufgehoben hätten. Katastrophen sind schließlich seine Spezialität.« »Dann seid Ihr Euch also sicher, dass sie die richtigen Männer waren?« »Ich würde Euer Leben darauf verwetten.« Sie fühlte seine Anspannung, als er ihren kleinen Scherz verstand, und sie lächelte abermals. »Aber nur damit ich keine nicht wieder gutzumachenden Fehler begehe, erzählt mir auch den Rest Eurer Geschichte.« Sie hörte ihn schlucken. »Wie Ihr wünscht. Derjenige, den die Zeugen für den Ältesten hielten, trug sein Haar ganz kurz das Flittchen erinnerte sich sehr gut an ihn. Sie dachte, dass er langsam eine Glatze bekam und sich den Kopf schor, um von der Tatsache abzulenken. Anscheinend war er sehr unhöflich zu ihr und machte deutlich, dass er kein Interesse an Frauen ihres Schlages habe. Ein anderer der Männer war auffallend blass und hatte, wie zwei männliche Zeugen sagen, ein Gesicht so rund wie der Mond. Dieser stand anscheinend im Bund mit Fortuna er gewann eine Menge Geld von ihnen, bevor er die Taverne schließlich verließ. An den Letzten konnte sich keiner erinnern, bis ich fragte, ob sie wirklich sicher seien, dass es nicht fünf Männer waren statt nur vier. Daraufhin erinnerten sich verschiedene Zeugen an einen 38
fünften Mann, der auf einem Stuhl am gleichen Tisch gesessen hatte.« »Das wird Jaim gewesen sein«, sagte Imogene. »Er besitzt die wirklich bemerkenswerte Gabe, unauffällig zu sein. Ein echtes Talent.« »Das kann ich mir denken«, pflichtete der Finder ihr bei. »Nun denn.« Sie rieb den seidenen Saum ihres Rockes zwischen den Fingern, eine nervöse Geste, die sie sich angewöhnt hatte, seit sie endgültig ihre Sehkraft verloren hatte. Sie dachte über ihre verschiedenen Möglichkeiten nach. »Ihr habt sie gefunden, daran zweifle ich nicht. Also, was ist aus ihnen geworden, wo sind sie jetzt?« »Die Männer, die so viel Geld verloren hatten, sind ihnen zum Hafen gefolgt, wo die fünf Fremden an Bord eines Schiffes gingen. Niemand erinnerte sich an den Namen des Schiffes. Also habe ich in den Hafenunterlagen nachgesehen. In dieser Nacht sind mehrere Schiffe in See gestochen die Flut und der
Wind waren günstig. Keines der Schiffe konnte auf den ersten Blick dasjenige sein, mit dem sie gefahren sind, denn bei jedem stand eine Fracht und ein Zielort im Hafenbuch, und keines schien Passagiere an Bord genommen zu haben. Aber eines der Schiffe, die Windsbraut, segelte angeblich mit einer Fracht aus Früchten und Holz zu den Kolonien. Das Logbuch war von einem gewissen C. Pethelley unterschrieben worden. In den Kauffahrteilisten gibt es keine Pethelleys, im Kapitänsregister werden zwei Pethelleys aufgeführt, die noch leben, über deren Verbleib aber in beiden Fällen Klarheit besteht, außerdem hat die Windsbraut nie eine Ladung aufgenommen, und sie ist auch nie in den Kolonien angekommen. Sie ist im Register der Sabirs eingetragen, ein zweitrangiges Schiff, das zu Reparaturen im Trockendock gewesen war; es war gerade erst wieder zu Wasser gelassen und neu bemannt worden, aber man wusste allenthalben, dass es noch keine Fracht geladen hatte. Ich kann nach wie vor keine Verbindung zwischen Eurem Sohn und seinen Freunden und diesem Schiff beweisen, aber bei 39 allen anderen hochseetüchtigen Schiffen, die in dieser Nacht in See stachen und auch noch in der nächsten Woche , kann ich über ihren Verbleib Bericht erstatten. Sie haben das Ziel angesteuert, das sie angegeben hatten, und sie haben getan, was sie tun wollten.« Imogene stieß einen Laut der Verachtung aus. »Oh, ich bezweifle, dass Ihr über jedes Schiff Bericht erstatten könnt. Wenn man bedenkt, wie viele Piraten es in diesen Gewässern gibt, schätze ich, dass ein Dutzend Schiffe in Frage kommen, mit denen er und seine Freunde hätten abreisen können. Also, sagt es mir. Wohin sind sie gefahren?« »Ich weiß es nicht. Die Windsbraut ist für keinen Hafen eingetragen, dessen Hafenbücher ich einsehen konnte. Ich warte noch auf Nachricht aus der Kolonie Kander, von Finder's Folly und der Siedlung auf der Sabirenischen Landenge, aber ich rechne nicht mit positiven Resultaten. Ich kann Euch mit Sicherheit nur sagen, wo sie nicht sind.« »Verstehe. Ihr könnt mir also nicht sagen, was mich am meisten interessiert.« Sie ließ ihn lange Sekunden zappeln, während sie über verschiedene mögliche Varianten nachdachte, um ihr Missvergnügen zu zeigen. Schließlich sagte sie: »Nun, Ihr seid jedenfalls lobenswert gründlich gewesen.« Der Finder atmete leise aus. »Dann seid Ihr also zufrieden?« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und seufzte. »Ich bin überzeugt. Alles, was ich von Euch verlangt habe, waren genug Informationen, um mich zu überzeugen. Zufrieden ... nun ... meine Zufriedenheit liegt außerhalb dessen, was Ihr bewirken könnt.« Sie drehte den seidenen Saum zwischen ihren Fingern und stellte sich vor, es sei das Gesicht ihres Sohnes, das sie am liebsten in Fetzen gerissen hätte. »Geht jetzt. Ich möchte allein sein, um nachzudenken. Mein Sekretär wird Euch bezahlen, bevor Ihr das Haus verlasst.« »Braucht Ihr sonst noch etwas?« »Wenn ich etwas brauche«, antwortete Imogene leise, »weiß 40
ich, wo ich Euch finde.« Sie sorgte dafür, dass ihre Worte wie eine Drohung klangen denn genau so waren sie gemeint. Finder Malloren huschte aus ihrem Arbeitszimmer und erinnerte sie dabei an einen Käfer, dessen Stein man hochgehoben hatte, um ihn dem Licht auszusetzen. Imogene wartete, bis sie spürte, dass er das Haus verließ, eine Angelegenheit von nur wenigen Momenten. Sie war immer sehr vorsichtig im Umgang mit Findern Männern und Frauen, die sich mit dem Sammeln von Informationen ihren Lebensunterhalt verdienten; sie konnten das für viele Käufer tun, und Imogene wusste, dass Calimekka voll von Feinden war, die gut zahlen würden für alles, womit sie sie schwächen oder zerstören konnten. Sobald sie hörte, dass das Außentor ins Schloss fiel, läutete sie jedoch die Glocke, mit der sie ihren Sekretär herbeirief. Als er den Raum betrat, sagte sie: »Porth, ich benötige einen talentierten, käuflichen Mörder. Den besten, den Ihr aufspüren könnt. Ich möchte jedoch keinen, der bereits mit der Familie in Zusammenhang gebracht wurde. Ich möchte eine unabhängige Person.« Porth wartete und sagte nichts. »Ich beabsichtige, einen kleinen Straffeldzug auszuführen.« Der Paraglese der Sabirs hatte zum ersten Mal seit zweihundert Jahren den Wölfen ihr Recht auf Selbstbestimmung genommen, indem er Crispin zu ihrem Oberhaupt ernannte und Anwyn und Andrew zu seinen Helfern bestimmte. Diese
Machtverleihung an die unheilige Dreiheit die damit über Imogene gestellt wurde hatte sie den Taten ihres Sohnes Ry zuzuschreiben. Seinetwegen saß sie eingesperrt in einem bedeutungslosen Winkel des großen Hauses und war, was die Angelegenheiten der Familie betraf, beinahe machtlos geworden. Nun hatte sie herausgefunden, dass seine Freunde alles andere als die Helden waren, für die sie sie gehalten hatte, Helden, die angeblich im Haus Galweigh für die Sabirs gestorben waren, wie Ry an dem Tag, an dem er »getötet« wurde, behauptet hatte. Sie, seine besten Freunde, hatten ihm 41 also bei seinen Lügen und seinem vielfachen Verrat geholfen. Sie hatten ihm die Möglichkeit verschafft, aus der Stadt und vor ihren Befehlen zu fliehen. »Ry und seine fünf teuersten Freunde haben sich einen Scherz erlaubt. Auf meine Kosten.« »Dann sind sie also nicht tot?« »Alle sechs sind ausgesprochen lebendig. Und, wie es scheint, nicht in meiner Reichweite.« »Aber Ihr wisst, wohin sie gegangen sind? Ihr schickt ihnen den Mörder nach?« »Aber keineswegs. Zumindest für den Augenblick kann ich ihnen nichts anhaben. Aber sie haben Aufmerksamerweise ihre Verwandten zurückgelassen und mich in die Lage gebracht, sie allesamt kennen zu lernen. Schließlich gewähre ich den Verwandten dieser >Helden< jedes nur erdenkliche Vorrecht.« Imogene kicherte und spürte, wie ihr Sekretär schauderte. »Dann soll der Mörder also ...« »Ich möchte ein kleines Spielchen spielen. Ich möchte, dass dieser bezahlte Mörder die Familien von Rys Freunden tötet, eine Person nach der anderen, und zwar auf möglichst kreative Weise. Mal sehen, wie viele von ihnen wir auslöschen können, bevor die Jungen wieder nach Hause kommen. Meint Ihr nicht, dass das sehr amüsant werden wird?« Porth sagte nichts. Imogene ließ das Schweigen eine Weile andauern, dann fragte sie: »Porth?« »Ja, Parata. Sehr amüsant.« Er klang alles andere als amüsiert. Der arme Porth er war so ein schlechter Lügner.
Kapitel 5 'Das Wasser zog sie herunter und gab ihr gleichzeitig Auftrieb, als sie durch eine Welt glitt, die von wechselndem, flüssigen Licht gezeichnet war. Wasser strömte ihr durch den Mund und über ihren Hals, und obwohl irgendetwas daran ihr nicht richtig erschien, wusste sie auch nicht, was es war. Sie hörte das Dröhnen der Flut in ihren Knochen und spürte die Bewegung des Opfers durch ihre Haut, als wäre ihr ganzer Körper zu einem Auge geworden. Hinter ihr lag Schmerz; vor ihr lag Ungewissheit. In der Gegenwart kannte sie nur Hunger, einen Hunger von solch gewaltigen Ausmaßen, dass er sie zu verschlingen drohte. Sie wusste, dass es mehr war als Appetit, aber sie kam nicht an den Teil ihrer selbst heran, der dieses Verlangen aussandte. Sie wusste, dass es irgendwie falsch war, Wasser zu atmen, aber sie wusste nicht, woher sie es wusste, und im Augenblick interessierte es sie auch nicht. Sie rollte sich auf die Seite und stellte die Flossen anders an, um ihren Körper in eine Kurve zu legen, und erblickte vor sich eine schimmernde, silberne Wolke. Mit einem Zucken ihres Schwanzes glitt sie darauf zu, fast ohne das Wasser in Aufruhr zu bringen, durch das sie sich bewegte. Sie schoss auf den Mittelpunkt der Wolke zu und verschlang ein Dutzend Fische, bevor der Schwärm auseinander stob, dann folgte sie der größten Gruppe, die die Flucht ergriffen hatte, und setzte ihr mit drei harten Stößen ihres Schwanzes nach, um Energie zu sparen. Sie jagte und sie fraß. Als der Schwärm der silbernen Fische nicht mehr bequem für sie zu erreichen war, stieß sie in einen kleineren Schwärm aus großen roten und gelben Fischen hinein, dann machte sie Jagd auf die nächste Fischart und auf die nächste. Sie mied alles, was sich mit einer größeren Druckwelle bewegte als 43
sie selbst, und wenn sie Blut im Wasser schmeckte, hielt sie sich fern. Sie weigerte sich, ihre Existenz in Frage zu stellen, und wich dem quälenden, behaglichen Gedanken in ihrem Hinterkopf aus, dass sie nicht war, was sie zu sein schien. Sie fraß, weil sie schwach, verletzt und dem Tode nahe gewesen war; und während sie fraß, wurde sie stärker. Und als sie stark genug war, zwang ihr Geist ihren Körper, seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Sie nannte sich selbst beim Namen, und mit der Erinnerung an ihren Namen kam die Flut anderer Erinnerungen. Sie war Kait. Sie hatte Freunde, die gewiss ihre Hilfe brauchten.
Sie hatte eine Aufgabe zu vollbringen. Und es standen Schwierigkeiten bevor. Nachdem sie sich wieder in Menschengestalt verwandelt hatte, schleppte Kait sich erschöpft, durchnässt, nackt, frierend und mit gedämpften Sinneswahrnehmungen zum Lager zurück. Sie konnte nicht einmal erahnen, wie lange sie fort gewesen war, und sie konnte nur hoffen, dass sie ihre Freunde bei ihrer Rückkehr lebendig vorfinden würde. Das verbrannte Ödland, durch das sie gekommen war, war nicht mehr gewesen als aufgeweichte Asche, aus der die Ruinen der Stadt der Alten plötzlich so klar und unübersehbar aufragten, als seien sie erst am vergangenen Tag verlassen worden. In diesem Meer aus Asche wirkte das perfekte Rund des Bodens, den Hasmal vor dem Zauberfeuer hatte schützen können, wie eine Vision von Paranne: Überall wuchsen immergrüne Pflanzen, die schwarzen Silhouetten eleganter Laubbäume ragten vor dem grauen Winterhimmel auf, der Boden war bedeckt mit Blättern, die sich noch etwas von ihrer herbstlichen Färbung bewahrt hatten und wie Juwelen aussahen, die jemand achtlos über den Boden verteilt hatte. Das Lager der Flüchtlinge lag in der Mitte dieses kreisförmigen Gebietes. Kait hörte Stimmen in der Rui 44
ne, die sie als Unterkunft benutzten. Und sie konnte Verwesung und Tod riechen. Sie wusste, dass sie schlimme Nachrichten erwarteten, aber ihre Nase wollte ihr nicht verraten, wie schlimm es sein würde. Die Depression, die der Verwandlung folgte, die Gedämpftheit der Sinne, die sie in diesem Stadium jedes Mal überfiel. Sie ging hinein. Das Schlimmste fand sie schon an der Tür vor. Turben lag auf der rechten Seite des ersten Raums, direkt unter dem unversehrten Teil des Daches. Sie kniete neben ihm nieder und berührte ihn. Seine Leiche war kalt und starr. Er war schon eine ganze Weile tot. Ein leises Stöhnen aus dem hinteren Raum war das Nächste, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, und sie eilte hinein. lan und Hasmal hockten neben Jaytis Lager. Jayti warf sich von einer Seite auf die andere und stöhnte abermals. »Nicht auch Jayti«, flüsterte sie. Der Matrose hatte nach und nach ihre Bewunderung errungen, er hatte sie mit seiner Loyalität, seinem gesunden Menschenverstand und seinem Mut beeindruckt. »Was ist passiert?« Jayti sah sie mit Schmerzumnebelten Augen an und brachte ein Lächeln zustande. »Ihr seid wieder da«, sagte er. »Das lässt mich hoffen, dass auch die Gebete, die der Kapitän für mich gesprochen hat, erhört werden.« »Kait!«, rief Hasmal. »Du lebst!« lan sprang auf und rannte auf sie zu. Er hob sie hoch, wirbelte sie durch die Luft und drückte sie dicht an sich, ohne sich um ihre Nacktheit zu scheren. Er küsste sie leidenschaftlich, dann drückte er seine Wange auf ihre. »Ah, Kait«, wisperte er. »Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.« Er hielt sie kurz von sich weg, musterte sie und zog sie dann wieder an sich. »Du bist ja nur noch Haut und Knochen, Mädchen«, sagte er. Und dann, als er sie losließ, fügte er hinzu: »Wie hast du das überstanden? Und wo bist du gewesen? Ich ... wir ... ich habe gestern jede Hoffnung aufgegeben, dich wiederzufinden.« 45
»Wie lange war ich fort?« Hasmal hatte ihre Taschen durchwühlt; er reichte ihr etwas Kleidung zum Wechseln, eine Hose und einen Rock. Dann antwortete er: »Drei Tage und zwei Nächte.« »So lange?« Sie runzelte die Stirn, überrascht, dass sie länger als einen Tag im Zustand der Verwandlung verweilt hatte. »Ich war ... unter Wasser. Ich hatte mich verirrt.« Sie streifte die Kleidungsstücke über. »Verirrt in meinem eigenen Kopf. Ich war in der Bucht, aber ich hatte vergessen, wer ich war. Ich bin in den Fluss gesprungen, um von diesen ... von den Bestien wegzukommen und um vor dem Bannfeuer zu fliehen. Daran erinnere ich mich sehr gut. Und ich erinnere mich nur verschwommen, dass ich nach dem Wasserfall auf den Felsbrocken aufgeschlagen bin. Was danach passiert ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass mir heute Morgen plötzlich mein Name wieder einfiel und ich mich daran erinnerte, dass ich eigentlich kein Fisch bin. Oder was immer ich in dem Augenblick war. Mein Körper hat sich in eine Daseinsform verwandelt, die es mir ermöglichte, wieder zu gesunden und Nahrung aufzunehmen, und ich nehme an, das ist alles, was ich getan habe, seit ich verschwunden bin.« Die anderen ließen Ehrfurcht erkennen. »Das kannst du?« »Ich habe es bisher nur ein einziges Mal getan«, sagte sie. »Und da hat die Verwandlung nicht einmal eine einzige Stunde lang angehalten. Als ich in Maracada in die Bucht sprang, in der Nacht, in der ich dich kennen lernte«, sagte sie und sah dabei Ian an, »bin ich mit solcher Wucht auf dem Wasser aufgeprallt, dass es mich betäubte und ich
beinahe ertrunken wäre. Auch damals hat sich mein Körper verwandelt teilweise jedenfalls. Ich bin Mensch geblieben, bekam aber Kiemen, so dass ich unter Wasser atmen konnte. Bevor das geschah, wusste ich nicht, dass ich eine andere Gestalt als die eines Vierbeiners annehmen kann.« Hasmal sah sie nachdenklich an. »Um deine Frage zu beantworten, Jayti ist an dem Leichnam der Bestie vorbeigekommen, die du ausgeweidet hast, nachdem das Zauberfeuer niederge46 brannt war«, sagte er. »Nur dass das Ungeheuer noch nicht ganz tot war. Es bekam ihn an einem Bein zu fassen und verstümmelte es. Wir haben ihn frei bekommen und es schließlich geschafft, die Bestie zu töten, aber ...« »Hasmal hat mir das Bein abgenommen. Er hat seine Sache gut gemacht. Ich werde im Handumdrehen wieder ganz der Alte sein.« Möglich, dass er selbst an seine Worte glaubte, aber Kait wusste, dass es nicht stimmte. Sie konnte den Gestank von Blutfäule riechen sehr schwach, vielleicht schwach genug, um menschlichen Sinnen zu entgehen. Jayti würde nicht wieder gesund werden. Sie drehte sich schnell zu Hasmal um und sah die Trostlosigkeit in seinen Augen. Er wusste es also auch. Ian sagte: »Jayti wird uns helfen, unser Boot zu bauen, bevor du bis drei zählen kannst.« Auch in seinen Augen stand unverhohlener Schmerz. Sie hielten es vor ihm geheim, die Tatsache, dass er bald sterben würde. Sie würden es so lange geheim halten, wie sie konnten. Kait wandte sich wieder Jayti zu und kniete neben ihm nieder. Sie blickte ihm in die Augen und versuchte, ihn mit ihrer ganzen Willenskraft dazu zu bringen, gegen die Blutkrankheit zu kämpfen. »Wir brauchen dich«, sagte sie mit einer Stimme, die nur für seine Ohren zu hören war. »Ganz besonders Ian. Er hat sein Schiff verloren, seine Mannschaft, alle, auf deren Treue er sich verlassen hat, bis auf dich. Du darfst ihn nicht auch im Stich lassen.« Jayti, dessen Gesicht grau und wächsern war, lächelte schwach, dann antwortete er mit einer Stimme, die noch leiser war als ihre: »Ich rieche es. Ich weiß es aber sie können es besser ertragen, wenn sie glauben, ich hätte keine Ahnung. Also spielen wir dieses Spiel.« Er tätschelte ihren Arm. »Aber, wenn ich nicht mehr bin, hat der Kapitän keineswegs alles verloren. Er hat immer noch dich.« Sie erwiderte sein Lächeln mit einer falschen Aufrichtigkeit, hinter der sich die unbequeme Wahrheit verbarg. Ian würde Jay 47
ti wirklich brauchen. Er würde einen Freund aus seiner Vergangenheit brauchen, der ihm in Zukunft zur Seite stand. Und während sie mit den anderen zusammen im hinteren Teil des Raums saß, hatte sie nur den einen Gedanken, dass es etwas gab, das Jayti vielleicht das Leben und Ian seinen letzten Freund retten konnte. Der Spiegel der Seelen schimmerte sanft; sein Licht erstrahlte aus der Mitte des Dreifußes und verströmte sich zu einem See der Helligkeit, der in dem Ring um seinen Sockel zusammenlief. Sie hatte die unerkundete Weite des Bregischen Ozeans durchfahren und diesen verlassenen Kontinent aufgesucht, um sich den Spiegel zu holen. Er war ein Artefakt der lange untergegangenen Alten, des Volkes, das einst die ganze Welt beherrscht hatte, und mit diesem Spiegel war sie angeblich in der Lage, ihre ermordeten Verwandten wieder ins Leben zurückzurufen. Der Geist ihrer vor langer Zeit verstorbenen Ahnin, Amalee Kehshara Rohannan Draclas, hatte wieder und wieder beteuert, dass ihre toten Eltern, ihre toten Geschwister, Nichten und Neffen nicht vollkommen außerhalb ihrer Reichweite waren. Amalee hatte gesagt, dass die Toten zurückkommen konnten, dass man sie zurückholen konnte, dass sie, Kait, sie wieder beleben konnte, und zwar mit Hilfe dieses Artefakts, das zu beschaffen sie einen furchtbaren Kampf und einen furchtbaren Preis gekostet hatte. Aber Kait wusste nicht, was sie mit dem Spiegel anfangen sollte, jetzt, da sie ihn in ihrem Besitz hatte und seit sie den Entschluss gefasst hatte, den Spiegel zu dem Wiedergeborenen zu bringen, hatte sie Amalees Geist nicht mehr finden können. Als die Wanderfalke sie und ihre Gefährten an der Westküste von Nord-Novtierra abgesetzt hatte, war sie überzeugt davon gewesen, dass Amalee zurückkehren würde, voller Ratschläge, auf welche Weise sie nach Hause kommen konnte. Aber diese plappernde Stimme war in Schweigen verfallen, und in Kait wuchs das flaue Gefühl, dass sie irgendwo einen Fehler gemacht hatte. War es falsch gewesen, dem Geist ihrer Ahnin zu vertrauen, 48
um sich den Spiegel zu holen, oder hatte ihr Irrtum darin gelegen, Amalees Versicherung zu ignorieren, dass der Wiedergeborene und seine Nöte keine Rolle in ihrer, Kaits, Zukunft spielen würden, wenn sie nur den Spiegel beschaffte und ihn nach Calimekka brachte? Sie wusste keine Antwort auf diese Frage, und Amalee reagierte nicht auf ihren stummen Hilfeschrei.
Amalee hätte Kait sagen können, wie sie das Artefakt benutzen musste, um den toten Turben wieder zu beleben und den sterbenden Jayti zu retten. Stattdessen stand der Spiegel nur nutzlos da, weil Kait es nicht wagte, die leuchtenden Inschriften zu berühren, die sich um das vordere Viertel seines Randes zogen. Magische Artefakte konnten tödlich sein. Ohne genaue Anweisung befürchtete Kait, Zerstörung über die Lebenden zu bringen statt Rettung für die Verlorenen. Da sie im Hause Galweigh inmitten seiner tödlichen Rätsel und Mysterien aufgewachsen war, hatte sie gelernt, dass Vorsicht die erste und beste aller Tugenden war. »Halte durch«, bat sie Jayti noch einmal und nahm seine Hand. »Bitte.« Er lächelte, und sie stand auf und wandte sich ab. Ian zog sie beiseite. »Ich muss mit dir reden. Allein.« Sie nickte und folgte ihm aus der Ruine ins Freie. Sobald sie für die anderen außer Sicht waren, nahm er sie noch einmal in die Arme, zog sie dicht an sich und strich ihr über das feuchte Haar. »Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren«, sagte er. »Ich möchte dich nicht noch einmal verlieren.« »Es kann sein, dass wir das hier nicht überleben werden«, entgegnete sie. »Ich weiß. Es ist sogar wahrscheinlich. Aber ich weiß, dass ich für den Rest meines Lebens mit dir zusammen sein möchte. Ich liebe dich, Kait. Ich liebe dich mit meinem ganzen Herzen und mit meiner ganzen Seele. Ich würde alles für dich tun ...« Sie drückte ihm die Finger auf die Lippen und sagte: »Psst.« Dann zog sie ihn dicht an sich und betete, dass er nicht Weitersprechen würde. Sie strich ihm übers Haar, schloss die Augen und 49 wünschte sich mit jeder Faser ihres Wesens, dass sie ihn dazu bringen könnte, sie nicht zu lieben. Er bedeutete ihr sehr viel, aber welche Magie auch vonnöten sein mochte, um die Art Liebe zu erschaffen, die er angeblich für sie empfand, sie konnte in sich selbst nichts davon entdecken. Nicht für ihn. Vielleicht überhaupt für niemanden. Er hielt sie fest an sich gedrückt und wiegte sie in seinen Armen. Sie erinnerte sich, dass ihr Vater sie so gehalten hatte, und einen Augenblick lang fühlte sie sich sehr jung und sicher. Dann löste er sich von ihr, blickte ihr in die Augen und sagte: »Heirate mich«, und jedes Gefühl von Sicherheit zerstob. Er sagte: »Ich kann dir nichts anbieten als mich selbst, aber ich werde eine Möglichkeit finden, alles zurückzubekommen, was ich verloren habe. Wir werden nach Calimekka zurückkehren, und es wird dir an nichts fehlen.« Sie schloss die Augen und versuchte verzweifelt, sich auf eine akzeptable Ausrede zu besinnen, die Ausrede, die es ihr möglich machen würde, seinen Antrag abzulehnen, ohne ihm weh zu tun. Plötzlich wusste sie es, und sie dankte dem Gott, der über solche Dinge wachte, auch wenn sie seinen Namen nicht kannte. »Ich weiß, dass wir es irgendwie schaffen werden. Deshalb kann ich auch keinen Heiratsantrag annehmen, ohne zu wissen, ob mein Vater oder meine Mutter noch leben.« Sie beobachtete, wie er über ihren Einwand nachdachte und schließlich seine Logik erkannte; falls ihre Mutter oder ihr Vater noch lebten, musste ein Verehrer zunächst sie um Erlaubnis bitten, bevor er das Thema mit Kait erörterte. So wurden diese Dinge bei den großen Familien gehandhabt. Auf diese Weise hatte sie sich Zeit verschafft, aber der Lösung des Problems war sie immer noch nicht näher gekommen ihre Antwort ließ ihn vielmehr in dem Glauben, dass sie seinen Antrag annehmen würde, wenn ihre Eltern einverstanden waren. Sie wandte sich ab und in diesem Augenblick spürte sie eine zarte Berührung in ihrem Inneren, und fremde Augen blickten 50
durch ihre und sahen die Zerstörung, die sich ihr darbot. Ry Sabir. Ihr Herz raste; sie spürte seinen Jubel, seine Erleichterung ... und seine Nähe. Sie riss einen magischen Schild in die Höhe, der sie abschirmte eines der wenigen magischen Kunststücke, die Hasmal ihr bisher vollständig hatte beibringen können. Sofort verschwand das Gefühl, beobachtet zu werden, das Gefühl, dass sie eine andere Seele in ihrem Körper beherbergte. Sie drehte sich zu Ian um und sagte: »Wir bekommen Probleme.« Er lachte ein bitteres Lachen. »Wir sind auf der anderen Seite der Welt gestrandet, wahrscheinlich die einzigen menschlichen Wesen auf dem Kontinent, und nur vier von uns haben überlebt.« Dann deutete er mit dem Kopf auf die Ruine. »Vielleicht werden es bald sogar nur noch drei sein. Wir haben keine Vorräte, wir mussten das Land um uns herum niederbrennen, der Winter wird noch Monate dauern,
und das Wetter wird mit Sicherheit erst einmal noch schlimmer, bevor es wieder besser wird.« Ian lehnte sich an einen Baum und rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen. Erst jetzt bemerkte Kait, wie erschöpft er aussah. »Ich würde sagen, die Probleme sind schon da.« »Es wird bald ein Schiff hier erscheinen.« Ian starrte sie an, und in seinen Zügen spiegelte sich Ungläubigkeit wider. Sie sah ihm in die Augen und bemerkte, wie aus Ungläubigkeit Hoffnung wurde. »Ein Schiff. Das soll eine schlechte Nachricht sein? Bitte sag mir, dass du noch mehr schlechte Nachrichten hast.« »Das Schiff kommt nicht, um uns zu retten. Ein Feind meiner Familie ist mir über den Ozean gefolgt, indem er eine ... eine Verbindung benutzt hat, die wir beide gemeinsam haben. Ich glaube, es hat mit der Tatsache zu tun, dass wir beide Karnee sind. Dieser Feind hat die Absicht, mich gefangen zu nehmen. Aber du und Hasmal und Jayti...« Sie runzelte die Stirn. »Ich nehme an, dass er und seine Männer versuchen werden, euch drei zu töten. Ihr seid nicht der Grund, der ihn hierher führt, und wenn ihr nicht sei 51 ne Freunde seid, seid ihr Fremde, und Fremde sind häufig nichts anderes als Feinde.« Ian wandte sich von ihr ab und starrte den geschwärzten Hügel vor sich an. »Vielleicht können wir mit ihnen verhandeln. Vielleicht können wir unsere Überfahrt abarbeiten. Vielleicht können wir irgendetwas tun, um dir zu helfen, und indem wir dir helfen, würden wir uns selbst helfen.« Er blickte sie über seine Schulter hinweg an. »Also, über welche Feinde deiner Familie reden wir? Die Dokteeraks? Die Masschankas?« »Über die Sabirs«, sagte Kait. Ian zuckte zusammen. »Ah. Sabirs. Das ist schlimm, oder zumindest könnte es schlimm sein. Ich habe in der Vergangenheit ziemlich unglückliche Beziehungen zu den Sabirs gehabt. Wie klug ich es auch anstellen mag, meine Dienste als Navigator, Steuermann oder was auch immer anzubieten, wenn man mich erkennt, werden die Sabirs mir bestimmt nicht helfen wollen.« Er seufzte und blickte wieder auf die verbrannte Erde hinab. »Ich wünschte, wir hätten früher gewusst, dass die Sabirs uns auf den Fersen sind. Wir hätten etwas vorbereiten können. Wir hätten Schutzwälle errichten und irgendwelche Waffen anfertigen können ...« Er runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »Hm, da kann man nichts machen.« Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Du weißt nicht zufällig genau, welche Sabirs uns folgen, oder?«, fragte er. Er stellte die Frage durchaus beiläufig, aber Kait hörte dennoch die unter der Oberfläche verborgene Anspannung. »Ich kann es nur von einem mit Sicherheit sagen. Ry Sabir. Es sind möglicherweise noch andere dabei, aber er ist der Einzige, der ...« Auch das letzte bisschen Farbe war aus Ians Gesicht gewichen, als sie sprach. »Der Einzige, der auf diese Weise mit mir verbunden ist. Ian? Was ist los?« »Ry?«, flüsterte er. »Ry Sabir?« Kait nickte. »Kennst du ihn?« Lange Zeit sagte er gar nichts. Dann sah er sie an und war plötz52
lich ein anderer Mann. Kalt. Tödlich. Voller Hass. »Ich kenne ihn«, sagte er. »Wir haben viel zu tun. Wir müssen sein Schiff an uns bringen, und wir müssen ihn besiegen, um das zu tun.« »Drei von uns gegen eine Schiffsmannschaft? Wir können das Schiff nicht mit Gewalt nehmen.« Ian legte beide Hände auf Kaits Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Wenn Ry und ich aufeinander treffen, wird einer von uns sterben. Ich weiß, dass meine Chancen, ihn zu töten, nicht gut stehen. Aber wenn ich sterben muss, dann sterbe ich im Kampf.« Er stolzierte mit langen Schritten davon, in Richtung Bucht. Sie sah ihm nach und dachte über die bevorstehenden Schwierigkeiten nach, darüber, wie sie vielleicht eine Katastrophe verhindern konnte. Im Geiste ging sie all die Geschichten noch einmal durch, in denen es kleineren Streitmächten gelungen war, größere zu besiegen. Irgendwo in der Vergangenheit hatte sich jemand, über den sie etwas gelesen hatte, in einer ähnlichen Situation befunden und es geschafft zu überleben. In den meisten Fällen, wie bei der Brejmen-Niederlage der Cathormatischen Horden und bei dem Sieg der Marepori über die Eindringlinge der Jasts, war die kleinere Streitmacht besser bewaffnet und disziplinierter gewesen. Auf geeignetem Gelände, mit den richtigen Waffen und reichlich Zeit für ihre Vorbereitungen, dachte Kait, hätten sie zu dritt vielleicht einen ähnlichen Erfolg erringen können. Aber ohne diese Vorteile ... Es gibt immer eine Möglichkeit zu siegen, hatte General Talismartea in seinem Meisterwerk, dem Buch des Kriegers, geschrieben. Wenn du bereit bist, das Wort Sieg neu zu definieren. Ian hatte den Sieg dahingehend definiert, dass sie Rys Schiff übernehmen und die Mannschaft zwingen mussten, nach Calimekka zurückzusegeln. Aber selbst wenn es ihr und ihren Freunden
gelang, dem Kapitän die Kontrolle über sein Schiff zu entreißen, sie würden durch die Hölle gehen müssen, um sie zu behalten und wenn sie sie verloren, wären sie tot. Aber wie wäre es, wenn sie nicht das Kommando führen müssten, um zu siegen? 53
Sie musste den Sieg neu definieren. Sie würden siegen, wenn sie alle lebend und frei nach Ibera zurückkehrten und der Spiegel der Seelen mit ihnen. Das war das Einzige, was sie brauchten. Wenn sie das Schiff nicht übernehmen und monatelang den Befehl darüber führen mussten, stand es ihnen frei, jede Form einer sicheren Überfahrt als Sieg zu betrachten. Sie konnten nicht darauf hoffen, dass man ihnen eine sichere Überfahrt anbieten würde. Aber sie hatten vielleicht die Hoffnung, eine solche verlangen zu können. Wie das? Ihr kam eine Idee. Sie musste Hasmal und Ian auf ihre Seite bringen, obwohl Ians Reaktion auf Rys Namen in ihr den Verdacht weckte, dass ihm ihr Vorschlag nicht gefallen würde. Dann konnte sie mit List, Verhandlungsgeschick, ein wenig von Hasmals Magie und einer ordentlichen Portion Glück dafür sorgen, dass es funktionierte. Sie fragte sich, ob ihr ihre jahrelangen Studien der Kunst der Diplomatie auch nur annähernd so viel nutzen würden wie ein einziger Tag echter Erfahrung. Sie schloss die Augen, atmete die nach Asche duftende Luft ein und hoffte, dass sie wirklich so viel gelernt hatte, wie sie glaubte.
Kapitel 6 Nachdem Ry drei Tage lang immer mehr zu der Überzeugung gekommen war, dass Kait tot sein musste, waren die winzigen Energieblitze, die ihn mit ihr verbanden, plötzlich wieder aufgetaucht. Er konnte nicht einmal erahnen, was zu ihrem plötzlichen Verschwinden geführt hatte, und er würde nicht versuchen, es herauszufinden. Es genügte ihm, zu entdecken, dass sie noch lebte und noch besser dass sie ganz nah war. Unglaublich nah. Als die Wanderfalke sie ausgesetzt hatte, hatte er durch ihre Augen gesehen, dass sie nicht allein war, aber er wusste nicht, ob von ihren Gefährten irgendjemand überlebt hatte. Er wünschte, er hätte noch einen Blick durch ihre Augen werfen können, um zu sehen, wohin er fuhr, aber sie war wachsam und hielt ihre magischen Schilde so fest um sich herum zusammen, wie eine Frau in einem Schneesturm ihren Umhang um sich halten würde. Nur ein gelegentliches Flackern brach zu ihm durch, das ihn zu ihr führte; er argwöhnte, dass sie sich ebenso sehr vor den Gefahren in ihrer Umgebung verbarg wie vor ihm, aber er konnte ihren Geist nicht berühren, daher war er sich nicht sicher. In dem Augenblick, als der Sog, der von ihr ausging, nicht mehr voraus lag, sondern querab an Backbord, stand er am Bug der Windsbraut und behielt mit ängstlicher Wachsamkeit die Küste im Auge, die sie an Backbordseite liegen hatten. Er hätte weder dem Kapitän noch seinen Freunden erklären können, woher er wusste, dass der Ozean ihn nicht mehr näher an sie heranbringen konnte, aber er wusste es. Daher rief er nur: »Hier! Das ist die richtige Stelle. Von hier aus müssen wir landeinwärts fahren!« Der Kapitän segelte durch den von Rauch durchzogenen Nebel in die Bucht hinein und ging dort vor Anker. 55
Zum ersten Mal sah Ry den Ort, an dem Kait sich versteckte. Regenüberspülte Ruinen übersäten die verbrannten Hügel und Klippen, die zu allen drei Seiten aus der Bucht aufragten. Nicht ein einziger Baum, nicht ein Grashalm oder ein dürrer Strauch boten eine Zuflucht vor dem Meer aus schwarzer Asche, das den Boden bedeckte. Im Laufe seiner Reisen hatte Ry auch Landstriche gesehen, die von einem Vulkanausbruch verwüstet worden waren; was er jetzt vor sich sah, erinnerte ihn an diese Bilder. Er betrachtete das trostlose Panorama und lächelte schließlich. Kaits Stadt der Alten lag vor ihm. Solche Städte gab es auch in Ibera. Aber seit mindestens hundert Jahren war keine Stadt der Alten mehr entdeckt worden, die nicht bereits jahrzehntelang von Schatzsuchern ausgeplündert worden war eine solche Stadt konnte es nur noch in den Novtierras geben. Diese Stadt war nur von einem einzigen Schiff besucht worden. Selbst nach dem Feuer mussten noch unglaubliche Wunder hier zu finden sein; Ruinen, die den Zaubererkrieg und die tausend Jahre Dunkelheit überlebt hatten, würden auch ein Feuer überleben. In diesen verwüsteten Gebäuden verborgen, lagen Bruchstücke eines Wissens, das der Menschheit seit tausend Jahren verloren gewesen war. Mit solchen Schätzen in der Hand konnte er im Triumph nach
Calimekka zurückkehren, sich mit seiner Familie und den Wölfen aussöhnen und seine Freunde wieder in ihre Ämter einsetzen. Er konnte seine Familie zwingen, seine Galweigh-Parata zu akzeptieren. Sobald er Kait gerettet hatte, würde er Zeit haben, auf Erkundungszug zu gehen, aber zuerst musste er sie in Sicherheit bringen. Irgendwo in diesen verbrannten Hügeln wartete sie auf ihn. Sie war so nah, dass er sie beinahe riechen konnte. Die Leidenschaft die Besessenheit , die ihn dazu getrieben hatte, sie rund um die halbe Welt zu verfolgen, durch Sturm und Katastrophen, über einen unkartographierten Ozean in ein vollkommen unbekanntes Land, diese Leidenschaft brannte heller denn je. Sein Blut, seine Knochen, ja sogar seine Seele selbst jubilierten angesichts ihrer Nähe. 56 »Kait«, flüsterte er, »du musst nur noch ein klein wenig durchhalten. Wir sind fast zusammen.« Eine Hand senkte sich auf seine Schultern, und er zuckte zusammen. »Die Männer wollen an Land gehen, um die Ruinen zu durchsuchen.« Der Kapitän stand hinter ihm, und Ry hatte ihn nicht einmal kommen hören. Rys Wissen nach hatte sich ihm niemals zuvor irgendjemand erfolgreich genähert, ohne dass er es bemerkt hätte. Er war zu sehr mit Kait beschäftigt gewesen, zu erfüllt von seiner Erregung. Er musste sie finden, sie besitzen dann würde er sich auch wieder konzentrieren können. »Nein. Ich möchte zuerst allein an Land gehen«, sagte er und hörte das kehlige Knurren in seiner Stimme. Dieses Knurren machte ihm Sorgen. Er war der Verwandlung nahe, kurz davor, zum Tier zu werden. Bei seiner einzigen Begegnung mit Kait waren sie sich in Karnee-Gestalt begegnet, in einer Hintergasse in Halles, vor den Leichen von sieben Mördern. Diesmal wollte er Mensch sein. Er wollte als Mensch mit ihr zusammen sein wollte ihren Mund erst in menschlicher Gestalt kosten, das Vergnügen haben, sie auszuziehen, wollte hören, wie sie mit den seidigen Melodien ihrer menschlichen Stimme seinen Namen flüsterte ... Er atmete tief ein und rang um den Frieden, der seinen rasenden Puls beruhigen würde. Er versuchte nicht, seine Erregung durch reine Willenskraft einzudämmen, denn ein solcher Versuch würde lediglich den Karnee-Teil seiner selbst dazu aufwiegeln, wild gegen die Gitterstäbe seines Käfigs anzukämpfen, und wenn der Karnee sich befreite, würde er außer Kontrolle geraten und ihn, den Menschen Ry, mitreißen. Stattdessen akzeptierte er also sein Verlangen, seinen Hunger, das Jagen seiner Lungen und das Erschauern in seinem Rückgrat und sagte: Später. Später würde er sich all seine Hoffnungen und Wünsche erfüllen. »Ich werde allein an Land gehen«, wiederholte er. »Ich möchte Kait nicht verschrecken wenn ich Männer mitnehme, wird sie vielleicht fliehen.« »Und wenn sie nicht allein ist?« 57
Ry wandte sich noch einmal dieser grauenvollen, verbrannten Küste, diesen geschwärzten Hügeln zu. »Ich kann es mit jedem aufnehmen, den sie vielleicht bei sich hat.« Als zwei Matrosen eines der Langboote für ihn bereitmachten, kam Yanth entschlössen auf ihn zu; zum ersten Mal seit langer Zeit trug er Kleidung aus dem groben Gewebe der Matrosen statt Aufsehen erregender Seide und Leder. »Der Kapitän sagte, du wolltest allein an Land gehen.« »Ich werde allein gehen.« »Wirst du nicht. Ich weiß, du glaubst, deine große Liebe dort zu finden, aber du hast keine Ahnung, was du sonst noch vorfinden wirst. Und ich gehe nicht das Risiko ein, dass du dich da irgendwo umbringst. Das bin ich dir schuldig.« Ry funkelte ihn an. »Du schuldest mir die Loyalität, meine Wünsche zu respektieren. Ich wünsche, allein an Land zu gehen.« »Nein.« Yanth legte eine Hand auf den Griff seines Schwerts und lächelte, aber das Lächeln war ohne Wärme. »Freunde schulden einander niemals Beihilfe zum Selbstmord. Hörst du mich? Ich werde dir ans Ufer folgen, und ich werde dir den Rücken decken.« Ry wandte sich von Yanth ab und umfasste die Reling. »Es gibt nur ein erstes Mal«, sagte er. »Das ist es für uns. Das erste Mal, dass wir uns als Mann und Frau begegnen. Das erste Mal, dass wir uns berühren werden. Das erste Mal, dass wir ...« Er schloss die Augen und beschwor das Bild von Kait herauf, wie sie auf einem Turm stand, und ihr langes schwarzes Haar wehte in der Brise. Er hatte dieses Bild von ihr heraufbeschworen, um es seinen Leutnants zu zeigen. Und genau so sah er sie immer noch vor sich das Kinn emporgereckt, einen wilden Ausdruck in den Augen, die blaue Seide ihres Kleides kaum dazu geeignet, ihre Lebendigkeit in sich aufzunehmen, ihre Leidenschaft, ihre Schönheit. Nachdem er so weit gekommen war, weigerte er sich einfach, diese ersten gemeinsamen Augenblicke mit irgendjemandem zu teilen. »Wir wussten, dass du dich dagegen wehren würdest, wenn wir
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alle dich begleiten wollten«, sagte Yanth nun, »also haben wir einen Kompromiss für dich geschlossen. Wir haben Strohhalme gezogen, und ich habe gewonnen.« Er lächelte und sagte leise: »Ich habe gemogelt, um zu gewinnen, aber das brauchst du den anderen ja nicht zu erzählen. Ich nehme an, dass sie ebenfalls gemogelt haben. Ich musste aber gewinnen. Ich vertraue meinen Fähigkeiten im Umgang mit Schwert und Messer mehr als ihren, und ich war der Meinung, dass ich, wenn du nur einen von uns mitnehmen würdest, der Beste wäre. Also. Du magst mich vielleicht nicht dabeihaben wollen, aber bei allen Göttern, du wirst dich mit mir abfinden müssen.« Yanth hatte gemogelt, ja? Wahrscheinlich hatte er seinen Strohhalm zerbrochen und den längeren Teil in der Hand verborgen, gehalten, und als die anderen ihn zur Rede stellten, hatte er sie mit einem wütenden Blick zum Schweigen gebracht Yanth war im Stande zu so etwas. Nun, Ry konnte ebenfalls mogeln. Er konnte sich bezähmen, ohne Protest vom Schiff herunterklettern und dann tun, was er ohnehin zu tun beabsichtigte. Also seufzte Ry und sagte: »Du wirst dich mir in den Weg stellen, wenn ich nicht einverstanden bin, habe ich Recht?« »Ja.« »Dann steig ein.« Sie ruderten schweigend an Land und zogen das Boot auf den Strand hinauf. Fünf Hügel oberhalb der Flutlinie kennzeichneten fünf Gräber. Eines von ihnen war frisch. Ry warf einen Blick auf die Gräber und sagte: »Du bleibst am besten beim Boot, damit nicht jemand vorbeikommt und es stiehlt. Ich möchte sicher sein, dass wir die Möglichkeit haben, zum Schiff zurückzukommen.« »Du bist ein Lügner.« Ein verzerrtes Lächeln huschte über Yanths Gesicht und war im selben Augenblick wieder verschwunden. »Wenn jemand das verdammte Boot stiehlt, können unsere Freunde in einem der anderen herüberrudern. Wenn du allerdings getötet wirst, während ich hier das Boot bewache, lässt sich das nicht mehr ungeschehen machen. Habe ich Recht?« 59 Ry rümpfte die Nase; obwohl noch immer der Gestank von Kohle und aufgewühlter Erde in der Luft lag, trug ein sauberer Windhauch, der irgendwo aus den Hügeln kam, das schwache und sehnsüchtige Versprechen von Grün und wachsenden Pflanzen in sich ... Er atmete tiefer ein ... und den köstlichen Geruch von einer Mahlzeit, die irgendwo zubereitet wurde. Die Düfte des Kochfeuers vermischten sich mit dem Gestank von verbrannter Kohle und waren deshalb kaum wahrnehmbar, aber als er die Augen schloss, konnte er einen denkbar schwachen Hauch von gekochtem Gemüse riechen, Gemüse, das mit Pfeffer und Rath gewürzt war, und Fleisch, das langsam auf einem Spieß garte, während die Säfte in die Flammen tropften. Der Duft kam aus derselben Richtung, aus der er den zunehmenden Sog von Magie spürte, der ihn zu Kait hinzog. Und sie hatte ihre Schilde ein klein wenig gelockert. Sie war in einer empfänglichen Stimmung. Er lächelte verhalten. Vielleicht wünschte sie sich diesen Augenblick genauso sehr herbei wie er. Er drehte sich zu Yanth um. »Also schön. Dann kommst du eben mit mir. Falls du mit mir Schritt halten kannst.« Er nahm den Hügel im Laufschritt, wobei er sich seinen Weg zwischen den ausgeweideten Ruinen der toten Stadt suchte, so dass sie zwischen ihm und Yanth lagen. Er war Karnee, schneller und beweglicher als jedes menschliche Wesen und mit unmenschlicher Durchhaltekraft ausgestattet. Als Ry den ersten Hügel hinter sich ließ und die Kochgerüche stärker wurden, war Yanth bereits weit zurückgefallen. Yanth würde natürlich seinen Spuren folgen. Aber bis er ihn eingeholt hatte, würde Ry bereits Kait gefunden haben. Und ein wohl verborgenes Plätzchen, wo er mit ihr allein sein konnte. Er lief mühelos durch die Ruinen und sprang über einen schlammigen, reißenden Fluss, all seine Sinne ganz auf Kait konzentriert. Er rannte einen Felsen entlang und bog um die Ecke, wo ihn ein perfekter Halbkreis unverbrannten Waldes erwartete. In der Mitte des Halbkreises stand eine Ruine, die besser erhalten 60 war als die meisten. Und in der Tür der Ruine lehnte eine Frau von durchschnittlicher Größe und schlankem Körperbau, das Haar schwarz wie ein Dschungelfluss, mit blitzenden dunklen Augen und weißen Zähnen, die ein beunruhigendes Lächeln entblößten. Kait. So wie er sie in seinen Gedanken und in seiner Magie gesehen hatte, aber nie in Fleisch und Blut.
Sie war wie er es sich erträumt, wie er es sich vorgestellt und erhofft hatte allein. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen wie ein Tier in der Falle, und er verlangsamte seinen Schritt. Es gab immer nur ein erstes Mal. Er wollte, dass dieser Augenblick etwas war, an das sie sich beide in den kommenden Jahren erinnern konnten für den Rest ihres gemeinsamen Lebens , und zwar voller Glück und Leidenschaft. Er wollte, dass es vollkommen wäre. ' Er trat aus dem dichten Grün, das das Stück unverbrannter Erde umgab. In der schlammigen Asche stehend sagte er: »Vetrome elada, Kait«, die vertrauten Grußworte, die den Liebenden vorbehalten waren, obwohl sie sich niemals wirklich begegnet waren. Vetrome elada. Das bedeutete: Unsere Seelen küssen sich. Kait hatte gewusst, dass er kam. Sie war gewappnet; sie sagte sich, dass sie bereit war. Aber als Ry Sabir in Sicht kam und sie ihn zum ersten Mal als Mann sah, hätte sie beinahe geweint. Er war wunderschön mit goldenem Haar, groß, mager und muskulös. Seine hellen Augen führten sie in die Vergangenheit zurück, in die Gasse in Halles, wo sie sich als Karnee begegnet waren. Sein Duft überwältigte sie, genau wie bei ihrer ersten Begegnung mit ihm. Dieser Duft war wie eine Droge für sie, er schoss geradewegs an aller Logik vorbei, stieß ihre Erziehung und all ihre Kenntnisse der Familienregeln um und untergrub ihre Entschlossenheit, zu tun, was richtig war. Dieser Duft bohrte sich ihr mitten ins Herz, mitten in ihr Inneres. Sie roch den animalischen Hunger in ihm, die unmittelbar bevorstehende Verwandlung; sie atmete sein Verlangen ein und spürte, wie das gleiche Verlangen ihre Adern durchflutete. 61 Er sprach sie an, und seine Stimme war die Stimme aus ihren Träumen, volltönend, tief und glatt auf der Oberfläche und mit einer rauen Schärfe, die darunter lag, gerade so tief verborgen, dass sie sie noch wahrnehmen konnte. Er sagte: Vetrome elada. Wenn sie hätte wählen können, welche Worte aus seinem Mund kommen sollten, hätte sie eben diese Worte gewählt. Unsere Seelen küssen sich. Ihr Geist, ihr Körper und ihre Seele sagten ihr, dass er der Mann ihrer Träume war, derjenige, den sie zu finden gehofft hatte, derjenige, von dem sie nicht geglaubt hatte, dass es ihn gab. Er war die Liebe, von der sie nie geglaubt hätte, dass sie sie einmal finden würde. Er war alles, was sie sich je gewünscht hatte. Und sie würde ihn verraten. Sie musste es tun für den Wiedergeborenen, für ihre Familie und für ihre Freunde, sie musste es tun. Sie sagte: »Du bist ein Sabir, und ich bin eine Galweigh. Wir sind Feinde. Unsere Seelen können sich niemals berühren.« Sie log und wusste, dass es eine Lüge war, sobald die Worte sich in ihrem Mund formten, noch bevor sie über ihre Lippen kamen. Und sie beschloss, dass sie aus der Lüge eine Wahrheit machen würde, denn die Lüge war gut und gerecht, und ihr Begehren war falsch. Sie legte unüberhörbaren Abscheu in ihre Stimme. Verachtung. Sie hatte keine Mühe, den Abscheu und die Verachtung heraufzubeschwören, aber auch wenn er es nicht wissen konnte, sie hatten nichts mit ihm zu tun. Sie hatte sich nie so sehr gehasst wie in diesem Augenblick. Sie hasste ihre Schwäche, ihr Verlangen und ihren Hunger nach ihm; sie hasste die Tatsache, dass sie einen Sabir mit solch überwältigender Leidenschaft begehren konnte, wie sie gerade eben durch ihren Körper wütete ... Und sie hasste sich selbst, weil sie kalt genug, hart genug und grausam genug war, um ihn zu verraten, obwohl sie nichts auf der Welt lieber getan hätte, als auf ihn zuzulaufen und sich in seiner Umarmung zu verlieren. Sie sah ein Abbild ihres eigenen Schmerzes in seinen Augen und bemerkte, dass seine Körperhaltung sich veränderte. Er leug62 nete, was sie sagte, mit steifen Schultern und geballten Fäusten, bevor er es mit Worten leugnete. Er erwiderte: »Ich bin gekommen, um dich zu holen«, und in diese Worte legte er all seine Sehnsucht, all seine Leidenschaft. Tränen brannten in ihren Augenwinkeln. Es verlangte sie nach ihm, genauso sehr wie es ihn nach ihr verlangte; ihre Besessenheit war nicht geringer als seine, nicht anders als seine. »Ich weiß. Ich wünschte ...«, sagte sie, und die Worte platzten aus ihr heraus, bevor sie sie aufhalten konnte. Aber sie gewann schnell die Fassung wieder. Sie hatte nicht bis ins Erwachsenenalter hinein überlebt Karnee in einer Welt, in der Karnee zu sein den Tod bedeutete , indem sie ihren Impulsen nachgab. Sie drückte die Schultern durch, warf das Haar in den Nacken und sah ihn wütend an, zwang sich, daran zu denken, dass er ein Sabir war und dass ihre Familie unter den Händen von Sabirs den Tod gefunden hatte. Sie erinnerte sich an die brennenden Leiber, sie erinnerte sich an die Sabir-Soldaten, die lachend
um den Scheiterhaufen herumstanden, und sie zwang sich, ihn in Gedanken mit diesen Männern zusammenzubringen. »Was ich wünsche, ist ohne Belang. Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich wusste seit jener Nacht in Halles, dass du mir nachkommen würdest.« »Du willst mich genauso sehr, wie ich dich will«, sagte er. Er machte einen Schritt nach vorn, auf ihre grüne Zuflucht zu, und sie reckte das Kinn empor und verschränkte die Arme über der Brust. »Ich will dich nicht«, erklärte sie ihm. »Die Karnee-Seite meines Wesens hat keine Macht über mich, und ich will dich nicht.« Sie sah den Anflug eines Lächelns über seine Lippen huschen; ihr wurde klar, dass sie mit ihren Worten praktisch zugegeben hatte, dass die Karnee-Seite ihres Wesens ihn sehr wohl wollte. Er machte einen zweiten Schritt auf sie zu, einen dritten. Sie wollte ihn, sie wollte ihn wirklich, mochten die Götter ihr verzeihen. Sie wollte ihm nicht wehtun. Sie wollte ihn sich nicht zum Feind machen. 63 Er sagte: »Du bist in Fleisch und Blut noch schöner, als du es in meinen Visionen warst.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Du auch«, flüsterte sie. Der vernünftige Teil ihres Geistes beobachtete sie, wie sie dort standen, und schrie, dass es Wahnsinn sei. Der andere Teil von ihr der Teil, der, wie widerstrebend auch immer, die Existenz von Magie akzeptierte wusste, dass das, was zwischen ihnen geschah, in das Reich der Zauberei fiel. Sie hatte schon früher Begehren verspürt, und das hier war etwas anderes. Sie hatte auch schon geliebt, und seien es auch nur ihre Verwandten gewesen ... und dies hier war auch keine Liebe. Die Welt hatte sich zusammengezogen, bis nur noch für sie und ihn Platz war, für das Blut, das in ihren Ohren pulste, für das Kribbeln ihrer Haut und das plötzliche flaue Gefühl in ihren Eingeweiden. Dann kam er auf sie zu, lief auf sie zu, und einen Augenblick lang vergaß sie sich in ihrem Hunger nach seiner Berührung. Einen Augenblick lang vergaß sie, was sie ihm anzutun beabsichtigte. Er legte seine Hände auf ihre Schultern, und sie atmete einmal tief durch. Sie hätte keine Worte gehabt, um die Vollkommenheit seiner Berührung zu beschreiben, die perfekte Harmonie ihrer beiden Körper. Sie hätte sich in dieser Umarmung verlieren können, sich selbst und all ihre Ideale und Sehnsüchte. Aber wie aus dem Nichts erschien das Messer an Rys Kehle und hinter dem Messer Hasmal. Sie drückte ihm eine Hand flach auf die Brust und sagte: »Keine Bewegung.« Seine Augen weiteten sich, und er erstarrte. Sie spürte das Beben, das ruckartig durch seinen Körper lief. »Keine Bewegung«, sagte sie leise, »oder du wirst sterben. Hier geht es nicht um dich und mich, Ry. Hier geht es um Galweighs und Sabirs, um Wölfe und Falken; eine andere Möglichkeit als diese gibt es nicht.« Ian trat aus der anderen Hälfte des Schildes heraus, den Has 64 mal für sie beide errichtet hatte. Mit gezücktem Schwert kam er lächelnd auf sie zu. Kait konnte Ians Hass sehen, sie konnte ihn riechen. Hasmals Magie hatte die beiden Männer in jeder Hinsicht verborgen gehalten ihren Duft, ihre Gestalt, ihre Bewegung und ihren Schatten, den Klang ihres Atems, ihres Herzschlags und jeder nervösen Regung , aber es hätte niemals so gut funktionieren können, wenn sie sich nicht selbst als Köder angeboten hätte. Sie waren nur deshalb wirklich unsichtbar gewesen, weil Ry seine ganze Aufmerksamkeit auf sie, Kait, konzentriert hatte. Die beiden Männer waren auch für sie selbst erst in dem Augenblick vollkommen unsichtbar geworden, als sie sich in ihrem Verlangen nach Ry verlor. »Wie ...?«, wollte Ry gerade fragen, aber Ian blaffte ihn an: »Sei still, du Mistkerl«, und Hasmal sagte etwas ruhiger: »Auf die Knie.« Kait sah das Erschrecken, den Widerwillen und den Schmerz in seinen Augen und wappnete sich dagegen, das zu tun, was sie tun musste. Sie sagte zu ihm: »Verwandle dich nicht. Die Klinge ist mit Refaille vergiftet du würdest sterben, bevor du deine Verwandlung vollendet hättest.« Sie biss die Zähne zusammen und versuchte mit aller Willenskraft, die Tränen niederzukämpfen, die sich in ihren Augen bildeten. Wir alle bestimmen selbst darüber, was wir mit unserem Leben anfangen, dachte sie. Wir bestimmen, was wir tun, wir bestimmen, was wir sagen. Und wenn wir einen Beschluss gefasst haben, dann zahlen wir den Preis. Er ist der Preis, den ich zahlen muss, um den Spiegel zum Wiedergeborenen zu bringen, um das Leben meiner Freunde zu retten, um meine Eltern, meine Geschwister, meine Familie aus dem
Reich des Todes zurückzuholen. Ry hielt den Blick fest auf sie gerichtet, und sie zwang sich, zuzusehen, was Hasmal und Ian mit ihm machten. Sie drückten ihn auf die Knie hinunter und fesselten seine Hände und seine Knöchel. Sie sagte ihnen, wie sie ihn fesseln mussten, damit das Seil hielt, selbst wenn er sich verwandelte. Sie wandte keinen Moment 65 den Blick von ihm ab. Sie würde nicht feige sein. Sie würde die Konsequenzen ihres Tuns mit ansehen, die Folgen, die ihr Plan mit sich brachte. Sie würde sich nicht vor dem Preis, den sie zahlen musste, verstecken. Auch er ließ sie nicht aus den Augen. Mit seinen Augen sagte er ihr: Ich liebe dich, obwohl du mich verraten hast; der Blick, mit dem sie ihm antwortete, sagte: Ich liebe dich ebenfalls, aber Liebe spielt hier keine Rolle. Etwas in der Luft erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie wandte sich ab. Sie teilte die Lippen und holte langsam und bedächtig Atem. Da kam etwas über den Hügel... etwas, das sich alle Mühe gab, keinen Laut von sich zu geben. Ja. Sie sagte: »Es ist ihm jemand gefolgt. Er versucht, uns von hinten zu überraschen.« Sie konnte ihn riechen einen Mann, der nicht darauf achtete, dass der Wind seinen Geruch zu ihnen herunter wehte, weil er nicht an Menschen gewöhnt war, deren Sinne schärfer waren als seine eigenen. Sie drehte sich zu Ry um. »Wie ist sein Name?« Sie konnte sehen, dass er mit dem Gedanken spielte, sie zu belügen. Aber dann senkte er mit flackernden Lidern den Blick auf die vergiftete Klinge an seiner Kehle, und er sagte es ihr. Sie rief: »Yanth! Bleib, wo du bist!« Hasmal sagte zu Ry: »Schweig jetzt. Wir übernehmen das Reden für dich.« Ian fügte hinzu: »Oder für deine Leiche, falls du uns einen Grund dafür gibst. Bitte ... gib uns einen Grund.« Ry drehte langsam den Kopf, nur so weit, dass er aus dem linken Augenwinkel nach oben blicken konnte. Kait sah, wie die ursprüngliche Verwirrung in seinem Gesicht dem Erschrecken Platz machte. »Ian?« »Zumindest erinnerst du dich an mich. Und jetzt ist die Situation umgekehrt, nicht wahr? Nach all diesen Jahren liegt dein Leben in meinen Händen.« Ian sprach mit betont leiser Stimme wie66 ter: »Und ich habe geschworen, mir dein Leben zu holen ... Bruder. Also, wirst du heute sterben?« Kait starrte von einem zum anderen. Bruder? Ian war Rys Bruder? Sie schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen. Welches Zusammentreffen? Sie liebte den Bruder, den sie nicht haben durfte, und konnte den Bruder haben, den sie nicht liebte und hatte die ganze Zeit über nicht gewusst, dass die beiden Brüder waren? Sie hätte schreien können über diesen Zufall, aber es war wohl kein Zufall, nicht wahr? Die Götter hatten ihre klebrigen Finger tief in Kaits Leben, und sie spielten mit ihr. Machten sich auf ihre Kosten einen Spaß. Stellten ihr so sorgfältig ihre Fallen, wie sie diese Falle für Ry gestellt hatte. »Was zur Hölle habe ich dir je getan?«, murmelte Ry. »Tu so, als wüsstest du es nicht, und du wirst sehen, wie schnell ich dich umbringe.« Ian trat ihn in die Rippen. Kait riss Ian zur Seite und fauchte: »Lass das.« Vom Gipfel des Hügels aus rief Rys Freund runter: »Lasst ihn gehen. Wir werden euch alle umbringen, um ihn zu befreien, wenn es sein muss.« Kait wandte sich widerstrebend ab von Ry und Ian und dem seltsamen Drama, das sich zwischen ihnen abspielte. »Du verschwendest deinen Atem. Zunächst einmal, ich weiß, dass du allein bist. Zweitens, die Klinge an seiner Kehle ist mit Refaille präpariert worden. Wenn uns die Art, wie du die Wimpern bewegst, missfällt, ist er tot, bevor du ein zweites Mal blinzeln kannst.« Nach einer kurzen Pause schien Yanth zu dem Schluss gekommen zu sein, dass er am kürzeren Hebel saß. »Tut ihm nichts. Ich höre euch zu. Sagt mir, was ihr wollt.« Kait sagte: »Setz über zu deinem Schiff. Bring den Kapitän und deinen Parnissa an Land, und erwartet uns unten an den Gräbern. Wir werden uns dort mit euch treffen.« »Welche Garantie habe ich, dass ihr Ry nicht töten werdet, wenn ich ihn hier bei euch zurücklasse?« Kait sagte: »Wenn er tot ist, haben wir keine Chance, mit euch 67 etwas auszuhandeln, und wir haben keine Chance, einen Kampf zu überleben. Solange er uns
gehorcht, wird ihm nichts geschehen.« Sehr leise ergänzte Ian: »Jedenfalls nicht heute.« Die Unterhändler standen am Strand, während hinter ihnen der grollende Puls der hereinkommenden Flut zu hören war. Kait sah sich den Parnissa an, einen jungen Mann mit kalten Augen, der aussah, als verbrächte er jede freie Minute mit dem Studium der Kriegskünste. Der Kapitän dagegen schien Kait ein ebenso vernünftiger wie geduldiger Mann zu sein. Die Gewänder des Parnissas waren aus einer leuchtenden Seide geschnitten und in Grünund Goldtönen gehalten; außerdem waren sie über und über mit den heiligen Symbolen des Iberismus bestickt: dem Auge der Wachsamkeit, der Hand des Fleißes, dem Schwert der Wahrheit, den Waagschalen der Gerechtigkeit, der neunblättrigen Blume der Weisheit. Auch der Kapitän hatte sich seinem Status entsprechend gekleidet: Er trug die grünsilberne Seidenuniform der Sabir-Familie, die in seinem Falle jedoch nach traditioneller, rophetianischer Manier geschnitten war; außerdem hing um seinen Hals eine schwere Silberkette, in die die Insignien des Gottes Tonn gestanzt waren, und in seinen Bart und sein schulterlanges Haar hatte er silberne Perlen geflochten. Yanth stand hinter den beiden Männern, sein Seidenhemd und seine ledernen Hosen so schwarz wie die eines Henkers. Er hielt die Hand auf seinem Schwert und starrte sie wütend an. Kait wusste, wie sie in ihren Augen aussehen musste eine knabendünne Frau in den abgenutzten und geflickten Lumpen der niedrigsten Seeleute, und an den Füßen die viel zu großen Stiefel eines Toten. Sie legte die Hand auf den Knauf ihres eigenen Schwertes mit dem Wappen der Galweighs und Intarsienarbeiten aus Rubinen und kuppelförmig geschliffenen Onyxen. Sie nahm die Schultern zurück und reckte das Kinn hoch empor. Sie war keine Hochstaplerin. Sie trat vor und ließ Ian und Hasmal mit 68 dem am Boden knienden Ry hinter sich zurück. »Ich bin Kaitayarenne, die Tochter von Grace Draclas aus dem Geschlecht Strahan Galweighs. Aufgrund meiner Ausbildung im diplomatischen Dienst, der ich in der Familie Galweigh die Position einer Yanar verdanke, werde ich als Sprecherin meiner Leute auftreten. Sie sind damit einverstanden, und mein Wort ist bindend, im Namen der Götter von Calimekka und Ibera.« Der Kapitän zog eine Augenbraue in die Höhe, eine Geste der Überraschung, die er eilig wieder unterdrückte; es erstaunte ihn, dass sie die Verhandlungsformeln kannte, dann nickte er. »Ich bin Madloo Sleroal. Aufgrund meiner Stellung als Kapitän der Windsbraut, die ich von Tonns Gnaden erhalten habe und im ehrenwerten Dienst der Familie Sabir ausführe, werde ich für meine Leute sprechen. Mein Wort ist bindend, und zwar im Namen von Tonn, und nur im Namen Tonns.« Das war typisch für die Rophetianer. Sie waren nicht bereit, bei den Göttern des Iberismus zu schwören, sondern schworen nur bei dem einzigen rophetianischen Gott des Meeres. Kait konnte das jedoch akzeptieren ein rophetianischer Kapitän, der einen ganzen Ozean zwischen sich und seiner Heimat liegen hatte, würde niemals in Tonns Namen einen falschen Schwur tun. Der Parnissa mit den kalten Augen blickte zwischen dem Kapitän und Kait hin und her, zog die Schnur, mit der er sich seine Robe gegürtet hatte, auf und hielt das schwarze Seidenband in die Höhe. Er sagte: »Ich stehe zwischen den streitenden Parteien. Ich diene nur den Göttern, ohne Loyalität der einen oder der anderen Partei gegenüber, und die Götter überwachen durch meine Augen die Einhaltung aller Bündnisse, Pakte und Abkommen, die an diesem Tag geschlossen werden. Alle Worte, die von mir gesprochen werden, werden vor den Göttern gesprochen, und in ihnen wohnt die Kraft des Seeleneides.« Kait streckte ihren rechten Arm aus, der Kapitän tat es ihr nach, und der Parnissa band sie mit der Schnur zusammen, wobei er mit großer Sorgfalt den Knoten der Unterhändler band. »Aneinander gekettet, schwört ihr vor 69 meinen Augen, ehrlich miteinander zu verfahren, zum Wohle aller. Sollte einer von euch den Bund brechen, so ist euer Leben verwirkt.« Er trat zurück. »Menschen handeln und Götter wachen.« »Menschen handeln und Götter wachen«, sagte der Kapitän. »Menschen handeln und Götter wachen.« Kait atmete langsam ein und stieß die Luft noch langsamer wieder aus, um das bebende Gefühl in ihrem Bauch zu beruhigen. Bei dieser ihrer ersten Verhandlung ging es um ihr Leben und das Leben ihrer Freunde, und das allein würde sie zu einem Furcht erregenden Erlebnis machen. Aber sie musste gleichzeitig den sicheren Transport des Spiegels der Seelen aushandeln, und insofern betraf alles, was sie tat oder nicht zu tun vermochte, die Zukunft der ganzen Welt. Sie fragte sich, wie viele andere unerprobte Diplomatenanwärter in der Vergangenheit um einen solch hohen Einsatz hatten spielen
müssen, und kam zu dem Schluss, dass sie der erste war. »Da Ihr«, sagte der Kapitän und blickte an ihr vorbei zu Ry hinüber, der mit einem Messer an der Kehle in der Asche kniete, »die Verhandlung anberaumt habt, warum sagt Ihr mir nicht erst einmal, was Ihr wollt.« »Meine Wünsche sind einfach. Erstens die Dienste Eures Wundarztes. Zweitens die Garantie einer sicheren Überfahrt und der Freiheit an Bord Eures Schiffes für mich selbst, meine drei Kameraden und unsere Besitztümer sowie unsere Fracht zu dem von uns erwählten Zielort.« »Und der wäre ...?« »Süd-Ibera. Der Hafen von Brelst würde uns genügen.« Sie wusste nicht, wie weit im Süden sich ihre Cousine Danya aufhielt, aber wo Danya war, war der Wiedergeborene und dorthin mussten auch Kait und der Spiegel gelangen. Von Brelst aus konnte sie den Spiegel an jeden Ort bringen, an dem er benötigt wurde. »Ihr verlangt eine ganze Menge von uns: Unser Schiff soll von seinem beabsichtigten Kurs abweichen, unsere Matrosen sollen 70
eine Störung in ihrem gewohnten Alltag in Kauf nehmen, und wir sollen uns den zusätzlichen Gefahren aussetzen, dass wir es mit Piraten, Unwettern, Ungeheuern und Riffen zu tun bekommen können. Was habt Ihr als Gegenleistung zu bieten?« »Ry Sabirs Leben.« Der Kapitän lächelte. »Er ist übers Meer gefahren, um Euch zu retten. Hätte er nicht Euer Wohlergehen im Sinn gehabt, könntet Ihr jetzt nicht sein Leben benutzen, um Eure Bedingungen durchzusetzen.« »Und wenn er gekommen wäre, um uns alle zu retten, wäre ich nicht dazu gezwungen, es zu tun.« »Und wie könnt Ihr so sicher sein, dass er euch nicht alle gerettet hätte?« »Einmal davon abgesehen, dass Ihr davon ausgeht, ich wüsste sicher, dass Ihr zu meiner Rettung gekommen seid. Galweighs und Sabirs blicken nicht gerade auf eine glückliche gemeinsame Vergangenheit zurück wie konnte ich, als mir klar wurde, dass ein Schiff der Sabirs in unseren Hafen segelt, davon ausgehen, dass meine Freunde Eure Freunde sein würden? Und tatsächlich habe ich entdeckt, dass Euer Sabir und unser Kapitän Feinde sind.« Sie führte diesen Punkt nicht näher aus die Götter hatten sie zu beiden Männern hingezogen, die Götter hatten die beiden Brüder zusammengeführt, und jetzt war sie ganz sicher, dass die Götter darauf gewettet hatten, was als Nächstes geschehen würde. Sie dagegen sah keinen Sinn darin, ihre Verhandlungen mit solchen Informationen zusätzlich zu komplizieren. »Also gut«, sagte der Kapitän gelassen. »Wie sieht Eure Fracht aus?« Sie zuckte die Achseln. »Bettzeug. Die wenigen Besitztümer, die die Meuterer nicht gestohlen haben, ein einziges Artefakt, das zu holen wir hierher gekommen sind.« »Sie spricht von dem Spiegel der Seelen«, meldete Ry sich zu Wort. Kait hörte den Schlag, der folgte, und dann Ians Stimme: »Noch ein Wort von dir, und du bist tot und wenn wir mit dir 71 sterben, werden wir wenigstens zuerst deine Freunde in ihr Grab schicken.« Der Kapitän stieß ein leises Schnauben aus, denn er glaubte offensichtlich nicht, was Ry gesagt hatte, aber der Parnissa starrte sie mit großen Augen an. »Der Spiegel der Seelen?« Sie konnte nicht lügen nicht solange sie an den Schwur der Verhandlung gebunden war, wo die Götter ihre Zeugen waren und sie ihr Leben verwirkte, wenn sie die Bedingungen des Schwures brach. Sie sagte: »Ja. Wir haben den Spiegel der Seelen gefunden.« Eine Sekunde lang dachte sie, dass der Parnissa vor ihr auf die Knie sinken würde, aber dann fasste er sich wieder. »Kapitän«, sagte er, und sie hörte das Beben in seiner Stimme, »wir dürfen nicht zulassen, dass der Spiegel irgendwo anders hingelangt als nach Calimekka. Er ist ... er gehört dorthin ...« Er schluckte so heftig, dass sie das Aufundabhüpfen seines Adamsapfels sehen konnte. »Nur die Parnissas dürfen dem Artefakt überhaupt nahe kommen. In den falschen Händen wäre es unsagbar gefährlich es ist dasjenige der alten Drachenartefakte mit der stärksten Magie.« Der Kapitän blickte von dem Parnissa zu Kait. »Hmm«, sagte er. »Sieht so aus, als hätten wir ein Problem.« Kait starrte den Parnissa ungläubig an. Dann sagte sie zu dem Kapitän: »Der Parnissa ist neutral. Indem er Euch eine Vorgehensweise nahe legt oder in irgendeiner Weise in die Verhandlung eingreift, macht er den ganzen Ablauf nichtig und scheidet selbst als Unparteiischer aus. Ohne einen
Unparteiischen können wir nicht verhandeln, und wenn wir nicht verhandeln können, müssen wir Ry töten. Ihr könnt nichts von dem, was er gesagt hat, verwenden. Ihr müsst es vollständig vergessen.« Der Kapitän schloss kurz die Augen und dachte nach. Dann seufzte er. »Ich hasse Diplomaten.« Er blickte zu dem Parnissa hinüber. »Seid einfach still und beobachtet nur, Loelas. Das Mädchen und ich werden diese Geschichte ohne Eure Hilfe regeln. Das hier ist eine Sache, die wir allein abmachen müssen.« 72
Sie nahm eine Regung wahr, die sie überraschte. Ein denkbar schwaches Lächeln huschte über die Lippen des Kapitäns, und ein winziger Hauch von Bewunderung drang an ihre empfindliche Nase. »Dann mal zu, Mädchen«, sagte er. Sie nickte. »Ihr wollt eine sichere Überfahrt für Eure Leute, medizinische Hilfe für einen von ihnen ich nehme an, es handelt sich um jemanden, der nicht hier ist.« »Ja.« »Daran ist nichts auszusetzen. Diese Bedingungen kann ich ohne weiteres erfüllen, im Gegenzug für Rys Leben. Einverstanden?« »Lasst mich zuerst auch den Rest hören.« »Den Rest? Hm, ja, da ist tatsächlich noch mehr.« Sein Lächeln war jetzt deutlicher. Irgendetwas an der ganzen Situation machte ihm Spaß er hatte sich einen Trick einfallen lassen, oder vielleicht wusste er von einem Hintertürchen, das es ihm ermöglichen würde, sein Wort zurückzunehmen. »Ihr wollt, dass wir euch nach Brelst bringen. Das kann ich nicht tun. Wenn wir dorthin kommen, werden die Stürme der Zauberringe ihren Höhepunkt erreicht haben, und Brelst befindet sich im Zentrum von vier solchen Ringen.« Kait dachte darüber nach, dann nickte sie. »Dann handeln wir also einen anderen Hafen aus.« Er schürzte die Lippen und blies die Wangen auf, bis er wie ein Plusterfisch aussah. »Pah! Der Hafen ist nicht das größte Problem. Das Problem ist der Spiegel der Seelen. Was ich über dieses Artefakt gehört habe, ist... Furcht erregend. Damit ich es an Bord meines Schiffes nehme, brauche ich noch eine Zusatzleistung.« »Ich verstehe Eure Position«, sagte sie. »Aber ich kann nicht zulassen, dass der Spiegel der Seelen bei dem Parnissa verbleibt oder nach Calimekka gebracht wird. Wenn das Eure Forderung ist, werden wir hier sterben.« 73
Er kicherte leise. »Ich würde nicht erwarten, dass Ihr Euch bereit findet, dem Parnissa Eure Beute zu überlassen, Mädchen. Ihr habt den ganzen Weg quer über den Ozean hinter Euch gebracht und schrecklichen Gefahren getrotzt, um ihn zu bekommen.« Sie nickte. Und wartete. »Etwas, für das Ihr solche Strapazen in Kauf genommen habt, verdient Ihr zu behalten, nicht wahr?« Sie nickte abermals und spürte langsam, wie sich eine Falle um sie herum schloss, konnte aber nicht sehen, woher die Gefahr kam. »Gut.« Der Kapitän lächelte ein winziges Lächeln. »Denn alles, was Ihr durchgemacht habt, um Eure Beute zu bekommen, hat unser Parat durchgemacht, um Euch zu retten. Und wenn Ihr es verdient, Euren Lohn zu behalten, gebt Ihr mir doch sicher Recht, dass er es verdient hat, seinen zu behalten.« Klick. Die Falle schnappte um sie herum zu, und sie hatte dem Kapitän bereits Recht gegeben, dass die Gitterstäbe dieser Falle solide waren und ihre Verwendung akzeptabel. »Ihr wollt, dass ich mich ... dass ich mich ihm schenke?« »Nein. Ich bestehe nur darauf, dass Ihr sein Quartier mit ihm teilt und während der Rückreise seine Gefährtin bleibt. Im Gegenzug werde ich Euch und Eure Freunde und Ry und seine Freunde sowie Euren Spiegel der Seelen in einen neutralen Hafen bringen: weder nach Brelst noch nach Calimekka. Ich denke, Glaswherry Hala wäre für diesen Zweck vielleicht geeignet. Sobald Ihr an Land seid, könnt Ihr gehen, wohin Ihr wollt. Sollte er beschließen, mit Euch zu gehen, so mag er das tun. Sollte er beschließen, mit mir nach Calimekka zurückzukehren, auch gut. Auf diese Weise erfülle ich meine Pflicht ihm gegenüber und kann gleichzeitig Euren Wünschen Rechnung tragen.« »Ihr könnt ihr unmöglich den Spiegel überlassen!«, empörte sich der Parnissa. »Ihr könnt Kait unmöglich Rys Gesellschaft aufzwingen!«, brauste Ian auf. 74
Der Kapitän sah zuerst den Parnissa an, und einen Augenblick lang sah Kait diesen Anflug von Verachtung aufschimmern, mit dem jeder Kapitän, der ihr je begegnet war, das Parnissat betrachtete. Es war der Blick, den Männer, die wahrhaft frei und Herren über ihr eigenes Leben waren, für jene hatten, die sich für den Weg der Bürokratie entschieden. »Ich kann es tun, und ich habe es getan.« Er wandte sich an Ian. »Und Ihr ... Ihr seid nicht der Kapitän auf meinem Schiff. Ihr seid weniger als nichts Ihr und der Rest Eurer Leute, Ihr werdet nur auf das Wort dieser Frau hin frei sein. Solange sie für Euch spricht, sorge ich dafür, dass man Euch mit Höflichkeit gegenübertritt. Aber Ihr habt keine eigene Stimme. Verstanden?« Kait beobachtete Ian aus den Augenwinkeln. Er erbleichte und nickte. Sie hätte das Angebot gern abgelehnt. Ry und seine Männer würden sie gewiss »begleiten« wollen, sobald sie an Land waren, und sie, Ian, Hasmal und Jayti würden in der Minderheit sein und den Spiegel der Seelen zu guter Letzt doch an die Sabirs verlieren. Sie würden lediglich ihrer Heimat näher sein, wenn sie ihn verloren. In der Zwischenzeit würde sie mit Ry das Quartier teilen müssen, obwohl es ihr schon zu vertraulich erschien, auch nur denselben Kontinent mit ihm zu teilen. Sie konnte nicht verlangen, dass der Kapitän ihr und ihren Leuten den Besitz des Spiegels garantierte, sobald sie wieder an Land waren; das Kapitänsgesetz begann und endete auf dem Meer, und er konnte ihr nichts anbieten, das Ry und seine Männer jenseits der Planken seines Schiffes zu etwas verpflichtete. Außerdem war es ihre Idee gewesen, mit ihm zu verhandeln sie konnte jetzt kaum erklären, dass sie auch mit Ry verhandeln wolle. Wenn sie zu viel verlangte, würde sie alles verlieren. Sie hätte dem Kapitän am liebsten ins Gesicht gespuckt und ihm gesagt, dass sie ihn eher in der Hölle wieder sehen würde. Aber sie hatte das Wort Sieg dahin gehend definiert, dass sie ihre Leute und den Spiegel sicher übers Meer und zu dem Wiederge75
borenen bringen würde. Der Handel, den der Kapitän ihr vorschlug, garantierte ihr zumindest einen vorübergehenden Sieg und sie würde die ganze Reise Zeit haben, um sich zu überlegen, wie sie daraus einen dauerhaften Sieg schmieden konnte. Sie sah dem Kapitän fest in die Augen. »Ihr schwört, das Leben meiner Freunde zu schützen, als gelte es das Leben Eurer eigenen Familie oder Mannschaft, Ihr schwört, unsere Fracht zu schützen, als sei es Eure eigene, und uns sicher in einen Hafen zu bringen, der nicht Calimekka ist? Ihr schwört, dass Ihr uns alle gehen lasst, sobald wir dort ankommen, und dass Ihr uns gestattet, den Spiegel der Seelen mitzunehmen?« »Ich schwöre.« Sie sah die Aufrichtigkeit in seinen Augen und roch Ehrlichkeit in seinem Atem. »Und Ihr werdet es zufrieden sein, dass ich meinen Teil des Handels eingehalten habe, wenn ich einen Raum mit Ry Sabir teile und ihm tagsüber als Gefährtin aufwarte; Ihr verlangt nicht, dass ich seine Geliebte oder seine Eylayn werde.« »Das ist richtig.« »Ich bringe dich um, wenn du sie anrührst, du Bastard«, hörte sie Ian Ry zuzischen, aber diese Drohung kam viel zu leise, als dass die anderen sie hätten hören können. Kait seufzte. »Dann akzeptiere ich Eure Bedingungen für meine Kameraden.« Nun hatte der Kapitän noch eine Frage an sie. »Euer Ehrenwort erstreckt sich auch auf Eure Kameraden, und Ihr werdet Euch meinem Urteil ohne Frage oder Einwände beugen, falls einer von ihnen dieses Ehrenwort bricht?« Kait drehte sich um und warf Ian einen Blick zu, der klar und deutlich sagte: Wenn du mich ihm auslieferst, sorge ich dafür, dass du es den Rest deines Lebens bezahlst, dann antwortete sie dem Kapitän: »Das schwöre ich.« »Dann akzeptiere ich Eure Bedingungen für meine Leute.« Der Parnissa bedachte sie beide mit einem wütenden Blick, trat 76 aber zwischen sie und klopfte leicht auf den Knoten der Schnur, mit der sie aneinander gebunden waren. »Ihr Götter, wacht über diese Taten der Menschen, denn diese beiden haben im Interesse aller und im Geiste der Gerechtigkeit gehandelt und einen ehrlichen Handel miteinander geschlossen«, sagte er mit schroffer, mühsam beherrschter Stimme. Die Worte klangen wie auswendig gelernt, wie ein Gedicht, das ein aufgebrachtes Schulkind gegen seinen Willen hersagen muss. »Das Abkommen ist jetzt Gesetz und unterliegt den Strafen der Gesetze von Matrin und dem Schleier.« Wieder klopfte
er auf den Knoten. »Ich bezeuge, beurkunde und berichte.« Als sein Finger zum dritten Mal den Knoten berührte, löste er sich wie von Zauberhand, aber Kait konnte sehen, dass er lediglich auf besonders raffinierte Weise geschlungen worden war. Kait drehte sich zu Ian und Hasmal um. »Löst Rys Fesseln und lasst ihn gehen.« Keiner der beiden Männer war glücklich darüber, aber beide gehorchten. Ry erhob sich, strich sich die Asche aus dem Gesicht und rieb sich seine aufgeschürften Handgelenke. Er sah Ian an, und der Hass, der zwischen den beiden Männern vibrierte, war förmlich sichtbar. Kait hatte geschworen, dass sie Ian unter Kontrolle halten würde, unter Einsatz ihres Lebens, wenn der Kapitän so entschied; sie fragte sich, ob Ians Liebe zu ihr genügen würde, um sich dem Ehrenwort zu unterwerfen, oder ob er sie opfern würde, um an Ry heranzukommen. Aber auch in Rys Augen stand Tod. Tod für Ian. Er lächelte eine angespannte, hässliche Grimasse von kaum beherrschtem Zorn und ging mit langen Schritten über den Strand, wo Yanth und der Parnissa standen. Der Kapitän sagte: »Würdet Ihr es vorziehen, als Erste auf sein Schiff überzusetzen, Parata?« Kait hatte Angst, auch nur einen ihrer Leute allein zurückzulassen, ganz gleich, ob der Schwur des Kapitäns ihn schützte oder 77
nicht. Sie blickte den Hügel hinter sich hinauf und sagte: »Ich würde lieber als Ersten unseren Verletzten an Bord bringen. Der Spiegel kann dann mit Hasmal, Ian und mir hinübergerudert werden.« Der Kapitän lächelte. »Ganz wie Ihr wollt.« Kait führte ihre beiden Kameraden und Rys Leute zurück durch die Hügel, zu Jayti und dem Spiegel der Seelen, und fragte sich, wie qualvoll die vor ihr liegende Reise wohl werden würde.
Kapitet Ohaid Galweigh, Anwärter auf das Galweigh-Paraglesiat, führte sein Gefolge von Diplomaten, Händlern und Wölfen in die prachtvolle Palmenhalle der Sabirs. Er war der erste Galweigh, der seit vierhundert Jahren als Gast im Hause Sabir empfangen wurde, und wenn er auch nicht das große Galweigh-Haus in Calimekka repräsentierte, sondern nur das Haus Cherian in Maracada auf der Insel Goft, dann war dies eine Tatsache, die sowohl er als auch seine Gastgeber aus den Reihen der Sabirs nur allzu gern übersahen. Er nahm seinen Platz auf dem gewaltigen Stuhl aus vergoldetem Elfenbein an einem Ende der langen Tafel ein und nickte den beiden Männern zu, die am anderen Ende saßen, auf Stühlen von ähnlicher Pracht. Einer war der Paraglese der Sabirs, Grasmir Sabir, ein alter, majestätischer Löwe von einem Mann; der andere war ein gut aussehender Mann namens Crispin Sabir, der wunderschönes goldenes Haar und ein warmes, unbefangenes Lächeln hatte, das Shaid instinktiv gefiel. Die beiden Sabirs hatten persönlich jedes Mitglied der Delegation begrüßt, bevor sie zusammen in die Palmenhalle gegangen waren; jetzt gab Grasmir endlich ein Zeichen, und die Besprechung begann. »Wir haben sowohl alte als auch neue Angelegenheiten zu erörtern«, sagte Grasmir mit einem schiefen Lächeln. »Die alten Dinge reichen in eine Zeit, die mehr als vierhundertfünfzig Jahre zurückliegt; vielleicht sollten wir diese Dinge bereinigen, bevor wir uns Themen von unmittelbarem Interesse zuwenden.« Mehrere Galweighs und Sabirs, die um den Tisch herumsaßen, lachten leise auf. »Als amtierendes Oberhaupt der Familie Galweigh muss ich sagen, dass das auch langsam Zeit wird.« 79 »Also schön. Zu den alten Angelegenheiten. Die Familienurkunden berichten von einem Streit zwischen Arathmad Karnee und seinem Partner Perthan Sabir, bei dem es um die Mitgift von Arathmads Tochter ging. Die Tochter sollte den Sohn der Sabirs heiraten, sobald die beiden volljährig waren damals waren beide noch kleine Kinder. Perthan beschuldigte Arathmad, seinen Sohn zu beleidigen, indem er eine so kleine Mitgift anbot; Arathmad sagte, Perthans Sohn sei hässlich und spindeldürr, und der einzige Grund, warum er ihm seine Tochter anbiete, sei die Tatsache, dass er Perthans einziger Freund war und Perthans Sohn sonst nie eine passende Braut finden würde. Die Auseinandersetzung wurde immer bitterer geführt, die Partner lösten ihre geschäftliche Verbindung, die allen Beweisen nach in der Ausübung von verbotener Magie bestand. Und obwohl die Geschichte in diesem Punkt ziemlich vage ist es belegte einer der beiden Partner den anderen mit einem Fluch. Die Sabirs haben immer behauptet, der Schuldige sei Arathmad Karnee gewesen.« Shaid nickte. »Und die Galweighs haben stets darauf beharrt, Perthan Sabir habe den Zauber gewoben.«
Jene am Tisch, die diese Geschichte das erste Mal hörten, schüttelten den Kopf. »Und das hat vierhundertfünfzig Jahre Krieg innerhalb der Familien ausgelöst?«, fragte jemand. Shaid und Grasmir sahen einander von gegenüberliegenden Enden der Tafel an und lächelten. Grasmir nickte Shaid zu, der daraufhin sagte: »Nicht ganz. Sowohl Perthan als auch Arathmad starben an den Nachwirkungen des Zaubers einer an dem Zauber selbst und der andere an dem, was die Historiker als Rewhah bezeichnen. Dabei handelt es sich anscheinend um eine Art magischen Rückstoß, der aus der Benutzung von Magie resultiert.« Er wusste mehr über diese Dinge, und er vermutete, dass dasselbe für Grasmir galt niemand befehligte lange die Wölfe der Familie, ohne zu wissen, wo ihre Stärken und Schwächen lagen. Ihre Anfälligkeit für die Rewhah war eine große Schwäche. Aber man 80
musste allzeit den Schein wahren, und die Behauptung, frei von jedweder Magie zu sein, hatte schon mehr als einem Mann das Leben gerettet. Einer der jüngeren Sabirs fragte: »Aber wenn die beiden zerstrittenen Prinzipale starben, warum ging der Streit dann weiter?« Grasmir sagte: »Weil auch beide Kinder von dem Zauber getroffen wurden wenn auch nicht sichtbar. Die Nachwirkungen wurden erst offenkundig, als beide Partner wählten und Kinder bekamen. Ihre Kinder waren Narbige. Jemand bezeichnete diese Vernarbung als den Karnee-Fluch. Die Kinder waren Gestaltwechsler. Gefährliche, todbringende und unberechenbare Geschöpfe. In Calimekka wurde schon immer der Gaerwantag gefeiert der Tag der Säuglinge , und natürlich wurden alle narbigen Kinder geopfert. Nur dass die Eltern der Sabirkinder ebenso wie die Eltern der Karneekinder (jener Familienlinie, die sich mit den Galweighs verschmolz und schließlich in ihnen aufging) ihre Pflichten als Bürger vernachlässigten. Sie versteckten ihre Kinder, und den Ungeheuern wurde gestattet, erwachsen zu werden und sich zu vermehren.« Grasmir Sabir seufzte und schüttelte bekümmert den Kopf. »Beide Familien tragen noch heute einen Anflug dieser Vernarbung in ihrem Blut. Die narbigen Kinder waren der Grund für den jahrhundertelangen Krieg zwischen den Familien.« Bei diesen Worten waren die Gesichter der Gäste ernster geworden; tausend Jahre nach dem schrecklichen Zaubererkrieg konnte man noch immer die magischen Auswirkungen deutlich erkennen; sie offenbarten sich jedem, der sich in den Hafen wagte und die narbigen Sklaven bei der Arbeit an den Schiffen sah oder den Hinrichtungen der törichten Ungeheuer beiwohnte, die es wagten, sich als Menschen auszugeben, und nach Ribera gekommen waren. Kein wahrer Mensch vergaß je, dass die Narbigen nach dem Krieg Jagd auf Menschen gemacht und so viele wie nur möglich getötet hatten. Der bloße Gedanke an Mitglieder ich81 rer eigenen Familienlinie, die solche Gräuel am Leben gelassen hatten, statt sie zu opfern, entsetzte sie alle. Grasmir blickte von Gesicht zu Gesicht und seufzte schließlich. »Beide Familien haben sich in dieser Hinsicht schuldig gemacht, obwohl es uns zu diesem späten Zeitpunkt unmöglich ist aufzudecken, welcher der beiden Prinzipale größere Schuld trug.« Er brachte ein schwaches, müdes Lächeln zustande. »Und ich sage, dass es nicht länger von Belang ist. Lasst uns die Angelegenheit ein für alle Mal als bereinigt betrachten, lasst uns die Torheiten der Vergangenheit vergeben und uns der Zukunft zuwenden.« Shaid ließ eine winzige Zeitspanne verstreichen, um eine größere Wirkung zu erzielen. Dann stand er auf und applaudierte. Überall um den Tisch herum folgten andere Mitglieder der Delegation der Galweighs seinem Beispiel, sprangen auf die Füße und klatschten begeistert in die Hände. Auch die Sabirs erhoben sich. Grasmirs Lächeln wurde immer breiter, und als der Applaus schließlich erstarb, ließ er sich mit einer Miene größter Zufriedenheit auf seinen Stuhl sinken. »Dann betrachte ich es also als abgemacht, dass die Familien Sabir und Galweigh die Vergangenheit hinter sich lassen.« Weiterer Applaus antwortete auf diese Erklärung. Ohne sich dabei allzu auffällig zu benehmen, sah Shaid sich auf der Suche nach Andersdenkenden im Raum um. Er konnte niemanden entdecken. Ein wunderbares Ergebnis. In dem Schweigen, das dem Applaus folgte, stand er auf und sagte: »Dann ist jetzt wohl die Zeit gekommen, uns den neuen Angelegenheiten zuzuwenden, die uns heute hier zusammengeführt haben.« Er wartete, bis überall im Raum seine Gäste zustimmend nickten. Die Hände vor der Brust
gefaltet, sagte er: »Nun denn. Die Sabirs und die Galweighs aus Goft sehen sich sowohl einem Problem als auch einer großen Chance gegenüber, und da unsere Familien entschlossen sind, vergangene Meinungsverschiedenheiten hinter sich zu lassen, können wir vielleicht zusammen daran arbeiten, die Gelegenheit zu ergreifen und das Problem aus 82
der Welt zu schaffen.« Er räusperte sich und wusste plötzlich nicht mehr weiter. Er sah sich im Raum um. Die Gesichter, die ihm entgegenblickten, gehörten Freunden und Verbündeten, aber auch Männern und Frauen, die noch am Vortag geschworen hatten, alles zu seiner Vernichtung zu tun. Jetzt sahen ihn alle mit einer Variation desselben Themas an Neugier durchmischt mit einem Anflug von Habgier und einem Hauch von Erregung ... und einer Prise Furcht. Insbesondere fielen ihm Crispin Sabirs Augen auf voller Eifer und Faszination, aber dennoch wachsam. Es waren die Augen eines Mannes, der stets bereit ist, jeden Vorteil zu ergreifen und ihn sich zunutze zu machen. Am besten spielte er die Trumpfkarte der Erregung als Erste aus. »Was unsere Chance betrifft... nun, in unserer Generation ist es bisher niemandem gelungen, eine neue Stadt der Alten zu entdecken. Ein Mitglied des calimekkanischen Zweiges der Galweighs, eine Frau, charterte ein Schiff; sie tat das mit Geld, das sie aus dem Schatz von Goft stahl, und sie handelte aufgrund von Informationen, die sie den Archiven im Haus Goft entnahm. Sie segelte nach Osten und fand tatsächlich die Stadt, nach der sie suchte.« Er beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Tisch. Eine junge Frau der Sabirs schien erstaunt zu sein, dass er die Entdeckung eines solchen Schatzes durch ein Mitglied seiner eigenen Familie zugab, selbst wenn das betreffende Mitglied nicht die offizielle Erlaubnis der Familie hatte. Hätte er die Tatsache geheim gehalten, dass Kait aus eigenem Antrieb nach Osten gezogen war, hätten die Galweighs unanfechtbare Ansprüche geltend machen können. Einige Mitglieder von Shaids eigener Delegation schienen überrascht und vor den Kopf gestoßen zu sein, dass er so offen zur Sache kam. Schließlich hatte er mit diesen wenigen Worten die Ansprüche der Galweighs zunichte gemacht, so dass Kait das alleinige Recht auf ihre Schätze hatte, sofern sie 83
überlebte. Und wenn sie starb, würde alles an den Meistbietenden gehen. Er hatte jedoch auch unter Beweis gestellt, dass er bereit war, geradezu brutal ehrlich zu sein. Seiner Meinung nach war es die beste Verhandlungsgrundlage, sich den Anschein absoluter Aufrichtigkeit zu geben. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass ein unerwartetes Zugeständnis gleich zu Anfang einer Verhandlung den Feind derart aus der Fassung brachte, dass er anschließend weniger vorsichtig in seinem Tun war. »Wir haben ... Spione ..., die diese junge Frau auf Schritt und Tritt beobachtet haben. Sie hat ein Artefakt von immenser Bedeutung gefunden. Wir vermuten, obwohl wir uns noch nicht absolut sicher sein können, dass es sich um den Spiegel der Seelen handelt.« Er hörte ein befriedigendes Aufkeuchen vieler seiner Gäste. Allerdings nicht von Crispin oder Grasmir Sabir. Natürlich nicht. Ihre Wölfe hielten sie gewiss genauso über die Situation auf dem Laufenden, wie Shaids Wölfe es in seinem Falle taten. »Nach dem, was wir in unseren Archiven feststellen konnten, wäre der Spiegel der Seelen ein hervorragendes Werkzeug in den Händen von Freunden, aber eine vernichtende Waffe in den Händen von Feinden. Kait Galweigh, die Entdeckerin dieses Artefakts, hat sich zur Feindin des Hauses Goft gemacht. Weil sie sowohl Geld als auch Informationen von uns stahl, um den Spiegel an sich zu bringen, können wir starke Ansprüche auf ihn geltend machen, auf ihn und auf die Ruinen, in denen er gefunden wurde. Wir wollen diesen Spiegel haben. Für eure Mitwirkung bei der Wiederbeschaffung des Spiegels und für einen Verzicht eurerseits auf jedwede Ansprüche, den Spiegel betreffend, bieten wir euch die Hälfte der Ruinen an. Weiterhin bieten wir euch unsere Sachkenntnis und unsere Hilfe bei dem Versuch an, das in die Hände zu bekommen, was die Sabirs am meisten begehren.« Crispin Sabir lachte leise und fragte: »Was ist es denn, das die 84
Sabirs von Calimekka nach Meinung der Galweighs von Goft am meisten auf der Welt wünschen?« Shaid erhob sich sehr aufrecht und antwortete mit einem gelassenen Lächeln auf die Frage. »Das Haus
Galweigh. Wenn die Sabirs Haus Galweigh beherrschten, hätten sie die Kontrolle über die ganze Stadt, über ganz Calimekka. Die Galweighs von Goft werden euch den unangefochtenen Anspruch auf das Haus und seinen Inhalt überlassen. Natürlich erwarten wir von euch, dass ihr ... ah, dass ihr eure Ansprüche rechtfertigt, indem ihr sämtliche Abkömmlinge der calimekkanischen Galweighs tötet, die euren letzten Überfall auf das Haus überlebt haben.« Lange Sekunden verstrichen, und die Stille im Raum wog schwer genug, um die steinernen Mauern der großen Halle leise knacken zu lassen. Dann brach ein Hagel von Fragen über Shaid Galweigh herein. »Ich finde, das ist recht gut gelaufen«, sagte Veshre Galweigh. Sie war das Oberhaupt der Wölfe von Goft, eine Zauberin von ungeheurem Talent und einer gefährlichen Wildheit, doch verbarg sie diese Wildheit hinter einem fröhlichen Wesen und einem angenehm rundlichen Äußeren. Shaid löste seine Aufmerksamkeit von dem bezaubernden Ausblick auf die Landschaft, die unter dem Fluggerät dahinglitt, und lehnte sich in dem gepolsterten Sitz zurück. »Wahrscheinlich nicht so gut, wie es den Anschein hatte; dennoch, ich bin zufrieden.« »Du solltest außer dir vor Freude sein.« Veshre stieß einen verächtlichen Laut aus. »Sie haben sich bereit gefunden, uns ihre Truppen zur Verfügung zu stellen, damit wir eines von ihren Schiffen angreifen können. Sie sind bereit, uns den unangefochtenen Anspruch auf den Spiegel der Seelen zu überlassen und dieses Frauenzimmer, Kait, zu vernichten. Und sie sind einverstanden, die einzigen Personen zu töten, die zwischen dir und dem Haus Galweigh stehen. Du dagegen hast bereits die Dokteeraks bereitstehen, damit sie die überlebenden Sabirs auslöschen, nach 85
dem sie Haus Galweigh eingenommen haben, aber bevor sie Ansprüche darauf erheben können. Das war wirklich ein Meisterstück der Verhandlungskunst, der brillanteste Schachzug, den ich je mit angesehen habe.« Shaid seufzte. »Perowin, der größte Diplomat der Alten, sagte einmal: Diplomatie ist die Kunst, deinen Feind dazu zu bringen, sich selbst für dich die Kehle aufzuschneiden, ihn davon zu überzeugen, dass er es draußen macht, wo er keine Schweinerei hinterlässt, und ihn gleichzeitig in dem Glauben zu wiegen, er habe das beste Geschäft gemachte Ich beabsichtige, genau dieses Geschäft eines Tages zu machen, aber in der Zwischenzeit ...« Er dachte kurz nach, dann grinste er breit und brach schließlich in Gelächter aus. »In der Zwischenzeit bin ich bei allen Göttern der Sache doch schon ziemlich nahe gekommen, hm?« Auf dem Innenhof neben der Palmenhalle schlenderten drei schwarze Rehkitze zwischen dem Springbrunnen und dem Wasserfall einher und taten sich an Hibiskusblüten gütlich. Auf einer Rotunde, die ein gutes Stück abseits des Wasserfalles lag, spielte ein Orchester rophetianischer Musikanten Dool dlarmas traditionelle rophetianische Tanzmelodien zur Unterhaltung der Familie. Crispin Sabir saß auf dem Fenstersims in dem Raum über der Halle, beobachtete die Reihe und die Tänzer und lauschte der fröhlichen Musik, die seiner Stimmung entsprach. Sein Bruder Anwyn, der den Inhalt der Regale an der Innenmauer durchstöberte, sagte: »Der letzte Mistkerl, der hier drin war, hat den Paurel ausgetrunken und keine neue Flasche hingestellt.« Crispin lachte. »Ich glaube, dieser Bastard warst du selbst. Du bist der Einzige in der Familie, der dieses abscheuliche Zeug trinkt, und wenn du es tust, bist du anschließend so betrunken, dass du dich nicht einmal mehr daran erinnern kannst.« Anwyn ging in die Hocke, wobei er sich alle Mühe gab, auf seinen Pferdehufen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er rieb sich geistesabwesend die Hörner, die sich aus seiner Stirn emporwölb86 ten. Kurze Zeit später sagte er: »Wenn ich so darüber nachdenke du könntest durchaus Recht haben. Ich habe erst vor einer Woche ein Mädchen mit hierher gebracht. Möglich, dass ich den Paurel bei der Gelegenheit getrunken habe.« Nach jahrelanger Vermehrung seiner Narben, die auf die ständige Anwendung von Darsharen zurückging die Opfermagie der Wölfe , war an Anwyns Körper nichts Menschliches mehr verblieben. Abgesehen von den Hörnern und den Hufen ragten aus seinem Rückgrat und den Gelenken Stacheln hervor, Schuppen bedeckten die einst glatte Haut, und aus seinen Fingerspitzen wuchsen nach unten gebogene Krallen. Crispins Körper hatte genauso viel von der Rewhah, dem magischen Rückstoß, mitbekommen wie Anwyns, aber da Crispin ein Karnee war, hatte sein Körper diese negative Magie absorbiert und die damit verbundenen Veränderungen auf dieselbe Weise abgewehrt, auf die er nach
einer Verwandlung wieder in seine menschliche Gestalt zurückzukehren vermochte. Anwyn, dem die Vorteile des Karneefluchs nicht zu Gebote standen, war in einer zunehmend Grauen erregenden Gestalt gefangen. Crispin zog eine Augenbraue hoch. Kein Mädchen suchte je freiwillig Anwyns Nähe. »Ein Mädchen?« Anwyn hatte sich wieder dem Inhalt der Regale zugewandt, auf der Suche nach etwas, das ihm genauso sehr zusagte wie das schwere, bittere Knollenbier, das er am liebsten mochte. Er ließ sich Zeit bei der Antwort. »Andrew hat sie mir aufgetrieben ein Straßengör von einigem Format und mit Prinzipien. Sie dachte, sie würde mit allem fertig.« »Bis sie dich traf.« »Bis sie mich traf, in der Tat.« Anwyn lachte auf. »Und als du mit ihr fertig warst, hat Andrew sie ... sich ausgeborgt?« Anwyn zog eine dunkelgrüne Flasche, die ganz hinten auf dem unteren Regal gestanden hatte, hervor und sagte: »Ha! Ich dachte, die hätte ich für später weggestellt.« Es war eine Flasche Lak87
kar, Bier von grünen Mangos, und für Crispin nicht minder ungenießbar wie Paurel. Anwyn entkorkte die Flasche und schlenderte zum Fenster hinüber, wobei seine Pferdehufe sich mit einem scharfen Klicken über den Marmorfußboden bewegten. Er ließ sich Crispin gegenüber auf einen Stuhl fallen, nahm einen Schluck von seinem Getränk und seufzte. »Sie war nicht jung genug, um Andrews Interesse zu wecken. Du kennst ja seine Vorlieben.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe mit ihr gespielt, bis sie zerbrochen ist. Dann habe ich sie in den Windgarten gebracht. Die Glockenblumen wurden langsam grau und ließen die Blüten schon hängen, bevor ihr Samen reif war; ich dachte, sie könnten ein wenig Düngung vertragen.« »Ich bin froh, dass du aufgepasst hast. Ich hatte in letzter Zeit zu viel um die Ohren, um mich um irgendwelche Pflanzen zu kümmern, aber es wäre mir grässlich, die Glockenblumen zu verlieren. Sie sind so zauberhaft, wenn sie Früchte tragen. Ich werde sie mir ansehen, wenn ich das nächste Mal im Westflügel bin nur um mich davon zu überzeugen, dass der Dünger gewirkt hat.« Crispin nippte an seinem eigenen Getränk und lehnte sich an den kühlen, glatten Marmor des Fensterrahmens. »Wenigstens habe ich sie nicht umsonst vernachlässigt. Es sieht so aus, als würde sich all die Arbeit auszahlen. Die Versammlung ist recht gut gelaufen, meinst du nicht auch?« »Man kann sich gar nicht vorstellen, dass es besser hätte sein können. Ich wünschte, ich wäre persönlich dabei gewesen wie gerne hätte ich all die Gesichter aus der Nähe gesehen, als deine Galweighs ihre Seite des Geschäfts klarmachten.« Anwyn trank noch etwas von dem Mangobier und schüttelte dann den Kopf. »Sie haben wahrscheinlich überhaupt keine Probleme in ihrem Plan gesehen?« »Falls sie es haben, haben sie jedenfalls nicht davon gesprochen.« »Erstaunlich. Sie sind bereit, zwei ihrer Fluggeräte für den Angriff auf Ry und dieses Frauenzimmer aus ihren eigenen Reihen 88
zur Verfügung zu stellen? Und Soldaten? Und sie lassen ihre Truppen gegen ihre eigene Familie antreten?« Anwyn lachte. »Dann stellt sich nur noch eine Frage: Sind sie wirklich so naiv, oder halten sie sich für besonders klug?« »Ich habe ihren Paraglese so verstanden: Er ist ein unbedeutender Ränkeschmied, ein Betrüger im Grunde, aber er sieht sich als zukünftiges Oberhaupt eines großen Galweigh-Imperiums. Er hat gewiss nicht die Absicht, das Haus Galweigh irgend jemandem kampflos zu überlassen ich denke, mit geschlossenen Augen sieht er sich dort am Kopf der Tafel sitzen, wie er Armeen und Armada mit einem Fingerschnippen quer durch die bekannte Welt kommandiert. Er mag uns für Narren halten, aber vielleicht glaubt er, sein doppeltes Spiel würde genügen, uns aus dem Weg zu schaffen.« »Dann meinst du also nicht, dass er die Absicht hat, zu seinem Wort zu stehen.« Jemand klopfte an der Tür. »Den Sabirs gegenüber? Natürlich nicht.« Crispin stand auf, um die Tür zu öffnen, und sah sich seinem Cousin Andrew gegenüber. »Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wo du geblieben bist«, sagte er. Andrew haftete noch immer der Geruch von Blut an und der Geruch von einem Kind. Crispin zog die Nase kraus und wandte sich angewidert zu seinem Bruder um. »Würdest du zu dem Wort stehen, das du einem Galweigh gegeben hast?«
Kapitel 8
'Tief unten im Frachtraum der Windsbraut hockten Kait und Hasmal neben dem Spiegel der Seelen, um das Schott hinter ihm mit Lumpen zu polstern und das Artefakt inmitten der anderen Ladung des Schiffes festzuzurren. Ian und der Wundarzt des Schiffes kümmerten sich um Jayti, und der größte Teil der Mannschaft war zwischen den Ruinen auf der Suche nach Beutestücken, die sie mit nach Hause nehmen konnten. Diejenigen, die an Bord geblieben waren, schliefen oder führten notwendige Reparaturen aus. Daher waren Kait und Hasmal allein, obwohl Kait fest damit rechnete, dass früher oder später jemand kommen würde, um sie zu kontrollieren. »Sie werden uns nie erlauben, dies hier dem Wiedergeborenen zu bringen«, flüsterte Hasmal. »Nicht freiwillig.« Kait schlang ihr Ende des Seils um das silberweiße Metall des Sockels. »Das weiß ich. Ich wusste es schon, als ich mich auf ihren Handel einließ. Was sie uns nicht gestatten werden, müssen wir mit Gewalt erreichen.« Hasmal sah sie an und verdrehte die Augen. »Mit Gewalt? Wir werden auf der Überfahrt eine kleine Minderheit sein, bei Vodors Knochen! Der Kapitän oder Ry Sabir könnten Tage vor unserer Ankunft Brieftauben aussenden, und dann würde uns an Land die ganze Armee der Sabirs erwarten, ganz egal, wohin der Kapitän uns bringt.« »Nun, dann vielleicht nicht mit Gewalt. Eher mit Hilfe einer List.« Hasmal legte den Kopf zur Seite und bedachte sie mit einem langen, nachdenklichen Blick. »Ah. Du hast also vor, den Sabir auf deine Seite zu ziehen, indem du dir seine Liebe zunutze machst, Kait? Du meinst, er wird den Spiegel nicht zu seiner Familie bringen, wenn seine Leidenschaft für dich groß genug ist und du ihn darum bittest, den Spiegel behalten zu dürfen?« Hasmal zuckte mit den Schultern. »Das könnte funktionieren, obwohl mir der Gedanke nicht recht behagt, dass die Zukunft der Welt von diesem Plan abhängt.« Kait sah ihn an und war einen Augenblick lang sprachlos. Schließlich stieß sie hervor: »Du ... du denkst, ich würde mit ihm schlafen, um den Spiegel nicht aus der Hand geben zu müssen?« Hasmal runzelte die Stirn. »Ich hatte es gehofft. Es ist ja nicht so, als wäre er krank oder irgendwie abstoßend. Die Gelegenheit wirst du jedenfalls bekommen dafür hat der Kapitän gesorgt. Und der Wiedergeborene braucht den Spiegel; was für ihn wichtig ist, ist auch für uns und für den ganzen Rest der Welt wichtig. Es haben schon Frauen aus geringeren Gründen als dem Schicksal der Welt mit Männern das Bett geteilt.« In diesem Augenblick war ihr jede Zuneigung zu Hasmal vergangen, obwohl sie verstehen konnte, dass diese Idee in seinen Augen einfach nur praktisch erscheinen musste. Sie besann sich auf ihre diplomatische Ausbildung und sprach nicht aus, was sie von ihm hielt. Stattdessen mäßigte sie ihre Antwort. »Es würde nicht funktionieren. Selbst wenn ich ihn mehr liebte als alles auf der Welt, würde ich trotzdem verlangen, dass der Spiegel zu dem Wiedergeborenen gebracht wird und dann zu meiner Familie. Er ist genauso. Er wurde dazu erzogen, seine Pflicht zu tun. Ganz gleich, wie sehr er sich zu mir hingezogen fühlt, er würde trotzdem verlangen, dass der Spiegel in die Hände seiner Familie gelangt, entweder ausschließlich oder doch zumindest als Erstes und sobald er sich in den Händen der Sabirs befindet, würde seine Familie dafür sorgen, dass meine Familie niemals an den Spiegel herankäme, und zwar ganz egal, welche Übereinkünfte er mit mir oder ich mit ihm getroffen habe. Meine Familie würde nicht anders handeln. So sind die großen Familien eben nur das Ganze zählt, und pri90
91 vate Absprachen zwischen Einzelnen sind in ihren Augen immer dem Wohl der Familie als Ganzem untergeordnet. Immer.« Jedenfalls war es bei den calimekkanischen Galweighs so. Die Galweighs von Goft mochten anders handeln, aber sie hatte nie die Absicht gehabt, noch einmal mit diesen Verrätern zu verhandeln. »Also wäre jeder Schwur, den du ihm leistest oder er dir, von vornherein bedeutungslos, sofern die Galweighs oder die Sabirs am Ende nicht einverstanden sind?« Kait setzte bereits zu einem Protest an. Dann dachte sie über seine Frage und über ihre Worte nach.
Sie hatte ihr Wort immer als etwas Wertvolles betrachtet, und ihre Ehre war ihr so unverrückbar erschienen wie der Fels, auf dem das Haus Galweigh erbaut war. Aber in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie im Grunde keine Chance hatte: Ganz gleich, wie ehrlich sie war, ganz gleich, wie hart sie arbeitete, um ihre Versprechungen zu halten, ihre Familie konnte sie mit einem einzigen Befehl zur Lügnerin machen. Und wenn das stimmte, welchen Wert hatte ihr Wort dann für irgend jemanden? Sie blickte auf das Seil in ihren Händen hinab und sagte: »Ja.« Sie schüttelte den Kopf. Ständig machten irgendwelche Leute Geschäfte mit den Galweighs. Sie hatte immer gedacht, der Grund dafür sei das hohe Ansehen der Galweighs. Jetzt musste sie diese Dinge noch einmal in Frage stellen. Die Galweighs herrschten über halb Calimekka und über einen großen Teil der Welt nur ein Narr würde es wagen, ein Geschäft mit dieser Familie auszuschlagen, und nur ein Narr würde einen Vertrag mit einem Galweigh brechen. Aber betrachteten denn die Männer und Frauen, die ihr Wachs auf Verträge mit den Galweighs gössen, das Wachssiegel der Familie als wertlos? Wenn ja, war es kein Wunder, dass die Straßen nach Angst stanken, wenn sie sie hinunterging. Kein Wunder, dass sie bei Fremden solchen Hass riechen konnte. Kein Wunder, dass Frauen ihre Kinder von der Straße zogen und dass kleine Geschäfte oft ihre Türen für den Tag verschlossen, wenn sie vorbeikam. 92 Es musste eine bessere Möglichkeit geben. Es musste eine Möglichkeit geben, gleichzeitig ehrenhaft zu handeln und der Familie zu dienen. Hasmal sagte: »Dann müssen wir lernen, wie man ihn benutzt, bevor wir an Land kommen.« Kait, die in Gedanken immer noch bei ihrer Familie und dem Problem der Ehre war, wusste einen Augenblick lang nicht, wovon er sprach. Dann sah sie den Spiegel der Seelen an und schauderte. Lernen, wie man ihn benutzte? »Ich kann die Glyphen, die in die Knöpfe eingeritzt sind, nicht entziffern«, erwiderte sie. »Jedes der Artefakte der Alten kann tödlich sein, wenn man es falsch benutzt. Der Spiegel der Seelen ...«Ihre Stimme verlor sich, und vor ihrem inneren Auge erhoben sich die Leichen von zahllosen Toten aus ihren Gräbern und huschten über das verdunkelte Antlitz der Welt, auf der Suche nach Rache an den Narren, die ihre Seelen in Hüllen aus verwesendem Fleisch gefangen gesetzt hatten, ohne diesen Hüllen ein gesundes Leben wiederzugeben. Ihr graute vor dem Gedanken an einen Irrtum, selbst einem noch so kleinen. »Ich habe schon früher mit Worten der Alten zu tun gehabt. Ich kenne die Gefahren.« »Hast du gelernt, die Glyphen zu entziffern, seit ich den Spiegel gefunden habe?« »Nein. Aber wenn Ry Sabir sich nicht auf unsere Seite stellt, haben wir keine andere Wahl.« Es gab immer eine andere Wahl. »Wenn Amalee wieder zu mir sprechen würde ...« »Nein. Sei froh, wenn sie nicht zurückkommt.« Hasmals Augen hefteten sich auf ein fernes Nichts, und sein Blick wurde trüb. »Irgendetwas stimmte nicht mit ihr«, sagte er, nachdem er kurz nachgedacht hatte. »Sie hat erzählt, dass die Magie, die deine Familie vernichtete, ihre Seele aus der Gefangenschaft befreit habe. Aber eine gefangene Seele würde sofort auf den Schleier zueilen, nicht wahr? Jenseits des Schleiers hätte sie eine neue Geburt verlangen können, ein neues Leben, all die Dinge, die ihr so lange 93 verweigert waren. Stattdessen gab sie sich damit zufrieden, die Dinge durch deine Augen zu sehen, durch deine Ohren zu hören und als eine machtlose, körperlose Stimme dahinzuvegetieren, die sich Hunderte von Jahren nach ihrem Tode in Angelegenheiten einmischte, als beträfen sie sie persönlich.« »Sie hoffte bestimmt, dass der Spiegel sie von den Toten auferstehen lassen würde.« »Warum?« Sie fragte sich, ob er sich mitunter absichtlich dumm stellte. »Natürlich, damit sie nicht länger tot wäre.« Hasmal schüttelte den Kopf. »Das würde für deine Geschwister und deine Eltern einen Sinn ergeben, Kait sie haben dich hier und alles aus ihrem Leben, was sie zurücklassen mussten. Aber wenn du Amalee von den Toten aufwecken würdest, hätte deine Ahnin niemanden und nichts auf der Welt, was ihr vertraut wäre. Alles hat sich verändert. Warum sollte sie nicht versuchen, die Seelen zu finden, die ihre anderen Existenzen mit ihr geteilt haben? Warum sollte sie nicht auch deren Wiedergeburt anstreben? Warum sollte sie nicht den Wunsch haben, in ihre rechtmäßige Existenz zurückzukehren?« Kait dachte darüber nach. »Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Sie sprach davon, mir helfen zu wollen, sie wollte auch Rache an den Sabirs und, hm ... Sie interessierte sich für mein Leben, dafür, wie ich mich fühlte. Sie dachte, es wäre sehr aufregend, Karnee zu sein sie sprach sehr viel darüber. Ich weiß nicht, warum sie sich mehr für mich und meine Zeit interessierte als für die Möglichkeit,
weiterzugehen. Ich habe nicht darüber nachgedacht.« Sie wiegte sich auf den Fersen vor und zurück. Vielleicht war sie ziemlich dumm gewesen. »Ich war so dankbar, zu wissen, dass es vielleicht eine Möglichkeit gäbe, meine Familie zurückzuholen, dass ich mir nicht den Kopf darüber zerbrochen habe, welchen Vorteil Amalee aus dem Ganzen ziehen würde.« »Unternimm nichts, um sie zurückzurufen, Kait. Ich weiß nicht, wohin sie verschwunden ist, aber ich glaube, wir sind ohne sie 94 besser dran. Selbst wenn sie zu dir zurückkehrt, bitte sie nicht um Hilfe, was die Benutzung des Spiegels betrifft. Ich halte sie für ziemlich gefährlich.« »Sie ist der Grund, warum ich mich auf die Suche nach dem Spiegel gemacht habe.« »Das weiß ich.« Er rieb sich den Kopf. »Das ist nur einer meiner vielen Alpträume.« »Alpträume?« Als er zu ihr hinübersah, fielen ihr die dunklen Ringe unter seinen Augen auf und die Anspannung in seinem Gesicht, und ihr wurde bewusst, dass die Heiterkeit, die bei ihrer ersten Begegnung seine Züge geprägt hatte, vollkommen erloschen war. »Ich habe die Prophezeiung nicht vergessen, die mich zur Flucht trieb, nachdem ich dich das erste Mal gesehen hatte: Wenn ich zuließe, dass ich in dein Leben verwickelt würde, stünde mir ein grauenvoller Tod bevor. Jetzt bin ich zweifellos in deine Angelegenheiten verwickelt, und wir beide sind zu Hütern von nichts Geringerem als dem Spiegel der Seelen geworden. Und du wirst von einem Geist verfolgt, und wir befinden uns inmitten von Sabirs. Und ich werde immer ein Feigling sein. Ich schlafe in letzter Zeit ziemlich schlecht.« »Aber du bist immer noch am Leben.« »Das ist ein geringerer Trost, als du es vielleicht denkst.« Über ihnen dröhnten schwere Schritte, und Hasmal erhob sich. Kait, die immer noch auf dem Boden hockte, zog einen Knoten auf und machte sich daran, ihn wieder neu zu knüpfen. Mehrere Seeleute kamen den Niedergang hinunter, alle schwer beladen mit den Spielzeugen und Werkzeugen der Alten. Sie lachten miteinander, blieben aber jäh stehen, als sie Kait und Hasmal sahen. »Nach oben mit euch, ihr beiden«, sagte einer der Männer. »Wir haben hier unten zu arbeiten.« Kait nickte. »Wir sind gerade fertig.« Hasmal begegnete ihrem Blick. »Was wir sonst noch zu tun haben, muss warten.« 95
Kapitel 9 ^Hundert Verlegenheiten, tausend Peinlichkeiten: Kait trug ihre spärliche Habe in die winzige Kajüte, die sie mit Ry teilen würde, und sie war sich der Blicke seiner Mannschaft, seiner Kameraden und ihrer eigenen Freunde zutiefst bewusst, als sie vor der Tür Halt machte. Ry stand neben den Kojenbetten, mit einem Gesichtsausdruck, der sich sorgfältig um Neutralität bemühte. »Steh nicht einfach da rum«, sagte er. »Komm herein und bring deine Sachen mit.« Sie nickte und machte den einen weiteren Schritt, der sie über die Schwelle brachte. Die Tür fiel mit einem gedämpften Aufprall hinter ihr zu ein Geräusch, das seinen Widerhall im Schlagen ihres Herzens fand. Sie sah sich in der Kajüte um. Ry war noch nicht lange dort der kleine Raum hatte seinen Duft noch nicht angenommen, und seine Habe lag noch unausgepackt in seiner Truhe und in einem Sack auf der unteren Koje. »Wo soll ich meine Sachen hinlegen?« »Du hast nicht besonders viel bei dir, hm?« »Nicht viel.« Sie sah sich immer noch in dem Raum um, weil das einfacher war, als ihn anzusehen. Gut gemachte Handarbeit, ein Waschbecken, das in die Steuerbordwand eingelassen war, darunter ein Wasserkrug, in der Wand ein winziges Oberlicht, die beiden übereinander angebrachten schmalen Kojen (und sie war erleichtert zu sehen, dass sie so schmal waren unmöglich konnten zwei Leute auch nur halbwegs bequem zusammen in einem dieser Betten schlafen), daneben ein eingebauter Kleiderschrank, ein kleiner Tisch, der an der Wand befestigt und im Augenblick hochgeklappt war, und zu guter Letzt zwei Bretterbänke, die ebenfalls mit Scharnieren an einem Ende in die Wand eingelassen 96 und im Augenblick ebenfalls hochgeklappt waren. Der Boden war sauber und blank gewienert, die Wände rochen nach Zitrone und Wachs, die Bettwäsche war frisch gewaschen und säuberlich an den Ecken unter die Matratze geschoben und roch nur nach Seife, Sonnenlicht und sauberer Luft. »Du kannst die Schubladen unter dem unteren Bett haben.« Er trat von den Kojen weg.
Sie wollte ihm keinen Schritt näher kommen, aber sie konnte nicht einfach dastehen und ihren Reisesack festhalten, bis er die Kajüte verließ. Also holte sie tief Atem, ging auf die Koje zu und kniete sich auf den Boden. Als sie an der Schublade zog, glitt sie ohne Widerstand heraus; Kait war so angespannt, dass sie die Schublade bis zum Ende herauszog, und einzig die Tatsache, dass der Zimmermann sie mit Stoppern versehen hatte, verhinderte, dass die Lade ganz herausrutschte und Kait in den Schoß fiel. Ry stand hinter ihr, so dicht, dass sie die Wärme seines Körpers spüren konnte, so dicht, dass sein Duft zu einer Droge wurde und ihre Sicht sich trübte. Sie konnte nur das Rauschen ihres Bluts hören und den schnellen, scharfen Rhythmus seines Atems. Sie drückte den Rücken durch, fürchtete sich vor seiner Berührung und erhoffte sie gleichzeitig. Aber er hielt Abstand. Sie verstaute den Sack in der Schublade, ohne sich die Mühe zu machen, ihn auszupacken, dann schob sie die Lade wieder an ihren Platz und entfernte sich, so schnell sie nur konnte. Durch die Wand hörte sie jemanden an den Seiten einer Gitarre zupfen. »Mein Vetter Karyl«, erklärte Ry, dem ihre veränderte Haltung aufgefallen war, als sie der Musik zu lauschen begann. Karyls Spiel war süß, seine Stimme ein klagender Tenor, als er nun sang. Nicht Mädchen will ich noch Knaben. Die Tage des Tanzens sind vorüber. Die bittere Flut ist mein letztes Gut. Das Meer soll mich jetzt haben. 97 Und ich folge des Wassers Strömen, Denn das Wasser fließt zum Land. Und ich habe Tränen vergossen, Wo die bleichen Fluten flössen, Jetzt ist mein Becher der Tränen erschöpft. Ich verlor meine treulose Liebste, An das Meer, meine treulose Freundin Denn die eine verschlang die andere Und ließ mir nichts als Schmerz. Jetzt höre ich ihr Lied in den Wellen Und ihre Stimme in Wassers Tiefen. Sie ist nicht mehr, doch ihre Musik lebt weiter, Und das ist alles, was mir von ihr blieb. Und ich folge des Wassers Strömen, Denn das Wasser fließt zum Land. Und ich habe Tränen vergossen, Wo die bleichen Fluten flössen, Jetzt ist mein Becher der Tränen erschöpft. Als das Lied zu Ende war, hielt der unsichtbare Sänger einen Augenblick lang inne, bevor er sich kopfüber in den nächsten Gesang stürzte, einen nicht minder klagenden. »Traurige Lieder«, sagte Kait, die sich keine weiteren sehnsüchtigen, schmachtenden Balladen mehr anhören wollte. »Wenn er noch andere Lieder kennt, hat er sich das nie anmerken lassen.« »Das Stück, das er gerade gespielt hat, kenne ich überhaupt nicht.« »Du wirst keines seiner Stücke kennen. Er spielt nur die Lieder, die er selbst geschrieben hat. Hundert Variationen über das Thema Trauer.« Kait hatte nicht den Wunsch, über Liebe, Sehnsucht oder Trau 98
er zu reden. Sie sagte nichts, und das steife Gespräch erstarb. Sie sahen sich wortlos an. Das Schweigen wurde gerade schier unerträglich, als Ry sagte: »Ich habe ein paar Dinge für dich ich habe sie mitgenommen, als wir auf den Feuerinseln Vorräte an Bord nahmen.« Er schob den Riegel, mit dem der Schrank verschlossen war, hoch und zog die Türen auf. Üppige, hauchzarte Seidenstoffe und feine Wäsche in allen Regenbogenfarben hingen an der Stange auf der linken Seite und lagen, säuberlich gefaltet, in den Regalen auf der rechten Seite. Kait sah Blusen, Röcke und Kleider, weiche Roben und Morgenmäntel, Nachthemden, Beinkleider und Strümpfe ... sogar elegante Unterwäsche. Die Bewohner der Feuerinseln waren berühmt für ihre feinen Tuche und ihre bemerkenswerten Stickereien und es schien, als hätte Ry nur das Edelste von dem genommen, was die Inselmärkte zu
bieten hatten. Kait spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich je gestatten würde, etwas von diesen Dingen zu tragen zuzulassen, dass die seidenen Unterkleider, die er für sie ausgewählt hatte, ihre Haut berührten. Ebenso wenig wie sie eins von diesen überaus dürftigen Nachthemden anziehen würde, bevor sie des Nachts in ihre Koje stieg. »Nein«, sagte sie. »Ich hab meine eigenen Sachen.« Ry zog die Augenbrauen hoch. »Du hast kaum etwas bei dir. Du trägst den Arbeitsanzug eines Matrosen. Eine Frau deiner Abkunft sollte kostbare Seidenkleider tragen statt Baumwollhemden und grob gewebte Hosen.« Er lächelte, und sie schauderte. Er war ihr zu nahe, und er war der Verwandlung zu nahe; quer durch den Raum spürte sie seine Körperwärme wie ein Druckgefühl auf ihrer Haut, ein Gefühl, das den Karnee-Teil ihres Wesens hervorlockte und gleichzeitig ihre menschliche Seite zur Tür drängte, um die Flucht zu ergreifen und eine zweifelhafte Sicherheit auf dem Deck zu suchen. »Ich habe genug.« Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen 99 Ohren heiser und gepresst. Sie reagierte auf ihn, auch wenn sie es nicht wollte. Ein Schild, dachte sie. Magie, die ich dicht an mich heranziehe und dort festhalte, wird eine Mauer zwischen uns errichten. Magie wird mir helfen, die Situation zu beherrschen. Sie bot Vodor Imrish ihre ganze Energie, ihre ganze Kraft dar, und mit der Macht, die sie aus diesem schnellen, unblutigen Opfer gewann, zog sie den Schild um sich herum in die Höhe. Sofort fiel ihr das Atmen leichter. Obwohl sein Duft nach wie vor verführerisch an ihre Nase drang und seine Wärme noch immer auf ihrer Haut zu spüren war, legte sich eine beruhigende Stille über ihre sich überschlagenden Gedanken. Er sah sie mit unverhohlenem Erstaunen an. »Was hast du getan?«, fragte er. Sie zuckte mit den Schultern. Für den Augenblick jedenfalls solange ihre Kraft dem Schild Nahrung gab würde sie Frieden haben. »Unwichtig. Ich möchte schlafen. Welche Koje soll ich nehmen?« »Die obere.« Er trat auf sie zu. »Duscheinst... fortzusein ...«, flüsterte er. »Tu das nicht. Komm zu mir zurück.« Jetzt, da der Schild ihr Mut gab, konnte sie antworten: »Wir werden nicht mehr sein als Zimmergenossen, Ry. Nicht Freunde. Gewiss kein Liebespaar. Ich gehorche den Bedingungen meiner Absprache mit dem Kapitän, aber ... das ist alles.« »Ich bin so weit gereist, um dich zu finden. Ich habe so viel aufgegeben ...« Sie nickte. »Und für die Rettung bin ich dir dankbar. Wahrhaftig, ich bin dir dankbar. Meine Familie wird dich gewiss belohnen. Aber ich kann nicht vergessen und du kannst es auch nicht , dass ich eine Galweigh bin und du ein Sabir bist. Wir haben beide unsere Pflichten.« Sein Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck der Verbitterung, und zum ersten Mal, seit sie sich als Köder angeboten hatte, damit Ian und Hasmal Ry gefangen nehmen konnten, sah sie 100 Schmerz und Wut auf seinem Gesicht. »Ah, die Pflicht. Der Käfig des Feiglings, der Angst vorm Leben hat. Du magst deine Pflichten haben ich habe bereits einen anderen Weg eingeschlagen.« Er ging an ihr vorbei und verließ, immer noch wütend, den Raum. Als er fort war, ließ sie sich mit geschlossenen Augen an der Wand entlang zu Boden sinken. Sie fragte sich, wie lange der Gedanke an ihre Pflicht sie davon abhalten würde, ihn zu berühren, ihre Finger über sein Haar gleiten zu lassen oder seine Lippen zu küssen. Sie gab ihrem Schild zusätzliche Festigkeit und stieg, nachdem sie lediglich ihre Stiefel ausgezogen hatte, in ihr Bett. Dann blickte sie zu der Bretterdecke über sich empor und lauschte auf das beharrliche Knarren des Schiffes. Es würde lange dauern, bis sie endlich Schlaf fand.
Zwischenspiel 5aus dem achten Kapitel des siebenten Stücks der Geheimen Texte des Vincalis: 13 Solander saß in der Halle der Zauberei und unterwies seine Jünger: »Dies sind die Zehn Großen Gesetze der Magie, wie sie uns von den Alten überliefert sind. 14 Das Erste Gesetz das Gesetz der Magischen Reaktion lautet: Jede Aktion hat eine ihr gleichartige und genau Entgegengesetzte Reaktion.
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Das Zweite Gesetz das Gesetz der Magischen Trägheit lautet: Die Trägheit bewahrt; wirksame Zauber bleiben wirksam, bis eine Entgegengesetzte Kraft auf sie einwirkt. Ruhende Zauber bleiben in Ruhe, bis eine Entgegengesetzte Kraft auf sie einwirkt. 16 Das Dritte Gesetz, das ihr als das Gesetz der Magischen Erhaltung kennt, lautet: Magie, Masse und Energie bleiben erhalten. 17 Die erste Form des Vierten Gesetzes des Gesetzes der Magischen Anziehung lautet: Gleich gerichtete Zauber ziehen sich an, während18 die zweite Form des Vierten Gesetzes des Gesetzes der Magischen Abstoßung lautet: Ungleich gerichtete Zauber stoßen einander ab. 19 Die erste Form des Fünften Gesetzes des Gesetzes der Magischen Wirkkraft lautet: Die Wirkkraft eines Zaubers ist gleich dem Produkt der für den Zauber aufgewandten Kraft und der Anzahl der den Zauber wirkenden Magier abzüglich der Umwandlungskraft, während 20 die zweite Form des Fünften Gesetzes, des Gesetzes der Magischen Gegenkraft, lautet: 102 Der Schaden, der dem einen Zauber wirkenden Magier durch diesen Zauber oder seinen Rückstoß die Rewhah entsteht, ist gleich dem Quotienten der für den Zauber aufgewandten Energie abzüglich der Aufnahmefähigkeit des Puffers oder Opfers und der Anzahl der den Zauber wirkenden Magier. 21 Das Sechste Gesetz das Gesetz der Magischen Gleichrichtung lautet: Negative Magie hat negative Reaktionen zur Folge. Positive Magie führt zu positiven Reaktionen. 22 Das Siebte Gesetz das Gesetz des Magischen Zwangs lautet: Jeder Zauber, der irgendeinem lebenden Wesen gegen dessen Willen ein Verhalten aufzwingt, ist von negativer Ausrichtung. 23 Das Achte Gesetz das Gesetz des Magischen Schadens lautet: Jeder Zauber, der dazu dient, Schaden, Verlust, Leid oder Tod zu verursachen ganz gleich, auf welches Ziel er sich richtet , ist negativ ausgerichtet. 24 Das Neunte Gesetz das Magische Gesetz der Seelen lautet: Der sterbliche Repräsentant einer unsterblichen Seele hat die gleiche Ausrichtung wie diese Seele positiv, negativ oder neutral. 25 Das Zehnte Gesetz das Gesetz der Magischen Neutralität lautet: Alles, was eine neutrale Ausrichtung aufweist, wird zu der stärksten positiven oder negativen Kraft in seiner Umgebung hingezogen werden, denn die Neutralität ist eine Position der Schwäche, nicht der Stärke. 26 Dies sind die Zehn Großen Gesetze der Magie; es sind die Gesetze von der Natur der Magie, deren Gültigkeit die Natur erzwingt. 27 Aber ich gebe euch ein weiteres Gesetz; es ist das Gesetz von der Natur des Menschen und der Natur der Falkenschaft, dessen Gültigkeit allein ihr selbst erzwingen könnt. 28 Dieses Gesetz lautet: Bezahlt für eure Magie mit nichts anderem als dem, was zu geben euer Eigen ist. 29 Kaerea, kaashura, kaamia, kaenadda und kaobbea: Mit eurem Willen, eurem Blut, eurem Fleisch, eurem Atem und 103 eurer Seele. Dies sind die fünf erlaubten Opfer erlaubt nur, wenn aus eigenem Willen dargebracht.30 Die aus eurer Lebenskraft, aus diesen fünf erlaubten Opfern gezogene Magie wird rein sein, frei von Rewhah , und kein Leben und kein Land vernarben. 31 Dass ihr nur diese Opfer darbietet, ist das Gesetz des Ka, der Selbstaufopferung, das ich zum höchsten Gebot der Falken erkläre, das Gebot, für das die Falken berühmt werden sollen. 32 Denn das Gesetz des Ka ist das Gesetz der Liebe der Liebe der Humanität, der Liebe des Lebens , und was ich am meisten von euch verlange, ist dies: Dass ihr alles Lebende liebt und euer Leben als einen Beweis dieser Liebe lebt.«
Kapitel 10 Solander, der Wiedergeborene, wartete im Leib seiner Mutter auf die Zeit seiner Geburt, aber schon jetzt berührten ihn seine Getreuen im Geiste, und er erwiderte ihre Berührung. Aus verborgenen Räumen in Waldhäusern, aus Studierzimmern, vom Deck von Fischerbooten und aus den niemals still stehenden Wagen der vagabundierenden Gyrunalle ließen getreue Falken einige Tropfen ihres eigenen Blutes fließen, um die Verbindung herzustellen, die ihnen eine Berührung des Wiedergeborenen ermöglichte, und er antwortete ihren Seelen und schenkte ihnen seine Anteilnahme und schenkte ihnen seine Liebe. Er verbrachte die Stunden der Dunkelheit und des Wachstums in der tiefen Meditation der Seele und konzentrierte sich nicht auf die Zukunft, in der er den Menschen, die er liebte, endlich eine Welt geben
konnte, die ihrer würdig war, noch konzentrierte er sich auf die Vergangenheit, in der der Schmerz der Folter und seine magische Flucht vor seinen Feinden im Augenblick seines körperlichen Todes lagen: Dies waren Erinnerungen und Gedanken, die ihm nichts gaben. Er konnte keine Pläne machen für das, was noch kommen würde, und er konnte nicht ändern, was bereits gewesen war. Aber aus der warmen Geborgenheit des Mutterschoßes heraus konnte er sein Werk beginnen, konnte sich in die Seelen jener, die er tausend Jahre zuvor so widerstrebend verlassen hatte, hineinsenken und ihnen bedeuten, dass es noch Hoffnung gab, dass ihr Leben eines Tages ein besseres sein würde und dass das Geheimnis, das ihnen die neue und schönere Welt bringen würde, ein sehr einfaches war: Nehmt die Fehler und Schwächen eures Nächsten an, seid gütig und liebet einander. Aber in einem Falle entfernte er sich doch von dem Frieden und 105 dem Glück dieser langen Reifeperiode, um sein Schwert zu berühren, seinen Falken Doghall Draclas. Doghall. Die Stimme war überall um Doghall Draclas herum, als er neben dem bestickten, seidenen Zanda kniete und gerade beginnen wollte, sich mit einer Hand voll Silbermünzen die Zukunft zu deuten. Die Quadranten Familie, Leben, Geist, Vergnügen, Pflicht, Wohlstand, Gesundheit, Ziele, Träume, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lagen leer vor ihm und erwarteten das Muster, das die ZandaMünzen in ihnen ergeben würden. Doghall. Er legte die Münzen weg und holte tief Atem. Sein Herz kannte diese Stimme. »Wiedergeborener?«, flüsterte er. Mein getreuer Falke du hast mit deinem Herzen und mit deiner Seele gehört. Du hast Verbündete für mich versammelt, du hast sie vorbereitet, und ich sehe, dass sie stark und mutig sind. Schicke sie jetzt zu mir, und lass sie in aller Heimlichkeit reisen. »Ich werde sie zu dir bringen«, antwortete Doghall. Nein. Du hast gute Menschen um dich versammelt, und du hast sie aufs Beste ausgebildet, aber du bist kein Soldat, Doghall, bleib, wo du bist. Die Ablehnung des Wiedergeborenen war eine vernichtende Enttäuschung. Er hatte geglaubt, dass er die Armee, die er für den Wiedergeborenen zusammengesammelt hatte, begleiten würde ja, er hatte sogar geglaubt, dass er sie anführen würde. Jetzt bekam er den Befehl, seine Leute viele davon seine eigenen Söhne allein fortzuschicken, während er mitten in diesem Nichts, das er zum Exerzierplatz gemacht hatte, abwarten musste. Er war ein Schwert in der Scheide und hungerte nach dem Blut der Feinde des Wiedergeborenen, und er hatte auf diesen Ruf gewartet, seit dem Augenblick, als er das Haus Galweigh heimlich verließ, um dem Diktat einer Deutung des Zanda zu folgen. Er hatte Entbehrungen und Härten gelitten, Schmerz und Angst; er hatte mit seinem ganzen Herzen gedient, hatte alles dargeboten, was er besaß. Er war ein altes Schwert, das wusste er, ein Schwert mit rostiger Klinge aber dass Solander, der Wiedergeborene, die Männer rufen würde, die er versammelt hatte, dass er sie rufen würde und nicht ihn ... Solanders sanfte Stimme flüsterte in seinen Geist und in sein Herz hinein: Doghall, ich habe andere Pläne für dich, als dich auf dem Schlachtfeld sterben zu lassen. Die Drachen kehren zurück. Sie sind bereits unter den Leuten von Calimekka und bereiten sich dort einen Zufluchtsort. Du wirst bleiben, wo du bist, denn ich sehe eine Katastrophe voraus, und ich sehe auch, dass deine Anwesenheit diese Katastrophe überwinden kann. Aber nur, wenn du bleibst, wo du bist. »Was für eine Katastrophe? Was kann ich hier schon tun? Hier ist nichts als ein Fischerdorf.« Wenn ich ein Gott wäre, könnte ich dir die Zukunft weissagen, aber ich bin nur ein Mensch. Die Zukunft liegt für mich genauso im Dunkeln wie für dich. Ich weiß nur, dass du, wenn du dort bleibst, die Zerstörung von allem abwenden wirst, wofür die Falken in den letzten tausend Jahren gearbeitet haben. Doghall sagte: »Dann werde ich bleiben. Ich diene dir so, wie du es verlangst ich bitte dich nur, über mich zu verfügen.« Du bist mein Schwert, Doghall, ohne dich bin ich verloren. Dann war der Wiedergeborene fort. Die Wärme, die Doghall eingehüllt hatte, löste sich auf und mit ihr der Kokon des Glücks, der Liebe und der Hoffnung. Doghall erhob sich, und seine Knie knarrten dabei. Er trat an das Fenster der Grashütte, in der er lebte, und blickte zu dem rauchenden Kegel eines Vulkans im Norden hinauf. Das Leben war wie dieser Vulkan nach außen hin ruhig, während es unter der Oberfläche brodelte und jederzeit eine tödliche Explosion von unvorstellbarer Zerstörungskraft ausbrechen konnte. Was konnte tausend Jahre des Planens zerstören? Was konnte bei Solanders
triumphaler Rückkehr schief gehen? 106 107 Auf dem Feld im Norden des Dorfes exerzierten die Männer, die er zusammengesammelt hatte, machten sich für eine Schlacht bereit, von deren Nahen er, Doghall, sie überzeugt hatte. Er musste sie dem Wiedergeborenen schicken. Die kleine Flotte von Langschiffen, die er mit Hilfe der Inselbewohner zusammengestellt hatte, würde ohne ihn nach Süden segeln müssen, bis an das Ende von Ibera, wo die Verbal-Territorien auf die iberische Grenze stießen. Seine Magie hatte diesen Ort als ihr Ziel ermittelt. Von dort aus würden sie dem Wiedergeborenen entgegengehen, und er würde sie in den Kampf gegen die Drachen in Calimekka führen. Und wenn seine Soldaten fort waren, würde Doghall in seinem kleinen Fischerdorf warten, bis ein Zeichen ihm sagte, dass die Stunde geschlagen hatte. Er würde fasten. Er würde sich körperlich vorbereiten, so wie er es bisher getan hatte. Er würde die Würfe des Zanda studieren und Sprecher herbeirufen, die ihm sagten, was sie an Bewegungen innerhalb des Schleiers sehen konnten. Er würde dienen. Er wünschte nur, er hätte eine Vorstellung von der Katastrophe, die ihnen bevorstand.
Kapitel 11 Hasmal hockte in der achterlichen Bilge, rieb sich Teebeerenöl unter die Nase und versuchte, sowohl den Gestank des Kielraums als auch das Stampfen des Schiffes zu ignorieren. Es würde ihm schwer fallen, seine Magie unter Kontrolle zu halten, wenn er die ganze Zeit, während er seinen Zauber wob, erbrechen musste. Er musste sich glücklich schätzen, einen Ort gefunden zu haben, an dem er unbeobachtet arbeiten konnte. Die Bilge der Windsbraut war durch zwei Schotts unterteilt, und jede der drei Abteilungen hatte eine Einstiegsluke. Die zur achterlichen Bilge lag direkt hinter der Latrine. Er konnte zur Latrine hinübergehen, ohne Verdacht zu erregen, vor allem jetzt, da das Schiff in See gestochen war und die Mannschaft gesehen hatte, dass er mit Seekrankheit daniederlag und überdies mit einer Magengrippe kämpfte. Wenn er auf sie zustolperte, einen gequälten, halb von Panik gezeichneten Ausdruck in den Augen, sprangen sie auseinander und gaben ihm den Weg frei. Nachdem er sich solchermaßen aufgeführt hatte, konnte er eine ganze Stunde verschwinden, ohne dass jemand ihn suchen kam. Kait hockte neben ihm. »Wir haben bestimmt nicht viel Zeit. Nur weil dein Zauber mich hierher gebracht hat, ohne dass jemand mich dabei sehen konnte, heißt das nicht, dass er meine Abwesenheit nicht bemerken wird.« »Er ist bei seinen Freunden. Er wird eine ganze Weile nicht nach dir suchen.« »Hoffen wir's.« Sie lehnte das Teebeerenöl ab, als er es ihr anbot, und zog die Nase kraus. »Da rieche ich lieber den Gestank der Bilge«, sagte sie. »Ich hasse Parfüms.« »Entschuldigung.« Er holte seinen magischen Beutel und einen 109 Handspiegel hervor, sodann eine Blutschale, eine Dornennadel und Kräuter. »Ich habe alles, was du brauchst. Du musst dich mit dem Wiedergeborenen in Verbindung setzen und ihn dazu bringen, dir zu sagen, wie man den Spiegel der Seelen bedient.« Sie zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. »Du hast gesagt, du brauchst meine Hilfe ... Aber ich bin keine Zauberin, Hasmal. Ich bekomme gerade erst ein Gefühl für die einfachste Magie. Eine Verbindung herzustellen ... das ist eine große Aufgabe.« »Nicht so groß wie die Aufgabe, einen Schild um deinen Zauber herum zu errichten und über dich zu wachen, damit kein anderer Zauberer die Bewegung der Magie bemerkt. Gleichzeitig muss ich einen Zauber bereithalten, um dich zu beschützen, falls du angegriffen wirst. Einer von uns beiden könnte die Verbindung zu Solander herstellen, aber nur ich kann dafür sorgen, dass du dabei nicht den Tod findest.« Sie sah so aus, als sei ihr übel. »Gibt es denn gar keine andere Möglichkeit?« »Die anderen Möglichkeiten habe ich ausprobiert. Ich habe die Sprecher gerufen, ich bin über die Geisterwege in die Vergangenheit hinabgestiegen, ich habe die Texte nach irgendetwas durchsucht, das uns verraten könnte, wie der verdammte Spiegel funktioniert oder was die Falken für Solander damit tun sollten. Ich bin weder stark noch talentiert genug, um den Ort in der Vergangenheit zu
erreichen, wo der Spiegel das letzte Mal benutzt wurde, die Texte schweigen, was den Spiegel betrifft, und die Sprecher lachen mich nur aus. Ich habe keine andere Wahl mehr.« Sie schauderte und nickte. »Dann gib mir den Dorn und die Blutschale und hilf mir, diese Sache durchzustehen.« »Du musst Solander fragen, wie man den Spiegel benutzt wir müssen die einzelnen Schritte kennen, die genauen Worte, und erfahren, wie der Spiegel darauf...« Kait nickte abermals. »Ich werde uns alle Informationen beschaffen.« 110 Er wartete, während sie sich einen Finger mit dem Dorn einritzte und ihr Blut in die dafür vorgesehene Schale tropfen ließ. Er führte sie durch die Zeremonie, die sie mit dem Wiedergeborenen verbinden würde. Sie hatte Angst, und er konnte es verstehen aber sie besaß einen Mut, um den er sie nur beneiden konnte. Sie tat, was sie tun musste. Er begann, seine eigenen Zaubersprüche zu weben, bevor er die Veränderung sah, die ihr Körper durchmachte; als das glückselige Lächeln sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, hatte er den Schild hochgezogen, der sie umgab, eine Kugel aus Energie, die nur an einer Stelle einen Mangel aufwies: dort, wo Kaits Lebenskraft sich in einer dünnen Ranke von ihr fortschlängelte, jener Verbindung, die sie über ungezählte Meilen hinweg mit der Seele des Wiedergeborenen zusammenbrachte. Hasmal richtete den Schild so ein, dass er, falls irgendetwas diese empfindliche Verbindung angreifen sollte, von selbst zuschnappen würde. Kait würde ihre Verbindung zu Solander verlieren, aber sie würde überleben. Als der Schild soweit errichtet war, öffnete Hasmal sich dem Schiff. Er löste sein bewusstes Ich aus den Begrenzungen seines Körpers heraus und verband sich mit den Brettern, auf denen er saß; sein Geist zeichnete die Verbindungen eines jeden Brettes mit dem nächsten nach, floss weiter, dehnte sich aus, berührte mit großer Vorsicht jedes neue Gebilde und registrierte die Anwesenheit eines jeden Lebewesens, bis das Schiff zu seinem Körper wurde, während sein menschlicher Körper nur ein winziges Anhängsel dieses größeren Körpers war. Er »kannte« das Schiff, wie er seinen eigenen Körper kannte spürte seine Bewegung, sah das Wasser, das sich unter ihm und rings um ihn herum dahinzog, hörte und verstand alle Gespräche gleichzeitig, die auf dem Schiff geführt wurden. Eine solche Offenheit brachte ihn in furchtbare Gefahr er konnte sich in keiner Weise abschirmen oder schützen, während seine Seele außerhalb der Grenzen seines Fleisches auf die Suche 111 ging , aber er hatte keine andere Möglichkeit, sicherzustellen, dass seine und Kaits Aktivitäten keine Neugier geweckt hatten. In einer der vorderen Kajüten spielten Ry und seine Leutnants Karten. Die Matrosen taten ihre Arbeit. Ian stand auf dem Achterdeck und starrte dem entschwindenden Novtierra nach. Hasmal beobachtete seine Augen Ian sah wie ein Mann aus, der Mord im Herzen trug. Allerdings nicht in diesem Augenblick. Auf dem Schiff war alles still ... Seine Passagiere konnten im Augenblick gefahrlos ihren Geschäften nachgehen ... Und doch ... Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas zeichnete das Schiff, irgendjemand verfolgte es aus der Entfernung. Hasmal tastete blind seine Umgebung ab, so wie man in einem dunklen Zimmer nach der Tür tastete. Innerhalb des hölzernen Körpers dieses Schiffes befand sich ein Bindeglied ein körperlicher Ansatzpunkt für ferne Magie. Bevor er herausfinden konnte, wer das Schiff beobachtete, musste er dieses Bindeglied finden. Willkommen, Kait. Wiedergeborener ... In dem wortlosen Gespräch, das folgte, füllte Solanders Berührung ihre Seele ganz aus. Wieder spürte sie sich so vollkommen angenommen bei ihm, spürte seine bedingungslose Liebe zu ihr. Einen langen, glückseligen Augenblick lang fragte sie ihn nichts, sondern labte sich an dem schlichten Glück, bei ihm sein zu dürfen. Ihre Aufgabe konnte jedoch nicht ewig warten, und zu guter Letzt zwang sie sich, in die Unerfreulichkeit ihrer eigenen Wirklichkeit zurückzukehren. Wir sind in Schwierigkeiten, erklärte sie dem ungeborenen Kind. Der Feind hat uns in seiner Gewalt, und wir haben jeden Grund, zu glauben, dass die Sabirs bei unserer Ankunft an den Ufern von Ibera uns den Spiegel abnehmen werden. Wenn wir auch nur die geringste Hoffnung haben wollen, den Spiegel zu dir zu bringen, müssen wir schon jetzt erfahren, wie man ihn benutzt. Nein, sagte Solander. Kait spürte, wie Angst das unbestimmte
Licht durchflutete, in dem sie dahintrieb. Tut nichts anderes mit dem Spiegel der Seelen, als ihn zu mir zu bringen. Er ist das Medium, durch das die Drachen nach Matrin zurückkehren werden. Kait spürte die Kühle seiner Worte. Wenn wir es nicht schaffen, ihn zu dir zu bringen, dann sollten wir ihn zerstören. Nein. Ein gescheiterter Versuch, den Spiegel zu zerstören, könnte sehr wohl die Freilassung der Drachen durch euch bedeuten. Und selbst wenn ihr einen erfolgreichen Versuch unternehmen könntet, wäre der Preis dafür die Zerstörung eurer eigenen Seelen. Warum? Weil ihr die Seelen zerstören würdet, die in dem Spiegel wohnen. Jene, die Unsterblichkeit zerstören, zahlen einen ewigen Preis. Kait dachte an die glatten, platinhellen Wölbungen des Artefakts, an das warme Licht, das spiralförmig durch sein Zentrum wanderte, und das Wohlbehagen, das sie empfand, nur weil sie in seiner Nähe war. Sie war sich sicher gewesen, der Spiegel müsse etwas Gutes sein, trotz des leicht unangenehmen Duftes, der von ihm aufstieg. Und das, dachte sie, ergab auch Sinn. Die Drachen hätten keinen Vorteil von der Erschaffung eines Artefakts, das böse aussah; die Menschen waren immer viel bereitwilliger, so etwas zu vernichten. Aber Dinge, die wertvoll aussahen, die angenehme Gefühle vermittelten ... Und das brachte Kait wieder auf Amalee, die ihr vorgeschlagen hatte, den Ozean zu überqueren, um den Spiegel zu holen. Die Seele, die du als Amalee kennst, ist einer der erwachten Drachen, erklärte der Wiedergeborene ihr. Aber sie hat dir eine Aufgabe gegeben, die für mich genauso wichtig ist wie für sie. Wenn ich den Spiegel habe, kann ich die Seelen, die er gefangen hält, direkt in den Schleier entlassen, wo sie von den Seelen von ihresgleichen gerichtet werden. Dann kann ich den Spiegel zerstören, so dass das Böse, das die Drachen mit sich bringen, in keiner Gestalt nach Matrin zurückkehren kann. 112 113 Kait wollte ihn gerade fragen, ob er ihr irgendwie helfen könne, ob er einen Rat für sie habe, wie sie den Spiegel gefahrlos zu ihm bringen könne, aber ohne Vorwarnung wurde sie aus der Wärme der Gegenwart Solanders herausgerissen. Sein Licht verschwand, und einen Augenblick lang hing Kait in der absoluten Dunkelheit der Leere, und ihr Körper wurde von einem Schmerz verzehrt, der so wild war, dass sie fest davon ausging, zerrissen zu werden. Dann war sie wieder in ihrem Körper in der Bilge des Schiffes, zitternd vor Übelkeit, blind vor Schmerz, während Hasmal zitternd neben ihr hockte, ihr ins Gesicht schlug und flüsterte: »Kait! Kait? Wach auf! Bist du verletzt? Kait?« Sein Gesicht war ganz dicht vor ihrem, als sie so weit wieder bei sich war, dass sie ihn wahrnahm, und sie konnte pures Entsetzen in seinen Augen sehen. »Was ist passiert?« Sie stöhnte und hielt sich den Leib; der Schmerz ging langsam zurück, aber die Übelkeit blieb. »Der Schild, den ich um dich herum errichtet hatte, ist zugeschnappt«, erklärte er ihr. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Du bist angegriffen worden. Jemand hat dich beobachtet er hat das ganze Schiff beobachtet , und als du dich mit dem Wiedergeborenen verbunden hast, hat er dich angegriffen, wer immer er auch war.« »Ry hat mich angegriffen?«, fragte sie. »Nein. Der Angriff kam nicht von jemandem, der sich auf diesem Schiff befindet.« »Sind wir jetzt immer noch in Gefahr?« »Im Augenblick nicht. Ich habe uns beide mit einem Schild geschützt. Für eine Weile kann uns nichts passieren.« »Also, wer hat uns gefunden? Wer hat versucht, an mich heranzukommen?« »Ich bin mir nicht sicher. Ich konnte die Spur des Zauberers verfolgen, der uns bis Calimekka nachspioniert hat, aber als ich 114 zu dicht herankam, hat meine Anwesenheit irgendwie seine Aufmerksamkeit erregt. Er verfolgte mich mit großer Schnelligkeit; ich musste meine Verbindung mit dem Schiff abbrechen. Ich hatte mich zu dem Zeitpunkt kaum selbst beschirmt und als ich meinen Schild aufrichtete, hat er dich angegriffen.«
Sie bemerkte, dass Hasmals Hände zitterten. Selbst in der Dunkelheit des Kielraums konnte sie seine Blässe sehen, und noch über den Geruch des abgestandenen Wassers, der toten Ratten und des Unrats hinweg konnte sie seine Furcht riechen. Er fügte hinzu: »Ich könnte mir denken, dass Wölfe das Schiff beobachtet haben.« »Dann wissen sie vielleicht auch über den Wiedergeborenen Bescheid. Und über den Spiegel.« »Das ist fast sicher.« Sie drückte sich die Finger auf die Schläfen, um ihren schmerzenden Kopf zu beruhigen. »Oh, ihr Götter. Was machen wir denn jetzt?« »Wir benutzen die Informationen, die du vom Wiedergeborenen bekommen hast, um den Spiegel zu aktivieren. Wir ...« Er sah, wie sie den Kopf schüttelte, und hielt inne. »Was ist denn los?« »Wir werden den Spiegel der Seelen nicht anrühren«, sagte sie. Dann berichtete sie eilig auch noch den Rest von Solanders schlimmen Neuigkeiten. Als sie fertig war, vergrub Hasmal das Gesicht in den Händen. »Aber was tun wir denn jetzt?« Kait holte tief Atem und stieß die Luft dann langsam wieder aus. »Wir halten die Augen offen. Wir tun, was in unserer Macht steht, um Ry auf unsere Seite zu bringen. Wenn wir sehen, dass die Dinge sich zum Schlechten wenden, stehlen wir mitten in der Nacht eines der Langboote und rudern mit dem Spiegel zu einer Insel, oder wir werfen uns in die Strömung.« Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf sein Knie. »Wir werden tun, was wir tun müssen, Has. Der Wiedergeborene wird den Spiegel bekommen. Die Wölfe werden ihn nicht bekommen.« 115 Er blickte in ihre Augen und sah die Gelassenheit darin. Eine Wildheit darin, die ihm fehlte. Eine Entschlossenheit, von der er glaubte, dass er sie ebenfalls in sich finden konnte. Er spürte bereits, wie sie in ihm wuchs. Er legte eine Hand über die von Kait. »Du hast Recht. Wir werden es schaffen. Und unsere Feinde werden eine Niederlage erleiden.«
Kapitel 12 Jan vertrat Kait den Weg, als sie aus der Schiffsdusche kam, nachdem sie sich gerade den Gestank der Bilge vom Leib gewaschen hatte. »Jayti möchte dich gern sehen.« Ein scharfer Stich der Angst durchzuckte Kait, und nachdem sie sich einen Augenblick konzentriert hatte, wusste sie auch, woher diese Angst kam. Ian trug den Geruch des Todes auf seiner Haut und in seinen Kleidern. »Hat sein Zustand sich verschlechtert?« Ian sah ihr wütend in die Augen. »Er liegt im Sterben. Der Wundarzt hat nur leere Versprechungen gemacht.« »Er war schon dem Tod geweiht, bevor wir an Bord der Windsbraut kamen«, sagte Kait. »Wir haben nicht damit gerechnet, dass er überleben würde. Der Wundarzt hat ihm etwas mehr Zeit verschafft und seine letzten Tage erleichtert.« »Du magst dich damit zufrieden geben, im Moment scheinst du ja überhaupt sehr zufrieden zu sein.« Er wandte sich von ihr ab, und sein ganzer Körper war steif von aufgestautem Zorn. »Ich tue, was ich tun muss, um uns alle in Sicherheit zu bringen.« Er stolzierte auf den Niedergang zu und drehte sich erst noch einmal um, als er die Stufen zum oberen Deck hinaufging. »Natürlich tust du das. Nun, was immer du für Jayti zu tun gedenkst, solltest du bald tun. Er wird tot sein, bevor dieser Tag zu Ende geht.« Dann war er fort. Sein Zorn hing wie eine giftige Wolke in der Luft. Kait wrang das Wasser aus ihren Haaren und sah ihm nach. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie alle in Schwierigkeiten bringen würde. 117 »Ihr seht ja schlimmer aus als ich«, sagte Jayti. Er lag im Bett, seine Haut so weiß wie gebleichtes Leinen, und sein dunkles Haar klebte ihm am Schädel. Seine Augen, die tief in ihre Höhlen eingesunken waren, hatten ein unnatürliches, fiebriges Leuchten. Der Geruch von Blutfäule und Verwesung im Raum überwältigte Kait. Da, wo der Stumpen seines Beines lag, zeichneten sich grünliche Flecken auf den Laken ab. Ian hatte Recht gehabt. Er würde nicht mehr lange leben. »Ich habe nicht gut geschlafen«, antwortete Kait ihm. Das entsprach der Wahrheit. Ihre Träume in Rys Kajüte waren inzwischen viel zu verführerisch und griffen mit einer Stetigkeit, die sie fast in den Wahnsinn trieb, auch in ihre wachen Stunden über. Also kämpfte sie gegen den Schlaf. Sie wollte keine Bemerkung über Jaytis Aussehen machen. Stattdessen sagte sie: »Ich war ... überrascht ..., dass du mit mir reden wolltest.«
»Weil ich Angst vor Euch habe?« »Weil ich nicht glaube, dass du mich besonders magst.« Jayti brachte ein verzerrtes Lächeln zustande. »Da habt Ihr Recht. Das tue ich nicht. Gestaltwechsler ...«Er zuckte die Achseln, und selbst diese winzige Bewegung schien ihn ein wenig von der ihm noch verbliebenen Lebenskraft zu kosten. »Ihr könnt Euch verwandeln, verschwinden, so tun, als wäret Ihr ganz normal, aber in Euerm Inneren verbergt Ihr das Ungeheuer ...« Er seufzte. »Aber was ich von Euch halte, spielt keine Rolle. Der Kapitän liebt Euch.« Kait krümmte sich innerlich, als sie diese Worte so unumwunden ausgesprochen hörte. »Ich weiß.« »Ihr liebt ihn nicht«, erwiderte er, und es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie dachte kurz daran, ihn zu belügen, dem sterbenden Mann etwas zu erzählen, damit er in der Zeit, die ihm noch blieb, ein wenig besser von ihr dachte. Aber er kannte die Wahrheit bereits. »Nein. Ian ist... ah, hm, ich ... ich wünsche ihm wirklich das Bes118 te, aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt lieben kann. Weder ihn ... noch irgendjemanden sonst.« Sie dachte über ihre Leidenschaft für Ry nach und fragte sich einmal mehr, ob ein so verzehrendes und schmerzliches Gefühl Liebe sein konnte. Manchmal kam es ihr eher wie das Anfangsstadium des Wahnsinns vor. »Ich wünschte, ich könnte es. Es würde alles ... einfacher machen.« Jayti grinste flüchtig, ein Totenkopflächeln, das nur die Ausgezehrtheit seiner Züge betonte. »Das Leben macht es einem nicht einfach. Ehrgefühl macht die Dinge nur noch schwerer. Aber um der Ehre willen, und wenn es Euch wirklich am Herzen liegt, was aus ihm wird, dann müsst Ihr es ihm sagen. Er redet davon, Euch von Ry wegzuholen, damit Ihr begreift, dass er der Beste für Euch ist. Er glaubt, dass er eine Chance hat, Euer Herz zu gewinnen. Ich glaube das nicht.« Kait dachte über Jaytis Worte nach. Als sie nichts darauf erwiderte, fügte Jayti hinzu: »Es frisst ihn auf. Solange er glaubt, eine Chance bei Euch zu haben, wird er an nichts anderes denken. Er redet davon, eine Möglichkeit zu finden, Ry über Bord zu werfen, wenn niemand sonst zugegen ist, oder ihm ein Schwert in den Leib zu rennen und zu behaupten, es sei ein Unfall gewesen. Er ist... besessen.« Kait wusste, dass das die Wahrheit war. Wenn sie in Ians Augen blickte, sah sie ein fiebriges Leuchten darin, das nicht viel anders war als der Ausdruck in Jaytis Augen, und sein Blick hatte die Starrheit jagender Wölfe, wenn sie ihre Beute abschätzten. »Aber wenn ich ihm sage, dass ich ihn nicht liebe, ändert das nichts an seinen Gefühlen.« »Das nicht. Aber wenn er weiß, dass keine Hoffnung für ihn besteht, hält ihn das vielleicht davon ab, etwas zu tun, das ihn umbringen wird.« Sie seufzte. Jayti sagte: »Er ist mein Freund. Er hat alles andere verloren, das ihm etwas bedeutet hat sein Schiff, seine Mannschaft, sei119 nen Schatz. Er weiß es noch nicht, aber er hat auch Euch verloren. Wenn er bei dem Versuch, Euch zu gewinnen, sterben sollte und Ihr es verhindern könntet, indem Ihr ihm jetzt sagt, dass keine Hoffnung für ihn besteht ...« Jayti wandte den Blick ab und sprach nicht weiter. Kait, die nicht wusste, was sie sagen sollte, schwieg ebenfalls. Der sterbende Mann sah schließlich wieder zu ihr auf. »Wenn er stirbt, weil Ihr ihn in dem Glauben lasst, dass er Euch vielleicht doch noch gewinnen könnte, wird mein Geist Euch Euer ganzes weiteres Leben lang verfolgen, in jeder Stunde, in jedem Augenblick. Das schwöre ich bei Brethwans ewiger Seele.« Die feinen Härchen auf Kaits Armen richteten sich auf, und ein Schaudern kroch ihr das Rückgrat entlang. Sie blickte in diese Augen, die dem Tode so nahe waren, und fragte sich, ob er bereits den Schleier vor sich sehen konnte. »Ich sage es ihm«, flüsterte sie. »Schwört es.« »Ich schwöre es.« Bei meinem Wort als Galweigh, hätte sie beinahe gesagt, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig fangen. »Bei meiner Seele«, fuhr sie stattdessen fort, »ich schwöre, dass ich es ihm sagen werde.«
Kapitel 13 Kait stand auf dem Deck der Windsbraut und starrte auf den endlosen Ozean hinaus. Das Schiff
schaukelte in den Wellen, und seine Segel waren im Augenblick eingeholt. Das Sonnenlicht tauchte alles in einen goldenen Nebel; das Wasser funkelte, die Messinggriffe glänzten, das mit Talk gewienerte Deck leuchtete wie poliertes Elfenbein. Die Matrosen trugen ihre besten Sachen und hatten zu beiden Seiten des Vorderdecks in Reih und Glied Aufstellung genommen, während einer von ihnen einen leisen Trommelwirbel spielte. Loelas, der Parnissa der Windsbraut, führte die kleine Prozession an, die aus den Kajüten im Achterschiff kam. Hasmal, Ian und vier von Rys Männern folgten ihm; zusammen trugen sie die mit einem schwarzen Leichentuch verhüllte Gestalt. Kait beobachtete Ian sehr genau, ohne jedoch den Kopf zu drehen. Sie würde bald mit ihm reden müssen. Die Last ihres Schwurs drückte sie nieder, und sie spürte, dass Jaytis Geist sie beobachtete. »Die Götter müssen auf seinen Geist hinablächeln, dass sie ihm so einen prächtigen Tag für seine Beerdigung geschenkt haben«, sagte Ry. Er stand rechts von ihr, bekleidet mit dem grünsilbernen Feststaat der Sabirs und mit so blank gewienerten Stiefeln, dass das schwarze Leder die Sonne widerspiegelte. Er hatte sein Schwert aus der Scheide gezogen und hob es zum Salut. Kait hielt ihr eigenes Schwert in derselben Position. Für diesen Anlass hatte sie endlich doch einige der Kleider angelegt, die Ry ihr mitgebracht hatte. Sie trug ein schweres Gewand aus cremefarbener Seide, das ihr bis an die Knie reichte und sich in Falten über eine schwarzseidene Unterbluse legte. Alle Säume waren mit Schwarzstickerei verziert, und um die Taille trug sie eine brei121 te Schärpe aus schwarzem, geflochtenen Leder, das so weich war wie eine Sommerbrise und die Falten des Überrocks genau richtig zusammenhielt. Ihre Beine steckten in Tuch aus cremefarbener Seide, ihre Füße in weichen Wildlederschuhen. Sie hatte noch nie prachtvollere Gewänder getragen, und sie trug sie Jayti zu Ehren. Wenn die Beerdigung vorüber war, würde sie sich davon befreien und wieder in die grob gewebten Seemannshosen schlüpfen, zu denen sie ein Hemd und Bootsschuhe trug. Mit Hilfe dieser Kleidungsstücke errichtete sie eine Barriere zwischen sich und Ry, wie dünn diese auch sein mochte. Sie brauchte so viel Abstand, wie sie nur bekommen konnte. Sie hielt den Blick auf die Beerdigungsprozession gerichtet und murmelte vor sich hin: »So prächtig der Tag auch ist, ich denke, er hätte ihn lieber lebend begrüßt.« Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Ry sich einen Moment lang zu ihr umdrehte, und sein Ärger stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie hätte beinahe gelächelt, weil es ihr gelungen war, ihn zu einem Bruch mit der Etikette herauszufordern. Aber das Lächeln wäre genauso unpassend gewesen wie seine Geste der Unaufmerksamkeit. Sie blickte also mit leerem Gesichtsausdruck geradeaus und hielt ihr Schwert in Bereitschaft. Die Prozession machte in der Mitte des Vorderdecks Halt, und der Parnissa drehte sich um und kniete nieder, um ein dunkelgrünes Tuch aufzufalten, dessen Ränder mit Blei beschwert waren. Die Männer, die Jaytis Leichnam trugen, ließen ihn achtsam auf das Tuch herab. Der Parnissa erhob sich, und einer der Kajütenjungen eilte mit dem Weihrauchfass und der Lampe zu ihm. Loelas nahm das Weihrauchfass entgegen und ließ es fünfmal über den Leichnam schwingen. »Jayti von Pappas, genannt Vetter Fuchs, du hast heute das Reich der Lebenden verlassen, um zum Schleier zu reisen. Ich empfehle deinen Geist Lodan, die sowohl über Liebe als auch über Leid regiert, und Brethwan, ihrem Gemahl, der über Schmerz und Freude regiert, über Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod. Löse deine letzten Bindungen an das Fleisch, folge deinen Führern durch den Schleier, und finde dort Frieden und neues Leben.« Genau das würde er nicht können, dachte Kait. Nicht bevor sie ihr Versprechen wahr gemacht hatte. Loelas gab das Weihrauchfass wieder an den Kajütenjungen zurück und nahm stattdessen die Lampe. Er ließ sie viermal über den Leichnam hin und herschwingen, und als er fertig war, stellte er sie über dem Kopf auf das Tuch. »Jayti von Pappas, genannt Vetter Fuchs, du hast heute das Reich der Lebenden verlassen, und dein Fleisch liegt leer vor uns. Es hat dir gute Dienste getan, muss jetzt aber zur Nahrung dienen all jenen, die dir nachfolgen. So wie du im Leben dem Meer gedient hast, so sollst du auch im Tod dem Meer dienen. Ich empfehle dein Fleisch Joshan, die über Schweigen, Einsamkeit und Abgeschiedenheit regiert, denn das Meer ist groß und einsam, und alle kehren wir zu guter Letzt in seine Umarmung heim. Möge Joshan dein Fleisch durch die Dunkelheit zu bestem Nutzen führen, auf dass bei der Wiederkehr deines Geistes ein menschlicher Körper seiner harrt.« Loelas nahm die Lampe wieder auf und reichte sie dem Kajütenjungen. Er trat zurück, und Hasmal und Ian ließen sich auf die Knie nieder und schlugen das grüne Tuch über Jaytis verhülltem Leichnam zusammen. Als sie fertig waren, verknoteten sie die Bänder, die auf der hinteren Seite des Tuchs
angenäht waren. Der Parnissa drehte sich um und betrachtete die Männer und Kait, die auf dem Deck versammelt waren. Dann sagte er: »Ein jeder von uns wird eines Tages denselben Weg gehen. Bedenket eure Sterblichkeit, und dankt den Göttern für jeden Augenblick einer jeden Stunde, in dem ihr weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft lebt, denn der Augenblick des Jetzt ist der einzige Augenblick, den ihr je haben werdet. Bedenket den Wert eures Lebens in seinem Dienst an Göttern und Menschheit, und dienet nur nach eurem Vermögen, denn ihr wisst, dass ihr morgen nicht mehr dienen könnt. Behaltet Jayti, euren verblichenen Bruder, in 122 123 eurem Herzen und euren Gedanken, und zieht eine Lehre aus seinem Tod, denn auf diese letzte Weise könnt ihr ihm helfen, seinen Mitmenschen zu dienen und seine Menschlichkeit in einem anderen Leben neu zu finden.« Der Parnissa nickte, und die sechs Männer hoben den Leichnam wieder an und trugen ihn auf die Steuerbordseite des Vorderdecks. Auf ihrem Weg dorthin gingen sie an Kait und Ry vorbei. Kait und Ry drehten sich um, um ihre Schwerter zu präsentieren, als der Leichnam an ihnen Vorbeigetragen wurde. Die Spitzen ihrer Schwerter berührten sich, so dass sie einen Bogen formten. »So wie du aus dem Meer gekommen bist, so sollst du jetzt zum Meer zurückkehren«, sagte Loelas. Die Männer warfen Jaytis Leichnam über Bord. Der Körper klatschte auf die Wellen, und ein funkelnder Bogen aus Wassertropfen sprang auf, dann ging das grüne, mit Blei beschwerte Leichentuch langsam unter. Aus den Augenwinkeln konnte Kait sehen, wie das Sonnenlicht den Strom der Luftbläschen beleuchtete, die wie silberne Münzen hinter Jaytis sterblichen Überresten ihre Bahn zogen. Ian wich ihrem Blick aus. Er ging mit langen Schritten an ihr vorbei vom Vorderdeck, gefolgt von der Mannschaft, dem Parnissa, dem Kapitän und schließlich Hasmal. Als nur noch Ry und sie auf dem Vorderdeck standen, bedachte sie Ry mit einem kalten Nicken und schob ihr Schwert wieder in die Scheide. Sie hatte dem Verstorbenen gegenüber ihre Pflicht getan, indem sie seinen Geist mit Familienstahl ehrte, da er vor seinem Tod auf ihrer Seite gekämpft hatte. Auch Ry schob sein Schwert wieder in die Scheide, obwohl er sich nicht die Mühe machte zu erklären, warum er dem Toten auf diese formelle Weise Respekt gezollt hatte. Als sie jedoch in ihre gemeinsame Kajüte zurückkehren wollte, legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Warte«, sagte er. Sie verkrampfte sich bei seiner Berührung, drehte sich aber langsam zu ihm um. Er hatte sich in der Kajüte von ihr fern gehalten und nach einigen Versuchen, mit ihr zu sprechen, ihr Schweigen akzeptiert. Die Wärme seiner Hand schien sich durch die weiche Seide ihres Gewandes bis auf ihre Haut zu brennen. »Ich möchte jetzt nicht mit dir reden.« »Ich weiß«, antwortete er, und seine Stimme klang ruhig und vernünftig. »Mir ist klar, dass du aus freien Stücken niemals mit mir sprechen würdest, dass du mich niemals ansehen und mich niemals berühren würdest, trotz allem, was du wirklich willst.« »Was ich wirklich will? Ich würde liebend gern erfahren, was du darüber zu wissen glaubst.« Sie funkelte ihn wütend an und wünschte sich, sie könnte ihn hassen, könnte sich selbst dafür verachten, dass sie ihn begehrte. Der Wind zerzauste sein Haar, und die Sonne ließ die dunkelgoldenen Strähnen glänzen, bis sie den gleichen Farbton annahmen wie die schweren Goldreifen in seinen Ohren. Seine hellblauen Augen mit der schwarz umringten Iris darin schienen sie zu ihm hinzuziehen, als übten sie ihre eigene Schwerkraft aus. Er war von einer wilden Schönheit, so wie ein Wolf in der Blüte seiner Jahre oder ein Herhabschießender Falke schön waren die kaum verhohlene Wildheit, die er verströmte, machte ihn für sie nur um so faszinierender. Sie hüllte sich fest in ihren magischen Schild, wie Hasmal es sie gelehrt hatte, und wollte sich zwingen, ihn zu hassen, ihn als den Mörder ihrer Eltern, ihrer Geschwister und ihrer Familie zu sehen, als den Feind von allem, woran sie glaubte. Lange Sekunden des Schweigens verstrichen, während er sie forschend ansah. Dann schüttelte er den Kopf. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und viele Taten zu vollbringen. Wenn du deinem Herzen nicht folgen willst oder deinen Träumen , dann rede wenigstens mit mir, wenn wir allein sind. Ich habe nichts getan, um dieses endlose Schweigen zu verdienen.« Sie hätte ihm so gern geglaubt. Die Götter mochten ihr vergeben, sie wollte ihm glauben. »Du hattest nichts mit der Ermordung der Galweighs zu tun.« »Nein.« Er seufzte. »Ich bin mit meinen Männern in euer Haus
124 125 gegangen, aber nur deshalb, weil ich dich retten wollte. Ich glaubte, dass du dort sein würdest. Ich wusste, dass der Angriff geplant war, aber ich hatte keinen Anteil an diesen Plänen.« »Und es war reiner Zufall, dass unsere Wege sich am Theramistag in Halles gekreuzt haben?« »Natürlich nicht.« Er zuckte die Achseln. »Ich war der Bote, den meine Familie zu Paraglese Dokteerak geschickt hatte.« »Dann hattest du also doch mit der Vernichtung meiner Familie zu tun.« »Ich war der Bote. Ich diente den Sabirs, so wie sie es von mir verlangten. Ich war von geringer Bedeutung der Sohn des obersten Wolfs, der zwar für größere Dinge ausgebildet wurde, aber noch zu jung und unerfahren war, um mehr zu sein als ein Zwischenhändler.« Kait zog eine Augenbraue hoch. »Boten werden niemals aufgrund ihres Mangels an Erfahrung ausgewählt.« So schnell wie ein Blitz am Boden aufschlug, huschte ein Ausdruck von Schuld über Rys Züge. Sie hätte sich später einbilden können, dass sie diesen Ausdruck nie gesehen hatte, so schnell war er wieder verschwunden. Aber es war keine Einbildung gewesen. Ry streckte die Hände aus eine Geste, die ebenso Beschwichtigung wie Beichte war. »Du hast Recht, und wir wissen es. Kait, ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, vollkommen schuldlos zu sein. Ich hatte nicht mehr für die Galweighs übrig als du für die Sabirs. Du und ich, wir haben einen Großteil unseres Lebens darauf verwandt, zu lernen, wie wir gegeneinander kämpfen können. Aber das hat sich geändert, als wir uns das erste Mal begegneten.« Er hielt inne, lehnte sich an die Reling und musterte sie. Die Sonne schien ihm direkt in die Augen, und er blinzelte. »Zumindest für mich hat es sich geändert.« Sie dachte: Für mich hat sich auch alles geändert. Aber sie sprach es nicht aus. Sie konnte nicht. Er wartete sehr lange auf ihre Antwort, und als er schließlich 126 einsehen musste, dass diese Antwort nicht kommen würde, ganz gleich, wie viel Zeit er verstreichen ließ, nickte er noch einmal. »Also gut. Deine Gefühle für die Sabirs haben sich nicht geändert. Aber bedenke Folgendes: Ich habe mich mit den Sabirs überworfen. Wenn ich jetzt nach Hause zurückkehre, ohne die Dinge zwischen mir und meiner Familie grundlegend zu verändern, wird meine Mutter mich zum Barzanne erklären. Diese Strafe schwebt über meinem Haupt, weil ich dir nachgejagt bin, statt bei meiner Familie zu bleiben und nach dem Tod meines Vaters dessen Platz als Oberhaupt der Wölfe einzunehmen. Was ich auch früher gewesen sein mag, ich bin heute kein Sabir mehr.« Er wandte das Gesicht von ihr ab, entweder weil er der Sonne in seinen Augen müde war oder weil er es nicht ertragen konnte, sie länger anzusehen. »Ich werde dich nicht darum bitten, in deinem Herzen einen Platz für mich zu finden, Kait. Es ist mir nicht gegeben, um Dinge zu betteln. Wenn das der einzige Weg ist, um dich zu gewinnen, dann bist du nicht die Frau, für die ich dich halte. An deine Vernunft werde ich allerdings appellieren. Bedenke, was wir beide zusammen ausrichten könnten. Beide entstammen wir einer der großen Familien, beide haben wir eine Ausbildung in der Kunst der Magie ... beide sind wir Karnee. Stell dir vor, wozu wir zusammen imstande wären.« Kait hatte, seit sie an Bord des Schiffes gekommen war, nichts anderes getan, als genau darüber nachzudenken. »Ich träume von dir«, sagte sie leise. Er drehte sich wieder zu ihr um und sah sie scharf an. »Und ich von dir.« »In meinem Traum tanzen wir miteinander«, fügte sie hinzu. Er errötete. Nickte. »In der Luft.« »Im Dunkeln.« Nackt. Keiner von ihnen sprach das Wort aus, aber nur deshalb nicht, weil sie es nicht auszusprechen brauchten. Das Bild aus diesen nächtlichen Träumen stand zwischen ihnen, so real und voller 127 Möglichkeiten wie das Leben selbst. Kait spürte die Hitze in ihren Wangen und das Jagen ihres Pulses. Sie konnte Rys Erregung riechen, konnte sein Verlangen spüren. Ihr Atem ging immer schneller. »Ich glaube nicht, dass es Träume sind«, sagte Ry. Seine Stimme war jetzt nur noch ein heiseres Murmeln. »Ich glaube, dass unsere Seelen uns geben, was unsere Körper uns verweigern.« Kait fühlte sich von etwas Unwiderstehlichem angezogen. Sie machte einen Schritt von ihm weg, weil
sie körperlichen Abstand brauchte und ein wenig Zuversicht, dass sie immer noch Herrin ihrer selbst war, »Warum bist du mir nachgereist?«, fragte sie ihn. »Wenn du Pflichten deiner Familie gegenüber hattest, wenn du wusstest, dass sie dich zum Barzanne erklären würden, warum bist du nicht geblieben und hast deine Pflicht erfüllt?« Er ballte die Hände zu Fäusten, und die Knöchel traten weiß hervor, bevor er hastig Atem holte und aufs Meer hinausblickte. Er zwang sich zur Ruhe. Kämpfte den Hunger nieder, der ihn gerade noch ganz erfüllt hatte. Also hatte er ebenfalls Mühe, die Beherrschung zu wahren. Sie hatte oft über diese Frage nachgedacht, wenn sie jede Nacht im Dunkeln in ihrer Koje lag, zur Kajütendecke hinaufstarrte und auf seinen Atem lauschte. Einen Augenblick später, als weder seine Haltung noch sein Geruch etwas von seinen Gefühlen verriet, sagte er: »Ich habe keine gute Antwort darauf. Weder für dich noch für mich selbst. Ich kann dir nur sagen, dass etwas an dir mich in seinen Bann gezogen hat, seit unsere Wege sich das erste Mal kreuzten. Das heißt, vielleicht war es weniger an dir als an uns.« Er zuckte mit den Schultern. »Bis zu jenem Tag war ich fest davon überzeugt, in jeder Hinsicht Herr meiner selbst zu sein.« Sie konnte das klägliche Lächeln sehen, das seine Mundwinkel umspielte. Sie teilten also ihre Träume miteinander. Sie übten eine Wirkung aufeinander aus, die sie nicht verstehen konnte. Sie begehrte ihn. Und ihre Familie war tot. Soweit sie wusste, lebten auch die 128 meisten seiner Verwandten nicht mehr. Vielleicht bedeutete das, dass der Krieg zwischen den Sabirs und den Galweighs ein Ende finden würde. »Ich ... ich werde darüber nachdenken.« Sie strich ihr Gewand glatt. »Ich verspreche nichts, nur dass ich ... über einen ...« Sie probierte das Wort im Geiste aus und fand, dass es nicht mehr sagte, als sie sagen wollte. »Ja. Ich werde über einen ... Waffenstillstand nachdenken.« Dann wandte sie sich ab, bevor er ihr eine Antwort geben konnte, und lief zu ihrem Quartier. Als sie schon halb dort war, drehte sie sich noch einmal um und sah, dass er immer noch auf das endlose, hypnotisierende Meer hinausstarrte. »Ich glaube ... ich würde gern reden.«
Kapitel 14 'Der Spiegel hat uns fast erreicht, sagte Dafril. Aber etwas hat meinen erwählten Avatar veranlasst, ihn nach Süden zu bringen wo die kalten Länder liegen. Solander hat ihn dorthin gerufen. Nur die Oberhäupter des Sternenrats hatten sich in der kalten Unendlichkeit jenseits des Schleiers versammelt Dafril wollte sich nicht mit der Panik abgeben müssen, die bei den jüngeren Mitgliedern des Rats ausbrechen würde, wenn ihnen klar wurde, dass Solander zurückgekehrt war. Wir haben bereits Vorkehrungen getroffen, um uns um den Spiegel zu kümmern, sagte Mellayne. Er wird auf alle Fälle nach Calimekka gelangen. Ja. Unglücklicherweise wird es mit Solander nicht genauso einfach sein. Er nähert sich der Zeit seiner Geburt, und er hat bereits begonnen, seine Falken um sich zu scharen. Aber wenn Solander im Körper eines Säuglings zurückkehrt ob nun mit Erinnerungen oder ohne , werden wir jahrelang Zeit haben, bevor er uns Schwierigkeiten machen kann. Dafril seufzte. Solander war es schon einmal beinahe gelungen, sie zu vernichten. Wenn es dem Bastard möglich war, in einem neuen Körper wiedergeboren zu werden, ohne dass seine Erinnerungen vollkommen durcheinander gebracht wurden, wie sollte er da bei seinen Plänen vergessen haben, wie lange es dauern würde, bis dieser Körper das erforderliche Alter erreichte. Darauf dürfen wir uns nicht verlassen. Es drängt sich einfach der Verdacht auf, dass Solander einen Plan hat. Er wusste immer genau, was er tat. Ich wünschte, wir wüssten das auch. Das geht mir nicht anders, Mellayne, sagte Dafril. Ich wünschte, wir wüssten es auch. 130
ivys stetige Atemzüge in der Koje unter ihrer und sein Duft im Raum begrüßten Kait, als sie im Dunkeln erwachte. Bruchstücke des Alptraums, der sie geweckt hatte, hielten sie noch in ihren Fängen und verkrampften ihre Eingeweide. Und sie hatte mit Ry getanzt. Diesen verführerischen, leidenschaftlichen Tanz, der sie so wahnsinnig machte die Umarmungen, die Küsse, die Liebkosungen. Und dann war plötzlich ein Dritter bei ihnen gewesen, einer, der sie beobachtete. Der wartete. Sie richtete sich auf, aber weder das stete Schaukeln des Schiffs noch das rhythmische Knarren und
Wispern der Bretter und Segel konnte sie beruhigen. »Ry?« Er war bereits wach war, um genau zu sein, nur eine Sekunde nach ihr aufgewacht. Nachdem sie den Traum verlassen hatte, ging es ihr durch den Sinn. Sie hörte, wie er den Atem anhielt, und roch seine Wachsamkeit... und seine Erregung. »Ja?« »Irgendjemand macht Jagd auf dich. Er will dich töten.« »Wie kommst du darauf?« »Wir wurden beobachtet. In dem Traum, meine ich. Beim Tanzen. Der Beobachter war ... voller Bosheit.« »Ich habe nichts dergleichen gespürt.« »Er hat sich gegen dich abgeschirmt, aber zwischen euch beiden verläuft irgendein Strom entweder ein Blutsband oder etwas Magisches. Ich konnte die Strömung sehen. Es war ein winziger, schwarzer Fluss. Ich habe ihn bis an seine Quelle verfolgt, und am Ende konnte ich seine Augen sehen, die dich durch die Dunkelheit beobachteten. Ich ... ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube nicht, dass er von meiner Anwesenheit wusste. Gegen mich hatte er sich nicht abgeschirmt.« 131 Ry schwieg einen Augenblick lang. »Was kannst du mir über ihn erzählen?« »Dass er dich hasst. Dass er dich tot sehen möchte. Dass er nur . darauf wartet, dich in seine Reichweite zu bekommen.« »Klingt nach Ian«, sagte Ry und kicherte. »Aber er war es nicht.« Kait hatte sogar selbst schon an diese Möglichkeit gedacht. »Der Strom, der euch verbindet er reicht bis nach Calimekka.« »Das ist unmöglich.« Sie hörte, wie Ry sich in der Koje unter ihr bewegte, und eine Sekunde später erschienen sein Kopf und seine Schultern neben ihrem Bett. »In Calimekka halten mich alle für tot, die einen Grund haben, mir den Tod zu wünschen.« Bis auf die unheilige Dreiheit natürlich, dachte er. Aber die war gewiss schon hingerichtet worden, weil man sie für seine Ermordung verantwortlich machte. Er erzählte Kait, wie er seinen eigenen Mord inszeniert und dann seine Leiche hatte verschwinden lassen. »Irgendjemand weiß Bescheid«, sagte sie, als er zum Ende kam. »Irgendjemand weiß es, Ry.« Sie fragte sich, ob derjenige, der Ry beobachtete, auch der war, der sie und Hasmal beinahe bei ihrer Begegnung mit dem Wiedergeborenen erwischt hätte. Man musste zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass derjenige, der Jagd auf Ry machte, es auch auf den Spiegel abgesehen hatte. Das konnte sie Ry allerdings nicht erzählen. Ry presste die Lippen aufeinander, bis sie nur noch eine schmale Linie waren. »Das wäre dann ... bei Brethwans Seele! Das wäre eine Katastrophe. Denn wenn jemand weiß, dass ich überlebt habe, könnte er auch wissen, dass ich Calimekka übers Meer verlassen habe. Wir waren sehr vorsichtig, sind aber davon ausgegangen, dass niemand nach uns suchen würde. Wenn das jedoch ein Irrtum war, dann ließe sich leicht herausfinden, dass ich mit meinen Freunden weggegangen bin. Meine Feinde würden für diese Information bezahlen. Bei allen Höllen meine Mutter würde für diese Information bezahlen. Sie glaubt, meine Freunde sei 132
en im Dienst der Sabirs gestorben. Ihren Familien sind große Ehrungen zuteil geworden, weil sie sich angeblich geopfert hatten.« »Deine Mutter ehrt die Familien deiner Freunde? Die Frau, die dich zum Barzanne erklären würde?« »Wenn sie weiß, dass ich noch lebe, bin ich bereits ein Barzanne. Und die Familien meiner Freunde ... Ihr Schicksal wäre besiegelt.« Er sah Kait mit einem gehetzten Gesichtsausdruck an. »Dieser Traum, den du gehabt hast das muss einfach nur ein Traum gewesen sein.« Kait versuchte zu lächeln, aber es misslang ihr. »Unsere Geister tanzen, während wir schlafen, Ry. Ist das ein Traum?« Er antwortete ihr nicht. Eine Antwort war nicht nötig. Seine erschütterte Miene sagte ihr mehr, als sie wissen wollte. »Also, was wirst du ihnen sagen?« Er zuckte zusammen, dann dachte er kurz nach. »Nichts. Selbst wenn dein Traum Wahrheit ist, können wir nichts unternehmen, um die Menschen zu schützen, die wir in Calimekka zurückgelassen haben. Aber wenn ich es ihnen sagte, würden meine Freunde endlose und unheilbare Ängste ausstehen, und ich würde es riskieren, dass sie ihr eigenes Leben wegwerfen.« »Wie das?«
»Auf dem Weg nach Glaswherry Hala kommen wir sehr dicht an Calimekka heran. Wir segeln durch die Tausend Tänzer, drehen dann gleich hinter der Landspitze von Goft nach Süden ab und folgen dann der Küstenlinie. Möglich, dass sie vor Goft von dem Schiff springen würden, um nach Hause zu kommen; wenn sie es bis nach Calimekka schaffen würden, würde man sie mit Sicherheit hinrichten lassen.« Kait dachte über seine Worte nach. Sie hatte sich einst Hoffnung gemacht, ihre toten Verwandten wiederzusehen; jetzt wusste sie, dass das nie geschehen würde. Die Menschen, die sie so sehr geliebt hatte, waren tot und ihr genauso verloren wie allen anderen, die sie vermissten. Ihre Seelen waren bereits durch den Schleier gegangen, ihre Körper dienten der Erde als Nahrung, und 133
sie, Kait, würde sie in diesem Leben nie wieder sehen. Das war die unerbittliche Wahrheit. Sie sagte: »Ich hoffe um ihretwillen, dass dein Verfolger nichts von ihnen weiß.« Ry nickte. Er ließ sich wieder auf seine eigene Koje fallen, und sie hörte, wie er seine Decken zurechtzog. Dann schwieg er so lange, dass sie schon glaubte, er werde überhaupt nichts mehr sagen, und langsam trieb sie den verschwommenen Grenzen des Schlafs entgegen. Als er dann doch wieder zu sprechen begann, überraschte es sie. »Ich verdanke ihnen mein Leben«, sagte er. »Ich schulde ihnen die Sicherheit ihrer Familien. Wenn ich sie verraten habe, und sei es auch unwissentlich, wenn ich dafür verantwortlich bin, dass sie die Menschen verlieren, für deren Sicherheit ich gebürgt habe ... wie soll ich ihnen dann jemals zurückzahlen, was ich ihnen schulde?«
Kapitel 16 Lange Wochen verstrichen, und auf schöne Tage folgten Unwetter, und die Segel blähten sich in den Winden des Winters, aber an Bord der Windsbraut änderte sich wenig. Kait wusste noch immer nicht, was sie lan sagen sollte, und da er ihr aus dem Weg ging, ja, sich sogar weigerte, ihr in die Augen zu sehen, unternahm sie nichts. Aber die unmittelbare Nähe zu Ry war ihr immer noch nicht geheuer. Sie hatte zu Beginn ihrer Heimreise gehofft, dass sie sich an seine Anwesenheit gewöhnen würde und dass die wachsende Vertrautheit wenigstens Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Verachtung hervorbringen würde. Aber ihr Verlangen nach ihm wurde mit jedem weiteren Tag nur noch stärker, und es kostete sie gewaltige Anstrengung, die magischen Schilde um sich herum aufrechtzuerhalten, um seine Wirkung auf sie abzudämpfen. Sie musste das Doppelte ihrer Kraft dazu aufwenden, dann das Dreifache und schließlich das Vierfache. Sie hatte zwei volle Verwandlungen in einem Versteck in der Bilge durchgemacht und sich von Ratten ernährt; sie hatte Hasmal befohlen, sie einzuschließen, weil sie wusste, dass sie in Rys Gegenwart und in Karnee-Gestalt niemals die Selbstbeherrschung aufgebracht hätte, sich ihm weiter zu verweigern. Sie magerte ab, wurde dünn, mergelte aus, und ihre Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen, bis das Gesicht, das sie aus dem Messingspiegel in ihrer Kajüte heraus ansah, Jaytis Geist hätte gehören können. Schließlich sagte Hasmal: »Du kannst nicht mehr lange so weitermachen.« Er saß auf seiner Koje und nähte die Säume seiner Stiefel nach. »Du wirst dich umbringen, wenn du weiterhin so gegen ihn kämpfst.« 135 Aber sie zuckte nur die Achseln. »Wir sind fast in Ibera. Wir werden das Schiff mit dem Spiegel verlassen, bevor es an Land geht, und ich werde ihn nie wieder sehen. Sobald ich nicht mehr mit ihm zusammen bin, wird es mir wieder besser gehen.« Er schlang die aus einer Sehne gefertigte Kordel geschickt um seine Finger und zog die Nadel durch die Löcher, wo die alten Säume gewesen waren, dann zog er einmal fest an der Kordel, und diese verschwand in dem Stiefel wie eine Schlange in einem Rattenloch. »Ich gäbe viel dafür, wenn ich wüsste, dass das die Wahrheit ist. Aber ich glaube nicht, dass Entfernung etwas mit dem zu tun hat, was zwischen euch beiden ist. Es ist Magie, Kait. Es ist Teil eines Zaubers, der größer ist als ihr beide zusammen, und so machtvoll wie nur je ein Zauber, der mir begegnet ist. Und es wird immer stärker. Die ersten Ausläufer des Zaubers habe ich bemerkt, noch bevor er ... ah, bevor er uns gerettet hat. Ein besseres Wort fällt mir nicht ein. Jetzt bindet euch dieser Bann wie mit einem Seil zusammen für jemanden, der über magische Sehkraft verfügt, ist es ganz deutlich zu erkennen, ein Band, das so dick und stark ist, dass ich manchmal glaube, es mit meinen Augen sehen zu können.« »Seile lassen sich durchschneiden.« »Dasselbe kann man mit Arterien machen, aber man stirbt, wenn man sie durchtrennt. Mir scheint,
dass dies hier dich eher umbringen wird, als dass es dich loslässt.« »Niemand lebt ewig. Ich muss an meine Familie denken«, antwortete sie ruhig. »Ry hat zugegeben, dass er einen Anteil an ihrer Ermordung gehabt hat, obwohl er behauptet, nur ein Bote gewesen zu sein. Ich glaube ihm nicht ganz, und selbst wenn ich ihm glauben könnte, wie soll ich den Geistern meiner Eltern und Geschwister erklären, dass ich ausgerechnet ihn zu meinem Lebensgefährten erwählt habe? Wie könnte ich meine Toten schlimmer beleidigen, als indem ich einen Sabir liebe?« Hasmal zuckte die Achseln. »Das Leben ist da, um gelebt zu werden«, sagte er. »Die Toten haben ihre Entscheidungen getroffen und ihren Willen durchgesetzt, solange sie noch lebten. Wenn sie erst tot sind, müssen sowohl ihre Zungen als auch ihre Gebote schweigen.« Sie sah ihn an und zog die Augenbrauen hoch. »Das entspricht aber nicht den Lehren des Iberismus.« »Pah! Der Iberismus ist eine Religion, die von Leuten geschaffen wurde, die bereits an der Macht waren von Männern, die die Götter dazu zwingen wollten, ihnen ihre Macht zu bewahren. Natürlich muss diese Religion die Vorstellung befürworten, dass deine toten Vorfahren Einfluss auf deine Entscheidungen haben. Welche bessere Möglichkeit gäbe es, noch aus dem Grab heraus Veränderungen im Keim zu ersticken und über die Zukunft zu gebieten?« Diese atemberaubende Ketzerei machte Kait einen Moment lang sprachlos. Dann verbarg sie das Gesicht in den Händen und versuchte, das Lachen zu ersticken, das in ihr aufwallte. »Du hast Recht«, sagte sie, als sie ihre Beherrschung wieder gefunden hatte. »Bei allen Göttern, du hast Recht. Meine Familie hat den Iberismus als Werkzeug benutzt und die Parnissas als ihre Sprecher. Die Sabirs, die Masschankas, die Dokteeraks und die Kairns haben es nicht anders gemacht. Wie sehr wir einander auch hassen mochten, wir haben uns alle des Iberismus bedient und die Götter haben wieder und wieder und wieder zugunsten der Familien geurteilt. Obwohl man für solche Worte auf den Platz des Gesetzes geholt und verprügelt würde.« Sein gezwungenes Lächeln und der flüchtige, gequälte Ausdruck, der über sein Gesicht huschte ein Ausdruck, den er eilig verbarg , weckten in ihr die Frage, welche Wahrheit sie da unwissentlich enthüllt hatte, aber er ließ ihr keine Zeit, ihm Fragen zu stellen. Er sagte: »So ist es. Also, wenn du die Wahrheit kennst, musst du dich ihr stellen. Wende sie auf dein Leben an. Bring dich nicht um, um es den Toten recht zu machen. Ich kann nicht behaupten, dass ich viel übrig hätte für Ry, aber ihr beide seid füreinander geschaffen. Glaub mir.« 136 137 Kait legte ihm eine Hand auf die Brust und beugte sich vor, um ihm in die Augen zu sehen. »Du betätigst dich als Kuppler? Du? Also schlägt doch ein Herz in dieser gepanzerten Brust. Ich dachte, du wärest immun gegen den Sog der Leidenschaft.« Er lächelte. »Warum? Weil ich dir nicht verfallen bin?« »Vielleicht. Die meisten Leute tun es.« Sie zuckte mit den Schultern. »Der Karnee-Fluch zieht sie nämlich alle zu mir hin.« »Das weiß ich. Ich sehe ja, welche Wirkung du auf die Männer an Bord hast. Mir ist auch nicht entgangen, was du mit der Mannschaft der Wanderfalke gemacht hast. Und Ry übt dieselbe allumfassende Faszination auf andere Menschen aus seine Freunde werden auf ewig seine Freunde sein, und die Frauen werden ihn umschwärmen wie Möwen den Fang eines Fischers.« Er lächelte. »Ich habe mich oft gefragt, was für ein Gefühl das wäre jede Frau haben zu können, die man haben will.« »Wenn du weißt, dass es im Grunde nicht du bist, den sie begehren, ist der Reiz des Ganzen schnell dahin.« »Da hast du wahrscheinlich Recht. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich Manns genug wäre, die Chance auszuschlagen, es einmal zu versuchen. Aber wie dem auch sei, dein Fluch hat keine Wirkung auf mich. Meine Schilde machen mich immun ... Was auch der Grund ist, warum wir beide so gut Freund miteinander sein können. Du faszinierst mich nicht...« Er hielt inne und spitzte schelmisch die Lippen. »Und ich fühle mich nicht zu dir hingezogen. Du bist nicht mein Typ. Du bist zu jung und zu unsicher und ... bitte, verstehe mich nicht falsch, aber ... du bist mir auch zu unreif.« Kait stieß einen unbestimmten Laut aus. »Autsch. Unreif? Du verletzt mich. Aber jetzt bin ich doch neugierig. Wie sieht denn dein Typ aus? Ich habe mir mal vorgestellt, dass du einmal dein Herz an ein zierliches kleines Mädchen mit vogeldünnen Knochen und unterwürfigem Benehmen verlieren würdest.« »Gedankt sei Vodor Imrish, dass du nicht diejenige bist, die mir eine Gefährtin aussuchen muss. Nein.
Meine Neigungen gingen 138 immer zu ... aaaah ... zu interessanten Frauen. Der Frau, die ich für immer lieben könnte, bin ich bei meiner Flucht aus Halles begegnet ... als ich versuchte, vor dir wegzulaufen. Sie ... hm, ihre Leute waren diejenigen, die mich von den Dieben gekauft haben ... Du weißt schon, sie hatten mich ausgeraubt und wollten mich gerade aufhängen. Die Gyrus hatten die Absicht, mich in die Sklaverei zu verkaufen, aber dann kam sie zu mir. Sie war wie ich ein Falke. Ein Prachtweib. Ein paar Jahre älter als ich, mit langem, rotem Haar, fantastischen Beinen und einem starken, schlanken Rücken. Sie ... aaaah ...« Er errötete, und seine Stimme wurde sehr weich. »Sie hatte die Neigung, einen zu beißen. Verdammt, ich würde alles darum geben, wieder mit ihr zusammen sein zu können.« »Sie hatte die Neigung zu beißen?« Kait war ehrlich fasziniert. »Das scheint mir aber eine Eigenschaft zu sein, die du deiner Mutter nur schwer erklären könntest.« »Was wahrscheinlich der Grund ist, warum Männer mit ihren Müttern nicht über ihr Geschlechtsleben reden.« Er blickte mit sehnsüchtigem Gesichtsausdruck ins Leere. »Alarista wusste alles über Sex.« Kait schnalzte geringschätzig mit der Zunge. »Das tut eine Katze auch, aber es macht sie deswegen nicht zu einem idealen Partner.« Hasmal lehnte sich zurück und stellte den Stiefel neben sich auf die Koje. Er sah ihr in die Augen und antwortete mit gleichmäßiger Stimme: »Wenn du dich gerade nicht selbst damit umbringst, dem einzigen Mann auf der Welt aus dem Weg zu gehen, den du lieben kannst, darfst du gern jederzeit Bemerkungen über meine romantischen Neigungen machen. In der Zwischenzeit möchte ich lieber selbst entscheiden, welche Frau für mich die richtige ist und welche nicht.« Ry und Trev gingen Seite an Seite auf dem Deck spazieren. Trev sagte: »Ich mache mir Sorgen wegen unserer Reiseroute.« 139 »Warum? Es ist der sicherste Weg zu dieser Jahreszeit. Die meisten Piraten liegen irgendwo an der manarkischen Küste vor Anker und warten die letzten Unwetter ab, und indem wir uns dicht unter der Küste halten, haben wir selbst ein wenig Schutz vor den bevorstehenden Stürmen.« »Ich muss es dir sagen. Yanth und ich haben die Omen überprüft, wie du es uns gezeigt hast. Wir haben Dinge gesehen, die sich nicht von der Hand weisen lassen. Es scheint, als sei dies eine schlechte Zeit, um in die Nähe von Calimekka zu kommen. Nicht einmal der Hafen in Goft scheint sicher zu sein.« Ry blickte ihn erschrocken an. Er hatte sie so viel Magie gelehrt, wie er es wagte, aber nie die Möglichkeit bedacht, dass sie sie ohne seine Aufsicht benutzen könnten. Es würde gefährlich sein, jenseits der Tausend Tänzer auf das hohe Meer zuzusegeln, aber es würde sie von Calimekka und Goft fern halten. Und seine Freunde würde es vor der Versuchung bewahren, ihren Familien eine Nachricht zu schicken. Familien, die inzwischen vielleicht längst tot waren. »Wir wollten eigentlich nach wie vor nach Calimekka segeln«, sagte er. »Ich ... wir ... wir alle finden, du solltest noch einmal darüber nachdenken, ob du nicht versuchen solltest, sie und ihr Artefakt in die Stadt zu bringen, wenn wir an Land gehen. Wir finden, wir sollten alle mit ihr gehen dahin, wo sie hinwill, nach Brelst. Oder sogar noch weiter Richtung Süden. Die Omen scheinen in diese Richtung zu weisen.« Ry war überrascht. Habt ihr nicht darauf gezählt, eure Familien wieder zu sehen? hätte er am liebsten gefragt. Aber er sprach seinen Gedanken natürlich nicht aus. Dafür war die Gefahr zu groß, dass die Verwandten seiner Freunde inzwischen den Tod gefunden hatten. »Ich hatte einen Grund, warum ich nach Calimekka wollte«, gab er zu. Er hielt den Blick fest auf den Boden gesenkt, denn er glaubte nicht, dass er Trev in die Augen sehen und trotzdem sagen konnte, was er sagen musste. 140 Trev wartete. Und wartete. Schließlich sagte er: »Du hast dich in letzter Zeit so seltsam benommen, dass ich mich langsam frage, ob du nicht irgendein Geheimnis hast.« Alle möglichen Geheimnisse, dachte Ry. »Ich wollte den Spiegel zum Töpfersfeld draußen vor der Südmauer bringen. Mein Bruder liegt dort begraben mein Bruder Cadell. Du hast ihn nie kennen gelernt. In der Nacht, in der wir Calimekka verließen, kam sein Geist zu mir. Cadell starb, als ich noch ein kleiner Junge war.« Ry befühlte das Medaillon, das er trug, das Vermächtnis seines um viele Jahre älteren Bruders, ein letztes, kostbares Geschenk. »Er war mein Held und mein Freund, und er war Karnee wie ich. Am Tag seines Todes hatten sie ihn in Tiergestalt draußen auf den Straßen der Stadt gefunden. Ich glaube immer noch, dass meine Vettern, Crispin, Anwyn und Andrew, ihn verraten
haben. Einige Stadtwachen nahmen ihn gefangen und schleppten ihn zum Platz des Gesetzes, wo sie ihn öffentlich folterten. Er hat seine Familie nicht verraten, er hat nicht ein einziges Wort gesagt. Also sprach der Parnissa sofort das Urteil und ließ ihn an Ort und Stelle vierteilen. Hätte er, was uns betrifft, ein Geständnis abgelegt, bezweifle ich nicht, dass auch meine Mutter, mein Vater, meine Schwestern und ich geopfert worden wären. Aber niemand trat vor, der ihn kannte, und ... er hatte keinen Schmuck und keine Amtszeichen bei sich, die ihn identifizierten ...« Ry strich noch einmal über das Medaillon, und seine Kehle war wie zugeschnürt. »Dies hier hatte er vorher meiner Mutter gegeben, wie er es jedes Mal tat, wenn er sich verwandelte. Er wollte, dass sie es mir gab, falls ihm etwas zustoßen sollte.« Er schluckte hörbar, und Trev legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du brauchst mir das alles nicht zu erzählen.« »Ich weiß. Aber wenn ich es niemandem erzähle, verliere ich vielleicht den Verstand.« Ry holte tief Atem und sprach dann weiter. »Wie dem auch sei, in der Nacht, in der wir von Calimekka aus in See stachen, kam sein Geist zu mir. Er sagte mir Kaits Namen und erzählte mir, dass sie nach dem Spiegel der Seelen suche. 141 Später erklärte er mir, dass ich ihn ins Leben würde zurückholen können, wenn ich Kait den Spiegel abnähme und ihn zu seinem Grab brächte es ist ein ungekennzeichnetes Grab, aber ich weiß, wo es sich befindet. Ich könnte ihm das Leben zurückgeben.« Ry ballte die Fäuste und kämpfte die Tränen nieder, die zu vergießen er sich weigerte. »Ich könnte meinen Bruder zurückbekommen.« Trev schwieg so lange, dass Ry am Ende doch aufblickte. Er war überrascht, seinen Freund so zu sehen, mit feucht glänzenden Wangen, den Blick starr aufs Meer geheftet. »Trev ...?« »Es ist alles in Ordnung«, sagte Trev. »Ich wusste das nicht mit deinem Bruder. Ich wusste nicht mal, dass du, abgesehen von deinen Schwestern, noch jemanden hattest. Ich weiß, dass keine von beiden dir jemals nahe stand. Ich ... mir war nicht klar, was du verloren hattest.« Ry sagte leise: »Aber genau das ist es doch. Wenn ich den Spiegel nehmen und zurückkehren könnte, hätte ich nichts verloren. Zeit... natürlich, die hätte ich verloren. Er würde ...« Ry richtete sich auf und schüttelte verblüfft den Kopf. »Er würde jetzt viel jünger sein als ich, statt wie früher mein älterer Bruder. Er war ... zwanzig, als er starb.« »Er muss sehr tapfer gewesen sein, wenn er nicht verraten hat, wer seine Familie war.« »Er war der tapferste und beste Mann, den ich je gekannt habe.« »Ich werde dir jetzt etwas sagen, das du nicht gerne hörst, Ry«, entgegnete Trev leise. »Ich werde es sagen, weil ich dein Freund bin, und du kannst es dann so verstehen, wie du willst. Es gibt ein altes Sprichwort, das mir bei deinen Worten immer wieder durch den Kopf gegangen ist, und ich kann es nicht zum Schweigen bringen, obwohl ich selbst Schwestern habe, die mir alles auf der Welt bedeuten, und obwohl ich, wenn ich mich an deine Stelle versetze, gut verstehen kann, warum du so empfindest.« Ry wartete schweigend ab. »Das Sprichwort heißt: Lasst die Toten ruhen. Ich weiß, dass du 142 deinen Bruder zurückhaben willst, aber ich spüre auch, dass etwas an dieser Geschichte nicht in Ordnung ist. Ich kann nicht den Finger darauf legen, was es ist, und sagen: >Da, das ist das Problem^ aber mein Bauch sagt mir, dass da etwas nicht stimmt.« Er drehte sich zu Ry um und sah zu ihm auf. »Ich bin dein Freund. Ich werde dir helfen, wie ich nur kann, und ich würde alles für dich tun; wenn ich für dich sterben müsste, ich bin bereit, aber bitte, Ry, tue es für mich. Denk über das nach, was ich gesagt habe. Ich weiß nicht, warum das so wichtig ist, aber dass es wichtig ist, davon bin ich überzeugt. Lass die Toten ruhen.« Ry beobachtete das Auf und Ab der Wellen in ihrem Kielwasser. Calimekka kam mit jedem Tag, jeder Stunde, jedem Augenblick näher und mit ihm Cadell. Wenn der Spiegel sich erst in den Händen des Wiedergeborenen befand, von dem Kait sprach, hatte er die Chance, seinen Bruder zurückzubekommen, für alle Zeit vertan. Er würde nur diese eine Möglichkeit haben. Cadells geisterhafte Stimme war immer noch gelegentlich in seinem Kopf und bat ihn mit flehentlichem Flüstern, ihn aus seinem Bettlergrab zu retten. Und der verborgene Feind, der Ry im Schlaf beobachtete, war immer noch da. Sein Verstand sagte: Nur ein Feigling würde seinen Bruder im Grab lassen. Sein Bauch sagte: Lass die Toten ruhen. Er drehte sich zu Trev um. Würde er mir den gleichen Rat geben, wenn er wusste, dass seine Schwestern wahrscheinlich tot sind, fragte er sich. Wenn wir den Spiegel auch für sie benutzen
könnten, um sie ins Leben zurückzurufen? Wahrscheinlich würde er dann anders denken. Was nichts änderte. Die Omen sagten, dass er Calimekka meiden sollte. Kait sagte, dass ihnen dort Gefahr drohte. Sein Bauch sagte ihm, dass er so schnell wie möglich nach Süden reisen sollte. Was er tun wollte, war wahrscheinlich nicht das, was er tun musste. 143 Er umfasste mit beiden Händen die Messingreling und biss die Zähne zusammen. »Ich werde dem Kapitän Order geben, Kurs auf die hohe See zu nehmen«, sagte er. Der Kapitän zuckte die Achseln. »Wir brauchen nicht unbedingt in Goft neue Vorräte an Bord zu nehmen; damit habe ich keine Schwierigkeiten. Wir können früher aus den Tausend Tänzern abdrehen, wenn Ihr das wünscht, und weiter von der Küste entfernt auf Kurs gehen. Wenn Ihr die junge Frau und ihre Freunde wirklich nach Brelst bringen wollt statt nach Glaswherry Hala, lässt sich auch das ohne weiteres machen. Wir können später neue Vorräte an Bord nehmen, ohne uns damit in Gefahr zu bringen. Aber wir können jetzt unmöglich auf südlichen Kurs gehen. Seht Ihr, was da am Horizont los ist?« Ry blickte nach Süden, in die Richtung, die der Kapitän ihm wies. Ein trüber, grünlicher Nebel ließ die Linie zwischen Wasser und Himmel verschwimmen, bis sie kaum mehr erkennbar war. »Ja.« »Da braut sich ein Sturm zusammen. Das Quecksilber im Glas fällt wir können dem Unwetter ohne weiteres davonfahren, wenn wir für den Augenblick weiter in westlicher Richtung segeln, aber ich werde uns bestimmt nicht mitten in diese Suppe hineinsteuern.« Ry stieß langsam den Atem aus. Er mochte einer der fünf Familien angehören, aber der Kapitän war ein Kapitän auf seinem Schiff war er genauso mächtig wie ein Paraglese, keines Mannes Befehl unterworfen und einzig seinem Gott Tonn verantwortlich. Wenn er nicht freiwillig auf die hohe See hinausfuhr, konnte Ry ihn weder mit Gewalt noch mit Drohungen oder Schmeichelei umstimmen. Und er war nicht dumm genug, es auch nur zu versuchen. »Also gut. Dann haltet uns einfach so weit wie möglich von Goft und Calimekka fern und bringt uns auf dem kürzesten Weg nach Brelst, den Ihr steuern könnt.« 144 Der Kapitän tippte sich an die Stirn und strich sich nachdenklich über seinen mit Perlen durchzogenen, geflochtenen Bart. »Gibt es da irgendetwas Besonderes, dem Ihr aus dem Weg gehen wollt?« »Nur dass ich nicht persönlich herausfinden möchte, warum die Omen schlecht sind.« »Eine Begründung, die mir vollkommen ausreicht.« Ry musste es dabei belassen und hoffen, dass es tatsächlich reichen würde.
Kapitel 17 ;i volle Tage lang wurden sie von dem Sturm, einem wahnsinnigen, schreienden Etwas, gebeutelt. Das Unwetter zwang sie, in Lee einer der winzigen Inseln der Tausend Tänzer vor Anker zu gehen. Als sich das wütende Element jedoch wieder legte, blieb ein kristallklarer Himmel zurück, die Brise war kühl und sauber und das Segeln eine Freude. Kait stand auf der Steuerbordseite der Windsbraut und sah zu, wie die Inseln vorüberglitten. Ry trat neben sie, und weil ihr keine gute Ausrede einfiel, gleich wieder Fortzugehen, und weil reichlich andere Leute auf Deck waren, blieb sie, wo sie war. Er sagte: »Das ist der Anfang der Tausend Tänzer. Die Inselkette zieht sich bis nach Goft hinein, aber der Kapitän sagt, wir würden schon vorher abdrehen und einen südlichen Kurs einschlagen. Siehst du diese hohe Insel, aus deren Gipfel Rauch aufsteigt?« Kait nickte. »Das ist Falea. Sie war angeblich die Tochter einer einheimischen Göttin, damals, bevor Ibera Anspruch auf diese Inseln erhob. Sie wurde für irgendeine Sünde auf die Erde geworfen und dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit von innen her zu brennen. Ich glaube, sie hatte den Liebhaber einer anderen Göttin verführt.« Er zuckte mit den Schultern. Kait blickte aufs Wasser hinaus, und ohne Vorwarnung befiel sie plötzlich eine Übelkeit wie auf einem vom Sturm hin und her geschleuderten Schiff. »Wie lange wird es noch dauern, bis wir die Inseln hinter uns lassen?« Ry schien ihr Unbehagen nicht zu bemerken. »Der Kapitän sagte, wenn der Wind so bliebe und er die Segel setzt, so wie er es gerade jetzt tut, dann könnten wir bis morgen Abend Merrabrack 146
erreichen. Das ist der beste Ausgangspunkt für einen Kurswechsel nach Süden.« Morgen Abend. Kait hatte nicht geahnt, dass sie Goft so nahe waren. Goft und Calimekka. Und der Gefahr, die ihr in ihren Träumen so zugesetzt hatte. Morgen würden sie den Wendepunkt erreichen und die Entfernung zwischen sich und der gesichtslosen Gefahr vergrößern, einer Gefahr, die in Calimekka auf sie wartete. Dann würde das flaue Gefühl in ihrem Magen endlich zurückgehen. Vielleicht würde sie nachts auch wieder schlafen können, ohne dass der Jäger sie heimsuchte, der durch ihre Augen Ry beobachtete. Sie lehnte sich seufzend an die Reling und starrte zu den Inseln hinüber. Sie beugte sich vor, um die volle Kraft des Windes auf ihrem Gesicht zu spüren und um in die Richtung zu blicken, in die sie fuhren. Und in diesem Augenblick sah sie die Fluggeräte. Sie waren nur zwei runde weiße Kreise am westlichen Horizont. Wenn sie von Norden nach Süden geflogen wären, hätte Kait zwei längliche Ellipsoiden gesehen. Da sie ihr als Kreise erschienen, flogen sie von Osten nach Westen, genau auf die Windsbraut zu. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, und ihr Atem stockte. Fluggeräte. Fluggeräte waren Erfindungen der Galweighs, stabile Luftschiffe, die leichter als die Luft selbst waren. Man hatte die Entwürfe zu ihrer Herstellung in geduldiger Mühsal den Schriften und Urkunden der Alten entnommen. Kait selbst war mit ihnen geflogen, hatte sie selbst gesteuert, sie kannte viele Piloten der Familie und war mit einem von ihnen sogar befreundet gewesen. Voller Sehnsucht dachte sie an Aouel, der inzwischen gewiss tot war. Und was war aus den anderen Piloten geworden, die sie kannte? Was aus der Flotte der Familie? Die Kreise der Luftschiffe wurden größer. Sie biss sich auf die Lippe und starrte die sich nähernden Fluggeräte an. Was war aus der Luftflotte geworden, als das Haus Galweigh fiel? Hatten die Sabirs sich ihrer bemächtigt oder war es den anderen Zweigen der 147
Familie Galweigh gelungen, die Fluggeräte unter Verschluss zu halten? Kamen die Piloten dieser großen Luftschiffe als Freunde? Oder kamen sie als Feinde? Die Fluggeräte flogen selten weiter über das Meer hinaus. Kait wusste nicht, wann sie je die Tausend Tänzer überflogen hätten der einfachste Weg zu den Kolonien in Manarkas war eine Flugroute in nördlicher Richtung über die Dalvische See, und nur ein Wahnsinniger würde versuchen, über den Bregischen Ozean zu fliegen, um die Kolonie der Galweighs in Süd-Novtierra zu erreichen. Dazu waren die Fluggeräte einfach nicht verlässlich genug. Was also taten diese beiden Flieger, die auf das Ende der Tausend Tänzer zuhielten, das schon jenseits der Grenzen der zivilisierten Welt lag? Kaits Nerven vibrierten bei ihrem Anblick, und die Furcht saß ihr im Nacken. »Ry ...«, sagte sie. »Siehst du das da?« Er blickte in die Richtung, in die sie zeigte, und erstarrte. Er antwortete nicht. Es war auch nicht nötig. Kait konnte die Gondeln sehen, die unter der gewaltigen Außenhaut der Luftschiffe hingen, und die Fangseile, die hundert Spinnenbeinen gleich darunter hin und her pendelten. »Sie haben hier draußen nichts zu suchen, schon gar nicht, wenn sie in diese Richtung fliegen«, sagte sie. »Ich weiß. Aber wir haben immer noch etliche Meilen zu fahren, bis sie auf gleicher Höhe mit uns sind.« Ian, der mit Hasmal auf der anderen Seite des Decks stand, hatte bemerkt, worauf ihre Aufmerksamkeit sich konzentrierte. Er runzelte die Stirn, schüttelte leicht den Kopf und kam nach einem kurzen Zögern zu ihnen herüber. »Fluggeräte?«, fragte er. Der Vorteil der geschärften Karnee-Sinne. Kait konnte die Luftschiffe ganz deutlich sehen. »Ja.« Ian nickte. »Meinst du, dass uns von ihnen Gefahr droht?« »Keine Ahnung«, sagte Ry und sah Kait an. Eine Sorgenfalte zog sich quer über seine Stirn. »Sie fliegen direkt auf uns zu. 148 Wenn es ein Zufall ist und wir Abwehrmaßnahmen ergreifen, fallen wir ein paar Stunden hinter unseren Zeitplan zurück und erreichen Merrabrack erst übermorgen. Wenn sie es auf uns abgesehen haben und wir keinen Fluchtversuch machen dann überlassen wir ihnen kampflos, was sie von uns haben wollen.« Ian schloss die Augen, und Kait erschien es, als wende er sich nach innen. Lange Sekunden stand er so da, die Arme über der Brust verschränkt, und schwankte leicht mit den Bewegungen des Schiffes hin
und her. Schließlich holte er tief Atem, drückte die Schultern durch und öffnete die Augen. Kait sah, dass er eine Entscheidung getroffen hatte; der Ärger, der in seinen Augen gestanden hatte, seit sie auf den Handel des Kapitäns eingegangen war, war entweder erloschen oder wohl verborgen, und auch etwas von der Anspannung war aus seinen Zügen gewichen. Er sagte: »Wenn wir jetzt einen südlichen Kurs einschlagen, fahren wir genau gegen die Tiefe Strömung. Um diese Zeit des Jahres verläuft sie sehr nahe am Kontinent. Wir müssen Merrabrack erreichen, wenn wir uns die Gegenströmung des Schiffs zunutze machen wollen. Wenn es ein paar Monate später wäre ...« Er machte eine wegwerfende Geste. »Es ist aber nicht ein paar Monate später. Wenn wir jetzt versuchen, nach Süden beizudrehen, werden wir praktisch stillstehen, und diese Luftschiffe können mit uns machen, was sie wollen. Und wenn die Luftschiffe nicht unseretwegen hier sind und warum sollten sie auch? , sind wir ganz umsonst geflohen, was die Windsbraut Vorräte und Zeit kosten würde. Außerdem würden wir praktisch mitten in die Bahn der jahreszeitlichen Stürme hineinfahren.« Sowohl Ry als auch Ian sahen Kait an. Ry sagte: »Deine Familie, deine Alpträume. Deine Entscheidung.« Kait dachte nur eine Sekunde lang nach. »Dann sage ich: Gehen wir ihnen aus dem Weg.« Ry ließ sie ohne ein weiteres Wort stehen. Binnen weniger Augenblicke kletterten die Matrosen in die Takelage, um weitere Segel zu setzen, und der Kapitän, der am Steuerrad stand, ließ die 149 Windsbraut hart nach Norden laufen, direkt in das Herz der Tausend Tänzer. Kait, Ian und Ry standen an Backbord und sahen nach Westen, um die Fluggeräte zu beobachten. Kurz darauf gesellte sich Hasmal zu ihnen. Alle vier schwiegen, warteten und hielten Ausschau. Die Fluggeräte wichen nicht von ihrem schnellen Kurs in östlicher Richtung ab. »Wir werden sie bald abgeschüttelt haben«, sagte Ry. »Wir fahren um ein paar Inseln herum, und wenn sie vorbeigeflogen sind, nehmen wir unseren früheren Kurs wieder auf. Der Kapitän war nicht gerade begeistert, aber genau wie du konnte er sich nicht entsinnen, jemals so weit östlich Fluggeräte gesehen zu haben.« »Ich danke dir«, sagte Kait. Sie lehnte sich an die Reling, und ihre Knie wurden schwach vor Erleichterung. Sie würde dem Verhängnis, das Hasmal prophezeit hatte, noch einmal entgehen. Vielleicht würde sie dieses Abenteuer wirklich überleben, Solander seinen Spiegel der Seelen geben und dann ... Und dann würde sie einen Weg finden, um zu dem zurückzukehren, was von ihrer Familie vielleicht noch übrig war, und sie würde ihr Leben wieder aufnehmen. Sie standen sehr lange so da und beobachteten, wie die Inseln voraus immer größer wurden, während die Fluggeräte an Backbord langsam kleiner wurden. Sie behielten ihren Kurs bei und flogen weiter in östlicher Richtung, ohne auf die Windsbraut zu achten. Endlich stieß Kait den Atem aus; sie hatte vorher nicht einmal bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Seit ihr zum ersten Mal die Punkte am Horizont aufgefallen waren, hatte sie kaum zu atmen gewagt. Hasmal hatte bis zu diesem Moment überhaupt nichts gesagt. Jetzt jedoch hörte Kait ihn flüstern: »Ich dachte es mir.« Das Entsetzen in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Sie drehte sich um und blickte nach Südwesten. 150 Beide Fluggeräte wendeten. Sie schlugen einen nordöstlichen Kurs ein darauf berechnet, die Windsbraut abzufangen. »Ah, bei Brethwan«, murmelte Ry, und zwar im selben Augenblick, in dem Hasmal sagte: »Vodor Imrish, steh uns bei.« Ry drehte sich zu Kait um. »Weißt du etwas über diese Schiffe, das uns helfen könnte, das hier zu überleben? Kannst du uns wenigstens erklären, was uns bevorsteht?« »Ich kenne beide Fluggeräte«, sagte Kait. »Das sind die Großschiffe der Galweighs. Galweighs Adler und Feuerherz. In jedem dieser Schiffe ist Platz für fünfzig bewaffnete Männer mitsamt ihrer Ausrüstung sowie einen Kapitän, einen ersten Maat und acht Ingenieure. Möglich, dass ich den Kapitän und die Mannschaft sogar kenne jedenfalls hätte ich sie gekannt, bevor die Sabirs unser Haus angriffen. In jedem Falle werden sie Pechstrahler und Zündgeschosse an Bord haben, und im Ballastraum sind bestimmt jede Menge Steine, die sie auf uns abwerfen können, um uns
leckzuschlagen. Sie können ihre Schiffe höher steigen lassen, als die Katapulte dieses Schiffs feuern können, und uns aus dieser Höhe dann zerstören.« Sie sah zu einer nicht allzu weit entfernten Insel, wo bis ans Ufer hinunter Bäume mit schirmartiger Krone wuchsen, die mit ihrem dichten Blätterbaldachin die Bucht überspannten und eine Art Grotte aus Bäumen bildeten. Sie machte die beiden Männer darauf aufmerksam. »Zwischen den Bäumen könnten sie nicht fliegen...« Dann warf sie einen Blick zu den drei Masten der Windsbraut und musterte den Wald aus Rahen, Segeln und Seilen. »Aber wenn wir unter den Bäumen Schutz suchen, kommen wir wahrscheinlich nicht mehr wieder raus. Andererseits haben wir keine Chance, den Fluggeräten davonzufahren.« »Du weißt ziemlich gut Bescheid«, sagte Hasmal. Kait, die die sich nähernden Luftschiffe nicht aus den Augen ließ, nickte. »Ich habe selbst schon kleinere Schiffe geflogen. Wir können ihnen nichts antun, was sie nicht zuerst uns antun könnten. Und dann stehen ihnen noch weitaus schlimmere Möglichkeiten zu Gebote.« 151 Ry lachte ein trockenes, freudloses Geräusch. »Was tun wir denn jetzt?« Die Fluggeräte konnten sich dreimal so schnell fortbewegen wie das schnellste Segelschiff, das unter vollem Tuch auf offener See fuhr, und die Windsbraut konnte nicht mal alle Segel setzen. Sie befand sich bereits in dem Gewirr der Inseln und musste sehr genau auf ihren Kurs achten. »Sterben?« Kait seufzte. »Es ihnen ein klein wenig schwerer machen, uns zu töten? Am besten verstecken wir uns unter den Bäumen dort dann könnten sie nur von der Seite angreifen. Wenn wir sie in unsere Reichweite bekommen, können wir sie mit unseren Katapulten beschädigen. Wir könnten vielleicht Feuerpfeile in die Außenhülle schießen obwohl der Stoff einer Sonderbehandlung unterzogen wurde, damit er nicht Feuer fängt. Ich nehme an, sie wissen, dass wir den Spiegel der Seelen haben. Das sollte sie davon abhalten, uns zu versenken, bevor sie den Spiegel haben.« Sie hatte, während sie sprach, die Fluggeräte weiter beobachtet, aber jetzt drehte sie sich zu Ry um. »Außerdem vermute ich, dass sie, sobald sie erst den Spiegel haben, uns töten wollen, das heißt, was immer wir mit ihnen machen wollen, wir müssen es tun, bevor sie an Bord kommen. Wenn wir nichts mehr haben, was sie in ihre Hände bekommen wollen, können wir uns nicht mehr zur Wehr setzen.« Ry lief los, um mit dem Kapitän zu sprechen. Kurze Zeit später änderte das Schiff seinen Kurs und schob sich langsam auf die Insel zu, auf die Kait zuvor gezeigt hatte. Hasmal stand wieder neben ihr. »Kait? Würde ein schwerer Sturm die Luftschiffe vertreiben?« »Könnte sein.« »Nun, vielleicht könnte ich einen Wind heraufbeschwören. So wie ich es auf der Wanderfalke gemacht habe, als wir im Zauberring gefangen waren. Vielleicht.« Kait drehte sich zu ihm um und sah ihn mit einer jähen, unmöglichen Hoffnung in den Augen an. »Das hatte ich ganz vergessen.« 152 »Ja. Damals habe ich mein Blut, mein Fleisch, mein Leben und meine Seele als Preis dafür angeboten, uns aus dem Zauberring zu befreien, und Vodor Imrish hat uns herausgeholfen. Aber es gibt da ein Problem. Ich kann noch einmal mein Blut opfern, aber mein Leben und meine Seele gehören ihm schon. Also wird er vielleicht das Gefühl haben, dass ich ihm ohnehin schon alles schulde, was ich besitze, und er könnte auf die Idee kommen, mich eher für sich zu fordern, als zuzulassen, dass ich noch tiefer in seine Schuld gerate. Was besitze ich denn noch, was ich ihm anbieten könnte?« Kait runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich weiß nicht. Er ist dein Gott, womit kann man ihm denn einen Gefallen tun?« »Den größten Gefallen tut man ihm, wenn man ihn in Ruhe lässt.« »Dann sollten wir wohl besser hoffen, dass er auch an dir Gefallen findet.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Wirst du ihn rufen?« Hasmal sagte: »Ich werde es versuchen.« »Ich gehe mit dir. Beim letzten Mal wärest du fast verblutet, als du dein Opfer brachtest. Es überrascht mich immer noch, dass du das überlebt hast.« »Er war noch nicht fertig mit mir.« Die Fluggeräte waren ganz nahe, so nahe, dass es ein Wettlauf würde: Erreichten sie das Schiff, bevor dieses unter das Geäst der schirmartigen Bäume, die bis weit über das Ufer hinausragten, fliehen konnte? »Dann wollen wir hoffen, dass er das immer noch nicht ist«, sagte Kait, als sie zum Niedergang liefen
und von dort weiter in ihre Kajüte.
Kapitel 18 Ry sah wie gebannt zu den Fluggeräten hinüber und versuchte zu überlegen, wie er sie dazu bringen konnte, beizudrehen. Nun gut, es waren Schiffe der Galweighs, und er spürte das Vibrieren von Galweigh-Magie in ihnen aber gleichzeitig spürte er auch die Anwesenheit der Sabir-Wölfe. Diese Mischung fühlte sich widerlich an ... ölig ... schmutzig. Was für eine Art von Allianz hatte sich in seiner Abwesenheit entwickelt... Und warum stank das Ganze nach der unheiligen Dreiheit der Hölle? Er konnte den Einfluss seiner beiden Vettern, der Brüder Crispin und Anwyn, und deren Vetter Andrew förmlich spüren; ihre Magie sickerte wie Gift durch die Außenhaut der Luftschiffe. Sie wussten, dass er sich an Bord der Windsbraut befand. Vielleicht war einer von ihnen der heimliche Beobachter, der durch Kaits Schlaf geisterte. Er trat zu seinen Leutnants, die der Mannschaft geholfen hatten, und sagte: »An Bord dieser Schiffe befinden sich etliche Wölfe. Einige von ihnen sind Sabir-Wölfe, andere sind Galweighs, aber wir werden die Windsbraut gegen ihren Angriff abschirmen. Ich möchte, dass ihr alle aufs Vorderdeck geht. Sofort.« Ian Draclas war zu lange Kapitän eines Schiffs gewesen, um dem bevorstehenden Angriff tatenlos zuzusehen; die Tatsache, dass man ihm sein Schiff gestohlen hatte und dass er sich buchstäblich als Gefangener an Bord des Schiffs seines Halbbruders wieder gefunden hatte, spielte keine Rolle für ihn. Er wusste, wie man kämpfte, und er wusste, wie man überlebte; er hatte nicht die Absicht, in dieser Schlacht zu sterben. Zusammen mit der Mannschaft hämmerte er die Schutzschilde neben den Katapulten fest, und als er damit fertig war, trat er neben Kapitän Sleroal, der das große Steuerrad des Schiffs bediente. »Sie werden uns jetzt bald überfliegen«, sagte er. »Wir können die Bäume unmöglich vor ihrer ersten Salve erreichen.« »Das sehe ich«, antwortete der Rophetianer leise. »Könnt Ihr sonst etwas Nützliches tun ich meine, abgesehen davon, mir das Offensichtliche mitzuteilen?« Ian beherrschte sich. An Sleroals Mast flatterte die Flagge der Sabirs, eine Flagge, die die meisten Feinde abschreckte, bevor sie überhaupt angriffen. Der Ruf der Sabirs, für jedes Ungemach schreckliche Vergeltung zu üben, beschützte sie so sicher, als hätten sie eine ganze Armada als Eskorte bei sich. Ian, der im Laufe seiner Jahre als Kapitän der Wanderfalke sowohl Angreifer wie Angegriffener gewesen war, vermutete, dass er über erheblich größere Kampferfahrung verfügte als der ältere Mann. Er sagte: »Sie werden uns wahrscheinlich zuerst mit brennendem Pech bewerfen. Aber wenn Eure Männer die Putzeimer mit Seewasser füllen, solange noch Zeit dazu ist, und alle nicht benutzten Segel ins Meer tauchen, können wir die schlimmsten Flammen löschen, bevor sie sich ausbreiten.« Der Kapitän warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ihr habt also beschlossen, Euch auf unsere Seite zu stellen, wie?« »Ich ziehe es vor, auch den Abend dieses Tages noch zu erleben.« »Ich auch.« Sleroal rief mehreren seiner Leute Befehle zu. »Du ... und du da ... ihr füllt jeden Eimer auf dem Schiff mit Seewasser. Du und du ... ihr geht unter Deck, holt sämtliches Segeltuch nach oben und durchnässt es. Macht alles für das Feuer bereit. Jeder einzelne Mann soll sich bereithalten, zu den Eimern zu greifen.« Ian und der Kapitän blickten wieder zu den Fluggeräten hinauf. Es schien, als verdeckten sie den halben Himmel. Eines der Luftschiffe hielt sich dicht hinter dem anderen; Ian vermutete, dass 154 155 eines der Schiffe Feuer und Pfeile auf sie abwerfen und dann dem anderen Platz machen würde, um den nächsten tödlichen Hagel bereitzumachen, während das andere sie weiter bombardierte. »Wenn Ihr noch mehr Ideen habt, wäre ich mehr als froh, sie mir jetzt anzuhören«, sagte Sleroal. »Zuerst muss ich sehen, was sie vorhaben.« Die Windsbraut hatte keine Chance, zu siegen. Ian gab sich auch keine große Chance, zu überleben. Aber er war entschlossen, es den Bastarden nicht leicht zu machen. »Sie werden in einer Sekunde über uns sein«, sagte er. »Aye.« Der Kapitän sah sich auf seinem Schiff um und zog eine Grimasse. »Am besten verkriechen wir uns unter den Schutzschilden.« Er stellte das Steuerrad fest und rief: »Männer! In Deckung!« Wie ein Fischschwarm im Angesicht eines Hais, huschten die Matrosen in die Verschlage und unter
die Schutzhütten. Ian und der Kapitän waren die Letzten, die in Deckung gingen. Ian blickte unter dem Rand des Schilds hervor und sah zu, wie die Gondel des Voranfliegenden Luftschiffs auf die Windsbraut zuhielt. Es konnte jetzt nicht mehr lange dauern ... Er machte sich auf das brennende Pech gefasst, das aus dem unteren Teil der Gondel fließen würde, oder auf den Hagel der Steine, mit denen das Schiff bombardiert werden würde. Das Fluggerät segelte anmutig über sie hinweg, ohne etwas fallen zu lassen. Ein Matrose neben ihm brummte: »Soll das etwa heißen, die ganze Panik war umsonst und die verdammten Dinger da oben sind doch nicht hinter uns her?« Jemand lachte, und ein anderer fiel in das Gelächter ein. Sie blieben alle noch immer unter den Schilden und beobachteten den Himmel, denn nur Vorsicht schien hier einen Sinn zu ergeben. Aber das zweite Fluggerät glitt über sie hinweg und tat genauso wenig wie das erste, und das Lachen wurde lauter. Die Seeleute strömten unter den Schilden hervor und gingen 156 wieder an ihre Plätze, während der Kapitän murmelte: »Ich hab doch gesagt, war bloß ein Zufall, dass die zur gleichen Zeit wie wir hier sind.« Er kehrte an sein Ruder zurück. Ian kam sich wie ein Narr vor und vermutete, dass es Kait noch schlimmer erging, da sie diejenige gewesen war, die letzten Endes den Entschluss gefasst hatte, sich gegen einen möglichen Angriff der Fluggeräte zu wappnen. Sie hatte es verdient, sich ihrer Torheit zu schämen. Sie litt unter Verfolgungswahn, sie war ein Ungeheuer und nicht einmal menschlich. Das erste Fluggerät erreichte die Insel, auf die die Windsbraut zuhielt. Das Schiff veränderte seine Fluggeschwindigkeit, so dass es über dem Baldachin der Bäume verharrte, die dem Schiff als Zuflucht hätten dienen sollen. Im hinteren Teil der Gondel wurden Luken geöffnet, und dunkle Ströme einer Flüssigkeit flössen hinaus. Die Flüssigkeit dehnte sich im Fallen aus und verwandelte sich in eine grünliche Wolke, die das ganze Gebiet bedeckte sie schütteten also kein brennendes Pech auf sie herab, sondern etwas anderes. Ian fragte sich, was es war und was es bewirkte. Der Strom der Flüssigkeit verebbte jäh, und einen Augenblick später beantwortete ein einziger brennender Pfeil, der aus dem vorderen Teil der Gondel in Richtung der Bäume geschossen wurde, Ians Frage zur Gänze. Die Luft selbst fing Feuer; dieser eine Pfeil breitete sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit in dem tödlichen Regen aus. Binnen einer Sekunde stand der ganze Inselwald lichterloh in Flammen, und ihre Hoffnung auf eine Zuflucht dort löste sich in Nichts auf. Bastarde. Schmutzige Bastarde. Sie griffen nicht nur an, sondern schnitten der Windsbraut zuerst ihren einzigen Fluchtweg ab. »Wende!«, brüllte der Kapitän. »Groß und Focksegel setzen! Beeilt euch, ihr Hurensöhne! Beeilt euch, oder wir sind alle des Todes!« Die Windsbraut drehte sich hart nach Backbord, tauchte mit dem Bug in das kabbelige Fahrwasser ein und war dann auf Ge157 genkurs. Die Männer auf den Webeleinen setzten in wahnsinnigem Tempo die Segel, die sich, kaum dass sie standen, auch schon in einem Wind blähten, der einen Augenblick zuvor noch nicht geweht hatte. Es war ein heftiger Wind. Bei allen Göttern, ein stürmischer Wind, der zu keiner besseren Zeit hätte kommen können. Ian starrte zu den Fluggeräten hinauf sie wurden höllisch hin und her geworfen. Eines von ihnen bekam Schlagseite; der Sturm zerrte an seiner Außenhülle, und Ian sah die Hülle aufbrechen, wie unter dem Hieb einer unsichtbaren Faust. Die Seeleute brüllten vor Begeisterung, und Ian brüllte mit ihnen. Dem anderen Fluggerät gelang es, die Nase im Wind zu halten, aber der plötzliche Sturm drängte es von seinem Kurs ab, weg von der Windsbraut. Sleroal sah, was geschah, und nahm seine Befehle zurück. »Segel einholen und Anker werfen«, schrie er, und genauso schnell, wie die Segel erschienen waren, verschwanden sie wieder. Die Anker klatschten in das Wasser der Meerenge, und einen Augenblick später zerrte die Windsbraut schon an der Ankerkette, um gegen die wachsenden Wellenberge zu kämpfen. Niemand an Bord ließ die beiden Luftschiffe aus den Augen, die vom Sturm weggetrieben wurden. Jedermann an Deck schrie ihnen seinen trotzigen Triumph nach, und sie bejubelten ihr unwahrscheinliches Glück ... Und dann schoss aus einer längsseitigen Öffnung einer der Luftgondeln ein Blitz aus strahlend grünem Licht heraus, schwebte sachte durch die Luft und schlug mitten auf der Windsbraut auf. Auf dem Deck des Schiffes erblühten Flammenzungen zu einer schauerlichen,
lautlosen, grünen Chrysantheme. Sie verzehrte den Großmast und die Männer in dessen Takelage, den Kapitän und das Steuerrad und schloss sich in einem einzigen Aufwallen von Licht zu einem perfekten Kreis auf Deck. Die getöteten Männer hatten nicht einmal Zeit gehabt, aufzuschreien, bevor sie aufhörten zu existieren. Das Feuer breitete sich nicht weiter aus, es fiel auch nicht langsam in sich zusammen, und es ließ auch keine Glut 158 hinter sich zurück. So schnell es aufgelodert war, erlosch es wieder. Die Matrosen waren zu entsetzt, um zu reagieren. Ian starrte die Fluggeräte an, und ein neuerlicher Blitz warnte ihn, dass die nächste todbringende Feuersalve unterwegs war. »In Deckung!«, schrie er. »Alle Mann in Deckung!« Einige Männer fielen in ihrer Hast von den Webeleinen und blieben betäubt auf Deck liegen. Andere, die sich geschickter bewegten oder einfach nur mehr Glück hatten, rannten über ihre am Boden liegenden Kameraden hinweg und warfen sich in die Schiffsluken, bevor der zweite grüne Feuerball auf sie niederging. Ian schätzte Flugbahn und Fallkurve ab und folgerte, dass das Ding den Fockmast treffen würde; er rannte nach achtern und ging gerade rechtzeitig in Deckung, um zu sehen, wie Fockmast, Vorderdeck, Rahen, Segel, Webeleinen, einige der Kajüten und ein neuerlicher kreisrunder Bereich des Decks verschwanden, als hätten sie nie existiert. Aber der Sturmwind ließ nicht nach, und der nächste Feuerball, den die Luftschiffe abschössen, verfehlte knapp sein Ziel und fiel ins Meer ... Und der nächste traf noch deutlicher daneben. Das Schiff war nicht leckgeschlagen. Das war eine Gnade oder aber ein Teil des Plans ihrer Angreifer. Wenn sie das Schiff mit ihrem grünen Feuer sauber durchbohrt hätten, wäre möglicherweise genau das zerstört worden, weswegen sie Ians Meinung nach überhaupt gekommen waren: Kaits Artefakt. Das würden sie nicht riskieren. Sie würden das Schiff lediglich manövrierunfähig machen. Aber sie hatten nicht mit diesem wunderschönen, plötzlichen Sturm gerechnet. Die Fluggeräte wurden immer weiter von ihrem Ziel weggetragen und schließlich fast außer Sicht geweht. Der Sturm war wirklich höllisch. Ian hätte jubeln können, und er war gewiss davon überzeugt, dass sein eigenes Überleben Jubel verdiente, aber die Überlebenden hatten viel zu tun. Die Windsbraut war ein Wrack. Möglich, dass sie das Schiff nur unter Spriet und Kreuzsegeln in einen sicheren Hafen bringen konnten, aber dazu 159 mussten sie erst einmal das Bugspriet anschlagen. Sie hatten sämtliche Rahsegel verloren und die Klüver; außerdem mussten sie eine Notpinne anschlagen, da das Steuerrad ebenfalls verschwunden war. Trotzdem glaubte Ian, dass er sie in Sicherheit bringen könnte, sofern er nur genug Zeit hatte. Um das zu schaffen, musste der Sturm ihnen weiterhin gute Dienste tun und die Luftschiffe in Schach halten. Plötzlich überfiel ihn eine Woge der Übelkeit. Es war ein Gefühl, als überrollte sie ihn von außen, und als sie von ihm abließ, war er schwächer und fühlte sich seltsam krank. Aber er hatte dieses seltsame Ungemach kaum in den Griff bekommen, als der Wind sich plötzlich legte, von einem Augenblick zum nächsten, als hätte ein Riese mit ihnen gespielt, dem es mit einem Mal keinen Spaß mehr machte, seine Spielzeuge umherzublasen. Ian betete, dass die Stille nur eine Pause zwischen zwei Windstößen sein möge, aber dann sah er, wie die See sich beruhigte, bis das Wasser so glatt wie ein Spiegel dalag. Die Windsbraut zerrte nicht länger an ihrem Anker. Eine erwartungsvolle Stille senkte sich herab. Und in der Ferne bekamen die Fluggeräte ihre Schwierigkeiten in den Griff und gingen wieder auf Kurs, in Richtung der Windsbraut. So winzig wie Silberfischchen, aber mit der Anmut von Aalen schwammen sie über den Himmel. Die Schlacht war so gut wie verloren. Ohne den Kapitän und den ersten Maat, die beide nirgends zu sehen waren, erklärte Ian sich vorübergehend zum Kapitän des dem Untergang geweihten Schiffs und des verlorenen Kampfs und rief: »Alle Mann an Deck! Alle Mann an Deck! Bereitet euch vor, das Schiff zu verlassen! Bereitet euch vor, das Schiff zu verlassen!« Da kamen sie herbeigelaufen, stolperten wie Mäuse aus einem überfluteten Bau aus den Luken. Die Matrosen waren die Ersten, und sie lösten die Beiboote aus ihren Befestigungen und schoben sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit über die Reling. Hinter ihnen kam Kait, die Hasmal stützte. Hasmal war so bleich wie der Tod, und seine Augen schienen tief in seinen Kopf eingesunken zu 160 sein; er sah so aus, als hätte er bereits einen ganzen verlorenen Krieg hinter sich. Als Nächstes kam Ry, das Schwert in der Hand, mit vier von den fünf seiner Leutnants. Sie trugen den in zwei Hälften
gespaltenen, blutleeren Leichnam des fünften nach oben. Auch sie wirkten erschöpft und verängstigt, obwohl sie dem Tode nicht so nahe zu sein schienen wie Hasmal. »Was ist passiert?«, schrie Kait, als sie Hasmal zu dem nächsten der drei Beiboote schleppte. »Hasmal hat seinem Gott geopfert und einen Sturm heraufbeschworen, und die Fluggeräte waren schon außer Reichweite. Wir hatten sie geschlagen, und dann riss der Zauber plötzlich wie ein überspanntes Seil entzwei. Er fiel auf ihn zurück und schlug ihn bewusstlos ich dachte schon, er würde sterben.« Sie sah Ian an und stieß mit zusammengebissenen Lippen hervor: »Und es steht noch nicht fest, ob er überleben wird.« Ry blieb stehen und starrte sie an. »Ihr zwei habt diesen Wind heraufbeschworen! Ah, bei allen Teufeln der Hölle ... Wir haben einen Schild hochgezogen, der die Zauberfeuer abhalten sollte. Aber wir haben das ganze Schiff abgeschirmt, deshalb musste euer Zauber natürlich brechen. Wir dachten, der Wind sei natürlichen Ursprungs ... Ich konnte die Magie nicht spüren.« »Ihr verdammten Narren.« Ry und seine Leutnants beschlagnahmten eines der Langboote und schoben es über die Reling in das so still wie Glas daliegende Meer. »Steig ein«, befahl er Kait. »Wir müssen um unser Leben fliehen.« Ian warf einen Blick auf den Leichnam, den sie in das Boot heben wollten, und sagte: »Lasst euren Toten zurück. Der Geruch des Todes würde die Gorrahs anlocken, bevor wir seine Seele den Göttern empfehlen können.« Er konnte es nicht ertragen, den Leichnam anzusehen. Er war in zwei Teile gespalten, die rechte Seite des Kopfes, die rechte Schulter, die rechte Brust und ein Teil des rechten Oberschenkels waren sauber und blutlos abgetrennt worden, und die Wunde war schwarz, hart und leuchtend verätzt. 161 Die Übelkeit schloss sich fester um Ians Gedärme, als er den Leichnam ansah, und er wandte sich ab. Der Mann war Karyl gewesen Rys Vetter und damit auch seiner, der Gitarrenspieler, der Verfasser von faden Liebesliedern. Er hatte sich Ian gegenüber sehr anständig benommen, als sie noch Kinder waren, und er hatte sich auch an Bord des Schiffes ihm gegenüber anständig gezeigt. Andererseits empfand Ian nur Erleichterung darüber, dass Karyl tot war und er noch lebte. Kait sagte: »Ich kann noch nicht an Bord gehen. Nehmt mir Hasmal ab. Ich muss noch einmal zurück und den Spiegel der Seelen holen.« Ry hielt sie am Arm fest. »Sie kommen. Sie kommen. Und das, was sie wollen mindestens so sehr wollen, wie sie dich und mich tot sehen wollen , ist der Spiegel. Wenn wir ihn mitnehmen, haben sie alles, worauf sie aus sind, hübsch beieinander. Sie kriegen den Spiegel, sie töten uns ... und eins, zwei, drei ist alles säuberlich verpackt wie ein Geschenk zum Ganjatag.« »Wenn wir den Spiegel hier lassen, werden sie ihn bekommen.« Ry hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter. »Ich habe genauso viel Grund wie du, den Spiegel behalten zu wollen. Aber wenn wir ihn mitnehmen, werden sie ihn trotzdem bekommen, nur dass keiner von uns mehr am Leben sein wird, um zu versuchen, ihn zurückzukriegen.« Kait drehte und wand sich, stemmte die Füße gegen Rys Bauch und kämpfte sich schließlich frei. Sie landete auf dem Rücken auf den Planken, sprang aber schneller als eine Katze wieder auf die Füße. »Wir nehmen ihn mit. Wir schirmen ihn ab und uns mit ihm. Aber ich gehe nicht ohne ihn von Bord.« Die beiden funkelten einander an, und keiner war bereit, nachzugeben. »Wir nehmen ihn mit«, sagte Ian. »Wir drei. Aber wir müssen schnell machen.« Während Rys überlebende Männer den bewusstlosen Hasmal 162 in das Beiboot hinabließen und dann eine Allusleiter zu dem Boot hinausrollten, rannten Ian, Ry und Kait in den Frachtraum hinunter und schnitten die Taue durch, mit denen der Spiegel der Seelen festgezurrt war. Sie hievten ihn nach oben an Deck, wobei sie sorgfältig darauf achteten, weder die Lichtsäule noch die Juwelenbesetzten Ornamente am Rand zu berühren. Sie schlangen ein Seil um den Sockel und ließen den Spiegel in das Langboot hinab. Dann kletterten sie die Allusleiter hinunter. Die beiden anderen Langboote und mit ihnen die gesamte restliche Mannschaft der Windsbraut waren bereits außer Sicht. Als Ian sie von den Planken der Windsbraut abstieß, lag Hasmal auf dem Boden des Boots vor den Ruderbänken, und neben ihm stand der Spiegel der Seelen. Rys Leutnants hatten bereits die langen, für je zwei Mann gedachten Riemen klargemacht und in die Dollen gelegt. Ry, der vor Ian die Allusleiter hinuntergestiegen war, hatte den Platz an der Ruderpinne eingenommen; als Ian sich ins Boot fallen ließ, blickte Ry zu ihm auf, dann zum Himmel.
Ian war der einzige Seemann unter ihnen, und die Unerfahrenheit der anderen war unverkennbar. Sie waren zu acht in einem Beiboot, das Platz für zwanzig hatte; es war mit Ruderbänken und Riemen für zwölf Mann ausgerüstet drei Riemen auf jeder Seite , aber die Flüchtlinge hatten alle Riemen bereitgemacht und saßen in Fahrtrichtung im Boot. Ein Riemen wartete auf ihn. Ian fuhr die Männer vor sich an: »Setzt euch mit dem Rücken zum Bug wie wollt ihr sonst rudern? Die Riemen sind für jeweils zwei Mann gedacht wenn ihr einen allein bedient, wird es schon höllisch schwer werden, selbst wenn ihr richtig sitzt.« Er und Ry sahen einander an. »Du nimmst den letzten Riemen, ich übernehme die Ruderpinne.« Ry sagte: »Ich bin schon hier, und ich weiß, wie eine Ruderpinne funktioniert.« »Ich übernehme das Ruder, weil ich diese Inseln kenne«, sagte Ian. »Ich weiß, wo wir uns zwischen zwei Inseln verstecken kön163 nen und wo wir Hilfe und Freunde finden werden. All die Jahre, die du in deinem kleinen Rattenloch im Haus unseres Vaters Ränke geschmiedet hast, habe ich nämlich damit zugebracht, diese Gewässer zu befahren.« Ry wich nicht sofort zurück, und Ian glaubte schon, dass sie an Ort und Stelle miteinander kämpfen würden. Da nickte Ry und nahm seinen Platz an dem noch freien Riemen ein. Ian umfasste die Ruderpinne mit beiden Händen und sagte: »Ihr rudert auf mein Kommando ...« Kait, die am mittleren Riemen an Backbord saß, sagte: »Hasmal kannte einen Zauber, der uns vielleicht verborgen gehalten hätte. Nicht dass er jetzt in der Lage wäre, etwas für uns zu tun ... In seinem Zustand.« Hasmal hatte die Augen aufgeschlagen, und sein Kopf rollte von einer Seite zur anderen, aber man konnte noch immer nicht erkennen, ob er irgendetwas von seiner Umgebung wahrnahm. »Ich kann nichts tun, das uns verschwinden lassen würde«, erwiderte Ry. »Ich kann nur eine Energiemauer aufbauen und uns damit gegen die Energie abschirmen, die sie gegen uns wenden ... Und ich weiß nicht, wen wir bitten könnten, die Rewhah auf sich zu nehmen. Wir verteilen sie auf alle, die vorher auf dem Schiff waren.« Ian hatte, wie die meisten Iberer, sein Leben lang geglaubt, die Magie sei tot eine unter Strafe gestellte Perversion der Vergangenheit. Er wusste nicht, was Rewhah war, und er wollte es auch nicht wissen. Kait sagte: »Dann war uns also deshalb allen plötzlich so übel.« Sie warf Ry, der mit dem Rücken zu ihr saß, wütende Blicke zu, und Ian fühlte sich von dem flauen Gefühl in seinem Magen daran erinnert, dass die Sache noch nicht ausgestanden war. Rewhah war also etwas, das die Leute krank machte. Wunderte ihn gar nicht. Kait fuhr fort: »Ich wollte gerade sagen, dass ich diesen Zauber kenne, wenn auch nicht sehr gut. Wenn ihr mir ein wenig Zeit 164 gebt, tue ich mein Bestes, um ihn für uns zu weben, obwohl ich nichts versprechen kann.« Ian dachte nur eine Sekunde lang nach. »Wir können auf andere Weise keine Deckung erreichen, bevor die Fluggeräte uns wieder in Sichtweite haben. So wie wir jetzt dastehen, werden wir nur überleben, wenn sie zuerst die beiden anderen Beiboote verfolgen. Wenn du etwas tun kannst, um unsere Chancen zu verbessern, dann tu's.« Ry drehte sich um und sah sich über die Schulter. Er sagte: »Ich kenne mich nicht aus mit Farhullen, aber wenn du mir erklärst, wie ich dir helfen kann, tue ich mein Möglichstes.« »Ich brauche ein Peth eine Blutgabe.« Kait eilte zu Hasmal hinüber, nahm ihm seinen Beutel ab und zog eine auf der Innenseite mit Silber ausgelegte Holzschale heraus. »Du kannst nur das geben, was zu geben dir freisteht«, sagte sie, während sie sich schwankend wieder an ihr Ruder begab. »Hasmal erklärte mir, dass die Wölfe ihre Magie aus dem Leben der Menschen und der Dinge um sich herum beziehen.« Ry nickte. »Das ist die Essenz der Magie. Wenn wir die Magie einzig aus uns selbst bezögen, würden wir uns vollkommen erschöpfen ...« Das vehemente Kopfschütteln, mit dem Kait ihm antwortete, ließ ihn innehalten. »Wenn du das tust, müssen wir gegen die Rewhah kämpfen, und dann sterben wir vielleicht ohnehin. Beim Farhullen gibt es keinen Gegenschlag was wahrscheinlich mit ein Grund dafür ist, warum man diese Magie nicht
sehen kann , aber wir können die Rewhah nur vermeiden, wenn du tust, was ich dir sage. Gib mir nur das, was zu geben dir freisteht. Dein Blut, deinen Willen, deine eigene Lebenskraft. Mehr nicht. Wenn einer deiner Männer sich darauf versteht, Energie aus sich selbst zu beziehen, könnte ich auch die benutzen. Aber es kommt nur das in Frage, was dir gehört, und nur das, was du freiwillig gibst.« Ian sah, wie alle im Boot wissend nickten. Warum war er nur der Einzige an Bord, der von dieser verbotenen Zauberei, von der 165 Kait sprach, keine Ahnung hatte? Es schien, als sei er der Einzige hier, der das Meer kannte, und der Einzige, der nichts anderes kannte. Kait hatte ihren kunstvollen Galweigh-Dolch gezückt. Sie schnitt sich leicht in einen ihrer Finger und ließ drei Tropfen von ihrem Blut in die Schale fallen. Sie flüsterte ein paar Worte, und Ry, der sich auf seiner Ruderbank umgedreht hatte, beobachtete sie aufmerksam. Als sie fertig war, zog er ebenfalls seinen Dolch. Sie reichte ihm die Schale, und er folgte ihrem Beispiel. Jeder von Rys Männern schnitt sich in einen Finger und trug etwas zu der kleinen Blutlache in der Schale und zu den geflüsterten Worten bei. Trev, der die Schale als Letzter entgegennahm, deutete mit dem Kopf auf Ian, aber Kait sagte: »Nein. Ian sieht nur die äußere Gestalt dessen, was wir getan haben. Wenn auch er Blut gäbe, wüsste er nicht, was er da gibt oder wie er sein Opfer in Grenzen halten soll. Gib mir die Schale zurück.« Ian erwog kurz, gegen Kaits Urteil zu protestieren, darauf zu bestehen, dass auch er sein Blut opfern konnte. Er wollte nicht als Feigling dastehen, auch wenn ihm der bloße Gedanke an Magie verhasst war. Aber sie hatte Recht; er hatte gesehen, wie die anderen ihr Blut in eine Schale tropfen ließen, aber es schien ihm, als hätten sie so viel mehr getan, etwas, das unterhalb der Schwelle seiner gewöhnlichen Wahrnehmung lag. Er konnte nicht nachahmen, was sie getan hatten, daher bot er ihnen keine Hilfe an. Er konnte nur dasitzen und zusehen und hoffen, dass die Fluggeräte ihr Beiboot nicht entdeckten, bevor Kait ihre Aufgabe erledigt hatte. Er konnte inzwischen das stetige Dröhnen der näher kommenden Motoren und auch die Rufe der Männer in den beiden anderen Beibooten hören. Kait besprenkelte das Blut mit irgendeinem bleichen Pulver und begann zu singen: Wir opfern, was wir haben Reinheit der Absicht, 166 Bereitschaft, zu dienen, das Begehren zu überleben. Wir erbitten, was wir brauchen Einen Schild ohne Schatten, eine Mauer ohne Fenster, eine Straße, die niemand sieht. So sprechen wir, so soll es sein. Aus der Blutschale quoll blitzendes Licht, das sich zu einem Ball formte; der Ball dehnte sich wie eine Seifenblase unter dem Atem eines Kindes aus. Das Licht wurde fahl, während der Ball wuchs, und als es sich langsam über das ganze Boot und seine Mannschaft ausbreitete, verschwand die seltsame Blase vollkommen. Ian beobachtete das Boot, die Leute darin, das Wasser um sie herum. Er blickte hinter sich, wo die Windsbraut vor Anker lag, und betrachtete die weiße Wölbung des ersten Fluggeräts, die sich weiter über den Himmel schob. Er konnte nicht leugnen, dass Kait irgendetwas getan hatte, aber es schien ein Fehlschlag gewesen zu sein. In seinen Augen sah nichts anders aus als zuvor. »Hat es funktioniert?«, fragte Ry. »Ich spüre nichts.« Kaits Gesicht war starr vor Sorge. »Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, ich kann den Rand des Schildes um uns herum fühlen, aber wenn er da ist, dann ist er sehr dünn. Ich weiß nicht, ob er zu tun vermag, was wir von ihm brauchen.« Ians Mund wurde trocken. Ah, ihr Götter. Sie hatten ihren winzigen Vorsprung verloren, und inzwischen schössen die beiden anderen Beiboote, die voll besetzt waren mit erfahrenen Männern, übers Wasser ihrer Zuflucht entgegen. »An die Riemen«, fuhr Ian auf. Alle griffen nach ihren Riemen. Er rief: »Los! Richtet euch nach meinem Kommando. Riemen ins 167 Wasser. Fertig! Ziehen ... und heben ... und vorwärts ... und eintauchen ... und ZIEHEN! ... und HEBEN! ... und VORWÄRTS! ... und EINTAUCHEN!« Er lehnte sich gegen die Ruderpinne und brachte das Boot wieder auf einen westlichen Kurs, bis die
vor Anker liegende Windsbraut den Anblick der näher kommenden Fluggeräte versperrte. »Ziehen ... und heben ... und vorwärts ... und ...« Hinter ihm donnerten die gewaltigen Motoren der Fluggeräte. Er allein würde sie nicht sehen, wenn sie über dem falschen Horizont der Windsbraut auftauchten. Aber er musste sie auch nicht sehen. Sechs Augenpaare starrten das Bild hinter ihm an, während sechs Rücken das Beiboot über die Meerenge zogen. Ian sah, wohin er sie führte, und die Gesichter vor ihm würden ihm alles sagen, was er wissen musste.
Kapitel 19 Von seinem Samtbezogenen Sessel in der Galweighs Adler aus verfolgte Shaid Galweigh mit tiefer Befriedigung die Zerstörung des Sabirschen Schiffs und das wilde Rudern der Männer in dem Beiboot, das die Adler verfolgte. Die Sabirs machten den Eindruck, als würden sie ihre Seite des Vertrages tatsächlich erfüllen wollen. Ihre Aufgabe war es gewesen, ihr Schiff aufzuspüren, es zu übernehmen, den Spiegel der Seelen zu finden und ihn an Bord eines der Fluggeräte zu bringen. Von dem Punkt an sollten die Galweighs die Verantwortung dafür tragen, sie alle in die Stadt zurückzubringen und den Angriff gegen Haus Galweigh zu führen. Natürlich hatte Shaid nicht die Absicht, die zweite
Danya hörte mit schwachem Interesse ihrem Gespräch zu; sie hatte das Gefühl, dass die beiden Hebammen über jemanden sprachen, den sie früher vielleicht einmal gekannt hatte. Shejhan sagte: »Ich kann den Kopf sehen. Wir müssen allerdings Gathalorras Schwanz aus dem Weg schieben, sonst kann ich das Baby unmöglich hinausleiten. Sie hätte mich vorhin fast damit umgebracht, so wie sie ihren Schwanz hin und her schlägt. Hier ...« Danya spürte, wie ihr Schwanz hochgehoben und an den Mittelpfosten des Hauses gebunden wurde. Sie konnten den Kopf sehen? Interessant. Sie fragte sich, wie er wohl aussah. »Lass sie bei der nächsten Wehe pressen«, sagte Shejhan. »Sie ist so weit.« Und Aykree beugte sich zu ihr unter die Decke und befahl: Wenn das nächste Mal die Schmerzen kommen, musst du den Atem anhalten und pressen. Es wird Zeit, dass das Baby herauskommt.« Nun, das war eine gute Neuigkeit. Sie erinnerte sich noch immer vage daran, dass dieses Martyrium vorbei sein würde, sobald das Baby draußen war. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie das 288
sein würde, aber sie konnte es nicht. Sie hatte eine Ewigkeit in diesem Zustand verbracht. Eine Frage konnte sie jedoch unmissverständlich formulieren. »Wird es noch schmerzhafter werden?« »Gathalorra, wenn du so weit bist, fühlt es sich besser an, zu pressen, als nicht zu pressen. Du bist so weit, und wenn du es zulässt, wird dein Körper den Rest für dich erledigen«, sagte die Hebamme. Dann überflutete der Schmerz sie von Neuem, und der wonnevolle Nebel, in dem sie geschwelgt hatte, zerriss. Plötzlich war die Welt wieder real und hart und ganz in Rot getaucht. Aykree sagte: »Jetzt. Halt den Atem an und press das Baby hinaus. Pressen. Pressen!« Sie schloss die Augen, spannte den Bauch an und presste aus Leibeskräften, um nicht zerrissen zu werden. Irgendetwas veränderte sich in ihr. Das ungeborene Monstrum bewegte sich. Mit einem Mal konnte sie Fortschritte erkennen. Sie spürte, wie ihre Last geringer wurde. »Gut! Gut! Besser!« Sie keuchte, holte hastig noch einmal Atem, hielt den Atem an und presste dann aufs Neue. Sie würde gewinnen. Sie würde das Ding loswerden. Der Schmerz explodierte ohne Vorwarnung; zehnmal hundertmal schlimmer, als es vorher gewesen war. Danya brach auf ihren Ellbogen zusammen und schrie und schlug mit den Armen um sich und weinte, und dann hörte sie, wie etwas anderes ebenfalls zu jammern begann. Ganz allmählich drang in ihr Bewusstsein die Tatsache ein, dass die Hebammen ihr etwas zuriefen dass das Brüllen der beiden Frauen ihre eigenen Schreie übertönte. »Du hast es fast geschafft! Gathalorra! Gathalorra! Hörst du! Der Kopf ist draußen. Du musst noch einmal pressen, dann hast du es ganz geschafft!« In ihr baute sich der unerträgliche Drang auf zu pressen, ein unaufhaltsamer, unausweichlicher Drang, und sie war von einem 289
einzigen Gefühl erfüllt, einem stummen, gequälten Erstaunen. Noch einmal? Sie musste das noch einmal tun? Sie konnte es nicht... und doch, als die nächste Wehe kam, tat sie es. Noch mehr Schmerzen Schmerzen, die so furchtbar waren, dass sie sie verbrannten, sie verschlangen und sie überwältigten. Dann, so plötzlich, wie er gekommen war, war der Schmerz fort, und eine unglaublich wunderbare Wärme durchflutete ihren Körper. Kein Schmerz mehr. Kein Pressen. Kein roter Nebel. Sie lebte noch, während im Hintergrund selbst das dünne, gehetzte Jammern aufhörte. Stille. Erlösung. Shejhan sagte: »Du hast ein männliches Kind geboren.« Ihre Stimme klang ein wenig zweifelnd. Danya wäre es egal gewesen, selbst wenn sich ihr Kind als ein kleiner Hund entpuppt hätte. Sie hatte es hinter sich. Hinter sich. Sie war das Ding los, das in ihren Körper eingedrungen war. Sie konnte hören, dass es von neuem zu weinen begann ein schwaches, immer wieder unterbrochenes Weinen, aber doch kräftiger als zuvor. Sie wünschte sich nur, die beiden Frauen würden das kleine Ungeheuer wegnehmen, aber stattdessen wälzten sie sie auf den Rücken, auf einige Kissen auf dem Fußboden, und zogen sie hoch, so dass sie fast aufrecht saß. Dann drückten sie ihr das Ding in die Arme und an ihre Brust. Sie starrte es an, und die Zeit hörte auf zu sein. Das Baby bewegte sich in ihren Armen, sein Weinen verstummte, und es sah sie voller Ernst an. Ihr Baby. Ihr Baby. Kein Es. Er.
Sie starrte ihn an. Die Welt hielt den Atem an, und alle, durch die Schwerkraft nur schwach gehaltenen, Geräusche verloren sich. In der Stille blickte sie in die Augen ihres Sohnes, und er blickte in ihre. Er zappelte ein wenig, blinzelte und blinzelte dann noch einmal. Keineswegs ein Ungeheuer. 290
Nicht wie sie. Keine Klauen, keine Schuppen, keine Dornen, keine Zähne. Die Tränen, die sie herunterschluckte, brannten sich ihre Kehle hinab; ihr Blick verschwamm, als ihre Augen sich mit Wasser füllten. Ihr Sohn. Ihr menschlicher Sohn. Seine unergründlichen blauen Augen betrachteten sie mit großer Aufmerksamkeit; sein weiches Rosenmündchen formte ein winziges, lautloses O. Er hatte fünf kleine Finger an jeder Hand, fünf kleine Zehen an jedem Fuß, einen weichen Körper mit perfekt geformten Beinen und Armen. Ein perfektes menschliches Baby, und es war ihres. Die Sabirs hatten sie deformiert, sie hatten alles an ihr deformiert, aber ihren Sohn zu deformieren war ihnen nicht gelungen. Sie drückte sanft einen schuppigen, in einer Kralle auslaufenden Finger in seine Handfläche, und seine Finger fassten zu. Er hielt sie fest und blickte in ihre Seele, und seine Liebe, die Liebe, gegen die sie während ihrer Schwangerschaft angekämpft und die sie geleugnet hatte, überwältigte sie. Er war ihr Geschenk. Er war ihr Lohn für all das Leiden, das sie erduldet hatte. Er war wunderbar. Sie schob ihn zu der Brustwarze hin, die aus ihrer schuppigen Brust aufragte, und er begann zu saugen. Während er saugte, sah er sie an. Seine freie Hand ballte sich zur Faust und öffnete sich wieder, aber mit der anderen Hand hielt er ihren Finger fest. Shejhan sagte: »Er hat gar keine Schuppen. Und auch keinen Schwanz. Und keine Krallen ... er sieht so zart aus. Wird er sie später noch bekommen?« »Nein.« Danya fuhr mit einem Finger sachte über seine weiche, feuchte Haut. »Keine Schuppen. Keine Krallen. Kein Schwanz.« Sie blickte auf. »Könnt ihr mir eine Decke für ihn bringen, bitte?« Sie konnte ihre langen, schmalen Hände sehen ihre Hände, so wie sie früher einmal gewesen waren , denn sie hatten ein Abbild in seinen Händen gefunden. Sie konnte in den leicht nach 291
oben gezogenen Augen ihre eigenen Augen erkennen, wie sie das letzte Mal ausgesehen hatten, als sie sich in einem Spiegel im Haus Galweigh bewundert hatte. Sie hielt ihn zaghaft fest, voller Angst, dass ihre schuppige Haut ihn vielleicht kratzen könnte oder dass sie ihn unbeabsichtigt mit ihren Krallen verletzte. Aber das würde nicht passieren. Es konnte nicht passieren. Er war zauberhaft, er verströmte eine größere Magie als alles, was sie bisher gesehen oder gekannt hatte. Wie hatte sie nur glauben können, dass sie ihn hasste? Wie hatte sie sich jemals wünschen können, dass jemand sie von ihm befreite? Irgendwo tief in ihrem Wesen gab es jedoch etwas, das ihn mit Eifersucht betrachtete. Er war schließlich ein Mensch, das Einzige, das sie zu sein wünschte und nie wieder sein würde. Ein Mensch. Aber mit dem ganzen Rest ihres Daseins sagte sie: Er ist meiner. Mein Sohn. Mein wunderschöner Sohn. Weit hinten in ihren Gedanken begann eine Stimme, die nicht zu ihr gehörte, zu flüstern: Danya? Kannst du mich noch hören? Hörst du mir zu? Luercas. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört, seit sie zu unbeholfen geworden war, um noch den Weg über den Fluss nach Inkanmerea zurückzulegen, zu dem geheimen Haus der Teufelsgeister, zu dem er sie geführt hatte dem einzigen Ort, an dem sie mit ihm sprechen konnte, ohne von den Geistern belauscht zu werden, die sie und das Baby nicht in Ruhe lassen wollten. Ich kann dich hören. Sie sprach in ihren Gedanken mit ihm, da sie nicht in Gegenwart der Hebammen laut sprechen wollte. Luercas schien erfreut zu sein. Du hast deine Sache gut gemacht, Danya. Er ist ein hervorragend gelungenes Kind. Viel besser, als ich erwartet hatte. Er wird seinen Zweck gut erfüllen. Sehr gut. Danya nahm das Kompliment ohne Kommentar entgegen. Es überraschte sie, dass sie sich nicht mehr darüber freute, wieder von dem Geist zu hören, der ihr das Leben gerettet hatte. Sie ver 292
barg ihre gemischten Gefühle, so gut sie es vermochte, denn sie wollte ihn nicht kränken. Schließlich sagte sie: Ich bin froh, dass du wieder da bist. Ich habe dich vermisst. Ich hatte schon befürchtet, dass du mich im Stich gelassen haben könntest.
Du bist meine Freundin. Du bist mein Fenster zur Welt der Lebenden. Und ich habe dich ebenfalls vermisst, in all der Zeit, in der ich nicht mit dir reden konnte. Aber ich werde dich nicht im Stich lassen, Danya. Ich werde dich niemals im Stich lassen. Nein. Das würde er nicht tun. Er würde immer bei ihr sein. Er würde für sie sorgen, er würde sie beschützen und ihr zu guter Letzt helfen, sich an den Sabirs und an den Galweighs zu rächen und an der Welt, die sie zerstört hatte. Sie wusste es wusste es mit absoluter Sicherheit. Sie hätte beglückt sein müssen, in ihren Gedanken wieder seine ruhige Stimme sprechen zu hören. Sie hätte beglückt sein müssen. Ich weiß, dass du mein Freund bist. Sie blickte auf das Baby in ihren Armen hinab, das wunderhübsche Baby, das sie nicht gewollt hatte, und blendete ihre Vorbehalte, was Luercas betraf, entschieden aus. Ist er nicht fabelhaft? Luercas antwortete inbrünstig: Er ist das Schönste, was ich je gesehen habe.
Kapitel 30 Ry beugte sich über das Sehglas, das Doghall angefertigt hatte, und beobachtete seinen Cousin Crispin, der sich im Haus Sabir benahm, als sei er der Paraglese und nicht ein untergeordneter Wolf in der Hierarchie. Ry konnte auch sehen, dass die anderen Wölfe Crispin ihren Respekt erwiesen zumindest, wenn sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden , und dass ihre Mienen Angst und Abscheu verrieten, wenn er an ihnen vorbeiging Was war während seiner Abwesenheit in Haus Sabir vorgefallen? Was konnte dazu geführt haben, dass Crispin jetzt eine solche Machtposition innehatte? Warum sollte irgendein Wolf vor Crispin das Knie beugen oder die Finger aufs Herz drücken? Böse, traurige Veränderungen hatten stattgefunden; Ry wusste es. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wie das alles geschehen sein sollte. Es gab verschiedene Möglichkeiten: Sein Vetter Crispin war zu einem Drachen geworden, ein Drache hatte von ihm Besitz ergriffen, oder aber er arbeitete mit einem Drachen zusammen Doghall hatte nicht ermitteln können, was aus der Seele eines Menschen wurde, wenn der Spiegel der Seelen die Drachenseele in seinen Körper überführte. Aber nachdem Ry in seinem Zimmer mit solcher Sorgfalt seine eigene Ermordung inszeniert und Hinweise zurückgelassen hatte, die auf Crispin, dessen Bruder Anwyn und ihren Spießgesellen und Vetter Andrew hindeuteten, hätte Crispin eigentlich enteignet und auf dem Platz des Gesetzes hingerichtet worden sein müssen, lange bevor ein Drache die Chance hatte, von seinem Körper Besitz zu ergreifen. Doghall stand hinter ihm. »Habt ihr den Spiegel schon gesehen?« 294
Ry reckte sich, und in seinem Rücken knackte es an mindestens einem Dutzend verschiedener Stellen. Er blickte zu Doghall auf, der nach wie vor geradezu besessen war von dem Spiegel. Der verdammte Spiegel hatte ihn und seine Männer und Kait verraten, er hatte seine Vettern auf seine Spur gesetzt, und er hätte sie beinahe alle das Leben gekostet. Ry wünschte sich in diesem Augenblick, er hätte Kait die Erlaubnis verweigert, das verfluchte Artefakt an Bord des Schiffes zu bringen, als er sie gerettet hatte. Oder aber er hätte eine Möglichkeit finden müssen, den Spiegel ins Meer zu werfen, bevor sie auch nur in die Nähe von Calimekka kamen. Dann säßen sie jetzt nicht hier, um in diese kleinen Stückchen verzauberten Glases zu blicken und darauf zu hoffen, irgendwie das bizarre Unheil, das der Spiegel angerichtet hatte, wieder ungeschehen zu machen. »Nein«, stieß er verärgert hervor. »Ich habe den Spiegel noch nicht gesehen.« Aus Liebe zu Kait hatte er sich von ihrem Onkel herumkommandieren lassen. Tut dies, Ry. Lasst Eure Männer jenes tun. Geht hierhin. Haltet dort Wache. Und er hatte ohne Protest Doghalls unausgesprochene Meinung hingenommen, dass er und seine Männer niedere Geschöpfe seien, weil sie Sabirs waren. Er ertrug den Abscheu, das Misstrauen und die Abneigung. Genau genommen teilte er den Abscheu, das Misstrauen und die Abneigung sogar mit dem Mann. Er konnte sich nicht allzu viel einbilden auf seine Toleranz, denn er hatte nicht mehr für Doghall übrig als dieser für ihn. Aber trotz allem, was er tat, um sie für sich zu gewinnen, weigerte Kait sich, die Grenzen höflicher Reserviertheit zu überschreiten, die sie zwischen sich und ihm errichtet hatte. Sie waren auf eine machtvolle und unerklärliche Weise aneinander gebunden; er konnte in diesem Augenblick spüren, dass sie durch die Stadt lief, um einen Diener seiner Familie durch die Nebenstraßen Calimekkas zu verfolgen. Er war bei ihr, als wohne er in ihrem Kopf. Wenn er im selben Zimmer war wie sie, konnte er 295
ihre nackte Haut auf seiner spüren, selbst wenn hundert Menschen zwischen ihnen standen. Nachts in seinem Bett konnte er ihre Lippen auf seinen kosten, obwohl sie ihn nie geküsst hatte; wenn er die Augen schloss, konnte er spüren, wie sie nackt und dicht an ihn gedrückt mit ihm tanzte wie sie zusammen im Mondlicht tanzten. Und wenn er ihr in die Augen sah, wusste er, dass sie genauso empfand wie er, genauso tief und lebhaft und unausweichlich, wie er es tat, aber sie wollte nicht zu ihm kommen. Sie weigerte sich, ihn zu berühren. Sie weigerte sich, sich der Leidenschaft zu überlassen, von der sie beide besessen waren. Sie nahm auch Ians Anträge, der sich ihr als Gefährte empfahl, nicht an und mied seine Umarmungen, aber sie wich auch jedem von Rys Versuchen aus, sie zu betören und zu verführen. Sie war so keusch wie ein Parnissa-Novize; Ry ging morgens an ihr vorbei, wenn sie auf dem Boden kniete und meditierte, wenn sie sich in der lautlosen, spurlosen Magie übte, in der ihr Onkel und Hasmal sie unterwiesen hatten. Während der Meditation wurde sie hinter ihren Schilden unsichtbar für ihn. Und dann hatte er das Gefühl, als schnitte sie ihm einen Teil seiner Seele ab. Ry blickte, ohne etwas zu sagen, weiter in das Glas, und Doghall verstand den Wink. Er schlenderte zu Jaim hinüber. Jaim machte gerade seine Schicht an dem Glas, das mit der Galweigh-Frau verbunden war, und Doghall fragte, ob er etwas zu vermelden habe. In Rys Sehglas bewegte Crispin sich gerade auf das Zentrum der Domäne der Wölfe zu. Er schritt entschlossen den Korridor hinunter, der zu der Weißen Halle führte, zwischen den Bogenreihen mit ihren Buntglasmosaiken hindurch, bis er schließlich in die Halle selbst kam. Er war allein dort. Allein mit dem in den Boden eingeritzten Muster, der Fährte der Geister. Allein mit der Opfersäule aus massivem Gold. Und da war er. Der gottverdammte Spiegel der Seelen stand wie ein Altar vor einem Idol vor der Säule. Ry unterdrückte ein Schaudern. Es war ihm verhasst, auch nur in die Nähe der Weißen Halle zu kommen. Selbst im besten Falle schrien die unglücklichen Geister der geopferten Toten einem aus den Wänden ihr Flehen um Erlösung entgegen. »Da ist er«, sagte er, und Doghall kam wie der Blitz durch den Raum und hockte auch schon neben ihm, um in das trübe Glas zu spähen. »Welches von diesen Dingen ist der Spiegel?« Ry hatte ganz vergessen, dass Doghall den Spiegel nie selbst zu Gesicht bekommen hatte. Er machte ihn auf eines der verschiedenen Artefakte, die in der Halle standen, aufmerksam. »Der Spiegel ist das blumenförmige Artefakt auf dem Sockel. Als ich ihn das letzte Mal sah, stieg in dem Blumenstiel in der Mitte Licht auf, das sich dann in den Blättern sammelte. Jetzt sieht der Spiegel... tot aus.« Doghall hielt so lange die Luft an, dass man beinahe glauben konnte, er habe das Atmen gänzlich vergessen. Er schien wie erstarrt zu sein, sein Körper war steif, und sein Blick wich keine Sekunde lang von dem sich ständig verändernden Bild. Ry spürte eine Veränderung der Luft um sich herum, es war ein Gefühl, als bewege sich entfesselte Macht durch die Ströme des Universums. Doghall tat irgendetwas mit dieser schweigenden Magie, über die er gebot, aber Ry hatte nicht die geringste Ahnung, was es war. Als Crispin dann den Raum verließ, verschwand der Spiegel aus ihrem Blickfeld, und Doghall lehnte sich mit einem Seufzer zurück. »Ah. Raffiniert. Unglaublich raffiniert. Sie haben so viel mit einfachen Zaubern zuwege gebracht...« Doghall erhob sich und machte Anstalten wegzugehen. »Einen Moment«, sagte Ry. Der alte Bastard war ein wandelndes Rätsel, aber Ry hatte keine Lust, ihn wieder einmal damit durchkommen zu lassen. Nicht nachdem er über dem Sehglas gehockt hatte, bis ihm die Füße einschliefen und die Muskeln in seinem Rücken brannten. »Wollt Ihr mir erzählen, dass Ihr das Artefakt nur so kurz zu sehen braucht, um nicht nur zu wissen, was 296 297
es bewirkt, sondern auch, wie es funktioniert? Und welche Zauber die Drachen benutzt haben, um es zu aktivieren?« »Bis zu einem gewissen Grad, ja. Ich kann die grundlegenden Dinge erkennen. Magische Erfolge, zumindest solche, die auf Kosten anderer errungen wurden, hinterlassen Spuren. Wenn man Euch eine akzeptable Form der Magie beigebracht hätte und wenn Ihr diese eifrig studiert hättet, hättet auch Ihr sehen können, auf welche Weise die Drachen der Alten das Artefakt geschaffen haben, und Ihr wäret ihren Spuren gefolgt, um zu denselben Schlussfolgerungen zu kommen.« Ry erhob sich, ohne auf die unverhohlene Beleidigung seiner Studienleistungen und seiner Art der
Magie einzugehen. Wütend blickte er auf den alten Mann hinab. »Wenn das die Wahrheit wäre, hätte auch Hasmal wissen müssen, wozu der Spiegel dient. Er ist einer von euch.« »Er ist insofern einer von uns, als er von seinem Vater, der ebenfalls ein Falke ist, zum Falken erzogen wurde.« Doghall verschränkte die Arme über der Brust und lächelte. »Aber Hasmal war alles andere als ein eifriger Schüler. Er lernte, was sein Vater ihm beibrachte, weil man das von ihm erwartete und weil er ein gehorsamer Sohn war. Aber gehorsame Söhne sind nicht das Material, aus dem man inspirierte Gelehrte gewinnt. Inspirierte Gelehrte findet man nur dort, wo echte Leidenschaft ist.« Ry wartete darauf, dass er Weitersprechen würde, aber der alte Mann spielte natürlich wieder seine Spielchen. »Was steckt also dahinter?«, brauste er schließlich auf. Doghall kicherte; die Verärgerung in Rys Stimme schien ihn zu überraschen. Er schüttelte den Kopf, und Ry verspürte den schier unbezähmbaren Drang, sich zu verwandeln und dem alten Ziegenbock mit den Zähnen die Kehle aus dem Leib zu reißen. Er tat es jedoch nicht zum einen, weil er eine gesunde Furcht vor den magischen Fähigkeiten des alten Mannes hatte, zum anderen aus Liebe zu Kait. Aber zu guter Letzt gab Doghall ihm doch eine Antwort. »Obwohl es für das unerprobte Auge den Anschein hat, als sei der Spiegel der Seelen zurzeit vollkommen passiv, saugt er doch etwas von der Lebenskraft der meisten Menschen in dieser Stadt in sich hinein, um funktionieren zu können. Ich will nichts damit zu tun haben, etwas gleichartig Böses in die Welt zu bringen. Aber ich glaube, ich sehe eine Möglichkeit, ein kleines Gegenstück des Spiegels zu erschaffen etwas, das stark genug ist, um den Zauber des Spiegels immer für eine Person nach der anderen umzukehren.« Ry verdrehte die Augen. »Eine Person nach der anderen. Das wäre natürlich sehr hilfreich. Dann könnten wir die vielen hundert oder vielleicht tausend Drachen aufspüren, die sich in den Körpern der Stadtbewohner verstecken ... Und habt Ihr eine Ahnung, wie viele Leute letztes Jahr die Parnissatssteuern als Bürger Calimekkas bezahlt haben? Mehr als eine Million. Habt Ihr eine Vorstellung davon, wie leicht sich hundert Personen oder tausend Personen oder sogar fünftausend Personen in dieser Menge verbergen könnten? Also spüren wir einen nach dem anderen auf und kehren sie um. Jedenfalls, sofern sie uns nicht zuerst vernichten. Sie waren schließlich die größten Zauberer ihres Zeitalters. Ich stelle sie mir ziemlich gefährlich vor, Ihr nicht auch?« »Ganz sicher sogar. Aber wir brauchen nicht alle Drachen aufzuspüren. Wir müssten nur an einen Einzigen herankommen. Einen in einer hohen Position, mit Zugang zu dem wahren Spiegel. Dann suchen wir uns noch jemanden, den wir von dem Drachen befreien, der von ihm Besitz ergriffen hat; wenn wir dem Betreffenden seine eigene Seele zurückgeben, müsste er unserer Sache eigentlich gewogen sein. Diese Person könnte uns in das Haus Sabir bringen und uns helfen, dort einen Aufruhr zu verursachen, durch den wir den Spiegel vor den Drachen in Sicherheit bringen könnten. Im Augenblick beziehen die Drachen ihre Lebenskraft aus dem Spiegel. Wenn wir diese Kraftquelle zum Versiegen bringen oder sie gar umkehren könnten, würden die Drachen aus den 298 299
Körpern, die sie sich angeeignet haben, herausgerissen und ins Nichts zurückgeworfen werden.« »Und damit wäre der Bedrohung Calimekkas und der Welt durch die Drachen ein Ende gemacht, und der Weg wäre geebnet, damit Ihr und der Rest der Falken euren wiedergeborenen Gott herbeiholen und an die Macht bringen könntet, Stimmt’s ? Aber seid Ihr da nicht furchtbar optimistisch? Nach allem, was ich von Kait und Hasmal gehört habe, sagen die Prophezeiungen einen Krieg zwischen den Drachen und Euren Falken voraus, bevor die Angelegenheit endgültig geklärt wird.« Doghall blickte grinsend zu ihm auf und zuckte mit den Schultern. »Der Wortlaut der Prophezeiungen ist eine Frage der Interpretation. Vielleicht sind unsere Interpretationen falsch gewesen, und die Schlacht wird nur zwischen einigen wenigen mächtigen Gegnern geführt werden und nicht zwischen großen Armeen. Wenn wir uns all diese Jahre geirrt hätten, würde ich mich nicht darüber beschweren. Wenn wir die Drachen niederzwingen, bevor sie zuschlagen können, wird Solander nur umso früher seinen Thron besteigen, und die Welt wird umso eher ein Paradies sein. Ich werde tun, was ich kann, um den Beginn des Paradieses zu beschleunigen.« Ry wandte sich kopfschüttelnd von ihm ab. Sie alle Doghall, Hasmal und sogar Kait waren vollkommen unvernünftig, sobald es um ihren Wiedergeborenen ging. »Ihr setzt Eure ganze Existenz aufs Spiel, in der Hoffnung, eine unsinnige Legende zum Leben zu erwecken. Ihr seid ein Narr, Doghall.« »Wollt Ihr sehen, was für ein Narr ich bin?« Doghall legte Ry sachte eine Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich um, so dass sie sich in die Augen sahen. »Der Wiedergeborene ist kein Gott. Und er
ist keine Legende. Er ist bereits geboren worden heute Morgen. Ich habe gespürt, wie er in die Welt kam und das erste Mal Atem schöpfte. Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Glückseligkeit empfunden. Er wird mit jedem Atemzug stärker und stärker. Würdet Ihr ihn gern kennen lernen?« 300
Ry lachte laut auf. Den Wiedergeborenen kennen lernen? Was für Tricks würde sich der alte Mann aus dem Ärmel ziehen, um ihn glauben zu machen, der Wiedergeborene sei real? Noch besser, wie wollte Doghall davon profitieren, wenn er Ry auf seine Seite zog? Hatte er die ganze Zeit über die Absicht gehabt, Ry zu der törichten Religion der Falken zu bekehren? Vielleicht war Doghall zu dem Schluss gekommen, dass es nicht genug Falken gab, um die Welt zu beherrschen. Vielleicht hatte er herausgefunden, was für ein mächtiger Zauberer Ry war, und jetzt brauchte er ihn als Verbündeten mit eigenen Rechten, statt in ihm nur den widerstrebenden Verbündeten zu sehen, der der Sache der Falken half, um in Kaits Nähe bleiben zu können. Er sah den alten Mann an und dachte: Womit willst du mich jetzt wieder plagen, hm? Nun, ich weiß einen guten Zaubertrick ebenso zu schätzen wie alle anderen, und wenn ich mir deinen Trick ansehe, wird mir das mehr über dich verraten, als du dir vorstellen kannst. Du möchtest also, dass ich deinen großen Helden »kennen lerne«? Den Spaß sehe ich mir an. Laut sagte er nur: »Natürlich würde ich Euren Wiedergeborenen gern kennen lernen.«
Kapitel 31 Sie saßen im Schneidersitz einander gegenüber, zwischen sich die Blutschale des alten Mannes. »Ich brauche mein eigenes Blut nicht in die Schale zu tropfen«, sagte Doghall. »Ich bin bereits viele Male über den Pfad des Lichtes gewandelt, und meine Seele kennt den Weg. Aber Ihr werdet eine Verbindung brauchen.« Ry schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr nicht Euer Blut mit meinem in der Schale vermischt, werde ich jetzt gehen. Ich habe kein Vertrauen in einen Zauber, zu dem nur mein Blut gebraucht wird, nicht auch Eures.« Doghall zuckte mit den Schultern und nahm eine Aderpresse und einen hohlen Dorn zur Hand, mit deren Hilfe er schnell ein paar Tropfen seines eigenen Blutes in die Schale fließen ließ. »Ich habe keine Tricks für Euch geplant, mein Sohn. Ich möchte nur, dass Ihr versteht, wofür wir kämpfen und warum. Ihr wollt Kait Ihr macht mit jedem Wort und jeder Geste klar, dass sie der einzige Grund ist, warum Ihr bei uns bleibt. Also werde ich Euch den Grund zeigen, warum Kait jetzt dem Weg der Falken folgt und warum sie und Hasmal und ich fest zusammenhalten.« »Ich habe Euch ja gesagt, dass ich bereit bin, mir Eure kleine Darbietung anzusehen. Erwartet nur bitte nicht von mir, dass ich es glauben werde.« Ry machte sich an der Aderpresse zu schaffen, die Doghall benutzt hatte, und stieß den frischen Dorn, den Doghall ihm gegeben hatte, in seine Haut. Am Ende gelang es ihm, etwas von seinem eigenen Blut in die Schale zu tropfen, obwohl es bei ihm keineswegs so mühelos abging wie bei dem alten Mann. Dann breitete Doghall die Arme weit aus und stimmte in einer der uralten Sprachen einen Gesang an. Ry hörte genau hin, so 302
dass er die Rhythmen und Muster der Sprache erkennen konnte; es war eine Variante der Sprachen der Alten, die auch er studiert hatte. Aber er verstand kein einziges Wort davon. Die Wirkung von Doghalls Gesang in dem abgedunkelten Raum konnte er jedoch ohne weiteres spüren. Ein Schild erhob sich und hüllte sie mit kreiselnden Bewegungen ein; zuerst war der Schild noch unsichtbar, aber als er dann immer stärker wurde, gewann er ein seltsames, strahlendes Leuchten. Eingehüllt in den Schild, senkte sich ein Gefühl des Friedens auf Ry herab. Es war eine Ruhe, wie er sie im Kontakt mit der Magie noch nie zuvor empfunden hatte was er empfand, war wahrhaft schön und auf rätselhafte Weise sanft; seiner Meinung nach waren Schönheit und Sanftheit gerade das Gegenteil von Magie. Er saß in dem schimmernden Rund des Schildes, argwöhnisch zwar, aber auch in seiner Meinung erschüttert, und wartete darauf, dass Doghall ihm eine raffinierte Lichterschau vorführen würde. Der alte Mann sagte jedoch: »Es gibt nichts zu sehen. Schließt Eure Augen, und ich werde Euch über den goldenen Faden geleiten.« Er schloss wie geheißen die Augen und entdeckte, dass er ein gewundenes, goldenes Band vor sich sehen konnte. Das Band führte von der Blutschale in Richtung Süden. Ry spürte die Gegenwart des alten Mannes, aber jetzt, da er die Augen geschlossen hatte und sich innerhalb der schützenden Hülle des Schildes befand, erschien ihm Doghall gar nicht wie ein alter Mann. Er war riesengroß und so kraftvoll wie eine Naturgewalt, so erschreckend wie die Ausläufer
eines ungeheuerlichen Sturms, der einem vom Meer her droht. Ry wusste, dass der Sturm jederzeit zuschlagen und alles vor seinen Augen zerstören konnte, aber er hatte keine Chance, herauszufinden, ob der Sturm das auch tatsächlich tun würde. Folg mir, forderte Doghall ihn auf, als er in das Herz dieses leuchtenden Bandes trat und sich dann daran entlang weiterbewegte. Ry stellte fest, dass er Doghall folgen konnte und dass das 303
Band ihn mit unvorstellbarer Geschwindigkeit mit sich fort zog, sobald er sich ihm erst einmal überlassen hatte. Er hatte keine Kontrolle über das Geschehen, aber er fürchtete sich auch nicht. Ein Gefühl der Liebe umgab und durchdrang ihn, und je näher er seiner Quelle kam, umso stärker und wunderbarer wurde es. Schließlich erreichten sie den Geburtsort all dieser Liebe. Ry konnte nichts sehen, aber er hatte keine Zweifel an dem, was dort vorging. Ein neugeborenes Kind lag in den Armen seiner Mutter, ruhig und von absolutem Frieden erfüllt. Ry spürte die Macht, die von dem Baby ausging, eine bereits voll ausgeprägte Magie, mit allen dazugehörigen Fähigkeiten und höchster Genauigkeit ... aber es war eine Magie, die von Liebe beherrscht wurde. Von Mitgefühl. Von Hoffnung und Optimismus. Glückseligkeit durchströmte ihn, ein inneres Leuchten, so strahlend wie das Licht der Sonne und so sanft wie der Kuss einer leichten Brise auf den Blütenblättern einer Blume. Das Kind bot sich der Welt zum Geschenk. Obwohl der Junge gerade erst geboren worden war, wusste er, dass er sein Leben im Dienst an anderen verbringen würde, dass er die Menschen unterrichten und die Welt zu der Schönheit des Ortes geleiten würde, den er bereits bewohnte. Ry erkannte, dass dieser Ort vollkommenen Glücks nicht unerreichbar war. Er erkannte in diesem Augenblick, dass er eine solche Schönheit in sich selbst zu erschaffen vermochte, obwohl er es bisher nicht für möglich gehalten hätte, dass so etwas geschehen konnte. Wir verlieben uns nicht einfach, begriff er plötzlich. Wir taumeln nicht in ein Gefühl des Glücks hinein, und wir stolpern auf unserem Weg dorthin auch nicht zufällig über Mitleid und Barmherzigkeit. Wir erwählen den Pfad von Liebe und Glück, von Barmherzigkeit und Annahme, und indem wir diesem Pfad folgen, lassen wir den Pfad des Hasses hinter uns. Diese beiden sind Entgegengesetzte Straßen, die in vollkommen verschiedene Richtungen führen, und jene, die die Straße der Liebe beschreiten, 304
werden ein Leben voller Liebe führen und für Hass keinen Platz mehr finden. Er schämte sich seiner Dummheit, dass er Doghall eines Tricks verdächtigt hatte. Niemand, der ein paar Minuten in der Gegenwart des Wiedergeborenen verbracht hatte, konnte je auch nur auf den Gedanken kommen, einen anderen mit List dazu bewegen zu wollen, zu einem Anhänger des Wiedergeborenen zu werden. Der Wiedergeborene berührte jeden, der sich ihm näherte, und seine Liebe überwand alle Hindernisse. Kein Trick und kein Zauberkunststück konnten zuwege bringen, was der Wiedergeborene einfach durch seine Existenz zu tun vermochte. Ich habe einen Platz für dich, sagte der Wiedergeborene zu ihm. Und Ry antwortete: Nimm mich, ich gehöre dir. Willkommen. Schließlich musste er sich von diesem friedlichen Gefühl lösen und in seinen Körper zurückkehren, in seinen Körper und in die Dunkelheit dieses kleinen Arbeitsraumes. Er schlug die Augen auf und saß schweigend vor dem alten Mann, während ihm die Tränen über die Wangen rannen. Er war schockiert über seine Reaktion aber er konnte sie auch verstehen. Der Kontakt mit dem Wiedergeborenen war seine erste Begegnung mit wahrer Liebe gewesen. Er war schon früher anerkannt worden, aber nicht geliebt. Seine Mutter betrachtete ihn als ein nützliches Spielzeug, sein verstorbener Vater hatte in ihm denjenigen gesehen, der eines Tages seine Stelle einnehmen und seine Arbeit fortführen würde, seine anderen Verwandten erkannten in ihm eine mögliche Bedrohung oder einen möglichen Verbündeten. Aber Liebe, Glück, Barmherzigkeit, Hoffnung ... das alles waren Gefühle, für die es in Haus Sabir keinen Platz gab. Der Wiedergeborene war gekommen, um das zu ändern. Er war gekommen, um die Lehre der Liebe zu verbreiten. Ry sah Doghall an und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Ich stehe auf Eurer Seite«, sagte er. »Was auch geschieht, was 305
auch der Preis dafür sein mag, ich gehöre zu Euch. Jetzt verstehe ich.« Doghall nickte und beugte sich über die Blutschale, die inzwischen wieder leer war, um ihn zu umarmen. »Ich freue mich, dich auf unserer Seite zu haben.«
Kapitel 32 in dem Geheimgang innerhalb der Mauer, die Haus Sabir umgab, hockte Domagar vor einem der Sehschlitze. »Siehst du sie? Ein schlankes Mädchen mit gebleichtem, zu einem Zopf geflochtenem blonden Haar in Arbeitskleidung. Jetzt geht sie gerade an dem fetten Würstchenverkäufer vorbei. Ziemlich reizlos fällt einem nicht weiter auf.« Der Spion, der den beiden Händlern in ihr Gasthaus gefolgt war, spähte durch seinen eigenen Sehschlitz und sagte: »Ja. Ich habe sie. Was ist denn mit ihr?« »Das ist die junge Frau, die im Gasthaus neben dir gesessen hat. Ich habe mir ihr Gesicht zufällig ziemlich genau angesehen, als ich wegging ... ich habe ihren Blick aufgefangen und gesehen, dass sie mich wieder erkannte, und ich war nicht gerade glücklich darüber, obwohl ich mir sicher war, sie nie zuvor gesehen zu haben. Ich brauchte meine ganze Konzentration und den größten Teil des Weges vom Gasthaus hierher, um zu begreifen, dass sie dieselbe Frau ist, die ich belauscht habe, als sie versuchte, Artefakte zu verkaufen. Sie ist die Frau, die behauptete, ihr Name sei Chaiteveni. Als sie vorgab, Händlerin zu sein, hatte sie einen imumbarrischen Akzent und trug imumbarrische Kleider. Außerdem hatte sie zu diesem Zeitpunkt schwarzes Haar. Und sie war hübsch. Auffallend hübsch. Aber jetzt ist sie gekleidet wie eine hergelaufene iberische Arbeiterin, todlangweilig und reizlos, und wenn man sie beobachtet, verschmilzt sie beinahe mit der Straße. Hast du mit ihr gesprochen?« Der Spion musste erst nachdenken, bevor er antwortete. »Sie hat eigentlich keinen großen Eindruck auf mich gemacht. Aber ... ja. Ich glaube, ich habe mit ihr gesprochen. Ganz kurz.« Er run307
zelte verwirrt die Stirn und sah sich das Mädchen noch genauer an. »Sie hatte aber keinen Akzent. Nicht den geringsten. Genau genommen ...« Der Spion, der die beiden Kaufleute aus Hmoth bis in ihr Gasthaus verfolgt hatte, schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, sich an die Frau neben ihm zu erinnern. An ihre Stimme, ihren Geruch, ihre Art zu essen. »Tatsächlich, diese Geschichte ist so merkwürdig, dass sie mir eigentlich sofort hätte auffallen müssen. Ich habe Spuren von einer Zugehörigkeit zu den Fünf Familien in ihrer Stimme gehört. Und eigentlich hätten mir auch ihre Tischmanieren auffallen müssen, wenn ich ein wenig genauer hingesehen hätte.« Er blickte auf seine Hände hinab und murmelte: »Das sieht mir gar nicht ähnlich, so unaufmerksam zu sein. Da stimmt etwas nicht.« Er wandte sich noch einmal seinem Sehschlitz zu und zuckte zusammen. »Wo ist sie geblieben?« »Sie hat sich nicht von der Stelle gerührt«, antwortete Domagar. Der Spion schaute genauer hin, dann sagte er: »Oh, du hast Recht. Sie ist immer noch da.« »Sie entzieht sich immer wieder unserer Aufmerksamkeit. Das gefällt mir nicht. Ich verstehe nicht, warum sie es tut, aber sie tut es.« »Ich fürchte, das war einfach meine Schuld«, meinte der Spion. »Wenn ich jetzt über sie nachdenke, fällt mir auf, dass sie das weitaus Interessanteste an unserem Tisch war wegen der Widersprüche in ihrer Person. Aber vorhin ist mir das nicht aufgefallen. Sie war eine wohlerzogene Esserin, wenn Ihr versteht, was ich meine. Sie hat immer nur einen Bissen gleichzeitig genommen, nicht mit vollem Mund geredet und nur an ihrem Getränk genippt, statt es hinunterzustürzen. Sie hat nicht ausgespuckt. Und sie stank weder nach Schweiß noch nach irgendeiner Arbeit, obwohl es heiß war und die Arbeiter um sie herum wahrhaftig einen starken Körpergeruch hatten. Sie ...« Er hielt inne, weil er sich auf keinen Fall falsch ausdrücken wollte. »Sie roch ganz deutlich nach Blumen. Und nach Kräutern. Es war ein guter, sauberer Duft.« Zwei Sehschlitze von ihnen entfernt, stand Anwyn Sabir neben 308
dem Hauptmann der Sabirschen Wache. Sie hatten ebenfalls das Mädchen draußen beobachtet. »Irgendetwas stimmt an der ganzen Sache nicht«, sagte Anwyn. »Was diese Leute auch tun, es hat nichts damit zu tun, meinem Bruder die Artefakte zu beschaffen, die er haben will.« Er wandte sich an den Hauptmann der Wache. »Dann wollen wir mal herausfinden, was sie wirklich im Schilde führen. Bringt das Mädchen her.« Kait seufzte. Sie hatte lange genug gewartet; ihre Freunde würden sich gewiss schon fragen, wo sie steckte. Sie hatte dem Mann, dem sie gefolgt war, reichlich Zeit gegeben, seinen Bericht zu erstatten. Wenn er vorgehabt hätte, durch dasselbe Tor wieder wegzugehen, durch das er das Haus betreten
hatte, hätte er das bereits getan. Daher wohnte er entweder in Haus Sabir, oder er hatte das Haus durch einen der Nebeneingänge verlassen. So oder so, sie konnte im Augenblick nichts weiter ausrichten. Als eine zusätzliche Maskerade und weil sie schon wieder Hunger und Durst hatte, kaufte sie einem dicken jungen Mann mit rasiertem Kopf ein heißes Würstchen am Spieß ab und ließ sich an einem Bierstand ihren Zinnbecher mit Reisbier füllen. Sie nippte an ihrem Getränk und verzehrte mit kleinen Bissen ihr Würstchen, während sie sich auf den Weg zu ihrem Treffen mit Doghall machte. Sie konzentrierte sich ganz darauf, so auszusehen wie eine müde Arbeiterin, die widerstrebend zu ihrer Schicht zurücktrottete. Sie hielt ihre Schilde um sich herum aufrecht, obwohl nichts darauf hindeutete, dass irgendjemandem in Haus Sabir ihre Anwesenheit aufgefallen wäre. Sie wünschte nur, sie hätte Doghall mehr erzählen können. Sie wünschte, sie hätte irgendeine Möglichkeit gefunden, dem Mann in das Haus der Sabirs zu folgen. Sie war davon überzeugt, dass sich dort viele Dinge befanden, die sie hätte wissen müssen. Sie wünschte ... aber dann begriff sie, dass sie mit diesen Wünschen nur ihre Zeit verschwendete, und sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihr liegende Aufgabe. 309
Die Straße, auf der sie sich befand, führte steil einen Hügel hinunter. Jetzt fiel ihr auch auf, das es sich keineswegs um eine normale Straße handelte. Auf beiden Seiten versperrten hohe Gebäude den Blick auf den Horizont, während die Straße ein halbes Dutzend Male eine scharfe Kehre machte, so dass man nie wusste, was vor einem und was hinter einem lag. Die Erbauer von Haus Sabir hatten diese Straße zweifellos gründlich geplant. Nirgendwo zweigten Gassen ab, so dass die Straße wie ein einziger langer Pferch war, und nicht einmal die Gebäude hätten einem Menschen in Not ein Versteck geboten. Es waren sämtlich Lagerhäuser, die das Wappen der Sabirs oder das Wappen einer der mit den Sabirs verbündeten Familien trugen. Alle Türen waren geschlossen und in den meisten Fällen auch verriegelt. Kait hatte sich zu sehr darauf konzentriert, nicht von ihrer Beute entdeckt zu werden, um auf die Einzelheiten am Wegesrand zu achten, aber als sie nun die Straße in Entgegengesetzter Richtung zurückging, gefiel ihr die Szenerie überhaupt nicht. Ganz und gar nicht. Die Vorteile der langen, schmalen, gewundenen und lückenlos abgeschlossenen Straße mit ihren nutzlosen Sackgassen lagen einzig und allein auf Seiten der Sabirs. Ein paar kleine Jungen kamen um die scharfe Biegung vor ihr gelaufen. Sie hielten die Köpfe gesenkt und blickten starr geradeaus. Sie sprachen kein Wort miteinander und trugen Stöcke und einen Ball unterm Arm. Nichts ließ darauf schließen, dass die Jungen befreundet waren, obwohl ihre verschwitzten Gesichter und der angestrengte Rhythmus ihres Atems die Vermutung nahe legten, dass sie noch vor wenigen Sekunden auf der Straße gespielt hatten. Ihre schweigende, gehetzte Flucht jagte Kait einen Schauder über den Rücken, und sie biss die Zähne zusammen. Plötzlich schienen alle Menschen, die ihr entgegenkamen, nervös zu sein. Vorsichtig. Wachsam. Kait hielt die Nase in die Luft und roch Angst. Sie ließ die halbe Wurst, die sie noch nicht gegessen hatte, in einen Rinnstein fallen, goss ihr Bier aus und schob den Becher wieder in ihren Gürtel zurück. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. 310
Ein paar alte Frauen bogen um die Ecke vor ihr, mit gerafften Röcken und gesenkten Köpfen. Sie huschten die Straße hinauf und vermieden es sorgfältig, sich umzusehen. Sie stanken nach Angst. Jetzt war sie ihrer Sache sicher. Irgendetwas musste da vorn sein, und so wie die Straße angelegt war, konnte sie nur in eine Richtung gehen: nach vorn. Hatte dieser Aufruhr etwas mit ihr zu tun? Vielleicht nicht. Möglich, dass die Sabirs ihre Wachen ausgeschickt hatten, um den Händlern aus einer Laune heraus eine zusätzliche Straßensteuer abzunehmen, aber warum hätten die Jungen dann ihr Spiel abbrechen sollen? Warum sollten die Leute plötzlich alle auf Haus Sabir zulaufen statt in die Entgegengesetzte Richtung? Kait zog sich ein paar Haarsträhnen ins Gesicht, ließ die Schultern und den Kopf hängen und zog ihren »Ihr-könnt-mich-nicht-sehen«Schild fester um sich herum, bis sie den Entgegenkommenden aus dem Weg springen musste, damit sie nicht mit ihnen zusammenstieß. Sie dachte sich eine Geschichte aus, warum sie sich gerade auf der Straße befand ihr Vorarbeiter hatte ihr den Befehl gegeben, nach einem Zimmermann zu suchen, den er ausgeschickt hatte, damit er ihm sein Mittagessen holte. Sie schluckte und versuchte, möglichst unauffällig auszusehen. Hinter der nächsten Straßenbiegung schlug ihr das Herz plötzlich bis zum Hals. Zehn Wachen in grünsilberner Uniform hatten die Straße abgesperrt und verlangten die Ausweispapiere der Passanten zu sehen, bevor sie irgendjemanden durchließen.
Kaits gefälschte Papiere wiesen sie als eine schwarzhaarige, imumbarrische Händlerin mit Namen Chaiteveni Dreifast aus, die Tochter einer Sternentänzerin aus Imumbarra und eines GyrunalleHändlers. Sie sah jedoch genau wie die Ibererin aus, die sie tatsächlich war, und dieser Widerspruch würde ihr schwer zu schaffen machen. Sie wusste, dass es ein Verbrechen war, wenn man sich innerhalb der Galweighschen Bezirke mit offensichtlich gefälschten Papieren bewegte (oder aber mit rechtmäßigen Papie311
ren, aber einem offensichtlich verfälschten Aussehen). Dieses Vergehen wurde mit Gefängnis und Zwangsarbeit geahndet. Innerhalb des Sabirschen Bezirks der Stadt... nun, dort, so hieß es, werde deutlich härter und grausamer mit Personen verfahren, die einen Fehler machten. Es ging um sie, davon war sie inzwischen überzeugt. Irgendwann in der letzten Stunde hatte sie einen Fehler gemacht. Irgendwie hatte sie zugelassen, dass der Spion sie sah. Oder er hatte ihr einen Marker aufgedrückt. Oder ... es war nicht so wichtig, was sie falsch gemacht hatte. Im Augenblick zählte nur eines, nämlich dass sie von hier fortkam. Links von ihr verließen gerade einige Arbeiter ein Lagerhaus. Sie sahen genauso aus wie Kait genauso schäbig, genauso erschöpft. Alle Freude, die sie am Ende ihrer Schicht empfunden haben mochten, löste sich in nichts auf, als sie die Straßenblockade sahen. Die Tür hinter ihnen fiel langsam zurück in ihr Schloss, bis sie fast geschlossen war. Aber nur fast. Kait konnte erkennen, dass der Riegel sich am Türrahmen verfangen hatte, so dass die Tür einen winzigen Spaltbreit offen blieb. Der erste Glücksfall für sie. Sie holte tief Atem und verschwand in dem Lagerhaus. Dann zog sie die Tür leise hinter sich zu. Einige Bolzen glitten rumpelnd in ihre Aufnahmen. Das beunruhigte sie nicht weiter. Die meisten Lagerhaustüren ließen sich von innen ohne Schlüssel öffnen. Aber die Dunkelheit im Inneren des Gebäudes war fast undurchdringlich sie hatte Lichter erwartet, Betriebsamkeit, Stimmen, irgendwelche Anzeichen von Leben. Der einzige Geruch in der Luft war jedoch Staub, und das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war Kaits Atmung. Eine Schicht war gerade durch die Tür hinter ihr hinausgegangen. Die Leute waren sicher nicht ohne Grund in dem Lagerhaus gewesen. Selbst wenn der Betrieb nun ruhte, hätte Kait irgendwelche Spuren ihrer Arbeit finden müssen übereinander gestapelte Waren, den Geruch von Leben in der Welt, irgendetwas. Sie seufzte, und die Leere warf ihren Seufzer aus allen vier Richtungen zurück. Sie hörte nicht einmal Ratten. Sie sah sich um, sobald ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Vier Wände, die etwa fünffache Mannshöhe erreichten, trugen eine Holzdecke; in den Wänden links und rechts von ihr gab es weder eine Tür noch ein Fenster. Der Boden zwischen diesen Wänden war vollkommen kahl. Direkt ihr gegenüber jedoch gab es eine Tür, genau wie die, durch die sie zuvor gekommen war. Kein Lichtschimmer fiel unter der Tür hindurch, aber vielleicht passte die Tür einfach perfekt in den Rahmen. Auf der anderen Seite konnten alle möglichen Dinge vorgehen. Kait lehnte sich an die Tür, die zur Straße hinausführte, und drückte ein Ohr dagegen. Sie hörte Rufe und laute Schreie von draußen. Falls sie wirklich nach ihr suchten und sie nicht bei den Leuten auf der Straße fanden, würden sie sich die Lagerhäuser vornehmen. In diesem Gebäude gab es nicht einen einzigen Platz, wo man sich verstecken konnte. Aber vielleicht hatten die Leute, die aus dem Haus gekommen waren, hinter dieser anderen Tür gearbeitet. Vielleicht konnte sie dort ein Versteck finden. Sie lief über den kahlen Fußboden, legte eine Hand auf die Klinke der anderen Tür und sprach ein schnelles Stoßgebet an Nerin, der während dieser Stunde über seine Anhänger wachte, dass die Arbeiter die Tür nicht abgeschlossen hatten. Dann drückte sie die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich. Ein schnelles Dankgebet an Nerin. Abermals empfing sie Dunkelheit, aber jetzt konnte man hier und da aus der Ferne einen Lichtschimmer sehen. Sie befand sich in einem langen, gewundenen Gang, in dessen Außenmauer in regelmäßigen Abständen winzige Fenster eingelassen waren. Der Gang verlief nach links zurück den Hügel hinauf zum Haus Sabir und nach rechts hügelabwärts und in Richtung Sicherheit. Sie blieb in der Tür stehen, hielt den Atem an und lauschte mit allen Sinnen auf irgendwelche Hinweise darauf, dass sie verfolgt wur312 313
de. Der Gang war in beide Richtungen leer, so weit ihre Wahrnehmung reichte. Vielleicht sogar ganz leer. Kait trat hinein, zog die Tür hinter sich zu, damit niemand, der vielleicht in das Lagerhaus kam, allzu leicht ihre Spur finden konnte, und wandte sich dann nach rechts. Sie kam an weiteren Türen auf der rechten Seite vorbei, drückte auf jede der Klinken und hoffte, dass eine der Türen sich öffnen würde, aber alle waren verschlossen. Sie kam sehr schnell an das tote Ende des Gangs die Stelle, an der der Lagerdistrikt der Sabirs endete und das untere Calimekka begann. Wenn sie doch nur diese Wand hätte durchdringen können ... aber das Gemäuer war stabil und sehr dick. Sie war jetzt ungefähr auf gleicher Höhe mit den Wachen, die draußen die Straßenblockade errichtet hatten. Eine entsetzliche Erkenntnis dämmerte ihr; sie stand in dem Gang, durch den genau diese Wachposten kurz zuvor gegangen sein mussten. Es konnten jederzeit weitere Männer nachkommen, oder die Soldaten konnten beschließen zurückzukehren. Das Lagerhaus war sicherer gewesen, wenn auch nur geringfügig. Kait rannte den Weg zurück, den sie gekommen war, und versuchte abermals, die Türen im Gang zu öffnen. Sie erinnerte sich nicht, durch welche davon sie gekommen war, und in dem fahlen Licht sahen sie alle gleich aus. Erst als sie den Hügel doppelt so weit hinaufgestiegen war, wie sie ihn zuvor heruntergekommen war, wurde ihr klar, dass sie ihr Lagerhaus verfehlt haben musste. Die Tür war hinter ihr ins Schloss gefallen. Sie saß in diesem Gang in der Falle. Sie wünschte, die Türen wären leichter gewesen oder die Schlösser einfacher. Sie war überzeugt davon, dass sie eine leichtere Tür hätte eintreten können, aber sie war genauso überzeugt davon, dass die massiven Türen des Lagerhauses ihrem Ansturm nicht nachgeben würden. Was bedeutete, dass sie bleiben konnte, wo sie war, oder sich auf den Rückweg zum Haus Sabir machen und hoffen, ein anderes Lagerhaus mit einer offenen Tür zu finden, bevor sie ... 314
... innerhalb der Mauern ... ... von Haus Sabir selbst landete ... Sie blieb stehen und lächelte. Was für eine Idiotin sie doch war. Sie hatte doch ohnehin gehofft, in das Haus hineingelangen zu können. Jetzt war sie praktisch über die perfekte Möglichkeit gestolpert, das zu tun, ohne beobachtet zu werden. Der Gang war leer. Ihre Karnee-Sinne machten weder irgendwelche Geräusche noch den Duft eines anderen Lebewesens aus. Sie brauchte sich nur schnell genug zu bewegen, dann würde sie durch den Dienstbotengang ins Haus gelangen, ohne erwischt zu werden. Sie rannte los und verschwendete keine Zeit mehr damit, in dem Gang nach einer offenen Tür zu suchen. Der Gang wand sich in den gleichen Kurven empor wie die Lagerhäuser, deren Anbindung er diente. Kait blieb vor jeder Kehre stehen, um zu lauschen und festzustellen, ob sie irgendeine Gefahr vor sich riechen konnte. Ihr Weg war weiterhin frei. In der Nähe von Haus Sabir hörte sie Geräusche aus dem Lagerhaus auf ihrer linken Seite, aber sie verschwendete auch mit diesen Türen keine Zeit. Sie war in die Offensive gegangen, und daran würde sich nichts ändern. In ihrem eigenen Haus würden die Sabirs wohl kaum nach ihr suchen. Schließlich endete auch dieser Korridor, aber im Gegensatz zu der nackten Steinmauer am Fuß des Hügels vor einer durchscheinend weißen, schillernden und glasglatten Wand. Die schmale, mit feinen Schnitzereien versehene weiße Tür darin versprach Zugang zu dem Reich der Sabirs, das dahinter lag. Falls sie hindurchgelangen konnte. Die Tür war schließlich von der Art, wie die Alten sie gemacht hatten, und bei all ihrer scheinbaren Zartheit dazu geschaffen, sowohl Feinde als auch die Ewigkeit unversehrt zu überstehen. Kait legte eine Hand auf die glatte Wölbung des Öffnungsmechanismus und übte einen schwachen Druck aus. Der Mechanismus gab unter ihren Fingern nach, und die Tür glitt lautlos auf. Kait trat in ein warmes Licht, das aus allen Richtungen gleichzei315
tig zu kommen schien, und ein kurzer Stich des Heimwehs durchzuckte sie. Die schimmernd weißen Mauern eines Bauwerks der Alten umschlossen sie und erinnerten sie an ihre Zimmerflucht in Haus Galweigh. Ihr Zuhause verloren, aber nicht vergessen. Sie schob ihre Sehnsucht beiseite und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Rechts von ihr erhob sich eine Treppe aus dem gleichen exquisiten, unzerstörbaren Steinder-Alten. Während sie sich vor dem Tor herumgetrieben hatte, hatte sie die Spitze eines Turms gesehen, der direkt innerhalb der Mauern von Haus Sabir stand. Das hier musste er sein. Perfekt! Sie wusste, wo sie war. Hinter der Treppe lag die einzige weitere Tür im Erdgeschoss des Turms, die auf das Grundstück des Hauses selbst hinausführen würde. Oder vielleicht in die
Dienstbotenzimmer oder in die Lagerräume des Hauses. Wo auch immer die Tür hinführen mochte, sie würde sie an einen Ort führen, der ihr weiterhalf. Sie horchte sorgfältig an dieser Tür und hörte lediglich noch mehr Stille. Auch das war genau richtig. In ihrem Eifer, weiterzukommen, griff sie nach dem gewölbten Mechanismus und drückte. Die Tür öffnete sich nicht. Kait versuchte es noch einmal, und diesmal hielt sie den Mechanismus ein wenig länger fest. Die Tür öffnete sich immer noch nicht. Kait schloss die Augen und fluchte leise, aber mit großer Leidenschaft. Sie konnte natürlich denselben Weg zurückgehen, über den sie gekommen war, und durch eines der benutzten Lagerhäuser ins Freie gelangen. Aber jetzt, wo das Haus Sabir verlockend wie ein ungeöffnetes Ei vor ihr lag, kam ihr der Gedanke an eine bloße Flucht wie ein Misserfolg vor. Nun, sie würde Doghall von den Lagerhäusern und dem Gang erzählen können vielleicht fiel ihm ein, wie man mit Hilfe von Magie an dem Turm und seiner abgeschlossenen Tür vorbeikam. Frustriert ging sie wieder zu der Tür hinüber, durch die sie den Turm betreten hatte, und drückte auf den Öffnungsmechanismus. Auch er blieb verschlossen. Eine Woge der Übelkeit krampfte ihren Magen zusammen, 316 und sie fühlte sich plötzlich benommen. Sie war also in eine Falle gegangen. Mit langen, tiefen Atemzügen versuchte sie, die Panik niederzuringen. Sie schloss die Augen. Sie hatte nur ein einziges Fenster im Turm gesehen, und das hatte ganz oben gelegen. Sehr hoch oben, furchtbar hoch oben. Hoch genug, um sich umzubringen, wenn sie hinaussprang. Aber wenn sie die Treppe hinaufging, fand sie vielleicht ein niedrigeres Fenster zum Anwesen hinaus. Sie konnte nur hoffen, dass ein solches Fenster existierte und dass sie hinausspringen konnte, ohne sich in Gefahr zu bringen. Das Geräusch von Schritten und Stimmen drang an ihre Ohren. Es waren Männer, die aus dem Gang kamen und sich dem Turm näherten. Die Wachen? Vielleicht. Wieder war sie einer Panik nahe, aber dann entspannte sie sich. Die Männer mussten den Schlüssel haben, mit dem sich die Tür zum Turm öffnen ließ. Sie würden nicht nach ihr, Kait, suchen. Sie würden ins Haus gehen, und sie würde eine Möglichkeit finden, ihnen zu folgen. Sie stieg leichtfüßig einige Stufen hinauf und verharrte nach der ersten vollständigen Drehung der Wendeltreppe, wo sie nicht zu sehen war. Die Stimmen wurden lauter, und schließlich konnte Kait verstehen, was gesprochen wurde. »... kommt mir irgendwie merkwürdig vor, dass sie uns entwischt ist. Ich meine, wenn wir weitergesucht hätten, hätten wir sie bestimmt gefunden.« »Der Hauptmann sagt, Schluss damit, und ich bin ganz seiner Meinung. Wenn du mich fragst, dann sind wir hinter irgendeinem Ungeheuer her, und damit will ich nichts zu tun haben.« »Ich auch nicht. Vielen Dank.« Die Tür wurde geöffnet, und der erste der Wachmänner trat ein. »Wenn sie sie laufen lassen wollen, mir soll's recht sein. Erst erzählen sie uns, sie hat vielleicht eine Waffe bei sich, mit der sie uns alle auf einen Streich töten könnte, und dann schicken sie uns da raus, ohne uns zu sagen, wie. Soll sich doch jemand anderes die Belohnung verdienen. 317 Wenn ich heute Abend nach Hause komme, lass ich mich von meiner kleinen Tochter in die Arme nehmen, und dann werde ich mich daran erinnern, dass ich ein reicher Mann bin.« Sie ging die ersten Treppenstufen hinauf. Kait schluckte, denn sie war plötzlich von einer lähmenden Angst ergriffen. Die Männer wussten nichts von ihrer Anwesenheit, und sie würden sie nicht verfolgen, aber sie hatte auch keine Ahnung, was über ihr lag. Vielleicht gab es bis in die Spitze des Turms hinauf nirgendwo ein Versteck für sie. Aber vielleicht doch. Sie konzentrierte sich auf diese Möglichkeit und floh die Treppe hinauf. Die vielen Jahre, in denen sie sich heimlich im Haus Galweigh herumgetrieben hatte, zahlten sich jetzt aus, denn ihre Schritte waren kaum zu hören. Die Wachen hinter ihr übertönten die schwachen Geräusche ihrer Sohlen und ihres Atems. Die Männer hatten es nicht eilig, und sie sprang eine Stufe nach der anderen hinauf, so dass sie sich einen guten Vorsprung verschaffte. Die Decke kam näher, und sie konnte einen Türbogen vor sich erkennen. Sie lief schneller und versuchte sich auszudenken, was sie tun würde, falls in dem Raum dahinter bereits andere Wachen waren. In einem Zustand, der schierem Entsetzen nahe kam, stürzte sie durch die Tür. Der Raum dahinter war leer.
Besser noch, dieser Raum war offensichtlich das Ziel der beiden Wachposten unter ihr. Überall im Raum hingen Uniformen an Kleiderbügeln, und ein Esstisch bog sich unter seiner Last von Papayas, Melonen und Kürbissen. Kait konnte kein Versteck in dem Raum sehen, aber die Treppe führte weiter nach oben, wo sich eine zweite Decke und eine Tür befanden. Von ihrem Platz auf der Treppe konnte sie sehen, dass diese Tür einen Spaltbreit offen stand. Da die Stimmen der beiden Wachmänner hinter ihr jetzt immer lauter wurden, rannte sie weiter die Treppe hinauf. 318
Sie schob sich in den Raum im nächsten Stockwerk hinein, stellte fest, dass sie allein dort war, und lehnte die Tür vorsichtig an. Damit sie sich nicht ganz schloss denn an diesem Tag hatte sie nicht viel Glück mit geschlossenen Türen gehabt , zog sie einen dünnen Stock aus dem Holzkorb und klemmte ihn zwischen die Tür und den Rahmen. Dann hielt sie zitternd inne, drückte die Stirn auf den kühlen, glatten Stein-der-Alten und lauschte auf die Stimmen unter ihr. Die Männer zogen sich um, suchten ihre Sachen zusammen und machten sich fertig, um nach Hause zu gehen. Sie hörten sich nicht so an, als würden sie auch diese letzte Treppe noch hinaufkommen. Kait drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und nahm ihr Versteck in Augenschein. Sie befand sich in dem Wachraum, den sie vom Boden aus gesehen hatte. In der Spitze des Turms. Der Holzkorb stand direkt links von ihr. Weiter links war zwischen zwei Bögen ein großer, niedriger, hässlicher Metalltisch eingelassen, der mit einem von Bleigewichten an den Ecken festgehaltenen Tuch bedeckt war. Mit einem Stirnrunzeln musterte sie die Höcker, die sich unter dem Tuch abzeichneten. Sie hätte gern gewusst, was sich dahinter verbarg, aber sie ging der Sache nicht weiter nach. In der Mitte des Raums stand ein großer, langer Tisch aus schwerem Holz, der mit Metallringen eingefasst war. Auf dem Tisch lagen zusammengerollte Seile, Ketten, Schlösser und Ballen zerrissenen Tuches. Neben dem Tisch standen mehrere Stühle, die nicht gerade bequem aussahen; und in der östlichen Ecke des Raums befand sich ein Kohleofen, in dem das Feuer fast gänzlich heruntergebrannt war. Neben dem Kohleofen standen drei Eimer mit Wasser. Der Raum selbst war wunderschön. Die Architektur verriet die unverkennbare Vorliebe der Alten für Schlichtheit und Eleganz. In die Mauern waren in regelmäßigen Abständen überwölbte Türen eingelassen, und durch diese Öffnungen konnte Kait die zierliche Brüstung sehen, die von unten so anmutig und liebreizend ausgesehen hatte. Durch die westlichen Bögen 319
wehte eine leichte Brise herein, die die Düfte von Jasmin und Freesien mitbrachte. Der Wind war kühl und in dieser Höhe auch recht stark. Sie verstand gut, warum jemand, der den Turm benutzte, ein Feuer brauchte. Der Blick durch die Türen war fantastisch. Die Sonne versank langsam hinter den Bergen im Westen, und der Himmel um sie herum hatte sich orange und blutrot gefärbt. Schmale violette Streifen durchbrachen die rote Fläche und vertieften sich zum östlichen Rand des Himmels hin zu einem vollen Blau. In wenigen Minuten würde es dunkel sein. Schon jetzt erstrahlte die Stadt im Lichterglanz, eine Million Juwelen auf einen samtenen Umhang geworfen und von einem inneren Feuer erhellt. Kait vermisste die langen Phasen des Zwielichts, die sie in Nord-Novtierra erlebt hatte dort kroch die Dunkelheit lautlos herbei, und die untergehende Sonne schien eine ganze Ewigkeit am Himmel zu hängen. Hätte sich diese Szene in Nord-Novtierra ereignet, hätte Kait eine Stunde Zeit gehabt, sie zu genießen. In Calimekka stürzte sich die Nacht wie ein wütender Stier auf den Tag herab und machte den kurzen, zerbrechlichen Sonnenuntergang binnen weniger Augenblicke nieder. Der nach Westen hin offene Bogen mit dem lodernden Sonnenuntergang zog Kait unwiderstehlich an. Sie nahm sich ein paar Sekunden Zeit, dieses atemberaubende Bild auszukosten. Dann hörte sie, wie weiter unten die Stimmen der Wachmänner schwächer wurden. Sie brachen auf. Wenn sie ihnen nach unten folgte, konnte sie etwas in die Tür des Turms klemmen, bevor diese sich vollends schloss. Wahrscheinlich würden die Männer in das Lager der Sabirs gehen, und wenn sie ihnen folgte, würde sie vielleicht doch noch etwas Nützliches für ihren Onkel entdecken. Sie lief zur Tür. Der Stock, den sie als Keil benutzt hatte, war verschwunden. Die Tür war geschlossen, obwohl sie sie nicht hatte zufallen hören. Der Wind? Konnte der Wind den Keil weggeweht und die Tür geschlossen haben, während sie sich den Sonnenuntergang angesehen hatte? Sie konnte sich nicht vorstellen, 320
wie das möglich sein sollte, aber etwas anderes schien nicht in Frage zu kommen. Sie versuchte es mit dem Türmechanismus. Er war blockiert. Sie verharrte reglos an ihrem Platz und versuchte sich zu sammeln, obwohl ihre Gedanken sich wie wild überschlugen, seit ihr klar geworden war, dass sie in der Falle saß. Ich kann dieses Seil benutzen oder vielleicht die Tuchfetzen; ich kann alles zusammenbinden, warten, bis es dunkel wird, und mich dann auf den Boden hinunterlassen. Das Seil war nicht lang genug, um den Grund zu erreichen das konnte sie auf den ersten Blick sehen. Ich komme wenigstens so weit hinunter, dass ich mich nicht allzu sehr verletzen werde. Vielleicht. Ich finde einen Weg hier raus, bevor jemand kommt. Sie legte den Kopf an die Tür und schloss die Augen. Ich werde einen Ausweg finden. Hinter ihr war plötzlich ein rhythmisches Klicken auf dem Boden zu hören. Sie drehte sich um und presste sich die geballte Faust auf den Mund, um den Schrei zu ersticken, der sich ihrer Kehle entringen wollte. Zwei Männer und ein Ungeheuer traten durch die Bögen vor der östlichen Seite der Brüstung. Einer der Männer war Domagar Addo. Neben ihm stand ein stämmiger Ochse von einem Mann mit massigen Schultern und einer Brust, die sich wie ein Wasserfass wölbte. Er hatte sich den Kopf geschoren und ließ sich einen einzelnen Zopf über dem linken Ohr wachsen, wie es bei den Seeleuten der Sloebene in Mode war. Faustkämpfe oder schlechte Blutlinien hatten ihm zu einer Nase verholfen, die wie ein zerquetschter Pilz aussah, und zu Augen, so kalt und ausdruckslos wie die einer Schlange. Aber beide Männer waren direkt attraktiv neben dem Ding, das sie begleitete. 321 Hörner sprossen aus seiner Stirn, Schuppen bedeckten sein Gesicht und die übrige Haut, und aus seinen Schultern und Ellbogen wuchsen dolchspitze Dornen. Das Monstrum hatte lange Krallen an den Händen, einen dicken, beweglichen Schwanz und in Reihen angeordnete dreieckige, gesägte Zähne. Dieses Wesen war das einzige von den drei Neuankömmlingen, das sie anlächelte. Kait wünschte, es hätte es nicht getan. »Suchst du das hier?«, fragte es jetzt und hielt das Holzstöckchen in die Höhe, das sie als Keil benutzt hatte. »Es hat seinen Zwecken nicht besonders gut gedient, meinst du nicht auch?« Die Instrumente und Seile auf dem Tisch, die unförmigen Höcker unter dem Tuch, selbst das bis auf die Kohlen heruntergebrannte Feuer all diese Dinge bekamen plötzlich einen neuen und finsteren Charakter. Das Ungeheuer sagte: »Hast du uns nichts zu erzählen? Nun, das liegt vielleicht daran, dass wir noch nicht miteinander bekannt gemacht wurden. Du bist Chaiteveni.« Sein Lächeln wurde breiter. Seine Stimme war wie das Kratzen einer Feile auf Metall. Kait schauderte. »Und ich bin Anwyn Sabir, einer der Sabir-Wölfe. Das ist mein Vetter Andrew. Und ich glaube, unseren Freund Domagar kennst du bereits.« Ihre Hände zuckten über den Mechanismus der Tür hinter ihr, versuchten alles, um einen Ausweg zu finden. Aber der Mechanismus hielt stand. Domagar sagte: »Wir dachten schon, du würdest dem kleinen Pfad, den wir für dich gemacht haben, niemals folgen, um auf diese Weise zu uns zu finden. Aber wir freuen uns ja so sehr, dass du gekommen bist. Wir sind entzückt, einem so klugen Mädchen Gastfreundschaft gewähren zu dürfen.« Anwyn bemerkte: »Und ob wir das sind. Wir haben einen interessanten Abend für dich geplant.« Andrew Sabir kicherte, ein Geräusch, bei dem Kait eine Gänsehaut bekam. Anwyn sagte: »Komm, sei nicht so schüchtern. Du kannst ge322
rade so gut zu uns herkommen. Die Tür da wird nicht nachgeben, und einen anderen Ausweg gibt es nicht. Wir wollen dich gut kennen lernen, bevor du uns verlässt.« »Falls du uns verlässt«, fügte Domagar hinzu. »Worauf ich mich an deiner Stelle nicht verlassen würde.«
Kapitel 33 'Doghall starrte über Rys Schulter hinweg in das Sehglas. Er konnte Kait deutlich erkennen, obwohl sie sich als gewöhnliche Arbeiterin verkleidet hatte. Er konnte den Tisch sehen, der auf der anderen Seite des Raumes stand, und die Folterinstrumente auf dem Tisch an der einen Wand. Er ließ seinen Schild sinken und sandte einen einzelnen Fühler seines Geist-Selbst durch die zarten Schwaden der
Magie, die das Sehglas mit Domagar, dem Drachen, verbanden. Er brachte sich selbst in Gefahr, denn solange er seine Schilde heruntergelassen hatte, konnte Domagar die Verbindung bis zu ihm zurückverfolgen, falls er sich ihrer bewusst wurde. Andererseits war es Doghall auf diese Weise möglich, nicht nur durch Domagars Augen zu blicken, sondern alles wahrzunehmen, was der Drache spürte und hörte, alles, was er mit seinen anderen Sinnen wahrnahm. Er nahm ein tödliches Risiko auf sich, aber er tat es für Kait. Er befürchtete, dass er sie sterben sehen würde, aber er hatte seinen Entschluss getroffen: Wenn er schon sonst nichts für sie tun konnte, würde er wenigstens dafür sorgen, dass sie nicht allein war, wenn sie sie töteten. Die Männer, die neben Domagar standen, waren beide Sabir-Wölfe. Domagar beherrschte sie beide, obwohl sie sich dessen nicht bewusst waren. Aus Domagars Gedanken konnte Doghall kleine Bruchstücke verschiedener Tatsachen herausziehen. Er wusste jetzt, dass Domagar der Name des wahren Besitzers dieses Körpers gewesen war und dass ein Drache mit Namen Mellayne ihm die Seele aus dem Leib gerissen und seine Seele an ihre Stelle gesetzt hatte. Er wusste auch, dass einer der beiden Wölfe neben ihm ebenfalls ein Karnee war. Außerdem hatten die Män324
ner keine Ahnung, dass ihre Gefangene eine Galweigh und ein Karnee war, und sie wussten auch nichts von Kaits magischen Fähigkeiten. Andererseits waren sie davon überzeugt, mehr als nur eine Angestellte irgendwelcher Kaufleute vor sich zu haben; sie hatten die Absicht, Kait zu foltern, um herauszufinden, wer sie war, für wen sie arbeitete, was sie wollte und was sie wusste. Und dann würden sie sie töten. Domagar sagte: »Wenn du mit uns zusammenarbeitest, gebe ich dir mein Versprechen, dass wir dir nicht wehtun werden.« In diesem Augenblick wurde sich Doghall der Stimmen um ihn herum bewusst, die murmelten: »Glaub ihm kein Wort, Kait!« Und: »Bring sie um und verschwinde, so schnell du kannst.« Und: »Verwandele dich! Verwandele dich!« Er konzentrierte sich eine Sekunde lang wieder auf seine eigene Umgebung. Hasmal, Ian, Ry und all seine Leutnants hockten inzwischen vor dem Sehglas und sprachen mit Kait, als könne sie sie hören. Doghall selbst wandte sich wieder seiner Verbindung zu Domagar zu. Kait hatte einen Dolch in der einen Hand und sagte nun: »Bleibt, wo ihr seid, und stellt mir eure Fragen. Dann werde ich euch Antwort geben. Aber wenn ihr mir zu nahe kommt, bringe ich euch um.« Alle drei Männer lachten. Durch Domagars Augen betrachtet, sah sie so zerbrechlich aus, so hilflos. Eine schlanke junge Frau, die von drei Zauberern umzingelt wurde. Der Narbige humpelte zu dem Tisch hinüber, auf dem die Folterwerkzeuge lagen, und griff nach einem Messer, wie man es zum Abhäuten von Tieren benutzte, und einem Satz Fingerpressen. Doghall schauderte und versuchte, sich auf irgendetwas zu besinnen, womit er Kait schützen konnte, ohne sich selbst einem Angriff auszusetzen. Er durfte nicht vergessen, dass seine oberste Pflicht als Wächter der Falken das Überleben war, damit er den Spiegel der Seelen bergen und ihn dem Wiedergeborenen bringen konnte; was immer er tat, um ihr zu helfen, er durfte sein eigenes 325
Leben nicht in Gefahr bringen. Allein indem er sich mit Domagar verband, ging er bereits indiskutable Risiken ein. »Tut doch etwas«, stieß Ian hervor. »Wirkt irgendeinen Zauber, der sie rettet.« »So funktioniert die Magie nicht«, sagte Ry. »Sie hat sich so vollständig abgeschirmt, dass ich sie nicht erreichen würde, egal was ich tue. Vielleicht könnten wir die drei angreifen, aber um sie so schwer zu treffen, dass wir Kait damit retten, müssten wir mit unglaublicher Gewalt vorgehen. Wir würden einen nicht minder starken Angriff auf uns selbst auslösen, und wir haben keine Opfer, die die Rewhah auf sich nehmen könnten. Wir würden sterben, aber Kait würde nicht überleben.« Hasmal fiel ihm ins Wort. »Bei Magie, die keinen Schaden anrichtet, sind keine Opfer vonnöten. Wenn wir zu ihr durchkämen, könnten wir... Vielleicht könnten wir sie dort herausziehen oder etwas anderes in dieser Art unternehmen. Aber Ihr habt Recht.. Ihre Schilde hüllen sie so vollständig ein, dass nicht die geringste Magie hindurchdringt, und wenn nichts herauskommen kann, kann auch nichts hineingelangen.« Ian sagte: »Aber sie werden sie töten.« Die Qual in seiner Stimme war unüberhörbar. Doghall versuchte, seine Aufmerksamkeit auf die Szene zu konzentrieren, die sich ihm im Turm der Sabirs darbot. Auf die Wölfe, den Drachen ... und Kait. Der narbige Wolf, den Domagar in Gedanken Anwyn nannte, sagte: »Mädchen, du bist nicht in der
Position, Entscheidungen zu treffen. Nicht jetzt. Und auch sonst nie wieder. Komm her zu mir. Wenn ich dich holen muss, verspreche ich dir, dass du zweifach dafür zahlen wirst.« Der andere Wolf begann zu lachen. Sein Lachen war das unkontrollierte, schrille Kichern eines Wahnsinnigen. Doghall, der ihn durch Domagars Augen ansah, war überwältigt von der Aussichtslosigkeit der Situation. Domagars Erinnerungen ließen keinen Zweifel übrig, dass der Wahnsinnige mit dem glatt rasierten 326
Schädel Karnee war und damit derjenige der drei Männer, der für Kait die größte körperliche Gefahr darstellte. Er würde höchstwahrscheinlich bald herausfinden, dass sie genauso ein Geschöpf war wie er. Der verrückte Wolf, Andrew, sagte: »Sie wird nicht zu dir kommen, Vetter. Nicht freiwillig jedenfalls. Du bist zu hässlich. Sie möchte einen hübschen Mann, der ihr beim Reden hilft. Jemanden wie mich.« »Ich bringe sie um, ich bringe sie alle um«, murmelte Ian. »Wenn sie ihr etwas antun, werde ich nicht nur diese drei, sondern auch alle anderen Sabirs töten.« Ry sagte: »Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst. Du hast weder die Fähigkeiten noch die Macht, auch nur einen der drei zu töten. Sie sind alle Zauberer.« »Ich werde schon eine Möglichkeit finden«, sagte Ian. Doghalls Gedanken jagten sich in Kreisen, während er verzweifelt nach etwas suchte irgendetwas , das es ihm ermöglichen würde, seine Nichte zu retten. Wenn er auch nur einen winzigen, umgekehrten Spiegel der Seelen erschaffen konnte, könnte er die Drachenseele in Domagars Körper damit einfangen; auf diese Weise würde Domagars wahre Seele die Seele des eifrigen, frommen jungen Bauern in ihren rechtmäßigen Leib zurückkehren. Er dachte nach. Vielleicht würde der Spiegel den seelenlosen Körper jedoch töten. Würde das Kait etwas nutzen? Ein Leichnam in dem Raum würde wertlos sein schlimmer als wertlos, denn er würde die Anwesenheit von Beobachtern verraten und die beiden Wölfe misstrauisch machen. Aber ein freundlicher junger Bauer würde vielleicht versuchen, einem armen, in die Falle getriebenen Mädchen zu Hilfe zu eilen. Konnte er den Spiegel schnell genug fertig bekommen? Er blickte auf die Ringe an seinen Fingern hinab. Die Form des Rings war für die Struktur des Spiegelzaubers von unerlässlicher Bedeutung. Das hatte er ebenso begriffen wie die Tatsache, dass die Reinheit des Metalls, aus dem der Ring bestand, ebenfalls sehr 327
wichtig war. Er besaß kostbare Ringe. Aber er würde außerdem drei Drähte benötigen. Er sagte: »Einer von euch muss mir helfen. Beschafft mir Drähte drei kurze Drähte. Schnell.« In der kurzen Pause, die seinen Worten folgte, dachten die Männer hastig nach. Yanth schnippte mit den Fingern. »Ein Dolch.« Trev begriff, in welche Richtung Yanths Gedanken gingen. »Ja. Aber du wirst zwei brauchen.« Beide Leutnants rannten zur Tür hinaus und kamen einen Augenblick später zurück; sie hielten Doghall feinen Silberdraht hin, den sie mit der Spitze eines Dolches vom Griff des anderen abgewickelt hatten. »Wie lang muss der Draht sein?«, fragte Trev. In dem Turm bewegte sich Andrew Sabir von der einen Seite des Tisches auf Kait zu, während sich ihr Anwyn mit seinen Folterwerkzeugen von der anderen Seite her näherte. Doghall verschwendete keine Zeit darauf, sich anzuhören, was die beiden sagten. Er mühte sich ab, seinen schlichtesten Ring, der aus geläutertem Elektrum bestand, vom Finger zu bekommen. Er hatte im Laufe der letzten Monate abgenommen, und der Ring saß sehr lose an seinem Finger, aber seine Gelenke waren nicht schmaler geworden. Er sagte: »Die Drähte müssen so lang sein wie euer längster Finger, alle drei.« Als die anderen die Drähte abgeschnitten hatten, hatte auch Doghall seinen Ring endlich freibekommen. Mit schnellen Bewegungen befestigte er die Drähte an dem Ring und verdrehte sie miteinander, dann formte er aus den Enden einen einfachen Dreifuß. Nachdem er den kleinen Dreifuß auf den Boden gestellt hatte, biss er sich ein Stück Haut aus der Unterlippe ab, das er in die Mitte des Rings legte. Die ganze Angelegenheit würde sehr primitiv sein. Furchtbar primitiv. Doghall beugte sich über den Dreifuß. Dann konzentrierte er seinen ganzen Willen und seine ganze Aufmerksamkeit auf den kleinen Ring aus Elektrum und sagte: Folge meiner Seele, Vodor Imrish, Zu der Drachenseele von Mellayne, Dem Usurpator des Körpers von Domagar,
Einem getreuen Kind iberischer Götter, Und vertreibe aus seinem Körper den Eindringling. Bringe kein Unheil über den Eindringling, Den Drachen Mellayne, Sondern gib seiner Seele ein sicheres Heim und Zuflucht In dem ungebrochenen Kreis hier vor mir Ungebrochen, auf dass er behüten möge Die Unsterblichkeit des Mellayne und auf dass er Die Essenz von Leben und Geist bewahre. Ich biete dir mein Fleisch alles, was ich gegeben habe, Und alles, das du nehmen willst, Freiwillig und mit klarem Bewusstsein, Da ich kein Unrecht beabsichtige, Sondern nur ein Unrecht wieder gutmachen will. Er spürte Feuer entlang des geistigen Fühlers, der ihn mit Domagar verband. Er wollte schreien, bezähmte sich jedoch. Und in Domagars Gedanken spürte er zunächst Erstaunen, dann schieres Entsetzen. Weiße Hitze brannte die Anker durch, mit denen der Geist von Mellayne, dem Drachen, sich in dem gestohlenen Körper festhielt; weißes Feuer verfolgte diesen Geist über den fadenähnlichen Weg, der Domagar mit Doghall verband. Und als Mellaynes Geist durch Doghall hindurchflammte, suchte er in rasender Verzweiflung nach irgendeinem Riss in ihm, irgendeinem winzigen Spalt, an dem er sich hätte festhalten können. Aber dieses zornige Feuer umgab den Drachen und verschlang ihn und brach aus Doghalls Brust heraus, ein einziger brennender Strom, der sich in den Ring ergoss. Das Feuer zischte im Kreis um den Ring herum, und der Raum füllte sich einen Augenblick lang mit Nebel und dem Geruch von Geißblatt. Ein wortloser Schrei lastete wie ein unerträgliches Gewicht über allen, die zugegen waren. 328 329
Als der Nebel sich klärte und wieder Stille einkehrte, erhob sich aus dem Grund des winzigen Spiegels ein Licht, kroch durch den Mittelpunkt empor und bewegte sich im Kreis durch den Ring hindurch, um in der Mitte zu einem kleinen See zusammenzulaufen. Es war eine perfekte Miniaturausgabe des Spiegels der Seelen. Der Spiegel des Mellayne, dachte Doghall. »Ah, ihr Götter«, wisperte Ry. »Der Ring tut genau das, was Kaits Spiegel getan hat.« »So ist es.« Doghall blickte in das Sehglas und stellte fest, dass es nicht schwarz geworden war. Domagars Körper war also nicht zu einem leblosen Haufen auf den Boden gesunken. Domagar der echte Domagar sah sich im Raum um, und sein Blick ruhte nur kurz auf den Männern, dann sah er zu Kait und den Folterinstrumenten hinüber und schließlich wieder zu Kait. »Der Junge hat seine eigene Seele zurück. Der Ring beherbergt die Seele eines Drachen. Jetzt passt gut auf«, sagte Doghall. Kait stand mit dem Rücken zum Balkon, und die Schwärze des Abgrunds hinter ihr war deutlich zu sehen. Anwyn und Andrew gingen langsam auf sie zu; sie spielten mit ihr. Durch Domagars Augen konnten die heimlichen Beobachter den Rücken der beiden Wölfe sehen. Domagar hatte inzwischen mehrere Messer von dem Tisch genommen. »Stehen bleiben«, sagte Domagar, und Anwyn antwortete mit einem Seufzer. »Sie wird sich schon nichts antun so dumm ist sie nicht. Wir lassen sie vielleicht am Leben, aber wenn sie sich da runterstürzt, wird der Aufprall sie mit Sicherheit umbringen.« »Ich sagte stehen bleiben!«, brüllte Domagar. Er hob das Messer und zielte auf Andrew, der bereits begonnen hatte, sich in einen vierbeinigen Alptraum zu verwandeln. Kait schien jedoch nicht zu bemerken, dass sie einen Verbündeten hatte. Sie umfasste mit beiden Händen das Gitter und rief: »Ich werde nicht stehen bleiben.« Und mit diesen Worten stürzte sie sich in den Abgrund. 330
Ry und Ian schrien: »Nein!« Und Hasmal stöhnte: »Du darfst nicht sterben!« Und Doghall ließ sich auf die Knie sinken und starrte den winzigen Spiegel mit seinem einsamen Gefangenen an. Und er flüsterte: »Oh, Kait. Liebe, kleine Kaitcha. Es tut mir Leid.«
Kapitel 34 "Danya schob das Neugeborene in das Tragetuch und wickelte es fest an ihren Leib, um es vor den
Augen der Dörfler zu verstecken. Obwohl eigentlich tiefe Finsternis hätte herrschen sollen, schien noch immer die Sonne, die tief am Horizont stand und einen trüben Rotton angenommen hatte, jetzt aber allgegenwärtig war wie das starre Auge einer neugierigen Nachbarin. Im Winter hatte Danya geglaubt, dass die unablässige Dunkelheit sie wahnsinnig machen würde, aber in der Dunkelheit konnte sie wenigstens ungestört sein. Jetzt, wo das Licht niemals erlosch, fühlte sie sich ständig beobachtet von den Dorfbewohnern, von den fernen Zauberern, die ihr nachspionierten, und von dem Säugling, ja sogar von den lieblosen Göttern, die sie im Stich gelassen hatten, als sie zu ihnen betete. Ihr Sohn schob sich an ihrer schuppigen Brust in eine bequemere Lage und schmiegte sich fest an sie. Er gab ein schwaches, zartes Geräusch von sich, das wie das Miauen einer kleinen Katze klang, dann schlummerte er wieder ein, und sie berührte mit einem ihrer Schuppenbesetzten Finger seine weiche Wange. Sie war gerötet, runzlig, zart und mit einem dünnen Haarflaum besetzt; der Junge war das hilfloseste Geschöpf, das Danya je gesehen hatte. Sie hatte den Kindern ihrer Kusinen nie besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet sie waren ihr schmutzig und laut erschienen, hatten ständig ihre Milch erbrochen oder geweint oder sich in die Windeln gemacht, ständig hatten sie verlangt, in den Arm genommen, gefüttert oder gesäubert zu werden. Danya hatte nie vorgehabt, selbst ein Kind zu bekommen; ihr Platz unter den Wölfen, ihre Magie und ihre Macht sollten ihr genügen. Aber dieser Säugling berührte sie auf eine besondere Weise; 332
wenn der kleine Junge in ihre Augen blickte, hatte sie das Gefühl, ein besserer Mensch zu werden. Er schenkte ihr einen Teil ihrer selbst, den sie früher niemals hatte finden können Wärme, Tiefe und Geduld, alles Dinge, die sie früher nie gebraucht hatte. Und er gab ihr die Sicherheit zurück, dass sie ein Mensch war, wenn auch nur irgendwo in ihrem Inneren. Das genügte zwar nicht, um den Schmerz auszulöschen, der ihr ständiger Begleiter geworden war, aber sie fand, dass es zumindest ein Anfang sei. Wenigstens für den Augenblick konnte sie vergessen, woher das Kind gekommen war und wem es seine Existenz verdankte. Sie eilte zum Flussufer hinunter und nahm dort ein Boot. Das Wasser war ruhig. Ein Spiegel, der die Umrisse des hohen Felsens am gegenüberliegenden Ufer zurückwarf, derselbe Spiegel, in dem sie das üppige Grün der Weiden sehen konnte, die am Fluss wuchsen, die herrlichen Fuchsien bei den Feuerbäumen, die wie ein leuchtender, mannshoher Haarschopf den Gipfel des Felsens bedeckten. Den Säugling zu ihren Füßen gebettet, ruderte sie vorsichtig hinüber. Irgendwo in der Ferne hörte sie die Seetaucher, deren Rufe in der Stille wie ein schauerliches, wahnsinniges Lachen klangen. Hinter ihr bellte einer der wenigen Hunde des Dorfs, aber das Gebell war träge und ohne Aufregung. Die meisten Dörfler schliefen bereits, denn sie behielten, so gut sie konnten, ihren winterlichen Lebensrhythmus bei. Danya würde zu dieser Zeit, die in niederen Breiten dem tiefsten Punkt der Nacht entsprochen hätte, am wenigsten Aufmerksamkeit erregen. Das Boot glitt über den Fluss und rührte das Wasser bei seiner glatten Fahrt kaum auf; es bewegte sich so lautlos wie der gewaltige Hecht, der die Seen der Tundra bewohnt. Eine Entenfamilie schwamm vor Danyas Bug vorbei, und die Entchen, die in Reih und Glied hinter ihrer Mutter herpaddelten, achteten überhaupt nicht auf Danya. Ihr Quaken erheiterte sie, während sie auf den Felsen zuruderte und das kleine Boot ans Ufer zog. Sie wollte den Geist Luercas' wieder sehen. In einem der verborgenen Hinterzimmer von Inkanmerea, dem Prachtbau der 333
Alten, wartete er auf sie, ihr Retter, ihr Freund, ihre Verbindung zu der Zeit, da sie noch ein Mensch gewesen war. Mit dieser heimlichen Reise erfüllte sie ihr Versprechen, das sie ihm gegeben hatte sie waren bei ihrem letzten Gespräch übereingekommen, dass sie gleich nach der Geburt des Kindes wieder in den abgeschirmten Raum kommen würde. In den letzten Monaten hatte die Schwangerschaft sie zu unbeholfen gemacht, um über den Fluss zu fahren, die Felsen hinaufzuklettern und durch die Tundra zu dem verborgenen Zufluchtsort der Alten zu gehen, aber jetzt würden sie und Luercas ihre Gespräche wieder aufnehmen. Sie hatte ihn vermisst. Nicht so sehr, wie sie es vorher vermutet hatte, auch wenn sie das ihm gegenüber nicht erwähnen würde. Sie hatte sich stärker am Leben im Dorf beteiligt und versucht, Freunde zu gewinnen und ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden, und in vieler Hinsicht hatte sie Erfolg gehabt. Sie hatte sich eine gewisse Existenz geschaffen, auch wenn sie noch so ärmlich und schäbig war, ein Leben, für das sie in ihrer Zeit als Galweigh-Wölfin nur Verachtung gehabt hätte.
Aber wenigstens war sie nicht länger allein. Sie hatte ihre Freunde halb tierische Freunde zwar, nun gut, aber sie kümmerten sich um sie, sie brachten ihr etwas entgegen. Aber Luercas war ein Mensch oder war es vor seinem Tod zumindest gewesen. Abgesehen von ihrem Sohn war er ihre einzige Brücke zur Menschheit und das einzige Geschöpf in diesem trostlosen, flachen Land, das wirklich wusste, wer sie war. Er allein verstand, welche Stellung in der Welt das Schicksal ihr zugedacht hatte, bevor die Sabirs dazwischenkamen. Für ihn allein war sie mehr als das schuppige Narbigen-Ungeheuer, das jagte und Botengänge erledigte und kleine Kinder von einer Seite des Flusses auf die andere brachte. Für ihn war sie Teil einer der großen Familien, eine Galweigh und ein Wolf, eine junge Zauberin von hoher Geburt, der eines Tages die Welt zu Füßen gelegen hätte. Jetzt... Nun gut, jetzt lag also keine Welt voller Reichtum und Pracht zu ihren Füßen. Die mit Karibumoos, Blaubeeren, Mäuse334
saat und Zwergweiden überzogenen Felsen lagen ihr zu Füßen. Sie bahnte sich einen Weg darüber, und das Baby begann zu weinen; sie setzte sich auf einen Grasbewachsenen Hügel und gab ihm die Brust, was bei ihrem Körper stets ein unbeholfenes und frustrierendes Unterfangen war und aufs Neue den Wunsch in ihr weckte, wieder ein Mensch sein zu können. Wenn sie weiche Haut und volle Brüste gehabt hätte, hätte sie sich keine Sorgen zu machen brauchen, dass sie ihn mit ihren Krallen kratzen könnte, dass sie ihn womöglich zerbrechen würde. Als eine menschliche Frau hätte sie ihn stillen können, ohne sich fragen zu müssen, ob ihre Milch das Richtige für ihn war, oder ob die Magie sie so vollkommen entstellt hatte, dass sie auch in diesen Dingen verändert war, so dass er keine Nahrung aus ihren Brüsten bekäme. Wenn sie doch nur wieder ein Mensch sein könnte, würde ihr Körper dem seinen gerecht werden können. Und dann würde sie eine richtige Mutter sein. Er würde mit seinem perfekten Körper groß werden, und wenn er dann das missgestaltete Ungeheuer sah, das ihn geboren hatte, würde er niemals begreifen, dass auch sie einst einmal schön gewesen war. Dass sie einst eine begehrenswerte Frau gewesen war. Er würde wachsen und sich dabei von ihr entfernen, er würde Abscheu vor ihr empfinden, seine so vollkommene Liebe zu ihr würde eines Tages ersterben, wenn er begriff, dass er Vollkommenheit war und sie die Ausgeburt des Grauens. Es wäre leichter zu ertragen gewesen, wenn sie sich nicht in seinen winzigen Zügen gespiegelt fände und in diesem Spiegel sehen könnte, was sie einst selbst gewesen war. Als das Kind genug getrunken hatte, stand Danya auf und lief nach Inkanmerea. Die Zuflucht des Hauses der Teufelsgeister würde den Schmerz in ihrem Inneren lindern und ihr, wenn sie unter den gewaltigen Bogengängen und durch die schönen Hallen schritt, die Illusion schenken, dass sie eines Tages wieder eine Frau sein könnte. Sie kam nun zum Haupteingang und ging die dunkle Treppe hinunter, ohne auch nur ein einziges Mal zu zö335
gern, denn der Weg war ihr mittlerweile vollkommen vertraut. Sie eilte durch die große Halle und die langen Korridore hinunter, bis sie schließlich zu dem Raum gelangte, zu dem sie wollte, dem Raum, in dem die Kuppel stand, die sie vor den Fremden abschirmte. Sie wickelte ihren kleinen Sohn fest in seine Decke und legte ihn auf den Sitz direkt vor dem Podest, auf dem der magische Apparat der Alten stand. Dort würde der Schild, den das Gerät schuf, den Jungen nicht Miteinbeziehen. Er schlief fest, sein winziges Gesicht ihr zugewandt. Sie konnte noch immer die fremden Menschen spüren, die ihn aus der Ferne berührten, die ihn mit ihrer Magie streichelten, ihn in den Schlaf wiegten und liebkosten. Sie konnte auch spüren, dass sie nach wie vor versuchten, sie selbst zu berühren. Aber sie hielt ihre magischen Schilde aufrecht, war schon jetzt dankbar für die Augenblicke des Friedens, die sie auf dem Podest erwarteten. Dort würde sie vor den aufdringlichen Annäherungsversuchen der Fremden sicher sein. Sie kletterte auf das Podest, und der Apparat erwachte jäh zum Leben. Stille senkte sich herab. Und sofort war Luercas bei ihr. Danya, es tut so gut, wieder bei dir zu sein. Ich habe mich furchtbar einsam gefühlt ohne dich. »Als du kurz nach seiner Geburt zu mir kamst, dachte ich, du würdest bei mir bleiben. Aber du bist wieder fortgegangen, bevor ich dir auch nur sagen konnte, wie glücklich ich war, deine Stimme zu hören. Warum bist du so plötzlich weggegangen?« All die, die mit ihrer Geistberührung in dein Kind eindringen, würden mich mit Freuden vernichten und dich mit mir, wenn sie wüssten, dass du meine Freundin bist. Ich wollte dir nur zu der Geburt gratulieren. Du warst stark und tapfer und jetzt bist du endlich frei von der Schwangerschaft. Aber ich wagte es nicht, länger zu bleiben. Die Zauberer, die dich beobachten, sind mächtig und zahlreich,
und ich bin schwach und nur einer. Sie dachte daran, dass Luercas der Einzige gewesen war, mit dem sie während der langen Monate ihrer Schwangerschaft auf 336 richtig hatte reden können; er war der Einzige, der die ganze Geschichte von Vergewaltigung, Folter und Grauen kannte, die ihr das ungewollte Kind aufgezwungen hatte. Er hatte Mitleid mit ihr gehabt, hatte ihr Mut gemacht und sie daran erinnert, dass sie sich an denen, die ihr wehgetan hatten, eines Tages würde rächen können. Luercas hatte ihr versprochen, dass sie die Sabirs und die Galweighs vor sich auf den Knien liegen sehen würde, während sie sie für ihre schändlichen Taten verurteilte. Sie hatte ihm mit endlosen Klagen über das Kind in ihrem Leib in den Ohren gelegen, und sie hatte ihm von den aufdringlichen Zauberern erzählt, die den Jungen und sie ständig beobachteten; Luercas hatte ihr Ruhe gegeben, sie getröstet und ihr versichert, dass auch diese Zauberer eines Tages ihre Rache treffen würde. Er hatte an ihrem Schicksal Anteil genommen, wie es niemand sonst hätte tun können. Sie glaubte nicht, dass sie das hinter ihr liegende Martyrium ohne ihn überlebt hätte. Aber als er sagte, dass sie nun endlich frei von ihrer Schwangerschaft sei, krampften sich ihre Eingeweide zusammen, und eine leichte Übelkeit stieg in ihrer Kehle auf. Sie empfand nicht mehr so ... dass sie frei davon war. Sie hatte ... sie hatte etwas Gewaltiges getan, etwas Erschreckendes und Erhabenes, und sie hatte überlebt. Sie war verwandelt aus dem Martyrium hervorgegangen eine Tatsache, die der arme Luercas nicht verstehen konnte. Als sie entdeckte, dass das Kind, das sie geboren hatte, ihr ans Herz gewachsen war, hatte sie das Gefühl gehabt, Luercas damit zu verraten, was natürlich lächerlich war. Luercas würde sich nicht verraten fühlen, wenn er begriff, dass sie ihr Baby langsam zu lieben lernte. Er würde sie unterstützen, so, wie er sie während der langen Monate ihrer Qual unterstützt hatte. »Er ist ein liebes kleines Ding«, sagte sie leise. Zögernd. Ein liebes ... aaah. Luercas schwieg, und sein Schweigen schien sich über eine Ewigkeit zu erstrecken. Natürlich ist er das. Wie könnte es auch anders sein? 337
Sie hätte gern geglaubt, dass er sie verstand, aber die Art, wie er das sagte, machte Danya Angst. »Wie meinst du das?« Er ist ein hilfloses Neugeborenes und wirklich entzückend, soweit man das von solchen Geschöpfen sagen kann, und du musstest durch die Hölle gehen, um ihn auf die Welt zu bringen. Deshalb ist es nur natürlich, dass du, wenn du ihn ansiehst, ein Kind erblickst, das du lieben kannst. Du hast mehr als irgendjemand sonst auf der Welt Liebe verdient du solltest in der Lage sein, deinen Sohn zu lieben. Das ist für mich das Traurigste an dieser ganzen Angelegenheit. Und das ist sicher der Grund, warum er dich erwählt hat. Wie könntest du ihn je aufhalten, wenn du so abhängig bist? »Luercas, deine Worte ergeben keinen Sinn für mich.« Deinem Kind ist es vom Schicksal bestimmt, sich gegen all das zu erheben, was du begehrst. Er wird nicht nur dich vernichten, sondern auch all deine Hoffnungen und Träume, aber er wird behaupten, es aus Liebe zu tun. Und du wirst ihm dabei helfen, denn du wirst ihn wahrhaft lieben. Luercas klang mitleidig, aber Danya hörte noch etwas anderes in seiner Stimme etwas, das sie früher nie gehört hatte und das sie nicht identifizieren konnte. »Er ist ein Säugling. Wie könnte es ihm bestimmt sein, sich gegen mich zu stellen? Wie könnte es ihm bestimmt sein, mich zu vernichten? Wie soll das möglich sein?« Sieh ihn dir genau an, Danya. Sieh ihn dir an, nicht mit deinen Menschenaugen, sondern mit Wolfsaugen. Sieh ihn dir mit deinen Zaubereraugen an. Er ist das Produkt zweier Wölfe und verwandelt von so gewaltigen magischen Kräften, dass es unsere Vorstellungskraft übertrifft. Als diese Kräfte entfesselt wurden, erweckten sie die Toten und befreiten Geister aus einer Falle, in denen sie tausend Jahre gefangen gewesen waren. Schau dir dieses winzige, hilflose Kind an, und sag mir, was du siehst. Danya tat, wie ihr geheißen. Sie blickte auf ihren Sohn hinab, der sicher in seiner Decke zwischen den Armlehnen des Sitzes lag, der dem Podest am nächsten stand. Sie schloss die Augen und 338
beschwor ihre Wolfssicht herauf. Kurze Zeit später erschien das Baby vor ihren geschlossenen Augen, diesmal jedoch als eine leuchtende Geistgestalt, und ihr Sohn war keineswegs das, was sie erwartet hatte. Seine Geistgestalt war doppelt so groß wie der Kinderkörper, zu dem sie gehörte. Er verströmte ein heiteres Leuchten, ein reines, goldenes Licht, das ohne Makel oder Mangel in alle Richtungen
floss. Und an diesem Leuchten hingen Hunderte vielfarbiger Fühler, von denen jeder zu einem weiteren Spion führte, einem weiteren neugierigen Eindringling. Der Säugling sonnte sich in diesen fremden Berührungen, vollauf zufrieden mit dem Trost von Fremden. »Er heißt sie willkommen, und sie umringen ihn«, sagte Danya. »Er liebt sie.« Das tut er in der Tat. Er liebt alles und jeden, und das mit der absoluten Unterschiedslosigkeit, wie du sie bei jedem Geistesschwachen finden kannst. Er liebt die Familie, die dich im Stich gelassen hat, und die Verbrecher, die dich gefoltert haben. Er liebt sie genauso sehr und auf dieselbe Weise , wie er dich liebt. »Aber er ist doch nur ein Säugling. Wenn er älter wird, wird er dazulernen.« Luercas seufzte und sagte: Oh, wie sehr ich mir wünschte, das wäre die Wahrheit. Danya, meine liebe Freundin, ich würde alles geben, wenn die Wahrheit wirklich so aussähe und dein Sohn zu retten wäre. Aber er ist nicht zu retten. Seine Seele ist bereits festgelegt. Er hat tausend Jahre in ihrem Strom gewartet, unverändert und in der Hoffnung, dass ein Körper wie dieser des Weges käme. Diese Seele in diesem Körper hat nicht vergessen, wer der Mann einmal war, obwohl die Götter es uns allen so befehlen, wenn wir eine neue fleischliche Gestalt erhalten. Aber dieser Junge erinnert sich an jede Einzelheit seines Lebens als Zauberer in den Tagen vor dem Zaubererkrieg. Und er hat die Absicht, sein Leben genau an der Stelle wieder aufzugreifen, an der er bei seinem Tod aufhörte. Sein Geist schützt hehre Ziele vor Frieden für die Welt, Liebe für alle Geschöpfe , aber vergleiche seine 339
Ziele einmal mit dem, was du für Recht und Gerechtigkeit hältst, und sag mir, ob du zulassen kannst, dass er seine Pläne in die Tat umsetzt. »Was für Pläne hat er denn?« Er ist gekommen, um die Menschheit zu zwingen, ihre Tore für die Narbigen zu öffnen er wird Ibera dazu bringen, die Ungeheuer von Strithia, das kriechende Ungeziefer aus Manarkas und die hautlosen Gräuel von Süd-Novtierra willkommen zu heißen, und er will, dass sie alle den hohen Familien ebenbürtig gemacht werden. Er will alle Kriege verhindern, ganz gleich, wie gerecht sie sein mögen. Er will die Galweighs und Sabirs mit Reichtümern, Glück und langem Leben belohnen. Ich will es dir ganz ehrlich sagen, unter seiner Hand wird kein Unschuldiger unter ungerechten Anklagen leiden müssen, und ich muss zugeben, das wäre eine gute Sache. Aber unter seiner Hand werden auch die schuldigen Ungeheuer nichts zu leiden haben. Er verlangt Frieden. Absoluten Frieden, ohne an Gerechtigkeit auch nur zu denken. Er will einen Frieden zu seinen Bedingungen. Wenn du zulässt, dass er der Mann wird, der er sein will, wirst du dich niemals an den Familien rächen können, die dich vernichtet haben. Du wirst sie niemals vor dir im Staube kriechen sehen. Stattdessen wirst du zusehen müssen, wie sie immer reicher und größer werden. Du wirst sehen, dass alles, was sie berühren, fruchtbar und schön wird. Ihre Länder werden reiche Ernten hervorbringen, ihre Hallen werden von Kindern gefüllt sein, und ihre ohnehin schon zum Bersten vollen Schatzkammern werden überquellen von Gold und Edelsteinen und Gewürzen aus Caberra. Für ihn wird es keine Rolle spielen, dass du seine Mutter bist oder dass jene, die dich vernichtet haben, seine Unterstützung genießen. Dein Schmerz wird ihm gleichgültig sein. »Das kannst du unmöglich wissen. Er ist doch nur ein Baby. Er ist... hilflos. Winzig klein. Seine Zukunft ist genauso sehr ein Rätsel wie die aller anderen Geschöpfe.« Wenn du das glaubst, spielst du ihm direkt in die Hände, ihm 340
und seinen Freunden, den Falken. Du weißt doch Bescheid über die Falken, nicht wahr? Sie hatte als Kind in ihren Lehrbüchern über die Falken gelesen, aber es war nicht viel. Es gab nicht viel zu lesen. »Eine geheime Sekte, die sich der Rückkehr des Zeitalters der Zauberer verschrieben hatte. Die Anhänger der Sekte beteten einen toten Gott und einen Märtyrer an. Die Sekte wurde vor Hunderten von Jahren mit großer Härte verfolgt und in den Säuberungen vor zweihundert Jahren vollkommen ausgemerzt.« Ihr wichtigster Schutzgott, Vodor Imrish, war in letzter Zeit viel zu beschäftigt, um tot zu sein. Und wenn die Falken wirklich vollkommen ausgemerzt worden wären, könnte dieses zappelnde Kind jetzt nicht mit ihnen Verbindung aufnehmen. Was glaubst du, wer die Leute waren, die ihn während deiner ganzen Schwangerschaft immer wieder berührt haben, hm? Sie sind immer noch da draußen, und sie sind glücklicher, als sie es seit tausend Jahren gewesen sind. Er ist ihr Märtyrer, Danya. Er ist der, der ihnen die Rückkehr ihres Zeitalters der Zauberer bringen wird, der sie zu Göttern machen und über die Menschheit erheben wird. Er ist derjenige, der dir die
Rache stehlen wird, die du so sehr verdienst, und er wird deine Feinde mit Glück überhäufen. Sein Name war Solander, und man nennt ihn den Wiedergeborenen, aber trotz all seiner scheinbaren Güte wird er dich erst dazu bringen, ihn zu lieben, und dann deine Liebe dazu missbrauchen, dich zu seiner Sklavin zu machen. Danya blickte auf ihren Sohn hinab. Er sah von außen betrachtet nicht anders aus als vorher, aber geborgen in dem magischen Schild der Alten war sie gegen die Berührung seiner Liebe abgeschirmt. Er konnte sie nicht mehr mit seinen Blicken rühren oder mit der Wärme seiner Zuneigung erfüllen. Er war nur ein Baby, nur ein Ding, das bald zu weinen anfangen würde, das sich in die Windeln machen und zu essen verlangen würde. Sie holte tief Atem und starrte ihn an. Nicht nur ein Ding ihre 341 Arme sehnten sich danach, ihn wieder halten zu dürfen, seinen kleinen Körper an ihrem zu spüren; sie sehnte sich nach dem Gefühl, wenn er an ihrer Brust trank, und sie wusste, dass sie ihn aus sich selbst ernährte. Sie freute sich auf seinen Duft und auf den Hauch seines Atems auf ihrem Gesicht. Nicht alle Gefühle, die sie für ihn hatte, waren von ihm gekommen. Das ist der Betrug deines Körpers, erklärte Luercas ihr. Alle Mütter hungern nach diesen Dingen, sonst würde keine Spezies überleben. Danya blendete seine Stimme aus ihren Gedanken aus. Sie wollte nichts mehr von dem hören, was er zu sagen hatte. Aber die Zukunft, die Luercas ihr ausmalte, konnte sie auch nicht akzeptieren. Sie ertrug den Gedanken nicht, die Sabirs und die Galweighs könnten belohnt werden, nachdem sie ihr so schreckliche Dinge angetan hatten. Für den Augenblick konnte sie sich gegen ihre Gefühle wappnen. Sie konnte sich zwingen, die Fragen zu formulieren, die sie stellen musste. »Kann ich etwas daran ändern? Kann ich die Zukunft, die du mir ausmalst, verhindern?« Das kannst du. Oder ich sollte sagen, du könntest es. Jetzt. Nur jetzt, nur in diesem Moment, solange er noch schwach ist. Er ist noch nicht zu dem unaufhaltbaren Ungeheuer geworden, das er in wenigen Tagen sein wird. Jetzt, in diesem Augenblick, ist sein Körper noch zu jung und zu zart, um als Kanal für die Magie zu dienen, über die er herrschen wird. Aber du wirst nichts tun, weil er dich so sorgfältig ausgesucht hat. Er hat jemanden gefunden, der seine Liebe braucht, irgendein bemitleidenswertes Narbiges Geschöpf, das früher einmal eine gewisse Bedeutung hatte und das sich an ihn klammern wird, weil er eine Verbindung zu der Vergangenheit ist, die es nie wieder zurückbekommen kann. Der Bastard hat in dem Augenblick gewonnen, in dem er dich als seine Mutter erwählte, und jetzt wird die Welt auf Ewigkeit den Preis dafür zahlen. »Das kannst du doch nicht wissen. Du kannst nicht wissen, 342
wozu ich fähig bin.« Aber sie dachte: Der Junge hat mir schon vor seiner Geburt gesagt, dass er mein Lohn für all das Leiden sei, das ich erdulden musste. Dass er mir Glück bringen würde. Und Liebe. Luercas hörte ihre Gedanken und lachte. Das Gelächter klang hohl und hoffnungslos in Danyas Ohren. Siehst du? Er hat dich schon in der Tasche. Danya schloss die Augen. Sie wusste, dass das Baby nicht einfach ein Baby war, ganz egal, wie sehr sie sich wünschen mochte, es wäre anders. Alles, was Luercas ihr erzählte, klang wahr. Sie konnte ihn mit ihrer Wolfssicht betrachten und die Wahrheit sehen. Der Säugling vor ihr würde ihr ihre Rache nehmen. Er würde alles verändern, und seinetwegen würde sie leer bleiben, eine Gefangene ihres eigenen Zorns. Sie würde das Gefängnis ihrer Erinnerungen nie verlassen können, denn der einzige Schlüssel, der die Tür dieses Gefängnisses öffnen konnte, war das Blut ihrer Feinde. Sie konnte nicht einmal ihre eigene Rache als einzigen Grund dafür ins Feld führen, ihn aufzuhalten. Sein Ziel war es, das Zeitalter der Zauberer zurückzubringen. Sein Ziel war es, die Falken an die Macht zu bringen und sich selbst zu einem Gott zu machen. Vor tausend Jahren hatten die Falken und ihre Feinde, die Drachen, die Zivilisation zerstört. Danya wusste nicht, ob eine der beiden Gruppen besser war als die andere, aber es interessierte sie auch nicht; mit der Zeit war die Magie in die Hände von Wölfen gefallen, wie sie einer war. Ihresgleichen hielt die Magie geheim und bedrohte nicht die Welt damit. Wenn sie die Falken an die Macht zurückkehren ließe, würde sie damit ihre Welt verraten. Sie konnte ihn nicht tun lassen, was zu tun er vorhatte. Er war ein schönes Kind aber jetzt, da sie ihn genauer ansah, konnte sie auch die Merkmale seines Vaters an ihm entdecken. Sein Haar war von goldener Farbe, seine Ohrläppchen länglich und seine Haut bleich. Also war sein Vater Crispin Sabir. Sie 343
schloss die Augen und beschwor Erinnerungen an dieses Ungeheuer herauf. Sie durchlebte noch einmal ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Demütigung. Und als sie die Augen wieder aufschlug, konnte sie Crispins Züge noch deutlicher bei dem Säugling erkennen. »Sag mir, wie ich ihn aufhalten kann, Luercas.« Du weißt es bereits. In deinem Herzen, in deiner Seele weißt du bereits, was du tun musst. »Aber ich möchte es trotzdem von dir hören.« Ich werde es nicht aussprechen. Du suchst jemanden, dem du hinterher die Schuld zuschieben kannst. Dieser Jemand will ich nicht sein. Entweder du bist stark genug, um das allein durchzustehen, um allein zu handeln, oder du bist das schwache Geschöpf, für das er dich hielt, als er dich erwählte. Sie atmete tief durch, ihre Hände zitterten. Das Baby lag friedlich schlafend in dem Sitz. Er war ein wunderschönes Kind. Ihr schönes Kind. Aber er war auch Crispins Kind und der Retter der Falken. Er war etwas Böses, das sich in einem Mantel aus Schönheit verbarg. Und Luercas hatte Recht. Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Kapitel 35 Kait spürte das Geländer in ihrem Rücken. Ihre feuchten Hände glitten über den glatten, kühlen Steinder-Alten, ohne Halt zu finden, ihre Kleidung war von Angstschweiß durchnässt. Der Abendwind drang durch das lockere Gewebe ihrer Tunika, und sie zitterte. Andrew und Anwyn kamen aus zwei verschiedenen Richtungen auf sie zu, beide mit Waffen in der Hand. Sie grinsten. Domagar stand an dem Tisch in der Mitte des Raumes dem Foltertisch, wie ihr jetzt bewusst wurde , und seine Miene war undeutbar. Er hielt Messer in beiden Händen und starrte sie mit einer seltsamen Wildheit in den Augen an. Er sagte: »Stehen bleiben.« Niemand beachtete ihn. Anwyn sagte: »Sie wird sich schon nichts antun.« Ihre magischen Schilde und die Gerüche, in die sie sich eingehüllt hatte, hielten vor ihnen verborgen, wer und was sie war, aber sie würden es sehr bald herausfinden. Wenn sie nicht bald von hier wegkam, würde sie sich verwandeln, und kein Geruch auf der Welt würde dann noch ihre Identität verschleiern können. Und der Mann mit dem kahl geschorenen Kopf war selbst Karnee. Er würde begeistert sein, wenn er entdeckte, dass sie seine Karnee-Gestalt teilte. Sie hatte keine Wahl. Jahrelanger Unterricht in Diplomatie hatte sie gelehrt, dass der Diplomat, der seine Mission gefährdet sah, alles in seinen Kräften Stehende tun musste, um diese Mission zu retten. Einzig die Geheimhaltung der Mission zählte. Jetzt bestand ihre Aufgabe darin, zu verhindern, dass diese Bastarde das Versteck von Doghall und Hasmal fanden, die immer noch die Chance hatten, den Spiegel wiederzubekommen. Sie konnte fei345
ge sein und ihre Freunde mit ins Verderben reißen und einen furchtbaren Tod sterben. Oder sie konnte tapfer sein und schnell sterben. Domagar schrie: »Ich sagte stehen bleiben!« Vielleicht sah er ihre Absicht in ihren Augen. Es war nicht wichtig. Der Karnee verwandelte sich und wurde, während er mit diesem schauderhaften Grinsen auf sie zukam, zu einem vierbeinigen Killer. Sie spannte alle Muskeln an, umfasste das Geländer noch fester und rief: »Ich werde nicht stehen bleiben!«, und dann stürzte sie sich ins Leere. Als sie fiel, presste sie ihre Lippen fest aufeinander, um nicht aufzuschreien sie war entschlossen, lautlos zu sterben und den drei Ungeheuern im Turm selbst das kleine Vergnügen zu rauben, das dieser Beweis ihrer Furcht ihnen vielleicht bereitet hätte. Ihr Körper stürzte sich der Verwandlung entgegen und rang verzweifelt um ihr Überleben, obwohl die Situation hoffnungslos war. Ihre Muskeln brannten, und ihre Haut dehnte sich aus. Die Kleider, die sie am Leibe trug, zerrissen, während sie eine Gestalt annahm, die sie selbst nicht kannte. Sie überschlug sich ein paar Mal, bis sie mit dem Gesicht nach unten weiterstürzte. Die Stadt lag unter ihr wie Himmelssterne, die auf die Erde geworfen und auf einem Bett aus Samt ausgebreitet worden waren. Wenn sie schon sterben musste, würde sie im Augenblick ihres Todes die Schönheit ihrer Heimat vor Augen haben. Der Abendwind ergriff sie und warf sie hin und her, und die juwelengleichen Lichter der Stadt glitten unter ihr dahin. Die Lichter glitten unter ihr dahin.
Aber sie kamen nicht näher. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, und ihre Augen, die jetzt schärfer und klarer sahen, konnten die einzelnen Schiffe in der Dunkelheit ausmachen, den fernen Hafen und die Gestalten von Pferden, Menschen und Tieren auf den Straßen unter ihr. Sie blickte an ihrem rechten Arm entlang. Hinter einem Knochengerüst von solcher Zerbrechlichkeit, dass man glaubte, es müsse bei 346
der geringsten Berührung zersplittern, wölbte sich eine dünne Schicht durchsichtiger Haut von weit entfernten Fingern bis zu dem zarten Handgelenk. Sie krümmte ihren Zeigefinger, und ihr ganzer Körper bewegte sich nach rechts. Ihr Finger war doppelt so lang wie ein hoch gewachsener Mann, und ihr Arm war noch einmal so lang. Flügel. Sie hatte Flügel. Sie konnte fliegen. Dann war auch das Karnee? Bei allen Göttern, sie konnte fliegen. Sie jubilierte innerlich, aber sie gab keinen Laut von sich. Sie ließ den Wind unter ihre Flügel greifen, und sie steuerte nach besten Kräften auf das Viertel zu, in dem ihre Freunde auf sie warteten. Der Karnee in dem Turm hinter ihr sollte keinen Verdacht schöpfen, dass die überlebt hatte. Er könnte über diese Gabe des Fliegens Bescheid wissen. Schlimmer noch, es war möglich, dass er sich gut auf diese Kunst verstand. Sie hatte sich noch nie in der Erwartung zu sterben von einem hohen Turm gestürzt, daher hatte ihr Körper es nie für notwendig befunden, diese geflügelte Gestalt anzunehmen. In den Manuskripten, die sie gelesen hatte, war nichts dergleichen erwähnt. Sie konnte fliegen. Sie fragte sich, wie sie wohl aussehen mochte. Sie fragte sich, wie viel von dem, was sie tat, um sich in der Luft zu halten, instinktives Wissen war, und wie viel sie einfach dem Glück des Dummen zu verdanken hatte, das sie jederzeit im Stich lassen konnte. Sie streckte die Finger aus und hielt die Luft mit ihren Händen fest, bis sie sich in die Richtung bewegte, in die sie wollte. Sie glitt über den Himmel und malte sich aus, wie sie aussehen musste; sie sah sich durch den warmen Tag schweben, die Sonne im Rücken, den Wind in den Haaren. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit dem Fluggerät die Thermik genutzt hatte, wie die Vögel sie benutzten, um auf der Jagd immer höher hinaufzusteigen, wie sie einen Kreis nach dem anderen zogen, während sie weiter hinaufstiegen. Und auch sie wusste instinktiv, wie sie diese Thermik nutzen konnte. Aber abends gab es natürlich keine warmen Aufwin347
de; der Boden war ausgekühlt, und die Sonne konnte keine Säulen aufsteigender Luft erwärmen. Von welchem Platz aus konnte sie sich beim nächsten Mal in die Luft schwingen, damit sie wieder fliegen würde? Und wie konnte sie sichergehen, dass die Verwandlung wirklich funktionieren würde? War dies vielleicht das einzige Mal in ihrem Leben, dass sie fliegen konnte? Wenn ja, wie sollte sie es über sich bringen, sich auf den Boden hinunterzulassen in dem Wissen, dass sie ihn nie wieder würde verlassen können? Sie würde wieder fliegen. Es war ein Versprechen, das sie sich selbst gab. Die Luft war herrlich. Kait hielt die Nacht in ihrem Herzen fest und umarmte jedes noch so kleine Geräusch, jeden Geruch, alles, von dem sie geglaubt hatte, sie würde es für alle Ewigkeit verlieren. Sie lebte. Sie lebte. Und sie konnte fliegen. Die Welt gehörte ihr, und die Hoffnung war nicht tot. Es gab noch Wunder. Irgendwie würden sie und Doghall und Hasmal den Spiegel wiederbekommen und über die Drachen triumphieren. Irgendwie würde das Gute über das Böse siegen, und der Widergeborene würde der ganzen Welt seine Liebe bringen. Sie lebte, und unendliche Möglichkeiten lagen vor ihr. Sie kreiste über dem Viertel, in dem ihre Freunde auf sie warteten, und fand eine Stelle, an der sie gefahrlos landen konnte. Es war ein großer Garten am Ende der Straße, der die Düfte von Melonen, reifendem Mais und Palomany verströmte. Es war niemand in der Nähe. Beim Gedanken an die bevorstehende Landung fühlte sie sich plötzlich unsicher. Wie sollte sie das bewerkstelligen? Sie hatte oft genug Vögel bei der Landung beobachtet. Aber selbst Vogeljunge brauchten Übung dazu. Wäre es nicht eine Ironie des Schicksals, ihren Sturz aus dem Turm zu überleben, nur um zu sterben, weil sie nicht wusste, wie sie sicher wieder auf die Erde kam? Sie ließ sich so langsam wie möglich über dem Feld hinabsinken, wölbte die Flügel über der Luft und hoffte das Beste. Sie streckte die Füße nach vorn und versuchte, es den Vögeln gleich 348
zutun, die sie beobachtet hatte; sie wünschte nur, sie hätte früher genauer hingesehen. Ihre Vorsicht half ihr jedoch nicht viel. Sie schlug wie ein Sack Steine auf dem Boden auf und zerriss sich dabei die
zarte Haut an ihrem rechten Flügel. Dann blieb sie mit verrenkten Gliedern in einem Beet zerquetschter Melonen und zerdrückter Pflanzen liegen. Aber als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, gelang es ihr, aufzustehen und ihre Rückverwandlung in menschliche Gestalt vorzunehmen, und das verletzte Fleisch heilte. Also hatte der Abend ihr noch ein weiteres Wunder beschert. Sie lebte, und jetzt stand sie unverletzt mit beiden Beinen wieder auf dem Boden. Natürlich war sie auch nackt und befand sich auf einem Feld am Ende einer Straße, auf der selbst mitten in der Nacht reges Treiben herrschte und sie musste zu einem Gasthaus gehen, das drei Wohnblocks entfernt war. Sie grinste unerschrocken. Bei allen Göttern, sie lebte noch. Sie konnte mit allem fertig werden. Danya trat aus dem Schild heraus und nahm das Baby auf den Arm. Der Junge schlug die Augen auf und blickte vertrauensvoll zu ihr auf. Er liebte sie. Seine Liebe umfasste sie abermals, und sie reagierte darauf. Sie drückte sein weiches Gesicht vorsichtig an ihre schuppige Wange und kämpfte die Tränen nieder, die in ihren Augen schwammen. Der Kleine gab ein leises, wimmerndes Geräusch von sich. Er hat Hunger, dachte sie, und legte ihn an ihre Brust. Sie dachte nicht an Luercas, nicht an die Zukunft und auch an sonst nichts. Sie wagte es nicht, sich auch nur einen einzigen Gedanken zu gestatten. Während sie ihn im Arm hielt und ihn trinken ließ, lebte sie nur für diesen Augenblick. Sie kniete auf dem Boden neben dem Sessel, der noch warm vom Körper ihres Kindes war. Ihr Sohn wurde unruhig, und sie drückte seinen winzigen Körper fester an sich; sein süßer Duft stieg ihr in die Nase, und seine Liebe hüllte sie ein. Sein kleiner Mund knabberte an ihrer Brustwarze, und ihre flachen Brüste kribbelten, als sie sich mit Milch füllten. In diesem Augenblick war sie eine Mutter mit einem neugeborenen Kind, und sie liebte ihren Sohn, und er liebte sie, und die Zukunft war nichts, das irgendeine Bedeutung hatte. In diesem Augenblick waren sie zwei Körper und zwei Seelen, die von einem Band jenseits von Gedanken und Absichten und den Anforderungen der Welt zusammengehalten wurden. Die Fremden die Falken waren überall um sie herum, aber sie ignorierte sie. Luercas war in ihrem Kopf gegenwärtig, aber auch ihn wehrte sie ab. Nicht ein Einziger von ihnen hatte etwas mit diesem Augenblick zu tun, mit diesem wunderschönen Geschehen, das sie mit ihrem Sohn teilte. Dieser Augenblick gehör350
te ihr. Er war etwas, das sie bewahren konnte, etwas, das sie in Ehren halten konnte. Dieser Augenblick ging weit über Recht und Unrecht hinaus, über Gut und Böse. Er existierte einfach. Dem Kind fielen die Augen zu, und Danya fuhr mit einem schuppigen Finger über seine Haut und beugte sich noch einmal tief über sein Gesicht. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange. Sie küsste ihn, so gut sie das mit ihrem deformierten Gesicht vermochte; ihre lange Schnauze und die Fangzähne machten diese Geste beinahe unmöglich. Er war bereits ihre ganze Welt. Ein winziges bisschen Fleisch und Atem und Leben, und sie wollte ihm alles geben, was er begehrte, wollte Mauern um ihn herum errichten, um ihn zu beschützen, wollte die Welt verändern, damit sie seinen Bedürfnissen genügte. Sie stand auf und stieg wieder auf das Podest, diesmal mit ihrem Sohn in den Armen. Als sie in die Mauern des Schildes der Alten hineinglitt, spürte sie, wie die vielen hundert Fühler, die ihn mit den fernen Falken verbanden, jäh abrissen, so wie die Fäden einer Spinnwebe zerrissen, wenn man sie mit der Hand wegschob. Er erwachte und sah sie abermals an, aber er weinte nicht. Er sah sie nur an, mit diesen runden, unschuldigen Augen, die ihr Gesicht erforschten, die nichts verstanden. In Calimekka hätte man ihm nicht erlaubt, seinen ersten Gaerwantag zu überleben, dachte sie. Er war durch Magie zu einem Narbigen geworden, auch wenn er äußerlich wie ein Mensch aussah. Er war bereits sichtbar gewachsen noch nicht einmal einen Tag alt, hatte er bereits die Gestalt eines Kindes von zwei oder drei Monaten. Man hätte ihn zum Wohle der Einwohner Iberas den Göttern des Iberismus geopfert. Er lag in ihren Armen, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine Augen zogen sich zusammen, winzige Grübchen erschienen, und ein breites, zahnloses Lächeln blitzte auf und erlosch wieder. Er war wirklich ein schöner kleiner Junge. Und hilflos. Noch war er hilflos. Aber das würde sich bald ändern. 351 Sie zog einen Zipfel der Decke von seiner Brust weg. Sie konnte die Linien jeder winzigen Rippe
unter seiner Haut sehen, konnte sehen, wie sein Atem sich durch seinen Körper bewegte und der Brustkorb sich im Rhythmus seines Herzschlags hob und senkte. Ein Wassertropfen landete auf seiner Brust, formte sich zu einer Perle und erzitterte unter seinem Herzschlag, und Danya wurde bewusst, dass sie weinte. Ich liebe dich, sagte er in ihren Gedanken. »Ich weiß«, wisperte sie und stieß ihm zwei Krallen in die Brust, zwischen diese zerbrechlichen Rippen, mitten in das winzige Herz. »Ich liebe dich auch. Aber du darfst nicht leben zum Wohle der Bewohner von Ibera, du darfst nicht leben.« Er schrie auf vor Schmerz, und helles Blut wallte um ihre Krallen herum auf. Sie hielt ihn fest, und die erste Welle der Magie rollte über sie hinweg, als er versuchte, sich selbst zu heilen. Die Magie floss jedoch von ihm direkt in sie hinein, und sie spürte, wie ihr Körper sich abermals veränderte sie spürte, wie ihre Haut brannte und ihre Knochen schmolzen und ihr Blut brodelnd durch ihre Adern schoss. Er schrie: Verschone mich! in ihre Gedanken, aber sie sperrte seine Geistschreie genauso aus, wie sie seine körperlichen Schreie ausblendete. Er schlug um sich, und seine winzigen Hände wehrten sich gegen ihre Krallen, und seine runden kleinen Füße trommelten gegen ihre Brust. Was sie tat, war falsch. Sie wusste es. Sie wusste, es war falsch, ihn zu opfern, genauso wie sie wusste, dass die Menschen in Ibera ein Unrecht begingen, indem sie ihre Narbigenkinder opferten. Sie konnte ihn immer noch retten. Er konnte immer noch leben, wenn sie nur diese Krallen aus seinem Herz zog. Er würde immer noch ihr Kind sein, und er würde ihr das Böse, das sie ihm anzutun versucht hatte, verzeihen. Aber sie hatte den Göttern geschworen, dass sie sich rächen würde. Um ihr Versprechen zu halten, musste sie dieses Opfer 352
bringen. Ein Baby musste sterben. Ein Baby. Ihr Baby, und nur deshalb, weil es zwischen ihr und der Gerechtigkeit stand, die sie den Sabirs und den Galweighs schuldig war. Sie hatte ihn in der Zukunft gesehen, wie er an der Spitze der Falken stand und die ganze Welt seinen Gesetzen folgte, und auch das konnte sie nicht erlauben. Die zweite Welle der Magie schlug über ihr zusammen, und sie ließ nicht locker. Sie spürte seine Verzweiflung noch, als ihr Körper schmolz und mutierte und dann spürte sie das, was sie um ein Haar aufgehalten hätte. Sie spürte seine Liebe. Er liebte sie immer noch. Sie schrie auf, presste die Augen fest zu und wandte sich von ihm ab. Sie beschwor das Bild Crispin Sabirs in sich herauf, dachte an die Vergewaltigung, die Folter, an ihren Schmerz. Sie rang mit sich, um ihren Hass wieder zu finden, und spürte, wie er ihr zwischen ihren mit Krallen bewehrten Fingern zu nichts zerrann. »Ich muss es tun!«, schrie sie. »Du wirst alles zerstören!« Er hörte auf, sich zu wehren. Er war jetzt sehr schwach. Es würde keine Magie mehr geben. Sie öffnete die Augen und sah ihn an; sie musste sich der Tatsache stellen, dass sie das tat, dass sie es aus freiem Willen tat. Sie musste die Verantwortung für ihre Tat auf sich nehmen. Er lag schlaff und kaum mehr atmend auf ihrem Arm, und Blut bedeckte seine Brust. Er beobachtete sie genau, und trotz allem waren seine Augen voller Liebe. Arme Danya, flüsterte er in ihrem Kopf. Luercas hat dich belogen. Endlich erlosch sein Leben, und sie zog ihre Krallen aus seiner Brust, legte seinen winzigen Körper auf das Podest und kniete weinend vor ihm nieder. Er war tot, und die Liebe, die er in sie hineingesenkt hatte, war fort, war ihr für alle Zeit genommen. Sie erschauerte und starrte auf ihre Hand hinab, die Hand, die ihn getötet hatte. Die Krallen der ersten beiden Finger, die Krallen, die sie ihrem Sohn ins Herz gebohrt hatte, waren unverändert, genauso wie die Finger, aus denen sie wuchsen. Aber der Rest ih353
rer Hand war wieder ... ihre Hand. Menschlich. Glatte, helle Haut, zierlich geformte, spitz zulaufende Finger, ein schlanker Handteller, der aus einem zartknochigen Gelenk wuchs, ein anmutiger Arm, eine sanft gerundete Schulter. Unter ihrer ledernen Körperbedeckung wölbte sich eine volle, weiche menschliche Brust, die schwer von Milch war. Eine schmale Taille, ein flacher Bauch und schlanke, muskulöse Beine. Ihre linke Hand war ganz und gar menschlich. Sie berührte ihr Gesicht. Es war wieder ihr Gesicht. Mit seiner Magie hatte er sie sich selbst zurückgegeben. Im Sterben hatte er versucht, ihr Leben zurückzugeben. Sie hätte ihn am Leben lassen können, sie hätte nach Hause gehen können.
Sie starrte die beiden tierischen Klauen an, die ihn getötet hatten den Wiedergeborenen, ihr Geschenk. Diese Klauen machten sie zu einer Narbigen, aber sie konnte sie abschlagen. Sie konnte eine Axt nehmen, die beiden Finger abhacken und nach Hause gehen. Aber sie hatte geschworen, an ihrer Familie Rache zu nehmen. Ihre Familie würde sie jetzt daheim willkommen heißen, aber der Eid, den sie im Angesicht der Götter abgelegt hatte, stand zwischen ihr und ihrer Familie. Ich hätte alles anders haben können. Ich hätte die Götter um Vergebung bitten können. Aber ich habe meinen eigenen Sohn meinem Eid geopfert. Sein Leben bindet mich. Sie strich über die weiche Wange ihres Sohns. »Ich hätte dir eine wirkliche Mutter sein können«, wisperte sie. »Es tut mir Leid.« Ein kränkliches blaues Leuchten umgab den Körper des Babys, und Danya zog ihre Hand weg. Wieder wurde er von Magie berührt, aber diesmal kam die Magie von außen und wurde von dem Gestank verfaulten Fleisches begleitet, in den sich der Geruch von Geißblatt mischte. Die Löcher in seiner Brust schlössen sich, obwohl zwei schwarze Narben zurückblieben, um die Stelle zu kennzeichnen, an der Danyas Klauen sein Fleisch durchbohrt hatten. Seine Brust hob sich. Senkte sich. Hob sich wiederum. 354
Sie wollte in Jubel ausbrechen, aber sie konnte es nicht. Sie fand keine Liebe in sich, als sie die Hand nach ihm ausstreckte stattdessen bemächtigte sich eine beängstigende Kälte und eine berechnende Wachsamkeit ihrer Gefühle. Der Säugling holte noch einmal Atem, dann schärfte sich der Blick in seinen Augen. Nach einer kurzen Pause atmete er wieder und dann wieder, und schließlich hatte die Tatsache, dass er wieder atmete, nichts Wunderbares mehr. Er bewegte die Arme, wenn auch vorsichtig. Versuchsweise. Er strampelte zweimal mit den Beinen, dann ließ er auch diese sinken. Ein neuerliches Lächeln huschte über seine Züge, aber dieses Lächeln hatte nichts von der kindlichen Unschuld, die Danya in dem einzigen Lächeln ihres Sohnes gesehen hatte. Dieses Lächeln war eitel. Selbstzufrieden. Böse. Was für ein Geist den Körper ihres Sohnes auch bewohnen mochte, es war nicht der Geist ihres Kindes. »Das möchte ich auch meinen«, sagte das Baby mit einer dünnen Fistelstimme. Es mühte sich, sich aufrecht hinzusetzen, schaffte es aber nicht. »Du kennst mich, Danya. Ich bin dein Freund Luercas. Ich werde dein neuer Sohn sein.« Nein. Sie konnte unmöglich zusehen, wie ein anderes Wesen im Körper ihres Kindes groß wurde. Nicht einmal Luercas, der ihr das Leben gerettet hatte. Luercas machte ihr plötzlich Angst. Sie streckte ihre Krallen nach ihm aus, fest entschlossen, dass der Körper ihres Sohnes nicht von dem Geist eines Fremden besudelt werden sollte. Ein Aufblitzen einer mächtigen, wütenden Magie schoss aus den Fingern des Babys direkt in Danyas Augen. Die Magie warf sie nach hinten, und Feuer bohrte sich in ihren Schädel. Sie schrie auf, brach auf dem Podest zusammen und betastete ihre Augen. Ein gellender Schmerz jagte durch ihren Kopf. »Ich habe dir keinen dauerhaften Schaden zugefügt«, sagte Luercas. »Noch nicht. Aber versuch das ja nicht wieder. Du willst deine Rache und sollst sie bekommen, aber nicht ohne mich. Und ich brauchte einen Körper. Es wäre töricht gewesen, diesen absolut tauglichen Körper einfach zu verschwenden.« Sein Kichern 355
ließ ihr die Haare zu Berge stehen. »Bevor ich diesen Körper dazu bringen kann, zu tun, was ich von ihm will, kannst du dich um mich kümmern. Gib mir zu essen. Wechsle meine Windeln. Du siehst also, du hast deinen Sohn doch nicht verloren.« Aber sie hatte ihn verloren. Ihr Sohn hatte ihr im Sterben gesagt, dass Luercas sie belogen hatte. Jetzt begriff sie, dass es wahr war, dass Luercas einen Weg gefunden hatte, sie in die Richtung zu führen, in die er sie die ganze Zeit über hatte leiten wollen. Aber sie war ihm willig gefolgt, und jetzt war ihr Sohn tot, und etwas Böses hatte seine Stelle eingenommen. Was für einen Fehler hatte sie da gemacht? Einen Fehler, den sie ungeschehen machen musste. Sie konnte Luercas hier zurücklassen, weglaufen und nie wieder nach Inkanmerea zurückkehren. Er würde ohne sie sterben, und welche bösen Dinge er auch planen mochte, sie würden mit ihm sterben. »Wage es nicht einmal, daran zu denken. Du und ich, wir werden ungeheuerliche Dinge tun. Wir werden unsterblich sein, und die Welt wird uns gehören. Wir werden etwas Zeit brauchen und uns ein wenig anstrengen müssen, aber zusammen werden wir es schon schaffen. Du hast im Augenblick einfach Gewissensbisse, und das ist verständlich. Kindsmord ist eine scheußliche Angelegenheit und
schwer zu überwinden. Aber du wirst darüber hinwegkommen.« Sie lag, noch immer blind, noch immer von Schmerzen gepeinigt, auf dem Podest. »Das werde ich nicht. Ich habe etwas Furchtbares getan.« »Hm, ja. Das stimmt. Und du hast es freiwillig getan.« »Ich kann nicht damit leben«, flüsterte sie. Und plötzlich wusste sie die Antwort. Sie konnte sich umbringen und damit für das Unrecht bezahlen, das sie getan hatte, und gleichzeitig würde sie Luercas aufhalten. »Nein, das kannst du nicht.« Die leise Kinderstimme klang so zart, dass der abscheuliche Unterton darin Danya einfach unerklärlich blieb. »Ich werde ebenso wenig zulassen, dass du dich 356
selbst tötest, wie dass du mich tötest. Du wirst mich nicht mehr los. Du wirst entweder freiwillig tun, was ich von dir will, oder ich werde dich dazu zwingen. Das kann ich. So oder so, ich werde bekommen, was ich will, und du wirst es mir geben. Du kannst dich zu meiner Verbündeten machen, Danya, oder zu dem Schluss gelangen, dass du meine Sklavin bist.« Sie krümmte sich. »Jetzt nimm mich auf und gib mir zu essen«, sagte er. »Ich habe Hunger, und wenn du fertig bist, bring mich zurück ins Dorf. Du wirst dir wohl eine Geschichte ausdenken müssen, die dein neues Aussehen erklärt. Die Karganesen haben nicht viel übrig für Menschen.« Er lachte abermals. »Aber wenn du ein braves Mädchen bist und mir keine Schwierigkeiten machst, bringe ich die Sache mit deinen Fingern vielleicht auch noch in Ordnung.« Sie nahm das Kind auf den Arm und wünschte ihm den Tod. Wünschte sich selbst den Tod.
Kapitel 37 Kait kroch durch das Fenster, das sie offen gelassen hatte, und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf den Boden fallen. Falls sie jemals wieder etwas besitzen sollte, das zu stehlen sich lohnte, würde sie ihre schlechte Angewohnheit, die Fenster offen zu lassen, eines Tages vielleicht bedauern. Aber bisher hatte sie sich wieder und wieder als nützlich erwiesen heute Abend war sie dankbar, dass sie nicht nackt durch die Taverne im Erdgeschoss des Gasthauses marschieren musste, wo noch immer Männer und Frauen aßen und tranken und den beiden Tänzerinnen zusahen, die sich im Takt der Talatrommeln wiegten. Aber sie hatte nur einen kurzen Augenblick Zeit, dankbar zu sein. Sie spürte, dass sie nicht allein war, und einen Herzschlag später hörte sie jemanden atmen. Dann nahm sie seine Witterung auf und spürte mit diesem sechsten Sinn, den sie nur als Magie bezeichnen konnte, dass der dunkle Schatten in der noch dunkleren Ecke des unbeleuchteten Raums Ry war. Er hatte eine Aura von Warten und Erwartung, die ihn wie ein schwerer Mantel einhüllte. Kait erstarrte und blickte in seine Richtung. »Warum bist du in meinem Zimmer, Ry?« »Ich feiere die Tatsache, dass du am Leben bist.« Seine Stimme war samten, und ihr Puls beschleunigte sich bei dem Klang seiner Worte. »Ich wollte dir zu deiner Flucht gratulieren. Bis zu deiner Ankunft hier musste ich leider allein feiern, weil dein Onkel und Hasmal und der verdammte Ian davon überzeugt sind, dass du tot bist. Sie haben mir meine Freude ziemlich übel genommen.« »Woher hast du ...« Sie ließ ihre Frage unvollendet, denn als sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, woher er wusste, dass sie 358
überlebt hatte. Ein Teil von ihm war so sicher mit ihr verbunden wie ihre eigene Seele. Sie holte tief Atem. »Ich ich danke dir, dass ... du auf mich gewartet hast. Es erstaunt mich, dass ich überlebt habe ... Als ich aus dem Turm sprang, habe ich wahrhaftig nicht damit gerechnet, zu überleben.« Er stand auf und machte einen Schritt auf sie zu. Woraufhin sie ihrerseits einen Schritt zurücktrat. Er sagte: »Du hast großen Mut bewiesen. Ich glaube nicht, dass ich selbst im Angesicht der Folter in den Tod gesprungen wäre, um meine Freunde zu schützen.« Er hielt inne. »Ich möchte gern glauben, dass ich es getan hätte. Aber die Liste meiner tapferen Taten ist nicht besonders lang.« Kait wurde plötzlich klar, dass er sie deutlicher sehen konnte als sie ihn er stand in der Dunkelheit, aber das Licht des Mondes und der Sterne fiel durch das Fenster, das sich noch immer hinter ihr befand. Heiße Röte stieg ihr in die Wangen, und sie sagte: »Ich muss den anderen Bescheid sagen, dass ich wieder da bin. Wenn du mich bitte einen Augenblick allein lassen würdest? Ich werde mich beeilen, und sobald ich angezogen bin, können wir weiterreden.« »Das könnten wir«, pflichtete er ihr bei, rührte sich aber nicht von der Stelle. Sie wartete, er bewegte sich noch immer nicht. Sie räusperte sich und sagte: »Ich habe Kleider in der
Truhe hinter dir, aber ich komme nicht an sie heran, wenn du da stehen bleibst.« Sein Schweigen zog sich in die Länge. Endlich murmelte er: »Das weiß ich«, und der dunkle, seidige Klang seiner Stimme ließ ihre Haut kribbeln und ihr Herz jagen. So müde, hungrig und erschöpft sie von der Verwandlung sein mochte, ihr Körper reagierte dennoch auf das Feuer, das sie in Ry spürte. Alle Geräusche drangen mit größerer Klarheit an ihre Ohren als sonst, alle Gerüche wurden scharf und deutlich voneinander unterscheidbar, alle Umrisse im Raum schienen von einem inneren Licht erhellt zu werden. Ihre lange Abstinenz schürte ihren Hunger, aber vor allem war es seine Anwesenheit, die sie spürte. 359 Sie wollte ihn, so wie sie ihn schon gewollt hatte, als sie das erste Mal seine Witterung ausmachte, und ihr Körper vibrierte vor Eifer. »O nein«, flüsterte sie. »Warum >nein<, Kait? Warum immer nein? Als ich den Ozean überquerte, um dich zu verfolgen, habe ich jede Nacht geträumt, dass wir miteinander tanzen, du und ich. Dass wir über Gärten, Felder und Wälder schweben, nackt und eng umschlungen; ich träumte, dass ich dich in meinen Armen halte und dass wir uns zusammen zu der Musik bewegen, die wir fühlen, aber niemals hören konnten. Jede Nacht spüre ich deinen Körper an meinem, wenn ich schlafe, und jeden Morgen erwache ich in einem leeren Bett.« »Ich weiß«, sagte Kait nach einem kurzen Schweigen. »Es war kein Traum«, erwiderte Ry. »Es war real. Es war die Wahrheit. Du und ich, wir sind füreinander geschaffen. Wir sind die beiden Hälften einer einzigen, perfekten Seele, und unsere unvollständigen Seelen greifen nach einander, wenn wir schlafen, sie greifen nach einander, weil nur das sie vollständig machen wird. Im Schlaf sind wir zusammen, weil es uns bestimmt ist, zusammen zu sein.« Kait schüttelte den Kopf. Sie sah das kurze Aufblitzen seiner Zähne, ein jähes, eigensinniges Lächeln in der Dunkelheit. »Ja. Du weißt, dass es uns bestimmt ist. Du weißt es. Aber du stößt dieses ... dieses Geschenk der Götter zurück ... obwohl wir die Einzigen sind, die unter deiner Ablehnung zu leiden haben.« »Du bist ein Sabir.« »Und du bist eine Galweigh. Und es ist mir gleichgültig. Es war mir gleichgültig, als meine Eltern mir erklärten, ich könne dich niemals haben. Es war mir gleichgültig, als meine Mutter mir erklärte, sie würde mich zum Barzanne erklären, wenn ich dir nachjagen würde, statt meines Vaters Posten als Oberhaupt der Sabir-Wölfe zu übernehmen. Nun ...« Er hielt inne. »Das war mir nicht gleichgültig, aber ich bin trotzdem zu dir gekommen. Und es ist 360
mir gleichgültig, was meine Familie jetzt denkt oder was sie in Zukunft denken wird. Ich habe ein Leben lang darauf gewartet, dich zu finden.« Er stieß ein leises, freudloses Lachen aus. »Mein Leben war bestimmt von vorsichtiger Enthaltsamkeit und quälender Zurückhaltung zum einen, um dem Schicksal aus dem Weg zu gehen, das meine Familie für mich geplant hatte, aber zum anderen, weil ich wusste, dass es dich irgendwo geben musste, und weil ich nicht an eine andere Frau gebunden sein wollte, wenn ich dich endlich fand.« Plötzlich spürte Kait den Schmerz ihrer eigenen Vergangenheit, der wie eine schwere Last auf ihr ruhte. »Ich war nicht so ... wählerisch.« »Ian.« Sie konnte den Abscheu in seiner Stimme hören; er wusste ihn gut zu verbergen, aber doch nicht vollkommen. »Nicht nur Ian.« Ein Seufzen. »Ich weiß. Ich akzeptiere deine Vergangenheit. Man hat mich von Geburt an dazu ausgebildet, die Karnee-Begierden zu beherrschen. Du hast diese Ausbildung offensichtlich nicht bekommen.« »Die Familie hätte verlangt, dass ich mit den anderen Narbigenkindern am Gaerwantag geopfert würde, wenn sie über mich Bescheid gewusst hätte. Meine Eltern haben mich versteckt und in ein Haus auf dem Land gebracht, wo sie mich auf einem Bauernhof fern von neugierigen Blicken großzogen, bis sie mich, so gut sie es konnten, in der Kunst unterwiesen, meinen ... Fluch zu verbergen. Meine Mutter und mein Vater hatten zwei Söhne, die Karnee waren, aber beide wurden noch in ihrer Wiege ermordet, bevor sie auch nur einen Monat alt waren, daher wussten meine Eltern im Grunde gar nichts über den Kamee-Fluch oder darüber, wie man ihn beherrschen konnte. Sie lasen die Familiengeschichte und entnahmen daraus, so viel sie nur konnten, den Rest lernten sie einfach
durch Ausprobieren. Sie haben mir so viel beigebracht, wie es ihnen möglich war.« Sie zuckte die Achseln. »Soweit ich weiß, bin ich der einzige Galweigh-Karnee.« 361
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, wünschte sie, geschwiegen zu haben. Es war vielleicht besser, wenn er glaubte, die Galweighs verfügten über eine ganze Anzahl von Karnee, so wie die Sabirs es taten. Aber die strategische Bedeutung dessen, was sie ihm gerade verraten hatte, schien ihn nicht zu interessieren. Er zog die Schultern hoch. »Ich weiß Bescheid über deine ehemaligen Liebschaften. Sie sind Vergangenheit.« Jetzt war es an ihr, zu lachen. »Ich hatte keine Liebschaften. Ich hatte Begegnungen. Kurze Zusammenkünfte mit Fremden, wenn mich der Fluch am schlimmsten gepackt hatte. Ich kann nur einen einzigen Mann aus meiner Vergangenheit als Geliebten bezeichnen, und er ...« Sie schwieg plötzlich. Dieser Mann war Ian, und er liebte sie noch immer, und es lag ihr noch immer am Herzen, was aus ihm wurde. In dem Augenblick, in dem sie sich zu Ry bekannte sobald sie Ian von ihrer Entscheidung erzählte , würde sie ihm so wehtun, dass sie es nie wieder gutmachen konnte. Eine solche Entscheidung konnte sie nicht leichtfertig treffen. Ry sagte: »Die Vergangenheit ist vergangen. Sie hat keine Macht über die Gegenwart, es sei denn, du lässt es zu. Meine Vergangenheit liegt für immer hinter mir. Ich habe den Wiedergeborenen gefunden; meine erste Pflicht kann nie wieder den Sabirs gelten, ebenso wenig wie du dich in erster Linie den Galweighs verpflichtet fühlst. Du und ich, wir gehen jetzt denselben Weg.« Er sah sie an, und in der Dunkelheit konnte sie eine Veränderung in seinen Augen wahrnehmen. Sie spiegelten plötzlich das Licht im Raum wider, so wie die Augen einer Katze es vermochten. Als er wieder zu sprechen begann, war seine Stimme tiefer. Heiserer. »Aber das ist nicht alles, Kait. Ich liebe dich. Ich brauche dich.« Er machte noch einen Schritt auf sie zu, und sie spürte die brennende Nähe der Verwandlung bei ihm. »Tanz mit mir.« Sie konnte sich bis in alle Ewigkeit einreden, dass sie ihm nur deshalb aus dem Weg ging, weil sie sich ihrer Pflicht ihrer Familie gegenüber bewusst war, aber wenn sie in ihr Herz blickte, wuss362
te sie, dass das nur ein Teil der Wahrheit war. Sie ging ihm auch deshalb aus dem Weg, weil er sie in ein unbekanntes Reich führen würde. Sie kannte Schmerz und Einsamkeit und Verzweiflung. Sie kannte Leere. Sie wusste, wie sie es anstellen musste, mit weniger zufrieden zu sein, als sie eigentlich begehrte; sie verstand sich darauf, Gefühle vorzutäuschen, die sie nicht wirklich hatte; sie verstand sich darauf, von Ablehnung und Almosen zu leben. Sie hasste diese Dinge, diese Gefühle, aber sie hatte sie schon früher überlebt, und sie wusste, dass sie sie wieder würde überleben können. Aber von dem Reich der Liebe wusste sie nichts. Sie wusste nichts von dem Festmahl der Leidenschaft. Von dem Wunder echten, gegenseitigen Verlangens. Diese Dinge machten ihr Angst. »Ich bin noch nicht bereit«, sagte sie und war sich nicht sicher, ob sie es laut ausgesprochen hatte oder nur gedacht. »Tanz mit mir«, flüsterte er. Er machte noch einen Schritt auf sie zu, und sie wusste, wenn sie nie den Mut aufbrachte, zu ihren eigenen Wünschen zu stehen, würde sie niemals wirklich leben. Sie konnte sich die Liebe, die sie wollte, verwehren, aber das würde ihre tote Familie nicht ins Leben zurückbringen, und es würde auch nicht die Liebe in ihr wecken, die das Einzige war, was Ians Wünsche erfüllen konnte. Sie konnte Ian nicht geben, was er am meisten begehrte, und wenn sie es sich selbst verweigerte, würden sie beide unglücklich sein. Er machte noch einen Schritt auf sie zu. Und sie ging ihm entgegen und flüsterte: »Ja.« Sie spürte die Seide seines Hemdes und das Leder seiner Hosen auf ihrer nackten Haut. Ihre Wangen berührten sich, und ihre Hände fanden einander. Sie bewegten sich langsam und drehten sich zu dem schwachen, sinnlichen Rhythmus der Talatrommeln, deren Klänge die Holzbretter des Bodens durchdrangen. Der Tanz war der Tanz ihrer Träume, obwohl diesmal ihre Füße den Boden berührten. Sie bewegten sich mit großer Sicherheit, 363
sie wussten genau, wann sie einen Schritt machen mussten, wie sie sich drehen mussten, als sei es das hundertste Mal, dass sie miteinander tanzten, und nicht das erste Mal. Vielleicht waren ihre Träume
und seine Träume die Wirklichkeit gewesen. Sie machten ihre Schritte und drehten sich, machten die nächsten Schritte und drehten sich wieder, schwebten nach links, verneigten sich nach rechts. Seine Wärme umgab sie. Sie drückte ihr Gesicht an seine Wange, und die breite Fläche harter, fester Muskeln gefiel ihr. Sie nahm seinen Duft in sich auf Moschus und Gewürze, Hitze und Hunger. Sie tanzten eine ganze Weile so weiter, dann küsste er sie ganz sachte auf die Stelle, an der ihr Hals und ihre Schulter aufeinander trafen. Sie erschauerte, aber nicht vor Kälte. Sie befreite eine Hand aus seinem Griff und schnürte die Spitze an seinem Hemd auf, während sie beide weitertanzten. Dann trat sie dicht an ihn heran und küsste die kleine Grube an seiner Kehle, und er stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Schnurren und einem Fauchen lag. Dann befreite sie auch ihre zweite Hand und schlang beide Arme um seine Taille, um ihm das Hemd aus der Hose zu ziehen und schließlich beide Hände unter den Stoff des Hemds wandern zu lassen. Sie streichelte die harten Muskeln seines Rückens und ging auf Entdeckungsreise: Sie erforschte die Wärme und Beschaffenheit seiner Haut und widmete sich schließlich dem weichen Dreieck seidigen Pelzes zwischen seinen Schultern. Er hatte in der Zwischenzeit die Hände auf ihre nackten Schultern gelegt und ließ sie unendlich langsam über ihren Rücken gleiten, bis sie an ihrer Taille liegen blieben. Sie zog Ry das Hemd über den Kopf und ließ es zu Boden fallen. Haut an Haut tanzten sie, wie sie es in ihren Träumen getan hatten, und ihre weichen Brüste pressten sich an die pelzige Haut seines Oberkörpers. In der Taverne unter ihnen beschleunigte sich der Rhythmus der Talas. Sie machte sich an seiner Gürtelschnalle zu schaffen, und er 364
nahm eine Hand von ihrem Rücken, um die Schnalle mit einem kurzen, ungeduldigen Ruck zu öffnen. Er schnürte auch die Bänder an seiner Hose auf, aber einen Augenblick später lag seine Hand bereits wieder auf ihrem Rücken. Sie verstand, was er meinte er würde von sich aus nur so weit gehen, nicht weiter. Sie würde ihm zeigen müssen, dass sie ihn wollte. Ihr Herz hämmerte, und ihr Blut brannte. In den Träumen hatten sie nur getanzt, aber sie wollte mehr als tanzen. Sie wollte ihn, wollte ihn zu ihrem Geliebten machen wollte mit ihm verschmelzen, wollte endlich zu einem vollständigen Wesen werden. Sie hörte auf zu tanzen und zog an seiner Hose. Er schüttelte seine Stiefel von den Füßen und trat aus seinen Hosen heraus. Wartete ab. Der Rhythmus der Trommeln, der durch den Fußboden hallte, ahmte Kaits rasenden Herzschlag nach. Er schob seine Kleider mit einem Tritt aus dem Weg, umfasste dann ihre Hände und begann aufs Neue, mit ihr zu tanzen. Sie bewegten sich langsam und sinnlich, Haut auf Haut, Wärme an Wärme. Sie küssten sich vorsichtig, bissen sich und knabberten aneinander. Sie ließ ihre Fingernägel über seinen Rücken kratzen, und er tat es ihr nach, und immer tanzten sie, bis sie sich berührten, um sich dann wieder voneinander zu entfernen, sich schließlich näher zu kommen, näher als je zuvor. Endlich erreichten sie tanzend eine Ecke des Raums, und Ry hielt inne. »Jetzt«, sagte er. Und sie sagte: »Jetzt.« Er kam näher, legte die Arme um ihre Taille und hob sie hoch, drückte sie gegen die Wand. Sie schlang beide Beine um seine Hüften. Und während der Klang der Talatrommeln erstarb, tanzten die beiden in dem dunklen Zimmer einen anderen, älteren Tanz.
Kapitel 38 Hasmal spürte, dass an dieser Nacht etwas nicht stimmte, noch bevor Kait vom Turm sprang. Er hatte diese elende Vorahnung eines unmittelbar bevorstehenden Unglücks im Herzen getragen, während er zusah, wie Kait stürzte, und auch noch, als er und Doghall Ry anbrüllten, weil dieser darauf beharrte, dass sie überlebt hatte. Dieses Gefühl, dass etwas Furchtbares, Verhängnisvolles geschehen war, verstärkte sich noch, während er und Doghall auf dem Boden des Schankraums knieten und die Messe für einen toten Falken sprachen denn obwohl Kait noch nicht die Schwüre der Falken abgelegt hatte und obwohl sie noch nicht in alle Geheimnisse eingeweiht gewesen war, waren beide Männer übereingekommen, dass sie in Wahrheit ein Falke gewesen war. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, war im Laufe der Nacht zu einem unentrinnbaren Grauen geworden, bis Hasmal schließlich Doghall fragte, ob er es ebenfalls spüre. »Natürlich spüre ich es«, hatte Doghall ihn angefahren. »Sie ist tot und uns für alle Ewigkeit verloren.
Wie könnte ich das nicht spüren?« Aber Hasmal war nicht überzeugt davon, dass seine Trauer über Kaits Tod wirklich der Dämon war, der ihn ritt. Ian gesellte sich ihnen zu den letzten Gebeten bei, und Hasmal wünschte, er würde endlich gehen. Unter normalen Umständen wäre er froh gewesen, die Last, eine Seele mit Gebeten sicher durch den Schleier zu führen, teilen zu können unter normalen Umständen war es eine Last, die man am besten mit so vielen Menschen teilte, wie bereit waren, diese Aufgabe zu übernehmen. Aber selbst die Anwesenheit eines so treuen Verbündeten wie Ian quälte ihn jetzt wie eine Raspel auf bloßen Knochen. In 366
dieser Nacht kam es ihm so vor, als würde es niemals Morgen werden. Als Yanth mitten in ihren Gebeten mit einem idiotischen Grinsen ins Zimmer platzte und Ry ihm Hand in Hand mit Kait folgte, hatte Hasmal seine offenkundig unversehrte Freundin angesehen und war nicht imstande gewesen, angesichts des unzweifelhaften Beweises ihres Überlebens auch nur einen Funken Freude in sich zu entdecken. Sie bedeutete ihm viel; sie war eine teure Vertraute und eine Kameradin, die er von Herzen schätzte; und noch immer wollte die Tatsache, dass sie lebte, das Entsetzen, das ihn umfangen hielt, nicht durchdringen. Ry starrte ihn und Doghall und Ian mit verwirrter Miene an. »Sie lebt, ihr Idioten«, sagte er. »Ihr könnt eure Trauerkleider ablegen und euch eure Gebete für jemanden sparen, der sie braucht. Sie lebt.« Doghall erhob sich. Er wirkte alt und steif und gebeugt, als er mit einem falschen Lächeln zu Kait kam und sie umarmte, wie ein höflicher Mensch den verwirrten Fremden umarmt, der beteuert, ein lieber Freund aus früheren Jahren zu sein. »Dein Anblick ist ein Trost für ein schmerzendes Herz«, sagte er. Aber Hasmal hörte in der Stimme des alten Mannes denselben Schmerz, den er in seiner Seele spürte. Das ganze Universum vibrierte wie die Saiten eines Musikinstrumentes, das plötzlich seine Melodie verloren hatte. Kait runzelte die Stirn, drehte sich zu Ry um und bemerkte: »Du sagtest zwar, sie hätten dir nicht geglaubt, als du behauptetest, ich sei am Leben geblieben, aber ich hätte doch gedacht, dass sie mir glauben würden.« Ry legte ihr beschützend einen Arm um die Schultern und sagte: »Ich weiß nicht, was mit ihnen los ist. Aber du hast ja immer noch mich.« »Das ist wahr«, sagte sie, schmiegte sich in seine Arme und küsste ihn. Ian sah aus, als hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen, und Has 367
mal spürte ein Echo des in dieser Nacht geschehenen Unrechts an dem Mann. Ian starrte Kait an, mit Augen, die hart, kalt und ausdruckslos geworden waren, und sagte: »Dann hast du also deine Wahl getroffen.« Sie schluckte und nickte. »Es ist nicht so, als ob ... ich dir nicht alles Glück der Welt wünschte ... oder ...« Ihre Stimme verlor sich, und sie schüttelte den Kopf. »Ja. Es ist wahr. Ich habe meine Wahl getroffen. Es tut mir Leid, Ian es tut mir aufrichtig Leid.« Seine Hand fuhr, automatisch, wie es schien, zu seinem Schwert hinunter, und Hasmal machte sich darauf gefasst, einen Kampf vermeiden zu müssen. Aber Ian strich lediglich mit den Fingern über den Schwertknauf und sagte: »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es stand dir immer frei, den Weg einzuschlagen, nach dem es dich verlangte. Ich hatte gehofft, ich würde Teil dieses Weges sein, aber ich würde mein Leben nicht mit einer Frau verbringen wollen, die mich nicht liebt, ganz gleich, wie sehr ich sie liebe.« Sein ganzes Gesicht wurde steif, als er zu Ry hinübersah. »Ich wünsche dir alles Glück auf Erden. Bruder.« Diese Worte wurden mit einer Stimme vorgetragen, mit der Hasmal Feinde in die iberische Hölle geschickt hätte. Dann stolzierte Ian aus dem Raum, seine Bewegungen zornig und sein Rücken steif. Und Hasmal dachte, dass das vielleicht der Kern der Verzweiflung sei, der sein Herz zu ersticken drohte, aber nein das Unrecht, das Ians Zorn zugrunde lag, war ein einziges Körnchen Sand auf einem unendlichen Strand im Vergleich zu der hohlen, abscheulichen Angst, die Hasmal ergriffen hatte. Er sagte: »Kait, deine Rückkehr macht mich sehr glücklich, aber ich bin erschöpft. Doghall und ich haben gebetet und die letzten Riten der Falken vollzogen, da wir dich für tot hielten.« Er umarmte sie und küsste sie auf beide Wangen. »Ich werde dir besser zeigen können, wie sehr ich mich freue, wenn ich ein wenig geschlafen habe. Dann werde ich auch viel begieriger darauf sein, zu hören, wie du
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diesen schrecklichen Sturz überlebt hast, denn für mich sah es einfach genauso aus: ein schrecklicher Sturz.« Doghall nickte. »Mir geht es da nicht anders. Mein liebes Mädchen, du bist mir zweimal von den Toten zurückgegeben worden, und ich bin überglücklich. Und etwas Schlaf, ein spätes Frühstück morgen früh, dann sind wir alle wieder so weit hergestellt, dass wir deine Rückkehr gebührend feiern können.« Als alle bis auf Doghall gegangen waren, sagte Hasmal jedoch: »Heute Nacht lastet irgendetwas schwer auf meiner Seele. Ein Teil des Universums ist in die Irre gegangen. Mein Herz weint, und ich weiß nicht, warum.« Doghall sagte: »Genauso geht es mir. Ich habe Angst und weiß doch nicht, wovor. Wir müssen Frieden finden. Setz dich zu mir, dann gehen wir zu dem Wiedergeborenen.« Hasmal ließ sich im Schneidersitz auf den Fußboden sinken und löste seine Schilde. Die Dunkelheit wollte nicht von ihm abfallen. Als Doghall ebenfalls so weit war, schlössen beide Männer die Augen und begannen, den zarten Seelenfühler zu weben, der sie mit dem Wiedergeborenen verbinden würde. Aber diesmal funktionierte ihre Magie nicht. Hasmal rang mit sich, um seine ganze Konzentration in die Meditation fließen zu lassen; er klärte seinen Geist, atmete tief ein und konzentrierte sich auf das stille Zentrum und auf das glockenklare Läuten, das der Ton im Herzen des Universums war, doch selbst wenn er diese Dinge in sich und in seinen Gedanken festhielt und wenn sein Geist so still war wie regloses Wasser, auch dann konnte er den Wiedergeborenen nicht erreichen. Doghalls Stimme durchbrach seine Meditation. Die Stimme des alten Mannes zitterte, als er flüsterte: »Wir müssen unser Blut anbieten.« Sie holten eine Blutschale, Dornen und Aderpressen und ließen ihr Blut in das versilberte Gefäß tropfen. Dann sprachen sie das He'ie abojan, das Gebet jener, die in der langen Dunkelheit warteten. Sie beschworen das Bild, das sie mit Solander verbinden 369
würde. Und sie warteten. Das Blut in der Schale blieb unangetastet. Kein leuchtendes Feuer verzehrte es, um die Brücke zwischen dem Wiedergeborenen und seinen Falken zu schlagen. Keine Wärme strömte von ihm aus, keine Energie erfüllte Hasmal, keine Liebe berührte sie. Wo er einst die Hoffnung des Wiedergeborenen für die Welt gespürt hatte, diesen Quell der Freude, spürte er jetzt nur ... Leere. Er betete inbrünstiger. Er drängte entschlossener. Sein Körper wurde steif, und seine Atmung geriet außer Kontrolle. Er spürte, wie ihm die ersten Tränen aus den Augenwinkeln rannen; er schmeckte ihr Salz in der Kehle. Schließlich schlug er die Augen auf und starrte in die Blutschale, in die dunkle Pfütze, die in der Mitte gerann. Er berührte Doghall, der daraufhin seinerseits die Augen öffnete. Auch Doghall hatte geweint. »Er ist fort.« »Ich weiß.« Der alte Mann nickte, und sein plötzlich ausgezehrt wirkendes Gesicht sah aus wie das eines Greises. »Wohin ist er gegangen? Warum können wir ihn nicht finden?« Doghall wischte sich heftig mit dem Ärmel über die Augen, dann blickte er auf seine Hände hinab. »Wir haben verloren, Hasmal. Wir haben alles verloren, und die Drachen haben gewonnen. Solander ist tot.« »Nein«, sagte Hasmal, aber er wusste, es war die Wahrheit. Ein Teil von ihm hatte von dem Augenblick an Bescheid gewusst, da der Wiedergeborene ihnen genommen worden war. Gestohlen. Ermordet. Er begriff nicht, wie es zu einem solchen Alptraum hatte kommen können, aber er wusste, dass es geschehen war. »Keine der Prophezeiungen hat je angedeutet, dass das passieren könnte«, sagte er. »Nirgendwo gibt Vincalis einen Hinweis darauf, dass dem Wiedergeborenen bei seiner Rückkehr Gefahr drohen könnte. Solander war uns versprochen. Versprochen. Wie konnte das ...?« Aber Doghall brachte ihn mit einer müden Handbewegung zum Schweigen. »Das Wie ist nicht wichtig, Sohn. Das Warum ist nicht wichtig. Es zählt nur, dass der Wiedergeborene tot ist und dass die Falken mit ihm gestorben sind. Die Drachen haben gewonnen.« Die Falken waren tot. Die Hoffnung der Welt war tot. Das Versprechen einer großen Zivilisation, die die ganze Welt umspannen würde, einer Zivilisation, die sich über Krieg und Unrecht erheben würde, die auf Liebe, Frieden und Glück fußte auch das alles war mit dem fernen Säugling ermordet worden,
während die getreulichen, geduldigen Gebete und das geopferte Blut Tausender zu nichts wurden. Solander war tot. Hasmal erhob sich und fragte sich, wie die Welt weiter existieren konnte. Er schleppte sich in das Zimmer, das er mit Ian teilte, streifte seine Kleider ab und ließ sie auf den Boden fallen. Dann kroch er in sein schmales Bett, schloss die Augen und wünschte sich nichts als Vergessen und Leere. Wenn er nicht wieder erwachte, um den neuen Tag zu begrüßen, wäre das kein Verlust für ihn. 370
Kapitel 33 der Morgen kam, kündigte er sich nur mit einer geringfügigen Erhellung der nächtlichen Dunkelheit an. Kait bewegte sich in Rys Armen, lauschte dem Trommeln eines heftigen Regengusses auf den Fensterläden des Gasthauses und überlegte, ob sie nicht einfach weiterschlafen sollte. Aber sie fühlte sich überraschend wohl. Sie hatte sich in der vergangenen Nacht verwandelt und hinterher nichts zu essen bekommen, und weil sie die Nacht in Rys Armen verbracht hatte, hatte sie auch nur wenig geschlafen, doch litt sie weder an der Erschöpfung noch an der Niedergeschlagenheit, die sie sonst nach einer Verwandlung plagten. Sie rollte sich auf die Seite, küsste Ry auf den Hals und begann, ihn ganz sanft zu beißen. »Wach auf. Lass uns etwas tun.« »Wir tun doch etwas«, murmelte er, und seine gedämpfte Stimme klang unerhört vernünftig. »Wir schlafen.« »Ich weiß. Aber ich möchte etwas Interessanteres tun. Lass uns nach draußen gehen und uns etwas zu essen besorgen.« »Es gießt in Strömen. Auf den Straßen steht knietief das Wasser hör doch. Du kannst hören, wie das Wasser zur Bucht hinuntergurgelt. Lass uns weiterschlafen.« »Sei nicht so langweilig. Ich fühle mich zu gut, um im Bett zu bleiben.« Ry hob den Kopf und grinste sie an. »Meine wunderschöne Geliebte wenn du schon darauf bestehst, wach zu sein, fallen wenigstens mir ein paar Dinge ein, die wir tun könnten, ohne das Bett zu verlassen.« »Diese Dinge können wir auch tun.« Sie beugte sich über ihn und knabberte an seinem Ohrläppchen. »Und dann beschaffen wir uns etwas zu essen. Ich habe Hunger.« 372
Er ließ sich auf das Kissen zurücksinken und seufzte. »Wie schlimm ist dein Hunger?« »Ich habe mich gestern Abend verwandelt, und ich habe seither nichts zu essen gehabt.« »So schlimm. Oh.« Ry sprang aus dem Bett und schlüpfte ohne ein weiteres Wort in seine Hose, sein Hemd und die Stiefel. Er übertrieb seine Hast mit bewusster Komik, und Kait lachte darüber, aber die Tatsache, dass er sofort reagierte, machte ihre Beziehung zu etwas Besonderem, etwas, das Kait noch nie zuvor erlebt hatte. Sie war mit jemandem zusammen, der diese Dinge verstand. Der wusste, wie es war, Karnee zu sein; der selbst gespürt hatte, wie der Irrsinn der Verwandlung durch sein Fleisch raste; der den Hunger, der einer Verwandlung unmittelbar folgte, genauso gut kannte wie sie selbst. Dass er sie verstand, war verwirrend, aber auf eine sehr angenehme Weise. Kait stieg aus dem Bett und begann sich ebenfalls anzuziehen. »Und was ist mit der Bettgymnastik, die du erwähntest?« Er warf ihr einen Seitenblick zu, und sein Lächeln verspottete sie. »Dein schöner Körper und deine wunderbaren Küsse werden warten müssen. Ich habe nicht den Wunsch, deine nächste Mahlzeit zu sein.« Kait und Ry wählten einen Weg über die erhöhten Gehsteige des Viertels und über die aus einzelnen Steinen bestehenden Übergänge an den Straßenkreuzungen, während zu ihren Füßen schlammige Sturzbäche von Regenwasser dahinschossen und es von oben weiterhin wie aus Kübeln goss. Sie näherten sich dem Ende der Regenzeit, hatten es offensichtlich aber noch nicht ganz erreicht. In Calimekka ließ man sich jedoch nicht von den Unbilden des Wetters aus dem Konzept bringen. Die Geschäfte der Stadt gingen weiter. Im Marktbezirk fanden sie einige Esslokale, die bereits geöffnet hatten. Es herrschte ein reger Betrieb, und die Kunden waren 373
Arbeiter der Tagesschicht und Kaufleute, die bald ihre Buden und Läden öffnen würden. Kait und Ry gesellten sich zu ein paar Männern, die durchnässt und zitternd unter der leuchtend roten Markise eines Pastetenverkäufers standen; sie erörterten die Vorzüge von Viper, Klapperschlange, Wildbret,
Affe, Papagei, Truthahn und Grashüpfer als Füllungen, bevor sie sich für eine große gemischte Pastete entschieden, die dampfend auf der Ladentheke stand. Die verschiedenen Fleischsorten hatten durch Mango und Tanalischeiben einen leicht süßlichen Geschmack bekommen und waren überdies mit gehackter Manadogawurzel und Kokosnuss gewürzt worden. Die dicke Kruste war mit einer köstlichen Nussbutter glasiert. &Kait zwang sich, langsam zu essen. Wenn sie nicht aufpasste, konnte sie ihren Fluch einfach durch ihr Essverhalten in Anwesenheit von Fremden verraten. Sie dachte darüber nach, wie oft die Leute zueinander sagten, dass sie »für eine gute Mahlzeit sterben könnten« oder dass sie »für ein Eis sterben könnten oder für ein dickes Stück saftiges Hammelfleisch«, und sie überlegte, dass sie selbst, im Gegensatz zu den meisten anderen, tatsächlich für eine Mahlzeit sterben konnte. Der Gedanke durchstach den wunderschönen Morgen wie eine kleine, unfreundliche Nadel. Sie und Ry schlenderten Hand in Hand durch das Tor des Profits in das Labyrinth geschlossener Verkaufsstände auf dem inneren Markt. Sie entdeckten einen Nabelschwein-Stand, wo der Händler Netze über die Kadaver gebreitet hatte, die an Haken vor dem Stand hingen; auf diese Weise hielt er die meisten Fliegen von dem Fleisch fern. Kait fand, dass das eine gute Idee war, und entschied sich für ein dickes, kleines Ferkel, das am Spieß geröstet worden war und das der Schweinehändler ohne Gewürze und nur im Fleischsaft anbot. Sie teilte sich das Ferkel mit Ry. Da sie immer noch Hunger hatte, führte sie ihn noch weiter in das zunehmende Gedränge von Läden hinein zu einem Stand, der eine ihrer Lieblingsspeisen verkaufte in Honig geröstete Papageien am Spieß. Der Preis war vernünftig, und sie aß gleich zwei, obwohl 374
sie sich wünschte, sie würde noch mehr wagen. Aber damit würde sie wahrscheinlich zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken. Als sie wieder auf die Straße kamen, hatte der Regen aufgehört, und die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Wolken. Die Straßen dampften in der Wärme, und drei hohe Regenbögen zogen sich über den Himmel. »Sollen wir jetzt zurück in das Gasthaus gehen«, fragte Ry, »oder meinst du, dass du noch ein paar Süßigkeiten brauchst, um es über Mittag auszuhalten? Sagen wir, einen Korb Melonen, oder willst du irgendeinem glücklichen Krämer seinen gesamten Vorrat an gesüßtem Eis abkaufen?« Sie lachte. »Du brauchst gar nicht so zu spotten. Wart's nur ab, bald bist du selbst an der Reihe.« Sie blickte in beide Richtungen die Straße hinab. Es gab noch andere Läden, in denen sie gern eingekauft hätte, aber obwohl sie gern weitergegessen hätte, fand sie es besser, sich vorher wieder ein wenig Appetit zu holen. »Ich werde bis zur nächsten Mahlzeit durchhalten. Wir können ins Gasthaus zurückgehen.« Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange, und seine Wärme und sein Duft weckten plötzlich einen ganz anderen Hunger in ihr. Sie fuhr mit der Fingerspitze über seine Brust und warf ihm ein boshaftes Lächeln zu. »Nein wir gehen nicht hin. Wir machen ein Wettrennen. Wenn du mich einholen kannst...« Ihr Grinsen wurde breiter. »Kannst du mich behalten.« Er wollte nach ihr greifen, aber sie brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit und rannte mit hin und her pendelnden Armen und hoch erhobenem Kopf die Straße hinunter. Wie der Blitz schoss sie über die Steine der Übergänge, berührte erst mitten auf der Straße wieder den Boden, jagte über einen erhöhten Gehsteig nach dem anderen und bog in halsbrecherischer Geschwindigkeit um Häuserecken, ohne an die Gefahr zu denken, die mögliche Hindernisse für sie bedeuten konnten ... oder die sie für die Hindernisse darstellte. Sie rannte immer weiter und verausgabte sich bis zum Letzten, erfüllt von dem Jubel der Jagd. 375
Als Ry plötzlich wie aus dem Nichts vor ihr erschien und nicht einmal außer Atem war, während sie die Gasse neben dem Wirtshaus hinuntergeschossen kam, brach sie in lautes Gelächter, aus. Er erwischte sie mitten im Laufen, schlang die Arme um ihre Taille und hob sie hoch. Ihr Schwung war noch so groß, dass sie beide im Kreis herumwirbelten. »Erwischt«, sagte er. Seine Fingerspitzen glitten über ihren Bauchnabel; er hielt sie mit dem Rücken an seine Brust gedrückt, so dass ihre Füße eine Handbreit über dem Boden in der Luft baumelten. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und blickte zu ihm auf. »Das hast du. Wie klug von dir, diese Abkürzung zu finden.« Sie keuchte und war immer noch atemlos von ihrem Wettrennen. »Dann gehöre ich also jetzt dir. Was wirst du mit mir machen?«
»Willst du das wirklich wissen?« »Eigentlich nicht. Ich lasse mich ebenso gern überraschen.« Er schob einen Arm unter ihre Knie und legte den anderen um ihre Schultern, und als er sie hochhob, küsste er sie langsam noch einmal. »Du kannst mich wieder runterlassen«, sagte sie, nachdem lange Sekunden verstrichen waren. »Ich könnte. Aber du gehörst jetzt mir, und ich will dich nicht runterlassen.« Er trug sie in die menschenleere Taverne und weiter die Treppe hinauf, die zu ihren Zimmern führte. Auf halbem Wege kam ihm Doghall von oben entgegen. Kait brauchte nur einen Blick auf sein Gesicht zu werfen, und etwas in ihrem Inneren wurde plötzlich sehr still und wachsam. In all den Jahren, die sie ihn kannte, hatte sie seine Augen nie so leblos gesehen; sie hatte ihn nie wirklich als alt empfunden. In diesem Moment sah er jedoch ebenso alt wie auch krank aus. »Lass mich runter«, flüsterte sie Ry zu, aber er brachte sie bereits in eine senkrechte Position, als sie zu sprechen begann. »Onkel, was ist passiert?« 376
»Ich habe darauf gewartet, dass ihr zurückkommt.« Seine Stimme klang wie der Tod selbst. »Wir müssen weg von hier. Schnell.« »Weg?« Sie runzelte die Stirn. Er drückte sich an ihr vorbei, bereits auf dem Weg weiter die Treppe hinunter. »Was ist denn passiert? Haben die Drachen unser Versteck hier entdeckt?« Er sah sich nicht einmal nach ihr um. »Schlimmer. Kommt. Eure Sachen sind bereits gepackt. Ich werde euch unterwegs alles erklären.« Sie und Ry drehten sich um, und Doghall führte sie durch einen Nebeneingang hinaus, wo Hasmal, Yanth, Valard und Jaim sie bereits erwarteten. Trev kam mit einem wackligen Bauernwagen vorgefahren, der von einem Paar lahmer Pferde gezogen wurde. Sein blasses, rundes Gesicht wirkte trostlos und verängstigt. Auf dem Wagen türmten sich Strohballen. »Wir haben einen Platz in der Mitte ausgehöhlt«, sagte Trev. Und Doghall befahl: »Aufsteigen. Schnell.« Sie kletterten über die äußere Reihe der Ballen hinweg und hockten sich auf ihre Reisebündel, die den hölzernen Boden des Wagens bedeckten. Als sie sich alle versteckt hatten, kippte Trev die inneren Strohballen gegeneinander und legte noch einige weitere obenauf, um eine Art Dach daraus zu formen. Der Wagen schlingerte, die Räder ratterten über die Pflastersteine, und alle Insassen wurden kräftig durchgerüttelt und bekamen immer wieder die Knie und Ellbogen der anderen zu spüren. Sie hatten kaum Platz zum Atmen. Ein Glück, dachte Kait, dass sie nicht noch mehr Leute bei sich hatten. Dann fiel ihr auf, dass Ian fehlte. »Wo ist Ian?«, fragte sie. Der gehetzte Blick, mit dem Doghall sie ansah, ließ sie befürchten, dass er tot sein müsse. Aber Doghall sagte: »Er war heute Morgen verschwunden ... und er hat all seine Sachen mitgenommen. Außerdem hat er Hasmal einen Brief dagelassen, in dem er schrieb, er würde nach Mittag zurück sein, spätestens gegen Ende von Nerin; er schrieb 377
auch, dass er eine Idee gehabt habe, wie er uns helfen könne. Ich habe ihm vertraut, aber Hasmal schlug vor, eine Sehung zu machen, um festzustellen, was er tat. Wir haben ein paar Haare aus seinem Bett geholt und uns dadurch mit ihm verbunden.« Er schüttelte den Kopf und schwieg. »Und weiter?«, fragte Ry. »Was habt ihr herausgefunden?« »Er hat uns verraten. Wir haben ihn bis nach Haus Sabir verfolgt. Als wir ihn sahen, erzählte er gerade einem niederen Amtsträger, dass er von einer Verschwörung gegen die Sabirs wisse. An der Spitze der Verschwörung stünden Ry Sabir und seine Geliebte, Kait Galweigh. Er sagte, wenn die Sabirs ihn in ihren Dienst nehmen würden, würde seine erste Tat darin bestehen, der Familie die Verschwörer zu übergeben.« Doghall seufzte und rieb sich die Schläfen. »Wenn ihr auch nur ein par Minuten später zurückgekommen wäret, hätten vielleicht schon die Sabirs auf euch gewartet. Wenn Ian nicht solche Mühe gehabt hätte, die Hausbeamten dazu zu bringen, ihm eine Audienz bei den richtigen Leuten zu verschaffen, wären die Sabirs wahrscheinlich schon lange da gewesen.« Er lehnte sich gegen die Strohballen hinter ihm und schloss die Augen. »Wie die Dinge liegen, werden sie uns vielleicht auch
so entdecken, bevor wir aus der Stadt heraus sind.« Kait drückte den Kopf an Rys Brust. Ry legte beide Arme um sie und zog sie fest an sich. Sie hatte ihre Wahl getroffen und Ian seine. Ry sagte: »Ich hätte ihn doch töten sollen, als ich die Gelegenheit hatte. Dann hätte er uns nicht verraten können.« »Er hat uns geholfen«, sagte Kait. »Du kannst einen Verbündeten nicht deshalb töten, weil er sich eines Tages vielleicht gegen dich wenden wird. Jeder könnte sich eines Tages gegen dich wenden.« Sie dachte an Ian, wie er den Spiegel der Seelen über die unwirtlichen Ebenen von Nord-Novtierra geschleppt hatte, wie er Seite an Seite mit Hasmal und den beiden inzwischen verstorbenen Seeleuten Turben und Jayti gekämpft hatte, wie er das Kommando übernommen und sie sicher in die Tausend Tänzer 378
gebracht hatte. Sie dachte an die Vielzahl anderer Dinge, die er für sie und mit ihnen getan hatte. Und genauso gut erinnerte sie sich an die Nächte, die sie in seinem Bett und seinen Armen verbracht hatte, und an sein Glück, wenn sie bei ihm war. Dann hatte Kait plötzlich Ians Gesichtsausdruck am vergangenen Abend wieder vor Augen, als er Rys Arm um ihre Schulter liegen sah. In seinen Augen hatte erst Schmerz gestanden, dann Zorn, und schließlich hatte eine seltsame, leere Ausdruckslosigkeit diesen Regungen Platz gemacht. Sie erinnerte sich an die tödliche Kälte in seiner Stimme, als er seinem Bruder Glück wünschte. Sie wusste, dass sie ihm wehgetan hatte, aber sie hätte ihn niemals eines solchen Verrats für fähig gehalten. Sie war fest davon ausgegangen, dass er ihre Entscheidung akzeptieren würde. Vielleicht mit Zorn, vielleicht mit Feindseligkeit. Sie hatte die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass er nicht mit ihr sprechen würde oder dass er, wenn er es doch tat, sehr kalt sein würde. Sie hatte sogar damit gerechnet, dass er aus ihrer kleinen Gruppe ausscheiden würde, um wieder zur See zu fahren. Sie hatte sich schwer in ihm getäuscht, aber andererseits hatte sie ja von Anfang an ihre Instinkte, was ihn betraf, zum Schweigen gebracht und es sich stattdessen gestattet, ihm zu vertrauen, weil sie ihn brauchte. Sie schloss die Augen, betrachtete noch einmal die Entscheidungen, die sie getroffen hatte, und konnte genau beobachten, wie sie zu dem Augenblick führten, in dem Ian sie verriet, und sie konnte erkennen, an welchen Stellen sie wieder und wieder eine schlechte Wahl getroffen hatte. An dem Abend, an dem sie Ian Draclas den Vorschlag machte, sie auf der Suche nach einer Stadt der Alten über den Ozean zu bringen an dem Abend hatte sie bereits gewusst, dass er nicht vertrauenswürdig war. An diesem Abend hatte sie vollauf mit der Möglichkeit gerechnet, dass er versuchen würde, sie über Bord zu werfen, sobald er sich des Standortes der Stadt sicher sein konnte; sie hatte alles in ihren 379
Kräften Stehende getan, um solche Pläne von Anfang an zu vereiteln. Er hatte behauptet, ein Schmuggler zu sein, aber in ihren düsteren Augenblicken hatte sie ihn der Piraterie verdächtigt, und sie hatte immer gehört, dass es unter Piraten keine ehrenhaften Männer gäbe. Sie hatte von Anfang an die Habsucht und die Machtgier in seinen Augen gesehen und auch bemerkt, wie er sie ansah, wenn er sich unbeobachtet glaubte als sei sie der Goldpreis in einem Wettbewerb. Sie hatte gesehen, mit welcher Mühelosigkeit er in verschiedene Rollen schlüpfte und eine ganz andere Persönlichkeit, ein vollkommen fremder Mensch wurde. Er war dann so anders als der Mann, der zu sein er in ihrer Nähe stets vorgab; irgendwie hatte sie nur allzu gern geglaubt, dass dieses Gesicht sein wahres Gesicht war. Obwohl sie Karnee war und obwohl ihr Fluch Einfluss auf die Art hatte, wie Männer auf sie reagierten, hatte sie sich dennoch eingebildet, dass Ian sie liebte und weil sie glaubte, er liebe sie, hatte sie ihm vertraut. In dieser Hinsicht war sie eine Närrin gewesen. Sie schloss die Augen und wünschte, sie hätte ihn hassen können. Er hatte sie an ihre Feinde verkauft; er hatte ihr Leben verkauft. Er hatte ihren Hass verdient... aber sie hasste ihn nicht. Sie hatte sich gestattet, ihn zu sehr zu mögen sie dachte daran, wie er unter Einsatz seines eigenen Lebens Rrueeth und die Sklavenkinder vor Folter und Tod gerettet hatte, daran, wie er an ihrer Seite gegen die Fluggeräte gekämpft hatte, wie er sie in den Armen gehalten hatte. Sie hatte zu viele Seiten an ihm kennen gelernt, die ehrenhaft und gütig und mutig waren, und wenn sie an ihn dachte, kamen ihr diese Bilder als Erstes in den Sinn. Sobald Ian herausgefunden hatte, dass er nicht bekommen würde, was er haben wollte dass er sie niemals heiraten würde, dass er niemals den Status, die Macht und die Rechte auf die Stadt in
Novtierra, die Kait besaß, gewinnen würde, war er geradewegs zu den Leuten gegangen, die den höchsten Preis für sie bezahlen würden. Er hatte sich jedoch nicht nur gegen sie, Kait, gewandt. Er hatte sich gegen Doghall gewandt, den er, wie sie glaubte, sehr geschätzt hatte. Und schlimmer noch, er hatte den Wiedergeborenen verraten. Noch weniger als alles andere konnte sie begreifen, wie er dazu fähig gewesen war. »Doghall, du hast doch Ian geholfen, den Wiedergeborenen zu berühren, nicht wahr? Vor ein paar Wochen?« Doghall sah sie mit einem Ausdruck der Qual in den Augen an und nickte. »Ruhe da hinten«, sagte Trev plötzlich. »Wir nähern uns einem Kontrollpunkt.« Alle Passagiere im Wagen verfielen in Schweigen. Der Wagen holperte über die Straße, und als er stehen blieb, drangen die Geräusche der Stadt zu ihnen herein. Glocken läuteten, Hirten, Bauern und Handwerker unterhielten sich laut miteinander oder erklärten den Steuereintreibern ihre Fracht. Diese Steuereintreiber warteten an jedem Kontrollpunkt, um ihre Durchfuhrsteuern zu kassieren; in der Ferne rief eine Ausruferin aus einer unbedeutenderen Sekte des Iberismus ihre Gläubigen zum Gebet. Kinder kreischten vor Lachen, und alles wurde überlagert vom Atem der Stadt, der durch jede Tür strich, die sich öffnete oder schloss, von ihrem Puls, mit dem die Menschen und deren Besitztümer durch ihre zahllosen Straßen und Gassen trieben. Kontrollpunkte. Die Tore, die die vielen Mauern Calimekkas durchsetzten, waren Überbleibsel einer Zeit, da die Stadt noch in eine kleinere Umfriedung hineingepasst hatte. Im Laufe der Jahre hatten sich die großen Familien die Tore angeeignet; sie hielten die Mauern um die Tore herum und die Straßenabschnitte in ihrer Nähe instand, und sie verlangten Zölle von allen, die das Privileg nutzten, eines der Tore zu durchfahren. Außerdem ermöglichten die Kontrollpunkte den jeweiligen Familien, ein Auge auf alle zu haben, die ihren Herrschaftsbereich betraten oder verließen; sie erfuhren, was diese Leute taten, wohin sie wollten und ob sie im Bezirk dieser Familie willkommen waren oder nicht. Kait malte sich die Szene aus, die sie erwartete: Der Zöllner am nächsten Tor würde verlangen, dass Trev die ersten Ballen vom Wagen lud, damit die dahinter stehenden sichtbar wurden. 380 381
Sie konnte direkt vor sich sehen, wie einer der großen Wachhunde seine Nase in das Stroh grub und Alarm schlug, um mit seinem Bellen zu verkünden, dass die Fracht im Inneren Geheimnisse versteckt habe. Kait schloss die Augen und bot ihre ganze Kraft für den Schild auf, den sie über den ganzen Wagen mitsamt aller Insassen ... und sogar den Pferden gewoben hatte. Sie hatte es so gemacht, dass Trev und seine Fracht unauffällig erschienen, dass aller Verdacht abgelenkt wurde. Sie verstand nicht, warum Hasmal und Doghall nicht schon selbst einen solchen Schild errichtet hatten, aber beide Männer sahen krank aus. Vielleicht waren sie zu krank, um mit Magie zu arbeiten. Kait konnte erkennen, dass sie in einer langen Schlange standen, die darauf wartete, zum Tor durchzukommen, denn der Karren rollte ein Stück nach vorn und blieb dann stehen. Rollte vorwärts und blieb stehen. Rollte vorwärts und blieb stehen. Jedes Mal, wenn sie näher heranrollten, konnten sie den Steuereintreiber am Tor deutlicher hören, und jedes Mal spürte sie, dass seine Feindseligkeit gegen die Leute weiter zunahm. Alle, die sie zusammen schweigend im Stroh kauerten, hatten Angst, auch nur Atem zu holen. Endlich waren sie an der Reihe. Draußen vor dem Karren saß so dicht, dass Kait ihn mit der Hand hätte berühren können, der Wachhund und keuchte. »Familie?«, fragte der Steuereintreiber. »Ainthe-Aburguille, eine entfernte Verwandtschaft. Keine Beziehung zu den großen Familien.« »Und die Ladung?« »Stroh, dreißig Ballen.« Trev klang gelangweilt, als sei das etwas, das er jeden Tag erlebte. Kait konnte nur staunen über seine Selbstbeherrschung. Sie war sich sicher, dass sie dort oben die ganze Zeit nur an die Menschen gedacht hätte, die sich im hinteren Teil des Wagens versteckten, und was aus ihr und den anderen werden würde, wenn sie erwischt wurden. »Zielort?« »Nieder-Kafar am Meer.« 382
Sie runzelte die Stirn. Und sie hatte noch nie von einem solchen Ort gehört. Der Steuereintreiber wusste da allerdings mehr. »Das ist aber ein ganz schön weiter Weg für so ein
paar Strohballen.« Der Steuereintreiber klang nicht mehr so feindselig wie zuvor. »Ich muss das Zeug verkaufen. Im Grunde ist es ja wohl egal, wo. Also dachte ich mir, ich mache eine kleine Reise und seh mal bei der Familie vorbei, während ich schon da bin. Die Leute in Kafar werden von mir kaufen, weil sie mich kennen, und ich kann gleichzeitig mal nach meinem Pa und meiner Ma und meinen kleinen Brüdern sehen. Einer von ihnen soll demnächst als Lehrling bei mir eintreten; vielleicht kann ich ihn, wenn ich zurückfahre, gleich mitnehmen.« Der Hund schnüffelte an der Kante der Ladefläche des Wagens fröhliche, hechelnde Laute drangen zu ihnen herein. Er konnte sie jederzeit verraten ... und Hasmal hatte ihr beigebracht, dass Magie auf Tiere weniger verlässlich einwirkte als auf Menschen. Sie konzentrierte sich ganz auf die Aufrechterhaltung des Schildes und betete, dass er halten möge. Der Steuereintreiber sagte: »Immer gut, Geschäfte so zu legen, dass man einen Familienbesuch damit verbinden kann. Was mich betrifft, ich hab meine Jugend auf See verbracht, und da hat man solche Möglichkeiten eben nicht. Wohin die Fische schwimmen, dahin schwimmt man mit ihnen.« Kait wünschte, die Fische hätten den Steuereintreiber gefressen; je länger er mit Trev plauderte, um so größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen im Stroh niesen oder husten musste, und das konnte kein magischer Schild verbergen. Sie spürte bereits ihre Nase, und ihr Rücken begann zu jucken, und alles nur, weil sie es nicht wagte, sich zu kratzen. Das Stroh piekste und kitzelte sie, und der modrige, feuchte Gestank verklebte ihr die Nase. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die anderen sich fühlten. »Mein Pa ist auch fischen gegangen, als er noch jung genug dafür war. Harte Arbeit«, sagte Trev. 383
»Das ist wahr. Dreißig Ballen, hast du gesagt? Ich hätte nicht gedacht, dass auf so einem Karren mehr als fünfundzwanzig Platz hätten.« »Einige Ballen sind ziemlich klein.« »Das ist natürlich eine Erklärung. Ich sag dir was du kannst Zoll für fünfundzwanzig bezahlen. Das macht dreieinhalb Ochs. Und ... sag mal, welche Ausfahrt aus der Stadt willst du nehmen?« »Entweder die Große Daune Süd oder den Geschorenen Schopf.« »Pah! Wenn du über die Bummelmeile nach Süden in Richtung Schleichender Weg fährst, kannst du dir einen halben Tag und drei Tore ersparen. Wenn ich nach Hause fahre, nehme ich immer diesen Weg. Wenn du die gleiche Route nimmst, wirst du in zwei Tagen im Wirtshaus zur Roten Hechel übernachten wollen. Das Haus gehört meinem Vetter, und er wird dir bestimmt im Preis entgegenkommen, wenn du erwähnst, dass ich dich zu ihm geschickt habe.« »Und was soll ich ihm sagen, wer mich geschickt hat?« »Sag, du kommst von Tooley. Er wird einen vollen Ochs vom Saisonpreis nachlassen.« »Besten Dank, Tooley. Ich werde deinen Vetter von dir grüßen.« Kait hörte das Klatschen der Zügel und das Sirren der Peitsche, und eines der Pferde schnaubte. Der Wagen setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung. Bevor sie aus Calimekka heraus waren, würden sie mindestens ein halbes Dutzend weitere Kontrollpunkte hinter sich bringen müssen, und wenn die Drachen eine gründliche Suche nach ihnen begannen, würde die Reise mit jedem Kontrollpunkt gefährlicher werden. Und das lenkte ihre Gedanken wieder auf den Verrat.. .und auf Ian. Sie hatte Doghall etwas gefragt, kurz bevor sie unterbrochen wurden. Etwas, bei dem es genau darum gegangen war. Sie versuchte, ihre Gedanken wieder zu sammeln, und endlich wusste sie, was es gewesen war. 384
Sie hatte Doghall gefragt, ob er Ian mit dem Wiedergeborenen zusammengeführt habe, und Doghall hatte ihre Frage bejaht. »Doghall«, fragte sie, »wie ist es möglich, dass Ian sich mit den Drachen verbündet hat, obwohl er Solander begegnet war? Eine freie Entscheidung verstehe ich ... aber wie konnte er ihren Hass und ihre Schlechtigkeit wählen und der Liebe des Wiedergeborenen den Rücken zukehren?« »Was sollte der Wiedergeborene jetzt noch für ihn bedeuten?« Kait runzelte die Stirn. »Ich denke, alles.« Irgendetwas stimmte da nicht Doghall schien es nicht im Mindesten seltsam zu finden, dass Ian sich dem Bösen zugewandt hatte, nachdem er diese Glückseligkeit erfahren hatte. Ihr selbst dagegen erschien das vollkommen unmöglich. »Ich könnte den Wiedergeborenen niemals verraten«, sagte sie. Doghall schlug die Hände vors Gesicht. »Bei allen Göttern, du weißt es noch nicht«, stöhnte er. »Was ist los?« Sie sah Ry an, der mit den Schultern zuckte. »Was weiß ich nicht?«
Doghall schüttelte nur den Kopf und ließ die Hände vorm Gesicht. Hasmal sah ihn an, erkannte, dass der alte Mann nicht Weitersprechen würde, und richtete sich auf. Mit müden, rot verschwollenen Augen sah er Kait an. »Der Wiedergeborene ist tot«, sagte er. Kait versuchte, einen Sinn in diesen Worten zu entdecken. Der Wiedergeborene tot? Nein. Vincalis' Geheime Texte hatten die Rückkehr des Wiedergeborenen klar und korrekt beschrieben, genauso wie den Kampf, den die Drachen gegen ihn führen würden. Die Texte hatten ferner eine Reihe von Dingen vorausgesagt, die bisher noch nicht eingetroffen waren Schlachten, die die Falken und die Drachen miteinander austragen würden, Städte, die geboren werden würden, und Städte, die sterben würden, und schließlich Solanders endgültigen Triumph über seine alten Feinde. Wenn Vincalis die Zukunft so deutlich vorausgesehen hatte, 385
wäre ihm etwas wie der Tod des Wiedergeborenen gewiss nicht entgangen. Er hatte aber nicht davon gesprochen. Seine Prophezeiungen ließen nicht einmal den geringsten Raum für diese Möglichkeit. »Das kann nicht sein«, sagte Kait. Doghall murmelte: »Und du weißt natürlich Bescheid, wie? Du, die du nicht einmal ein wahrer Falke bist?« Er sah sie nicht an. Er lag einfach da, das Gesicht in den Händen vergraben. »Ich weiß, dass er nicht tot sein kann, denn wenn er es wäre, was würde dann aus den Prophezeiungen?« »Du willst es einfach nicht begreifen, nicht wahr?« Ihr Onkel richtete sich langsam auf und sah ihr wütend in die Augen. »Die Prophezeiungen sind ebenfalls tot. Die strahlende Zukunft, die Hoffnung für Ibera und den Rest der Welt... alles tot.« Mit kurzen, heiseren Sätzen, aus denen all seine Verzweiflung widerhallte, erzählte er ihr, was er herausgefunden hatte. Dass andere Falken bei dem Wiedergeborenen gewesen seien, als Danya ihn unter den Schutz eines undurchdringlichen Schildes getragen habe. Dass sie Stunden später mit dem Baby aus dem Schild herausgetreten sei, dass die Seele in dem Körper des Kindes aber nicht länger die Solanders gewesen sei dass sie vielmehr einem Drachen gehört habe. Niemand wusste, warum sie das getan hatte. Aber sie hatte es getan, und der Wiedergeborene war tot, und die Zukunft war mit ihm gestorben. Kait versuchte, diesen Gedanken ganz zu erfassen. Es gelang ihr nicht. Sie musste immer wieder an das wunderbare Leuchten denken, an die allumfassende, unkritische Liebe, die sie durchdrungen hatte, als sie die Seele des Babys berührte, und sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass Solander tot sein sollte. Dass sein Leben erloschen war. Dass ihre eigene Kusine, seine Mutter, ihn entweder selbst getötet oder seine Ermordung zugelassen hatte. »Du musst etwas übersehen haben«, beharrte sie. »Irgendetwas muss dir entgangen sein; er hat es geschafft, sich zu verste386 cken; ihm drohte Gefahr von den Drachen. Und als er das entdeckte, hat er sich abgeschirmt, so dass du ihn im Augenblick nicht finden kannst. Irgendetwas in dieser Richtung muss passiert sein. Er ist nicht tot.« Doghall zuckte mit den Schultern. »Glaub, was du willst. Ich habe ihn gesucht, ich habe durch Spiegel und Blut mit anderen gesprochen, die dabei waren, als das Grauenvolle geschah. Der Wiedergeborene ist tot.« Kait versuchte, sich auszumalen, was es bedeuten würde, wenn Doghalls Worte wirklich die Wahrheit waren; wenn sie den Kampf schon verloren hatten, bevor er richtig begonnen hatte. Sie blickte in den Brunnen der Verzweiflung, der Doghall und Hasmal verschlungen hatte, und einen Augenblick lang erlebte sie selbst die Einfachheit der Gefühle, die Verzweiflung mit sich brachte. Wenn sie sich dem Kummer überließ, brauchte sie nichts anderes zu tun. Wenn sie akzeptierte, dass der Wiedergeborene tot und die Zukunft hoffnungslos war, konnte sie einfach aufgeben und das Schicksal der Welt betrauern; sie wäre dann jeder Verantwortung enthoben. Es war ein verführerischer Gedanke. Sie konnte sich einen Ort suchen, an dem sie sich verkriechen würde, und dann sollte die Welt selbst ihre Geschicke in die Hand nehmen. Aber Kait war nicht für Verzweiflung geschaffen. Sie hatte zu viel hinter sich gebracht, nur um zu überleben; sie konnte eine Niederlage nicht kampflos hinnehmen. Sie beschloss, so zu handeln, als hätte der Wiedergeborene überlebt und sich nur versteckt, um sich zu schützen. Wenn sie mit Sicherheit wusste, dass er tot war, würde sie noch einmal über die Vorteile der Verzweiflung nachdenken, aber keinen Augenblick früher.
Sie drehte sich um und sah, dass Ry, der neben ihr saß, zu weinen begonnen hatte.
Kapitel 40 'Die Drachen scharten sich um den langen Tisch im Konferenzsaal von Haus Sabir, und die Letzten von ihnen standen mit dem Rücken an die Wände gedrückt; mehr als zweihundert Drachen waren gekommen, in den stärksten, makellosesten und schönsten Körpern von Calimekka. Dafril, der den Körper von Crispin Sabir trug, stand am Kopfende der Tafel er wäre ihr Anführer gewesen, ganz gleich, welchen Körper er wählte, aber dieser Körper machte seine Aufgabe umso einfacher. Er war mächtig, er war attraktiv, und er war von hoher Geburt. Dafril hob die Hand, und selbst das leise Wispern der Bestürzung ebbte ab. »Ich weiß, wir haben geschworen, nicht zusammenzukommen, bevor ein jeder von euch sein erklärtes Ziel erreicht hat, aber wir haben es mit einem Notfall zu tun, der für uns alle eine Bedrohung darstellt. Mellayne ist aus unserer Mitte gerissen worden, und falls kein Wunder geschieht, dürfen wir kaum damit rechnen, dass sie uns in irgendeiner Form zurückgegeben wird.« Dafril spürte die Beunruhigung seiner Gefährten, ein Gefühl, das er nur allzu gut kannte. Noch immer krampften sich seine Eingeweide vor Entsetzen zusammen, wenn er an diese unerwartete Katastrophe dachte, die ihnen widerfahren war. »Wie meinst du das, sie wurde aus unserer Mitte gerissen?«, fragte eine anmutige Schönheit mit elfenbeinfarbener Haut und goldenen Augen. Dafril konnte sie noch nicht einordnen sie war mit Sicherheit einer der niederen Drachen, vielleicht Tanden oder Shorre oder sogar Lusche , aber sie hatte einen guten Geschmack für Körper bewiesen. Der Körper, den sie sich ausgesucht hatte, entsprach in jeder Weise Dafrils Vorlieben und übertraf sie sogar 388
noch. In Gedanken erlaubte er sich ganz kurz das Bild, wie sie beide als Paar über Matrin herrschten, und es gefiel ihm, was er sah. Sobald er sich davon überzeugt hätte, dass sie einer der angenehmen jungen Drachen war, die ihn bewunderten, würde er ihr sagen, dass er sie als seine Gefährtin erwählt hatte. Er brachte ein Lächeln für sie zustande, das seine Wertschätzung ihrer Intelligenz enthielt, denn ihre Frage verriet in der Tat einen wachen Verstand. Dann sagte er: »Ich meine, dass sie uns buchstäblich >entrissen< wurde. In diesem Augenblick befinden sich Falken in Calimekka, die sich in irgendeinem Winkel der Stadt versteckt haben, und letzte Nacht haben sie Mellaynes Seele aus ihrem Körper gezogen und in einem Ring gefangen, der einem von ihnen gehörte.« Ihre zusammengeballte Beklommenheit verwandelte sich in schieres Entsetzen. »In einem Ring?« »Was in einem Schmuckstück?« »Ohne Fluchtvektor?« »Wie konnten sie das tun?« Dafril hob die Hand und sagte: »Gemäß unserer Quelle, die uns umfangreiche Informationen hat zukommen lassen, deren Wahrheitsgehalt bisher in allen Punkten bestätigt werden konnte, bestand der Ring, der benutzt wurde, entweder aus Gold oder aus Elektrum und war in jeder Hinsicht ohne besondere Kennzeichen, bis auf eine Vertiefung, die als Verzierung außen um den Ring verläuft. Der Ring trägt sonst keine Verzierungen, keine Juwelen, keinerlei Inschrift mit anderen Worten, keine irgendwie gearteten Unregelmäßigkeiten, die wir benutzen könnten, um Mellayne wieder herauszuziehen, selbst wenn es uns gelingen sollte, in den Besitz des Rings zu kommen.« »Warum können wir eine solche Unregelmäßigkeit nicht nachträglich einfügen?«, fragte ein hoch gewachsener, muskulöser Mann mit blondem Haar und einem gewaltigen, an den Spitzen herunterhängenden Schnurrbart. Dieser Körper beherbergte si 389
eher einen der nachlässigen Jugendlichen, die sich nie die Mühe machten, die Theorie ihres Tuns zu lernen die sich ohne Missgeschick der Routinezauber bedienten, bis sie eines Tages besonders clever sein wollten und eine kleine Veränderung vornahmen oder eine kleine Abkürzung wählten und sich und alle in ihrer näheren Umgebung ins Nichts katapultierten. Efsqual vielleicht oder Clidwen. Wahrscheinlich Clidwen. Die meisten Drachen funkelten den Fragesteller wütend an niemand sympathisierte mit gefährlicher Dummheit. »Was ist denn?«, fragte der junge Mann, der in all die wütenden Gesichter blickte. »Was spricht denn gegen diese Lösung?« Clidwen; kein Zweifel. Schade, dass es nicht seine Seele war, die in dem Ring gefangen saß. »Wenn«, fuhr Dafril ihn an, »eine Seele erst einmal gefangen ist, würde jede Veränderung an ihrer
Behausung, die ihren Fluss durch den Ring in eine andere Bahn lenkt, die Seele selbst durch den Schleier katapultieren. Wir würden Mellayne nicht zurückbekommen, du Idiot. Wir würden sie lediglich umbringen, genauso sicher, als rammten wir dir ein Messer durchs Herz. Soweit es um die Seele geht, ist ein Körper ein Körper. Wenn man den Fluss zerstört, tötet man den Körper.« Die Versuchung, seine Worte zu demonstrieren, war groß. Der Idiot hatte tausend Jahre gewartet und nichts Wichtigeres zu tun gehabt, als Pläne für den Tag seiner Rückkehr in einen neuen Körper zu schmieden, und er hatte all die Zeit vertan, statt etwas zu lernen. »Dieser Informant, von dem du sprichst«, meldete sich wieder die erste Fragestellerin zu Wort, »warum will er uns helfen? Wie hat er überhaupt von uns erfahren?« »Das war ein Glücksfall für uns. Er war mit den Falken zusammen, ist aber nie einer von ihnen geworden. Und als das Mädchen, das er liebte, ihm seinen schlimmsten Feind vorzog, fand er, die Zeit sei reif, dahin zu gehen, wo man ihn mehr zu schätzen wissen würde.« Dafril schob sich durch die versammelten Dra390
chen und öffnete die hohe Bogentür am Ende des Konferenzsaals. »Bitte tritt ein. Wir sind jetzt so weit.« Er begrüßte den Mann, der den Raum betrat, mit einem Lächeln. Ian hatte sich nach ihrer ersten Begegnung den Kopf geschoren das falsche, weißblonde Haar und die falsche Hmothfrisur waren beide verschwunden. Er trug den Feststaat der Sabirs ein elegantes Hemd aus gekämmter Baumwolle, das mit silbernen Bäumen bestickt war, und dazu smaragdgrüne Seidenhosen von grober Machart und schöne schwarze Stiefel. Seine Augen waren nicht von dem üblichen Hellblau, das die Sabirs kennzeichnete, und auch nicht von dem weniger häufigen Bernstein, sondern von einem feinen Graugrün. »Der Mann ist ein Körpercousin von mir«, erklärte Dafril. »Er galt lange als verschollen, und die meisten hielten ihn für tot und wir können uns glücklich schätzen, dass er am Leben geblieben ist. Bitte heißt Ian Draclas in eurer Mitte willkommen den ersten, aber gewiss nicht den letzten unserer bereitwilligen Verbündeten.« Ian lächelte in die Runde. Das Lächeln war kalt und verbittert und spiegelte das Verlangen nach der Zerstörung seiner Feinde wider, es verriet den Hunger nach Rache, es verriet Zorn und Scham und Hass angesichts der Demütigung, die er erfahren hatte. Es war, so dachte Dafril, ein gutes Lächeln. Die Art Lächeln, die man im Gesicht eines Verbündeten sehen wollte. Solange das Mädchen Ry Sabir liebte, würde Ian zu den Drachen gehören. Dafril legte Ian eine Hand auf die Schulter und fügte hinzu: »Ian hat geschworen, uns die Falken auszuliefern. Und ihm haben wir auch zu verdanken, dass wir bereits wissen, wo wir anfangen müssen.« Überall im Raum brach Applaus aus.
Kapitel 41 Juan konnte zusehen, wie er wuchs manchmal schien es Danya, als wüchse dieses Ungeheuerkind in der Zeit, die sie brauchte, um den Kopf zu drehen. Binnen zwei Wochen war er so groß geworden wie ein Säugling im dritten Monat. Er konnte bereits mühelos den Kopf heben und zappelte beständig mit Armen und Beinen um sich Bewegung zu verschaffen, wie er ihr erklärte, als sie versuchte, ihn zur Ruhe zu bringen. Sie hätte ihn am liebsten erstickt und seinem Leben ein Ende gemacht, aber sie hatte Angst vor ihm. Sie wagte es nicht, irgendeine Bewegung zu machen, die ihm auch nur im Geringsten bedrohlich erscheinen konnte, denn in diesem Falle erinnerte er sie daran, dass er sie von einem Augenblick auf den nächsten zerstören konnte. Sie hasste ihn, und sie hasste sich selbst, und sie schauderte jedes Mal, wenn sie ihn auf den Arm nahm. Er sah sie mit diesen uralten, bösen Augen an, und irgendwie verwandelte sich sein zahnloses Lächeln in ein lüsternes Grinsen. Er kniff sie, wenn er trank, in die Brust und machte ihr Komplimente zu ihrem schönen Körper, sagte ihr immer wieder, was für ein liebreizendes Geschöpf sie doch sei. Er verursachte ihr Übelkeit. Sie verbarrikadierte sich mit ihm in ihrem kleinen Haus, isoliert von allen Bewohnern des Dorfes. Die Karganesen hatten ihr ihre Rückkehr in Menschengestalt nicht verziehen sie hatte ihnen die beiden Klauen an ihrer rechten Hand gezeigt, um zu beweisen, dass sie immer noch ihre Gathalorra war, aber sie konnte natürlich nicht länger Gathalorra sein. In diesem weichen, schuppen und waffenlosen Körper hatte sie keine Chance, auch nur einen einzigen Lorrag im Kampf zu besiegen. Sie hatte die
Karganesen verraten, indem sie die Gestalt ihrer Verhasstesten Feinde, der Menschen, angenommen hatte. Sie erinnerten sich an all die guten Dinge, die sie für sie getan hatte, daher duldeten sie sie nach wie vor in ihrem Dorf, aber sie war nicht länger ihre Freundin. Danya erhob sich und trat an ihre geöffnete Tür, um hinauszustarren. Die Dorffrauen waren unten am Fluss bei der Arbeit. Die Männer reinigten und flickten die Netze, weil sie sie in dieser Nacht für die Jagd am nächsten Morgen auslegen wollten. Die Karganesen plauderten und lachten miteinander, erzählten sich Geschichten und schwatzten über ihre Nachbarn oder über die Karganesen aus anderen Dörfern. Von Zeit zu Zeit blickte eines dieser pelzigen Gesichter in Danyas Richtung und entdeckte sie in der offenen Tür. Dann wurden diese dunklen Augen unweigerlich schmal, und die Schnauze verzog sich zu einem Ausdruck des Abscheus. Und der betreffende Karganese wandte dann den Blick ab und schwieg einen Moment lang, bis ein anderer ihn oder sie wieder auf die Freuden des Tages und die gemeinsame Arbeit aufmerksam machte. Sie war allein. Dieser Tatsache musste sie ins Gesicht sehen. In diesem Dorf von gut sechzig Seelen gehörte niemand mehr zu ihr außer Luercas, und der gehörte nicht wirklich zu ihr. Sie gehörte zu ihm. Sie gehörte ihm. Sie hatte sich selbst und nur sich selbst. Aber sie lebte, und sie wollte dafür sorgen, dass das auch so blieb. Der Wind wehte durch die Tür, und sie spürte die Kälte, die selbst im kurzen Sommer dieses wilde Land bedrohte. Sie dachte an den kommenden Winter und wusste, dass sie sich abhärten musste. Ihr menschliches Fleisch würde den Unbilden des arktischen Klimas nicht so leicht standhalten, wie ihr Narbigenkörper es getan hatte. Sie musste langsam Pläne schmieden. Vor allen Dingen musste sie die Karganesen wieder auf ihre Seite ziehen, denn sie besaßen all die Dinge, die sie brauchte Pelze, Garne, Nadeln, Essen und den Schutz, den eine größere Anzahl von Lebewesen stets bedeutete. Danya würde nicht vergessen, dass sie sie gemieden hatten, als ihr Körper sich veränderte; aber sie würde weder ihre Kränkung 392 393 noch ihre Wut zeigen. Sie würde die Karganesen auf die Liste der Personen setzen, denen sie Rache schuldete. Auch für die Karganesen würde eines Tages die Stunde schlagen, und sie würden ihre Grausamkeit bereuen lernen. Sie hätten an der Spitze der Armee stehen können, die sie, Danya, aufzustellen beabsichtigte. Sie hätten für sie kämpfen können angeblich um in den freundlichen, fruchtbaren Ländern von Ibera einen Platz für die Narbigen zu erringen , in Wirklichkeit jedoch, um Danya für ihre Schmerzen zu entschädigen. Sie hatte mit Blut und Leiden und Scham gezahlt; sie hatte sich törichterweise ihr eigenes Herz aus dem Leib gerissen und es vernichtet, als sie ihren wunderschönen Sohn tötete. Man hatte sie belogen und überlistet, und alle Liebe, alle Schönheit und alle Hoffnung waren für immer aus ihrem Leben gegangen. Aber sie hatte immer noch ihre Rache, und eines Tages würde sie ihren Triumph haben. Die Sabirs und die Galweighs würden das Knie vor ihr beugen, vor ihr und den Kriegern, die sie zum Kampf gegen diese beiden Familien führen würde. Sie würden sie auf einem großen Streitross an der Spitze einer Horde von Barbaren sehen, und sie würden wissen, dass sie ihre Vernichtung selbst verschuldeten. Und dann sollten sie sterben. Zeit, das war alles, was zwischen ihr und ihren Wünschen stand. Alles würde vor ihr niederfallen; alles würde sich in die Richtung neigen, die sie wünschte; alle würden ihre Macht und ihr Recht auf die Befehlsgewalt anerkennen. Es brauchte nur seine Zeit. Sie wandte sich von der Tür ab und kehrte in die dunkle Hütte zurück. Sie hatte nicht vergessen, dass sie eine Wölfin war, und sie musste sich in den geheimen Künsten üben. Wenn sie die Karganesen nicht mit Freundschaft auf ihre Seite bringen konnte, würde sie sie mit einer Gewalt dazu zwingen, der sie nichts entgegenzusetzen hatten. Aber so oder so, sie würden auf ihrer Seite stehen, wenn sie die Völker der Veral-Territorien unter ihrem Banner versammelte. 394 Das Banner der Zwei Klauen, dachte sie. Ihrem Beweis dafür, dass sie noch immer eine Narbige war. Ihrem Kampfsymbol. Und wenn sie mit ihnen fertig war, würde sie Luercas vernichten, für seine Lügen, für das Böse, das in ihm wohnte, für das, wozu er sie mit seiner Hinterlist gebracht hatte. Er hatte sie um alles Gute in ihrem Leben gebracht, und sie würde dafür sorgen, dass er keine Freude daran hatte, ganz gleich, welchen Preis sie dafür zahlen musste.
Kapitel 42 Kait streifte ihr Bündel ab und ließ sich neben Ry auf den Boden fallen. Eine glutheiße Sonne hatte den letzten Rest des morgendlichen Regens vertrieben, aber die Straße bestand nur noch aus Schlamm, der sich an ihren Füßen oder ihren Stiefeln festsaugte und jeden Schritt zu einer Anstrengung machte. Der Schlamm erschien Kait wie ein Abbild der Menschen, mit denen sie reiste: grau und trostlos, etwas, das an Leib und Seele zerrte. Sie hatten Port Pars vor zwei Tagen hinter sich gelassen, und vor ihnen lag noch ein drei oder viertägiger Fußmarsch, bevor sie nach Costan Selvira kommen würden, wo sie vielleicht eine Passage auf einem Schiff in Richtung Süden bekommen konnten. Dreißig Tage waren verstrichen, seit sie aus ihrem Quartier in dem Gasthaus geflohen waren, und in diesen Tagen hatte sie meditiert und immer wieder nach Spuren gesucht, die auf ein Überleben des Wiedergeborenen hindeuteten. Sie hatte versucht, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass er sich wegen der schrecklichen Gefahr, die ihm drohte, vor allen verbergen musste, nicht nur vor seinen Feinden. Aber die endlose Trübsal der anderen war ansteckend, und Kait verlor langsam ihre Zuversicht. Doghall trottete mit gesenktem Kopf die Straße hinunter und schwieg die meiste Zeit. Hasmal fuhr jeden an, der ihm in die Nähe kam, und schlief abseits von den übrigen Reisenden, und nachts, wenn er glaubte, dass niemand ihn hören konnte, weinte er leise. Selbst Ry war in sich gekehrt. Er wollte weder ihre Umarmungen noch ihren Trost oder ihre vorsichtigen Andeutungen, dass die Situation vielleicht nicht ganz so schlimm war, wie sie erschien. Er war erst spät zu der Denkweise der Falken gelangt, aber er hatte ihre Philosophie vollkommen, vollkommen in sich 396 aufgenommen, und seine Verbitterung war möglicherweise noch größer als die von Doghall oder Hasmal; es hatte ihn besonders hart getroffen, dass ihm der Wiedergeborene entrissen worden war, nachdem er erst so kurz zuvor zu ihm gefunden hatte. »Die Pause ist vorbei«, sagte Doghall. »Auf die Beine, ihr alle. Es geht weiter.« »Wozu die Mühe?«, murrte Hasmal. »Wenn wir hier bleiben, finden uns die Drachen nur umso schneller und machen unserem Elend ein Ende.« Doghall stieß ein unwilliges Brummen aus und trat gegen den nächsten Baum, um seine Stiefel von den dicksten Dreckklumpen zu befreien. »Ich bin zu alt, um mich mit den Pferden auf dem Platz des Gesetzes anzufreunden, mein Sohn. Das Gleiche gilt für siedendes Blei, brennende Holzscheite oder den Gedanken, bei lebendigem Leib gehäutet zu werden, nachdem man meine Haut mit Treibgas aufgebläht und mich durch die Straßen geführt hat. Da möchte ich lieber weiterleben, vielen Dank.« Er hievte sein Bündel auf seinen Rücken und trat wieder hinaus auf die Straße und in den Schlamm. »Aber du kannst gern wieder zurückgehen und dich als Opfer anbieten, wenn du es auf ein schnelles Ende abgesehen hast.« Ry stand auf und trottete hinter Doghall her, so versunken in sein eigenes Elend, dass er nicht einmal wartete, bis Kait ihr Bündel geschultert hatte. Sie lief mit finsterer Miene hinter ihm her, während Hasmal und Rys Leutnants das Schlusslicht ihrer kleinen Gruppe bildeten. Sie war die Einzige, die sich nicht in ihrem eigenen Unglück suhlte; wahrscheinlich war das der Grund, warum sie die Einzige von ihnen war, die den Reiter aus Süden über die Straße galoppieren hörte. Meistens suchte die ganze Gruppe Zuflucht im Dschungel, sobald andere Reisende nahten es konnte gefährlich sein, in der Wildnis entlang der Küstenstraße auf Fremde zu stoßen. Daher sagte Kait nun: »Halt! Ich höre einen Reiter von Süden!« Sie sprach so leise sie konnte. 397 »Hat nicht viel Sinn, sich zu verstecken, falls das neue Schwierigkeiten für uns bedeutet«, meinte Ry. »Wir sind seit dem letzten Regenfall die Einzigen auf der Straße hier, und unsere frischen Spuren würden jeden, der uns sucht, direkt zu uns führen. Wenn wir uns hinter irgendwelchen Büschen versteckten, würden wir wie Räuber aussehen. Oder Schlimmeres.« Kait nickte. »Das ist mir klar. Ich dachte nur, ihr würdet es vielleicht gerne wissen, dass wir Gesellschaft bekommen.« Mittlerweile konnte man selbst mit schlechten Ohren das Pferd hören, das sich durch den Schlamm in ihre Richtung quälte. »Wir werden bereit sein«, sagte Yanth. Kait ließ sich ein paar Schritte zurückfallen. Als der Reiter sichtbar wurde, legten die Reisenden instinktiv ihre Hände auf die Griffe ihrer Schwerter. Kait konnte ihre Überraschung jedoch nicht verbergen. Der Reiter war eine Frau und noch dazu allein. Schon diese Tatsache war erstaunlich, aber die Frau war obendrein eine Gyru, und soweit Kait wusste, reisten die Frauen der Gyrus niemals
allein. Sie ritt einen grau gescheckten Wallach ein stämmiges Tier, dessen Widerrist Kait bis zum Kopf reichte. Der Wallach bewegte sich gut und gehorchte den Befehlen seiner Reiterin aufs Wort, und Kait hätte im Augenblick ein kleines Vermögen für ihn gezahlt. Pferde mochten sie im Allgemeinen nicht besonders, aber sie ritt leidenschaftlich gern ... Und nachdem sie tagelang über schlammige Straßen gestapft war, wäre sie selig gewesen, wenn sie den Luxus eines guten Sattels hätte genießen dürfen. Die Reiterin selbst war vollkommen durchweicht. Ihr wunderschön besticktes, karmesinrotes Hemd klebte ihr wie Farbe auf der Haut, und ihre weiten Lederhosen waren nass und streifig. Ihre Stiefel, die den Ziernähten und dem Perlenbesatz nach von feinster Qualität waren, waren so dreckverkrustet, dass ihre Füße darin wie Baumstumpen aussahen. Also hatte sie trotz ihres Pferdes den schlimmsten Teil der Straße genau wie die anderen zu Fuß zurückgelegt. Ihr Haar, das noch immer von einem feurigen 398
Rot war, trug sie zu Zöpfen geflochten und mit Perlen durchsetzt, aber die grauen Strähnen darin waren bereits deutlich zu sehen. Ihre Augen waren ... bemerkenswert. Leuchtend grün, rund wie Taubenaugen, aber mit dem durchdringenden Blick eines jagenden Falken. Als sie sie entdeckte, wandelte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht von vorsichtiger Wachsamkeit in reine, erschöpfte Erleichterung. Sie rief: »Chobe!« Und schwang sich mit fließender Anmut von ihrem Reittier. Kait hätte die fremde Frau aufgrund der Falten um ihre Augen und der grauen Strähnen in ihrem Haar auf mindestens vierzig Jahre geschätzt, aber als die Reiterin sich bewegte und lächelte, dachte Kait, dass sie sich vielleicht geirrt hatte und dass die Frau lediglich früher ergraute. Sie bewegte sich jedenfalls wie ein junges Mädchen. Sie fragte sich, wen die Frau irrtümlich mit »Chobe« angeredet hatte, und erlebte eine weitere Überraschung. Hasmals Augen weiteten sich, und er sagte: »Alarista?« »Natürlich bin ich es. Ich habe dich gesucht!« Sie sprach Iberisch mit einem leichten Akzent und dem langsameren Tempo desjenigen, für den es eine unvertraute, zweite Sprache war. Hasmal rannte, so schnell der Schlamm es zuließ, auf die Reiterin zu, riss sie in seine Arme und drückte sie wild an sich. Sie war eine halbe Handspanne größer als er, stellte Kait fest. Wenn sie so alt war, wie ihre Augen und ihr Haar es vermuten ließen, war sie mindestens zehn Jahre älter als er, wenn nicht fünfzehn. Das schien Hasmal jedoch nicht im Mindesten zu stören. »Hölle und Schwert, wie wunderbar, dich wieder zu sehen«, sagte er zwischen einem Kuss und einer Umarmung, dann riss er sie wieder von den Füßen, um sie im Kreis herumzuwirbeln. Einen Augenblick lang sah sie aus wie ein hoher, schlanker Baum, der von einem gedrungenen, blonden Bären angegriffen wurde. Kait gefiel dieses Bild, aber sie behielt ihren Gedanken für sich. Normalerweise hätte sie ihn mit Ry geteilt und gehofft, ihn damit zum Lachen zu bringen, aber er hatte sich so tief in sich selbst 399
verloren, dass er den Witz des Ganzen wahrscheinlich nicht einmal bemerkt hätte. Alarista konnte sich schließlich von Hasmal befreien und wandte sich dem Rest der Gruppe zu. »Ich habe nicht nur nach Chobe gesucht«, sagte sie. »Ich habe euch alle gesucht.« Sie stellten sich einander kurz vor, wobei ein jeder von ihnen einen Spitznamen oder einen zweiten Namen angab, da es bei den Gyrunalle Sitte war, niemals einen wahren Namen preiszugeben. Diese Sitte hatte ihren Grund in dem Glauben der Gyrus, dass jeder, der den wahren Namen eines anderen kannte, damit verantwortlich für dessen Seele war. Kait, deren voller Name Kaitayarenne Noellaurelai Taghdottar Aire an Galweigh lautete, mutete ohnehin niemandem je das ganze Wortungetüm zu. Dieser Name mit seinen Erinnerungen an lange verstorbene Vorfahren und die Eigenschaften von Helden, die ihre Eltern bewundert hatten, war ohnehin mehr, als sie mit sich herumschleppen wollte. Also fühlte sich Kait Alarista gegenüber sehr wohl damit, einfach nur Kait zu sein. »Meine Schar hat ihr Lager an einem Platz aufgeschlagen, der nur einen harten Zweitageritt von hier entfernt ist«, erklärte Alarista ihnen, sobald sie die Formalitäten erledigt hatten. »Wir können euch mit neuen Vorräten versorgen, wenn ihr weitergehen wollt. Ihr könnt aber auch bei uns bleiben.« Diese letzte Bemerkung galt vor allem Hasmal, und Kait sah Hoffnung in ihren Augen aufblitzen. Doghall zuckte die Achseln. »Es spielt keine Rolle, wohin wir gehen. Dem Unheil, das über uns kommen wird, können wir doch nicht entfliehen.« Die Frau nickte. Dann drehte sie sich zu Doghall um und sagte: »Katarre kaithe gombrey; hai allu neesh?«
Es waren Falkenworte, das wusste Kait, obwohl sie diese alte Sprache nicht kannte. Hasmal hatte ihr nur beigebracht, dass dies die offiziellen Grußworte der Falken waren und dass sie bedeuteten: »Der Falke entbietet dir seine Flügel; willst du fliegen?« 400
Aber Doghall gab ihr nicht die formelle Antwort. Stattdessen sagte er: »Die Falken sind tot. Oder wusstest du das noch nicht?« Als sie an diesem Abend ihr Lager aufschlugen, kam Alarista zu Kait und nahm sie beiseite. »Die Falken glauben, dass die Zukunft tot ist; dass die Welt sich ihrem Ende naht und dass wir jenseits aller Hoffnung stehen. Sie glauben, dass der Kampf mit den Drachen bereits verloren ist und dass sie selbst vernichtet sind. Vernichtet. Ich würde dasselbe glauben. Ich würde es wirklich.« Kait sah, dass die Unterlippe der Gyru-Frau zitterte, und sie sah, dass ihr Blick starr auf dem Dschungel ruhte. Dann holte die fremde Frau tief Atem, hob den Kopf und drückte die Schultern durch. Jede Wölbung ihres Körpers sprach von grimmiger Entschlossenheit, die nur von einem winzigen Hoffnungsschimmer zusammengehalten wurde. »Ich habe für die Falken gelebt, für die Prophezeiungen. Ich war überglücklich, als ich zum ersten Mal die Berührung des Wiedergeborenen spürte, und ich wäre beinahe gestorben, als er ... als er ...« Sie schüttelte den Kopf. Dann holte sie noch einmal Atem, um sich zu fassen. »Aber ich habe die Orakel befragt«, sagte sie. »Meine Sprecher haben mir erzählt, dass du die Einzige seiest, die die Falken retten kann; dass du uns Hoffnung geben wirst. Ich bin den ganzen Weg geritten, um dich zu finden. Ist das, was meine Sprecher sagen, die Wahrheit?« Kait saß auf einem zu Boden gefallenen Baum und blickte ihrerseits in das dunkle Gewirr des Dschungels. »Ich habe Hoffnung«, antwortete sie vorsichtig. »Es ist mir allerdings noch nicht gelungen, irgendjemanden sonst davon zu überzeugen, dass es einen Grund dafür gibt.« »Aber du hast Hoffnung.« Alarista brachte ein zittriges Lächeln zustande und setzte sich neben Kait auf den Baumstamm. Dann sagte sie: »Du bist allerdings die Einzige, die Hoffnung hat. Du bist die Einzige von uns allen, die die Zukunft noch nicht in ihrem Grab liegen sieht. Ich habe gesucht, das schwöre ich. Seit... damals habe ich versucht, Kontakt zu jedem Falken aufzuneh401 men, der mir Antwort geben könnte. Aber nur wenige wollten überhaupt antworten. So viele haben sich kurz nach dem Tod des Wiedergeborenen das Leben genommen ...« Sie schüttelte den Kopf und erschauerte. »Und die meisten von denen, die noch leben, wollen nicht antworten. Ich habe deinen Onkel schon vor Wochen durch eine Blutgabe aufgespürt, konnte aber seine Schilde nicht durchdringen. Dasselbe war es mit Hasmal. Und du hast auch nicht geantwortet, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass du mich ignorierst. Bei dir war es mehr so, als könntest du mich nicht hören.« »Das konnte ich auch nicht.« Kait war überrascht. »Hast du denn versucht, mich zu erreichen?« »Ja. Dann haben sie dir die Fernsprache der Falken also noch nicht beigebracht.« »Nein.« Alarista nickte. »Ich habe mir schon gedacht, dass es das sein könnte. Aber ich konnte auch nicht umhin, zu denken, dass die Geheimen Texte sich vielleicht doch nicht geirrt haben, dass diese Katastrophe vielleicht etwas anderes war, als sie zu sein schien. Ich weiß, dass du noch kein richtiger Falke bist, aber als ich die Sprecher durch den Schleier herbeigerufen habe, sagte mir ein jeder, du seiest der Schlüssel. Sie sagten, du könntest den Falken neue Hoffnung geben. Du könntest, wenn du es wolltest, erkennen, auf welche Weise die Falken die Drachen trotz allem noch besiegen können. Sie sagten, dass du ...« Sie seufzte. »Dass du das Geheimnis unserer Hoffnung in Händen hieltest. Als ich dich durch Fernsprache nicht erreichen konnte, habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht. Ich weiß nicht, was du weißt, Kait. Ich weiß nicht, wie es möglich sein soll, dass du uns als Schlüssel dienen kannst. Bitte, sag es mir. Ich habe alles verloren, als ... Ich habe alles verloren, woran ich geglaubt habe, alles, was ich geliebt habe. Ich habe die Frau verloren, die ich war und die ich werden sollte. Bitte sag mir, was das alles verändern kann.« Kait legte die Hände auf ihre Oberschenkel und beugte sich vol402
ler Eifer vor. Das war die Bestätigung dessen, was sie die ganze Zeit über für die Wahrheit gehalten hatte. Die Geister von jenseits des Schleiers sagten, dass sie den Schlüssel besaß. Also mussten die Falken etwas übersehen haben. Kait hatte von Anfang an, gleich nachdem Doghall ihr von der Katastrophe erzählt hatte, fest geglaubt, dass er sich irren müsse, dass tausend Jahre Warten nicht mit der Geburt und dem beinahe sofortigen Tod dessen enden konnten, der die Welt nach Paranne führen sollte, dem verheißenen Land des Vincalis. Nicht einmal Brethwan und Lodan, das unglücklichste
aller Götterpaare, konnten so grausam sein. »Ich hatte beinahe alle Hoffnung aufgegeben«, sagte sie. »Die einzigen Falken, die ich kannte, waren Doghall und Hasmal, und du siehst ja, was aus ihnen geworden ist. Sie haben aufgegeben. Sie sehen sich selbst als Tote, die nur noch nicht auf ihrem Scheiterhaufen stehen. Ich konnte sie nicht erreichen. Sie wollten nicht mit mir reden. Sie haben sich hinter ihren Schilden verbarrikadiert, und sie ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Du siehst sie ja selbst. Du hast, wenn ich dich recht verstehe, auch andere gesehen, die in dem gleichen Zustand sind.« Alarista nickte. Kait fuhr fort: »Aber sie müssen sich irren.« Sie wagte ein Lächeln. »Tausend Jahre wahrheitsgemäßer Prophezeiungen können nicht mit einer Lüge enden. Ich habe die Geheimen Texte gelesen. Ich habe die Sieben Großen Zeichen verfolgt, die Hundert Kleinen Zeichen und die Drei Verwirrungen. Alle haben sie sich bewahrheitet. Vincalis hat die Wahrheit gesagt, im Allgemeinen wie im Besonderen.« Kaits Augen wurden schmal. »Selbst mit den Prophezeiungen, die sich direkt auf die heutige Zeit beziehen, hat er ins Schwarze getroffen. >Drachen werden sich mit Wölfen niederlegen und mit vollen Bäuchen aufstehen<, hat er gesagt, und ist nicht genau das eingetreten? Die Geister der Drachen haben die Körper und die Erinnerungen von Wölfen beschlagnahmt, aber die Wölfe sind fort, und nur die Drachen sind geblieben.« Sie ballte die Fäuste. »Seit der Wiedergeborene verschwun403
den ist, habe ich jeden Tag die Geheimen Texte durchforscht. Jeden Tag. Ich lese, während ich gehe, ich studiere alle Passagen. Vincalis hat versprochen, dass der Wiedergeborene sein Reich fünftausend Jahre lang würde bewahren können und dass die Welt in diesen fünftausend Jahren lernen würde, zu lieben, wahrhaftig zu sein und gütig zu sein. Fünftausend Jahre, und Vincalis hatte mit allen anderen seiner Prophezeiungen Recht. Alarista ...« Sie legte der anderen Frau eine Hand auf den Arm. »Wie könnte er sich in der wichtigsten aller Prophezeiungen geirrt haben? Alle sind sich so sicher, dass der Wiedergeborene wirklich tot ist. Aber er kann nicht tot sein.« Sie holte tief Atem. »Der Wiedergeborene lebt noch. Ich weiß nicht, wo, und ich weiß nicht, wie, aber er lebt.« Die Hoffnung in Alaristas Augen erstarb. »Was ist denn los?«, fragte Kait. Alarista ließ die Schultern hängen, der Kopf sank ihr auf die Brust, und ihre Hände lagen schlaff auf ihrem Schoß. Mit einer so brüchigen Stimme, dass Kait sie fast nicht verstehen konnte, erwiderte sie: »Das war deine Hoffnung? Dass der Wiedergeborene heimlich irgendwo noch lebt?« Kait verstand sie nicht. »Welche andere Hoffnung könnte es denn geben?« Jetzt strömten die Tränen über Alaristas Wangen. »Die Sprecher haben mir gesagt, du könntest den Falken Hoffnung geben. Daher dachte ich ... dass du vielleicht über eine Magie verfügst, die einen verlorenen Geist durch den Schleier zurückholen und ihm einen neuen Körper geben kann. Oder dass du zumindest durch den Schleier greifen und mit dem Wiedergeborenen sprechen könntest, dass du ihn vielleicht fragen könntest, was wir ohne ihn tun sollen. Ich dachte, du wüsstest vielleicht irgendetwas über die Geheimen Texte, das wir nicht wissen, dass Solanders Tod ein Teil der Prophezeiung wäre, den niemand verstanden hatte, und dass er noch einmal zurückkehren würde. Ich dachte, du könntest uns ... echte Hoffnung geben.« 404
»Warum bist du dir so sicher, dass ich mich irren muss, dass der Wiedergeborene wirklich tot ist?« Alarista nickte, ohne aufzublicken. »Selbst die Sprecher sagten, dass er tot sei. Dass wir ihn verloren hätten. Dass die Prophezeiungen gebrochen worden seien. Aber du ... sie sagten, du ...« Sie hob abermals den Kopf und drückte genau wie zuvor die Schultern durch. »Nun ja. Sie haben sich geirrt, genauso wie die Geheimen Texte sich geirrt haben. Du hast keine geheime Antwort, die uns retten wird.« Sie drehte sich wieder zu Kait um. »Aber das ist nicht deine Schuld. Du bist jung. Den Jungen fällt es immer schwer, an den Tod zu glauben und an ihre eigene Ohnmacht im Angesicht einer Katastrophe. >Das Alter stottert, während die verwegene Jugend lauthals befiehlt^, lautet das Sprichwort nicht so?« Sie stand auf. »Wenn dieses Leben und diese Welt ein Ende finden müssen, dann hoffe ich, dass ich wenigstens den Rest meiner Zeit mit Hasmal verbringen kann. Das wäre zumindest ein kleiner Trost.« Dann ging sie zum Lager zurück, bevor Kait sich auf eine Antwort besinnen konnte. Plötzlich sah Kait sich nicht nur der Dunkelheit der Nacht gegenüber, sondern auch der tieferen, unerbittlicheren Dunkelheit, die in ihrem Inneren aufstieg. Alarista hatte ihre geheime Hoffnung, dass der Wiedergeborene noch leben könne, als vollkommen unsinnig abgetan. Solander war tot, und die Prophezeiungen waren durchbrochen worden Alaristas Sprecher hatten die Tatsache bekräftigt, ihre
Erfahrung hatte sie bestätigt, und etwas an der Sicherheit der fremden Frau durchbohrte Kaits Hoffnung wie ein Pfeil. Vielleicht war es die Tatsache, dass Alarista im Gegensatz zu Doghall und Hasmal zu hoffen gewagt hatte, dass sie zu glauben gewagt hatte, aus den zerstörten Ruinen der Zukunft sei vielleicht doch noch etwas zu bergen. Sie hatte nach einer Lösung gesucht, und ihre Hoffnung hatte sie zu Kait geführt. Und dann hatte sie in Kait die Hoffnung gefunden, nach der sie sich gesehnt hatte ... und entdecken müssen, dass diese Hoffnung 405
von etwas genährt wurde, von dem sie wusste, dass es nicht wahr sein konnte. Kait schloss die Augen. Die Gerüche des Dschungels umringten sie fruchtbare, feuchte Erde und fleischige Verwesung, die schwere Süße Nachtblühender Blumen, der Moschusduft der nahen Tiere, die auf der Hut vor menschlichen Wesen an ihrem Lagerplatz vorbeischlichen. Keine Blätter raschelten die Nacht war so still, als hielte sie den Atem an. Kait schlug die Augen auf und blickte zum Himmel. Über ihr teilte sich der schwarze Baldachin der Blätter, so dass man die Sterne sehen konnte, die wie die kalten, starren weißen Augen blinder Götter zur Erde heruntersahen. Sie starrten auf Kait herab, aber sie sah sie nicht. Die Sterne kümmerte es nicht. Sie fühlte die leere Stelle in ihrer Seele, an der einst die Verbindung zu dem Wiedergeborenen gewesen war. Sie griff an dieser Stelle vorbei, wie sie als Kind mit der Zunge eine Zahnlücke erforscht hatte; sie ließ ihre Zunge über das Loch wandern, schmeckte das Eisen in ihrem eigenen Blut und wühlte das rohe, empfindliche Fleisch auf. Sie zwang sich, die Wahrheit zu akzeptieren. Der Wiedergeborene war tot. Sie konnte ihn nicht fühlen, und er hatte sich auch nicht versteckt. Der Sinn seines Lebens war es nicht gewesen, sich zu verstecken, sich mit Heimlichkeit zu schützen, während seine verzweifelten Anhänger seine Abwesenheit beweinten. Er war gekommen, um ein leuchtender Strahl zu sein. Um der Welt eine bessere Art zu leben zu zeigen. Und er war gestorben, bevor er das tun konnte. Aber er war nicht einfach gestorben. Er war getötet worden, und ihre Kusine Danya war seine Mörderin gewesen. Kait ertastete diese andere Wunde, diese andere rohe Stelle in ihrer Seele. Eine der wenigen Kusinen, die sie gern gehabt hatte, hatte ihr eigenes Kind ermordet, hatte seinen Körper einer bösen Kreatur überantwortet. War selbst zu etwas Bösem geworden. Danya, de406
ren Überleben Kait Kraft gegeben hatte, als sie den Rest ihrer Familie für tot hielt, war genauso tot wie die Seele des Kindes, das gekommen war, um der Welt seine Liebe zu schenken. Ich wusste die Wahrheit. Ich wusste es, habe mich aber geweigert, es zu glauben, weil die Wahrheit so hässlich war. Ich konnte es nicht ertragen, was meine Kusine getan hatte, konnte die Zerstörung des Guten durch das Böse nicht ertragen, konnte dem Tod der Zukunft nicht in die Augen sehen. Doghall hatte Recht, Hasmal hatte Recht. Wir sind wandelnde Leichen, wir alle. Und Alaristas Sprecher hatten sich geirrt. Ich habe niemandem Hoffnung anzubieten. Selbst Vincalis hatte sich geirrt. Die Zukunft wird nicht die Heimstatt der Liebe sein, des Glücks, der weltweiten Stadt von Paranne. Wir sind verloren, wir alle. Alles ist verloren.
Zwischenspiel in Calimekka wurde ein Jahr, das geprägt war von beklemmenden Omen und unheimlichen Ereignissen, am Galewansastag, dem Fest der Tausend Heiligen, von einem letzten Unglück heimgesucht. An diesem Tag, dem einundzwanzigsten Tag im Monat Galewan, kamen die Bewohner der Stadt zusammen, um die Götter der großen Familien und die alten, verlorenen Götter zu feiern und sich der Tatsache zu entsinnen, dass nicht einmal die Götter ewig lebten. Der Tag war der Throalstag der Malifa-Woche des Monats und als solcher gekennzeichnet von seinen eigenen zweifelhaften Omen: der Gefahr eines Verlustes, einem lauernden Schmerz. An jenem Tag war der Carais auf dem Weg zur Winterparnisserie, um das Gedenkgebet zu leiten. Der Carais hatte dem Jahr bei dessen Geburt mit Hilfe einer Lotterie seinen Namen gegeben, nachdem ihn die Götter zum Sprecher dieses Jahres ernannt hatten. Und eben dieser Carais starb an jenem Tag aus unbekannten, aber verdächtigen Gründen, und sein Jahr, Ruhige See Und Reiche Ernten, starb mit ihm. Die Parnissas sagten das Festmahl ab und kamen in den Parnisserien zusammen, und während der letzten sechs Tage des Monats deuteten sie Orakel, warfen Lose und beteten. Sie losten ihr neues Jahr aus und mussten feststellen, dass dieses neue Jahr eine Totgeburt war sein Carais, eine Frau, war schon tot, als sie sie auffanden; sie war am Tag zuvor gestorben, aus unbekannter, aber verdächtiger
Ursache. Der Amial-Garits-Tag, der erste Tag des Monats Joshan, war für gewöhnlich der Tag Fedrans; der Morgen wurde in aller Abgeschiedenheit mit Beten, Fasten und Schweigen verbracht, am Mittag entrichteten die Menschen in der nächstgelegenen Parnis408
serie ihren Zehnten, dann folgte das Brechen des Schweigens, zu dem die Calimekkaner ein traditionelles Mahl, bestehend aus einfachem Reis und ungewürzten schwarzen Bohnen auf Maisbrot, verzehrten. Aber die Parnissas erklärten Fedran für nichtig und sammelten nicht einmal ihren Zehnten ein. Niemand in der Stadt konnte sich an eine Zeit erinnern, da das Parnissat auf seinen Zehnten verzichtet hätte, und eine Panik breitete sich in der Stadt aus. Die Menschen sprachen vom bevorstehenden Ende der Welt. An diesem Tag und den folgenden Tagen mussten alle Schwüre und alle Feierlichkeiten warten, genauso wie alle Verträge, alle Eheschließungen und alle neuen Unternehmungen; in der toten Zeit zwischen zwei lebenden Jahren durften keinerlei Geschäfte getätigt werden. Stattdessen zogen die Parnissas nach weiteren Gebeten und Weissagungen den nächsten Namen aus dem großen Fass der Jahresnamen. Sie machten sich auf die Suche nach ihrem neuen Carais, und diesmal fanden sie ihn gesund und munter vor. Und das war vielleicht das schlimmste Omen von allen. Der Carais war ein Mann mit Namen Vather Sohn von Tormel, der erst einen Monat zuvor der Ermordung seiner Frau und seiner Kinder angeklagt worden war. Er hatte sie alle drei geschlachtet, gekocht und in einem brutalen Ritual verzehrt, dessen Zweck er nicht einmal unter der Folter eingestanden hatte. Er war dazu verurteilt worden, am ersten Tag des Joshan auf dem Platz des Gesetzes für seine Verbrechen zu sterben. Aber die Götter hatten ihm ihre eigene Begnadigung zuteil werden lassen es durften keine Hinrichtungen vorgenommen werden, die nicht von einem lebenden Jahr bezeugt wurden, daher hatte seine Hinrichtung warten müssen, bis die Parnissas zu einem Schluss kamen. Und kein Carais konnte während seiner Amtszeit hingerichtet werden, denn der Carais wurde von den Göttern ausgewählt, und all seine Taten, seien es vergangene oder gegenwärtige, wurden zwangsläufig zum Werkzeug der Götter. Daher war die Ermordung von Vathers Frau und Kindern automatisch, zur Gänze und für alle Ewigkeit vergeben. Das Urteil der 409
Götter, als sie den Carais für das neue Jahr wählten, war endgültig und durfte von keinem Sterblichen hinterfragt werden. Daher würde man Vather Sohn von Tormel in goldene Tücher kleiden und wie einen Helden vor das Volk Calimekkas hinführen, und er und nur er würde für das neue Jahr sprechen. Vather Sohn von Tormel gab seinem Jahr den Namen Verschlinger der Seelen. Dafril quittierte diesen überaus passenden Namen in Haus Sabir mit einem Lächeln. Solander war tot, die Falken waren führerlos, und Luercas war nach wie vor unsichtbar, und es sah zunehmend so aus, als sei er außerdem machtlos. Dafril ergötzte sich an der Hilflosigkeit dieser neuen Welt, an den unbewachten Seelen, die in endlosen Strömen an ihm vorbeiflossen, und er rief seine Gefährten zusammen und unterbreitete ihnen die Pläne für ihre neue Stadt eine Stadt, die durch nichts Geringeres erbaut werden würde als durch das Verschlingen von Seelen. Es war eine gute Welt, in die er seine Gefährten geführt hatte. Eine gute Zeit. Und es würde bald ihre Welt sein und ihre Zeit. Noch ein paar Technothaumatare, ein paar weitere Stücke des Puzzles, die sich in das Ganze einfügten, und sie würden die neuen Unsterblichen sein.
Buch 3 »Sie ist sehr groß, die Welt, und genau das ist und wird es immer sein ihre Rettung. Also blickt in Zeiten der Not zu fernen Seen und entlegenen Hügeln und heißt auch die unwahrscheinlichsten Helden mit offenen Armen willkommen, denn Hilfe kommt oft aus der seltsamsten Ecke.« Der Bettler in der Gosse in Die Tragödie und Komödie des Schwertkämpfers von Hayeres
(Dritter Akt) von Vincalis dem Agitator
Kapitel In den letzten Tagen des Monats Brethwan lief Kait durch die unter Schnee begrabenen Berge, die Norostis umgaben, verwandelt in ihre Tiergestalt und verloren in tierische Gedanken. Sie machte Jagd auf alles, was sich bewegte Mäuse, Kaninchen, kleine Vögel, Rotwild, das die schweren Schneefälle in den höheren Lagen von den Gipfeln heruntergetrieben hatte. Sie ernährte sich von rohem Fleisch, Blut und Eingeweiden; sie suhlte sich in den Kadavern ihrer Beute; sie schlief in hohlen, toten Bäumen, in Schneeverwehungen und auf Sonnengewärmten Felsen über vereisten Flüssen. Sie hielt sich zwanghaft im Zustand der Verwandlung, kämpfte ihre Frauengestalt nieder und suchte Vergessen vor den Ereignissen, die die Menschheit berührten. Solange sie sich im Körper und im Geist des Tieres festhalten konnte, stand sie jenseits von Trauer und Grübelei, jenseits von Bedauern, Schmerz und Verlust. Sie schwelgte in der bitteren Schärfe des Windes, der Unerbittlichkeit des Wetters, dem hellen, harten Blau des Tageshimmels und den Nächten, die immer noch länger wurden. Ihr Hunger konzentrierte sich auf Dinge, die mit Essen und Schlafen behoben werden konnten; ihr einziges Bedauern galt dem flüchtigen, scharfen Schmerz einer erfolglosen Jagd oder einer Beute, bei der ihr ein größerer Räuber zuvorgekommen war. Aber sie konnte nicht für immer im Zustand der Verwandlung verweilen. Wenn sie sich blutüberströmt, ausgezehrt, schmutzig und nach toten Geschöpfen stinkend in das Lager zurückschleppte, in dem sich Alaristas Gyrunalle-Schar, Doghalls Soldaten und ihre eigenen Leute versteckten, stellte sie fest, dass sie eine Woche verloren hatte. Noch nie war sie so lange Karnee geblieben. 413 Unter normalen Umständen wäre sie erstaunt gewesen, aber sie war zu müde, um irgendetwas zu fühlen. Sie wusch sich flüchtig, aß alles, was sie in die Finger bekommen konnte, und kroch schließlich in ihr kaltes Zelt, wo sie in den tiefen, elenden Schlaf fiel, der einer Verwandlung folgte. Als sie zwei Tage später wieder aufwachte, drückte sie das volle Gewicht der typischen Depression nieder, die ebenfalls mit einer Verwandlung verbunden war. Ihre Flucht in ihre Tiergestalt hatte nichts besser gemacht. Die Probleme, denen sich ihre Welt gegenübersah, waren ungelöst geblieben und lediglich um das Gewicht einer weiteren Woche angewachsen. Der Wiedergeborene war nach wie vor tot; ihre einst so geliebte Kusine war nach wie vor nicht nur die Mörderin ihres eigenen Kindes, sondern auch die Mörderin aller Hoffnung für die Welt; die Drachen liefen nach wie vor frei herum und arbeiteten dem Tag entgegen, an dem sie die Welt vom Rücken versklavter Sterblicher aus regieren würden, dem Tag, an dem sie zu Göttern würden. »So geht es nicht weiter«, flüsterte sie in das leere Zelt hinein. »Wenn ich noch nicht tot bin, darf ich mich nicht so benehmen, als sei ich es.« Also zwang sie sich aufzustehen. Sie verzehrte ein gewaltiges Mahl, dann wusch sie sich, ohne sich von dem eisigen Wasser und dem heulenden Wind aufhalten zu lassen. Sie zog das einzige ordentliche Gewand an, das sie besaß ein elegantes Winterkleid aus gesponnener Gyrunalle-Wolle mit schweren Pelzstiefeln und einem langen Pelzmantel. Sie flocht sich das Haar und malte sich die Symbole der Andacht auf die Stirn und die Augenlider. Sie suchte nach Antworten, wie die Parnissas es sie gelehrt hatten. Sie betete zu dem Gott der Falken, Vodor Imrish, der mit dem Tod seines Wiedergeborenen in Schweigen versunken war; zu den iberischen Göttern, die zu verehren man sie einst gelehrt hatte, die aber keinen Platz für ein durch Magie zu einem narbigen Ungeheuer gewordenes Wesen wie sie hatten; sie betete sogar zu den alten Göttern, die ihre Eltern als die Ausgeburt abergläubischer Bauern verachtet hatten. Zwei Tage verbrachte sie mit Beten und Fasten, aber die Götter hatten keine Botschaft für sie. An diesem Punkt hätte sie verzweifeln können, aber sie tat es nicht. Wenn die Götter keine Antworten zu bieten hatten, musste sie selbst eine Antwort finden. Sie nahm wieder Essen zu sich, dann meditierte sie. Sie entdeckte, dass sie die Welt nicht kampflos den Drachen überlassen wollte, ganz gleich, wie hoffnungslos ein solcher Kampf sein mochte. Sie entdeckte, dass sie noch immer Atem und Willen besaß, die beiden Dinge, die sie auch vor Solanders Tod besessen hatte. Und sie entdeckte, dass Taten selbst Taten, von deren Hoffnungslosigkeit sie fest überzeugt war ihre eigene Art von Hoffnung erzeugten. Sie begann sich zu fragen, ob sie und die Falken in ihrer Hast, ihre Sache verloren zu geben und den
Drachen das Feld zu überlassen, nicht vielleicht doch etwas übersehen hatten. Noch einmal brütete sie drei Tage über den Geheimen Texten, überzeugt, dass sie in der Tat etwas übersehen haben mussten. Schließlich suchte sie ihren Onkel auf. Doghall lag in einem der Wagen der Gyrus, wo er zusehends verfiel. Das Gyru-Mädchen, das seine Pflege übernommen hatte, sagte, dass er während der letzten Tage nur hier und da einen Bissen gegessen und wenige Schlucke Wasser getrunken hatte, dass er zwar aufstand, um sich zu erleichtern, dass er aber niemals sprach oder sich sonst irgendwie bewegte. Die junge Frau berichtete weiter, dass sie ihn seit kurzem jeden Morgen mit einem Eimer kaltem Wasser und groben Lumpen abrieb, teils deshalb, weil er zu riechen begonnen hatte, vor allem aber, weil sie hoffte, die raue Behandlung würde ein Lebenszeichen in ihm aufflackern lassen. Bisher, sagte sie, sei ihr Plan fehlgegangen. Kait stieg in den Wagen und bemerkte, dass Doghall trotz der morgendlichen Bäder stank. Er lag in Embryohaltung auf seinem Bett, unter mehreren Decken zusammengerollt, das Gesicht zu der tristen Mauer gedreht. Das Haar stand auf seinem Kopf zu 414 415
Berge, ungewaschen, fettig und in den Tagen seit dem Tod des Wiedergeborenen endgültig ergraut. Wo er früher hager gewesen war das Schwert des Wiedergeborenen, wie er es ausgedrückt hatte , war er jetzt abgemagert. Er sah aus wie ein kranker alter Mann, wie ein sterbender alter Mann. »Onkel«, sagte sie, »das muss aufhören.« Er sagte nichts. Er bewegte sich nicht, zuckte mit keiner Wimper. Nicht einmal der Rhythmus seines Atems veränderte sich. Sie zählte einige Sekunden lang seine Atemzüge, bis ihr aufging, dass er sich in eine Falkentrance geflüchtet hatte; er befand sich an einem Ort, den sie mit ihrer Stimme nicht erreichen konnte. Sie schüttelte ihn heftig und spürte, wie seine Atmung sich beschleunigte, nur um sogleich wieder in den trägen Rhythmus der Trance zurückzufallen. Sie dachte über ihre verschiedenen Möglichkeiten nach, die ihr allesamt missfielen, und entschied sich für die am wenigsten unerfreuliche. Sie schlug ihm ins Gesicht. Abermals hatte sie ihn einen Augenblick lang in seinem Atemrhythmus gestört, aber wie beim ersten Mal konnte er ihr entrinnen. Sie würde ihm wehtun müssen. Sehr weh. Sie bohrte ihren Daumen unter sein Schlüsselbein und drückte fest zu. Der Rhythmus seines Atems zerbrach vollkommen; er knurrte und versuchte, ihre Hand Wegzuschieben. Sie war jedoch stärker als er mit Hilfe ihrer Karnee-Kraft konnte sie selbst einen stärkeren Mann als den kranken Doghall bezwingen , und sie drückte noch fester zu; er wimmerte vor Schmerz. »Du kannst dich nicht zu Tode schlafen, und ich kann mich nicht in dem Ungeheuer verstecken. Weder das eine noch das andere bietet irgendwelche Lösungen. Das weißt du. Du versteckst dich aus Angst, aber du darfst nicht länger feige sein. Wir brauchen dich. Steh auf.« »Geh weg.« »Steh auf, oder ich breche dir das Schlüsselbein.« Sie verlagerte den Druckpunkt von der Stelle unterhalb des Knochens zu dem Knochen selbst und legte in ihren nächsten Versuch eine Spur mehr Kraft. Sie konnte das Ächzen der Knochen durch ihre Fingerspitzen spüren, und es schauderte sie. Aber sie biss die Zähne zusammen und drückte noch fester zu. Doghall stieß einen schrillen Schrei aus und versuchte, sie mit seinem freien Arm abzuwehren. »Ich werde nicht weggehen, Onkel, und du wirst nicht hier liegen bleiben und sterben. Steh auf und sieh mich an.« Er versuchte, sich in die Trance zurückfallen zu lassen, versuchte, die langsamen, stetigen Atemzüge wieder aufzunehmen, die ihn dorthin brachten, aber sie setzte wiederum ein wenig mehr Kraft ein. Es war ihr schrecklich, ihm wehzutun, aber ihr fiel nichts ein, was ihn schneller zum Handeln gezwungen hätte als ein heftiger Schmerz. Besser ein gebrochener Knochen als der Tod. Sie wappnete sich gegen den wortlosen Aufschrei, den er irgendwann ausstoßen würde, und wurde für ihre Mühe belohnt glücklicherweise bevor sie den Knochen in zwei Teile brechen musste. Er richtete sich ruckartig auf dem schmalen Bett auf und drehte sich mit einem wütenden Blick zu ihr um. »Mach, dass du hier rauskommst, Kait.« »Nein.« »Lass mich sterben. Die Welt ist zum Untergang verurteilt, und ich will mein Ende finden, bevor alles zerfällt.« »Es kümmert mich nicht, was du willst, wir haben noch etwas zu tun, du und ich.«
»Etwas zu tun! Dass ich nicht lache.« Sie stellte sich vor ihn hin, blickte starr auf ihn hinab und sagte: »Der Wiedergeborene ist tot. Er ist nicht mehr bei uns. Seine Seele ist uns entglitten, und nichts, was wir tun können, kann ihn uns zurückbringen. Das ist die Wahrheit, nicht wahr?« »Das weißt du selbst.« »Ja. Ich habe es endlich begriffen. Und tausend Jahre Prophezeiungen sind gerade eben über unseren Köpfen zusammengebrochen; die Drachen sind wie verheißen zurückgekehrt, und der Wiedergeborene kam zu der Zeit, da er erwartet wurde, aber Da416 417
nya hat die Prophezeiungen zerstört, und wir haben ihn für alle Zeit verloren. Richtig?« Doghall seufzte. »Natürlich ist das richtig! Was glaubst du denn, warum ich sterben will?« »Ich glaube, du willst sterben, weil du ein Feigling geworden bist. Onkel, denk doch nur einen Moment lang nach. Die Prophezeiungen sind zerstört, die Geheimen Texte mit einem einzigen Schlag zerschmettert. Was bedeutet das?« Er starrte zu ihr empor, und sein Gesicht spiegelte Ärger und Ohnmacht wieder. »Das bedeutet, dass wir dem Untergang geweiht sind, du Närrin. Nachdem der Wiedergeborene tot ist, haben die Drachen bereits gewonnen.« »Wer sagt das?«, fragte Kait. »Was?« Geduldig wiederholte sie ihre Frage. »Wer sagt das? Wer sagt, dass die Drachen bereits gewonnen haben?« »Das ist eine dumme Frage. Ohne den Wiedergeborenen, der uns gegen die Drachen führen kann, werden die Drachen triumphieren. Die Geheimen Texte reden immer wieder von dem Verhängnis, das die Welt befallen wird, wenn der Wiedergeborene das Böse nicht in seinem Kern besiegt.« Kait nickte. »Ich weiß, was die Texte sagen. Ich habe die letzten drei Tage und Nächte damit zugebracht, sie noch einmal zu lesen, und ich habe nach irgendwelchen Warnungen gesucht, die von der Möglichkeit eines vorzeitigen Todes des Wiedergeborenen sprechen.« »Es war ihm nicht bestimmt, zu sterben.« »Nein. Das ist richtig. Vincalis hat seinen Tod nie als eine Möglichkeit erachtet. An keiner Stelle der Prophezeiungen sagt er: >Wenn die Mutter des Wiedergeborenen ihn bei seiner Geburt tötet ...< oder >Wenn der Wiedergeborene stirbt, bevor er den Großen Kampf anführen kann ...< oder sonst etwas in dieser Art. Ich habe jedes Wort noch einmal gelesen, Onkel. Nirgendwo in den Texten wird ein solches Ereignis auch nur am Rande gestreift.« 418
»Das weiß ich.« Doghalls Ärger wurde immer offensichtlicher. »Ich kannte die meisten Texte auswendig, lange bevor du geboren wurdest.« »Dann beantworte mir meine Frage. Wer sagt, dass die Drachen bereits gewonnen haben, weil der Wiedergeborene tot ist?« Er funkelte sie wütend an. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich nicht einschüchtern. Abwartend sah sie ihn an. Als spreche er mit einem besonders dummen Kind, gab er ihr schließlich Antwort: »Die Texte sagen klipp und klar, dass der Wiedergeborene der Schlüssel für die Bezwingung der Drachen sei. Also, wenn Solander uns nicht anführen kann, müssen die Drachen zwangsläufig den Sieg davontragen.« Kait schüttelte den Kopf. »Wenn der Wiedergeborene uns nicht führen kann, weil er kurz nach seiner Geburt starb, dann geben die Texte nicht länger Aufschluss über die Zukunft unserer Welt.« »Das liegt auf der Hand.« Doghall zuckte mit den Schultern. »Die Texte haben uns die Führung durch den Wiedergeborenen versprochen, sie haben uns die Stadt Paranne versprochen und den Triumph über das Böse. Ohne diese Dinge sehen wir uns dem Verhängnis der Zerstörung und der Hölle auf Erden gegenüber, die die Drachen uns bereiten werden.« Ein träges Lächeln glitt über Kaits Züge, dann fragte sie ihren Onkel zum dritten Mal: »Wer sagt das?« Als er ihr Lächeln sah, trat ein Ausdruck der Verwirrung in seine Augen. »Die Texte warnen uns ...« Kait hob die Hand. »Du und ich, wir sind übereingekommen, dass die Texte ungültig geworden sind. Es ist etwas geschehen, das Vincalis nicht vorhersehen konnte. Also dürfen wir von jetzt an nicht mehr darauf vertrauen, dass die Texte uns führen werden. Richtig?«
Er nickte langsam. »Also. Welche Autorität sagt uns jetzt, dass die Drachen bereits gesiegt haben, dass sie nicht bezwungen werden können, dass unsere Welt dem Untergang geweiht ist?« Doghall schwieg einen Augenblick lang. »Es ist nur vernünftig, 419
anzunehmen ...«, begann er, aber Kait schüttelte abermals den Kopf, und er brach ab. »Onkel, die Zukunft wird von unvernünftigen Menschen errichtet. Das hast du selbst zu mir gesagt, als ich noch ein kleines Mädchen war, und dann wieder, als du mich für eine Stellung als Diplomatin vorgeschlagen hast.« Er holte tief Atem. »Das ist wahr. Das habe ich gesagt.« »Aha. Dann nenn mir den Namen der Autorität, die dir jetzt sagt, dass unser Untergang beschlossene Sache sei, und ich werde dich nicht mehr daran hindern, dich zu Tode zu schlafen.« Er schüttelte kaum merklich den Kopf, denn er wusste, was sie von ihm hören wollte, weigerte sich aber, es auszusprechen. Sie konnte die Sturheit in seinen Zügen sehen die Art, wie er den Mund zusammenpresste, die Art, wie seine Brauen sich senkten, wie seine Augen im Raum umherblickten, als suchten sie die Antwort zwischen den Möbelstücken und übrigen Einrichtungsgegenständen des Wagens. Die Arme vor der Brust verschränkt, sperrte er sich gegen die Möglichkeit, dass er sich geirrt haben könnte. Sie wartete, geduldig wie eine Katze vor dem Mauseloch, und endlich kam ihre Maus heraus. »Es gibt keine solche Autorität«, gestand er. »Das weiß ich.« »Aber woher sollen wir die Hoffnung nehmen, dass wir ohne Solander gegen die Drachen siegen könnten?« Sie zuckte die Achseln, und ihr Lächeln wurde breiter. »Das weiß ich nicht. Aber endlich stellst du die richtige Frage.« Sie setzte sich auf den kleinen Stuhl vor Doghalls Bett. »Ich weiß eines wir sind nur dann mit Sicherheit geschlagen, wenn wir nicht kämpfen. Und wenn wir uns nicht auf die Texte verlassen können, so können wir uns doch zumindest aufeinander verlassen.« Sie holte langsam und ein wenig zittrig Atem. »Und es gibt nur einen Zeitpunkt, um zu handeln, nämlich jetzt. Vor tausend Jahren haben unsere Vorfahren lieber die ganze Zivilisation zerstört, als den Drachen zu gestatten, ihre Pläne für die Welt in die Tat um 420
zusetzen. Sie haben alles gegeben, um dafür zu sorgen, dass ihre Kinder und Kindeskinder nicht zu ewiger Sklaverei verurteilt würden, dass unsere Seelen nicht zu dem Futter würden, mit dem sich eine Hand voll mächtiger Zauberer ihre Unsterblichkeit würde erkaufen können. Unsere Vorfahren haben gekämpft und sind gestorben, damit wir leben konnten. Jetzt ist es an uns, zu kämpfen. Wir haben einen schweren Verlust erlitten, aber wir dürfen nicht zulassen, dass uns das aufhält. Wir können nicht einfach die Zukunft den Drachen überlassen.« Doghall sah sie wachsam an. »Also, wen hast du sonst noch von deiner Idee überzeugt, meine liebe Kait?« Ihr Lächeln wurde ein wenig starr. »Du bist der Erste, Onkel Doghall. Du wirst mir helfen, alle anderen zu überzeugen.« Doghall antwortete ihr mit einem wachsamfreundlichen Gesichtsausdruck und sagte: »Wusstest du, dass Vincalis der Agitator Schauspiele geschrieben hat, bevor er Prophet wurde?« »Du hast mir davon erzählt. Du hast mir erzählt, dass er das Stückeschreiben aufgab, als die Drachen Solander hinrichteten, und dass er anschließend tausend Tage lang Orakel befragt und die Geheimen Texte geschrieben hat.« Doghall nickte und sagte: »Er hat die Karte entworfen, mit deren Hilfe die Falken tausend Jahre lang ihr Leben gelenkt haben. Aber einige der besten Dinge, die er je gesagt hat, einige seiner größten Wahrheiten, kommen gar nicht aus den Texten selbst sie finden sich in seinen Stücken. Die Drachen überschatteten die Welt, in der er den größten Teil seines Lebens verbrachte, und sie waren harte Herren, brutal, mörderisch und durch und durch böse. Die meisten Menschen wagten es nicht, irgendwie gegen sie zu kämpfen. Vincalis bekämpfte sie mit Worten, ging aber sehr vorsichtig zu Werke er schrieb niemals offen etwas über die Drachen, weil sie ihn getötet hätten, und er lehrte, dass Überleben die erste Pflicht eines Kriegers sei. Er schrieb über große Schurken und über die kleinen Scharen von Helden, die es wagten, ihnen die Stirn zu bieten ... und er verf asste viele seiner Stü 421 cke in der Form von Komödien, weil er, wenn die Sprache darauf kam, stets die Harmlosigkeit der
Komödie ins Feld führen konnte.« Doghall blickte auf die knotigen Hände hinab, die er auf seinem Schoß gefaltet hatte, dann sah er seine Nichte aus den Augenwinkeln an, und ein winziges, schelmisches Lächeln spielte um seine Lippen. »Jemand, der keinen Sinn für Humor hat, begreift selten, wie tödlich gerade der Humor sein kann.« »Also, was hat er gesagt?« Doghall schloss die Augen. »Der vermeintliche Held eines meiner Lieblingsstücke, dem Vincalis den Titel Die Tragödie und Komödie des Schwertkämpfers von Hayeres gegeben hat, war der große Schwertkämpfer Kinkot, ein Meister der Waffen und ein großer Fürst. Kinkot schwor, seine Landsleute vor einem abscheulichen Ungeheuer zu schützen, das das Land verwüstete ... Aber das Ungeheuer erwies sich als zu stark für ihn. In den beiden ersten Akten des Stückes geht alles schief, was er gegen die Bestie unternimmt, und er wird zum Hanswurst. Er verliert seine Ländereien, seinen Wohlstand, seinen Titel, ja sogar sein Schwert, und zu Beginn des dritten Akts steht er als Heimatloser an einer Straßenecke, eine Bettlerschale in der Hand und die Hoffnung zu sterben im Herzen.« »Das hört sich ja wirklich nach einer wahnsinnig komischen Komödie an«, sagte Kait. Doghall stieß einen verächtlichen Laut aus. »Zuzusehen, wie das Ungeheuer dem selbstherrlichen Bastard in den beiden ersten Akten einen Tritt in den Hintern gibt, ist wahnsinnig komisch. Aber Vincalis schrieb niemals, nur um zu unterhalten, und als Kinkot die Quittung für seine Dummheit erhalten hat und bettelnd an der Straßenecke sitzt, hebt ein Mann, der noch schlechter dran ist als Kinkot, den Kopf aus der Gosse und sagt: >Wenn du besiegt bist, wenn du zerstört bist, wenn du am Boden liegst, dann denke an meine Worte, mein Junge es gibt nichts, das jeden auf der Welt im selben Maße berührt. Sie ist sehr groß, die Welt, und genau das ist und wird es immer sein ihre Rettung. Also blickt in Zeiten der Not zu fernen Seen und entlegenen Hügeln und heißt auch die unwahrscheinlichsten Helden mit offenen Armen willkommen, denn Hilfe kommt oft aus der seltsamsten Ecke.< Kinkot, der eben diesem Bettler in den beiden ersten Akten jedesmal einen Tritt verpasst hat, hört ihm diesmal zu. Er gibt dem armen Tropf seine Bettelschale und die paar Münzen darin und steht auf, um Hilfe zu suchen, denn gedemütigt, wie er ist, wird ihm endlich klar, dass er das Ungeheuer nicht allein besiegen kann.« »Genau. Bettler sind voll von guten Ratschlägen und tief schürfender Weisheit. Deshalb verbringen sie ihre Tage ja auch in der Gosse.« Doghall zuckte mit den Schultern. »Die Stücke sind ein Teil ihrer Zeit, und einige der Geschichten sind stilisiert, und manches darin ist ein wenig ... durchschaubar. Nichtsdestoweniger kannte Vincalis sein Publikum. Kaum gibt Kinkot dem Bettler seine geringe Habe und befolgt seinen Rat, als der arme Tropf sich auch schon in ein wunderschönes junges Mädchen verwandelt, und nachdem das Mädchen Kinkot geküsst und ihm einen Segen gegeben hat, verwandelt sie sich noch einmal, diesmal in einen winzigen Vogel. Der Vogel hockt sich auf Kinkots Schulter, und zu zweit und ohne eine Waffe nehmen die beiden es ein letztes Mal mit dem Ungeheuer auf. Der Vogel zupft dem Ungeheuer einen Floh unter seinem Flügel weg, fliegt auf und lässt den Floh auf seinen Rücken fallen, genau auf die Stelle, die das Ungeheuer nicht erreichen kann, woraufhin dieses, von nutzlosem Kratzen in den Wahnsinn getrieben, Kinkot nicht kommen sieht. Kinkot bricht ihm mit bloßen Händen den Hals und gewinnt damit alles zurück, was er verloren hat, und zudem die Liebe des Mädchens, das ihm bei der Erschlagung der Bestie geholfen hat.« Kait legte den Kopf zur Seite und sah ihren redseligen Onkel durchdringend an. »Wirklich eine bezaubernde Geschichte«, sagte sie zu ihm, »aber ich fürchte, ich verstehe nicht, was du damit meinst.« 422 423
»Dich meine ich, mein liebes Mädchen. Denk doch einmal über dich nach ein zum Tode verurteilter Karnee, der dem Land zu Hilfe kommt, das ihn verurteilt hat, indem er den Falken auf die Sprünge hilft, die besagtes Land eigentlich selbst hätten retten müssen. Du bist der Mann in der Gosse, der erst zu dem schönen Mädchen und dann zu dem Vogel mit dem Floh wird. Du bist der unwahrscheinlichste aller Helden. Vincalis hätte dir zu Füßen gelegen.« »Ich bin kein Held«, erwiderte sie leise. »Ich bin genauso ein Feigling wie alle anderen auch. Ich bin bloß ein Feigling, der lieber im Kampf sterben will denn als Sklave.« Doghall grinste langsam. »Dann bist du also ein Feigling, wenn es dir so gefällt. Und ich bin ebenfalls
ein Feigling. Aber ich bin ein Feigling, der aufstehen und essen und sich anziehen wird, um sich dann an die Arbeit zu machen, die die Welt von ihm verlangt. Lass mir von diesem schnatternden Mädchen etwas zu essen bringen. Ich habe beschlossen, heute doch nicht zu sterben.«
Kapitel 'Die Sonne stahl sich über den Horizont, und vom Hundeschwesterturm in der Nähe des Tuchmarktes verkündete die einsame Altstimme einer Glocke die Stunde Soma. Aber als das Läuten der Glocke verklang, rollte ein neuer Laut über das Gebiet hinweg. Die Luft erbebte wie eine Kristallglocke, ein Klang, der von überall und nirgends zu kommen schien. Pferde und Rinder scheuten, stellten sich auf die Hinterbeine und verdrehten die Augen, Vögel erhoben sich in großen Schwärmen in die Luft, Hunde jaulten und drückten sich an die Beine ihrer Herren, dann stürzten sie mit einem schrillen Heulen davon. Das unheimlichste aller Zeichen war vielleicht der Strom von Ratten, die sich in die Straßen ergossen und in alle Richtungen davonstoben. Das Läuten wurde lauter, und die Luft nahm einen hellgrünen Schimmer an. Ladenbesitzer rissen die Fensterläden ihrer gerade eröffneten Geschäfte zu und folgten den Ratten durch die Straßen. Junge Frauen drückten ihre Säuglinge an sich und rannten hinter ihnen her. Kunden hielten mitten im Feilschen inne, blickten wild um sich und flohen. Niemand wusste, was geschah, aber alle wussten, dass es Schlimmes bedeutete. Das Läuten wurde noch lauter quälend laut , und in der Mitte des Tuchmarktes krochen aus den Böden der Geschäfte und Stände grüne Rauchsäulen, die sich zum Himmel emporschlängelten. Nur die Alten, die Lahmen und die Törichten blieben zurück, um zu sehen, was als Nächstes geschah. Die Erde riss auf, und weiß schimmernde Speere wuchsen aus den Wunden im Boden wie die Blätter bleicher Farne, die sich der Sonne entgegenreckten. Diese Speere entfalteten sich voller An 425
mut und wuchsen gleichzeitig nach oben und nach außen, bevor sie sich zu durchscheinenden Türmen, zierlichen Bögen und elfenhaften Zinnen drehten; sie fügten sich zusammen zu leuchtenden Mauern und Kuppeldächern, als hätten die Ganaan, das unsichtbare Volk der alten Mythen, sie erschaffen. Die weiß getünchten, aus Sonnengetrockneten Lehmsteinen errichteten Bauten, die zuvor an ihrer Stelle gestanden hatten, brachen einfach zusammen, und die neuen Gebäude verschlangen die Trümmer mitsamt dem Inhalt all dieser Häuser , ohne eine Spur zu hinterlassen. Die leuchtend weißen Bauten nahmen auch die Menschen in sich auf, die nicht schnell genug gewesen waren, um zu fliehen; sie verschlangen sie, noch während sie schrien und sich mit schrecklicher Langsamkeit auflösten. Weiße Straßen aus einem weichen Material, das den Füßen, die darüber Hinwegschritten, eine Wohltat war, sickerten aus den gepflasterten Gehwegen und breiteten sich zu Alleen von großem Liebreiz aus. Diejenigen, die es später wagten, die makellosen Wege zu betreten, sollten entdecken, dass Pferdehufe dort nicht klapperten, ebenso wenig wie Wagenräder ratterten oder herabfallende Frachten beim Aufprall irgendein Geräusch machten. Die Straßen nahmen jeden Laut in sich auf und gaben nur ein sanftes, friedliches Säuseln zurück, das ein Echo im Flüstern der Blätter eines kühlen Wäldchens fand oder im freundlichen Murmeln eines kleinen Wasserfalls, der einen steinigen Hügel hinab in ein Bächlein plätscherte, oder im Raunen einer Brise, die die hohen Gräser auf einer weiten Ebene zerzauste. Die magische Stadt entfaltete sich einer Todesrose gleich mitten im Herzen Calimekkas. Langsam dehnte sie sich auf andere Bezirke aus und verschlang auch sie, bis sie das Tal der Schwestern, angefangen vom Schwarzen Fluss bis hin zum Garaye-Pass, ausfüllte, sich den Obsidian des Passes hinaufschlängelte und über den Gipfel kroch, den Kriegerberg einhüllte und sich von dort aus bis ins alte calimekkanischen Viertel, den Bezirk der Hammerschmiede, ausdehnte. Nach zwei Tagen schien die Stadt endlich mit sich selbst zufrieden zu sein, denn sie warf keine weiteren weißen Fühler an ihren Rändern mehr aus, und keine neuen Straßen verdrängten Pflaster oder Ziegelstein, um sie durch dieses weiße und unvergängliche Material zu ersetzen. Die Überlebenden zehntausend waren heimatlos geworden, doppelt so viele hatten zerstörte Geschäfte und Märkte verloren krochen nach und nach auf diese wispernden weißen Straßen hinaus und gingen die breiten, glänzenden Alleen hinab, vorbei an neuen Springbrunnen, die glitzernde Diamanten aus Wasser in die Luft warfen, vorbei an den hohen weißen Säulen der Mauertore, vorbei an prächtigen Villen und Schlössern, deren Schönheit jede Vorstellungskraft überstieg, und suchten dort nach letzten Überbleibseln der Dinge und der Orte, die einst ihnen gehört hatten. Alles war vernichtet. Die Überlebenden sahen einander an und flüsterten: »Der Verschlinger der Seelen hat gesprochen.« Sie zerbrachen sich den Kopf über das Schicksal jener, die nicht geflohen
waren. Und sie beglückwünschten sich im Stillen, dass sie klug genug gewesen waren, zu fliehen, denn sie schätzten sich glücklich, überhaupt überlebt zu haben. Nur was sie als Nächstes tun sollten, das wussten sie nicht. Würden sie es wagen, an die großen Tore eines dieser Schlösser zu klopfen und Entschädigung für verlorene Häuser, verlorene Habe, einen verlorenen Freund zu fordern? Die Überlebenden kauerten sich in kleinen Menschentrauben zusammen und beredeten miteinander das mögliche Ergebnis eines solchen Vorgehens. In einem Jahr, das unter einem schlechten Omen stand, einem Jahr, in dem ein grundböser Carais wie ein Wahnsinniger vom Balkon seines Palastes aus predigte und die Stadt und alle, die sie bewohnten, verfluchte, in einem solchen Jahr würden sie wahrscheinlich hinter diesen schimmernden weißen Toren nichts als Schmerz und Kummer finden. Und so stahlen sie sich schließlich schweigend und in kleinen Gruppen aus der neugeborenen Stadt fort, ohne etwas unternommen zu haben. 426 427
Hinter den Toren und Mauern beobachteten die Drachen von ihrer neuen Zitadelle aus das Treiben der Menschen und lachten. Die Calimekkaner waren furchtsame Mäuse, die vor den Katzen in ihrem Herrschaftsgebiet tödliche Angst hatten. Und das wahrhaftig nicht ohne Grund. Die Drachen hätten mit großer Wonne ein Exempel an all jenen statuiert, die zu protestieren wagten. Sie berührten die glatten, aus Magie geborenen Mauern, die sie erschaffen hatten, und sie hörten die Seelen der Geopferten darin weinen. Wieder lächelten sie. Solche Mauern, die von menschlichen Seelen zusammengehalten wurden, würden von derselben Dauerhaftigkeit sein wie die Erde, auf der sie ruhten. Die Drachen nannten ihre neue Stadt die Zitadelle der Götter und blickten dem immer näher kommenden Tag entgegen, an dem sie nicht nur in ihren Träumen Götter sein würden, sondern auch den Tatsachen nach. Die Calimekkaner, die ebenfalls das Wispern aus den Drachenmauern hörten und die das bebende, verzweifelte Grauen jener spürten, die in dem wunderschönen, seidigen Weiß von Toren, Säulen, Bogengängen und Balustraden gefangen waren, drückten sich nicht so poetisch aus, wenn sie von dem weißen Krebsgeschwür im Herzen Calimekkas sprachen. Sie nannten die Stadt in der Stadt die Neue Hölle.
Kapitel 45 drückte sich auf ihrem schmalen Bett dicht an Alarista, um sich vor der kalten Morgenluft zu verstecken. Die Sonne war bereits aufgegangen, und das Licht strömte durch die winzigen Fensterscheiben und überhauchte die hübschen, Handpolierten hölzernen Möbel mit einem goldenen Schimmer ... Und dasselbe Licht zeichnete die Dunstschwaden nach, die mit jedem seiner Atemzüge aus seiner Nase aufstiegen. Hier, direkt südlich der Stadt Norostis, in den Glasburgbergen am Rand der Veral-Territorien, war der Winter ein rauer Zuchtmeister, und Hasmal wäre mit Freuden den ganzen Tag im Bett geblieben, um seiner eisigen Berührung zu entgehen. Er zog Alarista näher zu sich heran und liebkoste mit den Lippen ihren Nacken. »Wach auf«, flüsterte er. »Ich will nicht allein sein.« Sie seufzte und schmiegte sich enger an ihn, wachte dabei aber nicht auf. Also lag er einfach nur neben ihr, starrte ins Sonnenlicht und hasste seine Gedanken. Er und Alarista würden diesen Winter haben, die Unschuld ihrer Liebe und die Zeit, die sie miteinander verbrachten. Sie würden diese Gnade haben, dieses kurze Glück, das heller war als irgendetwas je zuvor in seinem Leben. Aber die kurzen, kalten Tage und die langen, süßen Nächte würden mit dem Tauwetter des Frühlings enden, und hinter dieser Jahreszeit lauerte bereits ein neuer Winter ein Winter von anderer Art. Er und Alarista hatten das Zanda geworfen, Knochen gedeutet und Sprecher herbeigerufen, sie hatten die Trance der Gyru-Trommeln und des Caberraweihrauchs der Falken gesucht und 429 Ausschau nach irgendeinem Zeichen gehalten, das ihnen die Hoffnung gab, den Rest ihrer Jahre in Frieden gemeinsam verbringen zu dürfen. Aber jedes Orakel und jeder andere Versuch der Zukunftsdeutung sprach die gleiche Sprache. Die Drachen hatten Calimekka erobert und würden bald schon nach dem Rest der Welt greifen, und niemand würde der Sklaverei entgehen. Die Macht der Drachen wuchs, und mit ihr wuchs die Habgier der Drachen. Sie löschten nicht nur Leben aus, sondern Seelen, um ihre neue Stadt zu bauen, und der Preis, den sie von anderen forderten, scherte sie so wenig, wie Rinder sich für den Klee interessierten, den sie fraßen. Sie erschufen Schönheit mit einem Herz voller Hässlichkeit, sie breiteten sich aus, sie eroberten, und schon bald würden sie den Zauber vollenden, der die ganze Welt für alle Zeit und Ewigkeit unter ihre Knute zwingen würde. Schon bald
würden sie mit der komplizierten Maschinerie fertig sein, mit deren Hilfe sie sich zu Unsterblichen machten. Dann würde sich für immer der kalte Winter der Sklaverei auf Matrin herabsenken. Alarista bewegte sich, und Hasmal drückte sie fester an sich. »Ich liebe dich«, sagte er und verbannte den ewigen Winter, so gut er es vermochte, aus seinen Gedanken. Sie drehte sich zu ihm herum, küsste ihn auf die Stirn, auf die Nase und auf die Augenlider, dann sagte sie: »Und ich liebe dich.« Er ließ eine Hand über ihre Hüfte gleiten und antwortete: »Lass uns heute von hier fortgehen. Wir können mit dem Wagen nach Norostis fahren, und sobald die Straßen frei sind, können wir nach Brelst Weiterreisen. Auf dem ersten Schiff, das nach Galweigia, Neu Kaspera oder in irgendeins der Territorien segelt, werde ich für unsere Überfahrt arbeiten«, sagte er. »In Galweigia gibt es Land im Überfluss sie brauchen dort dringend Siedler. Wir könnten zusammen sein, weit weg von Calimekka und den Drachen. Vielleicht könnten wir ein ganzes Leben miteinander verbringen, bevor sie so weit vordringen ...« Alarista drückte ihm einen Finger auf die Lippen, lächelte trau430
rig und schüttelte den Kopf. »Bevor sie weit genug vordringen, um uns zu vernichten. Oder unsere Kinder. Nachdem sie bereits alle zerstört haben, die wir je kannten oder liebten und die zurückzulassen wir übers Herz gebracht haben.« Sie küsste ihn sanft auf den Mund und drückte sich zärtlich an ihn. Ihre Haut war weicher als Seide unter seinen Fingern. Er schloss die Augen, um das Licht der Sonne nicht sehen zu müssen, diesen Beweis dafür, dass die Zeit verstrich und das Ende der Welt näher kam, und er sehnte sich nach dem Meer, nach der Ferne, nach einem sicheren Ort, um Alarista vor der nahenden Hölle zu verstecken. »Wir können nicht weglaufen«, sagte sie. »Wir sind Falken. Auch wenn wir nicht siegen können, auch wenn wir nicht kämpfen können, wir müssen an unserem Platz bleiben.« Sie küsste ihn abermals und sagte: »Du weißt, dass es so ist.« »Ich weiß nur, dass ich mein ganzes Leben darauf gewartet habe, dich zu finden, und ich habe dich nicht lange genug gehabt. Ich möchte Frieden für uns, Ris. Ich möchte, dass wir unser Leben in einer Welt ohne Angst beschließen können. Ich möchte mehr Zeit haben.« Ihr sanftes Lachen überraschte ihn. »Wie viel Zeit wäre genug, Chobe? Ein Jahr? Zehn Jahre? Fünfzig? Hundert? Tausend? Wann könntest du sagen: >Wir haben lange genug miteinander gelebt. Wir haben unseren Anteil gehabt<, und mich sterben lassen? Oder wann könnte ich dich bereitwillig gehen lassen?« Hasmal spulte die Zukunft in Gedanken vor und konnte nirgendwo in der ganzen Ewigkeit diesen Augenblick finden. »Niemals«, sagte er schließlich. »Wenn ich nicht für immer bei dir bin, werde ich niemals genug Zeit gehabt haben.« Sie nickte. »Ich auch nicht. Also, ob die Welt heute oder in hundert Jahren untergeht, der Schmerz unserer Trennung wird für uns beide der gleiche sein.« »Ja.« »Wie rechtfertigen wir es dann, wenn wir den anderen Men 431 sehen, die wir lieben, einfach den Rücken kehren? Wir können nicht weglaufen, wenn sie zurückbleiben, denn wenn wir in dem Wissen leben müssten, dass sie alle gestorben sind vielleicht gefoltert von den Drachen und dass wir sie schmählich im Stich gelassen haben, dann würden wir unsere Liebe zueinander vergiften. Wir würden das eine verlieren, das uns am teuersten ist.« »Ich kann es nicht ertragen, dich zu verlieren«, erwiderte Hasmal. »Aber du wirst es müssen. Denk an Vincalis: >Nichts schmerzt bitterer als das Wissen um die eigene Sterblichkeit^ Was auch immer wir tun, wir werden am Ende sterben, mein Liebster, und entweder wirst du es sein, der zuerst stirbt, oder ich werde es sein ... oder vielleicht ... wenn wir Glück haben ... werden wir zusammen sterben. Aber eines Tages wird dies hier ein Ende haben.« Hasmal schloss die Augen. »Ich will nicht, dass es endet. Ich will die Ewigkeit.« »Wir werden uns wieder finden. Jenseits des Schleiers oder in neuen Körpern, in neuen Zeiten ...« »Ich will dich und mich, uns. Ich will das, was wir jetzt haben. Diese Körper, diese Zeit, diese Welt, für immer.« »Ich weiß. Aber das bekommt niemand. Wir haben diesen Augenblick. Das muss uns genügen.« Er drückte sie heftig an sich, küsste sie und streichelte sie, getrieben von dem Grauen zukünftiger
Trauer. Sie reagierte mit der gleichen Leidenschaft. Sie umschlangen einander und hielten sich einer an dem anderen fest, suchten in der Berührung des Fleischs und der Wärme ihrer Liebe einen Ort jenseits des Schmerzes, suchten ineinander das Versprechen der Ewigkeit. Und für einen winzigen Augenblick fanden sie es.
Kapitel 46 Sie hatten sie nicht beeindruckt; Kait konnte es in ihren Augen sehen. »Die wenigen, die wir hier sind, werden also nach Calimekka zurückmarschieren ...« »... oder segeln ...« »... oder segeln, richtig ... Und wir werden die Drachen auf dem ihnen vertrauten Gelände angreifen, jetzt, nachdem sie so viel Zeit hatten, dort Fuß zu fassen ...« »... und zwar in dem Wissen, dass wir nicht einmal eine Prophezeiung haben, die uns auch nur die geringste Hoffnung gibt, zu siegen ...« »... um das nicht zu vergessen ...« »... und das ist der Plan, der uns Hoffnung bringen soll?« Kait nickte. »Eine ganz neue Definition des Wortes Hoffnung«, sagte Yanth. »Und gewiss keine Definition, die ich je in Betracht gezogen hätte.« Hasmal verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich tue das immer noch nicht. Uns in Calimekka umbringen zu lassen, damit wir sagen können, wir hätten es versucht, hat mit meiner Definition von neuer Hoffnung nicht einmal im Entferntesten zu tun.« Diese Bemerkung kam von einem von Doghalls Soldaten im hinteren Teil des Konferenzzeltes. Kait sah Doghall mit gerunzelter Stirn an. Er zog die Schultern hoch; er hatte ihr ja gesagt, dass es ein hartes Stück Arbeit sein würde, die anderen zu überzeugen. Alarista hatte Hand in Hand mit Hasmal dagesessen. Jetzt löste sie sich von ihm und stand auf. »Ich bin auf deiner Seite, Kait. Was immer ich tun kann, ich werde es tun.« 433
»Was ist denn, wenn am Ende nur ihr drei übrig bleibt?«, fragte Hasmal. »Du und Kait und Doghall?« »Dann werden wir drei es sein«, sagte Alarista. »Das ist mir egal.« Ry hatte das Geschehen aus einer anderen Ecke des Zelts schweigend verfolgt. Jetzt trat er vor. »Ihr werdet nicht nur zu dritt sein. Ich weiß nicht, ob ich euch eine große Chance auf einen Sieg einräumen kann, aber wenn wir nichts unternehmen, haben wir ganz bestimmt keine Chance. Eine kleine Chance ist mir allemal lieber als gar keine.« Einer nach dem anderen erhoben sich auch Rys Männer Yanth, Jaim und Trev. »Ich folge Ry«, sagte Yanth. Jaim sagte: »Ich auch.« Trev sagte: »Ich weiß nicht, wo meine Schwestern sich verstecken, aber wo auch immer sie sind, sie sind vor diesen Drachen nicht sicher. Ich werde alles tun, um ihnen zu helfen. Also werde ich kämpfen.« Ry und die drei Leutnants, die sich erhoben hatten, blickten zu Valard hinüber, der immer noch saß. Er sah zu ihnen auf, seufzte und schüttelte langsam den Kopf. »Ich bete zu dem alten Gott der hoffnungslosen Unternehmungen, dass er sich eurer annimmt; er wird euer Vorhaben sicher mit großem Interesse verfolgen«, sagte Valard. »Aber ich denke, ich selbst werde hier bleiben und auf eure Gesundheit und euer Glück trinken und mir von den Ausrufern von euren Heldentaten berichten lassen.« Kait war erschrocken. Sie hatte geglaubt, Ry und seine Männer seien unzertrennlich. Die Tatsache, dass Valard abtrünnig geworden war, ließ sie alle plötzlich kleiner und schwächer erscheinen und ... nun, sterblicher. Aber Ry nickte nur. »Deine Entscheidung«, sagte er. »Meine Entscheidung«, pflichtete Valard ihm bei. Seine Feigheit wirkte sich jedoch zu Kaits Gunsten aus. Die Anführer der Truppen, die Doghall auf den Inseln rekrutiert hatte, besprachen sich miteinander. Seine zahlreichen Söhne standen 434
wie ein Mann vor ihnen, und Ranan, der in Doghalls Abwesenheit die Armee geführt hatte, sagte: »Ich spreche nicht für die Soldaten im Allgemeinen, sondern nur für meine Brüder und mich. Wir werden kämpfen. Unser Leben gehört euch.« Als er und seine Brüder wieder Platz genommen hatten, erhoben sich die Soldaten, die die höchsten Ränge bekleideten, warfen einen angewiderten Blick auf Valard und drehten sich dann zu Doghall um. »Ihr habt uns immer pünktlich bezahlt, und wir haben für das Geld, das wir bereits verdient haben,
nichts getan. Weder Ihr noch Eure Söhne habt uns befohlen, Euch in diesen Kampf zu folgen Ihr sagt, es sei nicht das, weshalb Ihr uns rekrutiert hättet. Aber wir sagen, Ihr habt uns rekrutiert, damit wir für Euch kämpfen, und wohin Ihr uns führen werdet, dahin werden wir folgen. Wenn Ihr uns in der Vergangenheit gebraucht habt, dann braucht Ihr uns heute erst recht.« Er streifte mit zwei Fingerspitzen sein Herz zu einem schnellen Salut und setzte sich wieder. Hasmal seufzte und griff abermals nach Alaristas Hand. »Du weißt, dass ich dich nicht ohne mich in den Kampf gegen die Drachen ziehen lassen werde. Wo du bist, da werde auch ich sein.« Sie blickte auf ihn hinab und lächelte. Er zog sie an sich, schlang die Arme um sie und küsste ihren Hals. Auch die meisten der Gyrunalle boten freiwillig ihre Hilfe an. Einige wenige folgten Valards Beispiel und winkten ab, aber als die letzten der Anwesenden ihre Absicht kundtaten, fand Kait sich an der Spitze einer kleinen Armee wieder. Und ohne irgendeine Idee zu haben, was sie damit anfangen sollte. Sie vermutete, dass ihre Freiwilligen sich auf nicht mehr als zweihundert Personen beliefen, und obwohl sie auf dem Weg nach Calimekka vielleicht noch weitere Freiwillige anwerben würde, hatte sie nicht die geringste Chance, es mit der Streitmacht aufnehmen zu können, die die Drachen befehligen würden. Sie würde diesem Heer sowohl zahlenmäßig als auch von der Ausbildung der Soldaten her unterlegen sein. 435
Sie musste abermals an General Talismartea und seine Behauptung denken, dass es immer eine Möglichkeit gäbe, eine Schlacht zu gewinnen, wenn man nur bereit war, den Sieg neu zu definieren. Ihre Streitmacht hatte keine Hoffnung, Calimekka in direktem Angriff zu nehmen und die Drachen mit Gewalt zu bezwingen. Also brauchten sie eindeutig eine solche Neudefinition. Das oder ein Wunder. Kait und Ry saßen auf den beiden Stühlen in Alaristas Wagen; Alarista selbst saß neben Hasmal auf der Bank an der Wand. Der Ofen in der Ecke nahm der Luft ihre schneidende Kühle, und das heiße, würzige Kemish, das sie trank, wärmte sie von innen. Einige Sturmlampen verströmten ein helles, fröhliches Licht, aber die Stimmung im Wagen war so grau wie der Tag draußen. Alarista sagte: »Uns wird die Zeit langsam knapp. Mit der Schneeschmelze werden die Straßen wieder befahrbar sein, und wir könnten Weiterreisen. Doghalls Soldaten üben sich an ihren Waffen, und meine Leute machen mit aber wir wissen noch immer nicht, auf welche Weise wir unsere Truppen einsetzen werden. Sobald wir aufbrechen können, dürfen wir keine weitere Verzögerung riskieren.« Kait sah aus dem Fenster. Eine dicke Schneedecke lag auf dem Boden, und die Wolken scharten sich nässegeschwängert, dunkel und schwer um den Ring der Berge, die das Lager einrahmten. Die Gyrus sagten, sie könnten das Nahen des Frühlings riechen; Kait glaubte ihnen. Alle sagten, dass noch ein ganzer Monat verstreichen würde, bevor das Tauwetter mit Macht einsetzte, aber gegen Mittag hatte Kait ein oder zweimal selbst schon feuchte Erde gerochen und die ersten Spuren neuen Lebens in der Luft wahrgenommen. Das neue Jahr hatte Einkehr gehalten, bevor die Rebellen bereit waren sie und die anderen im Lager hatten eilig Lose gezogen, und ein junger Mann aus Doghalls Truppe hatte dem Jahr den Namen gegeben: WIR HOFFEN AUF BESSERE TAGE. Als Carais hatte er einer sehr ernsten Feier des Theramis436 tages vorgestanden, nach der alle sich wieder ihren Vorbereitungen zuwandten. Kait schenkte sich noch eine Tasse Kemish ein, ein typisches Getränk der Gyru, das aus Cocova, scharfen roten Paprikaschoten und einer gemahlenen, getrockneten Fischpaste bestand und in kochendem Wasser serviert wurde. Sie war die Einzige der Harayee der Gyru-Ausdruck für Nichtgyrus im Lager, die an dem Getränk Gefallen fand. Sie fügte noch eine Prise Salz hinzu, nippte an ihrer Tasse und nickte Alarista zu. »Du hast Recht. Wir haben keinen Plan.« Hasmal seufzte. »Zweihundert Personen gegen all die Drachen, gegen die Verbündeten, die sie inzwischen gewonnen haben, und die Armeen, die sie aufgestellt haben?« Er hielt eine Tasse Kräutertee in der Hand, an dem er einmal nippte, bevor er weitersprach. »Also gut. Ich sage dir, wie der Plan aussieht. Wir gehen bis vor die Stadtmauer, erklären, dass wir gekommen sind, um Calimekka zu erobern ... und während die Wachen vor Lachen hilflos sind, klettern wir über die Mauer, brechen in das Bollwerk der Drachen ein, ohne uns erwischen zu lassen, holen uns den Spiegel der Seelen zurück, vernichten mit seiner Hilfe die Drachen und bringen Calimekka wieder in unsere Hand.« Ry stieß ein bitteres Lachen aus. »Ein guter Plan.« Er wärmte sich die Hände an seiner Teetasse, trank aber nicht davon. Dann wandte er sich an Kait und sagte: »Wenn wir zehntausend gut ausgebildete
Soldaten hätten, könnten wir die Stadt vielleicht erobern. Aber nicht einmal mit einer solchen Truppe Schlachterprobter Krieger hinter uns würde ich mich darauf verlassen, denn wir verfügen nicht über die richtige Art von Zauberern. Deine Falken praktizieren lediglich Schutzmagie, die bei einem Angriff nutzlos ist.« Er nahm einen winzigen Schluck von dem Tee, dann stellte er seine Tasse weg. »Die Wölfe hätten vielleicht etwas gegen die Drachen unternehmen können, wenn sie nicht von ihnen infiltriert worden wären. Aber zweihundert Leute das ist nicht genug, um irgendetwas auszurichten.« 437
Kait hatte einigen dicken Schneeflocken zugesehen, die langsam dem Boden entgegenschwebten. In ihren Gedanken blitzte eine Idee auf, fand dort Nahrung und loderte schließlich hell auf. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob ihre Idee nicht schon von anderen erwogen und wieder verworfen worden sein musste. Aber niemand außer ihr, nicht einmal Ry, sah die Dinge aus ihrem Blickwinkel. Sie drehte sich zu den anderen um und stellte ihren Kemish weg. »Hat einer von euch schon mal daran gedacht«, begann sie, »dass wir nicht deshalb unfähig sind, einen Plan zu schmieden, weil wir zu wenige Leute einplanen können, sondern deswegen, weil wir in diesem Plan zu viele Leute haben?« Die drei anderen starrten sie an, als hätte sie plötzlich zu seibern und mit dem Kopf zu wackeln begonnen, und Hasmal lachte. »Nein.« Ry schüttelte den Kopf. »Wir haben zahllose Probleme, aber ein Übermaß an Verbündeten gehört nicht dazu.« Alarista meinte: »Ich glaube nicht, dass du noch mehr Kemish brauchst, wenn er solch eine Wirkung auf dich hat.« Kait ließ nicht locker. »Hört mir zu. Welche Ziele müssen wir erreichen, um die Drachen zu besiegen und Calimekka zu befreien?« Sie zählte die einzelnen Punkte an ihren Fingern ab. »Erstens, wir müssen in die Stadt hineingelangen. Zweitens, wir müssen den Spiegel der Seelen unter unsere Kontrolle bringen. Drittens, wir müssen die Drachen aus den Körpern, die sie gestohlen haben, entfernen. Wir haben bisher nur darüber gesprochen, wie zweihundert Personen diese Ziele erreichen könnten. Aber vielleicht sollten wir uns einmal fragen, wie zwei Personen damit fertig würden.« Jetzt lächelte Ry nicht mehr. »Zwei?« Er sah ihr mit jäher Anspannung in die Augen, und sein Geruch verriet plötzlich ein Gefühl der Erregung. Sie nickte und sah nur ihn an. »Zwei.« »Sag mir, woran du denkst.« »Es gibt nur eine Möglichkeit, jetzt schon von hier aus nach Calimekka zu gelangen, noch bevor die Straßen frei sind. Man müsste durch die Luft reisen, denn die Wege, die aus dem Gebirge herausführen, sind bis zum Frühjahr unpassierbar, und selbst wenn wir es bis nach Brelst schaffen würden, wäre das Meer im Winter kaum zu bezwingen; im Augenblick liegen alle Schiffe in wärmeren Häfen. Wenn wir durch die Luft reisen würden, könnten wir uns oberhalb der Wolken halten und uns buchstäblich bei Dunkelheit in die Stadt fallen lassen. Auf diese Weise würden wir an den Toren und den Wachen vorbeikommen und hätten auch keine Schwierigkeiten mit irgendwelchen anderen Sicherheitsmaßnahmen, die die Drachen seit unserer Flucht in Calimekka getroffen haben.« »Wir könnten fliegen, wenn wir ein Fluggerät hätten«, pflichtete Hasmal ihr bei. »Aber sämtliche Fluggeräte befinden sich in Calimekka, und zwar in den Händen unserer Feinde.« »Zwei von uns ... brauchen kein Fluggerät«, sagte Kait leise. Ein wachsamer Ausdruck trat in Rys Augen. Alarista zog eine Braue in die Höhe. »Habt ihr vielleicht das Vogelmädchen irgendwo versteckt, von dem euer Onkel so gern erzählt? Jemanden, der den Drachen einen Floh auf den Rücken werfen könnte? Dieses Wunder würde ich gern mit eigenen Augen sehen.« Ry schüttelte den Kopf, aber die Bewegung war so schwach, dass Kait sich fragte, ob sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte. Die Angst, die sie in seinen Augen las, machte einen Irrtum jedoch ausgeschlossen. Sie legte den Kopf an seine Schulter und sagte, für die anderen unhörbar: »Wenn wir es tun, wird das Geheimnis ans Licht kommen. Die Falken müssten Schilde und Schutzzauber bereitstellen.« Er murmelte: »Es wissen schon zu viele Bescheid. Je mehr Leute davon wissen, umso mehr könnten ... die zwei in Frage stehenden Personen verraten.« 438 439
Alaristas Ohren waren besser, als Kait es ihr zugetraut hätte. Sie fragte: »Wer weiß was?« Hasmal sah von Kait zu Ry und dann wieder zu Kait. Er runzelte die Stirn, und Kait hatte nicht die
geringste Ahnung, was in ihm vorging. Ry lehnte sich zurück und sagte: »Ich bin deiner Meinung, dass das Geheimnis nicht länger vor allen Leuten geheim gehalten werden kann, wenn ... sie ... diese beiden in die Stadt fliegen sollen. Aber vielleicht könnte die Enthüllung des Geheimnisses selbst noch ein wenig warten.« Kait sah ihn verwirrt an. »Aber wenn wir den Leuten nicht erklären können, wie ... diese beiden den ganzen Weg von Norostis nach Calimekka in zwei oder drei Tagen zurücklegen können oder wie sie es schaffen wollen, mitten im Winter auch nur aus dem Gebirge herauszukommen, warum sollten sie ihnen dann helfen wollen? Außerdem wäre da noch etwas anderes zu bedenken. Vielleicht müssen sich die beiden, die gehen werden, von Anfang an darauf verlassen, dass die Leute, denen sie vertrauen müssen, sich nicht gegen sie wenden werden. Denn wir können alle Pläne der Welt schmieden, Ry, aber wenn die Soldaten die Sturmmannschaft nicht unterstützen, werden diese Pläne im Sande verlaufen.« Ry wandte sich von ihr ab. »Tu, was du für richtig hältst.« Alarista sagte: »Ich habe das Gefühl, dass meine Frage nach dem Vogelmädchen der Wahrheit irgendwie näher kommt, als ich es mir bisher hätte vorstellen können. Ist das richtig?« Kait versuchte, die andere Frau mit allen Sinnen zu erforschen, und konnte nichts Gefährliches an Alarista entdecken, weder in ihren Bewegungen noch in ihrem Geruch, dem Rhythmus ihres Atems oder in einem von hundert anderen winzigen Fingerzeigen, die den Wachsamen auf eine unmittelbar drohende Gefahr aufmerksam machen konnten. »Ich bin eine Narbige«, sagte Kait. Alarista saß plötzlich vollkommen reglos da. Den Kopf auf die 440
Seite gelegt und einen wachsamen Ausdruck in den Augen, sagte sie: »Aber nicht sichtbar.« »Manchmal ist es sichtbar.« Das Schweigen im Wagen hatte sein eigenes Gewicht. »Und manchmal ... kannst du ... fliegen?« Kait nickte. »Du bist... eine Gestaltwandlerin?« Ein weiteres Nicken. »Wie hast du ... Aber ich werde dich nicht danach fragen. Auch wir haben Narbige in unseren eigenen Reihen versteckt. Ich kenne einige der Möglichkeiten, wie sich das machen lässt. Die Frage, wie du lange genug überleben konntest, um das Erwachsenenalter zu erreichen, ist im Grunde nicht wichtig. Dass du uns jetzt helfen kannst ...« Sie blickte auf ihre Hände hinab. »Aber du hast von zwei Leuten gesprochen, und er ...« Sie zeigte mit dem Kopf auf Ry. »Er wusste, wovon du gesprochen hast. Also ...« Sie sah noch einmal zu Ry hinüber, und diesmal enthielt ihr Blick eine unverkennbare Frage. »Bist du auch ein Gestaltwandler?« »Wir sind Karnee«, sagte er. »Karnee.« Das Wort war nur ein Flüstern in Alaristas Mund. Lange sagte sie gar nichts mehr, und als sie wieder zu sprechen begann, bemerkte sie nur: »Dann haben also einige von ihnen doch überlebt.« »Einige.« In Rys Geruch lagen all die Ungeduld, das Misstrauen und der Ärger, die sein Gesicht und seine Haltung so gut zu verbergen wusste. Kait beobachtete Alarista, aber vor allem konzentrierte sie sich auf Ry. Er hatte alle Muskeln in seinem Körper angespannt und bereitete sich darauf vor, etwas Törichtes zu tun, falls Alaristas Reaktionen irgendwie auf einen möglichen Verrat ihrerseits schließen ließen. Sie schien jedoch nur nervös und neugierig zu sein. Sie beugte sich vor, und in ihren runden Augen stand Verwirrung. »Und ihr würdet den Iberern aus freiem Willen helfen? Ich hätte gedacht, 441
dass ihr jetzt vor Begeisterung tanzen würdet, denn jetzt werden die Iberer einige derselben Gräuel erleiden, die sie euch zugefügt haben.« Ry zog die Schultern hoch. »In gewisser Weise hast du Recht. Ich kann nicht behaupten, dass mich das Leiden sämtlicher Bewohner Calimekkas schmerzt. Es gibt in meiner eigenen Familie zum Beispiel einige Personen, die es verdient hätten, zu leiden. Dasselbe gilt für verschiedene Mitglieder des Parnissats. Und ...« Seine Augen irrten kurz in Kaits Richtung, dann konzentrierte er sich schnell wieder auf Alarista, als ihm klar wurde, dass diese seinen Blick gesehen haben musste. »Und da wären noch andere, die ihren Lebensunterhalt damit bestritten haben, Unschuldigen Leid zuzufügen.« Kait vermutete, dass er von den anderen Familien sprach, ihr gegenüber aber nichts dergleichen
erwähnen wollte, weil sie ihre eigene Familie verloren hatte. Sie wäre jedoch nicht gekränkt gewesen. Sie hatte auf eine besonders unerfreuliche Weise entdecken müssen, dass nicht alle Galweighs so idealistisch waren, wie sie selbst das einst geglaubt hatte. Sie sagte: »Aber auch wenn wir beide Grund zu der Annahme haben, dass die Drachen ein wenig Gerechtigkeit bringen, so ist diese Tatsache rein zufällig. Es werden mehr Unschuldige als Schuldige zu leiden haben. Und der Wiedergeborene wollte der Welt die Liebe bringen. Die Drachen ... sie haben nichts zu tun mit Liebe.« Alarista sagte: »Jedenfalls nicht, soweit du das beurteilen kannst.« »Ich weiß, was sie mir antun wollten.« Alarista zog eine Augenbraue hoch. »Du bist den Drachen in die Hände gefallen und hast das überlebt?« Kait sagte: »Das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie dir ein andermal erzählen.« »Dann lasst uns also wieder zur Sache kommen.« Hasmal nahm sich eine Pastete aus dem Krug, den Alarista immer neben dem Tisch stehen hatte, und begann, daran zu knabbern. »Du sagst, ihr beide könntet in der Nacht nach Calimekka Hineinfliegen und euch mitten in das Territorium der Drachen fallen lassen, ohne erwischt zu werden.« »Das hoffe ich«, sagte Kait. »Ich kann nicht versprechen, dass wir Erfolg haben werden.« »Nein. Natürlich nicht. Aber ihr beide hättet zumindest die Möglichkeit, einen Versuch zu machen.« »Ja.« Hasmal biss in die Pastete und kaute nachdenklich. »Das wäre natürlich ein Vorteil für uns ... aber was würdet ihr tun, wenn ihr erst einmal dort wäret?« Kait lächelte. »Ich bin mir nicht sicher, wie gut der Plan funktionieren würde, aber meine Idee ist folgende: Wir müssten die Drachen identifizieren und einen jeden von ihnen insgeheim auf dieselbe Weise markieren, wie Doghall die drei markiert hat, die ihr beide zusammen mit Ian in dem Gasthaus getroffen habt.« Alarista runzelte die Stirn. »Markieren?« Hasmal nickte. »Sie meint den Sehzauber der Falken. Doghall hat ihn mir beigebracht. Er hat jeden der drei Drachen, denen wir begegnet sind, mit einem Talisman berührt. Ein jeder dieser Talismane ist mit einem Sehglas verbunden und wird sofort von der Haut aufgenommen; auf diese Weise haben wir die drei betreffenden Personen mehrere Tage lang mit unseren Sehgläsern beobachten können. Wir ... nun, am Ende konnten wir es doch nicht tun, aber das war eher ein Problem der Situation damals als der Technik.« »Euer Plan sieht also vor, dass ihr beide nach Calimekka geht und dafür sorgt, dass ihr jedem einzelnen Drachen nahe genug kommt, um ihn berühren zu können?« Alarista schüttelte den Kopf. »Das ist doch Wahnsinn.« »Wenn es unsere einzige Chance ist, die Drachen zu vernichten, dann ist das kein Wahnsinn.« Kait strich mit dem Daumen über den Rand ihrer Tasse und blickte hinaus in das immer hefti442 443
ger werdende Schneetreiben. Sie war sich nicht sicher, wie sie und Ry ihren Feinden nahe genug kommen konnten, um die Talismane zu verteilen, aber wenn sie es tun mussten, würde sich auch irgendeine Möglichkeit dafür finden. »Doghall hat aus einem Ring und einem Stückchen Draht einen winzigen Spiegel der Seelen gemacht, Ris. Mit dem Sehglas und dem Talisman konnte er dann eine Verbindung zu der Seele eines der Drachen herstellen und diese Drachenseele in den Ring rufen. Sie ist immer noch da drin. Er wird dir den Ring zeigen, wenn du ihn dir ansehen möchtest. Ich dachte, wenn wir genug Talismane und Spiegel machen könnten, könntest du mit den anderen Falken hier in den Bergen bleiben und eine Drachenseele nach der anderen gefangen nehmen.« Ry sagte: »Wenn wir den Drachen nahe genug kommen, um sie zu berühren, wären wir auch nahe genug, um den Spiegel der Seelen zu stehlen. Damit könnten wir sie dann alle gleichzeitig erwischen.« Kait sagte: »Es gibt keine Garantie, dass wir an den ursprünglichen Spiegel der Seelen herankämen. Und wenn wir nur mit diesem einen Plan nach Calimekka gehen und dieser Plan scheitert, dann bliebe uns keine andere Möglichkeit als der Rückzug. Wenn wir uns aber darauf vorbereiten, uns einen Drachen nach dem anderen vorzunehmen, und wenn wir tatsächlich das Glück haben sollten, den ursprünglichen Spiegel stehlen zu können, dann wird unsere Aufgabe eben einfacher. Aber wenn wir den Spiegel nicht bekommen, können wir trotzdem siegen. Es würde einfach länger dauern.«
Ry lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Dann kippte er seinen Stuhl nach hinten, so dass Kait ihn schon beinahe fallen sah. »Na schön. Wenn wir die Angelegenheit so betrachten, als einen Plan und einen Ersatzplan, hat deine Idee gewiss ihre Vorteile. Also, wie kommen wir an die Drachen heran?« Kait zuckte die Achseln. »Warum lassen wir die Falken nicht zunächst mal damit anfangen, die Talismane, die Sehgläser und die Miniaturspiegel anzufertigen, die wir benötigen werden? Bis diese Dinge so weit sind, werden wir uns mit der Frage beschäftigen, auf welche Weise wir uns am besten den Drachen nähern können.« Doghall zeigte Alarista den kleinen Spiegel und demonstrierte ihr, wie er den Spiegelzauber geschaffen hatte, dann machte sie sich zusammen mit Hasmal, Trev, Jaim und Yanth ans Werk. Sie trugen alles an Glas, Silber, Kupfer, Gold und Bronze zusammen, was sich im Lager fand, und dazu so viel Draht wie nur möglich. Sie baten die Schmiede und Metallarbeiter der Gyrus um Hilfe, zogen Draht, hämmerten Ringe und fertigten Hunderte winziger Spiegel an, die sie alle mit einem Tropfen ihres eigenen Blutes und ihrer Lebenskraft ausstatteten. Sie konzentrierten sich bei ihrer Arbeit ausschließlich auf das Gute, das sie tun würden, indem sie verbannte Seelen in ihre rechtmäßigen Körper zurückholten und die versklavten Bewohner Calimekkas befreiten. Sie schickten Kinder in die Stadt Norostis, die sämtliche Vorräte der Kräuter Tertulla und Batrail aufkaufen sollten. Sie schnitten Glas und bestrichen die Rückseiten mit Silber, um Sehgläser herzustellen, und sie formten winzige Kräutertabletten, die um ein Stück Fingernagel, ein einzelnes Haar oder ein Fetzchen Haut aus der Innenseite des Mundes gedrückt wurden Talismane, die mit ihren Schöpfern verbunden waren und die ohne eine Spur in der Haut versanken und den Beobachteten mit dem Beobachter verbanden, bis der Talisman vom Körper des Beobachteten ganz absorbiert war. Sie arbeiteten Tag und Nacht und schliefen nur, wenn es unbedingt sein musste, während Kait und Ry sich ausruhten, aßen und planten. Geradezu zwanghaft planten. Binnen zwei Wochen waren die erforderlichen Dinge hergestellt. Weder Kait noch Ry wussten, wie sie an die Drachen heran 444 445
kommen sollten, aber sie wussten, wo sie ihre Suche beginnen würden. Jetzt war es an der Zeit zu handeln. Beide hatten sie die Verwandlung so lange wie möglich hinausgezögert. Beide hatten sie gewaltige Mengen gegessen, um ihre Körper für die bevorstehende Kraftanstrengung zu rüsten. Am fünften Tag des Monats Drastu, dem Amial-Makulds-Tag, stiegen Kait und Ry durch den feuchten, matschigen Schnee, von dem alle hofften, dass er der letzte dieses Winters sein würde, den Berg Straju hinauf. Der Straju war der höchste Gipfel in der Nähe des Lagers. Der Aufstieg war gefährlich, und in Tiergestalt wäre er weitaus einfacher zu bewältigen gewesen, aber keiner der beiden wagte es, sich zu verwandeln. Sie wussten nicht, wie lange sie die Verwandlung aufrechterhalten konnten, sobald sie ihre Gestalt gewechselt hatten, und um ihren Plan in die Tat umzusetzen, brauchten sie alle Kraftreserven, die sie ihrem Körper abringen konnten. Als sie zu einem hohen, nach Süden gerichteten Felsen kamen, streiften sie ihre Winterkleider ab und legten sie in den Windschatten der Anhöhe. Sie hatten sich bereits von allen ihren Gefährten im Lager verabschiedet. Jetzt wandten sie sich einander zu. »Ich könnte allein gehen«, sagte Ry. »Wenn ich wüsste, dass du in Sicherheit bist, würde ich mit Freuden allein nach Calimekka gehen.« Kait strich ihm über die Wange. »Und wenn du allein gingest, wüsste ich nicht, wie ich die Zeit bis zu deiner Rückkehr überleben sollte. Du weißt selbst, dass ich dich begleiten muss.« Er zog sie an sich, und sie umarmten einander, und obwohl sie in der Kälte zitterten, konnten sie einander ein wenig von der Wärme ihrer nackten Leiber schenken, aber das meiste riss der eisige Bergwind mit sich fort. »Ich weiß. Bist du dir sicher, dass wir fliegen werden, wenn wir springen?« Kait sagte: »Nein. Aber ich hoffe es. Ich habe es schon früher einmal getan.« 446
Er nickte. Dann legten sie beide die seltsam geformten Bündel an, die Kait entworfen hatte Bündel, die eigens dazu geschaffen waren, sich ihren geflügelten Gestalten anzupassen. In ihren Bündeln befanden sich typische calimekkanische Kleidungsstücke, etwas Geld und natürlich die Talismane. Auf Doghalls Beharren hin hatten sie sich beide Talismane in ihre eigene Haut einfügen lassen; Doghall hatte sich energisch geweigert, sie gehen zu lassen, ohne ihr Geschick mitverfolgen zu
können. Die Talismane, die sie trugen, waren von besonderer Machart und würden mindestens einen Monat, vielleicht sogar zwei überdauern, hatte Doghall gesagt. Da sie wussten, dass sie beobachtet wurden, fiel ihre letzte Umarmung ein wenig unbeholfen aus. Ry sagte: »Ich liebe dich, Kait.« Kait drückte das Gesicht an seine Brust und lauschte dem Schlagen seines Herzens. »Und ich liebe dich.« Sie sahen einander an, dann blickten sie in die felsige Schlucht hinab, die weit unter ihnen lag. Kait schauderte und hatte in diesem Augenblick mehr Angst als damals, als sie von dem Turm in Calimekka gesprungen war. Die Felsen unter ihren nackten Füßen schnitten in ihre Fußsohlen. Ihre Zähne klapperten vor Kälte, sie hatte eine Gänsehaut, und ihr Körper flehte sie an, sich verwandeln zu dürfen. »Wir tun es für unsere Zukunft«, murmelte sie. Ry hörte sie, obwohl sie eigentlich gar nicht mit ihm gesprochen hatte. »Wir tun es für die anderen, aber wir tun es auch für uns. Für dich und mich und für eine Welt, in der wir zusammen leben können.« Kait nickte. »Ich weiß.« Sie griff nach seiner Hand und sagte: »Die Felsen da unten sehen so ... so hungrig aus.« Ry zog sie dicht an sich und küsste sie wild. »Wenn das alles ist, was wir haben, dann war es genug, Kait. Ich werde dich in einem anderen Leben wieder finden.« Sie spürte das Zittern seines Körpers an ihrem. Sie schlang die 447
Arme um ihn und drückte ihr Gesicht in den weichen Pelz auf seiner Brust. »Wir sehen uns über den Wolken.« »Versprochen.« Sie sprangen von dem Felsen und stürzten in die Tiefe.
Kapitel 47 Trev lag in einem Zelt und träumte, als plötzlich eine Stimme zu ihm sprach. Die Köpfe deiner Schwestern stecken auf der Mauer, sagte die Stimme und zeigte ihm eine Vision. Die Körper seiner beiden einst schönen Schwestern hingen von der Säulenmauer in Calimekka herab, und ihre aufgedunsenen, halb verwesten Köpfe zierten die Zinnen der Mauerkrone. Ry hat sie dort hingebracht, mit seinen Lügen, mit seinem Verrat. Du kannst deine Schwestern nicht retten, aber du kannst Rache üben. Töte ihn, wenn du die Möglichkeit dazu hast; und wenn du ihn nicht töten kannst, dann komm einfach zu mir. Außerhalb des Lagers wirst du ein Gefährt vorfinden, das auf dich wartet. Steig hinein und sag die Worte: »Bring mich zu meinem Freund«, dann soll dein Wunsch in Erfüllung gehen. Trev schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit. Die grauenvollen Bilder hatten sich in seine Gedanken eingebrannt, obwohl sie zu furchtbar waren, um sie zu glauben. Aber wenn sie nun doch der Wahrheit entsprachen? Er hatte sich eingeredet, dass seine Schwestern die Stadt verlassen haben müssten, weil keiner von denen, die er nach ihnen fragte, etwas anderes wusste. Es hatte keine öffentlichen Hinrichtungen gegeben, daher hatte er sich in dem Glauben gewiegt, dass die beiden Mädchen noch lebten. Aber er wusste es nicht. Jetzt musste er es wissen. Er hatte ein Idee, auf welche Weise er Antwort auf seine Fragen finden könnte, auch wenn es ihm ein wenig riskant erschien. Mit Hilfe der wenigen Magie, die er von Hasmal gelernt hatte, wollte er einen Sprecher suchen und ihn zwingen, ihm die Wahrheit zu sagen. Er lag still da und konzentrierte sich. Er hatte noch nie allein 449
mit Magie gearbeitet, aber er glaubte fest, zu wissen, wie man einen Zauber formte. Er konnte sein eigenes Blut benutzen die Falken sagten, ein Mensch solle niemals etwas benutzen, das nicht ihm gehörte, um Magie zu wirken. Also brauchte er nur ein oder zwei Tropfen seines eigenen Blutes auf einen mit Salz umringten Spiegel zu geben, dann konnte er mit einigen wenigen sorgsam gewählten Worten die Stimme aus seinem Traum herbeirufen. Er musste wissen, ob er lediglich das Opfer von Alpträumen geworden war oder ob diese Stimme nach ihm rief, um ihn zu sich zu holen. Er schüttelte die Felle der Bettdecke ab und sah sich in dem Zelt um. Valard hatte noch immer einige Vorräte in seinem Zauberbeutel, da er in letzter Zeit viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sich zu betrinken und das gewisse Ende der Welt zu betrauern, um bei der Herstellung der Talismane, der Spiegel und der Sehgläser zu helfen, die daran vielleicht etwas ändern konnten. Was Trev noch mehr entgegenkam, war der Umstand, dass Valard sich im Augenblick bei einem der Gyru-Mädchen
aufhielt; er war in letzter Zeit ständig mit den Gyru-Mädchen zusammen wenn er nicht gerade mit den Männern fermentierte Ziegenmilch und harten Kornschnaps in sich hineinschüttete. Also konnte Trev sich gefahrlos seine Ausrüstung ausborgen. Was er auch tat. Er wagte es nicht, eine Lampe anzuzünden, die ihm die Arbeit erleichtert hätte; Yanth schlief auf der einen Seite von ihm und Jaim auf der anderen, und beide wären ziemlich neugierig geworden, wenn sie ihn dabei gesehen hätten, wie er mitten in der Nacht Geister heraufbeschwor. Also öffnete er die Zeltlasche gerade so weit, dass das flackernde Licht von einem der Wachfeuer des Lagers seinen kleinen Arbeitsplatz erhellte. Es erfüllte seine Aufgabe nur ungenügend, aber Trev musste schon dankbar für das wenige Licht sein, das das Feuer ihm spendete. Er nahm Valards Spiegel und das Salz zur Hand, ritzte sich eine Fingerspitze mit einem Messer ein und ließ sein Blut vorsichtig zu einer kleinen Lache auf der Spiegeloberfläche tropfen. Einen kurzen Augenblick lang war das Licht, das durch die offene Lasche kam, hell genug, um zu sehen, dass der Spiegel schmutzig war, dass er irgendwelche Flecken hatte; das beunruhigte ihn zwar, aber andererseits war sein Blut bereits auf dem Glas, und er wollte es nicht verschwenden, indem er es wegwischte, den Spiegel säuberte und sich dann noch einmal schneiden musste. Ganz davon abgesehen war es ihm schon beim ersten Mal, als er sich schnitt, sehr schwer gefallen, keinen Laut von sich zu geben. Er wusste nicht, ob er ein zweites Mal dazu imstande wäre, ohne jemanden aufzuwecken. Mit einem Finger zeichnete er aus seinem Blut ein Dreieck und flüsterte die erste Hälfte der Beschwörung, mit deren Hilfe er die Sprecher aus dem Schleier rufen konnte, so wie Hasmal es ihn gelehrt hatte. Dann schüttete er das Salz zu einer dünnen Linie auf das Diagramm, das keinerlei Öffnungen enthalten durfte. Er beendete die Beschwörung mit den Worten: Sprecher, tritt zwischen die Mauern aus Erde und Blut und Luft; gebunden vom Willen, gebunden vom Geist, bist du eine Gefangene dieses Ortes. Beantworte meine Fragen klar und wahr, tue nur Gutes, und dann kehre zurück in das Reich, aus dem du kamst, und komme nicht wieder. Das Salz auf dem Spiegel brannte hellblau, und Trev beugte sich so tief darüber, dass er alles Licht mit seinem Körper verdeckte. Die Flammen flackerten und brannten schließlich ein wenig ruhiger. Im Herzen des Dreiecks erschien ein Funke, der wuchs und schließlich das Bild eines durchsichtigen, etwa fingergroßen Mannes zeigte. Seine transparenten Roben blähten sich in einem Wind, der niemals über die Grenzen des Dreiecks hinausdrang; 450 451
sein langes Haar flog ihm um den Kopf, als stünde er mitten in einem Sturm. Er verschränkte die Arme vor der Brust, hob das Kinn und starrte mit glänzenden Augen zu Trev hinauf. »Was willst du wissen?« Trev erschauerte. Hasmal hatte gesagt, dass die Sprecher gefährlich und bisweilen auch gehässig seien. Obwohl sie immer die Wahrheit sagten, so hatte Hasmal weiter erklärt, boten sie diese Wahrheit nicht immer auf eine Weise dar, die ein Mensch richtig zu deuten vermochte. Aber Hasmal hatte nie davon gesprochen, wie beängstigend es war, einen solchen Sprecher auf dem eigenen Spiegel stehen zu sehen, gefangen von nichts Gewaltigerem als einer dünnen Linie aus Blut und Salz. Trev, der den Zorn des winzigen, funkelnden Mannes wie eine Wolke um sich herum spüren konnte, hatte einige Mühe, die Sprache wieder zu finden. Schließlich sagte er: »Ich hatte ... ich hatte einen ... einen Traum. Dass ... dass meine Schwestern tot seien, ermordet. Dass ihre ... ihre ... ihre Köpfe auf einer Mauer in Calimekka aufgespießt wurden. Was bedeutete dieser Traum?« Der Mann sah ihn an. »Es war kein Traum. Es war die Wahrheit, und der, der sie dir gesagt hat, war ...« Er hielt inne und lächelte. »Ein Freund.« Trev schloss die Augen. Das Bild der beiden aufgedunsenen Köpfe auf der Mauer kehrte klar und scharf zurück, und diesmal war es so quälend wie ein Messer im Bauch. Alli und Murdith konnten nicht tot sein er hatte beiden versprochen, ihnen passende Ehemänner aus den oberen Rängen einer
der großen Familien zu suchen. Er hatte sie in einen Kreis von Leuten eingeführt, an die seine Eltern nicht einmal das Wort zu richten gewagt hätten. Er hatte alles in seiner Kraft Stehende getan, um sie zu beschützen, um für sie zu sorgen, um sie vor allem Übel zu bewahren ... Und sie waren wie Verbrecher gestorben, während er weit fort war und sie nicht retten konnte. »Wer ist da an mich herangetreten?«, fragte er, als er wieder imstande war, seine Gedanken zu formulieren. »Warum hat der jenige mir von meinen Schwestern erzählt? Warum sagt er, Ry sei für ihren Tod verantwortlich?« Die Antwort des Sprechers war nur eine halbe Antwort. »Rys Geheimnisse sind ans Licht gekommen«, sagte er. »Seine Lügen haben ihn eingeholt, aber weil jene, die Lügen bestrafen, nicht an ihn herankonnten, haben sie sich an die herangemacht, die ihm nahe stehen. Auch deine Eltern sind tot, genau wie die Familien von Rys anderen Freunden. Ihr habt alles verloren. Wenn ihr zurückkehrt, kehrt ihr ins Nichts zurück, egal ob die Drachen aus der Stadt vertrieben wurden oder nicht.« »Wer hat die beiden getötet?«, fragte Trev. »Der, der die Klinge führte, handelte im Befehl anderer, der, der die Befehle gab, handelte wiederum auf Geheiß eines anderen, und auch dieser führte lediglich einen Befehl aus. Wenn du die Kette bis zu ihrem Anfang zurückverfolgst, führt sie zu Ry und dem Tag, an dem er schwor, er werde in Calimekka bleiben und die Wölfe seiner Familie führen und diesen Eid noch am selben Abend brach.« Ganz gleich, was er fragte, der Sprecher weigerte sich, ihm direkt zu antworten. Trev runzelte die Stirn und versuchte, seine Frage so zu formulieren, dass der Sprecher gezwungen wäre, ihm zu sagen, was er wissen wollte wessen Hand letztendlich seine Schwestern getötet hatte und wer ihn an diesem entlegenen Ort aufgesucht hatte, um es ihm zu sagen, und warum der Betreffende sich diese Mühe gemacht hatte. Draußen vor dem Zelt fegte der Wind über den Boden, und der Schnee wehte zu ihm herein, tänzelte über den Bettdecken und landete auf dem Spiegel. Trev beugte sich vor, um den Spiegel zu schützen, aber die wenigen Schneeflocken, die auf der dünner werdenden Linie aus Salz und Blut landeten, schmolzen und schufen eine Brücke aus dem Inneren des Dreiecks nach draußen und zu dem Schmutzfleck, der das Glas verschmierte. Der Sprecher, der von Sekunde zu Sekunde durchsichtiger wurde und beobachten musste, wie seine Flammen mit einem lei452 453
sen Zischen erloschen, sah die Brücke und heulte auf. Bevor Trev etwas unternehmen konnte, schrie der Geist mit einer Stimme, die nicht lauter war als ein Flüstern: »Frei!«, und sprang aus dem Dreieck aus Blut und Salz heraus. Er rutschte über die Streifen auf dem Glas und kreischte: »Es ist Blut! Es ist Blut! Jetzt gehörst du mir!« Dann war er verschwunden. Trev starrte zu der Stelle hin, an der der Sprecher gewesen war. Er wusste nicht, warum ihm das Schicksal was immer es sein mochte , das der Geist ihm zugedacht hatte, erspart blieb, aber es kümmerte ihn auch wenig. Seine Schwestern, für die er gelebt hatte, waren tot. Die Stimme in seinen Träumen mochte Ry die Schuld gegeben haben, aber Trev wusste nur allzu gut, dass Ry nichts damit zu tun hatte. Er selbst war Ry gefolgt, wohl wissend, dass er Murdith und Alli allein in Calimekka zurückließ. Wäre er, ihr einziger und entschlossener Freund, geblieben, wären sie jetzt nicht tot. Oder er wäre mit ihnen gestorben. Beide Möglichkeiten wären für ihn akzeptabel gewesen. Ry war unterwegs, um die Drachen zu vernichten, und Trev wünschte ihm nach wie vor nur das Beste. Er selbst hatte versprochen, die Falken bei ihrem Feldzug zu unterstützen. Aber er hatte ein anderes Versprechen gebrochen, ein Versprechen, das er Jahre zuvor gegeben und für das er sein Leben verpfändet hatte. Er hatte versagt, als es galt, seine Schwestern zu beschützen, die beiden Menschen, die ihm das Teuerste auf der Welt waren. Er hatte seinen eigenen Schwur gebrochen. Er starrte das kleine Messer an, mit dem er sich den Finger eingeritzt hatte. Das Messer war scharf, als Klinge aber seinen neuen Anforderungen nicht gewachsen. Seine Dolche lagen auf seinem Bett zwei kostbare Klingen, die seiner Stellung angemessen waren, beides Geschenke von Ry. Er entschied sich für den Dolch mit dem Wappen der Familie Sabir, das ihn als einen ihrer Verbündeten auswies. Er streifte die Wolldecke von seinen Schultern ab, schnürte sein Hemd auf und richtete den Dolch auf seine Brust. Dann ertastete er mit den Fingern jene Stelle links unterhalb des Brustbeins, um sicherzugehen,
dass die Spitze des Dolchs genau zwischen zwei Rippen zeigte. Er schloss die Augen und sagte: »Es tut mir Leid, Alli. Es tut mir Leid, Murdith. Ich kann euch bessere Dienste leisten, wenn wir uns jenseits des Schleiers wiedersehen.« Dann trieb er sich, bevor er über sein Tun nachdenken konnte, die Klinge durchs Herz. Auf der anderen Seite des Lagers riss Valard sich von dem Mädchen los, das er mit seinen groben Liebkosungen überhäuft hatte, und zog sich auf die Knie. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt, und er bohrte sich schreiend die Nägel aller zehn Finger in seine Haut. Die junge Frau rief: »Was ist los? Was ist los?«, aber bevor sie aufstehen konnte, um Hilfe zu holen, schien der Krampf, oder was immer es gewesen sein mochte, vorüberzugehen. Er hörte auf zu schreien, und ein Ausdruck des Staunens trat in seine Züge. Valard erhob sich und murmelte dabei: »Ich bin frei. Ich bin frei. Ich bin frei.« Er sah sich in dem kleinen Wagen um, als hätte er ihn nie zuvor erblickt. »Was machst du denn?«, fragte die junge Frau, aber Valard sah sie nur kurz an, dann schüttelte er den Kopf. Er hüllte sich in eine Wolldecke und trat, obwohl er unter der Decke nackt war, aus dem Wagen in die Nacht hinaus. Er machte sich nicht die Mühe, die Tür hinter sich zu schließen, und der Wind heulte hinter ihm her. Das Mädchen fluchte, warf ihm eine leere Flasche Schnaps hinterher, die sie gemeinsam getrunken hatten, stand zitternd auf und schlug die Tür ihres Wagens zu. Einen Augenblick später konnte man den Riegel hören, der vorgeschoben wurde. Inzwischen marschierte Valard ungeachtet der Kälte und des Windes durch den Schnee, bis er zum Rand des Lagers kam. Dort fand er eine glatte Scheibe aus einem reinweißen Metall, die am 454 455
Rand mit Schriftzeichen bedeckt war, deren schwacher grüner Schimmer durch die Dunkelheit leuchtete. Er trat in die Mitte der Scheibe und sagte: »Bring mich zu meinem Freund.« Das grüne Schimmern wurde heller, die Metallscheibe sirrte, dann waren sowohl der Mann als auch die Scheibe verschwunden. Doghall hockte neben Trevs Leichnam und legte eine Hand auf den Spiegel, ohne ihn zu berühren. Mit großer Behutsamkeit ließ er die Energie des Spiegels durch seine Haut auf sich wirken, um sie zu deuten. »Was ist da passiert?«, fragte Yanth. »Einen Augenblick.« Die Spuren waren verworren und hässlich und schwer zu entwirren. Er war jedoch geduldig, geduldig und gründlich. Endlich spürte er den Kern dessen, was geschehen war. »Trev hat Valards Ausrüstung benutzt, um einen Sprecher zu rufen«, erklärte er Yanth und Jaim, die direkt hinter ihm standen. »Er hat den Spiegel offensichtlich nicht vorher gereinigt, denn es klebte noch immer etwas von Valards Blut daran. Der Sprecher kam, aber es war ein Sprecher, der von dunkler Magie beeinflusst wurde ich nehme an, dass die Magie von den Drachen gelenkt wurde, obwohl ich mir in dem Punkt nicht sicher sein kann. Ich weiß nicht, was der Sprecher Trev erzählt hat, aber er ist gestorben, und zwar von seiner eigenen Hand und ich kann klare Spuren dafür entdecken, dass der Sprecher entkommen konnte und sich mit Hilfe von Valards Blut auf dem Spiegel mit dessen Körper verbunden hat. Was bedeutet, dass Valard jetzt von dem Geist eines Sprechers besessen ist. Ich kann auch nicht sagen, wohin der Sprecher Valard geführt hat.« Er stand auf und blickte Yanth in die Augen. »Aber Sprecher sind von Natur aus grausam, und dieser hier stand zudem unter dem magischen Einfluss böser Mächte, was die Situation noch ernster macht. Wenn wir Valard finden, werden wir ihn töten müssen.« »Können wir den Sprecher nicht austreiben oder ihn in einen 456 Ring sperren, wie Ihr es mit der Seele des Drachen gemacht habt?«, fragte Jaim. »Die Drachen sind Menschen. Ihre Seelen können einen Körper nicht infizieren; sie können ihn nur bewohnen. Sprecher sind ... etwas anderes. Manche halten sie für Dämonen, andere meinen, sie seien die Geister von Ungeheuern aus anderen Welten oder anderen Dimensionen. Ich weiß nicht, was sie sind, aber ich weiß, dass sie einen Menschen, wenn sie ihn erst einmal in Besitz genommen haben, bis zu seinem Tod besitzen.« Yanth blinzelte heftig und presste die Lippen zusammen, bis sie nur noch eine dünne, harte Linie waren. Seine Augen glitzerten verdächtig, als er auf Trevs Leichnam hinabblickte, der immer noch mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache auf seiner Decke lag. »Es bricht alles auseinander«, flüsterte er.
Jaim legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es sind dunkle Zeiten, in denen wir leben.« »Diese Zeiten sind die Hölle der alten Götter, die über uns gekommen ist, weil wir sie vergessen haben«, sagte Yanth. Doghall hörte das heisere Stocken seiner Stimme, das das ganze Ausmaß seines Aufruhrs verriet. »Mag sein«, pflichtete Jaim ihm mit einem langsamen Nicken bei. Die kalte Luft hatte seine nackten Arme mit einer Gänsehaut überzogen, und Doghall sah ihn zittern. Er schien jedoch zu sehr mit dem Grauen in seinen eigenen Gefühlen beschäftigt zu sein, um es zu bemerken, denn er stand einfach nur da, starrte auf seinen toten Gefährten hinab und unternahm nichts, um seinen Mantel zu suchen oder sich zu wärmen, indem er sich bewegte. Sein Atem stieg in weißen Wolken über ihm auf und legte sich in winzigen Kristallen auf seine Augenlider, die Brauen und den schweren Schnurrbart, den er sich hatte wachsen lassen, nachdem sie in die Berge gekommen waren. Für Doghall sah er mehr wie eine Statue aus Eis aus und nicht wie ein Mann aus Fleisch und Blut. Mit einer Stimme, die flach und tot klang, sagte Jaim: »Wir müssen Valard finden.« 457
»Warum? Damit wir noch einen unserer Gefährten ermorden können?« Yanth riss sich aus Jaims Griff los, und Jaim ließ den Arm sinken, als sei dieser ein lebloses Ding. Dann erwiderte er unbeirrbar: »Wenn nötig, ja. Ry ist auf dem Weg nach Calimekka. Wenn die Drachen ihm nachspioniert haben oder wenn sie einen Weg gefunden haben, um Valard gegen Ry zu benutzen, müssen wir ihn aufhalten.« Yanth schloss die Augen. Er schwankte leicht von einer Seite zur anderen, ganz verloren in seinem Unglück. »Was für eine Rolle spielt das denn noch?«, fragte er schließlich. »Es bricht alles auseinander. Was auch immer wir tun, es wird keinen Bestand haben, keine unserer Unternehmungen wird von Erfolg gekrönt sein. Verstehst du denn nicht? Die Götter selbst haben sich gegen uns gestellt, und wer sind wir denn, dass wir gegen die Götter kämpfen?« Jaim ließ bei diesen Worten den Kopf hängen und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du ja Recht. Vielleicht ist alles verloren. Ich weiß nicht, wer wir sind, dass wir den Willen der Götter in Frage stellen.« »Wir sind Menschen«, sagte Doghall mit rauer Stimme, »und wir haben die Götter auf die Weide geschickt. Wir werden nie wieder die Knie beugen, weder vor Göttern noch vor Menschen wir werden gegen beide kämpfen, und wir werden siegen.« »Warum?«, fragte Yanth, und Doghall hörte die Verachtung in diesem einen kurzen Wort. »Weil unsere Herzen rein sind und unsere Ziele gerecht? Weil uns die Geschicke der Welt nicht gleichgültig sind?« »Das Gute hat kein Monopol auf Siege«, sagte Doghall und starrte die beiden anderen Männer an, bis sie seinen Blick erwidern mussten. »Ständig verlieren gute Menschen den Kampf gegen böse. Und an den Dingen Anteil zu nehmen, ohne etwas zu tun, ist schwach und würdelos und hohl. Menschen, die großen Anteil an den Dingen der Welt nehmen, aber nur wenig tun, fallen immer Menschen zum Opfer, die weniger Anteil nehmen, aber 458
mehr tun. Wir werden nicht siegen, weil wir gut sind oder weil unsere Überzeugungen uns etwas bedeuten.« Er lachte, und sein Lachen klang rau in der bitterkalten Luft, wie das Bersten eines Zweigs, der unter dem Gewicht von Eis und Schnee vom Baum bricht. »Wir werden siegen, weil wir zu große Angst davor haben zu verlieren. Wenn wir uns durch unsere Passivität den Plänen der Drachen unterwerfen, werden sie unsere Seelen und die Seelen aller, die wir lieben, verschlingen und mit unseren Seelen werden sie uns unsere Unsterblichkeit nehmen. Wenn wir kämpfen, ist das Schlimmste, was uns zustoßen kann, der Tod. Wir werden siegen, weil wir Angst haben. Weil wir Angst haben, und das ist ganz richtig so. Die Furcht wird der Freund sein, der uns zum Sieg anspornt.« Die drei Männer sahen einander lange Zeit an. Schließlich nickte Jaim. »Vielleicht.« Yanth wandte den Blick ab. Dann stieß er einen schweren Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht aufgeben«, sagte er. »Ich besitze nicht deinen Glauben an unseren Sieg, aber ich werde nicht aufgeben.« Doghall sah durch die Lücke in den Zeltbahnen zu dem leuchtend weißen Feld dahinter. »Keiner von uns wird aufgeben. Wir können uns an diesem Gedanken festhalten. Und nun wir müssen eine Zeremonie für Trev abhalten, und wir müssen ihn noch heute beerdigen. Macht ihr beide ihn bereit. Ich werde mich inzwischen umsehen, um festzustellen, ob ich herausfinden kann, wohin Valard
gegangen ist wenn Magie im Spiel war, dann müssten noch immer Spuren davon zu entdecken sein. Und danach werden wir dann tun, was wir tun müssen.« Er ließ die beiden Männer allein, während sie Trevs Körper für die Sehung vorbereiteten. Er selbst stapfte über den festgetretenen Schnee und wünschte sich, er könne sich ihres Sieges genauso gewiss sein, wie er es zuvor behauptet hatte. Er sah voller Grauen in die Zukunft, und auch die Gegenwart machte ihm Angst. Er hoffte, dass das, was er zu den beiden im Zelt gesagt 459
hatte, die Wahrheit war, denn das Einzige in seinem Leben, das ihm im Augenblick sicher schien, war die Furcht. Davon hatte er genug, um einen ganzen Ozean zu füllen.
Kapitel 4$ Kait und Ry kamen in der Nacht in Calimekka an, als die Stadt sich wie ein endloses Bett aus Kohlen unter dem Wolkenverhüllten Himmel ausbreitete. Kait hatte die Stadt viele Male so gesehen; ihr alter Freund Aouel hatte sie zu Nachtflügen in seinem Fluggerät mitgenommen, wenn sie nicht schlafen konnte und sich aus Haus Galweigh herausgeschlichen hatte oder wenn sie einfach jemanden zum Reden brauchte. Daher bemerkte sie die Veränderung im Herzen der Stadt sofort und machte Ry darauf aufmerksam, für den diese Luftansicht etwas vollkommen Neues war. »Die weißen Lichter im Stadtkern die waren früher nicht da.« Ry sah in die Richtung, die sie ihm wies, und ließ seine Flügel ein wenig herabsinken, damit er näher an diese Lichter herankam. Kait folgte ihm. Es gefiel ihr nicht, was sie da sah. Im Zentrum von Calimekka lag, umringt von leuchtenden, durchscheinend weißen Mauern von der Art, wie nur die Alten sie zu schaffen gewusst hatten, ein Märchenland aus makellos weißen Schlössern, schimmernden weißen Springbrunnen und wunderschönen weißen Straßen und Gehwegen. Gärten voller Blumen, Früchte, Bäume und Büsche, kunstvoll von weißem Licht erhellt, blitzten wie Juwelen unter ihnen auf. In einem der Gärten tanzten ein paar Männer und Frauen, die nach einer Kait vollkommen unbekannten Mode gekleidet waren, zu den Klängen einer Musik, die in ihren Ohren fremd klang. Sie kreiste lautlos über ihnen und hielt ihre magischen Schilde fest um sich geschlossen, um ihre Gegenwart zu verbergen; sie musste an die belebten Märkte und die schönen Wohngegenden denken, die einst dort gewesen waren, wo jetzt diese riesige, leere Stadt in der Stadt lag. 461 »Wir haben sie gefunden«, sagte Ry leise. »So ist es.« Sie blickte nach unten. »Jetzt müssen wir überlegen, wie wir an sie herankommen.« Eine Woche später standen Kait und Ry zusammen in der kühlen, süß duftenden Luft einer calimekkanischen Morgendämmerung, gekleidet wie wohlhabende Leute aus dem gemeinen Volk, vor dem großen weißen Tor der neuen Zitadelle der Götter. Andere warteten ebenfalls Händler, die darauf hofften, Essen, Stoffe, geschliffenes Silber oder Glas verkaufen zu können; Bauern, die auf Arbeit hofften; Bettler, die den Reichtum hinter den geschlossenen Toren sahen und, da sie mit der Neuen Hölle noch nicht vertraut waren, auf Großzügigkeit hofften. Ry und Kai standen Seite an Seite, aber sie sprachen nicht miteinander, sahen sich nicht an und verrieten auch sonst mit keiner Geste, dass sie zusammengehörten. Kaits Herz hämmerte in ihrer Brust, und ihr trockener Mund schmeckte nach Sand und Furcht. Sie hatte ihre Schilde fest um sich zusammengezogen und glaubte, dass die erstickende Enge dieser Schilde ebenso sehr zu ihrer Angst beitrug wie das Gedränge der Menschen oder die Furcht, die sie überall um sie herum riechen konnte. Diese Furcht lag schwerer in der Luft als der Jasmin, der in den Gärten jenseits der Tore wuchs. Aber Kait schluckte wie alle anderen um sie herum ihre Angst herunter und wartete, lauschte auf das sanfte Läuten, das hinter den weiß umfriedeten Gärten erklang, und hielt Ausschau nach irgendeiner Bewegung in der Stadt innerhalb der Stadt. Endlich trat eine Frau aus dem ersten Gebäude auf der rechten Seite und kam auf sie zu. Ihre kostbaren blauen Röcke umspielten beim Gehen ihre Knöchel, ihre Haut war schwarz wie Onyx, und ihre Augen waren vom gleichen Goldton wie die elegant gearbeiteten Reifen, die an ihren Handgelenken klimperten. Ihr schwarzes Haar, das sie mit dunkelblauen und goldenen Bändern geflochten hatte, hing bis auf den Boden herab. Sie trat ans Tor und 462
öffnete es, dann trat sie wieder zurück. Die Kaufleute gingen einer nach dem anderen an ihr vorbei und bauten auf den makellos weißen Straßen ihre Verkaufsstände auf, wobei die Stimmung seltsam niedergedrückt war. Als die Händler das Tor passiert hatten, wandte die Frau sich den Bettlern zu und schickte sie in das Zentrum der Zitadelle; sie sagte ihnen, dass sie sich an den großen Springbrunnen
setzen und dort betteln konnten. Dann wandte sie sich den Arbeitern zu. »Wie viele von euch wollen sich heute als Tagelöhner verdingen?«, fragte sie. Sie lächelte, und ihre Stimme klang warm, aber Kait konnte keine Wärme in ihren Augen entdecken. Einige Arbeiter hoben die Hand. »Gut. Wir brauchen Leute in den Roten Gärten. Bitte folgt meiner Dienerin; sie wird euch zeigen, wo ihr hinmüsst.« Ein schönes junges Mädchen, das ganz in Weiß gekleidet war, trat unter dem Bogengang rechts von Kait hervor und ging lautlos die Straße hinunter. Die Männer und Frauen, die um eine Arbeit für den Tag gebeten hatten, folgten ihr. Die Frau richtete ihre nächsten Worte an die wenigen, die noch übrig geblieben waren. »Und ihr anderen hofft sicher auf eine dauerhafte Anstellung?« Kait nickte genau wie die anderen. »Das dachte ich mir. Die meisten Stellen sind inzwischen besetzt. Wenn ihr nicht irgendwelche besonderen Fähigkeiten habt, haben wir euch wahrscheinlich nichts anzubieten.« Sie musterte Ry von Kopf bis Fuß, und ihr Lächeln nahm einen seltsam hungrigen Ausdruck an. »Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass einige von euch gewiss über besondere Fähigkeiten verfügen.« Sie stand einen Augenblick einfach nur mit nachdenklicher Miene da, dann kam sie zu einer Entscheidung und sagte: »Folgt mir, ihr alle. Ich weiß, was ich brauche ...« Ihr Blick flog abermals zu Ry hinüber. »Aber ich kann natürlich nicht wissen, wonach der Rest meiner Gefährten Ausschau hält.« Bevor sie sie durch das Tor führte, berührte sie Ry leicht an der 463
Schulter. »Du bleibst dicht neben mir. Ich glaube, ich habe schon genau die richtige Stellung für dich im Auge.« Kait hätte sie am liebsten an Ort und Stelle ermordet. Stattdessen heuchelte sie Gleichgültigkeit und folgte der Frau durch die fast leeren Straßen zu einem Prachtbau im Zentrum der neuen Stadt. In dem Gebäude hatten sich junge, schöne Männer und Frauen versammelt, deren Seidengewänder in ihrer bunten Pracht selbst das Gefieder der Papageien in den Gärten übertrafen. Sie waren in müßige Gespräche verstrickt und sahen alle zu den Neuankömmlingen hinüber, als sie eintraten, aber nur wenige zeigten echtes Interesse. Die Frau mit den goldenen Augen sprach sehr laut, so dass ihre Stimme das leise Summen der Gespräche in der riesigen Halle übertönte. »Hier sind die heutigen Bewerber für feste Anstellungen. Wer möchte ein Vorstellungsgespräch führen?« »Ah, Berral, da hast du uns aber keine große Auswahl mitgebracht«, sagte jemand und lachte. Einige andere fielen in das Lachen ein, aber ein muskulöser Mann mit einem breiten Lächeln erhob sich von seinem Platz an einem der kleinen Tische an der Westmauer und sagte: »Heute bin wohl ich an der Reihe.« Er zeigte mit dem Kopf auf ein Mädchen, das ungefähr in Kaits Alter zu sein schien eine junge Frau mit hübschen Rundungen, milchweißer Haut und Augen so groß und verängstigt wie die eines Lamms im Schlachthaus. »Du da«, sagte der Mann. »Was kannst du alles?« »Ich kann lesen ... und schreiben«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich kann auch rechnen. Ich weiß ein wenig über Geschichte und Philosophie, über Malerei und Rhetorik. Ich war einmal Meisterin in >Frage und Antwort< und auch in >Habichte und Hunde< ...« Sie geriet plötzlich ins Stocken, als die Leute um sie herum zu lachen begannen. »Sie ist ein dressierter Affe«, murmelte einer von ihnen. »Sie könnte vielleicht eine ganz anständige Konkubine abgeben«, meinte ein anderer. »Ich habe mir oft eine Mätresse ge 464 wünscht, die ein paar Spiele kennt und über etwas anderes reden kann als ihre Einkäufe.« »Wie bist du denn im Bett?«, fragte der Erste. Das Mädchen errötete. »Ich könnte mich um Kinder kümmern«, sagte sie, »oder Haushaltsbücher führen oder eine Bibliothek verwalten.« »Wir haben keine Kinder«, sagte eine Frau, die lässig an der Wand lehnte. »Und wir werden auch niemals welche haben.« Gleichzeitig sagte der Mann, der gefragt hatte, wie sie denn im Bett sei: »Dann hat sie also keinerlei Talent auf dem einzigen Gebiet, das mich interessiert. Und was ist mit dir?«, fragte er an Kait gewandt.
Sie antwortete: »Ich kann sowohl Männern als auch Frauen die Haare schneiden und frisieren.« Sie war zu dem Schluss gekommen, dass diese Arbeit ihr die Gelegenheit geben würde, so viele Drachen wie möglich zu berühren und ihre Talismane zu verteilen, ohne dass jemand Fragen stellte. Die Drachen hatten gewiss ihre Leibdiener, aber aus ihren eigenen Erfahrungen im Haus Galweigh wusste sie, dass nichts einen so großen Reiz ausübte wie ein Fachmann, der die Leute aus ihrem täglichen Einerlei herausriss. »Ach ja?«, fragte Berral, die sie jetzt mit echtem Interesse ansah. »Dein Haar ist ganz kurz. Interessant. Und ist Rot die ursprüngliche Farbe?« Kait lächelte. »Könnt Ihr das nicht sehen?« »Nein, kann ich nicht.« Sie warf sich ihren langen Zopf über die Schulter und sagte. »Was würdest du denn mit meinem Haar machen?« Kait tat so, als müsse sie kurz nachdenken. »Etwas mit goldenen Perlen, denke ich«, sagte sie. »Um Eure Augen zu betonen. Und Schneepfauenfedern als Kontrast zu Eurer Haut. Ein geschlossener Kreis um das Gesicht, um Eure Gesichtsform stärker hervorzuheben sie ist sehr schön, aber Eure gegenwärtige Frisur verbirgt diesen Umstand. Und ich denke, ich würde ein paar Saphire einarbeiten, falls Ihr welche besitzt.« 465 »Eine wunderbare Idee«, sagte jemand hinter ihr. »Einfach perfekt.« »Was würdest du bei mir machen?«, wollte eine große, knochige Frau mit smaragdfarbenen Augen wissen. Ihr Haar war von einem reizlosen Braun, lang, gewellt und ohne jede Frisur. »Zuerst einen neuen Schnitt«, sagte Kait. »Euer Hals ist lang und schlank wie der eines Schwans, aber diese Flut von Haar verhüllt ihn. Dann eine neue Farbe. Hellblond, meine ich auf diese Weise würden Eure Augen noch auffälliger wirken. Und dann kleine Löckchen, in die man grüne Seidenbänder einarbeiten könnte.« Die Frau lächelte. »Das musst du unbedingt bei mir machen.« »Wenn sie mit meinem Haar fertig ist«, sagte Berral. »Und dann kann sie bei mir weitermachen.« »Komm, Mädchen. Wir werden einen Platz für dich finden und dir beschaffen, was du brauchst, dann kannst du dich gleich an die Arbeit machen. Ich hatte seit tausend Jahren keine anständige Frisur mehr.« Die grünäugige Frau und eine gertenschlanke Rothaarige nahmen sich ihrer an, um sie zu ihrem neuen Quartier zu führen. Hinter sich hörte sie Berral fragen: »Und du? Was kannst du Besonderes?« Sie hörte Rys Stimme antworten: »Ich mache Tapputu das ist eine Massageform, bei der Parfüms, Öle und Kräuter benutzt werden. Eine wunderbare Sache für die Haut und sehr beruhigend.« Berral seufzte. »Dann müssen wir dich zusammen mit der Haarschneiderin arbeiten lassen. Ich hatte schon daran gedacht, dich zu meinem Liebhaber zu nehmen aber meine Freunde würden es mir nie verzeihen, wenn ich einen Masseur für mich behielte. Aber vielleicht lasse ich dich ein paar Nächte bei mir liegen.« »Wenn Ihr es wünscht«, sagte Ry. Kait zwang sich, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. Sie tröstete sich mit dem Wissen, dass Ry die Frau nur mit einem Talisman zu berühren brauchte, dann würden Doghall oder Hasmal 466
ihre Drachenseele in einen der winzigen Spiegel rufen, und Ry würde eine Verehrerin weniger haben. Sie hoffte, dass er sie als Erste markierte.
Kapitel 49 Danya hockte im hinteren Teil ihres kleinen Hauses und starrte den Jungen an, der sich den Namen Luercas gegeben hatte. Er achtete nicht auf sie, zumindest nicht im Augenblick. Er hatte eine Tundramaus gefangen und lag mit ihr auf dem Bärenfell, wo er sich auf Kosten der Maus amüsierte. Im Augenblick sah er aus wie ein normaler Achtjähriger von stämmigem Körperbau, mit goldfarbenem Haar, heller Haut, mit leuchtenden Augen und einem einnehmenden Lächeln. Was er jedoch mit der Maus tat, war keineswegs normal. Und dabei war er erst vor wenigen Monaten zur Welt gekommen. Und er konnte sein Aussehen verändern. Wenn er sich außerhalb ihres Hauses befand, entschied er sich für ein Aussehen, wie die Karganesen es hatten er konnte nach Belieben seine Gestalt wechseln und jede Form annehmen, die ihm gefiel. Er war durch die Magie, die vor seiner Geburt durch seinen Körper gelaufen war, zu einem Narbigen geworden, aber die Narben waren
bisher nur von Vorteil gewesen. Er beherrschte das Karganesische schon vor seiner Geburt, und weil er nach außen hin ein freundliches Kind war und sich überdies das Aussehen eines Karganesen geben konnte, und weil er mit der scheinbaren Unschuld eines Kindes sprach, aber die Weisheit eines Erwachsenen zur Schau trug, fühlten die Karganesen sich zu ihm hingezogen wie Bären zu Fischen. Sie bewunderten ihn, sie hörten auf ihn, und wenn er ihnen mit dieser unterwürfigen, kindlichen Stimme einen Rat gab, befolgten sie diesen. Er wusste genug über ihre Prophezeiungen und ihre Legenden, weil er sie beobachtet hatte, bevor er den Körper des Säuglings übernahm, um zu erkennen, auf welche Weise er am besten in das Weltbild dieser Geschöpfe hineinpasste. Den Karga468
nesen erschien er als der Erlöser, auf den sie gehofft hatten, der ihnen versprochen war, um sie in die Reichen Länder zurückzuführen. Das, so erklärte er Danya mit einem Lachen, passte wunderbar in seine Pläne. Die Maus schrie vor Schmerz, und Luercas kicherte. »Hör auf damit«, sagte Danya. »Oh, bitte. Sie ist ein Schädling. Die Karganesen töten diese Mäuse ständig, und ich habe noch nie gesehen, dass du aus dem Haus gelaufen wärest, um zu protestieren.« »Aber sie foltern sie nicht. Sie sitzen nicht da und weiden sich an den Qualen des armen Geschöpfs.« »Sie gewinnen auch keine Magie aus dem Tod des armen Geschöpfs, was absolute Verschwendung ist. Ich tue zwei nützliche Dinge gleichzeitig, wenn ich die Maus töte ich befreie das Dorf von einem weiteren Schädling, und ich führe mir ein wenig Energie zu, die ich dann nicht von den Dorfbewohnern nehmen muss. Oder von dir.« Er drehte sich um und lächelte sie an. Seine blauen Augen waren so kalt wie der zugefrorene Fluss, und Danya hasste ihn noch mehr. Sie sagte nichts, und nachdem er sie kurz mit seinem Blick gestreift hatte, drehte er ihr wieder den Rücken zu und beschäftigte sich erneut damit, die Maus zu peinigen. »Wir werden bald von hier weggehen können«, sagte er. »Weggehen?« »Aber ja doch. Es wird nicht mehr lange dauern, dann können wir nach Calimekka zurückkehren.« Danya stieß einen verächtlichen Laut aus. »Wir sollen also wieder durch das vereiste Ödland wandern, ja?« »Keineswegs. Wir werden bei gutem Wetter reisen. Und wir werden im großen Stil reisen, du und ich.« Er zuckte beiläufig mit den Schultern. »Und dann sollst du deine Rache haben.« Ein leises Kichern begleitete seine Worte. »Die hast du dir wahrhaftig verdient.« Rache. Sie dachte an Crispin, an Anwyn und Andrew, die 469
schreiend in einer Lache ihres eigenen Blutes lagen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, diese Männer auf die gleiche Weise zu quälen, wie sie sie gequält hatten, sie auf die gleiche Weise zu vernichten, wie sie sie vernichtet hatten. Sie starrte die beiden Finger an ihrer rechten Hand an oder eher die Krallen, die aus dem Zeigefinger und dem mittleren Finger herauswuchsen: fast schwarz, schuppig und mit Klauen anstelle von Nägeln. Ihre Erinnerung daran, dass das Leben der drei Sabirs ihr gehörte. Alles, was ihr zugestoßen war, und alles, was sie getan hatte, war die Schuld dieser Männer. Es war die Schuld ihrer Familie, der Galweighs, die sie nicht gerettet hatten. Und es war Luercas Schuld. Folter Vergewaltigung Verwandlung Schwangerschaft Schmerz Geburt Mord Sklaverei. Das war zu dem Mantra geworden, das ihrem Zorn Nahrung gab, das sie von einem Tag zum nächsten weiterleben ließ. Sie war heute Luercas Sklavin, weil ihr damals niemand geholfen hatte. Und sie würden alle für das Leid zahlen, das ihr widerfahren war. Alle, wie sie da waren, würden irgendwie zahlen.
Kapitel 50 Kait spürte, dass sie und Ry langsam Fortschritte machten. In den ersten paar Tagen arbeitete sie noch nicht mit ihren Talismanen sie wollten sich zuerst das Vertrauen ihrer Kunden sichern und sich einen Ruf innerhalb der Drachenenklave erwerben. Und ihre Strategie schien zu funktionieren. Kait frisierte Haare und war dankbar für ihre diplomatische Ausbildung, die davon ausgegangen war, dass sie gelegentlich ohne Diener zurechtkommen und trotzdem geziemend ihre Familie repräsentieren musste. Als sie damals den Frisierkurs besuchte, hatte sie sich beklagt, dass er reine Zeitverschwendung sei. Sie fragte sich, ob sie irgendwann einmal die Frau wieder finden würde, die sie damals ausgebildet hatte, um sich für ihre Geringschätzung zu entschuldigen und zuzugeben, dass sie sich geirrt hatte. »Was du auch machst, mach es gut«, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt, und ihr Vater hatte hinzugefügt: »Wissen ist niemals verschwendet.«
Sie hatte auch mit ihren Eltern gestritten in der hochmütigen Überzeugung, dass ihre Stellung im Leben, ihr Talent und ihre Intelligenz sie davor bewahren würden, jemals einer so niederen Beschäftigung nachgehen zu müssen. Auch bei ihnen hätte sie sich entschuldigen müssen, obwohl sie niemals Gelegenheit dazu bekommen würde. Doghall war sich ganz sicher, dass beide bei dem Massaker ums Leben gekommen waren. Jetzt stand sie den ganzen Tag auf einer zugigen Veranda vor einem der öffentlichen Bäder der Drachen, bleichte und färbte und lockte Haare mit Brenneisen oder entkrauste sie mit einer anderen Art von Eisen; oder sie flocht Perlen, Juwelen und Bänder ein und gab den Frisuren ihrer Kunden stets ein gewisses Etwas, 471 eine persönliche Note so arbeitete sie zum Beispiel in eine Kreation einen kleinen Käfig mitsamt einem lebenden Singvogel ein und stattete einen anderen Kunden mit einer hübschen Elfenbeintänzerin aus. Sie brachte bei den Männern auch die Barte in Form, und es fehlte ihr nicht an männlicher Kundschaft, die ebenfalls ihre Haare bleichen, färben oder locken ließ. Ihre Geschäfte gingen von Tag zu Tag besser. Nach der ersten Woche begann sie, ihre Kunden mit den Talismanen zu berühren. Sie kam jeden Tag kurz mit Ry zusammen, morgens, wenn sie ihre Arbeit auf der Veranda aufnahmen, und manchmal auch abends, wenn er wieder ging. Sie beachteten einander nicht mehr, als Fremde es eben taten, wenn sie im selben Gebäude arbeiteten. Ry ging in die Badehäuser und massierte Muskeln und Egos. Kait bemerkte, dass auch seine Geschäfte gut liefen. Aber das war natürlich nicht von Dauer. Es war an einem feuchten, grauen Morgen. Kait stieg auf die Veranda hinauf und nickte Ry höflich zu, als dieser an ihr vorbei ins Badehaus ging. Dann entzündete sie das Feuer in dem kleinen Ofen, auf dem sie ihre verschiedenen Brenneisen erhitzte. Sie stellte die Töpfe mit Henna und Kalk zurecht, legte Handtücher, Bürsten und Rasierklingen bereit und tauchte ihre Fingerspitzen in geschmolzenes Wachs damit die Talismane sich nicht in ihre eigenen Hände senkten, wenn sie sie aufnahm. Dann gab sie einige Talismane in die Hüfttasche ihrer Arbeitsschürze und beobachtete schließlich eine Gruppe von Musikanten, die auf der anderen Seite des Platzes, ein gutes Stück von dem Springbrunnen des Badehauses entfernt, ihre Instrumente aufstellten. Einige der Drachen waren Frühaufsteher; Kait hatte schnell gelernt, dass sie mit ihren Vorbereitungen gleich nach Sonnenaufgang fertig sein musste. Ihre ersten Kunden an diesem Morgen waren Männer. Sie sahen nicht so jung aus wie die meisten der anderen, die sie bisher bedient hatte, aber sie hatten dieselbe hochmütige Haltung, die Kait inzwischen mit allen Drachen verband. Sie benahmen sich stets so, als sei Kait unsichtbar, es sei denn, sie erklärten ihr gerade, wie sie ihr Haar frisiert haben wollten. Diese Behandlung passte ihr sehr gut, und sie war so unterwürfig, wie sie es nur sein konnte. Sie stutzte den Männern die Barte, brachte sie in Form und arbeitete in den einen Schnurrbart Bänder ein und in den nächsten Perlen; sie legte ihren Kunden das lange Haar zu den schweren Locken, die viele der Männer bevorzugten, und kaschierte in einem Fall geschickt eine kahle Stelle. Als sie fertig war, kamen mehrere Frauen aus den Bädern und setzten sich auf die Bänke am Brunnen, um zu warten, bis sie an die Reihe kamen. Schließlich traten sie lachend und miteinander tuschelnd näher, und die Männer standen auf, als wollten sie gehen. Aber stattdessen zogen sie sich nur an den Rand der Veranda zurück und winkten die Frauen zu sich. Kait konnte riechen, dass etwas an ihnen nicht stimmte es war der Geruch der Erregung und erinnerte sie an Jäger, die ihre Beute in die Enge trieben. Sie konnte allerdings nichts Ungewöhnliches an der Situation erkennen schließlich blieben ihre Kunden manchmal ein wenig länger, um ihr zuzusehen, wenn sie ihre Freunde bediente. Aber ihre Instinkte warnten sie, dass irgendetwas geschehen würde. Sie straffte sich und trat näher an ihren Ofen und ihre Eisen heran, obwohl sie sich gleichzeitig vor den Frauen verbeugte und sie bat, festzulegen, wer die Erste sein sollte. Aus dem Eingang des Badehauses, der den Musikanten am nächsten war, traten fünf oder sechs Männer, die stehen blieben, um deren Spiel zu lauschen. Drei weitere Männer kamen aus der Tür des Badehauses direkt neben dem Springbrunnen und schlenderten gemächlich auf Kait zu, scheinbar tief in ein Gespräch versunken. Eine Kutsche rollte lautlos vor dem Badehaus aus, und ein Dutzend Soldaten in der grünsilbernen Uniform der Sabirs halfen einer verschleierten, deformierten Gestalt beim Aussteigen und den Gehsteig hinauf. 472
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Sie war umzingelt, und die Soldaten der Sabirs versperrten ihr sogar den Fluchtweg über die Straße. Aber niemand machte Anstalten, zum Angriff überzugehen. Kait roch die Bereitschaft zum Kampf, aber der Sturm, der dieser Bereitschaft normalerweise folgte, blieb aus. Stattdessen setzte sich eine der Frauen auf den Stuhl vor Kait und hielt ihr ein Schmuckstück hin. »Arbeite mir das hier ins Haar«, sagte sie. »So wie du vor ein paar Tagen den kleinen Vogel im Käfig für Alisol gemacht hast.« Sie reichte Kait eine fein geschnitzte Ebenholzkugel mit Einlegearbeiten zwischen leicht erhabenen Holzrippen. Jede Rippe trug eine Rose und einen Dorn ... und plötzlich erkannte Kait das Schmuckstück. Es war ein Kleinod aus dem Besitz der Galweighs etwas, das sie im Zimmer einer Kusine oder einer Tante auf einem Sockel hatte stehen sehen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wo. Aber die blonde Frau vor ihr war weder durch Geburt noch durch Heirat eine Galweigh. Sie hatte kein Recht auf die Kugel. Kait griff danach und barg sie in ihrer Hand. Blitzartig spürte sie, wie aus der Kugel etwas nach ihr zu greifen versuchte, etwas, das sich schwer gegen ihre Schilde stemmte. Sie sah der Frau in die Augen und entdeckte Interesse, Spannung und dann das Ergötzen des Jägers, der den Pfeil sein Ziel treffen sieht und schließlich beobachtet, wie das Opfer zu Boden fällt. Kait zitterte, und ihr Herz raste. Die Kugel war eine Falle gewesen ... und ein Test. Indem sie der Falle auswich wäre sie nicht gut beschirmt gewesen, hätte der Zauber, den die Kugel ausgelöst hatte, sie verschlungen , war sie in dem Test durchgefallen. Sie hatte bewiesen, dass sie keine hilflose Dienerin war, sondern ein gefährlicher Eindringling und Spion. Sie hatte die Zeit für eine einzige Bewegung. Sie steckte den Ball in ihre Schürzentasche und konnte, indem sie das tat, die Talismane in der Tasche mit dem Wachs an ihren Fingerspitzen auffangen. Die Frau erhob sich. »Dann bist du also doch die Richtige«, sag474
te sie. »Das dachte ich mir.« Sie lächelte Kait an. »Du kannst still und leise mit mir gehen, oder diese Männer können dich hinter sich herzerren.« »Ich werde nirgendwo mit Euch hingehen«, sagte Kait. »Glaubst du?« Die Männer umstellten Kait mit gezückten Waffen. Sie konnte nicht weglaufen, und sie konnte sich nicht verwandeln, ohne das eine Geheimnis preiszugeben, das ihr später vielleicht bei ihrer Flucht helfen würde. »Gib mir meinen Ball zurück«, sagte die Frau und streckte die Hand aus. Kait tat so, als zögere sie, dann nahm sie die Kugel aus der Tasche und drückte sie der Frau in die Hand. Gleichzeitig streifte sie ihre Haut mit einem Talisman. Ihre Poren nahmen den Talisman sofort und ohne dass die Frau etwas bemerkte in sich auf. »Komm jetzt mit uns. Du willst sicher nicht gleich hier, an Ort und Stelle, sterben, und ich verspreche dir, genau das wird geschehen, wenn du dich gegen uns zur Wehr setzt.« Kait verschränkte die Arme vor der Brust und hielt ihre Fingerspitzen Wohlverborgen. An jeder klebten mehrere Talismane; sie würde sie am Ende zwar verschwenden, aber sie hatte keine andere Wahl. Die Männer traten vor, um sie zu ergreifen, und als ihre Messer und Schwerter sich bereits auf sie gerichtet hatten, nickte sie endlich. »Ich komme mit.« Etwas in dem Gesicht der Frau veränderte sich. Sie wurde blass, dann sah sie sich zuerst mit Erstaunen und schließlich mit Entsetzen in den Augen um. Nach einer Weile wurde ihr Gesicht wieder vollkommen ausdruckslos, aber Kait wusste, was geschehen war. Als sie Kait das nächste Mal ansah, war sie ein anderer Mensch. Sie war die Person, der der Körper gehörte. Kait nickte; die Frau blinzelte ein paar Mal. Weit fort in den Bergen warteten ihre eigenen Leute nur darauf, dass sie die Männer berührte, damit sie die Drachenseelen aus ihnen herausziehen konnten. Die wahren Besitzer der Körper würden ihr helfen. Sie würde überleben. 475
Hinter ihr sagte eine vertraute Stimme: »Das ist Kait. Ry ist im Badehaus, Parata.« Sie drehte sich maßlos erstaunt um. Valard war hinter sie getreten. Er stand neben dem verzerrten, verschleierten Geschöpf, das aus der Kutsche gestiegen war. Das Geschöpf hob seinen Schleier, und Kait stöhnte leise. Sein Gesicht war geschmolzen. Seine Augen waren vollkommen verschwunden, seine Nase war ein klaffendes Loch in der Mitte seines Gesichtes, der Mund eine gezackte, schief stehende Wunde, die auf der einen Seite zu einem lüsternen Grinsen verzogen war. Von den erschlafften Lippen hingen Speichelfäden herab. Aus einer grauen Stelle auf der einen Wange spross
struppiges Haar, aus der Stirn ragten Schuppen wie gezackte Zähne hervor, und aus den leeren Augenhöhlen, dem herunterhängenden Kinn und aus den Stellen, an denen die Ohren hätten sein sollen, baumelten Hautfetzen. Valard lächelte erst Kait an, dann das Geschöpf an seiner Seite. »Lasst mich die Vorstellung übernehmen«, sagte er. »Kait Galweigh, das ist Imogene Sabir, eine liebe Freundin von mir. Parata Sabir, das ist Kait Galweigh.« Er lachte leise auf. »Parata Sabir wäre unter normalen Umständen deine Schwiegermutter gewesen. Das heißt, wenn ihr beide, du und Ry, eine Zukunft gehabt hättet.« Aus dem Badehaus hörte Kait Kampfgeräusche, dann Rys Stimme, die ihr zurief: »Kait, lauf!« Danach drang nur ein gedämpftes, Unheil verkündendes Schweigen zu ihr herüber. Kait überlegte nicht lange, sondern ging zum Angriff über. Sie duckte sich unter einem der Messer hindurch, schlug dem Mann, der es hielt, ins Gesicht, wirbelte dann zu einem anderen herum und schlug auch diesen nieder, bevor sie einen dritten aus dem Weg stieß und sich befreite. Sie rannte auf das Badehaus zu und wünschte nur, sie hätte eine Waffe gehabt. Noch im Laufen verwandelte sie sich und fragte sich verzweifelt, ob sie nicht etwas irgendetwas tun konnte, um Ry zu retten. »Lasst sie laufen«, hörte sie einen der Männer hinter sich sagen. »Sie wird nicht weit kommen.« Ihre letzte Verwandlung lag noch nicht lange genug zurück und hatte sich über einen zu großen Zeitraum erstreckt; ihr Körper konnte die Gestalt des Jägers nur schwach umfangen. Sie sprang auf vier Beinen und mit gebleckten Zähnen weiter; ihre Kleider schleiften auf dem Boden hinter ihr her, und obwohl sie den Karnee-Zorn und den Karnee-Hunger spüren konnte, entglitten ihr diese Regungen auch schon wieder. Ry lag reglos auf dem glatten, weißen Fußboden des Badehauses inmitten einer erschreckend roten Lache. Blut verklebte sein Haar und verströmte seinen typischen, an Eisen erinnernden Geruch. Kait konnte die Furcht der Männer schmecken, die sie heranstürmen sahen. Sie erhob sich fauchend in die Luft, um jeden zu töten, der in ihre Nähe kam um sie alle zu töten. Aber ihre ausgefahrenen Krallen wurden mitten im Sprung stumpf und weich und dünn und schwach. Ihre Pfoten formten sich wieder zu Händen; ihre Schnauze rundete sich einem menschlichen Kiefer entgegen; ihr Körper wurde länger und schmaler, und als sie ihr Ziel erreichte, befand sie sich auf halbem Wege zwischen Mensch und Tier und war zu unbeholfen, um auch nur im Geringsten gefährlich zu sein. Der Mann schlug ihr mit dem Knauf seines Schwertes gegen die Schläfe, und eine allumfassende Röte erblühte hinter ihren Augen. Sie fiel zu Boden und spürte noch den harten Aufprall. Danach spürte sie nichts mehr. 476
Kapitel 51 Dafril betrachtete die gefesselten Körper zu seinen Füßen. Das Mädchen, Kait, war seine erste Wahl für einen neuen Körper gewesen aber er zog es nicht einmal in Erwägung, den Spiegel der Seelen zu benutzen, um jetzt, da er sie in der Hand hatte, noch einen Tausch vorzunehmen. Zum Ersten hatte er bereits eine Menge Energie und Anstrengung in die Veränderungen an Crispin Sabirs Körper investiert, damit er seinen zukünftigen Bedürfnissen als Unsterblichem gerecht wurde. Zum Zweiten fand er die Vorstellung, bis in alle Ewigkeit ein weibliches Wesen zu sein, nicht mehr so reizvoll wie am Anfang. Und zum Dritten war er sich der Tatsache bewusst, dass jede Benutzung des Spiegels mit einem hohen Risiko verbunden war. Er wollte sich nicht aus dem Körper, den er jetzt bewohnte, herausbewegen, nur um entdecken zu müssen, dass er den Körper, den er begehrte, nicht übernehmen konnte. Er beobachtete ihre Atmung. Ein hübsches Mädchen, wenn auch zu dünn. Ihr langes Haar ergoss sich über den Boden und sah aus wie ein Vorhang aus Seide. Es war kurz und rot gewesen, bevor sie sich verwandelt hatte, um die Wärter ihres Geliebten anzugreifen; Dafril konnte jetzt mit ansehen, wie ihr Körper langsam in seinen normalen Zustand zurückkehrte. Diesen Prozess zu beobachten war genauso interessant wie das Erlebnis selbst. Flüchtig beschäftigte er sich mit der Vorstellung, sie zu zähmen und als Schoßtier zu halten. Aber dann verwarf er den Gedanken gleich wieder. Er hatte sowohl für sie als auch für ihren Geliebten eine andere Verwendung. Mehrere Verwendungen, um genau zu sein. Keine davon war besonders unterhaltsam, aber sie waren alle notwendig. 478
»Sperrt sie jetzt bitte in die Käfige«, sagte er. »Wenn sie aufwachen, gebt ihnen zu essen. Sie werden Hunger haben.«
Die Diener nickten und schleiften die immer noch atmenden Körper ohne jede Sanftheit oder Besorgnis über den Boden. Dann warfen sie zuerst den einen ihrer Gefangenen in einen Eisenkäfig mit schweren Riegeln, die sie sorgfältig vorlegten und sicherten, dann verfuhren sie mit dem zweiten Gefangenen auf die gleiche Weise. Dafril beobachtete das Geschehen mit großer Zufriedenheit. Die Käfige waren stabil genug, um Karnee darin gefangen zu halten sogar gesunde Karnee. Und er brauchte diese beiden in einem guten Gesundheitszustand, weil ihr Leben und ihre Seelen als Zündvorrichtung für die Zauber dienen sollten, die der Unsterblichkeitsmaschine ihren Brennstoff geben würden. Nur noch das Werk eines einzigen Tages stand jetzt zwischen ihm und seiner Erhebung zum Gott. Er holte tief Atem und blickte auf seine bewusstlosen Feinde hinab. Sie würden die Behandlung aushalten, bis er sie brauchte, und in der Zwischenzeit würde die erschreckende Vernichtung von Drachen ein Ende finden. Ihm gefiel der Gedanke, die Unsterblichkeitszauber mit Hilfe gerade jener Feinde zu zünden, die so viele seiner Freunde und Verbündeten vernichtet hatten. Aber er musste unbedingt herausfinden, wie sie das machten, bevor er sie tötete. Wenn sie Drachenseelen aus ihren Körpern stehlen konnten, war vielleicht auch jemand anderes dazu in der Lage. Er hatte nicht tausend Jahre in einem selbst errichteten Gefängnis gewartet, damit man ihn jederzeit aus dem Körper seiner Wahl herausreißen und in den Schleier zurückschleudern konnte, um wieder und immer wieder zu einem nichts ahnenden, unwissenden, kreischenden Säugling zu werden. »Wenn sie aufgewacht sind und gegessen haben, sagt mir Bescheid«, befahl er den Wärtern. »Ich muss sie befragen. Ganz gleich, was ihr tut, ihr dürft sie auf keinen Fall berühren oder sie zu nahe an euch heranlassen. Sie sind heimtückische Bastarde, 479 obwohl man sich das jetzt nur schwer vorstellen kann, wenn man sie so daliegen sieht.« Er wandte sich ab, um das Herz der Zitadelle zu verlassen, dann drehte er sich noch einmal um. »Ihr habt es hier nämlich mit Gestaltwechslern zu tun.« Beide Wärter zischten einige Worte, die ihren ganzen Abscheu verrieten. Lächelnd wandte er sich wieder zum Gehen. Gut. Keiner seiner Gefangenen würde in der Lage sein, bei ihren rein menschlichen Wärtern Sympathie zu erringen. Der Hass der Calimekkaner auf die Narbigen würde sich zu seinen Gunsten auswirken und dafür sorgen, dass seine Gefangenen auch weiterhin gefangen blieben. Er konnte sich unbesorgt wieder an die Arbeit machen.
Kapitel 52. Kait? Kannst du mich hören?« Das Flüstern war so leise, dass menschliche Ohren es niemals gehört hätten. Kait jedoch schüttelte jetzt die letzten Reste des Nebels von sich ab, der ihren Geist umwölkt hatte. »Ja«, wisperte sie. »Bist du verletzt?« »Nein. Hungrig, aber nicht verletzt. Und was ist mit dir?« »Mir geht es gut. Mein Kopf ist geheilt, während ich ... geschlafen habe. Er tut immer noch ein bisschen weh, aber das wird vorbeigehen, sobald ich etwas zu essen bekomme.« »Gut. Ich liebe dich.« Sie blieb ganz still liegen, während sie ihm diese Worte zuflüsterte sie konnte die Männer in der höhlenartigen Halle riechen, die sie beobachteten. Sie heuchelte Bewusstlosigkeit und sorgte dafür, dass ihre Muskeln entspannt und ihre Atemzüge gleichmäßig waren. »Ich liebe dich auch.« Er schwieg einen Augenblick lang, dann fuhr er fort: »Ich weiß nicht, wie viel du von dort, wo du liegst, sehen kannst, aber ich habe mich ein wenig hin und her bewegt, und meine Augen sind offen. Wir sind in einem Käfig, und überall um uns herum stehen Artefakte der Alten. Ich habe mein Schloss untersucht. Wir werden nicht hier rauskommen, es sei denn, du hast etwas bei dir, womit du Metall durchsägen kannst.« »Ich habe nichts. Kannst du nicht irgendetwas mit Magie unternehmen?« »Nein. Die Schlösser sind gegen alle Zauber gesichert.« Dafür hatten die Drachen natürlich gesorgt. Sie an ihrer Stelle hätte es genauso gemacht. Soweit es die Drachen anging, waren allein sie und Ry verantwortlich für das Verschwinden etlicher 481 Drachen aus ihren Reihen. Also war es nur logisch, dass man sie und Ry in das stärkste Gefängnis gebracht hatte, das die Drachen ersinnen konnten, gesichert von ihren mächtigsten Schlössern und mit ihren mächtigsten Zaubern gegen jede mögliche Rettung von außen geschützt. Wenn sie wussten, wie man die Talismane abwehren konnte, konnten sie Doghall, Hasmal, Alarista und alle anderen, denen
sie oder Ry am Herzen lagen, daran hindern, sie durch die Sehgläser zu beobachten. Selbst wenn die Drachen nicht wussten, wie sich solche Sehungen verhindern ließen, würden sie vielleicht unwissentlich Erfolg haben, indem sie einen machtvollen Schildzauber errichteten, damit Ry und Kait nicht mit magischen Mitteln gegen sie kämpfen konnten. Sie musste davon ausgehen, dass sie und Ry jetzt allein waren, unsichtbar für jeden, dem sie etwas bedeuteten, und ohne Hoffnung auf Rettung. Sie mussten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. »Siehst du irgendeine Möglichkeit, hier rauszukommen?«, fragte sie. »Irgendetwas?« »Nein.« »Dann müssen wir sehen, was geschieht, und abwarten.« »Ich übernehme die erste Wache. Schlaf jetzt. Du hast eine Verwandlung hinter dir du brauchst eine Ruhepause. Ich sage dir Bescheid, wenn sich etwas ändert.« »Ich liebe dich«, flüsterte sie noch einmal. Er lachte leise. »Ich weiß. Ich liebe dich auch.« Doghalls Seele zog sich an einem Energiestrom entlang, der die ganze bekannte Welt und selbst den Schleier dahinter durchmaß; sein Körper saß in einem kalten Zelt im Halbdunkel und in fast vollkommener Stille; er atmete kaum noch und war vor Erschöpfung dem Tode nahe. Sein Bewusstsein sein Ich betrachtete jedoch durch die Augen eines mächtigen Drachen eine zarte Silberrose, die in der Mitte eines Gartens voller weißer Blumen wuchs. Die Augen des Drachen waren fest auf die Rose gerichtet, aber er sah sie nicht wirklich; er frohlockte innerlich und war dorthin ge482
gangen, um allein zu sein und die Süße des Augenblicks voll auszukosten. Doghall hätte ihn auf der Stelle aus dem Körper herausreißen können, aber etwas an dem freudigen Überschwang des Mannes ließ ihn vorsichtig sein. Er konnte es sich leisten, ein Weilchen zu warten, wenn es sein musste die Gefahr, der er sich aussetzte, solange er sich außerhalb seines eigenen Körpers befand, war groß, aber die Information, die er vielleicht von dem Drachen würde erhalten können, war das Risiko möglicherweise wert. Daher achtete er sorgfältig darauf, im Denken des Drachen keinerlei Störung zu verursachen, und der Mann ahnte nichts von seiner Gegenwart. Doghall folgte ihm, während er die Bilder einer lange erwarteten Zukunft an sich vorbeiwandern ließ, wie eine zukünftige Braut ihr seidenes Hochzeitsgewand und ihre Mitgift berühren mochte. Doghall fing ein Bild von einer Platinkugel auf, die in einem Teich aus einer zähen, smaragdfarbenen Flüssigkeit schwamm, während ein einzelner Mann letzte Verbesserungen daran vornahm. Der Drache benutzte für diese Vorrichtung den Ausdruck »Unsterblichkeitsmaschine«, und er schien davon überzeugt zu sein, dass der Apparat noch am selben Tag fertig gestellt werden würde. Er hatte vage Bilder von komplizierten Maschinen in seinem Denken, Maschinen, die in die Türme der Alten eingebaut wurden. Im Denken des Drachen war die Stadt der Alten noch immer übersät von solchen Türmen, bei denen es sich, wie Doghall nun entdeckte, um die Geräte der Alten handelte, die die Drachen hatten kaufen wollen, als Ian und Hasmal sich als Händler ausgaben. Alle wirklich wichtigen Geräte waren inzwischen dort versammelt. Andere konnten hinzugefügt werden, waren aber nicht von ausschlaggebender Bedeutung und würden es nicht sein. Endlich bekam Doghall den Lohn, auf den er am inständigsten gehofft hatte das kurze Aufblitzen eines Bildes von Kait und Ry, die beide bewusstlos und blutend dalagen, eingepfercht in winzige, abgeschlossene Käfige, bewacht von Männern und Magie. Die von Jubel erfüllten Gedanken waren für Doghall klar und 483
deutlich zu hören. Der Motor ist fertig, die Technothaumatare stehen bereit, und die Opfer für die Zündung befinden sich in den Gefängnispferchen. Heute werden wir zu Göttern. Doghall hatte, was er brauchte. Er stürzte sich in den Drachenkörper, dehnte sich aus und machte sich breit, bis er die Seele des Drachen immer weiter verdrängte und sie schließlich ihren Zugriff auf den Körper, den sie gestohlen hatte, verlor. Dann ließ er ein Donnern durch die Gedanken des Drachen dröhnen: Du wirst niemals ein Gott sein. Bei meiner Seele, du hast deine letzte Untat begangen, Drache. Hasmal war ein einziges regloses Zentrum inmitten eines heftigen Sturms. So starr wie Stein richtete sein Blick sich nach innen und außen. Er atmete kaum, nahm die Menschen um sich herum beinahe nicht mehr wahr und sprach kein einziges Wort. Er saß Doghall gegenüber, der das zweite Zentrum
des Sturms war, und nahm nur sehr selten etwas von seiner Umgebung wahr: Alarista, die die Reihe der Sehgläser im Auge behielt, Yanth und Jaim, die die Sehgläser herbeibrachten, auf die Alarista deutete, und Freiwillige aus den Reihen der Gyrus, die die bereits gefüllten Seelenspiegelchen wegbrachten. Aber er und Doghall... saßen da. Langsam füllten sie ihre Spiegel mit Drachenseelen. Sie verfolgten eine jede Seele über die Machtlinien, die sie mit ihren Feinden verband, blickten durch die Augen ihrer Feinde und konnten doch nichts entdecken, das ihnen Aufschluss gegeben hätte, wo Kait oder Ry hingebracht worden waren oder was ihnen zugestoßen war. An diesem Punkt angelangt, woben sie mit großer Vorsicht den Zauber, der die ursprüngliche Seele in ihren jeweiligen Körper zurückführte. Zu guter Letzt zogen sie dann die todbringende Drachenseele durch ihr eigenes Fleisch und warfen sie in einen der bereitliegenden Ringe. Aber Alarista hatte das Kunststück, eine fremde Seele in ihrem Körper festzuhalten, während sie sie in die wartende Falle hineinprojizierte, noch nicht gelernt; sie hatte es einmal versucht, und der 484
Drache hätte sie beinahe aus ihrem Körper verdrängt und sie übernommen, und einzig die Tatsache, dass Doghall und Hasmal bereitgestanden hatten, verhinderte das Unglück. Die beiden hatten ihr einen Talisman in die Haut gedrückt und sich mit ihr verbunden, um das Ungeheuer aus ihr herauszuziehen und sie zu retten. Weder Jaim noch Yanth waren mit der Magie vertraut genug, um Zauber zu weben oder ihnen über lange Entfernungen hinweg zu folgen. Und Hasmal wollte die Last nicht Doghall allein tragen lassen, obwohl er keine Minute daran zweifelte, dass der alte Mann auch diese Bürde schultern würde. Doghalls Haut war von einem teigigen Grau, und seine Fingernägel, seine Lippen und die Ränder um seine Augen herum hatten unter dem Druck ein Purpur überhauchtes Weiß angenommen. Während Hasmal nur leicht bebte, durchlief Doghalls Körper ein heftiges Zittern. Hasmal glaubte nicht, dass der alte Mann noch allzu viele Schlachten mit ihren Feinden überleben würde, bevor einer von ihnen es fertig brachte, ihn zu übernehmen und Hasmal ihn retten musste. Und dann wäre Hasmal der Einzige, der die übrigen durch Magie mit ihnen verbundenen Drachen vernichten oder Ry und Kait retten konnte. »Hast du sie schon gefunden?«, fragte Yanth Alarista. Hasmal hörte die Frage weit hinten in seinen Gedanken und gestattete einem Teil seiner Aufmerksamkeit, auf die Antwort zu warten. Vor allem aber konzentrierte er sich auf Doghall, der gerade wieder einen der markierten Drachen mitbrachte. »Nein, ihre Sehgläser sind immer noch dunkel.« »Und du hast sie auch nicht durch die Augen eines anderen gesehen?« »Noch nicht. Aber ich halte Ausschau nach ihnen. Wir haben einige Drachen markiert, die viel in Bewegung sind. Sie treffen sich mit anderen, sie scheinen sehr erregt zu sein. Ich habe alle Mühe, zu hören, was sie sagen einige der Verbindungen sind sehr schwach. Ich habe zum Beispiel einen hier, der meiner Meinung nach Magie wirkt und an irgendeinem Artefakt arbeitet.« »Das hört sich nicht gut an.« 485
»Ich weiß. Das Artefakt macht mir mehr Sorgen als alles andere, was wir bisher gesehen haben.« Doghalls Augen füllten sich mit Tränen, und Schmerz verzerrte sein Gesicht. Seine Atmung beschleunigte sich, und er riss die Augen auf. Er bleckte die Zähne zu einem lautlosen Knurren, und Hasmal spannte alle Muskeln an und konzentrierte sich einzig auf den anderen Falken. Der Drache, der durch seinen Körper kam, setzte sich heftig zur Wehr, und Doghall sah so aus, als würde er den Kampf vielleicht verlieren. Hasmal hielt auf einer mit Wachs bestrichenen Fingerspitze einen Talisman bereit und wartete ab. Doghalls Hände krallten sich um den winzigen, leeren Seelenspiegel, der hinter ihm auf dem Boden stand. Hasmal wartete weiter und hielt sich bereit, die Worte des Verbindungszaubers bereits auf den Lippen und ihre Bedeutung fest in seinen Gedanken verankert; es fehlte nur noch der Satz des Zauberspruches. »Ja«, stieß Doghall heiser hervor, und aus der Mitte seiner Brust ergoss sich ein helles Licht in den goldenen Ring. »Wachen in Bereitschaft«, rief Alarista, und die Soldaten, die im hinteren Teil des Zeltes standen, zogen ihre Waffen. Hasmal versuchte, sie nicht zu sehen, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was ihre Anwesenheit bedeutete. Aber die Realität dieser auf Doghall gerichteten Schwerter war unausweichlich.
Diese Seele, die in den Ring floss, war vielleicht nicht die des Drachen. Hasmal und Doghall hatten über die Möglichkeit gesprochen, dass irgendein Drache vielleicht in der Lage sein würde, ihre Seelen zu bezwingen und sie nicht nur in den Schleier zu schicken, von wo sie sie höchstwahrscheinlich zurückholen konnten, sondern in einen der kleinen Seelenspiegel, aus denen es kein Entkommen gab. Wenn es einem Drachen gelingen sollte, einen von ihnen in einen Spiegel zu drängen, würden sie nicht zurückkommen können. Der Drache würde dauerhaft Besitz von ihrem Körper nehmen ... und die Soldaten, die mit gezückten Waffen 486 bereitstanden, würden den Drachen töten müssen, indem sie den Körper vernichteten. Gib mir ein Zeichen, alter Mann, dachte Hasmal. Die Soldaten ließen ihn nicht aus den Augen, denn er war der Einzige, der sie beruhigen oder ihnen befehlen konnte, Doghalls Körper zu töten. Der Lichtstrom, der aus Doghalls Brust hervorbrach, wurde heller, und die mittlere Fontäne des winzigen Spiegels begann zu wachsen. Ein Teich aus Licht bildete sich im Inneren des Rings und wallte auf, so schnell wie Wasser in einem Strudel, so strahlend wie eine kleine Sonne. Ein Zeichen, gib mir ein Zeichen, dass du du selbst bist. Doghall stieß ein leises Knurren aus, und sein Körper erbebte. Das Licht, das aus ihm herausfloss, erstarb. Hinter ihm standen junge Männer mit gezogenen Waffen und sahen Hasmal ins Gesicht, ihre Augen rund und voller Angst, ihre Körper angespannt unter der Ungewissheit des Wartens. Ein Zeichen. Doghall sank in sich zusammen und sagte: »Die abscheulichsten Feinde können einem doch immer wieder die süßesten Geschenke machen. Ich weiß, wo sie sind, und ich weiß, was die Drachen mit ihnen vorhaben.« Hasmal sah Doghall in die Augen es waren die Augen des Mannes, den er als seinen Freund zu betrachten gelernt hatte. Kein Fremder blickte ihm aus diesen Augen entgegen. Hasmal sagte zu den Soldaten: »Es geht ihm gut«, und die Männer steckten ihre Schwerter weg und zogen sich wieder zurück. Sie ließen sich auf den Boden sinken, tuschelten miteinander und stießen ein nervöses Lachen aus. Doghall richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß vom Gesicht. Dann drehte er sich zu Alarista, Yanth und Jaim um. »Bringt mir sämtliche Sehgläser her. Ich will wissen, ob sich von den restlichen Drachen irgendeiner in der Nähe des Gefängnisses aufhält, wo Kait und Ry festgehalten werden, oder 487
ob einer von ihnen gerade an seinem Unsterblichkeitszauber arbeitet.« Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Hasmal. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie werden Kaits und Rys Seelen mit dem Zauber verbinden, der ihre Unsterblichkeitsmaschine in Gang setzt. Die Magie, mit der sie da arbeiten, wird Kait und Ry auslöschen nicht nur hier in diesem Leben, sondern für immer. Sie werden aufhören zu existieren, für alle Zeit. Ich werde mir einen Drachen suchen, der sich in ihrer Nähe aufhält. Du musst ihn dann aus seinem Körper herausziehen und den wahren Besitzer des Körpers dazu bringen, Kait und Ry aus ihren Käfigen freizulassen. In der Zwischenzeit werde ich einen Drachen suchen, der an dem Unsterblichkeitsmotor arbeitet, ihn oder sie aus dem Körper herausziehen und den rechtmäßigen Bewohner des Körpers dazu bringen, den Motor zu zerschmettern.« »Dann können wir einander aber nicht im Auge behalten«, protestierte Hasmal. »Wir können einander nicht zurückholen, wenn einer der Drachen uns übernimmt.« Er sprach nicht aus, dass Doghall bereits so schwach und entkräftet war, dass sein nächster Kampf mit einem Drachen gewiss mit einer Niederlage enden würde. »Wir haben keine Zeit mehr«, wiederholte Doghall. »Wenn wir sie nicht jetzt aufhalten, weiß ich nicht, wie wir sie überhaupt aufhalten sollen.« Hasmal sah die Vorahnung des Verhängnisses in Doghalls Augen. Der alte Mann glaubte, dass er sterben würde, und er würde ungeachtet aller Proteste wieder zu den Drachen gehen. Alarista, Jaim und Yanth brachten die Sehgläser herüber. Doghall teilte sie zwischen sich und Hasmal auf und drehte sie so, dass sie beide die Bilder sehen konnten, die in den Gläsern tanzten. Er sah sie lange an. Dann stieß er scharf den Atem aus. Er ergriff ein Sehglas, das zwei Hände zeigte, die mit winzigen Werkzeugen an einem empfindlichen Teil der Maschinerie arbeiteten. »Der da gehört mir«, sagte er. Dann wandte er sich wieder den anderen Gläsern zu. Hasmal
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folgte seinem Blick. »Sieh dir das an«, flüsterte Hasmal und zeigte auf eines der Gläser. Durch ein paar weit entfernte Augen sah er Ian, der in der Uniform der Wachen und mit grimmigem Gesichtsausdruck durch einen langen, weißen Korridor stolzierte. Doghall verfolgte das Bild mit zusammengekniffenen Augen und nickte. »Ich sehe ihn.« »Nur schade, dass wir den Verräter nicht von hier aus töten können.« »Aber wir können es nicht«, erwiderte Doghall kurz. »Such nach etwas, worauf wir Einfluss nehmen können.« Er beobachtete Crispin Sabir, der anders gekleidet war als an dem Tag, an dem er und Ian sich in dem Gasthaus mit ihm getroffen hatten, aber der Mann war trotzdem unverkennbar. Durch das Augenpaar, das ihn betrachtete, konnte Hasmal auch einen Blick auf die Käfige am Rande seines Gesichtsfeldes werfen. Die Käfige gerieten außer Sicht, aber er sagte: »Wir nehmen uns den da vor, oder was meinst du?« Doghall antwortete: »Er war zwar in der Nähe der Käfige, aber es sieht so aus, als würde er gleich weggehen.« »Dann mache ich mich besser sofort an ihn heran.« »Er war mit Crispin Sabir zusammen und der ist mit Sicherheit einer der gefährlichsten Drachen überhaupt.« »Aber dieser hier weiß, was wir wissen müssen.« Doghall nickte. »Du hast Recht. Geh, und möge Vodor Imrish mit dir sein.« »Und mit dir.« Hasmal nahm nur am Rande die Soldaten wahr, die hinter ihm und Doghall ihre Posten bezogen, und auch Alarista, Yanth und Jaim, die näher traten, drangen nur von fern in sein Bewusstsein. Sie würden nach Veränderungen an ihm Ausschau halten, das wusste er; sie würden es den Soldaten sagen, wenn die Seele, die in Hasmals Körper zurückkehrte, nicht seine war, und dann würde sein Körper sterben ... 489 Er schob die Angst, die ihn umklammerte, energisch beiseite und ließ sich in die Trance sinken, die es ihm ermöglichte, dem dünnen Energiefaden zu folgen, der ihn mit seinem erwählten Körper verband. Er sang leise die Worte des Zaubers vor sich hin, aber er hörte sie nicht als Worte; er fühlte sie als Pfad, der ihn immer näher und näher zu dem Feind brachte, mit dem er in Kürze kämpfen würde. Mit einem Mal hob sich die Dunkelheit über dem Pfad, den er entlangging, und er blickte durch die Augen eines anderen Mannes. Er ging neben Crispin Sabir her, nah genug, um ihm ein Messer in den Rücken zu rammen. Aber der Körper würde seinem Befehl natürlich nicht gehorchen. Er konnte sehen, was der fremde Körper sah, hören, was er hörte, fühlen, was er fühlte, wissen, was er wusste ... aber er konnte ihn nicht zu einer Reaktion zwingen. »Das war aber seltsam«, sagte der Mann, in dessen Körper er Einzug gehalten hatte. »Was war seltsam?« Crispin sah ihn an und runzelte die Stirn. »Ich hatte plötzlich einen Augenblick lang das Gefühl, doppelt zu sehen, und ich hätte schwören können, dass ich ... dass ich eine Stimme in meinem Kopf gehört habe. Es ging alles ganz schnell.« Er lachte nervös. Sei still, sei still, sei still, dachte Hasmal. Er sang den Zauber, der seine Energie bündelte und es ihm möglich machen würde, die Drachenseele aus dem Körper, den sie gestohlen hatte, herauszuziehen. Er konzentrierte sich auf die Rückführung der rechtmäßigen Seele des Körpers aus dem Schleier. Schneller. Er musste schneller machen. »Bleib genau hier stehen«, sagte Crispin, und seine Augen waren kalt und hart. »Und rühr dich nicht von der Stelle.« Du musst den Zauber spinnen. Ruf die Seele, die durch die Dunkelheit irrt, und bring sie nach Hause. Er versuchte, nicht auf die Angst zu hören, die ihn verzehrte. Wenn er mit seinem Gedanken bei seiner Arbeit blieb, konnte er den Drachen direkt un490 ter Crispin Sabirs Nase aus dem Körper ziehen, und der rechtmäßige Besitzer könnte den Mann angreifen und ihn töten. Aber das vertraute Herbeiströmen der rechtmäßigen Seele, die in ihren Körper zurückkehrte, blieb aus, die sich nähernde Wärme der Dankbarkeit fehlte, die Hoffnung, dass etwas plötzlich einen Sinn ergab. Keine verstoßene Seele antwortete auf seinen Ruf. Und die Seele in dem Körper, den er besetzt hatte, behielt mühelos den Zugriff auf ihr gestohlenes Fleisch.
Er konzentrierte sich noch intensiver auf die Seele des fremden Mannes und hielt nur die denkbar schwächste Verbindung zu seinem eigenen Körper aufrecht. Kait und Ry hatten nur dann eine Chance zu überleben, wenn es ihm gelang, die rechtmäßige Seele in diesen Körper zurückzuführen und den Mann, sobald er das geschafft hatte, dazu zu bringen, Kait und Ry freizulassen, bevor er aus der Stadt der Drachen floh. »Schnell, sag mir genau, wo du heute überall gewesen bist«, befahl Crispin dem Mann. »Ich habe mich in der Kaserne für den Sondereinsatz gemeldet. Wir sind ausgeschwärmt, um diese Gestaltwandler festzunehmen, die wir aufspüren sollten ...« »Was ist passiert, während du dort warst?« »Ich habe der jungen Frau den Fluchtweg verstellt, dann hat sie mich geschlagen, und dann ist sie wieder losgerannt.« Er zuckte die Achseln. »Sie hat mir nicht wehgetan, als sie mich schlug, sie hat's nicht mal versucht. Es kam mir in dem Augenblick ziemlich seltsam vor, aber dann hab ich nicht weiter darüber nachgedacht. Am Ende hat jemand anderes die beiden geschnappt. Und dann habe ich ihre Käfige bewacht, bis Ihr mich weggeholt habt, Herr.« Herr? Warum sollte ein Drache den anderen mit »Herr« anreden? Oder mit einem so schweren Hafenarbeiterakzent sprechen? In diesem Augenblick begriff er endlich. Es kam deshalb keine Seele zu ihm, weil keine Seele verbannt worden war. Kait hatte einen Wachmann markiert, aber dieser Wachmann war kein Drache; er war lediglich ein Soldat, der aus seiner Baracke gerufen 491 worden war, um einen Auftrag zu erledigen. Hasmal zog sich aus dem Körper zurück und machte sich daran, der schwachen Linie zu folgen, die er hinterlassen hatte, um in seinen eigenen Körper zurückzukehren. Trotzdem durchfuhr ihn ein scharfer Ruck, sobald Crispin den Soldaten berührte. Etwas Großes und Hässliches kam ihm über die Energielinie nachgejagt. Er floh auf seinen eigenen Körper zu, und Hitze und Zorn wälzten sich hinter ihm her, wuchsen und blähten sich auf und verzehrten alles, benutzten seine Energie und seine Lebenskraft, um ihm zu folgen. Er stürzte sich in sein eigenes Fleisch hinein, riss die Augen auf und machte sich daran, den Schild hochzuziehen, der ihn vor dem Ding, das ihm folgte, schützen würde, aber er war nicht schnell genug. Das Ding, der Zauber, der Jäger, den Crispin hinter ihm hergeschickt hatte, war mit ihm zusammen in dem Schild, und der Schild würde es Alarista, Jaim und Yanth unmöglich machen, irgendetwas zu seiner Rettung zu unternehmen. Er schrie: »Er hat mich erwischt!« Und sah, wie die Soldaten ihre Waffen hoben, sah, wie Alaristas Gesicht sich vor Entsetzen verzerrte, dann wurde er von dem Feuer verschlungen, und Schmerz blitzte durch seine Augen, seine Nase, seinen Mund und seine Ohren direkt in sein Gehirn hinein, und die Welt war erfüllt von einem Rauschen, als hätte sich plötzlich ein weiß glühender Ozean vor ihm aufgetan, der sich jetzt mit seinem ganzen Gewicht über ihn wälzte. Er spürte, wie sein Körper sich reckte und verdrehte, wie er von einer Strömung aus Feuer weggerissen wurde. Er wusste, dass er schrie, aber er konnte das Geräusch nicht hören, das sich seiner gequälten Kehle entrang. Er schlug um sich und kämpfte mit aller Kraft. Und plötzlich war er frei von dem Schmerz, war allein in der Dunkelheit, frierend, blind und taub. Seine Ohren waren das Erste, was wieder funktionierte. »... weiß nicht, ob du mich schon hören kannst, also, wenn du 492
es kannst, dann solltest du jetzt nicken ... Ich warte immer noch ...«Er hörte einen langen, verärgerten Seufzer, dann nichts mehr. Nach ein paar Sekunden brach die fremde Stimme abermals das Schweigen. »Also schön, dann noch einmal. Mein Name ist Dafril, und ich habe dich gefangen genommen. Du wirst mir alles sagen, was ich wissen will, entweder jetzt oder später, aber ich verspreche dir, du wirst es weitaus leichter haben, wenn du mit mir zusammenarbeitest. Ich weiß nicht, ob du mich schon hören kannst, aber ich weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, also möchte ich dir ernsthaft nahe legen, dass du, wenn du mich hörst, jetzt nickst. Meine Geduld hat ihre Grenzen, und wenn die überschritten sind, werde ich anfangen, dir Nadeln unter die Fingernägel zu schieben, weil ich dann nämlich nicht mehr glauben werde, dass du noch immer taub von dem Transfer bist, sondern weiß, dass du mir etwas vormachst. Du kannst nicht weg, du kannst dich nicht schützen, und du wirst mir sagen, was ich wissen will...« Die Wahrheit traf Hasmal härter als jeder Schlag. Er hatte nicht nur versagt, als es darum ging, Kait
und Ry eine Chance zu verschaffen, sich zu befreien, er hatte sich obendrein seinen Feinden ausgeliefert. Er hatte seine Freunde im Stich gelassen, er hatte Alarista im Stich gelassen, er hatte die Welt im Stich gelassen, er hatte sich selbst im Stich gelassen. Er schlug die Augen auf und blickte in die kalten blauen Augen von Crispin Sabir. Er war an einen Tisch gefesselt, so dass er weder Arme noch Beine bewegen konnte, und über seiner Brust und seinen Knien spannten sich schwere Lederriemen. Dafril, hatte die Stimme gesagt, aber der Einzige, der sich mit ihm in dem Raum befand, war Crispin Sabir. Dann begriff er, dass der Drache, der Crispins Körper besetzt hielt, seinen eigenen Namen genannt haben musste. Dafril. Ein Gefühl der Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Er hatte keine Waffen, mit denen er kämpfen konnte, sein Feind hatte ihn 493
so gründlich mit Schilden abgeschirmt, dass er die Bewegung der Magie in seinem eigenen Körper nicht mehr spüren konnte, und seine Freunde würden nicht einmal wissen, was mit ihm geschehen war. Er würde Alarista nie wieder sehen, sie nie wieder in den Armen halten, ihr nie wieder sagen können, dass er sie liebte und dass sie in der kurzen Zeit, in der er sie gehabt hatte, sein Leben zu etwas Vollkommenem gemacht hatte. Er würde in dem Wissen sterben, dass er sie im Stich gelassen hatte; dass er sie alle im Stich gelassen hatte. Und dann fiel ihm das Wachs auf seinen Fingerspitzen wieder ein. Und er erinnerte sich an den winzigen Talisman, der in dieses Wachs eingeschlossen war, damit er ihn auf Doghalls Haut drücken konnte, falls ein Drache Doghall aus seinem Körper verdrängte. Der Talisman war bereits mit einem Glas verbunden, dieses Glas stand direkt neben Doghall, und sobald der Talisman auf lebendes Fleisch traf, würde er zum Leben erwachen und Doghall, Alarista, Yanth und Jaim zeigen, wo er, Hasmal, war und auf diese Weise würden sie eine Chance erhalten, den Drachen gefangen zu nehmen, den Doghall für ihren Anführer hielt. Hasmal hätte beinahe gelächelt. Komm noch ein klein wenig näher, Dafril, dachte er. Nur ein klein wenig näher. Ich habe eine Überraschung für dich.
Kapitel 53 "Durch eines der Sehgläser hatte Alarista geschickte Hände beobachtet, die an einem empfindlichen Teil eines Artefakts arbeiteten, bis sie plötzlich einen Hammer ergriffen und das Ganze in Stücke schlugen. Durch das andere Sehglas hatte sie mitverfolgen können, wie der Drache Crispin sich zu dem Mann neben ihm umdrehte, und der Lichtblitz, der dann folgte, war so hell, dass er das Zelt, in dem sie saß, in seinen Schein tauchte. In diesem flammenden Licht war Hasmal verschwunden, und im Augenblick seines Verschwindens war das Glas, durch das Alarista Crispin beobachtet hatte, dunkel geworden; der Mann, durch dessen Augen sie gesehen hatte, war entweder blind oder tot. Sie hatte aufgeschrien: »Das kann nicht sein! So etwas kann man nicht einmal mit Magie bewirken!« Yanth hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt, und sie hatte das Zittern seiner Finger gespürt. Yanth der furchtlose Schwertkämpfer zitterte. Er hatte gesagt: »Das ist Drachenmagie. Du weißt nicht, was sie alles damit bewirken können.« Sie starrte zu der Stelle hin, an der Hasmal gewesen war, und wusste, dass Yanth Recht hatte. Niemand konnte sagen, welche Gräuel die Drachen zu entfesseln vermochten, wenn sie nicht aufgehalten wurden. Doghall war aus seiner erfolgreichen Schlacht mit dem Drachen zurückgekehrt, der an der Maschine gearbeitet hatte, aber er war grau vor Erschöpfung und so schwach, dass er nicht einmal aufrecht sitzen konnte. Er lag auf dem Zeltboden, versuchte immer wieder, die Augen zu öffnen, und reagierte nicht einmal, als Alarista ihm mitteilte, dass die Drachen Hasmal irgendwie in ihre Gewalt gebracht hatten. 495 Also beugte sie sich jetzt über die Sehgläser und hielt Ausschau nach irgendetwas, womit sie vielleicht Hasmal, Kait oder Ry helfen konnte. Irgendetwas hatte es ihr bisher unmöglich gemacht, durch Kaits und Rys Spiegel zu sehen, aber dieses Etwas war plötzlich verschwunden; sie konnte wieder sehen, was ihre beiden Gefährten sahen, aber keines der Bilder, die sich ihr zeigten, bedeutete irgendetwas für sie. Die beiden lagen in ihren Käfigen und sahen einander an. Gelegentlich konnte sie aus den
Augenwinkeln der beiden die Bewegung der Wachposten verfolgen, aber die Soldaten hielten sorgsam Abstand, und Kait und Ry konzentrierten sich aufeinander. Sie sprachen miteinander, obwohl sie so sorgfältig darauf achteten, ihre Lippen möglichst wenig zu bewegen, dass Alarista es erst nach einer Weile bemerkte. Sie konnte allerdings nichts von ihrem Gespräch hören. Und die beiden hatten die Augen fast geschlossen, so dass alle anderen glauben mussten, sie schliefen. Alarista blickte in die anderen Sehgläser. Nichts, was ihr von Nutzen sein konnte. Nichts, das auch nur in irgendeiner Weise auffällig gewesen wäre. Bilder von gewaltigen weißen Räumen, von eleganten Seidengewändern, von Springbrunnen, langen Korridoren und zierlichen Gärten, alles sehr hübsch. Alles absolut bedeutungslos. Alarista hätte die Gläser am liebsten zerschmettert; sie wäre am liebsten schreiend durch das Zelt gerannt und in die wärmer werdende Frühlingsluft geflohen. Sie hätte gern jemanden geschüttelt, irgendjemanden, und verlangt, dass er eine Möglichkeit fände, Hasmal zurückzuholen. Stattdessen zwang sie sich, ruhig zu bleiben und weiter geduldig Wache zu halten. Irgendetwas würde geschehen jetzt oder später. Etwas würde sich ändern, und wenn sie darauf vorbereitet war und geduldig und wachsam, würde sie es in dem Augenblick sehen, in dem es geschah, und dann würde sie etwas unternehmen können. Kait hörte die Stimmen an der Tür sehr deutlich. »Du bist spät dran. Wir hätten schon vor einer halben Stunde 496
abgelöst werden sollen.« Die Wachen hatten sich schon eine ganze Weile darüber beklagt, dass ihre Ablösung nicht gekommen war, und sie hatten sogar mit dem Gedanken gespielt, dass einer von ihnen seinen Posten verlassen sollte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Der Mann, der nun sprach, hatte sich langsam in Rage geredet. »Befehl des Sergeants. Der Hauptmann hat mit dem Dienstplan rumgepfuscht.« »Ich dachte, Rowel und Steedman sollten uns ablösen kommen.« »Das sollten sie wohl. Und ich sollte eigentlich heute meinen freien Tag haben, aber dann haben sie eure reguläre Ablösung zur Mauer rausgeschickt und vergessen, jemanden für diese Geschichte abzustellen bis jetzt. Ich bin den ganzen Weg hierher gerannt.« Der neue Wachmann hatte die heiserste Stimme, die Kait je gehört hatte. Sie fragte sich, ob er wohl krank sei, ob irgendetwas mit seinen Stimmbändern nicht in Ordnung war. »Aber eigentlich sollten doch zwei Männer für diesen Dienst abkommandiert werden.« »Es sollten eine Menge Dinge passieren ich habe auch kein Gold zu sehen bekommen, keine Beförderung und keine feinen neuen Uniformen. Ich bin heute erst hierher verlegt worden, und sie haben mir gerade mal meine Montur unter meine Koje geschoben, dann haben sie mich auch schon mutterseelenallein hier rübergeschickt, und ich will zur Hölle fahren, wenn hier nicht alles läuft wie geschmiert. Man hat mir gesagt, ich soll Gestaltwandler bewachen. Lieber hätte ich ja die schlimmste Seuche, die die Götter schicken können, aber der Hauptmann hat nicht danach gefragt, wie ich's denn gern hätte. Haben die euch irgendwelche Schwierigkeiten gemacht?« »Die da? Nee. Sie haben gegessen, bevor wir herkamen, und dann unsere ganze Schicht verschlafen. Halt dich von ihnen fern, dann kann dir nichts passieren. Einen Partner brauchst du im Grunde bloß, damit er dich wach hält.« 497
»Na, hoffen wir, dass du Recht hast. Vielleicht habe ich genauso viel Glück wie ihr. Aber wie auch immer, ich habe eine Nachricht von dem Hauptmann für euch zwei.« Kait hörte das Rascheln von Papier, dann folgte ein angewidertes Knurren. »Bei Brethwans Eiern, Eagan! Die Bastarde sagen, dass wir gleich essen sollen und dann sofort weiter in unsere Kaserne gehen, um zu schlafen, und wenn es Huld schlägt, haben wir schon wieder Dienst.« »Huld! Wir haben bloß zwei Stunden, um zu essen und zu schlafen?« Der neue Wachposten sprach den beiden sein Mitleid aus. »Ich hab euch doch erzählt, dass der Hauptmann mit dem Dienstplan rumgepfuscht hat.« »Verflucht sein soll das verreckte Schwein! Der Mann hat sich wie ein Arschloch aufgeführt, seit man uns ihm unterstellt hat.« Die Wachen, die Kait und Ry den größten Teil des Nachmittags und des Abends im Auge behalten hatten, brachen auf und beklagten sich noch im Gehen lautstark über den Hauptmann und seine Führungsarbeit. Als sie fort waren, kehrte wieder Stille ein, aber diese Stille sollte nur kurze Zeit währen. Dann jagte das verstohlene Wispern näher kommender Schritte Kait einen kalten Schauer
über den Rücken. Ry flüsterte: »Er kommt her. Hat den Kopf gesenkt, so dass man sein Gesicht nicht sehen kann. Irgendwas stimmt nicht mit ihm, aber ich weiß nicht, was ...« Dann stieß er ein kehliges Knurren aus und ging in die Hocke, die einzige Position, die sie einnehmen konnten, wenn sie sich nicht flach in den Käfig legen wollten. »Noch einen Schritt näher, und ich bringe dich um«, sagte er. Kait rollte sich herum und wappnete sich gegen das Kommende. Und sah Ian vor sich, dessen Haut so braun gebrannt war, dass sie den Ton von feinstem Mahagoni angenommen hatte. Sein dunkles Haar war kurz geschoren, und er trug die Uniform eines 498
Wachpostens. Jetzt kam er eilig näher, die Hand um irgendeinen Gegenstand geschlossen, den er sorgsam verborgen hielt. Angst durchflutete ihre Adern und ließ ihr Herz rasen. Ian konnte Ry oder sie ohne weiteres töten; in den engen Käfigen waren sie vollkommen hilflos. Die Frage war nur, wen er am meisten hasste und ob einer von ihnen die Chance haben würde, ihm auszureden, was auch immer er geplant hatte. Ian warf Ry einen zornigen Blick zu. »An dem Tag, an dem ich hierher kam, habe ich euch Idioten eine Nachricht dagelassen, dass ich etwas geplant hätte, mit dem ich euch helfen könnte. Als ich wieder in das Gasthaus zurückkam, wart ihr weg, und ich habe nichts mehr von euch gesehen oder gehört, bis mir die Wachen erzählten, sie hätten zwei Gestaltwechsler gefangen. Also habe ich hier festgesessen, habe in dieser Hölle gearbeitet und so getan, als sei ich den Drachen treu ergeben. Ich habe Dinge getan, an die ich nicht einmal denken möchte, um meine Loyalität unter Beweis zu stellen, und die ganze Zeit habe ich gehofft, dass ihr wieder hierher kommen würdet, um euch euren gottverdammten Spiegel zurückzuholen. Aber wir haben jetzt keine Zeit zum Reden«, sagte er, und seine Stimme klang noch immer rau und fremd. »Ich habe das eingefädelt, damit ich mit euch allein sein kann, aber es könnte jederzeit einer der drei Drachen auf die Idee kommen, euch einen Besuch abzustatten. Ich bringe euch jetzt zum Spiegel der Seelen. Dann versuche ich, uns drei hier rauszubringen.« »Und ... uns drei?«, wisperte Kait. Sie blickte zu Ry hinüber, der genauso verwirrt aussah, wie sie sich fühlte. Ian sah sie an. Ein tiefer Schmerz huschte über seine Züge, obwohl er diese Regung eilig verbarg. »Uns drei. Du hast deine Entscheidung getroffen du liebst ihn, nicht wahr?« »Ja.« Er nickte und beugte sich vor, um den Schlüssel in das Schloss von Kaits Käfig zu schieben. »Also schön. Ich rette dich, weil ich 499
dich liebe.« Die Kette, mit der ihre Tür verschlossen war, klapperte leise, als Ian das Schloss öffnete. »Und ihn werde ich retten ... weil ich dich liebe.« Er zuckte mit den Achseln und wich ihrem Blick aus. »Du hast dich geopfert, um uns zu helfen? Mir?« »Wir haben jetzt keine Zeit zum Reden«, stieß er rau hervor. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie. In diesem Augenblick wünschte sie, sie hätte ihn lieben können. Sie wünschte, sie hätte sich teilen können, so dass sie mit Ian und mit Ry zusammen sein konnte, ohne einen der beiden zu betrügen. Sie wünschte, sie wäre Ian nie begegnet oder könnte ihm jetzt wenigstens seinen Schmerz nehmen. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was er für sie getan hatte, ging ihr in den wenigen Sekunden auf, die er brauchte, um sich mit dem Schloss an ihrer Käfigtür abzumühen. »Warum bist du hierher gekommen?«, fragte sie ihn. Ihr Schloss sprang mit einem Klappern auf, und die Kette fiel zu Boden. Ian ging sofort weiter zu Rys Käfig und nahm sich dessen Schloss vor. Kait kroch aus ihrem Gefängnis heraus und reckte sich. »Du meinst, hierher, in euren Kerker? Oder zu den Drachen?« »Beides.« »Ich habe mir eine Möglichkeit ausgeknobelt, wie ich an den Spiegel der Seelen herankommen könnte. Und ich wusste ja, dass du ihn brauchst. Nachdem du dich also ...« Noch ein Achselzucken. »Nachdem du dich für jemand anderen entschieden hattest, stand es mir frei zu gehen. Ich bot meine Dienste den Sabirs an, aber vor allem Crispin ich habe ihm etwas vorgelogen, wie sehr ich mir wünschte, mich an dir rächen zu können, und er hat mir das Kommando über die zusammengelegten Streitmächte der Sabirs und der Galweighs übertragen. Ich ... ich habe einige Dinge getan, über die ich
lieber nicht nachdenken möchte, um Crispin davon zu überzeugen, dass ich wirklich der war, der ich zu sein behauptete. Durch mein Wort und durch meine Hand sind Menschen gestorben. Sie waren keine Unschuldslämmer, aber die Din500
ge, die ich ihnen zur Last gelegt habe, haben sie nicht getan.« Rys Schloss sprang auf, und Ian trat einen Schritt zurück, damit sein Halbbruder sich befreien konnte. »Folgt mir. Wir müssen einiges erledigen, um an den Spiegel heranzukommen, und wir haben nicht viel Zeit.« Er führte sie aus dem prächtigen Raum in einen Korridor hinaus. Das einzige Licht, das die Dunkelheit erhellte, war der bleiche Schein des Mondes, der durch die Oberlichter fiel. »Hier entlang.« Sie folgten ihm schweigend. Kait konnte in einigen der Räume, an denen sie vorbeikamen, Bewegungen wahrnehmen, und einmal mussten sie und Ry sich in einem Zimmer verstecken, während Ian vor der Tür stehen blieb seine Uniform machte ihn gewissermaßen unsichtbar. Keiner von ihnen sagte etwas, bis Ian sie eine lange Wendeltreppe hinunterführte, in ein Gewölbe unterhalb der weißen Stadt. Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete eine Tür, dann drückte er eine komplizierte Abfolge von Schaltern, um die nächste Tür zu öffnen. »Hier hinein.« Kait und Ry folgten ihm in einen engen Raum, den Hunderte von winzigen Kieseln in der Decke beleuchteten; der Spiegel der Seelen stand auf einem Podest in der Mitte des Raums, dunkel und scheinbar tot. »Wie bekommen wir ihn hier raus?«, fragte Kait. »Ich habe einen Freund, der uns in einer geschlossenen Kutsche am Südtor der Zitadelle erwartet. Ich habe ihm die Nachricht geschickt, kurz bevor ich euch holen kam. Er wird einen ganzen Tag lang dort auf uns warten.« »Dann brauchen wir uns jetzt nur noch etwas auszudenken, wie wir den Spiegel an den Drachen vorbei bekommen, ohne dass sie uns sehen.« »Ich hatte gehofft, ihr könntet den Spiegel mit einem Schild abschirmen, wie ihr es getan habt, als wir mit der Windsbraut geflohen sind«, sagte Ian. 501 Kait sah Ry fragend an. »Ich könnte das übernehmen. Ry und ich sind beide ziemlich schwach es wird vielleicht eine ganze Weile dauern, bis ich es richtig hinbekomme.« Ian blickte von einem zum anderen. »Aber beeil dich. Es wird binnen einer Stunde jemand herkommen, um nach diesem Ding zu sehen. Ich kann ihn töten, aber sobald er nicht pünktlich Bericht erstattet, werden andere Soldaten unterwegs sein.«
Kapitel 54 Hasmal sagte Dafril nicht, was er wissen wollte, aber er konnte auch nicht länger Gleichgültigkeit heucheln. Im frühen Stadium der Folter hatte er sich in die meditative Trance versetzt, mit deren Hilfe er seine Magie gerufen hätte, wäre er nicht gegen diese Magie abgeschirmt gewesen. Er hatte schreckliche Dinge ertragen, indem er aus seinem Körper heraustrat und zusah, was mit ihm gemacht wurde, als sei er nur ein ferner und desinteressierter Beobachter. Jetzt jedoch war der Schmerz zu stark geworden, und Hasmal hatte die Trance verloren. Er war wieder ganz in seinem Körper und blutete aus einer Vielzahl von Schnitten, und sein Körper war übersät von Brandwunden, die ihm mit einem glühenden Eisen zugefügt worden waren. Der Schmerz fesselte seine ganze Aufmerksamkeit; er konnte sich Dafrils sanfter, belustigter Stimme nicht länger entziehen. »Ich habe plötzlich das Gefühl, dass du wieder ganz bei mir bist«, sagte Dafril. »Das ist gut. Das dürfte diesen Prozess enorm beschleunigen. Ich sollte dir wohl erzählen, dass ich Hunderte von deinesgleichen gebrochen habe, mein werter junger Falke Hunderte. Es waren stärkere Männer als du dabei und Männer, die vollen Zugriff auf die Magie von Matrin hatten. Du wirst mir sagen, was ich wissen will.« Dafril hatte bisher sorgfältig Abstand gehalten und war auf Hasmals linker Seite geblieben. Der Talisman auf seinem rechten Finger wartete immer noch, aber Dafril war nicht ein einziges Mal in die geringe Reichweite seiner gefesselten Hand gekommen. Er musste ihn dazu bringen, dichter heranzutreten ... Sengender Schmerz bohrte sich in seine Rippen, und er hörte 503
seine Haut zischeln. Er schrie und stemmte sich gegen die Riemen, mit denen er gefesselt war.
Dafril seufzte. »Siehst du? Das tut sehr weh, und du bist weder so stark noch so tapfer, wie du glaubst. Also hilf mir doch, dann werde ich dir helfen. Sag mir, auf welche Weise es dir und deinen Freunden immer wieder gelingt, die Seelen meiner Kameraden zu stehlen.« Hasmals Gedanken überschlugen sich. Ein halbes Dutzend Lügen kamen ihm in den Sinn, aber sie waren alle sehr weit hergeholt und klangen selbst für ihn äußerst schwach und wenn er Dafril irgendetwas erzählte, wusste er, dass der Drache ihn lediglich weiterfoltern würde, um sich zu versichern, dass das, was er am Anfang sagte, auch zu dem passte, was er sagen würde, wenn seine Verzweiflung wuchs. Er wandte das Gesicht ab. »Sieh mich an.« Er blickte starr nach rechts und versuchte, sich auf irgendetwas zu besinnen, das ihn vielleicht retten würde, das Dafril in seine Reichweite bringen konnte. »Sieh mich an, du elender Bastard.« Wieder dieser sengende Schmerz, diesmal hoch oben an der Innenseite seines Schenkels. Er schrie und krümmte sich, hielt aber das Gesicht von Dafril abgewandt. Es schien zu helfen. Dafril sagte: »Ich kann auf die andere Seite rübergehen, du Idiot. Auf diese Weise wirst du nichts gewinnen.« Hasmals Herz machte einen Satz. Ja, dachte er. Komm auf die andere Seite, komm rüber. Dafril tat es, ein Messer immer noch in der Hand. »Hör mal, du Gedankenstrich, ich kann dir die Augen und die Ohren herausschneiden, ich kann dir die Nase abschlagen, dir die Eier abreißen oder dir das Fleisch vom Körper schaben, wenn es sein muss. Der einzige Teil von dir, der funktionieren muss, damit mein Plan aufgeht, ist deine Zunge.« 504
Hasmal erwiderte trotzig seinen Blick und brachte ein Grinsen zustande. Das also war das ganze Ausmaß seines Mutes gefangen zu sein und Todesängste auszustehen und trotzdem nicht locker zu lassen, weil er Alarista liebte und weil Feigheit einen Verrat an ihr bedeutet hätte. Er fragte sich, ob das der Unterschied zwischen Mut und Feigheit sein mochte dass tapfere Männer außer sich selbst noch jemand anderen liebten, während Feiglinge nur ihr eigenes Leben liebten. Wenn das die Wahrheit war, dann konnten alle Menschen manchmal Feiglinge und manchmal Helden sein. Danach fragte er sich, ob aller Mut innerlich zitterte ob Mut sich immer so dünn und zerbrechlich anfühlte, so sehr bereit, sich von der nächsten schwachen Brise zerreißen und davonwehen zu lassen oder ob es eine bessere Art von Mut gab, die einem den Bauch mit verwegenem Feuer füllte und den Geist vor jedem Schrecken schützte. Wenn es diese Art von Mut gab, so wünschte er sich nur, er hätte etwas davon haben können, denn er war so verängstigt, dass er befürchtete, das Herz würde ihm mitten in der Brust zerplatzen. »Sturer Mistkerl. Ich an deiner Stelle würde diesen Kampf endlich aufgeben.« »Du bist nicht an meiner Stelle«, flüsterte Hasmal. »Was war das?« Dafril beugte sich tiefer über ihn, damit er hören konnte, was Hasmal sagte. Ja, dachte er. »Ich werde es dir sagen«, flüsterte er, und seine Stimme klang noch leiser als vorher. Dafril trat näher und beugte sich so tief über Hasmal, dass sein Ohr beinahe dessen Lippen berührte. »Lauter«, sagte er. »Sprich lauter.« Und das war nah genug. Hasmal legte seinen Zeigefinger auf Dafrils Bein. Er spürte die leichte Vibration, als der Talisman von seinem Finger sprang und sich einen Weg durch den Stoff von Dafrils Hose erkämpfte. Gleich würden Alarista und Doghall ihn durch Dafrils Augen sehen. Doghall würde in Dafril eindringen, seine Seele herauszie505
hen und sie in einem der winzigen Seelenspiegel festsetzen, die auf dem Boden des Zeltes ihrer Aufgabe harrten. Und Hasmal würde gerettet werden wenn er nur so lange durchhielt, bis sie ihn erreichen konnten. »Wir haben einen Weg gefunden, unseren eigenen Spiegel der Seelen zu machen«, wisperte er. Dafrils Augen wurden schmal, und er fuhr mit dem Daumen über die blutige Klinge des Messers. »Ach ja? Erzähl mir mehr.«
Kapitel 55 Sie schleppten den Spiegel der Seelen durch die dunklen unterirdischen Gänge der Zitadelle der Götter, atemlos, voller Angst und doch auch voller Jubel. Kait musste gegen den Drang kämpfen,
ihrem Glück Luft zu machen, den Drachen ihren Trotz entgegenzuschreien, die auf den weißen Straßen über ihr immer noch ahnungslos ihren Geschäften nachgingen. Wir haben ihn, dachte sie. Wir haben ihn, und wir werden mit ihm entkommen, und wir werden euch vernichten. »Wie weit ist es noch?« Ry, der der Stärkste von ihnen dreien war, trug den größten Teil des Gewichts. Er hatte das Artefakt auf die Hüften gestützt und hielt es mit beiden Händen an je einem seiner Blütenblätter; Kait und Ian folgten ihm und hatten den Spiegel jeweils an einem seiner drei Füße gepackt. Kait hatte den Eindruck, dass sie sehr schnell vorankamen, aber sie waren jetzt trotzdem schon sehr lange in diesen dunklen Korridoren. »Könnt ihr schon eine Gabelung in dem Gang vor uns sehen?«, fragte Ian. »Er verzweigt sich in drei Richtungen.« »Wir nehmen den linken Korridor. Der Gang wird dann sofort ansteigen und sich abermals verzweigen. Der rechte Zweig endet in einem Wachhaus am Dienstboteneingang der Zitadelle. Wir werden den Wachmann töten müssen, aber mein Freund und seine Kutsche werden hinter den Ställen auf der anderen Straßenseite auf uns warten.« »Ich kann schon die frische Luft draußen riechen«, sagte Kait. Sie sah Ry nicken. »Ich auch.« Sie beschleunigten ihren Schritt, bis sie schließlich rannten. Sie taten es ganz unbewusst, aus Angst und Erregung, aber es war 507
auch gefährlich. In ihrer Hast ging ihr Atem immer schneller, und sie mussten sich zu sehr auf die einfachen Mechanismen konzentrieren, trotz ihrer sperrigen Last nicht hinzufallen. »Wir müssen langsamer gehen«, sagte Kait und zog leicht an ihrem Bein des Dreifußes. Beide Männer verlangsamten ohne ein Wort ihren Schritt. Kait hörte Stimmen vor sich. »Wer könnte zu dieser Tageszeit hier durchkommen?«, fragte sie Ian. »Soldaten ... Gärtner ... Dienstboten ... so ziemlich jeder.« »Wir müssen sie töten«, sagte Ry. »Vielleicht nicht«, erwiderte Ian. Der Korridor, in dem sie sich befanden, kreuzte sich in regelmäßigen Abständen mit anderen, gleichartigen Korridoren. »Wir können einfach beiseite treten und hoffen, dass sie uns nicht bemerken.« »Und wenn sie es doch tun?«, fragte Ry. Kait seufzte. »Dann müssen wir sie töten. Aber wir werden alle besser dran sein, wenn wir es nicht tun.« Und das bezog sich keineswegs nur auf die anderen, dachte sie. Sie konnte keinen Gefallen daran finden, unschuldige Gärtner oder Dienstmädchen zu töten. Sie traten in den ersten Korridor zu ihrer Rechten und standen reglos und fast ohne zu atmen in der Dunkelheit. Dann flackerte ein Licht vor ihnen auf, an der Stelle, die sie kurz zuvor passiert hatten. Sie warteten, und die Stimmen wurden lauter. »... und ich habe zu Marthe gesagt, ich würde kündigen und im Zweifelsfalle Schweine abspritzen, wenn ich nichts Besseres finde«, erklärte eine Männerstimme. »Schweine sind allemal freundlicher als diese Bastarde.« »Ein Schwein könnte dir den Arm abreißen und ihn vor deinen Augen auffressen, wenn du nicht aufpasst«, antwortete eine Frauenstimme. »Schweine sind gemein.« »Und diese Leute sind noch gemeiner. Du kommst frisch vom Land du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe. Aber merk dir meine Worte, Lallie, sie bohren sich dir unter die Haut und 508
saugen dir das Leben aus dem Leib, bevor du eine Woche hier bist. Such dir lieber was anderes.« »Wenn das so ein guter Rat ist, warum hast du ihn dann nicht selbst befolgt?« Die beiden waren nun auf gleicher Höhe wie Kaits Versteck, und sie konnte sie genau erkennen. Ihre Fackel beleuchtete einen müde aussehenden Mann von vielleicht vierzig Jahren, mit Hängeschultern und dünner werdendem Haar, und eine sauber geschrubbte junge Frau mit einem kecken Lächeln und einem federnden Gang. »Weil die Bastarde mit gutem Gold zahlen und weil Gold heutzutage schwer zu haben ist.« Das Mädchen sah mit einem breiten Grinsen zu dem Mann auf und lachte. »Es ist bestimmt für mich nicht leichter als für dich, an Gold ranzukommen, und ich schwöre dir, ich bin es leid, mit Eiern und schönen Worten bezahlt zu werden. Ich schätze, ich kann genauso gut Kleider für Bastarde waschen wie für meine Nachbarn.« Dann waren sie vorbei, und Kaits Herzschlag verlangsamte sich wieder.
»Das kannst du bestimmt. Ich hoffe nur, es macht dir nichts aus, einen hohen Preis für deinen Goldlohn zu zahlen.« Kait hätte dem Mädchen am liebsten zugerufen: Hör auf ihn, du Närrin. Stattdessen begnügte sie sich mit dem Gedanken, dass sie den Niedergang der Drachen in Händen hielt. Wenn Lallie sich nicht selbst rettete, konnte Kait es vielleicht für sie tun. Vielleicht. Die Stimmen wurden leiser und verklangen schließlich, und Ry, Kait und Ian machten sich wieder auf den Weg. Das Wachhaus war tatsächlich ganz nah, und Ian hatte tatsächlich Recht mit seiner Beschreibung dessen, was sie dort vorfinden würden. Ein Wachmann stand mit dem Rücken zu ihnen da und sah eine paar Jungen beim Ballspiel in der Gasse zu, die er bewachte. Es waren keine Wagen unterwegs, und es gab auch keine Fußgänger. 509
Ian zog sein Messer, schob sich hinter den Wachmann, rammte ihm einen ledernen Knebel in den Mund und schlug ihm mit dem Griff des Messers auf den Kopf. Der Mann ging wie ein Sack voller Steine zu Boden. Kait sah, dass er noch atmete. Ian nahm ihm vorsichtig den Lederknebel aus dem Mund, dann starrte er auf den Mann hinab. »Ich dachte, du wolltest ihn töten«, sagte Ry. »Ich habe mehr als genug getötet, seit ich hierher gekommen bin.« Sein Gesicht verriet verzweifelte Trostlosigkeit, als er das sagte. »Er hat uns nicht gesehen und nicht gehört, und er wird niemandem verraten können, in welche Richtung wir gegangen sind oder was wir getan haben.« Ry nickte. »Ich habe mich auch nicht beklagt.« »Wo ist deine Kutsche?« »Bleibt einen Augenblick hier stehen«, sagte Ian, dann schlenderte er die Straße hinunter, allem Anschein nach der Wächter des Wachhauses, der für einen Moment seinen Posten verließ, um sich irgendetwas Interessantes anzusehen. Als er zurückkam, hörte Kait Räder über die Straße rattern, und eine Sekunde später rollte eine große, schwarze Beerdigungskutsche, die von vier schwarzen Pferden gezogen wurde, heran. Die Kutsche blieb vor dem Wachhaus stehen, und Kait, Ry und Ian hievten den Spiegel der Seelen in den abgedunkelten Wagen, bevor sie selbst einstiegen. Die Kutsche setzte sich mit einem Schlingern in Bewegung. »Wohin fahren wir?«, fragte Kait. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie frei war. »Nach Haus Galweigh«, antwortete Ian leise. »Das ist der letzte Ort, an dem man uns vermuten wird.«
Danksagung Mein Dank gilt wiederum Peter James und Nick Thorpe, den Autoren von Ancient Inventions, dem inspirierendsten und nützlichsten Buch, das ich seit langer Zeit gelesen habe; Betsy Mitchell, deren Editionsarbeit, Vorschläge, Anmerkungen und Fragen mein Buch viel besser haben werden lassen, als es sonst der Fall gewesen wäre; Russell Galen und Danny Baror, deren unermüdlicher Einsatz für mich zu den ersten Verkäufen in Europa geführt und es mir möglich gemacht hat, von meinem Einkommen als Schriftstellerin zu leben Russ hat mich darüber hinaus zu dem ganzen Projekt überhaupt erst angeregt ; Matthew, dessen Redaktion des ersten Entwurfs zu großen Veränderungen und deutlichen Verbesserungen geführt hat und der mich durch seine Unterstützung in Gang hält; Mark und Becky, die, während ich schrieb, alles mögliche Nützliche für mich getan und damit das Leben leichter gemacht und mich aufgemuntert haben, wenn die Arbeit zu schwierig wurde. Und schließlich ein verspätetes Dankeschön an John »JT« Tilden und Perry Ahern, die freundlicherweise die Leichen zur Verfügung gestellt haben.