Originaltitel: Time in Advance, 1958
„Mord nach Wahl“ Drei Männer haben ihre Strafen für Morde abgebüßt, die sie noch b...
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Originaltitel: Time in Advance, 1958
„Mord nach Wahl“ Drei Männer haben ihre Strafen für Morde abgebüßt, die sie noch begehen dürfen. Wer sind ihre Opfer?
„Feuerwasser“ Erdbewohner, die mit fremdartigen Intelligenzen Verbindung aufnehmen, werden geisteskrank. Was steckt dahinter?
„Winthrop war stur“ Fünf Menschen unseres Jahrhunderts bekommen die Chance, im 25. Jahrhundert zu leben. Einer will nicht zurück. Wie geht das aus? Zugabe: „Im Reich der Toten“ (gehört eigentlich nicht zu diesem Buch)
Scan & K-Lesen: WS, Januar 2003 1 William Tenn – Die Welt der zukunft
MORD NACH WAHL Erst zwanzig Minuten nach der Landung des Sträflingsschiffes auf dem New Yorker Raumhafen durften die Journalisten an Bord gehen. Die schwerbewaffneten Wärter vor sich herschiebend, zwängte sich die dichte Traube durch den schmalen Hauptgang. An der Spitze kamen die Zeitungs- und Sensationsreporter. Ihnen folgten die Fernsehleute mit ihren tragbaren, aber dennoch schweren Geräten, die sie fluchend mit sich schleppten. Sie mußten sich an mehreren kleinen Gruppen von Wärtern in den schwarz-roten Uniformen des Interstellaren Gefangenenwachdienstes vorbeiquetschen, die eilig dem Ausstieg zustrebten, um in den vollen Genuß ihrer fünf dienstfreien Tage auf der Erde zu kommen, ehe das Schiff mit einer neuen Ladung Gefangener zum Rückflug startete. Doch die ungeduldigen Journalisten waren nicht an diesen Männern interessiert, deren einziger Lebensinhalt im unablässigen Hin- und Herpendeln zwischen den beiden Enden der Galaxis bestand. So oft schon hatten sie über Leben und Abenteuer dieser Leute berichtet, daß das Publikum allmählich damit überfüttert war. Die große Story lag jetzt vor ihnen. Im Innern des Schiffes schoben die Wärter zwei riesige Türen auseinander und traten schnell ein, um nicht von der nachfolgenden Meute niedergetrampelt zu werden. Wie die Affen hingen die Reporter an den Gitterstäben, die vom Fußboden bis zur Decke reichten und sie von den Gefangenen trennten. Kaum einer der graugekleideten Männer, die auf den mehrstöckigen Kojenreihen saßen oder lagen, hatte einen Blick für die Horde. Jeder von ihnen umklam 2 William Tenn – Die Welt der zukunft
merte und bewachte ein kleines und säuberlich in braunes Papier gewickeltes Paket. Auf der anderen Seite der Gitterstäbe tauchte der Oberwärter auf und stocherte sich die Überreste seines Frühstücks aus den Zähnen. „Hallo, Jungs“, rief er, „habt ihr was Besonderes auf dem Herzen?“ Ein älterer, ziemlich bekannter Journalist trat vor und hob warnend den Finger. „Keine dummen Redensarten, Anderson. Erst landet das Schiff eine halbe Stunde zu spät, und dann läßt man uns auch noch eine volle Viertelstunde an der Gangway warten. Sagen Sie endlich, wo die beiden Burschen stecken!“ Andersen sah zu, wie sich die Fernsehleute auf der anderen Seite Raum für ihre Kameras verschafften. Er stocherte erneut in den Backenzähnen herum und brachte die letzten Überreste der Mahlzeit zum Vorschein. „Irre“, brummte er, „lauter Irre, die auf ihre Opfer lauern.“ En paarmal ließ er seinen Gummiknüppel um den Finger kreisen und fuhr ratternd damit an den Gitterstäben entlang. „Crandell!“ bellte er plötzlich los. „Henck! Raustreten!“ Die übrigen Wärter, die mit abgezirkelten Schritten und schlagbereiten Knüppeln durch die große Zelle wanderten, gaben den Ruf weiter. „Crandell! Henck! Raustreten!“ Das Echo ihrer Stimmen brach sich an den gewölbten Wänden des hohen Raumes. „Crandell! Henck! Raustreten!“ Langsam kam Nicholas Crandell aus seiner Koje hoch, die sich dicht unter der Decke befand. Er kreuzte die Beine unterm Körper und schnitt eine Grimasse. Dann rieb er sich den Schlaf aus den Augen. Über seinen Handrücken verliefen drei parallele Narben, alte und verheilte Narben, wie sie etwa die scharfen Krallen eines Tieres verursachen konnten. Eine noch verhältnismäßig frische, leuchtende 3 William Tenn – Die Welt der zukunft
Narbe zog sich knapp oberhalb der Augen quer über seine Stirn. In der Mitte seiner Ohrmuschel war ein kleines, kugelrundes Loch, an dem er jetzt verärgert kratzte. „Das Empfangskomitee“, knurrte er, „hätte ich mir denken können. Dieselbe verfluchte Erde wie früher!“ Er warf sich auf den Bauch und tippte leicht auf die Nase des unter ihm schnarchenden Mannes. „Otto“, rief er heiser, „Blotto Otto, auf in den Kampf. Sie geifern schon nach uns!“ Mit geschlossenen Augen fuhr Henck in die Höhe. Seine rechte Hand griff an den Hals, der dieselben zackigen Narben aufwies, wie sie sich über Crandells Stirn zogen. An der Hand fehlten Mittel- und Zeigefinger. „Henck hier, Sir“, grunzte er verschlafen. Dann schüttelte er den Kopf und starrte zu Crandell hinauf. „He, Nick, was'n los?“ „Wir sind da, Blotto Otto“, verkündete der größere Mann aus der oberen Koje. „Wir sind auf der Erde. Unsere Entlassungspapierchen sind vorbereitet. In 'ner halben Stunde kannst du deinen Rüssel in so viel Brandy, Bier, Wodka oder sonstiges Gesöff hängen, wie du bezahlen kannst. Keinen Selbstgebrauten mehr, keinen Rosinenfusel mehr aus 'nem verrosteten Blecheimer unterm Bett, Blotto Otto.“ Henck ließ sich ächzend zurückfallen. „In 'ner halben Stunde erst. Warum hast du mich aufgeweckt? Wofür hältst du mich eigentlich? Für 'nen kleinen, beschränkten Taschendieb, der zähneklappernd auf seine Entlassung wartet? Habe gerade davon geträumt, wie ich Elsa kaltmachen kann. Bin auf 'nen ganz neuen Dreh gekommen.“ „Die Bullen spielen verrückt“, sagte Crandell mit leiser, geduldiger Stimme. „Hörst du sie? Sie lechzen nach uns; nach dir und mir.“ 4 William Tenn – Die Welt der zukunft
Henck richtete sich wieder auf, lauschte einen Moment und nickte. „Wie kommt es bloß“, fragte er, „daß diese Raumbullen solche Stimmen haben?“ „Ihr Dienst verlangt es“, meinte Crandell. „Sie müssen eine Mindestgröße und eine Mindestbildung haben. Außerdem brauchen sie noch ein Mindestorgan, das jedes Trommelfell zum Platzen bringt. Erst dann können sie richtige Raumbullen werden. Andernfalls kannst du ein noch so niederträchtiger und gemeiner Kerl sein, du hast eben Pech und mußt auf der Erde alte Weiber mit ihren klapprigen Hubschraubern im Auge behalten.“ Einer der Wärter klopfte ergrimmt gegen die Eisenverstrebungen, an denen die Kojen befestigt waren. „Crandell! Henck! Noch seid ihr Sträflinge, vergeßt das nicht! Wenn ihr eure lahmen Knochen nicht bald in Bewegung setzt, komme ich mal kurz rauf und erinnere euch an alte Zeiten!“ „Jawohl, Sir! Schon unterwegs, Sir!“ antworteten sie rasch und begannen mit dem Abstieg. Mühsam mußten sie von Koje zu Koje klettern. Sorgfältig hielten sie ihre braunen Pakete fest, in denen sich die Kleider befanden, die sie als freie Männer getragen hatten und bald wieder tragen würden. „Hör zu, Otto.“ Crandell beugte sich vor und brachte seine Lippen dicht an das Ohr des kleineren Mannes. Hastig flüsternd redete er auf den anderen ein. „Sie wollen die Zeitungs- und Fernsehfritzen auf uns loslassen. Bestimmt haben die Brüder jede Menge Fragen. Ich warne dich, wenn du ein Wort sagst über...“ „Zeitung und Fernsehen? Was wollen die von uns?“ „Idiot! Wir sind doch jetzt berühmt! Wir haben den ganzen Mist mit heilen Knochen überstanden. Was glaubst du denn, wie vielen das bisher geglückt ist? Aber das sage ich 5 William Tenn – Die Welt der zukunft
dir, wenn sie dich fragen, auf wen du es abgesehen hast, dann halt gefälligst dein Maul. Nicht antworten, kapiert? Du sagst auf keinen Fall, für welchen Mord du verurteilt worden bist, klar? Niemand kann dich dazu zwingen. Das steht im Gesetz.“ Henck hielt kurz inne. Sie befanden sich noch anderthalb Stockwerke über dem Boden. „Aber, Nick, Elsa weiß es! Hab es ihr gesagt, ehe sie mich einlochen ließ. Sie weiß, daß ich sie und keine andere abmurksen werde!“ „Sie weiß, sie weiß; natürlich weiß sie es!“ Crandell stieß einen unterdrückten Fluch aus. „Aber sie kann es nicht beweisen, du Schafskopf! Sobald du es aber vor aller Welt ausposaunst, hat sie das Recht, sich zu bewaffnen und dich einfach über den Haufen zu knallen. Wäre ein kleiner Fall von Notwehr. Hältst du aber schön die Schnauze, kann sie gar nichts unternehmen. Sie ist und bleibt dein angetrautes Weib, dem du Liebe, Treue und Achtung gelobt hast. Was die anderen betrifft...“ Der Wärter hob den Gummiknüppel und ließ ihn zornig auf ihre Rücken niedersausen. Zappelnd fielen sie auf die Erde. Er schnauzte sie an: „Hab ich was von 'nem Schwätzchen gesagt? Hab ich das? Am besten bringe ich euch noch mal in den Wärterraum und lasse als Abschiedsgeschenk den Knüppel tanzen, ehe ihr eure Papiere bekommt. Und jetzt mal ein bißchen pronto!“ Wie ein paar Lämmer vor dem Schäferhund trotteten sie gehorsam vor ihm her. An der Gittertür am Ende des Gefangenentrakts salutierte der Wärter und meldete: „Präkriminelle Nicholas Crandell und Otto Henck zur Stelle, Sir.“ Mit einer laschen Handbewegung erwiderte Oberwärter Anderson den Gruß. „Die Herren hier haben ein paar Fra 6 William Tenn – Die Welt der zukunft
gen an euch beide. Es kann nicht schaden, wenn ihr sie beantwortet. Das war's, O'Brien.“ Seine Stimme klang jovial. Ein gutgelauntes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Als sich der Wärter in strammer Haltung abwandte, ließ Crandell noch einmal die Erinnerung an Andersen während des einmonatigen Rückfluges von Proxima Centaurus in seiner Erinnerung vorüberziehen. Wie Anderson, nachdenklich nickend, zugeschaut hatte, als der arme Minelli - hieß er nicht Steve Minelli? - durch eine Doppelreihe knüppelschwingender Wärter hatte Spießruten laufen müssen, nur weil er ohne Erlaubnis auf der Latrine gewesen war. Wie Anderson lachend einen grauhaarigen Sträfling in den Unterleib getreten hatte, nur weil er beim Essenempfang geredet hatte. Anderson... Trotzdem mußte man seinen Mut bewundern in Anbetracht der Tatsache, daß sich zwei Präkriminelle an Bord seines Schiffes befanden, die einen noch nicht ausgeführten Mord verbüßt hatten. Doch er schien genau zu wissen, daß sie den ihnen nunmehr rechtmäßig zustehenden Mord nicht an seine Person verschwenden würden, selbst wenn er ein noch so gemeines Verhalten an den Tag legte. Kein Mensch begibt sich freiwillig in die Hölle, nur weil er einem der Teufel den Garaus machen will. „Müssen wir die Fragen beantworten, Sir?“ erkundigte sich Crandell zögernd. Das Lächeln des Oberwärters wurde nur um eine winzige Schattierung schwächer. „Ich sagte, es könnte nicht schaden, verstanden? Aber andere Dinge könnten euch schaden. Noch könnten sie es, Crandell! Ich möchte den Leuten von der Presse einen kleinen Gefallen tun, deshalb solltet ihr lieber keine Mätzchen machen!“ Mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung zum Wärterzimmer hob er seinen Schlagstock ein paar Zentimeter höher. 7 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Jawohl, Sir“, sagte Crandell. Henck nickte heftig. „Sie können sich auf uns verlassen, Sir.“ Verflucht, dachte er, wenn mir der Mord bloß nicht so am Herzen läge! Denk immer an Stephanson, Junge, nur an Stephanson! Nicht an Anderson, O'Brien oder sonst wen: Zur Diskussion steht der Name Frederick Stoddard Stephanson! Während die Fernsehleute auf der anderen Seite des Gitters ihre Kameras in Stellung brachten, antworteten die beiden Sträflinge auf die ersten und typischen Fragen der Zeitungsreporter. „Wie fühlt man sich, wenn man wieder zurück ist?“ „Wunderbar, einfach wunderbar.“ „Was werden Sie nach Ihrer Entlassung als erstes tun?“ „Mal richtig gut essen“ (Crandell). „Mich sinnlos besaufen“ (Henck). „Passen Sie aber auf, daß Sie nicht gleich wieder als Postkrimineller hinter Gittern landen.“ (Einer der Reporter). Dann ein Gelächter, in das alle einfielen: die Journalisten, Oberwärter Anderson, Crandell und Henck. „Wie wurden Sie als Gefangene behandelt?“ „Ach, recht anständig.“ (Beide mit einem schrägen Seitenblick auf Andersons Stock). „Will uns einer von Ihnen verraten, wen er ermorden wird?“ (Schweigen.) „Hat sich einer von Ihnen dazu entschlossen, den Mord nicht zu begehen?“
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(Crandell blickte sinnend in die Luft, Henck blickte sinnend zu Boden). Wieder allgemeines Gelächter, diesmal etwas zögernder. Crandell und Henck blieben ernst. „Okay, wir sind fertig. Hierhersehen“, unterbrach der Fernsehansager, „und lächeln, Leute - immer nur lächeln!“ Pflichtbewußt verzogen Crandell und Henck das Gesicht. Da sich auch Anderson der scheinbar fröhlichen Gruppe zugesellt hatte, standen nun drei lächelnde Menschen vor den Kameras, die nach vorn schossen. Eine blieb über ihnen in der Luft hängen, die andere bewegte sich vor ihnen hin und her. Beide wurden vom Kameramann mit Hilfe einer kleinen Apparatur ferngesteuert. Auf einer der Kameras flammte ein rotes Lämpchen auf. „Guten Tag, verehrte Zuschauer an den Bildschirmen“, begann der Ansager mit voller Stimme. „Heute führen wir Sie an Bord des Sträflingsschiffes Jean Valjean, das vor wenigen Augenblicken auf dem New Yorker Raumhafen niedergegangen ist. Und hier treffen wir zwei Männer - zwei Männer, die aus freien Stücken einen Mord im voraus abgebüßt haben. Sie sind nunmehr gesetzlich dazu berechtigt, pro Person einen Mord zu begehen. In ein paar Minuten werden sie entlassen, nachdem sie sieben Jahre auf den Sträflingsplaneten verbracht haben. Nach ihrer Entlassung können sie einen beliebigen Mann oder eine Frau aus dem Sonnensystem töten, ohne eine Bestrafung fürchten zu müssen. Sehen Sie sich die beiden genau an, verehrte Zuschauer - vielleicht werden Sie ihr Opfer sein!“ Nach diesem scheinbar sehr lustigen Gag zog sich der Ansager etwas zurück und überließ die beiden in farbloses Grau gekleideten Gestalten den Augen der Kameras. Dann 9 William Tenn – Die Welt der zukunft
trat er wieder in den Vordergrund und sprach den kleineren der beiden an. „Wie lautet Ihr Name, Sir?“ fragte er. „Präkrimineller Otto Henck, 525 514“, antwortete Blotto Otto automatisch, obwohl er das ungewohnte Sir erst einmal verdauen mußte. „Wie fühlt man sich, wenn man wieder zurück ist?“ „Wunderbar, einfach wunderbar.“ „Was werden Sie nach Ihrer Entlassung als erstes tun?“ Henck zögerte und warf einen unsicheren Blick zu Crandell. „Mal richtig gut essen“, sagte er dann. „Wie wurden Sie als Gefangener behandelt?“ „Ach, ziemlich gut. So gut man es eben erwarten kann.“ „So gut es eben ein Krimineller erwarten kann, wie? Obwohl Sie ja noch kein Krimineller sind! Sie sind vielmehr Präkrimineller.“ Henck lächelte. Fast konnte man denken, er höre diese Bezeichnung zum erstenmal. „So ist es, Sir. Ich bin Präkrimineller.“ „Möchten Sie unseren Zuschauern nicht verraten, durch wen Sie zum Mörder werden wollen?“ Vorwurfsvoll schaute Henck den Ansager an, der in glucksendes Gelächter ausbrach - allein. „Oder haben Sie ihm oder ihr inzwischen verziehen?“ Eine kleine Pause. Leicht irritiert fuhr der Ansager fort: „Sieben Jahre haben Sie auf fremden und gefahrvollen Planeten verbracht, um sie für die menschliche Besiedlung vorzubereiten. Das ist das gesetzliche Höchstmaß, nicht wahr?“ „Das stimmt, Sir. Wenn man als Präkrimineller die Strafe vor dem Mord verbüßt, sind sieben Jahre die Höchststrafe.“ 10 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Ich wette, Sie sind froh, nicht im Zeitalter der Todesstrafe zu leben, was? Dann wäre die ganze Sache nicht sehr ratsam, wie? Nun, Mr. Henck - oder Präkrimineller Henck, wie ich Sie wohl noch nennen muß - können Sie unseren Zuschauern erzählen, was Ihr schrecklichstes Erlebnis während der Verbüßung der Strafe war?“ „Tja“, überlegte Otto Henck sorgsam, „am schlimmsten war es zweifellos auf Antares VIII, der zweiten Sträflingskolonie, in die ich kam. Es war gerade die Zeit, in der die Riesenwespen ihre Eier ablegten. Wissen Sie, auf Antares VIII gibt es Wespen, die sind fast hundertmal so groß wie...“ „Haben Sie dort die beiden Finger an Ihrer rechten Hand verloren?“ Henck warf einen schnellen Blick darauf. „Nein, den Zeigefinger - ich verlor den Zeigefinger auf Rigel XII. Wir errichteten damals die erste Sträflingskolonie des Planeten. Beim Graben stieß ich auf einen komischen roten Stein, der mit vielen kleinen Beulen übersät war. Ich berührte ihn wollte nur mal sehen, wie hart er war oder so -, und meine Fingerspitze war weg. Patsch - so ähnlich machte es. Später entzündete sich der ganze Finger, und die Ärzte mußten ihn abnehmen. Trotzdem hatte ich Glück im Unglück. Andere Männer Sträflinge, meine ich - fanden größere Steine von dieser Sorte. Sie verloren Arme und Beine, einer wurde sogar ganz verschlungen. Es waren nämlich gar keine Steine, verstehen Sie? Sie lebten - sie lebten und waren hungrig! Rigel XII wimmelt von den Dingern. Den Mittelfinger verlor ich durch ein dummes Mißgeschick im Schiff, als wir auf dem Flug...“
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Verständnisvoll nickend meinte der Ansager: „Aber die Wespen, die Riesenwespen auf Antaras VIII waren doch am schlimmsten?“ Biotto Otto blinzelte ihn einen Moment an, ehe er den Faden wiederfand. „Da haben Sie recht! Sie legen ihre Eier in den Körpern einer Affenart ab, die es auf Antaras VIII gab. Für die Affen ist es eine höllische Tortur, aber nur so können die jungen Wespen genügend Nahrung aufnehmen. Dann kamen wir dort an, und die Wespen schienen keinen großen Unterschied zwischen den Affen auf Antaras und uns Menschen zu finden. Schon nach wenigen Tagen brachen unsere Leute massenhaft zusammen. Sie wurden zur Durchleuchtung ins Revier geschafft, und die Ärzte sahen, daß sie bis oben voller Eier...“ „Vielen Dank, Mr. Henck, aber Herkimers Wespen sind unseren Zuschauern schon mehrere Male im 'Interstellaren Fahrtenbuch' beschrieben und gezeigt worden, das unser Sender, wie unsere verehrten Zuschauer zweifellos wissen, zwischen 19.00 und 19.30 terrestrischer Normalzeit ausstrahlt. - Und nun zu Ihnen, Mr. Crandell. Wie fühlt man sich, wenn man wieder zurück ist?“ Crandell trat einen Schritt vor und schloß sich nahezu wörtlich den Ausführungen seines Mitgefangenen an. Nur einen Unterschied machte er. Der Ansager fragte ihn, ob er die Erde verändert vorzufinden glaube. Crandell wollte die Frage mit einem Achselzucken abtun, doch auf einmal begann er zu grinsen. „Eine Veränderung fällt mir schon auf“, sagte er, „wie die Kameras durch die Luft schweben und von dem kleinen Kasten in der Hand des Kameramanns gesteuert werden. Bei meiner Abreise gab es das noch nicht. Der Erfinder muß ein kluger Kopf gewesen sein.“ 12 William Tenn – Die Welt der zukunft
„So?“ Der Ansager drehte sich kurz um, „Sie meinen sicher die Stephanson-Fernsteuerung? Sie wurde vor ungefähr fünf Jahren von Frederick Stoddard Stephanson entwickelt. Es war doch vor fünf Jahren, Don?“ „Vor sechs Jahren“, verbesserte ihn der Kameramann. „Kam vor fünf Jahren auf den Markt.“ „Sie wurde vor sechs Jahren erfunden“, erklärte der Ansager, „aber sie kam vor fünf Jahren auf den Markt.“ Crandell nickte. „Dieser Frederick Stoddard Stephanson muß wirklich ein heller Bursche sein, ein sehr heller Bursche sogar.“ Und wieder grinste er breit in die Kamera. Sieh dir meine Zähne an, dachte er. Ich weiß, daß du vor der Mattscheibe sitzt, Freddy. Sieh dir meine Zähne an und fange ruhig an zu zittern! Der Ansager geriet etwas aus der Fassung. „Ja“, sagte er, „nun, Mr. Crandell, was war denn Ihr schrecklichstes Erlebnis während der ganzen...“ Nachdem die Fernsehleute ihr Gerät zusammengepackt hatten, wurden die beiden Präkriminellen von den Zeitungsleuten in einer Sturzflut von Fragen erstickt, die den Artikeln noch ein wenig Kolorit hinzufügen sollten. „Welche Rolle spielten die Frauen in Ihrem Leben?“ „Was für Bücher, was für Hobbies füllten Ihre Freizeit aus?“ „Haben Sie bemerkt, daß es auf den Sträflingsplanten keine Atheisten gibt?“ „Wenn Sie alles noch einmal durchmachen müßten...“ Höflich beantwortete Nicholas Crandell alle Fragen der Journalisten. Dabei hatte er jedoch ständig das Gesicht Frederick Stoddard Stephansons vor Augen und stellte sich 13 William Tenn – Die Welt der zukunft
vor, wie dieser vor seinem hypermodernen Großbildschirm hockte. Ob Stephanson immer noch zuschaute? Ob er dort saß, auf den abgeschalteten Schirm starrte und über den Mann nachdachte, der die zehntausend zu eins gegen ihn stehenden Chancen überlebt hatte, um nach sieben unendlich langen Jahren mit heiler Haut aus den Sträflingskolonien von vier höllischen Planeten zurückzukehren? Ob Stephanson mit zusammengekniffenen Lippen seinen Revolver überprüfte - den Revolver, den er nur in einem klaren Fall von Notwehr benutzen durfte? Andernfalls müßte er die volle postkriminelle Strafe für einen Mord auf sich nehmen. Ohne den fünfzigprozentigen Erlaß der Strafe vor Ausführung des Verbrechens betrug sie vierzehn Jahre in jener nervenzerrüttenden Hölle, der Crandell gerade entronnen war. Oder ob Stephanson in einem seiner bequemen Sessel saß, besorgt auf den immer noch belebten Bildschirm blickte und vor Angst bebte, ohne sich jedoch von der recht geschickt aufgezogenen Schau losreißen zu können, die das Fernsehen um die beiden zurückgekehrten Sträflinge in Szene gesetzt hatte? Zähl sie, Freddy: zwei! Zwei Präkriminelle, die ihren verbüßten Mord in die Tat umsetzen wollen. Im Augenblick würde wahrscheinlich ein Repräsentant des Interstellaren Gefangenenwachdienstes interviewt werden, ein mitteilsamer Public-Relations-Typ, der mit soziologischen Begriffen nur so um sich warf. „Sagen Sie, Mr. Public Relations“, würde der Ansager fragen (ein anderer Ansager, ernsthafter, intellektueller), „wie oft geschieht es, daß Präkriminelle nach Verbüßung eines Mordes zurückkommen?“ 14 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Nach der Statistik“ - ein Rascheln von Papier, ein informativer Blick darauf - „nach der Statistik können wir sagen, daß ein Mann, der eine Mordstrafe mit fünfzigprozentigem Nachlaß für Präkriminelle verbüßt, durchschnittlich nur alle 11,7 Jahre zurückkehrt.“' „Dann würden Sie also auch sagen, daß die Rückkehr zweier solcher Männer am selben Tag etwas sehr Ungewöhnliches ist?“ „Etwas höchst Ungewöhnliches, sonst hättet ihr Fernsehleute nicht eine derartige Schau veranstaltet.“ Ein fettes Lachen, in das der Ansager pflichtbewußt einfällt. „Und was, Mr. Public Relations, geschieht mit den Männern, die nicht wiederkommen?“ Eine bezeichnende Geste der fleischigen Hand. „Sie kommen um. Oder sie geben auf. Es gibt nur diese beiden Alternativen. Sieben Jahre auf einem Sträflingsplaneten sind kein Pappenstiel. Die Arbeit dort erfordert ganze Männer. Nicht anders ist es mit den dort vorherrschenden Lebensformen - das gilt für die großen und kannibalischen ebenso wie für die kleinen und virusähnlichen. Aus diesem Grund werden die Wärter so gut bezahlt und bekommen so viel Urlaub. In gewisser Weise haben wir die Todesstrafe gar nicht abgeschafft; wir haben sie lediglich durch eine Art russisches Roulett ersetzt. Jeder, der eine schwere strafbare Handlung begeht, wird auf die Planeten geschickt, wo er zum Nutzen der Menschheit arbeiten muß und niemals weiß, ob er heil und gesund zur Erde zurückkehren wird. Je schwerer das Verbrechen, desto länger die Strafzeit und desto geringer die Chancen.“ „Ich verstehe, Mr. Public Relations. Die Leute kommen entweder um oder sie geben auf. Würden Sie bitte unseren 15 William Tenn – Die Welt der zukunft
Zuschauern erläutern, wie sie aufgeben und was in einem solchen Fall geschieht?“ An dieser Stelle würde sich der Repräsentant weit zurücklehnen und seine Wurstfinger über dem Bauch falten. „Sehen Sie, jeder Präkriminelle hat das Recht, sich an seinen Wärter zu wenden und die sofortige Aufhebung der Strafe zu verlangen. Nachdem er die nötigen Formulare ausgefüllt hat, wird er von jeglicher Zwangsarbeit freigestellt und mit dem nächsten Schiff nach Hause geschickt. Dafür wird ihm aber die bis zu diesem Zeitpunkt bereits verbüßte Strafe nicht angerechnet. Er hat mit keinerlei Gegenleistungen zu rechnen. Begeht er nach seiner Freilassung ein Verbrechen, so muß er das volle Strafmaß auf sich nehmen. Verspürt er wieder einmal den Wunsch, als Präkrimineller abgeurteilt zu werden, dann bleibt ihm keine andere Wahl, als die ganze Strafe noch einmal von Anfang an zu verbüßen. Drei von vier Präkriminellen lassen ihre Strafe innerhalb des ersten Jahres aufheben. Sie halten einfach nicht durch.“ „Was durchaus verständlich ist“, pflichtete ihm der Ansager bei. „Wie steht es mit dem Strafnachlaß, M. Public Relations? Es gibt doch viele Menschen, die behaupten, damit verschaffe man vielen Präkriminellen erst einen besonderen Anreiz?“ Ein Ausdruck leichten Ärgers huscht über das Gesicht des Repräsentanten. Gleich darauf wird er jedoch von einem warmen und verächtlichen Lächeln abgelöst. „Das sind Leute, fürchte ich, die trotz ihrer guten Absichten sehr wenig von moderner Kriminologie und modernem Strafrecht verstehen. Wir wollen die Präkriminellen keinesfalls entmutigen; vielmehr wollen wir sie ermutigen, sich freiwillig zu stellen. 16 William Tenn – Die Welt der zukunft
Denken Sie daran, wie ich Ihnen sagte, daß drei von vier Präkriminellen im ersten Jahr die Strafe aufheben lassen. Glauben Sie, diese Menschen sind so dumm und riskieren die doppelte Strafe, nachdem sie einmal herausgefunden haben, daß sie es nicht einmal zwölf Monate aushalten können? Ganz zu schweigen von dem, was sie über den Wert des Lebens, die Notwendigkeit zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit und über die Vordringlichkeit der Zivilisierung dieser Welten gelernt haben, auf denen selbst das nackte Überleben ein reines Lotteriespiel ist. Und diejenigen, die ihr Urteil nicht aufheben lassen? Nun, sie haben viel Zeit zum Nachdenken. Und in dieser Zeit kühlt zumeist auch ihr Wunsch ab, ein Verbrechen zu begehen - sie sehen ein, daß sie ihr Leben sinnlos vertun. Der gesellschaftliche Nutzen ist einfach enorm, denn sehr wenige Präkriminelle kehren zurück und führen das von ihnen verbüßte Verbrechen auch aus. Dazu darf ich Ihnen einmal einige Zahlen geben. Auf Grund der Lazarus-Tabelle wurde ermittelt, daß seit Einführung des Strafnachlasses für Präkriminelle die Zahl der vorsätzlichen Morde auf der Erde um einundvierzig und auf der Venus um dreiunddreißigeindrittel Prozent zurückgegangen ist...“ Vielleicht wären diese Zahlen ein wenig tröstlich für Stephanson, überlegte Nicholas Crandell, diese einundvierzig und dreiunddreißigeindrittel Prozent. Crandell würde die Statistik wieder etwas ausgleichen: Aus gutem Grund wollte er einen gewissen Frederick Stoddard Stephanson ermorden. Er war wie ein Rest auf einer Seite voller Subtraktionen und Streichungen - er war zurückgekehrt. Erstaunlicherweise war er nach sieben langen Jahren zurückgekehrt, um die Ware abzuholen, für die er im voraus bezahlt hatte. 17 William Tenn – Die Welt der zukunft
Er und Henck. Zwei ausgesprochene Glückspilze. Hencks Frau Elsa - ob sie ebenfalls wie hypnotisiert vor ihrem Fernsehapparat saß und sich daran klammerte, daß ihr der Repräsentant des Interstellaren Gefangenenwachdienstes einen Ausweg zeigen würde? Daß sie auf irgendeine Weise dem Schicksal entrinnen konnte, das sich wie eine schwarze und drohende Wolke über ihrem Haupt zusammenballte? Aber Elsa war allein Ottos Sache. Sollte er seinen Spaß mit ihr haben; teuer genug hatte er dafür bezahlt. Doch Stephanson war für ihn reserviert. Laß die arrogante Bohnenstange Blut und Wasser schwitzen, betete er. Ich werde mir viel Zeit mit ihm lassen. Höllenqualen soll er erleiden, ehe ich ihm den Gnadenstoß versetze!. Die Reporter ließen sie erst in Frieden, als plötzlich ein Lautsprecher zu knistern begann und eine laute Stimme erschallte: „Achtung, alle Sträflinge zur Entlassung bereithalten. Ihr werdet namentlich aufgerufen und begebt euch sodann in Zehnergruppen zum Büro des Oberwärters. Dabei ist äußerste Disziplin zu wahren. - Arthur, Augluk, Crandell, Ferrera, Fu-Yen, Garfinkel, Gomez, Graham, Henck...“ Eine halbe Stunde später durchschritten sie in Zivilkleidung den Hauptgang des Schiffes. Dem Wärter an der Gangway wiesen sie ihre Entlassungsscheine vor und lächelten verzerrt, als Andersen ihnen von der Ausstiegsluke her nachrief: „He, Freunde, kommt recht bald wieder!“ Dann standen sie nach sieben entsetzlich langen Jahren zum erstenmal wieder auf der Oberfläche ihres Heimatplaneten. Ein paar Reporter und Fotografen warteten noch auf sie. Auch ein Fernsehteam war zurückgeblieben, um den er 18 William Tenn – Die Welt der zukunft
sehnten Augenblick der Freiheit für die Nachwelt festzuhalten. Fragen, immer mehr Fragen, die sie jetzt weniger höflich beantworteten, obgleich ihnen die Schroffheit zu Anfang etwas ziemlich Ungewohntes war. Zum Glück richteten die Reporter ihr Interesse nach einer Weile auf einen weiteren Präkriminellen, der sich unter den ExSträflingen befand. Fu-Yen hatte zwei Jahre für schweren Raubüberfall in Tateinheit mit Körperverletzung gesühnt. Kurz vor Beendigung seiner Strafzeit hatte ihn das korrosive Moos auf Procyon III beide Arme und ein Bein gekostet. Auf einem gesunden und einem künstlichen Bein kam er über die Gangway gehinkt. Am Geländer konnte er sich nicht festhalten. Neugierig befragten ihn die Journalisten, auf welche Weise er mit seinen fehlenden Gliedmaßen einen Raubüberfall mit Körperverletzung begehen wolle. Crandell stieß Henck in die Rippen, und zusammen bestiegen sie eines der vielen Gyrotaxis. Dem Fahrer befahlen sie, sie in eine Bar - in eine ruhige Bar - in der Innenstadt zu bringen. Für Blotto Otto war die Vielfalt der vorhandenen Getränke nahezu überwältigend. „Die Qual der Wahl“, flüsterte er. „Nick, hier gibt's ja Unmengen zu saufen!“ Crandell gab die Bestellung auf. „Zwei doppelte Scotch“, sagte er zur Kellnerin. „Das ist alles.“ Als der Scotch vor ihnen auf dem Tisch stand, starrte Blotto Otto die beiden Gläser in liebevoller Verzückung an. So ähnlich mochte ein Mann seinen Sohn anstarren, den er zuletzt als Kind im Arm gehalten hatte und der ihm jetzt plötzlich als Erwachsener gegenüberstand. Mit zitternder Hand langte er nach seinem Glas. 19 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Auf den Tod unserer Feinde“, sagte Crandell und kippte seinen Drink hinunter. Er beobachtete Henck, der langsam und genießerisch jeden Tropfen über die Zunge laufen ließ. „Reiß dich bloß am Riemen“, warnte er, „vielleicht bist du bald so weit, daß dir Elsa an jedem Besuchstag einen Blumenstrauß in die Trinkerheilanstalt bringen kann.“ „Keine Angst“, knurrte Blotto Otto in sein leeres Glas. „Bin mit der Flasche aufgewachsen. Außerdem werde ich das nächste Glas erst anrühren, wenn ich sie zum Teufel geschickt habe. Hab mir das Ganze immer so vorgestellt, Nick: erst ein Gläschen in Ehren, dann Elsa. Meinst wohl, ich hab mir sieben Jahre aufbrummen lassen, um mir hinterher selbst die Tour zu vermasseln?“ Er stellte sein Glas auf den Tisch zurück. „Sieben Jahre von einer Hölle zur anderen. Und davor zwölf Jahre mit Elsa. Zwölf Jahre, in denen sie mich vorn und hinten betrogen hat, in denen sie mir höhnisch ins Gesicht gelacht und gesagt hat, sie sei meine Frau und habe mich genau da, wo sie mich schon von jeher hatte haben wollen. Ich müßte sie unterstützen, wie und wann sie es von mir verlangte. Wenn ich mich mal auflehnte, ließ sie mich irgendwie einlochen. Wochen verbrachte ich im Knast oder im Arbeitshaus, bis es Elsa gefiel, mich wieder rauszuholen, indem sie den Richter dazu überredete. Wie großzügig sie sich vorkam! Und ich bat sie auf den Knien um unsere Scheidung - zum Teufel, ich rutschte sogar auf dem Bauch vor ihr herum -, keine Kinder, sie ist gesund und kräftig, sie ist jung, und sie lachte mir nur ins Gesicht. Wollte sie mich mal wieder loswerden, heulte sie dem Richter einfach was vor, und bums war ich im Knast. Wenn wir allein waren, lachte sie sich immer fast tot, wenn sie mich zu ihren Füßen winseln sah.
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Ich hielt sie über Wasser, Nick. Ehrlich, ich gab ihr fast jeden Cent, den ich verdiente. Aber das war ihr nicht genug. Sie wollte mich auf den Knien sehen. Sie gab es sogar zu. Und wer rutscht jetzt auf den Knien und winselt?“ Er stieß ein tiefes Grunzen aus. „Die Ehe - das ist was für Beschränkte!“ Crandell blickte aus dem offenen Fenster auf die belebten Straßen der New Yorker City. „Möglich“, sagte er gedankenvoll, „ich weiß nicht. Meine Ehe ging fünf Jahre lang gut, und dann auf einmal nicht mehr. Sie war plötzlich wie ein Stück ranzige Butter geworden.“ „Wenigstens willigte sie in die Scheidung ein“, warf Henck dazwischen. „Sie ließ dich nicht zappeln.“ „Nein, zu diesem Typ Frauen gehörte Polly nicht. Sie mag vielleicht nicht immer genau gewußt haben, was sie wollte, aber ich hatte auch meine Fehler. ,Süße Polly' nannte ich sie immer; ,Großer Nick' sagte sie zu mir. Die rosarote Wolke löste sich auf, und so ähnlich ging es mir, schätze ich. Ich war versessen darauf, aus dem Elektronikgroßhandel mit Irv das Geschäft meines Lebens zu machen. Dabei konnte jeder erkennen, daß ich nicht das Zeug zum Millionär hatte. Vielleicht war es das. Jedenfalls wollte Polly fort, und ich ließ sie gehen. Wir trennten uns als Freunde. Manchmal frage ich mich, was sie wohl...“ Ein platschendes Geräusch ertönte. Es war, als klatsche der Leib eines springenden Delphins ins Wasser zurück. Einen kurzen Moment, nachdem der grüne, melonenförmige Körper auf den Tisch geplumpst war, hatte Henck ihn mit einer blitzartigen Bewegung ergriffen und aus dem Fenster geschleudert. Lange grüne Fäden entströmten dem Gebilde, doch es fiel bereits an der Wand des riesigen Gebäudes hinunter. 21 William Tenn – Die Welt der zukunft
Die Fäden konnten kein lebendiges Fleisch mehr finden, in dem sie sich hätten verankern können. Aus den Augenwinkeln sah Crandell einen Mann aus der Bar stürmen. Die Blicke der übrigen Gäste fuhren erschreckt zwischen der Tür und dem Tisch der beiden Männer hin und her. Es war klar, daß jener Mann der Werfer gewesen war. Augenscheinlich hielt Stephanson es für unumgänglich, Crandell beschatten und im geeigneten Moment ausschalten zu lassen. Blotto Otto machte nicht viel Aufhebens von seiner schnellen Reaktion. Sich rasch und flink zu bewegen hatten die beiden vor langer Zeit gelernt - als sie über Berge von Leichen hatten springen müssen. „Eine Löwenzahn-Bombe von der Venus“, stellte er fest. „Naja, immerhin will er dich nicht umbringen, Nick. Der Bursche will dich nur ein bißchen verkrüppeln.“ „Sieht ihm ähnlich“, stimmte Crandell zu, als sie ihre Rechnung beglichen hatten und an den Tischen vorbeimarschierten, von denen ihnen bleiche Gesichter entgegenstarrten. „Eigenhändig würde er es niemals wagen. Er heuert sich einfach einen Bully an. Aber selbst das Anheuern läßt er durch einen Mittelsmann besorgen, falls der Bully geschnappt wird und redselig werden sollte. Doch auch das ist ihm noch nicht sicher genug. Unter keinen Umständen will er es auf eine Mordanklage ankommen lassen.“ Eine reichhaltige Dosis Löwenzahn, denkt er sich, und er ist mich für den Rest seines Lebens los. Hinterher würde er mich sogar im Heim für hoffnungslose Fälle besuchen. Hat er mir doch in jedem Jahr meiner Gefangenschaft eine Weihnachtskarte geschickt. Stets dieselben Worte: ,Immer noch böse? Viele Grüße, Freddy'„ 22 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Eine tolle Nummer, dieser Stephanson“, sagte Blotto Otto und peilte vorsichtig um die Ecke, ehe sie aus der Bar auf den Gehsteig des 15. Stockwerks traten. „Ja, eine tolle Nummer. Er hat die Welt am Schwanz gepackt, und ab und zu tritt er ihr drauf, nur so zum Spaß, versteht sich. Ich habe ihn gründlich kennengelernt, als wir während unserer Collegezeit Zimmergenossen waren. Aber meinst du, ich hätte etwas daraus gelernt? Ich rannte ihm wieder über den Weg, als das Elektronikgeschäft mit Irv kurz vor dem Bankrott stand, ungefähr zwei Jahre, nachdem ich mit Polly Schluß gemacht hatte. Ich wußte vor Sorgen kaum aus noch ein und suchte wohl so eine Art Beichtvater. Also erzählte ich ihm, daß mein Partner ein Pfennigfuchser und ich ein geschäftlicher Versager war und wie wir beide ein gutes Geschäft hatten vor die Hunde gehen lassen. Und dann plapperte ich die Sache von der Fernsteuerung aus, mit der ich schon seit geraumer Zeit herumexperimentiert hatte.“ Immer noch schaute sich Blotto Otto mißtrauisch nach allen Seiten um. Nicht etwa aus Furcht vor einem weiteren Attentäter, sondern weil er erstaunt war darüber, aus freien Stücken einen so langen Fußmarsch zu machen. Einige Passanten blieben stehen und blickten erstaunt auf ihre altmodischen, knielangen Überzieher. „Da stand ich nun“, fuhr Crandeil fort. „Ich weiß, ich war ein Idiot! Aber ehrlich, Otto, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie freundlich und beredet ein Bursche wie Freddy Stephanson sein kann. Er erzählte mir, er besitze ein Haus auf dem Lande, das er zur Zeit gar nicht benutze. Im Keller befinde sich sogar ein Speziallabor. Ich könne über alles verfügen, solange es mir Spaß mache, schon in der nächsten Woche könne ich einziehen: Nur fürs Essen müsse ich selber sorgen. Er wolle auch keinen Pfennig Miete von mir 23 William Tenn – Die Welt der zukunft
wir seien ia schließlich gute alte Bekannte, und er möchte, daß ich der Menschheit eine wirklich epochemachende Erfindung schenke. Was hätte ich dagegen ein wenden sollen? Erst zwei Jahre später ging mir ein Licht auf, daß er das Labor noch in derselben Woche hatte einrichten lassen, in der ich Irv bat, mir meinen Geschäftsanteil auszuzahlen. Was hätte auch Stephanson, der Inhaber eines Maklerbüros, mit einem eigenen Elektroniklabor anfangen sollen? Aber wer denkt gleich an so etwas, wenn ihm ein alter Freund über den Weg läuft, der ihm einen kleinen Gefallen tun möchte?“ Otto seufzte. „Jede Woche macht er dir einen kurzen Besuch. Und einen Monat nach Beendigung deiner Arbeit schmeißt er dich sang- und klanglos 'raus und läßt deine Papiere mit den Aufzeichnungen verschwinden. Er eröffnet dir feierlich, er habe sich längst das Patent gesichert, ehe du dir wieder alle Unterlagen beschaffen konntest. Und es sei ja letzten Endes auch sein Labor gewesen. Er kann immer behaupten, du habest in seinem Namen gearbeitet. Dann lacht er dir frech ins Gesicht - wie Elsa, nicht wahr, Nick?“ Crandell biß sich auf die Lippen, als ihm klar wurde, wie gut sich Otto Henck an die Geschichte erinnerte. Wie oft hatten sie über ihre Rachepläne gesprochen? Wie oft hatten sie einander ihre Beweggründe geschildert? Wie oft hatten sie die bitteren Geschichten durchgekaut, hatten einander dieselben Fragen gestellt und dieselben Antworten gegeben? Wie oft waren sie zu denselben Entschlüssen gekommen? Plötzlich verspürte er das dringende Bedürfnis, seinen Begleiter einfach stehenzulassen und den Luxus völligen Alleinseins zu genießen. Er bemerkte das gleißende Dach eines zwei Stockwerke tiefer liegenden Hotels. 24 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Da werde ich mir ein Zimmer nehmen. Heute nacht brauche ich ein anständiges Bett.“ Otto nickte, doch sein Nicken bezog sich mehr auf Crandells düstere Stimmung als auf seine Feststellung. „Ich kann mir denken, wie dir zumute ist. Ist aber ein bombastischer Laden, Nick. Ausgerechnet das Capricorn-Ritz! Kostet einen schönen Batzen Geld!“ „Wenn schon. Eine Woche lang kann ich wie Gott in Frankreich leben. Und mit meinen Kenntnissen finde ich jederzeit einen Job, wenn ich auf dem Trockenen sitzen sollte. Für heute nacht brauche ich was Bombastisches, Otto.“ „Okay, okay. Meine Adresse hast du ja, Nick. Ich bin bei meinem Vetter.“ „Ja, ich weiß. Und viel Erfolg bei Elsa, Otto.“ „Danke, für dich viel Erfolg bei Freddy. Mach's gut, Junge.“ Der kleinere Mann wandte sich abrupt ab und stieg in den Fahrstuhl zur Hauptstraße. Als sich die Türen hinter ihm schlössen, verspürte Crandell tief im Innern ein eigentümliches Gefühl. Henck hatte ihm nähergestanden als sein eigener Bruder. Nun ja, mit Henck war er eine Ewigkeit jeden Tag und jede Nacht zusammen gewesen. Und Dan hatte er seit - wie lange war es jetzt? - neun Jahren nicht mehr gesehen. Er dachte daran, wie wenig ihn die Welt eigentlich interessierte, wenn man den ziemlich negativen Wunsch ausschloß, Stephanson ins Jenseits zu befördern. Er brauchte unbedingt ein Mädchen - irgendein Mädchen. Doch wenn er recht darüber nachdachte, dann hatte er noch ein viel dringlicheres Bedürfnis. Eiligen Schrittes ging er zum nächsten Drugstore. Es war ein großes Geschäft, ein Filialladen. Und dort sah er im 25 William Tenn – Die Welt der zukunft
Schaufenster genau das, was er seiner Ansicht nach am nötigsten brauchte. Er trat an die lange Verkaufstheke und sagte zu einem der Verkäufer: „Kommt mir ziemlich billig vor. Funktionieren die Dinger auch zuverlässig?“ Der Verkäufer warf sich in die Brust. „Ehe wir eine Ware zum Verkauf anbieten, Sir, wird sie gründlichst getestet. Wir sind die größten Einzelhändler des Sonnensystems - deshalb der niedrige Preis.“ „Na schön, dann geben Sie mir ein mittleres Kaliber. Und zwei Schachteln Munition.“ Mit dem Revolver in der Tasche sah man die Welt gleich ganz anders. Er hatte ziemlich großes Vertrauen - jahrelang hatte er sich gegen gefährliche Lebewesen zur Wehr setzen müssen - in seine Fähigkeit, einem eventuellen Angriff rasch ausweichen zu können. Aber es gab einem dennoch ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, daß man zurückschlagen konnte. Und wußte er, wann Stephanson einen zweiten Anschlag ausüben würde? Im Hotel trug er sich unter falschem Namen ein. Dieser Einfall kam ihm buchstäblich im letzten Moment. Daß ihm dieser Trick nicht viel einbrachte, merkte er ein paar Minuten später, als er dem Liftboy ein Trinkgeld in die Hand drückte. „Vielen Dank, Mr. Crandell“, sagte der Boy, „und hoffentlich finden Sie Ihr Opfer bald.“ Er war also schon bekannt wie ein bunter Hund. Anscheinend kannte jedermann sein Gesicht. Das würde die Sache mit Stephanson natürlich erschweren. Beim Baden zog er durch das Fernsehtelefon Erkundigungen über Stephanson ein. Vor sieben Jahren war Stephanson wohlhabend und einigermaßen einflußreich gewesen; durch die Stephanson-Fernsteuerung - wie sich das 26 William Tenn – Die Welt der zukunft
anhörte: Stephanson-Fernsteuerung - mußte er jetzt noch wohlhabender und einflußreicher geworden sein. Und so war es in der Tat. Das Fernsehtelefon teilte ihm mit, daß sich im vergangenen Kalendermonat sechzehn Zeitungsmeldungen mit Frederick Stoddard Stephanson beschäftigt hatten. Crandell dachte kurz nach, dann erkundigte er sich nach der neuesten Meldung. Sie trug das Datum des heutigen Tages. „Frederick Stoddard Stephanson, Präsident des Stephanson Investment Trust und der Stephanson Electronics Corporation, ist heute früh zu seinem Jagdhaus in Zentral-Tibet aufgebrochen. Er wird dort bis...“ „Das reicht!“ rief Crandell durch die Badezimmertür. Stephanson hatte Angst! Die arrogante Bohnenstange schlotterte vor Furcht. Das war schon etwas; es erfüllte Crandell mit tiefer Befriedigung. Sollte er in seinem eigenen Saft schmoren, bis er den Mord, wenn es so weit war, als willkommene Erlösung ansehen würde. Crandell erkundigte sich nach weiteren Neuigkeiten und bekam gleich darauf zu hören, daß im Capricorn-Ritz ein Mann namens Alexander Smathers alias Nick Crandell abgestiegen war. „Aber weder Nicholas Crandell noch Alexander Smathers ist sein richtiger Name. Der Mann hat nur einen einzigen Namen - und dieser Name lautet Tod! Ja, meine Damen und Herren, für heute nacht hat sich der Sensenmann im Capricorn-Ritz einquartiert, und er allein weiß, wer von uns bald nicht mehr die Sonne aufgehen sehen wird. Dieser Mann, dieser düstere Schnitter, dieser Anwalt des Todes, ist der einzige unter uns allen, der weiß...“ „Hält's Maul!“ schrie Crandell erbost. Fast hatte er vergessen, was einem freien Mann alles zugemutet werden konnte. 27 William Tenn – Die Welt der zukunft
Auf dem Schirm des Telefons blinkte der Privatanschluß. Schnell trocknete er sich ab, fuhr in seine Kleider und fragte: „Wer ist dort?“ „Mrs. Nicholas Crandell“, kam die Stimme der Telefonistin. Wie vom Schlag getroffen, starrte er einen Moment auf den weißen Bildschirm. Polly! Woher in aller Welt mochte sie gekommen sein? Und wie hatte sie seinen Aufenthaltsort erfahren? Nein, diese Frage war überflüssig - immerhin war er inzwischen eine Berühmtheit geworden. „Verbinden Sie mich mit ihr“, sagte er dann. Pollys Gesicht erschien auf dem Monitor. Prüfend studierte Crandell ihre Züge. Sie war etwas gealtert, aber vielleicht entstand dieser Eindruck lediglich durch die übermäßige Vergrößerung. Als habe sie es selbst bemerkt, drehte Polly an den Reglern ihres Apparats, und ihr Gesicht schrumpfte auf Lebensgröße zusammen. Gleichzeitig tauchten ihre ganze Gestalt und ihre Umgebung auf. Augenscheinlich befand sie sich im Wohnzimmer ihres Hauses; nach den Möbeln zu urteilen, handelte es sich um eine mittelmäßig eingerichtete Wohnung. Aber Polly sah gut aus - sehr gut sogar. Warme Erinnerungen kamen ihm vor die Augen... „Tag, Polly. Was hat das zu bedeuten? Mit deinem Anruf hatte ich bestimmt nicht gerechnet.“ „Hallo, Nick.“ Sie fuhr sich mit der Hand an den Mund und starrte ihn über die Knöchel an. Dann: „Nick, bitte! Bitte, spiel nicht mit mir.“ Er ließ sich in einen Stuhl fallen. „Was?“ Sie brach in Tränen aus. „O Nick! Bitte! Sei nicht so grausam! Ich weiß, warum du diese Strafe auf dich genommen hast - diese sieben Jahre. Als ich heute deinen Namen 28 William Tenn – Die Welt der zukunft
hörte, wußte ich sofort, warum du es getan hast. Aber Nick, es war nur ein Mann - ein einziger Mann, Nick!“ „Was war nur ein Mann?“ „Es war nur ein Mann, mit dem ich dich betrogen habe. Und ich glaubte, er liebe mich, Nick. Niemals hätte ich mich von dir scheiden lassen, wenn ich seinen wahren Charakter erkannt hätte. Das weißt du doch, Nick, nicht wahr? Du weißt, wie er mich gequält hat. Ich habe meine Strafe weg. Töte mich nicht, Nick. Bitte, laß mich am Leben!“ „Hör mal, Polly“, begann er völlig verwirrt, „Polly, Mädchen, um Himmels willen...“ „Nick!“ schluchzte sie hysterisch. „Nick, es ist über zehn Jahre her. Töte mich deswegen nicht, Nick, bitte! Ehrlich, Nick, ich bin dir nicht länger als ein Jahr untreu gewesen höchstens zwei Jahre. Ehrlich, Nick! Und, Nick, es war nur diese eine Affäre - die anderen zählen nicht. Es waren einfach - es waren Episoden, fast bedeutungslos. Aber bring mich deswegen nicht um, Nick! Bitte, laß mich doch am Leben!“ Sie schlug beide Hände vors Gesicht und wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt. Crandell sah dem Schauspiel eine Weile zu und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Wuff!“ stieß er dann hervor und schaltete den Apparat ab. Er ließ sich zurücksinken. Wieder machte er „Wuff!“ Diesmal klang es mehr wie ein Zischen. Polly! Polly hatte ihn während ihrer Ehe betrogen. Ein ganzes Jahr lang - nein, zwei Jahre sogar! Und - was hatte sie gesagt? - die anderen, die anderen waren nur Episoden gewesen! Die Frau, die er geheiratet hatte, die Frau, die er aus tiefster Seele geliebt hatte, die Frau, die er voll Schmerz freigegeben hatte! Und das Schuldgefühl, das er verspürt hat 29 William Tenn – Die Welt der zukunft
te, als ihm diese Frau vorgeworfen hatte, ihm seien geschäftliche Dinge viel wichtiger als sie. Dennoch war es nicht fair gewesen, ihn darum zu bitten, etwas kampflos aufzugeben, das ihm soviel bedeutete... Süße Polly. Kleine Polly. Nicht ein einziges Mal in ihrer Ehe hatte er an eine andere Frau gedacht. Und hätte jemand behauptet, irgend jemand - hätte er es auch nur angedeutet -, mit dem Schraubenschlüssel hätte er ihm die Visage poliert. Er hatte sich mit der Scheidung nur deswegen einverstanden erklärt, weil sie ihn händeringend darum gebeten hatte. Doch stets war er von der Hoffnung erfüllt gewesen, sie werde wieder zu ihm zurückkehren, wenn die Geschäfte besser gingen, wenn Irv aus den roten Zahlen heraus war Dann aber verschlechterten sich die Geschäfte, Irvs Frau wurde krank, und er war noch seltener ins Büro gegangen, und... „Mir ist“, murmelte er vor sich hin, „als hätte ich eben herausgefunden, daß es keinen Weihnachtsmann gibt. Nicht Polly, nicht während all der schönen Jahre! Eine Affäre! Und die anderen nur Episoden!“ Wieder blinkte das Telefon auf. „Wer ist da?“ knurrte er gereizt. „Mr. Edward Ballaskia.“ „Was will er?“ Nicht Polly, seine süße Polly! Ein fettleibiger Mann erschien auf dem Bildschirm. Argwöhnisch blickte er nach rechts und nach links. „Ich muß Sie fragen, Mr. Crandell, ob Sie mit Sicherheit sagen können, daß diese Leitung nicht angezapft ist?“ „Was, zum Teufel, wollen Sie überhaupt?“ Crandell wünschte, der Fettwanst wäre persönlich gekommen und stände jetzt vor ihm. Dann hätte er wenigstens Dampf ablassen können. 30 William Tenn – Die Welt der zukunft
Mißbilligend schüttelte Mr. Edward Ballaskia den Kopf. Widerlich wabbelten seine Hängebacken. „Gut, Sir, wenn Sie es mir nicht sagen wollen, muß ich eben das Risiko in Kauf nehmen. Ich rufe Sie an, Mr. Crandell, um Sie darum zu bitten, Ihren Feinden zu vergeben und die andere Backe hinzuhalten. Ich bitte Sie, erinnern Sie sich an die Worte Glaube, Liebe, Hoffnung - vor allem an die Liebe. Mit anderen Worten, Sir, öffnen Sie Ihrem Opfer, wer immer es auch sein möge, Ihr Herz, haben Sie Verständnis für die menschlichen Schwächen und vergeben Sie.“ „Und aus welchem Grund sollte ich das tun?“ wollte Crandell wissen. „Weil es Ihnen von großem Nutzen wäre, Sir. Nicht nur in moralischer Hinsicht - obwohl wir diesen Aspekt nicht vollständig außer acht lassen wollen -, sondern auch in finanzieller. Von finanziellem Nutzen, Mr. Candrell.“ „Würden Sie mir bitte endlich sagen, wovon Sie überhaupt reden?“ Der Fette beugte sich vor und lächelte vertraulich. „Wenn Sie der Person vergeben können, um deretwillen Sie sieben lange und schwere Jahre hindurch gelitten haben, Mr. Crandell, bin ich bereit, Ihnen das verlockendste Angebot Ihres Lebens zu machen. Sie dürfen einen beliebigen Mord begehen. Ich möchte einen Mord begangen haben. Ich bin sehr reich. Sie dagegen, schätze ich - und nehmen Sie's mir nicht übel - sind sehr arm. Ich kann Sie für den Rest Ihres Lebens von allen Sorgen befreien, von allen Sorgen, Mr. Crandell, wenn Sie Ihren Gedanken an eine persönliche Rache aufgeben. Ich habe einen geschäftlichen Konkurrenten, müssen Sie wissen, der...“ 31 William Tenn – Die Welt der zukunft
Crandell unterbrach ihn, indem er das Telefon ausschaltete. „Sitze deine sieben Jahre selbst ab!“ zischte er den blanken Schirm giftig an. Dann kam ihm die ganze Sache auf einmal äußerst komisch vor. Er lehnte sich zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Dieser fettwanstige Gauner! Kam ihm mit Worten aus der Bibel! Aber das Gespräch hatte seinen Zweck erfüllt. Auf seltsame Weise zog es die Szene mit Polly ebenfalls ins Lächerliche. Welch ein Gedanke! Zitternd hockte eine Frau in ihrem Wohnzimmer und dachte an Dinge, die schon seit mehr als zehn Jahren der Vergangenheit angehörten! Und dafür sollte er sieben Jahre geblutet und gekämpft haben? Er wälzte diesen Gedanken noch einen Augenblick, dann tat er ihn mit einem Achselzucken ab. „Geschadet hat es ihr bestimmt nicht.“ Und jetzt hatte er Hunger. Er dachte daran, sich das Essen aufs Zimmer bringen zu lassen, um einem erneuten Zusammentreffen mit Stephansons Bombenwerfern zu entgehen, doch dann entschied er sich gegen diese Lösung. Wenn Stephanson tatsächlich Jagd auf ihn machte, könnte er mit Leichtigkeit das Essen vergiften lassen. Es war sicherer, in einem beliebigen Restaurant zu speisen. Außerdem konnte er etwas Leben, etwas Frohsinn um sich herum gut gebrauchen. Es war seine erste Nacht in Freiheit - und er mußte sich den schalen Geschmack aus dem Mund spülen. Sorgsam nahm er den Flur in Augenschein, ehe er aus seinem Zimmer trat. Niemand war zu sehen. All das erinnerte ihn an jenen kleinen Planeten nahe der Wega, wo sie jedesmal mit derselben Vorsicht aus den Höhlungen getre 32 William Tenn – Die Welt der zukunft
ten waren, die die feuchten, kohlehaltigen Farne geformt hatten. Denn wenn man es vergaß - nun, dann wartete vielleicht schon eine jener blutsaugenden Mollusken, eine Kreatur, die ihre Opfer mit Muscheln betäubte, die sie nach ihnen schleuderte. Dann machte sie sich über ihre betäubte Beute her. Und diese Blutsauger konnten einen Menschen in zehn Minuten leermachen. Einmal war auch er von einer Muschel getroffen worden. Während er dort gelegen hatte, war Henck - guter alter Blotto Otto! Crandell lächelte. Sollte es etwa so weit kommen, daß sie eines schönen Tages voller Wehmut auf diese entsetzlichen Erlebnisse zurückblickten, wie es oftmals die Soldaten nach einem Krieg taten, so schmutzig er auch gewesen sein mochte. Sollte es wirklich einmal dazu kommen, dann konnten sie sich immerhin sagen, daß sie es nicht für schmierige Kerle wie Mr. Edward Ballaskia und andere üble Pläne getan hatten. Und auch nicht, wenn man recht darüber nachdachte, für heulende und zitternde Wesen wie Polly. Frederick Stoddard Stephanson. Frederick Stoddard... Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er fand wieder in die Gegenwart zurück. Die Halle hatte er bereits zur Hälfte durchquert. „Nick“, sagte eine bekannte Stimme. Crandells Blicke saugten sich an dem Gesicht des Mannes fest. Der dünne Spitzbart - er kannte niemanden mit einem derartigen Bart, doch die Augen - diese Augen mußte er schon einmal gesehen haben... 33 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Nick“, sagte der Mann mit dem Bart. „Ich brachte es nicht fertig.“ Die Augen - natürlich, sein jüngerer Bruder war es! „Dan!“ rief er aus. „In Lebensgröße!“ Klappernd fiel etwas zu Boden. Crandell senkte die Augen und sah einen Revolver auf dem Teppich liegen. Es war ein größerer und teuerer Revolver als sein eigener. Weshalb schleppte Dan eine Kanone mit sich umher? Wer hatte es auf Dan abgesehen? Dann glaubte er die Erklärung gefunden zu haben. Und Furcht erfüllte ihn - Furcht vor den Worten, die sein Bruder vielleicht aussprechen würde, nachdem er ihn sieben Jahre lang nicht gesehen hatte, nichts von ihm gehört hatte... „Ich hätte dich schon beim Betreten der Halle abschießen können“, sagte Dan. „Hatte dich die ganze Zeit über im Visier. Du sollst jedoch wissen, daß es nicht die Angst vor einer postkriminellen Mordanklage war, die mich zurückgehalten hat.“ „Nein?“ Crandell ließ die angehaltene Luft aus seinen Lungen entweichen. „Ich konnte dir nicht noch mehr antun seit der Sache mit Polly...“ „Mit Polly. Ja, mit Polly natürlich.“ Ein Gewicht schien an seinem Kinn zu hängen; es zog seinen Kopf nach unten, riß seinen Mund auf. „Mit Polly. Die Sache mit Polly.“ Dan schlug sich klatschend mit der Faust in die Handfläche. „Ich wußte, daß du mich früher oder später jagen würdest. Das Warten brachte mich fast um den Verstand - und das ewige Schuldgefühl gab mir den Rest. Doch nie hätte 34 William Tenn – Die Welt der zukunft
ich mir träumen lassen, daß du es auf diese Art tun würdest, Nick. Sieben Jahre läßt du auf dich warten!“ „Hast du mir deswegen niemals geschrieben, Dan?“ „Was hätte ich dir schreiben sollen? Was gibt es da schon groß zu sagen? Ich dachte, ich liebte sie. Erst nach der Scheidung wurde mir klar, was ich für sie bedeutete. Ich glaube, es lag daran, daß ich immer alles wollte, was dir gehörte, weil du mein älterer Bruder warst, Nick. Das ist meine ganze Entschuldigung. Ich weiß, wieviel sie wert ist. Ich weiß auch, wie du zu Polly standest und was ich aus purem Übermut zerstört habe. Doch eines mußt du wissen, Nick: Ich werde dich nicht töten, und ich werde mich nicht gegen dich wehren. Ich bin zu müde; ich fühle mich zu sehr schuldig. Du weißt ja, wo du mich finden kannst, Nick, zu jeder Stunde.“ Er machte kehrt und ging mit schnellen Schritten durch die Halle. Die Metallspangen, in diesem Jahr letzter Schrei der Herrenmode, glitzerten an seinen Waden. Er schaute nicht einmal zurück, als er hinter der großen Plastikscheibe entlangging, die die Halle von der Straße trennte. Crandell blickte ihm nach. „Hm“, brummte er nachdenklich. Er bückte sich, hob den Revolver auf und machte sich auf die Suche nach einem Restaurant. Während er in seinem Essen „à la Venus“ herumstocherte, das übrigens bei weitem nicht so gut war wie vor sieben Jahren, kreisten seine Gedanken um Polly und Dan. Plötzlich sah er alles wieder so klar vor sich, als habe es sich erst gestern abgespielt. Und er hatte nicht den leisesten Verdacht gehegt! Doch wer hätte Polly verdächtigen sollen, wer hätte Dan verdächtigen sollen? Er nahm seine Entlassungspapiere aus der Brieftasche und studierte sie noch einmal. Nach Verbiißung der Maxi 35 William Tenn – Die Welt der zukunft
malstrafe von sieben Jahren, reduziert von vierzehn Jahren, wird Nicholas Crandell hiermit als Präkrimineller entlassen - um seine geschiedene Frau Polly Candrell umzubringen? - um seinen jüngeren Bruder Dan Crandell umzubringen? Lächerlich! Aber sie hatten es keineswegs lächerlich gefunden. Sie beide, die sich ihrer Schuld so bewußt waren, die mit solcher Gewißheit damit rechneten, von dem Haß zerschmettert zu werden, den er während der sieben harten Jahre in der Galaxis aufgespeichert hatte - ja, sie beide waren überzeugt gewesen, daß ihre so oft unter Beweis gestellte Schlauheit sie endgültig verlassen hatte. Die Wärme seiner Augen hatten sie ganz und gar mißdeutet. Aber sie hatten nicht gut aufgepaßt. Wären sie nicht so sehr mit sich selbst und ihren Problemen beschäftigt gewesen, dann hätten sie sein Erstaunen wahrnehmen müssen, dann hätten sie ihn einzeln wie auch miteinander weiter täuschen können. Aus den Augenwinkeln sah er eine Frau neben seinem Tisch stehen. Über die Schulter hatte sie seine Entlassungspapiere mitgelesen. Er ließ sich zurücksinken und musterte sie. Lächelnd blickte sie ihm entgegen. Sie war von einer geradezu bezaubernden Schönheit und hatte alles, was eine Frau zum Schönsein haben muß - Figur, Gesicht, Ausdruck, Haltung, Augen, Haar, alles von höchster Perfektion. Und sie wies auch all die übrigen Attribute auf, die - wie bei vielen Kunstwerken - den Unterschied zwischen einem großen Werk und einer zeitlosen Meisterleistung ausmachen. Zu diesen Attributen zählt auch Geld in genügender Menge, damit man mit der modischsten Frisur und der erlesensten Kleidung gehen und einen sprühenden Paeaea-Stein vom Saturn auf der Brust tragen kann. Diese Attribute spiegelten sich auch in der feinen weiblichen Intelligenz wider, die ihre ausdrucksvollen Augen 36 William Tenn – Die Welt der zukunft
verrieten. Jeder dieser Attribute schien das andere ergänzen zu wollen. „Darf ich mich zu Ihnen setzen, Mr. Crandell?“ fragte sie mit einer Stimme, von der man nicht mehr sagen konnte, als daß sie zu ihrer ganzen Erscheinnung paßte. Belustigt, fast erheitert, rutschte er auf die Sitzcouch hinüber. Sie ließ sich nieder wie eine Kaiserin, die vor den Augen Hunderter huldigender Könige ihren Thron besteigt. Crandell glaubte zu wissen, wer sie war und was sie von ihm wollte. Entweder entstammte sie den höchsten Kreisen des Sonnensystems, oder sie war ein frisch am Theaterhimmel aufgestiegener Stern. Und er, ein gerade entlassener Sträfling mit der Macht über Leben und Tod, bedeutete für sie etwas noch nie zuvor Erlebtes, dem sie sich nun widmen wollte. Es war nicht eben schmeichelhaft für ihn. Andererseits jedoch würde sich eine derartige Frau nur unter den außergewöhnlichsten Umständen mit einem Mann wie ihm abgeben; also konnte er sich seinen besonderen Status eigentlich zunutze machen. Er konnte ihre Neugier befriedigen in seiner ersten Nacht in Freiheit, während sie... „Das sind Ihre Entlassungspapiere, nicht wahr?“ erkundigte sie sich und warf wieder einen Blick darauf. Ihre Oberlippe schimmerte feucht, bemerkte er - welch seltsam verlockende Patina für eine so junge Frau! „Sagen Sie, Mr. Crandell“, fuhr sie schließlich fort und wandte ihm ihr Gesicht zu, wobei ihre Lippen noch verführerischer schimmerten, „Sie haben eine präkriminelle Strafe für Mord verbüßt. Ob es wohl stimmt, daß die Bestrafung für die brutalste und gemeinste Vergewaltigung fast die gleiche ist?“ 37 William Tenn – Die Welt der zukunft
Nach langem Schweigen winkte Crandell die Kellnerin heran, beglich seine Rechnung und verließ das Restaurant. Als er mißtrauisch vor der Halle seines Hotels stehenblieb, war seine Wut beinahe verraucht. Von Stephansons Totschlägern schien niemand in Sicht zu sein, obwohl man bei Stephanson mit allem rechnen mußte. Nach einem danebengegangenen Versuch würde er sicher erst einmal etwas Gras über die Sache wachsen lassen. Und jenes Mädchen! Und Edward Ballaskia! In seinem Fach lag eine Nachricht. Jemand hatte angerufen und nur seine Nummer hinterlassen. Er wartete auf Crandells Rückruf. Was nun schon wieder? fragte er sich im stillen, als er auf sein Zimmer ging. Führte Stephanson etwas im Schilde? Oder wollte ihn eine unglückliche Mutter darum bitten, ihr unheilbar krankes Kind aus der Welt zu schaffen? Er wählte die Nummer und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Und dann, gerade wollte er einen freudigen Gruß ausrufen, preßte er die Lippen aufeinander. Zu viele böse Überraschungen hatte er heute bereits hinter sich. Und auf Irvs Gesicht nahm er einen Ausdruck wahr... „Hör zu, Nick“, sagte Irv schließlich mit schwerer Stimme, „ich möchte dir nur eine Frage stellen.“ „Und die wäre, Irv?“ fragte Crandell unbeweglich. „Seit wann wußtest du es? Wie hast du es herausgefunden?“ Crandell ließ sich die verschiedenen Möglichkeiten zur Beantwortung dieser Frage durch den Kopf gehen, dann wählte er aufs Geratewohl eine Antwort. „Seit langem, Irv. Nur konnte ich nichts dagegen tun.“ 38 William Tenn – Die Welt der zukunft
Irv nickte. „Das habe ich mir gedacht. Aber ich will dir nichts vorheulen. Ich weiß, daß mir alles Betteln nach den sieben Jahren, die du hinter dir hast, nicht viel einbringen würde. Aber ob du es mir glaubst oder nicht, ich habe es erst seit der Krankheit meiner Frau getan. Meine Ersparnisse waren draufgegangen. Ich konnte mir nichts mehr borgen, und du hattest mit deinen häuslichen Sorgen alle Hände voll zu tun. Dann ging es mit den Geschäften auf einmal wieder bergauf, und ich wußte den dadurch entstandenen Fehlbetrag zu vertuschen. Also brachte ich mir auch weiterhin meinen Teil beiseite. Aber diesmal war es nicht mehr für die Krankenhauskosten, auch wollte ich dich nicht vorsätzlich betrügen, Nick. Wirklich! Du durftest nicht merken, wieviel Geld ich bis zu diesem Zeitpunkt genommen hatte. Dann kamst du zu mir und wolltest aussteigen, weil du den Mut verloren hattest. Nun ja, im benahm mich lausig. Ich hätte es dir sagen sollen. Doch wir beide waren nie so recht miteinander ausgekommen. Ich sah meine Chance, das ganze Geschäft in die Hände zu bekommen. Deshalb habe ich - ich...“ „Deshalb hast du mich mit ein paar Kröten abgespeist“, beendete Crandell den Satz. „Wieviel ist das Geschäft heute wert, Irv?“ Der andere schlug die Augen nieder. „Fast eine Million. Aber, Nick, hör mir zu, das Großhandelsgeschäft hat erst im letzten Jahr zu florieren angefangen. Ich habe dich nicht um den ganzen Betrag von einer Million betrogen! Hör mal, Nick...“ Crandell stieß ein grimmiges Lachen aus. „Was willst du noch, Irv?“ Irv brachte ein sauberes Taschentuch zum Vorschein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Nick“, sagte er, 39 William Tenn – Die Welt der zukunft
wobei er sich vorbeugte und ein gewinnendes Lächeln versuchte, „ich mache dir einen Vorschlag, Nick. Du vergißt alles, du läßt mich in Frieden, und ich mache dir ein Angebot. Ich brauche einen Mann mit deinen Kenntnissen. Ich überschreibe dir zwanzig Prozent der Anteile. Nick - nein, fünfundzwanzig Prozent. Natürlich, sagen wir einfach dreißig - fünfunddreißig Prozent...“ „Und du meinst, damit wären die sieben Jahre bezahlt?“ Flehend rang Irv die Hände. „Nein, das nicht, Nick. Aber hör mal, ich sage fünfundvierzig Prozent...“ Crandell brach die Verbindung ab. Ein paar Minuten blieb er ruhig sitzen, dann begann er ruhelos durch den Raum zu wandern. Er überprüfte den Revolver, den er sich besorgt hatte. Dann holte er seine Entlassung hervor und las sie Wort für Wort durch. Er steckte sie wieder in die Tasche. Dann meldete er in der Zentrale ein Ferngespräch an. „Jawohl, Sir. Aber hier ist ein Herr, der Sie zu sprechen wünscht. Ein Mr. Otto Henck, Sir.“ „Schicken Sie ihn herauf. Und geben Sie mir das Gespräch so schnell wie möglich.“ Nach einigen Minuten trat Blotto Otto ein. Er war betrunken; wie gewöhnlich merkte man ihm jedoch kaum etwas davon an. „Was sagst du dazu, Nick? Was, zum Teufel...“ „Seht“, unterbrach Crandell ihn, „mein Gespräch ist da.“ Die tibetanische Telefonistin sagte: „Hallo, New York, bitte sprechen.“ Dann erschien Frederick Stoddard Stephanson auf dem Bildschirm. Der Mann war mehr gealtert als die anderen, die ihm bisher über den Weg gelaufen waren, obwohl man es bei Stephanson schwer sagen konnte; er sah 40 William Tenn – Die Welt der zukunft
stets älter aus, wenn ihn ein schwieriges Problem beschäftigte. Stephanson sagte nichts; er kräuselte lediglich die Lippen und wartete ab. Er befand sich in seiner Jagdhütte. „Guten Tag, Freddy“, begann Crandell, „ich will es kurz machen. Du kannst deine Meute zurückpfeifen und brauchst keinen Versuch mehr zu starten, mich umbringen oder anderweitig außer Gefecht setzen zu lassen. Von diesem Moment an trage ich dir nichts mehr nach.“ „Du trägst mir nichts mehr nach...“ Stephanson hatte sich wieder fest in der Gewalt. „Weshalb nicht?“ „Weil - ach, viele Dinge spielen da eine Rolle. Dich umzubringen wäre kein ausreichender Ausgleich für die sieben Jahre. Das ist mir heute klargeworden. Und du hast mir nicht mehr und nicht weniger angetan als praktisch alle anderen auch. Ich habe eingesehen, daß mir meine Einfältigkeit schon mit in die Wiege gelegt worden sein muß. Ich bin der geborene Idiot. Und du hast dir meine Dummheit nur zunutze gemacht.“ Stephanson richtete sich unmerklich auf, starrte ihn scharf an, dann entspannte er sich merklich und kreuzte die Arme über der Brust. „Du scheinst es tatsächlich ernst zu meinen!“ „Natürlich meine ich es ernst! Siehst du die beiden Dinger hier?“ Er deutete auf die Revolver. „Heute abend noch werfe ich sie fort. Von nun an werde ich nicht mehr bewaffnet sein. Ich möchte nicht länger den Herren über Leben und Tod spielen.“ Stephanson schlang nervös seine Finger ineinander. „Ich mache dir einen Vorschlag“, sagte er nach einer Weile. „Wenn du es wirklich ernst meinst - und davon bin ich fast überzeugt -, könnten wir vielleicht zu einer Einigung kom 41 William Tenn – Die Welt der zukunft
men. Wir könnten uns irgendwie arrangieren. Ich zahle dir einen bestimmten Betrag - dann werden wir schon weitersehen.“ „Obwohl du es nicht nötig hast?“ Crandell konnte sein Erstaunen kaum verbergen. „Warum hast du mir dieses Angebot nicht eher gemacht?“ „Weil mir jeglicher Zwang zuwider ist. Bisher bin ich Gewalt mit Gewalt begegnet.“ Crandell dachte über die Worte nach. „Verstehe ich nicht. Na schön, vielleicht ist das nun einmal deine Art. Wir werden also sehen, wie du schon sagst.“ Als er sich wieder zu Henck timdrehte, schüttelte der kleine Mann langsam und verwirrt den Kopf. Er war vollauf mit seinem eigenen Problem beschäftigt. „Was sagst du dazu, Nick? Vorigen Monat machte Elsa eine Vergnügungsreise zum Mond. Die Zuleitung zu ihrem Sauerstoffhelm verklemmte sich, und sie erstickte, ehe man ihr Hilfe leisten konnte. Ist das nicht eine Gemeinheit, Nick? Einen Monat vor meiner Entlassung! Sie konnte nicht einmal einen lausigen Monat abwarten! Wette, sie hat mich noch im Sterben ausgelacht!“ Crandell legte ihm den Arm um die Schultern. „Komm, Blotto Otto, wir gehen an die frische Luft. Ein bißchen Bewegung hat noch nie geschadet.“ Seltsam, dachte er, wie die Herrschaft über Leben und Tod die Menschen faszinierte. Zuerst Polly - dann Dan. Da war der gute alte Irv, der sich sein Leben erkaufen wollte. Mr. Edward Ballaskia - und jenes Mädchen im Restaurant. Und da war Freddy Stephanson, das einzige und auserwählte Opfer - und gleichzeitig der einzige von allen, der nicht um sein Leben gebettelt hatte. 42 William Tenn – Die Welt der zukunft
Er hatte nicht gebettelt, trotzdem war er unter Umständen bereit, eine Art Entschädigung zu zahlen. Konnte Crandell dieses Almosen von Stephanson annehmen? Er zuckte mit den Achseln. Wer wußte schon, was er oder irgendein anderer Mensch tun oder nicht tun konnte? „Was machen wir jetzt, Nick?“ wollte Blotto Otto verdrießlich wissen, als sie das Hotel verlassen hatten. „Ich frage dich, was machen wir jetzt?“ „Zuerst einmal mache ich das hier“, entgegnete Crandell und nahm in jede Hand einen Revolver. „Ganz einfach das hier.“ Schwungvoll schleuderte er die beiden glänzenden Waffen gegen die transparente Glaswand, die die Luxushalle des Ritz-Capricorn von der Straße trennte. Klirrend prallten sie gegen die Scheibe, die in tausend lange Risse zerbarst. Mit offenen Mäulern fuhren die Leute in der Halle herum. Ein Polizist kam herbeigerannt. Sein Abzeichen klimperte gegen die Aufschläge seiner metallischen Uniformjacke. Er packte Crandell am Arm. „Das habe ich gesehen! Ganz genau habe ich es gesehen! Dafür bekommen Sie dreißig Tage!“ „Hm“, meinte Crandell, „dreißig Tage?“ Er warf dem Polizisten seine Entlassungspapiere zu. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag - knipsen Sie die richtige Anzahl von Löchern in den Schein oder reißen Sie ein angemessenes Stück davon ab. Tun Sie, was Sie für richtig halten.“
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FEUERWASSER Der behaarteste, schmutzigste und älteste der drei ungleichen Besucher aus Arizona schrubbte sich den Rücken an der hohen Lehnes des Stuhls. „Vage Andeutungen gleichen der Farbe von Lavendel“, erklärte er und gab so das Signal zum Beginn der allgemeinen Unterhaltung. Seine beiden Gefährten - der dünne junge Mann mit den Triefaugen und die Frau, deren an sich hübsches Aussehen nur durch ihre schier unglaublich verstümmelten Zähne verunstaltet wurde - kicherten albern und lümmelten sich auf ihren Sitzen herum. Fast unhörbar sagte der dünne junge Mann: „Gabbel, gabbel, honk!“ Die anderen beantworteten diese Feststellung mit einem heftigen Kopfnicken. Greta Seidenheim hob die Augen von der kleinen Stenomaschine, die auf den erregendsten Knien ruhte, die ihr Chef in und um New York hatte auftreiben können. Sie drehte sich um, wobei ihre langen blonden Locken leicht wehten. „Das auch, Mr. Hebster?“ Der Präsident der Hebster Securities Inc. schwieg, bis ihre glockenhelle Stimme im Raum verklungen war; er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Dann nickte er und ordnete mit dröhnender Stimme an: „Das auch, Miß Seidenheim. Setzen Sie das Gabbel-Honk in Anführungsstriche und machen Sie jeweils kenntlich, ob es wie eine Frage oder wie ein Ausruf klang.“ Seine frisch manikürten Finger tauchten kurz in die Schreibtischschublade, in der eine geladene Pistole lag. Vorhanden! Zwei Klingelknöpfe, mit deren Hilfe er notfalls jeden einzelnen seiner zur Zeit über neunhundert Angestellten in sein Zimmer zitieren konnte, lagen zwanzig Zentimeter von seiner anderen Hand entfernt. Vorhanden! Und 44 William Tenn – Die Welt der zukunft
auf beiden Seiten gab es noch Türen, hinter denen seine uniformierten Leibwächter lauerten, um mit einem Sprung bei ihm zu sein, sobald er den Fuß von der kleinen Feder nahm, die auf dem Boden befestigt war. Auch vorhanden! Algernon Hebster wußte, wie man Geschäfte machte selbst mit Primären. Für jeden seiner drei Besucher aus Arizona hatte er ein höfliches Nicken übrig; wehmütig lächelnd sah er zu, wie sie mit den dreckigen und formlosen Klumpen an ihren Füßen, die wohl so etwas wie Schuhe vorstellen sollten, den kostbaren Teppich ruinierten, der eigens für sein Privatbüro angefertigt worden war. Als Miß Seidenheim sie vor einer Weile hereingeführt hatte, war er ihnen freundlich entgegengekommen, um sie ebenso freundlich zu begrüßen. Sie hingegen hatten ihm nur ins Gesicht gelacht. „Wir fangen am besten mit der Vorstellung an. Mich kennen Sie ja. Ich bin Hebster, Algernon Hebster - Sie haben ausdrücklich nach mir verlangt. Falls es Sie interessieren sollte: meine Sekretärin heißt Greta Seidenheim. Und Sie, Sir?“ Er hatte sich an den alten Mann gewandt, doch der dünne junge Mann beugte sich auf seinem Stuhl vor und streckte eine feste und fast durchsichtige Hand aus. „Namen?“ fragte er gedehnt. „Namen sind Schall und Rauch. Wie viele Namen gibt es? Namen, Namen und nochmals Namen!“ Auch die Frau beugte sich vor. Der ekelhafte Geruch, der ihrem Mund entströmte, schlug Hebster sogar durch den großen Raum entgegen. „Verrühren und danach greifen und in Widersprüche geraten“, betonte sie und deutete auf einen fiktiven Punkt an der Decke. „Die Leere vermindert sich bis zur Unendlichkeit...“ 45 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Bis zur Ewigkeit“, berichtigte der ältere Mann. „Bis zur Unendlichkeit“, beharrte die Frau. „Gabbel, gabbel, honk?“ erkundigte sich der junge Mann mit erbitterter Stimme. „So hören Sie doch!“ röhrte Hebster los. „Ich frage einzig und allein nach...“ Die Sprechanlage summte. Mit einem tiefen Atemzug drückte er auf einen Knopf. Die ängstliche Stimme seiner Vorzimmerdame erklang: „Ich weiß, was Sie befohlen haben, Mr. Hebster, aber die beiden Leute von der VM-Sonderkommission sind wieder hier. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, meinen sie es diesmal ernst. Sie sehen so aus, als wollten sie uns Kummer machen.“ „Yost und Funatti?“ „So ist es, Sir. Soviel ich ihren Worten entnehmen konnte, scheinen sie genau zu wissen, daß Primäre bei Ihnen im Zimmer sind. Sie erkundigten sich, was Sie vorhaben. Sie sagten, sie würden sich mit allen supranationalen Befugnissen ausstatten lassen und dann den Zutritt zu Ihrem Büro erzwingen, wenn Sie nicht...“ „Halten Sie sie auf.“ „Aber, Mr. Hebster, die VM-Sonder...“ „Halten Sie sie auf, habe ich gesagt! Sind Sie meine Vorzimmerdame oder eine Drehtür? Lassen Sie sich etwas einfallen, Ruth. Sie haben eine 900-Mann-Organisation, und Sie können bei sich draußen jede Räuberpistole über die Bühne gehen lassen - und wenn Sie einen Schauspieler anheuern müssen, der wie ich aussieht und ihnen tot vor die Füße rollt. Aber halten Sie sie auf! Ich zahle Ihnen eine Sonderzulage. Halten Sie sie auf.“ Er schaltete die Sprechanlage ab und blickte auf. 46 William Tenn – Die Welt der zukunft
Seine Besucher schienen sich köstlich zu amüsieren. Sie saßen einander zugewandt und plapperten mit stinkendem Atem. Streitend, bittend, entschlossen hoben und senkten sich ihre Stimmen; doch alles, was Algernon Hebsters Ohren aus dem Redeschwall entziffern konnten, waren Worte, die dem vorherigen Gabbel sehr nahekamen; ab und zu war auch ein schwaches Honk herauszuhören. Ein verächtlicher Zug umspielte seinen Mund. Die Blüte der Menschheit! Diese heruntergekommenen Gestalten? Dann steckte er sich eine Zigarette an und zuckte mit den Achseln. Na schön. Die Blüte der Menschheit. Und Geschäft ist Geschäft. Vergiß nur nicht, daß sie keine Supermänner sind, sagte er sich. Sie mögen gefährlich sein, aber Supermänner sind sie nicht. Denk bloß mal an die Grippeepidemie, durch die sie fast ausgerottet wurden, und wie du vergangenen Monat die beiden anderen Primären übers Ohr gehauen hast. Supermänner sind sie nicht, doch ebensowenig gehören sie zur Menschheit. Sie sind eben anders. Mit einem befriedigten Blick streifte er seine Sekretärin. Greta Seidenheim tippte eifrig auf ihrer Stenomaschine; fast konnte man auf den Gedanken kommen, sie schreibe einen knappen, langweiligen Geschäftsbrief. Er fragte sich, nach welchem System sie wohl die verschiedenen Betonungsweisen aufgliederte. Doch auf Greta war Verlaß; sie wußte genau, was sie tat. „Gabbel, honk! Gabbel, gabbel, gabbel, honk, honk. Gabbel, honk, gabbel, gabbel, honk? Honk.“ Wie war diese angeregte Unterhaltung zustande gekommen? Er hatte sie lediglich nach ihren Namen gefragt. Oder gab es in Arizona keine Namen? Bestimmt wußten sie, daß 47 William Tenn – Die Welt der zukunft
es hier so üblich war. Jedenfalls gaben sie vor, von derartigen Dingen ebensoviel zu verstehen wie er selbst. Vielleicht waren sie diesmal aus einem anderen Grund nach New York gekommen - vielleicht hatte es etwas mit den FREMDEN zu tun? Er fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten, und strich sie mit einer zuversichtlichen Handbewegung glatt. Das Schlimme an der ganzen Sache war, daß man ihre Sprache so leicht erlernen konnte. Es war so einfach, sie in ihren geschwätzigen Augenblicken zu verstehen. So unvorstellbar einfach war es. Nur, seine Zeit war begrenzt. Er wußte nicht, wie lange Ruth die Leute von der VM-Sonderkommission im Vorzimmer aufhalten konnte. Auf jeden Fall wurde es allmählich Zeit, daß er die Situation wieder unter Kontrolle bekam. Doch mußte er sich hüten, sie dabei auf eine der zahlreichen und gefährlichen Arten zu beleidigen, auf die man Primäre beleidigen konnte. Leise pochte er auf die Schreibtischplatte. Das GabbelHonk brach schlagartig ab. Langsam erhob sich die Frau. „Was die Namen angeht“, begann Hebster und ließ die Frau nicht aus den Augen, „und weil ihr sagt...“ Die Frau krümmte sich wie unter einem stechenden Schmerz zusammen, dann setzte sie sich auf den Fußboden und lächelte Hebster an. Ihre verstümmelten Zahne verliehen diesem Lächeln all den Glanz eines längst erloschenen Sterns. Hebster räusperte sich und setzte zu einem neuen Versuch an. „Wenn Sie unbedingt Namen wollen“, sagte der alte Mann plötzlich, „dann können Sie mich Larry nennen.“ 48 William Tenn – Die Welt der zukunft
Der Präsident der Hebster Securities schüttelte sich und brachte schließlich mit schwacher, aber nicht zu überrascht klingender Stimme das Wort „Danke“ über die Lippen. Er schaute den dünnen jungen Mann an. „Mich können Sie Theseus nennen.“ Der junge Mann sprach den Namen mit trauriger Stimme aus, und ebenso traurig sah er auch aus. „Theseus? Fein!“ So war das nun einmal mit den Primären: Man mußte sie nur auf Trab bringen, dann spurten sie wundervoll. Aber Theseus! War das nicht wieder einmal typisch für die Primären? Jetzt noch die Frau, und sie konnten sich endlich anderen Dingen zuwenden. Alle Blicke waren auf die Frau gerichtet. Sogar die stets so unnahbare Greta machte ein gespanntes Gesicht. „Name“, flüsterte die Frau vor sich hin, „nennt mir einen Namen.“ Oh, nein, stöhnte Hebster. Sollten sie wieder aufgehalten werden? Aber Larry war anscheinend zu dem Schluß gelangt, daß bereits genügend Zeit vertrödelt worden war. Er machte der Frau einen Vorschlag: „Warum nennst du dich nicht einfach Moe?“ Der junge Mann - Theseus, so hieß er jetzt - schien ebenfalls an dem Problem Interesse zu finden. „Rover ist ein guter Name“, verkündete er hilfreich. „Wie wär's mit Gloria?“ fragte Hebster, der sich kurz vor einem Nervenzusammenbruch befand. Die Frau dachte nach. „Moe, Rover, Gloria“, leierte sie, „Larry, Theseus, Seidenheim, Hebster, ich.“ Sie schien Bilanz zu ziehen. 49 William Tenn – Die Welt der zukunft
Hebster wußte, daß er sich auf das Unmöglichste gefaßt machen mußte. Aber wenigstens benahmen sie sich nicht mehr wie die Snobs. Sie redeten recht vernünftig. Nicht nur das Gabbel-Honk hatte aufgehört, sogar die noch schlimmeren spöttischen Bemerkungen waren versiegt. Endlich redeten sie vernünftig - soweit man das von ihnen erwarten durfte. „Zum Zwecke der Unterredung“, meinte die Frau kurz darauf, „lautet mein Name - lautet mein... Mein Name ist S.S. Lusitania.“ „Fein!“ rief Hebster und stieß endlich das Wort aus, das ihm die ganze Zeit auf der Zungenspitze gelegen hatte. „Das ist ein schöner Name. Larry, Theseus und - äh, S.S. Lusitania. Feine Leute seid ihr. Und so vernünftig. Jetzt aber zum geschäftlichen Teil. Ihr seid doch geschäftlich hier, nehme ich an?“ „Richtig“, sagte Larry. „Die beiden anderen, die vor einem Monat in New York waren, haben uns von Ihnen berichtet. Sie sprachen von Ihnen, als sie wieder in Arizona anlangten.“ „Taten sie das, eh? Hatte ich im stillen auch gehofft.“ Theseus rutschte vom Stuhl und kauerte neben der Frau nieder, die mit den Händen in der Luft herumfuchtelte. „Sie haben von Ihnen gesprochen“, wiederholte er. „Sie sagten, sie seien von Ihnen sehr anständig behandelt worden; Sie hätten ihnen all den Respekt entgegengebracht, den ein Wesen wie Sie erzeugen kann. Sie erwähnten auch, daß sie von Ihnen betrogen worden seien.“ „Naja, Theseus“, sagte Hebster und spreizte die manikürten Hände, „ich bin schließlich Geschäftsmann.“ „Sie sind Geschäftsmann“, stimmte S.S. Lusitania zu. Sie stand auf und wischte sich mit einer Handbewegung etwas 50 William Tenn – Die Welt der zukunft
Unsichtbares vor dem Gesicht fort. „Und hier, an diesem Ort, in diesem Augenblick, sind wir es auch. Sie können haben, was wir mitgebracht haben, aber Sie müssen dafür bezahlen. Und bilden Sie sich bloß nicht ein, Sie könnten uns betrügen!“ Sie legte die Hände übereinander und hielt sie sich vor den Bauch. Dann öffnete sie sie auf einmal, und ein kleiner Adler flatterte zwischen ihnen hervor. Er stieg hinauf bis zu den Neonleuchten an der Decke. Behindert wurde der Flug des Raubvogels nur durch den schweren, gestreiften Schild vor seiner Brust, durch das Bündel Pfeile in einer und den ölbaum-zweig in der anderen Kralle. Der Adler drehte seinen nackten Kopf und glotzte Algernon Hebster an. Dann sank er rasch auf den Teppich hernieder. Doch ehe er den Boden erreichte, löste er sich in ein Nichts auf und war verschwunden. Hebster kniff die Augen zu und erinnerte sich an den kleinen Flaggenfetzen, der sich aus dem Schnabel des Adlers gelöst hatte, als er während des Flatterns ein scharfes Zischen ausgestoßen hatte. Auf dem Flaggentuch standen Worte. Auf die Entfernung konnte er sie zwar nicht entziffern, dennoch glaubte er genau zu wissen, wie sie lauteten: „E Pluribus Unum“. Er wußte, daß er sich sein Befremden über diesen Vorfall nicht anmerken lassen durfte. Er mußte sich ebenso unbekümmert geben wie die Primären. Aber weshalb mußten sie jedermann einen kalten Schauer über den Rücken jagen? Er machte die Augen wieder auf. „Und?“ wollte er wissen. „Was habt ihr zu verkaufen?“ Ein kurzes Schweigen. Theseus schien zu vergessen, was er hatte sagen wollen; S.S. Lusitania starrte Larry an.
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Larry kratzte sich durch seine schweren und stinkenden Kleider hindurch an der Hüfte. „Oh, eine unfehlbare Methode, die jeden aus der Fassung bringt, der den Versuch macht, einem Ihrer Vorschläge mit der reduction ad absurdum zu begegnen.“ Er gähnte ungeniert und begann, sich auf der linken Seite zu kratzen. Hebster grinste vor Vergnügen. „Nein. Kann ich gar nicht gebrauchen.“ „Nicht gebrauchen?“ Der alte Mann gab sich redliche Mühe, ein verwundertes Gesicht zu ziehen. Er schüttelte den Kopf, dann blickte er S.S. Lusitania von der Seite an. Wieder lächelte sie und räkelte sich auf dem Boden. „Larry redet noch in einer Sprache, die Sie nicht verstehen, Mr. Hebster“, gurrte sie. „Wir haben etwas mitgebracht, von dem wir wissen, daß Sie es dringend benötigen. Äußerst dringend sogar!“ „Tatsächlich?“ Sie sind genau wie die beiden Primären vom vergangenen Monat, triumphierte Hebster: Sie vermögen nicht zwischen gut und schlecht zu unterscheiden. Möchte nur wissen, ob ihre Herren diese Fähigkeit haben. Und falls es so wäre - wer machte schon Geschäfte mit den FREMDEN? „Wir haben“, fuhr sie fort und dehnte die Worte sorgsam, um einen besonders dramatischen Effekt zu erzielen, „eine ganz neue Rot-Tönung. Doch damit nicht genug! O nein! Es ist nämlich eine neue Rot-Tönung mit einem vollständigen Satz von Farbwerten, die daraus abgeleitet sind! Denken Sie nur, Mr. Hebster, ein vollständiger Satz von Farbwerten, die sich aus diesem einen Rot ableiten! Was könnte ein abstrakter Maler damit alles anfangen! Er könnte zum Beispiel...“ 52 William Tenn – Die Welt der zukunft
„So leicht lasse ich mich nicht hereinlegen, liebe Dame. Theseus, wollen Sie jetzt Ihr Angebot machen?“ Theseus hatte angestrengt unter den Schreibtisch gestarrt. Jetzt lehnte er sich mit zufriedener Miene zurück. Hebster spürte plötzlich, daß der leise Druck unter seiner rechten Fußsohle verschwunden war. Irgendwie hatte Theseus die versteckte Signalfeder auf dem Fußboden entdeckt; und irgendwie hatte er sie entfernt. Er hatte sie entfernt, ohne die Alarmanlage auszulösen, mit der sie verbunden war. Die drei Primären kicherten belustigt und tauschten ein rasches „Gabbel-Honk“ aus. Dann wußten sie, was Theseus getan hatte und wie Hebster sich gegen unliebsame Überraschungen schützte. Trotzdem machten sie keinen beleidigten Eindruck - und ihr Kichern klang nicht hämisch. Diese Primären sollte einer verstehen! Nur keine unnötige Aufregung - diese Gestalten brachten einem höchstens einen nervösen Magen ein. Bedachte man jedoch auf der anderen Seite die möglichen Geschäfte... Und abrupt befanden sie sich wieder auf rein geschäftlicher Ebene. Wie ein Händler auf einem orientalischen Basar kam Theseus mit seinem letzten, seinem allerletzten Angebot. „Ein Satz von Bevölkerungsindizes, die man in Korrelation bringen kann zu...“ „Nein, Theseus“, fiel ihm Hebster sanft ins Wort. Gefällig saß er in seinem Sessel und hatte sogar die abhanden gekommene Feder unter seinem Fuß vergessen. Sie überschütteten ihn mit weiteren Angeboten. Verzweifelt und fieberhaft redeten sie auf ihn ein, einer suchte den anderen zu übertönen. 53 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Ein tragbarer Neutronenstabilisator für Hochspan...“ „Mehr als fünfzig verschiedene Arten, das Wort ‚Jedoch‘ auszusprechen, ohne...“ „... so daß jede Hausfrau während des Kochens ein Schwätzchen halten kann...“ „... eine seidenartige synthetische Faser, die man zu einem wunderbaren Stoff ver...“ „... ein Zierüberzug für Kahlköpfe unter Benutzung von Follikeln als... „ „... komplette und vollständige Refutation aller Pyramidologen von...“ „Halt!“ brüllte Hebster. „Halt! Das reicht!“ Beinahe hätte Greta Seidenheim einen tiefen und hörbaren Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Ihre Stenomaschine hatte schon wie eine hochtourige Zentrifuge geklungen. „Schön und gut“, sagte der Präsident, „und was wollt ihr als Gegenleistung?“ „Sie wollen also etwas von dem, was wir Ihnen angeboten haben, he?“ knurrte Larry. „Was denn? Die pyramidologische Refutation? Was gilt die Wette, daß es darum geht?“ S.S. Lusitania machte eine wegwerfende Handbewegung. „Bischofsmitren, du Dummkopf! Die neuen roten Farbwerte interessieren ihn. Die neuen...“ Aus der Sprechanlage kam Ruths Stimme: „Mr. Hebster, Yost und Funatti sind wieder da. Ich konnte sie abwehren, aber der Pförtner gab mir gerade Bescheid, daß sie auf dem Weg nach oben sind. Sie haben zwei Minuten Zeit, höchstens drei. Und die beiden sind so wütend, daß sie beinahe schon wie Erstere aussehen!“ 54 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Danke. Wenn sie den Fahrstuhl verlassen, müssen Sie unbedingt etwas unternehmen, ohne sich dabei allzu strafbar zu machen.“ Er wandte sich seinen Besuchern zu. „Hören Sie mal...“ Sie waren schon wieder in voller Fahrt. „Gabbel, gabbel, honk, honk, honk? Gabbel, honk, gabbel, gabbel! Gabbel, honk, gabbel, honk, gabbel, honk, honk.“ Konnten sie sich durch diese schnaubenden und krächzenden Laute tatsächlich verständigen? War dies wirklich die Sprachform, die alle bisher von der Menschheit geschaffenen übertraf - so wie die FREMDEN die Menschen übertreffen sollten? Wie dem auch war, wenigstens konnten sie sich dadurch mit den FREMDEN verständigen. Und die FREMDEN, die FREMDEN... Da fielen ihm plötzlich wieder die beiden Repräsentanten des Weltstaates ein, die auf dem Weg zu seinem Büro waren. „Hört mal, Freunde! Ihr seid gekommen, um etwas zu verkaufen. Ihr habt mir eure Ware gezeigt, aber ich bin nicht daran interessiert. Aber das ist nebensächlich. Die Hauptfrage ist: Was wollt ihr dafür haben? Und beeilt euch. Ich habe noch, andere Dinge zu erledigen.“ Die Frau mit dem Alptraum von Gebiß stampfte mit dem Fuß auf. Eine handtellergroße Wolke entstand unter der Decke, barst und ergoß einen Wasserschwall auf Hebsters kostbaren, handgeknüpften Teppich. Er fuhr sich mit der Hand an den Hals, um seine anschwellenden Adern vor dem Zerplatzen zu bewahren. Dazu war nicht der rechte Augenblick. Er sah Greta an, und ihr unbewegtes und ernstes Gesicht beruhigte ihn wieder. Sie wartete auf den Fortgang der Unterhaltung. Ein wahres 55 William Tenn – Die Welt der zukunft
Vorbild an Ruhe und Präzision! Selbst wenn die Primären das tun würden, was einer von ihnen vor zwei Jahren in London vollbracht hatte, ehe sie endgültig aus dem Stadtgebiet verbannt worden waren, nämlich eine Stubenfliege zur Größe eines Elefanten anwachsen lassen, selbst dann würde Greta Seidenheim eisern auf ihrem Stuhl sitzen und die Fragmente der Unterhaltung in entsprechende Kurzschriftsymbole umwandeln. Wenn sie so mächtig waren, warum gingen sie nicht einfach hin und nahmen sich, was sie wollten? Warum legten sie die weite Entfernung bis zur Stadt zurück und ließen sich mit Leuten wie Hebster auf illegale Zusammenkünfte ein? Die meisten von ihnen wurden ohnehin erwischt und zurück in ihr Reservat geschickt; und was geschah mit denen, die nicht geschnappt wurden? Sie wurden von den „ehrlichen“ Menschen, mit denen sie es zu tun zu haben glaubten, nach allen Regeln der Kunst betrogen. Warum erzwangen sie sich nicht einfach den Zugang zur Stadt, um so ihre unaufschiebbaren und seltsamen Wünsche zu befriedigen und zurück zu ihren Herren zu gehen? Und warum machten sich diese Herren nicht einfach auf und... Aber es war nicht leicht, in die Psyche der Primären einzudringen sie gehörten nicht in diese Welt, noch stammten sie von ihr. „Wir werden Ihnen sagen, was wir dafür haben wollen“, begann Larry inmitten eines abgehackten Honk. Er hob eine Hand. An dem Dreck, den er unter seinen Fingernägeln hatte, konnte man deren Länge genau abschätzen. Dann begann er, an den Fingern seine Wünsche abzuzählen. „Zuerst einhundert Taschenbücher von Melvilles ,Moby Dick'. Dann fünfundzwanzig Detektorradios mit Kopfhörern; zwei Kopfhörer für jedes Gerät. Dann zwei Empire State Buildings oder drei Radio Cities. Wir nehmen sie aber nur, wenn sie tipptopp in Ordnung sind. Eine guterhaltene 56 William Tenn – Die Welt der zukunft
Nachbildung der ,Hermes-Statue' des Praxiteles. Und einen elektrischen Toaster, zirka 1941. Das ist ungefähr alles. Oder, Theseus?“ Theseus beugte sich vor, bis seine Nase fast auf seinen Knien lag. Hebster stöhnte gequält auf. Er hatte sich die Wunschliste der Primären umfangreicher vorgestellt. Immerhin war es höchst bemerkenswert, wie ihre Herren stets darauf erpicht waren, in den Besitz technischer und künstlerischer Errungenschaften der Erde zu gelangen. Doch seine Zeit war knapp bemessen. Leider würde er nicht mit ihnen feilschen können. Zwei Empire State Buildings! „Mr. Hebster“, plärrte die Stimme seiner Vorzimmerdame durch die Wechselsprechanlage. „Diese Leute von der Sonderkommission... Ich habe eine ganze Reihe unserer Angestellten auf den Korridor geschickt. Sie sollen ordentlich drängeln und die beiden am Fahrstuhl festnageln. Die Tür habe ich abgeschlossen... Ich meine, ich versuche... Aber ich weiß nicht, ob... Können - können Sie nicht...“ „Braves Mädchen! Gut gemacht!“ „Ist das alles, Theseus?“ erkundigte sich Larry nochmals. „Gabbel?“ Aus dem Vorzimmer drang ein lautes Krachen an Hebsters Ohren. Dann eilten schnelle Schritte durch den Raum. „Sehen Sie mal, Mr. Hebster“, sagte Theseus, „wenn Ihnen an Larrys reductio-ad-absurdum-M.ethode nichts gelegen ist, wenn Sie kein Interesse daran haben, glatzköpfige Menschen mit einer kunstvoll dekorierten Haube auszustatten, wie wäre es dann mit einem System für perfekte Musikaufzeichnungen...?“ 57 William Tenn – Die Welt der zukunft
Jemand rüttelte an Hebsters Tür, fand sie jedoch verschlossen. Dann klopfte es, zuerst ganz normal, schließlich drängender. „Er hat sich schon für etwas entschieden“, schnappte S.S. Lusitania. „Klar, Larry, das war unsere vollständige Liste.“ Hebster raufte sich die nicht mehr sehr zahlreich vorhandenen Haare. „Gut! Ich kann euch alles geben - ausgenommen die zwei Empire State Buildings und die drei Radio Cities.“ „Oder die drei Radio Cities“ verbesserte Larry. „Versuchen Sie nur nicht, uns zu betrügen! Zwei Empire State Buildings oder drei Radio Cities. Ganz wie Sie wollen. Oder ist Ihnen das die Sache nicht wert?“ „Öffnen Sie die Tür!“ brüllte eine ergrimmte Stimme los. „Im Namen der ‚Vereinigten Menschheit‘ öffnen Sie sofort die Tür!“ „Miß Seidenheim, öffnen Sie die Tür“, sagte Hebster laut und gab seiner Sekretärin einen Wink; sie erhob sich und stolzierte mit wiegenden Hüften zur Tür. Man hörte, wie sich jemand gegen die Türfüllung warf. Hebster wußte, daß seine Bürotür einem mittelschweren Panzer widerstehen konnte. Doch die Leute von der VM-Sonderkommission verstanden in solchen Dingen gar keinen Spaß. Man durfte sie nicht zu lange hinhalten. Die Burschen kannten die Primären und die Leute, die geschäftliche Beziehungen zu ihnen unterhielten; sie waren dazu ermächtigt, erst zu schießen und hinterher Fragen zu stellen - und darin waren sie keineswegs zimperlich. „Es geht nicht darum, ob es mir die Sache wert ist“, meinte Hebster. Er stand auf und schob seine Besucher zu dem Ausgang hinter dem Schreibtisch. „Aus gewissen Gründen, die hier nicht weiter interessieren, bin ich nicht in 58 William Tenn – Die Welt der zukunft
der Lage, euch zwei vollständig intakte Empire State Buildings und/oder drei Radio Cities zu liefern - jedenfalls zur Zeit nicht. Alles Weitere könnt ihr haben, aber...“ „Öffnen Sie die Tür, oder wir sprengen sie auf!“ „Bitte, meine Herren, bitte“, säuselte Greta Seidenheim in den süßesten Tönen, „Sie würden ein geplagtes und unschuldiges Mädchen verletzen, das gerade dabei ist, Ihnen Einlaß zu gewähren.“ Sie machte sich an der Türklinke zu schaffen und sah Hebster mit ängstlichen Augen an. „Aber als Ersatz dafür“, fuhr Hebster fort, „werde ich euch...“ „Ich bin der Meinung“, fiel Theseus ihm ins Wort, „daß Sie nicht darüber informiert sind, welches die größte Schwierigkeit ist, der sich die Komponisten der Zwölftonmusik gegenübersehen!“ „Als Ersatz“, fuhr der Präsident unbeirrt fort, wobei ihm dicke Schweißtropfen auf die Stirn traten, „als Ersatz kann ich euch die vollständigen architektonischen Entwürfe des Empire State Buildings und der Radio City anbieten, plus fünf - nein, sagen wir zehn - maßstabgerechte Modelle dieser Gebäude. Und natürlich bekommt ihr auch die anderen Dinge. Das ist alles. Ihr könnt mein Angebot akzeptieren, und ihr könnt es bleiben lassen. Aber entscheidet euch möglichst schnell!“ Sie blickten einander an, als Hebster die Seitentür öffnete und den fünf uniformierten Leibwächtern zuwinkte, die bei seinem Privatlift standen. „Erledigt“, sagten sie wie ein Mann. „Gut!“ Hebster war zufrieden. Er schob seine Besucher durch die Tür und sagte zu dem größten der fünf Leibwächter: „Neunzehntes Stockwerk!“ 59 William Tenn – Die Welt der zukunft
Er machte den Seitenausgang hinter sich zu, als Miß Seidenheim die Bürotür öffnete. Yost und Funatti in den flaschengrünen Uniformen der VM stürmten ins Zimmer. Sie kamen geradewegs auf Hebster zugerannt und rissen den Seitenausgang auf. Sie konnten hören, wie der Lift nach unten fuhr. Funatti, ein kleiner Mann mit olivfarbener Haut, schnüffelte. „Primäre“, brummte er. „Er hatte Primäre bei sich. Riechst du den Dreck, Yost?“ „Und wie!“ sagte der größere Mann. „Komm, wir müssen zur Nottreppe. Auf diese Weise können wir den Fahrstuhl vielleicht verfolgen!“ Sie steckten ihre Dienstwaffen in die Halfter und klapperten über die Metallstufen. Unten hielt der Lift an. Hebsters Sekretärin stand an der Sprechanlage. „Hausverwaltung!“ Sie wartete. „Hausverwaltung, alle Türen auf dem neunzehnten Stockwerk automatisch verriegeln, bis die Leute, die Mr. Hebster eben nach unten geschickt hat, in Sicherheit sind. Und entschuldigen Sie sich bei den Polizisten für das offensichtliche Versehen. Denken Sie daran: VM-Sonderkommission!“ „Danke, Greta“, sagte Hebster. Jetzt, da er mit ihr allein war, redete er sie mit dem Vornamen an. Mit einem erleichterten Atemzug ließ er sich in seinen Schreibtischsessel plumpsen: „Bestimmt gibt es einfachere Wege, eine Million zu machen!“ Sie zog ihre geschwungenen Augenbrauen hoch. „Oder um ein absoluter Monarch inmitten des Parlaments der Menschheit zu sein?“ „Wenn sie lange genug warten“, sagte er dumpf, „werde ich die VM, die moderne Weltregierung und alles andere sein. In ein oder zwei Jahren müßte es zu schaffen sein.“ 60 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Vergessen Sie dabei nicht einen gewissen Vandermeer Dempsey? Seine Anhänger haben auch die Absicht, die VM zu stürzen. Von ihren schrecklichen Plänen mit Ihnen ganz zu schweigen. Und sie sind sehr, sehr zahlreich, diese Leute.“ „Um die mache ich mir keine Sorgen, Greta. ‚Menschheit Zuerst‘ zerplatzt über Nacht, sobald der alte und klapprige Demagoge seinen Geist aushaucht.“ Er drückte auf einen Knopf und rief in die Sprechanlage: „Hausverwaltung! Sind die Leute, die ich nach unten geschickt habe, schon in Sicherheit?“ „Nein, Mr. Hebster. Aber alles läuft planmäßig ab. Wir haben sie zum vierundzwanzigsten Stockwerk geschickt und die VM-Leute zur Personalabteilung umgeleitet. Äh, Mr. Hebster, wegen der VM. Wir führen Ihre Befehle aus, trotzdem möchten wir uns nicht mit der VM-Sonderkommission anlegen. Wenn man an die kürzlich verabschiedeten Gesetze denkt, dann ist es ein Kapitalverbrechen, sie bei der Ausübung ihres Amtes zu behindern.“ „Keine Angst“, beruhigte Hebster den Mann, „ich habe noch nie einen meiner Angestellten im Stich gelassen. Der Chef sorgt für alles, das ist unser Motto. Rufen Sie zurück, wenn die Primären in Sicherheit sind und alles zum Verhör vorbereitet ist.“ Er wandte sich wieder an Greta. „Tippen Sie den Kram noch ab ehe Sie fortgehen. Dann übergeben Sie ihn Professor Kleim-bocher. Er behauptet, er habe eine neue Methode zur Entschlüsselung des Gabbel-Honk gefunden.“ Sie nickte. „Ich wünschte, wir könnten ein Tonband benutzen und nicht diesen alten Klickapparat.“ „Das wünschte ich auch. Aber Primäre machen sich einen Spaß daraus, elektrische Apparaturen in ihren Bann zu 61 William Tenn – Die Welt der zukunft
schlagen und außer Betrieb zu setzen - wenn sie sie nicht sogar einkassieren, um sie den FREMDEN mitzubringen. Schon unzählige Male habe ich erlebt, daß Tonbandgeräte mitten im Gespräch plötzlich aussetzten. Dann kam ich auf die Idee mit der mechanischen Stenomaschine. Aber eines Tages taucht bestimmt einer von den Brüdern auf, der auch dafür einen Trick ersinnt.“ „Ein wahrhaft ermutigender Gedanke! Hoffentlich muß ich heute nacht nicht davon träumen. Aber ich darf mich nicht beklagen“, sagte sie, als sie in ihr eigenes kleines Büro ging. „Schließlich waren es Primäre, die das Geschäft hier durch ihre Tricks und Kunstgriffe erst richtig hochgebracht haben. Sie sind es, die für mein Gehalt sorgen und mir immer mal ein bißchen Abwechslung verschaffen.“ Ganz so war es auch wieder nicht, dachte Hebster, während er darauf wartete, daß die Sprechanlage summte und ihm mitgeteilt wurde, daß seine Gäste gut verwahrt waren. Ungefähr fünfund-neunzig Prozent der Erfolge von Hebsters Securities beruhten auf Erfindungen der Primären, die man ihnen irgendwie abgeluchst hatte. Doch die Grundlage des Geschäfts war die kleine Bank gewesen, die er in den Tagen des Halbkrieges von seinem Vater geerbt hatte - in jenen Tagen, als die FREMDEN zum erstenmal auf der Erde erschienen waren. Die erschreckend intelligenten Punkte, die in ihren verschiedenartig geformten Flaschen umherschwirrten, lagen völlig außerhalb des menschlichen Horizontes. Eine Zeitlang hatte man sich nicht einmal mit ihnen verständigen können. Damals hatte ein Spaßvogel gesagt, die FREMDEN seien nicht gekommen, um den Menschen zu Grabe zu tragen oder um ihn zu unterwerfen und zu versklaven. Sie erfüllten eine viel schauerlichere Mission - sie ignorierten ihn! 62 William Tenn – Die Welt der zukunft
Nicht einmal heute wußte man genau, aus welchem Teil der Galaxis sie wohl stammten. Oder warum sie gekommen waren. Niemand ahnte auch nur, wie hoch ihre Zahl war. Oder auf welche Weise sie ihre vollkommen offenen und lautlosen Raumschiffe operierten. Die wenigen Dinge, die man bisher über sie in Erfahrung gebracht hatte, wenn sie einmal aus einsamer Höhe herabkamen, um mit der spöttischen Überlegenheit hochzivilisierter Touristen einen Vorgang zu beobachten, hatten lediglich dazu beigetragen, ihre technologische Überlegenheit zu bekräftigen, die jenseits aller menschlichen Vorstellungskraft lag. Eine soziologische Abhandlung, die Hebster vor kurzem gelesen hatte, war sogar so weit gegangen, zu behaupten, sie basierten auf Konzeptionen, die der modernen irdischen Wissenschaft in einem Maße voraus waren wie der Meteorologe, der das ausgedörrte Land mit Trockeneis behandelt, dem primitiven Bauern der Vorzeit, der in sein gen Himmel gerichtetes Hörn stieß, um die schlummernden Regengötter zu wecken. Langwierige und gefahrvolle Beobachtungen hatten zum Beispiel offenbart, daß diese Punkte in ihren Flaschen derart weit fortgeschritten waren, daß sie keiner vorgefertigten Werkzeuge mehr bedurften. Sie bearbeiteten das Material direkt, formten es nach ihren Bedürfnissen, schufen und zerstörten Dinge, wie es ihnen gerade in den Sinn kam! Einige Menschen hatten Verbindungen zu ihnen angeknüpft. Alles Menschliche war von ihnen abgefallen. Die wissenschaftliche Elite hatte die schwirrenden und flackernden Kolonien der Außenseiter aufgesucht. Ein paar von ihnen waren zurückgekehrt und hatten von Wundern berichtet, die sie jedoch nicht deutlich gesehen, sondern nur schwach wahrgenommen hatten. Lauschte man ihren Berichten, so bekam man stets den Eindruck, sie hätten im 63 William Tenn – Die Welt der zukunft
entscheidenden Moment die Augen abgewendet, oder ihr Geist hätte sich gesträubt, die Bilder aus der anderen Welt aufzunehmen. Andere - solche Persönlichkeiten wie der Präsident der Erde, dreimaliger Träger des Nobelpreises, angesehene Dichter und Schriftsteller - hatten das Hindernis auf irgendeine Weise genommen. Sie jedoch waren nicht zurückgekehrt. Sie waren in den Kolonien der FREMDEN in der Wüste Gobi, in der Sahara und im amerikanischen Südwesten verblieben und waren kaum in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie lebten unter den FREMDEN und vergötterten sie. Ihre Sprache war zu einem kehligen, nasalen Krächzen geworden und hatte sich der Ausdrucksweise ihrer neuen Herren angepaßt. Wer mit einem Primären redet, hatte einst jemand gesagt, muß sich vorkommen wie ein Erblindeter, der ein in Brailleschrift verfaßtes Buch lesen will, das ursprünglich für einen Tintenfisch geschrieben worden ist. Und daß diese bärtigen, verwanzten, stinkenden Gestalten, diese schwatzhaften Wracks, erfüllt von der Logik einer anderen Lebensform, die Creme der menschlichen Gesellschaft sein sollten, war in diesem Falle nur ein schwacher Trost. Von Anfang an hatten Menschen und Primäre einander verachtet: die Menschen die Primären wegen ihrer Unterwürfigkeit und Hilflosigkeit, die Primären die Menschen wegen ihrer Unwissenheit und Unfähigkeit. Und wenn die Primären nicht gerade auf Befehl der FREMDEN mit Leuten wie Hebster zusammenarbeiteten, deren Geschäftsmethoden kaum noch legal zu nennen waren, dann traten sie so selten wie ihre Herren mit den Menschen in Verbindung. Wenn man sie einsperrte, dann gabbelhonkten sie sich entweder in ihr eigenes Grab, oder aber sie verloren ur 64 William Tenn – Die Welt der zukunft
plötzlich die Geduld und bahnten sich einen Weg in die Freiheit, der sowohl durch die Mauern der Anstalt als auch durch die Leiber der vielleicht zufällig anwesenden Wärter führte. Deshalb hatte sich die anfängliche Begeisterung von Sheriff und Stellvertreter, von Krankenschwester und Raumpflegerin sehr bald abgekühlt, und man hatte davon Abstand genommen, die Primären zwangsweise festzusetzen. Da beide Gruppen in psychologischer Hinsicht so gut wie nichts gemeinsam hatten, war es auch unmöglich, eine Art Vernunftehe zwischen ihnen zustande zu bringen. Man hatte den zerlumpten Genies einen Sonderstatus zuerkannt: Blüte der Menschheit. Nicht besser als die Menschheit, aber auch nicht schlechter - jedoch anders und gefährlich. Wie kam es, daß sie so und nicht anders waren? Hebster lehnte sich weit zurück und betrachtete das Loch im Fußboden, in dem sich vor einer Weile noch die Alarmspirale befunden hatte. Theseus hatte die kleine Anlage verschwinden lassen. Wie? Mit einem Gedanken? Mit Telekinese, die auf alle Moleküle des Metalls gleichzeitig wirkte und sie ungeordnet durcheinanderschwirren ließ? Vielleicht hatte er die Feder nur an einen anderen Ort versetzt. Wohin? In den Raum? In den Hyperraum? In die Zeit? „Mr. Hebster?“ Erschreckt fuhr er zusammen, als die Stimme aus der Sprechanlage kam. „Hier ist Margitt, Hauptlabor 23 B. Ihre Primären sind eben bei uns angelangt. Übliche Methode?“ Übliche Methode bedeutete, daß sich die neun hochqualifizierten Spezialisten des Hauptlabors um die Primären scharten und versuchten, ihnen ihr technisches Wissen zu 65 William Tenn – Die Welt der zukunft
entlocken. Dazu gehörte unter anderem, daß sie, wie bei einem polizeilichen Verhör, eine ununterbrochene Serie von Fragen auf sie niedergehen ließen, um so ihr seelisches Gleichgewicht zu erschüttern in der Hoffnung, sie mit der Zeit zu zermürben und ihnen ein paar brauchbare technische Fakten aus der Nase ziehen zu können. „Ja“, entgegnete Hebster, „übliche Methode. Aber laßt erst mal einen Textilfachmann an sie heran. Oder besser noch, er soll die ganze Aktion leiten.“ Eine Pause. „Der einzige Textilfachmann in dieser Abteilung ist Charlie Verus.“ „Na und?“ erkundigte sich Hebster leicht irritiert. „Warum erwähnen Sie das extra? Ich hoffe, er versteht sein Handwerk. Was hat die Personalabteilung über ihn zu sagen?“ „Die Personalabteilung meint, er sei kompetent.“ „Dann ist ja alles in Ordnung. Hören Sie, Margitt, hier im Haus rennen zwei Kerle von der VM herum und warten nur darauf, sich auf ein Opfer stürzen zu können. Da habe ich keine Zeit, mir über euren Kleinkrieg Gedanken zu machen. Lassen Sie Verus die Sache übernehmen.“ „Jawohl, Mr. Hebster. He, Bert! Hol Charlie Verus. Aber schnell!“ Hebster schüttelte den Kopf und mußte grinsen. Diese Techniker! Verus war ihnen wahrscheinlich zu klug und zu ungehobelt. Wieder knisterte es in der Sprechanlage. „Mr. Hebster? Hier ist Verus.“ Die Stimme klang gelangweilt, wenn nicht sogar leicht affektiert. Aber trotz seiner Neurosen schien der Mann sehr befähigt zu sein. Hebster Securities verfügten über ein ausgezeichnetes und umsichtiges Personalbüro. 66 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Verus? Ich möchte, daß Sie sich um die Primären kümmern. Einer von ihnen weiß, wie man eine seidenartige synthetische Faser herstellen kann. Das müssen wir zuerst erfahren; wenn nebenbei noch etwas heraus springt, soll es mir recht sein.“ „Primäre, Mr. Hebster?“ „Das sagte ich, Mr. Verus. Sie sind Textilfachmann. Bis morgen wünsche ich einen detaillierten Bericht über diese synthetische Faser. Und wenn Sie die ganze Nacht daran arbeiten müssen!“ „Zuvor jedoch, Mr. Hebster, möchte ich Ihnen etwas mitteilen, das Sie vielleicht interessiert: Es gibt bereits eine synthetische Faser, aus der man einen seidenweichen Stoff herstellen kann...“ „Weiß ich“, sagte Hebster kurz, „Zelluloseazetat. Leider hat es aber ein paar Nachteile: niedriger Schmelzpunkt und leichte Zerreißbarkeit; besondere und billige Färbemittel müssen dazu verwendet werden; geringer chemischer Widerstand. Habe ich recht?“ Obwohl Hebster keine Antwort vernahm, konnte er im Geist Verus' verdutztes Gesicht vor sich sehen. Er fuhr fort: „Natürlich haben wir auch noch die Proteinfasern. Sie färben sich gut und fallen nicht übel, sie haben überdies die notwendige Wärmeleitfähigkeit, die sie zur Herstellung von Kleidungsstücken geeignet erscheinen lassen; doch was sie nicht haben, ist die Reißfestigkeit synthetischer Stoffe. Eine künstliche Proteinfaser könnte die Antwort darauf sein: Sie könnte möglicherweise wie Seide fallen und die ätzenden Farbstoffe vertragen, die wir bei der Färbung von Seide verwenden. Das Ergebnis wären Farbtöne, die unsere weibliche Kundschaft in helles Entzücken versetzten und sie zum Kaufen veranlaßten. Ich weiß, es gibt noch viele 67 William Tenn – Die Welt der zukunft
Unklarheiten, aber einer dieser Primären erwähnte eine seidenartige synthetische Faser, und ich glaube nicht, daß er so primitiv ist und das Zelluloseazetat meint. Und auch nicht Nylon, Orion, Vinylchlorid oder sonst was, das wir schon haben und verwerten.“ „Sie kennen sich aber auf dem Gebiet gut aus, Mr. Hebster.“ „So ist es. Ich kenne mich in allen Dingen aus, die eventuell Geld einbringen könnten. Und jetzt kümmern Sie sich endlich um die Primären. Millionen Frauen warten atemlos auf die Geheimnisse, die sie mit sich herumtragen. Glauben Sie, Verus, daß Sie inzwischen dazu in der Lage sind, die Arbeit zu erledigen, für die Sie bezahlt werden?“ „Hm, hm, hm. Ja.“ Hebster Öffnete seinen Kleiderschrank und entnahm ihm Hut und Mantel. Er arbeitete gern unter Druck; es gefiel ihm, wenn er die Menschen wie Marionetten herumdirigieren konnte. Und augenblicklich gefiel ihm die Aussicht auf ein paar erholsame Stunden. Sein Blick fiel auf den Stuhl, auf dem Larry gesessen hatte, und er verzog das Gesicht. Hatte wenig Zweck, ihn reinigen zu lassen. Er würde einen neuen bestellen müssen. „Ich bin in der Universität“, sagte er im Hinausgehen zu Ruth. „Sie können mich über Professor Kleimbocher erreichen. Aber nur, wenn es wirklich wichtig ist. Er kann es nicht leiden, unnütz gestört zu werden.“ Sie nickte, dann fragte sie mit zögernder Stimme: „Diese beiden Männer - Yost und Funatti - von der Sonderkommission; sie sagten, niemand dürfe das Haus verlassen.“ „Haben sie das gesagt?“ erwiderte er belustigt. „Ich glaube, sie haben sich geärgert. Kommt bei ihnen öfter vor. 68 William Tenn – Die Welt der zukunft
Doch solange sie mir nichts beweisen und anhängen können... Und, Ruth, meine Leibwache kann nach Hause gehen. Nur der Mann, der auf die Primären aufpaßt, muß noch bleiben. Alle zwei Stunden soll er sich mit mir in Verbindung setzen, wo ich auch gerade bin.“ Er ging hinaus, wobei er genau darauf achtete, jedem dritten Angestellten und jeder fünften Stenotypistin ein wohlwollendes Lächeln zukommen zu lassen. Es war zwar oft sehr vorteilhaft, über einen Privatlift und einen Sondereingang zu verfügen, doch Hebster liebte es, sich in seinen Erfolgen zu sonnen. Er freute sich auf die Begegnung mit Kleimbocher. Er schwor auf dessen linguistische Studien. Zuwendungen von seiner Gesellschaft hatten die philosophische Fakultät auf das Dreifache ihrer früheren Größe anwachsen lassen. Das Grundproblem zwischen Mensch und Primären sowie zwischen Mensch und FREMDEN lag schließlich darin, einen Weg der Verständigung zu finden. Das war die Voraussetzung dafür, wenn man später von ihnen lernen wollte, wenn man ihre Denkweise und Logik für den Menschen verständlich machen wollte. Es war Kleimbochers Aufgabe, den Weg zu dieser Verständigung zu Öffnen. Ich bin Hebster, dachte er. Ich lasse Leute für mich arbeiten, die sich mit der Lösung von Problemen zu beschäftigen haben. Und dann benutze ich sie zum Geldverdienen.“ Jemand trat ihm in den Weg. Jemand faßte ihn am Arm. „Ich bin Hebster“, wiederholte er automatisch, doch diesmal laut, „Algernon Hebster.“ „Genau den Hebster suchen wir“, meinte Funatti und ließ seinen Arm nicht los. „Sie haben sicher nichts dagegen, uns ein bißchen zu begleiten?“ 69 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Soll das eine Verhaftung sein?“ erkundigte sich Hebster bei Yost, dem größeren der beiden, der eben zur Seite trat, um ihn passieren zu lassen. Yosts Hand hing in bedrohlicher Nähe seiner Waffe. Der VM-Mann zuckte die Achseln. „Wer viel fragt, kriegt viele Antworten“, entgegnete er gleichmütig. „Kommen Sie mit uns, machen Sie keine Schwierigkeiten. Man wünscht, mit Ihnen zu reden.“ Hebster ließ sich durch die Halle führen, deren Wände mit Mosaiken radikaler Künstler bedeckt waren. Der Pförtner, der die beiden Bewacher mit keinem Blick beachtete, warf ihm ein breites Lächeln zu. „Guten Tag, Mr. Hebster“, sagte er. Dann kamen sie an den dunkelgrünen VM-Dienstwagen, und Hebster machte es sich auf dem Rücksitz bequem. Es war ein nagelneues Hebster-Einrad-Model. „Bin überrascht, Sie ohne Ihre Leibwächter zu sehen“, warf Yost, der am Steuer saß, über die Schulter. „Habe ihnen für heute freigegeben.“ „Als sie mit den Primären fertig waren? Nein“, gab Funatti zu, „wir haben nicht herausgefunden, wo Sie die Burschen versteckt haben. Ihr Geschäftshaus ist zu groß, es waren zu viele Angestellte unterwegs. Und die VM leidet an notorischem Personalmangel.“ „Von der notorisch miesen Bezahlung gar nicht zu reden“, fügte Yost hinzu. „Ja, das darf man natürlich auch nicht vergessen“, stimmte Funatti ihm bei. „Wissen Sie, Hebster, ich an Ihrer Stelle hätte meine Leibwache nicht so nach Hause geschickt. Jetzt sitzen Ihnen nämlich Leute im Nacken, die ungefähr fünfmal so gefährlich sind wie Primäre. Ich meine damit die Parteigänger der Menschheit zuerst“ 70 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Vandemeer Dempsey und seine Hornochsen? Vielen Dank, aber ich werd's überleben.“ „Wie Sie meinen. Ich wäre da nicht so sicher. Die Leute gewinnen mit jedem Tag mehr Anhänger. Der ,Evening Humanitarian‘ hat eine Riesenauflage. Wenn man die Wochenblätter, die Groschenpublikationen und Handzettel dazurechnet, kommt ein ganz beachtlicher Stapel an Propagandamaterial zusammen. Tag für Tag werden die Leute angeprangert, die mit Primären und FREMDEN Geschäfte machen. Im Grunde genommen wollen sie damit natürlich nur der VM eins auswischen - wie immer. Doch wenn Ihnen mal ein ganz gewöhnlicher Ersterer auf der Straße begegnet, zerreißt er Sie vielleicht in tausend winzige Fetzen. Ist das nichts? Nun, wie wär's dann hiermit: Der ,Evening Humanitarian‘ hat sich einen hübschen Spitznamen für Sie ausgedacht.“ Yost brach in schallendes Gelächter aus. „Los, sag's ihm schon, Funatti.“ „Dort nennt man Sie“, sagte Funatti genießerisch, „einen interplanetarischen Zuhälter!“ Aus dem langen Verkehrstunnel kamen sie wieder ans Tageslicht und fuhren über die neueste Errungenschaft der Stadt - den freitragenden East Side Super Highway, im Volksmund auch Bomberpiste genannt. An der 42. Straße, der belebtesten in Manhattan, verpaßte Yost eine Ampel. Direkt vor ihm sprang sie auf Rot über. Er begann herzhaft zu fluchen. Hebster mußte zustimmend nicken, denn er pflegte bei derlei Anlässen meist dasselbe zu tun. Ein Teil der Straße, der als eine Art Fahrstuhl konstruiert war, fuhr eine Etage tiefer, um den Fahrzeugen, die auf den Highway wollten, die Auffahrt zu ermöglichen. Dazwischen bewegten sich die beiden Hebebühnen des Hafenverkehrs auf und ab, 71 William Tenn – Die Welt der zukunft
während weiter unten die Fußgängerlifts auf Abfertigung warteten. „Da! Dort oben vor uns! Ganz deutlich erkennbar!“ Hebster und Funatti folgten Yosts langem Zeigefinger. Etwa zweihundert Schritt nördlich der Abfahrt und nahezu anderthalb Kilometer hoch in der Luft hing ein bräunlicher Gegenstand, der das unter ihm herrschende Leben und Treiben fasziniert zu beobachten schien. In dem glockenförmigen Glasbehälter blitzte hin und wieder ein hellblauer Funke auf und belebte die darin eingeschlossene dunkle Masse, lief dann an der Wand des Behälters entlang und wurde durch einen neuen Funken ersetzt. „Augen? Meinst du, es könnten Augen sein?“ fragte Funatti und rieb seine kleinen Fäuste aneinander. „Ich weiß, die Wissenschaftler sagen, jeder Punkt sei ein Wesen und die ganze Flasche wie eine Familie oder eine Stadt. Aber woher wollen die das so genau wissen? Ist doch alles nur graue Theorie. Ich behaupte, es sind Augen!“ Yost lehnte seinen athletischen Körper halb aus dem offenen Seitenfenster und schirmte die Augen mit der Uniformmütze gegen die grelle Sonne ab. „Da sieh mal einer an“, hörten sie ihn knirschen. Wie immer, wenn er in einem Zustand der Erregung war, nahm seine Stimme eine leicht nasale Färbung an. „Hängt da oben und starrt und starrt. Muß kolossal spannend sein, uns den Highway verlassen zu sehen! Kümmert sich aber einen Dreck um uns, wenn wir mit ihm reden wollen, wenn wir herausbekommen möchten, was es will, woher es kommt, wer es ist. O nein! Bildet sich wahrhaftig ein, uns haushoch überlegen zu sein. Aber anglotzen kann es uns, stundenlang, tagelang, wochenlang, bei Tag und Nacht, Sommer und Winter; und jedesmal, wenn wir einfältige zweibeinige Tiere etwas anpakken, das uns nicht so einfach von der Hand geht, wer taucht 72 William Tenn – Die Welt der zukunft
prompt auf? Einer dieser verdammten ,Punkte in Flaschen', um uns zu beobachten, sich über uns lustig zu machen und...“ „Langsam, langsam, Mann“, rief Funatti und zog Yost am Ärmel seiner grünen Uniformjacke zurück. „Immer mit der Ruhe! Schließlich sind wir von der Sonderkommission und im Dienst.“ „Trotzdem“, knurrte Yost ergrimmt. Er ließ sich auf den Fahrersitz zurückfallen und drückte auf den Knopf für die Energiezufuhr. „Ich wünschte, ich hätte Daddy s guten alten Militärkarabiner bei mir.“ Sie setzten sich in Bewegung und fuhren mit der nächsten Fahrstuhlserie nach unten. „Das wäre mir die Sache schon wert, selbst auf die Gefahr hin, dabei gepingt zu werden.“ Und so was gehört der VM an, schoß es Hebster durch den Kopf. Er fühlte sich auf einmal sehr unwohl in seiner Haut. Nicht nur der VM, sondern überdies noch der Sonderkommission, der nur ausgesuchtes Personal angehörte, das keinerlei Vorurteile gegen die Primären hegte, das zudem einen Eid abgelegt hatte, die geltenden Gesetze ohne Ansehen der Person durchzuführen, und sein Ziel darin sah, ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen Menschen und FREMDEN herbeizuführen. Aber wozu waren diese Stiefellecker schon imstande? Jene Leute, denen jeglicher Geschäftssinn abging. Sein Vater hatte sich vom einfachen Arbeiter heraufgeschuftet und seinen einzigen Sohn dazu erzogen, stets nach mehr Macht zu streben und aus jedem Geschäft den größtmöglichen Gewinn herauszuschlagen. Doch sehr zu seinem Leidwesen hatte Algernon Hebster erfahren müssen, daß nicht alle Menschen von diesen Idealen beseelt waren. 73 William Tenn – Die Welt der zukunft
Für sie war es eine glatte Unmöglichkeit, mit Errungenschaften zu leben, die von den FREMDEN so abrupt der Lächerlichkeit preisgegeben werden konnten. Sie wollten nicht in der ständigen Gewißheit leben, daß ihre brillantesten Erfindungen, ihre kunstvollsten Schöpfungen von einem Moment zum anderen imitiert und sogar weit überflügelt werden konnten und nur noch vom Standpunkt des Sammlers her interessant waren. Allein der Gedanke an ihre Unterlegenheit erfüllte sie mit Entsetzen. Doch wenn der Gedanke dann zur Realität wird, wenn man den Beweis seiner eigenen Unfähigkeit klar vor Augen sieht, dann wird das Dasein zur wahren Hölle. Kein Wunder, daß viele Menschen durch die stundenlange und reglose Neugierde der FREMDEN zum Wahnsinn getrieben wurden - die sie bei farbenfrohen Paraden beobachteten, ihnen beim Fischen in einem Eisloch zusahen und starrend in der Luft hingen, wenn mit größter Behutsamkeit die geräuschlose Landung eines Transkontinentaljets vollzogen wurde. Kein Wunder, wenn sie eine Schrotflinte oder ein Gewehr ergriffen und Schuß um Schuß gegen den blauen Himmel feuerten, ohne eine Wirkung zu sehen oder die Neugier einer der braunen, gelben oder zinnoberroten „Flaschen“ zu erschüttern. Die Wirkung war gleich Null. Lediglich die innere Spannung und der ständige psychische Druck wichen wenigstens etwas. Aber die FREMDEN bemerkten von alldem nichts, und das war der springende Punkt. Sie ließen sich nicht aus der Ruhe bringen und taten ganz so, als gehörten diese Vorgänge mitsamt den waffenschwingenden Armen zu dem gigantischen Schauspiel, dessen Publikum sie darstellten. Sie schienen nur darauf zu lauern, daß einer der Akteure einen Schnitzer machte, den sie herzhaft belachen konnten. 74 William Tenn – Die Welt der zukunft
Die FREMDEN wurden nicht verletzt, die FREMDEN fühlten sich nicht angegriffen. Kugeln, Granaten, Schrotladungen, Pfeile, Steine aus Schleudern - all das nahmen sie hin, als sei es ein ewiger Regen, der aus der verkehrten Richtung kam. Dennoch mußten die Körper der FREMDEN einen festen Stoff enthalten. Zu diesem Ergebnis gelangte man zwangsläufig, wenn man sah, wie sie Licht und Hitze abfingen. Und auch... Und auch an dem gelegentlichen Pingen konnte man es erkennen. Manchmal schien es nämlich zu gelingen, einen der FREMDEN irgendwie leicht anzukratzen. Oder aber er ärgerte sich bloß über die ständige Schießerei und hatte es satt, dem Menschen als Zielscheibe zu dienen. Man vernahm nur die Andeutung eines Lautes - so, als habe ein Gitarrist mit der Spitze des Fingernagels eine Saite berührt und sich plötzlich entschlossen, den Ton sofort wieder zu dämpfen. Und nach diesem kaum hörbaren Ping stand der Schütze auf einmal mit leeren Händen da. Seine Haltung glich der eines Schießenden, ein Arm vorgestreckt, der andere angewinkelt, die Schulter angehoben. Wie ein enttäuschtes Kind stand er da, das vergessen hatte, daß das Spiel zu Ende war. Weder sein Gewehr noch ein Teil davon waren zu sehen und wurden auch nie wieder aufgefunden. Und der FREMDE setzte seine Beobachtungen fort und machte den Eindruck, als sei nichts geschehen. Das Pingen schien vor allem auf Waffen abzuzielen. So geschah es einmal, daß eine 155-mm-Haubitze fortgepingt wurde, ein andermal war es ein muskulöser Arm, der gerade zu einem neuerlichen Steinwurf ausholte und plötzlich weg war. Und dann wieder war es vorgekommen, vielleicht aus Unachtsamkeit von seiten des FREMDEN, daß der 75 William Tenn – Die Welt der zukunft
ganze Mann einen mörderischen Schrei von sich gab und nicht mehr da war. Man hatte gar nicht den Eindruck, als werde dabei eine Abwehrwaffe benutzt. Es war vielmehr so, als wehre jemand ein lästiges Insekt ab. Erschauernd dachte Hebster daran zurück, wie ein FREMDER mit seinen gelbbraunen Punkten über eine Baugrube geschwebt war und die dort arbeitenden Männer beim Graben beobachtet hatte. Ein baumlanger irischer Arbeiter hatte kurz aufgeblickt, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Dabei war ihm der stille Beobachter aufgefallen, und er hatte ihm mit seinem Preßluftbohrer gedroht. Seine Arbeitskollegen beachteten das Ganze kaum, bis plötzlich der lange, dunkle, gefleckte Repräsentant einer Rasse, die von jenseits der Sterne gekommen war, eine scharfe Kehrtwendung machte und pingte. Der schwere Preßlufthammer blieb einen Augenblick in der Luft hängen, dann krachte er zu Boden, als sei ihm auf einmal klargeworden, daß sein Herr verschwunden war. Verschwunden? Fast konnte man denken, er habe niemals existiert. So blitzartig und vollständig hatte er sich aufgelöst, ohne dabei einen anderen zu verletzen oder zu erschrekken, daß es einem Akt gigantischer, positiver Nichtschöpfung gleichgekommen war. Nein, dachte Hebster, eine drohende Geste zu einem FREMDEN war so gut wie Selbstmord. Außerdem war es, wie alles bisher Versuchte, ein völlig nutzloses Unterfangen. Doch befand sich auf der anderen Seite die ‚MenschheitZuerst‘-Partei nicht auf dem Weg zu einer kompletten Neurose? Was konnte man da tun? Er suchte tief in seinem Innern nach einer passenden Antwort und fand sie auch. „Ich kann Geld machen“, sagte 76 William Tenn – Die Welt der zukunft
er sich. „Darin bin ich unschlagbar. Das werde ich immer tun können.“ Als sie vor dem düsteren Backsteinbau der Sonderkommission anlangten, bekam er einen gelinden Schock. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Zigarrenladen, der einzige im gesamten Block. An den Schaufensterscheiben, die sonst mit bunter Zigarrenreklame überkleistert waren, prangten jetzt Plakate mit großgedruckten Parolen. Hinreichend bekannte Parolen waren es mittlerweile - doch so in unmittelbarer Nachbarschaft eines VM-Büros, der Sonderkommission selbst? Am oberen Rand des Schaufensters verkündete der Besitzer seine Überzeugung in zwei großen Worten, die ihren Haß über die ganze Straße zu schreien schienen: MENSCHHEIT ZUERST! Darunter, genau in der Mitte der Scheibe, standen die großen goldenen Initialen der Organisation, die ineinander verschlungenen Buchstaben MZ, die über eine riesige, symbolische Rasierklinge kopiert waren. Und darunter, in weithin lesbarer Schrift, wurde der Wahlspruch wiederholt, zu einem Spruch umgeformt: „Menschheit zuerst, zuletzt und unauslöschlich!“ Die Inschrift am Oberteil der Tür klang schon wesentlich unangenehmer: „Deportiert die FREMDEN! Schickt sie dorthin, woher sie gekommen sind!“ Und unten an der Tür die einzige geschäftliche Konzession: „Hier erhältlich: ‚Evening Humanitärian‘. Haben Sie Ihr Exemplar schon!“ 77 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Humanitarian!“ stieß Funatti bitter hervor. „Schon mal gesehen, was von einem Primären übrigbleibt, wenn er einer Horde Ersterer ohne den Schutz der Sonderkommission in die Hände fällt? Man kann ihn hinterher mit einem Löschblatt aufsaugen. - Boykottläden dieser Art gefallen Ihnen wohl nicht sehr, was?“ Hebster brachte ein Grinsen zustande, als sie die salutierenden Wachen in ihren grünen Uniformen passierten. „Die Primären bieten mir eigentlich ziemlich wenig Neuerungen an, die mit Tabak zu tun haben. Und selbst wenn es so wäre, ein Laden, der den Humanitarian' führt, macht mich noch lange nicht kaputt.“ Aber er könnte es, dachte er beunruhigt. Ich könnte kaputtgehen, wenn es wirklich bedeutet, worauf alle Anzeichen hindeuten. Zugehörigkeit zu einer Organisation ist eine Sache; dasselbe gilt auch für den parlamentarischen Patriotismus; doch auch Geschäfte sind etwas ganz anderes. Kaum merklich bewegten sich Hebsters Lippen, als er sich an jenen halbvergessenen Leitsatz erinnerte und ihn in Gedanken zitierte: Was immer der Inhaber glaubt oder nicht glaubt - er muß einen bestimmten Umsatz erzielen, will er sein Geschäft nicht mit Hypotheken belasten. Dies wird ihm jedoch niemals gelingen, wenn er den größeren Teil seiner Kundschaft vor den Kopf stößt. Macht er aber trotzdem noch gute Geschäfte, worauf alle äußeren Anzeichen hindeuten, so dürfte es klar sein, daß er sich nicht allein auf das Personal der VM von der anderen Straßenseite verläßt. Es mußte demzufolge also genügend treue Anhänger der Ersteren geben, die hier kauften und auf die neuen und beträchtlich billigeren Erzeugnisse der Primären verzichteten. 78 William Tenn – Die Welt der zukunft
Deshalb besteht durchaus die Möglichkeit, wenn man nur einmal dieses nächstliegende, aber trotzdem höchst bemerkenswerte Beispiel nimmt, daß die Zeitungen, die ich lese, gelogen haben und die Marktforscher, die ich beschäftige, unfähig sind. Ferner besteht die Möglichkeit, daß die kaufwillige Öffentlichkeit, der einzige mich interessierende Teil der Öffentlichkeit überhaupt, einen generellen Meinungsumschwung durchmacht, der die zukünftigen Kaufgewohnheiten grundlegend beeinflussen wird. Daher ist es möglich, daß die gesamte VM-Wirtschaft in absehbarer Zeit in die Hände der ‚Menschheit-Zuerst‘Organisation übergeht, geschlagen von jener fanatischen Blindheit, wie sie Männer wie Vandermeer Dempsey täglich vorexerzieren. Die wucherische und spekulative Wirtschaft im kaiserlichen Rom unterlag in dem natürlich viel langsameren historischen Zeitablauf vor mehr als zweitausend Jahren einem ähnlichen Umschwung und verwandelte sich innerhalb von nur drei Jahrhunderten in eine flaue, geschäftsuntüchtige Welt, in der Banktransaktionen als Sünde galten und nicht ererbter Reichtum unehrenhaft war. Inzwischen mögen die Leute wohl begonnen haben, eine feilgebotene Ware nach moralischen Gesichtspunkten und nicht nach der Gebrauchsfähigkeit zu beurteilen, dachte Hebster. Das war ihm schon neulich aufgefallen, als er den Bericht der Abteilung Marktforschung gelesen hatte, in dem von einem unerwarteten Widerstand der Käuferschichten gegenüber dem neuen Immer-sauber-Geschirr die Rede war. Er hatte den umfassenden Bericht mit einem verächtlichen Achselzucken abgetan, denn der Widerstand der Käufer war damit begründet worden, daß die weibliche Kundschaft den Namen des Produkts mit einer gewissen Katharine Immasauber in Zusammenhang brachte, die vor kurzem ihren fünf Kindern und zwei Liebhabern die Hälse 79 William Tenn – Die Welt der zukunft
mit einem Brotmesser durchgeschnitten und den Zeitungen der ganzen Welt Schlagzeilen geliefert hatte. „Wahrscheinlich nur das angeborene Mißtrauen aller Hausfrauen gegenüber einem noch nie dagewesenen Produkt“, hatte er sich gesagt. „Jahrelang haben sie treu und brav abgewaschen, und nun kommt plötzlich jemand daher und will ihnen einreden, dies alles sei von Stunde an nicht mehr notwendig! Es will ihnen nicht in den Kopf, daß man nach dem Essen nur die äußere Molekülschicht des Immersauber-Geschirrs abzuziehen braucht. Man müßte eine genaue wissenschaftliche Erklärung mitliefern, es vielleicht mit den Molekülen vergleichen, die die menschliche Haut bei einem Brausebad abstößt.“ Er hatte sich ein paar Bleistiftnotizen dazu gemacht und das ganze Problem der Abteilung Werbung und Verkaufsförderung übergeben. Doch dann hatte die saisonbedingte Flaute im Möbelabsatz eingesetzt - ungefähr einen Monat früher als erwartet. Das überraschend geringe Interesse an Hebsters Chubbychair, einem bequemen Sessel, eigens dazu gedacht, die Sitzgewohnheiten des männlichen Teils der Bevölkerung zu revolutionieren; all diese Dinge hatten ihm zu denken gegeben. Plötzlich fielen ihm nahezu ein ganzes Dutzend ähnlicher Absatzstörungen ein; sie alle lagen auf dem Verbrauchsgüter-Sektor. Eins kommt zum anderen, überlegte er; jeder Umschwung der Kaufgewohnheiten würde sich erst in einem Jahr in der Schwerindustrie bemerkbar machen. Die Hersteller von Werkzeugmaschinen bekämen ihn noch vor den Stahlwerken zu spüren, die Stahlwerke vor dem Bergbau, und als letztes wären die Banken und Kreditinstitute an der Reihe. 80 William Tenn – Die Welt der zukunft
Das Kapital seines Unternehmens war fast vollständig in Forschungs- und Produktionsvorhaben investiert. Demzufolge würde das Unternehmen nicht einmal eine vorübergehende Krise überleben. Hebsters Securities Inc. würde zerplatzen wie eine Seifenblase. Der kleine Zigarrenladen hatte eine Kette von Folgerungen in ihm ausgelöst. Funattis Gerede vom wachsenden Einfluß der Ersteren wirkt direkt ansteckend! dachte er. Wenn nur Kleimbocher endlich einen Weg fände, das Problem der Verständigung zu lösen! Wenn wir mit den FREMDEN reden könnten, uns einen Platz in ihrer Welt erhandeln könnten! Den Ersteren würden sämtliche Felle wegschwimmen! Hebster sah sich in einem riesigen, unordentlichen Büro um, dessen Wände von Landkarten bedeckt waren. Seine Eskorte salutierte vor einem noch unordentlicher aussehenden Mann, der ihren strammen Gruß mit einer laschen Handbewegung abwehrte und ihnen bedeutete, den Raum zu verlassen. Er bot Hebster an, sich einen Sitzplatz auszuwählen. Die ganze Auswahl bestand aus einigen im Raum umherstehenden Holzbänken. „P. Braganza“, las er auf dem verschnörkelten Namensschild auf dem Schreibtisch des Mannes. P. Braganza trug einen langen, gezwirbelten und ungeheuer dicken Bart. Weiterhin bedurfte P. Braganza eines Friseurs. Der Raum war so eingerichtet, daß er jeden Parteigänger der Ersteren tödlichst beleidigt hätte. Was angesichts ihrer antiseptischen „Sauberkeit-kommt-Menschlichkeit-am-nächstenPhilosophie“ bedeutete, daß dieses Büro einen ganz besonders unfreundlichen Eindruck machte. „Sie machen sich also Sorgen um die Auswirkungen der Ersteren auf Ihre Geschäfte?“ 81 William Tenn – Die Welt der zukunft
Erschrocken blickte Hebster auf. „Nein, ich bin kein Gedankenleser“, lachte Braganza und entblößte eine Reihe von Zähnen, die vom übermäßigen Nikotingenuß verfärbt waren. Er wies auf das Fenster hinter seinem Schreibtisch. „Ich sah Sie nur beim Anblick des Zigarrenladens etwas unruhig werden. Und dann konnten Sie sich zwei Minuten lang nicht von dem Bild losreißen. Da wußte ich, woran Sie dachten.“ „Hinreißende Kombinationsgabe“, bemerkte Hebster trokken. Heftig schüttelte der VM-Offizier den Kopf. „Nein, keineswegs. Von Kombination keine Spur. Ich wußte, was Sie denken, weil ich jeden Tag hier oben hocke, den Zigarrenladen anstarre und genau dasselbe denke. Braganza, sage ich mir dann immer, das bedeutet das Ende deiner Karriere. Das bedeutet das Ende der wissenschaftlichen Weltregierung. Und alles kommt nur von dem verfluchten Zigarrenladen!“ Düster starrte er auf seine mit Akten übersäte Schreibtischplatte. Hebsters Instinkte wurden wach - es roch nach Geschäften. Ihm wurde klar, daß der Mann nach einem Aufhänger suchte, um endlich auf dieses ihm ungewohnte Thema zu sprechen zu kommen. Er fühlte eine leise Furcht in sich aufsteigen. Warum sollte ausgerechnet die Sonderkommission, die doch allmächtig war und über Gesetzen und gewiß auch über der Regierung stand, warum wollte sie mit ihm verhandeln? Der sonst stets so scharf und hartnäckig fragende Braganza war zu sanft, zu beredt, zu freundlich. Hebster kam sich wie in einer Mausefalle vor, und er war die darin gefangene Maus, bei der sich die Katze über den ein Stockwerk höher lebenden Hund zu beschweren begann. 82 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Hebster, verraten Sie mir etwas: Was sind Ihre Ziele? Wonach streben Sie?“ „Wie bitte?“ „Was erwarten Sie vom Leben? Womit beschäftigen Sie sich bei Tag, wovon träumen Sie bei Nacht? Yost zum Beispiel denkt immer nur daran, wie er zu einem neuen Mädchen kommt. Er ist ein Schürzenjäger. Funatti ist Familienvater, hat fünf Kinder. Er kommt seiner Arbeit gern nach, denn sein Job ist ziemlich gesichert, es gibt alle möglichen Pensionen und Versicherungen, die ihm einen ruhigen Lebensabend sichern.“ Braganza senkte seinen massigen Kopf und begann, mit langsamen Schritten vor seinem Schreibtisch auf und ab zu laufen. „Bei mir ist es ein bißchen anders. Nicht, daß ich etwas gegen meinen Beruf hätte! Natürlich gefällt es mir, mit welcher Regelmäßigkeit ich mein Gehalt bekomme; und es gibt bestimmt nicht viele Frauen in der Stadt, die mir einen Korb gäben. Aber für die Vereinigte Menschheit würde ich mein Leben einsetzen. Mein Leben einsetzen? Vielleicht habe ich meine Gesundheit schon geopfert? Braganza, sage ich mir immer, du bist ein Glückskind. Du arbeitest für die erste Weltregierung in der Geschichte der Menschheit. Denke immer daran und tue dein Bestes.“ Vor Hebster blieb er stehen und breitete die Arme aus. Sein nur halb zugeknöpftes Hemd klaffte über der Brust, schwarze Haare kamen zum Vorschein. „Das bin ich. Das ist im Grunde genommen der ganze Braganza. Wenn wir ins Geschäft kommen wollen, muß ich von Ihnen ebensoviel wissen. Ich frage Sie, welche Ziele verfolgen Sie? „
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Der Präsident der Hebster Securities Inc. fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich fürchte, bei mir liegen die Dinge noch unkomplizierter.“ „Macht nichts“, ermutigte ihn der andere. „Sagen Sie es so, wie es Ihnen am besten paßt.“ „Man könnte sagen, ich bin an erster Stelle Geschäftsmann. Ich bin nur daran interessiert, ein noch besserer Geschäftsmann zu werden, das heißt ein noch bedeutenderer. Mit anderen Worten, ich will noch reicher werden, als ich es ohnehin schon bin.“ Braganza blickte ihn scharf an. „Das ist alles?“ „Alles? Haben Sie noch nie gehört, daß man den Wert des Geldes daran erkennt, was man mit ihm kaufen kann?“ „Mich kann man nicht damit kaufen.“ Hebster betrachtete ihn kalt. „Ich bezweifle, daß Sie eine gute Kapitalanlage sind. Ich kaufe, was ich brauche. Nur hin und wieder gönne ich mir auch mal eine kleine Freude.“ „Ich kann Sie nicht ausstehen.“ Ein häßlicher Ton schwang in Braganzas Stimme. „Leute Ihrer Art konnte ich noch nie ausstehen, und das sage ich Ihnen klar und deutlich ins Gesicht. Ich brauche es gar nicht erst zu versuchen. Ich sage es Ihnen geradeheraus: In meinen Augen sind Sie ein Stinktier!“ Hebster stand auf. „In diesem Fall sollte ich Ihnen wohl danken, daß...“ „Hinsetzen! Sie sind aus gutem Grund hier. Obwohl ich keinen rechten Sinn erkenne, müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Also hinsetzen!“ Hebster setzte sich wieder hin. Er fragte sich im stillen, ob Braganza wohl halb soviel verdiente, wie er Greta Seidenheim bezahlte. Natürlich verfügte Greta über völlig andere 84 William Tenn – Die Welt der zukunft
Talente und vollbrachte mehrere verschiedene und für sich nützliche Dienstleistungen. Nein, nach Abzug von Steuern und Pensionsrücklagen würde Braganza kaum ein Drittel von Gretas Gehalt übrigbehalten. Er bemerkte, daß ihm eine Zeitung unter die Nase gehalten wurde. Er nahm sie. Braganza ließ sich grunzend in seinen Drehstuhl fallen und schwang sich zum Fenster herum. Es war eine Ausgabe des ‚Evening Humanitarian‘ aus der vergangenen Woche. Selbst wenn man von der Auflagenziffer in der oberen linken Ecke die Hälfte abzog, blieben immer noch gut drei Millionen zahlende Leser oder Abonnenten. In der rechten oberen Ecke wurden die Getreuen in roter Schrift daran erinnert: „Lest den Humanitarian!“ Ein dicker grüner Balken über der ersten Seite verkündete: „Klar reden ist menschlich - nur Primäre schnattern!'' Doch das Wichtigste stand in der Mitte der Seite. Eine Karikatur. Auf einem Kastenwagen hockten zahlreiche Primäre mit langen Barten und irr grinsenden Gesichtern. Der Wagen wurde von dickbäuchigen und schwitzenden Männern gezogen. Der fetteste und häßlichste unter ihnen hielt ein Schild zwischen den Zähnen. Auf dem Schild stand zu lesen: „Geld von Irren“, und das Bild des Mannes trug die Unterschrift „Algernon Hebster“. Unter den Rädern des Wagens wurden solche Dinge zermalmt wie Heimat, ein sauberer Junge in Pfadfinderuniform, eine stromlinienförmige Lokomotive und eine üppige junge Frau mit einem Kleinkind unter jedem Arm. Der Text dazu lautete: „Herren der Schöpfung - oder Sklaven?“ 85 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Die Zeitung scheint zu einem üblen Skandalblatt abgesunken zu sein“, meinte Hebster. „Würde mich nicht überraschen, wenn sie dabei gutes Geld verdient.“ „Ich kann also annehmen“, fragte Braganza, ohne die Augen vom Fenster zu wenden, „daß Sie das Blatt in den letzten Monaten nicht regelmäßig gelesen haben?“ „Ich bin froh, diese Frage verneinen zu können.“ „Das war ein Fehler.“ Hebster starrte auf Braganzas Hinterkopf. „Warum?“ wollte er wissen. „Weil es zu einem schmutzigen und sehr erfolgreichen Skandalblatt abgesunken ist. Und Sie sind der Hauptskandalmacher.“ Braganza lachte. „Sehen Sie, diese Leute sehen die Geschäftemacherei mit den Primären mehr als Sünde an, weniger als Verbrechen. Dieser Moral zufolge stehen Sie unserem Freund Beelzebub ziemlich nahe!“ Hebster schloß die Augen und versuchte, die Leute zu verstehen, die sich dazu entschlossen hatten, jeglichen Profit wie etwas Schändliches und Sündhaftes einzustufen. Er seufzte. „Ich habe den Erstismus als eine Art Religion betrachtet.“ Mit einem Ruck wirbelte der VM-Offizier herum und deutete mit beiden Zeigefingern auf Hebster. „Ich pflichte Ihnen vollkommen bei! Er stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Völlig verschiedene und einander bis aufs Messer bekämpfende Religionsgemeinschaften werden davon aufgesaugt. Es ist die vorsätzliche und unüberlegte Verneinung einer schmerzlichen Tatsache - daß es im Universum intellektuelle Wesen gibt, die uns weit überlegen sind. Und diese Verneinung wird mit jedem Tag gnadenloser, an dem wir nicht in der Lage sind, mit den FREMDEN in Verbindung zu treten. Wenn es, was offenbar der Fall ist, in der galakti 86 William Tenn – Die Welt der zukunft
schen Zivilisation keinen angemessenen Ort für die Menschheit gibt, warum sollen dann nicht Leute wie Vandermeer Dempsey auftreten und uns in dieser Selbsttäuschung bekräftigen? Wir dürfen uns nicht von der noch menschlichen Seite unseres Daseins abwenden. In ein paar Jahrzehnten hat dieses glitzernde Vakuum vielleicht schon die gesamte menschliche Rasse in sich aufgesaugt.“ Er erhob sich und setzte seinen vorher unterbrochenen Rundgang um den Schreibtisch fort. Seine Stimme klang ernst und gefaßt. Seine Augen saugten sich an Hebsters Gesicht fest, so, als wollten sie sich nicht das geringste Anzeichen von Schwäche entgehen lassen und auf den eingefrorenen Zügen eine besonders empfindsame Stelle entdecken. „Man darf gar nicht daran denken“, fuhr er fort. „Periodische Hinrichtungen von Wissenschaftlern und Künstlern, die sich, will man einmal mit Dempsey‘s eigenen Worten reden, zu weit vom konventionellen Zentrum der sogenannten Menschlichkeit entfernt haben. Ein gelegentliches Autodafé eines Händlers, der mit den Primären Geschäfte macht...“ „Das würde mir nicht gefallen“, gab Hester lächelnd zu. Er dachte einen Augenblick nach. „Jetzt sehe ich auch die Verbindung, die Sie zu der Karikatur im ,Evening Humanitarian‘ herstellen wollten.“ „Mister, das war gar nicht so nötig. Sie wollen Ihren Kopf auf einer langen Stange. Es paßt ihnen nicht, daß Sie zum lebenden Symbol für erfolgreiche Geschäfte geworden sind, die Sie mit jenen Fremden von den Sternen oder, besser gesagt, mit deren menschlichen Laufburschen und Kammerdienern tätigen. Wahrscheinlich sind sie davon überzeugt, daß der Geschäftemacherei mit den Primären ein für allemal ein Ende bereitet wird, wenn Sie ausgeschaltet sind. 87 William Tenn – Die Welt der zukunft
Und ich sage Ihnen, sie haben vielleicht gar nicht mal so unrecht damit.“ „Was schlagen Sie also vor?“ erkundigte sich Hebster mit leiser Stimme. „Daß Sie sich auf unsere Seite schlagen. Wir machen Sie zu einem Ehrenmann - offiziell. Wir verlangen dafür, daß Sie unsere Arbeit leiten; nur wird für Sie dabei kein finanzieller Gewinn herausspringen. Als einzigen Lohn können wir Ihnen die Aussicht auf mögliche Kontakte zwischen beiden Rassen sowie eventuelle interstellare Beziehungen anbieten.“ Der Präsident der Hebster Securities Inc. brauchte mehrere Minuten, um diesen Brocken zu verdauen. Er mußte eine diplomatische Antwort finden. Und er mußte Zeit gewinnen, denn Zeit brauchte er am nötigsten! Sein Traum von einem weltweiten Handelsimperium war in so greifbarer Nähe! Zehn schwere Jahre hatte es ihn gekostet, die wichtigsten Industriekonzerne für sich zu gewinnen. Jetzt hatte er sie in der Hand, er konnte sie nach Gutdünken für sich arbeiten lassen. Aus der sich allmählich zersetzenden Zivilisation hatte er sich die fettesten Brocken an Land gezogen, in den Trümmern menschlicher Selbstüberschätzung hatte er nach Werten gefischt. Jetzt brauchte er nur noch zwölf Monate, um alles zu konsolidieren und zu koordinieren. Und plötzlich kam er sich wie jener Pechvogel vor, der einen großen Haufen Gold gehortet hatte und dann eines Tages erleben mußte, wie das Schatzministerium riesige Goldmengen aus den Beständen der Regierung auf den Markt warf. Es dämmerte ihm, daß er diese dringend notwendige Zeit von zwölf Monaten nicht haben würde. Als abgebrühter Spieler merkte er sofort, daß ein neuer und unerwarteter Faktor aufgetaucht war, der sei 88 William Tenn – Die Welt der zukunft
ne Absatzgraphiken und Produktionstabellen durcheinanderbringen konnte. Angesichts der bevorstehenden Niederlage bekam er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Schwerfällig antwortete er: „Ich fühle mich geschmeichelt, Braganza, wirklich geschmeichelt. Ich sehe, daß Dempsey es geschafft hat, uns aneinander-zuketten - wir stehen und fallen zusammen. Aber ich bin von jeher ein Einzelgänger gewesen. Ich werde schon durchkommen; Hilfe kann man sich zur Not für gutes Geld erkaufen. Mich interessiert nur ein Aspekt: Profit! Ich bin und bleibe nun einmal Geschäftsmann.“ „Ach, hören Sie auf damit!“ Der dunkelhaarige Mann lief rastlos durch das Büro. „Es handelt sich um einen weltweiten Notstand. Manchmal kann man einfach kein Geschäftsmann sein.“ „Da möchte ich Ihnen widersprechen. Eine solche Ära kann ich mir beim besten Willen nicht ausmalen.“ Braganza schnaufte böse. „Sie können kein Geschäftsmann mehr sein, wenn Sie auf einem lichterloh brennenden Scheiterhaufen stehen. Sie können kein Geschäftsmann mehr sein, wenn die Hirne der Menschen so unter Kontrolle stehen, daß sie auf Befehl ihres Führers sogar aufhören zu essen. Sie können kein Geschäftsmann mehr sein, mein versklavter und habgieriger Freund, wenn die Nachfrage so gering ist, daß sie praktisch nicht mehr existiert.“' „Das ist unmöglich!“ Hebster war aufgesprungen. Zu seinem Erstaunen hörte er, wie sich seine eigene Stimme zu hysterischen Tönen steigerte. „Es wird immer eine Nachfrage geben. Immer! Der Trick dabei ist nur, daß man herausfindet, welche Gestalt sie angenommen hat und sie dann befriedigt!“ 89 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Entschuldigen Sie! Ich wollte mich nicht über Ihre Religion lustig machen.“ Schwer atmend sank Hebster auf seinen Sitz zurück. Er hatte das Gefühl, sein Blut koche in den Adern. Immer mit der Ruhe, ermahnte er sich, immer mit der Ruhe! Diesen Mann darf man sich nicht zum Feind machen, man muß ihn vielmehr für sich gewinnen. Sie wollen die Marktgesetze abändern, Algernon, und du wirst Freunde bitter nötig haben. Mit Geld konnte man diesen Burschen nicht gewinnen. Aber es gab ja noch andere Werte... Hören Sie, Braganza. Wir haben es hier mit den psychologisch-sozialen Folgen zu tun, die sich daraus ergeben, daß eine weit fortgeschrittene Zivilisation auf eine noch ziemlich barbarische trifft. Sind Sie zufälligerweise mit Professor Kleimbochers Feuerwasser-Theorie vertraut?“ „Daß wir durch die Logik der FREMDEN ebenso getroffen wurden wie die nordamerikanischen Indianer durch den Whisky des weißen Mannes? Und die Primären, quasi als Stellvertreter unserer geistigen Elite, repräsentieren jene Indianer, die mit der Zivilisation der Bleichgesichter am meisten sympathisierten? Ja, eine Analogie ist nicht von der Hand zu weisen. Das traf sogar auf diejenigen Indianer zu, die besoffen auf den Straßen der Grenzstädte herumlagen und dazu beitrugen, ihre Rasse in den Ruf von verräterischen, faulen und mordlustigen Wilden zu bringen, während sie von ihren Stammesgenossen mit tödlicher Verachtung gestraft wurden und sich nicht mehr zu ihnen zurücktrauten, weil sie sonst wahrscheinlich totgeschlagen worden wären. Ich hatte immer das Gefühl...“ „Ich möchte hier nur von der Sache mit dem Feuerwasser sprechen“, unterbrach ihn Hebster. „In den Indianerdörfern 90 William Tenn – Die Welt der zukunft
kam man immer mehr zu der Überzeugung, daß Feuerwasser und die gierige Zivilisation der Bleichgesichter ein und dasselbe waren, daß man sich gegen die Eindringlinge erheben und ihnen das geraubte Land gewaltsam nehmen müsse. Gleichzeitig sollte man jeden betrunkenen Stammesgenossen töten, der einem über den Weg lief. Diese Gruppe steht mit den Leuten von der ‚Menschheit-Zuerst‘Partet auf einer Stufe. Es gab aber auch noch eine Minderheit, die die zahlen- und waffenmäßige Überlegenheit des weißen Mannes erkannte und verzweifelt nach einem Weg suchte, friedliche Beziehungen mit ihm anzuknüpfen - Beziehungen, die den Whisky ausschlössen. Für diese Gruppe steht die VM. Und zum Schluß gab es da noch meine Art von Indianern.“ Braganza zog die Augenbrauen zusammen und setzte sich auf die Schreibtischkante. „Ha?“ stieß er hervor. „Was für ein Indianer waren Sie denn, Hebster?“ „Einer von der Art, die vernünftig und vorausschauend genug waren, einzusehen, daß das Bleichgesicht nicht das geringste Interesse verspürte, die Kultur des roten Mannes vor dem sicheren Verfall zu bewahren. Einer von der Art, die instinktiv ahnten, daß Dinge wie Feuerwasser Teufelszeug waren und sich daher weigerten, es selbst beim Biß einer Giftschlange anzuwenden. Aber diese Art Indianer...“ „Ja? Fahren Sie fort!“ „Ich bin einer von den Indianern, die von den seltsamen und durchsichtigen Behältern fasziniert waren, in denen das Feuerwasser geliefert wurde! Denken Sie nur, wie gierig ein indianischer Töpfer danach streben mußte, in den Besitz einer solchen Whiskyflasche zu gelangen, die ihm völlig fremd war und die er selbst mit größter Mühe nicht würde herstellen können. Können Sie ihn nicht vor sich sehen, wie er die Flasche in den Händen hält, ihr seinen ganzen Haß 91 William Tenn – Die Welt der zukunft
entgegenschleudert. Er verachtet und fürchtet die fuselnde gelbe Flüssigkeit, die sogar den stärksten Krieger umwirft. Dennoch möchte er die Flasche besitzen. An ihrem Inhalt ist ihm nichts gelegen. So sehe ich mich, Braganza - ein Indianer, dessen habgierige Neugier die Politik seines Stammes und die Verachtung der Fremden hell überstrahlt. Ich will den neuen Behälter ohne das Feuerwasser darin.“ Unbeweglich starrte Braganza ihn an. Dann zwirbelte er die Enden seines geschwungenen Bartes. Minuten verstrichen. „Ha, Hebster als edelmütiger Wilder unserer Zivilisation“, kicherte der VM-Offizier schließlich belustigt. „Aber was hat das alles für unser Problem zu bedeuten?“ „Habe ich Ihnen doch schon gesagt“, erwiderte Hebster gelangweilt und legte den Arm auf die Lehne der Bank. „Das Problem interessiert mich kein bißchen.“ „Sie sind nur scharf auf die Flasche. Ich habe Sie vollkommen l verstanden. Aber Sie sind kein Töpfer, Hebster. Sie bringen nicht einmal die elementarsten Voraussetzungen zum Handwerker mit. Ihr ganzes Gerede kotzt mich an. Ihnen ist es egal, wenn die Welt in ihrem eigenen Saft schmort. Hauptsache, bei Ihnen stimmt die Kasse.“ „Ich habe nie den Uneigennützigen gespielt. Die Lösung des Problems überlasse ich Leuten wie Kleimbocher, die klüger sind als ich und wissen, von welcher Seite sie es anpacken müssen.“ „Sie meinen, ein Mann wie Kleimbocher wäre dazu imstande?“ „Davon bin ich fest überzeugt. Das war nämlich unser Kardinalfehler. Wir haben uns immer nur mit Historikern und Psychologen abgegeben. Aber deren Wissen beschränkt sich entweder auf das Studium der menschlichen Gesellschaft oder - nun, das ist meine persönliche Meinung. Doch von jeher war ich der Überzeu 92 William Tenn – Die Welt der zukunft
gung, daß die Lehre von der Psyche nur diejenigen anspricht, die bereits selbst einmal mehr oder minder schwere psychologische Störungen hatten. Meiner Auffassung nach sind diese Leute denkbar ungeeignet, mit den FREMDEN in Kontakt zu kommen. Ihre innere Dynamik läßt sie unweigerlich zu Primären werden.“ Braganza gab ein schmatzendes Geräusch von sich und betrachtete die Wand hinter Hebster. „Und all das, glauben Sie, trifft auf Kleimbocher nicht zu?“ „Nein, nicht auf einen Professor der Philologie. Für solche Dinge ist er nicht zu haben. Kleimbocher treibt vergleichende Sprachforschung, er ist ein Techniker, ein Spezialist auf dem Gebiet der Kommunikation. Ich habe ihm ein paarmal bei der Arbeit zugesehen. Er geht das Problem ganz von der sachlichen Seite her an. Er will sich mit den FREMDEN verständigen und nicht versuchen, sie zu verstehen. Es sind schon zu viele Spekulationen über Bewußtsein und Sozialstruktur der FREMDEN angestellt worden. Daraus lassen sich keine greifbaren Tatsachen ableiten. Kleimbocher ist durch und durch Pragmatiker.“ „So weit, so gut. Nur ist er heute früh zu den Primären übergelaufen.“ Hebster blieben die Worte im Hals stecken; seine Kinnlade fiel herab. „Professor Kleimbocher? Rudolf Kleimbocher?“ fragte er idiotisch. „Aber er war so nahe - fast hatte er - einen elementaren Signalkode - er wollte gerade...“ „Er ist übergelaufen. Gegen dreiviertel zehn. Die ganze Nacht lang hatte er sich mit einem Primären beschäftigt, der von einem der Psychologen hypnotisiert worden war. Er hatte sich in ungewöhnlich optimistischer Stimmung auf den Heimweg gemacht. Heute früh brach er mitten in einer Vorlesung über die Entwicklung der kyrillischen Schrift seit dem 93 William Tenn – Die Welt der zukunft
Mittelalter ab und gabbelhonkte. Ungefähr zehn Minuten zischte und brabbelte er den Studenten etwas vor, dann gab er sie plötzlich als hoffnungslose, untaugliche Idioten auf und begann so komisch durch die Luft zu schweben, wie sie es immer am Anfang tun. Er krachte mit dem Kopf an die Decke und verlor die Besinnung. Ich weiß nicht, was es war. Vielleicht Furcht, Erregung, Respekt vor dem alten Knaben, jedenfalls versäumten es die Studenten, ihn zu fesseln, ehe sie Hilfe holten. Als sie mit dem für das Universitätsgelände zuständigen VM-Mann wiederkamen, hatte sich Kleimbocher erholt und war durch eine Wand getürmt. Hier ist ein Foto von ihm, wie er mit gekreuzten Armen hundertfünfzig Meter hoch in der Luft schwebt und mit dreißig Stundenkilometern nach Westen treibt.“ Mit zuckenden Augen studierte Hebster die kleine Aufnahme. „Natürlich haben Sie die Luftwaffe hinter ihm hergeschickt.“ „Welchen Zweck hätte das? Oft genug haben wir es schon versucht. Er würde entweder seine Geschwindigkeit erhöhen und einen Tornado erzeugen, sich wie ein Stein fallenlassen und die Landschaft verschandeln oder dieses kaffeesatzähnliche Zeug und Goldkörnchen in die Düsen des Verfolgers teleportieren. Bisher konnte noch niemand einen Primären im ersten Anfall von - von dem, was sie eben fühlen, erwischen. Wir verlieren höchstens ein teures Flugzeug samt dem Piloten, wobei möglicherweise noch gutes Ackerland verwüstet wird.“ Hebster stöhnte. „Aber so bedenken Sie doch, daß er seit achtzehn Jahren mit seinen Forschungen beschäftigt war!“ „Tut mir leid, aber da läßt sich nichts machen. Wir sind sozusagen in einer Sackgasse angelangt und können wieder von vorn anfangen. Wenn man den FREMDEN nicht durch linguistische Studien auf die Schliche kommt, dann 94 William Tenn – Die Welt der zukunft
kommt man ihnen niemals auf die Schliche. Punkt, Ende des Absatzes. Unsere modernsten Waffen können nichts gegen sie ausrichten, unsere fähigsten Köpfe werden von ihnen der Lächerlichkeit preisgegeben. Doch uns bleiben immer noch die Primären. Vielleicht können wir das Problem lösen, indem wir uns mit den Sklaven einigen, und die Herren einmal ganz außer acht lassen.“ Dem steht nur im Wege, daß es unmöglich ist, sich mit Primären irgendwie zu einigen.“ Braganza nickte. „Trotzdem sind sie unsere letzte Hoffnung, denn sie waren ja einmal normale Menschen. Von jeher wußten wir daß wir eines schönen Tages dazu gezwungen sein würden, auf unsere einzig wirklichen Kontaktleute zurückzugreifen. Deshalb sind auch die Bestimmungen in bezug auf die Primären so rigoros; deshalb werden die Primärenreservate, die die Enklaven der FREMDEN umgeben, so scharf von unseren Soldaten bewacht. Seit die ‚Menschheit Zuerst‘ ihre Haßgesänge angestimmt hat, muß man sich auf Ausschreitungen gefaßt machen, die bis zur Lynchjustiz führen können. Die ‚Menschheit Zuerst‘ fühlt sich allmählich stark genug, die ,Vereinigte Menschheit‘ herauszufordern. Und ehrlich, Hebster, keiner von uns beiden kann mit Bestimmtheit sagen, welche Partei als Sieger aus einem Kampf hervorgehen würde. Sie sind einer der wenigen, die mit Primären verhandelt haben, die mit ihnen zusammengearbeitet haben...“ „Auf rein geschäftlicher Ebene.“ „Dennoch sind Sie uns momentan um tausend Jahre voraus, wenn ich es einmal so formulieren darf. Es ist eine glatte Ironie des Schicksals! Die einzigen Menschen, die je mit den Primären Kontakt gehabt haben, waren nicht im geringsten daran interessiert, ob die menschliche Zivilisation vor dem drohenden Zerfall stand oder nicht. Nun gut. Auf 95 William Tenn – Die Welt der zukunft
alle Fälle haben Sie uns zur Zeit in der Hand. Sie können uns helfen oder uns untergehen lassen. In Anbetracht dieser Tatsache sind meine Auftraggeber bereit, gewisse Vorfälle aus ihrer Erinnerung und aus ihren Akten zu streichen und Sie wieder zu einem Ehrenmann zu machen. Was sagen Sie dazu?“ „Komisch“, meinte Hebster nachdenklich, „es kann nicht die Macht des Geistes sein, die nüchterne Wissenschaftler in richtiggehende Zauberkünstler verwandelt. Obwohl sie erst im Anfangsstadium ihres neuen Primärendaseins sind, beschießen sie ihre Angehörigen schon mit Blitzen und lassen aus massivem Fels klare Quellen hervorsprudeln. Dabei hatten sie eigentlich noch gar keine Zeit, sich die neuen Techniken anzueignen. Aber anscheinend braucht man den FREMDEN nur den kleinen Finger zu reichen, und schon ist man in der Lage, sämtliche kosmischen Gesetze umzustoßen und zu verdrehen.“ Allmählich nahm das Gesicht des VM-Offiziers eine rötliche Färbung an. „Wollen Sie uns nun helfen oder nicht? Denken Sie daran, Hebster, in solchen Zeiten ist ein Mann, der sich nur von seinem Geschäftssinn leiten läßt, gewöhnlich ein Verräter an der Geschichte.“ „Ich glaube, Kleimbocher bedeutet das Ende“, nickte Hebster. „Welchen Sinn hat es noch, hinter die Mentalität der FREMDEN kommen zu wollen, wenn man seinen besten Mann dabei verloren hat? Ich würde vorschlagen, wir vergessen den ganzen Unsinn und leben friedlich in ein und demselben Universum mit den FREMDEN. Wir richten unser Augenmerk nur noch auf menschliche Probleme und geben uns zufrieden, solange sie nicht in unsere Hauptwohngebiete kommen und uns zu verdrängen versuchen.“ 96 William Tenn – Die Welt der zukunft
Das Telefon klingelte. Braganza hatte sich wieder in seinen Drehstuhl gesetzt. Unbewegt ließ er den Apparat einige Male schrill klingeln, während er mit den Zähnen knirschte und seinen Besucher nicht aus den Augen ließ. Schließlich nahm er den Hörer ab und sagte kurzangebunden: „Ja? Er ist hier. Okay, ich werde es ihm sagen. Gut. Wiederhören.“ Er kniff die Lippen zusammen, dann kräuselte er sie kaum merklich und schwang sich zum Fenster herum. „Ihr Büro, Hebster. Ihre Frau und Ihr Sohn sind anscheinend in der Stadt und wünschen Sie dringend zu sprechen. Ist das die Frau, von der Sie sich vor zehn Jahren scheiden ließen?“ Hebster nickte und stand wieder auf. „Will wahrscheinlich die zweite Rate des Unterhaltsgeldes einkassieren. Ich muß gehen. Sonja bringt mir sonst nur mein Büro durcheinander.“ Er wußte, daß Kummer im Anmarsch war. „Frau-undSohn“ war der Geheimkode, wenn sich die Hebster Securities Inc. in ernsten Schwierigkeiten befand. Seine Frau hatte er nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit er sie damals dazu überredet hatte, ihm die Erziehung seines Sohnes zu überlassen. Seine Frau selbst hatte ein sicheres Einkommen, denn sie hatte ihre Pflicht erfüllt und ihm einen Sohn und Erben geschenkt. „Hören Sie!“ kam Braganzas scharfe Stimme, als Hebster der Tür stand. Immer noch starrte der Mann wie abwesend auf die Straße. „Sie wollen also nicht bei uns mitmachen. Gut! Sie sind an erster Stelle Geschäftsmann und erst an zweiter Stelle Weltbürger. Auch gut! Aber das eine sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich von jetzt an verdammt in acht, Hebster. Wenn wir Sie bei dem geringsten Schnitzer erwi 97 William Tenn – Die Welt der zukunft
schen, sind Sie restlos geliefert Wir hängen Ihnen nicht nur den größten Prozeß an den Hals den dieser alte und korrupte Planet bisher erlebt hat, sondern wir werfen Sie und Ihre gesamte Organisation den Bestien zum Fraß vor. Wir sorgen dafür, daß die ‚Menschheit Zuerst‘ das Imperium des großen Hebster von der Erdoberfläche auslöscht.“ Hebster schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Warum? Was würde es Ihnen einbringen?“ „Ha! Vielen von uns würde es höllisches Vergnügen bereiten. Für eine gewisse Zeit wären wir von einem ungeheuren Druck befreit. Es besteht immer die Möglichkeit, daß Dempsey ein paar seiner Hitzköpfe nicht mehr im Zaum halten kann. Sie spielen plötzlich verrückt und legen uns einen Aufstand hin, der den Einsatz bewaffneter Streitkräfte gerechtfertigt erscheinen läßt. Das wäre unsere Gelegenheit, Dempsey und seine großmäuligen Anhänger zum Teufel zu jagen, weil der biedere Steuerzahler einmal mit eigenen Augen gesehen hat, welch eine Gefahr sie für ihn darstellen.“ „Das“, stieß Hebster anklagend hervor, „ist also die von hohen Idealen beseelte und gesetzesfürchtige Weltregierung!“ Braganza wirbelte herum. Knallend schlug er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Nein, das ist sie ganz und gar nicht! Das ist lediglich die Sonderkommission, eine allmächtige und oft sehr praktische Abteilung der Weltregierung, die eigens dazu geschaffen wurde, eine Verbindung zwischen Menschen und FREMDEN herzustellen. Weiterhin hat die Sonderkommission stets dann einzuschreiten, wenn ein nationaler Notstand ausbricht und Recht und Gesetz der Weltregierung unter das Zepter eines Demagogen zu geraten drohen. Glauben Sie vielleicht“ - kriegerisch reckte er 98 William Tenn – Die Welt der zukunft
den Hals und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen -, „daß der Geschäftssinn und das Geld, ja sogar das Leben eines so selbstsüchtigen Gauners, wie Sie es zum Beispiel sind, Hebster, höher bewertet werden als die Zukunft von zwei Milliarden rechtschaffener Menschen?“ Der VM-Offizier klopfte sich gegen die Brust. „Braganza, sage ich mir jetzt, du kannst dich glücklich schätzen, denn er geifert zu sehr nach seinem verdammten Profit, als daß er ein Angebot akzeptieren würde. Stell dir nur den Spaß vor, wenn er eines Tages einen Fehler macht und du ihn hochnehmen kannst! Du wirfst ihn den Leuten von ,Menschheit Zuerst‘ vor. Dann werden sie verrückt spielen und sich selbst vernichten helfen! Äh, verschwinden Sie, Hebster. Mit Ihnen bin ich restlos fertig!“ Er hatte einen Fehler gemacht, überlegte Hebster, als er das Gebäude verließ und ein Gyrotaxi heranwinkte. Die VM-Sonderkommission war die mächtigste Institution der Weltregierung in einer von Primären verseuchten Zeit; ein Mann in seiner Position konnte es sich einfach nicht erlauben, diese Leute so vor den Kopf zu stoßen. Was aber hätte er tun können? Eine Zusammenarbeit mit der Sonderkommission hätte bedeutet, daß er sich unter Braganzas Befehl stellen mußte. Doch seit seinem Eintritt in die Welt der Erwachsenen hatte Algernon Hebster peinlichst darauf geachtet, niemals unter die Befehlsempfänger zu geraten. Es würde das Ende seiner Gesellschaft bedeuten, die sich, mit etwas Geschick und Zeit, doch noch zur größten der Welt emporschwingen könnte. Aber das schlimmste war, daß seine bisher rein geschäftliche Politik durch eine mehr und mehr nach sozialen Gesichtspunkten eingestellte Geschäftsführung abgelöst werden würde. Und das durfte er um keinen Preis dulden. 99 William Tenn – Die Welt der zukunft
Er betrat sein Geschäftsgebäude. Der Pförtner begleitete ihn bis zu seinem Privatlift und riß diensteifrig die Tür auf. Im dreiundzwanzigsten Stockwerk stoppte der Aufzug. Hebster hatte das Gefühl, sein Herz werde von einer eiskalten Hand umschlossen, als er den großen Augen seiner Angestellten auf dem Gang begegnete. Am Eingang zum Hauptlabor 23 B traten zwei kräftige Männer in den grauen Uniformen seiner Leibwache zur Seite, um ihn eintreten zu lassen. Es mußte sich wirklich um einen Notfall handeln, wenn man sie trotz ihres dienstfreien Tages zurückbeordert hatte. Er hoffte nur, daß man rechtzeitig die allgemeine Nachrichtensperre verhängt hatte, damit um Himmels willen kein Sterbenswörtchen an die Öffentlichkeit drang. Greta Seidenheim versicherte ihm, daß sie sich darum bereits gekümmert habe. „Fünf Minuten nach Beginn des Durcheinanders war ich hier und habe sämtliche Verbindungen nach draußen unterbrochen. Vom einundzwanzigsten bis zum fünfundzwanzigsten Stockwerk ist alles isoliert. Die Telefone werden überwacht. Sie können Ihre Belegschaft bis spätestens sechs Uhr zurückhalten, das sind also noch zwei Stunden und vierzehn Minuten.“ Ihr grünlackierter Fingernagel deutete in die hinterste Ekke des Labors, wo ein in dreckige Lumpen gehüllter Körper lag. Theseus! Aus seinem Rücken ragte der elfenbeinerne Griff eines alten deutschen SS-Dolches aus dem Jahre 1942. Das silberne Hakenkreuz am Heft war durch ein verschnörkeltes Symbol ersetzt worden. Man konnte die Buchstaben MZ entziffern. Theseus' Haar war blutgetränkt und sah wie ein roter Tuchfetzen aus. Ein toter Primärer, dachte Hebster und blickte sinkenden Herzens zu Boden. In seinen Räumen, in dem Labor, in das der Primäre nur zwei oder drei Sekunden vor der Ankunft Yosts und Funattis geflohen war. Das Beweismaterial ge 100 William Tenn – Die Welt der zukunft
gen ihn war geradezu erdrückend - wenn es jemals in die Hände eines Richters oder Staatsanwalts gelangte. „Seht euch bloß mal den miesen Primärenfreund an!“ ertönte eine bekannte Stimme zu seiner Rechten. „Wie er vor Angst in die Hosen macht! Los, Hebster, jetzt zeigen Sie mal, wie man daraus Gewinn schlägt!“ Langsam ging der Präsident der Hebster Securities hinüber zu dem dünnen Mann mit dem runden, glattrasierten Kopf. Man hatte ihn an ein nicht benutztes Leitungsrohr gefesselt. Der Schlips des Mannes, der aus dessen Laborkittel baumelte, wies ein ungewöhnliches Ornament auf. Hebster benötigte mehrere Sekunden, um es zu identifizieren. Eine winzige vergoldete Rasierklinge auf einer schwarzen „3“. „Er ist Offizier dritter Klasse bei ‚Menschheit Zuerst‘!“ „Er ist aber auch Charlie Verus von den Hebster-Labors“, warf ein extrem kleingeratener Mann mit hervorspringender Stirn ein. „Mein Name ist Margritt, Mr. Hebster, Dr. J. H. Margritt. Ich habe mit Ihnen gesprochen, als der Primäre gebracht wurde.“ Entschlossen schüttelte Hebster den Kopf. Er wandte sich den restlichen Wissenschaftlern zu, die ihn in kleinen Gruppen umstanden. „Seit wann stehen drittrangige Offiziere der ,Menschheit Zuerst‘, von einfachen Mitgliedern ganz zu schweigen, auf der Lohnliste meines Labors?“ „Das weiß ich nicht.“ Margritt hob die Schultern. „Theoretisch können Erstere gar nicht bei Hebster beschäftigt sein. Unsere Personalabteilung muß doppelt so gute Arbeit leisten wie die VM-Sonderkommission, wenn sie die Leute vor ihrer Anstellung durchleuchtet. Wahrscheinlich haben sie ihn auch gründlich getestet. Aber was soll man tun, wenn ein Angestellter nach Ablauf seiner Probezeit zur ‚Mensch 101 William Tenn – Die Welt der zukunft
heit Zuerst‘ übertritt? Man brauchte einen eigenen Polizeiapparat, wollte man stets alle neuen Abtrünnigen aufspüren.“ „Als ich vorhin mit Ihnen sprach, Margritt, äußerten Sie sich ziemlich negativ über Verus. Meinen Sie nicht auch, es wäre Ihre verdammte Pflicht gewesen, mich davon in Kenntnis zu setzen, daß ich dabei war, einen heimlichen Ersteren mit Primären herumexerzieren zu lassen?“ Verneinend schüttelte der kleine Mann den Kopf. „Meine Aufgabe ist es, die Forschungsarbeiten hier zu beaufsichtigen, Mr. Hebster, und nicht, Ihr Personal auszusuchen, zu beurteilen oder Ihre Partei zu wählen!“ Verachtung - die Verachtung des Forschers für den Unternehmer, der ihm sein Gehalt zahlte und jetzt arg in der Klemme saß - war aus jedem Wort herauszuhören. Warum, fragte sich Hebster verwirrt, verachteten die Leute einen Mann, der viel Geld machte? Sogar die Primären, mit denen er in seinem Büro gesessen hatte, verachteten ihn im Grunde genommen. Ebenso Yost, Funatti, Braganza und nun auch Margritt, der seit vielen Jahren in den Labors tätig war. Er war zum Forscher geboren. Bestimmt war er auf seine Weise ebensoviel wert wie ein talentierter Klavierspieler, oder nicht? „Konnte Charlie Verus noch nie ausstehen“, fuhr der Laborchef fort. „Aber wir hatten keinen Anlaß, ihn für einen Ersteren zu halten! Er muß erst vorige Woche in den dritten Rang aufgerückt sein, was, Bert?“ „Ja“, antwortete der mit Bert Angeredete von der anderen Seite des Raumes. „An dem Tag kam er eine Stunde zu spät, brach jede Menge Glaskolben und erzählte uns, daß wir eines Tages voller Stolz unseren Enkeln berichten dürf 102 William Tenn – Die Welt der zukunft
ten, mit Charlie Bolop Verus in ein und demselben Labor gearbeitet zu haben.“ Ich persönlich dachte mir“, bemerkte Margritt, „er hätte vielleicht gerade ein Buch beendet, in dem er nachwies, daß die Cheopspyramide nichts weiter war als eine steinerne Prophezeiung unserer modernen Textilmuster. Verus war so ein verdrehter Bursche. Aber es war wohl nur die kleine Rasierklinge, die ihm ein so erhebendes Gefühl eintrichterte. Bin davon überzeugt, daß es eine Art Vorschuß für seine heutige Tat war.“ Hebster biß die Zähne fest zusammen und durchbohrte seinen glatzköpfigen Gefangenen mit den Augen. Verus versuchte immer wieder, ihn anzuspucken. Dann begab sich Hebster zum Ausgang, wo seine Sekretärin mit der Wache redete, die im Labor Dienst getan hatte. Ein Stück weiter standen Larry und S.S. Lusitania an der Wand und unterhielten sich in einem gedämpften und ängstlich klingenden Gabbelhonk. Der Vorfall hatte sie offenbar ziemlich mitgenommen. S.S. Lusitania rupfte kleine Elefanten aus ihrer zerlumpten Kleidung, die, zappelnd und trompetend, wie verformte Seifenblasen zu Boden segelten und zerplatzten. Larry zerrte beim Sprechen nervös an seinem struppigen Bart herum. Dann und wann deutete er in die Ecke, die mit fünfzig oder sechzig Imitationen des Dolches übersät war, der in Theseus' Rücken steckte. Hebster wagte nicht, daran zu denken, was alles passiert wäre, wenn die Primären nicht so menschlich reagiert hätten. „Mr. Hebster“, begann der Leibwächter, „ich hatte Order, nicht...“ „Schon gut“, stieß Hebster hervor. „War nicht Ihre Schuld. Selbst der Personalabteilung kann man keinen Vorwurf machen. Mir und meinen sogenannten Experten sollte man den Kopf abhacken, weil wir so weit hinter der Zeit zurück 103 William Tenn – Die Welt der zukunft
geblieben sind. Jeden Trend können wir genauestens analysieren, nur denjenigen, der uns überflüssig werden läßt, den erkennen wir natürlich nicht! Greta! Auf dem Dach sofort meinen Hubschrauber fertigmachen. Auf dem LaGuardia-Flughafen sollen sie meinen Stratojet vorbereiten. Beeilen Sie sich, Mädchen! Und Sie - Williams, nicht wahr?“ erkundigte er sich und entzifferte den Namen des Wächters auf dem kleinen Metallschild an dessen Uniformjacke, „Sie, Williams, verfrachten diese beiden Primären in meinen Hubschrauber und bereiten alles für einen unverzüglichen Start vor.“ Er drehte sich um. „Alles herhören!“ rief er. „Ihr könnt um sechs nach Hause gehen. Ihr bekommt eine Überstunde angerechnet. Das ist alles. Danke.“ Charlie Verus begann zu singen, als Hebster das Labor verließ. Als er den Fahrstuhl erreichte, konnte Hebster klar vernehmen, daß zahlreiche seiner Angestellten in der Halle in das Lied eingefallen waren. Hebster blieb stehen. Es wurde ihm bewußt, daß ein volles Viertel seines männlichen und weiblichen Personals mit Verus sang, der eine krächzende und schauderhafte Stimme hatte, die jedoch schrecklich ernst und schicksalhaft klang. „Ruhm und Sieg der Verkannten erkenn' ich mit Frohlocken. Wir legen die üblen Sümpfe dann trocken, aus denen hervorging der Primären Abschaum! Wir finden zusammen im festlichen Kleid, bereit zum Empfang einer besseren Zeit. ‚Menschheit Zuerst‘ jetzt vorwärts geht, eine neue menschliche Ära entsteht! Gloria, gloria, halleluja! Gloria, gloria, halleluja!“ 104 William Tenn – Die Welt der zukunft
Wenn es bei Hebsters Securities schon so schlimm war, dachte er grimmig, als er sein Privatbüro betrat, wie groß mußte dann erst der Einfluß der ‚Menschheit Zuerst‘ auf die breite Masse sein? Natürlich durfte man die Mehrheit der Singenden nicht als überzeugte Parteigänger einstufen. Sie sympathisierten lediglich mit Dempseys Leuten, waren Mitläufer und Halbüberzeugte. Doch die große politische Gefahr dieser Organisation kam immer klarer zum Vorschein. Sein einziger Trost bestand darin, daß die Sonderkommission die drohende Gefahr rechtzeitig erkannt und immerhin schon beispiellose Gegenmaßnahmen in die Wege geleitet hatte. Unglücklicherweise jedoch würden sich diese Gegenmaßnahmen nun gegen Hebster richten. Ihm blieben jetzt noch knapp zwei Stunden, überlegte er. In diesem Zeitraum mußte es ihm gelingen, eine Ausrede für das schwerste Einzelverbrechen zu finden, das die Gesetzbücher der gegenwärtigen Weltregierung verzeichneten. Er griff zum Hörer eines seiner zahlreichen Telefonapparate. Ruth“, sagte er, „ich möchte mit Vandermeer Dempsey sprechen. Verbinden Sie mich mit ihm persönlich.“ Schon wenige Sekunden später vernahm er die wohlbekannte, sonore und tiefe Stimme. „Hallo, Hebster, hier ist Vandermeer Dempsey.“ Er schien Luft zu holen, dann fuhr er fort: „Die Menschheit - möge sie stets vorn sein, doch, ob vorn oder hinten, nur die Menschheit!“ Er lachte belustigt. „Unsere neueste Schöpfung. Wir nennen sie unseren telefonischen Trinkspruch. Gefällt's Ihnen?“ „Erstklassig“, entgegnete Hebster respektvoll, als er daran dachte, daß sein ehemaliger Video-Quizmeister bald schon der alleinige Repräsentant von Kirche und Regierung sein 105 William Tenn – Die Welt der zukunft
konnte. „Äh - Mr. Dempsey, ich habe mir sagen lassen, Sie hätten ein neues Werk veröffentlicht. Dachte mir...“ „Welches meinen Sie? ,Anthro-Politik'?“ „Genau das. Eine hervorragende Studie. Und voll bemerkenswerter Überlegungen besonders in dem Kapitel ,Weder mehr noch weniger menschlich'.“ Lautes Gelächter dröhnte an sein Ohr. „Lieber Freund, jedes Kapitel meines Buches strotzt sozusagen von bemerkenswerten Überlegungen! Hier in meinem Hauptquartier verfüge ich über einen Stab von Redakteuren, die innerhalb von zehn Minuten in der Lage sind, Ihnen mehr als fünfzig Schlagworte zu jedem Thema zusammenzustellen. Von ihrer Fähigkeit für politische Metaphern und pikante Zweizeiler gar nicht erst zu reden! Aber bestimmt haben Sie mich nicht angerufen, um mit mir über Literatur zu diskutieren, obwohl mein kleines Büchlein eine wahre literarische Glanzleistung darstellt. Was gibt's also, Hebster? Schießen Sie los!“ „Nun“, begann Hebster, den die zynische Art des Parteichefs etwas beruhigte, während ihn dessen offen zur Schau gestellte Verachtung gleichzeitig erzürnte, „heute habe ich mit Ihrem und meinem ganz besonderen Freund, mit P. Braganza, gesprochen.“ „Weiß ich.“ „Sie wissen es? Woher denn?“ Das behäbige, tranige Lachen eines fetten Mannes drang durch die Leitung. „Spione, Hebster, Spione. Ich habe sie praktisch allerorten. Meine Politik setzt sich zu zwanzig Prozent aus Spionage, zu zwanzig Prozent aus Organisation und zu sechzig Prozent aus dem Abpassen des geeigneten Augenblicks zusammen. Meine Spione unterrichten mich über jeden Ihrer Schritte.“ 106 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Sie berichteten Ihnen nicht zufällig, worüber Braganza und ich gesprochen haben?“ „Aber natürlich, lieber Freund, natürlich!“ Dempsey schien vor Lachen fast vom Stuhl zu kippen. Hebster sah ihn ganz deutlich vor Augen: ein Kopf wie eine matschige, überreife Orange, die freudig strahlte. Der Kopf war absolut haarlos, sogar die Augenbrauen waren entfernt. Und die dicke Warze ließ er in regelmäßigen Abständen elektrolytisch behandeln. „Soweit mir meine Agenten berichteten, hat Ihnen Braganza im Auftrag der Sonderkommission verschiedene Vorschläge unterbreitet, die Sie jedoch rundweg ablehnten. Dann kündigte er Ihnen an, er werde Sie bei Ihren schändlichen Geschäften, die Sie immerhin zum reichsten Mann der Erde gemacht haben, genau unter die Lupe nehmen lassen. Und wenn er Sie bei einer Ferkelei ertappe, werde er Sie als Köder für uns benutzen. Ich muß gestehen, ich bewundere diesen genialen Plan außerordentlich.“ „Doch den Köder schlucken Sie nicht“, meinte Hebster. Greta Seidenheim kam herein und deutete mit einer kreisenden Handbewegung nach oben. Er nickte. „Ganz im Gegenteil, lieber Hebster. Wir werden ihn schlucken. Nur werden wir ihn mit einem schärferen Ruck schlucken, als man es von uns erwartet. Wir werden die Provokation schlucken, die sich die Sonderkommission für uns ausgedacht hat, und wir werden sie zu einer weltweiten Revolution zu entfachen wissen. Genau das werden wir tun, mein guter Freund.“ Hebster strich sich mit der linken Hand über die Lippen. „Nur über meine Leiche!“ Er wollte lachen, brachte aber nur ein verunglücktes Räuspern zustande. „Sie wissen über meine Unterredung mit Braganza Bescheid. Sie wissen wahrscheinlich auch dann noch Bescheid, wenn die Leute 107 William Tenn – Die Welt der zukunft
mit Steinen werfen und Baseballschläger schwingen. Dabei könnten Sie es viel leichter haben, wenn Sie sich meinen netten kleinen geschäftlichen Vorschlag anhörten.“ Tut mir leid, mein Freund. Keine Geschäfte. Nicht damit, mein Junge. Können Sie nicht verstehen, daß wir keinen leichten Sieg erringen wollen? Aus demselben Grund zahlen wir unseren Spionen, die oft Kopf und Kragen riskieren, keinen Pfennig. Und das, obwohl ‚Menschheit Zuerst‘ gewiß nicht arm ist. Aber wir haben entdeckt, daß ein sogenannter Spion aus Überzeugung bessere Arbeit leistet als einer, den wir mit Geld geködert haben. Nein, wir brauchen eine Affäre Hebster, um die Bevölkerung aufzuwiegeln. Wir werden die Menge so in Fahrt bringen, daß jemand rennt und Polizei und Militär verständigt. Dann sollen Sie mal sehen, wie wir loslegen. Und jeder Bürger, der gewöhnlich teilnahmslos am Rande des Geschehens zu stehen pflegt, wird derart empört sein, daß er sich kopfüber ins Getümmel stürzt und all seine Skrupel abschüttelt. Wenn genug solcher Bürger mitmachen, ist die Erde binnen kurzer Zeit in den Händen von ‚Menschheit Zuerst‘.“ „Kopf gewinnt, Zahl verliert.“ Wieder lachte Dempsey heiser. „Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, Hebster. Doch wie es auch enden mag, ob zugunsten der VM oder der MZ, Sie werden in jedem Fall zertrampelt. Sie hatten Ihre Chance, als wir uns vor ein paar Jahren an alle verantwortungsbewußten Geschäftsleute wandten und sie um einen Beitrag baten. Viele Ihrer Konkurrenten haben die vorteilhafte Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik erkannt. Woodran vom Underwood Investment Trust ist heute schon in der Parteispitze. Doch kein einziger Ihrer leitenden Angestellten trägt das Zeichen der Rasierklinge. Trotzdem werden wir mit Ihnen, im Ge 108 William Tenn – Die Welt der zukunft
gensatz zu den Primären, vergleichsweise mild umspringen.“ „Fragt sich nur, ob die FREMDEN zusehen, wie ihre Leibdiener vernichtet werden.“ „Es gibt keine FREMDEN!“ antwortete Dempsey mit völlig anderer Stimme. Man konnte meinen, er habe sich so sehr versteift, daß er kaum die Lippen bewegen konnte. „Keine FREMDEN? Ist das Ihr neuester Wahlspruch? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!“ „Es gibt nur Primäre - Kreaturen, die sich von der menschlichen Gesellschaft abgekehrt haben und deshalb imstande sind viele uns wundersam erscheinende Dinge zu vollbringen, die ein normaler Mensch verabscheut, weil sie sich nicht mit der menschlichen Würde in Einklang bringen lassen. Aber es gibt keine FREMDEN. Die FREMDEN sind eine Erfindung der Primären.“ Hebster grunzte. „Das ist ein idealer Weg, um eine unliebsame Tatsache zu erklären. Man übersieht sie ganz einfach.“ „Wenn Sie darauf bestehen, weiterhin über imaginäre Erscheinungen wie die FREMDEN zu diskutieren“, kam die bullernde und zornige Stimme vom anderen Ende, „dann müssen Sie sich einen anderen Gesprächspartner suchen. Sie sind auf dem besten Weg zum Primärentum, Hebster.“ Dempsey legte auf. Hebster fuhr mit dem Finger am Rande der Sprechmuschel entlang. „Er glaubt sein eigenes Gerede!“ sagte er verwundert. „Er muß vom Glauben erfüllt sein, wenn er seinen Anhängern erfolgreiche Predigten halten will. Das entsetzliche höhere Wesen existiert einfach nicht!“ 109 William Tenn – Die Welt der zukunft
An der Tür erwartete ihn Greta Seidenheim mit seiner Aktentasche und seinem und ihrem Mantel. Er stand vom Schreibtisch auf und sagte: „Ich habe nichts dagegen, wenn Sie mitkommen, Greta, aber...' „Gut“, erwiderte sie, und hinter seinem Rücken: „Wohin geht die Reise überhaupt?“ „Nach Arizona. Zur ersten und größten Kolonie der FREMDEN. An den Ort, wo unsere Freunde mit den komischen Namen daheim sind.“ „Was können Sie dort tun, das Sie nicht auch von hier aus erledigen könnten?“ „Um ehrlich zu sein, Greta, ich weiß es selbst nicht so genau. Aber es ist vielleicht ganz gut, wenn ich mal etwas Abwechslung habe. Und dann möchte ich einmal den Ort sehen, von dem all unser Kummer ausgeht; ich bin ein wendiger Geschäftsmann, der seine Aufgaben am besten an Ort und Stelle erledigt.“ Am Hubschrauber erwarteten sie schlechte Nachrichten. „Mr. Hebster“, sagte der Pilot tonlos, während er ein Stück Kaugummi im Mund herumwälzte, „der Stratojet ist von der Sonderkommission beschlagnahmt worden. Starten wir trotzdem? Wenn wir hiermit fliegen wollen, dann kommen wir nicht sehr weit, und es geht auch nicht besonders schnell.“ „Wir starten trotzdem“, ordnete Hebster nach kurzer Überlegung an. Sie stiegen ein. Die beiden Primären hockten im Hintergrund auf dem Boden und waren in ein schnaufendes Gespräch vertieft. Williams salutierte vor seinem Chef. „Sanft wie die Lämmer“, sagte er. „Sie haben auch eins geschaffen. Ich mußte es hinauswerfen.“ 110 William Tenn – Die Welt der zukunft
Der große, dickbäuchige Hubschrauber stieg auf und verließ dann seinen Landeplatz auf dem Dach des Gebäudes der Hebster Securities Inc.. „Es muß etwas durchgedrungen sein“, meinte Greta leise. „Sie haben von dem toten Primären erfahren. Irgendwo in der Organisation gibt es eine undichte Stelle, die ich noch nicht gefunden habe. Die Sonderkommission hat von dem toten Primären gehört und macht jetzt Jagd auf uns. Schöne Blamage für mich!“ Hebster warf ihr ein schwaches Lächeln zu. Es war nicht ihre Schuld. Es war auch nicht die Schuld der Personalabteilung oder einer der anderen Abteilungen in der Organisation. Es war auch nicht Hebsters Schuld. Alle Abteilungen konnten in normalen Zeiten ihre Arbeit aufs beste durchführen. Politische Spione! Wenn Dempsey überall in der Hebster Securities Inc. seine Spione und Saboteure sitzen hatte, warum dann nicht auch Braganza? Sie würden ihn schnappen, ehe er überhaupt die Flucht ergreifen konnte; sie würden ihn zurückbringen, ehe er die undichte Stelle gefunden hatte. Sie würden ihn zurückbringen und vor Gericht stellen. Der Prozeß würde wahrscheinlich als das „Hebster-Blutbad“ in die Geschichte eingehen, als das Ereignis, das eine Weltrevolution ausgelöst hatte. „Mr. Hebster, sie werden unruhig“, rief Williams. „Soll ich sie ein bißchen beruhigen?“ Hebster setzte sich steil auf, neue Hoffnung erfüllte ihn. „Nein“, sagte er, „lassen Sie sie in Ruhe!“ Er ließ die plötzlich sehr beunruhigten Primären keine Sekunde aus den Augen. Hier war die Gelegenheit, die ihn veranlaßt hatte, sie mitzunehmen! Die jahrelange Feilscherei mit den Primären 111 William Tenn – Die Welt der zukunft
hatte ihm viele ihrer Charaktereigenschaften enthüllt. Sie konnten nicht nur sinnlose Mätzchen veranstalten. Zwei Punkte tauchten an den Fenstern auf. Rasch wurden sie größer und entpuppten sich schließlich als Düsenjäger mit den Insignien der Sonderkommission. „Pilot!“ rief Hebster und ließ Larry, der nervös an seinem Bart zerrte, nicht aus den Augen. „Verlassen Sie die Führerkanzel! Schnell! Haben Sie verstanden? Das war ein Befehl! Raus aus der Kanzel“ Zögernd kam der Mann nach hinten. Gerade noch zur rechten Zeit. Hinter ihm begann das Armaturenbrett Blitze und Funken zu sprühen. Die Schraubenblätter drehten sich plötzlich rasend schnell und heulten wie zehn Saxophone. Die Trommelfelle drohten ihnen zu platzen, als eine unsichtbare Kraft auf den Hubschrauber einwirkte und sie hoch über die Düsenjäger stiegen. Fünf Sekunden darauf waren sie in Arizona. Sie sprangen aus dem anscheinend verhexten Hubschrauber und standen in der Wüste. Nur vereinzelt wuchs spärlich Salbei. „Hoffentlich bekomme ich niemals heraus, was in meine alte Windmühle gefahren ist“, schnaufte der Pilot. „Oder womit sie auf ein so höllisches Tempo gebracht wurde! Aber wie hat dieser Primäre gemerkt, daß die Bullen hinter uns her waren?“ „Ich glaube nicht, daß er es gewußt hat“, erklärte Hebster. „Aber irgendwie spürte er, daß er auf dem Heimweg war und die Düsenjäger ihm einen Strich durch die Rechnung machen wollten. So reagierte er auf fast menschliche Weise, um seine Interessen zu wahren. Er schützte sich!“
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„Nach Hause“, sagte Larry, der Hebsters Worten aufmerksam gelauscht hatte. Dünner Speichel troff aus seinem rechten Mundwinkel. „Zu Hause ist dort, wo der Haß ist. Wo Schläge fallen, sind auch Geschlagene. Nach Hause und die Tür abschließen“, brabbelte er. S.S. Lusitania lief los und warf ihnen ihr verzerrtes Lächeln zu. „Ein Blick zurück“, stellte sie fest, „ist wie ein Blick in die Heimat. Gabbel, honk?“ Sie ging los, Larry folgte ihr, einen Meter über dem Boden. Langsam und vorsichtig schritt er durch die Luft, so als sei der Untergrund mit spitzen Steinen und scharfen Felskanten bedeckt. Wiedersehen, Leute“, sagte Hebster zu Greta und dem Piloten Ich mache mich mit meinen zerlumpten Freunden hier auf den Weg zum großen Magier. Denkt daran, wenn die Sonderkommission auf unseren Hubschrauber stoßen sollte - bleibt immer schön in der Nähe. Wird am besten sein, ihr behauptet einfach, ich hätte euch zu dem Unternehmen gezwungen. Ihr könnt ihnen sagen, ich sei hinaus in die Wildnis gegangen, um eine Lösung zu suchen. Wenn mich die Primären in ihren Bann schlagen, bin ich wahrscheinlich immer noch besser dran, als wenn mich P. Braganza und Vandermeer Dempsey zu ihrem Spielball machen, um dessen Besitz sie sich streiten. Entweder komme ich mit meinem Verstand zurück - oder auf ihm.“ Gretas Augen schimmerten feucht, und er tätschelte ihr die Wange; dann lief er hinter S.S. Lusitania und Larry her. Nur einmal schaute er zurück und lächelte, als er sie verloren in der Einsamkeit stehen sah. Besonders Williams, der seinen Lebensunterhalt als Leibwächter verdiente, sah sehr komisch aus. Die Primären schienen einem bestimmten Weg zu folgen, der jedoch von jemandem angelegt worden sein mußte, den 113 William Tenn – Die Welt der zukunft
die Bewegungen eines Schifferklaviers fasziniert hatten. Immer wieder schlugen sie Haken, kreuzten ihre Spuren, liefen hundert Meter zurück und legten dieselbe Strecke noch einmal zurück. Dies war das Land der Primären - Arizona, wo die erste und größte Enklave der FREMDEN entstanden war. Nur noch wenige Menschen lebten in diesem südwestlichen Landstrich - fast ausschließlich die FREMDEN und ihre Kulis. „Larry“, rief Hebster, als ihm ein unbehaglicher Gedanke kam. „Larry! Wissen deine - deine Herren, daß ich komme?“ Hebsters überraschende Frage erschreckte den Primären, und er fiel der Länge nach in den warmen Sand. Er rappelte sich auf, schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. „Sie sind kein Geschäftsmann“, sagte er. „Hier kann man keine Geschäfte machen. Hier kann man nur der sogenannten kosmischen Anbetung huldigen. Der Drang zum Universellen, die innere Natur aller Dinge - die völlige und endgültige Erkenntnis des Partiellen und Vergänglichen, die allein dazu befähigt - die allein dazu befähigt...“ Seine klauenartigen Finger verrenkten sich ineinander, als suche er ihnen eine verständliche Erklärung zu entwinden. Dann schüttelte er schwankend den Kopf. Schockiert stellte Hebster fest, daß der alte Mann weinte. Dann wohnte dem Übergang zum Primären also noch eine andere Verbindung zum Irrsinn inne! Er erfüllt den Menschen mit einem Verständnis für etwas, das jenseits seiner selbst lag. Er sah sich vor einer geistigen Steigung, die er einfach nicht bewältigen konnte. Er gab ihm den Blick frei in ein psychologisches Land der Verheißung, um ihn dann unter sich zu begraben und ihn seiner eigenen Unzulänglichkeit zu überlassen. Und er blieb am Wegesrand zurück ohne Hoffnung, nur erfüllt von dem Halbwissen um ein fer 114 William Tenn – Die Welt der zukunft
nes Ziel, das er nie erreichen würde, so sehr er ihm auch entgegenstrebte. „Als ich hier ankam“, sagte Larry schleppend und starrte Hebster an, als wisse er genau, was in diesem Moment hinter der Stirn des Geschäftsmannes vorging, „als ich es zu ergründen suchte - ich meine die Karten und Bücher, die Statistiken und Tabellen, die waren auf einmal so überflüssig. Alles nur Spielzeug, fand ich, ungeordnet und gedankenlos zusammengestellt! Und dann, Hebster, dann wurde ich Zeuge wirklichen Denkens, wirklicher Selbstbeherrschung! Sie werden die Freude in sich aufsteigen fühlen, denn Sie werden mit uns dienen, ja, das werden Sie! O jener schier unvorstellbare Auftrieb...“ Seine Stimme erstarb zu einem undeutlichen Blubbern, als er sich in die Faust biß. Immer noch auf einem Bein hüpfend, kam S.S. Lusitania heran. „Larry“, fragte sie mit ungewohnt sanfter Stimme, „Hebster fortgabbelhonken?“ Überrascht sah er sie an, dann nickte er. Die beiden Primären reichten sich die Hände und klommen mühsam auf den unsichtbaren Weg zurück, von dem Larry herabgefallen war. Einen Augenblick lang schauten sie ihn regungslos an und glichen eher einer unwirklichen, zerlumpten und surrealistischen Version von Zwiddeldum und Zwiddeldei. Dann lösten sie sich in ein Nichts auf. Dunkelheit hüllte Hebster wie ein dickes schwarzes Tuch ein. Behutsam ließ er sich nieder und spürte den warmen Sand, der die ganze Tageshitze Arizonas in sich aufgespeichert hatte. Jetzt! Wenn beispielsweise einer der FREMDEN auftauchte. Wenn dieser FREMDE ihn beispielsweise fragte, was er eigentlich hier wollte. Das wäre schlimm. Algernon Hebster, außerordentlich fähiger Geschäftsmann und zur Zeit quasi 115 William Tenn – Die Welt der zukunft
auf der Flucht, wüßte nicht, was er wollte; nicht in bezug auf die FREMDEN. Er wollte nicht, daß sie die Erde verließen, denn die technologischen Erkenntnisse der Primären, durch die er ein halbes Dutzend neuer Industrien aufgebaut hatte, beruhten letztlich doch nur auf Interpretationen und Adaptionen von gewissen Methoden dieser FREMDEN. Er wollte aber auch nicht, daß sie immer und ewig auf der Erde blieben, denn die Welt drohte angesichts ihrer ätzenden allgegenwärtigen Überlegenheit aus den Fugen zu geraten. Er wußte auch, daß er nicht die geringste Lust verspürte, zu einem Primären zu werden. Was blieb dann noch? Geschäfte? Nun, hier stand er vor Braganzas Frage. Was tut ein Geschäftsmann, wenn die Nachfrage so weit unter Kontrolle steht, daß sie praktisch aufgehört hat zu existieren? Oder was tut er in einer Situation wie dieser, wenn überhaupt keine Nachfrage besteht, weil es einfach nichts gibt, das die FREMDEN den Menschen eventuell abkaufen wollten? „Er findet etwas, das sie brauchen“, sagte Hebster laut. Aber wie? Wie? Nun ja, der Indianer verkaufte nach wie vor seine Zierdecken an das Bleichgesicht und verdiente damit seinen Lebensunterhalt. Und er bestand darauf, in klingender Münze bezahlt zu werden - nicht mit Feuerwasser. Wenn ich doch nur einen FREMDEN träfe, dachte Hebster. Binnen kurzer Zeit hätte ich ergründet, was er braucht und begehrt. Und dann, als die retortenförmigen, die tubenförmigen, die glockenförmigen Flaschen um ihn herum materialisierten, verstand er. Sie hatten ihm diese Fragen eingegeben! Und sie waren mit seinen bisherigen Antworten nicht zufrieden. 116 William Tenn – Die Welt der zukunft
Sie liebten Antworten. Ja, Antworten liebten sie tatsächlich über alles. Und wenn er Interesse hatte, dann gab es immer einen Weg... Ein etwas größerer der „Punkte in Flaschen“ streifte sein Gehirn. Er schrie laut auf. „Nein! nein, ich will nicht!“ flehte er verzweifelt. Ping! machte einer der „Punkte in Flaschen“. Hebster tastete seinen Körper ab. Gott sei Dank, er war noch heil und in einem Stück! Er kam sich vor wie jenes Mädchen in der griechischen Mythologie, das eines Tages vor Zeus trat und ihn um die Gunst bat, ihn einmal im vollen Prunk seiner Gottheit sehen zu dürfen. Kaum hatte ihr der Gott diesen Wunsch gewährt, da war von dem neugierigen Mädchen nur noch ein Häufchen feiner Asche übrig. Die Flaschen führten einen eigenartigen und auf die Dauer verwirrenden Tanz umeinander auf, bei dem man unwillkürlich an eine Art verhaltener Kuriosität denken mußte und zur selben Zeit Kurzweil und Verzückung ahnte. Weshalb Verzückung? Hebster war ganz sicher, diese Verzückung in seinem Unterbewußtsein wahrgenommen zu haben. Er grub in seinem Gedächtnis nach, klammerte sich an ein paar vorbeihuschende Gedanken und ließ sie nach kurzer und intensiver Überprüfung wieder fallen. Wonach suchte er? Was wollte ihm sein geschärfter Geschäftssinn in Erinnerung bringen? Immer verwirrender und schneller wurde der Tanz. Einige der Flaschen waren unter seine Füße getaucht. Hebster konnte sie mehr als drei Meter unter der Erdoberfläche hüpfen und taumeln sehen. Sie schienen den Erdboden in ein transparentes und durchlässiges Medium verwandelt zu haben. So unbewandert er auf allen mit den FREMDEN in Zusammenhang stehenden Gebieten war, so wenig er zu 117 William Tenn – Die Welt der zukunft
ergründen vermochte oder wollte, ob der Tanz der FREMDEN sichtbares Zeichen eines aufgeregten Palavers war und somit Teil eines absolut notwendigen Zeremoniells, so konnte Hebster dennoch fühlen, daß sie sich einem unausweichlichen Höhepunkt näherten. Kleine grünliche Blitze begannen zwischen den großen Flaschen hin und her zu zucken. Etwas explodierte neben seinem linken Ohr. Ängstlich schlug er die Hände vors Gesicht und stolperte ein paar Schritte zurück. Aber die Flaschen folgten ihm und ließen ihn nicht aus dem dichten Gürtel ihrer irrsinnig raschen Bewegungen entkommen. Weshalb Verzückung? In der Stadt hatten die FREMDEN stets einen konzentrierten Eindruck auf ihn gemacht, wenn sie fast regungslos hoch oben in der Luft hingen und die Menschen bei ihren Alltagsbeschäftigungen beobachteten. Er hatte sie als kühle und nüchterne Wissenschaftler eingestuft, die nicht die geringste Fähigkeit besaßen, zu - zu... Da, ein Ansatzpunkt. Endlich hatte er wenigstens einen Ansatzpunkt. Doch was war eine noch so gute Idee wert, wenn man nicht wußte, wie man sie den anderen mitteilen konnte? Ping! Drängender wurde die vorherige Einladung wiederholt. Ping! Ping! Ping! „Nein!“ schrie er auf und versuchte vergebens, sich auf den Beinen zu halten. „Ich bin nicht - ich will kein Primärer werden!“ Gelöstes, beinahe himmlisches Gelächter antwortete ihm. Er fühlte jenes furchtbare Krabbeln im Kopf, so als kämpften dort zwei Mächte um die Vorherrschaft. Fest kniff 118 William Tenn – Die Welt der zukunft
er die Augen zu und dachte nach. Er stand ganz dicht vor der Lösung, sie war in greifbarer Nähe. Er hatte eine Idee, doch er brauchte Zeit, um sie exakt zu formulieren. Er mußte sich darüber klarwerden, um welche Idee es sich handelte und wie sie in die Tat umgesetzt werden konnte. Ping, ping, ping! Ping, ping, ping! Er hatte rasende Kopfschmerzen. Er glaubte zu spüren, wie ihm langsam aber sicher das Gehirn ausgesaugt wurde. Er wollte es festhalten, doch er brachte es nicht fertig. Gut denn! Abrupt erschlaffte sein Körper, setzte sich nicht länger zur Wehr. Doch seinem Hirn und seinem Mund entrang sich ein qualvoller Schrei. Zum erstenmal in seinem Leben rief Algernon Hebster um Hilfe, ohne genau zu wissen, wen er mit seinen verzweifelten Hilferufen erreichen wollte. „Ich kann es tun!“ schrie und dachte er unablässig. „Geld sparen, Zeit sparen! Sparen, was immer ihr nur sparen wollt, wer immer ihr auch seid und wie immer ihr euch nennt. Ich kann euch sparen helfen! Helft mir, helft mir l Wir können es tun, doch ihr müßt euch beeilen. Euer Problem kann gelöst werden. Wirtschaftet sparsamer. Die ganze Bilanz - Hilfe.. „ Worte und Gedankenfetzen kreisten ihn ein und entzogen sich seinen ausgestreckten Händen sofort wieder wie der schwirrende Ring der tanzenden Primären. Er schrie immer weiter, wandte sein inneres Auge keine Sekunde von dem Bild, das ihm seine Gedanken vorspiegelten, während irgendwo tief in seinem Innern eine erhebende und positive Kraft an der Wiederherstellung seines klaren und ungetrübten Verstandes zu arbeiten begann. Plötzlich war alles aus. Plötzlich wußte er tausend Dinge, an die er nicht einmal in seinen kühnsten Träumen zu den 119 William Tenn – Die Welt der zukunft
ken gewagt hatte. Und er hatte tausend andere Dinge vergessen. Plötzlich fühlte er, daß er mit der Spitze seines Zeigefingers jeden Nerv seines Körpers kontrollieren konnte. Ja, plötzlich... Ping, ping, ping! Ping! Ping! PING! PING! PING! PING! „... es tun“, sagte eine Stimme. „Was, zum Beispiel?“ fragte eine andere Stimme. „Nun, sie können nicht einmal normal liegen. Er hier schläft wie ein normaler Mensch. Sie wälzen sich hin und her und stöhnen im Schlaf, die Primären, und röcheln wie Saufbrüder. Da wir gerade vom Stöhnen und Röcheln reden, unser alter Knabe scheint wieder zu sich zu kommen.“ Hebster fuhr auf dem Feldbett hoch und blickte abwesend um sich. Dann fiel die Furcht von ihm ab. Und ohne Furcht würde er sich wieder ganz normal vorkommen. Mit besorgter und unglücklicher Miene stand Braganza an dem Feldbett. Neben ihm stand ein anderer Mann, allem Anschein nach ein Arzt. Hebster hatte für beide ein breites Lächeln übrig. Mannhaft widerstand er der Versuchung, einen wilden Schwall zusammenhangloser Silben vor sich hinzuplappern. „Hallo, Freunde“, sagte er. „Da bin ich wieder und bringe reiche Ernte mit.“ „Soll das heißen, Sie haben sich mit ihnen verständigen können?“ Braganza war ganz außer sich. „Und Sie sind nicht in den Bann der Primären geraten!“ Hebster stützte sich auf einen Ellbogen und blickte durch den Zelteingang, wo Greta Seidenheim neben einem bewaffneten Wachtposten stand. Er winkte ihr kurz zu, und sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. 120 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Habt mich wohl wie ein Findelkind mitten in der Wüste aufgesammelt, was?“ „Aufgesammelt!“ Braganza spuckte in den Sand. „Ein paar von den Primären haben Sie gebracht, Mann. Zum erstenmal in der Geschichte haben sie so etwas getan. Wir haben uns in dem festen Glauben um Sie geschart, daß alles in Ordnung kommen wird, wenn Sie wieder aufwachen.“ Hebster fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Und genauso ist es auch, Braganza. Alles ist in bester Ordnung. Primäre haben mich also gebracht, was? Und waren keine FREMDEN zu sehen, die ihnen dabei geholfen haben?“ „FREMDE?“ Braganza mußte schwer schlucken. „Wie kommen Sie bloß auf diesen Gedanken? Aus welchem Grunde fragen Sie, ob - ob irgendwelche FREMDEN dabei geholfen haben?“ „Vielleicht hätte ich das Wort ,helfen‘ vermeiden sollen. Aber ich dachte tatsächlich, daß ein paar FREMDE dabei geholten hätten, meinen bewußtlosen Körper hierher zu eskortieren. Eine Art Ehrengarde, Braganza. Wäre doch eine nette Geste gewesen. Oder sind Sie anderer Ansicht?“ Der Offizier der Sonderkommission warf einen Blick auf den Arzt, der der Unterhaltung interessiert folgte. „Doktor, würde es Ihnen etwas ausmachen, uns mal einen Moment allein zu lassen?“ fragte er. Er begleitete den Arzt bis zum Ausgang und ließ die Plane zufallen. Dann stellte er sich am Kopf des Feldbettes auf und zupfte heftig an seinem Bart. „Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Hebster. Wenn Sie weiterhin den dummen August markieren, dann schlitze ich Ihnen gleich den Bauch auf und schlinge Ihnen die Eingeweide um den Hals! Also, was ist geschehen?“ 121 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Was geschehen ist?“ Hebster lachte leise und streckte sich vorsichtig aus, so, als fürchte er, sich die Arme zu brechen. „Glaube kaum, daß ich diese Frage jemals erschöpfend werde beantworten können. Und ein Teil meines Gehirns ist anscheinend sehr froh darüber. Ich kann mich nur erinnern, daß ich plötzlich eine Idee hatte. Ich teilte sie der zuständigen und interessierten Partei mit. Wir - nämlich diese Partei und ich - gelangten zu einem unverbindlichen Abkommen, dessen genaue Formulierung noch von den jeweils zuständigen höheren Stellen zu bestimmen ist. Weiterhin haben wir... Schon gut, Braganza, schon gut! Ich sag's ja sofort. Sie können den Klappstuhl wieder hinstellen. Denken Sie lieber daran, was ich alles durchgemacht habe!“ „Bestimmt sind Sie nicht übler dran als die Welt“, knurrte der Offizier der Sonderkommission. „Während Sie Ihren dreitägigen Ausflug unternahmen, hat der liebe Dempsey an vielen Orten zugleich zur Revolution aufrufen lassen. Bisher hat er sich zwar nur auf Demonstrationen und Wortgefechte beschränkt, so daß unsere Rollkommandos nicht eingesetzt werden konnten, doch alles deutet darauf hin, daß er bald kompaktere Waffen ins Spiel zu bringen gedenkt. Vielleicht schon morgen; er läßt weltweite Videokampagnen ablaufen, und die Experten sind der einhelligen Auffassung, daß es überall losgeht, wenn er einen bestimmten seiner üblichen Sprüche vom Stapel läßt. Kennen Sie schon seinen neuesten Slogan? Er bezieht sich auf Verus, der unter Mordanklage steht; sie wollen ihn um jeden Preis zum Märtyrer ihrer Sache stempeln.“ „Und Sie sehen sich natürlich in Ihrem Verdacht bestätigt. Haben Sie Ihre Sonderkommission schon nach Ersteren durchkämmen lassen?“ 122 William Tenn – Die Welt der zukunft
Braganza nickte. „Wir haben auch welche gefunden; zwar nicht viele, trotzdem sind es mehr, als wir erwartet hatten, mehr als wir uns leisten können. Wenn Sie nicht ins Schwarze getroffen haben, Hebster, wird Dempsey seine Pläne ausführen.“ Sein Tonfall wurde fast bittend. „Spielen Sie doch nicht dauernd Katz und Maus mit mir. Vergessen Sie meine Drohungen, die ich gegen Sie ausgesprochen habe; es geht hier doch nicht um eine persönliche Feindschaft. Ich sorge mich nur um die Welt, ihre Menschen und die Regierung, die ich schützen muß. Sollten Sie immer noch irgendeinen Groll gegen mich hegen, gebe ich, Braganza, Ihnen die Erlaubnis, es ein für allemal mit mir auszutragen, wenn wir aus dem Schlamassel heraus sind. Aber zuerst muß ich wissen, wo wir augenblicklich stehen. Davon hängen viele Menschenleben und vielleicht sogar der zukünftige Lauf der Geschichte ab. Erzählen Sie mir bitte, was Sie dort draußen in der Wüste erreicht haben.“ Hebster berichtete ihm alles. Er begann mit der extraterrestrischen Walpurgisnacht. „Als ich sah, wie diese FREMDEN rhythmisch umeinandertanzten und die seltsamsten Kapriolen vollführten, kam mir plötzlich der Gedanke, wie sehr sie sich doch von den in Gedanken versunkenen ,Punkte in Flaschen' untererschieden, die über unseren belebten Straßen und Plätzen hängen, wie verschieden doch alle Wesen in ihrer heimatlichen Umgebung sind und wie schwierig es ist, sie auf Grund ihres Massenverhaltens kennenlernen zu wollen. Und da wurde mir klar, daß sie an diesem Ort nicht zu Hause waren.“ „Natürlich. Haben Sie herausbekommen, aus welchem Teil des Universums sie stammen?“ „Das meine ich damit nicht. Nur weil wir dieses Gebiet abgegrenzt haben - wie die übrigen Gebiete in der Gobi, der Sahara oder Mittelaustralien - als ein Reservat für diejeni 123 William Tenn – Die Welt der zukunft
gen unserer Mitmenschen, die das Bewußtsein ihrer sicheren Minderwertigkeit und Unterlegenheit zum Wahnsinn getrieben hat, dürfen wir noch lange nicht annehmen, daß die FREMDEN, um deren Enklave sie ihr Heim aufgeschlagen haben, sich dort ebenfalls angesiedelt haben müssen.“ „Ha?“ Braganza schüttelte verwirrt den Kopf und verdrehte die Augen. „Mit anderen Worten, wir sind zu einer festen Annahme gekommen, die darauf basiert, daß uns die FREMDEN in jeder Beziehung überlegen sind. Aber eben diese Annahme - und damit auch diese Überlegenheit - ging von unserer eigenen Definition der Begriffe ,Überlegenheit' und ,Unterlegenheit' aus, nicht von den Begriffen der FREMDEN. Und vor allem traf diese Definition nicht auf die in der Enklave lebenden FREMDEN zu.“ Nervös lief der Offizier der Sonderkommission durchs Zelt. Klatschend knallte er seine riesige Faust in die feuchte Handfläche. „Ich fange an, langsam fange ich an...“ „Ebenso erging es mir an diesem Punkt. Auch ich fing an. Denn Annahmen, die nicht fest genug auf dem Boden der Realität verankert sind, haben schon mehr als einen guten Geschäftsmann an den Rand des Ruins befördert. Die vier Börsenspekulanten zum Beispiel, die kurz nach dem Schwarzen Freitag des Jahres 1929...“ „Lassen wir das jetzt“, fuhr ihm Braganza unwirsch in die Rede und warf sich auf einen Stuhl neben dem Feldbett. „Wie ging es weiter?“ „Ich war mir also nicht ganz sicher; ich konnte mich lediglich auf ein paar vage Gedanken stützen, die mir infolge der unnatürlichen Adrenalinsekretionen kamen. Und dann war da noch das bestimmte Gefühl, daß sich diese vor meinen Augen umherschwirrenden FREMDEN nicht so benahmen, 124 William Tenn – Die Welt der zukunft
wie ich es bisher von den FREMDEN gewöhnt war. Sie erinnerten mich an etwas, an jemand. Ich wußte mit hundertprozentiger Sicherheit, daß ich das Problem so gut wie gelöst hatte, wenn mir die bewußte Erinnerung wieder kam. Und ich hatte recht.“ „Wieso hatten Sie recht? Um was für eine Erinnerung handelte es sich denn?“ „Ich bin Schritt für Schritt zurückgegangen. Ich ging immer weiter zurück, bis ich auf Professor Kleimbochers Analogie mit dem Bleichgesicht kam, das den Indianer mit Feuerwasser versorgte. Ich hatte schon immer das Gefühl, diese Analogie enthalte die Lösung. Als mir plötzlich Professor Kleimbocher einfiel und ich die tanzenden Kreaturen vor Augen sah, da wurde mir mit einem Schlag klar, wo unser grober Fehler lag. Nicht in der Analogie, sondern in der Art und Weise, wie wir sie anwendeten. Wir hatten sie am verkehrten Ende angepackt. Das Bleichgesicht versorgte die Indianer mit Feuerwasser. So weit, so gut. Aber es erhielt auch etwas dafür.“ „Was denn?“ „Tabak. Natürlich kann man dem Tabak nichts Schlechtes nachsagen, solange er nicht mißbraucht wird. Doch die ersten Männer, die ihn probierten, gingen wahrscheinlich ebenso in die Knie wie die ersten Indianer, die Whisky tranken. Und Alkohol und Tabak haben eines gemeinsam: sie machen einen schrecklich krank, wenn man ihnen gleich beim erstenmal übermäßig zuspricht. Verstehen Sie, Braganza? Die FREMDEN dort draußen in der Wüste sind krank. Sie sind auf einen Faktor in unserer Kultur gestoßen, den sie psychologisch nicht verdauen können. Man hat sie in unseren Wüstengebieten isoliert, bis sie diesen Faktor ergründet haben.“ 125 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Sie können es psychologisch nicht verdauen? Was mag das sein, Hebster?“ Der Geschäftsmann hob die Schultern. „Keine Ahnung. Und ich will es gar nicht erfahren. Vielleicht können sich diese FREMDEN erst dann von einem Problem trennen, wenn sie es gelöst haben. Und sie sind nicht dazu in der Lage, hinter die Probleme der vielfältigen menschlichen Tätigkeiten zu kommen, weil sich die Menschen einfach zu sehr von ihnen unterscheiden. Weil wir sie nicht verstehen, haben wir noch lange kein Recht zu der Annahme, sie könnten uns verstehen.“ „Das ist nicht alles, Hebster. Wie sagen doch manche Spaßvögel so treffend? Alles, was wir tun können, können sie viel besser l“ „Warum haben sie dann die Primären vorgeschoben und sich nach dem seltsamsten und unmöglichsten Kram erkundigt?'' „Sie können all unsere Errungenschaften imitieren.“ „Mag sein“, gab Hebster zu. „Sie können sie imitieren. Aber können sie sie auch entwerfen? In meinen Augen handelt es sich bei ihnen um eine Wesensart, die noch nie viele Dinge für sich selbst erzeugt hat; sie traten ziemlich früh in jenes Stadium ein, das ihnen die direkte Kontrolle über das Material selbst verlieh. So brauchten sie gar nicht die verschiedenen Stadien zu durchschreiten, die schließlich zum handwerklichen Entwurf führten. Für uns mag das ein ungeheuerlicher Fortschritt sein; bestimmt sind jedoch vielerlei Nachteile damit verknüpft. Unter anderem bedeutet es ein Minimum an künstlerischen Formen und Möglichkeiten, es bedeutete das absolute Fehlen jeglicher mechanischen Erkenntnisse, die sich unsere Ingenieure in jahrelangem Studium aneignen müssen. Vielleicht kennen sie nicht 126 William Tenn – Die Welt der zukunft
einmal die zu bearbeitende Materie selbst. Später entdeckte ich, daß ich mit dieser Theorie völlig richtig lag. So ist die Musik, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht einfach eine Funktion theoretischer Harmonien oder kompletter Partituren im Kopf des Dirigenten oder Komponisten. Das kommt später, viel später. Zuallererst ist die Musik eine Funktion eines bestimmten Instruments, einer Flöte, einer Trommel, der menschlichen Kehle. Sie ist die Funktion greifbarer Dinge, die eine Rasse, die auf Elektroden, Positronen oder Mesonen direkt einwirkt, niemals im Verlauf ihrer Entwicklung erfahren wird. Sobald ich mir darüber klar war, kam mir der zweite schwache Punkt der Analogie zu Bewußtsein - nämlich die Annahme selbst.“ „Sie meinen damit die Annahme, daß wir den FREMDEN notwendigerweise unterlegen sein müßten?“ „Richtig, Braganza. Sie können vieles, zu dem wir nicht in der Lage sind. Dasselbe trifft jedoch auch umgekehrt zu. Mit wie vielen speziellen und nur uns Menschen eigenen Talenten und Fähigkeiten sind wir ausgestattet, über die sie nicht verfügen. Man kann da nur Vermutungen anstellen, und so wird es auch noch lange Zeit bleiben müssen. Sollen sich die Theoretiker des kommenden Jahrhunderts damit herumschlagen und uns jetzt in Frieden lassen.“ Braganza spielte mit einem Knopf seiner grünlichen Uniformjacke und schaute über Hebsters Kopf hinweg. „Das heißt praktisch, keine Experimente mehr mit ihnen, eh?“ „Im Augenblick nicht, und damit werden wir uns wohl oder übel abfinden müssen. Unser einziger Trost ist, daß sie sich in derselben Situation befinden. Verstehen Sie das denn nicht? Es hat nichts mit Unfähigkeit zu tun. Aber wir verfügen nicht über ausreichende Tatsachen. Durch bloße Beobachtungen können wir so gut wie gar nichts ausrichten, 127 William Tenn – Die Welt der zukunft
wollen wir nicht beide Rassen schwersten psychologischen Gefahren aussetzen. Die Wissenschaft, mein vorausschauender Freund, ist ein riesiger Komplex miteinander verknüpfter Theorien, die sich samt und sonders aus Beobachtungen ableiten. Bedenken Sie, daß wir lange Zeit vor der Einführung des Navigationswesens schon Küsten- und Flußhändler hatten, die genau wußten, wie sich die verschiedensten Strömungen auf ihre kleinen und zerbrechlichen Schiffe auswirkten. Sie wußten von der Wechselwirkung, die zwischen Mond und Sternen besteht, ohne dabei jedoch das leiseste Interesse zu verspüren, all diese Bruchstücke zu einer festen Theorie zusammenfügen. Erst wenn man über genügend Bruchstücke verfügt und die reinen Annahmen von den tatsächlichen Beobachtungen trennt, erst dann kann man sich daranmachen, eine Navigationswissenschaft zu begründen, ohne damit rechnen zu müssen, gleich beim ersten Experiment jämmerlich abzusaufen. Ein Händler hält nichts von Theorien. Sein Interesse beschränkt sich darauf, etwas Glitzerndes gegen etwas noch Glitzenderes einzutauschen. Während dieser Prozedur gewinnt er unmerklich und wie von selbst die verschiedenartigsten Erfahrungen, die ihn allmählich zum Experten auf seinem Gebiet heranreifen lassen. Und eines schönen Tages hat er dann so viele Bruchstücke zusammengetragen, daß er sich auf ein festes Arbeitsschema festlegen kann. Nun erst kann irgendein Kleimbocher der Zukunft zu forschen beginnen, denn inzwischen verfügt er über eine breite Skala von Erkenntnissen und braucht nicht mehr zu befürchten, auf eine plötzliche und unüberwindbare geistige Barriere zu stoßen. Er kann aus den von seinen Vorgängern aufgestellten Hypothesen unfehlbare Gesetzmäßigkeiten ableiten.“ 128 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Hätte ich mir gleich denken können, daß von Ihnen nichts anderes zu erwarten ist, Hebster! Sie meinen also, ihre und unsere Theoretiker sollten schnellstens das Feld räumen und die Händler vorrücken lassen? Doch wie kommen wir an ihre Händler heran - wenn sie überhaupt welche haben?“ Hebster sprang aus dem Feldbett und begann sich eilig anzukleiden. „Sie haben welche. Vielleicht keine ausgesprochenen Managertypen, aber immerhin geschäftstüchtige Händler. Sobald mir klar wurde, daß die ,Punkte in Flaschen' in bezug auf ihre ausgeglichenen und mehr der Wissenschaft zugewandten Kollegen ebenso handelten wie unsere hochintelligenten Primären, da wurde mir auch klar, daß ich Hilfe brauchte. Ich brauchte jemanden, mit dem ich darüber reden konnte; jemanden, der auf ihrer Seite stand und dem an einer praktischen Lösung ebensoviel gelegen war wie mir selbst. Irgendwo mußte es einen FREMDEN geben, der sich mit Gewinn- und Verlustziffern beschäftigte, der sich Gedanken machte, welche Art von Gegenleistungen man von einem Aufwand an Investitionen, Personal, Material, Energie und Zeit erwarten durfte. Mit ihm mußte man verhandeln können. Es ist im Grunde ganz einfach: Was hast du, das wir gebrauchen können, und wie wenig von dem, was wir haben, verlangst du dafür? Von Auffassungen und gegensätzlichen Philosophien darf dabei gar keine Rede sein! Irgendwo mußte es doch einen solchen FREMDEN geben. So schloß ich die Augen und ließ ihm so etwas wie einen telepathischen Notruf zukommen. Ich hatte Glück. Wahrscheinlich hätte ich weniger Glück gehabt, wenn mir nach verzweifeltem Überlegen nicht gerade dieser besondere Notruf eingefallen wäre. Und schon kam er wie ein Wirbelwind angeschwirrt, stopfte meine ausgelaugte Psyche in mein Unterbewußtsein zurück und nahm mich an 129 William Tenn – Die Welt der zukunft
Bord seines Phantasieschiffes. Drei Tage lang hielt ich mich in dieser interstellaren Version von Mohammeds Sarg auf. Wir feilschten miteinander und informierten uns am laufenden Band bei unseren Hauptgeschäftsstellen nach dem neuesten Stand der Dinge. Wir verhandelten so, wie ich es immer mit den Primären gehalten hatte: Jeder von uns rasselte die Liste seiner Angebote herunter, dann verglichen wir sie mit unseren Wunschlisten; jeder strengte sich nach Kräften an, den anderen zu übervorteilen. Kaufen und Verkaufen ist das Einfachste auf der Welt. Ich glaube nicht, daß sich unsere Verhandlungen sehr von denen unterschieden, die die phönizischen Seefahrer mit den keltischen Bewohnern des vorchristlichen Britanniens führten.“ „Und dieser - dieser so geschäftstüchtige FREMDE ließ niemals durchblicken, daß sie sich die Dinge, die sie haben wollten, notfalls mit...“ „Mit Gewalt beschaffen würden? Nein, Braganza, kein einziges Mal. Kann sein, daß sie dazu zu zivilisiert sind. Ich persönlich bin der Ansicht, sie haben nicht die leiseste Ahnung, was sie eigentlich von uns haben wollen. Wir sind in ihren Augen ein großes Rätsel - eine Spezies, die mit Hilfe einer Materie eine andere verändert und Gegenstände erzeugt, die sich in nichts ähneln, obwohl sie für nahezu gleiche Funktionen gedacht sind. Man könnte eventuell sagen, wir stellen angesichts ihrer Betätigungen die Frage WIE; sie hingegen stellen uns die Frage WARUM. Ihre Forscher und Wissenschaftler sind noch besessener als unsere. Soviel ich verstanden habe, bringen sie für alle Rassen, auf die sie bisher gestoßen sind, ein gewisses Verständnis auf, da ihre Evolution fast parallel verlaufen ist. Jedesmal, wenn einer ihrer Forscher kurz vor der Erkenntnis steht, weshalb wir verschiedenfarbige Kleidung tragen, wenn in manchen Kli 130 William Tenn – Die Welt der zukunft
mazonen überhaupt keine Kleidung erforderlich wäre, verliert er den Boden unter den Füßen und ist so klug wie zuvor. Deshalb auch die ständige Besorgnis meines Gegenspielers. Seinen genauen Status kenne ich nicht - er kann alles vom Buchhalter bis zum Geschäftsführer der Expedition sein -, aber er trägt die Verantwortung für jedes Verlustgeschäft. Und ich erfuhr auch, daß ihn seine Beschäftigung völlig von den Erkundungen abhält, bei denen seine Stammesgenossen versagt haben und mit leeren Händen in die von ihm errichteten Kolonien zurückkehrten. Und diejenigen, die nach einer Weile wieder halbwegs zu Verstand kommen, verachten ihn aus tiefster Seele. Sie halten sich nämlich für eine Expedition, müssen Sie wissen. Er allein ist für den geschäftlichen Teil verantwortlich. Bilden Sie sich vielleicht ein“, schnaufte Hebster erbost, „sie kümmern sich darum, daß er einen Bericht auszuarbeiten hat, aus dem klipp und klar hervorgehen muß, ob die Expedition hinsichtlich der Bilanz erfolgreich verlaufen ist?“ „Wenigstens haben Sie sich in diesem Punkt mit ihnen verständigen können“, grinste Braganza. „Wahrscheinlich sind hartnäckige Geschäftemacher des Rätsels Lösung. Auf alle Fälle haben Sie uns mehr Material geliefert, als uns jahrelange Untersuchungen eingebracht haben. Hebster, ich möchte, daß Sie mit dieser Geschichte im Fernsehen auftreten und dem Publikum gleichzeitig ein paar Primäre und FREMDE vorführen.“ „Nein, nein, mein Freund. Das überlasse ich Ihnen. Kann Ihrem Prestige bestimmt nicht schaden. Ich denke schnell eine Botschaft zu meinem neuen Freund - er hat nämlich einen ganz privaten Kanal für mich eingerichtet -, und er schickt Ihnen ein paar menschenfreundliche ,Punkte in Flaschen' fürs Fernsehen. Aber jetzt muß ich sofort nach New 131 William Tenn – Die Welt der zukunft
York zurück und meinen gesamten Laden auf einen wahrhaft enzyklopädischen Job ansetzen.“ „Enzyklopädisch?“ Hebster zog sich den Gürtel straff und griff nach seinem Schlips. „Klar, sonst würden Sie die erste Ausgabe von Hebsters interstellarem Katalog aller menschlichen Tätigkeiten und käuflichen kunsthandwerklichen Erzeugnisse nennen? Die Preisliste wird auf Wunsch zugesandt mit der Auflage, daß es sich bei den Preisen um jederzeit veränderliche und unverbindliche Richtpreise handelt.“
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WINTHROP WAR STUR Genau da lag der Hase im Pfeffer. Es war wirklich eine bodenlose Rücksichtslosigkeit. Winthrop war stur. Mrs. Brucks bedachte ihre drei Reisegefährten aus dem zwanzigsten Jahrhundert mit wilden Blicken. „Das kann er einfach nicht tun!“ rief sie aus. „Er ist nicht allein hier - er muß auch an uns denken! Er kann uns doch nicht an diese verrückte Welt fesseln!“ Dave Pollock, dessen konservativer Anzug so gar nicht in den Raum aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert zu passen schien, zuckte nur mit den Achseln. Er war ein ziemlich dürrer und nervöser junger Mann mit stets etwas feuchten Handflächen. Augenblicklich waren sie ausgesprochen naß. „Er sagt, wir sollten ihm dankbar sein. Aber im Grunde genommen kümmert es ihn einen nassen Dreck, ob wir dankbar sind oder nicht. Er will bleiben!“ „Das bedeutet, wir müssen ebenfalls bleiben“, jammerte Mrs. Drucks. „Sieht er denn das nicht ein?“ Hilflos breitete Polock die Arme aus. „Was hat das schon zu sagen? Er ist fest entschlossen zu bleiben. Ihm gefällt das fünfundzwanzigste Jahrhundert. Zwei Stunden lang habe ich mit ihm argumentiert; noch nie zuvor in meinem Leben bin ich einem derart sturen Kerl begegnet. Ich kann ihn nicht umstimmen, dessen bin ich mir sicher.“ „Warum versuchen Sie es nicht einmal, Mrs. Brucks?“ warf Mary Ann Carthington ein. „Zu Ihnen ist er immer sehr freundlich gewesen. Vielleicht können Sie ihn zur Vernunft bringen.“ 133 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Hm.“ Mrs. Brucks strich sich über ihre Frisur, die nach zwei Wochen in der Zukunft leicht aus der Form geraten war. „Meinen Sie? Mr. Mead, was halten Sie von diesem Vorschlag?“ Die vierte Person in dem ovalen Raum, ein recht beleibter Mann in mittleren Jahren, dachte kurz nach, dann nickte er. „Kann bestimmt nicht schaden. Könnte vielleicht klappen. Und wir müssen etwas unternehmen.“ „Gut, ich werde es versuchen.“ Tief in ihrer großmütterlichen Seele jedoch hegte Mrs. Brucks einen geheimen Groll. Sie wußte, was die anderen dachten. Winthrop und sie zählten bereits zum alten Eisen, denn beide waren sie schon über Fünfzig. Deshalb mußten sie etwas gemeinsam haben, eine Art Seelenverwandtschaft, und deshalb mußten sie sich auch irgendwie besser verstehen können. Die Tatsache, daß Winthrop zehn Jahre älter war als sie, bedeutete nicht allzuviel gegenüber Dr. Meads sechsundvierzig Jahren und war aller Wahrscheinlichkeit nach so gut wie unbedeutend gegenüber Mary Ann Carthingtons zwanzig Jahren. Sie alle waren der Auffassung, die beiden „Alten“ müßten leichter zu einer Einigung gelangen können. Wie konnten sie in ihrer jugendlichen Unerfahrenheit etwas von der schier unüberbrückbaren Kluft ahnen, die gerade zwischen Mrs. Drucks und Winthrop gähnte? Für sie war es ohne Bedeutung, daß er ein griesgrämiger und vertrockneter Junggeselle war, während sie die warmherzige und aufgeschlossene Mutter von immerhin sechs Kindern war; dazu war sie noch zweifache Großmutter und hatte ihre Silberhochzeit schon hinter sich. Seit Antritt ihrer Reise in die Zukunft hatten sie und Winthrop nicht mehr als ein paar 134 William Tenn – Die Welt der zukunft
leere Worte gewechselt. Ihre tiefe Abneigung füreinander hatten sie schon in Washington beim Finale zur Zeitreise gespürt. Aber - Winthrop war stur. Das stand fest. Schon Mr. Mead hatte bei ihm auf Granit gebissen. Mary Ann Carthington hatte seine Greisenhaftigkeit mit ihrer blendenden Figur und ihrer sinnlichen Stimme zu betören versucht. Sogar Dave Pollock, ein gebildeter Mann, ein Hochschullehrer mit irgendeinem wissenschaftlichen Grad, selbst dieser Dave Pollock hatte sich den Mund fusselig geredet, ohne ein nennenswertes Resultat zu erzielen. Nun lag es also bei ihr. Jemand mußte Winthrop umstimmen. Oder sie würden in der Zukunft hängenbleiben, hier in diesem entsetzlichen fünfundzwanzigsten Jahrhundert. Es kostete sie eine unvorstellbare Überwindung - aber es lag jetzt einzig und allein bei ihr. Sie erhob sich und strich sich über ihr kostbares Kleid, das ihr stolzer Mann ihr einen Tag vor der Abreise bei Lord & Taylor gekauft hatte. Es war zwecklos gewesen, Sam davon zu überzeugen, daß sie nur aus purem Zufall auserwählt worden war, daß es nur eine Sache der physischen Spezifikationen in der Botschaft aus der Zukunft gewesen war! Sam wollte es nicht hören. Aller Wahrscheinlichkeit nach prahlte er vor seinen Kollegen mit seiner Frau - eine von fünf Personen aus den ganzen Vereinigten Staaten von Amerika, die dazu ausersehen worden war, fünfhundert Jahre in die Zukunft zu reisen. Ob Sam immer noch prahlen würde, wenn der für heute abend um sechs Uhr festgesetzte Rückkehrtermin verstrich und sie nicht auftauchte? Mary Ann Carthington erkundigte sich: „Soll ich einen Jumper kommen lassen, Mrs. Brucks?“
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„Halten Sie mich für lebensmüde?“ giftete Mrs. Brucks. „Für die paar Schritte durch die Halle brauche ich keinen Schädelbrummer. Da gehe ich lieber zu Fuß.“ Schnell ging sie zur Tür, ehe das Mädchen eines jener Geräte heranbefehlen konnte, die einen von einem Ort zum anderen explodierten und einen mit schwimmenden Gedanken und einem flauen Gefühl im Magen absetzten. An der Tür blieb sie kurz stehen und warf einen letzten Blick zurück in den Raum. Obwohl es kein gemütliches 5Zimmer-Apartment in der Bronx war, hatte sie fast jede Minute während ihres zweiwöchigen Aufenthaltes in der Zukunft hier verbracht. Trotz der unbequemen Möbel und der grell leuchtenden Wände verließ sie den Raum nur widerstrebend. Wenigstens ratterte hier nichts über den Fußboden, und nichts materialisierte sich aus den Wänden; hier war immer noch die angenehmste Stelle im ganzen fünfundzwanzigsten Jahrhundert. Schwer schluckend und mit einem tiefen Seufzer zog sie die Tür hinter sich zu. Eilig trippelte sie über den Korridor und achtete mit peinlicher Genauigkeit darauf, stets in der Mitte des Ganges zu bleiben, um so weit wie möglich von den schlingernden und welligen Wänden entfernt zu bleiben. An einem Punkt des Korridors, wo eine purpurfarbene Wand unaufhörlich um ein festes gelbes Rechteck rotierte, blieb sie stehen. Mit einem verächtlichen Zug um die Mundwinkel näherte sie sich dem Rechteck. „Mr. Winthrop?“ fragte sie zaghaft, „Ei, ei, wenn das nicht unsere liebe Mrs. Brucks ist!“ dröhnte es zurück. „Lange nicht gesehen. Kommen Sie 'rein, Mrs. Brucks.“ In einem winzigen Loch im Mittelpunkt der Fläche tauchte ein gelber Fleck auf, dann gab das Rechteck eine Tür frei. 136 William Tenn – Die Welt der zukunft
Vorsichtig, so, als befinde sich dahinter ein luftleerer Raum, trat sie ein. Das vor ihr liegende Zimmer hatte die Form eines langen, engen, gleichschenkligen Dreiecks. Kein einziges Möbelstück war zu sehen, nur hier und da die Andeutung eines gelben Vierecks. Helle Farbstreifen jagten einander über Decke, Wände und Fußboden, durchliefen alle Farbtöne des Spektrums vom hellsten Grau bis zürn dicksten und dunkelsten Ultramarin. Und die Farben wurden von Gerüchen begleitet, die den ganzen Raum erfüllten; einige davon waren unangenehmer Natur, andere dagegen wirkten seltsam erregend, allen jedoch haftete etwas Ungewöhnliches und Fremdartiges an. Aus den Wänden und von der Decke ertönte sanfte Musik, deren Töne weich durch den Raum schwangen und die Farben und Gerüche zu einem einheitlichen Ganzen verschmelzen ließen. Auch die Musik war für Ohren aus dem zwanzigsten Jahrhundert etwas ungewöhnlich. Schrille Dissonanzen wurden gefolgt von langen oder kurzen Unterbrechungen, in denen man eine fast unhörbare Melodie wie eine einsame Insel in einem Ozean akustischer Abnormitäten vernahm. Am äußersten Ende des Raumes, sozusagen an der Spitze des Dreiecks, lag ein alter Mann auf einem erhöhten Teil des Fußbodens. In periodischen Abständen veränderte sich diese Erhöhung - ähnlich einer Kuh, die im Gras die bequemste Lage zu finden sucht. Auch Winthrops einziges Kleidungsstück war in ständiger Bewegung. Einmal war es ein rot-weißgestreifter Umhang, der ihn von den Schultern bis an die Oberschenkel einhüllte; dann verwandelte er sich langsam in ein grünes Gewand, das ihm bis zu den gespreizten Zehen reichte; und plötzlich waren es hellbraune Shorts, auf denen himmelblaue Muscheln schimmerten. 137 William Tenn – Die Welt der zukunft
Mrs. Brucks beobachtete all dies mit offensichtlicher Mißbilligung. Sie war der Ansicht, ein Mann solle sich für ein Kleidungsstück entscheiden und nicht, wie ein Schauspieler in einem Trickfilm, von einem Moment zum anderen die Kleider wechseln. Die Shorts störten sie nicht, obwohl sie ihr für einen Damenbesuch nicht gerade angemessen erschienen. Das grüne Gewand paßte wirklich nicht zu Winthrops Geschlecht - so war sie jedenfalls erzogen worden - doch zur Not konnte man es noch akzeptieren; schließlich war es seine Sache, wenn er unbedingt ein Kleid tragen wollte. Sie war sogar bereit, auch den rot-weißen Überhang zu übersehen, der sie übrigens an den Sonnenanzug ihrer Enkelin Debbie erinnerte. Aber wenigstens sollte er sich endlich für eines dieser Kleidungsstücke entscheiden, etwas Willenskraft und Mannhaftigkeit an den Tag legen! Winthrop setzte das überdimensionale Ei, das er in der Hand hielt, auf den Boden. „Nehmen Sie Platz, Mrs. Brucks. Machen Sie es sich bequem“, lud er sie jovial ein. Mit gelindem Schaudern bemerkte Mrs. Brucks, wie sich bei der Geste ihres Gastgebers der Fußboden ein wenig hob. Schließlich ließ sie sich umständlich nieder, ohne jedoch dem Frieden gänzlich zu trauen. „Wie - wie geht es Ihnen, Mr. Winthrop?“ „Wunderbar, einfach wunderbar! Könnte mir tatsächlich nicht besser gehen, Mrs. Drucks. Sagen Sie mal, haben Sie schon mein neues Gebiß gesehen? Heute früh erst bekommen. Schauen Sie nur!“ Er riß den Rachen weit auf und zog mit den Fingern die Lippen zur Seite. Mrs. Brucks beugte sich vor, wirklich interessiert, und beäugte die emailfarbene Pracht. „Sehr sauber gemacht“, 138 William Tenn – Die Welt der zukunft
stellte sie nickend fest. „Können die Zahnärzte hier so schnell arbeiten?“ „Zahnärzte!“ schnaufte er amüsiert und warf seine knochigen Arme hoch. „Im Jahre 2487 nach Christi Geburt gibt es doch keine Zahnärzte mehr! Sie haben mir die Zähne wachsen lassen, Mrs. Brucks.“ „Wachsen? Wie können sie wachsen?“ „Woher soll ich das wissen? Sie sind eben clever, das ist alles. Viel mehr Grips als wir. Eben habe ich von der Regenerationsklinik erfahren. Dorthin können Sie gehen, wenn Sie einen Arm verloren haben. Man läßt Ihnen aus dem Stumpf einen neuen wachsen. Natürlich kostenlos. Ich bin hingegangen und habe gesagt: ‚Ich will neue Zähne.‘ Die Maschine, die sie dort haben, befiehlt mir, mich zu setzen und eins, zwei, drei - schon fliegen meine alten Dinger 'raus. Wollen Sie es nicht auch mal versuchen?“ Unbehaglich rutschte sie hin und her. „Vielleicht, aber ich warte lieber noch ein bißchen.“ Winthrop lachte wieder. „Sie haben Angst“, konstatierte er, „Sie sind wie die anderen und haben Angst vor dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert. Sobald Sie auf etwas Neues stoßen, möchten Sie sich wie ein Kaninchen verkriechen. Nur ich, nur Winthrop, ich bin der einzige, der Mumm in den Knochen hat. Ich bin der Älteste von uns, doch darauf kommt es nicht an - ich bin der einzige mit Mumm in den Knochen.“ Mrs. Brucks quälte sich ein unsicheres Lächeln ab. „Aber, Mr. Winthrop, Sie sind auch der einzige, den niemand zu Hause erwartet. Ich habe eine Familie, Mr. Mead hat eine Familie, Mr. Pollock ist erst seit kurzem verheiratet, und Miß Carthington ist verlobt. Wir alle möchten gern wieder nach Hause, Mr. Winthrop.“ 139 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Mary Ann ist verlobt?“ Ein glucksendes Lachen. „Hätte ich nicht gedacht, seit ich sie den Temporalinspektor umtändeln sah. Der kleine Blondkopf ist doch hinter jeder Hose her.“ „Trotzdem, Mr. Winthrop, sie ist verlobt - mit einem Buchhalter aus ihrem Büro. Ein netter, strebsamer junger Mann. Und sie möchte ihn wiedersehen.“ Der alte Mann richtete sich halb von seiner Bodenliege auf, zog die Schultern zusammen und kratzte sich bedächtig. „Soll sie doch zurückgehen. Wer hindert sie daran?“ „Aber, Mr. Winthrop... „ Mrs. Brucks fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und spielte nervös mit ihren Fingern. „Sie kann nicht zurückgehen, wir können nicht zurückgehen - wenn wir nicht geschlossen zurückgehen. Erinnern Sie sich noch daran, was diese Temporalinspektoren bei unserer Ankunft sagten? Um Punkt sechs Uhr müssen wir alle im Zeitmaschinen-Gebäude sein, damit sie die sogenannte Translokation vornehmen können. Und wenn wir - wir alle nicht rechtzeitig da sind, können sie die Translokation nicht durchführen, haben sie gesagt. Kommt also einer von uns nicht, zum Beispiel Sie, dann...“ „Fallen Sie mir bloß nicht mit anderer Leute Sorgen auf den Wecker“, fiel Winthrop ihr schroff in die Rede. Sein Gesicht hatte sich gerötet. Er hatte die Lippen zurückgezogen und entblößte sein neues Gebiß. Ein ätzender Geruch schwebte plötzlich im Raum, an den Wänden tauchten rote Flecke auf, als sich das Zimmer der Stimmung seines Bewohners anpaßte. Die Musik steigerte sich zu einem rasanten Stakkato, schwoll zu einem bedrohlichen Donnern an. „Jeder will etwas von Winthrop. Was habt ihr denn bisher für Winthrop getan?“ „Wie bitte?“ fragte Mrs. Brucks. „Ich verstehe nicht.“ 140 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Na klar, Sie kapieren das nicht. Als ich ein kleiner Junge war, kam mein Alter fast jede Nacht sternhagelvoll nach Hause und schlug mich windelweich. Ich war von Natur aus nicht besonders groß geraten, deshalb machten sich die anderen Kinder der Straße einen Spaß daraus, mich abwechselnd grün und blau zu prügeln. Als ich groß war, bekam ich einen lausigen Job und führte ein lausiges Leben. Können Sie sich noch an die Depression erinnern, als die Menschen mit leeren Gesichtern vor den Brotläden Schlange standen? Was meinen Sie wohl, wer überall in diesen verdammten Schlangen wartete? Ich! Und dann, als wieder bessere Zeiten kamen, war ich für einen anständigen Job zu alt. Nachtwächter, Beerensammler, Tellerwäscher, das bin ich. Dreckige Nachtasyle, schäbige Zimmer. Jeder hat sich das beste Stück von dem großen Kuchen geschnappt, nur Winthrop hat die Krümel gefressen.“ Er griff nach dem großen eiförmigen Gegenstand, den er vorhin betrachtet hatte und starrte düster darauf nieder. Das rote Licht im Raum ließ sein Gesicht noch dunkler erscheinen. An seinem dürren Hals pulsierte eine hervorspringende Ader. „Tja, und wie Sie schon sagten, jeder hat einen Menschen, zu dem er zurückkehren möchte, bloß auf mich wartet keiner. Nie hatte ich eine Frau, nie einen richtigen Freund. Die Mädchen kratzten die Kurve, sobald meine Taschen leer waren. Weshalb sollte ich wohl zurückkehren? Ich finde es hier prima. Ich bekomme alles, was ich mir nur wünsche, und es kostet mich keinen roten Heller. Ihr wollt natürlich zurück in eure Zeit, weil ihr euch hier nicht wohl fühlt. Mir geht es nicht so. Ich bin daran gewöhnt, mich nicht wohl zu fühlen. Aber hier fühle ich mich wie zu Hause. Mir geht es ausgezeichnet. Ich bleibe.“ 141 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Aber, Mr. Winthrop“, sagte Mrs. Drucks mit zittriger Stimme, dann fuhr sie steil hoch, als sich der Sitz unter ihr bewegte. Sie entschloß sich, stehenzubleiben, da sie dann leichter mit ihrer Umgebung fertig zu werden glaubte. „Hören Sie, Mr. Winthrop, jeder von uns hat seine Sorgen und Nöte. Mit meiner Tochter Annie gibt es manchmal Szenen, die ich meinem schlimmsten Feind nicht wünsche. Und mit meinem Julius... Aber wenn ich Sorgen habe, weshalb sollte ich mich deshalb an anderen Menschen schadlos halten? Weshalb sollte ich sie an der Rückkehr hindern, wenn sie die Nase voll haben von Jumpermaschmen, Eßmaschinen - von Maschinen-Maschinen und...“ „Da Sie gerade von Eßmaschinen reden“, unterbrach sie Winthrop, „haben Sie schon meinen neuen NahrungsPhonographen gesehen? Das allerneueste Modell. Habe erst gestern abend davon gehört und wollte auch so ein Ding haben. Und gleich heute früh lieferte man es mir frei Haus. Keine Schwierigkeiten, keine Formalitäten, keine Kosten. Welch wundervolle Welt!“ „Aber es ist nicht Ihre Welt, Mr. Winthrop. Sie haben die Welt nicht geschaffen, Sie arbeiten nicht in ihr. Selbst wenn es alles kostenlos gibt: Sie haben keinen Anspruch darauf.“ „Darüber steht nichts in den Bestimmungen“, meinte er geistesabwesend. Er öffnete das Riesenei und spähte in dessen Inneres, wo er ein Durcheinander von Skalen, Hebeln und Splinten sah. „Schauen Sie nur, Mrs. Drucks, doppelte Lautstärkeregelung, doppelte Intensitätsregelung, dreifache Vitaminregelung. Eine großartige Konstruktion! Damit können Sie den Fettgehalt einer Mahlzeit regeln, während sie mit dem Hebelchen dort gleichzeitig die Süße verringern können - und wenn Sie diesen Schalter umlegen, dann komprimieren Sie die Mahlzeit zu einem einzigen Bissen und haben noch genügend Appetit auf ein paar andere 142 William Tenn – Die Welt der zukunft
Gerichte. Wollen Sie es mal versuchen? Ich habe den Apparat gerade auf das netteste Festmahl des großen aldebaranischen Meisters Unni Oehele eingestellt: Erinnerungen an einen Eierauflauf vom Mars.“ Heftig schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich esse nur von Tellern, deshalb will ich es gar nicht erst probieren, vielen Dank.“ „Sie versäumen einen Genuß. Wirklich, gute Frau, Sie lassen sich einen Gaumenkitzel entgehen. Der erste Gang setzt sich aus einer kaum spürbaren und schnellen Bewegung zusammen, einer Mischung aller Kräuter des Aldebaran IV mit einem hervorragenden Gewürzessig von Aldebaran IX. Der zweite Gang, Consomme Grand, ist viel langsamer und weit majestätischer. Oehele baut ihn mit Hilfe einer Kraftbrühe des weißen Chund auf, das ist ein kaninchenartiges Tier von Aldebaran IV. Sie merken schon, er nimmt ausschließlich aldebaranische Ingredienzen, um eine Mahlzeit des Mars zu kreieren. Das gleiche tat Kratzmeier bei seinem Gericht. Ein langes, langes Dessert auf Deimos und Phobos, nur ist dies hier weitaus schmackhafter. Moderner, wenn Sie so wollen. Und nun zum dritten Gang. Dabei übertrifft sich Oehele selbst. Er...“ „Bitte, Mr. Winthrop!“ flehte Mrs. Brucks. „Hören Sie auf damit! Genug! Ich will kein Wort mehr davon hören!“ Sie blickte ihn erbost an und gab sich Mühe, ihren Mund nicht verächtlich zu verziehen. Von derartigen Dingen hatte sie endgültig die Nase voll. Vor Jahren war ihr Sohn Julius mit einer kunstbegeisterten Horde vom City College umhergerannt. Den ganzen Tag über war er ihm mit Auszügen aus der Zeitung auf die Nerven gefallen, die sich nur mit Musikkritiken und Schallplatten befaßten. Damals hatte sie gelernt, wie man auf den ersten Blick einen ästhetischen Spinner erkennt. 143 William Tenn – Die Welt der zukunft
Winthrop zuckte die Achseln. „Schon gut, schon gut. Aber Sie sollten es wenigstens einmal versuchen. Die anderen haben es versucht. Sie probierten einen Bissen des klassischen Kratzmeier oder Gura-Hock, spuckten ihn jedoch gleich wieder aus - gut so. Doch Sie haben sich seit Ihrer Ankunft von nichts anderem als dem verdammten Fraß aus dem zwanzigsten Jahrhundert ernährt. Vom zweiten Tag an haben Sie Ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Und wie Sie es ausstaffieren ließen - guter Himmel! So viel altmodischer Firlefanz macht mich ganz krank. Sie leben hier im fünfundzwanzigsten Jahrhundert, gute Frau; wachen Sie endlich auf!“ „Mr. Winthrop“, sagte sie mit fester Stimme, „ja oder nein? Tun Sie uns den Gefallen oder nicht?“ „Sie sind über Fünfzig“, erklärte er. „Fünfzig, Mrs. Brucks. Wie lange können Sie in unserer Zeit noch leben? Vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre - höchstens. Vielleicht auch dreißig oder gar vierzig. Ich selbst könnte noch zwanzig Jährchen vertragen. Mit den medizinischen Einrichtungen, die es hier gibt, lassen sich wahre Wunder vollbringen. Und keine Kriege, keine Seuchen, keine Depressionen, nichts. Alles ist kostenlos, man kann viele erregende Abenteuer mitmachen, Mars, Venus, die Sterne. Warum, zum Teufel, sind Sie bloß so wild auf die Rückkehr?“ Jetzt war es mit Mrs. Brucks' mühsam bewahrter Haltung endgültig aus. „Weil ich dort zu Hause bin“, schluchzte sie. „Weil ich bei meinem Mann sein will, bei meinen Kindern und Enkeln. Und weil es mir hier nicht gefällt, Mr. Winthrop. Mir gefällt es hier überhaupt nicht!“ „Dann scheren Sie sich doch zurück!“ schrie Winthrop. Der Raum, der während der letzten Minuten goldgelb geschimmert hatte, paßte sich wieder der Laune Winthrops an und leuchtete hellrosa. „Jedes Insekt hat mehr Mumm als 144 William Tenn – Die Welt der zukunft
ihr alle zusammen. Sogar dieser Grünling, dieser Dave Pollock, ist nicht besser. Und ich hielt ihn für eine Ausnahme! In der ersten Woche ging er mit mir und versuchte alles einmal. Aber dann bekam er es mit der Angst zu tun und verschwand in seinem stillen Kämmerchen. Es ist ihm alles zu de-ka-dent, sagte er, zu de-ka-dent. Nehmen Sie ihn an der Hand, und dann schert euch allesamt zurück!“ „Aber ohne Sie können wir nicht gehen, Mr. Winthrop. Die Leute haben gesagt, die Translokation ließe sich nur durchführen, wenn beide Seiten vollzählig sind. Bleibt einer zurück, dann müssen alle bleiben. Ohne Sie können wir einfach nicht zurückkehren.“ Winthrop lächelte und fuhr sich über die pulsierende Ader an seinem Hals. „Da liegen Sie verdammt richtig; ohne mich gibt es keine Rückkehr. Und ich bleibe. Diesmal müßt ihr nach der Pfeife des alten Winthrop tanzen.“ „Bitte, Mr. Winthrop, seien Sie nicht so eigensinnig. Müssen wir erst Gewalt anwenden?“ „Ihr könnt mich nicht zwingen“, lachte er triumphierend. „Ich kenne meine Rechte. Nach dem Gesetz, das im Amerika des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts gilt, kann kein Mensch zu etwas gezwungen werden. Das steht fest. Ihr könnt euch auf mich stürzen, könnt mich aus meinem Zimmer zerren. Aber dann werde ich zu schreien beginnen, daß man mich zu etwas zwingen will - und eins, zwei, drei, schon tauchen ein paar Regierungsmaschinen auf und befreien mich von euch. So einfach ist das. Sie sollten es nie vergessen!“ „Hören Sie“, sagte sie und wandte sich langsam ab, „um sechs Uhr werden wir alle im Zeitmaschinengebäude sein. Vielleicht überlegen Sie sich die Sache und kommen doch, Mr. Winthrop.“ 145 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Ganz bestimmt nicht“, rief er ihr nach. „Sie brauchen sich keine Hoffnungen zu machen - mein Entschluß steht felsenfest.“ Mrs. Brucks verließ den Raum und berichtete den anderen, daß Winthrop nach wie vor stur war. Oliver T. Mead, Vizepräsident der Public-RelationsAbteilung der Sweetbottom Septic Tanks, Inc. in Gary, Indiana, trommelte ungeduldig auf der Lehne des roten Ledersessels herum, den Mrs. Brucks Zimmer extra für ihn materialisiert hatte. „Lächerlich!“ rief er aus. „Lächerlich und absolut unsinnig. Daß ein alter Knacker, ein Stromer, die Leute von ihren Geschäften abhält... Wissen Sie, daß in ein paar Tagen die Landesversammlung der SweetbottomEinzelhändler ist? Ich muß daran teilnehmen! Deswegen muß ich heute abend pünktlich zurückkehren - kein Wenn, kein Und, kein Aber. Es wird einen unvorstellbaren Krach geben, wenn die Verantwortlichen dieser Zeit nicht für unsere pünktliche Rückkehr sorgen.“ „Das glaube ich auch“, sagte Mary Ann Carthington und sah ihn mit runden, respektvollen und sorgsam angemalten Kulleräugen an. „So eine große Firma kann ihnen bestimmt die Hölle heiß machen, Mr. Mead.“ Dave Pollock sah sie an und verzog das Gesicht. „Eine Firma, die seit fünfhundert Jahren nicht mehr existiert? Bei wem will sie sich beschweren - bei den Geschichtsbüchern?“ Mrs. Brucks hob beschwörend die Hände, als sich der behäbige Mann versteifte und wütend umdrehte. „Keine Aufregung, kein Streit. Wir müssen eine friedliche Lösung finden. Meinen Sie wirklich, wir können ihn zu nichts zwingen?“ 146 William Tenn – Die Welt der zukunft
Mr. Mead ließ sich zurücksinken und starrte aus einem nicht vorhandenen Fenster. „Möglich. Aber vielleicht geht es doch, wer weiß? Ich habe einen Punkt erreicht, an dem ich im Jahre 2487 nach Christi alles für möglich halte - alles! Nur diese schon kriminell zu nennende Unverantwortlichkeit will mir nicht in den Kopf. Wie können sie uns hierher einladen, ohne sich nach den zwei festgesetzten Wochen um unsere sichere Rückkehr zu kümmern? Und was wird aus ihren Leuten, die unsere Zeit besuchen und mit denen wir translokalisiert worden sind? Wenn wir hier hängenbleiben, dann bleiben sie im Jahre 1987 hängen. Für immer und ewig. Jede Regierung, die etwas auf sich hält, gewährleistet ihren Bürgern bei Auslandsreisen die größtmögliche Sicherheit. Ohne das ist sie wertlos: nur eine Steuern eintreibende, verschlafene und unfähige Bürokratie. Und das das ist schon fast verbrecherisch!“ Mary Ann Carthington nickte zu dem Takt, den er auf der Sessellehne trommelte. „Das sage ich auch. Die Regierung scheint nur aus Maschinen zu bestehen. Und wie kann man mit Maschinen ein vernünftiges Wort reden? Der einzige menschliche Regierungsvertreter, der uns bisher begegnet ist, war jener Mr. Storku, der uns offiziell im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika des Jahres 2487 willkommen hieß. Und er schien sich nicht sehr für uns zu interessieren. Wenigstens bekundete er kein übermäßiges Interesse.“ „Der Protokollchef des State Department, meinen Sie?“ fragte Dave Pollock. „Der Mann, der gelangweilt gähnte, als Sie ihm ein Kompliment über sein distinguiertes Aussehen machten?“ Ein vorwurfsvolles Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Mädchens. Sie drohte ihm mit dem Finger. „Ach, Sie.“ 147 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Also, wir müssen folgendes tun. Erstens... „ Mr. Mead erhob sich und streckte nacheinander die Finger seiner rechten Hand in die Höhe. „Wir müssen uns mit dem einzigen menschlichen Wesen der Regierung, das wir bisher persönlich kennengelernt haben, in Verbindung setzen - mit diesem Mr. Storku. Zweitens, wir müssen einen von uns zu unserem Sprecher machen. Drittens, diese Person muß in ihrer offiziellen Eigenschaft als Sprecher unserer Gruppe Kontakte aufnehmen zu Mr. Storku, um ihm die Tatsachen darzulegen. Wohlgemerkt, die objektiven und feststehenden Tatsachen. Wie seine Regierung der unsrigen mitteilte, daß Zeitreisen möglich sind, wenn gewisse physikalische Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt würden, besonders das Gesetz der - der - was für ein Gesetz war es doch gleich, Pollock?“ „Das Gesetz der Erhaltung von Energie und Masse. Eine Materie, oder ihr Äquivalent in Energie, kann weder geschaffen noch zerstört werden. Wenn man fünf Menschen aus der Welt des Jahres 1987 in die Welt des Jahres 2487 nach Christi übertragen will, dann muß man sie in ihrer eigenen Zeit durch fünf Menschen der gleichen Struktur und Masse aus der Zeit ersetzen, in die sie gehen wollen. Andernfalls täte sich in der einen Zeit eine Lücke auf, während in der anderen Zeit ein Überfluß entstehen würde. Es ist wie eine chemische Gleichung...“ „Mehr wollte ich nicht wissen, Pollock. Ich bin keiner Ihrer Schüler. Mich brauchen Sie durch Ihr Wissen nicht zu beeindrucken, Pollock“, erklärte Mr. Mead. Der dünne junge Mann grunzte nur. „Wer hat denn versucht, Sie zu beeindrucken?“ erkundigte er sich aufgebracht. „Was können Sie schon für mich tun? Mir einen Job in Ihrem Tanklager beschaffen? Ich habe lediglich etwas klargestellt, was Sie augenscheinlich nicht recht begriffen 148 William Tenn – Die Welt der zukunft
hatten. Genau da liegt nämlich unser Problem: das Gesetz der Erhaltung von Energie und Masse. Und daß die Maschine für uns fünf und für die anderen fünf vorbereitet wurde. Niemand kann eine Translokalisierung durchführen, wenn nicht wir alle und sie alle zur gleichen Zeit an beiden Enden der Verbindung anwesend sind.“ Mr. Mead nickte langsam und spöttisch. „All right“, sagte er, „schon genug! Vielen herzlichen Dank für Ihre Belehrungen. Aber falls Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt weiterreden. Einige von uns arbeiten nicht im öffentlichen Dienst. Unsere Zeit ist kostbar.“ „Da hör sich einer diesen Supermanager an!“ amüsierte sich Dave Pollock. „Seine Zeit ist kostbar. Sieh mal, Ollie, mein guter Freund, solange Winthrop auf stur schaltet, sitzen wir hier alle im selben Boot. Und ebensolange sind wir alle Grünschnäbel im Jahre 2487, Wilde aus einer wilden Vergangenheit. Damit Sie endlich Bescheid wissen: Meine Zeit ist auch Ihre Zeit - und umgekehrt.“ „Seht!“ kommandierte Mrs. Brucks. „Seid doch nett zueinander! Fahren Sie fort, Mr. Mead. Es ist sehr aufschlußreich, nicht wahr, Miß Carthington?“ Das blonde Mädchen nickte. „Sie haben recht. Umsonst macht man heute keinen Mann zum Vizepräsidenten. Sie machen uns alles so - so plausibel, Mr. Mead.“ Sichtlich geschmeichelt, warf ihr Oliver T. Mead einen dankbaren Blick zu. „Also drittens: Wir präsentieren diesem Mr. Storku die Tatsachen. Wir erzählen ihm, daß wir die Reise voller Vertrauen angetreten haben, da wir von allen Bürgern unseres Landes die einzigen waren, die als Partner für die fünf Leute aus dieser Zeit in Frage kamen. Wie wir die Reise aus teils natürlicher und verständlicher Neugier antraten, um zu sehen, wie es in der Zukunft aussieht. Na 149 William Tenn – Die Welt der zukunft
türlich war auch eine gewisse Portion Patriotismus dabei im Spiel. Jawohl, Patriotismus! Denn ist dies hier nicht das Amerika des Jahres 2487 nach Christi Geburt, unser Amerika? Ist es nicht immer noch unser Vaterland - trotz all der seltsamen und unerklärlichen Wandlungen? Als wahre Patrioten hatten wir keine andere Wahl, als Patrioten haben wir...“ „Ach, du gütiger Himmel!“ explodierte der Lehrer. „Oliver T. Mead predigt die Treue zur Flagge! Wir wissen, daß Sie bereit sind, für unser Land zu sterben - unter einem dicken Haufen von Wertpapieren. Sie sind doch kein Umstürzler, oder? Was soll das Ganze, was soll das?“ Tiefes Schweigen senkte sich über den Raum, während der dicke Mann nach Luft schnappte. Dann schlug er sich gegen die Brust seines dunklen Maßanzugs und sagte: „Pollock, wenn Sie das, was ich sage, nicht hören wollen, können Sie ja auf den Korridor gehen. Wie ich also sagte, wenn wir Mr. Storku mit all dem vertraut gemacht haben, wenden wir uns der Gegenwart zu. Wir kommen zu Punkt vier, der Tatsache, daß Winthrop nicht mit uns zurückkehren will. Und wir verlangen, hören Sie, wir verlangen, daß die amerikanische Regierung dieser Zeit die nötigen Schritte einleitet, um unsere gesicherte Rückkehr in unsere Zeit zu gewährleisten, selbst wenn sie zu diesem Zweck gewaltsam gegen Winthrop vorgehen müßte. All dies sagen wir Mr. Storku geradeheraus, unverblümt und ohne mit der Wimper zu zucken ins Gesicht.“ „Ist das Ihr ganzer Plan?“ fragte Dave Pollock verächtlich. „Und wenn Mr. Storku nein sagt?“ „Er kann nicht nein sagen, wenn wir geschickt vorgehen. Autorität, darauf kommt es vor allem an. Auf diese Weise muß man ihm die Sache klarlegen. Wir sind immer noch amerikanische Staatsbürger - wenn auch in einem zeitlich 150 William Tenn – Die Welt der zukunft
veränderten Amerika. Wir können auf unsere Rechte pochen. Weigert er sich, unsere Rechte anzuerkennen, verlangen wir von ihm, uns umgehend dorthin zurückzubeordern, woher wir gekommen sind. Dieses Recht hat jeder Ausländer in Amerika. Er kann sich nicht weigern. Wir machen ihm klar, welche Gefahren für seine Regierung sich daraus ergeben können: Verlust des Vertrauens, Erschwerung der zukünftigen Kontakte zwischen unseren beiden Zeiten, seine Regierung würde einen krassen Vertrauensbruch begehen und so weiter. Dabei muß man nur die richtigen Worte finden und darf sich keine Blößen geben.“ Zustimmend nickte Mrs. Brucks. „Ich bin ganz Ihrer Meinung. Sie sind der gegebene Mann dazu, Mr. Mead.“ Die Luft schien aus dem Mann zu entweichen. „Ich?“ „Natürlich“, sagte Mary Ann Carthington begeistert. „Nur Sie können es tun, Mr. Mead. Sie sind der einzige, der alles so - so plausibel machen kann. Wie Sie schon sagten, muß man die richtigen Worte finden und darf sich keine Blöße geben. Nur Sie können das tun.“ „Ich, äh - ich möchte es lieber nicht tun. Ich glaube nicht, daß ich der richtige Mann dazu bin. Mr. Storku und ich stehen nicht sehr gut miteinander. Jemand anders, einer von Ihnen sollte es tun...“ Dave Pollock lachte. „Nur keine falsche Bescheidenheit, Ollie. Sie kommen mit Storku nicht besser und nicht schlechter aus als wir auch. Sie sind einstimmig gewählt. Hat es nicht sogar etwas mit Public Relations zu tun? Auf diesem Gebiet sind Sie doch eine Koryphäe.“ In dem Blick, den er Pollock zuwarf, versuchte Mr. Mead allen Haß des Universums zu bündeln. Dann zupfte er sich die Manschetten zurecht und richtete sich auf. „Nun gut. 151 William Tenn – Die Welt der zukunft
Wenn es niemand anderer auf sich nehmen will, dann muß ich es wohl tun. Ich komme bald wieder.“ „Jumper, Ollie?“ fragte Pollock, als Mead zur Tür schritt „Warum nehmen Sie keinen Jumper? Geht viel schneller.“ „Nein, herzlichen Dank“, lehnte Mr. Mead knapp ab. „Ich werde laufen. Bewegung hat noch nie geschadet.“ Er ging über den Korridor in Richtung auf die Treppe. Obwohl er leicht über die Stufen hinunterhüpfte, schien es der Treppe nicht schnell genug zu gehen. Sie setzte sich in rollende Bewegung, wurde rascher und rascher, bis er am Ende stolperte und beinahe gestürzt wäre. „Halt, verdammt noch mal!“ kreischte er. „Das kann ich selbst viel besser!“ Die Treppe hielt sofort an. Mit einem riesigen weißen Taschentuch wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und setzte seinen Abstieg fort. Nach wenigen Augenblicken begann die Treppe wieder zu rollen. Immer wieder mußte er ihr befehlen, stehenzubleiben; immer wieder gehorchte sie ihm und versuchte nach kurzer Zeit, ihm wieder behilflich zu sein. Er wurde an einen großen, liebevollen Bernhardiner erinnert, den er einmal besessen hatte und der ihm aus Dankbarkeit stets tote Spatzen und Feldmäuse ins Haus geschleppt hatte. Wenn er die widerwärtigen Kadaver aus dem Fenster geworfen hatte, kehrte der Hund nach fünf Minuten zurück und legte sie mit einer Geste auf den Teppich, die ungefähr zu besagen schien: „Nein, du darfst sie wirklich behalten. Mach dir keine Gedanken um die Unkosten und die harte Arbeit, die ich damit hatte. Betrachte es als ein Zeichen meiner Wertschätzung und Dankbarkeit. Nimm es ruhig und freu dich darüber.“ 152 William Tenn – Die Welt der zukunft
Schließlich resignierte er und ließ die Treppe nach Gutdünken gewähren. Als er unten anlangte, hatte er eine solche Beschleunigung erreicht, daß er wie eine Rakete durch den leeren Vorraum schoß und in Blitzeseile auf dem Bürgersteig landete. Er hätte sich die Beine oder gar das Genick brechen können. Glücklicherweise setzte sich der Bürgersteig unter ihm in Gang. Wie ein Betrunkener taumelte er hin und her, doch der Bürgersteig folgte allen seinen Bewegungen und sorgte dafür, daß er nicht aus dem Gleichgewicht kam. Endlich stand er wieder einigermaßen fest auf den Beinen und stieß mehrere erleichterte Seufzer aus. Unter seinen Füßen spürte Mr. Mead das leichte Vibrieren des Bürgersteigs, der auf Anweisungen wartete, in welche Richtung er seinen Gast transportieren sollte. Verzweifelt blickte Mr. Mead in die Runde. Weit und breit ließ sich keine Menschenseele blicken. „Welch eine Welt!“ stöhnte er. „Welch eine total verdrehte Welt! Nicht einmal ein Polizist ist da!“ Plötzlich tauchte jemand auf. Er vernahm das Pop-Pop eines Jumpers, und ungefähr drei Meter über seinem Kopf erschien ein Mann. Hinter ihm wurde ein orangefarbenes, heckenartiges Gebilde sichtbar, das über und über mit Augen bedeckt war. Ein Teil des Bürgersteigs schoß steil in die Luft und senkte die beiden vorsichtig zu Boden. „Großartig!“ rief Mr. Mead beglückt. „Wie schön, jemand zu treffen! Ich möchte gern ins State Department und wäre für Ihre Hilfe sehr dankbar.“ „Tut uns leid“, entgegnete der Mann, „Klap-Lillth und ich müssen in einer halben Stunde wieder auf Ganymed sein. 153 William Tenn – Die Welt der zukunft
Sonst verpassen wir eine Verabredung. Warum rufen Sie nicht nach einer Regierungsmaschine?“ „Wer ist das?“ erkundigte sich die „Hecke“, als sie sich auf dem Bürgersteig, der sich wie ein munteres Flüßchen unter ihnen dahinwelke, zum Eingang eines Gebäudes bewegten. „Er sieht mir nicht so aus wie einer von euch.“ „Ein Zeitreisender“, erklärte ihr Begleiter, „aus der Vergangenheit. Einer von den Austauschtouristen, die vor zwei Wochen kamen.“ „Aha!“ sagte die „Hecke“. „Aus der Vergangenheit! Kein Wunder, daß ich ihn nicht kenne. Ist ja auch egal. Auf Ganymed glauben wir sowieso nicht an Zeitreisen. Es verstieße gegen unsere Religion.“ Der Erdbewohner lachte leise und fuhr der „Hecke“ über die „Zweige“. „Ihr und eure Religion! Du bist ebenso ungläubig wie ich, Klap-Lillth. Wann hast du denn zum letztenmal an einer Schkutsiem-Zeremonie teilgenommen?“ „Nicht mehr seit der letzten Konjunktion von Sonne und Jupiter“, gab die „Hecke“ zu. „Aber darauf kommt es nicht an. Meinen guten Ruf habe ich noch. Was ihr Menschen an der ganymedischen Religion nicht versteht...“ Ihre Stimme brach ab, als die beiden in dem Gebäude verschwanden. Mead hätte ausspucken mögen. Dann nahm er sich zusammen. Für solchen Unsinn blieb ihnen nicht genügend Zeit - und außerdem herrschten in dieser Welt Sitten und Bräuche, die sich von den ihm geläufigen wie Tag und Nacht unterschieden. Konnte man wissen, welche Strafe auf Spucken stand? „Regierungsmaschine“, sprach er verstimmt ins Leere. „Ich will eine Regierungsmaschine.“
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Er kam sich ein wenig albern vor, doch man hatte ihnen gesagt, im Bedarfsfall so zu handeln. Und schon tauchte ein glitzerndes Gebilde aus Drähten, Spulen und vielfarbigen Platten vor ihm auf - aus dem Nichts. „Ja?“ erkundigte sich eine tonlose Stimme. „Was steht zu Diensten?“ „Ich bin auf dem Weg zu Mister Storku vom State Department“, erklärte Mr. Mead und starrte mißtrauisch auf die ihm am nächsten hängende Spule, „und ich kann so schlecht auf diesem Bürgersteig laufen. Vielleicht falle ich hin und breche mir sämtliche Knochen, wenn er nicht aufhört, sich unter meinen Füßen zu bewegen.“ „Verzeihung, Sir, aber der letzte Mensch ist vor über zweihundert Jahren auf einem Bürgersteig gestürzt, und damals handelte es sich um einen überaus neurotischen Bürgersteig, dessen besonderes Problem wir bei der wöchentlichen psychologischen Untersuchung übersehen hatten. Wollen Sie nicht einen Jumper nehmen? Ich werde Ihnen einen rufen.“ „Ich will aber keinen Jumper. Ich will zu Fuß gehen. Ich verlange nur, daß Sie diesem verdammten Bürgersteig befehlen, sich mucksmäuschenstill zu verhalten.“ „Tut mir leid, Sir“, antwortete die Maschine, „aber der Bürgersteig muß seine Funktion erfüllen. Außerdem ist Mr. Storku nicht in seinem Büro. Er vollführt seine spirituellen Übungen auf dem Schreifeld oder im Panikstadion.“ „O nein“, stöhnte Mr. Mead gequält auf. Seine ärgsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Nie wieder wollte er einen dieser Orte betreten. „Ja, Sir, so ist es. Einen Moment, ich werde mich schnell vergewissern. „ Blaue Blitze umspielten die Spulen. „Mr. Storku tut heute einen Schrei. Er hat das Gefühl, in letzter 155 William Tenn – Die Welt der zukunft
Zeit überaggressiv gewesen zu sein. Er lädt Sie herzlichst zu der Übung ein.“ Mr. Mead dachte nach. Er war nicht im mindesten daran interessiert, einen der Orte aufzusuchen, an denen sich vernünftige Menschen für ein paar Stunden in Irre verwandelten; andererseits drängte die Zeit, Winthrop war nach wie vor stur. „Also gut“, sagte er widerstrebend, „ich werde ihm Gesellschaft leisten.“ „Soll ich einen Jumper kommen lassen, Sir?“ Der dickliche Mann trat einen Schritt zurück. „Nein! Ich werde - ich werde laufen!“ „Entschuldigen Sie, Sir, dann würden Sie zweifellos den Schrei verpassen.“ Sweetbottoms Vizepräsident der Public-RelationsAbteilung bedeckte sein Gesicht mit den nassen Handflächen und massierte es sanft, um seine Nerven zu beruhigen. Er durfte nicht vergessen, daß er es hier mit keinem Liftboy zu tun hatte, über den man sich bei der Geschäftsführung beschweren konnte, mit keinem dümmlichen Polizisten, den man in die Zeitung bringen konnte, mit keiner nervösen Ehefrau, die man abwimmeln konnte - dies hier war nur eine Maschine, die mit einem festen Satz vokaler Reaktionen ausgestattet war. Wenn er vor ihr einen Schlaganfall erlitt, würde sie nicht einen Schimmer von Gefühl zeigen. Sie würde lediglich eine andere Maschine herbeizitieren, eine mit medizinischen Kenntnissen. Man konnte ihr nur Informationen zukommen lassen oder welche von ihr erhalten. „Ich mag keine Jumper!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor. 156 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Entschuldigen Sie, Sir, aber Sie gaben dem Wunsch Ausdruck, Mr. Storku sehen zu wollen. Wenn Sie warten wollen, bis der Schrei vorüber ist, dann ist das weiter kein Problem, nur möchte ich Ihnen in dem Fall raten, sich zum Geruchsfestival auf der Venus zu begeben, wohin er anschließend gehen wird. Haben Sie jedoch das Bedürfnis, ihn sofort sprechen zu wollen, dann werden Sie einen Jumper nehmen müssen. Es gibt keine andere Möglichkeit, Sir, es sei denn, Sie sind der Meinung, meine Gedächtniswindungen sind unzureichend, oder Sie wünschen, der Diskussion einen neuen Faktor hinzuzufügen.“ „Ich möchte keinen - aah, ich geb's auf. „ Mr. Mead sackte auf der Stelle in sich zusammen. „Rufen Sie einen Jumper, rufen Sie einen Jumper.“ „Jawohl, Sir. Hier ist er schon, Sir. „ Der leere Zylinder, der sich plötzlich über Mr. Meads Kopf materialisierte, ließ ihn erschreckt zusammenfahren, doch als er den Mund aufmachte, um zu rufen: „He, ich habe meinen Entschluß geänd... „, da war es bereits zu spät. Dunkelheit umgab ihn. Er hatte das Gefühl, als ziehe man ihm seinen Magen langsam aber sicher durch den Mund heraus. Seine Leber, die Milz und die Lungen schienen zu folgen. Dann klappten die Knochen seines Körpers in die nunmehr leere Bauchhöhle und wurden immer kleiner, bis sie schließlich ganz weg waren. Er fiel in sich selbst zusammen. Plötzlich fühlte er sich wieder wie in einem Stück. Er stand inmitten einer großen, grünen Wiese, Dutzende von Menschen standen um ihn herum. Sein Magen kehrte an den gewohnten Platz zurück und nahm seine alte Lage wieder ein.
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„... ert. Ich möchte doch lieber zu Fuß gehen“, sagte er und übergab sich. Mr. Storku, ein großer, herzlicher blonder junger Mann stand vor ihm, als er aufhörte zu würgen und der Tränenstrom versiegte. „Es ist doch alles so einfach, Mr. Mead. Man muß während des Sprungs äußerste Gelassenheit bewahren.“ „Leichter gesagt als getan“, keuchte Mr. Mead und wischte sich mit dem Taschentuch den Mund ab. Aus welchem Grund behandelte ihn dieser Storku immer so von oben herab? „Warum erfindet ihr - erfindet ihr nicht eine andere Art der Fortbewegung? In meiner Zeit steht der Reisekomfort an allererster Stelle bei der Industrie. Jede Buslinie, jede Bahngesellschaft, die nicht dafür sorgt, daß ihre Passagiere während der Reise jeden nur möglichen Komfort genießen, wäre innerhalb kürzester Zeit bankerott. Oder sie hätte bald eine neue Geschäftsleitung.“ „Ist er nicht süß?“ sagte ein Mädchen neben ihm zu ihrer Begleiterin. „Er spricht wie die Menschen in einer der geschichtlichen Romanzen, die wir oft lesen.“ Mr. Mead warf ihr einen sauren Blick zu. Er mußte schwer schlucken. Sie war nackt. Auch alle anderen um ihn herum waren nackt, Mr. Storku eingeschlossen. Wer weiß, was sich auf diesen sogenannten Schreifeldern alles tut, dachte er beunruhigt. Bisher hatte er sie nur von weitem gesehen. Und jetzt war er mitten unter diesen vorsätzlichen Irren. „Sie urteilen ein bißchen ungerecht“, meinte Mr. Storku. „Wenn ein Mann im Elisabethanischen Zeitalter oder bei den alten Griechen in einer eurer pferdelosen Kutschen oder in einem eurer Stahlrosse reisen sollte - um mit Ihren Worten zu reden - würde er sich äußerst unwohl fühlen und unter einer weitaus größeren physischen Belastung stehen, 158 William Tenn – Die Welt der zukunft
als es gerade bei Ihnen der Fall war. Man muß sich eben nur dem Ungewohnten anpassen können. Manche tun es, wie Ihr Landsmann Winthrop; manche tun es nicht, wie Sie selbst.“ „Da Sie gerade von Winthrop reden... „, begann Mr. Mead hastig. Der Themawechsel kam ihm wie gerufen. „Alle da?“ fragte ein athletisch gebauter junger Mann, der auf einmal neben ihnen stand. „Ich bin euer Vormann für diesen Schrei. Alle Mann auf die Beine; wollen mal die Muskeln ein bißchen lockern. Wir werden heute einen wunderbaren Schrei fabrizieren.“ „Ziehen Sie sich aus“, sagte der Regierungsvertreter zu Mr. Mead, „in voller Montur bringt man keinen guten Schrei zustande. Und dann noch in diesen Kleidern!“ Mr. Mead schrak zurück. „Ich werde mich nicht - ich bin nur gekommen, um mit Ihnen zu reden. Ich werde einfach zuschauen.“ Ein tiefes und röhrendes Gelächter. „Von der Mitte des Schreifeldes aus gibt es kein Zuschauen! Und außerdem wurden Sie bereits automatisch für den Schrei registriert, als Sie zu uns kamen. Wenn Sie jetzt einen Rückzieher machen, gerät alles durcheinander.“ „So schlimm ist das?“ Storku nickte. „Gewiß, denn eine quantitativ unterschiedliche Menge bedarf eines ganz anderen Stimulus, wenn die gewünschte Schreiintensität erreicht werden soll, 'runter mit den Kleidern, Mann, und mitten unters Volk! Diese kleine Übung wird gewiß nicht zum Schaden Ihrer Psyche sein.“ Mr. Mead dachte nach, dann begann er sich zu entkleiden. Er hatte ein sehr komisches Gefühl in der Magengegend und sah dem Kommenden mit Zittern und Zagen ent 159 William Tenn – Die Welt der zukunft
gegen. Doch da fiel ihm wieder ein, daß er ja mit dem blonden jungen Mann eine dringliche Public-RelationsAngelegenheit zu erledigen hatte. In seiner Zeit hätte er mit breitem Lachen dicke Zigarren von Politikern angenommen, hätte sich in zweitklassigen Bars mit wichtigen Presseleuten vollgetankt, hätte sich selbst durch ein Fernseh-Quiz gekämpft, wenn es die Sweetbottom Septic Tanks, Inc. von ihm verlangt hätte. Das Motto eines echten Public-Relations-Mannes war nun einmal: „Anpassen - mit den Wölfen heulen!“ Die Gruppe, mit der er die Reise im Jahr 1987 unternommen hatte, setzte sich ausschließlich aus untragbaren und nutzlosen Individuen zusammen. Sie wären niemals dazu imstande, sich und wieder in ihre eigene Zeit zurückzuversetzen, in eine Welt, in der sich alles nach Angebot und Nachfrage richtete, wenn es einen Sinn ergeben sollte. In eine Welt, in der ein fähiger Geschäftsmann nicht wie ein dickköpfiges Kleinkind behandelt wurde. In eine Welt, in der leblose Dinge leblos blieben, in der sich keine Wände bewegten, in der sich nicht andauernd die Möbel veränderten, in der man nicht von einer Sekunde zur anderen in verschiedenen Kleidungsstücken steckte und sich wie ein Clown vorkam. Nein, es lag an ihm, alle wieder unbeschadet in diese Welt zurückzuführen. Aber der einzige Weg zur Erreichung dieses Zieles führte über Mr. Storku. Deshalb mußte Storku um jeden Preis bei Laune gehalten werden. Man mußte ihm vorspiegeln, auch Oliver T. Mead sei einer der Verrückten. Als er seine Kleider ablegte, bemerkte er plötzlich, daß ein paar der Mädchen wirklich appetitlich aussehen. Sie ließen ihn an die Septic-Tanks-Tagung in Des Moines denken. Wenn sie sich bloß nicht die Köpfe glattrasierten! 160 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Alles zusammen jetzt“, kommandierte der Vormann. „Drängt euch zusammen, alle Mann in eine dichte Traube, alles zusammen und drängeln, Leute, drängeln.“ Mr. Mead wurde in die Menge gestoßen und geschoben. Sie wogte vorwärts, zurück, nach links und rechts, zwängte sich immer dichter zusammen unter den anfeuernden Rufen des Vormanns. Musik klang neben ihnen auf, mehr Geräuschkulisse als Musik, denn von Harmonien war nichts zu vernehmen, und sie wurde lauter und lauter, steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. In der geballten Masse nackter Leiber kämpfte einer um sein Gleichgewicht und stieß Mr. Mead mit dem Arm in den Bauch. „Uff!“ machte dieser und wieder „Uff!“, als ihm jemand auf den Rücken sprang. „Passen Sie gefälligst auf!“ fauchte ihn ein Mädchen an, dem er versehentlich auf die Zehen getreten war. „Pardon“, sagte er, „ich konnte einfach nicht... „ Und dann sah er einen Ellbogen auf sich zukommen. Er traf ihn direkt ins Auge; Mr. Mead taumelte zurück, doch da änderte die Menge ihre Richtung, und kurz darauf befand er sich wieder mittendrin. Es ging immer im Kreis herum; er wurde gestoßen und stieß selbst. Der entsetzliche Lärm drohte sein Trommelfell zum Platzen zu bringen. Aus scheinbar immer weiterer Ferne konnte er den Vormann mit seinem Singsang hören: „Und jetzt hierher! Nein, nun geht es um den Baum herum! Scheren Sie sich zurück in die Menge, Sie! Alle zusammen. Zusammenbleiben! Und jetzt zurück, ja, immer schön zurück. Schneller, schneller!“ Sie bewegten sich rückwärts, eine dichte Menschenmenge klemmte Mr. Mead ein, drängte ihn in die noch dichtere Menge hinter seinem Rücken. Dann, auf Kommando, drängelten sie wieder nach vorn, er wurde von allen Seiten gestoßen, so daß er wie ein Betrunkener nach rechts, nach 161 William Tenn – Die Welt der zukunft
links, nach hinten und nach vorn stolperte. Einmal oder vielleicht sogar zweimal gelangte er fast bis an den Rand der Gruppe, doch als er später genau über alles nachdachte, kam ihm zu Bewußtsein, daß er sich immer wieder seinen Weg ins Zentrum der Traube gebahnt hatte. Er hatte das Gefühl, an keinen anderen Ort als mitten in diese Horde von Irrsinnigen zu gehören. Ein glatzköpfiges Mädchen prallte gegen seine Brust und erinnerte ihn so daran, daß die Gruppe wieder einmal ihre Stoßrichtung änderte. Er warf sich zurück und achtete gar nicht auf die zahlreichen Grunzer und Quietscher, die auch er ausstieß. Er war zu einem Teil dieser - dieser - was immer es auch sein mochte - geworden. Er war hysterisch, seine Haut wies Kratzer auf, sein Körper war vom Schweiß schlüpfrig geworden. Doch all sein Denken konzentrierte sich darauf, an keinem anderen Ort als inmitten dieser Masse zu sein. Er war ein Teil von ihr geworden, mehr wußte er nicht. Plötzlich erhob sich irgendwo aus diesem Wirbel laufender und drängelnder nackter Leiber ein Schrei. Es war ein langgezogener Schrei, von einer kräftigen Männerstimme ausgestoßen, und er setzte sich immer weiter fort, übertönte fast die Geräuschkulisse. Eine Frau vor Mr. Mead stieß ebenfalls einen schrillen Schrei aus. Die Stimme des Mannes verstummte, und nach einer Weile war auch von der Frau nichts mehr zu hören. Dann vernahm Mr. Mead wieder denselben Schrei, die Stimme der Frau fiel ein, und er war nicht im geringsten überrascht, als er auch seine eigene Stimme kreischen hörte. Er legte alle Enttäuschungen der vergangenen zwei Wochen in diesen Schrei, all die Tritte und Kratzer der letzten paar Minuten, alle Mißerfolge und Haßgefühle seines bisherigen Lebens. Wieder und wieder hob sich der Schrei zum Himmel, und jedesmal fiel Mr. Mead ein. Auch die an 162 William Tenn – Die Welt der zukunft
deren schrien aus Leibeskräften, bis schließlich der ganze Mob über die riesige Wiese stolperte und jagte und einen einzigen Schrei erschallen ließ. Im Unterbewußtsein fühlte Mr. Mead eine kindische Befriedigung darüber, daß er sich dem Rhythmus der anderen so gut anpassen konnte - und wie er an allem teilnahm. Es ging Pulsschlag, Pulsschlag, Schrei-i-i, Pulsschlag, Pulsschlag, Schrei-i-i, Pulsschlag, Pulsschlag, Schrei-i-i. Alle zusammen. Alle um ihn herum, alle zusammen. Es war großartig! Später konnte er sich niemals recht vorstellen, wie sie alle schreiend und kreischend umhergerannt waren. Plötzlich sah er, daß er sich nicht mehr inmitten der Menge befand. Sie war irgendwie dünner geworden und zog sich als schreiende Schlange über die Wiese. Er fühlte leichte Verwirrung in sich aufsteigen. Ohne den Rhythmus des Schreies zu verlieren, versuchte er, etwas näher an einen Mann und eine Frau zu seiner Rechten heranzukommen. Die Schreie erstarben urplötzlich. Die Geräusche der Musik verstummten. Er blickte starr geradeaus, wo auch alle anderen hinblickten. Er sah es. Ein braunes Pelztier von der Größe eines Schafes. Es hatte den Kopf in ihre Richtung gewandt und warf ihnen einen ganz offensichtlich erschreckten und furchtsamen Blick zu, dann begann es, aus Leibeskräften über die Wiese zu rennen. „Ihm nach!“ dröhnte die Stimme des Vormanns, die von allen Seiten zu kommen schien. „Ihm nach! Alle zusammen! Fangt es!“
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Jemand rannte los, und Mr. Mead folgte ihm. Wieder erschallte der Schrei, ein fortlaufender, ununterbrochener Schrei, und er fiel ein. Dann rannte er über die Wiese und hinter dem braunen Pelztier her, schrie sich die Lunge aus dem Hals. Entfernt und mit einem gewissen Stolz hörte er seine Mitmenschen zu beiden Seiten ebenfalls aus Leibeskräften schreien. Fang es! tobte eine innere Stimme. Fang es, fang es! Sie hatten das Tier fast erreicht, als es kehrtmachte und die Reihen der Verfolger durchbrach. Mr. Mead warf sich darauf und wollte es packen. Er erwischte eine Handvoll Pelz und stürzte schmerzhaft auf die Knie, als das Tier davongaloppierte. Er rappelte sich auf, ohne auch nur einen einzigen Schrei ausgelassen zu haben, und setzte seine Verfolgung fort. Auch die anderen hatten kehrtgemacht und rannten zurück. Fangt es! Fangt es! Fangt es! Kreuz und quer über die Wiese ging die wilde Jagd. Das Tier rannte hin und her, und sie folgten ihm. Es konnte sich immer wieder aus ihren Griffen befreien. Mr. Mead rannte mit, rannte in der ersten Reihe und schrie, so laut er konnte. In welche Richtung sich das braune Pelztier auch wandte, sie folgten ihm. Sie kamen ihm näher und näher. Und dann hatten sie es! Die wilde Horde hatte es eingekreist und zog die Schlinge immer enger. Mr. Mead erreichte es als einer der ersten. Er ballte die Faust und streckte es mit einem einzigen Schlag zu Boden. Mit verzerrten Zügen stürzte sich ein Mädchen auf den leblosen Körper und hieb ihre scharfen Fingernägel hinein. Ehe sich die übrigen Verfolger über das Tier her 164 William Tenn – Die Welt der zukunft
machten, gelang es Mr. Mead, mit einem mächtigen Ruck eine der Keulen für sich abzureißen. Er war nicht wenig erstaunt, als sich aus dem abgerissenen Bein lockere Drähte und Hebel herausringelten. „Wir haben es gefangen!“ murmelte er und starrte das Bein an. Wir haben es gefangen. Seine Gedanken vollführten einen irrsinnigen Freudentanz. Wir haben es, wir haben es! Er war auf einmal sehr müde, fast erschöpft. Er wankte ein paar Schritte zur Seite und ließ sich schwer ins Gras fallen. Wie gebannt hingen seine Augen an den Drähten, die aus dem Bein heraussahen. Schwer atmend näherte sich Mr. Storku. „Na“, sagte Mr. Storku, „hatten Sie einen guten Schrei?“ Mr. Mead hielt das pelzige Bein hoch. „Wir haben es erwischt“, sagte er verwirrt. Der blonde junge Mann lachte. „Sie brauchen eine richtige Dusche und ein Beruhigungsmittel. Kommen Sie. „ Er half Mr. Mead auf die Beine und geleitete ihn am Arm über die Wiese zu einem langen Gang unter den Tribünen. Um sie herum war das lebhafte Geschnatter der übrigen Teilnehmer zu hören, die sich wuschen und in eine neue Haut zu schlüpfen schienen. Nachdem er in einer der Kabinen gewesen war, fühlte sich Mr. Mead wesentlich besser. Was nicht hieß, daß er sich wohl fühlte. Etwas hatte sich in ihm gelöst, als er das Bein des Tieres herausgerissen hatte. Es war etwas, das er nicht verstehen konnte und von dem er wünschte, es hätte tief in seiner Seele weitergeschlummert, ohne jemals zum Durchbruch zu kommen. Er hatte bisher nicht einmal gewußt, daß es überhaupt existierte. 165 William Tenn – Die Welt der zukunft
Er erinnerte sich daran, daß er immer noch der alte Oliver T. Mead war, ein guter Ehemann und Vater, ein angesehener Geschäftsmann, eine feste Stütze der Gesellschaft und der Kirchengemeinde - aber es war umsonst. Für den Rest seines Lebens würde er trotzdem auch das - andere Wesen sein. Er mußte sich anziehen. Möglichst schnell. Mr. Storku nickte, als er ihm diese dringende Notwendigkeit mitteilte. „Sie hatten anscheinend zu viel in sich aufgestaut. War höchste Zeit, daß Sie mal Dampf abließen. Ich würde mir keine Sorgen machen. Sie sind ebenso normal wie jeder andere Ihrer Zeitgenossen. Aber Ihre Kleider sind mit den anderen Reminiszenzen unseres Schreies weggeräumt worden; die Wiese wird schon wieder für den nächsten Schrei hergerichtet.“ „Was soll ich tun?“ fragte Mr. Mead weinerlich. „Ich kann doch nicht in diesem Zustand zurückkehren.“ „Nein?“ meinte der Vertreter der Regierung erstaunt. „Sie können so nicht zurückkehren? Hm, in der Tat faszinierend! Nun ja, stellen Sie sich einfach unter den Ankleider dort drüben.“ Mr. Mead nickte und stellte sich leise zweifelnd unter den Mechanismus. Als neueingekleideter Bürger des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts kam er wieder darunter hervor. „J-ja, aber ich möchte doch lieber etwas anderes.“ Sein Gastgeber nahm eine andere Einstellung an der Maschine vor, und ein leises Summen war zu hören. Und dann steckte der dickliche Mann in einem schwarz-weißen Abendanzug. Einen Augenblick darauf hatte sich dieser Anzug schon wieder verwandelt. Die Schuhe wuchsen in die Höhe und wurden zu hüfthohen Gummistiefeln, das Jackett war auf einmal ein Südwester. Mr. Mead war perfekt dafür 166 William Tenn – Die Welt der zukunft
gekleidet, sich auf die Brücke eines Walfängers zu begeben. „Aufhören!“ flehte er, als sich der Südwester in ein buntes Freizeithemd zu verwandeln drohte. „Bleiben wir doch bitte bei einem Kleidungsstück.“ „Sie könnten selbst dafür sorgen“, meinte Mr. Storku, „wenn Ihr Unterbewußtsein endlich zur Ruhe käme. „ Trotzdem änderte er nochmals die Einstellung, und schließlich sah sich Mr. Mead in einer Tweedjacke und Knickerbockern, wie man sie in den zwanziger Jahre getragen hatte. Dabei blieb es. „Besser?“ „Ich - ich glaube, ja. „ Stirnrunzelnd blickte Mr. Mead an sich hinab. Auf alle Fälle war es ein seltsamer Aufzug, in dem der Vizepräsident der Sweetbottom Septic Tanks, Inc., in seine eigene Zeit zurückkehrte, aber wenigstens war diese Kleidung einheitlich. Und wenn er erst wieder daheim war... „Also, Mr. Storku“, sagte er, rieb sich die Hände und wischte die Gedanken an die vergangenen Erlebnisse mit aller Willenskraft beiseite, „wir haben Schwierigkeiten mit diesem Winthrop. Er will nicht mit uns zurückkommen.“ Sie traten ins Freie und blieben am Rande der Wiese stehen. Etwas weiter entfernt wurde ein neuer Schrei organisiert. „Tatsächlich?“ sagte Mr. Storku ohne sonderliches Interesse. Er deutete auf die vielen unbekleideten Gestalten, die sich langsam zu einem dichten Knäuel zusammenballten. „Wissen Sie, erst nach zwei oder drei Behandlungen hier draußen wäre Ihre Psyche wieder halbwegs normal. Aber wenn ich Sie so betrachte, muß ich wirklich sagen, daß das Panikstadion viel nützlicher für Sie wäre. Warum gehen Sie 167 William Tenn – Die Welt der zukunft
nicht dorthin? Warum gehen Sie nicht jetzt gleich mal dorthin? Eine erstklassige kopflose Panik, und Sie wären...“ „Nein, nein, danke! Das hier hat mir fürs erste gereicht. Meine Psyche geht nur mich allein etwas an.“ Mit ernstem Gesicht nickte der blonde junge Mann. „Natürlich. Über die Psyche des erwachsenen Individuums darf niemand außer dem jeweils selbst betroffenen erwachsenen Individuum selbst verfügen. - Bestimmung aus dem Jahr 2314, festgelegt unter Berücksichtigung der uneingeschränkten Zustimmung der gesamten Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika. Seit dem Jahr 2337 durch eine internationale Abstimmung für die ganze Welt gültig. Aber ich wollte Ihnen nur einen freundschaftlichen Rat geben.“ Mr. Mead quälte sich ein schwaches Lächeln ab. Wenn er lächelte, bemerkte er mißbilligend, standen die Aufschläge seines Jacketts hoch und kitzelten ihn unterm Kinn. „Ich wollte Sie nicht kränken, wirklich nicht. Aber, wie gesagt, mir reicht der ganze Unsinn allmählich. Was wollen wir also im Fall Winthrop unternehmen?“ „Unternehmen? Natürlich gar nichts! Was könnten wir denn unternehmen?“ „Sie könnten ihn zur Rückkehr zwingen! Sie sind der Vertreter der hiesigen Regierung, nicht wahr? Diese Regierung hat uns eingeladen, und diese Regierung trägt die volle Verantwortung für unsere Sicherheit.“ Mr. Storku machte ein erstauntes Gesicht. „Sie fühlen sich in Ihrer Sicherheit bedroht?“ „Sie wissen genau, was ich damit meine, Storku: unsere gesicherte Rückkehr! Die Regierung ist dafür verantwortlich.“ 168 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Doch die Verantwortlichkeit der Regierung hört auf, sobald es sich um eine Einmischung in die Wünsche und Handlungen eines erwachsenen Individuums handelt. Ich habe Ihnen damit nur den Artikel aus dem Jahre 2314 zitiert, mein Freund. Die ganze Philosophie der Regierung, die sich aus diesem Artikel ableitet, basiert auf der Erhaltung der uneingeschränkten Souveränität des Individuums über sich selbst. Gegenüber einem erwachsenen Staatsbürger darf in keinem Fall Gewalt angewendet werden, und offizielle Ratschläge dürfen nur in ganz seltenen und bestimmten Ausnahmefällen erteilt werden. Und ein solcher Ausnahmefall dürfte hier nicht vorliegen. Wenn ein Kind alle Stufen unseres Erziehungssystems hinter sich gebracht hat, dann wird er oder sie zu einem ausgewogenen Mitglied der Gesellschaft, dem man in jedem Fall absolutes Vertrauen schenkt. Es ist dies der Punkt, von dem an die Regierung nicht mehr in das Leben des Individuums eingreift.“ „Ja, ein strahlendes Utopia“, spottete Mr. Mead. „Keine Polizei, die über Leben und Besitz wacht, die man um Auskunft bitten kann. - Na ja, es ist Ihre Welt, und Sie mögen das alles herrlich finden. Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Sehen Sie denn nicht ein - ich bin mir ganz sicher, daß Sie es einsehen, wenn Sie einmal richtig darüber nachdenken -, daß Winthrop kein Bürger Ihrer Welt ist, Storku? Er hat Ihr Erziehungssystem nicht durchgemacht, er hat diese psychologischen Mätzchen nicht gelernt, er hat...“ „Aber er kam hierher als unser Gast“, warf Mr. Storku ein, „und als solcher genießt er den vollen Schutz unserer Gesetze.“ „Und wir nicht, nehme ich an“, rief Mr. Mead empört aus. „Er kann mit uns machen, was er will, ohne jemals dafür bestraft zu werden. Nennen Sie das etwa Gesetz? Nennen Sie das Gerechtigkeit? Ich nicht! Ich nenne es Bürokratie, 169 William Tenn – Die Welt der zukunft
jawohl, so nenne ich es. Der Amtsschimmel wiehert in den lautesten Tönen, sage ich!“ Der blonde junge Mann legte Mr. Mead eine Hand auf die Schulter. „Hören Sie zu, mein Freund“, sagte er besänftigend. „Versuchen Sie, mich zu verstehen. Wenn Winthrop Ihnen etwas antäte, könnte man ihn daran hindern. Nicht durch einen direkten Rückgriff auf Winthrop selbst, sondern dadurch, daß man Sie aus seiner unmittelbaren Nähe entfernt. Aber dazu müßte er Ihnen erst einmal einen Schaden zufügen. Dann könnte man ihn belangen, weil er sich in Ihre Rechte als Individuum hineingedrängt hat. Aber bisher klagen Sie Winthrop lediglich an, weil er gar nichts getan hat, weil er sich völlig passiv verhält. Er will nicht mit Ihnen zurückkehren? Na schön. Er hat das Recht, nach Belieben über seinen Körper und seinen Geist zu verfügen. Der Artikel aus dem Jahre 2314 legt das ganz exakt fest. Soll ich Ihnen die Stelle zitieren?“ „Nein, Sie sollen mir die Stelle nicht zitieren. Sie sagen also, daß niemand etwas unternehmen kann, wenn ich Sie recht verstanden habe? Winthrop kann uns allen einen dikken Strich durch die Rechnung machen, aber Sie können rein gar nichts dagegen tun, und wir können rein gar nichts dagegen tun. Eine teuflische Feststellung.“ „Ein interessanter Ausspruch“, bemerkte Mr. Storku. „Wenn in Ihrer Gruppe ein Etymologe oder ein Linguist wäre, hätte man mit ihm darüber diskutieren können. Was jedoch den Schluß betrifft, den Sie aus Ihrer gegenwärtigen Lage ziehen, so trifft er im wesentlichen zu. Sie haben nur eine Möglichkeit: Sie können versuchen, Winthrop zu überreden. Das ist der einzige Weg, der Ihnen bis zum Zeitpunkt der geplanten Translokation bleibt.“ Mr. Mead strich seine temperamentvollen Aufschläge glatt. „Und wenn es uns nicht gelingt, dann haben wir halt 170 William Tenn – Die Welt der zukunft
Pech gehabt? Wir können ihn nicht beim Genick packen und - und...“ „Ich furchte, nein. Eine Regierungsmaschine oder ein Regierungsandroid würde auftauchen und ihn befreien. Ohne Ihnen natürlich ein Haar zu krümmen, versteht sich.“ „Sicher, bloß kein Porzellan zerschlagen“, brütete Mr. Mead finster vor sich hin. „Wir bleiben einfach für alle Zeiten in diesem Irrenhaus hängen.“ Mr. Storku machte ein leicht verletztes Gesicht. „Mein verehrter Freund, so schlimm kann es doch nicht sein! Der Unterschied zu Ihrer eigenen Kultur mag zwar gewaltig sein, bestimmte Artefakten und die tiefe Philosophie, die in vielen Dingen steckt, mögen Ihnen vielleicht äußerst fremdartig vorkommen, aber bestimmt, ganz bestimmt sogar, ist auch für einen Ausgleich gesorgt. Der Verlust des Gewohnten, wie Familie, Freunde und persönliche Erlebnisse, bringt auf der anderen Seite wiederum einen unschätzbaren Gewinn an Neuem und Ungewöhnlichem mit sich. Ihr Winthrop jedenfalls empfindet es so - beinahe jeden Tag sieht man ihn im Panikstadion oder auf dem Schreifeld. Mindestens dreimal während der vergangenen zehn Tage habe ich ihn bei Seminaren getroffen, und von der Abteilung für Heimausstattung im Ministerium für Innenwirtschaft höre ich, daß er ein ständiger, begeisterter und hingebungsvoller Konsument ist, Was er tun kann...“ „Ja, er bekommt allen möglichen Firlefanz“, sagte Mr. Mead erbittert. „Und er braucht keinen Pfennig dafür auf den Tisch zu legen. Ein Faultier wie er kann es gar nicht besser treffen. Welch eine Welt - bah!“ „Ich meine nur“, fuhr Mr. Storku unbeirrt fort, „daß es durchaus seine positiven Seiten hat, wenn Sie in diesem ‚Irrenhaus hängenbleiben‘, wie Sie so bildhaft bemerkten. 171 William Tenn – Die Welt der zukunft
Und da dies im Bereich des Wahrscheinlichen liegt, entbehrt es meiner Ansicht nach nicht einer gewissen Logik, wenn Sie sich allmählich mit diesen positiven Seiten vertraut machten, anstatt wie ein Haufen verschüchterter Hühner in der Ecke zu sitzen und den Anachronismen des zwanzigsten Jahrhunderts nachzutrauern.“ „Wir haben alles, was wir brauchen. Jetzt haben wir nur noch den Wunsch, nach Hause zurückzukehren und das Leben zu führen, zu dem wir ursprünglich geboren sind. Aber am Ende scheint es darauf hinauszulaufen, daß nichts und niemand uns im Falle Winthrop helfen kann, wie?“ Mr. Storku ließ einen Jumper kommen und hielt den Arm hoch, um den großen Zylinder in der Luft festzuhalten. „Das scheint mir eine ziemlich verallgemeinernde Feststellung zu sein. Zuvor möchte ich alles noch einmal gründlich überprüfen. Es mag sein, daß es im Universum irgend etwas gibt, das Ihnen helfen könnte, wenn man es auf Ihr spezielles Problem aufmerksam macht und es sich dafür interessieren sollte. Das Universum ist unendlich weit und bevölkert, müssen Sie wissen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß Ihnen das State Department nicht helfen kann.“ Mr. Mead grub die Fingernägel tief in seine Handflächen und knirschte so mit den Zähnen, daß die oberste Schicht abzubröckeln drohte. „Und Sie können uns nicht etwas präziser erläutern“, sagte er schließlich sehr, sehr langsam, „wo wir diese Hilfe eventuell finden könnten? Uns bleiben noch knapp zwei Stunden - und in diesem Zeitraum werden wir kaum die gesamte Galaxis absuchen können.“ „Ein wahres Wort“, nickte Mr. Storku. „Ein sehr wahres Wort. Es freut mich, daß Sie sich wenigstens etwas beruhigt haben und endlich wieder klar denken. Nun, wer in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wäre imstande, ein unlösbares Problem zu losen? Da wäre einmal die Temporalbotschaft, 172 William Tenn – Die Welt der zukunft
die den ganzen Austausch organisiert und Sie überhaupt erst hierhergebracht hat. Die Leute haben alle möglichen Verbindungen; wenn sie wollen, können sie sogar den menschlichen Erfindergeist für die kommenden fünftausend Jahre vorausbestimmen. Doch meiner Auffassung nach stochern sie zuviel in der Zukunft herum. Dann sind da noch die Orakelmaschinen, die Ihnen jede Frage beantworten, auf die es eine Antwort gibt. Hierbei erhebt sich jedoch das Problem, die Antworten richtig zu interpretieren. Auf dem Pluto findet in dieser Woche eine Tagung der Vektor-Psychologen statt. Vielleicht sind sie dazu in der Lage, Winthrop zu einem Gesinnungswechsel zu veranlassen. Unglücklicherweise gilt aber das momentane Interesse der Vektor-Psychologie ausschließlich der Fötal-Edukation. Ich fürchte, auf Grund seines Alters dürfte Winthrop nicht die geeignete Versuchsperson für sie sein. Dann gibt es in der Nähe des Rigel eine Kolonie seherisch sehr begabter Fungi, mit denen ich persönlich schon die besten Erfahrungen gemacht habe. Sie verfügen über ein unglaubliches Talent, die...“ Der dickliche Mann winkte benommen ab. „Das reicht! Für eine Weile reicht es! Wir haben nur zwei Stunden - haben Sie auch daran gedacht?“ „Selbstverständlich. Und da Sie in einem dermaßen begrenzten Zeitraum ohnehin nicht viel unternehmen können, schlage ich Ihnen vor, mit mir in diesen Jumper zu steigen und zur Venus zu gehen. Das nächste Geruchsfestival findet erst wieder in Sechsundsechzig Jahren statt. Es ist ein Erlebnis, mein Freund, das man sich unter keinen Umständen entgehen lassen sollte. Die Venus hat eine ganz besondere Begabung für diese Dinge. Die größten Geruchserzeuger des Universums werden dort sein. Und ich würde 173 William Tenn – Die Welt der zukunft
Ihnen die Besonderheiten genauestens erläutern. Wie ist's, kommen Sie mit?“ Mr. Mead trat ein paar Schritte zur Seite, als Mr. Storku den Jumper mit einer einladenden Geste herabdirigierte. „Nein, kein Bedarf. Wenn ich nur wüßte“, beklagte er sich, als er genügend Raum zwischen sich und den Jumper gebracht hatte, „warum ihr Leute am laufenden Band Ferien macht, ohne Unterlaß seid ihr unterwegs, um euch irgendwo zu entspannen und auszuruhen! Wer, zum Teufel, kümmert sich hier überhaupt ums Arbeiten?“ „Äh, die Arbeit wird schon getan“, lachte der blonde junge Mann, als der Zylinder langsam über ihn herabsank. „Wenn eine Arbeit auf uns zukommt, die nur von einem Menschen erledigt werden kann, kommt einer von uns - für gewöhnlich das sich in nächster Nähe befindliche Individuum mit der entsprechenden Ausbildung - und kümmert sich um die Sache. Aber unsere persönlichen Wünsche und Ziele unterscheiden sich sehr von den Ihren. Wie sagt doch das Sprichwort: Erst das Vergnügen, dann die Arbeit. „ Und weg war er. Also begab sich Mr. Mead zurück zu den anderen und setzte sie davon in Kenntnis, daß das State Department, personifiziert durch Mr. Storku, ihnen im Falle Winthrop nicht weiterhelfen könne. Nachdenklich zupfte Mary Ann Carthington an den blonden Locken ihres Haars, dann sagte sie: „Sie haben ihm all das gesagt, was Sie vorher auch zu uns gesagt hatten, und er will trotzdem nichts unternehmen, Mr. Mead? Weiß er denn überhaupt, mit wem er es zu tun hatte?“ Mr. Mead gab ihr keine Antwort darauf. Er hatte wichtigere Dinge im Kopf. Durch die letzten Geschehnisse war nicht nur sein Selbstbewußtsein arg lädiert worden, überdies 174 William Tenn – Die Welt der zukunft
wurden seine Knickerbocker nun auch noch lebendig. Und während sein Jackett ihn aus tiefer Sympathie für seine Person lediglich unterm Kinn gekitzelt hatte, verhielten sich die Hosen weitaus unruhiger. Auf und ab kräuselten sie sich an seinen Oberschenkeln; hin und her marschierten sie über sein Hinterteil. Nur durch angespannte Konzentration und durch kräftiges Festhalten der eigenwilligen Beinkleider konnte er sich des Gefühls erwehren, von einer Anaconda verschlungen worden zu sein. „Natürlich weiß er, mit wem er es zu tun hatte“, entgegnete ihr Dave Pollock. „Ollie war durch und durch Vizepräsident, aber Storku hörte heute, daß die Anteile der Sweetbottom Septic Tanks vor 481 Jahren einen Sturzflug gemacht haben und im tiefen Keller gelandet sind. Deshalb war er nicht Feuer und Flamme für Ollie. War es nicht so?“ „Ich finde das gar nicht spaßig, Dave Pollock“, sagte Mary Ann Carthington und schüttelte tadelnd den Kopf. Sie wußte, daß diese Bohnenstange von Schulmeister nur auf Mr. Mead neidisch war, doch sie war sich nicht sicher, ob es nur wegen des Geldes oder auch wegen des distinguierten Aussehens war. Tatsache war, daß ihnen niemand aus der Klemme helfen konnte, wenn es nicht einmal einem so großen und klugen Geschäftsmann wie Mr. Mead gelungen war. Und das wäre schrecklich, es wäre wirklich schrecklich. Sie würde Edgar Rapp niemals wiedersehen. Obzwar er nicht ihren Idealvorstellungen von einem Mann entsprach, war Mary Ann dennoch bereit gewesen, ihr Leben mit ihm zu teilen. Er arbeitete hart und verdiente recht gut. Seine Komplimente waren blaß und ungeschickt, das stimmte, andererseits konnte man sich aber darauf verlassen, daß er nichts sagte, womit er einen vor den Augen und Ohren fremder Leute in tausend wertlose Fetzen zerriß. Jemand 175 William Tenn – Die Welt der zukunft
anderer, den sie kannte, war durchaus dazu imstande. Und je eher sie das fünfundzwanzigste Jahrhundert hinter sich ließ und diesen Jemand für immer aus den Augen verlor, desto besser für sie. „Aber, Mr. Mead“, gurrte sie weiter, „sicher hat er Ihnen einen Rat gegeben, was wir unternehmen können. Er hat doch nicht einfach gesagt, wir sollten alle Hoffnung aufgeben, nicht wahr?“ Plötzlich sprang die Gürtelschnalle an Mr. Meads Hose auf. Gerade noch rechtzeitig konnte er den Hosenbund erwischen und die Hose vor dem Herunterrutschen bewahren. Er starrte sie aus umränderten Augen an, die an diesem Tag schon so viele Dinge erblickt hatten, daß es ihnen nicht eben gutgetan hatte. „Er gab mir ein paar Tips“, sagte er mit versteckter Bosheit in der Stimme. „Er sagte, die Temporalbotschaft könne uns helfen, wenn wir nur den richtigen Kniff fänden. Wir brauchten dort nur an den rechten Mann zu geraten.“ Mary Ann Carthington biß beinahe die Spitze des Lippenstiftes ab, mit dem sie gerade hantierte. Ohne aufzublicken wußte sie, daß sowohl Mrs. Brucks als auch Dave Pollock sich umgedreht hatten und sie anstarrten. Und tief im Innern ihrer Seele wußte sie auch, was die beiden im Augenblick dachten. „Na ja, ich kann zwar nicht...“ „Nur keine falsche Bescheidenheit, Mary Ann“, unterbrach Dave Pollock, „das ist Ihre große Chance - und es sieht ganz so aus, als sei es unsere einzige Chance. Wir haben ungefähr anderthalb Stunden Zeit. Hüpfen Sie in einen Jumper, machen Sie sich auf die Socken und, Mädchen, ziehen Sie alle Register Ihres Charmes!“ 176 William Tenn – Die Welt der zukunft
Mrs. Drucks setzte sich neben sie und legte ihr einen massigen Arm um die Schulter. „Miß Carthington, wir müssen oft Dinge tun, die uns keinen Spaß machen. Aber was bleibt uns übrig? Sollen wir für alle Zeiten hierbleiben? Wollen Sie das etwa? Na also - noch ein bißchen Puder, etwas mehr Rouge und Lippenstift, und er weiß nicht, welchen Gefallen er Ihnen zuerst tun soll. Verrückt nach Ihnen ist er schon lange - wenn Sie ihn ganz nebenbei um einen kleinen Gefallen bitten, wird er bestimmt nicht nein sagen können.“ Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie vor einem solchen Ansinnen verächtlich die Augen abgewandt, doch jetzt schob sie alle Gewissensbisse beiseite. „Meinen Sie wirklich? Tja - vielleicht...“ Das Mädchen stand auf und strich sich herausfordernd über die Hüften. „Es gibt kein Vielleicht“, redete ihr Mrs. Drucks zu, nachdem sie sich alles noch einmal überlegt hatte. „Die Antwort lautet ganz einfach ja, ja und nochmals ja. Ein hübsches Mädchen wie Sie, ein Mann wie er, weshalb sollte man da ‚vielleicht‘ sagen? Sie wissen doch, Miß Carthington, was ein Mann wie Mr. Mead nicht durchsetzen kann, muß eine Frau in jedem Augenblick ihres Lebens durchsetzen. Und ein hübsches Mädchen wie Sie braucht nur mit dem kleinen Finger zu winken, „ Dieser ziemlich weiblichen Ansicht stimmte Mary Ann Carthington mit einem Kopfnicken und machte ein entschlossenes Gesicht. Dave Pollock ließ sofort einen Jumper kommen. Sie trat zurück, als sich der große Zylinder im Raum materialisierte. „Muß das sein?“ fragte sie und biß sich auf die Lippen. „Diese Dinger rütteln einen so durcheinander!“ 177 William Tenn – Die Welt der zukunft
Er nahm ihren Arm und schob sie sanft, aber beharrlich unter den Jumper. „Zu Fuß gehen können Sie nicht; dazu ist die Zeit zu kostbar. Glauben Sie mir, Mary Ann, es ist wirklich die Stunde X. Also seien Sie ein liebes Mädchen und gehen Sie unter den - he, Augenblick mal! Vergessen Sie nicht, dem Kerl auf der Temporalbotschaft zu erzählen, wie seine Leute in unserer Zeit hängenbleiben, wenn Winthrop weiterhin stur ist. Wenn hier jemand die Verantwortung für diese Leute trägt, dann ist er es. Sobald Sie vor ihm stehen...“ „Sie brauchen mir nicht zu sagen, wie ich den Temporalinspektor behandeln muß, Dave Pollock!“ meinte sie von oben herab und trat mitten unter den Jumper. „Schließlich gehört er zu meinen Freunden, nicht zu Ihren - er ist sogar einer meiner besten Freunde!“ „Kann sein“, stimmte Dave Pollock zu, „dennoch werden Sie den Mann überzeugen müssen. Und ich wollte nur vorschlagen... „ Er brach ab, als das Mädchen gänzlich unter dem Zylinder verschwunden war und sich entmaterialisierte. Er wandte sich seinen Gefährten zu, die das Ganze mit mehr oder weniger ängstlichen und besorgten Gesichtern verfolgt hatten. „Das wär's“, sagte er leichthin. „Mary Ann ist die letzte Hoffnung.“ Und Mary Ann Carthington kam sich in der Tat wie eine „letzte Hoffnung“ vor, als sie plötzlich in der Temporalbotschaft stand. Sie kämpfte das stets nach einem Jumpertransport aufkommende Schwindelgefühl nieder und holte tief Luft. Hinsichtlich der Geschwindigkeit konnte es Edgar Rapps alter klappriger Buick allerdings nicht mit einem Jumper aufnehmen. Wenn man sich hinterher bloß nicht immer wie geschmolzene Schokolade fühlte. Das war der große 178 William Tenn – Die Welt der zukunft
Nachteil dieser Zeit: Jede halbwegs angenehme Sache hatte ihre unerfreulichen Nachwirkungen! In dem riesigen Rundbau, in dem sie jetzt stand, wogte die Decke auf und nieder und drohte wie ein purpurner Klumpen zu ihr herab. Man hatte das Gefühl, in einem Kino direkt unter dem großen Kronleuchter zu sitzen, der jeden Augenblick herabstürzen konnte. „Ja?“ erkundigte sich die purpurne Decke sehr höflich. „Zu wem möchten Sie?“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die roten Lippen, dann straffte sie die Schultern. Schon einmal hatte sie all das mitgemacht. Man durfte sich nur keine Blöße geben, sondern mußte die Dinge ungerührt hinnehmen. Es war außerdem vollkommen lächerlich, einer Decke gegenüber nervös zu werden. „Ich wollte Gygyo besuchen - ich meine, ist Mr. Gygyo Rablin im Hause?“ „Mr. Rablin ist momentan nicht erreichbar. Er wird in einer Viertelstunde wiederkommen. Möchten Sie sich einstweilen in sein Büro begeben? Dort wird er auch schon von einem anderen Besucher erwartet.“ Mary Ann Carthington dachte rasch nach. Die Sache mit dem anderen Besucher wollte ihr ganz und gar nicht gefallen, andererseits jedoch konnte man nicht wissen, wozu es gut sein konnte. Die Anwesenheit eines Dritten konnte durchaus mildernd wirken und den peinlichen Moment überbrücken, der sich zweifelsohne ergeben würde, wenn sie jetzt als Bittstellerin zu Gygyo kam - nach all dem, was zwischen ihnen geschehen war. Aber was hatte die Formulierung „nicht erreichbar“ zu bedeuten? Diese Leute aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert ließen sich auf die verrücktesten Dinge ein... 179 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Ich warte in seinem Büro“, sagte sie zur Decke. „Oh, Sie brauchen sich nicht zu bemühen“, meinte sie zum Fußboden, als er sich unter ihren Füßen in Bewegung setzte, „ich kenne den Weg.“ „Es ist keine Mühe, Miß“, entgegnete der Fußboden freundlich und trug sie quer durch den Rundbau zu Rablins Privatbüro. „Es ist ein Vergnügen.“ Seufzend schüttelte Mary Ann den Kopf. Manche dieser Gebäude waren so eigenwillig! Wortlos ließ sie sich befördern und nahm Puderdose und Spiegel zur Hand, um noch einmal ihr Make-up zu überprüfen. Doch ihr Spiegelbild erinnerte sie wieder daran. Sie errötete und hätte fast nach einem Jumper gerufen, um auf der Stelle zu Mrs. Brucks zurückzukehren. Nein, das durfte sie nicht tun - es war ihre letzte Chance, aus dieser Welt herauszukommen und in ihre eigene zurückzugehen. Trotzdem zum Teufel mit Gygyo Rablin - zum Teufel und nochmals zum Teufel mit ihm! Ein gelbes Rechteck in der Wand tat sich auf, und der Fußboden brachte sie in Rablins Privatbüro. Sie blickte sich um und nickte nachdenklich, als sie die vertraute Umgebung gewahr wurde. Da war Gygyos Schreibtisch, wenn man jenes schnurrende und seltsame Gebilde überhaupt als Schreibtisch bezeichnen konnte. Da war jene eigenartige Eckcouch, die... Sie hielt den Atem an. Eine junge Frau lag auf der Couch, eine jener schrecklichen glatzköpfigen Frauen, die es hier gab. „Verzeihung“, stieß Mary Ann hervor, „ich wußte nicht - ich wollte nicht...“
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„Schon gut“, sagte die junge Frau, ohne den Blick von der Decke zu wenden. „Es stört mich nicht im geringsten. Auch ich warte auf Gygyo. Aber setzen Sie sich doch.“ Wie auf Kommando schoß der Fußboden unter Mary Anns Sitzfläche in die Höhe. Vorsichtig ließ sie sich darauf nieder, und der Boden paßte sich ihrer Sitzhöhe an. „Sie müssen aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammen... „ Die junge Frau hielt inne, dann fügte sie schnell hinzu: „Die Besucherin, mit der Gygyo vor kurzem zusammen war. Ich heiße Flureet. Bin eine alte Jugendfreundin Gygyos - noch aus der Zeit der ‚Verantwortungsgruppe drei'.“ Mary Ann nickte steif. „Sehr angenehm. Mein Name ist Mary Ann Carthington. Wirklich, irgendwie bin ich - ich meine, ich bin nur gekommen, um...“ „Ich sagte doch, Sie stören mich nicht. Gygyo und ich haben nichts miteinander. Die Arbeit in der Temporalbotschaft hat seinen Geschmack abgestumpft. Für Frauen, wie er sie täglich sieht, hat er nichts mehr übrig. Ganz schöner Anachronismus! Und ich warte auf eine Transformation - eine umwälzende Transformation -, deshalb dürfen Sie von mir jetzt keine übermäßigen Gefühlsäußerungen erwarten. Zufrieden? Hoffentlich, Herzlich willkommen, Mary Ann.“ Flureet schlenkerte ein paarmal mit dem Arm. Diese Art der Begrüßung schien hier an der Tagesordnung zu sein, dachte Mary Ann. Frauen gab es! Fast konnte man auf den Gedanken kommen, sie wollten nur ihre muskulösen Arme demonstrieren. Und nicht einmal einen Blick hatten sie für einen Neuankömmling übrig. „Die Decke hat gesagt“, begann sie zaghaft, „daß Gyg..., daß Mr. Rablin im Moment nicht erreichbar sei. Bedeutet das, er ist nicht im Hause?“ 181 William Tenn – Die Welt der zukunft
Das kahle Mädchen nickte. „Gewissermaßen. Er befindet sich zwar in diesem Raum, doch dürfte er kaum groß genug sein, um sprechen zu können. Gygyos augenblickliche Größe ist - lassen Sie mich nachdenken, welche Größe wollte er wählen? - ach ja, fünfunddreißig Mikron. Er ist in einem Wassertropfen, der unter dem Mikroskop zu Ihrer Linken liegt.“ Mary Ann fuhr herum und betrachtete das kugelförmige Instrument, das auf einem Tisch an der Wand stand. Außer den beiden Okularen hatte es wenig mit den Mikroskopen gemein, die sie in Zeitschriften gesehen hatte. „Da - da ist er? Was tut er dort?“ „Er ist auf Mikrobenjagd. Langsam sollten Sie Ihren Gygyo kennen. Ein unheilbarer Romantiker. Wer geht heute noch auf Mikrobenjagd? Noch dazu in einer Kultur von DarmAmöben. Er tötet die kleinen Bestien mit der Hand, anstatt, wie andere Menschen, die Psycho- oder Chemotherapie zu Hilfe zu nehmen. Daran hat er seinen kindischen Spaß. Werde endlich erwachsen, Gygyo, hab ich zu ihm gesagt. Diese Spielchen sind was für Kinder - für Kinder der ,Verantwortungsgruppe vier‘ überdies. Aber das hat seinen Stolz verletzt. Er kündigte an, er werde eine FünfzehnMinuten-Jagd machen. Fünfzehn Minuten! Als ich das hörte, bin ich sofort hierhergeeilt, um den Kampf zu beobachten - für alle Fälle.“ „Warum - sind fünfzehn Minuten denn so gefährlich?“ fragte Mary Ann. Ihr Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen; sie dachte noch immer an die Worte: „Langsam sollten Sie Ihren Gygyo kennen. „ Wieder etwas, das ihr an dieser Welt nicht gefiel. Bei all dem Gerede von Diskretion und den geheiligten Rechten des Individuums schienen sich Männer wie Gygyo nichts daraus zu machen, selbst die intimsten Dinge laut auszuposaunen. 182 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Denken Sie einmal gut nach. Gygyo hat die Größe von fünfunddreißig Mikron gewählt. Fünfunddreißig Mikron ist ungefähr doppelt so viel wie die Größe der meisten Darmparasiten, die er bekämpfen will - Amöben wie die Endolimax nana, die lodamoeba butschlii und die Dientamoeba fragilis. Aber nehmen wir an, er stößt auf eine Ansammlung von Endamoeba coli, von unseren Dysenteriefreunden, den Endamoeba hystolytica, ganz zu schweigen? Was dann?“ „Was dann?“ echote das blonde Mädchen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. In San Francisco stieß man kaum auf derartige Probleme. „Gefährlich wird's dann, gefährlich. Die Coli können ebensogroß sein wie er, und die Hystolyticae werden sogar noch größer. Sechsunddreißig, siebenunddreißig Mikron, oft noch mehr. Der wichtigste Faktor auf einer Mikrobenjagd ist, wie Sie wissen, die Größe. Und das ganz besonders, wenn man lediglich ein Schwert mitnimmt, ohne zur Sicherheit noch eine automatische Waffe einzustecken. Wenn man sich unter solchen Umständen auch noch so verkleinert, daß man weder selbst herauskommt noch herausgeholt werden kann, dann fordert man sein Schicksal direkt heraus. Und genau das hat unser großes Kind getan und sitzt jetzt in der Klemme!“ „Er ist in Gefahr? Ich meine, ist es schlimm?“ Flureet deutete auf das Mikroskop. „Sehen Sie selbst. Ich habe meine Netzhaut der Vergrößerung angepaßt, doch ihr seid, glaube ich, noch nicht so weit. Ihr braucht für jede Kleinigkeit mechanische Hilfsmittel. Werfen Sie einen Blick hindurch. Es sind Dietamoeba fragilis, die er gerade bekämpft. Klein, aber unheimlich flink. Und sehr, sehr bösartig.“
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Mary Ann lief schnell zu dem kugelförmigen Mikroskop und starrte gebannt durch die Okulare. Dort, mitten im Sichtfeld, war Gygyo. Ein durchsichtiger Helm schützte seinen Kopf, der Rest seines Körpers war mit irgendeinem dicken, jedoch flexiblen und einteiligen Kleidungsstück bedeckt. Ungefähr ein Dutzend Amöben, fast so groß wie Hunde, umschwärmten ihn, streckten ihre unförmigen, durchsichtigen Pseudopodien nach ihm aus. Er hieb wie wild mit einem großen zweischneidigen Schwert auf sie ein, das einige der wagemutigsten und beharrlichsten seiner Widersacher in zwei Hälften zerteilte. Doch an seinem gehetzten Atem konnte Mary Ann erkennen, daß allmählich die Kraft aus seinen Armen wich. Hin und wieder blickte er rasch über seine linke Schulter, so, als beobachte er einen entfernten Feind. „Woher nimmt er seine Atemluft?“ fragte sie. „Der Anzug enthält stets genügend Luft für die Dauer des Aufenthalts“, erklärte Flureet hinter ihr mit etwas überraschter Stimme. „Er hat noch fünf Minuten; wahrscheinlich wird er's schaffen. Aber ihm werden bestimmt die Knie zittern. Haben Sie das gesehen?“ Mary Ann hielt den Atem an. Eine längliche, spindelförmige Kreatur mit einem peitschenartigen Hinterteil war gerade über das Feld gehuscht, knapp über Gygyos Kopf. Sie war ungefähr anderthalbmal so groß wie er. Er war in die Hocke gegangen, als das Tier an ihm vorbeihuschte, und die ihn umgebenden Amöben waren erschrocken auseinandergestoben. Einen Moment später griffen sie wieder mit unverminderter Heftigkeit an. Mit müden Bewegungen schlug er jetzt auf sie ein. „Was war das?“ 184 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Ein Trypanosom oder Geißeltierchen. In der Eile konnte ich es nicht genau identifizieren, aber es sah aus wie ein Trypanosoma gambiense oder rhodesiense - die Protozoen, die die afrikanische Schlafkrankheit hervorrufen. Aber wenn ich es mir recht überlege, war es eigentlich doch etwas zu groß dafür. Es könnte eventuell - oh, der Dummkopf, der Dummkopf!“ Mary Ann drehte sich erschrocken zu ihm um. „Warum? Was hat er gemacht?“ „Er hat sich nicht für eine Kultur entschieden; das hat er gemacht. Es ist schon waghalsig genug, wenn man sich mit verschiedenen Arten von Darm-Amöben anlegt, doch wenn er sich in der Nähe von Trypanosomen befindet, dann wird es verdammt kitzlig! Und er mit seiner Größe von nur fünfunddreißig Mikron!“ Mary Ann mußte an die furchtsamen Blicke denken, die Gygyo über die Schulter geworfen hatte, und eilte wieder ans Mikroskop. Der Mann kämpfte immer noch verzweifelt, aber die Schläge seines Schwertes waren merklich matter geworden. Plötzlich kam eine andere Amöbe, völlig anders als die bisherigen Angreifer Gygyos, in seine Nähe. Sie war nahezu durchsichtig und ungefähr halb so groß wie er. „Das ist eine neue“, sagte sie zu Flureet, „ist sie sehr gefährlich?“ „Nein, lodamoeba Burschen ist träge und freundlich. Aber was, um Himmels willen, fürchtet Gygyo von links? Er wendet den Kopf, so als ob - oh!“ Der letzte Ausruf entfuhr ihr urplötzlich; man spürte die echte Verzweiflung, die in ihrer Stimme mitschwang. Ein ovales Monstrum - zweimal so dick und dreimal so lang wie Gygyo - kam von links her in das Feld geschossen. Die winzigen, haarähnlichen Anhängsel, mit denen es bedeckt 185 William Tenn – Die Welt der zukunft
war, schienen ihm eine phantastische Geschwindigkeit zu verleihen. Weit holte Gygyo mit dem Schwert aus und schlug zu. Doch das Monstrum wich dem Schlag aus und war plötzlich nicht mehr zu sehen. Gygyo sprang zur Seite, aber eine der Amöben, die ihn bisher angegriffen hatten, war nicht flink genug. Wie ein Sturzkampfbomber stieß das Monstrum herab. Wild zappelnd landete die Amöbe in seinem trichterartigen Maul, an dem man den vorderen Teil des unförmigen Tieres erkannte. „Balantidium Coli“, erklärte Flureet, noch ehe Mary Anns zitternde Lippen die Frage formen konnten. „Hundert Mikron lang, fünfundsechzig Mikron dick. Schnell, tödlich und furchtbar gefräßig. Ich habe schon die ganze Zeit auf diesen Augenblick gewartet. Das dürfte das Ende unseres jagdbegeisterten Freundes sein. Er kann es unmöglich durchhalten. Und ein Tierchen von dieser Größe kann er bestimmt nicht erledigen.“ Flehend hielt Mary Ann ihr die Hände entgegen. „Können Sie denn nichts tun?“ Endlich wandte die kahlköpfige Frau die Augen von der Decke und starrte das Mädchen an. Blankes Erstaunen spiegelte sich in ihren Blicken wider. „Was könnte ich wohl tun? Er muß noch mindestens vier Minuten in dieser Kultur bleiben; er ist von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Erwarten Sie etwa von mir, daß ich dort hineingehe und ihn rette?“ „Wenn Sie dazu in der Lage sind - warum nicht?“ „Dann würde ich seine individuellen Rechte verletzen, mein gutes Kind! Selbst wenn sein Wunsch, sich selbst zu vernichten, seinem Unterbewußtsein entsprungen sein sollte, so ist und bleibt es dennoch sein Wunsch, der in ei 186 William Tenn – Die Welt der zukunft
nem wichtigen Teil seiner Persönlichkeit erwacht ist und respektiert werden muß. All das ist genauestens festgelegt in dem Artikel aus dem Jahre...“ „Woher wollen Sie bloß wissen, daß er sich selbst vernichten will?“ schluchzte Mary Ann. „So etwas ist mir noch nie zu Ohren gekommen! Er gehört doch immerhin - zu Ihren Freunden! Sein Leichtsinn hat ihn in Lebensgefahr gebracht. Das hat er nicht ahnen können, als er sich dorthin begab. Ich bin sicher, daß es so gewesen ist. Oh, armer Gygyo, wir stehen hier und diskutieren, während er um sein Leben kämpft und wahrscheinlich getötet wird.“ Flureet dachte nach. „Vielleicht haben Sie recht. Er ist ein Romantiker, und seit er Sie kennt, ist er auf allerlei abenteuerliche Gedanken gekommen. Noch nie zuvor hat er sich auf ein solches Risiko eingelassen. Aber sagen Sie mir eines: Glauben Sie, es lohnt sich, in die individuellen Rechte einer Person einzugreifen, nur um dadurch das Leben eines guten alten Freundes zu erhalten?“ „Ich verstehe Sie nicht“, sagte Mary Ann hilflos. „Natürlich! Warum lassen Sie mich nicht - tun Sie doch, was Sie wollen und lassen Sie wenigstens mich zu ihm. Bitte!“ Die andere Frau erhob sich und schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann das besser als Sie. Muß schon sagen, diese Romantik ist direkt ansteckend. Und“, lachte sie mehr zu sich selbst, „sogar ein wenig prickelnd. So lebt man also im zwanzigsten Jahrhundert!“ Vor Mary Anns Augen schrumpfte sie zusammen. Bevor sie ganz verschwand, sah man eine verschwommene Bewegung. Es war wie eine Flamme, die unstet flackerte, und ihr Köper schien dem Mikroskop zuzuschweben. Gygyo hatte ein Knie am Boden und versuchte, dem ovalen Monstrum eine möglichst kleine Angriffsfläche zu bieten. 187 William Tenn – Die Welt der zukunft
Die Amöben, die ihn bislang umschwirrt hatten, waren entweder geflohen oder verschlungen worden. Wie besessen schwang er sein Schwert über dem Kopf. Das Balantidium Coli griff abwechselnd von beiden Seiten an. Gygyo sah sehr müde aus. Fest waren seine Lippen zusammengepreßt, in seinen Augen erkannte man den Ausdruck völliger Verzweiflung. Und dann kam das riesige Biest direkt von oben, täuschte durch eine Körperdrehung eine Finte vor, und als er mit dem Schwert zuschlug, drehte es ab und wollte ihn von hinten fassen. Gygyo fiel hin und verlor seine einzige Waffe. Das Monstrum spannte alle Muskeln seines widerlich behaarten Körpers an und machte sich zum Todesstreich bereit. Eine überdimensionale Hand, eine Hand, die so groß war wie Gygyos ganze Gestalt, wurde plötzlich sichtbar und schleuderte den Angreifer zur Seite. Gygyo rappelte sich auf und griff nach seinem Schwert. Ungläubig blickte er nach oben. Erleichtert stieß er die Luft aus und lächelte. Augenscheinlich hatte Flureet ihren Schrumpfungsprozeß lange vor Erreichen der Größe von hundert Mikron gestoppt. Mary Ann konnte sie im Sehfeld des Mikroskops nicht entdecken, doch das Balantidium Coli schien sie dafür um so besser zu sehen, denn es entfloh Hals über Kopf. Während der restlichen Minuten, die Gygyo an seinem Platz verbringen mußte, schien keine der Kreaturen auch nur die geringste Lust zu verspüren, sich in seine unmittelbare Nähe zu wagen. Zu Mary Anns Erstaunen waren Flureets erste Worte zu Gygyo, als die beiden wieder in voller Größe neben ihr standen, so etwas wie eine Entschuldigung: „Tut mir wirklich leid, aber deine kleine Freundin hier hat mir keine Ruhe 188 William Tenn – Die Welt der zukunft
gelassen, Gygyo. Wenn du mich wegen Verletzung der Gesetze und Einmischung in die sorgsam arrangierten Pläne eines Individuums zum Zwecke seiner Selbstzerstörung belangen willst...“ Gygyo brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Vergessen wir's. Poetisch ausgedrückt: vergeben und vergessen. Du hast mir das Leben gerettet, Und soviel ich weiß, wollte ich mein Leben nicht verlieren. Wenn ich gegen dich Anklage erheben würde wegen Einmischung in mein Unterbewußtsein, dann müßten wir mein Unterbewußtsein als Zeugen vor Gericht laden, damit es zu deinen Gunsten aussagen könnte. Der Prozeß würde Monate dauern, und ich habe viel zuviel Arbeit.“ Die Frau nickte. „Das meine ich auch. Der Prozeß würde in einem großen Durcheinander enden. Trotzdem bin ich dir sehr dankbar - ich hätte mich nicht um deine Sicherheit und dein Leben kümmern brauchen. Weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist.“ „Das da ist in dich gefahren“, sagte Gygyo und deutete auf Mary Ann. „Das Jahrhundert der Disziplin, des totalen Krieges, der massiven Herumschnüffelei. Ich weiß, es ist ansteckend.“ Da ging Mary Ann in die Luft. „Nein, wirklich! Nie im Leben hätte ich - ich hätte so etwas nie im Leben für möglich gehalten! Erst will sie dir nicht das Leben retten, weil sie sich dadurch in dein Unterbewußtsein einmischen würde - in dein Unterbewußtsein! Dann, als sie sich doch dazu durchgerungen hat, entschuldigt sie sich bei dir - sie entschuldigt sich! Und du, anstatt ihr zu danken, redest daher, als würdest du ihr mit großzügiger Geste einen Raubüberfall mit Körperverletzung vergeben! Und dann beleidigst du mich und - und...“ 189 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Entschuldige“, sagte Gygyo, „aber beleidigen wollte ich dich keinesfalls, Mary Ann, weder dich noch dein Jahrhundert. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, daß es das erste Jahrhundert war, das erste Jahrhundert der modernen Zeit, in dem aus einem kritischen Stadium heraus der Genesungsprozeß einsetzte. In mancher Hinsicht war es sogar eine große und abenteuerliche Zeit, in der der Mensch zum letztenmal mit Dingen herumexperimentierte, von denen er seither die Finger gelassen hat.“ „Das klingt schon anders. „ Mary Ann schluckte ihren Ärger hinunter und fühlte sich auf einmal besser. Und in diesem Moment bemerkte sie, wie Gygyo und Flureet ein unmerkliches Lächeln austauschten. Da fühlte sie sich nicht mehr so wohl. Zum Teufel mit diesem Volk! Wofür hielten sie sich eigentlich? Flureet ging zu dem rechteckigen gelben Ausgang. „Ich muß gehen“, sagte sie, „wollte nur noch mal kurz hereinsehen, ehe sich meine Transformation vollzieht. Drück mir beide Daumen, Gygyo.“ „Deine Transformation? So bald schon? Na ja, alles Gute. Habe dich von jeher gut leiden können, Flureet.“ Als die Frau den Raum verlassen hatte, warf Mary Ann einen Blick in Gygyos besorgtes Gesicht und erkundigte sich zögernd: „Was bedeutet das -, Transformation'? Und sie sagte, es handele sich um eine umwälzende Transformation. Davon habe ich noch nie etwas gehört.“ Der dunkelhaarige junge Mann starrte wortlos an die Wand. „Ich möchte es lieber nicht sagen“, sprach er schließlich wie zu sich selbst. „Du würdest dich doch nur darüber entsetzen, so wie zum Beispiel über unser aktives Essen. Da wir gerade vom Essen reden - ich habe Hunger. Hunger, hörst du? Einen Bärenhunger!“ 190 William Tenn – Die Welt der zukunft
Ein Abschnitt der Wand begann heftig zu erzittern, als seine Stimme lauter wurde. Ein Arm kam zum Vorschein. Am Ende des Armes erschien ein Tablett. Im Stehen begann Gygyo von dem Tablett zu essen. Mary Ann bot er nichts an, was ihr nur recht war. Auf den ersten Blick hatte sie erkannt, daß es sich um jenes spaghettiartiges Zeug handelte, das er so gern aß. Vielleicht schmeckte es. Vielleicht auch nicht. Sie würde es niemals erfahren. Sie wußte nur, daß sie sich um keinen Preis dazu überwinden konnte, von einer Speise zu kosten, die sich einem in den Mund schlängelte und sich, dort angelangt, behaglich ringelte. Das war ein weiterer Nachteil dieser Welt: Der Speiseplan dieser Menschen! Gygyo schaute auf und sah ihr Gesicht. „Ich wünschte, du würdest es einmal probieren, Mary Ann“, sagte er wehmütig. „Es würde dir ein ganz neues Eßgefühl vermitteln. Außer Geschmack, Zusammensetzung und Aroma würdest du noch in den Genuß der Eigenbewegung kommen. Denk doch nur: Das Essen liegt nicht leblos in deinem Mund, sondern drückt sein Verlangen aus, gegessen zu werden. Sogar dein Freund Winthrop, ein ganz besonderer Feinschmecker, mußte neulich eingestehen, daß zentaurianisches Libalilil eines seiner Leibgerichte ist. Du mußt nämlich wissen, diese Speise ist telepathisch veranlagt und kann ihren Geschmack dem Wunsch des jeweiligen Essers anpassen. Dadurch erhält man...“ „Bitte, hör auf damit! Schon der Gedanke macht mich ganz krank.“ „Schon gut. „ Er beendete seine Mahlzeit und nickte der Wand zu. Sie zog den Arm zurück und ließ das Tablett verschwinden. „Ich geb's auf. Ich wollte nur, daß du diese 191 William Tenn – Die Welt der zukunft
Speise vor deiner Abreise einmal kostest. Nur eine kleine Kostprobe.“ „Da du gerade von der Abreise sprichst: Aus diesem Grund bin ich heute gekommen. Wir haben Schwierigkeiten.“ „Oh, Mary Ann! Und ich dachte, du wärest meinetwegen gekommen“, sagte er leise und ließ enttäuscht den Kopf hängen. Sie wußte nicht recht, ob er sich über sie lustig machte oder es ernst meinte; vorsichtshalber wurde sie zunächst einmal böse. „Hör mal, Gygyo Rablin, du bist der allerletzte Mann auf Erden - in der Vergangenheit, der Gegenwart und in der Zukunft -, den ich jemals wieder gehen möchte. Und du weißt, warum! Jeder Mann, der einem Mädchen wie mmir zu so e-einer Z-Zeit s-so etwas s-sagt... „ Gegen ihren Willen und sehr zu ihrem Mißfallen wurde ihre Stimme unsicher. Tränen traten ihr in die Augen und rollten langsam über ihre Wangen. Entschlossen kniff sie die Lippen zusammen und versuchte, den Tränenstrom zu stoppen. Gygyo trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. Dann setzte er sich auf die Schreibtischkante, die sich heftiger denn je unter ihm bewegte. „Es tut mir leid, Mary Ann, es tut mir wirklich und ehrlich leid. Ich hätte mich niemals in dich verlieben dürfen. Selbst ohne unsere zeitlichen und kulturellen Unterschiede haben wir sehr wenig miteinander gemeinsam, das weißt du so gut wie ich. Aber ich fand dich - nun, ich fand dich sehr attraktiv, außerordentlich attraktiv. Ich fand dich erregender als die Frauen meiner eigenen Zeit, erregender als jede Frau, die ich jemals auf meinen Reisen in die Zukunft kennengelernt habe. Ich konnte dir nicht widerstehen. Was ich nicht vor 192 William Tenn – Die Welt der zukunft
ausahnen konnte, war die deprimierende Wirkung, die deine besonderen kosmetischen Eigenheiten auf mich haben würden. Und als ich dich berührte, war ich tatsächlich etwas erstaunt.“ „Das war es nicht! Aber was du gesagt hast! Du bist mir mit deinem Zeigefinger über Gesicht und Lippen gefahren und hast dauernd gesagt: ‚Fet-tig! Fet-tig!‘“ Sie hatte sich wieder vollkommen in der Gewalt und äffte ihn nach. Gygyo zuckte mit den Achseln. „Ich habe gesagt, es tut mir leid, und genauso habe ich es auch gemeint. Aber, Mary Ann, wenn du nur wüßtest, wie meine tastempfindlichen Finger auf das Zeug reagieren! Dieser verwischte rote Lippenstift - und der feinkörnige Nonsens auf deinen Wangen! Es gibt keine Entschuldigung für mein Tun, das weiß ich genau, aber ich möchte dir wenigstens verständlich machen, weshalb ich so reagieren mußte.“ „Ich nehme an, du würdest mich viel anziehender finden, wenn ich mir auch den Kopf rasierte - wie diese entsetzliche Flureet!“ Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Nein, Mary Ann, niemals könntest du wie sie sein, und sie könnte niemals so sein wie du. Zwei ganz verschiedene Auffassungen von Fraulichkeit und Schönheit stehen sich gegenüber. In deiner Zeit betonte man vor allem die physische Ähnlichkeit, man nimmt gewisse Hilfsmittel, durch die alle Frauen einem universell anerkannten Ideal nahezukommen versuchen, einem Ideal, das sich aus roten Lippen, zarter Haut und einer ganz besonderen Körperform zusammensetzt. Wir dagegen legen vor allem Wert auf den Unterschied, ganz besonders auf den emotionellen Unterschied. Je mehr Gefühle eine Frau an den Tag legen kann, je unterschiedlicher diese sind desto begehrenswerter wird sie für uns. Deshalb auch die rasierten Köpfe: um plötzlich erscheinende, winzige Falten 193 William Tenn – Die Welt der zukunft
sehen zu lassen, die man unter einem dichten Haarschopf niemals erkennen könnte. Deswegen sprechen wir von den kahlen Köpfen der Frauen als von ihrem runzelnden Ruhm.“ Mary Ann ließ die Schultern hängen und starrte auf den Fußboden, der sich fragend ein Stück hob, jedoch gleich darauf wieder zurücksank, als er erkannte, daß man seiner Dienste nicht bedurfte. „Ich verstehe es nicht und werde es wohl nie verstehen können. Ich weiß nur, daß ich mit dir nicht in ein und derselben Welt bleiben kann, Gygyo Rablin - schon der Gedanke daran läßt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen.“ „Ich verstehe dich“, nickte er mit ernstem Gesicht. „Es mag vielleicht ein schwacher Trost sein, aber mir geht es nicht anders. Ehe ich dich kannte, habe ich mich nie so idiotisch benommen, in einer gemischten Kultur auf Mikrobenjagd zu gehen! Aber die Geschichten von deinem abenteuerlichen Freund Edgar Rapp waren mir unter die Haut gegangen. Ich hatte das Gefühl, meine Mannhaftigkeit beweisen zu müssen, wie ihr sagen würdet, Mary Ann.“ „Edgar Rapp?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn an. „Edgar? Ein Abenteurer? Aufregend? Der einzige Tag im Monat, an dem er so etwas wie Sportlichkeit an den Tag legt, ist der Zahltag; dann sitzt er mit seinen Freunden in der Kneipe und pokert!“ Gygyo stand auf. Kopfschüttelnd wanderte er ziellos durch den Raum. „Wie du das sagst, wie verächtlich deine Worte klingen! Da gibt es unablässig psychische Belastungen, das Aufeinanderprallen verschiedener Charaktere - versteckt und offen -, wenn eine Runde nach der anderen gespielt wird, Stunde um Stunde vergeht mit nicht nur zwei, nicht drei Spielern, sondern mit mindestens fünf, sechs oder sieben unterschiedlichen und aufs äußerte angespannten menschlichen Wesen. Die Bluffs, die steigenden Einsätze, 194 William Tenn – Die Welt der zukunft
die Finten, das großartige Spiel! Und für dich bedeutet das alles so gut wie nichts, für dich ist das alles, was man von einem erwachsenen Mann zu erwarten hat! Ich könnte es bestimmt nicht durchhalten; in meiner ganzen Welt gibt es nicht einen einzigen Menschen, der auch nur für eine Viertelstunde lang einer solchen psychischen Spannung standhalten würde.“ Mit weichen, sanften Augen verfolgte sie seinen ziellosen Gang durch den Raum. „Und deshalb bist du unter das fürchterliche Mikroskop gegangen, Gygyo? Um zu beweisen, daß du ein ebensoguter Mann bist wie Edgar beim Poker?“ „Es ist nicht nur das, Mary Ann, obwohl es schon haarsträubend genug ist, das kann ich dir versichern. Es sind noch so viele andere Dinge. Denken wir nur einmal an seinen Gebrauchtwagen, mit dem er dich spazierenfährt. Ein Mann, der eines dieser unförmigen, unberechenbaren Aggregate heil durch den Verkehr eurer Welt steuert - und das an jedem Tag des Jahres! Ich weiß, die Mikrobenjagd war eine pathetische und unechte Sache, aber für mich war es die einzige Möglichkeit, etwas annähernd Gleichwertiges zu vollbringen!“ „Mir brauchst du nichts zu beweisen, Gygyo.“ „Möglich“, sagte er düster, „aber ich kam an einen Punkt, wo ich es mir selbst beweisen mußte. Wenn man recht darüber nachdenkt, sollte man eigentlich den Kopf schütteln, doch dadurch wird das Problem nicht aus der Welt geschafft. Und ich habe etwas bewiesen. Daß zwei Menschen mit völlig verschiedenen Auffassungen von Mann und Frau, mit Auffassungen, die ihnen von Geburt an innewohnen, keine Chance haben können, selbst wenn sie sich noch so sehr zueinander hingezogen fühlen. Für mich ist es unmög 195 William Tenn – Die Welt der zukunft
lich, mit dem ständigen Wissen um deine dir angeborene Auffassungen zu leben, und für dich - nun, bestimmt hat dich mein Wesen auch oft abgestoßen. Wir haben keine innere Beziehung zueinander, wir verstehen uns nicht richtig, wir passen nicht zueinander. Wie du bereits sagtest: Wir sollten nicht in derselben Welt leben. Das hat sich inzwischen auf doppelte Weise bewahrheitet - nämlich seit dem Tag, an dem wir herausfanden, wie stark wir uns zueinander hingezogen fühlen.“ Mary Ann nickte, „Ich weiß. Auf einmal hast du mich so kühl behandelt und jenes schreckliche Wort ausgesprochen. Du hast dich innerlich geschüttelt, als du dir die Lippen abgewischt hast - Gygyo, dein Blick gab mir das Gefühl, als ob ich stinke, als ob ich stinke. Ich war am Rande der Verzweiflung. Gleichzeitig jedoch wußte ich auch, daß ich aus deiner Zeit verschwinden mußte, daß dein Universum nicht der geeignete Ort für mich war. Aber wenn Winthrop so weitermacht, dann - weiß ich bald nicht mehr, was ich tun soll!“ „Erzähle mir etwas von der Sache. „ Er versuchte, seine Erregung zu überwinden, als er sich neben ihr auf einem Teil des hochstehenden Fußbodens niederließ. Als sie ihm alles erzählt hatte, war ihm nichts mehr davon anzumerken. Er schien die innerliche Trennung bereits vollzogen zu haben. Enttäuscht bemerkte Mary Ann, wie er sich immer mehr in den verantwortungsbewußten, intelligenten und leicht hochmütigen jungen Mann des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts zurückverwandelte. Sie fühlte, wie ihre eigene Unsicherheit wuchs, sie wurde sich all ihrer Unzulänglichkeiten bewußt. „Ich kann nichts für dich tun“, sagte er. „Obwohl ich es mir wünschte.“ 196 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Aber es handelt sich um ein echtes Problem für uns!“ warf sie verzweifelt ein. „Wie furchtbar wäre es, wenn ich für immer hierbleiben müßte, wenn ich nicht rechtzeitig von hier fortkäme!“ „Trotzdem kann ich nichts tun. Wahrscheinlich wirst du mich wieder nicht verstehen, Mary Ann, aber ich kann Winthrop nicht zum Gehen zwingen. Ich kann dir keinen Rat geben, wie man ihn dazu zwingen könnte. Ich habe keine Ahnung, wie man ihn beeinflussen könnte. Siehst du, unsere ganze Sozialstruktur spielt dabei eine entscheidende Rolle, die weit wichtiger ist als unsere persönlichen Schwierigkeiten, wie wichtig sie uns auch gerade vorkommen mögen. In meiner Welt, das sagt auch schon Storku, kann man solche Dinge nicht tun. Und das, meine Süße, ist alles.“ Mary Ann ließ sich zurücksinken. Es hätte gar nicht erst seiner letzten Worte bedurft, um ihr zu Bewußtsein zu bringen, daß er sich jetzt wieder voll und ganz in der Gewalt hatte, daß er wieder auf sie herabblickte, wie man - um es vornehm auszudrücken - auf eine gänzlich andersartige Spezies herabblickt. Nur zu gut wußte sie, was geschehen würde. Zweimal schon hatte sie sich einer ähnlichen Situation gegenübergesehen. Erst vor zwei Monaten war ein redegewandter Bezirksvertreter ihrer Gesellschaft mit ihr ausgegangen und hätte sie um ein Haar aus dem Gleichgewicht gebracht. Gerade als sie den Punkt erreicht hatte, an dem ihr der reichlich genossene Wein bunte Träume vorgaukelte, hatte sie eine Zigarette aus der Tasche gezogen und ihn verträumt und hilflos um Feuer gebeten. Mit der Geste eines Grandseigneurs hatte der Vertreter das Feuerzeug gezückt, doch es funktionierte nicht. Er hatte geflucht, es noch ein paarmal erfolglos versucht, dann hatte er den Mechanismus wild mit den Fingernägeln bearbeitet. In diesen wenigen 197 William Tenn – Die Welt der zukunft
Augenblicken hatte Mary Ann die selbstgefällige Oberfläche seiner Persönlichkeit zerspringen sehen, und die darunterliegende Verzweiflung, die den eigentlichen Teil seines Ich bildete, war zum Vorschein gekommen. Und da sah sie in ihm nicht mehr den charmanten, erfolgreichen und redegewandten jungen Mann, sondern ein voll Minderwertigkeitskomplexe steckendes Wesen, das von der gräßlichen Furcht besessen war, ein sorgsam vorbereitetes Unternehmen könne an einer unwichtigen Kleinigkeit scheitern und das ganze Geschäft verderben. Und tatsächlich wurde nichts daraus. Als er sie wieder anschaute, sah er den kühlen Ausdruck plötzlichen Verstehens in ihren Augen. Er biß sich auf die Lippen. Trotzdem unternahm er noch einen letzten Versuch. Um jeden Preis wollte er die Situation noch zu seinen Gunsten beeinflussen, doch so glänzend er sie auch unterhielt, so geschickt er ihre Aufmerksamkeit zu fesseln suchte - sie war ihm überlegen. Sie hatte ihn durchschaut, hatte einen Blick in seine Seele werfen können und die Abgründe erblickt, die er so weltmännisch zu überspielen trachtete. Sie hatte irgendwie Mitleid mit ihm gehabt, als sie ihn darum gebeten hatte, sie nach Hause zu bringen. Doch dieses Mitleid hatte weniger der Person gegolten, in die sie sich urn ein Haar verliebt hätte, es war vielmehr das Mitleid gewesen, wie sie es für jedes beliebige Kind empfunden hätte, das etwas zu vollbringen versuchte und dann einsah, daß es jenseits seiner Kraft lag. Ob Gygyo im Augenblick von dem gleichen Gefühl bewegt wurde? Wut und Verzweiflung breiteten sich in ihr aus, und sie fühlte, daß sie ihn an einer sehr persönlichen Stelle packen mußte. Sie mußte das Lächeln von seinen Zügen wischen. 198 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Natürlich“, sagte sie und griff die erste beste Eingebung auf, „wäre es nicht gut für dich, wenn Winthrop nicht mit uns zurückginge.“ Fragend sah er sie an. „Für mich?“ „Nun ja, denn wenn Winthrop nicht zurückkehrt, müssen wir alle hierbleiben. Und wenn wir hier festgenagelt sind, werden deine Zeitgenossen, die augenblicklich im zwanzigsten Jahrhundert zu Gast sind, ebenfalls dort festgenagelt sein. Du bist der Temporalinspektor, du trägst die Verantwortung - ist es nicht so? Die Sache könnte dich deine Stellung kosten.“ „Meine liebe Mary Ann! Ich kann meinen Posten nicht verlieren. Er gehört mir, bis ich ihn nicht mehr will. Hinausgeworfen werden - welch ein Einfall! Nächstens sagst du mir, man sollte mir eigentlich die Ohren abschneiden!“ Zu ihrer Empörung bekam er einen Lachanfall. Wenigstens hatte sie seine Laune verbessert; niemand konnte behaupten, sie habe nicht zu seiner Unterhaltung beigetragen. Meine liebe Mary Ann! Das tat weh! „Fühlst du dich denn nicht verantwortlich für uns? Fühlst du überhaupt etwas?“ „Was ich auch fühlen mag, Verantwortung ist auf keinen Fall dabei. Die fünf Menschen, die sich freiwillig für die Reise in euer Jahrhundert gemeldet haben, waren intelligente, gebildete und verantwortungsbewußte Bürger. Sie wußten, daß mit der Reise gewisse Risiken verbunden waren.“ Erregt sprang sie auf. „Aber woher sollten sie wissen, daß Winthrop auf stur schaltet? Und woher sollten wir, Gygyo, woher sollten wir das wissen?“ „Selbst wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß diese Möglichkeit sehr unwahrscheinlich war“, meinte er 199 William Tenn – Die Welt der zukunft
und faßte sie am Arm, bis sie neben ihm saß, „so muß man doch einkalkulieren, daß ein Sprung über einen Zeitraum von fünfhundert Jahren gewisse Gefahren mit sich bringen muß. Nicht zurückkehren zu können ist eine dieser Gefahren. Weiterhin muß man daran denken, daß mindestens ein oder zwei der Teilnehmer des Unternehmens diese Gefahr erkannten - wenigstens im Unterbewußtsein - und dennoch die möglichen Folgen auf sich nahmen. Geht man von all diesen Voraussetzungen aus, dann wäre ein gewaltsames Einschreiten ein schweres Verbrechen, nicht nur gegen Winthrops unterbewußte Wünsche, sondern ebenfalls gegen die unterbewußten Motivierungen solcher Leute - und beides wiegt in unserem Zeitalter gleich schwer. So ist es, Mary Ann! Einfacher kann man es nicht erklären. Verstehst du es jetzt?“ „Ein - wenig“, gab sie zu. „Es ist ungefähr so wie bei Flureet, die dich nicht retten wollte, als du bei der Mikrobenjagd fast ums Leben kamst, weil du vielleicht unbewußt den Tod gesucht hast?“ „Richtig! Und glaube mir, Fureet hätte keinen Finger krumm gemacht. Alter Freund oder nicht, dein romantisches zwanzigstes Jahrhundert oder nicht, wenn sie sich nicht an der Schwelle einer umwälzenden Transformation befunden hätte, durch die ihr Wesen von sämtlichen normalen Auffassungen und zur Zeit gültigen menschlichen Denkformen befreit wird.“ „Was hat es nun eigentlich mit dieser umwälzenden Transformation auf sich?“ Heftig schüttelte Gygyo den Kopf. „Frag mich bitte nicht danach. Du würdest es bestimmt nicht verstehen, es würde dir nicht gefallen - und es ist völlig unwichtig für dich. Es ist eine der Besonderheiten unserer Zeit. Für uns ist es ungefähr gleichbedeutend mit eurem Sensationsjournalismus 200 William Tenn – Die Welt der zukunft
oder der Spannung in einer Wahlnacht. Du verstehst wohl eher, wie wir den exzentrischen Impuls des Individuums zu schützen und zu fördern trachten, selbst wenn er zum Selbstmord führen sollte. Ich möchte es einmal auf folgenden Nenner bringen. Die französische Revolution stand unter dem Motto: Liberte, Egalite, Fraternite; die amerikanische Revolution hatte das Leitmotiv: Life, Liberty and the Pursuit of Happiness. Wir glauben, daß der ganze Sinn unserer Zivilisation in folgenden Worten liegt: Die geheiligte Unantastbarkeit des Individuums und der individuelle exzentrische Impuls. Dabei ist vor allem der letzte Teil wichtig, denn ohne ihn könnte sich unsere Gesellschaft nach Belieben in das Leben des Individuums einmischen; ein Mensch hätte dann noch nicht einmal das Grundrecht, sich selbst zu zerstören, ohne sich von einem Regierungsbeamten zuvor die notwendigen Papiere ausschreiben zu lassen. Ein Mensch, der die Absicht...“ Entschlossen stand Mary Ann auf. „Schön und gut, aber dieser Unsinn interessiert mich nicht im geringsten. Du willst uns nicht helfen, dir ist es gleichgültig, wenn wir für den Rest unseres Lebens an diese Welt gekettet sind. Und das wär's! Ich gehe jetzt.“ „Liebes Mädchen, was erwartest du denn von mir? Ich bin keine Orakelmaschine, ich bin nur ein Mensch.“ „Ein Mensch l“ rief sie aus. „Ein Mensch? Du bezeichnest dich als Menschen? Ha, ein richtiger Mensch - ein echter Mann - ein wirklicher Mann würde einfach - ach, ich geb's auf!“ Der dunkelhaarige junge Mann erhob sich achselzuckend. Er ließ einen Jumper kommen. Als er neben ihm materialisierte, machte er eine höfliche Handbewegung. Mary Ann wollte zu dem Jumper eilen, blieb jedoch noch einmal stehen und streckte ihm die Hand entgegen. 201 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Gygyo“, sagte sie, „ob wir nun bleiben oder zurückkehren, ich werde dich nie wiedersehen. Ich habe mich endgültig dazu entschlossen. Doch eines solltest du noch wissen.“ Er schien zu ahnen, was sie auf dem Herzen hatte und senkte den Blick. Sein Kopf beugte sich über ihre Hand. Mary Ann sah es, und ihre Stimme wurde sanfter und weicher. „Ich möchte nur - ich habe - oh, Gygyo, ich wollte dir nur noch sagen, daß du der einzige Mann bist, den ich jemals geliebt habe. Den ich aus tiefster Seele und von ganzem Herzen geliebt habe. Das wollte ich dir nur sagen, Gygyo.“ Er antwortete nicht. Immer noch hielt er ihre Hand umklammert. Seine Augen konnte sie nicht sehen. „Gygyo“, sagte sie mit schwankender Stimme. „Gygyo! Du fühlst doch dasselbe. Hast du nicht...“ Schließlich hob Gygyo den Kopf. Ein Ausdruck der Verwunderung lag auf seinem Gesicht. Er deutete auf ihre Hand, die er gehalten hatte. Die Fingernägel waren rot lakkiert. „Warum, in aller Welt“, fragte er, „bemalst du dir nur die Fingernägel? Die meisten primitiven Völker, bei denen so etwas Mode war, bemalten sich auch andere und größere Körperteile. Man könnte wenigstens erwarten, daß du die ganze Hand färbst, Mary Ann! Habe ich wieder etwas Falsches gesagt?“ Laut aufschluchzend rannte das Mädchen zum Jumper. Sie kehrte zurück zu Mrs. Brucks und erzählte ihr alles. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, erklärte sie auch, weshalb ihnen Gygyo Rablin, der Temporalinspektor, nicht helfen konnte oder wollte, sobald die Rede auf Winthrops Sturheit kam. 202 William Tenn – Die Welt der zukunft
Mit düsterer Miene blickte sich Dave Pollock in dem ovalen Raum um. „Heißt das, wir müssen aufgeben? Nicht ein einziger Mensch in dieser wunderbaren, hochentwickelten Zukunft will uns helfen, wieder zurück in unsere Zeit und zu unseren Familien zu kommen - und jede Selbsthilfe ist ausgeschlossen. In der Tat, eine schöne neue Welt! Echte Errungenschaften! Wahrer Fortschritt!“ „Sie sind am wenigsten dazu berechtigt, Ihren Mund so weit aufzureißen, junger Freund“, murmelte Mr. Mead von seinem Platz am anderen Ende des Raumes. In rhythmischen Abständen krümmte sich sein Schlips nach oben und versuchte, seine Lippen zu berühren; mit einer schon fast automatischen Handbewegung strich er ihn jedesmal wieder glatt. „Wir haben uns immerhin bemüht, unsere Lage zu retten. Sie können das nicht von sich behaupten.“ „Ollie, alter Knabe, sagen Sie mir, was ich tun soll, und ich bin zu allen Schandtaten bereit. Ich entrichte vielleicht keine riesige Einkommensteuer, aber man hat mir beigebracht, meinen Verstand zu gebrauchen. Ich würde nichts lieber tun, als eine vernünftige Möglichkeit zu finden, wie wir unsere Lage verbessern können. Es ist mir jedoch klar, daß man mit dem ganzen hysterischen Getue, mit Tränen, Gewalt und Egoismus gar nichts erreichen kann. Sie haben ja gesehen, was dabei herausgekommen ist.“ „Was soll das?“ Mrs. Drucks deutete auf die kleine goldene Armbanduhr, die sie um ihr Handgelenk trug. „Nur noch fünfundvierzig Minuten bis sechs Uhr. Was können wir in fünfundvierzig Minuten tun? Ein kurzfristiges Wunder vollbringen? Zaubersprüche heruntermurmeln? Ich glaube, meinen Barney werde ich nicht wiedersehen.“ Ärgerlich sah der junge Mann sie an. „Ich rede hier nicht von Wundern und Zaubersprüchen. Ich spreche von Logik. Von Logik und der kühlen Wertung der Fakten. Diesen 203 William Tenn – Die Welt der zukunft
Menschen stehen nicht nur historische Unterlagen zur Verfügung, die bis in unsere Zeit zurückreichen, sie stehen auch in Verbindung mit der Zukunft - mit ihrer Zukunft. Das bedeutet, sie verfügen auch über Unterlagen, die bis in ihre Zeit zurückreichen.“ Mrs. Drucks wurde merklich zuversichtlicher. Sie hörte für ihr Leben gern kluge Leute reden. Sie nickte. „Und?“ „Liegt die Antwort nicht klar auf der Hand? Die Leute, die man mit uns ausgetauscht hat - die fünf, die sich jetzt auf unserer Welt befinden - die müssen im voraus gewußt haben, daß Winthrop stur sein würde. Diesbezügliche historische Unterlagen existierten in der Zukunft. Sie hätten sich sonst nicht darauf eingelassen - bestimmt möchten sie nicht den Rest ihres Lebens in einem rauhen und für sie unzivilisierten Milieu verbringen -, wenn sie nicht einen Ausweg gekannt hätten, wenn sie nicht gewußt hätten, was zu tun ist. Und diesen Ausweg müssen wir so schnell wie möglich finden.“ „Vielleicht“, meinte Mary Ann Carthington und versuchte tapfer, das Zittern ihrer Stimme zu verbergen, „vielleicht hat es die nächste Zukunft vor ihnen geheimgehalten. Oder vielleicht litten alle fünf heftig unter einem individuellen exzentrischen Impuls, wie man hier sagt.“ „Mit Ihrer Auffassung des individuellen exzentrischen Impulses hat das nichts zu tun, Mary Ann“, entgegnete Dave Pollock mit einer Grimasse. „Ich will mich jetzt nicht näher damit beschäftigen, aber Sie können mir glauben, damit hat das nichts zu tun! Und ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß die Temporalbotschaften die Sache vor ihren Zeitgenossen geheimhalten. Nein, meiner Ansicht nach haben wir die Lösung in unmittelbarer Nähe, wir müssen bloß darauf kommen.“ 204 William Tenn – Die Welt der zukunft
Oliver T. Mead hatte mit einem gespannten Gesichtsausdruck dagesessen. Fast hätte man denken können, er suche eine Tatsache zu ergründen, die weit am jenseitigen Ende eines langen Tunnels voller Unglück verborgen lag. Jetzt richtete er sich steil auf und sagte: „Storku hat davon gesprochen! Die Temporalbotschaft. Aber er hielt es nicht für vorteilhaft, die Leute darauf anzusprechen. Sie seien zu sehr mit weitschweifigen geschichtlichen Problemen beschäftigt, als daß sie für uns Zeit fänden. Aber er machte noch einen weiteren Vorschlag. Wie war das doch gleich?“ Alle starrten ihn an und warteten auf seine Antwort. Pollock wollte gerade eine unpassende Bemerkung über Meads „bewundernswürdiges Gedächtnis“ fallenlassen, da klatschte der rundliche Mann laut in die Hände. „Ich hab's! Die Orakelmaschine! Er sagte, wir könnten die Orakelmaschine zu Rate ziehen. Zwar sei die Antwort nicht leicht zu interpretieren, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen. Unsere Lage ist so gut wie aussichtslos, und Bettler dürfen nicht wählerisch sein. Wenn wir irgendeine Antwort bekämen, irgendeine x-beliebige Antwort...“ Mary Ann Carthington schaute von ihrem kleinen Kosmetikkoffer auf, mit dessen Inhalt sie die Spuren der Tränen beseitigte. „Jetzt, da Sie es sagen, Mr. Mead, erinnere ich mich, daß der Temporalinspektor etwas Ähnliches zu mir gesagt hat. Von der Orakelmaschine, meine ich.“ „Hat er das? Da haben wir es. Meine Damen und Herren, uns bleibt noch eine Chance offen. Und nun zu der Person, die es diesmal tun muß. Ich bin sicher, auch ohne großes Rechenexempel sind wir uns darüber im klaren, wer von uns am besten dazu befähigt ist, mit so einer komplizierten Maschine umzugehen.“
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Alle Blicke richteten sich auf Dave Pollock, der schwer schluckte und mit heiserer Stimme fragte: „Bin ich etwa gemeint?“ „So ist es, junger Mann“, sagte Mr. Mead. „Sie sind der einzige wissenschaftliche Experte unter uns. Sie sind Chemie- und Physikprofessor.“ „Ich bin Lehrer, das ist alles, naturwissenschaftlicher Lehrer an einer höheren Schuhe. Und Sie wissen, was ich vom Umgang mit Orakelmaschinen halte. Schon der bloße Gedanke, mich einer solchen Maschine nähern zu müssen, macht mich ganz krank. Aus meiner Sicht ist das die schauderhafteste und dekadenteste Erfindung dieser Zivilisation. Lieber würde ich...“ „Ich wurde auch nicht krank, als ich mich mit diesem verrückten Mr. Winthrop herumstreiten mußte!“ unterbrach Mrs. Brucks seinen Redefluß. „Bis dahin hatte ich diesen Raum noch nie verlassen. Meinen Sie, für mich war es ein Spaß, ihn von einer Sekunde zur anderen die Kleidung wechseln zu sehen? Vom Pyjama zum Abendkleid? Und seine dummen Sprüche - riechen Sie dies vom Mars, kosten Sie jenes von der Venus. Glauben Sie etwa, Mr. Pollock, mir hat das Spaß gemacht? Aber einer von uns mußte es tun, also bot ich mich an. Wir verlangen doch nur von Ihnen, daß Sie wenigstens einen Versuch unternehmen. Einen Versuch könnten Sie doch wenigstens machen?“ „Und ich kann Ihnen versichern“, warf Mary Ann Carthington schnell ein, „daß Gygyo Rablin die allerletzte Person der Welt ist, zu der ich freiwillig ginge. Es ist eine persönliche Angelegenheit, die ich jetzt nicht näher behandeln will, wenn es Ihnen recht ist, aber ich würde lieber sterben als das Ganze noch einmal mitzumachen. Ich habe es getan, weil es eine winzige Chance für uns war, wieder 206 William Tenn – Die Welt der zukunft
nach Hause zu gelangen. Ich glaube nicht, daß wir zuviel verlangen, wenn wir Sie jetzt um einen Gefallen bitten.“ Mr. Mead nickte. „Ganz Ihrer Ansicht, junge Dame. Storku ist ein Mann, dem ich seit meiner Ankunft hier aus dem Weg gegangen bin und den ich nicht ausstehen kann; trotzdem habe ich mich dazu überreden lassen, mit auf das Schreifeld zu... „ Er brütete einen Moment lang dumpf vor sich hin, als seine Golfschuhe anheimelnde Bewegungen zu machen begannen, schüttelte er sich und fuhr fort: „Sie sollten nicht so hohe Bogen spucken, Pollock, sondern endlich zur Sache kommen. Einsteins Relativitätstheorie bringt uns nicht ins Jahr 1987 zurück, ebensowenig wie Ihr Doktorgrad oder was Sie haben. Wir müssen jetzt Entschlossenheit zeigen, Entschlossenheit mit einem ganz großen E am Anfang und sonst nichts.“ „Schon recht. Ich werd's versuchen.“ „Und noch etwas“, sagte Mr. Mead und gab dem kleinen boshaften Gedanken ein paar Sekunden Zeit, auch in die äußersten Windungen seines Gehirns vorzudringen. „Sie nehmen einen Jumper. Sie sagten selbst, daß wir nicht genügend Zeit hätten, um zu laufen. Jetzt trifft diese Tatsache um so mehr zu, als wir mächtig im Druck sind. Ich will kein Jammern und Klagen hören, der Jumper bekäme Ihnen nicht und so weiter. Wenn Miß Carthington und ich einen Jumper nehmen konnten, dann können Sie ebenfalls einen nehmen.“ Dave Pollock mußte all seine Geduld zusammennehmen. „Zweifeln Sie etwa daran?“ erkundigte er sich leicht gereizt. „Habe mich bisher fast ausschließlich mit Jumpern fortbewegt. Ich habe keine Angst vor dem technischen Fortschritt - solange es sich um einen echten Fortschritt handelt. Selbstverständlich werde ich einen Jumper nehmen.“ 207 William Tenn – Die Welt der zukunft
Sein früheres Selbstbewußtsein kehrte allmählich wieder zurück, und er befahl einen Jumper herbei. Als der Apparat erschien, ging er mit eckigen Bewegungen darunter. Sollten sie einmal sehen, wie ein vernünftiger und aufgeklärter Mensch die Sache anpackt, dachte er. Und außerdem hatte er nichts gegen Jumper. Ganz im Gegenteil, er fand sie sogar sehr angenehm. Was er in bezug auf die Orakelmaschine keineswegs behaupten konnte. Aus diesem Grund ließ er sich vor dem Gebäude rematerialisieren, das die Maschine beherbergte. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm guttun und seine Gedanken ordnen. Doch der Bürgersteig war völlig anderer Meinung. Sanft, unmerklich, nichtsdestoweniger zielstrebig begann er, sich unter seinen Füßen in Gang zu setzen. Er kam auf diese Weise rascher voran, als ihm lieb war, und wollte er seine Richtung ändern, so folgte ihm der Bürgersteig sofort nach. Dave Pollock blickte über die verlassene Straße und lächelte resigniert. Der fürsorgliche Bürgersteig konnte ihn auch nicht mehr erschüttern. Auf ähnliche Dinge hatte er sich bereits vor Antritt seiner Reise in die Zukunft gefaßt gemacht - rollende Bürgersteige, diensteifrige Häuser, laufend die Farbe wechselnde Kleidungsstücke, all das hatte er erwartet. Sogar das sich schlangelnde, telepathische Essen und die seltsamen Zusammenstellungen der Mahlzeiten, an denen interstellare Küchenmeister wohl jahrelang herumprobiert hatten, waren nur zu logisch, wenn man bedachte, was wohl ein früherer amerikanischer Kolonist sagen würde, wenn er die fertig verpackten Mahlzeiten sähe, die man in den Supermärkten des zwanzigsten Jahrhunderts fand.
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Diese Dinge, diese Unannehmlichkeiten des täglichen Lebens, sie alle änderten sich im Laufe der Zeit. Doch gewisse Dinge, ganz gewisse Dinge, sollten sich niemals ändern. Als ihn jenes schicksalsschwere Telegramm in Houston im Staate Texas erreicht und davon in Kenntnis gesetzt hatte, daß er von allen Bewohnern der Vereinigten Staaten, daß ausgerechnet er in seier physischen Beschaffenheit und Charakteristik mit einem der angekündigten Gäste aus dem Jahre 2478 n. Chr. identisch war, hatte er vor Freude einen Luftsprung getan. Die Aufmerksamkeit, die man ihm auf einmal im Speisesaal der Fakultät geschenkt hatte, war ebenso unwichtig wie die dicken Schlagzeilen der Lokalzeitungen: SOHN DES „LONE-STAR“-STAATES UNTERWEGS IN DIE ZUKUNFT. Für ihn war es zuallererst eine Art Aufschub. Es war ein Aufschub und eine neue Chance. Die Verantwortung gegenüber seiner Familie, ein sterbender Vater und eine kranke Schwester, hatten ihn damals am Erreichen der notwendigen akademischen Grade gehindert, die ihm einen Lehrstuhl an einer Universität eingetragen hätten. Einen Lehrstuhl, der nicht zu unterschätzendes Prestige, ein höheres Einkommen und bessere Möglichkeiten zur Weiterführung seiner Forschungen bedeutete. Als sich seine familiären Verhältnisse gebessert hatten, war er nochmals zur Schule gegangen. Doch dann hatte ihn eine übereilte Heirat wieder in die alte Tretmühle zurückgeworfen. Ihm war klargeworden, daß er trotz seiner vielen Erfolge und guten Leistungen zu tief in der angenehmen Atmosphäre seiner Nachbarschaft und der modernen höheren Schule verstrickt war, zwischen denen er täglich hin und her pendelte. Dann traf das Telegramm ein. Er gehörte zu der Gruppe von fünf Menschen, die fünfhundert Jahre in die Zukunft reisen 209 William Tenn – Die Welt der zukunft
durften. Inwieweit ihm dies nützlich sein würde, was er aus dieser Chance machen konnte, all das wußte er noch nicht, doch er war aus der Anonymität der Masse ins helle Licht der Öffentlichkeit gerückt. Das allein würde ihm schon irgendwie weiterhelfen. Dave Pollock war sich jedoch erst über die ganze Reichweite seines Glücks klargeworden, als er die anderen vier in Washington D. C. getroffen hatte. Natürlich hatte er davon gehört, wie die klügsten Köpfe des Landes darum gekämpft hatten, in die Gruppe der Zeitreisenden aufgenommen zu werden, um herauszufinden, welche Entwicklung gerade ihr spezielles Fachgebiet im Verlauf eines halben Jahrtausends durchgemacht hatte. Doch erst, als er seine Reisebegleiter näher kennengelernt und gesprochen hatte, erst in diesem Moment war ihm aufgegangen, daß er der einzige Teilnehmer mit einer wissenschaftlichen Ausbildung war. Er würde also der einzige sein, der sich ein wahres Bild vom tatsächlichen Wert des technischen Fortschritt machen könnte! Und vor allem würde er der einzige sein, der die Hauptmerkmale der Zukunft erfassen könnte, der auch die verborgen liegenden Zusammenhänge erkennen konnte! Zuerst war es auch so gewesen. Auf Schritt und Tritt Neues, Unbekanntes, Erregendes. Dann schlichen sich die ersten kleinen Unstimmigkeiten ein; sie kamen wie die Vorboten einer Erkältung. Das Essen, die Kleidung, die Häuser - entweder ließ man es gänzlich außer acht, oder man traf anderweitige Arrangements. Die Menschen waren hochintelligent und sehr gastfreundlich. Sie sorgten dafür, daß man die gewohnten Mahlzeiten des zwanzigsten Jahrhunderts bekam, wenn der Magen ein paarmal revoltiert hatte. Dann die kahlköpfigen Frauen und ihre seltsame Haltung in bezug auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern - nun 210 William Tenn – Die Welt der zukunft
ja, er hatte eine ihm erst kürzlich angetraute Frau zu Hause und brauchte sich nicht mit diesen Frauen abzugeben. Doch das Schreifeld und das Panikstadion standen auf einem ganz anderen Blatt. Dave Pollock war stolz darauf, ein durch und durch von reiner Vernunft beseelter Mensch zu sein. Er war zu Beginn seines Aufenthalts sogar stolz auf die Zukunft gewesen und hatte es als persönliche Rechtfertigung empfunden, daß auch die Menschen dieser Zukunft von der gleichen reinen Vernunft beseelt waren. Aber bei seiner ersten Begegnung mit dem Schreifeld wäre ihm beinahe übel geworden. Es kam ihm unerklärlich vor, daß diese intellektuelle Elite, die er zu Anfang so geschätzt hatte, es aus freien Stücken auf sich nahm, sich in eine wilde, hysterische Horde schreiender Tiere zu verwandeln - und das in regelmäßig wiederkehrenden Zeitabständen... Mit beinahe wissenschaftlicher Genauigkeit hatten sie ihm zu erklären versucht, daß sie nicht von besagter reiner Vernunft beseelt sein könnten, wenn sie sich nicht regelmäßig auf diese Weise befreiten. Ihre Erklärungen hatten einleuchtend geklungen, dennoch stieß ihn dieser Wesenszug aufs äußerste ab. Er wußte genau, daß er sich niemals an diesen Anblick gewöhnen würde. Dennoch konnte man es zur Not noch akzeptieren. Aber die Sache mit dem Schach? Seit seiner Studienzeit hatte sich Dave Pollock für einen guten Schachspieler gehalten. Er war sogar davon überzeugt gewesen, einmal an regelrechten Turnieren teilnehmen zu können, wenn ihm die nötige Übungszeit zur Verfügung stände und er sich voll und ganz auf das Spiel konzentrieren konnte. Er hatte eine Schachzeitschrift abonniert und verfolgte die Meisterschaftskämpfe mit großer Anteilnahme. Er hatte sich gefragt, wie das Schach der Zukunft aussehen würde. Das königliche Spiel, das so viele Jahr 211 William Tenn – Die Welt der zukunft
hunderte überlebt hatte, würde bestimmt auch weitere fünfhundert Jahre überleben. Wie würde es aussehen? Eine Art dreidimensionales Schach? Oder vielleicht noch komplizierter? Das schlimmste war, daß das Schach der Zukunft mit dem des zwanzigsten Jahrhunderts noch so gut wie identisch war. Fast jeder Mensch des Jahres 2487 spielte es; fast jeder Mensch des Jahres 2487 hatte seine Freude daran. Doch es gab keine menschlichen Meisterspieler. Es gab keine menschlichen Kontrahenten. Es gab nur Schachmaschinen. Und sie konnten jeden schlagen. „Welchen Sinn hat es“, hatte er hervorgestoßen, „mit einer Maschine zu spielen, die über Millionen von meisterhaften Zügen und Gegenzügen verfügt, die man in ihr Elektronengehirn eingebaut hat? Die einen Selektormechanismus hat, der ihr über alle jemals getätigten Züge Auskunft geben kann? Eine Maschine, die nur zu einem Zweck gebaut wurde: niemals geschlagen zu werden? Welchen Sinn hat das wo ist das Erregende?“ „Wir spielen nicht, um zu gewinnen“, hatte man ihm verwundert erklärt. „Wir spielen um des Spieles willen. So ist es mit all unseren Spielen. Aggressive Gefühle werden durch einen Schrei oder eine Panik abreagiert, Spiele dienen nur zur geistigen und körperlichen Ertüchtigung. Deshalb wollen wir, wenn wir einmal spielen, nur gegen die Besten spielen. Außerdem gelingt es dann und wann einem hervorragenden Spieler, die Maschine in Verlegenheit zu bringen. Und das ist ein Ereignis. Das ruft Erregung hervor.“ Nur wer das Schachspiel so liebte wie er, dachte Dave Pollock, konnte ermessen, was die Existenz dieser Maschi 212 William Tenn – Die Welt der zukunft
nen aus dem Spiel machte. Sogar die anderen drei, die noch weniger von den ihnen unverständlichen Mechanismen des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts hielten, hatten ihn mit großen Augen angesehen, als er sich darüber aufregte. Nein, wenn man etwas nicht liebte, dann regte man sich über dessen Degradierung nicht allzusehr auf. Aber immerhin konnten sie die Verirrungen menschlichen Geistes erkennen, der solche Maschinen hervorbrachte. Natürlich war all dies nichts im Vergleich zu der Orakelmaschine. Hier hatten die Verirrungen menschlicher Vernunft bereits den Gipfel überschritten. Für einen logisch und vernünftig denkenden Menschen war dies der Höhepunkt der Geschmacklosigkeit. Die Orakelmaschine. Er blickte auf die Uhr. Nur noch fünfundzwanzig Minuten. Er mußte sich beeilen. Tief atmete er die Luft ein und stieg die hilfreichen Treppenstufen hinauf, die in das Gebäude führten. „Ich heiße Stilia“, sagte eine kahlköpfige Frau mit freundlichem Gesicht und trat ihm in der Vorhalle entgegen. „Heute bin ich Wärterin der Maschine. Kann ich etwas für Sie tun?“ „Ich denke schon. „ Beunruhigt wanderten seine Augen zu der weiter entfernten, bebenden Wand. Hinter dem gelben Rechteck an dieser Wand befand sich das Gehirn der Orakelmaschine. Wie gern würde er dieses Gehirn unter seinen Füßen zermalmen! Statt dessen ließ er sich auf einem Stück des hochschießenden Bodens nieder und wischte sich die schweißnassen Hände ab. Er erzählte der Frau von der knappen Zeit, von Winthrops Sturheit und von ihrer Entscheidung, die Orakelmaschine zu Rate zu ziehen. 213 William Tenn – Die Welt der zukunft
„Oh, Winthrop, ja! Ein netter alter Herr! Vor einer Woche traf ich ihn in der Traumklinik. Wie rege er ist! Wie er sich unserer Kultur anpassen kann! Wir sind sehr stolz auf Winthrop und tun ihm gern jeden Gefallen.“ „Wenn Sie nichts dagegen haben, gute Frau“, sagte Dave Pollock unbeweglich, „dann müssen Sie uns diesmal einen Gefallen tun. Wir brauchen Hilfe. Wir müssen um jeden Preis zurückkehren.“ Stilia lachte. „Natürlich! Wir helfen jedem. Nur Winthrop ist eine - eine Ausnahme. Er bemüht sich am meisten. Warten Sie hier. Ich gehe hinein und unterbreite der Orakelmaschine Ihr Problem. Ich kenne mich gut aus und werde dafür sorgen, daß die entsprechenden Gehirnwindungen mit dem geringsten Zeitverlust arbeiten.“ Sie ging auf das gelbe Rechteck zu. Pollock sah, wie es sich vor ihr ausdehnte und hinter ihr wieder zusammenzog. Nach wenigen Minuten kam sie zurück. „Ich sage Ihnen, wann Sie hineingehen können, Mr. Pollock. Die Maschine arbeitet an Ihrem Problem. Die Antwort, die Sie erhalten werden, wird die allerbeste sein, die man auf Grund der vorhandenen Tatsachen erwarten kann.“ „Danke. „ Er überlegte kurz. „Sagen Sie, wird Ihnen nicht ein Teil Ihres Lebens genommen - Ihres gedanklichen Lebens, meine ich -, wenn Sie jedes persönliche, technische oder alltägliche Problem der Orakelmaschine eingeben, die es viel besser lösen kann?“ Stilia sah ihn Verständnis los an. „Keineswegs! Zuerst einmal ist das Lösen von Problemen nur ein Bruchteil unseres heutigen Geisteslebens. Mit derselben Logik könnten Sie behaupten, wir gäben einen wichtigen Teil unseres Lebens auf, wenn wir zum Bohren einen Elektrobohrer an Stelle eines Handbohrers nähmen. In Ihrer Zeit sind man 214 William Tenn – Die Welt der zukunft
che Leute zweifellos dieser Ansicht; sie haben das offenkundige Privileg, keinen Elektrobohrer zu benutzen. Diejenigen jedoch, die Elektrobohrer benutzen, heben sich ihre physische Kraft für wichtigere Dinge auf. Die Orakelmaschine ist das Hauptwerkzeug unserer Zivilisation; sie ist nur zu einem einzigen Zweck entwickelt worden: Sie soll alle Faktoren eines gestellten Problems in sich aufnehmen und sie mit den schon vorhandenen Daten, die die menschliche Gesellschaft bereits kennt, in Zusammenhang bringen. Doch selbst wenn die Menschen die Orakelmaschine zu Rate ziehen, sind sie oft nicht in der Lage, die Antworten zu verstehen und anzuwenden. Und wenn sie sie verstehen, ziehen sie es oft vor, sich nicht nach ihnen zu richten.“ „Sie wollen sich nicht danach richten? Wo ist da der Sinn? Sie sagten selbst, die Antworten sind die allerbesten, die man auf Grund der vorhandenen Tatsachen erwarten kann.“ „Der Mensch handelt nicht immer sinnvoll. Das ist nämlich die vorherrschende und bequemste Ansicht, Mr. Pollock. Da ist immer noch der exzentrische Impuls des Individuums.“ „Ja, der ist immer noch da“, knurrte er. „Gib deine Persönlichkeit auf und schließe dich dem heulenden Mob auf dem Schreifeld an, verliere dich in der irrsinnigen Masse - aber vergiß nie den exzentrischen Impuls des Individuums. Nie, nie darfst du den exzentrischen Impuls des Individuums vergessen!“ Sie nickte nüchtern. „So ist es - trotz Ihres unmißverständlichen Sarkasmus. Warum können Sie das so schwer begreifen? Der Mensch ist sowohl ein Herdentier als auch ein höchst individualistisch veranlagtes Tier - wir nennen es ein handelndes Tier. Der Herdentrieb muß um jeden Preis befriedigt werden. In der Vergangenheit geschah das durch Kriege, Religionen, Nationalismus, Cliquenbildung oder verschiedene Formen des Gruppenchauvinismus. Der 215 William Tenn – Die Welt der zukunft
Wunsch, die eigene Persönlichkeit zurückzustellen und mit etwas Größerem zu verschmelzen, ist schon seit den Anfängen der Zeitrechnung bekannt. Schreifelder und Panikstadien an allen Orten des Planeten tragen diesem Wunsch Rechnung und lassen ihn harmlos verpuffen.“ „Wenn ich an den Blick des mechanischen Kaninchens denke, würde ich es keineswegs harmlos nennen.“ „Früher waren Menschen an Stelle des mechanischen Kaninchens, und sie sahen viel mitgenommener aus, wenn die Menschenhorde über sie hinweggebraust war“, meinte sie und blickte ihn voll an. „Ja, Mr. Pollock, ich glaube, Sie wissen, was ich damit sagen will. Andererseits müssen jedoch die Instinkte befriedigt werden. Gewöhnlich lassen sie sich durch das Alltagsleben und die Arbeit befriedigen, so wie sich der Herdentrieb durch ganz normale Gruppenbeziehungen und die Identifizierung mit der Menschheit befriedigen läßt. Doch manchmal müssen sich die Instinkte in anderer Form austoben, und dann müssen wir so ein Schreifeld haben - das Konzept des exzentrischen Impulses des Individuums. Beides sind entgegengesetzte Pole derselben Auffassung. Wir verlangen lediglich, daß man sich nicht in die Angelegenheiten eines anderen Menschen einmischt.“ „Und solange das nicht geschieht, ist alles erlaubt!“ „Genau! Alles ist erlaubt. Alles, was ein Mensch aus seinem individuellen exzentrischen Impuls heraus tun will, ist erlaubt. Er wird darin sogar ermutigt. Wir sind nicht nur der Ansicht, daß einige der größten Errungenschaften der Menschheit diesem individuellen exzentrischen Impuls entsprungen sind, sondern wir sind auch davon überzeugt, daß es dem höchsten Ruhm unserer Zivilisation dient, wenn wir solchen durch und durch persönlichen Äußerungen die größte Wertschätzung erweisen.“ 216 William Tenn – Die Welt der zukunft
Gegen seinen Willen empfand Dave Pollock eine gewisse Hochachtung vor ihr. Zweifellos war sie hochintelligent. Wäre seine Karriere nach seinen Vorstellungen verlaufen, hätte er so ein Mädchen ohne Zaudern geheiratet. Und nicht ein Mädchen wie Susie. Obgleich Susie - er fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen würde. Zu seinem Erstaunen stieg ein starkes Heimweh in ihm auf. „Klingt nicht übel“, gab er zu. „Aber damit zu leben, ist wohl etwas ganz anderes. Ich bin wahrscheinlich zu sehr mit meiner eigenen Zeit verbunden, als daß ich es richtig begreifen könnte. Ich kann noch immer nicht recht darüber hinwegkommen, wie groß doch die Unterschiede zwischen unseren Zivilisationen sind. Zwar sprechen wir eine Sprache, aber unsere Auffassungen und Gedanken sind zu sehr voneinander abgewichen.“ Stilia schenkte ihm ein warmes Lächeln und lehnte sich zurück. „Ein Grund für den Besucheraustausch basiert auf der Tatsache, daß in eurer Zeit das Sprachmuster endgültig gefestigt wurde und Sprachverschiebungen ein Ende fanden. Eure kürzlich entwickelten Tonaufnahmegeräte dürften daran schuld sein. Nicht beendet wurde jedoch der technische Fortschritt. Der soziologische Fortschritt machte einen Sprung nach vorn. Das geschah aber erst im letzten Abschnitt des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts durch die Erfindung der...“ Von der hinteren Wand kam ein Summen. Stilia konnte ihren Satz nicht zu Ende sprechen und stand auf. „Die Orakelmaschine hat Ihr Problem gelöst. Gehen Sie zu ihr hinein, nehmen Sie vor ihr Platz und wiederholen Sie Ihre Frage in der einfachsten Form. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“ Den habe ich verdammt nötig, dachte Dave Pollock, als er durch das gelbe Rechteck trat und in einen winzigen Raum kam. Trotz der erklärenden Worte Stilias fühlte er sich in 217 William Tenn – Die Welt der zukunft
dieser Welt unkontrollierter Herdentriebe und individueller exzentrischer Impulse nicht zu Hause. Er war kein Parasit; er war kein Winthrop; er wollte zurück in seine eigene Welt. Vor allem jedoch wollte er nicht länger in einer Umgebung verweilen müssen, in der jede Frage von den bläulichen und bebenden Wänden beantwortet wurde, zwischen denen er sich augenblicklich befand. Aber er hatte ein Problem, das er allein nicht lösen konnte. Und diese Maschine konnte es. Er setzte sich. „Was können wir gegen Winthrops Sturheit tun?“ fragte er und kam sich wie ein Wilder im Urwald vor, der aus einer Handvoll bleicher Knochen die Zukunft deuten wollte. Eine tiefe Stimme, weder männlich noch weiblich, erscholl aus den vier Wänden, von der Decke und vom Fußboden. „Begebt euch zur festgesetzten Zeit in die Temporalbotschaft.“ Er wartete. Aber nichts kam mehr. Die Wände schwiegen. „Das würde uns wenig nützen“, erklärte er schließlich. „Winthrop ist stur, er will nicht mit uns zurückkehren. Und wenn wir nicht miteinander zurückkehren, kann keiner von uns zurückkehren. Die Translokation läßt sich dann nicht durchführen. Ich will nur wissen, wie wir Winthrop dazu bringen können, ohne...“ „Begebt euch zur festgesetzten Zeit in die Temporalbotschaft.“ Das war anscheinend alles. Dave Pollock stand auf und verließ den Raum. Er berichtete Stilia, was geschehen war. „Es kommt mir so vor“, fügte er etwas verächtlich hinzu, „als habe die Maschine unser 218 William Tenn – Die Welt der zukunft
Problem als zu schwierig empfunden und will um jeden Preis das Thema wechseln.“ „Trotzdem würde ich ihren Rat befolgen. Das heißt, wenn Sie keine andere und bessere Interpretation der Antwort wissen. „Oder wenn sich mein individueller exzentrischer Impuls dagegen sträubt?“ Diesmal kam sein Sarkasmus nicht an. Weit riß sie die Augen auf. „Das wäre das allerbeste! Denken Sie nur, wenn Sie endlich davon Gebrauch machen könnten!“ Also ging Dave Pollock zurück in Mrs. Drucks' Raum. Mit erbitterter Stimme erzählte er ihr und den anderen, welch lächerliche Antwort ihm die Orakelmaschine zum Problem von Winthrops Sturheit gegeben hatte. Winthrop war nicht mehr stur. Winthrop war tot. Kurz vor sechs jedoch fanden sich alle vier - Mrs. Drucks, Oliver T. Mead, Mary Ann Carthington, Dave Pollock - im Translokationszimmer der Temporalbotschaft ein. Nicht, weil sie sich besondere Hoffnungen machten, aber was konnten sie sonst tun? Entmutigt nahmen sie ihre Plätze ein, von denen aus die Translokation vorgenommen werden sollte. Ihre Blicke hingen an den Zeigern ihrer Uhren. Es war genau eine Minute vor sechs, da betrat eine größere Gruppe von Bürgern des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts das Translokationszimmer. Gygyo Rablin, der Temporalinspektor, war unter ihnen, ebenso Stilia, die Betreuerin der Orakelmaschine, Flureet mit dem gequälten Blick eines Menschen, der auf seine Transformation wartet, Mr. Stocku, der kurz vom Geruchsfestival auf der Venus 219 William Tenn – Die Welt der zukunft
herübergekommen war, und viele, viele andere, die sie nicht kannten. Sie trugen Winthrop zu seinem Platz und traten mit ehrfürchtigen Gesichtern zur Seite. Fast hatte man den Eindruck, sie hätten die Erfüllung einer religiösen Zeremonie gesehen - und so war es auch. Die Translokation begann. Winthrop war ein alter Mann - vierundsechzig, um es genau zu sagen. Während der vergangenen zwei Wochen hatte er aufregende Dinge durchgemacht. Er war auf Mikroben- und Unterwasserjagden gewesen, hatte Abstecher zu unendlich weit entfernten Planeten unternommen, war auf zahlreichen phantastischen Exkursionen gewesen. Körper und Geist hatten unter gänzlich fremden Einflüssen gestanden. Er war über das Schreifeld gekeucht, im Panikstadion vor Entsetzen erstarrt. Und vor allem hatte er sich an den Mahlzeiten ferner Planeten gelabt, deren Zusammensetzung sein Körper nicht kannte und vertrug. Im Gegensatz zu den Menschen des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts war er mit diesen Dingen nicht groß geworden. Alles war gänzlich neu für seinen Körper gewesen. Kein Wunder, daß sie so freudig erstaunt zur Kenntnis genommen hatten, wie sich sein individueller exzentrischer Impuls entwickelte. Kein Wunder, daß sie so besorgt über ihn gewacht hatten.
ENDE
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Zugabe (nicht Part des Buches): IM REICH DER TOTEN Wenn der Feind aus dem Weltall fruchtbarer ist als die Menschheit, kommt man mit der alten Methode des biologischen Nachschubs nicht mehr weiter. Aber für den erfinderischen Menschenverstand ist nichts unmöglich. Er sucht und findet die Lösung des Problems. Ich stand vor dem Außentor des Schlachthofes und spürte, wie sich mein Magen langsam und schmerzhaft zusammenkrampfte, ungefähr so wie damals vor elf Jahren, als ich zuschauen mußte, wie ein ganzer Flottenverband - annähernd 20 000 Mann stark - in der zweiten Schlacht um den Saturn in Stücke geblasen wurde. Aber damals hatten sich die zerfetzten Trümmer der Schiffe auf meiner Sehscheibe befunden, und ich hatte im Geiste die Schreie der Männer gehört, damals waren die kastenähnlichen Fahrzeuge der Eoti durch die schreckliche Zerstörung gestürmt, die sie angerichtet hatten. Das alles hatte den kalten Schweiß erklärt, der sich mir wie eine Schlange um Stirn und Nacken gewunden hatte. Jetzt aber gab es nichts zu sehen als ein großes kahles Gebäude, das nicht anders aussah als die vielen hundert anderen Fabriken in den geschäftigen Vororten von AltChikago, eine ganz gewöhnliche Fabrikanlage, umgeben von einem hohen Zaun mit einem verschlossenen Tor und großen Häfen für Versuchszwecke dahinter - das war der Schlachthof. Doch der Schweiß auf meiner Stirn war kälter, der Krampf in meinem Magen schmerzhafter als jemals zuvor in einer dieser zahllosen blutigen Schlachten, die diesen Ort ins Leben gerufen hatten. 221 William Tenn – Die Welt der zukunft
Was natürlich alles sehr begreiflich war, sagte ich mir. Was ich hier verspürte, war die Urgroßmutter aller Ängste, der fundamentalste Widerwillen, die größte Abneigung, der mein Fleisch nur fähig war. Es war begreiflich - aber das half mir nicht viel. Ich konnte mich immer noch nicht dazu bringen, auf den Posten vor dem Tor zuzugehen. Es war alles ganz gut gegangen, bis ich die riesige Abfalltonne vor dem Zaun gesehen hatte, die Tonne, aus der dieser leichte Gestank kam und die oben dieses grelle Plakat trug: KAMPF DEM VERDERB ALLER ABFALL IN DIE ABFALLTONNEN DENKT DARAN WAS ALT IST, KANN ERNEUERT WERDEN WAS BESCHÄDIGT IST, KANN REPARIERT WERDEN ALLER ABFALL IN DIE ABFALLTONNEN Konservierungspolizei Ich hatte diese viereckigen, in Fächer eingeteilten Tonnen und diese Plakate in jeder Kaserne, jedem Lazarett, jedem Genesungsheim zwischen hier und den Asteroiden gesehen. Aber hier an diesem Platz nahmen sie plötzlich eine ganz andere Bedeutung an. Ich war neugierig, ob sie vielleicht auch jene anderen Plakate hängen hatten, die kürzeren. Sie wissen schon: Wir brauchen alle Reserven, um den Feind besiegen zu können - und ABFALL IST UNSERE GRÖSSTE NATÜRLICHE RESERVE.
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Es wäre wirklich außerordentlich geistreich, wenn sie auch die Wände des Schlachthofes mit diesen Plakaten geschmückt hätten. Was beschädigt ist, kann repariert werden... ich spannte unwillkürlich die Muskeln meines rechten Armes unter dem blauen Jumperärmel. Er fühlte sich an wie ein Teil von mir, würde sich immer so anfühlen. Und in einigen Jahren - vorausgesetzt, ich würde so lange am Leben bleiben - würde die feine weiße Narbe, die ihn über dem Ellbogen umspannte, völlig unsichtbar geworden sein. Gewiß - was beschädigt ist, kann repariert werden. Alles außer einer Sache - der wichtigsten von allen. Ich verspürte jetzt noch viel weniger Lust, hineinzugehen. Und dann sah ich den Jungen. Den vom Arizona-Lager. Er stand genau vor dem Wachlokal und rührte sich - genau wie ich - nicht von der Stelle. In der Mitte seiner Uniformmütze trug er ein funkelnagelneues glänzendes goldenes Y mit einem Punkt in der Gabel - das Abzeichen eines Schleuder- Kommandanten. Gestern beim Befehlsempfang hatte er es noch nicht getragen. Das konnte nur bedeuten, daß seine Ernennung gerade durchgegeben worden war. Er sah sehr jung aus und sehr verängstigt. Ich erinnerte mich seiner vom Unterricht her. Er war derjenige gewesen, der sich während der Fragestunde schüchtern gemeldet hatte; derjenige, der, als er aufgefordert worden war, seine Frage zu stellen, sich halb erhoben und dann herausgeplatzt war: »Entschuldigung, Sir, aber sie - sie riechen nicht wirklich, oder?« Ein stürmisches Gelächter war seinen Worten gefolgt. Es war das Lachen von Männern, die den ganzen Nachmittag über der Hysterie nahe gewesen und jetzt froh waren, daß 223 William Tenn – Die Welt der zukunft
endlich einmal jemand etwas gesagt hatte, das dazu beitrug, die unerträgliche Spannung zu lockern. Und der weißhaarige Instruktionsoffizier, der nicht einmal die Andeutung eines Lächelns hatte sehen lassen, hatte geduldig gewartet, bis die Nervosität sich in befreiendem Lachen Luft gemacht hatte, bevor er mit ernster Stimme geantwortet hatte: »Nein, sie stinken nicht wirklich. Es sei denn, sie baden sich nicht. Aber das gilt ja auch für Sie, meine Herren.« Das hatte uns den Mund gestopft. Selbst der Junge, der mit rotem Gesicht auf seinen Stuhl gesunken war, hatte den Wink verstanden. ›Das gilt ja auch für Sie, meine Herren...‹ Ich schüttelte mich und schritt auf den Jungen zu. »Hallo, Commander« sagte ich, »schon lange hier?« Er grinste gezwungen. »Über eine Stunde, Commander. Hatte den 8.15 genommen, der vom Lager abgeht. Die anderen schliefen größtenteils noch ihren Rausch von letzter Nacht aus. Ich hatte mich zeitig aufs Ohr gelegt - wollte genügend Gelegenheit haben, mich hier ein wenig umzusehen. Nur ich bin noch nicht dazu gekommen.« »Ich weiß. An manche Dinge kann man sich einfach nicht gewöhnen. Und an manche Dinge sollte man sich auch nicht gewöhnen können.« Er schaute auf meine Brust. »Ich nehme an, das hier ist nicht Ihr erstes Schleuderkommando?« Mein erstes? Eher mein erstes Dutzend, mein Kleiner! Aber dann fiel mir ein, daß mir jeder erzählt, ich würde für meine Orden noch sehr jung aussehen, und außerdem - der Junge war ziemlich weiß um die Nase. Deshalb sagte ich: 224 William Tenn – Die Welt der zukunft
»Nein, nicht gerade mein erstes. Aber jedenfalls meine erste Klops- Besatzung. Für mich also genauso neu wie für Sie. Wie wär's, Commander - mir fällt es auch nicht leicht. Wie wär's, wenn wir dieses Tor da zusammen erstürmen würden. Dann hätten wir das Schlimmste hinter uns.« Der Junge nickte heftig. Wir hakten uns unter und marschierten auf den Posten zu. Wir zeigten ihm unsere Papiere. Er öffnete das Tor und sagte: »Geradeaus. Dann einer der Fahrstühle zu Ihrer Linken bis zum fünfzehnten Stockwerk.« Immer noch Arm in Arm näherten wir uns dem Haupteingang des großen Gebäudes, gingen eine lange Treppe hoch, bis wir unter einem großen Schild in Schwarz und Rot standen, auf dem wir lasen: PROTOPLASMA RÜCKGEWINNUNGSZENTRALE DRITTER DISTRIKT Ein paar alte Männer, die sich jedoch noch sehr gerade hielten, und eine Menge uniformierter, ziemlich hübscher Mädchen liefen geschäftig durch die Eingangshalle. Ich stellte mit Genugtuung fest, daß die meisten davon schwanger waren. Das war der erste angenehme Anblick, der mir seit fast einer Woche begegnet war. Wir traten in einen der Lifts und sagten dem Mädchen »Fünfzehn«. Sie drückte auf einen Knopf und wartete, bis noch ein paar andere Leute hinzugestiegen waren. Sie schien nicht schwanger zu sein. Ich hätte wirklich gern gewußt, warum wohl nicht. Meine Phantasie fing schon an zu spielen, als ich einen Blick auf die Achselklappen erhaschte, die die anderen Passagiere trugen. Das versetzte mir einen Stoß, der mich schnellstens in die Wirklichkeit zurückbrachte. 225 William Tenn – Die Welt der zukunft
Auf einem kreisrunden roten Fleck standen die schwarzen Buchstaben VES über einem weißen G-4. VES hieß natürlich Vereinigte Erdstreitkräfte. - Alle Einheiten trugen diese Buchstaben. Aber warum benutzten sie hier nicht G-l, Personal? G-4 dagegen war Feldzeugkorps. Feldzeug! In dieser Hinsicht kann man sich auf VES hundertprozentig verlassen. Tausende von Psychologen, von Spezialisten in jedem Rang zerbrechen sich die Köpfe, wie sie den Kampfgeist der Männer an der Front erhalten können - aber immer wieder von neuem suchen sich die guten alten verläßlichen VES aus allen Namen den häßlichsten und geschmacklosesten aus. Oh gewiß, sagte ich mir, man kann keinen mörderischen gnadenlosen interstellaren Krieg fünfundzwanzig Jahre lang führen und dabei jeden Gedanken und jede Überlegung auf die Goldwaage legen. Aber nicht Feldzeugkorps, meine Herren. Nicht hier - auf dem Schlachthof. Wir sollten doch wenigstens versuchen, so zu tun als ob. Dann fuhr der Lift an, und während das Fahrstuhlmädchen die einzelnen Stockwerke ansagte, bekam ich genug Stoff, um auf andere Gedanken zu kommen. Dritter Stock - Materialeingang und Klassifizierung. Fünfter Stock - Vorbearbeitung der Organe. Siebter Stock - Gehirnneubildung und Nerveneinpassung. Neunter Stock - Kosmetik, Grundreflexe und Muskelkontrolle. An diesem Punkt zwang ich mich endlich, wegzuhören, so ungefähr, wie man sich zwingt wegzuhören, wenn man beispielsweise auf einem schweren Kreuzer ist und der rückwärtige Maschinenraum von dem Blitz eines Eoti-Strahlers 226 William Tenn – Die Welt der zukunft
getroffen wird. Nachdem man ein paar Mal dabei gewesen ist, wenn so was passiert, lernt man, seine Ohren zuzumachen und sich zu sagen: ›Ich kenne keinen Menschen in diesem verdammten Maschinenraum, keinen einzigen Menschen, und in ein paar Minuten wird alles wieder still sein.‹ Und in ein paar Minuten ist es dann auch wieder still. Das Dumme ist nur, daß man mit größter Wahrscheinlichkeit anschließend zu dem Kommando eingeteilt wird, dessen Aufgabe es ist, die blutige Schmiere von den Wänden des glühendheißen Raumes zu kratzen und die Düsen wieder zum Feuern zu bringen. Dasselbe tat ich jetzt. Und kaum hatte ich die Stimme des Mädchens abgeschaltet, waren wir auch schon im fünfzehnten Stock angelangt - ›Letzte Instruktionen und Verschiffung‹ -, und der Junge und ich stiegen aus. Er war ganz grün im Gesicht, und seine Beine schienen ihn nicht richtig tragen zu wollen. Seine Schultern hingen schlaff nach vorne. Und wieder mußte ich ihm deswegen dankbar sein. Nichts half besser über die eigene Schwäche hinweg, als sich um jemand anderen kümmern zu können. »Kommen Sie, Commander«, flüsterte ich. »Sprung auf und auf sie los. Versuchen Sie es mal von der Seite anzusehen - für Burschen wie uns ist das alles schließlich nicht viel anderes als ein Familientreffen.« Ich hatte das Falsche gesagt. Er schaute mich an, als hätte ich ihm eins auf die Nase gegeben. »Vielen Dank, daß Sie mich erinnert haben, mein Herr«, sagte er. Dann ging er mit steifen Schritten auf das Mädchen am Empfang zu. Ich hätte mir die Zunge abbeißen mögen. Ich eilte ihm hastig nach. »Tut mir leid, mein Junge«, sagte ich ihm. »Dieses verflixte Wort ist mir einfach so herausgerutscht. Aber 227 William Tenn – Die Welt der zukunft
nehmen Sie es mir um Gottes willen nicht krumm. Mein Gott, ich habe es eigentlich nur mir zuliebe ausgesprochen.« Er schwieg einen Augenblick und nickte mir dann zu. Dann lächelte er sogar. »Also schön - Schwamm darüber. Es ist ein rauher Krieg, nicht wahr?« Ich lächelte zurück. »Rauh? Mein Lieber, wenn man nicht aufpaßt, hat man mir gesagt, kann es einem sogar passieren, daß man dran glauben muß.« Die Empfangsdame war eine pummelige kleine Blonde mit zwei Eheringen an der einen und einem dritten an der anderen Hand. Soviel ich in Bezug auf die augenblicklichen planetarischen Gebräuche wußte, bedeutete das, daß sie zweimal verwitwet war. Sie nahm unsere Marschbefehle entgegen und sprach mit lebhafter Stimme in ein Mikrophon: »Achtung! Achtung! Ausbildungsabteilung. Rufen Sie für sofortige Verschiffung die folgenden Seriennummern auf - 70623152, 70623109, 70623166 und 70623123. Außerdem 70538937, 70538980, 70538966 und 70538923. Bitte lassen Sie sie durch die betreffenden Abteilungen laufen und versichern Sie sich nochmals, daß alle Angaben auf dein VES-AGO-Formblatt 362 gemäß VES-Befehl 7896 vom 15. Juni 2145 ordnungsgemäß ausgefüllt sind. Rufen Sie zurück, wenn bereit für Interview.« Ich war beeindruckt. Fast derselbe Vorgang, wie wenn man zur Feldzeugmeisterei geht, um einen neuen Satz Heckdüsen abzuholen. Sie blickte auf und beehrte uns mit einem flüchtigen Lächeln. 228 William Tenn – Die Welt der zukunft
»Ihre Mannschaften werden in Kürze bereitstehen. Möchten Sie nicht Platz nehmen, meine Herren?« Nach einer Weile stand sie auf, um einen Ordner aus einem Aktenregal auf der anderen Seite des Zimmers zu holen. Als sie wieder zurück an ihren Schreibtisch trat, bemerkte ich, daß sie schwanger war - vielleicht dritter oder vierter Monat -, und unwillkürlich nickte ich befriedigt vor mich hin. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, daß auch der Junge nickte. Wir schauten einander an und lachten leise. »Ja, es ist ein rauher, rauher Krieg«, sagte er. »Woher kommen Sie eigentlich?« fragte ich. »Ihrem Akzent nach stammen Sie nicht aus dem Dritten Distrikt.« »Stimmt. Ich bin geborener Skandinavier - Elfter MilitärDistrikt. Meine Heimatstadt ist Göteborg, Schweden. Aber nachdem ich meine - meine Beförderung erhielt, legte ich verständlicherweise nicht mehr viel Wert darauf, meine Angehöri- gen wiederzusehen. Deshalb beantragte ich meine Versetzung in den Dritten und von jetzt an, bis mich ein Zerrütter erwischt, werde ich also hier meinen Urlaub verbringen und meine Verwundungen auskurieren.« Ich hatte schon gehört, daß eine Menge dieser jungen Schleudersoldaten dieser Einstellung waren. Was mich betrifft, so hatte ich nie Gelegenheit gehabt herauszufinden, wie ich über einen Besuch zu Hause denken würde. Mein Vater wurde in dem selbstmörderischen Versuch der Rückeroberung Neptuns getötet - vor vielen Jahren schon, als ich noch in die Schule ging und mir gerade die Grundbegriffe des Elementaren Raumkampfes beigebracht wurden und meine Mutter war Admiral Raguzzis Privatsekretärin, als zwei Jahre später das Flaggschiff Thermophylae in der berühmten Verteidigungsschlacht bei Ganymed einen direkten Treffer abbekam. Das war natürlich noch vor dem Erlaß der Bestimmungen über die Fortpflanzung der 229 William Tenn – Die Welt der zukunft
menschlichen Rasse, als Frauen sich noch draußen an der Front aufhalten durften. Auf der anderen Seite würden vielleicht noch zwei meiner Brüder am Leben sein. Aber auch ich hatte keinen Versuch unternommen, mit ihnen zusammenzukommen, seit ich mein gepunktetes Y erhalten hatte. Ich glaube deshalb, daß ich der gleichen Meinung war wie der Junge, was wirklich nicht verwunderlich ist. »Wie, Sie sind aus Skandinavien?« fragte das blonde Mädchen. »Mein zweiter Mann war auch ein Skandinavier. Vielleicht kennen Sie ihn? Sven Nossen? Soweit ich weiß, hatte er eine Menge Verwandte in Oslo.« Der Junge starrte an die Decke. Man sah direkt, wie angestrengt er nachdachte. Endlich schüttelte er den Kopf. »Nein, glaube nicht, daß ich ihn kenne. Aber ich war nicht sehr oft von Göteborg weg, bevor ich einberufen wurde.« Sie kicherte verständnisvoll über sein Provinzlertum - genau wie die babygesichtige Blondine in den alten Witzen. Wirklich ein richtiges kleines Dummchen. Und trotzdem - es gab in diesen Tagen auf den inneren Planeten eine ganze Anzahl kluger und rasanter Schönheiten, die sich nichtsdestoweniger mit einem fünftel Anteil an irgendeinem fürchterlichen Mannsbild begnügen mußten oder vielleicht sogar nur mit einer Bescheinigung für die örtliche Samenbank. Blondie hier dagegen hatte schon ihren dritten richtigen Ehemann ganz für sich. Vielleicht, so sagte ich mir, würde ich ebenfalls lieber so ein Mädchen zur Frau nehmen, um den Gestank der Zerrütter- Strahlen aus der Nase zu bekommen und das Gehacke der Irvingle aus meinen Ohren. Vielleicht würde ich ebenfalls ein hübsches Lärvchen vorziehen, bei der ich jene komplizierten Gefechte mit den Eo 230 William Tenn – Die Welt der zukunft
tis vergessen könnte, bei denen man die meiste Zeit damit zubringt, herauszufinden, was für einen Schlacht-Rhythmus diese dreckigen Insekten nun wieder benutzen. Vielleicht würde ich, wenn ich ans Heiraten denken würde, so ein gut proportioniertes Hohlköpfchen wie das da wünschenswerter finden als - na ja. Als ausschließlich psychologisches Problem war es ganz interessant, aber das war auch alles. Ich merkte, daß sie sich jetzt an mich gewandt hatte. »Sie haben eine Mannschaft dieser Art auch noch nicht gehabt, oder, Commander?« »Golems, meinen Sie? Nein, das ist glücklicherweise das erste Mal.« Sie stülpte mißbilligend ihre Lippen vor, was ihr bestimmt nicht übler stand, als wenn sie ihren Mund zu einem Kuß gespitzt hätte. »Hier hören wir dieses Wort gar nicht gern.« »Na schön, Klopse dann.« »Auch Klop... auch dieses Wort mögen wir nicht gern. Sie sprechen von Menschenwesen wie Sie selbst, Commander. Wirklich fast genauso wie Sie selbst.« Ich fühlte, wie ich ärgerlich wurde, so wie der Junge vorhin draußen in der Halle. Aber dann machte ich mir klar, daß sie es im Grunde nicht böse meinte. Was wußte sie schon. Sie konnte es ja nicht wissen. Zum Teufel - es stand schließlich nicht in unseren Papieren. Ich entspannte mich. »Na, dann sagen Sie mir mal, wie nennen denn Sie sie hier?« Die Blondine richtete sich steif auf. »Wir nennen sie Soldatenersatz. Der Ausdruck ›Golem‹ wurde gebraucht, um das veraltete Modell 21 zu beschreiben, das schon vor mehr als fünf Jah 231 William Tenn – Die Welt der zukunft
ren aus der Produktion gezogen wurde, Ihnen wird man Individuen der Modelle 705 und 706 zur Verfügung stellen, die praktisch vollkommen sind. Tatsache ist, daß sie in mancher Hinsicht...« »Keine bläuliche Haut? Kein Zeitlupen-Nachtwandeln?« Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihre Augen leuchteten. Allem Anschein nach hatte sie die ganze Propagandaliteratur gründlich durchstudiert. Vielleicht doch kein so großer Dummkopf - auch kein großer Geist, aber für gelegentliche Gespräche mit ihren Ehemännern reichte es. Begeistert plapperte sie weiter. »Die Zyanose war das Ergebnis ungenügender Sauerstoffzufuhr in den Blutstrom - Blut war unser zweitschwierigstes Problem bei dem Aufbau von Geweben. Das Nervensystem war am schwierigsten. Aber trotzdem die Blutzellen gewöhnlich am weitesten verfallen sind, wenn die Leichname hier eintreffen, sind wir doch jetzt in der Lage, ein gut funktionierendes Herz herzustellen. Auf der anderen Seite - wenn Rückgrat oder Gehirn nur die kleinste Verletzung aufweisen, sind wir gezwungen, ganz von vorne anzufangen. Und dann der Ärger und die Schwierigkeiten bei der Wiederherstellung! Meine Kusine Lorna arbeitet in Nerveneinpassung, und von ihr weiß ich, daß es nur auf eine einzige falsche Verbindung ankommt. Sie wissen ja, wie es ist, Commander. Kurz vor Feierabend tun die Augen weh und man blinzelt immer wieder zur Uhr hinüber. Ja, nur eine einzige falsche Verbindung, und die Reflexe des Betreffenden geraten so katastrophal durcheinander, daß nichts anderes übrig bleibt, als ihn wieder zurück ins dritte Stockwerk zu schicken und noch mal von vorne anzufangen. 232 William Tenn – Die Welt der zukunft
Aber Sie brauchen sich über so etwas keine Gedanken mehr zu machen. Ab Modell 663 wird unser ganzer Ausstoß zweifach inspiziert. Und die 700er Serie - oh, die sind einfach großartig.« »Wirklich so gut? Besser als der alte gute Mutter-SohnTyp?« »N-u-un.« Sie schien darüber nachzudenken. »Sie würden wirklich erstaunt sein, Commander, wenn Sie einen Blick auf unsere letzten Leistungstabellen werfen könnten. Natürlich, dieses eine gewisse Manko, die Fähigkeit, die wir nicht...« »Eins kann ich nicht verstehen«, mischte sich der Junge ein. »Warum müssen sie dazu Leichen benutzen? Der Körper hat sein Leben gelebt, seinen Krieg gekämpft - warum nicht jetzt in Ruhe lassen? Ich weiß, daß die Eotis sich schneller vermehren können als wir, indem sie einfach die Anzahl ihrer Königinnen in den Flaggschiffen vergrößern. Ich weiß, daß ausreichend Menschenmaterial das größte Problem der VES ist - aber wir haben jetzt schon seit langer, langer Zeit Protoplasma synthetisch herstellen können. Warum stellen wir nicht den ganzen Körper auf diese Weise her, von den Zehennägeln zum Vorderhirn, und produzieren einfach richtige Androiden, die einem nicht den Gestank des Todes in die Nase wedeln, wenn man ihnen begegnet?« Die Blondine wurde wütend. »Unser Produkt stinkt nicht! Kosmetik garantiert dafür, daß die neuen Modelle sogar einen geringeren Körpergeruch haben als, zum Beispiel Sie, junger Mann. Und wir reaktivieren oder wiederbeleben auch keine Leichname, falls Sie das noch nicht wissen. Das, was wir tun, ist, menschliches Protoplasma, zu regenerieren, zu 233 William Tenn – Die Welt der zukunft
rückzugewinnen, und zwar da, wo im Augenblick der größte Mangel besteht, bei Soldaten. Sie würden bestimmt nicht von Leichnamen sprechen, wenn Sie den Zustand sehen würden, in dem wir einen Teil unseres Rohmaterials hereinbekommen. Mein Gott, manchmal finden wir in einem ganzen Ballen - ein Ballen enthält zwanzig Verluste - nicht einmal so viel, um eine einzige ganze Niere daraus zu machen. Dann sind wir gezwungen, uns das nötige Gewebe von überall her zusammenzusuchen, müssen es ändern, sorgfältig zusammensetzen, aktivieren.« »Genau das meine ich ja. Wenn Sie sich schon all diese Mühe machen, warum benutzen Sie dann nicht gleich richtiges Rohmaterial?« »Was denn, zum Beispiel?« fragte sie ihn. Der Junge gestikulierte mit seinen schwarzbehandschuhten Händen. »Grundelemente - Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und so.« »Auch Grundelemente müssen von irgendwoher kommen«, erinnerte sie ihn nachsichtig, »Wasserstoff und Sauerstoff können Sie vielleicht aus Wasser gewinnen. Aber woher nehmen Sie den Kohlenstoff?« »Daher, wo auch die anderen Hersteller synthetischer Produkte ihn bekommen - Kohle, Öl, Zellulose.« Das Mädchen lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »Das alles sind organische Substanzen«, sagte sie. »Und wenn Sie schon, Rohmaterial benutzen, das einmal lebendig war, warum dann nicht das, das dem beabsichtigten Endprodukt so nahe wie möglich kommt? Das sind einfache wirtschaftliche Überlegungen, Commander, glauben Sie mir das. Das beste und billigste Rohmaterial für die Herstellung von Soldatenersatz sind Soldatenkörper.« 234 William Tenn – Die Welt der zukunft
»Richtig«, sagte der Junge. »Klingt wirklich vernünftig. Was soll man auch sonst mit toten zerschlagenen Soldatenkörpern anfangen. Jedenfalls gescheiter, als sie im einem Grab zur Ruhe zu legen, wo sie nichts anderes wären als Abfall. Und Abfall ist unsere größte natürliche Reserve.« Unsere kleine Blondine setzte ein zustimmendes Lächeln auf, änderte plötzlich ihre Meinung und warf ihm einen durchbohrenden Blick zu. Auf einmal sah sie gar nicht mehr so selbstsicher aus. Als das Telefon auf ihrem Tisch summte, beugte sie sich erleichtert über den Apparat. Ich schaute sie beifällig an. Sie war doch kein Dummkopf. Eben nur sehr feminin. Es passiert mir sehr oft, daß ich mich bei einem Menschen verschätze, bei Frauen ist das sogar die Regel. Was wiederum nur zeigt, daß eine Menge höchst unangenehmer Dinge doch zu meinem Besten geschehen waren. »Commander«, sagte sie zu dem Jungen, »würden Sie bitte in Zimmer 1591 gehen. Ihre Mannschaft wird in wenigen Minuten eintreffen.« Sie wandte sich an mich. »Für Sie ist Zimmer 1524 reserviert. Den Gang geradeaus.« Der Junge nickte und verließ den Raum. Ich wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, dann beugte ich mich zu dem Mädchen. »Ich wünschte, sie würden die Zeugungsbestimmungen etwas lockern. Sie haben das Zeug zu einem ausgezeichneten Instruktionsoffizier. Ich hab' bei Ihnen mehr über den Schlachthof mitbekommen als in zehn Unterrichtsstunden.« Sie betrachtete mich prüfend. »Ich hoffe, Sie meinen das ehrlich, Commander. Sehen Sie, uns liegt allen sehr viel an diesem Projekt, und wir sind wirklich sehr stolz auf die Fortschritte, die wir hier erzielen konnten. Wir besprechen jede neue Entwicklung eingehend - überall, sogar in der Kantine. 235 William Tenn – Die Welt der zukunft
Ich habe zu spät daran gedacht, daß Sie beide...« Ihr Gesicht überzog sich mit dem tiefen Rot, das man so intensiv nur bei Blondinen finden kann »... es vielleicht persönlich auffassen könnten. Es tut mir leid, wenn...« »Nichts, was Ihnen leid tun müßte«, beschwichtigte ich sie. »Sie haben eben ein bißchen fachgesimpelt. So ungefähr wie damals vor sechs Monaten, als ich im Lazarett lag und zuhörte, wie zwei Chirurgen sich über meinen Arm unterhielten. Sie sprachen so, als ginge es darum, einem teuren Stuhl eine neue Lehne aufzusetzen, aber es war sehr interessant und ich hab' eine Menge dabei gelernt.« Als ich sie verließ, schaute sie mir dankbar nach - die einzige Art und Weise, in der man eine Frau verlassen soll. Dann suchte ich mir das Zimmer 1524. Es wurde offensichtlich als Unterrichtsraum benutzt, wenn nicht gerade - so wie jetzt - Soldatenersatz abgeholt wurde. Eine Reihe von Stühlen, eine große Schultafel, ein paar Tabellen. Eine der Tabellen unterrichtete über die Eoti, ein Verzeichnis, das alle die wenigen Informationen enthielt, die wir in dem blutigen Viertel-Jahrhundert seit ihrem Einbruch in das Sonnensystem über die Käfer haben sammeln können. Die Liste war nicht viel umfangreicher als die, die ich in der Schule hatte auswendig lernen müssen. Der einzige Unterschied war ein etwas längerer Teil über Intelligenz und Beweggründe. Natürlich nur reine Theorie, aber sorgfältiger durchdachte Theorie als der Kram, mit dem ich mich damals hatte vertraut machen müssen. Der VES-Gehirntrust war jetzt zu dem Schluß gekommen, daß der Grund, daß alle Versuche, sich mit ihnen zu verständigen, fehlgeschlagen, waren, nicht darin zu suchen 236 William Tenn – Die Welt der zukunft
war, daß sie eine blutdürstige Erobererrasse waren, sondern von derselben überbetonten Xenophobie, also dem Haß gegen alles Fremde, geplagt wurden wie ihre kleineren, weniger intelligenten, staatsbildenden Insektenvettern hier auf der Erde. Eine Ameise kommt an einen fremden Ameisenbau zwack! - ohne lange Reden wird ihr der Kopf abgebissen. Und wenn es sich erst um den Vertreter einer ganz anderen Art handelt, dann kennen die Soldaten des Ameisenstaates noch viel weniger Erbarmen. Trotz der hochentwickelten Eoti-Wissenschaft, die in mancher Hinsicht die der Erde weit übertrifft, sind sie deshalb psychologisch einfach nicht zu der Art geistiger Elastizität oder Empathie fähig, die notwendig ist, wenn man erkennen will, daß ein völlig fremdartig ausschauender Nachbar ebenfalls Intelligenz, Gefühle und Rechte besitzt. Was das betrifft, so lassen auch eine Menge Menschen dieses so notwendige Verstehen vermissen. Nun, sei es, wie es sei. Inzwischen jedenfalls hielten sich Menschen und Eoti in einem mörderischen Clinch umklammert entlang einer Frontlinie, die sich manchmal bis zum Saturn erstreckte und gelegentlich bis fast zum Jupiter zurückgenommen werden mußte. Abgesehen von der Erfindung einer neuen Waffe von solch unvorstellbarer Kraft, daß wir damit ihre Schiffe vernichten könnten, bevor sie diese Waffe uns nachgebaut hätten - was sie bis jetzt immer fertiggebracht hatten -, lag unsere einzige Hoffnung darin, ihr heimatliches Sonnensystem zu entdecken, irgendwie nicht nur ein interstellares Schiff, sondern gleich eine ganze Flotte zu bauen - und irgendwie ihren Heimatstützpunkt zu vernichten oder ihnen jedenfalls einen solchen Schrecken einzujagen, daß sie ihre Invasionsflotte 237 William Tenn – Die Welt der zukunft
zur Heimatverteidigung zurückrufen, würden. Eine Menge von Irgendwies jedenfalls. Aber wenn wir unsere augenblickliche Position halten wollten, bis es zu diesen Irgendwies kam, dann mußte die Zahl der Geburtsanzeigen die Länge der Verlustlisten übersteigen. Im letzten Jahrzehnt jedenfalls war das, trotz des immer strikter angewendeten Gesetzes über Fortpflanzung, das langsam, aber sicher alle unsere Moralauffassungen und unsere soziologischen Fortschritte aufweichte, nicht gelungen. Dann fiel jemandem oben an der Spitze auf, daß fast die Hälfte unserer Kriegsschiffe aus dem Schrott früherer Schlachten hergestellt worden waren. Wo waren die Männer, die diese Wracks bemannt hatten... Und auf diese Weise kam es zu dem, was Blondie so diplomatisch Soldatenersatz nannte. Ich war Rechenmaat 2. Klasse auf der alten Dschingis Khan, als die erste Sendung als Ersatz für einige vorher erlittene Verluste an Bord kam. Glauben Sie mir, wir hatten jeden Grund, sie Golems zu nennen. Die meisten von ihnen waren so blau wie die Uniform, die sie trugen. Ihr Atem ging so laut, daß man schwere Asthmatiker vor sich zu haben glaubte, ihre Augen glänzten so intelligent wie Schmierseife - und erst wie sie gingen! Mein Freund Johnny Cruro, der erste Mann, den es in dem Großen Durchbruch 2143 erwischte, pflegte zu sagen, daß sie auf eine Art und Weise gehen, als wären sie gerade dabei, einen steilen Hügel hinabzusteigen, an dessen Fuß ein großes offenes Familiengrab auf sie wartete. Der Körper war steif aufgerichtet, Beine und Arme bewegten sich langsam - so langsam - bis sie dann mit einem unvermittelten 238 William Tenn – Die Welt der zukunft
Ruck ihre Bewegung vollendeten. Wie Automaten. Man konnte das Gruseln kriegen. Sie taugten für nichts als für die primitivsten und anspruchlosesten Arbeiten. Und selbst dann noch... Wenn man ihnen sagte, einen Geschützverschluß zu polieren, dann durfte man ja nicht vergessen, in einer Stunde wiederzukommen, um sie wegzuschicken. Sonst konnte es passieren, daß sie am andern Tag auch noch dabei waren. Natürlich, alle waren nicht ganz so schlimm. Johnny Cruro pflegte zu sagen, daß er ein oder zwei getroffen hatte, die, wenn sie gerade in der richtigen Verfassung waren, sich fast zum Zustand des Schwachsinns aufzuschwingen vermochten. Im Gefecht taugten sie überhaupt nichts. Nicht etwa, daß sie zusammenbrachen - im Gegenteil. Der alte Kasten schwankte und erzitterte in allen seinen Fugen, während er alle paar Sekunden auf anderen Kurs ging. Jeder Irvingle, jeder Zerrütter und jede Atomhaubitze entlang des Batteriedecks hatte einen goldgelben Heiligenschein von der Hitze, die sie ausstrahlten, aus den Lautsprechern kamen belfernde Stimmen und ein Strom von Befehlen, Männer taumelten von einer Gefechtsstation zur anderen, jeder hetzte und schuftete und fragte sich fluchend, warum die Eoti so lange brauchten, um ein so großes und langsames Ziel wie die Khan anzuvisieren. Und dann plötzlich sah man einen der Golems mit einem Besen in seinen Gummihänden, wie er das Deck in jener langsamen, idiotischen und fürchterlich ernsthaften Art kehrte, die sie alle auszeichnete... Ich weiß noch wie heute, wie ganze Geschützbedienungen plötzlich Amok liefen und mit Stangen und metallbehandschuhten Fäusten auf die Golems einzuschlagen begannen. Einmal hatte sogar ein Offizier, der zurück zum Kontrollraum rannte, seine Waffe gezogen und Blitz auf Blitz in ei 239 William Tenn – Die Welt der zukunft
nen dieser blauhäutigen Kerle geschickt, der friedlich ein Bullauge putzte, während der Bug des Schiffes dabei war, unter einem Strahler wegzuschmelzen. Und während der Golem ohne zu klagen zu Boden sank, hatte der junge Offizier über ihm gestanden und monoton vor sich hingesungen: ›Nieder mit dir, mein Junge! Nieder, nieder, nieder!‹ Das war der Grund, warum die Golems nach und nach wieder aus dem Einsatz gezogen wurden. Nicht wegen Untauglichkeit - aber der Prozentsatz der Nervenzusammenbrüche unter den Besatzungen wurde zu groß. Wenn das nicht gewesen wäre, hätten wir uns vielleicht an die Golems gewöhnt - Gott allein weiß, an was man sich in einem Krieg nicht alles gewöhnen kann. Aber die Golems gehörten zu etwas, was mehr war als bloßer Krieg. Es war einfach schrecklich, wie wenig es ihnen auszumachen schien, noch einmal sterben zu müssen. Nun, jedermann sagte, daß die neuen Modelle viel, viel besser waren. Das war auch zu wünschen. Ein Schleuderkommando ist vielleicht nicht ganz mit einem ausgesprochenen Selbstmordkommando zu vergleichen, aber es verlangt von jedem Mann an Bord, daß er sein Bestes tut, wenn es Erfolg haben soll. Und das Schiff ist verdammt klein, und die Männer müs- sen auf engstem Raum miteinander auskommen. Ich hörte Schritte auf dem Korridor. Vor der Tür hielten sie an. Sie warteten. Ich wartete. Und dann hörte ich ein schurrendes Geräusch von Füßen. Sie waren also auch nervös und unsicher. 240 William Tenn – Die Welt der zukunft
Ich ging hinüber zum Fenster und starrte hinunter auf den Exerzierplatz, wo alte Veteranen, deren Körper schon zu verbraucht waren, als daß es sich lohnen würde, sie noch einmal aufzumöbeln, in Drillich gekleideten Golems beibrachten, ihre neuerworbenen Reflexe zu gebrauchen. Und dann endlich, als meine Hände fast blutleer waren, so fest hatte ich sie zusammengepreßt, hörte ich, wie die Tür aufging und vier Paar Füße in das Zimmer stampften. Die Tür schloß sich, und vier Paar Hacken knallten zusammen. Ich drehte mich um. Sie grüßten mich. Na, zum Teufel, dachte ich, sie haben mich ja auch zu grüßen. Schließlich bin ich ihr Kommandant. Ich dankte, und vier Arme legten sich zackig an die Hosennaht. Ich sagte »Rühren.« Sie grätschten die Beine, verschränkten die Hände hinter dem Rücken. Ich schaute sie an und sagte nochmals: »Rühren.« Sie entspannten sich leicht. Ich schaute sie wieder an und sagte dann: »Zum Teufel, Männer, setzt euch, und dann wollen wir uns miteinander bekanntmachen.« Sie hockten sich auf ihre Stühle, und ich zog mich auf den Tisch vorn neben der Tafel hoch. Wir blickten uns gegenseitig an. Ihre Gesichter waren starr, wachsam - sie waren anscheinend nicht gewillt, es mir leicht zu machen. Ich hätte gern gewußt, wie mein Gesicht aussah. Trotz aller Unterrichtsstunden, trotz aller Vorbereitungen auf diesen Augenblick, muß ich zugeben, daß ihr erster Anblick mir einen schweren Schlag versetzt hatte. Sie strotzten vor Gesundheit, sahen völlig normal aus und schienen voller Entschlossenheit zu sein. Aber das war es nicht. Das war es wirklich nicht. 241 William Tenn – Die Welt der zukunft
Warum ich nur zu gerne aus dem Zimmer, aus dem Gebäude gerannt wäre, das war etwas, auf das ich mich die ganze Zeit über seit der letzten Instruktionsstunde vorzubereiten versucht hatte. Vier Tote starrten mich an. Vier sehr berühmte Tote. Der große, der dort in seinem Stuhl lehnte, war Roger Grey, der vor mehr als einem Jahr den Tod fand, als er sein winziges Kundschafterboot in die Bugdüsen eines EotiFlaggschiffes rammte. Er hatte dabei das Flaggschiff fein säuberlich in zwei Teile zerspalten. Fast jeder Orden, den man sich nur vorstellen konnte, und die Sonnenkorona. Grey sollte mein Ko-Pilot sein. Der schlanke geschmeidige Mann mit der schwarzen Haartolle war Wang Hsi. Er war gefallen während der Rückzugsgefechte nach dem Großen Durchbruch 2143. Den phantastischen Geschichten zufolge, die Zeugen des Vorfalls erzählt hatten, hatte sein Schiff immer noch gefeuert, nachdem es schon dreimal unter einem Zerrütterstrahl gewesen war. Fast jeder denkbare Orden und die Sonnenkorona. Wang sollte mein Ingenieur sein. Der dunkelhäutige kleine Bursche war Jussuf Lamehd. Er war in einem unbedeutenden Gefecht in der Nähe von Titan umgekommen, aber bei seinem Tode war er der meistdekorierte Soldat der ganzen VES. Zweimal die Sonnenkorona. Lamehd sollte mein Kanonier sein. Der untersetzte war Stanley Weinstein, der einzige Mensch, der sich jemals in der Gefangenschaft der Eotis befunden hatte und daraus entkommen war. Als er endlich den Mars erreicht hatte, war von ihm selbst nicht mehr viel übrig gewesen, aber das Schiff, das er für seine Flucht benutzt hatte, war das erste Feindfahrzeug gewesen, das im intakten Zustand hatte untersucht werden können. Damals gab es noch keine Sonnenkorona, die man ihm hätte verlei 242 William Tenn – Die Welt der zukunft
hen können, aber noch jetzt werden immer wieder Militärakademien nach ihm benannt. Weinstein sollte mein Astrogator sein. Doch dann kam ich wieder in die Wirklichkeit zurück. Das waren nicht die Originale. Vermutlich hatten sie nicht einmal ein einziges Partikelchen von Roger Greys Blut oder Wang Hsis Fleisch in ihren rekonstruierten Körpern. Es waren einfach nur ausgezeichnete und minuziöse Kopien, die man nach genauen Spezifikationen hergestellt hatte. Und die standen in den Akten der VES, seit Grey ein Kadett und Wang ein junger Rekrut gewesen waren. Es gab so zwischen hundert und tausend solcher Jussuf Lamehds und Stanley Weinsteins, rief ich mir ins Gedächtnis zurück, und sie alle waren von dem Fließband ein paar Stockwerke tiefer gekommen. ›Nur die Tapferen verdienen die Zukunft‹, ist das Motto des Schlachthofs, und es wurde augenblicklich versucht, ihnen diese Zukunft zu sichern, indem in Menge jeder Soldat vervielfältigt wurde, der sein Leben inmitten besonderer Glorie gelassen hatte. Wieder die Sache mit dem industriellen Nutzeffekt. Wenn man schon Methoden der Massenproduktion benutzt - und das tat der Schlachthof - dann war es natürlich vernünftig, ein paar wenige standardisierte Modelle zu produzieren, statt lauter verschiedene - so wie es vielleicht ein Handwerker tun würde. Nun, und wenn schon standardisierte Modelle, warum dann nicht solche, deren äußere Erscheinungsform positive und verhältnismäßig angenehme Assoziationen hervorrief, statt anonymer Charaktere vom Reißbrett der Ingenieure. Ein weiterer Grund, daß Helden-Modelle vorgezogen wurden, war fast noch wichtiger und weit schwieriger zu definieren. 243 William Tenn – Die Welt der zukunft
Nach den gestrigen Worten des Instruktionsoffiziers herrschte die etwas unklare Ansicht - eine abergläubische Ansicht fast -, daß, wenn man die Gesichtszüge eines Helden, seine Muskeln, seinen Metabolismus und sogar seine Gehirnwindungen so naturgetreu wie möglich kopierte, man vielleicht dadurch einen weiteren Helden erhielt. Die ursprüngliche Persönlichkeit würde natürlich nie wieder in Erscheinung treten können - die war schließlich durch Umgebung, Erlebnisse und andere nicht greifbare Faktoren geprägt worden -, aber es lag nichtsdestoweniger im Bereich der Möglichkeit, meinten die Biotechniker, daß eine gewisse Veranlagung zu Mut und Entschlußkraft allein durch die Körperstruktur gegeben war. Na ja, wenigstens schauten diese Golems nicht wie Golems aus. Wofür ich aufrichtig dankbar war. Einer plötzlichen Eingebung folgend zog ich das Bündel unserer Marschbefehle aus meiner Tasche, tat so, als würde ich sie studieren und ließ sie plötzlich aus den Fingern gleiten. Während die Papiere noch zu Boden flatterten, streckte Roger Grey seine Hand aus und fing sie auf. Mit der gleichen eleganten und doch schnellen Bewegung, mit der er sie aus der Luft gegriffen hatte, gab er sie mir zurück. Ich nahm sie ihm ab und hatte dabei ein gutes Gefühl. Ich sehe es gern, wenn ein Ko-Pilot sich so bewegt. »Danke«, sagte ich. Er nickte nur. Als nächsten schaute ich mir Jussuf Lamehd an. Ja, auch er hatte es. Was immer es auch ist, was einen erstklassigen Kanonier aus einem Mann macht, er hatte es. Es ist eine Qualität, die zu beschreiben fast unmöglich ist. Nehmen Sie an, Sie kommen in eine Bar auf Eros oder irgendeinem an 244 William Tenn – Die Welt der zukunft
deren Erholungszentrum und sehen eine Schleuderbesatzung am Tisch sitzen. Schon auf den ersten Blick wissen sie, welcher der Kanonier ist. Es ist eine Art sorgfältige, unter Kontrolle gehaltene Nervosität um ihn, meinetwegen auch eine tödliche Ruhe, die bei der leisesten Berührung sich explosiv in Handlung verwandelt. Es ist egal, was es ist, jedenfalls genau das braucht ein Mann, wenn er ein guter Kanonier sein will. Und Lamehd besaß es in einem solchen Maß, daß ich mein Geld auf ihn gesetzt hätte gegen jeden anderen Kanonier der VES, den ich jemals im Gefecht gesehen hatte. Mit einem Astrogator und einem Ingenieur ist die Sache anders. Man muß sie unter Druck arbeiten sehen, bevor man sie richtig einschätzen kann. Aber auch so muß ich sagen, daß mir die ruhige und selbstbewußte Art gefiel, in der Weinstein und Wang auf ihren Stühlen saßen. Und auch sie selbst gefielen mir. Ich spürte, wie mir ein Hundertpfundgewicht vom Herzen fiel. Zum ersten Mal seit vielen Tagen fühlte ich mich ruhig und erleichtert. Mir gefiel diese Mannschaft, Golems oder nicht. Wir würden es miteinander schon schaffen. Ich entschloß mich, es ihnen zu sagen. »Männer«, sagte ich, »Ich glaube, wir werden sehr gut miteinander auskommen, Ich glaube, wir haben alles das, was eine nette kleine Schleuderbesatzung haben muß. Und ihr werdet sehen, daß ich...« 245 William Tenn – Die Welt der zukunft
Ich blieb stecken. Dieser kalte, leicht spöttische Blick in ihren Augen. Die Art und Weise, wie sie sich gegenseitig angeschaut halten, als ich ihnen sagte, wir würden gut miteinander auskommen und kaum merklich die Luft durch geblähte Nasenlöcher geblasen hatten. Plötzlich wurde mir bewußt, daß kein einziger von ihnen ein einziges Wort hatte fallen lassen, seit sie in das Zimmer gekommen waren. Sie hatten mich nur beobachtet, und der Schein in ihren Augen war nicht ausgesprochen warm zu nennen. Ich schwieg und erlaubte meinen Gedanken einen langen, tiefen Atemzug. Zum ersten Mal kam mir die Idee, daß ich mir nur über die eine Seite des Problems Sorgen gemacht hatte, vielleicht die unwichtigere von beiden. Ich hatte mich gefragt, wie ich wohl auf sie reagieren würde und wie weit ich sie als Schiffskameraden akzeptieren könnte. Schließlich und endlich waren sie Golems. Es war mir nicht im Traum, eingefallen, mich zu fragen, was für Gefühle sie wohl in Bezug auf mich haben könnten. Und an diesen Gefühlen war allem Anschein nach etwas grundlegend falsch, »Was ist los, Leute?« fragte ich. Sie schauten mich fragend an. »Woran denkt ihr? Macht aus Herzen keine Mördergrube.« Sie starrten mich einfach schweigend an. Weinstein schürzte seine Lippen und schaukelte mit seinem Stuhl vor und zurück. Der Stuhl knarrte leise. Keiner sagte ein Wort. »Grey«, sagte ich und lief dabei vor der Tafel auf und ab. »Sie schauen aus - na, wollen Sie mir nicht sagen, wo der Schuh drückt?« »Nein, Commander«, antwortete er langsam und überlegt. »Ich möchte es Ihnen nicht sagen.« 246 William Tenn – Die Welt der zukunft
Ich verzog mein Gesicht. »Wenn jemand irgend etwas sagen möchte - irgend etwas - dann bleibt das unter uns - völlig unter uns. Für den Augenblick wollen wir auch mal solche Dinge wie Rang und Dienstvorschriften vergessen.« Ich wartete. »Wang? Lamehd? Wie ist es mit Ihnen, Weinstein?« Sie starrten mich schweigend an. Weinsteins Stuhl knarrte vor und zurück. Ich stand vor einem Rätsel. Was konnten sie gegen mich haben? Wir waren uns heute zum ersten Mal begegnet. Aber eines wußte ich - ich würde keine Mannschaft mit an Bord nehmen, die einen heimlichen Groll gegen mich hegte. Ich hatte keine Lust, mit diesen kalten Augen im Rücken im Weltraum herumzukreuzen. Wenn ich auf solche Späße aus war, dann konnte ich genausogut gleich meinen Kopf vor eine Irvingle- Linse halten und abdrücken. »Hört zu«, sagte ich. »Ich meinte es wirklich, als ich eben sagte, daß wir für den Augenblick Rang und Dienstvorschriften vergessen wollen. Ich möchte eine zufriedene Mannschaft haben, und darum will ich wissen was los ist. Wir fünf werden auf engstem Raum unter schwierigsten Bedingungen in einem Schiff zusammenleben müssen, dessen einziger Zweck es ist, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit den Feuer- und Abwehrgürtel eines feindlichen Linienschiffes zu durchbrechen und ihm einen einzigen vernichtenden Blitz aus einem übergroßen Irvingle entgegenzuschleudern. Wenn wir nicht miteinander auskommen, wenn es irgendwelche unausgesprochenen feindseligen Gefühle zwischen uns gibt, dann kann das Schiff nicht tipp-topp operieren. Und in diesem Falle sind wir erledigt, bevor wir noch...« 247 William Tenn – Die Welt der zukunft
»Commander«, sagte Weinstein plötzlich und ließ seinen Stuhl mit einem harten Knall zur Ruhe kommen. »Ich möchte Sie gern etwas fragen.« »Nur zu«, sagte ich und stieß einen Seufzer der Erleichterung von der Größenordnung eines Hurrikans aus. »Fragen Sie.« »Wenn Sie an uns denken, Commander, oder wenn Sie über uns sprechen, welches Wort gebrauchen Sie dann?« Ich schaute ihn an und schüttelte verständnislos meinen Kopf. »Wie?« »Wenn Sie über uns sprechen, Commander, oder wenn Sie an uns denken, nennen Sie uns dann Golems? Oder nennen Sie uns Klopse? Das möchte ich gerne wissen, Commander. Darauf bin ich neugierig.« Er hatte in einem so ruhigen, höflichen Ton gesprochen, daß es einige Zeit dauerte, bis mir die volle Bedeutung seiner Worte dämmerte. »Ich persönlich«, sagte Roger Grey mit einer Stimme, die ein kleines bißchen weniger höflich klang, »ich persönlich glaube, der Commander gehört zu der Sorte, die das Wort Dosenfleisch vorziehen, wenn Sie von uns sprechen. Stimmts, Commander?« Jussuf Lamehd verschränkte seine Arme über der Brust und schien über das Problem ernsthaft nachzudenken. »Ich glaube, du hast recht, Rog. Er ist der Dosenfleisch-Typ. Ganz sicher der Dosenfleisch-Typ.« »Nein«, sagte Wang Hsi. »So eine Sprache gebraucht er nicht. Golems - ja, Dosenfleisch - nein. An der Art, wie er spricht, könnt ihr erkennen, daß er seine Nerven niemals so 248 William Tenn – Die Welt der zukunft
weit verlieren würde, um uns sagen zu können, wir sollen uns zurück in die Dose scheren. Und ich glaube auch nicht, daß er uns allzu oft Klopse nennen wird. Er ist der Typ, der einen anderen Schleuder-Kommandanten am Ärmel zu fassen kriegt und ihm sagt: ›Mann, was habe ich doch für eine fabelhafte Golem-Mannschaft. Die beste, die Sie sich überhaupt vorstellen können‹, ja, so schätze ich ihn ein - Golems.« Und dann saßen sie wieder schweigend da und starrten mich an. Und es war nicht Spott, der in ihren Augen lag. Es war Haß. Ich ging zurück zu dem Tisch und setzte mich hin. Im Zimmer war es sehr still. Von dem Exerzierplatz - fünfzehn Stockwerke unter mir - klangen Kommandos hoch. Woher hatten sie diese Ausdrücke: Golem, Klopse, Dosenfleisch? Keiner von ihnen war älter als sechs Monate, keiner von ihnen hatte bis jetzt das Schlachthofgelände verlassen dürfen. Ihre Schulung, wenn auch sehr mechanisiert und komprimiert, sollte jedenfalls absolut narrensicher sein und harte widerstandsfähige und völlig normale Menschen hervorbringen, die in ihren verschiedenen Spezialgebieten gründlich ausgebildet waren und in deren Geist kein Raum war für etwaige seelische Unausgeglichenheiten. Ich wußte, daß sie es nicht bei der Ausbildung gehört haben konnten. Sie waren... Aber wo dann...? Und dann - einen Augenblick lang hörte ich es klar und deutlich. Das Wort, das unten auf dem Exerzierplatz statt Hep! benutzt wurde. Dieses seltsame neue Wort, das bis jetzt nur undeutlich durch das Fenster an mein Ohr gedrungen war. Wer auch immer da unten den Marschrhythmus angab, er rief nicht:
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›Hep, zwo, drei, vier!‹ Er rief: ›Klops, zwo, drei, vier!‹ Sah das nicht VES ähnlich, fragte ich mich? Was das betrifft, jeder Armee zu jeder Zeit? Zeit und Geld und Überlegung daran zu wenden, ein dringend benötigtes Produkt nach exakten Spezifikationen herzustellen und dann bei der erstbesten Gelegenheit damit etwas zu machen, das es völlig ruinieren konnte! Ich stellte mir im Geiste jene Schleifer vor, diese kleinen Geister mit ihrem engen Horizont und bösartigen Gedanken, genau so eifersüchtig stolz auf ihre Vorurteile wie auf ihre mühsam erworbenen und beschränkten militärischen Kenntnisse, wie sie diesen Jungens da vor mir den ersten Geschmack des Kasernenlebens vermittelten, den ersten flüchtigen Blick auf »draußen«. Es war so unvorstellbar dumm! Oder doch nicht? Man konnte es auch von einer anderen Seite betrachten, abgesehen davon, daß man nur Soldaten, die zu alt und geistig zu verknöchert waren, um noch für etwas anderes brauchbar zu sein, für diesen Dienst entbehren konnte. Und das war der einfache Pragmatismus des militärischen Denkens. Die Front war ein Platz des Schrekkens und des Todes. Die vorderen Linien, wo die Schleuder-Kommandos operierten, waren noch viel schlimmer. Wenn Menschen oder Material draußen zusammen versagten, konnte das sehr teuer zu stehen kommen. Besser, der Zusammenbruch geschah so weit hinten in der Etappe als möglich. Vielleicht trafen diese Überlegungen wirklich zu, dachte ich. Vielleicht war es logisch, lebende Menschen aus dem Fleisch der Toten herzustellen und sie dabei mit der Liebe und Sorgfalt zu umgeben, die man sonst nur Schießbaumwolle oder den empfindlichsten Präzisionsuhren angedeihen laßt, um dann den Spieß umzukehren und sie der rauhesten und häßlichsten Umgebung auszuliefern, die denk 250 William Tenn – Die Welt der zukunft
bar war - einer Umgebung, die ihre sorgfältig eingeimpfte Loyalität in Haß pervertierte und ihre sorgfältig ausbalancierte seelische Ausgeglichenheit in nervöse Überempfindlichkeit. Ich konnte wirklich nicht sagen, ob das nun im Grunde sehr klug oder sehr dumm war, oder ob die oberste Führung diesem Problem schon gründlichere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Was für mich auch viel entscheidender war, das war mein eigenes Problem, und das schien im Augenblick wirklich bedrückend groß zu sein. Ich dachte an meine Einstellung diesen Männern gegenüber, bevor ich sie getroffen hatte, und Ekel über mich selbst beschlich mich. Aber der Gedanke gab mir eine Idee ein. »Heh, jetzt verratet mir mal etwas«, regte ich an. »Wie würdet ihr mich nennen?« Sie schauten mich verblüfft an. »Ihr wollt wissen, wie ich euch nenne«, erklärte ich. »Sagt mir erst, wie ihr Leute nennt wie mich - Leute, die geboren worden sind. Ihr müßt doch eure eigenen Spitznamen für uns haben.« Lamehd grinste. Seine Zähne waren ein glänzendes freudloses Weiß gegen seine dunkle Haut. »Realos«, sagte er. »Wir nennen euch Realos.« Dann kam der Chor der anderen. Es gab noch andere Namen, eine Menge anderer Namen. Sie wollten, daß ich sie alle hörte. Sie unterbrachen sich gegenseitig, spuckten mir die Worte entgegen als wären es Geschosse, mit denen sie mich treffen könnten. Sie hingen an meinem Gesicht, während sie sie ausspuckten, um zu sehen, wieviel Treffer sie erzielt 251 William Tenn – Die Welt der zukunft
hätten. Einige der Spitznamen waren lustig, manche davon ziemlich bösartig. Utie und Schößchen fand ich besonders bezaubernd. »In Ordnung«, sagte ich nach einer Weile. »Fühlt ihr euch jetzt besser?« Sie atmeten alle schwer, aber sie fühlten sich besser. Ich konnte es ihnen ansehen, und sie wußten das. Die Atmosphäre im Zimmer war plötzlich nicht mehr so drückend und haßerfüllt. »Zuerst«, sagte ich, »möchte ich, daß ihr euch klar macht, daß ihr alle, wie ihr da seid, große erwachsene Jungens seid und als solche selber auf euch aufpassen könnt. Von dieser Minute an, wenn wir zusammen in eine Bar oder ein Erholungsheim kommen und jemand von ungefähr eurem Rang sagt etwas, das euren scharfen Ohren so ähnlich wie Golem vorkommt, dann steht es euch frei, ihn euch zu schnappen und eine Abreibung zu verabreichen - wenn es euch gelingt. Wenn er ungefähr meinen Rang hat, dann werde aller Wahrscheinlichkeit nach ich diese Aufgabe übernehmen, einfach, weil ich ein sehr sensibler Kommandant bin. Und wenn ihr mal das Gefühl habt, daß ich euch nicht als hundertprozentige Menschen behandele, volles solares Bürgerrecht und so weiter, dann habt ihr jederzeit meine Erlaubnis, zu mir zu kommen und zu sagen: Jetzt hören Sie, Sie dreckiger Utie, Sir...« Die vier grinsten. Es war ein warmes Grinsen. Dann - sehr langsam - verblaßte es wieder, und ihre Augen wurden wieder kalt. Sie saßen vor einem Mann, der schließlich und endlich doch nur ein Außenseiter war. »So einfach ist es leider doch wieder nicht, Commander«, sagte Wang Hsi. »Unglücklicherweise. Sie können uns zwar einhundertprozentige Menschen nennen, aber wir sind es 252 William Tenn – Die Welt der zukunft
nicht. Und jeder, der uns Klopse oder Dosenfleisch schimpfen möchte, hat dazu ein gewisses Recht. Weil wir eben doch nicht so gut sind wie - wie ihr Muttersöhnchen, und das wissen wir auch. Und wir werden auch nie so gut werden. Niemals.« »Ich verstehe euch nicht«, wand ich mich. »Mein Gott, einige eurer Leistungstabellen...« »Leistungstabellen, Commander«, sagte Wang Hsi mit sanfter Stimme, »machen noch keine Menschen.« Und Weinstein zu seiner Rechten nickte, überlegte und sagte dann: »Noch einzelne Menschen eine Rasse.« Ich wußte, worauf sie anspielten. Und ich wäre nur zu gerne aus dem Zimmer gerannt, den Fahrstuhl hinunter und aus dem Gebäude, bevor jemand noch Gelegenheit hatte, ein weiteres Wort zu sagen. Das ist es, sagte ich zu mir. Jetzt bist du dran, mein Junge, jetzt bist du dran. Ich ertappte mich dabei, wie ich von einer Ecke des Tisches zur anderen rutschte. Ich stand auf und begann von neuem ruhelos hin und her zu laufen. Wang Hsi ließ mich nicht aus. Ich hätte wissen sollen, daß er das nicht tun würde. »Soldatenersatz«, fuhr er fort und kniff dabei die Augen zusammen, als würde er das Wort zum ersten Male näher betrachten, »Soldatenersatz, aber keine Soldaten. Soldaten sind Männer. Und wir, Commander, sind keine Männer.« Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann platzte ich laut heraus: »Und wie kommt ihr darauf, daß ihr keine Männer seid?« Wang Hsi schaute mich verwundert an, aber seine Antwort kam immer noch ruhig und leise. »Sie wissen, warum. 253 William Tenn – Die Welt der zukunft
Sie haben unsere Spezifikationen gesehen, Commander. Wir sind keine Männer, keine wirklichen Männer, weil wir uns nicht fortpflanzen können.« Ich zog mich zurück auf den Tisch und verschränkte meine zitternden Hände über den Knien. »Wir sind so steril«, hörte ich Jussuf Lamehd sagen, »wie kochendes Wasser.« »Es hat immer eine Menge Männer gegeben«, begann ich, »die...« »Hier geht es nicht um einzelne Männer«, unterbrach mich Weinstein. »Hier geht es um uns - alle von uns.« »Klops bist du«, murmelte Wang Hsi, »und zu Klops wirst du wieder werden. Wenigstens ein paar von uns hätten sie eine Chance geben können. Die Kinder wären vielleicht nicht so schlecht geworden.« Roger Grey schlug mit seiner riesigen Hand auf die Lehne seines Stuhls. »Das ist es ja gerade, Wang«, sagte er wild. »Die Kinder wären vielleicht gut geworden - zu gut. Unsere Kinder wären vielleicht besser geworden als ihre Kinder und wo würde dann diese stolze und eingebildete, diese verdammte Realo-Menschheit sein?« Ich saß da und starrte sie an, aber diesmal sah ich ein anderes Bild. Ich sah nicht Fließbänder, die sich langsam weiterbewegten, bedeckt mit menschlichem Gewebe und Organen, an denen ernstblickende Biotechniker ihre Arbeiten verrichteten. Ich sah keinen Raum, in dem Dutzende von Menschenkörpern in Nährlösungen schwammen und jeder Körper mit einer Hypno-Maschine verbunden war, die Tag und Nacht dem Gehirn diejenigen Informationen einflößte, die notwendig waren, damit dieser Körper den Platz eines Mannes an dem blutigsten Teil der Front einnehmen könnte. 254 William Tenn – Die Welt der zukunft
Dieses Mal sah ich Kasernen voller Helden, manche von ihnen in doppelter und dreifacher Ausfertigung, die murrend und maulend herumsaßen, so wie Männer in jeder Kaserne und auf jedem Planeten es immer tun werden, ob sie nun wie Helden aussehen oder nicht. Aber ihre Unzufriedenheit betraf Demütigungen, die tiefer gingen als alle, die bisher ein Soldat gekannt hatte - Demütigungen, so fundamental wie die Struktur der menschlichen Persönlichkeit. »Ihr glaubt also«, und trotz des Schweißes auf meinem Gesicht klang meine Stimme sehr gefaßt, »daß die Zeugungsfähigkeit euch absichtlich vorenthalten wurde?« Weinstein schnitt eine Grimasse. »Aber, Commander, bitte keine Ammenmärchen.« »Habt ihr noch nie daran gedacht, daß unser Hauptproblem im Augenblicke das der Vermehrung der menschlichen Rasse ist? Glaubt mir, Männer, draußen wird über fast nichts anderes mehr gesprochen. Schon in der Volksschule wird darüber diskutiert. Jeden Monat kommen neue Bücher auf den Markt, in denen Archäologen oder Pilsforscher das Problem aus ihrer speziellen Sicht heraus beleuchten. Jedermann weiß, daß, wenn wir mit diesem Problem nicht fertig werden, die Eoti mit uns fertig werden. Glaubt ihr wirklich ernstlich, daß unter diesen Umständen die Zeugungsfähigkeit irgendeiner Person absichtlich geschmälert werden würde?« »Was machen denn schon ein paar männliche Klopse aus?« sagte Grey. »Nach der letzten Statistik ist der Stand der Vorräte der Samenbänke so hoch wie noch nie in den letzten fünf Jahren. Wozu also brauchen sie da uns?« 255 William Tenn – Die Welt der zukunft
»Commander!« Wang Hsi streckte mir sein dreieckiges Kinn entgegen, »Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen ein paar Fragen stelle. Erwarten sie wirklich, daß wir glauben sollen, daß eine Wissenschaft, die fähig ist, einen lebenden, leistungsfähigen Körper mit einem komplizierten Verdauungssystem und einem äußerst empfindlichen Nervensystem zu rekonstruieren, es nicht vermag, in wenigstens einem einzigen Fall auch das Keimplasma wiederherzustellen?« »Sie müssen es glauben«, antwortete ich, »weil es eben so ist.« Wang lehnte sich zurück, die anderen ebenfalls. Sie senkten ihre Augen. »Habt ihr denn noch nie gehört«, flehte ich, »daß das Keimplasma im eigentlichen Sinne mehr das Individuum ist als jeder andere Teil von ihm? Daß einige Biologen sogar der Meinung sind, daß unser Körper und überhaupt alle Körper nur Wirte oder Vermittler sind, mit deren Hilfe es sich fortpflanzen kann? Es ist das komplizierteste biotechnische Rätsel, das es gibt. Glaubt mir das, Leute«, fügte ich leidenschaftlich hinzu, »wenn ich sage, daß die Biologen dieses Rätsel noch nicht gelöst haben, dann sage ich die Wahrheit. Ich weiß es.« Das rüttelte sie wieder etwas auf. »Schaut her«, sagte ich. »Etwas haben wir mit den Eotis gemeinsam. Insekten und warmblütige Tiere differieren erstaunlich. Aber nur unter den staatenbildenden Insekten und den staatenbildenden Menschen gibt es Individuen, die - trotzdem sie keinen Anteil haben an der Fortpflanzung ihrer 256 William Tenn – Die Welt der zukunft
Rasse - doch eben für diese Rasse von grundlegender Bedeutung sind. Zum Beispiel eine Schullehrerin, die unfruchtbar, dennoch aber von unbezweifelbarem Nutzen ist bei der Charakterformung, ja selbst der körperlichen Ausbildung der Kinder unter ihrer Obhut.« »Vierte Instruktionsstunde für Soldatenersatz«, sagte Weinstein trocken. »Direkt aus dem Buch.« »Ich bin verwundet worden«, sagte ich. »Fünfzehnmal schwer verwundet.« Ich stand vor ihnen und begann, meinen rechten Ärmel aufzukrempeln. Ich war patschnaß vor Schweiß. „Das sehen wir, daß Sie verwundet worden sind, Commander«, sagte Lamehd unsicher. »Das können wir schließlich an Ihren Orden sehen. Sie brauchen nicht...« »Und nach jeder Verwundung haben sie mich zurechtgeflickt, daß ich so gut wie neu war. Schaut euch diesen Arm an.« Ich bog ihn. »Bevor er mir bei einem kleinen Vorpostengeplänkel vor einem halben Jahr weggebrannt wurde, konnte ich einen solchen Bizeps beim besten Willen nicht zusammenbekommen. Der Arm, den sie mir auf den Stumpf gesetzt haben, ist viel besser. Und das könnt ihr mir glauben, auch meine Reflexe sind besser als je zuvor.« »Was meinten sie«, begann Wang Hsi, »als sie vorhin sagten...?« »Fünfzehnmal wurde ich verwundet«, übertönte ihn meine Stimme »und Vierzehnmahl wurde die Wunde repariert. Das fünfzehnte Mal - das fünfzehnte Mal - ja, das fünfzehnte Mal war es eine Wunde, die sie nicht heilen konnten. 257 William Tenn – Die Welt der zukunft
Sie konnten mir auch nicht das geringste bißchen helfen bei diesem fünfzehnten Mal.« Roger Grey öffnete seinen Mund. »Glücklicherweise«, flüsterte ich, »war es keine Wunde, die man sieht.« Weinstein machte Anstalten, mich etwas zu fragen, schwieg aber dann und lehnte sich wieder zurück. Aber ich hatte ihm schon gesagt, was er wissen wollte. »Eine Atomhaubitze. Eine defekte Granate war es. Schlimm genug, um die Hälfte der Besatzung unseres Kreuzers zu töten. Ich wurde nicht getötet, aber ich hielt mich im Bereich der Rückstrahlung auf.« »Und diese Rückstrahlung«, - Lamehd dachte laut -, »diese Rückstrahlung sterilisiert alles im Umkreis von fünfzig Metern, es sei denn, er trägt...« »Und ich trug nicht.« Ich hatte aufgehört zu schwitzen. Ich hatte es überstanden. Mein verrücktes kleines Geheimnis war heraus. Ich holte tief Luft. »Deshalb seht ihr - na ja, egal, jedenfalls weiß ich, daß sie dieses Problem noch nicht gelöst haben.« Roger Grey stand auf und hielt mir seine Hand entgegen. Ich schüttelte sie. Sie fühlte sich an wie jede normale Hand, vielleicht ein bißchen kräftiger. »Schleuder-Personal«, fuhr ich fort, »besteht nur aus Freiwilligen. Außer in zwei Fällen - dem Kommandanten und Soldatenersatz.« 258 William Tenn – Die Welt der zukunft
»Mit dem Gedanken im Hintergrund nehme ich an«, sagte Weinstein, »daß die menschliche Rasse auf sie am leichtesten verzichten kann?« »Stimmt genau«, sagte ich, »Weil die menschliche Rasse auf sie am leichtesten verzichten kann.« Er nickte. »Na, ich will verdammt sein!« Jussuf Lamehd lachte, als er aufstand und ebenfalls meine Hand schüttelte. »Willkommen in unserer Mitte.« »Danke«, sagte ich, »mein Sohn.« ER schien erstaunt zu sein über die Betonung der letzten zwei Wörter. »Das ist der Rest der Geschichte«, erklärte ich. »Niemals verheiratet gewesen und im Urlaub immer zu beschäftigt, die Stadt auf den Kopf zu stellen, um Zeit für einen Besuch der Samenbank zu finden.« »Oho«, sagte Weinbaum und gestikulierte mit einem dikken Daumen. »So ist das also.« »Richtig. Und das ist sie - die Familie. Die einzige, die ich jemals haben werde. Ich hab fast genug von dem da«, - ich zeigte auf meine Auszeichnungen, - »um abgelöst zu werden. Als Schleuder-Kommandant kann ich mir dessen sicher sein.« »Was Sie noch nicht wissen«, sagte Jussuf Lamehd, »ist, ein welch hoher Prozentsatz der Ablösung Ihrem Gedächtnis gewidmet werden wird. Das hängt davon ab, wieviel mehr von diesem Lametta Sie einsammeln können, bevor Sie - soll ich sagen - Rohmaterial werden.« »Warum nicht«, sagte ich und fühlte mich unbeschreiblich erleichtert. Und ich hatte vorgehabt, sie moralisch aufzumöbeln. 259 William Tenn – Die Welt der zukunft
»Na, Jungens«, sagte Lamehd, »es hat den Anschein, daß wir dem Commander noch mehr von den guten Sachen des Lebens gönnen sollten. Er ist ein feiner Kerl, und von seiner Sorte sollten noch mehr in unserem Klub sein.« Sie standen jetzt alle um mich herum - Weinstein, Lamehd, Grey, Wang Hsi. Sie sahen sehr freundlich aus und sehr fähig. Ich fing an, davon überzeugt zu sein, daß wir eine der besten Schleuder-Besatzungen in... was heißt das, eine der besten? Die beste, Mister, die beste. »Okay«, sagte Grey. »Wohin immer und wann immer Sie wollen, marschieren Sie los, wir folgen - Paps.«
ENDE (wirklich)
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