Jörg Fündling
Die Welt Homers
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Jörg Fündling
Die Welt Homers
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Impressum Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-89678-319-6 © 2006 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandabbildung: Griech. Vasenmalerei, 5. Jahrhundert v. Chr.; Nestor, einer der Führer der Griechen im Troianischen Krieg. Aus der Sammlung de Luynes, Cabinet des Medailles, Bibliothèque Nationale, Paris. Foto: akg-images / Erich Lessing Layout: Petra Bachmann, Weinheim
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eBook ISBN 978-3-89678-891-7 (epub) Als epub veröffentlicht 2010. www.primusverlag.de
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Inhaltsverzeichnis Einleitung Mit den Augen des Blinden – Der „göttliche Sänger“ und der Beginn der griechischen Literatur Der große Aufbruch – Die griechische Welt der archaischen Zeit (ab ca. 750 v. Chr.) Auf den Schultern von Riesen – Von der submykenischen zur geometrischen Zeit (ca. 1200–750 v. Chr.) Die Zeit der Könige – Die Ägäis und die mykenische Kultur (16.–13. Jh. v. Chr.) Der göttliche Held Alexandros – Von Mythos und Geschichte Am Anfang aller Dinge – Was aus Homer wurde Anmerkungen Literatur Dank
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Für Alexander
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Eine Entdeckungsreise
Erinnertes, Halbvergessenes, Erträumtes und Dichtung standen wild durcheinander am Gedankenhimmel über der griechischen Welt, als sie schon einige hundert Jahre alt war. Dann kam Homer, und das Gewirr der Lichtflecke verwandelte sich in Sternbilder, in unauflösliche Gestalten, deren Sinn nun für immer feststand. Der Weltraum selbst wurde zu etwas Geordnetem – mochte die Bilderfülle auch ebenso überwältigen, wie sie begeisterte – und von nun an war er schön. Der griechische Kosmos war geboren und lieh, so schien es den Späteren, einiges von seiner Klarheit dem Denken derer, die ihn betrachteten und sich dabei zu einem großen Abenteuer aufmachten. Auf einmal hatten die Griechen eine Welt; auf einmal erkannten sie sich als „die Griechen“. Besucher des Deutschen Museums in München finden zwischen den Tafeln, Teleskopen und Bildschirmen der Abteilung
für
Astronomie
ein
kleines
Schaustück.
Sieben
Pünktchen leuchten in einem Glaswürfel, eine Konstellation, die viele kennen: Orion. Aber ein Schritt zur Seite genügt, um dem bekannten Bild schon die halbe Vertrautheit zu rauben und das imaginäre Himmelsgewölbe, an dem es uns immer zu hängen schien, wegzuzaubern. Die Sterne verschieben sich. Ein Blick genau von der Seite, und sieben Einzelpunkte hängen verstreut in einer Leere, mit der sie so wenig zu tun haben wie miteinander. Doch |8| auf einmal zeigt sich
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stattdessen – ist es ein Ausgleich? –, welcher der Erde am nächsten sein muss. Wer sich auf diese Art im Raum bewegt hat, kann nicht wieder vergessen, was er gesehen hat, aber zumindest gibt es den Weg zurück in den „richtigen“ Blickwinkel, mit dem Sinn und Gestalt wiederkehren. Nur die Zeit wird in ferner Zukunft alle Sternbilder einmal endgültig zerstreuen. Mit den homerischen Epen ist sie in der (astronomisch gesehen) verschwindenden Spanne von zweieinhalb Jahrtausenden schon weitergekommen, was unsere Perspektive betrifft – ohne doch ihren Zusammenhang in Chaos aufzulösen. Der weite Abstand und die Neugier der Späteren haben in den großen und kleinen Glanzlichtern von Ilias und Odyssee, die alle einmal gleich weit entrückt in der unbestimmten Ferne der Heroenzeit angesiedelt schienen, die Spuren der Geschichte wiedergefunden. Einzelheiten, die aus dem Leben des Schöpfers selber stammen könnten, setzt die Dichtung neben Dinge, die schon alt waren, als Homer noch ein Mensch und keine Legende war. Mit viel Eifer ging die Moderne auf die Suche nach der „homerischen Welt“ und hoffte deren Geschichte zurückzugewinnen, sobald die Götter und einiges andere gestrichen wären. Dass in Wahrheit von homerischen Welten die Rede sein muss, weil sich hier Zeitalter mischen und durchdringen, hat diese Hoffnung nicht immer bescheidener werden lassen. Denn noch in ihren „sachlichsten“ Momenten erliegt sie dem Zauber eines (vorsichtig formuliert) großen Dichters, und wo sie einen Namen aus den Werken Homers anderweitig überliefert findet, möchte sie am liebsten den ganzen Troianischen Krieg für wahr halten. „Wahrheit“ jedoch ist ein vieldeutiges
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Wort und hat nicht immer das Gleiche gemeint, ohne sich deshalb schon in Irrtum oder gar Lüge zu verwandeln. Beim Versuch, über die Wahrheit des Gedichtes hinaus einen Blick in die Epochen zu werfen, aus denen seine Bausteine |9| sind, dürfen wir uns nicht beklagen, dass, was wir sehen, zunächst einmal ein anderer in voller Absicht zum Sehen für sein Publikum ausgewählt hat. Etwas von ihm bleibt mit allen noch so objektiv scheinenden Einzelheiten verbunden, die wir seinen Versen abgewinnen. Wer die Reise in die Welten Homers antritt, ist gut beraten, sich über Homer Gedanken zu machen. Was für ihn seine eigene Person, was „Wahrheit“
und
„Echtheit“
gewesen
sein
kann,
ist
die
Grundlage zum Verständnis, wie es in Homers Zeit – einem Jahrhundert der Abenteuer – nur darum gehen konnte, ein Verhältnis zwischen dem „Jetzt“ und dem übermenschlichen, überlebensgroßen „Damals“ der Heroen herzustellen. Wir werden stattdessen gleich drei Zeitalter in den beiden Epen Ilias und Odyssee gespiegelt finden, eine Aufteilung, von der kein Zeitgenosse Homers sich etwas träumen ließ. Doch all unsere Kunst, in diese schwierige Quelle hineinzuhorchen, ist nur ein sehr kleiner Teil dessen, was die Jahrhunderte seit Homer mit seinem Namen verbinden. Und so verdient das Phänomen Homer auch hier das letzte Wort; sein Werk zählt nicht zu denen, die überflüssig werden, wenn einmal genug Bücher über sie geschrieben sind. Es ist unersetzlich und – tief unter der Flut aus Nachfolgern, Lesehilfen und begeisterten Randbemerkungen – bestürzend neu. Wer es aufschlägt, für den beginnt eine unerwartete Geschichte.
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Mit den Augen des Blinden
Der verdient,
Dichter als Persönlichkeit, die eigene Beachtung ist
eine
griechische
Erfindung,
die
ihre
Zeit
brauchte. Auf einmal gab es – seit etwa 650 v. Chr.
1
–
Menschen, in deren Lyrik nicht nur die handelnden Figuren „ich“ sagten. Ganze Biographien standen dahinter, mochten sie auch poetisch überhöht sein: ein Söldner, ein heimatvertriebener Adliger, eine Mädchenerzieherin. Wer von diesem Punkt aus zurückschaute, sah die Dichtung Hesióds
2
, die
Werke und Tage vor allem, die zwar allgemeingültig, aber voll von Klagen über den Lokaladel und von Vorwürfen an den vielleicht nicht realen, aber realistischen Bruder des Dichters sind. Hesiod war (oder schrieb zumindest als) ein böotischer Bauer. Und dann gab es noch Ilias und Odyssee, zwei Monumentalwerke, an denen sich alle Späteren maßen, sei es durch Nachahmung oder Rebellion. Längst bevor sich eine Literaturgeschichte in Griechenland entwickelte, war ausgemacht, dass zwei solche Schöpfungen aus derselben Hand zu stammen hatten. Wem diese Hand gehörte und wie der Unbekannte gelebt hatte, verriet nicht ein Vers; das wurde mit der Zeit immer quälender, denn für Griechenland ging es um mehr als nur Literatur. Aus einem Namen, aus Geschichten, die umliefen, und aus feinfühliger bis spitzfindiger Lektüre beider Werke rekonstruierten die Gelehrten – im Interesse der
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gesamten griechischen Welt – ihre Wahrheit über das verschollene Ich.
|11| Nomen est omen – Homer Der überlieferte Name des Dichters strapaziert den Glauben an seine Echtheit. hómēros bezeichnet eine materielle Sicherheit oder Bürgschaft, sei sie ein toter Gegenstand oder eine lebendige Geisel. Ein Grund, dem Ilias-Schöpfer diesen Namen anzuhängen, liegt auf der Hand: Er ist das Unterpfand für die Wahrheit seines Berichts, der Gewährsmann oder – um es in unser halbes Latein zu übersetzen – der Autor.
Zahlreiche Griechen liefen mit dem Namen Homeros herum; einer von ihnen mochte ihn längst getragen haben, ehe etwas Besonderes aus ihm wurde. Als populärer erwies sich die Hoffnung, hier verrate sich das Leben seines Trägers – war er eine Geisel gewesen? –, und die antike Homerforschung machte sich eifrig an die Arbeit. Ihr Ertrag kann sich sehen lassen: Homer hatte am Ende mindestens zwei ursprüngliche Namen, zwanzig Geburtsorte und ein langes, hartes Leben als armer wandernder Sänger und/oder Schulmeister, den der Lokalpatriotismus Dutzender Gelehrter quer durch Griechenland und Kleinasien schickte, dass es einen Odysseus gegraust hätte, bis er hochbetagt auf der Insel Ios sein Haupt zur Ruhe legen durfte. Ein wahres Wunder, wie er nebenher zum Dichten kam. Das Bild all der rivalisierenden Homerviten und Heimatstädte wirkt in dieser Verkürzung unverdient absurd. Es entwickelte sich so schrittweise, dass seine Urheber kaum merkten, wie viel Wunschdenken und Erfindung in ihren ‚unausweichlichen‘ Schlussfolgerungen steckten – und gerade die
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Methode, die Epen selber zum Sprechen zu bringen, wurde für die Zukunft kostbar, so nahe sie mitunter der Folter kam. Sehr früh nahm man zur Kenntnis, dass die Odyssee nicht nur in der Chronologie der Ereignisse – erst Troianischer
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Krieg,
dann |12| Heimkehr des Odysseus – auf die Ilias folgte. Generationen pedantischer und begnadeter „Wortfreunde“, Philologen, deckten subtile Wandlungen der Sprache und der feststehenden Formeln von einem Epos zum anderen auf; die „Trennenden“ stritten mit den Parteigängern des einen Homer, ob die spätere Dichtung auch einen anderen Autor verlange. Aus heutiger Sicht haben sie wohl gewonnen. Stellen, an denen das kürzere Odysseuswerk die Techniken des Kriegsepos übernimmt, es zitiert oder eigene Szenen wie zur Überbietung dagegenstellt, häufen sich. Nicht zuletzt der grimmige, hoffnungslose Tonfall so vieler Ilias-Stellen und das unbekümmerte Wüten der olympischen Götter weichen der (fragilen) Überzeugung, dass es im Himmel wie auf Erden grundsätzlich geordnet und – mit langen, schmerzlichen Umwegen – moralisch zugeht. Die Odyssee erfand das Gottvertrauen und das Happy End, könnte man sehr vereinfachend sagen. Sie ist also jünger, um einiges jünger – nach den langen modernen Mühen, sie zu datieren (730 /20? 700? 650?), tatsächlich so sehr, dass man sie gut dreißig Jahre hinter die Ilias (750? 730? Nach 700?) stellen müsste, ein so entmutigend vollendetes Werk ihrerseits, dass sie nicht gut als der Werther oder die Buddenbrooks eines talentierten Jungautors gelten kann. Also reichte ein Leben wohl nicht für beide.
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Der Sänger Demodokos Noch ein sehr auffälliger Zug an der Odyssee ist die gehäufte Präsenz einer Gruppe, die in der Ilias viel zu kurz kommt, gemessen an ihrer Bedeutung in homerischer Zeit wie jener vagen Vergangenheit der „Heroenzeit“, in der beide Werke spielen. Wieder und wieder tritt nun ein aoídos, ein „Sänger“ auf, der Heldengeschichten aus alter Zeit und aus jüngster Vergangenheit |14| erzählt und sich dabei auf einem Instrument begleitet. Der Sänger gehört zum festen Programm bei den Abendbanketten der Könige und Fürsten. Solch ein Sänger ist vor allem Dēmódokos im erfundenen Inselkönigreich der Phaiáken. Inmitten der vornehmen Festgesellschaft, die sich am Fleisch sättigt, sitzt er allein auf einem Sessel, in Griffweite ein Instrument, die phórminx (mehr Harfe als „Leier“), dazu Brot und Wein – kein Adliger ist er, sonst hätte er Braten, auch kein einfacher Mann aus dem Volk, sonst wäre er nicht dabei. Und er wird sehr deutlich als blind beschrieben. Die antike Philologie erklärte, „Homeros“ heiße in einem Lokaldialekt „Blinder“, und alle uns erhaltenen Bildnisse haben Demodokos als Selbstporträt aufgefasst und einen Greis dargestellt, in dessen von Alter, Leid und Weisheit geformtem Gesicht – es ist schön zu nennen, aber er wird nie sein Spiegelbild sehen können – die Augen ins Innere gekehrt scheinen, von wo aus etwas Außergewöhnliches ihn ergreift. So sicher Schauplatz und Figur idealisiert sind, Gesang war eine der wenigen Tätigkeiten, die einem Blinden blieben, und stellte ihn – wenn er Talent besaß – höher als schlichte
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Bettler. Und wieder ist in die spätere Ausdeutung elementar Wichtiges eingegangen. Demodokos, erzählt die Odyssee, ist von der Muse selbst geblendet worden, der Göttin des Gesangs, und sie hat ihm zugleich ihre ureigenste Gabe geschenkt. Mit der Muse (oder den Musen) sind wir im Zentrum dessen, was den Sänger der Vorzeit beseelt und was seine Nachfolger bis hinunter – oder hinauf – zu Homer beanspruchten. Seine besondere Gabe machte ihn im Sozialgefüge unverzichtbar, bei „den Männern des Volkes geehrt“, trug ihm das Beiwort „göttlich“ ein. Sie bestand aus der Sicht des Epos weniger in musikalischer oder poetischer Fähigkeit. Ohne Sänger ist ein Gelage
|15| nicht komplett, und wenn keine Lieder verlangt werden, kann man zu seiner Musik tanzen – das ist willkommen. Sänger ersetzen die Tageszeitung, wenn sie mit Nachrichten und ‚aktuellen‘ Gesängen von einem Adelssitz zum andern ziehen, und der Hausherr kann erwarten, im Gegenzug für Kost, Logis und eventuelle Geschenke etwas über seine Vorfahren zu hören, deren Taten und Abstammung ihn selber mit Göttern und Heroen verbindet (und verbinden muss). Ein kaum getarnter Stoßseufzer in der Odyssee beklagt den Zwang des Sängers, das zu bringen, was gerade Konjunktur hat, in Demodokos’ Fall etwa Troia. Doch ein anderer Zwang gilt als stärker: das zu singen, „wozu sich ihm der Sinn erhebt“. Nicht er und nicht seine Umgebung haben das in der Hand.
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Ewige Jugend der Taten
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Noch vor gar nicht langer Zeit begann mancher Dichter, berufen oder nicht, mit einem Anruf der Muse, wer immer das sein mochte – Hauptsache, sie küsste ihn. Homer ist auch hieran schuld: „Den Zorn singe, Göttin […]“ hebt die Ilias an, und die Odyssee ist noch ausdrücklicher: „Sage mir den Mann an, Muse […]“ Die Göttin äußert sich aus dem Innern des Sängers; sie ergreift von ihm Besitz wie von einem Orakel – oder Wahnsinnigen. Der Normalität näher rückte ihn die – schon verblassende – Überzeugung, dass jeder starke Affekt, jede unvorhersehbare oder besonders energische Handlung auf die Besessenheit durch einen Gott oder wenigstens dessen Eingebung zurückging. Für Ausnahmefiguren wie die Heroen, die direkt von Göttern abstammten und engen Kontakt mit ihnen hatten, galt das besonders: ein Grund mehr, gerade Heldensagen bei den Sängern in besten Händen zu wissen.
|16| und
(Man verachtet Homer), weil er durch unmögliche Taten unglaubhafte
Fabelgeschichten
die
Fähigkeit
jedes
Menschen zum freien Willen unglaubwürdig mache. Aber das tut Homer gar nicht, sondern die plausiblen, gewohnten und vernünftigen Handlungen schreibt er uns selbst zu […], während er bei befremdlichen und verstörenden […] den Gott den freien Willen […] in Bewegung setzen lässt […] PLUTARCH, Coriolan 32,4–6 (um 100 n. Chr.) 6
Spätere Poeten riefen – wieder Homer folgend – die Muse an, wenn sie andeuten wollten, jetzt komme eine besonders schwierige oder noch nie dagewesene Passage. Nicht so das frühe
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Griechenland. Hesiod, der Systematiker der Götter, machte die Musen (deren Zahl er auf neun fixierte) zu Töchtern des Zeus und der personifizierten Erinnerung. Genau hier hatte zuvor ihre besondere Kraft gelegen – nicht die Künste zu fördern, sondern zu gewährleisten, was in einer Welt ohne Schrift niemand sicher verbürgen konnte: wahre, unentstellte Überlieferung. Besondere göttliche Gnade verschafft Informationen aus erster Hand inmitten des zutiefst menschlichen Hörensagens; der Dichter, den die Muse ergreift, sitzt auf einmal an der Quelle. Alle Zweifel, wie denn einer wissen kann, welchem Fürsten wie viele Schiffe folgten oder wer wen im Schlachtgewimmel vor Troia totschlug, das Menschen unmöglich „wie ein Gott“ übersehen könnten, sind aufgehoben. Demodokos muss seinen Gesang nur beginnen, schon lobt Odysseus – ein Zeuge aus erster Hand, wenn es je einen gab –, dass er singe, als wäre er dabei gewesen, und bestellt sich gar bei ihm die Geschichte vom hölzernen Pferd. Der Sänger weiß besser, wie es war, als der Held selber. Die Musen oder Apoll haben es dem göttlichen Sänger verliehen, „dass er den Ruhm der Männer singe“, und diese Gnade zerstreut zugleich die schrecklichste Furcht des Berühmten: |17| dass dieser Ruhm je erlöschen wird. Die Götter selbst erneuern ihn durch den Mund derer, die sie lieben, und der einzig greifbare Sinn blutiger Verwicklungen, der noch eine Helena in ihrer aufgezwungenen Schurkenrolle tröstet – „dass wir auch künftig / Zum Gesange werden den späteren Menschen“ –, ist gewahrt. Der Sänger, „selbst belehrt“ (ein ‚Autodidakt‘), was so viel heißt wie „von den Göttern belehrt“, steht zwischen dem um
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Leistung, Prestige und Nachruhm wetteifernden Einzelnen und dem Schrecken eines zuletzt sinnlosen, zum Vergessen verdammten Lebens, der nicht auf ferne Epochen beschränkt ist.
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Sagt mir nun, Musen! die ihr die olympischen Häuser habt – / Denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles, / Wir aber hören nur die Kunde und wissen gar nichts –: / Welches die Führer der Danaer und ihre Gebieter waren. Il. 2,484–487
Was heißt diese Form der Bewahrung für die Erinnerung, wie sie ein kritischer Moderner sucht, für die präzise Tradition einzelner, möglichst detaillierter Tatsachen? Nichts Gutes, das ist leicht zu merken. Die Muse spricht, nicht die Erinnerung. Natürlich saugt sich der Sänger seine Verse, die er „Göttern und Menschen“ singt, nicht einfach aus den Fingern; im Gegenteil, er variiert, ergänzt, verschönert die angesammelten Stoffe, Einfälle und treffenden Formeln von Generationen früherer Sänger. Nur hat er eben die Autorität, genau das zu tun: zu verändern, nicht bis zur Unkenntlichkeit und nicht aus bloßer Willkür (mag die Lust auf Neues auch bei ihm wie bei seinem
Publikum
mitspielen),
sondern
im
Dienst
einer
Wahrheit, die durch ihn offenbar wird und über sein Repertoire verfügt. Der Sänger speichert keine geheiligten Texte, er tut vielmehr etwas, das einmal |18| selbst nahe der Heiligkeit stand und in jener Spätzeit, die Homer hervorbrachte, immer noch mit besonderem Respekt gesehen wurde: Er beseitigt den Abstand zum Einst, das so fern liegt, dass keiner mehr
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genau sagen kann, wie fern, und lässt die Heroenzeit, da alles glänzender, vielleicht auch furchtbarer war als in der NachZeit seiner Zuhörer, für den Augenblick lebendig werden. Wenn er es später wieder tut, werden die Worte andere sein, es wird manches fehlen und einiges hinzukommen – und doch ist das genau wie beim vorigen Mal die vollständige Wahrheit und alles, was man wissen muss.
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Die andere Welt Ein gewisser Verfremdungseffekt lag in der Sprache des Vortrags (die übrigens die Suche nach der Heimatstadt Homers so erschwert). Ilias und Odyssee sind in einem griechischen Kunstdialekt geschrieben, den niemand je gesprochen hat, einer Mixtur aus Äolisch (wie es etwa auf den Inseln in der Ägäis zu finden war) und Ionisch (wie es die Bewohner eines langen Streifens der kleinasiatischen Küste sprachen) mit Formen, die einfach nur gut in den Hexameter, den Erzählvers, passten. Dabei scheint Homer eher einen äolischen Sprachkern in einem ionischen Rahmen verwendet zu haben als umgekehrt, und so war er wohl ein Küstenbewohner Ioniens, in dessen Heimat die lange auf den Inseln gepflegte Tradition eingezogen und kurz vor ihm zur Blüte gelangt war. Smyrna, eine der überlieferten Geburtsstädte Homers, lag für eine solche Verschmelzung besonders günstig (siehe Karte Seite 19) – was leider nichts beweist. Einzelzüge des Wortgebrauchs aber waren antiquiert und viel archaischer als beide Dialekte – vermutlich Jahrhunderte älter. So war bereits die Ausdrucksweise eines Sängers dieser Zeit ein Mittel, Distanz zwischen der
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Gegenwart und dem Erzählten |19| hörbar zu machen, und zog den, der sich hineinvertiefte, auf die andere Seite des Abgrunds zwischen Jetzt und Einst. Ausgerechnet Homer brachte das Ende dieses Mysteriums. In seiner Schöpfung fand die Nachwelt etwas Letztgültiges über Götter und Menschen ausgesagt; das aber schloss die Geschichte der beim Fest gesungenen Verse ab, die unversehens Türen zur Vergangenheit geöffnet hatten. Es gab Opferfeste und Rituale, in denen ein bestimmter Moment wieder und wieder gegenwärtig wurde; es gab (anderswo) heilige Texte, in denen sich die göttlich verbürgte Wahrheit ein für allemal ausdrückte. Neugier, |20| Methode und Zweifel schließlich haben sich verbunden, einen mühsamen Weg zurück zu eröffnen, auf dem die Wissenschaft Überreste sichtet, Begriffe sucht, Grenzen zieht und sich mit der Frage, wie sehr sie sich selbst und dem Anschein trauen kann, das Leben notgedrungen schwer macht. Kein Zweifel, dass sie dem Sänger und seinem routinierten Griff nach göttlichem Beistand als bizarrer Um- und Abweg erschienen wäre. Sie gibt und nimmt mit derselben Hand, der Muse nicht ganz unähnlich, und Verstehen anstelle des Verklärens zu setzen bleibt immer eine gemischte und schmerzhafte Gabe. Es hilft aber nichts: So stehen wir vor der Zeit, so erkennen wir sie, unter diesen Bedingungen müssen wir auf ihre andere Seite gelangen.
Kunsthandwerk
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Was genau ‚tat‘ der Mann, der die Ilias schuf? Seit der Abbé d’Aubignac 1664/1715 und mit größerem Widerhall Friedrich August Wolf 1795 die „Homerische Frage“ aufwarfen, wechseln die Antworten der Neuzeit zwischen „fast alles“ und „fast nichts“. Die Forschung der „Analytiker“ ließ (mindestens) einen letzten Bearbeiter die beiden Gedichte aus einer Vielzahl älterer Lieder zusammenfügen (Jahrzehnte, eher Jahrhunderte älter), so dass das ‚griechische Volk‘ (das es nicht gab) sich gewissermaßen selbst sein Hauptwerk gedichtet hätte, wogegen die „Unitarier“, vom Geniegedanken beflügelt, die Einmaligkeit und Individualität der Komposition verteidigten. In den letzten Jahrzehnten ist der Streit, kompliziert und zugleich abgekühlt durch die Beiträge ganz neuer Forschungsdisziplinen über mündliche Dichtung und die Chancen ihrer Überlieferung, beinahe friedlich ausgeklungen. Unbestritten ist heute, dass die Ilias auf eine Fülle an Geschichten um Troia zurückgriff – ähnlich unbestritten, dass der |21| Unbekannte, der dies tat, für die Endform des Epos ungleich wichtiger war als die äußere Gestalt seiner Vorbilder, die sich bis zu ihm hin stets verwandelt hatte. Vor Homer gab es einen wahren Geschichtenwald, gab es vielleicht auch besonders beliebte Wege, auf denen ein Sänger hineinführen konnte, nicht aber eine feste Form. Der Sänger hatte es mit einem Gewirr aus Mythen zu tun, Versuchen der Menschen, sich durch Götter- und Heldengeschichten der Vorzeit ihr eigenes Leben und ihre Welt zu erklären. Beides ändert sich aber mit der Zeit und so auch der Mythos. In der noch kaum schriftlichen Gesellschaft |22| seiner Gegenwart zählte Homer offenkundig zu jenen Sängern, die aus dem breitesten
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inhaltlichen und formalen Repertoire schöpfen konnten, und diese Reichhaltigkeit machte ihn zu einer geachteten Figur. Wenige können materiell und sozial so gesichert gewesen sein wie er. Die Festigkeit und Tragfähigkeit ‚volkstümlicher‘ Überlieferung in mündlicher Form ist selber ein Märchen. Das Bedürfnis der Forscher und Leser nach Kontinuität hat das der Dichter weit übertroffen. So wich die Begeisterung, noch im frühen 20. Jahrhundert in Bosnien mündlich komponierte Heldenepen
vorzufinden,
einem
Schock,
als man
deren
Machart zur Kenntnis nahm. Man hatte sich treue Brauchtumspfleger vorgestellt, die unvergängliche Verse oder mindestens Taten bewahrten – stattdessen wurde bei jedem Vortrag etwas Neues daraus, das mit den historischen Vorgängen der türkischen Herrschaftszeit bemerkenswert wenig zu tun hatte. Der Sänger rezitierte nicht, er erfand nach bekanntem Muster. Dabei kann und muss nicht alles erzählt werden. Kein griechischer Sänger hätte ganz Troia an einem Abend präsentieren können; es gab also Ausschnitte, die kurz eingeführt wurden. Dennoch hätte niemand auf die Schnelle jedes einzelne Wort zu erfinden vermocht. Quer durch die Ilias zieht sich die Spur hilfreicher Techniken, die nur im mündlichen Vortrag entstanden sein können und dadurch, dass Homer sie einsetzte, noch lange nachwirkten. Die berühmten „schmückenden Beiwörter“, die einen Personennamen in den Vers einpassen helfen und wenig Abwechslung dulden („die eulen-“ oder für höfliche Übersetzer „helläugige Athene“, „der Völkerfürst Agamemnon“), waren Arbeitserleichterungen für Sänger, die Vertrautes in immer neuen Serien schnell hervorgebrachter
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Hexameter auszuspinnen hatten; dasselbe traf für Standardsituationen zu („Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte“), für |24| Redeeröffnungen und Gefühlsäußerungen („Welch ein Wort entfloh dem Gehege deiner Zähne!“). Wiederholungsfreude und Sparsamkeit verdoppelten ganze Abschnitte. Während der Sänger solche Verse aufreihte – wir wissen wenig über das Tempo, aber unter sechs bis acht Verse pro Minute kann es kaum gesunken sein –, gewann er Zeit, sein Sagenrepertoire zu sichten, einen Mono- oder Dialog zu improvisieren und besonders glanzvolle Orts-, Gegenstands- und Schlachtbeschreibungen vorzubereiten. Die Mischung aus Vertieftheit ins Komponieren, musikalischem Vortrag und Kontakt zum Publikum muss, perfekt ausgeübt, in der Tat als Göttergeschenk erschienen sein und in alltäglicheren Ausprägungen immer noch als besonderes Können. Rechnen wir mit acht Versen die Minute, so hätten etwa die einzelnen Ilias-Gesänge (die eine nachträgliche Einteilung sind) zwischen einer und zwei Stunden Aufführungszeit verlangt – falls es keine instrumentalen Zwischenspiele gab, während der Sänger im Stillen weiterdichtete.
Typisch
scheinen
mehrere
Darbietungen
hintereinander gewesen zu sein, deren Auswahl mindestens teilweise bei den Zuhörern lag: Lieblingssagen, Stoffe mit lokalem Bezug, ‚Aktuelles‘. Sollte es frische Heldenlieder über, sagen wir, einen erfolgreichen Kleinkrieg des Hausherrn geben, setzte das eine ‚Recherche‘ vor dem Auftritt voraus. Es ist also ausgeschlossen, dass sich Homer im Morgengrauen mit vom Saitenzupfen wunden Fingerspitzen an den Schreibtisch setzte, um die schönsten Ideen des Abends festzuhalten,
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oder unterwegs in einer Herberge (wo es welche gab) auf etwas Leder, das nächste Stück Holz oder ein paar Tonscherben schrieb.
|25| Der Entdecker Über Homer können wir nun einiges sagen. Er vereinte Talent, Erfahrung und Experimentiergeist; er war außerordentlich versiert – und erfolgreich, was nicht dasselbe ist. Sein Repertoire an Sagen war, wie sein Umgang mit ihnen verrät, enorm, vielleicht unerreicht. Die Vornehmen seiner Gegenwart bediente er so gut, dass er Erfolg über seine Heimatregion hinaus hatte, weiter reiste als der durchschnittliche Sänger – sei es auf Einladung oder eigenes Risiko – und ein ganzes Stück der griechischen Welt vom Augenschein her kannte. Mehr noch, er wurde reich beschenkt. Nur ein reicher Mann aber konnte sich das leisten, was Homer reichlich besessen haben muss: Freizeit. Die Ilias kann nämlich keine bloße Zusammenstellung eigener
Glanzstücke
und
der
Tradition
vieler
Vorgänger
gewesen sein (was beachtlich genug gewesen wäre). Sie ist in ihrem Aufbau gegen den Strich gedichtet, sonst hätte Homer mit Helenas |26| Geburt begonnen, die zur schönsten Frau der Welt heranwuchs, weshalb Paris sie entführte, nachdem … und so weiter. Stattdessen komprimierte er die ganze Troiasage in kaum mehr als fünfzig Tage des zehnten und letzten Kriegsjahres, blendete Teile der früheren Ereignisse ein, setzte andere stillschweigend voraus und endete keineswegs mit dem Fall der Stadt, sondern mit jenem Moment, als er
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feststand. Rückblicke und Anspielungen auf frühere Heldengenerationen und Sagenkreise verliehen dem Geschehen ‚historische‘ Tiefe. Was nicht erzählt wird, ist von ferne zu ahnen. Auf eine Weise, für die den Zeitgenossen zweifellos kein Begriff einfiel (wir würden sie vielleicht mit einem Hologramm vergleichen), enthielt dieser Auszug trotzdem das Ganze; das war so unorthodox wie brillant.
|25| Helena – die Schönheit Die Tochter des Zeus (in Schwanengestalt) und der Leda schlüpft aus einem Ei und verdreht allen Fürsten Griechenlands den Kopf, noch ehe sie erwachsen ist. Sieger der Konkurrenz ist der Schwager von Helenas Schwester, Meneláos, dessen Rechte als Gatte zu verteidigen alle Unterlegenen schwören. Etwas später verfällt die Braut dem Charme des Paris und lässt sich nach Troia entführen, wo beide heiraten. Der betrogene Menelaos beruft sich auf den Beistandseid, worauf Troia belagert wird. Paris fällt im neunten Kriegsjahr, Helena wird an dessen Bruder Deïphobos ‚vererbt‘, ehe sie beim Untergang der Stadt zu Menelaos zurückkehrt. Eine wohlwollende Variante lässt die echte Helena in Ägypten leben, während Paris sich mit einem Phantom vergnügt.
|26|
Fang auch nicht so an wie einst der Schreiber eines Kyklos-
Epos: / „Priamos’ Los will ich singen und auch den Krieg, den berühmten […]“ / Was wird der Versprechende bieten, das dieser dicken Lippe würdig ist? / Berge liegen in den Wehen, eine Maus wird geboren, zum Lachen. / Wie viel richtiger nun er, der nichts mit dem falschen Ton erschafft: / „Nenne mir, Muse, den Mann, der, nachdem für Troia die Zeit kam / Seines Falls, vieler Menschen Gebrauch und Städte gesehen“ […] / Der fängt den Troianischen Krieg nicht mit dem Ei der Zwillinge an: / Immer eilt er dem Ausgang zu und reißt mitten in die Geschichte, / Als wäre sie schon bekannt, den Hörer hinein, und was / Dargestellt
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unmöglich glänzen kann, lässt er aus […], / Damit Anfang und Mitte, Mitte und Schluss keinen Missklang geben. HORAZ, Ars poetica 136–153 (ca. 20–8 v. Chr.)
Ohne die revolutionäre Methode, diese gedrängte Schilderung schriftlich zu fixieren, wäre eine solche Leistung unmöglich gewesen. Die Griechen des 8. Jahrhunderts v. Chr. übernahmen |27| das Alphabet, das wie geschaffen war, Verwaltung und Handelsleben zu revolutionieren, wie es schon seit Jahrhunderten an vielen Orten geschehen war, und sie reservierten es nicht für ‚nützliche‘ Texte. Lange ist gestritten worden, ob Homer das Alphabet kannte; mit daran schuld war der Dichter selber, der sich kunstgerecht verstellt, als er einen Brief wie ein Stück Schwarze Magie schildert.
9
Es gab gute Gründe für Homer, sein Werk aufzuschreiben, auch wenn sein Gedächtnis begnadet war. Mindestens vier strapaziöse Tage zu sechs Stunden wären für die gesamte Ilias nötig gewesen; würdigen konnte man sie erst bei der zweiten oder dritten Wiederholung. Schreibend hatte Homer die Chance, ohne sonstige Änderung jeden Ausdruck beliebig oft zu verfeinern, und konnte sich so selbst übertreffen. Mehr noch, ein zu endgültiger Form gelangtes Gedicht würde sich den Hörern mit der Zeit einprägen, wie es die variierende Sängerdichtung nicht konnte, während seinen Standesgenossen Homers unveränderliches Lied als Maßstab oder Ärgernis eingehen würde – allzu überlegen war es. Selbst der jüngere Hesiod, der neue Themen für die Dichtung entdeckte, wirkt primitiv, verglichen mit solcher Verschränkung
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von Leitgedanken, Motiven, Personen im Vordergrund und wechselnden Handlungsgeschwindigkeiten, ein Gewebe und kein gesponnener Faden mehr. Die Methode Homers, sich der Schrift zu bedienen, war so kreativ wie unwiederholbar; die mündliche Erzählform durchdringt sie überall. Lange Einzelstücke der Ilias kann man sich ohne weiteres als traditionell entstanden denken – nicht aber das Ganze mit seinen fein abgestimmten Korrespondenzen. Einzelne Versehen, die akribisch gesammelt worden sind, ändern nichts daran – ein Film, in dem ein Schmuckstück von einem Arm der Darstellerin zum anderen ‚hüpft‘, hat deswegen noch nicht mehrere Regisseure. Wie ein moderner Schriftsteller |28| Einzelkapitel seines Buches ‚herunterschreibt‘ und Querverbindungen lieber nachträgt, als lange im Manuskript zu blättern, so wird auch Homer große Stücke komponiert haben, wie er es sein Leben lang getan hatte; die Verfeinerung (und die Verzahnung mit anderen Teilen) kam später. Man hat vermutet, er habe nicht geschrieben, sondern diktiert – falls das so war, verstand er jedenfalls genug von der Schrift, um sie optimal auszunutzen, und das wiederum legt nahe, dass er (mindestens) lesen konnte. Blind geboren war er kaum (übrigens gebraucht er neun verschiedene Verben für das Sehen). Es scheint unmöglich, dass gleich die erste Verwendung der Buchstaben, um Dichtung zu fixieren, ein geschlossenes Ganzes von über zehntausend Versen hervorbrachte. Wenn es frühere Experimente gab, wissen wir es nicht. Völlig wahrscheinlich ist, dass gleichzeitig andere ausprobierten, was sich mit der Schrift anfangen ließ. Doch Homers Werk bleibt das erste erhaltene Zeugnis. Auch wer ihm eine Vorgeschichte aus
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mehrfach verfeinerten Einzelteilen zuschreibt, die er als Vollender einer langen Tradition zusammengesetzt habe, denkt sich keinen Homer, der mit Schere und Kleister an geschriebenen Vorlagen arbeitet.
Am Scheideweg Das erste griechische Epos entstand nicht über Nacht, sondern aus der Dichterpraxis von Jahrzehnten. Wir dürfen vermuten, dass Homer seine Folgen bereits spürte, während er jahrelang probierte und verbesserte. Die Selbstreflexion in der Schrift kann seinem Erfolg nicht geschadet haben, sondern umgab ihn vielleicht schon mit einem Anflug jenes magischen Rufes, der ihn später ins Übermenschliche entrückte. Seine materielle Sicherheit wie sein Selbstvertrauen wuchsen, und er blieb bei |29| seinem Werk. So wenig er blind war, fehlte ihm wohl doch die Hellsicht, dass sein großer Wurf auflösen würde, was ihn selbst hervorgebracht hatte. Der Einbruch der Schrift in eine Gesellschaft hat enorme politische Folgen, aber sie sind nichts verglichen mit den Wirkungen auf ihre Tradition. Die Schrift kommt als Wunder und Katastrophe. Keine mündliche Überlieferung kann eine so unverfälschte Wiedergabe erreichen wie sie, doch eben das entzieht der Tradition von Mund zu Mund die Grundlage. Was wichtig ist, wird aufgeschrieben, also ist das Ungeschriebene fortan zweitrangig. Die Griechen retteten einen größeren und vielfältigeren Bestand in die neue Ära als manche andere Kultur und weigerten sich hartnäckig, manches Wichtige (wie Gebetsformeln) zu notieren; dennoch drohte dem Großteil der
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konkurrierenden Mythen eine Zukunft als Minderheitsmeinung, Kuriosität oder Märchen. Märchenerzähler oder bloßer Rezitator musste auf lange Sicht auch der Sänger werden. Wir wissen nicht, ob schon Homers Zeit den Wandel zum Rhapsoden sah, der kein Instrument mehr spielte, sondern nur Verse im Sprechgesang vortrug – immer weniger davon ein eigenes Werk. Mit der Fixierung eines musterhaften, immergleichen Einzeltextes war es zugleich um die soziale Funktion des Sängers geschehen. Bald passte nicht der Rhapsode sein Lied dem Adligen an, sondern umgekehrt suchte eine Familie oder eine ganze Stadt Anschluss an den festgeschriebenen Mythos. Für solche Operationen brauchte man Lokalpatrioten, keine Sänger. Gedichte wurden auch weiterhin vorgetragen – aber es waren zusehends bekannte, immer wieder gehörte Texte, voran die Ilias. Das war der Beginn einer neuen Geschichte, in deren Verlauf Homer selbst zur hochinteressanten Vergangenheit werden sollte. Nur schrieb und lebte er von dieser Möglichkeit unberührt. |30| Seine eigene Gegenwart, für die wir heute händeringend nach schriftlichen Zeugnissen suchen, spiegelt sich in den beiden großen Epen geradezu ungewollt und vermischt sich – keiner Notwendigkeit als der dichterischen folgend – mit Reflexen früherer Zeiten, die fast nicht den Namen von Erinnerungen verdienen. Homer kannte die Fragen nicht, auf die man einmal Antwort verlangen würde; das hat er mit uns gemeinsam. Jede noch so gesprächige Zeit gibt den Späteren immer die ‚falschen‘ Antworten. Selbst wenn ein Wunder uns alle Relikte der Entwicklung auf den Tisch legte, an deren Ende Homer steht, wäre ihr endgültiges Geschichtsbuch nicht
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zu schreiben. Das Verstehen beginnt immer neu; dass es nicht mit dem Nichts beginnt, verdanken wir dem, was vor uns war.
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Der große Aufbruch
Nichts
war mehr so prächtig wie einst, die Männer
schwächer und geradezu geschrumpft, der Glanz so vieler Städte durch Krieg oder Alter verblasst, nur im Lied lebendig. Die Götter besuchten menschliche Häuser nicht mehr oft, und dass sie gar irdische Kinder haben würden, war völlig unwahrscheinlich. Das alles war ein abgeschlossenes Kapitel, die Zeit der Heroen, die sich in einsamen Heldentaten oder riesigen Schlachten ebenso verzehrt wie auf den Gipfel des Ruhmes gebracht hatten. Jetzt dagegen war Nach-Zeit, ein trübes Zeitalter, das sich vor den überlebensgroßen Geschichten so grau und entleert ausnahm wie der Schatten Achills in der Unterwelt gegenüber dem lebendigen, zornigen, unüberwindlichen Krieger. Der Pessimismus, mit dem die frühesten Werke der griechischen Literatur ihre Zeit wahrnehmen, ist erstaunlich und auch wieder nicht. Die Ilias schreibt dieses Gefühl des Schwindens schon den Helden vor Troia zu – können sich Agamemnon, Achill oder Odysseus mit einem Theseus, einem Herakles messen? Das waren noch ganz andere Männer … In der Chronologie der Mythen steht der Troianische Krieg als großer, bitterer Schluss am Ende der Heroenzeit, deren Hauptfiguren er in Serie verschlingt; die glücklichen Überlebenden kehren heim, verheiraten ihre Kinder und dann kommt nichts mehr. Wer die Welt wie Hesiod von den Göttern her
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betrachtete, sah sich |32| durch die Weite der dazwischentretenden Zeit wie verbannt. Von der Antike bis heute wirkt das Bild nach: Das Goldene Zeitalter ist so fern wie möglich von uns, die wir unter dem Zeichen des Eisens leben.
Theseus – der Held von Attika In der Fremde wächst der Thronerbe und eigentliche Gründer von Athen zum Helden heran; auf dem Weg in seine Heimat befreit er die Region von Räubern und Ungeheuern aller Art. Mit seinem berühmten Sieg über den Minotaurus auf Kreta wird Athen symbolisch unabhängig. Auch als König bleibt Theseus ein Abenteurer, provoziert Invasionen, wird in Familiendramen verstrickt und strandet zeitweise in der Unterwelt. Das klassische Athen verehrte ihn vor allem als Helfer in der Schlacht bei Marathon von 490.
Alles war also seit langem schlecht und würde womöglich noch schlechter werden. Sänger, die vor Adligen auftraten, und ein ungewöhnliches Mitglied der Landbevölkerung wie Hesiod waren sich hierin einig. Und so überrascht es, in ihrer Beschreibung einer andauernden Tristesse Spuren der Veränderung zu finden, die aus unserer Sicht verheißungsvoll und aufregend wirken. Die Zeitgenossen selbst spürten die Bewegung sehr wohl; nur waren keineswegs alle begeistert von der Aufgabe, in interessanten Zeiten zu leben.
Landhunger Person und Herkunft Hesiods, zu denen er (anders als Homer) selbst eine Geschichte erzählt, sind der beste Anfang. Er und sein Bruder Pérses könnten die Kinder einer Bauernfamilie sein, |33| die schon immer im verschlafenen Askra bei
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Thespiaí gewohnt und geackert hat. Nichts dergleichen. Der Vater der beiden kam gar nicht aus Griechenland, sondern strandete dort, als er sein Glück auf dem Meer versuchte. Geboren war er in Kleinasien, in Kýme an der äolischen Küste. Als Bauer war er vom Regen in die Traufe gekommen. Das Landleben, dessen Jahreszyklen und herbe soziale Spielregeln Hesiod in Verse brachte, stand in Askra am Rande der Not, der Boden war knapp und ein Zankapfel in der Familie. Hesiod verwünscht jenes launische, schwache Wesen, das der Mann als Strafe der Götter durchfüttern müsse: die Frau. Mochte sie dem Bauern notfalls auch den Pflug ziehen, er hätte sich, folgt man der Literatur, lieber durch Knospung vermehrt und es bei einem (natürlich gegen Krankheit immunen und bärenstarken) Sohn belassen; das ging nicht, also riet Hesiod zu einer späten, kinderarmen Ehe. Aber die Familie war für Vorräte und Grundbesitz stets zu groß, für die Arbeit nie groß genug. Not und Härte trieben immer neue Wellen in die Städte und übers Meer, als Auswanderer oder Söldner. Andere wurden von der eigenen Familie gleich als Kleinkinder verkauft oder ausgesetzt. Für die Städte der Epoche bedeutete das einen Aufschwung – doch der Hunger hauste auch in ihnen, und jahrzehntelang wurden ganze Bevölkerungsjahrgänge förmlich zum Auszug verdammt. Was wir die archaische Zeit Griechenlands nennen, war in der Tat ein eisernes Zeitalter.
1
Über die Beschreibung des Alltagslebens – mit knappem Boden und zu vielen hungrigen Mäulern – hätte sich ein Grieche
früherer
Normalzustand
war
Jahrhunderte große
Leere
sehr
gewundert.
gewesen.
Doch
Der aus
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verlassenen Gegenden wie Attika wurden zwischen 800 und 750 von Menschen wimmelnde Landschaften, dicht mit Dörfern besetzt: Rund um Athen vervierfachte sich die Einwohnerzahl und verdoppelte sich noch einmal bis 700. Für die Kinder der Bevölkerungsexplosion gab |36| es auf dem Land nichts zu tun und nirgendwo genug zu essen; die zerklüftete, gebirgige griechische Halbinsel bot keine neuen Anbauflächen mehr.
In die Welt getrieben Wenn es noch Land gab, dann auswärts. Mit Kennerblick lässt die Odyssee ihren Helden eine fruchtbare Insel mustern, die leider vor der Küste der wilden Kyklopen liegt. Schon früher waren Griechen aufgebrochen, wie die Kette von Städten entlang der Küste Kleinasiens zeigte. Doch der Osten war nun verteilt und verschlossen: Starke Königreiche kontrollierten Küsten und Binnenland. Die nördliche Ägäis schien einstweilen unattraktiv. So blickte man zunächst nach Westen, wo Griechen lange vor Homer bis ans Ende des Mittelmeeres vorgestoßen waren.
2
Alsdann erstreckt sich da querab vom Hafen eine flache Insel, weder nah am Land der Kyklopen noch weit ab, eine bewaldete, und darauf leben unendliche wilde Ziegen. […] sie ist gar nicht schlecht, und sie würde alles tragen nach der Jahreszeit. Denn auf ihr sind Wiesen an den Gestaden der grauen Salzflut, feuchte, weiche: da könnten recht wohl unvergängliche Reben sein. Und
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ebenes Ackerland ist darauf: dort könnte man recht wohl eine tiefe Saat jeweils zu den Zeiten der Ernte schneiden, denn sehr fett ist der Boden darunter. Und auf ihr ist ein Hafen, gut anzulaufen, wo kein Haltetau nötig ist und auch nicht nötig, Ankersteine auszuwerfen noch Hecktaue anzubinden […] Doch am Kopf des Hafens fließt helles Wasser, eine Quelle, hervor aus einer Grotte, und Pappeln wachsen darum. Od. 9, 116–119; 131–137; 140f.
Das Feindbild des Standesbewussten ist in der Odyssee der „Händler“, der Schiffskapitän und -eigentümer, der nur auf
|37| Fracht und Profit aus ist; das ändert nichts daran, dass griechische Händler längst den Spuren ihrer rührigen Vorgänger, der Phöniker, gefolgt waren und Nachrichten in Fülle über die bewohnte Welt heimbrachten. Manche von ihnen reisten zu Handelsstützpunkten, wo sich regelmäßig fremde Kulturen begegneten: im Osten in Tarsos an der Südküste Kleinasiens, vor allem aber schon seit dem 9. Jahrhundert im nordsyrischen al-Mina. Im Westen besiedelten Griechen ab ca. 775 Pithekússai, die „Affeninsel“ vor der Küste des wilden Italien, die wir als Ischia kennen; das Eisenerz zog sie hin, das auf Elba gefördert wurde. Griechenland und der Orient brauchten mehr und mehr Eisen; gleichzeitig belieferten hellenische Händler die Etrusker, die das Glück hatten, jene Erzvorkommen
zu
kontrollieren,
|38| lernten aussichtsreiche
Plätze entlang der Handelswege kennen – und rüsteten schließlich Expeditionen aus, um neue Orte in Besitz zu nehmen, für den Handel, aber immer stärker auch zur Aufnahme der ‚Überzähligen‘ im Mutterland. In Korinth und Mégara, den
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Städten auf der Landenge, in Chálkis und Erétria, den Rivalen um die Vorherrschaft über die Insel Euböa, wurden Schiffe beladen, deren Besatzungen europäische Geschichte schreiben sollten.
3
Kolonisiert wurde aus Not und kaufmännischer Hoffnung, nicht aus Begeisterung; es war anfangs gar nicht abzusehen, wie reich die Kolonien dieser zweiten Welle bald sein würden. Am Heimweg von Ischia nach Griechenland lag Sizilien, und dort entstand 734 die erste Niederlassung, Naxos, der 733 das günstiger gelegene Syrakus folgte. Das Abenteuer gelang, die Siedler behaupteten sich auf der Insel, und in den folgenden Jahrzehnten trug Schiff auf Schiff Unglückliche, Desperados und Optimisten nach Sizilien und Süditalien, die in Häuflein von einigen hundert mehr oder weniger planmäßig Land besetzten. Mit den Einwohnern schlug oder arrangierte man sich, wie es eben kam, stets auf der Suche nach Zusatzeinkünften aus Handel (und Piraterie gegen den Handel der Konkurrenz). Die erdichtete Insel der Phaiaken, Schéria (Scheríē), ist in der Odyssee als ideale Kolonie zu erkennen, gegründet durch einen adligen ‚Unternehmer‘, mittlerweile aber so reich, dass sie das beste denkbare Leben führt, Isolation von der Außenwelt nämlich, Raubzüge ausgenommen. Tatsächlich war die Gründergesellschaft der Kolonisten zum Kontakt verdammt – mit den benachbarten ‚Barbaren‘, den nächstgelegenen Griechen, den Phönikern und deren Kolonien (darunter die aufstrebende Siedlung Karthago), vor allem aber mit dem Mutterland. Der Nutzen für die Gründerstädte fiel weit höher aus als erwartet; lange konnten sie ihre Machtansprüche |39| über die Kolonien nur selten erhalten,
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doch die Handelsgewinne blieben. Im 5. Jahrhundert war Sizilien nach allgemeiner Überzeugung reicher (und stärker) als das griechische Stammland. Aus dem Westen kam Eisen, später Getreide – und ein stetiger Strom von Sklaven, deren Verkauf geradezu eine griechische Spezialität im Mittelmeerraum wurde.
Ionische Perspektiven Das alles hatte es früher nicht gegeben. Folgerichtig fehlt es bei Homer, aber nicht ganz und nicht allein deswegen. Gerade die Odyssee öffnet sich weit dem neuen Bild der Welt, das mit dem dichteren Handelsnetz und den Landnahmen in der Ferne entstand. Die Geographie der Gegenwart scheint durch – Sizilien, Ägypten, Zypern, die Städte der syrischen Küste. Aber die Grenzen der bewohnten Welt (der Oikuménē) und des Nirgendwo von Märchen und Mythos waren auf keiner Landkarte klar
gezogen;
der
Odyssee-Dichter
war
so
klug,
diese
Ungewissheit (die andere zu Entdeckungsreisen und Feldzügen reizen sollte) zum Kunstprinzip zu erheben und unmerkliche Übergänge aus den Regionen, in denen es Wegzeichen und messbare Entfernungen gibt, zu Wunderinseln und verbotenen Meeren zu schaffen, auf denen der Mensch sich ohne göttliche Hilfe tödlich verirrt. Der Chronist von Odysseus’ Irrfahrten wusste, wie ein Koloniegründer dachte; wir dürfen für Homer selbst annehmen, dass er sich mit Händlern bestens auskannte. Aber beide stammten fast sicher aus Ionien und verbrachten dort einen beträchtlichen
Teil
ihres
Lebens.
Die
ionischen
Städte
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nahmen, selbst frei von Überbevölkerung, am Aufstieg teil, verdienten natürlich am Handel und gingen einem Jahrhundert der Blüte entgegen. Auch waren sie selbst einmal Kolonien gewesen – nur |40| vollzog sich die neue Kolonisation auf der anderen Seite der hellenischen Welt. Mehr noch, länger als anderswo scheinen sich in Ionien politische Strukturen und Denkweisen der alten Zeit erhalten zu haben. Man war konservativer, erst recht in den Kreisen, an die Homer wie Generationen von Sängern vor ihm gebunden war. Noch spätere Gedichte entwerfen ein kriegerisches, prunkliebendes Bild von der ionischen Aristokratie, und so wollte sie zumindest gesehen werden. In der Liste der griechischen Verbündeten vor Troia musste die Küste fehlen, doch „die Ionier, die schleppröckigen“ hat Homer trotz allem eingeschmuggelt. In diesem Weltbild waren es die Griechen, die kämpften, und die „erlauchten Phöniker“, die handelten oder Sklaven entführten, ehrlichen Seeraub ausgenommen. Doch eine Handelsreise konnte so spannend sein wie ein Raubzug, und gerade in den Städten Kleinasiens hat man die Urheber jener Seefahrermärchen gesucht, die aus Odysseus, dem „Städtezerstörer“ und Meisterschützen, einen unsteten Abenteurer machten. Auch die Reise der Argonauten, die mythische Eroberung des Meeres für die Seefahrt, nahm vielleicht irgendwo in Ionien Form an.
4
Ionien blickte aufmerksam nach Osten, zum anderen Rand der lange so kleinen griechischen Welt. Genauer gesagt waren es die Hellenen, die ganz am Rand großer Ereignisse lebten, sehr zu ihrem Glück – gerade weit genug von den streitenden Reichen in Kleinasien und dem Nahen Osten, um
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einstweilen nicht tief in ihre Kämpfe gezogen zu werden, aber doch so nahe, dass die Handelsströme und ein mindestens ebenso wichtiger Strom kultureller Impulse sie erreichten. Gegenüber den Erz besitzenden Etruskern im Westen und italischen
Stämmen
wie
den
Latinern
leistete
Griechenland
‚Entwicklungshilfe‘; hier aber war man selber der Nehmende. Für alle Bewohner des Ostens waren es gefährliche Zeiten. |41| Gegen 800 schlug die Stunde des Assyrerreiches, das in einem Siegeszug von anderthalb Jahrhunderten nach Westen ausgriff. Zu Homers Lebzeiten standen assyrische Heere am Mittelmeer, unterwarfen 722 mit Israel das größere der zwei verfeindeten hebräischen Bruderreiche und griffen um 700 sogar nach Zypern, wo die Griechen eine von mehreren Bevölkerungsgruppen stellten. Die Ägäis hatte allen Grund, sich Sorgen zu machen; sogar zu einem Seegefecht zwischen Assyrern und Ioniern kam es bereits. Eine nähere Gefahr, ein von Norden einbrechender Stamm, hatte jedoch größere Folgen.
Der
Einfall
hinterließ
ein
Machtvakuum,
das
in
Westkleinasien durch das neue, starke Reich des Lyders Gyges gefüllt wurde – der Usurpator arrangierte sich mit den Assyrern und gewann so freie Hand, sich nach und nach die griechischen Städte und deren Handelseinnahmen zu unterwerfen. Die Großmacht im Osten blickte stattdessen |42| auf das geschwächte Ägypten, wo ihr ein neuer, letzter Triumph glücken sollte; wer Homer ins 7. Jahrhundert rückt, beruft sich auf mögliche Echos der assyrischen Einnahme von Theben im Jahr 663. Gyges ging pfleglich mit seinen lukrativen Untertanen um, und sein Friede mit den Assyrern öffnete den Griechen
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noch dazu die Tore zum Osten. Der assyrische Drang zur Küste wiederum hatte die Phöniker in ihren Seestädten nicht unberührt gelassen. So sollte das 7. Jahrhundert goldene Zeiten für die Kaufleute aus Ionien, Euböa und Korinth bringen. Auch auf die griechischen Söldner warteten Aufträge zuhauf – und nebenbei gibt es Zeugnisse für kleinere Raubzüge ionischer Plünderer an der syrischen Küste. Die bei weitem wichtigste ‚Beute‘, das semitische Alphabet, hatte die Griechen schon vorher auf friedlichem Wege erreicht, wohl nicht lange nach 800. In ihrer Bearbeitung, die erstmals alle Vokale darstellte, wurde es zum Welterfolg. Seit diesem Datum ist auch der griechische Direktkontakt zu den Assyrern belegt, die das Erbe des Sumerischen und Akkadischen pflegten, eine Schrifttradition von zwei Jahrtausenden.
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Die vergessenen Lehrer Dies lässt ahnen, woher ein Teil jenes unvermuteten ‚griechischen Wunders‘ kam, das Homer und seine Nachfolger, die erste Blüte der bildenden Kunst, die Anfänge der westlichen Philosophie und Naturbeschreibung hervorbrachte. Die Suche nach fremden Anstößen bringt immer neue Überraschungen. Hesiods Reihe der sich verschlechternden Weltalter oder die Bildsprache der „archaischen“ griechischen Kunst sind nur die auffälligsten Anzeichen der orientalisierenden Phase der griechischen Geschichte. Homer steht mitten in diesem Zustrom |43| von Inspirationen. So entpuppt sich ein Eckpfeiler seiner Götterwelt, die Aufteilung der Weltherrschaft unter die drei Brüder Zeus, Poseidon im Meer und Hades unter der
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Erde, als wahrscheinliche Übernahme aus dem akkadischen Epos Atrahasis; Gilgamesh-Epos und Odyssee führen ihre Helden auf ähnliche Weise ein, manche Szenen der Ilias ähneln derselben Quelle, und allerhand homerische Mittel zur Formgebung und Ausschmückung haben Parallelen in der Epik Mesopotamiens. Merkwürdige Parallelen zeigen auch der Besuch des Odysseus bei den Phaiaken und die ägyptische „Geschichte des Schiffbrüchigen“.
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Wenn nicht Homer selbst, so müssen dessen unmittelbare Vorgänger überaus interessiert in Texte geblickt haben, die im Orient oft Schullektüre und in Auszügen entsprechend verbreitet waren. Aber wieso gerade nicht Homer? Die Ähnlichkeit zwischen einer uralten Tradition schriftlicher Epik und dem Abkömmling einer mündlichen Kompositionstechnik wie der Ilias ist womöglich der Schlüssel zum Rätsel, wie es ausgerechnet Homer scheinbar aus dem Stand gelang, Probleme und Chancen der Schriftlichkeit zu meistern – und wie er überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, die erlernte Gesangstechnik für ein Epos zu verwenden. Man muss ihn sich nicht unbedingt selber über Keilschrifttafeln gebeugt denken, aber dass er Kontakt mit Griechen oder Ausländern hatte, die Teile der östlichen Literatur mehr als oberflächlich kannten, scheint unumgänglich. Homer hatte seine Quellen, lebend oder geschrieben. In al-Mina oder auf Zypern hatten Griechen im Guten wie im Bösen Dauerkontakt zu den Phönikern, ebenso zu
den
Märkten
des
Assyrerreiches
und
indirekt
nach
Ägypten; phönikische Kunsthandwerker lebten auch auf Kreta. Hellas kaufte dort Eisen, Textilien und Kunstgegenstände aller
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Art, häufig wohl im Austausch gegen Sklaven und seine auch im Orient unübertroffene Keramik.
|44| Herren und Bürger Wir können nachlesen, wie unwiderstehlich Homer und sein Nachfolger diese Entwicklungen fanden. Für die Schicht, von der sie als ‚Dienstleister‘ abhingen, galt das nicht ohne weiteres. Der Adel der ionischen und äolischen Küsten- und Inselstädte, der die Sänger beherbergte und ins Brot setzte, scheint wie zur Abwehr sogar mit dem neuen Gedanken reagiert zu haben, alle Griechen gehörten zusammen. Die Welt draußen war groß und wirr, das lenkte den Blick vielleicht auf die Gemeinsamkeiten, die jetzt wie später nicht von blutigen Kämpfen abhielten. Und wie im neuzeitlichen Europa des 18. Jahrhunderts galt diese Verbundenheit wohl hauptsächlich den Adligen im Rest der hellenischen Welt, zu denen man seit langem Gastfreundschaften oder Verwandtschaft pflegte. Erst recht hatte es guten Sinn, sich als eine große Familie zu fühlen, wenn sich vielerorts mehr und mehr der Druck durch neue politische Kräfte bemerkbar machte. Wenn in Korinth heute „das Volk“ schwierig wurde, dann morgen vielleicht in Milet und in Smyrna. Für praktische Zwecke war dieses WirGefühl, auch als es später auf weitere Kreise übergriff, noch lange keine Konkurrenz für die Verwurzelung in der Heimatstadt oder -landschaft. Es brauchte den Schock des persischen Vordringens bis zur Ägäis im Jahr 547, die blutige Revolte Ioniens und die Beinahe-Katastrophe der Perserkriege, um ihm größere Kraft zu verleihen.
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Doch soweit die Ilias die Einheit der „All-Achaier“ darstellt, ist sie eine Einheit des Adels. Die Namen, die uns Homer mitteilt, betreffen immer die Vorkämpfer, die großen und kleinen ‚Könige‘ und ihr Gefolge; namenlos stirbt in den Schlachten der Ilias das Gros der Waffenträger. Ganz auffällig ist das gleich zu Beginn: Allein „die Völker“ der Fürsten werden durch eine banale Seuche dezimiert. Schon äußerlich zeigt sich die edle |45| Herkunft – das ist keine bloße Selbstgefälligkeit; von der Kleidung ganz abgesehen hatten gute Ernährung (besonders für die Körpergröße), regelmäßige Bäder und das Einreiben der Haut mit Öl (ein wichtiges Thema der Odyssee) ihre sichtbare Wirkung. Lebensgefühl und Sozialstruktur der örtlichen Aristokratien
entstammten
vorausgegangenen
Jahrhunderten;
dort
wollen wir sie genauer betrachten. Hier genügt die Feststellung, dass beides offenkundig in Gefahr geraten war – und damit die Legitimität des ganzen Systems. Der lokale ‚König‘, der primus inter pares unter den ansässigen Vornehmen, war seiner Herrschaft nicht mehr so sicher wie früher; das nutzt Homer aus, wenn er die Verkettung persönlicher Entschlüsse und politischer Folgen darstellen wollte, aber es ist kaum ein rein dichterisches Konstrukt: Es passt in die Unruhe der Zeit. Die imposante Reihe von Vorgängern, die Agamemnon als König Mykenes für sich aufzählt, ist ein Ansatz dynastischer Legitimation und endet bei Zeus, dem Ahnherrn, von dem auch sein Königsszepter stammt; so sind die Götter gleich in mehrfacher Weise auf seiner Seite. Nur
sichert
die
Familienvergangenheit
nicht
die
ewige
Herrschaft und |46| hat es wohl nie getan: Odysseus’ Sohn
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Telemach hat mindestens zwei Generationen Könige von Ithaka im Rücken, gibt aber wütend und mit einer Spur Todesangst zu, dass ihm dies nur die Macht über den Familienbesitz sichert, nicht die Nachfolge. Athene wünscht dem „Volk“ zur Strafe für diese Unsicherheit an den Hals, es möge nie mehr gute Könige geben.
|45| Menelaos – der betrogene Gatte Reichtum und der Einfluss seines Bruders Agamemnon verschaffen dem König von Sparta die Hand Helenas, der schönsten Frau ihrer Zeit. In Abwesenheit des tapferen und ehrlichen, aber nicht überragenden Menelaos wird Helena durch Paris geraubt; Menelaos und Agamemnon sammeln die Armeen ganz Griechenlands und beginnen die zehnjährige Belagerung Troias. Das unerwartete Ende ist eine Versöhnung mit Helena; nach dem Tod wird das Paar auf die Inseln der Seligen versetzt.
|46| Ein wirklich mächtiger König wäre jemand wie Agamemnons Bruder Menelaos von Sparta, der mit dem Gedanken spielt, als Geschenk für Odysseus eine ganze eigene Stadt zu räumen; das überstieg weit die Machtmittel aller Griechenherrscher dieser Zeit. Nicht allerdings mancher fremder Potentaten: die gewaltsame „Verpflanzung“ ganzer Städte und Völker durch die Assyrer drang vielleicht bis hierhin.
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Einen so mächtigen König hätte sich die Aristokratie aber auch gar nicht gewünscht. Ihr Ideal war es, die lokale Bevölkerung – auch wo ihre Siedlungen nun den Charakter von Städten annahmen – kollegial zu führen. Heiratspolitik, Standesdenken und politische Klugheit konnten die zur Rivalität neigenden Adelsfamilien am Ruder halten, ohne dass es sie ihre Identität kostete. Spektakulären Erfolg hatte die
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verästelte Sippe der Bakchiáden, denen sich „die reiche Korinthos“ in der Zeit ihres steilen Aufstiegs nach 750 für fast ein Jahrhundert unterordnete – eine Blüte, die Korinth wie Sparta im Katalog der Griechen vor Troia rückwirkend zu unverdient guten Plätzen verhalf. In rückständigen Gegenden wie Athen (bis 594) oder Kreta brauchte es offenbar weniger Überlebenskunst, um den alten Eliteanspruch zu behaupten.
8
Doch die Zeit der in ihren vier Wänden unabhängigen Herren, die sich im Krieg maßen, ging zu Ende. In einer dicht bevölkerten
Welt
gab
es
den
sich
selbst
genügenden
Grundbesitzer nicht mehr. Gräber gehörten im 8. Jahrhundert aufs offene Land, was als Zeichen gilt, dass man die Orte als etwas |47| Geschlossenes verstand. Dazu wurden die Grabbeigaben spärlicher – es wurde für die Reichsten offenbar nutzlos oder gar unanständig, hier ihre Sonderrolle zu demonstrieren. Es gibt Indizien, dass der Adel nun lieber Weihgeschenke für die Heiligtümer der Götter stiftete oder – im Fall großen Reichtums – den Bau der ersten Tempel übernahm, die in die religiöse Welt der Griechen eindrangen. Zu den Kultstätten zog es ihn auch wegen der Wettkämpfe, die dort heimisch wurden – man denke an 776, den (echten oder nachgetragenen) Beginn der Siegerlisten aus Olympia. Hier winkte Ruhm vor viel Publikum; Dichter wie der große Píndar sollten später mit Siegesoden ihren Beitrag dazu leisten, in denen sich mythologische Tradition und der Preis des herausragenden Individuums, aber eben auch das obligatorische Lob seiner Heimat verbanden. Die Gemeinschaft – genauer, ihr mäßig wohlhabender Teil – war dabei, ihre kleine Spitzengruppe von Individualisten zur
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Konformität zu zwingen. In den Hauptorten entwickelte sich ein Eigenleben in festeren Formen mit Markt und geregelter Rechtsordnung.
Auch
Regionen
ohne
solches
Zentrum
begannen sich zusammenzuschließen – die griechische Polis, getragen von einer breiteren Schicht privilegierter Bürger, kündigte sich an, zur Not als ‚Stadtstaat‘ ohne Stadt. Homers berühmte Schildbeschreibung in Buch 18 der Ilias mit ihrer Gerichtsszene, einer öffentlichen Feier und der Verteidigung einer Stadt gegen eine Belagerungsarmee weist in dieselbe Richtung, von Personen wie Hektor zu schweigen, der mehr an seine Stadt als an Ruhm und Familie denkt. Adel verpflichtet; nun verpflichtet die Stadt ihn noch enger.
„Glaukos! warum sind wir beide wohl geehrt am meisten / Mit Ehrensitz und Fleischstücken und vollen Bechern / In Lykien, und alle blicken auf uns wie Götter? / Und ein Landgut,
|48| ein
großes, bebauen wir an des Xanthos Ufern, / Ein schönes, mit Baumgarten und Saatfeld, weizentragendem. / Darum müssen wir bei den Lykiern jetzt unter den Ersten / Stehen oder uns der brennenden Schlacht entgegenwerfen.“ Il. 12,307–313
Gerade der Krieg tat mehr als alles andere dafür, die Adligen zu ‚domestizieren‘. Er veränderte sein Aussehen in dieser Zeit dramatisch, nicht zum Wohl der Griechen. Vordem hatten in jeder Region eine Handvoll ‚Könige‘, jeder mit maximal ein paar Dutzend ‚Gefährten‘, sich die nötigen Waffen, Pferde und freie Zeit für längere Kriegsfahrten und Überfälle leisten können – das Gros der Bevölkerung war „unkriegerisch und
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kraftlos“ und hatte genug mit der Ernährung dieser wenigen zu tun. Jetzt aber fanden einige hundert oder gar tausend Mann aus jedem werdenden ‚Staat‘ die Mittel, sich Speer, Schwert und den schweren Rundschild zu beschaffen – die Ausrüstung, die nach und nach die neue, dicht gedrängte Kampfweise der Phalanx hervorbrachte. Ans Ende kam das bis zu Homers Zeit noch nicht, aber das Gefühl für die schlachtentscheidende Rolle genau jener Massen, die im Bild der Kämpfe ignoriert werden, ist in einer viel zitierten Passage spürbar. Eine solche Armee war nur in den Sommermonaten zwischen Aussaat und Ernte aufzubringen, aber gegen sie war jedes adlige Aufgebot unterlegen. Ihr Anführer war Taktiker, kein Vorkämpfer mehr. Wünsche wie der Achills, er und Pátroklos möchten doch allein Troia erobern und alle anderen Griechen tot sein, klangen nicht länger überspannt, sondern wie Verrat. Das Muster, das sich damit ergab, prägte den Alltag der griechischen Polis auf Jahrhunderte: Man zog (etwa im Krieg um ein fruchtbares Stück Land) praktisch alljährlich über die Grenze gegen eine Nachbarpolis, hatte einen kurzen Zusammenstoß, |49| siegte oder floh und ließ in jedem Fall eine Anzahl Tote zurück. Man romantisierte dieses banale Ende des Handwerkers von nebenan bald mit Homers Hilfe – jeder ein kleiner Hektor. Ziemlich sicher wurde jetzt häufiger gekämpft und getötet als bis dahin. Obendrein hatte ein angreifendes Heer die Mittel, um die Heimat des Gegners dauerhaft zu erobern; Tod, Sklaverei (Handwerker und Händler konnten stets ein zusätzliches Paar Hände gebrauchen) oder Vertreibung waren die Folgen für die Einwohner, üblicherweise
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gefolgt von einem Rachekrieg spätestens in der nächsten Generation. Homer registriert den ‚moderneren‘ Ton. Dem Aufruf an die Troer, „standzuhalten und sich für die Frauen zu wehren“, korrespondiert ‚totaler Krieg‘ auf griechischer Seite: kein Lösegeld, also auch keine Gefangenen. Ausgerechnet der milde alte Nestor tut sich hervor, indem er die sexuelle Phantasie der Achaier anstachelt, „als Buße […] für die Angst und das Stöhnen der Helena“ müsse jeder von ihnen eine Troerin vergewaltigen. Das erinnert an eine Standardverwünschung, dem Feind mögen die Kinder totgeschlagen und die Frau „von anderen bezwungen werden“. Sogar vor diesem Hintergrund gibt es noch eine Steigerung: Bürgerkrieg.
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Nestor – der Greis mit der Honigzunge Unter den Fürsten vor Troia ist der betagte, aber kämpferische König von Pylos das lebende Gedächtnis vergangener Großtaten. Nestors Redseligkeit und Neigung zu leicht überflüssigen Ratschlägen knüpfen immer neue Kontakte der Ilias zu anderen Sagenkreisen. Im Kampf verliert der Greis seinen Lieblingssohn Antílochos, kehrt selbst jedoch sicher heim.
|50| Mit Hurra in den Tod? Die Ilias steht im Ruf, blutrünstig zu sein, doch sprechen bestimmte Züge eher dagegen, dass die Sphäre, in welcher Homer sich bewegte, extrem große oder häufige Kämpfe sah. Jeder der Kampftage vor Troia bringt dem Adel beider Gegner Aderlässe, von denen sich selbst eine (damals höchst seltene) Stadt mit mehreren tausend Einwohnern eine Generation lang
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nicht erholt hätte. „Episch“ ist also auch das Ausmaß der Schlachtenspektakel. Umgekehrt wird, wer stirbt, von Homer einzeln herausgehoben; wenn dies keine Schutzreaktion gegen eine neue Realität ist, war der Tod für die ursprünglichen Adressaten der Ilias wohl noch kein Massenereignis. Aus der Sicht eines Aristokraten war das Ende irgendwo in der Schlachtreihe sowieso reichlich unattraktiv. Der Tod selbst ist bei Homer weder süß noch ehrenvoll. Ein sehr griechisches Lob, junge Männer seien auch im Tode schön anzusehen, unterläuft dem alten Priamos, aber es steht im grausigen Widerspruch zum folgenden Ende seines liebsten und besten Sohnes. Sterben, der Weg in „das verhasste Dunkel“, ist qualvoll und zieht den Spott des Siegers auf sich; sterbende Krieger zeigen sich in ihren Worten gebrochen, gedemütigt und verzweifelt. Der Tod im Kampf ist ein Scheitern und kommt wie eine Vergewaltigung daher, und so kann er auch beschrieben werden. Nicht erst im entsetzten Blick Andrómaches auf die nackte Leiche ihres Mannes Hektor, die Achill um die Stadtmauern schleift, offenbart sich das Grauen, das
die
Hinterbliebenen
ausstehen
müssen;
die
zum
Zuschauen verdammte Frau hat schon um den lebendigen Hektor
Tränen
vergossen.
Verwaiste
Eltern
sehen
ihr
Geschlecht aussterben, die Überlebenden verbeißen sich das Weinen, indem sie die Leichen sammeln. Trotzdem ist das Kampfgeschehen mit einer für uns unbehaglichen |51| Kennerschaft beschrieben. Wer Homer liest, erfährt in Buch 4 und 5 der Ilias mehr über Speer- und Hiebwunden sowie die Empfindlichkeit des menschlichen Körpers, als er je wissen wollte. Das ist für ein sachkundiges Publikum
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verfasst, aber auch für eins, das vom Töten genug Abstand hatte, um an dessen Inszenierung Geschmack zu finden. Homers
Zuhörer
verstehen
sich
sichtlich
nicht
als
Vollzeitkrieger oder traumatisierte Veteranen. Graphische Tricks
und
Kunststückchen
mit
davonrollenden
Köpfen,
‚Overkills‘ mehrerer tödlicher Treffer auf einmal scheinen damals wie heute am besten zu gedeihen, wenn der großen Mehrheit intensive Kriegserfahrungen fern liegen. (Das antike Epos hat sich später zu langsamem Zerquetschen und der Auflösung bei lebendigem Leib durch Schlangengift gesteigert.)
Priamos – der leidende Vater Der fromme König von Troia, beliebt, aber schwach, ist der einzige überlebende Thronerbe nach Troias erster Zerstörung durch Herakles. Sein Schicksal ist es, samt der Stadt endgültig unterzugehen, nachdem er die meisten seiner (angeblich bis zu hundert) Kinder hat sterben sehen. Priamos’ schwerster und größter Moment ist der Bittgang zum gnadenlosen Achill, der ihm die Leiche Hektors überlässt; Achills Sohn wird später den alten König selbst erschlagen.
Blutige Kämpfe gab es aber durchaus. Inspirationen zum mörderischen Krieg zweier Allianzen konnte jedem Dichter der Zeit etwa der jahrzehntelange Konflikt liefern, den sich (seit ca. 730?) die anfangs wohlhabenden Städte Chalkis und Eretria um das fruchtbarste Stück der Insel Euböa lieferten, von Verbündeten aus ganz Griechenland unterstützt. Man kämpfte streng nach alten Regeln und verbot Bogenschützen als ‚unsportlich‘, man zelebrierte Einzelgefechte und Heroenbegräbnisse
|52| samt
Wettkämpfen
wie
aus
der
Ilias
geschnitten, und Hesiod nahm dort an einem Sängerwettstreit teil. Nostalgiker feierten diesen Krieg als letzten Nachglanz
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der guten alten Zeit, aber gerade sein Ausgang – der gründliche Ruin beider Städte samt ihrer Adelsschicht – zeigte, dass sich niemand mehr dergleichen erlauben konnte. Auch die Ilias-Helden ‚merken‘ schon den Wetterumschlag. Ihre übliche Technik ist, dass der gepanzerte Kämpfer aus dem Wagen klettert und zu Fuß den Zweikampf beginnt – bei Homer mischt sich regelmäßig jemand in solche Duelle ein, und die Gefahr wächst, ohne Wagen zu ‚stranden‘ und der Überzahl zu erliegen. Alliierte teilen keineswegs das letzte Stück Brot miteinander, sondern Agamemnon und die Bewohner von Lemnos verkaufen den übrigen Griechen Wein – die Vergünstigung besteht nur darin, dass sie im Lager einen Markt errichten; der Vergleich mit den späteren Auftraggebern griechischer Söldnerkontingente ist sprechend. Umgekehrt schimpft Hektor auf die Helfer Troias, sie fräßen die Stadt kahl, statt eine Entscheidung zu suchen. Andererseits findet Aias nichts dabei, Hektor die wertvolle Information zu verraten, dass Achill den Kampf verweigert, und weil Krieg bei Nacht ein Unding ist, beschenken sich die Feinde zum Abschied und gehen höflich vom Schlachtfeld – töten kann man einander ja später noch.
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Dem Heer [der Griechen] ging das Getreide aus, und zu kaufen gab es nichts außer auf dem Markt der Lyder im Barbarenheer des Kyros, die Kapithe Weizen- oder Gerstenmehl für vier Schekel. […] So lebten die Soldaten nur vom Fleischessen. XENOPHON, Anabasis 1,5,6 (401 v. Chr.)
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Wie viel Angst am Töten hängt, wissen wir. Der Heros – und der Adlige, der ihm nachlebte – nahm sie für den Nachruhm in
|53| Kauf, der dem Sieger winkte. Gegen die andere Möglichkeit war wenig auszurichten. Niemals aufgeben, immer auf Revanche hoffen; die ‚richtige‘ Einstellung spricht Sarpedon aus, Fürst der Lykier: Sterben muss man sowieso, also wollen wir es wenigstens tapfer tun.
Aias – der ewige Zweite Nach dem Tod seines Vetters, des ‚Superhelden‘ Achill, ist der Herr der Insel Salamis der Stärkste und Mutigste im Heer der Achaier. Besonders in verzweifelten Situationen bewährt er sich glänzend. Zusammen mit Odysseus rettet er Achills Leiche vor den Troern; beim folgenden Streit, wem die kostbare Rüstung des Toten zusteht, unterliegt Aias, was ihn in einen Wahnsinnsanfall und danach zum Selbstmord treibt.
Manchmal kann purer Trotz das Leben retten; Aias weint vor Wut, sterben zu müssen, aber wünscht sich statt Rettung nur etwas Licht für die letzten Momente – und Zeus lässt ihn gerührt leben. Doch so alt dieser Verhaltenskodex ist, so brüchig erscheint er – auf der Höhe seines Grolls erklärt ausgerechnet Achill, Held aller Helden, sein Leben sei ihm zu wichtig, um es für einen Undankbaren zu opfern. Von dem Preis, den die (vorerst) Überlebenden zahlen, schenkt Homer uns nichts. Auf den besinnungslosen Schmerz Achills um seinen geliebten Freund
Patroklos
folgt
Rachedurst,
zunächst
aber
ohn-
mächtiges Heimweh, eine Erinnerung daran, wie furchtbar jung er eigentlich noch ist. Achills eigene Todesangst findet erst im letzten Gesang halbe Worte, doch keinen Trost; er
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ergibt sich in sein Schicksal und weint um seinen Vater Pēleus, den er nie wiedersehen wird – die Linie wird mit Achill aussterben, und sein Leben war damit umsonst.
|54| Mit dem Gedanken an den Tod gibt es keine Versöhnung. Dem glücklichen Menelaos ist verheißen, ins Elýsium am Ende der Welt zu kommen, auf die Inseln der Seligen, wo man nicht stirbt – aber wer ist schon Schwiegersohn des Zeus! Der Grieche, der das homerische Weltbild teilt, sieht nach dem Tod größter Verlassenheit in der Unterwelt entgegen; wer nicht gerade einen Gott spektakulär beleidigt hat, bleibt als stummer, körperloser Schatten Beute seiner Erinnerungen, die ihn nicht freigeben. Vielleicht beschwört ihn ein Lebender mit etwas Opferblut, um seine Zukunft zu erfahren. Der Rest ist endloses Warten auf gar nichts, „widerwärtig wie die Tore des Hades“ der Ausdruck höchsten Ekels. Das Leben auf der Erde wurde mit dieser Aussicht zur einmaligen Gelegenheit, die es mit Energie oder dem Mut der Verzweiflung zu nutzen galt, ehe nichts als Ruhm und ein Schatten blieben. Selbst Helden sind nur so lange mehr als gewöhnliche Menschen, wie sie leben; danach vergessen die Götter sie.
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„Ja, Lieber! Wenn wir, aus diesem Krieg entronnen, / Für immer ohne Alter sein würden und unsterblich, / Dann würde ich selbst nicht unter den Ersten kämpfen / Und auch dich nicht zur Schlacht, der männerehrenden, rufen. / Jetzt aber, da gleichwohl vor uns stehen die Göttinnen des Todes, / Zehntausende, denen kein Sterblicher entfliehen kann oder entrinnen: / Gehen wir! ob wir einem Ruhm verleihen oder einer uns!“ Il. 12,322–330
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Die Götter entlassen ihre Kinder Man sollte denken, dass solche Jenseitserwartungen keine besonders innige Religiosität wecken – so war es aber offenbar nicht. Wie repräsentativ das Götterbild der Ilias oder selbst die |55| gesteigerte Frömmigkeit der Odyssee und Hesiods für ‚die‘ Griechen waren, ist nicht zu sagen. Doch auch im Götterkult des 8. Jahrhunderts bewegte sich viel. Von der Zunahme kostbarer Weihegaben – deren Art sich je nach Region und Heiligtum stark unterschied – war bereits die Rede, ebenso von der ersten Welle von Tempelbauten. Die Aussagen über die Beziehung von Gott und Mensch, die darin liegen, widersprechen sich. Der Vornehme, der seiner Schutzgottheit Geschenke brachte oder ein prunkvolles Haus baute, verziert mit Terrakotta und Malerei, durfte sich ihr näher fühlen als gewöhnliche Sterbliche; andererseits wirkt ein Kultbild im Dämmerlicht eines Tempelraums, das dem Opfer am Alter von weitem durch die offenen Türen zusieht, von allen entrückt. Die Begegnung mit dem Göttlichen band sich stärker als zuvor an Orte – sprechend ist, wie Athene, die sonst frei und ungebunden erscheint, in der Odyssee plötzlich in einen Tempel „taucht“, das Erechtheíon in Athen, als würde das Gebäude (oder die Statue darin) für einen Moment lebendig. Und man nahm nun weite Reisen zu großen Kultstätten und Götterfesten auf sich, wo die Griechen dem ferngerückten Gott ebenso begegneten wie ihrer eigenen ‚größeren‘ Identität: zum Zeusorakel der heiligen Eiche von Dódona im Norden, zum
Orakel
des
Apollon
von
Delphi
für
die
Mitte
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Griechenlands oder dem Zeusheiligtum Olympia im Süden auf der Peloponnes, zu den Isthmischen Spielen bei Korinth, zu Athens Panathenäen, zu Hera auf der Insel Samos – die Liste ist lang. Was ‚diese‘ Götter durch ihre Entrücktheit an Nähe verloren, gewannen sie an Erhabenheit. In der Ilias sind sie oft nur die Stärkeren: Zeus’ Wille kann den jedes Menschen brechen, und man sollte so klug sein, sich dem zu fügen. Auf Götterseite herrscht eine Mixtur aus Mitgefühl und Verachtung für die Vergänglichkeit der Menschen – in Homers Worten ist genau dies der Grund, warum die Unsterblichen sich gegen Ende der Heroenzeit |56| zusehends aus der Welt entfernen: Sie leiden unter ihrer Anteilnahme am irdischen Jammer, am Tod ihrer Kinder und an der Wiederholung immer derselben Fehler durch die heillos vergesslichen Menschen. Stapel von Büchern haben das Problem zu entwirren versucht, ob und wann Zeus stärker als das Schicksal ist oder umgekehrt, oder den Moment aufdecken wollen, ab dem sich das Wirken der Götter auf moralische Grundsätze stützt – wann ihre klassische Auffassung ‚fertig‘ ist. Die Aufgabe ist kaum lösbar, entwickelt sich doch das Götterbild schon von einem Epos zum anderen sprunghaft. In der Ilias geht es auf dem Olymp unangenehm menschlich zu; auch Zeus ist nur ein besserer Agamemnon und die Olympier – unsterblich, aber verwundbar – kümmern sich mit befremdlichem Spieltrieb nur um ihre Lieblinge und deren Gegner. Geliebt wollen sie gar nicht sein, nur geachtet; wer sie reizt, ist lebensmüde, aber kein Sünder. Wenn Paris seinen Schwur nicht hält, einen Zweikampf bis zum Tod zu führen, dann ist
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das ein Argument, Troia zu vernichten – aber die Zerstörung steht längst fest und eine Göttin, Aphrodite, hat den Kampf vereitelt. Die Unsterblichen der Odyssee sehen es (so persönlich sie Beleidigungen weiterhin nehmen) als ihre Aufgabe an, Eidbruch oder Verletzung der Gastfreundschaft um ihrer selbst willen zu bestrafen, nicht nur, weil die Zuständigkeit des betreffenden Gottes ignoriert wird. Auch erklären sie das Leid, das über Menschen kommt, aus der Missachtung göttlicher Warnungen; völlig glücklich kann kein Mensch sein, doch das ärgste Unglück ist immer selbst verschuldet. Lange hat Odysseus’ treue Hausvorsteherin Eurykleía den Adligen, die ihre Herrin Penélope in eine zweite Ehe zwingen wollen, den Tod gewünscht. Endlich ist der Hausherr heimgekehrt, Eurykleia steht vor den Leichen der Freier und jauchzt schrill auf – wie es die Frauen der Antike tun, wenn ein Opfertier fällt –, da sieht sie sich von |57| Odysseus zurechtgewiesen: Vor göttlicher Vergeltung soll man nicht frohlocken, sondern sich in Ehrfurcht neigen.
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Doch Odysseus hielt sie zurück und tat ihr Einhalt, so sehr es sie drängte. Und begann und sprach zu ihr die geflügelten Worte: „In deinem Herzen, Alte, freue dich! und halte an dich und juble nicht! Kein frommes Tun ist es, über erschlagene Männer zu frohlocken. Diese hat die Schickung der Götter überwältigt und ihre frevlen Werke. Denn keinen haben sie je geachtet unter den Menschen auf der Erde, nicht gering noch edel, wer auch zu ihnen hingelangte. Darum sind sie durch ihre Vermessenheiten einem schmählichen Schicksal gefolgt.“ Od. 22, 408–416
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Vollends unmöglich wird die Beschreibung der griechischen Religion aus Homer, weil das Epos so viele Seiten übergeht – gerade jene, in denen Göttliches sich weiterhin durchaus als präsent darstellte, fehlen gründlich. Nur angedeutet sind die Fruchtbarkeitskulte
etwa
der
Demeter
und
die
lokale
Verehrung von Heroen, die das Leben der Gemeinden tief prägten; geradezu zensiert sind die Totenbeschwörungen zu magischen Zwecken und ekstatische Kultformen, die ins Sexuelle und Anarchische spielen. Das alles passte nicht zum tatkräftigen Heros, der sich mitten im Kampf weder um Ackerbau noch um Orgien kümmern kann; für Gestirne und Vegetation zuständige Mächte fehlen ebenso. Die ideale Gottesbeziehung des herausragenden Mannes war persönlich und exklusiv, kein Gemeinschaftserlebnis – sie konnte sogar herzlich, ja geradezu intim sein, wie wir sehen werden. In der Atmosphäre einer neuen Zeit wirkte auch dies überholt; wie der Krieg wurde die Religionsausübung mehr als bisher öffentliche Angelegenheit. Mit der Entrückung der Götter konnte sich der Einzelne je nachdem verlassen oder befreit
|58| fühlen. Die Auffassung, dass sie einem Menschen den richtigen Entschluss „in den Sinn“ legen oder auch das gesunde Urteilsvermögen rauben, trat zurück, und ebenso ging manches, was bei Homer noch ein unmittelbar gottgegebenes Talent ist – Kraft, Verstand, Schönheit –, gewissermaßen in persönlichen Besitz über. Einem Griechen um 700 hätte sein Feind unmöglich an den Kopf werfen können, ohne olympische Aufmerksamkeit wäre er nichts, und man begann Leuten zu misstrauen, die göttliche Stimmen im Kopf hörten.
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Das Stadtleben erfindet sich Wer an seinem gottgewollten Leben als Grund- und Hausherr festzuhalten wünschte, hatte es ebenfalls schwer. In vielen Regionen begann man kleinere Siedlungen aufzugeben und sich zu Städten zusammenzuschließen. Für das Gros der Städter, die sich dicht an dicht ihre Häuser und Werkstätten bauten, war an den Aufbau einer Großfamilie mit Scharen von Gesinde nicht zu denken; ein Ehepaar mit Kindern und eventuellen Sklaven wurde in den Siedlungen zum typischen Anblick. In ihren Häusern war der Hauptraum einfach etwas größer, das war alles, was an die Halle eines Reichen erinnerte. So ein Haushalt dachte gar nicht an das Ideal, möglichst viel von dem, was man brauchte, selbst zu produzieren; das hinderte ihn nicht daran, zu einem gewissen Wohlstand zu kommen. Sklavenbesitz war ein Zeichen dafür; es gab jetzt mehr Sklaven als früher zu kaufen, Importe aus den Kolonien, Piratenbeute und Kriegsopfer, manche wohl schon Kinder anderer Unfreier. Dies könnte die Sympathie erklären, mit der die Odyssee den Hirten Eumaíos betrachtet, einen verschleppten Königssohn, der es trotz seines schweren Loses über sich bringt, seinen Herrn zu lieben; wer zur falschen Zeit am falschen Ort war, konnte Eumaios schnell |59| Gesellschaft leisten. Für die glücklicheren Freien erhöhte der Besitz solchen Eigentums ihre Aufstiegschancen. Der durchschnittliche Lebensstil hob sich,
wie
schon
die
vielfältig
differenzierte
griechische
Keramik verrät; revolutionäre Erfindungen gab es allerdings nicht. Nützliche Importe wie das Huhn erlebte Homer nicht
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mehr. Die Essgewohnheiten seiner fleischfressenden Heroen wurden von den Aufsteigern keineswegs kopiert – Fleisch war für die große Mehrheit nur zu haben, wenn Opfertiere geschlachtet wurden, Kochen billiger als Braten, um teures Feuerholz oder Holzkohle zu sparen, und die griechische Vorliebe für Meeresfrüchte aller Preisklassen (ópson, „Beilage“, heißt zugleich „Fisch“) geht dem Seefahrer Odysseus ganz ab.
Achill – der zornige Held Der kaum erwachsene Sohn des thessalischen Königs Peleus und der Meeresgöttin Thetis steht als stärkster aller Griechen im Zentrum der Ilias. Ohne ihn kann Troia nicht erobert werden, auch dies aber nur um den Preis von Achills Tod. Mit seinem wütenden Rückzug aus dem Kampf, als Agamemnon ihn kränkt, droht den Achaiern die Niederlage. Erst als Hektor Achills geliebten Jugendfreund Patroklos erschlägt, entscheidet der impulsive Heros sich für Rache, ein frühes Ende und ewigen Ruhm.
Der Adel verlor also nicht nur an Vorrang, er erreichte nicht einmal, dass die aufholenden Polisbürger seine Lebensführung imitierten. Eine mögliche, sehr interessante Ausnahme ist die sexuelle Bindung zwischen erwachsenen Männern und Jugendlichen. In jenen Männerbünden, als die sich die lokalen Vornehmen präsentierten, existierte sie wahrscheinlich schon, mindestens da und dort; spätere, unter dem Namen des Aristokraten Theognís überlieferte Verse sind direkte Vorläufer der |60| Paiderastie, wie sie bald vielerorts unter allen Bürgern gängig wurde; Sapphos Lyrik bietet mindestens emotional das weibliche Pendant. Der Altersabstand zwischen den Partnern, die pädagogische Rechtfertigung und die komplizierten Verhaltensregeln für beide Seiten
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sind gewollt elitär. Auch für sie berief man sich auf Homer. Was genau in Achill, „sich sehnend nach des Patroklos Manneskraft“, vorging, ist eine alte Frage; exklusive Homosexualität war es jedenfalls nicht – wie Achill mit seiner Lieblingssklavin Briséïs schlief, so verstieß kein Grieche wegen eines Jugendlichen seine Frau, ob er sie liebte oder nicht – und nach den später geltenden Regeln war das Verhältnis zweier Erwachsener gleichen sozialen Ranges (wie Achill und Patroklos) ein Unding, kam aber vor.
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Die fremden Welten im Innern Für die Frauen, wenigstens in Adelskreisen, verhieß das Durchdringen ‚bürgerlicher‘ Werte auf Dauer nichts Gutes. Zu einem guten Teil war die Ehe auch in der Oberschicht Zweckgemeinschaft, doch anders als im klassischen Athen erscheinen die weiblichen Hauptpersonen Homers keineswegs in ein paar Zimmer des Hauses gesperrt, sondern bewegen sich ziemlich frei in ihrer Umgebung. Man kann streiten, wie viel daran ‚Märchen‘ ist; Familienhistoriker verzweifeln an der Aufgabe, aus beiden Epen abzulesen, ob der Bräutigam oder der Brautvater bei der Hochzeit zahlen musste, aber dass die Verbindung arrangiert wurde und die Frau ihr Leben lang der Verfügungsgewalt ihres Mannes oder eines männlichen Verwandten unterstand, steht fest. Man hört dazu etwa von den Schatten der Troia-Eroberer den Rat, kein Mann solle seiner Frau zu nahe stehen. Aber mindestens der Odyssee-Dichter war kein Hesiod. Er präsentiert weibliche Standardfiguren – angesehene Fürstinnen |61| und anonymes Gesinde, das
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wäscht, Bäder richtet, schwatzt und flirtet – und streut dazwischen Charakterzeichnungen, die stark darauf hindeuten, dass er sich in seinem Leben mit Frauen länger unterhalten und mit ihrer Lebensweise gedanklich beschäftigt hat. Ernst macht er mit Odysseus’ Gemahlin Penelope und den über zwanzig Jahren ihres Wartens; mitten in ihrer Standhaftigkeit ist sie gerade menschlich genug, um gründlich an ihren Trieben leiden zu können. Als sie träumt, mit dem Verschollenen zu schlafen, schreckt sie hoch und spürt ihr ganzes Elend; der Gedanke, Lustobjekt und Vermögensquelle irgendeines Zudringlichen zu werden, lässt sie um ihren Tod beten. In einen anderen Traum, der zu Penelopes Freude das Ende der Freier in Gestalt von Gänsen ankündigt, schleicht sich die Bemerkung, sie habe am Anblick der (lebenden) Gänse gleichwohl Gefallen gehabt. Kurz und bitter erklärt die Einsame, mit Kosmetik brauche sie sich nicht aufzuhalten, sie sei lange verwelkt. Nur ein Wunder der Athene stellt Penelopes einstige Schönheit vor der Ankunft Odysseus’ wieder her, aber kann man es Erbarmen nennen, da diese Schönheit dazu gedacht ist, die Freier vor Lüsternheit dumm zu machen und Odysseus eine Extraeinnahme zu verschaffen?
Doch als sie nun zu den Freiern kam, die göttlichste unter den Frauen, […] lösten sich denen auf der Stelle die Knie, und von Verlangen wurde ihr Herz bezaubert, und alle begehrten sie, bei ihr in dem Bett zu liegen. […] „Doch eins ist mir als eine schwere Kränkung über das Herz und den Mut gekommen: war dies doch vormals nicht die Art der Freier! Die eine edle Frau und Tochter eines reichen Mannes
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heimführen wollen und miteinander streiten, die bringen selber als Schuldigkeit Rinder herbei und fette
|62| Schafe
[…] und
geben glänzende Geschenke. Doch pflegen sie nicht anderes Gut ohne Entgelt aufzuzehren!“ So sprach sie. Da freute sich der vielduldende göttliche Odysseus, wie sie ihnen Geschenke zu entziehen wußte und ihnen den Mut bezauberte mit sanften Worten, jedoch der Sinn stand ihr nach anderem. […] Und um die Geschenke herbeizubringen, schickten sie jeder einen Herold. […] Darauf stieg sie empor ins obere Stockwerk, die göttliche unter den Frauen, und mit ihr gingen die Dienerinnen und trugen die gar schönen Gaben. Od. 18, 208–213; 274–283; 291; 302f.
Wie zum Ausgleich wechselt bei der Wiedererkennung des Ehepaares die Initiative überraschend zur Frau, der es gelingt, den „Listenreichen“ zu überlisten, bevor sie sich von ihren Gefühlen und allem, was geschehen ist und hätte geschehen können, überrollen lässt. Sofort platzt Odysseus – aus Schwäche oder Vertrauen, wer weiß es? – in diesem unmöglichsten aller Momente damit heraus, dass er noch einmal auf Reisen muss. Wer von beiden hat es schwerer gehabt? Penelope bleibt jener zerbrechliche Trost, der sonst nur den Helden und Helena zukommt: Die Götter werden ein „liebliches Lied“ aus ihren Leiden schaffen, weissagen die toten Könige, die Odysseus um diese Frau beneiden. War „das Unglücks-Ilion, das nicht zu nennende“, diesen Preis wert? Mindestens die Odyssee liest sich nicht als reines Männerbuch. Wer sehr mutig sein möchte, kann vermuten, auch an eine andere ‚Zielgruppe‘ habe der Dichter gedacht; Frauen
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waren anscheinend nicht allein im Epos bei den Gelagen der Vornehmen anwesend. Das Buch im Haus gab es noch mehrere Jahrhunderte lang nicht, und als die beiden homerischen Epen später während der Götterfeste vorgetragen wurden, war der |63| Zugang oft genug Männern vorbehalten. Dennoch beginnt hier eine eigene, überaus spannende Geschichte, die dazu führt, dass „der Leser“ unserer Tage im Zweifelsfall eine Leserin ist.
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So sprach er. Da lösten sich ihr auf der Stelle die Knie und das liebe Herz […] Und weinend lief sie alsbald auf ihn zu und warf die Arme dem Odysseus um den Hals und küßte sein Haupt und sagte zu ihm: „Sei mir, Odysseus, nicht gram! […] Die Götter haben uns Jammer gegeben, die uns mißgönnt haben, daß wir beieinander bleiben und die Jugend genießen und zur Schwelle des Alters kommen sollten. Darum zürne mir jetzt nicht und sei nicht unwillig darüber, daß ich dir nicht gleich, als ich dich sah, den Willkomm geboten habe! Denn immer schauderte mir der Mut in der Brust, daß nicht einer von den Sterblichen kommen und mich mit Worten betrügen möge […]“ Od. 23,205–217
Modernität dieser Art sagt uns zu; sie hat auch ihre weniger herzerwärmenden Seiten. Derselbe Dichter, der uns die zerbrechlichsten
Momente
der
Seele
vorführen
kann
und
beteuert, dass die Welt letzten Endes moralisch regiert werde, handelt seine einzige klassische Kampfszene – den Tod der Freier – sehr zügig ab, beschreibt aber fasziniert, wie der – gute, „göttliche“ – Eumaios und sein Begleiter den verräterischen Ziegenhirten Melánthios auf möglichst schmerzvolle
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Weise fesseln. Grausam, aber kurz fällt auch das Ende des Gequälten aus. Anders der halb schaulustige, halb das Leiden nachzeichnende Blick auf die pflichtvergessenen Mägde, die am Strick zappeln. Anders auch die Blendung Polyphéms. Das Zerstörungswerk
am
Auge
des
Kyklopen
vollzieht
sich
schrecklich langsam und weckt in Erzähler wie Lesern beinahe Mitleid mit dem an sich abstoßenden Opfer. Polyphem selbst muss es sich verscherzen, |64| was wiederum Odysseus verführt, ihn brutal zu verspotten und gleich noch Poseidon zu lästern – er wird es bitter bereuen. Rachewünsche, erst recht begründete, können viel böseren Genuss am Leid nach sich ziehen als jeder blutdurstige Übereifer in der Schlacht. Der Odyssee-Dichter ist kein Sadist,
|65| aber versteht genug von jenem Sadisten, der hinter unser aller Schadenfreude wohnt. Lesen wir abgestoßen oder mit erwartungsvollem Schauder die Ankündigung, welch spezielles Abendessen Athene und Odysseus den Freiern zurichten werden? Um die Zweideutigkeit unserer eigenen Empfindungen geht es hier. Wie Odysseus einen Teil seiner Mannschaft bewusst in den sicheren Tod schickt und sich erbärmlich dabei fühlt, ohne deshalb anders zu handeln; wie er zusieht, sich quält und doch auch sehen will – das ist weit weg vom Heldenideal. Und Homer selbst diagnostiziert am Menschen die „Lust zur Klage“, die im bittersten Weinen Befriedigung findet, während sein Nachfolger die Einsicht notiert, dass sich sogar schmerzliche Erfahrungen mit der Zeit in etwas verwandeln, von dem gut, ja gern erzählt wird. Die Empfindungen der homerischen Figuren verteilen sich noch gemäß einer überkommenen Seelengeographie im Körperinnern, die das Herz
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(kradíē) ebenso berücksichtigt wie die Eingeweide (splánchna) oder das Zwerchfell (phrēn) als Sitz des Denkens und Grübelns – die den „Mut“ (thymós), der die Gedanken regiert und gelegentlich durcheinanderbringt, zwar am ehesten im Herzen sucht, doch so vage, dass die moderne Anatomie sich hier die Bezeichnung der Thymusdrüse im Hals ausleihen konnte. Wenn ein Teil dieses Innern sich nun gegen den anderen erhebt, geht es archaisch und zukunftsweisend auf einmal zu: Gebrochene Gefühle sind schon am Anfang der europäischen Literatur mit dabei.
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Unbequeme Konservative Seltsam ist es, wie die Erben einer so ‚systemkonformen‘ Tradition, wie der Heldengesang es war, die Brüche und Schwankungen
ihrer
Zeit
aufnehmen.
Die
Odyssee
schlägt
geradezu Löcher ins Standesethos des Adels, so sehr sie es verherrlicht. |66| Odysseus ist erst Überlebenskünstler, dann Fürst. Seine gottgegebene, ganz besondere Tugend ist weniger wie in der Ilias der kluge Rat, sondern das Leidenkönnen; zäh wie ein Polyp klammert er sich ans Leben und ist mitten in der Gefahr in seinem Element, auch wenn er sich nur durch „harte Notwendigkeit“ hineinbegibt. Zeitweise besteht er bloß noch aus Todesangst; was ihn rettet, ist sein Unvermögen zu kapitulieren, seine Fähigkeit, von Tag zu Tag zu leben, wenn nötig. Seine Geduld, als die Freier ihn reizen, irritiert – statt wie ein Achill sofort zur Waffe zu greifen (und zu sterben), lässt er seine Rachepläne auf kleiner Flamme kochen. Die ‚Mentalität‘, die er an den Tag legt, passt besser zu den
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Hunderten von Seefahrern und Händlern, die nun die Küstenstädte bevölkerten. Auch sie wandern nicht so sehr freiwillig herum als „um des verderblichen Bauches willen“, und Odysseus verteidigt das noch. Gleichwohl gibt es durchaus Brücken zum Adelsdenken: Gleich nachdem der Wanderer an unbekanntem Ort erwacht ist und seiner Angst, verraten zu sein, Luft gemacht hat, zählt er seine Schätze gründlich durch – Händler oder homerische Helden, ihr Inventar haben sie gut im Kopf. Ist die Odyssee also ein Angriff auf die alten Normen? Dann wohl auch die Ilias. Vordergründig ist das Aufbegehren des „Volkes“ in Gestalt des Thersítes eine Wonne für jeden Konservativen: der Demagoge kriegt tüchtig Prügel, der dēmos, das Volk, für den er spricht, also eigentlich auch. Diese Freude ist jedoch wehmütig. Ja, so ging man in der guten alten Zeit mit dem Pöbel um, wenn er nicht wusste, wo sein Platz war und dass er das Maul zu halten hatte; besser noch, das Volk selber akzeptierte das. Das heißt umgekehrt, dass ein analoger Vorfall in Homers Gegenwart nicht sicher denselben Ausgang nähme. Weiter kann es heißen, dass sich das mittlere 8. Jahrhundert schon keine Vergangenheit mehr vorstellen konnte, in der das |67| „Volk“ nicht davon träumte, seine stumme Rolle im Einzelfall abzuschütteln.
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Auch nimmt das Scheitern Thersites’ Beschimpfungen nicht den Stachel: den Königen gehe es nur um Besitz und Frauen, wofür das Volk ins „Unglück“ ziehen müsse. Was ist die Voraussetzung, dass er überhaupt zu Wort kommt? „Frechheit“ genügt nicht als Antwort. In Wahrheit hat der Stand, gegen den er aufbegehrt, sichtbar versagt. Die zehn Jahre Krieg vor Troia sind ein kapitaler ‚Führungsfehler‘; hätte es diesen
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Krieg wirklich gegeben, wären wir in einem antiken Ersten Weltkrieg mit Generälen, denen nur noch blindes Anrennen gegen den Feind einfällt. Mehr noch, das Ansehen der ‚Herren‘ aller Zeiten hängt auch an der Eintracht ihres Standes. Doch die Achaierfürsten sind zerstritten, Achill tötet durch seine Kampfverweigerung, wie Homer gleich zu Beginn festhält, zahllose Männer, groß und klein (wenn es sich auch ergibt, dass gerade dies Hektor, den Schild Troias, in den Tod zieht und so eine Hauptvoraussetzung für den Fall der Stadt herstellt). Das tut man nicht. Achills persönliches Ehrgefühl als „Held“ ist in unauflösbarem Konflikt mit seiner sozialen Pflicht – der Adlige darf die nicht schädigen, die er beherrscht, und gehört sowieso an die Spitze des Kampfes. Als Fürst von Thessalien macht er sich nicht schuldig, wohl aber als ein Anführer aller Griechen. Hierin ist Hektor besser als Achill, wie das Gefühl der Pflicht gegenüber dem „Volk“ auf der troischen Seite ohnehin die artikuliertesten Fürsprecher hat. Gleichwohl steht es in Troia noch schlimmer im Wertekonflikt der Aristokratie, und schuld daran ist Paris. Mit innigem Hass verfolgen praktisch alle Troer, die Königsfamilie eingeschlossen, den Frauenräuber, der die Griechen vor die Stadt gezogen hat, aber ständig verschwindet, sobald es ernst wird, und nichts als Sex im Kopf zu haben scheint. Trotzdem geht
der
|68| Krieg weiter: Paris ist Königssohn, eine
Auslieferung Helenas würde seine Ehre und die seiner Dynastie verletzen. Also behält er die Beute, Vater Priamos und dem ganzen troischen Adel sind die Hände gebunden, und ihre ‚Solidarität‘ reißt Troia so sicher in den Untergang, wie der Streit um eine Sklavin unter den Griechenfürsten, wäre er
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nicht beigelegt worden, dasselbe bewirkt hätte. Der rettende Unterschied liegt bei Homer allein im Willen der Götter, nicht in der Vorzüglichkeit der Achaier. Man kann nicht darauf hoffen, dass es künftig mit einem blauen Auge endet, wenn zwei Vornehme bestimmte Züge des Standesethos verabsolutieren. (Der Dichter des Nibelungenliedes wird diese Form der Selbstzerstörung viel später blutig vor Augen führen.) Die alte Ordnung überlebt, aber die Sorge um sie sitzt tief.
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Leben mit der Veränderung Homer sprach für, nicht gegen seine Zuhörer und ihre Lebensweise. Nur war ihrer aller Selbstvertrauen keineswegs unerschüttert – es stand nicht fest, dass es immer so weitergehen konnte, auch wenn es das sollte. Die Auf- und Umbrüche in der Welt des 8. Jahrhunderts griffen nach jedem, den örtlichen ‚Königen‘ zuerst, deshalb auch nach ihren Sängern. Seit mindestens einigen Generationen lag das Unverzichtbare dieser Künstler darin, Ruhm zu sichern – den Ruhm jener mythischen Gestalten zu erhalten, deren Nachfahre der Adlige, alteingesessen oder Aufsteiger, zu sein beanspruchte, und den Ruhm seiner eigenen Taten (so klein sie sein mochten) zu verbreiten. Ein großer Herr mit großen Ahnen lebte als ‚Verlängerung‘
zahlreicher
denkwürdiger
Ereignisse,
und
selbst für sein Gefolge fanden die Sänger vielleicht etwas. Mancher unglückliche Ilias-Statist, der in schmerzhafter Weise von einem Diomedes oder Sarpedon niedergemacht |69| wird, ließ vielleicht dem waffentragenden ‚Gefährten‘ irgendeines
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Großen an der kleinasiatischen Küste das Herz höher schlagen. Das war sein Ahnherr … Der
Große
selbst,
der
auf
einen
echten
Heros
zurückschaute, wurde natürlich ganz anders geehrt. Für die Handlung der Ilias ist der Troer Aineías eigentlich überflüssig, doch über ihn und sein Haus wird Lob ausgegossen, gekrönt durch Poseidons höchstpersönliche Weissagung, es werde nach Troias Fall in der Troas herrschen (ein hartes Stück Arbeit für die romfreundliche Literatur, hieraus später die Geschichte von der Auswanderung des Aeneas nach Italien zu machen). Höchstwahrscheinlich hatte Homer dabei einen ganz bestimmten Fürsten des Nordwestens im Auge, der unter seinen Gastgebern besonders wichtig war. Für den Lykier Glaukos können wir ebenso vermuten, dass er ein Kompliment an einen angeblichen Nachfahren darstellt. Wo es um griechische Heroen geht, gab es die diskretere Möglichkeit, die Rolle des speziellen Helden im Vergleich zu den Übrigen vorsichtig aufzuwerten. Die Odyssee verheißt auch ihrem Heros (und implizit wohl seinen Erben) ewige Herrschaft, aber falls wirklich auf eine lebende Familie angespielt wurde, hat der Dichter sie nie zu Hause auf Ithaka besucht oder seine Ortskenntnis gut versteckt – die geographischen Angaben haben schon viele verzweifeln lassen.
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Das war die traditionelle Methode, Ruhm zu ‚erzeugen‘ und zu erhalten. ‚Schon immer‘ hatte der Adel, um Ansehen und Wohlstand zu gewinnen, natürlich auch auf andere Verfahren gesetzt: Raubzüge und bescheidenen Fernhandel etwa. Jetzt war die Welt wie über Nacht größer geworden und lud ein, sie mit Griechen zu füllen. In den Kolonien des Westens
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wurde das Sozialgefüge ganz neu aufgebaut, in den älteren Städten und ihrer Umgebung brachten Handelsgewinne und Bevölkerungswachstum es mindestens in Bewegung. Vom ‚Palast‘ auf dem |70| Land aus ließ sich das Leben in einer Stadt kaum beherrschen, vor allem wenn mancher Händler in ihr mehr mobilen Besitz hatte als jeder lokale Grundherr. Sollte man in die Stadt ziehen, seine Reihen den Aufsteigern öffnen (eine bittere Pille für die Aufsteiger von einst) und sich dem gesammelten Selbstbewusstsein der Städter stellen? Sie würden
einen
am
Ende
vielleicht
doch
zu
sich
‚herunterziehen‘. Wer sich andererseits aus dem Stadtleben heraushielt, konnte nicht verhindern, dass andere städtische Politik betrieben. Falls sich dort einer durchsetzte, würde er auch der regionalen Aristokratie auf dem Land das Leben vorschreiben können. Jeder aus ihrer Mitte, der sich die nötigen Schritte ausdachte, genügend Vermögen und Einfluss einzusetzen hatte, kam in Frage. Die Stadtbewohner begannen sich zusehends als Einheit zu verstehen; würden sie sich mit dem einen ‚starken Mann‘ gegen den Rest des Adels verbünden? Was wir als Tyrannis bezeichnen, warf seine Schatten voraus. Den ‚Königen‘ drohte ein wirklicher König. Draußen, in Ägypten und bei den Assyrern etwa, herrschten dergleichen Könige über unerhört große Reiche, wie man inzwischen wusste, und das ebenso sehr ‚schon immer‘, wie es hier Herren gegeben hatte.
Auf
den
neugierigen
Reisenden
aus
vornehmer
Griechenfamilie warteten dort noch andere subtile Demütigungen. Hekataíos von Milet etwa besuchte Ende des 6. Jahrhunderts Ägypten und erntete einen Heiterkeitserfolg.
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Als damals Hekataios der Forscher in Theben seinen eigenen Stammbaum aufzählte und seine Abstammung väterlicherseits in sechzehnter Generation auf einen Gott zurückführte, taten die Priester des Zeus [= Amun] dasselbe, was sie mit mir gemacht haben, obwohl ich meinen Stammbaum nicht ausgebreitet habe: Sie führten ihn in die große innere Tempelhalle
|71| und zeigten
ihm hölzerne Riesenstatuen (der Hohenpriester), wobei sie 345 Riesenstatuen nachwiesen […] und sie dennoch weder auf einen Gott noch auf einen Heros zurückführten. HERODOT, Historien 2,143 (ca. 460–424 v. Chr.)
Mit einem Mal stellte die fremde Überlieferung alle mythische Genauigkeit der Lieder zur Heroenzeit in Frage. Noch Generationen griechischer Gelehrter sollten mit unerbittlichem Fleiß versuchen, Jahreszahlen und Zeitvergleiche an die Einnahme des siebentorigen Theben oder die Fahrt der Argonauten zu knüpfen; vorerst rang der Mythos damit, sich die neuen Welten und Vergangenheiten einzuverleiben, die sich da auftaten, voran das Nilland und Mesopotamien. Und gerade in diesem Prozess, der den Sängern Materialmengen und konkurrierende Göttermythen vor die Füße schüttete, dass sie je nach Temperament verzweifeln oder jubeln mochten, hatten einige von ihnen die fatale Idee, auf ihr Kunsthandwerk eine neue Schlüsseltechnologie anzuwenden, die Schrift. Die
dichterische
Vorstellung
unüberwindlichen
Zurückbleibens hinter der Vergangenheit hatte Tradition – das stützte sie, als die äußeren Zeichen auf Fortschritt und Steigerung wiesen. |72| Sie konnte auch gegen die Kränkung verteidigen, dass vieles an diesem Fortschritt aus Kulturen
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zuströmte, die der griechischen in vielfacher Hinsicht überlegen waren und den Anspruch erhoben, das immer schon gewesen zu sein. Es brauchte seine Zeit, dies Gefühl der Kleinheit abzuschütteln, gerade weil es noch jahrzehntelang zutraf; es wog doppelt schwer, weil es schon jahrhundertelang zugetroffen hatte. Fast alles, was Homer als Erbstücke eines vergangenen Glanzes vor Augen stellte, wie er es gelernt hatte, war das Vermächtnis langer, tief prägender Rückschritte und noch tieferen Vergessens.
|71| Die Argonauten – eine Welt tut sich auf Die Fahrt des Wunderschiffes Argo öffnet im griechischen Mythos das lebensfeindliche Meer für menschliche Reisen. Die Erzählung vom thessalischen Anführer Jason, der das Goldene Vlies von der Küste des Schwarzen Meeres holen will, wurde mit der Zeit zum gemeinsamen Abenteuer praktisch aller Heroen aus der Generation vor den Troiakämpfern. Viele ihrer Stationen berühren sich mit denen der Odyssee.
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Auf den Schultern von Riesen |73|
Große Tage waren es, die in den Liedern der Sänger auflebten und ihre letztgültige Verherrlichung in den homerischen Epen fanden. Bitter anzuhören waren sie aber auch. Gerade der Troia-Stoff mit seinen Verästelungen bildete in der Chronologie der Mythen den „Herbst der Heroenzeit“, um mit Johan Huizinga zu reden – der Krieg entließ seine Überlebenden in eine Zeit, in der sie fremd wirkten. Ihre Rolle ist ausgespielt – es wird nichts Besonderes mehr geschehen. Allein Odysseus quält sich noch reise- und kriegsmüde dahin, auch er jedoch mit dem Ziel, endlich seine letzte Mühe hinter sich zu bringen. So folgt auf das große Völkermorden Ruhe und Erschöpfung. Der Mythos verzeichnet letzte dynastische Wirren und Herrscherwechsel, Machtkampf auf Ithaka, Verwandtenmord in Mykene. Doch das sind Randerscheinungen; nach und nach treten die letzten Heroen ab, und danach ist die Welt im Grunde wie ‚heute‘, mit überschaubaren Kriegen und mäßig glanzvollen Fürsten. Ein Abstieg vollendet sich: Der alte Nestor, der zwei Generationen überlebt hat, klagt, wie klein alle ‚heutigen‘ Heroen, Achill eingeschlossen, vor den großen Namen von einst aussähen, und nie könnten, erklärt Homer, die Heutigen die Kraft eines Diomedes oder Aias haben, die
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kleineren Söhne großer Väter (so Agamemnon gegen lauten Protest); die Schwäche der Gegenwart steht fest.
|74|
[…] Doch der ergriff einen Feldstein mit der Hand, / Der
Tydeus-Sohn, ein großes Werk, wie nicht leicht zwei Männer ihn tragen, / So wie jetzt die Sterblichen sind; doch der schwang ihn leicht auch allein. Il. 5,302–304
Niemand hätte sich in Homers Zeit träumen lassen, wie tief der Graben zwischen der eigenen Epoche und dem war, was man als Zeit der Heroen ansah – oder wie viel vom Repertoire des Epos gerade in jenem Umbruch wurzelte. Wir können fast von einem blinden Fleck in der Wahrnehmung sprechen. Vergangenheit ist immer ‚konstruiert‘, in wechselnden Graden – einfach weil dieselbe Zeit sich auf ganz verschiedene Weise darstellt, je nachdem, was eine spätere Zeit von ihr ‚will‘. Der Geschichtsprofessor Friedrich Schiller, der über die drei großen Epochen seines Faches bestens informiert war, unterschied als Poet genau zwei, die Antike – „Wie ganz anders, anders war es da!“ – und die am Sieg des Christentums arm gewordene Nach-Zeit des Monotheismus und der Monotonie. Schiller hatte seinen Homer Dutzende Male gelesen und lebte darin.
1
Moderne Archäologen und Historiker, die in der griechischen
Frühgeschichte
anhand
von
Bodenfunden
und
er-
schlossenen Gesellschaftsstrukturen Epochen abgrenzen, gehen |75| nicht vor wie ein Sänger. Ihm ging es darum, das Andenken eines Zeitalters zu überliefern, in dem es nicht so
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gewesen war wie heute. Er und seine Vorgänger trugen dabei in ihren Bericht über jene entrückte Welt unmerklich Spuren der eigenen hinein, besonders wo sie Mühe hatten, etwas an ihr zu verstehen. Eine Zeit, die über mehrere Jahrhunderte hinweg als Gegen- und Spiegelbild dient, erwirbt ihre eigene Geschichte, schon damit sie ihre Aufgabe erfüllen kann.
|74| Diomedes – der gute Kamerad Der Herrscher von Argos und Miteroberer Thebens ist vor Troia ein enger Freund des Odysseus, mit dem zusammen er zahlreiche Heldentaten (und Schurkenstücke) vollbringt, wie Odysseus besonders beschützt durch Athene. Nach Troias Ende kehrt Diomedes sicher heim, doch lassen spätere Dichter ihn nach Italien vertrieben werden.
|75| Halbstarke Heroen So hätte die Erklärung eines Zeitreisenden für ungläubiges Staunen gesorgt, dass beachtliche Teile dessen, was die Sänger als das Leben des Heros von einst ausmalten, in Wirklichkeit – der messenden Wirklichkeit des Wissenschaftlers – genau zwischen ‚Einst‘ und ‚Jetzt‘ gehörten, weil sie schon ein Verfallsprodukt waren. Die Heroen waren mächtige Könige gewesen, die über große Heere geboten. Dafür gab es historische Gegenstücke, aber sie hätten sich geweigert, den Lebensstil der ‚Könige‘ bei Homer zu übernehmen. Das beginnt mit dem peinlichen Interesse aller Beteiligten an materiellen Werten. Sogar in der aufgeheizten Atmosphäre eines frustrierten Heeres hätte jemand, der mehrere tausend Krieger aufbieten konnte, sich niemals wegen eines Sklavenmädchens
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fast in den Zweikampf treiben lassen, wie es Agamemnon und Achill im ersten Gesang der Ilias tun, womit die ganze leidvolle Handlung in Bewegung kommt. Auch sonst erinnert das Auftreten der homerischen Helden an Jugendbanden in einem Slum – weil in beiden Fällen das Cliquenmitglied außer einem vorbeugend aggressiven Auftreten wenig hat, worauf es sich verlassen kann. Der Status der Beteiligten ist so verletzlich, dass sie nicht zurückkönnen. Den Beistand |76| der restlichen Gruppe wird ein Angegriffener nur dann haben, wenn er durchblicken lässt, wie stark er auch alleine ist. Daher pflegen selbst die Götter diesen Stil des „Komm her, wenn du dich traust“; Zeus auf dem Olymp bietet den Seinen immerzu Kraftproben an, aber weil er wirklich der Stärkste ist, bleibt es meist bei verbalen Rempeleien. Auf der Erde ist das nicht ausgemacht; so gehen die rituellen Beleidigungen – Feigling, Schwächling, Weib – allzu oft in Handgreiflichkeiten über, weil der Held einerseits provozieren muss, andererseits eine Beleidigung nicht einstecken darf, ohne „ein Feiger, ein Garnichts“ zu sein. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg.
Agamemnon – der Koordinator Als mächtigster Herrscher Griechenlands sichert der König von Mykene seinem Bruder Menelaos die Hand Helenas und übernimmt die Führung des Kriegszuges gegen Troia, für den er seine eigene Tochter Iphigenie opfert. Agamemnons Prestige als Held leidet unter seiner Arroganz und dem Fehlen persönlicher Höchstleistungen, dazu ist er als Erbe einer auf Frevel und Brudermord spezialisierten Familie vom Zorn der Götter bedroht. Nach mühsamer Heimkehr ermordet ihn sein Schwager Aígisthos, laut anderen Versionen die eigene Frau Klytaimnéstra.
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„Hippolochos aber zeugte mich, und von ihm sage ich, dass ich stamme. / Und er schickte mich nach Troja und trug mir gar vielfach auf, / Immer der Beste zu sein und überlegen zu sein den anderen / Und der Väter Geschlecht nicht Schande zu machen, die die weit Besten / Waren in Ephyra wie auch in dem breiten Lykien.“ Il. 6,206–210
Die Gefahr, sich selbst um die Ehre zu bringen oder von anderen um sie gebracht zu werden, lauert überall. Man kämpft
|77| nicht spektakulär genug oder erhält einen zu kleinen Beuteanteil. Es reicht nicht, feierlich ein Geschenk überreicht zu bekommen, sondern nur der dauernde Besitz des Geschenks bedeutet bleibende Ehre; einmal geschenkt bleibt geschenkt, sonst fließt Blut. Man bekommt das gewohnte Vorzugsstück beim Essen nicht – der richtige Heros isst Braten in gesundheitsschädlichen Mengen, und dessen Qualität bestimmt sein Ansehen (wer viel isst, muss auch vorn kämpfen, stichelt Agamemnon gegen Odysseus). Sofort ist in all diesen Fällen die „Scham“ (aidōs) des Helden vor sich und der Welt verletzt. Die typische Reaktion auf solche Demütigungen ist befangenes Schweigen oder Wut, die in privateren Momenten in Tränen endet. Diese „Scham“ ist es, die einen Heros im Zweifelsfall lieber den Tod suchen lässt, ehe er das Gesicht verliert.
2
So benimmt sich kein König, der über Zehntausende Untertanen gebietet; solche Leute schreiben eher anderen den Ehrenkodex vor. Beleidigungen rächen sie im großen Stil und mit viel Geduld. Das Gefühlsleben des Heros, seine mit
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Großsprecherei gepanzerte Verletzlichkeit, entspricht einem Herrscher, dessen überschaubares ‚Volk‘, vielleicht nur einige hundert Leute, ihm leicht entgleiten kann. Seine Waffenträger, „Gefährten“ oder „Freunde“, halten zu ihm, solange er sich beweist; mancher hat vielleicht anderswo jemanden erschlagen und ist der Blutrache ausgewichen – umso größer der Undank, wenn der Sohn eines Flüchtlings, Antínoos, sich gegen Odysseus’ Haus verschwört. Die ‚Schatzkammer‘ ist ein Raum in einem keineswegs riesigen ‚Palast‘ und enthält neben Gold und Bronze ordinäre Verbrauchsgüter wie Kleider, Öl, Wein und Mehl. Nicht horten kann der Kleinkönig aber die lebenswichtige Ehre: Sein persönliches Ansehen schreibt sich zwar ideell von den Göttern her, als „König, dem Zeus Prangen verliehen“, doch alles hängt daran, ob sein Gefolge ihn „ehrt“. Agamemnon |78| als „der weit Beste“, Anführer einer Allianz aus lauter Anführern, ist in der Lage des durchschnittlichen Lokalherrschers bis in Homers Zeit, dem sich die übrigen Adligen nur sehr bedingt unterordnen – wer zu sehr den Chef herauskehrt, ohne das durch Ehrenbeweise abzumildern, denkt „nicht zugleich voraus wie zurück“; „Volksgut verzehrender König!“ schnappt Achill und sucht auf einmal den Schulterschluss mit der Menge. Die Ehre schwankt wie ein Aktienkurs. Sie ist ein Indikator für die Vorzüglichkeit des Individuums – im Krieg, aber auch als guter Wettkämpfer, als Redner in der „männerehrenden“ Ratsversammlung (wie Odysseus) und sogar dank besonderer Schönheit (etwa Achill). Homer verfolgt sorgfältig die Ranglisten: das beste Gespann, der stärkste
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Mann. Dieser Pluralismus wirft die Frage auf, ob denn nun die Macht als König vom Sozialprestige (wie Kriegsruhm) abhängt oder umgekehrt – zu Agamemnons Leidwesen ein offener Disput. So hat die drohende Aussicht auf „die schlimme Nachrede beim Volk“ die Griechenfürsten in den Troianischen Krieg getrieben, denn nicht nur Gleichrangige bestimmen den Status, selbst wenn das Volk in der Versammlung (wie noch in der römischen Republik) den Mund zu halten hat. Kriege waren so häufig wie unheroisch, scheint es. Ein Brautraub wie der des Paris wäre ein denkbares Motiv, schon weil die Ehre der beraubten Familie verletzt war; das betraf nur die Brüder Menelaos und Agamemnon. Homers Achill erklärt, um Letzteren zu ärgern, nur Schäden durch Invasion oder (Vieh-)Diebstahl seien triftige Kriegsgründe. Im realen Leben hätten die verbündeten Fürsten einander tagtäglich befehdet – schlechte Aussichten für ein pangriechisches Bündnis.
3
|79| Verschlossene Türen Dies war der ‚König‘ der Zeit von – grob gerechnet – 1200 bis 800, die aus Gewohnheit als die Dark Ages Griechenlands bezeichnet wird, auch wenn wir inzwischen allerhand Licht in dieses dunkle Zeitalter werfen können. Der Herrscher jener Jahre hat dem homerischen Helden sein ‚Nervenkostüm‘ und seine Kriegerethik vermacht. Sein Haushalt versorgt sich nach Kräften selbst, ein Zuviel gibt es selten oder nie; nur wenig wird aus dem Handel beschafft, der vom Austausch von Geschenken kaum zu unterscheiden ist.
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|80| Für solche Zwecke genügte ein spärlicher Kontakt zur Außenwelt. Dass das griechische xénos „Fremder“ und „Gast“ zugleich heißt, täuscht sehr: Ein Gast ist ein Fremder, den man näherkommen lässt, ohne ihn zu bekämpfen. Unser „Gast“ und das lateinische hostis „Feind“ sind im Kern dasselbe Wort. Gäste bringen Nachrichten mit, tauschen Geschenke (gleich Waren) aus und nehmen bleibende Freundschaft mit sich – wenn sie selbst zur Oberschicht gehören; sonst sind sie nur Bettler. Ein Gastfreund darf beliebig lange bleiben, solange er den Gastgeber nicht schädigt (anders die Freier im Haus des Odysseus), und darf laut Odyssee sogar unangemeldet Gäste mitbringen; das wird zwar kritisiert, aber der Gastgeber verteidigt den Brauch. Vielleicht spricht hier schon die Epoche gesteigerter Reisetätigkeit, in der es guter Ton wurde, sich anzukündigen. Ohne Abschiedsgeschenke reist man nicht ab – und man darf behutsam signalisieren, was man gut brauchen kann. Diese Erwartung besiegt mitunter alle Vorsicht: Odysseus ist entschlossen, den Kyklopen in seiner Höhle zu erwarten; wer weiß, was die Geschenke zu Hause wert sein werden … Teuer sind sie in jedem Fall; die Odyssee erfüllt einen aristokratischen Wunschtraum, als der Phaiakenkönig Alkínoos seine Großen zwar zu Geschenken an Odysseus nötigt, diese aber ihre Ausgaben beim „Volk“ eintreiben können. Hauptberufliche Händler waren, wenn die Sozialkontakte stimmten, beinahe unnötig. Man überließ das den Leuten ‚draußen‘. Jenseits der Horizonte lagen Länder, deren Existenz in Griechenland einstweilen wieder vergessen war: Ägypten und die Reiche des Alten Orients. Die Blickweite reichte kaum
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über das halbwegs ebene Landstück hinaus, zu dem der eigene Adelssitz, das eigene Dorf gehörten. Man hatte ein Auge auf die Küste und eins auf die Pfade, die über die umgebenden Gebirge zur nächsten Ebene führten; von dort kam die Abwechslung |81| und die Gefahr. Für die Geschichte des späteren Europa ist dies Denken in politischen Einheiten, die in Blickweite lagen, unendlich wichtig geworden. Das Meer, das später alle verbinden sollte, war damals nur wie ein weiteres Grenzgebirge; noch im späteren Griechisch war der Hinweg zu jedem anderen Ort, zu Lande oder zur See, ein Weg „hinauf“, der Rückweg führte „hinab“. Man saß wie am Boden eines Suppentellers, und das Draußen war dunkel und überwältigend weit. Noch die Phaiaken der Odyssee sind darum so gesegnet, weil sie an jeden Ort der Welt fahren können, aber weder Handel noch Kontakt mit Fremden nötig haben (außer Piraterie); so tief verwurzelt war der alte Eindruck der Verlorenheit im Raum. Bis das „unfruchtbare Meer“ endgültig „die große Feuchte“, die Spielwiese der hölzernen „Pferde des Meeres“ geworden war, sollte noch viel Zeit vergehen. Allenfalls für kräftige junge Männer, die auf harte Arbeit nicht versessen waren, hatte die See ihre Reize – zu überfallen gab es immer jemanden.
4
Eine Ausnahme in dieser geschrumpften Welt stellte die Küste Kleinasiens dar – und es kann kein Zufall sein, dass ausgerechnet die Sage von Troia eifrig überliefert und ausgemalt wurde. Troia konnte erklären, was in dieser Zeit, in der es keine |82| großen Kriege und Aufbrüche mehr gab, Griechen entlang der Ostküste der Ägäis zu tun hatten. Tatsächlich breiteten sie sich sogar aus. Wir sprechen von der „Frühen
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Kolonisation“, die eine Perlenschnur von Siedlungen auslegte, aus denen bis in die Zeit Homers ein reicher Landstrich werden sollte. Dies ging unter wenig erhebenden Umständen vor sich; wer auf den Kykladen, Kreta oder in Kleinasien landete, versuchte
hauptsächlich
Eroberern
oder
den
ärmlichen
Lebensverhältnissen des Festlandes zu entkommen. So erreichten „äolische“, mittelgriechische Siedler im 11. oder 10. Jahrhundert über die Inseln Lesbos und Tenedos auch den Nordwesten Kleinasiens mit der Troas. Die Troia-Sage, die ihnen ein gewisses Besitzrecht auf die Region und Wurzeln in ihr verlieh – seien sie auch gewaltsam –, vermied es sorgsam, ihre Ansiedlung zu erwähnen; sie kamen nach den Heroen, das blieb im Gedächtnis.
|81| Odysseus bei den Phaiaken Das Volk der „Grauen“ in seinem Inselreich wird in den Odyssee-Gesängen 6–13 zur letzten, rettenden Station des Helden. Nackt wird er an Land gespült, begegnet der jungen Königstochter Nausikaa und gibt sich ihren Eltern, als ihn die Troia-Geschichte auch hier einholt, zu erkennen. Alle bisherigen, uns vertrauten Abenteuer erzählt Odysseus den Phaiaken im Rückblick; dann trägt eines ihrer Schiffe ihn (reich beschenkt) aus der Sphäre der Wunder im Schlaf zurück in seine Heimat Ithaka.
|82|
In diesem Zeitraum von zehn Jahren nun, während dessen
Ilion belagert wurde, ereignete sich in der jeweiligen Heimat der Belagerer viel Unheil durch die Aufstände der Jüngeren […] so, daß Mord und Totschlag und viele Vertreibungen die Folge waren. PLATON, Nomoi (3,) 682 d (um 350 v. Chr.)
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Was die Umwälzungen und die Verarmung bewirkte, die nach 1200 diese ‚heroische‘ Isolation schuf, gibt uns Rätsel auf. Schon die Griechen ließen die Heroenzeit mit der „Rückkehr der Herakliden“ auf die Peloponnes ausklingen, womit die Einwanderung der letzten griechischsprachigen Gruppe, der Dorer, gemeint war – entsprechend gibt es Dorer vor den Mauern von Homers Troia so wenig wie Kavallerieattacken. Aber die Dorische Wanderung von ca. 1100, die bis nach Kreta reichte und vielerorts neue Herrscher an die Macht brachte, ist bei allen Umbrüchen, die sie brachte, zu spät, um den Niedergang zu erklären.
|83| Die Zentren der vergangenen Epoche, ihre materielle Kultur und ihr Wohlstand verschwanden in Randgebieten wie Kreta oder Zypern niemals ganz, woanders verfielen sie nur langsam; aber die Gesellschaft war ‚enthauptet‘: Das organisierte
Königtum
mit
seinem
Amtsapparat
und
dessen
Werkzeug, der Schrift, war wie vom Erdboden verschluckt. Nur der Titel des königlichen Verwalters und Untergebenen, basileús,
überlebte
in
sehr
verändertem
Sinn
für
den
Lokaladel, der zweifellos die (leiblichen oder sozialen) Nachkommen dieser Schicht verkörperte. Diese konkurrierenden regionalen basileís waren es, die Homer als ‚Könige‘ ihrer Städte und Inseln betrachtete, basileus hieß ein Thrakerfürst ebenso wie der König von Makedonien, und selbst für den persischen Großkönig sollte man später keinen anderen Titel verfügbar haben. Alles, was größere, spezialisierte Gesellschaften und umfassende politische Macht erfordert hatte, verschwand zuerst: die bildende Kunst, fast alle größeren Bauten. Handel und
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Nachrichtenwege folgten; man ‚verlor‘ den Nahen Osten und vielleicht sogar Kreta, das eben noch Fluchtziel gewesen war. Als der Zerfall in immer kleinere soziale ‚Inseln‘ fortschritt, begannen seit etwa 1125 auch die Siedlungen leerer und spärlicher zu werden. Zwischen 1050 und 1000 trafen neue Zerstörungen und ein weiterer Bevölkerungsrückgang die griechische Welt. Was danach blieb, war eine an Menschen wie Gütern verarmte Zivilisation, die auf Hirten und Viehzüchtern beruhte. Zahlreiche Ruinenstätten erhoben sich inmitten dünn besiedelter Landschaften; manche zogen – wie Troia – Legenden an. Der Tiefpunkt wurde im Laufe des 10. und 9. Jahrhunderts vielleicht überwunden, doch niemand hätte eine Besserung vermutet, wie das 8. Jahrhundert sie bringen sollte. Die bei weitem wohlhabendste Siedlung, die wir kennen, in Lefkándi auf Euböa, brachte für kurze Zeit ein mächtigerer Fürst unter seine |84| Gewalt, der sich einen riesigen Wohnsitz bauen ließ und dort auch begraben wurde; er hatte keine Erben. Fast alle Aussagen über diese vielen Menschenalter reduzieren sich auf eine Geschichte der Gräberfelder und Tonscherben, zersplittert nach Regionen. Fast alle – die vielen Einzelzüge ausgenommen, die etwa in den homerischen Epen als Spuren erscheinen. Wie gewagt es ist, die Sozialstruktur und mehr noch die ‚Mentalität‘ einer Zeit aus einer deutlich späteren Quelle herauszulesen, liegt auf der Hand. Als Ermutigung nehmen dürfen wir die Funktion und den Blickwinkel dieser Dichtungen selber: die Übertragung einer wesentlich älteren Aufgabe auf ein neues Medium, das Plädoyer für die Fortdauer
einer
Adelsgesellschaft,
vorgetragen
in
einer
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Epoche, als diese Struktur in Frage gestellt war. Es liegt also nahe, die ungebrochene Form von Gesellschaft wie Denkweise in der vorausgehenden Zeit zu suchen.
Kostbarkeiten Ein Prüfstein ist der Vergleich der materiellen Kultur in der Dichtung und im archäologischen Befund. So spiegeln die Brandbestattungen des Epos, die in Homers Zeit etwas außer Mode kommen und vor 1200 überhaupt nicht üblich sind, am ehesten die Epoche nach ca. 1050, der Zeitspanne, als in Orten wie Athen auch eiserne Waffen und Werkzeuge, die so genannte protogeometrische Keramik und andere Neuerungen einzuziehen begannen. Die ionische Wanderung übers Meer bis Kleinasien fällt damit in etwa zusammen. Auf die von Homer beschriebene Weise – dass der Speer länger aus Bronze gewesen wäre als die Pflugscharen der Bauern – vollzog sich der Beginn der Eisenzeit garantiert nicht, eher umgekehrt, wie auch ‚Ausrutscher‘ der Epen – etwa die Erwähnung eiserner Pfeilspitzen – verraten. Von Zypern kommend, ersetzte das Eisen, das sich |85| endlich gut schärfen ließ und nicht mehr so spröde war, schrittweise die Bronzegeräte; Kreta war die nächste Station, dann endlich das griechische Festland. Die Adligen hängten ihre neue, rostempfindliche Ausstattung am trockensten Platz ihrer Domizile auf, im Mégaron, der Haupthalle mit ihrem zentralen Herd; ein eisernes Schwert und Speere ergänzten die Bronzerüstung. Jedes Stück war eine Wertanlage, Kriegsbeute noch dazu mit dem Ruhm ihrer Eroberung behaftet und ein Teil der
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Biographie ihres Besitzers, auf den sich beim Gelage stolz hinweisen
ließ
–
die
Trophäen
bildeten
geradezu
die
Familiengeschichte. An den teuren Waffen hing das meiste Prestige; daneben war der Besitz auch der Reicheren eher bescheiden. Wir hören nur von wenigen Möbeln, darunter immerhin Luxusgegenstände wie Penelopes eingelegter Lehnstuhl. Ein Universalartikel ist der Dreifuß, der im klassischen Griechenland noch als Siegesprämie bei Wettkämpfen begegnet. Ehe sich gemauerte Herde verbreiteten, waren Dreifüße zum Erhitzen des Koch- und Badewassers unverzichtbar; entsprechend oft nennt Homer sie als Gastgeschenke. Kessel (die mehr Wasser fassten, aber leicht durchbrannten) waren kostbar und ähnlich begehrt. Unkompliziert wirkt auch die Kleidung, selbst die der Reichen. Männer tragen den Chitōn, ein langes Leinenkleid ohne Ärmel; als Odysseus besonders prunkvoll auftritt, ist sein Chiton aus feinerem Stoff, glänzend „wie eine Zwiebelschale“. Darüber trägt er einen purpurgefärbten Mantel, mit einer goldenen Spange geschlossen.
5
Wenn nicht die bronzenen Dreifüße, so musste man doch Eisen und Purpur importieren. Die Phöniker, Spezialisten gerade für die Färberei, standen bereit – ein mit Gütern so gesegnetes Volk, dass sie bei den Griechen ein Unterlegenheitsgefühl hinterließen. Selbst dem mächtigen Theben und zahlreichen weiteren Siedlungen schrieb man (zu Unrecht) phönikische Gründer zu. |86| Die Vermutung bot sich an: Phöniker waren überall. Gerade erkundeten und besiedelten sie, von Assyrien aufs Wasser getrieben, das westliche Mittelmeer, auf das sich Griechen erst langsam hinauswagten, dem
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Weg zum Eisen folgend. Die Idee, Handel sei etwas völlig anderes als ein Geschenktausch unter Gleichen, drang nur sehr zögernd durch; dass im Mittelmeerhandel einst viel Griechisch gesprochen worden war, ahnte niemand. Doch diese Importe waren, wie gesagt, die Ausnahme. Die Gesellschaft des Epos lebte ohne große Märkte, wie auch ihre ‚Städte‘ nur das Hauptdorf der Region waren, in dem sich ab und zu die Familienoberhäupter zu Beratungen oder zur Beilegung
eines
Streites
versammelten.
Die
rivalisierenden
‚Könige‘, voran der anerkannte Erste unter ihnen (dem vom Volk neben einem Extraanteil an der Kriegsbeute ein besonderes Landstück überlassen war), redeten in einer solchen Versammlung (agorā) und setzten sich durch Prestige oder die Zahl ihrer Abhängigen durch. Wer auf ihre Einigungsvorschläge einging, beschenkte sie zum Dank, wofür Hesiod sie als „Gabenschlucker“ und Profiteure verwünscht. Das gottgegebene ‚Recht‘ bildeten die überlieferten Normen der Gegend – wo sie Lücken hatten oder wenn man sich nicht einigte, blieb die Durchsetzung Privatsache oder (je nach Sichtweise) den Göttern überlassen. Faustrecht bis hin zur Blutrache bildete also die letzte Instanz, besonders bei Konflikten zwischen Adligen. Odysseus selber erschlägt über hundert Gegner, was ihm eigentlich eine mörderische Vendetta eintragen müsste, würde nicht Zeus „Vergessen“ bewirken.
6
Palastleben Ins eigene Haus reichte die Außenwelt nur durch Sitten und Gebräuche, als Gäste oder Angreifer hinein; hier war der
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Hausvorstand, ob Bauer oder basileus, der Herr, auch wenn er sich
vielleicht
|87| dem
Ältesten
seiner
weiteren
Ver-
wandtschaft unterzuordnen hatte – echte oder mythische Abstammungsgemeinschaft band den einzelnen Haushalt an einen Clan. Den Kern solcher ‚Paläste‘ bildete das große Megaron, das zugleich Festsaal, Waffenkammer und Schlafhalle des bewaffneten Gefolges war; Vorratskammern und vermutlich eigene Zimmer für die Hausherrin und ihre Mägde ergänzten den Bau. Odysseus’ Palast, so groß wie mehrere (normale) Häuser zusammen, besitzt für das Ehepaar noch ein separates Schlafzimmer. Privatsphäre gab es für niemanden: Auf jeden Raum kamen selbst in reichen Adelshäusern mehrere Einwohner. Im Haus des basileus arbeiten und wohnen überwiegend Frauen. Ihr Tag ist geselliger und erlaubt Gespräche (deshalb der Ruf der Geschwätzigkeit), ist aber länger als der des Mannes:
|88| Wenn
Herr
und
„Gefährten“
von
ihren
Geschäften kommen, lassen sie sich von Mägden waschen und bedienen, vornehme Besucher auch von Töchtern des Gastgebers. Die Scham des Odysseus, als die Mägde ihn baden, gilt nicht seiner Nacktheit, sondern der ausgetrockneten Haut, die er lange nicht eingeölt hat – gutes Aussehen ist eben Teil der persönlichen Ehre. Während der Hausherr beim Abendessen repräsentiert, spinnt seine Frau oft ihr Garn; tagsüber dirigiert sie die Arbeit ihres Gesindes, bei Vorratshaltung und Aufsicht assistiert von einer „Beschließerin“ (tamíē). Nur eine große Zahl von Dienerinnen garantiert, dass genug Wasser erhitzt, Mehl gemahlen und Kleidung gefertigt oder gewaschen wird: Odysseus hat für sämtliche Arbeiten fünfzig Mägde in
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Dienst, der Herrscherhaushalt der Phaiaken dieselbe Zahl allein zum Kornmahlen und Spinnen. Die meisten basileís mussten sicher mit weniger auskommen; dieser Bedarf an ledigen (oder doch von ihren Partnern meist getrennten) Frauen trug dazu bei, die Geburtenrate bis gegen 800 eher niedrig zu halten. Die zugehörigen Männer waren als Hirten, seltener als Feldarbeiter den Tag über draußen verstreut. Ein Speisemeister oder Truchsess (daítros), der den Braten auftrug und teureres Geschirr verwahrte, war vielleicht einer der adligen „Gefährten“, die beim Essen auch sonst die Ranghöheren bedienen; es fragt sich, wie viele von ihnen ledig, weil für einen standesgemäßen Haushalt zu arm waren. Ihr Auftreten in festen Gruppen samt dem gemeinsamen Übernachten im Megaron steht eventuell am Beginn der Homoerotik späterer griechischer Männerbünde. Selbst die Frau eines Märchenkönigs arbeitet mit, und wenn ihre Tochter mit der Familienwäsche unterwegs ist, hat das von Überwachung der Mägde so viel wie von einem Ausflug ins Grüne – allerdings unterbrechen alle ihre Arbeit für ein Spiel, und die junge Nausíkaa trinkt tatsächlich Wein. In der |89| klassischen Antike wäre beides ein Skandal gewesen. Auch die vornehmste Ehe war damit in hohem Maße eine Wirtschaftsgemeinschaft und konnte der Frau ein beengtes, freudloses Leben einbringen, von den Gefahren des Kindbetts zu schweigen. Grundsätzlich hatte sie nichts mitzureden (gerade der schwache Telemach scheucht seine Mutter zurück unter ihre Mägde); theoretisch konnte sie wohl jederzeit verstoßen werden, was immerhin als unmoralisch galt. Völlig der Willkür ihres Gatten unterworfen war eine Frau mit großer
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Mitgift und aufmerksamen männlichen Verwandten aber nie – und der Dichter der Odyssee schildert die ‚Königinnen‘ immer wieder als einflussreich genug, auch bei politisch wichtigen Entscheidungen und in Gegenwart des waffentragenden Gefolges. Doch rechnet er vor allem mit Vernunftehen: Penelopes Sehnsucht nach Odysseus nimmt sich so ungewöhnlich aus wie dessen Überlebenskunst. Üblicher war laut Odyssee eine enge Verbundenheit zwischen Vater und Sohn – vorausgesetzt, hier überwiegt nicht das Wunschdenken eines in die Krise geratenen Adels. Allein gegen alle, wie im krönenden shoot-out eines Western, treten drei Generationen der Familie Odysseus der kleinen Armee des Lokaladels von Ithaka entgegen, überzeugt, dass bei solcher Eintracht nichts schief gehen kann – und natürlich gewinnen sie.
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Freie, Sklaven, Hörige Eine vorerst seltene Erscheinung war die Sklaverei. Sklaven waren Kriegsbeute oder Verschleppte, und im Interesse einer gefahrlosen Heimkehr wurden erwachsene Männer bei solchen Unternehmen totgeschlagen; die Überlebenden waren damit Frauen und Kinder. Ihr Weiterverkauf war vermutlich selten, der Kaufpreis hoch, also traf man sie im Besitz der Eroberer an. Der Sklavenstatus vererbte sich nicht und war so sehr die Ausnahme, |90| dass der Unterschied zu ‚freien‘ Knechten und Mägden angesichts der Macht ihres Herrn belanglos blieb. Eumaíos, der „göttliche Sauhirt“, ist in Wahrheit „der Vogt der Männer“, der Oberaufseher der eigentlichen Schweinehirten. Wie auch später hatte die Hausherrin nichts
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gegen den sexuellen Zugriff ihres Mannes auf Sklavinnen in der Hand. (Odysseus’ Vater unterließ ihn freiwillig.) Hirten bildeten einen Großteil der Landwirtschaft; von Bauern hören wir wenig – die Ställe des Eumaios oder Schafund Ziegenherden des Polyphem sind viel prominenter. Sogar der gefräßige Kyklop kann sich nur selten Frischfleisch gönnen und lebt vorwiegend von Käse. Mehl, „das Mark der Männer“, streute man auf die Opfertiere auch deshalb, weil es relativ kostbar war: Getreide (mehr Gerste als Weizen) wurde nicht in großem Stil angebaut und mühsam von Hand gemahlen. Möglicherweise gab es statt Pächtern, die Korn und Gemüse anbauten, nur Tagelöhner für diesen Teil des Haushalts. Solche thētes („Hingestellte“, „Postierte“), die sich einem Grundherrn verpflichteten, waren in ihrer Schutz- und Mittellosigkeit von Bettlern kaum zu unterscheiden und ebenso verachtet. Über Nacht konnten sie auf der Straße stehen und Zuflucht an warmen Orten suchen, in einer Schmiede oder einer leschē (der „Volkshalle“ in der Nähe des Versammlungsplatzes). Lohnarbeit und Vornehmheit sind der ultimative Gegensatz; mit der Auffassung, Arbeit schände nicht, steht Hesiod sehr allein. So fordert der Freier Eurýmachos einen Bettler, in dem er nicht Odysseus, wohl aber einen heruntergekommenen Adligen vermutet, boshaft dazu auf, sich gegen Brot und Kleider für ein Jahr als thēs zu verpflichten, wenn er kein bloßer Schmarotzer sei. Odysseus’ wütende Antwort verrät ihn beinahe durch ungebrochenen Stolz. Der vornehmste Freier, Antínoos, droht Bettlern gar mit Verschleppung übers Meer.
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|91| Wirklich frei waren in dieser Gesellschaft die wenigsten; auch ein Mann aus dem „Volk“ mit eigenem Besitz konnte sich gegen den Willen des örtlichen Herrn kaum vom Fleck rühren. Bewegungsfreiheit gab es nur für einen kleinen Kreis von Spezialisten, der sich der starren Sozialstruktur entzog. Diese dēmiourgoí – das klassische Wort für „Handwerker“ hieß damals etwa „öffentlich zugängliche Dienstleister“ – wie Zimmermann oder Arzt (der Wunden verband und vermutlich mit Zaubern besprach) wurden für jeden Auftrag einzeln entlohnt und waren schon dadurch Außenseiter. Zumindest Goldschmiede gehörten wohl zur selben Gruppe (ob sie auch gröbere Metallarbeiten erledigten, wissen wir nicht); Herolde, die den Großen ihre Stimmgewalt liehen, könnten einzelnen Adligen gedient oder Aufträge aller örtlichen basileis ausgeführt haben. Wie die Sänger und Seher hatten sie eine besondere Stellung, indem sie Zutritt zum Gastmahl hatten. Einen Seher haben sogar die götterverachtenden, asozialen Kyklopen einmal gehabt, und in einer Welt mit bestenfalls wenigen hauptberuflichen Priestern (der Hausvorstand erledigte das) war es dringend nötig, kompetente Deuter für den Willen der Götter zu finden; manche Seher, wohl nicht nur im Mythos, waren selber adlig.
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Die Herren der Herren Für die temperamentvollen Götter empfahl sich ein solcher ‚Verbindungsmann‘. Eine Adelsethik der leicht verletzten Ehre kreuzt sich in den Olympiern der Ilias mit dem Gedanken der Strafe für generell verwerfliches Verhalten. Hektor etwa
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verfällt nicht unschuldig dem Los, von Achill über den Tod hinaus gedemütigt zu werden, sondern hat zu Lebzeiten geplant, den toten Patroklos den Hunden vorzuwerfen – nur ist das keine ‚Sünde‘, sondern fast normal, und wäre Hektor kein Liebling |92| Apollons gewesen, würde dieser sich nicht empören, Achill habe „das Erbarmen verloren“. Ebenso werden Städte wie Spielzeuge zum Tausch angeboten (Heras Gegengabe für Zeus’ Opferung von Troia wird Vergil einmal in der römischen Zerstörung Karthagos sehen), und bezeichnenderweise denkt, wer einen Gott zur Erde niederfahren sieht, erst einmal an Krieg. „Wie Geier“ sitzen sie über der Schlacht auf einer Eiche. Götter sind so provokant wie der ärgste Aristokrat; es ist Frevel für Sterbliche, sie anzugreifen, aber genau darauf legen sie es an.
„Der göttliche Hektor“ – Mut der Verzweiflung Der älteste Sohn des Königs Priamos – als Figur wohl kaum älter als die Ilias selbst – ist das Gegenstück des Egoisten Paris, ein loyaler Verteidiger seiner Vaterstadt Troia, die nicht fallen wird, solange er lebt. Die Schwachstelle des wohl edelsten Charakters dieses Mythos ist gerade sein Pflichtgefühl; in der Hoffnung, die Griechen vollständig zu besiegen, führt Hektor das troische Heer zu weit vor die Stadt, provoziert die Rückkehr Achills in den Kampf und wird nach einer schrecklichen Niederlage dessen Opfer. Mit Hektors Begräbnis endet die Ilias.
Götter machen die Regeln und brechen sie. Man sollte sich ihnen durch Opfer empfehlen, nur ist das keine Lebensversicherung gegen „verblendende Gottheiten“: Ares, der Kriegsgott, ist ein besonders übler Vertreter, weil er alle Hoffnungen betrügt, und dennoch „dient“ ihm, ja „tanzt“ jeder Heros vor ihm, indem er den Kampf sucht. Die übrigen Götter
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halten ihr Wort wenigstens öfter und Zeus als ihr Oberster ist trotz allem „der Vater“, dessen Hand man sich nicht gerade liebend, aber gehorsam anvertraut. Augenblicke der Revolte lassen sie einem durchgehen: Kein Blitz trifft Menelaos, der loswettert, Zeus’ |93| Verstand sei hin, dass er den Troern beistehe, und Hektor lässt es gegenüber Apollon bei der Anrede „Bester“, als wäre der Gott auch nur ein basileus. Frömmigkeit gedeiht in einigen geschützten Nischen. Glaukos betet um Heilung zu Apoll, der ihn überall hören könne, damit er Sarpedons Leiche schützen kann, und Hektor „war den Göttern der liebste der Sterblichen“ in Troia, weil er fleißig opferte, ohne davon mehr als ein ehrenvolles Begräbnis zu haben.
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Götter sind nicht aus Fleisch und Blut, leben von
Opferrauch oder den Götterspeisen Nektar und Ambrosia und lassen sich am Gewicht, an ihrer enormen Stimme oder dem Schrecken ihres unverstellten Anblicks erkennen – und natürlich daran, dass ihnen alles „sehr leicht“ fällt. Die Moral der Olympier dagegen hat alle Liebhaber der Klassik seit je geniert, auch wenn die mythologischen Freveltaten der Menschen ihnen durchaus Konkurrenz machen. Wenn Hera ihren Mann (und Bruder) verführt und ermüdet, damit die übrigen Götter auf dem Schlachtfeld wüten können, ist Zeus so feinfühlig, sie beide durch einen Katalog seiner Seitensprünge in Stimmung zu bringen. Als er aufwacht, droht er seiner Frau Peitschenhiebe |94| und die Neuauflage einer früheren Streckfolter an, worauf Hera Überraschung heuchelt (was Zeus als Kompliment nimmt); Ares will den Kampf auch jetzt nicht abbrechen, weshalb Athene in Angst vor einer Kollektivstrafe tobt, nur ein
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Idiot von Gott riskiere für ein paar sterbliche Söhne Zeus’ Zorn.
|93| Herakles – durch Tatkraft zum Olymp Griechenlands größter Heros, ein ‚Kuckucksei‘ des Zeus im Königshaus von Theben, hat an den wenigen Stellen, wo Homer ihn erwähnt, noch die Züge eines ruhelosen Städtezerstörers. Später entwickelt sich Herakles einerseits zum populären Raufbold und Frauenhelden, andererseits zum Symbol eines Menschenlebens mit seinen Höhen und Tiefen. Die entbehrungsreichen Reisen und Abenteuer, bei denen er die Welt von Monstern säubert und zuletzt selbst zum Gott aufsteigt, machen ihn zum Vorbild hellenistischer und römischer Herrscher.
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Wenn du Lobredner des Homeros antriffst, welche be-
haupten, dieser Dichter habe Hellas gebildet und (man müsse) das ganze eigene Leben nach diesem Dichter einrichten und durchführen […] wisse, daß an Dichtung in den Staat nur das aufzunehmen ist, was Hymnen für die Götter und Loblieder auf tugendhafte Menschen umfasst […] PLATON, Politeia 606e (nach F. Schleiermacher)
In der Odyssee haben die Götter, sagt man gern, Mitleid und Moral gelernt; die Guten werden nicht gerade systematisch belohnt, aber die Bösen für ihre Freveltaten bestraft, wie Zeus in seiner berühmten Eröffnungsrede einschärft: Alles, was Menschen zustößt, haben sie sich selbst eingebrockt. Ganz gelöst ist der Widerspruch zum Verhängnis der Götter (moíra), das solche Taten erst herbeiführt, damit nicht, und es bleibt ein gewisser Fatalismus: Zeus gibt und nimmt, „du aber musst es gleichwohl ertragen“. Kein Anflug von Erbarmen oder Reue kann eine göttliche Strafe abwenden.
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Auch sonst sind sich einige Unsterbliche treu geblieben. Da ist Kalypso, die Nymphe, eine Einzelgängerin; acht Jahre lang hat sie Odysseus als Liebhaber bei sich behalten. Auf Zeus’ Befehl lässt sie ihn ziehen, was in Odysseus Panik auslöst, sie wolle ihn beseitigen. Um ihm den Abschied zu vergällen, weist Kalypso ihn auf ihren wahrhaft göttlichen Körper hin, worauf er eilig Penelopes Reize verleumdet und zur Sicherheit noch einmal sein Bestes im Bett gibt. Der Troiazerstörer als toy boy und Schmeichler einer Göttin dritten Grades – keine übertrieben angenehme |95| Stellung. Hermes, ihr Besucher, klagt, dass ihm in dieser Gegend niemand opfere; wozu also überhaupt vorbeischauen? Der Halbgott Herakles ist weniger als Helfer der Menschen denn als „der Schreckliche“ in Erinnerung. Neu sind dagegen die Machtbeweise der Götter, deren Kraft mit den Naturgewalten verschmilzt: Hermes’ atemberaubender Flug zu Kalypsos Insel, Poseidons Aufwühlen des Meeres und Hochtürmen ganzer Bergketten. Auch meiden sie nun Zusammenstöße: Athene zeigt sich Odysseus zwischen Troia und Ithaka nicht in Person, solange Poseidon ihn plagt. Fern sind diese Mächte; Fabelwesen stehen den Göttern nahe und sehen sie häufiger, selbst Hunde nehmen sie wahr, aber für Menschen wird es ein seltenes Zeichen der Intimität und des Ausgleichs mit sich selbst, sie bemerken zu dürfen: Athene, die ihren Odysseus wie eine alte Freundin liebkost, ist schon wie ein ferner Traum. Sogar im Schlusskampf gegen die Freier lenkt die Göttin nur noch Geschosse ab, aber schlägt nicht selber zu. Der Rückzug der Unsterblichen aus der sichtbaren Welt, in der Ilias schon im Gange, schreitet voran.
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Hermes enthüllt sich dem Priamos, den er zu Achill geleitet, erst zum Abschied, weil Götter nicht „mit Sterblichen offen freund sein sollten“; Thetis, die ihren geliebten Sohn Achill verlieren wird, bereut den Umgang mit so kurzlebigen Wesen.
So sprach er [Odysseus]. Da lächelte die Göttin, die helläugige Athene, und streichelte ihn mit der Hand […] Und hob an und sagte zu ihm die geflügelten Worte: „Klug müßte der und diebisch sein, der dich überholen wollte in allen Listen, und träte auch ein Gott dir gegenüber!“ Od. 13, 287–292
Schon vor Homer war es wohl die indirekte Einwirkung der Götter, mit der man rechnete – wer eine göttliche Mission erhält, |96| spürt es von selbst und darf nicht lange nachfragen. Darum auch wurden Träume, Orakel und Vorzeichen (wie das Niesen) auf dem Weg zur archaischen Zeit wichtiger. In den zwiespältigen religiösen Vorstellungen bereiteten sich große Fragen vor. War das Ich stark oder schwach, wenn ein Gott darauf wie auf einem Instrument spielen konnte? Wie nah, wie entrückt war nun das Göttliche, wie sehr band es sich an Regeln? Die Entscheidung zwischen gottgelenktem Handeln und der Einsamkeit, die das ganz Andere bestenfalls zu ahnen statt sicher wahrzunehmen hoffte, stieß das Tor zu einem neuen Weltverständnis
auf,
das
in
Freiheit
und
Verlassenheit
wurzelte. Viele sollten diesen Schritt nicht mitgehen und auf das Greifbare magischer Hilfsmittel, die Gewissheit der Kulte und der Mythen vertrauen.
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Vergessen Furchtbar wenig war sicher in dieser Zeit. Das auch später als Gruß übliche „Chaíre“ („Freue dich!“) hatte noch seine ursprüngliche Bedeutung: als Wunsch, der Gegrüßte möge sich freuen können an einem unversehrten Haushalt und einer festen sozialen Stellung. Wenn darin der Sinn des Lebens lag, konnte es täglich scheitern. Ruhm war – für die kleine Elite der Adligen – die andere Hoffnung, auch er ein knappes Gut. Kriegstrophäen an der Wand beglaubigten einen Sieg, die Familientradition nannte einen großen Vorfahren, aber davon wollte erzählt und auf Dauer erzählt sein, im Wettstreit mit so vielen anderen, die sich rühmten.
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Dies war der Grund, auf etwas so Ungreifbares wie das Heldenlied
zu
setzen
–
eine
bewundernswerte
Abstrak-
tionsleistung für diese kargen, brachialen Jahrhunderte. Den Sänger ins Megaron zu holen war kein Luxus oder aber ein notwendiger |97| Luxus. Sicher war ein zusätzlicher bewaffneter Gefolgsmann auf kurze Sicht nützlicher. Dennoch investierte man wenigstens tageweise in den Sänger, der aus dem Zwang zur Unstetigkeit einen Vorteil zog: Mit ihm machte der Ruhm von Haus zu Haus die Runde, ein Motiv, ihn gut zu verpflegen, auf dass seine Dankbarkeit ein wenig Extraglanz verlieh. Inmitten des großen Vergessens setzte man auf Erinnerung und lauschte dem göttlichen Sänger ebenso aus Zukunftssorge wie aus Neugier.
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„Und einst wird einer sprechen noch von den spätgeborenen Menschen, / Fahrend im Schiff, dem vielrudrigen, über das weinfarbene Meer: / ‚Das ist das Mal eines Mannes, der vor Zeiten gestorben, / Den einst, als er sich hervortat, erschlug der strahlende Hektor.‘ / So wird einst einer sprechen, und dieser mein Ruhm wird nie vergehen.“ Il. 7,81–91
Wir leben in einer Zeit historischer Verschwörungstheorien, weil es für uns unvorstellbar ist, dass Wissen, einmal entdeckt, spurlos aus der Welt verschwinden kann. Das Vergessen der Griechen im Übergang zu ihrer Schattenzeit war kein Komplott. Die ‚Könige‘ erinnerten sich bestimmt ungern daran, dass einst Mächtigere als sie existiert hatten. Gleichwohl, dass ein vergleichsweise strahlendes Zeitalter großer Macht und großer Heere vorausgegangen war, gegenüber welchem ihres einen Abstieg darstellte, vergaßen sie nicht. Im Gegenteil, sie waren Erben jener Zeit, auch wenn die verlassenen Ruinen ihnen ebenso zu groß gewesen wären wie die Steine der Heroen zu schwer. Nur ein wenig Glanz lebte in den Adligen fort, genährt von jenem kleinen Kreis der Sänger, die verkündeten, was am Verschwundenen das Wesentliche schien: große, schreckliche Taten, die um den Preis hohen Leides unvergänglich geworden waren. In dieser Hoffnung auf Unvergänglichkeit lag der Sinn des |98| Zurückblickens, nicht in der Exaktheit. Es gab einen Weg, die Grenzen des Daseins zu überschreiten, so schmerzlich er war. Über dieser Lebensdevise vergaßen die Generationen im Schatten die Politik ferner Reiche, die Ränkespiele
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zwischen entvölkerten Palästen, die Titel sinnlos gewordener Ämter und die Haufen beschriebener Tonstücke, über die sich Schutt und Staub legten. In ihrem Spiegel, bald deutlich, bald dunkel, nahm eine spätere Epoche den verlorenen Glanz wahr, dem die Dunklen Jahrhunderte scheinbar nichts gegenüberzustellen hatten als ihre Sehnsucht – und in dessen Bild ihr bescheidenes, zähes Leben sich gleichwohl einschrieb.
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Die Zeit der Könige
Im Jahr 1184 v. Chr. fiel Troia. So sprach einer von vielen antiken Rechenkünstlern, und seitdem glauben wir zu wissen, wann wir den Krieg zu suchen haben. Das Wo erscheint noch klarer und obendrein symbolisch. Die Stadt unter dem griechischen Ilion, die Heinrich Schliemann 1870 entdeckte, lag ideal, um geographisch als Berührungspunkt Asiens mit Europa zu gelten. Ein „Schatz des Priamos“ ließ sich finden, aber es fehlten die griechischen Heroen – so zog Schliemann, jener Kolumbus der ägäischen Frühgeschichte, bald aus, Agamemnon in Mykene auszugraben, und fand in einem weiteren produktiven Irrtum statt des Gesuchten eine völlig vergessene Kultur, die dem späteren Griechenland etwa so ähnlich sah wie die Dinosaurier uns und analoge Vorstellungen weckte – Primitivität, Riesengröße, rätselhaftes Aussterben. Seitdem sprechen wir von der „mykenischen“ Kultur, die auf diese Weise zumindest nach einem ihrer Zentren heißt. Von der Peloponnes bis mindestens nach Dímini-Iólkos in Thessalien hat man Paläste, eine Vielzahl von Siedlungen und Gräberfeldern aufgespürt – vom späteren mykenischen Ausgreifen über das Meer hinweg nicht zu reden. Mykene selbst mit seiner Dependance in Tíryns und der Palast bei Pylos an der Südwestspitze der Peloponnes beherrschten respektable Teile der Halbinsel; allein der Hauptort von Pylos (nicht dasselbe wie die |100| gleichnamige Heimat von Homers
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Nestor) hatte einige tausend Einwohner und ein reichlich 40 × 60 Kilometer großes Territorium. Sparta und Korinth werden als weitere Zentren vermutet. In Athen saß ein mykenischer König auf der Akropolis, wo man später einzelne Mauerreste jener Zeit erhielt – doch die klassischen Prachtbauten haben die meisten Spuren getilgt. Unterschätzt wurde bisher Theben, über das neue Tafelfunde nun bessere Auskunft geben; von der Osthälfte Böotiens aus griff der thebanische Herrschaftsbereich übers Meer und schloss die langgestreckte Südhälfte der Insel Euböa ein. Im Westen Böotiens bildete der Palast von Orchómenos (wohl unter Einschluss der großen
Festung Gla) ein eigenes
Machtzentrum, und zwischen ihm und dem fernen Dimini im Norden sind weitere zu vermuten. Leichter als in Troia hat sich die Welt im Fall der Mykener davon überzeugt, dass hier einige Dinge im Widerspruch zu Homer standen. Schliemann ging mit bewährter Forschheit ans Werk und taufte, was er entdeckte, „Maske des Agamemnon“ oder „Schatzhaus des Atreus“, aber das „Schatzhaus“ war ein steinernes Kuppelgrab und die Goldmaske gehörte sicher einem Fürsten, doch eben einem begrabenen – waren die Helden des Epos nicht samt und sonders verbrannt worden? Wir kommen nicht daran vorbei, dieses Mykene nach seinen eigenen, nicht homerischen Maßstäben zu beschreiben.
Aufsteiger und Förderer Ein wichtiger Teil derer, die einmal Griechen werden sollten, kam in mehreren Wanderbewegungen im Lauf des 21.–19.
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Jahrhunderts, vielleicht noch bis 1600, in ihre künftige Heimat, offenkundig als gewaltsame Eroberer. Gleichwohl verschmolzen |101| sie allmählich mit den Unterworfenen, und ihre Sprache nahm viele Züge der Älteren an. Seit etwa 1600 entwickelte sich diese Kultur zu ihrer ersten Blüte. Die reich ausgestatteten, noch lange später verehrten Gräber jener Zeit in Mykene verraten den Wohlstand, ob er durch Handel, verbesserte Binnenwirtschaft oder Raubzüge kam. So wuchs die zweite Hochkultur auf europäischem Boden heran – älter und weitaus mächtiger war die seit ca. 2200 voll entwickelte minoische auf Kreta und anderen großen Inseln, deren Schiffe lange die Ägäis beherrschten. Die Minoer (benannt nach dem kretischen König Minos der griechischen Sage) exportierten im Zuge des Handels Wissen zu den Festländern, darunter die Schrift. Beide Kulturen wiederum erscheinen, aus größerem Abstand betrachtet, nur als Randphänomene der Zivilisationen von Ägypten über das noch ältere Mesopotamien und die syrische Küstenzone bis nach Kleinasien, wo bald das hethitische Großreich die Politik bestimmen sollte. Die Schrift und ihr Hauptzweck – die Verwaltung feingliedriger Wirtschafts- und Politikeinheiten wie der kretischen Paläste – blieben unzertrennlich. Aufgabe der Mykener war es, beides an ihre Verhältnisse anzupassen. Sie sprachen bereits eine Art Griechisch; das hatte man Homer zuliebe immer schon
vermutet.
Tontäfelchen
Als
in
auftauchten,
Mykene die
ein
und aus
Pylos Kreta
erstmals bekanntes
Zeichensystem mit rund achtzig Elementen sowie zahlreichen Bildsymbolen aufwiesen – Linear B –, begrub man die
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Hoffnung, griechische Dokumente vor sich zu haben; sicher schrieben die Mykener mit dieser importierten Silbenschrift „Kretisch“, das man nicht lesen konnte. Die Überraschung war groß, als ein junger Architekt, Michael Ventris, 1952 erklärte, es handle sich um eine extrem frühe Form des Griechischen. Viele zeigten sich zunächst skeptisch; man prüfte seine Resultate und war begeistert.
|102| Ungezählte Silben Die Tafelfunde sind Freud und Leid der Mykenologen. Vor den Tausenden von Dokumenten glaubt man sich im ersten Moment in ein Palastarchiv Syriens oder Mesopotamiens versetzt. Dann ‚blättert‘ man und ist schockiert. Von politischen Briefen, religiösen Texten oder gar Dichtung fehlt jede Spur. Alle Tafeln sind Vorrats- oder Abgabenverzeichnisse. Eigentlich
gibt
es
nicht
einmal
richtige
Archive:
Die
bisher
gefundenen Linear-B-Tafeln scheinen alle jeweils aus dem Wirtschaftsjahr zu stammen, in dem der Palast abbrannte, und ältere
Dokumente
wurden
offenbar
weggeworfen
bzw.
eingestampft. Selbst wenn es langfristige Buchhaltung, Grundoder Steuerregister gab, waren sie vermutlich auf Leder oder sogar Papyrus geschrieben und sind längst zerfallen. Neben dem Dialekt der Tafeln (den wir „Mykenisch“ nennen) muss mindestens eine weitere Dialektform existiert haben, und nur Theorien beantworten die Frage, ob wirklich die gesamte Bevölkerung griechischsprachig war oder weiterhin jene ältere Sprache existierte, die schon Wörter wie „Badewanne“ kannte, den Griechen Ortsnamen wie Korinthos und Parnassos
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hinterlassen und uns „Labyrinth“, „Zypresse“ sowie – letzten Endes – „Terpentin“, früher ein pflanzliches Produkt, vermacht hat. Für die Abfassung der erhaltenen Tafeln reichten wenige Hände. Vermutlich waren das hohe Beamte des Königs, die Vorräte und Abgaben eigenhändig kontrollierten; in diesem Fall gab es gar keine eigentlichen Schreiber. Schlimmer noch, Linear B war für das mykenische Griechisch ein grauenhaftes ‚Betriebssystem‘. Es setzte voraus, dass der sachkundige Leser die richtige Deutung erriet, wo es für mehrere Laute nur ein – oder gar kein – Zeichen gab. Hätte ein Königsbeamter das merkwürdige Bedürfnis verspürt, in seiner Dienstzeit Verse zu |104| schreiben, er hätte die Tafel nach dem ersten Hexameter in die Ecke geworfen. Linear B verschluckte beispielsweise den Großteil der Endungen beim Substantiv, so dass der Leser gerade noch sehen konnte, dass er ein männliches Wort auf -os vor sich hatte, und ebnete die wechselnden Vokale der griechischen Verben ein. Es war eine passable Schrift für „24 Dreifüße aus Knossos“, aber an „Nenne mir, Muse, den Namen des vielgewanderten Mannes“ hätte es sich angeschmiegt wie Stacheldraht. Über allen Gipfeln ist Ruh müsste man ungefähr als u-be a-re gi-pe-ne i-se-te ru schreiben. Wenn es schon Sänger gab, hatten sie diese Konkurrenz nicht zu fürchten. Tatsächlich ist genau das vermutet worden. Eine Tafelnotiz aus Theben enthält ein als „Lyraspieler“ gedeutetes Wort; aus Attika kennen wir Fragmente eines Instruments, aus Pylos ein Fresko mit einem Musiker, ob er auch sang oder nicht. Der Sänger späterer Zeiten erledigte Instrumentalmusik nebenher,
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aber das war in einer verarmten Epoche. Sänger und Musikanten hätte der Adlige der Dark Ages gar nicht unterhalten können; jeder Palastherr der alten Kultur hätte leicht ein halbes Dutzend Künstler ernährt und gekleidet, wenn ihm daran lag. Dennoch, auf keiner Ausgabenliste erscheint ein Hinweis auf fest angestellte oder umherziehende Aoiden. Der Versuch, vom homerischen Hexameter (der ionisch gefärbten Erbschaft äolischer Gesänge) auf die poetischen Zustände vor 1200 zurückzuschließen, ist ebenfalls unternommen worden, und zahlreiche Forscher behaupten, Homers Verstechniken und Formeln seien am besten durch ein Griechisch zu erklären, wie wir es aus Linear B kennen. So wären der Hexameter – für die Griechen eine Erfindung des Orpheus – und, wer weiß, sein Inhalt schon mykenisch? Das Vertrackte am Epos vieler Sprachen und Zeiten ist, wie archaisch es formal daherkommt. Wer die Homerübersetzung |105| von Johann Heinrich Voß aufschlägt, könnte auf die Idee kommen, am Ende des 18. Jahrhunderts n. Chr. hätte die deutsche Literatursprache noch die Dualformen zween (Brüder), zwo (Schwestern) und zwei (Schiffe) unterschieden, statt fangen fahen gesagt und so weiter. Weit gefehlt – Voß schreibt mitunter, wie man ungefähr in der Zeit Luthers gesprochen hätte, um den Eindruck von Alter zu erwecken. Er hatte auch keinen Homerübersetzer von 1500 vor sich liegen. Und hätte er noch weiter zurückgegriffen und (sagen wir) Formeln aus dem Nibelungenlied wenig verändert übernommen, so hieße das noch nicht, dass das Nibelungenlied zur Troiasage gehörte und in Hexametern geschrieben war.
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Doch die Hoffnung ist zäh, auf Umwegen oder durch ein Wunder an authentisches mykenisches Quellenmaterial zu kommen. So hat sich die Vermutung geregt, im Schiffskatalog des 2. Ilias-Gesangs, der die Kontingente der Griechen vorstellt, stecke eine vormals schriftliche Liste der gegen Troia eingesetzten Mykener, die im Gedächtnis der Sänger überlebt habe. Wie und wozu eine mykenische Verwaltung (in welchem Palast?) dergleichen hätte aufschreiben sollen, wäre eine interessante Frage, da so gut wie alles, was wir an Linear-B-Texten kennen, nur mit Wirtschaft und Abgaben zu tun hat und kein politisches Archiv bekannt wäre, in dem jemand Bündnisverpflichtungen hätte deponieren können. Es bleibt das schlichtere Bild einer griechischen Geographie, die Homer aus einem Repertoire mythologisch wichtiger Orte für eigene Zwecke zu einem Bravourstück der Vortragskunst zusammenstellte, um durch den Blick auf verwandte frühere Mythen das Gefühl der ‚Tiefe‘ in der Ilias zu steigern.
|106| Zentren der Macht Homers Agamemnon hätte sich angesichts des realen Königspalastes von Mykene, Pylos, Theben oder Orchomenos die Augen gerieben. Hier regierten wirkliche Könige, mit deren Macht in späteren Zeitaltern auch der Titel außer Kurs kam. Epos und späteres Drama streuen, wenn es um Herrscher geht, manchmal die Anrede ánax ein; dieser antiquierte Begriff (jeder moderne Mensch sagte basileus) fand sich als wánax auf den Linear-B-Täfelchen wieder. Für diese Mächtigen war ein
basileus
nur
ein
hoher
Untergebener
mit
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Verwaltungsaufgaben, und jeder wanax hatte etliche davon. Odysseus, Herr eines den Dark Ages entlehnten Haushalts, hätte sich durch ein Labyrinth von Beamten den Weg in den Thronsaal erfragen müssen. Nicht umsonst ist die ausgehende mykenische Kultur als „Palastzeit“ bekannt, und in den Palästen residierte eine Bürokratie, die viel von einem altorientalischen Staat hatte. Dort wurde penibel registriert, welche Abgaben das Zentrum und seine Außenstellen aus den Dutzenden beherrschter Siedlungen erhielten. Um einen hübschen Dreifuß hätte sich ein mykenischer wanax nicht die Mühe eines Wettkampfes gemacht, sondern einfach jemanden geschickt, etwas Passendes aus dem Lager zu holen, wo Dreifüße im Dutzend standen, nach Erhaltungszustand sortiert. Auch diese Zeit sah kleinere Plünderzüge und wohl auch Belagerungen von Städten, aber für Viehdiebstahl oder Piraterie hatte man ‚seine Leute‘. Die um den König versammelte hohe Aristokratie hieß vermutlich heqétai, „Gefolgsleute“ oder „Gefährten“; ihr ursprünglicher Charakter als Kriegerelite zeigte sich darin, dass sie Militärabteilungen kommandierten und über ein spezielles Streitwagenmodell aus Palastbeständen verfügten, beinahe einen ‚Dienstwagen‘. Neben den heqetai existierte eine Fülle weiterer |107| Funktionäre im Palast wie in den Außenstellen, etwa für die 16 Verwaltungsbezirke der beiden Provinzen von Pylos, zu denen gut unterhaltene Straßen samt Brücken die Verbindung herstellten. Neben diesen Verwaltern gab es noch einen lāwāgétās („Volksanführer“), in dem man einen Feldherrn vermutet hat; leider liegt die militärische Seite der Herrschaft praktisch im Dunkeln, ebenso die Frage, ob der
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König sich mit besonders vornehmen Personen beriet. Es wäre sehr kühn, aus Homers Ratsszenen eine mykenische Praxis abzuleiten. Im Palast selbst kam eine Fülle von Bediensteten hinzu, meist Frauen. Der König und die hohen Adligen, auch einige Handwerker besaßen Sklaven, einige davon durch Kauf; bei den großen Gruppen vor allem von Frauen, die (oft nach Herkunft geordnet) einer speziellen Tätigkeit zugewiesen waren, ist die Grenze zwischen Sklaverei und ‚freier‘ Untertänigkeit vage. Den Arbeitseinheiten der Mütter waren ihre Kinder zugeteilt, |108| bis sie in eigene Gruppen überstellt wurden. Je etwa 750 kasernierte Frauen und kleine Kinder sind für das Reich von Pylos bezeugt, dazu nicht ganz 400 ältere Jungen und Jugendliche. Dort gab es Gruppen von „Frauen aus Lemnos“, „aus Knidos“, „aus Milet“, „aus Asia“ (= Lykien?) und „aus Zephyros“ (= Halikarnassos?). Sie kamen kaum durch freiwillige Auswanderung ins ferne Messenien; man muss an Menschenraub aus anderen mykenischen Reichen, eher noch an Sklavenhandel über das mykenische Territorium in Kleinasien denken, dessen Hauptstadt Milet war. Solche Handelskontakte regelte der Palast zentral. Die Produktion lokaler Spezialgüter, die vermutlich Überschüsse ergaben – Bronzegegenstände und Flachs oder Leinen in Pylos, kretisches Öl und Gewürze rund um Knossos – war fest in der Hand der Bürokratie; auf private Händler oder Privatbesitz an Schiffen weist nichts hin. Die mykenische Keramik, die ihren Weg bis Italien und Ägypten fand, muss an Bord königlicher Fahrzeuge gereist sein; rund um den Nordrand
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der Ägäis kopierten lokale Töpfer sie fleißig. Umgekehrt erwarben die Palastherren neben Sklaven Rohstoffe (allen voran Kupfer aus Zypern) für Hausgebrauch und Exportproduktion und gaben im Tausch eigene Güter in Zahlung; noch zu Homers Zeit war der Sprung zur Geldwirtschaft weit entfernt. Die mykenische Palastgesellschaft mit ihren Ausläufern
|109| ins
Herrschaftsgebiet
präsentierte
sich
so
abgeschlossen wie vielschichtig. Die vielen Handwerker – Schmiede, Stellmacher (für Wagen und Räder), Bereiter von Duftstoffen oder „Näher“ – waren höchst spezialisiert, ebenso die Textilverarbeitung, wie es schon die nach sozialem Rang strikt unterschiedene Kleidung verlangte. Neben Spinnerinnen und Tuchweberinnen gab es Frauen, die allein die Zierborten für fertige Gewänder webten. Für zahlreiche Arbeitsgänge der Stoff- und Kleiderherstellung fehlt schlicht die Übersetzung. Zimmerleute haben eine Stückliste für das Dach einer Halle hinterlassen – ein Megaron, wie Homer es noch von den Adelssitzen seiner Zeit kannte, nur ungleich geräumiger. Reste kunstvoller Elfenbeinund Einlegearbeiten, vor allem von Möbeln, deuten auf ein fortgeschrittenes Kunsthandwerk hin. Exportartikel banden beachtliche Arbeitskräfte. Pylos fertigte (und inventarisierte) in großer Zahl bronzene Waffen, Werkzeuge, Kunst- und Gebrauchsgegenstände aller Art; Eisen war schon bekannt, aber schlecht zu verarbeiten und spröde. Vor dem Ende des Palastes, als Bronze so knapp war, dass man – in Erwartung eines Angriffs? – offenbar alte Weihgaben
aus
den
Heiligtümern
in
Speerspitzen
umgoss,
standen sage und schreibe 400 Schmiede bereit, fast ein Prozent der geschätzten Bevölkerung des Reiches. Gold war
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selten und wurde vor allem zu kostbarem Prunkgeschirr verarbeitet, von dem sich Einzelstücke |110| in Gräbern erhalten haben; die Grabmaske aus Mykene ist ein anderes Beispiel.
Land und Götter So groß die Vielfalt von Handwerk und Verwaltung war, die weitaus meisten Bewohner arbeiteten natürlich in der Landwirtschaft. Wir wissen wenig über die genaue Besitzstruktur – zwar gibt es reichlich Unterlagen mit einer sehr differenzierten Terminologie,
aber gerade
das versperrt
modernen
Mykenologen den Zugang: Fast das gesamte Spezialvokabular ging den nachmykenischen Griechen verloren und wurde später durch ganz andere Wörter ersetzt. Das Volk, dāmos (vermutlich die Gemeinde des jeweiligen Dorfes), besaß formal einen Großteil des Landes; daneben existierte privater Landbesitz, der offenbar zum Teil weiterverpachtet wurde, doch auch
Privatbesitzer
(durchweg
Männer)
bewirtschafteten
zusätzlich Gemeindeland. Für die einzelnen Götter verfügten deren Priester über vom dāmos überlassenes Land; auch Priesterinnen sind ausdrücklich bezeugt. Der König beschaffte sich seinen riesigen Nahrungs- und Rohstoffbedarf fast durchweg über Abgaben der Landbevölkerung; an das Palastpersonal vom Handwerker bis zum Bürokraten wurden dann Rationen ausgeteilt. Auf den Feldern wuchsen Weizen und Gerste, teils durchmischt mit Hainen von Olivenbäumen; Rationen für harte Arbeit enthielten auch Feigen. Wein war zumindest in Pylos ein seltenes Gut, während die Bevölkerung von Knossos
112/173
beträchtliche Mengen produzierte und wohl auch verbrauchte. Honig reservieren die erhaltenen Listen (außer als Weinzusatz)
weithin
den
Göttern.
Die
Viehzucht
lieferte
die
ponygroßen Zugpferde der Streitwagen, ebenso Ochsen für den Ackerbau. Aus Knossos sind fast 100 000 Schafe verzeichnet, die neben Ziegenhaar |111| und dem Flachsanbau die Hauptquelle für Textilfasern bildeten; zumindest Teile der Wolle, der daraus gefertigten Garne und Textilien gingen als Einkommen an Hofbeamte. Wenig bedeutend war die Schweinezucht,
die
in
Pylos
insbesondere
Opfertiere
hervorbrachte. Die Religion einer Kultur fast allein aus ihrer Wirtschaftsverwaltung zu beschreiben brächte selbst orthodoxe Marxisten zur Verzweiflung. Von den homerischen Göttern finden sich Zeus und Hera, Poseidon (sehr verehrt in Pylos als Poseidāōn, wie bei Homer), Hermes (Hermáhās, homerisch Hermeíās), Artemis, ziemlich sicher Athene, Apollon (unter dem Titel Paiēōn, wie bei Homer der Arzt der Götter heißt), Hephaistos und Ares. Aber das mykenische Pantheon enthält eine Fülle später vergessener Mitglieder: eine Göttin mit dem simplen Namen Pótnia („Herrin“) scheint die Erdgöttin gewesen zu sein, deren Zuständigkeit später Demeter vertrat – falls es nicht mehrere Potniai gab, abgesehen von der Verleihung dieses Titels an andere Göttinnen. Poseidon hatte ein weibliches Pendant Posidaeía, möglicherweise auch Zeus (eine Díwya, „Frau Zeus“?); ein völliges Rätsel ist die Göttin Ma-nasa, ein „Dreifacher Heros“ wurde verehrt und so weiter. In Knossos kam gleich ein ganzes Bündel mutmaßlich kretischer Gottheiten hinzu, die man weiter verehrte, schon um ihren
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Zorn zu vermeiden. Wie in späteren Zeiten konnten Götter in ihrer Spezialfunktion als Gottheit eines Ortes oder einer Landschaft angerufen werden oder zusätzliche Beinamen erhalten. Tempel gab es noch nicht, wohl aber Kultbezirke und Götterbilder aus Terrakotta, sicher auch aus Holz. Die ökonomische Last durch Opfergaben war ziemlich hoch; belegt sind kostbare Gefäße oder Vieh, Getreide, Salböl, Textilien, Honig und Wein. Mindestens in besonderen Fällen gab es auch Menschenopfer, männliche für Götter, weibliche für Göttinnen. Alte |112| Namensformen erscheinen erstaunlich wortgetreu bei Homer, aber es ist ausgeschlossen, dass damit auch die fünfhundert Jahre alte Auffassung jeder Einzelgottheit überdauerte. Schon durch die seit ca. 1200 ‚verlorenen‘ Götter änderte sich viel. Zum Ausgleich ist Dionysos, den man wegen seiner Randexistenz in Ilias und Odyssee gern zum Import aus dem Osten erklärte, mindestens dem Namen nach bereits belegt.
Krieg Ähnlich steht es mit anderen mykenischen Spuren bei Homer. Die Waffen der Vorzeit waren wirklich aus Bronze, der Streitwagen ein wichtiges Element der Kriegführung. Nur spricht gegen eine direkte Überlieferung über fünf Jahrhunderte hinweg nicht zuletzt, wie der Dichter – Kind einer Zeit, in der man sich zu Fuß oder als Reiter bekriegt – mit den Streitwagen auf dem Schlachtfeld verfährt: Sie liefern die Helden ab, damit sie in den Fußkampf ziehen können, und bleiben in Bereitschaft, sei es als Taxi oder Ambulanz. So ging es
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vielleicht im 10. oder 9. Jahrhundert zu, niemals aber in den Kriegen der späten Bronzezeit mit ihren Hunderten schneller Zweispänner, deren Insassen einander mit Pfeilsalven attackierten – Knossos unterhielt bis zu 200, doch waren (wie moderne Kampfflugzeuge) kaum je alle zusammen einsatzbereit. Auch die zugehörigen Bogenschützen sind in den Epen eine Einzelerscheinung. Sie stehen als ängstlich oder tückisch da (Paris und Pandaros) und verderben den Zweikampf. Bei Expeditionen übers Meer verloren sie an Wert, weil Feuchtigkeit den Bogen verzieht – wohl deshalb lässt Odysseus seine wundersame Waffe zu Hause. Eine auffällig richtige Angabe ist der Eberzahnhelm des Odysseus, zu dem sich ein genaues Pendant gefunden hat; möglich, dass der Zufall dem Unbekannten, der Homer in diesem Gesang kopierte, ein Weihgeschenk oder
|113| einen Grabfund vor Augen geführt hat, denn im 8. Jahrhundert gab es solche Stücke nicht mehr, die zur Standardausstattung reicher Krieger gehörten.
1
Mykenisch ist auch das schlanke Standardschiff aller homerischen Abenteuer, der „Fünfzigruderer“ – und zwar deshalb, weil es noch zu Homers Zeit überall war. Zu den vierzig bis fünfzig Sitzplätzen für die Mannschaft konnten wenige Passagiere kommen, auch etwas Proviant und Beute passten noch ins Schiff. Das reichte für Fahrten entlang der Küste, wo sich der flache Rumpf auf den nächstbesten Sandstrand ziehen ließ. Die Flotte von Pylos hatte wohl genug Ruderer für die Besatzung von 12–15 ständig unterhaltenen Kriegsschiffen; vielleicht konnte der König vorübergehend weitere aufbieten. Falls man aber in der gesamten mykenischen Kultur zwölfhundert Schiffe mit mindestens 50 000 Kriegern aufgetrieben
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hätte, wie der schon erwähnte Schiffskatalog der Ilias voraussetzt, hätten zehn Jahre Abwesenheit dieser Ressourcen sämtliche Königreiche in Stücke gehen lassen. Tatsächlich sahen sachkundige griechische Historiker genau hierin den Anfang vom Ende der Heroenzeit.
Nachbarn und Feinde In solchen Schiffen eroberten ‚die Mykener‘, wie immer der genaue Hergang war, in der späten Bronzezeit das einst überlegene |114| Kreta, ebenso Rhodos und Zypern. Die ältere Hochkultur war geschwächt durch Erdbeben auf Kreta; die verheerende Vulkanexplosion der minoischen Insel Thera (heute Santorin), bislang meist um 1500 v. Chr. datiert, wird durch die Jahresringe eines jüngst analysierten Holzstücks auf etwa 1627–1600 vorgerückt.
2
Damit entfällt ein Modell für
das Ende der minoischen Seeherrschaft – ein Tsunami (die Bilder der Katastrophe von Dezember 2004 sind uns noch in Erinnerung), der große Teile der Flotte in den kretischen Häfen zerstörte. Jedenfalls aber begann eine Ära von Piraterie und Kleinkriegen; um die mykenischen Herrensitze begannen Befestigungen zu entstehen, und ihre Herrscher hatten die Chance, im Handel die Rolle |115| der Minoer zu übernehmen – was offenbar weithin geschah. Mitte des 15. Jahrhunderts wagten Festlandsbewohner den Angriff auf Kreta selbst; die minoischen Paläste gingen in Flammen auf, Knossos zunächst ausgenommen, wo sich offenbar ein mykenischer Landesherr einrichtete. Kretische Handwerker waren unter den wertvollsten Beutestücken.
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Die neue Bewegungsfreiheit in der Ägäis führte mindestens ein mykenisches Königreich so weit, dass es sich vermutlich ein kleines, aber überaus bedeutsames Stück Kleinasiens einverleibte – und damit in die dortigen Rivalitäten und in Kontakt zu einer Großmacht geriet, die zu unserem Glück nicht nur Wirtschaftstexte hinterlassen hat. Seit etwa 1600 war das Großreich der Hethiter fest um seine Hauptstadt Hattusa (heute Bo˘ghazköy) im mittleren Kleinasien formiert, wurde allerdings immer wieder von Unruhen und Thronstreitigkeiten gelähmt. Nach einer solchen Periode stießen Tudhalija
I.
(ca.
1420–1400)
und
Arnuwanda
I.
(ca.
1400–1375) ins westliche Kleinasien vor, wo ein lästiger Nachbar oder Beinahe-Nachbar namens Ahhija, später Ahhijawa mit einer Ansiedlung namens Millawanda präsent war und die Vasallenstaaten des „Reiches Hatti“ mit Überfällen plagte. Einer seiner Vertreter namens Attarrissija (= „Atreus“, wie Agamemnons Vater?) überfiel zusammen mit dem Hauptgegner Hattis im Westen, dem Reich Arzawa, sogar Zypern. Jahrzehnte später suchte König Mursili II., der in einer Krisenzeit auf den Thron kam, Ahhijawas schädliche Wirkung auf seine Vasallen im Westen durch einen Angriff einzudämmen; nach diesem Befreiungsschlag gelang ihm die Unterwerfung des lästigen Arzawa, dessen König „übers Meer zu den Inseln“ von Ahhijawa floh. Mursilis Nachfolger Muwatalli II. (ca. 1290–1272) entfaltete seine Macht nach Süden hin und lieferte sich mit Ägyptens jungem Pharao Ramses II. harte
|116| Kämpfe um die Vormacht in Syrien; man hielt inzwischen notgedrungen auf gute Beziehungen zu Ahhijawa, was kleine Bosheiten nicht ausschloss. Noch unter Muwatalli
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erschien an der Westküste Kleinasiens ein Prätendent aus dem entthronten Königshaus von Arzawa, Pijamaradu, und attackierte von Millawanda aus jahrzehntelang die hethitischen Vasallenstaaten am Meer. Muwatallis Nachfolger Hattusili II. (ca. 1265–1240) schrieb höflichst an den König von Ahhijawa, dessen Bruder Tawagalawa (= „Eteokles“?) das Hethiterreich anscheinend besucht hatte, er möge Pijamaradu doch zu Verhandlungen zwingen; man sei ja nicht verfeindet wie früher. Bald darauf waren solche Bitten aber nicht mehr nötig. Das Gebiet von Millawanda fiel anscheinend an die Hethiter, die endlich Frieden mit Ägypten hatten, und ein letzter Umsturzversuch der Dynastie von Arzawa schlug nach 1240 fehl. Hattusa versuchte den Handel von Ahhijawa mit dem verfeindeten Assyrien durch den heutigen Libanon zu unterbinden; weitere Nachrichten fehlen, bis gegen 1200 das Hethiterreich selbst zusammenbrach. Die Ähnlichkeit des „Reichs Ahhijawa“ zum homerischen Achaíoi als Bezeichnung der Griechen vor Troia ist seit langem gesehen worden; hethitische Architektur wäre ein plausibles Vorbild für Festungsmauern wie in Mykene, und auch im Reich Hatti gab es Wettkämpfe, wie sie für die griechische Kultur so wichtig wurden. Wer Ahhijawa für ein mykenisches Teilreich hält, hat die Wahl zwischen dem griechischen Festland – früher vorzugsweise Mykene, jetzt mitunter Theben – und einem Machtzentrum in größerer Nähe, auf Kreta, Rhodos (wo kein Palast bekannt ist) oder gar an der kleinasiatischen Küste selbst. Viele setzen die (Haupt-?)Stadt Millawanda mit Milet gleich, wo man seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mykenische Präsenz nachweisen kann, doch besonders
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unter Hethitologen wird verneint, dass Ahhijawa auf dem Festland je mehr als |117| ein kleines Territorium von Milet bis zum späteren Halikarnassos besessen habe, dazu die vorgelagerten Inseln von Samos bis Rhodos – die Hauptmacht von Ahhijawa liege also woanders.
Das Ende Von Milet ist der Weg nach Troia nicht so weit wie etwa von Mykene, und ein oder mehrere ‚echte‘ Troianische Kriege hätten sich gegen eine kleinasiatische Stadt an den Grenzen des hethitischen
Einflussbereichs
mykenischen Paläste,
richten
können.
Doch
alle
die es zur willkürlich vermuteten
Kriegszeit (1184) noch gab, hatten ganz andere Sorgen. Die Chronologie, gestützt auf Keramiktypen – in deren Kategorien die mykenische Geschichtsepoche sich als „späthelladische“ Epoche darstellt – |118| datiert einen Stilwechsel (vom Subtyp Späthelladisch III B zu III C) dank Funden im östlichen Mittelmeer zwischen 1190 und 1180. Wo die III C-Keramik auftauchte, gab es noch reichlich Elemente der mykenischen Kultur, aber keine Paläste mehr. Längst vorher hatten im Westen Unruhen begonnen. Etwa ab den 1220er Jahren kam es in Mittel- und Südgriechenland wie auf einigen Ägäisinseln zu Zerstörungen und zur Aufgabe von Siedlungen; besonders in Mykene und Tíryns reagierte man mit massiven Befestigungen, deren Ergebnis diese Orte heute zur Touristenattraktion macht. Pylos, das mit Bronzeknappheit zu kämpfen hatte, richtete kurz vor seinem Fall eine lückenlose Bewachung seiner langen Küsten ein; von dort also erwartete zumindest dieser
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Palast Gefahr. Stellenweise (wie in Argos) verwüsteten Erdbeben die Ortschaften. Wie genau es zum Untergang kam, wird noch manchen Kongress (und viele Hobbyhistoriker) ins Brot setzen. Umstritten sind die Feinde, auf deren Bedrohung dies zurückging – vielleicht Nachbarn, vielleicht auswärtige Eindringlinge wie die oft verantwortlich gemachten „Seevölker“, die später eine Gefahr für die Küsten und das syrische Einflussgebiet Ägyptens wurden. Die Zerstörung von zwei Siedlungsschichten Troias fällt in die gleichen Jahrzehnte wie jene der mykenischen Paläste, zahlreicher Städte auf Zypern und in Syrien. 1208, dann 1182 bis 1176 kam es zu Versuchen einer Allianz libyscher Stämme mit Angreifern (Söldnern?) aus Palästina und so entlegenen Regionen wie Sizilien, Sardinien und Italien, im Nildelta Fuß zu fassen. Ob aber die Hethiter, Ägypten oder sogar Knossos dem oder den gleichen Feinden erlagen wie etwa Mykene oder Pylos, ist ein Rätsel. Die Paläste wurden anscheinend
mit
wenig
Gegenwehr
erobert,
methodisch
geplündert und dann ebenso gründlich niedergebrannt; von Eroberungen auf Dauer aber gibt es keine Spur.
3
|119| So wurden die mykenischen Reiche nach und nach ‚geköpft‘; in jedem Fall war dies ein unumkehrbarer Schritt, der den langsamen Zerfall der restlichen Gesellschaft einleitete. Wie die Paläste verschwanden zahlreiche Siedlungen, teils ohne Anzeichen einer Zerstörung. Besonders hart traf der Bevölkerungsschwund Teile der Peloponnes und das bislang mächtige Böotien, aber auch Thessalien im Norden. Manche Gegenden wie Attika wurden im Gegensatz dazu anscheinend Einwanderungsziele, während sich auf Kreta oder in Argos die
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Bevölkerung der nachmykenischen Periode in sichere Siedlungen auf steilen Anhöhen zurückzog. Vorübergehend normalisierte sich das Leben in den verbleibenden Siedlungen etwas, bevor eine neue Welle katastrophaler Ereignisse nicht nur das Festland, sondern auch die Ägäis erfasste und einen Strom von Zuwanderern nach Zypern trieb. Dort hielt sich ein Nachklang der alten Zeiten noch jahrhundertelang, und sogar Reste der Silbenschrift überlebten. Dieses neue Unglück des 11. Jahrhunderts traf eine, wie wir sagen, „submykenische“ Kultur, die sich bereits auf eine weitgehend lokale Existenz zurückgeworfen sah und weniger denn je die Möglichkeiten, geschweige denn die Ruhe hatte, sich mit der genauen Chronologie der Ereignisse zu beschäftigen. Was im Gedächtnis haften blieb, war der Eindruck dramatischer, schicksalhafter Umwälzungen, des Untergangs von Städten und Dynastien. Man merkte, dass eine andere, entbehrungsreiche Zeit gekommen war, und konnte banalen Dingen wie Hunger oder Feinheiten wie der früheren Bürokratie der Paläste nicht gut die Schuld daran geben. Die mykenische Gesellschaft ging nicht dramatisch unter, sie löste sich in einem Wechsel schneller und langsamer Veränderungen auf. Die Realität war nicht annähernd so eindrucksvoll gewesen wie die Form, die sie allmählich in der Erinnerung an verlorenen Glanz |120| annahm. Größe spiegelte sich in übergroßen Gestalten, gesteigerten Formen der eigenen, abenteuer- und prestigedurstigen Lokalherren. So entstanden Diomedes von Argos, Agamemnon von Mykene oder der Inbegriff des Heros, Achill von Thessalien. Fünfzehn Generationen etwa waren es von 1200 bis zu Homer,
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und auf diesem Weg durch die Zeit war Platz für den Eintritt vieler neuer Dinge, von denen man ‚schon immer‘ erzählt hatte. Wie mit dem Vergessen von Linear B die Stelle für eine Schriftkultur frei wurde, in der nicht nur Experten schrieben, so erlaubte der Bruch mit der mykenischen Geschichte – die ohnehin keinen Sinn für schriftliche Denkmäler ihrer selbst besaß – das Finden und Erfinden der ‚wahren‘ Vergangenheit der Griechen. Und so entstand zuletzt auch das Troia Homers.
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Der göttliche Held Alexandros |121|
Fünfzehn Generationen trennen das Ende der mykenischen Zeit und Homer. Soll sich denn wirklich gar nichts Genaues über diese Zeit hinweg erhalten haben? Es ist zu frustrierend, dass Homer (außer in winzigen Zufallsresten) alles übergehen soll, was einmal war, und so erstaunt es nicht, dass in beiden großen Epen beharrlich nach mehr gesucht wird. Die Zeiten, da beiläufig erwähnte Troiakämpfer
zu
Gründungsheroen irgendwelcher Koloniestädte aufstiegen, die sich ihrer Geschichtslosigkeit schämten, sind vorbei. Anders steht es um Troia selbst. Schon die klassischen Griechen frustrierte Homers Schweigen über die Mächte des Orients, die sie selbst kannten, ein ärgerlicher Fehler in einer nicht grundsätzlich bezweifelten Geschichte; man half sich mit Hypothesen und betrachtete, was man hineinlas, als Allgemeinwissen homerischer Zeit. Für die Neuzeit war die Historizität der Ilias ebenfalls keine Frage: Es handelte sich um eine fast vollständig
erfundene
geschmückten
Sage,
Schauplätzen
die
an
spielte.
phantasievoll Schliemann
aushatte
umgekehrt noch weniger Zweifel: Troia war echt, der Krieg war echt, und er würde das alles beweisen. Heute ist alles komplizierter. Der ‚Mythos Troia‘ weckt in immer neuer Verpackung größte Neugier auf ‚die Wahrheit‘ über ihn, und die
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Altertumswissenschaften sind quer durch ihre Disziplinen gespalten, wenn es ums Antworten geht.
|122|
[…] wie damals die Bewohner rings um Ilion im Vertrauen
auf die unter Ninos entstandene Macht der Assyrer kecken Mutes den Krieg gegen Troia herbeigeführt hatten […] [Troia] bildete nämlich einen Teil ihres Reiches. PLATON, Nomoi (3,) 685 c–d, übs. H. Müller/K. Schöpsdau
Grob gesprochen lockt die ‚Rettung‘ von Homers Troia desto mehr, je näher der oder die Gelehrte am ergrabenen Troia sitzt, und wer gar dort gräbt, kann sich davon erst recht selten zurückreißen. Die Wissenschaftsgeschichte hat sich wiederholt. Wie vormals der geniale Selbstvermarkter Schliemann griechischer Staatsbürger wurde, so der medienerfahrene Teamleiter der jüngsten Troia-Grabung, Manfred Korfmann, türkischer; wieder galt Skepsis als Beleidigung des Nationalstolzes. Die Hochkulturen Anatoliens werden zur Wiege Europas erklärt – nebst Forderungen an das Europa der Gegenwart. Und innerhalb der Wissenschaft lässt sich so wunderbar (oder fürchterlich) um Troia streiten wie je zuvor. Die Antike – oder das politisch Nutzbare an ihr – ist um Troia noch viel lebendiger, als das seit dem Abschied von der fatalen deutschen Liebe zur „Hermannsschlacht“ so leicht verständlich ist. Wir empfinden das Griechisch-Römische im Zweifelsfall als etwas Museales, zumindest als einen Teil unserer Kultur, über den man nicht in Wut geraten kann (außer natürlich in Fachkreisen). Eine Ausgrabung makedonischer Königsgräber oder eben Troias kann sich leichter in eine
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Operation am offenen Herzen verwandeln, weil, was sie erforscht, nicht abgeschlossen scheint. Ihre Funde sind objektiv; wenn aber die Interpretation eines ergrabenen Bodenbefundes mit
der
Interpretation
einer
mündlichen
Kunsttradition
verknüpft wird, die unter starken Veränderungen in Schrift umgeformt wurde, ist es mit der Objektivität gleich zweimal vorbei. Wir |123| vergleichen Äpfel mit Birnen, weil wir müssen; die Hoffnung, dass es ‚wirklich so war‘, ist dabei ein gefährlicher Begleiter.
Aber dass man alles frei erfindet, ist nicht glaubhaft und sieht auch Homer nicht ähnlich; jeder ist nämlich der Meinung, dass dessen Dichtung ein philosophisches Werk ist, anders als Eratosthenes sagt, der uns verbietet, die Gedichte auf ihr Denken hin zu untersuchen oder Geschichte von ihnen zu erwarten. STRABON, Geographika 1,2,17 p. 25
Blicken wir auf ein besonders interessantes Beispiel, auf Paris, den Räuber Helenas, der in der Mythologie das Privileg hat, den Größten der Gegenseite, Achill, durch seinen tödlichen Pfeilschuss in die Ferse zu besiegen. Man liest Homer und fragt sich, wie der Mann es geschafft hat, so lange zu überleben. Gleich der erste Auftritt, der ein Ende des Krieges verspricht – Paris im Zweikampf mit dem beleidigten Menelaos –, endet mit dem Verschwinden des Troers, den sein eigener Bruder Hektor liebend empfängt: „Unglücks-Paris (Dýsparis)! an Aussehen Bester! du weibertoller Verführer!“ Der troische Herold
Idaíos
verrät
den
Achaiern
undiplomatisch,
die
Stadtbewohner wollten Helena und Paris mit Vergnügen
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ausliefern; Anlass für Idaios, Paris laut und herzlich den Tod auf den Hals zu wünschen. Hektor persönlich wünscht (gegenüber ihrer beider Mutter!) dasselbe, treibt den Bruder, der angeblich aus „Gram“ daheim hockt, ins Gefecht und braucht dazu ausgerechnet Helenas Hilfe. Was ist nur das Besondere an Homers Paris? Es ist das Geschenk der Aphrodite, „die ihm die leidige Wollust brachte“ – und wie alle Göttergeschenke ist es zweischneidig. Die Göttin hat ihm für den goldenen Zankapfel die schönste Frau der Welt versprochen und tut alles, sie ihm zu erhalten, eine ekelhafte |124| Szene eingeschlossen, in der Aphrodite die aufbegehrende Helena unter Drohungen in Paris’ Schlafzimmer nötigt. Hier verhindert die eigentliche Göttergabe, dass eine halbe Vergewaltigung daraus wird: Paris’ Sex-Appeal, wie wir sagen dürfen. Derselbe Mann, den Helena in hilfloser Wut anfaucht, verführt sie durch wenige unoriginelle Worte. Er scheint das nicht ganz freiwillig zu tun. Wir hören, er sei das Opfer von „Verblendung (átē)“, die ihn hindert, Helena loszulassen und sein Leben zu retten, und wir sehen, wie Aphrodite ihn gegen seinen Willen aus dem Kampf schleppt. „Wirf mir nicht vor die reizenden Gaben der goldenen Aphrodite!“, bittet er halb geehrt, halb gequält den größeren Bruder – es ist sein Schicksal, stolz und ein wenig eitel auszuziehen, doch immer wieder zu fehlen, sobald Hektor nach ihm Ausschau hält. Ist er wirklich nur ein mutloser Trieb- und Übeltäter?
Paris – der Brandstifter
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Beim Hüten seiner Herde nahe Troia wird Paris (mit kurzem a), der hübscheste Sohn des Priamos, unversehens zum Schiedsrichter, ob Athene, Hera oder Aphrodite die Schönste sei; er wählt die Liebesgöttin, weil sie ihm die schönste Frau der Welt verspricht. Paris entdeckt sie in Helena und entführt diese unter Bruch von Ehe und Gastrecht aus Sparta, womit er den zehnjährigen Krieg über Troia bringt. Trotz eher unrühmlicher Auftritte bei Homer tötet Paris (mit Apollons Hilfe) Achill, bevor der Meisterschütze selbst durch einen Pfeil des Philoktet, abgeschossen vom Bogen des Herakles, umkommt.
Zumindest ist er es nicht immer gewesen. Homers Paris ist gewissermaßen
eine
gebrochene
Persönlichkeit.
Sein
‚schmückendes Beiwort‘ lautet in Voß’ Übersetzung „der göttliche Held Alexandros“: „Da wollte bei den Troern Vorkämpfer sein |125| Alexandros, der Gottgleiche.“ Dieser vermeintliche Jammerlappen heißt sogar im Mund des Menelaos so, der ihn inbrünstig hasst, und als er sich zum Zweikampf bereit macht, spendiert Homer ihm in einem bemerkenswerten Charakterbruch eine klassische Rüstungsszene, die kein böses Wort enthält. Aléxandros selbst, „der Männerabwehrende“, ist auch kein ironietauglicher Name. Zusammen mit dem nie veränderten Umstand, dass er später Achill tötet, legt das den Eindruck nahe, dass Alexandros (Paris) vormals eine ganz andere Rolle zu spielen hatte, wohl die des Hauptverteidigers von Troia, dessen Ende den nahen Fall der Stadt bedeutet. Hektor, der große Bruder, |126| der nur ans Wohl der Stadt denkt, ist in Homers Schilderung ein Anachronismus, fast ein Polisbürger des späten 8. Jahrhunderts; viele bezweifeln, dass es vor Homer die Rolle des Hektor gab – Troia überlebt Hektors Tod um einige Zeit, den des Paris aber nicht lange.
1
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Satellitenstaat Troia? Der Alexandros des Mythos hat also eine längere Geschichte hinter sich. Nach Ansicht optimistischer Forscher hat diese Geschichte ein historisches Vorbild. Erneut fällt den Hethitern, denen wir schon begegnet sind, eine Schlüsselrolle zu. Um das Jahr 1280 etwa schließt Großkönig Muwatalli II. einen Vertrag mit dem Herrscher von Wilusa, Alaksandu, der die alte beiderseitige Freundschaft betont und Alaksandu (der schon vor 1290 regierte) der Sache nach zum hethitischen Vasallen mit Heerfolgepflicht, aber innerer Autonomie macht. Kurz war der Weg, in „Wilusa“ das homerische „Ilios“ wiederzufinden, und groß die Versuchung, hinter Alaksandu einen, wenn nicht gar den Alexandros zu sehen. Troia – das homerische wie das archäologische – wurde zum langjährigen Außenposten des Hethiterreiches erklärt, in welcher Eigenschaft eine mykenische Allianz es angegriffen habe, weil man sich um wichtige Handelsrouten stritt. Eine stolze Hypothese, aber hypothetisch ist sie doch. Der Vertrag Muwatallis mit Alaksandu ist ein diplomatisches Meisterstück und verlangt als solches gelesen zu werden. Hethitische Texte berufen sich regelmäßig auf Vorbilder in der Vergangenheit; dieser gerät dabei in einige Bedrängnis. „Früher einmal hatte der Labarna, mein Vorfahr, das ganze Land Arzawa“, die Vormacht in Westkleinasien, „und das ganze Land Wilusa unterworfen“ – das ist als Datumsangabe interpretiert worden, wonach die Beziehungen beider Seiten bis mindestens |127| 1600 (als der Königstitel „Labarna“ außer Kurs kam) zurückreichten.
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Tatsächlich ist es aber die simple Formulierung eines Machtanspruchs: Wilusa war ‚schon immer‘ hethitisch, also ist es nur richtig, dass es das ‚wieder‘ wird (wie Arzawa vor ihm). Über wirkliche Dokumente verfügt Muwatalli nicht, sonst würde er sie vermutlich liebend gern zitieren. „Später führte deshalb das Land Arzawa Krieg“ gegen die Hethiter, doch Wilusa habe stets Freundschaft gehalten, unter seinem König Kukkunni etwa, und Gesandte geschickt – „(selbst) wenn das Land Wilusa vom Land Hattusa abgefallen ist“. Will sagen, von einem Untertanenverhältnis war bisher keine Rede; darum der konstruierte Abfall aus der konstruierten Unterwerfung. Aber immerhin habe man anders als Arzawa, das zu Felde zog und die gerechte Strafe erhielt, in exzellenten Beziehungen gelebt; darum auch die schonende Art der Einverleibung. So habe König Tuthalija I. zwar Arzawa angegriffen. „Ins Land Wilusa zog er aber nicht hinein, [denn es war mit ihm] befreundet [und] schickte [ihm] regelmäßig Gesandte.“ Muwatalli hat das Pech, dass unter unseren Fragmenten der hethitischen Archive ein Stück ist, das seine Beteuerungen widerlegt, es habe mit Wilusa immer Einvernehmen geherrscht. Tuthalija I. selbst führt in seinem Tatenbericht unter den Staaten, die ihm wie Arzawa den Krieg erklärt hatten, auch „das Land Wilusija, das Land Taruisa“ auf und betont, in sämtliche Angreiferstaaten eingefallen zu sein und ihre (sämtlichen?) Einwohner deportiert zu haben. Ein namentlich erwähnter Gegner „Kukkulli“ erinnert, zufällig oder nicht, an den Kukkunni von Wilusa, den Muwatalli nennt. Er und seine Umgebung kannten den Tatenbericht des Vorgängers selbstredend; die diplomatische Lüge ist unhaltbar.
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Joachim Latacz machte Alaksandu so phantasievoll wie
|128| konsequent
zu
einem
gebürtigen
Achaier,
zum
Nebensohn des vorangehenden Herrschers (für ihn Kukkunni) von einer griechischen Mutter; es gäbe also diesen Herrschernamen in Troia – warum nicht auch den ganzen Krieg. Nun ist Alexandros gut griechisch; zwar könnte es ein griechisch gedeuteter Name aus einer anderen Sprache sein, aber Vorschläge sind Mangelware. Obendrein ist die weibliche Variante Alexandra sogar aus Linear B belegt. Für die Identität(en) des Paris alias Alexandros (alias Alaksandu?) ergeben sich damit aber noch ganz andere, entsetzliche Möglichkeiten. Denkbar wäre etwa die Spekulation, dass zur fraglichen Zeit in Wilusa eine griechische Dynastie regierte. Die Bosheit der Überlieferung will es, dass wir von einem Grab des Hektor wissen, das in Theben gezeigt wurde. Wilusa suchen die meisten Hethitologen im Nordwesten Kleinasiens (darum die bereitwillige Identifikation mit Troia); mit hypothetischen griechischen Herrschern wäre es im Südwesten vielleicht doch besser aufgehoben.
In Theben befindet sich auch das Grab Hektors, des Sohnes von Priamos […] man sagt, seine Gebeine seien wegen folgendem Orakel aus Ilion gebracht worden […] PAUSANIAS, Beschreibung Griechenlands 9,18,5
Alaksandu könnte mitten aus einer Dynastie kommen, ihr erster oder letzter Vertreter sein oder auch einen völligen Einzelfall auf dem Thron von Wilusa darstellen; der nächste bekannte Herrscher heißt Walmu und begegnet uns zwischen
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1240 und 1215 im Exil. Alaksandu könnte seinen Vorgänger beerbt oder gestürzt haben, im Handstreich oder nach einem ausgewachsenen Angriff, mit mykenischer Hilfe (welches Königreiches?) oder ohne sie, mit hethitischer Duldung oder zum Ärger des Großkönigs – und das ist nur ein Teil der möglichen Deutungen.
2
Falls ein Mykener in Wilusa regierte, stehen die Chancen
|129| miserabel, dass die Realität auch nur annähernd der Ilias entsprach. Wilusa (ob Troia oder nicht) konnte auch unter einem Mykener natürlich immer noch auf hethitischer Seite stehen, wenn es zu einem Krieg kam. Selbst wenn es also eine Brücke von Alaksandu zu Homers Alexandros gäbe, hätte er gleich zwei unnatürliche Wandlungen vor sich gehabt: zum Vorkämpfer einer fremden, der Eroberung bestimmten Sphäre und dann zum weichlichen, enttäuschenden Orientalen. Viel wahrscheinlicher ist, dass beide nichts miteinander zu tun hatten. In Pylos gab es einen Hektor und einen Achill, sogar einen Tros – der Name des Mannes, der angeblich Troia gegründet hat; beide Seiten des Troianischen Krieges wurden mit griechischen Namen versorgt, wenn man Personen brauchte. Homer, für den es weder Hethiter noch troiazeitliche Griechen in Kleinasien gab, ist bei der Suche nach Historizität keine Hilfe.
Kernbohrungen Doch das liegt an uns, nicht so sehr am Dichter. Wir alle wüssten liebend gern, ob es den oft beschworenen „historischen Kern“ des Troianischen Krieges gab, und viele von uns wünschen es sich sehr – wonach suchen wir aber und was ist
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am Troia-Mythos (speziell an der Ilias) nach diesem Modell wohl die „Schale“? Der Versuch müsste unternommen werden, die Entwicklung bis zum Anfang des Mythos zurückzudrehen und anschließend den großen Sprung zurück zur (vermuteten) ‚historischen‘ Tradition zu schaffen. Unhistorisch sind („natürlich“) sicher die Götter und ihr Wirken, also streichen wir sie, wie es Wolfgang Petersens Film Troja von 2004 vorgemacht hat; alle Wunder und Wunderwaffen müssen auch gehen (kein hölzernes Pferd, kein Bogen des Herakles). Dann zum Beispiel die Abwertung des Paris – und
|130| schon gehen die Zweifel los. War Hektor (mit seinem gut mykenischen Namen) irgendwie ‚Originalbestandteil‘ des Mythos, und war er vorher ‚historisch‘? Ist der Frauenraub nur ein Standardmotiv oder ‚realpolitisch‘ genug, um echt zu sein? Zehn Jahre Belagerung sind zu viel, aber wie lange dürfte sie sein und welche Zwischenfälle gab es? Der alte König Priamos hatte fünfzig Söhne und zwölf Töchter, was natürlich märchenhaft runde Zahlen sind; wie viele hatte er wohl, wenn es ihn gab? Die Griechen hatten niemals 1200 Schiffe; hatten sie also 600, 120 oder zwölf? Es ist einem nicht wohl bei solcher ‚Mythenkritik‘, denn sie poliert den Mythos sozusagen mit Stahlwolle. Bei Homer stehen absolut logische Handlungen in einem sachlich absurden Zusammenhang. Die Griechen ziehen Wälle um ihr Schiffslager, eine kluge Sache – dass ihnen das erst nach neun Jahren einfällt, macht sie zu Idioten. Ergibt das einen Sinn? Als poetischer Kunstgriff schon: Die starken Helden von damals könnten so etwas geschafft haben (über Nacht sogar), und die Spannung steigt, weil die Mauer ‚gerade noch rechtzeitig‘
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steht, bevor die Troer angreifen – genau wie ein Speer immer in der letzten Schicht des Schildes stecken bleibt oder die Nymphe
Kalypso
praktischerweise
einen
ganzen
Werkzeugkasten in der Höhle hat, als Odysseus sein Floß bauen will. Das heißt nicht, dass alles an Homer Phantasie wäre – es heißt
aber,
dass
alle
Details
einer
‚funktionierenden‘
Erzählung untergeordnet sind. Das Teuflische ist, dass Homer für uns auch eine mögliche historische Quelle darstellt, ohne aber als Quelle geschrieben zu sein. Er hat seine Auswahl aus der Tradition so wenig mit den Augen eines Antiquars getroffen wie irgendeiner seiner Vorgänger, und keine Rechenformel bestimmt das Muster der Verformungen, die ein mutmaßliches Vorbild durchlaufen hat. Wenige Wissensbereiche in
der
Ilias
sind
so
|131| ‚realitätshaltig‘
wie
ihre
Ortsangaben; den Berg voll Ruinen, den wir Troia nennen, hielt auch Homer dafür. Viele Details erscheinen als Abbild der riesigen Mauern von Troias sechster Hauptperiode – das „Skaiische Tor“ zur Ebene hin, der große Turm. Aber „skaiisch“ selbst ist ein thrakisches Wort, und zur Zeit von Troia VI (bis 1300? 1200?) gab es dort keine Thraker. Landmarken verraten uns Lesern, wo wir zwischen Troia und dem Lager der Griechen gerade sind: erst kommt die Eiche am Tor, dann der Feigenbaum. Wuchsen die zwei Bäume im ‚echten‘ Kriegs-Troia, zu Homers Zeit oder nur in der Sage? „Ilios, die winddurchwehte“, „die breitstraßige“ brauchte keine physischen Vorbilder; der Hügel Kallikolōnē („schöner Hügel“) am Fluss Simóeis hatte mit Sicherheit eines, nur stammte sein Name gewiss von späteren griechischen Siedlern und kaum
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von den versunkenen Heroen. So sehr die Ilias in der solidesten Geographie verankert ist, so bewusst Homer sie an diesen ganz speziellen Schauplatz band – was an Landschaft erscheint, ist Landschaft zu Dichterzwecken.
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Vielleicht sähen wir besser durch diesen Nebel, wenn wir kurz definieren, was aus optimistischer Sicht der „historische Kern“ sein könnte. Dass irgendwer irgendwann einen oder mehrere Angriffe unternommen hat, ist sicher zu wenig. Verlangt wird „ein einmaliger Militärschlag der Achaier“; ein Mindestmaß an Ähnlichkeit mit Homer hätte der Krieg, wenn eine Allianz griechischer Herrscher unter Führung des Königs von Mykene die Stadt, die wir Troia nennen, eingenommen hätte. Jedes ‚epische‘ Gemetzel mit Armeen von 50 000 Mann allein auf troianischer Seite ist ausgeschlossen. ‚Unser‘ Troia ist oft genug zerstört worden, um problemlos zur Basis der Geschichte einer bestimmten Zerstörung zu werden; nur ist die Annahme, dass es für die Sage wenig ausmachte, ob in der interessanten Zeit nun Erdbeben, eine Brandkatastrophe oder die Mykener |132| gewütet hatten, viel leichter als der Nachweis einer Eroberung, geschweige denn durch mykenische Griechen. Das beginnt bei deren Namen. Gerade wer die Angreifer „Achaier“ nennt und auf das den Hethitern so lästige Ahhijawa verweist, muss an einer Serie von Quellen vorbei, die eine spannungsreiche, aber halbwegs friedliche Beziehung dieses Territoriums zur hethitischen Welt schildern und über eine Attacke auf Troia (oder selbst Wilusa) kein Wort verlieren. Nur ein kleines Fensterchen kurz vor 1200 bleibt offen – eine Zeit, in der die mykenischen Reiche selbst in Not waren. Ob für die
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Hethiter alle Mykener ‚Ahhijawa‘ hießen, wäre die nächste Frage; für Ägypten ist vermutet worden, dass „die Griechen“, zumindest die der Peloponnes, als Danaja bekannt waren (auch Homer hat Dánaoi, und das sprichwörtliche „Danaergeschenk“ war das Troianische Pferd), aber ob sich irgendwelche Mykener wirklich selbst so nannten und wie umfassend solche Bezeichnungen waren, ist schwer zu bestimmen.
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Eine Geschichte zweier Städte Der Gipfel des Durcheinanders homerischer und ähnlich klingender Namen betrifft Troia und die Troianer selbst. Die hethitischen Quellen liefern uns ein „Land Wilusija/Wilusa“ und ein später nicht mehr erwähntes „Land T(a)ruisa“ im Westen Kleinasiens. Man hat daraus gleichnamige Hauptstädte für beide abgeleitet: Wilusa sei „Ilios“, unser heutiges Troia; „T(a)ruisa“ führe auf die Wortform „Troia“. Falls beide Länder in den Nordwesten gehören (was teils bestritten wird), kennen wir maximal eine dieser Städte und die vermisste müsste irgendwo anders in der Troas liegen; nach 1420 hatte T(a)ruisa politisch anscheinend ausgespielt, könnte aber durchaus weiter bestanden haben, bis ans Ende der Bronzezeit und darüber hinaus. Wenn |133| das so ist: Welche Stadt war es, die von den Mykenern angegriffen wurde, und war sie ‚unser‘ Troia? Wir können es schlicht nicht sagen. Niemand weiß, ob der Troia-Name später zur Stadt mit dem Ilios-Namen wanderte oder umgekehrt. In klassischer Zeit nannte sich ‚unsere‘ Stadt Ilion, aber wir wissen nicht, seit wann (oder wie die Mykener sie nannten). Auf den bekannten Linear-B-Täfelchen fehlt jede
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Orts- oder Herkunftsbezeichnung, die von Wilios abgeleitet sein könnte, dagegen gibt es mindestens vier mögliche Fälle für Troia aus Knossos, Pylos und Theben. Für weiteres Durcheinander sorgen die Ägypter. Unter den Gegnern Ramses’ II. in der Schlacht von Qadeˇs 1274 gegen die Hethiter (als Alaksandu von Wilusa schon hethitischer Verbündeter war, ausdrücklich auch gegen Ägypten) zählt der Pharao „Dardanja“ als eine Gegend oder deren Einwohner in Kleinasien auf, vielleicht im Nordwesten. Ausgerechnet Homer nennt Dárdanos als Ahnherrn der troianischen Herrscher und eine Stadt Dardániē als Vorläuferin Troias.
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Denn vor dem Troischen Krieg scheint Hellas gemeinsam nichts unternommen zu haben; mir scheint sogar, es trug als Ganzes genommen noch überhaupt nicht diesen Namen […] Am besten bezeugt das Homer. Denn er lebte ja noch viel später als der Troische Krieg und nannte die Gesammelten dennoch nirgendwo so, auch keine anderen als die Gefolgsleute des Achill aus der Phthiotis, die ja auch die ersten Hellenen waren, sondern er nennt Danaer in den Epen und Argeier und Achaier. Und auch die Barbaren grenzt er schließlich nicht so ab […] THUKYDIDES, Historien 1,3,1–3 (ca. 424–400 v. Chr.)
Aber nehmen wir an, alle Hindernisse seien überwunden und die Angreifer auf dem Weg zur ‚richtigen‘ Stadt, geführt vom Herrscher Mykenes. Ein festes Element der Troia-Sage ist die
|134| Ausfahrt der Flotte von Aulis – das aber ist der Hafen von Theben, denn der von Mykene war Tiryns. Hätte der Anführer nicht einen südlicheren Sammelpunkt bevorzugt?
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Schlimmer noch: Homers Schiffskatalog beginnt mit den böotischen Schiffen, nicht mit denen von Mykene; die genannte Schiffszahl ist hoch, aber ein wirklich prominenter thebanischer Anführer fehlt in der Ilias trotzdem. Doppelt erstaunlich, weil Theben der Archäologie zufolge vielleicht mächtiger war als Mykene. Wenn nun Homer einen realen Kriegszug beschrieb, welche Elemente sind real? Müssen wir den Aufbruch zur Peloponnes verlegen, um Mykene die Ehre zu lassen, oder sollen wir einen thebanischen Anführer an die Stelle Agamemnons setzen, wie es politisch plausibel wäre? Oder müssen wir zwei getrennte Feldzüge annehmen? Im Unterschied zu Mykene blieb Theben auch nach 1200 bedeutend; demnach wären die Chancen für eine echte Tradition von Ereignissen mit thebanischer Beteiligung ungleich höher, denn es gab ein greifbares Interesse an ihr.
Die Sieben gegen Theben Die Unfähigkeit der beiden Söhne und Erben des Ödipus, ihre Macht als Könige Thebens zu teilen, treibt einen von ihnen, Polyneikes, ins Exil nach Argos, wo er eine Armee sammelt und sechs weitere Anführer als Helfer gewinnt, darunter Diomedes’ Vater Tydeus. Alle sieben fallen beim Sturm auf die sieben Tore Thebens; Polyneikes und sein Bruder Eteokles erschlagen einander im Zweikampf (Auftakt für die Handlung von Sophokles’ Tragödie Antigone). Zehn Jahre später erobern die „Epigonen“, die Söhne der Sieben, die Stadt.
Es gab auch Erzählungen über große griechische Allianzen, die sich (wohl früher als für Troia!) an diese Stadt knüpften
–
den
Thronstreit
der
Brüder
Eteoklēs
und
Polyneíkes, den |135| Kampf der Sieben gegen Theben und die Einnahme der Stadt in der nächsten Generation. Ein
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echter
dynastischer
Zwist
mit
Intervention
der
Nach-
barstaaten wäre viel weniger verfremdet worden als der TroiaStoff – wo sind die Befürworter eines „historischen Kerns“? Sogar der Name „Eteoklēs“ wird in hethitischen Quellen vermutet (der Königsbruder Tawagalawa des Herrschers von Ahhijawa), aber an eine konkurrierende böotische Version vom Troianischen Krieg denkt man besser gar nicht, sonst schadet es dem „Kern“ von Troia.
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„Was ist Wahrheit?“ Je länger wir diesen „Kern“ zu fassen suchen, desto mehr erscheint er selbst als ein Mythos – als Versuch, sich eine bestimmte
Vorstellung
der
Vergangenheit
plausibel
zu
machen. Es war eine Art Schock, als die oral historyForschung erklärte, dass in schriftlosen Kulturen selbst eindrucksvollste Ereignisse nach etwa neunzig Jahren nicht mehr wortwörtlich überliefert werden können. Auf einen Schlag ist die Hoffnung, es gebe eine exakte, authentische Überlieferung hin zu Homer, zerstört worden. Was so schnell nicht verschwinden konnte, war der Wunsch nach einem Ausweg. Homer durfte den Regeln mündlicher Tradition nicht unterworfen sein. Er musste „jedenfalls im Kern die volle Wahrheit“ verbürgen; irgendeine Brücke über die Zeit sollte sein, und wenn es eine überzeitliche Genauigkeitsliebe wäre, die sich in Linear B als „Bewusstsein für Faktentreue, präzise Deskription und Bilanzierungskorrektheit“ finde. Garantieren denn Steuerquittungen ein Interesse an der Vergangenheit?
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Fraglos hielten Homers Zuhörer ganz wie die seiner Vorgänger, was sie hörten, für „wahr“. Nur ist der Gegenbegriff zu dieser speziellen Form von „wahr“ nicht „falsch“, sondern wenn es einen gäbe, wäre er „irrelevant“. Zeus’ Gattin ist Hera, |136| bei Homer erst recht, aber in einer Szene ist es Diōnē, „Frau Zeus“. Man kann an eine spezifische Quelle denken oder Dione zum Alternativnamen für Hera erklären – Tatsache ist, dass mythisches Denken mit parallelen Erklärungen leben kann, ohne eine davon zur „Lüge“ zu machen. Noch die Bibel enthält zwei Schöpfungsberichte nacheinander, die stehen geblieben sind, weil sie sich in ihren Schwerpunkten ergänzen.
In
zwei
gegensätzlichen
Varianten
kann
das
Spiegelbild eines – nach unseren Begriffen – historischen Ereignisses verborgen sein, aber seiner Veränderung sind fast keine Grenzen gesetzt. Falls Hektor (oder Paris) in einem Teil der Tradition Grieche war und in einem anderen Troer, falls Troia mal von Mykene und mal von Theben aus angegriffen wurde, ist es eine falsche Reaktion, nach der „Lüge“ zu suchen. Der schlafende Kaiser im Kyffhäuser, dessen Bart um den Tisch wächst, ist Friedrich Barbarossa und Friedrich II., nicht entweder – oder. Wäre die „Wahrheit“, der historische „Kern“ dieser Figur die Existenz des fraglichen Berges und das nachweisliche Vorkommen mittelalterlicher Kaiser mit Bart? Sollte sich je ein Kellergewölbe mit Steintisch finden, würde das etwas an der Aussage der Kyffhäusersage ändern, und wäre sie sonst „gelogen“? Es scheint fast, als brächten wir die Wahrheiten durcheinander.
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Wenn wir Homer fragen könnten, ob sein Krieg ‚tatsächlich‘ in der mykenischen Epoche oder in den Dark Ages
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wütete, wüsste er gar nicht, was gemeint ist. Er hatte nur ‚seine‘ Zeit (für uns die archaische Zeit) und ihr gegenüber die Heroenzeit, die man etwa da vermutete, wo wir chronologisch gesehen die mykenische ansetzen. Aber dem Empfinden nach waren die Dark Ages, von Homer aus gesehen, Teil der Zeit Homers, und in der materiellen Kultur, der Psychologie der Akteure und vielem anderen waren sie von der Heroenzeit unlösbar. Die nun war für Homer „vor langer Zeit“ gewesen, für seine Vorgänger |137| ebenfalls „vor langer Zeit“, und nie kann sie länger oder kürzer als „lange her“ gewesen sein. Homer könnte, gefüttert mit allen Informationen unserer Gegenwart, nicht mehr sagen, als dass der Krieg offenbar gewissermaßen zu beiden Epochen gehöre, auch wenn das vielleicht nicht sein könne. Wir werden nicht aufhören, ihn zu befragen, und er ist dafür sehr zu bedauern; in diesem Punkt reden wir aneinander vorbei. Eine Vergangenheit, die so sichtbar wie die des Mythos für die Gegenwart da ist – nämlich um ein Licht auf sie zu werfen und ihr begreiflich zu machen, wer man selber ist, wie es dazu kam und wie man sein sollte –, kann nicht unberührt von dieser Gegenwart bleiben. Je länger sie über die Jahre für die jeweilige Gegenwart da ist, desto mehr Spuren wird die Nachwelt in ihr hinterlassen. Wenn alle Zeiten unter dem „Kern“ des Troia-Geschehens immer dasselbe verstanden hätten, wäre es möglich gewesen, einen solchen „Kern“ zu konservieren – aber das Wichtige an der Vergangenheit ändert sich mit der Gegenwart, und es ist nie gleichbedeutend mit dem, Echten‘. Neben dem unmissverständlichen Bericht der Ilias, Helena habe zehn Jahre und länger in Troia festgesessen,
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behauptete sich hartnäckig die Variante, tatsächlich habe sie die fragliche Zeit in Ägypten verbracht. Zählte der Raub der Helena nicht zum „Kern“ des Troia-Mythos? Für die Griechen war er durchaus Kern. Die Chance, dass ein ganz bestimmter, für uns oder die homerische Nachwelt noch unterscheidbarer Angriff mit dem Krieg der Sage historisch gleichzusetzen ist, existiert nicht, denn es fehlte jedes Mittel und jeder Grund, die Informationen zu bewahren, die eine solche Gleichsetzung belegen könnten. Nehmen wir an, ein mykenezeitlicher Sänger preise seinen Herrscher, weil er Troia erobert hat. Das 12. Jahrhundert kommt, es gibt keine Herrscher mehr – also auch nicht den Anlass des Liedes. Es ist in keine Tempelwand gemeißelt; niemand kann es aufschreiben. |138| Wenn es sich inmitten von Wanderungen, Traditionsbrüchen und Verfall behaupten soll, muss es ‚zeitgemäß‘ werden – bis zur Unkenntlichkeit. Ein TroiaLied in der Halle eines basileus des 10. Jahrhunderts konnte einem Lied des 13. Jahrhunderts nicht ähnlicher sehen als ein aristokratischer Lokalherrscher dieser Zeit einem mykenischen Palastbeamten. Troia im 10. Jahrhundert ähnelte den Scharmützeln, die der Brotgeber der Dark Ages besungen sehen wollte, oder es hätte ihn nicht ‚erreicht‘. Selbst geschriebene, ja heilige Texte unterlagen solchen Verschiebungen, gerade inmitten einer mündlich geprägten Kultur. Der Jesus der Evangelien und seine Jünger werden zu ‚Werbezwecken‘ im altsächsischen Versepos Heliand von ca. 840 bis 850 n. Chr. zu einem edlen Fürsten und seiner stolzen Gefolgschaft, der sich der sächsische Adel anschließen soll. Die Theologie
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blieb im Heliand möglichst intakt – aber eine ‚Troia-Theologie‘ hat es nie gegeben, und nie war der Mythos unantastbar. Vergangenheit wird erinnert, soweit sie für die Gegenwart von Belang ist, und sie wird in entsprechender Weise erinnert. Praktisch nie bewahrt man sie, nur weil sie einmal existiert hat; das tun allenfalls Historiker, und auch für sie bedeutet das Gestern oft genug etwas für das Heute. Homer hatte seine eigenen Gründe, von Troia zu erzählen, und wie im Mund seiner Vorgänger änderte sich bald bewusst, bald unmerklich, was er erzählte, bis es das für ihn Wichtige war. ‚Sein‘ Troia stellte Krisensituationen als Spiegelbild vor eine Adelswelt in der Krise einer Umbruchszeit. Dies war das Einst, das Homer für sein Jetzt brauchte. Achills Zorn, der in tiefer Sinnlosigkeit verraucht, aber nichts Besserem als weiteren Gemetzeln Platz macht, bis am bitteren Ende über Hunderte von Versen hin nur noch die Tränen todgeweihter Männer und schutzloser Frauen erscheinen – das gab die Tradition nur her, wenn sie bis zur Unkenntlichkeit umgestürzt wurde, egal wie ‚echt‘ ihre Elemente am Anfang |139| auch gewesen sein mögen. Es fragt sich sehr, ob vor Homer jemals ein Sänger die ‚Sinnfrage‘ an den Troianischen Krieg gestellt hat. Die Ilias drängt sie den Lesern auf und lässt den Nachruhm der Beteiligten, vormals das höchste Gut, stellenweise wie einen Strohhalm erscheinen, an den sie sich klammern. Helena ist das beste Beispiel, der göttliche Lohn für den so ungöttlichen Paris. Homer hätte eine missbrauchte Gefangene oder ein unmoralisches Biest aus ihr machen können. Stattdessen zeichnet er eine von Selbsthass geschüttelte, heimwehkranke Frau, die sich wortkarg „ich, die Hündin“
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tituliert, entehrt von einem Mann, den sie gerade dann lieben oder wenigstens begehren muss, wenn sie ihn am meisten hassen möchte. Der Einzige, der sie in Troia höflich und respektvoll behandelt, ist Hektor, und er stirbt; alle anderen verwünschen sie, und sie gibt ihnen Recht. Ihr großer Moment kommt, als sie der drohenden Aphrodite entgegenschleudert, wenn ihr so an Paris liege, könne die Göttin ihn gern selber ausprobieren, ehe die Einschüchterung siegt und Helena sich zurückführen lässt wie eine Stute vor den Deckhengst. Wir sehen sie in der Odyssee in der gespenstischen Situation wieder, erneut an Menelaos’ Seite zu sein. Man sollte erwarten, dass das Thema Troia vermieden wird; stattdessen hören wir die Königin zu Menelaos unverblümt sagen: „als ihr Achaier um meinetwillen, der hundeäugigen, vor Troia zogt und den kühnen Krieg erregtet.“ Das einzige Gefühl, das der „kühne Krieg“ in den Versammelten auslöst, sind Tränen und Trauer; das beiläufige „ihr Achaier“ verrät alles über Helena. Sie ist zurück-, nicht heimgekehrt und lebt an ihre heillose Vergangenheit gefesselt, die nicht sie für sich gewählt hat. Das ist Homers Heroenzeit; es ist Wahrheit und dank ihm zu jeder Zeit auch Gegenwart. Was sich nie und nirgends hat begeben, Das allein veraltet nie! 8
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Am Anfang aller Dinge
Wo und wie endete Homer? Das ist nicht zu sagen. Wir könnten uns ausmalen, wie ein gealtertes Genie Freude an der ungeahnten Wirkung seines Werkes hat – aber das wäre Phantasie, nicht mehr. Die ersten Spuren dieses Wirkens festzuhalten ist alles, was wir guten Gewissens tun können. Gleich eines der frühesten Zeugnisse in griechischer Schrift, der „Nestorbecher“ von ca. 730, bezieht sich ausdrücklich auf den beredten Greis der Troia-Sage; ob die Verse seiner Inschrift ein Zeugnis für die Beliebtheit dieses Themas schon vor Homer sind oder sich an das Epos ‚anhängen‘, ist leider eine weitere der vielen Streitfragen. Sicherer ist ein anderes Beweisstück, das uns durch alle Kapitel begleitet hat – die Odyssee. Selbst wenn sie (was ein Wunder wäre) aus derselben Hand wie die Ilias stammte, eröffnet sie eine neue Epoche. Es ist kaum vorstellbar, dass sie noch für den mündlichen Vortrag geschrieben wurde: zu komplex ist ihr Inhalt, zu gewagt, fast sprunghaft ihr Aufbau. Ein Homer
ebenbürtiger
Kopf
bereichert
die
traditionelle
Heimkehrgeschichte eines Troia-Helden um ein Liebesdrama, märchenhafte Reisen, die Rettung der sozialen Ordnung, das Erwachsenwerden eines Königssohnes, die Leiden eines zum Überleben Verdammten, eine Verherrlichung der neuen geographischen Weite, eine Rechtfertigung der Götter und ihres Umgangs mit |141| den Menschen, eine Gegenerzählung zum
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Unglück des Agamemnon und der Ruchlosigkeit seiner Frau … und
um
Worte
für
vorher
nicht
auszudrückende
Empfindungen. Dank Homer brauchte der Odyssee-Dichter das schriftliche Epos nicht neu zu erfinden. Stattdessen erprobte er das Spiel mit dem Text, die kunstvolle Verschachtelung und Zerstreuung der Handlungsstränge. Für seinen jungen Beruf kennt er nur die alte Bezeichnung des „Sängers“. Wie hoch er ihn stellt, haben wir an Demodokos gesehen; das gipfelt in der augenzwinkernden Umkehr des Verhältnisses von Heros und Dichter: Odysseus wird gelobt, er könne erzählen „wie ein Sänger mit kundigem Verstand“. Noch dazu muss der Listenreiche seine Quellen für ein Gespräch zwischen zwei Göttern offen legen, ein Zwang, über den der Dichter für seine Götterund |142| Totengespräche erhaben ist – er ist mit der Muse im Bunde, aber unterwegs zum allwissenden Erzähler.
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Wer so auftrat, war eigentlich kein Sänger mehr – soweit es noch Sänger gab. Über ihre Vorträge für ein bedrohtes Publikum legte sich der Schatten des Großen. Ihre Erben, die Rhapsoden, sollten bloße Rezitatoren sein, später gar gefolgt von gedächtnisstarken Sklaven, die den ‚ganzen Homer‘ abzuspulen wussten. Beim Gelage blieb er bis ans Ende der Antike eine (zusehends elitäre) Unterhaltung, natürlich in Auszügen. Anders stand es bei den großen Götterfesten. Aus späterer Zeit ist bekannt, dass in Athen der lückenlose Vortrag der beiden Epen für die Panathenäen vorgeschrieben war. Weitere Kultorte machten es ebenso. Immer war dabei die Ilias beliebter, und dass sie bei heiligen Anlässen erklang, die über den Kleinstaat des Zuhörers hinauswirkten, verlieh dem
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Epos selbst eine religiöse Würde und eine Identität, die alle Griechen verbinden konnte. Vor Veränderung war es dabei nicht sicher. Ilias wie Odyssee waren schriftlich verfasst, aber bis sie sich auch schriftlich weit verbreiteten, vergingen Jahrhunderte. Noch im klassischen Griechenland waren Komplettausgaben vielfach öffentliches Eigentum, bestimmt zum Vortrag bei Feierlichkeiten. Andere waren der Besitz von Rhapsoden (einzelnen oder ganzen Schulen), die aus ihnen die Epen memorierten, gingen ihrerseits aber selten oder nie auf das Original zurück, sondern wiederum auf das Gedächtnis eines Vortragenden. So wechselten beide Epen vielmals ihr Medium und verästelten sich zu einer vielstimmigen, kaum schriftlich anmutenden Tradition. Besonders bewunderte Verse wurden wiederholt, Eigenkreationen eingeschoben, ungeliebte Stellen gekürzt, Irrtümer begangen. Ein besonders erfolgreicher Unbekannter schuf nicht lange nach Homer den größten Zusatz von allen, der alle Zweifel und Redaktionen |143| glücklich überlebt hat: den gesamten 10. Gesang der Ilias, die „Dolonie“. Das ‚echte‘ Erbe Homers lebte noch eine ganze Weile unter den Griechen. Bis ins beginnende 4. Jahrhundert gab es die Familie (und Rhapsodengilde) der Homeriden auf Chios, die eine Abstammung vom göttlichen Dichter beanspruchten. Gelehrte Besucher waren ihnen sicher, gab es hier doch faszinierend andersartige Varianten der Homerüberlieferung. Auch ihr Vortragsstil hatte antiquarischen Wert, von ihren Legenden über den Gründervater zu schweigen. Als man zur Rekonstruktion
des
authentischen
Homer
mit
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wissenschaftlichen Methoden schritt, hatten die Sänger nur noch musealen Reiz. Sie verschwanden lautlos. Unter den Schätzen der Homeriden waren allerhand Versdichtungen, die unter dem Namen Homers zirkulierten. Manches überlebte dank ihm sogar das Mittelalter. Als „Homerische Hymnen“ bezeichnen wir noch heute wider besseres Wissen drei Dutzend Gedichte in Hexametern, die einzelne Götter und deren Taten verherrlichen – lange und kurze Stücke aus verschiedenen Zeiten. Im Zeichen des großen Dichters entfaltete sich neben der Odyssee aber auch das wirkliche Epos in vielen Varianten. Davon ist fast nichts außer den Titeln übrig. Uns bleibt nur die (sehr zweckoptimistische) Hoffnung, dass all diese Werke untergingen, weil sie den Vergleich zu den beiden großen nicht aushielten. Viele dieser Dichtungen zählten zum so genannten Kýklos, dem „(Sagen-)Kreis“ um Troia von der Vorgeschichte des Krieges bis zum Schicksal der heimgekehrten Heroen und ihrer Erben. Sie lebten besonders davon, Lücken bei Homer zu schließen; so konnte man etwa in den K´yprien den Raub der Helena nachlesen. Unser spärliches Wissen deutet auf eher anspruchslose, schlicht und geradlinig komponierte Epen hin; genau |144| das bedrohte ihr Fortleben, sobald der Kunstaspekt vergleichbar viel bedeutete wie der reine Inhalt. Andere Sagenkreise zogen anscheinend weniger Autoren an, sicher nicht alle mit mythischem oder literarischem Talent. Das Epos trat für die interessierten Begabten bald in Konkurrenz mit einer anderen, mündlich ebenfalls schon traditionsreichen Form, die es ganz anders erlaubte, die eigene Person zum Thema zu machen. Auch die griechische Lyrik begann auf
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entmutigend hohem Niveau und schöpfte zielstrebig die verlockenden Möglichkeiten der ersten Person Singular aus. Die knappe Dichtung ließ sich obendrein leichter auswendig lernen (oder abschreiben) als ein ganzes Epos. Dabei wimmelte die Sprache der Lyriker von Homer-Anklängen, was sich noch verstärkte, als er in die große Politik gezogen wurde.
Die All-Achaier Politik nämlich wurde nun mit ihm gemacht. Einige Wortformen, die weder äolisch noch ionisch, sondern eindeutig attisch sind, zeigen, dass ein wichtiger Strang der Homer-Tradition über Athen lief. Viel ist debattiert worden, wie tief die angebliche Textredaktion unter dem Athener Tyrannen Peisistratos (ca. 546–527) in die Substanz eingriff. Tatsächlich beschränkte der Alleinherrscher sich wohl auf das Erstellen einer ‚staatlichen‘ Ausgabe, die fester Bestandteil der Panathenäen wurde. Mehr als sehr kleine Einschübe waren angesichts der weiten Zirkulation der Epen nicht durchzusetzen. Athen eroberte die Insel Salamis und verwies auf die Notiz der Ilias, Salamis habe seine Schiffe bei den athenischen eingereiht; als Antwort verdächtigte der Rest Griechenlands Peisistratos, die Stelle gefälscht zu haben – aber wieso die kümmerliche Gesamtrolle der Athener dann nicht auch geschönt worden war, konnte keiner erklären.
|145| Der Konflikt mit dem persischen Großreich machte die Ilias endgültig zum Nationalepos und lieh jenen Poleis, die sich dem Großkönig nicht unterwerfen wollten, die moralische Stärke, sich als das wahre und ganze Hellas zu fühlen. Jenes
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Ionien, das Homer hervorgebracht hatte, ging während der Kriege unter. Über diesem Schock und anderen bis zu den unverhofften Siegen von 480/479, die der Perserfurcht wenig an Schrecken nahmen, wurde die Interpretation des Kriegsepos nur zu eindeutig. Seit es nur noch Griechen und Barbaren zu geben schien, beschwieg man unbehaglich, wie üblich – auch und gerade in vornehmen Familien – ‚Mischehen‘ beider Seiten gewesen waren (und blieben). Homer, auf den sich die klingendsten Dichterverse stützten, wenn es um Widerstand gegen ‚den Meder‘ im Osten ging, hatte für ethnische Unterscheidung herzlich wenig übrig, oder er hätte seinen Troern nicht serienweise griechische Namen beigelegt. Ein ‚Nationalist‘ hätte die Besiegten weniger edel, die Sieger nicht so fehlbar und ungebrochen im Recht gezeigt. Unterlegene Griechen borgten sich mit einiger Schizophrenie denn auch gern die Größe der epischen ‚Barbaren‘ aus. Ansatzpunkte für die Verherrlichung alles Griechischen gab und gibt es bei Homer auch, dem es zweifellos lieb war, in einem griechisch geprägten Ionien zu leben; er konnte sich über die „barbarisch klingenden Karer“ mokieren, gewiss. Ähnlich urteilt die Odyssee durch ihren Helden, dass das Leben der Kyklopen zu grässlich ist und das der Phaiaken schon fast zu schön zum Dableiben. Allein auf Ithaka kann und will Odysseus leben – „daheim ist’s doch am besten“ trifft dieses Gefühl aber wohl besser als „wir sind die Krone der Schöpfung“.
2
Umstritten bleibt, wie absichtlich besonders die Ilias es auf jenes „wir“ anlegte. Ihr vom Gefühl der Endgültigkeit geschärfter Blick markierte das Ende einer Epoche und den
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Anbruch |146| der neuen, eigenen. Doch zugleich boten die Kämpfe der „All-Achaier“ in der kriegsgeschüttelten Gegenwart rivalisierender Kleinstaaten etwas Unschätzbares: Identitätsstiftung. Es war laut Homer offenbar gegen allen Augenschein möglich, die Kräfte zu einen, die Polis gegen Polis wie in einem permanenten Bürgerkrieg entfesselte. Die Erfahrung der Perserkriege konnte diese These bestätigen, wenn man die fortdauernde Uneinigkeit, erst recht die nach dem Sieg, übersah. Tragische Weiterungen hatte die Idee, ein Krieg nach außen, die Rache am persischen Erbfeind, könnte die Zerstrittenheit beenden und die Einheit der Griechen herbeizwingen. Der Gedanke lag in der Luft, als sich das makedonische Königreich das ‚freie‘ Hellas binnen einer Generation unterwarf. Erbe des grandios berechnenden Philipp II. war ein junger Homerverehrer mit troischem Namen, der mit dem hellenischen Rachekrieg Ernst machte. Alexander betrat Asien 334, indem er am angeblichen Grab Achills opferte und sich dessen angeblichen Schild verehren ließ, doch er verließ die Welt 323 als Erbe des persischen Großkönigs. Homer begleitete ihn, wohin er ging, ganz wie der Schatten Alexanders viele Feldherren begleiten sollte. Einig wurden darüber weder das Reich noch die Griechen.
Geistige Heimat Dennoch brach mit der Epoche des Hellenismus, der unsortierten
Hinterlassenschaft
Alexanders,
die
endgültige
Herrschaft Homers über das griechische Denken an. Die literarische Papyrusüberlieferung, fast durchweg aus Ägypten,
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zeichnet ein deutliches Bild. Gut die Hälfte besteht aus Homerfragmenten oder -kommentaren, wobei die Ilias wiederum drei Viertel der Zeugnisse ausmacht. Und wo immer am Ende der Antike Griechisch gesprochen und verstanden wurde, übertrug man Homer auch |147| auf die teuren, haltbaren Pergamentblätter zahlreicher Bände – während wir die Wiedergewinnung einiger Zeilen von Sappho als großen Glücksfall feiern müssen und der Großteil unserer Bibliothek antiker Literatur aus leeren Seiten mit wenigen Fragmenten darauf besteht. Im Hellenismus erst entstand aus dem Labyrinth, das die Homertradition fast von Anbeginn gewesen war, jener Text, der uns heute vorliegt. Das Produkt war nicht der ‚Urhomer‘, schon weil Zweifelsfälle stehen gelassen waren, doch es kam dem längst verlorenen Original so nahe wie möglich – leicht verdünnt gewiss, aber dafür ohne Substanz preiszugeben. Alexandria mit seiner riesigen Bibliothek – die original oder in Abschrift Dutzende von Homerversionen an sich zog – wurde zum Zentrum der Geduldsarbeit. Kleine und große Gelehrte debattierten in Gestalt langer Kommentare, die problematische Stellen verwarfen oder verteidigten. Drei ganz große Philologen, Zenodót von Ephesos (Mitte 3. Jh.), Aristóphanes von Byzanz (an der Wende des 3. Jahrhunderts zum 2. Jahrhundert) und der etwas spätere Aristárch von Samothráke, bestimmten die Zukunft des Textes. Nach markanten Einschnitten, die wohl auf die Vortragspraxis der Rhapsoden zurückgingen, teilten sie beide Epen in je 24 Gesänge, entsprechend den Buchstaben des griechischen Alphabets –
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symbolisch umschloss Homer nun alles, was sich aufschreiben ließ, von Alpha bis Omega. Die bald demütige, bald aggressive, immer aber eifrige Erforschung des Werks begann damit erst; bis ans Ende der Antike verdienten Philologen sich Spitznamen wie Chalkénteros (ungefähr „Eisendarm“) und – ein kritisches Temperament – Homēromástix („Homergeißel“). Nicht zufällig blieb Homer auch der mit Abstand meistzitierte Autor. Wer sich auf ihn berief, hatte einen festen Text in der Hand. Desto intensiver wurde über den Inhalt gestritten. Wie noch heute gab es Scharen |148| von Experten für die größten Rätsel, und natürlich stritten sie sich untereinander furchtbar. Mit dem Spott des Entnervten kommentierte ein Geograph dieses Laster, doch sein Spezialgebiet waren so banale Dinge wie die Berechnung des Erdumfangs. Was sollte der schon von Dichtung verstehen?
Nachdem (Polybios) diese Vorbemerkung gemacht hat, stellt er sich dagegen, den (Herrn der Winde) Aiolos als Mythos aufzufassen, ebenso die gesamten Irrfahrten des Odysseus; vielmehr seien kleine mythische Details hinzuerfunden, genau wie beim Troianischen Krieg […] Auch stimmt er folgender Aussage des Eratosthenes nicht zu – der sagt nämlich, man werde den Schauplatz, wo Odysseus herumirrte, dann finden, wenn man den Sattler gefunden habe, der den Schlauch für die Winde genäht hat. STRABON, Geographika 1,2,15 p. 24
152/173
Homer war zu begeisternd, und man erwartete alles von ihm. Es gab Reden in der Ilias, also hatte er die Rhetorik erfunden, ebenso die Philosophie und die Geschichtsschreibung – und den gebildeten Griechen fiel immer Neues ein. Die historische Kritik stand nicht still und trieb amüsante Blüten in Romanform; aus den Gräbern gefallener Heroen (so hieß es im Vorwort) tauchten ‚Augenzeugenberichte‘ auf, die mit einer realistischen Sicht glänzten, auch wenn manche geliebte Stelle sich danach ganz anders las.
Zu dieser Zeit kam Odysseus […] durch sein Missgeschick nach Sizilien, wo ihm die Brüder Kyklops und Laistrygon viel Schmach antaten und er durch ihre Söhne Antiphates und Polyphem zuletzt die meisten seiner Begleiter verlor. Da hatte Polyphem Erbarmen mit ihm; man schloss Freundschaft mit Odysseus, der aber die Königstochter Arene […]
|149|
zu rauben versuchte. Als das
bekannt wurde und man ihm das Mädchen auf Betreiben ihres Vaters entriss, warf man ihn hinaus. DIKTYS DER KRETER, Bericht des Troianischen Krieges 6,5
Typischer war jedoch eine Art Nostalgie – „Heimweh“, ein angemessenes Wort: nóstos, „Heimkehr“, ist der Oberbegriff für Rückfahrtgeschichten von Troia wie die Odyssee. In den belesenen Kreisen friedlicher Polisbürger, die von einem König (später Kaiser) zum anderen vererbt wurden, hielt sich eine Sehnsucht nach der verlorenen Heroenzeit und ihren übergroßen Charakteren. Mit realen Persönlichkeiten machte man gemischte Erfahrungen, und wenn das gedankliche Hineintreten in die Epen, der Versuch eines Lebens wie aus Homer, an
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Eskapismus grenzte, dann in milder Form. Wer wollte, konnte wissen, dass der Verlust Teil der literarischen Botschaft war, nur war das Bedürfnis nach Wurzeln in historischer Größe stärker als das Vermögen der meisten, sich zu distanzieren. Es musste alles wahr gewesen sein, und wenn nicht buchstäblich wahr, dann in einem noch höheren Sinn, der sich nur Geduld und andächtiger Lektüre offenbarte. Man könnte fast sagen, Homer sei wie die Bibel gelesen worden, wäre es nicht eher umgekehrt. Was uns Heutige an frühen Theologen erstaunt, die jeden beiläufigen Satz zur Allegorie machen, verdankt sich zu einem guten Teil den Techniken der Homerphilologie, die die Kirchenväter übernahmen. Auch die neuzeitliche Religionskritik, je schärfer, je mehr, hatte ihre antiken Muster. Das junge Christentum erbte die schwere Bürde, das hausbackene hellenistische Griechisch seiner Schriften gegen den entmutigend idealen Stil der beiden Meistergedichte zu verteidigen. Es berief sich auf den Besitz der Wahrheit, nur war die griechisch-römische Welt dazu erzogen, an die Wahrheit |150| auch hohe ästhetische Forderungen zu richten. Hierin ähnelt Homers Rolle in der Antike noch eher dem Koran: Wie dieser als Quelle und Vollendung der arabischen Sprache galt und gilt, so war es auch mit Ilias und Odyssee. Wer lesen und schreiben lernte, tat es an ihren Versen, der Grammatikschüler ebenso; wer sie auswendig wusste, konnte sich besonderen Respekts sicher sein. Auch wer Homer als göttlich ansah (mehr Heros als Gott), hat beiden Epen aber niemals Heiligkeit zugeschrieben; dieser Unterschied blieb. Gleichwohl steigerte sich die Überzeugung, geheimes Wissen über Götter und Welt sei in den Versen
154/173
verschlüsselt, bis in die Spätantike. Die heidnisch geprägte Kultur entdeckte, wie sehr Homer ihr Fundament war, und wehrte sich gegen den christlichen Wahrheitsanspruch mit der radikalen Behauptung, ohne Götterglaube sei das Epos und mit ihm jegliche Kultur unzugänglich. Christlicherseits gab es nur zu viele, die ihn als durchtränkt mit Götzenverehrung aus Unterricht und Privatlektüre verweisen wollten. Homer der Magier mit seinen unmoralischen Göttergeschichten konnte die Seligkeit kosten; war er das denn wert?
An der Quelle Spätestens die regen Schreibfedern byzantinischer Kopisten gaben die Antwort, als von den lasziven Olympiern nichts mehr zu fürchten war. Niemand übersieht bis heute ganz, wie viele Pergamenthandschriften die Epen überliefern, und es gibt keine moderne Textausgabe, die auf allen zugleich beruht,
wie
es sonst
wissenschaftlicher
Standard
ist. Das
Oströmische Reich rettete einen erstaunlichen Anteil der heidnischen Klassiker über seine lange Niederlage gegen den aufstrebenden Westen Europas, eine Abfolge islamischer Angreifer, ‚barbarischer‘ Untertanen |151| oder Vasallen, und nicht zuletzt gegen die Schattenseiten der Traditionsgebundenheit, die ihm ein Jahrtausend Leben sicherte. Kreuzfahrer und Türken vernichteten 1204 und 1453 ahnungslos viele Bücherschätze Konstantinopels; als Beute, dann als wertvolles Fluchtgepäck kamen die Überbleibsel in den Westen und beflügelten die Kultur der Renaissance.
155/173
Man las Platon und Aristoteles zunächst lieber als Homer; der Vater des westlichen Epos stand im Schatten seines römischen Erben Vergil. Die Dominanz des Lateinischen brach erst mit der Aufklärung ganz, als die europäische Kultur- und Gelehrtensprache an praktischer Bedeutung verlor. Nun erhoben sich laut die Stimmen derer, die Rom nur als Abklatsch wahrer Wissenschaft und Kunst gelten ließen, besonders wo man (wie in Deutschland) etwas gegen den begründeten kulturellen Führungsanspruch lateinisch geprägter Nachbarn (wie
Frankreich)
hatte.
Die
frühgriechische
Literatur
begeisterte die Aufbruchstimmung der Stürmer und Dränger, die mit Kunst erreichte Harmonie des Epos blieb Maßstab der Klassik, und das preußische Gymnasium begann mit dem Ehrgeiz,
die
Bürger
eines
neuen,
zu
Stärke
gelangten
Griechenland zu bilden. Die Praxis entwickelte sich bescheidener und die Kultur war längst Gemeinbesitz der in Frieden und Krieg wetteifernden Nationalstaaten, des wahren Hellas der Neuzeit, das in der Welt viel bewirkt und viel angerichtet hat. Europas Neigung, zu allem auch die Gegenmeinung zu entwickeln, ist ebenso Teil seiner Tradition wie das Sichreiben am Traditionellen, das es auf dem Weg in die Epoche der Umbrüche voraneilen ließ. Um das Bekenntnis zum Gehalt dieser Tradition, die des einen Hoffnung, des anderen Horror darstellt, wird nicht zuletzt darum so gestritten, weil das Vergangene und seine Nachwirkungen hauptsächlich in zwei Formen bei uns sind: konzentriert auf einzelne Punkte, die Gefahr laufen, |152| museal zu werden – wie eine Büste Caesars – oder so allgegenwärtig, dass sie kaum auffallen – wie die
156/173
Atome aus Caesars letztem Atemzug oder mykenische Personennamen in den Versen eines archaischen Griechen. Wer freiwillig nie etwas Antikes anrühren würde, fürchtet doch, es könnten sich dank irgendeiner Achillesferse in seinen Computer
„Trojaner“
einschleichen
(sie
müssten
eigentlich
„Achaier“ heißen, aber was soll’s). Wir sind hineingewachsen in solche Erbstücke, aber würden wir sie vermissen, wenn sie abhanden kämen? Ein Buch aufzuschlagen führt ins andere Extrem. Schwer fällt es, Homer innerhalb der europäisch geprägten Literatur und Kunst zu entkommen. Wir kennen nichts Früheres und streiten ab und zu noch, ob es Besseres gibt. Ohne ihn gäbe es natürlich zahllose Werke nicht, hätte Joyce keinen Ulysses und Derek Walcott keinen Omeros geschrieben, Christa Wolf keine Kassandra und Inge Merkel nicht Eine ganz gewöhnliche Ehe, Goethe hätte keine Achilleis versucht, Tom Holt die archaischen Griechen nicht in Olympiad verulkt und kein Télémaque für Politik und Pädagogik gestritten. Aber selbst wer die Irrfahrten eines Fernsehraumschiffs verfolgt oder den Monologen der einsamen Heldin einer Telenovela lauscht, nippt an einigen Tropfen aus demselben großen Strom, und die Liste der Bücher, die garantiert keine Spuren von Homer enthalten, wäre überschaubar. Auch das ist Europas Erbe, vielleicht Teil seines Wesens: nichts ganz fallen zu lassen, das einmal in den großen Dialog und Streit der Gedanken eingegangen ist, und wenn es versehentlich wäre. Das Ende des Schreibens, Lesens, des Überspringens von Gedachtem auf uns – vom lebenden Menschen oder über Zeiträume hin, die erst die
157/173
Schrift füllen konnte – ist nicht abzusehen. Am Anfang war Homer.
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|154|
Anmerkungen
Mit den Augen des Blinden 1
Soweit nicht anders angegeben oder eindeutig aus dem Zusammenhang ersichtlich, verstehen sich alle Jahreszahlen im Folgenden „v. Chr.“.
2
Zur Erleichterung der Aussprache griechischer Wörter verwende ich bei deren erstem Erscheinen Akzentund Längungszeichen (die wohlgemerkt nicht fachüblich sind). Wo kein Trema ( ï) steht, sind ai, ei, oi immer ein einziger Laut.
3
„Troia“ und „troianisch“ sind inzwischen die international gängige Schreibweise.
4
Antike Philologen datierten die homerischen Epen umgerechnet ins 9. Jh. v. Chr. Heute teilt sich die Fachwelt in eine Mehrzahl, die – wie auch ich im Folgenden – von einer Entstehung der Ilias zu Zeitpunkten zwischen ca. 750 (oder wenig davor) und spätestens ca. 730, der Odyssee zwischen 750 und 700 ausgeht (so u. a. Hölscher 1988, 23f.), und eine beachtliche Minderheit (etwa Burkert 2003), die eine Abfassung (oder Endredaktion) erst im frühen 7. Jahrhundert vermutet.
159/173 5
Blendung:
Od.
„göttlich“:
1,336;
8,
62–70;
„bei den …“:
Tanz: 23,143—145;
13,26f.;
„wozu …“:
1,347. 6
Mit Ausnahme der Homerzitate (vgl. „Literatur“) sind die Übersetzungen, wo nicht anders vermerkt, meine eigenen.
7
Anruf am Wendepunkt: Il. 16,112f.; „wie ein Gott“: 11,175f.; Odysseus: Od. 8,4 87—491; „dass er den …“: 8,73; „dass wir auch …“: Il. 6, 354—358; „belehrt“: Od. 22,346f.; 17,518—521.
8
„Göttern …“: Od. 22,346.
9
Brief: Il. 6,168—170.
Der große Aufbruch 1
Ehe: Hesiod, Erga (= Werke und Tage) 375–378; 695–697.
2
Inselbeschreibung: Od. 9,124–141.
3
Händler: Od. 8,160–164.
4
„die Ionier […]“: Il. 13,685. Phöniker: Od. 13,272f.; 15, 416–422; 449–453. Abenteurer Odysseus: Hölscher 1988, 54–75; v. a. 72.
5
Politische
Lage:
Burkert
2003,
23–27. Theben: Il. 9,381–384.
13–17;
Alphabet:
160/173 6
Kompakte Einführung zum Thema: Burkert 2003, 23–54. Atrahasis: a. a. O. 41f. Vgl. Il. 15,190–193. „Geschichte des Schiffbrüchigen“: Hölscher 1988, 109–112;
auch
hier
handelt
es
sich
um
eine
Reiseerzählung mit Abenteuern in einer halb märchenhaften Welt. 7
|155| „Völker“: Il. 1,10; Aussehen: Od. 4,60–64; Agamemnon:
Il.
2,
102–108;
Telemach:
Od.
1,
385–404; Athene: 5,7–12; Menelaos: 4,174–180. 8
Korinth: Il. 2,570.
9
„unkriegerisch“: Il. 2,201; Quasi-Phalanx: 13,125–135; Wunsch Achills: 14,97–99. „standzuhalten: 5,486; vgl. 15,494–499;
keine
Gefangenen:
6,37–71;
Nestor:
2,354–356; Fluch: 3,301. Bürgerkrieg: 9,63f. 10
Schöner Tod: Il. 22,71–73; „Dunkel“: 5,47; Spott z. B. 13,361–401;
sexuelle
Andromache:
22,437–515;
Sprache: 6,
11,155–164;
497–503.
Eltern:
5,152–168; Leichensammlung: 7,421–432. Spiel mit Köpfen: 13,196–205. Kampf auf Euböa: Strabon 10,12 p.
448;
Hesiod:
Erga
654–657;
Streitwagen:
Il.
5,188–205; Markt: 7,466–474; Hektor: 17, 220–228; 18,284–295; Aias geschwätzig: 7,226–230; Kampfpause: 7,299–307. 11
Ruhm:
Il.
7,81–91;
nie
aufgeben:
11,362–367;
Sarpedon: 12, 307–329; Aias: 17,645–650; Achill:
161/173
9,315–322; 401–416. Heimweh: 19,319–339; Péleus: 24, 507–512; 534–542; Meneláos: Od. 4,561–569; Blut: 11,69f.; „widerwärtig […]“: 14,155. 12
Erechtheíon: Od. 7,78–81; Zeus’ Wille: Il. 16,684–691; 17,
176–178;
Menschenschwäche:
17,426–428;
441–447; Vergesslichkeit: Od. 18,130–137; Paris: Il. 7,351–353; Eurykleia: Od. 22,393–416. 13
Totenbeschwörungen: Der 11. Gesang der Odyssee ist die verharmloste Variante eines solchen Rituals.
14
Achill/Patroklos: Il. 24,6–11.
15
Frauenschelte:
Od.
11,432–443;
456f.;
Kosmetik:
18,178–181; Traum von Odysseus: 20,88–90; Gänse: 19,537; Freier:
Schönheitswunder: 18,
208–213;
18,190–196;
274–301;
laszive
Wiedererkennung:
23,85–242. Nachruhm Penelopes: 24,197f.; „UnglücksIlion“: 19,260; 23,19. 16
Melanthios:
Od.
22,170–200;
474–77;
Mägde:
22,457–473; Polyphem: 9,382–398; 447–460; 522–525. Abendessen: 20, 387–394; 21,427–430; kalkulierter Tod: 12,206–225; 245–259; „Lust zur Klage“: Il. 23,14. 98; Od. 15,401f. 17
Leiden
können:
5,432–435;
Od.
5,221–224;
„Notwendigkeit“:
Polypenvergleich:
10,273;
Todesangst:
5,466–473; nie aufgebend: 10,50–52; Leben im Augenblick:
10,174–177;
Geduld:
20,9–27;
„Bauch“:
162/173
15,343–346; Schätze: 13,215–221. Umgang mit dem Volk: Il. 2,250f.; dessen Beifall: 2, 270–278. 18
Vorwürfe: Il. 2,225–234; Achill: 1,2–5; Troerhass auf Paris: 3,451–454.
19
Aineias: Il. 5,467f.; 20,212–241; 288–308; 318–329.
Auf den Schultern von Riesen 1
Nestor: Il. 1,260–272; Kräfteschwund: 5,302–304; 12,378–383; Agamemnon: 4,370–410. Schiller, „Die Götter Griechenlands“, V. 6 beider Fassungen; zit. nach: Sämtliche Werke, Band III: Erzählungen, Gedichte, Übersetzungen. München5 1991, 128; 133.
2
„Ein Feiger“: Il. 1,293. Fleisch und Respekt: 7,321f.; 4,341–348.
3
Blutrache:
Od.
16,424–433;
Vorräte:
15,223f.; 2,
272–281;
337–345;
354f.;
Antinoos: „König,
dem…“: Il. 1,279; Gefolge: 1,174f.; „weit Bester“: 1,191; „nicht zugleich…“: 1,343; Achill: 1,231; Ehre durch Wettkampf: Od. 8,145–149; Rat: Il. 1,490; 2,273; Schönheit: 2,673; nie universell: Od. 8,166–177; Rangliste: Il. 2,761f.; Priorität |156| beim König: 9,32–39 – die Rache für: 4,399f.; „schlimme Nachrede“: Od. 14,239; Kriegsgründe: Il. 1,154–156. 4
Unbegrenzte Gastlichkeit: Od. 15, 66–85; Zusatzgäste: 3,488–493, bekräftigt 4,20–36; Geschenke: 15,44–55; Hinweise:
4,589–592;
600;
Polyphem:
8,228f.;
163/173
‚Refinanzierung‘:
13,13–15;
Isolierte
Phaiaken:
6,201–205; 7,8f.; Meeresmetaphern: 5,84; 4,708f.; Raubzüge: 14,216–234. 5
Bestattungen, einfache Form: Od. 9,64–66; 12,11–15; luxuriöse:
Il.
22,163–257;
Pfeilspitzen:
4,
123.
Trophäen: vgl. Il. 8,191–195; Lehnstuhl: Od. 19,56–58; Dreifüße:
Il.
18,343–353;
Od.
8,434f.
Odysseus’
Kleider: Od. 19, 226–243. 6
„Vergessen“: Od. 24,485.
7
Odysseus’ Haus: Od. 17,264–271; 2,358; 23,190–198. Badedienst, Aussehen: 6,218–222;vgl. 8, 449–456; Garnspinnen: 17,84–98; Personalstärke: 22,421; 7, 103–106; Geschwister in Dienst: 17,245f.; Truchsess: 4,55–58. Frau und Tochter arbeiten: 6, 52–55; 58–65; Wein: 6,77f.; Verstoßung: 2,113f.; 123–128; Familienkrieg: 24,505–515.
8
Träge Sklaven: Od. 17,320–323; „Vogt“: 14,22. Mehl: 2,291. Lesche: 18,328f.; Hesiod, Werke und Tage 492; Arbeit
adelt:
a.
a.
O.
310;
Dienstofferte:
Od.
18,357–386; Antínoos: 18, 83–87; 115f.; 21,307–309; Wundzauber:
Il.
19,457f.;
Kyklopen-Seher:
Od.
9,508–510. 9
Hektors Schuld: Il. 17,125–127; Achill: 24, 44–49; Städtetausch: 4, 40–43; 51–57; Gott und Krieg: 4, 79–83; Geier: 7,58–61; Provokation: . 5,127–132;
164/173
„Verblendend“:
19,85–96;
2,110;
„Vater“
7,241;
270–274; Zeus:
Ares:
8,69;
5,831;
Menelaos:
13,631–639; Apollon: 15,243–257; Glaukos: 16,513– 531; Hektors Opfer: 24,66–70. 10
Rauch: Il. 8,548–552; Gewicht: 5,839f.; Götterstimme: 5,860; Anblick: 20,112–131; „sehr leicht“: 20,441–446; Zeus’ Liebschaften: 14,292–353; Drohungen: 15,4–33; Athene: 15,128–141. Zeus’ Rede: Od. 1,26–43; moira: 3,269; Fatalismus: 6,187–190; vgl. 14,239–245; Il. 24,525–533; Unerbittlichkeit: Od. 17,360–364.
11
Kalypso: Od. 5,116–170; 173–179; 203–220; 226f.; Hermes: 5,98–102; Herakles: 21, 26.28. Hermes’ Flug: 5,43–54; Poseidon: 5,282–332; 13, 125–145; Athene unsichtbar: 6,328–331; 13,340–342; Götter bei Fabelwesen:
7,203–206;
Hunde:
16,155–163;
Athenes
Nähe:; 13,221–352; im Kampf: 22,224–240; Hermes zu Priamos: Il. 24,462–469; Thetis: 18, 428–443. Göttliche Gewissheit: Od. 19,33–43; Niesen: 17, 538–547. 12
„Freue dich“: Od. 13,42–46; 5 9–62.
Die Zeit der Könige 1
Wageneinsatz: Il. 11,47–52; 206f.; Bogen des Odysseus: Od. 21, 38–41; Eberzahnhelm: Il. 10, 260–271.
2
Vgl. Scince 28. 4. 2006, S. 548.
165/173 3
Zerstörung Troias: Die betroffenen Schichten tragen die Nummern VIh und VIIa; gewaltsame Zerstörung ist wohlgemerkt nicht sicher belegt.
Der göttliche Held Alexandros 1
Flucht: Il. 3,20–37; Idaios: 7, 390; 393 vgl. 3,451–454; Hektor: 6, 280–285; 321–335; „Leidige Wollust“: 24,30; Nötigung Helenas: 3,383–425; Paris’ Worte: 426–448; „Verblendung“: 3,100. Aphrodite entfernt ihn: 3,380–82 vgl. 65f.; Bitte: 3,64; Hektor sucht:
|157| 13,765–783; „Da wollte…“: 3,16; Menelaos: 3,352; Paris rüstet sich: 3,329–338. 2
Vertragstext in Übersetzung von F. Starke: Latacz 2003,
133–139
mit
vorgezogener
Interpretation
100–102, die Angliederung seit ca. 1600 und ein Untertanenverhältnis seit mindestens 1420 unterstellt. Tudhalija-Bericht: a. a. O. 120f. Alaksandu als Sohn einer Nebenfrau: Latacz 2003, 146f. (vgl. 353 Anm. 167) mit der eiligen Versicherung, die Dynastie sei „[g]rundsätzlich […] eindeutig anatolisch, vielleicht sogar luwisch“. 3
Priamos’
Töchter:
Il.
6,242–250;
Schiffslager:
Il.
7,336–340; Speer: 7,247f.; Kalypso: Od. 5,234–237; 246–248; 258f.; Skaiisches Tor: Il. 6,392f.; Turm: 6,385;
16,
698–702;
Landmarken:
9,
352–359;
11,166–171; Ilios-Titel: 3,305; 9,28; Hügel: 20,52f.
166/173 4
50 000 Troer und Alliierte: Il. 8, 562f.; „Militärschlag“: Latacz 2003, 339. Danaja/Danaoi: sehr weitgehend a. a. O. 160–165
5
Städtenamen: Latacz 2003, 119–128; Tros/Troia auf Linear B: a. a. O. 335.
6
Zu Theben in der „Panhellenisierung“ griechischer Mythen im 9.–7. Jahrhundert v. Chr.: Hölscher 1988, 166–169.
7
„jedenfalls im Kern …“: Latacz 2003, 217; „Bewusstsein …“: a. a. O. 298f.; Dione: Il. 5,370; 381.
8
Selbsthass Helenas: Il. 6,354 vgl. Od. 4,259–264; Hektor: Il. 24, 761–776; vgl. 6, 342–368; Aphrodite: 3,383–423;
„ihr
Achaier“:
Od.
4,145f.;
Tränen:
4,183–188; 200–202. F. Schiller, „An die Freunde“ Z. 49f.,
zit.
nach:
Erzählungen,
Sämtliche
Werke
Übersetzungen,
ed.
III: H.
Gedichte, Koopmann.
München (Winkler) 51991, 399. Am Anfang aller Dinge 1
„Wie ein Sänger“: Od. 11, 362–376; Quellen: 12, 389f.
2
Karer: Il. 2,867
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Literatur
Die Aufgabe, Homer zu übersetzen, stellt sich immer neu und ist – mehr noch als bei anderen Werken – Interpretation. Ein deutscher Klassiker eigenen Rechts ist die Versübersetzung beider Epen durch Johann Heinrich Voß (Ilias 1781, Odyssee 1793), in dessen vorsätzlich antiquierten Stil man sich jedoch einlesen muss. Unter den jüngeren Unternehmen ragen die Prosaübersetzungen Wolfgang Schadewaldts heraus, denen meine Zitate entnommen sind (Homer, Die Odyssee. Reinbek 1958, viele Nachauflagen; Homer, Ilias. Frankfurt a. M. (1975). Wer lieber auf Exaktheit als auf Hexameter verzichtet, findet diverse moderne Nachdichtungen. Auch antike Leser bewältigten die Epen nicht im ersten Anlauf komplett. Man darf, ohne deshalb Barbar zu sein, mit Auszügen beginnen – besser dies als das unberechtigte Schuldgefühl, sich übernommen zu haben. Ein guter Anfang wären etwa Ilias 1, 6 oder 24 und Odyssee 5, 13 oder 23. Eine Darstellung der Mythologie (Schwabs Sagen des klassischen Altertums oder eines der Nachahmerprodukte) erleichtert die Orientierung. Schönheit und Eigenwillen des Originals zu studieren lohnt sich unbedingt, erfordert aber leider einige Jahre Griechischunterricht und eine Auswahlausgabe mit Kommentar. Die enorme wissenschaftliche Literatur ist erschlossen durch Hilfsmittel wie Archaeologia Homerica. Die Denkmäler und das frühgriechische Epos oder den neu entstehenden Großkommentar Homers Ilias unter der Ägide von Joachim Latacz, auf kleinerem Raum durch Lexika (z. B. Der neue Pauly). Ich zitiere nur Titel, die sich für erste Eindrücke (oder wegen jüngster Debatten) besonders empfehlen. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München3 1999. (Die „Bibel“ der historischen Gedächtnisforschung beleuchtet auch kurz Homers Rolle für Griechenland.) Walter Burkert, Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, München 2003. (Vorlesungsreihe, die wichtige Ergebnisse aus Burkerts jahrzehntelanger Forschung bündelt.) John Chadwick, The Mycenaean World, Cambridge 1976. (dt. Die mykenische Welt, Ditzingen 1979.) (Kulturgeschichte der mykenischen Palastzivilisation, hauptsächlich für Pylos, vom Mitentzifferer des Linear B.)
168/173
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Moses I. Finley, Die Welt des Odysseus. Frankfurt a. M. 2005. (orig. The
World of Odysseus, London2 1978.) (Beste zusammenhängende Darstellung der Sozialgeschichte der homerischen Epen, gedeutet als Reflex der Dark Ages.) Die Hethiter und ihr Reich. Das Volk der 1000 Götter. (Ausstellungskatalog) Stuttgart 2002. (Guter Einstieg in die – leider kaum problematisierten – hethitischmykenischen Beziehungen und die mutmaßliche Rolle Troias; hilfreiche Karten und Zeittafeln.) Uvo Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman. München 1988. (Weit in die Literaturgeschichte ausgreifendes, begeistertes Standardwerk mit zahlreichen Exkursen.) Albin Lesky, Geschichte der griechischen Literatur. Bern/ München3 1971 (Ndr. München 1993). (Leskys Spezialthema Homer und seine möglichen Vorgänger füllen ca. 100 Seiten. Vorsichtig im Urteil, flüssig und mit Gewinn zu lesen.) Oswyn Murray, Das frühe Griechenland, München6 2006. (orig. Early Greece. London 1980.) (Übersichtliche Einführung in die Entwicklungen von ca. 1200 bis 479 v. Chr mit wertvollen Quellenauszügen und Literaturangaben. Sehr transparent und abgewogen.) Robin Osborne, Greece in the Making, 1200–479 BC, London 1996. (Stark archäologisch orientierter Geschichtsüberblick. Trocken und bewusst fragmentarisch.) Barbara Patzek, Homer und Mykene. Mündliche Dichtung und Geschichtsschreibung. München 1992. (Maßgebliche Untersuchung des Traditionsproblems mit einem sehr hilfreichen Abriss der Homerforschung bis in die 1980er Jahre.)
Titel aus dem „2. Troianischen Krieg“ seit 2001: H.-J. Behr/G. Biegel/H. Castritius (Hgg.), Troia – Traum und Wirklichkeit. Ein Mythos in Geschichte und Rezeption. Braunschweig 2003. (Beiträge einer Tagung von 2001, mit breitem Meinungsspektrum.) Helmut Castritius, „Fand der Trojanische Krieg wirklich statt?“, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 31 (2003), 288–296. (Kompakte, gut verständliche Darstellung.) Justus Cobet/Hans-Joachim Gehrke, „Warum um Troja immer wieder streiten?“ in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), 290–325. (Zusammenfassung der skeptischen Position aus althistorischer Sicht.) Joachim Latacz, Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, überarbeitete Ausgabe München 2003. (Euphorische Präsentation der Korfmannschen Funde und Vermutungen; durch das enthaltene Material gleichwohl nützlich.)
169/173 Troia: Traum und Wirklichkeit, (Ausstellungskatalog) Stuttgart 2001. (Wertvolle Materialsammlung, in der Interpretation einseitig.) Christoph Ulf (Hg.), Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz, München 2003. (Sichtung und Kritik des vom Korfmann-Kreis gezeichneten Troia-Bildes.)
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Dank
Ohne den Enthusiasmus von Kai Brodersen (Mannheim) wäre dieser Band um seine Existenz und sein Autor um viele Anregungen ärmer. Einen Zuwachs an innerer Stimmigkeit und die Erfüllung zahlreicher Wünsche nach zusätzlichen Abbildungen verdanken beide der unermüdlichen Sorgfalt von Frau Regine Gamm (Darmstadt). Herrn Dipl.-Ing. Gerhard Hartl vom Deutschen Museum München danke ich herzlich für seine Hilfsbereitschaft, H. G. Fündling (Aachen) für einen durch Bildverarbeitung ruinierten Sonntagnachmittag.
Informationen zum Buch Jörg Fündling öffnet den Blick auf die großen Epen Homers und somit zugleich auf drei
Zeitalter der griechischen
Geschichte, die sich in »Ilias« und »Odyssee« gespiegelt finden. Im Kapitel über den »Großen Aufbruch« geht es um die archaische Zeit: wachsender Wohlstand, Übergewicht der Inselgriechen und Kleinasiens, Kolonisation, Vormacht und Bedrohtheit der Aristokratie, Dominanz der Städte und Geburt der Polis, Rückkehr der Schriftlichkeit und Anfang der Literatur prägen hier das Bild. »Auf den Schultern von Riesen« führt weiter zurück in die ›Dark Ages‹ als eine epigonale Zeit nach dem (rätselhaften) Ruin der mykenischen Hochkultur. Das Denken gerade dieser Epoche ist in die Dichttradition bis hin zu
Homer
Herrschaft,
übergegangen: die
die
misstrauische
Unsicherheit Abschottung
persönlicher nach
außen.
Zugleich wird die endgültige Fixierung des kleinräumigen Denkens in der griechischen Geschichte beleuchtet, das in die europäische Gegenwart nachwirkt. »Die Zeit der Könige« erzählt, was Homer über die ›mykenische Kultur‹ sagt, der er den Namen gegeben hat. »Am Anfang aller Dinge« widmet sich zum guten Schluss der Wirkungsgeschichte Homers.
Informationen zum Autor Jörg Fündling, Dr., geb. 1970, ist am Seminar für Alte Geschichte der Universität Bonn tätig. Bei Primus ist von ihm bereits erschienen: "Die hoch gebaute Stadt: Troia und der Troianische Krieg" (in: Höhepunkte der Antike, hg. v. Kai Brodersen, 2006)
Hinweise des Verlages Die grauen Ziffern in eckigen Klammern entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.