Manfred Weinland
Die Welten des Prosper Mérimée Bad Earth Band 10
ZAUBERMOND VERLAG
Was bisher geschah … Auf der Su...
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Manfred Weinland
Die Welten des Prosper Mérimée Bad Earth Band 10
ZAUBERMOND VERLAG
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, wird die RUBIKON-Crew um John Cloud im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Fontarayn, Angehöriger des geheimnisvollen Volks der Gloriden, wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren – bis in die tiefste Vergangenheit und fernste Zukunft, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen wartet und verwaltet. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Dort will Fontarayn nötigenfalls eine Zeitkorrektur herbeiführen lassen, die verhindert, dass die Treymor in den Besitz von Erbauer-Technik gelangen. Dadurch könnte diese Gefahr ein für alle Mal gebannt werden – aber es drohen auch Zeitparadoxa unbekannten Ausmaßes. Unter Clouds Kommando bricht die RUBIKON nach Andromeda auf – und erreicht die Nachbargalaxis schneller als je erwartet. Bei der Transition wird sie jedoch über zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Sato-
ga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich eigenem Bekunden nach friedlich dort anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee, Mitglied der Crew aus ersten Tagen, will diesen Transfer nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit dem Gloriden Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Das Gloridenschiff erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Stattdessen kommt es im Leerraum zwischen den Galaxien zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac … und Tormeister Felvert, dem Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, erfährt Scobee Dramatisches über die heimatliche Milchstraße, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. Kurz darauf bricht der Jay'nac mit ihr und Siroona als Gefangenen genau dorthin auf, in die sterbende Galaxis. John Cloud und die Besatzung der RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ebenfalls die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit und noch von ihr abgeschottet durch den sonderbaren Bereich hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes. Wo alles anders geworden zu sein scheint als noch beim letzten Besuch. Bizarre, nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis wagen einen Vorstoß in die Station – und begegnen mannigfachem Leben, wo zuletzt noch völlige Verlassenheit herrschte. Das vermeintliche Leben aber entpuppt sich am Ende als Täuschung, als Teil einer Prüfung. Cloud und Jarvis sehen sich schließlich mit einem der legendären ERBAUER konfrontiert. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die erzwungenermaßen zu einer Mission
in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Prosper Mérimée, der Mann mit der Zeitanomalie, die auch schon den Fehlsprung der RUBIKON in eine zweihundert Jahre entfernte Zukunft verursachte, wird von Kargor »zweckentfremdet«, um überhaupt in die Milchstraße vorstoßen zu können die zur Brutstätte des Chaos geworden ist. Galaxisweit ist die Zeit entartet – und die Quelle, der Verursacher dieser Entartung, ist erklärtes Ziel der Kargor-Mission. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher«, umgeben von Jay'nac-Technologie und ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend: Darnok, der einstige Freund und Weggefährte, der in die Gefangenschaft Arabims geriet und später sogar mit diesem »verschmolzen« wurde. Ein absonderliches Schicksal hat Darnok wieder von seinem dunklen Gegenpol befreit. John Cloud und die übrige Besatzung der RUBIKON erfahren die Zusammenhänge, die zu Darnoks Entartung führten. Aber schlimmer noch als die Erkenntnis, was der einstige Freund an Untaten beging (unter anderem löschte er sämtliche Master der Erde aus), wiegt das Bewusstsein, wie viel Zeit aufgrund der Manipulation in der Milchstraße vergangen ist – und nur dort –, nachdem die Zeitbeschleunigung abgeschaltet wurde. Es sind Jahrzehntausende. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen vom Rest der Galaxie abgeschnitten fortentwickelt haben. Enttechnisiert, wenn man so will. Wie mag das neue Bild der Erde aussehen? Wie sind die anderen Spezies – die Mitgliedsvölker der einstigen Allianz CLARON etwa – mit den veränderten Naturgesetzen umgegangen? Wenden wir uns aber zunächst dem Schicksal derer zu, die von Kargor aus der RUBIKON entführt und ins sogenannte ERSTE REICH entführt wurden. Dorthin, wo offenbar die ERBAUER einst gelebt haben. Scobee (von Kargor aus den Händen der Jay'nac befreit) und die Gruppe um Prosper Mérimée landen auf Angk I, einer von sieben Welten, die sich ein und dieselbe Umlaufbahn um ein
Zentralgestirn teilen. Laut Kargor sollen sie die Urzelle derer bilden, die das Angk-System neu bevölkern werden. Aber mehr als diese ominöse Ankündigung wissen sie noch nicht – und die Frage stellt sich, ob ihr überhaupt zu trauen ist …
1. Kapitel Als das obskure Licht über ihn hereinbrach, schloss Rodriguez reflexartig die Augen. Doch es war so intensiv, dass es die dünnen Häute der Lider problemlos überwand und den Halbwüchsigen auf eine nie zuvor erlebte Weise sehen ließ. Dabei wusste er gar nicht, wie ihm geschah. Instinktiv hatte er das grelle Licht als Begleiterscheinung einer Explosion eingestuft; einer Explosion, die irgendwo an Bord dieses ebenso gigantischen wie absurden Gebildes, von seinen Schöpfern »Perle« genannt (als gäbe es Schmuckstücke von so absurder Größe), stattgefunden hatte und sie alle ins Verderben reißen würde. Aber wenn dem Licht eine solche Explosion vorausgegangen war, dann vollkommen lautlos … Falsch, korrigierte Rodriguez sich im selben Atemzug, wie er den Gedanken formte. Gerade du solltest wissen, dass die Abwesenheit von Geräuschen nicht gleichbedeutend mit wahrhaftiger Stille ist. O ja, gerade du solltest das! Er musste seiner inneren Stimme zugestehen, dass sie recht hatte. Die Möglichkeit, dass er selbst den ohrenbetäubenden Lärm einer Detonation ausgeblendet hatte, war nicht von der Hand zu weisen. Aber es gab noch eine einfachere Erklärung: Er hatte einmal gelesen, dass ein Mensch, der von einem Blaster erschossen wurde, das Fauchen, mit dem die tödliche Energiebahn aus der Mündung der Waffe brach, selbst gar nicht mehr zu hören vermochte. Der Tod, der alle Sinne auslöschte, kam schneller, als das Gehirn die empfangenen Signale zu der Wahrnehmung formen konnte, die beispielsweise der Schütze hörte. Aber ich bin nicht tot, dachte er. Es ist nur … hell. Da ist keine verbrennende Hitze, keine Taubheit in meinen Gliedern, kein … Nein, er war nicht tot. Ganz bestimmt nicht. Eine Stimme aus dem Licht heraus sagte: »Transfer!« Er begriff nicht, was damit gemeint war. Er erinnerte sich, mit den
anderen zusammen in einem Raum dieser … Perle von einhundert Kilometer Durchmesser gestanden zu haben. Diesem hohlen, mondgroßen Ding, das einmal hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes verankert gewesen war, dann aber von einem Unbekannten namens Kargor auf »große Fahrt« gebracht wurde. Kargor war ein Dämon. Rodriguez fand kein besseres Wort dafür, nachdem ihm Prosper vor langer Zeit an einem schwülheißen Abend im Getto der Erde einmal aus einem seiner vielen Bücher vorgelesen hatte und in der Geschichte ein Ungetüm vorgekommen war, das sich einen Jux daraus machte, mit Menschen wie mit Marionetten zu spielen und sie ins Verderben zu schicken. Diese Beschreibung passte auf Kargor wie die Faust aufs Auge. Und das monströse Aussehen des Perlen-Herrschers zerstreute auch noch die letzten Zweifel an seinem Wesen. Nein, er war dämonisch, daran gab es für Rodriguez nichts zu deuteln. Der zeitlose Moment, in dem das grelle Licht dem Halbwüchsigen eine ganz neue Seherfahrung bescherte – um ihn her waren lauter Schemen, in denen er mühelos die Freunde und Gefährten erkannte, die mit ihm nach einer unglaublichen Odyssee auf der RUBIKON gelandet waren … bevor Kargor sie von dort entführte – dauerte an. »Zeitlos« mochte der falsche Begriff für das Phänomen sein, das nach Rodriguez gegriffen hatte. Aber irgendwie hatte er tatsächlich das Gefühl, aus den normalen Abläufen herausgetrennt und davon isoliert worden zu sein. Er bewegte sich (genau wie die umgebenden Schemen), aber er tat dies nicht aus eigener Kraft, sondern weil etwas an ihm zog oder ihn schob. Das gleißende Licht wandelte sich zu einem Tunnel, der die Trennwände innerhalb der Perle durchbohrte, als würden sie unter seinem Schein vorübergehend immateriell. Dahinter gähnte die Schwärze des Weltraum, die aber nicht mehr schwarz war, sondern auf eine Weise verändert und verfremdet, dass sich Rodriguez fragte, ob er bislang nur völlig blind für die wahre Schönheit des Alls gewesen war. Er sah die Farben des Kosmos, all seine Pracht …
Und dann wurde ihm bang ums Herz, denn – er merkte, wie die Drift, die ihn erfasst hatte, genau dort hinausführte: in die unendliche Kälte, ins Vakuum des Weltraums, in dem nichts, was organisch war, ohne entsprechenden Schutz überleben konnte! Und einen solchen Schutz gab es nicht. Er trug nur, was sie alle in ähnlicher Weise von Kargor erhalten hatten, nachdem er sie fort von der RUBIKON und hinein in die Perle gebracht hatte, mit der sie nach Nar'gog gereist waren, um Scobee an Bord zu nehmen, aus der Gewalt der Jay'nac zu befreien. Befreien. Die Ironie, der Hohn dieses Begriffs, angewandt auf Scobees Schicksal, wurde ihm bewusst. Selbst in dieser Situation stieß ihm noch übel auf, wie Kargor mit ihnen allen verfuhr. Die sogenannte Befreiung Scobees war nichts anderes gewesen als der Tausch einer Gefangenschaft mit der anderen. Seither war sie in der Gewalt des ERBAUERS. So wie sie alle. Der Lichtdruck beschleunigte Rodriguez jetzt zunehmend. Die Umgebung verzerrte. Es war, als würde er mit aberwitzigem Tempo in der gläsernen Kabine eines Expresslifts durch die Perle geschossen … … und im nächsten Moment schon aus ihr herauskatapultiert werden in die tödliche Umarmung des Weltraums. Nur dass die nicht tödlich war. Weil das Licht Rodriguez (und die anderen, die Schemen) immer noch einhüllte, immer noch mit seinen gleißenden, fürsorglichen Fingern umspielte und auf ein anderes Licht zuschob. Ein Strang. Eine Bahn, die das All spaltete wie eine Ader aus purer Energie. Eine … Straße. Rodriguez erinnerte sich plötzlich wieder an die Gespräche, die all dem hier vorausgegangen waren. An Scobees und Prospers Worte, an die von Sarah und Paula und Sahbu und – Ihn schauderte. Kargor hatte sie in ein unmögliches Sonnensystem gebracht. Ein System mit sieben identisch anmutenden Planeten, die sich überdies
auch noch dieselbe Umlaufbahn teilten … Ein astrophysikalisches Unding. Selbst Rodriguez war nach Erhalt der ersten Daten klar geworden, dass diese Konstellation nicht natürlich entstanden sein konnte. Kargor hatte sie DAS ERSTE REICH genannt – und damit unmissverständlich zu verstehen gegeben, wer hinter der Erschaffung dieser Absurdität stand: seinesgleichen. Jene rätselhafte, hypermächtige Spezies, die auch das schier unendliche Netz der CHARDHIN-Perlen installiert hatte, das den Kosmos durchwob. Das Erste Reich, dachte Rodriguez, während die rasende Fahrt in dem immer noch zeitlosen Moment, in dem er sich trotz aller rasanter Bewegung eingeschlossen fühlte wie ein Insekt in Bernstein, weiter fortgesetzt wurde. Was mag es damit auf sich haben? Wer hat hier gelebt, geherrscht? Waren es wirklich solche … gottesanbeterartigen Geschöpfe wie Kargor, riesige »Kristallinsekten«? Oder Wesen aus Fleisch und Blut, den Menschen ähnlich? Lebten sie immer noch hier? Und zwang Kargor seine Gefangenen jetzt, in diesem Moment, mit den Bewohnern der Welten in Kontakt zu treten? Aber implizierte der Begriff »Erstes Reich« nicht auch, dass dem andere Reiche gefolgt waren? Tausend Gedanken trieben wie Schneegestöber durch Rodriguez' Hirn, während er durch das Geflecht trieb, das jemand »Straßen« genannt hatte, »Energiestraßen«. Er erinnerte sich nicht mehr, wer. Vielleicht Scobee. Vielleicht Kargor selbst, der ihnen fast beiläufig eröffnet hatte, dass dieses System die Endstation ihrer Reise darstellte. Hier wollte er sie aussetzen. Ihrem ungewissen Schicksal überlassen! Die Worte der Entität hallten noch in Rodriguez' Ohren. »Kargor wünscht euch ein gutes Gedeihen! Dieser Ort ist eure zukünftige Heimat. Lebt bis zu eurem Tod in Frieden und … aber das wird sich ergeben.« Er hatte sie noch nicht einmal halbwegs verdaut, als das Licht über ihn gekommen war. Und auch jetzt verstand er sie nicht in ihrer absoluten Bedeutung.
Zukünftige Heimat … bis zu eurem Tod … Kargor war ein Ungeheuer. Denkbar, dass er sich ihrer einfach nur entledigen wollte. Quatsch!, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Dafür hätte er uns nicht kreuz und quer durch die Galaxis fahren müssen. Er hätte uns mit einem Gedanken zerquetschen können. Er ist mächtig wie ein … Das Wort »Gott« unterdrückte Rodriguez. Es schien ihm trotz allem unangemessen, auch wenn er in keiner Weise religiös war. Unter den Mastern der Erde war keine Religion geduldet worden. Alles, was er über Gott oder Götter wusste, wusste er von Prosper, der stets mehr für sie gewesen war als nur der Mann, der ihnen half, im Getto zu überleben. Anhand der Schemen, die ihn begleiteten, vermochte Rodriguez nicht genau zu sagen, ob auch Prosper dabei war. Er hoffte es jedoch, denn die bloße Gegenwart des väterlichen Freundes hätte ihm geholfen, jedes Schicksal zu ertragen. Er war schon einmal ausgesetzt worden – von seiner eigenen Mutter, die ihn im Getto zur Welt gebracht, aber nicht hatte großziehen können oder wollen. Sie hatte ihn einfach vor Prosper Mérimées Tür gelegt. Ein Findelkind, das seine Wurzeln nicht kannte. Vielleicht war seine Mutter eine Ausgestoßene gewesen, die frisch ins Getto deportiert worden war. Weil sie nicht die Anforderungen erfüllte, die die Master an einen Menschen stellten. Nur genetisch einwandfreies »Material« wurde in den Metrops der Erde geduldet. Der durchschnittliche Intelligenzquotient eines Menschen mit allen Privilegien lag bei 150. Ein Mann namens Einstein, zu seiner Zeit der bedeutendste Wissenschaftler, hatte, zumindest hatte Prosper das Rodriguez einmal aus einem seiner Bücherschätze vorgelesen, einen IQ, der irgendwo zwischen 160 und 180 gelegen haben sollte. Rodriguez hatte von Gleichaltrigen gehört, die damit bereits mithalten konnten. Ältere übertrafen die Einstein-Werte oftmals sogar deutlich. Ja, die Menschen jenseits des Gettos waren allesamt Genies. Im Getto selbst, wo Rodriguez geboren und aufgewachsen war, lebte, nein vegetierte hingegen der Abschaum. Die Loser. Der ganze verdammte »Zivilisationsmüll«, der durch das Raster der Master fiel …
Aber das liegt alles hinter uns!, machte sich Rodriguez auf seiner gespenstischen Reise durch das All klar. Das Getto existiert nicht mehr. Wir hier sind die letzten Überlebenden. Die Master haben die Geduld verloren mit denen, die ihnen zu nichts nütze waren. Sie haben die Stadt, die einstmals Peking hieß, plattgemacht. Dem Erdboden gleich. Bestimmt wuchert dort, wo man uns vertrieb, längst Wald, Dschungel, voller außerirdischer, tückischer Bäume, mit denen man uns früher daran hindern wollte, das Getto zu verlassen … Er hatte all das auf der Erde zurückgelassen, wie die anderen auch. In einem würfelartigen Container waren sie im All ausgesetzt und von der RUBIKON gerettet worden. Von John Cloud, der jetzt irgendwo war, Rodriguez wusste nicht, wo. Er wünschte, er hätte bei dem Commander sein können. Aber vielleicht war er ja schon unterwegs zu ihnen, hatte ihre Fährte aufgenommen und würde sie von egal wo retten … Träumer!, schalt er sich selbst. Hoffnungsloser Träumer! Das hier ist die Endstation, kapier's endlich. Hier holt uns keiner mehr ab. Hier werden wir verrotten. »Lebt bis zu eurem Tod in Frieden …« Jedem anderen als Kargor hätte Rodriguez das vielleicht abgenommen. Aber der ERBAUER war kein Menschenfreund. Das hatte er mehr als eindringlich und mehr als einmal demonstriert. Er war überhaupt kein mitfühlendes Wesen. Nur egoistischer Herrscher. Teufel in Teufelsgestalt. Vor Rodriguez tauchte eine der Welten des Angk-Systems auf. Nummer wie viel? Eins, drei, sieben? Es blieb sich gleich. Eine fremde Welt. Friede. Fremde. Beides ließ sich kaum miteinander vereinbaren. Gab es dort überhaupt Sauerstoff? Ess- und Trinkbares? Wie war die Temperatur? Tobten Stürme, jagten unbezwingbare Raubtiere? An mögliche Artgenossen Kargors oder andere intelligente Bewohner wollte Rodriguez so nah vorm Ziel schon nicht mehr denken. Der Planet wurde immer größer, füllte das gesamte Blickfeld aus.
Die Lichtstraße führte darauf zu, hinab zur Oberfläche, von wo ihnen etwas kobaltblau entgegenstach. Ein … Turm? Der zeitlose Moment löste sich auf wie eine Seifenblase. Rodriguez spürte, wie er, von seinem eigenen Schwung getragen, durch weiches Gras purzelte. Bevor er irgendetwas sehen konnte, bevor sich seine Sinne an die neuen Verhältnisse gewöhnen und darauf einstellen konnten, wurde ihm schwarz vor Augen. Schwarz. Echtes und absolut lichtloses Schwarz … Welch eine Wohltat!
»Roddy!« Er kam zu sich, weil eine Stimme ihn rief. Oder kam er zu sich, während eine Stimme ihn rief, möglicherweise ganz von selbst, ganz aus eigenem Antrieb? Er wusste es nicht. Er hörte nur nach einer kurzen Pause noch einmal den Ruf: »Roddy!« Und einen Seufzer später die Frage: »Hörst du mich? Bist du wach?« Etwas Warmes fuhr über sein Gesicht. Eine Hand. Er blinzelte. Über ihm schwebte ein Gesicht. Ein Mann in den … Rodriguez grinste bei dem Gedanken, wie Prosper sich ihm am ersten Tag ihrer Begegnung im Getto vorgestellt hatte … ein Mann in den besten Jahren: schlank, das braune, kurze Haar etwas schütter, eisgraue Augen, markantes Kinn mit Grübchen und eine scharfkantige, zur Spitze hin leicht gebogene Nase. Indianische Vorfahren, hatte Prosper erklärt. Und auf Rodriguez' Frage, was Indianer seien, hatte er ihm einfach eine dicke alte Schwarte von Buch in die Hand gedrückt und gemeint: »Lies! Steht alles da drin! Und noch verdammt viel mehr …« Ja, Prosper und seine Bücher. Prosper und sein Zirkus … dem Rodriguez kurz darauf selbst angehört hatte. Kuriositätenkabinett hätte es wohl besser getroffen. Denn sie alle, die den Zirkus bildeten – dereinst auf der Erde; verflucht, wie lange war das eigentlich her? –, wiesen irgendein Gebrechen, irgendeine Abnormität auf, sei es nun körperlich oder geistig … oder beides zusammen. Und damit unterhielten sie seinerzeit die anderen Bewoh-
ner des Gettos. Die »Normalen« – die Rodriguez in vielerlei Hinsicht sehr viel abnormer und hässlicher fand als jedes beliebige Mitglied ihres Zirkus. Nicht alle natürlich. Aber das Leben im Getto war hart und formte die, die darin lebten. Fast jeder war in Banden organisiert. Und wäre Prosper nicht gewesen, Prosper und sein treues Faktotum Sahbu, wäre aus Rodriguez sicherlich auch ein Mörder geworden. Zumindest ein Gewalttäter oder Dieb, denn ganz legal, ganz friedlich vermochte eigentlich niemand im Kerker der Master zu überleben. Nur Prosper und diejenigen, über die er seine schützende Hand legte, bildeten eine Ausnahme. Wie genau der Mann mit der größten (weil einzigen) Bibliothek auf der ganzen Erde – eine mit echten Büchern, die man angreifen, an denen man schnuppern und deren Gewicht man spüren konnte – dies bewerkstelligte, hatte Rodriguez nie herausgefunden. Aber irgendwie arrangierte er sich mit den herrschenden Kräften. Vielleicht war es auch nur ein Abkommen, das funktionierte, solange sich die Bosse der Gangs unterhalten fühlten. Solange sie fasziniert oder belustigt von den menschlichen Mutationen waren, die Prosper ihnen für die Dauer einer Vorstellung zum Fraße vorwarf … bildlich gesprochen. Rodriguez verscheuchte die unnützen Gedanken an eine Zeit, die nie mehr wiederkommen würde. Publikum, ganz gleich, wie verbrecherisch, gehörte sicherlich nicht zu dem, was Kargor ihnen bieten konnte. Oder besser gesagt: wollte. Kargor, der Dämon. Das Böse an sich. Der Teufel hatte viele Namen. Und er versuchte seine Opfer auf vielfältige Weise. Niemand musste seine Beweggründe verstehen. Denn sie verstehen, hieße, überlegte Rodriguez, bereits ähnlich verdorben und durchtrieben zu sein wie er. Die Schleier vor seinem Blick verschwanden jetzt völlig. Prosper lächelte ihn an. »Endlich, Junge, wir dachten schon, du hättest es nicht geschafft.« Rodriguez spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Hinterkopf
bildete. Er hob den Oberkörper und stützte sich auf seine Ellenbogen. Er lag tatsächlich im Gras. Am Himmel stand eine Sonne, die … seltsam aussah. Ihr Licht war furchterregend. Rot. Feindlich. Eine einzige Bedrohung. Warum war das draußen im All niemandem aufgefallen? Als Kargor ihnen das System zeigte. Das Zentralgestirn mitsamt seinen sieben Welten, die durch ein Gewirr von leuchtenden Energiebahnen miteinander verknüpft waren. Wind zerrte an Rodriguez' Haar und Kleidung. Aber er rührte sich nicht, konnte nur weiter zum Himmel starren, wo dunkle Wolken aufzogen. Endlich trieb eine davon vor die schreckliche Sonne … und verhüllte ihr Antlitz. Erst da schaffte Rodriguez es, den Blick zu lösen, ihn zu Prosper und den anderen schweifen zu lassen. »Werden wir …«, hauchte er wie im Fieber, »… sterben?« »Klar!«, kicherte eine Stimme, die er traumwandlerisch sicher Pancake zuordnete, dem Mann, der eigenem Bekunden nach »für einen guten Pfannkuchen starb«. Rodriguez drehte sich nicht um in die Richtung, aus der die heisere Stimme gekommen war. Pancakes wahren Namen kannte niemand, vielleicht noch nicht einmal Direktor Mérimée. (Direktor Mérimée … Himmel, durchfuhr Rodriguez, so geschwollen denk ich doch sonst nie! – Ein sicheres Zeichen dafür, wie verunsichert er war, und daran war nicht nur die Sonne schuld.) »Unsinn!«, schnaubte Prosper. »Hör nicht auf ihn. Du kennst ihn doch. Er ist 'ne alte Unke.« »Die alte Unke lässt's hier gleich schneien!«, maulte Pancake in seinem beleidigtsten Tonfall. Nur um einen halben Atemzug später hinzuzufügen: »Und ich hab doch recht: Sterben müssen wir schließlich alle mal. Irgendwann …« »Irgendwann. Aber nicht heute«, wies in Prosper zurecht. »Und nicht hier. Kargor mag vieles sein, aber kein Verschwender.« »Verschwender?«, echoten Rodriguez und Pancake wie aus einem Mund. Jetzt wandte ihm Rodriguez doch das Gesicht zu. Der alte
Mann, der seine Atemtemperatur so steuern konnte, dass selbst bei hohen Plusgraden Nebelfahnen oder gar Schneeflocken aus seinem Mund entwichen, nahm es zum Anlass, um hinzuzufügen: »Wie meinst du das, Rex?« Niemand sonst nannte Prosper Mérimée jemals »Rex« – in Anlehnung an eine längst ausgestorbene irdische Sprache, in der dieses Wort König bedeutete. »Er verschwendet keine Ressourcen«, sagte Mérimée ruhig, obwohl auch sein Blick mit deutlichem Unbehagen über den Himmel strich. »Du denkst also, wir sind für ihn Ressourcen«, sagte der klapperdürre Pancake, der wenig Chancen hatte, so alt zu werden, wie er jetzt schon aussah. »Ich halte es nicht für ausgeschlossen, eher für wahrscheinlich«, bejahte Mérimée auf etwas umständliche Weise. »Wie kommst du darauf?«, wandte sich Rodriguez an den Direktor, nachdem er dem Disput eine Weile stumm gefolgt war. »Kargor hat uns hierher verschleppt – richtig?« »Richtig.« »Und will uns eigenen Worten zufolge hier … zurücklassen – richtig?« »Ja, auch richtig. Jedenfalls, wenn ich's richtig mitgekriegt hab. Ging ja alles ein bisschen schnell, oder? Dieser … Transfer, so nannte er es, glaub ich.« »Ob er noch irgendwo in der Nähe ist und uns beobachtet?« Eine neue Stimme brachte sich in das Gespräch ein. Rodriguez sah nach links und erkannte Sarah Cuthbert, die von sich behauptete, einmal die mächtigste Frau der Erde gewesen zu sein. Die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika – was auch immer das sein sollte. In Rodriguez' Geschichtsdateien hatte davon nichts gestanden. Wobei … sehr, sehr wenig über die Zeit vor dem Master-Erscheinen auf der Erde im Unterricht und Alltag behandelt wurde. Die Epochen davor wurden allgemein nur die Dunklen genannt. Ins Detail ging niemand, Wissen aus der »Vorzeit« galt sogar als gefährlich, ja, geächtet. Das Getto wäre deutlich bevöl-
kerungsärmer gewesen, hätte nicht mancher Unverbesserliche seine Nase in Dinge gesteckt, die verpönt waren. Aber für viele war die Prä-Master-Ära gerade deshalb so verlockend, weil die Beschäftigung mit ihr verboten war. Für sie musste das Getto, speziell Prosper Mérimées einstige Bibliothek, ein intellektuelles Schlaraffenland gewesen sein. Jedenfalls, solange es existierte. Aber die Master hatten reinen Tisch gemacht. Das Regime hatte aufgehört, Aufwiegler, Außenseiter oder einfach nur Fragesteller zu tolerieren. Falls es überhaupt noch ein Regime gab. Immerhin hatte zwischenzeitlich Darnoks Entartungsfeld in der Milchstraße gewütet und innerhalb ihrer Grenzen Jahrtausende verstreichen lassen, während »draußen«, im restlichen Universum, nur das ein oder andere Jahrhundert vergangen waren. Niemand wusste, wie es heute, jetzt gerade, auf der Erde aussah. Ob sie überhaupt ihre Bahn um Sol zog. Ob es, abgesehen von der RUBIKON-Crew oder ihnen, den »Zirkusleuten«, überhaupt noch Menschen gab. Aber die Folgen der Zeitentartung betrafen nicht nur das Solare System und seine Bewohner, sie hatten die Karten aller bekannten Spezies in dieser Galaxie neu gemischt. Nie war das Bild der Milchstraße unschärfer gewesen als in diesen Tagen, da es noch nicht gelungen war, Kontakt zu irgendeinem der einstmals bekannten außerirdischen Völker aufzunehmen. Die Jay'nac zählte Rodriguez in dieser Beziehung bewusst nicht. Sie waren ein Sonderfall, da sie sich samt ihrer Heimat Nar'gog hinter einen Schutzschild zurückgezogen und so nicht »schneller« gelebt hatten als irgendeine Spezies jenseits der Milchstraße. »Wer weiß«, sagte Prosper Mérimée. »Vielleicht ist er da, vielleicht auch nicht. Wir sollten unser weiteres Tun nicht davon abhängig machen – meine bescheidene Meinung dazu.« Er machte eine Geste zu den anderen hin, die unweit von ihnen am Fuße eines gewaltigen, kobaltblauen Turms (den er schon vom Weltraum aus gesehen hatte) standen oder saßen. Rodriguez musterte sie der Reihe nach – jede der Gestalten, die
mit ihm auf diese Welt herabgestiegen war, ein, zwei Sekunden lang. Für eine Weile verlor der blutrote Himmel, in dem es brodelte und der ständig neue Wolkenmuster entwarf, seinen Schrecken. »Es war verrückt, oder?«, wandte er sich schließlich wieder an Prosper. »Als würde man auf dem Licht surfen, dahingleiten …« Fast schwärmerisch kamen die Worte über seine Lippen. Plötzlich merkte er, dass nicht nur der Direktor ihn sonderbar musterte. »Was ist?«, fragte er. »habe ich etwas Falsches gesagt?« »Das kommt darauf an«, erwiderte Mérimée zurückhaltend. »Worauf?« »Was du gerade gemeint hast.« »Die Reise hier herunter. Durch das System. Von Kargors Perle aus. Es war … fantastisch – war es das nicht?« Sarah fuhr sich über ihr streng mittig gescheiteltes Haar, das eng wie eine Kappe an ihrer Kopfhaut anlag. Sie trat einen Schritt auf Rodriguez zu. »Du machst Spaß, oder?« Er blinzelte verwirrt. Fragend schaute er zu Mérimée auf. »Ich hätte wohl besser den Mund gehalten?« Der Direktor schüttelte den Kopf. Er streckte den Arm aus. Rodriguez ergriff die dargebotene Hand und ließ sich aufhelfen. Als er stand, legte ihm Mérimée eine Hand auf die Schulter. »Junge«, sagte er und stockte, als müsste er sich jedes Wort, das er sagte, genau überlegen. »Roddy. Du willst nicht wirklich behaupten, dass du vom Transfer – etwas mitbekommen hast? Es verging nur ein Sekundenbruchteil, wenn überhaupt, zwischen dem Verlassen der Perle und unserem Wiederfinden hier auf der Angk-Welt …« Er zögerte erneut, rieb sich über den Nacken. Dann murmelte er fast zu sich selbst. »Du warst der Einzige, der hier besinnungslos ankam. Seltsam. Wirklich seltsam, dass gerade du meinst, den Transfer in all seinen Nuancen erlebt zu haben … Falls dem wirklich so wäre – könntest du uns beschreiben, wie es war? Deine Eindrücke währenddessen. Alles, was du gefühlt oder gesehen zu haben glaubst …«
In diesem Moment dämmerte es Rodriguez endgültig, dass er offenbar tatsächlich der Einzige war, der die Fahrt über die Energiestraßen bei Bewusstsein mitgemacht hatte. Für alle anderen, das kristallisierte sich immer stärker heraus, war subjektiv nur ein Lidschlag zwischen dem Ortswechsel Perle und Angk-Welt vergangen. Sie hatten die eigentliche Passage nicht wahrgenommen. Aber – warum nicht? Oder besser gefragt: Warum ausgerechnet er? »Es könnte mit deinem Talent zusammenhängen, Rod«, meinte der Direktor schließlich. »Aber frag mich nicht, wie. Ich bin ratlos. Wie geht es dir jetzt? Fühlst du dich mitgenommen, krank?« Rodriguez schüttelte entschieden den Kopf. Über ihnen starrte die rote Sonne wie ein blutunterlaufenes Auge zu ihnen herab. Der Wind zerzauste die Haare und zerrte am Stoff ihrer Kleidung. »Wie lange … war ich ohnmächtig?«, fragte Rodriguez schließlich. »Ein paar Minuten.« Das erleichterte ihn. Er hatte schon befürchtet, einen sehr viel längeren Aussetzer gehabt zu haben. Sein Blick ging in die Ferne, weg von dem kobaltblauen Turm, an dessen Fuß sie standen. »Was ist das für eine Stadt?« Von den schildkrötenpanzerförmigen Gebäuden in der Ferne ging eine seltsame Lockung aus, die aber vielleicht auch nur er spüren konnte. »Wir wissen es nicht.« Rodriguez nickte. Er hatte nichts anderes als Antwort erwartet. Prosper Mérimée nahm die Hand von seiner Schulter und trat ein paar Schritte zurück, um zu allen zu sprechen. Allen, die mit ihm auf dieser Welt unter blutroter Sonne gestrandet waren. »Falls Kargor uns wirklich hier ausgesetzt hat – und zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir davon ausgehen«, wandte er sich an die Gruppe, »haben wir ein Problem.« Er zeigte hinauf zum Himmel. »Ich bin kein Experte, und vielleicht wissen es andere unter uns besser, aber für mich bietet sich der Anschein, als sei das da …« Er
meinte zweifelsfrei die Sonne. »… unser Problem. Für mich sieht es aus, als läge sie in ihren letzten Zügen …« Sein Gesicht wurde verbittert, als er die Hand zur Faust ballte und nach oben wie zu einem finsteren Gott reckte. »Das zum Thema ›künftige Heimat‹ und ›in Frieden leben‹. Die Entität treibt ein ganz falsches Spiel mit uns – wieder einmal. Ich fürchte, wir sind nicht zum Leben hierher geschickt worden, sondern um elend zu verrecken.«
Die Angst ging um, auch bei Rodriguez. Mérimées drastischen Worte hatten bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie waren beileibe nicht aus der Luft gegriffen, völlig haltlos also. Man brauchte sich nur offenen Auges umzusehen und eins und eins zusammenzuzählen, um zu einer ähnlich dramatischen Einschätzung der Lage zu kommen. Es war nicht die erste Situation, in der Rodriguez steckte, in der er sich fragen musste, ob er Angst hatte vor dem Tod – und die Antwort lautete hier wie zu jeder anderen Zeit, als es so weit war: ja! Eine Scheißangst hatte er! Alles Leben ist zum Tode verurteilt, hatte Pancake einmal eine Binsenweisheit vom Stapel gelassen, die sich tief in Rodriguez' Bewusstsein geprägt hatte. Aber erst heute wurde ihm bewusst, dass gerade Pancake ihm einiges voraushatte – vor allem an Alter. Er hatte bereits gelebt, wie gut oder schlecht auch immer. Er, Rodriguez, hingegen war jung und hätte – normalerweise – sein ganzes Leben noch vor sich. Wäre da nicht das Pech gewesen, einer außerirdischen Supermacht in die Quere zu kommen. Eine, mit der nicht gut Kirschen essen war. Nein, Rodriguez hing am Leben. Und es gab auch schönere Tode als den, auf einer fremden Welt in Kälte und Sturm umzukommen! Nachdem er Prosper und den anderen nach bestem Wissen geschildert hatte, wie für ihn der Übergang von der Perle nach Angk I verlaufen war, sonderte er sich ein wenig von den anderen ab und nahm den Turm in Augenschein, der in einer noch nicht näher ermittelten Verbindung zum Netz der Energie- oder Lichtstraßen (die
einen nannten sie so, die anderen so) zu stehen schien. Rodriguez selbst vermutete, dass der Turm eine Art Projektor enthielt, mit dem die Ankömmlinge auf den Boden davor materialisiert wurden. Aber das war eine ebenso gute oder schlechte Hypothese wie jede andere. Im Grunde kümmerte es momentan auch niemand sonderlich. Ihre aller Gedanken kreisten um das Vorrangige: das nackte Überleben. Dazu gehörten neben atembarer Luft (die es glücklicherweise gab) auch all die anderen »profanen« Dinge wie Nahrung, Trinkwasser oder Verteidigungsmittel. Falls es zu einer Situation kam, in der effektive Gegenwehr gefragt war. Noch immer war kein Tier in der Weite der Landschaft oder am Himmel aufgetaucht. Auch Insekten suchten die Ankömmlinge vergebens. Es gab nur das Gras und die gleichfarbenen Sträucher, die hier und da aus der Ebene stachen. Und den Turm, der riesig war und Rodriguez fast magnetisch anzog. Langsam umschritt er ihn. Auch andere aus der Gruppe taten das. Er grüßte sie, wenn er ihnen begegnete, aber zu einem Gespräch kam es nie. Es schien ihm auf die Stirn geschrieben zu stehen, dass er keinerlei Ambition zu einer Unterhaltung hatte. Bis in eine Höhe von etwa zwei Metern war das Kobaltblau des Turms völlig makellos. Darüber aber verlief ein etwa ein Meter breites Band, in dessen Grenzen zahllose Hieroglyphen eingraviert waren. Symbole, die eine suggestive Kraft ausströmten, ohne dass Rodriguez ihre Bedeutung auch nur hätte erahnen können. Immer wieder blieb er stehen, streckte die Arme aus und fuhr vorsichtig die Kontur einer Glyphe nach, die ihm besonders ins Auge stach. Es gab jedoch in all dem Gewimmel keine, deren Form sich von einem Wesen oder Gegenstand ableiten ließ, das Rodriguez kannte. Das allein war schon faszinierend. Er war sich jederzeit der absoluten Fremdheit dessen bewusst, was seine Sinne einfingen. Auch das Tasten vermittelte dies. Selbst Berührungen hatten etwas ganz Eigenes, das nicht vergleichbar mit anderen Oberflächen war,
über die er jemals die Finger hatte gleiten lassen. Aber letztlich hinterließ auch dieser Exkurs bei aller Faszination nur ein Gefühl der Angst. Und so kehrte er irgendwann zu den anderen zurück. Nicht klüger als zuvor. Aber dennoch, irgendwo, um eine Erfahrung reicher.
2. Kapitel Kargor zog sich zurück, tauchte in die verborgenen Tiefen seiner Prismengestalt ein, die ihm als Aktionskörper und Wohnort diente (ihm und allen anderen, die waren wie er), kaum dass der Transfer der Passagiere nach Angk I abgeschlossen war. Milliarden Stimmen empfingen und liebkosten ihn und nahmen ihn auf in den Pool der Seelen, den er verlassen hatte, um die Aufgabe zu erfüllen. Die Aufgabe … Eigentlich waren es derer viele. Eine Mission baute auf die andere auf. Nichts hatte ein Ende, alles war im Fluss. Sie hießen ihn willkommen. Alle wussten bereits, was er wusste. Sein Wissen war das ihre. Und umgekehrt. Es gab keine Geheimnisse. Gekommen war er indes ohnehin nicht zur Berichterstattung, sondern aus anderem Grund. Alphur ist im Sterben begriffen. Der Chor der anderen bejahte dies, und für einen Moment von unbestimmbarer Dauer badete er in ihren wohlmeinenden Impulsen. Bin ich befugt, Taranee zu erwecken? Du bist unser Arm, wehte ihm die Antwort der Milliarden entgegen. Sie waren im Einklang miteinander. Erwecke Taranee, damit das Reich wieder atmen kann. Kehre zurück und vollende, was der Arm begann. Vielen von uns hungert nach Licht, nach Luft und Bewegung. Nach der Nähe anderer. Du weißt es. Du bist der Arm. Zünde das Feuer des Lebens. Hauche Taranee den Atem ein, der auch manchen von uns zurückbringen wird ans Licht. Ganz gleich, von wie kurzer Dauer sein Aufenthalt im Pool auch gewesen sein mochte, Kargor hatte ihn genossen. Er hatte fast vergessen gehabt, wie es war, Individuum und Kollektiv zugleich zu sein. Die Bürde seiner Verantwortung fiel von ihm ab, weil die Zuversicht der anderen ihn zurück an die Oberfläche trug. Ein Ruck ging durch die Gestalt, die die Perle nicht verlassen hat-
te, sich immer noch dort aufhielt, wo sie zuletzt mit den Menschenpassagieren gesprochen hatte – vor deren Abschied. Ich werde sie wiedersehen, dachte er. Sie und ihre Nachkommen. Aber zuerst … Zuerst musste er Taranee erwecken. Und Alphur dorthin schicken, woher Taranee kam. Die Aufgabe war klein. Für einen Schöpfer. Kargor aktivierte die Perlensensoren, um Kontakt zur sterbenden Sonne herzustellen. Sie begrüßte ihn respektvoll – auch wenn es nur die Stimme der Maschinen war, die Alphur umschwebten. Maschinen, älter als die Sonne selbst. Viel, viel älter. Kargor wusste blind, welcher Befehle es bedurfte, um die Sonne endgültig zum Verlöschen zu bringen … … und zu entsorgen.
Die seltsame Stadt lag immer noch in der Ferne, als es zu dämmern begann. Niemand hatte es gewagt, sich ihr zu nähern, noch nicht jedenfalls, zumal der Turm, zu dessen Füßen sie angekommen waren, sie immer noch in seinen Bann zog. Er allein mochte mehr Rätsel beherbergen, als sie in ihrer Lebenszeit – selbst wenn die Sonne am Himmel diese nicht radikal verkürzte – ergründen konnten. »Wie hoch mag er sein?«, überlegte Scobee laut. Sie saß auf einem glatt polierten Stein, der eine Maserung und Färbung wie Onyx hatte – schwarze und weiße Lagen, die an der Oberfläche wundervolle Strukturen bildeten. Er war körperwarm und fühlte sich fast weich an. Anfangs hatte Scobee befürchtet, es könnte etwas völlig anderes sein als Stein. Aber mittlerweile hatte sie sich an das Gefühl, darauf zu sitzen, gewöhnt. Prosper, der mit dem Rücken zum Turm an einer lichten Stelle im Gras saß, schaute über die Schulter und meinte: »Kann ich nicht sa-
gen. Aber es müssen Kilometer sein.« »Sein Durchmesser beträgt höchstens fünfzig, sechzig Meter. Keine Statik der Welt könnte so etwas aufrecht halten – oder vor dem Zusammensturz bewahren«, gab sie zu bedenken, obwohl das ziemlich genau auch ihrer Einschätzung entsprach. »Du meinst, keine Statik unserer Welt«, entgegnete er achselzuckend. »Vergiss nicht, wir haben es hier mit ERBAUER-Technologie zu tun – höchstwahrscheinlich jedenfalls.« »Du meinst, sie leben hier?« »Leben oder lebten«, mischte sich Sarah Cuthbert ein. Sie saß so nah bei Prosper, dass sich ihre Arme fast streiften, wenn einer von ihnen sich bewegte. Für Scobee keine Überraschung. Schon an Bord der RUBIKON hatte sie bemerkt, dass der ehemalige Bewohner des Gettos und die Ex-Präsidentin einander große Sympathie entgegenbrachten. Und es hatte sie verwundert, dass es nie zu intimeren Momenten zwischen beiden gekommen war – zumindest zu keinen, die nach außen erkennbar geworden waren. Im Miteinander gaben sie sich immer noch freundschaftlich distanziert. Aber das war ihre Sache. Scobee wusste, wie schwer es mitunter sein konnte, die Signale des eigenen Körpers und der eigenen Emotionen zu deuten. Sie hatte dergleichen oft genug im Zusammenspiel mit Cloud erlebt. Dass sie kurz nach dem Friedensschluss zwischen Satoga und Jay'nac einmal auf »Erkundungstrip«, wie sie es nannte, gegangen waren und Grenzen überschritten hatten, war im Nachhinein betrachtet wohl nicht die beste Entscheidung gewesen. Es hatte viel Magie zerstört – und für sie zumindest letztlich die Gewissheit erbracht, dass Cloud nicht ihr Mr. Right war. Sie wünschte Sarah und Prosper ein besseres Händchen. »Das Problem ist«, sagte sie, »wir wissen eigentlich nichts. Gar nichts. Kargor hat uns ohne jedes Rüstzeug hierher verbannt. Möglich, dass dies wirklich seine Heimat ist und dass wir hier auf ein Heer solcher treffen, die sind wie er …« »Grausam, skrupellos und nur sich selbst gegenüber Rechenschaft schuldig?«, fragte die Lange Paula, die sich aus der Richtung des
Turms näherte und auf Prospers anderer Seite niedersetzte. Ihre Miene war betont ausdruckslos, aber Scobee war Frau genug, um die seismischen Erschütterungen zu spüren, die sich hinter Paulas Augen ereigneten, hier, in unmittelbarer Nähe der Rivalin. Im Gegensatz zu Sarah hatte Scobee Paula und Prosper diverse Male eng umschlungen in irgendeinem Winkel der RUBIKON gesehen. In letzter Zeit jedoch schien sich ihre Zuneigung abgekühlt zu haben. Zumindest von Prospers Seite. Scobee lächelte. »Treffend charakterisiert. Ich hätte Mühe, etwas Positives über ihn zu sagen.« »Er hat dich befreit«, erinnerte Prosper sie, erkennbares Unbehagen färbte seine Stimme. Woran zumindest eine der beiden Frauen, die ihn einrahmten, schuld war. Offensichtlich. »Wozu auch immer.« Scobee machte eine abwiegelnde Geste. Sie hatte Mühe, sich Kargor wirklich als ihren Befreier vorzustellen. Obwohl er mit großem Geschütz über Nar'gog aufgefahren war. »Das mag sein«, erwiderte er. »Aber Fakt ist, dass du genau wie wir offenbar dazu bestimmt bist, dein Leben hier auf dieser Welt zu fristen.« Er hob den Arm und zeigte in die Richtung, wo die Sonne kurz zuvor blutrot versunken war. Seither war es empfindlich kalt geworden. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Nacht auf einer fremden Welt herbeisehnen könnte. Aber hier tue ich's. Der Anblick dieser Sonne ist wirklich nichts für sensible Gemüter. Hattet ihr auch das Gefühl, ihre Strahlen würden sich geradewegs ins Gehirn brennen? Hier zu leben, muss die Hölle sein. Wir werden es nicht lange ertragen. Auch wenn das nach Schwarzmalerei klingt – aber ich kann aus meinem Herzen keine Mördergrube machen. Ich mag diesen Planeten nicht. Und seine sechs Geschwister auch nicht – dafür muss ich sie gar nicht erst betreten. Die Sonne ist ja überall gleich.« »Du glaubst wirklich, dass sie stirbt«, erkannte Paula mit einer Betroffenheit, die ihre Fassade kurz zum Bröckeln brachte. Er sah sie an. »Du nicht?« Sie zuckte die Schultern. Schwieg. Kniff die Lippen zusammen.
»Er hat uns reingelegt«, meldete sich Rodriguez zu Wort. Er hatte bei einer anderen Gruppe gesessen, kam aber jetzt zu ihnen und stellte sich zwischen Prosper und seine Frauen und Scobee. Scobee lächelte ihm zu. Sie hatte den Halbwüchsigen an Bord der RUBIKON kaum wahrgenommen, obwohl sie ihm ebenso häufig begegnet war wie jedem anderen Mitglied von Prospers ehemaligem Zirkus. Aber hier auf Angk I hatte sie ihn sofort bemerkt. Nicht allein, weil er ihnen mit seiner Bewusstlosigkeit Sorgen bereitet hatte, nein, sein ganzes Wesen sprach sie an. Als er vorhin zu der anderen Gruppe gegangen war, hatte sie sich dabei ertappt, dass sie das bedauert hatte. Verrückt. Er war noch ein halbes Kind. Und das, was sie seine Nähe suchen ließ, war … alles andere als dazu passend. Sie rief sich zur Räson. »Aber es hätte dieses Tricks, dieser Täuschung doch gar nicht bedurft«, griff sie den Faden auf. Sie nickte Rodriguez zu, den Prosper häufig Rod oder Roddy nannte. »Kargor hätte uns schon an Bord der Perle zeigen können, wie es um dieses System bestellt ist. Dass sein Zentralgestirn fast ausgebrannt ist und auf absehbare Zeit keine Kraft mehr haben wird, den Welten, die es umlaufen, genug Licht und Wärme zu spenden, um darauf Leben zu ermöglichen. Er hätte es einfach tun können, wenn er uns wirklich so böse gesonnen ist, wie viele von uns zu glauben scheinen. Okay … ich eingeschlossen. Er hat uns noch nicht wirklich viel Grund gegeben, ihn zu mögen. Aber nichtsdestotrotz: Er hätte diese Sperenzien nicht nötig. Er hätte sagen können: Hier, seht, diese Hölle ist eure neue Heimat. Dort könnt ihr zusehen, wie ihr euch durchschlagt! Stattdessen hat er uns eine rosige Zukunft versprochen … Das macht für mich keinen Sinn.« »Vielleicht«, sagte Prosper philosophisch, »liegt der grundlegenden Fehler schon darin, ihm überhaupt sinnvolles Handeln zu unterstellen.« Der Wind nahm zu. Eine heftige Böe strich aus der Richtung, die Stadt und Turm entgegengesetzt lag, über die Landschaft, bog fremdartige Sträucher und Gräser und zerrte an den Menschen, die
sich dichter zusammendrängten. Erst in diesem Moment wurde Scobee bewusst, wie kalt es wirklich war. Zum Sterben eisig. Eine weiße Atemfahne löste sich von ihrem Mund, als sie aufstand und sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor die Gruppe stellte. »Wir müssen entweder in den Turm – oder hinüber zu den Häusern. Der Turm ist näher, deshalb schlage ich vor, dass wir versuchen, uns Zutritt zu verschaffen, wenigstens bis zum Morgen, wenn die Sonne wieder aufgeht. Hier draußen werden wir jämmerlich erfrieren. Das ist abzusehen. Man kann förmlich fühlen, wie das Thermometer sinkt.« So schnell es kalt geworden war, so schnell senkte sich auch die Dunkelheit über das Land. Die Häuser in der Ferne begannen zu leuchten, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Es sah aus, als legten sich Auren um die einzelnen Gebäude. »Wenn da keiner zu Hause wäre, wäre das doch eine verdammte Energieverschwendung – oder?«, spöttelte Pancake und kicherte, als belastete es ihn in keiner Weise, was für sie alle auf dem Spiel stand. Einige von ihnen hatten die Stunden seit der Ankunft damit verbracht, den Turm in Augenschein zu nehmen, allerdings ohne auch nur die Andeutung eines Zugangs zu finden. Darauf wies Sarah jetzt hin. Gleichzeitig zeigte sie zu der sonderbaren Stadt. »Ich würde eher dazu raten, dorthin zu gehen. Hier finden wir doch keinen Einlass, das haben wir längst probiert. Keine Ahnung, was der Turm mit unserem Transfer zu tun hatte – aber rein kommen wir ohne spezielles Know-how nicht.«. Sie versuchten es trotzdem noch einmal, mit vereinten Kräften. Aber der kobaltblaue Turm (der im Übrigen nicht zu glimmen begann wie die entfernt liegenden, schildkrötenpanzerartigen Gebäude) wirkte wie aus einem Guss geformt, es gab, von den unbekannten Symbolen abgesehen, nicht die kleinste Fuge, die auf eine verborgene Tür hinwies. Minuten später – es begann gerade zu schneien, und faustgroße Flocken fielen vom Himmel – einigte sich die Gruppe darauf, doch
zur Stadt aufzubrechen und dort Schutz zu suchen. Die Alternative war erfrieren. Aber keiner wollte Kargor einen so schnellen Triumph gönnen. Aber lange bevor sie den erhofften Schutz erreichten, verwandelte sich das Schneetreiben in einen ausgewachsenen Blizzard und raubte den meisten von ihnen jeden Mut. Die Tuniken, von Kargor an Bord der Perle erhalten, boten keinen nennenswerten Schutz vor den Unbilden des Wetters. Verzweiflung machte sich breit. Und die Schemen, die sich ihnen aus der Stadt näherten, bemerkten sie erst, als sie bereits bei ihnen angekommen waren. Und über sie herfielen. Es wurde ein ungleicher Kampf, der schnell entschieden war. Selbst Scobee, deren Konstitution und kämpferische Möglichkeiten überdurchschnittlich waren, hatte keine Chance. Netze flogen. Die Häscher hatten leichtes Spiel. Ihnen schien der Blizzard nichts anhaben zu können. Nur Minuten nach der Attacke zogen sie mit ihrer Beute wieder ab Richtung Stadt.
Mit Sonnenuntergang wurde die Lage auf der betroffenen Seite des Planeten dramatisch. Kargor hatte sich zuvor nicht wirklich damit auseinandergesetzt, sonst hätte er mit dem Transfer der neuen Bewohner noch gewartet. Und als es ihm auffiel, wollte er den gemachten Zug nicht noch einmal zurücknehmen. Es wäre ihm als Schwäche ausgelegt worden. Deshalb entsandte er, während er sich weiter mit der Erweckung Taranees befasste, die Tavner, was so viel wie Diener in seiner Sprache hieß. Aber der harmlose Begriff täuschte über das Arsenal von Waffen hinweg, mit denen die Tavner ausgestattet waren. Notfalls konnten sie eine Angk-Welt gegen eine komplette feindliche Invasionsmacht dieser Realitätsebene verteidigen. Dazu war es in der Vergangenheit nie gekommen – und es würde auch in Zukunft nicht dazu kommen. Aber eine der Maximen der
Ersten war es, für alles gewappnet zu sein. Damit waren sie in all den Äonen gut gefahren. Kargor hatte ein Gefühl von völliger Auflösung, als er an die unglaubliche Zahl von Jahren dachte, die er bereits in diesem Gefängnis weilte. Aber dieser Anflug von Verzweiflung verging wieder wie all die anderen davor. Ohne in seiner Konzentration nachzulassen, widmete er sich dem Akt der Schöpfung, der Leben für die nächsten Jahrmillionen sichern sollte. Es hätten Jahrmilliarden sein können, wäre das System nicht so energieaufwendig gewesen. Aber allein die Aufrechterhaltung der Straßen zehrte enorm an dem Sonnenfeuer, das die nötige Kraft dafür lieferte. Er hatte nie gelernt, in diesem Körper zu lächeln (wahrscheinlich, weil er nie das Bedürfnis dazu verspürt hatte), aber so versunken in die Arbeit wie jetzt, breitete sich zumindest ein warmes Gefühl in jedem Segment seines kristallinen Körpers aus. Er fühlte sich, nach kurzer Krise, wieder im Einklang mit sich selbst und mit den anderen. Und mit allem, was sie hier geschaffen hatten. Als eines ihrer ersten Werke im Exil. Zu dem sie heute noch den meisten Bezug hatten. Ein Ort, der ihnen die Imagination von Heimat vermittelte – auch wenn die wahre Heimat unerreichbar geblieben war bis in diese Zeit. Er hatte sich in den elitären Bereich der Perle zurückgezogen – dorthin, wo kein Gloride, geschweige denn ein anderes Wesen, jemals unbefugten Zutritt erlangt hatte. Kargor versank in den Holographien, die ein Abbild der Realität waren. Seine kristallinen Gliedmaßen berührten in rasendem Tempo mal dieses, mal jenes Symbol des Perlenrechners, der Kontakt zu den Maschinen im engen Orbit um das Gestirn aufgenommen hatte. Die sterbende Sonne verlor an Schärfe. Die sterbende Sonne geriet in den Fokus der Gewalten, die Kargor zündete. Ein Loch entstand. Ein Loch in der Realität, das einen unwiderstehlichen Sog auf die verbrauchte Sonne ausübte. Ein sonnenloser Moment entstand.
Das System verlor sein Zentrum. Für die Dauer eines … was? Wie viel Zeit verstrich, ehe der Wechsel vollzogen, die neue Realität etabliert war? Es hatte Kargor nie interessiert. Nur das Ergebnis zählte. Und zufrieden löste er sich aus dem Gespinst der Holoelemente. Es war vollbracht. Die Angk-Welten erstrahlten in neuem, vitalisierendem Licht …
3. Kapitel Als Prosper erwachte, fühlte er sich, als wäre ihm jeder noch so kleine Muskel im Leib gezerrt worden. Sein kompletter Körper war in Schmerz getaucht; nicht unerträglich, aber doch von solcher Präsenz, dass er sekundenlang nichts anderes tun konnte, als sich darauf zu konzentrieren. Seine Augen waren offen, und trotzdem war es dunkel. Wo bin ich?, dachte er. Und als würde der Gedanke ein Licht zünden, kam von irgendwoher plötzlich ein Strom von Helligkeit. Der Anblick der Gefährten, die um ihn verstreut am Boden lagen, beruhigte ihn sofort und ließ ihn sogar den Schmerz weitgehend vergessen. Die Erinnerung kehrte zurück, erst zögerlich, dann mit Vehemenz. Sie gipfelte in den Moment, als die feindseligen Schatten aus dem Eishagel des Blizzards aufgetaucht waren – fremdartige Gestalten, die Ähnlichkeit mit den Gebäuden der Stadt hatten, die Prosper und seine Freunde zu erreichen versucht hatten. Ohne Vorwarnung hatten sie angegriffen. Es hatte ausgesehen, als würden sich aus ihren hornig gepanzerten Körpern dunkle Netze lösen, die mit unentrinnbarer Wucht nach den Gestrandeten gegriffen hatten. Auch Prosper hatte sich plötzlich von den Maschen eines solchen Netzes umwickelt gefühlt, er war gestürzt, und dann hatte sich auch schon der sengende Schmerz an jeder Stelle, die mit dem Netz in Berührung gekommen war, durch seine Haut gefressen. Der Stoff seiner Kleidung hatte keinerlei Schutz davor geboten, er hätte ebenso gut nackt sein können. Wenige Atemzüge später war sein Bewusstsein geschwunden. Er hatte geglaubt, nie wieder aufzuwachen, sondern todgeweiht zu sein … Nun aber war er hier erwacht, vermutlich in einem Gebäude der Stadt, zusammengepfercht mit seinen Gefährten, von denen noch
keiner außer ihm erwacht zu sein schien. Niemand regte sich, und für einen grausamen Moment tastete Prospers Verstand die Möglichkeit ab, dass er der einzige Überlebende sein könnte, dass alle anderen tot waren und er nur durch eine Laune des Schicksals davongekommen war. Umgeben von Leichen … Das stellte sich zu seiner Erleichterung als Irrtum heraus. Ein Stöhnen war der erste Hinweis. Dann begann eine Gestalt, wenige Schritte von ihm entfernt, zu zucken. Es war Sahbu, sein engster Vertrauter seit Gettozeiten. Prosper kroch zu ihm, kam an anderen vorbei, deren Puls er rasch fühlte. Ihre Körper waren warm und alle am Leben. »Sahbu …« »Meister.« Es lag kein Spott in der Anrede des Freundes. Aufgrund seiner beispiellosen Bibliothek hatte Prosper im Getto für Eingeweihte auch als »Meister des verbotenen Wissens« gegolten. Denn was er im Laufe seines Lebens an niedergeschrieben Informationen zusammengetragen hatte, streifte sämtliche Zeitalter der Zivilisation, wie sie vor Erscheinen der Master gewesen war. Epochen, deren wahre Natur die Master gerne verfälschten oder komplett unterdrückten. Aber gerade Prosper hatte nach eingehender Lektüre diejenigen seiner Mitleser gewarnt, die da glaubten, alles, was geschrieben stand, entspräche der »wahren Wahrheit«. Auch Gedrucktes konnte lügen, und da es sich bei vielen Büchern nicht einmal um Werke handelte, die sich die unverfälschte Wiedergabe von Tatsachen aufs Banner geschrieben hatten, sondern um fiktive Werke mit frei erfundenen Handlungen, war es zwar möglich, Zeitgeist und andere Dinge daraus zu entnehmen, aber keineswegs durfte jedes geschriebene Wort zum Dogma erklärt werden. »Hast du auch solche Schmerzen?« »Ja, Meister.« »Das waren diese Höllenhunde, die uns mit Netzen außer Gefecht setzten …« »Höllenkröten träfe es wohl eher. Ich sah den, der mich niederstreckte. Er sah furchterregend aus, nicht größer als ein erwachsener
Mensch, aber sehr viel gedrungener. Wie eine … Schildkröte auf zwei Beinen eben. Wobei die Wölbung des Panzers nicht nur auf dem Rücken, sondern auch vorne auf der Brust war.« »So ähnlich sah ich es auch, kurz bevor es finster wurde.« »Wenigstens sind wir jetzt im Warmen. Das wollten wir doch. Zuflucht suchen …« »Siehst du irgendwo eine Tür?« »Nein.« »Dann sollten wir unseren Optimismus stark zurückschrauben. Ich glaube ohnehin nicht, dass dies das übliche Prozedere ist, um Besuchern die Gastfreundschaft anzutragen.« Sahbu nickte. »Wir sind Gefangene. Dieser Mistkerl Kargor muss gewusst haben, was uns hier unten erwartet. Nicht nur diese komische Sonne, die mich selbst in meine Träume verfolgt … da sind auch diese aggressiven Planetenbewohner. Nach unserer Begegnung mit ihnen glaube ich übrigens nicht mehr wirklich, dass es sich um ERBAUER handelt. Sie haben keinerlei Ähnlichkeit mit Kargor …« »… was aber rein gar nichts bedeuten muss. Du hast seine Wandlungsfähigkeit gesehen. Er kann nach Belieben Gestalt annehmen. Vielleicht sind wir hier erstmals auf ERBAUER getroffen, die sich uns unmaskiert zeigten. Vielleicht …« Sahbu schüttelte entschieden den Kopf, was offenbar den Schmerz kurzzeitig ins Uferlose anschwellen ließ. »Den Eindruck vermitteln sie mir absolut nicht. Sie wirkten nicht wie geniale Geister, denen ich es zutrauen würde, die Perlen und alles, was dazu gehört, zu ersinnen und zu bauen. Nein, so wirkten sie ganz und gar nicht. Eher wie tumbe Werkzeuge, Befehlsempfänger, die kritiklos nach der Pfeife der ERBAUER – nach Kargors Pfeife beispielsweise – tanzen.« »Mag sein.« Prosper ließ den Blick durch den Raum schweifen. Immer mehr Körper regten sich. Stöhnen prägte die Lärmkulisse, bis … … es plötzlich ohrenbetäubend still wurde. Nicht nur Prosper, auch Sahbu wusste sofort, was passiert war. Ihre Augen suchten den Halbwüchsigen, der zum Ensemble ihres
Zirkus gehört hatte, und fanden ihn gleichzeitig. Vielsagend nickten sie einander zu. Rodriguez erhob sich gerade wankend. Sein Gesicht spiegelte die Qual wider, die die Netzwaffe der Angreifer auch bei ihm hinterlassen hatte. Aber da war noch mehr, was ihm zugesetzt hatte, und erst jetzt, in der absoluten Stille, in der kein Kleidungsstück raschelte, kein Atem mehr hörbar war, nicht einmal das Rauschen des eigenen Blutes in den Ohren, gelang es ihm, ein wenig zu entspannen. Seine Züge lockerten sich. Er blickte zu Prosper und zuckte fast entschuldigend die Achseln. Im nächsten Moment kehrte die Lautkulisse zurück. Rodriguez hatte seine Kräfte zurückgenommen. Seine Gabe, von der niemand auch nur annähernd wusste, wie sie funktionierte, aber alle kannten ihre Wirkung. Der Halbwüchsige war allein kraft seines Willens in der Lage, eine Art Glocke über sich und seine Umgebung zu legen, in der kein noch so leises Geräusch aufzukommen vermochte. Absolute Stille war etwas Verwirrendes, denn niemand erlebte sie im Alltag. Irgendein Geräusch gab es immer, und sei es noch so leise, noch so fern. Die völlige Abwesenheit von Lauten hatte selbst Prosper bislang nur während der Vorstellungen erlebt, in denen Rodriguez – dessen Künstlername Silence Programm war – seine Nummer vorführte. Die Reaktionen darauf waren stets verhalten geblieben. Kein tosender Applaus, sondern Nachdenklichkeit hatte er beim Publikum hinterlassen. Aber Prosper hatte nie den Eindruck gewonnen, dass ihm das zu wenig gewesen wäre – im Gegenteil. »Entschuldigt – ich habe das Jammern nicht mehr ertragen. Zu meinem eigenen Schmerz …« Seine Stimme klang dünn, fast kindlich. Aber keiner der Mitgefangenen machte ihm einen Vorwurf. Sie alle hatten, jeder auf seine Weise, mit den Nachwehen der Verschleppung zu kämpfen. Prosper ließ ihnen die Zeit, die sie brauchten, um sich zu sammeln und sich nacheinander vom metallisch glänzenden Boden zu erheben. Er war noch immer eine Autorität für sie, und als er sagte: »Helft mit zu prüfen, ob wir noch alle vereint sind!«, gehorchten sie
ohne jede Widerrede. Jeder kannte jeden, und jeder ließ seinen Blick über die Gemeinschaft wandern. Eine Minute später stand fest, was Prosper Mérimée insgeheim befürchtet, aber als Möglichkeit erst einmal von sich geschoben hatte. Jemand fehlte. Eine Frau, die vielleicht schon nicht mehr am Leben war. Wer wollte schon sagen, was da draußen im Schneegestöber im Detail passiert war. »Scobee …«, ging der Name der Vermissten von Ohr zu Ohr. »Scobee ist nicht bei uns … Sie ist weg …«
»Ich bin Ramh«, sagte die Schildkröte. »Folge mir. Du wirst erwartet.« Scobee konnte das fremde Geschöpf sekundenlang nur anstarren. Vor Minuten war sie in einem kahlen Raum ohne Fenster zu sich gekommen, einfach auf dem nackten Fußboden, der, wie Wände und Decke auch, aus einem unbekannten, aluminiumfarbenen Metall bestand. Sie war allein gewesen, hatte nach ihren Gefährten gerufen, aber keine Antwort erhalten. Licht strömte aus unbekannter Quelle. Es war mild und leuchtete jeden Winkel des knapp zwanzig Quadratmeter großen Raumes schattenlos aus. Den Schmerz, der ihren ganzen Körper drangsalierte, konnte sie ignorieren. Er stellte keine wirkliche Herausforderung dar, ihre Konstitution war diesbezüglich überdurchschnittlich gut und kam mit derlei Blessuren zurecht. Manchmal zahlte es sich eben aus, eine GenTec zu sein, ein genetisch optimierter Klon … Sie verbiss sich jeden Sarkasmus zu ihrer Herkunft, und sei es nur in Gedanken. Seit sich eine ovale Öffnung an einer Wandstelle gebildet hatte, wo vorher nicht das kleinste Anzeichen für eine Tür zu sehen gewesen war, »erfreute« sie sich der Gesellschaft einer menschengroßen, aufrecht auf zwei gedrungenen, muskelstrotzenden Beine gehenden »Schildkröte« – oder präziser ausgedrückt: eines Außerirdischen,
der frappante Ähnlichkeit mit den Reptilien aufwies, die Scobee von der Erde kannte. Nur dass diese selbstredend sehr viel kleiner gewesen waren und sich auch in vielen Details unterschieden, die erst bei genauerem Hinsehen ins Auge stachen. So war beispielsweise der Panzer keine Hornschale, in die der Extraterrestrier seine »Weichteile« – Kopf und Extremitäten – bei Bedarf zurückziehen und schützen konnte, sondern er umhüllte ihn mehr nach Art einer fixen Rüstung; um den Schutz des Hauptes, der Arme und Beine musste er sich anderweitig kümmern. Offenbar trug er deshalb auch einen Helm, der die Schädelkontur exakt nachzeichnete und nur das Gesicht freiließ. Der Helm war aus einem Metall gefertigt, das nicht glatt poliert war, sondern rau, fast schroff aussah und eher an einen behauenen Felsen erinnerte. Aber gerade dadurch passte er, auch in seiner Farbgebung, perfekt zum Hornpanzer. Beine und Füße – die dreizehig waren – besaßen nur hier und da Accessoires, die künstlicher Natur waren; ihr Zweck ließ sich nicht auf Anhieb erkennen, vielleicht waren es nur Schmuckstücke ohne zweckgebundene Bedeutung. Die Hautmaserung war ebenfalls reptilisch, und die Physiognomie hätte fast eins zu eins von irdischen Schildkröten übernommen worden sein können. Nur dass diese hier des Sprechens mächtig war – und offenkundig auch des Verstandes. »Schön, Ramh.« Scobee hatte sich längst vom Boden erhoben, schon bevor der Fremde eingetreten war. Sie straffte sich und nahm Konfrontationshaltung ein, die Hände in die Hüften gestützt, das Kinn vorgereckt. »Ich freue mich auch, dich zu sehen. Du gehörst der Spezies an, die uns überfiel, ich erinnere mich genau. Diese Netze, mit denen ihr uns beschossen habt – eine wirklich extravagante Art der Rettung in Not Geratener. Du siehst mich beeindruckt. Darf ich fragen, warum ihr uns auf diese gewöhnungsbedürftige Weise aus der Kälte geholt habt? Die euch doch übrigens auch zusetzen muss, richtig? Ihr seid Kaltblütler, oder?« Ramh starrte sie eine Weile nur stumm an. Vielleicht wog er die
Nuancen ihrer Rede ab, suchte nach Untertönen, die es durchaus gab. Erstaunlich war schon, dass Scobee ihn problemlos verstand; sie glaubte nicht, dass der Übersetzungschip, der in ihr Stirnbein implantiert war, dieses Idiom ursprünglich beinhaltet hatte. Entweder war daran manipuliert und war dieses neue »Wörterbuch« darauf überspielt worden, oder Ramh und seinesgleichen hatten einen ganz eigenen Weg, Verständnisschwierigkeiten zu überbrücken. Fakt war: Es wurde gesprochen. Die Unterhaltung verlief nicht in irgendeiner Weise telepathisch. Schließlich ging Ramh, als Scobee schon nicht mehr damit rechnete, doch noch auf ihr Bemerkungen ein. »Die Kalte Zeit ist Vergangenheit. Die Ersten sind zurückgekehrt. Sie haben uns das Geschenk der Wärme zurückgegeben.« Scobee schüttelte verständnislos den Kopf. »Du redest wirr. Eure Sonne stirbt. Sie wird nie mehr in der Lage sein, dieser und den anderen Welten das zu spenden, was ihr an wohltuender Wärme braucht. Selbst wenn die ›Ersten‹ zurück wären – ich nehme an, du redest von Kargor, der uns hier aussetzte –, wird sich daran nicht die Bohne ändern. Also hör auf, mir solche Märchen zu erzählen. – Kürzen wir's ab: Wer erwartet mich? Warum seid ihr uns so aggressiv begegnet? Wir führen nichts Böses im Schilde, sind froh, wenn man uns in Ruhe lässt … Wie nennt sich deine Spezies eigentlich?« »Ich bin ein Tavner.« »Wunderbar. Ich bin ein Mensch. Schon mal von uns gehört?« »Nein«, sagte Ramh. Seine Stimme war dunkel und durchaus angenehm. »Das glaub ich dir sogar.« »Warum sollte ich lügen?« »Eben. Warum solltest du? Aber wenn wir gerade bei der Wahrheit sind: Ich vermisse da was.« »Dir wurde nichts entwendet. Es gab nichts, was uns gefährlich werden könnte. Deine Kleidung …« »Ich rede nicht von Kleidung oder anderen Habseligkeiten. Ich rede von meinen Freunden.«. »Die anderen … Menschen?«
»Korrekt.« Ramhs Mimik war nicht die leiseste Unsicherheit oder auch nur Veränderung zu entnehmen. »Sie sind ebenso wohlauf wie du.« »Selbst wenn das stimmen mag: Warum wurden wir getrennt?« »Der dich erwartet, wollte es so.« »Und wer ist ›der mich erwartet‹? Euer Häuptling?« »Du versündigst dich.« »Ach?« Jetzt wurde es interessant. »Du verstehst es, einen auf die Folter zu spannen. Okay, warte, ich blättere mal rasch im Geiste durch meinen Terminplan, ob sonst etwas anliegt … Neeeiin, sieht gut aus. Dann will ich mal nicht so sein und dein Angebot annehmen. Auf geht's, worauf warten wir noch? Führ mich zu deinem … na, was auch immer!« Sie wusste nicht, woher sie die Lockerheit nahm. Angesichts ihrer Situation war es wohl eher ein erstes Anzeichen von psychischer Destabilisierung, dass sie sich so übertrieben flapsig gab. Andererseits hatte sie einfach keine Lust, Trübsal zu blasen. Draußen im Blizzard war es schlimmer gewesen als hier, viel schlimmer. Deshalb konnte sie der Situation tatsächlich etwas Gutes abgewinnen. Und alles andere wollte sie auf sich zukommen lassen – vorerst. »Hast du keine Angst, dass ich dir ebenso herzig begegne, wie ihr uns begegnet seid, draußen vor der Stadt?«, fragte sie, als sie hinter Ramh, der ihr scheinbar bedenkenlos den Rücken zukehrte und vorausging, auf einen Gang trat, der sich optisch kaum von dem Raum unterschied, in dem sie zu sich gekommen war. »Ich meine, ich könnte dich angreifen, und glaub mir, ohne deinen Netzwerfer darfst du mich als Gegner ruhig ernst nehmen.« Darauf erwiderte Ramh nichts, und gerade damit brachte er Scobee ein wenig in Rage. Sie wertete es als Selbstgefälligkeit, und sie hätte ihm gerne eine kleine Lektion erteilt. Aber damit wäre ihr momentan nicht gedient gewesen. Sie war völlig orientierungslos, und solange ihre Gefährten als Faustpfand in der Gewalt der Tavner waren, wäre es sehr unklug gewesen, diese zu provozieren. Wahrscheinlich war es dieser Umstand, der Ramh keine Sekunde in Betracht ziehen ließ, sie könnte sich zu einer Attacke hinreißen
lassen. Wenigstens hält er mich offenbar nicht für dämlich. Dabei beließ sie es. Mehrfach zweigte der Gang ab, und einmal wechselten sie sogar die Ebene um ein Stockwerk nach oben – über etwas, das wie eine stufenlose Treppe aussah, eine Art geschwungene Rampe. Nach Minuten erreichten sie einen Raum, der sich völlig von dem unterschied, in dem Scobee erwacht war. Und wo sie auf den traf, der sie erwartete.
Rodriguez lauschte seinem rasenden Puls. Etwas schnürte ihm die Kehle zu, und er wusste nicht, ob es die Angst vor einer realen Bedrohung war – oder einfach nur ein sehr viel heftigerer klaustrophobischer Anfall, als er ihn auch schon an anderen Orten, an Bord der RUBIKON beispielsweise … und zuletzt auf der Perle erlebt hatte. Dabei spielte die Größe des von Wänden umgebenden Raumes nicht die entscheidende Rolle, um die Intensität der Beklemmung festzulegen. Es war mehr die Situation, die den Anfall regulierte. Auf der RUBIKON hatte er nur schwache und höchst seltene Zustände dieser Art bekommen – wahrscheinlich, weil er sich im Rahmen der Möglichkeiten durchaus wohlgefühlt hatte. Schrecklich war es hingegen in dem Quader gewesen, in dem die ROOGAL sie seinerzeit einfach im Weltraum ausgesetzt hatte. Und auch auf der Perle hatte er zeitweilig unter heftigsten psychosomatischen Beeinträchtigungen gelitten. Stets hatten sich dann andere aus der Gruppe rührend um ihn bemüht. So wie auch jetzt, nachdem er seine Schweißausbrüche und Atemnot nicht länger hatte verbergen können. Sarah war bei ihm. Sie sprach beruhigend auf ihn ein, aber das Herzrasen wollte und wollte nicht besser werden. Eine Zeit lang hatte er sich in dem kleinen Raum auf und ab bewegt wie ein zwischen Gitterstäben eingesperrtes Tier. »Warum tun sie uns das an?«, fragte er und rutschte auf dem Hosenboden hin und her, während er versuchte, aus der Berührung von Sarahs Hand an seinem Oberarm ein wenig Stärke und Kraft zu
schöpfen. »Wir haben ihnen doch nichts getan! Wer sind die überhaupt?« »Ich bin sicher, wir werden es erfahren. Sie haben uns nicht grundlos verschleppt.« »Wenigstens lassen die Schmerzen mehr und mehr nach.« »Ja, das könnte man auch als ein Stück wiedergewonnene Lebensqualität bezeichnen.« Sarah lächelte, was ihrem Gesicht stets auf Anhieb die sonstige Strenge nahm. »Du hasst das Eingesperrtsein, was ich gut nachfühlen kann. Vielleicht weißt du, dass ich lange Zeit … Jahrhunderte … in einem Staseblock zubrachte. Nicht bei Bewusstsein – was es auch gab, bei Johns Vater zum Beispiel, und was unweigerlich in den Irrsinn führen muss, aber immerhin leide auch ich seither manchmal unter engen Räumen. Als würde sich etwas in mir noch an die Zeit in der Stasis erinnern und sich dagegen sträuben. Na ja, wie gesagt, ein klein wenig kann ich mitfühlen.« Zu Rodriguez Verwunderung schafften es gerade diese Worte, seinen Herzschlag endlich zu verlangsamen. »Sprich weiter«, sagte er. »Das tut gut. Wie war es … damals. Vor den Metrops. Ich habe Gerüchte gehört, von anderen, aber du bist … eine echte Zeitzeugin.« Ihr Lächeln wurde noch wärmer. Vielleicht, weil sie erkannte, wo sie den Hebel ansetzen musste, um ihn abzulenken. Sie schürzte die Lippen, suchte scheinbar nach dem richtigen Ansatz, um mit ihrer Schilderung zu beginnen – fand ihn und begann mit leiser, sonorer Stimme zu sprechen. Rodriguez hing ihr schon nach kurzer Zeit regelrecht an den Lippen … … und wünschte, sie hätte nie mehr aufgehört, die alte Zeit vor seinem geistigen Auge zu beschwören, auferstehen zu lassen. Doch das tat sie irgendwann. Zwangsläufig. Weil die Tavner kamen.
Ammoniten. Das Erste, was Scobee bei Betreten des riesigen Raumes ins Auge
stach, war das Heer von Ammonitengehäusen, die überall wie an unsichtbaren Fäden schwebten. Der Boden war nicht länger fester Halt, sondern mutete wie ein schwarzer Abgrund an – vergleichbar mit der Situation draußen im Weltraum, nur ohne Sterne, ohne jegliche Lichtquelle. Was aber täuschte. Ihre Füße berührten eine feste Fläche, wie aus Glas geschaffen, aber die leuchtenden Ammoniten nicht reflektierend. Das Schwarz absorbierte alles. War wie ein samtener Hintergrund, der die hellen Objekte noch mehr aufwertete, noch mehr in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Als ob das nötig gewesen wäre! Es gab ja sonst nichts, was Scobees Blick hätte auf sich ziehen können. Nichts Sichtbares jedenfalls. Nur eine Stimme empfing sie, und diese wandte sich zunächst an Ramh: »Geh jetzt. Du wirst erst wieder gebraucht, wenn ich rufe.« Der Tavner, gerade noch zwei Schritte vor Scobee, nahm nicht den Weg, den er gekommen war, sondern versank förmlich in der Schwärze des Bodens, als würde er unter ihm flüssig. Oder als würde Ramhs Körper mehr und mehr flüssig, sodass er im Boden versickerte. Scobee überlegte noch, ob sie es gespenstisch oder nur faszinierend finden sollte, als sich die Stimme auch schon an sie wandte. »Du weißt, wo du bist?« Sie lachte auf. »Wie sollte ich das wissen? Ein Museum, ein Ort der Kunst? Es kann alles sein. Du kannst jeder sein. Fangen wir doch damit an: Wer bist du?« Die Schnelligkeit der Antwort verblüffte sie – und auch die Leichtigkeit, mit der das Eingeständnis kam: »Kargor.« »Kargor? Warum zeigst du dich dann nicht? Erinnere dich, wir haben uns schon gesehen. Ich glaube nicht, dass mich dein Anblick noch erschrecken könnte.« »Warum sollte er auch. Bin ich nicht schön?« Sie überlegte, ob das seine Art von Humor war, kam aber zu dem Urteil, dass er zu Späßen kaum fähig war. Nicht nach dem, was sie schon von ihm hatte ertragen müssen. Wie alle, die in seine Gewalt
geraten waren. Ihre Meinung über Kargor wurde auch nicht deshalb besser, weil er – objektiv betrachtet – die Milchstraße von Darnoks Heimsuchung befreit hatte. Der durchgedrehte Keelon, der Freund von einst, hatte sich zur Nemesis entwickelt gehabt. Ohne Kargor wäre sein Unwesen wahrscheinlich nicht gestoppt worden. Niemand schien es mit dem Entarteten aufnehmen zu können – bis der ERBAUER auf den Plan getreten war und sie mit der RUBIKON zum System Butterfly M2 geführt hatte. Darnoks Zentrale. Der Ort, von dem aus er das Feld steuerte und entfaltete, das den Zeitablauf innerhalb der Galaxis um ein Vielfaches gegenüber der Außenwelt beschleunigte. Zugleich hatte er noch eine Komponente beigemischt, die sämtliche mit höherdimensionaler Energie betriebene Technik zerstörte. Wodurch die Milchstraße von solcher komplett gesäubert worden war. Zumindest hatte es so geschienen. Ausnahmen bestätigen die Regel, dachte Scobee. Wobei das gesamte Angk-System eine solche Ausnahme zu bilden schien. Wie sonst hätte es Darnoks Wüten überdauern können? Das Erste Reich, nannte Kargor es. Ohne jemals konkret zu werden. Vielleicht jetzt? »Schön?« Sie tat, als prüfte sie seine Frage auf Herz und Nieren. »Hm, doch … ja, ich habe mich schon dabei ertappt, mich fast in dich zu verknallen.« »Verknallen?« Sie machte eine abwiegelnde Handbewegung in den Raum hinein, wobei sie noch schärfer in jeden Winkel blickte, als könnte sie ihn dort irgendwo doch noch erspähen. »Reden wir ein anderes Mal darüber. Sag mir lieber, was das alles soll. Warum hast du uns fast vor die Hunde gehen lassen? Diese Vorspiegelung falscher Verhältnisse auf der Welt, auf die du uns schicktest … Warum? Warum musstest du uns ein Paradies versprechen, wenn uns eine Welt erwartete, die im Sterben liegt?« »Die Welt liegt nicht im Sterben. Das ist eine völlig falsche Einschätzung der Lage.«
»Ach? Dann haben wir die Kälte, den Sturm nach Sonnenuntergang und den Eindruck, den die Sonne generell bot, wohl nur geträumt. Halluzinationen …« »Es war nur ein vorübergehender Zustand, leicht zu beheben. Für euch hat es keinerlei Bedeutung – die Kälte hättet ihr überlebt, zumal ich euch die Tavner schickte …« »Wow. Du hast sie uns auf den Hals gehetzt. Klar, was auch sonst. Aber reden wir noch mal von diesem ›leicht zu behebenden, vorübergehenden Zustand‹ … Für wie beschränkt hältst du mich eigentlich?« »Der Fehler ist bereits behoben. Die Tavner litten darunter beträchtlich mehr als ihr in der kurzen Zeit. Aber nun bin ich zurück, und alles ist gut.« »Alles ist gut.« Angesichts seines Selbstbewusstseins konnte sie nur den Kopf schütteln. »Du willst mich verkohlen, definitiv. Es bleibt dein Geheimnis, was du dir davon versprichst, aber auf dieser Ebene hab ich keine Lust, überhaupt mit dir weiterzureden. Ich will lieber zu den anderen, von denen du mich isoliert hast. Was sicherlich auch wieder einen Grund hat, den zu verstehen ich zu blöd bin. Also?« »Du wirst sie treffen – wenn die Zeit dafür gekommen ist. Aber vorher will ich dir ein paar Dinge zeigen. Sie werden deine Wissbegierde stillen, zumindest teilweise. Wolltest du das nicht immer, Antworten, Informationen? Über mich, meinesgleichen, die Bedeutung der Perlen, dieses Systems …?« »Aus leidvoller Erfahrung glaube ich zu wissen, dass du zwar schon oft Antworten versprochen, aber bislang wenig davon gehalten hast.« »Du kannst gehen, wenn du so denkst. Ich rufe Ramh, und er wird dich –« »Schon gut. Aber nimm zuerst die Lüge zurück, dass da draußen wieder alles im Lot ist. Keine Sonne in den letzten Zügen und die damit verbundenen klimatischen Bedingungen …« »Es ist keine Lüge. Alphur ist gegangen, Taranee ist gekommen, erwacht. Sie strahlt bereits in jungem Glanz. Und wird es noch Jahr-
millionen tun, je nachdem, wie der Energiebedarf ist, der ihr abgezapft wird. Auch Alphur hätte noch Jahrmillionen als Lebensspenderin ausgereicht, hätte sie nicht so viel von ihren Ressourcen freigeben müssen, um den Schirm zu erzeugen, der die Angk-Welten vor den Einflüssen der Zeitentartung schützte. Nur dem Schild ist es zu verdanken, dass du heute hier stehst. Dass das Archiv noch existiert, von dem du umgeben bist, und all die anderen Hinterlassenschaften meines Volkes, die lange ungenutzt blieben, brachlagen, viel zu lange schon – aber auch die längste Zeit …« »Alphur, Taranee … Was sind das für Namen? Bezeichnest du so die Sonne des Systems?« »Die alte und die neue«, bestätigte Kargor. »Hör – damit – auf!« »Womit?« »Mich zum Narren halten zu wollen. Was soll das? Eine Sonne geht nicht, um einer anderen Platz zu machen, von ihr … ersetzt zu werden! Aber genau so könnte man das verstehen, was du mir hier weiszumachen versuchst!« »Du hast es verstanden.« Sie musste sich mühsam beherrschen, um nicht weiter in den Raum zu gehen und zu versuchen, eines der Ammonitengebilde aus seiner Schwebe zu reißen. »Du willst sagen, du … ihr … dein Volk kann nach Belieben Sonnen … erzeugen oder … abschalten?« Ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze, mit denen sie jetzt den Boden absuchte. Sie hatte auf Infrarotsicht gewechselt, vermochte aber auch damit die Schwärze dort nicht aufzulösen. An der Stelle, wo Ramh verschwunden war, wies nichts mehr auf den Verbleib des Tavners hin. Und wenn sie dorthin zurückschaute, von wo sie gekommen war, gab es dort nicht einmal mehr eine Tür. »Unter bestimmten Bedingungen und mit den entsprechenden Vorrichtungen ist das möglich, durchaus«, bestätigte Kargor gelassen. Plötzlich entstand vor Scobee ein Holowürfel, in dem die Schildkrötenstadt und der kobaltblaue Turm abgebildet waren, weitläufig. Es war Tag, und eine völlig intakt aussehende Sonne bestrich die Landschaft mit warmem Licht …
»Prima. Die Aufnahme kenne ich. Damit hast du uns schon an Bord der Perle getäuscht!« »Diesmal ist es real. Die Gegenwart. Die aktuelle Situation, wie sie auch noch Jahrmilliarden andauern wird – falls immer ein ERBAUER da ist, um den Wechsel, den Austausch der ausgebrannten Sterne rechtzeitig zu initiieren. Vielleicht werde sogar ich es sein.« »Du?« Nun brach der Zynismus endgültig aus ihr heraus. »In Jahrmilliarden? Du hast echt ein sonniges Gemüt, passend zur Thematik.« »Lass uns über das Archiv sprechen. Ich habe mich entschieden, dir Einblick zu gewähren. Du bist das erste biologische Geschöpf seit … nun, seit sehr langer Zeit, dem diese Gunst gewährt wird.« »Gunst muss man sich normalerweise verdienen.« Scobee blieb auf emotionalem Kriegspfad. »Womit hätte ich das tun können?« »Du siehst die Strukturen, die hier überall verankert sind?«, fragte Kargor, ohne darauf einzugehen. »Sieht aus wie Schneckengehäuse, die ich von früher kenne. Schalen ausgestorbener Lebewesen, die einst die Meere der Urerde bevölkerten. Ihre Fossilien haben die Zeiten überdauert … Womit wir bei meiner Frage wären: Bist du auch ein Fossil?« »In gewisser Weise.« Wieder verblüffte er sie durch ein Eingeständnis. Derart moderate Töne war sie aus der Vergangenheit nicht gewöhnt. »Willst du über dich sprechen?« »Gehen wir durch das Archiv …« Aus dem Augenwinkel sah Scobee eine huschende Bewegung, und dann stand er neben ihr, der Mann, den sie vermisste, mehr noch als die Gefährten, mit denen sie nach Angk gekommen war: John Cloud. Es war eine von Kargors Masken. Sie wich einen Schritt zurück. Er ergriff ihre Hand, was sie widerstrebend zuließ. »Du spielst gerne mit den Gefühlen anderer, stimmt's?« »Es ist dir nicht wirklich unangenehm«, erwiderte »John«. Alles an ihm stimmte. Er fühlte sich sogar an, wie sie ihn in Erin-
nerung hatte. »Nein«, sagte sie. »Das andere überwiegt.« »Du bist mit diesem Mann emotional verbunden?« Wie seltsam, ihn so von sich sprechen zu hören – wobei es jedoch sofort nicht mehr seltsam war, wenn sie sich bewusst machte, es immer noch mit Kargor zu tun zu haben. »In Freundschaft, ja.« Er beließ es dabei. »Komm«, sagte er und führte sie genau unter einen der Ammoniten, sodass dessen Trichteröffnung über ihr gähnte. Ein ähnliches Schwarz, wie sie es vom Boden unter ihren Füßen kannte, waberte darin. »Was hast du vor? Was stellen diese gehäuseartigen Dinger dar?« »Du bist hier im Archiv«, sagte Kargor/John. »Im Archiv der Zeitalter. Wir haben es angelegt, als wir die Angk-Welten vollendet hatten und hier heimisch geworden waren.« »Ein Geschichtsmuseum«, übersetzte Scobee es in ihren Sprachgebrauch. »Nicht die Art, wie ich sie gewohnt bin, aber sicher habt ihr andere Mittel, Wissen zu konservieren, als über Gegenstände und audiovisuelle Systeme, die ihr ausstellt.« »Ein Geschichtsmuseum«, wiederholte der Pseudo-John, der immer noch ihre Hand hielt, als wollte er verhindern, dass sie weglief. Der Ausdruck schien ihm zu gefallen. »Darf ich die Vergangenheit des Angk-Systems sehen?«, fragte sie. »Wie es entstand – es kann ja nur auf gezielten Eingriffen beruhen, wenn sich sieben Welten eine Umlaufbahn teilen – noch dazu sieben Welten, die offenbar von ihrer Beschaffenheit, ihrem Aufbau her relativ gleich sind.« »Ich fürchte«, sagte John (sie war so weit, es sich nicht ständig zu vergegenwärtigen, dass er es nicht war; es machte vieles angenehmer, ihn einfach zu akzeptieren, um das Heimweh nach ihm etwas zu besänftigen), »du hast es missverstanden.« »Was missverstanden?« »Wir sprechen nicht von den Zeitaltern des Ersten Reiches, die hier festgehalten wurden.« »Sondern?«
»Wir bewahren hier sämtliche Aufzeichnungen und Studien über die Zeitalter des Universums auf – seit seiner Entstehung.«
Rodriguez fühlte sich, als wäre er brutal aus einem wundervollen Traumgespinst herausgerissen worden. Lärm brach den Zauber von Sarahs Worten. Plötzlich war überall Geschrei, liefen alle wild durcheinander. In einer der Wände war eine Öffnung entstanden, durch die jetzt mehrere jener Wesen hereinströmten, die allen noch in schlechter Erinnerung waren. Die Netzwerfer! »Ruhe! Alle bleiben ruhig, sonst müssen Maßnahmen ergriffen werden!«, donnerte die klar verständliche Stimme eines der Extraterrestrier durch den Raum. Die Schreie und Rufe verstummten widerwillig. Die Art, wie der Fremde das Wort Maßnahmen betont hatte, brachte sie zur Räson. Insgesamt waren es ein halbes Dutzend der mutmaßlichen Ureinwohner dieser Welt, die Position neben und hinter ihrem Anführer einnahmen, dabei zunächst den Ausgang blockierten. Alle bis auf den zuvorderst Stehenden, hielten jene zylinderförmigen Stäbe in den dreigliedrigen Händen, mit denen sie im Blizzard die betäubenden Netze abgefeuert hatten – die nachhaltigen Schmerz beim Wiedererwachen der Getroffenen hinterließen. Letztlich war es wohl die Furcht vor einer neuerlichen Bekanntschaft mit diesen Waffen, die Mérimées Truppe einsehen ließ, dass es angeraten war, die Nerven zu bewahren. Der Direktor, der möglichst Schaden von seinen Schäfchen fernhalten wollte, wandte sich mit beschwichtigenden Worten an sie. »Bleibt ruhig. Gehorcht. Macht keinen Ärger. Es lohnt nicht. Wir müssen uns fügen. Wir sind hier nur … zu Gast.« Jeder wusste, wie es gemeint war. Nur die Schildkrötenmänner offenbar nicht. Ihr Anführer schnaubte anerkennend. »Hört auf ihn. Er ist klug.« Nach diesen Worten dirigierte er sie zu einer Reihe, deren Spitze Mérimée einnahm, gefolgt von Sahbu und dem Rest der gut
zwei Dutzend Gefangenen. »Wohin werden wir gebracht?«, fragte aus der Mitte heraus Sarah Cuthbert, vor der Rodriguez sich platziert hatte. »In die Schlüsselkammer.« Eine nicht sehr aussagekräftige Antwort. »Was ist eine ›Schlüsselkammer‹?« »Der Ort eurer Initialisierung.« »Initialisierung?« »Ihr seid Privilegierte. Zumindest werdet ihr es. Die, die es wert sind.« Der Schildkrötenmann lachte. Zumindest hörte es sich so an. Die Kolonne setzte sich auf sein Zeichen in Marsch. Zum ersten Mal verließen sie die Zelle und erreichten freien Himmel, als sie aus dem Gebäude heraustraten, in dem sie untergebracht worden waren. Es war Tag. Und es war warm, sonnig. Und weder Rodriguez noch irgendein anderer aus der Truppe traute seinen Augen. »Wie …?« Er verstummte. Der Schildkrötenmann, der neben ihm ging, folgte seinem Blick zum Himmel und raunte: »Das Geschenk der Ersten. Sie haben unserem langen Leiden ein Ende gesetzt. Alles ist gut. Das Blut fließt wieder leicht durch unsere Adern. Wir sind neugeboren – wie unsere Sonne.« Rodriguez wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, oder ob irgendjemand sonst die Worte noch gehört hatte. Die Sonne hoch oben im Zenit jedenfalls war wie ausgewechselt, nicht mehr blutrot und ein altes, sterbendes Licht verströmend, sondern gleißend hell und große Hitze erzeugend. Schon nach wenigen Schritten im Freien fühlte Rodriguez Schweiß auf seiner Stirn und unter den Achselhöhlen. Ein Blick auf die anderen genügte, um zu zeigen, dass sie so perplex waren wie er. Aber auch auffallend schweigsam. Sarah etwa. Kurz darauf wechselten sie in ein Gebäude, und noch einmal Minuten später betraten sie den Ort, den der Schildkrötenmann gemeint hatte, als er von der Schlüsselkammer sprach.
Sofort kehrten die unguten Gefühle und Erwartungen zurück. Der Ort war düster und abweisend. Rodriguez spürte instinktiv, dass eine neue, wenig verheißungsvolle Etappe ihres Aufenthalts auf Angk I begonnen hatte. Ohne zu ahnen, was sich gerade anderenorts, im Archiv der Zeitalter, abspielte.
Der Ammonit senkte sich herab. Seine Öffnung zeigte genau auf Scobee und den falschen John. Während er herabglitt, wurde er immer größer und größer, und als der gähnende Schlund seiner Unterseite sich über Scobee stülpte, hatte sie das Gefühl, spiralartig in sein Innerstes gesogen zu werden. Wo alles anders war. Wo seltsame Strukturen, seltsamer Glanz, fast abseitig und alles zersetzend, was damit in Berührung kam, auf sie wartete. Sie selbst war davor geschützt. John schützte sie. Oder der, der hinter der Maske lauerte. Kargor. Was – ist das? Wo bin ich? Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Das ist der Moment Null. Das Universum wird gerade geboren. Raum und Zeit entstehen. Materie und Energie. Der Urknall. Der Moment Null. Der Moment der Zündung. Die heutigen Naturgesetze waren noch nicht etabliert. Der Urknall. Ich sehe … nein, ich begreife nicht, was ich sehe. Erkläre es mir. Was sind das für Gebilde, die dort in dem kränklichen Licht schwimmen? Halt! Warte! Ich … erkenne die Form, die Farbe … sie war schon damals … golden. Aber – das kann nicht sein! Ihr könnte die Permanenz der Perlen nicht bis in diese Anfänge etabliert haben. Das wäre … Ihr fehlten die Worte. … und wozu auch?, fügte sie nur noch hinzu. Ohne dass von Kargor/John eine Erwiderung kam. Der Ammonit hob sich nach unbestimmbarer Zeit wieder von ih-
nen wie ein zu groß geratener Helm. Im Aufsteigen wurde er kleiner und kleiner, bis ihm nicht mehr anzusehen war, welchen bedeutungsschwangeren Inhalt er beherbergte. Scobee war völlig benommen von den Eindrücken und leistete keinen Widerstand, als Kargor sie zur nächsten Etappe führte. Ein neuer Ammonit, der gleiche Akt. Das Universum war zur »kosmischen Suppe« geworden. Die Ingredienzen: Materie, Antimaterie, extrem starke Strahlung und Gravitation mit zusammenstoßenden Photonen und dabei entstehenden Protonen und Neutronen. Physikalische Gesetze, die noch heute Gültigkeit hatten, formten sich im Chaos und ordneten es. Die Temperatur hat so stark abgenommen, dass keine neuen Protonen oder Neutronen entstehen können, kommentierte Kargor. Geladene Materie und Antimaterie zerstrahlen jedoch, sodass ein Überschuss an Materie übrig bleibt. Die Temperatur fällt weiter, sodass zusammenstoßende Photonen nicht mehr genug Energie besitzen, um Elektronen zu erzeugen. Protonen und Neutronen verbinden sich zu leichten Atomkernen. Scobee ging mit Kargor auf die Reise ins Universum der ersten Anfänge und Ausformungen. Sie schmeckte und las die Prozesse, die sich hier abspielten, und mochte sie in der Theorie auch so manches von ihrer Ausbildung her mitbekommen haben, so war es doch etwas völlig anderes, in die Vergangenheit einzutauchen, die der Ammonit so täuschend echt in sich gespeichert, simuliert hatte. Es ist keine Simulation. Es ist eine Aufzeichnung, korrigierte Kargor ihre Gedanken dazu, als sie seiner Meinung nach in die falsche Richtung liefen. Ob nur die besondere Umgebung des Ammoniten ihn dazu befähigte, oder ob er generell in der Lage war, jeden ihrer Gedanken zu empfangen, wusste Scobee nicht. Aber eine gewisse Art der Telepathie musste er beherrschen, sonst hätte er nicht schon früher Personen aus dem Gedächtnis von Crewmitgliedern erstehen lassen können. Auch dieses Zeitalter wurde wieder verlassen. Sie tauchten in einen neuen Abschnitt ein. Ein bereits stark verändertes Szenario. Die Materie im Universum beginnt zusammenzuklumpen. Es bilden sich
Galaxien, in denen Sterne entstehen. Scobee wanderte von Ammonit zu Ammonit, von Zeitalter zu Zeitalter … und langte schließlich in einem Universum an, das dem heutigen sehr ähnlich war. In dem das Leben sich verbreitet hatte, in vielfältigster Form. Sie war wie im Rausch, das Eintauchen in die Ammonitenwelt wurde beinahe zur Sucht. Sie wusste nicht, ob sie je wieder darauf würde verzichten können, eins zu werden mit dem Kosmos, mit all den unterschiedlichen Kräften, die ihn zu dem geformt hatten, was er heute war. Irritierend bei all dem war und blieb das Vorhandensein der Perlen in jedem Szenario, in das Kargor sie führte. Auch wenn Fontarayn und Ovayran viel über die Permanenz der CHARDHIN-Station zum Besten gegeben hatten – so recht abgenommen hatte Scobee den Gloriden nie, dass die Basen tatsächlich sämtliche Zeitalter durchsetzten, wie Bojen, die jemand in jeder Tiefe eines Ozeans verankert hatte, bis hinab zum Grund. Und bei alledem blieb auch die Frage, warum die ERBAUER das getan hatten? Diente das CHARDHIN-Konzept lediglich der Erforschung sämtlicher Zeitalter der kosmischen Entstehungsgeschichte … oder griffen die Perlen gar in die Entwicklung ein? Manipulierten die ERBAUER den natürlichen Prozess, und wenn ja, mit welchem Ziel? Was wollten sie erreichen? Wie wollten sie das Gesicht des Universums verändern? Kargor schien zu spüren, dass die Grenzen ihres Fassungsvermögens erreicht waren. Er führte sie aus dem Ammonitenraum, und ohne dass es ihr bewusst wurde, wie weit sie gingen, landeten sie plötzlich im Freien. Falls dies nicht wieder nur ein weiterer Trick des ERBAUERs war, musste Scobee ihm im Stillen Abbitte leisten: Die Schildkrötenstadt ruhte träge unter dem wärmenden Schein einer geradezu euphorisierend normalen Sonne. »Glaubst du mir jetzt?«, fragte das unbegreifliche Wesen mit Johns Gesicht, mit Johns Stimme. »Wolltest du mir nicht mehr von dir erzählen? Von deinem Volk,
das all dies erschaffen hat?« Sie machte eine Geste, die nicht nur die nähere Umgebung, sondern das ganze Angk-System einzuschließen versuchte. »Falls es deine Absicht war, mich schwer zu beeindrucken, ist dir das übrigens gelungen. Von nun an werde ich dich mit anderen Augen sehen müssen. Nicht nur wegen dem da …« Sie zeigte zum Zenit. »… sondern auch wegen der Perlen-Permanenz, an die ich nie recht geglaubt hatte. Offenbar ist sie real. Wir könnten … zumindest theoretisch … nicht nur in diesen Ammonitenaufzeichnungen, sondern ganz real in die Zeit des absoluten Beginns reisen. Mit einer Perle. Habe ich recht? Oder bringe ich da wieder irgendetwas durcheinander?« »In der Theorie ist das möglich«, stimmte Kargor/John zu. Täuschte sie sich, oder schlich sich tatsächlich etwas Wehmut in die geliehenen Züge? »Praktisch wären einige Hürden zu überwinden, die zu erklären aber zu weit führte.« »Weil mein Grips nicht ausreicht?« Der falsche John lachte, wie der echte es vermutlich auf diese Frage hin getan hätte. Und ebenso launig sagte er: »Weil dein Grips nicht ausreicht, so könnte man sagen.« Sie nickte, während ihr Blick durch die Umgebung streifte und Schildkrötenwesen entdeckte, die sich in respektvollem Abstand durch die Straßen der Stadt bewegten. Sie waren, soweit Scobee es sah, unbewaffnet. »Sie fürchten dich«, sagte sie. »Zumindest kommt es mir so vor. Obwohl … erkennen sie dich auch in dieser Maske?« »Sie sehen mich nicht, wie du mich siehst. Ihre Sinne lassen sich nicht manipulieren. Das ist auch nicht nötig. Die Tavner sind treu ergeben.« Scobee stutzte. »Heißt das?«, fragte sie schließlich, »die … Tavner sehen dich, wie ein … ERBAUER wahrhaftig aussieht?« »Das sagte ich gerade.« Sie trat ganz dicht an ihn heran, spürte sogar seinen simulierten Atem auf ihrem Gesicht. »Ich habe von Anfang an angenommen, dass diese Prismengestalt, mit der du unter uns agiert hast, bereits eine Täuschung ist, die nichts mit deinem wahren Äußeren zu tun
hat. Du hast sie nur gewählt, weil du die natürliche Aversion meiner Spezies gegen das Erscheinungsbild einer riesigen Fangschrecke kanntest.« »Willst du mir jetzt beweisen, dass du doch Grips hast?« Sie erwiderte das unterdrückte Lachen, das seine Kehle verließ. »Habe ich denn recht?« »Vielleicht.« »Und wenn ich einen der Tavner fragen würde … wie würde er mir dich beschreiben?« »Frag einen.« »Du könntest es mir auch selbst verraten.« »Das hatte ich ohnehin vor.« »Hattest du?« »Natürlich. Komm.« »Wohin?« »In die Schlüsselkammer. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Und den Welteneroberern ihr künftiges Terrain zuzuweisen.« »Schlüsselkammer«, echote Scobee. »Werde ich dich dort so sehen, wie du wirklich bist?« »Das wirst du.« »Versprochen?« »Versprochen.« »Und …« Sie zögerte, als hätte sie plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen. »Ja?« Fast unhörbar kam es über ihre Lippen: »… werde ich es ertragen?«
»Worauf warten wir?« Es war Prosper Mérimée, der mit dieser immer gleichen Frage ein ums andere Mal an die Schildkrötenmänner, meist ihren Anführer, herantrat. Auch die Antwort lautete jedes Mal gleich: »Auf den Moment der Schlüsselvergabe.«
Nähere Details waren den Angk-Bewohnern nicht zu entlocken. Sie hatten sich über den ovalen Raum verteilt, dessen Höhe eine weitere Täuschung sein musste (denn eine Decke war nicht zu sehen, es hatte den Anschein, als verlöre er sich irgendwo dort oben, Kilometer über ihnen, ohne dass eine Öffnung Tageslicht hereinließ). Nun standen sie da wie Wachposten, wie Wächter, die jede Ausschreitung verhindern sollten und ebenso, dass jemand unbefugt den kathedralenartigen Raum verließ. Niemand versuchte dies auch nur. Die Waffen der Wächter, obwohl gesenkt, drohten, und es gab keinen unter der Truppe der Ausgesetzten, der damit noch einmal in Kontakt kommen wollte. Auch Rodriguez nicht, der immer noch Sarahs Nähe suchte, die wiederum keine allzu große Distanz zum Direktor aufkommen ließ. So standen sie da, wartend, versuchten den großen Raum auf seine Bedeutung hin zu erfassen. Schlüsselkammer. Was für ein Name für einen solchen Ort. Beredt und nichtssagend zugleich. Der Boden war übersät mit quaderförmigen Blöcken, die das wenige Licht auch noch in sich aufzusaugen versuchten. Es gelang ihnen nicht, aber irgendwie hatte Rodriguez das Gefühl, dass die Düsternis, in der sie sich aufhielten, ein spürbares Gewicht hatte, das ihn niederdrückte, ihn und alle anderen, die Schildkrötenmänner vielleicht ausgenommen. Sie ließen sich nichts anmerken, auch keine Ungeduld. Obwohl die Quader nur etwa einen Meter Kantenlänge aufwiesen, wagte niemand, sich darauf niederzulassen. Wer sitzen wollte, wählte lieber den Fußboden. Plötzlich kam Bewegung in die erstarrte Szenerie. Durch den Torbogen, den auch Rodriguez und seine Gefährten durchschritten hatten, näherten sich zwei Gestalten. Menschen. Scobee und … Verdammt!, fluchte Rodriguez in Gedanken. Er hasste diese Spielchen, mit denen sie schon auf der RUBIKON viel zu häufig konfron-
tiert und getestet worden waren. Kargors Spielchen. Niemand glaubte, den wahren John Cloud zu sehen, wie er sich an Scobees Seite näherte. Und auch dem Letzten dämmerte, wen sie stattdessen vor sich hatten, ohne dass es irgendjemand aussprechen musste. Kargor, dachte Rodriguez, einerseits erleichtert, dass offenbar noch nicht alle Brücken, die aus dem Angk-System hinausführten, hinter ihnen abgebrochen waren, andererseits aber auch stark verärgert über die erneute Anmaßung des ERBAUERs, der sich einmal mehr wie ein tyrannischer Despot aufführte. Scobee an seiner Seite verhielt sich seltsam, warf immer wieder Blicke auf ihren Begleiter, die nur als bass erstaunt interpretiert werden konnten. Eigentlich jedoch hätte sie erfahren genug sein müssen, um sich nicht mehr dermaßen von Kargors Masken beeindrucken zu lassen. Seltsam. Rodriguez ging ihr wie andere auch entgegen. Sie lächelte scheu – mit Seitenblick auf den falschen John Cloud. »Ich bin froh, dich wohlbehalten zu sehen«, empfing Prosper Mérimée sie. Er beschränkte sich nicht nur auf die Worte, sondern umarmte sie herzlich, ignorierte dabei den falschen Commander. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich fürchtete schon … Na, ihr könnt euch denken, was ich mir für Sorgen machte, als ich ohne euch zu mir kam.« »Hat er dir …« Prospers Blick ging zu der Cloud-Erscheinung, aber nur für einen Moment. »… etwas angetan? Dich drangsaliert, körperlich oder seelisch?« Rodriguez fragte sich, was der Direktor getan hätte, wenn Scobee seine Frage bejaht hätte. Was sie aber nicht tat. Stattdessen gestikulierte sie beruhigend. »Nein. Nein, ganz und gar nicht, im Gegenteil. Er war sogar sehr … kooperativ. Obwohl –« »Obwohl?« Mérimée sog scharf die Luft ein, ballte die Hände zu Fäusten. Zu frisch war noch die Erinnerung an die eigenen erlitte-
nen Psychoqualen, denen er in Kargors Kokon an Bord der RUBIKON ausgesetzt gewesen war, als er missbraucht worden war, um das Schiff durch Darnoks entarteten Zeitenstrom zu lenken. Und dabei nicht vernichtet zu werden. »… er nicht nur gute Nachrichten für mich hatte. Aber darüber später mehr.« »Warum später? Warum nicht jetzt?« »Weil«, mischte sich die Attrappe des Commanders in die Unterhaltung ein, und zwar mit so eisigem Ton, dass auch Mérimée jeden Ansatz von Widerstand sofort wieder in den hintersten Winkel seines Geistes verbannte, »weil wir hier zunächst Wichtigeres zu erledigen haben. Ich will keine Zeit mehr verlieren. Ich will auch nicht endlos auf Angk I bleiben. Ich werde wiederkehren, aber das werdet ihr nicht mehr erleben. Nach meinen Weichenstellungen seid ihr euch völlig selbst überlassen – wie ich es schon auf der Perle andeutete. Ich seid hierher gebracht worden, um alles hinter euch zu lassen, was euch einmal wichtig war. Hier, auf den Welten, die auf euch warten, zählen nur noch Gegenwart und Zukunft.« »Welten die auf uns warten?«, echote Mérimée. Auch unter den anderen entstand Unruhe. Sie fühlten die gleiche Beklemmung wie Rodriguez, der immer noch ein Fünkchen Hoffnung gehabt hatte, dass sich die Aussetzung als nicht wirklich ernst gemeint entpuppte. Dass sie alle wieder an Bord der Perle gehen und schließlich zurückgebracht würden zur RUBIKON. Oder zur Erde. Oder – Clouds Stimme holte ihn auf den Boden der nüchternen Realität zurück. »Ihr werdet jetzt einer endgültigen Prüfung und Anpassung unterzogen«, erklärte Kargor. »Danach wird sich zeigen, wer es wert ist, die Welten zu betreten, die jenseits von Angk I warten. Wer sich als unwürdig im Sinne von ungeeignet erweist, wird den Rest seines Lebens hier verbringen. Er wird unbehelligt leben und sich auf der ganzen Welt bewegen können – aber ihm wird nicht beschieden sein, was allen Übrigen vergönnt ist.« »Und das wäre?«, fragte Sarah mit mühsam unterdrückter Empörung.
»Unsterblichkeit«, sagte Kargor/Cloud. »Womit ich keine biologische, sondern spirituelle Unsterblichkeit meine. Ihr Menschen glaubt doch an den Wert von Erbinformationen – oder dem Weiterleben in der Erinnerung von Hinterbliebenen. Das alles steht denen offen, die auf die anderen Angk-Welten gelangen.« »Du solltest sie nicht unnötig quälen«, wandte sich Scobee an den falschen Cloud, als wüsste sie schon viel mehr als das, was Kargor ihnen gerade vermittelt hatte. »Beginne mit der Prozedur, von der du dich ohnehin nicht abbringen lässt. Danach wissen wir, wer getröstet werden muss.« »Was ist mit dir?«, fragte Rodriguez – und erschrak über sich selbst, als er unaufgefordert zu Scobee sprach. In dieser Situation, in der er Kargors Blick aus Clouds Augen auf sich lasten fühlte … Er errötete. »Mit mir?«, fragte Scobee. Sie wich seinem Blick aus. Kein gutes Zeichen. »Ja. Gehörst du … zu den Auserwählten, die die anderen Welten sehen werden? Weißt du es schon? Es ist nur so ein Gefühl, das ich habe, wenn ich dich betrachte. Du verhältst dich so seltsam, als wüsstest du mehr, viel, viel mehr, als du uns verrätst. Wahrscheinlich hat sich der ERBAUER dir in der Zwischenzeit offenbart. Er –« »Lass es gut sein, Rod«, unterbrach sie ihn. »Lass uns später darüber reden. Ich will euch nichts verheimlichen. Aber der Reihe nach. Erst das Procedere … Gehorcht seinen Anweisungen. Niemandem wird ein Leid geschehen. Er hat es mir versprochen. Der Akt bringt lediglich Klarheit. Eine Art … Auslese. Es ist nicht zu ändern. Er wird sich nicht davon abbringen lassen. Leistet keinen Widerstand. Ich will nicht, dass irgendjemand Schaden erleidet …« »Er ist ein Teufel!«, rief jemand aus dem Hintergrund. Es war Paula. Die Lange Paula. Die ihre Körpergröße kraft ihres Willens verändern konnte. Momentan war sie nicht größer als die meisten von ihnen. Sie hasste es, aus einer Menge herauszuragen, tat es nur während einer Vorstellung gern. Wie lange lag die letzte zurück? Wann waren sie zum letzten Mal zusammen aufgetreten und hatten Zirkusluft geschnuppert, ohne
um die dunkle Zukunft zu wissen, die da bereits auf sie gelauert hatte? Rodriguez hielt den Atem an. Er fürchtete, es könnte zu offenem Aufruhr kommen. Und dann wären die Schildkrötenmänner wieder aktiv geworden, wären Netze geflogen – oder Schlimmeres. Aber so weit kam es nicht. Mérimée bewies einmal mehr Weitsicht und stellte sich vor seine Schützlinge. »Seid nicht dumm. Lasst euch nicht provozieren. Wir werden ihm keinen Anlass bieten, ein Exempel an einem von uns zu statuieren! Wir lassen uns nicht auf seine moralische Stufe herab – er kann uns nicht brechen. Wir sind Menschen. Wir haben eine Würde, die unverletzlich ist. Schon andere versuchten, sie uns zu nehmen. Aber wir waren immer stärker. So soll es bleiben – egal, was geschieht!« Er war eine charismatische Persönlichkeit. Rodriguez hatte es immer gewusst. Sein Ziehvater. Aber noch viel mehr. Er kümmerte sich um alle aus der großen Familie der vom Schicksal Geschlagenen. Jeder war ihm gleich viel wert. Er bevorzugte niemanden. Das war das Geheimnis, warum er von allen geachtet wurde. Sie beruhigten sich. Und nach einer kurzen Pause sagte der falsche Cloud ihnen, was sie zu tun hatten. Unmittelbar nachdem er geendet hatte, veränderten sich die Quader, formten sich um und wurden zu Torbögen. Durch sie – es schien gleichgültig, durch welchen – musste jeder Mensch hindurchgehen. Mehr wurde nicht von ihnen verlangt. Als Rodriguez an der Reihe war, spürte er ein Kribbeln am ganzen Körper. Es war kein Schmerz, und es ging auch gleich wieder vorbei, aber offenbar genügte der Moment Kargor, um alle individuellen Daten, auf die es ihm ankam, zu ermitteln. Erstaunlicherweise wurde Scobee durch keinen der Scanner geschickt. »Wie lange dauert die Auswertung? Und wann erfahren wir, worauf das Ganze hinausführt?«, wandte sich Sarah an Scobee und Kargor/Cloud gleichermaßen. Rodriguez wartete ebenso gebannt auf eine Antwort wie die anderen aus der Gruppe.
Die Maske des ERBAUERs sagte: »Ihr müsst nicht mehr warten. Die Ergebnisse liegen mir bereits vor. Ihr erhaltet jetzt die Schlüssel – diejenigen von euch jedenfalls, die es wert sind.« So ähnlich hatte sich auch der Schildkrötenmann ausgedrückt. Rodriguez spürte, wie sich in seinem Magen ein kalter Knoten bildete. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen, während sich um ihn her die Scannerbögen wieder zurückbildeten, bis nur die altbekannten Quader übrig blieben. Aus dem Hintergrund lösten sich Tavner, die verschiedenfarbige Gegenstände auf Tabletts herbeitrugen. »Ich rufe jetzt die Namen auf und weise die Farbe zu«, sagte der ERBAUER. »Sarah Cuthbert: Gold. Prosper Mérimée: Gold. Pancake …« Keiner der Aufgerufenen machte Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. »Was sind das für Dinger?«, knurrte Pancake, dem gerade ein blasses Grün zugewiesen worden war. Genau wie Rodriguez, der einen Moment später seinen Namen hörte, weil Kargor/Cloud sich von der Frage nicht beirren ließ. Aus der Entfernung war nicht jedes Detail der Objekte erkennbar, die auf den Tabletts lagen. Aber sie waren klein, hatten die Länge und Breite eines Daumens, wirkten aber hauchdünn, waren höchstens von Fingernageldicke. Dabei wirkten sie durchaus kunstvoll gearbeitet, hatten hier einen Schnörkel und dort eine Verzierung … wodurch sich aber ihr Sinn dem Betrachter auch nicht erschloss. Kargor setzte seine Zuweisung der Farben an die entsprechenden Personen fort, und erst als er geendet hatte, widmete er sich den Verweigerern. »Ihr habt keine Wahl«, sagte er gelassen. »Die Schlüssel werden euch notfalls auch gewaltsam übergeben.« »Was sind das für … Schlüssel?«, fragte Prosper Mérimée, auch jetzt noch, ohne Anstalten zu machen, sich zu dem goldfarbenen Gegenstand, der ihm zugeteilt worden war, zu begeben. »Sie öffnen euch Türen und Wege.« »Wohin?« »Zu den anderen Welten des Systems. Eurer zukünftigen Heimat,
wo ihr ansässig werdet.« »Und die Farben?« »Sie legen die Autorisation fest. In welchem Maße ihr die Straßen begehen dürft. Welche Einrichtungen euch wo offenstehen …« »Und du hast das gerade festgelegt.« Der falsche Cloud nickte. »Anhand der Biodaten, die ich über euch erhielt. Sie verrieten mir gleichzeitig die Kompatibilität eines jeden von euch mit anderen.« »Kompatibilität …« Allein das Wort verursachte Rodriguez noch stärkeres Bauchgrimmen. Einige Blicke richteten sich auf ihn. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er laut gesprochen hatte. Hitze stieg ihm in den Kopf. »Ich erkläre es euch«, ergriff jetzt Scobee das Wort. Offenbar spürte sie, dass sich eine erneute Krise anbahnte. Das Konfliktpotenzial war immens. Jeder Einzelne von ihnen war ein Pulverfass, und ein einziges Wort von Kargor – ein einziges der Situation unangemessenes Wort – mochte genügen, die Lunte anzuzünden. »Er hat dich bei der Zuweisung vergessen«, sagte Rodriguez rau. Und wusste wiederum nicht, warum er nicht einfach den Mund hielt. »Du hast keine Farbe … keinen ›Schlüssel‹ zugewiesen bekommen. Warum nicht?« Sie zögerte kurz, dann machte sie eine Geste wie jemand, der andere um Verständnis und Verzeihung bitten wollte. »Weil ich … nicht im Angk-System bleiben werde. Kargor will mich mitnehmen, wenn er mit der Perle von hier abreist.« Ihre Worte lähmten Rodriguez regelrecht. Er war zu keiner Erwiderung fähig. Zumal Scobee nicht unbedingt traurig über die Entscheidung des ERBAUERs klang. Doch plötzlich nickte Rodriguez, und noch bevor irgendwer sonst etwas darauf erwidern konnte, hörte er sich sagen: »Du gehörtest von Anfang an nicht zu denen, die Kargor als Gefahr für die RUBIKON einstufte und deshalb aus ihr … entfernte. Er hat dich niemals mit der Absicht von Nar'gog geholt, dich in unsere Gemeinschaft zu integrieren. Du bist … eine andere Baustelle …«
Jetzt wirkte sie betroffen. Aber schließlich nickte sie. »So in etwa hat er es mir auch erklärt. Und ihr kennt ihn alle selbst gut genug, um zu wissen, dass er mir damit letztlich überhaupt nichts erklärt hat. Ich bin im Ungewissen, wie es mit mir weitergeht. Was er wirklich mit mir vorhat. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass meine Zukunft nicht hier im Angk-System liegt.« Sie schwieg. Alle sahen sie an. Dann richteten sich die Blicke auf die Cloud-Maske des ERBAUERs. Der Direktor trat zu ihm, als wäre es tatsächlich der Commander, und sah ihm fest in die Augen. »Mehr werden wir nicht erfahren, oder? Du willst uns ins kalte Wasser werfen, über etliche der Welten hier verstreuen – und wer schwimmen kann, wird sich dort durchsetzen, überleben, wer sich als zu schwach erweist, wird untergehen …« »Ja. Aber dort habt ihr gute Chancen, stehen euch mannigfache Möglichkeiten offen«, sagte Cloud. Mehr nicht. Mérimée sah ihn noch ein paar Sekunden länger an, dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Er nickte und trat zu dem Tavner, der die Schlüssel hielt, die bläulich schimmerten. Fast demonstrativ klaubte er einen davon vom Tablett und drehte sich zu den anderen um, während er, an Kargor gerichtet, fragte: »Und was mache ich jetzt damit?« »Drücke es gegen deine Stirn.« »Und dann falle ich tot um?« »Wohl kaum. Das könnte ich einfacher haben, so ich es wollte.« Mérimée nickte. Ohne länger zu zögern presste er den filmdünnen Schlüssel gegen seine Stirn, wo er haften blieb. Mehr geschah nicht. Zunächst. Andere folgten seinem Beispiel, auch Rodriguez, der seinen grünen Schlüssel zusammen mit Pancake und drei, vier anderen abholte. Außer Gold und Grün gab es noch Blau und Rot als Schlüsselfarbe. Als alle Objekte einen Träger gefunden hatten, schnippte Cloud einmal kurz mit den Fingern … und plötzlich spannte sich von sei-
ner Stirn, wo eine kristallene Schuppe leuchtete, die vorher nicht sichtbar gewesen war, ein vielfach verästelter Blitz, der in die Schlüssel der ihn umgebenden Menschen einschlug. Als der Blitz verlosch, waren die verschiedenfarbigen Schlüssel noch für einen kurzen Moment wahrnehmbar – dann erweckte es den Anschein, als würden sie von den Hautporen absorbiert. Sie verschwanden in die Körper der Betroffenen. Offenbar ohne nachteilige Folgen für die Männer und Frauen, die nur an den anderen bemerkten, dass das Blau, das Gold, das Rot oder Grün verschwunden war. Sie tasteten über die eigene Stirn und fanden dort keinen Widerstand mehr. »Die Tavner bringen euch jetzt zum Einspeisungspunkt«, kündigte Kargor/Cloud an. »Dort werdet ihr die Bedeutung der Schlüssel praktisch begreifen lernen.« Im nächsten Moment sah sich die Gruppe um Mérimée mit den Tavnern alleingelassen. Kargor war verschwunden – und hatte Scobee gleich mitgenommen. »Ob wir sie jemals wiedersehen werden?«, überlegte Sarah laut. Sie klang traurig. Sie hatte Abschiede immer gehasst, und dieser hier machte keine Ausnahme. Die einzige Antwort, die sie von den anderen erhielt, war Schulterzucken. »Das Shuttle steht bereit«, erklärte der Anführer der Schildkrötenmänner und winkte sie aus dem düsteren Raum hinaus. »Ihr braucht nicht zu Fuß zu gehen. Es gibt bequemere Möglichkeiten, zum Turm zu gelangen.« Zum Turm also. Vor dem Gebäude wartete eine Art schwebendes Floß auf sie. Es gab keine ausgewiesenen Sitzplätze, jeder ließ sich einfach auf dem Boden des Vehikels nieder. Nur die Tavner blieben stehen und schwankten nicht einmal, als der Schweber Fahrt aufnahm. Nach wenigen Minuten erreichten sie den kobaltblauen Turm, der wie eine gigantische Nadel in die Wolken stach. Etwas hatte sich verändert, seit sie die Umgebung verlassen hatten, um zur Stadt aufzubrechen. Von der Sonne einmal abgesehen,
die tatsächlich »erneuert« worden zu sein schien. Als sie vom Floß stiegen, gewahrten sie den leuchtenden Kreis, der über den Boden vor dem Turm verlief, wenige Schritte von der Außenwand entfernt. Der Kreis durchschnitt das Gras und schien in mehrere Ringe unterteilt zu sein, die in den Abstufungen Gold, Blau und Rot strahlten. Unmittelbar vor der Markierung blieb der Anführer der Tavner stehen und forderte die Menschen auf, sich ebenso wie er vor dem Kreis aufzustellen. Alle gehorchten. Kurz darauf sagte der Schildkrötenmann: »So geht dann. Übertretet einfach die Linie. Den Rest erledigen die Schlüssel.« Auch hier ging der Direktor mit gutem Beispiel voran. Er setzte sich in Bewegung, schritt über die Linie, der Schlüssel auf seiner Stirn, zuvor noch unsichtbar, leuchtete kurz auf … … und dann war Mérimée fort. Sarah folgte seinem Beispiel. Ihre Hand hielt die von Rodriguez, und er schloss sich ihr, ohne nachzudenken, an. Aus den Augenwinkeln sah er weitere Mitglieder des Ensembles verblassen. Instinktiv presste er die Lider zusammen, erwartete eine ähnliche Erfahrung wie schon beim Wechsel von der Perle nach Angk I. Aber diesmal war es anders. Er spürte immer noch einen sanften Wind um die Nase. Als er die Augen wieder öffnete, standen die Schildkrötenmänner immer noch auf der anderen Seite der Kreismarkierung, und neben ihm waren Pancake und drei weitere Gefährten, darunter zwei Frauen. Sie alle sahen einander verdutzt an, bis der Anführer der Tavner sagte: »Die Ersten haben entschieden. Ihr seid dazu erkoren, hier, auf Angk I, bis zu eurem Lebensende zu verweilen. Euch steht das Netz der Wege nicht offen.« »Was … was soll das heißen?«, keuchte Pancake fassungslos. »Das wissen wir nicht«, erwiderte der Schildkrötenmann kühl. »Wir werden euch fortan unangetastet lassen. Diese Welt ist groß genug, um euch dulden zu können, bis ihr der natürlichen Auslese zum Opfer fällt. Der Erste teilte uns mit, dass eure Lebenserwartung
nicht einmal die Hälfte der eines Tavners beträgt. Ihr werdet also bald aus unserem Alltag verschwinden. Es steht euch auch frei, loszuziehen und irgendwo sonst euer Leben zu beschließen. Diese Welt bietet Nahrung und Trinkwasser im Überfluss. Es wird euch an nichts mangeln.« Pancake übertrat wieder den Kreis, dem offenbar nicht grundlos ausgerechnet die Farbe ihrer Schlüssel fehlte. »Was macht euch denn so sicher, dass ihr uns Störenfriede so schnell loswerdet, wenn ihr uns nicht antasten dürft, ey?«, schnaubte er aufsässig. »Ich bin ein Mann in den besten Jahren, von Roddy ganz zu schweigen. Oder Earl, der Typ mit dem Zyklopenauge dort drüben. Schon allein, um euch zu ärgern, würde ich mich liebend gern mit einer unserer beiden Frauen hier einlassen.« Er ignorierte geflissentlich die Grimassen, die beide zu seiner Ankündigung schnitten. »Die Quittung erhieltet ihr dann neun Monate später!« Der Schildkrötenmann trat auf ihn zu. Nach wie vor war seine Mimik undeutbar, als er erwiderte: »Ihr habt die Schlüssel, die das verhindern. Es wird keine Population aus eurer Zelle entspringen. Dafür wurde gesorgt. Der Erste ist vorausschauend. Er hat uns informiert. Niemand von euch ist noch fruchtbar. Ihr wurdet alle im Zuge des Scans sterilisiert.« Vor Rodriguez Gesicht begann sich alles zu drehen. Er merkte schon nicht mehr, wie er fiel und zu Boden ging. Aber als er später wieder zu sich kam, war ihm wie jedem anderen mit grünem Schlüssel klar, dass sie dazu verdammt waren, bis an ihr Lebensende auf Angk I zu verweilen. Ohne Hoffnung auf ein normales Leben – das zumindest die Chance auf Nachkommenschaft eingeschlossen hätte.
4. Kapitel »Ich konnte mich nicht einmal verabschieden.« Eine Mischung aus tiefer Traurigkeit und pochendem Ärger ließ Scobees Herz schneller schlagen – bis es ihr bewusst wurde, und sie den Puls mit ihrer Willenskraft normalisierte. Sie wusste inzwischen, wie sinnlos es war, gegen ein Wesen wie Kargor rebellieren zu wollen. Ein so wunderschönes Geschöpf, das allein mit seinem Erscheinungsbild schon eine Harmonie und einen Frieden verströmte, dass echte Aggression gegen es zu empfinden fast ausgeschlossen war. Aber wie ließ sich das mit seinem Handeln verbinden? War letztlich auch dieser Körper, den Kargor ihr zu erkennen gegeben hatte – der aber offenbar den anderen Menschen weiterhin vorenthalten blieb, wenn sie ihn anschauten – am Ende doch nur wieder eine neue Lüge und Täuschung? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass das Schmetterlingswesen von unbeschreiblicher Eleganz und so filigran war, dass sich ihre Augen gar nicht sattsehen konnten an ihm. Es ging aufrecht – wie schon die Schildkrötenmänner, und als sei der aufrechte Gang wahrhaftig ein universell gültiges Merkmal von höherer Intelligenz –, war immer noch insektoid anzuschauen. Aber nicht einmal annähernd so bedrohlich, so aggressiv in seiner ganzen Körperhaltung und -ausprägung wie noch zu Zeiten der Fangschrecke, die sich aus Kristallschuppen zusammensetzte. Dieser Kargor hier wirkte vollkommen organisch, nichts an ihm gekünstelt. Wäre er so an uns herangetreten, bei unserer ersten Begegnung, wie hätte ich da wohl reagiert? Wie hätten John und die anderen auf der RUBIKON reagiert, wenn Kargor ihnen in der Perle jenseits des Ereignishorizonts im Milchstraßenzentrum in dieser Gestalt gegenübergetreten wäre und ihnen sein Anliegen ohne jede Drohgebärde nahegebracht hätte? Schließlich ging es um die Befreiung der Galaxie von Darnoks Wahnsinn.
John hätte ihm auch freiwillig geholfen, da bin ich völlig sicher. Sie hatten absolut identische Ziele. Warum hat er sich trotzdem auf die Position des Tyrannen zurückgezogen? Ist das am Ende doch sein wahres Wesen? Gaukelt dieser Körper, den ich jetzt sehe, nur vor, dass wir ihn alle bislang missverstanden haben? Kargors Leib war nicht größer als Scobees eigener, ihre Köpfe befanden sich ungefähr in gleicher Höhe. Was sie aber weit überragte, waren seine aus der Rückenpartie sprießenden Flügel, die ihn insgesamt fast doppelt so groß machten, wie sie selbst es war. Die Flügel schillerten in prachtvollen Mustern und Farben, leuchteten regelrecht. Und auch die gekeulten Fühler, die seine Facettenaugen ergänzten, nicht ersetzten, ragten noch gut unterarmlang aus dem oberen Schädelwulst, der, wie auch der Rest des Körpers, von einem zarten Haarflaum bedeckt war. Diese Härchen schimmerten je nach Lichteinfall von braun über bläulich bis hin zu orange und golden. Golden – die Farbe der Gloridenraumschiffe, die Farbe der CHARDHIN-Perlen. Die Farbe der ERBAUER schlechthin. »Nein«, sagte Kargor. »Aber du warst dir des Abschieds immerhin bewusst. Das ist mehr als mancher von sich behaupten kann.« Die Art, wie er es sagte, legte einen Verdacht nahe. »Du? Redest du gerade … von dir?« Seine Mimik – falls er denn überhaupt eine hatte, was Scobee bezweifelte; wahrscheinlich vermittelten Wesen wie er ihresgleichen Stimmungen und Gemütsregungen ganz anders, als ein Mensch es tat, vielleicht über Botenstoffe – war so undeutbar wie ehedem als Fangschrecke. Und dann bestätigte er, fast beiläufig, was Scobee in Anbetracht seines Verhaltens mitunter längst vermutet hatte, nun aber von ihm selbst bestätigt bekam: »Mir? Ich bin kein Individuum. Ich zeige dir jetzt das wahre Erscheinungsbild meiner Spezies – aber es ist ein Bild. Dahinter liegt immer noch der Prismenverbund, der Kristallkörper, der uns als Behausung dient, als Aktionskörper.« Scobee nickte, gab sich Mühe zu verstehen. »Wer genau ist ›uns‹?« »Milliarden Individuen«, antwortete Kargor, »von denen ich, der
zu dir spricht, nur eines bin. Der Mittler sozusagen.« »Mill …« »… iarden«, vollendete Kargor für sie. Er tat es mit Nachdruck, wollte ihr offenbar in aller Eindringlichkeit Sinn und Verstand für diese Offenbarung öffnen. »Und … hast du … oder habt ihr alle diese Erfahrung von Abschied machen müssen?« »Wir alle.« »Willst du darüber reden.« »Nein. Es wäre verfrüht.« »Aber du wirst darüber reden – irgendwann?« »Wir werden sehen.« Sie befanden sich wieder auf der CHARDHIN-Perle – wie genau sie dorthin gelangt waren, wusste Scobee nicht, aber der Vorgang hatte an jenen erinnert, mit dem sie zur Oberfläche des Angk-Planeten geschickt worden waren. Ein blendendes Licht … … und schon war sie an Bord gewesen. Im Innern dieses gigantischen Konstrukts, das alles übertraf, was sie jemals an außerirdischer technischer Hochleistung gesehen hatte – es stellte sogar den Aqua-Kubus in den Schatten, das Reich der Vaaren, einst von den Foronen erschaffen … Ihre Gedanken verweilten kurz bei diesem wassergefüllten Würfel, in dem ganze Welten schwammen. Oder geschwommen waren. Wieder einmal wurde ihr das Ausmaß von Darnoks Frevel bewusst. Auch der Kubus musste unter den Manipulationen geborsten sein, die der Keelon zu verantworten hatte. Die damit verbundenen Opfer an Leben waren nicht zu zählen. Der Gedanke überschattete sogar die Trauer um das versäumte Abschiednehmen. »Werden diejenigen, die keinen Schlüssel erhalten haben, um Angk I zu verlassen, wirklich von den Tavnern unbehelligt leben können, wie du es versprochen hast? Steht nicht zu befürchten, dass sie irgendwann einem feinseligen Akt zum Opfer fallen?« »Nicht, solange sie nicht selbst feindselig werden.«
»Aber das könnte geschehen – aus der Not geboren.« »Welche Not sollte das sein? Angk I bietet, wie alle Welten des Systems, Lebensgrundlagen im Überfluss. Es wird ihnen an nichts mangeln. Sie werden vielleicht ein wenig Zeit brauchen, um sich einzuleben, die Möglichkeiten zu erkennen, aber die Fixierung auf Angk I kommt für die Wenigen, die der Auslese nicht standhielten, keiner schrecklichen Bestrafung gleich. Es gibt eine einzige Einschränkung für sie, und die kennen sie inzwischen. Die Tavner haben sie darüber unterrichtet, in meinem Namen. Damit werden sie umzugehen lernen. Und dann steht ihnen noch ein … für ihre Verhältnisse als Spezies … langes, erfülltes Leben bevor. Länger wahrscheinlich, als sie es anderswo hätten genießen können, denn … Angk ist anders als die Welten, die ihr vorher kanntet. Ganz anders …« »Und konkret?« »Ich bin schon viel zu konkret geworden. Willst du gar nicht wissen, wie es mit dir weitergeht? Wohin uns unsere Reise führt?« Sie ließ sich nicht vom ursprünglichen Thema abbringen. »Was ließ ausgerechnet die fünf durch dein Raster fallen? Rodriguez zum Beispiel. Ich kann an ihm nichts finden, das erklären würde, warum du ihm verweigerst, auf lange Sicht betrachtet, Nachkommen in die Welt zu setzen.« »Es ist mit dem bloßen Auge auch nicht zu sehen. Er wurde, wie vier weitere auch, sterilisiert, um zu verhindern, dass die von mir geplanten Populationen in eine falsche Richtung gehen.« »Und die falsche Richtung wäre wie?« »Die typischen Erscheinungen, die mit Inzucht einhergehen. Behinderungen, Krankheiten, die sich von Generation zu Generation zu einem größeren Problem ausarten …« »Aber fast alle sind bereits behindert – wenn man strenge Maßstäbe ansetzt. Warum erhielten andere trotzdem deinen ›Segen‹, sich fortzupflanzen, wenn ihnen der Sinn danach steht?« »Alle anderen entsprechen der Zielsetzung. Unserer Zielsetzung. Du unterschätzt immer noch unsere Möglichkeiten der Extrapolation. Wir wissen bereits jetzt, was uns in tausend Generationen erwar-
tet. Oder noch langfristiger gesehen.« Scobee spürte, dass sie gegen diese Art der Argumentation nicht ankam. »Okay, okay, ich muss mich ja wohl geschlagen geben. Also wenden wir uns deinem Angebot zu, mir endlich zu verraten, was du mit mir, mir ganz speziell, vorhast. Wohin führt uns die Reise mit der Perle, die du angekündigt hast?« Kargor schwieg. Über seinen Fühlern jedoch knisterte plötzlich die Luft, baute sich ein Hologramm von gewaltigen Ausmaßen auf, das die Schwärze des Weltraums hereinbrachte. Aber nicht nur. Auch Himmelskörper, maßstabgetreu wiedergegeben und fast echt aussehend. Als blickte eine höhere Macht gerade in diesem Moment mit ihren allsehenden Augen auf diesen Abschnitt des Kosmos. Scobee hatte keine Mühe, das irdische Sonnensystem zu erkennen. Der Ringplanet Saturn war unverkennbar, die von dichten Wolken verhüllte Venus, die Lücke, die jedem auffiel, der wusste, wo früher Jupiter seine Bahn gezogen hatte … Aber dann entdeckte sie – ziemlich rasch, weil sie natürlich vorrangig danach suchte – auch etwas höchst Befremdliches. Sie hätte es verstanden, wenn sie anstelle von Erde und Mond nichts hätte erkennen können, eine weitere Bahnlücke im System. Immerhin hatte es den Schattenschirm gegeben, das Werk der Jay'nac, mit dem sie die zentrale Welt des Keelon-Master-Imperiums, das Reich der Erinjij, aus der Wahrnehmung potenzieller Feinde herausgetrennt hatten. Aber es war sehr viel merkwürdiger, denn es gab einen Himmelskörper auf der Umlaufbahn der Erde. Einen – vom Mond war keine Spur zu sehen. »Was soll das?«, wandte sich Scobee an den ERBAUER, dessen Fühler starr nach oben gerichtet waren, als würden sie das Hologramm tatsächlich tragen. »Was soll dieser … Platzhalter für die Erde? Dieser öde Brocken, vier- bis fünfmal größer als der ehemalige Jupiter – wenn du maßstabgetreu arbeitest … Nur, dass es kein Gasplanet zu sein scheint, sondern ein atmosphäreloser Gigant, wie er niemals in unserem Heimatsystem vorkam! Seine Masse und
Schwerkraft, gäbe es ihn wirklich, müsste das ganze ausbalancierte System durcheinanderbringen. Das ist Humbug! Warum tust du das? Warum zeigst du mir das? Soll das etwa die Antwort auf meine Frage sein, wohin die Reise geht? Kargor! Verdammt, das kann nicht dein Ernst sein, rede mit mir!« Aber Kargor schwieg. Er löste sich unter dem Hologramm, ohne dass es an Intensität verlor. Es schwebte einfach weiter vor Scobee, die sich das auf den Kopf gestellte Solare System so oft anschauen konnte, wie sie wollte. Auch als Kargor sich scheinbar in Luft auflöste und die CHARDHIN-Perle Fahrt aufnahm, das Angk-System mit unglaublichen Beschleunigungswerten hinter sich ließ, glomm das Stück Weltraum mit den solaren Welten weiter im abgedunkelten Raum, der Scobee einen Eindruck ihrer eigenen Bedeutung vermittelte: Sie war dagegen nicht nur winzig, sie war ein Mikrobe. Doch dann straffte sie sich plötzlich, ballte die Hände zu Fäusten und sagte laut vernehmlich, wobei sie sich sicher war, dass Kargor sie hören konnte, wo auch immer in der Perle er gerade weilte: »Du musst lernen, andere zu respektieren! Du musst lernen, mit ihnen wie mit deinesgleichen umzugehen! Ich bin nicht der primitive Wurm, als den du mich behandelst! Komm zurück. Komm zurück und stell dich meinen Fragen! So kannst du nicht mit mir umspringen …!« Aber er bewies ihr das Gegenteil. Er konnte – und tat es.
5. Kapitel Für einen Moment, kurz nach der Ankunft in der fremden Nacht, glaubte Prosper, das abstrakte Schlüsselsymbol auf Sarahs Stirn leuchten zu sehen. Doch dann war es verschwunden und vielleicht nie da gewesen. Möglicherweise war er einer Täuschung seiner Sinne zum Opfer gefallen. »Prosper?« Ihre Stimme klang belegt. Der Turm hinter ihnen schien das Sternenlicht zu sammeln und in einer Weise zu reflektieren, dass die beiden Gestalten davor einander sehen konnten. Konturen allerdings nur, keine Feinheiten. »Ja? Ich bin da. Ich kann dich sehen – du mich auch?« Die Dunkelheit hatte etwas Bedrückendes. »Leidlich. Wo sind die anderen?« »Wir sind die Einzigen. Die Einzigen hier jedenfalls, glaube ich.« »Aber –« »Es ist sinnlos, damit zu hadern. Kargor hat entschieden. Die Schlüsselfarbe scheint entscheidend gewesen zu sein. Nur du und ich hatten goldene zugewiesen bekommen.« »Warum?« »Ich weiß es nicht.« »Die anderen sind … irgendwo sonst auf dieser Welt … oder auf einer ganz anderen?« »Beides ist möglich, aber ich tendiere dazu, dass sie auf einer anderen Angk-Welt gelandet sind. Kargor kündigte ja an, uns zu ›streuen‹.« »Warum tut er uns das an?« »Er wird es wissen. Sagte er nicht, wir sollen zu Keimzellen einer neuen Menschheit werden, die auf den Angk-Welten lebt, sie sich Untertan macht?« Trotz der schlechten Sichtverhältnisse glaubte er zu sehen, wie sie
sich plötzlich anspannte. »Keimzellen«, murmelte sie. »Wir beide … Na klasse. Habe ich … haben wir da auch noch ein Wörtchen mitzureden?« »Ich denke, ja.« Er lachte, versuchte die auch ihm unangenehme Situation zu entspannen. »Aber wir können natürlich nicht ausschließen, dass er uns hypnotisiert hat und wir gar keine andere Wahl haben, als uns ineinander zu …« Er brach ab. »Ah ja.« Sie wich übertrieben theatralisch vor ihm zurück. »Dann muss ich mich wohl auf meine Nahkampftechniken besinnen. Denn ich fühle mich, sosehr du es auch erhoffen magst, nicht von Kargor hypnotisiert. Mach dir also keine falschen Hoffnungen.« Prosper antwortete auf die gleiche Weise. »Puh!« Er wischte sich vermeintlichen Schweiß von der Stirn. »Da hab ich aber noch mal Glück gehabt.« »Du liegst noch in anderer Hinsicht falsch.« »Klär mich auf.« »Von wegen ›untertan machen‹. Ich glaube nicht, dass irgendeine Welt hier darauf wartet, von uns erobert und ausgebeutet zu werden. Damit verfielen wir in alte, hoffentlich überwundene Muster.« »Du musst nicht alles, was ich sage, auf die Goldwaage legen.« »Ich merk's mir.« »Schön, dann wäre das ja auch geklärt. Wie geht's weiter? Irgendeine Stadt in Sicht?« Sie spähten in die Nacht, in die Landschaft, die unter einem flimmernden Sternenteppich lag. Etwas mit den schildkrötenpanzerartigen Bauten Vergleichbares war weit und breit nicht auszumachen. Unberührte Natur, in die sich der Turm als einziges – im wahrsten Sinne des Wortes – Kunstwerk seltsam harmonisch einfügte. »Nein. Ich kann jedenfalls nichts erkennen. Vielleicht morgen früh, wenn die Sonne aufgeht«, sagte Sarah. »Bis dahin bleiben wir am besten hier beim Turm. Wir sind schlecht ausgerüstet, das dürfte schon jetzt klar sein. Wir haben weder Nahrung noch Trinkwasser. Kargor scheint nicht der Ansicht gewesen zu sein, dass er uns mit einer Erstausstattung versehen muss.« »Wer weiß«, erwiderte Prosper. »Vielleicht befindet sie sich im
Turm.« »In den wir nicht reinkönnen – falls er dafür überhaupt ausgelegt ist. Was wissen wir schon darüber. Kann sein, dass es sich nur um eine Art ›Sende- und Empfangsmast‹ handelt, über den man abgestrahlt oder rematerialisiert wird.« »Ich bezweifle«, widersprach er, »dass die ERBAUER in Anbetracht ihres sonst demonstrierten Könnens dafür Vorrichtungen von solcher Größe brauchten oder brauchen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, der Turm – oder die Türme, es gibt ja offenkundig viele davon – dient zwar auch dem von dir genannten Zweck, aber bestimmt nicht ausschließlich.« »Sondern?« »Das kann ich dir nicht sagen. Nicht, bevor wir ihn betreten haben.« »Du bist ja ein noch viel größerer Optimist, als ich immer dachte.« »Pessimisten führen ein sehr freudloses Leben. Im Getto war Optimismus überlebenswichtig. Kennst du die Selbstmordrate unter den Verbannten?« »Nein. Aber sie dürfte nicht gering gewesen sein, bedenkt man die ganzen Umstände …« »Sie war horrend hoch. Die Banden und Syndikate, die damit verbundenen Repressalien für jeden Einzelnen im Alltag … viele verkrafteten das nicht. Ich schätze, dass die Suizidquote ähnlich hoch lag wie die Zahl der durch Fremdgewalt ums Leben Gekommenen. Es gab sogar Fälle, in denen sich Verzweifelte in den Wald begaben, nicht weil sie sich eine Flucht aus dem Getto erhofften, sondern um sich dort von einem der außerirdischen Horrorgewächse massakrieren zu lassen. Du weißt, wovon ich rede, wie die Wälder um das ehemalige Peking gestaltet waren …« Sarah nickte. Sie wusste es, natürlich. Sie war dort gewesen, war nach ihrem langen Stasisschlaf dort erwacht und hatte sich erst langsam an die neue Zeit gewöhnen müssen. So waren sie sich begegnet. Prosper gestand sich ein, dass ihn die große, schlanke Frau von Anfang an fasziniert hatte. Und daran hatte sich nichts geändert.
»Wir waren die Einzigen, die einen goldenen Schlüssel erhielten«, fand er zum Ausgangsthema zurück. »Verrückt, oder? Ich wüsste gern, wo Sahbu gelandet ist. Wobei …« »Ja?« »Wir haben nicht einmal hundertprozentige Gewissheit, dass wir uns wirklich noch im Angk-System aufhalten, oder? Kargor spielte selten mit offenen Karten. Theoretisch wäre es denkbar, dass wir über viele Lichtjahre hinweg in ein ganz anderes Sonnensystem transferiert wurden …« »Mein Gefühl sagt mir, dass wir ihm zumindest in diesem Punkt trauen können. Wir befinden uns auf einer Angk-Welt – auf welcher genau, kann ich dir aber nicht sagen.« »Da streikt dein Gefühl, wie?« Er lächelte. »Wir werden an der Feinjustierung arbeiten müssen.« »Du«, erwiderte sie ebenso scherzend wie er, »wirst an mir gar nichts justieren. Das haben schon andere versucht und sich die Zähne ausgebissen.« »Ach? Interessant. Erzähl. Du siehst mich neugierig, ich werde diese Nacht kein Auge zutun, wenn du es mir nicht verrätst, wer dir in der Vergangenheit so gefährlich nahe kam …« »Träum weiter.« Damit beendete sie offenbar den Ausflug ins allzu Private. Nebeneinander bewegten sie sich am Fuße des Turms, umrundeten ihn einmal und beschlossen dann, sich in der lauen Nacht tatsächlich einfach ins Gras zu legen und darauf zu hoffen, dass die Gegend nicht mit gefährlichen Raubtieren oder anderen Bedrohungen gepflastert war. Prosper bot zwar an, wach zu bleiben und aufzupassen, aber Sarah lehnte ab. Sie hatte ein nicht wirklich nachvollziehbares und begründbares Zutrauen in das Wesen, das sie hierher geschickt hatte. Kargor … Mit dem Gedanken an den ERBAUER, der ihnen diese fremde Welt zum Geschenk gemacht hatte, schlief Prosper ein, kaum dass er sich im Gras ausgestreckt hatte. Er erwachte erst, nachdem die Sonne bereits aufgegangen war und
er sich im Paradies wähnte. Jedenfalls so lange, bis die Schwärme erschienen, den Himmel verdunkelten und Sarah zu schreien begann.
Sahbu hatte sich von den anderen abgesondert. Sie waren bereits in das Tal hinabgestiegen, das sich unter der felsigen Erhebung erstreckte, auf deren Spitze der kobaltblaue Turm wie ein grotesker Stachel aufragte. Er hatte versprochen, ihnen zu folgen – aber erst später, sobald er sich etwas länger mit dem Turm und seinen Hieroglyphen auseinandergesetzt hatte. Sie verliefen hier in gleicher Weise wie auf der Welt, die sie zuerst in diesem System betreten hatten. Wohin genau sie der Transfer verschlagen hatte, darüber konnten sie nur rätseln. Sicher war nur, dass die Stadt der Schildkrötenmänner verschwunden war, sie sich also entweder an einem fernen Ort desselben Planeten aufhielten oder aber, was wahrscheinlicher war, auf einer der anderen sechs Angk-Welten. Für Sahbu war es zunächst einem Schock gleichgekommen, von Prosper Mérimée getrennt worden zu sein, der die letzten Jahre seines Lebens geprägt hatte. Ohne ihn, dachte Sahbu, wäre ich längst unter die Räder gekommen. Verdammt, und ich glaube nicht, dass es hier weniger gefährlich ist als im Getto! Er misstraute Kargor zutiefst. Spätestens, seit er hilflos hatte mit ansehen müssen, wie der ERBAUER Prosper Mérimée für den Vorstoß der RUBIKON in Darnoks Zeitentartungsfeld ohne Rücksicht auf Verluste missbraucht hatte. Der Meister schien die Sache schadlos überstanden zu haben – aber das änderte nichts an dem feigen Akt der Gewalt, dessen sich Kargor schuldig gemacht hatte. Nein, Freunde in diesem Leben würden sie nicht mehr werden. Aber es bestand wenig Gefahr, dass das noch irgendeine Rolle spielte. In diesem Leben. Wenn Sahbu alles richtig verstanden hatte, dann hatte sich der ERBAUER samt Scobee und Perle jetzt endgültig aus dem Staub gemacht, davongestohlen, und sie ihrem ungewissen Schicksal überlassen.
Was für eine Farce! Diese ganze »Schlüsselverteilung« dokumentierte aus seiner Sicht letzten Endes nur, welch pervertierter Geist dem ERBAUER Kargor innewohnte. Die Moral dieses Wesens ließ sich nach menschlichen Maßstäben nicht bewerten, und man tat gut daran, es gar nicht erst versuchen zu wollen, sein Handeln zu verstehen. Während er sich in die Hieroglyphen vertiefte, sah er sich plötzlich von nie gehörten Lauten umgeben. Es klang, als musizierte etwas unmittelbar an oder in seinem Ohr, aber als er sich umblickte, war nichts zu erkennen. Er war immer noch allein dort oben in luftiger Höhe, auf dem Kamm eines Berghöckers, der wiederum dem Turm als Fundament diente. Wie weit er sich wohl nach unten in den Boden fortsetzen mag?, ging es Sahbu nicht zum ersten Mal durch den Sinn. Aber es war nur ein kurzer Gedankenblitz, der rasch erstickt wurde von der Frage nach dem Ursprung der unbekannten Klänge, die sich immer noch um ihn her entfalteten. Erst als er einen Schritt von der Turmwand zurücktrat … verstummten die Töne, und der Verzicht auf sie machte ihn unverzüglich schaudern. Was … ging hier vor? Er spürte, wie er zitterte. Wie es ihn heiß und kalt überlief und sein Herz plötzlich raste, als hätte er den Fehler begangen, sich auf eine Traumranke einzulassen. Sie waren das süßeste Gift, die gefährlichste Droge im Getto gewesen; wer nur einmal, und sei es noch so flüchtig, mit ihnen in Kontakt kam, der wurde augenblicklich süchtig nach den Bildern, die sie in die Hirne der Unglückseligen pflanzten. Sahbu hatte sich immer beherrschen können. Aber er hatte viele Opfer gesehen, die, weniger willenstark, der Verlockung nachgegeben hatten. Und es für den Rest ihres Lebens – das nicht mehr lange währte – bedauert hatten. War es hier … ähnlich? War er binnen weniger Momente den
Klängen, die er nun vermisste wie den Kuss einer feurigen Geliebten, verfallen? Aber – was hatte sie erzeugt? Er überlegte. Was ihm schwerfiel, schwerer, als gut war, zeugte es doch ebenfalls davon, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dass in seinem Organismus Prozesse in Gang gesetzt worden waren, deren Folgen er noch gar nicht absehen konnte … Und all das war von ein paar simplen Klängen, einer nie zuvor gehörten, mehr als eigenwilligen Melodie verursacht worden? Er zweifelte an seinem Verstand. Halluzinierte er? Während er sich den Schweiß vom Gesicht wischte, blickte er hinab ins Tal, wo die Gestalten derer, die mit ihm hierher verbannt worden waren, wie Ameisen anmuteten. Wie hilflose, orientierungslose Ameisen. Entwurzelt. Aber waren sie das nicht schon lange vorher gewesen? Er schloss die Augen und atmete minutenlang tief durch. Gleichzeitig rekapitulierte er sein eigenes Verhalten bis zu dem Moment, da die Töne erklungen waren. Er glaubte sich zu erinnern, dass es begonnen hatte, als er – Die Augen offen, wandte er sich erneut dem himmelhohen Turm zu. Es gab eine einfache Möglichkeit, seinen Verdacht zu überprüfen. Wie schon einmal, streckte er erneut die Hand aus und ließ die Fingerkuppen über das Hieroglyphenband gleiten. Kaum dass er die reliefartigen Vertiefungen ertastete, geschah es. Die Melodie kehrte zurück, und wie beim ersten Mal vermochte er sich nicht festzulegen, ob sie über sein Gehör an seine Sinne trat, oder direkt in seinem Kopf erklang. Sein Puls beschleunigte, aber nicht mehr so rasant wie zuvor. Er zwang sich zur Ruhe, atmete flach. Als er die Finger zurückzog, verebbten die Töne. Eine neuerliche Berührung holte sie zurück. Seltsam. Bei ihrer Ankunft auf Angk I hatte er den dortigen Turm auch, wie alle anderen, untersucht, hatten seine Finger die Symbole berührt, die den kobaltblauen Giganten in gewisser Höhe umliefen. Aber ein
vergleichbarer Effekt war nicht aufgetreten. Was machte diesen Turm anders? Oder, kam es Sahbu in den Sinn, was ist an mir anders geworden? Darauf fiel ihm nur eine Antwort ein. Seine Hand, die gerade noch die Hieroglyphen betastet hatte, suchte unwillkürlich die Stelle an seiner Stirn, wo Kargors Schlüssel absorbiert, Teil von ihm geworden war. Als er die Hand nach einer Weile wieder zurückzog, weil der Schlüssel nicht mehr zu spüren war, erschrak er zunächst, denn die Finger leuchteten glutrot – wie das Stigma, das der ERBAUER ihm und den anderen dieser Gruppe verabreicht hatte! Als der Schreck nachließ – immerhin ging von dem Leuchten keinerlei Schmerz oder sonstige spürbare Beeinträchtigung aus –, bewegte sich seine Hand plötzlich fast, als hätte sie ein Eigenleben entwickelt. Sahbu presste die komplette Handfläche fest gegen eine beliebige Stelle (zumindest erschien es ihm so, als wäre sie beliebig gewählt) des Hieroglyphenbandes. Und damit änderte sich alles.
Paula hatte das Gefühl, dass ihre Fähigkeit, deren Möglichkeiten sie seit frühester Kindheit erforscht und Schritt für Schritt für sich erschlossen hatte, bis sie es zur heutigen Perfektion gebracht hatte, dass diese Fähigkeit sich urplötzlich … verselbstständigte. Von einem Lidschlag zum nächsten hatte sich die Umgebung gravierend verändert. Da war immer noch ein Turm, aber er erhob sich nicht mehr in Sichtweite der Schildkrötenstadt, sondern inmitten eines Sandmeeres. Inmitten endlos anmutender Wüste! Der Schock ließ sie schrumpfen. Das Gefühl, in dieser schrecklichen, hitzeflirrenden Öde enden und elend zugrunde gehen zu müssen, weil es hier an allem mangelte, was ein menschliches Wesen zum Leben brauchte (Wasser, Nahrung, Schatten), durchraste sie wie eine elektromagnetische Welle, die ein Stromnetz lahmzulegen vermochte.
Und genau so fühlte sie sich: lahmgelegt, schachmatt gesetzt! Mit einem einzigen Zug Kargors. Sie blickte an sich herab. Der Boden kam immer näher, als würde sie in Treibsand versinken. Aber Zurufe und hektisches Gestikulieren der anderen, die mit ihr durch den Ring getreten und hierher versetzt worden waren, machten sie auf die Wahrheit aufmerksam: Sie schrumpfte einfach nur immer mehr, konnte den Prozess gar nicht aufhalten! Aber ich muss!, mobilisierte sie endlich Widerstand gegen den gespenstischen Automatismus, der in ihr in Gang gesetzt worden war. Sie konzentrierte sich wie während einer Vorstellung … nein, sie konzentrierte sich, als ginge es um ihre Existenz – was durchaus auch der Fall sein mochte – und schaffte es tatsächlich, den Vorgang zu stoppen. Aber stoppen war erst die halbe Miete, sie musste … »Paula!« Der Riese, der sich über ihr aufbaute und zu ihr herabbeugte, sie an den Schultern fasste – mit jeweils nur dem Zeigefinger seiner beiden Hände; mehr hätte ihr schwerste Verletzungen zufügen können, denn sie war ja nur noch … unterarmgroß! – war ihr sonst eher kleinwüchsig vorgekommen. »Simon …« Sie wusste nicht, wie ihre Stimme bei ihm ankam. Ob er sie überhaupt hörte, so kraftlos und dünn, wie sie geworden war. »Ganz ruhig, Paula, ganz ruhig. Es ist für uns alle nicht einfach.« Er sah zu den anderen, die offenbar nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten – ihr gegenüber. Simon war der Einzige, der Initiative ergriff. Ein warmes Gefühl durchflutete Paula. Aber nur kurz. Dann wurde sie sich wieder ihrer Lage bewusst. »Ich … ich kann es nicht rückgängig machen. Ich bin … wie blockiert!« »Nein.« Er schüttelte den riesigen Kopf. Seine Augen waren wie kleine, hellblaue Teiche, in denen eine unerschütterliche Zuversicht schwamm. »Nein, das darfst du nicht glauben! Du kannst es! Du
musst es nur wollen. Du musst ihm zeigen, wer der Herr ist – dass der Geist immer noch die Materie beherrscht, und nicht umgekehrt!« »Ihm …?« »Deinem Körper!« Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, hätte resigniert. Aber etwas von Simons Zuversicht, von dem unerschütterlichen Glauben an ihre Fähigkeiten, den er ihr vermittelte, setzte sich in ihr fest wie ein Saatkorn, das langsam, ganz langsam keimte, wuchs und immer mehr Raum in ihr einnahm, bis … »Es … es klappt! Simon – es klappt!« Er richtete sich auf. Seine Finger, groß wie die Pranken eines Orang-Utans, fielen von ihr ab, und sie bedauerte es, dass sie ihn nicht länger spürte. Mehr noch als das Bedauern überkam sie jedoch eine enorme Erleichterung, als sich der Boden unter ihren Augen allmählich wieder entfernte, weil sie … in die Höhe strebte. Weil ihr Körper sich wieder seines Grundmusters besann, der Größe, die sich eingeschliffen hatte und mit der sie zurechtkam. Simon lachte sie an – auch noch, als sie ihn um einen guten Kopf überragte. Es störte ihn nicht, ganz offenkundig tat es das nicht. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie viel Selbstbewusstsein in dem höchstens eins siebzig großen Mann steckte. »Ich weiß nicht, wie –«, begann sie. »Du musst es nicht wiedergutmachen«, erwiderte er. »Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht. Das hier …« Er zeigte auf die Landschaft. »… kann einen schon ganz schön … kleinkriegen …« Sie lachte ob des Wortspiels. Und er fiel darin ein. Erst die anderen, die jetzt näher drängten, brachten den Ernst wieder zurück. »Wir sind verloren«, sagte Macie. Der Schatten, der sie umgab, von allen Seiten und wie ein exakter Kreis geformt – niemand wusste, wie sie das machte, aber sie konnte sich, wenn sie wollte, ganz darin verschwinden lassen – folgte jedem ihrer Schritte. »Kargor hat
uns reingelegt – oder aussortiert. Nennt es, wie ihr wollt. Hier werden wir jämmerlich vor Hitze umkommen. Ohne Wasser, ohne …« Sie wollte »ohne Schatten« sagen, das erriet Paula instinktiv. Deshalb fiel sie ihr ins Wort: »Du kannst uns Schatten bieten. Besseren als der Turm. Ich fühle die Kühle, die von dir ausgeht – du musst es doch auch merken.« Verblüfft lauschte Macie in sich hinein. Plötzlich lockerte sich ihr verkniffenes Gesicht – aber nur kurz. »Selbst wenn – davon werden wir nicht satt. Davon können wir nicht unseren Durst stillen!« »Dann müssen wir sofort aufbrechen und die Wüste überwinden. Es gibt ganz bestimmt bessere Orte, eine Oase vielleicht. Ich will nicht glauben, dass Kargor uns tatsächlich nur hierher schickte, weil wir … weil wir von ihm nicht für wert befunden wurden, uns einer der Angk-Welten anzupassen …« Sie starrten sie eine Weile stumm an. Fast schien es, als wollte die Verzweiflung sie doch übermannen, als wollten sie ebenso resignieren wie Macie. Doch wieder war es Simon, der eine klare Position bezog und Paula beipflichtete: »Sie hat recht! Was haben wir zu verlieren? Lasst uns losgehen! Die Sonne steht fast im Zenit, wir werden uns in Geduld üben müssen, bis es Nacht wird. Und dann könnte es statt der Hitze jetzt zu beißender Kälte kommen – Prosper erzählte mal etwas in der Art. Es stand in seinen Büchern. In den Wüsten der Erde war es so. Aber die Wüsten der Erde waren endlich. Man konnte sie überwinden, selbst zu Fuß. Man musste nur Ausdauer aufbieten, Willenskraft und …« Er stockte kurz. »… und ein wenig Glück brauchen wir natürlich auch.« »Vergeuden wir nicht unseren Atem für fruchtlose Diskussionen, lasst es uns versuchen!«, bekräftigte Paula und warf Simon einen dankbaren Blick zu, obwohl ihr die Erwähnung Prospers kurz einen Stich versetzt hatte. An Bord der RUBIKON waren sie eine Zeit lang miteinander liiert gewesen. Aber nicht ernsthaft genug, um daraus mehr als ein paar leidenschaftliche Stunden erwachsen zu lassen. Paula hatte sich mehr von Prosper erhofft. Sie mochte ihn – vielleicht war es auch mehr Bewunderung. Er hatte so viel für jeden
Einzelnen von ihnen getan … Zu ihrer Verblüffung lenkte selbst Macie plötzlich ein. Schulterzuckend sagte sie: »Okay, ich bin dabei, was haben wir schon zu verlieren – außer unserem bisschen Leben, meine ich. Kommt … kommt alle in meinen Schatten. Aber wehe – wehe, wenn einer von euch die Gelegenheit ausnutzt und sich an mich ranzumachen versucht! Wer tatscht, fliegt! Mit einem Arschtritt raus in die Sonne! Capito?« »Capito!«, grinste Simon, der nicht den Anschein erweckte, als bestünde die Gefahr, dass er sich an Macie, die nicht nur größer als er war, sondern auch doppelt so dick, vergreifen würde. Die anderen Männer der Gruppe schienen ebenfalls nicht wirklich gefährdet. »Dann lasst uns aufbrechen. Wer die Oase zuerst sichtet, kriegt eine Extraration Schatten!«, gurrte Macie mit dunkler Stimme. Paula bezweifelte, dass dies ein echter Ansporn sein konnte. Aber sie war froh, festzustellen, dass ihre Gruppe intakt war. Noch jedenfalls. Eine nahe Oase wäre das Beste gewesen, um die Belastbarkeit eines jeden Einzelnen gar nicht erst auf die Probe stellen zu müssen. Stolpernd setzte sich der seltsame Tross im kreisrunden Schatten, der aus der absonderlichen Frau wie dunkler Nebel strömte, in Marsch.
»Was ist das?«, schrie Sarah. »Dort!« Prosper schüttelte den letzten Rest von Schlaf ab und kam schneller auf die Beine, als seinem Kreislauf lieb war. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, so abrupt war er aufgesprungen. Sarah, die ein paar Schritte entfernt gesessen und sich ebenfalls erhoben hatte, wies mit ausgestrecktem Arm in die Ferne, wo ein Gebirgskranz zu erkennen war. Die Gipfel schimmerten weiß, als wären sie schneebedeckt. Aber so weit musste Prosper gar nicht schauen. Das, worauf Sarah ihn aufmerksam machen wollte, lag sehr viel näher. Über den Blumen.
»Es … bewegt sich. Steigt auf. Sind das … Insekten?« Prosper wünschte, er hätte es ihr sagen können. »Wir müssten näher ran, um es zu erkennen. Aber es hat den Anschein. Insekten oder … Vögel. Etwas muss sie aufgeschreckt haben.« Er machte eine kurze Pause, dann seufzte er: »Sieh dir nur all die Blumen an!« Sie nickte. »Hab ich schon gesehen. Heute Nacht waren sie noch nicht da. Das hätte ich bemerkt. Trotz des Fastdunkels. Die wären mir nicht entgangen.« Das bezweifelte Prosper. Er selbst hatte in der Nacht jedenfalls nicht unterscheiden können, ob sie von simplen Gräsern oder prächtigen Blumen umgeben waren, deren Blütenkelche vielleicht im Finstern geschlossen waren und deshalb sehr viel unauffälliger als jetzt. In einem allerdings musste er ihr recht geben. »Der Duft«, sagte er. »Ich gebe zu, der Duft ist neu. So was haben wir bei unserer Ankunft nicht in die Riechorgane bekommen!« »Sag ich doch. Die müssen … über Nacht gewachsen und erblüht sein.« »Das wiederum fällt mir noch schwerer zu glauben. Eher ziehe ich die Möglichkeit eines vorübergehenden Ausfalls unseres Geruchssinns in Erwägung. Möglicherweise wurde er bei der Passage betäubt. Nun ist er wieder fit und meldet uns: Pollenalarm!« Er hatte das Wort kaum ausgesprochen, als sich Sarah mit der Hand gegen die Stirn klatschte und rief: »Das ist es!« »Ist was?« »Pollen! Ich wusste gleich, woran mich diese wolkenartigen Schwärme erinnern. An Pollenflug!« Er schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Es geht nicht das leiseste Lüftchen. Pollen werden aber vom Wind getragen. Und die dort … erheben sich regelrecht vom Boden. Fast wie ein Teppich, der sich erst ab einer bestimmten Höhe sammelt und zu dichteren Gebilden zusammenballt. Und dann fangen sie an, Fahrt aufzunehmen. Die Wolke dort beispielsweise …« Er zeigte in eine Richtung, aus der sich langsam eine solche Ballung näherte. »Vielleicht doch Insekten. Wenn sie näher heran sind, werden wir –«
»Wir sollten sie lieber nicht näher rankommen lassen! Wir sollten – rennen!« Die Panik, die ihre Stimme plötzlich färbte, war unüberhörbar. Und es bedurfte auch keiner großartigen Erklärung, da Prosper bereits mit eigenen Augen sah, was Sarah offenbar nur eine Spur schneller realisiert hatte. Ihre Besorgnis bezog sich nicht in erster Linie – oder nicht nur – auf die Wolkenballungen selbst, sondern mindestens genauso auf das, was sie offenbar anzog. Wie ein Magnet. Und das lag … oder stand … genau hinter ihnen! Der Turm. »Verrückt, oder? Komm, lass uns Deckung auf der anderen Seite suchen. Ich will nicht in eine solche Ballung aus wer weiß was geraten. Wie soll man da atmen? Wir würden ersticken!« Sie nahm Prosper bei der Hand und zog ihn zur anderen Turmseite. Wo sich ihre Augen weiteten, denn auch dort erstreckten sich endlose Felder von Blumen – aus denen ebensolche Wolken aufstiegen, sich sammelten, ballten und Fahrt Richtung Turm aufnahmen. »Das sieht mir verdammt nach Erntezeit aus«, knurrte Prosper. »Das war ganz schlechtes Timing von Kargor. Ganz schlechtes Timing …« »Wohin sollen wir?« »Wohin können wir noch?« »Nirgends! Es sei denn, du weißt, wie wir in den vermaledeiten Turm gelangen!« »Wenn ich das wüsste, wäre ich längst drin.« »Dann bleibt uns wohl nur, uns ganz flach auf den Boden zu legen und zu hoffen, dass das Unheil über uns hinwegzieht – nach Möglichkeit, ohne uns zu ersticken.«
6. Kapitel Der Durchlass entstand, als würde sich die Irisblende einer Kamera öffnen. Kreisrund. Und genau unterhalb der Stelle, die Sahbu mit seiner Handfläche berührte. Obwohl alles lautlos vonstatten ging – abgesehen von der Melodie, die seine Haut auf den Glyphen wachrief –, wich er einen Schritt zurück. Unwillkürlich erwartete er, dass sich die »Blende« wieder schließen würde. Doch das geschah nicht. Eher hatte es den Anschein, als würde die Öffnung auf ihn warten. Darauf, dass er sich endlich entschloss, ihre Schwelle zu übertreten und so ins bislang verwehrte Turminnere zu gelangen. Sahbu zögerte weiter. Irritierenderweise vermochte er durch die entstandene Öffnung nicht in den Bereich dahinter schauen. Irgendetwas schien seine Blicke … abzulenken. Ja, ein besseres Wort fiel ihm nicht dafür ein. Er konnte die Hand ausstrecken und die Leere in der Wandlücke spüren, die keinerlei Widerstand bot. Aber seine Augen vermochten die Grenze nicht zu überwinden. Wenn er zu lange darauf starrte, wurde ihm übel. Er hatte dann das Gefühl, als jemand mit gesunden Augen durch die verzerrenden Gläser eines fast Blinden zu starren. Als verheißungsvolles Omen empfand er das nicht gerade. Auch nicht als eine Einladung, die er unbedingt annehmen sollte. Ernsthaft überlegte er, die anderen heraufzurufen und mit ihnen zusammen zu entscheiden, ob einer von ihnen es wagen sollte, das Bauwerk zu betreten. Es wäre vernünftiger gewesen. Sehr viel vernünftiger … … als das, was Sahbu tatsächlich tat. Zwei Schritte – und er stand auf der anderen Seite!
Als hätte für einen kurzen Moment etwas seinen eigentlichen Willen überbrückt, ignoriert, kurzgeschlossen. Alarmiert fuhr er herum, wollte den Schritt wieder rückgängig machen, nach draußen gehen, ohne sich die Zeit zu nehmen, auch nur zu schauen, wo er gelandet war. Kreatürliche Angst trieb ihn zu dieser Reaktion. Die vergebens war. Zu spät kam. Die Irisblende hatte sich geschlossen. Die Wunderwelt der ERBAUER stand seinen staunenden Blicken offen. Die Tür nach draußen nicht mehr.
Erntezeit. Der Begriff hallte in Sarahs Geist nach, während die Schwärme immer näher kamen, immer lauter wurden (zuerst war es nur ein fernes Murmeln gewesen; inzwischen klang es, als würden Millionen Rasierklingen aneinanderreihen) und bereits über ihre Köpfe und Rücken hinwegzukriechen schienen. Es war das unheimlichste und beängstigendste Gefühl, dem sich Sarah jemals ausgesetzt gefühlt hatte. Noch furchteinflößender als die Landung der turmhohen Invasionsschiffe, mit denen die Jay'nac damals die Eroberung der Erde eingeläutet hatten … … als noch niemand dort auch nur das Geringste von den Jay'nac und dem uralten Krieg geahnt hatte, der in Milchstraßenweiten und den Gefilden benachbarten Galaxien tobte. Als noch kein menschliches Wesen über die Bahn des vierten Planeten hinausgekommen und niemand es für möglich gehalten hatte, die Grenzen des eigenen Sonnensystems jemals zu überwinden, um ferne Sterne zu erreichen. Oder ferne Galaxien. Alles war seither anders geworden. Nicht nur der eigene Horizont hatte sich immens erweitert, auch die Art und Weise, wie Sarah ihren Stellenwert im Gefüge des Kosmos einschätzte, war … sehr viel realistischer geworden. Sie war ein Nichts.
Jeder einzelne Mensch – oder jedes einzelne Fremdwesen – war ein solches Nichts … … aber manchmal waren sie auch das berühmte Zünglein an der Waage, das über den Verlauf der Zukunft entschied. Darnok beispielsweise. Immer wieder Darnok – sie wollte gar nicht so oft an ihn erinnert werden, und doch fiel er ihr jedes Mal ein, wenn sie darüber nachgrübelte, wie viel ein einzelnes Leben doch auch wert sein konnte. Wie viel es zu bewegen und verändern imstande war, so ganz anders, als man es einem »Nichts« eigentlich zutrauen wollte. Inzwischen fühlte es sich an, als würden die Partikel, die über sie hinwegzogen, ihre Kleidung tranchieren; erst den Stoff und dann die darunter liegende Haut. Sie stöhnte, als der Schmerz kam. Rauen Zungen gleich leckte es über sie hinweg, verschonte auch nicht ihr Kopfhaar, riss es büschelweise aus, schürfte Blut frei … »Prosper!« »Ich weiß«, kam die Antwort über das ohrenbetäubende Geräusch hinweg. »Es tut weh. Aber halte durch. Verschränke die Hände über dem Kopf, aber bleib unten – wage es nicht, den Kopf zu heben. Es muss gleich vorbei sein. Gleich …« Sie tat, was er ihr geraten hatte, und ihre Handflächen berührten nässende Kopfstellen, wo die Haut bereits samt Haar abgeschliffen war, der blanke Knochen tastbar war … und Blut, klebriges Blut. Der Schmerz nahm unter der Berührung noch zu. Sarahs Sinne schwanden. Aber sie verlor das Bewusstsein nicht völlig, wie sie es sich gewünscht hätte, sondern driftete immer knapp an der Oberfläche entlang. Ihr Gesicht wies zu Boden. Sie schmeckte fremdes Erdreich, fremde Gräser in ihrem Mund. Aber sie atmete. Der Mahlstrom aus Pollen (oder was immer es sein mochte, was da so erbarmungslos vom Kobaltblau des Turmes angezogen wurde) wälzte sich über sie hinweg. Die Angst, davon vielleicht nicht filetiert, aber begraben zu werden, bei lebendigem Leib, wurde übermächtig. »Proper …«
»Durchhalten! Es ist gleich vorbei!« Sie wünschte, sie hätte gewusst, woher er seine Zuversicht nahm – oder sie wenigstens geteilt. Aber sie hatte nur Angst. Und noch schlimmer wurde es, als ihr bewusst wurde, dass sie noch nicht sterben wollte. Nein, sie wollte leben! Noch lange leben! Es hatte auch andere Zeiten gegeben. Gefahrenmomente, in denen sie sich durchaus glaubhaft für sich selbst eingeredet hatte, es sei gleichgültig, ob sie nun davonkäme oder nicht. Hier und heute war es anders. Sie wollte nicht gerade erst einen Fuß auf diese Welt gesetzt haben, um sie gleich wieder zu verlassen. Um das Leben an sich zu verlassen, in einen ungewissen Zustand überzugehen, von dem sie nie geglaubt hatte, dass er eine neue Chance bieten würde. Leben nach dem Tod? Um das zu glauben, war sie zu pragmatisch veranlagt, zu rational eingestellt. Sie konzentrierte sich lieber auf das Leben vor dem Tod. »Durchhalten …« Täuschte sie sich, oder wurde Prospers Stimme schwächer? Sie wusste nicht genau, warum, aber einer der Gründe, warum sie gerne weitergelebt hätte, war dieser Mann, der so viele Wesenszüge hatte, dass wahrscheinlich ein Leben gar nicht ausreichte, sie zu ergründen. Zumindest nicht die Zeit, die ihnen noch blieb. »Pros…« Weiter kam sie nicht. Der Schmerz wurde so übermächtig, dass sie ihre Hände vom Kopf wegzog. Es war ein Reflex. Aber auch der Anfang vom Ende. Fast bestialisch biss sich der Orkan aus Pollen in ihr fest, riss sich los … und nahm weitere Haut- und Fleischfetzen, Blut, selbst Knochensplitter mit sich. Sarah schrie in den Boden hinein. Und nahm dankbar das Geschenk des Todes an, der alles auslöschte.
Ich hirnverbrannter Idiot!
Sahbu kam sich vor wie ein kleines Kind, das versehentlich in einen Spielzeugladen eingeschlossen worden war. Auf der einen Seite war es das Paradies, dasselbe wie das Schlaraffenland für einen Vielfrass, auf der anderen jedoch rumorte und bohrte unablässig das Bewusstsein, von zu Hause abgeschnitten zu sein, von den Eltern, von allem, was einem vertraut und lieb war … Wie sollte man sich angesichts solcher Ängste an dem Angebot von Schätzen berauschen können? Sahbu fluchte und verwünschte sich gnadenlos weiter, während seine Blicke zu erfassen versuchten, was ihn umgab. Wohin er da geraten war … Ein Wunderland, tatsächlich. Und das war nur ein Stockwerk – wie viel mehr mussten die anderen Etagen bieten? Die Dinge, die überall herumstanden oder -lagen, -hingen oder -schwebten, waren in ein karmesinrotes Licht getaucht, ganz ähnlich dem, das dem Schlüssel innegewohnt hatte, der nun Teil von Sahbu war. Der Schlüssel … der ihm den Zutritt hierher ermöglicht hatte, daran gab es für Sahbu keinen Zweifel mehr. Kargor hatte sie also doch nicht ohne jegliches Hilfsmittel zurückgelassen. Der Schlüssel war sein Geschenk an die Siedler der AngkWelten, und zwar eines von unschätzbarem Wert. Sicher diente er nicht nur dem Transfer, nicht nur dem Öffnen des Turms. Er, Sahbu, musste nur den Mut besitzen, ihn im richtigen Moment an der richtigen Stelle auch einzusetzen … »Roargnartz? Roargnartz willagg?« Er erstarrte. Zwischen den Dingen, die den riesigen Raum füllten, bewegte sich etwas auf ihn zu. Eine schwarze Flamme, groß wie Sahbu und in ständiger Veränderung. Sie glitt über den marmorierten Boden hinweg, ohne ihn zu berühren, und wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass die Flamme keine war, nur zufällig so aussah, in Wahrheit aber mehr einem zerfransten Stück Weltraum ähnelte, das ein launiges Überwesen dazu befähigt hatte, sich bis auf die Oberfläche eines Planeten zu begeben und dort nach Belieben umzutreiben. Je
länger Sahbu hinsah, desto sicherer wurde er: Was da auf ihn zukam, war ein Stück eisiges Vakuum, ein Hauch von All inmitten dieses gewaltigen Saales innerhalb des kobaltblauen Turms der ERBAUER! Und das restlos Wahnsinnige daran war, dass … dass in dem schwarzen Vakuum Lichter blinkten – wie ferne Sterne. Spätestens nach dieser Beobachtung machte er sich mit dem Gedanken vertraut, den Turm vielleicht nie mehr verlassen zu können, jedenfalls nicht heil an Körper und Verstand. »Roargnartz? Roargnartz willagg?«, wiederholte die glockenhelle Stimme, die aus der kalten Flamme kam. Und einen Atemzug später fragte sie: »Bin hungrig. Darf ich dich verspeisen?« Er zuckte zurück. Die unheimliche Erscheinung keckerte: »Falsch. Fehler, falsch! Ruhe, zurück, großes Malheur! Meinte: Bist du hungrig? Und darf ich dich speisen?« Sahbu hatte das Gefühl, sich immer weiter von der Realität zu entfernen. So unwirklich wie das Ding da vor ihm – unwirklicher noch als die Umgebung des Turminneren an sich –, war ihm noch niemals etwas vorgekommen. Wieder fielen ihm die Traumranken des Gettos ein. Ob die Süchtigen es ähnlich empfunden hatten? Ob sie sich auch immer weiter, von Mal zu Mal mehr, von dem isoliert fühlten, was für die Nichtträumenden die Normalität war? »Wer – wer bist du?« Die Flamme erstarrte. Als würde die frostige Kälte, die sie ausstrahlte, nun auch nach ihr selbst greifen. Und dann sah Sahbu wie im Zeitraffer eine humanoide Gestalt aus der »Substanz« entstehen. Aus der Schwärze. Als wäre es Materie. Am Ende war die Ähnlichkeit mit einem Gloriden verblüffend: die gleiche asexuelle, androgyne Ausstrahlung, haarlos, absolut glatt und nackt, ohne dass beim Betrachter Schamgefühle verletzt wurden. Nur war die Haut hier so schwarz, wie es zuvor die wabernde Flamme gewesen war, und auch sie war durchsetzt von Lichtern, die mehr denn je an ferne Sterne, Galaxien, Nebel und dergleichen erinnerten … »Ich Varx. Varx der Neunmilliardsteachthundertmillionsteund-
vierhundertsiebenundachtzigste.« Etwas an der Art dieses Wesens vermittelte Sahbu glaubhaft, dass es keinerlei Gefahr für ihn darstellte. »Reicht … Varx?«, fragte er dennoch etwas kleinlaut. »Varx ist Ehre von so hohem Schlüssel! Darf ich dich jetzt speisen?« Sahbu gab sich Mühe, aus dem Kauderwelsch schlau zu werden. »Schickt Kargor dich?« »Kargor mir nicht bekannt. Unbekannt. Du Sabuu. Du Sabuu. Ich dich speisen.« »Wenn ich wüsste, ob ich dir trauen kann.« Zum ersten Mal fiel Sahbu auf, wie lautstark sein Magen rumorte. Er überlegte, wann er das letzte Mal gegessen hatte, und wo. Es war noch an Bord der Perle gewesen, ungefähr zu der Zeit, als sie in dieses Sonnensystem vorgestoßen war und Kargor sie mit dem Wunder der bahngleichen Planeten bekannt gemacht hatte. »Trauen! Können! Müssen! Varx treuer Sklave. Varx Lotse durch die Welt der Wände.« »Welt der Wände?« »Hier …« Das in eine humanoide Form gepresste Stück Dunkelheit, der Fetzen Weltraum, den eine launige Macht etwas wie Leben eingehaucht hatte, drehte sich um seine Achse und deutete um sich. Wände. Er meinte das Innere des Turms. Seine Welt, die er vielleicht noch nie verlassen hatte. »Ich will keinen Sklaven«, murmelte Sahbu. »Einen Lotsen hingegen … noch dazu einen, der mir zu essen und zu trinken geben würde … darüber ließe sich reden. Wenn –« »– du mir trauen könntest?« Varx feixte. Zumindest gewann Sahbu diesen Eindruck, wenngleich die Mimik des Wesens hinter treibenden Sternhaufen verborgen blieb. »Hoher Schlüssel von Sternling niemals nicht enttäuscht würde! Varx ergebener Skla… Lotse!« »Du nennst dich ›Sternling‹? Und warum mich Hoher Schlüssel? Woher weißt du, dass ich –« »Ergebener Lotse und Sternling spüren kann die Aura des Trägers.
Des Meisters und Herrn.« »Herrn und Meisters«, verbesserte Sahbu ihn unwillkürlich. »Ja, ja, bessere mich! Redensart schwer für ergebenen Lotsen. Aber lerne. Lerne unentwegt. Bin bald flüssig!« »Du meinst, du sprichst bald flüssig, oder?« Sahbu konnte sich ein Grinsen kaum noch verkneifen. Der Sternling nickte eifrig. »Wie viele von deiner Sorte leben hier?« »Leben?« Irgendwie ernüchterte die simple Nachfrage Sahbu augenblicklich. Die putzige Ausdrucksweise des Fremdwesens hatte ihn zeitweise fast vergessen lassen, woraus es bestand – nicht, dass er es gewusst hätte. Aber er wusste immerhin, dass es kein Fleisch und Blut war. Nur folgerichtig deshalb Varx' Einwand. »Wie viele von deiner Art schwirren hier rum?« »Aah … Schwirren. Ich schwirre hier rum.« »Du willst behaupten, du seiest ganz allein?« »Nicht allein. Erhabener Herr und Meister sein da.« »Und bevor ich da war? War Varx da allein?« Die Frage schien ihn mehr zu irritieren als alles andere davor. »Varx war nicht, bevor Meister kam«, seufzte er schließlich. »Varx erst sein, seit Meister ist. Hier ist. Schlüssel ihn haben gerufen. Aus … weiß nicht, woher. Aber jetzt ich bin. Ergebener Lotse. Ergebener des Erhabenen! Ich dich jetzt speisen dürfen?« Sahbu entschied, dass es vernünftiger war, nicht alles zu hinterfragen, sondern manches einfach als gegeben hinzunehmen. Dazu gehörte auch sein Skla… Verdammt!, wies er sich zurecht … sein Führer. »Bist du sicher, dass du das kannst? Dass du etwas hast, was ich essen kann – ohne daran hopszugehen?« »Hops?« »Schaden zu nehmen.« »Du nicht Schaden nehmen. Du Essen nehmen. Und Trinken. Alles bereit, alles bereit. Du nur folgenden Lotse!« »Ich bin gespannt, ob ich einen Bissen runterkriege …« Sahbu folgte dem Sternling, der sich umgedreht hatte und mit zögerlichen
Schritten, als hätte er gerade erst gehen gelernt, losstakste. »Du nicht gebissen werden«, beruhigte Varx ihn. »Essen tot. Ergebener Lotse selbst hat Watuti plattgemacht.« »Watuti?« Der Sternling verfiel in sein keckerndes Lachen, in das sich auch das ein oder andere Glucksen mischte. »Du sehen wirst. Du sehen wirst!« Er klatschte in die Hände, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Dann tauchte er endgültig in den Irrgarten aus fremdartiger Hightech ein, zog Sahbu wie an einem unsichtbaren Seil hinter sich her. Dieser schwor sich, nichts in den Mund zu nehmen, was einem toten Watuti auch nur ähnlich sah. Lieber wollte er verhungern! Was ihn aber am meisten verblüffte, war, dass er aufgehört hatte, sich unbehaglich in der völlig eigenständig wirkenden Welt des Turms zu fühlen. Alle Angst war verflogen. Anzeichen, die ihm nur allzu vertraut waren und nur einen Schluss zuließen: Die bereits vermisste Abenteuerlust hatte ihn – endlich – wieder gepackt!
7. Kapitel Tote träumen nicht – aber sie träumte. Es war der alte Traum, den sie wie ihre Westentasche kannte, weil er sich schon so oft wiederholt hatte, so oft … Jemand sagte: »Wenn wir wieder erwachen, ist alles gut. Man wird diesen verdammten Aliens in den Arsch getreten und sie bis Beteigeuze gekickt haben – mindestens! Machen Sie sich keine Sorgen, Madam President, machen Sie sich keine Sorgen. Dies ist eine Krise, an der wir alle wachsen werden. Ich freue mich auf ein Wiedersehen. Leben Sie wohl!« Der Deckel glitt über sie. Reuben Cronenbergs Gesicht verschwand. Sie hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib begraben worden zu sein. (Bei lebendigem Leib von den Schwärmen begraben zu werden.) »Sie sind ein Heuchler, Reuben«, sagte sie durch die Schläuche hindurch, die in ihre Lungen und in die Magensonde liefen. Niemand außer ihr selbst hätte die Worte verstanden, so genuschelt waren sie. Aber niemand hörte ihr auch länger zu. Der Deckel war geschlossen, und von irgendwoher drang das leise Zischen des Gases, das die Narkose und kurz darauf die Kryophase einläutete. Sarahs Lider wurden schwer wie ihre Glieder. Im Traum schlief sie ein. Und dadurch wurde sie wach. Etwas lag über ihr. Sie fühlte sich wie darunter begraben. (Lebendig begraben.) Und plötzlich war die Erinnerung wieder da. An ihr Sterben auf der fremden Welt im Schatten des Turmes. Des Turmes, der plötzlich begonnen hatte … irgendetwas anzuziehen. Pollen, hatte Prosper gemutmaßt. Erntezeit … Sie war sicher, immer noch da draußen zu liegen, unter Zentnern
von – Die Decke wurde weggezogen. »Dem Himmel sei Dank, du bist es!«, sagte der Mann, an den sie gerade noch gedacht hatte. Und von dem sie unbestimmte Zeit zuvor bedauert hatte, ihn nun doch nicht mehr näher – richtig und ausgiebig! – kennenzulernen. »Prosper?« »Leibhaftig – und bei bester Gesundheit. Wie steht's mit dir? Hat es dich auch von deinen Schrammen geheilt?« Es? Sie blinzelte gegen das Licht. Wo war sie. »Wo bin ich?« »Genau weiß ich es auch nicht. Aber die Vermutung liegt nahe.« Sie richtete sich vorsichtig von der Liege auf. »Ja?« »Der Turm. Sie müssen uns hineingebracht haben, als es schon den Anschein hatte, als würden die Teilchen uns bis auf die Knochen abnagen, während sie über uns hinwegrauschten.« »Sie? Es? Von wem oder was, zur Hölle, redest du?« »Keine Ahnung. ERBAUER? Hab noch keinen zu Gesicht bekommen, wurde nur vor dir wach, auch unter so einer Decke.« Er schnitt eine Grimasse. »Und als ich aufstand, stellte ich fest, dass meine Blutungen gestillt, meine Haut wieder narbenfrei verheilt war – überall. Oder siehst du noch irgendetwas, das darauf hindeuten würde, dass –« »Deine Kleidung!« Er nickte. »Genau wie deine. Wir tragen die Fetzen immer noch am Leib. Trotzdem hat man uns verarztet. Da ist nicht mal mehr der Hauch von Schmerz. Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen …« Sie sah sich um, schwang die Füße auf den Boden. Ein glatter, metallischer Boden. »Wo ist die Decke, unter der ich gerade noch lag?« Er lachte heiser. »So spurlos verschwunden wie das, was mich beim Erwachen umgab. Hat sich zurückgezogen wie eine amorphe Masse – und hat mich seit Langem mal wieder an den guten Jarvis
erinnert. Wenn er mal seine Tage hatte, du weißt schon. Er konnte eine richtige Pfütze sein, so als wäre er zu Quecksilber zerlaufen und fügte sich irgendwann wieder nach Lust und Laune zusammen. Oder er –« »Schon gut. Danke für die bildhafte Erläuterung. Ich mag Jarvis übrigens sehr gern. Er hat ein schlimmes Schicksal, und wie er damit umgeht …« »Das hast du missverstanden. Ich mag ihn auch. Fiese Pfütze war kein Schimpfwort. Er selbst hat sich schon so bezeichnet. Ich …« »Aber du weißt schon, dass es einen Unterschied macht, wie man selbst über sich spricht und wie es andere über einen tun?« Er winkte ab und machte ein paar Schritte von der Liege weg. »Du schaffst es. Streng dich noch ein klein wenig an, dann hast du es geschafft.« »Was?« »Mir meine gute Laune zu verderben.« »Nur weil ich dich zu Recht kritisiert … oder sagen wir, dich auf etwas hingewiesen habe?« Sie sah ihn ungläubig an. »Überhaupt: Wie kann man in unserer Situation gut gelaunt sein?« »Vergiss es.« Sie nickte. »Dürfte das Beste sein. Das mit der Decke wäre also geklärt. Dass wir beide irgendwie gerettet und von unseren Blessuren geheilt wurden, ist auch klar, auch wenn wir nicht wissen, wie genau das geschah und durch wen es veranlasst wurde. – Aber wie geht es jetzt weiter? Wenn wir wirklich irgendwo in dem riesigen Turm sind, sollten die Bewohner doch allmählich an uns herantreten, oder? Die haben uns doch nicht gerettet, nur weil du so ein sympathisches Kerlchen bist?« »Vielleicht wollten sie ein gehässiges und ein gutmütiges Exemplar unserer Spezies einkassieren, um beide unter den gleichen Bedingungen zu studieren …« Sie überbrückte die Distanz zu ihm und zeigte ihm, dass sie vor langer Zeit einmal gar nicht so schlecht im Kickboxen gewesen war – natürlich traf sie ihn nicht wirklich, sondern deutete den Kontakt nur an, zeigte ihm, was sie mit ihm hätte machen können.
Er zuckte nicht einmal zusammen. Was ihr wiederum imponierte. »Netter Versuch«, sagte er. Sie nickte, demonstrierte nun selbst gehobene Laune – auch wenn sie nicht zu sagen vermocht hätte, warum. Einen wirklichen Grund dafür gab es definitiv nicht. »Wollen wir die Friedenspfeife rauchen?« Er schien sich zu erinnern, was sie damit anbot. Immerhin war er belesen, und so war ihm bestimmt auch irgendwann ein Schmöker über den amerikanischen Wilden Westen unter die Augen gekommen. »Okay, begraben wir das … Kriegsbeil.« Er grinste. Sie konnte dem Impuls, ihn mit einer Umarmung zu überraschen, gerade noch unterdrücken. »Fein. Dann wollen wir uns unseren Rekonvaleszenz-Raum hier doch mal näher ansehen. Vielleicht finden wir einen Weg heraus. Vielleicht will unser unbekannter Retter ja, dass wir Initiative zeigen.« Prosper nickte. »Jedenfalls ist kaum anzunehmen, dass er uns nachträglich wieder in den ramponierten Zustand zurückversetzt, in dem er uns eingesammelt hat. Das wäre wenig logisch. Wir sollten es also probieren.« Im Hintergrund zeichnete sich eine kreisrunde Fuge in der sonst leeren und glatten Wand ab. Schon drei Schritte davor öffnete sie sich wie die Irisblende einer Kamera. Dahinter lag ein ebenfalls runder, hell erleuchteter Gang im selben Durchmesser wie die »Tür«, etwa zweieinhalb Meter. Sarah und Prosper nickten sich nur zu. Dann traten sie auf den Korridor, der sich sofort mit ihnen in Bewegung setzte.
Der Aufbau der Etage (Sahbu bewegte sich immer noch durch das Erdgeschoss) war erstaunlich. Nirgends waren Stützpfeiler zu erkennen. Es gab nur einen einzigen riesigen, trägerlosen Raum, der den gesamten Durchmesser des Turms – geschätzte fünfzig Meter – vereinnahmte … und dennoch in Sektionen abgetrennt war. Aller-
dings eher nach Manier von Großbüros, die mit halbhohen Stellwänden, Pflanzen oder dergleichen mehr rein optisch unterteilt wurden. Hier übernahmen die völlig bizarr geformten Maschinen die Funktion solcher Trennelemente. Pflanzen gab es weit und breit nicht, zumindest nicht auf dieser Ebene des Kolossalbauwerks. »Halt! Nicht so schnell!«, rief Sahbu zum wiederholten Mal, weil Varx ein Tempo vorlegte, dem er nur im Laufschritt folgen konnte. Was er aber ablehnte, da er sich viel, viel mehr Zeit zur Besichtigung seiner Umgebung nehmen wollte. »Wie alt ist dieser Turm?«, fragte er keuchend, als der Sternling tatsächlich verlangsamte und abwartete, bis er zu ihm aufgeschlossen hatte. »Turm?«, kam arglos die Gegenfrage. Sahbu zeigte über sich. »Das hier – ein Turm. Wir befinden uns beide in seinem Innern. Er ist unfassbar hoch. Es wird eine Weile dauern, alle Stockwerke zu erkunden …« Varx schüttelte vehement den Kopf. »Es geben nur wenige Stockwerke für Hohen Schlüssel wie du. Erhabener Meister nicht befugt, alle Bereiche zu betreten.« Sahbu schaute ihn verdutzt an. »Ich dachte, ich sei der Herr und Meister?«, gab er schließlich trocken zu bedenken. Noch trockener erwiderte der Sternling: »Für mich du das bist. Solange du bist. Aber es höhere Herren gibt, Schöpfer sie sind … Ich ihnen noch mehr gehorchen ich muss. Solange sie stumm aber sein, sich nicht melden, solange ich deine Wünsche erfüllen darf und kann. Und will!« »Und wenn sie sich melden, bin ich abgemeldet, oder wie?« Die neu entflammte Zuversicht drohte sich auch schon wieder aus Sahbu zu verabschieden. Er sah sich um, schlug mit den Händen gegen die Außenseiten seiner Oberschenkel und seufzte: »Was ist nun mit dem versprochenen Essen?« »Gleich da sein. Maschine dort. Speisen Sie dich wird.« Sahbu folgte dem ausgestreckten Arm des Sternlings. »Na, hoffentlich verschluckst du nicht rein höflichkeitshalber ständig doch die Silbe ›ver‹ …«
»Ich verstehe.« »Nicht«, sagte Sahbu. »Ich verstehe nicht«, erklärte Varx im Tonfall eines gelehrigen Schülers. »Du musst auch nicht alles verstehen. Komm, zeig … nein, besser: Gib mir jetzt das Essen. Ich bin so weit, dass ich fast alles essen würde. Selbst deinen komischen Watuti!« »Watuti nicht komisch isst. Er fressen ganz normal. Hat Zähne scharf im Maul. Aber darf nicht beißen, niemals, sonst Sinn von Nahrung verfehlt!« »Ich dachte, du hättest ihn plattgemacht?« »Ist so. Platt! Gibt platte Watuti und sehr, sehr dicke, die für viiieeeele Esser reichen. Für dich ich dachte, platter Watuti genügt …« Sahbu stampfte einmal ungeduldig mit dem Fuß auf und knurrte: »Das will ich jetzt sehen! Du weißt, wie man jemanden neugierig macht … und besoffen quasselt. Her mit dem Watuti. Ab zu diesem Ding da. Und wenn du außerdem was zu trinken hättest, wäre das genial.« »Prickelwasser«, sagte Varx, sich wieder in Gang setzend. »Was?« »Du Prickelwasser kriegen. Bereits plätschert. Wo Watuti gemacht.« »Platt«, sagte Sahbu. »Was?«, fragte Varx irritiert. »Ach, vergiss es. Geh weiter. Ich verbrauche hier mehr Kalorien mit labern, als dein Watuti mir jemals liefern wird. Ich ahne Übles. Vielleicht zeigst du mir doch besser den Ausgang. Meine Freunde machen sich bestimmt schon Sorgen …« »Kein Ausgang es geben«, erwiderte Varx gleichmütig und ohne innezuhalten. »Nicht für diesen Hohen Schlüssel. Hoher Schlüssel jetzt mein. Varx lange genug hungrig. Varx sich jetzt machen ein Festmahl mit dir.« Er keckerte, irrer noch als jemals zuvor. »Verzeihung: von dir es natürlichen heißen müssen. Von dir …« Und mit diesen Worten wandte er sich um, Sahbu zu. Er feixte ein letztes Mal, bevor sich seine Form noch dramatischer veränderte als
beim letzten Mal – und sprang.
Prosper Mérimée kam sich vor wie auf einem Laufband. Nein, korrigierte er sich, wie in einer Kapsel, die durch einen Schacht geschossen wurde. Mit dem Unterschied jedoch, dass keine Andruckkräfte spürbar wurden. Die Fahrt war rasant. Aber sie wäre nicht einmal feststellbar gewesen, wenn die Wände und Decke, ja selbst der Boden nicht plötzlich transparent geworden wären. So aber konnten er und Sarah genau verfolgen, wie sie durch den Turm gejagt wurden – senkrecht nach oben, obwohl ihre Füße jetzt in die Horizontale zeigten, weil der vormalige Boden plötzlich zur Seitenwandung des Zylinders geworden war, der in die Höhe fuhr. Er hatte sich mit ihnen »aufgestellt«, aber die Schwerkraft darin war weiterhin so ausgerichtet, als gleite er parallel zur Oberfläche des Planeten dahin. Verrückt. Dass der Korridor keiner war, hatten sie just in dem Moment begriffen, als sich hinter ihnen die Türrundung schloss. Seine Länge war eine optische Täuschung, die verschwand, kaum dass die Wände durchsichtig wurden und er sich in Bewegung setzte. Die Transparenz schloss auch den Turm selbst mit ein – er wurde schlichtweg unsichtbar, sodass es aussah, als bewegte sich der Zylinder durch unverbaute Luft. »Ich will das nicht«, sagte Sarah gepresst. Sie stand unmittelbar neben Prosper und hatte eine Hand in seinen Oberarm gekrallt. Die Kraft, die sie dabei aufbot, überraschte den ehemaligen Zirkusdirektor. »Verdammt, wohin katapultiert uns dieses Scheißding?« Ob ihrer Wortwahl schlich sich fast wieder ein Schmunzeln um seine Mundwinkel. »Hoffentlich nicht aus der Atmosphäre hinaus«, erwiderte er augenzwinkernd. »Vielleicht haben wir die Türme bislang völlig falsch eingeschätzt. Möglicherweise sind sie ›die andere Art‹ der ERBAUER, um zwischen den einzelnen Planeten oder zwischen der Oberfläche und einer Orbitalstation zu verkehren. Über
solche Stationen wissen wir nichts, weil Kargor sich darüber in Schweigen hüllte – was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass es keine gibt.« Sie legte den Kopf schief. »Du machst Spaß, oder?« Er zuckte mit den Achseln. In diesem Moment stoppte der Zylinder abrupt. Prosper konnte gerade noch in die Tiefe schauen und meinte zu erkennen, dass sie in zwei bis drei Kilometern Höhe angelangt waren, bevor die Transparenz endete. Für Sekunden hörte er das eigene Blut in den Ohren rauschen. Dann öffnete sich mit einem leisen Klicken eine Tür. Dort, wo sie auch schon eingetreten waren. Nur musste sie jetzt ganz woanders hinführen. »Wollen wir?«, wandte er sich an die Ex-Präsidentin. Sie löste ihre Hand von seinem Arm und nickte. »Klar. Man soll sich seinen Feinden stellen. Alles andere zögert die Sache nur unnötig raus.« »Vielleicht sind sie gar nicht unsere Feinde.« Prosper setzte sich in Bewegung, ging voraus. »Dass gerade du das sagst, überrascht mich jetzt schon.« Sie folgte ihm dichtauf. Gemeinsam traten sie in einen neuen Raum. Raum? Prosper hatte eher das Gefühl, wieder auf den Planeten hinauszutreten – allerdings einen mit völlig veränderten Horizonten. In weiter Ferne erhoben sich goldene Wände, die irgendwo endeten, während der »Himmel« über ihnen einfach wie diesige Luft aussah. Zu ihren Füßen war Erdreich, zumindest wirkte es täuschend echt. Der metallische Untergrund, den sie aus dem Raum kannten, in dem sie nach der Pollenattacke zu sich gekommen waren, war verschwunden. Wie von kurz geschnittenem Rasen wurde jeder ihrer Schritte gedämpft. »Das ist eine Illusion, oder?«, fragte Sarah, die sich hinter ihm bückte und den Untergrund einer Prüfung unterzog. Nach einer Weile erhob sie sich wieder und zerrieb Erde und Gras zwischen ihren Fingern. »Aber eine verdammt gute.«
Vor ihnen lag eine Stadt. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Schildkrötenstadt, sondern setzte sich aus schlanken, minarettartigen Türmchen zusammen. Türmen im Turm? »Was meinst du, sind wir überhaupt noch in dem Ding?«, fragte Sarah leise. »Waren wir es überhaupt?«, konterte er mit einer Gegenfrage. »Wir haben angenommen, es müsste so sein, weil wir ganz in seiner Nähe waren, als die Schwärme über uns kamen. Aber einen Beweis erhielten wir nie. Auch nicht, als wir wie in einer absonderlichen Liftkabine nach oben geschossen wurden. Alles an möglichen Bauten um die Kabine herum wurde unsichtbar. Vielleicht wurden wir sonstwohin gebracht, als wir ohne Bewusstsein waren. Es könnte – wie schon mal kurz angedacht – ein völlig anderer Planet sein. Ein völlig anderes System.« »Das ergäbe nach Kargors Rede keinen Sinn.« Sie schüttelte den Kopf. Als er genau hinsah, fiel ihm auf, dass sich der erhaltene Schlüssel schwach golden auf ihrer Stirn abzeichnete. »Siehst du das bei mir auch?«, fragte er und tippte sich gegen die Stelle, wo Kargors Geschenk absorbiert worden war. Sie nickte, tastete gleichzeitig über die eigene Stirn. »Ich auch?« »Sonst hätte ich nicht gefragt.« Dabei beließen sie es, denn weiter brachte es sie nicht. »Alles ist verlassen«, sagte Sarah und machte eine umfassende Geste, drehte sich dabei leicht … und zuckte zusammen. »Das Ding ist weg.« Es überraschte ihn, dass er es nicht früher bemerkt hatte. Aber auch ihm fiel erst jetzt auf, dass das Vehikel, mit dem sie hierher gelangt waren, spurlos verschwunden war. Da war nichts, was noch an einen Zylinder, nicht einmal an eine Tür erinnert hätte. Sie standen einfach in einer unbekannten Landschaft vor einer unbekannten Stadt, und die Horizonte wurden durch etwas Goldenes begrenzt. Weit, weit entfernt.
»Wenn das, was wir hier sehen, keine Illusion, keine gezielte Manipulation unserer Wahrnehmung ist«, seufzte Prosper, »können wir uns nicht mehr im Turm aufhalten.« Sie wusste sofort, worauf er hinauswollte. Und widersprach erneut: »Denk an die RUBIKON. Wenn schon die ollen Foronen scheinbar beliebig mit Dimensionen verfahren konnten, ist Kargors Spezies wohl noch sehr viel mehr diesbezügliches Vermögen zuzusprechen. Er repräsentiert das technologisch am weitesten entwickelte Volk, dem wir bislang begegneten. Denk nur an die Perlen, die jetzt auch noch mobil sind. Verrückt, oder? Ein Raumschiff von einhundert Kilometern im Durchmesser. Darin ließen sich ganze Großstädte unterbringen! Und wir wissen immer noch nichts über den Sinn und Zweck dieser Gebilde. Permanenz allein als Schlagwort genügt wohl kaum. Die ERBAUER müssen sich doch etwas dabei gedacht haben, ein so gigantisches Netzwerk zu errichten, das zahllose Galaxien umspannt, vielleicht wirklich das ganze Universum … He, wie abgehoben ist das denn?« »Du hast recht, gegen die Perlen ist das Angk-System ein vergleichsweise banales Konstrukt. Okay, sieben Planeten auf derselben Kreisbahn um ihr Muttergestirn, das hat schon was. Aber frag mich bitte nicht, was. Ich bin kein Freund von solchen Dingen. Ich hab's lieber … bodenständig. Wenn wir schon dazu verurteilt sind, den Rest unseres Lebens auf einem fremden Planeten zu verbringen, dann würde ich die ›Kanada-Idylle‹ vorziehen, du weißt schon …« »Blockhütte am fischreichen See. Ringsum endlose Wälder, in der Ferne schneegekrönte Berge?« »Exakt.« »Könnte mir auch gefallen. Aber woher weißt du von so was? Ich kann immerhin von mir behaupten, dort gewesen zu sein – bevor uns die Master-Schiffe auf den Kopf fielen.« Er ertappte sich dabei, dass er genau das immer wieder vergaß. Längst war Sarah zu einem normalen Mitglied ihrer Gemeinschaft geworden. Sie bemühte sich auch darum, unter all den durchaus auch eigenwillig aussehenden Menschen nicht weiter aufzufallen. Und das gelang ihr mit Bravour. Sie hatte keine Attitüden, die es ih-
ren Mitmenschen erschwerten, mit ihr warm zu werden. Sie war mal fröhlich, mal ernst, aber immer sehr herzlich und hilfsbereit. Dabei hat sie vielleicht mehr mitgemacht als wir alle zusammen, überlegte er. Er war froh, dass Kargors Wahl auf sie als seine Begleiterin gefallen war – auch wenn er jeden Einzelnen der anderen vermisste. »Bücher«, sagte er mit wegwerfender Geste, um das Thema abzuschließen. »Weißt doch, dass ich ein alter Bücherwurm bin.« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Bücherwurm, okay. Aber einer in den besten Jahren, wie ich doch hoffe. Wer soll mich sonst vor all den Gefahren beschützen, denen wir noch begegnen werden?« »Ich dachte, du beherrschst Kickboxen?« »Das reicht höchstens für 'ne Showeinlage.« »Wie beruhigend.« »Tja, du darfst dich schon als Retter-Ritter betrachten, sobald's brenzlig wird.« »Ritter Prosper …« Er schmunzelte. »Das hat was, durchaus.« Mit diesen Worten wandte er sich den Minaretten zu. »Ist das nicht irre, dass wir schon wieder unterwegs sind, um uns eine Stadt anzusehen? Wie steht's eigentlich mit Essen und Trinken? Wäre es nicht langsam an der Zeit …?« Er verstummte, weil ihm auffiel, dass er nicht die Spur hungrig oder durstig war. Sarah bestätigte, dass es ihr genauso ging. »Vielleicht bekamen wir was, während unserer Ohnmacht …« Sie zuckte die Achseln. »Wenn, dann wohl intravenös«, erwiderte er und suchte seine Arme nach Einstichen ab. »Ich pflege in der Ohnmacht nicht zu kauen und auch nichts zu schlucken.« Die Stadt rückte mit jedem Schritt sprunghaft näher. Als hätten sie Siebenmeilenstiefel an den Füßen. »Zauberei«, kommentierte Sarah das Phänomen, das sich unablässig wiederholte. »Ist das hier Ihr Königreich, verehrter Ritter?« Mit wenigen »Schritten« erreichten sie den Rand der filigranen Stadt, die den Toten gehörte …
Sahbu reagierte mit bereits vergessen geglaubten Reflexen. Der Aufenthalt im Erdgetto war eine Schule fürs Leben gewesen – fürs Überleben. Vielleicht brauchte er deshalb keine Schrecksekunde, keinen Moment, um geistig umzuschalten. Als Varx auf ihn zusprang, warf sich Sahbu nach links. Links war eines dieser undurchschaubaren Geräte. Es sah aus wie ein mit der offenen Seite nach oben stehendes Hufeisen, war doppelt so groß wie Sahbu, und die Lücke hätte mühelos drei von seiner Statur nebeneinander hindurchspringen lassen können. Aber in dem Moment, als er sprang, ahnte er bereits, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte. Lieber hätte er neben die Konstruktion hechten sollen. Sie passieren zu wollen, erwies sich als die unglücklichste Wahl. Mitten im Sprung endete dieser. Etwas baute sich knisternd wie Elektrizität auf … … und dann hing Sahbu auch schon wie an unsichtbaren Nadeln aufgespießt in der Luft, unfähig, sich zu bewegen, auch nur den Finger krumm zu machen! Das Einzige, was noch funktionierte, war das Heben und Senken der Brust, während er atmete – wenn er flach atmete, so als hätte er sich Rippen angeknackst oder gebrochen – und das Bewegen der Kiefermuskulatur. Er konnte sprechen. Und fluchen. Varx lachte keckernd, während er gemessenen Schrittes, ohne jede Hast, auf Sahbu zukam. »Lecker du schmecken wirst. Danke, dass du selbst in Ofen gesprungen. Erspart mir Arbeit. Gute Speise du bist. Gute Speise …« Seine Stimme wurde mit jedem Wort dunkler, als käme sie aus einem tiefen Brunnenschacht. »Verdammtes Biest«, keuchte Sahbu. »Wie konnte ich dir auch nur eine Sekunde trauen? Was ist jetzt mit Erhabener Schlüssel und dem
ganzen sonstigen Scheiß, den du noch abgelassen hast, hä? Und wozu willst du mich verspeisen? Erstens bin ich zäher als jede Schuhsohle, und zweitens bezweifle ich stark, dass einer wie du überhaupt die Art von Nahrung verdauen kann, die ein Brocken wie ich liefert! Los, pack aus: Wozu das alles? Ich bin doch nicht von deinem Ersten hierher geschickt worden, nur um dann von einem seiner Schoßtierchen gefressen zu werden! Ruf deinen Herrn – ruf verdammt noch mal irgendjemanden, der hier das Sagen hat! Das ist ein gottverdammter Irrtum! Ich bin nicht gekommen, um verdrückt zu werden, sondern um mit den anderen zusammen eine tolle neue Menschheit zu gründen. Wir werden die Urväter eines stolzen Volkes auf dieser Welt sein – ich meine die Welt draußen, wo du kleiner Bastard noch nie im Leben warst!« Varx fletschte die Zähne. Aber er trat nur an einen der Schenkel des Hufeisens und tippte irgendwelche Sensoren an, die sich darauf befanden. Sahbus Wortschwall ließ er gänzlich unkommentiert. Und Sahbu … begriff, dass es sinnlos war. Jeden Moment konnten tödliche Wellen durch seinen Körper jagen, um ihn zu garen. Ofen … Varx hatte ja feixend und unmissverständlich erklärt, worum es sich bei diesem Gerät hier handelte! Und dann begann es auch schon. Prickelnd lief ein unsichtbarer Strom durch Sahbus Fleisch und Knochen. Mikrowellen? Würde sein Blut gleich zu kochen beginnen, seine Augen und Lippen zerplatzen, seine …? Schmerz brachte ihn zur Besinnung. Er fand sich am Boden des Hufeisens wieder, wo er sich bei seinem Fall aus geringer Höhe die Knie aufgeschlagen hatte. Mehr war nicht passiert. Varx stand immer noch neben der Konstruktion und betätigte Sensoren, die für Sahbu nicht einmal erkennbar waren. »Guten Appetit«, sagte der Sternling. Und während sich Sahbu noch sammelte, um zum Gegenangriff überzugehen, die Ablenkung des Wesens zu nutzen und ihm den mit Weltraumkälte gefüllten Hals umzudrehen, flackerte es einmal kurz dort auf, wo Sahbu Sekunden zuvor noch festgehalten worden war.
Als er das nächste Mal hinsah, entdeckte er ein Schlaraffenland im Miniaturformat: eine Schwebeplatte, voll beladen mit den unterschiedlichsten Nahrungsmitteln. Sogar ein Krug mit einer wasserklaren Flüssigkeit war darunter. »Metabolismus dein wurde erkannt. Du unbesorgt speisen können. Ich sehen zu, da nicht kann verdauen solchen Unsinn …« Varx keckerte wild auf und klatschte in die Hände, so heftig, dass die darin befindlichen Galaxienhaufen durcheinandergewirbelt wurden. »Du kluger Schlüssel. Du recht hast mit Verdauungsproblem. Ich essen Licht. Und Dunkel. Mehr dein treuer Skla-… Diener niemals brauchen wird!« »Du bist wahnsinnig, oder?«, fuhr Sahbu den Sternling an, und es fiel ihm schwer, sich auf das Angebot an Nahrung zu konzentrieren, dessen Düfte ihm verführerisch in die Nase stiegen. »Gib zu, dass du wahnsinnig bist!« »Varx sehr humorvoller Sternling sein! Wissen, Hoher Schlüssel versteht Spaß. Wissen das! Schlüssel senden Daten unmissverständlich!« »Was würde Sternling sagen, wenn Erhabener Schlüssel ihn nach dem Essen mal kurz als Rohstoff in das Ofensystem hier einspeisen würde?« »Varx sehr traurig wäre. Aber Varx dann vielleicht in nächstem Essen von Hohem Schlüssel. Er ihm raten, sich gut zu überlegen, ob er das wollen. Sternlinge schwer verdaulich.« »Das glaub ich dir zum ersten Mal. Jemand wie du schlägt einem bestimmt auf den Magen!« Mit diesen Worten wandte er sich dem Essen zu. Und bereute es nicht. Es schmeckte unerwartet gut. Und nuancenreich. Gesättigt und schon wesentlich besserer Laune, widmete er sich danach wieder Varx. »So, jetzt kann ich wieder besser denken. Und ich denke, du bist einfach zu schlau, als dass du mir nicht den Weg hier heraus zeigen könntest. Richtig?« Varx schnitt eine Grimasse, die kaum zu erahnen war, weil sich tiefe, Sternenlose Dunkelheit über seine Züge legte.
»Traurig sein, wenn du gehst. Aufhören zu sein, wenn du fort.« »Wer bestimmt das?« Ratlosigkeit schlug ihm entgegen. Der Zorn in Sahbu war endgültig verraucht. Varx' Humor mochte gewöhnungsbedürftig sein, aber er war ihm etwas schuldig dafür, dass er fürs Erste weder unter Durst noch unter Hunger leiden würde. »Wer würde dich … abstellen, wenn ich gehe?« Wieder schien der Sternling keine Antwort zu wissen. »Okay«, schlug Sahbu vor, »dann machen wir es anders: Du führst mich jetzt zum Ausgang und …« »Und?« Er fühlte erwartungsvolle, aber auch sehr skeptische Blicke auf sich ruhen. »… und dann bleibst du, wenn ich geh, nicht hier drin und wartest drauf, dass jemand oder etwas den Schalter umlegt, sondern …« »Sondern?« »… kommst mit mir!« Für einige Atemzüge, die das einzige Geräusch in der ganzen Umgebung waren, das Sahbu auffing, verschwanden sämtliche Lichter aus Varx – als seien alle Sterne in seinem Kosmos verloschen. Als sie zurückkehrten, hauchte das seltsame Wesen: »Wahnsinnig du sein musst! Ich nicht kann sein … draußen! Bin Sternling, treuer Sklave! Sklave!«, bekräftigte er noch einmal. »Niemals Erste würden zulassen, dass –« »Was hast du zu verlieren, verdammt?«, fuhr Sahbu ihn an, trat vor, packte ihn an den Armen und schüttelte ihn, wie er es bei einem Menschen getan hätte. »Was? Hier wirst du sicher abgeschaltet, ins Nichtsein zurückversetzt – jedenfalls behauptest du das die ganze Zeit! Was also kannst du verlieren? Du kannst nur gewinnen! Ein … nimm's mir nicht krumm, ist nicht persönlich gemeint … Leben – mehr nicht! Du würdest schnell Gefallen daran finden, das schwör ich dir. Da draußen ist eine andere, sehr viel vielschichtigere Welt als hier drin! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Also?« Varx stand noch eine ganze Weile wie erstarrt da. Doch schließlich gab er sich einen erkennbaren Ruck. »Leben er möchte, der treue Diener und Freund des Erhabenen
Schlüssels! Leben er will!« »Worauf warten wir dann noch?«, drängte Sahbu, um dem Sternling gar nicht erst wieder Zeit zu einem Meinungsumschwung zu geben. »Führ uns zum Ausgang. Eine ganze Welt wartet auf dich – und mich! –, um entdeckt zu werden!« Varx keckerte. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Turmwand. Dem Sternling fiel es nicht schwer, einen Mechanismus zu finden und zu betätigen, der eine kreisrunde Öffnung schuf, hinter der nichts erkennbar war – wie Sahbu umgekehrt nicht ins Turminnere hatte schauen können, als er noch draußen stand. Er bemerkte das Zittern des Sternlings und sagte: »Gib mir deine Hand.« »Hand ich nicht können losmachen, ohne dass –« »Strecke einfach deinen Arm aus, damit ich deine Hand ergreifen kann. Dann gehen wir gemeinsam und gleichzeitig durch das Tor.« Das schien Varx in seinen Vorzügen begreiflich zu werden. Er reichte Sahbu die Hand. Ihn fröstelte kurz, als er das Stück in Form gepressten Weltraum umfasste. Dann zögerte er nicht lange, sondern zog Varx mit sich über die Schwelle. Was er dem Sternling nicht gesagt hatte, war, dass die Möglichkeit bestand, dass sie zwar beide aus dem Turm heraustraten … … aber nur einer draußen ankam. Er. Falls Varx mit seinen bisherigen Behauptungen recht hatte, war kaum anzunehmen, dass die Instanz, die ihn erschaffen hatte, ihn nun so einfach ziehen ließ. Innerlich nahm Sahbu deshalb bereits Abschied von seinem kauderwelschenden Begleiter.
8. Kapitel Das Minarett sang: »Er liebte den Duft der Zebres. Sobald die Shoggotten sprossen, wandelte er im Herzpalmhain und legte Strombogärten an. Seinem Einsatz verdanken die Gerlaner ihre Fortexistenz als Spezies achten Grades. Wer seine Fandeln koste, wurde Teil des Kollektivs der Klavos-Zyklen. Wir alle … wir alle trauern um ihn. Als der Schatten des Alters über ihn fiel, wählte Tavor diesen Ort, um in den Negaschlaf zu fallen. Seither lebt er in der Erinnerung einiger fort – und im Wispern der Steine …« Prosper trat von dem Turm zurück, seine Hand löste sich von der steinernen Wand, und sofort verebbte die Stimme, die gerade noch glockenhell zu ihm gesungen hatte. Bis auf ein paar spezielle Begriffe hatte er alles verstanden. Mehr noch: Er hatte Tavor gesehen. Vor seinem geistigen Auge war ein Geschöpf von unaussprechlicher Schönheit und Eleganz auferstanden. Sein Blick irrte zu Sarah, die wenige Schritte entfernt bei einem anderen Turm stand und mit verzücktem Ausdruck die Augen geschlossen hatte, während ihre beiden Hände unentwegt über den Stein des dortigen Minaretts strichen, als würde sie ein lebendiges Wesen kosen. Prosper begriff, dass er Sekunden zuvor wohl noch ein ähnliches Bild abgegeben hatte. Es berührte ihn nicht einmal peinlich. Die Erfahrung war einzigartig, und er hätte sie um keinen Preis missen wollen. Er wartete, bis Sarah sich von selbst aus dem Bann des Turms löste, kurz desorientiert blinzelte, dann zu ihm schaute und mit einem seligen Lächeln zu ihm kam. »Du hast es auch erlebt, oder?« »Den Gesang?«, fragte er. »Die Lobpreisung«, bestätigte sie. »Bei mir ging es um ein weibliches Wesen. Sie muss Großartiges vollbracht haben, ehe eine seltene Krankheit dazu führte, dass sie in den Negaschlaf ging … Wer war es bei dir?«
»Ein männlicher Vertreter dieser Spezies. Sein Name war Tavor …« Prosper wiederholte kurz, woran er sich erinnern konnte. Dabei merkte er, wie anrührend er das Gehörte und Gesehene immer noch empfand. Es war, als hätte er flüchtigen Kontakt zu etwas Engelsgleichem gehabt. Und das an solchem Ort. »Immerhin wissen wir jetzt, dass wir hier auf niemanden treffen werden«, sagte Sarah, »mit dem wir sprechen könnten. Das hier ist ein Ort der Monologe, keine Stadt, weiß Gott nicht, sondern …« Prosper nickte und vollendete für sie: »… ein Friedhof. Ein wunderbarer, würdevoller Friedhof.« Er nickte. »Ich wünschte, uns Menschen wäre je der Gedanke gekommen, unsere Toten auch nur ähnlich zu ehren. Diese Türme beinhalten nicht nur die sterblichen Überreste, wenn ich es richtig verstanden habe, sondern haben alles abgespeichert, was es Wissenswertes über das entsprechende Individuum zu berichten gibt. Der Gesang streift nur die Oberfläche. Es gibt die Möglichkeit, wenn man sich darauf einlassen will, komplett einzutauchen in die fremde Persönlichkeit, die hier … eingelagert wurde. Der Negaschlaf ist eine freiwillig gewählte Abart des Todes. Unter Umständen kann der Verstorbene sogar wiedererweckt werden – aber dazu bedarf es eines größeren Wissens, als wir … ich zumindest … es besitzen. Und frag bitte nicht, woher ich das alles überhaupt weiß – die Informationen sind mir einfach so zugeflogen, während des Kontakts mit dem Stein. Vielleicht ergeht es dir …« Sie nickte. »Ja, mir ergeht es ähnlich. Ich kann nur bestätigen, was du gerade sagtest. Das hier ist der großartigste Friedhof, von dem ich je hörte. Solange er besteht, existieren auch die Verstorbenen weiter. Sowohl im Datenfluss, den der Gesang vermittelt, als auch als Körper, der irgendwo im Innern dieses schlanken Turms konserviert ruht. Nicht vergleichbar mit den Praktiken eines ägyptischen Totenkults beispielsweise, wo ein so zentrales und die Persönlichkeit tragendes Organ wie das Gehirn aus dem Schädel des Mumifizierten entfernt wurde. Hier wurde um ein vielfaches sachkundiger und weitblickender vorgegangen. Möglicherweise schlafen die Toten hier tatsächlich nur. Vielleicht warten sie auf eine Zeit, da sie
noch einmal über die Oberfläche ihrer Welt streifen können. Aber das ist Spekulation. Darüber erfuhr ich zumindest nichts. Beeindruckend bleibt es allemal.« Ihr Blick wanderte über den Wald aus Türmen. Prosper interpretierte ihn richtig und sagte: »Es müssen Hunderte sein, Tausende. Und dies ist nur eine Stelle. Wer weiß, wie viele es insgesamt davon gibt.« »Ich würde gerne länger zuhören. Ich würde gerne in jede einzelne Persönlichkeit eintauchen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hat. Aber dazu bräuchte es sehr viel mehr Zeit, als uns zur Verfügung steht.« »Du meinst, wir hätten es eilig, von hier fortzukommen?«, fragte er verwundert. »Wir müssen herausfinden, wo wir sind. Ansonsten … weder du noch ich wissen um die Gefahren, die mit einem umfassenden Eintauchen in die Türme verbunden sind. Vielleicht wären wir auf Tage oder Wochen wie in Trance mit den Toten verbunden – und würden selbst zugrunde gehen, während unser Geist in anderen Sphären schwebt.« Er nickte. »Wir könnten es abwechselnd versuchen. Der, der wach bleibt, ›weckt‹ den anderen nach spätestens ein paar Stunden … Ich gebe zu, die Vorstellung, von den Toten zu lernen, ist verlockend. Was wir auf diese Weise alles über das Angk-System erfahren könnten …« »Du gehst also wieder davon aus, dass wir uns noch auf einer der sieben Welten aufhalten?«, fragte sie. Er nickte. »Nach all dem hier … ja! Alles andere machte für mich nicht wirklich Sinn. Kargor wird uns nicht ins Blaue geschickt haben. Und die von ihm erhaltenen Legitimationen zur Nutzung des eigenwilligen Transfersystems, die Schlüssel, haben wohl kaum Gültigkeit über die Angk-Welten hinaus.« »Ja, kaum«, pflichtete sie ihm bei. »Das heißt, wir sind auf Angk I, II, III, IV, V, VI oder VII.« »Angk I dürfte unsere ›Startwelt‹ gewesen sein. Ich schließe mal aus, dass der Turm uns nur dort durch die Gegend transportiert hat,
einen Kontinent weiter etwa. Nein, wir sind auf Angk II bis VII. Wo genau, werden wir vielleicht irgendwann mal erfahren, durch Zufall oder weil wir in den Besitz von Instrumenten gelangen, mit denen es sich bestimmen lässt. Solange werden wir damit zu tun haben, uns in unserer neuen Heimat einzurichten.« »Du willst auf Wanderschaft gehen?« »Interessiert dich nicht, was unsere Heimat alles zu bieten hat? Das wäre wie im irdischen Mittelalter. Vielleicht kennst du das Buch sogar, das mir dazu in die Finger kam: Es nannte sich – komischer Titel übrigens, weshalb er mir wohl auch im Gedächtnis haften blieb – Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Verfasser war ein gewisser Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen. Die Übersetzung, in der ich es bekam, war schauderhaft, aber die Geschichte, die vom Werdegang eines zehnjährigen Knaben in der damaligen Zeit handelte, umso faszinierender. Der Junge war in bäuerlichen Verhältnissen groß geworden – zu einer Zeit, als der Bauernhof mit dem dazugehörigen Land den ganzen, ihm bekannten Kosmos darstellte. Als er durch besondere Umstände von dort vertrieben wurde, lernte er erst andere Bereiche der Welt kennen und musste feststellen, was für ein Narr er zeitlebens gewesen ist, dass er glaubte, es gäbe gar keine Welt hinter den Wäldern, die sein Zuhause eingrenzten.« »Ganz so naiv sind wir aber wohl nicht«, erwiderte Sarah, die von einem solchen Buch nie etwas gehört hatte. »Wir sind ja schon recht weit rumgekommen. Da wäre es meiner Ansicht nach auch verständlich, wenn wir einen Platz suchten, an dem wir einfach erst einmal zur Ruhe kommen könnten.« »Ich kann dich nicht zwingen, mit mir zu kommen«, sagte er – wobei er einen Tonfall wählte, der ihr signalisieren musste, dass er es aber stark bedauern würde, wenn sie sich dazu entschiede, ihn alleinzulassen. »Vorschlag«, sagte sie. »Wir schauen erst mal zu, dass wir von hier wegkommen, möglichst wieder in eine Umgebung, die Ähnlichkeit mit einer normalen Planetenlandschaft hat – weg von den Totentürmen also –, und wenn wir das geschafft haben, besprechen wir uns noch mal neu. Okay?«
»Sehr okay«, erwiderte er. »Ich habe da auch schon eine Idee.« »Idee wofür?« »Wie wir hier rauskommen. Falls wir tatsächlich in dem Turm sind, den wir sahen, besteht vielleicht die Möglichkeit, ihm unseren Wunsch klarzumachen.« Sie räusperte sich. »Aber sonst … fühlst du dich wohl?« Er lachte. »Mehr als das!« »Dann fang mal an. Ich seh mir die Sache an, wie du mit dem Turm ins Plaudern kommst. Mach schon, beeindrucke mich!« Sie grinste breit. Doch das Lachen verging ihr schnell. Selbst Prosper war überrascht davon, wie schnell und problemlos das, was er sich überlegt hatte, in die Tat umgesetzt wurde. Er hatte kaum daran gedacht, da bildete sich vor ihnen auch schon mitten in der Landschaft zwischen den Minaretten ein kreisrundes Tor. Sie nickten sich nur zu, dann traten sie hindurch. Prosper wollte an den Bereich außerhalb des Turms, wie er ihn in Erinnerung hatte, denken, um die Kabine, in der sie sich wiederfanden, dorthin zu lenken. Doch irgendwie mischte sich ein kurzer Gedanke an die bedrohlichen Schwärme in diesen Wunsch. Und schon raste der zylindrische Expresslift einem Ziel entgegen, das so gar nichts mit der Welt jenseits des Turmes zu tun hatte. Es war der genaue Gegensatz zu dem, was sie kurz zuvor angetroffen hatten. Dem Tod folgte die Geburt. Sie wurden Zeugen der Entstehung von Geschöpfen, die sie seit Langem kannten, ohne je wirklich viel über sie erfahren zu haben. Über ihre wahre Herkunft … Prosper und Sarah gelangten in eine Zone, die näher zum Erdboden zu liegen schien, weshalb sie auch zunächst hofften, dort angelangt zu sein. Doch dann begriffen sie die Wahrheit: Sie waren dort angelangt, wohin die Pollenschwärme gelangten, wenn sie vom Turm aufgesogen wurden. Vor ihnen erstreckte sich eine Fabrik der ERBAUER. In
der reges Treiben herrschte. Die Arbeiter setzten sich aus Geschöpfen zusammen, wie sie in den CHARDHIN-Perlen gang und gäbe waren. »Gloriden«, hauchte Sarah, während ihr Blick fasziniert über die gläsernen Bottiche schweifte, in denen elektrische Funken stoben, Substanzen blubberten und Prozesse abliefen, deren Sinn und Zweck ihnen zunächst verschlossen blieb. Sie griff sich kurz an die Brust, als ringe sie um Fassung. »Hier sind … Gloriden! Hunderte … vielleicht Tausende von ihnen …!«
»Varx!« Sahbu schwankte zwischen Lachen und … ja, Tränen-Lachen! Er war mehr als verblüfft, den radebrechenden Humanoiden neben sich auftauchen zu sehen. Außerhalb des Turms. Völlig unbeschadet. Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, wie ihm der eigenwillige Sternling ans Herz gewachsen war. Ich werde sentimental, dachte er. Auf meine alten Tage werde ich noch sentimental … »Erhabener –« »Hör bloß auf mit der ganzen Schlüssel-Chose!«, fiel ihm Sahbu ins Wort. »Sag Sahbu zu mir – oder sieh zu, dass du Land gewinnst!« »Wo Land zu gewinnen es gibt? Hier? Alles so fremd. Alles so …« »Du nervst. Aber irgendwie mag ich dich trotzdem. Ich hatte halt schon immer was übrig für Randgestalten, Außenseiter … na, du weißt schon. Bin ja selbst nicht auf Rosen gebettet groß geworden.« »Rosen«, echote Varx. »Randseiter. Bett. – Du schlafen willst? Ruhe? Augen zu?« »Mund zu!«, raunzte Sahbu und trat ein paar Schritte vom Turm weg bis an den Rand des Felsens, auf dem das Bauwerk thronte, in dem es verankert war, sodass es selbst Stürmen hätte trotzen können. (Gab es die hier auf dieser Welt? Nachdem die Sonne wieder … »gesundet« war?) Es war immer noch warm und hell, und als er ins Tal hinunterspähte, entdeckte er vereinzelte Gestalten, unverändert
ameisenklein aus dieser Höhe, und er atmete erst einmal erleichtert auf. »Da runter müssen wir«, wandte er sich an seinen schattenhaften Begleiter. »Schaffst du das? Kannst du überhaupt … klettern?« Er bereute die Frage, kaum dass sie ihm über die Lippen gekommen war. »Was klettern bedeuten?« Seufzend erklärte er es dem Sternling, der schweigend zuhörte. Schließlich sagte er: »Klettern umständlich. Komisch du bist.« »Komisch …« Sahbu spürte Bedauern in sich keimen, dass er den Sternling überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, ihn nach draußen zu begleiten. Manchmal war er zu gut für diese und zehn Milliarden andere Welten, die er noch gar nicht betreten hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie betreten würde. Egal. »Was meinst du mit komisch? Manchmal muss man eben Dinge auf sich nehmen, die nicht gerade bequem sind, um von A nach B zu gelangen. Körperliche Ertüchtigung hat noch nie jemandem geschadet. Wenn –« Der Schatten, zu dem er sprach, löste sich auf, als hätte sich die Sonne verspätet doch noch durchgesetzt und ihn zum Verschwinden gebracht. Verwirrt starrte Sahbu auf die verlassene Stelle … … bis ihn gedämpfte Schreie aus dem Tal erreichten. Als er hinabschaute, sah er, wie seine Gefährten hektisch durcheinanderliefen … nein, das beschrieb es nur unzulänglich: wie sie Hals über Kopf vor etwas flohen. »Varx …«, rann es über seine Lippen, wobei er erbleichte, dass ein Außenstehender auch Angst hätte bekommen können, dass er gleich ganz verblassen könnte. So schnell er konnte, bewegte er sich den Hang hinunter. Zu schnell. Mehr als einmal glitt er auf dem rutschigen Untergrund aus und rollte oder schlitterte die Anhöhe hinab. Schmutzig und von Schürfwunden übersät, gelangte er schließlich unten an und hatte alle Hände voll zu tun, die anderen wieder zu
beruhigen, sie von Varx' Harmlosigkeit zu überzeugen. »Der krümmt euch kein Härchen! Ruhig bleiben, ganz ruhig!« Sie starrten ihn an wie ein Gespenst. »Wo kommst du her? Wir dachten schon, du wärst irgendetwas, dem da …« Paula zeigte auf den dunklen Humanoiden. »… zum Beispiel … zum Opfer gefallen! Verdammt, musstest du auch allein da oben bleiben? Wer ist das? Kennt ihr euch? Der sieht nicht aus, als könnten wir Freunde werden …« »Paula!« Die Schärfe seines Tons rief sie zur Räson. Und die Art, wie er es sagte, beinhaltete bereits alles an Kritik, was es dazu zu sagen gab: Gerade von dir hätte ich mehr Toleranz erwartet!, schwang darin mit. Gerade wir sollten gelernt haben, anders Aussehenden mit weniger Vorbehalten zu begegnen! Wobei er sich seiner eigenen Reaktion bei der ersten Begegnung mit Varx erinnerte – und insgeheim alles relativierte. »Schon gut, schon gut. Ihr kennt euch also …« Sie ließ die erhobenen Arme theatralisch sinken. »Hat der Typ auch einen Namen?« »Varx.« »Prima. Lebt Varx hier? Kann er uns ein bisschen was zu Essen besorgen? Wir –« Sie verstummte, fasste Sahbu scharf ins Auge. Dann platzte es aus ihr heraus: »Du hast bereits gegessen! Du bist satt! Ich seh's dir an … Heilige Scheiße, was für ein egoistisches Rübenschwein bist du denn?« Das Schimpfwort hatte sie von Prosper, jede Wette. Kein Mensch des 23. Jahrhunderts wusste normalerweise damit etwas anzufangen. Auch Sahbu nicht. Aber es klang fies, und das reichte. Damit erfüllte es seinen Zweck. »Krieg dich wieder ein, Paula. Varx war so nett – oben im Turm …« »Dann müssen wir auch da rauf!«, unterbrach sie ihn. »Du hast es also geschafft, reinzukommen! Wie sieht's da drin aus? Gibt's da viel Essen? Na, wenigstens was. Vielleicht können wir gleich unser Quartier drin aufschlagen. Warum sollten wir uns unbekannten Gefahren in der Weite dieses Planeten aussetzen, wenn –«
Jetzt fuhr er ihr in die Rede. »Vergiss es! Zu gefährlich!« »Zu gefährlich?« Sie beäugte ihn misstrauisch. »Oder willst du nur nicht teilen?« Sie machte eine aufwieglerische Geste hin zu den anderen. »Ich meine, wenn du die angebliche Gefahr gemeistert hast, werden wir alle zusammen es wohl auch schaffen!« »Du verkennst die Lage. Da drinnen in den Türmen ist es gefährlich. Und extrem unübersichtlich. Ich hatte Varx an der Seite. Ohne ihn … wäre ich vielleicht nicht mal mehr lebend herausgekommen.« Als er zu dem Sternling blickte, reckte dieser sich mit stolzgeschwellter Brust. »Was ist das für einer? Gehört der zu Kargor und dessen Verein?«, knurrte eine dicke Frau, die Sahbu am wenigsten von allen kannte, weil sie fast nie den Mund aufmachte, nie über sich sprach, einfach nur bei ihnen war … und Kunststückchen beherrschte, die ihr einen Stammplatz in der ersten Riege der Zirkusattraktionen gesichert hatten. Sie konnte – Varx schrie plötzlich ohne erkennbaren Anlass auf. Schrill. So schrill, dass Sahbu unwillkürlich erwartete, irgendetwas in der Umgebung müsste unter dem Missklang zerspringen. Dass es sich um einen verzweifelten Warnruf handelte, erkannte er erst, als Varx die Arme ausstreckte und hinter Sahbu den Berg hinaufzeigte. Von wo sie kamen. Schattengleiche wie der Sternling – ein ganzes Heer von ihnen, das nur kurz dabei zu beobachten war, wie es sich im Herabklettern orientierte, dann offenbar die Gruppe im Tal entdeckte … und dann sprang, wie schon Varx es getan hatte. Nur einen Moment später materialisierten sie um die Menschen und den Artgenossen, der sich verängstigt duckte. Ohne einen Laut – kein Wort, kein Geräusch – stürzten sie sich auf Varx, nur auf ihn, und zerrten ihn von Sahbu und den anderen weg. Sahbu ärgerte sich über die eigene Schrecksekunde, die er erst überwinden musste, bevor er den Häschern aus dem Turm nachjagte. Er wusste, es ging um Sekunden, und wahrscheinlich würde er so oder so zu spät kommen, aber er wollte – nein, musste! – es wenigstens probieren.
»Halt!«, schrie er, als er die dunklen Humanoiden, die genauso wie Varx aus stofflich gewordenem Weltall zu bestehen schienen, durch eine seltsame Haut in Form gebracht, wider Erwarten einholte, bevor sie wieder entmaterialisierten. Er warf sich, ohne nachzudenken und auch die Gefahr ignorierend, zwischen sie und hielt sich mit aller Kraft an Varx' Schultern fest. Der Sternling zitterte wie Espenlaub, und Wimmern drang aus den Tiefen seines Körpers. »Lasst ihn in Ruhe! Wer hat euch geschickt? Warum legt ihr euch mit einem Einzelnen an? Lasst ihn sofort in Frieden, oder ich zeige euch, wozu ein Erhabener Schlüssel fähig ist!« Auch wenn seine Worte für einen Außenstehenden eher wirr klingen mussten, war es Sahbu in diesem Moment so ernst wie selten zuvor in seinem Leben. Er fühlte sich mitverantwortlich für Varx' Schicksal. Immerhin hatte er ihn mehr oder weniger zum Verlassen seiner bisherigen Welt, des Turms, überredet. Und möglicherweise drohte ihm nun weit mehr als das bloße »Abschalten« – was schon schlimm genug wäre. Die Schattenhaften gaben Varx zwar frei, umschwärmten das ungewöhnliche Paar aber wie zähnefletschende, nach einer Schwäche suchende Wölfe. »Ihr versteht mich gar nicht, oder?« »Wir verstehen jedes Wort«, schlug es ihm wider Erwarten aus mehr als einem Dutzend Kehlen (oder wie auch immer sie die Laute artikulierten) entgegen. Wie ein gespenstischer Chor klangen sie – oder wie viele Körper, die von ein und demselben Gehirn gesteuert wurden. »Varx muss zurück. Er wird wieder Teil dessen, was er kurz verlassen hat. Das Gebietende Element duldet keine Abweichler.« Worte, ohne jede spürbare Aggression hervorgebracht – und doch haftete ihnen etwas Endgültiges an, etwas, das ausdrückte, dass jede Diskussion zu diesem Thema sinnlos und reine Zeitverschwendung war. »Das Gebietende Element … Wieso hat es sich mir nicht gezeigt, als ich im Turm war?«
Die Frage schien die Schatten zu irritieren. Mehr als das. Sahbu wiederholte seine Worte, weil er es für möglich hielt, dass sie ihn einfach nicht verstanden hatten. Dabei blickte er dorthin, wo in einiger Entfernung Paula und die anderen gespannt verfolgten, was passierte. Sie machten keinerlei Anstalten, einzugreifen, und vielleicht war das sogar das Vernünftigste. »Wie sollte es sich dir zeigen?«, kam endlich die Gegenfrage des Chors. Und einen Moment später die Erklärung, die Sahbu fassungslos machte: »Du bist das Gebietende Element. Wir handeln nach deinen Wünschen! Deine Gedanken sind uns Befehl. Du bist der Träger des Glanzes.« Sahbu ließ Varx los, der sich weiter ängstlich an ihn schmiegte. Verärgert wandte sich der Mann aus dem Getto den Häschern des Turms zu. »Ihr wollt mich für dumm verkaufen, was? Aber da beißt ihr bei mir auf Granit! Ich habe niemals befohlen, dass …« Plötzlich verstummte er. Weil sein Grübeln die Worte unterdrückte, die er noch hatte folgen lassen wollen. Und ins Grübeln war er gekommen. Sollte es etwa tatsächlich möglich sein, dass er …? Unsinn! Oder vielleicht doch? Mehr … unterbewusst? Er disponierte um, kanalisierte seinen Zorn zu Konstruktiverem. »Ich bin also euer Gebieter?« Der Chor bestätigte es. »Nun, dann beweist es, dass ich und kein anderer hier bestimme, was mit Varx geschieht! Mag ja sein, dass er mir anfänglich wirklich ein bisschen auf die Nerven ging und ich insgeheim gar nicht soo unglücklich darüber gewesen wäre, wenn sich unsere Wege wieder getrennt hätten – aber inzwischen … inzwischen schätze ich ihn sehr. Lest das in meinen Gedanken – und lest verdammt noch mal richtig. Ich will, dass ihr ihn in Ruhe lasst. Er soll selbst entscheiden, ob er mit zurückwill, also mit euch kommt, oder sich mir und meinen Gefährten anschließt. – Habt ihr das verstanden?« Er erwartete nicht wirklich, dass seine Ansprache fruchtete. Irgendwie vermutete er noch immer eine Hinterlist des Schattenheers. Doch er wurde positiv überrascht. »Gedanken decken sich mit Befehl – Varx dein.«
Mit diesem vielstimmigen Bekenntnis verschwanden die Häscher des Turms, als hätte es sie nie gegeben. Von einem Atemzug zum anderen war Sahbu wieder mit Varx allein. Und dieser fasste sich erstaunlich rasch wieder, wie seinen markigen Worten zu entnehmen war. »Nicht soo unglücklich du mit Trennung gewesen wärst? Nicht soo unglücklich? Böser, undankbarer Schlüssel du bist!« »Klappe, sonst schick ich dich doch noch zurück, du Nervtöter! Das nächste Mal höre ich vielleicht besser auf mein Unterbewusstsein, statt aus purem Mitleid –« Varx knirschte mit den Zähnen – zumindest klang es so. Dann lenkte er ein: »Verzeihung, Gebieter. Ich werde weiter dein treuer Sklave sein. Ich schätze mich glücklich, so viele Schlüssel …« Er zeigte zu Paula und den anderen. »… auf einmal kennenlernen zu dürfen. Wohin darf ich euch bringen?«
9. Kapitel Falls sie sich tatsächlich noch immer im Turm aufhielten, so war auch dieser Raum von beklemmender Größe. Beklemmung empfand Prosper Mérimée, wenn überhaupt, normalerweise nur in sehr beengten Räumlichkeiten. Hier aber erzeugte gerade die Weite, der von außen nicht erkennbare Gigantismus dieses Gefühl. Zumal der Vergleich mit der RUBIKON hinkte. Dort an Bord nahm man die riesigen Dimensionen des Schiffes schon allein deshalb weniger wahr, weil man sich durch normal große Sektionen bewegte. Nicht durch Bereiche, die sich wie endlos anmutende Landschaften vor einem erstreckten. Die sogar eine Art Himmel hatten – und Horizonte, die durch goldenen Schimmer begrenzt wurden. Wände, wie er vermutete, aber nicht einmal das wusste er sicher. Und nun waren sie hier. Von der gewöhnungsbedürftigen Kabine in einem Sektor abgesetzt worden, der von Gloriden dominiert wurde. Auf den ersten Blick war es ein unüberschaubares Gewimmel von Androgynen, die sich zwischen Gerätschaften tummelten, die sicher nicht zufällig wie die Bestandteile eines gewaltigen Fabriklabors aussahen. Bislang hatte keines der nackten Geschöpfe, die keinem Geschlecht zuzuordnen waren, Notiz von den Neuankömmlingen genommen. »So verlassen und nur noch den Toten überlassen scheint der Turm wohl doch nicht zu sein«, sagte Sarah, die ebenso gefesselt wie Prosper zu den Zwitterwesen blickte, die ganz nach Belieben zwischen stofflicher und rein energetischer Zustandsform zu wechseln vermochten. An Bord der CHARDHIN-Perlen agierten sie vorwiegend in genau der humanoiden Gestalt, die sie auch hier zeigten: geschlechts- und haarlos und durch die Makellosigkeit ihrer Körper fast künstlich wirkend. »Dass die Gloriden in Diensten der ERBAUER stehen, wussten wir
ja«, erwiderte Prosper. »Trotzdem gebe ich dir recht: Hier hätte ich auch nicht unbedingt mit ihnen gerechnet. Aber vielleicht erfüllen sie in den Türmen dieselbe Aufgabe wie in den goldenen Stationen jenseits der Ereignishorizonte.« »Wartungsarbeiten?« Er nickte. »Mir scheint eher, als würden sie hier etwas produzieren.« Sie zeigte auf die Apparaturen, in denen es brodelte und blitzte. Als Prosper ihrem ausgestreckten Arm folgte, entdeckte er fast gleichzeitig mit ihr etwas, das Licht ins Dunkel der hiesigen Aktivität brachte. Ein wenig zumindest. »Dort«, rief er. »Siehst du die transparenten Leitungen, die wie Pipelines vom Horizont herführen?« Sie bejahte. »Ist mir auch gerade aufgefallen. Das Zeug darin erinnert mich frappant an das, was uns fast unter sich erstickt hätte …« »Die Pollen.« »Die Pollen!« »Dann ist das der endgültige Beweis, dass wir uns innerhalb des Turms aufhalten, vor dem wir überrollt wurden.« Er rieb sich über das Gesicht, merkte zum ersten Mal, wie müde, wie erschöpft er war. Die Geschehnisse hatten ihn offenbar doch mehr mitgenommen und mehr Kraft gekostet, als er zunächst glaubte. »Offenbar wird hier weiterverarbeitet, was auf so eigenwillige Weise ›geerntet‹ wurde«, sagte Sarah. »Vielleicht zu Nahrung.« »Nahrung für die Gloriden? Wovon ernähren die sich eigentlich? Jetzt waren Fonti und Ovi so lange auf der RUBIKON, aber ich weiß immer noch nicht …« »Sie sind auf keine Nahrung angewiesen, wie wir sie brauchen. Sie tanken wohl eher Energie.« »Dann ergibt der Gedanke, dass sie das hier für sich tun, keinen Sinn. Aber für wen dann? Die ERBAUER? Gibt es außer Kargor doch noch welche, die in diesem System leben? Könnte es sein, dass diese Tatsache selbst ihm entgangen ist und er das sogenannte Erste Reich nur entvölkert wähnte?« Prosper verzog das Gesicht. »Für so dumm sollten wir Kargor
nicht halten. Außerdem hätten Artgenossen ihn wohl kaum übersehen, als er ins Angk-System einflog und uns nach Angk I brachte.« »Vielleicht wollten sie einfach keinen Kontakt zu ihm. Keiner von uns weiß, welche Bedeutung Kargor bei den ERBAUERN einnimmt. Er könnte ebenso gut ein Geächteter sein, mit dem niemand etwas zu tun haben will.« »Weit hergeholte Theorie. Sehr weit. Zu weit«, wiegelte Prosper ab. »Dann wäre er wohl eher attackiert und gewaltsam des Systems verwiesen worden.« »Sagst du«, wollte sie noch nicht klein beigeben, so abstrus ihre Idee auch klang. »Du unterschätzt den Machtfaktor, den eine Perle darstellt. Wir beide wissen herzlich wenig über ihr wahres Angriffspotenzial. Was sie über Nar'gog demonstrierte, war schon beeindruckend. Aber es könnte nur die Spitze des Eisbergs gewesen sein. Möglicherweise hat dieses ›Reich‹ den Waffen einer Perle nichts entgegenzusetzen. Und deshalb stellte man sich lieber tot, hielt sich vor Kargor verborgen …« Er spürte, wie die Ungeduld in ihm wuchs. Wobei er selbst nicht hätte sagen können, was ihn nervös machte. Eigentlich hatten sie alle Zeit der Welt – auch für fruchtlose Debatten, die abstruse Richtungen einschlugen. »Du darfst deine Theorie gerne weiterverfolgen«, sagte er, »aber ich für mein Teil ziehe nicht in Betracht, dass es hier noch lebende ERBAUER geben könnte. Kargor will uns hier ansiedeln – so zumindest habe ich ihn verstanden. Und das hätte er gewiss nicht in Erwägung gezogen, wenn seinesgleichen hier noch lebte.« Er hatte sie immer noch nicht überzeugt, das spürte er. Aber sie beließ es erst einmal dabei. Eine Weile widmeten sie sich schweigend dem Szenario, das sich ihnen bot. Und unvermittelt fragte eine Stimme in für sie verständlicher Sprache: »Möchtet ihr eine Führung durch die Produktion?« Prosper und Sarah tauschten verblüffte Blicke. »Wer spricht da?«, fragte er schließlich, nachdem er sich geräuspert hatte. »Die Fabrik«, kam es lapidar zurück. »Möchtet ihr eine Führung?«
»Die Fabrik spricht zu uns …« Sarah verdrehte die Augen. »Und das geht so einfach? Für uns, die Fremden, steht das volle Programm zur Verfügung …?« Der Spott entging zumindest Prosper nicht. Der Stimme der Fabrik offenbar schon. »Ihr seid autorisiert«, sagte sie gleichmütig. »Möchtet ihr –« »Ja!«, unterbrach Prosper sie. »Klar. Solche unverhofften Angebote sollte man wohl nicht ablehnen, wer weiß, wann sie wiederkommen. Zumindest nicht, wenn sie sich nicht zu sehr in die Länge ziehen. Wir hatten heute noch etwas anderes vor, stimmt's, Sarah?« Sie nickte, ohne seine Flapsigkeit zu kommentieren, die sie aber sichtlich irritierte. Oder inspirierte, zu den Worten nämlich: »Vielleicht ist unterwegs ja auch ein kleiner Imbiss drin?« Von irgendwoher näherte sich ein Gloride. Er wirkte anders als die Zwitterwesen, denen Prosper und Sarah bislang begegnet waren, irgendwie reservierter, fast roboterartig. »Unser Führer«, murmelte sie, als sie ihn auf sich zukommen sah. »Er hat auch noch etwas dabei. Sieht aus wie …« »Irgendeine Art von Nahrungskonzentrat in Würfelform – igitt! He, das könnte der Farbe nach aus den Pollen gemacht sein! Das verträgt mein Magen nicht, das weiß ich jetzt schon!« Prosper schüttelte sich. »Aber er hat auch eine Art Flasche dabei, wahrscheinlich Wasser. Da wiederum werde ich nicht –« »Für uns beide nur eine Flasche?«, warf Sarah empört ein. »Ich weiß nicht, ob ich das will, aus ein und derselben Flasche mit dir trinken …« Er nickte verständnisvoll. »Das wäre fast wie küssen, oder?« Er schüttelte sich wie beim Anblick der Nahrungswürfel, die der Gloride zusammen mit der Flasche auf einer Art Tablett balancierte. Sie versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. Er stöhnte. »Hör auf, du untergräbst meine Autorität. Am Ende denkt das Ding, die Fabrik, noch, wir wären nicht gleichberechtigt, sondern du allein hättest das Sagen.« »Damit hättest du ein Problem.« »Und wie!«
Sie lächelten noch, als der Gloride bei ihnen ankam und ihnen die Mitbringsel schweigend anbot. »Sieht gar nicht soo schlecht aus«, meinte Sarah und griff nach dem faustgroßen Würfel, der die Konsistenz einer gekochten Kartoffel zu haben schien. »Riecht nicht, ich glaub, ich probier's.« Mit diesen Worten, und noch ehe Prosper einen warnenden Einwand hervorbringen konnte, biss sie in das Gebilde wie in einen Apfel. Prosper verzog angewidert das Gesicht. Sarah verzog angewidert das Gesicht, kaute aber weiter. »Furchtbar. Lass bloß die Finger davon!« Er hielt bereits die Flasche, die aus einer Art Kunststoff gefertigt war, an die Lippen. Der Inhalt war kühl und unerwartet wohlschmeckend. Trotzdem schüttelte er sich nach ein paar langen Zügen. »Brrrrrr! Davon solltest du lieber die Finger lassen. Vielleicht können wir den Ober etwas anderes bringen lassen.« Sie hatte inzwischen den ersten von vier Würfeln restlos verzehrt und leckte sich sogar die Fingerspitzen ab, mit denen sie ihn gehalten hatte. Prosper hatte längst begriffen, dass sie den Geschmack alles andere als fürchterlich fand – und deshalb auch mit dem Getränk gekontert. Deshalb lachten sie erst einmal schallend vor den Augen des stoisch abwartenden Gloriden, ehe sie nach der Flasche und er nach einem der verbliebenen Würfel griff. »Daran könnte ich mich gewöhnen«, sagte Prosper schließlich ohne Rücksicht auf den noch vollen Mund. »Ich beginne, meinen Status zu schätzen.« »Status?«, fragte sie. »Goldschlüsselträger«, erwiderte er, und obwohl es humorig klingen sollte, wurde ihm bewusst, dass darin wohl mehr als nur ein Körnchen Wahrheit steckte. Kargor hatte sie offenbar mit weiterreichenden Befugnissen ausgestattet, als sie es sich je hatten erhoffen dürfen. Andererseits war dies mehr als verständlich, wenn der ERBAUER wirklich von ihnen erwartete, dass sie zur Keimzelle einer neuen
Menschheit auf den von seinem Volk verlassenen Welten des AngkSystems werden sollten. Ohne Hilfsmittel oder die Anerkennung seitens der Hinterlassenschaften der ERBAUER hätten sie sicherlich keine große Überlebens- und Entwicklungschance gehabt. »Aha«, sagte Sarah. »Dann lass uns unseren Status einfach mal weiter testen und ausreizen. Wir werden schon sehen, wie weit wir damit kommen …« Sie blickte den Gloriden auffordernd an. Ohne dass sie konkreter werden musste, drehte er sich um und setzte sich in Bewegung. Das Tablett faltete sich zusammen, bis es völlig unsichtbar in der Hand des Gloriden verschwand. Nanotechnologie. Vermutlich. Am Ende des mehr als einstündigen Rundgangs wussten sie, wie falsch sie mit der Vermutung gelegen hatten, die Fabrik erzeuge Nahrungsmittel aus Pflanzenpollen. Sie wussten es spätestens, als ihr Führer, der in dieser Stunde bewiesen hatte, dass er auch des Sprechens mächtig war, mit ihnen vor einem riesigen glaskolbenartigen Gebilde stehen blieb, in denen sie das Endprodukt der Maschinenstraße bewundern konnten, durch die er sie geleitet hatte. In dem durchsichtigen Behälter hing frei schwebend ein Gloride, der von winzigen Projektoren nicht nur gehalten, sondern auch bestrahlt wurde – mit einem golden schimmernden Licht, das der reglose Körper vollständig absorbierte … … und dann entmaterialisierte. Aber nur, um unmittelbar vor Prosper und Sarah wieder zu rematerialisieren und sich stumm in das Gewimmel der anderen Gloriden in der Fabrik einzureihen. Dies, das wurde nun zweifelsfrei klar, war ein Ort der Schöpfung. Und der mannigfachen Geburt. Mit anderen Worten: Hier arbeiteten keine Gloriden, hier wurden sie gemacht.
10. Kapitel Das Tal war berückend schön. Sahbu hatte so etwas noch niemals gesehen, weder mit eigenen Augen noch auf irgendwelchen Bildern. Ringsum wuchsen Bäume, die an jene erinnerten, von denen das Getto umgeben war – aber nur, was ihre Formenvielfalt und die satte Färbung ihrer Blätter anging. Dass sie blau statt grün waren, stellte in Sahbus Augen keinen wirklichen Makel dar. Zumal die sich in dem kleinen See spiegelnde Farbe diesen noch viel attraktiver schimmern ließ. Das hier, fand Sahbu, war ein perfekter Ort. Um zu verweilen. Wie lange, war ihm noch nicht klar. Aber er spürte, dass auch die anderen angetan waren von der Idylle, die sie so nicht erwartet hatten. Sein Blick löste sich fast widerwillig von der Pracht der Pflanzen, die im Windschutz umgebender Berge fantastisch gediehen. Überall zwischen den Bäumen wuchsen Sträucher und Blumen, der Boden war mit blauem Gras bedeckt, das nur knapp bis über die Knöchel reichte, als wäre es erst kürzlich gemäht worden. Das Einzige, was an diesem Bild stören konnte, war, dass es beinahe zu perfekt wirkte. In der freien Natur gab es solche Paradiese nicht – oder? Hier schien Hand angelegt worden zu sein von einem begnadeten Landschaftsbauer. Sahbu versuchte, das leise Unbehagen, das mit diesem Gedanken einherging – der Vorstellung, dass dieser wundervolle Flecken ständiger Hege und Pflege bedurfte und dass irgendwann irgendjemand auftauchen würde, der die Ruhe störte … obwohl eigentlich sie doch die Störenfriede waren, wie er sich zugleich ins Gedächtnis rief –, zu unterdrücken. Sein Blick suchte und fand Varx, der am Ufer des Sees stand, seit Minuten schon, und fasziniert nach unten schaute. Vielleicht gab es Fische oder andere Wasserbewohner, die sein Interesse weckten.
Sahbu rief sich den Moment in Erinnerung, als der Sternling ihm und den anderen Mitgliedern der »grünen Gruppe« eröffnet hatte, sie hinzubringen, wo immer sie wollten. Auch wenn es letztlich auf diesen Planeten beschränkt blieb, war das Angebot in seiner vollen Bedeutung nur langsam ins Begreifen der Menschen gesickert. Sie waren – natürlich – zunächst davon ausgegangen, dass er sie sonst wohin führen wollte. Obwohl Sahbu nicht ganz klar war, woher er überhaupt Kenntnis über die Orte haben wollte, die außerhalb des Turms lagen, der bis dato seine Welt dargestellt hatte. Doch Varx hatte sich nicht lange bitten lassen, sondern in sich ein Hologramm entstehen lassen, das sie im Schnelldurchlauf mit den verschiedenen Regionen dieser Angk-Welt vertraut gemacht hatte. Und als sie sich nach kurzer Beratschlagung für eine Gegend – hier! – entschieden hatten, war die nächste Überraschung auf den Fuß gefolgt: Statt sich erst mühsam auf Wanderschaft dorthin begeben zu müssen, hatte Varx sie aufgefordert, nacheinander durch ihn hindurchzutreten. Die anderen hatten gezögert, sodass am Ende Sahbu das Risiko eingegangen war. Verblüfft hatte er nach dem Durchgang auf der »anderen Seite« feststellen müssen, dass auch dort Varx stand, er also aus ihm herausgetreten war. Er war dann wieder zurückgegangen und hatte den anderen von der Unbedenklichkeit der Passage berichtet. Im Gegenzug hatte er erfahren, dass Varx die Gruppe nie verlassen hatte, auch nicht für einen klitzekleinen Moment. Woher kam aber dann sein Ebenbild, aus dem Sahbu in der entfernten Region herausgetreten war und das er auch wieder benutzt hatte, um zurückzukehren? Varx hatte auf diese Frage nicht antworten können. Sahbu glaubte ihm, dass er ihm das eingeforderte Wissen nicht absichtlich vorenthielt. Nachdem die Gruppe überzeugt war, dass die Passage durch den Sternling keine Gefahr für Leib und Leben darstellte, waren sie geschlossen hierher gelangt.
Und der Varx auf dieser Seite hatte sich ebenso benommen wie der, den sie »drüben« zurückließen. Offenbar war der eine tatsächlich mit dem anderen identisch … Und jetzt stand Varx am See, wie erstarrt, ganz gebannt. Sahbu beobachtete seine Gefährten eine Weile, die sich mit der Umgebung vertraut machten, Früchte von den Büschen und Bäumen pflückten und sie argwöhnisch betrachteten oder kosteten. Sahbu hielt sie nicht davon ab. Und auch Varx reagierte nicht – was ein gutes Zeichen war. Denn mittlerweile hatte Sahbu die Überzeugung gewonnen, dass der Sternling eine Art guter Geist für sie war. Er hatte ein Auge auf sie, hielt seine Hand schützend über sie … auch wenn er selbst des Schutzes bedurft hatte, als ihn die Häscher des Turms zurückbringen wollten. Sie waren schon ein bunt gemischtes, gewöhnungsbedürftiges Völkchen, dachte Sahbu. Aber wenn man sich erst einmal aneinander gewöhnt hatte, konnte so leicht nichts mehr zwischen sie kommen. Er löste sich aus seinen Gedanken und schlenderte über das niedrige Gras zu Varx, der leicht vorgebeugt immer noch ins Wasser starrte. »Fische?«, fragte er. Varx zuckte zurück. »N-nein.« »Was dann? Darf ich mal?« Sahbu trat neben ihn und beugte sich ebenfalls vor, wie der Sternling es zuvor getan hatte. Das Wasser war klar. Aber außer ein paar simplen Steinen, die nicht einmal besonders schön abgeschliffen oder gemustert waren, fanden Sahbus suchende Blicke nichts im seichten Uferbereich. Lächeln musste er jedoch, als ihm bewusst wurde, dass er sich selbst auf der Oberfläche spiegelte. Er hatte sich lange nicht mehr in das eigene Gesicht geschaut, in dem ein Bart zu sprießen begonnen hatte. Versonnen wandte er sich Varx zu, der betreten zu Boden blickte – als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. »Was ist? Irgendetwas stimmt doch nicht. Du benimmst dich selt-
sam, seit du hier stehst. Wenn ich dir helfen kann …« Varx' Körper war wieder voller Schwärze, durchwoben von Sternen. Die Landschaften, die er ihnen zuvor darin gezeigt hatte, waren verschwunden. »Nein. Nein … du kannst mir nicht helfen – niemand kann das. Aber danke, Herr und Meister, für das freundliche Angebot.« »Was ist passiert?«, blieb Sahbu hartnäckig. »Irgendeine Laus ist dir doch über die Leber gelaufen. Mach mich mit ihr bekannt, stell mich ihr vor …« Überraschenderweise nahm Varx die Vorlage nicht auf, wie es sonst für ihn typisch war. Weder Leber noch Laus animierten ihn zu einer launigen Nachfrage. »Es ist nichts weiter. Es ist nur alles so … fremd für mich. Ich hätte nicht gedacht, dass es so ist hier draußen.« »Das kann ich nachempfinden. Meine Welt war vor noch nicht allzu langer Zeit auch stark begrenzt. Ich musste mich auch erst in der Freiheit zurechtfinden.« Varx schwieg. »Aber das ist nicht alles, oder?«, bohrte Sahbu nach. Er spürte einfach, dass da mehr war, sehr viel mehr. »Was hat dich vorhin so gebannt? Was hast du im See gesehen? Ich könnte schwören, dass es die Ursache für dein Verhalten ist. Vorher warst du anders. Der Wandel setzte erst hier …« Er zeigte ins Wasser und sah dabei seinen Arm, der im Spiegel erschien. »… ein.« Plötzlich kam ihm ein Verdacht. »Beug dich vor«, verlangte er von Varx. Der Sternling sträubte sich. »Wozu?« »Beug dich einfach vor und sag mir, was du siehst. Bin ich nicht dein Herr und Meister? Eine so kleine Bitte wirst du mir doch erfüllen können.« Der Schattenhafte gab sich einen Ruck. Sahbu, der ebenfalls wieder weit vorgebeugt dastand, sah Kopf und Oberkörper des Wesens neben sich im Spiegel des Wassers auftauchen. »Das ist es – oder?« Varx nickte stumm. Sahbu fror plötzlich neben ihm, als würde der
Sternling tatsächlich die Temperatur in der Umgebung zum Sinken bringen. »Ist es das … erste Mal, dass du dich selbst siehst?« Wieder nickte Varx. Zögernd. »Und was ist daran so … fürchterlich?« »Es macht mir Angst. Seit ich mich gesehen habe – seit ich weiß, dass ich aussehe wie die, die mich fangen wollten –, ist mir weniger denn je klar, wer ich bin. Oder was.« Sahbu nickte. »Bei uns Menschen nennt man so etwas eine Identitätskrise.« »Und was tut ihr dagegen?« Er zuckte die Achseln. »Ich hatte noch keine, tut mir leid. Aber ich denke, es ist ein langsamer, mühsamer Prozess, da wieder rauszukommen. Es dürfte mit Selbstbewusstsein zu tun haben, die Krise zu überwinden. Du musst mehr Zutrauen zu dir selbst entwickeln, musst lernen, dass du dich selbst wertschätzt … ganz egal, wie du aussiehst oder wo du herkommst.« »Ich weiß nicht, ob ich das verstehe.« »Ich werde ein Auge auf dich haben, okay? Wenn du willst, helfe ich dir. So übel, wie ich anfangs glaubte, bist du gar nicht. Man kann sich daran gewöhnen … sorry, das war jetzt wohl nicht das Richtige, um echtes Selbstwertgefühl in dir zu fördern, aber an meine komische Art von Humor wirst du dich schon noch gewöhnen.« »Ich mag deinen Tumor«, versicherte Varx. Sahbu schluckte die Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. »Schön. Dann sind wir ja schon zu zweit«, sagte er, ohne Varx' Missgriff in der Wortwahl zu verbessern. Und es war keineswegs berechnend, als er das Thema wechselte – er hatte einfach das Gefühl, dass dazu für den Augenblick genug gesagt worden war. »Hast du eine Ahnung, wie das funktioniert, was du uns dankenswerterweise anbietest?«, fragte er. »Die räumliche Versetzung?« Varx wandte sich vom See ab. »Das auch. Aber ich meine vorrangig die Bilder, die du uns in dir schauen lässt. Es ist, als hättest du jeden noch so winzigen Fleck dieser Welt kartographiert. Aber das hieße doch im Rückschluss auch,
dass du jeden noch so winzigen Fleck kennen musst. Wie verträgt sich das damit, dass du im Turm sagtest, du habest keinen blassen Schimmer, wie es draußen aussieht?« »Den hatte ich im Turm auch nicht«, erwiderte er ruhig. »Du meinst, du bekamst all diese Daten erst, als du draußen warst?« »Ich weiß es nicht. Sie waren plötzlich da.« »Wer könnte sie dir vermittelt … oder in dir geweckt haben?« Varx zuckte die Achseln. Zum ersten Mal fiel Sahbu auf, dass der Sternling sich völlig sicher menschlicher Gestik bediente. »Ich weiß es wirklich nicht.« »Du bist und bleibst also ein Rätsel.« »Ist das gut oder schlecht?« »Das wird sich zeigen müssen. Aber noch mal zurück zum Thema: Ist es wirklich so, dass du dich jetzt überall auf dem Planeten auskennst? Dass du mir stundenlang Dinge über bestimmte Regionen erzählen oder Tipps geben könntest, wo sich Menschen am besten niederließen, weil die Bedingungen dort am ehesten für sie geeignet sind?« »Ich fürchte … nein.« »Nein?« »Du denkst, ich hätte all das wie in einem Gedächtnis, auf das ich jederzeit Zugriff habe, abgespeichert?« »Wie sonst?« »Anders.« »Wie anders?« »Ich kann euch vieles zeigen, von dem ich gar nichts weiß – es dringt nicht anders zu mir wie zu euch. Ich erfahre erst Details, wenn sie sich vor euch und mir entfalten … Es ist kompliziert. Ich will eigentlich nicht darüber nachdenken.« Er machte einen fast trotzigen Eindruck. »Ich will dich nicht quälen.« »Dann hör auf zu fragen.« Sahbu schwieg kurz. Dann nickte er. »Wir sprechen ein anderes Mal darüber. Vielleicht hast du bis dahin eine eigene Theorie.«
»Danke.« »Und die räumliche Versetzung?«, fragte er. »Können wir uns darüber unterhalten?« »Menschen müssen immerzu reden, richtig?« »Nicht immer, aber Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens.« »Ob ich das jemals lerne?« »Wie meinst du das? Sprechen, kommunizieren? Du tust es doch. Das Einzige, was du vielleicht abbauen musst, ist deine innere Abneigung dagegen.« Er nickte. »Soll ich es dir jetzt zeigen?«, fragte er. Die Sonne ging bereits unter. Es wurde dämmrig. »Zeigen?«, fragte Sahbu. »Was zeigen?« Sahbu wies zu einem der Berghänge, die das Tal umschlossen. »Das Geheimnis«, sagte er. »Das Geheimnis dieses Ortes. Das ihn zu etwas ganz Besonderem macht.«
11. Kapitel Prosper war noch ganz benommen von der Erkenntnis, dass sie hier dem Entstehungsprozess von Gloriden beiwohnten. Gloriden, die aus einem Grundstoff erzeugt wurden, der hier auf dieser Angk-Welt wuchs und auf eigentümliche Weise geerntet wurde. Die Weiterverarbeitung war dann noch eigentümlicher. Im Innern des Turms, hier, vor ihren Augen, wurde der pollenartige Rohstoff offenbar verschiedenen Behandlungsstufen ausgesetzt, die letztlich in dem gipfelten, was als Gloride bekannt war – als Wartungspersonal der CHARDHIN-Perlen. Darüber hinaus aber auch als denkendes Wesen, wie Prosper sich ins Gedächtnis rief. Auch wenn er mit Ovayran einige Male aneinandergeraten war, wollte er ihm doch nicht absprechen, dass er ein eigenständiges, von seiner Persönlichkeit her vollwertiges Geschöpf war, kein Ding jedenfalls, wie der Anblick dieser Fabrik nunmehr suggerierte. Betrachtete man den »Zeugungsakt« hier, drängte sich der Gedanke auf, es mit einer simplen Produktion zu tun zu haben. Hier wurde kein Leben zur Welt gebracht, hier wurde hergestellt. Oder täuschte der Eindruck? Die Gloriden hier, fand er, wirkten jedenfalls um einiges stumpfsinniger als jene Vertreter, mit denen die RUBIKON-Besatzung in Berührung gekommen war. Gab es … Gloriden unterschiedlicher Intelligenz und Bildung? Oder lag der hier gewonnene Eindruck schlicht daran, dass sie so frisch nach der »Geburt« noch orientierungslos waren und sich erst einfinden, weiterentwickeln mussten? Auch Menschen kamen nicht als komplette, fertige Persönlichkeiten zur Welt. Sie reiften im Zuge ihres Heranwachsens, durch Erfahrung, Lernen, den Umgang mit anderen Menschen … Und ihr Führer? Der Gloride, der von der Fabrik abgestellt worden war, ihnen die hiesigen Vorgänge zu erläutern? War er auch
erst neugeboren? Gab er sich deshalb so roboterhaft und klangen seine Worte so einstudiert, auswendig gelernt? Sprach am Ende das, was sich »die Fabrik« nannte, durch ihn, benutzte ihn nur als Hülle? Prosper und Sarah diskutierten eine Weile leise über all dies miteinander. Zu einem befriedigenden Schluss kamen sie nicht. »Hast du auch einen Namen?«, wandten sie sich schließlich an den Androgynen. »Ponarayn.« »Ponarayn … Wurdest du hier auch … gemacht?« »Dies ist die Stätte des Erwachens«, erwiderte der Gloride, als sei damit bereits alles gesagt. »Die Stätte des Erwachens … Klingt sehr prosaisch. Und wie geht es von hier aus weiter? Welche Aufgabe erwartet euch?« »Ich bin euer Führer.« Sarah nickte ungeduldig. »Das wusstest du vor zwei Stunden aber noch nicht. Und wenn wir gegangen sind, wirst du ja wohl auch eine neue Aufgabe zugewiesen bekommen. Wie ist deine Perspektive? Und die all der anderen, die wir hier sehen? Wozu werdet ihr hier … gemacht?« Das Wort gefiel ihr nicht, absolut nicht, das merkte ihr Prosper an. Ihm selbst erging es nicht viel anders. Vielleicht, dachte er, ist das hier wie … wie Klonen. Gloriden können sich durchaus auch untereinander ohne all das Brimborium hier fortpflanzen, aber auf Angk wird diese Methode benutzt, um den Akt zu beschleunigen – um schneller sehr, sehr viele Gloriden zur Verfügung zu haben … Und deshalb interessierte ihn umso mehr, wozu die vielen Gloriden gebraucht wurden. Oder ob die Produktion mit der Rückkehr Kargors erst wieder aufgenommen worden war … oder ob sie seit kaum vorstellbar langer Zeit ununterbrochen lief. Darnoks Zeitentartungsfeld jedenfalls schien keine Einrichtung des Angk-Systems ernsthaft beschädigt zu haben – im Gegensatz zu all den einstigen Hochzivilisationen in dieser Galaxie, die dadurch auf das Niveau des 20. Erdjahrhunderts oder … noch schlimmer … in die Steinzeit zurückgeworfen worden waren. Unersetzliches war durch Darnok zerstört worden.
Unwiederbringlich. Hier nicht. Und seltsamerweise hatte Prosper ausgerechnet hier das dumpfe Gefühl, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn auch die Angk-Welten in Schutt und Asche gelegt worden wären. Der Anblick der Gloridenproduktion weckte unterschwellige Ängste. Wie sie hier herumirrten, wirkten sie wie ein noch führerloses Heer. Wie eine potenzielle Bedrohung, die jederzeit Unheil anrichten konnte. Es musste nur jemand kommen, der all diese willfährigen Soldaten – »Kommt. Ich zeige es euch. Das ist die nächste Station der Führung. Danach muss ich mich verabschieden. Die Fabrik ruft.« Ponarayns Worte rissen ihn aus seiner Grübelei. »Die Fabrik ruft …«, echote Sarah, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ihre Sarkasmus zu unterdrücken. »Das klingt ja vielversprechend. Als würde Schlachtvieh zur Schlachtbank gerufen … und würde der Aufforderung auch noch höchst entzückt folgen …« Sie schüttelte sich. »Wer weiß, was aus den Gloriden wird!« »Genau das will er uns ja zeigen«, erinnerte Prosper sie. Sie nickte vehement. »Schon kapiert. Ich weiß nur nicht, ob ich es wissen will.« »Bleib hier. Ich komm zurück, sobald Ponarayn seinen Auftrag für erfüllt hält. Niemand zwingt dich –« »Himmel, musst du immer alles wörtlich nehmen? Ich wollte nur ein wenig jammern. Das durfte ich dort, wo ich herkam … ich meine die ursprüngliche Epoche, aus der es mich zu euch verschlug … nie! Ich habe da extremen Nachholbedarf …« »Nette Aussichten«, kommentierte er ebenso sarkastisch wie sie zuvor. »Ja, du darfst auf all die Facetten meiner Persönlichkeit gespannt sein, die ich dir noch offenbaren werde.« »Ich freu mich. Aber können wir das auf später vertagen?« Er zwinkerte ihr zu. »Vielleicht ergibt es sich ja auch irgendwann, dass du neue Facetten an mir feststellst.« Sie nickte ernst. »Das wäre wünschenswert.« Als er sie betroffen ansah, brach sie plötzlich in schallendes Ge-
lächter aus. Prosper mimte den Eingeschnappten. Ponarayn verfolgte das ganze Geplänkel ohne erkennbare Gemütsregung. Was er sich dabei dachte, blieb deshalb unklar. Falls er sich etwas dachte. Sie folgten ihm in einen anderen Bereich der Fabrik, der sich eklatant von den bisherigen Produktionsabschnitten unterschied. Und erst als sie selbst dorthin strebten, fiel ihnen auf, dass auch sämtliche Gloriden, die bislang eher den Eindruck erweckt hatten, etwas planlos zwischen den Aggregaten und Apparaturen umherzugehen, nach und nach in diesen Bereich drängten. Es war ein durch Schwebewände abgegrenzter Bereich, in dem sich etwas befand, was Prosper rein nach seinem Bauchgefühl als riesige, schwarz lodernde Flamme einordnete – ohne dass ihre Quelle erkennbar wurde. Sie lohte einfach in der Mitte des von den Wänden definierten Abschnitts, und wenn man genau hinsah, wirkte sie weniger wie eine Flamme als vielmehr wie … »Ein Riss!«, flüsterte Sarah, die mit ihm und Ponarayn am Rand des Raumes stehen geblieben war. »Ein Riss in der … Raumzeit?« Prosper blieb keine Zeit, etwas zu erwidern. Zu gebannt war er von dem Phänomen – erst recht, als er den am nächsten stehenden Gloriden unverwandt darauf zuhalten sah. Wenige Schritte später verschwand er in dem Spalt, aus dem Kälte zu wehen schien und in dessen Schwärze auch Strukturen erkennbar wurden, je länger man darauf schaute. Dem Gloriden folgten mehr als ein Dutzend weitere, und erst danach entstand eine Pause. Bereits in dem Abschnitt befindliche Humanoide sammelten sich zu einer neuen Gruppe, die etwa die gleiche Zahl umfasste wie jene, die gerade … gegangen war. Dann schien sich die Schwärze im Riss kurz zu verändern, und als sie sich wieder stabilisiert hatte, hielt das nächste Gloridenkontingent darauf zu. Auch sie verschwanden lautlos, ohne erkennbare Furcht. Dieser Vorgang wiederholte sich ein ums andere Mal, bis Sarah, an Ponarayn gewandt, fragte: »Wohin gehen sie? Sie sterben doch nicht, oder? Das ergäbe keinen Sinn, es wäre nur … nur furchtbar!«
Für einen kurzen Moment hatte sie offenbar tatsächlich die Vision, die auch flüchtig durch Prospers Vorstellung gegeistert war: Was, wenn hier Überschuss entsorgt wurde? Wenn es zu einer Überproduktion von Gloriden kam, die nirgends mehr gebraucht wurden, schon seit die ERBAUER dem System den Rücken gekehrt hatten, vor langer, langer Zeit also? Aber Ponarayn beruhigte sie (ohne indes wohl die Absicht zu haben, er erklärte nur nüchtern): »Sie gehen zu ihren künftigen Einsatzorten. Ich habe die Befugnis, es euch zu zeigen – über Details bin ich jedoch nicht informiert und werde auch nicht in Kenntnis gesetzt. Ich werde diesen Ort in Kürze verlassen.« Prosper wollte etwas sagen, aber Ponarayn – oder das Instrumentarium, das hinter ihm stand – war schneller. Vor ihnen entstand ein Hologramm. Zunächst war es nur eine große, schwarze Wolke, dann füllte es sich mit Lichtern, die sich als winzige Galaxien entpuppten, die ein gewaltiges Universum füllten, das offenbar seine größte Ausdehnung noch nicht erreicht hatte. Plötzlich verschwanden die Galaxien. An ihre Stelle traten golden schimmernde Kugeln. CHARDHIN-Perlen. »Dorthin werden die ›Neugeborenen‹ geschickt?« fragte Sarah. »Ja«, bestätigte Ponarayn. Prosper selbst vergaß fast, Atem zu holen. Zum ersten Mal hatte er für sich wirklich realisiert, wie hoch … wie unvorstellbar hoch die Zahl der CHARDHIN-Perlen war. Wann, mit welchem Großaufgebot von Mitteln, wollten die ERBAUER das alles zustande gebracht haben? Oder log die Darstellung? Log das, was das Hologramm projiziert hatte – vielleicht sogar, ohne sich selbst einer Lüge bewusst zu sein? »Ein ganzes Universum, durchdrungen von den Perlen der ERBAUER …«, murmelte Prosper schließlich. »Mir flößt dieses Bild Entsetzen ein«, bekannte Sarah – und sprach damit genau das aus, was er selbst in sich fühlte. Entsetzen. Kurz darauf erlosch die Darstellung, und Ponarayn reihte sich,
ohne ein Wort des Abschieds, in eine Gruppe ein, die sich gerade vor dem Riss im Kontinuum sammelte. Prosper unternahm keinen Versuch, ihn aufzuhalten, und auch Sarah schien zu ahnen, wie sinnlos ein solches Bemühen gewesen wäre. Wenig später war Ponarayn gegangen … … um in irgendeiner Perle in irgendeinem fernen Winkel des Universums anzukommen und dort die Besatzung zu verstärken? »Das sind Milliarden und Abermilliarden von Perlen, die er uns zeigte«, sagte Sarah irgendwann. Sie klang so ergriffen wie in einer sakralen Umgebung. »Die, die wir hier gehen sehen, können das gesamte Netzwerk unmöglich mit Nachschub an Kräften versorgen.« »Niemand hat behauptet«, gab Prosper zu bedenken, »dass dies hier die einzige Produktions… entschuldige, aber mir gefällt der Begriff nicht – die einzige Geburtsstätte für Perlenpersonal ist. Allein über die Angk-Welten verstreut, kann es Tausende solcher Türme und Vorrichtungen geben.« »Die muss es wohl auch geben. Du hast recht. Aber – wozu das alles? Ein solcher Aufwand? So viele Gigastationen … Perlen … Warum haben die ERBAUER sie erbaut? Was macht es für einen Sinn für ein Volk, in jeder Galaxie präsent zu sein? Wie viele von Kargors Mitgeschöpfen muss es geben oder gegeben haben, um erstens all das zu erschaffen und zweitens einen Nutzen daraus ziehen zu können? Einen Nutzen, den wir noch nicht einmal ansatzweise verstanden haben?« »Du sagst es. Genau das ist das Mysterium, das über allem schwebt, was mit ERBAUER-Hinterlassenschaften zu tun hat – und das sich, für uns zumindest, die wir dazu verurteilt – oder bestimmt – sind, den Rest unseres Lebens in diesem unfreiwilligen Exil zu beschließen, wohl niemals lüften wird.« »Wie ich so etwas hasse!« »Was?« »Vor einem Rätsel zu stehen, von dem ich gesagt bekomme, dass es sich für mich niemals lösen wird!« »Ich sagte nicht, dass wir aufhören werden, es zu versuchen.«
»Nein, aber wir sind erwachsen genug, um zu wissen, dass die Chancen nahe null stehen, es von hier aus, mit den uns zur Verfügung gestellten Möglichkeiten, jemals herauszufinden, was sich die ERBAUER bei all dem dachten!« »Das ist nicht gesagt«, widersprach er. »Unterschätze nicht unsere Möglichkeiten. Im Gegenteil, sie sollten uns eigentlich zur Hoffnung Anlass geben. Bedenke, wie wir mittlerweile behandelt werden. Wir sind nicht einfach Ausgesetzte, Gestrandete, die ihrem Schicksal überlassen werden. Kargor hat uns mit einer Autorität versehen, der wir uns erst im vollen Umfang bewusst werden müssen. He, wir spazieren hier durch Bereiche, die wahrscheinlich vor uns noch niemand betreten hat, der nicht auf engste Weise mit den ERBAUERN verbunden war! Wir sind vielleicht die Ersten seit einer halben Ewigkeit, die überhaupt hier herumlaufen und sich einen Eindruck davon verschaffen können, was die Unbekannten alles an technischen Wundern erschufen. Das ist doch mehr als eine gesunde Basis – für uns beide, meine ich. Wir sollten wirklich nicht undankbar sein. So übel kann Kargor meiner Meinung nach wohl doch nicht sein, wenn er uns all dies offenlegt.« »Hör bitte auf, von diesem Bastard zu schwärmen.« »Ich schwärme nicht von ihm. Aber ich weigere mich auch, ihn wie das Böse an sich zu betrachten. Ich bin sicher, wir können den Turm verlassen, wann immer wir das wollen. Aber offen gestanden würde ich ihn viel lieber weiter … erkunden. Was ist mit dir?« Sie überlegte. Aber nicht lange, es fiel ihr offenbar leicht, ihm zuzustimmen. »Der Turm scheint in jedem Fall überschaubarer zu sein als die Welt, die draußen auf uns wartet. Arbeiten wir also zuerst ihn ab …« Sie hatten sich kaum dazu entschlossen, da bildete sich nur einen Katzensprung entfernt der bereits vertraute Zugang zur Liftkabine. Eine weitere Etage, eine weitere Zone des kobaltblauen Turms wartete auf ihre Entdeckung …
12. Kapitel Nicht nur Sahbu folgte Varx zur Bergflanke. Auch die anderen waren aufmerksam und neugierig geworden. Rasch hatte Sahbu sie über das Vorhaben des Sternlings, ihnen etwas zeigen zu wollen, informiert. Seither machten unentwegt Gerüchte die Runde. Immer neue Thesen wurden aufgestellt, um was für eine Art Geheimnis es sich wohl handeln würde. Auf einen Schacht oder eine Höhle hatte der ein oder andere getippt, auch Sahbu. Und sah sich bestätigt, als Varx sie vor ein im steil ansteigenden Fels gähnendes Loch führte. »Und da sollen wir rein?«, fragte Paula skeptisch. »Ich kann euch nicht zwingen«, erwiderte Varx. »Aber ich appelliere an euer Vertrauen. Ich will nur euer Bestes.« Inzwischen sprach er sehr viel flüssiger. Er lernte immer schneller. »Unser Leben?«, fragte Paula anzüglich. Irgendwie hatte sie es immer noch nicht geschafft, Varx zu mögen. Und daraus machte sie keinen Hehl. Vielleicht war sie aber auch nur eifersüchtig, weil Sahbu den besten Draht zu dem Sternling zu haben schien. Varx kehrte Paula beleidigt den Rücken zu; zumindest hatte es den Anschein. »Geheimnis wird euch gefallen. Ich schwöre! Geheimnis wird euer Leben bereichern.« »Eine Kneipe?«, fragte Caroux, ein Mittfünfziger, rau. Er sah verlebt aus, und niemand wusste so recht, warum er ausgerechnet dieser Gruppe zugewiesen worden war. Zahllose Narben, die auf Kämpfe hinwiesen, entstellten sein schmales Gesicht. »Kneipe?«, wiederholte Varx. »Ein Ort, an dem man ausgelassen feiern und Sachen trinken kann, die einem schnell zu Kopf steigen – will sagen: Hemmungen abbauen.« »Und Gehirnzellen abtöten«, steuerte Caroux hoffnungsfroh bei.
»Ich war ohnehin schon immer der Meinung, davon hat man viel zu viele!« »Schau dir den an«, rief Paula und zeigte mit einem Arm, der sich auf die doppelte Länge des Normalen dehnte, auf Caroux. »Dann siehst du, was hochprozentige Getränke aus einem Menschen machen können?« »Ein Wrack?«, fragte Caroux unschuldsvoll. »Außerdem heißt es hochgeistige Getränke. Du hast keine Ahnung, was schmeckt und wohltut.« »Du in einer x-beliebigen Kneipe auf der anderen Seite des Planeten, und ich weiter hier – das täte gut«, erwiderte Paula ungemindert streitlustig. »Ist auch für mich eine paradiesische Vorstellung«, brummte Caroux und boxte Varx in die Seite. »He, Kleiner. Kann man da was deichseln?« Varx blieb unbeeindruckt. »Ich werde vorgehen«, sagte er. »Ich leuchte euch den Weg.« Caroux lachte asthmatisch. »Wer von uns übernimmt es, dem Knaben klarzumachen, dass er dunkel ist. Dunkel wie die Nacht. Und so was will uns heimleuchten? Also bitte …« »Hör auf, ihn zu beleidigen!« Sahbu schob sich zwischen den älteren Mann und Varx. Er stemmte die zu Fäusten geballten Hände in die Hüften. »Er gehört zu uns. Er hat sich entschieden, sich uns anzuschließen. Ich betrachte ihn als Freund. Und wer sich mit meinen Freunden anlegt, ist nicht mein Freund. Drücke ich mich klar und verständlich aus?« Caroux machte eine wegwerfende Handbewegung und sah in eine andere Richtung. Aber er hielt sich fortan im Zaum. »Wir stimmen ab«, schlug Paula vor. »Wer dafür ist, in den Berg zu gehen, mit Varx als Führer, der hebt den Arm.« Noch während sie es sagte, hob sie zu Sahbus Verblüffung bereits selbst den Arm. Als sie kurz zu ihm sah, nickte er ihr dankbar zu. Sie schaute schnell weg, als wäre es ihr unangenehm, dass er ihr so viel Beachtung schenkte. Dann hob Sahbu den Arm. Der Nächste war Varx selbst, aber nie-
mand lachte darüber oder machte auch nur eine despektierliche Bemerkung. Am Ende hatte nur noch Caroux die Arme unten, und dann sprang auch er über seinen Schatten und brummte: »Na gut, Tschuldigung, Varx, du kannst nichts dafür, dass ich ein alter Brummbär bin. Ich hab nichts gegen dich, wirklich nicht. Es tut mir leid, wird nicht wieder vorkommen. Sahbu hat recht: Wir müssen zusammenhalten, und du gehörst jetzt zu unserem Verein. Worauf warten wir also? Gehen wir – egal, wie du das mit dem Weg leuchten machen willst, tu's einfach. Ich bin gespannt, was da drinnen auf uns wartet. Und wenn's wirklich etwas ist, das uns in unserer Lage weiterhilft, bin ich der Erste, der sich bei dir bedankt. Das schwör ich dir!« Varx ließ auch das unkommentiert. Er wandte sich dem Eingang zum Stollen zu und schritt hinein. Unmittelbar hinter ihm folgte Sahbu, das Schlusslicht bildete Paula. Schon nach wenigen Metern verschmolz Varx fast unsichtbar mit dem umgebenden Dunkel – selbst das Sternengewimmel in ihm schien wie von einem schwarzen Tuch erstickt worden zu sein. Caroux schnaubte, weil er es vorausgesehen hatte. Sahbu unterdrückte den Drang, einfach stehen zu bleiben, um nicht zu stolpern und zu stürzen, obwohl er kaum mehr die Hand vor Augen sah. Doch plötzlich änderten sich die Sichtbedingungen rapide. Es hatte den Anschein, als würde das Dunkel von Varx' Körper das Dunkel der Umgebung in sich aufsaugen, neutralisieren. Nachdem die Finsternis auf diese Weise »ausgeblendet« worden war, blieb etwas zurück, das gewiss nicht normaler Helligkeit entsprach. Aber es war etwas, auf das der Sehsinn der Menschen sich einstellte, einpegelte und justierte … irgendwie. Und von da ab bewegten sich alle Mitglieder der Gruppe mit traumwandlerischer Sicherheit durch die engen Stollen, die Varx sie immer tiefer in den Berg führte. »Wow«, hörte Sahbu Caroux seufzen. »Das ist mal ein Ding. Ich hätte nicht gedacht, dass mich auf meine alten Tage noch mal etwas so verblüfft. Der Junge hat's drauf. Ich werd nie mehr ein falsches
Wort über ihn verlieren …« Varx hielt auch das nicht der Rede wert, um von ihm kommentiert zu werden. »Ist es noch sehr weit?«, wandte sich Sahbu an ihn, als er nach mindestens einer Stunde das Gefühl hatte, dass der Sauerstoff in dem Stollengewirr weniger wurde. Wobei niemand eine diesbezügliche Bemerkung machte, sodass es auch einfach nur eine subjektive – und keiner objektiven Überprüfung standhaltende – Täuschung sein mochte. »Nein«, erwiderte der Sternling. »Laut den Daten, die sich in mir entpacken, sind wir in wenigen Minuten am Ziel.« »Was für ein Ziel?« »Selbst wenn ich es wollte, ich könnte dir darauf keine Antwort geben.« »Du weißt es selbst nicht, wirklich?« »Wirklich. Was ich darüber weiß – dass es euch glücklich machen wird –, flog mir zu. Darüber hinaus bin ich ebenso auf Geduld angewiesen wie ihr. Ich kenne den Weg, wusste, wo der Eingangsstollen liegt, aber das Ziel selbst wird sich mir erst entschleiern, wenn auch ihr es sehen könnt.« »Eine merkwürdige Art, findest du nicht auch? Irgendwie könnte man meinen, Kargor hätte dich uns von Anfang an als Scout zugedacht. Dagegen spricht aber der Auftritt der Häscher des Turms … oder war das nur eine gut inszenierte Farce?« »Auch das weiß ich nicht. Für mich war es keine. Ich schlottere jetzt noch vor Angst, wenn ich an die denke, die mich zurückholen wollten.« »Sie sahen dir ähnlich«, sagte Sahbu. »Findest du?« Er klang empört. »Sie hatten nicht deine strahlend blauen Augen, aber sonst …« »Ich habe keine strahlend blauen Augen – ich habe überhaupt keine Augen, wie du sie kennst.« »Das habe ich bereits vermutet. Es war nur ein kleiner Scherz. Ich wollte die Situation auflockern. Allmählich bekomme ich Muskelkater. Wann bin ich das letzte Mal so viel am Stück marschiert?«
Varx schwieg, weil er Sahbus Worte nicht als Frage an sich einstufte. Er wird immer besser, dachte Sahbu, im Umgang mit uns Menschen. Ich wünschte, ich hätte ebenso viel Empathie für ihn. Auch die anderen hatten gehört, dass das Ziel nahe war. Sie forderten Varx auf, schneller zu gehen. Sie wollten es hinter sich bringen, und Sahbu glaubte nicht, dass er sich irrte, wenn er glaubte, dass die Wenigsten von ihnen eine echte Sensation am Ende ihres Weges erwarteten. Die Skepsis, die sich ihrer bemächtigte, war fast körperlich greifbar. Sie alle wurden überrascht. Von etwas, was in dieser Form niemand erwartet hatte. Auch Sahbu nicht. Vor ihnen endete der Stollen. Und dahinter lag … ein Idyll, wie einer Fotografie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts der Erde entliehen …
13. Kapitel Vulverpye wurde geboren und öffnete das Trennschott, um die Wartenden hereinzulassen. Er hatte keinerlei Erinnerung an ein Früher, weil er erst vor wenigen Momenten erzeugt worden war. Auch dies war ihm nicht bewusst. Er wusste nur: Er hatte zu helfen. Zu dienen. Die beiden Erhabenen, die eintraten, schienen einen Moment lang verblüfft zu sein, ihn zu sehen. Für Vulverpye änderte dies nichts. Alles, was von ihm erwartet wurde, entrollte sich wie ein Datensatz vor seinem Geist. Er trat den Ankömmlingen entgegen und begrüßte sie in angemessener Weise. Dass er ihre Sprache sprach, war selbstverständlich. Dass er ihre Mimik und Gestik zu deuten vermochte, auch. »Ihr werdet jetzt eingewiesen«, sagte er mit einer Stimme, die ihm selbst wie der köstlichste Gesang vorkam. »Entspannt euch. Nehmt in den dafür vorgesehenen Sitzen Platz. Bitte, Erhabene Schlüssel.« Sie tauschten Blicke. Sahen sich um an dem Ort von Vulverpyes Geburt. Staunten. Und gingen dann nach nochmaligem Zögern zu den angebotenen Plätzen. »Entscheide du«, hörte Vulverpye den körperlich Kräftigeren von beiden sagen. Das Männchen (sie gehörten einer Spezies an, die sich aus zwei Geschlechtern fortpflanzte, nicht einfach war oder nicht mehr war wie seinesgleichen) machte dabei eine umfassende Bewegung mit einer seiner Extremitäten, als wollte es den kompletten Raum umschließen. »Es könnte gefährlich werden. Niemand gibt uns die letzte Sicherheit, dass unsere These stimmt, nach der wir einen geschützten Status besitzen – dank Kargors Schlüssel.« Das Weibchen erwiderte: »Ich bin dafür, es drauf ankommen zu lassen. Immerhin hat er uns ›erhabene Schlüssel‹ genannt, was genau auf die von Kargor erhaltenen Autorisationen hinzuweisen
scheint.« »Du hast recht. Ich bin auch bereit, es zu riskieren. Ich hoffe, das, was wir bekommen, ist es wert, mal wieder reichlich naiv ins Ungewisse zu stolpern.« Sie verzog das Gesicht. Ein Lächeln. Vulverpye hatte den Dialog nicht unterbrochen. Jetzt aber fand er es an der Zeit, sich den Erhabenen vorzustellen. »Ich bin«, sagte er …
»… Vulverpye.« Prosper blickte auf das absonderliche Geschöpf, das sie beim Betreten dieser Ebene empfangen hatte. Zuerst meinte er, einen öligen Glanz auf der Schwärze auszumachen, die den Fremden vollständig überzog. Doch dann wurde ihm klar, dass es der Abglanz jener Sterne war, die in dem Humanoiden leuchteten. Er war durchdrungen von winzig anmutenden Galaxien, Gasnebeln und einzelnen Sonnen. Und er konnte sprechen. Klar verständlich. Gerade hatte er sie aufgefordert, in den Sitzen Platz zu nehmen, die ganz in der Nähe des Eingangs standen, durch den Sarah und Prosper gekommen waren. Nach kurzer Beratschlagung hatten sie eingewilligt. Wohin sie schauten, war … Weite. Aber nichts, was das Auge innehalten ließ – von dem Humanoiden und den Sitzen abgesehen. Im dämmrigen Schein, der auf dieser Ebene vorherrschte, war der Fremde schon aus geringer Entfernung fast unsichtbar, weil er mit den Schatten verschmolz. Prosper ließ sich vorsichtig in dem linken Sitz nieder, Sarah hatte zuvor schon den rechten angesteuert. »Aaah …« Synchron kamen die Seufzer über ihre beider Lippen – Ausdruck von Wohlbehagen. Mit so viel Bequemlichkeit hatten sie nicht gerechnet, aber die Sitze legten sich fast wie sanfte, sich schließende Riesenhände um ihre Körper. Prospers kritischer Geist, der sich kurz fragte, was wohl geschähe,
wenn die »Hand« ihre Sanftheit verlöre, wurde rasch beruhigt. Noch während der Seufzer wie von unsichtbaren Wänden widerhallte, schwand das Umgebungslicht noch mehr, und im nächsten Moment kippten die Sitze, sodass Prosper und Sarah zum Liegen kamen, und über ihren Gesichtern, ganz nah, baute sich ein Hologramm auf. Es erinnerte an jenes, das Kargor ihnen noch an Bord der Perle vom Angk-System gezeigt hatte. Und das ihnen das fast ausgebrannte Zentralgestirn des Systems vorenthalten hatte. Auch jetzt sahen sie sich einer dreidimensionalen Darstellung des Sieben-Planeten-Wunders gegenüber. Angk I bis Angk VII. In der Draufsicht. Als schwebte eine hochauflösende Kamera irgendwo über der Achse des Systems. Die einzelnen Welten und auch die Sonne wirkten zwar miniaturisiert, aber so echt und detailverliebt, dass Prosper keinen Moment daran zweifelte, dass es ihm über eine unfassbar hoch entwickelte Technologie gerade ermöglicht wurde, jetzt, in diesem Moment, auf das System zu schauen, wie es sich auch einem näher kommenden Raumschiff mit entsprechender Hightech dargeboten hätte. Eine der Weltenkugeln war plötzlich von einer Aura umgeben, die sie in Falschfarben leuchten ließ. »Angk I, auch Gismo«, sagte eine Stimme, die Vulverpye gehören musste, obwohl das exotische Wesen außerhalb von Prospers Wahrnehmung stand. Seine Visualität wurde völlig von dem über ihm hängenden Gebilde beherrscht, und er war sicher, dass es Sarah nicht viel anders erging. »Die Steuerwelt der Ersten. Von hier aus werden die anderen Umläufer synchronisiert. Würde Gismo untergehen, wäre auch der Rest des Systems dem Tode geweiht. Die fragile Balance zwischen den einzelnen Planeten würde ins Chaos abdriften. Die Folge …« Plötzlich wechselte die Darstellung, und Prosper wurde klar, dass er sich getäuscht hatte: Er wohnte einer unglaublich realitätsnahen Simulation bei. Angk I, Gismo, wurde vollständig ausgeblendet, und in einer Zeitrafferaufnahme wurde demonstriert, wie die verbliebenen Planeten auf das Fehlen des lenkenden Elements, das für ein von der Natur nicht aufrechtzuerhaltendes künstliches Gleichgewicht sorgte, reagierten. Vier von ihnen
erlagen der Anziehungskraft ihrer Sonne und trieben in den glutenden Moloch, die beiden anderen kollidierten miteinander und schufen in einem grausig schönen Akt der Zerstörung ein Trümmerfeld, das fortan einen dünnen Ring um das Zentralgestirn bildete. Prosper wurde an den Planeten Saturn erinnert – doch nur für einen winzigen Moment, dann versagte er sich jeden Vergleich. Mit einem Mal stand Schweiß auf seiner Stirn. Ihm wurde klar, was Vulverpye ihm gerade indirekt zu verstehen gegeben hatte: Sollte Kargors Experiment gelingen und sich tatsächlich Menschen dauerhaft auf den Angk-Welten ansiedeln und vermehren, hing auch das Schicksal dieses Ablegers der Menschheit, dieser fernen Kolonien im All, von denen die Erinjij nicht einmal ahnten, davon ab, dass Angk I erhalten blieb. Sollten die dortigen Anlagen jemals versagen oder von irgendjemandem sabotiert werden, war es um die darauf lebenden Geschöpfe geschehen. Aber offenbar war diese Erkenntnis – wenn überhaupt – nicht die einzige Intention, die Vulverpye mit seiner Show verband. Angk I kehrte in dem Hologramm zurück, wieder naturgetreu in seiner Farbgebung, dafür legte sich die Falschfarbenmaske über die nächste Welt. »Angk II, Nomad«, erläuterte der Sprecher wie im Hörsaal einer Universität. »Beherbergt unter anderem das Archiv der Zeitalter …« Dann, durchfuhr es Prosper, sind wir also auf Angk II – oder Nomad, wie Vulverpye den Planeten noch nennt. Es war keine Neuigkeit, die ihm Herzklopfen verursachte, im Grunde war es gleich, auf welcher der Systemwelten sie gelandet waren – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, da er noch keinen eklatanten Mangel an Nomad festgestellt hatte. Bis auf die Pollenernte jedenfalls, von der er nicht wusste, wie oft sie sich wiederholte und ob sie über den ganzen Planeten verteilt stattfand. »… und die Produktion der Mortuas. Die Mortuas sind das zentrale Element, das die Tridentischen Kugeln pflegt …« Mortuas, dachte Prosper, Tridentische Kugeln … das müssen Begrifflichkeiten der ERBAUER-Sprache für Gloriden und CHARDHIN-Perlen sein. Offenbar entspringen die Namen, die uns bislang geläufig waren,
wohl eher der Kultur der Gloriden und gehen nicht direkt auf die ERBAUER zurück. Auch dafür galt: eine Information, die neu, aber nicht sensationell war. Dennoch konzentrierte er sich weiter auf Vulverpyes Vortrag. In Falschfarben zoomte ein Detail von Nomads Oberfläche heran, wurde dabei farbecht … und zeigte schließlich die Küste eines unbekannten Landstrichs, der von satter Vegetation bedeckt war, aber dazwischen erhoben sich termitenbauartige Säulen, die der Farbe des sichtbaren, unbewachsenen Bodens angepasst waren. Keine Türme wie der kobaltblaue, in dem sich Prosper und Sarah gerade aufhielten, nein, diese Bauten (falls es denn welche waren und es nicht einfach Werke der Natur waren) schätzte Prosper beim Betrachten auf das höchstens Drei- bis Vierfache seiner eigenen Größe. Das Erstaunliche enthüllte sich erst, als das »Auge«, das sie herangeholt hatte, noch näher darauf zuging. In diesem Moment wurde deutlich, dass sich die Säulen nicht aus festem Material zusammensetzten, sondern aus Milliarden und Abermilliarden Teilchen, die wie Insekten über- und durcheinanderkrabbelten. »… seht ihr hier Nanobasen«, erläuterte Vulverpye, »wie sie überall verstreut auf Nomad vorkommen. Ihr erkennt sie, wo immer ihr ihnen begegnen werdet. Sie werden euch unersetzliche Dienste leisten.« »Inwiefern?« Es war das erste Mal, seit sie in den Sitzen (eigentlich Liegen) Platz genommen hatten, dass einer von ihnen eine direkte Frage an Vulverpye richtete. »Und was zur Hölle sind Nanobasen?« Vulverpye ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. So ruhig, als hätte er ohnehin vorgehabt, auf diesen Punkt einzugehen, sprach er weiter. »Die Nanobasen wurden bereits von den Gründern eingerichtet …« »Gründer? Die Ersten?«, fragte Prosper. »… und repräsentieren das gebräuchlichste Bauelement auf dieser Angk-Welt. Die Ressource ist unerschöpflich. Es gibt unterirdische
Erzeuger, die für Nachschub sorgen, wann und wo immer es erforderlich ist. Mittels der Basen könnt ihr eure eigene Kreativität uneingeschränkt walten lassen.« »Du meinst, wir könnten uns damit beispielsweise ein … Haus errichten? Habe ich das im Ansatz richtig verstanden?«, fragte Prosper. »Korrekt. Aber das werdet ihr im praktischen Gebrauch schnell erkennen. Die Nanopartikel wurden auf eure Gedankenfrequenz abgestimmt. Sie werden alle Wünsche erfüllen.« Prosper sagte nichts mehr. Irgendwie klang das alles eine Spur zu märchenhaft, zu problemlos und perfekt für ihn. Auch Sarah unterdrückte die sonst von ihr gewohnten bissigen Kommentare. Während Angk II im Hologramm in den Hintergrund rückte und der nächste Planet »angewählt« wurde, fuhr Vulverpye nun in einem veränderten Tonfall fort. Zugleich wirkte auch die Falschfarbenaura, die den Planeten umgab, verändert gegenüber den vorherigen Malen. Prosper hatte plötzlich ein Gefühl von Beklemmung, während er Vulverpye zuhörte, und das kam, wie sich erweisen sollte, nicht von ungefähr. »Angk III, Portas, auch die Schwellen-Welt genannt. Von hier aus wagten die Gründer den Versuch einer Rückkehr. Aber alles Bemühen scheiterte. Seither ist Portas versiegelt. Nur wenige Auserwählte vermögen den Planeten noch zu betreten. Ich kann euch keine Bilder liefern. Sämtliche Informationen darüber wurden aus mir getilgt. Portas ist die Geschlossene Welt. Sie wird im Kolonisationsprogramm, das eure Spezies auserkoren hat, keine Rolle spielen …« »Stopp!«, rief Sarah ungehalten. Als Prosper zur Seite blickte, sah er, wie sie sich halb aus der Konstruktion, in der sie lag, gestemmt hatte. »Darüber hat Kargor kein Sterbenswörtchen verloren. Warum nicht?« »Keine Informationen, ich entschuldige mich.« Sarah fauchte aufgebracht. »Damit lasse ich mich nicht abspeisen. Was, wenn wir durch Zufall ausgerechnet nach Portas abgestrahlt worden wären? In welcher Lage befanden wir uns dann? Ver-
dammt, das Ganze kotzt mich wirklich –« Prosper versuchte schlichtend einzugreifen. »Beruhige dich«, fiel er ihr ins Wort. »Vulverpye trägt an unserem Schicksal keine Schuld. Wenn, musst du Kargor an die Gurgel.« »Das würde ich auch nur allzu gern. Aber das feige Aas hat sich ja verkrümelt!« »Ich sehe kein Problem darin, dass sich Angk III quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit um die hiesige Sonnen dreht. Wir werden Nomad wohl kaum jemals wieder verlassen. Alles, was wir hier über die übrigen Welten erfahren, betrachte ich als kleinen Bonus, der uns nicht weiterbringen wird, aber wenigstens das Gefühl gibt, dass man uns nicht völlig dumm sterben lassen will.« »Du hast so eine schwer erträgliche Art, allem immer auch etwas Positives abgewinnen zu wollen …« Sarah schnitt eine Grimasse. »Ob ich mich daran gewöhnen kann?« »Wenn ich es umgekehrt schaffe, mit deiner Art fertig zu werden, sollte das auch für dich möglich sein«, gab er sich optimistisch. Sie entspannte sich, sank auf ihrer Liege zurück. »Wir mögen uns wirklich, wie? Kaum auszuhalten, wie wir beide miteinander harmonieren …« »Es wird bestimmt niemals langweilig«, erwiderte er – und das meinte er ernst. Nach einer erzwungenen Pause, die Vulverpye ohne Murren hingenommen hatte, fuhr er fort in der Kurzvorstellung der noch verbliebenen vier Angk-Welten.
14. Kapitel Sahbu hatte Bilder gesehen, Bilder von solchen Kleinstädten, die wie Spielzeug gegen die Metrops der Erde wirkten. In Prospers Bibliothek hatte er Bücher gefunden, fast ohne Text, dafür mit gestochen scharfen Aufnahmen von Landschaften … und Ortschaften. Eine kleine Stadt im Mittleren Westen, ging es ihm durch den Kopf, sich einer der Bildunterschriften dazu erinnernd. Er wusste nicht, was mit »Mittlerer Westen« gemeint war, aber die geringe Zahl von Häusern, die sich harmonisch in eine von Nutzpflanzen dominierte Landschaft einfügten, hatte ihn schon damals berührt. Und fast … er atmete tief durch … fast erschien ihm das, was er jetzt hier auf einer Welt vorfand, die eine immense Zahl von Lichtjahren von der Erde entfernt lag, wie die exakte Vorlage zu dem seinerzeit bestaunten Bild! Ihn schauderte. Varx schien es zu bemerken, denn er sagte unaufgefordert: »Es ist alles echt, keine Illusion, wenn du das denkst.« Die anderen hörten es ebenso wie Sahbu. Aber sie hatten nicht das Bild aus dem Buch vor Augen, das er mit sich herumtrug. Für sie mochte es einfach nur bizarr sein, überhaupt etwas in dieser Art im Innern eines Berges vorzufinden. Caroux drängte sich zu Sahbu vor. »Verdammich!«, knurrte er. »Darauf werden wir nich' reinfallen, oder?« Ohne Zweifel glaubte er trotz Varx' gegenteiliger Beteuerung an eine Täuschung. »Ich bin nicht euer Anführer, ich kann nur für mich selbst sprechen – und ich habe vor, da jetzt hinzugehen«, erwiderte Sahbu ruhig. »Jedem bleibt es selbst überlassen, was er tun will. Umkehr ist eine Option.« »Nach diesem scheißlangen Marsch?«, knurrte Caroux ungehalten. »Du hast dich uns angeschlossen. Ich will jetzt nicht deine Worte
zitieren, aber –« »Ja, ja«, erwiderte der Ältere brummig. »Schon gut. Sieht ja eigentlich ganz nett aus. Mir gefällt nur nicht die Sonne dort am Himmel … wo eigentlich kein Himmel sein sollte.« »Eine Kunstsonne«, meinte Paula aus dem Hintergrund. »Die ERBAUER lassen sich nicht lumpen. Haben offenbar hier ein hübsches kleines Nest für uns angelegt.« Ihre Worte brachten Sahbu ins Grübeln. Intuitiv hatte sie erfasst und ausgesprochen, was in ihm noch gärte, von seinem Verstand noch nicht aus formuliert war. Aber so konnte es tatsächlich sein! »Varx«, wandte er sich an ihren Führer. »Ist es so, wie Paula meint: Wurde das hier … speziell für uns arrangiert, gebaut?« Er schien in sich hineinzulauschen. Was immer er dabei erfuhr, nach einer kurzen Weile sagte er: »Ja. Das ist euer … Nest. Ein passender Ausdruck. Denn es soll euch Geborgenheit und Wohlgefühl vermitteln und den Anfang erleichtern.« »Den Anfang?« Er nickte. »Die Ortschaft umfasst insgesamt dreiundachtzig Häuser. Aber sie ist ausbaufähig. Eines Tages, wenn ihr es wollt, werden hier überall Familien leben. Und eines noch ferneren Tages werden sie die Geborgenheit des Nestes verlassen und hinausziehen in die übrige Welt, um sich dort niederzulassen, neue Familien zu gründen …« »Ich spreche jetzt mal nicht aus«, erwiderte Sahbu, »was das voraussetzt. Aber davon abgesehen: Kargors Plan, aus uns die Urzelle einer neuen Menschheit zu machen, die sich diese Welt nach und nach vereinnahmt, hat doch einen Riesenhaken! Ich mag nicht sonderlich gebildet sein, aber ich kenne die Problematik aus dem Getto. Ich weiß, was das Wort Inzucht bedeutet. Und gesetzt den Fall, der eine oder andere würde an der einen oder anderen Gefallen finden, eine Partnerschaft bilden und ihr würde wahrhaftig Nachwuchs entspringen, so begänne damit doch erst die Schwierigkeit. Inzucht ist kein Spaß! Die meisten von uns sind ohnehin schon mit genetischen Mutationen behaftet, die sich auf Kinder übertragen werden …« Er
räusperte sich. »Offen gestanden verstehe ich ohnehin nicht, wie Kargor ausgerechnet auf uns Gettoianer kam, um sein ›Projekt‹ durchzuziehen.« Er machte eine Geste zu den anderen, die jedem klar machte, dass er keinen von ihnen schlechtreden wollte. Aber sie wussten alle um die bittere Realität: Sie waren stigmatisiert. Der Aufenthalt im Getto, der ständige enge Kontakt mit den dortigen Zeitanomalien, hatte sie alle gezeichnet. »Aber wenn jetzt noch der Faktor Inzucht dazukommt … wo soll das hinführen? Zu einer Siedlung voller Freaks? Blutsverwandte zeugen Nachwuchs mit Blutsverwandten … Die Folge kann nur Behinderung heißen. Sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht!« »Das«, mischte sich Varx unaufgefordert ein, »ist definitiv falsch.« Alle starrten ihn an. Fragend. »Es wurde Vorsorge getroffenen, dass die angesprochenen … Mutationen nicht auftreten können. Und es wird auch künftig Vorsorge getroffen werden.« »Wo? Von wem?«, wollte Paula wissen. In ihren Augen lag ein Ausdruck, wie Sahbu ihn noch niemals zuvor bei ihr bemerkt hatte. Er war und blieb undeutbar. »Hier – und überall, wo auch immer einmal Menschen leben werden«, versicherte Varx. »Von wem? Nun, von denen, die auch das hier für uns errichtet haben.« Dass er »für uns« sagte, stimmte Sahbu aus irgendeinem Grund froh. Er hatte den Sternling wirklich ins Herz geschlossen. Ohne ihn wäre alles sehr viel schwerer zu ertragen gewesen, dessen war er sich sicher. »Nehmen wir es einfach so hin«, sagte er. »Und jetzt wollen –« Der Rest des Satzes blieb für immer ungesagt. Heller Klang schnitt von den Häusern her durch die Luft. Völlig überraschend. »Das sind – Hammerschläge!«, stellte Caroux im Brustton der Überzeugung fest, während er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff und in Richtung der Siedlung spähte, als könnte er
dort den Verursacher ausmachen. »Scheint fast, als wäre dieses Kaff nicht unbedingt … jungfräulich und verlassen.«
»Angk IV, Schaggrom«, sagte Vulverpye. Diese Welt war – zunächst – wie alle anderen gestrickt. Die Konturen der Kontinente, die sich durch wolkenfreie Schichten hindurch abzeichneten, entsprachen dem, was Prosper auch bei den vorangegangenen Angk-Welten aufgefallen war – Portas vielleicht ausgenommen, denn die versiegelte Angk-Welt stellte einen Sonderfall dar. Er hatte keinen einzigen echten Eindruck von ihr zu gewinnen vermocht, und die Begründung dafür, die Vulverpye geliefert hatte, schwang auch jetzt noch wie ein düsterer Ton in Prosper nach. »Hier entstanden und entstehen Tridentische Kugeln, denn der Kosmos wächst, die Entropie steigt. Gegenwärtiger Ruhebestand: dreihundertneun Einheiten.« 309 Einheiten. 309 … CHARDHIN-Perlen, die auf Schaggrom darauf warteten, an irgendeinen Ort des Universums verbracht zu werden? Sarah spürte, wie ihr die Gesichtszüge entgleisten. Die Vorstellung, dass sich in solch relativer Nähe und auf so engem Raum mehrere hundert der gigantischen goldenen Stationen, von Vulverpye Tridentische Kugeln genannt, ballen sollten, hatte eine Kraft, die heftigst an den Ankern ihres gesunden Geistes zerrte. Mit tiefen Atemzügen versuchte sie, die Hysterie zu bekämpfen, die in ihr hochzusteigen versuchte. 309 Perlen – damit konnte man jede wo auch immer angesiedelte Zivilisation zerschlagen, erobern … was immer einem gefiel! Zum ersten Mal, seit sie im Angk-System gestrandet war, empfand sie so etwas wie Ekel vor der Macht, die hier angehäuft worden war. Von Kargors Volk. Von denen, die sich Schöpfer nannten – und als solche verehrt wurden. Aber wer waren sie wirklich? Woher kamen sie, wohin ging ihr Streben? Und wo, zur Hölle, hielten sich all die anderen Angehörigen dieser Spezies auf? Sie erinnerte sich mit einem Frösteln, das durch die vorausgegan-
genen Gedanken noch verstärkt wurde, an die Totentürme, die Prosper und sie hier im Turm vorgefunden hatten. Negaschlaf hatten die Gesänge der Mausoleen den Zustand derer genannt, die darin ruhten – seit undenklichen Zeiten. In den Lobpreisungen waren sie als mitfühlende, moralische Wesen beschrieben worden, deren äußere Erscheinung nicht einmal entfernt an das erinnerte, was Kargor ihnen in seiner Prismenmaske gezeigt hatte. Die Toten (oder Schläfer, falls der Negaschlaf doch nicht das absolute Ende markierte) waren liebreizend anzusehende Geschöpfe von zerbrechlicher Schönheit. Ihre Flügel und anderen anatomischen Merkmale rückten sie in die Nähe von überdimensionalen, aufrecht auf zwei Gliedmaßen gehenden Schmetterlingen. Auch andere Merkmale – die Fühler beispielsweise – untermauerten diese Vorstellung. »Sarah?« Sie blickte zu Prosper, froh, aus ihren fruchtlosen Gedanken gerissen zu werden. »Ja?« »Ziemlich abgehoben, was?« »Ich habe längst das Interesse an dieser Schau verloren«, erwiderte sie. Und auch wenn dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, wäre es ihr nicht schwergefallen, hier und jetzt abzubrechen. Doch Vulverpye wechselte bereits zur nächsten Planetenkugel. »Angk V, Arrankor«, dozierte er. »Die Welt der Edelelemente. Sie haben Einfluss auf das Leben schlechthin. Wer Arrankor als Heimat hat, lebt länger als die Bewohner anderer Angk-Welten. Arrankor ist Gnade, ist Lohn für gute Gene. Auf Arrankor werden sich die Besten finden …« Das klang mysteriöser als alles andere zuvor. »Danke, dass du uns die Nase lang machst«, kommentierte Sarah dementsprechend. »Da wir nach Nomad geschickt wurden, ist es jedenfalls tröstlich zu wissen, dass vielleicht andere das große Los mit Arrankor ziehen durften! Gibt es eigentlich eine Möglichkeit zu erfahren, wen von uns es wohin versprengt hat? Ist diese Information erhältlich oder wird sie uns für immer vorenthalten?« Das Schweigen dauerte so lange an, dass sie schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete. Dann aber sagte Vulverpye: »Ihr missver-
steht. Arrankor steht guten Genen offen. Ich sagte es schon. Und wer wohin geschickt wurde, entzieht sich meinem Wissen. Ich bin hier, um –« »… die Weltenschau für uns zu veranstalten, schon klar«, würgte Sarah ihn schroff ab. »Dann mach weiter, allmählich reicht's. Ich glaube nicht, dass wir jemals Nutzen aus deinen Ausführungen ziehen können. Käme es sehr überraschend für dich, wenn ich dir verrate, dass ich mich ziemlich verarscht vorkomme?« »Definiere verarscht.« Sie seufzte gottergeben. Nicht einmal mehr Lust zu Streitgesprächen hatte sie. Vulverpye war einfach kein ernst zu nehmender Gegner. Dazu trug dieses Wesen zu sehr Scheuklappen. Es war zweifelhaft, ob es zu einem einzigen eigenen Gedanken fähig war. Stumpfsinniger konnte ein Werkzeug, eine Künstliche Intelligenz – schon der Begriff sprach dem Hohn, was Vulverpye daraus machte – nicht agieren. Als Sarah nichts erwiderte, fuhr das in humanoide Form gepresste Stück Weltall fort, während die Falschfarbenmaske auf Welt Nummer sechs fiel. »Angk VI, Myron. Der Ort der Kunst. Hier lebten die Gründer, die der Urheimat verhaftet waren und etwas davon auch ins Erste Reich einfließen lassen wollten. Was unmöglich ist, sie aber dennoch schafften. In gewisser Weise. Myron ist der Planet, der seine Bewohner ins größte Glück zu stürzen vermag, aber auch die schwersten Opfer verlangt. Wer auf Myron überdauert, bereichert den Kosmos mit einem allem offenen Geist, der eines Tages entscheidend sein könnte. Wenn noch einmal versucht wird, was auf Portas so furchtbar scheiterte. Aber Myron hat auch das Potenzial, eine zweite Geschlossene Welt zu werden.« »Ist es wirklich so, dass du nicht weißt, was auf Portas gegenwärtig für Zustände herrschen?«, warf Prosper ein. »Das mag ich nicht glauben. Selbst wenn diese Welt isoliert wurde, gibt es sicher Kontrollmechanismen, die die Geschehnisse dort im Auge behalten. Die ERBAUER wären Narren, wenn sie sich im eigenen System eine Welt leisteten, auf der alle Optionen offen sind. Eine solche Gefahr, ein solches Risiko ginge niemand bei klarem Verstand ein!«
»Und zuletzt Angk VII, Voosteyn«, schloss Vulverpye seine Ausführungen, ohne auf den Einwand zu reagieren. »Hier existiert die Kartei. Die Besiedlung ist möglich, Raum dafür genügend vorhanden. Aber die Zonen der Kartei sind markiert, ihre Grenzen unverletzlich. Wer das akzeptiert, lebt gut auf Voosteyn.« Kaum war das letzte Wort verhallt, erlosch das Hologramm über ihren Köpfen. Die Beleuchtung wurde hochgefahren. Vulverpye sagte: »Der Turm wird jetzt geschlossen. Zu anderen Zeiten, an anderen Orten stehen auch die Artefakte der Gründer wieder zu Diensten. Nun aber geht – und erschließt euch, was euch vermacht wurde. Ihr seid die Beschenkten, die Erwählten. Erweist euch dieser Ehre würdig, sonst …« »Sonst?«, fragte Sarah, ohne es eigentlich zu wollen. »… werden die Schlüssel zurückgefordert.« Was immer das bedeuten mochte. In wenigen Metern Entfernung formte sich aus dem Nichts eine kreisrunde Tür, die sich lautlos öffnete. »Wenn das kein Rausschmiss ist …«, sagte Prosper und stemmte sich aus der Konstruktion, die sich wieder zum Sitz umgestaltet hatte. Sarah zögerte nur eine Sekunde länger. Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich noch einmal zu Vulverpye um und fragte: »Werden wir uns jemals wieder über den Weg laufen?« Das Geschöpf aus eisigem Dunkel und winzigen Sternen erwiderte lapidar nur ein einziges Wort: »Wozu?«
15. Kapitel Je näher sie der kleinen Stadt im Berg kamen, desto lauter schwoll der Lärm der mutmaßlichen Hammerschläge an. Und auch andere Geräusche mischten sich dazwischen: surren, summen, klackern … nur keine Stimmen. Das Fehlen von Stimmen war umso unheimlicher, als der Ort in der Vorstellung der heranrückenden Menschen immer lebendiger wurde. Sahbu beispielsweise wäre nicht verwundert gewesen, wenn sich plötzlich Türen in den Häusern geöffnet und Männer, Frauen oder Kinder herausgerannt gekommen wären. Das jedoch geschah nicht. Keine Seele ließ sich auf der Hauptstraße oder in einer der Seitengassen blicken. Die Häuser waren aus Holz und Stein gefertigt, die Dächer aus Schindeln, deren Material schwer zu bestimmen war. Sahbu tippte auf eine Art Schiefer. »Varx?« Der Sternling, der neben ihm schritt, blieb stehen, als Sahbu bei den ersten Häusern innehielt. »Ja?« »Du weißt wirklich nicht, was hier vorgeht?« »Ich weiß nur, dass es ein Geschenk an euch ist. Ein Nest, in dem ihr behütet leben und euch entwickeln könnt. Warum es so und nicht anders aussieht, wenn das deine Frage ist, kann ich dir nicht beantworten. Oder wer den Lärm verursacht. Nichts von alledem ist in mir hinterlegt.« Sahbu nickte. Er glaubte dem neu gewonnenen Freund, er hatte es nur noch einmal ausdrücklich hören wollen. »Weißt du wenigstens, auf welcher der Angk-Welten wir uns befinden?«, fragte er, immer noch ausharrend, immer noch voller Scheu, den Weg in die Ortschaft fortzusetzen. Auch die anderen waren stehen geblieben, diskutierten leise untereinander.
»Das weiß ich«, bestätigte Varx. »Dies ist Angk V, auch Arrankor genannt.« »Arrankor«, wiederholte Sahbu bedächtig. »Das klingt friedvoll. Ich hoffe, wir werden nicht gleich eines Besseren … Schlechteren belehrt …« Obwohl Varx nichts erwiderte, glaubte er zu spüren, dass der Sternling diese Hoffnung teilte. »Arrankor also«, meinte jetzt auch Paula, die hinter Caroux stand und verhaltener im Schatten der Gebäude wirkte als jeder andere. »Dann haben wir wenigstens einen Namen, den wir zu meinem schreiben können – auf meinem Grabstein.« Sahbu sah sie kopfschüttelnd an. »Wir sollten aufhören, so pessimistisch zu denken. Wir haben Varx bei uns, er kann uns von großem Nutzen sein. Und alles, was er uns bislang sagen konnte, deutet nicht darauf hin, dass diese Welt uns wieder loswerden will – im Gegenteil. Kargor scheint Wort zu halten: Dies ist unser neues Zuhause, und was wir daraus machen, bestimmen allein wir!« »Genau das bezweifle ich stark«, erwiderte Paula, winkte aber ab, um zu signalisieren, dass sie nicht vorhatte, sich querzustellen. »Gehen wir weiter?«, fragte Simon, der sich zusammen mit Macie wieder langsam in Gang gesetzt hatte. »Haltet mich nicht für übertrieben neugierig, aber ich will einfach wissen, wer diese Schlaggeräusche verursacht – und der meiner Meinung nach einfachste Weg, es herauszufinden, ist, dorthin zu gehen, von wo sie kommen.« »Deine Logik hat was«, lobte ihn Macie und lachte glucksend. Selbst Caroux schien es lustig zu finden und grinste über beide Ohren. Sie gingen weiter. Sahbu und Varx schlossen zu Simon und Macie auf, und kurze Zeit später erreichten sie ein Haus, das einen niedrigen Anbau hatte, aus dessen Schornstein dünner Rauch quoll. Die Tür war unterteilt, die obere Hälfte stand offen, die untere war mit einem Schieberiegel fixiert. Aus diesem Anbau drang der helle Klang von Metall, das auf Metall schlug. »Es kann irgendeine Maschine sein«, versuchte Sahbu, die Erwar-
tungen so niedrig wie möglich zu schrauben. »Wir dürfen nicht glauben, dass …« Paula huschte an ihm vorbei und war bei der Tür, noch bevor er es verhindern konnte. Was er auch gar nicht gewollt hätte. Sie kam ihm nur zuvor – und er verzichtete darauf, seinen Satz zu Ende zu sprechen. Paula schaute durch das offenen Türoberteil ins Innere, sekundenlang, dann drehte sie sich abrupt um und fixierte Varx: »Das dürfte dich interessieren«, sagte sie. Varx reagierte nach einem kurzen Zögern, trat zu ihr, neben sie … und starrte nun ebenfalls ins Innere des Anbaus. Sahbu sah, wie er zusammenzuckte. Aber er fasste sich ganz offenbar wieder und winkte nun seinerseits Sahbu und die anderen zu sich. Wortlos. Wenig später wussten alle, wer da drinnen mit einem schweren Hammer auf einen wuchtigen Amboss schlug und dabei glühendes Eisen formte. Der Schmied war von derselben Art wie Varx. Und offenbar ebenso friedliebend, denn er unterbrach seine Arbeit irgendwann und kam, das geformte, rot glühende Stück Metall mit der bloßen, weltraumdunklen Hand haltend, gemächlich auf die Gruppe zu und fragte: »Wer von euch möchte den ersten Pflug?«
Als sie nach draußen traten, herrschte eine laue, sternfunkelnde Nacht. Die Konstellationen am Firmament waren allesamt unbekannt, aber obwohl Prosper in seinen Gedanken noch immer dem Erlebten nachhing, kam ihm auch plötzlich ein Gedanke, der fast romantische Züge hatte. »Ist dir eigentlich klar«, wandte er sich an Sarah, die mit ihm aus dem kamerafacettenartigen Ausgang getreten war, der sich gleich hinter ihnen wieder geschlossen hatte, »dass wir es in der Hand haben?«
Vor ihnen lag die Ebene, die sie in unguter Erinnerung hatten. Die pflanzenbewachsene Fläche, der die Pollenschwärme entstiegen waren, weil etwas im Turm wie ein Magnet auf sie wirkte. Von Schwärmen war nichts zu sehen, und Prosper war überzeugt, dass dies nicht nur am mangelnden Licht lag. Sie waren des Turmes verwiesen worden, um sich – endlich – ihrer eigentlichen Aufgabe zu stellen: Sie sollten sich ihren Platz auf diesem Planeten suchen. Und dann blieb es ihnen überlassen, was sie daraus machten. So zumindest interpretierte er das Erfahrene. Gleichzeitig aber erwachte auch leises Misstrauen in ihm. Die Frage, ob Kargor sie nicht so konditioniert haben könnte, dass es ihnen gar nicht auffiel – konditioniert, um das von ihnen zu erhalten, was er wollte: Nachwuchs. Ob Sarah wohl ähnliche Gedanken wälzte. Aber sie sah ihn ganz unbefangen an. Ihr Gesicht schien die Sterne des Himmels widerzuspiegeln. Wieder einmal fiel ihm auf, wie schön sie war. Und wieder einmal fragte er sich, warum er das immer wieder vergaß. Oder von sich schob. Ein Schutzmechanismus? Wann hatte er zum letzten Mal eine Frau geliebt – nicht körperlich, daran konnte er sich sogar sehr genau erinnern, sondern aus dem Herzen heraus? »In der Hand? Worauf spielst du an?« »Auf die Sterne über uns. Die Sternbilder. Ist dir klar, dass wir Begriffe dafür erfinden können, die der Nachwelt erhalten bleiben – von denen Menschen vielleicht noch in Jahrtausenden sprechen, wenn sie genau dieselben Sterne ansehen?« Er biss sich auf die Lippe. Am liebsten hätte er sich aber auf die Zunge gebissen. Zu spät wurde ihm klar, welchen Gedanken er damit verriet. Und prompt kam ihre Retourkutsche. »Du redest wirr. Es wird keine Nachwelt geben, die von uns kreierte Namen würdigen könnte. Du weißt genau, was das voraussetzte. Und du glaubst doch nicht ernsthaft –« Er hob besänftigend die Hand. »Schon gut. Es tut mir leid. Ich bin
da wohl übers Ziel hinausgeschossen. Eigentlich denke ich genau wie du. Kargors Plan ist menschenverachtend. Wir …« Sie nickte, trat auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Hals und zog ihm, während sich ihre Lippen auf seine pressten, fest an sich heran. Als er wieder zu Atem kam, trat sie einen Schritt zurück, gab ihn frei und sagte leise: »Das war längst überfällig, findest du nicht auch?« Er konnte nicht antworten. Er konnte sie nur stumm ansehen und sich mit der deprimierenden Tatsache abfinden, dass er Frauen wohl niemals verstehen würde.
Die Stadt im Berg erwies sich als bereits dicht bevölkert, und zwar von Varx' Artgenossen. Anders jedoch als die Häscher, die ursprünglich versucht hatten, den abtrünnigen Sternling in den kobaltblauen Turm zurückzuholen, waren diese hier absolut friedfertig und kooperativ, wie Sahbu und seine Gefährten beim Gang durch die Straßen immer wieder feststellen mussten. Rasch wurde klar: Sie gehörten zum Inventar, das der Planet (oder die Macht, die sie hierher gebracht hatte) für sie vorgesehen hatte. Es waren Helfer der außergewöhnlichen Sorte. Sie arbeiteten nicht nur an diesem oder jenem Flecken, sondern bewohnten auch – wie sich herausstellte – das Gros der Häuser, deren Dächer warm im Schein der Kunstsonne schimmerten. »Ist hier überhaupt Platz für uns?«, fragte Macie irgendwann zwischendurch. Sie war die Einzige, die im Schein der Sonne ganz ohne Schatten durch die Straßen lief – offenbar fand sie es geckenhaft, auch einmal den umgekehrten Effekt ihrer Gabe zu demonstrieren. In Varx, der sich über die Anwesenheit so vieler Artgenossen zunächst bestürzt, dann aber wohl doch eher froh gestimmt gezeigt hatte, offenbarte einmal mehr, dass er zum richtigen Moment immer die passende Antwort parat hielt. In seinem Körper verschwanden die Sterne. Stattdessen erschien ein Plan, der die Stadt aus der Vogelperspektive zeigte. Mehrere Häuser waren darauf farbig mar-
kiert. »Wenn ich das richtig verstehe«, kommentierte Sahbu die Hinweise als Erster, »sind das die Gebäude, die noch zu haben sind.« Er lächelte etwas unglücklich. »Man hat sie uns gerade zugewiesen …« Sämtliche Häuser lagen in der Ortsmitte, umsäumten dort einen etwas größeren freien Platz und grenzten eng aneinander. »Für jeden eins«, nickte jetzt auch Caroux. »He, das gefällt mir. Dachte schon, wir müssten mit den Mädels zusammen pennen.« »Die ›Mädels‹ treten dir gleich in deinen dürren, runzligen Arsch, wenn du nicht endlich lernst, respektvoll mit anderen umzugehen«, fauchte Macie. »Ja, ja, war doch nur Spaß. Ist hier eine humorfreie Zone, oder was?«, gab Caroux verdrossen zurück. »Du bist eine einzige humorfreie Zone«, erwiderte Macie. »Schade nur, dass du das wohl nie begreifen wirst.« Caroux schwieg beleidigt. »Schauen wir uns die Häuser am besten gleich mal an«, schlug Paula vor. »Immerhin zeigt der Verteiler Respekt vor unseren Intimsphären. Das verbuche ich positiv. Weniger froh bin ich über die Vorstellung, allein in einem Haus zu leben und zu schlafen, das in einer Stadt wie dieser steht, die mir nach wie vor etwas … unheimlich ist.« Nach und nach räumten auch andere ein, dass sie der Vorstellung, fortan hier zu leben, noch keine allzu große Begeisterung entgegenbringen konnten. Sahbu schloss sich, was das anging, nicht aus. »Was schlagt ihr stattdessen vor?«, fragte er, nachdem sie eine Weile unter freiem Kunsthimmel palavert hatten. »Erst mal die Häuschen inspizieren«, meinte Simon. »Vielleicht legen wir dann ja noch unsere Befangenheit ab. Oder sehen uns darin bestätigt und ziehen die Konsequenz daraus.« Niemand fragte, was er damit meinte, für alle war es klar. Sie nickten und setzten sich zusammen mit Varx in Bewegung, der die Karte, die wie ein dreidimensionales Hologramm in seinem Körper steckte und verblüffenderweise von allen Seiten aus demselben
Winkel zu betrachten war, beibehielt, bis sie auf dem Platz anlangten und dort sämtliche zur Disposition stehenden Bauten lokalisieren konnten. Ein Haus war netter und einladender als das andere. Bei der Besichtigung verflog schnell jede Scheu, wurden Vorbehalte abgebaut. Am Ende haderte niemand mehr mit dem »Risiko«, das mit dem alleinigen Bewohnen eines solchen Objektes verbunden worden war. »Kommt euch das nicht auch … seltsam vor?«, fragte Sahbu, als sie sich über die Zuteilung einig geworden waren. »Vorhin äußerten wir alle noch berechtigte Skepsis, und jetzt … Hm, ich selbst kann mich nicht einmal ausschließen. Wenn ich in den vier Wänden bin, die ich mir ausgesucht habe, fühle ich mich nicht einmal mehr andeutungsweise unwohl oder gar bedroht. Im Gegenteil, es ist …« »… als wären wir nach langer Irrfahrt zu Hause angekommen«, vollendete Paula für ihn. Ihr Gesicht hatte einen rosigen Glanz von Zufriedenheit, wie er ihn noch niemals bei ihr bemerkt hatte. »Endlich angekommen …« Sahbu spürte ein warmes Gefühl in sich. Dass Paula genau die Worte gewählt hatte, die ihm selbst auf der Zunge gelegen hatten, fand er erstaunlich. Aber auch sehr schön. Selbst Varx hatte eine ganz eigene Behausung zugewiesen bekommen, nicht weniger adrett und gemütlich als die der anderen. Er aber schien der Einzige zu sein, der darüber nicht ganz glücklich war. Sahbu, der eine Affinität für den Sternling entwickelt hatte, bemerkte es und nahm ihn beiseite. »Was ist? Du machst nicht den Eindruck, als wärst du froh.« »Ich bin froh, euch gedient zu haben. Euch hierher führen zu dürfen, wo all dies auf euch wartet …« »Vor einer Weile hat das besser geklungen, da sagtest du noch ›wir‹. He, du gehörst jetzt zu uns!« Er verneinte, seine ganze Körpersprache tat dies. »Ihr braucht mich nicht mehr. Hier gibt es viele, die so sind wie ich, die euch dienen und zur Hand gehen werden. Und wenn ich erst einmal in eines der Häuser gezogen bin, werde ich mich gar nicht mehr von ihnen
unterscheiden. Ihr werdet mich bald vergessen haben. Du …« Sahbu hörte sich die Worte ruhig an. Dann nickte er. »Ich glaube, ich verstehe. Dazu aber eine Frage: Kennst du die Bedeutung von … Freundschaft? Weißt du mit diesem Begriff etwas anzufangen?« Varx zögerte, verneinte dann. Sahbu lieferte ihm seine Definition von Freundschaft: »Wenn man sich anderen verbunden fühlt, für sie da ist, sobald sie Hilfe oder Zuspruch nötig haben, gern an sie denkt, auch wenn sie mal woanders sind, sie vermisst, mit ihnen sprechen oder etwas unternehmen will … und sich hundertprozentig auf sie verlassen kann … das macht Freundschaft für mich aus.« Varx schwieg. Sahbu wusste, warum, er konnte die quälenden Selbstzweifel des Wesens förmlich riechen. »All diese Kriterien erfüllst du für mich. Ich kann nur für mich sprechen, ich weiß nicht, was andere empfinden. Aber für mich bist du in der kurzen Zeit ein echter Freund geworden. Mich bewegt, was dich bewegt, ich würde dich vermissen, wenn du nicht mehr ganz nah bei uns wärst … und ich weiß, dass wir uns hundertprozentig auf dich verlassen können!« Varx schwieg auch jetzt noch. Wortlos wandte er sich dem Haus zu, das ihm zugewiesen worden war. Er verschwand darin und schloss hinter sich die Tür. Sahbu überlegte, ob er ihm nachgehen und versuchen sollte, noch mehr Überzeugungsarbeit zu leisten. Eine Stimme sagte: »Du musst dir keine Sorgen machen, ich glaube, er hat es verstanden. Er kann es nur noch nicht zeigen.« Es war Paula, die offenbar auch zugehört hatte, worüber sich Sahbu und Varx unterhalten hatten. »Vielleicht«, nickte er und blickte noch einmal über den Platz zu dem Haus, das der Sternling bezogen hatte. »Ich hoffe, es ist so und er macht keine Dummheiten.« Was er damit meinte, wusste er selbst nicht genau. Es war nur ein ungutes Gefühl. »Bestimmt nicht.« Sie lächelte und ging dann auf »ihr« Haus zu. »Wir sehen uns.«
Sahbu wartete, bis alle in ihrem neuen Zuhause verschwunden waren, dann erst begab auch er sich über die schmale Veranda ins Innere des altmodischen, unendlich gemütlich wirkenden Hauses. Es gab keinen Strom, aber fließendes Wasser, was sehr viel wichtiger war. Und in dem täuschend echt nachgebildeten Kühlschrank, den Sahbu auch aus Büchern aus Prospers Bibliothek kannte, befanden sich nicht sehr ansehnliche, aber – wie sich herausstellte – wohlschmeckende Nahrungswürfel, sodass ein Verhungern fürs Erste ausgeschlossen war. Die Begegnung an der Schmiede kam ihm wieder in den Sinn. Die Frage, wer von ihnen den ersten Pflug wolle. Und plötzlich wusste er, dass das der Anfang war. Sie würden es lernen, diesem seltsamen Planeten und diesem Stück Land im Berg all das abzuringen, was sie zum Leben und Überleben brauchten. Eines nicht allzu fernen Tages würden sie in der Lage sein, sich selbst zu versorgen. Das war sein Ehrgeiz, und sie würden es schaffen. Die Frage war nur, woher sie den Getreidesamen oder die Voraussetzungen für den Anbau anderer Nutzpflanzen bekommen sollten. Er beschloss, Varx danach zu fragen. Doch ehe er den Entschluss in die Tat umsetzen konnte, klopfte es bereits an die Haustür. Er ging und öffnete. Anders als erwartet, stand keiner aus der früheren Zirkustruppe draußen unter dem Verandavordach, sondern Varx. Er hielt ein Päckchen in der Hand, das er Sahbu reichte. »Das habe ich gefunden, drüben in meinem Keller. Ich dachte, du könntest damit mehr anfangen als ich …« Sahbu öffnete das Päckchen und fand es voller kleiner Körner. Getreide. Es schimmerte rötlich, nicht goldgelb oder beige, wie er es kannte, aber es war zweifellos eine Art Saatgut. »Grundgütiger, kannst du Gedanken lesen?«, entfuhr es ihm verblüfft. »Manchmal«, erwiderte Varx im Umdrehen und Fortgehen. »Aber nur bei sehr guten … Freunden.«
Er erwachte, weil ihn Haar im Gesicht kitzelte, und hatte schneller die Augen offen, als die Erinnerung brauchte, um zurückzukehren. Im ersten Moment war er maßlos verblüfft, eng umschlungen mit Sarah im weichen Gras zu liegen. Die Sonne blinzelte bereits halb über dem Horizont, und irgendwo zwitscherten … Vögel? Sekundenlang lag er da und wagte nicht, sich zu rühren, um Sarah nicht aufzuwecken. Was war passiert? Wieso …? Die nach und nach einsetzende Erinnerung ließ ihn leise aufseufzen. Jeder Zweifel, dass das hier richtig war, verflog. Die Wärme, die er durch den Stoff ihrer Kleidung hindurch fühlte, weckte seine Lebensgeister … mehr als ihm lieb war. Sie erwachte und schmiegte sich enger an ihn. Ihr Po war weich und erregte ihn, der er seitlich hinter ihr lag, noch mehr. Sie lachte leise, neckte ihn noch eine Weile und drehte sich dann zu ihm um, um ihn zu küssen. »Heilige Galaxis«, sagte er ein wenig später, »wie ist das alles passiert?« »Ich mochte dich schon lange«, verriet sie ihm. »Aber du hattest ja nur Zeit für diese … Paula.« Er hob die Brauen. »Das hast du bemerkt?« Auf der RUBIKON hatte ihn eine flüchtige Liaison mit der Langen Paula verbunden. Keine Liebe, mehr körperliche Anziehungskraft – jedenfalls von seiner Seite. Es wäre auch auseinandergegangen, wenn sie unter anderen Umständen zusammengekommen wären, und auf Angk I hatte es schon keinen Bestand mehr gehabt. »Ich bin eine Frau – natürlich habe ich es bemerkt.« »Es war nicht von Bedeutung …« Sie hob die Hand und legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen. »Sag so was nicht. Ich will davon gar nichts wissen. Die Vergangenheit ist passé. Lass uns lieber versuchen, es miteinander auszuhalten.« »Das wird nicht schwer sein. Ich … ich mag dich sehr. Auch wenn du manchmal eine etwas schnip…«
»Stopp!«, unterbrach sie ihn und legte ihm diesmal die ganze Hand auf den Mund. Fest. »Verdirb's dir nicht mit mir. Nicht gleich zu Anfang. Ich kann unglaublich nachtragend sein!« »Doanköför dö Wornong!«, quetschte er durch ihre Hand hindurch hervor. Sie zog sie zurück und küsste ihn. So wie sie ihn in der Nacht geküsst hatte. Ihre beiden Zungen rangen so zärtlich und intensiv miteinander, dass ihm schwindelig wurde. Später erhoben sie sich aus dem Gras und blickten über die Ebene, die der Beginn dessen war, was vor ihnen lag. »Hast du Lust auf eine Wanderschaft?«, fragte er. »Wenn du versprichst, mich zu tragen, sobald ich mir die ersten Blasen gelaufen hab.« »Okay, aber ich sag dir gleich, dass ich die empfindlicheren Füße hab. Gleiches Recht für alle!« »Du willst dich auch selbst tragen? Kein Problem.« Sie zwinkerte ihm zu und blickte dann, wie um Abschied zu nehmen, noch einmal zum Turm zurück, den man fast sehen konnte, selbst wenn man ihm den Rücken zukehrte, so hoch in den Himmel ragte er. »Ein wenig Bammel habe ich schon davor, mich von ihm zu entfernen«, gestand sie ein. »Werden wir wirklich jederzeit Nahrung und Trinkwasser finden? Von den Nanobasen, die Vulverpye uns zeigte, ganz zu schweigen.« Prosper wollte ihr Mut zusprechen, als vor ihnen etwas dunkel aufblitzte. Im nächsten Moment stand Vulverpye vor ihnen – zumindest glaubten sie, dass es sich um ihn handelte – und bot an: »Ich kann euch eine erste Wegstrecke weit bringen, wenn ihr das wollt.« »Vulverpye?« Die Gestalt verneinte. »Ich bin noch ohne Namen. Also?« »Wohin würdest du uns bringen?«, fragte Sarah zurückhaltend. In der Gestalt erschienen im Sekundentakt wechselnde Landschaften, die sich allesamt durch einen Umstand ähnelten: in jeder ragten Nanobasen auf, wie Vulverpye sie ihnen erklärt hatte. »Langsam«, rief Prosper plötzlich. »Noch mal zwei Bilder zurück,
bitte!« Ohne Namen gehorchte sofort. »Was hältst du davon?«, wandte sich Prosper an die Frau, neben der er aufgewacht war. »Nicht schlecht. Von mir aus …« »Ohne Namen?« »Ja?« »Könntest du …?« »Ihr müsst durch mich hindurchtreten. Ich bin das Portal.« »Das Portal …« Sie ließen es sich näher erklären. Erst dann wagten sie es, Hand in Hand und dicht hintereinander gehend, in ihn zu steigen … … um auf der anderen Seite wieder herauszukommen. Am Ziel ihrer Wünsche. Ohne Namen stand noch einen Moment da, dann verschwand er einfach. Über das Wie zerbrachen sich Prosper und Sarah nur kurz den Kopf. Das Rollen der Brandung lenkte alle Aufmerksamkeit auf das Meer, an dessen Küste sie standen. Über den Wellen schwebten tatsächlich Vögel. Sie erinnerten eher an kleine Flugsaurier mit großen, nackten Hautflügeln, aber sie waren farbenprächtig und hatten stumpfe Schnäbel, sodass sie eher ein wenig tollpatschig als bedrohlich wirkten. Der Sand unter ihren Füßen bewegte sich, und sie sprangen rasch ein paar Schritte weiter, von wo aus sie beobachteten, wie sich eine Art Riesenmuschel, die beinartige Pseudopodien ausbildete, von ihrem Sandkleid befreite und dann wacklig zum Wasser stakste … … wo sie aber nie ankam, weil sich gleich zwei der Geflügelten synchron auf sie stürzten, mit ihren Krallenfüßen zu fassen bekamen und vereint mit der Last, deren dünne Beinchen verzweifelt in der Luft strampelten, Richtung Landesinnere verschwanden. Kehlige Triumphschreie begleiteten den Abflug. Von der Beute war nicht der kleinste Laut zu hören. »Fressen und gefressen werden«, murmelte Sarah betroffen.
»Wie?«, fragte Prosper. »Ach nichts. Ob sie auch uns bedrohlich werden könnten?«, fragte sie mit Blick auf die noch über den Wellen kreisenden Flugtiere. Er zuckte die Achseln. »Ich hoffe nicht. Vielleicht sind sie wie Möwen. Möwen greifen auch keine Menschen an, Fische angeln sie sich hingegen mit Hochgenuss aus den seichten Gewässerzonen.« Sie nickte. Unweit erhoben sich mehrere Zylinder, von denen sie wussten, dass sie aus Abermilliarden Einzelpartikeln zusammengesetzt und in ständiger Bewegung waren, ohne die Grundform zu verlieren, aus dem Boden. »Wollen wir uns das mal ansehen?«, fragte Prosper. »Herausfinden, wie es funktioniert? Vulverpye behauptete ja, es ginge ganz leicht, erschlösse sich uns intuitiv …« »Ich werde das herzige Kerlchen vermissen!« Er sah sie verwundert an, erkannte dann aber an ihrem Feixen, dass sie es ironisch gemeint hatte. Vulverpye mochte vieles sein, aber herzig? Sie marschierten Hand in Hand durch den nachgiebigen Sand in Ufernähe eine Böschung empor, wo sich ein kleines Wäldchen erstreckte. Davor erhoben sich die Nanobasen. »Theoretisch«, sagte Sarah, als sie bei ihnen ankamen, »kann ich mir vorstellen, wie es funktionieren müsste. Aber wie … wie treten wir mit ihnen in Kontakt?« »Vulverpye murmelte etwas von Gedankenfrequenz«, sagte Prosper. Aber auch er hatte keine wirkliche Idee. Was sich aber auch als unnötig erwies, denn die Basen traten mit ihnen in Kontakt. Als hätten sie die Annäherung intelligenten Lebens gewittert. Etwas, das die gleiche Form und Größe hatte wie die Schlüssel, die ihnen von Kargor übergeben und dann mit ihren Körpern verschmolzen waren, löste sich von einer der Säulen und kam ihnen entgegengeflogen. Prosper machte eine instinktive Ausweichbewegung, aber das Ding, das es auf ihn abgesehen hatte, machte die Bewegung mit. Dann klatschte es gegen seine Stirn, und er konnte nur ahnen, dass
es genau die Stelle traf, wo der Schlüssel unter der Haut verschwunden war. Auch von Sarah kam ein leiser Aufschrei, der ihre Überraschung signalisierte. Im nächsten Moment wussten sie, was zu tun war. Wie sie kreativ werden konnten. Und schon am gleichen Abend zogen sie in ihr erstes gemeinsames Heim ein.
16. Kapitel Was für ein verwegener Haufen wir doch sind, dachte Rodriguez, während er sich im Dunkel von den anderen entfernte, um den Gipfel eines Hügels zu ersteigen, der nahe ihres Rastplatzes aufragte. Irgendwie empfand er Stolz, dass sie bislang trotz aller Widrigkeiten überlebt hatten. Die Tavner hatten sie tatsächlich in Ruhe gelassen, aber der Planet bot auch sonst genügend Risiken für ahnungslose Fremde wie sie. An jeder Ecke lauerten Gefahren, weshalb sie dazu übergegangen waren, Wachposten aufzustellen, wenn die Mehrzahl von ihnen schlief. Heute war Rodriguez an der Reihe, und er würde nicht einmal abgelöst werden, da er inzwischen wusste, mit wie wenig Schlaf er selbst auskam. Er konnte mühelos einen ganzen Tag und eine Nacht durchmachen, ohne sich hinlegen zu müssen. Das holte er dann wieder nach, wenn er keine Wache hatte. Vor einer Stunde hatte es geregnet, der Boden war noch feucht und dementsprechend rutschig. Dennoch gelang es Rodriguez ohne große Mühe, den Gipfel des Hügels zu erreichen. Von hier aus hatte er freie Sicht nach allen Himmelsrichtungen. Angk I hatte während der vergangenen Wochen viele Gesichter gezeigt. Flora und Fauna waren artenreicher als zunächst erwartet. Mittlerweile stellten kleine, igelartige Tiere den Hauptposten auf ihrem täglichen Speiseplan dar. Pancake hatte das erste entdeckt, mit einem Stein getötet und dann auf eine Art und Weise zubereitet, von der Rodriguez noch nie etwas gehört hatte. Irgendwie hatte er herausgefunden, dass unter bestimmten freiliegenden Felsen immer auch eine bestimmte Bodenart zu finden war, wenn man es schaffte, den Stein wegzuwälzen. Der Grund dort erinnerte an Lehm, und diesen Lehm hatte Pancake benutzt, um seine stachelige Beute komplett damit einzuschmieren, bis eine zentimeterdicke, alle Stacheln
abdeckende Schicht entstanden war. Das Paket hatten sie dann in die Glut eines Lagerfeuers gelegt und mit kleineren Steinen abgedeckt, sodass eine Art Ofen entstanden war. Nach etwa zwei Stunden hatten sie den Haufen wieder entfernt und die nun porzellanharte Schale mit Steinen zerschlagen. Die Stacheln und Teile der Haut waren an den zu einem tonartigen Material gebrannten Scherben haften geblieben, sodass das dampfende, durchgegarte Fleisch einladend vor ihnen gelegen hatte. Aber schon der methanartige Gestank, der davon ausging, hätte sie warnen müssen. Das Fleisch, das hatten vorsichtige Bissen gezeigt, war absolut ungenießbar gewesen. Woran aber niemand Pancake eine Schuld gab. Seine Idee war vom Prinzip her genial, er erntete sogar ehrliches Lob. Was ihn offenbar dazu anstachelte, sich Gedanken zu machen. Das Resultat war, dass der ältere Mann ihnen schon wenige Tage später ein perfektes Mal präsentierte – das gleiche Tier, diesmal aber perfekt in Aroma und Geschmack. Was anfangs niemand verstand, weil Pancake ein Geheimnis daraus machte, war, dass der Alte den »Igel« offenbar exakt so zubereitete wie bei dem völlig missglückten Versuch. Hatte er beim ersten Mal ein durch hohes Alter oder andere Umstände ungenießbar gewordenes Tier erwischt? Rodriguez blickte hinab zu der Stelle, wo seine Gefährten zusammengerollt neben dem schwach brennenden Feuer lagen, und schüttelte sich leicht, als er sich Pancakes Antwort in Erinnerung rief – und seinen damit verbundenen Ekel, den er aber inzwischen so weit überwunden hatte, dass er bei den betreffenden Mahlzeiten mitaß. Pancake hatte erläutert, dass der Methangestank und die Ungenießbarkeit generell nur auftraten, wenn er ein totes Tier in Lehm einwickelte. Im Umkehrschluss hatte das bedeutet, dass er bei seiner gelungenen Vorführung offenbar so verfahren war, dass er ein noch lebendiges, sorgsam verschnürtes Tier mit der lehmigen Masse eingegipst und so ins Feuer gelegt hatte, dass es erst nach längerem Todeskampf verendet war.
Warum auf diese Weise sein Fleisch nicht nur genießbar, sondern eine wahre Delikatesse war, wusste niemand, auch Pancake nicht zu beantworten. Aber es war so. Und was die Zubereitungsart anging, so verwies der Alte auf ein Kochbuch aus Prosper Mérimées nicht mehr existierender Bibliothek. Darin war die Zubereitung einer bestimmten Meeresfrüchtesorte beschrieben worden, Hummer genannt. Bei ihr wurde ähnlich verfahren, die Tiere wurden laut Pancake bei lebendigem Leib in kochendes Wasser geworfen, wo sie jämmerlich starben, was ihre Schale färbte und wohl auch dem Geschmack des Fleisches zugutekam – wie er behauptete. Bestätigen oder widerlegen konnte es keiner der Gefährten. Von Hummern hatte noch niemand sonst je etwas gehört. Und hatte sich Rodriguez zunächst noch standhaft geweigert, das »Igelfleisch« auch nur zu kosten, so war er schließlich doch recht schnell von den schwärmerischen Kommentaren der anderen und dem verlockenden Bratenduft verführt worden. Menschlich, allzu menschlich, wie er inzwischen fand, um die qualvolle Behandlung der Tiere vor sich selbst zu rechtfertigen … Hinter ihm knackte ein morscher Zweig am Boden. Noch bevor er sich umwenden konnte, spürte er, dass Gefahr im Verzug war. Und als er sich dann umdrehen wollte, war es bereits zu spät. Etwas traf ihn und streckte ihn nieder.
Der alte Pancake erwachte, weil ein Neuneinhalbfüßler (so hatte er die Biester genannt, weil das hinterste von fünf Beinpaaren stark verkrüppelt aussah – bei allen Exemplaren, die ihnen bislang über die Füße gelaufen waren) versuchte, in sein rechtes Ohr zu schlüpfen. Das andere war geschützt, weil Pancake darauf gelegen hatte. Das Biest war schon zur Hälfte in den Gehörgang gekrochen, bis der ältere Mann aufmerksam wurde und sich verschlafen am Ohr kratzte, weil es dort juckte. Dabei berührte er das arglose Geschöpf, das sich eine warme Höhle erhofft hatte. Als er es herauszog, krallte
es sich instinktiv mit seinen Widerhakenbeinchen fest, was Pancake zu einer Panikreaktion verleitete und heftiger daran zerren ließ, als klug war. Das Tierchen wurde in der Mitte auseinandergerissen. Die andere Hälfte steckte immer noch im Ohr. Ein grünliches Sekret vermischte sich mit dem Blut, das aus Pancakes Ohr quoll, und der gerade Erwachte begann zu schreien. Im Nu waren auch die anderen wach und umringten ihn. Price, ein Mann anfang dreißig, der lange, spitz zugefeilte Fingernägel hatte, befreite ihn schließlich von dem noch zuckenden halbierten Insekt. Er schleuderte es in die Feuerstelle, wo aber keine Glut mehr war, deshalb zertrat er es zur Sicherheit noch mit seinem Stiefelabsatz. Danach wandte er sich Pancake zu und fragte besorgt: »Geht's, Alter? Nicht, dass du mir hier abkratzt! Wir brauchen jeden noch so kleinen Pisser.« Das sah Pancake im Prinzip ähnlich, fand die Worte aber dennoch nicht ganz glücklich gewählt. Doch Price war bekannt für seine fehlende Kinderstube. Pancake brummte etwas Unverständliches zur Antwort, ließ den vor Schmerz noch immer tränenverschleierten Blick schweifen und rief schließlich: »Wo steckt eigentlich Roddy?« Sein Blick ging zum nahen Hügel. »Rod!« Keine Antwort. Gemeinsam suchte die Gruppe eine geschlagene Stunde nach dem Vermissten. Aber alles, was sie fanden, waren tiefe, hufartige Eindrücke oben auf dem Gipfel. »Tavner«, seufzte Price. »Ich bin mir ganz sicher. Ich hab mir ihre Latschen ganz genau angesehen. Die Spuren hier stammen von Tavnern – und ich bezweifle, dass sie alt sind.« »Hölle und Verdammnis!«, fluchte Pancake. Da ahnten aber weder er noch die anderen, dass sie Rodriguez, den Halbwüchsigen mit der Gabe der Stille, niemals wiedersehen sollten.
17. Kapitel – Jahr 1 nach der Strandung »Und wenn ich sterbe?« Er hatte sie noch nie so verzweifelt gesehen. Ihr Gesicht glühte förmlich, und der Blick ihrer Augen war ein einziger Hilfeschrei. Sie trug ihr Haar seit längerer Zeit offen, nicht mehr so streng gescheitelt und gekämmt. Es machte ihre Züge weicher – normalerweise. »Red keinen Unsinn!«, sagt er scharf. Sofort bedauerte er die Schärfe, aber wenn er sie so reden hörte … »Ich bin bei dir. Alles ist vorbereitet. Wir haben heißes Wasser, saubere Tücher …« Das Haus war immer gut zu ihnen gewesen, seit sie es am Ufer des fremden Meeres – das ihnen langsam vertraut wurde – aus den Nanobasen errichtet hatten. Nachdem die Schlüssel mit den Partikeln der Zylinder in Berührung gekommen waren, hatte sich alles andere als gedankenleicht erwiesen. Gedankenleicht … Prosper wünschte, das, was jetzt bevorstand, wäre auch nur halb so selbstverständlich über die Bühne gegangen. Er versuchte es nicht zu zeigen, aber vielleicht hatte er noch mehr Angst davor als Sarah. Es war das schwerwiegendste Ereignis, seit sie nach Nomad gekommen waren, wahrscheinlich das schwerwiegendste ihrer beider Leben. Die Fruchtblase war bereits geplatzt, ein sicheres Zeichen, wie Sarah ihm glaubhaft versicherte, dass die Niederkunft unmittelbar bevorstand. Die Wehen kamen bereits in immer kürzeren Abständen. Als er gehen, sich von ihrem gemeinsamen Bett, in dem sie so viel Glück miteinander erlebt hatten, entfernen wollte, hielt sie seine Hand fest, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. »Versprich mir etwas«, sagte sie mit fast abwesend klingender Stimme. »Natürlich. Was immer du willst, meine Liebe.« Das war sie wirklich: seine Liebe. Sie war es hier auf Angk II geworden. Mehr als nur die Einsamkeit ringsum, der Mangel an ande-
ren Menschen, hatte sie zusammengeschweißt. Sie waren füreinander bestimmt, mit niemandem vorher hatte Prosper so innig sprechen, so innig Zärtlichkeiten austauschen können. So war es nur folgerichtig gewesen, dass sie schwanger wurde. Und lange Zeit hatten sie sich auf das Kind gefreut. Bis heute. Bis es ernst wurde. Plötzlich überwogen die Sorgen, die Ängste. Es ist normal, versuchte er sich zu beruhigen. Nur die Situation ist es nicht. Jeder in unserer Lage würde sich sorgen. Aber wir schaffen das schon – gemeinsam schaffen wir es. Das Haus konnte ihnen dabei nicht helfen, diesmal nicht. Höchstens indirekt. Indem es für absolute Sauberkeit sorgte, ihnen Wasser und Tücher zur Verfügung stellte. Den Rest mussten sie selbst packen. Und das werden wir! Sarah sah ihn mit einem Ausdruck tief empfundener Liebe an. Aber auch so voller Traurigkeit, dass es ihm fast das Herz zerriss. »Was ist?«, ermunterte er sie. »Was bedrückt dich denn so? Wir werden –« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich … fühle es, mein Liebster, ich fühle, dass etwas passieren wird.« »Natürlich wird etwas passieren. Wir werden ein gesundes Kind zur Welt –« Wieder unterbrach sie ihn. Lächelte schwach, als würde sie sein Optimismus zwar rühren, sie es aber besser wissen. »Falls etwas passiert. Mit mir, dem Kind … was auch immer – versprich mir eins!« »Alles!« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn, die tatsächlich heiß war, nicht nur so aussah, als glühte sie im Fieber. Panik durchfuhr ihn nun wie eine Klinge. »Versprich mir … mich nicht zu vergessen. Immer für unser Kind da zu sein – wenn es davonkommen sollte. Und dich nicht um mich zu grämen. Solange ich in deiner Erinnerung weiterlebe, wir alles …« Seine Blicke brachten sie zum Verstummen. »Sieh mich nicht so an«, sagte sie nach einer Weile. »Ich will dir
nicht wehtun … Du hast recht. Es ist nur Geschwätz. Wahrscheinlich die Hormone … Entschuldige. Entschuldige tausendmal, es war so dumm …« Er schüttelte den Kopf. Kämpfte die Tränen nieder, die in seine Augen drängten. »Ich verspreche es«, sagte er. Dann wandte er sich ab und holte ein Glas kühles Wasser, das er sie langsam trinken ließ. Dann kamen auch schon die nächsten Wehen. Sie erst stöhnen, dann schreien zu hören, während er sie in den Armen hielt und ihr dabei half, einen gleichmäßigen Atemrhythmus zu finden, führte ihn selbst an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Und dann wurde er wirklich gefordert, weil die Eröffnungswehen von den Presswehen abgelöst wurden. Sie hatten oft über diese Phase gesprochen. Ganz unwissend war Sarah nicht, sie hatte Geburten eindringlich geschildert bekommen, von engen Freundinnen, damals in der Zeit vor der Keelon-Invasion. Deshalb wussten sie, dass sie dem Impuls, den Presswehen nachzugeben und ihnen durch aktive Unterstützung Vorschub zu leisten, erst nachgeben durfte, wenn der Muttermund ausreichend weit geöffnet war. Sonst würde es zu der Katastrophe kommen, die Sarah gerade … angedacht hatte. Aber das wird es nicht. Das wird es nicht! Prosper überprüfte es, obwohl es ihn einige Überwindung kostete. So – so hilflos, ausgeliefert und nur auf den eigentlichen Geburtsakt fixiert, hatte er seine Gefährtin noch niemals gesehen. Er hatte das Gefühl, selbst unter Schock zu stehen. Aber soweit er es beurteilen konnte nach dem, was sie ihm erklärt hatte, war alles in Ordnung. Aber Sarah quälte sich noch Stunden, bis endlich der Kopf ihres Kindes zu sehen war … Der Rest ging dann wiederum verblüffend schnell, verblüffend komplikationslos. Der Kopf erschien vollständig, und Sarah schien sofort befreiter durchzuatmen, es folgten Schultern, Arme und Beine des Kindes … … und dann hielt Prosper es in seinen Händen. Und es fing an zu schreien.
Nie hätte er gedacht, dass gerade dieses Schreien so erlösend auf ihn wirken könnte. Er stand auf, legte das Neugeborene Sarah zwischen die Brüste, als sie sich aufbäumte und das Kind fast abwarf. »Es«, presste sie hervor, »ist noch nicht … vorbei!« Ihr Gesicht war plötzlich kalkig weiß. Er wusste, was sie meinte. Glaubte es zu wissen. Die Wehen jetzt würden die Nachgeburt auslösen, die Plazenta abstoßen, und deren Anblick würde ihm wahrscheinlich die größte Fassung abverlangen … Aber was dann kam, war nicht die Plazenta, sondern … noch ein Kind … … dem sogar noch ein drittes folgte. Und von Mal zu Mal wurde Sarah schwächer. Prosper tat alles, was in seinen Kräften stand, um ihr zu helfen, wuchs über sich hinaus. Doch am Ende hatten sie den Kampf verloren. Sarah starb ihm unter den Händen, verlor bereits beim zweiten Kind das Bewusstsein und wachte nach dem dritten nicht mehr auf! Prosper, der die Nabelschnüre durchtrennte, meinte anfangs noch, sie schliefe nur vor völliger Erschöpfung. Aber dann strömte immer mehr Blut aus ihr heraus, als die Plazenta längst abgestoßen worden war, und die Blutung war durch nichts zu stillen, bis … bis auch Sarahs Atem und Puls aussetzte. Prosper hörte Schreie, die die der Neugeborenen übertönten, und er begriff erst viel, viel später, dass er sie ausstieß. Kurz darauf erschienen Gestalten, die aussahen wie Vulverpye, dem sie im kobaltblauen Turm begegnet waren. Sie nahmen die Neugeborenen und entfernten sich damit, ohne eine Erklärung abzugeben. Prosper, noch völlig apathisch, wie in Agonie versunken, leistete keine Gegenwehr. Erst als sie auch Sarahs Leichnam wegbringen wollten, gelang es ihm, seine Starre abzustreifen. Er stellte sich ihnen in den Weg, machte unmissverständlich deutlich, dass er das nicht zulassen würde. Fast zu seinem eigenen Erstaunen zogen sie daraufhin ab. Das Haus war auch in der Folge immer gut zu ihm. Aber die Für-
sorge dieses Dings konnte Sarah nicht ersetzen. Vom Tage der Drillingsgeburt an war Prosper ein gebrochener Mann. Und blieb es für eine lange, lange Zeit.
Wenn Sahbu hinaus auf die Felder ging, fühlte er sich wie ein völlig neuer Mensch. Und wie ihm ging es auch den anderen, das war offensichtlich. Dass sie hier eigene Lebensgrundlagen schufen, sich mit ihrer Hände Arbeit ernährten, war eine völlig neue, unglaublich befriedigende Erfahrung. Er lächelte, als ihm Paula entgegenkam, die schon früher aufgebrochen war, um den Stand des fremdartigen Getreides zu überprüfen. Etwas weiter entfernt legten Simon und Macie einen Bewässerungsgraben an. Erstaunlich war es schon, wie prächtig die Pflanzen unter dem Licht der künstlichen Sonne gediehen. Aber sie schien alles zu bieten, worauf es ankam – auch für die Menschen, die hier schnell heimisch geworden waren. »Du sollst dich doch schonen«, empfing er Paula, die ihren dicken Bauch wie eine Auszeichnung vor sich hertrug. Stolzer hatte er noch keine Mutter gesehen. Und stolzer war auch er noch nie gewesen. Die Beziehung zwischen ihnen hatte sich gut entwickelt. Er fragte sich, wo er all die Zeit vor der Ankunft auf der Angk-Welt seine Augen gehabt hatte. »Ich schone mich ja. Du siehst doch: Ich schufte nicht an den Gräben wie Macie, die erst im fünften Monat ist!« Sie umarmte ihn (was nur so leicht ging bei ihrem kolossalen Bauch, weil sie ihre Arme für diesen Zweck verlängerte) und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Wenige Tage später brachte Paula Vierlinge zur Welt – trotz dieser Leistung war sie bereits zwei Tage später wieder auf den Beinen und tat, als wäre nichts weiter geschehen, konnte Sahbu, den das Geschrei und die Bedürfnisse der Kleinen rasch an seine Grenzen
führten, die Hauptlast abnehmen. Sie stillte alle vier, und es kam einem Wunder gleich, dass sie genügend Milch für alle hatte. Auch Macies Niederkunft verlief problemlos. Allerdings brachte sie es auch »nur« auf Zwillinge. Im Jahr darauf waren beide schon wieder schwanger, und Sahbu verging allmählich das Lachen, wusste er doch längst, dass Vater sein auch enorme Verantwortung mit sich brachte. Später, als die ersten Kinder flügge wurden und sich abnabelten, wurde genau die Zahl von Häusern frei, die für sie benötigt wurden. Varx' Artgenossen, die bislang darin gehaust und die Gebäude auf Vordermann gehalten hatten, verschwanden einfach über Nacht, und niemand wusste, wohin sie gegangen waren, auch Varx nicht. So ging es weiter. Und schon bekamen die ersten Kinder ihre eigenen Sprösslinge. Paare fanden zueinander und trennten sich. Kaum noch jemand dachte an Kargor und dessen Plan. Nur die Erstbewohner der Stadt fragten sich manchmal, wenn sie unter sich waren, wie es wohl kam, dass sie nie eineiige Mehrlinge zur Welt brachten und auch deren Nachwuchs völlig frei von Erbkrankheiten prächtig gedieh … So ganz frei von Kargors Schatten, das wurde ihnen dann bewusst, waren sie doch nicht – und würden es nie sein. Etwas hielt seine Hand über sie. Und falls sie es sich nicht mit ihm verdarben, würden wahrscheinlich schon in ein, zwei Generationen die ersten Menschen den Berg verlassen, um sich auch irgendwo draußen in der Weite Arrankors anzusiedeln und dort ihr Glück zu suchen …
18. Kapitel – Jahr 32 nach der Strandung Die beiden Häuser schmiegten sich harmonisch an die Küste. Am Steg waren Boote von unterschiedlicher Größe und Ausstattung vertäut, und von irgendwo hinter den Häusern drang helles Kinderlachen. Sarah spielte dort mit ihrer Mutter, die genauso hieß. Prosper lächelte in den Kaffee hinein, den er zwischen den Händen hielt, in einem leichten Becher, der die Wärme auf seine Haut übertrug. Ein leichter Wind ging und ließ kleine Wellen gegen das Ufer rollen. Der muscheldurchsetzte Strand war eine Fundgrube für Erwachsene und Kinder, die sich nicht sattsehen konnten an den Formen und Farben, die das Meer beherbergte und manchmal für Menschen preisgab, die hier heimisch geworden waren. Darüber hinaus war es eine wichtige Nahrungsquelle, vielleicht die wichtigste überhaupt. Prosper fuhr fast jeden Tag zum Fischen hinaus. Was das Netz zutage förderte, war bislang stets wohlschmeckend gewesen – sobald man sich an das mitunter gewöhnungsbedürftige Aussehen gewöhnt hatte. Aber das betraf nur ihn selbst. Seine Kinder und Kindeskinder wurden damit groß, für sie war es völlig normal, dass ein Fisch nicht immer wie ein Fisch, sondern manchmal auch wie eine Kreuzung aus Frosch und Vogel aussah. Überhaupt: fliegende Fische. Die gab es hier zuhauf, und sie waren die wohlschmeckendsten. Aber sie waren auch am schwersten zu kriegen … Prosper spähte schwelgerisch auf das Wasser hinaus. Er saß auf einer selbstgezimmerten Bank an einem selbstgezimmerten rustikalen Tisch (alles wollte er nun doch nicht der Nanomaterie überlassen) und nippte immer wieder an seinem Getränk, das natürlich kein echter Kaffee war. Aber er nannte es so, und wenn man sich erst einmal an den Geschmack des Suds gewöhnt hatte, der aus gerösteten Rowanbeeren hergestellt wurde, war es ein akzeptabler Ersatz.
Nach einer Weile stand er auf, goss sich aus dem mitgebrachten Thermobehälter Kaffee nach und schlenderte dann mit dem Becher zu der kleinen Ansammlung von Bäumen, die er selbst neben Sarahs Grab gepflanzt hatte. Es war voller Blumen, wie stets. Wenn Prosper sich nicht darum kümmerte, taten es seine inzwischen erwachsenen Kinder, die die Schattenhaften seinerzeit unmittelbar nach der Geburt mitgenommen, aber Jahre später wieder zu ihm zurückgebracht hatten. Als sie flügge waren, wie er heute wusste. Als es für ihn keinerlei Mühe mehr bedeutete, sie großzuziehen. Wo sie waren und was ihnen dort widerfahren war, hatte er nie erfahren. Sie selbst hatten keinerlei Erinnerung daran, zumindest wollten oder konnten sie nicht darüber sprechen. Und jetzt hatten sie schon wieder eigene Kinder – die auch zuerst geholt, dann aber wieder gebracht worden waren. Prosper, der es schon erlebt und durchlitten hatte, hatte seine eigenen Kinder trösten und beruhigen können, als es passierte. Dennoch war es eine harte Zeit bis zur Wiederkehr seiner Enkel gewesen. Heute erinnerte er sich an die Zeit seines eigenen Gebrochenseins, die Sarahs Tod gefolgt war, nur noch undeutlich. Als wüsste er nur vom Hörensagen anderer davon. Die wiedergekehrten Kinder und jetzt seine Enkel hatten ihm so viel gegeben – und taten es unentwegt weiter –, dass er die Düsternis auf seiner Seele hatte besiegen können. Dass seine Sarah hatte sterben müssen, verstand er hingegen immer noch nicht. Seither waren alle Geburten problemlos verlaufen. Seufzend stellte er sich vor ihr Grab und trat dann in ein stummes Gespräch mit ihr, wie er es fast täglich tat. Sie war immer noch Teil seines eigenen Lebens, wie er es ihr damals versprochen hatte. Und wenn ich sterbe? Die Worte, mit denen sie vielleicht das Schicksal erst herausgefordert hatte, waren ihm nie aus dem Sinn gegangen. Ein ihm unbekanntes Geräusch ließ ihn aufs Meer hinausblicken. Zuerst glaubte er, eines der Boote wäre gestartet worden, auch wenn er weder Brad noch Taylor oder irgendeinen anderen bemerkt hatte,
der zum Steg hinuntergegangen wäre. Aber als er die Augen zusammenkniff und die Hand hob, um sie gegen die tief stehende Sonne zu schützen, begann sein Puls jäh zu beschleunigen, denn ihm wurde klar, dass er etwas sah, was er noch niemals zuvor auf Nomad gesehen hatte. In all den Jahren nicht, nicht einmal, wenn Vulverpyes Artgenossen gekommen waren, um Neugeborene zu holen oder wiederzubringen. Vom Horizont her näherte sich ein fliegendes Gefährt, kein Schiff. Das anschwellende Geräusch lockte noch andere herbei. Prosper rief sie zu sich, und sie scharten sich um ihn. Brad, einer der Drillinge, die Sarah damals zur Welt gebracht hatte, ein athletisch gebauter Mann mit markanten Gesichtszügen, der irgendwann seine Schwester Sarah (Prosper hatte es sich nicht nehmen lassen, seiner geliebten Toten dieses Andenken zu setzen) geschwängert hatte, fragte: »Sollen wir lieber ins Haus gehen? Das riecht … nach Ärger.« Prosper verstand seine Reaktion. Er hatte seinen Kindern alles von den Angk-Welten, zu denen Nomad gehörte, erzählt, was er selbst wusste. Für sie war klar, dass es »da draußen« noch vieles gab, was ihnen vielleicht für immer verschlossen bleiben würde. Eine echte Gefahr war ihnen jedoch noch nie begegnet. Bislang hatten sie überaus behütet gelebt. Bislang … Prosper presste kurz die Lippen zusammen, dann nickte er. »Besser wär's«, sagte er. Alle setzten sich in Gang – bis auf ihn. »Vater …?« »Geht. Ich kümmere mich darum.« »Aber –« Er brachte seine Entschiedenheit zum Ausdruck, und auch wenn es ihnen nicht gefiel, kannten sie ihn doch gut genug, um zu wissen, wie aussichtslos es war, ihn von einem einmal gefassten Entschluss wieder abbringen zu wollen. »Bleibt drinnen – und sagte es den anderen, die das Ding noch
nicht bemerkt haben, dass sie es euch gleichtun sollen. Ich gebe Entwarnung, sobald ich mehr herausgefunden habe!« Sie fügten sich widerwillig. Gerade als sie in den Häusern verschwanden, erreichte das sonderbare Fluggerät die Küste. Es flog einmal eine Schleife über das Anwesen, dann setzte es ganz in Prospers Nähe auf. Prosper hatte nie ein hässlicheres Gefährt gesehen, und dass es überhaupt in der Lage war zu fliegen, war fast nicht zu glauben. Wie aus tausend eigentlich nicht zusammenpassenden Einzelteilen war es zusammengesetzt. Es wies Schweißnähte auf, hatte also mit Nanotechnik nichts am Hut. Der dröhnende Motor erstarb erst gute zwei Minuten nach der Landung. Und es dauerte noch einmal zwei, drei Minuten, bis sich eine Luke öffnete und … ein schnaufender Mann herauskletterte. Er wankte, als er Prosper entgegenging, und seine Kleidung sah aus, als wäre er gerade mit letzter Kraft einem Großbrand entronnen: rußgeschwärzt, vielfach angesengt und zerrissen. Aber das ebenfalls dreckverschmierte Gesicht hätte Prosper zu jeder Zeit wiedererkannt, und plötzlich – zumindest so lange, bis der Ankömmling das Wort an ihn richtete – durchströmte ihn eine Woge von Glück. Wuchtig schleuderte er den Becher, den er immer noch hielt, von sich. Der Kaffee darin verteilte sich wie schwarzer Regen über die Blumen von Sarahs Grab – aber nicht einmal das wurde ihm bewusst. Er eilte dem Besucher entgegen. »Roddy? Rodriguez … wie um alles in der Welt kommst du hierher? Und wie – hast du mich gefunden?« Der Mann, den die Jahre noch mehr gezeichnet hatten als Prosper (die Jahre oder Entbehrungen, von denen Prosper keine Vorstellung hatte), blieb stehen, hob einen Arm, wie um den Vorstürmenden zu bremsen und … sackte plötzlich nach vorne, als verließe ihn jede Kraft. Als hätte er es gerade noch bis hierher geschafft … Prosper war sofort bei ihm. »Rod … Warte, keine Sorge, meine Kinder werden sich –«
»Du wirst gebraucht, Meister!«, krächzte Rodriguez in derselben Manier, wie Sahbu es einst getan hatte. Die Anrede konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein ganz anderer vor Prosper kauerte als der, von dem ihn damals die Schlüssel auf Angk I getrennt hatten. »Gebraucht?«, echote er. Rodriguez nickte mit einer Leidenschaft, die Prosper ihm angesichts des allgemeinen Zustands kaum zugetraut hätte. Und in der Stimme des einstigen Halbwüchsigen brannte plötzlich ein Feuer, von dem er sich gewünscht hätte, es niemals hören zu müssen – denn es verhieß nichts Gutes. »Du musst – sofort aufbrechen. Du wirst gebraucht, du ahnst nicht, wie sehr!« »Aufbrechen? Wohin?«, fragte Prosper fast mechanisch. Aus dem Augenwinkel sah er Brad und Taylor heraneilen. Sie hatten erkannt, dass wohl keine Gefahr drohte, dafür aber Hilfe gebraucht wurde. »Dorthin, woher … ich gerade komme! Von wo ich … gerade noch entkommen konnte! Du musst mir vertrauen, hörst du? Du musst!« »Beruhige dich, mein Junge, beruhige dich. Von wo … kommst du überhaupt?« »Die Welt heißt … Portas. Sie nennen sie auch die … Schwellenwelt.« »Schwellenwelt?«, fragte er. Plötzlich stand wieder alles vor seinem geistigen Auge, was Vulverpye ihm und Sarah damals im Turm gezeigt hatte. Rodriguez nickte. »Es ist … eine verbotene Welt. Aber man schickte mich dorthin. Man glaubte, ich könnte die Bedrohung besiegen. Aber es ist zu stark. Vielleicht kannst du es. Du musst es schaffen, sonst …« »Sonst?« Es war nicht Prosper, es war sein Sohn Brad, der ein paar Wortfetzen aufgeschnappt hatte und jetzt fragte. »Sonst wird dieses System untergehen«, krächzte der zum Mann gereifte Junge von einst. Und Prosper, der diesen Mann besser kannte als jeder andere auf
diesem Planeten, wusste, dass es keinen Grund gab, Rods Worte anzuzweifeln. Aber was, bei allen Türmen Nomads, hatte der alte Weggefährte auf Portas erlebt? Später, als Rodriguez wieder etwas zu Kräften gekommen war, erfuhr er mehr. Mehr über die Odyssee des Mannes, der die Gabe der Stille besaß, einer Odyssee, die ihn von Angk I – Gismo – nach Portas geführt hatte. Unfreiwillig. Und wohin, das erkannte Prosper bald, auch er gehen musste – wollte er die drohende Katastrophe verhindern und seinen Kindern und Enkeln eine Zukunft ermöglichen. Ganz am Rande fragte er sich, ob Kargor etwas von der Bedrohung ahnte, die seinen Plan gefährdete. Er glaubte es nicht, denn sonst hätte der ERBAUER längst regulierend eingegriffen. Die Zeit der Ruhe war damit für Prosper ein für alle Mal vorbei. Am schwersten fiel ihm der Abschied von Sarah. Ihrem Grab. ENDE
Glossar Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins AngkSystem gebracht. Wo sie mit Prosper Mérimée und dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die Oberfläche eines der dortigen Planeten gelangt. Prosper Mérimée und sein ehemaliger »Zirkus« Mérimée ist ebenso wie die anderen Mitglieder seines einstigen Ensembles ein Geschädigter des Erdgettos, das auf dem Grund und Boden des einstigen Peking entstand. Im von der Außenwelt abgeschotteten Getto sammelten die Keelon-Master die Outsider der neuen Menschheit, all diejenigen, die durch das anspruchsvolle Raster der Herrscher in ihren Residenztürmen fielen. Das Getto als solches entstand durch die gelungene Zerstörung eines solchen Residenzturmes (die aus den Schiffen entstanden, mit denen die Master 2041 zur Erde gelangten und in ihren Metropolen landeten). Bei der Zerstörung des Pekinger Turmes kam es zur Freisetzung und Ablagerung von Energien, die auch in der Lage waren, lokale Zettanomalien zu etablieren. Mit diesen Anomalien kamen die Bewohner des Gettos mehr Scobee
oder weniger direkt in Kontakt. Besonders extrem ausgeprägt war dies bei Prosper Mérimée, der deshalb auch zunächst als alleiniger Verursacher des temporalen Fehlsprungs der RUBIKON nach Andromeda betrachtet wurde. Inzwischen ist bekannt, dass auch alle anderen an Bord, die dem ehemaligen Getto entstammen, dafür mitverantwortlich sind. Kargor gibt vor, die Gettoianer deshalb aus der RUBIKON entfernt – entführt – zu haben, damit das Schiff unter John Clouds Kommando künftig ungestört Transitionen durchführen kann. Aber darüber hinaus verfolgt Kargor auch offensichtliche eigene Interessen mit den Entführten. Sarah Cuthbert Expräsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika … bis die Keelon-Master landeten. Ging in den Staseschlaf und erwachte zwei Jahrhunderte später in einer Zukunft, in die es auch die RUBIKON-Besatzung verschlagen hatte. Im Getto lernte sie Prosper Mérimée und seine Truppe kennen – später wurde sie von Kargor ebenfalls aus der RUBIKON entfernt und ins Angk-System verbracht. Kargor Rätselhaftes Fremdwesen mit dem Erscheinungsbild einer riesigen Gottesanbeterin, dabei aus kristallinen Strukturen bestehend, die in allen Farben des Spektrums leuchten. Bei Kargor scheint es sich um einen Angehörigen jenes Volkes zu handeln, das einst die CHARDHIN-Perlen erbaute … und dann von der kosmischen Bühne verschwand. Erst die Gefahr, die Darnok über die Milchstraße heraufbeschwor, rief die ERBAUER offenbar wieder auf den Plan. Kargor besitzt Kräfte und Macht, die ihn jedem anderen bekannten Wesen überlegen machen. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Sta-
tion, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist noch ungeklärt. Sicher ist jedoch: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen CHARDHINStationen herausgefallen zu sein. Und sie wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert. Nach den jüngsten Ereignissen ist es dem ERBAUER Kargor offenbar gelungen, die Milchstraßen-Perle aus ihrer Verankerung hinter dem Ereignishorizont des Zentrums-Black-Holes zu lösen und zu einem Megaraumschiff umzufunktionieren. Das Erste Reich Auch Angk-System. Sieben fast identisch wirkende Planeten teilen sich dieselbe Umlaufbahn um einen Fixstern. Untereinander verbunden sind diese Welten über ein Netz sogenannter Energiestraßen, für die man allerdings eine Legitimation braucht, um sie benutzen zu können. Im Ersten Reich lebten laut Kargor einst – vor und seit einer Zeit, die er nicht näher spezifiziert – seine Artgenossen, die von den Gloriden als ERBAUER verehrten Schöpfer der CHARDHIN-Perlen.
Vorschau Himmel ohne Sterne von Marc Tannous Während die Karten für Prosper Mérimée und seine ehemalige Truppe neu gemischt wurden, erreicht die RUBIKON unter John Clouds Kommando das irdische Sonnensystem, wo eine brutale Erkenntnis auf sie wartet: Die Erde und ihr Mond existieren nicht mehr! Aber wie ist es dazu gekommen – und woher kommt der atmosphärelose Riesenplanet, der nun stattdessen seine Bahn um die Sonne zieht? Mit der Lösung dieses Rätsels beginnen die Probleme der RUBIKON-Mannschaft erst. Schon wartet ein Tribunal auf John Cloud, mit dem er in dieser Form niemals rechnen konnte – und das über sein weiteres Schicksal richten wird …