Richard Woodman Die Wette
Roman
ein Ullstein Buch Für die Kapitäne der schnellen Teeklipper zählt nur eines: als erste...
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Richard Woodman Die Wette
Roman
ein Ullstein Buch Für die Kapitäne der schnellen Teeklipper zählt nur eines: als erster mit der neuen Ernte in London anzukommen. Die tollkühnsten unter ihnen schließen darauf sogar Wetten ab - wie Kapitän Kemball von der »Erl King« und Kapitän Richards von der »Seawitch«, 1869 unterwegs von Schanghai nach London. Gewinnt Richards, bekommt er Kemballs schöne Tochter Hannah... Die beiden Klipper stürmen durch die Ozeane, aber ihre Kapitäne haben die Rechnung ohne die willensstarke Hannah gemacht, die sich nicht verschachern läßt. Als das Unglück zuschlägt, zeigt sie den rauhen Jan Maaten, daß auch sie ihren Mann stehen kann!
Kaahaari Februar 2003
ein Ullstein Buch/maritim Nr. 22808 Herausgegeben von J. Wannenmacher im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Titel der englischen Originalausgabe: Wager
Übersetzt von Brunhild Seeler Deutsche Erstausgabe Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagillustration von Montagne Dawson: Onward the Lightning, entnommen dem Buch Maler der See von Jörgen Bracher, Michael North und Peter Tamm, Koehlers Verlagsgesellschaft, Herford Alle Rechte vorbehalten © 1990 by Richard Woodman Übersetzung © 1992 Verlag Ulistein GmbH, Frankfurt / M - Berlin - Wien Printed in Germany 1992 Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3 548 22808 9 August 1992 Die Deutsche Bibliothek -CIP-Einheitsaufnahme Woodman, Richard:
Die Wette : Roman / Richard Woodman. [Übers, von Brunhild Seeler]. – Dt. Erstausg. - Frankfurt/M ; Berlin ; Wien : Ullstein, 1992 (Ullstein-Buch ; Nr. 22808) ISBN 3-548-22808-9 NE:GT
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ÜBER DAS BUCH Durch den Tod ihrer Mutter wird Hannah Kemball aus der Geborgenheit eines Viktorianischen Heinis gerissen. Sie begleitet ihren Vater, den für seine Gewaltreisen bekannten Klipperkapitän »Cracker Jack« Kemball, an Bord der Erl King nach China. Man schreibt das Jahr 1869; in Schanghai und Futschau laden die damals schnellsten Segelschiffe der Welt die neue Tee-Ernte, um sich dann auf die weite Reise um die halbe Welt zu machen. Die wagemutigsten unter den Kapitänen gehen Wetten ein: Wer wird als erster in London sei und die wertvolle Ladung auf den Markt bringen ? Für die Crews hängt davon eine Prämie ab - für die schöne Hannah Kemball aber viel mehr. Denn ihr Vater hat im Reisweinrausch ihre Hand verwettet - an den ebenso skrupellosen Klipperkapitän »Dandy Dick« Richards vom Schwesterschiff der Erl King, der fast noch schnelleren Seawitch. In dieser rauhen Männerwelt muß die unerfahrene Hannah sich ihrer Haut wehren. Nicht nur die Gefahren der See bedrohen sie. Auch an Bord ist sie nicht mehr sicher, besonders seit ihr Vater bei einem Piratenüberfall ums Leben kam. Fast Kopf an Kopf stürmen die beiden Teeklipper durch die Chinasee, den Indischen Ozean, ums Kap der Guten Hoffnung und durch den Atlantik Richtung Ärmelkanal. Hannah muß - Neuling, der sie ist — das Letzte aus Erl King herausholen, denn da ist ja immer noch die Wette ...
DER AUTOR Richard Woodman segelte schon 1960 als Deckshand das Tall Ships Race mit, die Trans - Ozean Regatta der großen alten Rahsegler. Danach begann er seine seemännische Ausbildung zunächst als Kadett und fuhr dann als Offizier auf den Schiffen der Alfred Holt's Blue Funnel Line und der Glen Line vor allem nach Fernost, auf der Route der alten Teeklipper. Nach dem Abschied von der Großen Fahrt führte er als Kapitän zwanzig Jahre lang einen Versorgungstender in englischen Küstengewässern. In seiner Freizeit segelt er mit seiner Familie einen 98 Jahre alten Gaffelkutter. – Woodman ist Autor mehrerer Sachbücher und schreibt seit 1982 die erfolgreiche marinehistorische Romanserie um den Seehelden Nathaniel Drinkwater, deren bisher elf Bände als Ullstein Taschenbücher erschienen.
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Für Abigail in Liebe
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1 Hannah Kemball stand gegen die Heckreling des Teeklippers Erl King (Erlkönig) gelehnt und schaute über das lehmige Wasser des Huangpu zur Häuserfront von Schanghai. In einer unbewußten Liebkosung strichen ihre Finger über das unbehandelte Teakholz. Ihre Bewegung schien die Prozedur nachzuvollziehen, welche die Kadetten dem Schiff täglich angedeihen ließen, indem sie es unter dem wachsamen Blick des Ersten Offiziers mit einem Segeltuchlappen und einer Mischung aus Sand und Seewasser schrubbten. Der Fluß in seiner ganzen Vielfalt, die ständig wechselnden Bilder, die er dem Auge bot, hatten etwas Ewiges und faszinierten sie stets aufs neue. Mächtige Dschunken mit ihren eigentümlichen Fledermaus-Segeln zogen gemächlich stromaufwärts, in ihrer geduldigen Unermüdlichkeit gleichsam eine Verkörperung Chinas, das in seiner Weite zu unendlich war, als daß sie es je hätte verstehen können. Zwischen den majestätisch dahingleitenden Dschunken hüpften, getrieben von Segeln oder Wriggriemen, kleinere Sampans über die kurzen Wellen. Viele wurden von Frauen gesteuert, schwarzgekleideten, birnenförmigen Gestalten, die, ihre Babys auf den Rücken gebunden, die Schiffe durch pausenloses Wriggen in der unerbittlichen Strömung auf Kurs hielten. Einige der Sampans, die sich direkt unter Erl Kings überhängendem Heck eingefunden hatten, rührten sich nicht von der Stelle. Erwartungsvoll schauten die Frauen, mit einem Arm den langen yuloh bedienend und den anderen mit der universellen Geste der Bettler emporgestreckt, zu ihr auf. Küchenabfälle, Münzen oder Holzreste - fast alles konnten diese genügsamen und emsigen Menschen mit ihrer geradezu genialen Improvisationsgabe gebrauchen. Hannah schüttelte den Kopf; sie hatte einer der Frauen schon ein paar Pence zugeworfen und war durch diese mitleidige Geste sofort mit weiterer Not konfrontiert worden, einer endlosen Prozession flacher, breiter Gesichter, die versucht hatten, ihr Mitleid zu erregen. Aber seit Mr. Enright, der Erste Offizier, den Kadetten verboten hatte, weiterhin Holzabfälle in den Fluß zu werfen, befand sich ohnehin nichts mehr an Deck der Erl King. Wieder schüttelte Hannah den Kopf, verärgert über die Hartnäckigkeit besonders
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einer Frau. »Nein«, rief sie, »nichts - gar nichts«, und fügte, das Pidgin der Crew nachahmend, hinzu: »Nichts da sein.« Doch die Frau schaute, sich breitbeinig auf die Planken ihrer Nußschale stemmend, unverwandt zu ihr empor; der hochgeschlossene samfoo-Pyjama, schwarz und unförmig, umflatterte lose ihren sich im Rhythmus des auf- und abtanzenden Sampans wiegenden Körper. Unablässig bewegte ihr brauner Arm den langen juloh, um das Boot gegen die starke Strömung auf der Stelle zu halten, während ihre Linke, den Handteller nach oben gedreht, ausgestreckt blieb. Hinter dem gelblichen Gesicht mit dem straff zurückgekämmten schwarzen Haar bemerkte Hannah den ruckenden Kopf eines Babys. »Bitte, Missie... für Baby!« Hannah schaute sich um, denn sie empfand plötzlich Mitleid mit der armen Frau unter sich. Mr. Munro, der Zweite Offizier, stand hinter dem Kreuzmast auf der anderen Seite des Achterschiffs, und an seinem Rücken erkannte sie, daß er beschäftigt war. Ein paar Männer drückten sich in Erwartung des Abendessens mit ihrem Eßgeschirr in der Nähe der Kombüsentür herum. Sie war also unbeobachtet. Ihr Blick blieb an der weißen Hanfleine hängen, die sauber aufgeschossen in ihrem lackierten Kasten neben dem Ruder lag. Hannah glitt näher heran und zögerte einen Moment, denn ihr war bewußt, daß sie im Begriff war, leichtfertig zu handeln. Die Logleine war schließlich ein wichtiger Teil der Ausrüstung eines Klippers. Aber sie schob den Gedanken beiseite. In der Kajüte ihres Vaters befand sich ein Ersatzlog mit Leine, und die Chinesin tat ihr leid. Schnell bückte sie sich und winkte der Frau mit dem am Ende der Leine befestigten Bleigewicht zu. Die Kulifrau nickte heftig und wriggte dichter heran. Hannah packte den Armvoll Leine, warf sie so schnell sie konnte über Bord und stellte sich dann mit Unschuldsmiene wieder an ihren Platz an der Reling. Unter ihr fischte die Frau in dem trüben Wasser nach dem weißen Knäuel. Sie hatte den in seiner Lasching hängenden yuloh losgelassen, so daß der Sampan langsam stromabwärts driftete. Auf ihrem sich energisch bewegenden Rücken schien der winzige Kopf des Babys ein wildes Adieu zu nicken. »Das hätten Sie nicht tun sollen, Miss Kemball. Das wird eine Menge Ärger geben.« Schuldbewußt errötend, fuhr sie herum. Vor ihr stand Mr. Munro. Vorwurfsvoll blickten seine bronzegelben Augen unter der
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Schirmmütze hervor. »Das ist Barratterie«, fügte Munro hinzu. »Veruntreuung durch den Schiffsführer oder die Besatzung gegenüber dem Reeder.« »Dann trifft das auf mich ohnehin nicht zu«, antwortete sie schnell. »Ich bin kein Seemann, Mr. Munro. Und außerdem ist's sowie schon passiert.« »Aye, aber die Schuld dafür wird man anderen geben, Miss.« Hannah biß sich ärgerlich auf die Unterlippe, und Munro setzte gleich nach. »Ich weiß, Sie sind die Tochter des Kapitäns, Miss Kemball, aber hier auf Reede liegen die Dinge eben anders als auf See.« »Wie das, Mr. Munro?« »Ach, das ist schwer zu erklären. Ihr Vater wird bestimmt jemanden von der Crew verdächtigen, die Logleine verkauft zu haben - einen Matrosen vielleicht. Die Leute werden ihre Seekisten herzeigen müssen, und sollte wirklich einer auch nur ein bißchen mehr Geld haben, als der Kapitän meint, daß er haben sollte, dann...« Munro zuckte die Achseln. »Was dann?« drängte Hannah. »Nun ja, einmal haben Sie es ja schon erlebt auf dieser Fahrt, Miss Kemball. Dann peitscht er ihn aus.« »O Gott!« Daran hatte sie nicht gedacht. Sie entsann sich dieses erniedrigenden Zwischenfalls nur allzu gut, denn er hatte sie zutiefst schockiert. Zwar war ihr später klargeworden, daß ihr Vater seine Leute fast nie schlug, doch hatte der Anblick, wie er in Hemdsärmeln mit einem Tau den nackten Rücken eines erwachsenen Mannes peitschte, sie entsetzt. Kapitän Kemball hatte ihr keine Erklärung gegeben, welches Vergehen dem Mann zur Last gelegt wurde, und diese Unkenntnis verstärkte noch den schrecklichen Eindruck, den das Ganze auf sie gemacht hatte. »Das wollte ich natürlich nicht«, sagte sie und senkte den Kopf, verärgert darüber, daß sie daran nicht eher gedacht hatte. »Natürlich nicht.« Als sie die Herablassung in seiner Stimme bemerkte, warf sie trotzig den Kopf zurück. »Ich werde meinem Vater sagen, daß ich es gewesen bin, Mr. Munro.« »Nett von Ihnen, Miss, aber ich glaube nicht, daß es was nützt.« »Und warum nicht?« fragte sie patzig. »Weil«, sagte Munro vorsichtig, »ich bezweifle, daß Ihr Vater vor einem Tag oder zwei zurück sein wird, und wenn er dann wieder an Bord ist, erwartet er ein einsatzbereites Log.« »Er hat mir ja gar nicht gesagt, daß er von Bord geht«, sagte sie,
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etwas bestürzt bei dem Gedanken, daß er sie alleingelassen hatte. »Das pflegt er immer so zu halten, Miss Kemball. Daß er, äh, ein paar Tage nicht an Bord kommt, wenn wir in Schanghai sind.« »Und wieso?« »Nun ja...« Munro wand sich verlegen. »Um geschäftliche Dinge zu erledigen und so.« »Das weiß ich. Aber er hat mir nicht gesagt, daß er über Nacht wegbleibt. Wo wird er denn schlafen?« »Oh - vermutlich im Klub, Miss.« »Bestimmt ist er heute abend wieder hier«, sagte Hannah entschieden. »Vielleicht haben Sie recht.« Mr. Munro war sichtlich erleichtert, daß das Thema abgeschlossen war. »Und außerdem«, setzte Hannah kühl hinzu, »hat mein Vater ein Ersatzlog in seiner Kajüte.« »Natürlich haben wir Ersatz dafür. Aber wenn wir dieses Log benutzen müssen, dann tritt doch genau die Situation ein, die wir eigentlich vermeiden wollten, Miss Kemball: keine Reserve mehr an Bord, obwohl wir noch die halbe Welt zu umsegeln haben. Deshalb waren Sie einfach leichtsinnig.« Hannah schaute den Zweiten Offizier scharf an. Mit seinen dreioder vierundzwanzig Jahren mochte er höchstens ein Jahr älter sein als sie, und bisher hatte sie ihn immer als gleichaltrig empfunden. Aber als er jetzt so mit ihr sprach, war nicht zu überhören, daß er den überlegenen Mann und seine größere Erfahrung herauskehrte, eine Haltung, die sie sonst eigentlich nur an dem ihr verhaßten Mr. Enright kannte. Am Anfang, als sie in nautischen Dingen noch völlig unbewandert gewesen war, hatte sie das hingenommen, jetzt aber ärgerte es sie zunehmend. Und wenn es von Mr. Munro kam, schien es ihr noch viel ungehöriger. Aber sie wollte ihren Ärger nicht zeigen, und deshalb lächelte sie den Zweiten Offizier an. »Ich bin sicher, daß auch Sie Mitleid mit der armen Frau gehabt hätten, Mr. Munro. Verglichen mit ihr sind wir hier doch Könige an Bord der Erl King.« »In China wimmelt es von Armen, Miss Kemball. Deshalb können Sie aber nicht das ganze Schiff verschenken.« »Nein«, lächelte Hannah, jetzt wirklich amüsiert. »Und Sie hätten schließlich auch ein Boot hinter dem Sampan mit unserer Logleine herschicken können.« »Aye«, sagte Munro, der nun selbst einen Moment nicht auf der
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Hut gewesen war, weil er sich in die Betrachtung ihres weichen Mundes versenkt hatte. Es war nicht das erste Mal, daß er sich von ihrer Schönheit stark angezogen fühlte. Wäre der Schatten Kapitän Kemballs nicht allgegenwärtig gewesen, er hätte sich vorgebeugt und sie geküßt.
»Dann haben Sie also etwas Mitleid mit mir und meiner mißlichen Lage, Mr. Munro?« »Natürlich, Miss Kemball«, sagte er und verschwand, eine Entschuldigung murmelnd, in Richtung Vorschiff, weil es Mittag geglast hatte. Immer noch lächelnd wandte Hannah sich wieder dem weiten Panorama des Flusses zu, während die vier Doppelschläge von acht Glasen übers Wasser hallten. Sie wurden beantwortet von den Glocken acht weiterer Klipper, die auf der Reede von Garden Reach vor Anker lagen. Eine Bewegung ließ sie nach unten schauen, wo eine weitere Kulifrau, mit der einen Hand wriggend, die andere zu ihr emporgestreckt, sich auf Erl Kings Heck zutreiben ließ. Es war fast sechs Monate her, seit Hannah ihre Mutter zu Grabe getragen hatte, und seither war sie zum ersten Mal von ihrem Vater getrennt. Davor, die gesamten einundzwanzig Jahre ihres Lebens, war sie in der abgeschirmten Welt eines gutbürgerlichen Londoner Stadtteils aufgewachsen, überbehütet von einer äußerst besitzergreifenden Mutter. Die Besuche ihres Vaters in jener anderen Welt waren immer nur kurze Unterbrechungen in ihrem ansonsten ereignislosen Dasein gewesen. John Kemball, Kapitän des Vollschiffs Erl King, blieb nie lange genug zu Hause, um für seine Tochter selbstverständlich zu werden. Schon äußerlich ein Abbild viktorianischer Geradlinigkeit, mit durchdringenden blauen Augen, einem gewaltigen Schnauzbart und aufrechter Haltung, schien er ihr ein Halbgott zu sein, der hin und wieder vom Olymp seines wundervollen Schiffes herabstieg, um das stille Haus in Islington mit seiner Anwesenheit zu beehren und dessen düstere Gemächer mit immer neuen orientalischen Arktefakten vollzustopfen. Wertvolle chinesische Möbel aus Teak-, Sandel- oder Ebenholz, eine Meeresgöttin aus Rosenholz, dazu Elefanten, Tiger und knifflige Puzzles aus Elfenbein - all das blieb nach seiner Abreise zurück und erinnerte Hannah daran, daß dieses märchenhafte Leben für
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ihn prosaische Wirklichkeit war. Über dem Kamin hing Kapitän Kemballs Porträt, das steife Gemälde eines Chinesen aus Futschou, von dem der Kapitän, ein Glas in der Hand, mit durchdringendem Blick ständig auf die Seinen herabstarrte, so daß sein Geist allgegenwärtig schien. Wollte man diesen scharfen Augen entgehen und wandte sich um, so sah man sich sogleich mit einem weiteren Werk desselben Künstlers konfrontiert, einem Gemälde der Erl King, dem Schiff, das all diese steife Pracht finanziell erst ermöglichte. In dem düsteren Salon schien die weiße Segelpyramide wie von innen heraus zu leuchten. Die chinesische Küste bei Saddle Island war von einem verwaschenen Blau, und das Meer bestand aus weißmähnigen, graugrünen Seen. Die exotische Atmosphäre wurde durch die bizarren Segel einer fernen Dschunke noch verstärkt. In einer solchen Umgebung segelte die Erl King, von der Überlegenheit des Okzidents zeugend, hier durchschnitt ihr schlanker schwarzer Rumpf mit seinem feinen Blattgoldstreifen und der kraftvollen Galionsfigur die Seen, das weiße Gefieder der Bugwelle am Steven. Stundenlang hätte Hannah dieses Bild anschauen mögen, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die es immer nur mit einem kurzen, fast schmerzlichen Blick streifte. Mrs. Kemball, Hannahs Mutter, sah ihren Mann einmal im Jahr etwa zwei Monate lang. Aber bereits nach zwei Wochen daheim ließ Kapitän Kemballs Interesse an häuslichen Dingen zusehends nach. Mit dem Herzen war er dann schon wieder am West India Dock und fragte sich, den Wind abschätzend, was dieser Halunke Enright wohl mit seinem Schiff anstellen mochte. Statt von familiären Dingen zu reden, schwelgte Kapitän Kemball in seinen Gesprächen dann immer mehr in Erinnerungen. Je größer und verständiger Hannah wurde, desto mehr fiel ihr auf, daß ihre Mutter in diesem Stadium nervös wurde und die Lippen zu jenem Kräuseln verzog, mit dem sie sonst das Gemälde der Erl King zu betrachten pflegte. Dadurch lernte Hannah schon früh, daß es die Erl King selbst war, mehr noch als des Vaters Abwesenheit, was ihre Eltern einander entfremdete. Diese Entfremdung war nicht für jedermann erkennbar, denn Emotionen pflegte man in einem so erfolgreichen und als vorbildlich geltenden Haushalt wie dem von Kapitän und Mrs. Kemball nicht zu zeigen. Doch je mehr Hannah heranwuchs, desto mehr wuchs in ihr auch die Erkenntnis, daß es eine solche
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Entfremdung gab. In der verwirrenden Zeit der Pubertät begann sie die Gründe für die kaum verhüllte Bitterkeit ihrer Mutter zu verstehen. Und mit dieser intuitiven Ahnung nahm sie auch die besitzergreifende Liebe ihrer Mutter klaglos hin. Als Folge davon widerstand sie den plumpen Annäherungsversuchen junger Männer, der Söhne einiger weniger Freundinnen ihrer Mutter, ahnte sie darin doch die Gefahr einer ähnlichen Versklavung. Dabei war sie sich dessen nicht eigentlich bewußt, denn die beharrlichen Regungen ihres eigenen Körpers verwirrten und beschäftigten sie. Eine Verwirrung, die durch einen trivialen, nur halb verstandenen Vorfall in ihrem fünfzehnten Lebensjahr noch verstärkt wurde. Es war gegen Ende einer jener Phasen gewesen, in denen ihr Vater wieder einmal an Aufbruch dachte. Er hatte erklärt, er wolle nachmittags das Schiff an seinem Liegeplatz inspizieren. Gekränkt hatte ihre Mutter daraufhin beschlossen, eine Freundin zu besuchen, und beim Pfausch waren die beiden Frauen übereingekommen, ein paar Bücher auszutauschen. Pflichtbewußt wie immer hatte Hannah sich eilfertig bereiterklärt, nach Hause zurückzukehren, um die Bücher zu holen, nur allzu froh darüber, dem langweiligen Klatsch zu entgehen. Daheim war sie geradewegs in das Schlafzimmer ihrer Eltern geeilt, wo eines der Bücher lag. Als sie Schritte auf der Treppe hörte, rief sie nach dem Dienstmädchen. Die Schritte verstummten, eine Antwort blieb aus. Mit klopfendem Herzen war Hannah zum Treppenabsatz gelaufen. Da kam ihr Vater die Mansardentreppe herunter. Er war in Hemdsärmeln und hatte eine frisch angezündete Zigarre im Mund. Beim Anblick seiner Tochter war schlagartig alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Weder Vater noch Tochter hatten ein Wort gewechselt, die Stille war nur durch den fröhlichen Gesang aus dem Dienstmädchenzimmer im Dachgeschoß unterbrochen worden. Dieses einfältige Trällern veranlaßte Hannahs Vater zu einer langatmigen, überlauten Erklärung, warum er wegen einer tropfenden Dachrinne nicht zu den Docks habe fahren können. Hannah, unschuldig bis zur Unwissenheit, hatte immerhin begriffen, daß sie Mitwisserin eines Treuebruchs geworden war. Es war ein intuitives Wissen, das auf dem erkennbar schlechten Gewissen ihres Vaters, der schwülen Luft im Haus und dem ungebührlich glücklichen Gesang des Dienstmädchens beruhte. An jenem Tag war ihr Vater von seinem Podest auf dem Olymp heruntergeglitten, aber gleichzeitig begann Hannah eine ihm
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selbst ähnliche Härte und Zielstrebigkeit zu entwickeln, die zum Teil auf Vererbung, zum Teil auf sein Beispiel zurückging. Ihr Mitgefühl für das Los ihrer Mutter nahm noch zu, ihre Ablehnung eines konventionellen Lebensstils, der unvermeidlich zu einer standesgemäßen Ehe führen mußte, wurde kompromißlos. Hannah Kemballs Widerspruchsgeist war geweckt. Auch das Schicksal schien ganz in ihrem Sinne und gegen eine Heirat zu entscheiden, denn kurz darauf wurde ihre Mutter krank, und Hannahs Leben als Krankenpflegerin war damit offenbar vorgezeichnet. Während des langen Krankenlagers ihrer Mutter wurde Hannah endgültig erwachsen und mußte erkennen, daß auch ihr Vater nur ein gewöhnlicher Sterblicher war. Im Delirium hatte ihre Mutter genügend intime Details ihres Ehelebens enthüllt, um Kapitän Kemball von seinem Sockel zu stürzen und Hannah in ihrem allgemeinen Vorurteil gegen Männer zu bestärken. In seiner Jungend hatte Jack Kemball, ein hochgewachsener, stolzer Verehrer, ihrer Mutter so feurig den Hof gemacht, daß
die derart Angebetete von der Aufrichtigkeit seiner Gefühle überzeugt war. Vielleicht war Kemball zum Teil auch ein Opfer seines Berufs geworden, denn als kraftvoller junger Offizier der Handelsmarine hatte er Ambitionen, die seine Mittel überstiegen, und wenig Gelegenheit, Frauen seines Alters und seiner Gesellschaftsklasse kennenzulernen. Für Hannahs Mutter indessen war Liebe ohne Ehe undenkbar, und da sie John Kemballs Aufmerksamkeiten und Komplimente als Liebesbezeugungen nahm, wurde sie seine Braut. Eine Weile schien das Glück einen unzerstörbaren Kokon um die junge Frau zu weben, aber das war eine Illusion, die den Verlust eben dieses Glücks am Ende noch unerträglicher machte. Es wäre ungerecht zu sagen, John Kemball habe seine Frau nicht geliebt. Sie war in Gestalt und Habitus eine durchaus attraktive Erscheinung, und ihr Mangel an Erfahrung wurde von ihrem Mann, dessen Sexualität von den geschickten und kunstvollen Praktikerinnen des Orients geweckt worden war, bald behoben. Er war nicht unfreundlich oder ungalant zu ihr, auch ließ er es nicht, so fand jedenfalls er, an Aufmerksamkeit fehlen. Doch zu sagen, er habe ebenfalls nur aus romantischer Liebe geheiratet, wäre nicht ganz korrekt. Ohne daß die junge Braut es damals wußte, war er durch die Heirat in den Genuß einer Mitgift gekommen, die für John Kemball
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weit wichtiger war als die Person seiner Frau. Kemballs neuer Schwiegervater war zugleich auch sein Arbeitgeber, ein Reeder mit gutem Blick für vielversprechenden Nachwuchs. Kemballs Fähigkeiten waren ihm nicht entgangen, und sein Vertrauen in ihn war so groß, daß er den ehrgeizigen jungen Mann auf seinem neuen Teeklipper, der Erl King, in die Koje des Ersten Offiziers beförderte. Auf der Rückreise von ihrer Jungfernfahrt war Erl Kings Kapitän krank geworden, und unter Kemballs Führung, der die Gelegenheit geschickt nutzte, war der Klipper schneller gewesen als der Wind und als erster daheim. Der Reeder, höchst erfreut über den Gewinn aus dieser schnellen Reise, hatte - wohl wissend, daß er es hier mit einer glückhaften Kombination von Mann und Schiff zu tun hatte - John Kemball auf seinem Posten als Kapitän bestätigt. Er gewährte dem ehrgeizigen Skipper auch Zutritt zu seinem Haus und hatte nichts dagegen, als dieser immer öfter die Gesellschaft seiner Tochter suchte. Bei der sich daraus ergebenden Eheschließung machte er eine großzügige Geste: Einundzwanzig der in den Statuten vorgesehenen vierundsechzig Parten der Erl King wurden ihrem neuen Kapitän wie versprochen an seinem Hochzeitstag ausgehändigt. Nach der den Flitterwochen folgenden ersten Reise war Kapitän Kemballs Leidenschaft abgekühlt, um nie mehr ihre ursprüngliche Intensität zurückzugewinnen. Nur hin und wieder flammte sie erneut auf. Zwei winzige Särge und Hannah zeugten davon. Doch die regelmäßig aufgezwungene Einsamkeit, der Schmerz um zwei tote Kinder und die sie zutiefst kränkende Zurückweisung durch ihren vitalen Ehemann hatten Mrs. Kemballs Gesundheit allmählich untergraben. Nur die überwältigende Freude bei Hannahs glücklicher Geburt entschädigte sie für die große Enttäuschung ihres Lebens. Sie umhegte das Kind in der beschützenden Abgeschiedenheit des düsteren Islingtoner Hauses, das sie sich dank Kapitän Kemballs Geschäftstüchtigkeit leisten konnten. Er hatte dem Großvater noch weitere fünfzehn Parten an der Erl King abgerungen: fünf für jedes Enkelkind, nicht zurückzahlbar, auch wenn diese vor ihrem eigenen Vater sterben sollten. »Sie sind wirklich hart im Nehmen, Captain«, hatte sein Schwiegervater gesagt, der den Mann seiner Tochter nie anders angeredet hatte. Doch Kemball sah dabei
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Bewunderung im Blick des alten Gauners schimmern: John Kemball würde das Vermögen des Reeders schützen, denn eine Frau - noch dazu eine so versponnene und kränkelnde Kreatur, wie seine Tochter es geworden war - wäre dazu nie in der Lage gewesen. So sehr schätzte also der alte Mann seinen Schwiegersohn. Kapitän Kemball kam rechtzeitig mit dem ersten Tee der Saison zum Begräbnis seiner Frau in England an. Sein Sinn für Timing war wohl ebenso drastisch wie alles andere, was er tat. Die lange Trennung und der schmerzliche Verlust vermochten Vater und Tochter einander nicht näherzubringen, denn zwischen ihnen stand mehr als der Sarg, als sie der Verstorbenen die letzte Ehre erwiesen. Später, als Hannah am Grab stand, tränenlos, aber überwältigt von erstickender Trauer über das Unglück dieser Welt, empfand sie seltsamerweise keine Angst vor der Zukunft. Sie hatte ihr noch keinerlei Beachtung geschenkt. Die Dinge, vermutete sie, würden so bleiben, wie sie waren. Nur langsam wurde ihr die künftige Selbständigkeit bewußt, aber dann schöpfte sie enormen Trost daraus. Als sie sich vom Grab abwandte, hatte sie ihren Vater fast vergessen, bis sie behandschuhte Finger auf ihrem Arm spürte. »Hannah, meine Liebe...« Sie drehte sich um und erkannte für einen Augenblick eine gewisse Weichheit in seinen Zügen. Aber er unterdrückte diese Regung schnell und räusperte sich. »Nun mußt du also mit mir kommen«, sagte er. »Mit dir, Vater?« fragte sie verständnislos. »Aufs Schiff, Liebes.« »Bis nach - bis nach China?« fragte sie ungläubig. Höflich einigen Trauergästen zunickend, zog er sie an der Hand, die sie unter seinen Arm geschoben hatte, hinter sich her. »Natürlich«, sagte er und setzte seinen hohen schwarzen Hut auf. »Wohin sonst?« Mit dieser lapidaren Äußerung war die gefährlichste Klippe in Hannahs Leben umschifft. Die Furcht, im Altjungfernstand zu verkümmern, wich mit einem Schlag von ihr. Vage sah sie Bilder vor sich, die mit dem Ölgemälde über ihrem Büffet übereinstimmten. Ihre Verwirrung wuchs allerdings, als ihr plötzlich klar wurde, daß ihre künftige Selbständigkeit nicht auf den häuslichen Horizont begrenzt sein würde. Statt dessen sollte sie nun zu einer für Frauen bisher unzugänglichen Männerwelt zugelassen werden, von der auch ihre leidende Mutter
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ausgeschlossen gewesen war. In der Kutsche starrte Hannah ihren Vater an und fragte sich, ob er wußte, was er soeben in ihr angerichtet hatte. Doch sein Blick schien sich an fernen Horizonten zu verlieren. In ihr stieg eine seltsam unloyale Erregung auf, ein Gefühl, das überschattet wurde von einem Anflug von Reue. Aber diese verging so schnell wieder, wie sie gekommen war, und mochte nur eine letzte Heimsuchung durch die Seele ihrer verstorbenen Mutter gewesen sein. Für Kapitän Kemball brachte der Tod seiner Frau einiges an Komplikationen mit sich. Deshalb war er, als er ihre letzte Ruhestätte verließ, in Gedanken mit weniger metaphysischen Dingen beschäftigt als seine Tochter. Rasch überwand er die momentane Rührung, die ihn am Grab übermannt hatte, und war nun wieder ganz der unbeugsame Geschäftsmann. Seine Frau hatte ein Testament hinterlassen und die Parten, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, in einem letzten sanften Protest nicht ihrem Mann, sondern Hannah vererbt. Nun war der Kapitän fest entschlossen, dieses Vermögen seiner Tochter, von seinem eigenen ganz zu schweigen, vor zwielichtigen Freiern und dergleichen zu schützen. Gewiß stellte er auch andere, väterliche Überlegungen an, aber die standen in seinem stets berechnenden Verstand nicht an erster Stelle. Denn außer den Parten seiner Tochter, die er de facto schon als seine eigenen ansah, gab es noch zehn weitere Anteile an dem Schiff, die ihm nicht gehörten. Als Kapitän Kemball vor ein paar Jahren vorübergehend in Finanznot geraten war, weil er in einem Taifun den Großmast, Spieren und Segel verloren und weitere schwere Schäden am Schiff erlitten hatte, war er gezwungen gewesen, in China überstürzt eine ziemliche Menge Geld aufzutreiben, um nicht die Frachtrate zu verlieren, die in jenem Jahr immerhin fast sechs Pfund pro Tonne betrug. Ihm war damals keine andere Wahl geblieben, als zehn Parten an Mr. Len Kua zu verkaufen, einen chinesischen Kaufmann und Agenten von beneidenswerter Geschäftstüchtigkeit und anerkannter Ehrlichkeit. Das also war die Situation, die der Kapitän auf seiner nächsten Reise zu ändern gedachte, und diese Überlegungen verdrängten die Trauer, die er am Grab seiner Frau kurz empfunden hatte. In den folgenden Wochen verblaßte Hannahs Erinnerung an ihre Mutter und an ihr Leben in Islington immer mehr. Statt dessen wurde ihre Welt eine Abfolge immer neuer Bilder, ein Kaleidoskop von Eindrücken und Empfindungen, die ihr keine Zeit für
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besinnliche Momente ließen. Überraschend weckte die Seemannschaft, die sie nun täglich erlebte, nach der geistlosen Routine am Krankenbett ein ganz unweibliches Interesse in ihr und setzte den unziemlichen, aber oft frustrierten Wunsch zu lernen in ihr frei. Der Schwulst eines viktorianischen Hauses wurde durch eine stets in Bewegung befindliche, nie gleichbleibende und wunderschöne Umgebung ersetzt, geprägt nur vom Wind und den anstürmenden Seen. Ihre neue Welt besaß fast archaische Proportionen, die sie entzückten und stimulierten, sie endgültig von ihrer Vergangenheit lösten und dazu führten, daß sie ihren Vater, den sie nun in seinem ureigenen Milieu erlebte, ganz neu kennenlernte. Seine nie nachlassende Energie, sein unbestreitbares Können, seine Zuverlässigkeit und seine etwas rauhe Wertschätzung für die Crew ließen sie allmählich Seiten entdecken, die sie an ihm nie vermutet hätte. Zwar war er, besonders ihr gegenüber, nach wie vor von einer unergründlichen Gleichmut; aber er pflegte seinen Gefühlen immer dann nachdrücklich Luft zu machen, wenn er sein Schiff durch einen Sturm knüppelte. Neun Tage lang hatte er um jeden Zoll Luvraum gekämpft, den dieses geschmeidige, willige Schiff nur hergeben wollte, und deshalb war das Auspeitschen des Matrosen, der gegen Mr. Enright ein Messer gezückt hatte, um so schockierender für sie gewesen. Später aber, als sie miterlebte, wie ihn irgendeine Dummheit des Dritten Offiziers erboste und sie das Ausmaß seiner Wut fast genauso stark zu spüren bekam wie der arme junge Offizier, hatte sie fast Verständnis für sein Verhalten empfunden. Sie sah, welche Verantwortung auf ihm lastete, und begriff, daß es einzig und allein sein Wille war, wenn die Erl King zielstrebig wie ein Zugvogel den weiten Ozean überquerte. Außerdem begann der Kapitän sich ihr gegenüber zusehends zu öffnen, vor allem, wenn er ihr sein Schiff erklärte. Als sie die Seekrankheit überwunden hatte und die Erl King, eine große weiße Bugwelle aufwerfend, unter vollen Segeln vor dem Nordostpassat gen Süden stürmte, fand er mehr Zeit, sie zu unterweisen. Sie begann dem Navigationsunterricht beizuwohnen, den Mr. Munro den Kadetten erteilte, und ihr schneller, bisher so vernachlässigter Intellekt wurde zusehends weniger von ihren emotionalen Zuständen als vielmehr durch das Erfassen technischer Zusammenhänge gefordert. Zunächst war der Kapitän recht gönnerhaft zu Hannah gewesen und hatte ihr damit zu verstehen gegeben, daß er sie mit ihren
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einundzwanzig Jahren fast noch als Kind betrachtete. Sie hatte ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, als das Schiff den zwölften nördlichen Breitengrad überquerte. Die Nachricht hatte an Bord die Runde gemacht und zu einer bewegenden kleinen Feier geführt, als nämlich beide Wachen nach achtern gekommen waren, um ihr alles Gute zu wünschen und die Hoffnung zu äußern, daß sie dem Schiff Glück und Wohlergehen bringen möge, vor allem auf der Heimreise mit seiner wertvollen Teeladung. Sie war über diese nette Geste der Crew sehr gerührt gewesen, ahnte sie doch nicht, daß ihre Anwesenheit an Bord bei dem hartherzigen Knicker, den alle nur »den Alten« nannten, etwas zum Schmelzen gebracht hatte. Die Männer fuhren unter ihrem Vater, weil sie wußten, daß er ein guter Seemann war, einer der besten im Chinahandel, gemeinhin »Cracker Jack« genannt, ein Teufelskerl, der wann immer möglich unter Vollzeug lief. Seine Kritiker indessen nannten ihn wegen seines Wagemuts lieber »Jack Crackers«, den »verrückten Jack«, doch sprach aus diesem Wortspiel nur der pure Neid. Kapitän Kemball war bei einem Teerennen von China nach London einmal der Erste und ansonsten immer unter den ersten Sechs gewesen, die mit der neuen Ernte in England angekommen waren. Daher waren er und sein Schiff sehr umworben von Männern, die unbedingt von den höheren Löhnen profitieren wollten, die auf den schnellsten Teeklippern gezahlt wurden, ungeachtet der Tatsache, daß Kapitän Kemball auch für seine Knausrigkeit, seine Härte und seine Unbeugsamkeit bekannt war. In dieser Hinsicht hatte Hannahs Anwesenheit an Bord der Mannschaft schon etwas Glück gebracht. Selbst Mr. Enright, der Erste Offizier, hatte sich in seiner Willkür soweit gemäßigt, daß er nicht mehr der bösartige Sklaventreiber voriger Reisen zu sein schien. Da sie es zudem fertiggebracht hatte, daß ihr Vater seinen Leuten manchmal zulächelte, wenn er hoheitsvoll auf der Poop einherstolzierte, und da sie sogar schon Strafaufschub für die Männer erschmeichelt hatte, wurde sie von der Mehrheit der Leute als guter Geist betrachtet. Natürlich gab es auch andere, die diese Meinung nicht teilten, doch galten Frauen an Bord zu jener Zeit noch nicht automatisch als Unglücksbringer. »Es hätte ja auch seine Ehefrau sein können, Jungs«, hob einer der Vorschiffsgäste zu philosophieren an, als die Wache, bis zum Bauch im Wasser stehend, eine Leebrasse belegte, während die Erl King mit der Steuerbordreling untertauchte und ihren langen Klüverbaum in den südlichen Himmel reckte.
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»Und wo wären wir dann?« Erleichtert kämpften sie sich aus dem Wasser, spuckten nach Lee und guckten nach achtern, wo Hannah am Kreuzmast stand und mit ihrem Vater ein nach Norden segelndes Schiff beobachtete. Der Wind preßte ihr die schwere Kleidung an den Körper und enthüllte den Betrachtern seine sanften Rundungen. »Mein Gott, wie gern würde ich...« »Hält's Maul! Die Offiziere kämen sowieso vor uns dran.« »Ach, Quatsch. Eine Frau wie die braucht einen richtigen Mann, nicht eine wandelnde Bohnenstange mit Lametta an der Mütze.« »Geiles Schwein! Sie ist jung genug, um deine Tochter zu sein.« »Aye, aber so einen alten Knoblauchstinker wie dich würde sie schon gar nicht anrühren.« »Ich kann's immer noch...« »Nur über die Leiche des Alten!« »Aye, Gopher, du kannst dich ja in Schanghai austoben.« Eine Lachsalve folgte dieser Bemerkung, dann zerstreuten sich die Männer. »Aye. Aber solche Titten gibt's in ganz Schanghai nicht«, murmelte Gopher melancholisch. Kapitän Kemball war sich der allgegenwärtigen Bedrohung für die Tugend seiner Tochter wohl bewußt. Doch war dies eine Gefahr, die man wie das Ertrinken durch Umsicht meiden konnte. Er wußte, daß Hannah vor den Matrosen sicher war; die würden sich höchstens durch Onanieren abreagieren. Doch bei den Offizieren, die praktisch auf Tuchfühlung mit ihr lebten, bestand immerhin die Gefahr, daß sie über der Leidenschaft den gesunden Menschenverstand vergaßen. Daher ließ Kapitän Kemball als der umsichtige und berechnende Mann, der er war, diskret durchblicken, was die Offiziere zu erwarten hätten, falls die Grenzen des Anstands je überschritten würden. Er hatte nichts dagegen, wenn seine Männer herumhurten, ganz gleich ob mit den hübschen chinesischen Blumenmädchen oder mit den geschminkten Nutten Albions. Ein Mann brauchte eben von Zeit zu Zeit eine Frau, irgendeine Frau, wie er selbst nur allzugut wußte. Doch die Schicklichkeit mußte gewahrt bleiben. Ein Brite hatte die Frauen seines eigenen Standes wie ein Gentleman zu behandeln, ganz gleich, wie hoch oder wie niedrig dieser Stand war. Kemballs Moralkodex ging deutlich weiter als der bloße Schutz eines Vaters für seine Tochter, und er verließ sich darauf, daß seine Offiziere wußten, wie er über die Sache dachte. Abgesehen davon hing ihr Leben und ihre Zukunft von ihm ab;
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selbst der leichtlebige Enright wußte das. An Bord der Erl King war John Kemball, und nur er allein, der Master nach Gott. Entgegen seinem langjährigen Vorurteil und zu seiner großen Freude entdeckte Kapitän Kemball, daß Hannah wißbegierig und von schneller Auffassungsgabe war. Bisher hatte er noch nie eine Frau gekannt, die in der Lage gewesen wäre, Nautik und Navigation zu verstehen. Wenn Frauen mit einem verwirrten Kichern auf nautische Fachausdrücke reagierten, hatte das der Kapitän immer als ärgerlich, wenn nicht gar als beleidigend empfunden; denn zur Beschreibung der Seefahrt waren diese Termini nun mal so geeignet, wie es eindeutiger nicht sein konnte. Bis zu einem gewissen Grad versöhnte Hannahs Interesse den Vater mit der Tatsache, daß sie ein Mädchen und nicht der Junge war, den er sich eigentlich gewünscht hatte. Auf der langen Überfahrt zum Südchinesischen Meer gab Kapitän Kemball daher sein Wissen an die Tochter weiter. »Weißt du, Hannah«, sagte er, »so ein Schiff muß man erspüren, man muß wissen, daß es wie ein Individuum reagiert. Alle Schiffe sind verschieden, selbst wenn sie nach demselben Konstruktionsplan gebaut sind. Nimm zum Beispiel die Erl King: Sie ist ein echtes Vollblut unter ihresgleichen, nicht so ein Ackergaul wie ein Blackwaller oder eine Onker-Barke.« Hannah hatte nur eine schwache Vorstellung davon, was ein Blackwaller war, und überhaupt keine, was eine Onker-Barke anging, aber aus dem geringschätzigen Ton ihres Vaters schloß sie, daß beide in der Hierarchie der Marine weit unter der Erl King rangierten. »Also bei einer Sturmbö, beispielsweise«, sagte Kapitän Kemball, beugte sich vor und nahm den kalten Zigarrenstumpen aus dem Mund. »Was würdest du den Herren von der Prüfungskommission erzählen, wenn du wie einer unserer Kadetten deine Prüfung zum Zweiten Offizier ablegen müßtest?« Hannah zuckte schwach die Achseln. »Na, hör mal... Natürlich würdest du die Rahen vierkant brassen und vor dem Wind ablaufen, bis die Bö nachläßt. Wenn du etwas anderes antwortest, werden die Prüfer dich gleich rausschmeißen, weil du dann nicht mal Wache gehen könntest auf einem Segelschiff.« Kemball schwieg, um die Spannung zu steigern. »Aber genau das wäre bei uns verkehrt! Fall' dann mit der Erl King um Himmels willen nur nicht ab! Sie ist nämlich ein Klipper mit hohen Untermasten und einer achtundsiebzig Fuß langen Großrah, und wenn du damit abfallen und vor den Wind
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gehen willst, dann packt er dich, noch bevor du ganz herum bist, von querein und drückt dich tief aufs Wasser. Dabei würde deine Leereling unterschneiden, so daß die Männer die Leebrassen nicht bedienen könnten. Und du würdest so harte und schnelle Fahrt machen, daß du die Toppsegelfallen nicht mehr loswerfen kannst, weil das Schiff zu stark krängt, als daß sie noch runterkämen!« Hannah wußte genug, um sich ein solches Horrorbild auszumalen, das um so entsetzlicher wirkte, als in ihrer Vorstellung bei diesem schrecklichen Ereignis rabenschwarze Nacht herrschte. »Nein, beim Heiligen Georg, einen Klipper mußt du dann anluven lassen wie eine Yacht. Bring ihn einen Strich höher an den Wind, so daß die Segel killen, bis die Bö vorüber ist. Er behält dabei immer noch genug Ruderfahrt. Wenn der Sturm dann nachläßt, leg' das Ruder einen Strich nach Lee, und weiter geht's. Dabei verlierst du keinen einzigen Zoll Luvraum!« Kemball steckte seine Zigarre wieder an, die den Salon mit blauem Rauch und dem schweren Aroma der Filipino-Stumpen füllte, und verlieh seinen Ausführungen damit den nötigen Nachdruck. »Aber du darfst nicht zuviel anluven! Wenn du so hoch an den Wind gehst, daß die Segel backkommen, dann wird der Sturm dir alle Stöcke herausreißen!« »Stöcke?« fragte Hannah unsicher. »Masten, Rahen, Segel, stehendes und laufendes Gut - die ganze Wuling fliegt dir dann um die Ohren...« Cracker Jack lächelte sein Wolfslächeln, als sei der Gedanke, so etwas zu riskieren, für ihn die reinste Freude. Hannah hörte in diesen kurzen Unterrichtsstunden mit gespannter Aufmerksamkeit zu, während sie Tag um Tag die wilde Schönheit der See um sich hatte, die Vögel, fliegenden Fische, die Wale und die Delphine. Erregt schaute sie zu, wenn die Erl King unter den Befehlen ihres Vaters wie ein Lebewesen erbebte. Sie begann das Schiff zu lieben wie ihr Vater. Anders als die Matrosen, die sich abplagen mußten, um den Klipper zum Laufen zu bringen, konnte sie die Erl King mit den Augen eines Ästheten betrachten, nach Art der alten Könige, die sich zuerst in ein Porträt ihrer Braut verliebten, ehe die Realität sie ernüchterte. John Kemball handhabte das Schiff trotz seines berechnenden Charakters mit der Sensibilität eines Liebhabers. Und wenn Hannah, zunächst zögernd und dann mit wachsendem
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Selbstvertrauen, bei gutem Wetter für kurze Zeit am Ruder stand, dann wurde ihr klar, warum die Erl King in der Chinafahrt bereits zu einer Legende geworden war. Der Klipper machte selbst in der leichtesten Brise noch Fahrt, konnte aber dennoch bei Sturm noch Luvraum gewinnen. Es gab viele gute Schiffe, gewiß, und deren Crews überboten einander dann in den Bordellen mit der Aufzählung ihrer jeweiligen Vorzüge, aber ein gutes Schiff und ein guter Kapitän - diese Kombination war selten. Das Seeverhalten eines Schiffes konnte sich bei einem Wechsel des Kapitäns durchaus verschlechtern, selbst wenn der Neue vorher ihr Erster Offizier gewesen war und seinen Vorgänger in allen Dingen nachahmte. Das war eine zwar seltsame, aber gleichwohl nicht zu leugnende Tatsache. Während die Erl King, die weißen Segelpyramiden hoch in den majestätischen Tropenhimmel reckend, mit Kurs Nordost quer über den Indischen Ozean auf die Sundastraße zuhielt, saß John Kemball nach dem Nachtmahl oft in Gesellschaft seiner Tochter an Deck und rauchte eine Zigarre. In der ruhigen Schönheit dieser Nächte offenbarte sich Hannah nicht nur sein immenses berufliches Können, er legte dabei auch stets etwas von seiner Seele frei. Das geschah nicht nur aus Zuneigung und Wertschätzung für seine Tochter, sondern auch aus Freude darüber, daß sie offenbar nicht die schwächliche Konstitution ihrer Mutter geerbt hatte. Als wolle er dieser Freude zusätzlich Nachdruck verleihen, erzählte er ihr auch zum ersten Mal von seiner Jugend, und Hannah erfuhr bei dieser Gelegenheit, wie die Erl King zu ihrem legendären Ruf gekommen war. »Meine Rivalen«, sagte Kapitän Kemball und lächelte, »behaupten, daß ich mit diesem Schiff verheiratet sei.« Er kicherte in die laue Dunkelheit hinein, ohne sich der Grausamkeit dieser Bemerkung bewußt zu sein. In Hannah regte sich so etwas wie schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber, und sie war froh, daß die Nacht ihr Gesicht verbarg. »Die Leute behaupten sogar, ich hätte mein ganzes Geld für sie ausgegeben... Aber du weißt, daß zumindest das nicht stimmt.« Er schwieg, und Hannah fragte sich, ob er etwa erwartete, daß sie zustimmte. Sie tat ihm nicht den Gefallen. Doch als Kemball weitersprach, wurde ihr klar, daß ihn wegen seines Verhaltens keinerlei Gewissensbisse oder Zweifel quälten, vielmehr schwelgte er in Erinnerungen. »Wie sie alle lachten, als die Erl King zum ersten Mal nach China kam und in Futschau ankerte! Das Großmaul Jack Kemball von
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der Queen Mob - einem Schiff, das für seine verschwenderischen Verzierungen bekannt war - fuhr nun als Erster Offizier auf einem nagelneuen Klipper, so schwarz und schmucklos wie ein Leichenbestatter! Ich sehe sie noch vor mir, wie sie über ihrem Reiswein grinsten und geknackte Melonenkerne ausspuckten wie chinesische Kulis. Ich aber schwor, daß jeder einzelne dieser Herren Kapitäne und Offiziere noch vor Ablauf von sechs Reisen aus Neid seinen Hut fressen sollte. Weißt du, Hannah, dein Großvater war der gewiefteste Reeder, von dem Lloyd's jemals eine Prämie bekam. Ich hatte schon als junger Mann für ihn gearbeitet, und er stellte mich als Offizier aufs Heck der Queen Mab, als ich so alt war wie du. Auf einer unserer Rückreisen hörte ich, daß er ein neues Schiff bauen ließ. Es war von einem brillanten jungen Mann entworfen, der gerade von der berühmten MacKay's-Werft in Neu-England heimgekommen war. Beim Bau sollte an nichts gespart und keine Ausgabe gescheut werden. Alle Tricks, die der junge Mann bei den Yankees gelernt hatte, und noch ein paar seiner eigenen dazu, sollten in diesen Klipper eingehen. Er sollte das eleganteste, schnellste, seetüchtigste, stärkste, leichteste, schönste Schiff werden, das je das trübe Wasser des Clyde River befahren hat, und war für den lukrativen Chinahandel bestimmt.« Als ihr Vater an seiner Zigarre zog, beschien die aufglimmende Asche plötzlich sein Gesicht: eine kurze, diabolische Erscheinung, die verschwand, sobald er wieder zu reden begann, verborgen hinter dünnen Rauchkringeln, die in der leichten Brise träge leewärts wehten. »Ich war deinem Großvater als Offizier auf der Mab aufgefallen. Die hatte ich wie eine Yacht geknüppelt, auf ihrem Deck war nie auch nur ein Tampen nicht an seinem Platz, und wenn wir im Hafen lagen, dann habe ich zwei Mann zwölf Stunden lang ihr Messing wienern lassen. Auch das an den Mastknöpfen, du weißt schon, die ganz oben im Masttopp. Aye«, seufzte er, »sie war wirklich mein Augapfel - bis ich hörte, daß dein Großvater die Erl King bauen ließ. Ich sah sie zuerst als Konstruktionszeichnung, dann als Halbmodell, das ihr Konstrukteur mir zeigte.« Kemball schwieg, als sinne er über einen intimen Moment seiner Vergangenheit nach. »Ich wußte sofort, daß sie ein Renner werden würde. Man sah es an ihren scharfen Rumpflinien, dem weichen Wassereintritt, am schwungvollen Klippersteven, und sie hatte auch nicht diese übertriebene Eleganz der Heckform, mit der sie zwar prächtig achteraus segeln können, dafür aber leicht von
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achtern einsteigenden Seen niedergedrückt werden. Ich mußte irgendwie an ihr teilhaben und sagte das auch dem jungen Mann. Er war ein komischer Kauz. Wenn du mit ihm sprachst, sah er geistesabwesend an dir vorbei, als suche er etwas hinter dir, etwas in weiter Ferne... Dein Großvater hatte ihm freie Hand gelassen, was mich zunächst wunderte, denn Reeder sind von Natur konservative Geizhälse. Sie sitzen auf ihrem Geld und halten nichts von Großzügigkeit, schon gar nicht gegenüber jungen, unbekannten Schiffbauern. Aber der alte Brummbär war ein ganz gerissener Hund. Der junge Mann machte nämlich genau das, was das Schlitzohr vorausgeahnt hatte: er entwarf ein Meisterstück. Sie legten sie also auf Kiel, verpaßten ihr ein neumodisches eisernes Spantengerüst, montierten Decksbalken und Planken; dann schlugen sie die Stopper weg, und sie glitt funkelnd und rasselnd ins Wasser, daß es sich am anderen Ufer des Clyde kaum kräuselte. Worauf die Werftleute in ein dreifaches Hoch ausbrachen.« Geübt schnippte Kapitän Kemball die glühende Asche seiner Zigarre in elegantem Bogen über Bord. »Aber eine Woche später hatten sie keinen Grund mehr zum Jubeln. Als die Rate für den Stapellauf fällig wurde und sie die Erl King nun ausrüsten wollten, erklärte man, die Kosten seien zu hoch. Der Vorsitzende des Eignerkonsortiums war an dem Komplott beteiligt. Er machte einen Rückzieher, knauserte bei allen Beschlägen und erst recht bei den Verschönerungsarbeiten, und die Ausrüstung des Schiffs wurde eingestellt. Ich erinnere mich noch gut an diesen Krach und an deinen Großvater, der gleichmütig zwischen dem Konstrukteur und dem Vorsitzenden des Eignerkonsortiums saß. Er wußte genau, was gespielt wurde, er hatte die ganze Sache nämlich eingefädelt. Er hatte den Vormann der Werfarbeiter bestochen, um sicherzustellen, daß beim Rumpf die Baubeschreibung bis auf den letzten Kupferroving eingehalten wurde. Was jedoch die Verzierung und anderen Firlefanz anging - nun, die brachten keine höheren Frachtraten ein, deshalb scherte er sich keinen Deut darum!« Kapitän Kemball zog eine weitere Zigarre aus der Dose, die er in der Brusttasche seines weißen Drillichjacketts stets bei sich trug. Gekonnt steckte er sie an, während Hannah ihrer Empörung Luft machte: »Und was wurde aus dem armen Konstrukteur? Wußte er, daß er betrogen worden war?« »Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß er nie wieder ein Segelschiff
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entwarf, sondern wegzog und sich fortan damit begnügte, Kessel für Dampfschiffe zu zeichnen.« »Aber das ist ja entsetzlich, Vater...« »So schlimm nun auch wieder nicht, meine Liebe. Schließlich fährt ein Schiffskonstrukteur, im Gegensatz zu einem Seemann, nicht zur See und riskiert außer seinem Ruf herzlich wenig.« »Trotzdem finde ich es abscheulich, so etwas vorsätzlich zu tun.« »Du darfst Gefühl und Geschäft nie miteinander vermengen, Hannah«, sagte Kemball scharf. »Der junge Matthew McAllister hat sein Honorar bekommen und ein Meisterwerk geschaffen. Nur sein Stolz ist verletzt worden, und das können die meisten von uns ohne Schaden überstehen.« »Hast du deswegen gesagt, das Schiff sei in Futschau so kahl und schwarz wie ein Leichenbestatter angekommen?« »Genau. Sie unterschied sich von der Queen Mab so stark wie wie...« ›Wie eine Nonne von einer Hure‹ hatte er eigentlich sagen wollen, suchte nun aber verzweifelt nach einem dezenteren Vergleich. »Wie ein Baptist von einem Bischof?« Kemball lachte. »Genauso«, sagte er, erfreut über Hannahs Schlagfertigkeit. »Sie hatte kein einziges glänzendes Messingteil an Bord, und ihre Kritiker zeigten mit den Fingern auf die dürftigen Kringel, die sie statt einer Galionsfigur trug. Dabei merkten sie natürlich, daß sie, wenn sie über ihren Skipper und über mich lachten, eigentlich eine verdammt schlechte Show abzogen. Die Dummköpfe behaupteten allen Ernstes, daß wir vor diesen gelben Barbaren das Gesicht verloren hätten, weil wir uns mit dem schmucklosen Schiff eine Blöße gäben. Sie meinten, die Chinesen würden ungestraft über diese rotgesichtigen fan kwei lachen, die sie für reich und mächtig gehalten hatten und die, wie sie nun sahen, genauso arm waren wie sie selbst. Einfach lächerlich! Ich kann dir sagen, Hannah, mit unserem schmucklosen Schiff wurden wir von der gesamten britischen Kolonie geschnitten. Und selbst als der Kapitän sich beschweren ging, nachdem wir mit den anderen einen Riesenkrach gekriegt hatten, sagte der Vizekonsul zu ihm, das hätten wir uns selbst zuzuschreiben.« Kemball lachte in der Erinnerung. Diesmal wirkte sein Gesicht, das erneut von der aufglühenden Zigarrenasche beleuchtet wurde, nicht mehr diabolisch, sondern strahlte wie das eines freundlichen Nikolaus. »Sie waren ganz einfach so dumm wie alle oberflächlichen
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Briten, Gefangene ihrer völlig unbegründeten Verbohrtheit, geradezu besessen von dem äußeren Eindruck, den sie auf die einheimische Bevölkerung machten. Nicht einer dieser selbsternannten Experten hatte die Schönheit ihrer Linien erkannt oder die Spannweite des Segelrisses. Auch nahmen sie die Aussagen ihrer verschüchterten Crew einfach nicht zu Kenntnis, daß sie in einem Drei-Tage-Sturm fünfzehn Knoten geloggt hatten, ohne mehr als die Marssegel gesetzt zu haben. Und diese elenden Dummköpfe hörten auch nicht zu, wenn wir erwähnten, daß bei uns selbst in den Kalmen noch die Bugwelle rauschte oder daß sie sogar in der Flaute immer noch steuerfähig blieb. Denn weißt du, Hannah, normalerweise geht ein Schiff bei Sturm gut nach Luv und ist dafür schwerfällig in der Flaute, oder aber es ist bei schwerem Wetter geradezu mörderisch, weil es dann jede Menge Wasser übernimmt, bei leichter Brise aber läuft es wie von Zauberhand. Mit der Erl King«, und hier beugte Kemball sich vor und tätschelte gefühlvoll das Deck, »besitzen wir wirklich ein Meisterstück, weil sie - und das wußte ich schon, als ich sie zum erstenmal auf Papier sah und später dann mit der Hand über ihr Halbmodell fuhr - weil sie bei Sturm oder Flaute gleich gut reagiert.« Wieder beleuchtete die Zigarre sein Gesicht, und Hannah fühlte mit diesem Mann, ihrem Vater, plötzlich eine starke Seelenverwandtschaft. Für sie war er nicht mehr ein Gott auf dem Olymp, er hatte seine Schwächen und konnte sogar grausam sein, doch in diesem Moment, da sein Gesicht durch die Dunkelheit schimmerte, fand sie, daß er ein Held war. »Natürlich glaubte uns niemand«, fuhr er fort. »Wir armen Simpel mußten eben, so meinten sie, aus verletztem Stolz ein bißchen Seemannsgarn spinnen. Und was die Offiziere der Erl King betraf, so wurden wir von den Kollegen auf den anderen Schiffen dermaßen geschnitten, daß wir meistens unter uns blieben und es auch ablehnten, an den jährlichen Barkassenregatten teilzunehmen. Allerdings hatten wir mit Hintergedanken einige Wetten abgeschlossen.« Er kicherte erneut, gutmütig und selbstgefällig, so daß Hannah unwillkürlich lächeln mußte. Sie wußte schon wie die Geschichte weiterging, denn der Beweis dafür umgab sie überall. »Sie haben mich verspottet, wenn ich in den Klub ging oder den Agenten aufsuchte. ›Da geht Jack Crackers, Erster auf einer Mißgeburt‹, riefen sie mir nach. Sie saßen auf der Veranda und nannten mich einen Toren, meinten, daß ich mich blamiert hätte, weil ich von der Queen Mab
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abgemustert hatte, hereingelegt von diesem alten Geizkragen... Ja, den Ruf hatte dein Großvater, das muß ich leider sagen, Hannah. Aber ich ließ mich nicht einschüchtern, und Mr. Len Kua, der Agent, hielt zu mir. Weißt du, ich kannte die Erl King. Ich war ihr Erster Offizier und wußte, wozu sie imstande war. Wir hatten es nur Len Kua zu verdanken, daß wir gute Frachtraten bekamen... Weißt du übrigens, wer der richtige Erlkönig war, Hannah?« »O ja, das weiß ich seit meiner Kindheit. Du selbst hast es mir erzählt.« »Hab' ich ganz vergessen.« »Er war der Elfenkönig und lockte kleine Kinder in den Tod. Ich fand diesen Namen für ein Schiff immer schrecklich.« »Manchmal«, sagte Kemball so leise, daß Mr. Munro ihn nicht hörte und auch nicht der Steuermann, »manchmal sollte man auch andere Mächte versöhnlich stimmen, nicht nur den Einen,
den die anglikanische Kirche kennt.« »Vater!« Aber irgendwie wirkte dieser Aberglaube hier nicht so blasphemisch, wie er in Islington gewirkt hätte. Auf die dunkle See starrend, konnte Hannah sich durchaus vorstellen, daß es Islington überhaupt nicht mehr gab, sondern nur den unendlich weiten Himmel mit seinen unzähligen Sternen. Kemball kicherte, und Hannah dachte wieder an die dunklen Mächte. »Wer gab dem Schiff den Namen, Vater?« »Wie? Ach so, ich glaube, das war deine Mutter...« Und wieder regte sich so etwas wie Schuldbewußtsein in Hannah, als fiele der Schatten ihrer Mutter auf sie. Wollte er sie bei all diesen schlitzohrigen Prahlereien daran erinnern, daß jedes Ding seinen Preis hatte? Ihr Vater überging die Erwähnung seiner Frau. »Nun ja, meine Liebe«, fuhr er fort, »jedenfalls haben wir's ihnen gezeigt. Denen blieben die Lästerworte später im Halse stecken. Sie hätten sich am liebsten in den Hintern gebissen, weil wir als Zweite nach England zurückkamen .Der gesegelten Zeit nach waren wir aber die schnellsten, fünf undneunzig Tage von der äußeren Barre bis zum Dock. Dein Großvater stürzte auf der Höhe von Tanjong Datu in einer Regenbö unglücklich und verletzte sich, deshalb brachte ich das Schiff heim und wurde auf der nächsten Fahrt dann ihr Kapitän!«
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An dieses Gespräch mit ihrem Vater dachte Hannah jetzt, als sie den Huangpu betrachtete. Unvermittelt drehte sie sich um, weil sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Aber dann schob sie den Gedanken als albern beiseite: Er war wohl nur durch das leichte Unbehagen hervorgerufen, das sie überkommen hatte, weil ihr Vater nicht an Bord war. Sie ließ den Blick über die Reede schweifen und wurde von einem Sonnenstrahl getroffen, der von einem Messingteleskop auf der Poop eines Nachbarschiffs reflektierte. Es war ein schnittiger schwarzer Klipper, der bis auf ein oder zwei Details Erl Kings Schwesterschiff hätte sein können. Von ihrem erhöhten Aussichtspunkt konnte sie auf seinem Heck den Namen lesen: Seawitch, London. Hinter dem Teleskop erkannte sie flüchtig eine Gestalt, einen Mann in Grau, sah, wie er nach vorn ging und das Fallreep aus Teaksprossen hinunterstieg, das über die Seite der Seawitch hing. Leichtfüßig sprang er in ein schwankendes Beiboot, das daraufhin schwungvoll von der Bordwand des Klippers abstieß, wobei seine blauen Riemenblätter in der Sonne leuchteten. Als es an der Erl King vorbei und auf die Anlegestelle für Ausländer zuglitt, schaute sein bärtiger Insasse zu ihr auf und lüftete seinen hohen grauen Hut. Errötend ob dieser unerwarteten Höflichkeit, drehte Hannah sich um. Sie war verlegen, weil sie nicht wußte, wie sie darauf reagieren sollte. »Das ist Dandy Dick, der Schwerenöter«, hörte sie einen in der Kühl arbeitenden Matrosen in dramatischem Flüsterton sagen. Sie kam sich etwas lächerlich vor und setzte sich auf eine Backskiste am Poopdeck. Wieder dachte sie an ihren Vater und daran, was er ihr alles über sich anvertraut hatte. Die Erl King war längst nicht mehr so schmucklos und schwarz wie ein Leichenbestatter, sondern profitierte inzwischen von einem solchen Maß an Zuwendung, wie Hannah es sich für ihre Mutter gewünscht hätte. Und doch konnte sie nicht umhin, das Schiff zu bewundern, denn die Erl King war jetzt zugleich auch Mr. Kemballs Meisterstück. Der Kapitän hatte dem Rigg und dem Rumpf von Matthew McAllisters Werk erst Leben eingehaucht. Auf die Hände gestützt, lehnte Hannah sich zurück und starrte an den Masten hinauf, zu den Meilen von stehendem und laufendem Gut, das sich kreuz und quer vor ihrem Blick verwob, sie aber längst nicht mehr so verwirrte wie früher. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie das Schiff auf seiner Jungfernfahrt ausgesehen
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hatte, doch es gelang ihr nicht. Hatte schon das Porträt des Schiffes sie vor langer Zeit in seinen Bann geschlagen, so machte die Wirklichkeit noch einen weitaus stärkeren Eindruck auf sie. Die Teakreling, gegen die Hannah sich zuvor gelehnt hatte, endete am achteren Niedergang in glänzenden Messingklauen. Die von den Kadetten täglich auf Hochglanz polierte Schiffsglocke hing an einem von zwei springenden Delphinen gebildeten Rahmen. Unter dem langen Bugspriet prangte der Erlkönig persönlich in schwarzen Stiefeln mit silbernen Sporen, während ihm ein scharlachroter Umhang von den Schultern wehte; sein stattliches Haupt zierte eine Krone, und sein Zauberschwert wies, nach vorn deutend, dem Schiff den Weg. Besucher auf der obersten Fallreepsprosse wurden vom reichen Schnitzwerk der Pforte begrüßt. Die Schotten unterhalb des Poopdecks waren mit dem Zauberwald des Erlkönigs bemalt. Masten und Spieren glänzten frisch lackiert, und einhundertfünfzig Fuß über Deck, über der Skyrah des Großmasts, funkelte eine goldene Krone. Die vollendete Meisterschaft, mit der chinesische Handwerker die Erl King fertiggestellt hatten, hätte selbst ihren Konstrukteur erstaunt, denn John Kemball hatte aus seinem Schiff in weniger als den prophezeiten sechs Reisen eine Schönheit gemacht. Dies also war das Schiff, auf dem Hannah während der sechs Monate nach dem Tod ihrer Mutter gewohnt und das Leben auf einem Klipper kennengelernt hatte. Nicht nur Gerissenheit und gute Seemannschaft im allgemeinen hatte sie erfahren, sondern auch ein Gespür dafür bekommen, wann man beispielsweise seine Skysegel setzen, die Royals herunterholen oder die Bramsegel reffen mußte, hatte einiges über Segeltuch gelernt und über die Knochenarbeit und das Blut, das aus der starren Schönheit erst ein Lebewesen machte, das schönste Werkzeug, das je von Menschenhand geschaffen worden war. Nachdem ihr Vater ihr verschwörerisch flüsternd und mit funkelnden Augen anvertraut hatte, wie die Erl King entstanden war, sprach er auch von Mr. Enright, dem Ersten Offizier. Als vom Unglück verfolgter Kapitän, der auf seinem Flußdampfer in den Stromschnellen des Jang-Tse einen Schiffbruch mit hohen Verlusten an Menschenleben erlitten hatte, hing Enright der Ruf eines ehedem kompetenten Seemanns an, dessen »schlechter Lebenswandel« ihn ruiniert hatte, ein Euphemismus, mit dem Mr. Kemball chinesische Huren und samsu, den hochprozentigen Reisschnaps, umschrieb, weil er Hannah gegenüber nicht allzu deutlich werden wollte. Er hatte Enright in der Gosse aufgelesen
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und ihn auf die Brücke eines Ozeanklippers gestellt, wo Wind und Wetter dafür sorgten, daß er wieder trocken wurde. Enright war ein mürrischer Mann, der durch die starke Persönlichkeit des Kapitäns in Schach gehalten wurde und durch die Verpflichtung Kemball gegenüber, der ihm etwas sehr Seltenes, nämlich eine neue Chance geboten hatte. Kemball erkannte, daß Enright ein Mann war, der - sofern nüchtern - von Schiffen viel verstand und der ohne langes Zögern für Disziplin sorgen würde, wenn die Umstände es geboten. »Wenn ich mal nicht mehr bin, Hannah, und das Schiff dir gehört, wie es eines Tages unweigerlich der Fall sein wird, dann mußt du Enright entlassen. Sonst wird er die Erl King ruinieren«, hatte ihr Vater in einem jener vertrauten Gespräche gesagt, die sie in letzter Zeit führten. Und er hatte hinzugefügt: »Fest angeschirrt ist er lenkbar. Aber wehe, er spürt die Peitsche nicht, dann geht er durch.« Seit diesem überraschenden Rat, der einer nachdenklichen Hannah zeigte, wie sehr ihr sonderbarer und vielgesichtiger Vater ihr inzwischen vertraute, hatte sie Mr. Enright immer mit dieser Warnung im Hintergrund betrachtet. Er war ein großer Mann mit buschigen dunklen Augenbrauen; seinem einst attraktiven Gesicht, das nun erschlafft und pockennarbig war, haftete wegen der stechenden, hellblauen Augen etwas Fanatisches an. Noch
immer umgab ihn der Nimbus einer legendären sexuellen Potenz, er hatte mit der Hartnäckigkeit der Wahrheit seine ruinierte Karriere überdauert. Selbst Hannah in ihrer Unschuld spürte seine grüblerische und düstere Anziehungskraft. Das Alter und sein ausschweifendes Leben hatten von Enright ihren Tribut gefordert. Sein Blick, wenngleich noch immer kraftvoll, war nicht mehr unwiderstehlich. Außerdem, fand Hannah, stach ihn der jüngere Zweite Offizier bei weitem aus. Mr. Munro war ein Schotte mit angenehmen Umgangsformen und brachte ihr ein aufmerksames Interesse entgegen, auf das Hannah mit einer kühlen Distanz reagierte, die noch ein Nachklang ihrer Erziehung in Islington war. Mr. Munro antwortete mit einer ebenso reservierten Höflichkeit, was einer erfahreneren Frau als Hannah sowohl seine gleichbleibende Wertschätzung als auch sein verletztes Ego signalisiert hätte. »Macht eine gute Figur, der junge Mann«, hatte ihr Vater gesagt, was indessen nicht spöttisch gemeint war. Hannah spürte am Ton ihres Vaters, daß er sich selbst
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ein wenig in Mr. Munro wiedererkannte. Je mehr Zeit verstrich, desto stärker wurde in Hannah der zunächst uneingestandene Wunsch, der Zweite möge eine gute Meinung von ihr haben. Zunächst hatte sie geglaubt, das sei nur auf ihr Streben zurückzuführen, von ihm in die Geheimnisse der Navigation eingewiesen zu werden. Später aber gestand sie sich insgeheim ein, daß seine Anziehungskraft weiter ging. Was nun Mr. Munro anlangte, so versuchte er behutsam, sie von ihrem Sockel als Tochter des Kapitäns herunterzuholen. Der Zwischenfall mit der Logleine am Spätvormittag war in dieser Hinsicht nur das letzte, wohl aber für ihn siegreichste Geplänkel gewesen. Abgesehen von den Kadetten und Osman, dem Steward, war der einzige weitere Mann in Erl Kings Crew, mit dem sie täglich zu tun hatte, Mr. Talham. Er sah von allen Offizieren zweifellos am besten aus, und dennoch war irgend etwas an ihm seltsam, fand Hannah. Ihr kam es so vor, als sei die Tatsache, daß er feingeschnittene Gesichtszüge und goldblondes Haar besaß, eine Konkurrenz für sie, denn auf Schönheit meinte sie ein Monopol zu haben. Irgendwie war James Talham im Vergleich zu Enright eine ganz andere Bedrohung. Wegen seiner Gegenwart machte sich Hannah zum ersten Mal in ihrem Leben Gedanken um ihr Aussehen. Doch viele dieser Empfindungen waren tief in ihrem Innern verschlossen, von ihr selbst kaum verstanden, gelegentlich störend, meist aber belustigend, da sie den Kern ihres Ichs nicht berührten. Denn zwischen Hannah und den Offizieren der Erl King stand immer noch als schützendes Bollwerk ihr Vater, und selbst wenn sie jetzt allein an Bord war, von ihm getrennt durch seine mysteriösen Geschäfte, fühlte sie sich absolut sicher. Alles in allem, dachte sie, während sie eine große Dschunke beobachtete, die hinter Erl Kings überhängendem Heck ein Wendemanöver fuhr, waren die letzten Monate so voll bemerkenswerter Erfahrungen gewesen, daß sie den Heimgang ihrer Mutter kaum betrauert hatte. Dann wurde sie in dieser Anwandlung von Schuldgefühlen unterbrochen, weil der Gong ertönte und daran erinnerte, daß im Salon das Mittagessen serviert wurde. Erst jetzt bemerkte Hannah, wie entsetzlich hungrig sie war.
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2 Da ihr Vater nicht an Bord war, durfte Miss Kemball als Reverenz an das schöne Geschlecht dem Mittagessen im holzgetäfelten Salon der Erl King präsidieren. Von diesem zentral gelegenen Raum unter der Poop gingen die Quartiere der Offiziere ab. Er war in Walnuß und Ahorn mit dekorativer Vogelaugenmaserung getäfelt und vom Schein der Petroleumlampe mit einem rosigen Hauch überzogen. Auf See wurde die Symmetrie seiner Einrichtung natürlich durch die Krängung des Schiffes beeinträchtigt; während die Lampen und das kardanisch aufgehängte Gewürzregal störrisch in der Vertikalen blieben, wich dann die bequeme horizontale Lage von Tisch, Stühlen und dem mit Knöpfen verzierten Kanapee einer schlingernden Schräglage. Jetzt aber, da das Schiff ruhig vor Anker lag, hätte der Raum ebensogut ein elegant möbliertes Speisezimmer in England sein können. Durch das geöffnete Skylight mit seinen acht blitzenden Rauten drangen Luft und Sonne herein, die ihr Licht auf die Tischdecke und das funkelnde Silberbesteck warf. Hinter den hochlehnigen Stühlen, die aus ihren Befestigungen gelöst waren, hantierte Steward Osman; er räumte die Suppenteller ab und stellte, bevor er das Kedgeree auftrug, ehrerbietig jedem einen neuen vorgewärmten Teller hin. Später, sagte Enright, würde er das Sonnensegel aufriggen. Da es geregnet hatte, war die Luft bisher rein geblieben, erst jetzt wehte der Gestank der Stadt wieder zu ihnen herüber. Enright übergab Talham eine Liste mit Aufträgen, die er während seiner Wache zu erledigen hatte. Die Kadetten am anderen Ende des Tisches schwiegen, um Mr. Enright nicht aufzufallen. »Mr. Enright«, sagte Munro, »da ich heute nachmittag Freiwache habe, würde ich Miss Kemball gern etwas von Schanghais Sehenswürdigkeiten zeigen, wenn sie mit diesem Vorschlag einverstanden ist. Ich bin sicher, daß der Kapitän nichts dagegen hätte.« Hannah hatte ebenfalls nichts dagegen, und das sagte sie auch. »Und falls der Alte die Gig braucht, wenn Sie nicht da sind, was dann?« grollte Enright. »Die Jungs sind zu schwach, um den Kutter zu pullen.« Die beleidigten Blicke der Kadetten entgingen Hannah nicht. Sie wußte, daß die Jungs in Höchstform waren und nötigenfalls sogar
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zwei Kutter pullen konnten. Aber sie waren zu klug, um zu protestieren. »Der Kapitän wird vor Mitternacht nicht zurück sein«, sagte Munro, und Hannah meinte den Anflug eines anzüglichen Grinsens zu erkennen. Sie wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, und empfand nur ein undefinierbares Unbehagen. Jedoch schien die Erwähnung der späten Rückkehr des Kapitäns Enrights halbherzigen Einwand zu entkräften. »Also gut«, stimmte er zu. »Ich bin Ihnen beiden sehr dankbar.« Hannah lächelte scheu, nicht ganz sicher, wie sie sich verhalten sollte. »Und Ihnen auch«, lächelte sie den vier Kadetten zu, die zurückgrinsten, begeistert von der Vorstellung, daß sie sich gegen eine halbe Stunde harten Füllens einen Nachmittag Freiwache erkaufen konnten. Die Kapitänsgig stand der Erl King an Eleganz nicht nach. Die Kadetten (deren Eltern die stolze Summe von fünfundsiebzig Pfund bezahlt hatten, nur um ihre Sprößlinge von Cracker Jack ausbilden zu lassen) trugen kurze Jacken und weiße Segeltuchhosen, als sie das tanzende Boot über den Hochwasser führenden Huangpu pullten. Hannah empfand, daß der Fluß dieses blitzblanken Beiboots eigentlich unwürdig war. Er bestand vornehmlich aus aufgewühltem Schlamm, Abfällen, Abwässern und unbeschreiblichem Unrat. Der irreführende Name seiner Reede - Garden Reach - wirkte wie blanker Hohn. Danach wand er sich zwischen Deichen träge gen Norden, um sich mit seinem mächtigen Bruder, dem Jangtsekiang, zu vereinigen. Die elegante Kapitänsgig wirkte wie ein Fremdkörper, als sie, mit Mr. Munro an der polierten Eschenholzpinne, zwischen den Sampans hindurchzog, geschickt in Luv von ihnen bleibend, um ihrem Gestank zu entgehen, und arrogant den Kurs einer seegehenden Dschunke kreuzte, die von Wind und Strömung flußabwärts getragen wurde. »Denken Sie nur«, sagte Munro, um seinen Passagier zu unterhalten, »die Chinesen sind mit solchen Dschunken schon vor fünfhundert Jahren bis zum südwestlichen Afrika gesegelt. Sie hätten auch das Kap der Guten Hoffnung gerundet, aber ihr Kaiser fand, daß es jenseits der Meere nichts gab, was der Entdeckung wert gewesen wäre. Er hielt China für den Mittelpunkt der Welt. Man muß sich das mal vorstellen: Wären sie damals weitergesegelt, sähe die ganze Welt heute anders aus.« »Sie meinen, daß dann heute auf der Themse Chinesen ihre Dschunken beladen würden - womit eigentlich, Mr. Munro?«
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»Vielleicht wäre Färberwaid für sie ein interessanter Artikel gewesen«, sagte Munro scherzend. Hannah lachte leise und starrte zu der langsam vorbeigleitenden Dschunke hinauf. Sie mutete mit ihrem hohen Heck geradezu exotisch unordentlich an im Vergleich zu der Disziplin, die an Bord der Erl King herrschte. Ihre drei mit Bambusleisten versteiften, steil aufragenden Luggersegel waren vielfach geflickt, und die an einigen Stellen leewärts flatternden Fetzen zeugten von der Selbstgenügsamkeit des verarmten China. Die Gig machte am Anlegesteg fest, und Hannah fühlte einen Moment Munros starken Arm ihre Taille umfassen, als er ihr über die bemoosten, rutschigen Steine half. Sicher geleitete er sie durch das Gewühl der Straßenhändler, Faulenzer und Bettler, die in der Hoffnung auf Käufer oder Almosen am Landesteg herumlungerten und die behaarten roten Barbaren bedrängten. Hannah sah sich mit unverhüllter Neugier um: Die dunstige blaue Landschaft, die auf dem Gemälde daheim den Hintergrund für die Erl King gebildet hatte, war nun Wirklichkeit geworden, und sie selbst ging, die Söhne des Himmels um Haupteslänge überragend, als fremder Teufel durch die Menge. »Ich fürchte, hier findet man Sie häßlich«, sagte Munro mit einem spitzbübischen Grinsen, als Hannah vor den starrenden gelben Gesichtern zurückwich; schwatzend und lachend deuteten die Chinesen mit den Fingern auf sie. »Ihre Kleidung empfindet man als extravagant, Ihre Nase ist zu lang, Ihr Mund unschicklich breit und - tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, Miss Kemball - Ihr Teint ist zu gerötet. Und was Ihr Über-alles-Maß angeht, so wirkt das hier geradezu elefantengroß.« Das jungenhafte Blitzen seiner Augen, die absolute Unrichtigkeit und Lächerlichkeit seiner Bemerkung, in der aber doch ein Körnchen Wahrheit steckte, ließen Hannah zurücklachen. »Vielen Dank, mein Herr«, sagte sie, von seinem fröhlichen Übermut angesteckt, und fügte hinzu: »Ich hoffe, Sie sind nicht der gleichen Meinung?« Aber sie bereute diese Worte, kaum daß sie ausgesprochen waren. Die Unbeschwertheit, die sie beide empfanden, mußte nach den Zwängen des Bordlebens wohl aus einem Gefühl der Befreiung heraus entstanden sein, so daß sie sich sogar eine ihr unvertraute Koketterie leistete. Dennoch konnte sie nicht leugnen, daß es sie freute, als Munro geschockt stehenblieb, so daß sie einen Schritt zurücktreten und ihn anschauen mußte. »Sie beleidigen mich«, sagte er leise und so verlangend, daß es
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ihr das Blut ins Gesicht trieb. »Sie beleidigen mich, wenn Sie meinen, ich könnte so etwas auch nur denken.« »Mr. Munro, ich...« Sie senkte den Blick, so daß die langen dunklen Wimpern Schatten auf ihre Wangen warfen. Munro errötete ebenfalls, dann traf sich ihr Blick; sie schaute ihn an und lächelte, verwirrt über seine eigene Verlegenheit, während sich grinsende, schnatternde, gestikulierende Chinesen um sie scharten und an Hannahs weitem Kleid zerrten. Dieser triviale, aber bedeutsame kleine Zwischenfall ließ eine neue Vertrautheit zwischen ihnen aufkommen, welche die künstlichen Barrieren des Bordlebens aufhob. Sie waren nur einfach zwei junge Menschen, die einen Ausflug machten und sich einander und ihrer Umgebung erfreuten. »Es heißt«, sagte Munro und ging weiter, »daß Ihr Vater mit der Erl King verheiratet ist, Miss Kemball. Dazu möchte ich nur bemerken, daß dies eine sehr glückliche Fügung war, denn dadurch sind Sie zu uns an Bord gekommen. Ihre Schönheit übertrifft die des Schiffes noch bei weitem.« Das war natürlich gelogen, aber Hannah lachte übermütig. In der nun folgenden Stunde machte Munro sie mit tausenderlei Sehenswürdigkeiten und unzähligen Düften, der wahren Essenz Schanghais bekannt. Fröhlich gingen sie unter den Transparenten mit ihren seltsamen Schriftzeichen hindurch, die von den halb verfallenen, grell übertünchten Häuserwänden hingen, und schlenderten durch Gassen, die zu bersten schienen vor Läden und Buden, in denen die Landesprodukte und bunten Erzeugnisse der Hinterzimmer-Werkstätten offeriert wurden. Hannah entdeckte Gemüse, die sie noch nie gesehen hatte, und Krüge mit unheimlichen oder widerlich aussehendem Inhalt, dessen Namen Munro nur zaudernd nannte: nicht zu verkennen, daß es sich um eingelegte Schlangen und verfaulte Eier handelte. Sie bewunderten Körbe und Matten, Schnitzarbeiten aus Elfenbein, Jade und Speckstein, aus Rosen- oder Ebenholz Souvenirs für die ausländischen Seeleute, die sich zwischen den bezopften Söhnen des Himmels wie außerirdische Exoten ausnahmen. Hannah musterte die Papierschirme und die quiekenden Milchferkel in Binsenkörben, aus denen ihre wildfuchtelnden Schweinsfüße ragten; sie verhielt an Buden mit Kohlefeuerbecken, auf denen woks brutzelten, große Eisenpfannen mit würzig-scharfen Gerichten, die, so fürchtete Hannah, sich bestimmt als Tintenfisch, Vogelnester, gebratene Heuschrecken oder als eine andere der tausend Scheußlichkeiten
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entpuppen würden, die diese fremdartigen, lächelnden, geschickten und lärmenden Menschen zu verzehren pflegten. Einmal mußten sie mit den anderen Passanten zur Seite treten, um einem Mandarin Platz zu machen. Ein Diener ging, aus einer Schriftrolle Titel und Rang des Würdenträgers verlesend, dem Baldachin voraus. Zöpfe hüpften in respektvollen Verbeugungen, als er vorbeizog, und Hannah sah mit fasziniertem Abscheu zu, wie seine vier Frauen auf ihren winzigen, eingebundenen Füßen hinterhertrippelten. »Sie findet man hier hübsch«, sagte Munro. »Das heißt - wenn diese Frauen wirklich schön wären, könnten sie überhaupt nicht mehr laufen.« Hannah starrte auf die unbezahlbare Seide ihrer Roben und die flachen, fast gleich aussehenden Gesichter. Die absurde Fremdartigkeit des Ganzen machte Munros letzte Erklärung für sie noch aufregender. Unwillkürlich griff sie nach seinem Arm, und ihre Blicke trafen sich. »Aber die Frauen vom Lande sind doch viel anziehender als diese - diese Puppen«, sagte sie. Er lachte. »Glauben Sie? Dabei lassen die Chinesen ihre Neugeborenen, wenn es Mädchen sind, entweder sterben oder aber sie verkaufen sie, nachdem sie ihnen die Füße bandagiert haben, für einen guten Preis...« Er verstummte abrupt. »Verkaufen sie?« fragte Hannah empört. »Als was denn?« »Oh, hm...« Munro errötete. »Als Sklaven, Dienerinnen und so.« »Aber warum verstümmelt man ihnen dann die Füße, wenn sie doch arbeiten und Lasten tragen müssen?« »Das weiß ich nicht«, sagte er verlegen, und Hannah merkte, daß er ihr auswich. Eine Rikscha rollte vorüber, ihr menschliches Zugpferd war so dürr wie eine Bohnenstange; nur eine verschossene Baumwollweste und eine Unterhose verhüllten seine jammervolle Gestalt, ein Strohhut beschattete sein altes Gesicht. In der Rikscha lehnte eine andere Puppe. Sie war in Seide gewandet, ihr Mund zu einer Rosenknospe ausgemalt, und ihre Augen waren dunkel umflort und geheimnisvoll. Unter der bestickten Brokatrobe schauten ihre bandagierten Füße hervor, und vor dem Gesicht bewegte sie gekünstelt einen Fächer. Hannah spürte einen Hauch von Verruchtheit an ihr, als sie vorbeizog, und sie sah, daß die Männer in der engen Gasse der geschminkten Frau mit Blicken folgten. Es war etwas Verbotenes, begriff sie, etwas, über das man in den ehrenwerten Häusern Islingtons nur zu tuscheln pflegte.
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Hannah kannte die biblische Gestalt der scharlachroten Hetäre und • wußte instinktiv, daß dies so eine Hure war. Als spüre er ihren Scharfsinn, vielleicht auch, weil ihm unter diesen Umständen seine ausweichende Antwort von vorhin nicht behagte, sagte Munro: »Ich vermute, daß auch sie als kleines Kind verkauft worden ist.« »In ein lasterhaftes Leben«, sagte Hannah. »Ich verstehe.« Munro schaute sie erstaunt an. Er wollte gerade etwas sagen, als eine dröhnende Stimme ihren Moment der Vertrautheit unterbrach. »Mr. Munro! Was zum Teufel machen Sie hier mit meiner Tochter?« Sie waren an einer Kreuzung angelangt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatten die Buden der überdachten Terrasse einer Taverne Platz gemacht. Sie war auf beiden Seiten von träge auswehenden Baumwolltransparenten umrahmt, auf denen in chinesischen Schriftzeichen ihr Name stand. Hannah und Munro fuhren herum wie ertappte Kinder. Inmitten einer Gruppe bärtiger Europäer, einige in Kapitänsuniform, andere in Zivil, stand ein wütend schnaubender Kapitän Kemball. Munro fluchte leise und setzte, nachdem er Hannah über die Straße geleitet hatte, zu Erklärungen an. Aber Kemball schob ihn beiseite und zog Hannah hinter sich her, um sie seinen Kollegen von den anderen Schiffen vorzustellen. Er war stolz auf seine Tochter, so stolz wie auf seinen stattlichen Klipper, und Hannah war zu sehr damit beschäftigt, sich ihre und die Namen ihrer Schiffe zu merken, als daß sie gleich erkannt hätte, wie betrunken alle waren. »Meiner Treu, du hast aber eine liebreizende Tochter«, rief O'Halloran von der Actaeon, während sein Blick auf Hannahs Busen verweilte. »Sie erinnert mich an mein erstes Schiff, eine kleine Bark mit bauchigem Groß...« »Ach, zum Teufel mit deiner Bark, Patrick. Hier, Hannah, ich möchte dir einen meiner langjährigen Widersacher vorstellen, den Mann, der mich vor Jahren hier in Futschau immer wieder verhöhnt hat, obwohl er damals nur dritter Offizier war: Kapitän Richard Richards von der Seawitch.« Er zog sie herum, so daß sie einem Mann gegenüberstand, der etwa zehn oder zwölf Jahre jünger war als ihr Vater und schlanker, aber mit dem gleichen vollen Bart, in dem kein einziges graues Haar zu sehen war, und mit Augen so schwarz
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wie Kohle. Kapitän Richards erhob sich, um sie zu begrüßen. Sein Gesicht wirkte düster durch den schwarzen Bart und die dunklen Augen, sein Verhalten war reserviert, beobachtend, jedoch über alle Maßen höflich. Er schien der einzig Nüchterne in der Gruppe zu sein. Richards trug einen taubengrauen Anzug und weiche Lederhandschuhe der gleichen Farbe, die er nicht auszog, als er Hannahs Hand ergriff. Seine Krawatte aus lavendelblauer Seide wurde von einer Perle gehalten, und seine Linke umfaßte einen Stock mit verziertem Jadeknauf. Er beugte sich über Hannahs Hand, und sie erkannte, daß es sich um den »Dandy Dick« genannten Mann handelte, der am Morgen zu ihr herübergegrüßt hatte. »Es ist mir eine große Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Kemball«, versicherte er. »Ich hatte auch einmal die Freude, Ihre arme Frau Mutter kennenzulernen. Bitte nehmen Sie mein aufrichtiges Beileid entgegen.« Er sprach mit einem leicht walisischen Akzent. Hannah ahnte, daß seine ruhige Stimme gedrosselt war, denn sonst konnte sie wohl einen Orkan übertönen und wurde noch in der obersten Mastspitze seines Schiffes vernommen. »Ich danke Ihnen«, sagte Hannah verlegen, denn sie war es nicht gewohnt, so plötzlich im Mittelpunkt zu stehen. Reumütig wurde sie sich schon zum zweiten Mal an diesem Tag der Tatsache bewußt, daß sie ihre verstorbene Mutter bisher kaum betrauert hatte. Diese Erkenntnis beschäftigte sie so, daß sie Richards' gegen ihren Vater gerichtete Spitze überhörte. »Nun, Richards«, erwiderte Kemball, als der Waliser Hannahs Hand freigab und sich, den Spazierstock zwischen den Knien, wieder an ihren Tisch setzte. »Sie und ich, wir schließen doch eine Wette ab für die Heimreise, oder? Was sagen Sie dazu?« Die anderen Kapitäne begrüßten diesen Vorschlag mit dem lautstarken Enthusiasmus von Schuljungen bei einem Fußballspiel. »Eine Wette! Los, Chang, du fauler Hund, wo ist das Buch?« Gebieterisch klatschten einige in die Hände, und schon erschien ein schlurfender Sohn des Himmels, servil nickend und mit dem Lächeln des ewigen Dieners. Er legte das Hauptbuch, in das die Klipperkapitäne jedes Jahr ihre Wetten eintrugen, mit einer Verbeugung auf den Tisch, und sofort schlugen ungeduldige Hände die entsprechende Seite auf. Plötzlich herrschte Schweigen in der Runde, und die Leute schauten Richards erwartungsvoll an.
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»Es könnte das letzte Mal sein, meine Freunde, wenn diese verfluchten Franzosen wirklich ihren verdammten Kanal durch Ägypten graben«, gab der Kapitän namens O'Halloran zu bedenken. »Blödsinn, Paddy! Die haben doch nicht die leiseste Hoffnung, damit fertig zu werden.« »Das Rote Meer liegt sechs Fuß niedriger als das Mittelmeer. Da läuft dann ja das ganze Wasser raus...« »Ich hörte, sie hätten die Bauarbeiten schon fast beendet, wirklich.« »Weißt du, solange in London Tee getrunken wird, solange wird's auch Teerennen geben.« Hannah hatte ihre anfängliche Verwirrung überwunden und merkte jetzt, wie betrunken ihr Vater und seine Kumpane waren. Hilfesuchend schaute sie sich nach Mr. Munro um. Der aber stand, gedemütigt durch die Arroganz seiner Vorgesetzten, im Hintergrund, unangenehm berührt von ihrem flegelhaften Benehmen und wütend darüber, daß sein vielversprechender Nachmittag mit Hannah so abrupt beendet worden war. Er sah sie mit der Andeutung eines beruhigenden Lächelns an, konnte ihr jedoch nur sein Unbehagen und Bedauern ausdrücken. Er tat Hannah leid, und sie begann sich über ihren Vater zu ärgern, denn auch ihr wurde jetzt klar, was ihr an diesem Nachmittag entging. Erst seit kurzem konnte sie ermessen, bis zu welchem Grad ihre einsame und verbitterte Mutter sie vor der Wirklichkeit bewahrt und wie zurückgezogen sie gelebt hatte. An diesem Nachmittag hatte sie zum erstenmal die Freuden jugendlicher Unbeschwertheit ausgekostet, hatte übermütig den ersten Blick auf eine gefährliche, abstoßende Welt geworfen, die kennenzulernen sie aber ein Recht hatte. Diese Gewißheit erregte sie. Daß ihr despotischer Vater das Abenteuer beendet hatte, empfand sie als grausame Ungerechtigkeit, zumal dem armen Mr. Munro die Enttäuschung deutlich anzumerken war. Aber sie fühlte sich gefangen, war unsicher, was sie jetzt tun sollte, und suchte verzweifelt einen Ausweg aus ihrer mißlichen Lage. Kapitän Kemball hatte sich von der allgemeinen trunkenen Begeisterung mitreißen lassen und prahlte vor seiner Tochter wie die anderen Klipperkapitäne mit den jeweiligen Vorzügen ihrer Schiffe. Niemand hatte daran gedacht, ihr einen Platz anzubieten, bis sie einen leichten Druck in den Kniekehlen spürte und sich
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umdrehte. Hinter ihr stand Chang mit einem Stuhl. Lächelnd dankte sie ihm und setzte sich. Eine kleine Schale mit grünem Tee wurde gebracht, und sie nippte, durch Changs höfliche Geste etwas besänftigt, an dem aromatischen Getränk, während sie die anderen beobachtete und ihnen zuhörte. »Also los, tragen wir die Wette ein. O'Halloran ist Zeuge.« »Holt euch den Teufel als Zeugen. O'Halloran wird nämlich auch wetten, wenn er erst die Bedingungen kennt. Laßt doch Willis oder Moore Zeuge sein.« Aber auch Willis wollte selber wetten, und Moore war aus Gründen der Moral gegen das ganze gottlose Geschäft. Er beschränkte sich darauf, mehr samsuzu bestellen. Kemball schaute sich um, und sein Blick fiel auf seinen Zweiten Offizier. »Ah, Mr. Munro! Kommen Sie her, junger Mann, und machen Sie sich nützlich!« Widerstrebend trat Munro näher. Sie machten Platz und legten das Wettbuch vor ihn auf den Tisch. Wieder wandten sie sich an Richards. »Also los... Was gilt die Wette?« »Ich habe noch nicht zugestimmt, Gentleman.« Hannah beobachtete die kohlschwarzen Augen, die Richards' Kollegen der Reihe nach anschauten. Von Zeit zu Zeit ruhte ihr Blick auf ihr, und sie nahm es mit einer Mischung aus Schuldbewußtsein und Willfährigkeit hin. Zunächst hatte sie diesen Blick lediglich als den typischen, in die Ferne gerichteten Blick des Seemanns empfunden, den sie von ihrem Vater kannte und der so streng wirkte, aber nur ein physiologisches Phänomen war. Jetzt aber merkte sie, daß Kapitän Richards' Blick mehr dem eines Falken ähnelte und bis unter die Haut ging. Mit unwillkürlichem Herzklopfen begriff sie, daß er ein Mann war, der sich mit Blicken ausdrückte wie andere Männer mit der Modulation ihrer Stimme, mit Gesten oder ihrer Haltung. Sie spürte, daß sie diesen Augen nicht begegnen konnte, und fühlte sich nackt vor diesem Fremden, viel nackter als sonst unter Enrights lüsternem Schielen. Als sie schockiert hochschaute, sah sie, daß alle Blicke, dem des Walisers folgend, an ihr hingen. Eine plötzliche Stille entstand. »Sehr gut«, brach Richards das Schweigen. »Worum wetten wir also, Kapitän Kemball?« Sein Ton war von einer so feierlichen Förmlichkeit, als sei er sich der Notwendigkeit bewußt, den Schuljungenspaß zu beenden und das Procedere mit dem gebührenden Pomp zu würdigen. Das
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erinnerte Hannah daran, daß die Wette ein Rennen der beiden Klipper über eine Strecke von rund fünfzehntausend Meilen betraf, bei dem etwa hundert Menschenleben und zwei wertvolle Schiffe aufs Spiel gesetzt wurden. »Ich vermute, die Wette ist eine Sache zwischen uns beiden? Zwischen der Seawitch und der Erl King !« Kemball nickte. »Aye, Richards, zwischen uns beiden. Wir wollen sehen, wer das schnellere Schiff und den besseren Kapitän hat.« Richards nickte, den Blick nun auf Kemball geheftet. »Auf meinen Sieg«, fuhr Kemball fort, »verwette ich meinen Zylinderhut und hundert Guineen!« »Schändlich wenig!« bellte O'Halloran. »Das reicht nicht. Ah, Sie erinnern mich an eine Witwe aus Skibereen, die so knauserig war, daß sie...« Doch O'Hallorans Reminiszenzen gingen unter in Gejohle. Den Zylinderhut einzusetzen, war üblich, die hundert Guineen ein fairer Preis, doch nicht genug, um dieses Rennen zu einem denkwürdigen Ereignis zu machen. Sie alle wußten, daß Jack Kemball ihnen den Spott, mit dem sie ihn vor etlichen Jahren bedacht hatten, nie vergessen würde und daß er Richards, einen Mann mit Fähigkeiten, die seinen eigenen nahekamen, immer gehaßt hatte. O'Halloran warf einen kurzen Blick auf Hannah. »Also los, Jack, alter Knabe! Die Erl King gehört Ihnen jetzt, da können Sie doch ein bißchen mehr einsetzen für solch eine Wette. Das ist ein denkwürdiger Anlaß, Sie werden doch nicht als alter Geizkragen in die Geschichte eingehen wollen?« Kemball war schockiert, obwohl ihn O'Hallorans Bemerkung nicht traf, und schlürfte seinen samsu, den der aufmerksame Chang soeben frisch gebracht hatte. Für einen Mann seines Standes waren einhundert Guineen wirklich großzügig, und wenn er auch nicht zu verlieren beabsichtigte, so war er doch selbst im Rausch noch ein zu erfahrener Seemann, um nicht zu bedenken, daß es Schäden an der Ausrüstung oder andere Mißgeschicke geben mochte, mit denen die unparteiischen Götter jede noch so schnelle Reise sabotieren konnten. »Also, verflucht noch mal«, sagte er zu Richards, O'Hallorans Stichelei überhörend, »nehmen Sie nun an oder nicht?« Aggressiv streckte er ihm die Hand hin, Richards aber blieb über seinen Jade-knaufgebeugt. »Sie fürchten wohl, daß ich Ihre Seawitch in Grund und Boden segle?« Beleidigt ließ er seine Pranke sinken.
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»Ich fürchte die Strafe für meine Sünden und sonst gar nichts«, sagte Richards endlich, und die Kraft seiner tiefen Stimme ließ alle verstummen. Sie tranken mehr samsu, den Chang beflissen nachschenkte. Wieder ließ Richards seinen dunklen Blick nachdenklich auf Hannah ruhen. »Kemball«, sagte er langsam, »lassen wir mal einen Moment dahingestellt, was Sie setzen. Klären wir zunächst, wie Sie sich die Reise denken.« Ein Seufzer der Entspannung ging durch die Runde. Alle warteten nun darauf, daß die Wette abgeschlossen wurde, damit sie ihre Nebenwetten plazieren konnten. Aber Kemball, der zu spüren glaubte, daß sein Sieg unmittelbar bevorstand, kniff berechnend die Augen zusammen. »Wir werden beide im Lauf dieses Monats in Futschau laden...« begann er. »Ich warte nicht, bis Sie geladen haben.« »Auch gut«, stimmte Kemball zu, denn bei allem, was mit seinem Schiff zusammenhing, waren Beladung und Trimm das einzige, wobei er verzögernde Gründlichkeit duldete. »Wollen wir sagen, daß das Rennen von dem Moment an läuft, wo beide Schiffe mit dem Laden beginnen'?« »Sie meinen, wir sollen beide mit dem Auslaufen aufeinander warten?« fragte Richards stirnrunzelnd. »Das wäre nur fair«, schnurrte Willis. »Ja, aber die anderen dürfen dann nicht vor uns laden«, sagte Kemball zu Willis, Moore und O'Halloran gewandt, bei denen dieses Ansinnen auf lautstarken Protest stieß. »Das is' 'ne Wette und kein verdammtes Monopol!« »Da spiele ich nicht mit.« »Wir machen es so oder überhaupt nicht«, bestimmte Richards. »Ich schlage vor, daß die ersten beiden Dschunken, die mit Tee den Min hinunterkommen, die Seawitch und die Erl King bedienen. Unseren Ballast stauen wir schon vorher, damit ihr anderen, sobald wir beide angefangen haben, laden könnt, wann ihr wollt. Nun, Gentleman?« Unter den Kapitänen ließ sich hier und dort grummelnde Zustimmung vernehmen. »Na gut, einverstanden, aber Sie haben ja gehört, wie hier gegen Ihre verdammte Schikane protestiert wurde. Also, Jack, alter Halunke, was ist Ihr Einsatz? Aber er muß soviel Kooperation unsererseits auch wert sein.« Willis und Moore stimmten O'Hallorans Bemerkung unisono zu. »Nun, Richards? Mein Zylinderhut und einhundert Guineen?« »Zunächst einmal«, sagte Richards bedächtig und verlieh mit
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seiner die anderen fast zur Verzweiflung treibenden Gelassenheit der Sache erneut eine gewisse Würde, »müssen wir die Wettkampfregeln festlegen. Ich schlage vor, das erste Schiff, das seinen Tee gelöscht hat...« »So dicht hintereinander kommt ihr doch nie an«, lachte Willis. »Nicht nach fünfzehntausend Meilen.« »Aye. War' schon ein Wunder, wenn ihr am selben Tag ankommt oder sogar mit derselben Tide«, fügte O'Halloran hinzu. »Also los, Dandy, keine Ausflüchte mehr! Akzeptieren Sie! Jack hat Ihnen seine Bedingungen genannt: seinen Hut und 'nen Hunderter. Nehmen Sie an?« »Nein.« »Warum denn nicht, zum Teufel? Wollt ihr hier noch lange sitzen und darüber diskutieren, ob ihr die Gasparstraße oder die Karimatastraße nehmt? Haltet in Gottes Namen unterwegs an, trinkt in Anyer Lor mit den Holländern Tee, macht von mir aus, was ihr wollt, aber bitte...« Aufgebracht schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die samsu-Schalen tanzten, und warf sich dann grollend im Sessel zurück. »Warum wollen Sie die Wette denn nicht annehmen?« fragte Willis mit schwerer Zunge. »Weil sie nichts taugt.« »Das hängt davon ab, was Sie einsetzen, Richards, Sie Hasenfuß«, fauchte Kemball, der in dem Maße, wie der samsu sein Gehirn benebelte, zusehends die Geduld verlor. »Nein. Sie taugt nichts, denn ihr fehlt die Würze.« »Die Würze?« brüllte Kemball. »Sie setzen nichts Persönliches, Kemball. Der Verlust Ihres Hutes und der einhundert Guineen würde Ihnen kaum wehtun.« »Auch die Ehre meines Schiffes steht auf dem Spiel...« »Zum Teufel mit Ihrem Schiff, Kemball, was das wert ist, weiß ich. Aber diese Wette ist eine ganz persönliche Angelegenheit zwischen Ihnen und mir, und das ist uns beiden klar.« Voller Argwohn gegenüber Richards' Andeutungen und wirr vom vielen samsu, runzelte Kemball die Stirn. Chang füllte geschickt die Schalen nach, die O'Halloran verschüttet hatte. »Setzen Sie etwas ein, dessen Verlust Sie wirklich schmerzen würde, Kemball«, lockte Richards und verlieh, sich vorbeugend, seinen Worten körperlichen Nachdruck. »Etwas, das ich genüßlich goutieren würde, allein schon wegen des Schmerzes, den der Verlust Ihnen bereitet. Na?« Bei dieser letzten Silbe stieß er den Kopf vor wie ein Hirsch, der dem Gegner mit dem Geweih
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den Bauch aufschlitzt. Der Entspannung war längst quälende Stille gefolgt. Eine eisige Vorahnung bemächtigte sich Hannahs. Dies war ein weiterer Blick in eine Raubtierwelt, die nichts mit den ihr vertrauten Konventionen zu tun hatte und sie ängstigte, aber auch erregte. Nach der Ausdrucksweise und dem Benehmen der betrunkenen Tischrunde zu urteilen, hatten alle ihre Anwesenheit völlig vergessen; alle bis auf Kapitän Richard Richards. Der durchbohrte ihren Vater mit Blicken, und dennoch konnte sie sich des seltsamen Eindrucks nicht erwehren, daß es irgendwo in diesem gewölbten Schädel mit dem dicken schwarzen Haar ein drittes Auge gab, mit dem er sie im Geiste völlig nackt sah. Entmutigt suchte sie nach dem beruhigenden Gesicht Munros. Doch der war zu beschäftigt und starrte, die Feder beflissen über dem Wettbuch gezückt, mit O'Halloran, Moore und Willis die beiden einander gegenübersitzenden Kontrahenten an. »Also, wenn Sie etwas einsetzen, an dem Sie wirklich hängen«, fügte Richards hinzu, »dann setze ich noch fünfhundert Guineen gegen Ihre einhundert.« Ein zustimmendes Raunen ging durch den Raum. Selbst Moore hatte in der allgemeinen Spannung seine hehren Prinzipien vergessen. Kemball ergriff die Rettungsleine, die Richards ihm zugeworfen hatte. Verwirrt durch die indirekten Anspielungen und den vielen samsu, hatte er bisher gezögert. Nun aber, da nicht mehr Geld von ihm verlangt wurde, sondern lediglich die bizarre Geste eines persönlichen Opfers, verstand er. In einer plötzlichen Eingebung schaute er auf. »Ich setze Erl Kings Galionsfigur.« Mit einem Laut, der halb Seufzer, halb Jubel war, begrüßten die versammelten Kapitäne diesen Vorschlag und schlugen dröhnend mit den Fäusten auf den Tisch. Moore rief nach mehr samsu. Draußen unter der Veranda hatte sich eine Menschenmenge versammelt, um die wettenden fan kwei zu beobachten und die rosafarbene Kreatur in ihrer Mitte anzugaffen. Als passionierte Wetter faszinierte die Chinesen diese Gemeinsamkeit mit den roten Barbaren. Aber Richards schüttelte den Kopf und forderte alle mit einer gebieterischen Handbewegung zum Schweigen auf. »Fügen Sie noch die Hand Ihrer Tochter hinzu, Kemball. Dann setze ich eintausend Guineen dagegen!« Hannah krampfte sich das Herz zusammen. Plötzlich herrschte erschrockenes Schweigen, das sich bis nach draußen fortsetzte.
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Munro war herumgefahren. Mit einem empörten Zischen sog er die Luft ein. Alle Blicke schnellten zu Hannah hinüber. Ihr schoß das Blut in die Wangen, das Herz hämmerte ihr in der Brust. Die Menschenmenge draußen, die in einem intuitiven Reflex, hervorgerufen durch das Erschrecken der Kapitäne, plötzlich geschwiegen hatte, fing wieder zu plappern an. Jemand mit etwas Englischkenntnissen erklärte, was da vorging: Zwei von den fan kwei seien gerade dabei, den Verkauf der großen Frau zu verhandeln. Ihr Vater wolle sie verkaufen, und der schwarze Teufel wolle sie zur Konkubine. Dieser Bericht wurde mit Gelächter quittiert; zeugten schon die Barte der fremden Teufel dafür, daß sie den Tieren näher waren als den Menschen, so wurde dies durch ihre Vorliebe für Frauen mit solch dickem Gesäuge noch bestätigt. Hannah, der nach dem ersten Erröten alles Blut aus den Wangen gewichen war, wurde leichenblaß, weil sie ihren Vater zögern sah. Vor Empörung außer sich, hatte sie reglos auf eine indignierte Reaktion Kernhaus gewartet, der sie in Schutz nehmen und Richards beschämen würde. Doch ihr Vater schwieg, und die Sekunden wurden zur Ewigkeit. Ängstlich schaute sie zu Munro hinüber, nicht ahnend, daß die unerhörte Unverschämtheit Kapitän Richards' ihm die Sprache verschlagen hatte. Ein tonloser Schrei stieg in ihrer Kehle hoch, sie griff sich an den Hals. Cracker Jack war ebenfalls schockiert, denn er sah sich konfrontiert mit Erinnerungen an das fragwürdige Brautwerben seiner eigenen Jugend. Er dachte an die anzügliche Bemerkung seines Rivalen, das einzige, was er fürchte, sei die Strafe für seine Sünden. Einen Augenblick schwankte Kemball, bis sein berechnender Verstand sich durch den samsu - Nebel gekämpft hatte. Richards wollte Hannah bestimmt nicht nur wegen ihres Aussehens, sagte er sich. Sie war doch noch ein Kind. Nein, dieser Hund wollte die Erl King und hatte ein Auge auf Hannahs Parten geworfen. Sollte er gewinnen (was unwahrscheinlich war), so würde er Cracker Jack von seinem eigenen Schiff vertreiben, hol ihn der Teufel. Kemball war wütend über den Nerv, den Richards hatte, aber es gab dabei noch anderes zu bedenken. Als praktischer Seemann besaß Kemball die Gabe, im Rausch Dinge zu erkennen, die ihm bei Nüchternheit entgangen wären. Da war die Sache mit Richards Einsatz von tausend Guineen. Abgesehen von der Tatsache, daß es schön wäre, soviel Geld zu gewinnen, durfte man daraus auch schließen, daß Richards an
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Hannah selbst gelegen war. Und als dieser Gedanke in Kemball erst zu keinem begonnen hatte, wuchs er schnell zur Überzeugung heran. Richards' in aller Öffentlichkeit abgelegte Bewerbung enthüllte ihm in diesem hellsichtigen Augenblick, daß den dunklen Waliser wirklich leidenschaftliche Gefühle für Hannah antrieben. Aber wenn er sich schon jetzt so hinreißen ließ, welche Auswirkung würde dann Liebe oder Begehren erst beim Rennen auf ihn haben? Würde er sein Schiff und seine Leute auf der Rückreise allzu hart knüppeln? Und würde seine Leidenschaft für Hannah Kemball nicht die Schwächen der Überheblichkeit und des Eigensinns, die jeden einsamen, mit Verantwortung beladenen Befehlshaber besonders gefährdeten, noch verstärken? Kemball kniff die Augen zusammen. Jetzt endlich spürte er einen leichten Vorteil gegenüber seinem Rivalen. Er konnte die höhnischen Bemerkungen O'Hallorans übergehen und Richards nun die Initiative entreißen. Das machte das Rennen wahrhaftig zu einem denkwürdigen Ereignis. Mit all seinem keltischen Bombast hatte Richards einen Narren aus sich gemacht. Nun würde er noch zu seinen Lebzeiten zum Teufel gehen. Kemball schaute seine Tochter an. Für ihn war sie in diesem Moment wieder die ungeschickte Kreatur, die sich in der Biskaya mit grünem Gesicht und an die blassen Wangen geklatschten Haaren in einen Eimer übergeben hatte. Ach, man brauchte sie doch nur anzuschauen... Hannah sah den verächtlichen Blick ihres Vaters auf sich ruhen, und Empörung, Demütigung und Angst machten sie sprachlos. Sie fühlte sich an dieser Farce irgendwie mitschuldig, denn auch in Munros abgewandtem Gesicht las sie einen stummen Vorwurf. Als wieder etwas Ordnung in ihre Gedanken eingekehrt war, begriff sie, daß sie zu einem bloßen Spielball geworden war. So mußte sich eine gegen ihren Willen verheiratete Braut fühlen, dachte sie, und sah ihre Mutter vor sich. Mit letzter Kraft zwang sie sich zur Ruhe, aber die damit verbundene Anstrengung machte sie wütend. Sie haßte ihren Vater, sie haßte Richards, und nur ein Streben beherrschte sie: daß sie, egal was jetzt geschah, dabei ihre Selbstachtung bewahren mußte. Und das war denn auch die einzige Fehlkalkulation bei den Überlegungen ihres Vaters: Hannah war nicht mehr die seekranke Kreatur aus der Biskaya. Aber da sie schwieg, blieb er mit der Selbstgefälligkeit des Betrunkenen bei seiner
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Fehleinschätzung, Richards habe überhaupt keine Chance zu gewinnen. Kapitän Kemball erlaubte sich den Luxus eines breiten Grinsens. »Abgemacht«, sagte er und streckte die Hand aus. Hannah verzog keine Miene, als die Herren Kapitäne von den Stühlen auf den Tisch sprangen und einander auf die Schultern schlugen. Sie hörte kaum das Gejohle um sie herum, als Richards ihrem Vater feierlich die Hand schüttelte. »Da iawn! Der erste, der an einem Londoner Kai mit dem Löschen beginnt, ist Sieger. Ihr Zylinderhut, Ihre Tochter und hundert Guineen gegen meine tausend.« »Schreiben Sie das auf, Mr. Munro«, befahl Kapitän Kemball, und der unglückliche Munro beugte sich über das Wettbuch und schrieb die Bedingungen nieder. Die anderen Männer kritzelten ihre eigenen Zahlen für die Nebenwetten hin. »Ich werde in zweiundneunzig Tagen von der äußeren Barre zum Chapman-Leuchtturm laufen, Willis. Durch die Tide bedingte Verzögerungen nicht mitgerechnet...« »Aber niemals! Nicht unter hundert Tagen in dieser Jahreszeit«, ereiferte sich Willis. Sie beugten sich über Munro, und der verstörte Offizier schrieb ihre Wette unter die erste. Dann richtete O'Halloran sich auf, sie riefen nach mehr samsu und nahmen ihre Plätze wieder ein. Nun, da sie ihr Verhalten etwas ruhiger betrachteten, kam eine verlegene Stille auf. Hannah musterte einen nach dem anderen. Trotz einer gewissen Loyalität für ihren Vater konnten diese ungehobelten Männer sie nicht mehr einschüchtern. Für sie waren es nun Männer, die - zu Hause vollkommene Gentlemen und Muster an Respektabilität, wenn sie ihre unrechtmäßig erworbenen Guineen in den Sammelkorb ihrer Pfarrkirche warfen - einer jungen Frau nicht einmal einen Platz anboten, wenn sie mit ihren albernen Schiffen prahlten. Männer, die einen Untergebenen erniedrigten, nur weil er ein Untergebener war. »Bevor du fragst, ob ich einverstanden bin, Vater«, bemerkte sie mit beißender Ironie und erhob sich, »bevor dir etwa Zweifel kommen, sage ich dir, daß du meine Zustimmung zu der Wette hast. Dich wird Kapitän Richards niemals besiegen.« Sie machte eine Pause, dankbar für die Aufmerksamkeit, die man ihr plötzlich entgegenbrachte, erfreut über die Überraschung im Gesicht ihres Vaters und gar nicht mehr verlegen wegen der tuschelnden, mit Fingern auf sie zeigenden, grinsenden Menschenmenge unter der Veranda. Sie spürte mit plötzlich
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erwachtem Selbstvertrauen, daß sie dank ihres Geschlechts und der Gunst des Augenblicks einen kleinen Vorteil hatte. Das war ihre Chance, die Arroganz dieser Männer zu unterminieren. Sich zu ihrer ganzen Größe aufrichtend, schaute sie Richards an und hielt dem Blick seiner kohlschwarzen Augen gleichmütig stand. Sie fühlte sich wie schwebend bei dieser Konfrontation und der nach dem betrunkenen Gejohle plötzlich eingetretenen Stille. Sie drehte sich nach Munro um. »Mr. Munro, Ihren Arm bitte...« An Richards gewandt, setzte sie hinzu: »Es wird mir eine Freude sein, Kapitän Richards, Sie in London zu empfangen. Aber ob als Sieger oder Besiegter, Sir, ich erwarte, daß Sie auf den Knien gekrochen kommen.«
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3 Die kühle Verachtung, mit der Hannah die Kapitäne verlassen hatte, wich einer Gereiztheit, die der arme Munro nun zu spüren bekam. Für ihn waren in dem Augenblick, als Kemball sie erkannt hatte, alle romantischen Hoffnungen verflogen, denn er wußte nur allzu gut, daß sich die heitere Unbeschwertheit zwischen ihnen nicht mehr herstellen lassen würde. Schweigend begleitete er Hannah zum Beiboot und zur Erl King zurück. Sobald sie ihre Tür verriegelt und sich auf die Koje geworfen hatte, verlor Hannah die mühsam bewahrte Fassung. Scham, Frustration und Wut überwältigten sie. Wut auf die Ungehobeltheit, die Vermessenheit und das mangelnde Einfühlungsvermögen ihres Vaters; Wut auf Munro, weil er bei ihrem Spaziergang ausgerechnet den Weg an der Terrasse vorbei gewählt hatte; Wut auf diesen Nachmittag, der so wunderbar begonnen und so entwürdigend geendet hatte. Vor allem aber empfand sie Wut darüber, daß in ihr das Gefühl eines schmerzlichen Verlustes brannte. Die Kapitäne hatten sie gedemütigt, hatten sie wie eine Sklavin stehen lassen, hatten sie auf eine Art in ihre kindische Wette einbezogen, die ihre Selbstachtung verletzen mußte. Dennoch ließ Kapitän Richards' offenkundige Leidenschaft sie nicht gleichgültig, auch wenn damit die warmen freundschaftlichen Gefühle, die sie für Munro empfand, durch etwas Gefährliches ersetzt wurden. Schließlich begannen das Gefühl der Demütigung und ihre Wut allmählich zu verfliegen. Was blieb, war bittere Enttäuschung. Es kam ihr so vor, als habe das Schicksal entschieden, daß sie die wirkliche Welt noch nicht sehen durfte, daß ihr erster Blick in die Realität Schanghais verfrüht gewesen war. Statt dessen mußte sie sich zunächst mit sich selbst auseinandersetzen. Ihr schien, als sei die Selbstgefälligkeit, mit der sie der Kulifrau die Logleine zugeworfen hatte, die letzte unbefangene Handlung ihrer Kindheit gewesen. Als sie sich etwas beruhigt hatte, wurde ihr klar, daß ihre Wut auf Munro töricht gewesen war. Das abrupte Ende des Nachmittags war die Schuld unseliger Umstände, nicht seine. Die entsetzliche Begegnung mit ihrem Vater und seinen Kumpanen machte es ihr unmöglich, ihre eigenen Wünsche und Gefühle weiterhin mit einem Achselzucken zu verdrängen. Der Übergang von der verklemmten Verschlossenheit Islingtons zu
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den harmlosen Flirts mit den Offizieren der Erl King war für sie eine angenehme Erfahrung gewesen. Selbst Enright mit seiner ständigen sexuellen Protzerei hatte an ihrer Zurückhaltung nichts zu ändern vermocht, und das hatte sie zufrieden als Beweis ihrer eigenen Tugend gewertet. Diesmal jedoch war es anders gewesen, in der Taverne war etwas geschehen, das sie ihrer Selbstachtung beraubt und sie dennoch überkommen hatte wie etwas, das sie schon immer gewußt hatte: ein Erwachen, vergleichbar dem Vorfall, als ihr Vater bei einem Seemann eine tiefe Schnittwunde versorgt hatte, wobei sie als Krankenschwester assistiert und die Bloßlegung des Knochens als Schock empfunden hatte. Sie wußte, was es war: das, was ihren Vater ins Bett des Dienstmädchens getrieben und ihre Mutter verbittert hatte. Hannah mußte die unliebsame Wahrheit erkennen, daß auch sie fleischliche Triebe hatte. Ihre isolierte und beschützte Kindheit, die lange Pflege ihrer Mutter hatten sie nur unterdrückt. Als sie sich zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatte, schrieb sie die Schuld wieder Munro zu. Er hatte so verhalten, so subtil und so plötzlich ein erstes Begehren in ihr geweckt, daß man meinen konnte, er habe sie bewußt auf Kapitän Richards' ungebärdigen Überfall vorbereitet. Aber ihre Wut auf Munro war letztlich nur ein Zeichen dafür, wie widerstrebend sie die Wahrheit über Richards akzeptierte. Es lag vielmehr an der gehemmten Unbeholfenheit des Untergebenen zwischen all den Kapitänen, daß er ihr wie ein Kuppler vorgekommen war. Erst jetzt wurde ihr klar, wie verletzt er sich gefühlt haben mußte, und er tat ihr leid. Und zuletzt wurde ihr klar, daß es die Einmischung Richards' gewesen war, die ihre keimenden Gefühle für Munro erstickt hatte. Der ganze Vorfall kam ihr jetzt vor wie ein schlechter Scherz, ebenso absurd wie der sonderbare Schönheitsbegriff der Chinesen, über den sie und Munro zuvor noch gelacht hatten. Sie beruhigte sich und setzte sich auf, griff nach ihrem Handspiegel und starrte fast ärgerlich hinein. So versuchte sie herauszufinden, was an ihr Richards zu seinem empörenden Vorschlag getrieben hatte. Ihr ovales Gesicht mit den grauen Augen war ebenso unscheinbar wie ihr braunes Haar; ihre Wangen waren zu sehr vom Wind gerötet, als daß man sie nach den Kriterien des Orients und des Okzidents als schön hätte bezeichnen können. Aber sie wußte, daß Richards sich ihren Körper nackt vorgestellt hatte. Sie hätte nicht sagen können, wieso sie dessen so sicher war
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oder warum dieses Wissen sie derart verstörte. Noch die Erinnerung daran weckte in ihr süße, aber gefährliche Regungen. Mehrere Minuten saß sie still da, als erwarte sie, daß Richards persönlich in der Tür erscheinen würde. Dann überkam sie Widerwillen und der vehemente Wunsch, sich an ihm zu rächen. Als sie sich auf die Koje zurückwarf und den Handspiegel fallenließ, war ihr selbst nicht bewußt, daß ihr hochmütiger Abgang aus der chinesischen Taverne nicht auf Wut und Demütigung, sondern auf dem Drang beruhte, Kapitän Richards als ebenbürtig gegenüberzutreten. Die Nacht wurde für Hannah zum Alptraum. Es war unerträglich heiß in ihrer verriegelten Kabine. Unruhig wälzte sie sich hin und her, starrte in die Dunkelheit und lauschte den Geräuschen des Schiffes. Zu dem Glucksen des sanft gegen die Bordwand schwappenden Wassers und dem langgezogenen Quietschen und Ächzen des Ruders kamen andere, lebhaftere Geräusche, die beunruhigend gut zu ihren eigenen aufgewühlten Gedanken paßten. Daß Hannah sich so unglücklich fühlte, kam zu einem großen Teil auch daher, daß ihr Vater nach der langen, anstrengenden Reise seine Entspannung auf die traditionelle Art der Seeleute gesucht hatte, nämlich indem er sich an Land betrank. Damit hatte er seine Tochter verlassen und ihr den Schutz seiner Gegenwart entzogen. Nicht, daß sie sich in unmittelbarer Gefahr befunden hätte, obgleich sie vor ihrer Tür eine leise Unterhaltung gehört hatte, bei der es um ihre Anwesenheit an Bord ging. Während die Hälfte der Crew an Land war und dort bestimmt ähnlich wie ihr Kapitän herumkrakeelte, war die andere Hälfte aus Gründen der Wacheinteilung dazu verdammt, an Bord zu bleiben. Stets darauf bedacht, in dieser lieblosen Welt jede Verdienstmöglichkeit zu nutzen, linderten die Chinesen diesen Zustand, indem sie mit »Blumendschunken«, schwimmenden Bordellen, zu den Schiffen kamen. Für einfache Matrosen, denen dieser Service zu teuer war, konnten mit Hilfe eines einladend über die Bordwand herabgelassenen Taus bedürftige Sampanfrauen an Bord geholt werden, die die gleichen Dienste zu einem erschwinglicheren Preis anboten. Und wen moralische Überlegungen oder Angst vor Krankheiten auf Distanz hielt, dem verkauften die Chinesen wenigstens samsu oder Opium. Trotz all ihrer ozeanischen Schönheit und der A 100+ Klassifizierung bei Lloyd's war die Erl King ein vom Laster zerfressenes Schiff. Hannah ignorierte es, als die
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Blumendschunken gegen die Bordwand rumpelten. Als sie aber Schritte und ungewohntes Kichern über sich hörte, war ihre Neugier geweckt. Sie setzte sich auf und starrte durch das geöffnete Bullauge. Keine zwanzig Fuß entfernt lag das hohe Heck einer Dschunke. Eine riesige Katze räkelte sich träge auf einem Hühnerkäfig, dessen brütende Bewohner leise glucksten. Kulis in dunklen Pyjamas befestigten Laternen an den Bambusspieren, und weitere Laternen wurden von unsichtbaren Händen an Erl Kings Reling gehängt. Sie hörte das aufgeregte Tuscheln der Crew und fürchtete, auch Munros Stimme zu hören. Allmählich wurde ihr klar, daß sie etwas beobachtete, das für europäische Frauen tabu war. »He, Mary, wieviel ein Mädchen?« Licht fiel auf ein altes Gesicht, verschrumpelt und braun wie gegerbtes Leder, die breiten Backen mit Altersflecken übersät, die Stirn durch Haarausfall verbreitert. Obgleich die Stimme der Kupplerin wegen ihres Alters krächzte, strahlte sie doch eine Autorität aus, die ihre Kunden in Schach hielt. »Was du wünschen, Johnnie? Ganze Nacht oder nur kurz fickfick?« »Wieviel englisches Geld für ganze Nacht?« »Gib mir ein Pfund Gold...« Diese überzogene Forderung wurde mit einem Protestschrei quittiert, aber das Hutzelweib ließ sich nicht beeindrucken. »Ich dir geben dafür zwei Stück Mädchen, viel gut, viel Erfahrung, viel gute Zeit Nummer eins...« »Na fein, Mary, dabei machst du immer noch ein tolles Geschäft.« Das war Enrights Stimme. Die Augen der Alten funkelten wie Kohlebrocken, als sie ihn erkannte. »Ah, Mr. Enright, da-foo, beste Nummer eins Offizier an Chinaküste. Nehmen einmal meine schönsten Mädchen alle zusammen«, wandte sie sich an den Rest der Crew, Enrights legendären Ruf geschickt nutzend und nebenbei gewieft Reklame machend. »Nehmen alle zusammen, zeigen Mädchen neue Tricks. Meine Kunden sehr erfreut. Welche wollen “da-foo“ ? Geben dir sehr viel Spaß.« Die Frau drehte sich um und winkte zwei Mädchen heran. Sie sahen noch aus wie Kinder und wirkten auf die schockierte Hannah wie Zwillinge. Ergeben, mit niedergeschlagenen Augen, standen sie da, in lange Brokatgewänder gehüllt, die ihre winzigen Brüste kaum zu heben vermochten. »Du mögen, Mr. Enright?«
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»Die sehen verdammt jung aus.« Die Alte protestierte. »Nein, nein! Sie sehr, sehr gut, sehr erfahren, geben dir speziell gute Zeit, viel fickfick, kommen alle zusammen, sehr nett.« Hannah verstand diesen Pidginschwall nicht ganz, doch folgten ihm drastische Kommentare der an der Reling versammelten Männer, deren groteske Schatten über die Dschunke fielen wie Illustrationen schierer Wollust. Ihr Respekt vor dem ranghöheren Enright ließ langsam nach, und ein Mann, erregter als die anderen, schrie: »Angucken, Mary! Du uns angucken lassen...« Dieser Zuruf wurde von den anderen mit begeistertem Geschrei, von der Alten hingegen mit Verwünschungen quittiert. »Du schmutziger kleiner Junge!« »Aber ich wollen auch angucken, Mary«, fuhr Enrights Stimme dazwischen, und Mary erkannte mit dem gewieften Blick der Puffmutter, daß sie die Männer am Haken hatte. »Du bekommen speziell, Mr. Enright.« Sie drehte sich um und sagte scharf etwas zu den bewegungslos dastehenden Mädchen. Eine von ihnen schaute zu Enright hoch und hob dann die Hand zu den Seidenschlaufen auf ihrer linken Schulter. Wie eine Statue dastehend, zog sie daran, die Robe fiel, und ihr schlanker Körper schimmerte hell im Schein der Laternen. Die Zuschauer an Deck schwiegen. Hannah sog scharf den Atem ein, als sie die großen konischen Brustwarzen und das dunkle Schamdreieck des Mädchens sah. »Schick sie rauf, Mary!« blökte Enrights Stimme in die Stille. Die Nacht füllte sich nun mit erneut geäußerten Forderungen, mehr von der Ware zu sehen. Als Hannah den Kopf zurückzog, schaute die Katze zu ihr hoch und leckte sich den Schwanz, um sich dann träge wieder auszustrecken. Hannah ging durch ihre Kabine und legte lauschend ein Ohr an die Tür, von Widerwillen und Faszination erfüllt. Die beiden Mädchen hatten so unschuldig gewirkt, als würden sie gegen ihren Willen festgehalten. Doch Enrights vertraute Schritte im Gang begleiteten nun das Gekicher und Geschwätz zweier erwartungsvoller junger Frauen. Der Schlag, mit dem Enrights Kammertür zukrachte, ließ Hannah zusammenfahren. Sie warf sich auf die Koje, bohrte den Kopf ins Kissen und versuchte so, das kreischende Lachen und Enrights wollüstiges Stöhnen zu ersticken. Lange Zeit lag sie fast wie im Krampf, und ein Reigen geiler Bilder tanzte vor ihrem geistigen Auge, von deren Herkunft sie keine Ahnung hatte und die sie in
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ihrer Unschuld als irreal beiseiteschob, die aber, wie die Neugier ihr versicherte, unmittelbar neben ihr Wirklichkeit wurden. Um sich davon zu überzeugen, hätte sie nur die Wand mit den bloßen Händen niederreißen müssen. Verwirrt, beunruhigt und beschämt fiel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf. Im Morgengrauen erwachte sie schweißgebadet. Das halb hochgerutschte Nachthemd klebte zerknüllt und feucht an ihrem Körper, und ihr aufgestecktes Haar, das sie vor dem Schlafengehen nicht gelöst hatte, hing ihr in lockigen Strähnen ins Gesicht. Sie empfand diesen Zustand als Strafe, denn nun fielen ihr mit stechender Schärfe die Ereignisse des Vortags wieder ein. Sie setzte sich auf und blinzelte durchs Bullauge. Die Blumendschunken waren verschwunden. Statt dessen lag der Huangpu ruhig unter dem perlgrauen Morgenhimmel. Wo die Lagerhäuser und Kräne mit ihren scharfen Umrissen die Linie des Flußufers unterbrachen, ging blasses Jadegrün in graublauen Dunst über. Selbst zu dieser frühen Morgenstunde war der Huangpu schon voller Menschen. Hannah atmete tief die frische Morgenluft ein, die immer wieder und sogar in Schanghai nach der Unschuld eines Neubeginns roch. Sie hatte gelernt, die Morgendämmerung zu lieben, und konnte es kaum abwarten, sich von den Verwirrungen des Vortags zu reinigen. Schnell kleidete sie sich an, warf einen Schal über die Schulter und steckte einige Haarsträhnen fest. Als sie auf die taufeuchten Planken der Poop trat, reckte sie das Gesicht empor, schloß die Augen und sog die Morgenluft tief in sich ein. Mr. Munro blieb stehen und starrte aus rotgeränderten Augen ihr emporgerecktes Profil an. Der volle rote Mund, das feste Kinn und die blassen Wangen, auf denen die langen dunklen Wimpern ruhten, kamen ihm vor wie Phantasiebilder seines ermüdeten Hirns. In ähnlich lustvollen Vorstellungen gefangen wie Hannah, hatte er seinem eigenen Verlangen nach Marys Mädchen nur im Gedanken an Hannah widerstanden, die allein in ihrer Kabine lag, während man auf dem Schiff zu seiner Schande den üblichen Ausschweifungen frönte. Mr. Munro hatte in dieser langen Nacht keinen Schlaf gefunden, sondern auf- und abgehend Ankerwache gehalten und über die harte Last der Tugend nachgedacht. Nun ließ Hannahs unverhofftes Erscheinen ihn erstarren; bewegungslos an der Achterreling stehend, beobachtete er sie. Hannah schüttelte den Kopf und öffnete die Augen mit einem Seufzer, der in der stillen Luft dreißig Fuß weit zu hören war. Sie
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starrte über den glatten Fluß und beobachtete eine ferne Dschunke. Der Tau kühlte ihre Haut, was sie wie eine Kasteiung für ihre unkeuschen Gedanken empfand. Sie schaute aufs Wasser hinunter, zu dem leeren Platz an der Bordwand, wo die Blumendschunke gelegen hatte. Unter ihr driftete aufgedunsen, mit dem Bauch nach oben und eine bläuliche Nabelschnur hinter sich herziehend, der winzige Leichnam eines neugeborenen Mädchens. Sie fühlte, wie sich ihr der Magen umdrehte und die Galle in ihre Kehle stieg, aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Der tote Säugling kam ihr vor wie ein warnendes Menetekel, als sei er geradewegs von den Speigatten der sündigen Erl King ausgespien worden. Sie schlug die Hand vor den Mund und stieß ein entsetztes Stöhnen aus. »Miss Kemball, was ist Ihnen?« Schon stand Munro neben ihr und erhaschte einen Blick auf das vorbeitreibende, gedunsene Wesen. Instinktiv zog er ihren schluchzenden Körper in seine Arme, und der Duft ihres Haars stellte seine Tugend auf eine harte Probe. Hannah sah zu ihm auf, in ihren Augen standen Tränen. »Hannah«, sagte er tiefbewegt, beugte sich hinab und küßte sie auf die Stirn. »Dies ist ein schreckliches Land...« Er hätte sie soviel lieber auf den Mund geküßt. »Dies ist China«, sagte er statt dessen sanft. Er fühlte, daß ihre Arme ihn trostsuchend umschlangen, und so standen sie da und versuchten noch etwas von der Stimmung des Vortags zurückzuholen, bis Munro den Sampan sah, der auf Erl Kings Fallreep zuhielt. »Verdammt«, murmelte er und löste sich sanft von Hannah. »Ihr Vater kommt...« Sie drehte sich um und erkannte die auf den Kissen liegende Gestalt. »Vielleicht sollten Sie jetzt besser nach unten gehen, Hannah«, fing Munro an, aber sie schnitt ihm das Wort ab. »Nein!« Es war Munro unmöglich, sich jetzt noch zurückzuziehen; wieder wurde er wie am Nachmittag zuvor ein hilfloses Opfer seiner Verpflichtungen. »Wo bist du bloß gewesen, Vater?« Hannahs empörte Frage traf Kapitän Kemball, als sein Kopf auf gleicher Höhe mit der Reling war. Er war blaß und hatte als Folge der ausschweifenden Nacht tiefe Ringe unter den Augen. »Wo ich war? Wieso? An Land natürlich. Geschäftlich...«
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Er warf Munro einen kurzen Blick zu, der keinerlei Vorwurf enthielt, sondern eine Spur von Reue und, von Mann zu Mann, die Bitte um Verständnis. Munro wollte nicht in einen Familienstreit hineingezogen werden und deutete deshalb stumm auf den Leichnam des Babys. »Du mußt dein Herz verhärten, Hannah. Wir sind eben in China«, sagte Kemball.
Da er seine Schuld damit abgetragen glaubte, fuhr er fort: »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Munro. Nun aber zu wichtigeren Dingen. Ich habe soeben Nachricht bekommen, daß die Ankunft des neuen Tees in Futschau unmittelbar bevorsteht. Für acht Glasen ist der Schlepper bestellt. Sorgen Sie dafür, daß die Männer dann klar bei Handspaken am Ankerspill stehen.« Munro nickte. »Aye, aye, Sir.« Kemball ging auf den Niedergang zu, blieb aber noch einmal stehen und drehte sich um. »Du solltest jetzt lieber mit nach unten kommen«, sagte er zu Hannah. »Mr. Munro hat zu tun.« Hannah und Munro wechselten einen kurzen, verschwörerischen Blick. Allein an Deck zurückgelassen, erlaubte Munro sich ein vorsichtiges optimistisches Lächeln. Unten in der Kajüte musterte Kemball seine Tochter. Die Nachricht aus Futschau hatte ihn erreicht, als er bei seiner Konkubine war, einer wunderschönen jungen Eurasierin, die in beachtlichem Luxus lebte, ausgehalten von mehreren Gentlemen, deren jeweilige Berufe gewährleisteten, daß sie niemals zur gleichen Zeit in Schanghai waren. Die Frau managte ihre Affären zur allgemeinen Zufriedenheit ihrer Kunden umsichtig und diskret. Und wenn auch den Nächten mit ihr das Feuer spontaner Leidenschaft fehlte, so wurde dies durch ganz andere Freuden und durch die Kultiviertheit der Umgebung mehr als ausgeglichen. »Ich hoffe, meine Abwesenheit hat dir nichts ausgemacht, Hannah?« fragte er, während er seine Krawatte lockerte. »Nicht das geringste, Vater.« Hannah wunderte sich selbst über die Leichtfertigkeit, mit der sie log. »Ich habe einen ruhigen Abend in meiner Kabine verbracht.« Kemball schaute sie scharf an, entschied, daß sie die Wahrheit sagte, und ließ es achselzuckend dabei bewenden. »Aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« »Sehr lieb von dir«, murmelte er und kämpfte mit seiner
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Hemdbrust. »Dazu bestand aber keine Veranlassung.« »Immerhin warst du betrunken, als ich dich das letzte Mal sah«, fügte sie schon mutiger hinzu. »Was - betrunken?« Stirnrunzelnd schaute er sie an, aber sie hielt dem Blick stand, und ihre Dreistigkeit irritierte ihn. »Wie kannst du es wagen...« »Wie kannst du es wagen, Vater«, unterbrach sie ihn, ohne wie sonst in Ehrfurcht zu erstarren. Er verstummte und versuchte verzweifelt, sich an Einzelheiten des letzten Nachmittags zu erinnern. Er hatte viel um die Ohren gehabt in den letzten schlaflosen Stunden: die Vorkehrungen für den Schlepper und die Zerstreuung seiner Maitresse. Er zwang sich zu einem matten Lächeln. »Komm, mein Liebes, du darfst mir das nicht übelnehmen, und dem Gauner Richards auch nicht. Der ist neidisch auf mein Schiff und hat nicht die geringste Chance, mich zu schlagen. Das weißt du doch?« Er schwieg stirnrunzelnd. »Selbstverständlich. Aber darum geht es nicht.« »Doch. Dieser Mann will deine Parten oder...« Er konnte nicht zugeben, was er insgeheim glaubte, selbst jetzt noch nicht. Nüchtern war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. »Du bist mir deshalb doch nicht böse, oder? O'Halloran meinte, du wärst wütend gewesen.« »Dann ist Kapitän O'Halloran offenbar feinfühliger als du, Vater. Selbstverständlich war ich wütend, denn du hast mich in aller Öffentlichkeit bloßgestellt. Ich war es, deine Tochter, die ihr da verschachert habt.« Vor Wut hatte Hannah jetzt rote Flecken auf den Wangen. Sie ballte die Fäuste, als sie sich vorbeugte, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Ach, komm«, sagte Kapitän Kemball mit einem nervösen Blick zur Tür. »Das war doch nur ein Scherz.« »Ein verdammt übler Scherz, Vater«, sagte Hannah heftig. »Ich verlasse mich darauf, daß du es Kapitän Richards absolut unmöglich machen wirst, an eine Werbung um mich auch nur zu denken, wenn wir in London angekommen sind.« Und ihren Vater mit offenem Mund zurücklassend, ging Hannah sich zum Frühstück umkleiden. »Recht so.« »Recht so, Sir. Kurs Nordwest zu West liegt an, Sir.« Kemball grunzte zufrieden und starrte durch sein Teleskop auf die graugrünen Hügel der kleinen Inseln, die zu beiden Seiten der Erl King vorbeiglitten, während sie sich der Mündungsbarre des River
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Min näherte. An der Heckreling stehend, beobachtete Hannah ihren Vater. Während der kurzen Reise von Schanghai nach Süden hatte sie tiefes Unbehagen gequält. Auch die Tatsache, daß er die Sache mit der verschwundenen Logleine übergangen hatte, konnte sie nicht trösten. Sobald die Erl King den Anker aus dem Schlamm von Garden Reach gebrochen hatte, war Normalität an Bord eingekehrt. Ihr Vater war wieder er selbst und die Crew seine ihm ergebene Besatzung. Als die Erl King zwischen Bambuswäldern und Reisfeldern flußabwärts geschleppt wurde, bis ihre Toppgasten aufenterten und die Gordings lösten, war jede Erinnerung an ihre Ausschweifungen mit dem Gestank und Gewimmel der Stadt achteraus geblieben. Hannah sah verbittert, daß sich diese Männer nicht in geifernde Monster verwandelt hatten und daß selbst Enright, dessen moralische Verkommenheit die schärfste Verdammung verdiente, unbeschwert auf dem Vorschiff stand und ihr zugrinste. Kein göttliches Strafgericht hatte vereitelt, daß in Wusung, wo zwischen dem chinesischen Fort und den ausländischen Kanonenbooten ein bewaffneter Burgfriede herrschte, die Schleppleine losgeworfen wurde. Kein strafender Unfall hatte die Seeleute ereilt, als sie die Segel losmachten und das Schiff auf dem schnellfließenden, gelbbraunen Wasser des Jangtsekiang seewärts rauschte. Nicht eine Spur von Reue hatte das gewohnte Bordleben getrübt, als sie die Tschuschan-Inseln hinter sich ließen und auf die Formosastraße zuliefen. An Bord wußte jeder, daß sie sich mit der Seawitch ein Rennen liefern würden. Erl Kings Besatzung schaute vorwärts, nicht zurück, und hatte den Garden Reach und die Blumendschunken von Schanghai endgültig vergessen. Nur Hannah hatte sich verändert, was sie jetzt, als sie sich der Mündung des Min näherten, wieder besonders stark spürte. Obgleich ihr in ihrer Unschuld wirkliche Erfahrung fehlte, war sie mit ihren ersten körperlichen Regungen nun versöhnt und weicher gestimmt, wenn nicht gar bezaubert von der Gewißheit, daß sie auf Mr. Munros Ergebenheit zählen konnte. In dem Maß, wie das grausige Bild des ertränkten Babys verblaßte, stellte es für sie weniger die verkörperte Unmoral des Schiffes dar als vielmehr den Leichnam ihrer eigenen Unreife. Sie hatte den schützenden Kokon ihrer puritanischen Erziehung gesprengt, und ihre Reaktionen waren jetzt von der gleichen aggressiven Unmittelbarkeit wie die der restlichen Besatzung. Hannah
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Kemballs durch das Leben auf See bedingte Wandlung war vollendet. Unter der geschickten Führung_Yon Kapitän Kemball rundete die Erl King, die Rahen bei jedem Kurswechsel umbrassend, den Warning Rock und die White Dogs und näherte sich vorsichtig den schäumenden Brechern über der Min - Barre. Im Westen, oberhalb der Brandung einer weiten Bucht, erstreckte sich eine hohe Bergkette. Am nördlichen Rand dieser Bucht lag ein Vorgebirge, dessen steil aufragender Gipfel auf der Karte als Black Head bezeichnet war. Dahinter formte ein Gewirr von kleinen Inseln, Hügeln und Bergen eine scheinbar undurchdringliche Barriere und schirmte ein Land ab, das ebenso unerforschlich war wie seine endlosen, den Fluten des großen Flusses ausgesetzten Reisfelder. Im Gegensatz zum Huangpu war der Min ein verschwiegener Fluß mit einem zerklüfteten, unzugänglichen Hinterland, trotz all der anglisierten Namen in der Karte der britischen Admiralität, nach der sie navigierten. Hannah spürte, wie die Spannung an Deck stieg, als die Erl King durch die Grundseen schlingerte. Hin und wieder vom Kompaß aufblickend, rief Kapitän Kemball seine Kommandos, die mit eindrucksvoller Schnelligkeit ausgeführt wurden, während sich das Schiff mit Hilfe sorgfältiger Peilungen einen Weg durch die Untiefen bahnte. »Shewan hat seine Normancourt genau hier auf eine Klippe gesetzt«, brummte Kemball, als sie sich plötzlich inmitten der Brecher befanden. Die Brandung um sie herum wurde stärker, erreichte auf der Sandbarre eine gewaltige, ständig wechselnde Höhe und fiel mit donnerndem Getöse wieder in sich zusammen. Weißer Sprühnebel schwebte über den zerstiebenden Seen, doch der Gesang des Lotgasten versicherte ihnen inmitten dieser chaotischen Szene, daß sie sich genau in der Fahrrinne befanden. Behutsam krochen sie über die äußere Barre. »Klar bei Brassen...« Kemball befahl einen weiteren Kurswechsel, der Rudergänger drehte das Rad, und die Rahen schwangen herum. »Scharfanbrassen, und setzt mir ja die Bulins überall so straff durch wie Harfensaiten!« Munro kam nach achtern, lächelte Hannah kurz zu und berichtete ihrem Vater: »Schlepper in Sicht, Sir.« »Ich hoffe, es ist die Undine«, brummte Kemball, »und nicht dieser alte Gammelpott Island Queen...« Er hob sein Teleskop ans Auge.
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Hannah konnte den niedrigen Rumpf eines kleinen Dampfschiffes ausmachen, das sich mit einer Rauchwolke über dem hohen Schornstein von der Insel Wufu her näherte. »Sieht aus wie die Cyclone«, meinte Munro und sollte recht behalten. Mit schäumenden Schaufeln querte die Cyclone, deren Name durch reiche Schneckenverzierung hervorgehoben wurde, arrogant den Kurs des Klippers. Leinen wurden übergeben, die Schlepptrosse folgte, die Segel wurden geborgen, und schon folgte die Erl King gehorsam dem Schlepper. Die Spannung an Deck ließ nach. Wenig später erhob sich die Insel Wufu vor ihnen, deren Steilufer eine üppige, betäubend duftende Vegetation bedeckte. Als sie in die Kinpai-Schlucht einbogen, ragte der zweitausend Fuß hohe Cockscomb vor ihnen auf. Wirbelnd schoß ihnen der Fluß durch die Schlucht entgegen und bremste ihre Fahrt, so daß Enright Zeit hatte, beide Wachen zu beaufsichtigen, die hoch oben auf den Rahen säuberlich die Segel unterschlugen. Hannah kam diese Schlucht vor wie das phantastische Tor zu einem verbotenen Land. Auf den überhängenden Klippen war keine Vegetation mehr möglich. Gespaltene Felsbrocken überragten sie, als der Bugspriet dem Rauchwolken paffenden Schlepper folgte. Schwefelige Schornsteinabgase wetteiferten mit den intensiven Düften, die von Land zu ihnen herüberwehten, während der Wind unstet durch die Schlucht fegte und die Erl King im Schneckentempo gegen die reißende Strömung ankroch. Doch schließlich wichen die Klippen zurück, der Fluß wurde breiter, und sie gelangten in offeneres Land. Wieder mußte sich die Fahrrinne zwischen Untiefen hindurchwinden. Sie zogen an den befestigten Dörfern Wisong und Pitao vorbei. Hannah starrte zu den exotisch geschwungenen Dächern der chinesischen Tempel und zu den Menschentrauben am Flußufer hinüber. Vor Ningpo fischte eine Sampanflotte, und am Ankerplatz wimmelte es von den Dschunken der Händler. Endlich, nachdem sie weitere fünf Stunden landeinwärts geschleppt worden waren, erreichten sie als erster Klipper den Cushan Creek und die lange Bucht der Pagoda-Reede, wo sie den Tee dieser Saison an Bord nehmen würden. »Ich bin geehrt, Sie kennenzulernen, Miss Kemball.« Hannah nickte dem hochgewachsenen, eleganten Chinesen, in dessen düsteres Handelshaus ihr Vater sie mitgenommen hatte, höflich zu. Mr. Len-Kua trug das prächtige Brokatgewand der Mandarine und beeindruckte Hannah mit seiner Adlernase und dem langen Hängeschnauzbart, der seinen gutgeschnittenen
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Mund umrahmte. Außerdem trug er lackierte Nagelschützer und auf dem stattlichen Kopf einen mit Knöpfen verzierten Hut, der sein kühles, würdevolles Gebaren noch unterstrich. »Mr. Len-Kua«, hatte ihr Vater erklärt, als sie über den Landungssteg von Futschau gingen, »ist der Kaufmann, mit dem die meisten von uns zusammenarbeiten. Anders als der Hafenmandarin, die hiesige Nummer Eins des Kaisers, ist er, jedenfalls nach chinesischen Maßstäben, auch ehrlich. Diese Ehrlichkeit hat ihn reich gemacht.« So reich, hätte Kemball hinzufügen können, daß es Len-Kua war, an den der vom Unglück verfolgte Kapitän Kemball sich um finanzielle Hilfe gewandt hatte, nachdem sein Klipper in einem Taifun schwer beschädigt worden war. Hannah spürte sofort, daß Len-Kua ein Gentleman war, und reagierte darauf mit anmutiger Höflichkeit. Kemball vermutete einen solchen Charakterzug in dem gelben Heiden natürlich nicht, für Hannah indessen war er offenkundig. »Bitte Platz nehmen wollen.« Len-Kua deutete auf niedrige, reich geschnitzte Stühle aus dunklem Holz mit roten Kissen. Eine adrette, hübsche Frau erschien und brachte kleine Porzellanschalen mit Tee und Gebäck. »Du zuerst hier sein, Kapitän John. Sehr gut.« »Wann trifft der Tee ein?« unterbrach ihn Kemball brüsk. »In zwei, drei, vielleicht vier Tagen«, entgegnete Len-Kua. »In den üblichen großen und kleinen Kisten.« »Ich möchte so schnell es geht mit dem Laden anfangen. Kapitän Richards wird bald eintreffen...« »Seawitch auslaufen von Schanghai einen Tag nach dir, zugleich mit Actaeon.« »Ho! Geht das aber schnell mit den Nachrichten. Na schön, ich brauche jetzt schleunigst den Kiesballast.« »Ballast wird morgen angeliefert.« »Gut.« Kemball nickte zufrieden, trank seine Schale Tee leer und nahm zwei oder drei Gebäckstückchen. »Sie haben gute Reise nach China, Miss Kemball?« »Ja, danke.« »Ihre Ankunft ist Freude und Ehre für uns. Sie haben bequem an Bord?« »O ja.« Sie lächelte zurück, etwas verlegen unter dem forschenden Blick des Chinesen, der sich nun wieder Kemball zuwandte. »Captain, ich habe da private Angelegenheit, wir müssen
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besprechen.« »Soll ich hinausgehen?« fragte Hannah und setzte ihre Teeschale ab. »Nein«, sagte Kemball kurz und hob abwehrend die Hand. »Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Tochter, Len-Kua. Worum geht's?« Bedächtig stellte der Agent seine Teeschale auf dem niedrigen Tisch ab und bedachte Hannah mit einem weiteren, fast sehnsüchtigen Blick. »Ich mit Ihnen nach England reisen möchte, Captain John.« Kemball machte keine Anstalten, sein Erstaunen zu verbergen. »Warum denn das, zum Teufel?« »Ich nicht möchte beantworten. Gehört private Sache. Sie nur sagen Preis.« »Wer wird hier unsere Interessen vertreten, wenn Sie weg sind? Sie sind für uns unersetzlich.« »Len-Kua alter Mann, Captain John. Manchmal alte Männer haben Grillen. Ich nicht Meinung ändern. Wieviel? Ich schon gute Frachtrate gemacht für Captain John, über sechs Pfund für Tonne, und ich viele Jahre geholfen...« »Ja, ja...« Kemball runzelte nachdenklich die Stirn. »Captain John ankommen erstes Schiff in London. Wir wissen von Schanghai, von Wette.« Kemball grinste. »Gut, Len-Kua, was ist Ihnen also die schnellste Überfahrt wert?« »Wieviel Sie wollen?« Kemballs Augen glommen wölfisch auf. »Ich will mein Schiff zurück. Alle Parten.« »Alle Parten! Kein Profit für Len-Kua für Ladung von dieser Reise.« Er nahm sich ein Gebäckstück. »Sie wollen nach London, Len-Kua, und von Futschau nach London ist ein weiter Weg.« Len-Kua schwieg und nickte dann. »Also gut, meine Parten.« »Im voraus.« »Aber Gewinn aus Parten erst fällig Ende von Reise.« Pfiffig schauten Len-Kuas Augen unter ihren Lidfalten hervor. Kemballs Gesicht verzog sich zu einem breiten, fast jungenhaften Grinsen. Er hatte ohnehin vorgehabt, mit Len-Kua über den Rückkauf der Parten zu verhandeln, aber nie zu hoffen gewagt, daß der Chinese sie so bereitwillig hergeben würde. »Abgemacht.« Len-Kua klatschte in die Hände, und sofort erschien die Frau
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wieder. »Samsu« befahl er, und sie besiegelten ihren Handel mit feurigem Reisschnaps. »Gut, Hannah«, sagte Kemball aufgeräumt, »wir werden also auf dem Rückweg einen Passagier an Bord haben.« »Zwei, Captain John. Len-Kua kommen mit Konkubine.« »Dies ist Cha Li Fu, Hannah«, sagte Kapitän Kemball und stellte Hannah einen verhutzelten alten Chinesen mit unendlich langem Zopf vor. Cha war einfach gekleidet und lebte in einer Art Künstleratelier, das über einem kleinen Teehaus in einer Seitenstraße von Futschau lag. Er verbeugte sich ehrerbietig. »Cha Li Fu sein Nummer eins Maler«, fuhr Kemball in seinem Pidgin-Kauderwelsch fort. Der kleine Mann verneigte sich geschmeichelt grinsend, und Hannah stellte fest, daß ihr soeben der Künstler vorgestellt worden war, dessen Bilder sie einst in dem schon fast vergessenen Haus in Islington so fasziniert hatten.
»Malen auf westliche Art, Missie«, sagte der winzige Mann. »Sehr geschickt, Klasse eins Arbeit. Lady und Gentleman Porträt in Öl. Nummer eins Windsor und Newton, jedes Schiff kommen Futschou längs.« »Ich möchte, daß er dein Porträt malt, Hannah.« Und bevor sie protestieren konnte, hatte Kemball sich schon wieder Cha zugewandt. »Du malen Missie Kemball, Cha. Du machen Topjob, genau wie mein Schiff, verstehen?« »Verstehen perfekt, Captain. Cha Li Fu immer machen Nummer eins Job. Diesmal erste Klasse schöne Missie.« Er lächelte sie an wie ein Satyr. »Zwanzig Dollar.« »Vielleicht, vielleicht...« Der Chinese wiegte den Kopf. »Zwanzig Dollar«, beharrte Kemball. »Vielleicht Porträt sehr wunderbar. Anderer Kapitän mir geben mehr Dollar... Du verstehen?« Erschrocken schaute Hannah ihren Vater an. Hier wußten doch hoffentlich nicht schon alle von der Wette? Nein, das war unmöglich... »Du machen Arbeit für fünfundzwanzig Dollar, oder ich dich schmeißen Treppe runter, elender Spitzbube!« brüllte Kemball. »Vater!« »Hör weg, Hannah. Nur so wird man mit diesen Heiden hier fertig, sonst ziehen sie einem das letzte Hemd aus. Glaub mir,
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John Chinafahrer versteht was davon.« Er umkreiste Cha. »Also los, hopphopp, nicht faule Tricks wie Affe, du sein zu verdammt langsam!« Der kleine Mann ging, unbeeindruckt von diesem Temperamentsausbruch, auf Hannah zu und schob sie sanft zurück. Sie fühlte die Berührung seiner trockenen Hände auf ihren Armen und ließ sich, rückwärts gehend, von ihnen dirigieren, bis sie in einem breiten, verzierten Stuhl saß, neben dem eine üppige Pflanze in einem prachtvollen Kupfertopfstand. »Ich komme bald zurück«, sagte Kemball. »Muß noch was mit Len-Kua besprechen. Heute abend essen wir im Klub.« Mit diesen Worten ließ er seine Tochter zu ihrer ersten Porträtsitzung allein. Kapitän Kemball war mit den Ladevorbereitungen dermaßen beschäftigt, daß er Hannah erlaubte, an Land zu schlafen, wo er sich mit ihr zum Abendessen im Klub der Kapitäne traf und einmal auch selbst übernachtete. Er hatte mit Chas Frau eine Anstandsdame für Hannah organisiert und zudem dafür gesorgt, daß Mr. Talham sie täglich zum Atelier des Künstlers geleitete. Hannah hatte den Verdacht, daß Mr. Talham mit dieser Aufgabe betraut worden war, um sie für ihren vertrauten Umgang mit Munro zu bestrafen, und daß er seinen Zweiten Offizier für diese vermeintliche Unverfrorenheit wie einen Sklaven arbeiten ließ. Das aber hatte zur Folge, daß Hannah sich, während sie reglos für Mr. Cha posierte, noch mehr zu dem armen Munro hingezogen fühlte. Hinter den Fenstern mit den tagsüber aufgezogenen Bambusrollos wirkten die blauen Bohea-Hügel, wo der Tee wuchs, wie dekorative Vignetten. Sie waren aber so weit entfernt, daß Hannah es mittlerweile aufgegeben hatte, sie für Wirklichkeit zu nehmen. Statt dessen wurden sie in ihrer Vorstellung zu Bildern, zu einer ätherischen Illusion, in der sie mit Munro glücklich wandelte. Aber stete Wiederholung machte auch diesen Gedanken langweilig, so daß sie schließlich vom Romantischen zum Profanen überging und sich nicht Munro, sondern Richards als ihren Liebhaber vorzustellen begann. Sie hatte doch das Begehren in seinem Blick gesehen und seine Gelüste, die ganz anders waren als Munros achtbare, konventionelle Gefühle.
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Richards erregte sie. In Chas Atelier überließ sie sich in Gedanken einer schwelgerischen Laszivität, zu der die exotische Atmosphäre noch beitrug. Ihre Rolle als Preis einer so wahnwitzigen Wette stachelte ihre Phantasie gefährlich an. Tief in derlei Gedanken verstrickt, nahm sie die Außenwelt am Nachmittag ihrer zweiten Sitzung gar nicht wahr, als das Tuten eines Schleppers sie aus ihrer Versunkenheit riß. »Missie, bitte nicht bewegen«, flehte Cha, und sein Blick wanderte hypnotisch flackernd zwischen der Leinwand und seinem Modell hin und her. Dann erfüllte wieder Stille den Raum. Der Geruch nach Leinöl und Terpentin, vermischt mit dem Duft von Räucherstäbchen, hing schwer in der Luft. Insekten summten einschläfernd irgendwo hinter den geöffneten Fenstern, und selbst der Gecko, die kleine, nach Fliegenjagende Hausechse, vermochte sie nicht zu interessieren, denn zu lang waren ihre Phasen gespannter Unbeweglichkeit. So überließ sich Hannah wieder ihrer köstlichen Trägheit. Plötzlich wurde sie durch polternde Schritte auf der wackeligen Treppe aufgeschreckt. Die Tür wurde aufgerissen und im Rahmen stand mit triumphierend glänzenden Augen Kapitän Richards. »Raus!« fuhr er Cha an und betrat den Raum, seinen Stock mit dem Jadeknauf hoch erhoben. »Raus!«
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4 Die warme, stehende Luft, die summenden Fliegen und die ruckhaften Bewegungen des Gecko, kombiniert mit dem asthmatisch schnaufenden Mr. Cha, hatten eine seltsame Intimität geschaffen, durch die Hannah sich einlullen ließ. Vor ihren Augen gaukelten Phantasiebilder, die durch die Ereignisse von Schanghai genährt wurden und die sie aus natürlicher Neugier faszinierten. Die schleichende Beharrlichkeit, mit der das Bild Kapitän Richards' das von Munro ersetzt hatte, war ihre ganz private Angelegenheit, ein ebenso unschuldiges wie harmloses Vergnügen. Jetzt aber stand er, umgeben von einer dunklen und erregenden Aura der Lüsternheit, persönlich in diesem schwülen Raum. Kapitän Richards' Grobheit ging nicht nur darauf zurück, daß er sich als Weißer Cha überlegen fühlte. Vielmehr war es eine Sache von nur wenigen Minuten gewesen, nach seiner Ankunft den neuesten Klatsch der Pagoda-Reede zu erfahren: daß Cracker Jacks Tochter dem Maler Cha Li Fu jeden Tag ganz allein Modell saß. Mit der ihm eigenen Impulsivität nahm Richard Richards diese günstige Gelegenheit sofort wahr, zumal sein Schiff gerade erst angekommen war und er noch den Vorteil der Überraschung hatte. Außerdem verbot ihm sein alarmierendes Wissen über Cha, untätig zu bleiben. »Glaubt dieser Narr von Kemball denn, daß die Chinesen alle kastriert sind?« murmelte er, ungeduldig an seinem Bart zupfend, als seine Kadetten ihn schwitzend an Land ruderten. »Gäbe es vielleicht so viele von ihnen, wenn dem so wäre?« Hatte dieser alte Geißbock ihr vielleicht schon von seinem präparierten Zuckerwerk angeboten? fragte er sich. Wußte Kemball denn nicht, daß es - wie einige Europäer dicke Frauen mochten - auch Chinesen gab, die die kräftigeren Frauen des Westen bewunderten? Und Cha war bekannt als geiler Bock. Jeder in Futschau wußte das doch! Richards' innere Unruhe und die Anstrengung des Bergauflaufens führten deshalb zu einem besonders ungestümen Auftritt. Keuchend drohte er mit dem Spazierstock und fuhr Cha abermals an: »Raus hier!« »Sir!«
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Entrüstet stellte sich Hannah ihm entgegen, allerdings nicht aus selbstloser Verteidigung des armen Mr. Cha, sondern weil Richards' Auftritt sie trotz seiner Grobheit wider Willen erregte. Wegen der Schnelligkeit, mit der sie nach dem langen Sitzen aufsprang, wurde ihr einen Moment schwindlig. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie versuchte das Gleichgewicht zu halten und setzte einen Fuß vor, rutschte aber von dem Podest herunter, auf dem ihr Stuhl stand. Haltsuchend griff sie nach der Topfblume, der Kupferkübel kippte um und spuckte Pflanze und Erde auf den Teppich. Mit einem Schritt war Kapitän Richards bei Hannah und fing sie auf. Ihr Straucheln war nur kurz gewesen; sie fing sich fast im selben Moment und richtete sich mit einer Abruptheit wieder auf, die zeigte, wie schnell sie sich ihrer Verwundbarkeit bewußt geworden war. Doch hatte dieser Augenblick lange genug gedauert, um Richards' Begehren in ein beständigeres Gefühl zu verwandeln und ihn jene intimen Geheimnisse an ihr entdecken zu lassen, die einen Mann seines Charakters fesselten: den Duft ihres Haares, die Süße ihres Atems, die Linie ihres Halses, die Festigkeit ihres Körpers - all diese Eindrücke bestätigten ihm die Richtigkeit seiner Wahl, die er schon getroffen hatte, als er sie zum erstenmal an Munros Seite gesehen hatte. Und in der Sekunde, bevor sich Hannah ihm entwand, spürte Richards auch ihr Verlangen. Ein weniger subtiler Mann hätte sie länger festgehalten, hätte ihre Gegenwehr bezwungen und vielleicht auch versucht, sie zu küssen; doch Richards tat nichts dergleichen. Er wußte ohnehin schon alles, was eine Verlängerung des Zwischenfalls ihm hätte verraten können. Als er sie zu ihrem Stuhl zurückgeleitete, lag etwas Sanftes in seinen Bewegungen, eine gewisse Besorgnis, was Hannah noch mehr verwirrte. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, Miss Kemball.« Seine weiche Stimme liebkoste sie mit so empörender Intimität, daß sie sich für ihre dumme Schwäche zu verfluchen begann. Ihre brennende Verlegenheit ging einher mit einem inneren Schmelzen, wie sie es seit dem Tag, als sie ihren Vater mit dem Dienstmädchen überraschte, nie wieder erlebt hatte. Die Erinnerung daran verstärkte noch ihre Empörung, rief ihr Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten ins Gedächtnis, welche die moralischen Wertmaßstäbe ihrer Mutter wieder herstellten. Ihr
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Mund verhärtete sich. »Das war unerhört, Sir!« Sie starrte Richards an und bekam die Oberhand, als er den Blick senkte. Jetzt erst merkte sie, daß Cha sich heimlich aus dem Raum geschlichen hatte. »Unerhört, den armen Mr. Cha so zu bedrohen.« Da schaute er auf und hatte wieder jene Schärfe im Blick, die seine Seeleute innehalten ließ. »Armer Mr. Cha sagen Sie?« fragte er mit vor Ungläubigkeit heiserer Stimme. »Armer Mr. Cha? Guter Gott, Mädchen, Sie wissen ja nicht, in welcher Gefahr Sie sich befinden.« Er ging rasch zur anderen Seite des Zimmers, vorbei an der Staffelei mit der feuchten Leinwand, und nestelte mit der behandschuhten Rechten an einem Stapel Gemälde, die auf einem niedrigen Tisch lagen. Mit einem inneren Stich, der sie Schlimmes ahnen ließ, bemerkte Hannah, daß sich sein Mund zu einem Lächeln verzog. Er riß ein Dutzend Zeichnungen aus dem Stapel, drehte sie so, daß sie sie von ihrem Sitz aus gut sehen konnte, und reichte ihr ein Blatt nach dem anderen. Sie war entsetzt. Wenn sie bisher überhaupt eine Vorstellung vom Koitus gehabt hatte, so war es die von Leibern, die sich in harmonischen Windungen umeinander schlangen, die aus romantischer Sehnsucht in vollkommener Vereinigung miteinander verschmolzen. Und obgleich diese Vorstellung in Schanghai um eine profanere Komponente erweitert worden war, hatten nicht einmal die zarten, unschuldig wirkenden Blumenmädchen dieses Bild ernsthaft zu ändern vermocht. Was sie aber jetzt zu sehen bekam, schien ihr ebenso schockierend wie unglaubhaft zu sein. Konnten menschliche Wesen sich wirklich so verrenken? War ein derartiges Anschwellen physiologisch überhaupt möglich? War es lustvoll, gleich zweifach penetriert zu werden? Am schockierendsten wirkte jedoch der Gesichtsausdruck der Teilnehmer auf sie: überirdisch, nichts weniger als engelsrein. »Cha zeichnet sie dabei«, sagte Richards heiser und brach damit die unheilvoll lastende Stille. »Sie machen es dort, auf dieser Couch...« Hannah starrte das Möbelstück an. Es sah so prosaisch aus, und doch schien die Aura zügelloser Ausschweifung in diesem Raum von ihm auszugehen. Sie fühlte den übermächtigen Wunsch zu weinen. Statt dessen stand sie auf und warf die Zeichnungen
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breitgefächert auf den Boden. Richards bückte sich, um sie aufzuheben, hielt aber bei einem Blatt inne. Nun begriff er, daß er zu weit gegangen war. Das Gesicht des Mannes, in Ekstase zurückgeworfen, war ihnen beiden nur zu gut bekannt. Er schaute zu Hannah hinüber und konnte nicht umhin, sie für ihre Selbstbeherrschung zu bewundern. Seufzend richtete er sich auf und legte die Zeichnungen wieder an ihren Platz. »Mr. Cha?« rief Hannah laut, als er sich umdrehte. »Mr. Cha!« Der alte Künstler erschien, einen argwöhnischen Blick auf Richards werfend. »Missie?« »Kapitän Richards möchte gehen...« Doch als sie sich umdrehte, war Richards schon verschwunden. Es war charakteristisch für Cracker Jack, daß er auch eine Verantwortung übernahm, die traditionell eigentlich dem Ersten Offizier oblag. Doch auf der so überaus wichtigen Rückreise war Kapitän Kemball nicht bereit zu delegieren. Ein anderer Erster Offizier hätte sich über diesen Mangel an Vertrauen vielleicht beschwert, nicht aber Mr. Enright. Zwischen ihm und Kemball bestand stillschweigend Einvernehmen darüber, daß der Kapitän sich in Schanghai seiner Kurtisane erfreuen durfte, während Enright sich dann beim Landgang in Futschau ausleben konnte. So kam es, daß in Futschau Kemballs ganze Energie der Erl King und ihrer Ladung galt. Er ging davon aus, daß sein Rivale Richards ähnlich beschäftigt war. Aber während der Kapitän der Erl King in Hemdsärmeln persönlich das Verstauen der mit Leichtern zum Schiff gebrachten Teekisten überwachte, delegierte Kapitän Richards diese Arbeit vertrauensvoll an seine Offiziere und ging an Land. Er wußte: wenn Talham von seinem täglichen Geleitdienst zurückgekehrt war, saß Miss Kemball allein dem chinesischen Künstler Modell. Hannah hatte absolut kein Interesse mehr am Fortgang der Arbeiten an ihrem Porträt. Ihrer täglichen Sitzung in Chas Atelier kam sie nur aus Schwäche nach, lustlos schickte sie sich in das Unvermeidliche. Sie war, wenn sie ihn im Klub traf, nicht eben höflich zu ihrem stark beschäftigten Vater, zog sich frühzeitig zurück, und nur seine Berichte über die zügig verlaufende Beladung der Erl King vermochten sie etwas aufzuheitern. Als Lebewesen der See, zu dem sie inzwischen geworden war, hatte Hannah nur den einen Wunsch: auszulaufen, wieder in der unermeßlichen Weite des Ozeans zu sein und im Wettrennen um den Sieg die in China erlittene Schmach zu vergessen. Weder sie noch Cha erwähnten die Erotika auch nur mit einem Wort, obwohl
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der Künstler gemerkt haben mußte, daß sich jemand an ihnen zu schaffen gemacht hatte. Hannah saß pflichtbewußt still oder trank Tee und entspannte ihre schmerzenden Muskeln, wenn in regelmäßigen Abständen Chas Frau erschien und der alte Mann eine Pause einlegte. Fünf Tage noch dauerten diese Sitzungen, und Hannah, die nicht wußte, wie lange ein Ölbild zum Trocknen brauchte, wäre nicht im entferntesten auf den Gedanken gekommen, daß Cha zwei Porträts malte, das zweite für Kapitän Richards, der hinter einem Bambusschirm die ganze Prozedur beobachtete. Nicht ahnend, daß Kapitän Richards ihren Sitzungen insgeheim beiwohnte, konnte Hannah auch nicht wissen, daß es unter den Besatzungen der auf Reede liegenden Schiffe ein offenes Geheimnis war, daß sie und Kapitän Richards beim Maler Cha ein tägliches Stelldichein hatten. Dieser Skandal war der Klatsch der Saison, wenngleich Cracker Jack selbst nach Art des Hahnreis nichts davon erfuhr. Die Besatzungen der beiden rivalisierenden Schiffe empfanden diese Treffen als zusätzliche Würze ihrer Wette. Erl King und Seawitch hatten, sich peinlich genau an die Bedingungen haltend, den ersten Tee übernommen, und während das Gerücht auf der Seawitch schadenfroh begrüßt wurde und den Nährboden für weitere Nebenwetten bildete, war heitere Zuversicht an Bord der Erl King eher die Ausnahme. Zweifel oder das Gefühl, irgendwie in Stich gelassen worden zu sein, herrschten vor, je nachdem, ob der Klatsch geglaubt wurde oder nicht. Da niemand die beiden wirklich zusammen gesehen hatte, blieb bei denen, die Hannah kannten, ein leiser Zweifel bestehen. Besonders Mr. Talham schwor, das Ganze sei pure Erfindung. Er versuchte, Munro zu besänftigen, und war im übrigen froh, daß Enright in irgendeinem Bordell versumpft war und nicht intervenieren konnte. Nicht alle sahen das so gelassen. Besonders bei den einfachen Matrosen herrschte Enttäuschung vor. Der Sinn für Romantik, den Hannahs Gegenwart in ihren leeren Herzen hatte keimen lassen, wurde zynisch mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Letztlich war auch sie nur ein wetterwendisches Weibsbild. Was konnte man von einer Frau schon anderes erwarten? Die waren doch alle gleich. Als Seeleute besannen sie sich wieder auf Werte, auf die man sich, wie die Erfahrung gelehrt hatte, verlassen konnte. Und aus dieser Einstellung heraus begannen sie, wie besessen für Kemball zu arbeiten, den hintergangenen Vater, ein unseliger Narr wie sie selbst. Ruhige Entschlossenheit überkam sie: Sie
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würden so sicher wie das Amen in der Kirche diesem walisischen Gecken schon zeigen, daß es überhaupt nichts einbrachte, mit leichten Weibsbildern zu schäkern. Unter dieser allgemeinen Frauenverachtung litt Munro am stärksten. Ihn quälte eine akute Depression, denn seine enttäuschte Liebe schmerzte wie eine offene Wunde. In stummer Wut stürzte er sich dermaßen in die Arbeit, daß sogar sein ahnungsloser Kapitän beeindruckt war. Munro würde einen verdammt guten Ersten Offizier abgeben, dachte Kemball, während er den jungen Mann mit dem Blick des Experten taxierte. Es wurde bald Zeit, Enright den Laufpaß zu geben. Am Spätnachmittag ließ Mr. Cha Hannah wissen, daß sie nun nicht länger für ihn zu posieren brauche, worauf sie sein Atelier zum letzten Mal verließ. Von Chas Frau begleitet, kam sie zur selben Zeit im Kapitänsklub an wie ihr Vater. Kemball hatte in all diesen Tagen nicht ein einziges Mal mit seinen Kumpanen auf der Veranda gezecht, dazu war er viel zu beschäftigt gewesen, und außerdem wollte er so unmittelbar vor dem Rennen nicht gerade Richards in die Arme laufen. Hannah und er hatten stets auf seinem Zimmer gegessen, wobei er gewöhnlich erst nach Hannah im Klub eingetroffen war. Seine frühe Ankunft an diesem Abend erklärte er damit, daß die Ladearbeiten praktisch abgeschlossen waren. Mr. Len-Kua war benachrichtigt und der Schlepper bestellt. »Pack deine Siebensachen, meine Liebe. Noch heute abend gehen wir an Bord.« Grinsend schaute er sich in der leeren Bar um und rieb sich zufrieden die Hände. »Und wie steht's mit dem Porträt?« Hannahs Stimmung hob sich, als sie dies hörte. Sie war so erleichtert, Futschau bald entkommen zu können, daß ihr das Porträt völlig gleichgültig war. »Ich glaube, es ist fertig«, sagte sie uninteressiert. »Bild fertig, Kapitän.« Der hohe Singsang von Mr. Chas Stimme erklang wie auf Stichwort eine Sekunde, bevor er selbst auf der Bildfläche erschien. Säuberlich in eine Bastmatte gehüllt, war das Porträt schon vor drei Tagen trocken gewesen. Nun wickelte Cha es bedächtig aus und stellte seine Ähnlichkeit mit dem Original zur Schau. Er hielt es vor Kemball hin und beobachtete mit hellen Augen seine Reaktion. Kemball musterte das Porträt, es schien ihm sehr gut getroffen; er lächelte zustimmend. »Sehr gut, Cha. Nummer eins erste Klasse Topjob.«
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»Cha immer machen Nummer eins erste Klasse Job, speziell für Captain.« »Das ist wirklich jeden einzelnen der zwanzig Dollars wert, die ich ihm versprochen habe.« »Vater! Du hast ihm fünfundzwanzig versprochen!« »Captain sprechen klein' Spaß, Missie. Alten Cha ärgern wollen.« Kemball schaute von seiner Tochter zu Cha, aber Cha war ihm offenbar durchaus gewachsen, denn er fügte hinzu: »Captain sehr erfreut, haben wunderschöne Porträt von wunderschöne Tochter, er geben Cha dreißig Dollar.« Die Hand, die er aus dem farbbeklecksten Gewand streckte, war so klein und faltig wie die eines Affen. Schaudernd dachte Hannah daran, wie diese Hände sie am Anfang berührt hatten. Wie hatte sie das nur sinnlich finden können? Kemball war in Hochstimmung, deshalb grinste er nur und übergab Cha dreißig Dollar. »Sein guter Gentleman, Captain«, sagte Cha und verließ unter unzähligen Verbeugungen den Raum, wobei er schon emsig die Münzen zählte. »Hat er dich anständig behandelt und gut auf dich aufgepaßt?« fragte Kernball zerstreut. Hannah dachte an Chas erotische Zeichnungen. »Recht gut, Vater.« »Er ist ein wahrer Künstler«, erklärte Kemball, als verstünde er etwas davon. »Wie ich höre«, sagte Hannah, die sich schon viel besser fühlte, »versteht er sich wirklich darauf, seine Modelle ganz originalgetreu wiederzugeben.« »Ja, er ist ein gerissener Schlaukopf.« »Ich fand seinen Stil ziemlich raffiniert«, sagte Hannah in dem Wunsch, ihren Vater dafür zu bestrafen, daß er sie vernachlässigt hatte. »Raffiniert? Tja also, wenn du meinst...« Kemball rief nach mehr samsu. »Hast du auch selbst für ihn posiert?« »Ich hab' dir doch erzählt, daß mein Porträt, das zu Hause hing, von ihm gemalt wurde. Genau wie das Schiff.« »Auch das mit dir und der Chinesin, Vater?« Kemball schnaubte seine Verblüffung in den samsu und starrte Hannah offenen Mundes an. »Ich habe Mr. Chas pikante Zeichnungen gesehen, Vater...«
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»Aber ich...« Er wurde puterrot und rang nach Worten. Hannah erhob sich mit einer Würde, die sie nie zuvor empfunden hatte. Sie spürte, daß sie endlich die Oberhand hatte. »Komm, es wird Zeit, daß wir an Bord gehen. Schließlich haben wir ein Rennen zu gewinnen.« Das wüste Durcheinander, das offenbar auf der Erl King herrschte, fiel Hannah sofort ins Auge, als sie das Fallreep hochgeklettert war. Von den Rahen und Stagen hingen Taljen, die sie noch nie gesehen hatte, in der Kühl stapelten sich Lukenbretter, und die sonst weißgescheuerten Decksplanken verunzierten schwarze Fußspuren und ausgehustete Schleimbrocken. Ein großes Aufgebot von Männern wieselte an Deck umher, und erst als sie auf der Poop angelangt war, sich umdrehte und über das allgemeine Chaos schaute, wurde ihr klar, daß darin eine gewisse Ordnung lag. Mr. Munro war der Wachoffizier. Hannah fing nur einen kurzen, kalten Blick von ihm auf, dann eilte er aufs Vorschiff, um mit dem Bootsmann und einer Handvoll Matrosen das Ankeraufgehen vorzubereiten. Handspaken wurden ins Gangspill gesteckt, die Männer formierten sich darum und begannen im Kreis zu trotten, bis die Lose aus der Ankertrosse geholt war. Vor ihrem Bug erkannte Hannah jetzt den Schlepper, aus dessen Schornstein dicke schwarze Rauchschwaden quollen, deren Ruß zusammen mit dem Teestaub Erl Kings Deck mit einer schmuddeligen Schicht überzog. Die letzten Teekisten wurden an den Taljen über die Bordwand gehievt. Von außenbords erscholl ein Ruf. Ein Matrose rannte zum Doppelpoller mittschiffs und warf die Trosse der letzten Dschunke los, die mit der Strömung abzutreiben begann. An ihren Masten holten drei Männer an den Fallen, während auf dem Achterschiff eine Frau ihr Kind stillte und dabei stoisch in einem Wok auf dem Holzkohlenfeuer rührte. Kapitän Kemball bellte seine Kommandos, und Munro kam nach achtern, um zu melden, daß der Schlepper die erste Leine fest hatte. »Wo zum Teufel steckt Mr. Enright?« fragte Kemball. »Habe ihn noch nicht gesehen, Sir«, antwortete Munro, um sich sofort wieder einem Matrosen zuzuwenden, der nach achtern gerannt gekommen war, um ihn nach der Logleine zu fragen. Munro warf Hannah einen anklagenden Blick zu. Sie konnte sich seine Feindseligkeit nicht erklären, konnte nicht glauben, daß er sich in den wenigen Tagen ihrer Abwesenheit vom Schiff derart verändert haben sollte.
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In der Kühl, wo jetzt auch die letzten Teekisten verstaut worden waren, kletterten die Kulis über die Lukensülls: kleine, drahtige Männer, nur mit Baumwollshorts bekleidet, die muskulösen, flachen Bäuche glänzend vor Schweiß. Hastig drängten sie sich um die Ladeluken und nahmen von ihrem Vorarbeiter die Bons im Empfang, die ihre Arbeit auf der Erl King bestätigten; später würden sie die Bons gegen ihren Lohn eintauschen. Einer der Kulis schaute nach achtern und stieß, mit dem Finger auf Hannah deutend, grinsend einen Kameraden an. Hannah wußte weder, wie bekannt sie ohne ihr Zutun in Futschau geworden war, noch daß in den Tavernen und Opiumhöhlen der ärmeren Viertel eine Aktzeichnung von ihr zirkulierte. Die Kulis starrten sie an, beeindruckt von ihren schwellenden Formen. »Kickt diese verdammten Kulis in einen Sampan!« kam ein abruptes Kommando von achtern. Der Chinese kletterte auf dem Fallreep außenbords und stieß dabei seinen Kumpan noch einmal an. Im Sampan sahen die beiden erneut zu ihr hinauf. »Männer nicht gut.« Hannah drehte sich um. Neben ihr stand eine kleine Chinesin in einem langen, reich bestickten Kimono. Ihr geöltes Haar war straff aus dem Gesicht gekämmt, aufgesteckt und mit Schildpattkämmen und einer ihr unbekannten Blume geschmückt. Sie hatte einen kleinen Knospenmund, wie er dem Schönheitsideal der Chinesen entsprach, obgleich Hannah merkte, daß er durch den klugen Gebrauch von Karminrot in den Mundwinkeln schmaler auslief als in Wirklichkeit. Über das Alter der fremden Frau war Hannah ebenso im unklaren wie darüber, ob sie von Männern im allgemeinen oder von einigen im besonderen gesprochen hatte. »Ich sein Mr. Len-Kuas Konkubine«, sagte sie in sorgfältig akzentuiertem Englisch. »Ich heißen Mai Li.« Jetzt erkannte Hannah die Frau wieder, die bei dem Agenten Tee und samsu serviert hatte. Sie lächelte. »Willkommen auf der Erl King.« »So... so...« Die kleine Frau verneigte sich. In dem Augenblick erschien Len-Kua und sagte scharf etwas zu ihr, worauf sie sich umdrehte und nach unten ging. Diese seltsame Unhöflichkeit stand in starkem Gegensatz zum sonstigen geschliffenen Benehmen des Agenten, um so mehr, als er selbst Mai Li ebenso abrupt unter Deck folgte. Doch kurz darauf wurde Hannah der Grund für sein Verhalten klar: Len-Kua hatte gesehen, was da auf einem geduldig geruderten Sampan ankam, und wollte seiner
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Maitresse diesen Anblick ersparen. Auf dem stampfenden Heck eines Sampans handhabte eine zerlumpte Kulifrau den langen yuloh. Zu ihren Füßen lag, volltrunken lallend, Mr. Enright. »Vater, Vater, der Erste kommt...« Hannah deutete auf den Sampan, als Kapitän Kemball sich umdrehte. »Er sieht sehr betrunken aus.« »Hol ihn der Teufel«, knurrte Kemball, wenn auch weniger böse, als Hannah erwartet hatte. Er fuhr herum. »Dritter Offizier!« »Sir?« Talham, der unter ihnen beim Verschalken der Luken half, schaute auf. »Holen Sie den Ersten an Bord!« Offenbar war gar nichts Ungewöhnliches daran, daß Enright mit einer Talje aus dem Sampan gehievt werden mußte. Unter Benutzung desselben Geschirrs, mit dem man die Teekisten an Bord geholt hatte, wurde Enright bis auf Deckshöhe geschwungen; wild um sich tretend und eine Flasche schwenkend, schrie er der fernen Stadt herausfordernd ein letztes Adieu zu, als er an seinem Flaschenzug über dem Schanzkleid pendelte. Die Matrosen, die von der Kühl aus zusahen, wie ihr Vorgesetzter an Bord gehievt wurde, konnten ihre Heiterkeit kaum verbergen. »Fier weg Nocktalje, hol durch Stagtalje!« Mr. Talham mußte brüllen, um Enrights betrunkenes Grölen zu übertönen. »Beleg das!« Hannah fuhr bei Kemballs gebieterischem Befehl vor Schreck zusammen; diese Lautstärke kannte sie an ihm noch nicht. Die Matrosen hielten inne. Enright, zwischen Wind und Wasser hängend und mit den Beinen strampelnd, sang noch immer sein ordinäres Lied, dessen Sinn Hannah glücklicherweise entging. »Mr. Enright!«Ihr Vater rief den Ersten nun schon zum dritten Mal an, und diesmal zeigte sich in Enrights benebeltem Gesicht eine Reaktion. »Ahhh!« schrie er und grinste dümmlich, während er auf Erl Kings Deck hinabschaute. »Käptn Kemball, 's is' 'ne Freude - Sie wiedersuseh'n... Bitte - um - Erlaubnis, Ihr feines - feines Schiff su betreten. ..« »Werfen Sie die Flasche weg!« »Welche Flasche meinen Sie...« »Weg mit dieser Flasche!« Enright hielt die Flasche hoch, blinzelte hinein und hob sie herausfordernd an die Lippen.
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Kemball sah ihm einen Moment zu. Dann sagte er ruhiger und mit verdrossener Resignation: »Jetzt, Mr. Talham...« »Aye, aye, Sir.« Aus Talhams Ton hörte Hannah genausoviel Verdruß heraus. Die Leute benötigten keine ausführlichen Instruktionen. Die Spannung des Flaschenzugs ließ plötzlich nach, und Enright plumpste wie ein Stein ins Wasser des Min. »Missie... Missie...« Hannah wandte den Blick von dem in der starken Strömung schwach um sich schlagenden Ersten ab und schaute auf die wriggende Frau im Sampan, die eine Hand, Bezahlung heischend, ausgestreckt hatte. Da war ihr Vater schon neben ihr und warf der Ärmsten eine Münze zu, die im Sonnenschein golden blitzte. Geschickt fing die Frau sie auf, biß prüfend hinein und stieß zufrieden lächelnd mit dem Sampan ab. Immer noch verdächtig ruhig, kehrte Kemball auf die Poop zurück. »Hiev, Mr. Talham.« Enright, gebändigt und triefend, wurde aus den Fluten gezogen. Auf halbem Weg zwischen Wasser und Schanzkleid krümmte er sich zusammen, und ein gelber Strahl Erbrochenes wurde vom Wind hinweggetragen. »Klar bei Gangspill: Hol auf und nieder!« »Hol auf und nieder!« kam Munros Antwort, gefolgt von der neuesten Meldung: »Schleppleine ist fest, Sir!« Vom Vorschiff erklangen nun die ersten schwachen Töne eines Shantys; das Vordeck schwenkte herum, und die Erl King bewegte sich auf ihren Anker zu, während die tropfende Trosse vom Gangspill binnenbords geholt wurde. Hannah sah eine halbe Meile entfernt Messing im Sonnenlicht blitzen und erkannte auf der Seawitch die Gestalt von Kapitän Richard Richards, der ein langes Fernrohr ans Auge gedrückt hielt. Beobachtete er sie oder die auslaufende Erl King? »Anker ist frei, Sir!« rief Munro triumphierend. Bei der Seawitch hingegen war weit und breit kein Schlepper zu sehen. An ihrer Bordwand lag noch ein halbes Dutzend Dschunken. Hannah fühlte ein freudiges Prickeln bei dem Gedanken, daß sie ihren Rivalen beim Start hatten ausstechen können. Schwarze Rauchwolken quollen aus dem Schornstein ihres Schleppers, als der Maschinist auf das leise Bimmeln des Telegraphen reagierte; weißes Wasser schäumte an Erl Kings Bordwand vorbei, ein Zeichen dafür, daß die Schaufelräder sich in Bewegung gesetzt hatten. Der Schlepper beschrieb einen
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engen Kreis und begann, die Erl King flußabwärts zu ziehen. Es ging nach Hause, nach Hause mit der ersten Ladung chinesischen Tees! Zusammengesackt und von allen unbeachtet lag Enright elend und beschmutzt in der Kühl. Selbst Hannah hatte ihn vergessen, so aufregend war der Moment des Auslaufens gewesen. Doch als die Erl King sich auf ihrem Weg zur offenen See hinter dem Schlepper stabilisiert hatte, kam ihr Vater hinter dem Ruder hervor und schaute auf die Schnapsleiche hinunter. Vorn auf der Back war Munro mit seinen Leuten dabei, den Anker an Bord zu nehmen und am Ankerbalken zu sichern. Sobald sie den Fluß hinter sich gelassen hatten, würden sie die Trosse abschäkeln, den Anker unter Deck stauen und die Ankerklüsen abdichten. »Man schaue sich bloß dieses Tier an«, murmelte Kemball, seine Tochter vergessend. »Verdammt sollst du sein! Bald hab' ich genug von dir...« »Ist - ist er sonst in Ordnung, Vater?« »Hm? O ja, der ist völlig in Ordnung. Er muß nur seinen Rausch ausschlafen.« Kemball drehte sich um, steckte den Kopf in den Niedergang und rief etwas hinunter. Ein paar Minuten später waren Koch und Steward zur Stelle, die den bewußtlosen Enright in die Abgeschiedenheit seiner Kammer schleiften. Als sie den starken Mann an Hannah vorbeizogen, drang ihr der Gestank von Alkohol und Erbrochenem beißend in die Nase. Als er unter Deck verschwunden war, verschwendete sie keinen Gedanken mehr an ihn; zuviel gab es um sie herum zu sehen. Auf dem Vorschiff war der Anker verstaut, Munro und der Bootsmann schickten nun ein paar Männer zum Bedienen der Deckspumpe nach achtern. Der Zimmermann war dabei, Erl Kings schmale Ladeluken zu sichern, indem er Persenninge darüber warf und sie mit Rahmen und Keilen spannte, die er mit seinem schweren Holzhammer einschlug. Sie hielten jetzt mit weitaus mehr Fahrt als bei der Reise stromaufwärts auf die Engstelle des Min zu. Zu beiden Seiten schienen die Ufer mit ihren Dörfern und Pagoden, mit hochaufragenden Felsen und Krüppelkiefern förmlich vorbeizufliegen. Das tiefe Fahrwasser schäumte mäandernd durch die in eisigem Schatten liegende Schlucht. Hannah spürte die Anspannung ihres Vaters, der neben dem Rudergänger stand und gelegentlich Anweisungen gab, um den störrischen Klipper genau hinter dem Schlepper zu halten.
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Von Zeit zu Zeit wehte beißender Rauch von der Cyclone zu ihnen herüber, der ihnen Hustenanfälle verursachte und schwarzen Ruß aufs Deck rieseln ließ. Dann lag die Schlucht mit ihren tückischen Fallwinden hinter ihnen, das Land wich auf beiden Seiten zurück, und vor ihnen wurde silbern schimmernd der ferne Ozean sichtbar. In majestätischer Breite zog der Fluß nun an vielen Inseln vorüber, bis er die Erl King auf das weite Chinesische Meer hinauskatapultierte und sich in grauen Wirbeln darin verströmte. Nun bekamen sie den wahren Wind zu fassen, und Kapitän Kemball gab Befehl zum Setzen der Marssegel. Die Toppgasten enterten auf, um die Zeisinge zu lösen, und plazierten sich so in den Marsen, daß sie Gordings, Halsen und Schoten überwachen konnten. »Heiß weg!« Hannah, von der eigenartigen Stimmung mitgerissen, ertappte sich dabei, wie sie die einfachen Worte des Shantys mitsummte, das die Leute bei der Arbeit sangen. Auf dem Vorschiff zeugten das Kratzen von Legein und ein weißes Flattern davon, daß der Flieger am Vorstag emporlief. »Recht so.« Kemballs Stimme war leise und konzentriert, seit die Erl King nicht mehr folgsam in Cydones Heckwasser fuhr. »Neuer Kurs Ost zu Süd.« »Kurs Ost zu Süd liegt an, Sir.« Der Klipper begann den Schlepper einzuholen. »Wirf,los die Schlepptrosse!« In Kemballs Stimme schwang jetzt Freude mit. Die Erl King lehnte sich mit der Schulter an den Wind, und das vertraute Zischen des Wassers an der glänzenden Bordwand klang nach fünf müßigen Wochen vor Anker besonders wohltuend. Hannah wurde von einer unbändigen Freude ergriffen und verstand plötzlich, warum Seeleute, sobald sie die Fesseln des Landes abgestreift hatten, ihre Ausschweifungen abtun konnten, als gehörten sie zu anderen Menschen. »Vorschiff klarieren!« Schon war die Schlepptrosse von Erl Kings Poller losgeworfen worden und klatschend ins Wasser gefallen. Der Klipper war jetzt frei von der Cyclone. Ihr im Rückwärtsgang arbeitendes Schaufelrad ließ das Wasser milchig aufschäumen, als sie abdrehte und mühsam durch die Seen zurück stampfte, während Erl King mit der anmutigen Würde des erfahrenen Globetrotters rasch Fahrt aufnahm. Ein großer Mann schwenkte, auf Cydones Schaufelradkästen stehend, zum Abschied seinen Zylinder, und
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John Kemball erwiderte diese Geste leutselig mit einem Schwenken seiner goldbetreßten Schirmmütze. Als er sie wieder aufgesetzt hatte, sah er prüfend auf seine goldene Sprungdeckeluhr, befahl einem Kadetten, die Zeit ins Logbuch einzutragen, und trat mit der Flüstertüte an die Querreling. »Vierzig Guineen hat der Schlepper mich gekostet«, sagte er im Vorbeigehen jovial zu seiner Tochter. »Vierzig Guineen, aber er war jeden einzelnen Penny davon wert.« Das war alles, was er ihr im Moment anvertraute, denn von da an und in den folgenden Stunden galt jeder seiner Gedanken dem Schiff. Schon wenige Minuten, nachdem sie die Schlepptrosse losgeworfen hatten, waren auf der Erl King sämtliche Arbeitssegel und eine halbe Stunde später auch die Skysegel gesetzt, zogen die Leesegel an ihren federnden Spieren, und unter ihrem langen Buspriet kräuselte sich ein weißer Bart. Die Geißel des Landes lag hinter ihnen, die Erl King war wieder in ihrem Element, und es hätte keine Rolle gespielt, ob sie nun Kohle, Eisenbahnschienen oder Tee in ihrem Laderaum hatte. Was zählte, war einzig und allein Geschwindigkeit. Als Hannah zurücksah, war die Küste Chinas nur noch ein bläulicher Streifen und die Min-Schlucht schon zu weit entfernt, als daß sie sie noch hätte erkennen können. Seltsames Gefühl, dachte Hannah, daß hinter diesem Streifen Kapitän Richards alles daran setzte, um ihnen möglichst schnell zu folgen. Mr. Munro kam, um ihrem Vater etwas zu sagen, und Hannah mied seinen Blick. Sie schaute achteraus, fast daraufgefaßt, die weißen Segel ihres Rivalen zwischen den grünen Inseln auftauchen zu sehen. »Von unseren Verfolgern keine Spur, Sir«, bemerkte Munro. »Nein.« Lächelnd sah Cracker Jack seinen Zweiten an. »Wollen hoffen, daß wir Seawitch erst wieder zu sehen bekommen, wenn wir in London in den West India Docks festgemacht haben.« Vom Vorschiff erklang ein einzelner Glockenschlag, und beide Männer fuhren herum und starrten nach Steuerbord voraus. »Segel in Sicht«, sang der Ausguck mit ausgestrecktem Arm vom Judasohr herunter. »Eine Jackass-Bark, Sir«, sagte Munro, und Hannah erkannte plumpe weiße Segel, die sich gegen einen dunkleren Fleck am Himmel abzeichneten. »Verdammter Dampfer«, knirschte ihr Vater und griff nach dem Fernrohr am achteren Niedergang. »Heißt unsere Erkennungsnummer«, befahl er, ohne das schwere Fernrohr
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abzusetzen. Talham rief den Kadetten etwas zu, und sie rannten nach achtern, um das Vier-Flaggen-Signal zusammenzustellen, das nur wenig später die Nationale an der Besanpiek ergänzte und die Erl King von allen anderen Handelsschiffen der Welt unterschied. Das von Süden kommende fremde Schiff näherte sich schnell. Es war groß und hatte einen rot-weiß gestreiften, stark rauchenden Schornstein achtern vorn Großmast. »Das ist kein Küstendampfer von Jardine oder Swire«, sagte Kapitän Kemball. »Glauben Sie... ?« Seine Stimme verlor sich. Er mochte den Gedanken nicht zu Ende denken. »Jetzt heißen sie ihre eigenen Nummern, Sir... G...B...J... K...« Erwartungsvoll schauten sie Talham an, der mit den im Wind flatternden Seiten seines Signalbuchs kämpfte. Doch dann schüttelte der Dritte den Kopf. »Steht nicht drin, Sir... Muß ein neues Schiff sein.« »Sehen Sie im Anhang nach!« »Sorry, Sir - auch nichts.« Kemball griff erneut zum Fernrohr. »Sie signalisiert...« Drüben wurden noch mehr Flaggen gehißt. »Kein Name, sie macht aber Angaben über ihre Fahrt.« »53 Tage von Kapstadt«, dolmetschte Talham. »53?« Kemball lachte fast. »53! Du lieber Gott, da waren wir ja mit der alten Drummore schneller!«
»Jetzt kann ich ihren Namen lesen, Sir... Es ist die Glencarron.« Aber Kemball war so erleichtert, daß er gar nicht mehr zuhörte. »Einen Moment«, murmelte er wie zu sich selbst, »einen Moment habe ich doch tatsächlich geglaubt, die verdammten Franzosen hätten schon ihren verfluchten Kanal durch Suez gegraben.«
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5 »Du mußt wissen, meine Liebe, daß wir um diese Jahreszeit den vorherrschenden Monsun gegen uns haben.« Gegrätscht, um sich gegen die starke Schräglage abzustemmen, stand Hannah über den Kartentisch gebeugt und starrte auf die vor ihnen ausgebreitete Seekarte. Ihr Vater griff mit den Spitzen des Messingzirkels die geplante Route ab. »Im Südchinesischen Meer müssen wir zunächst nach Süden laufen, hier... Dann runter zur Küste von Borneo bei Tajang Api... Und danach werde ich entscheiden müssen, ob wir nun durch die Gasparstraße fahren oder die längere Route nehmen.« Vage deutete Kemball mit dem Zirkel gen Osten, womit er zu verstehen gab, daß er nicht die geringste Absicht hatte, die zweite Möglichkeit auch nur zu erwägen. »Sind wir erst durch die Sundastraße, gehört der Indische Ozean uns.« Wie majestätisch das klang, wie erhaben, wie passend zu einem Schiff wie der Erl King ! Hinter der engen Passage zwischen Java und Sumatra, begrenzt durch die vulkanische Insel Krakatau, erstreckte sich schier grenzenlos, bis über den Rand ihrer Seekarte hinaus, der Indische Ozean. »Du wirst in nächster Zeit nicht viel von mir zu sehen bekommen, fürchte ich. Das macht dir doch hoffentlich nichts aus?« Hannah schaute ihren Vater an. Einen Augenblick meinte sie, einen Gefühlswandel bei ihm zu bemerken, vielleicht weil ihm seine plumpe Anmaßung von Schanghai leid tat oder weil ihm klargeworden war, wie sehr er sie in Futschau vernachlässigt hatte. Doch schon mit seiner nächsten Bemerkung sah sie sich enttäuscht. Diese Äußerung war nur pure Höflichkeit gewesen. »Es geht nämlich um mehr als die Wette«, sagte er, nach seiner Mütze greifend. »Von jetzt an wird das Schiff meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen.« Hannah biß sich auf die Lippen. »Ich dachte, das tut es ohnehin schon«, hatte sie eigentlich sagen wollen, doch da stand ihr Vater schon in der Tür zum Niedergang. »Du kannst in meine Kajüte umziehen«, rief er ihr noch zu, bevor er mit schweren Schritten die Holzstufen hinunterstapfte. Hannah schaute auf die Karte. Die gezackte Küstenlinie mit ihren Hügeln und bewehrten Dörfern, mit den vertrauten Seezeichen und Tiefenangaben war das Ergebnis mühsamer
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Vermessungsarbeit der Royal Navy. Langsam fuhr sie mit dem Finger die geplante Route der Erl King zur Sundastraße nach. Sie verstand inzwischen genug vom Segeln, um zu wissen, daß sie nicht einfach Luftlinie segeln konnten, sondern wegen des Südwestmonsuns zunächst einen Schlag nach Westen und dann nach Süden machen mußten. Durch das Skylight fiel Licht auf die Karte; sie schaute auf und betrachtete die Wölbung des Besans und das scharf angebraßte Kreuzmarssegel. Daß ihr Vater sie so vernachlässigte, schmerzte sie weniger als das Gefühl ihrer eigenen Überflüssigkeit. Sie war nur an Bord, weil sie abhängig war, eine Sklavin und eine Belastung, bestenfalls toleriert, meist aber wie in Schanghai eine Quelle allgemeiner Belustigung. Nur im Wege durfte sie niemandem sein. Genau, das war auch die Ursache für ihres Vaters Desinteresse: Sie durfte keinem in den Weg geraten. »Ihnen ist doch nicht übel, Miss Kemball?« Munros Ton irritierte sie und forderte sie, da er ein leises Schuldgefühl in ihr weckte, zu einer scharfen Antwort heraus. »Jetzt hören Sie doch um Himmels willen auf, mich Miss Kemball zu nennen, als ob...« »Tut mir leid.« Munros Stimme klang fast feindselig. »Hatten Sie einen angenehmen Aufenthalt in Futschau?« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Wie ich hörte, fanden Sie Kapitän Richards' Gesellschaft sehr angenehm?« »Und was haben Sie sonst noch gehört, Mr. Munro?« fauchte sie zurück und starrte ihn, sich gerade aufrichtend, herausfordernd an. »Daß er sich täglich Ihrer Gesellschaft erfreuen durfte«, murmelte Munro. »Was?« Jetzt war sie wirklich schockiert. »Das also hat man Ihnen erzählt?« Er nickte. »Und Sie haben es geglaubt? Sie glauben allen Ernstes, daß ich mit Kapitän Richards jeden Tag ein Stelldichein hatte? Wofür halten Sie mich eigentlich? Für eine von diesen angemalten Weibern, wie Sie sie in Schanghai an Bord hatten?« »Ich hatte sie nicht!« Nun flammte auch in Munros Stimme Entrüstung auf. »Entschuldigen Sie, Sir...« Osman schob sich durch die Kombüsentür, um im Salon den Tisch zu decken. Aber zwischen Hannah und Munro stand mehr als nur der Tisch. Munro wandte sich zum Gehen. »Bitte, Miss Kemball«, Osman deutete mit einer Kopfbewegung
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auf die ausgebreitete Seekarte. »Ob Sie die in den Kartenraum bringen?« Sie musterte den dürren Mann in seinem fleckigen Kittel, erbost über seine dreiste Vertraulichkeit. Sogar dieser schmuddelige Geselle wollte ihr etwas befehlen! Demonstrativ ignorierte sie die Bemerkung des Stewards, ging an ihm vorbei in die Kajüte ihres Vaters und schloß die Tür hinter sich ab. Sollte er die Seekarte doch selber wegräumen! Das Abendessen war jetzt nicht mehr das gesellige Mahl wie auf ihrer Hinfahrt, vielmehr kamen und gingen die Offiziere in aller Eile und schlangen ihr Essen hastig herunter, bevor sie wieder an Deck oder in ihre Kojen stiegen. Selbst Enright schien Hannah zu ignorieren. Es dauerte einige Zeit, bis sie merkte, daß das Verhalten der Männer nichts mit ihr persönlich zu tun hatte, sondern eine Folge ihrer festen Entschlossenheit war, aus dem Schiff das äußerste an Geschwindigkeit herauszuholen. Kapitän Kemball hielt sich ausschließlich oben auf. Dort hatte er sich einen Deckstuhl festschrauben lassen, in dem er auch beim Dösen stets ein wachsames Auge auf seine Mannschaft halten konnte. Für Cracker Jack gab es keine Freiwachen, sondern nur ein langes Wachen, unterbrochen höchstens durch Mahlzeiten und eine gelegentliche Zigarre, die ihm die Kadetten aus dem Salon holten. Wie damals, als sie den Min hinaufgefahren waren, wurde die Stimmung an Bord deutlich gespannt; Hannah merkte es an den Gesprächen der Leute und an dem Wirbel, der wegen der geringsten Kleinigkeit entstand. Es war unübersehbar, daß der Präzision des Rudergängers größte Bedeutung zukam und daß sich der wachhabende Offizier in ständiger Alarmbereitschaft befand, unablässig ein Auge auf das Schiff, das stehende und laufende Gut, den Zustand der See und auf Cracker Jack persönlich haltend. Doch als Hannah am zweiten Morgen nach Futschau wach wurde, vermißte sie die vertraute Schräglage des Schiffes und das Zischen des Wassers an der Bordwand. Statt dessen rollte der Klipper höchst unangenehm, und von oben kam das Schlagen schlaffer Segel und das Poltern von Blöcken. Sie zog sich schnell an und ging an Deck. Cracker Jacks Behauptung, die Erl King könne selbst bei Flaute noch Fahrt voraus machen, stellte sich als richtig heraus. Trotz der kaum gefüllten Segel blieb Erl Kings Heckwasser sacht gekräuselt. Doch die langgezogene tote Dünung, Ausläufer eines fernen Sturms, hatte eine weit
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unerfreulichere Auswirkung, als nur das Gleichgewicht des Schiffs zu stören. »Verflucht aber auch«, murmelte ihr Vater auf und ab stapfend. »Ich kann mich nicht erinnern, in dieser Gegend jemals solch eine Flaute erlebt zu haben.« Er brummte seiner Tochter einen flüchtigen Morgengruß zu. »Wir haben Flaute, Miss Kemball, und obendrein niedrige Nebelbänke«, sagte Enright, der gerade Wache hatte. »Aber wir machen doch noch etwas Fahrt, oder?« »Ja, nach dem Log...« Hierbei bedachte er sie mit einem durchdringenden Blick. »Nach dem Log machen wir noch zwei oder drei Knoten. Aber da oben«, der Erste deutete mit dem Kopf zum Großmast, »da oben schamfilt natürlich alles.« »Vermaledeite Dünung«, wetterte Kemball. Hannah beobachtete die winzigen Wellen, die sich unter dem schwachen Windhauch leicht riffelten und wieder glätteten. Darunter schob sich als Ausläufer hunderter von Meilen entfernter Sturmseen die langgezogene Dünung mit der Regelmäßigkeit eines Pendels unter Erl Kings Rumpf. Sie schien sich an den Grenzen ihres Gesichtsfelds zu sammeln, wo sie unvermittelt und geheimnisvoll aus den Nebelbänken auftauchte, gesandt von einem Geist, der Erl King nicht wohlgesonnen war. Diese Vorstellung machte sie schaudern. Doch dann erklang ein Geräusch, so unheimlich, daß die Wirklichkeit ihre Phantasie an Schaurigkeit noch zu übertreffen schien. »Was war denn das?« Der hohle Ton, dunkel und vibrierend, kam mit den ersten Windstößen einer auffrischenden Brise irgendwo von Steuerbord. »Was? Ach das. Das sind nur Fischerdschunken«, antwortete Kemball kurz, in Gedanken ganz woanders. »Sie blasen Nebelsignale, Miss Kemball«, erklärte Enright. »Auf großen Schneckengehäusen.« »Ach so.« Ihr Gefühl bevorstehenden Unheils wurde durch diese profane Erklärung hinweggefegt. »Da ist ja der Wind!« rief ihr Vater, plötzlich lebhaft werdend. »Stützruder!« Der Nebel lichtete sich und gab den Blick auf die Fledermaussegel zweier Dschunken frei, die eine Viertelmeile in Luv direkt auf sie zuhielten. In Minutenschnelle füllten sich Erl Kings Segel, sie holte etwas über und begann Fahrt aufzunehmen. Sofort hob sich die Stimmung an Deck. Die Wache rannte los, um unter Enrights lautstarken Kommandos die Brassen zu trimmen, und nur Hannah sah, daß die Dschunken
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Ruder legten und ihren Abfangkurs zum Klipper beibehielten. Dann starb der Wind erneut; wieder dümpelten sie, während Hannahs Vater seiner schlechten Laune freien Lauf ließ. »Himmel, Arsch und Zwirn!« »Vater, diese Dschunken...« »Kein Ruder im Schiff, Sir!« Der Ruf des Rudergängers übertönte Hannahs Warnung. »Was zum Teufe) soll das heißen, kein Ruder im Schiff?« brüllte Kemball. Erl Kings Ruder reagierte immer, selbst bei Flaute. Das wußte doch jeder. »Sie kommt back, Sir!« bellte Enright als Warnung und Erklärung zugleich. Aus dem bisherigen Lee, wo immer noch Nebelschwaden hingen, war plötzlich eine Brise aufgekommen und fiel nun mit boshafter Beständigkeit von der falschen Seite in Erl Kings turmhohe Segel ein. Diese reagierten noch vor den Menschen und kamen back. »Klar bei Brassen!« »Abfallen, abfallen, verflucht noch mal!« brüllten Enright und Kemball unisono, verzweifelt bemüht, dem Klipper Vortrieb zu erhalten, damit sein schlanker Rumpf nicht begann, Fahrt über den Achtersteven zu machen. »Vorsegelschoten - back an Backbord!« »Aye, aye!« Die Rufe, die das Kommando bestätigten, wurden durch ein plötzliches Aufbrüllen übertönt. Eine heiße Detonationswelle fegte über Hannah hinweg, wirbelte sie herum und schleuderte sie zu Boden. Sie hörte sich selbst, fast taub durch den Druck, wie von fern gellend schreien, sah Enrights Gesicht, in Wut und Angst verzerrt, aus ihrem Gesichtsfeld verschwinden, während sie mit einem betäubenden Schlag gegen die Nagelbank am Kreuzmast krachte und sich dort verzweifelt an die Leinen klammerte, die von den Belegnägeln in die Toppen führten. Als sie sich umdrehte, sah sie die Fledermaussegel drohend über sich aufragen und spürte einen Ruck, als die Dschunken gegen ihre Bordwand stießen. Und dann schwärmten wie in einem ihrer wirrsten Alpträume zwanzig bis dreißig zähnebleckende Chinesen über Erl Kings Heckreling auf die Poop. Schutzlos und allein schien Hannah ihnen gegenüberzustehen, als ihr Gehör wiederkehrte und sie das schaurige Geheul der Piraten wahrnahm. Irgendwo unter ihr erklang ein Kommando »Feuer!« -, sofort übertönt vom Krachen einer zweiten Explosion. Das riß sie aus ihrem Schockzustand. Sie hatte nun die Wahl,
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haltlos an der Nagelbank zusammenzusinken, weil die Beine unter ihr nachgaben, oder aber sich mit einem Sprung zum Niedergang in Sicherheit zu bringen. Sie holte tief Luft. Ein drittes Aufbrüllen der Kanone fiel zusammen mit einer Abfolge von Ereignissen, die alle auf einmal zu geschehen schienen. Als Hannah sich dem Niedergang zuwandte, tauchte Munro darin auf. Er erblickte sie und brüllte: »Hannah! Gehen Sie nach unten!« Mit einer Hand schob er sie zur Seite, in der anderen schwang er ein Messer. Stahl blitzte auf, ein Chinese vor ihm taumelte zurück. Munro sprintete nach vorn, und während Hannah im Niedergang Schutz fand, stürmten ihr Vater und Enright, einen Trupp Matrosen anführend, aufs Poopdeck. Sie sprangen, wild durcheinanderbrüllend und ihre Waffen schwingend - Messer, Handspaken, Belegnägel - übers Oberlicht und scharten sich im Kampf gegen die Piraten zusammen. »Feuer!« Es folgte eine weitere Explosion, und diesmal beobachtete Hannah, im Schutz des Niedergangsluks stehend, gespannt die Wirkung. Von der Poop hatte eine neben der Wasserpforte aufgestellte Bronzekanone auf die Dschunken gefeuert. Der Astbury-Patentlader ließ sich, wenn er erst mit Munition versorgt war, schnell nachladen. Freudengeheul ertönte, als die eine Dschunke plötzlich abstieß. An der sich verändernden Form der zweiten Dschunkensegel erkannte Hannah, daß auch diese abdrehte. Von Erl Kings Heck hagelte es Schmährufe auf den geschlagenen Feind. Das Ganze war so schnell gegangen, daß immer noch Männer nach achtern gerannt kamen, Nachzügler der Freiwache, die erst jetzt herbeistürzten, Hosen und Gürtel schließend. Vorsichtig trat Hannah wieder an Deck. Ihr Blick fiel auf einen großen dunklen Blutfleck und auf hellere Spritzer, die sich grell vom weißen Farbanstrich abhoben. »Alles klar... Schluß jetzt mit dem Unsinn!« Kemball machte seine Autorität wieder geltend. Der Spuk war vorüber, und sie hatten schließlich ein Rennen zu gewinnen. Die Männer kehrten um und rannten aufs Vorschiff. Kemball sprang auf das erhöhte Salon-Skylight, um einen besseren Blick in die Takelage werfen zu können. Hannah begriff, daß der ganze mörderische Überfall nur wenige Minuten gedauert hatte, in denen der alte Molloy die ganze Zeit wie angewurzelt am Steuer gestanden hatte. »Hast du wieder Ruderwirkung? Welcher Kurs liegt an?«
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Doch Kemball sollte die Antwort auf seine Frage nie mehr hören. Weil Molloy einen prüfenden Blick auf die Kompaßrose vor sich warf und Kemball ungeduldig nach den Segeln oben schaute, bemerkte nur Hannah das bläulich weiße Rauch Wölkchen, das sich mit dem Schuß aus der Pistole eines Piraten löste. Cracker Jack schwankte auf seinem erhöhten Standplatz, wirbelte unter der Wucht der Pistolenkugel herum und stürzte, mit der Stirn auf einen Ringbolzen an Deck schlagend, der Länge nach vor die Füße seiner Tochter. Die Kugel hatte ihn direkt ins Herz getroffen. Entsetzt sah Hannah, wie ihr Vater in einem letzten Erschauern sein Leben aushauchte. »Der Mensch, geboren aus des Weibes Schoß, hat nur kurze Zeit zu leben«, hob Enright an. Schock und Trauer beherrschten Hannah, als sie aufgewühlt und weinend an der Reling stand, einige Schritte von der Astbury-Kanone entfernt, deren blankgeputzte Mündung nun die blauen Spuren von Explosivgasen trug. Dennoch spürte sie, wie widersinnig diese erhabenen Worte aus dem privaten Gebetbuch ihres Vaters gerade aus dem Mund eines Mannes wie Enright klangen. »Er steigt empor wie ein Vormarsstengestagsegel und fällt hernieder wie ein Außenklüver...« Sie schaute hoch, weil sie Spott hinter dem Ganzen vermutete, aber die Männer hielten die Köpfe gesenkt, und über Enrights Schulter blickend erkannte Hannah im Gesangbuch die pedantische Handschrift ihres Vaters. Dies hier war eine Seebestattung, also war es durchaus normal, daß sie in der Sprache der Seeleute abgehalten wurde. »So übergeben wir denn seinen Körper hiermit der Tiefe.« Enright schwieg und nickte dem Bootsmann und einem Vollmatrosen zu. Diese hoben die Planke an, auf der, mit der Nationalflagge bedeckt, in ein Ersatzsegel genäht, die Füße mit Ballastbarren beschwert und (was Hannah freilich nicht ahnte) den letzten Stich des Leichentuchs traditionsgemäß durch die Nasenlöcher gezogen, Kapitän John Kemballs sterbliche Hülle ruhte. »Wir übergeben seinen Körper der Tiefe«, wiederholte Enright lauter, und die Männer neigten die Planke noch schräger. Hannah fühlte eine Hand auf ihrem Arm und drehte sich um. Mai Lis Rosenknospenmund war ihr zugewandt. »Missie«, wisperte sie. Hannah lächelte tapfer zurück. Den versammelten Männern entfuhr ein Seufzer, unbeholfen drehten sie ihre Mützen in Händen. »Er will nicht gehen«, murmelten einige. Doch dann glitt das verhüllte Bündel über die
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schräge Planke, ein leises Platschen, und Cracker Jack war dahin. Das Endgültige dieses Augenblicks traf Hannah mit fast körperlicher Gewalt, und wieder wurde sie von verzweifelten Schluchzern geschüttelt. Enright haspelte die letzten Worte des Gebets und sprach der inzwischen unruhig gewordenen Crew mit falschem Pathos das Vaterunser vor, unterbrochen vom Stakkato explodierender Feuerwerkskörper. Denn über ihnen, auf dem Poopdeck, hantierte Mr. Len-Kua mit einem Bambusstab, von dem Kristallquecksilberkügelchen herabtropften, welche die Dämonen von der letzten Ruhestätte seines Freundes vertreiben sollten. »An die Arbeit!« knurrte Enright. »Klar bei Großbrassen!« Sie schwangen die Rahen herum, so daß sich die Segel wieder füllten, die vorübergehend backgesetzt worden waren, um Erl King auf der Stelle zu halten, während ihrem Kapitän die letzte Ehre erwiesen wurde. Der Klipper lehnte sich wieder in den Wind, Gischt fegte unter seinem Steven nach Lee, der sich eilig senkte und hob und wieder senkte, die reich verzierten Stiefel der Galionsfigur überspülend, lange bevor Cracker Jacks Leichnam unten die ersten Korallenspitzen berührte, sich langsam drehte und, den Sand des Meeresgrundes aufwühlend, sanft einsank. »Miss Kemball...« Wieder klopfte es an die Kajüttür, und Hannah wurde vollends wach. Sie war nach der Bestattung in einen tiefen Erschöpfungsschlaf gefallen, und nun war es Spätnachmittag. Sie fühlte sich miserabel. Die Kleider klebten ihr am Körper, und ihr Haar war wirr. Doch durch den Schlaf hatte sie Kraft gefunden, die schlimmsten Folgen ihres Kummers zu bewältigen, und steckte nun ihr Haar auf, während sie die Beine über das Leebrett ihrer Koje schwang. »Herein.« Es war Osman, der Steward, der in seiner untadeligen weißen Jacke vor ihr stand und nervös die Hände rang. »Entschuldigen Sie, Miss, ich, ahm...« »Schon gut, Osman, danke, aber mit mir ist alles ganz in Ordnung.« Sie brachte ein mattes Lächeln zustande und hielt seine Verlegenheit für Unbeholfenheit beim Übermitteln seines Beileids. »Ich soll... Ähem... Kapitän Enright, Miss Kemball - er möchte in die Kajüte. Ich soll... Also, Sie sollen wieder in die Kabine ziehen, die Sie vorher hatten.« Das alles hatte er so schnell hervorgesprudelt, daß es einen Augenblick dauerte, bis Hannah die Bedeutung voll erfaßte. Sie
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hatte eigentlich keine Einwände dagegen, wieder in die kleinere Kabine zu ziehen, die sie bis zum Auslaufen aus Futschau bewohnt hatte. Aber die Begründung Osmans und der neue Rang, den er für Enright gebraucht hatte, brachten sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück. »Kapitän Enright?« »Ja, ähem, Miss... Er führt doch jetzt das Kommando...« Osmans Adamsapfel hüpfte unruhig auf und ab. »Schon gut. Lassen Sie mich eine halbe Stunde allein. Wenn Sie dann zurückkommen, bin ich soweit.« Sie brauchte Zeit zum Nachdenken über das Ausmaß dessen, was Osman soeben gesagt hatte. Abgesehen von der Wette, die inzwischen in ihren Überlegungen zu absoluter Irrelevanz geschrumpft war, würde Enrights Kommandoübernahme ihren Status an Bord der Erl-King verändern - und weit mehr als das. Einen Augenblick ergriff sie nackte Angst. Sie war allein, mutterseelenallein an Bord eines Schiffes im Südchinesischen Meer, ausgeliefert einem trunksüchtigen, lüsternen Tyrannen, der keinerlei Skrupel kannte und dessen wüster Lebenswandel nun durch den Wegfall ihres strengen Vaters noch schlimmer werden würde. Mit zitternden Händen nahm sie einen Schluck Brandy aus dem unverschlossenen Weinschrank ihres Vaters. Der Alkohol machte sie gefaßter und spornte sie zur Entschlossenheit an. Als erstes holte sie den Schlüssel zum Weinschrank und schloß ihn ab, dann wandte sie ihr Augenmerk der unmittelbaren Zukunft zu. »Wenn ich mal nicht mehr bin«, hörte sie wieder ihren Vater sagen, »dann mußt du Enright entlassen.« Sie durfte Enright auf keinen Fall den Schlüssel zum Weinschrank aushändigen, abgesehen davon, daß sich in der Kajüte auch noch andere, persönliche Dinge befanden, die sie unter keinen Umständen von diesem verhaßten Mann entwürdigt wissen wollte. In fieberhafter Geschäftigkeit begann sie, den Privatbesitz ihres Vaters systematisch durchzusehen und das Wichtigste in seine Bettlaken einzubinden. Eine halbe Stunde später wies sie Osman an, die seltsam geformten Bündel in ihre Kabine zu bringen. Sie machte keinerlei Anstalten, in der Messe zu essen, und die Offiziere respektierten ihre Trauer. Hinter der verschlossenen Kabinentür, die sie nur Osman öffnete, als er ihr bei Sonnenuntergang etwas Suppe und frischgebackenes Brot brachte, entdeckte Hannah das Vermächtnis ihres Vaters. Es war eine seltsame Therapie für ihren Schmerz, ein
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Beruhigungsmittel, durch das sie mehr über die intimsten Gedanken ihres Vaters erfuhr, als es anderen Kindern normalerweise vergönnt war. Irgendwann im Morgengrauen des folgenden Tages war sie mit dem Sichten seiner privaten Effekten fertig. Hin und wieder beugte sie sich vor, um den einen oder anderen Gegenstand auf einen von drei Stapeln zu legen. Zu ihrer Linken hatte sie Krimskrams und Kleinigkeiten wie alte Kleider, sein Rasiermesser und Toilettenartikel aufgehäuft; in der Mitte befanden sich neuere Kleidungsstücke, die sie zu behalten gedachte, zum Beispiel seinen Mantel, seine Mütze, seine Kapitänsjacke und Strümpfe für die Seestiefel. Auf ihrer Koje lagen Papiere, einige ledergebundene Bücher und ein Revolver. Fünfzig Patronen Munition glänzten im Schein der pendelnden Öllampen. Sie bündelte die Kleidung, die sie nicht aufheben wollte, in ein Bettlaken und stellte es vor ihre Kabinentür. Die besten Kleidungsstücke zwängte sie zwischen die Kleider in ihren eigenen Spind, mühsam die Tränen unterdrückend, als sie den Zigarrenduft einsog, der noch in dem schweren Mantel und im Rehleder der Kapitänsjacke hing. Nachdem sie sich noch ein weiteres Glas Brandy eingeschenkt hatte, setzte sie sich, nahm einen Federhalter und tauchte ihn in das Tintenfaß einer hübschen Schreibtischgarnitur, die ihre Mutter vor ein paar Jahren ihrem Vater geschenkt hatte. Sehr langsam zog sie ein zusammengefaltetes Dokument zu sich heran. Es war aus Wachsleinen und trug das schwere Siegel des Handelsministeriums. Die Tinte der einzelnen Paragraphen war schon verblaßt, doch die Handschrift ihres Vaters, der erst vor wenigen Tagen die neuen Eigentumsverhältnisse eingetragen hatte, war klar und deutlich. Demnach waren alle vierundsechzig Parten, die nach britischem Gesetz erlaubt waren, samt und sonders wieder in Kapitän John Kemballs Besitz übergegangen, selbst jene, die er an Mr. Len-Kua, seines Zeichens Kaufmann in Futschau, abgetreten hatte. Natürlich mit Ausnahme derer, die Hannah selbst gehörten. Sie drehte das Dokument um. Auf der Rückseite dieses beglaubigten Auszugs aus dem Handelsschiffsregister standen zwei Namen. Der erste war der von Erl Kings erstem, vom Unglück verfolgten Kapitän und der zweite der ihres Vaters. Sorgfältig setzte Hannah ihren eigenen Namen darunter. »Nun können Sie kommen, Kapitän Enright«, sagte sie und prostete dem auf dem Kanapee abgestellten Porträt zu, das Mr. Cha von ihr gemalt hatte und das ein Mädchen zeigte, das es
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nicht mehr gab. War es die Wirkung des Brandys oder ihre innere Unruhe, vielleicht auch beides zusammen, was Hannah an Deck trieb? Jedenfalls fand sie für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr. Der stetige Südostwind war warm. Scharf angebraßt, preschte die Erl King auf Steuerbordbug durch die Dunkelheit nach Westen, der fernen Küste Kotschinchinas zu. Über Deck schimmerten schwach die turmhohen Segel vor dem Nachthimmel, die Masttoppen wiegten sich würdevoll vor einem wechselnden Hintergrund aus Wolken und Sternen. Ein leises Knacken der Planken, das Knarren eines arbeitenden Taus, ein gelegentliches Husten oder ein Gesangsfetzen der Wache konnte die ehrfürchtige Stille der Männer, welche die Pflicht wachhielt, kaum stören. Unten neben der Bordwand rauschte die ewige Musik der See, das Zischen und Klatschen der Wellen, die ihr phosphoreszierendes Licht auf die unteren Segel und den Stampfstock warfen, der sich unaufhörlich hob und senkte, während zu beiden Seiten die Bugsee zu kochen schien. Sie schien wirklich magische Kräfte zu besitzen, diese wundervolle Schöpfung menschlicher Intelligenz, wie sie sich die Kraft des Windes zu eigen machte - ganz im Gegensatz zu der gepanzerten Unnachgiebigkeit eines lärmenden, stinkenden Dampfschiffs. Hannah wußte jetzt, warum der Klipper Erl King genannt worden war und warum ihr Vater ihn mit einer Leidenschaft geliebt hatte, die weit die übliche Liebe eines Mannes zu seinem Beruf übertraf. Damit einher ging eine weitere Überzeugung, die schon in ihr gekeimt war, als sie unter Deck den Schiffsregisterbrief unterzeichnet hatte: Das Kommando war nunmehr ihr übertragen worden, hier und in diesem Augenblick, da sie aufs Deck hinaustrat und den Wind und die Reaktion des Schiffes auf seine Urgewalt spürte. Dies war das letzte Vermächtnis ihres Vaters. »Hannah?« Mr. Munro tauchte aus der Dunkelheit auf und stellte sich neben sie an die Reling. Vorsichtig drehte sie sich halb um und suchte die dunklen Umrisse des Deckstuhls, in dem ihr Vater ununterbrochen Wache gehalten hatte. »Enright bleibt nicht die ganze Zeit an Deck wie Cracker Jack, ich meine Mr. Kemball...« Sie spürte, daß seine Finger zögernd ihren Arm berühren. »Hat er vor, das Rennen fortzusetzen, Mr. Munro?« Er zog die Hand zurück. »Aye, ich denke schon - Miss Kemball.«
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Sie wandte ihm das Gesicht zu und sehnte sich nach seinem Kuß, doch die Regeln ihrer Beziehung waren soeben geändert worden. Von ihr persönlich. Nur schwach konnte sie im Schein des hin und wieder aufleuchtenden Wassers sein Gesicht erkennen. »Mr. Munro, ich brauche Ihre Hilfe.« Sie spürte, wie er erstarrte. »Aye?« »Mr. Enright wird dieses Schiff nicht kommandieren. Ich vermute, daß er dies voreilig und eigenmächtig entschieden hat.« »Tja, gewiß... aber...« »Eigner dieses Schiffes bin ich, Mr. Munro. Und zwar die alleinige Eigentümerin.« »Aber, Miss Kemball...« Munros Stimme klang besorgt, und Hannah spürte, in welcher Zwangslage er sich befand. »Nein, nein«, beruhigte sie ihn, »ich meine ja nicht, daß Sie das Kommando übernehmen sollen. Das würde eine unzumutbare Bürde für Sie bedeuten, Mr. Munro, zumal Mr. Enright Ihnen ständig in den Rücken fallen würde. Nein, ich wünsche, daß jeder von Ihnen auf seinem gegenwärtigen Posten bleibt...« »Aber irgend jemand muß doch...« »Ich weiß. Und ich weiß auch, mein Vater hätte Sie alle, wenn Sie nicht so fähige Leute wären, niemals dieses Deck betreten
lassen. Sie allesamt haben Ihre Pflicht zur Zufriedenheit meines Vaters erfüllt. Ich werde also das Kommando übernehmen, Mr. Munro, und deshalb brauche ich Ihre Hilfe und Ihre loyale Unterstützung - und wäre es nur um meines Vaters willen.« Munro nahm die Arme von der Reling und richtete sich auf. Hannah blieb auf die Ellbogen gestützt stehen und beobachtete die vorbeirauschenden Seen und das wogende Kielwasser, das sich achteraus in der Dunkelheit verlor. Munro ging nach achtern, um über Hannahs bizarres Ansinnen nachzudenken. Er war kein Narr und wußte, irgend etwas in Futschau hatte den verleumderischen Klatsch über sie angeheizt. Was es auch gewesen sein mochte, es hatte in Hannah eine Entschiedenheit geweckt, die er schon in dem Augenblick geahnt hatte, als sie in Schanghai der Bettlerin die Logleine zugeworfen hatte. Aber das war wohl nicht verwunderlich, schließlich war sie Cracker Jacks Tochter. Aber sie würde ganze Arbeit leisten müssen, um Enright in Schach zu halten. Mit dieser Überlegung ging er zum Ruder,
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brummte dem Rudergänger ein paar Worte zu und kehrte dann aufs Vorschiff zurück. Vor die Wahl zwischen Hannah und Enright gestellt, galt seine Sympathie dem Mädchen. Und außerdem hatte sie ihn um Hilfe gebeten ... Sie würde das Kommando ohnehin nur für eine Übergangszeit ausüben, wollte sie nicht Ärger mit dem Handelsministerium bekommen. Der neue Kapitän der Erl King würde von ihrem Eigner ausgesucht werden, aber Eigner war ironischerweise Hannah selbst. Ihr konnte Cracker Jacks schlechte Meinung über Enrights Charakter kaum unbekannt sein. Deshalb würde sie später auch nicht den Fehler begehen, Enright zum Kapitän zu ernennen. Blieb er selbst also ihr gegenüber loyal, konnte sich das auf lange Sicht vielleicht auszahlen. Und doch mußte er nach den Höllenqualen von Futschau zunächst wissen, was sie wirklich für ihn empfand. Er stellte sich wieder neben sie. »Miss Kemball, ich werde tun, worum Sie mich gebeten haben. Aber nicht um Ihres Vaters willen, sondern für Sie, wegen des Nachmittags, den wir in Schanghai hätten verbringen können.« Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Wir alle wünschen wohl manchmal, wir könnten die Uhr zurückstellen, Mr. Munro. Ich hätte das gestern morgen gerne getan - und auch an jenem Nachmittag in Schanghai.« »Miss Kemball...« begann er noch einmal mit verzweifelter Förmlichkeit, »mich quält die Vorstellung, daß Sie nicht verstehen, was ich für Sie empfinde...« »Bitte nicht... Ich denke schon, daß ich es verstehe. Aber es ist unpassend.« »Dann wollen Sie es zwischen uns also dabei bewenden lassen?« »Ja.« »Sehr wohl... Madam.« Sie drehte sich um und ging auf den Niedergang zu, etwas im Zweifel darüber, ob Munros Reaktion ironisch oder ernsthaft gemeint war. Einen Fuß auf der Schwelle, blieb sie stehen. »Mr. Munro?« »Madam?« »Bitte unterrichten Sie Mr. Enright beim Wachwechsel von meiner Entscheidung.«
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6 Enright... Hannah verbrachte den Rest der Nacht, hin und wieder eindösend, in ihrer Kabine. Ihre Gedanken kreisten unablässig um Enright und seine vermutliche Reaktion darauf, daß sie an Bord das Kommando übernommen hatte; Gedanken, in denen hin und wieder, nur halb bewußt wahrgenommen, Bilder ihres Vaters auftauchten und sein Vermächtnis: »Falls ich einmal nicht mehr bin, mußt du Enright entlassen...« Nun, da ihr Vater tot war, schien dieser hingeworfenen Bemerkung etwas Prophetisches innezuwohnen. Wenn sie an Enrights Verhalten in den vergangenen Monaten zurückdachte, so war sie alles andere als beruhigt: Enrights Rolle bei der angeblichen Rebellion des aufsässigen Matrosen; Enright, der von den Messern der Matrosen die Spitzen abbrach; Enright auf dem Poopdeck, wo er einem zweiten widerborstigen Matrosen mit der Prügelstrafe drohte; Enright, der die beiden Blumenmädchen auswählte; und Enright, der am Flaschenzug an Bord gehievt wurde... Als es zum Wachwechsel einmal glaste, was der Ausguckposten vom Vorschiff her wiederholte, hörte sie behende Schritte auf der Treppe zum Niedergang. Das war einer der Kadetten, der von Mr. Munro nach unten geschickt worden war, um Enright zur Morgenwache aus der Koje zu holen. Hannah war jetzt hellwach, ihr Herz klopfte. Bald würde Enright Bescheid wissen. Aber es war nichts zu hören, auch nicht, als mit achtmal Glasen die vierte Morgenstunde und der erneute Wachwechsel eingeläutet wurde. Sie sagte sich, daß Munro auf der Poop schon wissen würde, was zu tun war. Aber hätte nicht Enright darüber, daß sie, Hannah Kemball, ihn wie jeden anderen Wachoffizier an Deck beordert hatte, erbost reagieren müssen? Hätte er nicht längst aufbrausend eine Erklärung verlangen müssen? Kerzengerade saß sie da und lauschte angestrengt auf ein warnendes Zeichen, das ihr erklären würde, was draußen vor sich ging. Dann hörte sie wieder Schritte, schwere Schritte diesmal, woran sie erkannte, daß es die Munros waren. Sie stand auf und ging zur Tür, zog den Riegel auf, öffnete einen Spaltbreit und horchte. Munro pochte hart an die Tür des Ersten Offiziers: »Mr. Enright! Mr. Enright, es ist acht Glasen vorbei. Jetzt ist Wachablösung, Mr.
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Enright!« Sie meinte, Enrights Kammertür knarren zu hören. »O verdammt... Enright! Um Himmels willen, Mann, stehen Sie auf!« Hannah legte sich einen Schal um die Schultern und trat rasch in den schmalen Gang hinaus, wo sie auf Munro stieß, der gerade von Enright kam. »Nun?« »Er hat getrunken.« Munro deutete mit dem Kopf auf Enrights Tür. »Jetzt liegt er bewußtlos da.« »Verstehe.« »Ich werde Talham rufen.« »Ja... Nein!« Sie packte ihn am Ärmel und dachte fieberhaft nach. Der Zufall hatte ihr zu einem Vorteil über Mr. Enright verholfen, und in ihrer Abhängigkeit von ihnen allen und ihren Fähigkeiten durfte sie sich den nicht ohne weiteres entgehen lassen. Einerseits brauchte sie Enrights Erfahrung, andererseits mußte sie dafür sorgen, daß er ihr nicht länger gefährlich werden konnte. Und solange sie Munro als Reserve hatte, konnte sie auf Enrights Erfahrung notfalls verzichten, wenn sie ihn als Gefahr ausschalten mußte. »Nein, warten Sie.« Munro aber hatte ihren Griff für eine intimere Geste gehalten, nahm sie nun an beiden Ellbogen und drängte sie sanft gegen die Wand. Das schwache Petroleumlicht ließ ihr Gesicht als scharf gezeichnetes Relief hervortreten. Munro preßte seinen Körper gegen sie, und sie gab nach. Nach ihrer Trauer und ihrem inneren Aufruhr schien nichts ihr verlockender als dieser kleine Moment der Hingabe. Doch nach einer Weile schob sie ihn sanft zurück. »Hannah, ich liebe Sie...« »Bitte nicht. Nicht jetzt, nicht schon wieder...« Angst überfiel sie. Wer hatte Wache an Deck? Und angenommen, jemand überraschte sie in dieser kompromittierenden Lage? Dann war ihre Autorität unwiederbringlich dahin, bevor sie sie überhaupt etabliert hatte. »Bitte nicht... Später, aber nicht jetzt. Nicht solange ich dieses Schiff führen muß.« »Aber das brauchst du doch nicht. Ich kann...« »Nein! So geht das einfach nicht, verstehen Sie ? Ich muß es schaffen. In London wird vielleicht alles anders. Aber jetzt brauche ich Ihre Hilfe. Wenn Sie mich wirklich lieben, dann beweisen Sie's jetzt.
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Bitte...« Die Verzweiflung in ihrer Stimme und ihre sich überstürzenden Worte verliehen ihrem Appell eine Überzeugungskraft, die sie mit List oder Taktik nie erzielt hätte. »Haben Sie denn vor, das Rennen weiterlaufen zu lassen?« »Mit Ihrer Hilfe... ja.« Die Worte entschlüpften ihr, bevor sie es richtig bedacht hatte; aber schließlich bedeutete das Rennen viel für die Mannschaft. Hannahs flehender Blick war unwiderstehlich, und Munro neigte kapitulierend den Kopf. Für einen schier endlosen Augenblick rangen in ihnen beiden körperliches Verlangen und beruflicher Ehrgeiz miteinander, und der Zwang, diesen Konflikt zu bewältigen, führte dazu, daß ein festes Bündnis zwischen ihnen zementiert wurde. Sie waren beide intelligent genug, seine Notwendigkeit einzusehen. Munro hob die Hände, umfaßte ihr Gesicht und küßte sie noch einmal. »Also gut... Ich helfe dir.« Er trat zurück und deutete mit dem Kopf auf Enrights Tür. »Und was soll ich nun mit ihm machen Madam?« Die Ironie, mit der er die Anrede aussprach, ließ sie beide lächeln. »Geben Sie mir noch einen Moment Zeit, damit ich mich ankleiden und an Deck gehen kann. Ist einer der Kadetten oben?« »Ja, der junge Harrison ist gerade aus der Koje gekrochen.« »Sehr gut. Ich schicke ihn nach unten. Und dann versuchen Sie beide, Enright an Deck zu bekommen.« Jetzt grinste Munro jungenhaft wie ein Komplize. Diese Vertraulichkeit gab ihr die Kraft, sich von ihm zu lösen und auf ihre Kabine zuzugehen in der Gewißheit, daß sie, Munro hin oder her, von jetzt an wirklich ganz auf sich allein gestellt war. Später an Deck rief sie den jungen Mann zu sich: »Mr. Harrison?« »Miss Kemball?« »Gehen Sie nach unten und helfen Sie Mr. Munro, den Ersten Offizier an Deck zu schaffen.« »Sie meinen Mr. Enright?« fragte der Junge ungläubig. »Ja. Los, worauf warten Sie noch?« Sie ging nach achtern zum Kompaß, langsam, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. »Was liegt an?« »West und ein halber Strich Süd, Miss.« »Sie sind Molloy, nicht wahr?«
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»Ja, Miss Kemball, Jack Molloy. Ich habe sechs Reisen mit Ihrem Vater gemacht und bin sehr traurig, daß...« »Ja, danke, Molloy, sehr freundlich.« »Wir fühlen alle mit Ihnen, Miss, vor allem jetzt, wo das Rennen ...« Seine Stimme verlor sich. »Was ist mit dem Rennen?« »Tja, es ist doch so gut wie vorbei, Miss.« »Wer sagt das?« »Tja, ich, ähem, ich nahm an...« »Dann nehmen Sie bitte nichts dergleichen mehr an, und sagen Sie es auch Ihren Kameraden: Bitte keine Spekulationen, bis Sie von mir hören.« Sie war selbst erstaunt darüber, daß sie dermaßen bestimmt und ruhig mit dem Mann reden konnte, obwohl ihr Herz nach der Begegnung mit Munro und in Vorahnung eines bösen Zusammenstoßes mit Enright zum Zerspringen klopfte. »Ja, Miss Kemball.« Molloys Stimme klang unsicher, und sie begriff, daß er in der Defensive war. Deshalb nutzte sie, unbewußt schon für den Augenblick übend, in dem sie Enright konfrontieren mußte, die Gelegenheit und ließ den armen Rudergänger ihren Unmut spüren, den sie für den pflichtvergessenen Enright in sich aufstaute. »Hören Sie auf, mich Miss Kemball zu nennen, Molloy. Für Sie bin ich ›Madam‹, denn ich habe jetzt, da mein Vater tot ist, das Kommando an Bord übernommen.« Damit machte sie drei Schritte vorwärts und ließ einen Vollmatrosen zurück, der ihr verblüfft nachstarrte. Inzwischen konnte sie jede Einzelheit an Deck erkennen. Sie sah eine Gruppe Männer unter dem Poopdeck, die offenbar spürten, daß etwas Ungewöhnliches im Gange war, weil kein Offizier Wache ging und Miss Kemball zu so früher Stunde an Deck war. »Was starrt ihr mich so an?« fuhr sie die Leute an, sich weiter aufladend, was ihr immer leichter zu fallen schien, je mehr Minuten vergingen, ohne daß Enright erschien. »Geht an die Pumpen, setzt in der Kombüse Wasser auf... Macht eine Kanne Tee.« Sie sah die kleine Gruppe zögernd von dannen ziehen, hörte unmutiges Gemurmel, aber auch die abschließende Bemerkung: »Eine Muck Tee nehme ich um diese Zeit von jedem - auch von ihr!« »Daran hätte der Alte nicht im Traum gedacht«, antwortete ein anderer.
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Hinter sich hörte Hannah ein Stöhnen aus dem Niedergang, das anschwoll und in lautes Wutgebrüll überging: Mr. Enright, der von Munro und Harrison auf die Poop halb gezerrt, halb getragen wurde. »Verdammt, was bilden Sie sich eigentlich ein? Hol Sie der Teufel!« wütete Enright immer noch lallend, aber immer deutlicher, je mehr sich sein Kopf an der frischen Luft klärte. »Zum Henker, Harrison, was geht hier eigentlich vor? Was fällt euch Schweinen ein, mich...« Enright riß sich los, stützte sich ab und stierte um sich. Kopfschüttelnd starrte er Munro an, dann schwankte er plötzlich vorwärts und hob die Fäuste gegen ihn. »Munro, Sie elender Meuterer! Sie bilden sich doch nicht ein, daß ich Wache gehe? Ich bin der Kapitän! Ich habe Ihnen doch gestern gesagt, daß Sie und Talham Wache um Wache gehen sollen.« »Ich habe Mr. Munro befohlen, Sie an Deck zu bringen, Mr. Enright.« Enrights wütende Attacke gegen Munro endete ebenso abrupt, wie sie begonnen hatte. Taumelnd drehte er sich um und starrte Hannah entgeistert an. »Sie?« »Ganz recht. Ich habe das Kommando an Bord übernommen.« »Sie haben - um?« »Das Kommando übernommen. Sie dürfen Ihre Position als Erster Offizier behalten.« »Für wen, zum Teufel, halten Sie sich eigentlich? Welches Recht haben Sie...« »Ich führe jetzt das Schiff!« sagte sie schon etwas lauter, so daß ihre helle Stimme Enrights entrüsteten Baß übertönte, »weil ich Eigner dieses Schiffes bin, weil es der Wunsch meines Vaters war, und weil Sie -«, in dieses Wort legte sie alles Gift ihrer Frustration, ihrer Trauer und ihres Abscheus gegenüber Enright und erzielte damit eine Schärfe, die selbst ihre kühnsten Absichten übertraf, »weil Sie unfähig sind, betrunken und unfähig, Mr. Enright! Und da Sie offenbar nicht imstande sind, Ihre Wache zu übernehmen, dürfen Sie jetzt wieder nach unten gehen und Ihren stinkigen Rausch ausschlafen.« Unsicher packte Enright die Reling. Offenbar hatte er Zweifel an der Realität der Situation oder an seinem eigenen Wahrnehmungsvermögen. Jedenfalls drehte er sich um, stolperte übers Süll und torkelte den Niedergang hinunter. Krachend flog
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die Kammertür hinter ihm zu. Hannah atmete laut aus. »Danke, Mr. Munro.« »Vielleicht sollte ich lieber oben bleiben.« »Nein. Harrison kann Mr. Talham rufen, damit er die Morgenwache übernimmt.« »Sehr wohl. Wachablösung an Ruder und Ausguck!« rief er den Männern zu, die sich wieder unter der Poop herumdrückten. »Alles klar, Leute?« »Aye, aye, Mr. Munro, Sir!« »Da hast du's - sie is'n verdammt spitzer Span vom alten Block...« »Dann gehe ich jetzt nach unten«, sagte Munro. »Sind Sie sicher, daß Sie klarkommen?« »Ganz sicher. Bitte gehen Sie jetzt, Mr. Munro.« »Sehr wohl, Madam«, sagte er und lächelte. Enright erwachte mit der Erkenntnis, daß er einen Kater hatte und soeben von einem wüsten Alptraum heimgesucht worden war. Mit der typischen Hartnäckigkeit von Träumen ließen sich einige Einzelheiten daraus einfach nicht abschütteln. Sie standen mit schmerzlicher Klarheit vor ihm, bis er langsam begriff, daß es gar kein Traum, sondern Wirklichkeit gewesen war. Allmählich dämmerte ihm, was in der Nacht vorgefallen war, aber erst als er sein abgeschürftes Schienbein sah, das er sich beim überstürzten Abgang am messingbeschlagenen Niedergangssüll angeschlagen hatte, stand ihm das Ausmaß seiner Erniedrigung voll vor Augen. In einem plötzlichen Wutanfall sprang er mit einem Satz von seiner Koje hoch, sackte aber sogleich wieder zusammen, denn sein schmerzender Kopf verbat sich jede abrupte Bewegung. In Kapitän Kemballs Sessel gelümmelt, brütete er dumpf über seinem Schicksal, schon zu sehr zerrüttet vom Alkohol, um noch eine Erklärung für seine Trunksucht zu suchen oder gar Entschuldigungen, mit denen er sein Versagen hätte rechtfertigen können. Hannah Kemball hatte sich also das Schiff unter den Nagel gerissen. Das war eine Tatsache. Und es schien mit der stillschweigenden Billigung Munros geschehen zu sein. Daraus folgerte, daß Munro mit Miss Kemball unter einer Decke steckte: ein selbstsüchtiges Bündnis, soviel war klar. Aber Munro hatte kein Kapitänspatent. Mit seinem Patent durfte er höchstens als Erster Offizier fahren. Eignerin oder nicht, Miss Kemballs Verhalten und - bedeutsamer noch - das von Munro war
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Meuterei. Bei diesem Gedanken schnaufte Mr. Enright vor Wut, zog daraus aber noch keine überstürzten Folgerungen. Schließlich war er letzte Nacht tatsächlich betrunken gewesen, und deshalb mochte dem Vorgehen der beiden ein Hauch von Legitimität anhaften. Darüber hinaus hatte der Eigner vor dem Gesetz immer das letzte Wort... Er zog seine Uhr hervor, da er sich, Cracker Jack nachahmend, voll bekleidet schlafengelegt hatte. Sie würden ihn bald rufen, damit er die Wache übernahm... Doch wenn er schon jetzt auf der Poop erschien, konnte er eine weitere Konfrontation mit der verdammten Hexe Kemball provozieren, und zwar ohne daß Munro dabei war, der noch schlief. Er stand auf, fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar und wollte gerade an Deck gehen, als ihm ein neuer Gedanke kam. »Ihr gehört das Schiff doch gar nicht«, murmelte er, »jedenfalls nicht das ganze Schiff. Und da kann sie sich nicht selbst zum Kapitän ernennen...« Er suchte in der ganzen Kajüte nach den Schiffspapieren, fand aber nur das Lademanifest. Hatte Munro der Hexe von dem Schiffsregisterbrief erzählt? Sie konnte ihn doch nicht schon unterschrieben haben? Osman würde ihn nachher in Sicherheit bringen, ihn notfalls klauen müssen. Und vor allem mußte er Mr. Len-Kua aufsuchen; dessen Freundschaft war jetzt äußerst wichtig... In der Zwischenzeit wollte er, wie es sich für einen umsichtigen und klugen Kapitän geziemte, den Standort des Schiffes überprüfen. Dieser Gedanke ließ ihn lächeln. Er öffnete seinen Sextantenkasten, hob das Instrument heraus und ging zur Tür. »Wenigstens kann die clevere Hexe nicht navigieren«, murmelte er, während er an Deck stieg. Hannah war, sobald Mr. Talham an Deck erschien, nach unten gegangen, hatte aber nicht mehr geschlafen. Zwar versuchte sie, Schlaf zu finden, weil sie wußte, daß sie sonst im Lauf des Tages entsetzlich müde werden würde, aber nach dieser ereignisreichen Nacht war sie zu erregt, um Ruhe zu finden. So hatte sie sich in ihre Kabine gesetzt, um einige Papiere ihres Vaters durchzusehen. Neben offiziellen Dokumenten stieß sie auf drei mit Zahlenreihen gefüllte Notizbücher, die sie als seine astronomischen Berechnungen erkannte, am Rand versehen mit Anmerkungen und Beobachtungen zur täglichen Standortermittlung. Sie fand auch seine in Leder gebundenen und mit Vorhängeschlössern gesicherten Tagebücher, deren Schlüssel sie an seinem Gürtel
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entdeckt hatte. Die Journale enthielten seine persönlichen Ansichten über das, was auf See geschah, niedergeschrieben in seiner akkuraten Schrift. Ihr Vater hatte in Schanghai anscheinend bedeutende Summen für rote Jade ausgegeben, eine Substanz, die Hannah noch nie gesehen hatte, weshalb sie annahm, daß er damit auf eigene Rechnung gehandelt hatte.
Sie fand auch Beurteilungen über seine Offiziere, und es durchfuhr sie warm, als sie unter einem neueren Datum las: Munro macht sich sehr gut, ein äußerst kompetenter, tüchtiger Offizier, der es verdiente, über dem verkommenen Enright eingestuft zu werden. Die Erwähnung ihres Gegners ließ Hannah ein paar Seiten zurückblättern, um zu sehen, was ihr Vater geschrieben hatte, nachdem Enright damals volltrunken an Bord zurückgekehrt war. Sie fand den Eintrag, und er bestätigte ihr, daß sie die Meinung ihres Vaters richtig eingeschätzt hatte. Enright kam wie üblich volltrunken zurück. Wurde zur Belustigung der Mannschaft mal wieder an der Rah an Bord gehievt. Ich kann das nicht länger tolerieren. Einmal hätte ihm genügen müssen, aber er ist ein hoffnungsloser Fall. Bin entschlossen, ihn in London zu entlassen.
Das war eindeutig genug. Wenn sie noch eine weitere Begründung für ihre Maßnahme benötigt hätte, so hielt sie die hiermit in Händen. Dabei war sie Enright gegenüber noch großzügig, wenn sie ihm erlaubte, seinen Rang zu behalten und bis zum Ende der Fahrt Sold als Erster Offizier zu beziehen. Sie schaute hoch. Durch das Bullauge drang blasses Tageslicht. Hinter dem Schott kündete leises Klappern davon, daß Osman sein Tagewerk in der Kombüse begonnen hatte. Sie ging zur Tür, öffnete und rief ihn. »Ja, Miss Kemball?« »Würden Sie bitte nachsehen, ob Mr. Enright wach ist?« »Er ist an Deck, Miss. Vor einer halben Stunde ist er nach oben gegangen...« Diese Nachricht alarmierte Hannah, denn wenn Enright an Deck war, konnte das nur heißen, daß er ihre Autorität unterminieren wollte. Aber damit bekam sie auch einen Vorteil ihm gegenüber... »Osman?« »Ja, Miss?«
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»Ich wünsche, daß Mr. Enrights Sachen aus der Kapitänskajüte entfernt werden, da ich dort wieder einziehen werde. Ist das klar?« Osman sah ganz unglücklich drein. »Aber Miss, Kapitän Enright...« »Zum Teufel mit Enright, Osman, und hören Sie auf, ihn ›Kapitän‹ zu nennen! Das Kommando an Bord habe ich übernommen, und ich gebe Ihnen fünf Minuten Zeit, seine verdammten Sachen wegzuschaffen.« Damit ging sie in ihre Kabine zurück und packte ihre und ihres Vaters Sachen zusammen. Osman starrte mit offenem Mund hinter ihr her. Noch nie hatte er gehört, daß Miss Kemball fluchte... Osman war nicht der einzige an Bord der Erl King, der sich über die Veränderung der Hannah Kemball wunderte. Man hatte allgemein erwartet, daß Miss Kemball, durch ihre Trauer um den Vater ganz hilflos, in ihrer Kabine bleiben und die Schiffsführung denen überlassen würde, die etwas davon verstanden. So kam denn auch die Nachricht, daß sie das Kommando übernommen hatte, für alle völlig überraschend, selbst wenn sie Cracker Jacks Tochter war. Molloy erschien nach dem Ende seiner Ruderwache mit der Sensation im Vorschiffslogis, und in der Zwischenzeit hatte auch die gesamte Steuerbordwache (die Zeuge der Szene mit Enright geworden war) davon Kenntnis, ebenso die Freiwache, die bisher noch nicht an Deck erschienen war. Die zunächst breite Akzeptanz von Hannahs neuer Rolle, die in hohem Maß auf der willkommenen Demütigung des verhaßten Enright beruhte, den man als Bedrohung des gemeinsamen Wohlergehens ansah, machte im kalten Morgenlicht der Überlegung Platz, daß Miss Kemball weder kompetent noch erprobt darin war, ein Segelschiff zu führen. Im Vorschiffslogis begann man, das Pro und Kontra zu diskutieren. Einige waren für Hannah, weil sie die Unterstützung Munros zu haben schien, der generell als guter Mann galt. Doch die meisten von ihnen schlugen sich, wenn auch widerstrebend, auf die Seite Enrights, und sei es nur deswegen, weil sie viel Geld auf den Ausgang der Wette gesetzt hatten und weil es ihren Interessen zuwiderzulaufen schien, alte Seefahrtstraditionen so einfach aufzugeben. »Viel Chancen haben wir ja nicht, wenn Enright Skipper ist. Aber mit diesem Mädchen haben wir überhaupt keine, ganz egal, wessen Tochter sie ist.« »Aber Munro ist ein schlauer Bursche.«
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»Klar ist er schlau, aber er weiß nicht, was man für Segel setzt...« »Glaubst du vielleicht, daß Enright das weiß? Wenn der betrunken ist, ist er ein brutales Schwein, und das ist weder für dich noch für mich gut. Ist doch immerhin möglich, daß das Mädchen und Munro ihre Sache ganz gut machen.« »Ganz gut reicht aber nicht, um Dandy Richards zu schlagen...« Und so flogen die Argumente hin und her, geflüstert im Schutz des Lee-Schanzkleids, als die Männer der Wache im zunehmenden Tageslicht nach achtern spähten, was auf der Poop vor sich ging, und gemurmelt unter Deck, wo die Freiwächter in ihre Kojen krochen. Als Enright in der Hoffnung, zwischen den dahinjagenden Wolken eine Sternhöhe zu schießen, plötzlich an Deck auftauchte, hatte dies die Wirkung eines Donnerschlags. Der Erste war ein intelligenter und gerissener Mann. Er wußte, daß er nur wenige Trümpfe auszuspielen hatte, und das machte ihn vorsichtig. Hätte er nicht gewaltige Kopfschmerzen gehabt, wäre er vielleicht übereilter vorgegangen, aber seltsamerweise war es gerade sein Kater, der ihn bremste. Er wußte, daß er nicht beliebt war. Auch wenn der konservativere Teil der Crew eine Frau als Kapitän nicht tolerieren würde, so war doch Munro ein mehr als bedrohlicher Rivale. Daß er kein Kapitänspatent hatte, war für die Crew nicht unbedingt ausschlaggebend, da er generell als kompetenter Seemann galt. Außerdem wußte Enright, daß er zunächst sein eigenes angeschlagenes Image wieder aufpolieren mußte, indem er überraschend eine Umsicht an den Tag legte, die die fälschlich von Miss Kemball verbreiteten Gerüchte über seine vorgebliche Trunkenheit Lügen strafen würde. Enright hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß eine Lüge, sofern sie nur dick genug war und oft genug wiederholt wurde, schließlich doch geglaubt wurde. »Sir, ich...« »Was, Mr. Talham?« fragte Enright, der im Indexspiegel den Arcturus suchte. »Ich... Nichts, Sir.« »Haben Sie die Sternenhöhen ermittelt?« »Ähem, nein, Sir... Es waren zu viele Wolken da, und ich dachte...« »Wenn Kapitän Kemball noch am Leben wäre, hätten Sie doch wenigstens den Versuch gemacht, oder?« Enright ließ den Sextanten sinken und wischte sein tränendes
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Auge, bevor er den hübschen jungen Offizier anfunkelte. »Ja... Ja, ich glaube schon.« »Glauben reicht nicht.« Erneut hob Enright den Sextanten, grunzte zufrieden, konzentrierte sich einen Moment und marschierte in den Kartenraum, wobei er die Sekunden zählte, um die Zeit seiner Beobachtung festzuhalten. Ein paar Minuten später war er wieder draußen und suchte nach einem zweiten Stern, mit dem er die Standlinie des ersten kreuzen wollte. Anscheinend erfolgreich kehrte er in den Kartenraum zurück, um seine Berechnungen zu Ende zu führen. Dann streckte er den Kopf heraus und schrie: »Schicken Sie die Jungs nach oben, Mr. Talham, sie sollen den Gordings mehr Lose geben. Und lassen Sie sich nicht andauernd sagen, was Sie machen sollen. Die verdammte Seawitch wird uns überholen, wenn Sie weiter so pflichtvergessen sind.« Bis zum Frühstück, als wieder Wachablösung war und die Männer zum Appell antraten, war allen klar, daß das Rennen weiterging und daß Enright das Kommando führte. Hannah hatte keine Zeit, um über die Folgen der Veränderung nachzudenken, die sie auf See durchgemacht hatte. Dieser Wandel, der Osman und Enright so erstaunte, war indessen nicht so abrupt gekommen, wie alle meinten. Zunächst war Hannah in eine ihr absolut fremde Umgebung geraten und hatte sehr unter dem Nachteil gelitten, eine Frau zu sein. Aber den wenigen engen Freunden ihrer Mutter, die Mrs. Kemball hinüberdämmern sahen, war die Zielstrebigkeit und Willensstärke ihrer Tochter nicht entgangen. Obwohl sie auch an Bord keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre Energien auszuleben, waren sie doch auf der Hinreise passiv genutzt worden. Während die Männer in ihr nur ein dekoratives weibliches Wesen, eine Zierde für ihren großspurigen Vater gesehen hatten, war Hannah nicht bloß aus purer Neugier bei ihrer täglichen Arbeit zugegen gewesen. Alles, was auf See geschah, hatte seine eigene Logik, nicht immer sofort als solche zu erkennen, gewiß; aber Hannah hatte sehr schnell erfaßt, warum die Männer unter bestimmten Umständen dieses Tau fierten, während sie mit vereinten Kräften ein anderes dichtholten. Sobald sie erst einmal die Bezeichnungen der Segel kannte, konnte sie das Fall eines Groß-Obermarssegels von dessen Namensvetter unterscheiden, der das Groß-Bramsegel bediente. Desgleichen war ihr der Unterschied zwischen einer Brasse und einem Toppnant oder einem Hals und einer Schot bald klar. Komplexere Zusammenhänge erkannte sie natürlich noch nicht:
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warum man Männer von einer Aufgabe zu einer anderen abstellte, das Ruder nach Luv legte oder die Rahen an jenem Mast beiholte - das waren Dinge, die sie nicht beurteilen konnte. Doch sie war weit davon entfernt, das dümmliche kleine Pipimädchen zu sein, für das Enright sie hielt, der trotz seiner reichen Erfahrung mit Frauen nur wenig von ihnen verstand. Die Show, die er aus Erl Kings Standortbestimmung machte, war weit davon entfernt, Hannah wie geplant zu beeindrucken. Die Morgendämmerung unterbrach Hannahs wohltuendes Dösen über dem Tagebuch ihres Vaters. Traurig klappte sie es zu. Sie konnte nicht sagen, daß sie wirklich um ihn trauerte, dazu hatte sie ihn in dem Alter, in dem sich starke Familienbande herausbildeten, zu wenig gekannt. In der erstickenden Atmosphäre des Islingtoner Hauses war seiner fernen Erscheinung stets pflichtgemäße »Liebe« zuteil geworden, die zum größten Teil auf Respekt und Dankbarkeit beruhte. Das Ergebnis war die Reverenz an ein Bild, das irreparabel an jenem Nachmittag zerstört worden war, als sie ihn mit dem Dienstmädchen überrascht hatte. Doch war sie betrübt über sein Dahinscheiden, weil ihre Einsamkeit damit unüberwindbar wurde.
Der Angriff der chinesischen Piraten - eine Möglichkeit, die man bis dahin überheblich mit der Versicherung abgetan hatte, sie würden nie bei entschlossenem Widerstand, sondern nur in Erwartung leichter Beute angreifen - war so schnell gekommen, daß er ihr noch immer wie ein böser Traum erschien. Bei ihren Tischgesprächen hatten die Offiziere von anderen Überfällen berichtet, bei denen es Tote nur auf seilen der Chinesen gegeben hatte. Daß Kapitän Kemball von einem Zufallstreffer niedergestreckt worden war, war ihrer Meinung nach eine böse Ironie des Schicksals. Diese Ansicht hatte in Hannah das Gefühl verstärkt, ein Werkzeug des Schicksals zu sein, denn wie anders hätte der Vorfall irgendeinen Sinn ergeben? Hier und jetzt, allein mitten im Südchinesischen Meer, mußte sie das Kommando führen oder sich ergeben. Dann dachte sie an Munros Kuß und an das harte Drängen seines Körpers, an ihr süßes Dahinschmelzen, das, so wußte sie, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zu ihrer völligen Hingabe geführt hätte. Aber Munro war Munro, und es schmerzte fast, an ihn zu denken. Enright dagegen war ein gefährliches Tier, wild in seiner Zielstrebigkeit, dem man mit der Peitsche kommen
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mußte, bevor er zupacken konnte... Hannah hatte die Verantwortung, die eine Schiffsführung mit sich brachte, bereits verinnerlicht. Schon als Munro sie geküßt hatte, war sie sich bewußt gewesen, daß kein kompetenter Offizier ihr die Poop streitig machen würde. Nun, in der grauen Morgendämmerung, machte ein ererbter Instinkt ihr klar, wie wichtig die Position der Erl King im Koordinatennetz war. Sie streckte ihre steifen Glieder und machte sich auf den Weg in den Kartenraum. Was in Enright Vorsicht, im Vorschiffslogis Debatten und Kontroversen und in Munro Bewunderung hervorgerufen hatte, verursachte auf dem Halbdeck, wo die Kadetten mit der Gleichgültigkeit der meisten jungen Leute das Leben nahmen, wie es kam, nur wenig Überraschung. Sie waren jung genug, um sich für unsterblich zu halten, und sahen sich durch die mangelnde Erfahrung dessen, der auf der Erl King formell oder tatsächlich das Kommando führte, in keiner Weise bedroht; und sie waren arm genug, um über den Ausgang des Rennens nicht allzu besorgt zu sein. Sauer waren sie höchstens wegen einer belanglosen Ehrensache, der Regatta der Klipper-Barkassen, denn Cracker Jacks übereilter Aufbruch vom Min hatte sie um die Chance gebracht, daran teilzunehmen und sich selbst als die Größten zu fühlen. Daher waren die Kadetten völlig sorglos, als sie, über die Royalrahen gebeugt, den Gordings mehr Lose gaben, während die Sonne durch die Wolkenbank am östlichen Horizont brach. Diese leichte Arbeit hoch über Deck forderte Schwindelfreiheit und Geschicklichkeit, aber nicht deswegen übertrug man diese Aufgabe den Kadetten, sondern weil es ein Detail war, eine scheinbar geringfügige Pflicht, die sie jedoch lehrte, in kleinen Dingen mit ihren Kräften hauszuhalten und später, wenn sie erst Offiziere waren, derlei Kleinigkeiten ständig in ihre Kontrolle des Schiffs mit einzubeziehen. »Was hältst du davon?« fragte der eine Toppgast seinen Wachkameraden. »Wovon? Von dem Rennen?« »Nein. Davon, daß Cracker Jack niedergeschossen wurde.« »Er war schon alt... Schlimm für Hannah...« »Damit sind wir wenigstens diesen schwulen Talham aus unserer Messe los.« »Genau... Glaubst du, daß wir auf diesen Schiffen noch eine
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Zukunft haben?« »Warum fragst du?« »Schätze, daß die Zukunft den Dampfschiffen gehört...« »Das sagst du nur, weil du neulich diesen blöden Dampfkessel gesehen hast.« »Früher hieß es, daß die Dampfer niemals bis China kommen...« »Früher hieß es auch, daß die Erde 'ne Scheibe ist.« »Wollen wir gehen?« »Geh, wenn du willst, ich bleib' noch ein bißchen hier.« Und der Jüngere der beiden, ein Junge von siebzehn Jahren namens Gordon, beugte sich über die Groß-Bramrah und beobachtete den Sonnenaufgang, während sein Kamerad, vom Kaffeeduft im Salon angelockt, sich sein Frühstück holen ging. Hannah wußte, daß sie seit der Bestattung ihres Vaters mit dem Wetter Glück gehabt hatte. Der Wind blieb beständig, so daß die Erl King ihren Kurs beibehalten konnte und weder Segel streichen noch mehr Segel setzen mußte. Mit Kurs Südsüdwest hielten sie voll und bei auf die Küste von Kotschinchina zu, wo sie dann mit Geschick und Ausdauer den Land- und Seewind ausnutzen würden, um sich gegen den vorherrschenden Monsun voran zu mogeln und nach Süden zu segeln. Das war dem Fortschritt im Schiffbau zu verdanken. Vor sechzig Jahren wären die schwerfälligen Ostindienfahrer niemals mitten im Sommer aufgebrochen, wenn der gegenanstehende Südwestmonsun am stärksten war, sondern hätten das Ende des Jahres und der Taifunsaison abgewartet und das Einsetzen des günstigen Nordostmonsuns. Doch die Erl King war, unabhängig vom Skandal ihrer Entstehung, ein Meisterstück der Schiffbaukunst und nahm die Gegenwinde mit dem Elan eines Vollbluts. Hannah betrat den Kartenraum, als Enright sich gerade von seinen Berechnungen aufrichtete. Er starrte sie an. Die frische Luft und die -Notwendigkeit, sich zu konzentrieren, hatten ihm die letzten Reste des Alkoholnebels aus dem Hirn geblasen. »Guten Morgen, Miss Kemball«, sagte er mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes, der mit klarem Kopf geschlafen hatte. »Mr. Enright... Sie haben gerade unseren Standort ermittelt, nicht wahr?« Er lächelte raubtierhaft. »Genau. Dafür reicht sogar meine Fähigkeit, Miss Kemball«, sagte er sarkastisch und fügte hinzu: »Wie die jedes Kapitäns auf großer Fahrt.« »Freut mich zu hören, Mr. Enright. Genau deswegen
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beabsichtige ich ja auch, Sie als Ersten Offizier zu behalten. Sie sind der beste Mann für den Job.« Er schaute sie scharf an, weil er Ironie witterte, aber in ihrem Blick entdeckte er nichts dergleichen. Das Kompliment brachte ihn aus der Fassung, und das wußte sie. »Also lassen Sie uns nicht mehr solchen Unsinn hören, Mr. Enright. Ich meine, wer das Kommando hat und so. Das Schiff gehört mir, ich bin der Eigner; Sie sind der Erste Offizier und werden es bleiben. Nun denn, wo sind wir?« Damit wandte sie sich der Karte zu. Enright war sprachlos. Die kühle Unverfrorenheit dieser Frau beraubte ihn jeder angemessenen Reaktion. Wäre sie ein normaler Seemann gewesen, hätte er sie in einem Wutanfall zu Boden geschlagen. Aber sie war eine Frau, das Haar fiel ihr ins Gesicht, während sie sich über den Tisch beugte, und die Augen, in die er geschaut hatte, waren ... »Noch vor Einbruch der Dunkelheit sollten wir die Küste sehen.« Er starrte sie nur an. Der Zirkel wanderte über die Karte, gehalten von ihren schlanken, kundigen Fingern. »Welche Fahrt machen wir, was schätzen Sie?« Sie schaute zu ihm auf, und wieder fühlte er diese Augen auf sich gerichtet, die ihn erregten und ihm zugleich das ganze Ausmaß seiner Demütigung noch stärker zu Bewußtsein brachten. »Dann lassen Sie doch bitte die Logge ausbringen, ja?« Hannah ging mit einem Nicken und einem Lächeln für Mr. Talham und den Bootsmann wieder an Deck.
Enright ließ krachend seine schwere Faust auf den Kartentisch fallen, so daß die bleiernen Gewichte hüpften. Es gab nur eine Möglichkeit, mit dieser Hexe abzurechnen. Nur eine Möglichkeit, und bei Gott, dann würde sie dafür bezahlen müssen, mit Zinsen! Schnaubend folgte er ihr an Deck. Gerade wollte er den Mund öffnen, um Talham das Loggen zu befehlen, als er von Gordons Schrei aus dem Rigg unterbrochen wurde: »Segel in Sicht an Steuerbord! Drei Strich achterlicher als dwars! Sieht aus wie die Seawitch !«
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7 Das unbekannte Schiff stand am Vormittag mit dem Rumpf schon gut über der Kimm. Die Nachricht, daß ein Klipper gesichtet worden war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf der Erl King. Unter Deck kam die Freiwache nicht zur Ruhe, es gab dort einige Wortgefechte, während sich auf dem Poopdeck etliche Beobachter eingefunden hatten, um das Schiff durch Teleskope zu betrachten. Bei sechs Glasen zweifelte niemand mehr daran, daß es sich um die Seawitch handelte, und zu Mittag lag sie knapp zwei Meilen hinter der Erl King. Hannah, die sich ein langes Fernrohr geholt hatte, musterte den Rivalen, während ihr Herz vor Aufregung und Besorgnis klopfte. Sie verstand absolut nicht, warum Richard's Schiff sie überholen konnte. Beide Klipper hatten alles Tuch gesetzt, von den großen unteren Segeln bis zu den Royals, hatten zwischen den Masten die Stagsegel stehen und hoch über dem auf- und abtanzenden Bugspriet Flieger und Außenklüver. Der Krängungswinkel beider Schiffe war, soweit sie sehen konnte, etwa gleich, so daß keiner der beiden Klipper einen Vorteil aus der eventuell größeren Symmetrie des Unterwasserschiffs ziehen konnte, während sie durch die weißbemützten blauen Seen des Chinesischen Meers pflügten. Von Zeit zu Zeit fing sie Gesprächsfetzen auf, Kommentare zu den Leesegeln oder Bemerkungen über den Matrosen Soundso, der ein besserer Rudergänger sei als ein anderer, doch obwohl im Lauf des Tages (niemand hatte große Lust, unter Deck zu gehen und zu essen) die Rudergänger mehrfach abgelöst wurden, schien keiner von ihnen in der Lage zu sein, die unerbittlich näherkommende Seawitch abzuschütteln. Schließlich konnte Hannah sich nicht länger beherrschen. »Mr. Enright!« Der Erste, der gerade durch sein Teleskop blickte, fuhr herum. »Was ist?« brummte er unwirsch. »Können wir denn nicht verhindern, daß sie uns überholen?« »Was schlagen Sie denn vor, daß ich machen soll, he?« Er baute sich bedrohlich vor ihr auf. »Soll ich mehr Leesegel
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setzen? Sehr wohl, ich setze Leesegel, und wenn unsere Leereling dann unterschneidet und wir einen Knoten Fahrt verlieren und dieser walisische Bock an uns vorbeitanzt, dann nehme ich sie wieder weg. Oder haben Sie einen anderen Vorschlag, Mistress Kemball, da Sie doch hier das Kommando führen?« »Und zwar völlig zu recht, nicht wahr, Mr. Enright?« fauchte sie zurück. »Denn wenn Sie hier das Kommando hätten, dann wäre Ihnen vermutlich nichts anderes eingefallen, als hier herumzustehen und Kapitän Richards an sich ›vorbeitanzen ‹ zu lassen!« »Kann sein, wer weiß? Sie jedenfalls wissen auch kein Rezept. Aber solange ich nur Erster bin, brauchen Sie nicht damit zu rechnen, daß ich Skippern aus der Patsche helfe, die von ihrem Geschäft nichts verstehen. Kapiert?« Sie schrien sich an. Zwar peitschte der Wind ihre Worte nach Lee, doch die Wut auf ihren Gesichtern war für keinen zu übersehen; der Rudergänger, kaum zwanzig Fuß von ihnen entfernt, merkte sich jedes Wort, um seinen Kameraden nachher berichten zu können. »Zur Hölle mit Ihnen, Sir! Ich werde Sie schon zum Kuschen bringen, Sir, und wenn wir London erst am Sankt-NimmerleinsTag erreichen!« »Da wäre ich mir an Ihrer Stelle lieber nicht so verdammt sicher, Kleine. Und wagen Sie's ja nicht, mir was über meinen Job zu erzählen. Vielleicht sind Sie hier der Eigner, aber das heißt noch gar nichts und gibt Ihnen auf hoher See wenig Rechte...« Schäumend vor Wut drehte sie sich um und sah Munro vom Niedergang kommen. Er nickte ihr zu. »Ich habe die Mittagsbreite geplottet und mit der Position des Ersten verglichen. Gegen Mitternacht müßten wir die Küste sehen... Hannah? Miss Kemball?« Sie fegte an ihm vorbei und wollte gerade nach unten stürmen, als sie Mai Li den Niedergang heraufkommen sah. Sie streckte die Hand aus, um ihr an Deck zu helfen, weil die bandagierten, selbst für Mai Lis zierlichen Körper viel zu winzigen Füße nicht dafür geschaffen waren, ihr im Seegang Halt zu geben. Seit sie den Min verlassen hatten, erschien sie zum erstenmal an Deck, denn bisher war sie ständig seekrank gewesen. Hannah half ihr an die Reling. Die Frau schaute sich um, musterte den schwarzen Rumpf und die hoch aufragenden Pyramiden blendendweißen Segeltuchs über ihnen, als die
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Seawitch, von deren stampfendem Bug das Wasser strömte, mit der Erl King gleichzog. »Das sein Kapitän Richard's Schiff?« »Ja«, sagte Hannah. »Ah... Sie sein mehr schnell als dieses?« Gespannt schauten die dunklen, glänzenden Augen unter den weichen Lidfalten hervor. Hannah nickte. »Ja.«
»Ah... Mr. Len-Kua sprechen dasselbe... Du nicht können mehr schnell sein?« »Nein...« »Kapitän Kemball wüßte, was machen.« Len-Kua stand jetzt neben seiner Maitresse; ihre schweren Brokatroben flatterten im Wind. »Was würde er machen, Len-Kua?« drängte Hannah, beinahe ihre gute Erziehung vergessend. »Kapitän Kemball, er würde spielen Trick.« »Bei Gott, da hat er recht!« Munro hatte Len-Kuas Antwort mitgehört. »Was meinen Sie?« fauchte Hannah, fast am Ende ihrer Nervenkraft. »Moment, lassen Sie mich erst das Ruder übernehmen...« Munro drehte sich nochmals um und fragte mit leichtem Grinsen: »Mit Ihrer Erlaubnis?« Hannah erwiderte das Lächeln, fand Munro jungenhaft und charmant und nickte. »Einverstanden.« »Was zum Teufel haben Sie vor?« schrie Enright, als Munro auf die Teakgräting am Ruder zuging. »Ihm eine Spake zu geben, Mr. Enright, eine Spake...« Munro kam leicht mit dem Ruder auf und ließ zwei Spaken durch seine starken braunen Hände gleiten. Die Erl King fiel einen halben Strich ab, holte etwas weiter über und wurde eine Spur langsamer. Von ihrer Leereling schäumte das aufgewühlte Wasser in einer langgezogenen, weiß-grünen Kurve nach achtern. In der Kühl rannten einige Männer nach vorn, um die Brassen zu trimmen, aber Munro rief sie zurück. »Halt - rührt mir ja keine Leine an! Wir wollen doch mal sehen, wer die besseren Nerven hat.« Da die Sonne schon im Westen stand und Erl Kings Schatten auf das zwischen den beiden Schiffen wogende Wasser warf, konnte Hannah jetzt Einzelheiten an Bord der Seawitch erkennen. Die Erl King aber, mit der durch die Schlitze
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zwischen ihren Segeln blendenden Sonne hinter sich, war für die anderen nur eine Silhouette und würde es ihnen schwermachen, Details auf der ihr selbst zu sehen. Das Licht ließ jede Bewegung an Deck der Seawitch deutlich hervortreten. So hatte dort jemand die winzige Kursänderung der Erl King bemerkt, und Hannah konnte jetzt klar ausmachen, daß Richards zur Luvreling ging, um sie zu beobachten. Er war wie immer in Grau gekleidet, seine Kapitänsjacke und sein Zylinder hatten die gleiche Farbe. Sein Anblick versetzte Hannah in unerklärliche Erregung. Sie würde ihn herausfordern! Mit Mühe unterdrückte sie den Wunsch, auf den Zehenspitzen auf- und abzuwippen, und hielt die Teakreling so fest umklammert, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie kamen näher! Der Abstand zwischen den beiden Schiffen wurde zusehends kleiner, und die weiße Bugsee von Erl Kings dahinjagendem Steven vermengte sich schäumend mit der von Seawitchs Backbordbug. »He, Kemball!« Richard's dröhnende Stimme drang mühelos nach Luv. »Halten Sie Ihren Kurs, verflucht noch mal!« »Menschenskind, Munro! Sind Sie verrückt geworden?« Enright wurde plötzlich blaß. Hannah, hin- und hergerissen in ihrer Abhängigkeit vom Können beider Männer, wußte nicht, ob sie über Enrights Nervosität erschrecken oder Munros verrückte, aber wirkungsvolle Aktion gutheißen sollte. Was immer Munro vorhatte, es schien Richards zu verunsichern, denn er brüllte erneut herüber: »Verdammt noch mal, Kemball! Bleiben Sie auf Kurs! Ich bin der Überholer...« »Und deshalb müssen Sie sich verdammt noch mal von uns freihalten!« brüllte Munro zurück, der die Regeln genausogut beherrschte wie sein Rivale. »Besonders wenn er plumpe, alte, von Frauen geführte Kähne überholt«, witzelte Talham und errötete, als Hannah ihn stirnrunzelnd anschaute, während Enright, der sich mit dieser Bemerkung vor Hannah verhöhnt fühlte, Talham anfauchte: »Halten Sie den Mund!« Aber Munros Trick zahlte sich aus, denn als die Seawitch querab an Steuerbord lag, befand sie sich in Erl Kings Abdeckung und verlor damit den Wind und ihren Vorteil. Da sie ihren Rivalen nun nicht mehr überholen konnte, blieb die relative Position der beiden Schiffe zueinander gleich. Munros List, den Kurs so zu ändern, daß sie vor dem Bug der Seawitch vorbeilaufen mußten, hatte Richards in eine Zwangslage gebracht. Da sein Schiff die Erl King schon zur Hälfte überlappte, lief er Gefahr, daß ihre
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unteren Rahen sich verhedderten, was im nächsten Augenblick auf beiden Schiffen zu einem Mastbruch führen konnte. Als Alternative blieb ihm nur die Möglichkeit, ebenfalls abzufallen und dadurch zurückzubleiben, während die Erl King ihm weiterhin den Wind stehlen konnte. »Kemball, Sie tollwütiger Satan, legen Sie Ruder, oder wir sehen uns in der Hölle wieder...« »Gott sei Dank ist der Wind stetig«, bemerkte jemand hinter Hannah. »Genau. Und der junge Munro hat gute Nerven«, sagte ein anderer. Hannah warf einen raschen Blick nach achtern. Munro stand, breitbeinig das Krängen des Schiffes abfangend, auf der Gräting. Sein Gesicht war, während er kaum merklich das Ruder
bediente, eine seltsame Mischung aus absoluter Konzentration und Verzückung. Er beobachtet die Segel über sich und beurteilt die Reaktion des Schiffs nach dem Stand der Vorlieken, dachte Hannah, auch wenn sie mangels Kompetenz nicht völlig sicher war, was vorging. »Sollen wir's ihm sagen, Miss Kemball?« fragte Talham in dem offenkundigen Bemühen, wieder Gnade vor ihren Augen zu finden. »Was sagen?« Hannah wandte sich wieder der Seawitch zu. »Das von Ihrem Vater... Kapitän Richards denkt, daß er noch lebt.« »Spielt es eine Rolle, was Kapitän Richards denkt?« fragte sie verächtlich, in Gedanken immer noch bei Munros verzücktem Gesicht. »Jesus Christus!« Enright schaute erschreckt in die Toppen, als die Erl King in einer Bö stärker überholte. Eine Rahnock hatte sich irgendwo verfangen, und Hannah wurde abermals bewußt, wie unmöglich dicht beide Schiffe nebeneinander segelten, wobei Seawitchs Vorschiff jetzt Erl Kings Poop überlappte. Ihre Rahnock hatte an der Luv-Fockbrasse der Seawitch gezupft, die nun, zum Zerreißen gespannt, in oszillierenden Sinuswellen vibrierte. »Kemball!« Keine fünfzig Fuß von Hannah entfernt stand Richards auf dem Vorschiff, seine dunklen Augen funkelten wie nasse Kohlen. »Wo zum Teufel ist euer Skipper? Liegt er betrunken in der
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Koje? He - hört ihr nicht? Seid ihr alle betrunken?« Wieder schlingerten die beiden Schiffe aufeinander zu. Plötzlich ging Richards nach achtern und entschwand ihren Blicken, während sich die Seawitch, weit überholend, von ihnen entfernte. Niemand hatte auf Richard's ärgerlichen Ruf geantwortet. Da hatte er kapituliert und abfallen lassen. Nun blieb die Seawitch zurück, verschwand aus ihrem verliehen Blickfeld, als habe sich vor ihnen ein neuer Szenenvorhang gehoben. Munro brachte das Ruder in die Ausgangsposition zurück und hielt die Erl King hoch am Wind, während erst drei, dann vier Kabellängen und schließlich eine halbe Meile achteraus die Seawitch wieder zu ihrer Verfolgung ansetzte. Und dann - völlig unerklärlich, als hätten sich die unparteiischen, verborgenen Gesetze der Physik, nach denen sich beide Schiffe voranbewegten, plötzlich für die Erl King entschieden, gewann sie allmählich einen klaren Vorsprung. Vielleicht lag es auch daran, daß Wind und See aus Gründen, die niemand kannte, ihr eigenes Spiel mit dem Schicksal der Besatzung treiben wollten. Jedenfalls lag die Erl King deutlich vorn, und das war der Stand des Rennens bei Einbruch der Dunkelheit. Enright trat in Len-Küas Kabine. Der alte Chinese lag bäuchlings auf seiner Koje ausgestreckt, Mai Lis rechte Hand hielt seine Stirn und ihre linke eine Schüssel, in die der alte Mann sich erbrach. In der Kabine stank es nach Seekrankheit. Enright verzog angeekelt die Nase. »Was Sie wollen?« fragte Mai Li abweisend, gedemütigt an Len-Kuas Stelle. Aber Enright beachtete sie nicht. »Len-Kua?« grollte er. Der Kaufmann hob den Kopf, sein schweißnasses Gesicht war grünlich-gelb. »Warum Sie kommen, Enright?« »Wie viele Parten an diesem Schiff gehören Ihnen, he?« Len-Kua runzelte die Stirn, dann begriff er, und ein leises Lächeln überflog sein blasses Gesicht. »Len-Kua gehören keine Parten an Erl King. Alle zurück an Kapitän John. Nun er tot, alle gehören Missie Hannah...« Enright stand da wie versteinert, dann drehte er sich abrupt um und warf die Kabinentür krachend hinter sich zu. Len-Kuas Lachen ging in ein Gurgeln über, weil er sich wieder erbrechen mußte.
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Im Salon stieß Enright mit Osman zusammen. »Hast du ihn gefunden?« fragte er den Steward. Osman nickte und hielt ihm den dicken Umschlag mit dem Auszug aus dem Handelsschiffsregister entgegen. Enright packte ihn und riß ihn auf. Was er sah, erboste ihn noch mehr; Hannah Kemballs Unterschrift stand bereits säuberlich unter der ihres Vaters. »Dieses Luder!« brüllte er, während der Steward sich duckte, warf den Registerbrief zu Boden und stürmte in seine Kammer, im Vorbeigehen dem Steward noch einen Fußtritt versetzend. »Bring mir 'ne Flasche«, befahl er. »Jawohl, Sir«, sagte Osman und wich Enrights Stiefel geschickt aus. Nachdem er den Registerbrief aufgehoben und wieder an seinen Platz zurückgelegt hatte, ging er in die Kombüse, um Enright eine neue Ration Gin zu holen. »Die Seawitch ist eben schneller als wir! Wie sonst könnte sie...« »Moment mal, Hannah, bitte... So hören Sie mir doch zu...« »Mein Vater war verrückt... Verdammt noch mal, nein, er war betrunken, als er diese lächerliche Wette einging!« »Wollen Sie aufgeben?« fragte Munro schroff. Sie wollte Richards demütigen, wollte ihn auf Knien sehen, aber es stand zu viel auf dem Spiel, und überdies war die Wette durch den Tod ihres Vaters zu ungleich und deshalb null und nichtig. »Ja... Nein... Ich weiß nicht.« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich kann doch gar nicht gewinnen, oder? Es geht nicht, wir wissen doch jetzt, daß die Seawitch schneller ist...« Sie starrte achteraus, wo Seawitchs weiße Segelpyramide im Mondlicht leuchtete und das Rubinauge ihrer Backbordlaterne glimmte. »Aber das ist sie doch gar nicht! Jedenfalls nicht unbedingt. Genau das versuche ich Ihnen nun schon die ganze Zeit zu erklären.« Munro, der die erste Nachtwache hatte, bezwang seine Ungeduld und versuchte zum drittenmal, Hannah zu überzeugen. »Schauen Sie, es ist alles nur eine Frage der relativen Geschwindigkeit. Seawitch konnte uns überholen, weil sie nicht weit hinter uns lag, auch wenn wir den Min vor ihr verlassen hatten. Ich schätze, daß Richards fast gleichzeitig mit uns startklar war, aber aus einem unerfindlichen Grund erst nach uns auslief. Ihr Vater hat einen weiten Schlag von der Küste weg gemacht und ist in eine für diese Jahreszeit ungewöhnliche Kalmenzone geraten. Das konnte er absolut nicht voraussehen.
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Richards ist entweder weiter westlich gelaufen, hat sich dichter unter der Küste gehalten und mehr Wind gehabt - oder aber er ist unserer Route gefolgt, hat aber die Flaute nicht mehr mitbekommen. So was geschieht, und es wird immer wieder geschehen. Ich habe schon erlebt, daß Schiffe in Sichtweite voneinander segelten und trotzdem völlig verschiedene Windsysteme hatten... Man lernt es, mit den Absonderlichkeiten der Natur auf See zu leben. Man muß es lernen, Hannah, uns bleibt gar keine andere Wahl.« »Sie brauchen mir keine Vorträge zu halten!« »Pardon. Aber die Tatsache, daß er uns eingeholt hat, beweist noch lange nicht, daß die Erl King unter genau gleichen Bedingungen wieder das langsamere Schiff wäre.« »Doch, dieser Nachmittag hat's bewiesen!« »Hat er nicht«, sagte Munro, kurz vor einem Zornesausbruch. »Wie, um alles in der Welt, erklären Sie sich dann...« »Zum Kuckuck aber auch, Hannah, wie soll ich es Ihnen denn erklären, wenn Sie mich dauernd unterbrechen?« Wütend stieß er die Luft aus und schwieg. »Ich höre«, sagte sie schließlich. »Also gut. Erinnern Sie sich daran, wo genau die Seawitch war, als der junge Gordon sie sichtete?« »Recht achteraus.« »Genau, recht achteraus von uns. Und sofort, als sie uns sahen, müssen sie gewußt haben, daß es die Erl King war. Bei uns dauerte es etwas länger, während an Bord der Seawitch schon helle Aufregung geherrscht haben muß. Wie mag Kapitän Richards auf die Chance reagiert haben, uns einzuholen? Sagen Sie's mir, Sie kennen ihn besser als ich.« »Oh, wenn Sie jetzt wieder damit anfangen...« »Nein, ich habe Ihnen nur eine Frage gestellt.« »Na schön. Natürlich hat er sich gierig auf diese Chance gestürzt. Er ist sehr eitel und extravagant... Aber er hat uns eingeholt, also muß er schneller sein. Ich meine, schließlich war er zuerst ganz hinten am Horizont...« »Hannah, was glauben Sie, wieviel Aufmerksamkeit - also, ich meine wirkliche, konzentrierte, ungeteilte Aufmerksamkeit haben wir zu der Zeit auf Ruder und Segel verwandt? Mit dem Tod Ihres Vaters, dem Streit zwischen Ihnen und Enright und allem, was damit zusammenhängt...« »Schon gut, nur weiter mit Ihren Hypothesen.« »Vielleicht war Richards uns um einen halben Knoten überlegen,
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einfach wegen unserer Probleme. Aber um uns zu überholen, braucht er mehr als das, vor allem wenn wir uns wie jetzt besser auf das Schiff konzentrieren. Was hat er denn schon groß getan? Er hat etwas aufgefiert, ist etwas voller gesegelt und deshalb eine Idee schneller geworden - aber statt in Luv an uns vorbeirauschen zu können. ..« »Kommt er in Lee an, und da haben Sie ihn abgedeckt.« »So ähnlich«, sagte er, leiser werdend, als er in der Dunkelheit den Druck ihrer Hand spürte. »Ich danke Ihnen«, sagte sie einfach. »Aber glauben Sie, daß wir eine reelle Chance haben mit Enright? Es war anständig von Ihnen, daß Sie mir keine Schwierigkeiten gemacht haben...« »Nicht meine Art. Aber behalten Sie Enright im Auge. Dafür, daß er nachmittags so getobt hat, ist er mir jetzt viel zu ruhig. Schließen Sie Ihre Tür ab und... Hannah...« »Ja?« Er zögerte. »Wir können es schaffen.« Das war eigentlich nicht das, was er hatte sagen wollen, aber sie hatte warnend seinen Arm ergriffen. »Sie luvt an, Sir!« Munro drehte sich um und rannte fast nach achtern, um einen Blick auf den Kompaß zu werfen und dann an den Segeln emporzuschauen. »Abfallen, Mann, abfallen!« Er sprang zur Querreling und starrte nach vorn. »Ausguck! Sehen Sie was?« »Nein, nichts, Sir.« »Halten Sie scharf Ausschau!« Er ging zum Kompaßhaus zurück und rief: »Alle Mann klar zur Wende... Auf Stationen - aber fix!« Jetzt kam Leben in die Wachgänger, die in irgendwelchen Ecken an Deck gehockt und auf die Ablösung gewartet hatten. Die Kühl war plötzlich voll huschender Schatten, die im Mondlicht auf ihre Manöverstationen rannten. Hannah merkte, daß sie aus Schreck mit der linken Hand ihren Schal und mit der rechten die Reling umklammert hielt. Da entspannte sie sich, ging ebenfalls nach vorn und spähte unter der Wölbung von Großsegel und Fock voraus. Aber sie konnte auf der dunkelnden See bis zur feinen Horizontlinie nichts erkennen. »Klar bei Brassen...« »Alles klar...« »Vorsegelschoten, Stagsegelschoten...«
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»Sind klar, Sir.« »Klar zur Wende!« Hannah merkte, daß der Wind während ihres Gesprächs mit Munro nachgelassen hatte, denn das Wasser schäumte nun weniger schnell am Rumpf vorüber. »Leeruder!« ertönte Munros Kommando. Die Erl King begann zu drehen und sich aufzurichten, als sie an den Wind ging. Plötzlich killten alle Vorsegel, und ein Vibrieren durchlief die Takelage. »Großsegel -hol dicht!« Leinen surrten durch Blöcke und Jungfern ächzten, als die Männer mittschiffs und achtern die Brassen an Steuerbord fierten und die an Backbord unter Aufbietung aller Kräfte dicht holten. Über Hannahs Kopf schwangen Groß- und Kreuzrahen herum; der Besanbaum ging über und rasselte dabei kurz mit seinem Schlitten, bis die Stoßdämpfer die Bewegung abfederten. Auf dem Vorschiff sprangen Männer wie Kobolde im Mondlicht herum und trimmten die Vorsegelschoten. »Hol dicht Fockrahen!« Durch das Manöver noch backstehend, um die Drehung zu unterstützen, kamen Erl Kings Fockrahen jetzt herum. Das Schiff holte leicht über und setzte sich auf dem neuen Bug behende in Bewegung. »Hol dicht Bulin!« Munro kam nach achtern, um den neuen Kurs festzulegen. »Halt sie voll und bei, Ferlin. Jetzt bloß keinen Zoll verschenken, denn bei Gott, das ist die Chance... Gut, schön, recht so...« Im gelben Schein des Kompaßlichts beobachtete Hannah Munros Gesicht, das konzentriert auf die sanft schwingende Windrose starrte, während der alte Ferlin, ein drahtiges Männchen mit lächerlich kleinen Händen, zu den Segeln emporschaute, eine Spake von Backbord nach Steuerbord laufen ließ, um Stützruder zu geben, und die Spaken dann wieder ganz leicht zurücknahm, bis er die Erl King soweit hatte, daß sie wie der Teufel lief. »Und jetzt, glaube ich, setzen wir die Leesegel...« Munro rieb sich zufrieden die Hände. »Weitersagen, da vorn«, rief er. Als alle Leinen aufgeschossen waren, kamen die Männer nach achtern, um die Leesegel vorzubereiten. »Das dauert jetzt einen Moment oder zwei«, sagte er zu Hannah. »Nur mit den Männern der Wache... Ist die Seawitch noch zu sehen?« Sie starrten beide achteraus. Die Seawitch schien sich noch
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mehr entfernt zu haben und lief weiterhin einen Kurs, der westlicher war als Süd. »Wieso...?« »Wir haben den Landwind zu fassen bekommen«, erklärte Munro. »Er weht von der etwa zwanzig Meilen entfernten Küste auf See hinaus und wird uns heute nacht eine Brise bescheren, die uns nach Süden bringt. In der Morgendämmerung bekommen wir dann unsteten Wind, und nach Sonnenaufgang werden wir wieder alle Rahen neu brassen müssen. Denn bis Sonnenuntergang werden wir dann den Seewind für uns haben.« »Verstehe.« Hannah schaute zu, wie das Schiff, ihr Schiff, im weichen Mondlicht die Flügel noch weiter auszubreiten schien und durch Leesegel an allen Rahnocken, durch Stagsegel zwischen den Masten und durch die Blinde unter dem Bugspriet seine Kraft zu verdoppeln schien. »Jetzt hat sie alle Wäsche auf der Leine, Miss«, bemerkte der alte Ferlin, als er an ihr vorbeiging, nachdem er am Ruder abgelöst worden war. Hannah lächelte ihm zu. Auch sie war in Hochstimmung, eingesponnen in den Zauber dieser Nacht. Sie hatte ihren Vater fast vergessen, so sehr nahm das neue Abenteuer sie gefangen. Hannah erwachte schlagartig und mit dem Gefühl, daß irgend etwas sie aufgeschreckt hatte. Ihr Herz pochte unangenehm hart. Ein schwacher grauer Lichtschein fiel durch die Bullaugen. Erl Kings Rumpf knackte leise, und an der Bordwand zischte das Wasser mit steter Beharrlichkeit, sonst störte kein ungewohntes Geräusch die Stille. Doch dann hörte sie es wieder: ein rauhes Atmen, verbunden mit durchdringendem Alkoholgestank. Mit weit aufgerissenen Augen fuhr sie herum. Über sie gebeugt stand Enright. Er griff zu und riß ihr die Bettdecke weg. Ihr Hemd war durch die heftige Bewegung hochgerutscht, so daß sie nun ungeschützt vor ihm lag. Vor Schreck aufstöhnend, zog sie die Beine an, im vergeblichen Versuch, sich zu bedecken. Zischend wollte er sie zum Schweigen bringen. »Pssst!« Mit der Linken zwang er ihr eines Knie nach außen, und sie bekam seine ganze Kraft zu spüren, als sie verzweifelt versuchte, die Beine zusammengepreßt zu halten. Die Bewegung seiner rechten Hand schien sie zu lahmen. Sie hielt den Atem an, die Lungen zum Bersten gefüllt, bereit, sie in einem Schrei der Angst,
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Wut und Empörung wieder zu leeren. Aber irgend etwas hielt sie davon ab, und ihr Blick folgte seiner rechten Hand, irrte von ihr zu dem lüsternen Gesicht mit den nassen Lippen. »Da... Ganz ruhig... Keinen Ton... Und ich verspreche, es wird dir Spaß machen.« Sie schloß die Augen, als er sich mit gewölbtem Rücken auf ihre Koje legte und sich über sie schob. Hannah spürte das Kratzen seiner Lenden an der weichen Innenseite ihrer Oberschenkel, fühlte voll Abscheu sein ganzes Gewicht auf sich ruhen, während seine rechte Hand von ihrem Mund glitt und hart ihre Brust umspannte. Jetzt stieß sie den aufgestauten Atem aus, während sie sich gleichzeitig herumwarf und mit aller Kraft zustieß. Ihr vorschnellendes Knie traf Enright und schickte eine Schmerzwelle durch ihn. Halb abgeworfen, rutschte er zur Seite, das Kojenbrett schnitt ihm zwischen die Beine, und als er sich reflexartig zusammenkrümmte, um seine Genitalien zu schützen, bekam er das Übergewicht, rutschte mit einer Drehung ab und schlug auf den Boden. Keuchend kniete Hannah auf der Matratze und wühlte fieberhaft unter ihrem Kopfkissen. Gleich würde sie schreien... Die Versuchung, sich diesem erleichternden Schrei hinzugeben, war fast übermächtig. Aber irgendwie ahnte sie, daß diese Reaktion sie hilflos machen würde, daß sie nur Selbstzweck gewesen wäre und sie sich mit dem Schmerzensschrei geschlagen geben würde. Außerdem beherrschte sie der unbändige Wille, sich zur Wehr zu setzen und den Schrei als aussichtslose Heuchelei zu unterdrücken. Einen Mann wie Enright würde Schreien nicht aufhalten, sondern höchstens zu mehr Gewalt provozieren. Ihre Hände suchten unter dem Kissen, während Angst sie in der
Kehle würgte. Enright stand wieder auf den Beinen und streckte die Arme nach ihr aus, sein geschrumpftes Glied hing obszön herunter. »Du Hure«, zischte er geifernd, »ich werde dir zeigen, wer hier der Herr ist.« Hannah zog die Hände unter dem Kopfkissen hervor und setzte sich auf, ein Bein gegen das Kojenbrett gestützt, das andere angezogen, den Rücken stocksteif gegen das Schott gepreßt. Ihr Hemd war eingerissen und hochgerutscht. Sie streckte beide Arme vor. Ihre Hände umklammerten einen Revolver. Enright wankte und blieb stehen, als er die Waffe erblickte. Nur wenige Zoll trennten seine gierigen Hände von dem langen Lauf, der in Hannahs Händen zitterte. Er starrte ihr in die Augen, und sie
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konnte nicht verhindern, daß sie sich mit Tränen füllten. Er sah, daß sie kurz vor dem Zusammenbruch stand. »Das wagst du nicht...« Er beugte sich vor, eine Hand auffordernd nach der Waffe ausgestreckt. Ein erster Schluchzer schüttelte Hannah, und sie ließ den Revolver sinken. Da fühlte er sich schon als Sieger und reagierte darauf mit einer erneuten Erektion. Ihr rannen die Tränen übers Gesicht, als sie, ihn abwehrend, zusammensackte. Enright grinste noch, als der Colt losging.
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8 Obgleich er nach seiner Wache sehr müde war, schlief Munro schlecht und wurde sofort wach, als er den Knall hörte. In dem Glauben, etwas im Rigg sei gerissen, war er in Sekundenschnelle aus der Koje und in den Kleidern. Er riß seine Kammertür auf und lief auf den Gang, wo er mit Enright zusammenstieß. Der Erste krümmte sich unter der Wucht des Anpralls und taumelte ohne ein Wort der Erklärung an ihm vorbei. Munro roch seine Alkoholfahne. Durch das Skylight drang trübes Licht und beschien den Gang und eine dunkle, in den Salon führende Blutspur. Hannahs Kabinentür ging auf, fiel krachend wieder zu und schwang erneut auf. Munro verstand. Mit einem Satz sprang er über den Salontisch und stieß auf Talham am Fuß des achteren Niedergangs. »Was ist passiert?« fragte der Dritte Offizier. »Zurück an Deck!« schnauzte Munro und drückte gegen Hannahs Tür, die gerade wieder aufgeflogen war. Hannah hatte die Waffe fallengelassen und war auf ihr Kissen zurückgesunken. Ihre Bettdecke war verrutscht und bedeckte sie nur halb. Sie zitterte am ganzen Körper, hatte das Gesicht im Kissen vergraben und schluchzte hilflos. Munro blieb auf der Türschwelle stehen, unschlüssig, ob er sie in die Arme nehmen oder Enright niederschlagen sollte, dessen Tür jetzt krachend zuflog. Er sah Mai Li auf ihren lächerlich winzigen Füßen herbeigetrippelt kommen und die Schiffsbewegung ausbalancieren, indem sie sich mit beiden Händen an den Schotten abstützte. Sie trug ein weißes Nachtkleid und sah aus wie ein Gespenst. »Len-Kua fragen, alles in Ordnung?« Munro atmete erleichtert auf. »Bitte, Sie um Miss Hannah kümmern. Erster Offizier Ärger machen...« »Erster Offizier sehr schlechter Mensch.« Sie ging an ihm vorbei und schloß die Kabinentür. Einen Augenblick lehnte Munro unschlüssig am Salontisch, dann dachte er an den Schuß und an das Blut, ging wieder in den Gang und drehte Enrights Türknauf. Da abgeschlossen war, preßte er ein Ohr
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gegen die Füllung. »Mr. Enright? Was ist geschehen? Sind Sie ernsthaft verletzt?« Von innen kam nur ein mit groben Flüchen durchsetztes Stöhnen. Munro klopfte und hob die Stimme: »Mr. Enright? Sind Sie verletzt?« Die barbarischen Geräusche hinter der Tür verstummten. »Munro?« rief Enright nach kurzem Schweigen. »Ja. Sind Sie verletzt?« »Gehen Sie zum Teufel.« Munro rüttelte am Türgriff. »Mr. Enright!« »Sie sollen zum Teufel gehen, Munro!« Munro schwieg und schaute nach achtern, auf die Tür zu Hannahs Kabine hinter dem Salontisch, wo eine Messinglaterne sanft hin- und herschaukelte. »Sind Sie noch da?« knurrte Enright. »Ja. Kann ich irgend etwas tun?« »Keine voreiligen Schlüsse ziehen... Und jetzt gehen Sie endlich und lassen Sie mich in Ruhe.« Munro seufzte und stieg über den vorderen Niedergang an Deck. Kaum hatte er die Poop betreten, stand Talham vor ihm. »Herrgott, was war denn da los?« Munro schaute sich um. In der Kühl lungerte die Wache herum und schaute erwartungsvoll nach achtern, in der Hoffnung, daß Munro endlich Einzelheiten berichten würde, auf die sie offensichtlich versessen waren. »Unten hat's einen Unfall gegeben«, erklärte Munro gerade so laut, daß er von ihnen gehört werden konnte. »Mr. Enright hat einen Revolver gereinigt, und der ist losgegangen.« »Hoffentlich hat er sich die Eier weggeschossen«, hörte er jemanden sagen. »Wieso soll er denn 'n Revolver gereinigt haben?« fragte ein anderer. »Wahrscheinlich im Suff, würd' mich nicht wundern«, schlug ein dritter vor. Munro drehte sich um, eine Hand an Talhams Ellbogen. Die Gerüchtekocher vom Vorschiffslogis sollten mit dieser Lüge machen, was sie wollten. Vermutlich würden sowohl Hannah als auch Enright diese Erklärung, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen, gutheißen. Auf halbem Weg zwischen der Querreling und dem Rudergänger verhielt er. Auch Talham blieb stehen, so daß die beiden Männer einander
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gegenüberstanden. Konnte er Talham vertrauen? Sollte er dem Dritten Offizier die Wahrheit sagen? »Was zum Teufel hat sich Enright gedacht, um diese Zeit einen Revolver zu reinigen?« fragte Talham. »Keine Ahnung«, entgegnete Munro und akzeptierte damit, daß die Lüge Wurzeln geschlagen hatte und ihm einen Aktionsradius bot, den er andernfalls nie gehabt hätte. »Und genau das macht mir Sorgen, Charlie. Er ist gegen alles, was hier vorgeht, ist überhaupt nicht damit einverstanden, daß Miss Kemball das Kommando führt...« »Bist du's denn?« fragte Talham scharf. Munro zuckte die Achseln. »Schließlich gehört ihr das verdammte Schiff. Und sie wird Hilfe brauchen, um diese Reise gut zu Ende zu führen. Ich will meinen Lohn und meine Prämie...« »Und als eine Schiffseignerin zur Frau?« Munro schaute Talham fest an. Sie waren zwar Freunde und Kollegen, aber mehr aufgrund der Umstände als wegen gegenseitiger Zuneigung. Trotzdem wollte Munro nicht schon wieder lügen ,denndashätte niemandem genutzt, am wenigsten ihm selbst. »Würde dich das stören?« fragte er. »Nicht im geringsten«, sagte Talham glatt. »Sie ist nicht mein Typ.« »Nein«, sagte Munro und verdrängte die Vorstellung, wer wohl Tal-hams Typ war. »Also - stehst du auf unserer Seite?« »Gegen Enright?« fragte Talham, und seine liebenswürdige Miene verdunkelte sich. »Falls er gegen uns ist... Vielleicht.« »Man muß wohl davon ausgehen, daß er gegen dich ist, wenn er nachts einen Revolver reinigt.« Nach kurzem Nachdenken fügte Talham hinzu: »Vermutlich hat er dem Alten gehört, und Enright hat ihn an sich genommen, als er die Achterkajüte bewohnte.« »Vermutlich«, entgegnete Munro, womit diese Vermutung für Talham zu einer Tatsache wurde. »Ich war noch Kadett auf der alten King of Man«, erzählte er, »als dort ein Prediger verrückt wurde. Er hieß Johnson. Eines Nachts kam er aus dem Salon, fuchtelte mit einem Colt herum und erschoß den Skipper. Er brüllte, das sei Gottes Wille, der Erzengel Gabriel habe ihn gerade aufgesucht und ihm befohlen, das Schiff von allen Sündern zu reinigen. Er verfehlte den Ersten Offizier nur um Haaresbreite, und wir haben drei Matrosen gebraucht, um ihn auf die Knie zu zwingen.«
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»Was ist aus ihm geworden ?« fragte Munro, dem darüber einfiel, daß er sich in den Besitz des Revolvers bringen mußte. »Wir sperrten ihn in seine Kabine ein, und der Erste Offizier übernahm die Schiffsführung, aber der Prediger konnte sich befreien. Er brüllte, daß er der wiedergeborene Samson sei, und sprang über Bord. Da waren wir gerade in der Drakestraße, mit haushohen Seen von achtern...« Beide verstummten, bis Munro schließlich sagte: »Konzentrieren wir also all unsere Kräfte auf diese Heimreise, Charlie. Wollen doch mal sehen, ob ein paar Greenhorns wie wir nicht mit Kapitän Richards und seiner Seawitch fertigwerden, was?« »Ich schließe mich diesem Votum an«, grinste Talham. »Gut«, sagte Munro und lächelte zurück. Dann drehte er sich um und ging nach unten. »Missie? Missie Hannah... Hier sein Mai Li...« Len-Kuas Konkubine legte eine kleine Hand auf Hannahs zuckende Schulter, streichelte sie sanft und gurrte auf die unglückliche junge Frau ein, bis ihr Schluchzen schließlich verstummte. Mai Li erblickte den Weinschrank und schenkte ein Glas Brandy ein. »Du trinken... Machen besser.« Langsam drehte Hannah sich um und wischte sich die Tränen ab. Mai Li beugte sich mit dem Glas über sie, und Hannah roch den Brandy darin. Die Augen der Chinesin waren dunkel vor Mitgefühl. »Du trinken... Machen besser«, wiederholte sie. Auf einen Ellbogen gestützt, nahm Hannah ihr mit zitternder Hand das Glas ab. Der Brandy brannte wie Feuer in ihrem Magen. Unwillkürlich schüttelte sie sich, spürte Übelkeit in sich aufsteigen und den Drang, sich zu übergeben. Aber dieser Augenblick ging vorüber, sie behielt den Brandy bei sich und ließ ihm einen zweiten und dritten Schluck folgen. »Erster Offizier sehr schlechter Mann.« Mai Li streichelte Hannahs Haar. Die Zartheit dieser Berührung war nach Enrights Brutalität wunderbar tröstlich. Hannah schloß die Augen und versuchte gegen die Tränen anzukämpfen. »Du weinen... Machen auch besser«, riet Mai Li, während sie weiterhin sanft über Hannahs Haar strich. »Erster Offizier sehr schlechter Mann, ja?« Hannah nickte, schniefte unter Tränen und trank den Brandy aus. Dann fuhr sie sich mit einem Lakenzipfel über die Augen und
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schaute zu Mai Li hoch. Ihre Verwirrung war so offenkundig, daß Mai Li das Glas nahm und einen Finger hineinsteckte, eine Phallusbewegung andeutend. Fragend sah sie Hannah an. »Nein, nein! Nur fast... Er hat's versucht.« Mai Li nickte und stellte das Glas ab. »Missie Hannah«, fragte sie, »du haben andere Mann? Du machen fickfick mit andere Mann? Mr. Munro vielleicht?« Hannah schüttelte den Kopf. »Nein.« Mai Li lächelte. »Ah, ich verstehen. Sein erstes Mal... Sehr erschrocken.« »Ja... ja. Er hat mich berührt, aber...« »Schon gut, ich wissen...« Mai Li nickte nachdrücklich, ihr eingeöltes schwarzes Haar glänzte, als sie Hannah anlächelte. Jenseits der Tür war Osman zu hören, der den Salon für das Frühstück vorbereitete. »Du sprechen... Machen besser.« Hannah begann zu reden, schnell, ohne Rücksicht auf Mai Lis unzulängliche Englischkenntnisse; sie sprach wie zu sich selbst, exorzierte die Erinnerung an Enrights Vergewaltigungsversuch, während Mai Li ihr das Haar streichelte und sie sich allmählich beruhigte. Als sie fertig war und schwieg, stand Mai Li auf. »Gehen jetzt besser, ja? Du nicht erschrecken nächstes Mal. Nächstes Mal du mit Mr. Munro machen. Viel mehr besser. Mr. Munro machen Liebe richtig... Du mögen.« Hannah beteuerte ihre Tugend, aber Mai Li nickte nur und lächelte weise. »Ich jetzt holen Wasser... Du waschen, machen besser.« Wie Munro prophezeit hatte, ließ der Wind bei Tagesanbruch nach. Es war schon später Vormittag, als sich endlich die Seebrise rührte und die Wache EH Kings Rahen zum Schiften beiholte. Erst danach fand Munro endlich Gelegenheit, in Ruhe mit Hannah zu sprechen. »Miss Kemball... Mir ist klar, was letzte Nacht vorgefallen ist«, begann er. »Die Umstände...« »Bitte nicht, Mr. Munro«, flüsterte Hannah dringlich und zog den Schal fester um ihre Schultern. »Ich möchte nicht darüber reden, ich möchte nur wissen, was mit Enright ist.« »Den können Sie aus Ihrem Gedächtnis streichen, Hannah. Er hat sich in seine Kammer eingeschlossen und ist sinnlos betrunken.« So schnell, als fürchte er, unterbrochen zu werden, fuhr er fort: »Bitte, ich muß darüber sprechen, nur kurz. Die Leute hier an Bord wissen, daß etwas vorgefallen ist. Ich habe es so
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dargestellt, daß Enright den Revolver Ihres Vaters an sich genommen hatte, als er seine Kajüte bewohnte, und daß sich beim Reinigen versehentlich ein Schuß gelöst hat... Sie werden also mit dieser Sache gar nicht in Zusammenhang gebracht, Miss Kemball, jedenfalls nicht von der Mannschaft.« »Aber Enright...« »Nun ja, alle fragen sich natürlich, was er mit einem geladenen Revolver wollte.« »Aber sie wissen nicht, daß er versucht hat... Bitte, ich möchte nicht mehr darüber sprechen.« »Vertrauen Sie mir, Hannah, und versuchen Sie, sich ganz normal zu verhalten, auch um Ihretwillen...« Hannah hörte auf zu zittern, statt dessen stieg eine gewaltige Wut in ihr hoch, die sich in einer Schimpfkanonade über dem armen Munro entlud. »Mich normal verhalten? Wie kann ich das? Mann Gottes, erteilen Sie mir bloß keine Lektionen. Wissen Sie, was diese Bestie versucht hat?« Mit blassem Gesicht, auf dessen Wangen zwei rote Flecke brannten, starrte sie zu ihm auf; ihre Lippen waren verführerisch rot. Die Erinnerung an ihre schutzlose Nacktheit auf der Koje stieg in Munro auf, ein Bild, das ihn nun seinerseits wütend machte und das er schnell beiseite schob. »Ja doch, ich weiß, was er versucht hat, und ich will Ihnen keineswegs Lektionen erteilen. Großer Gott, Hannah, begreifen Sie denn nicht?« »Ich begreife nur, daß ich hier nicht mehr sicher bin!« »Um Himmels willen, Hannah, Sie glauben doch nicht etwa, daß ich...« »Woher soll ich das wissen, Mister Munro? Wer sagt, daß Sie nicht dasselbe versuchen?« Munro zuckte zurück, als habe sie ihn geschlagen. Einen Moment starrte er Hannah an, und sie senkte den Blick, als sie den verletzten Stolz in seinen Augen bemerkte. Einen verletzten Stolz, der rasch durch etwas Erschreckenderes ersetzt wurde: eine Art wütender Feindseligkeit. »Ich brauche den Revolver, Miss Kemball«, sagte Munro eisig. »So, als hätte ich ihn Enright weggenommen... Und wenn Sie mir dann Ihre Anweisungen geben wollen?« Seine offensichtliche Feindseligkeit empörte sie. Sich aufrichtend, um ihm direkt in die Augen schauen zu können, antwortete sie: »Der Revolver ist Eigentum des Schiffseigners, Mr. Munro, und meine Anweisungen lauten, daß Sie Enright in
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seiner Kammer eingesperrt halten und die Erl King vor der Seawitch nach London bringen sollen.« Damit ging sie in ihre Kabine, und Munro starrte ihr sprachlos nach. Erst viel später erkannte Hannah, daß Enrights versuchte Vergewaltigung zu einem Wendepunkt der Reise geworden war. Dadurch wurden die Rollen etlicher Leute neu definiert, deren Verhalten einen direkten Einfluß auf ihren Ausgang gewinnen sollte. Zunächst aber kam es allen so vor, als hätten die Verhältnisse an Bord nach Kapitän Kemballs Tod einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Für Hannah, die schockiert, argwöhnisch und einsam war, wurde der nächste Tag zur Qual. Noch nie in ihrem Leben war sie so verzweifelt gewesen, denn neben das Gefühl, erniedrigt und verletzt worden zu sein, drängten sich beharrlich wollüstige Vorstellungen. »Ich verspreche, daß Sie Spaß daran haben werden...« raunte Enrights Stimme ihr immer wieder in der dunklen Kabine zu. Und während sie sich gegen diese geheimnisvolle Verlockung wehrte, warnte eine andere Stimme, als käme sie aus den Tiefen des Südchinesischen Meeres: »Wenn ich mal nicht mehr bin, mußt du Enright entlassen.« Als die Dunkelheit das Schiff eingehüllt hatte, fand Hannah hinter ihrer verschlossenen Tür endlich den ersehnten Schlaf, während Munro draußen die Rahen brassen ließ, um die Landbrise einzufangen. Osman sorgte dafür, daß sich in der Kombüse und weiter vorn seine eigene Version der Ereignisse verbreitete. Zu seinem Aufgabenbereich an Bord gehörte auch die Reinigung des Offizierslogis, und deshalb mußte er Enrights Blut von den gescheuerten Bodenbrettern wischen. Während er das tat, machte er sich seinen eigenen Reim auf die Dinge. »Er hat Cracker Jacks großen Colt aus der Kajüte genommen, als er darin wohnte«, sagte er zum Smutje. »Weißt du noch, bevor Miss Hannah ihn da rausgeschmissen hat...« Osman kicherte, weil er wieder daran dachte, wie fassungslos dieser Schinder Enright vor der Kleinen gestanden hatte. »Einfach rausgeschmissen, als war's überhaupt nichts...« »Das hast du mir alles schon erzählt«, brummte der wortkarge Koch. »Sag' mir lieber, was heut' morgen los war.« »Also, Enright hatte den Colt und war damit auf dem Weg nach achtern. Er ging durch den Salon, vor die Tür zur Achterkajüte, als...« »Und wieso?«
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»Wieso was?« »Wieso isser zur Achterkajüte gegangen?« »Wieso nicht? Um seine Rechte als Kapitän wiederherzustellen, natürlich. Is' ja auch nicht richtig, daß 'n Mädchen Kapitän wird, oder?« »Macht für mich kein' großen Unterschied.« »Willst du denn das Rennen nicht gewinnen?« fragte Osman verdutzt.
Der Koch zuckte die Achseln und warf seinen schmutzigen Lappen in eine große Eisenpfanne. Seine fetten Arme wabbelten wie die einer Barfrau, als er die Pfanne damit auswischte. »Je länger die Reise, desto mehr Tage«, meinte er. »Je mehr Tage, desto mehr Dollars. Aber erzähl' weiter.« »Bist 'n komischer Kauz. Egal, jedenfalls muß er dabei an den Abzug gekommen sein und sich verletzt haben. Um sich zu verbinden, rannte er in seine Kammer und schloß sich ein.« »Er hat sich also mit dem Schießeisen eingeschlossen und säuft jetzt bis zur Bewußtlosigkeit, hab' ich recht?« »Ja«, bestätigte Osman mit einem triumphierenden Grinsen. »Und zwar mit der Hilfe von Osman, seinem treuen Steward, der ihm durch den Lüfter immer wieder 'ne neue Flasche zukommen läßt.« »Na ja, wir haben 'ne kleine Vereinbarung...« »Hauptsache, du hältst diesen Irren aus meiner Kombüse raus... Und jetzt schieß in den Wind, ich hab' zu tun.« Als Osman verschwunden war, schüttelte der Koch den Kopf. »Viel wahrscheinlicher ist, daß der Erste mit ihr vögeln wollte«, murmelte er. »Aber damit mußte sie schließlich rechnen - auf einem Schiff.« Er hob einen Topf unter die Pumpe, ließ Wasser einlaufen und setzte den gefüllten Topf, vor Anstrengung stöhnend, auf den Herd. Schniefend begann er, Zwiebeln zu schälen und sie in den Topf zu schnicken. Frauen bedeuteten immer Ärger an Bord oder an Land. Und wenn man wie Enright seinen Verstand in den Eiern hatte, was war da schon anderes zu erwarten ? Dabei gab's doch schon genug Ärger an Bord: der Alte erschossen, der Erste Offizier sternhagelvoll, und nun diese kleine Mieze, die auf dem Achterschiff das reinste Chaos veranstaltete, von dem Rennen ganz zu schweigen. Und als die Matrosen zu Mittag kamen, ihr Eßgeschirr auf den Tisch knallten und nach Futter schrien, da gab der Smutje
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Osmans Version der Ereignisse zum besten. Allmählich glitt Enright, um den kurz zuvor noch alle Spekulationen des Vorschiffslogis' gekreist waren, zumindest vorübergehend in Vergessenheit und dämmerte zwischen den vom getreuen Osman gelieferten Flaschen ins Delirium hinüber. Auch für Munro bedeutete jener Tag einen Wendepunkt in seinem Leben. Allerdings war er sich dessen zu dem Zeitpunkt nicht bewußt, da er außer verletztem Stolz nichts anderes empfand. In die Kränkung mischte sich aber angesichts des Martyriums, das Hannah durchlitten hatte, dennoch Mitleid für sie. Obwohl er unfähig war, das ganze Ausmaß ihrer Empörung und Verletztheit zu verstehen, drängte es seine mitfühlende Natur, sie zu trösten; er war beseelt von dem Wunsch, sich ihrer Wertschätzung und der Verantwortung, die ihre Zwangslage ihm aufbürdete, würdig zu erweisen. Die Flüche, mit denen Enright sich Munro vom Hals geschafft hatte und die ihn, als er ihm sein Essen in die Kammer stellte, erneut empfingen, überzeugten den Zweiten Offizier, daß Enright nicht ernsthaft verletzt war. Je länger der Erste Offizier eingesperrt blieb, desto besser paßte das in Munros Pläne, denn er hatte andere, dringendere Anliegen, die vom Auftauchen eines ausgenüchterten Enright nur kompliziert werden konnten. Hannah ließ ihn nicht im Zweifel darüber, daß Enright eine persona non grata geworden und damit in der Hierarchie des Klippers ausgeschieden war. Munro hatte Kapitäne kennengelernt, die sich selbst, aber freiwillig und meist zu Beginn einer Reise, nahezu zwei Wochen eingeschlossen und die Schiffsführung ihren Untergebenen überlassen hatten. Munro hatte die ganze Skala von Enrights Verwünschungen über sich ergehen lassen müssen, als er ihn zum erstenmal in seiner Kammer aufsuchte, wozu er vorsichtshalber Talham als Zeugen mitnahm. Sie hatten Enright sinnlos betrunken und in seinem eigenen Kot vorgefunden und ihn mit Osmans Hilfe etwas gesäubert. Die Kugel aus Hannahs Revolver hatte Enrights Hüfte und seinen linken Handrücken gestreift und war dann in der Wand steckengeblieben. Die Wunde an der Hüfte war nur eine häßliche Schramme, an der Hand hingegen war
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eine Ader verletzt worden, was zu dem starken Blutverlust geführt hatte. Enright hatte sich selbst mit einem zerrissenen Hemdsärmel verbunden und mit Gin getröstet. Der Blutverlust und der starke Alkoholkonsum hatten ihn rasch in einen Zustand der Volltrunkenheit versetzt, und so hatte Munro ihn vorgefunden. Erleichtert, daß Enrights Verletzung nicht schwerer war, befestigte Munro, nachdem der Erste gewaschen und versorgt war, ein Vorhängeschloß an dessen Tür und verfügte, daß Osman nur von Talham oder ihm selbst begleitet Essen in seine Kammer bringen durfte. Die Nachricht von Enrights Überfall auf Hannah Kemball, von seiner Verwundung und der Pein des Opfers war Mr. Len-Kua von Mai Li überbracht worden. Sie riß den alten Chinesen aus seiner Benommenheit. Len-Kua hatte nämlich bei seinem Wunsch, nach England zu reisen, die Weite des Ozeans und die Unebenheit seiner Oberfläche außer acht gelassen. Trotz langer und einträglicher Geschäftsverbindungen mit den fan kwei, trotz seines Wissens um ihre technischen Errungenschaften, war er in seinem Herzen ein überlegener Sohn des Himmels geblieben. Für einen Mann, der wie er gesehen hatte, wie die Dampfschiffe der roten Teufel die Befestigungsanlagen der Bogue schleiften und ungeachtet von Wind und Tide in den Pearl River einliefen, waren die furchteinflößenden Kräfte, über die sie geboten, zweifellos beeindruckend. Dennoch vermochten sie um nichts in der Welt sein Gefühl der Überlegenheit zu beeinträchtigen, das er bei jedem Kontakt mit ihnen empfand. Hatte nicht sogar Kapitän John persönlich ihn vor dem Auslaufen gebeten, ein paar Dinge zu Lasten von Kapitän Richards zu erledigen, bevor er Futschau verließ? Enrights vulgäres Benehmen bestätigte Len-Kua jetzt die Richtigkeit seiner Überzeugung: Es stimmte, daß die fan kwei sogar noch niedriger rangierten als die brünstigen Tiere. Seit ihrer Abfahrt hatte es nichts gegeben, was Len-Kua eines Besseren hätte belehren können. Die Seekrankheit, die ihn niedergestreckt hatte, kaum daß das Schiff von den ersten Seen emporgehoben wurde, hatte die fan kwei nicht befallen; die gefährlichen Arbeiten hoch oben im Rigg schienen ihm noch verächtlicher zu sein als die Schufterei der Bauern in seiner Heimatprovinz; und was das Essen anlangte, so war es ärger als das, was ein vornehmer Mann seinen Schweinen vorgeworfen hätte!
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Unter diesen Umständen tat er das einzige, was ein wahrhaft kultivierter Mann machen konnte: Er griff, da die Übelkeit in seinem Magen nicht abflaute und er auch nicht die tausend himmlischen Wonnen mit Mai Li genießen konnte, zu seiner Opiumpfeife. In der abgedunkelten Kabine ließ er Traumbilder an sich vorüberziehen, die alle erotischen Freuden mit einer Frau noch weit übertrafen. Nur zweimal hatte er sich seither von seiner Koje erhoben: einmal um Kapitän John die letzte Ehre zu erweisen, und das zweite Mal, um zu sehen, was am Tag nach Enrights Überfall auf Kapitän Johns schwergeprüfte Tochter mit ihr geschah. So schwankte er, bekleidet mit seiner zweitbesten Robe, dem kleinen runden Hut und der Pfauenfeder, unsicher nach achtern, um nach Miss Kemball zu sehen; soweit er verstand, hatte sie auf der Erl King das Kommando übernommen. Er fand diese Situation, milde gesagt, verwirrend, denn die fan kwei, so hatte er herausgefunden, betrachteten Frauen eigentlich genauso, wie er es tat. Aber er machte gar nicht erst den Versuch, ihre Sitten und Bräuche zu verstehen, die es Hannah erlaubten, dennoch einen solchen Rang einzunehmen. Was ihn weit mehr beschäftigte, war die Vereinbarung, die er mit Kapitän Kemball getroffen hatte, und diese Sorge war stärker als die Mißbilligung, die er empfand. Hannah war nicht in ihrer Kabine. Leicht schwitzend von der Anstrengung, auf dem schwankenden Boden das Gleichgewicht zu halten, ging Len-Kua behutsam auf den achteren Niedergang zu und von dort aufs Poopdeck. Nach dem Anblick zu urteilen, der sich ihm oben bot, war offenbar die ganze Welt aus den Angeln geraten. Es war schon allerhand, daß eine Frau des Westens ein Vermögen erben konnte; doch wenn sie dann auch noch den Charakter und das Aussehen eines Mannes annahm, dann sehnte sein altes Herz sich zurück nach der trockenen Wärme eines südwärts geneigten Hügels mit den Gebeinen seiner Urahnen. Ohne sich bemerkbar gemacht zu haben, kehrte Len-Kua in seine Kabine und zu den Tröstungen seiner Opiumpfeife zurück. Vierundzwanzig Stunden nach dem Angriff auf ihre Tugend war Hannah Kemball eine andere Frau. Zwar hatte sie sich auch schon in den Tagen zwischen dem Tod ihres Vaters und Enrights Überfall innerlich stark verändert, ihre äußere Erscheinung indessen war dieselbe geblieben. Sie hatte immer noch ihr Haar aufgesteckt und ein Kleid getragen, sie hatte immer noch mit der Hand an den Kopf greifen müssen, wenn der Wind ihr den Hut
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wegzureißen drohte. Aber am Tag nach Enrights versuchter Vergewaltigung legte sie diese Attribute ihrer Weiblichkeit ab. Ein Mensch, der sich bei jedem Windstoß an den Kopfputz greifen mußte, konnte als Führer eines Klippers kaum ernst genommen werden. Statt dessen erschien sie nun in einer einfacheren, männlicheren Aufmachung an Deck. Sie trug eine der Kapitänsjacken ihres Vaters und darunter eine Weste, wobei ihre Brüste in der für seinen Leibesumfang bemessenen Weite reichlich Platz fanden. Sie hatte eine Segeltuchhose gefunden, die ihr über den Hüften zwar paßte, ihre Beine allerdings ganz unseemännisch umflatterte, so daß sie Zweifel bekam, ob sie einem Befehlshaber wirklich angemessen war. Ihr Haar trug sie unter eine kleine Mütze gesteckt, deren Schirm die den Kapitänsrang bezeichnenden Lorbeerblätter schmückten. Nur ihre Füße steckten nach wie vor in einst frivolerweise erstandenen Pumps, die sie sonst vermutlich nie hätte tragen können. Sich ängstlich im Spiegel musternd, hatte sie sich gefragt, ob sie in dieser Kleidung statt Respekt vielleicht eher einen Heiterkeitserfolg ernten würde. Aber sie löste das Problem, indem sie den Revolver ihres Vaters am Gürtel befestigte. Als sie die Tür hinter sich schloß, verriet ihr Gesicht eine so grimmige Entschlossenheit, hatten ihre Augen einen so frostigen Blick, daß Mr. Len-Kua erschreckt den Rückzug antrat, als er ihr unbemerkt begegnete. Hannah ignorierte die vor Überraschung weit aufgerissenen Augen Jack Molloys, der am Ruder stand, und ging weiter vor bis zur Querreling, wo Talham sich lässig räkelte. Hinter ihr stieß Molloy unüberhörbar die Luft durch eine Zahnlücke. Gordon, der jüngste Kadett, schrubbte gerade die Heckreling, und sein Kamerad wienerte das Messing des Kompaßhauses. Die Jungs hörten auf zu arbeiten und gafften das vorbeigehende Mannweib an. Aber Hannah warf ihnen einen so scharfen Blick zu, daß sie sich, wenngleich Grimassen schneidend, wieder der Arbeit zuwandten und ihr Kichern unterdrückten. Talham starrte träge auf die Vollmatrosen seiner Wache hinab, die dabei waren, das Hauptdeck zu scheuern. »Mr. Talham!« rief sie. Talhams geradezu unverschämt hübsches Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Guten Morgen, Madam«, sagte er ironisch und musterte sie von oben bis unten. »Tres de rigueur, wenn ich so sagen darf...«
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»Was ich von Ihren Gordings nicht behaupten kann, Mr. Talham! Sie sind so stramm wie die Saiten einer Violine... Ihr Jungs«, wandte sie sich an die Kadetten, »entert jetzt fix auf und bringt das in Ordnung. Und wenn ihr schon oben seid, schaut gleich mal nach der Seawitch aus.« Gordon und sein Kamerad waren im Handumdrehen am Großmast und kletterten wie die Affen nach oben, während Talham die Luft aus den Backen blies und sich wieder umdrehte. Hannah stand mit gegrätschten Beinen neben ihm, und dabei zogen ihre in die Hüften gestemmten Hände die Kapitänsjacke etwas auseinander. Talhams Blick fiel auf den bläulich schimmernden Kolben des schweren Revolvers. »Reißen Sie sich zusammen, Sir, und räkeln Sie sich nie mehr auf meiner Poop herum.« Talham öffnete den Mund zu einem dümmlichen Grinsen. Das verdammte Mädchen konnte das doch nicht ernst meinen? »Es ist mein Ernst, Mr. Talham. Ich führe das Schiff, und mir ist überhaupt nicht nach Lachen zumute. Ich verlasse mich darauf, daß Sie auf solche Einzelheiten wie die Gordings achten. Das fällt unter Ihre Zuständigkeit - haben wir uns verstanden?« Talham brachte ein verdutztes Nicken zustande. »Wieviel Fahrt machen wir?« »Sowie die Jungs wieder unten sind, lasse ich die Logge ausbringen, Madam.«
»Und vergessen Sie nicht, Mr. Talham: Ihre Prämie hängt von meiner Beurteilung ab.« »Jawohl, Madam.« Hannah wandte sich ab, um ihr Lächeln zu verbergen, als ein Schatten der Besorgnis über Talhams weiches Gesicht huschte. »Molloy sagt, daß sie die Tunte Talham gewarnt hat, seine Prämie und unsere Prämie hängt nur von ihrem Urteil ab... Was versteht sie überhaupt von Schiffen, frage ich mich?« jammerte Osman, als er bei sieben Glasen die Suppenschüssel für die Offiziersmesse in Empfang nahm. »Und was, frage ich mich, verstehst du von Frauen?« antwortete der Koch maliziös. Osman schwieg, wohl wissend, daß der Koch ins Schwarze getroffen hatte. Aber auf dem Weg zur Kombüsentür drehte er sich doch noch einmal um. »Die können jedenfalls kochen«, sagte er und grinste über
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seinen eigenen Witz. »Aye, und Pißpötte ausleeren...«
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9 Hannahs Verwandlung war zur rechten Zeit gekommen. Blauer Himmel und blaue Seen begleiteten sie auf der Etappe von der Küste Kotschinchinas zu den Gewässern vor Borneo. Es herrschte leichter Wind, so daß sie Leesegel gesetzt und einen Brodwinner ans Achterliek des Besansegels gelascht hatten, was dem Schiff fast Yachtcharakter verlieh. Dieser Effekt wurde noch dadurch verstärkt, daß die bei den Ladearbeiten entstandenen Schrammen am Rumpf inzwischen übermalt waren. An Bord herrschte eine entspannte, fast fröhliche Stimmung. Hannahs Selbstvertrauen wuchs; sie ging auf der Poop umher oder setzte sich wie ihr Vater in den Deckstuhl, und ihre Allgegenwart war der Crew Ansporn bei der Arbeit. Der leichte, launische Wind verlangte häufiges Segeltrimmen, und Hannah entdeckte sehr schnell, wann ein ungenügend ziehendes Segel killte oder eine tiefe Wolke nahte, die eisige Regenschauer oder eine kurze Sturmbö mitbrachte. Wenn sie, neben Molloy stehend, Ruder ging und die trickreiche Kunst des Anluvens lernte, erinnerte sie sich an den Rat ihres Vaters, so hart am Wind zu kneifen, daß die Segel zu killen begannen, was wieder eine Kabellänge Luvgewinn brachte. »Ganz der Alte«, urteilte Molloy zufrieden, wenn eine Fallbö von den Natuna-Inseln sie urplötzlich überfiel und die Erl King mit sechzehn Knoten voranjagte, während Hannah, allein am großen Rad stehend, mit wehenden Haaren, die sich unter der lächerlichen Mütze nicht mehr bändigen ließen, leicht Ruder legte und die Bö instinktiv ausluvte. Begeistert war Molloy nach vorn gegangen und hatte dort all die Narren beschimpft, die nichts Besseres zu tun hatten, als zu jammern, daß eine Frau auf dem Achterschiff nichts Gutes bedeute. »Ich wünschte, sie wäre meine Tochter«, sagte er kurz, als er seine Stiefel abstreifte und sich in die Koje legte. Am nächsten Morgen lag die Küste Borneos, durch den Refraktionseffekt über dem Horizont schwebend, an Backbord voraus. Flach und monoton zogen sich die Mangrovensümpfe südlich von Tanjong Api dahin. Mit weit ausgebreiteten Segeln zerschnitt Erl King die tiefblaue See und warf eine weiß schäumende Bugwelle auf, die sich kräuselnd achteraus verlief, wo Seevögel nach winzigen Happen tauchten. Aus der Kombüse,
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wo der Koch lautstark Töpfe und Pfannen scheuerte, drang Gesang, und die Wache bearbeitete mit Feuereifer die Decks mit dem Scheuerstein. Während sie sich nach achtern vorarbeitete, verdunstete das Wasser unter der sengenden Sonne, und zurück blieben dampfende weiße Teakplanken, in deren Fugen das Pech allmählich weich wurde. Nach dem Frühstück ging Munro mit Osman zu Enrights Kammer. Der Steward trug ein Tablett mit Kaffee und Zwieback. Munro sperrte das Vorhängeschloß auf, trat zur Seite und schob Osman in die Kammer. Der Erste Offizier zitterte jetzt nicht mehr so stark, aber er wirkte schwach und hatte eingesunkene, rotgeränderte Augen. Der eine Woche alte Bart und seine Blässe verstärkten noch den ausgemergelten Eindruck. »Morgen«, sagte Munro förmlich. In diesem jämmerlichen Zustand hatte Enright alles Einschüchternde verloren. Zusammen mit Osman hievte er ihn in eine sitzende Stellung. »Seit heute morgen ist Tanjong Api in Sicht«, berichtete Munro. »Wir kommen gut voran. Wenn Sie gefrühstückt haben, wird Osman Sie rasieren. Dann werden Sie sich besser fühlen...« »Zur Hölle mit Ihnen, Munro«, grollte Enright. »Mich führen Sie nichts hinters Licht. Ich kenne Ihre Tricks, Sie räudiger Bastard. Einen ehrlichen Mann von seinem Posten zu verdrängen... Warten Sie nur, bis wir an Land sind und ich diesen Skandal vor Gericht bringe...« »Heißes Wasser, Osman, bitte.« Munro wartete, bis der Steward verschwunden war, dann fuhr er fort: »Enright, die Besatzung glaubt, daß der Schuß sich beim Reinigen der Waffe gelöst hat, daß das Ganze ein Unfall war...« »Was? Dieses verdammte Flittchen...« begann Enright, dessen Lebensgeister langsam zurückkehrten. »Ruhe! Halten Sie den Mund und hören Sie zu!« Wütend stach Munro mit dem Zeigefinger nach Enrights Gesicht. Der Erste wich mit einem solchen Ruck zurück, daß er sich den Kopf anstieß und wieder zu zittern begann. »Sie sind nach achtern gegangen, um sie zu vergewaltigen. Ich kenne den wahren Sachverhalt, aber vielleicht besitzen Sie noch einen Rest Anstand und begreifen, daß die andere Version die bessere für Miss Kemball ist.« Er schwieg, um Enright Gelegenheit zu geben, die Bedeutung seiner Worte voll zu erfassen. »Ihr Wort steht gegen meins...« »Herrgott, auch für Sie ist es die bessere Version, kapieren Sie
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das nicht? Zwar mag der Himmel wissen, warum Sie mitten in der Nacht mit einem Revolver herumgerannt sind...« »Ich war der Kapitän«, sagte Enright. »Ich bin der Kapitän.« »Sie sind ein Trinker! Ein Wrack! Wenn Sie den Mund halten und diese Version akzeptieren, kriegen Sie Ihre Entlassung, ohne daß auch noch ein Strafverfahren gegen Sie eingeleitet wird. Aber wenn Sie Ärger machen, sind Sie für die Folgen ganz allein verantwortlich. So, und jetzt essen Sie. Oder sind Sie zu zittrig, um sich selber Kaffee eingießen zu können?« Eigentlich hatte Munro nicht vorgehabt, Enright auf so billige Weise fertig zu machen. So etwas war gar nicht seine Art, und er schalt sich auch selbst deswegen. Doch andererseits brauchte er bei einem Schurken wie Enright wirklich keine Gewissensbisse zu haben, sagte er sich. Der Mann war weit davon entfernt, Einsicht oder Reue zu empfinden. Unverbesserlich redete er sich ein, Opfer einer Verschwörung, einer List und der eigennützigen Ambitionen von James Munro geworden zu sein. Zitternd beugte sich der Erste über das Frühstückstablett, als Osman mit einer Schüssel Wasser zurückkam. »Beeilung«, sagte Munro ungeduldig. Er war müde und wollte sich noch zwei Stunden aufs Ohr legen. »Gasparstraße oder Karimata?« fragte Enright plötzlich und schaute von dem Zwieback auf, den er gerade mit Butter bestrich. Munro überhörte die Frage. »Gaspar- oder Karimatastraße?« wiederholte Enright. »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram«, sagte Munro müde. »Die Gasparstraße ist schneller, aber die Karimata ist sicherer.« Munro und Hannah standen Schulter an Schulter über die Seekarte gebeugt und studierten die Inselgruppen, die den Ozean zwischen Borneo im Osten, Sumatra im Westen und Java, das wie ein riesiger Wellenbrecher vor ihnen lag, sprenkelten. Hannah starrte auf die enge Wasserstraße zwischen dem westlichen Ende Javas und der Südspitze Sumatras: zwölf Meilen breit, geteilt durch Krakatau, die Vulkaninsel, war die Sundastraße das Tor zum Westen, zum gemäßigten Südostpassat und der günstigen subtropischen Strömung des südlichen Indischen Ozeans. »Und außerdem«, fuhr Munro fort und griff nach dem Messingzirkel, um zwanzig Bogenminuten auf der Breitengradskala abzugreifen, »müssen wir da nachts durch.« Er setzte die zwanzig Bogenminuten als nautische Meilen von dem
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säuberlich eingezeichneten Kreuz ab, das ihre Mittagsposition markierte. Wenn die Tropennacht eingesetzt hatte, die sich um sechs Uhr abends wie ein Vorhang herabsenkte, würden sie nördlich von Pulo Belitung stehen. Östlich dieser Insel lag die relativ breite Karimatastraße, westlich und verführerisch direkt verlief die Gasparstraße; schmaler und voller Riffe, stellte sie für Unvorsichtige oder Unerfahrene eine große Gefahr dar. »Weil ich glaube, daß Vorsicht die Mutter der Weisheit ist, rate ich...« »Mein Vater fuhr immer durch die Gasparstraße«, sagte Hannah. »Das habe ich in seinen Logbüchern gelesen.« »Ja, aber...« »Was wird Richards machen?« »Wieso, er nimmt natürlich die Gaspar...« »Eben.« Hannahs entschlossene Miene ärgerte Munro. Er litt stark unter seinem Mangel an Erfahrung und dem Bewußtsein, daß seine Vorsicht als Feigheit ausgelegt werden konnte. »Schauen Sie, es wird bald dunkel...« wagte er einen vernünftigen Einwand. Hannah nahm den Zirkel und setzte ihren eigenen Kurs ab. »Wenn wir bei Sonnenuntergang hier sind«, sie griff zum Bleistift, markierte die Stelle, kennzeichnete den Ort einer Kursänderung und setzte die Linie nach Süden fort, »dann können wir gegen Mitternacht schon durch sein.« Sie hat inzwischen genug gelernt, dachte Munro mit unvermindertem Ärger, um gefährlich zu werden. Und jetzt will sie's wissen. Aber die Gasparstraße war eine Todesfalle. »Ich kann nachts keine genauen Peilungen vornehmen, nicht von diesen Inseln... Das ist nicht bloß sterile Theorie...« »Es muß auch keine Theorie bleiben. Da ist ein Trick dabei. Mein Vater wußte das auch, er hat's in seinen Tagebüchern erwähnt. Und ich erinnere mich, daß er auf dem Hinweg mal davon gesprochen hat.« »Ein Trick?« Insgeheim verfluchte Munro die Tagebücher, die Kapitän Kemball seiner Tochter hinterlassen hatte. Wie Galle stieß ihm die Vorstellung auf, nachts durch die Gasparstraße segeln zu müssen. »Ja, so ein Kniff. Man mißt die Sonnenhöhe, wenn die Sonne im rechten Winkel zum Kurs steht, den man steuern
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möchte...« Fragend schaute sie zu Munro hoch. Sein Mund, den er gerade geöffnet hatte, um weitere Argumente gegen die Gasparstraße vorzubringen, klappte zu wie ein Fangeisen. »Du lieber Gott!« »Sagt Ihnen das was?« Munro nickte beeindruckt. »Ja... Ja, natürlich. Dieses alte Schlitzohr - entschuldigen Sie -, immer wenn wir uns diesem Gebiet hier näherten, ließ er mich jede Menge Azimuths nehmen und dauernd den Kompaß ablesen... Natürlich! Er wollte haargenau den wahren Kurs wissen, damit er, wenn die Sonne bei Ansteuerung der Gasparstraße genau im rechten Winkel zur Loxodrome stand, die Sonnenhöhe messen konnte.« »Ich fürchte, jetzt verstehe ich nicht...« »Die Loxodrome nämlich - ähem, der Kurs, den wir steuern kann auch eine Sumnerlinie sein, eine durch die Sonnenhöhe ermittelte Standlinie. Er hat bei der Ansteuerung der Gasparstraße immer eine ganze Reihe von Messungen vorgenommen und das Schiff danach mehr nach Westen oder mehr nach Osten dirigiert.« Munros Gesicht war jetzt ganz rot vor Enthusiasmus. »Ich hab' mich oft gefragt, was er da mauschelte!« »Sie meinen, diese Sumnerlinie...« »Stimmt mit dem zu steuernden Kurs überein, oder jedenfalls fast. Man muß schon verdammt gut sein, um das genau hinzukriegen, aber man kann immer noch um einige Meilen östlich oder westlich korrigieren, nehme ich an.« »Sie nehmen es nur an?« Hannah runzelte die Stirn, denn Munros Enthusiasmus war schon wieder verflogen. Da riß er sich zusammen und sah sie an. »Ja... So was kann man machen, aber nicht wir... Nicht ich... Es ist zu riskant. Wenn ich Mist baue... Dazu braucht man mehr Erfahrung...« »Aber theoretisch könnten Sie es schaffen, nicht wahr? Ich meine, gerechnet wird doch nach einfachen Standardformeln.« Er schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nicht das Risiko dabei.« »Deshalb frage ich Sie ja.« »Nein, es geht nicht...« »Bitte.« Flehend sah sie ihn an, und er wußte schon, er würde nachgeben müssen. Sie wußte es auch, denn trotz des ganzen Irrsinns spielte ein winziges Lächeln um ihren Mund. »Ich lasse einen Anker klarmachen - für alle Fälle«, sagte er, als er den Kartenraum verließ, wo sein gesunder Menschenverstand auf der Strecke geblieben war. Talham hielt ihn für verrückt und sagte das auch, aber Munro
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fühlte sein Selbstvertrauen wachsen. Mit Sextant, Chronometer und Almanach bewaffnet, nahm er vier Höhenmessungen der Sonne vor, als sie vom Meridian nach Westen wanderte. Nach sorgfältigem Koppeln zwischen den Messungen und ein paar Kompaßpeilungen ließ er Talharn eine Reihe von Azimuthberechnungen der Sonne vornehmen. Als sie den erwünschten Peilwinkel erreicht hatte, nahm er eine letzte Messung vor, der zufolge das Schiff sich sechs Meilen östlich der beabsichtigten Route befand. »Nicht schlecht«, murmelte er, als er die Seiten seiner Koppeltafeln umblätterte, während er die entsprechende Korrektur vornahm, um Erl King innerhalb der Zwanzig-MeilenZone vor der Einfahrt zur Gasparstraße auf den richtigen Kurs zu bringen. »Du bleibst also dabei?« fragte Talham. »Ja... Stell einen Mann zum Loten ab und einen oben in den Ausguck.« »Und wenn der Wind einschläft oder umspringt und von vorn kommt?« »Dann ankern wir, bis es hell wird.« »Ich glaube nicht, daß die Sache dieses Risiko wert ist. Das Weib hat dir den Kopf verdreht.« »Paß auf, was du sagst!« Munro fuhr herum und blitzte Talham zornig an. Der Jüngere zuckte resigniert die Schultern und drehte sich um. Munro ging nach achtern und stellte sich neben den Rudergänger. »Steuern Sie nur mit kleinen Ruderausschlägen. Konzentrieren Sie sich ganz auf den Kompaß, ich achte schon auf die Segel. Wenn sie killen, trimmen wir die Rahen. Ihre Aufgabe ist es, uns genau auf Kurs zuhalten.« Der Himmel flammte in Rot und Gold auf, als die Sonne unterging. Die hohen Wolken glühten noch nach, als sie schon längst hinter dem Horizont verschwunden war. Die See wurde jadegrün und riffelte sich unter dem leichten Wind, der den schweren Duft der üppigen Vegetation von den schemenhaft erkennbaren fernen Inseln zu ihnen herübertrug. Seit dem Wachwechsel waren alle Mann in der Takelage damit beschäftigt, die leichten Schönwettersegel niederzuholen, um die Erl King nur unter Arbeitsbesegelung so handig wie möglich zu machen. Die Leesegel wurden mit ihren Spieren oben verstaut, damit sie im Morgengrauen gleich wieder gesetzt werden konnten. Neben dem Rudergänger stehend, lasen die beiden Kadetten
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regelmäßig das Log ab. Der eine hielt eine Laterne, der andere notierte die Zahlen nach Einern, Zehnern und Hundertern. Munro kam wieder nach achtern und notierte sich die Zahlen. Alles mußte mit peinlichster Sorgfalt geschehen, denn auch ein kleiner Fehler konnte hier zum Verlust des Schiffes führen. An Deck fiel kaum ein Wort, und wenn ein Befehl erteilt werden mußte, dann geschah dies leise. Selbst der Lotgast sang seine Tiefenangaben mit gedämpfter Stimme aus. »Da kommt der terra !«, sagte Molloy, der den stärkeren Ruderdruck spürte, als sich das Schiff plötzlich weiter überlegte. Im Topp begann ein Bramsegel leicht, aber hartnäckig zu killen. »Anbrassen, schnell...« Munros Stimme klang gepreßt vor Anspannung. Das Klicken der durch die Blöcke laufenden Brassen drang, zusammen mit dem Stöhnen der hart arbeitenden Männer, nach achtern. »Zwei - sechs, gut so. Belegen.« Nach zehn Meilen, als Munro meinte, daß sie sich wieder auf dem Ansteuerungskurs befanden, nahm er eine kleine Kursänderung vor. Der Wind kam jetzt stetig ein und duftete nach Hibiskus und Frangipani. Mit exakt gebraßten Rahen lief die Erl King nach Süden, genau auf den wartenden Schlund der Gasparstraße zu. Um sie herum reagierte die See auf die auffrischende Nachtbrise und warf, sich kräuselnd, spitze Wellen auf, die phosphoreszierendes Feuer spien und hell leuchtend an der Bordwand des Klippers nach achtern schäumten. Munro stellte fest, daß er in diesem schaurigen Licht sogar das Log ablesen konnte. Er machte ein paar Schritte nach vorn und horchte auf den Singsang des Lotgasten. »Neun Faden!« »Jetzt!« Die Kadetten beugten sich übers Schanzkleid und lasen erneut das Log ab. »Neunzehn, Sir.« Ungeduldig wanderte Munro auf der Poop hin und her. Reglos stand Hannah bei ihm in der Dunkelheit, eine Verbündete, die sich ihre Besorgnis nicht anmerken ließ. Ihr waren erst Bedenken gekommen, nachdem sie Munros Zustimmung erzwungen hatte. Sie analysierte nicht lange ihre Motive, die sie auf der Gasparstraße bestehen ließen, sondern akzeptierte, daß sie eine komplexe Mischung aus Rache und etwas noch schrecklicherem war. Hinter ihrer Halsstarrigkeit lauerten drohend Richards und
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Enright, ja sogar Talham und Munro, den sie - wie ihr erst jetzt dämmerte - auf undefinierbare Weise hereingelegt hatte. »Jetzt!« »Einundzwanzig, Sir!« »Einundzwanzig«, murmelte Munro und ging an der schweigenden Gestalt vorbei, die sich, dunkel und unauffällig, gegen die Besanwanten preßte, um ihm Platz zu machen. Einundzwanzig Meilen seit der letzten Kursänderung - damit standen sie kurz vor der nächsten. Hannah musterte den Himmel zu beiden Seiten des Schiffs. Kein Mond, aber sanftes
Sternenlicht auf dem Gewässer der Gasparstraße. Sie suchte darin nach dunklen Strudeln, nach Skylla und Charybdis, die schon auf den Kiel lauerten, der sich ihnen unvorsichtig nähern würde. »Jetzt!« »Dreiundzwanzig...« »Klar bei Brassen, fier auf Schoten und Halsen. Neuer Kurs Südsüdwest, ein halb West.« »Südsüdwest ein halb West liegt an, Sir.« Molloy legte Ruder und fing das Schiff auf seinem neuen Kurs leicht ab. Munro schaute nach vorn und nach oben zum Ausguck, dessen Schrei: »Alles wohl, die Lampen brennen«, die montone Routine einer Seereise ausdrückte. Dann kam der Ruf: »Wirbel an Steuerbord, Sir«, aus dem Masttopp, und Munro war mit einem Satz an der Reling. Auch Hannah schaute nach Steuerbord querab, sah aber nichts. War das der Strudel einer sich träge an einem Riff brechenden See? Unmöglich zu sagen. Aber der Lotgast sang monoton weiter seine Fadenangaben aus. Erl King glitt durch tiefes Wasser, hatte niemals weniger als acht Faden unter dem Kiel, und um Mitternacht sagte ihnen der Ruf: »Kein Grund«, daß ihr Wagemut sich bezahlt gemacht hatte: Sie liefen in die Javasee ein; nur noch hundertachtzig Meilen trennten sie jetzt von der Sundastraße. Irgendwo auf dem Vorschiff stimmten ein paar Leute ein altes Shanty an. Die Hände tief in den Taschen vergraben, blieb Munro in Höhe der Besanwanten stehen. »Nun, Miss Kemball?« »Nun, Mr. Munro?« Sie löste sich von den Wanten und wandte sich ihm voll zu. »Die Leute sind glücklich, daß wir die Gasparstraße geschafft haben.«
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Er lachte ungezwungen, mit einer Mischung aus Erleichterung und milder Kritik, weil sie nicht begriffen hatte, worum es wirklich ging. »Die Leute sind glücklich, weil wir nun auf der Heimreise sind.«
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10 »Es wäre wirklich gut, wenn wir frisches Obst und Gemüse bunkern könnten. Die Eingeborenen würden es in ihren Booten zu uns rausbringen.« Munro spürte Hannahs Widerstand und versuchte um so hartnäckiger, sie für seinen Vorschlag zu gewinnen. »Wir sind doch früh dran bei dem günstigen Wind. Und in der Gasparstraße hatten wir verdammtes Glück.« »Jetzt insistieren Sie doch nicht so«, sagte Hannah aufgebracht. In den harten Linien ihrer Kinnpartie erkannte Munro wieder einmal Cracker Jacks eiserne Willenskraft und verfluchte sich selbst dafür, daß er bei der verdammten Passage durch die Gasparstraße vor ihr kapituliert hatte. Dieser Erfolg schien ihr den Kopf verdreht zu haben. Jedenfalls reagierte sie seither mit einer Überheblichkeit, die ihr nicht zustand. Sie war offenbar zum Weitersegeln entschlossen, hinaus in den Indischen Ozean und dann ohne Aufenthalt weiter bis zum Kap der Guten Hoffnung. Doch im Moment ragte vor ihnen der hohe, scharfgezackte Vulkankegel Krakataus schemenhaft in den blauen Himmel, und an Steuerbord, hinter den weißgekalkten Häusern von Anyer Lor, über deren roten Dächern die holländische Flagge wehte, erhob sich der wuchernde Dschungel Sumatras. An Backbord, etwa ein Dutzend Meilen entfernt, erstreckte sich südwärts die ebenfalls grüne Küste Javas. Anyer Lor war das Tor zum Indischen Ozean, zu den stetigen Passatwinden mit ihrer langen ozeanischen Dünung, in denen Rekorde gebrochen wurden und die hohen Tagesleistungen der Schiffe bereits Legende waren. Eine Stunde Pause zur Übernahme von Kohl und Mango, von Durio und Melonen würde sie kaum aufhalten nach einer Passage von zweiundzwanzig Tagen seit der Mündung des Min. »Es dauert höchstens eine Stunde. Schauen Sie, die praus halten schon auf uns zu.« Munro deutete auf die sich nähernden Kanus, die von malerisch gekleideten Eingeborenen energisch herangepaddelt wurden. Die erwartungsvoll an der Reling versammelte Freiwache schaute nach achtern und wartete auf das Kommando, die Segel am Großmast backzuholen. Hannah musterte die weißen Pyramiden über sich, verbreiten durch die zu beiden Seiten ausgebrachten Leesegel. Bei achterlichem Wind hielt die Erl King,
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kaum krängend, auf den offenen Ozean hinter der Sundastraße zu. »Das sein Anyer Lor?« Mit grauem Gesicht erschien wie ein Gespenst Mr. Len-Kua an Deck, und Mai Li kam ängstlich hinterhergetrippelt. »Ja, das ist Anyer Lor«, antwortete Hannah, immer noch gereizt. Sich auf ihre gute Erziehung besinnend, fügte sie hinzu: »Ich hoffe, Sie fühlen sich besser?« »Ein bißchen.« »Miss Kemball...« drängte Munro. »Also gut«, nickte sie. »Aber nicht länger als eine Stunde.« Triumphierend ging Munro nach vorn, um das Kommando zum Beidrehen zu geben. »Bitte, Madam!« Vor Hannah hüpfte Gordon von einem Fuß auf den anderen, um sie auf sich aufmerksam zu machen. »Die Hafenmeisterei signalisiert uns. Können wir uns bei Lloyd's melden?« »Ja, natürlich«, antwortete Hannah. »Setzen Sie unsere Kennziffer und melden Sie, daß wir von Futschau bis hierher zweiundzwanzig Tage gebraucht haben.« Ihre Aufmerksamkeit galt nun den praus, die sich der Erl King genähert hatten und dümpelnd längsseits gingen. Munro und Osman verhandelten bereits über die Abnahme von Obst und Gemüse. »Wir haben Lloyd's signalisiert, Madam«, meldete Gordon und faltete die Flaggen wieder zusammen. »Danke. Können wir um eine Standortmeldung der Seawitch bitten?« Gordon kratzte sich den Kopf. »Ich... Ich weiß nicht«, antwortete er verlegen. Wütend drehte Munro sich um. »Die signalisieren immer noch«, fauchte er die Kadetten an. Hannah hob das kleine Taschenfernglas ihres Vaters an die Augen. Der Flaggenmast mit seinen Rahen stand auf einem saftig grünen Hügel neben einem weißgekalkten, rot gedeckten Gebäude mit flämischem Giebel in einer Ansiedlung, die mit dem kampong der Eingeborenen fast verschmolz. Am Mast wehte die dreifarbige holländische Nationale, und unter dem rot-weißen Wimpel des Internationalen Signalbuchs stiegen etliche bunte Zahlenwimpel empor. »Das ist die Nummer der Seawitch«, sagte jemand, und Munros Interesse am Feilschen mit den Eingeborenen ließ schlagartig nach, als Gordon von seinem Kodebuch aufblickte und nickte. »Bestätigen!« befahl er und nahm das Fernrohr, das Hannah ihm
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hinhielt. Mit ruckenden Fallen lief Erl Kings Flagge hoch, zum Zeichen, daß sie verstanden hatten. An Land rauschten die vier Wimpel herunter, andere glitten empor. »Drei Flaggen - ein Wimpel, dazu erster und zweiter Hilfsstander...« Sie dechiffrierten das Signal, das nach dem Hissen von drei weiteren Flaggen vollständig war, aber den Sinn der Nachricht ahnten sie ohnehin schon: Die Seawitch hatte Anyer Lor einen vollen Tag vor der Erl King passiert. »Werft sie los!« bellte Munro und kappte in seiner Ungeduld einfach die Leine der hintersten prau. »Klar bei Großbrassen, hopp hopp! Die Seawitch liegt weit vor uns, und wenn wir sie noch einholen wollen, dann hängt eure sämtlichen Plünnen ins Rigg!« Gordon faltete die letzte Flagge zusammen, und Hannah ging nach achtern, um sich neben das Ruder zu stellen. Sie hatte mittlerweile herausgefunden, daß dies der beste Platz war, um ihren Status als Kapitän der Erl King zu betonen, ohne der eigentlichen Führung des Schiffes ins Gehege zu kommen. Sie hielt sich an der Reling fest, und ein Stück von ihrer Hand entfernt begann sich die Logleine zu drehen. Das weiße, geflochtene Hanftau spannte sich, als die Erl King Fahrt aufnahm, doch dann kam das Rad zum Stillstand, und die in leichtem Bogen ausgelaufene Leine straffte sich. Hannah schaute am Rumpf entlang achteraus. Ein Mann hielt sich, in seiner prau stehend, an der Logleine fest und ließ sich vom Klipper mitziehen, während er unter lautem Protestgeschrei seine freie Hand ausstreckte, um anzudeuten, daß er für die Waren, die sich schon an Erl Kings Deck befanden, noch Geld zu bekommen hatte. »Schütteln Sie ihn ab, Miss«, riet Molloy, der den Vorfall vom Ruder her beobachtet hatte. Hannah beugte sich über Bord, packte den Rand des Regulators und schüttelte ihn so, daß sich die Leine auf- und abwellte. Der Eingeborene schrie noch lauter und erregte dadurch Munros Aufmerksamkeit, der nach achtern gekommen war, um eine Kursberichtigung vorzunehmen. »Sehen Sie bloß zu, daß Sie den loswerden.« Er wandte sich ab und starrte auf den Kompaß. »Ja, aber wie? Ich schüttle doch schon so stark, wie ich kann!« »Verdammt noch mal, dann schießen Sie eben auf ihn! Dafür ist ein Revolver doch schließlich da, oder?«
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Hannah starrte ihn offenen Mundes an. »Auf ihn schießen?« »Ja. Über seinen Kopf oder neben ihn, nur daß er die Kugel pfeifen hört.« »Aber...« »Zu spät, Miss«, schnaubte Molloy, und Hannah, die immer noch den Regulator umklammert hielt, spürte dessen Spannung plötzlich nachlassen. Mit einem schnellen Blick achteraus sah sie einen kris, einen malayischen Dolch, aufblitzen. In ihrem Kielwasser schlängelte sich die gekappte weiße Leine. »Verdammte Zucht!« fluchte Munro. »Das ist jetzt die zweite Logleine, die wir Ihretwegen verlieren!« »Das verstehe ich nicht!« sagte Hannah aufgebracht, als sie wütend und verwirrt mit Munro auf die Seekarte schaute. »Wir haben die Seawitch vor der Küste Kotschinchinas abgehängt. Wie konnte er dann früher als wir in Anyer Lor sein - in einundzwanzig Tagen?« »In zwanzig«, sagte Munro, immer noch wütend über den Verlust der Logleine. »Sie müssen bedenken, daß er den Min nach uns verlassen hat.« Seufzend stützte Hannah sich auf die Ellbogen. »Dann ist sowieso alles egal. Dann hat er praktisch schon gewonnen.« Wütend spürte sie, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Munros Ärger verrauchte. Es war ungerecht, ihr einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie mit diesem Revolver nicht ein zweites Mal schießen wollte. »Er ist eben besser als wir, erfahrener und mit einer voll einsatzfähigen Crew. Wir hier auf dem Achterschiff sind doch gehandikapt. Und ich glaube außerdem, daß ein paar von unseren Leuten der Mumm verlassen hat. Wir können das Handtuch werfen und aus einer schlechten Sache das Beste machen, indem wir zusehen, daß wir das Schiff heil nach Hause kriegen...« »Nein! Nein, so leicht gebe ich nicht auf.« Hannah schniefte in plötzlicher Entschlossenheit. »Tut mir leid wegen der Logleine.« »Oh, das war nicht Ihr Fehler.« »Danke«, sagte sie und bedachte ihn mit einem trüben Lächeln. »Etwas könnten wir ja noch tun, um unsere Chancen zu erhöhen«, meinte Munro nachdenklich. Er erklärte es ihr kurz, und sie nickte ihr formelles Einverständnis. Danach stiegen sie wieder an Deck, Munro, um auf das Vorschiff zu gehen und die Freiwächter zusammenzurufen, und Hannah, um auf der Poop Wache zu
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halten. Molloy stand noch immer am Ruder, »'tschuldigung, Miss... Madam...« »Was gibt's?« »'tschuldigung, Madam, aber wenn ich so hör', daß die verdammte Seawitch uns überholt hat, und wie ich dasteh' und überleg', wie wir sie vielleicht doch noch kriegen können, da... Mit Verlaub, Madam, wenn ich Ihnen und Mr. Munro einen Rat geben darf... Wenn Sie meine Meinung hören wollen, Madam...« »Ja, Molloy?« »Tja, Miss, also... Ich bin mal mit dem alten Barney Brown gesegelt, der wo Kapitän auf der Brisbane Star war. Ein Auswandererschiff in den fünfziger Jahren, aber ein Renner, Miss. Und der hatte Wind davon gekriegt, daß die Southern Cross zwei Tage vor uns lag. Er kam nach achtern, Miss, wo ich gerade Ruderwache hatte, und sagte zum Ersten, der neben mir stand, genau wo Sie jetzt stehen. Er sagte: ›Mister‹, sagte er, ›der Wind wird ein paar Tage so bleiben.‹ Wir liefen vor dem Wind mit Ostkurs, wissen Sie, Miss, die Rahen vierkant gebraßt, weil der Wind genau von achtern kam. ›Bei der achterlichen See‹, sagte er, ›will sie nicken...‹ Sie wollte mit dem Bug unterpflügen, verstehen Sie? Also füllten wir achtern die Boote mit Seewasser und riggten noch ein altes Segel zwischen den Klampen auf. Wir haben sie einfach 'n bißchen hecklastig getrimmt, Miss, und so haben wir pro Stunde mehr als einen Knoten rausgeholt.« Molloy nickte nachdrücklich und leckte sich die Lippen. »Danke, Molloy... Sie glauben also, daß unsere Lage hier im Passat dieselbe ist?« »Nicht ganz dieselbe, Miss, aber ähnlich. Sie begreifen sehr schnell, Miss, wenn ich mal so sagen darf...« »Danke.« Hannah lief nach vorn, um die Rettungsboote auf ihren Klampen zu inspizieren. Man würde sie umdrehen müssen, denn sie waren kieloben gestaut, aber machbar war es jedenfalls. Als sie sich wieder dem Hüttenaufbau näherte, wäre sie beinahe über Osman gestolpert. Der Steward war darin vertieft, durch ein Rohr im Deck eine dünne Leine nach unten zu lassen. Neben dem Rohr lag, von seinem eingefetteten Gewinde abgeschraubt, die rot-weiße Lüfterhaube, durch die normalerweise Frischluft in die Kabine unten gesaugt wurde. Hannah wußte sofort, daß es sich um den Lüfter zu Enrights Kammer handelte. »Was machen Sie denn da?« Osman fuhr zusammen. Er hatte Hannah nicht bemerkt, und seine Nerven waren ohnehin zum Zerreißen gespannt, weil er
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seine Ginlieferungen mittlerweile sogar tagsüber vornehmen mußte. Bisher hatte er dem Ersten die tägliche Flasche im Schutz der Dunkelheit zukommen lassen können. Jetzt aber hatte Enright dermaßen nachdrücklich Nachschub gefordert, daß diese Zwischenlieferung nötig geworden war. »Ich reinige den Ventilator, Madam«, sagte Osman und übergab Hannah mit einem schuldbewußten Blick die Leine. »Osman, du elender Spitzbube! Laß sie endlich runter, zum Teufel!« Zu Enrights Gebrüll zog Hannah eine Flasche aus dem Lüftungsschacht und sah sie sich an. Gin, bester Londoner Gin. »Osman, du Schurke, laß die Buddel runter!« Hannah beugte sich über den Lüftungsschacht. »Mr. Enright, geben Sie endlich Ruhe. Sie kriegen keine Flaschen mehr. Und jetzt seien Sie bitte still.« Es folgte ein so langes Schweigen, daß Hannah schon glaubte, Enright habe ihre Absage gefügig zur Kenntnis genommen. Dann aber drang ein schmerzerfüllter, langgezogener Wutschrei aus dem Ventilator. »Schrauben Sie die Hutze wieder auf«, befahl Hannah, und Osman tat wie geheißen. Aber die trichterförmige Öffnung der Haube war ihr genau zugekehrt und verstärkte Enrights Geheul, so daß es sie wie ein Gespenst zu verfolgen schien, als sie zum Schanzkleid ging und die Flasche über Bord warf. »Stopfen Sie ein Tuch da rein!« fuhr sie Osman an. »Und wagen Sie es nie mehr, Mr. Enright auch nur einen einzigen Tropfen Alkohol zu geben. Haben Sie verstanden?« »Jawohl, Madam.« Enrights Gebrüll drang durchs ganze Schiff bis nach vorn ins Logis, wo die Decksoffiziere wohnten, robuste, starke, schon ältere Männer, die jetzt auf den geschrubbten Teakbänken saßen und dem jungen Zweiten zuhörten. Im großen und ganzen mochten sie Munro, vertrauten ihm und fühlten mit ihm. Dies war ihre dritte gemeinsame Reise, und Mr. Munro hatte bisher nichts getan, um sie von ihrer guten Meinung abzubringen. Munro hatte seine Schilderung der Zwangslage, in der sie sich befanden, beendet und blickte das Trio nun schweigend und Zustimmung heischend an. Bootsmann, Zimmermann und Segelmacher tauschten Blicke. Sie gehörte zu den sogenannten »Müßiggängern«, da sie als Spezialisten - wie auch Koch und Steward - nachts nicht Wache gehen mußten, sondern in ihren Kojen bleiben durften.
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»Tja, Sir... Ich hab' ja nichts dagegen, Wache zu gehen... Aber dann kann ich nicht alles machen, was ich machen könnte, wenn ich den ganzen Tag normalen Dienst mache.« »Nein, völlig klar«, gestand Munro dem Schiffszimmermann zu. »Und das gilt auch für mich, Sir«, sagte der Segelmacher. »Kann ja klappen - bis was schiefgeht. Bis sie anfängt, Teile zu verlieren.« »Das gilt für euch alle. Vielleicht müssen wir einen von euch auch wieder vom Wachdienst befreien, wenn Reparaturen notwendig werden. Aber wir brauchen erfahrene Leute, die ein Auge auf das werfen, was an Deck passiert, auch wenn's die nächsten Tage vermutlich ruhig bleibt im Passat. Macht einfach Routinedienst, damit Talham und ich auch mal zur Ruhe kommen. Wenn er und ich ohne jede Hilfe Wache um Wache gehen müssen, können wir natürlich nicht unter Vollzeug laufen. Und dann können wir das Rennen gleich vergessen.« Die drei Männer rutschten unruhig hin und her. Es war klar, daß sie unter sich Nebenwetten abgeschlossen hatten, und nach dem ängstlichen Gesicht des Zimmermanns zu urteilen, mußten die Einsätze ganz erheblich gewesen sein. »Aber wenn wir unter Vollzeug laufen, riskieren wir, daß uns was von oben kommt.« »Das Risiko müssen wir eingehen. Wir haben doch bei dieser Wette alle was stehen, schätze ich.« »Nur zu richtig«, knurrte der Zimmermann düster. »Wieviel?« fragte Munro. »Meine halbe Heuer.« Munro pfiff durch die Zähne. »Das war wohl ein bißchen voreilig, wie ?« »Er war ja auch sternhagelvoll dabei, damals in Futschau«, sagte der Bootsmann geringschätzig. »Und wie sieht's mit dir aus, Bootsmann?« »Ich hab' auch ein paar Kröten riskiert. Von meinem Stolz auf diesen alten Kahn ganz zu schweigen.« Der Bootsmann hieb mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Krüge klirrend zu tanzen begannen. »Und Sie, Sir?« fragte der Segelmacher, der älteste von den dreien. »Ich gehe jede Wette ein, daß Sie am meisten zu verlieren haben«, schloß er schlau. »Jedenfalls mehr als meine Heuer«, grinste Munro mit berechnender Befangenheit. »Schaut her«, fügte er hinzu, »ich weiß ja, was ihr denkt. Die hohen Herren da oben sitzen in der
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Patsche, und wir sollen's auslöffeln. Das denkt ihr doch, oder?« Die drei Maate starrten reglos in ihre Becher und schwiegen. »Na gut. Aber ganz so einfach ist es nicht. An Kapitän Kemballs Tod ist ein mörderischer Piratenüberfall schuld, niemand sonst. Wir können die Uhr leider nicht zurückdrehen. Miss Kemball hat formell das Kommando übernommen, da Mr. Enright krank ist...« »Und wie eine Sirene heult...« »Der will doch nur seine Flasche, dieser Säufer.« »Krank ist er nicht, sondern verrückt.« »Er ist verwundet und läßt niemanden an sich heran. Vielleicht leidet er mehr als. ..« »Nicht schade um ihn«, sagte der Segelmacher. »Wenn Enright noch dabei ist - dann ohne mich.« Der alte Mann stand auf und fuchtelte mit seinem dicken Zeigefinger vor des protestierenden Zimmermanns Nase herum. »Und deine halbe Heuer schert mich dabei einen Dreck! Ich hab' dich ja gewarnt, wette nicht im Suff. Aber Enright hat mich mal zusammengeschlagen, und das vergesse ich ihm nicht.« Sprach's und setzte sich, die Arme mit einem bekräftigenden Nicken vor der Brust verschränkend, wieder hin. »Wir machen es. Für Sie und Miss Kemball«, stimmte der Bootsmann nach kurzem Überlegen zu. »Und für das Schiff.« »Vielleicht auch für eine Prämie?« setzte der Zimmermann hoffnungsvoll hinzu. »Wenn's überhaupt eine gibt.« Der Segelmacher zog ein sauertöpfisches Gesicht und kramte seine Pfeife hervor. »Ich werde darauf dringen, daß Miss Kemball eure Loyalität anerkennt, wenn ihr abmustert«, sagte Munro. »Ich glaube, ihr wißt, daß ich da einigen Einfluß habe... Sehr gut. Ich danke euch.« »Nichts zu danken«, sagte der Zimmermann und rieb sein unrasiertes Kinn, als der Zweite Offizier gegangen war. »Sieht aus, als hätte ich mit der Wette 'ne Niete gezogen.« »Deine eigene Schuld«, sagte der Segelmacher und rammte Tabak in seine kurzstielige Pfeife. »Aber wenn wir gewinnen, bist du fein raus«, murmelte der Bootsmann und hob bedeutungsvoll eine Augenbraue. Der Segelmacher schnaubte. »Ein Schiff kann nur so gut sein wie die Leute, die es führen.« Er riß ein Streichholz an, und sein Gesicht verschwand hinter dicken Rauchwolken. »Munro ist kein Antreiber«, sagte er und schüttelte das Streichholz, bis die Flamme ausging. »Und er hat keine Erfahrung nich'. Würd' nich'
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zu uns kommen und betteln, daß wir Händchen mit ihm halten, wenn er mehr Erfahrung hätte.« »Na, dann halten wir ihm doch sein Händchen«, sagte der Zimmermann verbissen. »Ich würd' ihm sogar die Eier halten, wenn mir das meine Heuer rettet.« Mit dem Südostpassat kehrte auf der Erl King wieder wohltuende Routine ein. Tag um Tag hatten sie perfektes Segelwetter, so daß das Schiff mitunter Etmale von über dreihundert Meilen erreichen und einen Kurs steuern konnte, der so gerade war wie der Flug eines Pfeils. Von der Wasserlinie bis zu ihren vergoldeten Masttoppen in riesige Segeltuchbahnen gehüllt, glitt die Erl King mit solcher Anmut und Eleganz durch den tiefblauen Indischen Ozean, als sei sie für genau die Aufgabe gemacht, die jetzt von ihr verlangt wurde. An Deck und im Rigg war die Wache mit der täglichen Routinearbeit einer umsichtigen Schiffsführung beschäftigt: mit Spleißen und Takeln, Instandsetzen und Warten, Kalfatern und Kleeden, Ölen und Schmieren. Sie ersetzte abgenutzte Teile, besserte hier und dort die Farbe aus und schützte Holz mit hellem Firnis. Erl Kings blanke Messingbeschläge wurden auf Hochglanz poliert und anschließend mit einem dünnen Fettfilm überzogen, um sie vor dem schweren Wetter zu schützen, das sie vor dem Kap der Guten Hoffnung erwartete. Diese nur von den Mahlzeiten und vom Schlaf unterbrochenen Aktivitäten waren typisch für einen Großsegler im besten Passatwetter, das so berechenbar war wie das Glasen der Schiffsglocke. Die friedlichen Tage ließen Hannahs Erinnerung an ihre schrecklichen Erlebnisse langsam verblassen. Ihr Vorschlag, die Rettungsboote und ein altes Segel achtern mit Wasser zu füllen, erhöhte Erl Kings Geschwindigkeit um gut anderthalb Knoten. Die Meilen unter seinem Kiel abspulend, lief der Klipper fünf Stunden lang phantastische siebzehn Knoten, und fünf Tage lang loggten sie selten weniger als fünfzehn Knoten. Zum Loggen zogen sie das altmodische Logscheit hinter sich her, das Munro als Ersatz für das in Anyer Lor verlorene gebastelt hatte. Mittags lernte Hannah, mit dem Sextanten ihres Vaters bewaffnet, wie man mit einer einfachen Meridianhöhe die Breite berechnen konnte, und obgleich sie die kompliziertere Theorie der Längenberechnung nicht ganz verstand, brachte sie es zu passablen Ergebnissen für eine Anfängerin. Allmählich fühlte sie sich, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, Munro noch enger verbunden und teilte sein lebhaftes Interesse an der
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Schiffsführung. Munro, ganz von seiner ihn voll fordernden Aufgabe in Anspruch genommen, distanzierte sich eher unbewußt von Hannah, vermutlich aus männlichem Stolz, da sie die Erbin des Schiffes war. Außerdem hatte er sein berufliches Wissen, so unvollkommen es auch sein mochte, mit einem Mangel an Erfahrung auf anderen Gebieten bezahlt, wie beispielsweise im Umgang mit jungen Frauen seiner Gesellschaftsklasse. Eine physische Intimität, selbst von so relativ unschuldiger Art wie an jenem Nachmittag in Schanghai, war daher tabu für ihn. Derart entlastet, gestaltete sich ihre kameradschaftliche Beziehung durchaus erfreulich und wurde nicht von jenem Mißtrauen getrübt, das Hannah zwangsläufig allen Männern entgegenbrachte. Ihr innerer Zwiespalt indessen war nicht überwunden, sondern wurde, je mehr der Schock ihrer Begegnung mit Enright verebbte, seltsamerweise sogar stärker und bekam durch ihre wachsende Freundschaft mit Mai Li immer mehr Nahrung. Wenn sie nicht im Deckstuhl ihres Vaters saß, wenn sie sich nicht Grundkenntnisse in Navigation aneignete oder ihre Route mit Munro oder Talham besprach, wenn sie nicht aß oder schlief, hatte Hannah es sich zur Gewohnheit gemacht, mit Mai Li Karten zu spielen, eine Passion der kleinen Chinesin, die zudem eine geschickte Falschspielerin war. Während Munro und Talham arbeiteten oder schliefen und Enright in seiner Kammer eingesperrt war, schufen die beiden Frauen mit ihren intimen soirees eine für den Salon eines Teeklippers nicht eben typische Atmosphäre. Aus ihren Gesprächen mit Mai Li gewann Hannah Erfahrung aus zweiter Hand, denn die Konkubine kannte nicht die Tabus, denen eine Europäerin aus Gründen der Schicklichkeit normalerweise unterlag, und Hannah hatte schon zuviel erlebt, als daß sie Mai Li bei ihren schamlosen Erzählungen unterbrochen hätte. Mai Lis Geplauder war auf so charmant naive Weise eindeutig, so kindlich, daß es dem praktischen Nutzen ihrer Information jede Spur von Unschicklichkeit nahm. Sie sprach über sexuelle Praktiken wie andere Frauen über Kochrezepte. Mai Li, deren Füße eine ehrgeizige Mutter bandagiert hatte, war schon in jungen Jahren als Prostituierte verkauft worden. Im ältesten Gewerbe der Welt sachkundig unterwiesen, trug ihre Erfahrung, die sie mit unbewußtem Humor weitergab, viel dazu bei, Enrights versuchter Vergewaltigung etwas von ihrer Langzeitwirkung auf
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Hannah zu nehmen. Hingegen wurden dadurch wieder Regungen in ihr wach, die sie schon in Schanghai gequält hatten, als Blumenmädchen und Munros Küsse sie aus ihrer Verträumtheit rissen und ihr erster Flirt von ihrem Vater so grob unterbrochen wurde. »Seit wann hast du meinen Vater gekannt?« fragte sie Mai Li. »Oh, schon lange Zeit. Er sein damals Nummer Eins Fickfick für meine Freundin in Schanghai. Len-Kua mich nehmen mit nach Futschau, meine Freundin bleiben in Schanghai, sein Konkubine für Kapitän Kemball.« Mai Li schaute Hannah an. »Du keine Sorgen. Sein wie deine Mutter.« Bestürzt fragte Hannah: »Wie hieß sie?« Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß sie ein Recht hatte, den Namen der Maitresse ihres verstorbenen Vaters zu erfahren. Mai Li schüttelte den Kopf mit dem geölten Haar. »Sehr schwerer Name. Aber ich wissen«, fügte sie hinzu, ihren Rosenknospenmund schürzend, »ihr Name bedeuten in Englisch ›Rote Jade‹.« »Rote Jade!« Hannah starrte die Chinesin mit offenem Mund an, und Mai Li nickte. Jetzt wußte sie, warum in den Abrechnungen ihres Vaters derartig hohe Beträge für »rote Jade« ausgewiesen waren. »Du wissen, warum ich gehören Len-Kua?« fuhr Mai Li fort, während sie wieder einmal eine versteckte Trumpfkarte aus dem Ärmel zog, um Hannahs gehortetes As zu stechen. Hannah schüttelte den Kopf. »Weil er sein wirklicher Gentleman. Nie machen fickfick, wenn ich nicht wollen.« Mai Li spitzte den Mund und schaute Hannah über den Fächer ihrer Karten hinweg an. Diese saß da wie versteinert. »Merken gut, Missie, Mr. Munro sein genau wie Len-Kua. Wirkliche Gentleman. Besser du machen Mr. Munro deine Nummer Eins.« Und einen niedrigen Trumpf aus ihrem Fächer ziehend, schlug sie Hannah zum xten Male, die sich verwirrt mit ihrer Niederlage abfand. Mit weisem Nicken wischte Mai Li die angehäuften Münzen in ihre Hand und teilte dann erneut aus. »Mir glauben, Missie Hannah. Mai Li sprechen wahr.« Und damit schlössen Hannahs Gedanken sich vollends zum Kreis. Die Schritte Munros, der über ihnen auf dem Poopdeck umherging, klangen unnatürlich laut. Das Gespräch der beiden Frauen hätte ihn zweifellos entsetzt, obgleich er selbst sein Wissen samt der entsprechenden Praxis von einer Chinesin gelernt hatte, deren Herkunft ähnlich zweifelhaft war wie die Mai
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Lis. Und dann hörte Hannah über dem Knarren des Rumpfes, das unter Deck als Stille galt, die schauerlichen Töne Enrights. Das traurige Geheul erreichte plötzlich ein Crescendo, mischte sich mit dem Krachen splitternder Möbel und ging schließlich in ein jämmerliches Weinen über. Allmählich kam es Hannah so vor, als scheiterten ihre schönsten Träume immer wieder an der scheußlichen Realität Mr. Enrights. Zeit hatte für Enright keinerlei Bedeutung mehr und der Zustand der Bewußtheit, da er ihn ohnehin nur an seine Demütigung erinnerte, keinerlei Wert. So hatte er im Rausch Vergessen gesucht, gleichgültig gegenüber allen Ereignissen in der Außenwelt bis zu dem Augenblick, als sein Alkoholnachschub von Hannah unterbunden worden war. Durch seine lauten Entzugserscheinungen mußten sie ihn nun widerwillig wieder in ihrer Mitte zur Kenntnis nehmen. Seinem resignierten Geheul folgten in den nächsten Tagen abwechselnd wilde Schreie mit Anfällen von Zerstörungswut und reuevolle Zerknirschung. Durch die mit einem Vorhängeschloß gesicherte Kammertür drangen flehendes Wimmern und sogar gejammerte Entschuldigungen. Doch wechselten die Schübe so rasch, daß in einer Phase des vergeblichen Insich-gehens bald wieder der Boden für neuerliches Aufbegehren bereitet wurde. Kurz vor Sonnenuntergang am folgenden Abend klopfte Munro, der erkannt hatte, daß sich Enrights Entzugserscheinungen noch verschlimmern würden und nicht länger unbeachtet bleiben durften, an Hannahs Tür. Sie spielte gerade Karten mit Mai Li und schaute auf, als Munro eintrat. »Ja bitte?« »Ich möchte nur etwas aus dem Spind Ihres Vaters holen.« »Was denn?« Aber da war er schon in der Kajüte, zog eine Schublade auf und nahm eine mit einem Lederriemen zusammengebundene Leinenrolle heraus. Sein arrogantes Auftreten ärgerte Hannah. »Bitte entschuldigen Sie, meine Damen«, sagte Munro und verschwand ebenso abrupt, wie er gekommen war. Wenig später begann Hannah seine Absicht zu dämmern, als vom Gang her noch lauteres Geschrei ertönte. Munro hatte in Begleitung des Bootsmanns Enrights Kammer betreten. Sie war fast dunkel und stank erbärmlich, denn der Erste hatte sich wieder selbst besudelt. Das stechende Aroma von Exkrementen, Schweiß und Erbrochenem raubte ihnen fast den Atem. Sie würgten und
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fluchten, als sie die Kammer nach ihrem Insassen durchsuchten. Alle beweglichen Gegenstände, ein Stuhl und die Tür seines Spinds, eine Petroleumlampe und ein kleines, mit Glastüren versehenes Bücherregal lagen zertrümmert auf dem Boden. Glas, zersplittertes Holz und leere Flaschen vervollständigten das Bild der Verwüstung. Sie fanden Enright, das blasse Oval seines Gesichts tränenüberströmt, das schwarze Haar am Kopf klebend, wimmernd in seinen Spind gedrückt, aus dem sein nicht verwundeter Arm zitternd herausragte. Munro beugte sich vor und ergriff die ausgestreckte Hand. »So, jetzt mal raus hier.« Enrights Arm federte mit frenetischer Energie jäh vor, Munro wurde zurückgeschleudert und schlug mit dem Kopf gegen die verbogene Aufhängung der Petroleumlampe. »Verflucht!« Mit einer Flut wüster Beschimpfungen sprang Enright wie ein gigantischer Kastenteufel aus seinem Spind. Der Bootsmann, der bei Enrights Angriff zunächst zurückgewichen war, fing sich wieder, und der arg mitgenommene Munro sah einen mächtigen tätowierten Unterarm mit geballter Faust in Enrights Magengrube landen. Der Erste Offizier klappte zusammen wie ein Taschenmesser, sein Kopf prallte auf das nochschnellende Knie des Bootsmanns; dann torkelte er mit geschlossenen Augen zurück, fiel seitlich um und blieb schließlich, von spastischen Zuckungen geschüttelt, auf dem Boden liegen. »Darauf habe ich schon lange gewartet«, sagte der Bootsmann und zog Munro die Leinwandrolle aus der schwachen Hand. »Sind Sie okay?« Munro versuchte die Nebel in seinem Gehirn durch Kopfschütteln zu vertreiben. »Ja, ich glaube schon... Du lieber Himmel! Warten Sie, ich helfe Ihnen.« »Delirium tremens, dieser Hund«, grunzte der Bootsmann, als die beiden Männer sich mit dem besinnungslosen Enright abmühten. Sie brauchten zehn Minuten, bis sie ihm die Zwangsjacke übergezogen und, der verwundeten Hand keine Beachtung schenkend, festgeschnallt hatten. Als er sicher verschnürt war, hoben sie Enright auf seine Koje. »Danke, Bootsmann. Das war's zwar nicht, was ich im Sinn hatte, als ich Sie vorhin um Hilfe bat, aber...« Der Bootsmann nickte, noch immer keuchend, und schaute auf den Boden. Wütend stieß er ein Stuhlbein zur Seite. »Verdammte
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Schweinerei, das.« »Osman soll hier aufräumen. Schließlich hat er ihn immer weiter mit Schnaps versorgt.« »Das hat ihm wohl den Rest gegeben.« Der Bootsmann warf einen letzten Blick auf Enright. »Hat sich was, von wegen immer der Größte sein. Menschenskind!« »Er hat uns wahrhaftig keine andere Wahl gelassen.« »Armer Irrer.« Getrieben vom stetigen Passat zwischen Anyer Lor und Mauritius, preschte die Erl King ungestüm gen Westen mit einem Strich Süd. Fliegende Fische, die den Schatten des herannahenden Schiffes als lebensbedrohlich fürchteten, segelten über die von Erl Kings schnellem Steven aufgeworfene Bugsee; Delphine umspielten den Rumpf auf allen Seiten, tummelten sich im schäumenden Kielwasser oder ritten auf der
schmalen Stairwelle, die der schnelle Klipper aus dem Ozean drückte. Während der Hundewachen, wenn, wie alle wußten, Hannah und Mai Li in der Kajüte Karten zu spielen pflegten, zogen sich die Männer die schweren Kleider aus und saßen, während Erl King sich im achterlichen Seegang hob und senkte, halbnackt unter den leise hin und her pendelnden Segeln. Bei Sonnenuntergang und Wachablösung drangen Flöten- und Akkordeontöne nach achtern, begleitet von ungeübten, rauhen Stimmen, die sich in melancholischen Shanties versuchten. Hoch über ihren Köpfen zerrten fünfunddreißigtausend Quadratfuß vom Wind gefülltes Segeltuch an seinen Liektauen, und der vergoldete Großmasttopp malte träge Kreise in den samtenen Himmel.
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11 »Das Wetter schlägt um, Madam«, sagte Munro, als er sich aus seinem Ölzeug schälte und die Gischttropfen von der Nasenspitze blies, bevor er sich neben Hannah über die Karte beugte. »Konnten Sie heute morgen Sterne schießen?« fragte sie. Munro schüttelte den Kopf. »Nein. Aber hier ist mein Koppelkurs von acht Uhr.« Er griff zum Zirkel und deutete mit seiner Spitze auf den sauber gezeichneten Kreis, der ihren geschätzten Standort markierte. Sie befanden sich jetzt südwestlich von Mauritius und hielten auf die gemäßigten Breiten der südlichen Hemisphäre zu, wo Tiefdruckgürtel die ganze Erde umgeben und stürmisches, regnerisches, wechselhaftes Wetter zu erwarten war. Vor ihnen lag Afrika wie eine große Barriere auf ihrem Weg nach Westen; ihretwegen mußten sie zunächst einen Haken Richtung Südpol schlagen. »Seltsam, dieses Gefühl, Afrika runden zu müssen«, sagte Hannah nachdenklich. »Wir können ja schlecht mittendurch fahren«, antwortete Munro kurz. Hannah ging an Deck. Eine Gischtfahne fegte übers Vorschiff und peitschte, ihre Luvwange mit einem schmerzhaften Eishauch überziehend, zischend nach achtern. Taumelnd schritt sie über das schlingernde Deck zum Schanzkleid. Nach den leichten Schiffsbewegungen der letzten Woche kam die plötzliche Wetteränderung wie ein Schock. Sich an die Reling klammernd, starrte Hannah nach oben. Vorbei war die Zeit der Leesegel und der fliegend gesetzten Skysegel. Selbst die Royals waren geborgen und die Bramsegel gerefft. Alle Rahen, und besonders die am Kreuzmast, waren hart angebraßt, um die Erl King so hoch wie möglich am Wind zu halten. Munro kam an Deck und stellte sich neben sie. »Die schönen Tage der fliegenden Fische sind vorbei«, sagte sie. »Stimmt.«
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Vorbei waren auch die Tage der weißbemützten blauen Seen, die sich von Backbord achteraus unter ihr Heck schoben, vorbei das leichte Rollen, das leise Flappen der Gordings gegen das anmutig gewölbte weiße Segeltuch, das von einem leichten Federn der Leesegelspieren beantwortet wurde. Keine Vögel folgten mehr ihrem Kielwasser, keine Delphine spielten um das Schiff, und kein fliegender Fisch flüchtete segelnd vor ihrem Steven; statt dessen waren die Seen so grau wie die Dächer von Islington, dachte Hannah aufschreckend, wie nasser Schiefer, auf dem fahles Sonnenlicht lag. Die Wellenkämme, die jetzt mit größerer Wucht brachen, hatten etwas Bedrohliches, während der Wind, der ihnen meist entgegenstand, geradezu gehässig wirkte, als verspreche er für die kommenden Tage noch Schlimmeres. »Stimmt«, wiederholte Munro. »Aber dafür machen wir jetzt fast zwölf Knoten.« »Und das ist gut?« wollte Hannah wissen, die noch an die vierzehn oder fünfzehn Knoten in der Passatzone gewöhnt war. »Aye, sehr gut, hoch an einem so starken Wind.« »Wird sich das Wetter verschlechtern?« Ihre Stimme klang jetzt ängstlich. Sie hatte schon schlimmeren Seegang erlebt als diesen, hatte gesehen, wie das Schiff seine Leereling durchs Wasser zog, obwohl oberhalb der Marssegel kein Fetzen Tuch gesetzt war. Aber da hatte ihr Vater dort gestanden, wo sie jetzt standen, und sie hatte ihr Haar vom Sturm zausen lassen und ihn als etwas herrlich Elementares genossen. Doch jetzt lastete die Bürde der Verantwortung auf ihren Schultern, auch wenn sie Munro hilfesuchend ansah. Ihr war klar, daß auch er diese Last spürte. Er hob die Schultern. »Vielleicht. Das Barometer fällt noch, aber nicht mehr ganz so stark wie vorher.« Hannah ärgerte sich über sich selbst. Sie hätte es selber ablesen müssen, das gehörte zur simpelsten Routine an Bord. »Sind Sie...« begann sie zögernd, »meinen Sie...« »Meine ich was?« Munro schaute sie an. »Meinen Sie, daß wir zuviel Tuch oben haben ?« »Sie kann's vertragen«, entgegnete er, aber die Kürze seiner Antwort war ein Zeichen dafür, daß ihn die gleiche Frage beschäftigte. Aufmerksam blickte er nach oben und beobachtete die Segel, dieselben Segel, die im Sonnenschein des Passats weiß geleuchtet hatten, die aber jetzt das monotone Grau von See und Himmel reflektierten. Sie zerrten an ihren Lieken, und ihre
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Schothörner zogen die Rahnocken in die Höhe. Nur durch Erfahrung erworbenes Urteilsvermögen konnte einem Kapitän sagen, wann er Segel reffen und wann er sie ganz wegnehmen mußte. Und obgleich es eine feststehende Reihenfolge gab, nach der man auf einem Vollschiff die Segelfläche verringerte, wußte Munro, daß die Kapitäne je nach Situation durchaus davon abwichen. In diesem Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher, als über mehr Erfahrung zu verfügen. Als Zweiter Offizier hatte er auf alles eine Antwort gewußt und war mit Kritik und eigenen Vorstellungen schnell bei der Hand gewesen - eine Eigenschaft, die Cracker Jack im Grunde gefallen hatte, zeugte sie doch von den in ihm steckenden Fähigkeiten. Aber, und das hatte Kapitän Kemball ebenfalls gewußt, diese Fähigkeiten galt es weise zu nutzen, mit zunehmender Erfahrung anzureichern, um die Vorausschau zu fördern und ein unter Umständen tödliches Draufgängertum zu unterbinden. Wenn dieser Reifeprozeß richtig ablief, dann ergab sich daraus eine Mischung von Wagemut und Umsicht, die den Deckshänden vielleicht wie Zauberei vorkam, die aber mit Selbstvertrauen besser bezeichnet war. Es gab viele Arten von Kapitänen - Reffmuffel, Sklaventreiber, Maulhelden und Schaumschläger -, aber nur wenige besaßen das Selbstvertrauen und die Instinkte, die einen guten Klipperkapitän auszeichneten, so wie John Kemball einer gewesen war. Und solange ein Mann vom Schlage Kemballs in seinem Deckstuhl döste oder auf der Polsterbank im Kartenhaus saß, solange konnte ein Mann wie Munro in einem ständigen Lernprozeß sein Glück versuchen und sich durchbeißen, gezügelt durch die alles beherrschende Figur seines Kapitäns und seines: »Sehr gut, Mister. Ich übernehme jetzt...« Aber nun hatte Munro keinen Übervater mehr. Als er das Rigg auf der Suche nach den Zeichen von Überanspruchung oder Schamfilen absuchte, dachte er daran, daß dies auf der Heimreise sein erster Sturm war. Der Gegenmonsun im Südchinesischen Meer war relativ moderat gewesen und sogar unbeständig, weshalb Richards sie überholt hatte, da er sich in größerer Entfernung von der Küste hielt. Die Stunde der Wahrheit kam erst jetzt. Der Gedanke an die Seawitch irgendwo vor ihnen stärkte Munros Entschlossenheit. Er ging nach achtern und stellte sich neben Molloy auf die Rudergräting. Schweigend überließ Molloy ihm das Rad. Munro fühlte das Rucken des Ruders im Gestänge, ließ einige Spaken durch die Hände laufen, sah den Klipper leicht
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abfallen und beobachtete, wieder anluvend, den fernen Klüverbaum, der unter dem großen weißen Viereck der Breitfock auf und ab über die Kimm wischte. Sie war wunderbar getrimmt, ein dahinjagendes Vollblut. Er lächelte Molloy zu, und der alte Mann grinste zurück. »Voll und bei, Sir?« »Voll und bei, Molloy, solange sie's aushält.« »Aye, aye, Sir.« Munro ging wieder nach vorn. Aus den Booten auf ihren Klampen sickerte nach wie vor Wasser, das letzte Mal hatte man provisorischen Ballast hineingepumpt, als sie die Sundastraße verließen. Das Segel darunter war schon lange weggenommen. Hannah zwängte sich in den Deckstuhl. »Vermutlich finden Sie den jetzt nicht sehr bequem«, bemerkte Munro, als Hannah damit von einem Ende der Sorgleine zum anderen befördert wurde. »Richtig«, sagte sie. Sie versuchte, sich wieder herauszustrampeln, und fand das schwierig. Munro packte ihre Hand und half ihr auf. Sie wiegten sich im Rhythmus der Erl King, die eintauchte und sich wieder hob, bis eine höhere See sich an ihrem Bug brach und einen Schauer durch den Rumpf sandte. Hannah wandte sich instinktiv zu Munro um und blickte ihn an. Mit einem Pfeifen flog Gischt nach achtern, und Hannah wurde gegen Munro gepreßt. Stützend umschlang er sie, als die Erl King erneut wegsackte. Grünes Wasser stieg vorn übers Schanzkleid, rauschte in einer zischenden Welle nach achtern, riß zwei Männer um und füllte die Leeseite der Kühl hüfthoch mit Wasser. Die Speigatten schlugend krachend auf, als das Schiff seine Last abschüttelte. Japsend kamen die beiden Matrosen wieder auf die Beine, während dicke Rauchschwaden, begleitet von einer wütenden Schimpfkanonade, aus der Kombüse drangen. »Ruderdruck?« brüllte Munro. »Alles klar, Sir, alles klar«, antwortete Molloy. Munro schüttelte sich und schaute auf Hannah hinunter. »Sie wird's schaffen«, sagte er und ließ sie los, weil er merkte, daß die Männer aus der Kühl zu ihnen heraufstarrten. »Sehen Sie dort«, sagte Hannah, ihre Verlegenheit überspielend, und deutete auf einen gefleckten Sturmvogel, der über ihr Kielwasser schoß und ohne Flügelschlag so nahe herankam, daß sie das schwache Zittern seiner Federn erkannten. »Eine Kaptaube«, sagte Munro. »Und da sind noch andere«, sagte sie und deutete auf kleine
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dunkle Sturmschwalben, die mit ihren winzigen Füßchen flatternd über die Seen hüpften und so zerbrechlich wirkten, als müßten sie Schutz in den Wellentälern suchen. »Mutter Careys Küken« nannten die Seeleute sie. Hannah beobachtete, wie eine brechende See die glatte Oberfläche aufwühlte, als wolle sie rachsüchtig die nach Futter pickenden Vögel verschlingen. Doch die erhoben sich wie schwerelos und stürzten sich dann auf die winzigen Lebensformen, die von der vorbeirauschenden Welle hochgerissen worden waren. Bootsmann Harris hangelte sich den Niedergang aus der Kühl zu ihnen hoch. Trotz des abdichtend um seine Manschetten gebundenen Kabelgarns und des um den Hals geschlungenen Handtuchs wirkte er völlig durchgeweicht. Aber er grinste zustimmend. »Sie nehmen sie ja hart ran, Sir.« Munro nickte. Der Respekt des Bootsmanns war immerhin ein kleiner Trost. »Aber ich glaube, wir sollten längsschiffs lieber Strecktaue anbringen ... Oh, und das Umdrehen der Boote lassen wir lieber bei diesem Seegang.« »Ganz richtig, Mr. Harris...« Harris nickte ihnen beiden zu. »Madam«, verabschiedete er sich und tippte, eine Verbeugung andeutend, mit der Rechten an die schwarze Krempe seines Südwesters. »Ich glaube, er billigt es nicht, daß wir hier stehen und schwätzen«, sagte Hannah scharfsichtig, drehte sich um und ging unter Deck. Munro schaute zum düsteren Himmel auf. Die Sonne hatte sich nur ganz kurz blicken lassen, sie würden also keine Mittagsbreite bekommen. Harris beaufsichtigte die Wache, die schon dabei war, die Strecktaue zu riggen, straff gespannte Leinen, die vom Heck zum Vorschiff liefen und den an Deck arbeitenden Männern als Halt dienten. Danach stellte sich Harris wieder neben Munro und schaute nach oben. »Sie wird's packen, Mr. Munro, keine Sorge.« Die Steuerbordwache knallte ihre Schüsseln auf das unbehandelte Fichtenholz der Tischplatte und wartete auf den Topf mit Stew aus der Kombüse. »Alles kann ich vertragen, bloß kein vermurkstes Essen«, bemerkte Dando Douglas, ein dünner, drahtiger Mann Anfang Dreißig, auf dessen nacktem Unterarm sich tätowierte Schlangen um einen überlangen Anker wanden.
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»Und keine Liebe auf dem Achterdeck«, fügte Gopher Stackpole hinzu, wobei er an seiner kalten Pfeife sog und das Ergebnis geschickt in den Spucknapf beförderte. »Liebe?« »Genau. Die Dame Kemball und Jung-Munro... Wenn er dieses verfluchte Rennen gewinnen will, sollte er mit den Gedanken lieber bei seiner Arbeit bleiben.« »Ich dachte, du meinst Enright...« »Der ist immer noch komatös«, fügte ein dritter, kultiviert wirkender Mann mit gepflegter Aussprache hinzu. Der ›Mr. Duke‹ Genannte setzte sich zu ihnen und beschaute sich einen kleinen Lederbeutel. Es war seine dritte Reise an Bord der Erl King, und sie wußten immer noch nicht mehr über ihn als bei der ersten. Er ging nie an Land und belagerte immer die Missionare, die sich gelegentlich an Bord verirrten, um von ihnen ein paar Bücher zu erbitten. Diese waren für seine Bordgenossen völlig unverständlich, was zur Folge hatte, daß sie seine Meinung auf nahezu allen Gebieten mit Ausnahme der Seemannschaft akzeptierten. »Und was hältst du davon?« fragte Dando und schaute in Erwartung des Essens gespannt zum Niedergang. »Daß Enright so ruhig und apathisch ist?« Mr. Duke zuckte mit den Schultern. »Munro hat ihn in eine Zwangsjacke gesteckt, nun muß er allmählich wieder halbwegs normal werden, könnte ich mir vorstellen. Ich bezweifle aber, daß man ihn wieder völlig rehabilitieren kann, dazu war er zu oft rückfällig. Jedenfalls wird er, wenn er erst trocken ist, ein gerissener Hund sein.« »Gerissener Hund, genau«, murmelte Gopher, der nicht wußte, was »rehabilitieren« hieß. »Klar, der wartet nur auf den passenden Moment... Das kann er sich ja leisten. Aber der ist bestimmt noch nicht fertig mit uns.« »Ich wollte, wir hätten von der Seawitch gehört... Hast du auch gewettet, Mr. Duke?« Der kultivierte Vollmatrose schüttelte lächelnd den Kopf. Die drei Männer schauten auf, als mit den krachend geöffneten Niedergangstüren graues Licht hereindrang. Sekunden später stand in triefendem Ölzeug, in den Händen den dampfenden Topf mit dem Stew, Leichtmatrose Bailey vor ihn. »Backen und banken...« Gopher trommelte gegen das dem Tisch nächste Kojenbord, und schon erschienen brummend und sich kratzend die halbangezogenen Freiwächter und ließen sich polternd auf die
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Bänke fallen, um nach dem Stew zu langen. »Der Koch sagt, es ist das letzte Mal, daß es Kohl, Zwiebeln und Gewürze dazu gibt.« »Hätten in Anyer Lor eben frischen Proviant übernehmen sollen. ..« »Hör auf zu meckern. Was hat der Koch noch gesagt?« wollte Dando wissen, der darauf brannte, die letzten Neuigkeiten zu erfahren. Die Kombüse war wie eine Oase in der Wüste, wo sich Wege kreuzten und Nachrichten ausgetauscht wurden. »Die Backbordwache glaubt, daß Munro und Miss Kemball was miteinander haben.« »Gott, sind die helle! Mit so 'ner Ladung Schlafmützen an Deck kriegen wir Dickie Richards nie. He, Mr. Duke, wie viele von diesen elenden Klößen nimmst du dir eigentlich?« Dando war sauer, weil er nicht als erster nach dem Schöpflöffel gegriffen hatte. »Mindestens drei, mein Guter«, antwortete Mr. Duke liebenswürdig. »Vielleicht auch vier.« »Aber dann bleiben nur noch drei für uns alle!« »Na, hoffentlich bist du gut im Dividieren. Was macht eigentlich unser orientalischer Freund?« »Osman hat dem Koch erzählt, daß er wieder in der Koje liegt.« »Mit seinem Weib?« »Hat der Koch nicht gesagt. Nur daß er erst siebenmal im Salon gegessen hat, seit wir von Futschau ausgelaufen sind.« »Na ja, die Chinesen brauchen auch nicht soviel Essen wie wir...« »Wie du!« »Ich will das überhören, Gopher. Aber sag mal, Bill, was hat unsere schlauen Kollegen von der Backbordwache eigentlich dazu bewogen, von einer Romanze zwischen Miss Kemball und dem Zweiten zu sprechen?« »Nun, Munro hat einen Arm um sie gelegt oder so«, antwortete Bill Bailey. »Hat der 'n Glück«, sagte Dando und spießte sich einen dampfenden Kloß von Dukes Teller. Die Stimmung im Salon war nicht so unbeschwert kameradschaftlich. Obgleich erst Mittagszeit, brannten hier wie auch im Vorschiffslogis schon die Lampen, denn der windgepeitschte Regen, der die Segel schwer und die Schoten und Brassen steif machte, schluckte fast alles Licht. Wie auf dem Vorschiff hörte man auch hier das Knacken, Krachen und Ächzen
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von Rigg und Rumpf, die unter enormer Belastung standen, aber es herrschte keine Ausgelassenheit, sondern schickliche Stille, als Hannah, Mai Li, Mr. Talham und zwei der Kadetten sich zu Tisch setzten, um den gleichen Stew zu essen, den auch die Steuerbordwache bekommen hatte. Viktorianische Anstandsregeln bestimmten den Ton, und so hörte man keinen Klatsch und Tratsch, sondern nur höfliche Redewendungen und das auf dem Steingutgeschirr klirrende Besteck. »Ich finde, es ist kälter geworden«, bemerkte Hannah. »Aye, Madam, und der Wind könnte umspringen, vielleicht auf Südwest...« »Das könnten wir gut gebrauchen... Mai Li, was ist Ihnen?« Mai Li pflegte von ihrem Essen sonst nur zu kosten. Sie war die westliche Küche und gar die Bordverpflegung nicht gewohnt und hatte schon immer wie ein Spatz nur von ihrem Teller gepickt, jetzt aber ließ sie klirrend das Besteck fallen, stand halb auf, hielt sich mit einer Hand am Tisch fest und drückte die andere auf die Brust. »Mai Li!« Hannah sprang auf, ihren Stuhl umwerfend, und auch Talham war schon halb auf den Beinen, während Osman schnell wieder den Stuhl unter die taumelnde Chinesin schob. Hannah legte den Arm um sie, bedeutete Osman mit einem Nicken, die Tür zur Achterkabine zu öffnen, und geleitete sie hindurch. In dem ruhigen Raum hieß Hannah die Chinesin sich setzen und kniete sich vor die schmale, vornüber gebeugte Gestalt. Mai Li rannen Tränen übers Gesicht, und ihr schmaler Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. »Mai Li, was ist denn? Was ist passiert?« Hannah drehte sich um, nahm die Karaffe aus dem Flaschenbord und goß einen Schluck Brandy ein; denn daß Mai Li einem belebenden Tropfen nicht abgeneigt war, wußte sie inzwischen. Dankbar nahm Mai Li das Glas mit zitternder Hand, und Hannah musterte das erschöpfte Gesicht. Es war nicht das erste Mal, daß Hannah sich fragte, wie alt Len-Kuas Konkubine sein mochte. »MaiLi?« »Len-Kua«, sagte Mai Li schließlich, »er sehr krank sein. Vielleicht bald sterben, wenn nicht gleich kommen London.« Im Salon hatten die beiden Kadetten und Talham ihr Essen schweigend beendet. Nach dem Stew gab es Mehlpudding, und sie aßen mit dem guten Appetit junger Männer. Als es über ihren Köpfen achtmal glaste, wollte Osman ihnen gerade Kaffee einschenken.
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»Bring ihn uns draußen, Osman«, sagte Talham barsch, band sich die Serviette ab und griff nach seinem Ölzeug. »Ja, Sir«, sagte der erschöpfte Osman, während die beiden Kadetten dem Beispiel des Dritten Offiziers folgten. An Deck informierte Talham sich über den anliegenden Kurs und übernahm formell die Wache. »Wie läuft's?« fragte er Munro, jeden Gedanken an die arme Chinesin verdrängend. »Sie hält sich gut. Der Wind hat einen Strich rückgedreht, und wir loggen zwölfeinhalb Knoten. Für die Nacht lassen wir alles, wie's ist, es sei denn, daß der Wind vor Sonnenuntergang noch mehr zulegt.« Talham nickte. »Alles klar... Es gibt Stew und Mehlpudding«, informierte er Munro. »Und den letzten Kohl. Aber dafür war der Koch mit den Sultaninen freigiebig.« »Was!« »Na ja, für seine Verhältnisse.« Die beiden Männer grinsten sich an, Talham übernahm das Deck und nickte dem Segelmacher zu, der ihm für die Nachmittagswache zugeteilt war. »Wir können alles so stehenlassen, Segelmacher«, rief er in die Kühl hinunter. »Wem sagen Sie das? Ich hab' die Dinger schließlich genäht. Natürlich lassen wir sie stehen!« »Wenn der Wind bis Sonnenuntergang nicht zulegt.« Der Segelmacher nickte und ging aufs Vorschiff, um die neue Wache zu vergattern. Munro blieb am Niedergang stehen, und als die Steuerbordwache angetreten war, entließ er seine eigenen Leute mit einem Nicken. Er warf einen Blick zum grauen Himmel und leckte sich das Salz von den Lippen. Er war hungrig und müde. Wenn der Wind nicht stärker wurde, wollte er dem Schiff seinen Willen lassen. Bei Sonnenuntergang hatte der Wind noch nicht zugelegt. Aber er war auch nicht schwächer geworden. Munro, Talham und die meisten Matrosen gingen Wache um Wache -vier Stunden Dienst, vier Stunden frei - wobei die Zeit zwischen vier Uhr nachmittags und acht Uhr abends in zwei Schichten von je zwei Stunden aufgeteilt war, was eine Rotation der Wachzeiten gewährleisten sollte. Die Decksoffiziere hatten, damit sie ihren jeweiligen Spezialaufgaben nachgehen konnten, eine andere Einteilung: vier Stunden an und acht Stunden unter Deck, wobei die zusätzlichen vier Stunden unten für Instandhaltungsarbeiten genutzt wurden. Niemand arbeitete weniger als zwölf Stunden am Tag. Cracker Jack Kemball hatte sein eigenes System gehabt und viel Zeit und Mühe darauf
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verwendet, dem Verschleiß an Bord vorzubeugen, und diese Umsicht, so rechnete Munro, gab ihm bei der Wartung jetzt einigen Spielraum. Erl King segelte mit Kurs Südwest in die Nacht hinein. Geisterhaft ragten ihre Segelpyramiden in die tiefhängenden Wolken, und der matte Smaragd- und Rubinschimmer ihrer Positionslichter beleuchtete horizontal gepeitschte Graupelschauer und entfesselte Gischt. An ihrer Bordwand rauschten die grauen Seen eilends nach achtern, überspülten hin und wieder die Kühl und machten jede Bewegung an Deck zu einem Wagnis. Als Munro zu seiner ersten Wache um acht Uhr abends wieder an Deck erschien, war er erfreut über ihr gutes Vorankommen. »Zwölf Knoten bei einmal Glasen«, meldete Talham, der fünfzehn Minuten vor dem Ende der zweiten Hundewache routinemäßig das Logscheit einholte. »Gut«, sagte Munro und versetzte der Heckreling einen leichten, zufriedenen Klaps. Seine Einschätzung der Lage war also richtig gewesen: der Wind hatte nicht zugenommen, und das Schiff kam flott voran. »Viel Ruderdruck?« »Nein«, sagte Talham gähnend. »Sie hatten den Besan getrimmt wie mit 'nem Notenschlüssel. Brauchten ihn überhaupt nicht anzurühren.« Nachdem Talham ihn allein in der Dunkelheit zurückgelassen hatte, spürte Munro seine Zuneigung zu dem Klipper besonders stark. Unter der Kante des Hüttendecks kauerten die Leute seiner Wache, auf ihr tropfnasses Ölzeug fiel hin und wieder der Schein einer aufglimmenden Zigarette. Direkt hinter ihm stand, das Gesicht schwach von unten beleuchtet, was ihm etwas Diabolisches verlieh, der Rudergänger allein vor dem Kompaßhaus und bediente mit einiger Mühe das große Rad. Aber die Erl King war ein sanftes Schiff, wohlerzogen und seefreundlich. Bei Gott, sie würden es schaffen! Wie ein Schock durchfuhr ihn diese Überzeugung. Sie würden es schaffen, dessen war er sich plötzlich ganz sicher... In Luv in die Kreuzmastwanten gezwängt, ließ er sich in einen Halbschlaf hinübergleiten, in dem seine Sinne wie bei einem untergetauchten Wal ohne Kraftvergeudung jede Veränderung in seiner Umgebung wahrzunehmen vermochten. Halb dösend, halb so gespannt wie die Wanten, gegen die er sich lehnte, kam er
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seinem Dienst scheinbar unbeweglich nach. »Alles wohl an Deck, alle Lampen brennen...« »Rudergänger ist abgelöst, Sir. Kurs Südwest, ein halb Süd liegt an.« Ausguckposten und Rudergänger wurden jede Stunde abgelöst. Mit Fortdauer der Nacht wurden es der Doppelschläge immer mehr, bis ein zusätzlicher Glockenschlag die nächste Wache an Deck rief. Munro ging nach achtern, um die beiden Kadetten Gordon und Stokes beim Loggen zu beaufsichtigen. Die altmodische, mit Knoten versehene Leine lief in die Dunkelheit hinaus. Munro starrte auf das Glas. »Stopp!« rief er, und sie hielten die Leine fest, schüttelten sie so, daß durch den Ruck der Stöpsel aus der Fassung flog und das Loggscheit, das nun keinen Widerstand mehr bot, samt der Leine eingeholt werden konnte. »Elf und...« »Sagen wir, ein Viertel.« »Aye, aye, Sir.« Stokes ging die Knotenzahl ins Logbuch eintragen. Diese Methode war längst nicht so akkurat wie die mit dem Walkers Patentlog, das Hannahs wegen verlorengegangen war, denn sie sagte über die zurückgelegte Distanz durchs Wasser nichts aus. Aber Munro war insgeheim stolz darauf, sein Besteck nach der alten Methode zu ermitteln. Zehn Minuten später übergab er die Wache an Talham. »Sie ist auf elf zurückgefallen!« Er mußte den Lärm im Rigg schreiend übertönen. »Inzwischen hat sich nämlich ziemlicher Seegang aufgebaut.« »Ja«, rief Talham zurück, »eindeutig stärker als vorhin.« Die Backbordwache meldete sich vollständig angetreten, und Munro wandte sich zum Niedergang. »Gute Nacht«, sagte er und klopfte Talham auf den Rücken. »Gute Nacht...« Hundemüde stolperte Munro nach unten, riß sich die Stiefel und das Ölzeug vom Leib, schälte sich aus Jacke, Pullover und Schal und warf sich auf die Koje. In fünf Minuten war er eingeschlafen. Kurz nach drei Glasen, bei der Mittelwache um halb zwei Uhr morgens, sprang der Wind um. Um den Kurs halten zu können, drehte Talhams Wache bei und plagte sich in der Dunkelheit damit ab, die Rahen an jedem Mast schärfer anzubrassen. Die auf Belegnägeln entlang der Backbordreling belegten Brassen wurden gefiert, die Steuerbordbrassen nach achtern geholt, während Groß- und Fockhalsen dichtgesetzt wurden, was die
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unteren Luvecken der beiden großen Segel weiter zum Bug hin holte. Die Schoten bekamen noch etwas mehr Lose. Auf dem Vorschiff führten sie den Fockhals über eine Talje zum Gangspill, wobei die kleine Arbeitsgang vom Bug dreißig Fuß hoch emporgetragen wurde und danach wieder tief hinuntersackte, immer wieder, je nach dem Durchgang der Seen. »Belegen!« Sie gehorchten dem Kommando des Segelmachers und hangelten sich danach an den Strecktauen nach achtern, um sich einen Schluck Tee aus der am Herd festgeklemmten Kanne zu holen. Der Segelmacher warf einen Blick nach Luv. Hin und wieder zeigten sich ein paar Sterne, und die Wolkendecke war jetzt so dünn geworden, daß ein schwacher Schimmer den abnehmenden Mond ahnen ließ. Über ihm wölbten sich die flachen Dreiecke der drei Stagsegel, des Vormarsstengestagsegels und des Innen- und Außenklüvers, schräg zu den bauchigen Rahsegeln am Vormast hinauf. Der Gabe des Philosophierens nicht mächtig, hatte er immerhin das Gefühl, etwas Nützliches zu tun, was ihn in eine Gemütslage versetzte, die - zumindest für seine Verhältnisse - fast heiter zu nennen war. »Rahen alle getrimmt, Mister«, meldete er Talham. »Sehr gut... Ist noch ein bißchen Tee in der Kombüse?« »Aye, die Burschen da unten brauen gerade neuen. Ich lasse Ihnen einen Becher davon bringen.« »Danke, Segelmacher.« Talham grinste in die Dunkelheit. Der gute Alte war ein bärbeißiger Typ und lehnte es ab, ihn »Sir« zu nennen. Erstens war Talham jung genug, um sein Sohn sein zu können, und zweitens war Munros Idee, seinen und Talhams Mangel an Erfahrung dadurch wettzumachen, daß er auch die Maate Wache gehen ließ, kaum dazu geeignet, ihren Respekt für die Offiziere zu erhöhen. Talham fand, daß Munro bei dieser Entscheidung schlecht beraten gewesen war. »Falls überhaupt«, murmelte er. Jedenfalls war der alte Segelmacher ein Menschenfeind, was eigentlich nicht weiter verwunderlich war. Der arme Teufel arbeitete die meiste Zeit allein, nähte Meilen und Abermeilen von hartem Segeltuch, und wenn ihn wirklich mal jemand besuchte, dann aus dienstlichen Gründen und nicht, weil er seine Gesellschaft suchte. Daß er sich erboten hatte, Tee nach achtern zu schicken, war für einen Mann wie ihn schon ein Sympathiebeweis, fand Talham.
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In der Kombüse unten, im Licht der wild am Deckenbalken schaukelnden Lampe, wandte sich der Segelmacher an die triefenden Mitglieder seiner Wache. »Einer von euch bringt Talham einen Becher Tee auf die Poop.« »Mit einem Stückchen Zucker oder zwei, Liebster?« flötete ein Matrose. Gelächter dröhnte durch den Raum. »Du machst das.« Der Segelmacher deutete auf einen Kadetten, und wieder lachten einige. »Der Wind legt zu«, bemerkte der Segelmacher und nahm dankend einen Becher Tee entgegen. »Hast du's ihm gesagt?« fragte der Mann, der Talham verspottet hatte, und deutete mit dem Kopf in Richtung Poop. »Soll er's doch selber rausfinden«, sagte ein anderer. »Wofür wird er schließlich bezahlt?« »Jetzt hör aber auf, Mann. Ich hab' schließlich fünf Pfund auf diesen Gammelkahn gesetzt.« »Sie schafft es«, sagte der Segelmacher. »Munro wird bei acht Glasen reffen lassen.« »Das kann er gefälligst mit seiner verdammten Wache machen.« »Dazu wird er alle Mann an Deck brauchen. Hol's der Teufel, das bringt uns um unsere Mütze voll Schlaf.« »Sie schafft es, sage ich euch«, wiederholte der Segelmacher. »Das hier ist Starkwind, kein Sturm.« Um drei Uhr zog die Kaltfront über die Erl King hinweg, fegte die Wolkendecke beiseite und legte einen Dreiviertelmond und das Kreuz des Südens frei. Hoch aufgetürmte, scharf abgegrenzte Kumuluswolken reckten sich mondbeschienen in den samtenen Himmel. Die eisige Luft überfiel das Schiff fast so plötzlich und mit der gleichen Gewalt wie ein Gischthagel. Talham sinnierte über diesen abrupten Wetterumschwung nach. Noch vor drei Tagen hatte sich der Klipper majestätisch im warmen Passat gewiegt... Dann erschauerte er, drehte sich um und stapfte nach achtern. »Können Sie immer noch Kurs halten?« »Aye, Sir, gerade so...« Plötzlich waren sie in Dunkel gehüllt. Eine hohe, amboßförmige Gewitterwolke mit gleißendem Rand hatte sich drohend vor den Mond geschoben. Aber das Wüten der Elemente in diesem Riesen war auch an seiner Peripherie sichtbar. »Wahrschau - Gewitterbö! Ist gleich über uns!« Taiham stolperte zur Querreling, um die Freiwache in der Kühl vorzuwarnen, daß sie gleich gebraucht wurde.
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»Tee, Sir?« Um Haaresbreite konnte er den Zusammenstoß mit Kadett Walker vermeiden. »Danke. Warnen Sie die Leute vor der Bö. Wir müssen vielleicht die Brassen fieren.« Er nahm den glühendheißen Tee, beugte sich über seinen Dampf und deutete mit einem Nicken nach Luv, wo der Wolkenschatten eine dunkle Bahn über die silberne See warf. Der Kadett drehte sich um, war aber noch nicht am Niedergang angekommen, als die Bö über sie herfiel. Erl King bockte und holte so weit über, daß die Leereling unterschnitt und die See auf gleicher Höhe mit dem Deck vorbeirauschte. Gurgelnd ergoß sich das Wasser durch die Speigatten, wie Rauch wurde die Gischt von den Wellenkämmen nach Lee gerissen, und das ganze Rigg schien ächzend gegen die Belastung zu protestieren, die es plötzlich zu verkraften hatte. Talham, der über seinen Tee gebeugt stand, strauchelte, goß sich das kochendheiße Gebräu über die Hand und fluchte. Die winzige Ablenkung - Talhams Straucheln und sein Verschwinden hinter dem gewölbten Dach des Niedergangs - ließ den Rudergänger eine Sekunde zögern. Sofort fiel Erl Kings Bug nach Lee ab, und das Schiff legte sich, weil die Bö nun achterlicher einfiel, noch mehr auf die Seite. Talham schlitterte übers Deck, prallte gegen einen Lüfter, ließ den Teebecher fallen und schlug mit dem Kopf gegen einen Wantenspanner. Der Rudergänger kurbelte am Rad, verzweifelt darum bemüht, das Schiff zurück auf Kurs zu bringen, aber es gehorchte ihm nicht mehr, sondern fiel immer weiter ab, weil die großen Untersegel es so stark nach Lee zogen, daß die Gegenwirkung des Besans nicht mehr ausreichte. Das schmale Ruder biß jetzt in das kochende Wasser unterm Heck und hatte kaum noch Wirkung. »Anluven, anluven!« Der Segelmacher stolperte nach achtern, rannte gegen den noch benommenen Talham, schob ihn zur Seite und warf nur einen Blick auf die Besanschot. Sich umdrehend, brüllte er seinen Wachgängern zu: »Werft den Fockhals los!« Die Bö gönnte ihnen keine Atempause, sie hatte den Starkwind zum Sturm anschwellen lassen. Von unten kündete berstendes Geschirr davon, daß Osman unerledigten Abwasch im Spülbecken stehen hatte, und auch vom Achterdeckslogis drangen Geräusche zu ihnen herauf. Sie hörten Mai Li
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aufschreien, dünn und verzweifelt, und durch den Lüfter dröhnte das Gebrüll Enrights. Dann war Munro an Deck, noch halb benommen vor Schlaf, verzweifelt mit seinem Ölzeug kämpfend, das eher dem Wind als ihm zu gehorchen schien. »Anluven, zum Teufel!« schrie er dem Rudergänger zu, ohne den Segelmacher auf der Poop sehen zu können. »Sie reagiert nicht, Sir!« rief der Rudergänger verzweifelt. »Vorn werfen sie gerade den Fockhals los!« Munro hatte es inzwischen geschafft, seine Öljacke zuzuknöpfen, und kletterte auf die Poop, wo er den Segelmacher und Talham vorfand. »Was zum Teufel ist los?« »Bö hat sie flachgelegt... Nicht sicher...« murmelte Talham. »Der Dritte ist gestürzt«, berichtete der Segelmacher. »Die Wache versucht da vorn den Fockhals loszuwerfen.« »Verdammte Scheiße!« Erl Kings Steuerbordbug grub sich bis zur Reling ins Wasser. Dicht hinter der Steuerbordleiter zum Vorschiff ergoß sich grünes Wasser an Deck. Die grüne Steuerbordlampe beschien geisterhaft eine Wasserwand und erlosch. Das Schiff durchschnitt die See, zwang den Bug durch die Welle und kam wieder frei, als sein Vorfuß, eben noch unter Wasser, ins Freie schoß. Das Wasser in der Kühl gurgelte nach achtern und ließ die Klappen der Speigatten laut schlagen. Auf der Steuerbordleiter hatte ein Mann gestanden. Munro war sich da ganz sicher: ein schwarzer Schatten, der sich nach vorn kämpfte, um den Befehl des Segelmachers auszuführen. Männer hatten sich in Luv Hand über Hand am Strecktau nach vorn gehangelt, doch einer hatte, die Kombüsentür auf der Steuerbordseite des Deckshauses offen lassend, die Abkürzung in Lee genommen. Munro war ganz sicher, die Gestalt noch gesehen zu haben, bevor der Bug sich freikämpfte, doch jetzt war die Leiter leer. Er wandte sich um und beugte sich übers Steuerbordschanzkleid. Plötzlich war sein Mund trocken, entsetzlich trocken. »Ist alles in Ordnung?« Plötzlich war Hannah da, aus dem vorderen Niedergang geklettert, und streckte in der Dunkelheit eine Hand nach ihm aus, als spiele sie Blindekuh. »Großer Gott!« Munro sah den Mann nur einen Moment, sah ihn auf gleicher Höhe mit sich selbst, nicht mehr als zwanzig Fuß entfernt, ein
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schwarzer Umriß im schäumenden Weiß der kochenden See. Dann war er fort, weit achteraus zurückgeblieben. Im Schock durchfuhr Munro der einfältige Gedanke, daß der Mann vielleicht eine Chance gehabt hätte, wenn sie eine Logleine nachgeschleppt hätten. »Alles in Ordnung?« wiederholte Hannah. »Wie kommt es, daß das Schiff dermaßen bockt?« Munro, der sich wieder nach vorn wandte, spürte ihre klammernden Hände. »Herrgott, so laß mich doch!« Grob schob er sie zur Seite. Da es etwas heller wurde, sah er, daß die Leute auf dem Vorschiff es geschafft hatten, die Fock zu befreien. Nicht länger niedergezwungen, flog ihre Luvseite hoch und riß Schot und Hals mitsamt den Blöcken und Schäkeln in einen mörderischen Tanz. »Gei auf die Fock!« brüllte Munro durch die zum Trichter geformten Hände. »Die Jungs wissen schon, was sie zu tun haben, Mr. Munro«, rief der Segelmacher neben ihm, und vom Rad kam der jubelnde Schrei des Rudergängers: »Sie reagiert! Sie reagiert wieder!« Von der gewaltigen Hebelkraft ihrer Breitfock befreit, begann die Erl King wieder dem Ruder zu gehorchen. Nur der Gedanke an den noch Unbekannten, der jetzt achteraus in der Weite des Ozeans ertrank, dämpfte Munros Erleichterung. »Mr. Talham!« rief er rauh. »Lassen Sie antreten zum Abzählen.«
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12 »Er hieß gar nicht Andrew Johnson.« Mit versteinertem Gesicht blickte Hannah von der Musterrolle auf. Irgendwie schockierte sie der Gedanke, daß ein Mann bei seinem Tod eine neue Identität annahm. »Nein.« Munro beendete seinen Eintrag ins Logbuch und hielt ihr den Federhalter hin. Ihre Blicke trafen sich. Kummer, Angst, der Schock und die große Verantwortung hatten ihre Züge gemeißelt und ihnen eine eigenartige Schönheit und Reife verliehen. Trotz ihrer männlichen Aufmachung hatte Munro sich noch nie so stark von ihr angezogen gefühlt wie in diesem Augenblick. Doch er schob den Gedanken als unpassend beiseite. Er hatte sie enttäuscht, er hatte sich selbst enttäuscht - und vor allem hatten sie einen Mann verloren. »Sie müssen den Eintrag unterschreiben«, drängte er, auf das Logbuch deutend. »Als Kapitän«, fügte er für den Fall hinzu, daß sie in ihrem Schock die Bedeutung ihrer Aufgabe nicht erfassen würde. Sie schob die Musterrolle beiseite, und er las darin: Andreas Jansen, Vollmatrose, geb. Maasluis 1845, nächste Verwandte: Mutter, wohnhaft Schiedam. Heuer 2 Pfund im Monat, zahlbar an nächste Verwandte. Hannah tauchte die Feder ein und zog das Logbuch zu sich heran. Munro hatte geschrieben: »Andreas Jansen, bei schwerem Wetter über Bord gegangen...« »Sie brauchen nur zu unterschreiben«, drängte er. »Er war erst vierundzwanzig«, sagte Hannah, während sie unterschrieb. »Ja. Und er war ein guter Mann.« »Nicht eben viel für einen Nachruf. Seine arme Mutter... Wo ist Schiedam?« »In der Nähe von Rotterdam.« Munro beugte sich zu Hannah hinunter, um ihr das Logbuch aus den Händen zu nehmen. Plötzlich hielt sie es fest und zwang ihn dadurch, sie anzuschauen. »Ist es meine Schuld?« fragte sie, von einer plötzlichen Schwäche ergriffen. »Habe ich den Tod dieses Mannes verschuldet? Machen Sie mir einen Vorwurf?« »Weil Sie das Rennen fortgesetzt haben?« »Ja. Und ihn damit getötet habe.« Sie deutete mit einem Nicken auf den Namen im Logbuch. »Ich glaube nicht, daß ich es
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ertragen könnte, wenn es so wäre«, flüsterte sie. Munro schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist meine Schuld, weil ich Sie weitermachen ließ. Außerdem hätte ich letzte Nacht reffen müssen.« Sein verbitterter Ton verriet die Selbstvorwürfe, die er sich machte. Mit einer verwirrenden Logik fuhr Hannah fort: »Hätte mein Vater reffen lassen?« Ein Klopfen unterbrach sie. Der Zimmermann steckte den Kopf durch die Tür. »Entschuldigung, Mr. Munro... Madam - ich wollte nur melden, im Rigg ist alles intakt. Keine Risse oder Sprünge.« Immerhin ein winziger Trost, dachte Munro, daß die Erl King eine solche Höllenfahrt überstehen konnte. »Danke, Chippy.« Aber der Zimmermann blieb noch verlegen stehen. »Tut uns allen leid, Madam, das mit Andy.« Er versuchte zu lächeln. »So was passiert eben. Muß man mit rechnen, leider.« »Danke«, flüsterte Hannah und wiederholte, kaum daß der Zimmermann gegangen war, ihre Frage. »Hätte mein Vater gerefft?« »Das weiß ich nicht.« Doch nach kurzem Überlegen fuhr Munro überzeugt fort: »Nein, nicht bei Einbruch der Dunkelheit. Aber er wäre die ganze Nacht an Deck geblieben und hätte gleich bei den ersten Anzeichen einer Bö etwas unternommen.« Er schwieg einen Moment und fügte dann mit festerer Stimme hinzu: »Es war mein Fehler, weil ich mich auf Talham verlassen habe.« Er spürte ihre Finger an seinem Handgelenk. »Es war mein Fehler, Hannah«, wiederholte er, um sie zu überzeugen und ihr das Schuldgefühl zu nehmen. »Und Sie dürfen einfach nicht zulassen, daß Ihnen Jansens Tod so auf der Seele lastet. Bei unserer Lebensweise, bei dieser Isolierung, kann man leicht durchdrehen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Seeleute Depressionen bekommen, ganz besonders Kapitäne. Ich kannte einen, der ist über Bord gesprungen.« Er brachte ein aufmunterndes Lächeln zustande. »Sich aussprechen hilft...« Sie nickte und dachte an Mai Li. »Ja. Ja... Das hilft.« Munro riß sich zusammen und verstaute das Logbuch im Regal. Aber sein Herz hämmerte, als er sie seufzen hörte. »James...« Zum erstenmal nannte sie ihn beim Vornamen. Aber da wurde die Tür nach einem kurzen Klopfen aufgerissen, und Kadett Stokes stand tropfend und mit weit aufgerissenen Augen auf der Schwelle. »Segel voraus, Mr. Munro!« rief er. »Sieht aus wie die
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Seawitchl« Damit polterte er den Niedergang ebenso hastig wieder hoch, wie er gekommen war. Im nächsten Augenblick rannte Munro hinter ihm her. »Wie es wohl ist, zu ertrinken? Angeblich soll dann das ganze Leben noch mal an einem vorbeiziehen.« »Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Andy war ein guter Mann, aber Flennen macht ihn nicht wieder lebendig.« Das Thema ödete Mr. Duke hörbar an. »Ach, leck mich«, antwortete Gopher Stackpole trotzig. »Schlaf endlich. Ich möchte noch lesen.« Der sich anbahnende Streit wurde durch ein Krachen beendet. Die Tür zum Niedergang flog auf, ein kalter Luftzug und feiner Gischt drangen ins Vorschiffslogis. »Was soll denn das, verflucht noch mal!« Gopher unterbrach seine Betrachtung von Mr. Dukes einladender Kinnpartie. »Alle Mann an Deck! Los, los, ihr Faulpelze, alle Mann!« »Wieso denn? Zum Teufel, wir haben doch gerade erst eingetörnt!« Beine schwangen sich aus den Kojen, seufzende Bündel Unterzeug verwandelten sich in fluchende Männer, die sich in Stiefel und Ölzeug zwängten. »In Lee voraus ist die Seawitch !« Munro hatte alle Mann an Deck rufen lassen, sowie er das ferne Schiff sichtete. Ganz zweifellos war es die Seawitch, und die freudige Erkenntnis, daß sie ihrem Rivalen gegenüber dreihundert Meilen aufgeholt hatten, verdrängte jeden Gedanken an den Ertrunkenen. Nach dem Unfall hatte Munro verspätet reffen lassen. Nachdem Klüver, Bramsegel und Großsegel geborgen waren, hatte er das Schiff unter Sturmbesegelung weiter am Wind laufen lassen, was ihnen jetzt leichter fiel, weil er einen Strich rückgedreht hatte; aber seine zunehmende Stärke hatte eine rauhe See aufgeworfen, gewaltige Hügel von schaumgekröntem Grau rollten gegen die Erl King an, die immer noch mit der Leereling unterschnitt. Doch weder der grobe Seegang noch das Reffen hatten ihre Fahrt verlangsamen können. »Wenn dieser Wind durchsteht«, schrie Munro Talham zu, »sichten wir morgen bei Tagesanbruch die Küste von Natal.« »Aber wie«, fragte Hannah, die sich auf dem stark überliegenden Deck zu den beiden Offizieren vorgearbeitet hatte, »wie haben wir ihn denn eingeholt?« »Nicht lange fragen, Madam«, Talham grinste wie ein Affe mit dem ganzen hübschen Gesicht, »nur einfach Gott danken.«
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Segel um Segel tauchte über der Kimm auf, als sie ihren Gegner langsam einholten. Auch Richards lief unter Sturmbesegelung, doch gegen Mittag, als der jeweilige Gegner schon für jedermann von Deck aus sichtbar war, sahen die Beobachter auf der Erl King, daß an den vorderen Stagen ihres Rivalen Klüver und Binnenklüver emporstiegen, wild hin- und herdreschend, dann gebändigt und schließlich den Bug der Seawitch anhebend, so daß sie ihren Abstand als führendes Schiff halten konnte. »Hat er etwa auf uns gewartet?« fragte Hannah, die Munro bei seiner Nachmittagswache Gesellschaft leistete. »Natürlich nicht«, lachte Munro, dessen Selbstvertrauen nun, da sie Richards und seinem Schiff so nahe gekommen waren, gewaltigen Auftrieb gewann. Trotzdem wußte er, daß es Glück und nicht seine eigene Erfahrung gewesen war, was die Lücke zwischen den beiden Schiffen geschlossen hatte. Aus dem Drang nach Wiedergutmachung für Jansens Tod blieb Munro die ganze Nacht an Deck, im Kapitänsstuhl dösend oder den Blick, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, auf das Hecklicht ihres Rivalen geheftet. Hin und wieder öffnete sich der Peilwinkel so weit, daß sie sein rubinrotes Backbordlicht erkennen konnten, dessen Sichtbereich bis zwei Strich achterlicher als dwars reichte. Doch immer wieder verschwand es schnell, höhnisch blinzelnd wie das Auge einer Hure, und der Winkel schloß sich erneut. Bei acht Glasen, als Munro nach dem Wachwechsel gerade Porridge und Sirup in sich hineinlöffelte, kam vom Ausguck der Schrei: »Land in Sicht!« Quer vor ihrem Bug lag, verschwommen zunächst, der Kontinent Afrika, eine wellige graue Linie, die mit zunehmender Helligkeit Gestalt annahm und sich als der grüngraue Hochveld der Provinz Natal entpuppte. Als die Sonne höherstieg und das ferne Hochland erwärmte, kam eine Seebrise auf, der Wind drehte etwas, und der aufmerksame Richards ließ die Bramsegel setzen. Während sie sich der Küste näherten, ließ er langsam nach, um sich schließlich als steife Brise zu stabilisieren. Mittags waren beide Schiffe bis zu den Royals in Tuch gekleidet. Binnen- und Außenklüver stiegen empor, Fock und Großsegel wurden um Leesegel verbreitert. Konzentriert widmete Munro seine ganze Aufmerksamkeit dem eigenen Schiff, dem Stand jedes Segels, dem Winkel jeder Rah, dennoch behielt er die Seawitch dabei scharf im Auge.
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Sie war ein wundervolles Schiff, in der Tonnage etwas größer als die Erl King, mit schärferen Linien und einer um sechs Fuß längeren Wasserlinie, ein Holzbau von erprobter Stärke und Widerstandskraft, geführt von einem Kapitän, der in der Chinafahrt, die für das Können ihrer Kapitäne berühmt war, als einer der Besten galt. Mit ihrem etwas volleren Rumpf glich die Erl King die feineren Linien ihres Konkurrenten durch geringere Verdrängung aus, ein durch ihre Kompositbauweise ermöglichter Vorteil. Bei den wechselnden Bedingungen der Chinafahrt verhalf jeder der nicht unproblematischen Kompromisse dem einen Schiff unter bestimmten Umständen zu einer kleinen Überlegenheit, die es bei anderen Gegebenheiten dann wieder einbüßte. Beide Schiffe besaßen hohe Untermasten und tiefe Loskiele, weshalb sie nicht nur als gute Amwinder bekannt waren, sondern auch für ihre Kursstabilität. Munro war sich nur allzu bewußt, daß der Hauptunterschied zwischen den beiden Rivalen im Augenblick lediglich in der Schiffsführung bestand. Doch trotz aller Geschicklichkeit und Erfahrung, über die Richards verfügte, gab es, wie Munro wußte, noch andere Faktoren, die bei einem Wettrennen zum Erfolg eines Schiffes beitrugen. Von den Unwägbarkeiten wie Wind und Wetter einmal abgesehen, spielte auch Glück eine Rolle. Glück war die große Unbekannte: unbeweisbar, immateriell, schimärenhaft, existierte es dennoch, wie jeder Seemann wußte. Und dieses Glück pflückte man nicht einfach aus der Luft, auch wurde es einem nicht von einem Beauftragten der Vorsehung verliehen. Der Mensch, so hieß es, war seines Glückes Schmied. Gemeint war damit, daß die Mischung aus wahrgenommenen Chancen, Selbstvertrauen und Schicksal stimmen mußte. Als Munro die Seawitch an diesem Vormittag beobachtete, betete er deshalb um Glück, das ihm, wie er genau spürte, in seiner jetzigen Lage noch fehlte. Hier, mit der Seawitch in Lee, war die ersehnte Chance. Daß ihr Rivale aus welchen Gründen auch immer seinen Vorsprung verloren hatte, gab Munro das nötige Selbstvertrauen. Alles, was sie jetzt noch brauchten, war ein Trick, ein Kniff, wie Hannah es genannt hatte, um Dandy Dick auszustechen. Richards war ein Mann, der sein Schicksal in die eigenen Hände nahm. Das hatte er in der Taverne von Schanghai bewiesen, und Munro wurde jetzt noch rot, wenn er an seine Demütigung und an Hannahs Verwirrung dachte. Er hatte es in Futschau bewiesen, in Chas Atelier, und vor der Küste Kotschinchinas, so daß er mit fast
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zwei Tagen Vorsprung Anyer Lor hatte passieren können. Fast hätte Munro mit den Zähnen geknirscht, als er sich all dieser
Dinge entsann. Und doch... Hier waren sie nun, jagten fast Kopf an Kopf auf das Kap zu, liefen südwärts mit dem Agulhasstrom und würden bald die Spitze Afrikas runden und danach auf den Atlantik zuhalten. Der Gedanke daran ließ Munros Herz heftig schlagen und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf sein eigenes Schiff. »Lee-Großbrasse etwas dichter, Mr. Harris, wenn ich bitten darf. Danach können Sie das Bagiensegel setzen.« Das Bagien- oder Kreuzsegel deckte häufig das Großsegel ab und bremste damit die Fahrt des Schiffes, jetzt aber stand der Wind genau richtig dafür. »Gordon! Stokes! Nach achtern zum Loggen!« Von den Nagelbänken mittschiffs kamen die Wachgänger, stiegen über die Querreling auf die Poop und enterten lachend im Kreuzmast auf. Munro stand neben dem Rudergänger und schaute zu, wie sie auf der Bagienrah auslegten und die Zeisinge loswarfen. »Laß fallen!« Das Segel sackte in seinen Gordings herunter, füllte sich und schlug hin und her, bis Gordings und Geitaue ausliefen und die beiden unteren Segelecken durch Schoten und Halsen justiert waren. Sobald das Segel zog, drehte Munro sich um. »Laßt ihr einen Moment Zeit, bis sie mehr Fahrt aufgenommen hat!« rief er den beiden Kadetten zu. Fünf Minuten später ließ Gordon, nachdem er das Logscheit aufgesteckt hatte, die Logleine nach achtern auslauten, während Stokes die Rolle hielt. Im Kielwasser auf - und abtanzend und eine kleine weiße Feder auf werfend, erregte das Logscheit die Aufmerksamkeit eines Albatros. Mit reglosen Schwingen segelte der riesige Vogel seitwärts herbei, aber sein krummer gelber Schnabel trachtete vergeblich nach der Beute. Gordon holte das Logglas aus dem Kartenhaus. »Laß laufen!« Das Logscheit grub sich ins Wasser und riß die Leine von der Rolle. »Umdrehen!« Sie beobachteten das Logglas, eine Sanduhr im Holzrahmen, während die Leine achteraus zog und Knoten um Knoten abspulte, bis fast aller Sand herabgerieselt war.
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»Achtung... Stopp!« Munro hielt selbst die Leine fest, riß daran, um das Scheit zu kippen, und übergab die nun ruckende Leine Gordon. »Holt ein und zählt die Knoten noch mal nach.« Keuchend kam Gordon ein paar Minuten später zu ihm auf die Poop und berichtete mit blitzenden Augen: »Siebzehn, Sir.« »Siebzehn... Sehr gut. Und jetzt gehst du nach vorn und sagst den Leuten, daß sie ihre Hemden ins Rigg hängen sollen. Mal sehen, ob '' wir dann nicht achtzehn Knoten schaffen.« Der Verlust von Andreas Jansen war endgültig aus Munros Gedanken verbannt. Der Anblick der Seawitch hatte Hannah in Unruhe versetzt. Nun, da sie Kapitän Richards' Position kannte, erinnerte sie sich wieder einmal an den Ursprung des Rennens und die Folgen für den Verlierer. Sie hätte den konkurrierenden Klipper gern durch das große Fernrohr betrachtet, doch die Vorstellung, die graugekleidete Gestalt so nahe vor sich zu sehen, sandte ahnungsvolle Schauer über ihren Rücken. So ging sie statt dessen nach unten, um sich neben Len-Kuas ausgemergelten Körper zu Mai Li zu setzen. Der alte Chinese lag ausgestreckt auf seiner Koje und erinnerte sie an die Steinfigur auf dem Sarkophag eines Adligen. Sein dünner Schnauzbart umrahmte blutleere Lippen, und seine Haut spannte sich wie dünnes Pergament über dem Schädel. Im grünlichen Licht der Kabine wirkte sie fast durchsichtig, was ihr eine so seltsame Schönheit verlieh, als schimmere die darunter glühende Seele durch. Hannah fand es unmöglich, eine Verbindung herzustellen zwischen dieser traurigen, wenn auch würdigen Gestalt und dem Mann, dessen phantasievolle Ansprüche Mai Lis beste Jahre verbraucht und sie mit einem so reichen Fundus an Anekdoten ausgestattet hatten. Jetzt war nichts Lüsternes mehr an diesem Kopf oder diesen Händen, die auf dem flachen, sich unter der Seidenrobe schwach hebenden Brustkorb lagen. Von Zeit zu Zeit lächelte Hannah Mai Li ermutigend zu. Sie empfand aufrichtige Zuneigung für die kleine Chinesin mit dem geölten Haar und dem geschminkten Gesicht, die ihr Bestes gab für diesen Mann, den sie »Herr« nannte. Obgleich sie es nicht völlig verstand, spürte sie etwas Nobles in Mai Lis Ergebenheit. Gerührt beugte sie sich vor und berührte ihre Hand. »Geh ruhig nach oben, Mai Li, frische Luft atmen. Machen
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besser. Du sitzt schon zu lange hier unten. Ich warte hier.« Allein zurückgeblieben, saß Hannah eine Weile regungslos da, bis das Schlagen des Bagiensegels sie aus ihrer Träumerei riß. Sie stand auf, um ihre steif gewordenen Glieder zu strecken, und versuchte dann, durchs Bullauge nach der Seawitch auszuspähen, aber das kleine Fenster lag die meiste Zeit unter Wasser. Wenn die Erl King in regelmäßigen Abständen ihr langes Achterschiff hob, durchflutete heller Sonnenschein die eben noch in meergrünes Dämmerlicht getauchte Kabine. Als das Schiff einmal besonders hoch emporgetragen wurde, bekam Hannah die Seawitch zu sehen. Aufgeregt beugte sie sich über Len-Kuas stillen Körper zum Bullauge vor und wartete darauf, daß die Erl King sich erneut heben würde. Die starke Dünung, die sich auf dem flachen Küstengewässer aufgebaut hatte, drückte sie hoch empor, und Hannah entfuhr ein leiser Laut des Erstaunens, als sie sah, wie weit sie schon aufgeholt hatten; sie konnte Richards jetzt tatsächlich mit bloßem Auge auf seiner eigenen Poop erkennen! Dann war er wieder verschwunden, und mit einem dumpfen Klatschen an der Bordwand wurde die Kabine erneut in dunkelgrünes Dämmerlicht getaucht. Aber gleich danach sah sie ihn wieder. Sie wußte genau, daß es Richards war: eine einsame Gestalt, die auf der Backbordseite des Achterschiffs stand und in das Wasser zwischen den beiden Klippern starrte. Sie liefen nun Annäherungskurs, und der Abstand zwischen ihnen verringerte sich schnell. Sollte sie an Deck gehen? Nein! Es hatte etwas Erregendes, den Mann auszuspähen, während ihr Schiff dabei war, seines zu überholen. Sie würde gleich nach oben gehen, aber noch nicht jetzt. Im Moment konnte sie sich noch heimlich an diesem Schauspiel erfreuen und sehen, aber nicht gesehen werden. Ihr Herz hämmerte. Der Anblick seines schwarzen Schnauzbarts wirkte seltsam stark auf sie und rief in ihr das Verlangen zurück, das Munro in Schanghai behutsam geweckt hatte und das in Futschau durch Chas Erotika verstärkt worden war. Wieder nahm ihr eine gegen die Bordwand klatschende See vorübergehend die Sicht. Sie schloß gerade die Augen, als sie plötzlich eine sanfte Berührung spürte. Erschreckt schaute sie nach unten und sah im soeben wieder einströmenden Tageslicht, daß Len-Kuas asketische Hände ihre Brüste streichelten. Die Erl King schlingerte nach Lee, so daß sie sich nicht befreien konnte. Aber sie wollte es auch gar nicht, denn ihr Lustgefühl war so
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überwältigend, daß sie über den alten Mann gebeugt stehenblieb und ihm erlaubte, mit den langen Nägeln seiner Finger ihren Busen zu umfassen. Len-Kua war keine Bedrohung, und Enright hatte sie vergessen, jedenfalls bis zu diesem Augenblick. Erst die Wellen der Lust, die sie durchströmten, erinnerten sie wieder an seine Worte: »Ich verspreche, daß es dir Spaß machen wird.« Len-Kuas dunkle, umwölkte Augen starrten ungerührt nach oben, seine Hände kneteten ihre Brüste, und sie sah, wie er die Lippen bewegte. »Du bist sehr schön... Mein ganzes Leben war ich neugierig auf englische Frauen.« Tränen der Scham stiegen ihr in die Augen. Wieder drang Tageslicht in die Kabine, und sie entwand sich ihm, nach Atem ringend. Aber Len-Kua ließ sie nicht los, als sie zurückwich. Plötzlich schlingerte das Schiff und schleuderte sie durch die Kabine an die gegenüberliegende Wand. Len-Kua hatte den Kopf vom Kissen gehoben und schaute sie an, die alten Hände noch immer nach ihr ausgestreckt. Da tastete sie zitternd hinter sich nach dem Türknauf. Als die Erl King ihr Heck wieder in die See grub, verließ Hannah fluchtartig Len-Kuas Kabine. An Deck hob Munro das Megaphon und lächelte Mai Li zu. Die zarte Chinesin klammerte sich an das Backstag der Kreuzstenge, ihre gelbe Seidenrobe flatterte wie ein Gebetsmantel im Wind. »Wie geht es Len-Kua, Mai Li?« »Er mehr krank, Mr. Munro... Nicht gehen besser, bald müssen sterben.« »Tut mir leid.« Hastig drehte Munro sich um. Er konnte jetzt deutlich die Poop der Seawitch erkennen, denn Richards hatte weiter angeluvt und versuchte nun, Erl Kings Kurs zu kreuzen. »Da steht Richards, ganz hinten, und hält das Fernrohr genau auf uns gerichtet«, preßte Talham durch die Zähne, während er seinerseits durchs Teleskop hinüberstarrte. »Ja.« Munro hob das Megaphon. »Kapitän Richards, können Sie mich verstehen?« Sie sahen, wie Richards das Fernrohr sinken ließ und die Hand gebieterisch nach einem Megaphon ausstreckte. »Ja, ich verstehe Sie.« »Wir hörten in Anyer Lor, daß Sie vor uns lagen.« »Was hat Sie im Chinesischen Meer aufgehalten?« »Was soll ich darauf antworten?« wandte sich Munro an Talham, denn ihm fiel so schnell keine schlagfertige Antwort ein. Aber
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Richards ließ ihm gar keine Zeit dazu. »Ich sehe Kapitän Kemball nicht auf der Poop«, fuhr er fort. »Ist er krank? Ist es das, was Sie aufgehalten hat?« Munro atmete tief durch und rief hinüber: »Kapitän Kemball ist tot... Wir sind von Piraten überfallen worden.« »Sagen Sie ihm, daß ich das Kommando führe.« Munro drehte sich um. Hinter ihm stand Hannah und hielt sich mit einer Hand am Niedergang fest. Die Sergehose ihres Vaters steckte in übergroßen Seestiefeln, ihr Haar wehte im Wind, und sie trug keine Jacke. »Wer hat jetzt das Kommando?« rief Richards. »Sagen Sie's!« befahl Hannah gebieterisch. Ergeben hob Munro wieder das Megaphon. »Miss Kemball hat das Schiff übernommen...« »Was?« Richard's legendäres Gebrüll machte jedes Megaphon überflüssig. »Was ist denn mit euerm Ersten?« Hannah schob sich vom Niedergang zum Schanzkleid und nahm Munro das Megaphon aus der Hand. »Können Sie mich hören, Kapitän Richards?« »Aye, Madam... Mein Beileid...« Hannah überging die leere Floskel. »Die Erl King führe jetzt ich, Kapitän Richards, und die Bedingungen bleiben dieselben.« »Sie wollen das Rennen fortsetzen?« rief Richards ungläubig. »Merken Sie das nicht? Wir nehmen Ihnen doch gerade den Wind aus den Segeln!« Hochrufe schallten über das zwischen den beiden Schiffen dahin-schießende Wasser. Hannahs Mannschaft hatte sich an der Leereling aufgereiht, winkte mit Mützen und Händen und hängte Leinen über die Bordwand, um dem Rivalen zu bedeuten, daß man ihn abschleppen würde. Jede Menge anzügliche oder unverschämte Bemerkungen flogen zur Seawitch hinüber. »Abwarten, Miss Kemball, abwarten...« Richards drehte sich um und sagte etwas zu seinen Offizieren. »Kapitän Richards«, rief Hannah, plötzlich keck geworden. »Der Einsatz bleibt derselbe!« »Hannah!« protestierte Munro scharf. Richards drehte sich wieder zu ihr um. »Auf Wiedersehen in London, Madam«, brüllte er. »Das facht seine Eitelkeit an«, sagte sie erläuternd zu Munro und übergab ihm das Megaphon. Der Zweite hatte wieder seinen verletzten Blick. Genervt fragte sie: »Also, Mr. Munro, was meint er mit ›abwarten‹?«
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»Wir laufen Bug an Heck - Madam«, erwiderte Munro mit kalter Förmlichkeit. »Er wird anluven, bis er genau vor uns ist, und dann über Stag gehen.« »Warum?« Munro zuckte die Achseln. »Um uns einzuschüchtern, vermutlich.« »Aber wenn er einen Strich höher am Wind segeln kann, können wir das auch! Dann laufen wir parallel zu ihm und können ihn abdecken. Das haben wir doch schon mal gemacht.« Skeptisch blies Munro die Backen auf. »Ja...«
»Eben. Also sorgen Sie dafür, Mr. Munro. Einen Strich höher, wenn ich bitten darf.« Aber Munro zögerte noch und starrte Hannah an. Was war bloß in dieses Teufelsweib gefahren? Ihr Hemd stand am Hals offen und... »Mr. Munro!« Nie hatte er sie so entschlossen gesehen. Lag es an diesem verdammten Richards? In Munro begann Eifersucht zu nagen, ein Gefühl, das er seit Futschau begraben wähnte. »Ihnen muß kalt sein, Madam«, sagte er und wandte sich ab. »Klar bei Brassen! Neuer Kurs Südwest, ein halb West!« Hannah war auf dem Weg zum achteren Niedergang und dem Kartenhaus, als Mai Li ihr auf der Treppe entgegenkam. Sie wirkte aufgeregt. »Missie Hannah!« »Ja, Mai Li? Was ist?« »Mr. Len-Kua... Er mehr besser...« »Besser?« Hannah runzelte die Stirn. Mai Li nickte mit glänzenden Augen. »Missie Hannah an Deck kommen, ich nach unten gehen. Len-Kua sein sehr glücklich. Er sagen danke. Ich sagen danke...« »Mai Li, ich verstehe nicht.« Ihr peinliches Lustgefühl unter den Händen des alten Mannes konnte doch kaum etwas mit Mai Lis Andeutungen zu tun haben? »Len-Kua mir sagen, Missie Hannah.« Mai Li senkte scheu den Blick. »Ich wissen... Len-Kua mehr besser jetzt.« Erstaunt starrte Hannah auf die kleine Frau hinunter. Ihr Gesicht strahlte, ganz im Gegensatz zu Munros düsterer Eifersucht. Was immer sie selbst von diesem Zwischenfall hielt, sein therapeutischer Wert für Mai Li und Len-Kua war jedenfalls unbestreitbar. Hannah fühlte den überwältigenden
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Drang zu lachen, und Mai Li stimmte mit ihrer hellen Glockenstimme ein. Als sie sich beruhigt hatten, fragte sie: »Mai Li, was hat Len-Kua denn nun wirklich gefehlt?« Mai Li wischte sich die Tränen der Erleichterung aus dem Gesicht. Sie rückte dichter an Hannah heran und flüsterte: »Len-Kua rauchen Opium... Aber Opium sein schon lange alle-alle... Er deshalb sehr krank, nicht können...« Hannah runzelte die Stirn. »Nicht können was?« »Fickfick. Aber ganz besser jetzt.« Hannah richtete sich auf. So war Len-Kua also durch Entzugserscheinungen so entkräftet gewesen, nicht etwa durch eine Krebserkrankung. Sie hatte mitfühlend bei einem Süchtigen gesessen, während ein anderer, nur durch den Gang von ihm getrennt, aus dem gleichen Grund unter Arrest stand. Und das, was sie Enright verweigert hatte, wäre Len-Kua ums Haar zuteil geworden. Welche Ironie... Einen Augenblick regten sich in Hannah wieder Schuldgefühle wegen ihrer Sinnlichkeit, doch sie schwanden schnell angesichts der selig lächelnden Mai Li. Statt dessen erkannte Hannah plötzlich, welche Macht ihr durch ihre eigene erotische Ausstrahlung verliehen war. »Wir sind auf dem neuen Kurs, Miss Kemball.« Munro schob den Kopf durch den Niedergang über den beiden Frauen und starrte betont an ihr hinunter. Hannah merkte, daß ihr Hemd offenstand. »Danke, Mr. Munro«, sagte sie und starrte ihn nieder. Er machte eine knappe Verbeugung und verschwand. Jetzt begriff sie schon eher, was er empfunden hatte, als er ihr damals beim Spaziergang durch Schanghai den weiblichen Schönheitsbegriff der Chinesen zu erläutern versuchte. »Was Ihre Maße anbelangt«, hatte er damals gesagt, »so wirken sie auf Chinesen beinahe gigantisch.« »Ach, Missie Hannah, ich vergessen... Len-Kua dir versprechen hundert Pfund, wenn du kommen London Nummer eins.« Hannah lächelte reuig. »Bitte sag' Mr. Len-Kua meinen Dank. Du hast recht, Mai Li, er ist ein wahrer Gentleman.« Und genau das war es natürlich, was den Unterschied zwischen ihm und Enright ausmachte. Enright hatte einiges von der Begegnung mit der Seawitch mitbekommen und erfuhr von Osman noch ein paar Einzelheiten. Sein Bewußtsein war jetzt wieder klar, und die Wunde heilte langsam. Die Zwangsjacke, in die man ihn gesteckt hatte, zwang ihn auch zum Nachdenken, er reagierte nicht mehr nur aus einer labilen Stimmung heraus. Doch seine Gedanken kreisten
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unablässig zwischen Selbstmitleid und Rachsucht. Zunächst hatte die Fesselung ohnmächtige Wutanfälle in ihm ausgelöst, schreiend hatte er sich in seiner Koje herumgeworfen, schwitzend und sich auf die Zunge beißend, bis er völlig erschöpft war. Doch allmählich verschwanden diese extremen Symptome, und sein geschädigtes Hirn durchlief einen Selbstheilungsprozeß. Die Zwangsjacke straffte seine unablässig kreisenden Gedankengänge wie eine Sprungfeder, deren Antrieb die Überzeugung war, ein unschuldiges Opfer zu sein. Zur Abwechslung genoß er dann die köstliche Vorstellung, wie er sich rächen, wie er alte Rechnungen begleichen würde - er, Enright, der triumphierende Sieger. Und in allen seinen Phantasien besaß er das Mädchen. »Also, was meint ihr, hm?« fragte Dando Douglas seine Kameraden, als die Steuerbordwache sich aus dem Ölzeug pellte, die Seestiefel von den Füßen schleuderte und die Strohsäcke aufschüttelte. »Und wer von euch Gaunern hat meinen Tabak geklaut?« »Welche Frage möchtest du zuerst beantwortet haben?« wollte Mr. Duke wissen. »Da bin ich nicht wählerisch«, grunzte Dando, der seinen linken Stiefel vom Fuß gezerrt hatte und die Zehen bewegte. »Hättest du was dagegen, wenn zuerst ich eine Frage stelle?« »Was willst du wissen?« »Wann hast du dir zuletzt die Füße gewaschen?« »Verpiß dich. Wo ist mein Tabak?« »Wahrscheinlich sitzt du drauf.« »Witzbold...« Dando machte den Tabakbeutel ausfindig, rollte sich eine Zigarette und warf einen Blick auf seine Wachkameraden. Von ihnen sah er vornehmlich nur flanellbekleidete Kehrseiten, die unter Wolldecken verschwanden. »Also, was meint ihr?« »Wozu, Dando?« fragte Gopher mürrisch. »Na, zu dieser Sache mit der Seawitch da draußen. Was hältst du davon?« »Tja, weißt du, solange dieser verfluchte Richards uns den Arsch zeigt, liegen wir hinten, und er gewinnt. So einfach ist das.« »Ja, aber...« »Geh schlafen«, fauchte Gopher und erntete dafür allseits gegrunzte Zustimmung. »Und was denkst du, Mr. Duke?« fragte Dando und beugte sich vor.
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Sie waren als letzte noch auf, teilten sich Sitzbank, Tisch und Laterne, während der eine grüblerisch an seiner Zigarette zog und der andere zu lesen versuchte. »Ich denke nicht, Dando, ich lese«, antwortete Mr. Duke leise und blätterte eine Seite um. »Ja, aber was denkst du nun wirklich?« Mit einem Seufzer klappte Mr. Duke sein Buch zu und legte es zur Seite. »Ich werde nicht fürs Denken bezahlt, Dando, sondern nur fürs Holen und Pieren, Reffen und Steuern. Von allem anderen liberavi animummeum...« »Was?« »Von allem anderen habe ich meinen Geist befreit.« Mr. Duke wandte sich wieder seinem Buch zu. »Nein, hast du nicht, zum Teufel!« Kampflustig reckte Dando den Hals. »Ich weiß, daß du ein Bücherwurm bist und ich ein Dummkopf, aber mit deinen lateinischen Sprüchen kannst du mich nicht hinters Licht führen. Du denkst sehr wohl! Du denkst die ganze Zeit! Denn wenn du nicht denken würdest, würdest du nicht lesen.« Mr. Duke lächelte und ließ sein Buch sinken. »Gut gesagt, Dando.« Dando wurde fast scheu. »Ich hab' auch mal ein Buch gelesen. Sogar ein gutes«, fügte er eilends hinzu. »Und ich erinnere mich noch genau daran, wie es mich zum Denken gebracht hat... Deshalb komm mir nicht mit so'm Scheiß. Los, was denkst du also?« Mr. Duke gab sich geschlagen. »Na gut, Dando, du hast gewonnen. Wir haben eine Chance, denke ich. Mehr nicht. Und zwar die Chance eines Außenseiters, weil nämlich Entschlossenheit nicht Erfahrung ersetzen kann. Richards hat eine Crew mit vollwertigen Offizieren, aber wir haben nur ein Mädchen, das sich gerade eben freischwimmt, und einen Zweiten Offizier, der ein guter Seemann ist, aber nicht viel Erfahrung besitzt. Das haben wir neulich nachts auf Kosten von Andy Jansen zu spüren bekommen.« »Wir haben auch noch Talham«, warf Dando ein. Skeptisch hob Mr. Duke eine Augenbraue. »Der hat keinen Biß.« »Keinen Mumm, meinst du?« Mr. Duke nickte und langte dann über den Tisch nach Dandos Tabaksbeutel. »Mein Beratungshonorarist eine Zigarette.« Verträglich zuckte Dando die Achseln. »Bedien' dich.« »Und jetzt«, schlug Mr. Duke vor, während er seine Zigarette an
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der Lampe ansteckte, »sagst du mir, was du denkst.« Dando rieb sich das Kinn und schniefte. Er schaute sich um, aber die Brocken in den Kojen blieben unbeweglich. Verschwörerisch beugte er sich vor. »Das will ich dir sagen, aber es ist... Wie nennt man das noch, wenn man was denkst, was man eigentlich nicht darf? Wofür man früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde?« Dando suchte nach dem Wort. »Ketzerei?« »Ketzerei, genau das... Die meisten von denen -« er deutete auf die schlafenden Gestalten -, »die meisten von denen glauben, daß es Unglück bringt, wenn eine Frau an Bord das Kommando führt. Daß es irgendwie unnatürlich is'. Aber ich finde - ich finde das nicht. Ich glaube, Miss Kemball hat viel von dem Alten geerbt, auch sein Glück...« »Dem müßte aber jemand gewaltig nachhelfen«, sagte Mr. Duke trocken. »Genau!« Dando beugte sich vor und schlug Mr. Duke auf den Unterarm. »Ein bißchen nachhelfen, Kumpel, genau das ist es.« Mr. Duke runzelte die Stirn. »Jetzt kann ich dir nicht ganz folgen...« »Du hast es doch selber gesagt: Richards hat vollwertige Offiziere, wir aber nicht. Oder?« Mr. Duke rutschte unruhig hin und her, schüttelte dann aber den Kopf. »Wir könnten noch einen Offizier gebrauchen, meinst du nicht auch?« Mr. Duke schaute Dando fest an. »Kommt nicht in Frage.« »Du hast doch so'n verdammtes Patent...« »Nein, hab' ich nicht!« fauchte Mr. Duke, nahm einen letzten Zug an seiner Zigarette und drückte sie aus. »Und es ist mir auch scheißegal, wer dieses Rennen gewinnt.« Er machte Anstalten aufzustehen, doch Dandos Faust hielt seinen Arm fest umklammert. »Aber uns nicht, Duke!« Dando deutete auf die schlafenden Kameraden. »Uns nicht. Weil für uns nämlich viel davon abhängt. Ein paar Kröten extra, ein Geschenk für die Frau, ein Paar Schuhe für die Kleinen, für sonntags... Uns liegt wirklich viel daran. Und sagen wir's mal so: Du schuldest uns eigentlich was.« »Ich - euch was schulden?« »Du bist keiner von uns, Duke. Du versteckst dich nur zwischen uns. Das weißt du, und wir wissen es auch. Ich habe keine Ahnung, warum du so runtergekommen bist. Wir haben auch
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nicht lange gefragt und dich aufgenommen... Wenn du's getan hast und alles vorbei ist, kannst du wiederkommen, und herzlich willkommen. Aber ich finde, du schuldest uns was für unsere Gastfreundschaft.« Mr. Duke stieß einen langen Seufzer aus. Dando schob seinen Tabakbeutel über den Tisch. »Ich wußte gar nicht, daß ihr was gegen mich habt«, begann Mr. Duke, nahm eine Fingerspitze Tabak und drapierte sie auf dem Papier. »Haben wir auch nicht, Kumpel. Wir brauchen nur deine Hilfe, und du kannst dich revanchieren. Schau, Munro hat den Bootsmann, den Zimmermann und diesen Sauertopf von Segelmacher um Hilfe gebeten, oder?« Mr. Duke nickte und stieß eine Rauchwolke aus. »Aber die taugen nur für ihre eigenen Jobs. Die sind keine gelernten Offiziere, wie's die Kadetten mal werden. Der alte Sauertopf hat Munro bloß geraten, alle Segel stehen zu lassen, weil er die Dinger genäht hat, verstehst du? Deshalb war er voreingenommen. Die Maaten haben keinen Überblick. Aber du...« Dando beendete den Satz mit einem Zug an seiner Zigarette. »Du bist ein gerissener Hund, Dando... Und was soll ich deiner Meinung nach machen - auf die Poop rennen und Munro mein curriculum vitae übergeben?« »Wenn ich wüßte, was ein Kurrie Viteh ist, würd' ich vermutlich sagen, du sollst es dir in den Arsch stecken«, grinste Dando siegesgewiß. »Nein, laß mich erst ein Wort mit Mr. Munro reden... Oder sogar mit Miss Kemball... Ja, das wäre wahrscheinlich besser.« Mr. Duke schüttelte den Kopf. »Und dich hab' ich immer für einen Hurenbock gehalten, der seinen Verstand versäuft. Als Ehemann und Vater hab' ich dich nie gesehen. Und schon gar nicht als Diplomat.« Dando stand auf, drückte seine Zigarette aus und ging auf seine Koje zu. »Einen Seemann darfst du eben nie nach seinem Äußeren beurteilen, Duke. Das müßtest du doch wissen.« Als Dando schon längst schnarchte, saß Mr. Duke immer noch auf der Bank und rauchte den Tabak, den Dando listig auf dem Tisch liegengelassen hatte.
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13 »Dieser verfluchte Gegenwind!« Munro kam, seinen Südwester festhaltend, tropf naß und ausgemergelt nach achtern. Hannah stand im unzulänglichen Schutz des Niedergangs und starrte über ihr wild krängendes Schiff zur Seawitch hinüber, die nicht mehr als zwei Meilen entfernt in Luv vor ihnen lief. Es war immer noch ein enges Rennen, das sich die beiden Schiffe lieferten, während sie an der Küste der Kap-Provinz entlang über die Agulhasbank preschten. Dicht unter Land zog, die dort herrschende kräftige Gegenströmung nutzend, ein Dampfer gen Osten und verwischte mit seiner Rauchfahne den klaren Horizont. Weiter draußen auf See, wo die beiden Klipper hoch am Wind liefen und alles Tuch bis zu den doppelt gerefften Bramsegeln hinauftrugen, versetzte der Agulhasstrom sie unerbittlich nach Westen und Luv. Da der Wind der Strömung entgegenstand, warf er gigantische Seen auf, in denen die beiden Schiffe wie Korken torkelten, während ihre hohen Masten in beängstigenden Schwingungen hin und her peitschten und die Verstagung aufs äußerte strapazierten. »Sie sehen müde aus«, sagte Hannah, als Munro sich neben sie stellte. Sein Gesicht verriet nervöse Anspannung. »Mir geht's gut.« Seine Blicke suchten nach Schwachstellen in Erl Kings Rigg, denn er meinte, daß irgendwo in den Meilen von laufendem Gut das Verhängnis lauern mußte - ein Spleiß, der sich unter der Belastung löste, ein Schäkelbolzen oder ein Haken, der verschlissen war, oder eine Leine, die durch den steten Gebrauch schamfilte und nun brach. Doch alles hielt. In perversem Trotz hoffte Munro wider besseres Wissen, daß doch irgend etwas entzweigehen würde, nur damit seine Befürchtungen sich als gerechtfertigt erwiesen. Unter den straffen Wölbungen der Segel starrte er nach Steuerbord. Schräg achteraus zog der Dampfer westwärts, und weiter dahinter war undeutlich die Küste zu erkennen. »Wir müssen bald wenden, sonst kommen wir in den Neerstrom«, murmelte er. »Die Seawitch wendet schon«, sagte Hannah. Munro lief geduckt übers Deck und schaute zur Seawitch hinüber, als Kapitän Richards gerade Ruder legen ließ. »Klar zur
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Wende!« schrie er, wohl wissend, daß die Erl King eine volle Viertelmeile dichter unter Land stand als Richards' Schiff und deshalb weiter von der günstigen Strömung entfernt war. Die Wache ging auf ihre Stationen, wobei die Leute an den LeeNagelbänken bis zum Bauch im Wasser standen: schwarze Schemen, die in ihrem flatternden Ölzeug wie riesige Krähen aussahen. »Half sie ja voll«, knurrte Munro Dando Douglas an, der am Ruder stand. »Gei auf Großsegel!« schrie er dann. Unter donnerndem Killen wurde das flache Großsegel bauchiger und stieg in seinen Geitauen zur Rah empor, während Halsen und Schoten durch ihre Blöcke ratterten. Munro warf einen letzten Blick übers Deck, um sich zu vergewissern, daß alles bereit war. »Hart über das Ruder!« befahl er dann, zum Rudergänger gewandt. Mit ganzer Kraft drehte Dando die Spaken nach Lee, und Hannah neben ihm legte mit Hand an. Sie spürte den Biß des Ruders, das ihr Heck der Küste zu drückte, und sah den Klüverbaum in großem Bogen über den Himmel schwenken und dann nach Süden zeigen. Vorn killten die Stagsegel, während neben ihr der Segelmacher den Besan nach Luv holen ließ, um den Bug auf seinem Weg durch den Wind zu unterstützen. Eine halbe Ewigkeit lang schien der Klipper zu zögern, als wolle er sich vibrierend selbst in Stücke rütteln, während oben im Rigg die killenden Segel gegen die Masten gedrückt wurden. »Großtopp rund!« bellte Munro. Groß- und Kreuzbrassen wurden losgeworfen, die Rahen rundgebraßt und für den Schlag über Backbordbug wieder belegt, während das Schiff seinen Bug höher an den Wind drückte und die beiden achteren Masten vom Fockmast abgedeckt wurden. »Oh, schauen Sie nur - die Seawitch !« rief Hannah, frohlockend über Richards' Mißgeschick. Munro ließ sich durch ihren Ruf einen Moment ablenken und gönnte sich einen kurzen Blick auf ihren Rivalen, auf sein außer Kontrolle geratenes Bramsegel und die wild federnde Rah, die von einem gebrochenen Toppnant zeugte. Und dann sah er drüben einen Mann, einem Staubkorn gleich, das für einen Moment im Sonnenschein aufblitzte, in weitem Bogen von oben kommen. Hannah schnappte entsetzt nach Luft, als sie den unglücklichen Seemann im Wasser aufschlagen sah. »Sie verhungert, Sir!« Mit der verzögerten Reaktion totaler Erschöpfung kümmerte sich
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Munro wieder um sein eigenes Manöver. Eine direkt von vorn anlaufende, hohe See hatte die Drehbewegung des Schiffes gestoppt, und die backstehenden Segel des Fockmasts drückten es nun unkontrolliert zurück. »Wir machen Fahrt übers Ruder, Sir«, schrie Dando verzweifelt, während Munro noch wie geistesabwesend um sich schaute. »Andersrum mit dem Ruder, Miss«, zischte Dando und zerrte wütend an den Spaken. »Segelmacher!« Von Dandos schneller Reaktion mitgerissen, ließ der Segelmacher den Besan fliegen, als Munro gerade wieder zu sich kam. »Achtung dort vorn! Setzt die Vorsegel back!« Die Bestätigung des Kommandos drang schwach nach achtern, als die Vordeckscrew die Vorsegelschoten wieder nach Backbord holte. Erl Kings Klüverbaum wischte über den Himmel, zurück auf die Küste des Kaps zu, und sackte unter den Flüchen der Crew immer weiter nach Lee. In Luv des rückwärts driftenden Schiffes zeichnete sich ein weiter, sichelförmiger Bogen im Wasser ab. Als der Wind raumer einfiel, füllten sich die backstehenden Groß- und Kreuzsegel wieder, während gleichzeitig die Segel am Fockmast zu ziehen begannen. Erl Kings Rückwärtsfahrt wurde langsamer, um dann vollends zum Stillstand zu kommen. Sauber beigedreht, begann sie langsam nach Lee zu driften. In Luv wurde aus dem sichelförmigen Bogen eine breite Bahn glatten Wassers. »Himmel, Arsch und Zwirn«, murmelte der Segelmacher, und auch Munro fluchte, errötend über sein Versagen, das die Crew mit hörbar geflüsterten Beschimpfungen in seine Richtung quittierte. Verlegen und verwirrt schaute Hannah erneut zur Seawitch hinüber, die in Lee von ihnen lag. Ihr Rumpf wurde von den Seen verdeckt, aber das lose flatternde Bramsegel hatte man drüben wieder unter Kontrolle, und der Abstand zwischen den beiden Schiffen wurde schnell größer. Da sah Hannah den Verunglückten. Nicht weit entfernt trieb er in dem glatten Wasser, das Erl Kings driftender Rumpf hinterlassen hatte. Eine Welle rollte unter ihm hindurch, hob ihn empor, und seine fuchtelnden Hände schienen in den Himmel zu greifen. »James - eine Leine! Gütiger Gott, Richards hat ihn seinem Schicksal überlassen! Eine Leine, schnell!« Es war Gordon, der auf ihren entsetzten Schrei reagierte. Der Kadett riß eine Wurfleine von der Nagelbank, schoß sie hastig auf und warf sie der Gestalt im Wasser zu. Hannah keuchte erschrocken, als die Leine zu kurz aufkam und die Erl King, deren
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Abdrift größer war als die des ertrinkenden Seemanns, den Abstand weiter vergrößerte. Aber jetzt schrien alle durcheinander, und als der Benommene merkte, daß Rettung nahe war, riß er mit einer letzten verzweifelten Geste der Hoffnung eine Hand hoch. Gordons dritter Wurf landete nahe bei ihm, und er bekam die Leine zu fassen. Ein Fallreep wurde über die Bordwand herabgelassen, und Mr. Duke stellte sich mit ausgestrecktem Arm auf die unterste Sprosse, um dem Mann zu helfen. Ein paar Minuten später zogen sie die triefende Jammergestalt an Deck. Nachdem er beträchtliche Mengen Seewasser von sich gegeben hatte, japste der Gerettete seinen Dank. »Ich... hätte... nie gedacht, daß Sie... meinetwegen beidrehen.« »Wir auch nicht«, antwortete Munro säuerlich, während er sich bemühte, das Schiff wieder in Fahrt zu bringen. »Gott sei Dank, daß wir's getan haben«, sagte Hannah. »Amen, Madam«, sagte der Neuankömmling. »Amen.« Die Chance hatte eins zu einer Million gestanden, dachte Hannah triumphierend, daß sie durch ihr momentanes Mißgeschick Jacksons Leben retten konnten. Auf primitive Weise schien es die Rechnung nach Jansens Verlust wieder auszugleichen. Der seltsame Zufall, daß sich beider Namen so glichen, beschäftigte Hannah besonders. Als sie allein in der Kajüte saß, vor sich das nun schon vertraute Logbuch, und darauf wartete, daß die Tinte trocknete, mit der sie den Namen des neuen Vollmatrosen eingetragen hatte, geriet sie in jenen seltsamen Zustand der Entrücktheit, der einsame Kapitäne auf See mitunter davon überzeugt, daß sie direkt mit Gott kommunizieren. »Jansen... Jackson... Der Herr hat's gegeben«, flüsterte sie mit ehrfürchtig aufgerissenen Augen, »der Herr hat's genommen.« Ihr kam es so vor, als sei die Erl King tatsächlich von der Hand der Vorsehung berührt worden. Geistesabwesend klappte sie das Logbuch zu und starrte ins Leere. Noch etwas anderes als das verpatzte Wendemanöver, das den Klipper in Reichweite des ertrinkenden Jackson geführt hatte, bewog sie zu dieser Annahme: Nachdem sie die Rahen wieder angebraßt, Fahrt aufgenommen und das Schiff erfolgreich über Stag gebracht hatten, war ihr Dando Douglas mit einem Vorschlag gekommen, der jetzt schon seine Früchte trug. »Tschuldigung, Miss«, hatte er gesagt und zunächst nach oben und dann auf den in seinem Haus schwingenden Kompaß
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geschaut. »Es geht mich zwar nichts an, aber ich hörte Sie sagen, daß Mr. Munro müde ist und so... Jedenfalls hätten wir die Wende nicht verpatzt, wenn«, er zuckte die Schultern, »na ja, Sie wissen schon...« »Mr. Munro gibt sein Bestes«, erinnerte sich Hannah gesagt zu haben, während Dando das Rad durch die Hände laufen ließ. Sie wunderte sich selbst über ihre plötzliche Solidarität mit dem armen Munro. »Zweifellos, Madam, zweifellos«, antwortete Dando hastig und schaute sie von der Seite an. »Aber er könnte doch Hilfe gebrauchen, oder?« »Versuchen Sie, mir etwas Bestimmtes beizubringen?« »Ach, es ist nur so 'ne Idee, Miss...« »Ich höre.« »Nun ja, Madam, in Ihrem Vorschiffslogis haben Sie nämlich einen Mann mit 'nem Schein...« Dando ließ den Satz vielsagend in der Luft hängen. »Sie meinen, mit einem Patent?« »Na ja, nicht vom Handelsministerium, Madam...« »Ich verstehe nicht.« »Sondern vom Marineministerium!« Dando Douglas hatte seinen Trumpf ausgespielt. »Ich verstehe immer noch nicht«, sagte Hannah stirnrunzelnd. »Sie meinen, jemand im Mannschaftslogis ist ein Offizier der Kriegsmarine?« »War, Madam, war. Kriegsgericht wegen Ungehorsam und so, dann geschaßt...« »Sie meinen, er könnte nach achtern kommen und...« »Und Wache gehen. Jawohl, Madam.« Obwohl Mr. Duke es ablehnte, seine Koje im Mannschaftslogis gegen eine in der Offiziersmesse zu tauschen und auf eine andere Anrede als auf »Mr. Duke« zu hören, ging er nun Wache um Wache mit Talham, so daß Munro entlastet war. Zur Zeit lag dieser in seiner Koje und schlief wie ein Toter. Erneut empfand Hannah eine starke Zuneigung zu ihm. Der gute James, er hatte ihr keinen Vorwurf gemacht. Dabei wußte sie, daß es ihr Jubelschrei über Richards' Verlust des BramToppnants gewesen war, der ihn abgelenkt und ihr eigenes Mißgeschick verursacht hatte. Aber hätte sie ihre Zunge im Zaum gehalten und das Wendemanöver nicht verpatzt, wäre Jackson jetzt tot und hätte eine Witwe und drei Waisen hinterlassen. Hannah schwebte wie auf Wolken vor Glück, und nichts lag ihr
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ferner als die Beschämung und die Selbstvorwürfe über die berufliche Blamage, die Munro und seine Crew plagten. Die. Tatsache, daß die Seawitch, den Rumpf schon unter der Kimm, weit voraus in Luv durch die See pflügte, störte sie im Moment weniger. Sie hatten einen Menschen dem sicheren Tod entrissen und den Ozean ausgetrickst. Und den Waliser hatten sie schon einmal eingeholt, warum sollten sie es nicht ein zweites Mal schaffen? Hannah stellte das Logbuch ins Regal zurück, goß sich einen Schluck Cognac aus ihres Vaters Vorrat ein und erhob ihr Glas in einer schweigenden Verdammung Kapitän Richards', der einen Mann so leicht aufgab. Sie leerte das Glas auf einen Schluck und verließ die Kajüte. Bester Laune ging sie nach vorn. Osman werkelte in seiner Pantry, der Gang war leer. Vor Enrights Tür blieb sie stehen; kein Laut von drinnen zu hören. Aus Len-Kuas und Mai Lis Kabine drangen Geplauder und das Klappern von mah-jong-Stemen. Sie drehte den Türknauf zu Munros Kammer und glitt hinein. Schlafend lag er auf dem Rücken, den Gürtel gelockert und die Stiefel abgestreift. Hannah stellte sich vor seine Koje und dachte an Len-Kuas Unverfrorenheit, wünschte sich fast, daß Munro aufwachen und sie dort berühren möge, wo die vertrockneten Finger sie in Erregung versetzt hatten. Aber der Erschöpfte schlief in glückseliger Unwissenheit, nicht ahnend, welche Chance ihm entging. »Missie, Missie...« Hannah wachte auf und registrierte schuldbewußt, daß sie am Spätnachmittag in den Kleidern eingeschlafen war. »Was ist, Mai Li?« »Mr. Munro sagen, du oben kommen.« Hannah nickte. Ihr Mund war trocken, und ihr Kopf schmerzte. »Ich komme sofort.« »Mr. Munro sagen schnell.« »Was ist denn?« »Ich nicht wissen ... Mr. Munro sagen, du wissen, wenn oben sein.« Hannah fühlte sich miserabel. Sie wälzte sich aus der Koje, zog die Schifferjacke an und ging auf den achteren Niedergang zu. Munro erwartete sie im Kartenhaus, seine Augen glänzten vor Aufregung. Er packte sie an beiden Armen, aber sie schaute ihn nur trübselig an. »Hannah! Wir haben das Kap gerundet!« Er schüttelte sie leicht,
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und sie spürte, wie sich seine Hochstimmung nun doch auf sie übertrug. »Und Richards ist nicht mehr als drei Meilen vor uns! Ich weiß nicht wieso, und es ist mir auch egal, aber ich glaube, daß sein Vorbramsegel beschädigt wurde, als es ihm den Toppnant weggerissen und Jackson über Bord gefegt hat. Wir konnten etwas abfallen, und das Schiff läuft jetzt wie ein Rennpferd.« Hannah, nun vollends wach, spürte, daß Erl Kings Bewegung sich verändert hatte. Sie krängte zwar noch immer, stampfte aber jetzt in längeren Intervallen und weniger stark, und das heftige Rucken hatte nachgelassen. Kein Wunder, daß sie dabei wie ein Kind geschlafen hatte. »Unser Geschick hat sich gewendet, Hannah... Ihr Geschick hat sich gewendet.« »Ich wußte es«, sagte sie, von Munros Stimmung angesteckt. »Ich wußte es in dem Moment, als wir Jackson gerettet hatten.« Er hielt sie noch immer an den Schultern. Impulsiv reckte sie sich zu ihm hoch, und gleichzeitig beugte Munro sich zu ihr herunter. Sie küßten sich selbstvergessen, bis Dando Douglas am Ruder ein anerkennendes Pfeifen vernehmen ließ. Im Rechteck der Tür zum Kartenhaus grinste er ihnen von seinem erhöhten Platz auf der Rudergräting zu. Verlegen beschäftigte sich Munro wieder mit der Karte, während Hannah neben ihm lehnte und über seine Verwirrung lachte. »Ich wußte, daß wir's schaffen«, wiederholte sie, seine Verlegenheit überspielend, »und zwar von dem Moment an, als Richards den armen Mann dem Ertrinken überließ. Damit hat er die Vorsehung herausgefordert.« »Du redest schon wie dein Vater.« »Wundert dich das?« »Nein... Aber du siehst besser aus als er.« Sie lächelten einander an, Douglas ignorierend. »Dreizehn Knoten, Sir«, meldete Gordon, der das Log ausgebracht hatte und nun, das Tageslicht abdeckend, in der Tür stand. Munro drehte sich um. »Sehr gut.« »Sie taten recht daran, diesem Mann zu helfen«, sagte Hannah und lächelte dem Kadetten zu. »Danke, Madam.« Gordon grinste zurück. »Wir holen Dandy Dicks Seawitch jetzt aber schnell ein«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den Horizont. »Das sehe ich mir an.« Hannah drängte sich an dem Kadetten
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vorbei ins Freie, wo der Wind an ihr zerrte. Fast schon gewohnheitsmäßig erfaßte sie mit einem Blick den Kompaßkurs: Nordwest, auf St. Helena und die blaue Wüste des Südatlantiks zu. Sie hatten es geschafft, Afrika zu runden, und hielten nun auf den Äquator zu. »Bitte geben Sie mir das Glas.« Sie streckte die Hand aus, und Gordon reichte ihr das Teleskop. Das Bild tanzte in der Linse, Seen schoben sich dazwischen, graublau und gischtdurchsetzt, ihre Kämme brachen in einem kochenden Wirbel von Schaum, doch als sie sich abflachten, gaben sie den Blick auf ihren Rivalen frei. Irgend etwas stimmte nicht an Bord der Seawitch. Sie hatte keine Ahnung warum, aber es war nicht zu übersehen, daß Richards Tuch weggenommen hatte. Zweifellos war er dabei, seine Führung zu verlieren und die Erl King allmählich aufkommen zu lassen. »Fier auf die Luv-Brambrasse am Großtopp!« Die Stimme war ungewohnt; Hannah hatte Mr. Duke ganz vergessen. Jetzt wandte er sich ihr mit einem Lächeln zu. »Madam«, grüßte er artig. »Ihr Schiff ist getrimmt - phantastisch! Wie eine Violine. Man muß ein Gespür dafür haben, muß das Schiff fühlen. «Sein Benehmen verriet Gewandtheit, er schien auch nicht sonderlich überrascht über seine plötzliche Beförderung, sondern die neue Erfahrung voll zu genießen. »Bei so einem Schiff muß einem das Glück einfach hold sein, Madam.« »Sie hat es kürzlich verlassen, wie ich hörte«, entgegnete Hannah, leicht irritiert darüber, daß der Mann sie so unbefangen und selbstbewußt angesprochen hatte. Sie hatte von ihm eher Dankbarkeit, ja sogar Unterwürfigkeit erwartet. In der Euphorie des Morgens hatte sie sogar schon wieder eine Art Zeichen darin gesehen, daß sie dem Degradierten eine zweite Chance bieten konnte. Ihre Bemerkung, wenngleich nicht als Affront gedacht, sollte ihm zumindest zeigen, daß sie nicht als Ebenbürtige miteinander verkehrten. Mr. Duke starrte sie an; sein Blick war plötzlich eisig, sein LächeJn wie eingefroren. »Sie sollten nicht immer glauben, was Sie hören, Madam.« »Dennoch bin ich neugierig.« Hannah war selbst erstaunt, wie gut sie sich behauptete. Ein neues Selbstvertrauen hatte von ihr Besitz ergriffen. »Neugier hat schon manche Katze umgebracht.« »Aber nicht, wenn die Katze am Ende der Reise ein
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Empfehlungsschreiben ausstellen kann, oder?« Mr. Duke öffnete den Mund, besann sich jedoch eines Besseren und schloß ihn wieder. Das Eis war etwas geschmolzen. »Alles zu seiner Zeit, Madam. Einstweilen packe ich hier mal mit an.« Er wandte sich ab, wobei er die Rechte automatisch grüßend zur Stirn führte - eine Geste, dachte Hannah, die auf einer lange vergessenen und jetzt neubelebten Gewohnheit beruhen mußte. Bei Einbruch der Nacht lagen sie gleichauf mit Seawitch, zwar in Lee von ihr, aber zu weit entfernt, als daß ihnen Richards hätte den Wind stören können. Der Sonnenuntergang warf ein wäßriges Rot auf die zerfetzten Wolken, die es ihnen verwehrten, die Ursachen für Seawitchs Mißgeschick herauszufinden. Bei Morgengrauen waren sie praktisch allein, nur ein weißer Splitter am Horizont achteraus zeigte ihnen, wo die Seawitch von der Morgensonne beschienen wurde - und hinter der Kimm zurückblieb. Es sollte ihr bestes Etmal werden, fast dreihundertzwanzig Meilen von Mittag zu Mittag, hartes Segeln bei einem stetigen, räumen Wind und einer angenehmen, nur leicht bewegten See. Hannahs lebhafter Phantasie schien es, als hätte die Erl King und sie selbst dem Schicksal nun genug Tribut gezollt und würden von weiteren Mißgeschicken verschont. So machte es ihr auch nichts aus, als bei zunehmendem Wind für die Nacht gerefft werden mußte. Sie lagen ohnehin in Führung, und die Seen, die von Backbord achteraus heranrollten, waren zu grob, als daß sie eine andere Wahl gehabt hätten. Glücklich und zufrieden überließ Hannah das Deck Mr. Munro und Mr. Duke, die bei der Ablösung beide Wachen lautstark anfeuerten, sofort aufzuentern und die aufgegeiten Groß- und Bramsegel aufzutuchen. Unten im Salon warf die pendelnde Petroleumlampe ein warmes gelbes Licht auf die polierte Tischplatte. Über die Wände zuckende Schatten vollführten groteske Tänze, die zu Hannahs Stimmung paßten. Sie lächelte Mai Li zu, die, ihre verkrüppelten Füße unter sich verschränkt, auf der Bank saß und mit einem Satz Karten in der Hand auf sie wartete. »Du spielen, Missie?« »Ja... Einen kleinen Schluck Brandy, Mai Li?« Mai Li nickte mit funkelnden Augen. »Len-Kua schlafen nach Tee trinken, er sehr glücklich. Nun Mai Li trinken klein' Schluck Brandy, sie auch sehr glücklich.« Enright war entzückt. Der erste Teil seines Plans hatte perfekt
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geklappt. Nur jetzt keine Hast, denn diesmal durfte es keine verpatzte Attacke geben. Seine lange Isolierung hatte ihn Vorfreude schätzen gelehrt. Übereiltes Vorgehen war, wie er inzwischen wußte, der Keim so mancher Enttäuschung. Um den ersehnten vollkommenen und raffinierten Erfolg zu erzielen, mußte er unter allen Umständen Herr der Lage bleiben. Die Situation mußte auf breiter Front gemeistert werden; da durfte es keinen Raum geben für individuelle Reaktionen, die seine Berechnungen über den Haufen werfen konnten. Denn genau das war beim letzten Mal schiefgegangen. Aber wie hätte er ahnen können, daß das Mädchen einen Revolver besaß? Und doch, eigentlich hätte er es wissen müssen; schließlich war er kein Narr, ihm war bekannt, daß Kemball in seiner Kajüte einen Revolver aufbewahrt hatte, und er hätte sich denken können, daß Hannah ihn in Gewahrsam genommen hatte. Überhaupt war sie wie ein offenes Buch für ihn. Und er war auch ganz sicher, daß sie ihn damals begehrt hatte. Allein die Erinnerung daran schickte Feuer in seine Lenden. O ja, er hatte sie schon richtig verstanden: Sie war reif dafür und bereit, sie lechzte sogar danach, dessen war er ganz sicher. Er hatte die heiße Lust in ihren Augen gesehen, und wenn die dumme Kuh nicht so schnell abgedrückt hätte, als die Eva sich in ihr regte... Gemach, so tröstete er sich, es hatte keinen Zweck, über Vergangenes zu jammern. Für seine Bemühungen um sie war er auch noch angeschossen worden, und diese Ungerechtigkeit würzte seine Vorfreude auf den kommenden Genuß. Rache war süß, unaussprechlich süß. Enright schlich zur Kammertür und preßte ein Ohr dagegen. Osman hatte ihm vor einer Woche die Zwangsjacke abgenommen. Ein kleines Schweigegeld, verbunden mit der entsprechenden Einschüchterung, hatte ihm die Komplizenschaft des Stewards gesichert. Sie kannten einander schon lange. Osman würde sich weder von einem ehrgeizigen Egoisten wie Munro beeindrucken noch von der verführerischen Hannah einwickeln lassen. Er hatte nichts übrig für Frauen, und Enright hatte sich schon vor langer Zeit, die Kavaliersdelikte des armen Osman nutzend, zu seinem Gönner gemacht. Nun konnte er ihm einerseits mit einer Anzeige drohen und ihm andererseits mit einem Druckposten an Bord winken. Letzterer bedeutete für Osman mehr, als Munro oder Miss Kemball sich vorstellen konnten. Eisern entschlossen hatte Enright, sich nur an seinen köstlichen
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Racheträumen berauschend, keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt und nie auch nur den Versuch gemacht, seine Kammer zu verlassen. Dadurch verführte er den geradezu mitleiderregend einfältigen Osman zu einer willfährigen Komplizenschaft, auf der sein heimlicher Plan größtenteils beruhte. Jetzt konnte er, das Ohr an die verschlossene Tür gepreßt, die beiden Frauen im Salon lachen hören. Jenseits des Gangs lag Len-Kua in seiner Koje. Von Osman wußte Enright, daß der alte Chinese kein Opium mehr besaß und durch den Entzug krank geworden war. Schwach und debil, begann der Alte unter Mai Lis Pflege angeblich nur langsam zu genesen. Auf der Poop über Enright ertönte ein Glockenschlag: halb neun Uhr abends. Gleich würde Osman mit Munro oder Talham kommen, um das Tablett mit seinem Abendessen abzuräumen. Enright kletterte wieder in seine Koje, zog die Knie an und stöhnte. Als Osman hereinkam, stöhnte Enright erneut. »Was ist los?« Talham stand in der Tür. »Mein Magen, Talham... Ich habe entsetzliche Bauchschmerzen...« »Osman bringt Ihnen etwas Kaolin und Morphium. Ich hole gleich die Schlüssel, Osman.« Talham ging, und der Steward bückte sich nach dem Tablett. Da griff Enright zu, packte die dünne Gestalt an der Kehle und zog den totenkopfähnlichen Schädel zu sich heran. »Bring mir Laudanum, Osman«, zischte er ihm ins Ohr. »Das wage ich nicht«, stotterte Osman. »Das darf ich nicht.« Enright ließ ihn los. »Sobald du kannst«, flüsterte er. »Es ist nicht für mich.« Bei zwei Glasen an jenem Abend, als Hannah mit Mai Li Karten spielte und Enright Osman zum Diebstahl anstiftete, als Talham in die Koje ging und Munro nach dem Reffen seinen Logbucheintrag machte, stand Vollmatrose Molloy am Ruder. Dort hatte er schon unzählige Male gestanden. Den Blick mal auf das Kreuzmarssegel, mal auf den schwach erleuchteten Kompaß gerichtet, die in Ölzeug steckenden Schultern hochgezogen, ließ er ein oder zwei Spaken des abgegriffenen Steuerrads durch die schwieligen Hände gleiten, während das Schiff sich mit den Seen hob und senkte. Unzählige Male hatte er auch am Ruder anderer Schiffe gestanden: auf Schonerbarks und Briggs, Toppsegelschonern und Barken. Er war im Pazifik auf Pottwalfang und in der Beringstraße auf Robbenjagd gegangen, er hatte auf den Neufundlandbänken gefischt und eine Witwe aus
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Nantucket geheiratet, der er sich bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er überhaupt darüber nachdachte, noch verbunden fühlte. Und er hatte die Erl King seit ihrer Jungfernfahrt gesteuert, als ein kecker junger Offizier namens Kemball seine Crew in Mutter Vinneys Puff angeheuert hatte. Mutter Vinney hatte zwar versucht, Kemball rauszuschmeißen, hatte geschrien, daß sie Mädchen, aber keine Seeleute anzubieten habe, doch Kemball hatte am Fuß der abgetretenen Treppe mit der gekritzelten Aufschrift »Treppe zum Paradies« gestanden und gebrüllt, daß Mutter Vinney zu bescheiden sei, weil nämlich nur Männer, die ihren Marlspieker zu gebrauchen wüßten, in ihr Haus kämen; und wenn ihre Mädchen sie ausprobiert hätten, dann würde er den Jungs eine Koje besorgen, jawohl, und die Hälfte ihrer Spesen im Puff bezahlen! Die Trottel waren wie Würmer aus dem Holz gekrochen bei diesem Angebot, und Kemball hatte sie alle angeheuert. Er, Molloy, war nun der letzte, der von der ursprünglichen Crew
noch übrig war. Die Erl King war ein schnelles Schiff, jawohl, ein unheimlich schnelles Schiff. Und sie war so gut, daß sie selbst die Fehler von Narren verzieh. Munro würde sie in den Griff bekommen und dann ein Teufelskerl von Kapitän werden, später einmal, und das Schiff wußte das; deswegen hatte es ihm auch seine momentane Unachtsamkeit am Kap vergeben. Es war zwar hart, so eine Lektion erteilt zu bekommen, aber nun würde Munro einen solchen Fehler nie wieder machen. Alle jungen Männer glaubten, Helden zu sein, doch in Wahrheit brauchten sie alle ihren Schlaf. Nur alte Männer konnten stundenlang ohne Ablösung am Ruder stehen. Sie hatten ja auch viel mehr, worüber sie nachdenken mußten... »Nur langsam, mein Mädchen«, murmelte Molloy, als die Erl King seitlich ins Tal einer nachlaufenden See rutschte. Wegen ihres scharfen Achterschiffs war sie unter den herrschenden Bedingungen schwierig zu steuern, da sich ihr Heck gern eingrub. Molloy fühlte den Wind kurz Atem holen, als sie von einem achtern heranrauschenden Wellenkamm abgedeckt wurden. Dann hob sich der Rumpf, die See schäumte mit mächtigem Brausen fast bis an die Reling hoch und erhellte das Dunkel der Nacht mit einem geisterhaften Funkeln. Der Wind riß an den Rockschößen von Molloys Ölzeug und trommelte auf die Krempe seines Südwesters. Molloy ließ zwei, drei, vier Spaken durch die Hand gleiten, fühlte das
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Ruder tief in den Wasserberg beißen und dann, als die See sich nach vorn davonwälzte, freikommen, viel zu schnell freikommen. Ungestützt hing das Heck gleichsam in der Luft und begann zu fallen, sackte in eine unheilvolle, windlose Stille hinab. Instinktiv drehte Molloy sich um. Die anrauschende See war ein Monster. Vor dem Dunkelblau des Himmels konnte er das funkelnde Filigran ihres brechenden Kamms erkennen. Erl Kings Talfahrt wurde gestoppt. Sie begann sich zu heben, aber die scharfen Linien ihres Achterschiffs, die zum Heck hin konvergierten und sie so schnell machten, verliehen dem Rumpf andererseits zu wenig Auftrieb, um schnell genug auf die Wasserwand reagieren zu können, die sich hinter ihnen auftürmte. Molloy konnte den Blick nicht abwenden von diesem majestätischen Kaventsmann. Im Augenblick, da er brach, begriff er, daß Cracker Jack ihm aus dem schwarzen Herzen dieser Monstersee zuwinkte und daß nunmehr seine eigene Stunde gekommen war. Die gigantische Kaskade packte die Deckskante und warf sich als grüne Sturzflut auf Erl Kings Poop. Ihre Wassermassen rissen Molloy die Füße unterm Leib und die Hände vom Rad weg und schleuderten ihn wie eine Puppe nach vorn. Mr. Duke drehte sich um und klammerte sich an die Querreling, während die Wachgänger unten in der Kühl, als sie die Gefahr nahen spürten, nach den Strecktauen griffen. In einen wüsten Haufen zusammengeworfen und bis auf die Haut durchnäßt, kämpften sie sich fluchend wieder auf die Beine. Munro im Kartenhaus spürte den Wind aussetzen und kam gerade dazu, wie Molloy vom Rad gerissen und gegen den Aufbau des Niedergangs geschleudert wurde. Sich durch die Sintflut kämpfend, stürzte er an Deck und packte das Ruder. Wasser rauschte in den Salon. Mai Li wurde von ihrer Bank geworfen und klammerte sich an Hannah fest. Nachdem er am Ruder abgelöst worden war und das Schiff sich wieder unter Kontrolle befand, beugte Munro sich über Molloys reglosen Körper. Im Schein der Kartenhauslampe war das Gesicht des alten Seemanns leichenblaß, fast blau unter dem schütteren Haar. Nichts deutete auf irgendwelche Blutungen hin. »Gehirnerschütterung«, sagte Mr. Duke und hielt die Schneide seines Messers unter Molloys Nasenlöcher. Der hauchzarte Beschlag zeigte, daß der alte Mann noch atmete. »Lassen Sie ihn
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am besten in seine Koje schaffen.« »Legt ihn auf das Sofa im Salon«, befahl Munro den Umstehenden. Hannah war gerade dabei, Mai Li zu beruhigen, als mit polternden Stiefeln und raschelndem Ölzeug der Trupp mit der Krankentrage herunterkam. Nachdem sie Molloy aufs Sofa gebettet hatten, trotteten die Leute ernst wieder an Deck und ließen Munro und Hannah zurück. In einer Ecke schluchzte Mai Li. Munro seufzte. »Das sieht ziemlich böse aus...« Hannah fühlte Molloy den Puls. Er ging schnell und schwach, das Leben in ihm flackerte nur noch. »Was können wir tun?« fragte sie. Munro zuckte die Achseln. »Ich vermute, er hat einen Schädelbruch. Er braucht einen Arzt...« »Am Kap?« »Vermutlich gibt's auch einen Arzt auf einem Kriegsschiff in Simonstown.« Hannah spürte Munros Widerstreben, denn die Kursänderung auf das Kap bedeutete Niederlage, bedeutete den Verlust ihres Vorsprungs und all dessen, was sie schon erreicht hatten. »Uns bleibt keine andere Wahl, oder?« sagte Hannah sachlich. »Keine...« Munro drehte sich zum Niedergang um. »Ich veranlasse alles Nötige.« »Ja bitte, tun Sie das.« Hannah kauerte sich vor den alten Mann. Sein Atem ging so leicht und flach wie der eines Kindes. Wie lange würden sie bis Simonstown brauchen? Konnte Molloy bis dahin überleben? Sie hörte Kommandos, spürte, wie die Schiffsbewegungen sich änderten, als der Bugspriet nach Südosten herumschwang. »Rennen zu Ende?« fragte Mai Li unter Tränen. »Ja«, antwortete Hannah. Sie hatten jetzt ein härteres Rennen zu bestreiten, ein Rennen gegen den Tod.
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14 In der festgefügten Welt Islingtons wäre es Hannah niemals auch nur in den Sinn gekommen, Bedauern darüber zu empfinden, daß sie einen humanitären Akt vollbringen mußte. Doch in den Stunden, nachdem sie die Monstersee abgeschüttelt und Molloy verletzt in den Salon getragen hatten, hegte Hannah allerlei unchristliche Gedanken. Es war fast mehr, als sie ertragen konnte: daß es allein ihre Entscheidung gewesen war, den Kurs zu ändern und das Rennen aufzugeben. Und das Benehmen ihrer Mannschaft war ihr dabei kein Trost. Hannah mußte einsehen, daß sie nach ihrem perfiden Berufsverständnis falsch gehandelt hatte. Molloy war in ihren Augen ohnehin ein Todeskandidat; Cracker Jack wäre seinetwegen nie über Stag gegangen, genau wie Dandy Dick Richards nichts unternommen hatte, als Jackson von der Vorbramrah der Seawitch gefallen war. Hannah konnte nicht wissen, daß sie in jedem Fall Kontroversen heraufbeschworen hätte, auch wenn sie keinen Versuch gemacht hätte, Molloy zu retten. Aber sie war einsichtig genug zu spüren, daß der Widerwille, mit dem die Männer ihrem Dienst nachgingen, auch Kritik an ihrer weiblichen Sentimentalität beinhaltete. »Wenn wir keine Frau dort achtern hätten«, knurrte der Zimmermann, »war' von all dem nichts passiert.« »Cracker Jack wäre nicht umgekehrt, das sage ich dir«, pflichtete ihm der Segelmacher bei. »Ich erinnere mich, wie einmal eine Monstersee bei uns einstieg, als wir nach Formosa segelten...« »Wenn du wie er dort liegen würdest, auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde, würdest du anders darüber denken«, verteidigte Bootsmann Harris Hannahs Entscheidung, als er in tropfendem Ölzeug dazukam, um die nächste Wache zu holen. »Was hätte sie denn machen sollen? Das Problem ist, daß der gute Jack Molloy nicht weiß, wann er den Löffel abgeben muß.« »Das war sowieso sein letzter Rudertörn«, fügte der
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Segelmacher hinzu. »Er kostet mich meine halbe Heuer«, jammerte der Zimmermann, während er die Seestiefel überstreifte. Die Erl King lief bis zum Morgen Südostkurs, während Mai Li und Hannah abwechselnd bei Molloy wachten. Zweimal kam der alte Mann fast wieder zu Bewußtsein und murmelte ein paar unzusammenhängende Worte, um dann wieder ins Koma zu fallen. Als der Morgen graute, hatte Molloy seine letzte Reise angetreten. »Alter Mann tot sein, Missie«, sagte Mai Li leise und rüttelte Hannah, die in einem Sessel döste. Erschöpft ging Hannah zum Sofa. Einen Moment lang betrachtete sie schweigend die zerbrechliche sterbliche Hülle des Alten, dann wandte sie sich zum Niedergang. »Mr. Duke?« rief sie zur Poop hinauf. »Madam?« »Klar zur Wende. Molloy ist tot!« Erneut gen Norden laufend, erreichte die Erl King ihr bisher bestes Etmal, erstaunliche 338 Meilen von Mittag zu Mittag. »Das macht etwas über vierzehn Knoten«, meinte Munro, als er und Hannah, über die Karte gebeugt, das kleine Kreuz betrachteten, das mit dem Datum daneben die Mittagsposition des Schiffes vom Vortag bezeichnete. »Jetzt sollten wir die Verzögerung eigentlich aufgeholt haben.« Er schwieg und schaute Hannah an. »Aber genau wissen wir's nicht, oder?« sagte sie. »Und dann müssen wir noch Molloy bestatten.« »Ich werde die Trauerrede halten.« »Es ist nicht deswegen...« Hannah seufzte verschämt. »Sie wollen nicht beidrehen zur Bestattung?« Hannah schaute ihn freimütig an. »So ist es, auch wenn ich mich schäme, es zuzugeben... Bitte lachen Sie mich nicht aus.« Munro grinste. »Molloy hätte es verstanden, das wissen Sie«, sagte er. »Hier gibt es keine wippenden schwarzen Straußenfedern und keine von Rappen gezogenen Leichenwagen wie zu Hause, Hannah. Inzwischen haben Sie erfahren, daß das Leben der Seeleute an einem Faden hängt, der dünner ist als ein Skysegelfall. Wir müssen aus Respekt vor dem Toten natürlich dem Brauch gemäß beidrehen, aber das braucht nur einen Moment zu dauern... Jetzt lachen Sie über mich.« Munro runzelte die Stirn, denn Hannah hatte kichernd die Hand vor den Mund geschlagen. »Was habe ich denn so Komisches gesagt?«
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»Schippende Warzen und Straußenfedern«, prustete sie los, und dann kicherten sie beide. Plötzlich wieder ernst werdend, wandten sie sich erneut der Karte zu. »Glauben Sie, daß er vor uns ist?« fragte Hannah nach kurzem Schweigen. Munro zuckte die Achseln. »Ich bezweifle es, aber möglich ist alles.« Ihm kam eine Idee. »Warten Sie mal.« Er rannte an Deck und kehrte kurz darauf mit Jackson zurück. Der Seemann nahm seinen Südwester ab und nickte Hannah respektvoll zu. »Wir fragten uns gerade, Jackson, wieso Sie von der Vorbramrah der Seawitch fallen konnten. Ich wollte Sie das eigentlich schon neulich fragen, aber...« Munro zuckte erneut die Achseln, um anzudeuten, daß andere Dinge dazwischengekommen waren. »Ist denn alles wohlauf dort an Bord?« Jackson starrte auf den größer werdenden Wasserfleck, der sich unter seiner tropfenden Gestalt zu bilden begann. »Doch, ja, Sir«, murmelte er. »Wir versuchen gerade zu ergründen«, drängte Hannah, »wieso wir Sie am Kap überholen konnten, obwohl Sie doch zwei Tage vor uns in Anyer Lor waren. Jetzt fragen wir uns, wie gut die Seawitch segelt. Haben Sie eine Idee, warum wir Sie in der Passatzone eingeholt haben?« Munro konnte kaum seine Bewunderung darüber verbergen, wie geschickt Hannah die Sache handhabte. Ihre Worte waren überzeugend, appellierten an Jacksons Sachverstand und brachten jenen Rest von Loyalität zum Schmelzen, den er noch für den Mann empfinden mochte, der ihn dem Ertrinken ausgeliefert hatte. »Sollten Sie Geld auf die Seawitch gesetzt haben«, fuhr Hannah fort, »so können Sie sicher sein, daß wir das verstehen. Aber ich finde, Sie schulden uns auch eine Kleinigkeit - hm?« Jackson schaute auf. »Aye, Madam«, sagte er. »Aber es fällt mir nicht leicht... Sie müssen wissen, ich bin jetzt acht Jahre mit Kapitän Richards gesegelt...« »Sie sind von der Vorbramrah gefallen«, erinnerte Hannah ihn sanft, »und er hat Sie Ihrem Schicksal überlassen.« »Aye, Madam, und Sie haben meinetwegen beigedreht.« Daß offenbar niemand an Bord Jackson über seinen Irrtum aufgeklärt hatte, amüsierte Munro. Aber für das verpatzte Manöver schämten sich wohl alle, und so hatten sie die Reihen geschlossen gehalten und Jackson nicht im Zweifel darüber
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gelassen, daß er zwar toleriert wurde, aber nicht eben willkommen war. Seit der Eintragung in die Musterrolle mußte er seine Passage abarbeiten. Das, dachte Munro, war genau die Art und Weise, wie solche Dinge an Bord geregelt wurden. Die unterschwellige Feindseligkeit konnte Jackson nicht entgangen sein, ebensowenig wie die Tatsache, daß Hannah ihm nun die Chance bot, seine Dankbarkeit zu beweisen und sich zu integrieren. »Madam, ich will mir nichts herausnehmen, wenn ich sage... Na ja, seit die Wette bekannt wurde - bitte um Vergebung -, seitdem hat Kapitän Richards... Ich meine, er war schon immer ein Antreiber, Madam. In meinen Augen war er auch ein besserer Seemann als Ihr Vater, Gott hab' ihn selig und nichts für ungut. Damit will ich nichts gegen Kapitän Kemball gesagt haben...« »Nur weiter«, drängte Hannah, der die Meriten der beiden fraglichen Kapitäne ohnehin ein Rätsel und von weit geringerem Interesse waren als etwas anderes, das sie witterte; etwas Intuitives, das sie schon seit dem Augenblick ahnte, als sie Richard Richards heimlich von Len-Kuas Kabine aus beobachtet und der lüsterne Alte sie gestreichelt hatte. »Tja, Madam, wie ich schon sagte, er war ein höllischer Antreiber und hat immer verdammt viel Tuch stehenlassen, aber auf dieser Fahrt... Auf dieser Fahrt, da war er wie der Teufel höchstpersönlich, Madam, wenn Sie entschuldigen. Da war er wie vom Leibhaftigen besessen ... Deshalb hatten wir ja auch Unfälle...« »Und die haben Sie Zeit gekostet?« fragte Hannah ungeduldig. »Aye«, nickte Jackson. »Er hat Schoten und Fallen angekettet, Madam, er wollte nicht, daß die Offiziere refften, wenn er nicht dabei war.« Munro pfiff durch die Zähne. Sie runzelte die Stirn und schaute Munro fragend an. »Angekettet?« »Ketten an den Schoten«, erläuterte Munro. »Dann kommt ein Vorhängeschloß dran, und den Schlüssel steckt man ein. Dadurch wird ein schnelles Reffen ganz schön schwierig. Und auch Ketten an den Fallen - sehr gefährlich.« Munro schaute Jackson an. »Und deshalb hat sich der Toppnant gelöst und dich in die See geworfen?« »Aye, Sir.« »Und wie hat er sein Verhalten erklärt?« »Wem erklärt, Madam? Kapitän Richards hat nie was erklärt.« »Schön, Jackson, vielen Dank«, sagte Munro und fügte, als der
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Mann gerade gehen wollte, hinzu: »Jackson, Sie würden doch nichts tun, um unsere Chancen zu beeinträchtigen, oder?« »Ich verstehe nicht, Sir.« »Etwas, wodurch wir langsamer würden -vorsätzlich.« Jackson war entsetzt. »Nein! Nie!« »Schon gut, Jackson«, besänftigte ihn Hannah. »Ich vertraue Ihnen.« Mit einem Nicken entließ sie ihn. »Jetzt wissen wir's also«, sagte Munro. »Richards sitzt einfach die Angst im Nacken. Deswegen hetzt er sie so.« »Ja.« Hannah lächelte still vor sich hin. Richards fürchtete nicht so sehr Erl Kings Sieg wie seine eigene Niederlage. Ihn trieb etwas, dessen Macht Hannah erst jetzt voll zu verstehen begann. Die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, beruhte auf Gegenseitigkeit, und ihm war es gar nicht um ihre Parten an Erl King gegangen. Was Richards trieb, war sexuelle Begierde. Vierundvierzig Tage nach dem Min hatten sie die Länge des Kaps der Guten Hoffnung passiert, und elf Tage danach waren sie auf der Breite von St. Helena. Über dem Bergkegel der Insel hing eine Verdunstungswolke. Wie schon am Kap, segelten sie zu weit entfernt von Land, als daß sie mit Signalflaggen hätten Verbindung aufnehmen können. So preschte die Erl King weiter, lief nahezu ohne Verzögerung durch das Hochdruckgebiet der Roßbreiten und von der Westwindzone fast direkt in den Passat. Eine Dampferfregatte aus St. Helena machte keine Anstalten, mit ihnen in Verbindung zu treten, und obwohl die Erl King ihre Nationale aus Respekt vor der mächtigen Royal Navy dippte, passierte der schwarze Zwitter mit seinem niedrigen DinosaurierRigg schwer stampfend und als wäre er blind und taub. Drei Tage später wechselten sie bei leichtem Wind vor Ascen-sion einige Signale mit einer deutschen Bark, die vor acht Tagen von Conakry ausgelaufen und nach Rio de Janeiro bestimmt war. Von der Seawitch hatte sie, was nicht verwunderlich war, nichts gesehen. Während sie weiter nach Norden preschten, nahmen die südlichen Breitengrade, die Hannah nun regelmäßig durch das Beobachten des Meridiandurchgangs bestimmte, mit jeder Mittagsposition kontinuierlich ab. Sie überquerten ohne jede Zeremonie den Äquator und nutzten den Südostpassat mit jedem Fetzen Tuch, bis der Wind auf elf Grad nördlicher Breite leicht und launisch wurde, um schließlich in den Kalmen der Nordhalbkugel ganz zu ersterben. Seit dem Morgen, als sie ihre zügige Heimreise kurz
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unterbrochen hatten, um Molloy zu bestatten, war an Bord wieder gelassene Routine eingekehrt. Ihr Mißgeschick vor dem Kap, der Verlust Molloys und die nun allseits bekannte Tatsache, daß Richards seine Schoten und Fallen durch Vorhängeschlösser sicherte, hatten mit dazu beigetragen, sie zu einer echten Bordgemeinschaft zusammenzuschmieden. Wie es dazu gekommen war, hätte niemand genau sagen können. Es hatte etwas mit Hannahs rascher Auffassungsgabe in Seemannschaft zu tun, auch etwas mit ihrer angeborenen Autorität, die vielleicht nie hervorgetreten wäre, wenn Mai Li ihr nach der versuchten Vergewaltigung nicht beratend zur Seite gestanden hätte. Auch Munro hatte seinen Part gut bewältigt. Daß er sich seiner Unerfahrenheit wohl bewußt war, hatte ihn Hannah mit Vorsicht behandeln lassen, wozu sein angeborener Respekt für Ordnung und Besitz noch beitrug. Indem er die Last der Verantwortung auf seine Schultern nahm, Hannah jedoch aus Liebe wie eine Ebenbürtige behandelte, erfüllte Munro alle Hoffnungen, die Cracker Jack einst in ihn gesetzt hatte. Es gab noch weitere, weniger bedeutende günstige Umstände, nicht nur Mai Lis Anwesenheit an Bord. Die Dienstverpflichtung von Mr. Duke, die Munro erheblich entlastet hatte, milderte die Spannung, die immer geherrscht hatte, sobald er gereizt auf dem Vorschiff erschienen war. Und Jackson, den sie nun endlich in ihrer Mitte akzeptiert hatten, weihte seine begierig lauschenden Wachkameraden in einige Geheimnisse der Seawitch ein. All dies schuf eine Stimmung, die zusammen mit dem stetigen Wind und den guten Etmalen des Schiffes die Arbeitsmoral an Bord hob. Selbst Enright wurde nach siebenwöchigem Arrest nicht mehr mit derselben Härte behandelt. In Hannahs Abwesenheit durfte er hin und wieder an Deck, wo er dann, seelenvoll die Augen rollend, von »Kur« und »früheren Fehlern« sprach - hehre Worte, die in ihrer Unaufrichtigkeit zwar niemanden täuschten, seine Haftbedingungen jedoch etwas lockern halfen. Doch inmitten dieser allgemeinen Euphorie sann Enrights krankes Hirn unablässig auf Rache. Osman verschaffte ihm aus der Bordapotheke heimlich Laudanum und, während Mai Li und Hannah lachend Karten spielten, einige entscheidende Augenblicke der Freiheit. Das Glas besten pekoes, den Len-Kua allabendlich trank, stand auf dem Schlingerbord neben seiner Koje. Der Alte schlürfte ihn zufrieden und nahm außer dem Aroma des bohea-Blattes jedesmal auch etwas Opiumtinktur in sich auf. Enright erhöhte die Laudanumdosis täglich ein bißchen,
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wodurch Len-Kua in einen Zustand schläfriger Mattigkeit fiel. Mai Li war enttäuscht über die Hartnäckigkeit dieses Zustands und hielt ihn für eine Folge des Alters und der Erschöpfung. »Len-Kua sein sehr alter Mann«, erklärte sie mit feuchten Augen. »Vielleicht er nicht kommen London.« »Warum will er denn überhaupt nach London, Mai Li?« fragte Hannah, als sie erfuhr, Len-Kua sei jetzt schon den dritten Abend sehr früh eingeschlafen. »Ich nicht wissen«, antwortete Mai Li schlicht. Elf Grad und neunzehn Minuten nördlich des Äquators lag das Vollschiff Erl King, mit vierzehntausend Kisten Pekoe- und Kaisow-Tee von Futschau nach London unterwegs, bekalmt in einer spiegelglatten See. Fast reglos, mit flappenden Segeln lag es da, während die verdrossene Crew dem leisesten Lufthauch nachjagte, den Talham oder Mr. Duke zu fühlen glaubten. Mit allerhand geduldigen und unbarmherzigen Tricks wollten sie ihr Schiff durch den Kalmengürtel lavieren, hinter dem der frische Nordostpassat auf sie wartete, aber nur ein sehr scharfer Beobachter hätte die leichten Riffel um ihren Steven und die kaum wahrnehmbare Turbulenz um ihr Ruder wahrgenommen, die das magere Ergebnis der ganzen Hektik waren. Munro blieb an Deck und mußte, wenngleich erholt durch das prächtige Segelwetter der letzten Wochen, nun zunehmend frustriert erleben, wie ihre Etmale von eindrucksvollen dreihundert Meilen zunächst auf zweihundert, dann auf einhundert und zuletzt auf jämmerliche zwölf Meilen schrumpften, was kaum einen halben Knoten Fahrt bedeutete. Doch das Fehlen fast jeglichen Oberflächenwinds täuschte über die Turbulenzen in den höheren Luftmassen hinweg. Die Luftbewegung war hier vertikal; der Oberflächenwind wurde zum Aufwind, der in die Höhe stieg, um die verdrängte Luft der Passatgürtel zu ersetzen. Riesige Gewitterwolken türmten sich auf, pausenlos durchzuckt von fernem Wetterleuchten, das ihr Deck erhellte und ihnen sintflutartige Regenfälle bescherte. Die Männer brachten ihre Kleidung an Deck, zogen sich bis auf die Wäsche aus und wuschen und schrubbten, daß Regen und Seifenwasser in den Speigatten gurgelten; sie riggten Reservesegel auf und leiteten das aufgefangene Wasser in die Tanks; und sie trugen endlose Rückzugsgefechte gegen das Schamfilen in der Takelage aus. In dieser aufgeladenen, schwülen Atmosphäre ging Enright daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Das täglich verabreichte Laudanum hatte den alten
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Chinesen wieder in einen willenlosen Zustand versetzt, während Mai Li wegen der Regelmäßigkeit ihres Tagesablaufs unwissentlich zum Opfer erkoren war. Osman kam wie abgesprochen und schloß Enrights Tür auf, als Mai Li und Hannah in der Kajüte Schach spielten. Enright wartete freudig erregt, aber mit der Geduld eines Aasgeiers. Sobald er hörte, daß Mai Li sich zurückzog, blieb er aufs äußerste gespannt reglos stehen. Als er sich ausrechnen konnte, daß sie beim Entkleiden war, verließ er seine unverschlossene Kammer und war mit einem einzigen großen Schritt über den Gang durch die Tür gegenüber geschlüpft. Schon aufs höchste erregt, hämmerte sein Blut vor Begierde und Manneskraft. Er warf nur einen kurzen Blick auf Len-Kua, der kaum atmete und so still wie eine Elfenbeinfigur dalag. Vor sich sah er nur die Frau, schlank wie eine Gerte, nicht jung, aber verwundbar und begehrenswert; sie wippte auf ihren lächerlich verunstalteten Füßen und hatte die Brokatrobe halb hochgezogen, so daß sie ihren Kopf verhüllte. Enright lächelte, durch Mai Lis Wehrlosigkeit noch mehr erregt, aber er rührte sich nicht. Er wollte das Gefühl seiner Allmacht voll auskosten. Sie mußte gespürt haben, daß die Tür aufging. Nun beobachtete er, wie ihre flachen Bauchmuskeln sich ängstlich spannten, als sie sich halb abwandte und damit sein Ziel verbarg, das dunkle Dreieck zwischen ihren Beinen. Dann zog sie das Kleid ganz über den Kopf und starrte ihn an. Gegen die Tür gelehnt, erlaubte er ihr ein kurzes Erkennen. Dann war er mit einem Schritt neben ihr, legte einen Arm um ihre Taille und preßte ihr die freie Hand auf den Mund, in der er die Seidenkrawatte hielt, die er sonst beim Landgang trug. Gegen die obere Koje gedrängt, bedeckte sich Mai Li, angewidert von seinem Gestank. Grinsend brachte Enright einen Knebel an, indem seine geübten Seemannsfinger die Krawatte in Sekundenschnelle mit einem Reffknoten um ihren schlanken Hals befestigten. Dann ließ er seine Hand auf der Suche nach der so lange ersehnten Befriedigung über Mai Lis Körper gleiten, einer Befriedigung, die nur das Vorspiel zu weit größeren Wonnen werden sollte. Für Enright war Mai Li eine Hure, eine käufliche Frau, die kajoliert und zu einer Verbündeten gemacht werden konnte. In seiner Rechnung war sie eine Konkubine, die, so wie Len-Kua aussah, über kurz oder lang einen neuen Herrn brauchte, eine chinesische Nutte, die, wenn sie seine Absichten erst verstand,
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ihre Erfahrung und ihr Wissen um die Tausend Himmlischen Wonnen an Hannah Kemball weitergeben würde, wodurch diese dann endgültig von einem wahren Mann gezähmt und hörig gemacht sein würde. Enright grinste erneut und preßte sich, Mai Lis abwehrende Hände zur Seite ziehend, gegen sie. Mai Li befreite ihre Hände und ließ die Linke in einer Geste des Einverständnisses wie streichelnd über seinen Bauch gleiten. Ihre Rechte aber stahl sich aufwärts. Und während sie ihn mit der linken Hand liebkoste, riß sie die Rechte, flach und hart wie ein Brett, plötzlich hoch und schmetterte sie krachend von unten gegen seine Nase, wie die alte Puffmutter von Schanghai es sie vor langer Zeit gelehrt hatte. Wie kleine Lanzen drangen die Knochensplitter des gebrochenen Nasenbeins in Enrights Hirn. Lautlos bog er das Rückgrat durch und fiel tot vor ihre Füße.
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15 »Missie... Missie, bitte!« flüsterte Mai Li beschwörend vor Hannahs Kabine. Hannah öffnete die Tür. Sie hatte ihr Haar gelöst und war schon bis aufs Hemd ausgezogen. »Was gibt's?« »Kommen, bitte kommen!« Mai Li, nur in ein Hemd gehüllt, wich zurück und bedeutete Hannah, ihr zu folgen. Ihre Aufregung war nicht zu übersehen, so daß Hannah zunächst vermutete, Len-Kua habe einen Rückfall erlitten. Mai Li führte sie in ihre Kabine, doch der Chinese schlief den Schlaf des Vergessens. Dann stieß sie mit dem Fuß gegen Enrights Leiche und fuhr mit einem entsetzten Aufschrei zurück. Auf den ersten Blick sah sie, daß er mausetot war. Sein Körper war halb mit seinem Morgenmantel bedeckt, sein Blick starr und gebrochen. »Was ist geschehen?« »Er hierher kommen... So...« Angewidert deutete Mai Li auf Enrights Blöße. »Er versuchte, dich zu - zu...« Hannah brachte das Wort nicht über die Lippen. Mai Li nickte. »Er versuchen, mich ficken!« »Hast du ihn getötet?« Mai Li machte ihre Hand flach wie ein Brett, riß sie hoch und stieß sie durch die Luft. »Alte Lady in Schanghai mir zeigen, lange her... Ah ja, und jetzt schlechte Mann in Kabine bringen, husch husch...« »Wie ist er überhaupt rausgekommen?« fragte Hannah, als sie, jede ein Bein haltend, Enright mit baumelndem Kopf über den Gang in seine Kammer schleiften. Mit einem Schauder ließen sie ihn, Arme und Beine gespreizt, auf dem abgetretenen Teppich liegen. Hannah warf einen schnellen Blick auf das Vorhängeschloß, es hing offen in der Öse. Sie runzelte die Stirn. »Komm in meine Kabine, Mai Li, wir nehmen einen kleinen Schluck, machen besser.« Nachdem die zitternde Frau sich beruhigt hatte und gegangen war, blieb Hannah noch in ihrer Kabine sitzen. Es war seltsam, wie wenig Gewissensbisse sie darüber empfand, daß sie sich zu Mai Lis Komplizin gemacht hatte. Enright war ermordet oder zumindest in Notwehr getötet worden, doch abgesehen von
dem Entsetzen, weil sie seinen Körper anfassen mußte,
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spürte sie nichts als eine ungeheure Erleichterung. Enrights Tod schien ihr weit gerechter als der Jansens. Sie fragte sich, wer ihn freigelassen hatte, schob den Gedanken aber beiseite und goß sich noch einen Brandy ein. Dann legte sie sich hin und fiel, wegen ihres mangelnden Schuldgefühls nicht weiter beunruhigt, in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Osman fand Enright am nächsten Morgen. Unsicher, wie weit er durch seine Komplizenschaft in eine Sache verstrickt war, deren Hintergründe er nicht kannte, meldete der Steward, weiß wie die Wand, den Vorfall zitternd dem Zweiten Offizier. Sein schlechtes Gewissen ließ ihn eilfertig nach einer Todesursache suchen. »Muß gefallen sein, Sir. Und sich dabei den Kopf angeschlagen haben oder so.« Munro war kein Pathologe. Nach einem kurzen Blick auf den Leichnam pflichtete er Osman bei. Er war versucht, ihn zu fragen, ob er etwa seine Alkohollieferungen an den Ersten wieder aufgenommen hatte, aber er verkniff es sich. Statt dessen ging er nach achtern zu Hannah und nahm sich das Logbuch vor. Sein Verlangen nach Wind war stärker als das nach einer Aufklärung von Enrights Todesursache. »Tot in seiner Kammer aufgefunden.« Das war alles, was er schrieb, dann schob er Hannah Logbuch und Federhalter zu. »Wenigstens wird seine Bestattung uns bei dieser Flaute nicht aufhalten«, bemerkte er, während sie unterschrieb. »Allerdings«, sagte Hannah. Ihre Hand zitterte leicht, weil ihr die Unwiderruflichkeit ihres Handelns allmählich klar wurde. »Tote reden nicht«, meinte Munro und fühlte sich fast wie ein Pirat. »Gut, daß Sie ihn los sind, meine Liebe«, fügte er gönnerhaft hinzu. Hannah, die sich in den letzten Wochen stark verändert hatte, ärgerte sich wieder einmal über seine männliche Überheblichkeit. »Aber jemand hat seine Tür aufgeschlossen, Mr. Munro«, sagte sie förmlich. »Und dieser Jemand könnte sehr wohl reden.« Die Götter des Meeres schienen durch Enrights Tod besänftigt zu sein. Als sie seinen Leichnam der See übergaben, glaubte Hannah zu fühlen, daß sie nun den Teil ihres kollektiven Gemeinwesens absonderten, der sich versündigt hatte, und
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daß die Erl King dadurch von den ihr übelgesinnten Geistern befreit wurde, die das Schiff in den Kalmen festgehalten hatten. Kaum ruhte Enrights Leiche im Schlick des Meeresbodens, als eine Brise aufkam, zunächst noch launisch, allmählich aber die Segel mit stärkeren Böen füllend, die sich im Lauf des Vormittags zu einem richtigen Wind auswuchsen. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte das Schiff die Doldrums hinter sich gelassen und machte neun Knoten Fahrt. Als der Morgen dämmerte, rollte es hoch am Wind, die Halsen ganz nach vorn und die Schoten ganz nach achtern geholt, mit fast mittschiffsgebraßten Rahen durch den Nordostpassat. Zwölf Tage später passierten sie die Kapverdischen Inseln und signalisierten vergeblich zwei fremden Schiffen. Doch am nächsten Tag bekamen sie Verbindung mit einer nach Yokohama bestimmten Bark aus London. Die Erl King war das erste aus China kommende Schiff, das ihr begegnet war, und diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer an Bord des Klippers. Das auslaufende Schiff hißte weitere Signalflaggen, da die Erl King aber in seinem Luv segelte, konnte man dort die Flaggen nicht entziffern, und außerdem hatte man es eilig. »Sicher ist es natürlich nicht.« Munro sprang vom SalonOberlicht. »Aber irgendwie habe ich so ein Gefühl in den Knochen...« Er starrte achteraus, als suche er nach der Seawitch. »Sie kann uns unmöglich überholt haben.« Delphine umspielten ihren Bug, und die letzten fliegenden Fische segelten vor ihrem huschenden Schatten davon. Sturmvögel schossen über ihrem Kielwasser hin und her, das sich grün-weiß marmoriert schnurgerade achteraus erstreckte; wild kreischende Silbermöwen und die kleineren Heringsmöwen stritten sich um Küchenabfälle. Und zwischen den Seen hüpften die zierlichen dunklen Wellenläufer herum, ständig auf der Suche nach ihrer winzigen Beute. Die Spannung an Bord wuchs mit jeder Meile, die sie abspulten. Es waren zunehmend mehr Segel zu sehen, und die dunklen Rauchfahnen von Dampfern verschmierten den bisher klaren Horizont. Andere Schiffe wurden ein selbstverständlicher Anblick und waren nicht länger Quelle der neuesten Nachrichten. Hannah hielt es kaum noch unter Deck aus. An die Reling gelehnt, hielt sie Ausschau und staunte selbst darüber, wie sehr sie sich seit der Hinreise, als sie
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denselben Ozean durchpflügt hatten, verändert hatte. Durch den Geiz ihres Vaters aus ihrem behaglichen, beengten Milieu gerissen, war sie inzwischen Herrin ihres eigenen Geschicks geworden, sofern Gott und die Meergeister es zuließen. »Sie haben Fieber, Hannah.« Munro kam und stellte sich neben sie, als sie an der Reling lehnte und achteraus starrte. »Ich habe - was?« »Kanalfieber. Das ist eine nervöse Reizung, hervorgerufen größtenteils durch gespannte Vorfreude, und bei Seeleuten, die in den Ärmelkanal einlaufen, weit verbreitet... Bei Ihnen kommt der Anfall schon sehr früh, das ist alles«, dozierte er. »Sie sind impertinent, Herr Offizier«, entgegnete sie lachend und wechselte das Thema. »Würden Sie wieder mit mir zur See fahren?« »Wollen Sie mich denn haben?« »Natürlich!« »Sehr gut, dann... Natürlich unter bestimmten Bedingungen«, fügte Munro, ernst geworden, hinzu. »Bedingungen, Sir? Sie wagen es, mir mit Bedingungen zu kommen?« fragte sie mit gespielter Arroganz. »O ja, Hannah, denn die GentJemen vom Handelsministerium würden eine Wiederholung unseres augenblicklichen vorschriftswidrigen Zustands nicht erlauben. Und es würde einiges erleichtern, wenn wir, ähem, uns auf andere Weise zusammenspleißten.« Hannah richtete sich auf und wandte Munro das Gesicht zu. »Ist das der Antrag einer Teerjacke, Mr. Munro, oder ein Orakel?« »Ich meine es ernst, Hannah. Ich habe Hoffnungen, Erwartungen. ..« »Ja, ich weiß.« Sie schaute ins Kielwasser, und als sie mit gedämpfter Stimme antwortete, hatte sie den neckischen Ton abgelegt. »Lassen Sie uns nichts übereilen, James. Noch keine Versprechungen, von keiner Seite. Auch Kapitän Richards hat Erwartungen.« Damit ließ sie Munro an der Heckreling stehen und ging unter Deck. Düster starrte der Schotte achteraus und beobachtete eine kleine Sturmschwalbe, die in ihrem Kielwasser jagte, ein winziger Vogel, der auf dem Aufwind ritt und die Gischt nicht zu fürchten schien. Das ließ ihn an Hannah denken. Sie hatte so verletzlich ausgesehen, als er sie damals in Schanghai dabei ertappt hatte, wie sie der Bettlerin die Logleine zuwarf. Daß sich nun ihre innere Kraft offenbarte, verringerte keinesfalls die Zuneigung, die er für
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sie empfand. Auch er mußte sich verändert haben, anpassungsfähig wie ein Sturmvogel. Aber was hatte sie gemeint, als sie sagte, auch Kapitän Richards habe Erwartungen? Sie konnte doch nicht ernsthaft daran denken, die Wette ihres Vaters einzulösen? An einem trüben Morgen im Frühherbst standen sie westlich von Kap Finisterre. Bei dickem, häsigem Wetter und schwerer See liefen sie vor einem Südweststurm her. Das jäh fallende Barometer hatte sie rechtzeitig gewarnt, alles zu verschalken. Wieder einmal brachten sie Strecktaue an und bargen die oberen Segel. Die See kochte am Wasserpaß entlang und spielte eine zischende Begleitmusik zu ihrer ungestümen Fahrt, während Munro, den Sextanten im Arm, stundenlang geduldig an Deck wartete, um wenigstens einen kurzen Blick auf die Sonne zu erhäschen, während sie auf den Flaschenhals zujagten, in dem sich alle Handelsschiffe Europas zu treffen schienen. Eingeengt im Norden von den felsigen Scilly-Inseln und der Steilküste Cornwalls, im Süden durch die Riffe Ushants und den Landvorsprung der Bretagne, lag der Kanal mit seinem kurzen, steilen Seegang vor ihnen. »Wir wollen unseren Landfall möglichst an der französischen Küste machen«, erklärte Munro Hannah. »Aber es wäre gefährlich, zu dicht unter Land zu laufen, solange wir keinen zuverlässigen Standort bekommen.« Doch die Sonne ging unter, ohne sich noch einmal gezeigt zu haben. Frustriert blieb Munro die ganze Nacht über an Deck und hielt die Ausguckposten mit seinen Fragen wach, während sie sich vorsichtig durch den starken Schiffsverkehr fädelten. Die Verantwortung lastete schwer auf Munro. Obgleich Talham und Mr. Duke sich als tüchtige Untergebene erwiesen hatten - der eine ganz unerwartet, der andere mit zunehmender Begeisterung -, machte das Amt des Schiffsführers ihm schwer zu schaffen. So vieles hing von ihm ab: der Erfolg der Reise, das Wohlergehen der Crew, von seiner persönlichen Zukunft ganz zu schweigen. Doch Munro war ein geradliniger Charakter, der persönlichen Ehrgeiz hintanstellte und die Last seiner Funktion akzeptierte. Er führte das Kommando, und nur er hatte zwischen Wagemut und Vorsicht zu wählen. Schließlich gewann die Vorsicht. Der hartnäckige Tiefstand des Barometers überzeugte ihn davon, daß sie das stürmische, unsichtige Wetter mit in den Kanal hineinnehmen würden. Er luvte einen Strich an, um sich von den Gefahren in Lee freizuhalten, und hoffte unverdrossen auf einen
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Morgenstern oder den Sonnenaufgang. Doch der Himmel, weiterhin von einer geschlossenen Wolkendecke verhangen, verweigerte ihm den Fix und ließ einen verwaschenen, grauen Morgen dämmern. Unruhig döste Munro in dem salzverkrusteten Deckstuhl, als Talham um acht Uhr zur Wachablösung erschien. Nur wenig später war auch Hannah an Deck. Prasselnder Regen rann über ihr gebräuntes Gesicht und durchnäßte die rebellisch flatternden Haarsträhnen. Doch sie spürte die Kälte nicht, als sie darauf wartete, daß die beiden Kadetten mit dem rituellen Loggen fertig wurden. »Zwölf, Madam - und ein halb, wenn es Ihnen paßt.« »Ja, rechnen wir zur Vorsicht einen halben Knoten dazu. Das ist besser bei diesem Wetter.« Die Jungs wechselten einen raschen Blick. Sie hatten sich angewöhnt, Hannah wegen ihrer gern zur Schau gestellten, neuerworbenen Seemannschaft und weil sie die Eignerin des Klippers war, »die Alte« zu nennen. Aber sie wußten, daß ihre zukünftige Karriere von ihr abhing, und waren deshalb sorgsam darauf bedacht, diesen Spitznamen für sich zu behalten. Feixend holten sie die Logleine ein und schauten erst bei Hannahs Alarmrufhoch. »Mr. Talham, sehen Sie!« Hannah deutete nach Backbord voraus. Dort tauchte aus dem Dunst der niedrige schwarze Rumpf eines anderen Vollschiffs auf, das mit schäumender Bugwelle auf gleichem Kurs lief. Etage nach Etage von Segeln nahm Gestalt an, als sich die Regenwand verzog und der Dunst hob. Munro wurde schlagartig wach und sprang auf. »Wahrschau - der Wind springt um!« rief er und starrte gespannt nach Luv, wo tiefhängende graue Wolkenfetzen dahinjagten und allmählich aufrissen, um blaue Flecken freizugeben, als die aus Nordwesten kommende Kaltfront mit ihrem ausschießenden Wind aufzog. »Sie sind es!« Hannahs schriller Schrei zerschnitt die Luft. Das Fernrohr auf das fremde Schiff gerichtet, erkannte sie die einsame graue Figur auf der Poop, sah die Armbewegung, als Richards den Toppgasten befahl, die Royalsegel zu setzen. »Das kann nicht sein!« Munro war sich ganz sicher, daß ihr Rivale sie unmöglich eingeholt haben konnte. Schweigend hielt Hannah ihm das Fernrohr hin. Munro ergriff es, stellte das Bild schärfer ein und fluchte
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hemmungslos. »Verdammte Scheiße!« Auch die letzten Zweifel waren ausgeräumt, als sie am Heckspiegel des anderen Schiffes die geschwungenen Goldbuchstaben lesen konnten: Seawitch, London. »Alle Mann an Deck und Bramsegel setzten, Mr. Munro!« fauchte Hannah und baute sich neben dem Rudergänger auf. »Und wenn Sie auch nur einen Knoten verschenken«, zischte sie den verdutzten Gopher Stackpole an, »dann bringe ich Sie eigenhändig um!« Eine übermächtige Wut hatte sich ihrer bemächtigt, aber gleichzeitig war sie so aufgekratzt wie noch nie. Sie wußte, hier bot sich ihr eine Chance, die genutzt werden mußte. Daß Richards ihnen ein Schnippchen geschlagen hatte, machte sie sich gar nicht erst klar, sie stellte keine frustrierenden Berechnungen an und hielt sich nicht mit nachträglicher Fehlersuche auf. Zwar schätzte sie es, daß Munro sich in seiner Berufsehre gekränkt fühlte, wie sie auch seine professionelle Vorsicht zu würdigen wußte. Er war ihr im Verlauf dieser Reise eine wertvolle Hilfe gewesen, doch der Streß hatte seine Nerven überstrapaziert. Der Ärmste war erschöpft. Er hatte all ihre Erwartungen erfüllt und mehr als das. Aber nun fühlte sie, daß er sich genauso gedemütigt vorkam wie damals in der Taverne von Schanghai. Richards' alles beherrschende Präsenz war fast körperlich spürbar. Das technische Wunder, daß er den Kanal vor der Erl King erreicht hatte, drängte den Gedanken an Hexerei auf, die ihm von vielen nachgesagt wurde. Sein legendärer Ruf übte eine solche Faszination aus, daß Hannahs Crew schockiert und mit offenen Mündern zur Seawitch hinüberstarrte. Auch Munro war wie betäubt und schaute mit hängenden Schultern ins Rigg und zur Seawitch. Auf Hannahs Befehl hatte er überhaupt nicht reagiert. Sie sprang aufs Kajütdach. »Die Bramsegel, Mr. Munro!« wiederholte sie scharf. »Und alle Mann an Deck!« Beim erneuten Blick zur Seawitch stellte sie fest, daß sich in ihrem Vortopp flatternd ein weißes Segel entfaltete. Wenige Sekunden später breitete die Seawitch mit der Präzision strenger Disziplin und langer Übung vorne die oberen Leesegel aus. Hannah beobachtete ihre an Deck steigende Freiwache. Deren Befürchtung, sie könnten bei dem dicken Wetter wegen einer Notsituation herausgetrommelt worden sein, schlug schnell in Eifer um, als sie den blauen Himmel, den wäßrigen Sonnenschein und dann die Seawitch sahen. Munros Fatalismus wirkte nicht
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ansteckend, stellte sie fest, und die Verzagtheit seiner Wache, wenngleich verständlich, wurde hinweggefegt von einer Welle kollektiver Begeisterung. »Royalsegel, Jungs!« schrie sie, ihren Unternehmungsgeist nutzend, und schon im nächsten Augenblick enterten die Männer auf. »Und danach setzen wir die Leesegel, Mister!« rief sie, verschwand nach unten und ließ einen Munro an Deck zurück, der sich von seinem Schock erst erholen mußte. Sie packte ein paar Sachen in ihrer Kabine zusammen, band sich ein Seidentuch um den Hals und strebte zum achteren Niedergang. Im Salon traf sie auf Mai Li. »Missie...« »Nicht jetzt, Mai Li... Wir segeln mit Kapitän Richards um die Wette und sind bald in London. Das kannst du Len-Kua sagen.« Oben an Deck stieß sie fast mit Kadett Waller zusammen, der sie gesucht hatte. »Portland Bill, Madam.« Er deutete nach Backbord, und sie erkannte unterhalb des dunkelgrauen Hügels von Verne den rotweiß gestreiften Leuchtturm. Dann schaute sie wieder zur Seawitch. Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß ihre relative Peilung nach vorn auswanderte: Richards lief schneller als sie. Mit einem Blick nach oben erkannte sie, daß die Leesegel noch immer nicht gesetzt waren. »Mr. Munro!« Ihre Stimme kippte über vor Schärfe. Munro drehte sich um. »Was?« »Lassen Sie die Leesegel setzen, zuerst am Großmast und dann am Fockmast. Und wenn Richards noch einen Yard gutmacht, dann auch die Royals!« »Reden Sie doch keinen Unsinn, Hannah!« Mit einem Satz war Munro neben ihr und packte sie warnend am Handgelenk. »Dieser Wind frischt noch auf und wird böig...« »Mir doch egal«, fauchte sie und starrte ihn böse an. »Die Verantwortung dafür übernehme ich. Tut mir leid, daß es so weit kommen mußte, aber ich bin Eigner dieses Schiffes. Ich schätze Ihre Besonnenheit sehr und bewundere Ihre Tüchtigkeit, ich vertraue auch darauf, daß Sie jetzt keinen Murks bauen. Aber wenn Richards seine Leesegel setzt, dann gehen auch unsere raus, haben Sie verstanden?« Munro starrte sie unschlüssig an, müde und gereizt, weil sie damit vielleicht seine feste Absicht durchkreuzte, die Erl King heil und sicher aus China zurückzubringen: ein Ziel, das er fast schon
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erreicht hatte. Was machte es denn aus, wenn Richards sie so kurz vor London ganz knapp besiegte? Ihre Reisezeit und ihre Leistung konnten sich sehen lassen. Zwar hatten sie einen Mann über Bord verloren, doch dafür durften sie es sich zugutehalten, daß sie einen anderen gerettet hatten, den Richards dem sicheren Tod ausliefern wollte. Und nun versuchte diese halbe Person, so hübsch und begehrenswert sie auch war, ihm das Kommando zu entziehen, wollte aus kindischem, maßlosem Stolz seine rechtmäßige Position an Bord usurpieren, nur weil sie die Eignerin war. Er wußte, sie konnte Richards ganz legal zum Teufel schicken, wenn dieser walisische Bock kam und um ihre Hand anhalten wollte. Schließlich war er bei dieser hanebüchenen Wette selbst Zeuge gewesen. Und außerdem mußten fünfzehntau-send harte Seemeilen doch wahrhaftig seinen samsu-benebelten Kopf abgekühlt haben. Und doch, ihn auszustechen... »Muß ich erst einen Befehl daraus machen, James«, zischte Hannah, »oder ziehen wir weiter an einem Strang?« Ihre Augen funkelten ihn aufgebracht an, ihr Atem streifte verlockend sein Gesicht, und schon war er von ihrem jugendlichen Wagemut angesteckt. »Sie sind verrückt, Hannah, und eine Närrin. Das ist meine berufliche Meinung. Aber ich bewundere und liebe Sie, und wenn Sie diesem Waliser eine Lektion erteilen wollen, habe ich nichts dagegen. Wer zahlt, hat auch das Sagen, stimmt's?« »Stimmt«, nickte Hannah. »Also setzen Sie mir alle Leesegel, und dann rufen Sie die Leute nach achtern.« Als die Crew angetrabt kam, stand sie an der Querreling, das bunte Seidentuch als einzige Konzession an ihre Weiblichkeit um den Hals geschlungen, riß sich die flache Mütze vom Kopf und schüttelte das Haar im Wind. Die Männer starrten sie mit offenen Mündern an. »Wache ab jetzt rund um die Uhr, Jungs«, rief sie, »und zwar so lange, bis wir im London River sind, und dieses Schiff da« dramatisch deutete sie nach Backbord - abgehängt haben.« Der Zimmermann schrie als erster Hurra, die anderen stimmten ein. »Die Hälfte meiner Heuer darauf, daß ihr Bugspriet bald in unserm Arsch steckt, Miss«, brüllte er. »Und meine darauf, daß mein Burgspriet überall steckt, bloß nicht auf diesem Kahn, wenn ich mich das nächste Mal aufs Ohr haue«, murmelte ein anderer, Hannah mit den Augen entkleidend.
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»Alles bloß das verdammte Kanalfieber«, warnte der Segelmacher laut. »Halten's Ihre Segel etwa nicht aus?« fragte Hannah scharf. »Aye, die halten, bloß keine Sorge...« Die Crew brach in Hochrufe aus. Hannah zog zwei Flaschen Brandy aus den Beständen ihres Vaters unter der Jacke hervor. »Hier«, sagte sie und reichte sie zu ihnen hinunter, »eine für jede Wache. Wenn der Lotse an Bord kommt, gibt's noch eine, und eine dritte dann, wenn wir am Kai festgemacht haben.« Triumphierend lächelnd, drehte sie sich um und ignorierte Munros skeptisches Kopfwiegen. »Miss, Miss?« Sie fuhr herum und sah Jackson halb auf der Leiter zur Poop stehen. »Ja, was gibt's, Jackson?« »Nehmen Sie sich in acht vor ihm, Miss. Halten Sie sich gut frei, er könnte versuchen, dicht aufzuschließen und Sie auszuluven.« »Das wagt er nicht«, sagte sie und warf selbstsicher den Kopf zurück. Aber er wagte es. Am Mittag lag St. Catherine's querab, und die Isle of Wight verblaßte allmählich in der Ferne. Eine Meile voraus kreuzten in untadeliger Kiellinie drei Dampfkorvetten der Royal Navy ihren Kurs. Munro gab Anweisung, grüßend die Nationalflagge zu dippen und dann darunter die Kennziffern der Erl King zu hissen. »Signalisieren Sie ihnen, daß wir einen Schlepper brauchen«, rief Mr. Duke. »Machen Sie keine Witze«, fauchte Hannah, ganz mit dem schwindenden Abstand zwischen den beiden Klippern beschäftigt. »Fügen Sie noch die Kennung von Dover hinzu. Vielleicht haben Sie Glück. Die Royal Navy arbeitet nämlich mit weitreichenden optischen Telegraphen und ist manchmal in Spendierlaune«, erläuterte Mr. Duke, unbeeindruckt von Hannahs scharfem Ton und ihrer Begriffsstutzigkeit . Munro nickte. »Gute Idee.« Prompt machten sich Gordon, Waller und Stokes an den Flaggleinen zu schaffen. »Na bitte, sie haben bestätigt. Hoffentlich leiten sie's weiter.« Munro half den Kadetten, die Flaggen wieder aufzutuchen. »Das werden sie. Nette kleine Übung - genau das, was sie so schätzen«, bemerkte Mr. Duke verbittert. Als die beiden Schiffe Beachy Head passierten, lag die Erl King Bug an Heck mit der Seawitch. Jetzt kenterte die Tide, und damit
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stand Wind gegen Strom. Das warf einen groben Seegang auf, in dem die beiden Klipper so hart zur Kehr gingen, daß die oberen Spieren zu peitschen begannen und die leichteren Segel den Wind ausschütteten. »Nehmen Sie die Leesegel runter, Hannah«, drängte Munro und starrte in die stark beanspruchte Takelage. »Nein!« »Dann kommt Ihnen bald was von oben«, warnte er. Sie spähte zum Achterschiff der Seawitch hinüber. »Ich muß ihn überholen«, murmelte sie, Richards im Fernglas einfangend. Munro starrte sie an. Eigentlich hatte er sagen wollen, daß sie schließlich ihr Bestes gegeben hätten und daß Hannah kindisch sei, aber irgend etwas hinderte ihn daran. Gereizt drehte er sich um, wütend über sich selbst, weil er diese letzte entscheidende Etappe ihrem unerfahrenen Urteil überließ. Die Hände in den Taschen vergraben, schlurfte er mit hochgezogenen Schultern nach achtern zum Rudergänger, um ihn dafür zu maßregeln, daß er drei Grad vom Kurs abgekommen war. Im Topp knallte es plötzlich, gefolgt von einem donnernden Killen. Ein paar Sekunden flatterten die Fetzen des GroßRoyalsegels von ihren Lieken, um gleich darauf lose davonzufliegen. Fast querab sprangen Seawitchs Toppgasten in die Webleinen, und Hannah hörte Richards auf seiner Poop Kommandos brüllen. »Aufentern! Und kappt mir diese Wuling da oben«, rief sie, während Munro herbeigerannt kam. »Hannah, nehmen Sie um Himmels willen endlich die Leesegel weg!« »Nein! Nicht bevor er seine runterholt!« Mit dem Kopf deutete sie auf die Seawitch. »Tut er doch gerade! Sehen Sie denn nicht, daß seine Männer aufentern?« »Das ist 'ne Falle! Er will uns nur Angst einjagen, damit wir unsere wegnehmen. Selber denkt er nicht daran.« Munro starrte zu Richards hinüber. Hatte sie recht? Möglich war es immerhin. Seawitchs Crew legte auf den oberen Rahen aus und wartete. Bisher war drüben noch keine Schot angerührt worden. Zoll um Zoll schob sich die Erl King nach vorn. Ihr Kreuzmast überlappte jetzt Seawitchs Großmast. Triumphierend drehte sich Hannah zu Munro um. »Wir haben's geschafft...« »Noch nicht. Mein Gott... Wahrschau!«
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»Raum, zum Kuckuck!« tönte Richards' Stentorstimme über das Zischen der zwischen den beiden Schiffen zusammengepreßten konfusen Seen. »Raum !« Hannah sah Munro an. »Was meint er damit?« »Wir sind das überholende Schiff und müssen uns freihalten.« »Aber er luvt doch absichtlich zu uns hoch«, rief Hannah entrüstet. »Sehen Sie nur, was er macht!« Sie deutete auf Richards, der gelassen neben dem Rad stand und seinem Rudergänger Mut zusprach. Wieder schrie er: »Raum!« Beide hatten ganz vergessen, daß sie im Chinesischen Meer einen ähnlichen Trick angewandt hatten. »Ist er denn nicht verpflichtet, Kurs zu halten oder so?« fragte Hannah verzweifelt, als von oben wieder das Kreischen reißenden Tuchs kam. »Die Leesegel am Fockmast platzen aus ihren Lieken, Madam. Sollen wir die Royals streichen?« »Nein!« Hannah fuhr zu Bootsmann Harris herum, dessen Gang instinktiv an die aufgeschossenen Fallen eilen wollte. »Lassen Sie die Finger von diesen Strippen!« Sie zog Cracker Jacks schweren Revolver aus dem Gürtel und hob ihn auf Schulterhöhe. »Halten Sie Kurs, Kapitän Richards!« schrie sie. »Halten Sie sich frei, Madam, Sie behindern mich!« Der Revolver knallte in Hannahs Faust, bockte und knallte noch einmal. »Um Himmels willen, Hannah!« schrie Munro, aber sein Protest wurde übertönt von Buhrufen und Pfiffen, als sich die kleinen Einschußlöcher in Seawitchs oberstem Vor-Leesegel zu einem Spalt vereinigten und verbreiterten, bis das riesige, leichte Tuchviereck von oben bis unten auseinanderriß. Kurz danach, als Richards zur Querreling seines Achterdecks gerannt war und sein Erster ihm das Ausmaß des Schadens zugerufen hatte, lag die Erl King klar in Führung. In der von Osten heraufziehenden Abenddämmerung wurde an der Kimm zunächst der diffuse Schein und später die Kennung des Leuchtfeuers von Dungeness sichtbar. »In der Liebe und im Krieg ist jedes Mittel erlaubt«, rief Hannah lachend achteraus. Sie hielten ihren Vorsprung auch dann noch, als der Wind bei Einbruch der Nacht weiter ausschoß. Er wehte jetzt von der Küste her und glättete die Seen etwas, so daß sie beim Kentern der
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Tide das South Foreland mit Backstagswind anliegen konnten. »Ich lasse das Lichtsignal für den Lotsen bereithalten«, sagte Munro. »Der Kutter kreuzt normalerweise dicht hinter der Huk.« »Sehr gut«, sagte Hannah zerstreut, denn in ihr keimte eine Idee. Sie sah zu, wie die Männer im Halbdunkel die Schlepptrosse und die Fackeln für den Lotsen bereitlegten. »Kriegen wir denn einen Schlepper?« fragte sie Munro, als er zufrieden nach achtern kam. »Hoffentlich. Wenn Mr. Dukes Trick mit der Navy geklappt hat, müßten sie inzwischen Wind von uns bekommen haben. Die werden jetzt beide Schiffe zurückerwarten, zumal wir die ersten der Chinaflotte sind.« »Das walte Gott!« sagte Hannah inbrünstig. »Aber sicher«, besänftigte Munro. »Das sind wir bestimmt. Wir müssen auch von Portland oder St. Catherine's aus gemeldet worden sein, selbst wenn uns die Navy nicht den Gefallen getan hat. Deshalb sind die Schlepperkapitäne bestimmt inzwischen ausgelaufen, schließlich wollen sie Geschäfte machen.« Hannah schwieg, den Blick auf die Planken gerichtet. »So, und jetzt lassen Sie in Gottes Namen endlich die oberen Leesegel wegnehmen.« Munro spähte achteraus. Der Westhimmel glühte rot im Sonnenuntergang. KumulusWattebällchen hoben sich tintenblau davon ab und rahmten die Silhoutte der Seawitch ein, die ihnen mit gut einer Meile Abstand folgte. »Meinetwegen«, stimmte Hannah zu. »Und dann möchte ich, daß Sie die Schiffspapiere holen und sich bereitmachen, an Land zu gehen.« Was?« »Ich erkläre Ihnen alles, sobald die Leesegel weg sind.« Munro stand mittschiffs, froh darüber, daß die Dunkelheit seine Verlegenheit verbarg, die er immer empfand, wenn er Landgangskleider trug. Ihm graute davor, das Schiff zu verlassen und Komplize in einem Plan zu sein, der ganz nach einer Gaunerei aussah. Aber er wußte jetzt, daß man Cracker Jacks Tochter besser nicht in die Quere kam, daß sie eine Frau mit eigenem Kopf war, und außerdem war er ein zu guter Seemann, um eine günstige Brise nicht auszunutzen. Auch wenn sie ihm eine verbindliche Antwort auf seinen Antrag verweigert hatte, so war doch nichts Unverbindliches in ihrem Angebot gewesen, ihn zum Kapitän der Erl King zu machen. Und er bezweifelte, daß es im Handelsministerium auch nur einen Prüfer gab, der ihm das Kapitänspatent verweigern würde, wenn er mit dem ersten Tee
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der Saison aus China eintraf. »Viel Glück, Mr. Munro«, sagte Bootsmann Harris, als sie das Fallreep am Schanzkleid befestigten und Gopher Stackpole eine Laterne daneben hängte. Plötzlich wurden sie in ein flackerndes Licht getaucht, und dann schoß ein kleiner Lotsenkutter aus der Dunkelheit auf sie zu. Sein verschrammter Rumpf scheuerte an ihrer Bordwand entlang, und das Fallreep straffte sich mit einem Ruck. Wenige Minuten später stand der Lotse an Deck und wurde von Kadett Gordon nach achtern geführt, wo er seine Überraschung ventilierte, daß Hannah Kemball ihn empfing. »Sapperlot, Madam, aber eigentlich habe ich John Kemball erwartet. Obwohl ich natürlich hörte, daß seine Tochter an Bord ist«, fügte er eilends hinzu. Hannah ging zum Schanzkleid und sah gerade noch, wie Munro im Deckshaus des Lotsenkutters verschwand. »Ist Ihr Vater...?« Der Lotse machte eine Geste, die selbst in der Dunkelheit als kräftiger Zug aus der Flasche zu erkennen war. »Mein Vater ist tot«, sagte Hannah scharf. »Haben wir einen Schlepper?« »Aye, die Dover Steam Towage hat ihre Impellor schon um die Mittagszeit losgeschickt, sie müßte jetzt vor dem Foreland sein... Tut mir leid um Ihren Vater.« Hannah überhörte die leere Beileidsfloskel. »Na, denn los. Ich habe nicht vor, unseren Vorsprung durch Geschwätz einzubüßen.« »Wie Sie wünschen.« Der Lotse gab Talham Anweisungen und griff korrigierend ins Ruder, als sie Fahrt aufnahmen und die vielbefahrene Straße von Dover ansteuerten. Ein Postdampfer mit grell beleuchtetem Deck kreuzte viel zu nahe ihren Kurs. Weiter draußen irrlichter-ten die grünen Augen auslaufender Segelschiffe und die weißen Mastlichter der Dampfer kreuz und quer über das Wasser. An Backbord voraus lag die Lichtglocke von Dover, und darunter blinkte der South-Foreland-Leuchtturm seinen Willkommensgruß, im Duett mit dem Blinkfeuer von Kap Gris Nez weit an Steuerbord. »Achteraus kommt ein Dampfer auf«, bemerkte der Lotse leutselig, während er ein Streichholz an seine Pfeife hielt und sich paffend neben Hannah an die Querreling stellte. »Ich frage mich, ob...« begann er, doch Hannah unterbrach ihn. »Sind Sie sicher, daß uns ein Schlepper erwartet?« fragte sie. »So sicher, wie man auf See eben sein kann, Madam.« »Und wir sind das erste Schiff, das eintrifft - aus China, meine
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ich?« »Scheint Ihnen eine Menge zu bedeuten, wie?« »Natürlich tut es das!« »Entschuldigen Sie meine Neugier, aber haben Sie das Schiff den ganzen Weg von China hergebracht?« Hannah lächelte in der Dunkelheit. »Ja, aber ich hatte einen erstklassigen Ersten Offizier. Er ist gerade mit den Schiffspapieren in Ihrem Boot an Land gegangen. Und dann hatte ich natürlich auch die erstklassige Crew, die mein Vater mir hinterlassen hat.« »Und Sie waren schneller als Dickie Richards' Seawitchl« »Ja.« »Na, dann hoffe ich nur, junge Frau, daß Sie eine Guinee oder zwei auf sich selber gesetzt haben, denn soweit ich weiß, ist von China noch kein anderer Klipper eingetroffen, obwohl die ersten täglich erwartet wurden.« Aber Hannah hörte schon nicht mehr zu. Für sie ging es um mehr als um ein paar Guineen, und außerdem hatte sie den Leuten eine weitere Flasche versprochen, sobald der Lotse an Bord war. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Sie eilte unter Deck, um den Brandy zu holen. Als sie wieder nach oben kam, herrschte dort heillose Aufregung. »Aber ich dachte...« Talhams Stimme klang schrill vor Zorn. »Dieser verdammte Dampfer ist uns in die Quere gekommen...« konterte der Lotse, und Hannah erkannte zwei Kabellängen in Luv einen schwarzen Schatten. Weiß schäumendes Kielwasser verriet ihr, wo die Schraube saß, die den Kohlenpott an ihrem Klipper vorbeigeschoben hatte. Und dann wurden sie in
schweflig stinkenden Rauch gehüllt. Die Crew hustete fluchend und behauptete, an den schädlichen Abgasen zu ersticken. Gleich hinter dem Heck des überholenden Dampfers tauchten die typischen Lichter eines Schleppers auf, der mit schäumendem Schaufelrad auf die an Deck der Seawitch brennenden Fackeln zuhielt. »Aber das ist unser Schlepper!« protestierte Hannah, die ihren Augen nicht traute. »Und er fährt zur Seawitch... Lotse, Sie haben doch gesagt...« »Vielleicht ist es gar nicht unser Schlepper, Miss Kemball.« »Natürlich ist er das!« rief Hannah aufgebracht, und ihre Stimme kippte über vor Enttäuschung und Wut. Ein Kloß stieg ihr plötzlich in die Kehle, und sie konnte nicht verhindern, daß
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ihre Augen in Tränen schwammen. Zum Glück verbarg die Dunkelheit das Ausmaß ihrer Verzweiflung. Ein zweiter Schlepper, die Sultan, stieß eine halbe Stunde später zu ihnen. Doch als sie innen das South-GoodwinFeuerschiff passierten und nach Norden auf den Gull Stream zuhielten, um schließlich in die Themsemündung einzufahren, zeigte ihnen die Seawitch ihr schadenfroh blinzelndes Hecklicht.
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16 Hannahs Enttäuschung darüber, daß sie den ersten Schlepper verpaßt hatte, war immens; daß Munro nicht da war, um ihr beizustehen, machte das Ganze noch schlimmer. Allmählich bereute sie, daß sie ihn mit ihrem geschickt eingefädelten Schachzug betraut und an Land geschickt hatte. Konnte sie Richards den Sieg wirklich noch streitig machen? Es verbitterte sie, daß die Seawitch, die Futschau nach der Erl King verlassen hatte, nun auf jeden Fall als erste in London sein würde, auch wenn die Erl King ihre Führung behauptet hätte. Die Vorstellung, besiegt worden zu sein, Richards in London nicht ebenbürtig gegenüberzustehen, bestärkte sie in ihrem Vorhaben, ihm doch noch ein Schnippchen zu schlagen. Ihre Enttäuschung verwandelte sich in Entschlossenheit, selbst jetzt noch Mittel und Wege zu finden, um ihm seinen Sieg vorzuenthalten. Bei dieser sich überstürzenden Gedankenflut war sie weder in der Stimmung, mit dem Lotsen zu plaudern, noch wollte sie unter Deck gehen. Bei mitlaufender Tide wurde die Erl King von der vorandreschenden Sultan am Gull-Stream-Feuerschiff vorbei und um das North Fo-reland geschleppt. Als der Morgen dämmerte, befanden sie sich vor Sheppey, wo der Wind rückgedreht hatte, eine kurze Kabbelsse herrschte und der Ebbstrom gegen sie stand. An Backbord voraus tanzte der rote Rumpf des NoreFeuerschiffs inmitten eines Pulks von Schiffen, die allesamt auf die Flut warteten. Schuten, Leichter und Küstenfrachter mit großen Spritsegeln lagen zwischen Barken und Briggs aus der Ostsee und Dampfern aus dem Mittelmeer. Im Süden grasten Austernbagger aus Whitstable und Trawler aus Brightlingsea die Bänke von Kent ab, während in ihrer Nähe, vorm Yantlet und den Maplins, Kutter aus Leigh emsig mit ihren Schleppnetzen fischten. Die Seawitch fuhr gut zwei Meilen vor ihnen, geschleppt vom Impel-lor, der schneller war als ihr Sultan. Mißgünstig dachte Hannah daran, daß diese Schnecke sie einhundert Pfund kostete, was ein weiterer Ansporn war, um jeden Preis mit Kapitän Richards gleichzuziehen. Als ihr auch noch die Kosten für Munros Eisenbahnfahrt von Folkestone oder Dover nach London einfielen, ärgerte sie sich noch mehr über ihre Kurzsichtigkeit. Wieder vermißte sie Munro bitterlich.
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Der Lotse hatte Hannah wiederholt tröstend zugesprochen, doch das verstärkte nur ihre Gereiztheit und erinnerte sie daran, daß sie nun nach Hause zurückkam, in eine Welt, wo man schickliches Benehmen von ihr erwartete. Oder gar, so machte sie sich schaudernd klar, weibliche Unterwürfigkeit, falls sie heiratete. Nach der Freiheit des Meeres erboste sie diese Vorstellung, sie fand sie schlicht unerträglich. Aber ihr gegenwärtiges Leben würde man sie nicht weiterführen lassen. Die Gentlemen vom Handelsministerium, wie Munro sie so nett genannt hatte, würden das schon zu verhindern wissen, und alle sonstigen »Gentlemen« auch. Und obgleich sie in James Munro einen guten Kapitän für die Erl King gefunden hatte, hatte sie nicht die geringste Lust, an Land lebenslang die Rolle der passiven Kapitänsfrau zu spielen! Als sie sich an der Nore vorbeigequält hatten, drehte der Lotse sich um und sagte zum xten Male: »Nehmen Sie es nicht so schwer, meine Liebe. Immerhin waren Sie das erste Schiff an der Lotsenstation. Sie taten Ihr Bestes, niemand hätte mehr erwarten können.« Vielleicht wären diese Worte ihr ein kleiner Trost gewesen, hätte er nicht auf ihre salzverkrustete Männerkleidung gedeutet und gesagt: »Möchten Sie sich nicht umziehen? Machen Sie sich keine Sorgen um das Schiff, in meinen Händen ist es sicher.« Am Ende war sie dann doch nach unten gegangen, aber nur, um sich verbittert auszuweinen. Mai Li, die ohne anzuklopfen in ihre Kabine gekommen war, legte tröstend den Arm um Hannah. Auch sie hatte Tränen in den Augen. »Mai Li«, sagte Hannah und hob schniefend den Kopf. »Was ist? Was ist geschehen?« »Len-Kua«, schluchzte Mai Li. »Len-Kua tot sein, Missie Hannah. ..« »O nein. Mai Li! Das tut mir ja so leid...« Hannah nahm das zierliche Persönchen in die Arme und strich ihr über das geölte Haar. Beschämt dachte sie daran, wie sie die kleine Chinesin am Vortag abgewimmelt hatte. Es klopfte. »Wer ist das?« Hannah machte sich los. »Gordon, Madam. Mr. Talham läßt Ihnen ausrichten, daß wir querab vom Chapman-Leuchtturm sind.« Das erinnerte sie an etwas. »Gordon!« rief sie den Jungen zurück. »Madam?«
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»Vor wieviel Tagen sind wir von Futschau ausgelaufen?« »Zweiundneunzig, Madam«, antwortete der Junge von der Tür aus ohne zu zögern. Die genaue Anzahl der Tage war seit einer Woche Hauptgesprächsthema an Bord. Nun konnte Gordon seinen Kameraden schadenfroh verraten, daß »die Alte« die Übersicht verloren hatte. »Danke«, rief sie. Zweiundneunzig Tage war die Zeit, um die O'Hal-loran und Willis gewettet hatten. Das war eigentlich eine Nebensache, aber irgendwie beschäftigte sie der Gedanke. »Komm, Mai Li, wir müssen jetzt Staat machen...« Sie öffnete die Kabinentür. »Osman!« rief sie. »Heißes Wasser, aber schnell!« »Was sein Staat machen, Missie Hannah?« fragte Mai Li. »Staat machen heißt, alles fein sauber machen. Wir kommen jetzt nach London. Da wollen wir fein sauber sein. Verstehst du?« Mai Li nickte und trocknete sich die Tränen. »Ich verstehen.« Talham, Mr. Duke, Bootsmann Harris, der sauertöpfische Segelmacher und der verschwenderische Zimmermann; Gopher Stackpole, Bill Bailey und Dando Douglas; die Kadetten Gordon, Waller und Stokes, der Koch und nicht zuletzt Jackson, der Schiffbrüchige, sie alle wollten ebenfalls Staat machen. Als die beiden Frauen an Deck kamen, rundete die Erl King gerade die Ovens und lief den Gravesend Reach hinauf. Jede Rah war vierkant gebraßt, jedes Segel in fingerdünnen Lagen aufgetucht, das eingefettete Messing war saubergewischt und mit Ziegelstaub auf Hochglanz poliert worden, eine neue rote Nationale flatterte von der Besan-Gaffelnock, und in luftiger Höhe, unter dem goldgefaßten Masttopp, knatterte John Kemballs Hausflagge in der Brise, ein dunkelblauer Wimpel mit weißem Malteserkreuz. Erl Kings Decks waren schneeweiß gescheuert und mit dem nun nicht länger kostbaren Süßwasser nachgespült. »Vielen Dank«, sagte Hannah anerkennend zu den beiden Offizieren. »War uns ein Vergnügen, Madam«, antwortete Mr. Duke mokant, indem er seinen Hut zog und einen vollendeten Kratzfuß machte. In ihrem dunkelgrünen Seidenkleid, das sie seinerzeit ahnungslos für eventuelle gesellschaftliche Höhepunkte eingepackt hatte, stand Hannah neben dem Rudergänger, als das Schiff am Tilbury Fort und an der Kohlebunkerstation vorbeiglitt. Der Signalgast trat auf den Balkon hinaus, um ihnen zuzuwinken, und eine kleine Menschenmenge rief ihnen vom Landungssteg etwas zu. »Was haben sie gerufen?« fragte Hannah.
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»Daß es eine Schande sei oder so«, sagte Talham. »Vermutlich, weil wir nur Zweite geworden sind«, fügte Mr. Duke hinzu. Langsam, kostbare Zeit verlierend, stampften sie am Long Reach gegen den Ebbstrom an. Hinter den Deichen erstreckten sich die weiten Marschen. In der Ferne kreiste eine Weihe träge über dem Schilf, und an der Hochwasserlinie suchten Austernfischer mit ihren orangefarbenen Schnäbeln zwischen einer Schar kleinerer Stelzvögel nach Futter. Brandenten paddelten im seichten Wasser, und ein Reiher erhob sich in die Lüfte und flog majestätisch über den Fluß. Vor Erith endlich drehten sich die Lastkähne an ihren Murings in den Flutstrom, und zwei Billy-boys überholten sie, die kleinen, fülligen Schoner der Ostküste. Mai Li kam auf die Poop, um sich neben Hannah zu stellen. Auch sie hatte Staat gemacht und einen prachtvollen gelben Seidenkimono mit kunstvoller Brokatstickerei angelegt. Ihr schwarzes Haar glänzte im Schein der gerade durchbrechenden Sonne. Verwirrt schaute sie sich um. »Das sein London?« fragte sie und deutete auf die Salzmarschen. Sie näherten sich der Großstadt wie unter einer Dunstglocke; allmählich füllte sich die Luft immer mehr mit Rauch. Zunächst nur vereinzelt, standen nun die Lagerhäuser dicht gedrängt am Ufer. Der Verkehr auf dem Fluß wurde lebhafter, um sie herum manövrierten Schlepper und Leichter, Segelbarken und Küstenschoner, zwischendurch auch ein Raddampfer mit Post für Rotterdam. Vor Woolwich lag eine Dampfkorvette an der Boje, ihre Beiboote ausgeschwungen, die Marineflagge und -gösch als Symbol der Seemacht Großbritannien an Heck und Bug. »Eng wie in einer Sardinenbüchse«, sagte Gopher, der am Ruder stand und den Anweisungen des Lotsen folgte. Sie passierten den Greenwich-Meridian und den glänzenden schwarzen Rumpf der an ihren Murings vor Blackwall liegenden Trinity-House-Yacht Galatea. »Noch eine Stunde bis Hochwasser, Madam«, erklärte der Lotse, womit er sich auf die Schleuse bezog, die die Zufahrt in den West-India-Hafen gestattete. »Ich weiß nicht, ob Ihr Konkurrent irgendwelche schlauen Ideen hat, aber das Beste dürfte sein, sich am Schlepper in den Strom zu legen und das Schiff so ständig zu machen. Denn wenn wir ankern...« »Nein, nein, bitte machen Sie alles, wie Sie es für richtig halten,
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Lotse, vielen Dank.« Hannah brachte ein Lächeln zustande, und der Lotse vertauschte seine Tabakspfeife mit einer Trillerpfeife, mit der er eine Reihe von Signalen gab, die der Schlepper mit langgezogenem Tuten beantwortete. »Hart Backbord!« rief der Lotse. »Hart Backbord, Sir«, wiederholte Gopher und kurbelte am Rad. »Ruder liegt hart Backbord!« Die Seawitch hatte den Bug bereits stromabwärts gedreht und wurde unmittelbar vor den Schleusentoren von der Impellor ständig gehalten. Die Erl King folgte ihrem Beispiel, so daß die beiden Klipper fast nebeneinander zu liegen kamen. Zwischen ihnen herrschte jetzt ein eigenartiger Waffenstillstand, als gebe es eine stillschweigende Übereinkunft, keine hämischen oder beleidigenden Bemerkungen auszutauschen. Beide Crews ignorierten einander, während sie auf ihren jeweiligen Decks herumwerkelten, die Festmacherleinen klarlegten und die Keile aus den Verschalkungen der Ladeluken schlugen. Hannah schaute über die Lücke zwischen den beiden Schiffen und kämpfte mit dem kindischen Impuls, Tränen ohnmächtiger Wut zu vergießen. Richards war klar zu erkennen, eine selbstbewußte Erscheinung in grauem Gehrock und Zylinderhut, die sie arrogant übersah, sie und ihr Schiff, als habe bei dem ganzen Unternehmen sein Sieg von vornherein festgestanden und sei nun eine pure Selbstverständlichkeit. Er rief einem goldbetreßten Offizier auf der Mole etwas zu, der daraufhin auf eine große Uhr schaute und den Kopf schüttelte. Wenn sie doch nur etwas tun könnte, dachte Hannah. Der Lotse neben ihr kicherte. »Dickie Richards will den Schleusenmeister ein bißchen einschüchtern, damit er die Tore früher aufmacht. Da kommt er aber an den Falschen.« Er schwieg, nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte Hannah anerkennend. »Das Kleid steht Ihnen hervorragend, Madam, wenn ich das sagen darf.« »Sie meinen, es ist Ihnen lieber, wenn ich nicht die Hosen anhabe?« fragte Hannah scharf. Seit sie konventionelle Frauenkleider trug, hatte sich das Benehmen des Mannes verändert. Seine Gönnerhaftigkeit und dazu der Anblick Kapitän Richards' brachten sie in Rage. »Ich meine, ich sehe Sie lieber in einem Kleid«, fuhr der Lotse gedankenlos fort. »Ihre Stimmung hat sich seitdem gebessert, wenn Sie gestatten, daß ich das sage. Ich habe selber eine
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Tochter in Ihrem Alter, meine Liebe, und ich würde es gar nicht gern sehen, wenn sie sich in der Welt herumtriebe.« Hannah wollte verdammt sein, wenn sie ihm das durchgehen ließ. »Sie meinen, Ihre Tochter soll froh sein, wenn sie einen netten Ehemann kriegt und eine ganze Schar Enkelkinder für Sie produzieren kann?« Er nahm die Pfeife aus dem Mund, um sie für diese unfeine Bemerkung zu rügen, aber dann sah er ihren Gesichtsausdruck Wut, natürliche Autorität und unerschütterliches Selbstvertrauen -, und erinnerte sich daran, wer oder besser was sie war. So rammte er sich nur seine Bruyerepfeife wieder zwischen die Zähne und biß so fest darauf, daß der Pfeifenkopf abbrach und, glühende Asche über das gescheuerte Deck streuend, zu Boden fiel. »Und das, Herr Lotse, ist fast genauso kriminell, wie wenn ich Hosen trage...« »Verdammt noch mal, Madam, Sie haben wohl die scharfe Zunge von Ihrem Vater geerbt. Kein Wunder, daß Sie Dickie Richards fast das Fell über die Ohren gezogen haben.« Mit hochrotem Gesicht bückte sich der Lotse, um den abgebrochenen Pfeifenkopf aufzuheben. »Leider nur fast«, sagte sie, an den wahren Grund für ihre Wut erinnert. »Ihr Zweiter Offizier sagt, daß zwischen Ihnen eine Wette besteht«, sagte der Lotse im Versuch, seine verlorene Würde wiederzugewinnen. »Was war denn der Einsatz?« »Der Zylinderhut meines Vaters«, entgegnete Hannah kühl, »und einhundert Guineen. Kapitän Richards' Einsatz war ähnlich.« Sie dachte nicht daran, ihm mehr zu verraten. Der Lotse pfiff durch die Zähne. »Und wer genau ist der Sieger?« »Wer an seinem Liegeplatz zuerst mit den Löscharbeiten beginnt. Mein Erster müßte uns schon zur Zollabfertigung angemeldet haben. ..« »Dann haben Sie also noch eine Chance... Ich meine, das Rennen betrifft nur Ihre beiden Schiffe, oder? Unabhängig davon, ob schon ein anderes Schiff mit dem ersten Tee aus China eingetroffen ist?« Hannah nickte. »Ja, aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Und gewinnen können wir auch nicht mehr, selbst wenn wir schon zur Zollabfertigung angemeldet sind.« Sie dachte an Richards' private Nebenwette und spürte, daß sie zitterte, wenn sie an die bevorstehende Begegnung mit ihm dachte.
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»Man kann nie wissen«, sagte der Lotse. »Dickie Richards ist bekannt dafür, daß er sein Schiff sehr hart segelt, daß er die Schoten mit Vorhängeschlössern sichert und so weiter. Vielleicht hat er ja Salzwasser in die Last bekommen, und seine Ladung ist verdorben.« »Das dürfte unwahrscheinlich sein«, sagte sie kühl, verärgert darüber, daß er sie für so leichtgläubig hielt. Sie wußte nur zu gut, daß ein Mann von Richards' Qualitäten seine Ladung niemals gefährden würde. Das Tuten von zunächst Impellors und gleich darauf Sultans Sirene unterbrach sie und signalisierte das Öffnen der Schleusentore. Impellor war schon unterwegs und stupste die Seawitch gegen die hölzerne Kippbrücke, so daß sie am Warpanker in die Schleuse verholt werden konnte. Fügsam wartete die Erl King, bis sie an der Reihe war, auch wenn ihre Crew mitanhören mußte, wie Richards seinen Sieg lauthals herausbrüllte. »Einundneunzig Tage vom Min nach London, vierzehntausendzweiundsechzig Meilen! Die Seawitch ist die Größte, Jungs! Die Größte von London und auf den sieben Weltmeeren! Hier kommt der erste Tee der Saison!« Dieses Großmaul! Verächtlich dachte Hannah an die Vorhängeschlösser und an Jackson, wie er im Kielwasser der Seawitch gestrampelt hatte. Da kam ihr eine Idee, und sie ließ nach Jackson schicken. Vielleicht konnte sie Richards wenigstens diese eine Schmach zufügen, wenn er an Bord kam! Der Vollmatrose kam nach achtern. »Würden Sie mir einen Gefallen tun und unter Deck bleiben, so daß Kapitän Richards Sie noch nicht sieht?« bat sie ihn. Er schien verstanden zu haben, worum es ging, denn er lächelte und ging unter Deck. »Wir sind dran. Brassen Sie die Rahen an, Herr Offizier«, sagte der Lotse, als nach einem weiteren Tuten wieder Leben in die Sultan kam. Sie begann zu vibrieren und zog sie dichter an den Kai heran. Mit quietschenden Fendern, die Dockarbeiter heruntergelassen hatten, rumpelte die Erl King sanft gegen die Spundwand, und ihre Wurfleinen schlängelten sich auf den Kai. Langsam wurde sie in die Schleusenkammer gezogen, die sie sich mit ihrem Rivalen teilen mußte, Seite an Seite, in aufgezwungener Intimität, lagen die beiden Schiffe da, die Rahen scharf angebraßt und verkattet. Hinter ihnen schlössen sich die Torflügel, die Schleusen wurden geöffnet. Das stinkende Wasser
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im Becken begann zu steigen. Der Lotse ging zum Schanzkleid und beugte sich hinaus, um ein paar Worte mit dem Mann auf dem Kai zu wechseln. Hannah, die sich bei soviel Technik verloren vorkam, warf einen verstohlenen Blick zu Richards hinüber, halb fürchtend, er könne seinerseits zur Reling kommen und sie ansprechen. Doch er ignorierte sie weiterhin und war auf seiner Seite der Kammer in eine Unterhaltung mit dem Schleusenmeister vertieft. Seine Gleichgültigkeit reizte Hannah, denn sie war Frau genug, um zu spüren, daß sie nur gespielt war und einem bestimmten Zweck dienen sollte. Mittschiffs fand, wie sie bemerkte, unter den Crews eine gewisse Fraternisierung statt. Aber dann erforderte Mai Li ihre Aufmerksamkeit, denn es ging nicht nur um Len-Kuas Leiche, die an Land gebracht werden mußte, sondern auch um Mai Lis Zukunft. »Was geschehen Mai Li, Missie Hannah? Kein Geld haben für Rückfahrt. Nicht können Schanghai. Und Mai Li zu alt für FickfickArbeit in London.« Hannah war entsetzt. »Aber nicht doch! Du kommst zu mir. Ich habe ein Haus und keine Familie, bin genauso allein wie du, Mai Li. Wir bleiben zusammen. Du nicht zurückgehen zu der Arbeit.« Mai Li strahlte vor Glück. Hannah schaute auf, als des Schleusenmeisters Pfeife trillerte. Die Männer an den Leinen zogen düstere Gesichter. Verlierer sahen so aus. Beide Rümpfe ragten nun hoch über die Schleusenwände, und Richards starrte von seiner Poop aus zu ihr herüber. Der Pfiff hatte das Öffnen der vorderen Schleusentore angekündigt. Schon stand der Lotse neben ihr. »Ladies first!« brüllte Richards. Sein schwarzer Bart stach steif nach vorn, und seine Augen funkelten. Hannah, durch diese plötzliche Aufmerksamkeit leicht aus der Fassung gebracht, hätte nicht sagen können, ob Wut, Arroganz oder Leidenschaft ihn zu dieser bizarren Kavaliersgeste trieben. »Ladies first!« wiederholte er, und in seiner Crew erklangen einige Spottrufe. Mit offenen Luken, köstliches Tee-Aroma verströmend, verholte sich Erl King langsam vor ihrer Rivalin aus der Schleuse. Hannah war viel zu beschämt über diese letzte Demütigung, über diese öffentliche Verhöhnung ihrer Weiblichkeit, um zu bemerken, daß die dünnen Rufe ganz und gar nicht das Triumphgeschrei von Siegern waren. »Ich glaube es nicht! Ich kann es nicht glauben! Es ist einfach
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unmöglich!« Hannah schlug mit der Faust auf den Salontisch, daß es schmerzte. »Nein, nein und dreimal nein!« »Aber es stimmt«, sagte Munro trocken. »Ich fürchte, es könnte möglich sein, meine Liebe«, sagte der Lotse, der geduldig auf Hannahs Unterschrift wartete und den traditionellen Dankesschluck schon abgeschrieben hatte. »Ich schätze, daß die nach Yokohama bestimmte Bark, der wir unterwegs signalisiert haben, uns das mitteilen wollte. Aber wir konnten ihr letztes Signal nicht mehr lesen«, sagte Munro. »Aber wenn diese Bark davon wußte, warum haben Sie mir dann kein Sterbenswörtchen gesagt?« fuhr sie wütend und mit Tränen in den Augen den Lotsen an. »Sie waren der erste Teeklipper, von dem ich wußte«, rechtfertigte sich der Lotse und schob seine Rechnung weiter nach vorn, weil seine Aufgabe nun, da sie auf ihrem Liegeplatz festgemacht hatten, erfüllt war. Hannah unterschrieb, und Munro goß jedem ein Glas Cognac ein. Hannah war sich der leisen Belehrung, die in dieser Geste lag, wohl bewußt, und das machte sie noch wütender. Sie trank ihr Glas leer und fuhr zu Munro herum. »Und Sie sagten, wir könnten nicht durch Afrika fahren«, sagte sie, heiser vor Verachtung. »Woher zum Teufel hätte ich's denn wissen sollen?« entgegnete Munro nicht weniger aufgebracht und beugte sich weit über den Salontisch vor. Er hatte die Nacht in einem Hotelbett verbracht und fand, daß die glatten, sauberen Laken ihn eher gestört als erquickt hatten. »Verbindlichen Dank, Madam, ich darf mich dann verabschieden«, sagte der Lotse, der es vorzog aufzubrechen, bevor die Stimmung im Salon sich weiter verschlechterte. »Sie haben Ihr Pfund Fleisch von mir bekommen, Hannah, und mehr noch«, sagte Munro, sowie der Lotse gegangen war, und goß sich Cognac nach. »Ich bin genauso enttäuscht wie Sie, aber nicht einmal Ihr allwissender Vater hat geglaubt, daß die Franzosen ihren Scheißkanal durch Ägypten graben würden! Wenn er sich und uns etwas besser informiert hätte, wäre uns die Prämie vielleicht nicht entgangen...« Hannah antwortete nicht. Munro war mit Recht wütend. Auch wurde ihr im nachhinein klar, daß der Lotse die Möglichkeit, sie könnten von einem anderen Schiff als der Seawitch besiegt worden sein, zumindest angedeutet hatte. Sie mußte ihm glauben, daß er es nicht mit Sicherheit gewußt hatte, aber die Nachricht von der Fertigstellung des Kanals mußte England
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schon vor Wochen erreicht haben. Auch Richards hatte die Neuigkeit wohl erst in der Schleuse gehört, und seine sarkastische Kavaliersgeste war seiner eigenen wütenden Enttäuschung entsprungen. Er mußte damit rechnen, daß auch sie selbst davon in der Schleuse erfahren hatte. Ihre Sorge um Mai Li hatte das verhindert, aber der Lotse war bestimmt in der Schleuse informiert worden und hatte ihr diese Nachricht dann vorenthalten, um sich für ihren unweiblichen Widerspruch zu rächen. Das alles deprimierte sie nur noch mehr. »Ein Kanal durch Afrika«, flüsterte sie wie im Selbstgespräch und sank auf einen Stuhl, während Munro immer noch wütend über sie gebeugt stand. »Durch Afrika«, wiederholte sie entgeistert. Munro stieß die angehaltene Luft aus und setzte sich ebenfalls, den Kopf müde in die Hände gestützt. »Durch den Isthmus von Suez. Das verringert die Entfernung nach China um dreitausend Meilen.« »Der neue Tee der Saison ist also bereits in London eingetroffen?« fragte sie leise. »Ja, Hannah«, sagte Munro, jetzt sanfter. »Mit einem Dampfer. Durch den Suezkanal. In einundfünfzig Tagen.« »Das ist fast die Hälfte unserer Zeit.« »Ja.« »Dann sind unsere Tage gezählt«, sagte sie und schaute mit Tränen in den Augen zu ihm auf. »Für Erl King und Seawitch und Actaeon und alle anderen.« »Das würde ich nicht unbedingt sagen«, besänftigte Munro, der nun, da er ein Schiff bekommen sollte, der unangenehmen Wahrheit nicht ins Auge sehen wollte. Er streckte ihr eine Hand über den Tisch entgegen. »Sie brauchen mich nicht zu trösten, James«, sagte sie, die ausgestreckte Hand geflissentlich übersehend, und stand auf. »Wie heißt dieser Dampfer?« »Glencarron, glaube ich...« »Den haben wir doch gesehen«, sagte Hannah stirnrunzelnd, »an dem Tag, als wir den Min verließen. Damals haben wir noch gelacht, weil wir sie so verstanden, daß sie vierundfünfzig Tage vom Kap her gebraucht hätten.« »Stimmt«, entgegnete Munro erschöpft. »Aber wer zuletzt lacht...« Doch Hannah war in Gedanken woanders. Die Erinnerung daran, wie sie damals die Glencarron gesichtet hatten, rührte etwas in ihr auf. Etwas, das ihr Auslaufen von Futschau und den Tod ihres
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Vaters mit einem Satz in Verbindung brachte, der damals gefallen war. Sie runzelte die Stirn. »Wie dem auch sei, im Moment läuft immer noch ein Rennen zwischen uns und Richards!« sagte sie mit wachsender Erregung und drehte sich zum Bücherregal ihres Vaters um. »Wessen Tee war zuerst an Land?« »Die Seawitch hat uns besiegt, Hannah«, sagte Munro bestimmt. »Besiegt nach Tagen, bis zur Schleuse und auch bis zum Liegeplatz, denn Richards hat einen Platz bekommen, der dichter an der Schleuse liegt als unsrer.« »Aber Sie haben unser Schiff vor der Seawitch beim Zoll angemeldet, und unsere Ladung wird als erste freigegeben und an Land sein.« »Eine reine Formalität, Hannah... Was ändert das noch? Den ersten Tee der Saison hat die Glencarron gelöscht, die Prämie geht an den Dampfer. Richards hat fünf Minuten, nachdem er seine Leinen fest hatte, fünfzig Kisten Tee an Land gebracht. Er hat die mit Ihrem Vater abgeschlossene Wette gewonnen. Wenn die andere Sache Ihnen Sorgen macht, dann brauchen Sie ihm nur zu sagen, daß er sich zum Teufel scheren soll... Mit dem Tod Ihres Vaters ist dieser ganze Unsinn sowieso hinfällig geworden. Und im übrigen«, schmunzelte er, »bin ich gern bereit, ihm für Sie eins auf die Birne zu hauen!« Sein Versuch, Hannah etwas aufzuheitern, stieß auf taube Ohren; sie blätterte gespannt und wie gehetzt im Tagebuch ihres Vaters. »Hannah... ?« Munro seufzte. Daß sie eine schlechte Verliererin sein würde, hatte er schon gewußt, als sie ihm im Ärmelkanal endgültig das Kommando abgenommen hatte. Wie diese lächerlichen Pistolenschüsse war auch das jetzt nur ein Ausdruck hilfloser Verzweiflung. »Wir werden alles vorbereiten, damit die Leute morgen mittag ausbezahlt werden können. ..« Er schwieg und fügte dann hinzu: »Möchten Sie, daß ich Richards nicht an Bord lasse? Hannah... ?« Plötzlich blickte sie lächelnd auf und klappte das Tagebuch zu. »Keineswegs, James. Bitten Sie Gordon oder einen der Jungs, der Seawitch eine Nachricht zu überbringen. Ich werde Kapitän Richards morgen früh um zehn Uhr empfangen, aber keine Minute früher. Und die Leute werde ich ausbezahlen, genau wie Sie vorschlagen. Sagen Sie außerdem Bootsmann Harris, daß ich mit ihm reden möchte. Und dann muß noch eine Bestattung
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arrangiert werden. Len-Kua ist während der Fahrt durch den Kanal gestorben... Erledigen Sie das alles ruhig, James«, sagte sie, wobei sie ihn aus dem Salon drängte, »und ich verspreche Ihnen, Sie werden nicht enttäuscht sein.« Widerstrebend ging Munro zur Tür. »Hoffentlich wissen Sie, was Sie tun.« »O ja, James, das weiß ich jetzt genau.« Sie wartete, bis er gegangen war, und wandte sich dann wieder dem Tagebuch ihres Vaters zu. Mit klopfendem Herzen las sie noch einmal, was sie darin gefunden hatte und was ihre Vermutung bestätigte. Dann steckte sie lächelnd den Kopf in den Gang hinaus und rief Mai Li.
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17 Die Droschke, die Hannah bestellt hatte, stand eine Stunde später an der Gangway. Die Zwischenzeit hatte sie mit Mai Li und Harris, dem Bootsmann verbracht. Mit Mai Li waren einige Einzelheiten wegen Len-Kuas Beerdigung zu besprechen gewesen; mit Harris ging es hingegen um etwas ganz anderes. »Ein Glas Cognac?« hatte sie angeboten, um ihm die Befangenheit zu nehmen. Sie bat ihn, es sich bequem zu machen. »Sehr verbunden, Madam.« Harris hatte sich entspannt und war richtig aufgeblüht, als Hannah ihm einleitend einige Komplimente machte. »Ich wollte Ihnen nochmals danken, weil Sie auf der Heimreise so hart gearbeitet haben.« »War doch klar, Madam. Nur schade, daß es nichts genützt hat.« »Da bin ich noch nicht so sicher, Mr. Harris«, hatte Hannah geheimnisvoll angedeutet. Der Bootsmann hatte die Stirn gerunzelt und war dann ganz Ohr gewesen, als sie fortfuhr: »Wie lange würden Sie brauchen, um das Löschen von vierzehntausend Teekisten zu organisieren, wenn ich Ihnen genug Silbermünzen zum Verteilen gebe? Plus einen Bonus für Sie, wenn Sie das Ganze überwachen?« Da glomm Habsucht in seinem Blick auf. »Nun ja, ich könnte es vielleicht schaffen, die Leute davon abzuhalten, schon heute abend an Land zu gehen«, meinte er zweifelnd. »Aber wenn sie erst ausbezahlt sind, werden sie sich sofort aus dem Staub machen...« »Wie lange dauert so etwas, Mr. Harris?« fragte Hannah, ohne den Blick von ihm zu wenden. Harris hob die Schultern. »Die Fiery Cross hat es mal in dreißig Stunden geschafft. Das war Anno vierundsechzig, würde ich sagen.« »Könnten Sie das hinkriegen?« fragte Hannah heiser. Da hatte Harris mit plötzlicher Entschlossenheit genickt. »Ich kann's versuchen.« Nun, als sie auf dem oberen Absatz der Gangway stand, den Hektik verbreitenden Munro neben sich, konnte sie sehen, daß Harris sein Versprechen gehalten hatte. Aus dem Zwischendeck und dem Laderaum wurden die mit
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Netzen verhüllten Teekisten aus der Erl King geholt und in den
starken Tauen des Ladegeschirrs auf den Kai geschwenkt. Ihr selbst wurde nicht einmal bewußt, daß sich die Crew aus Respekt vor ihrem letzten Versuch die Vergnügungen des nächtlichen Landgangs versagt hatte und sich statt dessen, gemeinsam mit den bestochenen Stauern, beim Entladen abplagte. »Ich wußte ja, daß sie ganz die Tochter des Alten ist«, hatte Harris gesagt, als er Hannahs kleinen Silbermünzenvorrat unter den angetrunkenen Bewohnern des Vorschiffs verteilte. »Das ist der ewige Ärger mit den Weibern«, hatte Gopher Stackpole gesagt, als er sich müde aus seiner Koje hievte. »Sie wissen nie, wann sie bei einem Mann auch mal nachgeben müssen.« »Also willst du nun das Geld oder nicht?« »Na klar will ich es.« »Dann halt die Klappe und leg dich ins Zeug.« Und ins Zeug gelegt hatten sie sich, hatten die Teekisten fast schneller herausgeholt, als die Stauer sie durch das Lagerhaus zu den Lastschlitten befördern konnten. »Haben Sie Lichter für die Nacht?« fragte Hannah Munro. »Aye, natürlich. Talham soll...« »Bitte sorgen Sie selbst dafür, James. Sie bleiben hier an Bord.« »Aber...« »Ich brauche Sie später noch. Bis nachher.« Und zu den bewundernden Pfiffen ihrer Crew und der Dockarbeiter, die über Erl Kings duftender Fracht schwitzten, stieg sie die Gangway hinab. Grinsend öffnete Gordon ihr die Droschkentür. Als sie einstieg, blickte sie den Kai entlang. Am Liegeplatz hinter ihnen waren auch die Leute der Seawitch hektisch dabei, ihre Ladung zu löschen. Halb hoffte und halb fürchtete sie, Kapitän Richards zu sehen, aber vermutlich hatte er sich, ebenso bitter enttäuscht wie sie, in seine Kajüte zurückgezogen. Der Gedanke daran ließ sie lächeln. Das Schlimmste wußte er noch gar nicht! »Mincing Lane!« wies sie den Fahrer an. Gordon schloß die Tür, und die Droschke fuhr an. In einem letzten Akt der Ehrerbietung hatte Mai Li ihren Herrn mit einem Pomp aufgebahrt, der fast eines Mandarins würdig
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gewesen wäre. Es stimmte sie traurig, daß seine Gebeine nicht am Südhang eines Hügels seiner Heimatprovinz ruhen würden, wie er es gewünscht hatte, aber da Mai Li wußte, daß der alte Mann vor seinem Tod unbedingt nach London gewollt hatte, glaubte sie in ihrer Unwissenheit, daß die weißen Teufel ihm einen Platz auf ihren eigenen Südhängen zugestehen würden, wo die Sonne seine sterbliche Hülle wärmen und seinen Geist besänftigen würde. Ihr eigener Geist stand unter einem Glücksstern. Einst aus der Gosse gekommen und in die Prostitution verkauft, hatte Len-Kuas Wohlstand ihr den Status der Konkubine eines reichen Mannes verliehen. Und nun hatte sie die soviel jüngere Missie Hannah getroffen, eine Frau, die dafür sorgen würde, daß sie ihre alten Tage nicht im Elend verbringen mußte. In derlei Gedanken vertieft, räumte Mai Li ihre Kabine auf und wartete auf die Männer vom Beerdigungsinstitut, die Munro bestellt hatte. Sorgfältig faltete sie Len-Kuas Kleidungsstücke zusammen. Sie öffnete die Lacktruhe und packte sie hinein, strich die schwere, bestickte Seide seiner Kimonos glatt und legte seine Pfauenfedern obendrauf. Als sie damit fertig war, fiel ihr das Kettchen mit dem Schlüssel ein, das sie an seinem Hals gefunden hatte. Sie hatte es nie zuvor gesehen, weil Len-Kua niemals alle Kleider abgelegt hatte, wenn sie sich liebten. Mai Li kannte die Kiste, zu der dieser Schlüssel gehörte, eine schwere schwarze Stahlkassette westlicher Provenienz. Sie zog sie heraus, hockte sich davor und betrachtete sie eingehend in der Vermutung, daß sie nunmehr ihr gehörte. Len-Kua hatte viele Söhne, aber diese waren weit fort, während sie hingegen in London war. Und in London, so hatte Hannah ihr erklärt, konnte ein Mann seiner Frau oder seiner Tochter Geld vererben. Bei diesem Gedanken überwand sie ihre Hemmungen. Mai Li war Len-Kuas Frau gewesen. Sie schob den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um, hob den schweren Deckel und spähte hinein. »Oh«, murmelte sie ehrfürchtig, als das schummrige Kabinenlicht von den Silbermünzen darin reflektierte. In den Büroräumen von Pettilow, Deever & Speare ging es fast ebenso geschäftig zu wie draußen auf den Kais. Vom West-IndiaHafen waren gerade die ersten Frachtkarren mit den Probekisten eingetroffen, und Hannah erkannte das Markenzeichen von Erl Kings Sendung, einen Tiger, während Seawitchs Kisten daneben einen Drachen trugen. An der gegenüberliegenden Wand des Lagerhauses stapelten sich weitere Kisten. Sie trugen ein ihr
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unbekanntes Markenzeichen, eine Pagode, und standen dort unverkennbar schon einen Moment. Ein schlicht gekleideter Bürodiener fragte nach Hannahs Anliegen. »Ich bin Hannah Kemball, Tochter von Kapitän John Kemball, dem verstorbenen Kapitän der Erl King.« »Sehr erfreut, Miss Kemball. Mr. Pettilow hat schon den dringenden Wunsch geäußert, Ihre Bekanntschaft zu machen. Er sah es als seine Pflicht an, Sie sofort aufzusuchen, aber nun...« Durch eine Glastür gelangten sie in eine Vorhalle. Die vom Duft chinesischen Tees geschwängerte Luft stand unbeweglich in den Räumen. Über eine Treppe stieg Hannah in ein dunkles, holzgetäfeltes Büro im ersten Stock. Durch seine rußigen Fensterscheiben fiel die späte Nachmittagssonne, dennoch brannten schon die Petroleumlampen und warfen einen rosigen Schein auf die Wände, die drei Schiffsbilder schmückten, schon ältere Klipper, die, wie Hannah nun wußte, an ihren ungeteilten, bauchigen Marssegeln zu erkennen waren. Neben den Schiffen hingen der kolorierte Stich eines pekoe-Zweigs und eine chinesische Tuschzeichnung der Bohea-Hügel. Hannah fragte sich, ob sie wohl von Mr. Cha stammten. »Miss Kemball...« meldete der Bürodiener sie an. In dem Raum befanden sich drei Männer. Zwei von ihnen erhoben sich, als sie eintrat, der dritte, etwas jüngere, blieb sitzen und warf ihr nur einen griesgrämigen Blick zu. Ob dies an ihrer Person lag oder an unangenehmen geschäftlichen Dingen, die soeben besprochen worden waren, konnte Hannah nicht beurteilen. »Miss Kemball, unseren Glückwunsch - das war eine phantastische Leistung! Unter anderen Umständen wäre ein Unentschieden und damit eine Auslosung angebracht gewesen«, sagte der größere der beiden stehenden Männer. »Und Sie müssen bitte unsere Saumseligkeit entschuldigen. Hätten uns nicht dringende Geschäfte mit Captain McAllister hier aufgehalten, hätten wir Sie selbstverständlich schon aufgesucht.« »Bitte, sehen Sie meinem Partner seinen Redeschwall nach, Miss Kemball«, sagte der Ältere, »und nehmen Sie hier Platz. Ich bin Pettilow, und das ist Mr. Deever.« Die beiden verbeugten sich. Ihre schwarzen Gehröcke ließen sie dabei wie pickende Saatkrähen aussehen, dachte Hannah zerstreut. »Dürfen wir Ihnen Tee oder Sherry anbieten?« »Zu einem Glas Sherry würde ich nicht nein sagen, Mr.
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Pettilow.« Sie setzte sich auf den Stuhl, den Mr. Deever für sie herangezogen hatte. »Das ist Captain Matthew McAllister, Miss Kemball«, stellte Deever vor. Hannah neigte, sich dem Kapitän zuwendend, den Kopf und fragte sich, wo sie diesen Namen schon gehört hatte. »Von welchem Schiff, Sir?« fragte sie und nahm Pettilow das Sherryglas ab. »Glencarron, Madam«, sagte der Kapitän frostig. »Es tat uns ja so leid, von Ihrem großen Verlust zu hören, meine Liebe«, sagte Pettilow und warf McAllister einen warnenden Blick zu. »Aber was uns als Konsignatare der Charterpartie betrifft, macht das keinen Unterschied.« »Das möchte ich doch meinen, Sir«, sagte Hannah, die wieder einmal Bevormundung witterte. Ihre leicht verärgerte Reaktion schien McAllister zu einer Antwort herauszufordern. »Sprechen Sie Ihr Beileid lieber nur für sich aus. Denn was mich angeht«, sagte er, zu Hannah gewandt, mit starkem schottischem Akzent, »so teile ich das Bedauern dieser ehrenwerten Gentlemen keineswegs, Miss Kemball.« »O Gott«, murmelte Mr. Deever und rang die Hände. »Sir?« »Ich würde mit dem allergrößten Vergnügen Ihren Vater in der Hölle schmoren sehen.« »Kapitän, bitte ...« dämpfte Pettilow. Jetzt dämmerte es Hannah. »Ah - Sie sind der Mann, der die Erl King entworfen hat?« »Aye, und derselbe Mann, den Ihr Vater ruiniert hat, Madam!« McAllister stand auf und schaute drohend auf sie herunter. »Und bei Gott, es sieht ganz so aus, als würde seine Tochter - oder sein Geist -das jetzt noch einmal tun!« Damit griff er nach seinem Hut. »O Gott, o Gott, es tut mir ja so leid, Captain McAllister. Dabei hatten Sie eine so schnelle Reise...« »Ich verstehe nicht«, sagte Hannah. »Ihr Vater, Miss Kemball, ruinierte mich vor Jahren mit einem ganz gemeinen Trick - einem Gaunerstück! Wußten Sie, daß er mich beim Bau Ihres Schiffes betrogen hat? Nun? Und jetzt stellt sich heraus, daß dieser Schurke mich noch einmal hereingelegt hat. Noch nach seinem Tode!« »Aber Sie haben doch den ersten Tee der Saison angelandet, Sir!«
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»Ich habe Sie vorgestern nacht überholt, Madam, vor Dover. Ich hatte wirklich begründete Hoffnung, als erster mit Tee aus China in London zu sein, doch diese - diese Gentlemen, die mit dem verfluchten Zeug handeln, erzählen mir jetzt, daß Kondensation als Folge unserer Passage durch die Wüste den Tee verdorben hat! Daß der Eisenrumpf meines Dampfers trotz der Bleifolie die Ladung ruiniert hat! Das, Madam, ist Unsinn, voreingenommener, unwissenschaftlicher Nonsens! Aber ich bin durch meinen Befrachtervertrag an allen Gliedern gebunden, gebunden auch durch einen Pfandbrief. Selbst der beste Preis, den diese Aasgeier mir zahlen werden, kann kaum meine Auslagen decken. Der Siegeslorbeer, Madam, gebührt Ihnen oder Kapitän Richards, je nachdem. Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Freude damit! Gute Nacht!« »O Gott, o Gott, o Gott!« wiederholte Mr. Deever, nachdem McAllister gegangen war. »Dürfte ich noch ein Glas Sherry haben?« fragte Hannah mit Unschuldsmiene. »Aber natürlich, Miss Kemball, und bitte entschuldigen Sie McAllisters unseligen Ausbruch. Das muß solch ein Schock für Sie gewesen sein«, sagte Pettilow, während er mit der Karaffe zu ihr kam. »Miss Kemball, Sie werden es zu schätzen wissen, daß wir auf unserem Qualitätsanspruch bestehen müssen«, erklärte Deever. »Die Öffentlichkeit erwartet von Pettilow, Deever & Speare nun einmal hochwertige Ware.« »Aber selbstverständlich, Mr. Deever. Ich als Frau weiß erstklassigen Tee besonders zu würdigen«, entgegnete sie ironisch. Ihr Ärger über die chronisch gönnerhafte Art dieser Herren wich einer pragmatischeren Einstellung. »Und Sie halten Ihren Qualitätsanspruch unter allen Umständen aufrecht?« »Unter allen Umständen, Miss Kemball«, versicherte Deever, »absolut und ohne jede Ausnahme.« »Gentlemen«, sagte sie bescheiden, senkte den Blick und dämpfte die Stimme, so daß die Herren unwillkürlich näherrückten, »dann muß ich verhindern, daß Sie getäuscht werden. Ganz entre nous möchte ich vorschlagen, daß Sie von den Kisten der Seawitch da unten ein paar Proben entnehmen...« Pettilow und Deever wechselten einen Blick. »Ich werde mich darum kümmern«, sagte Deever in einer plötzlichen Anwandlung von Entschlußkraft. Er verließ den Raum, und Hannah hörte ihn die Treppe hinuntereilen.
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»Sie werden feststellen, daß ich mit meiner Warnung recht hatte, Mr. Pettilow. Wenn Sie mir jetzt bitte eine Droschke rufen würden?« Lächelnd, mit einem Rascheln grüner Seide, erhob sie sich und folgte Mr. Pettilow.
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18 »Er war gestern abend hier und hat Gift und Galle gespuckt.« »War er denn nüchtern?« »Das schon«, entgegnete Munro und sah Hannah verstört an. »Aber er war wütend, weil Sie nicht an Bord waren, und nicht allzu erfreut darüber, daß er bis morgen früh um zehn warten muß.« »Sie haben ihm doch nicht etwa gesagt, wo ich war?« fragte Hannah, plötzlich alarmiert. »Wie sollte ich denn? Ich wußte es ja selbst nicht«, antwortete Munro bitter. »Wollen Sie es mir jetzt sagen? Oder soll ich lieber nicht fragen?« Hannah stellte sich Munros Anspielungen gegenüber taub. Sie war in Gedanken vollauf damit beschäftigt, die Erfolgsaussichten ihres Plans gegen die Möglichkeit eines Scheiterns im letzten Moment abzuwägen. Deshalb überhörte sie auch Munros gekränkten Ton. »Ich war bei Pettilow, Deever & Speare«, antwortete sie zerstreut. »Unseren Konsignataren?« Hannah nickte. »Ja. So, und jetzt wollen wir mal diese Abrechnungen hier zu Ende bringen.« Sie deutete auf die in einem Wust von Papieren vor ihnen liegenden Lohnzettel, an denen sie beide gearbeitet hatten, seit Osman das Frühstück abgeräumt hatte. Trotzdem krampfte sich ihr Magen nervös zusammen. Sie hatte jetzt, bei ihrem letzten Spiel, einen hohen Einsatz gewagt, und obwohl der Trumpf, den sie in der Hand hielt, vor allem der weisen Voraussicht ihres abgefeimten Vaters zu verdanken war, flößte gerade dieser Umstand und die Tatsache, daß sie ihn ganz allein ausspielte, ihr Angst ein. Die letzten aufregenden Stunden des Rennens hatten einen solchen Erwartungsdruck in ihr bewirkt, daß es ihr schwerfiel, sich nun in die Niederungen des schnöden Kommerzes begeben zu müssen. Ihre Seele lechzte immer noch nach einem Sieg, von dem sie meinte, daß er ihr moralisch zustand. Doch all diese hochfliegenden Emotionen waren von gestern; heute mußte sie den Konsequenzen ihres Handelns, konzentriert in der Person von Kapitän Richards, ins Auge sehen. Während einer schlaflosen Nacht hatte sie die Szene, die sie
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bald an Bord der Erl King spielen mußte, im Geist hundertmal eingeübt. Nun wünschte sie den Showdown herbei, wollte endlich die Macht ihrer Selbstbeherrschung ausprobieren, eine Veranlagung, die schon bei dem glücklosen Munro vernichtend gewirkt hatte. Liebevoll betrachtete sie seinen gebeugten Kopf, als er sich emsig durch die Aufstellung von Verdienst und Ausgaben jedes einzelnen Crewmitglieds arbeitete. Munros pflichtbewußte Willfährigkeit erinnerte sie daran, daß sie die Macht, die sie über ihn hatte, nicht mißbrauchen durfte, weder aus Entschlußlosigkeit noch aus kleinmütiger Furcht vor der Gegenüberstellung mit ihrem starken Rivalen. In plötzlich aufwallendem Selbstvertrauen fegte Hannah den einschüchternden Gedanken an Richards beiseite. Selbstverständlich würde sie mit ihm fertigwerden! Unter ihrem Ellbogen lag ein aufgerissener Umschlag, der ihr letzte Nacht noch von einem Boten aus der Mincing Lane gebracht worden war. Der Inhalt von Erl Kings Teekisten hatte sich dem von Seawitch als qualitativ weit überlegen entpuppt. Mr. Deever persönlich hatte ihr versichert, daß er und seine Partner ihr ob ihrer Wachsamkeit ewig dankbar sein würden. Darüber hinaus hatte er seine Betroffenheit zum Ausdruck gebracht, daß ein so angesehener Mann wie Kapitän Richards versucht hatte, ihrem Haus minderwertigen souchong anzudienen. Mit ihr würden sie, da seien sie ganz sicher, gewiß noch manches Mal ins Geschäft kommen, daran konnten auch die Dampfschiffe nichts ändern. Hannah nahm den Brief hoch und tippte damit sinnend gegen ihre Lippen. Letzten Endes würde also Erl Kings Ladung nun doch noch der erste Tee auf dem Londoner Markt sein. »So«, sagte Munro und schob die Lohnzettel zur Seite. Nachdem er die Gesamtsumme zu einer separaten Liste hinzugefügt und eine überschlägige Addition angestellt hatte, sagte er: »Wenn man die Kosten in Futschau und den Importzoll hier in London, Löhne, Lotsen-, Hafen- und Leuchtfeuergebühren abzieht, dann bleibt von der Frachtrate von sechs Pfund... ein Reingewinn von zweitausendvierhundertzweiunddreißig Pfund.« Mit einem schiefen Lächeln schaute er von den Papieren auf. »Ich gratuliere Ihnen.« »Ich denke, das dürfen wir feiern«, sagte Hannah vergnügt und schloß den Barschrank auf. Obgleich sie von derlei Dingen nicht viel verstand, war ihr aufgrund der Reiseabrechnungen ihres Vaters klar, daß dies einen stattlichen Gewinn darstellte.
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»Warum nicht?« meinte Munro ironisch und schaute zu, wie sie den Sherry eingoß. »Die frühe Morgenstunde braucht ja eine kleine Feier nicht auszuschließen.« Freundschaftlich stießen sie an, und Munro schöpfte wieder Hoffnung. »Hannah...« »Nicht jetzt, James, bitte...« »Herrgott noch mal, Hannah, Sie tauchen mich dauernd in Wechselbäder! Ich weiß wirklich nicht mehr, woran ich bin. Sie denken doch nicht ernsthaft daran, diesen walisischen Bock zu akzeptieren, oder?« fragte er, plötzlich aufgeschreckt durch ihre Unberechenbarkeit. »James«, sagte Hannah kühl, seinen Ausbruch ignorierend, »Sie sollen bei der nächsten Fahrt die Erl King führen. Es war die Absicht meines Vaters, Sie zum Ersten Offizier zu machen - er wußte wohl, daß Enrights Zeit abgelaufen war. Sind Sie einverstanden?« »Bieten Sie mir das Kommando an oder - oder eine Partnerschaft ?« Munro war aufgesprungen. Er hatte nur ein Ziel im Kopf, Hannah indessen so viele, daß sie seine Beharrlichkeit als irritierend empfand. Sie war noch nicht soweit, Munros Zukunft in allen Einzelheiten mit ihm zu besprechen. Deshalb nickte sie anerkennend und blickte hinab auf die Zahlenreihe und die doppelt unterstrichene Summe ihres Nettogewinns. »Eine Menge hiervon ist ganz allein Ihrem Können zu verdanken, James«, stellte sie sachlich fest. »Das habe ich aber nicht gemeint...« »Missie, Missie, schwarzer Teufel da!« Mai Li kam, so schnell ihre verkrüppelten Füße sie tragen konnten, in den Salon gestürmt. Hannah erstarrte, und ihr Herz begann zu rasen. Sie griff nach Munros Federhalter und begann ein Stück Papier zu bekritzeln. Gleichzeitig gab sie Munro hektisch ihre Anweisungen: »Schicken Sie einen Kadetten mit dieser Nachricht zu Kapitän McAllister von der Glencarron.« Hastig versiegelte sie den Umschlag und hielt ihn Munro hin. »Sofort, James.« Munro nahm ihn und zögerte noch. Mai Li zupfte ihn am Ärmel. »Bitte gehen.« Begleitet von einem sonoren Wutschrei, dröhnten schwere Schritte über ihren Köpfen. »Aus dem Weg, Mann! Oder du kriegst meinen Stock zu spüren!«
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Munro rührte sich noch immer nicht von der Stelle. Sah er schon seine Hoffnungen auf eine Lebenspartnerschaft mit Hannah enttäuscht, so wollte er wenigstens nicht in der soeben vorgeschlagenen Geschäftsbeziehung wie ein dummer Junge dastehen. »James! Gehen Sie jetzt!« »Aber Sie können doch nicht...« »Natürlich kann ich. Ich weiß, warum er so wütend ist.« »Treiben Sie Ihr Spiel mit Richard Richards, Hannah? Wenn ja, dann würde ich mich aber sehr vor ihm in acht nehmen.« Verwirrt runzelte Munro die Stirn. »Nein, es ist kein Spiel. Es ist todernst. Aber die Fäden habe ich in der Hand.« »Mr. Munro - besser jetzt gehen.« Mai Li zog Munro am Ärmel zum Niedergang. Hallende Schritte auf der Treppe kündigten das Nahen der Nemesis an. »Es ist der letzte Befehl, den ich Ihnen gebe, James, das verspreche ich!« stieß Hannah hervor. »Aber jetzt gehen Sie bitte an Deck!« Mai Li schob Munro vorwärts und lächelte Hannah, sich kurz umdrehend, verschwörerisch zu. »Du nicht vergessen: Wenn haben Probleme. ..« Damit nahm die kleine Chinesin eine Hand von Munros entweichendem Rücken und riß sie, flach wie ein Brett, schräg nach oben. »Und wenn keine Probleme, alles mehr besser bald.« »Miss Kemball!« Die vordere Salontür wurde aufgerissen, Hannah erhob sich langsam und überspielte mit angestrengter Würde das Pochen ihres Herzens und das Zittern ihrer Knie. Kerzengerade stand sie und hielt die Hände dekorativ vor der schmalen Taille gefaltet. Diese makellos beherrschte Haltung wirkte, zusammen mit dem dezenten Rascheln ihres grünen Seidenkleids, wie eine feine, feminine Verspottung des keuchend herbeistürzenden Richards. Der lehnte nun im Türrahmen, untadelig gekleidet in grauem Anzug und Zylinderhut und auf seinen Spazierstock gestützt. Er war vor Wut und Anstrengung rot angelaufen, und die Perle seiner Krawattennadel beschlug von seinem Atem. Doch trotz seines echauffierten Zustands verlieh ihm sein schwarzer Bart eine kraftvolle Autorität, und seine schwarzen Augen funkelten in unerbittlicher Rachsucht. »Kapitän Richards«, begann Hannah kühl und leicht amüsiert, »sind Sie etwa den ganzen Weg von der Mincing Lane her
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gerannt! Wie ungemein feurig von Ihnen!« »Teufelsweib«, knurrte Richards schweratmend, den Blick auf den geschwungenen, lächelnden Mund geheftet. Er trat ein und wandte sich sogleich wieder zur Tür, um sie zu schließen. Hannahs Herz hüpfte vor Freude, denn dieses Abwenden war die Geste eines verwirrten Mannes. Nun wußte sie, und ihr Selbstvertrauen wuchs, daß sie einander ebenbürtig gegenüberstanden. Mit finsterer Miene wandte er sich ihr wieder zu. »Werden Sie nicht unverschämt, Mädchen!«
»Und kommen Sie mir nicht gönnerhaft!« fauchte sie mit vor Wut plötzlich stahlharter Stimme zurück. »Ich bin nicht Ihr ›Mädchen‹!« »Gönnerhaft - ich?« fragte Richards stirnrunzelnd. »Gönnerhaft? Wenn Sie ein Mann wären, würde ich Sie auspeitschen oder Ihnen eins über die Rübe...« »Aber da ich nun mal eine Frau bin - was beabsichtigen Sie zu tun?« »Da Sie eine Frau sind...« Er schwieg. Hannah stand nicht mehr kerzengerade da, sondern hatte sich, die Hände auf den Tisch gestützt, vorgelehnt und reckte nun herausfordernd das Kinn vor; ihr roter Mund und die großen Augen lachten ihn aus. »Da Sie eine Frau sind«, wiederholte Richards mit plötzlich belegter Stimme, wobei er einen Schritt vortrat und seinen Hut mit dem Spazierstock auf den Tisch zwischen sie beide legte, »sollte ich...« Wieder verstummte er, und sie zog spöttisch eine Augenbraue hoch, seiner Phantasie zugleich Ansporn und Einhalt bietend. Dann richtete sie sich auf und verschränkte die Arme unter der leise raschelnden Seide so, daß sie ihre Brüste leicht anhoben. Richards holte scharf Atem. Hannah spürte instinktiv und dank des von Mai Li vermittelten Wissens, daß sein Körper in ihre Falle gegangen war. Doch Richards war kein Sklave seiner Triebe. Er war sich ihrer Reize zwar bewußt, stark bewußt, seinen unbändigen Zorn aber konnte sie damit nicht zähmen. »Sie haben mich beleidigt, verleumdet und diffamiert!« Er steigerte sich in immer lautstärkere Wut hinein, und auf dem Höhepunkt des Ausbruchs nahm er seinen schweren, mit einem Jadeknauf verzierten Malakkastock und hieb ihn zur
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Unterstreichung all der Infamien, die Hannah gegen ihn begangen hatte, mit einem Knall auf den Salontisch. »Sie haben getan, was kein Mann gewagt hätte! Wo Sie nicht gewinnen konnten - da haben Sie betrogen!« Sein markantes, stattliches Gesicht lief erneut rot an, und sein Kopf bebte vor mühsam unterdrückter Wut. Hannah verdeckte ihren Mund mit der Hand. »Herrgott, Madam, Sie... sollen... nicht... lachen!« Richards spie die Worte einzeln aus, in Stakkato geäußerte Befehle, die er jeweils mit einem Schlag seines Spazierstocks noch betonte. »Sir, haben Sie Mitleid mit meinem Tisch!« gurgelte Hannah fast ebenso unbeherrscht wie ihr Gegenüber. »Zur Hölle mit Ihrem verfluchten Tisch! Und was ist mit meinem Leesegel, he? Was für eine großspurige Idiotie war denn das, wie?« »Kapitän Richards«, keuchte Hannah, eine Hand auf den Tisch gestützt, die andere an der Kehle, »was genau werfen Sie mir nun eigentlich vor?« »Was ich Ihnen vorwerfe? Na, schließlich haben Sie doch diesen verdammten Teekrämern erzählt, daß meine Proben alter souchong seien...« »Sind sie das denn nicht?« »Ja, wieso, sicher, aber...« Richards erkannte die Falle zu spät. »Weshalb bezichtigen Sie mich der Verleumdung, obwohl es doch stimmt?« Richards blies die Backen auf und stieß die Luft in einem langen Atemzug aus. Hannah schenkte zwei Cognacgläser voll und schob ihm das eine über den Tisch zu. Richards' behandschuhte Faust packte ihr Handgelenk mit festem Griff. »Aber woher wußten Sie das, Cariad,he?« »Sie tun mir weh, Sir.« Hannah spürte, wie ihr plötzlich die Initiative entglitt. Ihre großmütige Geste, ihm Cognac anzubieten, war von Richards eilends zu seinem eigenen Vorteil genutzt worden. Aber Hannahs Verwirrung war nur kurz, denn sie begriff und verachtete ihn dafür -, daß Richards in seiner Not den Trumpf seiner überlegenen Körperkraft ausgespielt hatte. »Woher wußten Sie das?« wiederholte er, und die Intensität, mit der er ihr Handgelenk umklammert hielt, enthüllte das ganze Ausmaß seiner Enttäuschung darüber, daß er dieses Rennen verloren hatte. »Woher?« Er zog sie näher an sich heran, so daß
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sie sich erneut über den Tisch beugen mußte. Sein Atem streifte ihr Gesicht, und wieder spürte sie, daß sie innerlich dahinschmolz, daß sie unweigerlich nachgeben würde, ein angenehmes, aber zugleich alarmierendes Gefühl. Einen langen, intimen Moment schauten sie einander an, und der Wunsch nach mehr stand klar zwischen ihnen. Da stieß Richards ihr Handgelenk weg, nahm das Glas und kippte den Cognac mit einem Schluck hinunter. Arrogant hielt er es ihr zum Nachfüllen hin. »Woher! Das ist es, Hannah Kemball, was mir auf der Seele liegt.« Seine Stimme erregte sie, und sie goß nach in dem sicheren Wissen, daß sie, was immer noch geschehen mochte, nun ebenbürtig miteinander sprachen. »Ich erfuhr es erst, als ich nach dem Tod meines Vaters seine Papiere durchsah. Sein Tagebuch enthielt etliche Anspielungen, die ich damals nur zum Teil verstand. Doch nach einiger Zeit, als ich mich in etlichen Dingen besser auskannte, wurde mir klar, was er meinte. Er hatte eine Art Versicherung abgeschlossen, um Sie, sollten Sie gewinnen, doch noch um Ihren Sieg zu bringen. Zwar hat er nicht einen Moment geglaubt, daß Ihnen das gelingen würde, aber für alle Fälle... Er war, müssen Sie wissen, dabei weniger um mich besorgt als um die Parten, die ich besaß und die dann meinem Ehemann in die Hände fallen würden.« »Oh! Ich habe niemals...« »Also hat er die chaa-tses mit Len-Kuas Hilfe bestochen, damit sie Ihre Ladung mit altem souchong versetzten. Die letzte, oberste Lage nur, aber das amtliche Dokument der Teekoster von Futschau trug den Stempel, daß es sich um guten bohea handelte. Mein Vater wußte, daß Sie, da er selbst vor Ihnen auslief, zu sehr in Eile sein würden, um das im einzelnen nachzuprüfen... Verstehen Sie?« Richards nickte, als er den Trick begriff, mit dem Cracker Jack ihm so übel mitgespielt hatte. Lächelnd schloß Hanna: »Vergeben Sie ihm.« »Ihm - vergeben?« wiederholte Richards mit einer Stimme, die tief und erregend vibrierte. »Ihr Vater war ein Schurke, ein Prahlhans und ein notorischer Mogler...« »Ja, ja«, stimmte sie zu. »Und er war hinterlistig, heimtückisch und illoyal, wie ich am eigenen Leibe erfuhr. Aber schließlich hatten Sie seine Seele von ihm gefordert, und weil die in seinem Schiff steckte...« »Nein. Ich forderte nur einen Teil seiner Seele, denn ich wußte,
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daß sein schwarzes Herz so tief in seinem Schiff versenkt war wie dessen Mastschuh.« Richards schwieg und schaute sich in dem holzgetäfelten Salon um, als suche er Cracker Jacks Geist persönlich. Hannah beobachtete ihn fasziniert. Er war stattlich und elegant, hatte aber überhaupt nichts Geckenhaftes; schließlich hätte ein Geck einen Chinaklipper auch nicht in einundneunzig Tagen nach Hause segeln können. Sie vergab ihm nun seine Eitelkeit, denn plötzlich verstand sie die schonungslose Ehrlichkeit dieses Mannes. Er hatte absolut keine Zeit für Dinge, die nicht direkt mit seiner augenblicklichen Tätigkeit zusammenhingen, sondern strahlte stets die Energie einer gespannten Sprungfeder aus. Diese latente Kraft löste in ihrem eigenen Herzen einen unwiderstehlichen Sog aus. »Woran denken Sie, Cariadl« Er schaute sie an, und jetzt war sie es, die die Augen niederschlug, um ihre Gefühle zu verbergen. Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Aber warum mußten Sie es diesen Krämern erzählen, he? Warum mußten Sie mich vor ihnen lächerlich machen?« Sein starker Waliser Akzent betonte alle Silben, so daß jede sie mit voller Wucht traf. In einem letzten Aufbegehren straffte sie sich.
»Weil ich Ihnen eine Lehre erteilen wollte!« fauchte sie und spürte entsetzt, daß ihr unwillkürlich Tränen in die Augen stiegen. »Aber warum? Was hatten Sie gegen mich?« »Darum, Sir, weil Sie in der Kneipe von Schanghai so maßlos vermessen waren. Weil ich mich für die Demütigung rächen mußte, die Sie mir so arrogant antaten. Und auch zur Erinnerung daran, Sir, daß Sie am Kap einfach weitersegelten und einen Ihrer Leute seinem Schicksal überließen!« »Dann war es also wirklich Jackson, den ich vorhin an Deck gesehen habe...« »Hatten Sie denn überhaupt kein Mitleid?« »Mit Jackson ? Doch, natürlich. Aber es bestand kaum eine Chance, ihn bei dem Seegang rauszuholen...« »Nein, mit mir !« »Mit Ihnen?« Richards runzelte die Stirn, und zum ersten Mal sah sie ihn perplex. »Zum Teufel, die Wahrheit ist...« Er hielt inne, starrte sie an und verzichtete angesichts der unausgesprochenen Intimität, die nun zwischen ihnen herrschte, auf eine Erklärung. »Habe ich Sie denn so sehr
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beleidigt, damals in Schanghai?« »Ja«, antwortete Hannah einfach. Gern hätte sie noch mehr gesagt, fand aber nicht die richtigen Worte. Statt dessen fügte sie hinzu: »Und Sie haben es schamlos ausgenutzt, daß der arme Munro ein Untergebener war.« »Daran war Ihr Vater genauso schuld wie ich...« »Ich hielt Sie für feinfühliger als meinen Vater.« »Dann hielten Sie also doch wenigstens etwas von mir«, sagte er und verzog das Gesicht in schalkhafter Reue, die einen irritierenden Charme besaß. »Sie haben einen gewissen Eindruck gemacht, ja«, entgegnete sie leise. »Ah«, lächelte er zufrieden. »Und was wird nun aus dem armen Munro?« Er hob den Blick zum Skylight. »Munro kann nie mehr so gedemütigt werden. Ich habe ihn zum Kapitän der Erl King ernannt.« Richards nickte beifällig. »Ein guter Mann. Aber erwartet er nicht mehr?« »Mehr?« Diese Frage lud zu einem direkten Vergleich zwischen Richards und Munro ein und führte das Gespräch unweigerlich zu der Angelegenheit, für die Richards vor einigen Monaten in Schanghai sein Schiff in die Waage geworfen hatte. Hannah hatte all diese Monate in Munros Gesellschaft verbracht und konnte nicht leugnen, daß sie Augenblicke wunderbarer Harmonie miteinander erlebt hatten, Augenblicke, an die sie sich mit wehmütiger Freude erinnerte. Aber sie wußte, daß sie Munro endgültig abgeschrieben hatte, als sie im Kanal die Alleinverantwortung für ihr Schiff übernommen und die Schüsse auf Seawitchs Leesegel abgefeuert hatte, die weit mehr gewesen waren als eine »Idiotie«. Vielmehr hatte sie der Wunsch ausgelöst, am Ende der Reise mit Kapitän Richards gleichziehen zu können. Und nun, da er vor ihr stand, bereute sie ihr Verhalten keineswegs. »Nein. Der arme Munro kann nicht mehr erwarten«, sagte sie ruhig. »Er bekommt die Belohnung, die ihm zusteht.« »Und ich... ?« »Hier ist der Zylinderhut meines Vaters.« Sie drehte sich um, ergriff den zerbeulten Hut und eine Lederbörse. »Und hier sind Ihre hundert Guineen...« »Die will ich nicht, Hannah.« Er kam um den Tisch zu ihr, nahm
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ihr die beiden Dinge aus der Hand und legte sie neben seinen Stock und die Handschuhe auf den Tisch. »Denken Sie immer noch an Revanche?« fragte sie und spürte, wie ihr Herz raste, als er ihre rechte Hand ergriff. Ihre Stimmen waren zu einem heiseren Flüstern geworden, und sie wußten beide, daß sie jetzt zum Kern ihrer Unterredung gekommen waren. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Cariad.« Dann ließ er sich sehr langsam auf die Knie sinken. Hannah lächelte. »Bitte nicht«, sagte sie. »Dazu besteht jetzt keine Veranlassung mehr.«
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19 Mr. Munro stand auf der Poop. Kiste um Kiste wurde in den Schlingen des Ladegeschirrs über Bord gehievt und auf bereitstehende flache Karren heruntergelassen, die von geduldigen, ausgemergelten Kleppern gezogen wurden. Der Kai war mit feinem Teestaub bedeckt, einer dunklen, aromatischen Schicht, die der Wind in Wirbeln über das Kopfsteinpflaster trieb. Die Ehre der Erl King war gerettet, da sie die Seawitch beim Löschen der Ladung schlagen würden, denn ihr Rivale war aufgehalten worden, bis die Frage seiner Teequalität geklärt war. So wollte es die Ironie des Schicksals, daß Erl Kings Crew über die Gewieftheit ihres verstorbenen Kapitäns wieherte und die Crew der Seawitch darüber, daß es ihm nichts genützt hatte. »Noch zwei Stunden, Sir«, berichtete Harris, während er über den Süll der Hauptladeluke kletterte und seinen Hut abnahm, um sich mit dem Handrücken die Stirn zu wischen. »Damit müßten wir den Rekord der guten alten Fiery Cross ungefähr erreicht haben.« »Sie haben verdammt gut gearbeitet. Wir zahlen die Heuer in dem Moment aus, in dem die letzte Kiste von Bord ist.« »Bis dahin haben Sie eine verdammt durstige Crew, Sir.« »Ich habe Mr. Duke schon losgeschickt, damit er ein Faß Bier besorgt. ..« »Das sage ich ihnen sofort, es wird sie mehr anspornen als alles andere.« Harris verschwand, und Munro grinste. Bis dahin würde auch Talham mit dem Geld von der Bank zurückgekommen sein, so daß sie die Leute auszahlen konnten. Und wenn das alles erledigt war, dann wollte auch er sich einen Drink genehmigen, keinen Cognac, sondern einen langen, genüßlichen Schluck India Pale Afe, das er mit dem besten Whisky krönen würde, den es überhaupt gab! Und dann wollte er auch eine Frau; am liebsten Hannah, wenn sie ihn nahm. Obgleich nur sie allein wußte, welches Spiel sie mit diesem Waliser trieb. Eigentlich, und das gestand er sich nur ungern ein, hatten nun, da sie an Land waren, andere Möglichkeiten des Zeitvertreibs und Han-nahs zunehmend kühles Benehmen ihre Wirkung auf ihn nicht verfehlt. Sie würden natürlich immer Freunde bleiben, aber letztlich waren an Bord begonnene Romanzen doch oft auf Sand
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gegründet. Betrübt kam Munro zu dem Schluß, daß genau dies auch das Schicksal seiner Beziehung zu Hannah Kemball sein würde. Außerdem war er ein Pragmatiker. Er wollte ein Schiff. Eine Frau konnte Freuden bringen, ein Schiff aber Wohlstand! Besitzergreifend klopfter er auf Erl Kings Teakreling. Nun, die hatte er jetzt, sofern in Zukunft nicht Dampfer ihr den Rang ablaufen würden. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht taten sie das ja eines Tages, aber Dampfer brauchten weniger couragierte Kapitäne, und er war noch zu jung, um der Herausforderung zu widerstehen. Sollte der Chinahandel für Klipper wie die Erl King nicht mehr in Frage kommen, so blieb immer noch der australische Wollhandel, bei dem die Segelschiffe sich, auch wenn es keine Prämien zu verdienen gab, nach wie vor Wettrennen lieferten. Dampfschiffe konnten warten. Aber Dampfschiffer konnten nicht warten. Ein hagerer, blasser Mann im Rang eines Kapitäns der Handelsmarine riß Munro aus seinen Träumereien. Der Fremde stand auf dem oberen Absatz der Gangway und tastete das Schiff interessiert mit Blicken ab. Alarmiert ging Munro nach vorn und konfrontierte ihn. »Sind Sie hier der Erste Offizier?« fragte der Ankömmling brüsk. »Aye«, antwortete Munro vorsichtig. »Und was führt Sie her?« Doch der Mann ignorierte die Frage. Er schaute sich weiterhin an Deck um, musterte das glänzende Messing und die aufwendige Bemalung, die Erl Kings Hüttenwand zierte. Munro hörte ihn murmeln: »Was sagt man dazu? Hol' doch der Teufel diesen angeberischen Bastard!« Munro wollte gerade fragen, was dieser Wutausbruch zu bedeuten habe, als Osman hinter ihm auftauchte. »Miss Kemball läßt ausrichten, Mr. Munro, wenn Kapitän McAllister eintrifft, möchten Sie ihn bitte in den Salon bringen.« »Na also, da bin ich«, knurrte der wortkarge Fremde. In der festen Überzeugung, daß er ersetzt werden sollte, daß die launische, unberechenbare Hannah es sich mit seiner Ernennung zum Kapitän der Erl King anders überlegt hatte, begleitete Munro den Mann nach unten. Hannah und Richards saßen sich am Tisch gegenüber. Beide spielten mit einem Glas Cognac, und dem eifersüchtigen Munro war klar, daß starke Worte zwischen ihnen gefallen sein mußten. Richards starrte Hannah unaufhörlich an. Hannah hatte ihm vermutlich so gut sie konnte Feuer gegeben, denn aus ihrem Haar hatten sich einzelne Strähnen gelöst und ihr Gesicht war
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gerötet. Auch hatte Munro einen lauten Wortwechsel gehört, nachdem er zunächst von Mai Li hinauskomplimentiert und dann durch die Stauer abgelenkt worden war. »Das ist...« begann er düster und schaute Hannah und Richards auf das Schlimmste gefaßt an. »Captain McAllister, bitte nehmen Sie Platz.« Hannah floß über vor Charme und war schöner denn je, dachte Munro. Und außerdem kannte dieses Weibsbild den schottischen Skipper offenbar. Damit stand für ihn fest, daß ihre Versprechungen so wertlos waren wie ihr Herz. Schäumend vor Wut machte er kehrt, um wieder an Deck zu gehen. »Setzen Sie sich doch zu uns, James. Kapitän McAllister, dies ist Kapitän James Munro...« Verwirrt starrte Munro Hannah an und errötete vor Beschämung. Dann schüttelte er McAllister die Hand, wobei ihn seine Verlegenheit daran hinderte, die Feindseligkeit im Blick des anderen zu bemerken. »James, würden Sie bitte Kapitän McAllister Cognac einschenken und sich auch selbst bedienen?« Sie gönnte ihm ein umwerfend süßes Lächeln. »Würden Sie mir vielleicht verraten, warum Sie mich rufen ließen, Madam? Ich habe an Land viel zu tun und nur wenig Zeit dafür«, sagte McAllister grob. »Ihre Nachricht war schließlich von einer gewissen Dringlichkeit.« »Natürlich, Kapitän«, sagte Hannah besänftigend. »Kapitän Richards und ich sind übereingekommen, eine Reederei zu gründen. Sie arbeiten, wenn ich recht verstanden habe, auf eigene Rechnung und Gefahr. Ich weiß von Ihnen selbst, daß Ihre Reise kein Erfolg war...« »Das ist meine Privatangelegenheit...« »Wir wollen es auch zu unserer machen«, fuhr Hannah fort, unbeeindruckt von McAllisters aggressivem Tonfall. »Da wir wissen, daß Sie sehr viel einzubringen haben, wollten wir Sie bitten, in dieser Reederei unser Partner zu werden.« »Ah! Da also liegt der Hase im Pfeffer!« McAllister verwarf das Angebot, ehe er es verstanden hatte. »Sie wollen mit mir ein doppeltes Spiel treiben, genau wie Ihr Vater!« »Im Gegenteil, Sir«, warf Richards gebieterisch ein. »Auch ich hegte, genau wie Sie, wenn auch mit weniger Grund, keine große Sympathie für Kapitän Kemball. Jetzt garantiere ich Ihnen, daß hier kein falsches Spiel getrieben wird. Miss Kemball und ich sind pragmatisch genug um einzusehen, daß das Zeitalter der
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Dampfschiffahrt gekommen ist, auch wenn im Moment noch unsere beiden Schiffe den Gewinn einstreichen.«
»Sie wollen meine Erfahrung als Kenner der Dampfschiffahrt...« »Und wir übernehmen Ihre Schulden.« »Die belaufen sich auf neunhundertzweiundvierzig Pfund, sieben Shilling und elf Pence.« »Dann ist es abgemacht, Sir«, sagte Hannah und griff zum Federhalter. »Hier ist ein Scheck über tausend Pfund Sterling, um das Kriegsbeil zwischen uns zu begraben.« McAllister schaute sich erst im Salon um und starrte dann den beiden ins Gesicht. Schließlich nahm er das vor ihm stehende, bisher unangerührte Glas und stürzte seinen Inhalt mit einem Zug hinunter. »Ah! Das ist zwar kein Scotch«, sagte er und wiegte den Kopf, »aber im Augenblick erfüllt's seinen Zweck. Und was wird aus meinem Tee - so minderwertig, wie er angeblich ist?« »Der bleibt Ihnen für den eigenen Geldbeutel, Kapitän«, sagte Hannah listig, und Munro konnte nicht umhin, die Art und Weise zu bewundern, wie sie die Angelegenheit handhabte. »Na denn, einverstanden!« nickte McAllister. »James«, sagte Hannah fröhlich, als sie das mit einem Händedruck besiegelten. »Würden Sie bitte die Honneurs machen?« »Nein, nein, neuer Kapitän nicht können. Mehr besser, ich machen.« Mai Li erschien aus der Kombüse, mit Osman im Gefolge. Er trug ein Tablett mit Kaffee, und sie hüpfte von einem zum anderen und schenkte Cognac nach. »Auf die United Shipping Company!« schlug Hannah vor. »Aye!« stimmte McAllister besänftigt zu. »Da iawn«, sagte Richards. Munro war Dandy Dicks Verhalten ein Rätsel. Was, um alles in der Welt, war zwischen ihm und Hannah vorgefallen? Aber der Alkohol wärmte ihn innerlich und milderte seine Enttäuschung. Alles in allem konnte er mit dem Erreichten wahrhaftig zufrieden sein. Er hatte die Erl King in nahezu Rekordzeit sicher von China heimgebracht. Er war jetzt Kapitän, und auch wenn er Hannahs Herz nicht hatte gewinnen können, so würde sie ihm doch ihre Freundschaft und Wertschätzung künftig nicht versagen. Auf lange Sicht
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war es vielleicht sogar besser so. Es gab noch andere Frauen, und sein neuer Status als Kapitän bot ihm viel mehr Möglichkeiten. So entspannte sich Munro und lächelte Hannah über den Rand seines Glases zu. »Aye«, sagte er, »auf die United Shipping Company.« Jetzt schmerzte es ihn auch nicht mehr, daß sie nur für Richards Augen zu haben schien. Die Männer waren nach achtern gekommen, um ihre Heuer abzuholen. Eine feine Staubschicht auf dem Kiesballast und ein Wohlgeruch, der alle Räume des Schiffs durchzog, das war alles, was von Erl Kings vierzehntausend Kisten bohea-Tee übriggeblieben war. Außer Osman war auch Mr. Duke an Bord zurückgeblieben, ein Mann ohne Bindungen, ohne jemanden, der auf ihn wartete. Er übernahm die Nachtwache an Bord. Talham, die Kadetten und alle anderen waren gegangen; Bootsmann Harris und der Segelmacher nach Hause, der Zimmermann sich betrinken, um den Schmerz über den Verlust seiner halben Heuer zu betäuben; Gopher Stackpole, um die Huren in Mutter Vin-neys Puff zu taxieren. Im Polizeirevier von Wapping war die erste von etlichen noch zu erwartenden Schlägereien zwischen den rivalisierenden Crews bereits Gegenstand eines Protokolls. Dando Douglas hatte es eilig, seine Kinder wiederzusehen, während Kadett Gordons Mutter und sein jüngerer Bruder wie gebannt an seinen Lippen hingen, als er von den dramatischen Augenblicken vor dem Kap der Guten Hoffnung berichtete. Der Held dieses Seemannsgarns, Vollmatrose Jackson, kniete zwischen den Grabsteinen von St. Anne in Limehouse, und dankte dafür, daß ihm das Leben wiedergeschenkt worden war. In der Kapitänskajüte des Dampfers Glencarron klappte McAllister mit einem Seufzer sein Rechnungsbuch zu. Vor sich eine Flasche feinen Scotch, dachte er über die Ironie des Schicksals nach. Froh, daß er dem sicheren Ruin entgangen war, schenkte er sich noch ein Glas Lebenswasser ein und kippte es mit einem kurzen wohligen Schaudern hinunter. An Bord der Seawitch fand Kapitän Richard Richards keine Ruhe. Auf seinem Sofa ausgestreckt, hielt er es nicht lange aus, denn er dachte an die Wonnen dieses Morgens, an den weichen, nachgiebigen Körper und an diesen plötzlichen Ausbruch von Leidenschaft, die seiner eigenen in nichts nachstand. Die Erinnerung daran trieb ihn wieder auf die Füße. Rastlos ging er auf und ab, gemartert von der frustrierenden Vorstellung, daß
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Hannah nur eine Schiffslänge von ihm entfernt war - bis die Erinnerung an ihre Sinnlichkeit ihn erneut aufs Sofa warf und der Kreis seiner Gedanken sich schloß. Aus Erl Kings Kombüse, wo der servile Osman das Abendessen vorbereitete, drang das Klappern von Geschirr. Im Salon saßen Hannah und Mai Li Seite an Seite auf dem Diwan. Die kleine Chinesin wußte längst, klug wie sie war, was zwischen Hannah und dem Schwarzen Teufel vorgefallen war. »Du nicht wollen - das?« fragte sie und hieb mit der flachen Hand durch die Luft. Hannah, in Gedanken versunken, schüttelte den Kopf und lächelte zufrieden. »Nein, Mai Li. Das wollte ich nicht...« »Ich betrübt für Mr. Munro. Er wollen sein Kapitän und haben Mis-sie.« Hannah legte begütigend eine Hand auf Mai Lis Knie. »Mr. Munro ist ganz zufrieden. Und Kapitän Richards ist ein richtiger Gentleman.« Ihre Erinnerung an diesen wundervollen Morgen wurde nur getrübt durch alte Bilder, die sich immer wieder dazwischenschoben: Enright in unverhüllter Lust, Enright volltrunken, Enright erschlafft und tot. Und im Vergleich dazu Richard Richards... Neben ihr ließ Mai Li den Kopf in die Hände sinken. Sofort schalt Hannah sich wegen ihrer Gedankenlosigkeit. Sie dachte an Mai Lis schmerzlichen Verlust und daran, daß Len-Kuas Leichnam inzwischen abgeholt worden war. »Oh, Mai Li, es tut mir ja so leid. Wie gedankenlos von mir...« Die Chinesin ergriff Hannahs ausgestreckte Hand und starrte sie mit schwimmenden Augen an. »Alles in Ordnung, Missie...« »Ja, ja, natürlich«, besänftigte Hannah. Sie dachte an Mai Lis unsicheres Los, an ihr Versprechen und bedauerte ihre Anspielung auf wahre Gentlemen, die Mai Li traurig gestimmt haben mußte. »Du kommst zu mir, wirst mit mir leben und mir mit der neuen Reederei helfen.« Nun lächelte Mai Li und nickte heftig. »Ja, ja, ich helfen, ganz richtig. Ich helfen wie Len-Kua.« Hannah runzelte die Stirn. Mai Li hatte gelacht, nicht geweint! »Ich helfen ganz richtig. Werden Partner...« »Ja, also ich weiß nicht...« »Doch, doch«, nickte Mai Li, immer noch lächelnd. »Len-Kua bringen nach London viel Geld. Er haben Kiste voll bis Rand mit
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Geld. Len-Kua immer sagen: ›Mai Li, Geld machen alles mehr besser.‹ Er kommen London, will nicht zahlen Steuern an Kaiser. Ich denken, dein Vater Len-Kua sagen, London-Bank keine Fragen stellen. Len-Kua kommen London, wollen leben wie Prince of Wales.« Jetzt erst dämmerte Hannah die volle Bedeutung von Mai Lis Worten. Der Gedanke, noch eine Frau in ihrer neuen Reederei zu haben, gefiel ihr. »Das ist ja phantastisch, Mai Li!« rief sie. »Du bist sehr willkommen als Partner.« Jetzt lachten sie beide, und die Chinesin klatschte in ungekünsteltem Entzücken in die Hände. »Mai Li sehr glücklich«, sagte sie einfach. »Ich freue mich auch.« »Missie Hannah?« »Ja?« »Was sein ›Prince of Wales‹?« Bei Sonnenuntergang saß Mr. Duke in der warmen Kombüse. Er hatte sein Buch weggelegt und eine Mundorgel herausgeholt. An der Erl King vorbei drosch ein Schlepper durch das schmutzige Hafenwasser und zog eine auslaufende Bark auf die Schleuse zu. Der Schwell seiner zischenden Radschaufeln versetzte den hellerleuchteten Klipper in sanftes Schwingen, so daß der Schatten des Riggs einen gespenstischen Reigen an Deck vollführte. »I thought I heard the Old Man say«, sang Mr. Duke leise, »leave her, Johnny, leave her. You may go ashoreanddrawyourpay...« Hannah lauschte im Schutz des Niedergangs dem alten Shanty und starrte achteraus, wo hinter den jetzt leblosen Konturen ihres Schiffs die Seawitch lag. Sie lächelte vor sich hin, als sie an Richard Richards dachte und an morgen, an all die vielen Morgen, die noch folgen würden. Dann drehte sie sich um und ging nach unten. In der Kombüse spielte Mr. Duke die Melodie jetzt auf der Harmonika. Ihr Tremolo hallte durch die staubigen Decks, wo nur die Geister des Schiffs zuhörten: Enright, der betrunken in den Speigatten lag; Len-Kua, schläfrig staunend über den weiten, dunklen Ozean, in dem der unglückliche Jansen ertrunken war; und Cracker Jack, der auf der Poop auf und ab marschierte. Aber nur Mr. Duke sah ihn, denn er war an die Gesellschaft von Geistern gewöhnt. Die emsigen Radschaufeln des Schleppers legten einen Schaumkranz um Erl Kings Wasserlinie. Oberhalb der scharfen
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Kurve ihres Stevens, unter dem langen, keck aufwärts zeigenden Klüverbaum, hob und senkte sich leise die bunt bemalte Galionsfigur. Auf ewig schlaflos, bewachte der Erlkönig mit strahlend blauen Augen seine gefangenen Kinder, ungerührt von ihrem Schicksal.
Ende
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