Gruselspannung pur!
Die Wikingerzombies von Haithabu
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Antje Sörensen träumte...
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Gruselspannung pur!
Die Wikingerzombies von Haithabu
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Antje Sörensen träumte. Die blonde Siebzehnjährige lag an ihrem Lieblingsplatz im Gras. Ließ sich die ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühlings auf die sommersprossige Nase scheinen. Direkt neben ihr spendete ein mächtiges Hünengrab Schatten. Das Steingrab mußte vor ewigen Zeiten hier errichtet worden sein. Wahrscheinlich lange bevor die nur wenige Kilometer entfernte Stadt Schleswig gegründet wurde. Das Mädchen träumte von dieser fernen Vergangenheit. Antje hatte sehr viel Phantasie. Doch während ihre Freundinnen von den Backstreet Boys und anderen angesagten Boygroups schwärmten, stellte sich die Blonde lieber das Leben in der Wikingerzeit vor… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! 2
Fast glaubte Antje, die Schiffe mit den geschnitzten Drachenköpfen am Bug die Schlei hinaufgleiten zu sehen. Von ihrem Platz aus hatte sie einen guten Blick über den Fluß. Harte Männer mit langen Bärten, die vom Kampf oder Handelsfahrten kamen. Bis nach Grönland und Amerika waren die Wikinger in ihren offenen Booten gesegelt! Plötzlich fiel ein Schatten auf die Siebzehnjährige. Sie blinzelte. Hatte sich die Sonne so schnell gedreht? Doch der Schatten stammte nicht von dem Hünengrab. Sondern von einem muskulösen Mann, der sie aus unheimlichen toten Augen anstarrte. Er hatte einen Helm mit Hörnern auf dem Kopf. Und ein zweischneidiges Kampfbeil in den Händen! * Antje Sörensen rutschte das Herz in ihre enge Jeans. Für einen Moment glaubte sie, daß ihre Einbildungskraft zu heftig gewesen war. Doch der Mann beugte sich über sie. Der Gestank war überwältigend. Es waren nicht nur die Ausdünstungen eines Menschen, der vor der Erfindung der Zahnbürste geboren worden war. Nein, dieser Axtkämpfer hatte den Geruch von Verwesung und Grab an sich! Mit wachsender Panik verfolgte das Mädchen, wie sich sein Körper in verschiedenen Stadien der Auflösung befand. An einigen Stellen schimmerten die blanken Knochen unter dem verwesenden Fleisch durch. Und dann diese Augen! In ihnen brannte das untote Feuer der Hölle. Antje Sörensen schrie entsetzt auf, als der Unheimliche sie packen wollte. Dabei streifte er sie nur. Aber sie spürte trotzdem seinen kalten Griff. Die Hand einer Leiche wollte sie festhalten! Wie ein Aal entwand sich die Schülerin aus Schleswig im letzten Moment seinem Griff. Sie federte hoch. Nun zahlte es sich aus, daß sie seit Jahren regelmäßig Jogging machte. Ihre Beine waren nicht nur lang und wohlgeformt, sondern auch durchtrainiert. Sie wollte dem Unheimlichen um jeden Preis entkommen! Sich deshalb auf ihr Mountain Bike schwingen, das, nur wenige Meter entfernt, neben dem Hünengrab an einer Esche lehnte. Abgeschlossen hatte sie es nicht. Das erschien ihr an diesem 3
einsamen Fleckchen nicht nötig. Antje Sörensen prallte entsetzt zurück! Das Steingrab und die benachbarten Bäume standen auf einem sanften Hügel, der einen guten Blick über die Schlei bot. Ein Trampelpfad führte zwischen Unkraut und dichtem Gras hier herauf. Und auf diesem Weg näherten sich jetzt einige weitere Horrorgestalten! Auch sie waren wie Wikinger aus dem 10. Jahrhundert gekleidet. Einige hatten keine Hörner an ihren Helmen. Aber das war auch schon der ganze Unterschied zu dem Kerl mit dem gemeinen Mundgeruch. Alle trugen entweder grobgewebte Kittel mit Kettenhemden oder räudige Pelze. Ihre Beine steckten in Sackhosen, die Füße in schweren Halbstiefeln. Die Meute war mit Speeren, Schwertern und Beilen bewaffnet. Das Mädchen schlug einen Haken, um den Wikingern zu entkommen. Einige der Angreifer schienen gebrochene Beine zu haben. Sie krochen auf Antje zu, die starren Höllenaugen auf ihr Gesicht gerichtet. Es war grauenvoll! Der Weg zum Fahrrad war ihr nun abgeschnitten. Einer der Mordgesellen aus der Vergangenheit hatte es schon erreicht. Mit einem schäbigen Grinsen seines zahnlosen Mundes hob er seine Streitaxt. Und hackte das Mountain Bike in Stücke! Antje bezweifelte, daß er überhaupt wußte, wozu ein solches Gerät diente. Es ging ihm nur darum, blindwütig zu zerstören. Das hatte sie erkannt. Aber diese Einsicht nützte ihr nichts mehr. Denn nun packte sie der nach Leichen stinkende Wikinger von hinten! Während seine Kameraden herangekommen waren, hatte er die Verwirrung des Mädchens ausgenutzt. Und diesmal war sein eiskalter, übermenschlich starker Griff nicht zu überwinden. Obwohl ihr die Panik die Kehle zuschnürte, wehrte sich die Schülerin verzweifelt. Sie trat gegen die Waden des Wikingers. Aber der lebende Tote spürte vermutlich keine Schmerzen mehr. Jedenfalls gab er keinen Laut von sich. Der Rest der Bande kreiste sie ein. Mit jeder Sekunde sanken Antjes Chancen zu entkommen. Antje Sörensen war einer Ohnmacht nahe. Für einen Moment raste ein verrückter Gedanke durch ihren Kopf. Was, wenn sie selbst durch ihre Phantasien von der Vergangenheit diese Männer herbeigerufen hatte? Aber das war einfach zu abgedreht. So etwas konnte es doch nicht geben! 4
Der größte und breiteste von ihnen kam auf sie zu. Sein Oberkörper war ganz in räudigen Seehundpelz gehüllt. Die muskulösen Oberarme waren über und über tätowiert. Jedenfalls dort, wo die Knochen nicht durch das verwesende Fleisch blinkten. Er sagte ein paar Sätze auf altnordisch. Sein bärtiges Gesicht verzog sich zu einem gemeinen Grinsen, während er mit einer einzigen Bewegung Antjes T-Shirt von ihrem Oberkörper riß. Die schrie sofort los. Plötzlich kam ein Range Rover die asphaltierte Straße herauf. Die Wikinger schnatterten für einen Moment wild durcheinander angesichts dieses für sie ungewohnten »Zaubers«. Zwei von ihnen packten die gefangene Antje. Dann verzogen sie sich kriechend oder laufend in das Hünengrab. Als der Range Rover die letzte Kurve vor der leichten Anhöhe erreichte, lag nur noch das zerstörte Fahrrad im Gras. Und darüber machten sich die Frau und der Mann in dem Auto keine Gedanken. Sie schimpften dafür über die Menschen, die überall in der Landschaft ihren Müll abluden. Denen fehlte einfach ein Gespür für die Natur und ein harmonisches Zusammenleben aller Geschöpfe. Gerd Feddersen war ein leidenschaftlicher Altertumsforscher. Das Spezialgebiet des Berliner Professors, der aus SchleswigHolstein kam, war Haithabu. Das Babylon an der Ostsee, wie er es auch gerne nannte. Die versunkene Wikingerstadt in der Nähe von Schleswig. Dort arbeitete er auch an diesem stürmischen Frühlingstag an einer Ausgrabungsstätte. Zusammen mit einigen Geschichtsstudenten sowie jüngeren ABM-Hilfskräften, die für die groben Arbeiten zuständig waren. Die Jugendarbeitslosigkeit war 1999 auch in Schleswig-Holstein viel zu hoch, jede solche Stelle deshalb heiß begehrt. Professor Feddersen richtete sich auf und bog das Kreuz durch. Mit den Jahren bekam der Fünfundfünfzigjährige seine »Berufskrankheiten« zu spüren. Neunzig Prozent seiner Arbeitszeit verbrachte er am Schreibtisch. Und weil er kaum Sport trieb, hatte er noch mit Übergewicht zu kämpfen. Wenn er dann endlich einmal mit seinem Team in der freien Natur nach Überresten vergangener Epochen suchte, machte ihm sein Rheuma zu schaffen. Tagelang auf den Knien im feuchten Erdreich herumrutschen - das war Gift für ihn. 5
Aber solche Unannehmlichkeiten bedeuteten dem Altertumsforscher nichts. Er nahm sie gerne in Kauf. Für einen Moment wie diesen. Triumphierend hielt Professor Feddersen einen kleinen Gegenstand ins Licht, nachdem er ihn vorsichtig mit einem Pinsel von den letzten Klumpen der fetten Erde befreit hatte. »Was ist das, Herr Professor?« fragte Silke Busch. Sie war eine der Studentinnen, die mit Feddersen aus Berlin zu dieser Ausgrabungsstätte gereist waren. Der Forscher warf seiner Assistentin einen tadelnden Blick zu. Andererseits sagte er sich, daß sie erst im zweiten Semester war. Daher konnte er nicht erwarten, daß sie schon so im Thema war wie er selbst nach fünfundzwanzig Jahren Forschungsarbeit. »Das, liebe Silke, ist eine Handspindel. Oder die Überreste davon. So etwas braucht man, um Wolle zu spinnen. Im zehnten Jahrhundert waren die meisten Haushalte in Deutschland und Skandinavien autark. Wissen Sie, was das bedeutet?« Nicken. »Jeder hat all das selbst hergestellt, was er zum täglichen Leben brauchte: Essen, Kleidung, Wohnraum.« »Richtig. Aber diese Handspindeln sind erste Erzeugnisse einer Massenproduktion. Sie wurden in Haithabu hergestellt und von Wikingerschiffen bis weit nach Rußland und Südeuropa exportiert. In den Hollywoodfilmen sieht man unsere Vorfahren immer noch als blutrünstige Barbaren. Aber die Wikinger waren auch angesehene Händler und erfolgreiche Entdecker. Sie…« Weiter kam er nicht. Denn plötzlich kam wie aus dem Nichts ein Pfeil herangeschossen! Die Spitze drang tief in den fleischigen Oberarm des Wissenschaftlers. Der Schaft vibrierte. Es gab ein dumpfes Geräusch. Silke riß den Mund auf. Der Pfeil war nur ganz knapp an ihrem Kopf vorbeigesaust. Sie trug ihr langes, dunkles Haar im Nacken verknotet. Die Studentin wirbelte herum. Für eine Sekunde herrschte noch Stille. Dann griff eine Schar Männer mit grausamem Schlachtgebrüll die Ausgrabungsgruppe an! Der Schrecken lähmte die Berlinerin nur kurz. Dann setzte der Überlebensinstinkt ihren Körper wie von selbst in Gang. Die Lage war eindeutig. Die wie Wikinger gekleideten Angreifer kamen von der Schlei her. Es waren vielleicht zwei Dutzend. Einige schossen weiterhin Pfeile auf die überraschten Ausgräber. 6
Doch die meisten schwangen drohend ihre Äxte und Schwerter. Daß ihre Körper zum Teil schon verwest waren, konnte die junge Frau auf diese Entfernung nicht erkennen. Auch der Geruch verriet dies nicht. Denn der Wind blies den Wikingern entgegen. Als wollte sogar die Natur sie abwehren. Die Menschen waren jedenfalls völlig überrascht worden. Entsetzt mußte Silke Busch mit ansehen, wie sich einer der ABMKräfte mit seiner Schaufel den Wikingern in den Weg stellte. Wohl weniger aus Tapferkeit als aus mangelnder Überlegung. Es wurde ihm zum Verhängnis. Die Männer mit den gehörnten Helmen stürzten sich gleich zu viert oder fünft auf ihn. Erst schlugen sie seine Schaufel in Stücke. Und gleich darauf ihn selbst. Silke mußte sich abwenden, als die blutigen Schwerter ihre grausige Arbeit verrichteten. Ihr Magen drehte sich um. Professor Feddersen starrte ebenfalls in die Richtung. Er hielt sich seinen verletzten Arm. »Das… das ist doch nicht möglich…« »Doch!« Plötzlich fiel die Starre von Silke Busch ab. Die zierliche junge Frau zog den grauhaarigen Wissenschaftler hinter sich her. Normalerweise hätte sie sich nie getraut, ihn auch nur mit dem kleinen Finger zu berühren. Aber das hier war kein normaler Tag in ihrem Geschichtsstudium. Wenn nicht bald etwas passierte, würde es der letzte Tag werden. Der letzte Tag ihres Lebens. Die Studentin begann zu laufen. Und der Professor stolperte hinter ihr her. Der Pfeil steckte immer noch in seinem Oberarm. Silke hatte ein Ziel. Das Ende des Feldweges, wo die Autos der Gruppe abgestellt waren. Hinter ihr setzten sich ihre Mit-Studenten und die anderen Ausgräber ebenfalls in Bewegung. Sie schienen auch erkannt zu haben, daß sie das Heil nur noch in der Flucht suchen konnten. Doch für einige von ihnen war es zu spät. Die Wikinger waren schon zu nahe herangekommen. Ein junger Student namens Zacharias wurde von einem Pfeil zwischen die Schulterblätter getroffen. Die Wikinger heulten auf, als er der Länge nach zu Boden fiel. Einer der Kerle sprang auf ihn zu. Er trug einen dicken Pelz. Geifernd ließ er sein Schwert niedersausen. Im nächsten Augenblick schwang er Zacharias' abgeschlagenen Kopf höhnisch über sich durch die Luft! Inzwischen hatte Silke den Parkplatz erreicht. Zum Glück hatte sie die Autoschlüssel eines Hondas mit Vierradantrieb in der 7
Tasche. Es hatte zu ihren Aufgaben gehört, diesen Wagen zu fahren. Damit wurden Lagerkisten für die Fundstücke transportiert. Jetzt wollte sie ihn einsetzen, um Leben zu retten. Die Studentin überlegte nicht lange, woher ihr plötzlicher Mut kam. Wenn sie zu lange darüber nachdachte, würde er sie vielleicht wieder verlassen. Sie spürte instinktiv, daß sie mit dem bulligen Fahrzeug eine Chance hatte gegen diese Bestien. Was hatte Professor Feddersen noch vor ein paar Minuten gesagt? Die Wikinger seien keine blutrünstigen Barbaren gewesen? Nun, auch Hochschullehrer können irren. Silke Busch öffnete die Beifahrertür von innen, nachdem sie sich auf den Fahrersitz fallen gelassen hatte. »Hüpfen Sie hinein, Professor Feddersen!« Der übergewichtige Forscher quälte sich in einer Art und Weise auf den Sitz, die man wirklich nicht als »Hüpfen« bezeichnen konnte. Aber er stand offensichtlich auch unter Schock. »Was - was haben Sie vor, Silke?« »Das!!!« Sie rammte den Gang rein. Die Zentralverriegelung des Geländewagens war schon betätigt. Brüllend schoß der Honda nach vorne. Mit der schüchternen Studentin schien plötzlich eine Verwandlung vor sich zu gehen. Sie wurde zu einer tollkühnen Rallyefahrerin. Die Wikingerzombies waren harte Burschen. Aber als das hochbeinige Fahrzeug auf sie zuraste, verloren einige doch die Nerven. Silke griff die Bande von der linken Flanke aus an. Sie wollte den Honda als Rammbock benutzen. Damit ihre Kameraden genug Zeit zur Flucht hatten. Die breiten Reifen des Geländewagens rollten über einen der mörderischen Wikinger hinweg. Seine Knochen wurden zermalmt. Ein Mensch hätte in dieser Lage vielleicht entsetzliche Schreie ausgestoßen. Aber der Untote spürte keine Schmerzen. Einer seiner Gefährten ließ einen Pfeil von seinem nordischen Langbogen schnellen. Instinktiv duckte sich Silke Busch, obwohl sie durch die Windschutzscheibe geschützt war. Doch die Spitze des Geschosses glitt von dem Stahlblech der Kühlerhaube ab. Professor Gerd Feddersen ächzte und stöhnte auf dem Beifahrersitz neben ihr. Zum Glück hatte er sich angeschnallt. Aber auch so wurde er kräftig durchgeschüttelt, während die junge Studentin einige der Krieger vor sich hertrieb. Mit der 8
linken Hand hielt sich der Altertumsforscher seinen verletzten rechten Oberarm. Blut sickerte durch seine Finger. Der Honda krachte in eine Bodensenke und kam gleich darauf wieder hoch. Feddersen stieß sich den Schädel an der Wagendecke. Er zerbiß einen Fluch auf den Lippen. So hatte er sich diesen Forschungsauftrag nicht vorgestellt! Er hatte immer noch nicht verstanden, warum seine Gruppe überhaupt von diesen Männern angegriffen wurde. Sollten das Wikinger sein? Aber die gab es seit über tausend Jahren nicht mehr. Er selbst hatte schließlich seine Doktorarbeit über das Ende der Wikingerzeit nach der Verbreitung des Christentums in Nordeuropa geschrieben. Aber bevor sich der Professor wieder in die Welt seines staubtrockenen Bücherwissens flüchten konnte, holte ihn die Realität ein. Plötzlich sprang ein riesiger muskelbepackter Nordmann auf die Kühlerhaube des Honda. Er trug das lange Haar zu Zöpfen geflochten. Der Bart reichte ihm bis auf die Brust. Aus seinem Oberkörper ragten einige abgebrochene Pfeilschäfte. Seine toten Augen starrten Feddersen böse durch die Windschutzscheibe an. Dann hob er seine Streitaxt. * Silke Busch blieb fast das Herz stehen, als der vor Wut rasende Wikinger plötzlich vor ihr auf der Motorhaube kniete. Doch dann krachte auch schon sein doppelschneidiges Beil nieder! Die Waffe mußte mit übermenschlicher Gewalt geführt worden sein. Die Streitaxt durchschnitt das Blech des Autodachs und einen Teil der Windschutzscheibe. Das Verbundglas zerbrach. Es war fast ein Wunder, daß weder die Studentin noch ihr Professor getroffen wurden. »Halten Sie sich fest, Professor Feddersen!« brüllte Silke Busch mit heller Stimme. »Jetzt geht's los!« Ihr rechter Fuß trat das Gaspedal bis auf das Bodenblech hinunter. Der Allrad-Honda beschleunigte. Der Wikinger in dem räudigen Seehundfell ließ sich davon nicht beeindrucken. Er zog seine Axt wieder hervor, um einen tödlichen Streich gegen die beiden Menschen zu führen. Aber da machte die junge Frau eine Vollbremsung! 9
Der Wagen stand binnen Sekunden, aber der Nordmann wurde durch die Fliehkraft weitergeschleudert. Für den Moment waren sie ihn los. Bei diesem Manöver hatte Silke den Motor abgewürgt. Professor Feddersen glaubte vor Angst zu sterben, als die Wikinger nun das Auto zu umringen begannen. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Sie konnten mit ihren Äxten das Chassis in briefmarkengroße Stücke hauen. Und dann würden sie seine Studentin und ihn… Die Dunkelhaarige drehte den Zündschlüssel. Der Honda wimmerte kurz auf, aber es tat sich nichts. Es war unheimlich, wie sich die Männer in den tausend Jahre alten Helmen und Kitteln dem Wagen näherten. Sogar der, den Silke vorhin überfahren hatte. Das schien ihm überhaupt nichts ausgemacht zu haben. Außer, daß er seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte. Aber es gab noch andere, die auf ihre Opfer zukrochen. Was aus den übrigen Teilnehmern seiner Gruppe geworden war, konnte der Professor nicht sagen. »Verdammtes Reiskorn!« schrie Silke Busch den Wagen an. »Muß man sich vor dir verneigen, bevor du anspringst?« Und mit einem Anflug von Galgenhumor beugte sie den Oberkörper vor dem Lenkrad. Wenn der japanische Wagen wirklich von einem Geist beseelt war, dann erbarmte sich dieser nun ihrer Verzweiflung. Der Motor heulte auf. Silke war so glücklich darüber wie in ihrer ersten Fahrstunde, als sie die ersten Kilometer zurücklegte. Die untoten Krieger schienen zu spüren, daß ihnen ihre Beute zu entkommen drohte. Wie auf ein Kommando stürzten sich gleichzeitig zehn oder elf Wikinger auf den Geländewagen. Die Äxte stanzten Löcher und Dellen in das Blech. Einer schaffte es, das Beifahrerfenster einzuschlagen. Seine halbverweste Knochenhand packte die Jacke von Professor Feddersen. Instinktiv wehrte sich der weltfremde Wissenschaftler. Er zog mit zusammengebissenen Zähnen den Pfeil aus seiner Wunde. Und stach die Pfeilspitze durch die Hand des Wikingers. Doch aus der Klaue drang kein Blut. Vielleicht, weil schon seit tausend Jahren keines mehr durch diese Adern pulsierte. Das entsetzte den Altertumsforscher mehr als alles andere, was er an diesem furchtbaren Tag bisher erlebt hatte. Silke beschleunigte nun den Honda langsamer als zuvor. Wieder 10
gerieten einige Wikinger unter die Räder des Allrad-Autos. Der Krieger neben der Beifahrertür wurde mitgeschleift. Er hielt die Jacke des Professors in seinem Griff. Wie ein Wahnsinniger stach der Wissenschaftler auf die Hand ein. Aber dem untoten Nordmann machte das nichts aus. Silke Busch schlug das Lenkrad nach links ein. Sie näherte sich der Landstraße, wo sie richtig beschleunigen konnte. Von ihren Kameraden aus dem Ausgrabungsteam war keiner mehr zu sehen. Vielleicht hatten sie ja zu Fuß oder mit den anderen Autos flüchten können. Die Wikingerbande blieb zurück. Einige Pfeile wurden dem Honda hinterhergeschickt. Aber sie prallten harmlos an der Heckscheibe ab. Nur der Angreifer des Professors war nicht abzuschütteln. Da bemerkte Silke die Gruppe Pappeln. Direkt dahinter führte der Feldweg zur Landstraße hoch. Die junge Frau konnte durch die geborstene Windschutzscheibe nichts mehr erkennen, sie schaute deshalb die ganze Zeit, weit hinausgebeugt, durch das Seitenfenster auf der Fahrerseite. »Ich versuche, den Vogel abzuschütteln, Professor!« Vorsichtig lenkte sie den Geländewagen so weit wie möglich nach rechts. Es gab einen dumpfen Knall. Dann waren sie den Wikinger los. Jedenfalls größtenteils. Der Körper des Mannes war an den Bäumen hängengeblieben. Aber sein abgerissener Arm krallte sich immer noch an dem Wissenschaftler fest. Mit vor Ekel zitternden Fingern löste Gerd Feddersen die Krallen. Endlich konnte er auch das abgerissene, halb vermoderte Körperteil des Wikingers aus dem Fenster werfen. Inzwischen waren sie auf der Landstraße angekommen. Silke Busch fuhr ruhig Richtung Schleswig, als ob nichts geschehen wäre. Wenn sie ebenfalls unter Schock stand, merkte man es ihr jedenfalls nicht an. Der Professor atmete tief durch, bis er sich wieder gefaßt hatte. »Das - das war sehr mutig von Ihnen, Silke. Sie haben mir das Leben gerettet. Das werde ich Ihnen nie vergessen!« Auch der jungen Frau wurde plötzlich klar, was alles hätte passieren können. Für den Moment war die Gefahr wohl vorbei. Plötzlich war Silke wieder ganz die kleine Studentin. »Vielen Dank, Herr Professor. Kriege ich dafür einen Leistungsnachweis?«
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* Auch ein Dämonenjäger braucht mal eine Pause. Dann darf er im altehrwürdigen Residenz-Cafe mitten in Weimar auf der Straßen-Terrasse sitzen und die ersten Frühlings-Sonnenstrahlen tanken. Das sagte ich, Mark Hellmann, mir jedenfalls nach meinem Abenteuer mit dem fliegenden Drachen von Dresden (MH 39). Ohne den selbstlosen Einsatz meines Freundes Pit Langenbach in China hätte mich der feuerspeiende Lindwurm glatt gegrillt. Zur Erholung gönnte ich mir jetzt ein faules Wochenende. Wie gut, daß meine Dauerfreundin Tessa Hayden ebenfalls gerade frei hatte. Während ich mir als freier Journalist meine Zeit mehr oder weniger selbst einteilen kann, muß die gute Tess springen, wenn Vater Staat sie ruft. Aber dafür genießt sie als Fahnderin der Weimarer Kripo ja auch die Sicherheit einer Beamtenlaufbahn im Lande Thüringen. Das hätte ich auch haben können. Wenn ich gewollt hätte. Nach meinem Studium der Völkerkunde hatte ich ja schon einen Job als wissenschaftlicher Assistent am Museum ergattert. Aber kaum hatte ich den Sessel angewärmt, als ich ihn auch schon wieder für immer verließ. Mir graute vor den verknöcherten Strukturen. Das widersprach völlig meiner angeborenen Unruhe und meinem Freiheitsdrang. Ja, ja, der Freiheitsdrang. Und das trotz - oder wegen? - Tessas krankhafter Eifersucht. Aber in der letzten Zeit hielt ich mich ja bei anderen Frauen zurück, konzentrierte mich auf meine geliebte Tessa. Nach ihrer Affäre mit dem Polizeipsychologen Dr. Dr. Paul Armadur (MH 20) hatte ich gelitten wie ein Hund. Und nachempfunden, wie sie sich bei meiner elften Disziplin Seitensprunggefühlt haben mußte. Ich ließ an diesem Samstagmorgen meine Blicke ungeniert auf den langen, gebräunten Beinen einer Minirockträgerin ruhen. Das konnte ich wirklich ungestraft tun. Denn dieses WahnsinnsFahrgestell gehörte keiner anderen als Tessa selbst. Trotzdem strafte sie mich mit einem leicht tadelnden Blick aus ihren braunen Augen, während sie in einer Frauenzeitschrift blätterte. Wir saßen an einem kleinen runden Tisch für uns. Die Terrasse des »Resi«, wie wir Weimarer das Residenz-Cafe 12
nennen, war gut gefüllt mit Einheimischen und Touristen. Unsere Heimatstadt war in diesem Jahr Europäische Kulturstadt, und die Geschäftsleute freuten sich über den Boom. Nach außen klagten sie wie immer, vielleicht aber zur Zeit doch nicht ganz so laut wie noch vor Wochen oder Monaten. »Du denkst aber auch immer nur an das eine, Mark!« »Meinst du?« Ich bemühte mich, nicht zu auffällig in ihren Ausschnitt zu schielen. Okay, mit den bekannten Silikongrößen kann sie nicht mithalten, aber bei ihr war alles echt! Überhaupt ist ihre Figur sportlich-durchtrainiert. Wie man es von einer Polizistin im Außendienst erwarten kann. »Ja, ich meine. Ich kenne doch deine lüsternen Blicke…« Nun, die gute Tess benahm sich im Bett auch nicht gerade wie eine verklemmte Klosterschülerin. Aber da ich keine Lust auf Streit hatte, zuckte ich einfach nur mit den Achseln. Ich wußte nicht, worauf sie hinauswollte. Aber das sollte ich gleich erfahren. »Ich habe hier den Psychotest 'Kennen Sie Ihren Partner wirklich?'.« tönte sie und hielt ihre Zeitschrift hoch. »Den sollte ich vielleicht mal machen!« »Tu dir keinen Zwang an«, erwiderte ich, obwohl ich von solchen Tests noch weniger hielt als von ihrem verflossenen Liebhaber Armadur, der »Psycho-Armatur«, wie ich ihn immer genannt hatte. Ich nahm einen Schluck Kaffee. Tessa hingegen fischte einen Kugelschreiber aus ihrer schicken Umhängetasche. Nun gab es kein Zurück mehr. »'Mit wem hat Ihr Partner als Kind am liebsten gespielt?'«, las sie vor. »Da fängt es schon an«, grollte ich. »Mit wem ich gespielt habe? An die ersten zehn Jahre meines Lebens habe ich keine Erinnerung, wie du weißt. Ich wurde als Zehnjähriger nackt und ohne Gedächtnis in der Altstadt gefunden. Mit nichts bei mir als diesem Ring.« Und ich hob meine linke Hand mit dem magischen Siegelring, der mir schon so oft aus hoffnungslosen Situationen geholfen hat. Ich kann mit ihm nicht nur in die Vergangenheit reisen, sondern auch Waffen weißmagisch aufladen, dämonische Aktivität erkennen, tödliche Wunden heilen und vieles mehr. Er wurde von Nostradamus angefertigt, dem französischen Propheten aus dem 16. Jahrhundert. Den Ring ziert ein Drache, außerdem die verschnörkelten Buchstaben M und N. 13
Meine Adoptiveltern Lydia und Ulrich Hellmann haben meine Vornamen nach diesen Initialen ausgewählt. Ich heiße Markus Nikolaus Hellmann. Ursprünglich stehen die Buchstaben für Michel de Notre Dame, wie Nostradamus eigentlich heißt. Tessa warf mir einen genervten Blick zu. »Okay, die Frage kannst du vergessen. Die nächste. 'Ähnelt Ihr Partner mehr seinem Vater oder seiner Mutter?'« »Der Test taugt nicht für Leute wie mich, Tessa«, meinte ich selbstironisch. »Ich weiß nicht, wer meine wahren Eltern sind. Auch wenn ich Lydia und Ulrich so nenne und ihnen alles zu verdanken habe, sind sie es eben doch nicht. Mephisto ist jedenfalls nicht mein Erzeuger. Auch wenn der höllische Lügenbold es noch so oft behauptet (Siehe MH 31!).« Mephisto, der Höllenfürst, ist mein größter Feind unter den schwarzmagischen Dämonen, die ich so leidenschaftlich bekämpfe. Es ist meine Mission, als Kämpfer des Rings gegen die Mächte der Finsternis anzutreten und die Menschen vor den Einflüssen der Hölle zu schützen. Kein Wunder, daß ich der meistgehaßte Mann bei den Mächten der Finsternis bin. Tessa mußte nun auch lächeln. Dann warf sie die Frauenzeitschrift zur Seite. »Hast recht, Mark. So einen Typen wie dich gibt es kein zweites Mal.« »Ich nehme das mal als Kompliment. Willst du dich vielleicht in meiner Wohnung von meinen einmaligen Fähigkeiten überzeugen?« Sie warf mir ein Zuckerstück an den Kopf. »Da haben wir es mal wieder! Bei dir endet doch jedes Gespräch auf der Matratze…« Ich öffnete den Mund, um mich zu verteidigen. Schließlich kannte ich ihr Temperament. Und auf Zoff hatte ich nun wirklich überhaupt keine Lust. Vor allem, weil Tess noch ein paar Tage Resturlaub hatte. Und wir hatten beschlossen, ab Montag einige Ferientage gemeinsam zu verbringen. Irgendwo. Das Ziel mußten wir noch bestimmen. Doch bevor ich etwas sagen konnte, meldete sich mein Handy. Ich zog es aus dem Jackett und schaltete es ein. Mein Vater war am Apparat. »Mark? Hier ist Ulrich. Du mußt sofort nach Schleswig fahren! Dort droht tödliche Gefahr durch eine Bande von untoten Wikingern…« Ich kündigte an, daß ich zunächst zu Hause vorbeikommen 14
wollte, damit er mir die Details persönlich gab. Begeistert war ich zwar nicht davon, so schnell wieder eine neue Aufgabe zu bekommen. Aber die Mächte des Bösen nehmen keine Rücksicht auf mein Ruhebedürfnis. Ich beendete das Gespräch. Tessa blickte mich gespannt an. Ich schaute ihr in die Augen. Und setzte ein gequältes Lächeln auf. So, als ob ich in eine Zitrone gebissen hätte. »Tessa, Schatz. Was hältst du von einem Kurzurlaub in Schleswig-Holstein?« * Der Graue Gunnar hob seine mageren Arme. Der alte Wikinger-Priester mit dem vorgereckten Kopf eines Geiers murmelte Beschwörungsformeln. Er lag auf seinen Knien neben einem riesigen Hünengrab. Gegenüber, am anderen Ufer der Schlei, erhoben sich die Palisadenwände der Wikingerstadt Haithabu. Im zehnten Jahrhundert die größte und reichste Ansiedlung weit und breit. In dem Hünengrab hatte man vor zwei Tagen und zwei Nächten einen starken Häuptling unter die Erde gebracht. Jenen Anführer aus Norwegen, den man Harald den Bösen nannte. Und das mit Recht. Er war selbst für einen Häuptling der Nordmänner besonders brutal und rücksichtslos gewesen. Der Graue Gunnar hatte ein ungutes Gefühl. Deshalb hörte er nicht auf damit, die Götter von Asgard zu beschwören. Sie sollten Harald den Bösen ins Totenreich hinüberbegleiten. Und sein Gefolge ebenfalls. Denn wie es bei großen Häuptlingen Sitte war, waren ihm einige seiner Krieger freiwillig in den Tod gefolgt. Sie alle hofften auf einen guten Platz an der Tafel der Götter, drüben in Walhalla. Der Graue Gunnar wußte es besser. Der Priester schätzte, daß Harald mit seinen Leuten in Niflheim gelandet war. So nannten die Wikinger schaudernd das unterirdische Schattenreich des Todes. Ein unwirkliches Land, hoch im Norden der bekannten Welt. Durchzogen von ewigem Nebel. Mit der Kälte von Nächten, die nie endeten. So wie die langen Polarnächte im Norden Norwegens. Plötzlich schrak der alte Mann zusammen. Aus dem frischen Grab kam ein dumpfer Gesang. Ein Schlachtgesang, wie ihn die Männer in den Drakkars, ihren Drachenbooten, auf den 15
Kaperfahrten anstimmten. Und dann wurde das Grauen zur Gewißheit. Aus dem Halbdunkel unter dem großen Rundling des Hünengrabes erschien ein Helm mit Hörnern. Und dieser Helm saß auf dem Kopf des toten Harald! Ächzend erschien der Häuptling unter dem Stein. Hinter ihm waren die Stimmen anderer Wikinger zu hören. Gunnars Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet. Obwohl Harald der Böse erst kurz im Grab gelegen hatte, war sein Körper bereits halb verwest und zerfallen. Doch das war nicht das Schrecklichste. Am entsetzlichsten war, daß er überhaupt lebte! Der Häuptling riß sein Maul auf und lachte. Es klang, als ob rostige Eimer gegeneinandergeschlagen würden. »Da bin ich wieder, alter Furz! Harald der Böse läßt sich nicht kleinkriegen! Auch da drüben nicht!« Er machte eine verächtliche Geste in Richtung Hünengrab. Der Priester erbleichte. »Bist du im Schattenreich gewesen, Harald? In Niflheim? Was ist das für ein Zauber? Du warst doch mausetot. Erschlagen vom roten Gorm!« Wieder grölte der Wikingerhäuptling sein Reibeisenlachen. »Meinen Zauber willst du kennenlernen, was? Merk dir eins: Harald der Böse ist unsterblich! Wie ich das mache, ist eine Sache. Ja, ich und meine Mannen waren in einer anderen Welt. Es sah ganz anders aus als alles, was ich kenne. Ich habe die Meere in meinem Drachenboot bereist. Bin auf Island und sogar in Vinland (Wikingername für Nordamerika) gewesen. In dieser Welt dort drüben gibt es riesige Eisenwagen, die von Weibern gelenkt werden! Aber die Männer sind Weichlinge!« Er zog sein Schwert, an dem noch das Blut einiger ABM-Kräfte klebte. »Man kann sie erschlagen wie christliche Mönche. Sie wehren sich nicht. Aber sie haben gute Mägde dort in dieser Welt!« Der Häuptling gab seinen Männern ein Zeichen. Sie schleppten die sich heftig wehrende Antje Sörensen vor die Augen des Grauen Gunnar. Selbst dem alten Priester entgingen die Vorzüge ihres jungen, halbnackten Körpers nicht. Obwohl sie für seinen Geschmack viel zu dünn war… »Gefällt sie euch?« fragte der untote Nordmann mit dem langen Bart voller Besitzerstolz. »Sie wird die prächtigste unter meinen Frauen sein. Schon heute nacht soll sie mir gehören. Und 16
morgen…« - er rammte das Schwert zurück in die Scheide »gehen wir wieder auf Beutezug in dieser anderen Welt!« * Meine Eltern bewohnen ein kleines Haus in der Siedlung Landfried am Rande von Weimar. Dorthin wollten Tessa und ich, nachdem wir die Tüten von unserem samstäglichen Einkauf in meiner Wohnung an der Florian-Geyer-Straße abgestellt hatten. Ich wollte gerade die Haustür aufschließen, als ein schriller Schrei im Treppenhaus ertönte. Tessa und ich reagierten sofort. Wir ließen die Tragetaschen fallen, obwohl das Obst auf den Gehsteig kullerte. Die Fahnderin riß ihre Dienstwaffe aus ihrer Umhängetasche. Ich war an diesem so trügerisch friedlichen Vormittag unbewaffnet. Das war ärgerlich, aber nicht zu ändern. Ich würde mich auf meine Kraft verlassen müssen. Als Zehnkämpfer trainiere ich noch immer regelmäßig, betreibe außerdem Kampfsport. Wir schnellten also in den nach Kohlsuppe stinkenden Hausflur. Ich stürzte vorwärts, während mir Tess Deckung gab. Vor unseren Augen spielte sich eine dramatische Szene ab. Auf dem Treppenabsatz im Erdgeschoß stand meine alte Bekannte Struppy, ein neunzehnjähriges Girlie mit grüngefärbtem Haarschopf. Sie trug einen roten Karo-Minirock und ein T-Shirt mit Smiley-Aufdruck, obwohl es an diesem schönen Märztag so warm nun doch noch nicht war. Ihr selbst war im Moment wohl nicht zum Lachen zumute. Kein Wunder, denn mein stets schlechtgelaunter Hausmeister und Vermieter Artur Stubenrauch hatte ihr den rechten Arm mit einem schmerzhaften Polizeigriff auf den Rücken gedreht. Auf dem Boden lagen mindestens fünfzig kleine Broschüren verstreut, die aus Struppys Umhängetasche gefallen sein mußten. »Was soll das, Stubenrauch?« schnauzte ich. »Lassen Sie das Mädchen los!« Der kleinwüchsige Sachse drehte seinen Kopf zu mir. Ich war unter allen Mietern sein größtes Haßobjekt. Im Grunde war der gute Artur ein armes Würstchen. Er stand mächtig unter dem Pantoffel seiner Frau, die durch den Türspalt unsere Auseinandersetzung verfolgte. Außerdem trauerte er immer noch der DDR nach. Viele seiner Klagen begannen mit der Einleitung 17
»Unter Honecker hätte es das nicht gegeben…« So auch diesmal. »Ah, Herr Hellmann!« dehnte er. »Wenn ich nicht aufpassen würde, hätte uns dieses Pack schon das Dach über dem Kopf angezündet! Sehen Sie sich diese Göre doch mal an. Wie die rumläuft! Die kommt bestimmt aus der Gerberstraße!« Damit spielte er auf das von Autonomen besetzte Haus mitten in Weimar an. In Wirklichkeit wohnte Struppy ganz brav bei ihrer Großtante am Steinhügelweg. Aber das ging den HausflurNapoleon sowieso nichts an. »Was hat sie denn getan?« fragte ich so ruhig wie möglich. »Getan, getan! Die ist hier im Treppenhaus herumgeschlichen. Reicht das nicht? Wollte bestimmt einbrechen! Wenn ich nicht so aufpassen würde…« »Wenn Sie keinen Beweis für eine Straftat haben, dann machen Sie sich der Freiheitsberaubung schuldig, Herr Stubenrauch«, schaltete sich Tessa ein. Sie benutzte ihr bestes Amtsdeutsch. Immerhin wußte der Haustyrann, daß sie bei der Kripo arbeitete. Obwohl er meine Freundin verabscheute, gewann sein Respekt vor einer »Amtsperson« die Oberhand. Widerwillig ließ er Struppy los. »Also gut, Frau Kommissar. Aber nur unter Protest. Und Sie« er drehte das grünhaarige Girl brutal zu sich um - »was treibt Sie hierher? Spucken Sie es schon aus!« Ich an Struppys Stelle hätte ihm eine patzige Antwort gegeben. Aber die Neunzehnjährige hatte eine bessere Idee. Sie schlang dem völlig überraschten Artur Stubenrauch die Arme um den Hals, schmatzte ihm eine dicken Kuß auf die Lippen und rief scheinbar glückstrahlend nur ein einziges Wort. »Papa!« Stubenrauch starrte sie an, als hätte er einen Geist gesehen. Sein Kopf nahm die Farbe einer reifen Tomate an. Da wurde die Tür seiner Wohnung mit einem Ruck aufgerissen. »Wie war das?« Seine Gattin packte ihren einen Kopf kleineren Mann und riß ihn in ihre vier Wände. Krachend flog die Tür hinter den beiden ins Schloß. Trotzdem konnten wir den Beginn des Ehestreites nicht überhören. »Ich kenne das Mädchen nicht…«, wimmerte Artur. Tessa, Struppy und ich verkniffen uns das Lachen, während wir die Broschüren aufsammelten, die das Girl beim Angriff des 18
Haustyrannen verloren hatte. Wir luden Struppy auf den Schreck noch zu einem Orangensaft in meine Dachgeschoßwohnung ein. Die Neunzehnjährige mit den wasserblauen Hans-Albers-Augen ist die einzige Frau, auf die Tessa nicht eifersüchtig ist. Sie sagt immer, Struppy sei keine Frau, sondern ein Kobold. Irgendwie ist da auch was dran. »Was verteilst du da für Broschüren?« fragte meine Freundin, als wir es uns auf Sofa und Sesseln gemütlich gemacht hatten. Struppy grinste und reichte ihr wortlos eine rüber. Tessa lachte auf. »Na so was, die kommt ja von meinem Verein! 'Wie schütze ich mich vor Einbruch? Wir wollen, daß Sie sicher leben. Ihre Thüringer Polizei'.« Da hatte der gute Stubenrauch ja mal wieder mächtig danebengehauen. Seit er den Teufel in meinem Badezimmer erblickt hatte (in MH14), dürfte er nicht mehr einen solchen Schock erlebt haben wie den mit seiner angeblichen geheimen Vaterschaft. Aber das war sein Problem. Struppy machte sich aus dem Staub, sobald sie ihren Saft ausgetrunken hatte. Sie merkte wohl, daß Tess und ich mehr oder weniger auf dem Sprung waren. »Was soll das eigentlich mit Schleswig-Holstein?« fragte die Fahnderin, kaum daß sich die Tür hinter dem grünhaarigen Girl geschlossen hatte. »Wenn wir ans Meer wollen, können wir doch auch meine Schwester Annette auf Usedom besuchen.« Sollte ich ihr beichten, daß ich den Urlaub eigentlich schon wieder mit einem neuen Fall verbinden wollte? Bisher wußte ich nur, daß es irgendwie um untote Wikinger ging. Ich beschloß, diesen unangenehmen Teil der Ferienpläne noch für mich zu behalten. Statt dessen trat ich von hinten an Tessa hieran und legte meine Arme um sie. »Vertrau mir«, flüsterte ich und biß ihr zart ins Ohrläppchen. »Ich finde schon meinen Weg.« Und wie zur Bekräftigung ließ ich meine rechte Hand unter ihren Minirock gleiten. Die brünette Polizistin bog den Kopf zurück und gab einen gurrenden Laut von sich. »Du Schuft, Mark Hellmann!« Aber ihre Taten straften diese gestammelten Worte Lügen. Mit einer routinierten Bewegung öffnete Tessa den Gürtel meiner Jeans… 19
Wenig später sanken wir zu Boden. Liebten uns wild und leidenschaftlich gleich auf dem Teppich. Für Tess und mich waren die drei Meter Luftlinie bis zu meinem Bett plötzlich viel zu weit. Wir schafften es nicht mehr, diese Entfernung zu überwinden. Dafür schafften wir etwas anderes. Wie eine riesige Woge des Pazifiks schlug die Lust gleichzeitig über uns beiden zusammen. Tessa krallte sich in meinen Rücken und bewegte sich ruckartig auf mir. Dann schrie sie wie am Spieß. Was gar nicht mal so falsch war… In der milden Stimmung nach dem gemeinsamen Höhepunkt verzichtete die Fahnderin auf weitere Fragen zum Thema Schleswig-Holstein. Doch als wir eine halbe Stunde später bei meinen Eltern in der Siedlung Landfried auf der Matte standen, wurde Tessas Neugier wieder geweckt. Meine natürlich auch. Der sorgenvolle Gesichtsausdruck meines Vaters Ulrich sprach Bände. Er begrüßte uns an der Tür und führte uns sofort in sein Arbeitszimmer. Mutter Lydia machte mit ihren Freundinnen einen Ausflug nach Erfurt. Daß sie nicht mehr so gut zu Fuß war, hatte sie dann rasch vergessen. Mein Vater, der pensionierte Kripomann, war noch sehr rüstig, und das trotz seiner doppelten Behinderung. Als ich noch ein Junge war, hatte er an meiner Stelle gegen den Höllenfürsten Mephisto gekämpft. Um mich zu beschützen. Diesen Einsatz hatte er mit einem steifen Handgelenk und einem steifen Fußgelenk bezahlt. Im Arbeitszimmer befand sich nicht nur ein PC mit InternetVerbindung, sondern auch eine riesige Bibliothek. Die Bücher befaßten sich alle mit okkulten Themen. Ulrich Hellmann hatte sich seit seiner Pensionierung den unerklärlichen Phänomenen zugewandt. Er hielt per Internet Kontakt zu ernsthaften Okkultisten in aller Welt. Dieser Zusammenschluß von Leuten, der sich »die Liga« nannte, hatte den Kräften des Bösen den Kampf angesagt hatten. Ich gehörte natürlich auch dazu. »Untote Wikinger.« Ich warf das Stichwort in den Raum, als wir uns gesetzt hatten. Lydia hatte - fürsorglich wie immer - ihrem Mann noch eine Thermoskanne mit Kaffee hingestellt, bevor sie im Wartburg ihrer Freundin Elfriede verschwunden war. Aus dieser Kanne schenkte uns Ulrich nun ein. Er strich über seinen weißen Schnurrbart. Schien nach den passenden Worten zu suchen. Dann öffnete er 20
den Mund. »Habe ich euch schon von Wolfgang Busch erzählt?« Ich zögerte. »Ist das nicht einer deiner Internet-Freunde, der sich auf Spuk an alten Berliner Seeopfer-Plätzen spezialisiert hat?« »Genau. Aber diese Geschichte hat nichts mit den germanischen Seeopfern zu tun. Auch nicht mit Berlin. Aber Wolfgang lebt dort. Und seine Tochter Silke ebenfalls. Sie ist nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen.« Tessa und ich tauschten Blicke aus. Was sollte das bedeuten? Ulrich Hellmann lehnte sich in seinem Sessel zurück und berichtete von dem Überfall der Wikingerhorde auf das Ausgrabungsteam. Man sah förmlich, wie der polizeiliche Verstand meiner Freundin zu arbeiten begann. »Eine Zwischenfrage, Ulrich. Woher weiß diese Silke, daß die Angreifer untot waren? Es könnten doch auch verkleidete Esoterik-Spinner oder so was gewesen sein. Eine Sekte beispielsweise.« Mein Vater hob seinen Zeigefinger. »Guter Einwand, Tessa. Aber ihre Körper waren halb vermodert. Zum Teil konnte man die Knochen unter dem verfaulten Fleisch erkennen. Außerdem hat Silke mit ihrem Wagen einen von ihnen überfahren. Er stand danach wieder auf, als ob nichts gewesen wäre.« Ich begriff. Die Studentin Silke Busch hatte sich ihrem Vater anvertraut, weil er sich mit unerklärlichen Dingen beschäftigte. Von ihm - Wolfgang Busch - hatte wiederum Ulrich von dem Ereignis erfahren. Ich wollte schon die nächste Frage stellen. Aber Tessa kam mir zuvor. »Und was sagen die Kollegen vor Ort? Ich meine - die Polizei?« Der Pensionär hob die Schultern. »Sie gehen von einer gewalttätigen Jugendbande aus.« Tessa biß die Lippen zusammen. Als wir uns kennenlernten, hatte sie selbst auch nicht an die Existenzen Dämonen und Geistern geglaubt. Schließlich war sie wie ich selber in der DDR sozialistisch erzogen worden. Aber seitdem hatten wir oft genug am eigenen Leib erfahren müssen, wozu die Schwarzblüter und die Teufelsbrut fähig waren. »Der Ausgrabungsleiter scheint stur zu sein«, fuhr Ulrich fort. »Dieser Professor Feddersen will sein Projekt trotz des Gemetzels fortsetzen. Silke berichtete, er hätte sogar schon neue ABM21
Kräfte angefordert. Um die zu ersetzen, die in Stücke gehauen worden sind.« Ich ballte die Fäuste. So wie ich meine schwarzmagischen Gegner kannte, konnte der nächste Überfall jederzeit stattfinden. Und auch Tessas Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß sie den Wikingerzombiges gerne eine geweihte Silberkugel auf den Pelz brennen würde. »Worauf warten wir noch, Mark? Ab nach Schleswig-Holstein der Urlaub ruft!« meinte sie mit grimmigem Humor. Mein Vater gab uns einen Zettel mit allen nötigen Informationen. Keiner von uns hatte wohl auch nur die vage Hoffnung, daß es sehr erholsame Ferien werden würden… * Antje Sörensen hatte schon oft von Haithabu geträumt. Aber nie, in ihrem ganzen siebzehnjährigen Leben nicht, hätte sie sich vorstellen können, das Babylon des Nordens einmal selbst zu sehen. Doch der Anblick der Wikinger-Metropole hatte nichts Spannendes oder Aufregendes an sich. Solche Gefühle wurden von der nackten Todesangst überlagert, die das Mädchen beherrschte. Und das war auch kein Wunder. Schließlich war sie von einer Bande lebender Leichen hierher entführt worden. Den Sprung vom zwanzigsten Jahrhundert zurück ins zehnte hatte die Oberschülerin kaum wahrgenommen. Als die Wikingerzombies sie in das Hünengrab zerrten, spürte sie plötzlich einen starken Abwärtssog. So, als ob sie in einem Expreßlift gelandet wäre. Antje mußte die Augen schließen, weil ihr schwindlig wurde. Und als sie die Lider wieder aufschlug, wurde sie von ihren unheimlichen Begleitern schon wieder herausgestoßen. Und hatte die Silhouette von Haithabu am anderen Ufer der Schlei erblickt! Der große Mann mit den grausamen Augen wurde von den anderen nur »Harald« genannt. Er mußte eine Art Häuptling sein. Soviel hatte sie mitbekommen. Denn von der altnordischen Sprache ihrer Entführer verstand Antje kaum etwas. Es gab nur wenige Worte, die aus der damaligen Zeit ins heutige Deutsche übernommen worden waren. Zum Beispiel »Heim« oder »Land«. Und überhaupt hatte die Siebzehnjährige jetzt keinen Sinn für 22
Sprachübungen. Sie wollte zurück in ihre Zeit, verdammt noch mal! Augenblicklich war sie zu geschockt, um die Ausweglosigkeit ihrer Lage vollends zu begreifen. Wie in Trance ließ sie sich von den Nordmännern in die Stadt führen. Spürte dabei kaum ihre eiskalten Finger, mit denen sie ihren nackten Oberkörper immer wieder lüstern betatschten. Sie betrachtete sich selbst wie von außen, als ob sie einen Film sehen würde. In diesem Film wurde ein junges Mädchen in Blue Jeans in eine Wikingerstadt gebracht. Die Männer in den grobgewebten Kitteln oder Waffenröcken starrten sie unverhohlen an. Aber auch die Frauen mit den straff zurückgekämmten Haaren und den verzierten Stirnbändern machten aus ihrer Neugier keinen Hehl. Daß Antje halbnackt war, schien niemanden zu stören. Am wenigsten die Krieger. Außerdem schufteten die zahlreichen Sklavinnen und Sklaven in den Werkstätten und Gehöften ebenfalls nur notdürftig bekleidet. Im Gegensatz zu Harald und seinen Männern waren alle diese Menschen höchst lebendig. An keinem bemerkte die Schülerin den Zerfall und die Verwesung wie an den Körpern ihrer Begleiter. Eine Erklärung hatte sie dafür nicht. Ihr fiel nur auf, wie locker die lebenden Wikinger mit ihren untoten Zeitgenossen umzugehen schienen. Keiner schien Anstoß daran zu nehmen, daß plötzlich wandelnde Leichen unter ihnen waren. Beißender Geruch drang aus den Kaminen der niedrigen Häuser, die teilweise auf Pfählen standen. Die Stadt Haithabu war in einem weiten Halbrund unmittelbar am Haddebyer Noor erbaut worden, wie dieser Teil der Schlei genannt wurde. Am Ufer lagen einige der berühmten Drachenboote, deren Anblick am Horizont für europäische Küstenbewohner der pure Horror gewesen war. Denn in diesen Schiffen kamen die berüchtigten Nordmänner, um zu morden, zu rauben und zu vergewaltigen. Inzwischen hatte der Häuptling mit den grausamen Augen Antje selbst gepackt. Er bugsierte sie in ein großes Haus, das im Schatten der Palisade fast direkt am Noor lag. Durch die niedrige Haustür stieß er sie brutal hinein. Antjes Augen brannten. Kein Wunder, denn in der Herdstelle glomm ein Feuer. Und außer durch eine kleine Dachluke konnte der Qualm nirgendwo abziehen. Deshalb herrschte auch ein unheimliches Halbdunkel in dem großen Raum. Gestalten, allem Anschein nach Frauen, tauchten wie Alptraumwesen aus dem 23
Nichts auf. Bevor die Blondine aus dem 20. Jahrhundert endgültig in ihrer Panik versank, erinnerte sie sich an ihre Kenntnisse über die Wikingerzeit. Damals hatten die Gebäude in dieser Gegend überhaupt keine Fenster gehabt. Die düstere und stickige Atmosphäre in diesem Haus war also kein Einzelfall. Doch irgendwie war das auch kein Trost. Harald bellte einige Sätze. Dem Tonfall nach waren es Befehle. Die Frauen machten sich im hinteren Teil des Hauses zu schaffen. Auch die reichsten und vornehmsten Häuser in Haithabu hatten nur einen einzigen Raum, wie sich Antje aus ihren Büchern erinnerte. Hier wurde gekocht, gegessen, geschlafen und geliebt. Der Wikingerhäuptling drückte das Mädchen auf eine Bank. In seinen toten Augen glomm die Lüsternheit auf. Es war nicht mißzuverstehen, was er mit ihr vorhatte. Er wäre schon als Mensch viel stärker gewesen als Antje. Doch als Zombie waren seine Kräfte unermeßlich. Die Siebzehnjährige hielt sich ihren linken Unterarm verzweifelt vor die Brüste. Die rechte Hand öffnete sich wie in einem Reflex, als Harald nach ihrer Jeans griff. Der riesige Nordmann sprang plötzlich zurück, als ob ihn jemand mit kochendem Wasser überschüttet hätte. Er wandte seinen Kopf ab. Ein Zittern durchlief seinen mächtigen Körper. Antje war verblüfft. Was hatte ihn so plötzlich, davon abgeschreckt, sie zu mißbrauchen? Und dann bemerkte sie es selbst. In ihrer rechten Handfläche befand sich ein kleines goldenes Kreuz. Sie hatte es an einer dünnen Kette um den Hals getragen. Als der Wikinger ihr bei der Entführung das T-Shirt zerriß, war das Kreuzchen heruntergefallen. Automatisch hatte sie es aufgefangen. Und ebenso automatisch hatte sie die ganze Zeit ihre Finger darumgekrampft. Im ersten Moment wunderte sich das Mädchen, daß sich so ein brutaler und gemeiner Kerl von einem winzigen Stück Metall vertreiben ließ. Aber dann wurde es ihr klar. Das Christuskreuz war ein starkes Symbol des Guten. Antje hatte es von ihrer Großmutter bekommen. Es war schon lange im Familienbesitz. Und weil der Wikingerhäuptling offenbar seine untote Existenz dem Bösen 24
verdankte, war das Kreuz eine starke Waffe gegen ihn. Antje Sörensen schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel für die Rettung in letzter Sekunde. Vielleicht würde jene Macht dort oben ihr ja auch helfen können, in ihre Zeit zurückzugelangen. * Die Fahrt Richtung Schleswig verlief ohne besondere Vorkommnisse. Obwohl Tessa Urlaub hatte, hatte sie sich bei unserem Freund Pit Langenbrach abgemeldet. Er war als Hauptkommissar der Kripo gleichzeitig ihr unmittelbarer Dienstvorgesetzter. Mit ihm zusammen hatte ich schon so einige Kämpfe gegen die Kräfte der Hölle überstanden. »Wikingerzombies!« hatte er gespannt wiederholt und seinen mächtigen Schnurrbart gezwirbelt. »Wenn ihr Hilfe braucht, wißt ihr ja, wo ihr mich findet…« Ich lenkte meinen stahlblauen BMW durch die ländliche Umgebung von Schleswig. Die flache norddeutsche Landschaft mit den reetgedeckten Häusern gefiel mir. Wir bogen hinter einem Gehöft in einen unbefestigten Feldweg. Nach unserer Lageskizze waren wir nun noch höchstens einen halben Kilometer von der Ausgrabungsstätte entfernt. Links vom Weg erblickte ich ein Hünengrab. Dahinter lag die Förde der Schlei. »Hast du schon einen Plan?« fragte Tessa. Sie hatte sich für unseren Kurzurlaub sportlich-leger gekleidet. Jeans, karierte Flanellbluse, Windjacke, feste Schuhe. Ich hatte mich in einen abgewetzten Jeansanzug gehüllt. Dazu trug ich Wanderschuhe mit Profilsohle. »Einen Plan? Sicher, Tess. Wir behalten die Ausgrabungsstätte im Auge. Und wir nehmen Kontakt zu dieser Silke Busch auf. Sie weiß durch ihren Vater, daß wir kommen. Sie versucht immer noch, ihren Professor zur Aufgabe der Arbeiten zu bewegen. Aber er hat auf stur geschaltet. Obwohl ihn die Wikinger mit einem Pfeil verletzt haben, wie ich höre.« »Bestimmt eine attraktive Person, diese Silke«, bemerkte Tessa. Ich seufzte innerlich. Meine Freundin und ihre Eifersucht… Auf dem Fluß erschien plötzlich wie durch Zauberkraft ein Drachenboot mit rot-weiß gestreiftem Großsegel. Trotz der Entfernung sah ich Helme blinken und Waffen blitzen! 25
»Verdammt!« stieß ich hervor, latschte auf die Bremse und riß die Tür auf. Tessa tat es mir gleich. Ich griff nach dem Fernglas, das ich vorsorglich auf der Ablage zwischen uns deponiert hatte. Richtete es auf das Drachenboot. »Kein Zweifel, Tess. Das ist ein echtes Wikingerschiff. Aber es sieht nagelneu aus. Als wäre es gerade erst in Haithabu von der Werft gelaufen. Nicht wie dieser halb verrottete Kahn, mit dem dich damals die Skelettpiraten entführt haben (Siehe MH10, Ich war Störtebekers Maat)…« Meine Freundin erwiderte nichts. Gleichzeitig begann mein Siegelring zu prickeln. Zeigte mir dadurch schwarzmagische Aktivität an. Beides zusammen ließ in mir die Alarmsirenen schrillen. Ich fuhr herum. Tessa hatte rechts neben dem BMW gestanden. Nun war sie spurlos verschwunden. Hatte sie sich versteckt, um mich zu ärgern? Zwar war mein lieber Schatz zu einem albernen Scherz fähig, aber nicht in dieser Lage. Mit einem Boot voll blutrünstiger Zombie-Wikinger vor der Nase, die in den nächsten paar Minuten angreifen würden! Jemand mußte sie entführt haben. Und zwar jemand, der nicht von dieser Welt war. Und das war so schnell geschehen, daß ich es nicht bemerkt hatte. Und sie keinen Hilferuf hatte ausstoßen können. Doch so groß meine Sorge um meine Freundin auch war - um Tessa würde ich mich erst später kümmern können. Ich war der einzige, der dem Wikingerangriff etwas entgegensetzen konnte. Darum riß ich meinen Einsatzkoffer vom BMW-Rücksitz und rannte auf die nächste Bodensenke zu. Dahinter mußte sich der Ausgrabungsplatz befinden. * Tessa Hayden begriff noch immer nicht, was mit ihr geschehen war. Sie spürte nur, wie sich ihr Magen krampfhaft zusammenzog. Die Polizistin mußte sich zusammenreißen, um nicht zu brechen. Normalerweise wurde ihr beim Fliegen nicht übel. Aber normalerweise reiste sie auch mit einem Jet oder Hubschrauber durch die Luft. Und nicht mit einer nie zuvor 26
gesehenen Flugbestie, die ihre Krallen in Tessas Windjacke und Flanellbluse geschlagen hatte! Als die Weimarerin plötzlich mit einem schmerzhaften Ruck in die Luft gerissen wurde, konnte sie ihren Freund Mark Hellmann nicht mehr warnen. Es war wie in einem Alptraum, in dem man glaubt, plötzlich aus unendlicher Höhe zu stürzen. Aber sie fiel nicht. Dieses Biest hielt sie fest. Und sie würde nicht stürzen. Jedenfalls, solange ihre Kleidung nicht zerriß. Ihr geflügelter Entführer stieg langsam, aber stetig immer weiter in den nur leicht bewölkten Himmel. Unter sich konnte Tessa Hayden zwei Städte erkennen. Die eine mußte Schleswig sein. Weiter östlich glitzerte das Wasser der Eckernförder Bucht, wo auch die Stadt Eckernförde lag. Die Fahnderin wollte sich lieber gar nicht erst ausrechnen, auf welcher Flughöhe sie sich bereits befinden mußte. Statt dessen richtete sie ihren Blick lieber vorsichtig nach oben. Die Flugbestie mußte rasiermesserscharfe Krallen haben, die ihre Schultern zum Glück nur leicht geritzt hatten. Sein Rumpf bestand aus geschuppten Panzerplatten, die an eine Echse denken ließen. Die weiten Schwingen schienen aus Hautlappen zu bestehen. Doch der Kopf war eher dem eines Löwen ähnlich, wirkte aber viel häßlicher, böser und heimtückischer. Außerdem hatte er einen Schnabel. Es gab in der Tierwelt kein Vorbild für ein solches Wesen. Trotzdem kam es Tessa bekannt vor. Sie überlegte, wo sie so etwas schon einmal gesehen haben könnte. Der geflügelte Entführer drehte seinen ekelhaften Kopf und starrte die Polizistin aus dämonischen Augen an. Sie wunderte sich eigentlich nicht darüber, daß dieses Tier sprechen konnte. Aus seinem krummen Schnabel drang ein trommelfellzerreißendes Krächzen. Und trotzdem verstand Tessa genau, was er sagte. »Die Flammen der Hölle haben dich in meine Fänge getrieben, Birka.« Inzwischen war die Wut meiner Freundin größer als ihre Angst. »Wer bist du? Was hast du mit mir vor, du Scheusal? Wohin bringst du mich?« Ein Geräusch erklang, als ob jemand mit einem Hammer auf einen verrosteten Kessel schlagen würde. Die geflügelte Kreatur lachte. 27
»Wer ich bin, weißt du ganz genau, Birka. Dein Bruder hat geglaubt, mich betrügen zu können. Aber der Leichenvogel läßt sich nicht übers Ohr hauen. Ich habe lange gesucht, um dich zu finden. Du wirst mich dorthin begleiten, wo dein Bruder dich nicht übersehen kann - nach Haithabu!« Ein eiskalter Schreck fuhr durch Tessas Körper. Oder war es nur eine Bö von der Ostsee her? Haithabu - die Stadt der Wikinger. Untergegangen in ferner Vergangenheit. Tessa versuchte aus dem irren Gerede des Leichenvogels schlau zu werden. »Was soll das alles? Ich habe keinen Bruder! Nur einen Schwager, und der hat mit solchen Bestien wie dir nichts zu schaffen. Du verwechselst mich, Leichenvogel. Warum läßt du mich nicht geh…?« Das fliegende Monster öffnete seinen Schnabel noch ein Stückchen weiter. Obwohl sie es nicht wollte, fühlte Tessa die Panik in sich aufsteigen. »Schweig, Birka! Dein Bruder hat sein Wort gebrochen. Er wird dafür bezahlen. Die Nomen des Schicksals haben dich in meine Gewalt gebracht. Dich, Birka! Die werte Schwester von Harald dem Bösen - dem berüchtigten Seekönig der Nordmänner!« Tessa schluckte trocken. Diese Bemerkung machte sie zunächst sprachlos. Und dann fiel ihr ein, wo sie solche grauenhaften Wesen wie den Leichenvogel schon gesehen hatte. Auf Abbildungen von Wikingerschiffen. Die Bugsteven dieser Boote waren mit Schnitzereien versehen, die solche alptraumhaften Fabeltiere darstellten. Die Forscher hatten bisher den Wikingerkünstlern immer eine lebhafte Phantasie bescheinigt. Die Weimarerin wußte es nun besser. Die altnordischen Schnitzer hatten lebende Vorbilder für ihre gräßlichen Kunstwerke gehabt! * Das Drachenboot griff an! Natürlich hatten auch die Altertumsforscher aus Berlin bemerkt, daß sich ihnen das Wikingerschiff näherte. Doch obwohl einige von ihnen den ersten Angriff miterlebt hatten, blieben sie starr an ihren Plätzen stehen, anstatt zu fliehen. Ich kannte das, hatte es schon oft erlebt. Viele Menschen sind 28
angesichts herannahenden Grauens gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange. Wenn ich sie nicht aus ihrer Passivität riß, würden sie gnadenlos abgeschlachtet werden. Doch eine junge Frau war nicht so gebannt wie die übrigen. Sie rannte hin und her, versuchte ihre Kollegen zur Verteidigung zu formieren. »Tut doch etwas!« rief sie mit heller Stimme. »Diesmal werden sie keinen entkommen lassen!« Das Mädchen mußte Silke Busch sein, die Tochter von Ulrichs Freund. So hatte er sie mir beschrieben. Schlank, langes, dunkles Haar, Stupsnase. Ich lief auf sie zu. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie ein dicker älterer Mann nun doch die Hände hob. Aber nicht, um eine Waffe auf die angreifenden Nordmänner zu richten. Sondern einen Fotoapparat! Er machte Aufnahmen von dem Drachenboot, das schnell auf das Ufer zuhielt! »Silke?« rief ich das Mädchen. »Ich bin Mark Hellmann!« Sie wandte sich zu mir um. In ihren Augen glomm Hoffnung auf. »Mark - Gottseidank! Kannst du mir helfen? Diese Untoten werden Gulasch aus uns machen!« Trotz ihrer flapsigen Bemerkung erkannte ich die Furcht, die sich in ihrem Inneren verbarg. Denn sie hatte das erste Gemetzel der Wikingerzombies ja miterlebt. »Keine Zeit für lange Erklärungen, Silke! Ich helfe euch. Sieh zu, wer von deinen Kameraden zur Verteidigung bereit ist. Wir haben noch höchstens fünf Minuten, bis die Untoten an Land kommen!« Wir konnten schon die schaurigen Schlachtgesänge der Wikingerzombies hören. Außerdem schlugen sie mit ihren Schwertern auf ihre Schilde. Das eintönige Geräusch konnte einem die Haare zu Berge stehen lassen. Und das war wohl auch beabsichtigt. Schnell machte ich mich an die Arbeit. Öffnete meinen Einsatzkoffer. Darin befand sich neben meiner SIG Sauer P 6 mit zwei Magazinen Silberkugeln auch noch mein armenischer Silberdolch. Außerdem Holzkreuze und Pflöcke gegen Vampire. Ferner ein Buch über Druidenglauben und das schwarzmagische Standardwerk »Ars niger et damnatus«. Aber ich würde jetzt keine Zeit mehr haben, um Bannsprüche 29
nachzuschlagen. Ich mußte mich auf meine Erfahrung im Kampf gegen Untote verlassen. Das Drachenboot war schon verdammt nahe. Mein Siegelring prickelte und erwärmte sich. Er zeigte mir die schwarzmagische Bedrohung an. Inzwischen hatte Silke ungefähr ein Dutzend junge Frauen und Männer angeschleppt. Es waren Geschichtsstudenten und ABM-Arbeiter. Keiner von ihnen machte einen besonders kampfeslustigen Eindruck. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, ob sie gegen die blutrünstigen Wikinger eine Chance hatten. Ich mußte sie bewaffnen, wenn wir uns nicht alle wehrlos niedermachen lassen wollten. Immerhin hielten sie alle Spitzhacken und Schaufeln in den Händen. »Ich bin Mark Hellmann«, stellte ich mich vor. »Wir haben kaum noch Zeit, darum mache ich es kurz. Ich werde eure Waffen jetzt weißmagisch aufladen. Eure Gegner sind keine Menschen, sondern schwarzmagische Untote. Ihr könnt sie also ausschalten, wenn ihr ihnen auch nur die kleinste Verletzung mit euren Waffen zufügt.« Um die Lippen einiger Zuhörer spielte ein ungläubiges Grinsen. Aber das verging ihnen rasch. Ich knöpfte mein Hemd auf. Nun konnte man das siebenzackige Muttermal auf meiner linken Brustseite erkennen. Es ist vollkommen schmerzunempfindlich. An ihm kann ich meinen geheimnisvollen Ring aktivieren. Und das tat ich nun! Das Kleinod war durch die herannahende dämonische Gefahr bereits aufgeglüht. Als ich mit dem Ring meine Brust berührte, schoß ein kraftvoller Lichtstrahl aus Nostradamus' Meisterstück hervor. Erstaunte Rufe quittierten das Geschehen. Mit diesem Lichtstrahl schrieb ich das keltische Wort für »Waffe« aus dem altgermanischen Futhark-Alphabet auf jedes Werkzeug, das die Studenten und Arbeiter in Händen hielten. Damit erschöpfte ich die Kraft des Rings fast vollständig. Er würde einige Zeit benötigen, bis er erneut einsatzbereit war. Das Licht war gerade noch stark genug, um auch für mich selbst eine Spitzhacke in eine weißmagische Waffe zu verwandeln. Plötzlich landete eine schwere Hand auf meiner Schulter. Ich fuhr herum. »Was machen Sie hier?« schnauzte mich der ältere Mann mit dem beachtlichen Bauch an. Das mußte Professor Feddersen sein, der Ausgrabungsleiter. »Verschwinden Sie! Das hier ist kein 30
öffentliches Gelände!« »Natürlich nicht!« Wütend deutete ich auf das Drachenboot, das schon fast am Ufer angelangt war. »Und wenn die Wikinger stürmen, bekommen sie ein Strafmandat wegen Betretens der Rasenfläche oder was?« Ich ließ ihn stehen, bevor er sich weiter aufregen konnte. Der Mann lebte zu sehr im Elfenbeinturm seiner Wissenschaft. Er verschloß die Augen vor der tödlichen Gefahr, in der wir uns befanden. Ein Wurfspeer raste auf mich zu! Ich wehrte ihn mit meiner Spitzhacke ab. Die Stichwaffe fiel neben mir zu Boden. Aus dem Augenwinkel bekam ich noch mit, wie sich Professor Feddersen danach bückte. »Eine Speerspitze von der Insel Gotland! Was für eine herrliche Arbeit…« Ich hörte nicht mehr auf ihn. Versuchte lieber, mit meiner armseligen Truppe eine Verteidigungslinie zu bilden. Denn nun griffen die Wikingerzombiges an! * Harald der Böse liebte es, wenn ihn seine Männer ehrfürchtig »den Seekönig« nannten. Und er haßte es, wenn er nicht bekam, was er wollte! Und diese blonde Maid aus der fremden Welt war ganz nach seinem Geschmack gewesen. Zu gerne hätte er sie zu einer seiner Nebenfrauen gemacht. Aber als er sich auf sie stürzen wollte, hatte sie ihm dieses verfluchte Symbol des Christengottes vor die Nase gehalten! Als Harald der Böse noch lebte, hatte er die fremde Religion aus dem Süden nie gefürchtet. Er glaubte fest an die Existenz von Odin und Thor und Loki und den anderen altgermanischen Göttern, dort oben in Walhalla. Aber seit er gestorben war, sah er die Dinge anders. Kaum hatte ihn der Rote Gorm erschlagen, als auch schon dieser verfluchte Leichenvogel erschien. Und dieses Zaubertier hatte Harald dem Bösen ein Geschäft vorgeschlagen. Dafür war der Wikingerhäuptling immer zu haben gewesen. Jetzt, wo er tot war, hatte er nichts mehr zu verlieren. Deshalb hörte er sich den 31
Vorschlag der unheimlichen Kreatur gerne an. Der Leichenvogel wollte ihn, Harald, wieder zum Leben erwecken. Mit einem Zauberspruch, der die Zeit überwand. Als Gegenleistung sollte der Seekönig dem Leichenvogel seine Schwester Birka ausliefern. Das fliegende Ungeheuer hatte dem toten Häuptling die Formel verraten. Danach hatte Harald der Böse mit diesem Spruch auch seine Getreuen wieder zu sich gerufen, die mit ihm in den Tod gegangen waren. Aber er hatte nicht im Traum daran gedacht, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Weniger, weil er seine Schwester so liebte. Sondern, weil ihm der Betrug und die Lüge zur zweiten Natur geworden waren. Also war der untote Häuptling mit seinem Gefolge in dieses fremde Land eingefallen. Er hatte festgestellt, daß er mit dem Zauberspruch dorthin gelangen konnte. Und er fühlte sich jetzt unüberwindlich. Noch nicht einmal den Leichenvogel selbst fürchtete er mehr. Nur den Christengott… Denn seit Harald der Böse eine lebende Leiche war, verursachte ihm schon der Gedanke an das Christenkreuz Schmerzen, wie es kein Speer und kein Schwert zu Lebzeiten vermocht hatten. Darum hatte er auch das blonde Mädchen in Ruhe gelassen. Instinktiv befürchtete er, daß seine dämonische Kraft nicht stark genug war, um das Gute zu besiegen. Doch damit sein Stolz diese Niederlage besser verkraften konnte, hatte er einen neuen Raubzug organisiert. Diesmal ging er mit seiner untoten Mannschaft an Bord seines Schiffes, um in jenes andere Land hinüberzusegeln. So konnten sie auf dem Rückweg nach Haithabu viel mehr Beute mitnehmen. Und hoffentlich auch jede Menge Frauen, die kein goldenes Kreuz um den Hals trugen… Mit Hilfe des Zauberspruchs war Harald der Böse samt seinen Mannen und seinem Drachenboot in diese andere Welt hinübergelangt, die er gleichzeitig fürchtete und begehrte. Am anderen Ufer der Schlei erhob sich eine große Stadt, viel mächtiger noch als Haithabu. Mit Türmen, die bis in den Himmel ragten! Der Wikingerhäuptling biß seine verwesenden Zähne zusammen. Türme gehörten zu Kirchen, soviel wußte er über den Glauben der Christen. Er hatte nicht übel Lust, diese Stadt bis auf 32
die Grundmauern niederzubrennen. Aber zuerst würde er sich die Einheimischen vornehmen, die in Ufernähe schaufelten und gruben. Waren es Bauern? Aber ihre Gewänder sahen anders aus als alles, was er von Landmännern kannte. Hauptsache, es waren Menschen. Menschen, die er töten oder schänden konnte! Der böse Keim des untoten Lebens loderte hoch in seinem Inneren auf. »Zum Angriff, Männer!« brüllte er seiner Gefolgschaft zu. Und die Besatzung stimmte ein in das Sturmlied, während das Drachenboot das Ufer erreichte. Harald der Böse sprang als erster über das Dollbord, hinab in den Schlamm des Schleiufers. Sein Schwert hatte er drohend über seinem mächtigen Schädel erhoben. * Ein riesiger Wikinger flankte am Bootsbug ins niedrige Wasser. Ich hatte ihn schon mit meiner SIG anvisiert. Zog den Stecher durch. Doch die geweihte Silberkugel verfehlte ihn. Ich fluchte. Wenn ich mir eingebildet hatte, daß die Schüsse diese Männer aus dem zehnten Jahrhundert zurücktreiben würden, war das ein Irrtum gewesen. Direkt hinter dem Riesen in dem räudigen Pelz sprangen sechs oder sieben seiner Kameraden an Land. Sie waren mit Speeren und Schwertern oder doppelschneidigen Äxten bewaffnet. Mir blieb keine Zeit zum Nachdenken. Wieder feuerte ich. Die beiden nächsten Schüsse trafen. Zwei der untoten Wikinger wurden niedergestreckt. Sie vergingen auf der Stelle. Verwandelten sich in schwärzliche Klumpen, wie verbrannte Leichen. Doch das war nur ein schwacher Trost. Denn der Rest der Truppe stürzte sich nun auf die Verteidiger. Wie ich befürchtet hatte, waren »meine« Leute keine Kämpfernaturen. Einer der Ausgräber wurde durch einen gräßlichen Axthieb eines Wikingers fast in zwei Hälften geteilt. Ein anderer ging zu Boden, als ihm ein Schwert durch die Brust getrieben wurde. Der Stich war so brutal, daß die blutige Klinge am Rücken wieder austrat. Ich schoß noch einen Nordmann nieder. Es war keine Feigheit, 33
wenn ich hinter den Reihen der Verteidiger herumlief. Aber ich war der einzige von uns, der eine Schußwaffe hatte. Und während man Zombies normalerweise nur mit einem gezielten Kopftreffer mit einer normalen Patrone von ihrer untoten Existenz erlösen kann, reichte schon ein leichter Kratzer mit meinen geweihten Silberkugeln. Die dämonischen Nordmänner schienen zu spüren, daß ich ihr gefährlichster Gegner war. Sie wandten sich mir zu. Das konnte mir nur recht sein. Vielleicht hatten dadurch meine Gefährten eine bessere Chance. Silke Busch jedenfalls schien begriffen zu haben, daß sie ihr Leben nur durch beherzte Abwehr retten konnte. Ein Wikinger hieb auf sie los, daß er ihr glatt den Kopf von den Schultern gehauen hätte. Aber sie duckte sich und stieß ihm statt dessen das spitze Ende ihrer weißmagischen Hacke in die Magengrube. Augenblicklich erstarrte der Unheimliche aus der Vergangenheit und wurde zu einem schwarzen Klumpen. Nun ging ein Ruck durch die teilweise schon wankende Verteidigerlinie. Die Studenten und Ausgräber hatten erlebt, daß ihre teuflischen Gegner nicht unbesiegbar waren. Daß eine von ihnen, die im Hörsaal vielleicht neben ihnen gesessen hatte, ein untotes Monstrum besiegen konnte. Das gab den jungen Leuten Auftrieb! Die Wikinger griffen mit unverminderter Brutalität an. Ein rotblondes Mädchen sank mit einer breiten Hiebwunde auf der Wange nieder. Aber bevor ihr Gegner ihr den Rest geben konnte, sprang ein muskulöser Ausgräber in die Bresche. Und hieb sein Schaufelblatt gegen den Hals des Nordmanns! Er schlug dem Zombie eine tiefe Wunde. Eine kleine hätte schon gereicht. Der Angreifer verging, bevor er dem Mädchen weiter Schaden zufügen konnte. Ich blieb unterdessen nicht untätig. Mein Pistolenfeuer konzentrierte sich auf die nachrückenden Wikinger, die immer noch vom Dollbord des Schiffs sprangen. Ich wollte ihr Vorrücken stoppen, solange sie noch nicht auf Nahkampfdistanz herangekommen waren. Doch im nächsten Moment mußte ich mich selbst meiner Haut wehren. Ich erkannte aus dem Augenwinkel ein Schwert, das auf mich zuraste. Mit einer Drehung machte ich einen Ausfallschritt zur Seite. Das Eisen sauste nieder. 34
Einer der Wikingerzombies mußte irgendwie von hinten an mich herangekommen sein. Er hatte einen löchrigen Vollbart. Seine Nase schien schon vor längerer Zeit von Nagetieren verspeist worden zu sein. Seine untoten Augen starrten mich haßerfüllt an. Ich donnerte ihm erst mal meinen Pistolenkolben gegen die Stirn, damit ich etwas Luft bekam. Doch damit konnte ich einen schwarzmagischen Gegner mit übermenschlichen Kräften nicht so leicht abschütteln. Er wich keinen Millimeter zur Seite, sondern schlug erneut mit dem Schwert zu. Ich blockte mit dem linken Unterarm. Aber das bekam mir gar nicht gut. Der Hieb war so heftig, daß ich glaubte, mein Arm sei gebrochen. Der Nordmann mußte spüren, daß er Oberwasser kriegte. Und wirklich. Mit seinem nächsten Vorstoß prellte er mir die SIG aus der Hand. Sie wirbelte zur Seite und blieb mindestens zehn Meter neben uns im Gras liegen. Röhrend packte der Wikinger sein Schwert mit beiden Händen, um mich in der Mitte zu spalten. Ich wollte ihm ausweichen. Aber dann war es, als ob mir der Teufel ein Bein gestellt hätte. Mit der linken Ferse trat ich in eine der Gruben, die für die Ausgrabung ausgehoben worden war. Ich strauchelte. Die Klinge raste nieder. Mein Überlebensinstinkt rettete mich buchstäblich in allerletzter Sekunde. Ich hob die Spitzhacke hoch, auf die ich gefallen war. Der Angreifer hatte zuviel Schwung. Sein Hieb erwischte nur einen Teil des Hackenstiels. Die Spitze des Werkzeugs drang durch sein verrostetes Kettenhemd mitten in seine Brust. Neben mir tobte der Kampf weiter. Mit einem Hechtsprung schnappte ich mir wieder meine Pistole. Gerade rechtzeitig, denn zwei weitere Nordmänner wollten sich mit Äxten auf mich stürzen. Ich machte eine Rolle rückwärts. Als ich wieder auf den Füßen stand, zog ich zweimal kurz hintereinander den Stecher durch. Die beiden Wikingerzombies fielen fast gleichzeitig um. Ihre verkohlt aussehenden Überreste glitten zu Boden. »Meine« Truppe schlug sich tapferer, als ich befürchtet hatte. Inzwischen waren sie sogar in der Überzahl. Acht oder neun schwarze Klumpen zeugten von den Verlusten der Angreifer. Trotzdem mußte sich Silke Busch soeben gegen zwei Nordmänner gleichzeitig wehren. Ich kam ihr zu Hilfe. Schießen 35
wollte ich nicht, um die junge Studentin im Handgemenge nicht zu gefährden. Der eine Zombie wollte gerade seine Axt in ihre Schulter treiben. Im letzten Moment rammte ich meine Spitzhacke dazwischen. Es klirrte, als Metall auf Metall schlug. Der andere hatte Silke am Pullover gepackt und zielte mit der Schwertspitze auf ihre Brust. Doch sie ließ sich einfach zu Boden fallen, wobei allerdings das Kleidungsstück zerriß. Von unten her schlug sie ihre Hacke in seinen Oberschenkel. Die Überreste des vergehenden Untoten regneten auf die Studentin hinab. Ich wurde mit meinem Gegner ebenfalls fertig. Während wir mit Schwert und Spitzhacke gegeneinander drückten, hob ich mein linkes Bein auf Hüfthöhe. Dann katapultierte ich den Fuß mit einem fürchterlichen Kung-Fu-Tritt in die Magengrube des Nordmanns. Der Angriff fruchtete zwar nicht so gut wie bei einem Menschen. Aber immerhin brachte ich den Untoten für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Ich riß das Werkzeug zurück und hebelte es unter seiner Deckung hervor und von der anderen Seite in seinen Rippenbogen. Auch dieser Wikingerzombie war erledigt. Und dann geschah etwas, was ich mir nicht zu träumen gewagt hätte. Die Nordmänner zogen sich zurück! Sie drohten uns mit den Fäuste, aus denen teilweise die nackten Knochen herausschauten. Aber sie zogen sich wieder an dem niedrigen Dollbord ihres Drachenbootes hoch. Stießen es vom Ufer ab. Gerne hätte ich dem Anführer in seinem räudigen Pelz noch eine Kugel verpaßt. Aber auch er schien entkommen zu sein. Die Wikinger legten sich mächtig in die Riemen, um ins tiefere Wasser zu gelangen. Es platschte, als die Ruderblätter in die ruhige dahinfließende Schlei eintauchten. In unseren Reihen ertönte ein verhaltener Jubel. Die jungen Studenten und Arbeiter schienen eher erstaunt darüber zu sein, daß sie überlebt hatten. Ehrlich gesagt, ich war es auch. Silke Busch trat auf mich zu. Unter ihrem zerrissenen Pullover zeichneten sich üppige Formen ab. Unwillkürlich hob ich eine Augenbraue. Wer hätte gedacht, daß eine brave Geschichtsstudentin solch einen sündig-verspielten BH trug… Doch im nächsten Moment war ich mit meinen Gedanken schon wieder woanders. Die Tochter von Ulrichs Freund deutete auf 36
Professor Feddersen. Während des ganzen blutigen Kampfes hatte er anscheinend einige Schritte hinter uns auf dem Boden gekniet und die Wurflanze untersucht. Dabei leise mit sich selber gesprochen. Was er auch immer noch tat. »Ich bin kein Seelenklempner«, flüsterte ich Silke ins Ohr. »Aber dein Prof braucht dringend einen Psychiater. Ich schätze, die Realität war einfach zuviel für ihn. Da hat er sich aus der normalen Welt verabschiedet.« »Was ist schon normal?« fragte die Studentin zurück. Ich warf einen Blick auf das sich rasch entfernende Drachenboot. Ja, das konnte man sich wirklich fragen. * »Wenn ich dich jetzt fallen lasse«, verkündete der Leichenvogel, »dann stirbst du tausend Tode! Also halte dich besser fest!« Und das tat Tessa Hayden. Sie hätte es nie für möglich gehalten, daß sie sich einmal an dem schwarzmagischen Alptraumtier anklammern würde wie ein Säugling an seiner Mutter. Aber sie tat es. Ihre Hände hatten sich um sein linkes Bein gekrampft. Die Krallen hatte der Leichenvogel immer noch in ihre Kleidung geschlagen. Der geflügelte Dämon und die Frau aus Weimar wurden nun heftig durchgeschüttelt. Tessa Hayden hatte an der Seite von Mark Hellmann schon einige Zeitreisen gemacht. Darum kannte sie die Sphärenklänge, die Farbkaskaden und die verschwommenen Bilder, denen sie nun ausgesetzt waren. Doch diesmal war das Gefühl anders. Anstrengend war so ein Trip in die Vergangenheit allemal. Aber in der Polizistin stieg eine dumpfe Verzweiflung auf, ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Dazu paßten die gräßlichen Dämonenfratzen, die auf sie zuzurasen schienen. Der Leichenvogel flog mit ihr durch eine Art Zwischenwelt. Hier hausten Wesen, die nicht leben und nicht sterben konnten. Selbst dem geflügelten Dämon schien es hier nicht besonders angenehm zu sein. Er versuchte offenbar, so schnell wie möglich diese Gegend zu durchqueren. »Was ist das hier?« brüllte Tessa. Es war mehr ein entsetzter 37
Ausruf als eine wirkliche Frage. Aber der Leichenvogel antwortete bereitwillig. »Oh, das hier ist Niflheim, kleine Birka. Das Land des Leichennebels. Das unterirdische Schattenreich. Schön, nicht? Hierhin wäre dein geliebter Bruder verbannt worden. Wenn ich ihn nicht von den Toten gerettet hätte. Und hierhin werde ich Harald schaffen, das schwöre ich dir. Ich hasse es, wenn man mich betrügt!« Ich heiße nicht Birka! hätte Tessa dem Höllenvieh am liebsten zugebrüllt. Doch sie hatte Angst, daß sie ihn verärgern könnte. Was, wenn er sie in diesem - diesem Niflheim zurückließ? Bei diesen Alptraumgestalten, die noch viel entsetzlicher zu sein schienen als der Leichenvogel selbst? Die Weimarerin schloß die Augen, weil sie den Anblick der Fratzen nicht mehr ertragen konnte. Aber es nützte nichts. Denn mit ihrer dämonischen Kraft zeigten sich die Bilder nun in ihrem Kopf, in ihrem Inneren! Als Tessa glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, war es vorbei. Plötzlich schien sich ein Vorhang zu öffnen. Es gab wieder Luft, die man atmen konnte. Einen Himmel über ihr. Erde und Gras unter ihr. Sogar die Vögel hörte sie singen. Der geflügelte Dämon ließ Tessa los, als beide noch einige Schritte über dem Erdboden waren. Die Polizistin stürzte. Normalerweise hätte ihr das nichts ausgemacht. Sie betrieb aktiv Kampfsport und wußte, wie man fallen mußte, ohne sich zu verletzen. Aber das Grauen von Niflheim hatte sie durcheinandergebracht. Die Fahnderin ruderte mit den Armen in der Luft. Doch sie konnte den Aufprall nicht verhindern. Tessa schlug mit der Stirn gegen ein mächtiges massives Hünengrab. Bei ihr gingen die Lichter aus. Als sie wieder angingen, lag sie immer noch neben dem Hünengrab. Der Leichenvogel ruhte neben ihr. Der Dämon glotzte fast ironisch. Wenn er zu einem menschlichen Ausdruck fähig gewesen wäre. »Was soll das?« murmelte Tessa. Sie schien sich nicht mehr vor der Bestie zu fürchten. »Wo bin ich? Wer bist du? Und wer bin ich?« »Wir werden bald deinen lieben Bruder treffen«, erwiderte der Leichenvogel. »Harald den Bösen, den Seekönig. Ich hatte ein Geschäft mit ihm gemacht, erinnerst du dich? Ich, der 38
Leichenvogel. Und wer du bist? Nun, dein Name ist Birka. Und du bist die Schwester des Seekönigs.« »Ich bin Birka«, wiederholte Tessa Hayden automatisch. »Die Schwester des Seekönigs.« Das war ihre feste Überzeugung. An etwas anderes konnte sie sich nicht erinnern. * Ich mußte die Wikinger verfolgen. Und ich mußte Tessa finden. Beide Aufgaben hatten miteinander zu tun. Da war ich mir sicher. Ich hätte meinen Siegelring darauf verwettet, daß die dämonischen Nordmänner hinter der Entführung meiner Freundin steckten. Der Schlüssel zu dem ganzen Problem lag in der Vergangenheit. Ich mußte in die Wikingerzeit reisen, um dort den Impuls des Bösen im Keim zu ersticken. Und um Tessa zu suchen. Mein Instinkt sagte mir, daß sie in die Vergangenheit gerissen worden war. Sicherheitshalber gab ich trotzdem eine Vermißtenanzeige auf. Ich wandte mich damit an Hauptkommissar Eberhard Jensen, der die Ermittlungen in dem Wikinger-Fall leitete. Zum Glück war er ein verständiger Beamter, der bereits öfter von mir gehört hatte. Innerhalb der deutschen Polizei war es kein Geheimnis mehr, daß ich Sicherheitskräften bei unerklärlichen Fällen tatkräftig unter die Arme gegriffen hatte. Man konnte mich regelrecht anfordern. Als Berater oder für den Kampfeinsatz. Gegen Honorar natürlich. »Die Kommissarin Tessa Hayden ist also plötzlich spurlos verschwunden«, sagte der ruhige Norddeutsche nachdenklich. »Und ausgerechnet an diesem Ort…« »Was ist mit diesem Ort?« hakte ich nach. Eberhard Jensen deutete auf das Hünengrab, das östlich der Ausgrabungsstätte auf einem kleinen Hügel neben einigen Bäumen stand. »Dort ist vor zwei Tagen eine Schülerin aus Schleswig ebenfalls spurlos verschwunden. Jedenfalls hatte sie ihren Eltern gesagt, daß sie zu dem Hünengrab fahren wollte. Es war ihr Lieblingsplatz. Dort hat man auch ihr Fahrrad gefunden. Von Schlagwaffen in Stücke gehauen. Aber von dem Mädchen fehlt jede Spur.« 39
Der Polizist und ich tauschten einen Blick aus. »Meinen Sie, daß diese Wikinger dahinterstecken, Herr Hellmann?« fragte der erfahrene Kriminalbeamte fast schüchtern. Ich zog die Augenbrauen zusammen und ließ meine Blicke über den Ausgrabungsplatz schweifen, der jetzt einem Heerlager glich. Ärzte und Pfleger schafften die verwundeten Studenten und ABMKräfte in Krankenwagen weg. Wissenschaftler befaßten sich mit den Überresten der untoten Nordmänner. Und eine halbe Hundertschaft Uniformierter war damit beschäftigt, die Neugierigen fernzuhalten. »Ich will mir dieses Hünengrab näher ansehen, Herr Jensen«, erwiderte ich. »Dann kann ich mehr sagen.« Ich stiefelte auf die Grabstelle zu. Überall in Nordeuropa kann man diese Relikte aus germanischer Zeit noch sehen. Mich schauderte bei dem Gedanken, daß vielleicht jedes von ihnen eine Art Zeitschleuse zur Wikingerepoche darstellte. Wie alle anderen Hünengräber bestand auch dieses aus einem riesigen Findlingsstein, der auf einigen kleineren Gesteinsbrocken ruhte wie ein Tisch auf seinen Beinen. Ich ließ meinen Ring nicht aus den Augen. Er prickelte nur ganz schwach. Aber das konnte auch daran liegen, daß ich seine Kraft für die weißmagische Bewaffnung so stark erschöpft hatte. Hauptkommissar Eberhard Jensen und Silke Busch folgten mir. Die junge Studentin hatte sich inzwischen einen neuen Pullover angezogen. Sie war sozusagen meine »Verbindungsfrau«. Auf ihre Bitte hin waren Tessa und ich nach Schleswig gefahren. Jetzt war ich froh, daß wir gekommen waren und weißmagisch hatten »dagegenhalten« können. Nicht auszudenken, wenn die Wikinger beispielsweise die Stadt angegriffen hätten! Aber das konnte ja noch geschehen. Ich stand nun direkt neben dem Steinmonument. Prüfend legte ich meine Hände auf die Oberfläche. Seine Ausstrahlung war sehr stark. Ich war mir nur noch nicht sicher, ob sie positiv oder negativ war. Doch diesen Gedanken konnte ich nicht weiterführen. Denn im nächsten Moment schoß ein Arm unter dem Findling hervor und packte meine Jacke! * 40
Harald der Böse schäumte vor Wut. Er hatte seine halbe Mannschaft bei dem Angriff auf die andere Welt verloren. Um die Männer trauerte er nicht. Viel mehr wurmte ihn die Schande, ohne reiche Beute nach Haithabu zurückkehren zu müssen. Das konnte er nicht auf sich sitzenlassen. Das brauchte er auch nicht. Die Nordmänner segelten die Schlei hinab Richtung Ostsee. Plötzlich erblickten sie ein seltsames weißes Haus auf Rädern. Der Häuptling rieb sich verblüfft die toten Augen. Diese verfluchte Welt war wirklich voller Wunder. Das Haus rollte nicht, es stand am Ufer. Daneben saßen ein Mann und eine Frau auf Stühlen. Sie schienen zu essen. Offenbar waren sie völlig arglos. Winkten den Wikingern sogar zu. Der Seekönig grinste teuflisch. Wieder steuerte das Boot auf das Ufer zu. Aber diesmal hatte der brutale und feige Angriff Erfolg. Der Mann starb unter Haralds unerbittlichen Schwerthieben. Die Frau wollten sie als Sklavin verschleppen. Doch das klappte nicht. Der starke Erik schlug ihr seinen Axtstiel zu fest über den Schädel. Sie sank tot neben ihrem Mann zu Boden. Die Nordmänner plünderten das seltsame weiße Haus auf Rädern. Viele Dinge waren ihnen rätselhaft. Doch immerhin erbeuteten sie Schmuck, Kleidung, einige ganze Würste und Eßgeschirr aus unbegreiflich dünnem und feinem Material. Dafür würden sie auf dem Markt in Haithabu einen guten Preis bekommen! Halbwegs zufrieden gingen die Wikingerzombies wieder auf ihr Schiff. Harald der Böse vergaß natürlich nicht, zum Schluß das weiße Haus auf Rädern in Brand zu stecken. Das war sozusagen ihr Markenzeichen. Als letzter zog er sich am Dollbord des Drachenbootes hoch. Nun war ihre blutige Wikingerehre wiederhergestellt, und sie konnten in ihre Welt zurückkehren. * Nicht zum ersten Mal traf mich ein Überraschungsangriff. Darum wußte ich auch, wie ich mich wehren konnte. Ich rollte mich zur 41
Seite ab, um den Arm des Unbekannten zu verdrehen. Gleichzeitig zog ich meinen armenischen Silberdolch mit den geheimnisvollen Symbolen. Doch bevor ich die Klinge in das Fleisch hacken konnte, hielt ich inne. Inzwischen erblickte ich auch das Gesicht des Mannes, der mich gepackt hatte. Er hätte bei jedem Schönheits-Wettbewerb nur den letzten Platz belegt. Auch als gepflegtester Greis hätte er nie einen Preis gewinnen können. Der graue Bart und das strähnige Haar waren in diesem Jahr gewiß noch nicht gewaschen worden. Und wir hatten immerhin schon März. Außerdem erinnerte sein Schädel an einen Geierkopf. Aber er hatte ehrliche Augen. Und er war unbewaffnet. Mein Ring reagierte nicht direkt auf seinen Körper. Ich zog meine Hand mit dem Messer zurück. »Wenn Sie mich loslassen, vergessen wir die Sache«, schlug ich vor. Augenblicklich zog er seine Hand von meiner Jacke zurück, als hätte er auf eine heiße Herdplatte gefaßt. »Wo bin ich hier? Was für ein starker Zauber ist das?« Er sprach seltsam verzerrt, aber ich verstand ihn. Der Alte war klein und mager. Er trug nur eine Art Kutte aus Wolle. Trotzdem schien er kein christlicher Mönch zu sein. Eher schon ein germanischer Priester. Jedenfalls baumelte eine kleine Ausführung von Thors Hammer von dem Strick, der um seine schmalen Hüften geschlungen war. »Du bist im Jahre 1999. Die Stadt dort drüben ist Schleswig, in Deutschland. Ich heiße Mark Hellmann.« Scheu blickte sich der Mann um, als erwarte er, jeden Moment von Höllenwesen verschlungen zu werden. »Ich werde der Graue Gunnar genannt. Ich bin ein Diener der Asatru. Bin ich hier weit von Haithabu entfernt?« Ein Diener der Asatru. So wurden die Priester genannt, die den Asen, den alten Göttern der Germanen, gedient hatten. Ich hatte also richtig getippt. Das erklärte auch, warum wir uns sprachlich verstanden. Obwohl ich deutsch redete und er vermutlich altnordisch. Magie machte das möglich. »Haithabu war genau hier. Aber die Stadt gibt es nicht mehr«, erwiderte ich. »Woher kommst du, Heiliger Mann?« »Aus Haithabu. Ich habe die Götter angefleht, mich dorthin zu schicken, wo dieser verfluchte Harald der Böse sein Unwesen 42
getrieben hat.« »Wer ist das?« Ich horchte auf. »Ein mächtiger Häuptling aus Norwegen. Er wurde vom Roten Gorm erschlagen. Nun hat er einen Dämon gefunden, der ihm wieder Leben eingehaucht hat. Das ist schändlich. Er muß überwunden werden, sonst bringt er nur Elend über die Welt. Er ist ein schlechter Kerl, jetzt als Toter besonders. So wie der die Frau behandelt hat…« »Was für eine Frau?« Ich glaubte fast, mein Herz würde stehenbleiben. »Eine schöne Frau in fremdartiger Kleidung. Er hat sie in sein Haus in Haithabu verschleppt. Will sie zu seiner Leibsklavin machen, hat er getönt. Oh, Harald war immer hinter den Frauen her. Er ist ein geiler Bock…« Ich hörte ihm kaum noch zu. Meine Gedanken kreisten um Tessa. Niemand anders konnte damit gemeint gewesen sein. Meine Freundin in den Händen eines untoten Wüstlings! Ich konnte mir keinen größeren Alptraum vorstellen. »Ich muß sofort in die Vergangenheit reisen!« rief ich Hauptkommissar Eberhard Jensen und Silke Busch zu. »Meine Freundin braucht dringend meine Hilfe!« Bevor sie etwas erwidern konnten, hatte ich mir schon meine Kleider vom Leib gerissen. Wenn ich durch die Zeit fiel, konnte ich nichts mitnehmen. Außer meinem Ring natürlich, der mir die Reise erst ermöglichte. Zog ich mich nicht aus, blieben die Klamotten in einem wilden Haufen zurück. Ich war innerlich wie blockiert. Unter normalen Umständen hätte ich den Priester noch ausgefragt. Zum Beispiel darüber, wo sich in Haithabu das Haus von Harald dem Bösen befand. Aber ich konnte nicht mehr klar denken. Alles drehte sich nur noch um Tessa. Wieder einmal wurde mir klar, wie sehr ich sie wirklich liebte. Offenbar hatte sich mein Siegelring inzwischen wieder »aufgeladen«. Genug schwarzmagische Energie war ja im Umfeld der Ausgrabungsstätte auch vorhanden. »Bleiben Sie hier und halten Sie meine Kleider bereit«, bat ich den Polizisten, der meinen Striptease mit ungerührter Miene beobachtet hatte. Wie viele Norddeutsche war er nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. »Es kann einige Stunden dauern, bis ich wieder aus der Wikingerzeit zurückkehre.« Dann aktivierte ich den Ring an meinem Muttermal. Der 43
Lichtstrahl schoß kräftig aus dem Kleinod heraus. Der Graue Gunnar betrachtete den magischen Prozeß mit Kennermiene. Es hätte mich auch sehr interessiert, wie er durch die Zeit gereist war. Aber nicht jetzt. Jetzt wollte ich nur Tessa retten. Ich schrieb mit altgermanischen Buchstaben aus dem FutharkAlphabet das keltische Wort für »Reise« auf den Boden vor mir. Gleich darauf ertönten die gewohnten Sphärenklänge. Ich stürzte in einen Tunnel aus Licht. Welten schossen an mir vorbei. Zu schnell, um vom menschlichen Auge wahrgenommen zu werden. * Ich landete anscheinend in der richtigen Zeit. Denn ich fiel auf eine grüne Wiese, wie man sie im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert kaum noch findet. Vor mir erkannte ich einige Männer mit gehörnten Helmen auf den Köpfen. Ob sie zu den Wikingerzombies gehörten, gegen die ich vor kurzem gekämpft hatte, wußte ich nicht. Aber ich war ganz gewiß am falschen Ort. Das wurde mir klar, während mich Kopfschmerzen und Körperschwäche plagten. So war es immer, wenn ich eine Zeitreise gemacht hatte. Am Ziel angekommen war ich erst einmal fix und fertig. Und natürlich immer noch nackt, so wie ich aufgebrochen war. Doch das fiel hier nicht weiter auf. Denn die Frauen und Männer, zwischen denen ich gelandet war, hatten ebenfalls kaum was am Leib. Bestenfalls Lumpen. Allerdings gab es einen großen Unterschied zwischen ihnen und mir. Sie trugen Ketten an den Händen und Füßen. Ich nicht. Dann machte ich den Fehler, mich zu meiner vollen Größe aufzurichten. Im zehnten Jahrhundert waren die Menschen noch nicht so hochgewachsen wie zu unserer Zeit. Mit meinen 1,90 m mußte ich wie ein Riese zwischen ihnen wirken. Darum bemerkten mich auch die Wikinger sofort. Sie waren bewaffnet. Schienen diese armen Teufel zu bewachen. »He! Du!« brüllte mich ein dicker Nordmann an. »Wo sind deine Ketten?« Ich verstand seine Sprache. Das hatte ich meinem Ring zu verdanken. Weniger freute ich mich darüber, daß ich in einer 44
Gruppe Sklaven gelandet war! Und die Bewacher hielten mich für einen dieser Rechtlosen! Wenn ich Tessa befreien wollte, konnte ich nicht selbst in Ketten liegen. Ich mußte diesen Menschenhändlern entkommen! Schon wandte ich mich zur Seite und sprang über einige der Gefangenen hinweg. Sie starrten mich apathisch an. Offenbar waren sie durch ihr Schicksal zu abgestumpft. Deshalb war wohl auch keine Panik ausgebrochen, als ich plötzlich aus dem Nichts zwischen ihnen erschienen war. Natürlich hatten auch die Wikinger mitgekriegt, was ich vorhatte. Während ich losrannte, versuchte ich mich zu orientieren. Neben mir war immer noch das Hünengrab. Ich vermutete, daß die Sklavengruppe nach Haithabu gebracht werden sollte. Man hatte den Bedauernswerten wohl eine Pause gegönnt, bevor der Tagesmarsch hinter den Palisaden der Wikinger-Metropole endete. Die Krieger riefen sich Warnungen zu. Sie versuchten mich einzukesseln. Und sie waren sogar erfolgreich damit. Denn ich fühlte mich so abgeschlafft, als ob ich eine dreiwöchige Grippe hinter mir hätte. Es dauerte ein paar Stunden, bis ich nach einer Zeitreise wieder fit war. Ich stolperte über eine Kette und fiel aufs Gesicht. Bevor ich mich wieder aufrichten konnte, waren die Bewacher über mir. Einer der Wikinger knallte mir einen dicken Holzprügel auf den Schädel. Davon wurden meine Kopfschmerzen nicht gerade besser. Und meine Laune auch nicht. Ich rollte auf den Rücken und ließ meine Füße wie zwei Geschosse nach oben schnellen. Sie trafen ihn in die Magengrube. Der Nordmann taumelte zurück. Bei der Gelegenheit bemerkte ich, daß er kein Zombie war, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Aber ich war trotzdem nicht gut auf ihn zu sprechen. Schon stürzten sich zwei seiner Kameraden auf mich. Der eine wollte mir mit der flachen Seite seines Schwertes ein Ding verpassen. Ich machte mir meine Größe zunutze und rammte ihm die Faust ins Gesicht. Bevor mich sein Schlag erwischen konnte. Der andere versuchte es von der Seite. Ich duckte mich, umfaßte ihn mit beiden Armen in der Körpermitte und schleuderte ihn seinen heranstürmenden Kumpels entgegen. Nun zahlten sich die Trainingsstunden im Polizeisportverein Weimar aus. Neben einigen asiatischen Kampfsportarten betrieb 45
ich dort auch Boxen und Ringen. Doch in der besch… eidenen Lage, in der ich mich befand, hätte sogar Henry Maske alt ausgesehen. Trotzdem kämpfte ich mit aller Kraft. Immerhin wollten mich die Menschenhändler lebend fangen. Kunststück. Ein Sklave war eine Menge Geld wert. Nur deshalb schlugen sie mich mit ihren Schwertern und Beilen nicht in Stücke. Einer der Wachen hatte ich seinen Knüppel entwunden. Damit verteidigte ich mich. Immer noch hielt ich nach einer Möglichkeit Ausschau, mich davonzumachen. Doch die Wikinger hatten begriffen, daß ich fliehen wollte. Das konnte man von Sklavenbewachern wohl auch erwarten. Sie kreisten mich immer enger ein. »Laßt mich mal durch!« ertönte ein gewaltiger Bierbaß. Die Nordmänner traten zur Seite. Einige von ihnen lachten dreckig. »Da kommt Fett-Ole! Der wird's dir zeigen, Sklavenschwein!« Ein Wikinger mit der Figur eines Bierfasses walzte auf mich zu. Es war nicht schwer zu deuten, warum er den Spitznamen »FettOle« hatte. Doch ich ließ mich durch seine Beleibtheit nicht täuschen. Die japanischen Sumo-Ringer beispielsweise haben unter ihren Fettschichten gewaltige Muskelpakete. Fett-Ole überragte seine Kameraden um Haupteslänge. Er war mit seinen circa 1,80 m zwar immernoch kleiner als ich, aber trotzdem eine gewaltige Erscheinung. Und er trug eine riesige Keule in seiner rechten Pranke. Die Schweinsäuglein in dem bärtigen Gesicht blitzten heimtückisch. Sein Helm war mit Stierhörnern versehen. Das paßte irgendwie zu ihm. »Wo sind deine Ketten, Sklave?« grunzte er. »Am Arsch!« erwiderte ich. Unter diesen rauhen Gesellen mußte ich mich ebenfalls derb ausdrücken. »Da wirst du auch gleich sein!« kündigte er an. Und bevor ich mich auf seinen Angriff einstellen konnte, stürmte der Krieger vor. Ich hatte richtig gelegen. Trotz seiner Leibesfülle war FettOle wendig und schnell. Nur nützte mir diese Erkenntnis leider wenig. Ich war immer noch zu angeschlagen. Die ersten Hiebe seiner Keule konnte ich noch parieren. Dann gelang es mir sogar, seine Deckung zu unterlaufen. Ich rammte mein Schlagholz mit aller Kraft in seinen Wanst. Er lachte nur, als hätte ich ihn mit einem Grillspieß gekitzelt. Plötzlich traf mich sein Ellenbogen an der Kinnlade. Der Aufprall 46
war so heftig, daß ich dachte, mein Kiefer wäre gebrochen. Ich taumelte zur Seite. Schlug in einer Reflexbewegung meinen Prügel in seinen Rippenbogen. Doch dieser Gegenangriff von mir war wahrscheinlich wirklich nur ein sanftes Streicheln. Ich konnte einfach nicht mehr. Fett-Oles Keule traf mich mit voller Wucht. Ich klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Als ich am Boden lag, prügelten mich die Wikinger windelweich. Sie schlugen mich nach allen Regeln der Kunst zusammen. Es tat so weh, daß ich am liebsten in Ohnmacht gefallen wäre. Aber diesen Gefallen tat mir mein zäher Körper nicht. Nach einer halben Ewigkeit hörten sie auf. Ich spuckte Blut. Aber immerhin war wohl nichts gebrochen. Auch keine inneren Organe verletzt, obwohl ich dafür nicht garantieren wollte. Fett-Ole beugte sich fast schon fürsorglich über mich. Sein breites Gesicht verzog sich zu einem zahnlückigen Grinsen. »So, du Sklavenschwein. Das machen wir mit euch Bastarden, wenn ihr zu fliehen versucht. Diesmal wirst du deine Ketten nicht abstreifen können. Aber weißt du was? Du bist ein guter Kämpfer. Es ist gut, daß du fliehen wolltest. Sonst hätte ich nie bemerkt, was für ein guter Kämpfer du bist. Für dich kriege ich einen Spitzenpreis. Vielleicht kauft dich ein reicher Geldsack ja als Hauswächter!« Plötzlich blitzte es in den Augen des Dicken. Er hatte meinen Siegelring erspäht. Bevor ich mich wehren konnte, hatte er ihn von meiner Hand gerissen. Und schob ihn über den kleinsten seiner Wurstfinger. Zufrieden betrachtete er ihn. Ich wußte aus dem Studium, daß Wikinger ganz vernarrt waren in Gold und Geschmeide. Mein Pech, daß ich dadurch meiner einzigen Chance beraubt wurde, in meine Zeit zurückzukehren. Er gab seinen Männern ein Zeichen. Sie ketteten meine Handgelenke zusammen. Auch meine Fußgelenke wurden so eng miteinander verbunden, daß ich keine langen Schritte mehr machen konnte. Im Moment war ich dankbar dafür, daß ich liegenbleiben durfte. Doch als ich in Ketten geschlagen war, mußte die ganze Gruppe weitermarschieren. Ich selbst eingeschlossen. Fett-Ole wollte offenbar noch vor der Abenddämmerung Haithabu erreichen. Die Stadt war zum Glück nicht mehr weit entfernt. Das gleichförmige Kettenklirren wurde zu einer monotonen 47
Musik. Die Bewegung tat mir gut. Allmählich strömten die Kräfte in meinen zerschundenen Körper zurück. »Fett-Ole hat heute gute Laune«, brummte ein junger Mann neben mir. »Gestern hat er mir alle Zähne ausgeschlagen. Was soll's? Wir kriegen sowieso nicht genug zu fressen.« Ich blickte ihm in die düsteren Augen. Er hatte wirklich keinen Zahn mehr im Mund. Seiner Kleidung nach war er ein armer Bauer. »Woher kommst du?« fragte ich. »Aus der Nähe von Nowgorod«, erwiderte er. »Ich heiße Pern. Und du?« Der Sklave stammte also aus dem Ostseeraum, aus dem Gebiet des heutigen Rußland. »Ich heiße Mark«, erwiderte ich. »Ich bin ein Franke.« Im zehnten Jahrhundert bildete der größte Teil Mitteleuropas das Frankenreich. Auch Thüringen gehörte dazu, es war also nicht geschwindelt. »Dann bist du ein Christ«, bemerkte Pern neidisch. »Vielleicht kaufen dich deine Fürsten frei. Unsere Herren scheißen auf uns. Ist ihnen egal, ob wir in die Fremde verschleppt werden.« Ich schwieg, weil ich ihm leider nicht widersprechen konnte. Langsam ließen die Kopfschmerzen nach. Ich erinnerte mich sogar an einige Fakten aus meinem Geschichtsstudium über den Sklavenhandel der Wikingerzeit. Trotz Verbreitung des Christentums war damals Sklaverei allgemein üblich. Allerdings pflegte man nicht die eigenen Glaubensbrüder in Ketten zu legen. Christen hielten sich also keine christlichen Sklaven, Moslems keine muslimischen usw. Leidtragende waren hauptsächlich die slawischen Völker des Ostens, die bei beiden Religionen als Heiden galten. Der Kalif von Cordoba, das seinerzeit unter arabischer Herrschaft war, hatte zum Beispiel eine Leibgarde aus lauter slawischen Sklaven. Viele Wikinger galten zwar ebenfalls als Heiden, aber auch als gute Geschäftsleute. Darum hatten sie im Sklavenhandel kräftig die Finger im Spiel. Und Haithabu war sozusagen der SklavenGroßmarkt der ganzen Ostseeregion. Die Händler kamen sogar aus der Türkei und Arabien angereist, um hier ihre Geschäfte zu machen. Wohin ich, Mark Hellmann, wohl verkauft werden würde? Meine Chance, Tessa zu befreien, sank von Stunde zu Stunde. 48
Das war die Lage, als ich durch das große südliche Palisadentor Haithabu betrat. * »Hoch mit euch, faules Pack!« Am nächsten Morgen wurde ich nicht von einem Radiowecker, sondern von Peitschenknallen geweckt. Ich kann nicht behaupten, daß mir dieses Geräusch sympathischer gewesen wäre. Meine Bilanz war ziemlich negativ. Ich war immer noch nackt. Immer noch in Ketten. Und meinen Siegelring hatte mir Fett-Ole natürlich auch nicht zurückgegeben. Immerhin hatte ich mich nach der Nacht auf dem fauligen Stroh etwas von den Strapazen und Mißhandlungen des Vortags erholt. Die Sklavenhalter hatten uns in einer Art Stall ohne Fenster zusammengepfercht. Die Luft war zum Schneiden. Meine Leidensgenossen bildeten stumpf und teilnahmslos eine Reihe vor einem großen Eisenkessel, nachdem man das Tor geöffnet hatte. Jeder von uns bekam eine Holzschüssel mit Getreidebrei. Er schmeckte nach nichts, füllte aber den Magen. Fett-Ole erholte sich vom Peitscheschwingen, indem er seine gelben Zähne in eine riesige kalte Hammelkeule schlug. Ich wünschte ihm die Pest an den Hals! Sobald sich die Gelegenheit ergab, wollte ich ihm jeden seiner Schläge doppelt und dreifach zurückzahlen. Aber zunächst mußte ich fliehen und Tessa retten. Das hatte absoluten Vorrang. Aber wie? Leider hielten der Dickwanst und seine Schergen ein besonderes Auge auf mich. Sie hatten wohl begriffen, daß ich immer noch entkommen wollte. Ich wurde links und rechts von einem Wikinger mit Schwert und Wurfspeer eingerahmt, als wir zum zentralen Sklavenmarkt marschierten. So mancher Altertumsforscher hätte einen Arm dafür geopfert, an meiner Stelle sein zu dürfen. Ich trottete kettenklirrend mitten durch das Babylon der Ostsee. Und obwohl ich an jedem anderen Platz auf der Welt lieber gewesen wäre, beobachtete ich meine Umgebung wie ein Habicht. Vielleicht gab es irgendwo doch eine kleine Chance für meine Flucht… Die meisten Häuser von Haithabu waren skandinavische 49
Stabhäuser, die aus senkrechten Planken errichtet worden waren. Wie damals üblich, lebte eine Familie oder Sippe in einem Haus zusammen, meistens auch mit dem Vieh. Die kleineren Gebäude bestanden nur aus einem Holzskelett mit Erdwänden und Rasendächern. Ein Anblick, der jedem »Grünen« meiner Zeit das Herz hätte höher schlagen lassen… Tausende von Menschen bevölkerten die Straßen. Die meisten von ihnen Wikinger. Aber ich bemerkte auch die vielen fremden Händler, die wegen ihre Geschäfte in den Norden gekommen waren. Eine Sklavenkarawane war damals ein so alltäglicher Anblick wie im Jahre 1999 der morgendliche Stau auf dem Weg zur Arbeit, da regte sich niemand mehr auf. Fett-Ole war an der Spitze unserer Kolonne dahingewalzt. Nun blieb er etwas zurück, bis ich auf seiner Höhe war. Er grinste mich feist an. Kniff mir sogar mit zwei Fingern in meine unrasierte Wange. Ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Aber meine Hände waren immer noch in Eisen geschlagen. »Mein fränkischer Kampfbulle«, sagte er mit fast zärtlich klingender Stimme. Ich bezweifelte, daß er zu solchen Gefühlen fähig war. »Du wirst Fett-Ole zum reichsten Mann seiner Sippe machen, weißt du das?« Ich antwortete, indem ich ihm vor das Schienenbein trat. Aber da mein Fuß nackt war, verstauchte ich mir nur die Zehen an seinen eisernen Beinschützern. Der Sklaventreiber geierte grölend los. Er verpaßte mir eine Maulschelle, die im Vergleich zu den Schlägen vom Vortag harmlos war. »Bleib nur so wild, fränkischer Kampfbulle. Das treibt deinen Preis hoch!« Grollend starrte ich ihm nach. Ich hatte die Sklaverei immer schon zutiefst verabscheut. Theoretisch. Jetzt spürte ich praktisch, wie sich ein Mensch fühlte, der zur Ware gemacht worden war. Es gab nur ein Wort dafür. Beschissen. Der Sklavenmarkt von Haithabu war ähnlich organisiert wie ein Viehmarkt in unseren Tagen. Für Öles Gruppe stand eine kleine Bühne bereit. Links und rechts von ihm priesen andere Menschenhändler ihre Frauen und Männer an. Meine Leidensgenossen schienen fast ausschließlich Sklaven zu sein. Der Specknacken zerrte mich als ersten auf das Holzgestell. 50
Sofort bildete sich ein Pulk von einigen hundert Zuschauern und potentiellen Käufern. Ich ragte aus dem Rest der Gruppe weit heraus. Solche armen Kerle wie Pern waren schlecht ernährt und nicht sehr kräftig. Wenn Fett-Ole keine Käufer für sie fand, würde er sie eiskalt töten. Ich kannte die grausamen Sitten jener Zeit. Allein der Gedanke daran drehte mir den Magen um. Wenn ich irgendeine Chance sah, wollte ich sie befreien. »Edle Krieger! Kluge Kaufleute!« begann der Sklaventreiber seine Verkaufsrede. »Seht diesen fränkischen Recken! Selbst mich, den großen Ole, überragt er noch um Haupteslänge! Er kann arbeiten wie ein Ochse und kämpfen wie ein wilder Stier! Dieser Mann schafft soviel wie zehn andere Sklaven!« Diese Worte hätte Artur Stubenrauch hören müssen, der mich für das faulste Geschöpf unter der Sonne hielt. Eigentlich ein lustiger Gedanke. Aber das Grinsen blieb mir im Hals stecken. Meine Blicke wanderten über die Gesichter der Wikinger, der Friesen und der Araber. Gleich würden sie vielleicht beginnen, meine Muskeln abzutasten und meine Zähne zu checken. Innerlich kochte ich bereits vor Wut. »Ich will ihn!« In der Menge bildete sich eine Gasse. Die Leute machten einem nach vorne Drängenden Platz. Zum Teil sicher aus Furcht oder Ehrerbietung. Aber andererseits auch, weil dieser Mann einen bestialischen Gestank verbreitete. Sogar ich konnte es riechen, obwohl er noch mindestens zehn Schritte von mir entfernt war. Der Kerl miefte nicht einfach nur wie jemand, der mit Wasser und Seife auf Kriegsfuß steht. Von ihm ging der Pesthauch einer Leiche aus. Als er mir gegenüberstand, wurde die Ahnung zur Gewißheit. Dieser Nordmann war der Anführer der Wikingerzombies. Jener Schwertkämpfer, der als erster aus dem Drachenboot an Land gesprungen war. Er mußte Harald der Böse sein, der grausame Seekönig! * Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Hatte er mich erkannt? Als denjenigen, der sich ihm an dem Ausgrabungsplatz entgegengestellt hatte? Jedenfalls mußte Harald der Böse Tessa 51
entführt haben. Ich erinnerte mich an die Worte des alten Priesters: Eine schöne Frau in fremdartiger Kleidung. Er hat sie in sein Haus in Haithabu geschleppt. Will sie zu seiner Leibsklavin machen… Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. Aber während Harald der Böse mich musterte, bemerkte ich keinen Groll an ihm. Jedenfalls nicht mehr, als bei einem dämonischen Untoten normal war. Denn er war ein Zombie. Das war unübersehbar. Sein Fleisch war teilweise schon vermodert. Knochen leuchteten bleich im fahlen Sonnenlicht. Aber niemand nahm daran Anstoß. Die Welt des zehnten Jahrhunderts war so magisch, daß man sich vor Riesen oder Geistern oder Untoten zwar vielleicht fürchtete, aber ihre Existenz als ganz normal betrachtete. Harald der Böse riß mich aus meinen Überlegungen. Er hatte sich direkt vor mir aufgebaut. Bleckte seine verrottenden Zähne. »Was willst du für ihn haben, Fett-Ole?« fragte er, ohne seine Dämonenaugen von mir zu lassen. »Zwanzig Gewichte Silber«, erwiderte der Dicke schlagfertig. Der untote Seekönig griff in seinen Beutel. »Ich gebe dir das für ihn!« Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Der Zombiewikinger hatte eine Handvoll Goldschmuck hervorgeholt. Armringe, eine feine Kette, eine Brosche. Es waren eindeutig Kleinodien aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Er mußte mit seiner Mannschaft noch anderswo Beute gemacht haben. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was mit den eigentlichen Besitzern dieses Schmucks geschehen war… »Abgemacht!« Fett-Ole grabschte gierig nach dem Gold. Aber Harald der Böse zog seine Hand zurück. »Augenblick, Freund! Du sagst, der Sklave sei ein guter Kämpfer. Das will ich sehen. Ich kaufe ihn nur, wenn er auch gut fechten kann!« Der Dicke wand sich. »Du könntest ihn verletzen, großer Seekönig… Wer wird ihn noch nehmen, wenn du ihm einen Arm oder ein Bein abschlägst?« Der Untote wiegte den Kopf. Er war Geschäftsmann genug, um das Argument einzusehen. »Also gut. Wir kämpfen mit den Fäusten. Wenn er sich wacker schlägt, kaufe ich ihn!« Sollte ich Glück im Unglück haben? Wenn mich der 52
Wikingerhäuptling kaufte und in sein Haus führte, würde ich dort Tessa finden. Und gewiß auch eine Möglichkeit, sie zu befreien. Dann mußte ich nur noch Fett-Ole meinen Ring wieder abnehmen, und wir konnten den Abflug Richtung 1999 machen. Das war nicht die schwierigste Aufgabe, die ich jemals gehabt hatte. Jedenfalls dachte ich das zu dem Zeitpunkt. Ich mußte also nur gut kämpfen. Und das würde ich tun… * Die Marktbesucher bildeten einen weiten Kreis um uns. Ich war immer noch nackt. Allerdings hatten mir Öles Leute die Handketten abgenommen. Nur meine Füße lagen noch in Eisen. Der Seekönig hatte sein Schwert an Fett-Ole weitergereicht. Wir standen uns gegenüber. Taxierten uns wie zwei Boxer. Mir war klar, daß ich ihn nicht besiegen konnte. Als Zombie hatte er übernatürliche Kräfte, denen ich ohne meinen Ring nichts entgegenzusetzen hatte. Aber nach der gestrigen Abreibung hatte ich auch keine Lust, mich zusammenhauen zu lassen. Außerdem wollte ich ja zeigen, was für ein toller Raufbold ich war. Die Gelegenheit kam ziemlich fix. Harald hob seine mächtigen Fäuste und drosch auf meinen Kopf ein. Das heißt, er wollte es. Denn obwohl er schnell war, war ich noch schneller. Mit dem linken Arm blockte ich ab. Die rechte Faust setzte ihm zwei, drei kräftige Gerade auf seinen ungeschützten Rippenbogen. Einen Menschen hätte so ein Treffer schon japsen lassen. Einen Zombie leider nicht. Der Untote tat, als ob nichts gewesen wäre. Seine rechte Faust rammte durch meine Deckung und krachte auf meine Nase. Blut spritzte. Die Menge johlte. Das war Unterhaltung nach ihrem Geschmack. Es war eine grausame Welt, in der ich hier gelandet war. Schwache Menschen hatten nichts zu lachen. Nur die Kraft zählte. Obwohl ich in unserem Jahrhundert auch nicht alles ideal fand, hätte ich doch nicht zur Wikingerzeit leben wollen. Mein Zinken schmerzte ganz schön, schien aber nicht gebrochen zu sein. Ich verpaßte Harald einen mächtigen Kopfstoß gegen die Brust. Gleichzeitig trat ich mit meinem rechten Fuß auf seinen Stiefel, um ihn an den Boden zu nageln. 53
Damit hatte er nicht gerechnet! Um meinen Angriff abfedern zu können, hätte er rückwärts steppen müssen. Aber das konnte er nicht, weil sein Fuß ja festhing. Der Untote geriet ins Stolpern. Das nützte ich aus. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn. Seine Magengrube machte mit meiner Doppelfaust Bekanntschaft. Ich spürte seine Abwehrhiebe kaum, so stark stieß ich vor. Mit der Kung-Fu-Technik der Tigerfaust hebelte ich unter seine Kinnlade. Nur seine übermenschlichen Fähigkeiten retteten ihn vor größeren Verletzungen. Doch da kam sein Knie hoch. Ich hatte es zu spät bemerkt. Mit Tränen in den Augen wurde mir klar, warum ich beim Kampfsporttraining immer einen Tiefschutz angelegt hatte. Zwischen meinen Beinen loderte eine Hölle des Schmerzes auf. Ich krümmte mich zusammen. Das Publikum wollte sich ausschütten vor Lachen. Harald der Böse rammte mir noch seine Rechte gegen das Kinn. Meine Zähne brummten. Ich stürzte in den Schlamm des Platzes. Quälend langsam verebbten die Schmerzwellen. Da hörte ich den Wikingerhäuptling sagen: »Er kämpft wirklich ganz gut, Fett-Ole. Ich nehme ihn. Hier ist das Geschmeide.« Ich wischte mir die Schmerzensträgen aus den Augen und erhob mich mühsam. Harald der Böse half mir sogar hoch. Wirklich zu großzügig. Ich haßte ihn von ganzem Herzen. »Wie heißt du, fränkischer Kämpfer?« »Mark«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich werde dich Mark Rührei nennen!« lachte der Wikinger und deutete auf meine von ihm mißhandelten Geschlechtsteile. Dann wollte er sich kaputtlachen. Ich verzog den Mund. Erinnerte mich daran, daß sich die Nordmänner gerne mit nicht gerade schmeichelhaften Spitznamen anzureden pflegten. Dafür war Fett-Ole das beste Beispiel. Nun, ich hatte nicht vor, so lange in Haithabu zu bleiben, bis mir der Name in Fleisch und Blut überging. Inzwischen hatte mir einer von Öles Schergen die Fußfessel abgenommen. Das gute Stück gehörte schließlich seinem Meister. Aber ich, Mark Hellmann-Rührei war nun Eigentum des Häuptlings der Zombiewikinger…
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* Als Harald der Böse bemerkte, daß ich wieder gehen konnte, führte er mich zu seinem Haus. Er schien wirklich nicht zu ahnen, daß ich die Abwehrtruppe gegen seinen Überfall angeführt hatte. Aber auf dem Ausgrabungsplatz war ich ja auch bekleidet gewesen. »Bist du eigentlich ein Christ?« fragte der Wikinger. Ich nickte. Die meisten Franken waren zu dieser Zeit schon Christen gewesen. Der stinkende Zombie rieb sich die Hände. »Das ist gut! Das ist sogar sehr gut, Mark Rührei!« Ich fragte mich, was ein dämonischer Untoter daran gut fand. Aber ich sollte es bald erfahren. Das Haus des Seekönigs war zweifellos eines der größten von Haithabu. Es lag in der Nähe des Palisadenzauns am Haddebyer Noor. Dies war der älteste Teil der Wikingerstadt. Ich mußte mich tief bücken, um die Pforte seiner Behausung betreten zu können. Die Atmosphäre im Inneren war bedrückend und unheimlich. Nicht nur, weil ich mich in Begleitung eines Zombies befand. Wie zu der Zeit üblich, gab es keine Fenster. Die einzige Lichtquelle bestand aus einem offenen Herdfeuer. Einige Gestalten bewegten sich im Hintergrund. Ob es Menschen, Tiere oder Dämonen waren, konnte ich nicht erkennen. »Ich habe mir aus einer fremden Welt eine Frau mitgebracht«, informierte mich Harald der Böse grinsend. Er stieß mir sogar in kumpelhafter Anbiederung seinen Ellenbogen in die Seite. »Und ich will sie endlich mal so richtig durch…« Er machte eine obszöne Geste mit den Fingern. Ich hätte ihm seine Visage polieren können! »Aber sie hat dieses Christenkreuz, was mich stört. Nimm es ihr ab, verstanden? Dann darfst du auch zusehen!« Wieder wollte er sich über seinen ekelhaften Witz ausschütten vor Lachen. Innerlich kochte ich vor Wut. Aber ich senkte den Kopf. Spielte den gehorsamen Sklaven. Wartete auf die Gelegenheit zum Zuschlagen. »Wo ist die Christenfrau, Herr?« fragte ich. Dabei bemühte ich mich, so unterwürfig zu klingen, wie es bei meinem Haß auf den untoten Wikingerhäuptling möglich war. Harald der Böse grunzte zufrieden. »Komm mit!« 55
Er führte mich in den hinteren Bereich des Langhauses. Es bestand nur aus einem Raum. Wir entfernten uns von dem Herdfeuer. Meine Augen gewöhnten sich allmählich an das Halbdunkel. Mein Pulsschlag beschleunigte sich. Gleich würde ich Tessa wiedersehen! Wenn dieser Unhold ihr auch nur ein Haar gekrümmt hatte… »Da ist die kleine Gans!« verkündete der Nordmann. Aber er hielt einen Sicherheitsabstand. Offenbar hatte er wirklich Respekt vor dem Kreuz. Ich starrte an ihm vorbei - und erschrak! Vor mir hockte ein zitterndes, halbnacktes, blondes Mädchen auf einer Bank! Aber es war eindeutig nicht Tessa! Ängstlich schaute sie mich an. Ich war schließlich immer noch nackt. Sie mußte annehmen, daß der Wikinger Hilfe geholt hatte, um ihr Gewalt antun zu können. »Nimm ihr das verdammte Kreuz ab! Wirf es ins Feuer!« forderte Harald der Böse. Ich dachte fieberhaft über einen Ausweg nach. Aber die Entscheidung wurde mir abgenommen. Denn in diesem Moment stürzte das Hausdach ein! * Eigentlich fiel es nicht in sich zusammen, sondern wurde wie von einem Tornado weggerissen. Aber hier war kein Wirbelsturm am Werk, sondern schwarzmagische Energie. Das bemerkte ich auch ohne meinen Ring, den ich so schmerzlich vermißte. Ein geflügelter Dämon erschien über dem zerborstenen Dachfirst! Das Wesen sah aus wie eine mißglückte Kreuzung zwischen einem Flugsaurier, einem Löwen und einem Höllenhund. Es war riesig. In seinen Krallen konnte es problemlos einen Menschen halten. Und das tat es auch. »Scheiße!« fluchte der untote Nordmann. »Der Leichenvogel!« Er schien das Vieh also zu kennen. Ich spürte die starke böse Ausstrahlung des geflügelten Dämonen. Doch viel mehr interessierte mich der Mensch, den er mit seinen Klauen gepackt hatte. Es war eine nackte Frau. Auf ihren Körper waren mit Asche Runen gemalt worden. Und ihr Kopf war mit einer Vogelmaske 56
bedeckt. »Was willst du von mir?« brüllte Harald der Böse. Er hatte sein Schwert gezogen. »Dich an unseren Handel erinnern!« krächzte der Leichenvogel. »Sieh nur, wen ich hier habe!« Er beugte sich hinunter und riß die Vogelmaske der Frau ab. »Birka!« rief der Wikingerzombie. Tessa! dachte ich. Es gab keinen Zweifel. Meine Freundin war in der Gewalt dieser geflügelten Bestie. »Den Leichenvogel betrügt man nicht!« triumphierte der Dämon mit schriller Stimme. Er wollte noch mehr sagen. Aber da stürzte sich der Nordmann wutschnaubend auf ihn. Harald sprang aus dem Stand so hoch, wie es einem Menschen nicht möglich ist. Aber er hatte ja auch die Kräfte der Hölle in sich. Außerdem schleuderte er dem Leichenvogel Zaubersprüche entgegen. Ich fragte mich, warum er sich dann nicht gegen das einfache Kreuz des Mädchens durchsetzen konnte. Vielleicht, weil seine Magie aus einer vorchristlichen Kultur stammte. Über solche Probleme konnte ich mir zuhause in Weimar auf dem Sofa den Kopf zerbrechen. Ich hatte jetzt die Chance zur Flucht. Das Schwert des Wikingers sauste durch die Luft. Der Leichenvogel attackierte ihn mit Stößen seiner Schwingen und mit Schnabelhieben. Ich hoffte nur, daß Tessa nicht getroffen wurde. Aber ich konnte ihr im Moment nicht helfen. Mich in den Kampf einzumischen, wäre Selbstmord gewesen. Balken fielen um. Die Schlachtrufe des Nordmanns und das schaurige Krächzen des Leichenvogels ließen die Luft erzittern. Die Wikingerfrauen, die ich im Hintergrund des Hauses ausgemacht hatte, flüchteten schreiend. Ich schnellte zu der blonden Frau hinüber. »Mein Name ist Mark Hellmann. Ich komme aus Weimar. Keine Zeit für Erklärungen. Laß uns hier verschwinden!« Die Kleine starrte mich ungläubig an. Der Kampf zwischen dem Vogelwesen und dem Zombiewikinger ließ sie offenbar an ihrem Verstand zweifeln. Es war sicher schon schlimm genug, von Untoten in diese Zeit entführt worden zu sein. »Mach schon!« drängte ich. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis vielleicht jemand auf uns aufmerksam würde. Und ich war immer noch unbewaffnet. »Frag mich was aus unserer Zeit!« 57
Sie schien aus einer Trance zu erwachen. »Wer hat 'Nur geträumt' gesungen?« Das wußte ich zum Glück, obwohl ich kein Chartskenner bin. »Blümchen! - Jetzt aber los!« Ich packte sie am Handgelenk. Schleppte sie hinter mir her. Natürlich war der Kampf zwischen Harald und dem Leichenvogel nicht unbemerkt geblieben. Die Bewohner Haithabus rannten in Scharen herbei. Der einzige Eingang des Hauses kam als Fluchtweg nicht in Frage. Ich zog mich an einer Stelle an dem zerstörten Dach hoch. Es war ziemlich niedrig. Ich bot der Blonden meinen Arm. Sie packte ihn und kletterte gewandter, als ich vermutet hatte. »Wie heißt du?« »Antje Sörensen!« Wir sprangen draußen von den Trümmern des Hauses herunter. Hier an dieser Stelle waren kaum Menschen zu sehen. Nur einige Frauen schauten sich den Zweikampf zwischen den beiden dämonischen Wesen an. Ein Wikinger wollte uns aufhalten. Ich verpaßte ihm einen Boxhieb genau auf den Punkt. Wenigstens er war kein Untoter. Und brach daher netterweise sofort ohnmächtig zusammen. Das Mädchen mußte die vermißte Schülerin aus Schleswig sein. Das wurde mir klar, während wir weiterhetzten. Bei meinem hastigen Aufbruch im Jahre 1999 glaubte ich Tessa in der Gewalt der Wikingerzombies. Irrtum. Dafür befand sie sich in den Krallen dieses Leichenvogels. Das war aber auch nicht besser. Wir brauchten dringend Kleidung und Waffen. Und ich mußte Fett-Ole meinen weißmagischen Siegelring wieder abknöpfen. Der Kampf zwischen dem untoten Nordmann und dem Dämonenwesen war die Sensation von ganz Haithabu. Das war unser Vorteil. Sogar die Tuchhändler und Schneider auf dem nahegelegenen Kleidermarkt behielten ihre Ware nicht im Auge. Wir stahlen ihnen Hosen, Schuhe, Gürtel und grobgewebte Kittel. Außerdem eine Kappe für Antje und einen Helm für mich. Auch meine Begleiterin brauchte Männerkleidung. In einem Kleid konnte sie nicht so schnell laufen, wie es vielleicht nötig sein würde. Sie schob ihr langes Haar unter die Fellkappe, als wir hinter einem Misthaufen in die erbeuteten Kleider schlüpften. Kluges Kind. Seit wir zusammen die Flucht ergriffen hatten, war die 58
panische Erstarrung von ihr abgefallen. Ich grinste ihr beruhigend zu. An Waffen zu gelangen, war schon etwas schwieriger. Ich schlich mich an einen Wikinger heran, der zum Pinkeln an den Misthaufen trat. Mit einem Holzscheit schlug ich ihn k.o. und nahm mir sein Schwert, seinen Dolch und einen Beutel mit Münzen. Die kurze Waffe gab ich an Antje Sörensen weiter. Wenn ich uns so betrachtete, fand ich, daß wir aussahen wie ein Knabe und ein Krieger aus dem Volk der Nordmänner. Die Schülerin aus Schleswig durfte nur nicht den Mund aufmachen. Denn im Gegensatz zu mir beherrschte sie die Sprache dieser Zeit nicht. Plötzlich bemerkte ich, wie der Leichenvogel krächzend in den Frühlingshimmel über Haithabu aufstieg. Er hatte Tessa immer noch in seinen Krallen. Wohin er wohl mit ihr wollte? Um das herauszufinden, mußten wir in Freiheit bleiben. »Laß uns aus der Stadt verschwinden«, raunte ich Antje zu. »Vielleicht können wir…« Weiter kam ich nicht. Jemand packte mich am Arm und zog mich ruckartig zwischen zwei Marktstände. Antje stieß einen Schreckensschrei aus. Ich wollte nach meinem Schwert greifen. Aber dann entspannte ich mich. Vor mir stand der Graue Gunnar! * Der Leichenvogel hatte Harald dem Bösen mit seinem scharfen Schnabel einige Wunden zugefügt. Doch die Macht des Untoten war inzwischen stärker als je zuvor. Das verwirrte den fliegenden Dämon. Der Wikingerhäuptling wehrte sich nicht nur, sondern traf das Monstrum mit einigen Schwerthieben sogar schmerzhaft. Der Leichenvogel brach den Kampf ab. Auch wenn es ihm schwerfiel. Er stieg hoch in die Luft. Tessa hatte er immer noch in seinen Klauen. »Sieh dir deine Schwester Birka noch einmal gut an, Harald«, krächzte die Bestie. »Du wirst sie nie wiedersehen!« Der Zombie-Seekönig fuchtelte drohend mit seiner Waffe. Doch 59
er konnte nicht verhindern, daß der Leichenvogel mit seiner Beute entkam. Grollend flog das Biest zu einer kleinen Felsinsel in der Bucht vor Haithabu. Es gab eine direkte schwarzmagische Verbindung zwischen dem Eiland und der Unterwelt. Darum hatte der Leichenvogel diese Zuflucht gewählt. Mit einem abgehackten Lachen warf der geflügelte Dämon seine Gefangene auf die bloßen Steine. Fluchend rieb sich Tessa ihre Kehrseite, auf der sie unsanft gelandet war. »Ich will zu meinem Bruder, du Aasfresser!« Sie war immer noch der festen Überzeugung, die Schwester von Harald dem Bösen zu sein. Ob der Leichenvogel selbst es glaubte oder nicht, war schwer zu sagen. Sein heimtückisches Gesicht war undurchdringlich. »Zu spät, kleine Birka. Dein Bruder hätte dich in Sicherheit bringen sollen, als noch Zeit war. Jetzt gehörst du mit. Und ich lasse dich nicht mehr gehen.« »Was hast du vor, du häßlicher Bastard?« Der Leichenvogel lachte nur über Tessas Beleidigung. »Heute nacht, wenn das Mondlicht auf deinen Körper fällt, ist die Kraft zwischen Himmel und Erde am stärksten. Dann werde ich dir mit meinem Schnabel das Herz aus der Brust reißen und es fressen, während es noch pocht. Du bist eine Seherin, kleine Birka. Das weißt du ganz genau. Und du kennst die Weissagung: Wer bei Vollmond das Herz einer Seherin ißt, wird so mächtig, daß er es sogar mit den Göttern aufnehmen kann!« * Der Graue Gunnar kannte Haithabu wie seine Westentasche. Das heißt, wenn er eine Weste gehabt hätte. Aber er lief barfuß in seinem verschlissenen Kittel vor uns her. Trotzdem strahlte der Priester Würde und Ruhe aus. Ich war nicht ganz so gelassen. Vor allem nicht, als das Haupttor mit den bewaffneten Wachen in Sicht kam. »Wäre es nicht klüger, irgendwo über die Palisade zu klettern?« schlug ich indirekt vor. Gunnar wischte meinen Einwand weg. »Überlaß das nur mir, Mark!« 60
Er marschierte geradewegs auf die Krieger am Tor zu. Beide Torflügel standen sperrangelweit offen. Die Männer musterten nur träge den herein- und hinausfließenden Warenverkehr. Ochsenkarren und Pferde schoben sich aneinander vorbei. Die Wachen wirkten müde. Trotzdem konnten sie uns locker daran hindern, Haithabu zu verlassen. Ich fühlte, wie mein Adrenalinspiegel stieg. Aber der Priester machte nur eine Handbewegung und murmelte etwas. Die Wikinger beachteten uns überhaupt nicht. Sie redeten über ein bevorstehendes Besäufnis, auf das sich alle zu freuen schienen. Und natürlich über den Angriff des Leichenvogels auf Haralds Haus. Die Kunde davon war bis zum Tor durchgedrungen. Wir marschierten schnell vorbei. Als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, atmete ich auf. »Hast du uns unsichtbar gemacht?« fragte Antje den Priester. Sie hatte mitgekriegt, daß er unsere Sprache beherrschte. Er nickte, als wäre das etwas ganz Selbstverständliches. Und für ihn war es das wohl auch. Die Umgebung von Schleswig sah im zehnten Jahrhundert noch ziemlich anders aus als in unseren Tagen. Dichte Laubwälder zogen sich zum Landesinneren hin. Inmitten eines solchen Waldes hatte der Graue Gunnar eine winzige Torfhütte. Antje blickte sich neugierig um. Auf dem Weg hierher hatte sich ihr der Alte mit einigen knappen Sätzen vorgestellt. »Du bist doch Priester, Gunnar. Gibt es hier keinen Tempel oder so was?« Er schüttelte den Kopf. »Das brauchen wir nicht. Es gibt genug Heilige Haine, die uns von den Göttern geweiht wurden.« Das Mädchen öffnete den Mund, um weiter zu fragen. Aber ich blockte ab. Mir brannte die Zeit unter den Nägeln. Ich mußte erfahren, was mit Tessa war. Wie ich sie retten konnte. Und warum der Graue Gunnar so plötzlich wieder aufgetaucht war. Er schien mir meine Ungeduld, vom Gesicht abzulesen. Plötzlich verzog sich sein mageres Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Es ist einfacher, als du denkst, Mark. Ich verstehe nichts von eurer Zeit. Aber ich erkenne einen ehrlichen Menschen. Bei dir wußte ich sofort, daß du für das Gute eintrittst. Gegen die Mächte der Finsternis. Nachdem ich erfahren hatte, daß Harald der Böse vom Leichenvogel wieder zum Leben erweckt wurde…« 61
»Wer oder was ist dieser Leichenvogel?« »Ein urböser Dämon, Mark. Er ist überall dort, wo Nordmänner ihre Fahrten hin machen und sich angesiedelt haben. Die schlechten Menschen lassen sich von ihm helfen. Aber die guten fürchten ihn. Er ist sehr mächtig. Aber es reicht ihm noch nicht…« »Wie meinst du das?« »Später, Mark. Ich selbst kenne auch einige Geheimnisse des Lebens. Darum bin ich Harald dem Bösen nachgereist. Ich wollte sehen, was er in eurer Welt an Schande getrieben hat. Es widerspricht der Natur, daß er lebt. Es ist nicht richtig. Er muß vernichtet werden, damit wieder Frieden herrscht zwischen den Menschen und der Welt.« Da waren wir uns wohl einig. Die Frage war nur, wie. »Du hast die Macht, ihn zu besiegen«, fuhr der Alte fort. »Ich bin ein Greis. Ich kann zwar zaubern, aber nicht mehr kämpf en. Aber du kannst ihn töten, Mark. Wenn Harald der Böse stirbt, sind auch seine Männer dem Ende geweiht. Sie leben mit ihm, sie sterben mit ihm. Ganz einfach.« »Du bist aus meiner Welt zurückgekehrt, Gunnar. Hast du den Kampf zwischen dem Leichenvogel und Harald gesehen?« Der Priester nickte grimmig. »Ja, Harald ist stärker geworden. Jedesmal, wenn er durch die Zeit reist, nehmen seine schwarzen Kräfte zu. Das hätte sich der Leichenvogel wohl nicht träumen lassen, als er ihm das Geheimnis der Zeit verraten hat.« »Warum hat er das überhaupt getan?« »Offenbar hatten die beiden ein Geschäft vor, Mark. Im Tausch sollte Harald der Böse dem Leichenvogel seine Schwester ausliefern. Die Frau, die der Dämon bei dem Kampf zwischen seinen Klauen hatte.« Ich stutzte. »Aber das war nicht Haralds Schwester, sondern meine Freundin! Warum will der Leichenvogel sie haben?« »Sie sah jedenfalls aus wie Haralds Schwester«, beharrte der Priester. »Aber was hat der Leichenvogel mit ihr vor, Gunnar?« »Ich fürchte, er will sie töten und ihr Herz essen.« Diese Nachricht traf mich wie ein Keulenschlag. Ich hätte mich setzen müssen, wenn ich nicht ohnehin schon in Gunnars kleiner Hütte neben ihm und Antje gekauert hätte. Das Mädchen schielte mich seltsam an, seit ich eben meine Freundin erwähnt hatte. Aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. 62
»Man sagt, Haralds Schwester sei eine Seherin«, erläuterte der Alte seine Worte. »Wer im Licht des Vollmondes das Herz einer Seherin ißt, wird so mächtig wie die Götter. So heißt es.« Ich starrte durch die kleine Pforte der Behausung hinaus in den Frühlingstag. Es war gerade erst Nachmittag. Aber trotzdem. Ich spürte, wie die Verzweiflung in mir hochstieg. Wo sollte ich Tessa in dieser verfluchten Welt finden? Bevor eine geflügelte Bestie ihr Herz zerfleischte? Der Graue Gunnar schien zu spüren, was in mir vorging. »Er wird sie auf die kleine Insel in der Bucht gebracht haben. Dort hält sich der Leichenvogel auf, wenn er in der Nähe von Haithabu ist.« Das war ein Hoffnungsschimmer. Aber gleich darauf erfaßte mich die Mutlosigkeit wieder. »Wie soll ich gegen ihn kämpfen ohne meinen magischen Ring?« »Was meinst du?« fragte Gunnar. Seine alten Augen blitzten. »Ich besitze einen Zauberring, mit dem ich durch die Zeit reisen und Waffen gegen Dämonen schmieden kann. Neben vielen anderen Dingen. Aber dieser Ring ist…« Wieder spaltete ein breites Grinsen das Gesicht des Priesters. »Meinst du vielleicht diesen Ring?« Und er zog meinen Siegelring unter seinem Gewand hervor und reichte ihn mir herüber. Es war mein Kleinod! Den Drachen und die Buchstaben M und N hätte ich unter Millionen anderer Ringe wiedererkannt! Sofort streifte ich ihn über. »Danke, Grauer Gunnar! Aber woher hast du…?« »Das ist schnell erzählt«, sagte er, meine Überraschung auskostend. Auch Antje Sörensen war sozusagen von den Socken. Wenn sie welche angehabt hätte. »Als ich drüben in deiner Welt war, habe ich noch mit den Leuten geredet. Mit dem Mann und dem jungen Weib, die in deiner Begleitung waren.« Er meinte Hauptkommissar Jensen und Silke Busch. »Und ich habe selbst miterlebt, wie du den Ring verwendet hast, um hierher zu reisen. Ich habe einen anderen Zauber, aber immerhin. Das junge Weib hat auch berichtet, wie du mit magischen Waffen Harald und seine Männer geschlagen hast. Als ich dann nach Haithabu zurückkehrte, hörte ich die Geschichte von dem großen blonden Sklaven, der so tapfer kämpft. Ich fand heraus, daß du in die Hände von Fett-Ole geraten warst. Ich kenne den Kerl. Er ist der 63
größte Dieb zwischen hier und Island. Also habe ich mich unsichtbar gemacht und ihn besucht, als er mal wieder pennte. Und den Ring für dich genommen.« Wahrscheinlich strahlte ich wie ein Honigkuchenpferd. »Das werde ich dir nie vergessen, Grauer Gunnar. Jetzt kann ich…« In diesem Augenblick glühte mein Ring mächtig auf. Er erwärmte sich. Zeigte starke dämonische Aktivität an. Der Priester linste durch den Eingang seiner Hütte. »Ich habe nicht aufgepaßt«, brummte er. »Wir kriegen Besuch. Harald der Böse und seine Männer. Jetzt kannst du beweisen, daß dein Ring etwas taugt, Mark.« * Die Wikingerzombies umstellten die Hütte. Sie waren mit Schwertern, Wurfspeeren und Beilen bewaffnet. Ich hatte nicht lange Zeit zum Überlegen. Mein Ring hatte auf die Untoten schon reagiert. Ich hielt ihn jetzt nur noch an mein sternförmiges Mal. Schon erschien der Lichtstrahl. Ich schrieb damit das keltische Wort für »Waffe« aus dem Futhark-Alphabet auf mein Schwert. Es glühte auf, schien die Kraft des Guten in sich zu sammeln. Ein Wurfspeer bohrte sich zitternd in die aus groben Brettern bestehende Tür. »Komm raus, Mark Rührei!« röhrte Harald der Böse. »Damit ich dich endgültig erledigen kann!« »Paß auf Antje auf, Gunnar«, bat ich den Alten flüsternd. »Wir beide machen uns unsichtbar«, raunte er grinsend zurück. »Wollen doch mal sehen, ob diese stinkenden Leichen uns dann finden können!« Ich spannte meine Oberschenkelmuskeln an. Und ließ mich durch die Pforte nach draußen schnellen. Ein weiterer Ger schrammte an mir vorbei. Ich rollte zur Seite ab. Da stand einer der Nordmänner. Sein Unterkiefer war schon halb abgefault. Ich stieß von unten her mein Schwert in seinen Bauch. Er kam nicht mehr dazu, seine Streitaxt auf mich niedersausen zu lassen. Wie seine Kameraden bei dem Angriff auf die Ausgrabungsstätte verwandelte er sich in eine schwärzliche Masse. Drei weitere Wikinger machten sich bereit, mich mit ihren 64
Wurfspeeren zu durchbohren. »Ich fordere dich zum Zweikampf, Harald!« brüllte ich. »Wenn du kein feiger Hund bist, nimmst du an!!!« Der Wikingerhäuptling grinste schäbig. Aber er gab seinen Kriegern ein Zeichen, innezuhalten. »Du hast ein großes Maul, Mark Rührei! Es wird Zeit, daß ich es dir stopfe!« Aber unter seiner Macho-Fassade glaubte ich etwas wie Angst aufblitzen zu sehen. Oder war es Wiedererkennen? Er hatte soeben bemerkt, wie sich ein untoter Wikinger unter meinem Schwerthieb in einen schwarzen Klumpen verwandelt hatte. Genau, wie es bei seinem schmählich gescheiterten Angriff auf den Ausgrabungsplatz passiert war. Ich streute Salz in diese Wunde. »Sieh mich an, Harald! Ich bin der Mann, der in der anderen Welt drüben deine halbe Mannschaft niedergemacht hat. Und jetzt hole ich mir dich!« Der Häuptling fletschte seine Dämonenzähne. Sein Leichnam wirkte immer weniger wie ein Mensch. Und das war er ja auch seit einiger Zeit nicht mehr. Brüllend ging er auf mich los. Diesmal war ich besser gewappnet. Ich besaß ein weißmagisch aufgeladenes Schwert. Und ich wußte, daß ich seine dämonische Kraft nicht unterschätzen durfte. Eisen klirrte auf Eisen. Ich drehte mich seitwärts, um ihm wenig Angriffsfläche zu bieten. Wir verkeilten uns auf kürzeste Distanz ineinander. Ich verpaßte ihm mit der freien linken Faust einen Haken gegen die Kinnlade. Er spuckte mich an. Zum Glück traf er nur meinen Kittel. Denn sein dämonischer Speichel fraß glatt ein Loch in den Stoff! Ich sprang zurück, um in Bewegung zu bleiben. Zombies sind normalerweise tumb und langsam. Das traf auf diese untoten Wikinger überhaupt nicht zu. Wenn ich den Kampf gegen Harald den Bösen gewinnen wollte, mußte ich schnell sein. Und ihn irgendwie mit meinem Schwert verwunden. Aber das war leichter gesagt als getan. Denn der Seekönig war ein erstklassiger Fechter. Hinzu kam seine ungeheure Kraft. Und im Gegensatz zu mir konnte er nicht ermüden. Ich mußte mir also etwas einfallen lassen. Seine Mannen bildeten einen weiten Kreis um uns. Ihre Wurfspeere waren bereit, mich zu durchbohren. Schritt für Schritt 65
wich ich fechtend zurück. Plötzlich machte ich einen Ausfall. Täuschte an, stieß nach vorn - und wollte Haralds Brust durchbohren. Aber er hatte meine Attacke geahnt. Wie ein Boxer pendelte er mit dem Oberkörper zur Seite. Sein Schwert kam plötzlich von unten her auf mich zu. Um mir den Unterleib und Bauch aufzuschlitzen. Nur meine Kampfsportreflexe retteten mich. Ich warf mich zurück, machte eine Rolle und kam wieder auf die Füße. Doch sofort war der Wikingerzombie wieder an mir dran. Er hatte mir unmittelbar nachgesetzt. Wollte mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Okay, ich wußte, daß er als Untoter nicht ermüden konnte. Aber er wußte es auch. Mein Ring glühte die ganze Zeit wild auf. Die dämonische Ausstrahlung des Untoten mußte sehr stark sein. Ich machte einen Ausfallschritt zur Seite. Damit hatte er nicht gerechnet. Zu spät kam der Versuch, meinen Hieb zu parieren. Ich schlug mit meiner ganzen Kraft zu! Und trennte ihm glatt den linken Unterarm vom Körper! Aber dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Nämlich nichts! Während die Körper seiner Krieger durch die bloße Berührung einer weißmagischen Waffe vergangen waren, konnte der Wikingerhäuptling einen Arm verlieren und munter weiterkämpfen. Schmerzen verspürte er als Zombie ja sowieso nicht. Schaurig lachte er, als sein Arm zu Boden fiel. Und rammte seine Schwertspitze in die Richtung meines Gesichts. Im letzten Moment konnte ich ausweichen. Schwarzes dämonisches Blut spritzte aus dem Armstumpf. Meine Gedanken waren alles andere als angenehm. Was, wenn er unsterblich geworden war? Aber es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nicht, solange ich ums pure Überleben kämpfen mußte. Harald der Böse mußte meine Verwirrung bemerkt haben. »Nicht schlecht, Mark Rührei! Nicht übel für einen Anfänger. Soll ich das auch mal bei dir machen? Ja?« Ich biß die Zähne zusammen. Mein Handgelenk wurde beinahe ausgerenkt, als sich unsere Klingen wieder kreuzten. Lange würde ich diesem dämonischen Gegner nicht mehr widerstehen können. Aber es sah nicht so aus, als ob es einen Ausweg gäbe. 66
Wieder versuchte er, mich zu treten. Diesmal war ich reaktionsschneller und blockte mit meinem Oberschenkel ab. Ich mußte versuchen, mir meine Größe zunutze zu machen. Denn weil ich größer war, hatte ich auch längere Arme als der Untote. Ich tänzelte einige Schritte zurück. Wenn ich ihn auf Distanz hielt, konnte ich außerhalb seiner Schwertreichweite bleiben. Und somit versuchen, ihn weiterhin zu treffen. Während er mich mit seiner Waffe nicht erreichen konnte. Ein guter Plan. Aber leider wurde nichts daraus. Denn ich stolperte über einen Stein. Fluchend knickte ich mit dem rechten Fußgelenk um. Es tat höllisch weh. Ich strauchelte. Verlor das Gleichgewicht. Der erfahrene Zombie-Kämpfer nutzte die Situation sofort aus. Er verpaßte mir einen Fußtritt in den Bauch, der mich endgültig von den Beinen fegte. Mit schaurigem Triumphgeheul sprang Harald der Böse auf mich zu, um mir den Schädel zu spalten. Sein verbliebener rechter Arm hatte das Schwert hoch über dem Kopf erhoben. Aber plötzlich schien ihn etwas festzuhalten. Mitten in den Bewegung wurde er zurückgerissen. Der Untote rollte wütend mit den Augen. Ich erkannte intuitiv, daß ich gerade meine letzte Chance bekommen hatte. Und ich nutzte sie! Den linken Arm hatte ich abgeschlagen, der rechte hielt die Waffe hoch in der Luft. Somit lag die Brust des Unholds vor mir wie auf dem Präsentierteller. Ich schnellte aus meiner halb liegenden Position hoch und stieß mein eigenes weißmagisches Schwert mit einer einzigen kräftigen Attacke nach vorn. Die Spitze durchbohrte sein Fellgewand dort, wo sein schwarzes Herz sitzen mußte. Der Stahl glitt mitten in seine Brust. Der Zombie riß sein stinkendes Maul auf. Ich spürte, wie die Kraft des Bösen zurückwich vor der geballten Ladung Weißer Magie, die in meiner Waffe steckte. Aber noch war die Höllenkreatur nicht ganz erledigt. Also griff ich zu einem Mittel, das gegen alle Untoten wirkt. Ich zog mein Schwert aus der klaffenden Herzwunde. Es war schwarz von dem Dämonenblut. Dann nahm ich Schwung. Und schlug dem Wikingerzombie mit einem einzigen Hieb den Schädel von den Schultern! Erleichtert sah ich, wie seine Überreste zu einem schwarzen Klumpen zusammenschrumpften. So, wie es auch bei seinen 67
Handlangern gewesen war. »Mark!« Der gellende Warnschrei kam von Antje Sörensen. Sehen konnte ich die Siebzehnjährige nicht. Der Graue Gunnar hatte ja angekündigt, sie und sich selbst unsichtbar zu machen. Ich warf mich zur Seite und rollte ab. Ein Wurfspeer bohrte sich dort in den Boden, wo ich noch vor einer Zehntelsekunde gestanden hatte. Die Getreuen des untoten Seekönigs brannten auf Rache. Sie stürmten auf mich los. Wollten mich in Stücke schlagen. Ihre Schlachtrufe gellten in meinen Ohren. Ich hob mein Schwert. Aber es zeigte sich, daß sie ihre dämonische Energie wirklich nur von ihrem Häuptling »geborgt« hatten. Denn als der letzte Rest von Haralds Körper vergangen war, begann auch bei seinen Männern der Auflösungsprozeß. Und zwar im Zeitraffertempo. Bevor auch nur ein weiterer Ger nach mir geschleudert werden konnte, verglühten ihre Körper unter beißendem Gestank zu dunklen, holzartigen Gegenständen. Aufatmend ließ ich die Waffe sinken. Für einen Moment spürte ich nichts anderes als gewaltigen, bohrenden Hunger. Dann quälte mich die Sorge um Tessa noch viel stärker… * Auf der öden Steininsel in der Eckernförder Bucht gab es nur ein einziges Stück Holz. Ein ehemaliger Mastbaum eines Seglers. Vielleicht von Schiffbrüchigen verzweifelt in den Boden gerammt, um bemerkt zu werden. Oder für düstere Opferrituale gebraucht. Der Leichenvogel hatte jedenfalls Tessa Hayden an diesem Mastbaum festgebunden. Fieberhaft bereitete er seine Zeremonie vor. Die geheimen Zeichen hatte er bereits mit Asche auf den Körper seines Opfers geschrieben. Ungeduldig wartete das geflügelte Höllenwesen darauf, daß endlich die Sonne unterging. Tessa blickte starr auf die Ostsee hinaus. Fern am Horizont war das rot-weiß gestreifte Segel eines Drachenbootes zu erkennen. »Mach dir keine Hoffnungen«, krächzte der Leichenvogel. »Dein Bruder, dieser Betrüger, wird dich nicht befreien. Harald denkt immer nur an seinen eigenen Vorteil!« »Du langweilst mich«, gab Tessa zurück. »Harald wird dich am 68
Spieß grillen und zum Abendbrot verspeisen. Er liebt Brathähnchen!« Der grotesk aussehende Dämon wollte eine höhnische Bemerkung machen. Aber Tessas selbstsichere Art brachte ihn durcheinander. Er hielt sie für Birka, und Birka war eine Seherin! Hatte sie vielleicht sein schmachvolles Ende schon in ihrem Geist vor Augen? Gern hätte der Leichenvogel sie sofort getötet. Aber das ging nicht. Er mußte bis zum Aufgehen des Mondes warten. Sonst war seine ganze raffinierte Aktion umsonst. Tessa Hayden hingegen dachte pausenlos an den Mann, den sie für ihren Bruder hielt. Harald den Bösen. Das war auch kein Wunder. Denn ihr Geist war wie leergefegt, seit sie mit dem Kopf aufgeschlagen war. Sie wußte nur, daß sie angeblich Birka hieß und einen mächtigen Bruder namens Harald hatte. Keinen Augenblick zweifelte sie daran, daß er sie retten würde. Kaum war ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, als sie sich auch schon unglaublich beherrschen mußte, um nicht triumphierend zu lächeln. Sie wollte den Leichenvogel in Sicherheit wiegen. Denn die Kreatur hatte dem Festland den Rücken zugedreht. Und bemerkte darum nicht den blitzartigen Angriff aus der Luft, der sich dem Eiland näherte!. * Der Graue Gunnar bestand darauf, daß wir uns vor der Rettungsaktion für Tessa stärkten. »Wer nichts ißt, kann auch nicht kämpfen!« entschied der Priester und bot uns getrockneten Fisch aus seinen Wintervorräten an. Ich griff zu, froh, einen solchen klugen Verbündeten gefunden zu haben. Im Grunde verdankte ich ihm mein Leben. Denn er war es gewesen, der Harald den Bösen festgehalten hatte, als er sich gerade auf mich stürzen wollte. Inzwischen hatten sich Gunnar und Antje wieder von der Unsichtbarkeit befreit. Wir hockten in seiner Hütte und beratschlagten. Die Blonde warf mir schmachtende Blicke zu. Ich bin eben ein Frauentyp, wie man so schön sagt. Der Graue Gunnar reckte 69
seinen Geierkopf tatendurstig vor. »Wir müssen den Leichenvogel überraschen! Das ist unsere einzige Hoffnung, Mark! Ich habe gesehen, wie du mit deinem Zauberschwert kämpfst. Du hast damit die Untoten besiegt. Es wird auch stark genug sein, um die geflügelte Bestie zu überwinden!« »Überraschen…«, wiederholte ich. »Harald der Böse hat uns mit seinem Angriff ebenfalls überrascht. Das wäre beinahe ins Auge gegangen.« »Aber nur, weil ich nicht aufgepaßt habe«, räumte Gunnar ein. »Ich hätte mir denken können, daß er dich in meiner Hütte zuerst suchen würde. Harald hat gewußt, daß ich seine untote Rückkehr verabscheue. Er war nicht dumm. Er wird geahnt haben, daß du mir dabei helfen konntest, ihn ins ewige Dunkel von Niflheim zu befördern. Wo dieser Bastard hingehört.« »Schön, Gunnar. Aber wie sollen wir den Leichenvogel überrumpeln? Diese Insel liegt ja wohl mitten in der Bucht…« »So ist es. Meilenweit ist nur das Meer drumherum.« Der Alte grinste und rieb sich seine Hände. Ich seufzte genervt. »Wenn wir uns also in einem Boot nähern…« »Wer hat von einem Boot gesprochen?« Gunnar erhob sich und trat vor die Hütte hinaus. Antje und ich folgten ihm. Der Priester wandte sich dem Mädchen zu. »Du bleibst besser hier. Das ist nichts für Weiber!« »Ich will mit!« beharrte die Schülerin und schmachtete mich wieder an. »Ich kenne außer euch niemanden in dieser verfluchten Welt! Wenn ihr nicht zurückkehrt, kann ich mir auch gleich einen Strick nehmen!« Nachdem ich noch ein gutes Wort für sie eingelegt hatte, willigte der alte Mann schließlich murrend ein. Antje und ich mußten uns nebeneinander auf die Erde knien. Der Graue Gunnar stellte sich zwischen uns. Er murmelte ein paar Zaubersprüche in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Es war jedenfalls nicht Altnordisch. Wahrscheinlich eine Sprache, die noch viel älter war. Dann legte er je einen seiner mageren, aber sehnigen Arme um das Mädchen und mich. »Haltet euch gut an mir fest!« riet er. »Gunnar…«, fragte ich mit einem leichten Zweifel in der Stimme. »Willst du etwa zu der Insel fliegen?« 70
»Fliegen?« Der Priester wiederholte das Wort, als hätte ich etwas ganz besonders Blödes gesagt. »Fliegen, Mark? Ich bin doch kein Vogel! Nein, ich kann nicht fliegen…« Während er sprach, hoben wir plötzlich vom Erdboden ab. Mein Magen rebellierte, als ob ich in einem Expreßlift eines Hochhauses nach unten fahren würde. »… ich kann nur mordsmäßig weit springen!« vollendete der Graue Gunnar seinen Satz. * Und der alte Priester sprang. Er sprang mit Antje unter seinem linken Arm und mir unter seinem rechten. Hoch in die Luft ging es, bis wir weit über den Wäldern schwebten. Sogar die Palisaden und Häuser von Haithabu konnte man nun deutlich erkennen. Doch es ging zielsicher an der Stadt vorbei. Auf die Eckernförder Bucht zu. Daß damals an eine Ansiedlung namens Eckernförde noch nicht mal zu denken gewesen war, braucht man wohl nicht extra zu erwähnen. Wenn die Situation nicht so irrsinnig gewesen wäre, hätte man sie glatt genießen können. Mir zuckte plötzlich ein Gedankenblitz durch das Gehirn. Eine Erinnerung aus dem Studium, aus einer Vorlesung über asiatische Mystik. Unser Professor hatte uns damals mit spöttischem Unterton über die Fähigkeit tibetischer Mönche berichtet, mehrere Kilometer mit einem einzigen Schritt zurückzulegen. Schade, daß der Gelehrte in diesem Moment nicht bei mir war! Er hätte am eigenen Leib erfahren können, daß sich auch germanische Priester auf diese Weise fortbewegen konnten! Ich erkannte nun in dem weiten Blau des Meeres eine winzige Felsnase, die vor unseren Augen immer größer wurde. Wir rasten darauf zu wie eine Rakete auf ihr Ziel. Nun konnte ich Einzelheiten ausmachen. Die große häßliche Kreatur, die gegen Harald gekämpft hatte. Und Tessa! Nackt und gefesselt an einer Art Marterpfahl! Kaum hatte ich das alles registriert, als der Graue Gunnar auch schon ein paar Worte in der unbekannten Sprache zischte. Wenige Meter vor dem steinigen Untergrund verlangsamte sich unsere Beschleunigung. Sonst wären wir wie ein Geschoß auf den 71
Felsen geprallt. So aber landete der Priester so routiniert wie ein Fallschirmjäger der Bundeswehr. Er ließ Antje und mich los. Taumelnd durch die sekundenschnelle Luftreise kam ich auf die Füße. »Viel Glück, Mark! Mögen die Götter mit dir sein!« Diesen Wunsch des Alten konnte ich gut gebrauchen. Denn kaum hatte ich mich auf der Felsinsel orientiert, als sich auch schon der Leichenvogel auf mich stürzte. * Die Bestie mußte begriffen haben, daß ihr von mir die größte Gefahr drohte. Mein Ring prickelte wild, um mich zu warnen. Doch das war gar nicht nötig. Ich starrte auf den löwenartigen Dämonenkopf. Die breiten Schwingen. Die messerscharfen Krallen. Mir war klar, daß mit diesem geflügelten Nachtwesen nicht zu spaßen war. Mit einem harten Knallen klappte der todbringende Schnabel zu. Ich hatte instinktiv aus dem Stand eine Rolle rückwärts gemacht. Das brachte mich nicht nur aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Sondern verschaffte mir auch noch ein paar Zehntelsekunden Zeit, um mein Schwert zu ziehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Tessas Fesseln plötzlich in der Luft schwebten. Gunnar hatte sich offenbar wieder unsichtbar gemacht und war dabei, sie zu befreien. Der Leichenvogel stieß sich vom Boden ab. Er kam auf mich zugeflogen, die Krallen auf mein Gesicht gerichtet. Ich ging in die Knie, streckte das linke Bein und machte einen Ausfallschritt. Das war jetzt Millimeterarbeit. Die Beine des Dämons sausten an mir vorbei. Ich drehte mich in der Hüfte und schlug mit dem Schwert zu! Es blitzte auf, als Weiße auf Schwarze Magie traf. Eines der kräftigen Beine der Kreatur fiel zu Boden. Der Leichenvogel schrie auf. Ein häßliches Geräusch hallte über die Ostsee. Doch mein Schwerthieb hatte nicht ausgereicht, um ihn zu vernichten. Die Bestie flog einen Looping und griff erneut an. Durch die Verwundung war es wahrscheinlich noch wütender und unberechenbarer geworden. Der Leichenvogel stieß seitwärts auf mich herab. Ich versuchte 72
wieder auszuweichen. Aber diesmal hatte ich seine Geschwindigkeit unterschätzt. Die Krallen des unverletzten Beins gruben sich tief in meinen linken Schultermuskel. Für einen Moment sah ich nur noch Sterne. Wild hieb ich mit dem Schwert um mich. Ein höhnisches Lachen schien aus der Kehle des Wesens emporzusteigen. Ich glaubte sogar, Worte verstehen zu können. »Menschlein will tapfer sein, hähähä! Doch das Menschlein kommt nur nach Niflheim…!« Niflheim - die Eishölle der Wikinger-Mystik! Nach dem, was ich darüber gelesen hatte, ein grauenerregender Ort. Ich wollte überhaupt nicht sterben! Dieser Gedanke ließ mich die furchtbaren Schmerzen in meinem linken Arm für einen Moment vergessen. Ich hatte immerhin die Gewißheit, daß ich selbst die schwerste Verwundung mit Hilfe meines geheimnisvollen Rings wieder heilen konnte (Siehe z.B. MH 13). Trotz des schnellen und heftigen Blutverlusts hielt ich mich noch auf den Beinen. Allerdings war mein linker Arm so schlaff, daß ich ihn nicht mehr einsetzen konnte. Der Leichenvogel näherte sich mir. Diesmal aber nicht haßerfüllt vernichtend, sondern langsam und siegesgewiß. Er wollte wohl den Anblick meiner blutüberströmten Schulter so richtig auskosten. Aus seinem eigenen Beinstumpf war kein Blut ausgetreten. Vielleicht gehörte er zu der Sorte Dämonen, denen verlorengegangene Gliedmaßen wieder nachwachsen. Ich würde mich damit beschäftigen, wenn Zeit war. Jetzt mußte die Bestie erst mal vernichtet werden. Ich schauspielerte dem Leichenvogel Schwäche vor. Dafür mußte ich mich nicht besonders anstrengen. Es ging mir von Sekunde zu Sekunde beschissener. Schon fühlte ich Schwindelgefühl in meinem Schädel aufkommen. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen. Ich tat so, als ob ich das Schwert nicht mehr hochhalten konnte. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis ich dazu wohl wirklich nicht mehr in der Lage war. Der Schatten des Leichenvogels fiel auf mich. Er war jetzt schon sehr nahe. Die Kreatur riß den Schnabel auf. Mit einem einzigen Ruck konnte er mir den Kopf abbeißen. Seine dämonischen Augen funkelten voller Vorfreude. 73
Dann war er nahe genug heran. Ich brach in die Knie. Senkte den Kopf. Ein krächzendes Lachen ertönte schaurig. Im nächsten Augenblick war ich wieder voll da! Ich aktivierte meine letzten Kraftreserven für einen verzweifelten Gegenangriff! Der häßliche Schädel des Höllenwesens war nun in bester Schwertreichweite. Ich straffte meinen zerschundenen Körper und trieb das Schwert in eines der beiden bösen Augen. Funken sprühten, als ob ich nicht sein Gehirn, sondern einen sich rasch drehenden Schleifstein getroffen hätte. Mitten in das Zentrum der schwarzmagischen Energie war die Klinge vorgestoßen! Der groteske Körper sackte in sich zusammen, als ob jemand aus einem Gummitier die Luft herausgelassen hätte. Nur daß der Leichenvogel kein harmloser Spielgefährte für den Badesee war. Ich hielt den Gegner für besiegt. Doch aus der vergangenen schwarzmagischen Hülle löste sich der feinstoffliche Schatten des Leichenvogels. Er schwebte hoch. Ich spürte seine böse Energie so deutlich, daß sich mir der Magen umdrehte. Aber er konnte mir im Moment nicht mehr gefährlich werden. Das wußte ich aus Erfahrung. Trotzdem vernahm ich die Worte, die leise wie von einem Windhauch an mein Ohr getragen wurden. »Rache…! Das vergesse ich dir nicht! Die Rache des Leichenvogels wird entsetzlich sein!« Ich nahm es sportlich. Mir ist schon von vielen Höllenwesen das Verderben an den Hals gewünscht worden. Das bringt meine Aufgabe als Kämpfer des Rings mit sich. Während der feinstoffliche Schatten des Leichenvogels im Himmel über der Ostsee verschwand, wurden die Warnsignale meines Rings immer schwächer. Die Gefahr war vorbei. Ich ließ mein Schwert fallen. Lief auf Tessa zu, die mit den inzwischen wieder sichtbaren Gunnar und Antje den Ausgang des Kampfes verfolgt hatte. »Tessa! Liebling!« Ich wollte sie mit meinem gesunden Arm an mich ziehen. Aber meine Freundin stieß mich rüde zurück, fletschte die Zähne. »Laß das, du Wüstling! Ich bin eine Wikinger-Prinzessin! Mein Bruder Harald wird dich vierteilen, wenn du mich auch nur mit dem kleinen Finger anrührst!« 74
* Ich war am Boden zerstört. Die schwere Verletzung an meinem linken Arm hatte ich schnell kuriert, indem ich mit dem Lichtstrahl aus meinem Ring das keltische Wort für »Heilung« auf die Wunde schrieb. Viel schlimmer war, daß sich Tessa nicht mehr an mich erinnerte. Sie mußte durch irgendwelche teuflischen Umstände das Gedächtnis verloren haben. Wer ich war, wußte sie überhaupt nicht. Mehr noch - ihr fehlte offenbar auch jedes Verständnis für die Zeit, aus der wir gekommen waren. Sie konnte sich nichts anderes als diese Wikingerwelt des zehnten Jahrhunderts vorstellen. Der Graue Gunnar stand mir bei. Er versuchte sein Möglichstes, um Tessa davon zu überzeugen, mit mir in meine Welt zurückzukehren. Aber es war vergeblich. Vor allem, nachdem sie erfuhr, daß ich ihren »Bruder« getötet hatte. »Blutrache!« schrie sie mir ins Gesicht. »Wenn ich ein Mann wäre, würde ich selbst mein Schwert gegen dich erheben, elender Franke! Aber es wird schon ein Kerl aus meiner Sippe kommen und Harald fürchterlich rächen!« Immerhin schien es sie zu trösten, daß ich Harald den Bösen im ehrlichen Zweikampf getötet hatte. Nach dem Ehrenkodex der Wikingerzeit war es wichtig, wie man jemanden umbrachte. Der Tod im Kampf galt als ehrenvoll, beinahe als Freifahrtschein an die Tafel der Götter. Die rauhen Nordmänner gingen mit dem Tod sehr viel lockerer um als die Menschen des 20. Jahrhunderts. Den wilden Burschen damals saß das Schwert locker. Ein Menschenleben galt nicht viel. Auch das eigene nicht. Nun standen wir im Hafen von Haithabu. Wir, das waren Tessa, Antje, der Graue Gunnar und ich. Um uns herum viele hundert Wikinger, Frauen und Männer. Sie alle wollten Zeuge werden, wie Harald der Böse zur ewigen Ruhe begleitet wurde. Oder - wie in meinem Fall sich überzeugen, daß er diesmal auch wirklich tot blieb. Alles war vorbereitet. Zwischen den vielen Drachenschiffen hatte man ein kleineres Boot fertig zum Auslaufen gemacht. An Bord waren die sterblichen Überreste von Harald dem Bösen und 75
seinen Männern. Außerdem Waffen, Proviant und Geld. Alles, was sie brauchten für die Reise in die Ewigkeit. Der Graue Gunnar gab mit ausgestreckten Armen ein Zeichen. Einige starke Männer schoben das Boot in die Fahrrinne der Schlei. Das Segel war schon gehißt. Wir hatten Glück. Der Wind wehte vom Süden her - mein Herz war schwer. Aber bestimmt nicht wegen dem Schurken, dem wir hier das letzte Geleit gaben. Sondern wegen Tessa, die mir nicht einen Blick gönnte. Sie vergoß heiße Tränen wegen einem Mann, den sie überhaupt nicht gekannt hatte. Es wäre lächerlich gewesen, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Das Segel blähte sich unter der Brise. Einer der Männer warf noch eine Fackel in das Boot, bevor es die Fahrrinne erreichte. Das pechgetränkte Innere des Drachenboots fing sofort Feuer. Hoch loderten die Flammen, während das kleine Fahrzeug aus offene Meer zusteuerte. »Seekönigs Fahrt nach Walhall«, murmelte Antje Sörensen schaudernd. »Von wegen!« knurrte der alte Priester Gunnar zwischen zusammengepreßten Lippen. »Dieser Mordbube und Schänder wird geradewegs nach Niflheim reisen! Zu den Schatten und Wolfsseelen. Wo er hingehört!« Es war mir herzlich egal, was mit Harald dem Bösen passierte. Die Gefahr durch die Zombiewikinger war gebannt. Ich wollte nur noch nach Hause. Und zwar mit Tessa. Antje Sörensen schien zu spüren, was in mir vorging. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Ihre Hand strich zärtlich über meine Brust. »Ich verdanke dir soviel, Mark«, flüsterte sie. »Ohne dich hätte dieses tote Scheusal Harald sonstwas mit mir gemacht. Komm mit mir!« Die Blonde hatte inzwischen mitgekriegt, daß ich durch die Zeit reisen konnte. Strenggenommen mußte also eigentlich sie mit mir gehen. Aber ich wußte schon, wie es gemeint war. Mein Blick fiel auf Tessa, die einige Schritte von uns entfernt stand. »Laß sie hier!« Eindringlich, fast beschwörend redete Antje auf mich ein. »Tessa gefällt es in dieser Welt. Vergiß sie! Ich kann dich sehr, sehr glücklich machen!« Ich wußte nicht mehr, was ich denken oder tun sollte. Da war meine abgrundtiefe Verzweiflung. Und da war diese junge Frau, 76
die ihren warmen und wohlgeformten Körper an mich drückte. Ihre feuchten Lippen öffneten sich, boten sich mir dar… Ich senkte meinen Kopf, um sie zu küssen… »Mark Hellmann!!!« Der Schrei aus Tessas Kehle hätte mich eigentlich zusammenfahren lassen müssen. Er war als Drohung gemeint. Doch für mich klang er wie die süßeste Verlockung, die ich mir vorstellen konnte. Auch wenn meine Freundin jetzt rabiat wurde. Sie kam auf uns zugerauscht und stieß Antje brutal zur Seite. Als das Mädchen nicht sofort von mir ablassen wollte, verpaßte Tessa ihr einen kräftigen Tritt in den Hintern. Ich handelte mir eine Ohrfeige ein. »Das ist dafür, daß du diese kleine Schlange abknutschen wolltest! Ich hab's doch schon gewußt, als wir im Resi saßen und den Psychotest gemacht haben! Von mir aus kann es ganz Weimar wissen! Du bist ein geiler Bock, Mark Hellmann! Du denkst immer nur an das eine!« Resi… Psychotest… Weimar… da waren sie wieder, ihre Erinnerungen! Überglücklich hob ich Tessa hoch und drehte sie um mich herum, während hunderte von Wikingern unserer Vorführung atemlos zuschauten. »Ja, du hast recht, Tessa! Ich denke immer nur an das eine!« * Ich bin zwar kein Gehirnklempner, aber für mich war die Sache klar. Als Antje mich küssen wollte, mußte dieser Anblick Tessa so geschockt haben, daß ihr »Tessa-Bewußtsein« wieder die Oberhand gewonnen hatte. Die automatische Rückkehr in unsere Gegenwart verlief ohne Probleme. Engumschlungen und splitternackt kamen meine Freundin und ich zu Füßen der Baumgruppe bei dem Hünengrab an. Inzwischen war es Nacht. Doch Hauptkommissar Eberhard Jensen hatte die Ausgrabungsstätte mit Flutlicht ausleuchten lassen. Für alle Fälle. Falls weitere Wikingerangriffe kommen würden. Nun, das würde nicht passieren. Dafür hatten wir gesorgt. Am nächsten Tag brachten wir in Schleswig auf dem Polizeirevier den Papierkrieg im Zusammenhang mit den 77
Wikingerzombies hinter uns. Danach waren wir erst recht urlaubsreif. Nach einem guten Mittagessen in der Schleswiger Innenstadt lenkte ich den BMW Richtung Norden. Ich kannte einen verschlafenen Landgasthof in der Nähe von Niebüll. Dort war so wenig los, daß man sich einfach erholen mußte. Tessa war schweigsamer als sonst. Sie hatte wohl an den Erlebnissen in Haithabu zu knacken. »Die Wikingerzeit hatte schon so ihre Vorteile«, meinte ich. »Wieso?« Sie sah mich von der Seite an. Tessa konnte nicht vergessen, daß sie beinahe in dieser Zeit geblieben wäre. Und zwar freiwillig. »Nun, die Männer hatten gleich mehrere Frauen«, erklärte ich. »Außerdem kannte man keine falsche Scham. Wenn jemand zum Beispiel Lust hatte, trieb er es mit seiner Geliebten vor den Augen seiner Freunde. Oder seines Häuptlings.« Tessa hob eine Augenbraue. »Faszinierend.« »Ja, nicht wahr? Und auch die Fürsten waren nicht prüde. Manche nahmen sich sogar ihre Freundinnen vor, während sie auf dem Thron saßen…« Plötzlich ruhte Tessas Hand auf meinem Schenkel. »Was du nicht sagst.« Ihre Hand öffnete geschickt meine Hose. Ich atmete schwer. »Tess, ich fahre!« »Wieso? Du hast doch eben erklärt, daß falsche Scham nichts bringt…« Sie machte sich weiter an mir zu schaffen. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Landstraße war zum Glück ruhig. Trotzdem setzte ich den Blinker und steuerte den nächsten Parkplatz an. »Falsche Scham ist eine Sache, Tess. Aber Verkehrsgefährdung eine andere…« Wir kamen an diesem Tag erst sehr spät nach Niebüll. Bei dem Verkehr kein Wunder… ENDE Als Paul Brettnasch unter dem Tisch aufwachte, spürte er, daß 78
es rapide mit ihm bergab ging! Mühsam und wie in Zeitlupe kroch der 85jährige hervor und rappelte sich auf. Mit ein paar ›Gymnastikübungen‹ versuchte er die Steifheit aus seinen Knochen zu schleudern. Dann setzte er sich auf die Bettkante und starrte auf den Boden. Er war fest entschlossen, noch einmal in seinem Leben für Schlagzeilen zu sorgen. Das ganze Altersheim würde kopfstehen! Interessiert? Dann holt Euch in einer Woche den 41. HellmannRoman. Sein Titel: Killerbestien!
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