Die Wölfin � von Adrian Doyle
Sie war die Geliebte des Kelchhüters – und seine treue Gefährtin durch viele Jahrhundert...
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Die Wölfin � von Adrian Doyle
Sie war die Geliebte des Kelchhüters – und seine treue Gefährtin durch viele Jahrhunderte, ohne je den blutigen Preis zahlen zu müssen, den andere für die Unsterblichkeit entrichteten. Denn sie hatte aus dem Unheiligtum der Vampire getrunken, ohne ihr altes Leben hergeben zu müssen und selbst ein Vampir zu werden. Doch eines Tages gelangte auch Nona an ihren Scheideweg. Die Suche nach Landru lockte sie an einen verbotenen Ort. Und ins Verderben …
Was bisher geschah � Lilith Eden, Tochter eines Menschen und einer Vampirin, wird von der Urmutter aller Vampire benutzt, um deren Versöhnung mit Gott in die Wege zu leiten. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat und der Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, sendet Gott eine Seuche auf die Erde, die alle Sippenoberhäupter infiziert und von ihnen auf die Vampire und Dienerkreaturen überspringt. Sie sterben, als sie ihren Blutdurst nicht mehr löschen können. Lilith erhält den Auftrag, die verbleibenden Oberhäupter zu töten. Als sich durch das Sterben der Vampire das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse auf der Erde verschiebt, wird Gabriel geboren, eine Inkarnation Satans. Erst ist sich der Knabe, der rasch heranwächst, seiner Identität nicht bewußt, doch schließlich erkennt er seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati vor den Toren Roms im Kloster Monte Cargano bewacht wird. Letztlich scheitert das Vorhaben – nicht zuletzt durch Lilith Eden, die gemeinsam mit ihrem ärgsten Feind Landru durch das Tor in die Hölle – eine Dimension, die durch den Fall des Engels Luzifer entstand – gerissen wird. Bei ihrer Flucht aus den Gefilden der Hölle werden Liliths und Landrus Persönlichkeit gelöscht. Während Salvat, Führer der Illuminati und in Wahrheit der Erzengel Michael, in einer verzweifelten Aktion durch die Entfesselung magischer Energien den Klosterberg sprengt und das Tor somit versiegelt, können die beiden in ein nahes Dorf entkommen. Sie wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, daß sie Vampire sind! Auch Gabriel übersteht die Explosion. Er zieht sich mit Hidden Moon, einem indianischen Vampir, der einige Zeit Liliths Begleiter war, zurück. Hidden Moon konnte durch den Kontakt mit seinem Totemtier – einem Adler – das Gute in sich bewahren. Als Lilith den Adler tötete, ging diese Fähigkeit auf sie über. Ohne Lilith verfiel Hidden Moon dem Bösen.
Über Landrus Tarnidentität Hector Landers finden dieser und Lilith erste Spuren. Die seinen weisen nach Paris, die ihren nach Sydney. So trennen sich die beiden. In Frankreich wird Landru mit seiner dunklen Vergangenheit konfrontiert und erfährt als erster die Wahrheit über sich, als ein Geschäftsmann, dessen Sohn er einst zum Vampir machte, sich rächen will. In Australien findet Lilith den Ort ihrer Geburt, wird aber von der dortigen Macht verstoßen, als sie diese nicht mehr erkennt. Schließlich greift Moskowitz sie auf, ein früherer Kollege von Liliths Freundin Beth MacKinsey. Von ihm hofft Lilith mehr über sich zu erfahren – doch Moskowitz weiß nichts von ihrer wahren Identität. Auch nicht, daß sie Beth unter dem Einfluß des Lilienkelchs, des Unheiligtums der Vampire, vor Monaten getötet hat …
Die eigentliche Antwort ist immer der Tod. Günter Eich
Vergangenheit, Juli 1996 � Himalaja, Grenzgebiet zwischen Nepal und Indien � Wieder stand eine Nacht bevor, in der das Scherbengericht sein Urteil fällen würde. Rani, der die Scherben an die Urteilsfinder zu überbringen hatte, überblickte die Häuser von einem höhergelegenen Felsvorsprung aus. Yakshamalla. Eines von sieben Dörfern, die dem KULT dienten. Wie gramgebeugte Pilger strömten die Bewohner der ärmlichen Behausungen zum Zentrum des Dorfes, während die Sonne glutrot hinter den Schroffen der Gebirgszüge versank. Die Schatten wuchsen. Sie beraubten die Welt ihrer Farbe und die Menschen ihrer Hoffnung. Rani konnte die Angst förmlich riechen, und es berührte ihn auch im zweiten Jahr seines Amtes immer noch schmerzlich, daß ein Junge wie er, ein Junge von gerade einmal zwölf Jahren, als einziger in Yakshamalla keine Furcht vor dem Urteil der Scherben haben mußte. Der Bote war tabu. Die Namen der Boten durfte von keinem Bewohner der Dörfer in die Tonscherbe geritzt werden, die zum Ende eines jeden Monats in die Obelisken, die sich wie gewaltige Dome aus schwarzglänzendem Stein in jedem der Dörfer erhoben, geworfen wurden. Sieben Dörfer, sieben Todesboten. Und sieben Opfer, die es Monat für Monat traf. Entsprechend fruchtbar waren die Menschen, die hier lebten – mußten es sein. Früh wurden sie miteinander vermählt. Früh geba-
ren sie Kinder, die nicht selten als Waisen heranwuchsen, um die sich die Gemeinschaft kümmerte. Bis auch ihre Namen in genügend hoher Zahl auf den Scherben erschienen … Der KULT war gnadenlos. Und die Bewohner der Dörfer in vielerlei Hinsicht auch. Das Böse, das ihnen widerfuhr, gaben sie weiter. Jeder durfte sich, sobald er des Schreibens mächtig war, am Gerichtstag beteiligen, durfte den Namen eines ihm mißliebigen Mitmenschen aus seiner Umgebung in die tönerne Tafel ritzen, die im Schlund des Obelisken verschwand. Die am häufigsten benannte Person war auserwählt. Und verdammt, zu verschwinden. Niemand wußte im voraus, wen es treffen würde, aber am Morgen nach der Wahl fehlte jeweils ein Bewohner in jedem der sieben Dörfer. Was den Männern, Frauen und Kindern widerfuhr, wußte ebenfalls niemand, zumindest nicht verläßlich. Keiner der Verschwundenen war jemals wiedergekehrt – weder tot noch lebendig. Grund genug, das Schlimmste zu befürchten. Und das zu Recht, dachte Rani düster, der wohl als einziger hier in Yakshamalla etwas mehr über diese Dinge wußte. Mehr, als er manchmal ertragen zu können meinte. Schon sein Vater war der hiesige Todesbote gewesen, und nach dessen plötzlichem Ableben hatte die Erbfolge Rani bestimmt, das hohe Amt im zarten Alter von zehn Jahren zu übernehmen. Damals waren die Dinge in Fluß geraten. Fremde waren in den fast unzugänglichen Regionen des Siebentausenders erschienen, an dessen Flanken sich die sieben Dörfer in schwindelerregender Höhe schmiegten. Unheimliche Fremde. Ein Mann, der Yakshamalla heimgesucht und seine Opfer ausgeblutet wie Schlachtvieh hinterlassen hatte – und eine wunderschöne
Frau, die schönste, die Rani überhaupt jemals gesehen hatte …* »Rani?« Er schrak leicht zusammen. Als er sich umdrehte, bemerkte er Sugriva, die sich geschickt dem Rand des Felsens näherte, wo er sich niedergelassen hatte. »Ich wußte, daß ich dich hier finden würde … « Sie hatte eine überaus verhaltene Stimme, die zu ihrer zierlichen Figur paßte. Sugriva war zwei Jahre älter als Rani, und in diesem Sommer hatten sie entdeckt, daß sie etwas füreinander empfanden. Sehr viel sogar. Es war den Todesboten nicht untersagt, Beziehungen mit Mädchen oder Frauen einzugehen. Aber es war auch nicht unproblematisch. Sugriva war strahlend schön wie Laxmi, die Gattin Vishnus, und wurde von vielen Männern des Dorfes begehrt. »Hast du schon gewählt?« fragte Rani zur Begrüßung. »Ich habe dich nicht gesehen.« Sugriva nahm neben ihm Platz. So nah, daß er die Wärme ihres Körpers durch sein und ihr Gewand hindurch spüren konnte. »Ich ging sehr früh und …« »Und?« Ihr Ton ließ Rani Böses ahnen. »Ich gab eine leere Scherbe ab.« Er sog den Atem ein. »Du mußt verrückt sein!« »Im Gegenteil. Ich war noch nie bei so klarem Verstand!« Er rückte ein wenig von ihr ab. »Das bezweifle ich. Sie werden erkennen, von wem die leere Tafel stammt. Und dann werden Sie dich furchtbar für deinen Frevel strafen!« »Wer sind ›sie‹?« »Sei still!« »Hast du schon daran gedacht, von hier fortzulaufen? Wir könnten gemeinsam fliehen …« *siehe VAMPIRA H06 – 08
»Es gibt kein Entkommen. Sie würden uns überall finden und zur Verantwortung ziehen. Du hast keine Ahnung, welche Macht Sie besitzen.« Sugriva zuckte die Schultern. Ihre kleinen Brüste, die Rani schon im Schatten des Auwaldes hatte liebkosen dürfen, zeichneten sich unter der weiten, festen Kleidung, die nur den Liebreiz ihres Gesichts aussparte, nicht ab. »Dann erzähl es mir«, forderte sie. »Ich bin neugierig. Und, wer weiß, vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, etwas über ›sie‹ zu erfahren, bevor …« Er blickte fragend, als sie mitten im Satz abbrach. »Bevor?« »… ich ›ihnen‹ gegenüberstehe.« Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und Blutgeschmack füllte seinen Mund, so fest hatte er sich auf die Unterlippe gebissen. »Mit so etwas scherzt man nicht!« Ihr Lächeln glitt ab ins Bizarre. »Ich scherze auch nicht, Rani. Im Gegenteil.« Ihre Augen waren mit einemmal glashart – Glas, in dem sich feine Sprünge bildeten, und im nächsten Moment quollen erste Tränen daraus hervor. Betroffen erkannte Rani, daß sie ihm schon die ganze Zeit etwas vormachte. So stark und rebellisch, wie sie sich gab, war sie nicht annähernd. In diesem Moment kam sie ihm wie ein kleiner Vogel vor, der aus seinem Nest gefallen war – verletzt und ohne Hoffnung, je wieder in die verlorene Geborgenheit zurückkehren zu können. Er schlang den Arm um sie und drückte sie an sich. Aufschluchzend preßte sie das Gesicht gegen seine Wange. »Erzähl. Was ist passiert? Hat dich etwa jemand …?« »Bei Shiva, nein – nicht, was du denkst!« »Dann hat es mit heute Nacht zu tun?« Sie nickte. Im ersten Moment wußte er nicht, was er sagen sollte. Ihm fiel
kein tröstliches Wort ein. Denn ihre Angst war allzu berechtigt. Wie oft hatte er es in sternklaren Nächten zur Sprache gebracht, aber nie hatte Sugriva sich eine Blöße gegeben, wenn es um die tödliche Gefahr ging, die ihre Liebe und Zukunft bedrohte. Er hatte sie für eine heillose Romantikerin gehalten – und sie dafür noch um so mehr geliebt. Er, der mit zwölf Jahren reifer war – auch sein mußte – als mancher Mann mit zwanzig. Das Leben hatte ihn ebenso gestählt wie dessen dunkler Widersacher – der Tod. Er strich dem Mädchen mit dem von kunstvollen Kämmen zusammengehaltenen schwarzen Haar zart über das Gesicht. Unten im Dorf schrumpfte die Menschenschlange, die sich auf den Obelisken zubewegte. Diejenigen, die ihre Tafeln eingeworfen hatten, zerstreuten sich rasch, kehrten in ihre Hütten zurück, wo sie auch die ganze Nacht im Schoße der Familie oder ganz allein für sich verbringen würden. Es machte kaum einen Unterschied. Selbst in Gesellschaft blieb jeder mit seinen Gedanken und der Furcht allein, diesmal könnte er von den Scherben berufen werden. Berufen wofür? Den Göttern im Tempel zu dienen? Sie als Opfergabe gnädig zu stimmen? Nicht einmal die Frage, welche Götter dort oben hausten im Heiligen Bezirk, der über den sieben Dörfern thronte, war schlüssig geklärt – und das, obwohl der KULT seit unendlich vielen Generationen seine Fessel des Terrors um die Menschen schlang. Niemand konnte sich dem entziehen – Ranis Reaktion auf Sugrivas Ansinnen waren durchaus keine leeren Worte gewesen. Immer wieder hatten in Yakshamalla, Birethanti und den anderen fünf Dörfern Männer und Frauen versucht, dem Schicksal, das sie seit Menschengedenken verfolgte, zu entrinnen. Sie alle waren verschwunden und – im Gegensatz zu den Erwählten des Scherbengerichts – irgendwann wieder aufgetaucht: Grauenhaft verstümmelt, zur Mahnung an die übrige Bevölkerung, hatten sie irgendwann morgens
auf dem Platz neben dem Obelisken gelegen. Enthäutet, aber immer noch so gut erkennbar, daß es keine Zweifel an ihrer Identität gegeben hatte. Nein, dem KULT konnte man nur die Stirn bieten, wenn man bereit war, sich mit seinem Tod abzufinden – aber dann konnte man ebensogut auf sein Glück vertrauen, von den Scherben nicht verurteilt zu werden. Zumal Rani ernsthaft zweifelte, daß die Menschen, die den Ausbruch aus ihrer Gemeinschaft versuchten, dies nur mit dem Tod bezahlen mußten. Er fürchtete vielmehr, auch ihre Seelen könnten von denen, die über den Tempel wachten, verheert und zerstört werden. Dabei hatte es damals, vor zwei Jahren, Anlaß zur Hoffnung gegeben, der KULT sei zerschlagen worden. Eben von jener fremden Schönheit, die damals Ranis Leben gerettet hatte – einer jungen Frau, Lilith mit Namen. Lilith … Er hatte sie nie wiedergesehen. Und der KULT hatte weiter fortbestanden. Genauso streng, genauso grausam wie seit Anbeginn der Überlieferungen … Rani verdrängte die Gedanken an verpaßte Chancen. Er brauchte sich nur Sugrivas Nähe bewußt zu werden, um ins ernüchternde Jetzt zurückzufinden. Und sich zu erinnern, was ihm Sugriva eröffnet hatte. Eine leere Tafel … Rani spürte einen Stich im Herzen. »Sie dulden keine Verhöhnung … Ich begreife dich nicht. Wenn du mich wirklich liebst, warum setzt du dann alles aufs Spiel?« Sie hatte aufgehört zu weinen. Ihr Gesicht löste sich von seinem. Und als er es sah, erschrak er vor der Grimasse noch mehr als vor dem Blick ihrer Augen. »Ich habe sie belauscht«, flüsterte er. Er verstand nicht. »Wen hast du belauscht?«
»Goprum, Marathe und ein paar andere … Du weißt schon, sie sind immer zusammen, und ich hatte schon lange den Verdacht, daß sie etwas aushecken. Deshalb bin ich ihnen nachgeschlichen, als sie sich heute Morgen am Bachlauf trafen.« Sugriva schwieg kurz und schürzte ihre Lippen. Rani überkam das Verlangen, sie zu küssen. Ihre Zunge mit der seinen zu berühren … … aber er bezähmte sich. Die Situation war zu ernst. »Goprum …«, murmelte er und verzog selbst das Gesicht, weil er wußte, daß der drei Jahre ältere Junge Sugriva seit einiger Zeit nachstellte. Zudringlich war er jedoch nie geworden. »Worüber haben sie geredet?« fragte er. »Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen –« »Zuerst haben sie darüber geredet, wie sie sich gegenseitig gebrüstet, wie schlau sie es schon eine ganze Zeitlang anstellen, daß die Scherben sie verschonen müssen.« Rani horchte auf. »Und wie?« Sugrivas Züge entspannten sich ein wenig. Rani konnte regelrecht spüren, welche Anstrengung es sie kostete, ihre Fassung zurückzugewinnen. »Hast du nie darüber nachgedacht, wie leicht es ist, die Scherben zu mißbrauchen?« fragte sie nach einer kurzen Pause. »Du meinst, ich …?« »Ich rede nicht von dir«, beruhigte sie ihn, »auch wenn du natürlich in der Lage wärst, dein Amt zu mißbrauchen, wenn du das wolltest. Aber ich weiß, das würdest du nie tun … Nein, ich spreche immer noch von Goprum und seinen Mitverschwörern. Ich ahnte nicht, wie viele sich von ihm beeinflussen lassen, weil sie ihn mögen – oder fürchten. Letztlich läuft es auf dasselbe hinaus.« »Du redest von Verschwörung. Willst du etwa andeuten, daß …?« »… sie sich einig sind, ja!« Sugriva lächelte verkniffen. »Offenbar geht es schon eine ganze Weile so, daß sie vor den Scherbengerich-
ten beratschlagen, wessen Namen sie alle in ihre Tafeln ritzen, so daß auf diesen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Urteil fällt … Verstehst du jetzt, was ich meine?« Rani war wie vom Donner gerührt. Zumal er sich eingestehen mußte, an diese Möglichkeit der Manipulation noch nie zuvor gedacht zu haben. Ganz einfach auch deshalb, weil er sich nicht hatte vorstellen können, daß sich eine genügende Zahl von Menschen fand, die sich vorsätzlich ein und denselben Menschen herauspickten. Wer normalerweise den Namen einer ihm mißliebigen Person in die Tafel ritzte, der wußte im voraus nicht, daß seine Wahl auch die der Mehrheit war. Das erfuhr er erst nach der Wahl. Dann war es Schicksal. Ein Schicksal, an dem er nur zu einem kleinen Bruchteil selbst Mitschuld trug. Das Komplott aber, von dem Sugriva sprach, war nichts anderes als feiger, hinterlistiger Mord. »Bist du deiner Sache ganz sicher?« fragte er, während er fieberhaft überlegte, wie er diesem Mißbrauch des Gerichts ein Ende bereiten und die Schuldigen ihrer verdienten Strafe zuführen konnte. »Nicht nur das«, sagte das Mädchen, das eine unentwegte Sehnsucht nach Zärtlichkeit in ihm schürte. »Ich hörte auch, wen sie diesmal auf Goprums Vorschlag hin aus der Gemeinschaft tilgen wollen.« Rani spürte einen Kloß im Hals, der sich nicht hinunterschlucken ließ. »Wen?« fragte er mit heiserer Stimme, weil er die Antwort schon ahnte. »Mich«, sagte Sugriva. »Sie haben über uns gehetzt, über uns beide – in einer Weise, die keinen Zweifel läßt, daß sie von unserer Liebe wissen. Das, wovor du von Anfang an gewarnt hast, ist eingetre-
ten. Goprum, dieses Scheusal, sieht mich lieber tot als mit dir zusammen …« Rani war sekundenlang außerstande, überhaupt etwas zu tun oder zu erwidern. Schließlich nahm er Sugriva in die Arme und schloß die Augen. Das Gefühl, in der auf ihn einstürzenden Dunkelheit zu ertrinken, schwand, und er flüsterte: »Das werde ich nicht zulassen! Das werde ich zu verhindern wissen!« Es klang wie ein Schwur. Und so war es auch gedacht. »Wie?« fragte Sugriva tonlos. »Was willst du dagegen tun? Es ist beschlossene Sache. Komm und küß mich – hör nicht auf, mir zu zeigen, wie sehr du mich liebst! Dies sind unsere letzten Stunden. Noch bevor die Nacht vorbei ist, werden wir getrennt sein für …« Rani legte seinen Finger auf ihre Lippen. Immer, hatte sie sagen wollen. Aber dieses Immer wollte er nicht hören. »Vertrau mir«, flüsterte er kehlig. Bald darauf nahm er Abschied. Um ihren immerwährenden Abschied zu verhindern.
* Nicht zum ersten Mal kam die Nacht ihm vor wie ein Asura, wie ein Dämon, der in Ihren Diensten stand – in Diensten deren, denen auch Rani sein Leben geweiht hatte. Den Gottheiten des Tempels. Den Bewahrern des KULTS. Manchmal wünschte er zu erfahren, was dort oben, in noch höheren Höhen als die Dörfer lagen, vorging – aber die meiste Zeit war er dankbar, es nicht zu wissen, höchstens zu erahnen. Mit Ahnungen konnte man leben, aber mit Wissen, furchtbarem
Wissen … Er schrak zusammen, als er ein Geräusch hörte. Aber es war nur ein Nachtvogel, der in das Gezweig eines Baumes eintauchte. Vielleicht kam er mit Beute von einem nächtlichen Jagdzug heim. Fressen und gefressen werden – wenn es ein universelles Gesetz gab, dann wohl dieses … Rani legte die letzten Schritte, die ihn noch vom Obelisken trennten, zurück. Die Kälte der Nacht spürte er nicht. Er war erhitzt, als hätte er Fieber. Trockenes, widernatürliches Fieber. Kein Tropfen Schweiß entströmte den Poren seiner Haut, und das, obwohl er im Begriff stand, etwas zu tun, was ihn selbst in ewige Verdammnis stürzen konnte. Es ließ sich nicht vorhersagen, wie Sie darauf reagieren würden … So oft Rani diesen Gang auch unternommen hatte, er hatte sich nie daran gewöhnt. Zu dramatisch waren die Folgen seines Tuns, auch wenn er nur der Überbringer eines Urteils war, das die Mehrheit der Dorfgemeinschaft fällte. Noch war der Sack aus Leinen, den er bei sich trug, leer. Aber schon bald … Er bückte sich und griff in eine Öffnung des Obelisken, die nur ihm bestimmt war. Für die Tafeln gab es ein anderes Loch in dem Gebilde, das schwärzer als die Nacht selbst war – und sich vielleicht gerade deshalb so gut von ihr unterscheiden ließ. Der spitze Dorn im Innern der schlanken Pyramide bohrte sich in Ranis Handfläche, und das Blut, das ihn netzte, löste den Öffnungsmechanismus aus. Im unteren Bereich des Obelisken entstand eine Öffnung. Ein, zwei Mal hatten Unbefugte in verschiedenen Dörfern es versucht, an die Scherben zu gelangen – und waren allesamt eines qualvollen Todes gestorben, gerade so, als wäre der Dorn, der Rani nur den immer gleichen flüchtigen Schmerz bereitete, mit einem heim-
tückischen Gift getränkt. Niemand konnte sagen, wie der Obelisk zwischen dem Todesboten und einem anderen unterschied. Aber zweifellos tat er es. Und nicht einmal verwegene Draufgänger hatten es seit jenen Vorfällen wieder gewagt, den Dorn herauszufordern … Wie jeden Monat sammelte Rani die tönernen Scherben ein. Keine war zu Bruch gegangen. Jeder eingeritzte Name war mühelos zu entziffern. Selbst im Dunkeln. Auch wie das zuging, wußte Rani nicht zu sagen. Früher hatte er es einfach akzeptiert. Früher hatte er auch der Versuchung widerstanden, alle Scherben zu lesen, während er sie in seinen mitgebrachten Beutel umschichtete – in dieser besonderen Nacht aber wurde er seinen Prinzipien untreu. Und er las viele, viele Male Sugrivas Namen. So oft, daß er nicht einmal zu zählen brauchte, um zu wissen, daß sie am häufigsten von allen Bewohnern Yakshamallas benannt worden war … Zwischendurch fand er eine leere Scherbe. Und tauschte sie gegen eine neue, von Sugriva beschriftete aus. Der Name darauf war ohne Bedeutung, nachdem sich bestätigt hatte, was das Mädchen belauschen konnte. Rani war froh, daß er sie noch hatte überreden können, ein Täfelchen zu beschriften. Ob es etwas nützen würde, wußte er nicht. Er konnte nur auf die Gnade der Götter hoffen. Darauf, daß sie das Opfer dieses schändlichen Betrugs schonen und sich statt dessen den Anführer der Betrüger holen würden. Ranis Rivalen um die Gunst der zarten Sugriva …
* Der Aufstieg zu den Tempeln war beschwerlicher als jeder Weg, den �
Rani in seinem Leben auf sich genommen hatte. Hie und da waren Reste verfallener Treppen erkennbar, die schon vor undenklichen Zeiten in den Fels gehauen worden sein mußten. Aber der größte Teil der Strecke erweckte den Anschein, als gäbe es überhaupt keine gewollten Pfade. Als wäre nie beabsichtigt gewesen, daß ein Sterblicher dorthin gelangte, wo die Bewahrer des KULTS regierten und über die Einhaltung seiner Gesetze wachten … Aber wenn das stimmte, wie kämen dann die Opfer zu ihnen, die von den Scherben genannt werden? dachte Rani. Er war noch nie zuvor in solche Höhen vorgestoßen. Der Spalt, in den er die Scherben normalerweise zu schütten hatte, lag in unmittelbarer Nähe des Dorfes. Sind die, die des Nachts in unsere Dörfer schleichen und unsere Liebsten aus unserer Mitte reißen, keine Sterblichen, keine Geschöpfe aus Fleisch und Blut? Besitzen sie Flügel? Er schloß es nicht aus. Aber solche Gedanken bestärkten ihn nicht gerade. Er hatte allen Mut zusammenreißen müssen, um das Wagnis einzugehen, seine eigentliche Pflicht zu vernachlässigen. Ein Bote hatte nur die Täfelchen aus dem Obelisken zu nehmen und in den heiligen Spalt zu schütten. Sonst nichts. Von der persönlichen Übergabe der Scherben war nie die Rede gewesen – und es war keineswegs abwegig zu glauben, daß Rani sich mit dieser Eigenmächtigkeit den Zorn der Kulthüter zuziehen würde … Er stöhnte, als er ausrutschte und sich die Unterarme aufschürfte. Der Beutel mit den tönernen Namen vieler Bewohner Yakshamallas prallte mit einem Geräusch gegen den felsigen Boden, daß sich Ranis Nackenhaare sträubten. Einen Moment war ihm, als hörte er Stimmen aus dem Stoffsack, die wild durcheinanderschrien. Am häufigsten hörte er ihren Namen … den Sugrivas … Ihn schauderte noch stärker, während er sich ungeachtet der brennenden Schrammen wieder aufrappelte und den Beutel mit der Last schulterte, die ihm plötzlich schwerer vorkam als alles, was ein Mensch – noch dazu ein Junge seines Alters und seiner Statur –
überhaupt tragen konnte. Aber das Gewicht, das ihn wirklich drückte, lastete anderswo. Auf seiner Seele. Immer öfter – pausenlos eigentlich – dachte er an das Mädchen, für das seit diesem Sommer sein Herz schlug. Und das ihn auch liebte. Der Gedanke, sie zu verlieren, war noch schrecklicher als der Moment, als er einen anderen ihm nahestehenden Menschen verloren hatte. Seinen Vater. Es war noch gar nicht lange her – und doch erschien es Rani rückblickend, als betrachte er das Leben eines völlig anderen, wenn er sich der Zeiten entsann, als sein Vater noch gelebt hatte und der Todesbote von Yakshamalla gewesen war. Im weiteren Verlauf des Aufstiegs beschäftigte sich Rani fast ausschließlich mit Goprum und den anderen Verschwörern. Er legte sich die Worte zurecht, die er an die Herren des Tempels richten wollte, um Gnade für Sugriva zu erflehen. Sie durften nicht zulassen, daß die Niedertracht einiger Dorfbewohner Unschuldige benachteiligte, und er wollte sich gar nicht vorstellen, wie lange Goprum und dessen Anhänger diesen Betrug auf Kosten anderer schon betrieben. Rani glaubte an den Gerechtigkeitssinn der Tempelherrscher, weil er daran glauben wollte. Es war die einzige Hoffnung, an die er sich klammern konnte, und er versuchte, sich gar nicht erst den Kopf zu zerbrechen, ob Wesen, die etwas so Grausames wie das Scherbengericht veranlaßt hatten, denn nach ethischen Maßstäben gemessen werden konnten. Sie mußten! Sie mußten Sugriva schonen, sonst … Sonst? Es schnürte Rani die Kehle zu, und eine ganze Weile war er außer-
stande, weiterzuklettern. Plötzlich spürte er die Kälte der Nacht, als trüge er überhaupt nichts am Leib. In seinem Kopf herrschte helles Chaos. Gedanken stoben wie Funken. Kein einziger ließ sich festhalten. Als er seinen Weg schließlich fortsetzte, rieben die Scherben bei jeder Bewegung gegeneinander. Sie schrien nun nicht mehr, sie flüsterten – als wären sie sich einig geworden. Rani hörte nur noch einen einzigen Namen in hundertstimmigem Chor: Sugriva! Sein Herz stolperte. Sugriva! Sugriva! Sugriva! … Die Hoffnungslosigkeit, die sich des Jungen bemächtigte, legte sich wie Ketten aus Eisen um seine Beine. Fesseln, die ihm rieten, nicht weiterzugehen. Nicht auch noch das eigene Leben zu gefährden! Die Herren des Tempels kennen weder Gnade noch Barmherzigkeit – und erst recht kein Verzeihen, warnte eine Stimme, die aus Rani selbst kam und von der er fürchtete, daß sie die Wahrheit sagte, die brutale Wahrheit … Trotzdem stieg er weiter den Berg hinan. Stundenlang. Und da endlich, weit nach Mitternacht, sah er über sich ein erstes Licht, das kein Stern am Himmel war und das seine letzten Kräfte mobilisierte. Die ersten Bauten des Tempels, der mit dem Felsen verwachsen schien, leuchteten zu ihm herab. Der Glanz der Dächer war schrecklich. Unnatürlich. Es war kein natürliches, erst recht kein warmes, sondern unglaublich kaltes und beklemmend totes Licht, das Rani den weiteren Weg wies. Hin zu Ihnen. Ninmahs Kinder, die ein mächtiges Geheimnis gehütet hatten.
Jahrtausendelang. Bis zu dieser Nacht, in der vieles vorzeitig endete. Auch eine SCHRIFT, die ihresgleichen nicht hatte …
* »Halt!« Rani blieb fast das Herz stehen, als die klirrende Stimme erklang. Irgendwo in ihm, inmitten eigener, immer noch konfuser Gedanken. »Was Suchst Du Hier?« Wie aus dem Nichts war ein Mönch in einer Kutte erschienen. Mönch? Atemlos starrte Rani auf die Gestalt, die sich wie ein erdrückend schwarzer Schattenriß gegen die sehr viel erträglichere Dunkelheit der Nacht abhob. »Ich bin Rani. Der Bote aus Yakshamalla. Ich bringe die Scherben …« »Warum?« Der Kuttenträger reduzierte die Vielzahl möglicher Fragestellungen auf genau die, die zu beantworten Rani das meiste Kopfzerbrechen bereitete. »Weil …«, hob er mit schwankender Stimme zu einer Erklärung an, »… weil ich hinter eine Verschwörung kam. Einen Betrug. Diese Wahl ist ungültig. Eine Gruppe aus dem Dorf –« »Du Kommst Aus Yakshamalla. Du Bringst Die Tafeln. Gib Sie Mir Und Geh. Geh Und Komm Nie Wieder. Sonst Wirst Du Selbst Eine Seite Im Buch. Lauf, So Schnell Du Kannst. Und Kümmere Dich Nie Wieder Um Dinge, Die Weit Über Deine Befugnisse Gehen.« »Wer … wer bist du? Hast du mir nicht zugehört? Ich sagte Betrug! Die Wahl ist –« »– Gültig! Geh! Wenn Du Nicht Weichen Willst, Muß Ich Dich Mitnehmen. Deine Haut Ist Akzeptabel. Wir Werden Einen Neuen Boten Ernen-
nen. Ich Warne Dich Zum Letzten Mal.« Rani begriff selbst nicht, warum er die Drohung in den Wind schlug. Vergeblich suchte er nach einem Gesicht unter der Kapuze des Mönchs. Alles, was seine Blicke im Sternenlicht fanden, war ein bodenloser Abgrund. Endlose Tiefe. So, als bestünde die Gestalt, die ihm den Weg verstellte, nur aus Vakuum, das ihn jeden Moment verschlingen konnte … Rani gab sich einen Ruck. Er versuchte sich umzudrehen und den Rat, mit dem er sein Leben retten konnte, zu befolgen. Ein oder zwei Schritte gelangen ihm. Dann holte ihn die »Stimme« ein. »Die Tafeln! Laß Sie Hier! Du Hast Schon Genug Unserer Zeit Vergeudet!« Rani schwankte und blieb stehen. Sein Körper war plötzlich in Schmerz gebadet, als quäle sich statt Blut eine andere, zähe, geronnene Masse durch seine Adern. Er schrie auf. Der Sack entglitt seinen Händen und stürzte zu Boden. SUGRIVA! schallte ein hämischer Chor zu den Sternen, ohne sie zu erreichen. Es war auch nicht nötig. »Sugriva Also«, sagte der Mönch. Dann hob er den Sack auf, wandte sich ab und glitt wie schwerelos auf die Tempelbauten zu. Irgendwie schaffte es Rani, seine Lähmung zu überwinden. Er begann zu rennen. Nicht bergab, sondern dem Ungeheuer, das taub für jede Erklärung schien, hinterher …
*
Wer den Tempelkomplex überschaute, konnte nicht ahnen, wie viele Räume, ober- und unterirdisch, es darin gab. Genauso wenig, wie er wissen konnte, daß fast alle Bewohner des Tempels in die gewaltige Aufgabe eingebunden waren, ein einziges Buch zu verfassen: eine Chronik, die – in grauer Vergangenheit begonnen – erst in strahlend heller Zukunft beendet werden und ihren Zweck erfüllen sollte. Dann, wenn SIE eines Tages wiedererwachten. SIE, die sich schlafen gelegt hatten. An einem Ort, fern diesem. In einem Berg, fern diesem. Erwachsen gewordene Kinder, die – obwohl unfruchtbar – mit einem Instrument eine Armee gezeugt haben würden, mit der sie die Welt beherrschen sollten. Die ganze Welt, nicht mehr nur einen kleinen Landstrich wie einstmals, bevor die große Flut das Bild der Erde wandelte …
* Rani hatte sich noch nie so allein und so unbedeutend gefühlt. Wie ein Insekt, das jederzeit zertreten werden konnte. Zermalmt von der Macht, deren Atem hier zwischen den ehrfurchtgebietenden Gebäuden allgegenwärtig schien. Wer sind sie? dachte er. Was geschieht hier? Er versuchte sich der Drohungen zu erinnern, die der gespenstische Mönch ihm entgegengeschleudert hatte. Es gelang ihm nicht. Er wußte nur noch, daß von einem Buch die Rede gewesen war – und Haut. Seiner Haut. Offenbar hatte man ihm zu verstehen geben wollen, daß er seine Haut nur retten konnte, wenn er die Tempelzone unverzüglich wieder verließ und nie mehr wiederkam. Aber das konnte er nicht. Nicht, nachdem der Unheimliche seinen
Worten über das Komplott keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Damit war Sugrivas Schicksal besiegelt. Und sein eigenes auch. Ohne sie wollte er nicht weiterleben. Nach dieser Nacht würde er ohnehin nicht mehr imstande sein, irgendein Urteil zu überbringen, ganz egal, wessen Schicksal es besiegeln mochte! Wie betäubt lief er über den Platz und näherte sich dem runden Tempelbau, in dem der Mönch rasend schnell verschwunden war. Wie ein Spuk. Und vielleicht war er das auch. Vielleicht war alles – Nein! Rani schüttelte den Kopf. Ihm war schlecht. Sein Magen, sein Gedärm war nur noch ein harter, knotiger Klumpen, so schwer und kalt, als hätte er Steine verschluckt. Nein, dies war kein Traum, so sehr er es sich auch gewünscht hätte! Und so unwirklich dieser Ort auf jemanden, der sonst in der nüchternen Armut eines Dorfes wie Yakshamalla lebte, auch wirken mußte. Er rechnete damit, aufgehalten zu werden. Von dem Mönch oder anderen seiner Art. Seiner Art? Was für eine … Art mochte das sein? Rani hatte sich in der Gegenwart des Kuttenträgers hilfloser, ohnmächtiger gefühlt als je zuvor, seit er das Amt des Boten übernommen hatte. Lilith hatte ihr Wissen über die Tempel nicht preisgegeben. Nur, daß sie zerstört seien. Aber das stimmte nicht. Nichts hier sah aus, als könnte es überhaupt jemals Schaden erleiden. Dieser Tempel war … für die Ewigkeit erbaut.* *Damals war Lilith von einem Trugbild des zerstörten Tempels getäuscht worden.
Rani schluckte. Normalerweise neigte er nicht zu Übertreibungen, aber hier … Er ging weiter. Als er unmittelbar vor der Tür angelangt war, durch die der Mönch geglitten war, öffnete sie sich. Rani schrak zusammen. Er erwartete, daß jemand heraustreten würde. Aber das geschah nicht. Offenbar hatte sich das Gebäude ihm geöffnet … Daß auch dies ein Irrtum war, eine furchtbare Fehldeutung, begriff Rani erst, als ihn frostiger Hauch streifte, kälter als der eisigste Winterwind. Er fuhr herum und riß die Augen auf, als er sah, was auf ihn zukam. Zwei Mönche, ähnlich dem, der sich Rani entgegengestellt hatte. Aber sie waren nicht allein. Sie trugen ein Mädchen, das sich nicht rührte. Seine Augen waren geschlossen, die Züge entspannt, so daß es tot sein oder auch nur schlafen konnte. Mit Mühe konnte Rani einen gellenden Schrei zurückhalten. Nur ein klammes Flüstern rann über seine Lippen. »Sugriva …«
* Aus, dachte er ohne Fatalismus. Ihm war, als entströmte dem Mönch in der roten Robe ein lähmendes Gift. Fortan war Rani unfähig, auch nur an Flucht zu denken. Gehorsam ließ er sich in den Tempel geleiten, wo das grausige Ritual längst im Gange war. Sechs Menschen, Männer und Frauen, die wie an unsichtbaren Fäden in der Luft hingen, bannten Ranis Blick. Menschen? Rani würgte, dann erbrach er das Essen vom Mittag.
Im selben Moment begann irgendwo Sugriva zu schreien. Noch bevor Ranis Augen Gelegenheit erhielten, sie im Rund des Tempels ausfindig zu machen, wußte er bereits, warum sie schrie. Sugriva war aus ihren Gewändern geschält worden und verlor gerade den Boden unter ihren Füßen. Sie hatte das Bewußtsein wiedererlangt und wurde nun von unsichtbaren Kräften hinauf zu den anderen Auserwählten gehoben. All ihre Versuche, sich dagegen zu wehren, fruchteten nicht. Plötzlich fand ihr leidvoller Blick Rani. Ein Blick, den der ehemalige Bote von Yakshamalla nie mehr vergessen würde. »Sugriva …«, rann es zum zweiten Mal über seine Lippen. Da wurde er selbst gepackt. Etwas Unbeschreibliches berührte ihn – unwiderstehlich in seiner Zielstrebigkeit und Stärke. Der Stoff seiner Kleider barst unter der Berührung. Gleichzeitig fühlte er, wie er schwebte. Höher und höher, der domartigen Kuppel des Tempels entgegen. Die sechs, die schon länger dort hingen, rührten sich nicht mehr. Ihr Tod mußte eine Gnade gewesen sein, nach dem, was ihnen vorher angetan worden war. Rani war es unmöglich, auch nur eines der Opfer zu identifizieren, obwohl er auch schon die anderen Dörfer besucht hatte und viele dort kannte. Er konnte nur kurz hinsehen. Er wußte, daß auch Sugriva, die inzwischen ihren Platz unter der Kuppel eingenommen hatte, die ermordeten Bewohner der Dörfer entdeckt und deshalb so geschrien hatte. Zuvor hatten sie stets gerätselt, was mit denjenigen geschah, die über Nacht verschwanden. Nun wußten sie es, und die Erkenntnis war fast unerträglich … Rani stellte seine vergebliche Gegenwehr ein. Langsam stieg er höher. Über die Köpfe der Mönche, die sich am Boden versammelt hatten. Es waren mehrere Dutzend, aber von keinem von ihnen war zu
erwarten, daß er sich für Sugriva oder Rani verwenden würde. Genau im Zentrum der Bodenfläche befand sich etwas, das wie die Miniaturausgabe des Tempels aussah. Es war etwa so hoch, daß ein Mann stehend darin Platz gefunden hätte, aber wenn es überhaupt etwas beinhaltete, blieb es den Blicken entzogen. Das Gebilde war rundum geschlossen. »Rani …!« Sugrivas Ruf spülte die Verzweiflung, die er zu unterdrücken versuchte, nach oben. Er blickte zu ihr und sagte, gerade laut genug, daß sie, aber hoffentlich keiner dort unten ihn verstehen konnte: »Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben. Das, was hier geschieht, wird daran nichts ändern!« Er sah Tränen auf ihrem Gesicht. Einem so liebreizenden Gesicht, daß der Gedanke, ihm könnte gleich Gewalt angetan werden, Rani schier in den Wahnsinn trieb. Dennoch versuchte er, nach außen hin weiter Ruhe vorzuspiegeln. Sugriva war dazu nicht imstande. »Wer … tut so etwas? Kein Mensch könnte …« Ihre Stimme erstickte in einem Schrei, noch viel schauriger als jener, der ihr Erwachen begleitet hatte. Es hatte begonnen. Die unsichtbaren Hände, die sie hoch hinauf in die Luft gehoben hatten und dort festhielten, verwandelten sich in unsichtbare Klingen, die sie bei lebendigem Leib enthäuten wollten. Auf dem Rücken entstand ein präziser erster Schnitt. Vieltausendfach erprobt. Doch dann wurde offenbar, daß sich diese Häutung von den unzähligen davor unterscheiden würde. Wer immer das mörderische Skalpell führen mochte – in Sugrivas Fall wich er von den Vorgaben ab. Quer über den schlanken Hals des Mädchens entstand eine klaffende Wunde, die die Haut verheerte und sie für den ihr zugedachten Zweck – eine weitere Seite im Buch der Bücher zu liefern – unbrauchbar machte.
Blut regnete auf die Mönche hinab, die in heilloser Panik davor flüchteten, als könnte es ihnen schaden. Dann bewahrheitete sich, was der Mönch Rani hinsichtlich Sugrivas Verbleib geantwortet hatte: »Sie Ist Dir Vorausgeeilt.« Der Junge spürte, wie die Kraft, die ihn und die Toten gehalten hatte, jäh versiegte. Aus zehn Metern Höhe fiel er wie ein Stein zu Boden. Er war sofort tot.
* Ganz in der Nähe … Baghdi schrak aus seiner Trance, verlor die Gewalt über den Federkiel in seiner Hand, und mit einem durch Mark und Bein gehenden Mißton schabte die blutgetränkte Spitze über den riesigen Bogen aus Menschenhaut, der auf dem Schreibpult festgespannt war. Die Seite, die – wie alle anderen davor – Eingang in die EWIGE CHRONIK finden würde, konnte also nicht verrutschen. Der falsche Federstrich lag eindeutig an Baghdi. Die Schuld an diesem noch nie geschehenen Mißgeschick trug er – ganz allein er. Fassungslos starrte er auf das zerstörte Piktogramm aus Blut. Im selben Moment wurde eine der sieben Türen im Rund des Skriptoriums aufgerissen. Nur Sekunden später die nächste. Zwei Gestalten, gekleidet wie Baghdi, stürmten herein. Terentius stolperte über die eigenen Füße, kam zu Fall und schlug mit dem Gesicht auf. Sein Schrei löste Baghdis Konzentration endgültig auf. »Seid ihr wahnsinnig …?« Der Tranceschreiber stöhnte benommen. Terentius heulte indes wie ein getretener Hund. Er versuchte sich wieder aufzurichten. Seine Nase hing schief, als hätte er sie beim Sturz gebrochen. Sein Begleiter Gordon kümmerte sich nicht um
ihn, sondern blickte starr auf Baghdi, in dem noch die Bilder nachschwangen, die er gesehen hatte. »Mir hat geträumt, sie … sie brauchten uns nicht mehr …!« keuchte er. Baghdi hatte ein Gefühl, als lege sich eine knöcherne Klaue um seine Kehle. Zeit verrann, ohne daß er imstande war, etwas zu erwidern. Er war schockiert, weil Gordon das in Worte gefaßt hatte, was er selbst empfunden hatte, in dem Moment, als er aus seiner Arbeit geschreckt worden war. Mir hat geträumt … Er erhob sich vom Stuhl. Sein Rücken war steif und verspannt, als hätte er Tage in ein und derselben Haltung zugebracht. Langsam ging Baghdi auf Gordon und Terentius zu. Gordon wäre als nächster an der Reihe gewesen, den Federkiel zu übernehmen. Eine Abfolge, die schon eine kleine Ewigkeit Bestand hatte. »Was ist mit dir?« richtete Baghdi das Wort an Terentius, dem das Blut aus der Nase schoß. Es befleckte Kleidung und Boden im selben Ton wie die Tinte das ledrige Pergament dort auf dem Pult, von dem Baghdi, Gordon und Terentius noch nicht ahnten, daß es die letzte Seite der EWIGEN CHRONIK war, in der seit Urzeiten die böse Geschichtsschreibung der Menschen und deren Herren verzeichnet worden war. »Ich empfinde dasselbe«, beantwortete Terentius gequält Baghdis Frage. Vorsichtig hob er die Hand, um seine schiefe Nase zu betasten – und ließ sie unvermittelt wieder sinken, als er das absolut Zweitrangige dieser Verletzung begriff. Bedeutungslos im Vergleich zu dem, was Gordon gerade angesprochen hatte. »Wir müssen mit den anderen reden«, entschied Baghdi. »Und zwar schnell.« Ohne Zögern ging er auf eine der noch geschlossenen Türen zu, vier an der Zahl. Neben den Unterkünften von Gordon und Terenti-
us stand auch seine eigene offen. Insgesamt waren sie zu siebt. Sieben auf engstem Raum zusammengepferchte Schreiber, die sich an ihre Vorleben nicht – oder kaum mehr – zu erinnern vermochten. Irgendwann hatte sich ein jeder im Skriptorium wiedergefunden, vertieft in eine Arbeit, deren Sinn ihnen niemand erklärt hatte. Mit geschlossenen Augen nahmen sie Anteil am Geschehen der Welt draußen – einer Welt, die wie ein Traum vor ihrem Geist Revue passierte. Intuitiv erkannten die Schreiber, was davon wichtig war, was festgehalten werden mußte für jene, die eines Tages in der CHRONIK lesen würden. Sie selbst aber vergaßen die Inhalte der Seiten, sobald sie aus ihrer Trance erwachten. Den Schmerz und die nicht grundlos angezettelten Kriege, alles, was die Welt in Atem hielt, erlebten sie nur während der Niederschrift. Danach verblaßten die Eindrücke, zu denen ihr besonderes Talent ihnen Zugang verschaffte … Noch bevor Baghdi die nächstgelegene Stube erreichte, drang ein Schrei daraus hervor. Obwohl er von der geschlossenen Tür gedämpft wurde, ließ er nicht nur Baghdi, sondern auch die beiden anderen Schreiber zurückprallen. »Mala!« Baghdi überwand sein Zögern. Mit ausgreifenden Schritten erreichte er die Tür. Es gab keine Schlüssel oder Riegel, dennoch hatte er beim Öffnen für einen kurzen Moment das Gefühl, als leiste die Tür Widerstand. Als versuchte ihn etwas am Betreten der Stube zu hindern. Mala war jüngst erst zu ihnen gestoßen. Ihr Geschlecht spielte nur eine untergeordnete Rolle. Sexualität hatte in dem Dasein, das sie fristeten, keinen Platz. Nicht ein einziger von ihnen besaß auch nur eine verschwommene Erinnerung an Lust oder gar Wollust. Wären sie dazu noch fähig gewesen, wäre das beengte Zusammenleben unerträglich gewesen. Denjenigen, die sie ausgesucht und hierher geholt hatten, war dies bewußt gewesen, und so hatten sie Vorsorge
getroffen, indem sie die Gefühle der Schreiber kastrierten. Weder Baghdi noch ein anderer war in der Lage, sie dafür zu hassen. Etwas, was man nicht kannte, empfand man nicht als Verlust … Baghdi überwand seine Irritation. Er riß die Tür auf. Mala ruderte verzweifelt mit den Armen. Aber es war fraglich, ob sie Baghdi überhaupt wahrnahm. Ihr war die Sicht verdeckt. Von einer Gestalt in roter Robe. Baghdi kannte die Robenträger. Sie versorgten sie mit allem Lebensnotwendigen. Zumindest hatten sie das früher getan. Die Absicht von diesem jedenfalls war nicht mißzuverstehen: Er brachte Mala um! Er erwürgte sie! Und weder Baghdi noch die nachstürmenden anderen Schreiber konnten ihn daran hindern. Im Gegenteil. Nach Mala wandte er sich ihnen zu. Und mit einer Hellsichtigkeit, die er sonst nur beim Schreiben der CHRONIK bewies, glaubte Baghdi zu begreifen, warum nur noch Terentius und Gordon zu ihm ins Skriptorium gestürmt waren. Bei den anderen ist der Rote schon vorher gewesen! Nicht nur Mala – sie alle sollten grundlos umgebracht werden! Wirklich grundlos?
* Yakshamalla, zur selben Stunde Noch vor Morgengrauen schrak Goprum aus bleiernem Schlaf. Er war allein. Das Innere der Hütte war dunkel, und sein erster wacher Gedanke galt der Frage, ob sie Sugriva geholt hatten – ob das hinterhältige Komplott, das er angezettelt hatte, geglückt war … Jemand hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür.
Goprum erhob sich hölzern. Von draußen erklang Marathes Stimme, die Stimme seines Mitverschwörers: »Mach schon auf! Schnell! Wir müssen von hier verschwinden …!« Goprum fluchte gereizt. Marathe mußte den Verstand verloren haben. Wenn er so weitermachte, würde er noch das ganze Dorf aufwecken. Er schob den Riegel zurück. Die Tür schwang auf, und Marathes Faust schloß sich um Goprums Hemdkragen. »Bist du …?« Weiter kam Goprum nicht. Marathe zerrte ihn ins Freie, wo ihm klar wurde, daß er vermutlich der letzte gewesen war, der in Yakshamalla noch geschlafen hatte. Überall rannten Menschen durcheinander. Sie gestikulierten wild in dieselbe Richtung, in die auch Marathe zeigte. Zu dem Obelisken auf dem Dorfplatz, der … zu brennen schien. Purpurglanz umgab ihn wie feurige Lava, und aus ihm heraus ertönte ein dumpfes, langsam anschwellendes Grollen. Goprum stützte sich gegen die Wand seiner Hütte, deren Steine die unerklärlichen Erschütterungen übertrugen. »Was … ist das?« »Das fragst du noch?« Marathes Stimme überschlug sich. »Sie sind es! Kapierst du denn nicht?« »Was soll ich kapieren?« »Daß unser Plan nach hinten losgegangen ist! Wir haben den Bogen überspannt! Wie konnten wir nur glauben, daß Sie es nicht merken würden?« Goprum spuckte verächtlich aus. In diesem Augenblick eilte einer der Dorfbewohner an ihnen vorbei in Richtung Dorfmitte und schrie: »Der Obelisk … etwas kommt daraus hervor!« Im Purpurschein, der bis zu ihnen reichte, wechselten Goprum und Marathe verständnislose Blicke.
»Vielleicht steckt er dahinter«, knurrte Goprum. »Wer?« »Rani!« »Wie sollte der …?« Eine andere Stimme voller Leid übertönte ihn: »Sugriva! Unsere Tochter … sie ist weg!« Es war Sugrivas Vater, der gerade aus seiner Hütte wankte. Eine Weile wirkte er desorientiert. Dann taumelte auch er auf den Obelisken zu. Goprum schnitt eine Grimasse, als wollte er sagen: Na also! Auch Marathe fühlte vage Erleichterung. Sugriva wäre nicht verschwunden, wenn Sie das Opfer nicht akzeptiert hätten. »Komm!« Goprum faßte Marathe am Handgelenk und zog ihn mit sich. Marathe leistete keinen Widerstand. Langsam gingen sie dem Obelisken entgegen, dessen Licht nicht nur sie anzog, sondern jeden Bewohner aus seiner Behausung hervorlockte. Auf dem ehemals glattgeschliffenen Obelisken prangte ein Gesicht, dessen Schönheit jeden fesselte und dessen steinerner Mund sich öffnete, als wollte er das Wort an die Menschen von Yakshamalla richten. Statt dessen entließ er den Tod. Und mit ihm sechs andere Münder in sechs anderen Dörfern. Onan verwüstete Yakshamalla. Artor tilgte Birethanti. Isis, Sem, Neel, Kaila und Narasin die restlichen Orte des KULTS. Kein Stein blieb auf dem anderen, und nur die Mörder selbst überlebten. Ein Ruf hatte sie ereilt. Der Ruf, auf den sie immer gewartet hatten.
*
In the Jungle, savaged by wild beasts I could not name … Peter Sirr
Gegenwart, Paris An diesem Abend hielt Jerome Vautier es nicht auf dem Friedhof aus, auf dem sein Grab lag. Mit dem Licht des Tages waren auch die Menschen verschwunden, die dem Totenacker auf dem bewaldeten Hügel inmitten der Stadt einen Besuch abgestattet hatten. Ihre Stimmen, denen Jerome durch die schwere Marmorplatte seines Sargs hindurch gelauscht hatte, waren verklungen. Nur ein kalter Wind flüsterte noch in den wenigen Blättern, die im fast kahlen Geäst der Bäume hingen. Überall auf den Wegen lag Laub wie ein Symbol der Vergänglichkeit schlechthin. Als wollte es sagen: Leben, das heute noch blüht, kann morgen schon welken. Nur der Tod hat Bestand. Nur die Kraft des Jenseitigen existiert ewig … Aber auch dieses unheilige Feuer wollte geschürt, seine Glut in Gang gehalten werden. Die Magie, die Jerome weiter bewegte, obwohl sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, seine Lungen aufgehört hatten zu atmen, forderte ihren – im wortwörtlichen Sinne – Blutzoll. Ein untotes Geschöpf wie Jerome schmarotzte vom Leben anderer. Und in all der Zeit, die er nun schon ein Diener war, hatte es kaum je einen Menschen gegeben, der ihm freiwillig etwas von dem warmen Strom, der seine Adern durchfloß, abgegeben hätte. Jerome mußte sich nehmen, wonach ihm verlangte. Immer und immer wieder. Nur so konnte er seinen erkalteten Körper vor dem Zerfall bewah-
ren. Nur so konnte er seinen Traum, auf dieser Welt zu wandeln, aufrechterhalten. Ein grausamer Traum – grausam vor allem für die, die Jeromes Aufmerksamkeit erregten … Das Lächeln, das diesen Gedankenflug begleitete, blieb unter seinen Züge verborgen, die so bleich waren, als läge dicke Schminke darüber. Obwohl die Tore des Friedhofs Père-Lachaise inzwischen geschlossen waren und erst am nächsten Morgen wieder öffnen würden, hellten vereinzelte Gaslaternen die verschlungenen, heckengesäumten Wege auf. Jerome wußte nicht genau, warum die Stadt dieses Licht, das kein Toter brauchte, vergeudete. Aber vermutlich hatte es mit der uralten Scheu des Menschen vor Plätzen wie diesem zu tun. Und vor der tiefverwurzelten Furcht, die das Dunkel in einem pochenden Herz zu wecken vermochte. Er beschleunigte seinen Schritt. Sand knirschte unter den Ledersohlen zu enger Schuhe. Neuer Schuhe. Der Meister hatte sie ihm geschenkt. Erst gestern, nachdem sie ein gemeinsames Blutmahl gehalten und ihr Opfer – aus einer Laune heraus – barfüßig zurückgelassen hatten. Mein Herr und Meister, dachte Jerome und wankte kurz, ohne daß es ihm bewußt geworden wäre. So ganz konnte er die Rückkehr dessen, der ihn vor langen Jahren zum Diener auserkoren hatte, immer noch nicht fassen. Zu gegenwärtig waren noch all das Leid und die Verwirrung, in die ihn sein jähes Verschwinden seinerzeit gestürzt hatte. Ein Diener ohne Herr … das war ein Unding! Eine Katastrophe, die Jerome nie verwunden hatte. Noch eine Idee schneller trugen seine Beine ihn vom Nebenweg auf eine der asphaltierten Straßen, die so breit waren, daß sie mühelos von Autos hätten befahren werden können. Sie trugen Namen, wie auch der Friedhof insgesamt eher einer eigenständigen kleinen Stadt ähnelte als einem bloßen Ort der Besinnung. Schlichte Gräber
bildeten die Ausnahme. Wohin das Auge blickte, traf es auf die Werke bekannter, zumindest aber talentierter Bildhauer und Steinmetze. Grüfte, Mausoleen, Denkmäler und Büsten gaben Aufschluß über die Berühmtheiten, deren sterbliche Reste hier zur ewigen Ruhe gebettet waren. Chopin, Balzac, Moliere … Vor der Rückkehr des Meisters hatte Jerome häufig stumme Zwiesprache mit den längst zu Staub Verfallenen gehalten, und oft hatte er bedauert, daß Hector Landers, der Meister, nicht wenigstens ein einziges dieser Genies vor dem Tod beehrt hatte, um ihm, Jerome, einen geistreichen Gefährten für die vielen einsamen Nächte zur Seite zu stellen, in denen er nicht mit der Jagd nach fremdem Blut beschäftigt war. … Oscar Wilde, Victor Noir, Allan Kardec … Jerome war der Gedanke gekommen, Landers jetzt darum zu bitten. Bevor er vielleicht wieder fortging und auf lange Zeit verschwand. Auch im Paris der Gegenwart tummelten sich Persönlichkeiten, die Jerome als Bereicherung seines Alltags geschätzt hätte. Da er aber nicht in der Lage war, sich selbst zu helfen – eine Dienerkreatur konnte selbst keine Diener schaffen; seine Gier hinterließ nur Tote, die tot blieben –, konnte nur der Meister ihm diese Bitte erfüllen. Jeromes Herr hatte sich in einer Wohnung im Stadtteil La Defense häuslich eingerichtet, nachdem sie die ersten Tage gemeinsam und vorzugsweise bei Nacht die Stadt durchstreift hatten. Inzwischen fiel Jerome kaum noch auf, daß der Meister sich bei ihren ersten Begegnungen und Unternehmungen höchst merkwürdig verhalten hatte – so als klafften enorme Lücken in seiner Erinnerung. Mehrfach hatte er sich von Jerome seinen eigenen Namen bestätigen lassen. Und bei dem ersten Opfer, das sie zu früher Morgenstunde in einer gottverlassenen Metrostation gefunden hatten (Jerome erinnerte sich mit wohligem Behagen, wie das Mädchen ge-
storben war, nachdem sie sich rechts und links wie Egel an seine blutenden Halswunden festgesaugt hatten), hatte der Meister ihm sogar den Vortritt lassen wollen, als sei er, selbst was das Elementarste anging, zutiefst verunsichert … Jerome schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment geriet seine Vorwärtsbewegung ins Stocken. Seine Instinkte schlugen an. Seine niedersten und zugleich ausgeprägtesten Instinkte … Witternd wie ein Tier legte er den Kopf schief. Seine Augen bohrten sich in die wolkenverhangene Nacht. Fast in derselben Sekunde begann ein feiner Nieselregen vom Himmel zu fallen. Kein Stern war zu sehen. Nur die weit auseinanderstehenden Laternen streuten ein ebenso gelbliches Licht wie die Sodiumlampen, die, unterhalb des Hügels und weit entfernt, den Eiffelturm wie einen glänzenden stählernen Dorn in der Nacht ragen ließen. Der Meister war älter als dieses Wahrzeichen. Viel, viel älter. Wenn ich es klug anstelle, dachte Jerome, werde auch ich die Zukunft sehen. Vielleicht werde ich dabei sein, wenn Geschöpfe wie der Meister einst mit den Menschen zu den Sternen hinauffliegen und fremdem Leben begegnen. Die Herren würden den KEIM über die ganze Galaxie verbreiten und – Narr! Wie hatte er vergessen können, daß etwas Schreckliches passiert war? Hier, auf diesem Planeten! Etwas, das die Mächtigen, die Jerome ehrerbietig die »Herren« nannte, grauenhaft dezimiert hatte! Er hatte Hector Landers danach befragt, aber auch, was das anging, schien der Meister über weniger Informationen zu verfügen als Jerome selbst. Was war ihm widerfahren? Wer hatte ihm das angetan? Jerome würde den Schuldigen, so er seiner einmal habhaft werden würde, gnadenlos zur Rechenschaft ziehen. Er würde sein Pseudole-
ben jederzeit für Hector Landers in die Waagschale legen – weil er es mußte. Der Keim des Herrn ließ ihm keine Wahl … Die Dienerkreatur verdrängte die Erkenntnis, nicht mehr als zu unbedingtem Gehorsam verpflichtetes Ding zu sein. Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse, bis ihr Gesicht in jene Richtung zeigte, aus der sie der Blutodem erreichte. Jerome konnte im Dunkeln sehen wie in der Dämmerung eines Tages. Aber er sah nur Gräber. Steine mit Namen und Inschriften. Skulpturen … Trotzdem schaffte er es nicht, sich abzuwenden und den Friedhof, wie eigentlich beabsichtigt, auf direktem Weg zu verlassen. Witterung und Instinkt erwiesen sich als stärker, und so schritt er schließlich dorthin, von wo vergossenes Blut ihn lockte. Frisches Blut, in seiner Ausdünstung derart intensiv, daß es Jerome kaum vorstellbar schien, es könnte sich lediglich um ein Getier handeln, das einem anderen zum Opfer gefallen war … Sein Weg führte auf eine hinter Buschwerk halb verborgene, alte Gedenkstätte zu, die in ihrem Baustil von Napoleons Ägyptenfeldzug beeinflußt schien: In der Form einer Pyramide erhob sie sich bis unter die Kronen einiger hoher Bäume. Ein von Grünspan und Spinnweben ummanteltes Eisengeländer umfriedete das Denkmal, das prominenten Opfern der französischen Revolution gewidmet war. Jerome ging links daran vorbei. Die Geräusche seiner Schritte, die jetzt hohe Laubschichten durchwateten, kamen ihm überlaut vor, ohne daß ihn dieses Empfinden jedoch zu erhöhter Vorsicht veranlaßt hätte. Noch einmal wich er einer Heckenpflanzung aus, deren dürre Zweige wie Gichtfinger in die Nacht griffen. Dahinter entdeckte er, worauf seine Witterung angesprochen hatte. Sekundenlang war Jerome von dem Anblick, der sich seinen
nachtsichtigen Augen bot, so gefangen, so … bewegt, daß er wie gelähmt dastand und gebannt auf den Klumpen rohen Fleisches stierte, der einmal ein Mensch gewesen sein mußte, ein Mann von vierzig oder fünfzig Jahren. Genau ließ sich dies bei allem, was dem Opfer angetan worden war, allerdings nicht mehr bestimmen. Hie und da klebten noch blutgetränkte Reste von Kleidung an dem Verstümmelten, der, rücklings liegend, mit offenen Augen in den Abgrund des Himmels schaute, als verberge sich dort irgendwo derjenige, der das Greuel an ihm verübt hatte. Jerome setzte sich ruckartig in Bewegung, und als ihn nur noch zwei Schritte von dem Leichnam trennten, bahnte sich ein Verdacht den Weg in sein Bewußtsein; ein Verdacht, der nur im ersten Moment absurd erschien. Ein Köder, dachte Jerome beklommen. Er liegt da, als … Ruckartig blieb er stehen, legte den Kopf in den Nacken und spähte in die Krone des Baumes, dessen überhängende Zweige den Fundort der Leiche beschirmten. … als sollte er von mir gefunden werden! So schnell, daß Jerome keine Zeit blieb zu begreifen, worum es sich handelte, stürzte etwas von dort oben auf ihn herab, schmetterte ihn zu Boden und begrub ihn unter seinem Gewicht.
* Zur gleichen Zeit � Louvre, Richelieu-Gebäude, Cour Khorsabad � Bis auf die gedämpften Lichtquellen, die die Ausstellungsgegenstände illuminierten, war es finster in den verzauberten Räumen und Gängen, von denen Hector Landers nicht mehr lassen konnte, seit er sie in Jeromes Begleitung zum ersten Mal betreten hatte. Er hätte nicht sagen können, was ihn hier denn genau faszinierte –
es schien kein bestimmtes Exponat zu sein, sondern ganz einfach die Atmosphäre, die ihn sich heimisch fühlen ließ. Heimischer als an irgendeinem anderen Ort, den er aufgesucht und wo er verweilt hatte, seit er in dem italienischen Kloster Monte Cargano zu sich gekommen war.* Wenn man es so bezeichnen durfte. In Wahrheit war er nicht zu sich, sondern zu einem ihm völlig Fremden gekommen, hatte sich an nichts mehr erinnern können, was vordem seine Persönlichkeit ausgemacht haben mußte. Er war als Mann ohne Vergangenheit aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht. Inzwischen wußte er etwas mehr über sich. Aber wie das so war mit Informationen, die man aus zweiter Hand erhielt: So ganz akzeptieren konnte Landers die gewonnenen Erkenntnisse immer noch nicht. Sicher schien jedoch, daß er kein Mensch war, zumindest kein normaler Mensch. Jerome hatte ihm endgültig klar gemacht, daß die unterschwellige Anziehung, die Blut auf Landers ausübte, einen ebenso einfachen wie barbarischen Grund hatte: Es war seine Nahrung – die einzige, die ihn wirklich sättigen konnte! Und Lilith? Er drehte sich einer Wandstele zu, die vom Sieg eines Priesterkönigs namens Ur-Nansche gegen irgendwelche Feinde berichtete, vor ungefähr viereinhalbtausend Jahren. Eine Weile tasteten Landers’ Blicke über die sumerischen Schriftzeichen, die zu lesen ihm keinerlei Mühe bereitete. Ihn fröstelte. Vor sich selbst. Und Lilith? lenkte er seine Gedanken wieder auf die Frau, mit der er den einstürzenden Mauern des Monte Cargano entronnen war. Die Frau, deren Erinnerung ein ebenso unbeschriebenes Blatt zu sein schien wie seine eigene – wer oder was war sie? Auch ein … Vampir? *siehe VAMPIRA T25: »Inkarnationen«
»Meister« hatte Jerome ihn genannt. Jerome, der ebenfalls nach dem warmen Lebenssaft der Menschen gierte, der sich ansonsten aber drastisch von Landers unterschied. Offenbar hatte er, Hector Landers, seinen Blutdurst irgendwann an diesem Jerome gestillt und ihn damit getötet. Aber Jerome war nicht tot geblieben. Er hatte sich wieder aus seinem Grab erhoben und wandelte seither als düstere Karikatur eines Menschen durch die Straßen von Paris. Von einem Keim hatte Jerome gefaselt, den Vampire wie der Meister auf ihre Opfer übertrugen. Und falls sie nicht das Genick der damit infizierten Menschen brachen, wurde aus ihnen das, was auch aus Jerome geworden war: ein Diener – eine … Kreatur, deren einzige Gier auf die rote Labsal aus den Adern eines Lebenden ausgerichtet war und auch sie zum unentwegten Töten anhielt … Ich bin ein Monster, dachte Landers. Wenn überhaupt, dann beunruhigte ihn daran nur, daß ihn dieser Gedanke nicht beunruhigte. Wieder schaute er auf zu Ur-Nansches gekröntem Haupt. Jerome ist überzeugt, ich sei unsterblich. Ich würde seit Jahrhunderten, vielleicht seit noch längerer Zeit über die Erde wandeln – wie ein … Er zögerte. … ein Gott. Die Vorstellung, der Khorsabad-Hof innerhalb des Louvre übe deshalb solche Anziehungskraft auf ihn aus, weil ihm die hier lagernden Schätze vertraut waren, ließ Landers nicht mehr los. Vielleicht hatte er sich aus keinem anderen Grund als diesem heute gegen Abend hier einschließen lassen, bedenkenlos und sorglos gegenüber all den Warnsensoren und auch den Wächtern, die in bestimmten Zeitabständen ihre Rundgänge machten … Warum erinnere ich mich nicht? An nichts! Zumindest an nichts, was vor dem Erwachen in der steinernen Zelle des Klosters lag.
Im Monte Cargano war er gefangen gehalten worden wie ein Verbrecher. Ohne Wasser, ohne Brot, als hätten die dort lebenden Mönche gewußt, was für eine Bestie in Menschengestalt er war. Ein Vampir – einer, der das Leben anderer trank, um sein Altern aufzuhalten, seine Macht zu mehren … Macht? Fast hätte Hector Landers laut aufgelacht. Natürlich, er gebot über eine Kreatur wie diesen Jerome – wenn man das Macht nennen wollte … Er kehrte der Stele den Rücken. Wieder dachte er an Lilith Eden, die ohne ihn nach Australien aufgebrochen war, weil sie dort Nachforschungen über ihre Identität anstellen wollte. Auf die Rückseite eines Bildes, das sie hier in Paris gefunden hatten, war eine Adresse in Sydney vermerkt worden: 333, Paddington Street. Darüber hatte noch anderes gestanden: Haus der Hure. Und »Kind der Hure« hatte eine hiesige Vampirin kurz vor ihrem Tod Lilith genannt. Auf anderen Fotos hatten sie weitere Notizen entdeckt: die Namen Creanna, Sean Lancaster und Lilith. Wenngleich seine Begleiterin mit den beiden ersteren nichts hatte anfangen können, so waren die Hinweise doch erfolgversprechend gewesen. Auf den Fotos war ein altes Haus abgebildet, umgeben von einem riesigen Garten, und Lilith hoffte nun, es könnte ihr Zuhause sein. Das Heim ihrer Familie, über die sie nichts mehr wußte, an die sie sich so wenig erinnerte wie an andere Bestandteile ihrer Vergangenheit. Identische Schicksale: Sie waren beide ohne Erinnerung zeitgleich am selben Ort »aufgewacht«, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt waren und warum sie sich dort aufgehalten hatten! Mit Zufall hatte das nichts mehr zu tun. Wir gehören zusammen, dachte Landers. Irgendwie – aber wie genau?
Er hatte mit Lilith geschlafen. Danach jedoch schien zwischen ihnen eine Kluft entstanden zu sein. Landers war sich nicht mehr völlig sicher, was er von dieser Frau halten sollte, die wunderschön war – und die, genau wie er, keiner normalen Nahrung bedurfte. Zudem besaßen sie beide offenbar die Fähigkeit, Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Sie mußten ein Paar gewesen sein – auch schon, als sie beide noch nicht unter dieser Amnesie gelitten hatten! Landers schloß kurz die Augen. Ruhig, dachte er, nur die Ruhe. Seit Jerome ihm die Schönheiten dieser Stadt gezeigt und sie ein paar der besonderen Delikatessen gekostet hatten, fühlte er sich nicht mehr so unstet, stand er nicht mehr permanent unter Strom. Er würde die Antworten finden. Auf alle offenen Fragen. Wenn sein Diener Recht hatte, besaß er alle Zeit der Welt, das Geheimnis seiner Identität zu ergründen. Vielleicht würde auch Lilith auf den entscheidenden Hinweis stoßen, der ihnen beiden half, sich selbst wiederzufinden … Er wollte die Augen wieder öffnen und weiter in den Reliquien einer vom Antlitz der Welt verschwundenen Hochkultur schwelgen. Mesopotamien, Ur, Nippur, Lagasch, Mari … In diesem Augenblick geschah es. Im Zentrum seines Kopfes zündete eine Art Urknall. Landers zuckte zusammen und suchte panisch Halt in seiner Umgebung. Aber das einzige, was er in seiner Orientierungslosigkeit zu fassen bekam, war eine kleine Lapislazuli-Beterstatue, die er ungestüm vom Sockel riß. Sie entglitt seinen Fingern und zersprang am Boden in etliche Teile. Und während die Schwärze in seinem Hirn wieder zurückschrumpfte, schrillten in seinen Ohren bereits die Sirenen eines Alarms, den er ausgelöst hatte. Einen Moment stand er wie erstarrt, und im nächsten wußte er,
was geschehen war. Woher dieses Wissen kam, blieb unergründet. »Jerome …«, rann es über seine Lippen. Dem leisen Gemurmel folgte ein Aufschrei von solcher Stimmgewalt, daß er sogar die gerade in die Halle stürmenden Museumswächter zurückprallen ließ: »JEROME …?«
* Père-Lachaise Kalte Asche rann wie staubfeiner Sand durch gespreizte Finger – Finger, die fellüberzogen waren. Gieriger Atem blähte Nasenflügel, als wären es die Nüstern eines Pferdes nach langem Ritt. Genugtuung glitzerte in Augen, die katzenhaft in der Dunkelheit glommen. Der volle Mond am hohen Firmament war nur zu ahnen. Geschlossene Wolkenfelder verwehrten die Sicht darauf, und der Regen war kaum stärker als fallender Nebel. Für die am Boden neben dem Leichnam kauernde Gestalt machte es keinen Unterschied ob der Mond sein fahles Licht sichtbar verströmte oder nicht. Er war da, und das genügte, um die dunkle Seite der Wolfsfrau zu erwecken – sie in ein Geschöpf von tierhafter Stärke zu verwandeln, das nichts und niemanden zu fürchten hatte. Wirklich nicht? Nona reckte die Arme über das vom Fluch entstellte Haupt. Wirklich nicht …? Chiyoda, ihr weiser Mentor, hatte sie eindringlich gewarnt, dem Mann wiederzubegegnen, mit dem ihr Schicksal seit Jahrhunderten verbunden war: Landru, der ehemalige Kelchhüter. Der Mann, der mit Hilfe des Lilienkelchs vampirisches Leben in den abgelegensten Winkeln der Welt gesät – und auch Nona dereinst aus diesem magischen Gefäß hatte trinken lassen. Vor beinahe einem halben Jahrtausend …
Die Wolfsfrau erzitterte. Die seither verflossene Zeit hatte ihr wenig anhaben können. Obwohl keine Vampirin, sondern ein Monstrum von anderem Geblüt, war ihr Körper in den Jahrhunderten nur um wenige Jahre gealtert. Sie war blutjung gewesen und jung geblieben, seit Landru ihr das Geschenk der Langlebigkeit gemacht hatte – seit er den finsteren Gral der Vampire zu einem Zweck entfremdet hatte, für den dieser gewiß nie vorgesehen war.* Danach hatten sie beide nicht gefragt, in jener Nacht, als Landru vom Gift der Jahre, vom Gift der Zeit berichtet hatte. Nona hatte sein schwarzes Blut aus dem Kelch empfangen und eine Bluttaufe erhalten, wie vor und nach ihr noch kein menschliches Wesen. Seither waren sie verbunden gewesen. Auch längere Trennungen hatten ihre Gefühle füreinander nicht erkalten lassen. Zeit war ein Gut gewesen, mit dem sie beide es gewohnt waren, verschwenderisch umzugehen … Wieder erbebte Nona bis in ihren Kern. Die klaffende Wunde in ihrer Seele war frisch und verfolgte sie in jeden Traum hinein. Auch wenn ihr Leben nicht akut bedroht sein mochte, würde es sich durch das, was geschehen war, doch radikal verändern. Zum ersten Mal überhaupt würde sie sich Gedanken über ihre persönliche Zukunft machen müssen. Aber es gab kaum etwas, das ihr momentan schwerer fiel, als logische Überlegungen anzustellen. Sie war völlig aufgewühlt, und diese Verwirrtheit hatte am wenigsten mit dem eitrigen Auge des Mondes hinter den Wolken oder dem Trieb zu tun, der sie allmonatlich heimsuchte und zum Töten zwang … Mit einem letzten Blick auf die Asche, in die sich die Dienerkreatur verwandelt hatte, nachdem ihr Genick unter Nonas Pranken gebrochen war, zog sich die Werwölfin in die Krone des Baumes zurück, *siehe VAMPIRA T04: »Der Pfad der Wölfin«
um zu warten. Auf den, den sie gerufen hatte. Und wenn Chiyoda Recht hat? geisterte es durch ihr Gehirn. Sie beantwortete sich die Frage selbst: Dann wird mein Geliebter mir einen qualvollen Tod bereiten – denselben Tod, den er Abertausenden Kelchkindern vor mir brachte. Sie wollte es riskieren. Sie mußte es. Schon viel zu lange ging sie dem, für den ihr Herz schlug, aus dem Weg. Dem einzigen, der das Ungeheuer in ihr akzeptierte – weil er selbst noch ungeheuerlicher war.
* Niemand konnte es ihm erklären, trotzdem erfaßte Hector Landers die Ursache der »Schockwelle«, die seinen Verstand vorübergehend ins Chaos stürzte, intuitiv: Sein Diener Jerome war gestorben – zum zweiten Mal und damit unwiderruflich! Jetzt, in diesem Moment! Und nicht nur das allein erspürte er. Da war noch etwas anderes, das Landers überkam: Die Überzeugung, zu jenem Ort gelangen zu können, an dem Jerome gestorben war – indem er sich selbst ganz seinen Instinkten überließ, jegliche Logik ausschaltete und wie ein Bluthund die Fährte aufnahm … »Halt! Hände hoch und stehenbleiben! – Bleiben Sie stehen …!« Der Ruf des Wächters perlte an Hector Landers’ Verstand ab wie Regen an einer Wachshaut. Anstatt vor den hereinstürmenden Uniformträgern zu flüchten, rannte er geradewegs auf sie zu! Es waren drei … nein, vier – in diesem Augenblick erschien ein weiterer Mann in der Tür, die ins Treppenhaus führte. Durch diese Tür war auch Landers gekommen, nachdem er sich zuvor im Erdgeschoß des Richelieu-Gebäudes umgesehen und die Patrouillengewohnheiten der Sicherheitsbeamten studiert hatte.
Der Louvre besaß einen eigenen, aus Staatsdienern rekrutierten Wachdienst, eine kleine Armee, die sich den Schutz der unersetzlichen Exponate auf die Fahnen geschrieben hatte, und es war klar, daß diese vier hier nur eine kleine Vorhut dessen waren, was bereits unterwegs zum Khorsaoad-Hof war. In der Zwischenzeit würden sämtlich Ausgänge hermetisch abgeriegelt werden, so daß jeder unbefugte Eindringling in der Falle saß, aus der es kein Entkommen mehr geben konnte … Landers lächelte sardonisch. Er lächelte, während die erste Bleikugel in seinen rechten Oberschenkel hackte – und auf der anderen Seite wieder austrat. Der Mann, der geschossen hatte, fluchte. Aus zwei Gründen. Zum einen beendete die Kugel nicht, wie erhofft, den Fluchtversuch des Einbrechers – und zum anderen fürchtete er wohl um die Unversehrtheit der Ausstellungsobjekte. Landers wartete nicht, bis die auf ihn gerichteten Schußwaffen höhergelegene Bereiche seines Körpers ins Visier nahmen. Er sah einfach Hindernisse, die ihm den Weg verstellten – und die es beiseite zu räumen galt, wollte er dorthin gelangen, wohin es ihn mit solcher Stärke zog. Er hatte das Gefühl zu wachsen, während er auf die Wächter zusprintete. Seine Muskulatur schien aus allen Nähten zu platzen, die natürliche Dehnbarkeit der Haut zu überreizen … … dann hatte er den ersten von vieren erreicht. Wie die Tatze eines Grizzlys stieß seine Hand ins Gesicht seines Feindes, der seinen Unglauben mit in den Tod nahm. Seines Feindes … Landers badete in den elektrisierenden Schauern eines abartigen Genusses. Er hatte nicht erwartet, daß pure Gewalt ihm solche Gefühle bereiten könnte. Das Jagen und Stellen einer Beute, deren Blut ihn in
Wallungen versetzte, ja – aber die Exekution von Gegnern …? Noch während die zweite Kugel ein Loch in seine Brust stanzte und er dem zweiten Wächter mit einem einzigen Streich seiner Klaue tötete, begriff er, was genau ihn so berauschte: die Macht, deren Wurzeln Jerome ihm erst hatte erklären müssen – die Macht, die ihn über jeden Sterblichen erhob …! Die verbliebenen beiden Wächter wichen vor ihm zurück. Sie gaben den Weg frei, senkten ihre Waffen, als hätte sie verstanden, daß Kugeln ihn nicht stoppen konnten. Es war eine beinahe anrührende Geste, mit der sie sich ihr Leben erkaufen wollten. Aber Landers war in seinem Element, und die Art, wie er auch diese beiden verbliebenen Gegner umbrachte, erinnerte an allzulangen Verzicht, der nun in Heißhunger umschlug. In blindwütiges Töten! Das Blut der Männer verschmähte er. Diese Stadt war ein einziger gigantischer, blutdurchströmter Organismus, an dem er seine Gelüste jederzeit stillen konnte. Er mußte keine Not mehr leiden, nun, da er wußte, was für ein extremes Geschöpf er war. Die stummen Zeugen seiner Bluttat hinter sich lassend, floh er die Treppe hinab und durchbrach das erstbeste Fenster, das in den inneren Bereich des Grand Louvre führte, auf die gewaltige Freifläche, die bis hinüber zu den Tuilerien reichte … Verfolgt von Schreien, Schritten, Schüssen und Sirenen floh Landers wie ein Gespenst über den nächtlichen Platz, an Wasserspielen und architektonischen Meisterwerken vorbei, bis er die Passage zur Rue de Rivoli erreichte. Noch zweimal mußte er töten, ehe er die stark befahrene Straße entlang der Seine erreichte. Es fiel ihm leicht wie in einem merkwürdigen, aber angenehmen Traum. Dann endlich schüttelte er auch den hartnäckigsten seiner Verfolger ab und lauschte nur noch dem inneren Echo, das ihm sein scheidender Diener als letzten Gruß gesandt hatte …
* � Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sich den Geräuschen der Nacht ein weiteres hinzufügte. Schritte. Das hybride Wesen im Baum – halb Wolf, halb Frau – spitzte die Ohren. Es war in perfekter Mimikry mit dem Braun der Rinde verschmolzen, selbst für Augen, die im Dunkel sehend waren. Nona atmete flach, aber hinter ihrer Kehle staute sich die Anspannung, die zu unterdrücken ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer fiel. Die Schritte wurden lauter. Kein Zweifel, jemand kam. Er? Wie lange sie diesen Moment herbeigesehnt hatte … Aber nun, da er unmittelbar bevorstand, begann sie das Wagnis, das sie einging, plötzlich in Frage zu stellen. Was, wenn ihr weiser Mentor Recht behielt? Was, wenn Landru doch nicht allein kam, sondern in Begleitung … des Todes? Sie entsann sich einer Meditationsübung, die Chiyoda sie gelehrt hatte – der alte chinesische Werwolf, der seinen Anhängern predigte, dem verderblichen Einfluß des Mondes zu widerstehen, ihm Widerstand zu leisten und sowohl dem Morden als auch dem Kannibalismus zu entsagen … Nach einer Weile gewann sie etwas von ihrer Beherrschung zurück. Die Schritte waren jetzt ganz nah. Nona spähte durch die letzten Blätter des Baumes zum Boden hinab. Von ihrem Versteck aus konnte sie den Pfad überblicken, den auch der Untote gekommen war und wo ihn die Witterung des ausgelegten Köders erreicht hatte. Der Anblick der jetzt dort auftauchenden Gestalt ließ Nona die be-
haarten Hände fester um die armdicken Äste schließen, an denen sie sich festhielt. Ihr Atem paßte sich dem rasenden Flug ihres Pulses an. Vorbei war es mit ihrer Selbstkontrolle. Er war es! Landru hatte den Todesimpuls seines Dieners empfangen und eilte nun zum Schauplatz der Tat. Obwohl es keinen Zweifel an der Identität des Ankömmlings gab, war Nona doch von dessen Auftritt irritiert. Etwas an ihm war ganz anders als erwartet. An seiner modischen Kleidung lag es nicht. Nein, es war die Art und Weise, wie er sich bewegte. Wie er entlang des trüb erhellten Weges kam und in das Gebüsch eindrang, das schon sein Diener durchbrochen hatte. Die Sprache seines Körpers war irgendwie … falsch. Die Wolfsfrau kniff die Lippen zusammen, hinter denen das mörderische Gebiß lauerte, an dem noch das geronnene Blut des Köders klebte, von dem sie flüchtig gekostet hatte. Noch ehe sie den entscheidenden Schritt tat und sich Landru zu erkennen gab, rekapitulierte sie noch einmal in Gedanken, wie sie hierher gelangt war. Warum sie sich dem Todbringer, vor dem Chiyoda sie vor Jahresfrist noch so eindringlich gewarnt hatte, nun doch stellte. Ihr fröstelte. Chiyoda, dachte sie, ohne dich wäre ich heute nicht hier. Und ich wäre auch nicht dorthin gegangen, wo ich zwar nicht mein Leben, wohl aber meine Zukunft verlor …
* Nonas Erinnerung � Ostanatolien, ein halbes Jahr zuvor �
Haar fiel nieder und verbrannte mit dem ihm eigenen strengen Geruch. Es kam mir selbst vor wie der Versuch einer rituellen Reinigung. Den Blick auf mein Abbild im Spiegel gerichtet, dachte ich gleichzeitig: Verdammtes Lügengebilde! Denn sah mein von der bleibedampften Fläche reflektiertes Gesicht nicht aus, als gehörte es einer noch jungen, schönen Frau, der noch nichts widerfahren war, was Fältchen in die glatte Haut gegraben hätte? Und waren nicht die Augen, wenn überhaupt, das einzige, was diese Lüge entlarvte? Augen, die auch 500 Jahre nach ihrem ersten Lidschlag noch nicht dauerhaft geschlossen bleiben wollten. Am 1. Februar 1511 war ich in Perpignan, Frankreich, zur Welt gekommen, als Kind eines geistesschwachen Habenichts und einer reichen Krämerstochter. In einer Vollmondnacht war meine hochschwangere Mutter von Pierre, dem Idioten, umgebracht und bestialisch verstümmelt worden, weil sie sich nicht hatte zu ihm bekennen wollen. Und weil hinter Pierres menschlicher Maske die Fratze eines Werwolfs gelauert hatte! Im Alter von fünfzehn Jahren hatte ich begreifen müssen, daß auch ich den mitleidlosen Fluch des Mondes in mir trug; damals war zum ersten Mal das kannibalische Verlangen über mich gekommen – und die Lust am Töten. Ein Jahr später schon, in Rom, war ich dann einem Monster anderer Natur begegnet: einem Wesen, das wie ein Mensch aussah, aber kein solcher war. Seit vielen Jahrhunderten schon zog er mit einem magischen Gefäß um die Welt, um aus Menschenkindern Vampire zu schaffen, ganze Sippen von Blutsaugern zu begründen oder bereits bestehende zu erweitern. Der Mann, der diese unheimliche Saat ausbrachte, war Landru gewesen. Der Hüter des Lilienkelchs.
Mit sechzehn Jahren war ich seine Geliebte geworden und hatte eine seltene, vielleicht einmalige Gnade von ihm erfahren: Landru hatte mich aus dem Unheiligtum der Vampire, dem dunklen Gral, trinken lassen – von seinem eigenen magischen Blut! Jener Moment war mit keiner der Zeremonien vergleichbar gewesen, bei denen er die seinen mehrte. Ich hatte nicht erst – wie geraubte Menschenkinder – sterben müssen, um wiederzuerstehen. Als Folge jener Nacht, in der ich das schwarze Blut meines Geliebten hatte trinken dürfen, war mein Leib fortan nur noch kaum merklich gealtert. In all den Jahrzehnten und Jahrhunderten, die folgten, hatte ich mich von dem verführerischen sechzehnjährigen Mädchen nur in eine noch verführerischere erwachsene Frau verwandelt, die keinem Betrachter älter als zwanzig erschienen wäre. Dies mochte nicht ganz das ewige Leben sein. Aber sehr, sehr nahe daran. Nie davor und nie danach hatte ich ein kostbareres Geschenk von einem Mann erhalten. Und im Gegensatz zu Vampiren mußte ich nicht einmal regelmäßig Menschenblut trinken, um mir meine Vitalität zu bewahren. Närrin! wurde ich von einer inneren Stimme getadelt, die kein Blatt vor den Mund nahm und die ich noch nie leiden mochte. Auch du tötest, auch du verpönst kein Blut … und nicht nur das. Du frißt Fleisch. Menschenfleisch. Jeden Monat, wenn der Mond voll ist. Dein langes Leben hat einen Preis, den andere zahlen. Nichts ist umsonst. Und eines Tages wirst du dafür büßen müssen. Dann wirst du im Staub kriechen und um Schonung winseln. Aber niemand wird dich erhören. Du bist verdammt! Es stimmte: Ich führte das Leben eines Schattens. Wenig daran kam mir selbst wirklich vor. Ich schnitt die letzte Strähne ab und ließ die Haare in die Kerzenflamme auf dem Waschtisch fallen. Bei der anschließenden Rasur
meines Schädels ging ich vorsichtig zu Werke, pinselte die verbliebenen Stoppeln mit wohlriechendem Schaum ein und schabte dann mit der scharfen Klinge darüber. Anschließend wusch und cremte ich mein Haupt, zupfte sogar die Augenbrauen aus. Dabei dachte ich unablässig daran, daß Landru Haare haßte … Natürlich wußte ich auch, wie widersinnig mein Tun eigentlich war. Noch heute, nach Einbruch der Dunkelheit, würde das Gift des Mondes wieder Macht über mich gewinnen und ein neues, viel dichteres Haarkleid sprießen lassen. Was ich betrieb, war nichts als Augenwischerei. Nichts als billiger … … Budenzauber! Meine Gedanken drifteten noch weiter zurück ins Damals. Nach Afrika. Zu El Nabhal, einem dunkelhäutigen Zauberer, dessen Magie der Tücher Landru auch einmal als Budenzauber verhöhnt hatte.* Augenblicke später widmete ich mich, zärtlich, als wäre es fremde Haut, meinem Schambereich. Auch hier fiel der flaumige Haarteppich. Erregung durchpulste meinen Körper. Wie würde mein nackter Schoß ihm gefallen? Lebte Landru überhaupt noch – und wenn ja, warum konnte Chiyoda, mein Ziehvater – der mich nie verstoßen würde, obwohl ich eine überaus mißratene »Tochter« war –, ihn urplötzlich nicht mehr wahrnehmen? In keiner der von ihm besuchten Wirklichkeiten und möglichen Zukünfte … Was war geschehen mit dem Mann, den ich begehrte, seit ich sechzehn war? Seufzend ließ ich das Wasser aus dem bereitgestellten Krug über meine rasierte Scham rinnen. Das kühle Naß spülte die Reste des Schaumes und ein paar Härchen fort. Daß sich auf dem Bretterboden meiner Unterkunft häßliche Flecken bildeten, störte mich wenig. Ich hatte schon sehr viel üblere Spuren an anderen Orten hinterlassen. Als es klopfte, zuckte ich deshalb nicht einmal zusammen. *siehe VAMPIRA T04: »Der Pfad der Wölfin«
»Ja?« Den leeren Krug stellte ich ab und tupfte mich mit einem Tuch trocken. Der Türknauf wurde gedreht, und ein bulliger, vierschrötiger Kerl erschien im Geviert. Als er mich nackt vor sich stehen sah, errötete sein Gesicht unter der Bräune. Fast quollen ihm die Augen heraus. Er war weder schön, noch besaß er andere Anziehungskraft. Selbst sein Mitbringsel war erotischer. Dem Wirt war anzusehen, wie seine Gedanken zwischen Gier und Abscheu schwankten. »Danke für deine Mühe. Stell es dorthin …« Ich zeigte auf die kleine Anrichte. Er stierte immer noch. Speichel troff aus dem offenen Mund über sein Kinn und den feisten Hals hinab. Das Schlachten, um meiner Bitte zu entsprechen, die ihm außergewöhnlich erscheinen mußte, hatte ihn ins Schwitzen gebracht. »Nimm dir das Geld, das dort liegt.« Er zeigte keine Reaktion. Wie angewurzelt stand er da, das volle Tablett in den Händen. »Danke!« Endlich bequemte er sich zu der Anrichte, stellte das Tablett darauf ab und strich die zuvor ausgehandelte Summe ein. Mit derselben Schwerfälligkeit, wie er gekommen war, entfernte er sich auch wieder. Ich ging ihm nach und drückte die Tür ins Schloß, verzichtete aber darauf, sie zu verriegeln. Vielleicht würde ihm einfallen, wiederzukommen, wenn er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. Er mußte mich für völlig übergeschnappt halten. Als ich hier ankam, hatte ich noch meine Haare besessen. Und nun war ich so nackt wie bei meiner Geburt, aber nicht halb so unschuldig … Ich ging und nahm mir einen Fetzen von dem enthäuteten und entbeinten Fleisch, das der Wirt gebracht hatte. Es fühlte sich gut an.
Es roch ganz frisch, wie ich es bevorzugte. Also hob ich es an meinen Mund und biß ein saftiges Stück davon ab. Augenblicklich wurde mein ranker Körper von einem Zittern durchlaufen, als hätte es nur dieses einen Happens bedurft, um ihn zu gemahnen, was bald geschehen würde. Mit ihm und mir, die ich darin hauste. Schwindelgefühl und forderndes Pochen marterten mich unter meiner Schädelplatte. Brüste und Zwerchfell begannen zu kribbeln. Dennoch zwang ich mich dazu, die erste Mahlzeit seit meiner Ankunft hier weiter bedächtig kauend zu verschlingen. Rohes Fleisch zu verzehren, in dem noch die Wärme eines gerade erst erloschenen Lebens nachschwang, war als Delikatesse von nichts zu übertreffen. Aber auch solcher Genuß lenkte mich nur kurz von meinen übermächtigen Sorgen um Landru ab. Mit welchem Satz hatte mich Chiyoda aus meiner Tatenlosigkeit geschreckt? »Ich finde deinen Geliebten nicht mehr – in keiner der mir zugänglichen Wirklichkeiten und Zukünfte …!« Noch am selben Tag, da ich dies erfahren hatte, war der Entschluß in mir gereift, den einzigen Orte aufzusuchen, von dem ich mir vorstellen konnte, daß ich dort etwas über Landrus Verbleib in Erfahrung bringen könnte. So war ich zu diesem einsamen Gasthof gelangt. Gedankenversunken durchschritt ich das schäbige Zimmer, öffnete Fensterläden, die lange keine Farbe mehr gesehen hatten, aber die schlimmste Mittagshitze fernhielten, und spähte über die weite Ebene, die sich vor mir ausbreitete, hin zu jenem gewaltig aufragenden erloschenen Vulkankegel, dessen Gipfel auch sommers von Eis bedeckt blieb. Der Berg, an dessen Gestaden – schenkte man den Verfassern des Alten Testaments Glauben – Noahs Arche nach hundertfünfzigtägigem Regen vor Anker gegangen war …
* � Der Gasthof, der Platz genug für eine ganze Reisegesellschaft geboten hätte, beherbergte keinen Fremden außer mir. Ich war der einzige Gast überhaupt. Nur der Wirt selbst, seine matronenhafte Frau und seine fünf Kinder, die eher die Bezeichnung »Bälger« verdienten und von denen stets eines am Plärren war, hielten sich mit mir in dem heruntergewirtschafteten Haus im Schatten des Großen Ararat auf. Mit wachsender Ungeduld sehnte ich den Abend herbei. Das Begräbnis der Sonne und die Auferstehung des Mondes. Ich hatte das Fleisch der übergroßen Hitze und der Schwärme von grünschillernden Schmeißfliegen wegen hastiger hinunterschlingen müssen, als mir der Sinn stand. Den von mir erhofften Zweck erfüllte das Mahl dennoch. Die Verdammnis, die ich von meinem Vater ererbt hatte, nahm vorzeitiger als sonst Besitz von mir und ersetzte die Haare, die ich bei Tage sorgsam entfernt hatte, durch neue, borstigere, die mir dennoch willkommen waren. Ich hatte Landru auf vielen seiner Reisen begleitet – aber nie an jenen Ort, den er als »Heimstatt der Hüter« bezeichnete. Oder als »Dunklen Dom«. Ihm dorthin zu folgen, wo er vor mehr als tausend Jahren den Gral der Vampire empfangen hatte, versagte er selbst mir. Aber nicht, weil er mir nicht genügend Vertrauen entgegenbrachte, sondern weil er nicht der Herr jenes Hauses im Berg war. Im Grunde, hatte er mir erklärt, sei auch er nur ein Diener, ohne daß er – was ihn oft beschäftigte – zu sagen vermochte, wem genau er eigentlich diente. Vielleicht war ihm dieses Nichtwissen letztlich zum Verhängnis geworden. Vielleicht wäre alles – alles! – anders gekommen, wenn die Macht, die ihn einst im Dunklen Dom erweckt hatte, ihm ein klein wenig
mehr Kenntnis über die tiefere Bedeutung seines Tuns mit auf den Weg gegeben hätte! Waren wir nicht alle letztlich Sinnsucher? Ich jedenfalls ertappte mich immer öfter dabei, wie ich mich fragte, woher der Fluch, der mich und andere durch mondbeschienene Nächte hetzen ließ, eigentlich kam. Wo seine Anfänge, seine Wurzeln lagen. Mit wem hatte dieses Werwolftum dereinst begonnen – und warum? Was war von der Sage zu halten, wonach unser Fluch auf die Schandtat Lykaons zurückging, des Königs der Arkadier, der Zeus dereinst Menschenfleisch zum Essen vorgesetzt haben sollte, worauf der Göttervater ihn erzürnt in einen Wolf verwandelte, der fortan heulend durch die Wälder irren mußte? Gab es einen wahren Kern in solchem Märchen? Ich hatte viele Menschen danach befragt, Männer und Frauen, die als weise galten – auch Chiyoda –, aber entweder hatten sie keine Antworten gewußt oder sie mir mit Absicht vorenthalten – aus Gründen, die mir ein Rätsel blieben wie der Ursprung meiner Krankheit. Wenn es denn eine Krankheit war … Ich hatte das Bett so zurechtgerückt, daß ich liegend aus dem Fenster zu der Stelle des nächtlichen Himmels schauen konnte, wo das Licht, das mir seit Jahrhunderten heimleuchtete, auftauchen würde. Und als er dann kam, mein schrecklicher Versucher, kam er nicht allein.
* Diesmal betrat er das Zimmer, ohne anzuklopfen, und daß ich nicht abgeschlossen hatte, mochte er als Einladung betrachten … … dieser häßliche Narr! Ich konnte das Herz des Wirts hören, als er in den Raum schlüpfte
– es pochte laut, wie rasend. Auch ihn trieb die Gier, wenngleich sie anderer Natur war als meine. »Wer … ist da?« Ich zwang meine Stimmbänder, die sich wie der Rest meines Körpers verändert hatten, zu einem Klang, der ihn nicht gleich davonjagen würde. Dennoch stockte er kurz in der Bewegung. Aber vielleicht lag es auch daran, daß er das Bett noch an einem anderen Platz vermutete und mein scheinbar verängstigtes Geflüster ihm den rechten Weg wies. Er besaß keine Raubtieraugen wie ich. Für ihn mußte es stockfinster sein, denn der Mond war gerade erst zur Hälfte über den Horizont gewandert, und sein Schein hatte noch nicht den Weg durch das Fenster gefunden. »Ich bin es. Der Wirt …« Seine Stimme war rauh vor Erregung. »Ich dachte, Ihr hättet gerufen …« »Oh … nein. Doch … Ich …« Ich wälzte mich absichtlich auf der knarrenden Matratze, damit er es noch leichter hatte, zu mir zu finden. Daß ich das Bett umplaziert hatte, mochte ihm auch nicht verwunderlicher erscheinen als das, was ich mir selbst angetan hatte. Ich stellte mir vor, wie er den ganzen Nachmittag an mich gedacht hatte – und wie langsam der Wunsch, es mir zu geben, übermächtig geworden war. Was mochte sein fettes Weib, das ich bei meiner Ankunft nur einmal flüchtig sah, gerade tun? Die Kinder versorgen? Ich hatte sie lange nicht mehr kreischend durch das Haus stürmen hören. Schemenhaft sah ich ihn auf mich zukommen. Mit dem Schienbein stieß er gegen die hölzerne Umrandung des Bettes und unterdrückte mühsam einen Fluch. »Kann ich etwas für Euch tun?« Ich hatte auf dem Bauch gelegen. Nun stützte ich mich auf Handballen und Knie und machte einen Katzenbuckel. Dabei konnte ich das Knirschen meiner Gelenke hören. Schon vorher hatte sich mein Körper gestreckt, war meine ganze Anatomie wie unter Gezeiten-
kräften verschoben worden. Ich glaube nicht, daß ich ihm noch gefallen hätte. So wenig wie ihm gefiel, was er berührte, als er zu mir auf das Bett glitt. Vielleicht hatte ihn der Anblick meiner rasierten Haut erst verwirrt und dann – im Laufe der Stunden, die er das Bild in seinem Kopf herumgetragen hatte – allmählich um den Verstand gebracht. Und nun berührte er etwas, das seine Finger wie von einer heißen Herdplatte zurückzucken ließ. Überrascht schrie er auf, wollte zurückweichen, aber ich hielt ihn fest. »Ich dachte mir, daß du kommen würdest«, sagte ich kehlig. »Das erspart es mir, nach dir zu suchen.« Vielleicht begriff er in diesem kurzen Moment zwischen meinen Worten und seinem Tod noch, daß er den Fehler seines Lebens begangen hatte – im Grunde jedoch bezweifelte ich, daß er eine solch schnelle Auffassungsgabe besaß. Ihm blieben höchstens zwei Sekunden. Dann hatte ich ihm bereits die Kehle durchgebissen, um zu verhindern, daß seine Schreie den Rest der Familie vorzeitig warnten. Denn ich hatte nicht vor, mich mit ihm allein zu begnügen. Vor mir lag ein beschwerlicher Weg, der es ratsam machte, sich zu stärken …
* Vielleicht würde es ein Weg ohne Wiederkehr werden. Als ich den Gasthof der Toten verließ, hatte ich nur verschwommene Vorstellungen, was mich erwarten würde. Dafür war ich um so entschlossener, jedes erdenkliche Risiko auf mich zu nehmen. Das war ich ihm schuldig! Für keinen anderen hätte ich auch nur Vergleichbares getan, aber Landru hatte ich auch mehr zu verdanken als jedem anderen, und
seit Monaten schon rätselte ich, wie eine Person mit seiner Machtfülle einfach so mir nichts, dir nichts von der Bildfläche verschwinden konnte. Als hätte ihn der Erdboden verschluckt … Vielleicht ist er heimgekehrt, redete ich mir ein. Er sprach oft von der Heimstatt, in der noch andere Hüter schlafen. Hüter, die schon vor ihm mit dem Lilienkelch die Welt bereisten und sich irgendwann müde nach getaner Arbeit wieder niederlegten, damit der nächste das Werk fortsetzen könne … Wie viele Jahrtausende der Kelch von Hüterhand zu Hüterhand ging, wußte ich nicht. Aber ich wußte, daß diese Kette vor rund dreihundert Jahren unterbrochen worden war – während Landrus Amtszeit. Damals war der Lilienkelch gestohlen worden. Die Alte Rasse war seither ohne Nachwuchs gewesen und sowohl von wissenden Menschen, als auch von Unglücken dezimiert worden. Am schlimmsten aber hatte Lilith Eden unter ihnen gewütet, jene Halbvampirin, die ich verdächtigte, daß sie die Schuld an Landrus persönlichem Schicksal trug. Mit ihr hatte der Niedergang der Vampire ein rasendes Tempo erhalten. Und es war bezeichnend, daß sie, so hatte Chiyoda mir eröffnet, mit Landru verschwunden war. Offenbar zum selben Zeitpunkt, offenbar genauso mysteriös und spurlos! Hatten sie einander gegenseitig ausgemerzt? Denkbar schien es. Aber noch schob ich diese Möglichkeit weit von mir. Vielleicht würde der Ararat mir Gewißheit geben. Als Wölfin erklomm ich in jener Nacht seinen Gipfel, suchte und fand den Weg, den Landru mir nur vage beschrieben hatte – und drang ein in das Reich, das kein Wesen meines Geblüts je betreten hatte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, wie teuer ich meinen Mut – oder war es doch nur Dummheit und eitle Selbstüberschät-
zung? – bezahlen würde …
* Der Schacht, der hinab ins Herz des Dunklen Domes führte, war für Geschöpfe gemacht, die des Fliegens mächtig waren. Doch ich besaß keine Flügel, keine ledrigen Schwingen, die mich in die Tiefe getragen hätten. Vermutlich hätte ich bereits am Eingang des fast senkrecht nach unten führenden Kamins umkehren müssen – wäre er noch im ursprünglichen Zustand gewesen. Dennoch schaffte ich den Abstieg, denn der ehemals glatte, enge Schacht hatte sich geweitet. Verheerende Kräfte, deren Ursache ich nicht kannte, hatten zu Einstürzen, aber auch zu Felsbewegungen geführt, die den ursprünglichen Stollen dramatisch – und mir zum Vorteil – verändert hatten! Meine klauenbewehrten Pfoten fanden Halt, wo vorher keiner möglich gewesen war. Aber mit jedem Meter, den ich abwärts stieg, wurde ich nervöser, nicht zuversichtlicher! Es war weder dunkel, noch hell hier unten. Woher das diffuse Licht kam, konnte ich nicht feststellen; es schien, als wäre die Luft selbst illuminiert. Auf jeden Fall genügte es meinen Raubtieraugen, genug zu erkennen. Die Zerstörungen, die den Dunklen Dom heimgesucht hatten, versetzten meinem Herz Stich um Stich, und so schwand selbst die leiseste Hoffnung, Landru hier lebendig wiederzufinden, noch bevor ich überhaupt den Boden der Heimstatt erreichte, wo einmal der Altar mit dem Lilienkelch gestanden haben mußte. Überall lagen Felsbrocken, als hätten Riesen damit gewürfelt. Nichts hier schien mehr heil. Von dem Altar entdeckte ich überhaupt keine Spur, und so setzte sich mich erst einmal auf einen der
Blöcke, die aus der Decke gebrochen waren, um das Chaos, das ganze Ausmaß der Zerstörung zu überschauen. Von irgendwo sickerte schwacher Glanz aus Adern, die die Reste der steinernen Kuppel wie den von Wunden übersäten Leichnam einer verendeten Kreatur durchwoben. Selbst in den herabgestürzten Brocken waren sie sichtbar; auch dort muteten diese zerfetzten Stränge an, als hätten sie einmal Lebendiges durchzogen. Als wäre all dies hier nicht immer nicht nur aus Stein gewesen … Plötzlich fror mich unter meinem Fell. Die Eishölle des Gipfels hatte mir nicht halb so zugesetzt wie die Kälte, die dieser Schauplatz sinnlos anmutender Zerstörung mir einflößte. Ich mußte den Verstand verloren haben, hierher zu kommen. Es zu wagen, einen solchen Ort zu betreten, der selbst im Untergang noch Phantasmagorien, Chimären zum Leben erweckte … Ein Wimmern von irgendwo aus der Nähe beendete mein Zaudern. Ich erhob mich und versuchte, den Ursprung der Laute zu bestimmen. Als ich mir der Richtung sicher war, umrundete ich einen Haufen übereinanderliegender Steine, der sich doppelt mannshoch auftürmte, und sah … Nein, zuerst wollte ich nicht glauben, was meine Augen mir vorzugaukeln schienen. Doch dann entdeckte eine der wimmernden Gestalten mich, riß den verdorrten Mund auf und rief nach mir. »Töte uns!« bettelte sie. »Ich bitte dich! Wir würden es selbst tun, wenn man uns nur ließe …!«
* Sie kauerten am Boden und bildeten einen so perfekten Kreis, als hätte jemand sie dort plaziert. Ich trat näher. »Wer – seid ihr?«
»Wir?« krächzte die alte Vettel, die mich immer noch anstarrte, als neide sie mir die Jugend. »Und wer bist du?« fragte die Alte. »Du bist keine Hohe Frau. Aber … oh, ich erkenne dich: Du bist die Wilde Frau, die Erwähnung in der SCHRIFT findet. Nona …« Daß sie meinen Namen kannte, berührte etwas ganz tief in meinem Inneren. Ich schluckte und spürte, wie unter den Blicken, die auf mir hafteten, meine Behaarung zurückging. Wie die berserkerhafte Stärke, die mich ermutigt hatte, ins dunkle Herz einer unheiligen Macht vorzudringen, von mir abfiel, als wäre der Mond vom nächtlichen Firmament radiert worden. Als gäbe es ihn und sein Gift, das auch durch kilometerdicken Fels sickerte, nicht mehr. Sekunden später stand ich als nackte, frierende Frau vor den Greisen, die am Boden kauerten, sieben an der Zahl. »Ich kenne euch nicht. Woher wißt ihr, wer ich bin?« Ich widerstand dem Verlangen, mich abzuwenden und den Versuch zu unternehmen, den Weg, den ich gekommen war, zurückzugehen. Aber das wäre Selbstmord gewesen. Zumindest in dieser Gestalt. »Du bist schön«, sagte die Alte, während die anderen immer noch schwiegen und brütend vor sich hinstarrten, als wollten sie nichts mit mir zu tun haben – oder als hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben. Hin und wieder erklang das Wimmern aus einem der Münder, das mich angelockt hatte. Mehr nicht. »Ich wünschte«, fuhr die zerfurchte Greisin fort, »ich könnte auch noch einmal ein Bad nehmen. Ein prickelndes Bad in den Zeiten. Aber mein Schrein ist zerstört. Alle Schreine sind zerstört …« Obwohl ich nicht wußte, wovon sie redete, spürte ich, wie sie nach irgendeiner Form der Anteilnahme geradezu lechzte. »Wer hat sie zerstört?« fragte ich. »Wir selbst.« Sie lachte krächzend. Sie trug ein schleierartiges Gewand, das so morsch war, daß es sich durch die Erschütterung auflöste.
Ich weiß nicht, warum alte Frauen soviel abstoßender wirken als alte Männer – selbst auf andere Frauen. Ich weiß nur, daß mir die zum Vorschein kommenden schlaffen Brüste solche Abscheu bereiteten, daß ich wegsehen mußte, froh, vor solchem Zerfall gefeit zu sein. »Ihr? Warum habt ihr das getan?« »Bestimmt nicht freiwillig!« giftete erstmals eine andere Stimme dazwischen. Die eines Mannes. Er saß der Alten gegenüber, die das Gespräch mit mir bis dahin allein bestritten hatte. »Wir mußten alle Spuren tilgen, als der Ruf uns ereilte. Und Ungehorsam ist uns fremd!« »Welcher Ruf? Wer seid ihr? Lebt ihr schon lange an diesem Ort? Seid … wart ihr Hüter?« Wie auf Stichwort wandten sich mir sämtliche Greisengesichter zu. Die Blicke ihrer trüben Augen waren kaum zu ertragen. »Die Hüter sind tot«, sagte der Uralte. Beim Sprechen glaubte ich ein Knistern zu hören, als bestünden Lippen und Zunge aus Papier. Mir war, als würde mir ein Eiszapfen ins Gehirn getrieben. »Tot? Alle? Und wer seid dann ihr?« »Alle – bis auf einen«, wurde mir geantwortet. Die Kälte wich aus meinem Kopf. »Wer? Landru?« Eine der Frauen schüttelte den Kopf. »Landru? Nein …« Ein Geschmack wie erbrochenes Blut war in meinen Mund. »Nein? Wer dann?« Ich erhielt keine Antwort. »Du willst wissen, wer wir sind«, ergriff einer der Männer das Wort. »Ich bin Artos. Wir sind Ninmahs Kinder und so alt wie die zweite Menschheit. So alt wie die ersten Kinder des Kelchs. Wir leben seit einer Ewigkeit – wenn man es Leben nennen darf. Aber nun welken wir dahin …« Ich wich einen Schritt zurück. Weiter schaffte ich es nicht. Auch weil ich unentwegt in mich hinein lauschte auf der Suche nach der
Wölfin, die mich im Stich ließ, obwohl ich sie vielleicht nie nötiger gebraucht hatte als jetzt. »… aber es geht so langsam«, ergänzte die alte Vettel, die zuallererst zu mir gesprochen hatte. »Ich bin Onan, und ich ertrage es nicht mehr. Warum müssen wir so leiden? Warum geht das Sterben nicht schneller? Erlöse uns, und wenn du spürst, wie die Schmerzen auch in dir erwachen – töte dich ebenfalls. Warte nicht, bis du keine Kraft mehr dazu hast. Es ist die Hölle …!« Nach und nach richtete eine jede der Gestalten das Wort an mich, bettelte mich an, ihrer Qual ein Ende zu bereiten. Ich erfuhr all ihre Namen. Ich erfuhr, woher sie kamen. Und was sie mitgebracht hatten. »Wo … ist dieses Buch, von dem ihr redet?« fragte ich. »Sicher verwahrt. So daß kein Unbefugter es zu lesen vermag.« »Wozu? Wenn niemand darin lesen kann –« »Einer wird es tun!« fiel Isis mir ins Wort. »Aber du bist es nicht! Töte uns endlich, wie oft sollen wir noch bitten?« »Was steht in dem Buch, daß ihr es wie einen Schatz hütet?« »Alles.« »Alles?« »Das Wissen der Welt. Ihre Geschichte. Ihre Geheimnisse. Die Ursprünge der Herren …« »Auch die Ursprünge …«, ich räusperte mich, »… meiner Art?« »Der Werwölfe?« »Ja!« »Ein vergleichsweise unbedeutendes Kapitel …« Ich starrte Kaila an. Ihre Worte klangen, als wollte sie mich verletzen. »Verratet es mir, dann erlöse ich euch – nur dann!« »Du bist nicht befugt, Einsicht zu erhalten!« Neels Absage klang unumstößlich. »Nein, wartet, laßt uns das gut überdenken«, mischte sich Sem ein. »Wie wurde uns unsere Treue gedankt? In zeitloser Schönheit betra-
ten wir diesen Berg, dieses steinerne Schiff – wir brachten das Buch, für das Abertausende ihr Leben ließen … brachten es und deponierten es, wie uns geheißen wurde. Und was war unser Lohn? Wie ein Sturmwind kam es über uns und höhlte uns aus! Alle Kraft, die uns einst der Kelch schenkte, wurde uns gestohlen. Wir sitzen hier und können uns nicht mehr rühren, als wären wir mit den steinernen Planken verschmolzen. Jeder von uns hört das Herz hinter den Siegeln pochen. Das einzige Herz, das nicht schwächer, sondern stärker wird. All unsere Kraft strömt dorthin. Aber wir wurden nicht gefragt – und nicht einmal unser Leiden wird verkürzt … Ich sage euch, wir haben lange genug gedient – nun müssen wir an uns denken, wenn kein anderer dies tut!« Die Worte des Mannes, der sich Sem nannte, schienen tiefen Eindruck in den anderen sechs zu hinterlassen. Auch mich beeindruckten sie, wenngleich ich kaum etwas von dem, was er sagte, verstand. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu Landru. Er war also wirklich tot. Chiyoda hatte sich nicht geirrt. Ich war wie betäubt. Ich war nicht einmal mehr sicher, ob mich die Antwort auf die Frage, die ich den seltsamen Alten gestellt hatte, noch wirklich interessierte. Da sagte Isis: »Ich bin einverstanden. Sie soll wissen, was wir in die CHRONIK schrieben, und dafür wird sie uns den Tod schenken.« »Ich bin auch einverstanden«, sagte Kaila. »So soll es geschehen«, sagte Onan. Narasin, Artor und Neel enthielten sich der Stimme, worauf Sem ansetzte, in seiner Erinnerung nach jenem Kapitel zu suchen und daraus zu zitieren, das den Ursprung meiner Art, der Wolfsmenschen, behandelte. Er öffnete den Mund, aber noch bevor ein einziges Wort hörbar wurde, passierte etwas, das auch ich spüren konnte. Ich zitterte stärker, aber es war nicht mehr pure Kälte, die mich
frieren ließ und in meine Knochen kroch. Es war etwas … … sehr viel Unheimlicheres. Und dieses Unheimliche richtete sich gegen die uralten Kinder Ninmahs, die mit letzter Stimmkraft aufbrüllten und nicht wußten, wie ihnen geschah. »Ah«, seufzte Sem plötzlich, als hätte er vergessen, welches Geheimnis er vor mir lüften wollte. »Man erinnert sich unser …« Ich wußte nicht, wen er mit »man« meinte, und ich vermute, er wußte es selbst nicht. Nicht genau zumindest. Vor mir rissen sieben Greise die Arme in die Luft – nicht, als wollten sie etwas abwehren, sondern als reckten sie sich etwas entgegen. Einer unsichtbaren Gewalt, die sie im nächsten Moment wie unter einem Tonnengewicht zermalmte. Fels knirschte. Staub wölkte auf. Noch bevor er sich wieder gelegt hatte, spürte ich, wie das Unsichtbare auch nach mir griff und an mir zerrte …
* Meine Erinnerung an das, was unmittelbar danach geschah, ist getrübt. Aber ich weiß noch, wie ich halbherzig dem eigenen Verderben zu entkommen versuchte. Halbherzig deshalb, weil Ninmahs alte Kinder mir indirekt die Bestätigung für Landrus Tod gegeben hatten. Mir war elender als jemals zuvor. Schwäche und Verzweiflung fraßen in mir. Dennoch erinnerte ich mich des einzigen Verbündeten, auf den ich neben Landru immer hatte vertrauen können: meines Fluchs. Vor einem Abgrund, der den Boden wie eine tiefe Schlucht spaltete, blieb ich abrupt stehen und zwang mich, nachzudenken. Nicht weiter sinnlos durch ein sinnlos gewordenes Reich zu irren.
Die Gewalt, die ihre Diener zu Staub zermahlt hatte, zeigte offenbar doch kein Interesse an mir. Sie hatte mich flüchtig gemustert und war dann wieder von mir gewichen. Auch dies – so sehr es mich hätte erleichtern müssen – trug dazu bei, daß ich mich von Sekunde zu Sekunde wertloser zu fühlen begann. Mein Blick schweifte über die Kluft im Boden. Zum erstenmal, seit ich den Dom betreten hatte, glaubte ich seinen Aufbau auch wirklich zu begreifen. Kreisrund war die Bodenplatte, auf der ich stand und die von furchtbaren Kräften durchpflügt worden war wie ein Acker. An manchen Stellen waren nicht nur Wandund Deckenteile herabgebrochen, sondern zeigten sich auch Schmelzspuren, als hätten sonnenheiße Blitze gewütet. Wann? Landru hatte von diesem Zerstörungswerk nie etwas erwähnt – es schien erst kürzlich geschehen zu sein. Konnte Lilith dahinterstecken, die Erzfeindin meines verschollenen Geliebten, die sich den Tod aller Vampire auf ihr Banner geschrieben hatte? War sie Landru womöglich hierher gefolgt, und war dies ihr gemeinsames steinernes Grab geworden? Aber wo waren die anderen Hüter, von denen mir Landru berichtet hatte? Bislang hatte ich nur Ninmahs Kinder, die aus dem fernen Himalaja hierher gerufen worden waren, gefunden. (Gerufen von wem?) Ich verschränkte die Arme vor meinen Brüsten und grub mir die Fingernägel ins eigene Fleisch. Ich hoffte, der Schmerz würde mich soweit ernüchtern, daß ich zu mir selbst zurückfand – und zu den Kräften, die in mir schlummerten. In meiner jetzigen Gestalt und Stärke hatte ich keine Chance, diesem Ort lebendig zu entkommen. Aber wollte ich das überhaupt noch? In diesem Augenblick traf mich ein Hieb in den Rücken. Ein Stoß von Titanenfaust, dessen Absicht nur sein konnte, mich in den klaf-
fenden Abgrund zu stürzen! Ich schrie auf – während ich mich mit der ganzen Kraft meiner Beine abstieß und die Wucht, die mich getroffen hatte, selbst verstärkte. So schaffte ich es, über die Spalte hinwegzusetzen. Beinahe jedenfalls. Doch meine Finger schabten drüben vergeblich über den spiegelglatten Boden, fanden keinen Halt. Mit den Knien schlug ich gegen die Wand der steinernen Schlucht und … … bekam im letzten Moment die Bodenkante zu fassen, dort, wo die Fläche abbrach. Die Anstrengung, mit der ich mich nach oben zog und den Sturz in tödliche Tiefe vereitelte, bewirkte, was mir zuvor nicht gelungen war: Ich kam wieder zu Verstand. Ich wollte nicht zugrunde gehen, nur weil etwas Unbekanntes mir nach dem Leben trachtete – und weil die Trauer um Landru mir zusetzte. Ich wollte selbst entscheiden, wann und wo ich Abschied nahm! Bäuchlings lag ich eine Weile auf dem Boden, und ich weiß nicht, was der genaue Auslöser war, aber mit einemmal bekam ich wieder Kontakt. Zu dem Licht, das weit außerhalb dieses steinernen Grabes die Nacht erleuchtete. Dem barbarischen Licht, das seit Jahrhunderten den Rhythmus meines Lebens bestimmte und dessen Magie einzigartig war – zumindest für mich und eine kleine Zahl anderer Menschen … Dies erinnerte mich daran, wie nah ich vor einer Antwort gestanden hatte. Ich erhob mich auf meine Knie, stützte mich auf meine Vorderläufe. Ich konnte zusehen, wie mein Haar sproß. Wie es sich zwischen Haut und Kälte schob wie ein schützender Schild. Noch nie hatte ich den Fluch meines Blutes so willkommen geheißen wie in diesen Momenten.
Aus dem Dämmerschein, der aus den steinernen Adern sickerte, schien mich wieder etwas anzustarren und zu taxieren, als hätte es noch keine letztendliche Entscheidung getroffen, auf welche Weise es mich umbringen wollte. Daß es dies wollte, daran gab es in diesen Minuten nicht den geringsten Zweifel in mir. Im Rund der Felswände, die die verwüstete Domplatte begrenzten, waren vereinzelte offene Gänge zu erkennen, aber auch solche, die noch verschlossen dalagen. Auf jedem der versperrten Durchgänge prangte ein erhabenes Relief, das mich entfernt an das stilisierte Initial eines Siegelrings erinnerte. Aber was immer die Symbole bedeuten mochten, ich konnte es nicht lesen. Landru hätte es vermocht. Hinter einem der offenen Stollen hatte er geschlafen, und hatte nicht Sem bestätigt, daß hinter einem der Siegel noch immer das Herz eines Schläfers pochte? Bei diesem Gedanken überkam mich plötzlich ein solches Grausen, daß ich wie eine abrupt entspannte Feder vom Boden hochschnellte und auf zwei Pfoten – nicht Füßen – zu stehen kam. Witternd hob ich die Schnauze in die Zugluft. Ich war wieder die, als die ich gekommen war. Der Glanz im Aderwerk des Doms schien heller zu werden, zugleich begannen die Stränge zu pulsieren. In meinem Kopf entstanden Bilder, die ich nie gesehen hatte – und auch nicht sehen wollte. Im nachhinein bin ich sicher, daß die Magie, die immer noch an jedem Stein und jedem Staubkorn klebte, auf diese Weise zu mir sprach. Sie rechtfertigte, was sie mir antat, teilte mir mit, daß sie mich nicht bestahl, sondern lediglich Geliehenes zurücknahm … Diese Bilder, die ich nicht wollte – die ich regelrecht haßte –, drängten mich endgültig zur Flucht. Denselben Weg zurück, den ich ge-
kommen war und nun, nur von Instinkten geleitet, wieder zurückkletterte. Draußen erwarteten mich Eis und Kälte. Flirrender Schnee. Und ein Licht unter Myriaden anderen Lichtern des Himmels, dessen Gift ich noch nie so begierig in mich aufgesogen hatte wie in diesem Moment. Der Abstieg vom Ararat gelang wie im Traum. Und auch die nächsten Tage und Wochen verbrachte ich wie in einem nicht enden wollenden Zustand der Schwebe. Von Anatolien aus reiste ich zurück in die Mandschurei. Und mit jedem Tag wurde mir klarer, was ich verloren hatte. Alles, was Landru mir jemals gegeben hatte, existierte nur noch in meiner Erinnerung. Ab und zu dachte ich auch an die SCHRIFT, von der Ninmahs sterbende Kinder gesprochen hatten. Vielleicht hätte ich versuchen sollen, sie auf eigene Faust zu finden. Aber eigentlich wußte ich, daß mir dies nicht gelungen wäre. Das Buch aus Menschenhaut, die Schrift aus Blut, von der Isis, Artor und die anderen mir erzählt hatten, war nicht für mich bestimmt – und vermutlich hätte ich die Sprache, in der es abgefaßt war, auch nicht verstanden. Sie mußte uralt sein. Wie die zweite Menschheit und die ersten Kinder des Kelchs … Irgendwann kam ich in der Mandschurei an. Zuerst suchte ich Chiyoda vergeblich in seinem Refugium. Wahrscheinlich war er mit Makootemane in einer seiner Traumwelten unterwegs. Seine Schüler, die sich zu dieser Zeit im Sanktuarium aufhielten und eigene Einsichten aus den Lehren ihres Meisters zu gewinnen suchten, konnten mir auch nichts über seinen Aufenthalt und den Zeitpunkt seiner Rückkehr sagen. Meine Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Es dauerte Tage, bis er mich in meinem Quartier, das er mir stets freihielt, auf-
suchte. Mitten in der Nacht weckte er mich aus meinen Alpträumen. Er selbst kam, wie er mir launig eröffnete, aus dem lichten Tag einer hoffnungsvollen Realität zu mir. Zunächst verstand ich nicht, was dies bedeuten sollte. Seine nächsten Worte aber brannten sich unauslöschlich in meinen Geist: »Er ist wieder aufgetaucht, dein verschollenen geglaubter Geliebter …« Und dann erklärte er mir, wie und wo ich nach ihm zu suchen hatte …
* Gegenwart � Friedhof Père-Lachaise, Paris � Sie hielt es nicht länger aus in ihrem Versteck hoch im Baum. Sie verweigerte sich der Beobachtung, daß etwas nicht stimmte. Mit ihm. Etwas, das nicht ursächlich mit der Bedrohung zusammenhing, vor der Chiyoda gewarnt hatte und das trotzdem unabsehbare Folgen haben konnte. In dem Moment, als Landru unter ihr vorbeilief, traf Nona ihren unumstößlichen Entschluß. Sie rief seinen Namen und ließ sich fallen, wie sie es schon einmal in dieser Nacht getan hatte – obwohl sie sich noch immer vor der Kelchseuche fürchtete, die Landru ungeachtet der Dinge, die sich bei ihr geändert hatten, vielleicht doch noch übertrug … In dem Moment, als sie erkannte, wie sehr er sich von dem Geliebten unterschied, dessen Bild sie in ihrer Erinnerung trug, war es zu spät, war der Fortgang der Katastrophe nicht mehr zu stoppen. Zwei, die stets miteinander, nie gegeneinander gekämpft hatten, begegneten sich, als wäre es das erste Mal …
* � Seit Hector Landers den Friedhof betreten hatte, folgte er nicht nur dem Echo des Todesimpulses, sondern auch einer völlig andersgearteten Witterung. Er hatte noch nie dergleichen wahrgenommen. Es nötigte ihm Respekt ab. Und Vorsicht. Sehr bedächtig näherte er sich der Stelle, an der Jerome gestorben war, und ganz allmählich überlagerte intensiver Blutgeruch die beinahe seismische Erschütterung, mit der die Existenz seines Dieners ausgeklungen war. »Landru?« Landers wirbelte herum, obwohl er nicht wußte, wem der halblaute Ruf galt. Er bog den Kopf in den Nacken und spähte nach oben, von wo die Stimme laut geworden war. Neben ihm landete federnd ein abnormes Wesen im Gras, blieb aber, anstatt sich aufzurichten, am Boden kauernd sitzen, die Hände seitlich aufgestützt. In derselben Minute riß die Wolkenfront am Himmel an einer Stelle auf und schüttete fahlsilbriges Licht über der winzigen Lichtung zwischen den Gräbern aus. »Wer – bist du?« fragte der Mann mit der Kreuznarbe auf der linken Wange. Mißtrauisch schielten goldene Augen zu Landers empor. Erstaunt stellte er fest, daß das behaarte Gesicht der Kreatur nicht abstoßend auf ihn wirkte. Es besaß feminine Merkmale, wie auch der übrige Körper zweifellos etwas Weiblichem gehörte. »Wer bist du?« wiederholte er mit einem leichten Schwanken in der eigenen Stimme. Und fügte hinzu: »Hast du meinen Diener getötet?«
Der Ausdruck der Augen änderte sich. Aus dem Rachen löste sich ein Fauchen, begleitet von einer rauchigen Stimme. »Was soll das? Hör auf!« »Aufhören? Womit?« Er bewegte sich keinen Zoll von der Stelle und hätte die Frau mit den wölfischen Zügen packen können, wenn er die Arme ausgestreckt und sich gebückt hätte. »Mit diesem Theater!« »Theater?« Worauf wollte sie hinaus? Warum verwickelte sie ihn überhaupt in dieses Gespräch, wenn sie nur auf der Suche nach weiteren Opfern war? »Hast du ihn vernichtet?« Ein neuer Ausdruck stahl sich in ihre Augen. Und dann sagte sie etwas, das Landers förmlich elektrisierte: »Du hast nie solches Aufhebens um deine Diener gemacht!« Sein Körper wartete nur auf den Befehl, in die Metamorphose zu gleiten. Aber er zögerte. »Wir kennen uns?« »Hör auf!« »Ich verstehe …« Er nickte. Wie sollte sie auch ahnen, daß er keine Erinnerung mehr an sein früheres Leben besaß? »Sind wir Feinde?« »Feinde?« Ihre Reaktion deutete eher auf das Gegenteil hin, aber … »Immerhin hast du Jerome getötet.« »Er war doch längst tot. Ich erkenne Dienerkreaturen, wenn ich sie sehe.« »Und du erkennst … mich?« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Natürlich habe ich dich erkannt. Du hast dich nicht verändert … zumindest äußerlich«, fügte sie hinzu. Er wiegte den Kopf, ohne die Vorsicht auch nur eine Sekunde schleifen zu lassen. »Ich wünschte, ich wüßte, wer du bist. Offenbar sind wir uns schon begegnet. Wann?« Sie schnellte so geschmeidig in den Stand, daß er ihre behaarten Pranken auf seinen Schultern fühlte, bevor er zur geringsten Gegen-
wehr fähig war. Es war kein Angriff. Sie rüttelte nur an ihm, als wollte sie ihn zur Besinnung bringen – als könnte sie nicht glauben, daß er nicht mehr wußte, wen er vor sich hatte. »Warum tust du das?« knurrte sie. »Nach allem, was ich riskiert habe – auch für dich.« Er unterdrückte den Impuls, ihr das Genick zu brechen. Für unbestimmbare Dauer ertrank sein Blick regelrecht in ihren Augen. Traurige Augen. Er verstand weniger denn je. Ohne ihre Pranken abzustreifen, deutete er dorthin, wo Jeromes Asche vom Wind, der in den Blättern flüsterte, aufgewirbelt und allmählich verteilt wurde. »Du hast gewußt, daß ich sein Ende spüren und meinem Gefühl folgen würde?« stellte er fest. »Du hast ihm nur deshalb hier aufgelauert, um mich herbeizulocken? Das ist verrückt!« »Früher hast du nicht so gedacht.« »Das glaube ich nicht.« »Du kannst dir jederzeit einen neuen Vasallen erschaffen – oder willst du behaupten, auch das nicht mehr zu wissen?« »Nein«, sagte er. »Ich weiß es. Weil er es mir gesagt hat.« Als sie blinzelte, bemerkte er, daß selbst die Häute ihrer Lider fellüberzogen waren. »Unser Wiedersehen habe ich mir anders vorgestellt.« »Wir waren … Freunde?« Schmerz gesellte sich zur Traurigkeit ihres Blickes. »Freunde? Wir waren …« Sie verstummte. Plötzlich fiel ihm ein, wie sie ihn gerufen hatte. »Wenn du mich wirklich kennst, sag mir meinen Namen.« Ihre Hände – animalisch und faszinierend wie alles an dieser Frau – fielen von ihm ab. »Landru. Dein Name ist Landru.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht verwechselst du mich ganz einfach. Mein Name ist Hector Landers, daran gibt es nicht den ge-
ringsten Zweifel!« Ihr Auflachen verunsicherte Landers nur kurz. Er hatte genügend Zeit gehabt, abzuwägen, wie er diese Situation klären konnte. Schon einmal waren er und Lilith von einem bizarren Wesen angegriffen worden – von einer hübschen jungen Frau, die sich warnungslos in ein amorphes Ding verwandelt hatte. Sie war ebenso vorgegangen wie diese Wolfsfrau hier, hatte vorgegeben, ihn zu kennen – um sich dann auf ihn zu stürzen. Nur mit knapper Not hatte er den Angriff überstanden.* Nicht erst seit diesem Vorfall hatte Landers es vorgezogen, niemandem zu trauen. Und wenn die Wolfsfrau ihn tatsächlich kannte, würde er die Wahrheit noch früh genug aus ihr herauspressen. Wenn er erst in einer günstigeren Position war – und sie seine wehrlose Gefangene. Seine Haltung war drohend, als er auf sie zutrat. Mit dem Blick seiner dunklen Augen wollte er sie bannen, wie es ihm in den vergangenen Tagen schon mehrfach mit Menschen gelungen war. Wenn er ihren Geist erst geknechtet hatte, würde ihm die Wolfsfrau widerspruchslos zu Diensten sein. »Was hast du vor?« fauchte sie. Seine Hände streckten sich nach ihr, berührten das weiche Fell ihrer Arme. »Komm zu mir«, knurrte er, aufmerksam darauf achtend, ob etwas in ihrem Blick sich veränderte. Da – ein kurzes Flackern! Ein erstes Anzeichen dafür, daß seine besondere Macht bei ihr verfing? Er faßte sie fester, zog sie an sich heran. Die Wölfin versteifte in seinem Griff, bleckte die Fänge, fauchte wild – – und befreite sich! Zwei, drei Schritte wich sie zurück, dann duckte sie sich wie zum Sprung. »Treib es nicht zu weit, Landru«, warnte sie ihn, grollend aus tiefer *siehe VAMPIRA T26: »Die Rückkehr des Nexius«
Kehle. »Ich weiß nicht, was mit dir geschehen ist, aber es gefällt mir immer weniger!« Etwas verdrängte Landers’ bewußten Willen, übernahm die Kontrolle über seinen Leib und sein Tun. Wie im Reflex verwandelte er sich. In eine tödliche Waffe. Er brüllte auf – anders, gewaltiger, ja animalischer als die Wölfin. Dann setzte er auf sie zu, packte die Wolfsfrau, schleuderte sie zu Boden und warf sich über sie!
* Weder Nona noch Landru, der immer noch an seinem früheren Tarnnamen Hector Landers festhielt, ahnten etwas von den Augen, die in diesen Momenten auf sie gerichtet waren. Augen voller Geduld. Augen, die – ohne bemerkt zu werden – im selben Baum gelauert hatten wie die Wolfsfrau. Der Beobachter hegte nicht die leiseste Absicht, drohendes Blutvergießen zu verhindern. Im Gegenteil. Die Stärke der Kontrahenten interessierte ihn. Wölfin und Vampir …
* Nonas Ahnung hatte nicht getrogen: Dies war ein anderer Landru als der, den sie kannte und seit Jahrhunderten verehrte! Ein völlig Fremder … Spätestens als sich seine dolchspitzen Klauen in ihren Rücken bohrten, konnte sie sich dieser Einsicht nicht mehr länger verschließen.
Sie schrie auf. Weniger vor Schmerz als vor seelischer Qual! Was war passiert? Warum erkannte er sie nicht wieder? Hing es damit zusammen, daß er monatelang … verschwunden gewesen war – aus jeder Realität? Etwa zehn Wochen war es her, daß sie diese Behauptung aus dem Mund Chiyodas gehört hatte. »Ich sehe ihn nicht mehr«, hatte der greise Werwolf, der nach Belieben zwischen den Wirklichkeiten wechselte, ihr bei einem Besuch in der Mandschurei eröffnet. »Ist er … tot?« hatte sie um ihre Fassung gerungen. »Ich fürchte, nicht einmal das kann ich dir sagen. Er ist einfach nicht mehr wahrnehmbar. Ich sehe ihn in keiner der möglichen Zukünfte, die ich zu betreten vermag. Ich fürchte, du mußt dich damit abfinden, daß dein Liebhaber nicht mehr existiert …« »Das glaube ich nicht!« »Vielleicht hat ihn dieselbe Seuche hingerafft, die er den Kelchkindern brachte.« »Nein …!« Auf Chiyodas bedauernde Geste hin hatte Nona ihn gebeten, Ausschau nach Lilith Eden, der Erzfeindin der Alten Rasse, zu halten. Der greise Mann, der den Wolf in sich schon vor langer Zeit besiegt hatte, hatte ihre Bitte erfüllt … … und verblüfft eingestehen müssen, daß auch Lilith Eden in keiner Realität, in keiner Zukunft, in die er Einblick hatte, mehr eine Rolle spielte. Auch dieses Zwitterwesen, das zu Landrus gefährlichster Gegnerin erwachsen war, schien nicht mehr zu existieren. Nirgends auf der Welt … Daraufhin hatte Nona einen Entschluß gefaßt, der schon eine geraume Weile in ihr gereift war. Einen Entschluß, den sie heute nur noch bereuen konnte. Aber es war zu spät. Sie hätte nie dorthin gehen dürfen, wo sie sich Antworten auf
Landrus Verbleib versprochen hatte … Nona stoppte jeden Gedanken, der sich mit Vergangenem beschäftigte. Landrus Gesicht schwebte über ihr. Wollte er sie tatsächlich töten – sie, die ihm stets eine treue Freundin, Jagdgefährtin und Geliebte gewesen war? Einen flüchtigen Moment lang erwog sie, sich von ihm hinschlachten zu lassen. Aus der absurden Idee heraus, daß nur der, der ihr Leben einst verlängert hatte, es ihr auch wieder nehmen dürfte … Doch ein anderer war damit nicht einverstanden. Und so entbrannte der Kampf, der schon beendet schien, nun erst richtig. Sehr zur Freude des – noch – neutralen Beobachters …
* Landers’ Finger krallten sich ins Fleisch der Wölfin. Der Duft ihres rubinroten Blutes stieg wie betörendes Räucherwerk zu ihm auf. Noch tiefer trieb er seine Krallen in ihren Rücken, steigerte ihren Schmerz zu purer Agonie. Landers ergötzte sich daran. Ihr immer lauter werdender Schrei geriet in seinen Ohren zu einer Musik, die ihn zur Ekstase trieb. Die Art, in der sie vor Qual zuckte und sich wand, derweil er sie am Boden schier festnagelte, bereitete ihm einen abartigen Genuß. Fast hätte er sich im Rausch dazu hinreißen lassen, seine Zähne in ihren fellbewachsenen Hals zu schlagen und aus ihr zu trinken. Aber dann würde auch diese Informationsquelle versiegen – im wahrsten Sinne des Wortes. Wer immer sie war, was immer sie zu wissen vorgab – er durfte nicht leichtfertig ihren Tod in Kauf nehmen, bevor er nicht sämtliches Wissen aus ihr herausgezwungen hatte. Sie machte es ihm nicht leicht, zurückhaltend zu bleiben. Ihre Kräfte überstiegen weit das Maß einer normalen Frau und das eines
Wolfes. Sie kämpfte wie das wilde Tier, das sie im Grunde war, und es kostete ihn alle Kraft … »Aaarrrggghhh!« Hector Landers schrie auf! Mit einer überraschenden Drehung hatte die Wölfin sich von seinen Klauen befreit. In der gleichen Bewegung hatte sie die Arme hochgerissen, die seinen zur Seite gedroschen, um dann mit ihren Pranken nach seinem Gesicht zu schlagen. Hornige, nadelspitze Krallen pflügten ihm tiefe Furchen ins Fleisch. Augenblicklich füllten sich die Verletzungen mit zäher Kälte, die den brennenden Schmerz betäubte. Weitere Hiebe, blitzschnell gegen Brust und Schulter geführt, ließen Landers nach hinten fallen und schwer zu Boden stürzen. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen eine steinerne Kante. Nur eine Sekunde lang vermochte er Willen und Handeln nicht zu koordinieren – – lange genug für die Wölfin! Ihr heiseres Fauchen schlug ihm in einer Wolke heißen Raubtieratems entgegen, und dann spürte Landers auch schon das Gewicht der Gegnerin auf sich. Als verfüge sie plötzlich über die Vielbeinigkeit eines Insekts, preßte sie ihm Arme und Beine zu Boden und verdammte ihn zur Bewegungslosigkeit. Ihre Kraft schien der seinen kaum unterlegen, im Gegenteil! Der Nebel der Benommenheit lichtete sich vor Landers’ Blick. Blut-fleckig und scheinbar riesengroß klaffte das mörderische Gebiß der Wölfin über ihm – und stieß im nächsten Augenblick auf ihn nieder! Landers riß den Kopf hoch, hastig und so weit er nur konnte. Krack! Seine Stirn kollidierte hart mit der Kinnpartie der Wölfin. Deren Zähne klackten aufeinander. Beide Kontrahenten stöhnten vor Schmerz auf, als Haut platzte. Ihr Blut vermengte sich mit dem sei-
nen, wob einen dunklen, schlierigen Schleier vor Landers’ Augen, den er hastig wegwischte, nachdem er der Wölfin mit einem heftigen Ruck ledig geworden war. Als er wieder klar sah, kauerte die Wölfin neben ihm – nun nicht mehr nur in der Gestalt des Tieres, sondern auch in dessen Haltung – und funkelte ihn kalt aus goldenen Augen an. Doch hinter dieser Kälte meinte Landers noch etwas anderes zu entdecken: Schmerz … Ein Schmerz jedoch, der nicht von physischem Leid herzurühren schien, sondern dessen Wurzeln sehr viel tiefer reichten. Der Funke in ihrem Blick veränderte sich. Wurde heller. Härter. Landers handelte. Ihm blieb keine Wahl mehr, wollte er nicht als Verlierer aus diesem Ringen hervorgehen. Sein Tritt traf die Wölfin, noch bevor sie sich von neuem auf ihn werfen konnte, schleuderte sie zurück. Schon war er über ihr, aber sie gebärdete sich wie eine Furie. Er konnte sie nicht packen und festhalten. Wieder und wieder schlug sie ihm ihre Klauen ins Fleisch. Und zum ersten Mal verspürte Landers wirklichen Schmerz, so tiefgehend, daß er glaubte, die Schatten des Todes müßten im nächsten Moment über ihn kommen. Und registrierte mit Schrecken, daß er diesmal auf einen mindestens ebenbürtigen Gegner getroffen war! Diese Erkenntnis schien neue Energiequellen tief in seinem Inneren freizulegen, gab ihm die nötige Kraft, noch einmal und mit aller Macht auf sie einzudringen. Und endlich bekam er seine Gegnerin in den Griff. Mit aller Gewalt schleuderte er sie gegen den Stamm jenes Baumes, in dessen Krone sie ihm aufgelauert hatte. Ihr Stöhnen bewies ihm, daß er ihr hart genug zugesetzt hatte, um sie für kurze Zeit aufzuhalten und selbst neue Kraft zu schöpfen. Fast wider Willen stoppte er für Sekunden seinen Angriff. Noch
einmal drängte sich die Sorge in den Vordergrund seines Denkens, daß er mit dieser Kreatur wohl auch wichtige Informationen über sich selbst vernichten würde. Aber ließ sie ihm eine Wahl? Ein Blick in ihr haßverzerrtes, blutiges Gesicht gab ihm die Antwort. Vielleicht war dies seine letzte Chance für den Todesstoß.
* Einem Bündel ungeschickt geschmiedeter Dolche gleich rasten Landrus Krallen auf Nonas Gesicht zu. Daß sie ihnen entging, durfte sie nicht ihren Reflexen zuschreiben, sondern allein ihrer Schwäche. Sie hatte sich völlig verausgabt. Kraftlos sank sie entlang des Stammes zu Boden. Landrus Klauen schlugen über ihr ins Holz, so heftig, daß der Baum erbebte. Trockenes Laub löste sich aus dem Geäst über ihnen und taumelte herab. Mit einer Beinschere brachte Nona den Vampir zu Fall. Gewonnen hatte sie damit indes nichts. Ihre Kraft floß buchstäblich aus ihr heraus. Die Wunden, die Landru ihr beigebracht hatte, waren so tief, daß sie kaum mehr zu heilen schienen; zumindest nicht schnell genug, um sie in diesem Kampf nicht zu behindern. In diesem sinnlosen, entwürdigenden Kampf … Warum nur wollte Landru ihn führen? Was war mit ihm geschehen? Er gab vor, sie nicht mehr zu kennen. Konnte es denn wirklich sein, daß die Vergangenheit jede Bedeutung für ihn verloren hatte? Die Wölfin und der Kelchhüter – ein Gespann, das einzigartig gewesen war auf dieser Welt, in jeder Hinsicht. Konnte diese Beziehung so enden? Vielleicht mußte sie so enden … Nona raffte alle Kraft zusammen, derer sie noch habhaft wurde.
Aber konnte diese Kraft genügen, um gegen ihn zu bestehen – nicht gegen irgendeinen Vampir, sondern gegen Landru, den Mächtigsten der Alten Rasse? Nein … Und doch wollte Nona alles in die Waagschale werfen. Kampflos würde sie sich nicht ergeben. Auch ihrem jahrhundertelangen Geliebten nicht. Wenn er ihr Leben wollte, mußte er es sich holen – und sie würde es so teuer als nur möglich verkaufen! Noch einmal traf sie Landru mit ihren Pranken, riß ihm tiefe Wunden in Brust und Bauch. Sein kaltes Blut blieb an ihren Klauen haften. Dann war es vorbei. Haltlos wirbelte Nona unter Landrus Hieben herum. Immer tiefere Wunden machten ihr jede noch so geringe Bewegung zur Höllenqual. Ihr Leib war eingewoben in ein Netz aus Wärme, gespeist von Schmerz und Blut. Und schließlich, nach einer Ewigkeit, in der Landru sich einem Berserker gleich an ihr ausgetobt hatte, war der Punkt erreicht – der Punkt, an dem Nona wußte, daß der nächste Schritt sie an einen Ort bringen würde, von dem es keine Wiederkehr geben konnte. Sie stand an der Schwelle des Todes. Dorthin getrieben von dem Mann, mit dem sie ihr Leben geteilt hatte, selbst dann, wenn weite Fernen sie getrennt hatten. Etwas hatte sie stets verbunden und eins sein lassen – bis heute … »Nein …« Nonas Röcheln war kaum verständlich, aber es genügte, um Landru einhalten zu lassen. »Hör … auf …«, kam es wie das verebbende Flüstern des Windes von ihren Lippen, »… bitte …« Im Licht des Mondes, der unzählige Male Zeuge ihrer gemeinsamen Nächte gewesen war, schien Landru ihr wie ein Monstrum aus einer anderen Welt. Schwarz zeichnete sich seine Kontur darin ab, riesenhaft schien ihr seine Gestalt – und unheimlich fremd aller Ver-
trautheit zum Trotz … »Warum sollte ich das tun?« knurrte der Vampir. Seine Stimme war im gleichen Maße entartet wie sein Leib, war nun die eines Tieres – eines Ungeheuers. Aber sie kam keuchend, als wäre auch er am Ende seiner Kräfte. »Weil ich dich darum bitte«, flüsterte Nona. »Um der Vergangenheit willen …« Ein kehliger Laut, der ein Lachen sein mochte. »Hat es diese Vergangenheit denn je gegeben?« fragte Landru grollend. Nona duckte sich noch tiefer zu Boden, als wolle sie jetzt schon eins mit der Friedhofserde werden. »Ich … flehe dich an«, keuchte sie. »Laß mich … in Würde sterben. Ich bitte dich … Landru.« Der Vampir schwieg. Lange. Obgleich Nona sein Gesicht nicht sehen konnte, spürte sie seinen Blick auf sich ruhen, wie sezierend erst, dann nachdenklich, und schließlich glaubte sie etwas darin zu fühlen, das ihr wie ein Hauch von Wärme schien. »Geh«, sagte Landru endlich, und seine Stimme klang rauh, belegt. »Geh und stirb.« Noch einmal sah Nona zu ihm auf, so eindringlich es ihr in ihrem Schmerz noch möglich war, doch sie wartete vergebens auf ein Zeichen des Erkennens oder eine sonstige Regung. Dann stemmte sie ihren geschundenen, tödlich verwundeten Leib auf und schleppte sich fort. Ins Dunkel des Friedhofs, der auch ihre letzte Ruhestätte werden sollte.
* Der Beobachter im Astwerk des Baumes lächelte, wenn auch nicht �
vollends befriedigt. Daß der Vampir sein Opfer, wenn auch zu Tode verwundet, ziehen ließ, enttäuschte ihn, ein klein wenig zumindest. Andererseits – der Vampir war trotz seiner Stärke nicht er selbst, war weit entfernt von seinem einstigen Wesen und der Macht und kompromißlosen Härte, die ihn ausgezeichnet hatten. Der Beobachter war willens, dies zu ändern. Sofern der Vampir bereit war, den Preis dafür zu zahlen. Aber er würde es sein, dessen war sich der heimliche Zeuge des Kampfes gewiß. Landru wiederzufinden, war dem Beobachter ein Leichtes gewesen. Ihre früheren Begegnungen hatten ihm die Witterung des anderen gleichsam eingepflanzt, und so würde er immer imstande sein, ihn ausfindig zu machen, wo er sich auch verkriechen mochte. Der Vampir würde seinem Herrn nicht entkommen; niemand hatte das je geschafft, wenn der Pakt erst besiegelt war … Und nun war es an der Zeit, diesen Pakt anzubieten. Der Beobachter verließ sein Versteck. Wie ein flüssiger Schatten glitt er durchs Geäst hinab, lautlos zwar, aber wo seine Substanz den Baum berührte, verdorrten die Säfte darin, erstarb das pflanzliche Leben. Drunten dann erstarrte die zähe Schwärze wieder und nahm Gestalt an.
* Noch lange nachdem die Nacht die Wölfin verschluckt hatte, starrte Hector Landers in ihre Richtung. Eine Zeit lang vernahm er noch ihre schleppenden Schritte, ihren rasselnden Atem, stieg ihm noch der Duft ihres Blutes in die Nase. Dann verging auch all das, und er wähnte sich allein; einsam und verlassen wie zuvor. Das Pochen, das seine Muskeln hatte schwellen lassen, verebbte. Das peitschende Tosen seiner entfesselten Kraft versiegte und glich sich schließlich wieder dem trägen Fluß seines kalten Blutes an.
Warum er die Wolfsfrau letztlich hatte ziehen lassen, war ihm selbst nicht vollends klar. Tief in seinem Inneren regten sich Zweifel. War es richtig gewesen, dem Impuls nachzugeben und so unbarmherzig gegen die seltsame Fremde vorzugehen? Hätte er ihr nicht die Chance einräumen sollen, ihm mitzuteilen, was sie angeblich wußte? Landers schloß die Augen, atmete tief durch, konzentrierte seine Kraft darauf, die Zweifel noch im Keim zu ersticken. Die Situation irritierte, ja beunruhigte ihn. Weil er letztlich noch immer viel zu wenig um die wahre Lage der Dinge wußte. Vielleicht, überlegte er, sollte ich der Wölfin folgen. Ich muß sie finden, ehe sie stirbt. Im Angesicht des Todes wird sie mich weder täuschen noch belügen … Schon setzte Hector Landers den ersten Schritt, doch inmitten der Bewegung erstarrte er. Schwärze rann zäh vor ihm aus der Höhe herab. Formte und festigte sich zu einer Gestalt – »Wohin so eilig?« fragte der Knabe lächelnd.
* »Wo …?« setzte Hector Landers an. »Wie kommst du hierher?« Er sah zweifelnd in die Höhe, wo nur Dunkelheit zwischen dem Geäst nistete. Dann wandte er sich wieder dem schlanken Jungen zu, den er – irgendwoher zu kennen glaubte. Und doch auch nicht. Er ähnelte einem Knaben, der ihn vor Wochen in seiner Zelle im Monte Cargano aufgesucht hatte, kurz nachdem er aus jenem todesähnlichen Schlaf erwacht war, der ihm seine Erinnerungen genommen hatte. Jener Junge, der ihn mit allerlei diffusen Andeutungen genarrt hatte, mochte elf, allenfalls zwölf Jahre alt gewesen sein – – diesen hier indes schätzte er auf fünfzehn, vielleicht sechzehn
Jahre. Dennoch war die Ähnlichkeit unverkennbar. Handelte es sich um Brüder? Es schien, als könne der Knabe in Landers’ Gedanken lesen wie in einem offenen Buch. »Ich bin’s«, sagte er. »Aber …«, begann der Vampir zweifelnd. Der Junge zuckte die Schultern, unverändert lächelnd. »Kinder wachsen«, erklärte er. »Oder wußtest du nicht einmal mehr das?« »Spar dir deine Scherze«, erwiderte Hector Landers. »Verrate mir, wer du bist und was du von mir willst!« Der Junge hob abwehrend die Hände. »Oh, ich will nichts von dir«, sagte er. »Im Gegenteil – ich habe etwas für dich.« »Ich wüßte nichts, was ein Kind mir geben könnte«, entgegnete Landers unwirsch. »Es sei denn …« Seine Zungenspitze huschte über die Oberlippe, eine glänzende Spur hinterlassend, die sofort wieder verblaßte. Der Knabe nickte, lächelte weiter, aber anders diesmal – abgründiger. »Ich sehe, du hast inzwischen gelernt. Zumindest scheinst du zu wissen, was du bist – aber noch immer nicht, wer du warst, hm?« »Was redest du da?« fuhr der Vampir ihn an und machte einen drohenden Schritt auf den Jungen zu. »Was weißt du?« Der Knabe machte keinerlei Anstalten, dem Vampir auszuweichen oder ihn in irgendeiner Weise aufzuhalten. Im Gegenteil bedeutete er ihm mit einer kleinen Geste, noch näher zu kommen. »Versuch’s«, lächelte er. »Wir sparen damit viel Zeit. Vielleicht erkennst du dann eher, mit wem du es zu tun hast und wie die Dinge liegen.« »Dein neunmalkluges Geschwätz wird dir vergehen«, drohte Landers. »Du hast gesehen, was ich mit diesem Weib getan habe –« »Beeindruckend«, nickte der andere.
»– mit dir, Bürschlein, werde ich weniger Nachsicht üben!« fuhr Landers ungehalten fort. Und damit stürzte er sich auf den Knaben! Oder vielmehr – er wollte es tun … Seine Finger gruben sich in den Jackenkragen des Jungen, mit einem kräftigen Ruck wollte er ihn zu Fall bringen – doch der Bursche stand wie ein Fels, unbeweglich und scheinbar tonnenschwer! Landers ließ sich davon nicht irritieren. Er krallte seine Finger in den dunklen Schopf des Knaben, bog ihm den Kopf zur Seite, so daß der Hals freilag. Dann öffnete er die Lippen, senkte seinen Mund hinab zum Hals des Jungen, um ihm die Zähne hineinzubohren – – doch auch dazu kam es nicht. Die Haut des Knaben war nicht nur bleich wie feinster Marmor, sondern auch ebenso hart. Landers’ dolchspitze Zähne glitten daran ab. Doch damit nicht genug, war ihm überdies noch, als hätte er eine starkstromführende Leitung berührt. Unsichtbare Funken knisterten. Landers stöhnte auf, wich zurück – – und taumelte dann wie unter einem Hammerschlag weiter fort und stürzte schließlich, nachdem der Junge nichts anderes getan hatte, als ihm die Hand gegen die Brust zu drücken, um ihn von sich zu schieben! »Nun?« fragte der Knabe, während Landers mit der Behäbigkeit eines Greises erst auf alle Viere und schließlich langsam in die Höhe kam. »Noch Fragen?« Landers nickte keuchend. »Ja. Noch immer dieselben.« Er atmete tief ein. »Wer bist du?« »Mein Name ist Gabriel.« Der Junge setzte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Du aber wirst mich – Herr nennen.« »Gewiß nicht.« »O doch«, versicherte Gabriel. »Denn ich habe dir etwas anzubieten, wofür du bestimmt alles zu tun bereit bist.«
Landru lachte verächtlich. Trotz der recht beeindruckenden Machtdemonstration sah er in dem Jungen noch immer kaum mehr als ein Kind. »Und das wäre?« Der Knabe lächelte unschuldig, hob die Schultern. »Dein – nun, wie nenn’ ich es? – Leben?« sagte er dann lapidar.
* »Mein – Leben?« echote Hector Landers. »Was meinst du damit?« »Du verstehst schon sehr gut«, erwiderte Gabriel. »All das, was du verloren hast – ich kann es dir zurückgeben.« »Wie könnte das angehen? Und was hast du mit all dem zu schaffen?« wollte Landers wissen. Etwas in den Zügen des Knaben veränderte sich, schlich sich ein und verdrängte den Ausdruck von Kindlichkeit. Seltsam alterslos schien sein Antlitz plötzlich, und zugleich – als wäre das menschliche Gesicht nur eine Maske – unsagbar fremd, einer dämonischen Fratze ähnlich. Doch zumindest dieser Eindruck verging so rasch, wie er gekommen war. Allein in Gabriels Augen blieb etwas davon zurück; ein rötliches Glimmen wie von einem fernen Feuer. »Verdammt, was bist du doch für ein tumber Narr?« grollte er mit entmenschter Stimme. »Ich frage mich, ob du wirklich eine gute Wahl bist. Ich sollte dich deinem Elend überlassen …« Ohne jedes weitere Wort wandte er sich ab und ging. Hector Landers ließ er stehen wie einen gemaßregelten Schulbuben. Und der fühlte sich in der Tat kaum anders – klein, unbedeutend, verachtet … »Warte«, rief er halblaut, als Gabriel schon ein paar Schritte getan hatte. Doch der blieb nicht stehen. »Bitte«, fügte Landers dann noch hinzu, widerwillig zwar, aber sich letztlich in die Situation fügend. Der Junge, dunkel gekleidet und über die Distanz nur als Schatten
in einem Wald von Schatten zu erkennen, verharrte. »Was willst du noch?« fragte er, ohne sich umzudrehen. Landers räusperte sich unbehaglich. »Was verlangst du von mir?« Ruckartig wandte Gabriel sich um. Sein Blick loderte. »Dankbarkeit!« fuhr er auf. »Ein kleines bißchen Dankbarkeit! Ist das zuviel verlangt für das, was ich dir zu geben bereit bin?« »Ich verstehe nicht ganz …«, begann Landers. »Ich verstehe nicht ganz«, äffte der Junge den unsicheren Tonfall des Vampirs nach. »Ich sage ja – ein blöder Idiot bist du, nichts sonst!« Er atmete ein paarmal tief ein und aus, als müsse er sich beruhigen. »Ich bin willens, dich wieder zu dem zu machen, der du einmal warst. So einfach ist das!« »Aber wie könntest du das?« Gabriel trat wieder näher, bis er dem Vampir gegenüberstand. »Du mußt mir nur vertrauen«, sagte er dann. »Und wenn ich es täte?« fragte Landers, noch immer zweifelnd. Doch die Hoffnung begann alle Zweifel zu überwuchern. Es mochte noch so absurd erscheinen, was der Knabe ihm da anbot; irgendwie spürte der Vampir, daß hinter seinen Worten etwas von solcher Macht steckte, daß sein Geist nicht ausreichte, sie zu erfassen. »Wärst du wieder ganz der Alte«, erklärte der Junge jovial, »und mir einen Gefallen schuldig.« »Was für ein Gefallen wäre das?« »Du müßtest in meine Dienste treten. Aber diesen Preis sollte dir dein altes Leben wert sein. Denn es war, sei versichert, ein grandioses!« Landers schloß die Augen. Seine Wangenmuskeln zuckten schmerzhaft vor Erregung. Das Ganze hier war – schierer Wahnsinn! Und doch auch die Chance, die er herbeigesehnt hatte, seit er im Monte Cargano erwacht war! Er mußte nur noch zugreifen. Landers senkte den Kopf. Nickte schicksalsergeben.
»Dann tu es«, flüsterte er. »Was immer vonnöten ist, ich bin bereit dazu, wenn ich nur endlich erfahren darf, wer ich war und wieder sein werde.« »So sei es«, hörte er die Stimme des Knaben. Landers hatte die Augen nicht wieder geöffnet, und er tat es auch jetzt nicht. Eine Weile verging, in der Gabriel schwieg, aber doch irgend etwas zu tun schien. Denn – – der Boden begann zu vibrieren, ganz sacht nur, wie von einem fernen Erdbeben. Und von weit her klang das Rumoren von Donner an ihre Ohren, wie von einem heranziehenden Gewitter. Dann aber – – war beides zugleich heran! Erdbeben und Gewitter! Landers taumelte unter dem Wanken des Bodens. Blitze zerrissen die Nacht, so grell, daß sie sich durch seine geschlossenen Lider brannten. Der Donner krachte so laut, daß er auf ewig taub zu werden fürchtete. Und doch war all dies nur der Auftakt. Der Beginn eines neuen alten Lebens. Oder nicht …? Landers öffnete die Augen. Die Welt um ihn her verging im Chaos. Naturgewalten tobten, doch damit nicht genug: Die Hölle selbst schien ihre tiefsten Schlünde aufzutun! Das sturmgepeitschte Gewölk hoch über ihm (hoch über ihm? Hingen die Wolken denn nicht auf einmal so tief, daß er sie fast mit den Händen berühren konnte?) barst an unzähligen Stellen, platzte auf wie fette Bäuche, und heraus kam – – glühender Regen! � Zischend und kochend fiel er auf den Vampir nieder und sengte � sich in seine Haut. Landers brüllte vor Schmerz. Und Verzweiflung.
War all dies nur Betrug? Trieb dieser elende Teufel nur ein grausames Spiel? Landers brach in die Knie, die Hände vor der Brust zu Fäusten geballt, das Gesicht anklagend jenem speienden Pfuhl entgegengereckt, in den der Himmel sich für ihn verwandelt hatte. »NEIN!«
* Nein. Was hier, inmitten des Père-Lachaise geschah (oder hatte das aus dem Nichts entfesselte Chaos diesen winzigen Teil der Welt aus der eigentlichen herausgelöst?) war nicht Lug und Trug – Es war Landrus Wiedergeburt! Alles, was sein Leben vor dem Erwachen im Monte Cargano ausgemacht hatte, kehrte zurück. Wissen und Wesen stürmten auf ihn ein, gehüllt in kochenden Regen, und glühender Wind peitschte es ihm durch alle Poren und über jeden Nerv in Körper und Geist. Der Schmerz war unvorstellbar, selbst für ein Wesen, wie Landru es war – und wieder wurde. Und in dem Toben und Tosen ringsum stand Gabriel, einem Fels in der Brandung gleich, unbeweglich und ungerührt, als ginge ihn all das nichts an; als wäre nicht er derjenige, der die Gewalten entfesselt hätte, auf daß sie gestohlenes Leben freigaben. Für den Knaben jedoch hatte Landru keinen Blick übrig. Er war allein mit sich beschäftigt, mit den Qualen, die er durchlitt, und den Dingen, die in ihn drangen und unter deren Wucht er schließlich niedersank – auf einen Boden, der sich in brodelnden Schlamm verwandelt hatte, der stinkende Gase entließ, und Landru suhlte sich schmerzgepeinigt darin, zuckend wie ein Wurm, wimmernd wie ein Kind. Die Wiedergeburt eines Gottes –
– und doch ein erbärmliches und entwürdigendes Schauspiel … Trümmer, unsichtbar und tonnenschwer, schienen auf den Vampir niederzustürzen, trafen ihn mit zermalmender Gewalt, drangen in ihn und verschmolzen mit seinem Leib und schließlich seinem Ich. Sein Geist drohte zu zerbrechen an der unsäglichen Pein, und er suchte nach Rettung, indem er sich an einzelne Fragmente klammerte, derer er habhaft werden konnte. Teile eines Lebens erstanden neu vor Landrus innerem Auge, dessen Blick ungetrübt blieb, während seine eigentlichen Augen längst blind geworden waren von dem Licht und der Gluthitze. Und so sah Landru – – sich selbst und eine Zahl anderer, die waren wie er, in einem fremden Land in ferner Zeit, in der ein ganzes Volk sie als Götter verehrte! Diese anderen waren seine leiblichen Brüder und Schwestern, und sie waren geboren am Anfang der Zeit, aus dem Schoß eines Wesens, das die Urmutter aller Vampire war: Lilith, Adams erstes Weib … Landru sah – – zwei gewaltige Schiffe; das eine von Menschen im Auftrag ihres Gottes gebaut – das andere von Menschen auf Geheiß ihrer Götter hin. Das eine hieß man die Arche Noah, das andere die Dunkle Arche … Landru sah – – einen gewaltigen Regen, der die Welt verschlang. Nur jene, die in den Archen Zuflucht fanden, überdauerten die Flut. Er selbst, Landru, und seine vergötterten Geschwister überstanden die Zeit in der Dunklen Arche, die schließlich in einem gewaltigen Berg vor Anker ging und eins mit dem Fels wurde. Dort legten sich die Hohen, wie sie sich nannten, zur Ruhe, für eine sehr lange Zeit, und nur einer von ihnen erwachte in tausend Jahren, um hinauszugehen und die ihm übertragene Aufgabe auszuüben: das Amt des Kelchhüters … Landru sah – – sich selbst als Hüter des Grals der Alten Rasse um die Welt reisen. Mit dem Kelch taufte er den Nachwuchs der Vampirsippen, und sein tausend-
jähriges Wirken war geprägt von abertausenden Dingen, die er zu tun hatte, um die Entwicklung der Alten Rasse auf dem rechten Weg zu halten … Landru sah – – seine Rückkehr in den Dunklen Dom, die Heimstatt der Hüter im Berge Ararat, wo er den Lilienkelch an seinen Nachfolger im Hüteramt übergeben mußte, wie die Tradition es forderte. Doch er tat es nicht – und beschwor damit den Niedergang seines ganzen Volkes herauf! Landru sah – – seinen Kampf mit Felidae, der Diebin des Kelches! Sie hatte den Gral im Auftrag einer höheren Macht verschwinden lassen, für viele Jahrhunderte. Und fortan war den Sippen kein Nachwuchs mehr beschert worden. Das Volk der Vampire begann zu degenerieren – langsam, aber sicher … Landru sah – – wie er sich, nicht länger Hüter, auf die Jagd nach dem Kelch gemacht hatte. Fast dreihundert Jahre lang war er jeder Spur gefolgt, ohne den Gral zu finden … Landru sah – – das Haus in der Paddington Street in Sydney. Darin gebar die Hure Creanna ihr Balg, Lilith Eden, zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Vampir. Das Kind zweier Welten sollte über das Schicksal der Alten Rasse entscheiden. Und so war es geschehen … Denn Landru sah – – wie Lilith Eden ihre Bestimmung erlangte! Am Anfang der Zeit hatte sie Gott (Landru stöhnte auf) mit der Urmutter der Vampire versöhnt, und der Verhaßte hatte daraufhin den Kelch vergiftet mit einem todbringenden Keim – den am Ende Landru selbst über die Vampire der Gegenwart gebracht hatte … Landru sah – – das Sterben der Alten Rasse in aller Welt. Nur die Oberhäupter überlebten die Seuche, diesen Zorn Gottes, denn sie waren nur die Träger des Keims und übertrugen ihn auf ihre Blutkinder. Und auch er, Landru, hatte diesen Keim in sich gehabt. (Immer noch?) …
Landru sah – – wie er sich um die Reinigung des Kelchs bemühte und ihn schließlich verloren geben mußte. Statt dessen glaubte er, in einem Kind den Messias der Vampire gefunden zu haben – die Chance auf einen Neubeginn. Doch er sah sich getäuscht. Das Kind lockte ihn in eine Falle, und am Ende landete er an einem Ort, dessen Existenz selbst er angezweifelt hatte – in der Hölle … … und dort war sein ganzes Sein, sein Leben und Wesen, seine Macht, sein Ich zurückgeblieben, nachdem die Hölle ihn endlich wieder ausgespien hatte – durch das Tor im Kloster Monte Cargano, wo Landru bar aller Erinnerung erwacht war. All dies und sehr viel mehr wußte Landru nun wieder. Wissen und Erfahrung eines vieltausendjährigen Lebens waren ihm wiedergegeben worden. Doch – um welchen Preis? Es kümmerte ihn nicht. Nicht jetzt, nicht in diesem Moment, da sein ganzes Denken und Trachten etwas anderem galt – jemand anderem, der eine Zeit dieses wiedergefundenen Lebens mit ihm geteilt hatte. Eine Frau; ein Wesen, das einmalig war und ihm nun selbst wie ein Geschenk erschien. Eine Frau, die er eben noch zu töten bereit gewesen war! Die er getötet – hatte? Weil sie ihren Verletzungen vielleicht schon erlegen war? »NONA!« Landrus Schrei ließ den Donner verstummen, brachte das Chaos ringsum zum Stillstand. Dieser kleine Teil der Welt kam wieder zur Ruhe, als hätte sich all das Ungeheuerliche nie ereignet. Keuchend kniete Landru da. Seine Macht war wieder die alte, ohne Zweifel. Doch würde sie genügen, eine Tote ins Leben zurückzuholen? Sie mußte!
Landru sprang auf. Noch in der Bewegung verwandelte er sich. Dann hetzte ein grauer Schemen in die Nacht, in jene Richtung, in der Nona, seine Geliebte, zum Sterben verschwunden war. Doch das Heulen des Wolfes blieb ohne Antwort.
* Gabriels Gesicht glich einer wächsernen Maske, die Unbeschreibliches verbarg und in deren Zügen das Lächeln nur modelliert war, ohne echtes Gefühl, eine Krümmung der Lippen, mehr nicht. Seine Augen, nun wieder wie aus flüssiger Schwärze geformt, starrten dem Wolf nach und sahen ihn noch, als die Tore der Nacht längst hinter ihm zugeschlagen waren. Da rannte er hin, sein Weibchen zu retten vor dem Tode, den er der Wolfsfrau selbst beschert hatte. Meckerndes Lachen brach aus der Kehle des Knaben. Welch höllischer Spaß war dies doch gewesen …! Er hatte nicht damit gerechnet, daß der Vampir ohne jedes weitere Wort davonlaufen würde; für so stark hatte er dessen Bindung an die Wölfin nicht gehalten. Er hatte geglaubt, daß Landru trotz allem noch Fragen haben würde, deren Antworten er von ihm, Gabriel, erfahren wollte. Und es hätte in der Tat noch einiges zu bereden gegeben. Aber egal, es kümmerte den Jungen nicht. Für ein Gespräch mit dem Vampir würde später noch Zeit sein. Sollte er sich ruhig erst einmal in seinem neuen alten Leben zurechtfinden. Womöglich war es sogar besser, wenn Landru für ihre anstehende Unterhaltung wieder bei vollends klarem Verstand war. Dann nämlich würde er wirklich verstehen, worauf er sich mit diesem Pakt eingelassen hatte … … wenn Gabriel ihm den Preis nannte, den der Vampir für den Handel zu zahlen hatte! Das Lachen folgte dem Knaben wie eine Horde unsichtbarer Geis-
ter auf seinem Weg fort vom Père-Lachaise. Und seine Schritte, unhörbar hier oben, dröhnten laut wie Donner in den Tiefen des Friedhofs und störten die Ruhe jener, die vergessen unter Stein und Erde lagen. Nona wußte nicht, wie weit sie sich vom Ort des mörderischen Kampfes entfernt hatte. Sie war gelaufen und schließlich gekrochen, bis ihre zerschlagenen Glieder sie nicht länger getragen hatten und alle Kraft in ihr versiegt war. Dann war sie zu Boden gesunken. Die Kühle der Erde und das feuchte Laub wollten ihren Leib und Geist neu wecken, doch sie ließ es nicht geschehen. Jedes bißchen Kraft, das in ihr noch hätte entstehen können, würde ihre Qualen nur verlängern. Und sie wollte doch nur eines – daß es endlich vorbei war! Daß dieses Leben, das einem Menschen ewigkeitslang erscheinen mußte und doch in einer einzigen Nacht erbärmlich geworden war, endete. Jetzt und hier. Während die Feuer weiter in ihren Wunden tobten, sann sie mit dem Rest ihrer Gedanken über das Geschehene nach. Und sie kam zu einem Schluß. Nein, sie haßte Landru nicht. Was auch aus ihm geworden war, und was er ihr auch angetan hatte – sie konnte ihn dafür nicht hassen. Obgleich sie es wollte. Denn – vielleicht – hätte es ihr den Tod ein kleines bißchen erträglicher gemacht … Aber das besondere Band zwischen ihnen, das sein Blut gewoben hatte, bestand noch immer, und vielleicht würde es selbst den Tod überdauern. Sie würde es erfahren. Bald schon. Denn der Tod kam. Breitete Schatten um sie her. Lud sie ein zur ewigen Jagd in seinen schwarzen Gründen. Und Nona folgte ihm nur allzu willig. Fort aus diesem Leben, das nicht länger lebenswert war.
* � Die Witterung des Todes war allgegenwärtig an diesem Ort. Immer wieder verhielt der Wolf im Lauf, suchte nach der einen Fährte, die noch nicht zur Gänze die des Todes war, fand sie stets wieder und folgte ihr – – bis er seine Geliebte, Gefährtin und Gespielin in Hunderten von Jahren fand. Und doch gehofft hatte, sie nicht so zu finden: tot. Im Sterben hatte sie alle Masken verloren. Schön wie ehedem, da Landru sie kennengelernt hatte, lag das Mädchen Nona vor ihm. Der Wind hatte welkes Laub über sie gebreitet, als müsse er ihren nackten, zerschundenen Leib vor der Kälte der Nacht schützen. Doch vor der Kälte, die in ihr gedieh, gab es keinen Schutz. Landru, auch er nun wieder in menschlicher Gestalt, kniete neben ihr nieder. Schweigend und starr wie Stein. Und in dieser Minute wünschte er, ewig so sitzen zu dürfen, um nur sie noch anzusehen, für alle Zeit. Sacht, als könnte eine zu heftige Bewegung sie noch im Tode verletzen, berührte der Vampir Nonas Haar, dann strichen seine Finger über die feinen Linien ihres Gesichtes, auf dem getrocknetes Blut ein dünnes Muster hinterlassen hatte, ihren Hals entlang und hin zu ihren Brüsten, um schließlich dort zur Ruhe zu kommen, wo einst das Herz der Wölfin geschlagen hatte. Geschlagen hatte? Noch schlug …! Wie elektrisiert fuhr Landru zurück! Wenn auch nur, um seine Hand gleich wieder unter Nonas Brust zu legen. Hatte er sich getäuscht? Gewiß. In diesem Leib, zerschlagen, wie er war, konnte kein Lebensfunke mehr glimmen – Und doch war es so! Zögernd pochte es unter der Haut, unregelmäßig und kaum fühlbar. Aber Nonas Herz schlug – ohne jeden
Zweifel! Landru keuchte vor Erleichterung. Ein Dutzend und mehr unterschiedlichster Emotionen versetzten ihn in Aufruhr. Ungeheure Spannung fiel von ihm ab. Zugleich aber befiel ihn neue. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Alles. Denn er war nicht länger der Mann ohne Erinnerung. Nicht mehr nur irgendein Vampir. Er war – Landru. Der Mächtigste der Alten Rasse. Einst ein Gott. Und mit der Macht eines Gottes gesegnet. Er würde sie nutzen, wie er es nie zuvor getan hatte – die Magie eines Hüters. Das Wissen um die Art und Weise, wie es zu tun war, war in Landru. Er mußte nicht überlegen, nicht nachdenken über Wie und Warum, er brauchte seiner Kraft nur freien Lauf zu lassen. Die Hütermagie selbst übernahm die Kontrolle, gelenkt von Landrus Wunsch, die Wölfin zu retten. Wie beschwörend kniete der Vampir da, die Fäuste geballt, jeder Muskel im Leib angespannt. Dann war es, als entzöge etwas der Nacht und allem, was sich in ihr verbarg, Energie. Unsichtbar flossen Kräfte durch Kanäle jenseits aller Vorstellung, und jeder einzelne mündete in Landru. Wie eingewoben in ein Netz aus erstarrten, lichtlosen Blitzen kniete er da, erstarrt unter den Mächten, die er den Dingen um sich her und der Welt selbst entriß, bis er zu bersten meinte unter dieser Gewalt. Seine Arme streckten sich, seine Fäuste hingen zitternd über Nona. Als kämpfe er gegen steinernen Widerstand an, öffnete er die Finger, ohne sie ganz strecken zu können. Wie von Gicht gekrümmte Klauen senkten sich auf den reglosen Leib der Wölfin herab – – und dann entlud sich die gesammelte Kraft, gespeist und getrieben von des Hüters Macht! Dunkles Licht ergoß sich aus Landrus Händen, floß wie Wasser
über Nonas Haut, zog schlierige Spuren darauf und drang in ihre Wunden – und tiefer, viel tiefer. Es füllte ihre Verletzungen wie kleine Tümpel. Begann zu brodeln. Zu kochen. Beißender Gestank stieg auf. Von verbranntem Fleisch und Schlimmerem. Nona stöhnte. Regte sich. Schrie unter der Rückkehr des Lebens, das sie fast schon verlassen hatte. Ihr nackter Körper bäumte sich auf, zuckte wie unter Schlägen aus dem Unsichtbaren. Zähflüssig rannen Teile des dunklen Etwas aus ihren Wunden. Wo Tropfen davon den Boden berührten, stiegen stinkende, zischende Dämpfe auf. Landru fing ihren Körper ab, ehe er zurück auf den Boden prallen konnte. Er hielt Nona in seinen Armen wie eine Mutter ihr Kind, barg sie an seiner Brust und sog ihren herben Duft ein. Und als er sich endlich von ihr löste, sah er ihr ins Gesicht. Gerade in dem Moment, da sie die Augen aufschlug – diese ewig faszinierenden goldenen Augen, voller Geheimnisse, die nie zu ergründen waren. »Du?« kam es wie ein Tropfen von ihren Lippen. Er nickte. »Ich.« Und nach einem kurzen Zögern, aber lächelnd: »Wieder ich.«
* Sie mißtraute ihm, bis er ihr mit Worten von magischer Kraft erklärt hatte, warum er vorhin gegen sie gekämpft hatte. Und wie es hatte geschehen können, daß Chiyoda ihn und Lilith aus den Augen verlor, als gäbe es sie nicht mehr. »Wir waren beide fort. Und als wir zurückkehrten … geschah das, was uns alle Erinnerung raubte«, schloß er.
»Uns?« echote Nona, das Gesicht noch immer voller Schmerz, aber in ihren Augen glomm die Bereitschaft, ihm zu verzeihen – die Hoffnung, ihm glauben zu dürfen. »Heißt das, auch Lilith …?« Sein Lächeln war das Lächeln, das sie kannte und so lange vermißt hatte. »Das heißt es, ja. Und ich bin sicher, Gabriel hat ihr kein Angebot gemacht, ihr die verlorene Erinnerung wiederzugeben …« Tief sog er den Atem ein, und mit ihm Nonas herben Duft, als könnte er nicht genug davon bekommen. »Aaah …!« seufzte er. »Du ahnst nicht, wie es ist, wiedergeboren zu werden.« »O doch«, widersprach sie und strich mit ihrem Finger über die Narbe in seinem Gesicht, die zu berühren er keinem anderen Menschen gestattet hätte. Die Narbe, die einst ein geweihtes Kruzifix hinterlassen hatte. Ja, er war gebrandmarkt. Aber es gab Narben, auf die er stolz sein konnte – und stolz war, nun, nachdem er endlich wieder wußte, wie sie entstanden waren. »Ich weiß sehr gut, wie man sich neugeboren fühlt«, flüsterte Nona. »Du hast mich gerade aus den Schatten des Todes zurückgeholt. – Aber sag mir, wer ist dieser Gabriel?« »Der Teufel.« Sie lachte. Er stimmte ein. Doch dann wurde er übergangslos wieder ernst. Sehr ernst. »Es ist wahr«, sagte er. »Er ist die Inkarnation des Bösen. Wie sonst hätte er mir die Erinnerung zurückgeben können, die ich in der Hölle verlor?« Nona schüttelte den Kopf, noch immer ungläubig. »Und wo ist er jetzt?« Landru zuckte in einer menschlichen Geste, die an ihm geradezu absonderlich wirkte, die Achseln. »Auf der anderen Seite der Welt – oder dort im Gebüsch … Wer weiß? Ich habe keine Sehnsucht nach ihm – aber er wird sich melden, wenn ich ihm gefällig werden
kann.« »Gefällig?« Er wischte das Thema mit einer unmißverständlichen Handbewegung beiseite. »Wir reden pausenlos über Dinge, die mich betreffen. Was ist mir dir? Wie hast du mich hier in Paris finden können? Mit Chiyodas Hilfe?« »Mit Chiyodas und Makootemanes Hilfe«, erwiderte Nona. »Makootemane?« »Zwei, die sich nie gesucht und dennoch gefunden haben. Chiyoda traf seinen Geist in einer der Traumwelten, die er bereist. Aber reden wir nicht …« Nona verschloß Landru und sich selbst den Mund. Mit einem Kuß, der von Landru stürmisch erwidert wurde. Dabei umarmte er sie jedoch weiterhin so zart, als wäre sie eine Puppe, zerbrechlich wie Glas. Seine Rücksichtnahme schien seine älteste Vertraute zu amüsieren. »Ich wußte gar nicht, daß du so sanft sein kannst.« »Es gefällt dir nicht?« »Nein. Ich halte eine Menge aus. Das solltest du wissen.« Seine Hand glitt zwischen ihre Beine. Die Wärme dort hatte er ebenso lange vermißt wie alles, was diese Frau ihm geben konnte. Doch dann zog er die Hand wieder zurück und legte sie unter Nonas Kinn. »Was ist? Warum siehst du mich so an?« »Du verheimlichst mir etwas.« Sekundenlang sah sie ihn stumm an. Dann sagte sie: »Ich hätte es dir erzählt. Später. Nicht hier.« »Was hättest du mir erzählt?« »Wo ich überall nach dir gesucht habe, als du – wie hast du es ausgedrückt? – hinter dem Tor warst. Und was ich dort erlebte.« Landrus Augen funkelten kälter als die Sterne des Himmels. »Sag es mir jetzt.« »Du hast recht. Warum sollst du es nicht hier und jetzt erfahren?
Ich muß mich erst wieder daran gewöhnen, was Zeit bedeutet – vor allem verschwendete Zeit.« »Wovon redest du?« Das Glück zog sich aus ihren Augen zurück, die nur noch traurig wirkten. Unendlich traurig. »Du weißt, daß du den Kelchgetauften den Tod bringst, seit der ersten Taufe mit dem manipulierten Kelch? Auch ich erhielt einst eine Taufe aus dem Lilienkelch – mit deinem Blut. Deshalb mußte ich dich meiden, so gern ich dich auch aufgesucht, deine Nähe gespürt hätte. Es war unmöglich.« Landru schrak zusammen. »Du hast recht!« Er rückte instinktiv von ihr ab, obwohl es doch längst zu spät sein mußte. Aber Nona griff nach seinem Arm. »Ich bin nicht in Gefahr«, beruhigte sie ihn. »Aber wie …?« Sie berichtete ihm in knappen Sätzen, wie sie auf der Suche nach ihm zum Ararat gereist war. Und welche Situation, welche Geschöpfe sie dort angetroffen hatte. Sterbende Geschöpfe, die einen Ruf empfangen hatten und im Dunklen Dom zugrunde gegangen waren. »Artos …«, murmelte Landru erzitternd. Die Erinnerung, wer Artos war, kam wie eine Woge über ihn. »Isis …« Ninmahs sieben Kinder. Die Wächter der Blutbibel. Einst waren sie nach der Sintflut auf dem Gipfel des Himalaja ausgesetzt worden – Tage bevor die Arche der Hohen Männer und Frauen am Berge Ararat anlangte. »Was für ein Ruf war das, den sie empfingen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Nona. »Und ich glaube, sie wußten es selbst nicht. Sie wußten nur, daß sie gehorchen mußten – daß es ihr Ende bedeuten würde, erfuhren sie erst am Ziel.« Landru dachte darüber nach. Erst seit er am Anfang der Zeit seiner Mutter, der Urmutter aller Hüter, gegenübergestanden hatte,
konnte er sich an seine eigenen Anfänge erinnern. An Uruk, über das er und seine Geschwister vom Weißen Tempel aus geherrscht hatten, bis die Sintflut diese Ära beendete. Und an die Dunkle Arche, mit der die Ur-Lilith ihre geheimen Kinder in eine sichere Zukunft retten wollte … »All dies«, sagte er mit belegter Stimme, »erklärt aber noch nicht, warum es dir plötzlich möglich ist, gefahrlos in meine Nähe zu kommen.« Nona strich sich durch ihr Haar, das streichholzkurz war und sie noch mädchenhafter wirken ließ als früher. »Ganz einfach: Auch ich mußte einen Preis für das Betreten des Doms bezahlen – nicht nur die Sterbenden, die ich dort traf. Auch mir wurde genommen, was mir einst geschenkt wurde. Von dir.« »Von mir?« »Von dir und dem Kelch.« Nona schloß die Augen. »Ich bin wieder, was ich vor dem Kelchritual war: eine Sterbliche. Die Magie, die mich vor dem Altern schützte und meine Verletzungen heilte, blieb im Ararat zurück …« Ihre Lider sprangen auf. Ihr Blick saugte sich regelrecht an Landru fest, der seine Erschütterung kaum verbergen konnte. »Aber ich bin immer noch eine Werwölfin, denn diese Art Magie konnte der Dunkle Dom nicht verwerten. Und so lange du meinen Anblick ertragen kannst, will ich bei dir bleiben. Und wenn nicht … dann will ich durch deine Hand sterben. Du sollst mich so in Erinnerung behalten, wie ich immer war. Bevor der Zauber verflog …« Landru preßte ihr Gesicht gegen seine Brust. Lange wußte er nicht, was er sagen sollte.
* Epilog
Lilith Eden hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß der Wohnungstür drehte. Langsam löste sich die starre Maske, in die sich ihre Züge verwandelt hatten – Züge, die sie noch niemals selbst klar und deutlich erblickt hatte, weil ihr Spiegelbild trübe und verwaschen war. Als wäre sie kein menschliches Wesen, nur ein ruhelos umherirrendes Gespenst – und vermutlich war sie das tatsächlich. Ihr Besuch des Anwesens 333, Paddington Street, hatte sie in diesem Glauben nur noch bestärkt. Traumatische Eindrücke waren dort auf sie eingestürmt. Hatten neue Fragen aufgeworfen, ohne eine einzige alte zu beantworten. Noch immer war sie eine Fremde für sich selbst, eine Frau ohne Persönlichkeit. Das wenige, was sie über sich erfahren hatte, jagte ihr allenfalls Angst ein … Schritte näherten sich der offenen Tür des Zimmers, das ihr nicht gehörte, und der Mann, dessen Gast sie war, sagte: »Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist vielbeschäftigt, und der nächste reguläre Termin wäre frühestens in drei Wochen – aber er war mir noch einen Gefallen schuldig …« Sie sah auf. Der Mann, der im Türrahmen stehengeblieben war, lächelte karg. Man konnte sehen, welche Mühe es ihn kostete. Er war Ende Fünfzig und untersetzt. Aus seinem Mundwinkel ragte eine kalte Zigarre. Als er hustete, klang das Geräusch, als gehörte es nicht zu diesem Körper. Als gäbe es noch eine zweite Person, die sich in der Hülle versteckte. Als junger Mann mußte er einmal durchaus gutaussehend gewesen sein – ein klein wenig schimmerte dies noch bei ihm durch. Als Moskowitz wieder Atem schöpfen konnte, nutzte er ihn, um derb zu fluchen. »Ihr Husten hört sich von Tag zu Tag schlimmer an«, sagte Lilith. »Sie sollten endlich zu einem Arzt gehen.« Er schüttelte den Kopf. Seine Augen glitzerten spöttisch. Gleichzeitig schien er gegen eine Furcht anzukämpfen, der er sich, wäre er
allein gewesen, vermutlich ergeben hätte. Lilith war besorgt um ihn – und das kam ihr nicht einmal ungelegen. Die Gedanken, die sie sich um den alternden Fotografen machte, der sie nachts in der Paddington Street aufgelesen hatte, lenkten sie von ihren ureigenen Ängsten ab. Wer war sie? Zusammen mit einem Mann namens Hector Landers hatte sie in Rom Hinweise gefunden, die sie nach Sydney geführt hatten. Es hatte den Anschein gehabt, als lägen hier ihre Wurzeln. Aber die Adresse in der Paddington Street hatte ihr nicht weitergeholfen. Erst Moskowitz hatte ihr ein paar Auskünfte über ihr vergessenes Vorleben geben können. Das meiste bezog sich auf eine gemeinsame Freundin namens Beth MacKinsey, bei der Lilith offenbar auch zeitweise gewohnt hatte. Beth war Reporterin bei derselben Zeitung gewesen, für die auch Moskowitz hin und wieder Bilder machte. Inzwischen nicht mehr. Inzwischen war auch allerhand geschehen. Diese Beth MacKinsey und Lilith waren vor fast zwei Jahren ohne ein Wort der Erklärung aus Sydney verschwunden. Weder Beth’ Arbeitgeber, der Sydney Morning Herald, noch irgend jemand sonst aus Moskowitz’ Bekanntenkreis hatte jemals etwas über die Hintergründe dieses Verschwindens herausgefunden. Selbst die vorübergehend ermittelnde Polizei nicht … Moskowitz hatte ihr Bilder von Beth gezeigt – aber Lilith hatte nicht die leiseste Vertrautheit dabei empfunden. So wenig wie bei Moskowitz, den sie angeblich ebenfalls flüchtig kannte. Mittlerweile wußte Lilith, daß sie den dicklichen Zigarrenliebhaber mochte. Ziemlich sogar. Auch wenn er ihr nicht wesentlich weiterhelfen konnte, bedauerte sie nicht, ihm in die Arme gelaufen zu sein. Und nach anfänglicher
Bärbeißigkeit schien auch Moskowitz sein Herz für die gedächtnislose Streunerin entdeckt zu haben. Er schien überzeugt, daß sich die Erinnerungsblockade, an der Lilith litt, beseitigen ließ, wenn sich nur ein Fachmann darum kümmerte. Wahrscheinlich erhoffte er sich mit Liliths Gesundung auch Aufschluß über den immer noch ungeklärten Verbleib der Reporterin, deren Verschwinden er offenbar nie ganz verkraftet hatte. Was das anging, benahm er sich beinahe wie ein Vater, der sein eigen Fleisch und Blut vermißte. »Ich mag keine Quacksalber«, reagierte Moskowitz gewohnt ungehalten auf jede Anspielung, die seinen Husten betraf. »Die wissen doch nichts besseres, als einem die einzige Freude im Leben zu verbieten, die man noch hat.« »Das Rauchen?« Das Grinsen, mit dem er seine nikotingelben Zähne entblößte, verstärkte absurderweise Liliths Angst um ihn. »Aber mich«, sagte sie, nur um des Redens willen, »wollen Sie einem solchen ›Quacksalber‹ zum Fraß vorwerfen!« Moskowitz nickte mit wieder bierernster Miene. »Ich habe dich ja auch noch nie bei einer guten Zigarre, nicht einmal einer Zigarette ertappt. Und ich fürchte, du weißt nicht einmal, was du versäumst …« »Nichts«, sagte Lilith. »Außer chronischem Husten vielleicht.« Für diesen Scherz schien ihm der rechte Sinn zu fehlen. »Du sollst morgen früh, gleich wenn seine Praxis öffnet, zu ihm kommen. Er ist eine Kapazität auf dem Gebiet neuronaler Störungen und Gedächtnisverluste …« Lilith wünschte, sie hätte auch etwas von der Zuversicht empfunden, die Moskowitz bei diesen Worten ausstrahlte. Aber nach den Pleiten der Vergangenheit war sie skeptisch geworden, ob sie überhaupt jemals wieder die sein würde, die sie einmal war. Gewesen sein mußte.
»Hunger?« fragte Moskowitz, als das Schweigen zwischen ihnen unangenehm zu werden drohte. Sie schüttelte den Kopf und log: »Ich habe schon etwas gegessen.« Er faßte sie scharf ins Auge. »Was?« Nach kurzem Zögern sagte sie: »Ich weiß nicht mehr. Was im Kühlschrank war.« Er stampfte mit dem Schuh auf. »Das beweist nur, daß du seit Tagen nicht in den Kühlschrank geschaut hast. Der ist leer. Selbst eine Maus würde darin verhungern! – Was ist los mit dir? Bist du auch dem Wahn dieser schwindsüchtigen Fotomodelle verfallen?« Wie sollte er begreifen, daß sie liebend gern etwas gegessen hätte – aber bislang hatte jeder Versuch darin geendet, daß sie alles wieder erbrochen hatte. Auch damit hätte man einen Arzt beschäftigen können – wenn da nicht der Umstand gewesen wäre, daß Lilith normale Nahrung ganz offenbar nicht brauchte. Sie hätte längst verhungert sein müssen, so lange aß sie schon nichts. Und mit dem Trinken verhielt es sich ähnlich. Es war … ja, es war gespenstisch. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Und irgendwo fürchtete sie nichts mehr als den Moment, da ihr jemand klipp und klar ins Gesicht sagen würde, was für eine Art von Gespenst sie denn war. »Ich möchte nicht darüber reden! Es ist – meine Sache!« Einen Moment sah es aus, als wollte Moskowitz wirklich wütend werden. Doch dann – als erinnerte ihn Liliths Haltung an seine eigene in puncto rauchen – entspannte er sich wieder. »Verstehe. Wie wär’s mit einem Spaziergang. Ich war heute am Meer, ein paar Fotos machen für den Hausgebrauch. Es ist wunderbares Wetter, und die Sicht reicht –« »Nein. Ich möchte hierbleiben.« Er seufzte. »Du gehst nie weg. Du begräbst dich hier, daß es einem
schon den Appetit auf eine Zigarre vergällt …« Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Augenblick ging der Türsummer. Achselzuckend entfernte sich Moskowitz über den Korridor. Lilith hörte, wie er die Tür öffnete, und wartete darauf, aus dem Wortwechsel herauszuhören, wer gekommen war. Aber es gab keinen Wortwechsel. Nach einer Minute völliger Stille wurde es ihr unheimlich. Sie erhob sich aus dem Sessel, in dem sie gesessen hatte. Aber noch bevor sie das Zimmer verlassen konnte, hörte sie hastige Schritte, die auf sie zukamen. Dann erschien der Fotograf wieder in der Tür. Sein Gesicht war eine Grimasse, von Grauen überzogen, und der Mund, in dem das Fehlen der Zigarre auffiel, öffnete und schloß sich wie bei einem an Land geholten Fisch. Mehr als ein Röcheln brachte er nicht zustande. Vor Lilith brach er zusammen. Sie glaubte an einen Herzinfarkt und bückte sich, um ihm den Kragen zu öffnen. Als sie ihn umdrehte, starrte er sie an, als würde er sie schon nicht mehr erkennen – als wären seine Augen erblindet. Er japste, bekam offensichtlich keine Luft. Lilith riß ihm das Hemd auf und – versteinerte. Im ersten Moment begriff sie nur, daß es vieles sein mochte, aber bestimmt kein Infarkt, was Moskowitz niedergestreckt hatte. Seine ganze Brust war mit Geschwulsten übersät. Beulen, denen man dabei zusehen konnte, wie sie von innen nach außen wucherten. Moskowitz riß die Arme hoch. Seine Hände krallten sich in Liliths Fleisch. Er bäumte sich auf – – dann sank er zurück, und seine Augen brachen. Erst jetzt bemerkte Lilith, daß hinter Moskowitz noch jemand eingetreten war.
Sie blickte auf. Und sah in das strahlende Gesicht von Hector Landers. Die Frage, wie er sie hatte finden können, geriet zur Nebensache. »Hast – hast du ihm das angetan?« schrie sie ihn an, ohne zu wissen, warum sie ihm zutraute, etwas damit zu tun zu haben. »Er wäre ohnehin bald abgekratzt«, antwortete Landers unbeeindruckt. »Er hatte Krebs. Lungenkrebs im Endstadium. Ich habe das Wachstum der Metastasen nur ein wenig … beschleunigt. Im Grunde habe ich ihm etwas Gutes getan. So blieb ihm ein noch längeres Siechtum erspart …« Lilith war außerstande, etwas zu erwidern. Ihre Hand strich über die toten Augen, die sie immer noch anstarrten, und schloß sie. »Ich habe dir noch etwas anderes mitzuteilen, was dir gefallen wird«, sagte Landers, dessen Ausstrahlung sich seit ihrer letzten Begegnung grundlegend verändert hatte. »Ich habe meine Erinnerung wiedererlangt. Sie betrifft auch dich. Wenn du willst, bringe ich dich sofort heim …« »Heim?« echote Lilith wie erschlagen. »In den Schoß unserer Familie. Wir waren lange fort.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Komm, ich habe schreckliches Heimweh – und du sicher auch …« ENDE
Wie es wohl sein mag Leserstory von Michael Dependahl � Teil 1 � Wie es wohl sein mag? fragte er sich, in den blauen Himmel über sich starrend, über dem sich gigantische, weißwabernde Gebilde aus Wasserdampf tummelten, die von hier unten allerdings wie Wattebäusche aussahen, die jemand über eine Fläche aus transparentem Azur vor sich her blies. Würde er all dies auch noch sehen können, wenn es soweit war? Oder sah er dann nur noch Dunkelheit? Allumfassende Dunkelheit. Was konnten sie sehen? Die Frühlingssonne stand noch ziemlich niedrig, obwohl es früh am Nachmittag war, doch konnten die Strahlen, die zwischen den herabhängenden Zweigen einer Trauerweide und einer sich sanft im leichten Windhauch wiegenden Eibe zu ihm durchdrangen, bereits soviel Kraft entwickeln, daß sie angenehm sein Gesicht wärmten, als würde es von einer vertrauten, lieben Hand gestreichelt. Würde er all dies auch dann noch spüren? Hatte man noch Gefühle, danach? Oder spürte man dann nur noch, wie sich krabbelndes Leben durch die Wände des hölzernen Behältnisses bohrte, in das man zur letzten Ruhe gebettet worden war. Mit unzähligen Beinen über deinen reglosen Körper krabbelnd oder feucht über dein kaltes Gesicht kriechend auf der Suche nach einem Weg nach Innen, nach Nahrung. Die ihn umwehende leise Brise trug das Aroma schwammiger Borken der umstehenden Bäume an seine Nüstern, das harzige Odeur schattenspendender Lärchen und das Bukett der verwelkenden Blumen, die überall um ihn herum in dunkelgrünen Kunststoffvasen, angefüllt mit faulendem Wasser, in der erst vor kurzem ganz aufgetauten Erde der Gräber steckten. Ja, was würde er riechen, wenn er tot war? Dies hier? Den über-
wältigenden Duft einer in voller Blüte stehenden Sommerwiese? Oder den Gestank seines eigenen verwesenden Körpers, eingeschlossen in einer morsch gewordenen Holzkiste? Tränen traten in seine Augen und verschleierten seinen bislang ungetrübten Blick in den hellblauen Aprilhimmel. Erst jetzt, wo seine primären Wahrnehmungsorgane seinem Gehirn keine sinnvoll verwertbaren Informationen mehr lieferten, fühlte er richtig, wie die Kälte des glatten, schwarzen Steins aus Onyx, auf dem er lag, in seinen Körper eingedrungen war, seine Knochen ausfüllte und das Mark schmerzen ließ. Über sein Schluchzen hinweg hörte er in nicht allzu weiter Ferne die Geräusche eines Spatens oder einer Schaufel, die in die lehmigfeuchte Erde drang und die hellbraunen Krumen von sich schleuderte. Dazwischen konnte er immer wieder abwechselnd das angestrengte Stöhnen und Keuchen eines arbeitenden Menschen ausmachen, ab und zu mal ein paar Flüche, die aber anschließend sofort wieder durch fröhliches Pfeifen aufgelockert wurden. Seltsam. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie jemand an einem Ort wie diesem, der soviel Schmerz und Trauer barg, arbeiten konnte und dabei auch noch frohgemut war. Er zog die Nase hoch, legte sich auf die Seite, indem er die Knie anwinkelte, den Rücken krümmte und seine Beine fest an den Körper anzog. Er faltete seine Hände, um sie unter die Wange zu legen, mit der er auf der kalten Grabplatte lag, um so in die Richtung schauen zu können, aus der die Laute zu ihm herüberdrangen. Dabei blickte er auf eine frisch ausgehobene Grube im Rasen, die in einem bisher nicht genutzten Teil des Friedhofs entstand und nun zu einem neuen Grab werden würde. Neben der einen Längsseite des Lochs türmte sich die ausgeworfene Erde zu einem Hügel auf, auf dem in regelmäßigen Abständen eine weitere Schaufelportion landete, von der aber immer wieder einige Brocken den mittlerweile zu steil gewordenen Erdhang wieder ins Grab hinabpurzelten. Er konnte hören, wie der Arbeiter dort unten mehr und öfter fluchte und sei-
ne Unmutsäußerungen auch von Mal zu Mal markiger wurden. »So ein Mist, verdammter!« hörte er es von unten aus der Grube grummeln. »Was ist denn da oben los?« Dann sah er, wie der verdrossene Bedienstete die kleine Holzleiter erklomm, die auf dem Grund des Grabes stehen mußte, das heißt er sah, wie die beiden Enden der Holme, die oben über den Rand des Loches hervorlugten, bei dem Aufstieg erzitterten. Ein älterer Mann kam über dem Horizont der Grube zum Vorschein: zuerst ein brauner Cordhut, auf dem ein paar Krümel wieder herabgefallener Erde klebten, ein sonnengebräuntes, wettergegerbtes, faltiges Gesicht, das zu einem mürrischen Ausdruck verkniffen war, danach ein ebenfalls sporadisch mit Erdkrumen bedeckter massiger Oberkörper, der in einer blauen Arbeitsjacke steckte, gefolgt von zwei kräftigen Beinen in einer weiten, schwarzen, mittlerweile lehmbefleckten Cordhose, die in den Schäften schwarzer Gummistiefel verschwanden. »Ja, was ist das denn?« polterte er los, als er den Jungen gewahr wurde, der keine zwanzig Meter direkt vor ihm in seinem Gesichtsfeld auf der Steinplatte der Gedenkstätte der im Krieg in der Fremde gefallenen Soldaten zusammengekrümmt wie ein Fötus im warmen Mutterleib in der Sonne lag und ihn geistesabwesend anstarrte, als hätte er noch gar nicht bemerkt, daß man ihn längst erblickt hatte, ganz so, als sei er an seinem Lagerplatz sicher wie unter einer Tarnkappe, den Blicken der übrigen Welt entzogen. »He, du Bengel, was tust du da?« brüllte der alte Mann beinahe so, als habe er den Jungen bei einem unverzeihlichen Sakrileg erwischt. Erst jetzt schien ein Ruck durch den Körper des Jungen zu gehen, als erwache er aus einer tiefen Trance. Der Schreck fuhr ihm durch die Glieder, als er plötzlich bewußt den alten Mann auf sich zueilen sah. Ohne weiter zu überlegen, sprang er daher gehetzt auf die Füße, griff nach seinem Rucksack, den er an den Sockel gelehnt hatte, auf dem die Grabplatte in der Waagerechten erhöht ruhte und
wandte sich in die Richtung des schmiedeeisernen Friedhofstores, um fortzulaufen. »Halt! Warte, mein Junge, lauf nicht fort! Ich will dir doch gar nichts tun!« Die Stimme des Alten hinter ihm schien auf einmal jeglichen Zorn verloren zu haben; sie war nicht mehr wütend und auch nicht mehr so laut wie bei den ersten Rufen, sondern hatte jetzt eher ein bittendes Timbre angenommen. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum der Junge zögerte und nicht einfach daran festhielt, fortzulaufen. Anstatt zu flüchten, warf er nunmehr einen Blick zurück über seine Schulter und sah den alten Mann in seinen klobigen Stiefeln auf ihn zuhasten, was eher einen komischen, denn einen bedrohlichen Eindruck auf ihn machte. Und wenn er es sich genau überlegte, hätte er zugeben müssen, daß es eigentlich überhaupt keinen Grund für ihn gab, davonzulaufen. Aber klare Gedanken konnte der Junge in diesem Moment überhaupt nicht fassen. Sein Kopf war wie ausgeblasen, als wäre ein schwerer Herbststurm hindurchgefegt und hätte alle Vernunft mit sich gerissen. Keuchend blieb der alte Mann vor dem Jungen stehen und bemühte sich, seinen Atem einzuholen. Dabei krallte sich eine seiner erdbraunen Pranken in den rotblaukarierten, dicken Stoff des Holzfällerhemdes, das der Junge offen wie eine Jacke über der teilweise bereits aufgescheuerten hellen Jeans trug. Der Alte tat dies weniger aus dem Grund, einem Schwächeanfall erlegen zu sein, sondern wollte lieber auf Nummer Sicher gehen und dafür sorgen, daß der Junge nicht doch noch ausbüchste. Dabei warf er beiläufig einen musternden Blick auf die Erscheinung des Knaben im grellbunt bedruckten T-Shirt vor sich, die in ihren nicht einmal richtig zugebundenen, hohen Turnschuhen zappelte, als der alte Mann einen weiteren Hustenanfall vortäuschte. Und er dachte bei sich: Läuft rum wie’n Landstreicher! Unsere Eltern hätten uns früher was erzählt, wenn wir so aus dem Hause gegangen wären!
Der Junge gab ein angewidert klingendes Geräusch von sich und versuchte mit halbherzigem Wedeln seiner Hände, als ob er ein widerlich-lästiges Insekt verscheuchen wolle, die in seinen Lumber gekrallten Finger des Alten zu lösen, um nicht noch weiter mit Lehm beschmiert zu werden. »Is’ ja schon gut, mein Junge, brauchst keine Angst vor dem alten Justus zu haben«, versuchte der alte Mann ihn zu beruhigen, als er die Abwehrhaltung des Jungen bemerkt hatte, »aber laß mich erst mal zu Atem kommen!« Ächzend lehnte sich der Alte mit seinem verlängerten Rückgrat an die Grabplatte, nahm mit der Linken seinen speckigen Hut vom Kopf und lüftete seine grauweißen, im zerdrückten Scheitel an den Kopf geklebten Haarsträhnen, während er mit der Rechten aus der tiefgründigen Tasche seiner Bollerhose ein zerknittertes, aber nichtsdestotrotz weißes Taschentuch von der Größen eines Kopfkissenbezuges hervorzog, mit dem er sich den Schweiß auf Stirn und Nacken trocknete. Anschließend setzte er seine zerknautschte Kopfbedeckung wieder auf, stützte sich mit seinen starken Armen auf der Onyxplatte ab, um sein Hinterteil auf eben diese zu hieven, kramte sodann mit beiden Händen in den ausgebeulten Taschen seiner Arbeitsjacke herum, förderte Tabaksbeutel und Pfeife zutage und begann damit, sich mit geschickten Fingern eine Pfeife zu stopfen, derweil er seine Beine vom Grabstein herunter wie ein Lausbub vor und zurückbaumeln ließ. Unterdessen hatte er den Jungen, welcher mit halboffenem Mund voller Verwunderung vor ihm stand, hin und wieder mit seinem alten, grauen, aber durchaus scharfsichtigen Blick unter seinen buschigen Brauen hinweg angeschaut, während der Junge ihn mit scheuen Rehaugen die ganze Zeit über angeglotzt hatte, als sei er das sprichwörtliche Mondkalb. Der Junge war von dem sonderbaren Benehmen des Mannes überrascht. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, daß sich der
alte Mann einfach nur mit ihm unterhalten wollte. Was nicht nur daran lag, daß in seinem Kopf in letzter Zeit einfach zuviele Dinge herumspukten, die ihn zumeist darin hinderten, zunächst einmal an das Naheliegendste zu denken. Nein, das war es nicht allein. Denn der Junge kannte den alten Mann. Das war nicht verwunderlich. Wenn man in einem kleinen Dorf wohnte, in dem schließlich jeder jeden kannte. Und wenn es nur aus den Erzählungen der Anderen war, die über Andere redeten. Bei dem alten Mann handelte es sich um den Friedhofsangestellten. Der alte Justus – eigentlich hieß er August Wiemeier – hatte in seinem ganzen Leben keine andere Arbeit getan als die Löcher auf dem Kirchhof auszuheben, in denen man die Toten als Ort ihrer letzten Ruhe versenkte. Über fünfzig Jahre seines Lebens hatte er dies getan, ohne sich auch nur ein einziges Mal über seine Aufgabe zu beschweren. Etwas, daß für einige seiner Mitmenschen schon Grund genug war, zu argwöhnen, daß mit dem guten August Wiemeier etwas nicht stimmen mochte. Jemand, der sich lieber bei den Toten als bei den Lebendigen aufhielt, konnte doch nicht ganz normal sein. Deshalb lachte man hinter seinem Rücken oder munkelte hinter vorgehaltener Hand gar gemeine Dinge über ihn und nannte ihn fortan nur den Toten-August oder Gespenster-Justus. Mittlerweile hatte der alte Justus seine Pfeife in Gang gesetzt und schmauchte blaugraue Wolken in die sich allmählich bereits wieder abkühlende Nachmittagsluft. Voller Erstaunen sog der Junge den würzigen Duft des Tabakrauchs in seine Nase und wunderte sich, daß er darunter eine Note wahrzunehmen glaubte, die eher bei Hippie-Treffs oder im Szene-Jargon auf sogenannten Tütenparties zu Hause war. Auf dem Gesicht des Alten lag ein gutmütiges und zugleich gewitztes Lächeln, gesäumt von unrasierten, graubestoppelten Wangen. Justus hatte sich die feingeschnittenen Gesichtszüge des Jungen, dessen fragiles Wesen, eine lange Zeit betrachtet, um sich ein Bild von seinem Gegenüber zu machen. Schließlich zog er das zer-
kaute Mundstück der Pfeife zwischen seinen gelben Zähnen hervor und machte einen Versuch, das lastende Schweigen zwischen sich und dem Jungen zu brechen: »Nun, mein Junge, erzähl mir mal eins: Was tust du hier eigentlich? Du bist doch nicht zum ersten Mal hier. Ich habe dich an diesem Platz doch schon öfters gesehen.« Der Alte machte eine wegwerfende Handbewegung und zwinkerte dem Jungen schelmisch zu, um seinen Fragen ein wenig die Schärfe zu nehmen, wobei er mit der Pfeife zwischen den Zähnen irgendwie albern aussah, und ergänzte: »Ich meine, du bist doch sicherlich nicht hierher gekommen, um die Toten beim Kaffeekränzchen zu belauschen, nicht wahr?« Der Junge verzog sein ebenmäßigen Züge zu einer mürrischen Grimasse und bellte dem alten Mann abweisend ins Gesicht: »Ach! Was wissen Sie schon!« Danach senkte er den Kopf, als ob er etwas in seinem Antlitz vor dem forschenden Blick des Alten verbergen mußte. Der wiederum paffte einige Momente schweigend und sah in eine andere Richtung, dann wandte er sich in einem weniger burschikosen Tonfall wieder an den Jungen. »Du kannst ruhig Justus zu mir sagen! Ich weiß, wie die Leute mich hinter meinem Rücken nennen und was sie von mir behaupten, aber ich glaube, du bist ein ziemlich gescheiter Bursche und kannst Gerede von der Wahrheit unterscheiden.« Und nachdem er die Worte ein paar Augenblicke lang hatte einwirken lassen, fügte er mit einem erneuten Lächeln hinzu: »Allerdings würde ich auch ganz gern deinen Namen erfahren, denn ›mein Junge‹ wird auf Dauer doch ganz schon eintönig, findest du nicht?« Der Junge schaute auf die Erde zu seinen Füßen, als könne er dort die Antwort auf seinen innerlichen Zwiespalt finden, ob er sich dem alten Mann nun anvertrauen sollte oder nicht, bis schließlich ein eher gehauchtes »Thomas« über seine Lippen holperte, ohne daß er bereits bewußt eine Entscheidung getroffen hatte.
»Also gut, Thomas! Freut mich, dich kennzulernen! Du mußt wissen: Ich lerne gern Leute kennen! Denn manchmal kann man dabei auch neue Freunde finden! Ich weiß, das hört sich alles ganz anders an, als das, was die Leute über mich erzählen. Daß ich nur ein einsiedlerischer alter Griesgram wäre, der mit den Lebenden nichts zu tun haben will. Naja, das mit dem Griesgram stimmt vielleicht, aber ich habe dir ja gesagt, daß ich deinem Einschätzungsvermögen vertraue. Also, wie wär’s? Erzählst du mir nun ein bißchen von dir? Ich erfahre nämlich gern etwas über meine Freunde!« Wieder machte der Alte eine Pause und schaute dem Jungen offen in die braunen Augen, in deren Winkeln es feucht glitzerte. »Unter uns gesagt, habe ich nicht sehr viele! Nicht unter den Lebenden! Ich befürchte sogar, daß du der einzige bist, der mir auch antworten würde! Und solche Freundschaften sind es sicher wert, daß man sie pflegt, oder was meinst du?« Noch immer nahm Thomas den alten Justus nur wie aus weiter Ferne wahr, so als könne er nicht glauben, was er mit seinen eigenen Augen vor sich sah und mit den eigenen Ohren hörte, gab seinem Herzen aber schließlich doch einen Stoß und vertraute sich dem alten Mann an, der nach langer Zeit der einzige Mensch zu sein schien, der es offensichtlich gut mit ihm meinte. »Das was Sie … ich meine, was du da eben gesagt hast, glaubst du wirklich daran?« In der Brust des alten Mannes machte sich schlagartig ein warmes Gefühl breit, dehnte sich aus wie ein Steppenbrand vor Freude darüber, endlich jemanden gefunden zu haben, der freiwillig mit ihm redete, ohne daß Justus’ Leumund ihm etwas ausmachte. Diese einmalige Gelegenheit wollte der alte Mann nutzen. Bei einem so sensiblen Geschöpf wie Thomas mußte er auf der Hut sein, daß er nichts Falsches sagte, was seinen gerade gefundenen Freund verletzen könnte. Das würde er sich niemals verzeihen. Vielleicht war der Junge der letzte Freund, den er in seinem Leben finden würde!
»Natürlich habe ich es ehrlich gemeint, als ich sagte, daß ich gern dein Freund wäre!« Der Junge zögerte ein wenig, dann schüttelte er den Kopf, sodaß seine braunen Locken, die ihm fast in die Augen hingen, durcheinanderwirbelten. »Nein, das meine ich nicht! Als du vorhin über die Toten geredet hast … glaubst du wirklich daran, daß man ihre Worte verstehen kann?« Dem alten Mann stockte der Atem, was daran zu erkennen war, daß plötzlich kein Rauch mehr aus dem Pfeifenkopf quoll. Er erkannte sofort, daß es sich hierbei nicht um einen Scherz handelte, den sich der Junge mit ihm erlauben wollte, denn Justus konnte fühlen, daß eine tiefe Verwirrung von dem Jungen ausging und daß er von einer schmerzenden Traurigkeit umgeben war. Der Alte mußte ihm daher mit der gebotenen Ernsthaftigkeit antworten, wobei er es sich keineswegs anmerken lassen durfte, wie betroffen ihn diese Frage gemacht hatte, um seine Glaubwürdigkeit zu erhalten. »Nun ja, vorhin, da habe ich eigentlich einen Scherz machen wollen, um dich ein wenig aufzuheitern. Aber wenn du mich nun so fragst …. du weißt ja, daß ich viel Zeit hier auf dem Friedhof verbringe, fast meine ganzen Tage bin ich hier gewesen, und ich bin auch sehr oft alleine hier mit den Toten bei meiner Arbeit, da mag man sich manches einbilden. Aber wenn ich ehrlich bin, und darauf kommt es dir doch an, nicht wahr, dann muß ich sagen, daß ich noch nie die Stimme eines Toten gehört habe!« Die Seelenpein des Jungen schien immer größer zu werden, als er nach dem Gehörten langsam immer mehr seine Schultern sinken ließ, als wären seine zerbrechlichen Gebeine nicht viel länger in der Lage, die erdrückende Bürde weiter zu tragen. Thomas nickte mit schwerem Haupt und Herzen und fragte weiter: »Und wenn man mit ihnen redet? Können sie uns dann hören? Können sie uns überhaupt verstehen?« Justus sah auf dem Gesicht des Jungen, der ihn mit aller Inständig-
keit bedrängte, eine einzelne Träne im Licht der langsam dem Horizont entgegensinkenden Sonne einem flüssigen Rubin gleich dessen hohle Wange hinablaufen. Er war bestürzt darüber, welchen Gedanken Thomas die ganze Zeit nachgehangen haben mochte. Doch eines war ihm vollkommen klar: Dieser Junge brauchte Hilfe, einen Beistand, der ihn in seiner Not nicht im Stich lassen würde. Er mochte zu den unvorstellbarsten Dingen in der Lage sein, wenn man ihn jetzt allein ließ. Diesen Vorwurf wollte sich der alte Justus nicht auch noch entgegenhalten lassen müssen. Er umfaßte daher vorsichtig mit einer Hand Thomas Hemdsärmel und zog den Jungen näher zu sich und der Steinplatte heran. »Du stellst sehr schwierige Fragen, mein Junge! Darüber muß ich erst mal eine Weile nachdenken.« Zur Untermalung seiner Worte krauste Justus angestrengt seine Stirn und machte ein paar dicke Qualmwolken wie eine alte Lokomotive, die einen steilen Berg hinaufstampfen mußte. »Wie wär’s, wenn du dich in der Zwischenzeit einfach hier neben mich setzt?« Thomas hob die Schultern und seufzte, folgte aber dem Vorschlag des alten Mannes, dem dabei vor Erleichterung ein Stein vom Herzen fiel, weil er nun Gewißheit hatte, daß der Junge überhaupt auf ihn hörte. »Ich will dich nicht belügen, mein Junge. Deshalb muß ich dir sagen, daß ich nicht weiß, ob die Toten uns hören können oder ob sie uns verstehen, wenn wir mit ihnen reden. Ich weiß nur, daß viele Menschen hier auf dem Friedhof an den Gräbern ihrer verstorbenen Angehörigen stehen und zu den Toten sprechen. Das habe ich schon oft genug beobachtet. Vielleicht tun sie das, um den Toten endlich einmal all jenes an den Kopf zu werfen, was sie ihnen zu Lebzeiten nicht zu sagen getraut haben, denn vor Widerworten werden sie sich auf diese Weise kaum fürchten müssen.« Ein schlitzohriges Grinsen huschte über Justus bärtiges Gesicht. Als er allerdings sah, daß Thomas seine Ausführungen in keinster Weise erheiternd fand, bemühte er sich sofort wieder um einen an-
gemesseneren Ausdruck. Schnell wurde er wieder ernst. »Viel trauriger ist es da schon, all die unglücklichen Menschen an den Gräbern ihrer Lieben stehen zu sehen und sie die Dinge stammeln zu hören, die sie ihnen eigentlich besser zu Lebzeiten gesagt hätten, aber dies aus irgendwelchen Gründen versäumt haben. Das kann ich dir sagen, mein Junge, das tut weh, hier drin«, und Justus bedeckte mit einer schaufelblattgroßen Hand die Herzgegend seiner blauen Arbeitsjacke, die mit zunehmender Dämmerung immer dunkler zu werden schien, »selbst wenn man nur ein Unbeteiligter ist und nur ein paar Worte dieser Verzweifelten aufschnappt! Soviel Schmerz, den diese Menschen da mit sich herumtragen! Dabei müssen sie ihn doch herauslassen, diesen Schmerz, aus ihren Seelen! Sonst frißt er sie auf, mit Haut und Haaren wie ein wildes Tier!« Urplötzlich schrie Thomas auf: »Ja, aber wie, wenn sie ihnen doch nicht zuhören! Wenn sie ihnen gar nicht zuhören können!« Gleich einem Sommergewitter nach der Schwüle bahnte sich die verzehrende Pein des Jungen in Sturzbächen von Tränen ihren Weg an die Oberfläche und benetzte die Brust des zufrieden lächelnden alten Mannes, der Thomas’ schmächtigen Oberkörper mit einem kräftigen Arm umfaßt hatte und den bebenden Kopf des Jungen an seiner Schulter barg, während er beruhigend auf ihn einredete. »So ist’s recht, mein Junge! Laß es raus! Laß alles raus! Ich höre dir zu, wenn du dir etwas von der Seele reden willst. Ich laß dich nicht allein und ich werde dir helfen, wenn es irgendwie in meiner Macht steht!« Fortsetzung im nächsten Heft © 1966 Michael Dependahl, Bachstraße 4, 49.143 Bissendorf ENDE
Ein Hüter erwacht � von Timothy Stahl Als die Wasser der Sintflut vor Jahrtausenden versiegten, überlebten nicht nur die Menschen in Noahs Arche. Auch die Dunkle Arche überstand die Fluten – und mit ihr jene finstere Wesen, die von den Menschen als Götter verehrt wurden. Doch wie für die Menschheit war die Sintflut auch den Blutsaugern ein Neubeginn. Nur jeweils einer von ihnen erwachte fortan aus totenähnlichem Schlaf, um für tausend Jahre mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire auf Erden zu verbreiten. So lange, bis sein Nachfolger das Amt übernahm. Landru war der letzte dieser Hüter. In seine Zeit fielen der Verlust des Kelches und der Niedergang der Vampire. Doch nun regt sich neues, untotes Leben in den Resten der Dunklen Arche …