Zu diesem Buch «So rücksichtslos offen hat seit Rousseau kein Autor das eigene Leben erzählt wie Sartre. Er beschreibt seine Jugend ohne einen Schatten von Kindheitsromantik, mit der scheinbar zynischen, für sentimentale Gemüter erschreckenden Ironie eines Mannes, der alle Lügen seines Zeitalters und alle Illusionen, auch die eigenen, durchschaut hat. Seine Darstellung ist fast beispiellos: als Studie über die kindliche Psyche, als Einblick in die Anfänge eines Schriftstellers und als Schlüssel zum Verständnis des Schriftstellers Sartre, der die Voltairesche Linie der französischen Literatur fortsetzt.» (Walter Muschg, Basel) Jean-Paul Sartre wurde am 21. Juni 1905 in Paris geboren. Mit seinem 1943 erschienenen philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts wurde er zum wichtigsten Vertreter des Existentialismus und zu einem der einflußreichsten Denker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus machten ihn seine Theatrestücke, Romane, Erzählungen und Essays weltbekannt. Durch sein bedingungsloses humanitäres Engagement, besonders im französischen Algerien-Krieg und im amerikanischen . Vietnam-Krieg, wurde er zu einer Art Weltgewissen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises für Literatur ab. Jean-Paul Sartre starb am 15. April 1980 in Paris.
Jean-Paul Sartre
Gesammelte Werke in Einzelausgaben In Zusammenarbeit mit dem Autor herausgegeben von Traugott König
Autobiographische Schriften Band 1
Romane und Erzählungen Theaterstücke und Drehbücher Philosophische Schriften Schriften zur Literatur Schriften zu Theater und Film Schriften zur bildenden Kunst und Musik Politische Schriften Autobiographische Schriften Reisen
Jean-Paul Sartre
Die Wörter Übersetzt und mit einer Nachbemerkung Von Hans Mayer
Rowohlt
Die Originalausgabe erschien bei Editions Gallimard, Paris unter dem Titel «Les Mots» Umschlagentwurf Werner Rebhuhn
226.-235. Tausend April 1982 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Januar 1968 Copyright © 1965 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Les Mots» © Editions Gallimard, Paris, 1964 Alle deutschen Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Linotype-Aldus-Buchschrift und der Palatino (D. Stempel AG) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck E-Book erstellt von Prof Snuggles, 2003 Printed in Germany 48o-ISBN 3 499 11000 8
Für Madame Z
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Um das Jahr 1850 ließ sich im Elsaß ein Lehrer mit allzu großer Kinderschar dazu herab, Krämer zu werden. Dieser Abtrünnige wollte eine Kompensierung: da er selbst darauf verzichtete, die Köpfe zu erhellen, sollte einer der Söhne die Seelen lenken; die Familie sollte einen Pastor erhalten, und zwar Charles. Charles machte Ausflüchte und lief statt dessen einer Zirkusreiterin nach. Man drehte sein Bild gegen die Wand und verbot die Erwähnung seines Namens. Wer kam nun an die Reihe? Auguste beeilte sich, dem väterlichen Opfer nachzueifern: er wurde Geschäftsmann und stand sich gut dabei. Blieb nur noch Louis, der keine ausgeprägten Neigungen besaß: der Vater nahm sich den ruhigen Jungen vor und machte ihn im Handumdrehen zum Pfarrer. Louis trieb später den Gehorsam so weit, daß er seinerseits einen Pastor erzeugte, Albert Schweitzer, dessen Laufbahn bekannt ist. Aber Charles hatte seine Kunstreiterin aus dem Auge verloren; die schöne Geste des Vaters hatte ihn gezeichnet: sein Leben lang bewahrte er sich den Geschmack am Erhabenen und setzte seinen Eifer darein, große Begebenheiten mit Hilfe kleiner Ereignisse zu fabrizieren. Wie man sieht, dachte er nicht daran, die Berufung, unter Welcher die Familie stand, von sich abzutun: er gedachte sich aber einer gemilderten Form der Geistigkeit zu widmen, einem Priestertum, das die Beschäftigung mit Kunstreiterinnen nicht ausschloß. Da bot sich die Gymnasiallaufbahn an: Charles beschloß, Deutschlehrer zu werden. Er schrieb eine Dissertation über Hans Sachs, entschied sich für die direkte Methode des Sprachunterrichts, behauptete später, er habe sie erfunden; er veröffentlichte unter Mitarbeit von Monsieur Simonnot ein geschätztes
, machte rasch Karriere: über Mäcon und Lyon nach Paris. In Paris hielt er bei der Jahresabschlußfeier eine Rede, die dann gedruckt wurde: «Herr Minister, meine Damen, meine Herren, meine lieben Kinder, Sie werden niemals erraten, worüber ich heute sprechen werde! Über die Musik!» Er machte vorzügliche Gelegenheitsgedichte. Bei den Familientagen pflegte er zu sagen: «Louis ist von uns allen der frommste, Auguste der reichste, ich bin der intelligenteste!» Die Brüder lachten, die Schwägerinnen preßten die Lippen zusammen. In Mâcon hatte Charles Schweitzer die Tochter eines katholischen Anwalts geheiratet, Louise Guillemin. An ihre Hochzeitsreise erinnerte sie sich mit Grauen: er hatte sie noch vor Abschluß des Hochzeitsmahls weggeschleift und in den Zug geworfen. Noch mit siebzig Jahren sprach Louise von dem Lauchsalat, den man ihnen in einem Bahnhofsrestaurant serviert hatte: «Er nahm sich alles Weiße und ließ das Grüne für mich übrig.» Sie brachten vierzehn Tage im Elsaß zu, wobei ununterbrochen gegessen wurde: die Brüder erzählten sich zotige Geschichten im Elsässer Dialekt; von Zeit zu Zeit wandte sich der Pastor an Louise und übersetzte ihr, aus christlicher Nächstenliebe, diese Geschichten. Sie ließ sich unverzüglich Gefälligkeitsatteste ausschreiben, die ihr erlaubten, die ehelichen Pflichten zu verweigern und ein eigenes Schlafzimmer zu beanspruchen; sie sprach von ihren Migränen, gewöhnte sich daran, im Bett zu bleiben, -6-
verabscheute von nun an den Lärm, die Leidenschaft, die seelischen Aufschwünge, das ganze aufgeschwollene, gleichzeitig kärgliche und theatralische Leben der Schweizers. Diese lebhafte und spöttische, aber kalte Frau hatte folgerichtige, aber unerbauliche Gedanken, weil ihr Mann erbaulich und unlogisch dachte; da er verlogen und leichtgläubig war, zweifelte sie an allem: «Die Leute behaupten, die Erde drehe sich; woher wissen sie das eigentlich?» Da sie von tugendhaften Schauspielern umgeben war, füllte sie sich mit Haß gegen Tugend und Schauspielerei. Diese so feine Realistin, die in eine Familie plumper Spiritualisten geraten war, wurde aus Trotz Voltairianerin, ohne Voltaire gelesen zu haben. Niedlich und rundlich, zynisch und lebhaft, wurde sie zu einem Geist der puren Verneinung; mit einem Heben der Augenbrauen, einem unmerklichen Lächeln verwandelte sie vor sich selbst, und ohne daß einer es merkte, all diese Attitüden in Staub. Ihr negativer Stolz und die Selbstsucht der Abweisung verzehrten sie. Sie verkehrte mit niemand, war zu stolz, den ersten Platz anzustreben, zu eitel, sich mit dem zweiten zu begnügen. Sie sagte: «Ihr müßt es so einrichten können, daß man euch nachläuft!» Man lief ihr zunächst sehr viel nach, dann immer weniger, und da man sie nicht zu sehen bekam, vergaß man sie schließlich. Sie verließ kaum noch ihren Sessel und ihr Bett. Die Schweitzers waren Naturalisten und Puritaner diese Mischung von Eigenschaften kommt häufiger vor, als man meint - und liebten als solche die eindeutigen Wörter, die erkennen ließen, daß man zwar als guter Christ den Körper geringachte, aber doch mit seinen natürlichen Funktionen höchst einverstanden sei; Louise liebte die verhüllte Rede. Sie las gern schlüpfrige Romane, wobei sie weniger Freude an der eigentlichen Handlung hatte als an den die Handlung verhüllenden Schleiern. «Das ist gewagt, das ist gut geschrieben», sagte sie verständnisinnig. «Gleitet, ihr Sterblichen, lastet nicht!» Diese Frau, so kalt wie Schnee, glaubte vor Lachen zu sterben, als sie von Adolphe Belot las. Besonders gern erzählte sie Geschichten über Hochzeitsnächte, die alle ein schlechtes Ende zu nehmen pflegten: in einer Geschichte war der Ehemann so hastig und brutal, daß sich seine Frau am Bettpfosten das Genick brach, in einer anderen Geschichte fand man die junge Frau am Morgen auf dem Kleiderschrank, wohin sie sich geflüchtigt hatte, nackt und geistesgestört. Louise lebte im Halbdunkel; Charles kam zu ihr ins Zimmer, riß die Vorhänge auf, zündete alle Lampen an, sie hielt sich die Hand vor die Augen und stöhnte: «Charles! Du blendest mich ja!» Aber ihr Widerstand überschritt nicht die Grefizen einer verfassungsmäßigen Opposition: sie hatte Angst vor Charles, er ging ihr entsetzlich auf die Nerven, bisweilen verspürte sie auch Freundschaft für ihn, vorausgesetzt, daß er sie nicht anrührte. Sobald er zu brüllen anfing, gab sie in allem nach. Er machte ihr, indem er sie zu überraschen pflegte, vier Kinder: eine Tochter, die schon sehr bald starb, zwei Jungen, noch eine Tochter. Aus Gleichgültigkeit oder aus Respekt hatte er zugelassen, daß die Kinder katholisch erzogen wurden. Louise selbst glaubte an nichts, ließ die Kinder aber religiös erziehen, aus Widerwillen gegen den Protestantismus. Die beiden Jungen hielten zur Mutter; es gelang ihr, sie diesem soviel Raum einnehmenden Vater zu entfremden; Charles merkte es nicht einmal. Der älteste Sohn, Georges, ging aufs Polytechnikum; der zweite, Emile, wurde Deutschlehrer. Ich mache mir Gedanken über ihn: ich weiß, daß er Junggeselle blieb, sonst aber seinen Vater in allen Dingen imitierte, wenngleich er ihn nicht liebte. Vater und Sohn überwarfen sich schließlich; es kam zu denkwürdigen Versöhnungsszenen. Emile verhüllte sein Leben; er hing sehr an seiner Mutter und war es, bis zum Schluß, gewohnt, sie heimlich und unangemeldet zu besuchen; er küßte und streichelte sie unablässig und sprach dann vom Vater, zuerst ironisch, dann wütend und ging schließlich türenschlagend davon. Sie liebte den Sohn, glaube ich, hatte aber Angst vor ihm: diese beiden derben, schwierigen Männer ermüdeten sie, und Georges, der niemals da war, stand ihrem Herzen näher. Emile starb im Jahre 1927, halbverrückt vor Einsamkeit: unter seinem Kopfkissen fand man einen Revolver; in den Koffern lagen hundert Paar Socken mit Löchern, zwanzig Paar Schuhe mit schiefgelaufenen Absätzen. Anne-Marie, die zweite Tochter, verbrachte ihre Kindheit auf einem Stuhl. Man lehrte sie, -7-
sich geradezuhalten, sich zu langweilen, zu nähen. Sie war begabt: man hielt es für vornehm, diese Begabung verkümmern zu lassen; Glanz ging von ihr aus: man sorgte dafür, dass sie es nicht merkte. Diese bescheidenen und stolzen Bourgeois waren der Meinung, Schönheit sei für sie entweder zu teuer oder zu wenig standesgemäß; Schönheit billigten sie nur den Marquisen und den Huren zu. Louise besaß einen äußerst dürren Stolz: vor lauter Angst, betrogen zu werden, verkannte sie bei ihren Kindern, ihrem Mann, bei sich selbst sogar die Eigenschaften, die ins Auge sprangen; Charles war nicht imstande, die Schönheit anderer Menschen zu erkennen; er verwechselte Schönheit mit Gesundheit: seit der Krankheit seiner Frau tröstete er sich in der Gesellschaft kräftiger Idealisrinnen mit frischen Farben und Ansatz zum Schnurrbart, die sich bester Gesundheit erfreuten. Fünfzig Jahre später, als sie in einem Familienalbum die Fotografien betrachtete, entdeckte Anne-Marie, daß sie schön gewesen war. Ungefähr zur gleichen Zeit, da Charles Schweitzer die Louise Guillemin kennenlernte, heiratete ein Landarzt die Tochter eines reichen Hausbesitzers aus dem Perigord und zog mit ihr in die traurige Hauptstraße von Thiviers: gerade gegenüber der Apotheke. Am Morgen nach der Hochzeit stellte sich heraus, daß der Schwiegervater keinen Sou besaß. Der Doktor Sartre war darüber so entrüstet, daß er vierzig Jahre lang kein Wort mit seiner Frau sprach; bei Tisch begnügte er sich mit Zeichen, sie nannte ihn schließlich «meinen Dauergast». Trotzdem teilte sie sein Bett, und von Zeit zu Zeit machte er sie schwanger, ohne daß ein Wort dabei fiel; sie gab ihm zwei Söhne und eine Tochter; diese Kinder des Schweigens hießen JeanBaptiste, Joseph und Helene. Helene heiratete ziemlich spät einen Kavallerieoffizier, der wahnsinnig wurde. Joseph machte seinen Militärdienst bei den Zuaven und zog sich bald ins Elternhaus zurück. Er hatte keinen Beruf: inmitten des väterlichen Schweigens und der mütterlichen Schreiszenen wurde er zum Stotterer und brachte sein Leben damit zu, mit den Worten zu ringen. Jean-Baptiste wollte auf die Marineschule, um das Meer zu sehen. Im Jahre 1904 machte er in Cherbourg als Marineoffizier, den bereits das Fieber aus Hinterindien aushöhlte, die Bekanntschaft der Anne-Marie Schweitzer, packte sich das große und vereinsamte Mädchen, heiratete es, machte ihm im Galopp ein Kind, mich, und versuchte dann, sich in den Tod zu flüchten. Sterben ist nicht leicht: das Fieber in den Eingeweiden stieg gelassen an, es traten Besserungen ein. Anne-Marie pflegte ihn hingebungsvoll, ohne aber die Schamlosigkeit so weit zu treiben, daß sie ihn liebte. Louise hatte sie gegen das Eheleben einzunehmen gewußt: auf eine Bluthochzeit folge eine unabsehbare Kette von Opfern, unterbrochen durch nächtliche Trivialitäten. Gleich ihrer Mutter entschied sich auch meine Mutter für die Pflicht und gegen die Lust. Sie hatte meinen Vater kaum gekannt, nicht vor der Hochzeit und auch nicht nachher, und maßte sich bisweilen fragen, warum dieser fremde Mann ausgerechnet in ihren Armen zu sterben wünschte. Man transportierte ihn auf einen Bauernhof, wenige Meilen von Thiviers; sein Vater kam jeden Tag mit der Kutsche, um ihn zu besuchen. Die Nachtwachen und Sorgen hatten Anne-Marie erschöpft, die Milch blieb aus, man übergab mich einer Amme aus der Gegend, und auch ich schickte mich an, zu sterben: an Darmkolik und vielleicht auch an Verbitterung. Meine Mutter war zwanzig Jahre alt, besaß keine Erfahrung und erhielt keine Ratschläge, sie zerriß sich zwischen zwei unbekannten Lebewesen, die im Sterben lagen; ihre Vernunftheirat entpuppte sich als Krankheit und als Trauer. Ich jedoch profitierte von der Lage. Damals pflegten die Mütter ihre Kinder selbst zu stillen, und zwar lange Zeit; ohne den Glücksfall dieser doppelten Agonie wäre ich den Schwierigkeiten einer späten Entwöhnung ausgesetzt gewesen. Da ich krank war und gewaltsam im Alter von neun Monaten entwöhnt wurde, verhinderten das Fieber und die Dumpfheit, daß ich den letzten Schnitt verspürte, der die Bande zwischen Mutter und Kind zu trennen pflegt. Ich tauchte in eine wirre Welt, die angefüllt war mit einfachen Halluzinationen und dürftigen Idolen. Beim Tod meines Vaters erwachten Anne-Marie und ich aus einem gemeinsamen Albtraum; ich wurde gesund. Aber wir waren Opfer eines Mißverständnisses: -8-
sie fand voller Liebe einen Sohn wieder, den sie niemals richtig verlassen hatte; ich erwachte wieder zum Leben auf den Knien einer fremden Frau. Da sie kein Geld und nichts gelernt hatte, beschloß Anne-Marie, zu ihren Eltern zurückzukehren. Aber das unverschämte Sterben meines Vaters hatte die Schweizers verärgert. Es erinnerte allzusehr an ein Davonlaufen. Da meine Mutter diesen Tod weder vorausgesehen noch verhindert hatte, gab man ihr die Schuld: sie war es gewesen, die sich unverständlicherweise einen Ehemann ausgesucht hatte, der sich als nicht haltbar erwies. Im übrigen benahm man sich der langen Ariadne gegenüber, die mit einem Kind auf dem Arm nach Meudon zurückkehrte, durchaus vorbildlich: mein Großvater hatte den Antrag auf Pensionierung gestellt; nun beschloß er ohne ein Wort des Vorwurfs, auch weiterhin zu unterrichten; meine Großmutter genoß einen diskreten Triumph. Aber Anne-Marie, eisig berührt von soviel Anlaß zur Dankbarkeit, erriet die Mißbilligung unter dem allgemeinen Wohlverhalten: natürlich ist in einer Familie eine Witwe immer noch lieber gesehen als eine uneheliche Mutter, aber das ist auch alles. Um die Verzeihung der Familie zu erlangen, machte sie sich nützlich, ohne weiter nachzurechnen, führte das Haus ihrer Eltern, zuerst in Meudon, dann in Paris, war gleichzeitig Kindermädchen, Krankenschwester, Hausdame, Gesellschafterin, Dienstmädchen, ohne daß es ihr gelang, die stumme Gereiztheit ihrer Mutter zu entwaffnen. Louise fand es lästig, jeden Morgen den Speisezettel zu entwerfen und jeden Abend das Haushaltsbuch zu führen. Aber sie sah es nur ungern, wenn ein anderer es für sie machte; sie ließ sich ihre Aufgaben zwar abnehmen, war aber ängstlich darauf bedacht, keine Vorrechte einzubüßen. Diese alternde und zynische Frau hatte nur eine Illusion: sie hielt sich für unentbehrlich. Die Illusion schwand: Louise begann auf ihre Tochter eifersüchtig zu werden. Arme Anne-Marie: wäre sie passiv geblieben, man hätte ihr vorgeworfen, sie sei eine Last; da sie jedoch aktiv war, geriet sie in den Verdacht, das Haus regieren zu wollen. Um der ersten Klippe zu entgehen, bedurfte sie all ihres Mutes, um der zweiten zu entgehen, all ihrer Demut. Es dauerte nicht lange, und die junge Witwe verwandelte sich wieder in eine minderjährige Tochter: in eine Jungfrau mit leichtem Makel. Man verweigerte ihr keineswegs das Taschengeld; man vergaß bloß, ihr welches zu geben; sie trug ihre Kleider, so lange es eben gehen wollte, ohne daß mein Großvater daran gedacht hätte, ihr neue zu kaufen. Man sah es nicht gern, daß sie allein ausging. Wenn ihre alten Freundinnen, die meist verheiratet waren, sie zum Abendessen einluden, mußte die Erlaubnis lange vorher eingeholt werden, und man mußte versprechen, daß sie vor zehn Uhr wieder nach Hause gebracht würde. Noch während des Essens mußte der Hausherr aufstehen, um sie im Wagen zurückzubringen. Während dieser Zeit ging mein Großvater im Nachthemd mit der Uhr in der Hand in seinem Schlafzimmer auf und ab. Um zehn Uhr, beim letzten Glokkenschlag, begann er loszubrüllen. Die Einladungen wurden seltener, und meine Mutter verlor die Lust an so kostspieligen Vergnügungen. Jean-Baptistes Tod wurde das große Ereignis meines Lebens: er legte meine Mutter von neuem in Ketten und gab mir die Freiheit. Es gibt keine guten Väter, das ist die Regel; die Schuld daran soll man nicht den Menschen geben, sondern dem Band der Vaterschaft, das faul ist. Kinder machen, ausgezeichnet; Kinder haben, welche Unbill! Hätte mein Vater weitergelebt, er hätte mich mit seiner ganzen Länge überragt und dabei erdrückt. Glücklicherweise starb er sehr früh; inmitten so vieler Männer, die gleich dem Äneas ihren Anchises auf dem Rücken tragen, schreite ich von einem Ufer zum andern, allein und voller Mißachtung für diese unsichtbaren Erzeuger, die ihren Söhnen das ganze Leben lang auf dem Rücken hocken: ich ließ hinter mir einen jungen Toten, der nicht die Zeit hatte, mein Vater zu sein, und heute mein Sohn sein könnte. War es ein Glück oder ein Unglück? Ich weiß es nicht; aber ich stimme gern der Deutung eines bedeutenden Psychoanalytikers zu: ich habe kein Über-Ich. Sterben allein genügt nicht; man muß rechtzeitig sterben. Wäre er später gestorben, ich hätte mich schuldig gefühlt; ein bewußt -9-
denkendes Waisenkind gibt sich die Schuld: beleidigt durch seinen Anblick haben sich seine Eltern in ihre himmlischen Gemächer zurückgezogen. Ich hingegen war begeistert: mein kläglicher Zustand nötigte Achtung ab, begründete meine Wichtigkeit; die Trauer, die mich umgab, wurde meinen Tugenden zugerechnet. Mein Vater war rücksichtsvoll genug gewesen, zu sterben und sich dadurch ins Unrecht zu setzen. Meine Großmutter sagte immer wieder, er habe sich seinen Pflichten entzogen; mein Großvater, mit Recht stolz auf die Langlebigkeit des Schweitzers, konnte nicht zulassen, daß man bereits mit dreißig Jahren verschwand; angesichts dieses verdächtigen Abscheidens fragte er sich, ob sein Schwiegersohn überhaupt je existiert habe, und schließlich vergaß er ihn. Ich brauchte ihn nicht einmal zu vergessen: indem er sich auf englische Art empfahl, hatte mir Jean-Baptiste die Freude verwehrt, seine Bekanntschaft zu machen. Noch heute wundere ich mich darüber, daß ich so wenig von ihm weiß. Immerhin hat er geliebt, hat er leben wollen, hat er gesehen, wie sich der Tod näherte; das genügt, um einen ganzen Menschen zu machen. Aber niemand in meiner Familie hat je vermocht, mich auf diesen Mann neugierig zu machen. Jahrelang konnte ich über meinem Bett das Bild eines kleinen Offiziers mit naiven Augen sehen, rundem Schädel und gelichteten Haaren, mit einem starken Schnurrbart. Als meine Mutter sich von neuem verheiratete, verschwand das Porträt. Später erbte ich Bücher, die ihm gehört hatten: ein Werk von Le Dantec über die Zukunft der Wissenschaft, ein anderes von Weber mit dem Titel . Er las schlechte Bücher wie alle seine Zeitgenossen. An den Rändern der Seiten entdeckte ich unentzifferbare Kritzeleien, tote Zeichen einer kleinen Erleuchtung, die lebendig war und tanzte um die Zeit meiner Geburt. Ich habe die Bücher verkauft: dieser Tote ging mich so wenig an. Ich kenne ihn vom Hörensagen, wie die Eiserne Maske und den Chevalier d'Eon, und was ich von ihm weiß, bezieht sich niemals auf mich: ob er mich geliebt hat, in seine Arme nahm, ob er seinen Sohn mit den hellen, heute zerfressenen Augen ansah, daran hat sich keiner erinnert: das sind verlorene Liebesmühen. Dieser Vater ist nicht einmal ein Schatten, nicht einmal ein Blick: wir beide haben, er und ich, eine Zeitlang die gleiche Erde bewohnt, das ist alles. Man hat mich verstehen lassen, daß ich weit eher ein Kind des Wunders als der Sohn eines Toten sei. Zweifellos kommt daher meine unglaubliche Leichtfertigkeit. Ich bin kein Chef und begehre auch nicht, einer zu werden. Befehlen, gehorchen, das macht für mich keinen Unterschied. Der Autoritärste befiehlt im Namen eines anderen, eines geheiligten Parasiten - seines Vaters -, er überträgt die abstrakten Gewalttaten weiter, die er erlitten hat. In meinem ganzen Leben habe ich keinen Befehl erteilen können, ohne dabei lachen zu müssen, ohne daß man darüber gelacht hätte, weil ich eben nicht von der Machtkrätze befallen bin: man hat mir den Gehorsam nicht beigebracht. Wem sollte ich auch gehorchen? Man zeigt mir ein junges Riesenweib und sagt, es sei meine Mutter. Von mir aus hätte ich es eher für eine ältere Schwester gehalten. Diese Jungfrau mit Zwangsaufenthalt, die sich allen unterordnen muß, ist offensichtlich da, um mich zu bedienen. Ich liebe sie, aber wie könnte ich sie respektieren, wenn niemand sie respektiert? In unserem Hause gibt es drei Zimmer: das Zimmer meines Großvaters, das Zimmer meiner Großmutter, das Zimmer der «Kinder». Die «Kinder», das sind wir: beide minderjährig und beide ausgehalten. Aber alle Rücksichten gelten mir. In mein Zimmer hat man das Bett eines jungen Mädchens gestellt. Das junge Mädchen schläft allein, wacht aus keuschem Schlummer auf; ich schlafe noch, wenn sie ihr tub im Badezimmer nimmt: wenn sie zurückkommt, ist sie vollständig angezogen: wie wäre es möglich, daß ich von ihr geboren wurde? Sie erzählt mir ihr Unglück, und ich höre ihr mitleidig zu: später werde ich sie heiraten, um sie zu beschützen. Das verspreche ich ihr: ich werde schützend meine Hand über sie halten, ich werde meine junge Bedeutung in ihren Dienst stellen. Glaubt man etwa, ich müsse ihr gehorchen? Ich/ bin so gütig, ihren Bitten nachzugeben. Übrigens erteilt sie mir keine Befehle: sie entwirft in leichten Worten eine Zukunft, die zu verwirklichen für mich lobenswert sei: «Mein kleiner Liebling wird sehr vernünftig sein und sehr reizend, wenn er - 10 -
sich ruhig die Nasentropfen geben läßt.» Ich gehe diesen sanften Prophezeiungen in die Falle. Blieb der Patriarch: er glich Gottvater so sehr, daß man ihn oft damit verwechselte. Eines Tages betrat er eine Kirche von der Sakristei aus. Der Geistliche bedrohte gerade die Lauen mit allen Blitzen des Himmels: «Gott ist anwesend! Er sieht euch!» Plötzlich entdeckten die Anwesenden unter der Kanzel einen hohen Greis mit langem Bart, der sie anschaute: sie liefen davon. Bei späteren Gelegenheiten erzählte mein Großvater, sie hätten sich vor ihm auf die Knie geworfen. Er fand Geschmack an solchen Formen der Offenbarung. Im September 1914 offenbarte er sich in einem Kino in Arcachon: meine Mutter und ich, wir saßen auf dem Balkon, als er rief, man solle Licht machen; andere Herren stellten sich als Engel in seinen Dienst und riefen: «Sieg! Sieg!» Der liebe Gott stieg auf die Bühne und las das Kommunique über den Ausgang der Marne-Schlacht. Zur Zeit, da sein Bart schwarz war, hatte er als Jehova gewirkt, und ich vermute, daß sein Sohn Emile indirekt an ihm gestorben ist. Dieser Gott des Zornes schwelgte im Blut seiner Söhne. Ich hingegen erschien am Ausgang seines langen Lebens. Sein Bart war weiß geworden, mit gelben Tabakspuren, und die Vaterschaft machte ihm keinen Spaß mehr. Hätte er mich erzeugt, er hätte mich unwillkürlich, wie ich glaube, trotzdem noch unterjocht: aus Gewohnheit. Mein Glück war, daß ich einem Toten gehörte: ein Toter hatte die paar Samentropfen verschüttet, die den üblichen Preis eines Kindes ausmachen. Mein Großvater konnte sich an mir erfreuen, ohne mich in Besitz zu nehmen: ich wurde sein «Wunder», weil ihm daran lag, sein Leben als bewundernder Greis zu beschließen; er beschloß, mich als ungewöhnliche Gunst des Schicksals zu betrachten, als ein stets widerrufbares Geschenk; was also hätte er von mir fordern können? Ich beglückte ihn durch meine bloße Gegenwart. Er wurde der Gott der Liebe mit dem Bart von Gottvater und dem Heiligen Herzen von Gottsohn; er legte die Hand auf mein Haupt, ich spürte die Wärme seiner Handfläche; mit einer Stimme, die vor Zärtlichkeit bebte, nannte er mich sein «Kleinchen», Tränen überschwemmten seine kalten Augen. Alles schrie: «Der kleine Bengel hat ihn um den Verstand gebracht!» Er war verrückt nach mir, das sprang in die Augen. Liebte er mich? Bei einer so öffentlichen Leidenschaft wird es mir schwer, zwischen Aufrichtigkeit und Getue zu unterscheiden: ich glaube nicht, daß er seinen anderen Enkeln sehr viel Zuneigung schenkte; freilich sah er sie fast nie, und sie brauchten ihn auch nicht. Ich hingegen hing in allen Stücken von ihm ab: in mir vergötterte er seine eigene Großmut. Eigentlich trug er die Erhabenheit ein bißchen stark auf: er war ein Mann des neunzehnten Jahrhunderts, der sich, wie viele andere Männer, Victor Hugo selbst nicht ausgeschlossen, für Victor Hugo hielt. Ich halte diesen schönen Mann mit den breit auseinanderstehenden Bartenden, der beständig dem nächsten Theaterauftritt entgegenlebte wie ein Trinker dem nächsten Glas, für das Opfer zweier Techniken, die damals gerade entdeckt worden waren: die Kunst der Fotografie und die Kunst, Großvater zu sein. Er hatte das Glück und das Unglück, fotogen zu sein; seine Fotografien überschwemmten das Haus: da es noch keine Momentaufnahmen gab, hatte er es sich angewöhnt, zu posieren und lebende Bilder zu stellen; alles diente ihm zum Vorwand, seine Bewegungen zu unterbrechen, in schöner Haltung zu erstarren, zu Stein zu werden; innig genoß er diese kurzen Augenblicke voll Ewigkeit, die ihn zu seinem eigenen Standbild machten. Wegen seiner Freude an lebenden Bildern habe ich von ihm nur starre Bilder für die Laterna magica aufbewahren können: man ist im Wald, ich sitze auf einem Baumstumpf, ich bin fünf Jahre alt: Charles Schweitzer trägt einen Panamahut, einen cremefarbenen Flanellanzug mit schwarzen Streifen, eine weiße Piquéweste, über die sich quer eine Uhrkette zieht; sein Kneifer hängt an einer Kordel; er neigt sich über mich, hebt den Finger mit dem Goldring, redet. Alles ist dunkel, alles ist feucht, ausgenommen sein sonnenhafter Bart. Er trägt seinen Glorienschein um das Kinn. Ich weiß nicht, was er sagt: ich habe zuviel damit zu tun, zuzuhören, um verstehen zu können. Vermutlich brachte mir dieser alte Republikaner aus der Zeit des Kaiserreichs meine Bürgerpflichten bei und erzählte mir die Geschichte der Bourgeoisie; es hatte Könige gegeben und Kaiser, die waren sehr schlecht; man hatte sie davongejagt, jetzt lief alles vorzüglich. - 11 -
Wenn wir ihn abends auf der Straße erwarten mußten, erkannten wir ihn bald zwischen den vielen Reisenden, die der Bergbahn entstiegen, an seinem hohen Wuchs und seinem Tanzmeisterschritt. Sobald er uns gesehen hatte, setzte er sich in Positur, gleichsam den Anweisungen eines unsichtbaren Fotografen nachgebend: Bart im Wind, Körper straff aufgerichtet, Füße im rechten Winkel, Brust heraus, Arme weit geöffnet. Auf dieses Zeichen hin blieb ich unbeweglich stehen, beugte mich vor, ich war der Läufer vor dem Start, das Vögelchen, das gleich aus dem Käfig fliegen soll; einige Augenblicke blieben wir so unbeweglich voreinander stehen, eine hübsche Gruppe aus Meißner Porzellan. Dann stürzte ich los, beladen mit Blumen und Früchten, mit dem Glück meines Großvaters; ich spielte Atemlosigkeit und prallte gegen seine Knie, er hob mich vom Boden auf, ganz hoch, drückte mich an sein Herz und murmelte: «Mein Schätzchen!» Das war das zweite Bild, die Passanten pflegten es sehr zu beachten. Wir spielten ein ausgedehntes Lustspiel mit hundert Szenen: den Flirt, die schnell zerstreuten Mißverständnisse, die gutmütigen Spötteleien und freundlichen Zurechtweisungen, den Zwist der Liebenden, Täuschungen aus Liebe und Leidenschaft; wir dachten uns Widerwärtigkeiten aus, die unserer Liebe entgegenstanden, um sie dann voller Freude auszuräumen: ich war manchmal herrisch, aber hinter meinem launischen Verhalten verbarg sich nur mühsam meine bezaubernde Empfindsamkeit; er seinerseits trug die erhabene und naive Eitelkeit, die den Großvätern so gut steht, jene Blindheit und fahrlässige Schwäche, die Victor Hugo in seinem Buch über die empfiehlt. Hätte man mich zu trockenem Brot verurteilt, er hätte mir Konfitüren gebracht; aber die beiden terrorisierten Frauen hüteten sich wohl, mich zu trockenem Brot zu verurteilen. Und außerdem war ich ein artiges Kind: ich fand meine Rolle so kleidsam, daß ich sie nicht aufzugeben wünschte. In Wahrheit hatte mich das prompte Abscheiden meines Vaters mit einem höchst unvollständigen Ödipus-Komplex bedacht: kein Über-Ich, freilich nicht, aber auch kein Aggressionstrieb. Meine Mutter gehörte mir, niemand machte mir diesen ruhigen Besitz streitig; ich kannte nicht die Gewaltsamkeit und den Haß. Man ersparte mir die harte Lehrzeit der Eifersucht; da ich mich nicht an ihren Ecken zu stoßen hatte, erkannte ich die Wirklichkeit zuerst nur an ihrer lachenden Substanzlosigkeit. Gegen wen hätte ich mich auflehnen sollen? Niemals hatte sich die Laune eines anderen angemaßt, mein Gesetz zu sein. Ich gestatte freundlicherweise, daß man mir meine Schuhe anzieht, die Nasentropfen einträufelt, daß man mich kämmt und wäscht, anzieht und auszieht, hätschelt und vollstopft; ich kenne nichts Lustigeres als die Rolle eines artigen Kindes. Ich weine niemals, ich lache fast gar nicht, ich mache keinen Lärm; als ich vier Jahre alt war, ertappte man mich dabei, wie ich Salz auf die Konfitüre streute: vermutlich mehr aus Liebe zur Wissenschaft als aus Bosheit; dies jedenfalls ist die einzige Missetat, an die ich mich erinnern kann. Sonntags gehen die Damen manchmal zur Messe, um gute Musik zu hören, einen bekannten Organisten; keine von ihnen ist wirklich gläubig, aber die Gläubigkeit der anderen wird ihnen zum Anlaß musikalischer Ekstase; sie glauben an Gott so lange, wie die Toccata erklingt. Diese Augenblicke hoher Geistigkeit sind mein Entzücken: wenn alle so aussehen, als ob sie schliefen, ist der Augenblick gekommen, zu zeigen, was ich kann: auf dem Betschemel kniend, verwandle ich mich in Stein; nicht einmal die Zehe darf sich bewegen; starr schaue ich vor mich hin, ohne mit der Wimper zu zucken, bis mir die Tränen über die Backen rollen; natürlich kämpfe ich einen Titanenkampf gegen das Kribbeln in den Gliedern, aber ich bin sicher, Sieger zu bleiben, ich bin mir meiner Kraft so bewußt, daß ich keine Scheu habe, in mir die schlimmsten Versuchungen zu erwecken, um der Lust willen, sie zurückzuweisen: wie wäre es, wenn ich jetzt aufstände und laut «Barabum» riefe? Wie wäre es, wenn ich jetzt an der Säule hochkletterte, um Pipi ins Weihwasserbecken zu machen? Diese schrecklichen Vorstellungen verleihen dann später den Lobsprüchen meiner Mutter um so größeren Wert. Aber ich mache mir etwas vor; ich tue so, als wäre ich gefährdet, nur um meinen Ruhm zu vergrößern: in Wirklichkeit waren die Versuchungen in keinem Augenblick eine ernsthafte Gefahr für mich; ich habe viel zuviel Angst vor dem Skandal; wenn ich Eindruck machen - 12 -
will, so durch meine Tugenden. Die leichten Siege sind mir der Beweis, daß ich ein gutes Naturell besitze; ihm brauche ich mich nur zu überlassen, dann werde ich mit Lob überschüttet. Die schlechten Begierden, die schlechten Gedanken, wenn es sie überhaupt gibt, kommen von draußen; kaum sind sie in mir, da verkümmern und verdorren sie: ich bin ein schlechter Boden für das Böse. Da ich aus Schauspielerei tugendhaft bin, brauche ich mich niemals zu zwingen oder anzustrengen: ich erfinde. Ich habe die fürstliche Freiheit des Schauspielers, der das Publikum in Atem hält und dabei seiner Rolle neue Lichter aufsetzt. Man vergöttert mich, also bin ich vergötternswert. Das ist gar kein Wunder, denn die Welt ist gut eingerichtet: man sagt mir, ich sei schön, und ich glaube es. Seit einiger Zeit habe ich bereits den weißen Fleck auf der Hornhaut, der mich später zwingen wird, zu schielen, aber noch ist das nicht sichtbar geworden. Hundertmal werde ich fotografiert, und meine Mutter retuschiert die Bilder mit Farbstiften. Auf einer Fotografie, die erhalten blieb, bin ich rosig und blond, mit einem Lockenkopf, ich habe runde Bakken und im Ausdruck eine herablassende Ehrfurcht vor der bestehenden Ordnung; der Mund ist geschwellt von heuchlerischer Arroganz: ich weiß, was ich wert bin. Nicht genug damit, daß mein Naturell gut ist; es muß auch prophetisch sein: die Wahrheit spricht aus Kindermund. Kinder sind der Natur noch ganz nahe, sie sind die Vettern von Wind und Meer: aus ihrem Stammeln kann einer, der es versteht, Weite und vage Lehren entnehmen. Mein Großvater hatte zusammen mit Henri Bergson eine Reise auf dem Genfer See gemacht. «Ich war schrecklich begeistert», sagte er, «ich hatte nicht Augen genug, um die funkelnden Berggipfel zu betrachten und die Bewegungen des Wassers zu verfolgen. Aber Bergson saß auf einem Koffer und schaute unablässig vor sich hin.» Aus diesem Reiseerlebnis schloß er, die poetische Meditation stehe höher als die Philosophie. Er meditierte über mich: er saß im Garten auf einem Liegestuhl, ein Glas Bier in Reichweite, und sah zu, wie ich herumlief und herumhüpfte, er suchte eine Weisheit in meinen wirren Reden, er fand sie darin. Später habe ich über diesen Unsinn gelacht; jetzt tut es mir leid: es war damals die Arbeit des Todes. Charles bekämpfte die Todesangst durch Ekstase. Er bewunderte in mir das wunderbare Walten der Erde, um sich davon zu überzeugen, alles sei gut, sogar unser klägliches Ende. Da die Natur sich anschickte, ihn zurückzuholen, suchte er sie auf den Berggipfeln, in den Wellen, zwischen den Sternen, an der Quelle meines jungen Lebens, um sie ganz zu umfassen und ganz zu bejahen, sogar das Grab, das sich für ihn öffnen würde. Es war nicht die Wahrheit, die aus meinem Mund zu ihm sprach, es war sein Tod. Kein Wunder also, daß das fade Glück meiner ersten Lebensjahre bisweilen einen Todesgeschmack besaß: ich verdankte meine Freiheit einem günstigen Todesfall, ich verdankte meine Bedeutsamkeit einem nahe bevorstehenden Abscheiden. Ach was: alle Wahrsagerinnen sind Tote, das weiß jedes Kind; alle Kinder sind Todesspiegel. Und außerdem gefällt sich mein Großvater darin, seine Söhne anzuekeln. Dieser schreckliche Vater hat sein Leben damit zugebracht, sie zu bedrücken; sie kommen auf Zehenspitzen ins Zimmer und überraschen ihn auf den Knien vor einem kleinen Bengel: das gibt ihnen einen Stich ins Herz! Im Kampf der Generationen verbünden sich haufig die Kinder mit den Greisen: die einen geben Orakelsprüche von sich, die ändern deuten sie, die Natur spricht, und die Erfahrung übersetzt: die Erwachsenen haben gefälligst die Schnauze zu halten. Hat man kein Kind, so nehme man einen Köter: auf dem Hundefriedhof erkannte ich letztes Jahr hinter der zitternden Rede, die dort von Grab zu Grab geht, die Maxime meines Großvaters: die Hunde können lieben; sie sind zärtlicher als die Menschen, anhänglicher; sie haben Takt, einen unfehlbaren Instinkt, um das Gute zu erkennen, um die Guten von den Schlechten zu unterscheiden. «Polonius», sagte die Inschrift einer untröstlichen Hundemutter, «du bist besser als ich. Du hättest nach meinem Tode nicht weitergelebt; ich lebe weiter nach deinem.» Ein amerikanischer Freund begleitete mich auf den Hundefriedhof: wütend gab er dem Zementhund einen Fußtritt und brach ihm ein Ohr ab. Er harte recht: wenn man die Kinder und die Tiere zu sehr liebt, liebt man sie gegen die Menschen. - 13 -
Ich also bin ein Zukunftsköter: ich prophezeie. Ich spreche Kindermund, man merkt sich die Aussprache, man wiederholt sie vor mir: ich lerne, neue zu produzieren. Ich produziere auch Erwachsenenwörter: ich bin in der Lage, ohne große Mühe etwas zu sagen, was «weit über mein Alter hinausreicht». Diese Aussprüche sind Gedichte; das Rezept ist einfach: man muß sich auf den Teufel verlassen, auf den Zufall, auf das Vakuum, ganze Sätze der Erwachsenen nehmen, aneinanderreihen, wiederholen, ohne sie zu verstehen. Kurzum, ich gebe Orakelsprüche von mir, und jeder deutet sie, wie er will. Das Gute entsteht aus der Tiefe meines Herzens, das Wahre aus den jungen Nebeln meines Bewußtseins. Ich bewundere mich getrost: es ist offenbar, daß meine Gesten und Worte eine Eigenschaft besitzen, die mir entgeht, den Erwachsenen aber auffällt. Daran soll es nicht fehlen! Ich werde ihnen mühelos die zarte Freude bieten, die mir versagt ist. Meine lustigen Streiche werden zur Außenseite meiner Großherzigkeit: arme Leute waren traurig gewesen, weil sie keine Kinder besaßen; gerührt darüber, hatte ich mich in einer Aufwallung von Nächstenliebe aus dem Nichts gezogen und die Verkleidung der Kindheit angelegt, um ihnen die Illusion zu geben, einen Sohn zu haben. Meine Mutter und meine Großmutter ermuntern mich oft, den Akt ungeheurer Güte zu wiederholen, der mich ins Leben rief: sie schmeicheln den Zwangsvorstellungen von Charles Schweitzer und seiner Freude an Theatereffekten, sie sind darauf aus, ihm Überraschungen zu bereiten. Man versteckt mich hinter einem Möbelstück, ich halte den Atem an, die Frauen verlassen das Zimmer und tun so, als hätten sie mich vergessen, ich mache mich leblos; mein Großvater tritt ins Zimmer, abgespannt und unlustig, so wie er wäre, gäbe es mich nicht; plötzlich komme ich aus dem Versteck hervor, ich erweise ihm die Gnade meiner Geburt, er bemerkt mich, geht auf das Spiel ein, sein Gesichtsausdruck wechselt, und er wirft die Arme zum Himmel empor: ich überwältige ihn durch meine Gegenwart. Mit einem Wort, ich gebe mich; ich gebe mich immer und überall, ich gebe alles: es genügt, daß ich eine Tür aufmache, um selbst das Gefühl zu haben, ich vollzöge eine «Erscheinung». Ich setze meine Klötzchen übereinander, ich werfe meine Sandkuchen durcheinander, ich rufe laut die Leute herbei; jemand kommt und bricht in laute Rufe aus; wieder habe ich jemand glücklich gemacht. Die Mahlzeiten, das Schlafen und die Vorsichtsmaßnahmen gegen Krankheiten bilden die Hauptfeste und wichtigsten Obliegenheiten eines Lebens, das ganz aus Zeremonien besteht. Ich esse öffentlich wie ein König. Wenn ich gut gegessen habe, werde ich gelobt. Sogar meine Großmutter ruft: «Er ist wirklich brav, er hat Hunger!» Unablässig erschaffe ich mich; ich bin der Geber und die Gabe. Lebte mein Vater, ich hätte meine Rechte und Pflichten kennengelernt; da er tot ist, kenne ich sie nicht; ich habe kein Recht, denn die Liebe überhäuft mich; ich habe keine Pflicht, denn ich gebe aus Liebe. Nur eine einzige Aufgabe: gefallen. Alles für die Schau. Welche Wollust der Großherzigkeit in unserer Familie: mein Großvater erhält mich am Leben, und ich begründe sein Glück; meine Mutter opfert sich für alle auf. Wenn ich heute zurückdenke, so scheint mir allein diese Aufopferung echt zu sein; aber wir neigten dazu, schweigend über sie hinwegzugehen. Wie auch immer: unser Leben ist nur eine Folge von Zeremonien, und wir bringen unsere Zeit damit hin, uns mit Aufmerksamkeiten zu überhäufen. Ich achte die Erwachsenen unter der Bedingung, daß sie mich vergöttern; ich bin frei und offen und sanft wie ein Mädchen, ich denke rechtschaffen, ich vertraue den Leuten: jedermann ist gut, denn jedermann ist zufrieden. Ich halte die Gesellschaft für eine strikte Hierarchie aus Verdienst und Macht. Die Leute an der Spitze der Leiter geben all ihren Besitz an jene, die unter ihnen sind. Ich hüte mich indessen davor, selbst die höchste Sprosse einnehmen zu wollen: ich weiß wohl, daß man sie den ernsten und wohlmeinenden Personen vorbehält, die dafür sorgen, daß Ordnung herrscht. Ich habe einen Sitz für mich allein, an der Seite, nicht weit von ihnen entfernt, und mein Strahlen überglänzt die Leiter von oben bis unten. Kurzum, ich halte mich mit viel Eifer fern von der weltlichen Gewalt: nicht unter ihr übrigens, auch nicht über ihr. Mein Großvater ist ein Mann des Geistes, ich selbst bin seit meiner Kinderzeit ein Mann des Geistes; ich habe die Weihe der Kirchenfürsten, die priesterliche Heiterkeit. Ich behandle die Untergeordneten wie - 14 -
Gleichgestellte: das ist eine fromme Lüge, die ich für sie auf mich nehme, um sie glücklich zu machen, und auf die sie bis zu einem gewissen Grade hereinfallen müssen. Zu meinem Kindermädchen, zum Briefträger, zu meinem Hund spreche ich mit einer geduldigen und gemessenen Stimme. In dieser Welt voller Ordnung gibt es arme Leute. Es gibt auch fünfbeinige Schafe, siamesische Zwillinge, Eisenbahnunfälle: für solche Anomalien kann niemand. Die braven armen Leute wissen nicht, daß ihre Funktion darin besteht, unsere Großmut auszulösen; es sind verschämte Arme, sie schleichen an den Häusern entlang; ich laufe ihnen nach, stecke ihnen ein Geldstück zu, zwei Sous, vor allem schenke ich ihnen ein schönes Lächeln der Gleichberechtigung. Sie sehen, finde ich, dumm aus, und ich mag sie nicht anrühren, aber ich zwinge mich dazu: das ist eine Prüfung; und außerdem sollen sie mich lieben: diese Liebe wird ihr Leben verschönen. Ich weiß, daß es ihnen am Nötigsten fehlt, und es gefällt mir, ihr Überfluß zu sein. Mag übrigens ihr Elend noch so groß sein, so werden sie doch niemals soviel zu leiden haben wie mein Großvater: als er klein war, stand er vor Tagesanbruch auf und zog sich in der Dunkelheit an; um sich zu waschen, mußte er im Winter das Eis im Wasserkübel aufbrechen. Glücklicherweise haben sich die Dinge seitdem ausgeglichen: mein Großvater glaubt an den Fortschritt, ich auch: an den Fortschritt, diesen langen, dornenvollen Weg, der bis zu mir hinführt. Es war das Paradies. Jeden Morgen wachte ich mit freudigem Staunen auf und bewunderte die ungeheure Chance, daß ich in der glücklichsten Familie, im schönsten Land der Welt geboren wurde. Mißvergnügte Leute erregten meinen Unwillen: worüber konnten sie sich beklagen? Sie waren Meuterer. Vor allem meine Großmutter machte mich lebhaft besorgt: zu meinem Schmerz mußte ich feststellen, daß sie mich nicht genügend bewunderte. In der Tat hatte Louise mich durchschaut. Offen rügte sie an mir ein Getue, das sie ihrem Mann nicht vorzuwerfen wagte: ich war ein Hampelmann, ein Clown, ein Grimassenschneider, sie befahl mir, mit meinen «Affereien» aufzuhören. Ich war um so entrüsteter, als ich vermutete, sie mache sich auch über meinen Großvater lustig: sie war «der Geist, der stets verneint». Ich gab ihr Widerworte, sie verlangte, ich solle mich entschuldigen; da ich mit Unterstützung rechnete, weigerte ich mich. Mein Großvater ergriff im Fluge die Gelegenheit, seine Schwäche zu demonstrieren: er nahm meine Partei gegen seine Frau, worauf sie sich beleidigt erhob und in ihrem Zimmer einschloß. Meine Mutter war beunruhigt, fürchtete den Groll der Großmutter, sprach ganz leise, gab in aller Bescheidenheit ihrem Vater unrecht, worauf er die Achseln zuckte und sich in sein Arbeitszimmer zurückzog; sie flehte mich endlich an, ich solle meine Verzeihung erwirken. Ich genoß meine Macht: ich war der heilige Michael und hatte den bösen Geist zu Boden geschmettert. Schließlich ging ich hin, um mich nachlässig zu entschuldigen. Davon abgesehen natürlich, liebte ich sie, denn sie war meine Großmutter. Man hatte mich angeleitet, sie Mami zu nennen und das Familienoberhaupt mit seinem elsässischen Vornamen Karl anzureden. Karl und Mami, das klang besser als Romeo und Julia, als Philemon und Baucis. Hundertmal täglich wiederholte meine Mutter ganz absichtlich «Karlundmami»: «Karlundmami warten», «Karlundmami möchten gern», «Karlundmami...», wobei die enge Zusammenziehung der vier Silben die vollkommene Eintracht der Personen ausdrücken sollte. Ich glaubte nur halb daran, richtete mich aber so ein, als glaubte ich es ganz, vor allem vor mir selbst. Das Wort warf seinen Schatten auf die Sache: mit Hilfe von Karlundmami konnte ich die lückenlose Einheit der Familie aufrechterhalten und auf Louises Haupt ein gut Teil der Verdienste von Charles häufen. Obwohl verdächtig und sündig, wurde meine Großmutter, die stets von der Gefahr des Absinkens bedroht war, durch die Kraft eines Wortes von Engelsarmen zurückgehalten. Es gab auch richtig böse Leute: die Preußen, die uns Elsaß-Lothringen und all unsere Uhren gestohlen hatten, mit Ausnahme der Stutzuhr aus schwarzem Marmor auf dem Kamin meines Großvaters, die ihm ausgerechnet von einer Gruppe seiner deutschen Schüler - 15 -
geschenkt worden war; man fragt sich wirklich, wo sie sie gestohlen haben. Man kaufte mir die Bücher von Hansi und zeigte mir die Bilder darin; ich empfinde keinerlei Antipathie gegen diese dicken Männer aus rosa Zuckerguß, die so stark an meine elsässischen Onkel erinnern. Mein Großvater, der sich im Jahre 1871 für Frankreich entschieden hatte, reist von Zeit zu Zeit nach Günsbach oder Pfafrenhofen, um seine dort gebliebenen Verwandten zu besuchen. Man nimmt mich mit. Wenn ein deutscher Schaffner ihn im Zug nach den Fahrkarten fragt, wenn ein Kellner im Cafe nicht schnell genug die Bestellung aufnimmt, schwillt Charles Schweitzer rot an vor patriotischem Zorn. Die beiden Frauen umklammern seine Arme: «Charles, sei doch vorsichtig. Sie werden uns ausweisen, und du hast gar nichts damit erreicht!» Mein Großvater redet noch lauter. «Das möchte ich sehen, ob sie mich ausweisen, ich bin hier zu Haus!» Man schiebt mich zu ihm hin, zwischen seine Knie, ich schaue ihn bittend an, er beruhigt sich. «Ich tue es nur für den Kleinen», seufzt er und tätschelt mir den Kopf mit seinen dürren Fingern. Diese Szenen nehmen mich gegen ihn ein, ohne daß ich mich deshalb über die Okkupanten entrüste. Übrigens verfehlt Charles nicht, sich in Günsbach über seine Schwägerin aufzuregen; mehrmals pro Woche wirft er seine Serviette auf den Tisch und verläßt türenknallend das Eßzimmer: dabei ist sie gar keine Deutsche. Nach dem Essen stöhnen und schluchzen wir zu seinen Füßen, er setzt uns eine eherne Stirn entgegen. Man muß dem Urteil meiner Großmutter zustimmen, die erklärt: «Das Elsaß bekommt ihm nicht; er sollte nicht so oft dahin zurückkehren.» Übrigens mag ich die Elsässer nicht besonders gern, denn sie behandeln mich ohne Ehrfurcht, und ich bin nicht ärgerlich darüber, daß man sie uns weggenommen hat. Es scheint, daß ich zu oft zu Monsieur Blumenfeld gehe, dem Kolonialwarenhändler von Pfaffenhofen, und daß ich ihm mit Kleinigkeiten lästig falle. Meine Tante Caroline hat meiner Mutter deshalb «Vorhaltungen» gemacht; man setzt mich in Kenntnis; ausnahmsweise sind Louise und ich diesmal Spießgesellen; sie kann die Familie ihres Mannes nicht ausstehen. In dem Hotelzimmer in Straßburg, wo wir alle versammelt sind, höre ich grelle und unwahrscheinliche Töne, ich laufe ans Fenster: die Armee! Ich bin überglücklich zu sehen, wie Preußen beim Ton dieser kindischen Musik defiliert. Ich klatsche in die Hände. Mein Großvater ist auf seinem Stuhl geblieben, er murrt vor sich hin; meine Mutter kommt und flüstert mir ins Ohr, ich solle vom Fenster weggehen. Ich gehorche, aber trotze ein bißchen. Ich verabscheue die Deutschen, aber ohne Überzeugung. Übrigens kann sich Charles nur eine kleine Prise Chauvinismus leisten: im Jahre 1911 haben wir Meudon verlassen und sind nach Paris gezogen, in die nie Le Goff Nr. 1; er hatte in Pension gehen müssen, und damit wir unser Auskommen behielten, hatte er das Institut des Langues Vivantes gegründet. Dort erteilte man französischen Sprachunterricht an Ausländer, die zu Besuch nach Paris kamen, mit Hilfe der direkten Methode. Die meisten Schüler kamen aus Deutschland. Sie zahlen gut: mein Großvater steckt die Goldstücke, ohne jemals nachzuzählen, in seine Rocktasche; meine Großmutter, die an Schlaflosigkeit leidet, schleicht sich nachts in den Flur, um heimlich ihren «Zehnten» zu entnehmen. Kurz gesagt, der Feind hält uns aus; ein deutsch-französischer Krieg würde uns zwar das Elsaß wiedergeben, aber das Institut ruinieren: Karl ist für die Erhaltung des Friedens. Außerdem gibt es gute Deutsche, die zu uns zum Mittagessen kommen: eine stark gerötete und stark behaarte Romanschriftstellerin, die Louise mit etwas eifersüchtigem Lächeln als «Dulcinea von Charles» zu bezeichnen pflegt, oder einen kahlköpfigen Arzt, der meine Mutter gegen den Türpfosten drängt und zu küssen versucht. Als sie sich darüber schüchtern beklagt, legt mein Großvater los: «Du sorgst dafür, daß ich mit allen Leuten in Streit gerate!» Er zuckt die Achseln und folgert: «Du leidest an Einbildungen, liebes Kind», und nun fühlt sie sich schuldig. Alle Gäste begreifen, daß man meine Verdienste bejubeln muß, gelehrig tätscheln sie mich, woraus zu schließen ist, daß sie trotz ihrer Herkunft eine dunkle Vorstellung des Guten besitzen. Bei der jährlichen Gründungsfeier des Instituts gibt es mehr als hundert Gäste. Es gibt Champagnerbowle. Meine Mutter und Mademoiselle Moutet spielen - 16 -
vierhändig Bach. In einem Kleidchen aus blauem Musselin, mit Sternen in den Haaren und Flügeln gehe ich umher und biete Mandarinen aus einem Körbchen an; man ruft: «Er ist wirklich ein Engel!» Na also, es sind doch keine schlechten Leute. Natürlich haben wir nicht darauf verzichtet, das gemarterte Elsaß zu rächen: unter uns und leise, wie unsere Vettern in Günsbach oder Pfaffenhofen, töten wir die Boches durch Lächerlichkeit; hundertmal hintereinander, ohne daß man es leid wird, lacht man über jene Studentin, die in einem französischen Aufsatz sinngemäß geschrieben hatte: «Lotte brach in heftigen Wehen über Werthers Grab zusammen», oder über jenen jungen Lehrer, der bei einem Abendessen seine Melonenscheibe mißtrauisch betrachtet hatte, um sie schließlich ganz und gar, samt Kernen und Schale, zu verzehren. Diese Fehlgriffe stimmen mich zur Milde: die Deutschen sind Wesen niederer Art, die das Glück haben, unsere Nachbarn zu sein; wir geben ihnen etwas ab von unserem Licht. Ein Kuß ohne Schnurrbart, so sagte man damals, ist wie ein Ei ohne Salz; ich füge hinzu: und wie das Gute ohne das Böse, wie mein Leben zwischen den Jahren 1905 und 1914. Wenn man sich selbst nur durch den Gegensatz zu bestimmen vermag, so war ich damals das fleischgewordene Unbestimmte. Wenn Liebe und Haß die beiden Seiten der gleichen Münze darstellen, so liebte ich nichts und niemand. Das war in der Ordnung: man kann nicht gleichzeitig hassen und gefallen wollen, auch nicht gefallen wollen und lieben. Bin ich also ein Narziß? Nicht einmal: vor lauter Eifer, Eindruck zu machen, vergesse ich mich selbst. Schließlich macht es gar nicht soviel Spaß, Sandkuchen zu machen oder Kritzeleien, seine natürlichen Bedürfnisse zu verrichten: sollen sie in meinen Augen einen Wert erhalten, so muß wenigstens ein Erwachsener da sein, um sich für meine Leistungen zu begeistern. Glücklicherweise fehlt es nicht an Applaus. Ob die Erwachsenen meinem Gestammel lauschen oder der Kunst der Fuge, stets haben sie das gleiche Lächeln eines spöttischen, verständnisinnigen Genießens, woraus hervorgeht, was ich im Grunde bin: ein Kulturgut. Die Kultur durchtränkt mich, und ich reiche sie durch Ausstrahlung an die Familie weiter, so wie die Teiche am Abend die Tageswärme ausstrahlen. Ich habe mein, Leben begonnen, wie ich es zweifellos beenden werde: inmitten von Büchern. Im Arbeitszimmer meines Großvaters lagen sie überall; es war verboten, sie abzustauben, mit Ausnahme eines Tages im Jahr, vor dem Semesterbeginn im Oktober. Ich konnte noch nicht lesen, aber ich verehrte sie bereits, diese aufgerichteten Steine: mochten sie gerade stehen oder schräg, dichtgedrängt wie Ziegel auf den Borden des Bücherschrankes oder in noblem Abstand voneinander, wie die Alleen mit vorgeschichtlichen Steinsäulen in der Bretagne, immer fühlte ich, daß der Wohlstand unserer Familie von ihnen abhing. Sie glichen einander alle, ich bewegte mich in einem ganz kleinen Heiligtum, umgeben von stämmigen und sehr alten Monumenten, die zugesehen hatten, wie ich geboren wurde, die mich sterben sehen würden und deren Permanenz mir eine Zukunft garantierte, die so ruhig sein würde wie die Vergangenheit. Ich berührte sie heimlich, um meine Hände durch ihren Staub zu ehren, wußte aber nicht recht, was ich mit ihnen anfangen sollte, und erlebte jeden Tag einige Zeremonien, deren Sinn mir nicht aufging. Mein Großvater, der für gewöhnlich so ungeschickt war, daß meine Mutter ihm die Handschuhe zuknöpfte, handhabte diese Kulturobjekte mit der Geschicklichkeit eines Meßdieners. Ich habe tausendmal gesehen, wie er geistesabwesend aufstand, um den Tisch ging, mit zwei Schritten beim Bücherbord war, ohne zu zögern ein Buch nahm, ohne sich die Zeit zur Wahl zu lassen, es aufblätterte, während er zu seinem Sessel zurückkehrte, um es dann, kaum daß er wieder Platz genommen hatte, durch eine kombinierte Bewegung von Daumen und Zeigefinger brüsk «auf der richtigen Seite» zu öffnen, wobei er es wie einen Schuh krachen ließ. Manchmal kam ich näher, um die Büchsen zu beobachten, die sich aufspalteten wie Austern, und ich entdeckte die Nacktheit ihrer Eingeweide: verschimmelte Blätter, leicht aufgetrieben, bedeckt mit schwarzen Äderchen, die Tinte tranken und wie Pilze rochen. Im Zimmer meiner Großmutter waren die Bücher gebettet. Sie entlieh sie bei einer - 17 -
Leihbücherei, und ich habe niemals mehr als zwei auf einmal gesehen. Dieser Tand ließ mich an die Süßigkeiten zu Neujahr denken, denn die geschmeidigen und glänzenden Blätter sahen aus, als wären sie aus Silberpapier ausgeschnitten. Lebhaft weiß, fast neu, dienten sie als Vorwand für leichte Mysterien. Jeden Freitag zog sich meine Großmutter an, um auszugehen, und sagte: «Ich will sie zurückbringen.» Wenn sie wieder da war, legte sie erst den schwarzen Hut und den Schleier ab, zog sie sodann aus dem Muff, und ich fragte mich irritiert: Sind es dieselben? Sie machte ihnen sorgfältig einen Schutzumschlag, suchte sich dann eins von ihnen aus, nahm in ihrem Ohrensessel nahe am Fenster Platz, setzte die Brille auf, seufzte müde und beglückt, senkte die Lider mit einem feinen und wollüstigen Lächeln, wie ich es später auf den Lippen der Mona Lisa wiederfand; meine Mutter schwieg und hieß auch mich ruhig sein. Ich dachte an die Messe, an den Tod, den Schlaf; ich erfüllte mich mit einem sakralen Schweigen. Von Zeit zu Zeit lachte Louise ein bißchen; sie rief ihre Tochter, zeigte mit dem Finger auf eine Zeile, die beiden Frauen tauschten einen Blick des Einverständnisses. Trotzdem liebte ich diese allzu gesitteten Broschüren nicht sehr. Sie waren Eindringlinge, und mein Großvater verhehlte nicht, daß sie Gegenstand eines minderwertigen, ausschließlich weiblichen Kultes seien. Sonntags kam er aus Langeweile ins Zimmer seiner Frau und pflanzte sich vor ihr auf, ohne zu wissen, was er ihr sagen sollte. Alle schauten ihn an, er trommelte gegen die Fensterscheibe, dann fiel ihm nichts weiter ein, er wandte sich wieder zu Louise und nahm ihr den Roman aus der Hand. «Charles», rief sie wütend, «du wirst mir die Seite verblättern!» Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte er bereits zu lesen begonnen; brüsk klopfte er mit dem Zeigefinger auf das Buch: «Versteh ich nicht!» - «Aber wie willst du verstehen, wenn du in der Mitte anfängst?» sagte meine Großmutter. Schließlich warf er das Buch auf den Tisch, zuckte die Achseln und ging davon. Er hatte sicherlich recht, denn er war vom Fach. Ich wußte es: er hatte mir auf einem Regal der Bibliothek dicke kartonierte und mit braunem Leinen bezogene Bände gezeigt. «Die hier, mein Kleiner, hat der Großvater gemacht!» Welcher Stolz! Ich war der Enkel eines Handwerker-Spezialisten für die Fabrikation heiliger Gegenstände, der genauso respektiert werden durfte wie ein Orgelbauer oder ein Schneider kirchlicher Gewänder. Ich sah ihn am Werk: jedes Jahr wurde das neu aufgelegt. In den Ferien wartete die ganze Familie ungeduldig auf die Korrekturfahnen: Charles ertrug keine Untätigkeit, er ärgerte sich zum Zeitvertreib. Der Briefträger brachte endlich dicke, ziemlich weiche Pakete, man schnitt mit der Schere die Verschnürung durch; mein Großvater entfaltete die Fahnen, breitete sie auf dem Tisch im Eßzimmer aus und zersäbelte sie mit roten Strichen; bei jedem Druckfehler fluchte er vor sich hin und brüllte bloß, wenn das Dienstmädchen erklärte, nun müsse es aber den Tisch decken. Alle waren vergnügt. Ich saß aufrecht auf einem Stuhl und beschaute voller Ekstase diese schwarzen, blutbedeckten Linien. Charles Schweitzer brachte mir bei, er habe einen Todfeind, seinen Verleger. Mein Großvater hatte niemals zu rechnen verstanden: verschwenderisch aus Sorglosigkeit, generös um der Wirkung willen, verfiel er schließlich, aber viel später, der Krankheit achtzigjähriger Leute: dem Geiz, als Auswirkung der Impotenz und der Todesangst. Zu jener Zeit äußerte sich der Geiz bereits in einem sonderbaren Mißtrauen: wenn er durch Postanweisung sein Autorenhonorar bekam, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und schrie, man schneide ihm den Hals ab, oder er kam ins Zimmer meiner Großmutter und erklärte dumpf: «Mein Verleger bestiehlt mich wie ein Straßenräuber.» Mit erschrecktem Staunen entdeckte ich die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Ohne diese abscheuliche, aber glücklicherweise eng begrenzte Tatsache wäre die Welt in Ordnung gewesen: die Unternehmer gaben je nach ihren Kräften den Arbeitern, und zwar je nach deren Verdienst. Warum also mußten die Verleger, diese Blutsauger, die Welt dadurch verunzieren, daß sie das Blut meines armen Großvaters tranken? Meine Ehrfurcht vor diesem heiligen Mann wuchs, dessen Aufopferung nicht vergolten wurde: schon früh wurde ich darauf vorbereitet, die Professur wie ein Priestertum und die Literatur wie eine Leidenschaft zu behandeln. - 18 -
Ich konnte noch nicht lesen, aber ich war so sehr Snob, daß ich verlangte, meine Bücher zu erhalten. Mein Großvater ging zu seinem Gauner von Verleger und ließ sich die <Märchen> des Dichters Maurice Bouchor geben, Erzählungen nach Volksmotiven, dem Kindergeschmack angepaßt durch einen Mann, der sich, wie mein Großvater sagte, den kindlichen Blick bewahrt hatte. Ich wollte unverzüglich mit den Einweihungszeremonien beginnen. Ich nahm die beiden kleinen Bände, roch daran, betastete sie, öffnete sie nachlässig «auf der richtigen Seite» und ließ sie krachen. Vergebens: ich hatte nicht das Gefühl, sie zu besitzen. Ich versuchte, ohne mehr Erfolg, sie wie Puppen zu behandeln, zu wiegen, zu küssen, zu schlagen. Ich war den Tränen nahe und legte sie schließlich meiner Mutter auf den Schoß. Sie schaute von ihrer Arbeit auf: «Was soll ich dir denn vorlesen, Liebling? Die Feen?» Ich fragte ungläubig: «Die Feen, ist das da drin?» Diese Geschichte nämlich-kannte ich: meine Mutter erzählte sie mir oft, wenn sie mich gründlich abwusch, unterbrach sich aber immer wieder, um mich mit Kölnischwasser einzureiben oder um die Seife zu suchen, die ihr aus der Hand geglitten war und nun unter der Badewanne lag; zerstreut hörte ich der allzu bekannten Erzählung zu; ich hatte bloß Augen für Anne-Marie, das junge Mädchen all meiner Morgenstunden; ich hörte bloß auf ihre im Dienst brüchig gewordene Stimme, ich freute mich an ihren Sätzen, die nicht zu Ende geführt wurden, an den zögernd hintereinander herlaufenden Worten, an ihrer plötzlichen Selbstsicherheit, die bald wieder getrübt wurde, sich in melodische Bruchstücke auflöste, in Schweigen überging und dann von neuem erstarkte. Die Geschichte, die erzählt wurde, war nur eine Zugabe: sie war das einigende Band dieser Selbstgespräche. Immer wenn sie sprach, waren wir heimlich beisammen, allein, fern von Menschen, Göttern und Priestern, zwei Rehe im Wald unter anderen Rehen, inmitten der Feenwelt; ich konnte nicht glauben, daß man ein ganzes Buch schrieb, bloß damit diese Episoden unseres Alltagslebens darin vorkamen, die nach Seife und Kölnischwasser rochen. Anne-Marie ließ mich auf meinem kleinen Stuhl ihr gegenüber Platz nehmen; sie beugte sich vor, senkte die Lider, schlief ein. Aus dem Statuengesicht kam eine gipserne" Stimme. Ich wurde ganz verwirrt: wer erzählte? was? und wem? Meine Mutter war verschwunden: kein Lächeln, kein Zeichen des Einverständnisses, ich war im Exil. Und außerdem erkannte ich ihre Sprechweise nicht wieder. Woher nahm sie diese Sicherheit? Nach einem Augenblick hatte ich begriffen: das Buch sprach. Sätze kamen daraus hervor, die mir Angst machten: wahre Tausendfüßler, ein Gewimmel von Silben und Buchstaben, sie streckten ihre Diphthonge vor, ließen die Doppelkonsonanten vibrieren; singend, nasal, unterbrochen von Pausen und Seufzern, reich an unbekannten Wörtern; so erfreuten sich diese Sätze an sich selbst und an ihren mäanderhaften Windungen, ohne sich um mich zu kümmern. Manchmal verschwanden sie, ehe ich sie verstanden hatte, ein andermal hatte ich schon vorher verstanden, und die Sätze rollten nobel weiter ihrem Ende entgegen, ohne mir ein Komma zu schenken. Diese Rede war offensichtlich nicht für mich bestimmt. Die Geschichte selbst hatte ein Sonntagskleid erhalten: der Holzfäller, die Holzfällerin und ihre Töchter, die Fee, all diese kleinen Leute von unseresgleichen hatten Majestät angenommen; man sprach prunkvoll von ihren Lumpen, die Wörter färbten auf die Sachen ab, verwandelten die Handlungen in Riten und die Ereignisse in Zeremonien. Jemand begann Fragen zu stellen: der Verleger meines Großvaters hatte sich auf die Herausgabe von Schulbüchern spezialisiert und benutzte jede Gelegenheit, die junge Intelligenz seiner Leser zu erproben. Mir schien, daß man ein Kind fragte, was es an der Stelle des Holzfällers getan hätte. Welche der beiden Schwestern war ihm lieber? Warum? Fand es die Bestrafung von Babette richtig? Aber dies Kind war nicht ganz und gar ich selbst, und ich hatte Angst zu antworten. Trotzdem antwortete ich, meine schwache Stimme verlor sich, und ich fühlte, wie ich ein anderer wurde. Anne-Marie war auch eine andere mit ihrem Ausdruck einer überwachen blinden Frau: es kam mir vor, als sei ich das Kind aller Mütter, als sei sie die Mutter aller Kinder. Als sie zu lesen aufhörte, nahm ich ihr rasch die Bücher fort und trug sie unterm Arm davon, ohne mich zu bedanken. - 19 -
Schließlich bekam ich Geschmack an solchem Druck auf den Knopf, der mich meiner Welt entriß. Maurice Bouchor neigte sich über die Kinderwelt mit der umfassenden Fürsorge eines Rayonchefs für die Kundinnen eines großen Warenhauses; das schmeichelte mir. Den improvisierten Erzählungen zog ich von nun an die vorfabrizierten Geschichten vor; ich wurde hellhörig für die strenge Folge der Wörter: bei jedem Lesen kehrten sie wieder, immer die gleichen und immer in der gleichen Ordnung, ich erwartete sie bereits. In Anne-Maries Märchen lebten die Gestalten aufs Geratewohl, so wie sie selbst es tat: sie erwarben sich Schicksale. Ich war in der Messe: ich erlebte die ewige Wiederkehr der Namen und Ereignisse. Nun wurde ich eifersüchtig auf meine Mutter und beschloß, ihre Rolle zu übernehmen. Ich packte mir ein Buch mit dem Titel und zog damit in einen Abstellraum; dort hockte ich mich auf ein Eisenbett und tat so, als läse ich: mit den Augen folgte ich den schwarzen Linien, ohne auch nur eine einzige zu überschlagen, und erzählte mir dazu laut eine Geschichte, wobei ich mich bemühte, jede Silbe auszusprechen. Man ertappte mich - oder ich ließ mich ertappen -, es machte großes Aufsehen, man beschloß, nun sei es an der Zeit, mir das Alphabet beizubringen. Ich war eifrig wie ein Kind beim Katechismus-Unterricht; ich ging so weit, mir Nachhilfestunden zu geben: ich kletterte auf mein Eisenbett mit dem Buch von Hector Malot, das ich auswendig kannte; halb rezitierte ich, halb entzifferte ich, ich nahm mir eine Seite nach der anderen vor: als die letzte Seite umgeblättert war, konnte ich lesen. Ich war verrückt vor Freude: jetzt hatte ich sie für mich, diese getrockneten Stimmen in ihren kleinen Herbarien, diese Stimmen, die mein Großvater durch seinen Blick zum Klingen brachte, die er hörte, die ich nicht hörte! Ich sollte sie hören, ich sollte mich erfüllen mit ihren formvollen Reden, ich sollte alles wissen. Man ließ mich in der Bibliothek vagabundieren, und ich stürmte los auf die menschliche Weisheit. So bin ich geworden. Später habe ich hundertmal hören müssen, wie Antisemiten den Juden vorwarfen, sie hätten kein Verständnis für Lehre und Schweigen der Natur. Ich antwortete: «In diesem Fall bin ich jüdischer als die Juden.» Vergeblich suche ich in mir die kompakten Erinnerungen und die sanfte Unvernunft der Bauernkinder. Ich habe niemals Höhlen gegraben und Vogelnester gesucht, niemals botanisiert und mit Steinen nach den Vögeln geworfen. Aber die Bücher waren meine Vögel und meine Nester, meine Haustiere, mein Stall und mein Gelände; die Bücherei war die Welt im Spiegel; sie hatte deren unendliche Dichte, Vielfalt, Unvorhersehbarkeit. Ich stürzte mich in unglaubliche Abenteuer: ich mußte auf Stühle klettern, auf Tische und riskierte dabei, Lawinen auszulösen, die mich begraben hätten. Die Bücher auf dem obersten Regal blieben lange außerhalb meiner Reichweite; andere wurden mir, kaum hatte ich sie entdeckt, wieder aus der Hand genommen; noch andere versteckten sich: ich hatte sie gehabt, hatte sie zu lesen angefangen, glaubte sie wieder an ihren Platz gestellt zu haben, brauchte aber eine Woche, ehe ich sie wiederfand. Es kam zu schrecklichen Begegnungen: ich öffnete ein Album und stieß auf eine farbige Abbildung, scheußliche Insekten wimmelten vor meinen Augen. Ich lag auf dem Teppich und unternahm anstrengende Reisen mit Hilfe von Fontenelle, Aristophanes, Rabelais. Die Sätze leisteten mir genauso Widerstand wie die Dinge; man mußte ihnen auflauern, sie umgehen, man mußte so tun, als entferne man sich, und dann rasch zu ihnen zurückkommen, wollte man sie unbewaffnet überraschen: die meiste Zeit behielten sie ihr Geheimnis für sich. Ich war La Pérouse, Magalhães, Vasco, da Gama; ich entdeckte sonderbare Wilde: Das Wort «Heautontimoroumenos» in einer Terenz-Übersetzung in Alexandrinern, das Wort «Idiosynkrasie» in einem Buch über vergleichende Literaturgeschichte. Apokope, Chiasma, hundert andere undurchdringliche und abweisende Kaffern traten aus so einer Seite hervor, und wo sie erschienen, fiel der ganze Abschnitt auseinander. Den Sinn dieser harten und schwarzen Wörter habe ich erst zehn oder fünfzehn Jahre später kennengelernt, und auch heute noch haben sie ihre Dichtigkeit beibehalten: sie sind der Humusboden meines Gedächtnisses. - 20 -
Die Bibliothek barg die großen französischen und deutschen Klassiker, es gab auch Grammatiken, auch einige berühmte Romane, ausgewählte Erzählungen von Maupassant, Kunstbücher: einen , einen , einen , einen , die mein Großvater von seinen Schülern zu Neujahr erhalten hatte. Mageres Universum. Aber der ersetzte mir alles: ich nahm mir wahllos einen Band vom vorletzten Regal hinter dem Schreibtisch: A-Bello, Belloc-Ch oder Ci-D, Mele-Po oder Pr-Z (diese Verbindungen von Silben waren Eigennamen geworden, welche die Sektoren des Universalwissens bezeichneten: es gab die Region Ci-D oder die Region Pr bis Z, nebst Fauna und Flora, nebst Städten, Schlachten und großen Männern); ich legte den Band mühselig auf die Schreibunterlage meines Großvaters, öffnete ihn, ich hob dort richtige Vögel aus, jagte dort nach richtigen Schmetterlingen, die sich auf richtigen Blumen niedergelassen hatten. Menschen und Tiere waren dort, in Person: die Abbildungen waren der Körper, der Text war ihre Seele, ihre einzigartige Essenz; außerhalb der Zimmerwände traf man auf matte Entwürfe, die sich mehr oder weniger den Archetypen annäherten, ohne deren Vollkommenheit zu erreichen. Die Affen im Zoologischen Garten waren weniger Affe, die Menschen im Luxembourg-Garten waren weniger Mensch. Platoniker meines Zeichens, ging ich den Weg vom Wissen bis zur Sache; ich fand an der Idee mehr Wirklichkeitsgehalt als an der Sache selbst, denn die Idee ergab sich mir zuerst, und sie ergab sich mir wie eine Sache. Ich habe die Welt in den Büchern kennengelernt: dort war sie assimiliert, klassifiziert, etikettiert, durchdacht, immer noch furchterregend; und ich habe die Unordnung meiner Erfahrungen mit Büchern verwechselt mit dem zufälligen Ablauf wirklicher Ereignisse. Hier entsprang jener Idealismus, den ich erst nach dreißig Jahren von mir abtun konnte. Das Alltagsleben war durchsichtig. Wir verkehrten mit gutsituierten Leuten, die laut und klar sprachen und ihre Überzeugungen auf gesunden Grundsätzen aufgebaut hatten, auf der Weisheit der Völker, und die sich vom gemeinen Volk nur durch einen gewissen seelischen Manierismus zu unterscheiden geruhten, der mir durchaus vertraut war. Kaum waren sie ausgesprochen, schon überzeugten mich ihre Ansichten durch die kristallklare und höchst einfache Evidenz; wollten sie ihr Verhalten rechtfertigen, so gaben sie so langweilige Erklärungen dafür ab, daß diese Erklärungen unbedingt wahr sein mußten; ihre wohlgefällig dargelegten Gewissensskrupel wirkten auf mich weniger beunruhigend als erbaulich; es waren falsche Konflikte, deren Lösung von vornherein feststand, immer die gleichen; wenn sie ein Unrecht zugaben, so wog es nicht schwer: eine Übereilung, eine berechtigte, aber zweifellos übertriebene Verärgerung hatten ihren Urteilssinn getrübt: sie hatten es glücklicherweise rechtzeitig bemerkt; die Schuld der Abwesenden war wesentlich schwerer, aber niemals unverzeihlich: bei uns gab es keine böse Nachrede, man stellte nur bedauernd die Fehler eines Charakters fest. Ich hörte zu, ich verstand, ich war einverstanden, ich fand solche Äußerungen beruhigend und hatte recht damit, denn sie waren zur Beruhigung bestimmt: nichts ist unheilbar, und in der Tiefe bewegt sich nichts, die vergeblichen Erregungen an der Oberfläche dürfen uns nicht vergessen lassen, daß sich darunter eine tödliche Stille verbirgt, die unser Los ist. Unsere Besucher gingen nach Hause, ich blieb allein, entschlüpfte dem banalen Friedhof und kehrte zurück zum Leben, zum Wahnsinn in den Büchern. Ich brauchte nur eines zu öffnen, um dort jenes unmenschliche und beunruhigte Denken wiederzufinden, dessen Pomp und Finsternis mein Verständnis überstiegen und das von einer Idee hinsprang zur anderen, so schnell, daß ich nicht mitkam, hundertmal auf einer Seite, so daß ich es ganz verwirrt und verloren entschwinden lassen mußte. Ich nahm an Ereignissen teil, die mein Großvater sicherlich als unwahrscheinlich bezeichnet hätte und die trotzdem die grelle Wahrheit geschriebener Dinge besaßen. Gestalten traten auf, ohne sich anzukündigen, sie liebten sich, stritten miteinander, töteten einander; der Überlebende verzehrte sich vor Kummer und folgte seinem Freund oder seiner zärtlichen Geliebten, die er soeben getötet hatte, in die Grube nach. Was sollte ich tun? War ich gleichfalls aufgerufen, wie die Erwachsenen, zu tadeln, zu loben, - 21 -
freizusprechen? Aber diese Originale sahen gar nicht so aus, als richteten sie sich nach unseren Grundsätzen, und selbst dort, wo ihre Motive erläutert wurden, kam ich nicht mit. Brutus tötet seinen Sohn, und Mateo Falcone tut es auch. Diese Praxis schien also ziemlich verbreitet zu sein, trotzdem machte in meiner Umgebung niemand davon Gebrauch. In Meudon hatte sich mein Großvater mit meinem Onkel Emile gezankt, und ich hatte gehört, wie sie einander im Garten anbrüllten; trotzdem hatte man nicht den Eindruck, der Großvater habe je daran gedacht, ihn zu töten. Wie urteilte er überhaupt über kindertötende Väter? Ich enthielt mich des Urteils: mein Leben war nicht in Gefahr, denn ich war ein Waisenkind, und diese prunkvollen Mordtaten machten mir ein bißchen Spaß, aber in den Erzählungen darüber spürte ich eine Billigung, die mich ganz unsicher machte. Ich mußte mir Gewalt antun im Falle des Horace von Corneille, um nicht auf die Abbildung zu spucken, die ihn mit Helm und nacktem Schwert zeigte, wie er der armen Camille nachlief. Karl trällerte manchmal ein Liedchen, worin gesagt wurde, es gäbe keine näheren Verwandten als Bruder und Schwester. Der Text verwirrte mich: hätte man mir zufälligerweise eine Schwester gegeben, so hätte sie mir also nähergestanden als AnneMarie? Oder als Karlundmami? Dann wäre sie also meine Geliebte gewesen. Das Wort «Geliebte» war auch so ein dunkles Wort. Ich traf es oft in den Tragödien von Corneille. Geliebte küssen sich, versprechen sich, im gleichen Bett zu schlafen. (Sonderbare Angewohnheit: warum nicht in einem Doppelbett wie meine Mutter und ich?) Mehr wußte ich nicht, ahnte aber das Vorhandensein einer haarigen Masse unter der leuchtenden Oberfläche der Idee. Als Bruder wäre ich auf jeden Fall ein Blutschänder gewesen. Ich träumte davon. Eine Verirrung? Eine Verhüllung unterdrückter Empfindungen? Durchaus möglich. Ich hatte eine ältere Schwester, meine Mutter, und ich wünschte mir eine jüngere Schwester. Auch heute noch - im Jahre 1963 - ist dies das einzige Verwandtschaftsband, das mir Eindruck macht.1 Ich habe den schweren Irrtum begangen, oft unter den Frauen jene Schwester zu suchen, die es nicht gegeben hat: meine Klage wurde abgewiesen, ich hatte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Trotzdem kommt jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, der Zorn von neuem in mir hoch auf den Mörder der Camille; mein Zorn ist so frisch und lebendig, daß ich mich fragen muß, ob das Verbrechen des Horace bei Corneille nicht eine der Quellen meines Antimilitarismus ist. Kriegsleute töten ihre Schwestern. Der Bursche hätte mir einmal begegnen sollen. Ich hätte ihn sofort an die Wand stellen lassen! Und zwölf Kugeln in den Bauch! Ich drehte die Seite um und las weiter; gedruckte Buchstaben belehrten mich meines Irrtums: der Schwesternmörder mußte freigesprochen werden. Eine Weile keuchte ich, stampfte mit meinen Hausschuhen auf, ein getäuschter Stier, den man lange gereizt hatte. Und dann warf ich schnell Asche auf meinen Zorn. So war das also; danach hatte ich mich zu richten: ich war eben zu jung. Ich hatte -alles falsch verstanden; die Notwendigkeit des Freispruchs wurde begründet durch die zahlreichen Alexandrinerverse, die mir unverständlich geblieben waren oder die ich ungeduldig überschlagen hatte. Ich liebte 1
Als ich zehn Jahre alt war, ergötzte idi mich an dem Roman von Abel Hermant. Dort gibt es einen kleinen Amerikaner und seine Schwester. Beide übrigens höchst unschuldig. Ich versetzte mich an die Stelle des Jungen und liebte durch ihn das kleine Mädchen Biddy. Ich habe lange davon geträumt, eine Geschichte zu sdireiben über zwei verlorene und diskret blutschänderische Kinder. In meinen Werken kann man die Spuren dieser Träumerei wiederfinden: Orest und Elektra in . Dies letzte Paar allein geht zur Tat über. Was mich an diesem Familienband reizte, war weniger die erotische Versudiung als das Liebesverbot: Feuer und Eis, Mischung aus Entzückung und Entsagung; der Inzest gefiel mir, wenn er platonisch blieb. - 22 -
diese Unsicherheit und daß die Geschichte mir nach allen Seiten entglitt; das machte mich heimatlos. Zwanzigmal hintereinander las ich die letzten Seiten von <Madame Bovary>; schließlich kannte ich ganze Abschnitte auswendig, ohne daß mir das Verhalten des armen Witwers dadurch klarer geworden wäre: er fand Briefe, war das ein Grund, sich nicht mehr zu rasieren? Er blickte düster auf Rodolphe, also hatte er was gegen ihn - aber was eigentlich? Und warum sagte er zu ihm: «Ich bin Ihnen nicht böse.» Warum fand Rodolphe ihn «komisch und ein bißchen verächtlich»? Dann starb Charles Bovary: an Kummer? an einer Krankheit? und warum öffnete der Arzt ihn, wenn doch alles zu Ende war? Ich liebte diesen hartnäckigen Widerstand, mit dem ich niemals fertig wurde; ich wurde mystifiziert und geprellt und genoß doch die zweideutige Wollust eines Verstehens ohne Verstehen: hier war die Dichtigkeit der Welt. Das Menschenherz, von dem mein Großvater so gern zu Hause zu sprechen pflegte, fand ich überall fade und hohl, außer in den Büchern. Verwirrende Namen wirkten auf meine Laune, stürzten mich in Schrecken oder Schwermut, ohne daß ich die Ursache dafür erkannt hätte. Ich sagte «Charbovary», und ich sah im Niemandsland einen großen, zerlumpten, bärtigen Mann, der in einem engen Raum immer hin- und herging: es war unerträglich. An der Quelle dieser angstvollen Genüsse gab es die Verbindung von zwei widerspruchsvollen Ängsten: ich fürchtete mich davor, mit dem Kopf voran in eine Fabelwelt zu stürzen, worin ich ruhelos umherirren müßte, in Gesellschaft von Horace und Charbovary, ohne Hoffnung auf Rückkehr in die nie Le Goff, zu meiner Mutter, zu Karlundmami. Und auf der anderen Seite erriet ich, daß diese Satzparaden den erwachsenen Lesern gewisse Bedeutungen vorbehielten, die sich mir entzogen. Auf dem Wege über die Augen führte ich vergiftete Wörter in meinen Kopf ein, unendlich reichere, als ich vorher wußte; eine seltsame Kraft baute in mir - mit Hilfe der Rede - Geschichten wutentbrannter Menschen auf, die mich nichts angingen, einen schrecklichen Kummer, den Zerfall eines Lebens: drohte mir dabei keine Ansteckungsgefahr, würde ich nicht an Gift sterben müssen? Indem ich das Wort verschlang, indem das Bild mich verschlang, rettete ich mich eigentlich nur durch die Unvereinbarkeit dieser beiden gleichzeitigen Gefahren. In der Abenddämmerung, verirrt in einem Dschungel von Worten, bebend beim leisesten Geräusch, das Krachen des Parketts für Zwischenrufe nehmend, glaubte ich, die Sprache ohne die Menschen, im Naturzustand zu entdecken. Mit welcher feigen Erleichterung, welcher Enttäuschung, fand ich mich zurück in die Familienbanalität, wenn meine Mutter eintrat, Licht machte und rief: «Aber Liebchen, du verdirbst dir die Augen!» Hohläugig sprang ich auf, schrie ich, lief ich, machte ich den Hampelmann. Aber bis in diese wiedererrungene Kindheit hinein quälte ich mich ab mit der Frage: wovon reden die Bücher? wer schreibt sie? warum? Ich eröffnete mich in meiner Unruhe dem Großvater, der darüber nachdachte und beschloß, es sei an der Zeit, mich zu befreien, und das tat er so gut, daß er mich brandmarkte. Lange hatte er mich auf seinen Knien reiten lassen und unanständige Lieder dazu gesungen, und ich lachte dann wegen der Unanständigkeit. Er sang nicht mehr. Er setzte mich auf seine Knie, sah mir tief in die Augen. «Ich bin ein Mensch», wiederholte er mit Rednerstimme: «ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches ist mir fremd.» Er übertrieb stark: wie Platon den Dichter, so vertrieb Karl den Ingenieur, den Kaufmann und wahrscheinlich auch den Offizier aus seiner Republik; die Fabriken verdarben ihm die Landschaft; an den reinen Wissenschaften genoß er nur ihre Reinheit. In Guérigny, wo wir die zweite Julihälfte zubrachten, zeigte uns mein Onkel Georges die Hüttenwerke: es war heiß, brutale und schlechtgekleidete Männer stießen uns an; halb ohnmächtig durch den ungeheuren Lärm, starb ich vor Angst und Langeweile; mein Großvater sah sich den Guß an und pfiff aus Höflichkeit, aber sein Auge blieb unbewegt. Im August dagegen, in der Auvergne, streifte er durch alle Dörfer, pflanzte sich vor alten Bauwerken auf, klopfte mit dem Stockende an die Ziegelsteine und sagte lebhaft zu mir: «Was du hier siehst, kleiner Mann, das ist eine gallischrömische Mauer.» Er liebte auch die kirchliche Baukunst und versäumte es niemals, wenngleich er die Papisten nicht ausstehen konnte, eine Kirche zu besuchen, wenn sie nur - 23 -
gotisch war; bei romanischen Kirchen richtete er sich jeweils nach seiner Laune. Er ging nur noch selten in Konzerte, hatte es früher aber oft getan: er liebte Beethoven und seinen vollen Orchesterklang: er liebte auch Bach, aber ohne große Leidenschaft. Manchmal trat er ans Klavier, setzte sich jedoch nicht, und schlug mit seinen gichtigen Fingern ein paar Akkorde an. Dann sagte meine Großmutter mit verschlossenem Lächeln: «Charles komponiert.» Seine Söhne, vor allem Georges, waren gute Hausmusiker geworden; sie mochten Beethoven nicht und schwärmten vor allem für Kammermusik; diese Geschmacksgegensätze störten meinen Großvater nicht; er sagte mit gütiger Miene: «Die Schweitzers sind geborene Musiker.» Acht Tage nach meiner Geburt, als ich mich offenbar beim Klirren eines Löffels erheitert hatte, war von ihm dekretiert worden, ich hätte ein gutes Gehör. Glasfenster, Strebepfeiler, Portale mit Bildsäulen, Choräle, Kreuzigungsgruppen aus Holz oder Stein, Meditationen in Versen oder poetische Harmonien: solche Humanitäten führten uns ohne Umwege dem Göttlichen entgegen. Zumal noch die Naturschönheiten hinzukamen. Der gleiche Atem formte die Werke Gottes und die großen Menschenwerke. Der gleiche Regenbogen leuchtete im Schaum der Wasserfälle und zwischen den Seiten von Flaubert oder im Helldunkel der Rembrandt-Bilder. Es war der Regenbogen des Geistes: der Geist sprach zu Gott von den Menschen, er bezeugte Gott vor den Menschen. In der Schönheit erblickte mein Großvater die fleischliche Gegenwart der Wahrheit und die Quelle der edelsten Aufschwünge. Bei gewissen außerordentlichen Gelegenheiten - wenn ein Gewitter im Gebirge losbrach, wenn Victor Hugo inspiriert war - konnte man die höchste Höhe erreichen, wo das Wahre, das Gute, das Schöne ineinanderflössen. Ich hatte meine Religion gefunden; nichts erschien mir wichtiger als ein Buch; die Bibliothek sah ich als Tempel. Als Enkel eines Priesters lebte ich auf dem Dach der Welt, im sechsten Stock, saß ich auf dem höchsten Ast des Zentralbaumes: den Stamm bildete der Käfig des Aufzuges. Ich betrat den Balkon, warf von oben her einen Blick auf die Passanten, ich grüßte über das Gitter hinweg Lucette Moreau, meine Nachbarin, die so alt war wie ich, die blonde Locken und eine junge Weiblichkeit hatte, so wie ich, ich kehrte zurück in die cella oder in den pronaos, niemals stieg ich in eigener Person hinab: wenn meine Mutter mit mir in den Garten des Luxembourg ging - also täglich -, gewährte ich den Niederungen meine Hüllen, aber mein verklärter Leib verließ nicht seinen Hochsitz, ich glaube, er ist immer noch dort oben. Jeder Mensch hat seinen natürlichen Standort; über die Höhenregionen entscheiden weder Stolz noch Wert: darüber bestimmt die Kindheit. Mein Standort ist ein sechster Stock in Paris mit Aussicht auf die Dächer. Lange Zeit wurde mir in den Tälern das Atmen schwer, die Ebene bedrückte mich: ich schleppte mich dahin auf dem Planeten Mars, die Schwere preßte mich zu Boden; mir genügte dann das kleinste Hügelchen, um wieder fröhlich zu werden: dann war ich wieder in meinem symbolischen sechsten Stock, atmete abermals die dünne Luft der Belletristik, das Universum breitete sich zu meinen Füßen, und jedes Ding begehrte demütig einen Namen. Ihm den Namen zu geben bedeutete gleichzeitig Schöpfung und Besitznahme. Ohne diese Grundillusion hätte ich niemals geschrieben. Heute, am 22. April 1963, korrigiere ich dies Manuskript im zehnten Stock eines Neubaues: durch das offene Fenster sehe ich einen Friedhof, Paris, die Hügel von Saint-Cloud, die blauen. Woraus meine Hartnäckigkeit zu ersehen ist. Trotzdem ist vieles verändert. Hätte ich mir als Kind diesen erhöhten Standpunkt verdienen wollen, so müßte man in meiner Vorliebe für Dachfenster die Auswirkung von Ehrgeiz oder Eitelkeit erblicken, eine Überkompensation meiner kleinen Statur. Keineswegs; es ging gar nicht darum, auf meinen geheiligten Baum zu klettern: ich saß dort bereits, ich weigerte mich, hinabzusteigen: es ging nicht darum, mich oberhalb der Menschen anzusiedeln: ich wollte im reinen Äther leben, unter den luftigen Trugbildern der Dinge. Weit davon entfernt, mich an Luftballons anklammern zu wollen, habe ich mich später mit ganzem Eifer bemüht, nach unten zu gelangen; dazu braucht man Sohlen aus Blei. Mit einigem Glück gelang es mir, manchmal, auf dem Meeresgrund ganz in die Nähe von Tiefseearten zu gelangen, deren Namen ich erfinden mußte. Ein andermal war - 24 -
nichts zu machen; eine unwiderstehliche Leichtigkeit hielt mich an der Oberfläche fest. Schließlich funktionierte mein Höhenmesser nicht mehr, so daß ich bald ein Luftmensch bin, bald ein Froschmensch, oft beides zusammen, wie das in unserem Spiel zu gehen pflegt: ich wohne aus Gewohnheit in der Luft und schnüffle ohne allzuviel Hoffnung am Boden. Trotzdem mußte man mir von den Verfassern sprechen. Mein Großvater machte es taktvoll, ziemlich kühl. Er lehrte mich die Namen dieser erlauchten Männer; dann lernte ich für mich die Liste fehlerlos auswendig, von Hesiod bis Hugo, sie waren die Heiligen und die Propheten. Charles Schweitzer weihte ihnen einen Kult, wie er sagte. Dennoch störten sie ihn; ihre unerwünschte Gegenwart hinderte ihn daran, die Werke des Menschen unmittelbar dem Heiligen Geist zuzuschreiben. Überdies nährte er eine geheime Vorliebe für die Namenlosen, für die Baumeister, die aus Bescheidenheit hinter dem Werk ihrer Kathedralen verschwanden, und für die zahllose Verfasserschaft bei den Volksliedern. Shakespeare war ihm nicht unlieb, weil seine Identität angezweifelt wurde. Auch Homer nicht, aus dem gleichen Grunde. Oder einige andere Autoren, von denen nicht mit Sicherheit feststand, ob sie existiert hatten. Für jene, die nicht willens oder fähig gewesen waren, ihre Lebensspur zu verwischen, fand er Entschuldigungen, vorausgesetzt, daß sie tot waren. Aber seine Zeitgenossen verurteilte er durch die Bank, mit Ausnahme von Anatole France und Courteline, der ihn amüsierte. Voller Stolz genoß Charles Schweitzer die Achtung, die man seinem hohen Alter entgegenbrachte, seiner Bildung, seiner Schönheit, seinen Tugenden; dieser Lutheraner versagte es sich nicht, in sehr biblischer Weise zu denken, der Ewige habe sein Haus gesegnet. Bei Tisch nahm er bisweilen eine Haltung innerer Sammlung an, überschaute aus der Höhe sein Leben und schloß: «Meine Kinder, wie gut ist es doch, wenn man sich nichts vorzuwerfen hat.» Seine Ausbrüche, seine Majestät, sein Stolz und seine Lust am Erhabenen verdeckten eine geistige Schüchternheit, die sich aus seiner Religion herleitete, aus seiner Epoche und seinem Universitätsmilieu. Darum empfand er einen' geheimen Widerwillen gegen die heiligen Ungeheuer in seiner Bibliothek, gegen die Büßer und Gauner, deren Werke er insgeheim für unangemessen hielt. Ich täuschte mich darin: die Kühle, die unter einem offiziellen Enthusiasmus durchdrang, hielt ich für die Strenge eines Richters; sein Priestertum erhob ihn über sie. Jedenfalls, so flüsterte mir der Priester dieses Kultes zu, sei das Genie nur eine geliehene Gabe: man müsse es sich durch große Leiden und durch Prüfungen, die man bescheiden, aber fest durchsteht, verdienen; dann hört man schließlich Stimmen und schreibt unter Diktat. Zwischen der ersten Russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg, fünfzehn Jahre nach Mallarmes Tod, im gleichen Augenblick, da Daniel de Fontanin die entdeckte1, brachte ein Mann des neunzehnten Jahrhunderts seinem Enkel jene Gedanken bei, die unter Louis-Philippe Geltung gehabt hatten. Man behauptet, so erklären sich die bäuerlichen Gewohnheiten: die Väter gehen aufs Feld und lassen die Söhne in den Händen der Großeltern. Ich begann meine Laufbahn mit einem Handikap von achtzig Jahren. Soll ich mich darüber beklagen? Ich weiß es nicht: in unseren bewegten Gesellschaftsordnungen bedeuten die Rückstände bisweilen einen Vorsprung. Jedenfalls warf man mir diesen Knochen vor, und ich bearbeitete ihn so gründlich, daß er durchscheinend wurde. Mein Großvater hatte gehofft, mir insgeheim die Schriftsteller, diese Zwischenträger, zu verekeln. Er erreichte das Gegenteil: ich verwechselte Talent und Verdienst. Diese braven Leute glichen mir: wenn ich ganz artig war, tapfer meine Wehwehchen ertrug, hatte ich Anspruch auf Lorbeeren und Entschädigungen. Das war die Kindheit. Karl Schweitzer zeigte mir andere Kinder, ebenso wohlbewacht wie ich, erprobt, ausgezeichnet, die ihr Leben lang in meinem Alter geblieben waren. Ohne Bruder, ohne Schwester und ohne Kameraden, wie ich war, machte ich sie zu meinen ersten Freunden. Sie hatten geliebt, hatten gelitten, wie es sich 1
Daniel de Fontanin ist eine der Hauptgestalten aus Roger Martin du Gards Romanzyklus «Die Thibäults>. Die sind ein berühmtes Budi André Gides. Sartre spielt an dieser Stelle auf eine Romanepisode der an. (Anm. d. Übers.) - 25 -
gehört, wie die Helden ihrer Romane, und vor allem hatten sie ein gutes Ende genommen; ich dachte an ihre Lebensstürme mit ziemlich heiterer Rührung: wie glücklich mußten sie gewesen sein, diese Jungens, wenn sie sich so recht unglücklich fühlten; dann sagten sie sich: «Welch ein Glück! Jetzt kann ein schönes Gedicht entstehen!» In meinen Augen waren sie nicht tot, jedenfalls nicht ganz tot: sie hatten sich in Bücher verwandelt. Corneille - das war so ein dicker Rötlicher mit Runzeln und einem Lederrücken, der nach Leim roch. Diese ungemütliche und strenge Gestalt mit den schwierigen Wörtern war eckig und stach mich in die Schenkel, wenn ich sie transportierte. Kaum aber hatte ich sie geöffnet, bot sie mir ihre dunklen und sanften Stahlstiche an, als wären es Vertraulichkeiten. Flaubert - das war so ein Kleiner in Leinen, geruchlos, aber mit gelegentlichen Kleisterspuren. Der vielseitige Victor Hugo hauste gleichzeitig auf allen Regalen. Soviel über die Körper; die Seelen hinwiederum geisterten in den Werken: die Buchseiten waren Fenster, durch welche von draußen jemand hereinschaute, das Gesicht gegen das Glas gedrückt, um mich auszuspionieren; ich tat so, als merkte ich nichts, und las weiter, die Augen auf die Wörter konzentriert, aber unter dem Blick des verstorbenen Chateaubriand. Die Unruhe hielt nicht an; die übrige Zeit liebte ich meine Spielgefährten. Es gab nichts, was sie überragt hätte, und ich wunderte mich gar nicht, als man mir erzählte, Kaiser Karl V. habe sich nach Tizians Pinsel gebückt. Nun und weiter? Fürsten sind dazu da. Trotzdem achtete ich sie nicht: warum sollte ich sie loben, bloß weil sie groß waren? Sie taten nur ihre Pflicht. Den anderen nahm ich übel, daß sie klein waren. Kurzum, ich hatte alles falsch verstanden und machte aus der Ausnahme eine Regel: das Menschengeschlecht schrumpfte zusammen zu einem kleinen Komitee, das von gefühlvollen Tieren umgeben war. Vor allem ging mein Großvater zu übel mit ihnen um, als daß ich sie vollständig ernst hätte nehmen können. Seit Victor Hugos Tod las er nicht mehr; wenn er nichts anderes zu tun hatte, las er abermals die bereits gelesenen Bücher. Aber sein Amt war das des Übersetzers. Im Grunde seines Herzens hielt der Verfasser des deutschen Lesebuchs> die Weltliteratur für sein Arbeitsmaterial. Widerwillig ordnete er die Autoren je nach Verdienst ein, aber diese Rangordnung war vordergründig und verbarg nur schlecht seine eigentlichen Vorlieben, die auf reiner Nützlichkeit beruhten: Maupassant eignete sich für deutsche Schüler am besten zu Übersetzungsübungen, Goethe überragte Gottfried Keller um Haupteslänge, denn er war unvergleichlich für Aufsatzthemen. Als echter Humanist hatte mein Großvater wenig Achtung vor Romanen; als Lehrer schätzte er sie hoch: wegen des Wortschatzes. Schließlich ertrug er nur noch ausgewählte Abschnitte aus Büchern, und ich sah einige Jahre später, wie er einen Auszug aus <Madame Bovary> genoß, den Mironneau in eine Anthologie aufgenommen hatte, während Flauberts gesammelte Werke seit zwanzig Jahren darauf warteten, von ihm gelesen zu werden. Ich spürte, daß er von den Toten lebte, was meine Beziehungen zu ihnen einigermaßen erschwerte. Unter dem Vorwand, ihrem Kulte zu dienen, hatte er sie in Ketten gelegt, nahm er sich die Freiheit, sie zu zerstückeln, damit sie sich bequemer von einer Sprache in die andere transportieren ließen. Ich entdeckte gleichzeitig ihre Größe und ihr Elend. Mérimée eignete sich zu seinem Unglück für die Mittelstufe; folglich mußte er ein Doppelleben führen: im vierten Stock des Bücherschrankes war seine eine frische Taube mit hundert Flügeln, aber eingefroren, weil angeboten und systematisch übersehen; kein Blick deflorierte sie jemals. Im untersten Fach hingegen befand sich die gleiche Jungfrau im Gefängnis eines schmutzigen und stinkenden braunen Bändchens; weder die Erzählung selbst noch ihre Sprache waren verändert, aber diesmal gab es deutsche Fußnoten und ein Wörterbuch; außerdem erfuhr ich ein Skandal ohne Beispiel seit der Vergewaltigung Elsaß-Lothringens -, daß diese in Berlin verlegt worden war. Eben dieses Buch steckte mein Großvater zweimal wöchentlich in seine Aktentasche, er hatte es mit Flecken, roten Strichen und Brandwunden bedeckt, und ich konnte es nicht ausstehen: es war ein gedemütigter Mérimée. Ich brauchte ihn bloß zu öffnen, schon starb ich vor Langeweile: jede Silbe bot sich einzeln dem Auge an, so wie sie in - 26 -
den Unterrichtsstunden meines Großvaters einzeln aus seinem Munde kam. Da sie in Deutschland gedruckt worden waren, um von Deutschen gelesen zu werden, waren diese bekannten, aber unkenntlich gewordenen Zeichen eigentlich nur eine Nachäffung der französischen Wörter. Es handelte sich wieder um eine Spionagegeschichte: hätte man nur ein bißchen gekratzt, so wären sogleich unter der gallischen Verkleidung die deutschen Vokabeln als Spitzel hervorgekrochen. Schließlich fragte ich mich, ob es nicht zwei Colombas gäbe, eine wild und wahr, die andere falsch und didaktisch, gab es doch auch zwei Isolden. Die Drangsale, die meinen kleinen Spielgefährten widerfuhren, bewiesen mir, daß ich ihnen gleichgestellt war. Ich besaß weder ihr Talent noch ihr Verdienst, ich war noch nicht entschlossen, selbst zu schreiben; allein da ich der Enkel eines Priesters war, hatte die Geburt mich über sie erhoben; zweifellos war ich berufen: durchaus nicht zu ihrem stets etwas skandalumwitterten Märtyrertum, aber zu irgendeinem Priestertum. Ich würde auch einmal eine Schildwache der Kultur werden wie Charles Schweitzer. Und ich war außerdem lebendig und sehr tätig: ich konnte die Toten zwar noch nicht zersäbeln, aber ich stellte sie in den Dienst meiner Launen: ich nahm sie in die Arme, trug sie, legte sie auf den Fußboden, öffnete sie, machte sie wieder zu, zog sie aus dem Nichts und trieb sie zurück ins Nichts: sie waren meine Puppen, meine Gliedermänner, und ich hatte Mitleid mit ihrem jämmerlichen und gelähmten Überleben, das man als ihre Unsterblichkeit bezeichnete. Mein Großvater bestärkte mich in diesen Vertraulichkeiten: alle Kinder sind inspiriert, sie stehen den Dichtern nicht nach, denn auch die Dichter sind schließlich ganz einfach Kinder. Ich war restlos begeistert von Courteline und lief der Köchin bis in die Küche nach, um ihr laut vorzulesen, wie Theodor die Streichhölzer sucht. Man amüsierte sich über mein Entzücken, förderte es sogar ganz bewußt, machte daraus eine öffentliche Leidenschaft. Eines schönen Tages sagte mein Großvater so beiläufig: «Courteline ist sicher ein netter Kerl. Wenn du ihn so liebst, warum schreibst du ihm dann nicht einmal?» Ich schrieb. Charles Schweitzer lenkte meine Feder und beschloß, einige Rechtschreibungsfehler im Brief stehenzulassen. Vor einigen Jahren haben die Zeitungen diesen Brief abgedruckt, und ich habe ihn ziemlich ärgerlich wiedergelesen. Ich schloß mit den Worten «Ihr künftiger Freund», was mir durchaus natürlich vorkam, war ich doch auch der Vertraute von Baudelaire und Corneille; wie hätte es also einem lebenden Schriftsteller einfallen sollen, meine Freundschaft abzulehnen? Courteline lehnte sie trotzdem ab und tat recht daran: hätte er dem Enkel geantwortet, er wäre auf den Großvater gestoßen. Damals aber urteilten wir streng über sein Stillschweigen. «Ich gebe zu», sagte Charles, «daß er viel zu tun hat, aber einem Kind muß man antworten, und wenn es mit dem Teufel zuginge.» Auch heute noch leide ich an derselben Unsitte, an der Vertraulichkeit. Ich mache mit den erlauchten Toten wenig Umstände; über Baudelaire und Flaubert äußere ich mich ohne Umschweife, und wenn man es mir vorwirft, möchte ich am liebsten antworten: «Mischt euch nicht in unsere Angelegenheiten. Eure Genies haben mir gehört, ich habe sie in meinen Händen gehalten und leidenschaftlich geliebt, in aller Respektlosigkeit. Soll ich mir etwa Handschuhe anziehen, wenn ich mit ihnen verkehre?» Aber Karls Humanismus, diesen Humanismus eines Prälaten, habe ich an jenem Tage von mir abgetan, als ich begriff, daß jeder Mensch die Menschheit bedeutet. Wie traurig sind solche Genesungen: die Sprache ist ermattet; die Helden der Feder, meine einstigen Ranggenossen, wurden ihrer Privilegien beraubt und sind in Reih und Glied zurückgekehrt: zweimal trage ich um sie Trauer. Was ich soeben geschrieben habe, ist falsch. Ist richtig. Ist weder falsch noch richtig, wie alles, was man über diese Verrückten schreibt, über die Menschen. Ich habe die Tatsachen so genau mitgeteilt, wie mein Gedächtnis es zuließ. Aber wie weit glaubte ich eigentlich an mein Delirium? Dies ist die Grundfrage, und dennoch kann ich sie nicht entscheiden. In der Folge habe ich gesehen, daß wir unsere Empfindungen ganz und gar nachempfinden können, mit Ausnahme ihrer Stärke, also ihrer Aufrichtigkeit. Die Handlungen selbst helfen uns dabei nicht weiter, außer wenn man beweisen kann, daß sie mehr waren als Gesten, was nicht - 27 -
immer leicht ist. Sehen Sie doch einmal: ich war allein inmitten der Erwachsenen, ich war die Miniatur eines Erwachsenen, und ich las Erwachsenenbücher; bereits dieser Satz klingt falsch, denn gleichzeitig blieb ich ein Kind. Ich behaupte nicht, schuldig gewesen zu sein: so war es nun einmal; aber meine Expeditionen und Jagden gehörten zu dem Familienschauspiel, an dem man sich entzückte, wie mir bewußt war: jawohl, wie mir bewußt war. Jeden Tag weckte ein Wunderkind die Zauberbücher zu neuem Leben, die sein Großvater nicht mehr las. Ich lebte über mein Alter, wie man über seine Verhältnisse lebt. Mit Eifer, mit Anstrengung, auf kostspielige Weise, für die Schau. Kaum hatte ich die Tür zur Bibliothek aufgemacht, fand ich mich im Bauch eines untätigen Greises: der große Schreibtisch, die Schreibunterlage, die Tintenflecken, rote und schwarze, das rosa Löschblatt, das Lineal, der Kleistertopf, der durchdringende Tabaksgeruch und im Winter die rötliche Glut des Dauerbrandofens, das Knacken des Glimmers, das alles war Karl in Person, in verdinglichter Form: mehr brauchte ich nicht, um mich in den Zustand der Gnade zu versetzen, ich eilte zu den Büchern. In aller Aufrichtigkeit? Was heißt das? Wie wäre es möglich - besonders nach so vielen Jahren -, die ungreifbare und bewegliche Grenze zu fixieren, die zwischen Besessenheit und Getue verläuft? Ich legte mich auf den Bauch, mit dem Gesicht zum Fenster, ein offenes Buch vor mir, ein Glas mit gerötetem Wasser rechts von mir, links von mir ein Butterbrot mit Konfitüre auf einem Teller. Sogar in der Einsamkeit repräsentierte ich: Anne-Marie und Karlundmami hatten diese Seiten lange vor meiner Geburt umgeblättert, ihr Wissen bot sich jetzt meinen Augen dar; abends fragte man mich: «Was hast du gelesen? Was hast du verstanden?» Das wußte ich im voraus, ich befand mich im Kindbett, ich würde ein Wort aus Kindermund zur Welt bringen; entlief man den Erwachsenen mit Hilfe der Lektüre, so kam man dadurch erst recht mit ihnen in Verbindung; auch wenn sie nicht anwesend waren, drang ihr künftiger Blick durch den Hinterkopf in mich ein, kam durch die Pupillen wieder heraus und fegte am Boden weg über die hundertmal gelesenen Sätze, die ich zum erstenmal las. Da ich gesehen wurde, sah ich mich: ich sah mich lesen, wie man sich reden hört. Hatte ich mich eigentlich sehr verändert seit den Tagen, da ich so tat, als entzifferte ich den , noch bevor ich das Alphabet kannte? Nein, das Spiel ging weiter. Hinter mir öffnete sich die Tür, man wollte sehen, «was ich trieb»: Ich mogelte, sprang rasch auf, stellte Musset wieder an seinen Platz, hob mich sofort auf die Zehenspitzen, um mit ausgestreckten Armen den gewichtigen Corneille herunterzuholen; man bemaß meine Leidenschaft nach der Anstrengung, hinter mir hörte ich eine begeisterte Stimme flüstern: «Aber er liebt Corneille wirklich!» Ich liebte ihn nicht: die Alexandrinerverse stießen mich ab. Glücklicherweise hatte der Verleger den vollständigen Text nur bei den berühmtesten Tragödien Corneilles abgedruckt; von den anderen gab er außer dem Titel bloß eine Handlungsanalyse, und die interessierte mich: «Rodelinde, Gattin des Pertharites, des Königs der Lombarden, der von Grimoald besiegt wurde, wird von Unulphe gedrängt, ihre Hand dem fremden Fürsten zu geben...» Ich kannte Rodogune, Théodore, Agésilas früher als den Cid, früher als Cinna; ich hatte den Mund voll tönender Namen, das Herz voll erhabener Gefühle und war darauf bedacht, die Verwandtschaftsbeziehungen nicht durcheinanderzubringen. Man sagte auch: «Der Kleine will sich unbedingt bilden; er verschlingt den Larousse», und ich ließ sie reden. Aber ich bildete mich durchaus nicht: ich hatte entdeckt, daß es im Lexikon kurze Zusammenfassungen von Theaterstücken und Romanen gab; an denen ergötzte ich mich. Ich wollte gefallen, und ich wollte Kulturbäder nehmen; jeder Tag begann mit neuer Heiligung. Sie wurde manchmal ziemlich nachlässig vorgenommen: es genügte, daß ich mich auf den Boden legte und die Seiten umblätterte; die Werke meiner kleinen Freunde dienten mir häufig als Gebetsmühlen. Gleichzeitig aber kam es vor, daß ich wirkliche Angst und Freude empfand. Dann vergaß ich meine Rolle und wurde plötzlich von dem riesigen Walfisch, der kein anderer war als die Welt, davongetragen. Bitte schließen Sie daraus, was Sie wollen! Auf alle Fälle bearbeitete mein Blick die Wörter: man mußte sie versuchen, ihren Sinn bestimmen; mit der Zeit wurde ich durch diese Kulturkomödie kultiviert. - 28 -
Trotzdem las ich auch richtig: außerhalb des Sanktuariums, in unserem Zimmer oder unter dem Tisch im Eßzimmer; von diesem richtigen Lesen redete ich zu niemand, und niemand, außer meiner Mutter, redete darüber mit mir. Anne-Marie hatte meine gespielten Leidenschaften ernst genommen. Sie wurde unruhig und sprach darüber mit ihrer Mutter. Meine Großmutter war eine zuverlässige Verbündete und sagte: «Charles ist unvernünftig. Er drängt den Kleinen, ich habe es gesehen. Wenn es so weitergeht, wird das Kind ganz austrocknen.» Die beiden Frauen brachten auch die Überanstrengung und die Gefahr einer Gehirnhautentzündung ins Spiel. Es wäre gefährlich und müßig gewesen, meinen Großvater unmittelbar anzugreifen: sie versuchten es auf Umwegen. Bei einem unserer Spaziergänge blieb Anne-Marie wie zufällig vor dem Zeitungskiosk stehen, der sich auch heute noch an der Ecke des Boulevard Saint-Michel und der rue Soufflot befindet: ich sah wunderbare Bilder, war fasziniert von ihren schreienden Farben, wollte sie haben, bekam sie; der Streich war geglückt: nun verlangte ich jede Woche nach oder den von Jean de la Hire oder nach der <Weltreise im Aeroplan> von Arnould Galopin, von denen jeden Donnerstag Fortsetzungsheftchen zu erscheinen pflegten. Von Donnerstag zu Donnerstag dachte ich an den Adler der Anden, an Marcel Dunot, den Boxer mit den Eisenfäusten, und den Flieger Christian weit mehr als an meine Freunde Rabelais und Vigny. Meine Mutter machte sich auf die Suche nach Büchern, die mir meine Kindheit wiedergeben sollten: da waren zuerst die Büchlein der , monatlich erscheinende Feenmärchen, dann aber nach und nach , von Dickens und die . Lieber als den allzu abgewogenen Jules Verne hatte ich die Extravaganzen eines Paul d'Ivoi. Aber ohne Rücksicht auf den Verfasser liebte ich alle Bücher der Sammlung Hetzel, kleine Theaterstücke, deren roter Umschlag mit Goldquaste einen Theatervorhang darstellte. Der Goldstaub unten am Rand bedeutete die Rampe. Diesen Zauberbüchsen - und nicht den ausgeglichenen Sätzen eines Chateaubriand - verdanke ich meine ersten Begegnungen mit der Schönheit. Wenn ich sie öffnete, vergaß ich alles: war das Lesen? Nein, sondern Sterben in Ekstase. Aus meiner Selbstvernichtung entsprangen sogleich Eingeborene mit Wurfspießen, Urwälder, Entdecker mit weißen Helmen. Ich war Vision, ich überschwemmte mit Licht die schönen dunklen Wangen der Aouda und den Backenbart des Phileas Fogg. Das kleine Wunderkind war endlich von sich selbst befreit und wurde zur reinen Bewunderung. Fünfzig Zentimeter über dem Fußboden entstand ein vollkommenes Glück ohne Herr und Halsband. Die Neue Welt erschien zuerst beunruhigender als die Alte: hier wurde geplündert, hier wurde getötet, das Blut floß in Strömen. Indianer, Hindus, Mohikaner, Hottentotten raubten das junge Mädchen, fesselten seinen alten Vater und drohten ihm den schrecklichsten Martertod an. Es war das Böse in reiner Form. Aber es trat nur auf, um sich schließlich dem Guten zu unterwerfen: im nächsten Kapitel kam alles wieder in Ordnung. Tapfere Weiße richteten ein Blutbad unter den Wilden an, zerschnitten die Fesseln des Vaters, der sich in die Arme seiner Tochter warf. Nur die Bösen starben - und einige sehr untergeordnete Gute, deren Tod zu den Unkosten der Geschichte gehörte. Übrigens war der Tod selbst keimfrei geworden, man starb mit ausgebreiteten Armen, mit einem kleinen runden Loch unter der linken Brust, oder wenn das Gewehr noch nicht erfunden war, so bekamen die Schuldigen «die Spitze des Säbels zu spüren». Ich liebte diesen hübschen Ausdruck: ich stellte mir die Klinge vor, einen geraden und weißen Blitz; sie drang ein wie in Butter und trat am Rücken des Gesetzesbrechers wieder heraus, der zusammenbrach, ohne einen Blutstropfen zu verlieren. Manchmal war das Sterben sogar lustig, wie bei jenem Sarazenen in der Geschichte von - glaube ich - , der sich zu Pferd einem Kreuzfahrer entgegenwirft. Der Paladin trifft seinen Kopf mit einem kräftigen Säbelhieb und spaltet ihn von oben bis unten; eine Illustration von Gustave Doré stellte diesen Vorgang dar. Wie lustig! Die beiden getrennten Körperhälften fielen herunter, beschrieben jede einen schönen Halbkreis um den Steigbügel; das erstaunte Pferd bäumte sich auf. Jahrelang konnte ich die Abbildung nicht anschauen, ohne furchtbar zu - 29 -
lachen. Endlich hatte ich, was ich brauchte: den hassenswerten Feind, der aber im Grunde ungefährlich war, da seine Pläne scheiterten und sogar trotz seiner Anstrengungen und seiner teuflischen List der Sache des Guten zu dienen hatten; ich stellte fest, daß in der Tat die Rückkehr zur Ordnung stets von einem Fortschritt begleitet war. Die Helden wurden belohnt, erhielten Ehrungen, bewundernde Anerkennung, Geld; dank ihrer Unerschrockenheit hatten sie ein Territorium erobert oder den Eingeborenen ein Kunstwerk abgenommen, das nun zu uns ins Museum wanderte; das junge Mädchen verliebte sich in den Entdecker, der ihm das Leben gerettet hatte, alles endete mit einer Hochzeit. Aus diesen Magazinen und Büchern habe ich meine intimste Phantasmagorie geschöpft: den Optimismus. Diese Lektüre blieb lange Zeit geheim. Anne-Marie brauchte mich gar nicht erst darauf hinzuweisen; ich wußte, daß sie unwürdig war, und sagte kein Sterbenswörtchen darüber zu meinem Großvater. Ich wurde ordinär, ich nahm mir Freiheiten heraus, ich brachte Ferien im Freudenhaus zu, vergaß aber nicht, daß meine Wahrheit im Tempel geblieben war. Warum sollte man dem Priester durch den Bericht über meine Verirrungen Entsetzen bereiten? Karl ertappte mich schließlich; er wurde wütend über die beiden Frauen, und die benutzten eine Atempause, um alles auf mich zu schieben: ich hatte die Magazine und Abenteuerromane gesehen, begehrt, haben wollen; man konnte mir das nicht abschlagen. Die geschickte Lüge trieb meinen Großvater in die Enge: ich also, ich allein, betrog Colomba mit diesem geschminkten Lumpenpack. Ich, das prophetische Kind, die junge Wahrsagerin, das Glanzstück der Belletristik - ich bewies eine schreckliche Neigung für das Verächtliche. Jetzt mußte er sich entscheiden: entweder war erwiesen, daß ich kein Prophet war - oder man mußte meinen Geschmack respektieren, ohne ihn begreifen zu können. Als mein Vater hätte Charles Schweitzer all meine Bücher ins Feuer geworfen; als mein Großvater entschloß er sich zu betrübter Milde. Mehr wollte ich gar nicht und setzte friedlich mein Doppelleben fort. Es hat niemals aufgehört: auch heute noch lese ich lieber Kriminalromane als Wittgenstein. Auf meiner Luftinsel war ich der Erste, der Unvergleichliche. Ich fiel zurück in die letzte Reihe, als man mich den allgemeinen Regeln unterwarf. Mein Großvater hatte beschlossen, mich im Lycée Montaigne anzumelden. Eines Morgens nahm er mich mit zum Schuldirektor und lobte vor ihm meine Verdienste: mein einziger Fehler bestehe darin, für mein Alter zu fortgeschritten zu sein. Der Direktor war mit allem einverstanden; man nahm mich in die achte Klasse auf, und ich konnte glauben, nun die Kinder meines Alters anzutreffen. Aber nein: nach dem ersten Diktat wurde mein Großvater in aller Eile zur Schulverwaltung gebeten; er kam wütend zurück, zog aus seiner Tasche ein elendes Blatt Papier, das mit Kritzeleien und Klecksen bedeckt war und warf es auf den Tisch: es war der Text, den ich abgeliefert hatte. Man hatte meinem Großvater die Rechtschreibungsfehler vorgeführt - Le lapen çovache ême le ten, hatte ich geschrieben, statt Le lapin sauvage aime le thym - und ihm klarzumachen versucht, mein Platz sei in der zehnten Vorbereitungsklasse. Als sie lapen çovache las, bekam meine Mutter einen Lachanfall; ein schrecklicher Blick meines Großvaters ließ sie verstummen. Er begann damit, daß er mir Böswilligkeit vorwarf und mich zum erstenmal in meinem Leben ausschimpfte. Dann aber erklärte er, man habe mich verkannt; am nächsten Morgen meldete er mich bei der Schule ab und überwarf sich mit dem Direktor. Ich hatte von der ganzen Geschichte nichts verstanden, und mein Scheitern hatte mich nicht berührt: ich war ein Wunderkind, das keine Rechtschreibung konnte, das war alles. Und außerdem kehrte ich gern in meine Einsamkeit zurück. Ich liebte meine Untat. Ohne daß ich es bemerkt hatte, war die Gelegenheit an mir vorübergegangen, wahr zu werden: ein Pariser Lehrer, Monsieur Liévin, erhielt den Auftrag, mir Privatstunden zu geben; er kam fast jeden Tag. Mein Großvater hatte mir einen kleinen, persönlichen Schreibtisch gekauft, der aus einer Bank und einem Pult aus weißem Holz bestand. Ich setzte mich auf die Bank, und Monsieur Liévin ging diktierend auf und ab. Er glich Vincent Auriol, und mein Großvater behauptete, er - 30 -
sei ein Freimaurer hohen Ranges. «Wenn ich ihm guten Tag sage», erklärte er uns mit dem furchtsamen Widerwillen eines anständigen Mannes, dem ein Päderast nachstellt, «zieht er mit seinem Daumen das Dreieck der Freimaurer in meiner Handfläche nach.» Ich konnte ihn nicht ausstehen, weil er mich zu hätscheln unterließ: ich glaube, er hielt mich nicht ohne Grund für ein zurückgebliebenes Kind. Er verschwand, ich weiß nicht mehr warum: vielleicht hatte er vor irgend jemand seine Meinung über mich geäußert. Wir brachten einige Zeit in Arcachon zu, und ich ging in die Gemeindeschule: das verlangten die demokratischen Grundsätze meines Großvaters. Aber er wollte gleichzeitig, daß man mich fernhielt von der vulgären Menge. Dem Lehrer empfahl er mich mit folgenden Worten: «Mein lieber Kollege, Ihnen vertraue ich mein teuerstes Gut an.» Monsieur Barrault trug einen Knebelbart und einen Kneifer; er trank Muskatellerwein in unserer Villa und zeigte sich geschmeichelt über das Vertrauen, das ihm ein Oberschulprofessor entgegenbrachte. Er setzte mich an ein besonderes Pult neben dem Katheder und behielt mich in den Pausen bei sich. Diese Sonderbehandlung empfand ich als berechtigt; was die mir1 gleichgestellten «Söhne des Volkes» darüber dachten, weiß ich nicht: ich glaube, es war ihnen wurst. Mich hingegen ermüdete ihr lärmendes Treiben, und ich fand es vornehm, mich bei Monsieur Barrault zu langweilen, während sie ihre Kriegsspiele vollführten. Ich hatte zwei Gründe, meinen Lehrer zu achten: er war wohlwollend, und er hatte einen übelriechenden Atem. Die Erwachsenen müssen häßlich, runzelig, unbequem sein; schlössen sie mich in ihre Arme, so war es mir nicht unangenehm, wenn ich dabei einen leisen Ekel zu überwinden hatte: er war der Beweis dafür, daß Tugend nicht leicht ist. Es gab einfache, triviale Freuden: laufen, springen, Kuchen essen, die sanfte und parfümierte Haut meiner Mutter küssen; aber höher schätzte ich das anstrengende und gemischte Vergnügen, das ich in der Gesellschaft älterer Männer empfand. Der Widerwillen, den sie mir einflößten, gehörte zu ihrem Prestige: ich verwechselte Ekel mit Ernsthaftigkeit. Ich war ein Snob. Wenn sich Monsieur Barrault über mich beugte, flößte mir sein Atem einen entzückenden Widerwillen ein, eifrig atmete ich den unangenehmen Geruch seiner Tugenden. Eines Tages entdeckte ich eine ganz frische Aufschrift an der Schulmauer, trat näher und las: «Der alte Barrault ist ein Arschloch.» Mein Herz schlug zum Zerreißen, das Entsetzen hielt mich an der Stelle fest, ich hatte Angst. «Arschloch», das konnte nur eins dieser «häßlichen Wörter» sein, die in der Unterwelt des Wortschatzes wimmeln und die ein guterzogenes Kind niemals kennenlernt; kurz und brutal, hatte es die grauenhafte Einfachheit von Urtieren. Es war schon zuviel, daß ich es gelesen hatte: ich untersagte mir, es auszusprechen, auch nicht ganz leise. Dieser Käfer an der Mauer sollte mir nicht in den Mund springen, um sich dann in meiner Kehle in ein schwarzes Geschmetter zu verwandeln. Wenn ich so tat, als hätte ich ihn nicht bemerkt, kehrte er vielleicht durch ein Loch in die Wand zurück. Aber als ich meinen Blick abwandte, blieb er an der infamen Bezeichnung hängen: der alte Barrault. Sie erschreckte mich noch mehr. Die Bedeutung des Wortes Arschloch vermochte ich zu ahnen, aber ich wußte sehr gut, wen man in meiner Familie als «der alte Soundso» zu bezeichnen pflegte: Gärtner, Briefträger, den Vater des Dienstmädchens, kurz gesagt, die armen alten Leute. Jemand sah also in Monsieur Barrault, dem Lehrer, dem Kollegen meines Großvaters, einen armen alten Mann. Irgendwo in einem Kopf hauste dieser kranke, verbrecherische Gedanke. In wessen Kopf? Vielleicht in meinem Kopf. Genügte es nicht, die blasphemische Inschrift gelesen zu haben, um mitschuldig zu sein an einem Sakrileg? Es schien mir gleichzeitig, daß sich ein grausamer Narr über meine Höflichkeit lustig machte, über meine Ehrfurcht, meinen Eifer, über die Freude, die ich jeden Morgen empfand, wenn ich meine Mütze zog und «Guten Morgen, Herr Lehrer» sagte - und daß ich selbst dieser Narr war, daß sich die häßlichen Wörter und die häßlichen Gedanken in meinem Herzen Umtrieben. Was hinderte mich beispielsweise daran, aus voller Kehle zu rufen: «Der alte Drecksack stinkt wie ein Schwein!» Ich murmelte: «Der alte Barrault stinkt», und alles begann sich zu drehen. Weinend lief ich weg. Am nächsten Morgen fand ich meinen Respekt wieder für Monsieur Barrault, für seinen - 31 -
Zelluloidkragen, seine Schmetterlingsschleife. Aber wenn er sich über mein Heft beugte, drehte ich den Kopf weg und hielt den Atem an. Als der Herbst kam, beschloß meine Mutter, mich ins Institut Poupon zu bringen. Man stieg eine Holztreppe hinauf und kam in einen Saal im ersten Stock; die Kinder hatten sich dort in einem schweigenden Halbkreis angeordnet; im Hintergrund des Zimmers saßen die Mütter, aufrecht und mit dem Rücken zur Wand, und überwachten die Lehrerin. Die oberste Pflicht der armen Mädchen, die uns Unterricht gaben, bestand darin, die Lobsprüche und guten Noten gleichmäßig unter die Mitglieder unserer Akademie von Wunderkindern zu verteilen. Wenn eine dieser Lehrerinnen ein bißchen ungeduldig wurde oder sich allzu befriedigt zeigte über eine gute Antwort, verloren die Damen Poupon einige Schüler, und die Lehrerin verlor ihre Stelle. Wir waren gut und gern dreißig Akademiemitglieder, die niemals Zeit hatten, miteinander zu reden. Nach Schulschluß griff jede Mutter wild nach ihrem Wunderkind und schleifte es grußlos und im Galopp davon. Schon nach einem Semester nahm mich meine Mutter fort: dort wurde fast gar nicht gearbeitet, und außerdem war sie es schließlich leid geworden, die Blicke ihrer Nachbarinnen zu ertragen, wenn ich an der Reihe war, belobigt zu werden. Mademoiselle Marie-Louise, ein blondes junges Mädchen mit Kneifer, die acht Stunden täglich bei den Damen Poupon für ein Hungergehalt unterrichtete, zeigte sich bereit, mir Privatstunden zu Hause zu geben, hinter dem Rücken ihrer Institutsleiterinnen. Beim Diktat unterbrach sie manchmal, um sich das Herz unter schweren Seufzern zu erleichtern: sie sagte mir, sie sei sterbensmüde, sie lebe in schrecklicher Einsamkeit, sie würde alles darum geben, geheiratet zu werden, ganz gleich, von wem. Schließlich verschwand auch sie; man behauptete, sie bringe mir nichts bei, aber ich glaube, es lag hauptsächlich daran, daß mein Großvater sie als peinlich empfand. Dieser Gerechte war willens, das Los der Elenden zu erleichtern, aber es mißfiel ihm, sie in sein Haus einzulassen. Es war hohe Zeit: Mademoiselle Marie-Louise demoralisierte mich. Ich hatte geglaubt, die Löhne entsprächen dem Verdienst, und man hatte mir gesagt, sie habe Verdienste aufzuweisen: warum also wurde sie schlecht bezahlt? Wenn man einen Beruf ausübte, war man würdig und stolz und glücklich über die Arbeit. Da sie das Glück hatte, acht Stunden täglich zu arbeiten, brauchte sie doch nicht von ihrem Leben wie einem unheilbaren Leiden zu sprechen? Als ich von ihren Klagen erzählte, lachte mein Großvater: sie war viel zu häßlich, um geheiratet zu werden. Ich lachte nicht: man konnte also von Geburt her verurteilt sein? Dann allerdings hatte man mich belogen; dann versteckte sich eine unerträgliche Unordnung hinter der Weltordnung. Mein Unbehagen schwand, sobald man Mademoiselle Marie-Louise entfernt hatte. Charles Schweitzer fand für mich angemessenere Lehrer. So angemessene, daß ich sie alle vergessen habe. Bis zum Alter von zehn Jahren blieb ich allein zwischen einem Greis und zwei Frauen. Meine Wahrheit, meinen Charakter und meinen Namen hatten die Erwachsenen in der Hand; ich hatte gelernt, mich mit ihren Augen zu sehen; ich war ein Kind, ein Monstrum, das sie mit Hilfe ihrer eigenen Sorgen fabrizierten. Waren sie nicht da, so hinterließen sie ihren Blick, der eins wurde mit dem Licht; ich lief und hüpfte herum unter diesem Blick, der mir meine Natur eines vorbildlichen Enkels aufzwang, der mir meine Spielsachen und das Universum schenkte. In meiner hübschen Glaskugel, meiner Seele, zogen meine Gedanken höchst übersichtlich ihre Bahn: da gab es kein schattiges Eckchen. Jedoch: ohne daß ein Wort gesprochen wurde, formlos und undicht, verborgen hinter jener unschuldigen Transparenz, machte eine transparente Gewißheit alles zunichte: ich war ein Schwindler. Wie soll man Theater spielen, wenn man nicht weiß, daß man Theater spielt? Der klare und sonnige Anschein, der meine Persönlichkeit komponiert hatte, verriet sich selbst: durch einen Fehler im Sein, den ich weder richtig verstand noch jemals zu vergessen vermochte. Ich ging zu den Erwachsenen, ich verlangte von ihnen, sie sollten meine Verdienste garantieren: dadurch geriet ich nur tiefer ins Schwindeln. Da ich dazu verurteilt war, Wohlgefallen zu erregen, spielte ich eine Grazie, die - 32 -
auf der Stelle verwelkte; überall schleppte ich meine falsche Herzlichkeit, meine müßige Wichtigtuerei mit mir herum, stets auf der Lauer nach einer neuen Chance. Ich glaubte sie erwischt zu haben, warf mich in eine Attitüde - und fand abermals die Substanzlosigkeit, der ich entrinnen wollte. Mein Großvater schlief, in sein Plaid gewickelt; unter seinem struppigen Bart entdeckte ich die rosige Nacktheit seiner Lippen, es war unerträglich: glücklicherweise fiel seine Brille herunter, ich stürzte hin, um sie aufzuheben. Er wachte auf, hob mich hoch, wir spielten abermals unsere große Liebesszene; aber es war nicht mehr das, was ich gewollt hatte. Was hatte ich gewollt? Ich vergaß alles, ich nistete mich ein im Gestrüpp seines Bartes. Ich kam in die Küche und erklärte, ich wolle den Salat umschwenken; großes Geschrei, helles Gelächter: «Nein, Liebling, so nicht! Du mußt mit deiner kleinen Hand ganz festhalten: so ist es richtig! Marie, helfen Sie ihm doch! Aber er macht es prächtig.» Ich war ein unechtes Kind, ich hielt eine unechte Salatschüssel; ich spürte, wie sich meine Handlungen in Gebärden verwandelten. Das Theater entzog mich der Welt und den Menschen: ich sah bloß Rollen und Versatzstücke; da ich als Clown an den Unternehmungen der Erwachsenen teilnahm, konnte ich doch ihre Sorgen nicht ernst nehmen. Ich diente voll tugendhaften Eifers ihren Plänen, ohne ihre Ziele zu teilen. Da mir die Bedürfnisse, die Hoffnungen, die Vergnügungen der Menschengattung fremd waren, vergeudete ich mich kalten Herzens, um sie zu bezaubern; sie war mein Publikum, die Rampenlichter trennten mich von ihr und verwiesen mich in ein stolzes Exil, das sich rasch in Angst verwandelte. Das schlimmste war, daß ich die Erwachsenen im Verdacht hatte, ihrerseits zu heucheln. Die Wörter, mit denen sie mich anredeten, waren Bonbons: unter sich sprachen sie ganz anders. Und dann kam es bei ihnen gelegentlich vor, daß sie die geheiligten Verträge brachen: ich schmollte in meiner niedlichsten und wirkungsvollsten Weise, und man sagte mir mit echter Stimme: «Geh und spiel draußen, Kleiner, wir unterhalten uns.» Bei anderen Gelegenheiten hatte ich das Empfinden, man benutze mich als Mittel. Meine Mutter ging mit mir in den Luxembourg-Garten, plötzlich tauchte Onkel Emile auf, der mit der ganzen Familie zerfallen war; mürrisch sah er seine Schwester an und sagte unfreundlich: «Ich bin nicht deinetwegen gekommen. Ich wollte den Kleinen sehen.» Worauf er erklärte, ich allein in der ganzen Familie sei unschuldig, ich allein hätte ihn niemals bewußt beleidigt oder auf Grund falscher Behauptungen verurteilt. Ich lächelte und war geniert durch meine Macht und durch die Liebe, die ich im Herzen dieses düsteren Mannes entzündet hatte. Aber Bruder und Schwester waren schon dabei, ihre Angelegenheiten zu erörtern und sich gegenseitig Vorwürfe zu machen; Emile schimpfte über Charles, den Anne-Marie verteidigte, wenngleich nicht ohne Vorbehalte; dann sprachen sie über Louise, ich stand zwischen ihren eisernen Gartensrühlen und war vergessen. Ich war dazu vorgebildet - wäre ich nur alt genug gewesen, sie zu verstehen -, alle rechtsgerichteten Lebensregeln anzuerkennen, die mir ein linksgerichteter alter Mann durch sein Verhalten beibrachte: daß die Wahrheit und die Fiktion ein und dasselbe bedeuten, daß man die Leidenschaft spielen muß, um sie zu empfinden, daß der Mensch ein Wesen ist, das mit Hilfe von Zeremonien lebt. Man hatte mir beigebracht, wir seien auf der Welt, um voreinander Theater zu spielen; mit dem Theater war ich einverstanden, verlangte jedoch, dabei die Hauptrolle zu spielen. Allein in blitzartigen Augenblicken, die mich niederschmetterten, entdeckte ich, daß ich eine «unechte Hauptrolle» spielte. Ich hatte zwar viel Text, auch viele Auftritte, aber keine eigene große Szene; mit einem Wort: ich war nur der Stichwortgeber für die Erwachsenen. Charles schmeichelte mir, um sich den Tod zu versüßen; in meiner Lebhaftigkeit erblickte Louise die Rechtfertigung ihrer Übelnehmereien und Anne-Marie die Rechtfertigung ihrer Unterwürfigkeit. Und trotzdem wäre meine Mutter auch ohne mich von ihren Eltern aufgenommen worden, wäre sie mit ihrer Empfindsamkeit hilflos der Mami ausgeliefert gewesen; auch ohne mich hätte Louise übelgenommen, und Charles hätte sich dann für das Matterhorn begeistert, für Meteore und die Kinder anderer Leute. Ich war die zufällige Ursache ihrer Zwistigkeiten und Versöhnungen; die tiefen Ursachen waren anderswo zu finden: in Mâcon, in Günsbach, in - 33 -
Thiviers, in einem verfetteten alten Herzen, in einer Vergangenheit lange vor meiner Geburt. Ich reflektierte für sie die Einheit der Familie und die uralten Gegensätze; sie bedienten sich meiner göttlichen Kindheit, um zu werden, was sie waren. Ich lebte im Unbehagen: im gleichen Augenblick, da ihre Zeremonien mich erkennen ließen, daß nichts ohne Grund existiert und daß jeder, der Größte wie der Kleinste, seinen festen Platz im Universum besitzt, verflüchtigte sich meine eigene Daseinsberechtigung; plötzlich entdeckte ich, daß ich überhaupt nicht mitzählte, und schämte mich meiner aus dem Rahmen fallenden Gegenwart in dieser geordneten Welt. Ein Vater hätte mich mit einigen dauerhaften Zwangsvorstellungen belastet; seine Launen wären für mich zu Grundsätzen geworden, seine Unwissenheit hätte mein Wissen, sein Groll meinen Stolz bedeutet, seine Manien hätten sich für mich in Gesetze verwandelt. Er hätte mich bewohnt. Dieser geachtete Mieter hätte mir Achtung vor mir selbst gegeben. Auf diese Achtung hätte ich meine Daseinsberechtigung gegründet. Mein Erzeuger hätte über meine Zukunft entschieden: von Geburt an wäre ich für die Technische Hochschule bestimmt und damit ein für allemal in Sicherheit gewesen. Aber wenn Jean-Baptiste sich über mein Geschick jemals Gedanken gemacht haben sollte, so hatte er das Geheimnis mit ins Grab genommen; meine Mutter erinnerte sich nur daran, daß er gesagt hatte: «Mein Sohn soll nicht zur Marine gehen.» Mangels genauer Auskünfte wußte niemand, angefangen bei mir selbst, wozu ich mich eigentlich auf der Erde herumtrieb. Hätte mir der Vater ein Vermögen hinterlassen, meine Kindheit wäre anders gewesen: ich wäre nicht Schriftsteller geworden, weil ich ein Anderer gewesen wäre. Felder und ein Haus verleihen dem jungen Erben ein stabiles Bild seiner selbst; wenn er seinen Kies berührt oder die Fensterrauten seiner Veranda, berührt er sich und bildet mit Hilfe ihrer Dinglichkeit die unsterbliche Substanz seiner Seele. Vor einigen Tagen schrie im Restaurant ein kleiner Junge von sieben Jahren, der Sohn des Inhabers, die Kassiererin an: «Wenn mein Vater nicht da ist, bin ich der Chef.» Das ist ein richtiger Mann! Als ich so alt war wie er, war ich niemandes Chef, und nichts gehörte mir. In meinen seltenen Augenblicken der Unbefangenheit flüsterte mir meine Mutter zu: «Sei vorsichtig! Wir sind nicht bei uns zu Hause!» Wir waren niemals bei uns zu Hause: weder in der rue Le Goff noch später, als sich meine Mutter wieder verheiratet hatte. Ich litt nicht darunter, denn man bot mir alles; aber ich blieb abstrakt. Einem Eigentümer spiegeln die Güter dieser Welt das eigene Dasein wider; mich lehrten sie erkennen, was ich nicht war: ich war nicht substantiell und dauerhaft; ich war nicht die künftige Fortsetzung des väterlichen Werks; ich war nicht nötig für die Stahlproduktion. Mit einem Wort: ich hatte keine Seele. Trotzdem wäre alles sehr gut gegangen, hätte ich mich gut mit meinem Körper vertragen. Aber wir beide bildeten ein sonderbares Paar. Ein Kind, das Not leidet, stellt sich keine Fragen: wenn es körperlich von Not und Krankheit betroffen wird, rechtfertigt die nicht zu rechtfertigende Lage seine Existenz. Hunger und dauernde Todesgefahr begründen seine Daseinsberechtigung: es lebt, um nicht zu sterben. Ich hingegen war nicht reich genug, um mich für prädestiniert zu halten, und nicht arm genug, um meine Gelüste für Ansprüche zu halten. Ich erfüllte meine Pflicht zur Nahrungsaufnahme, und Gott gewährte mir manchmal selten - jene Gnade, die es gestattet, ohne Widerwillen zu essen, den Appetit. Ich atmete, verdaute, entleerte mich voller Gleichgültigkeit, ich lebte, weil ich angefangen hatte zu leben. Mein Körper, dieser verhätschelte Gefährte, ließ mich weder Ungestüm noch wilde Begierden kennen: er machte sich bemerkbar durch eine Folge von leichten Unpäßlichkeiten, die von den Erwachsenen sehr ernst genommen Wurden. Zu jener Zeit war eine angesehene Familie es sich schuldig, wenigstens ein Kind von zarter Gesundheit zu haben. Ich war dazu sehr geeignet, denn bei meiner Geburt wäre ich beinahe gestorben. Man beobachtete mich, fühlte mir den Puls, maß meine Temperatur, ließ mich die Zunge herausstrecken. «Findest du nicht, daß er ein bißchen blaß aussieht?» - «Das liegt an der Beleuchtung.» — «Er hat bestimmt abgenommen.» - «Aber Papa, wir haben ihn erst gestern gewogen.» Unter diesen prüfenden Blicken fühlte ich, wie ich ein Gegenstand wurde, eine Topfblume. Schließlich steckte man - 34 -
mich ins Bett. Ich erstickte vor Wärme, kochte langsam unter meinen Bettüchern und verwechselte meinen Körper und sein Unbehagen. Schließlich wußte ich nicht mehr, wer von den beiden eigentlich unerwünscht war. Donnerstags aß Monsieur Simonnot bei uns zu Mittag, ein Mitarbeiter meines Großvaters. Ich beneidete diesen fünfzigjährigen Mann mit den mädchenhaften Backen, der seinen Schnurrbart wichste und seine Haare färbte. Wenn Anne-Marie ihn fragte, um das Gespräch in Gang zu halten, ob er Bach liebe, ob er lieber am Meer oder im Gebirge sei, ob er sich noch gut an seine Heimatstadt erinnern könne, dachte er eine Weile nach und lenkte seinen inneren Blick auf das Granitmassiv seiner Vorlieben. Wenn er die gewünschte Auskunft erhalten hatte, gab er sie an meine Mutter weiter, mit objektiver Stimme, mit einem Neigen des Kopfes. Der glückliche Mann! Er mußte, so dachte ich mir, jeden Morgen voller Jubel aufwachen, um von einem erhabenen Punkt aus seine Berggipfel, Steilwände und Täler kritisch zu betrachten, um sich dann wollüstig zu strecken und zu sagen: «Das bin ich: ich bin ganz und gar Monsieur Simonnot.» Natürlich war ich durchaus in der Lage, wenn man mich fragte, meine Vorlieben bekanntzugeben und sogar zu begründen. In der Einsamkeit jedoch entschlüpften sie mir. Weit davon entfernt, sie zu konstatieren, mußte ich sie halten und stoßen, ihnen Leben einflößen; ich war nicht mehr sicher, ob ich lieber Rinderbraten aß oder Kalbsbraten. Und was hätte ich darum gegeben, daß man in mir eine stürmische Landschaft einbaute, mit Eigenwilligkeiten, so schroff wie Klippen. Wenn Madame Picard, indem sie sich taktvoll des modischen Wortschatzes bediente, von meinem Großvater sagte: «Charles ist ein zauberhaftes Geschöpf», oder auch: «Man kennt die Geschöpfe nicht», fühlte ich mich unwiderruflich verurteilt. Die Kiesel im Luxembourg-Garten, Monsieur Simonnot, die Kasta nienbäume, Karlundmami, das waren Geschöpfe. Ich nicht. Ich hatte weder ihre Unbeweglichkeit noch ihre Undurchdringlichkeit, noch ihre Tiefe. Ich war nichts: eine unaustilgbare Transparenz. Meine Eifersucht war grenzenlos seit dem Tage, da ich erfuhr, daß Monsieur Simonnot, dieses Standbild, dieser monolithische Block, überdies unentbehrlich war innerhalb des Universums. Das war an einem Festtag. Im Fremdsprachen-Institut applaudierten viele Menschen unter den zuckenden Flammen der Auerscnen Gasbeleuchtung. Meine Mutter spielte Chopin; auf Geheiß meines Großvaters sprachen alle Französisch: ein langsames, gutturales Französisch von verwelkter Grazie und mit dem Pomp eines Oratoriums. Ich flog von Hand zu Hand, ohne den Boden zu berühren; ich erstickte am Busen einer deutschen Romanschriftstellerin, als mein Großvater von der Höhe seines Ruhmes herab ein Urteil verkündete, das mich ins Herz traf: «Einer fehlt hier, nämlich Simonnot.» Ich entwand mich den Armen der Romanschriftstellerin, flüchtete in einen Winkel, die Gäste verschwanden vor meinen Augen; im Mittelpunkt eines stürmisch bewegten Kreises sah ich eine Säule: Monsieur Simonnot in eigener Person, abwesend in Fleisch und Blut. Diese wunderbare Abwesenheit verklärte ihn. Dabei war das Institut gar nicht vollzählig versammelt: einige Schüler waren krank, andere hatten abgesagt: aber das waren zufällige und bedeutungslose Vorfälle. Nur Monsieur Simonnot fehlte. Es hatte genügt, in diesem überfüllten Saal seinen Namen zu nennen - und schon war die Leere eingedrungen wie ein Messer. Ich staunte darüber, daß ein Mann einen so festen Platz haben konnte. Sein Platz: ein Nichts, das ausgehöhlt war durch das allgemeine Warten, ein unsichtbarer Bauch, aus dem man offenbar jäh von neuem geboren werden konnte. Wäre er jedoch plötzlich unter stürmischen Ovationen aus dem Erdboden aufgestiegen und hätten sich selbst die Frauen auf seine Hand gestürzt, um sie zu küssen, ich wäre ernüchtert gewesen: die fleischliche Gegenwart ist stets übermäßig. In seiner jungfräulichen Gestalt, reduziert auf die Reinheit einer negativen Essenz, bewahrte er sich die undurchdringliche Transparenz des Diamanten. Da es mein Los war, in jedem Augenblick an einen gewissen Ort der Erde zwischen gewisse Leute gestellt zu werden, und mich dort überflüssig zu wissen, wollte auch ich fehlen wie das Wasser, wie das Brot, wie die Luft: allen - 35 -
anderen Menschen an allen anderen Orten. Dieser Wunsch lag mir jeden Tag von neuem auf der Zunge. Charles Schweitzer verwandelte alles in Notwendigkeiten, um eine Not zu bedecken, die ich zu seinen Lebzeiten niemals richtig verstand und erst heute zu ahnen beginne. Alle seine Kollegen waren Träger des Himmels. Unter diesen zahlreichen Riesen Atlas gab es Grammatiker, Literaturwissenschaftler und Sprachwissenschaftler, es gab Monsieur Lyon-Caen und den Herausgeber der . Er sprach von ihnen in Sentenzenform, damit wir die Bedeutung dieser Männer ermessen könnten: «Lyon-Cäën versteht sein Handwerk. Sein Platz war in der Akademie», oder aber: «Shurer wird alt; hoffentlich ist man nicht so dumm, ihn zu emeritieren: die Fakultät weiß nicht, was sie an ihm verlieren würde.» Da ich also von lauter unersetzlichen Greisesten Daseinszustand in Erinnerung ruft. Als ich sieben Jahre alt war, begegnete ich dem wirklichen Tod, dem mit dem Totenschädel, allenthalben, nur nicht auf den Friedhöfen. Was war er mir? Eine Person und eine Bedrohung. Die Person war verrückt, und mit der Bedrohung verhielt es sich folgendermaßen: überall konnten sich am hellichten Tag schattige Mäuler öffnen, bei strahlendem Sonnenschein, und nach mir schnappen. Es gab eine schauerliche Kehrseite der Dinge, man sah sie, wenn man den Verstand verlor, und sterben bedeutete, daß man den Wahnsinn bis zum Äußersten trieb und darin unterging. Ich lebte im Entsetzen, es war eine authentische Neurose. Suche ich nach der Ursache, so drängt sich dieser Gedanke auf: mir, dem verzogenen Kind, dem Geschenk der Vorsehung, war meine tiefe Nutzlosigkeit um so offensichtlicher, als ich das Familienritual beständig als gußeiserne Notwendigkeit vor Augen hatte. Ich fühlte mich überzählig, also galt es zu verschwinden. Ich war eine fade Körperlichkeit, die sich beständig im Zustand des Vergehens befand. Anders ausgedrückt: ich war verurteilt, und das Urteil konnte jeden Augenblick vollstreckt werden. Trotzdem wehrte ich mich aus Leibeskräften gegen den Tod; nicht etwa, weil mir meine Existenz teuer gewesen wäre, sondern im Gegenteil, weil mir an ihr nichts lag: je absurder ein Leben, um so weniger erträglich der Tod. Gott hätte mich aus der Klemme gezogen: ich wäre ein signiertes Meisterwerk geworden; in der Gewißheit, meinen Part im Weltkonzert zu spielen, hätte ich geduldig gewartet, daß Er mir seine Absichten und meine Notwendigkeit enthülle. Ich ahnte die Religion voraus, ich erhoffte sie, da sie die Rettung war. Hätte man sie mir verweigert, ich hätte sie selbst erfunden. Man verweigerte sie mir nicht: im katholischen Glauben erzogen, erfuhr ich, der Allmächtige habe mich zu seinem Ruhm erschaffen. Das war mehr, als ich zu träumen gewagt hatte. In der Folge aber erkannte ich in dem gesellschaftsfähigen Gott, den man mir beibrachte, nicht denjenigen, den meine Seele erwartete. Ich brauchte einen Weltschöpfer, man gab mir einen Obersten Chef; die beiden bildeten eine Einheit, aber das wußte ich nicht; lustlos diente ich dem pharisäischen Idol, und die offizielle Lehre nahm mir die Lust, meinen eigenen Glauben zu suchen. Welches Glück! Vertrauen und Trostlosigkeit hatten aus meiner Seele ein Musterland gemacht für die Himmelssaat: ohne dieses Mißverständnis wäre ich Mönch geworden. Aber meine Familie war von der langsamen Bewegung der Entchristlichung erfaßt worden, die ihren Ursprung in der hohen Bourgeoisie des Voltaire-Zeitalters hatte und ein Jahrhundert brauchte, um alle Schichten der Gesellschaft zu erfassen. Ohne diesen allgemeinen Schwächezustand des Glaubens hätte das katholische Provinzfräulein Louise Guillemin viel mehr Umstände gemacht, ehe sie einen Lutheraner heiratete. Natürlich war bei uns jedermann religiös: aus Taktgefühl. Sieben oder acht Jahre nach dem Kulturkampf unter dem Ministerium Combes sah man in dem zur Schau getragenen Unglauben den Ausdruck einer heftigen, ungezügelten Leidenschaft. Ein Atheist war ein Sonderling, ein Wildgewordener, den man nicht zum Abendessen einlud, weil man fürchten mußte, er werde dabei aus der Rolle fallen, ein Fanatiker mit ungezählten Tabuvorstellungen, der sich das Recht versagte, in der Kirche niederzuknien, seine Tochter kirchlich zu verheiraten und dabei Tränen der Rührung zu vergießen, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, die Wahrheit seiner Doktrin - 36 -
durch die Reinheit seiner Sitten zu untermauern, der in einer Weise gegen sich und das eigene Glück wütete, daß er sich der Möglichkeit beraubte, getröstet zu sterben, ein Gottesnarr also, der allenthalben Seine Abwesenheit feststellte und unablässig Seinen Namen aussprach, kurzum: ein Herr mit religiösen Überzeugungen. Der Gläubige hatte keine religiösen Überzeugungen. Zweitausend Jahre lang halten die christlichen Gewißheiten Zeit gehabt, sich zu erweisen, sie waren jedermanns Eigentum, man erwartete von ihnen, daß sie im Blick eines Priesters, im Halbdunkel einer Kirche aufleuchteten, um die Seelen zu erhellen, aber niemand empfand das Bedürfnis, sie für seine eigene Rechnung von neuem zu übernehmen; sie waren Gemeingut. Die gute Gesellschaft glaubte an Gott, sprach aber nicht darüber. Wie tolerant erschien die Religion! Wie war sie doch bequem. Ein Christ konnte der Messe fernbleiben und seine Kinder kirchlich trauen lassen, er konnte sich über religiöse Propaganda lustig machen und beim Hochzeitsmarsch aus Tränen vergießen; er brauchte weder ein vorbildliches Leben zu führen noch in Verzweiflung zu sterben, er konnte sogar auf die Sterbesakramente verzichten. In unserem Milieu, in meiner Familie war der Glaube nur ein Prunkname für die süße französische Freiheit; man hatte mich gleich allen anderen getauft, um meine Unabhängigkeit zu bewahren: beim Verzicht auf die Taufe hätte man befürchtet, meine Seele zu vergewaltigen. Als eingeschriebener Katholik dagegen war ich frei, war ich normal. Man sagte: «Später soll er tun, was er will.» Damals hielt man es für schwieriger, den Glauben zu erwerben, als ihn zu verlieren. Charles Schweitzer war viel zu sehr Schauspieler, als daß er auf einen Obersten Zuschauer verzichtet hätte, aber im übrigen dachte er fast gar nicht an Gott, außer in kritischen Augenblicken; da er sicher war, Ihm in der Todesstunde zu begegnen, hielt er Ihn aus seinem Leben fern. Zu Hause ließ er aus Treue zum verlorenen Elsaß-Lothringen und zu den derben Spaßen seiner Brüder, der Papstgegner, keine Gelegenheit vorübergehen, den Katholizismus lächerlich zu machen: seine Tischgespräche erinnerten an diejenigen Luthers. Über die Wunder von Lourdes konnte er sich endlos verbreiten. Bernadette habe eine «brave Frau» erblickt, «die das Hemd wechselte». Man habe einen Gelähmten in das Wasser der Grotte getaucht, und als man ihn wieder herauszog, «sah er auf beiden Augen». Er erzählte das Leben des von Ungeziefer bedeckten heiligen Labrius oder das der heiligen Marie Alacoque, die mit der Zunge die Exkremente der Kranken aufnahm. Diese groben Späße sind für mich nützlich gewesen. Ich neigte um so eher dazu, alle Güter dieser Welt geringzuachten, als ich selbst keine besaß, und mühelos hätte ich meine Berufung in einer behaglichen Askese gefunden; Mystik paßt zu Leuten am falschen Platz und zu überzähligen Kindern. Hätte man mir die Sache anders dargestellt, ich wäre zum Mystiker geworden; ich lief Gefahr, eine Beute der Heiligkeit zu werden. Mein Großvater hat sie mir für immer verekelt; ich sah sie mit seinen Augen; diese grausame Tollheit widerte mich an durch die Fadheit ihrer Ekstasen und entsetzte mich durch ihre sadistische Verachtung des Körpers. Die Absonderlichkeit der Heiligen war ebenso sinnlos wie die jenes Engländers, der im Smoking ins Meer tauchte. Beim Anhören dieser Erzählungen meines Großvaters tat meine Großmutter, als sei sie entrüstet, nannte ihren Mann einen «Ungläubigen» und «spitznäsigen Calvinisten», gab ihm einen Klaps auf die Finger, allein ihr nachsichtiges Lächeln bestärkte mich in meiner Ablehnung; sie glaubte an nichts; nur ihre Skepsis verhinderte, daß sie eine Atheistin wurde. Meine Mutter hütete sich wohl, dazwischenzutreten. Sie hatte «ihren Gott für sich allein» und verlangte bloß von ihm, daß er sie heimlich tröstete. In abgeschwächter Form setzte sich die Debatte in meinem Kopf fort. Ein anderes Ich, mein dunkler Bruder, bestritt ziemlich matt alle Glaubensartikel. Ich war Katholik und Protestant; vereinigte den kritischen Geist mit dem Geist der Unterwerfung. Im Grunde fand ich dies alles schrecklich langweilig: ich gelangte zum Unglauben nicht durch den Konflikt der Dogmen, sondern durch die Gleichgültigkeit meiner Großeltern. Trotzdem war ich religiös: ich kniete jeden Tag mit gefalteten Händen auf dem Bett und sprach mein Gebet, dachte aber immer seltener an den lieben Gott. Meine Mutter brachte mich donnerstags in das Institut des Abbé Dibildos. Mit anderen Kindern, die - 37 -
ich nicht kannte, nahm ich dort am Religionsunterricht teil. Mein Großvater hatte so gut gearbeitet, daß ich alle katholischen Priester für sonderbare Tiere hielt; sie waren zwar die Diener meines Glaubens, waren mir aber fremder als die protestantischen Pfarrer, wegen ihrer Kleidung und wegen des Zölibats. Charles Schweitzer achtete den Abbé Dibildos, den er persönlich kannte, aber sein Antiklerikalismus war so ausgeprägt, daß ich die Religionsschule mit dem Gefühl betrat, ich sei jetzt in Feindesland. Ich selbst hatte nichts gegen die Priester; wenn sie mit mir sprachen, sahen sie liebevoll aus, vergeistigt, hatten den Ausdruck staunender Güte, den Blick ins Unendliche, den ich ganz besonders bei Madame Picard und anderen alten, musikalischen Freundinnen meiner Mutter schätzte; es war mein Großvater, der die Priester durch mich verabscheute. Er hatte zwar zuerst die Idee gehabt, mich seinem Freund, dem Abbé, anzuvertrauen, aber er betrachtete voller Unruhe den kleinen Katholiken, der jeden Donnerstagabend aus der Religionsschule nach Hause kam, versuchte in meinen Augen die Fortschritte des Papismus zu entdecken und machte sich ausgiebig über mich lustig. Diese zweideutige Lage dauerte nur sechs Monate. Eines Tages lieferte ich dem Religionslehrer einen Aufsatz über die Passion Jesu Christi ab. Der Aufsatz hatte bei uns zu Hause Entzücken erregt, und meine Mutter hatte ihn eigenhändig abgeschrieben. Er wurde nur mit der Silbermedaille ausgezeichnet. Diese Enttäuschung tauchte mich tief in den Unglauben, Krankheit und Ferien verhinderten dann, daß ich zum Abbé Dibildos zurückkehrte. Nach den Ferien erklärte ich, überhaupt nicht wieder hingehen zu wollen. Einige Jahre lang verkehrte ich dann noch offiziell mit dem Allmächtigen; auf den privaten Umgang mit ihm hatte ich verzichtet. Ein einziges Mal hatte ich das Gefühl, es gäbe Ihn. Ich hatte mit Streichhölzern gespielt und einen kleinen Teppich versengt; ich war im Begriff, meine Untat zu vertuschen, als plötzlich Gott mich sah. Ich fühlte Seinen Blick im Innern meines Kopfes und auf meinen Händen; ich drehte mich im Badezimmer bald hierhin, bald dorthin, grauenhaft sichtbar, eine lebende Zielscheibe. Mich rettete meine Wut: ich wurde furchtbar böse wegen dieser dreisten Taktlosigkeit, ich fluchte, ich gebrauchte alle Flüche meines Großvaters. Gott sah mich seitdem nie wieder an. Ich erzähle hier die Geschichte einer mißglückten Berufung. Ich brauchte Gott, man gab ihn mir, ich empfing ihn, ohne zu begreifen, daß ich ihn suchte. Da er in meinem Herzen keine Wurzeln schlug, vegetierte er einige Zeit in mir und starb dann. Spricht man mir heute von Ihm, so sage ich amüsiert und ohne Bedauern wie ein altgewordener Frauenjäger, der eine ehemals schöne Frau trifft: «Vor fünfzig Jahren hätte ohne das Mißverständnis, ohne jenen Irrtum, ohne den Zufall, der uns auseinanderbrachte, etwas zwischen uns sein können.» Es war nichts zwischen uns. Dennoch erging es mir immer schlechter. Mein Großvater regte sich über meine langen Haare auf und sagte zu meiner Mutter: «Er ist ein Junge, und du willst aus ihm ein Mädchen machen; ich will aber nicht, daß mein Enkel ein Schlappschwanz wird.» Anne-Marie hielt stand; ich nehme an, daß eine richtige Tochter ihr lieber gewesen wäre; mit höchstem Glück hätte sie das wiedererstandene Bild ihrer traurigen Kindheit verhätschelt. Da der Himmel sie nicht erhört hatte, paßte sie sich der Lage an. Ich sollte das Geschlecht der Engel haben, das unbestimmt bleibt, an den Rändern aber weiblich ist. Da sie zärtlich war, lehrte sie mich die Zärtlichkeit; meine Einsamkeit tat das übrige und hielt mich von wilden Spielen fern. Als ich sieben Jahre alt war, hielt es mein Großvater nicht mehr aus: eines Tages nahm er mich bei der Hand und erklärte: «Wir beide gehen spazieren.» Aber kaum waren wir an der Ecke, da brachte er mich zum Friseur und sagte: «Wir wollen deine Mutter überraschen.» Ich schwärmte für Überraschungen. Aus Überraschungen bestand unser ganzes Leben. Heitere oder tugendhafte Geheimniskrämereien, unerwartete Geschenke, theatralische Enthüllungen, die in Küssereien übergingen: das war der Ton unseres Alltagslebens. Als man mir den Blinddarm herausnahm, hatte meine Mutter kein Wort darüber zu Karl gesagt, um ihm eine Angst zu ersparen, die er ohnehin nicht gehabt hätte. Mein Onkel Auguste hatte das Geld für die Operation gegeben; wir waren heimlich aus Arcachon zurückgekehrt, um eine Klinik in Courbevoie aufzusuchen. Zwei Tage nach der Operation besuchte Auguste meinen - 38 -
Großvater und sagte: «Ich bringe dir eine gute Nachricht.» Karl ließ sich durch die milde Feierlichkeit der Stimme täuschen: «Du willst dich wieder verheiraten!» Mein Onkel lächelte: «Nein, aber alles ist sehr gut abgelaufen.» - «Was ist gut abgelaufen?» etc., etc. Kurzum, solche Theaterauftritte bildeten mein tägliches Brot, und wohlwollend sah ich, wie meine Locken auf der weißen Serviette, die man mir fest um den Hals gebunden hatte, herunterrollten und zu Boden fielen, auf unerklärliche Weise ihres Glanzes beraubt. Strahlend und geschoren kam ich nach Hause zurück. Es gab Geschrei, aber keine Küsse, und meine Mutter schloß sich weinend in ihrem Zimmer ein. Man hatte ihr Töchterchen gegen einen kleinen Jungen vertauscht. Schlimmer noch: solange die schönen Lokken um meine Ohren schaukelten, war es ihr möglich gewesen, die Evidenz meiner Häßlichkeit zu leugnen. Dabei senkte sich damals bereits die Abenddämmerung über mein rechtes Auge. Nun müßte sie sich die Wahrheit gestehen. Sogar mein Großvater schien verblüfft zu sein; man hatte ihm sein kleines Wunder anvertraut, und er hatte eine Kröte zurückgebracht; damit war die Grundlage all seiner künftigen Entzückungen unterhöhlt. Mami betrachtete ihn und amüsierte sich. Sie sagte nur: «Karl ist nicht stolz auf seine Leistung; er zieht den Kopf ein.» Anne-Maries Güte verbarg mir die Ursache ihres Kummers. Ich erfuhr sie erst, brutal genug, als ich zwölf Jahre alt war. Aber ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Freunde meiner Familie betrachteten mich besorgt oder verblüfft, das merkte ich oft. Mein Publikum war täglich schwerer zu befriedigen; ich mußte mich ganz ausgeben; ich übertrieb meine Wirkungen und begann falsch zu spielen. Ich lernte die Ängste einer alternden Schauspielerin kennen. Ich machte die Erfahrung, daß auch andere zu gefallen vermochten. Zwei Erinnerungen sind mir geblieben, sie liegen ein wenig später, sind aber sehr nachdrücklich gewesen. Ich war neun Jahre alt, und es regnete; in dem Hotel von Noiretable waren wir zehn Kinder, zehn Katzen im gleichen Sack; um uns zu beschäftigen, ließ sich mein Großvater dazu herbei, ein patriotisches Schauspiel für zehn Personen zu schreiben und zu inszenieren. Bernard, der Älteste unserer Bande, bekam die Rolle des alten Struthoff, eines Mannes mit rauher Schale und goldenem Kern. Ich war ein junger Elsässer, mein Vater hatte sich für Frankreich entschieden, und ich überschritt heimlich die Grenze, um zu ihm zu gelangen. Charles hatte mir sehr eindrucksvolle Szenen geschrieben: ich streckte den rechten Arm aus, neigte den Kopf, verbarg mein hochrotes Gesicht in der Schulterhöhlung und murmelte: «Adieu, adieu, du geliebtes Elsaß.» Bei den Proben sagte man, ich sei zum Anbeißen; das wunderte mich nicht. Die Vorstellung fand im Garten statt. Zwei Baumgruppen und die Hotelwand begrenzten die Bühne; die Eltern saßen auf Rohrstühlen. Die Kinder amüsierten sich königlich; außer mir. Davon überzeugt, das Schicksal des Stückes liege in meiner Hand, strengte ich mich an, zu gefallen, im Dienst der gemeinsamen Sache; ich bildete mir ein, alle Augen seien auf mich gerichtet. Ich übertrieb; den größten Beifall erntete Bernard, weil er weniger manieriert war. Habe ich es damals begriffen? Am Schluß der Vorstellung ging er mit dem Sammelteller herum: ich schlich hinter ihm her und zerrte an seinem Bart, der mir in der Hand blieb. Es war der Einfall eines Stars, nur dazu bestimmt, Heiterkeit zu erregen; ich fand mich ganz entzückend, hüpfte umher und schwenkte triumphierend mein Beutestück. Man lachte nicht. Meine Mutter nahm mich bei der Hand und zog mich rasch mit sich fort. Sehr traurig fragte sie mich: «Was ist dir in den Sinn gekommen? Der Bart war so schön! Alle waren ganz verblüfft, als du ihn abgerissen hast.» Schon kam meine Großmutter und überbrachte die letzten Nachrichten: Bernards Mutter habe von Neid gesprochen. «Da siehst du, was man erreicht, wenn man sich hervortun will!» Ich lief weg, rannte in unser Zimmer, stellte mich vor den Spiegel und schnitt lange Zeit fürchterliche Grimassen. Madame Picard war der Meinung, ein Kind dürfe alles lesen: «Ein gut geschriebenes Buch richtet keinen Schaden an.» In ihrer Gegenwart hatte ich früher gebeten, <Madame Bovary> lesen zu dürfen, und meine Mutter hatte mit ihrer melodischsten Stimme gefragt: «Aber wenn - 39 -
mein kleiner Liebling schon jetzt solche Bücher liest, was wird er dann tun, wenn er einmal groß ist?» - «Ich werde sie erleben!» Diese Antwort hatte echten und dauerhaften Erfolg gehabt. Jedesmal, wenn sie uns besuchte, spielte Madame Picard darauf an, und meine Mutter rief geschmeichelt und scheinbar abwehrend: «Aber Blanche! Bitte schweigen Sie doch, Sie werden ihn mir ganz verderben!» Ich liebte und verachtete die blasse und fette alte Frau, mein dankbarstes Publikum; wenn ich hörte, sie werde uns besuchen, spürte ich Genie in mir: ich hatte geträumt, sie verlöre ihre Röcke, und ich könnte ihren Hintern sehen, was eine Art war, ihre Geistigkeit zu verehren. Im November 1915 schenkte sie mir ein kleines Buch in rotem Leder und mit Goldschnitt. Da mein Großvater nicht da war, saßen wir in seinem Arbeitszimmer; die Frauen unterhielten sich lebhaft, aber leiser als im Jahre 1914, denn es war Krieg; schmutziger gelber Nebel klebte an den Fenstern, es roch nach kaltem Tabak. Ich öffnete den Band und war zuerst enttäuscht: ich hatte einen Roman oder Erzählungen erwartet; auf vielfarbigen Blättern fand ich immer wieder den gleichen Fragebogen. Madame Picard sagte: «Fülle ihn aus und laß ihn von deinen kleinen Freunden ausfüllen, dann verschaffst du dir für später schöne Erinnerungen.» Ich begriff, daß man mir die Möglichkeit bot, hervorragend zu sein, und beschloß, die Fragen sogleich zu beantworten; ich setzte mich an den Schreibtisch meines Großvaters, legte das Büchlein auf das Löschblatt seiner Schreibunterlage, nahm seinen Federhalter aus Galalith, tauchte ihn in die rote Tinte und begann zu schreiben, während die Erwachsenen einander amüsiert anschauten. Ich hatte mich mit einem Schwung hoch über meine Seele hinausgeschleudert, um Antworten nachzujagen, die «weit über mein Alter hinausreichten». Unglücklicherweise kam mir der Fragebogen dabei nicht zu Hilfe; man fragte nach meinen Neigungen und Abneigungen, nach meiner Lieblingsfarbe und meinem Lieblingsduft. Lustlos erfand ich solche Vorlieben, bis sich plötzlich Gelegenheit bot, zu glänzen: «Welches ist Ihr sehnlichster Wunsch?» Ich antwortete ohne Zögern: «Soldat zu werden, um die Toten zu rächen.» Ich war zu aufgeregt, um weiterschreiben zu können, sprang auf und brachte den Erwachsenen mein Werk. Die Blicke wurden spitz, Madame Picard rückte ihre Brille zurecht, meine Mutter schaute ihr über die Schulter, beide schoben ziemlich spöttisch die Lippen vor. Ihre Köpfe richteten sich gleichzeitig auf. Meine Mutter war rot geworden, Madame Picard gab mir das Buch zurück: «Weißt du, mein Kleiner, solche Antworten sind nur interessant, wenn sie ehrlich sind.» Ich glaubte zu sterben. Mein Irrtum springt in die Augen: man hatte nach einem Wunderkind verlangt, ich hatte kindliche Erhabenheit geliefert. Zu meinem Unglück hatten die Damen keine Verwandten an der Front, weswegen die kriegerische Erhabenheit in ihren gemäßigten Seelen ohne Wirkung bleiben mußte. Ich verschwand, um wieder vor einem Spiegel Grimassen zu schneiden. Wenn ich heute an diese Grimassen zurückdenke, so verstehe ich, daß sie meinen Selbstschutz bedeuteten. Gegen die Blitzentladungen der Schmach verteidigte ich mich durch Muskelreflexe, und indem sie mein Unglück aufs äußerste steigerten, befreiten sie mich davon: ich stürzte mich in die Niedrigkeit, um der Erniedrigung zu entgehen. Ich versagte mir die Möglichkeiten, Wohlgefallen zu erregen, um zu vergessen, daß ich sie besessen und mißbraucht hatte; der Spiegel war mir eine große Hilfe: ich zwang ihn, mich zu lehren, daß ich ein Monstrum war; gelang ihm das, so verwandelten sich meine herben Gewissensbisse in Selbstmitleid. Aber vor allem hatte der Mißerfolg mich gelehrt, meine Unterwürfigkeit zu erkennen; ich verwandelte mich in ein Scheusal, um die Unterwürfigkeit auszuschalten, um nicht mehr mit den Menschen zu verkehren und um zu erreichen, daß auch sie nicht mehr mit mir verkehrten. Die Komödie des Bösen wurde gegen die Komödie des Guten ausgespielt; Eliacin übernahm die Rolle des Quasimodo, des Glöckners von Notre-Dame. Durch das Zusammenwirken von Verrenkungen und Falten entstellte ich mein Gesicht; ich übergoß mich mit Vitriol, um mein früheres Lächeln zu zerstören. Das Heilmittel war schlimmer als die Krankheit: aus Abwehr gegen Ruhm und Entehrung hatte ich versucht, in meine einsame Wahrheit zu flüchten, aber ich besaß keine Wahrheit: ich fand in mir nur ein erstauntes - 40 -
Gefühl der Fadheit. Vor meinen Augen stieß eine Medusa an die Glasscheibe des Aquariums, krauste ein bißchen den Hals und verschwand wieder in der Dunkelheit. Es wurde Nacht, Wolken schwarzer Tinte überdeckten den Spiegel und verhüllten meine letzte Inkarnation. Des Alibis beraubt, zog ich mich auf mich selbst zurück. In der Dunkelheit ahnte ich ein unbestimmtes Zögern, eine leichte Berührung, ein Tasten, ein richtiges lebendes Tier - das schrecklichste aller Tiere und das einzige, vor dem ich nicht Angst haben konnte. Ich lief fort, um im Licht meine Rolle eines abgenutzten Cherubin von neuem zu übernehmen. Umsonst, der Spiegel hatte mich gelehrt, was ich von jeher gewußt hatte: ich war in schauerlicher Weise natürlich. Ich habe mich nie davon erholt. Als ein Wesen, das von allen als Idol verehrt, gleichzeitig aber von jedermann abgewiesen wird, war ich ein Pfand, das man in Zahlung gibt, und hatte mit sieben Jahren als einzige Hilfe mich selbst, den noch nicht Existierenden. Ein verlassener Eispalast, wo das angehende Jahrhundert seine Langeweile spazierenführte. Ich wurde geboren, da ich mich selbst so sehr nötig hatte; bisher hatte ich nur die Eitelkeiten eines Schoßhundes kennengelernt; da ich auf den Stolz verwiesen worden war, verwandelte ich mich ganz in Stolz. Da mich niemand ernsthaft brauchte, erhob ich den Anspruch, unentbehrlich zu sein für das Universum. Welche Überhebung! Welche Torheit! In Wahrheit hatte ich keine Wahl. Als blinder Passagier war ich im Abteil eingeschlafen und wurde vom Schaffner wachgerüttelt. «Bitte die Fahrkarte!» Ich mußte gestehen, daß ich keine hatte. Auch kein Geld, um die Reise bezahlen zu können. Ich begann damit, mich für schuldig zu erklären: meine Ausweispapiere hätte ich zu Hause vergessen und wüßte auch nicht mehr, wie ich durch die Sperre gelangt sei, aber ich gäbe zu, unrechtmäßigerweise den Zug bestiegen zu haben. Weit davon entfernt, die Autorität des Schaffners zu bezweifeln, beteuerte ich laut meine Achtung für seine Aufgaben und unterwarf mich von vornherein seiner Entscheidung. In diesem äußersten Augenblick der Erniedrigung blieb mir bloß noch der Ausweg, die ganze Situation umzustülpen: ich gab also das Geheimnis preis, daß wichtige und geheime Gründe mich zwängen, nach Dijon zu reisen, im Interesse Frankreichs und vielleicht der Menschheit. Und wenn man die Dinge in diesem Sinne betrachtete, gäbe es vielleicht im ganzen Zug keinen einzigen Menschen, der so sehr zum Mitfahren berechtigt sei wie ich. Freilich handle es sich um ein übergeordnetes Gesetz, das im Widerspruch zu den Reisebestimmungen stehe, aber wenn der Schaffner mich zwänge, den Zug zu verlassen und die Reise zu unterbrechen, könne es zu schweren Verwicklungen kommen, deren Folgen er auf sich zu nehmen hätte. Ich flehte ihn an, sorgfältig darüber nachzudenken: entsprach es den Regeln der Vernunft, die ganze Menschheit ins Unglück zu stürzen unter dem Vorwand, die Reisebestimmungen durchführen zu müssen? So ist der Stolz nun einmal: ein Plädoyer der Elenden. Ein Recht auf Bescheidenheit haben nur Reisende mit gültigen Fahrkarten. Ich wußte niemals, ob ich mit meiner Methode Erfolg hatte, denn der Schaffner schwieg; ich fing mit meinen Erklärungen immer von neuem an. Solange ich redete, durfte ich sicher sein, nicht aussteigen zu müssen. So standen wir einander gegenüber, der eine stumm, der andere unerhört geschwätzig, im Zug, der nach Dijon fuhr. Ich selbst war der Zug, der Schaffner, der Delinquent. Und ich war auch noch eine vierte Bühnengestalt; die allerdings, die Gestalt des Organisators, hatte nur einen einzigen Wunsch: sich selbst zu täuschen, und wäre es auch nur für eine Minute, um zu vergessen, daß sie alles selbst inszeniert hatte. Das Familientheater leistete mir gute Dienste: man nannte mich ein Geschenk des Himmels, aber nur aus Spaß, und das wußte ich genau; da ich überhäuft wurde mit Rührszenen, weinte ich leicht und blieb im Herzen ganz trocken: ich wollte ein nützliches Geschenk werden, das auszog, seinen Empfänger zu suchen; ich offerierte Frankreich und der Menschheit meine Person. Aus den Menchen machte ich mir nicht das mindeste. Da sie aber unentbehrlich waren, sollten sie mich durch ihre Freudentränen erkennen lassen, daß mich das Universum voll Dankbarkeit aufnahm. Man wird denken, ich sei sehr überheblich gewesen; nein: ich war ein Waisenkind ohne - 41 -
Vater. Da ich niemandes Sohn war, wurde ich meine eigene Ursache, ein äußerster Fall von Stolz und von Elend; ich war in die Welt gekommen dank dem Schwung, der mich dem Guten entgegentrug. Der Zusammenhang dürfte klar sein: verweiblicht durch die Zärtlichkeit meiner Mutter, kraftlos gemacht durch das Fehlen des rüden Moses, der mich erzeugt hatte, aufgebläht durch die Anbetung, die ich von meinem Großvater empfing, war ich ein reiner Gegenstand, der dazu vorherbestimmt schien, den Weg des Masochismus zu gehen, wenn es mir gelungen wäre, an das Familientheater glauben zu können. Das aber war nicht der Fall. Das Familientheater berührte mich nur an der Oberfläche, in der Tiefe blieb alles kalt und ohne Rechtfertigung; das System war mir ein Greuel, ich begann diese glücklichen Schwächeanfälle zu hassen, diese Hingabe, diesen allzu oft gestreichelten, allzu verhätschelten Körper. Ich fand mich selbst, indem ich mich zu mir selbst in Gegensatz stellte. Ich stürzte mich in den Stolz und den Sadismus, anders ausgedrückt: in den Edelmut. Der Edelmut aber ist, wie der Geiz oder die Rassentheorie, nichts anderes als ein Balsam, der unsere inneren Wunden heilen soll und der uns schließlich vergiftet. Um der Verlassenheit des Geschöpfes zu entgehen, erschuf ich mir die unwiderruflichste bürgerliche Einsamkeit: die Einsamkeit eines Schöpfers. Man möge dieses Umsichschlagen nicht mit einer richtigen Revolte verwechseln: man revoltiert gegen einen Henker, ich aber hatte nichts als Wohltäter. Lange blieb ich ihr Spießgeselle. Übrigens waren sie es gewesen, die mich ein Geschenk der Vorsehung genannt hatten: ich tat nichts, als die Werkzeuge, die ich besaß, für andere Zwecke zu verwenden. Alles lief in meinem Kopf ab; da ich nur ein vorgestelltes Kind war, verteidigte ich mich durch die Vorstellungskraft. Schaue ich zurück auf mein Leben zwischen sechs und neun Jahren, so bin ich frappiert über die Folgerichtigkeit meiner geistigen Übungen. Deren Inhalt änderte sich häufig, aber das Programm wurde nicht abgewandelt; ich war noch vor meinem Stichwort auf die Bühne gekommen, zog mich hinter eine spanische Wand zurück und begann mein Erscheinen von neuem und zum vorgesehenen Zeitpunkt, im gleichen Augenblick, da das Universum schweigend nach mir verlangte. Meine ersten Geschichten waren reine Wiederholungen des und der Märchen von Maurice Bouchor. Sie unterhielten sich ganz allein hinter meiner Stirn, zwischen meinen Augenbrauen. Später wagte ich, sie umzuändern und mir darin eine Rolle zu geben. Sie änderten ihren Charakter; ich mochte keine Feen, denn deren gab es zu viele um mich her; die Feenwelt wurde daher ersetzt durch eine Welt der Heldentaten. Ich wurde ein Held; ich verzichtete auf meinen Charme; es handelte sich nicht mehr darum, Wohlgefallen zu erregen, sondern sich durchzusetzen. Ich verließ meine Familie: Karlundmami ebenso wie Anne-Marie wurden aus meinen Geschichten ausgesperrt. Aus Überdruß an Gesten, Gebärden und Attitüden vollbrachte ich im Traum wirkliche Taten. Ich erfand ein schwieriges und tödliches Universum - das Universum eines Cri-Cri und anderer Helden meiner Heftchen; an die Stelle von Tagessorge und Arbeit, die mir unbekannt waren, setzte ich die Gefahr. Niemals war ich weiter davon entfernt, die bestehende Ordnung in Frage zu stellen; da ich sicher war, die beste der Welten zu bewohnen, gab ich mir die Aufgabe, diese Welt von den Monstren zu reinigen; als Bulle und Lyncher opferte ich jeden Abend eine Räuberbande. Niemals führte ich einen Präventivkrieg oder eine Strafexpedition; ich tötete ohne Lust und Zorn, um junge Mädchen vom Tode zu erretten. Diese zarten Geschöpfe waren mir unentbehrlich: sie verlangten nach mir. Natürlich konnten sie nicht auf meine Hilfe rechnen, denn sie kannten mich nicht. Aber ich stürzte sie in so große Gefahren, daß keiner außer mir sie daraus erretten konnte. Wenn die Janitscharen ihre krummen Säbel schwenkten, durchlief ein Stöhnen die Wüste, und die Felsen sagten zum Wüstensand: «Einer fehlt hier, nämlich Sartre.» In diesem Augenblick trat ich hinter meiner spanischen Wand hervor, die Köpfe flogen unter meinen Säbelhieben, in einem Strom von Blut wurde ich geboren. Glück aus Stahl! Ich war an meinem richtigen Platz. Ich wurde geboren, um zu sterben: das gerächte Mädchen warf sich in die Arme seines - 42 -
markgräflichen Vaters; ich entfernte mich, mußte abermals überflüssig werden oder auf die Suche nach neuen Mördern gehen. Ich fand sie. Als Kämpe der herrschenden Ordnung hatte ich meine Daseinsberechtigung auf eine dauernde Unordnung gegründet. Ich erstickte das Böse in meinen Armen, starb seinen Tod und feierte gleichzeitig mit ihm die Auferstehung; ich war ein rechtsgerichteter Anarchist. Nichts von diesen eklen Gewalttaten drang nach außen; ich blieb unterwürfig und emsig: den Umgang mit der Tugend gibt man nicht so leicht auf; aber jeden Abend wartete ich ungeduldig auf das Ende unserer alltäglichen Narrenszenen, ging rasch in mein Bett, murmelte mein Gebet herunter und glitt zwischen die Bettücher; ich hatte Eile, zu meiner verrückten Waghalsigkeit zurückzufinden. Ich alterte in der Dunkelheit, wurde ein einsamer Erwachsener, ohne Vater und ohne Mutter, ohne Haus und Herd, fast ohne Namen. Ich ging über ein brennendes Dach und hielt eine ohnmächtige Frau in meinen Armen; unten schrie die Menge: es war klar, daß das Gebäude gleich einstürzen würde. In diesem Augenblick sprach ich die schicksalsvollsten Worte: «Fortsetzung in der nächsten Nummer.» - «Was hast du gesagt?» fragte meine Mutter. Ich antwortete vorsichtig: «Ich halte mich in Spannung.» Und in der Tat schlief ich ein inmitten von Gefahren, in einer entzückenden Unsicherheit. Am nächsten Abend war ich pünktlich beim Stelldichein, fand mein Dach wieder und die Flammen und einen sicheren Tod. Plötzlich entdeckte ich eine Wasserrinne, die ich am Vorabend nicht bemerkt hatte. Gerettet, Gott im Himmel! Aber wie sollte ich mich daran festhalten, ohne meine kostbare Bürde fahrenzulassen? Glücklicherweise kam das junge Mädchen wieder zu sich, ich nahm sie auf den Rücken, sie schlang ihre Arme um meinen Hals. Aber nein, nach einigem Nachdenken ließ ich sie wieder bewußtlos werden, denn wenn sie auch nur ein bißchen mithalf bei ihrer Rettung, wurde mein Verdienst dadurch herabgemindert. Glücklicherweise gab es das Seil zu meinen Füßen; sorgfältig befestigte ich das Opfer daran, der Rest war nur ein Kinderspiel. Würdige Herren der Bürgermeister, der Polizeichef, der Feuerwehrhauptmann - umarmten und küßten mich, ich bekam eine Medaille, verlor meine Selbstsicherheit und wußte nichts mehr mit mir anzufangen, denn diese Umarmungen der hohen Persönlichkeiten erinnerten allzusehr an diejenigen meines Großvaters. Ich löschte alles aus und begann von neuem. Wieder war es Nacht, ein junges Mädchen rief um Hilfe, ich stürzte mich ins Getümmel... Fortsetzung in der nächsten Nummer. Ich wagte mein Leben für den erhebenden Augenblick, wo ein Zufallstier in einen Boten der Vorsehung verwandelt wurde, spürte aber, daß ich meinen Sieg nicht überleben würde, und war allzu glücklich, den Sieg auf den nächsten Tag zu verschieben. Man wird sich über solche Träume eines Schlagetots bei dem kleinen Bengel wundern, der zum Intellektuellen 'vorherbestimmt war. Die Verwirrungen der Kindheit sind metaphysischer Natur; um sie zu beruhigen, muß man kein Blut vergießen. Habe ich mir niemals gewünscht, ein heldenhafter Arzt zu sein und meine Mitmenschen von der Beulenpest oder der Cholera zu erretten? Niemals, ich muß es gestehen. Dabei war ich weder wild noch kriegerisch, und es ist nicht meine Schuld, wenn das neugeborene Jahrhundert aus mir einen Mann der Heldenepen gemacht hat. Im besiegten Frankreich wimmelte es von Phantasiehelden, durch deren Taten seine Eigenliebe kuriert werden sollte. Acht Jahre vor meiner Geburt war der hervorgebrochen «wie ein Fahnenzug in roten Hosen». Etwas später brauchte derselbe Edmond Rostand bloß die Geschichte des stolzen und gepeinigten Napoleonsohnes, des , auf die Bühne zu bringen, um die Erinnerung an die Schlappe von Fachoda vergessen zu machen. Im Jahre 1912 hatte ich keine Ahnung von diesen hohen Herrschaften, war aber in dauerndem Umgang mit ihren Epigonen. Ich vergötterte den Cyrano der Unterwelt, nämlich Arséne Lupin, ohne zu wissen, daß er seine herkulische Kraft, seinen spöttischen Mut, seinen echt französischen Geist der Dresche verdankte, die wir im Jahre 1870 bezogen hatten. Nationaler Angriffsgeist und Revanchegeist machten alle Kinder zu Rächern. Ich wurde ein Rächer wie jedermann; begeistert für die freche Schnauze, für den wehenden Helmbusch, diese unerträglichen Fehler der Besiegten, machte ich mich über die Feiglinge lustig, bevor ich ihnen das Genick brach. - 43 -
Aber die Kriege langweilten mich, ich liebte die netten, gutmütigen Deutschen, die bei meinem Großvater verkehrten, und interessierte mich nur für ungerechte Einzelfälle; die Kollektivkräfte verwandelten sich in meinem Herzen, das ohne Haß war. Ich bediente mich ihrer, um mein individuelles Heldentum damit zu speisen. Wie immer es sein mochte: ich bin gezeichnet. Wenn ich in einem eisernen Zeitalter den tollen Unfug beging, das Leben für ein Heldengedicht zu halten, so liegt es daran, daß ich der Enkel einer Niederlage bin. Ich bin ein überzeugter Materialist, aber mein epischer Idealismus wird bis zu meinem Tod eine Beleidigung kompensieren müssen, die mir nicht zugefügt wurde, eine Schmach, unter der ich nicht gelitten habe: den Verlust von zwei Provinzen, die wir längst zurückerhalten haben. Die Bourgeois des letzten Jahrhunderts vergaßen niemals ihren ersten Theaterabend, und ihre Schriftsteller übernahmen es, die Einzelheiten zu berichten. Wenn der Vorhang aufging, glaubten die Kinder bei Hofe zu sein. Gold und Purpur, Lampen und Schminke, Pathos und Künstlichkeit heiligten sogar noch das Verbrechen; auf der Bühne sahen sie einen Adel auferstehen, den ihre Großväter umgebracht hatten. In den Pausen bot sich der Aufbau der Ränge als Abbild der Gesellschaft; man zeigte ihnen in den Logen nackte Schultern und lebende Aristokraten. Sie kamen wieder nach Hause und waren verblüfft, geschwächt, heimtückisch präpariert für eine offizielle Laufbahn, für die Karriere eines Jules Favre, Jules Ferry, Jules Grévy. Aber ich wette, daß meine Zeitgenossen nicht imstande sind, mir den Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung mit dem Kino zu nennen. Blindlings tappten wir in ein Jahrhundert ohne Tradition, das sich von den früheren durch seine schlechten Manieren unterscheiden sollte und dessen neue Kunst, die Pöbelkunst, unsere Barbarei vorwegnahm. Sie wurde in einer Räuberhöhle geboren und von den Behörden unter die Volksbelustigungen eingereiht, sie hatte ein volkstümliches Benehmen, das die gesitteten Leute entsetzte. Das Kino war eine Vergnügungsstätte für Frauen und Kinder; wir liebten es sehr, meine Mutter und ich, aber wir dachten kaum darüber nach und sprachen niemals davon: spricht man über Brot, wenn es daran nicht fehlt? Als wir uns über seine Existenz klargeworden waren, bildete es bereits seit geraumer Zeit unser wichtigstes Bedürfnis. An Regentagen fragte mich Anne-Marie, was ich tun wolle, und wir schwankten lange zwischen dem Zirkus, dem Châtelet-Theater, dem Elektrischen Haus und dem Wachsfigurenkabinett; im letzten Augenblick entschieden wir uns mit berechneter Beiläufigkeit dafür, einen Projektionssaal aufzusuchen. Als wir die Wohnungstür öffneten, kam mein Großvater aus seinem Arbeitszimmer und fragte: «Wo geht ihr Kinder denn hin?» «Ins Kino», sagte meine Mutter. Er runzelte die Stirn, und sie fügte hastig hinzu: «In das Panthéon-Kino hier ganz in der Nähe, man braucht bloß über die rue Soufflot zu gehen.» Er ließ uns gehen und zuckte die Achseln. Am nächsten Donnerstag würde er dann zu Monsieur Simonnot sagen: «Sagen Sie einmal, Simonnot, Sie sind doch ein vernünftiger Mensch, können Sie das verstehen? Meine Tochter geht mit meinem Enkel ins Kino!» Und Monsieur Simonnot würde mit verbindlicher Stimme antworten: «Ich bin noch nie dort gewesen, aber meine Frau geht zuweilen hin.» Das Schauspiel hatte bereits begonnen. Tappend folgten wir der Platzanweiserin. Ich fühlte mich wie ein Illegaler; über unseren Köpfen durchquerte ein weißes Lichtbündel den Saal, man sah tanzenden Staub und Rauch. Ein Klavier wieherte, violette Glühbirnen leuchteten an der Wand, der durchdringende Geruch eines Desinfektionsmittels preßte mir die Kehle zusammen. Der Geruch und die Früchte dieser bewohnten Nacht verschmolzen in mir: ich aß die Notlampen, ihr säuerlicher Geschmack erfüllte mich. Mein Rücken strich vorbei an Knien, ich setzte mich auf einen quietschenden Sitz, meine Mutter legte mir eine zusammengefaltete Decke unter das Gesäß, damit ich höher saß; endlich schaute ich auf die Leinwand, entdeckte eine fluoreszierende Kreide, zwinkernde Landschaften, die von Unwettern gestreift wurden; es regnete immer, sogar wenn hell die Sonne schien, sogar in den Wohnungen. Manchmal zog eine flammende Sternschnuppe durch den Salon einer Baronin, ohne daß sich die Dame - 44 -
darüber zu wundern schien. Ich liebte diesen Regen und diese unablässige Unruhe auf der Wand. Der Klavierspieler begann mit der Ouvertüre zur , und jedermann begriff, daß nun der Verbrecher erscheinen würde. Die Baronin war in Todesängsten. Aber ihr schönes kohlschwarzes Gesicht verschwand, und eine lila Inschrift erschien: «Ende des ersten Teils.» Es war die jähe Entgiftung, das Licht. Wo war ich? In einer Schule? In einem Verwaltungsgebäude? Keinerlei Schmuck: Reihen von Klappsitzen, deren Scharniere an der Unterseite zu sehen waren, gelb getünchte Wände, ein Fußboden, der mit Stummeln und Spuckresten bedeckt war. Vielfältige Geräusche erfüllten den Saal, die Sprache wurde von neuem erfunden, mit lauter Stimme bot die Platzanweiserin englische Bonbons an, meine Mutter kaufte mir welche, ich steckte sie in den Mund und lutschte die Notlampen. Die Leute rieben sich die Augen, jeder entdeckte seine Nachbarn: Soldaten und Dienstmädchen; ein knochiger alter Mann kaute Tabak, Arbeiterinnen ohne Hut lachten sehr laut. Alle diese Leute gehörten nicht zu unserer Welt; glücklicherweise sah man da und dort in diesem Parterre von Köpfen auch große, wippende Damenhüte, was beruhigend war. Mein verstorbener Vater und mein Großvater pflegten auf dem zweiten Rang zu sitzen; die gesellschaftliche Hierarchie des Theaters hatte ihnen Geschmack eingeflößt an Zeremonien. Wenn viele Menschen beisammen sind, muß man sie durch Riten voneinander trennen, sonst massakrieren sie einander. Das Kino bewies das Gegenteil. Dieses überaus gemischte Publikum schien weniger durch eine Festlichkeit vereinigt zu sein als durch eine Katastrophe, die Etikette war tot und gab endlich den Blick frei auf das wirkliche Band zwischen den Menschen, auf die Anhänglichkeit. Ich verlor den Geschmack an den Zeremonien und begeisterte mich für Menschenmassen; ich habe deren in allen Arten kennengelernt, aber diese Nacktheit und rückhaltlose Gegenwärtigkeit eines jeden inmitten von allen, den Wachtraum, das dunkle Bewußtsein von der Gefahr des Menschseins - die habe ich nur im Jahre 1940 wiedergefunden, im Gefangenenlager Stalag XII D. Meine Mutter wurde kühner und nahm mich mit in die Kinos auf den großen Boulevards, ins Cinérama, in die Folies Dramatiques, ins Vaudeville, in den Gaumont Palace, der damals Hippodrome hieß. Ich sah und < Fantômas >, , , aber die Vergoldungen störten mein Vergnügen. Das Vaudeville war ein ausgedientes Theater und wollte seine einstige Größe nicht preisgeben: bis zum letzten Augenblick verdeckte ein roter Vorhang mit goldenen Troddeln die Leinwand. Drei Klopfzeichen verkündeten den Beginn der Vorstellung, das Orchester spielte eine Ouvertüre, der Vorhang ging auf, die Lampen erloschen. Ich war verärgert über dies unangemessene Zeremoniell und den staubigen Pomp, dessen einziges Ergebnis darin bestand, die Darsteller in die Ferne zu rücken; auf dem Balkon oder der Galerie waren unsere Väter beeindruckt durch den Kronleuchter und die Deckengemälde und wollten nicht glauben, daß ihnen das Theater gehörte: sie empfanden sich dort nur als Gäste. Ich aber wollte den Film so nahe, wie möglich sehen. Im gleichmacherischen Unkomfort der kleinen Kinos hatte ich gelernt, daß diese neue Kunst mir ebenso wie allen anderen gehörte. Wir waren geistig im selben Alter. Ich war sieben Jahre alt und konnte lesen, die neue Kunst war zwölf Jahre alt und konnte nicht sprechen. Man behauptete, sie sei erst in den Anfängen und müsse Fortschritte machen; ich dachte, wir würden zusammen groß werden. Unsere gemeinsame Kindheit habe ich nicht vergessen: wenn man mir einen englischen Bonbon anbietet, wenn sich in meiner Nähe eine Frau die Nägel lackiert, wenn mir in den Toiletten eines Provinzhotels der Geruch eines bestimmten Desinfektionsmittels entgegenschlägt, wenn ich nachts im Zug an der Decke die violette Nachtbeleuchtung erblicke, dann finden meine Augen, meine Nase, meine Zunge wiederum die Lichter und Düfte jener verschwundenen Säle. Als ich mich vor vier Jahren bei stürmischem Wetter vom Meer aus der Fingalshöhle näherte, hörte ich Klavierklänge im Wind. Ich war unzugänglich für das Sakrale, liebte aber heiß die Magie: das Kino war eine fragwürdige Erscheinung, die ich perverserweise liebte, weil ihm noch soviel fehlte. Das - 45 -
Rieseln war alles, war nichts, war alles, zu nichts reduziert. Ich erlebte die Delirien einer Wand; man hatte die festen Körper einer Massivität entkleidet, die mich bis in meinen Körper hinein bedrückte, und mein junger Idealismus freute sich über diese unendliche Zusammenziehung. Später haben mich die Verschiebungen und Rotationen von Dreiecken an die gleitenden Figuren auf der Leinwand erinnert; ich liebte das Kino bis hinein in die Planimetrie. Aus Schwarz und Weiß machte ich bedeutsame Farben, die in sich alle anderen Farben vereinigten, aber nur dem Eingeweihten offenbarten. Ich entzückte mich am Anblick des Unsichtbaren. Überdies liebte ich die unheilbare Stummheit meiner Helden. Oder vielmehr nein: sie waren nicht stumm, denn sie konnten sich verständlich machen. Wir verständigten uns durch die Musik; es war das Geräusch ihres Innenlebens. Die verfolgte Unschuld tat Besseres, als daß sie ihren Schmerz geäußert oder gezeigt hätte; sie durchtränkte mich damit vermittels einer Melodie, welche aus ihr hervordrang; ich las die Unterhaltung, aber ich hörte die Hoffnung und die Bitterkeit, durch das Ohr erfuhr ich von dem stolzen Schmerz, der sich nicht ausspricht. Ich war im Komplott; die weinende junge Witwe auf der Leinwand, das war nicht ich, und trotzdem hatten wir beide nur eine einzige Seele, nämlich im Trauermarsch von Chopin. Mehr brauchte ich nicht, damit ihre Tränen auch in meinen Augen standen. Ich fühlte mich als Prophet, der aber nichts voraussehen konnte. Noch bevor der Verräter verraten hatte, drang seine Untat in mich ein; wenn alles ruhig zu sein schien im Schloß, verkündeten düstere Akkorde die Anwesenheit des Mörders. Wie glücklich waren diese Cowboys, Musketiere und Polizisten: ihre Zukunft lag in der vorwegnehmenden Musik und bestimmte über die Gegenwart. Ein unablässiger Gesang verschmolz mit ihrem Leben, führte sie zum Siege oder in den Tod, indem er seinem eigenen Abschluß entgegenging. Man wartete auf sie: das junge Mädchen in Gefahr, der General, der im Walde versteckte Verräter, der gefesselte Kamerad neben dem Pulverfaß, der traurig zusah, wie die Flamme an der Zündschnur entlanglief. Der Lauf der Flamme, der verzweifelte Kampf des jungen Mädchens gegen seinen Entführer, der rasende Galopp des Helden in der Steppe, all diese Bilder, all diese Schnelligkeitsgrade und überdies das teuflische Rasen des , eines Orchesterstücks aus von Berlioz, das man für Klavier bearbeitet hatte, alles bildete eine Einheit: dies war das Schicksal. Der Held sprang vom Pferd, löschte die Zündschnur, der Verräter stürzte sich auf ihn, ein großes Gefecht begann. Aber die Wechselfälle des Zweikampfes gehörten zum strengen musikalischen Ablauf. Es waren falsche Wechselfälle, denen es nicht gelang, die universelle Ordnung zu verdecken. Welche Freude, wenn der letzte Messerstich mit dem Schlußakkord zusammenfiel! Ich war überglücklich, ich hatte die Welt gefunden) worin ich leben wollte, ich berührte das Absolute. Welches Unbehagen gleichzeitig, wenn das Licht wieder anging: ich hatte mich vor Liebe zu diesen Gestalten zerrissen, und nun waren sie weg und ihre Welt mit ihnen; ich hatte den Sieg in meinen Knochen gefühlt, aber es war ihr Sieg und nicht der meine. Draußen auf der Straße empfand ich mich dann wieder als überzählig. Ich beschloß, stumm zu werden und durch die Musik zu leben. Gelegenheit dazu hatte ich jeden Abend gegen fünf Uhr. Mein Großvater gab Unterricht im Fremdspracheninstitut; meine Großmutter hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und las Romane der Gyp; meine Mutter hatte mir das Vesperbrot gegeben, hatte das Abendessen vorbereitet und dem Dienstmädchen die letzten Ratschläge erteilt; nun setzte sie sich ans Klavier und spielte Chopin-Balladen, eine Schumann-Sonate, die Sinfonischen Variationen von Franck und bisweilen auch auf meine Bitte die Ouvertüre zur . Ich schlich ins Arbeitszimmer; es war bereits dunkel geworden, und auf dem Klavier brannten zwei Kerzen. Das Halbdunkel kam mir zu Hilfe, ich packte das Lineal meines Großvaters, es wurde mein Rapier, sein Brieföffner war mein Dolch; ich wurde auf der Stelle zum platten Abbild eines Musketiers. Manchmal verging eine Weile, ehe die Inspiration einsetzte; um Zeit zu gewinnen, beschloß ich dann, ein berühmter Raufbold zu sein, der aus wichtigen Gründen gezwungen war, das Inkognito zu bewahren. Also mußte ich die Schläge entgegennehmen, - 46 -
ohne sie zu erwidern, und meinen Mut dareinsetzen, Feigheit vorzutäuschen. Scheeläugig, mit gesenktem Kopf und nachschleppendem Fuß ging ich im Zimmer umher; durch ein Aufschnellen ließ ich von Zeit zu Zeit erkennen, daß man mir eine Ohrfeige gegeben oder den Hintern versohlt hatte, hütete mich aber vor anderen Reaktionen; ich merkte mir den Namen meines Beleidigers. Nach einem massiven Konsum an Musik begann sie dann endlich zu wirken. Wie ein Trommelschläger zwang mir das Klavier seinen Rhythmus auf. An die Stelle meiner Seele trat das Fantaisie-Impromptu von Chopin, es bewohnte mich, gab mir eine unbekannte Vergangenheit, eine blitzende und tödliche Zukunft. Ich war ein Besessener, der Dämon hatte mich gepackt und schüttelte mich wie einen Pflaumenbaum. Aufs Pferd! Ich war gleichzeitig Pferd und Reiter, in vollem Galopp streifte ich durch die Heide, über die Brachäcker, durch das Arbeitszimmer, hin und her zwischen Tür und Fenster. «Du bist zu laut, die Nachbarn werden sich beschweren», sagte meine Mutter, spielte aber weiter. Ich antwortete ihr nicht, denn ich war ja stumm. Ich entdecke den Herzog, steige vom Pferd, gebe ihm durch eine stumme Lippenbewegung zu verstehen, daß ich ihn für einen Bastard halte. Er läßt seine Reiter auf mich los, meine wackeren Musketiere bilden einen Schutzwall aus Stahl; von Zeit zu Zeit durchbohre ich eine Brust. Gleich danach aber vollzog ich eine Umkehrung und wurde zum Lanzenreiter, dem man den Schädel gespalten hat, ich fiel zu Boden und starb auf dem Teppich. Dann zog ich mich vorsichtig aus der Leiche zurück, stand auf, um meine Rolle als fahrender Ritter weiterzüspielen. Ich belebte alle Gestalten: als Ritter ohrfeigte ich den Herzog; eine jähe Wendung: ich empfing als Herzog die Ohrfeige. Aber die Bösen verkörperte ich immer nur kurze Zeit und war stets ungeduldig, wieder zur Hauptrolle zurückzukehren, zu mir selbst. Ich war unbesiegbar und triumphierte über alle. Aber wie in meinen nächtlichen Erzählungen vertagte ich meinen Triumph, weil ich Angst hatte vor der Trübnis, die auf ihn folgen würde. Ich schütze eine junge Grafentochter vor dem leiblichen Bruder des Königs. Welch ein Gemetzel! Allein meine Mutter hat eine neue Seite begonnen, auf das Allegro folgt jetzt ein zartes Adagio; ich mache rasch Schluß mit der Schlächterei und wende mich meinem Schützling zu. Sie liebt mich, die Musik sagt es. Und ich liebe sie auch, vielleicht: ein liebendes und langsames Herz richtet sich in mir ein. Was macht man, wenn man liebt? Ich nahm ihren Arm, ich ging mit ihr über eine Wiese: das konnte nicht genügen. Die eilends herbeigerufenen Strolche und Reiter zogen mich aus der Klemme. Sie stürzten sich auf uns, hundert gegen einen; ich tötete neunzig, die zehn anderen entführten das Grafenkind. Nun ist der Augenblick gekommen, wo ich meine düsteren Jahre erleben muß. Die Frau, die mich liebt, ist gefangen, alle Polizisten des Königreichs sind mir auf den Fersen, ich bin der Geächtete, der Gejagte, der Elende, mir bleibt mein Gewissen und mein Schwert. Niedergeschlagen ging ich im Zimmer hin und her und erfüllte mich mit Chopins passionierter Traurigkeit. Manchmal blätterte ich in meinem Leben und übersprang zwei oder drei Jahre, um mich zu vergewissern, daß alles gut ausgehen werde, daß ich meinen Titel zurückerhalten würde, meine Güter, meine fast unberührte Braut, und dass mich der König um Verzeihung bitten werde. Gleich darauf aber sprang ich wieder zurück, um mich zwei oder drei Jahre zurückzuversetzen, zurück ins Unglück. Dieser Augenblick gefiel mir ganz besonders: die Fiktion verschmolz mit der Wahrheit. Als trostloser Vagabund, der auf der Suche nach Gerechtigkeit ist, glich ich wie ein Bruder dem unbeschäftigten Kind, das mit sich selbst zu tun hat, einen Lebensgrund sucht und sich als gelebte Musik im Arbeitszimmer seines Großvaters herumtreibt. Ohne die Rolle aufzugeben, nutzte ich die Ähnlichkeit aus, um ein Amalgam unserer Schicksale herzustellen. Des Endsieges gewiß, sah ich in meinen Unbilden den sichersten Weg zu ihm hin; durch meine Verächtlichkeit hindurch erblickte ich den künftigen Ruhm, dessen Voraussetzung sie zu bilden hatte. Die Schumann-Sonate überzeugte mich vollends: ich war die verzweifelnde Kreatur und gleichzeitig der Gott, der sie seit Anbeginn der Welt gerettet hat. Welche Freude, daß man ohne Unkosten verzweifeln konnte; ich hatte ein Recht darauf, dem Universum zu grollen. Überdrüssig der allzu leichten Erfolge, - 47 -
genoß ich die Wonnen der Melancholie und das bittere Vergnügen des Grolls, Ich wurde in zärtlichster Weise umsorgt und vollgestopft und war wunschlos, stürzte mich also in vorgestellte Entbehrungen. Acht Jahre eines glücklichen Lebens hatten nichts erreicht, als mich auf den Geschmack am Märtyrertum zu bringen. Ich wechselte meine üblichen Richter, die alle zu meinen Gunsten voreingenommen waren, gegen ein tückisches Tribunal aus, das fest entschlossen war, mich zu verurteilen, ohne mich auch nur anzuhören. Ihm würde ich meinen Freispruch entreißen und Worte der Anerkennung und eine vorbildliche Belohnung. Zwanzigmal hatte ich voller Begeisterung die Geschichte der Griseldis gelesen, aber ich liebte es nicht, zu leiden, und meine ersten Begierden waren grausam. Ich, der Verteidiger so vieler Prinzessinnen, genierte mich nicht, die kleine Nachbarin aus der Wohnung nebenan im Geist zu verhauen. Was mir an dieser wenig empfehlenswerten Geschichte gefiel, war der Sadismus des Opfers und die unerschütterliche Tugend, die es schließlich erreicht, daß sich ihr der Henkergemahl zu Füßen wirft. Das wünschte ich auch für mich: daß die hohen Beamten in die Knie gezwungen und genötigt würden, mich zu verehren, damit ich sie wegen ihrer Voreingenommenheit bestrafen konnte. Aber den Freispruch verschob ich immer wieder auf einen nächsten Tag; als ein stets zukünftiger Held schaute ich sehnlichst einer öffentlichen Bestätigung entgegen, die ich unablässig aufschob. Diese doppelte Melancholie, die empfundene und die gespielte, verriet, wie mir scheint, meine Enttäuschung. Meine aneinandergereihten Heldentaten waren nichts anderes als aneinandergereihte Zufälle. Hatte meine Mutter die Schlußakkorde des Fantaisie-Impromptus gespielt, so fiel ich zurück in die erinnerungslose Zeit der vaterlosen Waisenkinder, der waisenlosen Ritter. Mochte ich Held sein oder Schüler, mochte ich immer wieder die gleichen Diktate und die gleichen Heldentaten bewältigen, ich blieb eingesperrt in meiner Galeere: in der Wiederholung. Dennoch gab es diese Zukunft, das Kino hatte sie mir enthüllt; ich träumte davon, ein Schicksal zu haben. Der Widerstand der Griseldis langweilte mich schließlich; auch wenn ich unendlich oft den geschichtlichen Augenblick meiner Verherrlichung aufschob, ergab das keine richtige Zukunft, sondern nur eine aufgeschobene Gegenwart. Um diese Zeit - im Jahre 1912 oder 1913 - las ich <Michael Strogoff>. Ich weinte vor Freude: welch ein beispielhaftes Leben. Um seinen Wert zu beweisen, mußte dieser Offizier nicht erst die Bereitwilligkeit der Räuber abwarten. Ein Befehl von höchster Stelle hatte ihn aus dem Dunkel gezogen, er lebte, um zu gehorchen, und starb an seinem Triumph; denn dieser Ruhm war ein Tod. Hatte man die letzten Seiten des Buches gelesen, so verschloß sich Michael lebendig in seinem kleinen Sarg mit Goldschnitt. Für ihn gab es keine Beunruhigung; er war vom ersten Erscheinen an gerechtfertigt. Auch keinerlei Zufall. Freilich wechselte er unablässig seinen Aufenthaltsort, aber die höchsten Interessen und sein Mut und die Wachsamkeit des Feindes und die geographischen Bedingungen und die Verkehrsmittel und zwanzig andere Faktoren, die alle von vornherein feststanden, erlaubten einem in jedem Augenblick, seine Position auf der Landkarte zu markieren. Keine Wiederholungen: alles veränderte sich und mußte sich unablässig verändern; seine Zukunft beleuchtete ihn; er richtete sich nach einem Stern. Drei Monate später las ich den Roman abermals mit der gleichen Aufregung, aber ich mochte Michael nicht, ich fand ihn zu vernünftig. Ich war neidisch auf sein Schicksal. In ihm liebte ich in versteckter Form eine Christlichkeit, die man mir selbst verwehrt hatte. Der Zar aller Reußen war Gottvater; Michael Strogoff, den man durch ein einzigartiges Dekret aus dem Nichts gerufen hatte, um ihn, wie alle Kreaturen, mit einer einzigartigen und überaus wichtigen Mission zu betrauen, streifte durch unser Tal der Tränen, wies die Versuchungen von sich und überwand die Hemmnisse, kostete vom Märtyrertum, zog Nutzen aus einem übernatürlichen Eingreifen1 und glorifizierte seinen Schöpfer, denn nach Erfüllung seiner Aufgabe tritt er in die Unsterblichkeit ein. Dies Buch war für mich Gift. Es gab also Erwählte? Die höchsten Anforderungen bestimmten ihre Bahn? 1
Strogoff wird durch das Wunder einer Träne gerettet. - 48 -
Die Heiligkeit war mir zuwider, aber bei Michael Strogoff faszinierte sie mich, weil sie die äußere Form des Heroismus angenommen hatte. Dennoch änderte ich nichts an meinen Pantomimen. Der Gedanke der Mission blieb als körperloses Gespenst in der Luft, es gelang ihm nicht, Gestalt anzunehmen, aber es gelang mir auch nicht, ihn zu vergessen. Natürlich standen mir meine Statisten zu Diensten, die Könige von Frankreich, und warteten nur auf ein Zeichen, um mir ihre Befehle zu erteilen. Ich verlangte sie aber gar nicht von ihnen. Wenn man sein Leben aus Gehorsam wagt, was wird dann aus dem Edelmut? Marcel Dunot, der Boxer mit den Eisenfäusten, überraschte mich jede Woche in dem neuen Heft, weil er höchst gefällig mehr tat als seine Pflicht. Aber von dem blinden, mit glorreichen Narben bedeckten Michael Strogoff konnte man allenfalls sagen, er habe seine Pflicht getan. Ich bewunderte seine Tapferkeit, ich mißbilligte seine Unterwürfigkeit. Der tapfere Mann hatte nur den Himmel über seinem Haupt. Warum verneigte er sich vor dem Zaren, wo es doch Sache des Zaren war, ihm die Füße zu küssen? Aber wenn man sich nicht zu erniedrigen gedachte, woher bekam man dann einen Lebensauftrag? Dieser Widerspruch stürzte mich in eine tiefe Verwirrung. Manchmal versuchte ich die Schwierigkeit zu umgehen: ich, ein unbekanntes Kind, hatte gehört, daß von einer gefährlichen Mission die Rede war: ich warf mich dem König zu Füßen und flehte ihn an, mir die Mission zu übertragen. Er lehnte ab. Ich sei zu jung, die Sache sei zu schwerwiegend. Ich stand auf, forderte zum Zweikampf auf und besiegte prompt sämtliche Heerführer. Der Souverän mußte sich geschlagen geben: «Zieh hin, da du es willst!» Aber ich fiel nicht selbst auf meinen Trick herein und war mir durchaus darüber klar, daß ich mich aufgezwungen hatte. Und überdies gingen mir all diese Würdenträger auf die Nerven. Ich war ein Sansculotte und Königsmörder. Mein Großvater hatte mich gegen die Tyrannen aufgehetzt, mochten sie Ludwig XVI. heißen oder Napoleon der Kleine. Vor allem aber las ich jeden Morgen im <Matin> die Romanfortsetzung von Michael Zevaco. Dieser geniale Autor hatte unter Victor Hugos Einfluß den republikanischen Mantel-und-DegenRoman erfunden. Zevacos Helden verkörperten das Volk; sie bauten Reiche auf und rissen sie nieder, seit dem vierzehnten Jahrhundert sagten sie die Französische Revolution voraus, schützten aus Seelengüte die Kinderkönige oder die wahnsinnigen Könige gegen ihre Minister und ohrfeigten die bösen Könige. Der größte unter ihnen, Pardaillan, war mein Meister. Um es ihm nachzutun, habe ich hundertmal, dastehend auf meinen stolz gespreizten Hahnenbeinen, Heinrich III. und Ludwig XIII. geohrfeigt. Und da sollte ich mich noch in ihre Dienste stellen? Mit einem Wort, es gelang mir weder, aus mir selbst den gebieterischen Auftrag zu ziehen, der meine Gegenwart auf dieser Erde gerechtfertigt hätte, noch irgend jemand das Recht zuzuerkennen, mir diesen Auftrag zu erteilen. Ohne großen Eifer nahm ich meine Reitereien wieder auf, warf mich lustlos ins Getümmel. Ich war ein zerstreuter Massenschlächter, ein lustloser Märtyrer, ich blieb Griseldis in Ermangelung eines Zaren, eines Gottes oder einfach eines Vaters. Ich führte zwei Leben, beide waren verlogen. In der Öffentlichkeit war ich ein Schwindler, nämlich der bekannte Enkel des berühmten Charles Schweitzer; war ich allein, so verstrickte ich mich in vorgestellte Konflikte. Ich korrigierte meinen falschen Ruhm durch ein falsches Inkognito. Mühelos gelang es mir, von der einen zur anderen Rolle zu wechseln. Im Augenblick, wo ich meine Verkleidung anzulegen gedachte, hörte ich den Schlüssel im Türschloß; die Hände meiner Mutter waren plötzlich gelähmt, lagen unbeweglich auf den Tasten, ich legte das Lineal wieder auf den Schreibtisch und lief, meinen Großvater zu umarmen, rückte ihm den Sessel zurecht, brachte ihm die gefütterten Hausschuhe, fragte ihn nach seinem Tagesablauf, wobei ich seine Schüler mit Namen nannte. Wie tief mein Traum auch sein mochte, niemals war ich in Gefahr, mich darin zu verlieren. Dennoch war ich bedroht, meine Wahrheit war stark im Begriff, bis zum Lebensende ein Gegenstück zu meinen Lügen zu bleiben. Es gab eine andere Wahrheit. Auf den Terrassen des Luxembourg-Gartens spielten Kinder, - 49 -
ich trat zu ihnen, sie strichen an mir vorbei, ohne mich zu sehen, ich schaute auf sie mit den Augen eines Arme-Leute-Kindes. Wie stark und schnell sie waren! Wie schön sie waren! Vor diesen Helden aus Fleisch und Blut verlor ich meine wunderbare Intelligenz, mein universelles Wissen, meine athletische Muskulatur, meine Fechtgewandtheit. Ich lehnte mich an einen Baum und wartete. Auf ein Wort des Chefs der Bande, brutal hingeworfen: «Pardaillan, tritt vor, du spielst den Gefangenen», hätte ich meine Privilegien preisgegeben. Sogar eine stumme Rolle hätte mich glücklich gemacht; voller Enthusiasmus hätte ich die Rolle eines Verwundeten auf einer Bahre oder eines Toten übernommen. Man gab mir keine Gelegenheit dazu. Ich war meinen wahren Richtern begegnet, meinen Zeitgenossen, meinesgleichen - und ihre Gleichgültigkeit verurteilte mich. Ich kam nicht darüber hinweg, durch sie entlarvt zu werden: nicht als ein Weltwunder, nicht als eine Medusa, sondern als ein Knirps, für den niemand sich interessiert. Meine Mutter verbarg mühsam ihren Ärger. Die große und schöne Frau ertrug es durchaus, daß ich nur klein war, das fand sie natürlich. Die Schweitzers sind groß, und die Sartres sind klein, ich schlug nach meinem Vater, das war alles. Es war ihr recht, daß ich noch mit acht Jahren ein Tragekind war, mit dem man gut fertig werden konnte. Mein kleiner Wuchs galt in ihren Augen als fortgesetztes Säuglingsalter. Als sie aber sah, daß niemand mit mir spielen wollte, trieb ihre Liebe sie soweit, daß sie zu fürchten begann, ich könnte mich schließlich für einen Zwerg halten - was ich doch nicht so ganz bin - und darunter leiden. Um mir die Verzweiflung zu ersparen, tat sie so, als sei sie verärgert: «Worauf wartest du eigentlich, du Dummkopf? Frag sie doch, ob sie mit dir spielen wollen?» Ich schüttelte den Kopf; ich hätte die niedrigsten Arbeiten übernommen, war aber zu stolz, sie zu erbetteln. Sie wies auf die Damen, die strickend auf den Eisenstühlen saßen: «Soll ich mit den Mamas sprechen?» Ich flehte sie an, das nicht zu tun; sie nahm meine Hand, wir standen auf, gingen von Baum zu Baum und von Gruppe zu Gruppe, immer bittend, immer ausgeschlossen. Bei Einbruch der Dunkelheit suchte ich wieder meinen Hochsitz auf, die hochgelegenen Plätze, wo der Geist wehte samt meinen Träumen. Ich rächte mich für mein Mißgeschick durch sechs Worte aus Kindermund und die Niedermetzelung von hundert Lanzenreitern, aber trotzdem: es wurde nichts Rechtes daraus. Gerettet wurde ich durch meinen Großvater. Ohne es zu wollen, stürzte er mich in eine neue Schwindelei, die mein Leben veränderte.
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Schreiben
Charles Schweitzer hatte sich niemals für einen Schriftsteller gehalten, aber die französische Sprache begeisterte ihn noch im Alter von siebzig Jahren, denn er hatte sie mühsam erlernt, war nicht in sie hineingewachsen: er spielte mit ihr, hatte Freude an Bonmots und liebte es, sie vorbildlich auszusprechen, wobei seine unerbittliche Aussprache einem keine Silbe schenkte; wenn er Zeit hatte, ordnete seine Feder die Bonmots bukettweise an. Die Familienund Universitätsereignisse behandelte er gern in Gelegenheitsversen: Glückwünsche zum neuen Jahr, Geburtstagsgratulationen, gereimte Festreden bei Hochzeitsessen, Versreden zu Festtagen, Singspiele in Versen, Scharaden, Gedichtchen mit festgelegten Endreimen, harmlose Banalitäten; bei Kongressen fand er Vergnügen daran, aus dem Stegreif deutsche und französische Vierzeiler zu sprechen. Als der Sommer begonnen hatte, reisten wir, die beiden Frauen und ich, nach Arcachon, noch ehe mein Großvater seine Kurse im Institut beendet hatte. Er schrieb uns dreimal wöchentlich: zwei Seiten für Louise, eine Nachschrift für Anne-Marie, für mich einen ganzen Brief in Versen; damit ich mein Glück besser genießen konnte, brachte mir meine Mutter die Regeln der Verslehre bei. Irgend jemand überraschte mich dabei, wie ich eine Antwort in Versen kritzelte, man drängte mich, weiterzuschreiben und half mir dabei. Als die beiden Frauen den Brief abschickten, lachten sie Tränen bei dem Gedanken an die Verblüffung des Empfängers. Postwendend empfing ich ein Ruhmesgedicht zu meinen Ehren; ich antwortete wiederum mit einem Gedicht. Das wurde zur Gewohnheit; Großvater und Enkel hatten sich durch ein neues Band vereinigt; sie sprachen miteinander wie die Indianer, wie die Zuhälter von Montmartre, in einer Sprache, die den Frauen untersagt war. Man schenkte mir ein Reimlexikon, ich machte mich zum Verseschmied und schrieb Madrigale für Vévé, ein kleines blondes Mädchen, das seine Chaiselongue nicht mehr verlassen konnte und einige Jahre später starb. Dem kleinen Mädchen war das wurst: sie war ein Engel. Aber die Bewunderung eines breiten Publikums tröstete mich über ihre Gleichgültigkeit hinweg. Ich habe einige dieser Gedichte wiedergefunden. Alle Kinder haben Genie, sagte Cocteau im Jahre 1955, außer Minou Drouet1. Im Jahre 1912 hatten alle Kinder Genie, außer mir. Ich schrieb aus Nachäfferei, aus Wichtigtuerei, weil ich den Erwachsenen spielen wollte. Vor allem schrieb ich, weil ich Charles Schweitzers Enkel war. Man gab mir die Fabeln von La Fontaine, sie mißfielen mir: der Verfasser reimte viel zu sorglos; ich beschloß, die Fabeln in 1
Minou Drouet war um das Jahr 1955 ein Wunderkind, dessen Gedichte in Frankreich viel Aufsehen erregten. (Anm. d. Übers.) - 51 -
Alexandrinern umzuschreiben. Das Unterfangen überstieg meine Kräfte, ich glaubte zu bemerken, daß man darüber lächelte. Dies war mein letztes poetisches Experiment. Aber ich war in Fahrt; ich ging von den Versen zur Prosa über und hatte keinerlei Mühe, als Schreibender die aufregenden Abenteuer, die ich im gelesen hatte, neu zu erfinden. Es war hohe Zeit, denn ich begann die Leere meiner Träume zu entdecken. Im Verlauf meiner phantastischen Ritte hatte ich die Wirklichkeit erreichen wollen. Wenn meine Mutter mich fragte, ohne von den Noten aufzublicken: «Poulou, was machst du?», kam es manchmal vor, daß ich mein Schweigegelöbnis brach, um ihr zu antworten: «Ich mache Kino.» Tatsächlich versuchte ich, die Bilder aus meinem Kopf zu reißen und außerhalb meiner selbst zu verwirklichen, zwischen richtigen Möbeln und richtigen Wänden, ins Auge fallend und sichtbar, gleich jenen, die über die Filmleinwand rieselten. Umsonst. Es gelang mir nicht, meine doppelte Schwindelei zu vergessen: ich tat so, als sei ich ein Schauspieler, der so tut, als sei er ein Held. Kaum hatte ich mit dem Schreiben angefangen, so legte ich die Feder aus der Hand, um zu jubilieren. Es war der gleiche Schwindel, aber ich habe bereits gesagt, daß ich die Wörter für die Quintessenz der Dinge hielt. Nichts verwirrte mich stärker, als wenn ich sah, wie meine Krähenfüße nach und nach ihren Irrlichtcharakter verloren, um sich in die trübe Dichtigkeit einer Materie zu verwandeln. Es war die Verwirklichung des Eingebildeten. Weil sie in die Falle der Benennung gegangen waren, traten nun ein Löwe, ein Hauptmann des Zweiten Kaiserreichs, ein Beduine im Eßzimmer auf; sie waren dort für immer gefangen, weil sie mit Hilfe von Zeichen zu Körpern geworden waren; ich glaubte, meine Träume in der Welt dadurch verankert zu haben, daß ich mit einer Stahlfeder herumkratzte. Ich ließ mir ein Heft schenken und eine Flasche mit violetter Tinte und schrieb auf den Deckel: Romanheft. Das erste Heft, das ich vollschrieb, enthielt eine Geschichte mit dem Titel: . Ein Gelehrter - nebst Tochter und einem jungen bärenstarken Forschungsreisenden -zog der Mündung des Amazonasstromes entgegen auf der Suche nach einem kostbaren Schmetterling. Die Fabel, die Personen, das Detail der Abenteuer, sogar den Titel hatte ich einer Erzählung in Bildern entlehnt, die vor einigen Monaten erschienen war. Dies bewußte Plagiat befreite mich von meinen letzten Sorgen: alles war notwendigerweise wahr, da ich nichts erfand. Ich hatte nicht den Ehrgeiz, veröffentlicht zu werden, sondern dafür gesorgt, bereits von vornherein gedruckt zu sein, und ich schrieb keine Zeile, die nicht sanktioniert war durch mein Modell. Hielt ich mich für einen Kopisten? Nein, sondern für einen Originalautor, denn ich retuschierte und verjüngte. Beispielsweise hatte ich sorgfältig darauf geachtet, die Namen der Personen abzuändern. Diese leichten Abweichungen berechtigten mich dazu, Gedächtnis und Einbildungskraft miteinander zu verschmelzen; da die Sätze neu waren und vollständig ausgeschrieben, formten sie sich in meinem Kopf auch neu mit der unerbittlichen Sicherheit, die man für einen Ausdruck der Inspiration zu halten pflegt. Ich schrieb sie um: unter meinen Augen nahmen sie die Dichtigkeit der Dinge an. Wenn ein inspirierter Autor, wie man herkömmlicherweise zu glauben pflegt, im tiefsten Innern ein anderer ist als er selbst, so habe ich zwischen sieben und acht Jahren die Inspiration kennengelernt. Ich fiel niemals vollständig auf diese «automatische Schreibweise» herein. Aber das Spiel gefiel mir um seiner selbst willen. Ich war ein Einzelkind, und hier konnte ich allein spielen. Augenblicksweise zögerte meine Hand beim Schreiben, ich tat so, als ob ich zögerte, um mit gefurchter Stirn und dem Blick eines Besessenen zu fühlen, wie das war: ein Schriftsteller sein. Plagiate liebte ich übrigens heiß, und zwar aus Snobismus. Und ich trieb sie bewußt bis zur äußersten Grenze, wie man noch sehen wird. Boussenard und Jules Verne lassen keine Gelegenheit vorübergehen, den Leser zu belehren. In den kritischsten Augenblicken schneiden sie den Faden der Erzählung ab, um ausführlich eine Giftpflanze oder eine Eingeborenensiedlung zu beschreiben. Als Leser überschlug ich diese didaktischen Abschnitte; als Autor häufte ich sie in meinen Romanen. - 52 -
Ich erhob den Anspruch, meinen Zeitgenossen alles beizubringen, was ich nicht wußte: Sitten und Gebräuche der Bewohner von Feuerland, die Pflanzenwelt Afrikas, das Wüstenklima. Ein Schicksalsschlag hatte den Schmetterlingssammler und seine Tochter voneinander getrennt, ahnungslos hatten sie sich auf demselben Dampfer eingeschifft und waren Opfer desselben Schiffbruchs geworden, sie klammerten sich an dieselbe Boje, schauten auf und schrien: «Daisy!» - «Papa!» Aber ach, ein Haifisch schwamm umher auf der Suche nach frischem Fleisch, kam näher, und sein Bauch leuchtete zwischen den Wogen. Würden die Unglücklichen dem Tode entgehen? Ich holte mir den Band «Pr-Z» des Großen Larousse1, trug ihn mühsam zu meinem Pult, öffnete ihn an der richtigen Stelle und kopierte wörtlich Zeile für Zeile: «Haifische treten häufig auf im tropischen Teil des Atlantik. Diese großen und sehr gefräßigen Seefische werden bis zu dreizehn Meter lang und wiegen bis zu acht Tonnen..,» Ich nahm mir ausgiebig Zeit, den ganzen Artikel abzuschreiben, und fühlte mich dabei ganz entzükkend langweilig und ebenso vornehm wie Boussenard; da ich noch kein Mittel gefunden hatte, meine Helden zu erretten, kochte ich langsam im Zustand einer köstlichen Trance. Alles trug dazu bei, diese neue Tätigkeit auch nur wieder zu einer Afferei zu machen. Meine Mutter sparte nicht mit Ermunterungen und lockte die Besucher ins Eßzimmer, damit sie sehen konnten, was der junge Schöpfer an seinem Kinderpult trieb; ich tat so, als wäre ich viel zu beschäftigt, als daß ich die Gegenwart meiner Bewunderer auch nur bemerkt hätte; auf den Zehenspitzen schlichen sie wieder hinaus und murmelten, ich sei doch zu reizend und es sei doch zu charmant. Mein Onkel Emile schenkte mir eine kleine Schreibmaschine, die ich nicht benutzte; Madame Pikard kaufte mir eine Weltkarte, damit ich, ohne in Irrtümer zu geraten, den Reiseweg meiner Globetrotter festlegen konnte. Meinen zweiten Roman, , schrieb Anne-Marie auf Glanzpapier ab und gab ihn zum Lesen weiter. Sogar Mami ermunterte mich und sagte: «Wenigstens ist er artig und macht keinen Lärm.» Glücklicherweise wurde die amtliche Bestätigung vertagt, denn mein Großvater war unzufrieden. Karl war nie mit dem einverstanden gewesen, was er meine «schlechte Lektüre» nannte. Als meine Mutter ihm mitteilte, ich hätte zu schreiben begonnen, war er zunächst entzückt und erhoffte sich vermutlich eine Familienchronik mit pikanten Beobachtungen und reizenden Naivitäten. Er nahm mein Heft, blätterte darin, verzog das Gesicht und ging aus dem Eßzimmer, empört darüber, hier - von mir niedergeschrieben - die gleichen «Dummheiten» wiederzufinden wie in meinen Lieblingszeitungen. In der Folge verlor er das Interesse an meinem Schaffen. Meine Mutter war tödlich gekränkt und versuchte mehrfach, mit Hilfe von Überraschungen, ihn zum Lesen des zu bringen. Sie wartete, bis er die Pantoffeln angezogen und sich in seinen Sessel gesetzt hatte; während er sich schweigend, mit starrem und hartem Blick ausruhte, die Hände auf den Knien, griff sie nach meinem Manuskript, blätterte zerstreut darin und begann dann, plötzlich gefesselt, ganz allein zu lachen. Schließlich konnte sie nicht weiter vor Lachen, streckte meinem Großvater das Heft hin und sagte: «Lies doch, Papa! Es ist zu komisch.» Aber er wies das Heft von sich; Wenn er einen Augenblick hineinschaute, so nur, um übelgelaunt meine Rechtschreibungsfehler festzustellen. Schließlich wurde meine Mutter eingeschüchtert. Sie wagte nicht, mich zu loben, wollte mich aber auch nicht kränken; also hörte sie auf, meine Schriften zu lesen, um nicht mehr mit mir darüber reden zu müssen. Meine literarische Tätigkeit wurde also nur widerwillig geduldet, mit Stillschweigen übergangen und geriet in eine halbe Illegalität. Trotzdem setzte ich sie mit Ausdauer fort: in den Schulpausen, donnerstags und sonntags, in den Ferien und, wenn ich glücklicherweise krank war, in meinem Bett. Ich erinnere mich an glückliche Genesungen und an ein schwarzes Heft mit rotem Schnitt, das ich an mich nahm und wieder weglegte wie eine 1
Darin findet sidi das Wort requin (Haifisch). (Anm. d. Übers.) - 53 -
Handarbeit. Ich machte weniger Kino, denn meine Romane ersetzten mir alles. Kurzum, ich schrieb zu meinem Vergnügen. Meine Romanhandlungen wurden komplizierter, ich brachte dort Episoden aller Art unter und stopfte all meine Lesefrüchte hinein, die guten und die schlechten, alles durcheinander. Darunter litten die Erzählungen; trotzdem war es ein Gewinn, denn nun mußte ich Übergänge erfinden, und mit einem Schlag wurde ich ein bißchen weniger Plagiator. Und überdies verdoppelte ich mich. Als ich im Vorjahr «Kino gemacht» hatte, spielte ich meine eigene Rolle und stürzte mich kopfüber in den Bereich des Phantastischen, und mehrmals dachte ich, daß ich darin mit Haut und Haar untergehen würde. Jetzt, da ich zum Autor geworden war, blieb ich zwar gleichfalls selbst der Held, auf den ich meine epischen Träume projizierte, und dennoch waren wir nunmehr zwei: er trug nicht meinen Namen, und ich sprach von ihm nur in der dritten Person. Statt ihm meine Bewegungen zu leihen, schneiderte ich ihm mit Hilfe der Wörter einen Leib zurecht, so wie ich ihn zu sehen begehrte. Diese plötzliche «Verfremdung» hätte mich erschrecken können. Sie verzauberte mich. Ich gefiel mir darin, er zu sein, ohne daß er ganz und gar ich gewesen wäre. Er war meine Puppe, ich unterwarf ihn meinen Launen, ich konnte ihn erproben, ihm die Seite mit einem Lanzenstich durchbohren, um ihn dann zu pflegen, so wie meine Mutter mich pflegte, um ihn zu heilen, so wie sie mich heilte. Meine Lieblingsautoren pflegten, aus einem Rest von Schamgefühl, die Erhabenheit niemals allzu weit zu treiben; sogar bei Zévaco pflegte der Held niemals mehr als zwanzig Strolche auf einmal zu erlegen. Ich wollte den Abenteuerroman radikalisieren und warf alle Wahrscheinlichkeit über Bord, verzehnfachte die Feinde und die Gefahren. Um seinen künftigen Schwiegervater und seine Braut zu retten, kämpfte der junge Forscher meines Romans drei Tage und drei Nächte lang gegen die Haifische. Am Ende war das Meer gerötet; derselbe schwerverwundete Forscher entwich aus der Ranch, die von den Apachen belagert wurde, durchquerte die Wüste, hielt seine Eingeweide in den Händen, weigerte sich aber, genäht zu werden, bevor er mit dem General gesprochen hatte. Etwas später schlug derselbe Mann unter dem Namen Götz von Berlichingen ein ganzes Heer in die Flucht. Einer gegen alle. Das war meine Regel. Man suche die Quelle dieser trüben und grandiosen Träumerei im bürgerlichen und puritanischen Individualismus meiner Umwelt. Als Held kämpfte ich gegen die Tyrannei. In meiner Schöpferlaune aber machte ich mich selbst zum Tyrannen und lernte alle Versuchungen der Macht kennen. Ich war harmlos, ich wurde bösartig. Was hinderte mich daran, Daisys Augen auszustechen? Schlotternd vor Angst antwortete ich mir: nichts. Und ich stach sie ihr aus, wie ich einer Fliege die Flügel ausgerissen hätte. Klopfenden Herzens schrieb ich die Worte nieder: «Daisy bedeckte ihre Augen mit der Hand, sie war blind geworden», und ergriffen saß ich da mit erhobener Schreibfeder. Ich hatte im Absoluten ein kleines Ereignis produziert, das mich entzükkend kompromittierte. Ich war kein richtiger Sadist. Meine perverse Freude verwandelte sich plötzlich in Panik, ich machte meine sämtlichen Dekrete rückgängig, strich sie doppelt und dreifach durch, damit nichts mehr entziffert werden konnte. Das junge Mädchen konnte plötzlich wieder sehen, oder vielmehr: sie hatte niemals das Augenlicht verloren. Aber die Erinnerung an meine Launen bedrückte mich eine ganze Weile und versetzte mich in ernsthafte Unruhe. Auch die geschriebene Welt versetzte mich in Unruhe. Manchmal war ich die sanften, kindlichen Kritzeleien leid, ließ mich gehen und entdeckte voller Angst schreckliche Möglichkeiten, eine ungeheuerliche Welt, die nichts anderes war als die Rückseite meiner Allmacht. Ich sagte mir: alles kann sich ereignen, und das hieß: ich kann alles ersinnen. Zitternd und stets drauf und dran, mein Blatt zu zerreißen, erzählte ich die fürchterlichsten Greuel. Wenn meine Mutter mir zufällig über die Schulter schaute, stieß sie einen Ruhmesund Alarmschrei aus: «Welche Einbildungskraft!» Sie biß sich in die Lippen, wollte sprechen, wußte nichts zu sagen und lief eilends weg: ihr Rückzug trieb meine Angst auf die Spitze. - 54 -
Aber die Einbildungskraft war nicht mit im Spiel: ich erfand diese Scheußlichkeiten nicht, sondern ich fand sie, wie alles übrige, in meiner Erinnerung. Zu jener Zeit starb das Abendland an Atemnot: man nannte diesen Zustand «Süßigkeit des Lebens». Da die Bourgeosie keine sichtbaren Feinde besaß, machte es ihr Freude, vor dem eigenen Schatten Angst zu haben; sie vertauschte ihre Langeweile mit einer planvollen Beunruhigung. Man sprach von Spiritismus und von Erscheinungen; in der nie Le Goff Nr. 2, in dem Haus gegenüber, betrieb man Tischrücken, es geschah im vierten Stock, «beim Zauberer», wie meine Großmutter sagte. Manchmal rief sie uns, und dann kamen wir gerade noch zurecht, um Händepaare auf einem Tischchen zu erblicken, aber dann ging drüben jemand ans Fenster und zog die Vorhänge zu. Louise behauptete, der Magier werde jeden Tag von Kindern meines Alters besucht, die in Begleitung ihrer Mütter kämen, und sie sagte: «Und ich sehe, was er macht: er legt ihnen die Hände auf.» Mein Großvater schüttelte den Kopf, wagte aber nicht, solche Praktiken, wenngleich er sie verurteilte, lächerlich zu machen; meine Mutter hatte vor diesen Dingen Angst, während meine Großmutter ausnahmsweise eher interessiert als skeptisch war. Schließlich einigte man sich auf folgende Ansicht: «Man soll sich überhaupt nicht mit so was befassen, sonst wird man verrückt.» Damals waren phantastische Geschichten modern; die gutbürgerlichen Zeitungen lieferten deren zwei oder drei pro Woche an ein entchristlichtes Publikum, das den eleganten Reizen des Glaubens nachtrauerte. Der Erzähler berichtete höchst objektiv einen verwirrenden Vorfall; er gab dabei dem Positivismus eine Chance: so seltsam das Ereignis auch sein mochte, so war dabei eine rationale Deutung doch nicht ausgeschlossen. Der Verfasser suchte nach dieser Deutung, er fand sie, er legte sie uns gewissenhaft vor. Aber unmittelbar darauf zeigte er uns in kunstvoller Weise, wie ungenügend und oberflächlich diese Deutung sei. Mehr tat er nicht: die Erzählung schloß mit einem Fragezeichen. Aber es genügte: das Übersinnliche war da und war um so furchtbarer, als man nicht davon sprach. Wenn ich den <Matin> öffnete, faßte mich eisiges Entsetzen. Eine Geschichte vor allem machte mir großen Eindruck. Ich erinnere mich noch ihres Titels: <Wind in den Bäumen>. Ein Sommerabend, eine kranke Frau ist allein im ersten Stock eines Landhauses. Sie wälzt sich ruhelos in ihrem Bett hin und her; ein Kastanienbaum streckt seine Zweige durch das offene Fenster ins Zimmer. Im Erdgeschoß sind ein paar Menschen zusammen, unterhalten sich und schauen zu, wie die Nacht über den Garten hereinbricht. Plötzlich zeigt einer auf den Kastanienbaum: «Sieh an, sieh an! Ist es denn windig?» Man wundert sich und tritt auf die Terrasse: kein Lüftchen regt sich; aber die Blätter des Baumes sind in Bewegung. In diesem Augenblick ertönt ein Schrei. Der Ehemann der Kranken stürzt die Treppe hinauf und findet seine junge Frau aufgerichtet im Bett, sie zeigt mit dem Finger auf den Baum und fällt tot um; der Kastanienbaum ist wieder vollkommen ruhig. Was hat sie gesehen? Ein Irrer ist aus der Anstalt entsprungen; er wird sich im Baum versteckt und ihr sein grimassierendes Gesicht gezeigt haben. Er ist's gewesen, er muß es gewesen sein, denn keine andere Erklärung wäre befriedigend. Und trotzdem ... Wieso hat man ihn nicht gesehen, als er auf den Baum kletterte? Oder als er wieder herunterkletterte? Warum haben die Hunde nicht gebellt? Wie konnte er hundert Kilometer von dem Hause entfernt sein, als man ihn sechs Stunden später wieder einfing? Fragen ohne Antwort. Der Erzähler ging leicht darüber hinweg und schloß mit dem beiläufigen Satz: «Wenn man den Dorfleuten glauben soll, so war es der Tod, der die Zweige des Kastanienbaumes geschüttelt hat.» Ich warf die Zeitung weg, stampfte mit dem Fuß auf und sagte laut: «Nein, nein, nein!» Mein Herz schlug zum Zerspringen. Ich glaubte ohnmächtig zu werden, als ich eines Tages im Zug nach Limoges im Almanach Hachette blätterte: ich war auf eine Abbildung gestoßen, die einem die Haare in die Höhe trieb. Das Ufer eines Teiches im Mondenschein, eine lange, rauhe Zange kam aus dem Wasser hoch, schnappte nach einem Trunkenbold und zog ihn hinab in die Tiefe. Die Abbildung gehörte zu einem Text, den ich gierig las und der ungefähr so schloß: «War es die Halluzination eines Trinkers, oder hatte sich die Hölle aufgetan?» Ich - 55 -
hatte Angst vor Wasser, vor Schaltieren und vor Bäumen. Angst besonders vor Büchern: ich fluchte den Henkern, die ihre Erzählungen mit so gräßlichen Gestalten bevölkerten. Dennoch eiferte ich ihnen nach. Natürlich bedurfte es einer Gelegenheit. Beispielsweise der Abenddämmerung: im Eßzimmer wurde es langsam dunkel, ich stieß mein kleines Pult hinüber zum Fenster, die Angst trat abermals auf, die Fügsamkeit meiner unfehlbar erhabenen, verkannten und rehabilitierten Helden ließ auf ihre Substanzlosigkeit schließen; dann aber trat das da auf: ein unsichtbares, aber schwindelerregendes Wesen faszinierte mich; um es sehen zu können, mußte man es beschreiben. Rasch machte ich Schluß mit dem gerade fälligen Abenteuer, versetzte meine Gestalten in eine ganz andere Gegend der Erde, im allgemeinen in eine Region unter dem Meer oder der Erde, und beeilte mich, sie dort neuen Gefahren auszusetzen. Als Tiefseeforscher oder Amateurgeologen suchten sie nach der Spur des Seins, um sie plötzlich zu finden. Was damals aus meiner Feder kam - eine Tintenschnecke mit Feueraugen, ein Krustentier, das zwanzig Tonnen wog, eine Riesenspinne, die noch dazu sprechen konnte -, das war ich selbst, ein kindliches Monstrum, das war meine Lebensunlust, meine Todesfurcht, meine Fadheit und meine Perversität. Ich erkannte mich nicht wieder: kaum war sie in der Welt, richtete sich die ungeheuerliche Kreatur gegen mich und meine mutigen Forscher auf, ich bangte um das Leben der Gefährten, mein Herz tobte, ich vergaß ganz, daß meine Hand die Wörter niederschrieb, ich glaubte sie zu lesen. Sehr oft blieben die Dinge in der Schwebe: ich lieferte meine Leute zwar nicht dem Ungeheuer aus, zog sie aber auch nicht aus der Klemme; eigentlich genügte es, daß ich sie miteinander in Berührung gebracht hatte; ich stand auf, ging in die Küche oder die Bibliothek, am anderen Tag ließ ich ungefähr zwei Seiten weiß und trieb meine Gestalten in ein neues Abenteuer. Sonderbare «Romane», stets unvollendet, stets neu begonnen oder, wenn man so will, unter anderem Titel weitergeführt, ein Mischmasch aus schwarzen Schauergeschichten und weißen Abenteuergeschichten, aus phantastischem Geschehen und Lexikonweisheit; ich habe die Manuskripte verloren und sage mir bisweilen, das sei eigentlich schade: hätte ich daran gedacht, sie unter Verschluß zu halten, so würden sie mir heute meine ganze Kindheit überliefern. Ich begann mich zu entdecken. Ich war beinahe nichts, bestenfalls eine Tätigkeit ohne Inhalt, aber mehr brauchte ich nicht. Ich entrann dem Theaterspielen: ich arbeitete noch nicht, allein ich spielte nicht mehr. Der Lügner fand seine Wahrheit im Erarbeiten seiner Lügen. Durch Schreiben wurde ich geboren. Vorher gab es nur ein Spiel der Spiegelungen; seit ich meinen ersten Roman verfaßt hatte, wußte ich, daß sich ein Kind ins Spiegelkabinett eingeschlichen hatte. Indem ich schrieb, existierte ich und entschlüpfte den Erwachsenen, aber ich existierte bloß, um zu schreiben, und wenn ich das Wort Ich aussprach, so hieß das: Ich, der Schreibende. Immerhin, ich lernte die Freude kennen. Das öffentlich lebende Kind traf mit sich private Verabredungen. Es war zu schön, um dauerhaft zu sein. Ich wäre nämlich aufrichtig geblieben, hätte man mich in der Heimlichkeit belassen. Man zog mich daraus hervor. Ich hatte das Alter erreicht, wo die Bourgeoiskinder herkömmlicherweise die ersten Anzeichen ihrer beruflichen Neigungen erkennen lassen; seit langem hatte man uns mitgeteilt, meine Vettern Schweitzer in Guérigny würden Ingenieure werden wie ihr Vater: nun war keine Minute mehr zu verlieren. Madame Picard wollte als erste das Zeichen auf meiner Stirn entdecken. «Der Kleine wird Schriftsteller werden!» sagte sie voller Überzeugung. Louise war gereizt und lächelte ein bißchen unfreundlich; Blanche Picard schaute sie an und wiederholte sehr ernst: «Er wird Schriftsteller werden! Er ist der geborene Schriftsteller.» Meine Mutter wußte, daß Charles mich durchaus nicht ermunterte; sie sah Komplikationen voraus und schaute mich genau an: «Glauben Sie wirklich, Blanche? Glauben Sie wirklich?» Am Abend aber, als ich im Hemd auf mein Bett sprang, packte sie mich fest bei den Schultern und sagte lächelnd: «Mein Liebchen wird Schriftsteller werden!» Mein Großvater wurde vorsichtig unterrichtet, denn - 56 -
man befürchtete einen Ausbruch. Er schüttelte nur den Kopf, und ich hörte, wie er am Donnerstag darauf zu Monsieur Simonnot sagte, niemand könne am Abend seines Lebens ohne innere Bewegung das Erwachen eines Talents erleben. Nach wie vor übersah er meine Kritzeleien, aber wenn seine deutschen Schüler zum Abendessen eingeladen waren, legte er mir die Hand auf den Schädel und benutzte die Gelegenheit, ihnen abermals in direkter Methode eine typisch französische Redewendung beizubringen, indem er in sorgfältiger Aussprache erklärte, meine Stirn trage «den Buckel der Literatur». Er glaubte nicht ein Wort von dem, was er sagte, ach wo! Aber das Unglück war geschehen. Widersprach man mir ausdrücklich, so wurde das Unglück schlimmer: dann würde ich vielleicht eigensinnig werden. Also verkündete Charles meine Berufung, um sich die Möglichkeit offenzuhalten, mich davon abzubringen. Er war das Gegenteil eines Zynikers, wurde aber alt: seine Begeisterung begann ihn zu ermüden. Ich bin sicher, daß er in seinen innersten Gedanken, in einer kalten und selten aufgesuchten Wüste, genau wußte, woran man mit mir war und mit der Familie und mit ihm selbst. Als ich eines Tages zwischen seinen Füßen lag und las, kam ihm in jenen langen, versteinerten Minuten des Schweigens, die er uns aufzwang, ein Gedanke, so daß er meine Gegenwart vergaß, meine Mutter vorwurfsvoll anschaute und sagte: «Und wenn er es sich nun in den Kopf setzt, von seiner Schriftstellerei leben zu wollen?» Mein Großvater schätzte Verlaine und besaß einen Auswahlband seiner Gedichte. Aber er glaubte, ihn im Jahre 1894 gesehen zu haben, wie er stinkbesoffen in einer Kneipe der rue Saint-Jacques auftauchte. Diese Begegnung hatte seine Verachtung aller Berufsschriftsteller gefestigt; jener lächerlichen Wundermänner, die ein Goldstück fordern, wofür sie einem den Mond zeigen wollen, um schließlich für fünf Franken den Mond ihres Hintern zu zeigen. Meine Mutter machte ein ängstliches Gesicht, sagte aber nichts: sie wußte, daß Charles andere Dinge mit mir vorhatte. In den meisten Gymnasien wurde der Deutschunterricht von Elsässern erteilt, die für Frankreich optiert hatten und deren Patriotismus auf diese Weise belohnt wurde. Sie waren aber zwischen zwei Nationen und Sprachen aufgewachsen, hatten nicht richtig studiert, und ihre Bildung wies Lücken auf; darunter litten sie und klagten auch, die Feindseligkeit ihrer Kollegen zwinge sie, innerhalb des Lehrkörpers immer abseits zu stehen. Ich sollte der Rächer werden, ich sollte meinen Großvater rächen: ich, der Enkel eines Elsässers und gleichzeitig ein richtiger Franzose aus Frankreich. Karl würde dafür sorgen, daß ich ein umfassendes Wissen erwarb, dann würde ich mich ins gemachte Bett legen können. In meiner Person würde das gemarterte Elsaß einziehen in die Ecole Normale Supérieure, glänzend alle Examina bestehen, um fürstlich zu enden: als Literaturprofessor. Eines Abends kündigte er an, er wolle mit mir von Mann zu Mann sprechen; die Frauen gingen aus dem Zimmer, er nahm mich auf die Knie und sprach ernst mit mir. Ich würde Schriftsteller werden, einverstanden. Ich wüßte doch genau, daß ich seinen Widerstand gegen
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Von Literatur könne man nicht leben... - 58 -
... meinte der Großvater; von Literatur vielleicht schon, aber selten von ihrem Ertrag. Theodor Gottlieb von Hippel, Kriminalrat und Dichter zu Königsberg, auch häufiger Tischgenosse Kants, sagte zwar einst, ein Poet «verzinset oft einen Gedanken mit fünfzig Procent, oft mit mehr». Nur: Es dauert mitunter hundert Jahre und länger, bis die Zinsen fällig werden. Deshalb wohl meinte Sven Hedin, die Dichter seien kein seßhafter oder steuerzahlender Stand. Und deshalb auch gab Schopenhauer den «Künstlern und virtuosi jeder Art» den Rat zu sparen: «Leute, die... endlich in die Lage kommen, durch ihre Talente ... viel zu verdienen, geraten fast immer in die Einbildung, ihr Talent sei das bleibende Kapital und der Gewinn dadurch die Zinsen. Demgemäß legen sie dann nicht das Erworbene teilweise zurück, um so ein bleibendes Kapital zusammenzubringen, sondern geben aus, in dem Maße, wie sie verdienen. Danach aber», so warnt er, «werden sie meistens in Armut geraten.»
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Sicherheit
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meine Wünsche nicht zu befürchten hätte. Aber man müßte die Dinge genau und nüchtern betrachten: von Literatur könne man nicht leben. Ob ich wüßte, daß berühmte Schriftsteller verhungert seien? Daß andere sich verkauft hätten, um leben zu können? Wolle ich meine Unabhängigkeit bewahren, so müsse ich einen zweiten Beruf ergreifen. Der Beruf des Lehrers lasse einem genügend Zeit; die Tätigkeit eines Universitätsprofessors sei der jenigen eines Literaten verwandt, ich könne also ständig von einem Priestertum zum anderen hinüberwechseln; ich würde Umgang haben mit den besten Schriftstellern; ich würde ihre Werke vor meinen Schülern kommentieren und gleichzeitig darin eine Quelle eigener Inspiration finden. In meiner Einsamkeit in der Provinz würde es eine Zerstreuung für mich sein, selbst Gedichte zu schreiben, zum Beispiel eine Horaz-Übersetzung in Blankversen, ich würde in den Lokalzeitungen kurze literarische Beiträge veröffentlichen, in der einen glänzenden Essay über den Griechischunterricht oder die Psychologie des Jugendalters; nach meinem Tode fände man vielleicht in meinem literarischen Nachlaß eine Betrachtung über das Meer, auch wohl ein Lustspiel in einem Akt, ein paar gelehrte und erfühlte Betrachtungen über die Baudenkmäler von Aurillac, so daß man daraus ein hübsches Sammelbändchen machen könnte, für dessen Herausgabe meine ehemaligen Schüler zu sorgen hätten. Seit einiger Zeit pflegte ich eisig zu werden, wenn mein Großvater über meine Tugenden in Ekstase geriet; wenn er mit einer vor Liebe zitternden Stimme von mir als einem «Geschenk des Himmels» sprach, tat ich zwar noch, als hörte ich zu, achtete aber schließlich überhaupt nicht mehr darauf. Warum habe ich ihm an jenem Tage Gehör geschenkt, in jenem Augenblick, da er mich ganz bewußt belog? Wo war das Mißverständnis, das mich das Gegenteil dessen verstehen ließ, was die Stimme mir sagen wollte? Es lag daran, daß die Stimme verändert klang, trockener, härter; ich nahm sie für die Stimme desjenigen, der mich erzeugt hatte. Charles besaß zwei Gesichter. Wenn er den Großvater spielte, hielt ich ihn für einen Hampelmann meiner eigenen Art und achtete ihn nicht. Wenn er aber mit Monsieur Simonnot sprach oder mit seinen Söhnen, wenn er sich bei Tisch von seinen Frauen bedienen ließ und wortlos mit dem Finger auf die ölkaraffe oder den Brotkorb deutete, dann bewunderte ich seine Autorität. Vor allem die Sache mit dem Zeigefinger machte mir Eindruck: er achtete darauf, ihn nicht richtig auszustrecken, sondern halb gekrümmt in der Luft spazierenzuführen, so daß der Hinweis ungenau blieb und seine beiden Dienerinnen die Befehle erraten mußten. Manchmal irrte sich meine Großmutter in ihrer Erbitterung und gab ihm die Kompottschüssel, wenn er trinken wollte. Ich schämte mich für meine Großmutter und neigte mich tief vor diesen Königswünschen, die man vor allem zu erraten und dann erst zu erfüllen hatte. Hätte Charles damals unter großem Geschrei und mit geöffneten Armen verkündet: «Hier ist der neue Victor Hugo, hier wächst ein Shakespeare heran!», so wäre ich heute ein Industriezeichner oder ein Literaturprofessor. Er hütete sich wohl, das zu verkünden. Zum erstenmal bekam ich es mit dem Patriarchen zu tun; er schien trüb gestimmt und war um so verehrungswürdiger, als er vergessen hatte, mich anzubeten. Er war Moses, der das neue Gesetz verkündet. Mein Gesetz. Er hatte meine Berufung nur erwähnt, um ihre Nachteile zu unterstreichen. Daraus schloß ich, daß er sie für endgültig hielt. Hätte er mir vorausgesagt, ich würde unter heißen Tränen meine Seiten herunterschreiben oder mich in Krämpfen auf dem Teppich wälzen, so hätte es meine bürgerliche Mäßigung mit der Angst bekommen. Er überzeugte mich von meiner Berufung, indem er mich verstehen ließ, solch üppige Unordnung sei mir versagt. Um über Aurillac oder Erziehungsfragen schreiben zu können, muß man nicht im Fieber sein und kommt ohne Seelentumulte aus. Die unsterblichen poetischen Schluchzer des XX. Jahrhunderts waren anderen Leuten vorbehalten. Ich ergab mich in mein Schicksal, niemals Sturm und Blitz sein zu können, sondern in der Literatur durch Eigenschaften der Häuslichkeit zu glänzen, durch meine Nettigkeit und meinen Fleiß. Das Handwerk des Schriftstellers erschien mir als eine Tätigkeit von Erwachsenen, die so - 60 -
schrecklich ernst ist, so hinfällig und im Grunde so uninteressant, daß ich nicht einen Augenblick daran zweifelte, gerade sie sei mir vorbehalten. Ich sagte mir gleichzeitig: «Mehr ist das also nicht» und: «Ich bin begabt.» Wie alle Hohlköpfe verwechselte ich die Enttäuschung mit der Wahrheit. Karl hatte mich wie ein Kaninchenfell umgekrempelt. Als ich schrieb, hatte ich geglaubt, meine Träume festzuhalten, während ich in Wirklichkeit, wollte man ihm Glauben schenken, nur geträumt hatte, um meine Feder zu üben. Meine Ängste und vorgestellten Leidenschaften wären nur Listen meines Talents und hatten keinen anderen Sinn als den: mich jeden Tag an mein Pult zu zwingen und Erzählungsstoff zu liefern, der meinem Alter entsprach, bevor die großen Diktate der Erfahrung und der Reife stattfinden konnten. Ich verlor meine fabelhaften Illusionen. Mein Großvater sagte: «Oh, es genügt nicht, Augen zu haben, man muß lernen, sie zu gebrauchen. Weißt du, was Flaubert mit dem kleinen Maupassant gemacht hat? Er setzte ihn vor einen Baum und gab ihm zwei Stunden Zeit, den Baum zu beschreiben.» Ich lernte also sehen. Als künftiger Sänger der Bauwerke von Aurillac betrachtete ich melancholisch diese anderen Monumente; die Schreibunterlage, das Klavier, die Standuhr, die ihrerseits – warum eigentlich nicht? - durch meine künftigen Fleißarbeiten unsterblich werden sollten. Ich beobachtete. Es war ein trostloses und enttäuschendes Spiel; man mußte sich vor dem Sessel aus geripptem Samt aufpflanzen, um ihn zu inspizieren. Was hatte er zu sagen? Also: er war überzogen mit einem grünen und abgenutzten Stoff, hatte zwei Arme, vier Füße, eine Lehne, an deren Spitze sich zwei kleine holzgeschnitzte Tannenzapfen befanden. Dies war für den Augenblick alles, aber ich würde auf die Sache zurückkommen und es beim nächstenmal besser machen, und schließlich würde ich den Sessel genau kennen. Später würde ich ihn dann beschreiben, und die Leser würden sagen: «Wie genau das beobachtet ist, wie er das gesehen hat, genauso ist es. Solche Einzelheiten erfindet man nicht!» Wenn ich echte Gegenstände mit echten Worten wiedergab, die ich mit einer echten Feder niederschrieb, so mußte es mit dem Teufel zugehen, wenn ich dabei nicht auch selbst echt wurde. Kurzum, ich würde dann ein für allemal wissen, was man den Schaffnern zu antworten hat, die nach der Fahrkarte fragen. Man kann sich denken, daß ich mein Glück zu schätzen wußte. Ärgerlich war nur, daß ich es nicht genoß. Ich hatte den Titel empfangen, man hatte die Güte gehabt, mir eine Zukunft zu geben, und ich verkündete, ich sei von ihr entzückt, insgeheim aber fand ich sie abscheulich. Hatte ich mich denn um dieses Amt eines Protokollführers beworben? Der Umgang mit den großen Männern hatte mich davon überzeugt, man könne nicht Schriftsteller sein, ohne sehr berühmt zu werden; wenn ich aber den Ruhm, der mir vorherbestimmt war, mit den paar Büchlein verglich, die ich hinterlassen sollte, so fühlte ich mich geprellt: konnte ich wirklich glauben, meine Großneffen würden mich nach meinem Tode lesen und sich begeistern für ein so winziges Lebenswerk, für eine Thematik, die mich jetzt bereits langweilte? Ich sagte mir bisweilen, mein «Stil» werde mich vor dem Vergessenwerden bewahren, diese rätselhafte Fähigkeit, die mein Großvater einem Stendhal absprach, um sie einem Renan zuzuerkennen; aber diese Worte ohne Sinn vermochten mich nicht zu beruhigen. Vor allem hatte ich auf mich selbst zu verzichten. Noch vor zwei Monaten war ich ein Raufbold und ein Athlet gewesen. Aus damit! Man hieß mich wählen zwischen Corneille und Pardaillan. Ich trennte mich von Pardaillan, den ich heiß liebte; aus Demut entschied ich mich für Corneille. Ich hatte die Helden gesehen, wie sie im Luxembourg herumliefen und miteinander kämpften; niedergeschmettert von ihrer Schönheit, hatte ich begriffen, daß ich einer untergeordneten Gattung angehörte. Das mußte man verkünden, den Degen zurückstecken in die Scheide, zurückkehren zur Herde und den Verkehr wieder aufnehmen mit den großen Schriftstellern, diesen Hampelmännern, vor denen ich keine Angst hatte. Sie waren rachitische Kinder gewesen, darin wenigstens war ich ihnen ähnlich; sie waren kümmerliche Erwachsene und hustende Greise geworden, auch darin würde ich ihnen gleichen; ein Aristokrat hatte Voltaire durchprügeln lassen, und vielleicht würde auch ich - 61 -
eines Tages von einem Hauptmann, einem ehemaligen Kämpen aus dem Luxembourg-Garten, mit der Reitpeitsche geschlagen werden. Wenn ich mich für begabt hielt, so geschah das aus Resignation. In Charles Schweitzers Arbeitszimmer, unter den abgenutzten, zerfledderten, ihrer Umschläge beraubten Büchern, war das Talent die am wenigsten geschätzte Sache von der Welt. So hätten unter dem Ancien régime viele jüngere Adelssöhne alles darum gegeben, ein Bataillon zu befehligen, während sie von Geburt an für den geistlichen Stand bestimmt waren. Ein Bild hat lange Zeit in meinen Augen den festlichen Trübsinn der Hochachtbarkeit zusammengefaßt: ein langer Tisch, bedeckt mit einer weißen Tischdecke, trägt Karaffen mit Orangeade und Sektflaschen, ich nehme ein Sektglas, befrackte Herren, die mich umgeben - mindestens fünfzehn -, bringen einen Toast auf meine Gesundheit aus, ich ahne hinter uns die gewaltige, staubige und menschenleere Ausdehnung eines gemieteten Festsaales. Man sieht also, daß ich nichts mehr vom Leben erwartete als eine späte Wiederholung der Jahresabschlußfeier im Fremdspracheninstitut. So ist mein Schicksal geschmiedet worden: im Haus Nr. 1 der rue Le Goff, in einer Wohnung des fünften Stocks, unter Goethe-Bänden und Schiller-Bänden, oberhalb von Moliére, von Racine, von La Fontaine, im Angesicht von Heinrich Heine und Victor Hugo, im Lauf von hundertfach erneuerten Gesprächen. Karl und ich jagten die Frauen fort, wir umarmten uns eng und flüsterten uns jene Gespräche Schwerhöriger ins Ohr, deren jedes Wort mich gezeichnet hat. Mit Hilfe gut gesetzter Farbtupfen brachte mir Charles bei, ich hätte kein Genie. Ich hatte in der Tat kein Genie, ich wußte es, aber es war mir wurst; der fehlende, der unmögliche Heroismus war alleiniger Gegenstand meiner Leidenschaft. Er ist die Fackel armer Seelen; meine innere Misere und das Gefühl meiner Nutzlosigkeit erlaubten mir nicht, ganz und gar auf ihn zu verzichten. Ich wagte nicht mehr, über meine künftigen Heldentaten entzückt zu sein, im Grunde aber war ich tief erschrocken: man mußte entweder das Kind oder die Berufung vertauscht haben. Da ich verloren war, akzeptierte ich, um Karl zu gehorchen, die emsige Laufbahn eines unbedeutenden Schriftstellers. Kurzum, ich warf mich in die Literatur wegen der Mühe, die er sich gab, mich davon abzubringen. Es geht so weit, daß ich mich heute noch in Augenblicken schlechter Laune frage, ob ich nicht zahllose Tage und zahllose Nächte verlebt, zahllose Blätter mit meiner Tinte bedeckt, zahllose Bücher, die niemand begehrte, auf den Büchermarkt geworfen habe, in der einzigen und wahnsinnigen Hoffnung, meinem Großvater damit zu gefallen. Das wäre wirklich ein Witz: im Alter von mehr als fünfzig Jahren unterwegs zu sein, um den Willen eines Mannes zu erfüllen, der lange tot ist, unterwegs zu sein auf einem Wege, den er zweifellos mißbilligt hätte. In Wirklichkeit gleiche ich der Gestalt des Swann bei Marcel Proust, der sich von seiner Liebe geheilt findet und seufzt: «Wenn ich bedenke, daß ich mir mein Leben verdarb wegen einer Frau, die gar nicht mein Typ war.» Manchmal bin ich heimlich ein Rüpel: das ist eine elementare Hygiene. Ein Rüpel hat immer recht, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Gewiß, ich bin kein begabter Schriftsteller; man hat es mir zu verstehen gegeben; man hat gesagt, ich sei ein Schriftsteller der Fleißübungen. Ich bin ein Schriftsteller der Fleißübungen, meine Bücher riechen nach Schweiß und Mühe, ich gebe zu, daß unsere Aristokraten sie übelriechend finden müssen; ich habe sie oft gegen mich geschrieben, was heißen will: gegen jedermann, in einer geistigen Spannung, die schließlich meine Arterien überanstrengt hat.1 Man hat mir meine Gebote unter die Haut genäht. Wenn ich einen Tag nicht schreibe, brennt die Narbe; wenn ich zu leicht schreibe, brennt sie auch. Diese kärgliche Forderung überrascht mich heute durch ihre Starrheit und Unerbittlichkeit. Sie gleicht jenen vorgeschichtlichen und feierlichen Schaltieren, die das Meer auf den Strand von Long Island warf. Sie ist in der 1
Ist man nachgiebig gegen sich selbst, so wird man geliebt von den anderen nachgiebigen Leuten; zerreißt man seinen Nachbarn, so lachen die anderen Nachbarn darüber. Aber wenn man die eigene Seele prügelt, gibt es einen Aufschrei aller Seele. - 62 -
gleichen Weise ein Überbleibsel vergangener Zeiten. Lange Zeit habe ich die Pförtnerinnen in der rue Lacépéde beneidet, wenn der Sommer und der Abend sie vor das Haus locken, wo sie rittlings auf ihren Stühlen sitzen. Ihre unschuldigen Augen sehen, ohne genötigt zu sein, zu betrachten. Andererseits ist es so: von einigen Greisen, die ihre Feder in Kölnischwasser tauchen, und von kleinen Dandies abgesehen, die wie Metzger schreiben, gibt es gar keinen Schriftsteller, der Fleißübungen macht. Das hängt mit der Natur der Wörter zusammen: man spricht in seiner eigenen Sprache, man schreibt in einer fremden Sprache, woraus ich schließe, daß wir uns alle in unserem Handwerk gleichen; wir alle sind im Bagno, wir alle sind tätowiert. Und außerdem hat der Leser begriffen, daß ich meine Kindheit verabscheue, mitsamt all ihren Überresten: mitsamt der Stimme meines Großvaters, dieser Schallplattenstimme, die mich weckt, so daß ich aufspringe und an den Schreibtisch stürze; ich würde aber nicht auf sie achten, wenn sie nicht zugleich meine eigene Stimme wäre - und wenn ich nicht, zwischen acht und zehn Jahren, auf eigene Rechnung und im Zustand der Anmaßung den sogenannt gebieterischen Auftrag für mich übernommen hätte, den ich im Zustand der Demut empfangen hatte. Ich weiß sehr gut, daß ich nur eine Maschine zum Büchermachen bin. (Chateaubriand) Ich war drauf und dran, alles hinzuschmeißen. In der Begabung, die mir Karl höchst widerwillig zuerkannte, da es ihm ungeschickt vorkam, sie mir gänzlich abzusprechen, sah ich im Grunde nur den Zufall, dem es nicht gelang, jenen anderen Zufall zu legitimieren: mich selbst. Meine Mutter hatte eine schöne Stimme, folglich sang sie. Trotzdem reiste sie ohne Fahrkarte. An meiner Stirn sah man den Buckel der Literatur, folglich würde ich Schriftsteller werden und diese Chance mein Leben lang ausbeuten. Einverstanden. Aber die Kunst verlor wenigstens für mich - ihre geheiligten Kräfte; ich blieb auch weiterhin ein Vagabund, vielleicht ein bißchen besser ausgestattet, das war alles. Damit ich imstande war, mich als notwendig zu empfinden, mußte der Fall eintreten, daß man mich anforderte. Meine Familie hatte mich eine Zeitlang in dieser Illusion gewiegt; man sagte mir immer wieder, ich sei ein Himmelsgeschenk, auf das man gewartet habe, und sei für meinen Großvater und meine Mutter unentbehrlich. Daran glaubte ich nicht mehr, aber zurückgeblieben war bei mir das Gefühl, daß man als ein Überzähliger geboren wird, es sei denn, man sei eigens in die Welt gekommen, um eine Erwartung zu erfüllen. Mein Stolz und meine Hilflosigkeit waren zu jener Zeit so groß, daß ich mir wünschte, entweder tot zu sein oder begehrt von der ganzen Welt. Ich schrieb nicht mehr. Madame Picards Erklärungen hatten den Selbstgesprächen meiner Feder eine solche Bedeutung gegeben, daß ich sie nicht fortzusetzen wagte. Als ich mich wieder meinem Roman zuwenden wollte, um wenigstens das junge Paar zu retten, das ich ohne Vorräte und Tropenhelme mitten in der Sahara zurückgelassen hatte, lernte ich die Ängste der Impotenz kennen. Kaum saß ich am Schreibtisch, so erfüllte Nebel meinen Kopf, ich kaute an meinen Nägeln und schnitt Grimassen: ich hatte die Unschuld verloren. Ich stand auf und rannte mit den Gefühlen eines Brandstifters im Zimmer umher. Aber ach, ich bin niemals zum Brandstifter geworden. Da ich von Hause aus fügsam war, Geschmack fand an meiner Fügsamkeit und sie mir zur Gewohnheit machte, bin ich später nur dadurch zum Rebellen geworden, daß ich die Unterwürfigkeit bis zum Äußersten trieb. Man kaufte mir ein Heft für Schulaufgaben aus schwarzem Leinen mit rotem Schnitt; kein äußeres Zeichen unterschied es von meinem Romanheft. Kaum hatte ich es angeschaut, so vollzogen meine - 63 -
Schulaufgaben und meine persönlichen Verpflichtungen eine Fusion, ich identifizierte den Autor mit dem Schulkind, das Schulkind mit dem künftigen Lehrer, Schriftstellerei und Erteilung von Grammatikunterricht wurden zur Einheit; meine vergesellschaftete Feder fiel mir aus der Hand, und mehrere Monate verstrichen, ehe ich sie wieder ergriff. Mein Großvater lächelte in seinen Bart hinein, wenn ich mürrisch in seinem Arbeitszimmer herumschlich: wahrscheinlich sagte er sich, hier reiften die ersten Früchte seiner Politik. Seine Politik scheiterte aber, weil ich für das Heldenepos geboren war. Mein Degen lag zerbrochen, ich selbst war in den Bürgerstand zurückgestoßen worden, und ich träumte nachts häufig folgenden Angsttraum: ich war im Luxembourg-Garten, in der Nähe des Bassins, gerade gegenüber dem Senatsgebäude. Es galt, ein kleines blondes Mädchen vor unbekannter Gefahr zu schützen; das Kind glich der vor einem Jahr verstorbenen Vévé. Ruhig und vertrauensvoll schaute die Kleine mit ihren ernsten Augen zu mir auf; oft hielt sie einen Reifen in der Hand. Ich selbst hatte Angst: ich fürchtete, sie den unsichtbaren Mächten preisgeben zu müssen. Und wie liebte ich sie gleichzeitig, mit welcher trostlosen Liebe! Ich liebe sie immer noch; ich habe sie gesucht, verloren, wiedergefunden, in meinen Armen gehalten, abermals verloren: sie war das Heldenlied. Im Alter von acht Jahren, als ich schon bereit war zur Resignation, kam es zu einem heftigen Aufbäumen. Um das kleine tote Mädchen zu retten, stürzte ich mich in ein einfaches und wahnsinniges Unternehmen, das den Lauf meines Lebens veränderte : ich übertrug auf den Schriftsteller die geheiligten Kräfte des Helden. Den Ursprung bildete eine Entdeckung oder eigentlich eine Reminiszenz, denn zwei Jahre vorher hatte ich in dieser Hinsicht eine Vorahnung gehabt: die Schriftsteller sind den fahrenden Rittern darin verwandt, daß die einen wie die anderen leidenschaftliche Zeugnisse der Dankbarkeit empfangen. Für Pardaillan verstand sich das von selbst. Die Tränen der dankbaren Waisenmädchen hatten den Rücken seiner Hand benetzt. Aber wenn ich dem Großen Larousse glauben durfte und den Nekrologen, die ich in der Zeitung las, so war der Schriftsteller nicht minder begünstigt. Wenn er lange genug lebte, kam es unweigerlich dahin, daß er den Brief eines Unbekannten empfing, der ihm dankte; von diesem Augenblick an hörten die Dankschreiben überhaupt nicht wieder auf, häuften sich auf seinem Schreibtisch, lagen überall im Zimmer herum; fremde Leute kamen übers Meer, um ihn zu begrüßen, nach seinem Tode veranstalteten die Mitbürger eine Sammlung, um ihm ein Denkmal zu errichten. In seiner Geburtsstadt und manchmal in der Hauptstadt seines Landes trugen Straßen seinen Namen. An sich interessierten mich diese Glückwünsche nicht, denn sie erinnerten mich allzu stark an das Familientheater. Aber eine Abbildung regte mich gewaltig auf: der berühmte Romancier Dickens soll in wenigen Stunden in New York an Land gehen, man sieht in der Ferne das Schiff, das ihn bringt; die Menge drängt sich am Kai, um ihn zu empfangen, alle Münder sind geöffnet, tausend Mützen werden geschwenkt, das Gedränge ist so groß, daß Kinder ersticken, aber die Menge ist trotzdem einsam, verwitwet und verwaist, sie ist entvölkert durch die bloße Abwesenheit des Mannes, den sie erwartet. Ich murmelte: «Einer fehlt hier, nämlich Dickens», und Tränen standen in meinen Augen. Aber ich schob diese Wirkungen beiseite, um mich unmittelbar der Ursache zuzuwenden, und sagte mir: damit sie so wahnsinnig gefeiert werden, müssen Schriftsteller die schlimmsten Gefahren bestehen und der Menschheit die gewaltigsten Dienste leisten. Einmal in meinem Leben hatte ich einen ähnlich entfesselten Enthusiasmus erlebt: Hüte flogen in die Luft, Männer und Frauen schrien bravo und hurra. Es war der 14. Juli, und die Turcos zogen im Paradeschritt vorbei. Diese Erinnerung überzeugte mich vollends: trotz ihrer körperlichen Gebrechen, ihrer Affektiertheit, ihres scheinbar femininen Gebarens waren meine Schriftstellerkollegen in ihrer Art gleichfalls Soldaten, sie wagten ihr Leben als Freischärler in geheimnisvollen Kämpfen, man applaudierte ihrem Kriegermut noch mehr als ihrem Talent. Also ist es wahr! sagte ich mir. Man braucht sie! In Paris und New York und Moskau wartet man auf sie ängstlich oder ekstatisch, noch bevor sie ihr erstes Buch veröffentlicht haben, noch bevor sie mit dem - 64 -
Schreiben begannen, sogar noch vor ihrer Geburt. Na also... und ich? Ich, dessen Mission darin bestand, Schriftsteller zu werden? Also wartete man auch auf mich. Ich staffierte Corneille als Pardaillan aus. Er behielt seine kurzen Beine, seine schmale Brust und sein Fastengesicht, aber ich nahm ihm seinen Geiz und seine Gewinnsucht weg; bewußt ließ ich Schriftstellerkunst und Edelmut zusammenfließen. Daraufhin war es ein Kinderspiel, mich selbst in Corneille zu verwandeln und mir den Auftrag zu geben, die Menschheit zu schützen. Mein neuer Schwindel bereitete mir eine komische Zukunft vor; im Augenblick freilich hatte ich alles dabei zu gewinnen. Ich habe von meinen Anstrengungen erzählt, als ein Schlechtgeborener von neuem geboren zu werden; tausendmal hatte mich das Flehen der gefährdeten Unschuld auferweckt. Aber das war bloß zum Spaß; als falscher Ritter vollbrachte ich falsche Heldentaten, deren Substanzlosigkeit mich schließlich angewidert hatte. Und nun gab man mir meine Träume zurück, und die Träume wurden zur Wirklichkeit. Denn meine Berufung war wirklich, daran konnte ich nicht zweifeln, da der Hohepriester sie mir selbst garantiert hatte. Aus einem bloß eingebildeten Kind wurde ich zu einem echten Paladin, dessen Taten in echten Büchern bestehen würden. Ich wurde erwartet: man wartete auf mein Werk, dessen erster Band trotz all meines Eifers nicht vor dem Jahre 1935 erscheinen würde. Ungefähr um das Jahr 1930 würden die Leute ungeduldig werden und zueinander sagen: «Der nimmt sich aber Zeit! Nun füttert man ihn bereits fünfundzwanzig Jahre, und er tut nichts! Sollen wir denn verrecken, ohne ihn gelesen zu haben?» Ich antwortete ihnen mit meiner Stimme vom Jahre 1913: «Ach, laßt mich doch in Ruhe arbeiten!» Aber ich sagte es nett, denn ich sah, daß sie - Gott weiß warum - meiner Hilfe bedurften und daß dieses Bedürfnis mich hervorgebracht hatte: als einziges Mittel, das Bedürfnis zu stillen. Ich gab mir Mühe, in meinem Innern diese allgemeine Erwartung, meinen Lebensquell und meine Daseinsberechtigung, zu überraschen; bisweilen glaubte ich, nun sei es soweit, und dann, nach einem Augenblick, ließ ich alles wieder laufen. Trotzdem: die falschen Erleuchtungen reichten mir aus. Beruhigt schaute ich hinaus: vielleicht «fehlte» ich bereits in gewissen Gegenden. Ach nein: es war noch zu früh. Als schönes Objekt eines Begehrens, das noch nicht bewußt geworden war, willigte ich freudig ein, für einige Zeit das Inkognito zu wahren. Manchmal nahm mich meine Großmutter mit zur Leihbibliothek, und ich sah amüsiert die langen Damen, wie sie nachdenklich und unzufrieden an den Wänden entlangstrichen auf der Suche nach dem Autor, der sie zufriedenstellen würde: aber er blieb unauffindbar, denn ich war dieser Autor, ich, der Knirps zwischen ihren Rockfalten, den sie nicht einmal anschauten. Ich lachte heimtückisch, ich weinte vor Rührung. Ich hatte mein kurzes Leben damit zugebracht, mir Vorlieben und Parteinahmen zu erfinden, die sich alsbald auflösten. Nun aber hatte man mich sondiert, und die Sonde war auf Felsgestein gestoßen. Ich war ein Schriftsteller, so wie Charles Schweitzer ein Großvater war: von Geburt an und für immerdar. Es kam allerdings vor, daß sich unter dem Enthusiasmus eine Unruhe bemerkbar machte. In meinem durch Karl offenbar kautionierten Talent wollte ich nicht nur einen Zufall erblicken und hatte mich darauf eingerichtet, darin einen Auftrag zu sehen. Da man mich aber nicht ermutigte und keine wirkliche Anforderung vorlag, gelang es mir nicht, zu vergessen, daß ich mir den Auftrag selbst erteilt hatte. Im Augenblick, da ich der Natur entrann, um nunmehr Ich zu werden, algo jener andere, der zu sein in den Augen der anderen ich behauptete, sah ich plötzlich, aufgetaucht aus einer Vorwelt, meinem Geschick in die Augen, und ich erkannte mein Geschick: es war nur meine Freiheit, die sich vor mir - dank meinen Bemühungen - wie eine fremde Gewalt aufgerichtet hatte. Kurzum, es gelang mir nicht, mich ganz und gar zu beschwindeln oder mich ganz und gar zu entmutigen. Ich schwankte hin und her. Mein Zögern stellte mich abermals vor ein altes Problem: wie ließ sich die Gewißheit eines Michael Strogoff mit dem Edelmut eines Pardaillan verbinden? Als Ritter hatte ich niemals die Befehle des Königs entgegengenommen; sollte ich nun bereit sein, auf Kommando zu - 65 -
schreiben? Das Unbehagen hielt niemals sehr lange an; ich war im Banne von zwei entgegengesetzten Mystiken, kam aber mit ihrem Widerspruch sehr gut zurecht. Es paßte mir sogar in den Kram, gleichzeitig ein Geschenk des Himmels und ein Sohn meiner Werke zu sein. War ich guter Laune, so hatte ich alles von mir selbst, hatte mich aus eigener Kraft aus dem Nichts gezogen, um den Menschen den gewünschten Lesestoff zu bringen. Ich war ein unterwürfiges Kind, und ich würde bis zum Tode gehorchen: aber mir selbst. In Stunden der Trostlosigkeit, wenn ich die ekelhafte Fadheit meines disponiblen Daseins spürte, gelang es mir nur, mich zu beruhigen, indem ich auf die Karte der Vorherbestimmung setzte. Ich rief die Menschheit zusammen und machte sie für mein Leben verantwortlich; ich war nur das Erzeugnis eines Kollektivwunsches. Die meiste Zeit bewahrte ich mir den Seelenfrieden, indem ich sorgfältig darauf achtete, weder die beglückende Freiheit noch die rechtfertigende Notwendigkeit ganz auszuschließen. Pardaillan und Strogoff konnten gut miteinander auskommen, denn die Gefahr lag woanders, und ich wurde Zeuge einer recht unbehaglichen Begegnung, die mich zwang, in der Folge vorsichtiger zu werden. Schuld daran war allein Zévaco, dem ich nicht mißtraut hatte. Wollte er mich ärgern, oder wollte er mich warnen? Tatsache ist, daß der Autor Zévaco eines schönen Tages in Madrid in einer posada, als ich nur Augen hatte für Pardaillan, der sich hier ausruhte, der Arme, und ein wohlverdientes Glas Wein trank, meine Aufmerksamkeit auf einen anderen Gast lenkte, der niemand anderes war als Cervantes. Die beiden Männer schließen Bekanntschaft, geben einander zu verstehen, daß sie viel voneinander halten, und beschließen gemeinsam einen tugendhaften Handstreich. Schlimmer noch. Der überglückliche Cervantes gesteht seinem neuen Freund, er wolle ein Buch schreiben. Bisher seien ihm die Umrisse der Hauptgestalt noch undeutlich gewesen, aber nun sei, Gott sei Dank, Pardaillan erschienen und werde ihm als Modell dienen. Ich wurde wütend und hätte das Buch beinahe fortgeworfen. Welche Taktlosigkeit! Ich war Schriftsteller-Ritter, man spaltete mich in zwei Teile. Jede Hälfte wurde ein ganzer Mensch, traf mit der anderen Hälfte zusammen und stellte sie in Frage. Pardaillan war keineswegs dumm, aber er hätte niemals den schreiben können; Cervantes war ein tapferer Mann, aber wenn es galt, zwanzig Lanzenreiter allein in die Flucht zu jagen, so war auf ihn nicht zu rechnen. Sogar ihre Freundschaft unterstrich ihre Begrenztheiten. Der eine dachte vom anderen: «Der Schreiberling da ist ein bißchen dürftig, aber feige ist er nicht.» Und der andere dachte: «Na, für einen Haudegen urteilt der Kerl gar nicht schlecht.» Und überdies paßte es mir ganz und gar nicht, daß mein Held als Vorbild für den Ritter von der traurigen Gestalt dienen sollte. Zur Zeit des «Kinos» hatte man mir den in einer Ausgabe für die reifere Jugend geschenkt, ich hatte nicht mehr als fünfzig Seiten darin gelesen: hier machte man öffentlich meine Heldentaten lächerlich! Und nun kam sogar Zevaco... Wem konnte man noch trauen? In Wirklichkeit war ich eine Hure, eine Soldatendirne: mein Herz, mein feiges Herz zog den Abenteurer dem Intellektuellen vor; ich schämte mich, nur ein Cervantes zu sein. Um mich am Verrat zu hindern, verhängte ich eine Schreckensherrschaft über meinen Kopf und meinen Wortschatz, ich vertrieb das Wort Heroismus und seine Ersatzwörter, trieb die fahrenden Ritter aus dem Haus, sprach unablässig zu mir von Schriftstellern und den Gefahren, denen sie sich aussetzten, von ihrer spitzen Feder, mit der sie die Bösewichter aufspießten. Ich las nach wie vor <Pardaillan und Fausta> und von Victor Hugo die <Elenden> und die , ich weinte über Jean Valjean und Eviradnus, aber wenn ich das Buch geschlossen hatte, strich ich ihre Namen aus meinem Gedächtnis und rief mein wirkliches Regiment zusammen. Den auf Lebenszeit eingekerkerten Silvio Pellico. Den guillotinierten André Chénier. Den lebendig verbrannten Etienne Dolet. Lord Byron, der für Griechenland gestorben war. Mit kalter Leidenschaft machte ich mich daran, meine Berufung dadurch zu verklären, daß ich meine alten Träumereien in sie eingehen ließ, nichts hemmte mich auf meinen Wegen. Ich verrenkte die Gedanken, fälschte den Sinn der Worte, zog mich vor der Welt zurück aus Angst vor üblen Begegnungen und Vergleichen. Auf die Leere meiner Seele - 66 -
folgte eine totale und permanente Mobilmachung: ich wurde eine Militärdiktatur. Das Unbehagen blieb in anderer Weise bestehen. Ich schärfte mein Talent: ausgezeichnet! Aber wozu sollte es dienen? Die Menschen brauchten mich: wofür? Zu meinem Unglück befragte ich mich über meine Rolle und mein Geschick. Ich fragte: «Worum handelt es sich denn eigentlich?», und im gleichen Augenblick hielt ich alles für verloren. Es handelte sich um gar nichts. Der Wille allein macht noch keinen Helden; auch Mut und Begabung genügen nicht. Es müssen Hydraschlangen und Drachen vorhanden sein. Die aber erblickte ich nirgends. Voltaire und Rousseau hatten zu ihrer Zeit harte Arbeit leisten müssen: aber damals gab es noch Tyrannen. Victor Hugo hatte von Guernescey aus den dritten Napoleon zerschmettert, den mich mein Großvater zu verabscheuen gelehrt hatte. Aber ich hielt es nicht für verdienstvoll, diesen Haß meinerseits zu proklamieren, denn jener Kaiser war seit vierzig Jahren tot. Über die Zeitgeschichte aber schwieg Charles sich aus: dieser Dreyfusanhänger hat mir niemals von Dreyfus gesprochen. Wie schade! Mit welcher Hingabe hätte ich Zolas Rolle gespielt. Ich werde angespien, als ich das Gerichtsgebäude verlasse, auf dem Trittbrett meiner Kutsche drehe ich mich um und schlage die wildesten Schreier zusammen - halt, halt, nein: ich schleudere ihnen einen so furchtbaren Satz entgegen, daß sie zurückweichen. Und ich weigere mich natürlich, nach England zu fliehen; ich bin verkannt und verlassen, wie herrlich, daß ich nun wieder Griseldis werden darf; ich schlendere über das Pflaster von Paris, ohne einen Augenblick zu vergessen, daß mein Grab dereinst im Panthéon sein wird. Meine Großmutter las jeden Morgen den <Matin> und auch, wenn ich mich nicht irre, den <Excelsior>. Dadurch erfuhr ich von der Existenz des Pöbels, den ich, gleich allen anständigen Leuten, verabscheute. Aber diese Tiger mit Menschenantlitz waren meine Sache nicht; um sie zu bändigen, genügte der unerschütterliche Monsieur Lepine. Manchmal wurden die Arbeiter wütend, worauf die Kapitalien sofort wegzogen, aber davon wußte ich nichts, und ich weiß auch heute noch nicht, was mein Großvater darüber gedacht hat. Pünktlich erfüllte er seine Wählerpflichten, verjüngt kam er aus der Wahlzelle hervor, ein bißchen dünkelhaft, und wenn wir Frauen spöttisch fragten: «Na, für wen hast du denn gestimmt?», antwortete er unfreundlich: «Das ist Männersache!» Als aber der neue Präsident der Republik gewählt wurde, gab er uns in einem unbedachten Augenblick zu verstehen, daß er die Kandidatur von Pams bedauerlich fände. «Das ist ein Zigarettenhändler!» rief er zornig aus. Dieser kleinbürgerliche Intellektuelle wollte, daß der erste Beamte Frankreichs seinesgleichen sein sollte ein intellektueller Kleinbürger namens Poincaré. Meine Mutter behauptet heute, er habe für die Radikalsozialisten gestimmt, und sie habe es sehr genau gewußt. Das wundert mich nicht: er hatte sich für die Beamtenpartei entschieden, und außerdem hatten sich die Radikalsozialisten bereits überlebt, wodurch Charles die Genugtuung erhielt, für eine Ordnungspartei zu stimmen, indem er seine Stimme einer scheinbaren Bewegungspartei gab. Kurz gesagt, wenn man ihm glauben wollte, so lief die französische Politik gar nicht schlecht. Das betrübte mich tief. Ich hatte mich gerüstet, um die Menschheit gegen schreckliche Gefahren zu verteidigen - und alle erklärten mir, sie gehe auf sanftem Wege der Perfektion entgegen. Großvater hatte mich im Respekt vor der bürgerlichen Demokratie aufgezogen. Für sie hätte ich gern meine Feder aus der Scheide gezogen; aber unter der Präsidentschaft von Falliéres waren sogar die Bauern wahlberechtigt geworden. Was konnte man mehr verlangen? Und was soll ein Republikaner tun, wenn er das Glück hat, in einer Republik zu leben? Er dreht die Daumen oder gibt Griechischunterricht oder beschreibt in seinen Mußestunden die Sehenswürdigkeiten von Aurillac. Ich war an meinem Ausgangspunkt angekommen und glaubte abermals, in einer konfliktlosen Welt ersticken zu müssen, die den Schriftsteller zur Arbeitslosigkeit verurteilte. Wieder zog mich Charles aus der Klemme. Natürlich ohne es zu ahnen. Zwei Jahre vorher hatte er mir, um mich für den Humanismus zu erwecken, Gedanken auseinandergesetzt, von denen jetzt nicht mehr die Rede war, da er fürchtete, meinen Wahnsinn zu fördern. Aber sie hatten sich in meinen Geist gegraben. Lautlos wurden sie wieder virulent und verwandelten, - 67 -
damit die Essenz gerettet werden konnte, nach und nach den Schriftsteller-Ritter in einen Schriftsteller-Märtyrer. Ich habe bereits geschildert, wie dieser mißglückte Pastor, getreu dem Wunsch seines Vaters, das Göttliche dadurch bewahrte, daß er es auf die Kultur übertrug. Aus diesem Amalgam wurde der Heilige Geist geboren, als Attribut der unendlichen Substanz, als Schutzherr der Künste und Wissenschaften, der toten und lebenden Sprachen und des Sprachunterrichts nach der direkten Methode, als eine weiße Taube, die mit ihren Erscheinungen die Familie Schweitzer beglückte, wenn sie sonntags über den Orgeln und Orchestern schwebte und sich an Werktagen auf dem Scheitel meines Großvaters niederließ. Karls einstige Reden schlössen sich in meinem Kopf zusammen zu einer Rede. Die Welt war eine Beute des Bösen; es gab nur ein einziges Heil: selbst unterzugehen, von der Erde wegzusterben, um aus der Tiefe eines Schiff bruchs die unzugänglichen Ideen zu betrachten. Da das nicht möglich war ohne ein schwieriges und gefahrvolles Training, hatte man das Geschäft einer Spezialistengruppe anvertraut. Die Intellektuellenschar übernahm die Menschheit als Aufgabe und rettete sie durch eine Umkehrung der Verdienste. Die wilden Tiere der Zeitlichkeit, große wie kleine, mochten sich getrost gegenseitig abschlachten oder in dumpfem Glück eine unwahre Existenz leben, während die Schriftsteller und Künstler statt ihrer über das Schöne und das Gute nachdachten. Um die Gattung Mensch der Tierheit zu entreißen, war nur zweierlei nötig: daß in überwachten Lokalitäten die Reliquien - Gemälde, Bücher, Statuen - der toten Intellektuellen aufbewahrt wurden und daß wenigstens ein lebender Intellektueller übrigblieb, um weiterzuarbeiten und künftige Reliquien zu fabrizieren. Fader Dreck: ich verschlang ihn, ohne ihn richtig zu verstehen; noch mit zwanzig Jahren glaubte ich daran. Um seinetwillen habe ich lange Zeit das Kunstwerk für ein metaphysisches Ereignis gehalten, dessen Geburt für das Universum von Interesse sei. Ich grub diese wilde Religion aus und machte sie mir zu eigen, um meine trübe Berufung zu verklären. Ich schlang Verbitterungen und Verärgerungen in mich hinein, die nich nicht bestrafen, ebensowenig meinen Großvater; die alten Zwistigkeiten eines Flaubert, eines Gautier, der Brüder Goncourt waren Gift für mich; ihr abstrakter Haß gegen den Menschen, der mir unter der Maske der Liebe eingeflößt wurde, infizierte mich mit neuen Prätentionen. Ich geriet in die Sekte der Katharer und verwechselte Literatur und Gebet, ich machte aus der Literatur ein Menschenopfer. Ich entschied: meine Brüder verlangten ganz einfach, daß ich meine Feder in den Dienst ihrer Erlösung stellte, sie litten an einem Ungenügen des Seins, so daß sie, wenn sich die Heiligen nicht einschalteten, der ewigen Vernichtung geweiht waren; wenn ich jeden Morgen die Augen aufschlug, wenn ich vom Fenster aus auf der Straße die Herren und Damen vorübergehen sah, die noch am Leben waren, so lag es daran, daß ein Heimarbeiter von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen gekämpft hatte, um eine unsterbliche Seite zu schreiben, der wir einen Tag Aufschub zu verdanken hatten. Bei Anbrach der Nacht würde er heute abend weiterschreiben und auch morgen, bis er tot umfiel; ich würde ihn ablösen. Auch ich würde durch mein mystisches Opfer, durch mein Werk die Menschheit vom Abgrund zurückreißen; insgeheim trat der Priester an die Stelle des Soldaten: als tragischer Parsifal bot ich mich als Sündenbock an. An dem Tage, da ich den von Edmond Rostand entdeckte, zog sich ein Knoten in meinem Herzen zusammen. Es waren verknotete Vipern, und ich brauchte dreißig Jahre, um den Knoten zu lösen. Der Hahn Chantecler wird verwundet und blutig geschlagen, findet aber, das Mittel, einen ganzen Hühnerhof zu schützen; sein Gesang genügt, um einen Sperber zu vertreiben, und die feile Menge huldigt ihm, den sie eben noch verspottet hat; der Sperber ist verschwunden, der Dichter kehrt aus der Schlacht zurück, die Schönheit inspiriert ihn und verzehnfacht seine Kräfte, er stürzt sich auf seinen Gegner und wirft ihn zu Boden. Ich weinte: Griseldis, Corneille, Pardaillan, hier fand ich sie alle in einem wieder. Ich würde Chantecler sein, und alles kam mir ganz einfach vor. Wenn man schreibt, so vermehrt man den Brustschmuck der Musen um eine Perle, hinterläßt der Nachwelt die Erinnerung an ein beispielhaftes Leben, verteidigt das Volk gegen sich - 68 -
selbst und seine Feinde und zieht durch eine feierliche Messe den Segen des Himmels auf die Menschen herab. Der Gedanke kam mir nicht, daß man auch schreiben kann, um gelesen zu werden. Man schreibt für seine Nachbarn oder für Gott. Ich beschloß, für Gott zu schreiben, mit dem Ziel, meine Nachbarn zu retten. Ich wollte keine Leser, sondern Leute, die mir verpflichtet waren. Die Verachtung zersetzte meine Großmut. Schon damals, als ich die Waisenmädchen geschützt hatte, begann ich mich ihrer zu entledigen, indem ich ihnen gebot, sich zu verstecken. Seit ich schrieb, hatte sich meine Handlungsweise nicht verändert: bevor ich die Menschheit rettete, verband ich ihr die Augen, darauf erst konnte ich mich den kleinen schwarzen und hurtigen Reitern zuwenden, den Wörtern; wenn mein neues Waisenkind dann die Binde von den Augen nahm, war ich bereits weit fort. Gerettet durch eine einsame Heldentat, hatte das Waisenkind zunächst nicht das kleine, ganz neu erschienene Buch bemerkt, das auf einem Regal der Nationalbibliothek flammte und meinen Namen trug. Ich beantrage mildernde Umstände. Deren gibt es drei. Zunächst einmal stellte ich mit dieser durchsichtigen Phantasmagorie mein eigenes Lebensrecht in Frage. In dieser Menschheit ohne Visum, die dem Gutdünken des Künstlers erwartungsvoll ausgeliefert ist, erkennt man das Kind wieder, das vollgestopft wurde mit Glück und das sich auf seinem Hochsitz langweilte; ich akzeptierte den schändlichen Mythos des Heiligen, der das niedere Volk rettet, weil ich schließlich selbst das niedere Volk war. Ich machte mich, zum amtlich bestellten Retter der Menge, um unauffällig und, wie die Jesuiten zu sagen pflegen, «als Zugabe» mein eigenes Heil zu erlangen. Und außerdem war ich neun Jahre alt. Als Einzelkind, das keine Gefährten hatte, vermochte ich mir nicht vorzustellen, daß meine Einsamkeit jemals enden könne. Überdies muß man zugeben, daß ich ein sehr unbekannter Autor war. Ich hatte wieder mit dem Schreiben angefangen. Meine neuen Romane glichen notgedrungen den alten Zug für Zug, aber niemand nahm davon Kenntnis. Nicht einmal ich selbst, denn ich haßte es, mich wiederzulesen. Meine Feder eilte so schnell, daß ich oft einen Schreibkrampf bekam; die vollgeschriebenen Hefte warf ich auf den Fußboden, vergaß sie schließlich, sie kamen weg; aus diesem Grunde schrieb ich nichts zu Ende: wozu soll man das Ende einer Geschichte erzählen, wenn der Anfang verlorengegangen ist. Hätte übrigens Karl geruht, einen Blick auf diese Blätter zu werfen, dann wäre er in meinen Augen kein Leser gewesen, sondern ein oberster Richter, und ich hätte meine Verurteilung durch ihn befürchtet. Die Schreiberei, meine Schwarzarbeit, hatte kein Ziel, und plötzlich wurde sie zum Selbstzweck. Ich schrieb, um zu schreiben. Ich bedauere es nicht. Hätte man mich nämlich gelesen, so wäre ich in Versuchung geraten, Wohlgefallen zu erregen, ich wäre wieder bezaubernd geworden. Dank meiner Heimlichkeit wurde ich wahr. Und schließlich gründete sich der Idealismus des Intellektuellen auf den Realismus des Kindes. Ich habe es oben bereits gesagt: da ich die Welt durch die Sprache entdeckt hatte, nahm ich lange Zeit die Sprache für die Welt. Existieren bedeutete den Besitz einer Approbation irgendwo in den unendlichen Verzeichnissen des Wortes; Schreiben bedeutete, daß man dort neue Wesen einschrieb oder daß man - dies war meine hartnäckigste Illusion die lebenden Dinge mit der Schlinge der Sätze einfing. Wenn ich die Wörter geschickt kombinierte, so verfing sich das Objekt in den Zeichen, und ich konnte es halten. Ich begann damit, mich im Luxembourg durch das glänzende Scheinbild einer Platane faszinieren zu lassen: ich beobachtete sie nicht, ganz im Gegenteil, ich vertraute der Leere, ich wartete; nach einem Augenblick kam ihr echtes Blattwerk hervor unter dem Aspekt eines einfachen Eigenschaftswortes oder bisweilen eines ganzen Satzes. Dann hatte ich das Universum um eine wahrhaft schwingende Art von Grün bereichert. Meine Entdeckungen brachte ich niemals aufs Papier; sie sammelten sich, wie ich dachte, in meinem Gedächtnis. In Wirklichkeit vergaß ich sie. Allein sie gaben mir eine Vorahnung meiner künftigen Rolle: ich würde es sein, der Namen vergibt. Seit vielen Jahrhunderten warteten in Aurillac vage - 69 -
Ansammlungen von Weiß darauf, feste Umrisse und einen Sinn zu erhalten; ich würde aus ihnen richtige Monumente machen. Als Terrorist kam es mir nur auf ihr Sein an: durch die Sprache würde ich es erschaffen. Als Rhetoriker liebte ich nur die Wörter: ich würde Wortkathedralen errichten unter dem blauen Auge des Wortes Himmel. Ich würde für die Jahrtausende bauen. Nahm ich ein Buch, so konnte ich es zwanzigmal öffnen und schließen, sah aber sehr wohl, daß es sich nicht veränderte. Indem er über die unverwüstliche Substanz des Textes glitt, war mein Blick bloß ein winziger Zwischenfall an der Oberfläche, er störte nichts, er nutzte nichts ab. Ich hingegen, passiv und vergänglich, war ein geblendetes Insekt, das in die Lichter eines Leuchtturms geraten war; wenn ich das Arbeitszimmer verließ, so erlosch ich, während das Buch, unsichtbar in der Finsternis, nach wie vor glänzte: für sich allein. Ich würde meinen Werken die Heftigkeit dieser verzehrenden Lichtstrahlen geben, und so würden sie später, in zerstörten Bibliotheken, den Menschen überleben. Mir behagte es in meinem Unbekanntsein, ich wünschte es zu verlängern und mir daraus ein Verdienst zu machen. Ich beneidete die berühmten Gefangenen, die bei Kerzenlicht im Kerker geschrieben haben. Sie hatten die Verpflichtung bewahrt, ihre Zeitgenossen zu erlösen - und die Verpflichtung verloren, mit ihnen verkehren zu müssen. Natürlich hatten die kulturellen Fortschritte meine Chancen herabgemindert, mein Talent im Kerker entfalten zu können, aber ich war nicht ganz ohne Hoffnung: da mein Ehrgeiz so bescheiden war, würde es sich die Vorsehung angelegen sein lassen, ihn zu verwirklichen. Inzwischen schloß ich mich jetzt bereits ein: als Vorwegnahme. Da mein Großvater sie nun einmal überlistet hatte, benutzte meine Mutter jede Gelegenheit, mir meine künftigen Freuden auszumalen. Um mein Entzücken zu erregen, verlieh sie meinem Leben alle Eigenschaften, die dem ihrigen fehlten: Ruhe, Muße, Eintracht. Der junge Gymnasialprofessor ist noch unverheiratet, aber eine reizende alte Dame vermietet ihm ein behagliches Zimmer, wo es nach Lavendel und frischer Wäsche riecht; mit einem Sprung bin ich drüben im Gymnasium, mit einem Sprung wieder zu Hause; abends bleibe ich einen Augenblick vor meiner Tür stehen, um mit meiner Zimmerwirtin zu plaudern, die mich anbetet; übrigens werde ich von jedermann geliebt, denn ich bin höflich und gut erzogen. Ich hörte nur ein Wort: dein Zimmer; ich vergaß das Gymnasium, die Witwe des hohen Offiziers, den Provinzgeruch, ich sah nur noch einen Lichtkreis auf meinem Tisch; mitten in meinem Zimmer, das in Schatten getaucht war, wo alle Vorhänge geschlossen waren, beugte ich mich über ein schwarzes Leinenheft. Meine Mutter erzählte weiter und übersprang dabei zehn Jahre: Ein Generalinspektor des Schulwesens nimmt mich unter seinen Schutz, die gute Gesellschaft von Aurillac reißt sich darum, mich einzuladen, meine junge Frau ist mir in inniger Zuneigung zugetan, sie erhält von mir schöne und gesunde Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, sie macht eine Erbschaft, ich kaufe ein Grundstück am Stadtrand, wir bauen, und jeden Sonntag geht die ganze Familie hinaus, um den Fortgang der Arbeiten zu besichtigen. Ich hörte überhaupt nicht zu: während dieser zehn Jahre hatte ich meinen Tisch nicht verlassen; ich war klein, trug einen Schnurrbart wie mein Vater, hockte auf einem Stapel von Wörterbüchern, mein Schnurrbart wurde weiß, die Schreibhand lief noch immer hin und her, die Hefte fielen nacheinander auf den Fußboden. Die Menschheit schlief, es war Nacht, meine Frau und meine Kinder schliefen oder waren vielleicht schon tot, meine Zimmervermieterin schlief; in allen Gedächtnissen hatte der Schlaf mich ausgelöscht. Welche Einsamkeit: zwei Milliarden Menschen lagen ausgestreckt, und ich, hoch über ihnen, war die einzige Nachtwache. Der Heilige Geist sah mich an. Er hatte sich soeben entschlossen, in den Himmel zurückzukehren und die Menschen preiszugeben; ich hatte gerade nur die Zeit, mich anzubieten und ihm die Wunden meiner Seele zu zeigen und die Tränen, die mein Papier benetzten, er las über meine Schulter hinweg, und sein Zorn legte sich. War er friedlich gestimmt worden durch die Tiefe der Leiden oder durch die Pracht des Werkes? Ich sagte mir: durch das Werk; insgeheim dachte ich: durch die Leiden. Selbstverständlich schätzte der - 70 -
Heilige Geist nur die wahrhaft künstlerischen Schriften, aber ich hatte Musset gelesen und wußte, daß «die Gesänge der tiefsten Verzweiflung zugleich die schönsten sind», und ich hatte beschlossen, die Schönheit in einer Verzweiflungsfalle zu fangen. Das Wort Genie war mir stets verdächtig vorgekommen; nun begann es mich vollkommen anzuwidern. Wo blieb die Angst, wo die Prüfung, wo die abgewiesene, Versuchung, wo blieb schließlich das Verdienst, wenn ich begabt war? Nur mühsam ertrug ich es, einen Körper zu haben und jeden Tag den gleichen Kopf. Ich wollte mich doch nicht in einer geistigen Ausrüstung einsperren lassen. Ich nahm meine Erwählung nur unter der Bedingung an, daß sie grundlos war und ohne Anlaß glänzte, in einem absolut leeren Raum. Ich hatte Besprechungen mit dem Heiligen Geist. «Du wirst Schriftsteller werden», sagte er mir. Und ich rang die Hände: «Was ist denn an mir, o Herr, daß du mich erwählt hast?» «Nichts Besonderes.» - «Warum also gerade ich?» - «Ohne Grund.» - «Wird mir wenigstens das Schreiben leichtfallen?» - «Keineswegs. Glaubst du, die großen Werke entstehen dadurch, daß einem das Schreiben leichtfällt?» — «O Herr, da ich so nichtig bin, wie kann ich dann ein Buch machen?» - «Indem du dir Mühe gibst.» - «Also kann jedermann schreiben?» «Jedermann, aber dich habe ich erwählt.» Diese Mogelei war sehr bequem: sie gestattete mir gleichzeitig, meine Nichtigkeit zu proklamieren und in mir den Verfasser künftiger Meisterwerke zu verehren. Ich war erwählt und gezeichnet, aber ohne Talent: alles kam mir von meiner Geduld und meinen Mühsalen; ich sprach mir jede Eigenart ab, denn charakteristische Eigenschaften verkürzen einen; ich war allem untreu, außer dem königlichen Engagement, das mich durch Martern zum Ruhm führen sollte. Diese Martern mußte man finden; sie waren das einzige Problem, aber es schien unlösbar zu sein, denn man hatte mir die Hoffnung geraubt, im Elend zu leben. Mochte ich nun unbekannt bleiben oder berühmt werden: auf alle Fälle würde ich ein Gehalt vom Unterrichtsministerium beziehen und niemals hungern müssen. Ich versprach mir fürchterlichen Liebeskummer, aber sehr lustlos: schmachtende Liebhaber konnte ich nicht ausstehen. Cyrano de Bergerac machte mich wütend, denn er war ein falscher Pardaillan, der sich albern gegenüber den Frauen benahm, während der richtige Pardaillan alle Herzen hinter sich herschleppte, ohne auch nur darauf zu achten; freilich muß man gerechterweise sagen, daß der Tod seiner geliebten Violetta sein Herz für immerdar gebrochen hatte. Ein Witwertum, eine Wunde, die nicht heilen kann: wegen einer Frau, aber nicht durch ihr Verschulden; das erlaubte mir, die Anerbieten aller anderen Frauen zurückzuweisen. Muß noch vertieft werden! Aber selbst angenommen, daß mein junges Weib aus Aurillac bei einem Unfall umkam, so genügte dieses Unglück noch nicht zu meiner Erwählung, denn es war ebenso zufällig wie allzu alltäglich. Mein wütender Eifer wurde mit allem fertig; manche Autoren waren verspottet und geschlagen worden und hatten bis zum letzten Hauch in der Mißachtung und der Nacht gelebt, der Ruhm hatte nur ihre Leichen bekränzt. So wird es auch mir ergehen. Ich werde mit aller Sorgfalt über Aurillac schreiben und seine Plastiken. Da ich nicht zu hassen vermag, werde ich nur danach streben, zu befrieden und nützlich zu sein. Kaum aber erscheint mein erstes Buch, so bricht der Skandal los, und ich werde ein Volksfeind: die Zeitungen der Auvergne beschimpfen mich, in den Läden weigert man sich, mich zu bedienen, wutentbrannte Leute werfen mir die Fensterscheiben ein; ich muß fliehen, um nicht gelyncht zu werden. Zuerst bin ich niedergeschmettert, brüte monatelang dumpf vor mich hin, murmele unablässig: «Aber ich bitte Sie, das ist doch ein Mißverständnis! Denn der Mensch ist gut!» Und es ist in der Tat nur ein Mißverständnis, aber der Heilige Geist erlaubt nicht, daß es aufgeklärt wird. Ich werde wieder gesund; eines Tages setze ich mich an meinen Tisch und schreibe ein neues Buch: über das Meer oder das Gebirge. Es findet keinen Verleger. Ich werde verfolgt, muß mich verkleiden, werde vielleicht geächtet, schreibe andere Bücher, viele andere Bücher, ich liefere eine Versübersetzung des Horaz, ich entwickle bescheidene und sehr vernünftige Gedanken zur Pädagogik. Nichts zu machen: meine Hefte bleiben unveröffentlicht zu Haufen in einem großen Koffer liegen. - 71 -
Die Geschichte hatte zwei Schlüsse: je nach Laune wählte ich den einen oder den anderen. Wenn ich trüber Stimmung war, sah ich mich auf einem Eisenbett sterben, von allen gehaßt, verzweifelt, in der gleichen Stunde, da die ersten Trompetenstöße des Ruhms erklangen. Bei anderen Gelegenheiten billigte ich mir ein bißchen Glück zu: im Alter von fünfzig Jahren schrieb ich, um eine neue Feder auszuprobieren, meinen Namen auf ein Manuskript, das bald darauf verlorenging. Irgend jemand fand es auf einem Speicher, in der Gosse, in einem Schrank des Hauses, aus dem ich gerade ausgezogen war, las es und brachte es aufgeregt zu Arthéme Fayard, dem berühmten Verleger von Michel Zévaco. Ein Triumph! Zehntausend Stück werden in zwei Tagen verkauft. Und die Reue in den Herzen! Hundert Reporter ziehen aus, um mich zu suchen, und finden mich nicht. Ich bin der Welt völlig abgewandt und weiß lange Zeit nicht, daß die Meinung umgeschlagen ist. Eines Tages schließlich treibt mich der Regen in ein Cafe. Eine Zeitung liegt herum, ich schaue hin, und was sehe ich? «Jean-Paul Sartre, der Schriftsteller in der Maske, der Sänger von Aurillac, der Dichter des Meeres», auf der Feuilletonseite, sechsspaltig, fettgedruckt. Ich jubiliere. Nein, ich genieße die Wollust der Schwermut. Jedenfalls gehe ich wieder nach Hause, packe mit Hilfe meiner Zimmerwirtin den Koffer mit den Heften ein, schnüre ihn fest zu, schicke ihn an Fayard, ohne meine Adresse anzugeben. An dieser Stelle meiner Erzählung brach ich ab, um entzückende Kombinationen auszuprobieren. Wenn ich nämlich das Paket in der Stadt aufgab, wo ich wohnte, stöberten die Journalisten mich bald in meinem Versteck auf. Also nahm ich den Koffer mit nach Paris und ließ ihn durch einen Boten zum Verlag bringen. Bevor ich zurückfuhr, suchte ich die Stätten meiner Kindheit auf, die nie Le Goff, die rue Soufflot, den Luxembourg. Das zog mich an, denn ich erinnerte mich, daß mein - seitdem verstorbener - Großvater mich manchmal im Jahre 1913 dorthin mitgenommen hatte. Wir saßen dann nebeneinander auf der Bank, alle schauten verständnisinnig zu uns hinüber, er bestellte sich ein Bock und für mich ein winziges Glas Bier, ich fühlte mich geliebt. Nun war ich fünfzig Jahre alt geworden und melancholisch, öffnete abermals die Tür des Bierrestaurants und bestellte mir das gleiche winzige Glas Bier. Am Nachbartisch unterhielten sich schöne junge Frauen sehr lebhaft, wobei mein Name fiel. Eine yon ihnen sagte: «Vielleicht ist er alt und häßlich, aber das macht nichts. Dreißig Jahre meines Lebens gäbe ich dafür, seine Frau zu werden.» Ich lächelte stolz und traurig zu ihr hinüber, sie sah mich erstaunt lächelnd an, ich stand auf und verschwand. Ich habe viel Zeit gebraucht, um diese Episode zurechtzubasteln - und hundert andere Episoden, die ich dem Leser schenke. Man wird dahinter meine in eine künftige Welt projizierte Kindheit erkannt haben: meine Lage, die Erfindungen meines sechsten Lebensjahres, den Trotz meiner verkannten Paladine. Ich trotzte auch noch mit neun Jahren und genoß diesen Trotz sehr ausgiebig. Aus Trotz hielt ich als unerschütterlicher Märtyrer ein Mißverständnis aufrecht, dessen sogar der Heilige Geist überdrüssig geworden zu sein schien. Warum nannte ich jener reizenden Bewunderin eigentlich nicht meinen Namen? Ich sagte mir: Ach, sie kommt zu spät. - Aber wo sie mich doch in jedem Fall nehmen will? - Nun, ich bin eben zu arm. - Zu arm? Und die Autorenrechte? Dieser Einwand machte mir nichts aus, denn ich hatte Fayard geschrieben, er solle das mir zustehende Geld unter die Armen verteilen. Aber ich mußte nun endlich einen Schluß finden. Gut also, ich starb in einer kleinen Kammer, von allen verlassen, aber heiteren Gemüts, denn meine Mission war erfüllt. Eine Sache fällt mir an dieser tausendfach wiederholten Geschichte auf: am Tage, wo ich meinen Namen in der Zeitung sehe, bricht ein Triebrad, und ich bin am Ende. Traurig genieße ich mein Ansehen, schreibe aber nicht mehr. Die beiden Schlüsse bilden eine Einheit: ob ich nun sterbe, um für den Ruhm geboren zu werden, oder ob zuerst der Ruhm kommt und mich tötet, in beiden Fällen verhüllt der Drang zu schreiben eine Lebensverweigerung. Damals hatte mich eine Geschichte stark verwirrt, die ich irgendwo gelesen hatte: sie spielte im vergangenen Jahrhundert. Auf einer sibirischen Bahnstation geht ein Schriftsteller hin und her und wartet auf den Zug. Kein Haus weit und breit, keine Menschenseele. Der Schriftsteller - 72 -
trägt schwer an seinem trübseligen, umfangreichen Schädel. Er ist kurzsichtig, unverheiratet, grob und ununterbrochen wütend; er langweilt sich, er denkt an seine Prostata, an seine Schulden. Auftaucht eine junge Gräfin, ihr Wagen kommt näher auf der Straße, die den Schienen entlangläuft; sie springt aus dem Wagen, eilt auf den Reisenden zu, den sie niemals gesehen hat, aber zu erkennen behauptet nach einer Daguerreotypie, die man ihr gezeigt hat. Sie verneigt sich, ergreift seine rechte Hand und küßt sie. Die Geschichte hörte da auf, und ich weiß nicht, was sie uns eigentlich sagen wollte. Mit neun Jahren war ich begeistert darüber, daß so ein mürrischer Autor noch in der Steppe eine Leserin fand und daß eine so schöne Frau ihm den vergessenen Ruhm wieder nahebrachte: dies war eine Geburt. Ging man weiter in die Tiefe, so war es ein Sterben. Das fühlte ich, das wollte ich so; einem lebenden Bürgersmann konnte ein solches Zeugnis der Bewunderung nicht von einer Aristokratin zuteil werden. Die Gräfin schien ihm sagen zu wollen: «Wenn ich zu Ihnen kommen und Sie berühren konnte, so deshalb, weil es sich nicht mehr lohnt, die Überlegenheit des Ranges aufrechtzuerhalten; ich frage nichts nach Ihren Gedanken über meine Handlungsweise, ich halte Sie nicht mehr für einen Mann, sondern für das Symbol Ihres Werkes.» Getötet durch einen Handkuß, tausend Werst von St. Petersburg entfernt, im Alter von fünfundfünfzig Jahren. Ein Reisender fing Feuer, sein Ruhm verzehrte ihn, um bloß noch in flammenden Buchstaben das Verzeichnis seiner Werke übrigzulassen. Ich sah, wie die Gräfin wieder in ihre Kutsche stieg und verschwand und wie die Steppe in die Einsamkeit zurückfiel; in der Abenddämmerung fuhr der Zug weiter trotz Haltezeichen, um die Verspätung aufzuholen. Im Rücken spürte ich den Angstschauer, erinnerte mich an die Geschichte vom <Wind in Jen Bäumen> und sagte mir: «Die Gräfin war der Tod.» Der Tod würde eines Tages kommen, auf einer menschenleeren Straße, er würde mir die Hand küssen. Der Tod machte mich schwindeln, denn ich lebte nicht gern: daraus erklärt sich der Schrecken, den er mir einflößte. Indem ich den Tod mit dem Ruhm gleichsetzte, entschied ich über mein Geschick. Ich wollte sterben; das Grauen kühlte bisweilen meine Ungeduld, aber niemals für lange Zeit; meine heilige Freude kehrte zurück, ich wartete auf den Blitzstrahl, der mich bis ins Gebein aufflammen ließe. Unsere tiefen Neigungen sind stets gleichzeitig auf Planen und auf Fliehen, gerichtet: ich sehe gut, daß mein Unterfangen - zu schreiben, damit man mir mein Dasein verzieh - trotz aller Angeberei und Lüge einige Wirklichkeit besaß. Der Beweis dafür: daß ich auch heute noch schreibe, nach fünfzig Jahren. Wenn ich aber auf die Ursprünge zurückgehe, sehe ich dort eine Flucht nach vorn, einen Selbstmord á la Gribouille; ja, mehr als das Heldentum, mehr als das Märtyrertum suchte ich den Tod. Lange hatte ich gedacht, so enden zu müssen, wie ich begonnen hatte, irgendwo, irgendwie, so daß dieses blasse Sterben bloßer Reflex sei meiner blassen Geburt. Meine Auserwählung veränderte alles: Degenstreiche sind vergänglich, Schriften bleiben. Ich entdeckte, daß sich der Geber im Bereich der Belletristik in seine eigene Gabe zu verwandeln vermag, nämlich in einen reinen Gegenstand. Der Zufall hatte mich Mensch werden lassen, die Hochherzigkeit würde mich zum Buch machen; ich würde mein Schwatzen, mein Bewußtsein in Bronzelettern umgießen, ich würde das Lärmen meines Lebens zu Inschriften transformieren, die nicht vergehen, ich würde mein Fleisch in Stil verwandeln, die schwammigen Zeitspiralen in Ewigkeit, ich würde vor dem Heiligen Geist als Niederschlag der Sprache erscheinen, würde mich mit Hartnäckigkeit der Menschengattung aufdrängen: ich würde endlich anders werden, anders als ich, anders als die anderen, anders als alles. Zuerst würde ich mir einen unzerstörbaren Leib geben, und dann würde ich mich den Verbrauchern überliefern. Ich würde nicht schreiben aus Freude am Schreiben, sondern um diesen unsterblichen Teil in Wörter zu verwandeln. Schaute ich von der Höhe meines Grabmales hinab, so erschien mir meine Geburt als ein notwendiges Übel, als eine ganz vorläufige Fleichwerdung, dazu bestimmt, meine Verklärung vorzubereiten: um wiedergeboren zu werden, muß man schreiben, zum Schreiben braucht man ein Gehirn, Augen, Arme; war die Arbeit beendet, fielen diese Organe in sich zusammen: - 73 -
ungefähr um das Jahr 1955 würde ein Kokon aufplatzen, fünfundzwanzig Schmetterlinge in Buchformat würden davonflattern, mit ihren Seiten schlagen und sich schließlich auf einem Regal der Nationalbibliothek niederlassen. Diese Schmetterlinge wären nichts anderes als ICH. ICH: fünfundzwanzig Bände, achtzehntausend Textseiten, dreihundert Abbildungen, darunter das Bildnis des Verfassers. Meine Knochen sind aus Leder und Pappe, mein Papierfleisch riecht nach Kleister und Druckerschwärze, behaglich türme ich mich auf mit sechzig Kilo Papier. Ich erlebe eine Wiedergeburt, ich werde endlich ein ganzer Mensch, der denkt, spricht, singt, donnert, sich bestätigt mit der gebieterischen Trägheit der Materie. Man nimmt mich, man öffnet mich, man legt mich auf den Tisch, man glättet mich mit der flachen Hand, wobei ich manchmal knacke. Ich lasse es mit mir machen, und plötzlich blitze ich, blende ich, setze ich mich auf Distanz durch, plötzlich durchdringen meine Kräfte den Raum und die Zeit, schmettern die Bösen zu Boden und schützen die Guten. Keiner kann mich vergessen oder totschweigen: ich bin ein großer, praktikabler und schrecklicher Fetisch. Mein Bewußtsein ist zerbröckelt: um so besser. Andere Bewußtseine haben mich in sich aufgenommen, man liest mich, ich setze mich durch; man spricht mich, ich bin in aller Munde als universelle und einzigartige Sprache; aus Millionen Augen schaue ich als neugierige Voraussicht; für den, der mich zu lieben weiß, bin ich seine geheimste Unruhe, will er mich aber berühren, so entziehe ich mich und verschwinde; ich existiere nirgends mehr, ich bin, endlich! Ich bin überall: Ungeziefer der Menschheit, meine Wohltaten fressen an ihr und zwingen sie unablässig, meiner Abwesenheit zu gedenken. Das Zauberkunststück glückte: ich begrub den Tod im Leichentuch des Ruhmes, ich dachte nur noch an den Ruhm, aber niemals an den Tod, ohne zu bemerken, daß die beiden eine Einheit bildeten. Im Augenblick, wo ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, daß meine Zeit bis auf wertige Jahre abgelaufen ist. Ich stelle mir ohne allzuviel Heiterkeit sehr klar das Alter vor, das sich ankündigt, und meine künftige Gebrechlichkeit, dazu Gebrechlichkeit und Tod der Menschen, die ich liebe: meinen eigenen Tod aber stelle ich mir niemals vor. Gelegentlich gebe ich den mir nahestehenden Menschen - einige sind fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahre jünger als ich - zu verstehen, wie leid es mir tut, sie überleben zu müssen: sie lachen mich aus, und ich lache mit ihnen, aber da ist nichts zu machen, da wird nichts zu machen sein: im Alter von neun Jahren hat eine Operation mich der Fähigkeit beraubt, eine gewisse pathetische Empfindung zu haben, die angeblich zum Menschsein gehört. Zehn Jahre später, als ich auf der Ecole Normale Supérieure war, brach dies pathetische Empfinden jäh - in Form von Entsetzen oder Wut - aus einigen meiner besten Freunde hervor; ich schnarchte dabei wie ein Murmeltier. Einer der Freunde versicherte uns nach einer schweren Krankheit, er habe die Ängste der Agonie kennengelernt, einschließlich des letzten Atemzuges. Nizan1 war am meisten besessen von diesem Gefühl; bisweilen sah er sich in hellwachem Zustand als Leiche; er erhob sich, in seinen Augenhöhlen ringelten sich Würmer, tastend griff er nach seinem runden Borsalino und ging fort; zwei Tage später fand man ihn völlig betrunken wieder, in Gesellschaft unbekannter Leute. Manchmal erzählten sich in einer Studentenbude diese Verurteilten ihre schlaflosen Nächte, ihre vorweggenommenen Erfahrungen mit dem Nichts; sie verstanden einander bei den leisesten Andeutungen. Ich hörte sie reden, ich liebte sie so sehr, daß ich leidenschaftlich gewünscht hätte, ihnen zu gleichen, aber es half mir nichts,, ich begriff nichts, und es blieb für mich bei Gemeinplätzen, wie man sie bei Beerdigungen zu sagen pflegt: man lebt, man stirbt, man weiß nicht, wer lebt und wer stirbt; eine Stunde vor dem Tod ist man noch am Leben. Ich zweifelte nicht daran, daß in ihren Worten ein Sinn steckte, der mir entging; ich schwieg, neidisch, exiliert. Schließlich wandten sie sich zu mir und waren von vornherein gereizt: «Und dich läßt das also kalt?» Ich breitete die Arme aus, als Zeichen der Ohnmacht und der Ergebung. Sie 1
Paul Nizan, ein bemerkenswerter Schriftsteller und einer der engsten Freunde Sartres seit der Ecole Normale Supérieure, ist sehr früh gestorben. (Anm. d. Übers.) - 74 -
lachten wütend, denn sie waren geblendet durch eine niederschmetternde Evidenz, die sie mir nicht vermitteln konnten: «Hast du dir denn niemals beim Einschlafen gesagt, daß Leute im Schlaf gestorben sind? Hast du niemals beim Zähneputzen den Gedanken gehabt: Nun ist es soweit, dies ist mein letzter Tag? Hast du niemals gefühlt, daß man ganz schnell machen muß, daß man keine Zeit hat? Hältst du dich für unsterblich?» Ich antwortete, halb aus Trotz, halb aus Überschwang: «Ja eben, ich halte mich für unsterblich.» Nichts war falscher; ich hatte mich nur gegen einen plötzlichen Todesfall abgesichert, das war alles; der Heilige Geist hatte bei mir ein umfangreiches Werk bestellt, folglich mußte er mir die Zeit lassen, es zu vollenden. Mein Tod war ein ehrenvoller Tod, also schützte er mich gegen das Eisenbahnunglück, den Schlaganfall, die Bauchfellentzündung. Der Tod und ich, wir hatten eine feste Verabredung: wenn ich mich zu früh einstellte, würde ich ihn nicht antreffen; meine Freunde mochten mir getrost den Vorwurf machen, ich dächte niemals an den Tod: sie wußten nicht, daß keine Minute verging, ohne daß ich ihn lebte. Heute gebe ich ihnen recht: sie hatten unser Menschsein ganz angenommen, sogar seine Beunruhigung; ich hatte die Gewißheit erwählt; und im Grunde hielt ich mich in der Tat für unsterblich: ich hatte mich im voraus getötet, denn nur die Abgeschiedenen sind in der Lage, die Unsterblichkeit zu genießen. Nizan und Maheu wußten, daß sie einen wilden Angriff zu erwarten hatten, daß man sie mitten im Leben, in ihrer vollen Blüte, aus der Welt zerren würde. Ich belog mich: um dem Tod seine Barbarei zu nehmen, hatte ich ihn zu meinem Lebenszweck erwählt und mein Leben als einziges Mittel verstanden, sterben zu können. Gemächlich ging ich meinem Ende entgegen und besaß nur so viele Hoffnungen und Begierden, wie notwendig waren, um meine Bücher damit zu füllen, wobei ich sicher war, daß das letzte Empfinden meines Herzens seinen Niederschlag finden werde auf der letzten Seite des letzten Bandes meiner Werke und daß der Tod bloß einen Toten hinwegnehmen würde. Der zwanzigjährige Nizan betrachtete die Frauen und die Autos und alle Güter dieser Welt mit verzweifelter Hast: man mußte alles sogleich sehen und sogleich ergreifen. Ich betrachtete auch, aber mehr aus Wissensdurst als aus echter Begier. Ich war nicht auf der Erde, um zu genießen, sondern um eine Bilanz zu machen. Es war ein bißchen allzu bequem. Mit der Schüchternheit eines allzu artigen Kindes, aus Feigheit, war ich vor den Risiken einer offenen, freien und von der Vorsehung nicht garantierten Existenz zurückgewichen. Ich lebte in der Überzeugung, alles sei von vornherein eingeschrieben, mehr noch: alles sei von vornherein vollbracht. Allerdings ersparte mir dieses Betrugsmanöver die Versuchung, mich zu lieben. Jeder meiner Freunde empfand sich als bedroht von Vernichtung, verschanzte sich also im Gegenwärtigen, entdeckte die unersetzliche Qualität seines sterblichen Lebens, hielt sich für rührend, köstlich, einzigartig; jeder gefiel sich mit sich selbst; ich, ein Toter, gefiel mir nicht: ich fand mich höchst gewöhnlich, noch langweiliger als den großen Corneille, und meine Einzigartigkeit als Subjekt war in meinen Augen nur insofern interessant, als sie den Augenblick vorbereitete, der mich in ein Objekt verwandeln würde. War ich deswegen bescheidener? Nein, aber gewitzter. Ich wälzte die Last, mich zu lieben, auf meine Nachfahren ab; für Männer und Frauen, die jetzt noch nicht geboren waren, würde ich eines Tages reizvoll sein, etwas Besonderes darstellen. Ich würde ihr Glück machen. Ich besaß sogar weit mehr Hinterhältigkeit und Tücke: auf dieses Leben, das ich als lästig empfand und nur brauchen konnte als Instrument meines Todes, kam ich heimlich zurück, um es zu retten; ich sah es mit den Augen der Zukunft, und es kam mir wie eine rührende und wunderbare Geschichte vor, die ich für alle gelebt hatte und die niemand dank mir jemals wiederleben mußte, weil es genügte, sie zu erzählen. Dabei entwickelte ich einen wahrhaft frenetischen Eifer. Ich wählte mir als Zukunft die Vergangenheit eines großen Toten und versuchte in umgekehrter Richtung zu leben. Zwischen neun und zehn Jahren wurde ich vollständig postum. Es war nicht ausschließlich mein Fehler: mein Großvater hatte mich in der Illusion der - 75 -
Rückschau aufgezogen; übrigens ist auch er nicht verantwortlich zu machen, und ich bin weit davon entfernt, ihm deswegen böse zu sein. Diese Spiegelung nämlich entspringt spontan aus der Kultur. Wenn die Zeugen verschwunden sind, hört das Abscheiden eines großen Mannes ein für allemal auf, ein plötzlicher Schlag zu sein; die Zeit macht daraus einen Charakterzug. Ein alter Toter ist ein konstitutionell Toter, er ist bereits bei der Taufe ebenso tot wie im Augenblick der letzten Ölung, sein Leben gehört uns, wir betreten es irgendwo, am Anfang, am Ende oder in der Mitte, wir gehen darin auf und ab nach Belieben. Die chronologische Ordnung nämlich wurde gesprengt, und es ist unmöglich, sie wiederherzustellen. Die Gestalt geht keinerlei Risiko mehr ein und kann nicht einmal darauf warten, daß das Gekitzel in der Nase zum Niesen wird. Ihre Existenz bietet den Anschein eines Ablaufs; allein sobald man versucht, ihr ein bißchen Leben einzuflößen, fällt sie in die Gleichzeitigkeit zurück. Versuchen Sie doch einmal, sich an die Stelle eines Verstorbenen zu setzen, tun Sie einmal so, als teilten Sie seine Leidenschaften und Ahnungslosigkeiten und Vorurteile, versuchen Sie, seine erledigten Widerstände zu erwecken oder seine Regungen der Ungeduld oder der Besorgnis: Sie können es nicht vermeiden, sein Verhalten im Lichte von Ergebnissen zu beurteilen, die er nicht voraussah, und von Informationen, die er nicht besaß, und es gelingt Ihnen nicht, gewissen Ereignissen eine besondere Feierlichkeit zu geben, weil die Wirkung dieser Ereignisse ihn später geprägt hat, während er die Ereignisse selbst nachlässig durchlebte. Hier liegt die Spiegelung: die Zukunft ist wirklicher als die Gegenwart. Das ist nicht verwunderlich; wenn nämlich ein Leben zu Ende ist, hält man das Ende für die Wahrheit des Beginns. Der Verstorbene bleibt auf halber Strecke zwischen dem Sein und dem Wert, zwischen der reinen Tatsache und der Rekonstruktion; seine Geschichte wird zu einer Art Treibstoff, der in jedem ihrer Augenblicke verbraucht wird. In den Salons von Arras trägt ein junger und gezierter Advokat den Kopf unter dem Arm, denn es ist der verstorbene Robespierre. Blutstropfen fallen aus diesem Kopf, aber es gibt keine Flecken auf dem Teppich, niemand im Salon scheint es zu bemerken, und wir sehen nichts als dies; der Kopf rollt erst in fünf Jahren in den Korb, und trotzdem ist der abgeschnittene Kopf hier, er sagt Madrigale auf, obwohl seine Kinnlade herunterhängt. Wenn man ihn erkannte, stört dieser optische Irrtum nicht; man hat die Mittel, ihn zu berichtigen; aber die Intellektuellen jener Zeit haben ihn maskiert, um den eigenen Idealismus davon zu nähren. Sie gaben zu verstehen: wenn ein großer Gedanke zur Welt kommen will, requiriert er den Bauch einer Frau für den großen Mann, der Träger dieses Gedankens werden soll; der Gedanke sucht ihm seinen Lebenskreis aus, seine Herkunft, dosiert genau das Verständnis und Unverständnis seiner Angehörigen, regelt seine Erziehung, unterwirft ihn den notwendigen Prüfungen, komponiert ihm nach und nach einen schwankenden Charakter, dessen Schwankungen bis zu dem Augenblick geregelt werden, wo der Gegenstand so vieler Fürsorge nun endlich den Gedanken selbst zur Welt bringt. Dies wurde nirgendwo ausdrücklich erklärt, alles aber sollte darauf hindeuten, daß die Verkettung der Ursachen eine umgekehrte und geheime Ordnung verdeckte. Ich bediente mich dieser Spiegelung voller Enthusiasmus, um mein Schicksal dadurch vollends zu garantieren. Ich nahm die Zeit, stellte sie auf den Kopf, und alles wurde klar. Es begann mit einem nachtblauen Büchlein mit etwas nachgedunkelten Vergoldungen, seine festen Blätter hatten Leichengeruch, und es hieß:
hatte sich auch verändert. Es waren die gleichen Worte, aber sie sprachen zu mir von mir. Ich ahnte, dies Buch würde mich verderben, ich verabscheute es, ich fürchtete es. Bevor ich es öffnete, setzte ich mich jeden Tag ans Fenster: bei Gefahr würde ich das richtige Tageslicht durch meine Augen hereinlassen. Heute muß ich sehr über die Leute lachen, die sich über den Einfluß von Fantomas oder André Gide aufregen: glauben sie etwa, daß sich die Kinder nicht selbst ihre Gifte aussuchen? Das meinige verschlang ich mit der ängstlichen Nüchternheit der Süchtigen. Es schien allerdings sehr harmlos zu sein. Man ermunterte die jungen Leser: Vernünftigkeit und Liebe zu den Eltern öffnen einem alle Möglichkeiten, man kann dadurch sogar ein Rembrandt oder Mozart werden; in kurzen Erzählungen beschrieb man das höchst alltägliche Treiben von höchst alltäglichen Jungen, die aber empfindsam und fromm waren und Johann Sebastian hießen oder Jean-Jacques oder Jean-Baptiste und die ihre Familien ebenso glücklich machten, wie ich die meinige beglückte. Nun aber kam das Gift: ohne daß jemals der Name Rousseau, Bach oder Moliére ausgesprochen wurde, versteckte der Autor höchst kunstvoll allenthalben Andeutungen über ihre künftige Größe, erinnerte nachlässig durch ein Detail an ihre berühmtesten Werke und Aktionen, manipulierte so geschickt seine Erzählungen, daß auch der banalste Zwischenfall eine Beziehung erhielt zu künftigen Ereignissen. Den Alltagstumult überlagerte er durch ein großes, fabelhaftes Schweigen, das alles verklärte: es war die Zukunft. Ein gewisser Sanzio verzehrte sich in dem Wunsch, den Papst zu sehen, so daß man ihn schließlich mitnahm auf einen Platz, wo der Heilige Vater vorbeizog; das Kind wurde bleich, sperrte die Augen weit auf, man sagte zu ihm: «Jetzt bist du doch wohl zufrieden, Raffaelo? Hast du wenigstens unseren Heiligen Vater richtig angeschaut?» Er aber antwortete verstört: «Welchen Heiligen Vater? Ich habe nur Farben gesehen.» In einer anderen Geschichte sitzt der kleine Miguel, der Soldat werden möchte, unter einem Baum und ergötzt sich an einem Ritterroman, als plötzlich donnerndes Eisengetöse ihn aufspringen läßt: ein alter Narr aus der Nachbarschaft, ein ruinierter Junker, ritt auf einer Schindmähre vorüber und schwenkte seine rostige Lanze gegen eine Mühle. Beim Abendessen erzählte Miguel den Zwischenfall so nett und drollig, daß allgemeines Gelächter entstand; aber später, als er allein in seinem Zimmer war, warf er seinen Roman auf den Boden, trat ihn mit Füßen und schluchzte lange. Diese Kinder lebten im Irrtum: sie glaubten im Zufall zu handeln und zu reden, während ihre geringsten Äußerungen in Wahrheit den Zweck hatten, ihr Schicksal anzukündigen. Der Autor und ich, wir schauten über ihre Köpfe hinweg und lächelten uns gerührt zu. Ich las das Leben dieser falschen Mittelmäßigen, so wie Gott es konzipiert hatte: indem ich mit dem Ende anfing. Zunächst jubilierte ich. Sie waren meine Brüder; ihr Ruhm würde mein Ruhm sein. Und dann kippte alles um; ich fand mich hinter der Buchseite, im Buch. Die Kindheit von Jean-Paul Sartre glich der Kinderzeit von Jean-Jacques Rousseau, von Johann Sebastian Bach, und nichts konnte sich darin ereignen, was nicht in weitem Maße als Vorankündigung zu verstehen war. Allerdings zwinkerte diesmal der Autor meinen Großneffen zu. Ich selbst wurde vom Tode bis zur Geburt von diesen künftigen Kindern betrachtet, die ich mir nicht vorstellte, und ich sandte ihnen unablässig Botschaften zu, die ich selbst nicht zu entziffern vermochte. Ich schauderte, der Tod als wirklicher Sinn all meiner Bewegungen hatte mich starr werden lassen. Ich war meiner selbst entsetzt worden, ich versuchte die Buchseite in der umgekehrten Richtung zu durchdringen und mich wieder auf die Seite der Leser zu begeben, ich hob den Kopf, ich rief das Licht zu Hilfe: allein auch dies war eine Botschaft; wie würde man diese plötzliche Unruhe, den Zweifel, die Augen- und Halsbewegung im Jahre 2013 interpretieren, wo man im Besitz der beiden Schlüssel sein würde, die mich öffnen konnten: Werk und Tod? Es gelang mir nicht mehr, aus dem Buch herauszukommen; ich hatte es längst ausgelesen, blieb aber darin als eine Person des Buches. Ich spionierte mir nach: vor einer Stunde hatte ich mit meiner Mutter geschwatzt, was hatte ich dabei gesagt? Ich erinnerte mich an einige Aussprüche und wiederholte sie laut, kam damit aber nicht weiter. Die Sätze glitten undurchdringlich vorüber; meine Stimme hallte in meinen Ohren wider wie eine fremde - 77 -
Stimme, ein schuftiger Engel plünderte mir meine Gedanken noch in meinem eigenen Kopf, und dieser Engel war niemand anderes als ein kleiner blonder Junge aus dem dreißigsten Jahrhundert, der an einem Fenster saß und mich durch ein Buch beobachtete. Mit liebevollem Grauen fühlte ich, wie mich sein Blick bei meiner Jahrtausendfeier aufspießte. Um seinetwillen fälschte ich mich um und fabrizierte doppelsinnige Sätze, die ich öffentlich von mir gab. Anne-Marie fand mich kritzelnd an meinem Pult und sagte: «Aber es ist doch ganz dunkel! Liebchen wird sich die Augen verderben.» Hier ergab sich die Gelegenheit, voller Unschuld zu antworten: «Ich könnte auch in völliger Dunkelheit schreiben.» Sie lachte, nannte mich einen kleinen Dummkopf, machte Licht, der Streich war geglückt, wir beide wußten nicht, daß ich auf diese Weise dem Jahr 3000 mein künftiges Gebrechen angekündigt hatte. Gegen Ende meines Lebens würde ich nämlich ebenso blind sein, wie Beethoven taub war, tastend würde ich mein letztes Werk anfertigen: das Manuskript fände sich dann unter meinen Papieren, und die enttäuschten Leute würden sagen: «Aber das ist ja unlesbar!» Es wäre sogar davon die Rede, es in den Mülleimer zu werfen. Schließlich würde es die Stadtbibliothek von Aurillac aus reinem Mitleid an sich nehmen, um es ein Jahrhundert lang in Vergessenheit aufzubewahren. Und dann würden eines Tages junge Gelehrte kommen und aus Liebe zu mir das Manuskript zu entziffern suchen. Sie würden ihr ganzes Leben damit zubringen, ein Buch wiederherzustellen, das — natürlich — mein Meisterwerk war. Meine Mutter war aus dem Zimmer gegangen, ich war allein und wiederholte für mich langsam, ohne daran zu denken, vor allem: «In völliger Dunkelheit!» Es gab einen kurzen Knall: mein Urgroßneffe dort oben hatte sein Buch zugemacht; er träumte von der Kindheit seines Urgroßonkels, und Tränen rollten ihm über die Backen. «Aber es stimmt ja», seufzte er, «er hat im Dunkeln geschrieben!» Ich paradierte vor Kindern, die erst geboren werden sollten und die mir aufs Haar glichen, ich entlockte mir Tränen, indem ich an die Tränen dachte, die sie über mich vergießen würden. Ich sah meinen Tod mit ihren Augen; der Tod hatte stattgefunden, er war meine Wahrheit; ich wurde mein eigener Nachruf. Als ein Freund gelesen hatte, was ich eben beschrieb, sah er mich beunruhigt an und sagte: «Sie waren noch mehr angefressen, als ich angenommen hatte.» Angefressen? Ich weiß nicht so recht. Mein Delirium war offensichtlich erarbeitet. In meinen Augen wäre hier die Hauptfrage: die Frage nach der Aufrichtigkeit. Mit neun Jahren blieb ich diesseits der Aufrichtigkeit; in der Folge ging ich weit über sie hinaus. Ursprünglich war ich kerngesund: ein kleiner Schwindler, der rechtzeitig aufhören konnte. Aber ich kniete mich hinein: sogar beim Bluffen blieb ich ein Mensch der Fleißübungen; heute halte ich meine Mogeleien für geistige Übungen - und meine Unaufrichtigkeit für die Karikatur einer totalen Aufrichtigkeit, welche unablässig an mir vorbeistrich, ohne sich ergreifen zu lassen. Ich hatte meine Berufung nicht gewählt: andere hatten sie mir auferlegt. Im Grunde war nichts gewesen: hingeworfene Worte einer alten Frau und der Machiavellismus von Charles. Aber es genügte, mich zu überzeugen. Die in meiner Seele installierten Erwachsenen zeigten mit dem Finger auf meinen Stern; den Stern sah ich zwar nicht, aber ich sah den Finger, ich glaubte an sie, die angeblich an mich glaubten: sie hatten mir beigebracht, daß es große Tote gab, von denen einer erst ein künftiger großer Toter war: Napoleon, Themistokles, Philippe-Auguste, Jean-Paul Sartre. Ich zweifelte nicht daran, denn sonst hätte ich an ihnen zweifeln müssen. Nur hätte ich gern diesen letzten großen Toten von Angesicht zu Angesicht kennengelernt. Ich riß die Augen weit auf, ich verrenkte mich, um die Intuition zu provozieren, die mich beglückt hätte; ich benahm mich wie eine frigide Frau, deren Konvulsionen zunächst den Orgasmus herbeiführen sollen und schließlich versuchsweise an seine Stelle treten. Was sagt man über eine solche Frau: daß sie simuliert oder daß sie sich bloß ein bißchen allzu geschickt anstellt? Auf alle Fälle erreichte ich nichts, war stets entweder vor oder hinter der unmöglichen Vision, die mich mir selbst entdeckt hätte, und fand mich am Ende meiner Einübungen voller Zweifel und ohne irgendeinen Gewinn, - 78 -
abgesehen von einigen schönen Nervenkrisen. Da mein Auftrag sich auf den Grundsatz der Autorität stützte, auf die unleugbare Güte der Erwachsenen, konnte nichts ihn bestätigen oder dementieren. Er war außer Reichweite und versiegelt, blieb in mir, aber gehörte mir so wenig, daß ich ihn niemals, auch nicht für einen Augenblick, anzuzweifeln vermochte und unfähig war, ihn aufzulösen oder mir anzupassen. Auch eine tiefe Gläubigkeit ist niemals ganz einheitlich. Man muß sie unablässig aufrechterhalten oder wenigstens davon abstehen, sie zu ruinieren. Ich war geweiht, ich war erlaucht, ich hatte mein Grabmal auf dem Pére-Lachaise und vielleicht im Panthéon. Ich hatte meine Hauptstraße in Paris und meine Nebenstraßen und Plätze in der Provinz und im Ausland: allein im Herzen des Optimismus bewahrte ich - unsichtbar, unbenannt - den Argwohn meiner Substanzlosigkeit. In der Heilanstalt Sainte-Anne schrie ein Kranker aus seinem Bett: «Ich bin Fürst! Man soll den Großherzog verhaften.» Man trat ans Bett, man sagte ihm ins Ohr: «Putz dir die Nase», und er putzte sich die Nase; man fragte ihn: «Was bist du von Beruf?», und er antwortete ganz ruhig: «Schuster», und dann schrie er weiter. Ich meine, wir alle gleichen diesem Mann; jedenfalls glich ich ihm zu Beginn meines neunten Lebensjahres: ich war Fürst und Schuster. Zwei Jahre später hätte man mich als geheilt entlassen: der Fürst war verschwunden, der Schuster glaubte an nichts, ich schrieb nicht einmal mehr. Die Romanhefte waren in den Mülleimer geworfen oder verbrannt worden oder verlorengegangen, an ihre Stelle traten Hefte mit grammatischen Analysen, Diktathefte, Rechenhefte. Hätte jemand meinen nach allen Windrichtungen geöffneten Kopf besucht, so hätte er einige Büsten vorgefunden, das nicht ganz fehlerfreie Einmaleins und die Regeldetri, zweiunddreißig Departements von Frankreich mit ihren Hauptstädten, aber ohne die Unterpräfekturen, eine Rose mit Namen rosarosarosamrosaerosaerosa, historische und literarische Monumente, einige Grundsätze der Sittlichkeit, eingraviert auf Standsäulen, und bisweilen als Nebelschärpe, die über den traurigen Garten dahinzog, eine sadistische Träumerei. Keinerlei Waisenmädchen. Kein Ritter weit und breit. Die Wörter Held, Märtyrer und Heiliger waren nirgendwo angeschrieben, wurden von keiner Stimme wiederholt. Der Ex-Pardaillan erhielt jedes Trimester befriedigende Gesundheitszeugnisse: Kind von mittlerer Intelligenz und sehr gutem Bettagen, wenig begabt für die Naturwissenschaften, mit durchschnittlicher Einbildungskraft, sensibel; vollkommen normal trotz einer gewissen Manieriertheit, die übrigens abklingt. In Wirklichkeit war ich vollkommen verrückt geworden. Zwei Ereignisse, ein öffentliches und ein privates, hatten mir den kleinen Rest von Vernunft ausgeblasen. Das erste Ereignis war eine richtige Überraschung. Im Juli 1914 gab es noch einige Bösewichter; aber am 2. August ergriff die Tugend plötzlich die Macht und regierte: alle Franzosen wurden gut. Die Feinde meines Großvaters warfen sich ihm in die Arme; Verleger meldeten sich freiwillig; die kleinen Leute wurden zu Propheten; unsere Freunde sammelten die großen und einfachen Aussprüche ihrer Hausmeisterin, des Briefträgers, des Installateurs und berichteten uns darüber. Alle waren begeistert, mit Ausnahme meiner Großmutter, die ganz entschieden verdächtig war. Ich war hingerissen: Frankreich spielte vor mir Theater, ich spielte Theater für Frankreich. Aber der Krieg langweilte mich rasch: mein Leben wurde dadurch so wenig verändert, daß ich ihn zweifellos vergessen hätte, aber er widerte mich an, als ich entdeckte, daß er mich meines Lesestoffs beraubte. Meine Lieblingsschriften verschwanden aus den Zeitungskiosken; Arnould Galopin, Jo Valle, Jean de la Hire trennten sich von ihren berühmten Helden, den jungen Leuten, meinen Brüdern, die eine Weltreise im Doppeldecker oder im Wasserflugzeug machten und zu zweit oder dritt gegen hundert Mann kämpften; an die Stelle der Kolonialromane aus der Vorkriegszeit traten die mit Schiffsjungen, jungen Elsässern, Waisenkindern und Regimentsmaskottchen bevölkerten Kriegsromane. Ich konnte diese Neuankömmlinge nicht ausstehen. Die kleinen Abenteurer des Dschungels hielt ich für Wunderkinder, denn sie massakrierten Eingeborene, immerhin also Erwachsene. Da ich selbst ein Wunderkind war, erkannte ich mich in ihnen wieder. Bei - 79 -
diesen Kindern der Truppe aber vollzog sich alles unabhängig von ihnen. Das individuelle Heldentum schwand dahin: gegen die Wilden könnte es sich auf die Überlegenheit der Waffen stützen: was aber tat man gegen die deutschen Kanonen? Man brauchte andere Kanonen, Artilleristen, ein Heer. Inmitten der mutigen Poilus, die es beschützten und ihm das Haupt streichelten, fiel das Wunderkind in die Kindheit zurück, und ich mit ihm. Von Zeit zu Zeit gab mir der mitleidige Autor den Auftrag, eine Botschaft zu überbringen, die Deutschen fingen mich ab, ich gab einige stolze Antworten, und dann entkam ich, gelangte zurück in unsere Linien und entledigte mich meines Auftrags. Natürlich wurde ich belobigt, aber ohne wirkliche Begeisterung, und in den väterlichen Augen des Generals fand ich den leuchtenden Blick der Witwen und Waisen nicht wieder. Ich hatte die Initiative verloren. Man gewann die Schlachten ohne mich, man würde auch den Krieg ohne mich gewinnen; die Erwachsenen hatten das Monopol des Heroismus wieder an sich genommen, mir blieb nur gelegentlich die Aufgabe, das Gewehr eines Toten zu ergreifen und ein paar Schüsse abzugeben. Aber einen Bajonettangriff gestatteten mir Arnould Galopin oder Jean de la Hire nicht ein einziges Mal. Ich war ein Heldenlehrling und wartete ungeduldig darauf, das Alter zu erreichen, wo ich mich freiwillig melden konnte; oder vielmehr nein: es wartete das Kind der Truppe, es wartete der Waisenknabe aus dem Elsaß. Ich zog mich von ihnen zurück und klappte das Heftchen zu. Schreiben bedeutete eine lange, undankbare Arbeit, das wußte ich, aber die Geduld dafür würde ich aufbringen. Allein das Lesen war ein Fest: ich wollte den ganzen Ruhm, und zwar sofort. Und welche Zukunft bot man mir? Soldat? Ein schönes Geschäft! Als einzelner zählte der Poilu ebensowenig wie ein Kind. Den Sturmangriff machte er zusammen mit den anderen, und die Schlacht wurde vom Regiment gewonnen. Mir lag nichts daran, an Mannschaftssiegen teilzuhaben. Wollte Arnould Galopin einen Soldaten auszeichnen, so fand er nichts Besseres, als daß er ihn aussandte, um einen verwundeten Hauptmann zu retten. Diese obskure Dienstbarkeit ging mir auf die Nerven: der Sklave rettete den Herrn. Und überdies war es bloß ein Gelegenheitsheroismus; in Kriegszeiten ist der Mut eine Sache der Allgemeinheit; mit ein bißchen,Glück hätte jeder andere Soldat das gleiche geleistet. Ich wurde wütend. Am Vorkriegsheroismus hatten mich die Einsamkeit und die Unentgeltlichkeit angezogen: ich ließ die blassen Alltagstugenden hinter mir und erfand aus Edelmut den Menschen für mich ganz allein; , , - all diese heiligen Texte führten mich auf den Weg des Todes und der Auferstehung. Und nun hatten mich plötzlich die Verfasser dieser Bücher verraten; sie hatten den Heroismus für jedermann zugänglich gemacht; Mut und Selbstaufopferung wurden Alltagstugenden. Schlimmer noch: man versetzte sie in den Rang elementarer Pflichten. An der veränderten Dekoration ließ sich die Verwandlung ablesen: die dichten Nebelschwaden des Argonner Waldes waren an die Stelle der dicken einzigartigen Sonne und des individualistischen Äquatorlichtes getreten. Nach einer Unterbrechung von einigen Monaten beschloß ich, wieder zur Feder zu greifen, um einen Roman nach meinem Herzen zu schreiben und jenen Herren damit eine heilsame Lehre zu erteilen. Es war im Oktober 1914, wir hatten Arcachon nicht verlassen. Meine Mutter kaufte mir Hefte, die alle gleich aussahen; auf ihrem violetten Dekkel sah man eine behelmte Jeanne d'Arc als Zeichen der Zeit. Unter dem Schutz der Jungfrau von Orleans begann ich die Geschichte des Soldaten Perrin. Er entführte den Kaiser, brachte ihn gefesselt in unsere Linien, forderte ihn dann vor versammeltem Regiment zum Zweikampf heraus, warf ihn zu Boden und zwang ihn, nachdem er ihm das Messer an die Kehle gesetzt hatte, einen Schandfrieden zu unterzeichnen und uns Elsaß-Lothringen zurückzugeben. Nach einer Woche hing meine Erzählung mir zum Halse heraus. Die Geschichte mit dem Duell hatte ich den Mantel-und-Degen-Romanen entlehnt: Störtebecker, ein Sohn aus gutem Hause und ein Geächteter, tritt in eine Räuberhöhle; er wird vom Chef der Bande, einem Herkules, beleidigt, tötet ihn mit seinen Fäusten, tritt an seine Stelle und zieht als Räuberhauptmann gerade noch - 80 -
rechtzeitig los, um seine Truppen auf einem Piratenboot einzuschiffen. Unwandelbare und strenge Gesetze beherrschten die Zeremonie. Der Kämpe des Bösen mußte für unbesiegbar gehalten werden, und der Kämpe des Guten mußte unter allgemeinem Hohngelächter den Kampf aufnehmen, so daß sein unerwarteter Sieg die Spötter in eisiges Entsetzen stürzte. Ich aber hatte in meiner Unerfahrenheit gegen alle Regeln verstoßen und das Gegenteil dessen bewirkt, was ich gewünscht hatte. Auch wenn der Kaiser noch so kräftig sein mochte, so war er doch kein Muskelmensch, und man wußte von vornherein, daß der wunderbare Athlet Perrin ihn zerquetschen konnte. Und außerdem haßte das Publikum den Kaiser, unsere Poilus schrien ihm ihren Haß entgegen: durch eine Umkehrung der Verhältnisse, die mich ganz verwirrt machte, usurpierte Wilhelm II., der ein Verbrecher war, aber ein hilfloser Verbrecher, den man anspuckte und auslachte, unter meinen Augen die königliche Verlassenheit meiner Helden. Es kam noch schlimmer. Bis dahin waren meine «Erzeugnisse», wie Louise zu sagen pflegte, durch nichts bestätigt, aber auch durch nichts widerlegt worden. Afrika war sehr groß und sehr fern, unterbevölkert, man wußte wenig darüber, keiner war in der Lage nachzuweisen, daß meine Forscher sich nicht dort befanden, daß sie nicht den Pygmäen zu jener Stunde ein Feuergefecht lieferten, die ich für den Kampf angesagt hatte. Ich hielt mich zwar nicht für einen Geschichtsschreiber, aber man hatte mir so oft von der Wahrheit der Romane gesprochen, daß ich mit Hilfe meiner Fabeln die Wahrheit in einer Weise zu sagen meinte, die ich noch nicht so recht verstand, die meinen künftigen Lesern aber schon aufgehen würde. In jenem unseligen Monat Oktober jedoch mußte ich ohnmächtig zusehen, wie es zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu einem heftigen Zusammenstoß kam. Der Kaiser, der meiner Feder entsprungen war, hatte als ein Besiegter die Waffenruhe anzuordnen. Folglich mußte nach allen Regeln der Logik der Herbst jetzt den Frieden bringen. Allein die Zeitungen und die Erwachsenen wiederholten morgens und abends, daß man sich auf den Krieg einstellen müsse und daß der Frieden auf sich warten lasse. Ich fühlte mich geprellt: ich war ein Schwindler, ich erzählte Lügengeschichten, die niemand glauben wollte. Kurzum, ich entdeckte die Einbildungskraft. Zum erstenmal in meinem Leben las ich durch, was ich geschrieben hatte. Ich errötete tief. Ich also, ich hatte Wohlgefallen gehabt an diesen kindischen Phantastereien? Fast hätte ich auf die Literatur verzichtet. Schließlich ging ich mit meinem Heft an den Strand und begrub es dort unter Sandmassen. Das Unbehagen schwand, und ich faßte neuen Mut: ich war ganz zweifellos erwählt, nur hatte die Belletristik einfach ein Geheimnis, das sie mir eines Tages enthüllen würde. Einstweilen gebot mein Alter mir die äußerste Zurückhaltung. Ich schrieb nicht mehr. Wir kehrten nach Paris zurück. Ich trennte mich für immer von Arnould Galopin und Jean de la Hire, denn ich konnte diesen Opportunisten nicht verzeihen, gegen mich recht gehabt zu haben. Ich schmollte mit dem Krieg, diesem Heldenlied der Mittelmäßigkeit. Vergrämt desertierte ich aus unserer Epoche und flüchtete in die Vergangenheit. Einige Monate vorher, gegen Ende des Jahres 1913, hatte ich Nick Carter entdeckt und Buffalo Bill, Texas Jack und Sitting Bull. Diese Schriften waren seit Kriegsbeginn verschwunden; mein Großvater behauptete, der Verleger sei ein Deutscher. Zum Glück fand man bei den fliegenden Buchhändlern an den quais die meisten bereits erschienenen Hefte. Ich schleppte meine Mutter mit zu den Seinequais, wir wühlten einen Stand nach dem anderen durch, von der gare d'Orsay bis zur gare d'Austerlitz. Manchmal brachten wir fünfzehn Heftchen nach Hause; bald besaß ich fünfhundert. Ich ordnete sie stoßweise an, wurde nicht müde, sie zu zählen und laut ihre geheimnisvollen Titel vor mich hinzusagen: <Ein Verbrechen im Luftballon>, , . Ich hatte es gern, wenn sie vergilbt waren, beschmutzt, mit Eselsohren, wenn sie den seltsamen Geruch welker Blätter an sich hatten. Es waren welke Blätter und Ruinen, denn der Krieg hatte alles unterbrochen; ich wußte, daß das allerletzte Abenteuer des Mannes mit der langen Haarmähne mir für immerdar unbekannt bleiben würde, daß ich niemals die letzte Untersuchung des - 81 -
Königs der Detektive würde lesen können, denn diese einsamen Helden waren gleich mir zu Opfern des Weltkonflikts geworden, und darum liebte ich sie nur um so mehr. Mir genügte ein Blick auf die farbigen Titelbilder, um verrückt zu werden vor Freude. Buffalo Bill galoppierte durch die Prärie, bald als Verfolger der Indianer, bald als Verfolgter. Noch lieber hatte ich die Illustrationen zu Nick Carter. Man mag sie eintönig finden: auf fast allen schlägt der große Detektiv jemand zusammen, oder er wird niedergeschlagen. Aber diese Schlägereien fanden statt in den Straßen von Manhattan, auf unbebauten Terrains, die begrenzt waren durch braune Zäune oder kümmerliche kubische Baukonstruktionen von der Farbe getrockneten Blutes. Dies faszinierte mich, ich stellte mir eine puritanische und blutige Stadt vor, durch die sich der weite Raum hindurchfrißt und hinter der immer wieder die Savanne sichtbar wird, auf welcher sie sich erhebt. Verbrechen und Tugend standen hier beide außerhalb des Gesetzes; der Mörder und der Sheriff, beide gleich frei und souverän, setzten sich abends in einem Messergefecht auseinander. In dieser Stadt wurde - wie in Afrika und unter derselben Feuersonne - der Heroismus abermals zu einer dauernden Improvisation. Von hier stammt meine Leidenschaft für New York. Ich vergaß gleichzeitig den Krieg und meinen Auftrag. Wenn jemand mich fragte: «Was willst du später werden, wenn du groß bist?» antwortete ich freundlich und bescheiden, ich wolle Schriftsteller werden; aber meine Ruhmesträume und die geistigen Einübungen hatte ich aufgegeben. Vielleicht aus diesem Grunde wurden die Kriegsjahre die glücklichsten meiner Kinderzeit. Meine Mutter und ich waren gleichaltrig, und wir trennten uns nicht. Sie nannte mich ihren dienstbaren Ritter, ihren kleinen Mann; ich sagte ihr alles: meine Schreiberei, die ich in mich zurückgedrängt hatte, verwandelte sich in Geschwätz und kam aus meinem Mund wieder heraus. Ich beschrieb, was ich sah und was Anne-Marie gleichfalls sah, die Häuser, die Bäume, die Leute; ich gab mir Gefühle um der Freude willen, sie daran teilnehmen zu lassen, ich wurde ein Transformator von Energie: die Welt bediente sich meiner, um Wort zu werden. Das begann mit einem anonymen Schwatzen in meinem Kopf. Jemand sagte: «Ich gehe, ich setze mich, ich trinke ein Glas Wasser, ich esse eine Praline.» Laut wiederholte ich den dauernden Kommentar: «Ich gehe, Mama, ich trinke ein Glas Wasser, ich setze mich.» Ich glaubte zwei Stimmen zu haben, von denen die eine, die mir eigentlich nicht gehörte und unabhängig war von meinem Willen, der anderen diktierte, was sie zu sagen hatte; ich entschied, ich sei doppelt. Diese leichten Verwirrungen hielten bis zum Sommer an. Sie erschöpften mich, machten mich ärgerlich und schließlich ängstlich. «Da spricht etwas in meinem Kopf», sagte ich zu meiner Mutter, die sich glücklicherweise nicht darüber beunruhigte. Dies störte weder mein Glück noch unsere Eintracht. Wir hatten unsere Mythen, unsere besondere Redeweise, unsere rituellen Scherze. Fast ein Jahr lang beendete ich wenigstens einen Satz von zehn mit den voll ironischer Resignation ausgesprochenen Worten: «Aber das macht nichts.» Ich sagte: «Da ist ein großer weißer Hund. Er ist nicht weiß, er ist grau, aber das macht nichts.» Wir gewöhnten uns an das Erzählen der kleinsten Ereignisse unseres Lebens im Romanstil, und zwar im Augenblick des Geschehens selbst; wir sprachen von uns in der dritten Person des Plurals. Wir warteten auf den Autobus, er fuhr vorbei, ohne anzuhalten, worauf einer von uns ausrief: «Sie stampften mit dem Fuß auf und fluchten dem Kümmel», und wir lachten. In der Öffentlichkeit hatten wir unser Einverständnis: ein Augenzwinkern genügte. In einem Geschäft oder Teesalon kam uns die Verkäuferin komisch vor, als wir draußen waren, sagte meine Mutter: «Ich habe dich nicht angeschaut, ich hatte Angst, loszuplatzen», und ich war stolz auf meine Macht: es gibt nicht viele Kinder, die es verstehen, nur mit dem Blick ihre Mutter losplatzen zu machen. Wir waren schüchtern und hatten gemeinsam Angst. Eines Tages hatte ich auf dem quai zwölf Hefte von Buffalo Bill entdeckt, die ich noch nicht besaß. Meine Mutter war dabei, die Hefte zu bezahlen, als ein dicker, blasser Mann näher trat, mit kohlschwarzen Augen, gewichstem Schnurrbart, mit einem Strohhut und jenem bekömmlichen Gehaben, das die schönen Männer jener Zeit zu - 82 -
demonstrieren pflegten. Er schaute starr auf meine Mutter, wandte sich aber an mich. «Du wirst verwöhnt, kleiner Mann, du wirst verwöhnt!» wiederholte er hastig. Zuerst war ich nur beleidigt - so schnell ließ ich mich nicht duzen -, aber dann sah ich seinen besessenen Blick, und nun waren Anne-Marie und ich nur noch ein einziges erschrecktes junges Mädchen, das zurückwich. Aus der Fassung gebracht, entfernte sich der Herr. Ich habe tausend Gesichter vergessen, aber an dieses Schmalzgesicht erinnere ich mich heute noch. Ich hatte keine Ahnung von den Körperdingen und konnte mir nicht vorstellen, was dieser Mann von uns wollte. Aber die Evidenz der Begierde ist so groß, daß ich zu verstehen schien und daß mir in gewisser Hinsicht alles offenbar wurde. Diese Begierde hatte ich durch Anne-Marie hindurch gespürt; durch sie hindurch lernte ich das Männchen wittern, furchten, verabscheuen. Der Zwischenfall schloß uns noch mehr zusammen; ich trottete mit hartem Gesicht dahin, an der Hand meiner Mutter, und war sicher, sie zu beschützen. Ist es die Erinnerung an diese Jahre? Auch heute noch sehe ich nicht ohne Vergnügen, wie ein allzu ernstes Kind sehr gewichtig und zärtlich mit seiner kindlichen Mutter spricht; ich liebe diese sanften und milden Freundschaften, die fern von den Männern und gegen sie entstehen. Lange schaue ich dem kindlichen Paar nach, und dann fällt mir ein, daß ich ein Mann bin, und ich schaue weg. Das zweite Ereignis fand im Oktober 1915 statt. Ich war zehn Jahre und drei Monate alt, es war nicht daran zu denken, mich noch länger eingeschlossen zu halten. Charles Schweitzer legte seinem Groll die Zügel an und ließ mich als Externen in die Vorschule des Lycée Henri IV. einschreiben. Beim ersten Aufsatz wurde ich Letzter. Als junger Feudalherr hielt ich den Unterricht für eine persönliche Bindung: Mademoiselle Marie-Louise hatte mir aus Liebe ihr Wissen vermittelt, ich hatte es aus Güte, um der Liebe willen, entgegengenommen. Ich wurde aus der Fassung gebracht durch diese Unterrichtsstunden ex cathedra, die sich an alle richteten, durch die demokratische Kälte des Gesetzes. Da sie nun beständig dem Vergleich unterworfen wurden, schwanden meine geträumten Überlegenheiten dahin: stets gab es einen, der besser und schneller antwortete als ich. Ich war zu sehr geliebt, um mich in Frage zu stellen; ehrlich bewunderte ich meine Kameraden und beneidete sie nicht. Auch ich würde an die Reihe kommen. Mit fünfzig Jahren. Kurzum, ich ging zugrunde, ohne zu leiden; von trockenem Entsetzen gepackt, schrieb ich voller Eifer ganz miserable Aufsätze. Schon begann mein Großvater die Stirn zu runzeln; meine Mutter bat schleunigst um eine Unterredung mit Monsieur Ollivier, meinem Klassenlehrer. Er empfing uns in seiner kleinen Junggesellenwohnung; meine Mutter machte ihre Stimme so singend wie nur möglich. Ich stand neben ihrem Sessel und hörte zu, während ich sah, wie das Sonnenlicht durch die staubigen Fenster fiel. Sie bemühte sich nachzuweisen, ich sei besser als meine Schularbeiten: ich hätte allein lesen gelernt und schriebe Romane; als sie mit ihren Argumenten nicht weiterkam, enthüllte sie, ich sei ein Zehnmonatskind, also besser gebacken als die anderen, goldbrauner, knuspriger, da ich länger im Ofen geblieben sei. Auf Monsieur Ollivier machte ihr Charme mehr Eindruck als mein Verdienst, aufmerksam hörte er sie an. Er war ein großer Mann, kahl, mit gewaltigem Schädel, tiefliegenden Augen, einem Wachsgesicht und ein paar roten Haaren unter einer langen, gekrümmten Nase. Er lehnte es ab, mir Privatstunden zu geben, versprach aber, mich «im Auge zu behalten». Mehr verlangte ich nicht: ich erspähte seinen Blick während der Stunden; er sprach nur für mich, dessen war ich sicher; ich glaubte, er liebe mich, ich liebte ihn, einige gute Worte bewirkten den Rest: ohne Anstrengung wurde ich ein ziemlich guter Schüler. Mein Großvater brummte, wenn er die Zeugnisse las, dachte aber nicht mehr daran, mich von der Schule zu nehmen. In der fünften Klasse bekam ich andere Lehrer und büßte meine Vorzugsbehandlung ein, aber ich hatte mich an die Demokratie gewöhnt. Meine Schularbeiten ließen mir keine Zeit zum Schreiben; meine neuen Gefährten nahmen mir die Lust dazu. Endlich hatte ich Kameraden! Ich, der Ausgestoßene der Spielplätze, war - 83 -
mit größter Selbstverständlichkeit aufgenommen worden, galt vom ersten Tag an als zugehörig: ich konnte mich darüber nicht beruhigen. In Wahrheit glichen meine Freunde eher mir als den jungen Pardaillans, die mir das Herz gebrochen hatten: sie waren Externe, Muttersöhnchen, emsige Schüler. Das machte aber nichts: ich jubelte innerlich. Ich führte zwei Leben. Im Kreis der Familie äffte ich nach wie vor den Erwachsenen nach. Unter sich aber können Kinder die Kinderei nicht ausstehen: sie sind wirkliche Erwachsene. Als Mann unter Männern verließ ich täglich das Gymnasium in der Gesellschaft der drei Malaquins, von Jean, René und André, in der Gesellschaft von Paul und Norbert Meyre, von Brun, von Max Bercot, von Grégoire; unter lautem Rufen liefen wir über die place du Panthéon, es war ein Augenblick des strengen Glücks; ich wusch das Familientheater von mir ab; ich war weit davon entfernt, glänzen zu wollen, lachte als Echo, wiederholte die Losungen und Witzworte, schwieg, gehorchte, ahmte die Gesten meiner Nachbarn nach und hatte nur eine einzige Leidenschaft: mich zu integrieren. Ich war trocken, hart und heiter und fühlte mich aus Stahl, endlich befreit von der Sünde der Existenz. Wir spielten Ball zwischen dem Ruhmestempel der Großen Männer und dem Denkmal von Jean-Jacques Rousseau. Ich war unentbehrlich: the right man in the right place. Ich neidete Monsieur Simonnot nichts mehr, denn wem hätte Meyre, indem er Gregoire überspielte, den Ball zuspielen sollen, wenn ich nicht da war, ich, der hier und jetzt Anwesende? Wie fade und todtraurig erschienen meine Ruhmesträume im Vergleich zu diesen blitzartigen Intuitionen, die mir meine Notwendigkeit enthüllten. Unglücklicherweise erloschen solche Intuitionen schneller, als sie aufgeflammt waren. Unsere Mütter behaupteten, diese Spiele «regten uns zu sehr auf», und manchmal verwandelten die Spiele unsere Gruppen in eine kleine einmütige Masse, die mich aufsog; niemals aber konnten wir für längere Zeit unsere Eltern vergessen, deren unsichtbare Gegenwart dafür sorgte, daß wir rasch wieder in die gemeinsam ertragene Einsamkeit von Tierkolonien zurückfielen. Unsere Gesellschaft war ohne Ziel und Zweck und Hierarchie: so schwankte sie hin und her zwischen der totalen Verschmelzung und der bloßen Summierung. Waren wir beisammen, so lebten wir in der Wahrheit, konnten uns aber des Gefühls nicht erwehren, daß man uns nur aneinander ausgeliehen hatte und daß jeder von uns einer engen, mächtigen und primitiven Kollektivität angehörte, welche faszinierende Mythen hervorbrachte, von Irrtum genährt wurde und uns ihr Willkürregiment aufzwang. Wir waren verhätschelt, empfindsam, erzogen in der Denkweise der Oberschicht, redeten überall mit, hatten entsetzliche Angst vor der Unordnung, verabscheuten Gewalt und Ungerechtigkeit und waren gleichzeitig geeint und getrennt durch die stillschweigende Überzeugung, die Welt sei für unseren Gebrauch geschaffen worden und unsere jeweiligen Eltern seien die besten Eltern der Welt; uns lag daran, niemand zu beleidigen und noch in unseren Spielen höflich zu bleiben. Spötteleien und Schimpfereien waren streng verpönt; wenn einer aus der Rolle fiel, scharte sich die ganze Gruppe um ihn, beruhigte ihn und nötigte ihm eine Entschuldigung ab, es war seine eigene Mutter, die ihm durch den Mund von Jean Malaquin oder Norbert Meyre ihre Vorhaltungen machte. Alle Mütter waren übrigens miteinander bekannt und pflegten einander grausam zu behandeln: sie gaben unsere Äußerungen weiter, unsere Kritiken, die Urteile eines jeden über einen jeden; wir Söhne verheimlichten voreinander die Äußerungen unserer Mütter. Meine Mutter kam sehr verärgert von einem Besuch bei Madame Malaquin zurück, die ihr rundheraus gesagt hatte: «André findet, daß Poulou ein Spielverderber ist.» Diese Bemerkung machte mir nichts aus: so sprechen die Mütter nun einmal miteinander; ich nahm André überhaupt nichts übel und sagte ihm kein Wort von der Geschichte. Kurzum, wir respektierten die ganze Welt, Reiche und Arme, Soldaten und Zivilisten, Junge und Alte, Menschen und Tiere. Verachtung hatten wir nur für die Halb-Pensionäre des Internats und für die Internen. Die mußten sehr schuldig sein, wenn sie von ihrer Familie preisgegeben worden waren; vielleicht hatten sie schlechte Eltern, aber das änderte nichts am Tatbestand: Kinder haben die Eltern, die sie verdienen. Am Abend, wenn um vier Uhr die freien Externen nach Hause gegangen waren, wurde das Gymnasium zur Menschenfalle. - 84 -
Bei so heiklen Freundschaften sind Abkühlungen unvermeidlich. In den Ferien gingen wir ohne Bedauern auseinander. Dabei liebte ich Bercot. Er war der Sohn einer Witwe, er war mein Bruder. Er war schön, schmal, sanft; ich wurde nicht müde, seine langen schwarzen Haare á la Jeanne d'Arc zu betrachten. Vor allem aber waren wir beide stolz darauf, alles gelesen zu haben, und wir zogen uns in einen Winkel des Schulhofs zurück, um über Literatur zu sprechen, das heißt: um zum hundertstenmal, mit stets neuem Vergnügen, alle Bücher aufzuzählen, die wir in der Hand gehabt hatten. Eines Tages sah er mich mit dem Ausdruck eines Besessenen an und verriet mir, er wolle Schriftsteller werden. Später traf ich ihn wieder in der vorletzten Klasse des Gymnasiums, er war immer noch schön, aber tuberkulös: er starb mit achtzehn Jahren. Wir alle, eingeschlossen sogar der zurückhaltende Bercot, bewunderten Bénard, einen rundlichen Jungen, der stets zu frieren schien und einem Küken glich. Der Ruhm seiner Verdienste war bis zu den Ohren unserer Mütter gedrungen, die sich ein bißchen darüber ärgerten, aber nicht müde wurden, ihn als Vorbild hinzustellen, ohne daß es ihnen gelang, uns Bénard zu verleiden. Wie eingenommen wir für ihn waren, kann man ermessen, wenn man erfährt, daß er Halb-Pensionär war und daß wir ihn darum nur noch mehr liebten; in unseren Augen war er ein Externer ehrenhalber. Abends unter der Lampe am Familientisch dachten wir an diesen Missionar, der im Dschungel blieb, um die Kannibalen des Internats zu bekehren, und wir hatten weniger Angst. Gerechterweise muß man sagen, daß ihn auch die Internen achteten. Ich sehe nicht mehr so recht, worin die Ursache der allgemeinen Zustimmung lag. Bénard war sanft, freundlich, sensibel; überdies war er in allen Fächern der beste Schüler. Und außerdem brachte seine Mama für ihn Opfer. Unsere Mütter verkehrten nicht mit dieser Schneiderin, sprachen aber oft über sie, damit wir die Größe der Mutterliebe ermessen könnten. Wir dachten nur an Bénard: er war die Fackel und Freude der unglücklichen Frau; wir ermaßen die Größe der Sohnesliebe; schließlich sprachen alle voller Rührung über die guten armen Leute. Trotzdem hätte das nicht genügt: in Wahrheit lebte Bénard nur ein halbes Leben; ich habe ihn niemals ohne ein dickes, wollenes Halstuch gesehen; er lächelte uns freundlich zu, sagte aber wenig, ich erinnere mich, daß man ihm verboten hatte, an unseren Spielen teilzunehmen. Ich meinerseits verehrte ihn um so mehr, als seine Zerbrechlichkeit uns von ihm trennte: man hatte ihn unter eine Glasglocke gesetzt; er grüßte uns und machte Zeichen hinter der Glaswand, aber wir traten nicht näher: wir liebten ihn von fern, weil er im Leben bereits die Blässe eines Symbols hatte. Kinder sind Konformisten: wir waren ihm dankbar, daß er die Perfektion bis zur Unpersönlichkeit vortrieb. Wenn er mit uns plauderte, waren wir hingerissen darüber, daß seine Bemerkungen so bedeutungslos waren; wir sahen ihn niemals zornig oder ausgelassen; in der Klasse meldete er sich niemals; wenn man ihn aber aufrief, sprach die Wahrheit aus seinem Munde, ohne Zögern und ohne Eifer, genauso, wie die Wahrheit eben reden muß. Unsere Bande von Wunderkindern konnte nur staunen darüber, daß er der beste Schüler war, ohne ein Wunderkind zu sein. Damals waren wir alle mehr oder weniger Waisen von Vatersseite her, denn die Herren Väter waren tot oder an der Front, und diejenigen, die dageblieben waren, wirkten herabgemindert und entmännlicht und waren bemüht, sich bei ihren Söhnen in Vergessenheit zu bringen. Die Mütter führten das Regiment, und Bénard reflektierte für uns die negativen Tugenden dieses Matriarchats. Am Ende des Winters starb er. Kinder und Soldaten kümmern sich wenig um Tote: hier aber zogen wir vierzig schluchzend hinter seinem Sarg her. Unsere Mütter waren auf der Hut: sie überschütteten das Grab mit Blumen, und das Blumenmeer bewirkte, daß wir diesen Tod als Sonderpreis für ausgezeichnete Leistungen ansahen, der mitten im Schuljahr verliehen wurde. Und außerdem lebte Bénard so wenig, daß er nicht richtig starb. Er blieb unter uns als undeutliche und geheiligte Gegenwart. Unser Betragen besserte sich sprunghaft: wir hatten unseren teuren Toten, sprachen von ihm mit gedämpfter Stimme, mit melancholischem Vergnügen. Vielleicht würden auch wir, gleich ihm, vorzeitig sterben; wir stellten uns die - 85 -
Tränen unserer Mütter vor und empfanden uns als kostbar. Habe ich damals geträumt? Geblieben ist mir die schwache Erinnerung an eine grauenhafte Evidenz. Daran nämlich, daß die Schneiderin, die Witwe, alles verloren hatte. Hat mich dieser Gedanke wirklich mit Grauen erfüllt? Habe ich das Böse geahnt, die Abwesenheit Gottes, die Unbewohnbarkeit der Welt? Ich glaube, ja. Warum sonst wäre in meiner verleugneten, vergessenen und verlorenen Kindheit das Bild dieses Bénard mit so schmerzlicher Klarheit haftengeblieben? Wenige Wochen später wurde die fünfte Klasse A I zum Schauplatz eines ungewöhnlichen Geschehens: während der Lateinstunde ging die Tür auf und Bénard kam herein in Begleitung des Hausmeisters, grüßte Monsieur Durry, den Lateinlehrer, und setzte sich. Wir alle erkannten seine Eisenbrille, sein Halstuch, seine etwas gekrümmte Nase, sein Aussehen eines frierenden Kükens: ich glaubte, Gott habe ihn uns zurückgegeben. Monsieur Durry schien unsere starre Verwunderung zu teilen, er brach ab, atmete laut und fragte: «Name, Vorname, Interner oder Externer, Beruf der Eltern?» Benard antwortete, er sei Halb-Pensionär, Sohn eines Ingenieurs und heiße Paul-Yves Nizan. Ich war besonders frappiert, in der Pause machte ich mich an ihn heran, er ging auf die Annäherung ein: wir gehörten zusammen. Eine Kleinigkeit freilich ließ mich ahnen, daß ich es nicht mit Benard zu tun hatte, sondern mit seinem teuflischen Trugbild. Nizan schielte nämlich. Es war zu spät, das in Rechnung zu setzen: ich hatte damit begonnen, in diesem Gesicht die Verkörperung des Guten zu lieben; schließlich liebte ich ihn um seiner selbst willen. Ich saß in der Falle, mein Hang zur Tugend hatte mich dahin gebracht, daß ich den Teufel liebte. In Wahrheit war der Pseudo-Bénard nicht sehr bösartig: er lebte, das war alles. Er hatte alle Eigenschaften seines Doppelgängers, aber sie waren verzerrt. Bénards Zurückhaltung verwandelte sich bei ihm in Verstellung; wenn heftige und passive Empfindungen ihn packten, schrie er nicht, aber wir sahen, wie er bleich wurde vor Zorn und stotterte. Was wir für Sanftheit gehalten hatten, war nur die Lähmung eines Augenblicks; aus seinem Munde sprach nicht die Wahrheit, sondern eine Art zynischer und leichtfertiger Objektivität, die uns unbehaglich war, denn wir waren nicht daran gewöhnt; und wenngleich er natürlich seine Eltern liebte, sprach er als einziger ironisch von ihnen. In der Klasse glänzte er weniger als Benard; dafür hatte er viel gelesen und wünschte Schriftsteller zu werden. Er war, kurz gesagt, eine vollständige Person, und nichts verwunderte mich stärker als der Anblick einer Person mit den Gesichtszügen von Bénard. Ich war besessen von dieser Ähnlichkeit und wußte nie, ob ich ihn dafür loben sollte, daß er den Schein der Tugend anbot, oder tadeln, daß es bloß der Schein war. So wechselte ich immer wieder von blindem Vertrauen zu unvernünftigem Mißtrauen. Wirkliche Freunde wurden Nizan und ich erst sehr viel später, nach einer langen Trennung. Durch diese Ereignisse und Begegnungen wurden meine inneren Auseinandersetzungen zwei Jahre lang vertagt, ohne daß die Ursache wegfiel. In der Tiefe nämlich hatte sich nichts verändert: zwar dachte ich nicht mehr an den Auftrag, den die Erwachsenen verbrieft und versiegelt in mir deponiert hatten, aber er blieb bestehen. Er bemächtigte sich meiner Person. Mit neun Jahren überwachte ich mich sogar noch während meiner schlimmsten Exzesse. Mit zehn Jahren verlor ich mich aus den Augen. Ich lief herum mit Brun, unterhielt mich mit Bercot und mit Nizan. Während dieser Zeit blieb meine falsche Mission sich selbst überlassen, nahm Gestalt an und tauchte schließlich in meine Nacht hinab; ich sah sie nicht wieder, sie machte mich und übte in jeder Weise ihre Anziehungskraft aus, krümmte Bäume und Wände und wölbte den Himmel über meinem Kopf. Ich hatte mich für einen Fürsten gehalten, mein Wahnsinn bestand darin, einer zu sein. Fall einer Charakterneurose, sagte ein befreundeter Analytiker. Er hat recht: zwischen dem Sommer 1914 und dem Herbst 1916 ist mein Auftrag zu meinem Charakter geworden, mein Delirium verließ meinen Kopf, um sich in meine Glieder zu ergießen. Mir geschah nichts Neues: ich fand intakt wieder, was ich gespielt und prophezeit hatte. Mit einem Unterschied: ohne Kenntnisse und Worte verwirklichte ich alles blindlings. Vorher - 86 -
hatte ich mir mein Leben in Bildern vorgestellt: darin hatte mein Tod meine Geburt hervorgerufen, und meine Geburt schleuderte mich meinem Tod entgegen. Seit ich darauf verzichtet hatte, den Tod zu sehen, wurde ich selbst zu jenem Wechselspiel und spannte mich bis zum Zerreißen zwischen diese beiden Extreme, so daß ich mit jedem Herzschlag gleichzeitig zur Welt kam und starb. Meine zukünftige Ewigkeit wurde zu meiner konkreten Zukunft: dadurch wurde jeder Augenblick zu einer Frivolität, mitten in der tiefsten Aufmerksamkeit entfaltete sich eine noch tiefere Unaufmerksamkeit, in jeder Fülle gab es nun eine Leere, in jeder Realität eine leichte Irrealität. Dadurch wurde, von fern her, der Geschmack einer Karamelle in meinem Mund getötet, es starben in meinem Herzen die Kümmernisse und Vergnügungen; dafür wurde der nichtigste Augenblick durch die bloße Tatsache gerettet, daß er der letzte Augenblick war und daß er mich meiner zukünftigen Ewigkeit näher brachte. Sie gab mir die Geduld, weiterzuleben. Nie mehr wünschte ich, zwanzig Jahre zu überspringen und zwanzig andere nur durchzublättern. Nie mehr stellte ich mir die fernen Tage meines Triumphes vor; ich wartete ab. Jede Minute ließ mich auf die nächste warten, weil sie die folgende nach sich zog. Heiter lebte ich im Zustand der äußersten Eile; stets war ich mir selbst voraus, alles absorbierte mich, nichts hielt mich fest. Welche Erleichterung! Einst glichen sich meine Tage so sehr, daß ich mich manchmal fragte, ob ich nicht dazu verdammt sei, die Ewige Wiederkehr des Gleichen zu erleiden. Dabei hatten sich meine Tage nicht sehr verändert, sie behielten die schlechte Angewohnheit, zitternd in sich zusammenzusinken; aber ich hatte mich inzwischen verändert. Jetzt strömte nicht mehr die Zeit über meine regungslose Kindheit hinweg, sondern ich, ein befehlsgemäß abgeschossener Pfeil, durchbohrte die Zeit und strebte geradewegs dem Ziel entgegen. Im Jahre 1948 zeigte mir Professor van Lennep in Utrecht eine Reihe von psychologischen Testbildern. Eine bestimmte Karte erregte meine Aufmerksamkeit: man sah dort ein galoppierendes Pferd, einen laufenden Mann, einen Adler im Fluge, ein Rennboot, das emporschnellt; die Versuchsperson sollte angeben, welches Bild in ihr am stärksten das Gefühl der Schnelligkeit errege. Ich sagte: «Das Rennboot.» Dann sah ich neugierig die Zeichnung an, die sich mir so brutal aufgezwungen hatte. Das Rennboot schien sich aus dem See emporzuheben, im nächsten Augenblick würde es das Wellengebilde überfliegen. Die Ursache meiner Wahl wurde mir sogleich klar: im Alter von zehn Jahren hatte ich den Eindruck gehabt, mein Vordersteven durchschneide die Gegenwart und reiße mich von ihr los. Seit dieser Zeit bin ich gelaufen; ich laufe auch jetzt noch. In meinen Augen ist Schnelligkeit nicht durch die Raumstrecke gekennzeichnet, die in einer bestimmten Zeit durchlaufen wird, sondern durch die Losreißungskraft. Vor mehr als zwanzig Jahren wurde Giacometti1 eines Abends beim Überqueren der place d'Italie von einem Auto angefahren. Er wurde verletzt, das Bein war ausgerenkt, aber in dem wachen Dämmerzustand, der ihn befallen hatte, spürte er zunächst so etwas wie Freude: «Endlich einmal erlebe ich etwas!» Ich kenne seinen Radikalismus: er war auf das Schlimmste gefaßt. Sein Leben, das er so sehr liebte, daß er sich kein anderes zu wünschen vermochte, war in Verwirrung geraten, vielleicht sogar durch die stupide Heftigkeit des Zufalls zerbrochen. Nun sagte er sich: «Also war ich nicht dazu bestimmt, Bildhauer zu werden, vielleicht war ich nicht einmal für das Leben bestimmt; ich war zu nichts bestimmt.» Was ihn dabei so aufregte, war die bedrohliche Ordnung der Kausalitäten, die plötzlich ohne Maske dastand und die Lichter der Stadt, die Menschen und seinen eigenen in den Schmutz geworfenen Leib mit dem versteinernden Blick einer Katastrophe anstarrte: für einen Bildhauer gibt es stets die Nähe zum Mineralreich. Ich bewundere diese Bereitschaft, alles anzunehmen. Liebt man nun einmal die Überraschungen, so muß man sie auch bis zu diesem Punkt lieben: bis zu den seltenen Blitzeinschlägen, die den Amateuren offenbaren, daß für sie die Erde nicht gemacht ist. 1
Dem Bildhauer und Maler Giacometti hat Sartre bereits im Jahre 1954 eine Studie gewidmet. Sie ist von neuem abgedruckt in: Jean-Paul Sartre, <Situations IV>, 1964. (Anm. d. Übers.) - 87 -
Mit zehn Jahren gab ich vor, nur solche Blitzeinschläge zu lieben. Jede Masche meines Lebens sollte unerwartet sein und nach frischem Anstrich riechen. Mit den Mißhelligkeiten und Fehlschlägen war ich von vornherein einverstanden und muß gerechterweise sagen, daß ich sie mit guter Miene hinnahm. Eines Abends ging das elektrische Licht aus: eine Panne; ich war allein im Zimmer, man rief mich, ich tappte mit ausgestreckten Armen vorwärts und rannte mit dem Kopf so stark gegen einen Türpfosten, daß mir ein Zahn abbrach. Das machte mir Spaß, es tat zwar weh, aber ich lachte darüber. So wie Giacometti viel später über sein Bein lachen sollte, aber aus völlig entgegengesetzten Gründen. Da ich von vornherein beschlossen hatte, meine Geschichte werde gut ausgehen, konnten unerwartete Ereignisse nichts anderes darstellen als ein Täuschungsmanöver; das neue Ereignis war nur ein Trugbild, denn das Begehren der Völker, das mich auf die Welt kommen ließ, hatte alles im voraus geregelt. Ich sah in dem zerbrochenen Zahn einen Wink, eine dunkle Ermahnung, die ich später schon verstehen würde. Anders ausgedrückt: ich hielt die Ordnung der Zwecke unter allen Umständen und um jeden Preis aufrecht, ich betrachtete mein Leben aus der Perspektive meines Dahinscheidens und sah nur ein geschlossenes Gedächtnis, ohne Eingang und ohne Ausgang. Man kann sich vorstellen, wie sicher ich mich dadurch fühlte. Die Zufälle existierten nicht; ich hatte bloß mit ihren von der Vorsehung zugelassenen Imitationen zu tun. Wollte man den Zeitungen glauben, so lauerten überall auf den Straßen geheime Mächte, um die kleinen Leute hinwegzuraffen: ich, der Vorherbestimmte, würde ihnen nicht begegnen. Vielleicht würde ich einen Arm einbüßen oder ein Bein oder das Augenlicht. Aber alles kam auf die Art und Weise an: meine Leiden waren von vornherein nur als Prüfungen gedacht und als Mittel, daraus ein Buch zu machen. Ich lernte Kümmernisse und Krankheiten ertragen: in ihnen erblickte ich die Voraussetzungen meines triumphalen Sterbens, gleichsam die Stufen, die der Tod einschnitt, um mich zu sich emporzuheben. Diese ein bißchen brutale Fürsorglichkeit war mir nicht unangenehm, und ich gab mir Mühe, ihrer würdig zu bleiben. Ich nahm das Schlimmste als Vorbedingung des Besten. Sogar meine Fehler waren nützlich, womit gesagt war, daß ich keine Fehler beging. Mit zehn Jahren war ich meiner selbst sicher. Ich war bescheiden und unerträglich und sah in meinen Mißhelligkeiten die Voraussetzungen meines postumen Sieges. Es mochte sein, daß ich blind wurde oder ein Krüppel, daß meine Irrtümer mich narrten, aber ich würde den Krieg gewinnen, indem ich die Schlachten verlor. Ich machte keinen Unterschied zwischen den Prüfungen, wie sie den Erwählten vorbehalten sind, und den Mißerfolgen, für die ich selbst verantwortlich war, was heißen soll, daß mir im Grunde meine Verbrechen als Leiden erschienen und daß ich meine Unglücksfälle zwar begehrte, aber gleichzeitig als Fehler empfand; in der Tat konnte ich keine Krankheit erwischen, mochte es sich um die Masern oder einen Schnupfen handeln, ohne mich für schuldig zu halten: ich war nicht wachsam genug gewesen oder hatte vergessen, meinen Mantel und mein Halstuch anzuziehen. Stets habe ich lieber mich selber angeklagt als das Universum. Nicht aus Gutmütigkeit, sondern um in allen Dingen nur von mir selbst abzuhängen. Dieser Hochmut schloß die Demut nicht aus: ich hielt mich um so eher für fehlbar, als meine Fehlbarkeiten notwendigerweise den kürzesten Weg zum Guten darstellten. Ich richtete mich darauf ein, die Bewegung meines Lebens als eine unwiderstehliche Anziehungskraft zu spüren, die mich unablässig zwang, notfalls gegen meinen Willen, neue Fortschritte zu machen. Alle Kinder wissen, daß sie Fortschritte machen. Übrigens sorgt man auch dafür, daß sie es wissen: «Ihr müßt Fortschritte machen, fortgeschritten sein, ernste und regelmäßige Fortschritte...» Die Erwachsenen erzählten uns die französische Geschichte: nach einer recht unsicheren ersten Republik hatte es eine zweite gegeben, und dann eine dritte, die die eigentliche war: aller guten Dinge sind drei. Der bourgeoise Optimismus verkörperte sich damals im Programm der Radikalsozialisten: steigender Überschuß an Gütern, Unterdrückung der Armut durch Vermehrung von Aufklärung und Kleineigentum. Wir anderen waren junge Herren, man hatte uns ein gemachtes Bett bereitet, und wir entdeckten, daß unsere - 88 -
Einzelfortschritte das Fortschreiten der Nation reproduzierten. Wenige unter uns freilich wollten höher hinaus als ihre Väter: für die meisten handelte es sich bloß darum, das Mannesalter zu erreichen; dann wäre Schluß mit Wachstum und Entwicklung: die Welt um sie herum würde spontan besser und behaglicher werden. Einige erwarteten diesen Augenblick voll Ungeduld, andere voll Furcht und andere mit Bedauern. Ich selbst wuchs, vor meiner Auserwählung, voll Indifferenz auf; die Toga des Beamten war mir ganz egal. Mein Großvater fand mich winzig klein und war darüber betrübt. «Er hat die Figur der Sartres», sagte meine Großmutter, um ihn zu ärgern. Er tat so, als verstehe er nicht, pflanzte sich vor mir auf und maß mich. «Er wächst!» sagte er schließlich, nicht sehr überzeugt. Ich teilte weder seine Unruhe noch seine Hoffnung: auch Unkraut wächst, woraus sich ergibt, daß man wachsen und doch Unkraut bleiben kann. Mein damaliges Problem ging dahin, in aeternum gut zu sein. Alles änderte sich, als mein Leben schneller wurde: es genügte nicht mehr, Gutes zu tun, man mußte jederzeit Besseres tun. Ich hatte bloß noch ein Gesetz: klettern. Um meine Ansprüche zu nähren und ihre Maßlosigkeit zu verdecken, bediente ich mich der allgemeinen Erfahrung: in den schwankenden Erfahrungen meiner Kinderzeit wollte ich die ersten Wirkungen meines Schicksals sehen. Diese echten, aber kleinen und sehr gewöhnlichen Verbesserungen gaben mir die Illusion, meine Aufstiegskraft zu erproben. Als öffentliches Kind adoptierte ich in der Öffentlichkeit den Mythos meiner Klasse und meiner Generation: man macht sich das Erworbene nutzbar und kapitalisiert die Erfahrung, die die Gegenwart anreichert durch die gesamte Vergangenheit. Insgeheim war ich weit davon entfernt, mich damit zufriedenzugeben. Ich konnte nicht zulassen, daß man das Sein von außen empfängt, daß es sich durch Untätigkeit erhält und daß seelische Erregungen das Ergebnis vorangegangener Erregungen sein sollen. Da ich aus Zukunftserwartung geboren war, trat ich strahlend und total in Erscheinung, und jeder Augenblick wiederholte die Zeremonie meiner Geburt: ich wollte in den Empfindungen meines Herzens ein knisterndes Feuerwerk erblicken. Wieso hätte mich die Vergangenheit bereichern sollen? Sie hatte mich nicht geschaffen. Umgekehrt: ich selbst stieg aus meiner Asche empor und entriß dem Nichts das Gedächtnis an mich in einem stets neuen Schöpfungsakt. Ich wurde als ein Besserer wiedergeboren, und ich nutzte besser die unverbrauchten Reserven meiner Seele; aus dem einfachen Grunde, weil der jedesmal näher rückende Tod mich jedesmal stärker mit seinem dunklen Licht erhellte. Man sagte mir oft: wir werden durch die Vergangenheit vorwärts getrieben, aber ich war davon überzeugt, daß mich die Zukunft zu sich hinzog; es wäre mir zuwider gewesen, in mir sanfte Kräfte am Werk zu verspüren, die an einer langsamen Entfaltung meiner Gaben arbeiteten. Ich harte den unablässigen Fortschritt der Bourgeoisie in meine Seele gestopft und verwandelte ihn in einen Explosionsmotor. Ich setzte die Vergangenheit zugunsten der Gegenwart herab, und diese zugunsten der Zukunft, ich verwandelte den Gedanken einer ruhigen Evolution ins Prinzip einer revolutionären und sprunghaften Katastrophenbildung. Man hat mich vor einigen Jahren darauf hingewiesen, die Gestalten meiner Stükke und meiner Romane träfen ihre Entscheidungen in jäher und krisenhafter Form, beispielsweise genüge ein Augenblick, um Orests Wandlung in den zu vollenden. In der Tat: meine Gestalten habe ich nach meinem Ebenbild geschaffen; sicherlich nicht so, wie ich bin, aber so, wie ich sein wollte. Ich wurde ein Verräter und bin es geblieben. Es nützt nichts, daß ich mich mit Kopf und Kragen in meine Unternehmungen stürze, ohne Vorbehalt an die Arbeit verliere, an den Zorn, an die Freundschaft: einen Augenblick später werde ich mich verleugnen, ich weiß es, ich will es, und mitten in der Leidenschaft verrate ich mich bereits durch ein heiteres Vorempfinden meiner künftigen Verräterei. Im großen halte ich meine Verpflichtungen wie ein anderer auch; ich bin Beständig in meinen Zuneigungen, und in meiner Lebensführung bin ich meinen Gefühlen untreu. Bei Denkmälern, Bildern und Landschaften war es eine Zeitlang so, daß ich die letzten, die ich gesehen hatte, immer am schönsten fand. Meine Freunde wurden - 89 -
mißvergnügt, wenn ich zynisch oder auch bloß leichtfertig - um mich davon zu überzeugen, daß sie mir nichts mehr bedeutete - von einer gemeinsamen Erinnerung sprach, die ihnen teuer sein mochte. Da ich mich nicht genug liebte, floh ich nach vorn. Das Ergebnis: ich liebe mich noch weniger, die unausweichliche Progression disqualifiziert mich in meinen Augen immer von neuem. Gestern habe ich übel gehandelt, denn das war gestern, und ich ahne heute bereits das strenge Urteil, das ich morgen über mich fällen werde. Vor allem keine Intimitäten: ich halte mir meine Vergangenheit respektvoll vom Leibe. Die Jugendzeit, das Mannesalter, sogar das eben abgelaufene Jahr, sie alle sind stets Ancien régime: das neue Regime kündigt sich im gegenwärtigen Augenblick bereits an, wird aber niemals eingesetzt: morgen wird gratis rasiert. Vor allem meine ersten Lebensjahre habe ich durchgestrichen: als ich dieses Buch begann, brauchte ich viel Zeit, um sie unter den Durchstreichungen zu entziffern. Meine Freunde wunderten sich, als ich dreißig Jahre alt war: «Man möchte glauben, Sie hätten keine Eltern und keine Kindheit gehabt.» Und ich war töricht genug, darüber geschmeichelt zu sein. Dabei liebe und achte ich die bescheidene und hartnäckige Treue, die manche Leute - Frauen vor allem - ihren Vorlieben halten, ihren Wünschen, einstigen Unternehmungen, den Festen von einst. Ich bewundere den Willen, inmitten des Wechsels sich gleichzubleiben, Erinnerungen zu bewahren, bis in den Tod eine Puppe aus der Kinderzeit, einen Milchzahn, eine erste Liebe mitzuschleppen. Ich habe Männer gekannt, die nach vielen Jahren mit einer gealterten Frau geschlafen haben: nur deshalb, weil sie diese Frau in ihrer Jugend begehrt hatten; andere verfolgten noch die Toten mit ihrem Haß und waren eher bereit, sich zu prügeln, als einen läppischen Fehler zuzugeben, den sie vor zwanzig Jahren begangen hatten. Ich bin nicht nachtragend und gebe bereitwillig alles zu: ich bin begabt für die Selbstkritik, vorausgesetzt freilich, daß man sie mir nicht aufzwingen will. Man hat sich im Jahre 1936 und im Jahre 1945 über jene Figur entrüstet, die meinen Namen trug: was geht mich das an? Die erlittenen Beleidigungen setze ich auf sein Schuldkonto: der Trottel konnte sich nicht einmal Achtung verschaffen. Ein alter Freund begegnet mir und ist voll von Bitterkeit: seit siebzehn Jahren hegt er einen Groll gegen mich; bei einer bestimmten Gelegenheit habe ich ihn rücksichtslos behandelt. Ich erinnere mich ganz blaß daran, daß ich mich damals verteidigte, indem ich ihn angriff, daß ich ihm seine Empfindlichkeit vorwarf, seinen Verfolgungswahn, kurz, daß ich meine eigene Fassung dieser Geschichte hatte: um so eher bin ich nun bereit, seine Fassung anzuerkennen, ich stimme ihm ganz und gar zu und klage mich an: damals habe ich mich sehr eitel benommen, sehr selbstsüchtig, sehr herzlos; es ist ein heiteres Massaker: ich genieße meine Verstandesklarheit; indem ich so bereitwillig meine Fehler zugebe, beweise ich mir, daß ich sie nicht noch einmal begehen würde. Man wird es nicht für möglich halten, aber meine Aufrichtigkeit, mein großzügiges Bekenntnis regen den Ankläger nur noch mehr auf. Er hat mich ertappt, er weiß, daß ich mich seiner bediene: er hat einen Groll gegen mich, gegen mein lebendiges Ich, das gegenwärtige, das vergangene, dasselbe Ich, das er von jeher kannte, und nun überlasse ich ihm eine leblose Hülle, bloß um der Freude willen, mich als ein neugeborenes Kind fühlen zu können. Schließlich werde ich meinerseits wütend gegen den zornigen Mann, der sich abmüht, Leichen auszugraben. Umgekehrt: wenn man mich an eine Situation erinnert, wo ich angeblich nicht schlecht abschnitt, fege ich mit der Hand die Erinnerung fort; man hält mich dann für bescheiden, und es ist genau das Gegenteil: ich denke nämlich, daß ich mich heute besser halten würde und morgen noch sehr viel besser. Von einem bestimmten Alter an haben es die Schriftsteller nicht gern, wenn man sie allzusehr wegen ihrer ersten Werke feiert. Eines ist sicher: mir selbst machen diese Komplimente am allerwenigsten Freude. Mein bestes Buch ist dasjenige, das ich gerade schreibe; gleich danach kommt jenes, das vor kurzem erschienen ist; aber insgeheim bereite ich mich schon darauf vor, es demnächst peinlich zu finden. Wenn die Kritiker mein letztes Buch schlecht finden, werden sie mich vielleicht verletzen, aber in sechs Monaten werde ich ungefähr ihrer Meinung sein. Unter einer Bedingung freilich: sie mögen dieses Werk armselig und nichtig finden wie immer, ich will jedoch, daß sie es weit - 90 -
über alles stellen, was ich vorher gemacht habe; ich bin einverstanden mit einer gänzlichen Abwertung, vorausgesetzt, daß die chronologische Rangordnung beibehalten wird. Die einzige, die mir die Chance läßt, morgen etwas Besseres zu schaffen, übermorgen etwas noch Besseres, schließlich ein Meisterwerk. Natürlich falle ich nicht auf mich herein: ich sehe gut, daß wir uns wiederholen. Diese jüngst erworbene Kenntnis nagt an meinen alten Glaubenssätzen, ohne sie jedoch ganz zu vernichten. Mein Leben hat einige Zeugen, die mir mit gerunzelter Stirn nichts erlassen; sie ertappen mich oft dabei, wie ich wieder in die alte Fahrspur gerate. Sie sagen es mir, ich glaube ihnen - und dann, im letzten Augenblick, freue ich mich darüber: gestern war ich blind, mein heutiger Fortschritt besteht darin, begriffen zu haben, daß ich nicht mehr fortschreite. Manchmal bin ich selbst mein Belastungszeuge. Es fällt mir beispielsweise ein, daß ich vor zwei Jahren eine Seite geschrieben habe, die ich jetzt brauchen könnte. Ich suche sie und finde sie nicht. Um so besser: ich war aus Trägheit bereit, veraltete Sachen in ein neues Werk einzuschmuggeln: dabei schreibe ich doch heute wesentlich besser, also werde ich die Seite neu schreiben. Wenn ich die Arbeit beendet habe, bringt mir der Zufall das verlorene Blatt vor die Augen. Staunen: fast mit der gleichen Interpunktion drückte ich denselben Gedanken mit denselben Wendungen aus. Ich zögere - und dann werfe ich das überholte Dokument in den Papierkorb und behalte die neue Fassung: irgendwie ist sie besser als die frühere. Kurz und gut, ich richte mich ein: nach allen Enttäuschungen mache ich mir etwas vor, um einmal noch, trotz des Alters, das mich zu zerstören beginnt, die junge Trunkenheit des Alpinisten zu verspüren. Mit zehn Jahren kannte ich noch nicht meine Manien und Denkangewohnheiten, und der Zweifel hatte mich nicht gestreift. Ich trottete dahin, schwatzte drauflos, war fasziniert von den Schauspielen auf der Straße, ich häutete mich unablässig und stülpte die abgestreiften Hüllen einfach übereinander. Wenn ich die rue Soufflot hinanstieg, spürte ich bei jedem Schritt, an der Art, wie sich mein Abbild plötzlich in den Schaufenstern spiegelte und beim Weitergehen verschwand, die Bewegung meines Lebens, das Gesetz meines Lebens und den schönen Auftrag: allem untreu zu sein. Ich trug mich ganz und gar mit mir herum. Meine Großmutter möchte ihr Tafelservice vervollständigen; ich begleite sie in den Laden für Glas und Porzellan; sie zeigt auf eine Suppenschüssel, deren Deckel von einem roten Apfel gekrönt wird, und auf Teller mit Blumenmuster. Aber so ganz richtig sind sie nicht: auf ihren eigenen Tellern gibt es natürlich auch ein Blumenmuster, aber mit braunen Insekten auf den Blumenstielen. Die Verkäuferin beginnt sich für den Fall zu interessieren: jawohl, sie weiß, welches Muster die Kundin meint, sie hat das Muster auch dagehabt, aber seit drei Jahren wird es nicht mehr nachgeliefert; dies Muster hier ist moderner und vorteilhafter, und schließlich, Insekten hin oder her, sind Blumen doch nun einmal Blumen, nicht wahr, und niemand wird im wörtlichsten Sinne hier nach Tierchen suchen wollen. Meine Großmutter ist durchaus nicht dieser Ansicht, sie bleibt hartnäckig: könnte man denn nicht im Lager nachsehen, ob es noch etwas von dem früheren Muster gibt? Ach ja, im Lager, freilich, freilich, aber das braucht Zeit, und die Inhaberin ist ganz allein im Laden: ihr Verkäufer hat vor kurzem seinen Posten aufgegeben. Mich hat man in einen Winkel verbannt und mir streng befohlen, nichts anzurühren; man hat mich vergessen, und ich wage mich nicht zu rühren, tief erschreckt von den zerbrechlichen Dingen, die mich umgeben, von dem Glitzern der staubbedeckten Waren, von der Totenmaske Pascals, die dort herumliegt, von einem Nachttopf, worauf der Kopf des Republikpräsidenten Falliéres zu sehen ist. Aber der Schein trügt; ich habe nur scheinbar eine Nebenrolle. Es gibt Autoren, die zunächst sehr nebensächliche Gestalten in den Vordergrund treten lassen und die Helden nur flüchtig von weitem zeigen. Der Leser fällt nicht darauf herein: er hat im letzten Kapitel herumgeblättert, um zu sehen, ob der Roman gut ausgeht, und weiß daher, daß der blasse - 91 -
junge Mann dort am Kamin noch dreihundertfünfzig Seiten vor sich hat. Dreihundertfünfzig Seiten voller Liebe und Abenteuer. Ich hatte mindestens fünfhundert Seiten vor mir. Ich bin der Held einer langen Geschichte, die gut ausgeht. Aber ich hatte aufgehört, mir diese Geschichte immer wieder vorzuerzählen: wozu auch? Ich empfand mich als romanhaft, das genügte. Die Zeit zerrte die verwirrten alten Damen und die Porzellanblumen und den ganzen Porzellanladen in den Hintergrund, die schwarzen Röcke verblaßten, die Stimmen wurden immer wattiger, ich hatte Mitleid mit meiner Großmutter, denn im zweiten Teil des Romans würde man ihr sicher nicht mehr begegnen. Für mich war ich der Anfang, die Mitte und das Ende, alles vereinigt in einem ganz kleinen Jungen, der bereits alt und tot war, hier, im Schatten, zwischen Tellerstößen, die höher waren als er selbst, und draußen, ganz in der Ferne, in der hellen Beerdigungssonne des Ruhms. Ich war das Korpuskel am Beginn seiner Bahn und der Wellenzug, der wieder zurückströmt, nachdem er sich am Ziel gebrochen hat. Alles war beisammen, alles war kondensiert, mit einer Hand berührte ich mein Grab und mit der anderen meine Wiege, ich empfand mich als kurzlebig und glanzvoll, als Blitzstrahl, den die Finsternis ausgelöscht hat. Trotzdem verließ die Langeweile mich nicht. Manchmal war sie zurückhaltend, manchmal widerlich; wenn ich sie nicht mehr zu ertragen vermochte, gab ich der bedenklichsten Versuchung nach: aus Ungeduld verlor Orpheus seine Eurydike; aus Ungeduld verlor auch ich mich oft. Verwirrt durch meine Untätigkeit, kam ich dazu, daß ich mich in einem Augenblick nach meinem Wahnsinn umdrehte, wo ich ihn hätte ignorieren müssen, daß ich ihn insgeheim unterhielt und meine Aufmerksamkeit auf die Dinge der Außenwelt lenkte; in solchen Augenblicken wollte ich mich auf der Stelle realisieren und mit einem Blick jene Totalität umfassen, die in mir arbeitete, wenn ich nicht an sie dachte. Es war eine Katastrophe. Der Fortschritt, der Optimismus, die munteren Verrätereien und die geheime Finalität: alles brach zusammen, was ich aus eigenem hinzugefügt hatte zu Madame Picards Vorhersage. Die Vorhersage blieb in Kraft, aber was konnte ich damit anfangen? Dies inhaltslose Orakel wollte alle Augenblicke meines Lebens aufbewahren und versagte es sich daher, einen einzigen unter ihnen besonders hervorzuheben; mit einem Schlage war die Zukunft ausgetrocknet und nur noch eine leere Hülle; wieder stand ich vor meiner Schwierigkeit des Seins und mußte entdecken, daß sie mich niemals verlassen hatte. Erinnerung ohne Datum. Ich sitze im Luxembourg auf einer Bank. Anne-Marie bittet, ich solle mich bei ihr ausruhen, denn ich war zuviel herumgelaufen und schweißgebadet. So wenigstens war der ursächliche Ablauf gewesen. Aber ich langweile mich so sehr, daß ich ihn arroganterweise umstülpe: ich bin herumgelaufen, denn ich mußte mich mit Schweiß bedecken, damit meine Mutter eine Gelegenheit hatte, mich zurückzurufen. Alles führte hin zu dieser Bank, alles mußte zu ihr hinführen. Welche Rolle spielte die Bank dabei? Das weiß ich nicht und frage vorerst auch nicht danach, denn kein einziger von meinen Eindrücken wird verloren sein; es gibt ein Ziel: ich werde es kennenlernen, meine künftigen Neffen werden es kennen. Ich baumle mit meinen kurzen Beinen, die den Boden nicht berühren, ich sehe einen Mann vorübergehen, der ein Paket und einen Rucksack trägt: dieser Eindruck wird von Nutzen sein. Ekstatisch sage ich mir immer wieder vor: «Es ist ungemein wichtig, daß ich auf der Bank sitzen bleibe.» Die Langeweile wird doppelt so stark; ich kann mich der Versuchung nicht erwehren, rasch in mich hineinzuschauen; ich erwarte gar keine sensationellen Enthüllungen, aber ich möchte den Sinn dieses Augenblicks erraten, seine Dringlichkeit verspüren, ich möchte ein bißchen in den Genuß jener dunklen Lebensvoraussicht gelangen, wie ich sie einem Musset, einem Hugo zuschreibe. Natürlich entdecke ich nichts als Nebel. Das abstrakte Postulat meiner Notwendigkeit lagert neben der schroffen Intuition meiner Existenz; sie bekämpfen einander nicht, aber sie verschmelzen auch nicht miteinander. Ich denke nur noch an Flucht und daran, wieder das Gefühl dumpfer Schnelligkeit zu erleben, das mit mir durchgegangen war. Umsonst; der Zauber ist gebrochen. Es kribbelt mir in den Waden, ich rutsche hin und her. Glücklicherweise beauftragt mich der Himmel mit einer - 92 -
neuen Mission: es ist ungemein wichtig, daß ich sogleich wieder losstürme. Ich springe auf und jage davon; am Ende der Allee drehe ich mich um: nichts hat sich gerührt, nichts ist passiert. Ich verstecke meine Enttäuschung hinter Worten und versichere mir, diese Rennerei werde um das Jahr 1945 in einem möblierten Zimmer zu Aurillac ganz unabsehbare Folgen haben. Ich rede mir ein, das wird herrlich sein, ich begeistere mich darüber; um den Heiligen Geist zu irgendeiner Tätigkeit zu veranlassen, spiele ich ihm eine Szene des Vertrauens vor und schwöre frenetisch, ich wolle die Chance verdienen, die er mir gegeben hat. Alles ist ganz hautnah, alles spielt auf den Nerven herum, und ich weiß es. Schon ist meine Mutter bei mir, da ist die Wolljacke, da ist der Schal, da ist der Überzieher: ich lasse mich einpacken, ich bin ein Paket. Nun muß noch die nie Soufflot überstanden werden, dann der Schnurrbart von Monsieur Trigon, dem Hausmeister, dann das Gehuste des hydraulischen Aufzugs. Endlich ist der sorgenvolle kleine Prätendent wieder im Arbeitszimmer, rutscht von einem Stuhl auf den anderen und blättert in Büchern, die er gleich wieder weglegt; ich gehe ans Fenster und sehe unter dem Vorhang eine Fliege, ich fange sie in einer Falle aus Musselin und dirigiere einen mörderischen Zeigefinger auf sie zu. Dieser Augenblick ist nicht im Programm vorgesehen und entzieht sich dem allgemeinen Zeitablauf, er ist besonders, unvergleichlich, unbeweglich, aus ihm wird sich weder heute abend noch später irgend etwas ergeben: Aurillac wird niemals erfahren, was es mit dieser fragwürdigen Ewigkeit auf sich hatte. Die Menschheit liegt im Schlummer, und was den berühmten Schriftsteller betrifft - der ist nämlich ein Heiliger und würde keiner Fliege etwas zuleide tun -, so ist er gerade ausgegangen. Ein Kind ist einsam und zukunftslos in einer erstarrten Minute und erwartet sich starke Empfindungen vom Morden; da man mir das Schicksal eines Menschen verweigert, werde ich das Schicksal einer Fliege sein. Ich nehme mir Zeit, ich lasse ihr die Möglichkeit, den Riesen zu ahnen, der sich über sie beugt: der Zeigefinger rückt vor, die Fliege platzt auseinander, ich bin betrogen! Mein Gott, man durfte sie nicht töten! Im ganzen Umkreis der Schöpfung war sie das einzige Wesen, das mich fürchtete; jetzt zähle ich überhaupt nichts mehr. Aus einem Insektenmörder verwandle ich mich in mein Opfer und werde meinerseits zum Insekt. Ich bin eine Fliege, ich war immer eine Fliege. Dieses Mal habe ich den Boden berührt. Nun bleibt nichts anderes übrig, als vom Tisch zu nehmen, sich auf den Teppich fallen zu lassen und das hundertmal gelesene Buch an irgendeiner Stelle aufzuschlagen; ich bin so matt und traurig, daß ich meine Nerven nicht mehr spüre und mich schon beim ersten Satz vergessen habe. Corcoran geht durch das einsame Arbeitszimmer, den Karabiner unter dem Arm, hinter ihm seine Tigerin; der Dschungel schlägt hastig über ihm zusammen; in der Ferne habe ich Bäume angepflanzt, auf denen sich Affen von Ast zu Ast schwingen. Plötzlich beginnt die Tigerin Louison zu knurren, Corcoran bleibt sogleich stehen: da ist der Feind. Diesen spannenden Augenblick hat sich mein Ruhm erwählt, um in sein Gehäuse zurückzukehren, die Menschheit wacht plötzlich auf und ruft mich zu Hilfe, der Heilige Geist flüstert mir die verwirrenden Worte zu: «Du suchtest mich nicht, wenn du mich nicht gefunden hättest.» Überflüssige Schmeicheleien, denn hier kann sie niemand hören außer dem wackeren Corcoran. Als hätte es bloß dieser Erklärung bedurft, erscheint der Berühmte Schriftsteller wieder in der Tür; ein Großneffe beugt seinen blonden Schöpf über meine Lebensgeschichte, mit Tränen in den Augen, die Zukunft bricht an, mich umgibt eine unendliche Liebe, mein Herz ist in Licht getaucht; ich rühre mich nicht; ich wende keinen Blick an das Fest. Brav lese ich weiter, die Lichter gehen wieder aus, ich spüre nichts mehr als einen Rhythmus und einen unwiderstehlichen Antrieb, ich fahre los, ich bin losgefahren, ich fahre weiter, der Motor schnarcht. Ich spüre die Schnelligkeit meiner Seele. So hat es mit mir angefangen. Ich floh, äußere Kräfte modellierten meine Flucht und machten mich. Hinter einer überholten Kulturauffassung erschien die Religion und diente als Modell. Sie war kindlich, daher einem Kind sehr nahe. Man brachte mir die Biblische Geschichte bei, das Evangelium und den Katechismus, ohne mir die Mittel zu geben, daran zu glauben; das Resultat war eine Unordnung, die sich als meine mir eigentümliche Ordnung - 93 -
entpuppte. Das ging nicht ohne Falten und beträchtliche Abänderungen; das Sakrale wurde aus dem Katholizismus weggenommen und in die Belletristik versetzt, und es erschien der Mann der Feder als Ersatz jenes Christen, der ich nicht sein konnte. Sein einziges Bestreben war das Heil, sein Erdenleben diente nur dazu, daß er sich die postume Glückseligkeit durch würdig ertragene Prüfungen verdiente. Der Tod wurde zu einem Übergangsritus reduziert, und die irdische Unsterblichkeit präsentierte sich als Ersatz des ewigen Lebens. Um mich in der Sicherheit zu wiegen, daß die Menschengattung mir Dauer verleihen werde, wurde in meinem Kopf ein Abkommen geschlossen, daß die Menschheit nicht enden werde. Wenn ich in die Menschheit hineinstarb, wurde ich geboren und wurde ich unendlich, aber wenn man vor mir die Hypothese erörterte, daß eine Weltkatastrophe eines Tages unseren Planeten zerstören könnte, sei es auch in fünfzigtausend Jahren, faßte mich tiefer Schrecken; noch heute, wo ich ernüchtert bin, vermag ich nicht ohne Furcht an das Erkalten der Sonne zu denken. Daß meine Artgenossen mich am Tag nach meiner Beerdigung vergessen werden, macht mir nichts aus; so lange sie leben, werde ich in ihnen umgehen, ungreifbar, unbenannt, anwesend in einem jeden, so wie in mir Milliarden toter Menschen anwesend sind, die ich nicht kenne und die ich doch vor der Vernichtung bewahre. Aber wenn die Menschheit verschwindet, dann hat sie ihre Toten wirklich getötet. Der Mythos war ganz einfach, und ich verdaute ihn mühelos. Ich war gleichzeitig Protestant und Katholik, und meine doppelte Religionszugehörigkeit hielt mich davon ab, an die Heiligen zu glauben, an die Muttergottes und schließlich an Gott, solange man sie mit diesen Namen benannte. Aber eine ungeheure Kollektivkraft war in mich eingedrungen, hatte sich in meinem Herzen eingerichtet und war dort auf der Wacht: das war der Glaube der anderen. Es genügte, den üblichen Gegenstand des Glaubens umzutaufen und oberflächlich zu verändern. Der Glaube der anderen entdeckte seinen Gegenstand unter den Verkleidungen, die mich täuschten, stürzte sich auf ihn, umkrallte ihn. Ich glaubte mich der Literatur zu weihen, während ich in Wahrheit in einen Orden eingetreten war. Die Gewißheit des demütigsten unter den gläubigen Menschen wurde in mir zur stolzen Evidenz meiner Prädestination. Prädestiniert sein, warum nicht? Ist nicht jeder Christ ein Erwählter? So wuchs ich als Unkraut auf dem Humus der Katholizität. Meine Wurzeln sogen ihm die Säfte ab, damit ich gedeihen konnte. Von hier stammt jene luzide Verblendung, an der ich dreißig Jahre gelitten habe. Im Jahre 1917 wartete ich eines Morgens in La Rochelle auf Mitschüler, die mich ins Gymnasium begleiten sollten; sie verspäteten sich, so daß ich bald zu meiner Zerstreuung nichts mehr zu erfinden vermochte und beschloß, an den Allmächtigen zu denken. Augenblicklich machte er sich in den Azur davon und verschwand ohne irgendeine Erklärung: er existiert nicht, sagte ich, höflich erstaunt, zu mir selbst, und hielt die Angelegenheit für abgetan. In gewisser Weise war sie es auch, denn seither habe ich niemals die leiseste Versuchung gespürt, ihn von neuem zu beschwören. Aber der Andere blieb, der Unsichtbare, der Heilige Geist, der meinen Auftrag garantierte und mein Leben durch große, anonyme und geheiligte Kräfte regierte. Von dem da konnte ich mich um so schwerer frei machen, als er sich im hinteren Winkel meines Kopfes eingerichtet hatte mit Hilfe von eingeschmuggelten Begriffen, deren ich mich bediente, um mich zu verstehen, meine Lage zu bestimmen und mich zu rechtfertigen. Wenn ich schrieb, so hieß das lange Zeit, daß ich den Tod und die maskierte Religion darum bat, mein Leben dem Zufall zu entreißen. Ich war ein Mann der Kirche; als Militant wollte ich mich durch die Werke retten; als Mystiker bemühte ich mich darum, das Schweigen des Seins durch ein lästiges Geräusch von Wörtern zu enthüllen, wobei ich vor allem die Dinge mit ihren Namen verwechselte. Das ist: Glauben. Ich hatte den Grauen Star; solange die Blindheit anhielt, glaubte ich, aus der Patsche zu sein. Im Alter von dreißig Jahren gelang mir der schöne Streich, daß ich - in aller Aufrichtigkeit, wie man mir glauben darf -in meinem Buch über die ungerechtfertigte und trübe Existenz meiner Mitmenschen schrieb, meine eigene Existenz jedoch aus dem Spiel ließ. Ich war Roquentin, ich zeigte an ihm ohne Gefälligkeit das Muster meines Lebens; zu gleicher Zeit war ich aber auch ich, der Erwählte, der Chronist der Hölle, - 94 -
war ich das Fotomikroskop aus Glas und Stahl, das auf mein eigenes zähflüssiges Protoplasma gerichtet war. Später setzte ich heiter auseinander, der Mensch sei unmöglich; ich selbst war unmöglich, unterschied mich von den anderen nur durch den Auftrag, von dieser Unmöglichkeit Zeugnis abzulegen, wodurch sie sich sogleich in meine geheimste Möglichkeit verwandelte, in den Gegenstand meiner Mission, ins Sprungbrett meines Ruhms. Ich war ein Gefangener der Evidenzen, aber ich sah sie nicht; ich sah die Welt mit ihrer Hilfe: ich war verfälscht bis auf die Knochen und verblendet; so schrieb ich heiter über das Unglück unseres Daseins. Als Dogmatiker zweifelte ich an allem, außer daran, erwählt und zweifelsfrei zu sein; mit der anderen Hand baute ich wieder auf, was ich mit der einen zerstört hatte, und hielt die Unruhe für die Garantie meiner Sicherheit. Ich war glücklich. Ich habe mich geändert. Später werde ich erzählen, durch welche Säuren die deformierenden Klarheiten zerfressen wurden, die mich umgeben hatten, wann und auf welche Weise ich die Gewaltsamkeit erlernte und meine Häßlichkeit entdeckte - sie war lange Zeit mein negatives Prinzip, die Kalkgrube, worin sich das Wunderkind auflöste -, wodurch ich dazu gebracht wurde, systematisch gegen mich selbst zu denken: so stark, daß mir ein Gedanke um so einleuchtender erschien, je mehr er mir mißfiel. Die Illusion der Rückschau ist zerbröckelt; Märtyrertum, Heil, Unsterblichkeit, alles fällt in sich zusammen, das Gebäude sinkt in Trümmer, ich habe den Heiligen Geist im Keller geschnappt und ausgetrieben; der Atheismus ist ein grausames und langwieriges Unterfangen; ich glaube ihn bis zum Ende betrieben zu haben. Ich sehe klar, bin ernüchtert, kenne meine wirklichen Aufgaben, verdiene sicherlich einen Preis für Bürgertugend; seit ungefähr zehn Jahren bin ich ein Mann, der geheilt aus einem langen, bitteren und süßen Wahn erwacht und der sich nicht darüber beruhigen kann und der auch nicht ohne Heiterkeit an seine einstigen Irrtümer zu denken vermag und der nichts mehr mit seinem Leben anzufangen weiß. Wieder bin ich, wie damals mit sieben Jahren, der Reisende ohne Fahrkarte: der Schaffner ist in mein Abteil gekommen und schaut mich an, weniger streng als einst. Er möchte am liebsten wieder hinausgehen, damit ich meine Reise in Frieden beenden kann; ich soll ihm nur eine annehmbare Entschuldigung sagen, ganz gleich welche, dann ist er zufrieden. Unglücklicherweise finde ich keine und habe übrigens auch keine Lust, eine zu suchen. So bleiben wir miteinander im Abteil, voller Unbehagen, bis zur Station Dijon, wo mich, wie ich genau weiß, niemand erwartet. Ich habe das geistliche Gewand abgelegt, aber ich bin nicht abtrünnig geworden: ich schreibe nach wie vor. Was sollte ich sonst tun? Nulla dies sine linea. Schreiben ist meine Gewohnheit, und außerdem ist es mein Beruf. Lange hielt ich meine Feder für ein Schwert: nunmehr kenne ich unsere Ohnmacht. Trotzdem schreibe ich Bücher und werde ich Bücher schreiben; das ist nötig; das ist trotz allem nützlich. Die Kultur vermag nichts und niemanden zu erretten, sie rechtfertigt auch nicht. Aber sie ist ein Erzeugnis des Menschen, worin er sich projiziert und wiedererkennt; allein dieser kritische Spiegel gibt ihm sein eigenes Bild. Außerdem bedeutet das alte, brüchige Gebäude meiner Schwindeleien gleichzeitig meinen Charakter: man kann eine Neurose ablegen, vermag aber nicht von sich selbst zu genesen. Alle Charakterzüge des, Kindes, wenngleich verbraucht, verblaßt, verlacht, verdrängt, verschwiegen, sind auch noch bei dem Fünfzigjährigen zu finden. Meistens liegen sie flach ausgestreckt im Schatten und warten. Aber es genügt ein Augenblick der Unaufmerksamkeit - und sie heben die Köpfe und erscheinen unter irgendeiner Verkleidung im hellen Tageslicht. Ich behaupte in aller Aufrichtigkeit, nur für meine Zeit zu schreiben, aber meine jetzige Berühmtheit geht mir auf die Nerven: sie ist nicht der richtige Ruhm, denn ich lebe ja, und dennoch genügt das, meine einstigen Träume zu dementieren. Sollte ich sie also immer noch heimlich nähren? Nicht ganz und gar; ich habe sie, glaube ich, angepaßt. Da es mir nämlich nicht gelungen ist, als ein Unbekannter zu sterben, schmeichle ich mir bisweilen damit, als ein Verkannter zu leben. Griseldis ist nicht tot. Pardaillan bewohnt mich - 95 -
nach wie vor. Auch Strogoff. Ich leite mich nur von ihnen ab, die sich nur von Gott ableiten, und ich glaube nicht an Gott. Da soll sich einer auskennen. Ich für mein Teil kenne mich hier nicht aus und frage mich manchmal, ob ich nicht das1 Spiel spiele «Wer verliert, gewinnt», und ob nicht mein eifriges Bemühen, meine Hoffnungen von einst mit Füßen zu treten, darauf abzielt, daß mir alles hundertfältig zurückerstattet werde. In diesem Fall befände ich mich in der Lage des Philoktetes. Er ist großartig und stinkend, dieser Kranke, und hat bedingungslos alles hergegeben, sogar seinen Bogen: aber man darf sicher sein, daß er insgeheim seinen Lohn erwartet. Lassen wir das. Mami würde sagen: «Gleitet, ihr Sterblichen, lastet nicht.» Eines liebe ich an meinem Wahnsinn: daß er mich nämlich von Anfang an gegen die Verführungen des «Elitedenkens» gefeit hat. Nie hielt ich mich für den glücklichen Besitzer eines «Talents»: mein einziges Bestreben ging dahin, mich, der nichts in den Händen und den Taschen hatte, durch Arbeit und Glauben zu retten. Meine bloße Option freilich erhob mich noch nicht über irgend jemand: ohne Ausrüstung und Gerät machte ich mich mit Haut und Haar ans Werk, um mich mit Haut und Haar zu retten. Was bleibt, wenn ich das unmögliche Heil in die Requisitenkammer verbanne? Ein ganzer Mensch, gemacht aus dem Zeug aller Menschen, und der soviel wert ist wie sie alle und soviel wert wie jedermann.
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Nachbemerkung
Als die Übersetzungsarbeit bereits abgeschlossen war, blieb immer noch der Zweifel, wie es mit der Eindeutschung des Titels zu halten sei. - das übersetzt jeder natürlich mit: . Beim ersten Lesen von Sartres Bericht über seine Kindheitsentwicklung und die Ursprünge seiner Lebensentscheidung für die Schriftstellerei mußte jedoch angemerkt werden, daß diese für Sartres gesamtes Leben so bedeutungsvolle Grundsituation gar nicht durch Worte im Zusammenhang erzeugt worden war, also durch Worte, die sich zu Texten für Sartre: zu geheiligten Texten - koordiniert hatten, sondern durch etwas anderes. Was? Offensichtlich durch die für den kleinen Poulou so zehrende und verzaubernde Magie einzelner Wörter, die es vermocht hatten, dem Kind sich aufzuzwingen. Sartre beschreibt, wie er - noch im Lesestadium seiner künftigen Schriftstellerlaufbahn auf dem Teppich liegt, vor sich einen Fontenelle oder Aristophanes oder Rabelais. Echte Kinderlektüre also. Allein er liest gar nicht, was man gemeinhin so Lesen nennt, denn er befindet sich abermals auf einer Entdeckungsreise in der Nachfolge der Weltreisenden vom Schlage der bewunderten Magalhães oder Vasco da Gama. Die Expedition des Kindes führt aber nicht in ferne Länder und zu fremden Menschen, sondern zur Begegnung mit seltsamen Wörtern: Heautontimoroumenos, Idiosynkrasie, Chiasma. Das eine Wortungeheuer war in einer Terenz-Übertragung in Alexandrinern aufgestöbert worden, ein anderes in einem Fachbuch der vergleichenden Literaturgeschichte. Für den kleinen Poulou aber hatten die Wörter eine fremdartige Körperlichkeit angenommen. «Undurchdringliche und abweisende Kaffern», so nennt sie Sartre im Rückblick. Sie waren verdinglicht und standen für die Welt. Mehr noch: sie bedeuteten dem lesenden Kind die Welt. Sein Weg zur Wirklichkeit führte über zahllose Begegnungen mit Wortgebilden. Im Anfang waren die Wörter, das ist hier «wörtlich» zu nehmen. Es war nicht das Wort im Sinne des Logos, was für Sartre am Anfang stand. Sein Weg führte von den Wörtern zu den Worten, dann von den Worten zu den Sachen. So wird man die Geschichte, die Sartre, der bald Sechzigjährige, niederschrieb, wohl verstehen müssen. Im Deutschen hatte also der Titel zu lauten: . Hier wird die Geschichte des Kindes Sartre als Weg zum Idealismus geschildert. Der präzise philosophische Idealismus ist gemeint, nicht sein Zerrbild aus der bürgerlichen Umgangssprache, wo von Idealismus gesprochen wird, wenn sich jemand dazu entschließt, Sanskritforschung zu betreiben, statt die väterliche Fabrik zu übernehmen. Idealismus geht seit Platon vom Primat der - unerkennbaren - Ideen aus. Unsere Wirklichkeit bleibt danach stets ein schwacher Abglanz, meinethalben ein «farbiger Abglanz» des Wahren, also Idealen. Das Kind Sartre empfand alle Wirklichkeit, da es sie an der eigenen, als jämmerlich empfundenen Realität bemaß, als trüben Abglanz der Ideenwelt. Die aber bedeutet für ihn: - 97 -
Bücherwelt. Lesen war von Anfang an eine Expedition gewesen ins Wunderland der Wörter. Als die kindliche Landkarte nach und nach von weißen Flecken der unerforschten Bereiche befreit werden konnte, und es möglich geworden war, auch die seltensten Wort-Eingeborenen zu «benennen», war das Realitätsbild des Knaben Sartre vollendet. Realität war gegeben als Welt der Texte, als Logos, als Literatur. Sartres Welt baute sich auf nach den Gesetzen und Hierarchien der Bücherwelt. Alles andere Dasein erwies sich demgegenüber als bloß vermittelte Existenz. Ungeheuerlicher Idealismus eines Kindes, das nicht zu ahnen vermochte, was das war: Idealismus. Außerdem war es eine Neurose. Sartre beschreibt sie sehr genau, wenn er diesen kindlichen Zustand, worin man das Wort absorbiert, um gleichzeitig vom Bild absorbiert zu werden, als doppelte Vergiftung beschreibt, die nur dadurch unschädlich wird, daß die Gifte einander aufheben. Es kommt so weit, auch das wird sorgfältig beschrieben, daß Geräusche im Zimmer als Interjektionen empfunden werden, ein Krachen des Parketts gleichsam in Gänsefüßchen gesetzt wird. Im Anfang waren die Wörter. Ein Weltbild des Idealismus. Eine Kindheitsneurose. Vor allem ein sakraler Prozeß. Sakral im Sinne einer Ersatzreligion. Folgerichtigerweise bedient sich Sartre daher gegen den Schluß des Buches, als es gilt, in gut französischer Gliederung einer Dissertation, die Zusammenfassung zu geben, eben dieses deutschen Wortes «Ersatz», Das eigentliche Religionserlebnis war ausgeblieben, oder vielmehr: es war durch äußere Umstände verhindert worden. Ein kleiner Katholik wuchs in protestantischer Umwelt auf und schien prädestiniert für die Laufbahn eines Gläubigen, vielleicht eines Mönchs. Das fade Christentum gutsituierter bürgerlicher Toleranz jedoch verdarb ihm den Geschmack an dieser Laufbahn. Die religiöse Inbrunst fand ein neues Objekt in der Bücherwelt. «Der Mann der Feder erschien als <Ersatz> jenes Christen, der ich nicht sein konnte.» Damit wurde die Literatur zum sakralen Bereich. Die Begegnung mit Gottvater - Sartre beschreibt diese Episode seiner Kinderzeit - blieb ergebnislos. Die Erlöserrolle des Sohnes war einem Kinde verschlossen, das sich - in Vorwegnahme der gesamten späteren Sartre-Philosophie, aber ahnungslos - seit Anbeginn seines bewußten Lebens zur Selbsterlösung entschlossen hatte. Blieb der Heilige Geist. Der freilich nahm das Kind Poulou bereits im Alter von acht Jahren in Besitz. Durch ihn aber wurden alle Heilswahrheiten der Religionen, des Christentums vor allem, in säkularisierter Form ins kindliche Universum eingebracht. Der kleine Sartre beschloß, und sein Großvater Karl Schweitzer ermutigte ihn dabei ohne viel Aufrichtigkeit, ein Schriftsteller zu werden. Der Schriftsteller jedoch war für ihn ein Priester der literarischen Sakralsphäre. Er stand im Dienst der geheiligten Wörter. Überdies war er geborener Märtyrer, denn sein Erdenleben hatte nur ein einziges Ziel: den literarischen Nachruhm. Zum Schriftsteller aber wurde man prädestiniert. Man war erwählt und besaß den Nachruhm von Anfang an als Garantieschein. Der kleine Sartre beschloß, ein Schriftsteller zu werden, und meinte damit: Märtyrer im Dienst einer belletristischen Ersatzreligion. Gleichzeitig wußte er jedoch, daß dieser Glaube an die Wundermacht der Literatur jenem komödiantenhaften Getue verzweifelt ähnlich war, das er in seiner ersten Wunderkindphase vor den Großeltem und der Mutter so oft und bis zum Überdruß «abgezogen» hatte, um einen Schauspielerausdruck zu gebrauchen. Auch die frühe Entscheidung für das Erwähltsein als Schriftsteller und als Märtyrer besaß theatralische Züge. Übrigens erkennt man erst beim Lesen dieser Selbstdarstellung Sartres, was ihn bei der späten Begegnung mit Jean Genet an diesem Verbrecher-Schriftsteller so fesseln sollte und warum er sein merkwürdiges Buch über Genet mit dem - scheinbar blasphemischen - Titel versah: . «Ich habe den Heiligen Geist im Keller geschnappt und ausgetrieben; der Atheismus ist ein grausames und langwieriges Unterfangen; ich glaube ihn bis zum Ende betrieben zu haben.» Die Stelle findet sich auf einer der letzten Seiten des Buches . Ein zweiter Entwöhnungsprozeß war nötig geworden, und das Buch schließt mit dem Rückblick, der - 98 -
eigentlich ein Ausblick ist. In seinem Bericht über die kindhafte Begegnung mit den Wörtern beschreibt Sartre, wie ihm früh - durch äußere Umstände und das Schicksal eines vaterlos aufwachsenden Kindes - die «normale Religion» zur säkularisierten Ersatzreligion des Literaten werden sollte. Aber es war eben eine Ersatzreligion. Der Heilige Geist hatte sich in der Seelentiefe verkrochen. Er war durchaus noch mitbeteiligt, als der reale Schriftsteller Sartre sein Buch vom «Ekel» schrieb. Dies war immer noch, wie Sartre festzustellen glaubte, Theismus in der Form der Literaturreligion. Auch hier wurde ein neuer Prozeß der Säkularisierung notwendig. Der Heilige Geist der Belletristik mußte gleichfalls ausgetrieben werden. Das grausame Unterfangen eines totalen Atheismus führte den Schriftsteller Sartre in eine «Situation», worin auch der Glaube an die Literatur als Irrglaube abgetan werden mußte. Trotzdem schrieb Sartre weiter. Er schrieb den Bericht über die Entstehung einer Ersatzreligion, die es später zu verleugnen galt. Andeutungen lassen vermuten, daß auch die dann folgende und fällige Geschichte der Austreibung des Heiligen Literaturgeistes künftig erzählt werden soll. Worauf zu fragen bleibt, wie sich dieser totale Atheismus mit Sartres These vom engagierten Schriftsteller vereinbaren läßt. Eine von Sartres besten Erzählungen, eine Geschichte der grausigen Komik, schildert die . Ein Gymnasiast aus guter Familie, dem sich der Vorgang der Pubertät als Zustandsfolge von Langweiligkeiten präsentiert, probiert mehrere Daseinsentwürfe aus, beginnt mit dem Ödipus-Komplex, den er sich bloß zulegt, weil Freud soeben Mode geworden war, und endet mit der Lebensattitüde eines wütenden Antisemiten. Eigentlich hat er nichts gegen die Juden, kennt auch kaum welche, keiner von ihnen hat ihm etwas getan, aber die Rolle des Antisemiten erweist sich in der großbürgerlichen Umwelt als überaus erfolgreich. Dieser Daseinsentwurf «kommt an», wird also vorerst in die nachpubertäre Phase übernommen. Auch der kleine Sartre, der unendlich viel las: die ganze Klassikerbibliothek des Großvaters und heimlich unzählige Groschenheftchen, beginnt mit dem Schreiben, also der Schriftstellerei, in Weiterfuhrung einer seit langem erfolgreich gespielten Wunderkindrolle. Dies Schreiben, immerhin realer Anfang des Schriftstellers Jean-Paul Sartre; ist gleichzeitig Rolle und seelische Notwendigkeit. Die Rolle besteht darin, daß die ändern zusehen sollen, wie hier ein Knirps an seinem Pult eine Seite nach der anderen vollschreibt, ohne sich nach der Niederschrift um das zu kümmern, was er soeben literarisch komponierte. Nur der Vorgang des Schreibens (und Gesehenwerdens beim Schreiben) ist wichtig; ans Wiederlesen wurde nicht gedacht. Dies bedeutet Nachahmung, Mimesis, wie bei allen Rollen. Hier freilich werden - was mit der Sakralsphäre der Literatur im Hause des Großvaters zusammenhängt nicht wirkliche Menschen nebst ihren Taten nachgeahmt, sondern Bücher nebst ihren, gleichfalls durch Lebensbeschreibungen, also Bücher, bekannt gewordenen Verfassern. Sartre imitiert, was er für die Lebensaktion eines Corneille oder Musset hält. Der kleine Poulou schreibt jedoch nicht nur im Vollzug einer Rolle, repetierend und mimetisch, sondern unter dem Antrieb einer zwar kindlichen, aber bedrängenden Erlösungsvorstellung. Er ist ein vaterloses Kind, das auf der Bühne des Familientheaters als frühreifes Genie zu mimen hat, insgeheim aber genau weiß, daß diese Schauspielersiege nicht dauerhaft sein können. Vor allem vermögen sie eines nicht zu bewirken: Sinngebung für das als überzählig empfundene - und auch in der Tat überzählige - Dasein. Hinter aller Mimesis steckt immer wieder die Erkenntnis des Knaben, daß seine Existenz der «Legitimation» entbehrt. Dies Dasein wird, aller Verzärtelung zum Trotz, als unnotwendig empfunden. Alles kommt darauf an, irgendeine Notwendigkeit durch eigene Kraft zu erzeugen und sich damit selbst gleichzeitig zu schaffen und zu erlösen. Ein schwächliches Kind, ohne Vermögen und Ahnenreihe, häßlich und offenbar ohne hervorstechendes Talent, sieht kein anderes Mittel zur Selbsterlösung als die Schriftstellerei. Nun kommt die genaue Kenntnis der Abenteuergeschichten, Magazine und Heftchen zu Hilfe. Sartre kennt den Heldentyp in doppelter Gestalt: als unbezwinglichen Buchhelden - und - 99 -
als Kinohelden. Der Sheriff im Wilden Westen befreit die Unschuld und macht die Banditen unschädlich; drei Musketiere trotzen sogar dem König und seinen Ministern, um den ersehnten Sieg des Rechts herbeizuführen; der tapfere weiße Mann besiegt nach vielen Rückschlägen die tückischen Eingeborenen und befreit den verdienten Forscher, der beinahe am Marterpfahl geendet hätte. Stets ist der Held ein Erlöser. Er ist notwendig, denn ohne ihn würde das Unrecht obsiegen. Poulou liest nicht um irgendeiner Spannung willen; sein Lesen, wie der Anfang allen Lesens, führt vielmehr zur Identifikation. Lesend ist er selbst der Held und Erlöser. Wie aber? Alle Helden auf der Leinwand und im Heftchen sind stark und schön und großartig ausgerüstet. Der Lesende ist es ganz und gar nicht. Wie also wäre die Identifikation zu schaffen? Abermals durch Literatur. Es gibt auch berühmte Schriftsteller, die als Erlöser der Menschheit auftraten, falls man den Büchern glauben darf, Voltaire und Hugo und Zola beispielsweise. Aber auch die anderen. Offenbar bedurfte die Menschheit der großen Schriftsteller zu ihrem Weiterbestand. Für die literarische Ersatzreligion des Großvaters jedenfalls stand das fest. Der Enkel war der gleichen Meinung; er brauchte diese Art der Daseinsrechtfertigung durch Schreiben, Bücher, Werke. Eine Selbsterlösung durch das geschriebene Wort. Der glorreiche Pardaillan, offenbar eine heldenhafte Synthese aus Dumas und Karl May, war Lieblingsobjekt seiner Identifikationen. Aber nach wie vor gab es auch den Pierre Corneille. «Ich staffierte Corneille als Pardaillan aus... Daraufhin war es ein Kinderspiel, mich selbst in Corneille zu verwandeln und mir den Auftrag zu geben, die Menschheit zu schätzen.» Schreiben als Aktion aus dem Heldenepos. Der große Schriftsteller wurde für das schreibende Kind, das auf der Suche war nach einem Lebensentwurf, zum Menschheitshelden und Welterlöser. Der kleine Sartre beschloß, auch ein solcher - notwendiger Menschheitsretter zu werden. Durch sein Schreiben. Durch die Literatur. Nun wird deutlich, warum Schriftstellerei für Sartre seit den frühesten Anfängen nichts anderes sein konnte als: engagierte Literatur. Man spürt überdies, warum später der große Essayist Jean-Paul Sartre den Gegensatz von «reiner» und «engagierter» Literatur als scheinhafte Antihese abtun mußte, da auch die Entscheidung für eine scheinbar unmissionarische Literatur - daher Sartres leidenschaftliches Interesse am Fall Baudelaire - als besondere Form von Engagement verstanden wurde. Er selbst jedenfalls, Jean-Paul Sartre, ist stets, wie bekannt, diesen Grundpositionen seiner frühen Daseinsoption treu geblieben. Das Gesamtwerk dieses Philosophen und Soziologen, Dramatikers, Politikers und Erzählers beruht auf dem sonderbaren Amalgam aus Corneille und Pardaillan. Was aber wird aus einem Schriftsteller, der sich selbst im Verlauf der Jahrzehnte allmählich auf die Schliche kommt und erkennen muß, daß der geliebte Pardaillan und der etwas weniger geliebte Michael Strogoff, berühmter Kurier des Zaren, der literarischen Gattung nach zwar heruntergekommenes Heldenepos bedeuten mögen, während sie in der existentiellen Sphäre die Rolle von Ersatzerlösern spielen? Nach solcher Erkenntnis ist die zweite Säkularisierung fällig. Mit ihr aber fällt nicht bloß der Glaube an die Kunstreligion, sondern auch jener an die Möglichkeit und Notwendigkeit des schriftstellerischen Engagements. Auf den letzten Seiten seines Buches vollzieht Sartre, in Vorwegnahme späterer Lebensereignisse, diese doppelte Austreibung: er verbannt die Ersatzreligion und das Engagement. Trotzdem schreibt er weiter, trotzdem engagiert er sich weiter. Man kann den Zustand des Mannes, der die letzten Seiten seines Buches niederschreibt, je nachdem als heitere Illusionslosigkeit oder als tiefe Enttäuschung verstehen. Man kann aber auch einwenden, hält man sich von aller «Identifikation» mit Sartre fern, hier werde ein Zustand als Endzustand ausgegeben, als totaler Atheismus und Absage an alle Ersatzreligionen, der in Wirklichkeit eine neue Ersatzreligion bedeutet. Ein totaler Atheist, der weiterproduziert und sich stets von neuem engagiert, durchlebt eine Phase, worin das Arbeitsethos die Funktion erhielt, eine neue Ersatzreligion zu entwerfen. Sartre repetiert - 100 -
insgeheim das aus Goethes Buch des Färsen. «Schwerer Dienste tägliche Bewahrung / Sonst bedarf es keiner Offenbarung.» Dieser angeblich altpersische Glaube inmitten der Divan-Lyrik aber ist und bleibt: Glauben, Bei Goethe wie bei Sartre. Eine dritte Säkularisierung kann sich damit ankündigen. Der Atheismus war immer noch nicht total genug. Freilich darf angenommen werden, daß Sartre diesen Prozeß erst vollzieht, wenn er nicht mehr schreiben will oder schreiben wird. Einstweilen ist dafür - glücklicherweise - noch kein Anzeichen zu erkennen. Durchaus möglich, daß Jean-Paul Sartre diese Folgerung selbst akzeptieren würde. Sie hängt nämlich mit einem Grundzug seiner Philosophie und insbesondere seiner Literatur zusammen. Daß er sein Leben und Schaffen als permanente Folge von Selbstabsagen und Verleugnungen auffaßt, beschreibt der Verfasser des Buches von den Wörtern sehr eindringlich. Selbst weist er darauf hin, daß seine epischen und dramatischen Helden ihre Entscheidungen niemals in Form einer seelischen Wandlung vollziehen, sondern als abrupte Absage an alles bisherige Verhalten. Der Philosoph Sartre hat auch diesen individuellen Erlebnisvorgang zu generalisieren versucht: «Das transzendentale Bewußtsein ist unpersönliche Spontaneität.» Was heißen soll: Die Sphäre der Ich-heit im Sinne Fichtes, die Sartre vertraut anmuten müßte, ist nicht bloß ein dialektisches Korrelat zur Welt, sondern besitzt Eigencharakter. Das ICH ist für Sartre «zugleich mit der Welt». Eigentümlich aber sei dieser Weltsphäre des Ich eben die permanente Spontaneität, weshalb Sartre folgert: «Daher offenbart uns jeder Augenblick unseres Lebens eine creatio ex nihilo. Keine neue Konstellation, sondern ein neues Sein.» Sätze aus einer philosophischen Untersuchung über die «Transzendenz des Ego», die Sartre bereits im Jahre 1937 schrieb, bis heute aber als philosophisch gültig betrachtet. Wenn dem aber so ist, kann eine neue geistige Schöpfung aus dem Nichts auch die Absage an alle Erlösung durch Arbeitsethik auf neuer Stufe bedeuten. Dann wurde «spontan» die dritte Säkularisation vollzogen. Da es Sartre durchaus ernst ist mit seiner Philosophie, wird wiederum offenbar, warum es niemals, allen Bemühungen des Denkers um eine Synthese aus Marxismus und Existentialismus zum Trotz, zu einer wirklichen Annäherung des Philosophen an den Marxismus kommen kann. Seine Ontologie und Erkenntnistheorie lehnt das marxistische Grundprinzip einer dialektischen Subjekt-Objekt-Relation ebenso ab wie die materialistische Grundthese vom «Primat der Außenwelt». In den <Wörtern> wird nun, darüber hinaus, evident, daß Sartre auch die marxistische Dialektik in den Beziehungen zwischen Theorie und Praxis leugnen muß. Theorie als Ideologie, als falsches Bewußtsein, wird verstanden unter dem negativen Aspekt des totalen Atheismus. Eine Geschichtstheorie kann die These vom Bewußtsein als unpersönlicher Spontaneität keinesfalls zulassen. Geschichtsphilosophie und «creatio ex nihilo» schließen einander aus. Also Praxis ohne Theorie. Praxis an sich. Aber auch: Praxis als Religionsersatz. Die scheinbare Freiheit, von der die letzten Seiten des Buches zu künden scheinen, erweist sich als neue metaphysische Bindung. Sie ist ein bloßer Zustand, eine «Situation», und kann daher durch eine neue - im Vorgang abrupte, in der Sache absurde Entscheidung einer neuen Austreibung abgelöst werden. Weil erkannt wurde, daß auch die scheinbar so totale Illusionslosigkeit eine Form des Engagements dargestellt hat, und damit: der Institutionalisierung. Das weiß Sartre. HANS MAYER
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Quellennachweis
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Namenregister
Aristophanes 29 Auriol, Vincent 45 Bach, Johann Sebastian 24, 34, 52,115 f Barrault, Monsieur, Lehrer 46 f. Baudelaire, Charles 40 Beethoven, Ludwig van 34 Belot, Adolphe 9 Benardi28ff Bercot, Max 126 ff, 130 Bergson, Henri 18 Berlioz, Hector 72 Bernadette, Maria Bernarda Soubirous, gen. die heilige 58 Bénard 61 Blumenfeld, Monsieur 23 Bouchor, Maurice 27 f, 65 Boussenard, Louis 8l f, 120 (Die Abenteuer eines Pariser Jungen) Brun 126,130 Brutus, Lucius lunius 31 Buffalo Bill, William Frederick Cody, gen. 122 ff Byron, George Gordon Noel, Lord 99 Cervantes Saavedra, Miguel de 98f,115f Chateaubriand, Frangois, Rene Vicomte de 38,43, 94 Chénier, André 99 Chopin, Frédéric 53,71 ff Cocteau, Jean 80 Combes, Émile 57 Cooper, James Fenimore 43 (Der letzte der Mohikaner) Corneille, Pierre 32, 38, 40, 42, 91,96,102,113 Coryell, John Rüssel I22f (Nick Carter) Courteline, Georges Moinaux, gen. Georges 36,40 Dibildos,Abbé 58f - 111 -
Dickens, Charles 43,96 Dolet, Étienne 99 Doré, Gustave 44 Dreyfus, Alfred 100 Drouet, Minou 80 Dupont, Gabriel 43 Dürer, Albrecht 30 Durry, Monsieur 129 Dyck, Anthonis van 30 Eiserne Maske (der Mann mit der Eisernen Maske) 13 Éon, Charles de Beaumont, Chevalier d' 13 Falliéres, Armand 101,138 Favre, Jules 68 Fayard, Arthéme 107 f Ferry, Jules 68 Flaubert, Gustave 33, 35, 38 ff, 61,. 90,102 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 29 France, Anatole 36 Franck, César 72 Galopin, Arnould 43, 119, 120 (auch: Die drei Boy-Scouts), 122 Gama, Vasco da, Graf von Vidi-gueira 30 Gautier, Théophile 102 Giacometti, Alberto 131 f Gide, André 37,115 Goncourt, Edmond und Jules de 102 Goethe, Johann Wolfgang von 24 (Die Leiden des jungen Werthers), 38,55 (Erlkönig), 92 Grégoire 126 Gévy, Jules 68 Heine, Heinrich 92 Heinrich III., König von Frankreich 76 Hermant, Abel 32 Hesiod 36 Hire, Jean de la 43, 80 (Cri-Cri), 119 f, 122 Homer 36 Horaz, Quintus Horatius Flaccus, gen. 89,107 Hugo, Victor 15 f, 35 f, 38, 76,90, 92,99,139 Ivoi, Paul Charles Philippe Eric Deleutre, gen. Paul d' 43 (auch: .Fünf Sous von Lavarede) Jeanne d'Arc 121 Karl V., Kaiser 38 Keller, Gottfried 38 Labre, der heilige Benoit 58 La Fontaine, Jean de 55,80,92 La Pérouse, Jean Francpis de Ga-laup, Comte de 30 - 112 -
Leblanc, Maurice 68 (Arsene Lupin) Le Dantec, Felix 13 Lennep, van 131 Leonardo da Vinci 25 Lepine, Monsieur 100 Lievin, Monsieur, Lehrer 45 Louis-Philippe, König der Franzosen 37 Ludwig XIII., König von Frankreich 76 Ludwig XVI., König von Frankreich 76 Luther, Martin 57 Lyon-Caen, Charles-Leon 53 Magalhães, Fernão de 30 Malaquin, Jean und René und André 126 f Mallarmé, Stéphane 37 Maheu, René 112 Malot, Hector 29 Marie Alacoque, die heilige 58 Marie-Louise, Mademoiselle 47, 125 Martin du Gard, Roger 37 Maupassant, Guy de 30,38,90 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 69 (Fingalshöhle), 72 (dito) Mérimée, Prosper 31 (Mateo Falcone), 39,44 (Colomba), 55 Meyre, Paul und Norbert 126f Mironneau 38 Moliére, Jean-Baptiste Poquelin, gen. 92,115 Moreau, Lucette 35 Moutet, Mademoiselle 24 Mozart, Wolfgang Amadeus 115 Musset, Alfred de 42, 105, 139 Napoleon I. Bonaparte 118 Napoleon III. (der Kleine) 76, 100 Nick Carter, Deckname für Frederick Van Reusselaer Dey 122 f Nizan, Paul 111f, 129f Ollivier, Monsieur, Lehrer 125 Pams 100 Pascal, Blaise 138 Pellico, Silvio 99 Philippe- Auguste 118 Picard, Blanche 52, 59, 61 f, 82, 87, 94, 139 Platon 34 Poincaré, Raymond 100 Poupon, die Damen 47 f Proust, Marcel 93 Rabelais, Frangois 29, 43 Racine, Jean 92 Raffael, Raffaello Santi, gen. 115 - 113 -
Rerribrandt, R. Harmensz van Rijn, gen. 30, 35, 115 Renan, Ernest 91 Robespierre, Maximilien de 114 Rostand, Edmond 67, 102, 106 (Cyrano de Bergerac) Rousseau, Jean-Jacques 99, 115 f, 126 Rubens, Peter Paul 30 Sachs, Hans 7 Sartre, Doktor, Großvater lof Sartre, Großmutter 55 Sartre geb. Schweitzer, AnneMarie, Mutter 9 ff, 14, 16ff, 27ff, 32 ff, 41ff, 47ff, 58ff, 65 ff, 69 f, 72 f, 77, 79 f, 82 ff, 87ff, 92, 94, 100, 105, 116f, 121, 123 ff, 127, 139f Sartre, Héléne, Tante 10 Sartre, Jean-Baptiste, Vater 10ff, 16, 20, 52, 65, 70 Sartre, Joseph, Onkel 10 Shakespeare, William 22 (Romeo und Julia), 36, 90 Simounot, Monsieur 7, 52 f, 55, 69, 87, 89, 126 Schiller, Friedrich von 92 Schumann, Robert 72, 74 Schweitzer, Albert, Großvetter 7 Schweitzer, Auguste, Großonkel 7f/6o Schweitzer, Charles (Karl), Großvater 7 ff, 18 ff, 44 ff, 52 f, 55, 57 ff, 65 ff, 72, 76ff, 79f, 82 f, 85, 87 ff, 97, 100 ff, 105, 1O8, 113, Il8 f, 122, 125, 134 Schweitzer, Emile, Onkel 9, 14, 18,31,491,82,89 Schweitzer, Georges, Onkel 9, 18, 34, 89, 115 Schweitzer, Louis, Großonkel 7 f Schweitzer geb. Guillemin, Louise, Großmutter 8 ff, 16 f, 19 ff, 25 f, 32 ff, 41 f, 48, 50, 52, 55, 56, 58, 60 f, 66, 72, 79, 82, 85, 87 ff, 92, 100, 118 f, 121, 134, Shurer 53 Stendhal, Henri Beyle, gen. 91 Terenz, Afer Publius Terentius, gen. 30 Themistokles 118 Tizian, Tiziano Vecellio, gen. 38 Valle, Jo 119 Verlaine, Paul 88 Verne, Jules 43 (auch Die Kinder des Kapitäns Grant), 75 f (Michael Strogoff aus Der Kurier des Zaren), 81, 98 (M. Strogoff), 144 Vévé 79,95 Vigny, Alfred de 43 Voltaire, Frangois Marie Arouet, gen. 8,56,92,99 Wagner, Richard 57 (Lohengrin) Weber, Louis 13 Wilhelm II., Kaiser 121 Wittgenstein, Ludwig 45 Zevaco, Michel 76, 83, 91 (Par-daillan), 95 f (dito), 98 f, 102 (dito), 106 (dito), 107,119 (dito),126 (dito), 144 (dito) Zola, Emile 100 - 114 -