Küsse einen wildfremden Mann, sieh dir einen Sonnenaufgang an, verändere das Leben eines anderen Menschen - drei von zw...
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Küsse einen wildfremden Mann, sieh dir einen Sonnenaufgang an, verändere das Leben eines anderen Menschen - drei von zwanzig Aufgaben, die Marissa bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag erfüllen wollte. Doch dann kommt alles ganz anders: Sie stirbt bei einem Autounfall. June, die Fahrerin des Wagens, ist voller Schuldgefühle und stürzt in ein tiefes Loch. Erst als ihr Marissas Liste unerfüllter Herzenswünsche in die Hände fällt und sie diese zu ihren eigenen macht, sieht sie wieder Licht am Horizont. Nach und nach arbeitet sie alle Punkte auf der Liste ab. Als Marissas Geburtstag naht, hat June alle Wünsche erfüllt, bis auf einen ...
Jill Smolinski Die Wunschliste Roman Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck
Knaur
Titel der Originalausgabe: The Next Thing On My List Originalverlag: Shaye Areheart Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York.
Alle Namen, Personen, Orte und Ereignisse des vorliegenden Werkes sind fiktiv.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Ereignissen oder Orten sind rein zufällig.
Die Folie des Schutzumschlags sowie die Einschweißfolie sind PE-Folien und biologisch abbaubar. Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Bitte besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de
Copyright © 2007 by Jill Smolinski C Copyright © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe by Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Redaktion: Susanne Röckl Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Alexandra Dohse, www.grafikkiosk.de Satz: Adobe InDesign im Verlag Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-426-66270-0
Der
nächste Punkt auf der Liste: Einen Fremden küssen. »Wie wär´s mit dem? » Susan deutete auf einen Typen, der so umwerfend aussah, dass man sich wunderte, ihn mit Hemd und Krawatte in einer Bar in Downtown Los Angeles zu sehen statt in Modelpose auf einem Webeplakat für Unterwäsche. »Bleib bitte auf dem Teppich. « »Warum? Es geht doch nur um einen Kuss. » Sie hatte Leicht reden. Sie war ja nicht diejenige, die das Küssen übernehmen sollte Es war Donnerstagabend nach Büroschluss, und im Brass Monkey war es rappelvoll. Susan und ich waren schon seit einer Stunde in der Bar, um die Lage auszukundschaften und an Happy-HourMargaritas zu nippen, die leider viel zu schwach waren, um Wirkung zu zeigen. »Was meinst du- auf den Mund? », fragte ich. »Natürlich, aber ob mit oder ohne Zunge, liegt bei dir. » Nach längerem Hin und Her entschied ich mich für drei Männer, die an einem Tisch gegenüber der Bar saßen. Sie waren Mitte bis Ende dreißig, leger gekleidet und wirkten harmlos, was ihre Hauptanziehungskraft ausmachte. Dann mal los. Als ich mich von meinem Stuhl er hob, kam ich mir vor, als zöge ich in eine Schlacht. Mein Plan sah vor, an ihren Tisch zu treten, meine missliche Lage zu erklären und zu hoffen, dass sich einer von ihnen meiner erbarmte und sich freiwillig zur Verfügung stellte. Für den Fall, dass der Plan schief ging - nein, ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn er schief ging. Jedenfalls würde es mit einem schmachvollen Rückzug enden. Ich kippte den Rest meines Cocktails, holte tief Luft und steuerte den Tisch an. Die drei Männer sahen
mich mit unverhohlener Neugier an. Eine Frau, die sich in einer Bar einem Tisch näherte und keine Kellnerin war, musste ein interessanter Anblick sein. Darüber hinaus geizte ich an diesem Abend nicht mit meinen Reizen. Ich trug ein Kostüm mit engem Rock und dazu ein tief ausgeschnittenes Oberteil, und ich hatte großzügig Eyeliner aufgetragen. Meine Haare wallten und lockten sich wie üblich bis zu meinen Schultern. »Hi! Ich bin June!«, sagte ich keck. Nachdem er wahrscheinlich einen Moment lang überlegt hatte, ob ich ihnen etwas verkaufen wollte, sagte einer von ihnen: »Ich bin Frank, und das sind Ted und Alfonso.« »Nett, Sie kennen zu lernen!« Und dann platzte ich mit meiner Geschichte heraus. »Ich hätte eine Bitte an Sie, vielleicht können Sie mir helfen. Ich habe hier eine Liste mit Aufgaben.« Ich hielt die Liste in die Luft, Beweisstück A, ein ganz normales, von Hand beschriebenes Blatt Papier. »Eine besteht darin, dass ich einen Fremden küssen muss. Und da habe ich mich gefragt —« »Sie wollen einen von uns küssen?«, fiel mir Alfonso ins Wort. Frank zog nach: »Ist das eine Art Schnitzeljagd?« »So was Ähnliches«, erwiderte ich. »Ein Kuss auf den Mund?« »Ja.« »Zunge?« »Optional.« Drei Augenpaare musterten mich von Kopf bis Fuß, aber, das musste ich ihnen zugutehalten, sie taten es dezent. »Tja, also«, sagte Alfoso, und er klang, als würde er es tatsächlich bedauern. »Wir sind alle verheiratet.« « Aber das muss man nicht so eng sehen«, ergänzte Ted. Wenn ich Ihnen damit helfen kann ...« Nein, ich verstehe schon«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Warum hatte ich nicht darauf geachtet, ob
sie Ringe trugen?
Warten Sie, wir können Ihnen vielleicht trotzdem helfen. Wir drei scheiden zwar aus, aber da drüben ist ein Kollege von uns, der kann es vielleicht machen. He, Marco!«, rief Frank, und wer drehte sich um? Das Unterwäsche-Model. Toll. »Die junge Frau hier braucht deine Hilfe!« Marco kam zu uns herüber. Wenigstens schien er nicht ganz abgeneigt zu sein. In der Hoffnung, nicht rot zu werden -und in dem Wissen, dass Susan sich wahrscheinlich kaputt-lachte —, wiederholte ich meine Geschichte. Bevor ich fertig war, hatte er mir schon das Blatt aus der Hand gerissen und begann laut vorzulesen. »Dann wollen wir doch mal sehen, was auf dieser Liste steht«, sagte er, » »20 Dinge, die ich vor meinem 25. Geburtstag gemacht haben will.« » Er sah auf und grinste mich an. "Der fünfundzwanzigste?« Sehr charmant. »Na gut, ich bin vierunddreißig, aber bei günstigem Licht gehe ich immer noch für jünger durch. Geben Sie her.« Ich griff nach der Liste. Er drehte sich rasch zur Seite und fuhr zu lesen fort. »Wir wollen doch wissen, was genau da steht. Ah, hier ist es ja: Einen Fremden küssen ...« Da ich Angst hatte, ich könnte die Liste zerreißen, wenn ich sie ihm mit Gewalt abnahm, hielt ich mich zurück und verschränkte meine Arme, obwohl ich zunehmend wütend wurde. Ted versuchte, mir zur Seite zu springen. »Junge, führ dich doch nicht so auf.« »Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen ... ins Fernsehen kommen ... hier, das ist das Beste: 50 Kilo abnehmen. Sie waren wohl mal eine richtige Tonne, hm? Aber diesen Punkt haben Sie mit Fug und Recht abgehakt, davon merkt man nichts mehr.« »Die Liste stammt überhaupt nicht von mir!«, fuhr ich ihn an. »Ja, klar.«
»Wirklich. Aber aus einem ganz bestimmten Grund muss ich sie abarbeiten.« Alfonso fragte mich mit unschuldiger Miene: »Und der wäre?« Ich seufzte. »Lange Geschichte. Bitte ...«, ich streckte die Hand aus, »geben Sie sie mir zurück.« Es stimmte. Das war nicht meine Liste. Sie gehörte Marissa Jones. Dessen war ich mir sicher, auch wenn sie keine Unterschrift trug. Ich entdeckte sie, ein paar Tage nachdem ich Marissa umgebracht hatte. Ich hatte gerade das Blut von ihrer Handtasche gewischt, damit ich sie ihren Eltern zurückgeben konnte, und da war sie. Klein zusammengefaltet in ihrer Brieftasche. Ich habe ihnen natürlich alles von ihr zurückgegeben — auch eine Sonnenbrille, die unweit des Tatorts gefunden worden war und die wahrscheinlich mir gehört hatte. Aber die Liste behielt ich. Ich habe sie ihnen gegenüber nicht einmal erwähnt. Es hätte ihnen sicherlich das Herz gebrochen, von den Träumen ihrer vierundzwanzigjährigen Tochter zu erfahren, die nun nie in Erfüllung gehen konnten. Von den zwanzig Aufgaben hatte sie nur zwei erfüllt: 50 Kilo abnehmen und sexy Schuhe tragen. Den ersten Punkt hatte sie selbst durchgestrichen, beim zweiten habe ich es für sie erledigt — als ich ihn auf der Liste entdeckte, wurde mir klar, warum sie silberne hochhackige Sandaletten getragen hatte, als sie starb. Alle hatten mir versichert, dass es nicht meine Schuld gewesen sei. Auf der Beerdigung traten sie einander fast auf die Füße bei dem Versuch, mir beizustehen und mich zu umarmen - was ich als Teil meiner Buße über mich ergehen ließ. Ich hatte am ganzen Körper blaue Flecken. Selbst die sanfteste Berührung ließ mich vor Schmerz zusammenzucken. Und das Schlimmste von allem: Sie war erst seit einem Monat richtig schlank
gewesen. Einen armseligen Monat. Nachdem sie ihr Leben lang dick gewesen war. Wie um mich noch mehr zu quälen, starrte mich vom Altar aus ein riesiges Foto von Marissa an, auf dem man sie in einer Jeans Größe 52 sah - sie passte in ein Hosenbein und hielt den Bund von sich weg. Ihr Lächeln schien zu sagen: »Achtung Welt, ich komme!« Schlimm. Ich bekam kaum etwas von der Predigt mit. Stattdessen zermarterte ich mir den Kopf, was ich ihren Eltern erzählen sollte, welches ihre letzten Wort gewesen waren. Sie würden mich bestimmt fragen. Und ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als ihnen die Wahrheit zu sagen: dass sie mir ein Rezept für Taco-Suppe gegeben hatte. Aber diese Sorge hätte ich mir nicht zu machen brauchen. Meine Begegnung mit ihnen beschränkte sich auf einen Händedruck und eine Beileidsbekundung. Zum Leichenschmaus ging ich nicht mit; sicher hätte man meine Anwesenheit - mit dem Bluterguss am Hals und dem riesigen Veilchen — als geradezu unanständig empfunden. Abgesehen davon waren Marissa und ich nicht einmal miteinander befreundet gewesen. Ich hatte sie erst wenige Stunden vor ihrem Tod kennen gelernt. Wir hatten dasselbe Weight-Watcher-Treffen besucht. Ich war neu zu der Gruppe gestoßen, weil ich die fünf Kilo, die sich seit meiner letzten Diät wieder auf meine Hüften gestohlen hatten, loswerden wollte. Sie hatte die lebenslange Ehrenmitgliedschaft erhalten (die gerade einmal ein paar Stunden gedauert hatte), weil sie ihr Traumgewicht seit sechs Wochen gehalten hatte. Normalerweise biete ich Fremden nicht an, sie in meinem Auto mitzunehmen, aber als ich sah, wie sie in ihren »sexy Schuhen« zur Bushaltestelle stakste, dachte ich, warum nicht? Ich fand es erstaunlich, dass sie es geschafft hatte, so viel abzunehmen, und hoffte wohl, dass ihr Erfolg auf mich abfärben würde.
Wir fuhren also gemütlich den Centinela Boulevard entlang und plauderten über Diäten. Ich sagte gerade so etwas wie: »Ich fürchte, es wird nicht klappen, weil ich immer einen Riesenhunger habe, wenn ich auf Diät bin.« Daraufhin sagte sie: »Ich habe ein Rezept für eine Suppe, die einen pappsatt macht.« Und ich sagte: »Ich kann nicht besonders gut kochen.« Und sie sagte: »Das Rezept ist ganz einfach.« Und ich sagte: »Wirklich?« Und sie sagte: »Ich habe es zufällig dabei. Es ist wirklich einfach - man muss eigentlich nur ein paar Dosen aufmachen.« Und ich sagte: »Wenn das so ist, dann her damit!« Und sie drehte sich nach hinten, um ihre Tasche vom Rücksitz zu holen, und das war der Grund, warum sie im Moment des Aufpralls nicht angeschnallt war.
Marissa Jones Taco-Suppe 4 Dosen kleine weiße Bohnen 1 Dose scharf gewürzte Tomaten 1 Dose gewürfelte Tomaten 1 Dose Mais 1 Packung Taco-Gewürzmischung 1 Packung Joghurt-Dressing ohne Fett Alles in einen Topf geben und gut verrühren. Langsam erwärmen. Ergibt 8 Portionen. Soweit ich mich erinnere (ich war mit dem Kopf auf das Lenkrad geknallt, worunter mein Gedächtnis etwas gelitten hat), fiel von dem Laster vor uns ein Küchenschrank auf die Straße, und ich riss das Lenkrad herum, um ihm auszuweichen. Der Rest verschwindet im Nebel. Zeugen berichteten, dass wir gegen den Bordstein prallten und uns ein paarmal überschlugen. »Die haben ein paar hübsche Purzelbäume geschlagen«, hörte ich einen Sanitäter zu seinem Kollegen sagen, als sie mich auf einer Trage in den Notarztwagen schoben. Dann hörte ich noch: »Bei
der brauchen wir uns nicht zu beeilen, die ist tot.« Tot? Ich tastete meinen Körper ab. Ich wusste nicht, welche von uns beiden er meinte. Mich offenbar nicht. Was nur bedeuten konnte ... O nein. Nein, nein, nein! Nach dem Unfall versuchte ich mein gewohntes Leben wieder aufzunehmen, aber ohne Erfolg. An eines hatte ich nicht gedacht, auch wenn es eigentlich auf der Hand lag: Es ist eine furchtbare Belastung zu wissen, dass man einen Menschen getötet hat. Ehrlich, wie sich ein Serienmörder nach getaner Arbeit an den Abendbrottisch setzen kann, als sei nichts geschehen, ist mir ein Rätsel. Ich brachte kaum die Energie auf, ins Büro zu gehen und eine Arbeit zu erledigen, die ich schon so lange machte, dass ich geglaubt hatte, sie sogar im Schlaf noch hinzukriegen. Die Wochen schleppten sich dahin. Die blauen Flecken verblassten, aber die Verzweiflung blieb, und irgendwann wurde mir klar, dass es zwei Arten von schrecklichen Erlebnissen gibt: die einen, die dich bis in die Grundfesten erschüttern und dazu veranlassen, das Leben zu umarmen und es nie wieder als Selbstverständlichkeit zu betrachten, und die anderen, die dich dazu bringen, dich ins Bett zu legen und dir jede Menge Doku-Soaps anzusehen. Meines fiel in die zweite Kategorie. Niemand stand mir nah genug, um mitzubekommen, dass ich mich immer tiefer in mein Unglück vergrub, und daher tat auch niemand etwas dagegen. Kein Ehemann und keine Kinder. Keine Mitbewohnerin. Mein Freund Robert machte Ende August mit mir Schluss, einen Monat nach dem Unfall. Wir hatten ohnehin kurz vor der Trennung gestanden und uns schon seit längerem in dem Stadium befunden, in dem wir beide wussten, dass es vorbei war, und doch
flickten wir an unserer Beziehung herum wie an einem Auto, das man noch nicht verkaufen will, während man nur darauf wartet, dass etwas Großes wie das Getriebe kaputtgeht. Wie sich herausstellte, hatte die Beziehung einen Totalschaden. Robert ertrug den Anblick des Wracks nicht, zu dem ich geworden war, und ich war offen gestanden erleichtert, als er mich verließ. Zu der Zeit waren auf allen Sendern die neuen Staffeln angelaufen, und ich bekam kaum mit, wie er seine Zahnbürste und das Paar Ersatzschuhe, das er unter meinem Bett verstaut hatte, zusammenpackte. Wenn Marissa nur nicht diese Liste geschrieben hätte ... oder wenn ihre Aufgabenliste eher wie meine ausgesehen hätte: eine Aneinanderreihung von Banalitäten, die mich nichtsdestoweniger die letzten dreißig Jahre beschäftigt hatten. Die Sachen aus der Reinigung holen. Ins Fitnessstudio gehen. Mittags einen Freund zum Essen treffen. Einige der Aufgaben waren abgehakt, andere wurden von Liste zu Liste übertragen, bis ich es endlich schaffte, sie zu erledigen, oder zu dem Schluss kam, dass sie doch nicht so wichtig waren, wie ich gedacht hatte. Was könnte einmal in meiner Todesanzeige stehen?
June Parker, ab und an in einer festen Beziehung lebend, mittlere Angestellte und bis zum Schluss auch sonst immer mittelmäßig, starb, während sie darauf wartete, dass etwas passierte. Sie hinterlässt ein neues Paar Socken, deren Kauf die größte Leistung auf ihrer Aufgabenliste darstellte. Bevor ich Marissas Liste in einer meiner Kommodenschubladen verschwinden ließ, hatte ich sie nur einmal kurz überflogen. Ich hätte nicht einmal sagen können, warum ich sie aufgehoben hatte. Natürlich wäre die Familie traurig, wenn sie sie sähe — aber warum machte sie mich so betroffen? Erst als ich wieder in das tröstliche Licht des Fernsehers getaucht war, wagte ich mir die Wahrheit einzugestehen: So schrecklich ich es fand, jemanden getötet zu haben, war ich doch erleichtert, dass nicht ich gestorben war. Aus welchem Grund
auch immer hatte ich eine zweite Chance bekommen. Aber auch diese Chance nutzte ich nicht, und deswegen fühlte ich mich furchtbar. Die Götter, die mich gerettet hatten, saßen wahrscheinlich auf ihren Wolken, kratzten sich am Kopf und sagten: »Man sollte doch annehmen, dass es genügt, sie aus einem Haufen verbeulten Blechs zu retten! Was sollen wir denn noch tun, um diese Frau aufzurütteln? Ihr die Pest schicken? »Eine Heuschreckenplage?« Das Problem war, dass ich keine Ahnung hatte, was ich ändern sollte. Ich gehörte nicht zu den Leuten und hatte nie zu ihnen gehört, die sich hinsetzen, eine Liste der Dinge schreiben, die sie tun wollen, und sie dann tatsächlich tun. Es war also wirklich nötig, dass Marissa Jones auf mich abfärbte. Nicht unbedingt der Teil, der abgenommen hatte, sondern derjenige, der zumindest eine Ahnung davon hatte, was sie danach tun wollte. Offenbar musste ein Wunder geschehen, um mich aus meiner Lethargie zu reißen und auf einen neuen Kurs zu bringen. Aber wie sich herausstellen sollte, war dazu überhaupt kein Wunder nötig, sondern nur ein Mann an der Kreuzung Pico Boulevard und Eleventh Street, der Rosensträuße für zehn Dollar das Stück verkaufte. Es war der fünfzehnte Januar. Auf den Tag genau vor sechs Monaten war Marissa gestorben. Als ich einen Blick auf den Kalender warf und mir klar wurde, dass inzwischen ein halbes Jahr vergangen war, wurde mir ganz mulmig. Es kam mir so vor, als sei es erst gestern gewesen und doch schon eine Ewigkeit her. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, zu Ehren Marissas nach der Arbeit nach Hause zu gehen und dann ... na gut, ich hatte nichts vorgehabt. Aber dann hielt ich an der Kreuzung neben dem Rosenverkäufer, und ich hatte eine Idee. Ich würde ihr Grab besuchen. Ich würde mich entschuldigen,
und vielleicht würde ich dann von meiner Last befreit sein. Mit dem Strauß Blumen auf dem Beifahrersitz hielt ich an der Pforte am Friedhofseingang, um mir eine Wegbeschreibung geben zu lassen. Eine Frau reichte mir die Kopie eines Plans und markierte den Weg zu Marissas Grab mit Leuchtstift. Ich stellte mein Auto ab und ging den Rest des Wegs zu Fuß. Auf dem geschmackvollen schlichten Grabstein stand: »Marissa Jones, geliebte Tochter, Schwester und Freundin«, dann folgten Geburts- und Todestag. »Es tut mir leid«, flüsterte ich und legte die Blumen auf das Grab. Danach stand ich eine Weile da, und während ich darauf wartete, dass mich ein Gefühl des Friedens überkam, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir sagen: »June?« Ich drehte mich um und fand mich in dieser unangenehmen Situation wieder, die jeder schon einmal erlebt hat: Ich erkannte den Typen nicht. Freundliche Augen. Sah aus, als hätte er seine Jugend auf dem Surfbrett verbracht. Um die dreißig. Groß, aber nicht zu groß, von der Sonne gebleichte blonde Haare, eine ausgeprägte Nase und das dazu passende Kinn. Jeans und T-Shirt. »Ach, hallo!« sagte ich und tat so, als würde ich ihn kennen. »Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich. Ich bin Troy Jones. Marissas Bruder.« »Natürlich erinnere ich mich an Sie.« Gut, nicht sofort. Bei der Beerdigung hatte er einen Anzug getragen. Und seine Haare waren kürzer gewesen. Darüber hinaus hatte ich ihm nur kurz die Hand geschüttelt. »Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie es sind. Kommen Sie oft hierher?« Kaum hatte er die Worte gesagt, schüttelte er auch schon den Kopf und lachte. »Mann, das klingt wie irgendeine platte Anmache. Als Nächstes werde ich Sie fragen, was eine hübsche junge Frau wie Sie an einem Ort wie diesem tut.«
Statt der naheliegenden Antwort — ich besuche das Grab Ihrer Schwester, die ich auf dem Gewissen habe - sagte ich: »Damit Sie nicht die ganze Litanei runter beten müssen, verrate ich es Ihnen gleich: Ich bin Skorpion.« »Schön.« »Und um Ihre Frage zu beantworten, nein, ich komme nicht oft hierher. Aber da es heute sechs Monate her ist ...« »Ja«, sagte er, »deshalb bin ich auch hier.« Dann legten wir beide eine Schweigeminute ein, jedenfalls standen wir beide da, ohne etwas zu sagen, und gerade als ich mich unter einem Vorwand verabschieden wollte, sagte er: »Hätten Sie Lust, ein paar Schritte mit mir zu gehen?« Wenn ich nur gleich wieder abgezogen wäre, nachdem ich die Blumen auf das Grab gelegt hatte! »Gerne«, sagte ich, weil ich nicht unhöflich sein wollte. »Gute Idee.« Wir liefen langsam den kiesbestreuten Weg entlang, der zwischen den Gräbern hindurchführte. »Sic sehen gut aus«, sagte er und warf mir von der Seite einen Blick zu. »Als ich Sie das letzte Mal sah, hatten Sie ein ziemlich großes Veilchen.« »Stimmt«, sagte ich unverbindlich, und zu meiner großen Erleichterung ging es von da an nur noch um irgendwelche Banalitäten - dass es in letzter Zeit sehr viel geregnet hatte und dass Hunde vor einem Erdbeben zu bellen anfangen. Er sah seiner Schwester sehr ähnlich. Und dadurch wurde gerade das, was ich tief in mir begraben wollte, wieder an die Oberfläche geholt - die Scham, die mich so sehr peinigte wie damals die blauen Flecken. Ich hatte Angst, etwas zu sagen, das ihm verraten konnte, was ich seit Monaten erfolgreich vor aller Welt verborgen hatte. Dass ich äußerlich einen guten Eindruck machte, innerlich aber Wunden trug, die noch längst nicht verheilt waren. Schließlich gelangten wir wieder bei unserem Ausgangspunkt an. »Ich stehe dort drüben«, sagte
ich. Er brachte mich zum Auto. Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als er sagte: »Darf ich Sie etwas fragen?« Mist. Beinahe hätte ich es geschafft. »Ja, natürlich.« »Es ist nur ... Sie waren die Letzte, die Marissa gesehen hat.« DIE Alarmglocken in meinem Kopf fingen an zu schrillen. »Meine Eltern und ich wissen, wie es zu dem Unfall kam, aber eine Sache können wir uns nicht erklären. Warum war sie nicht angeschnallt? Sie hat sich immer angeschnallt. Wir können das einfach nicht begreifen. Es tut mir leid, dass ich Sie damit belästige, aber die Frage lässt uns einfach keine Ruhe.« Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Ich musste sagen, was sie in ihren letzten Minuten getan hatte. Klar, ich konnte so tun, als wüsste ich es nicht, aber das schien noch grausamer zu sein als die Wahrheit. »Sie wollte ein Rezept aus ihrer Handtasche holen.« »Ein Rezept?« »Für eine Taco-Suppe.« »Ein Rezept.« Er strich sich über den Nacken. »Das sieht ihr ähnlich.« Er wirkte enttäuscht, und deshalb fügte ich rasch hinzu: »Es hörte sich sehr lecker an.« »Bestimmt.« Ach, warum hatte ich nicht gelogen? Warum hatte ich nicht gesagt, sie hätte mir erzählt, wie sehr sie ihre Familie liebte — besonders ihren Bruder? »Tut mir leid, dass es etwas so Banales ist«, sagte ich verzagt. »Ist schon in Ordnung. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte. Es ist nur ...« Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und lehnte sich gegen das Auto. »Es gibt so vieles, was ich nicht weiß und nie wissen werde. Daran denkt man, wenn man nicht schlafen kann. Ich vermisse sie natürlich, aber das ist es nicht allein. Dazu kommt das Bedauern, dass ich ihr nie die wirklich wichtigen Fragen gestellt habe, als ich das noch konnte.« Er blickte zu ihrem Grab und fuhr
fort: »Ein paar Wochen bevor sie starb, waren Marissa und ich bei meinen Eltern zum Abendessen. Wir waren im Garten, haben herumgealbert, ein bisschen Ball gespielt. Ich fragte sie, was sich in ihrem Leben geändert hatte, seit sie so schlank geworden war – abgesehen davon, dass sie mich jetzt mühelos beim Basketball schlagen konnte. Sie sagte, dass sie eine ganze Menge vorhätte, und es klang so begeistert, dass ich sie fragte, was denn zum Beispiel. Aber in diesem Moment rief uns unsere Mutter zum Essen ins Haus, und dann führte eins zum anderen, und ich kam nicht mehr dazu, sie noch mal zu fragen. Es gab aber auch keinen Grund zur Eile, oder? Wir hatten Schließlich alle Zeit der Welt.« O Gott. Bei seinen Worten krümmte ich mich innerlich. Ich hatte die Familie nicht geschont, als ich die Liste behalten hatte. Im Gegenteil, es war falsch gewesen, dachte ich, als jetzt dieser überaus nette Mann vor mir stand, der nur wegen meiner Selbstsucht noch mehr hatte leiden müssen. Ja ... also ...«, stotterte ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nur, dass ich etwas sagen musste. »Da ist noch etwas. Sie hatte eine Liste.« Als er nicht gleich reagierte, platzte ich damit heraus: »Ihre Schwester hatte eine Liste mit Dingen aufgestellt, die sie vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag tun wollte. Ich habe sie.« Er drehte seinen Kopf zu mir und bedachte mich mit einem eiskalten Blick. Ich hatte das Gefühl, dass die Temperatur mit einem Schlag unter null gesunken war. »Sie? Es gab eine Liste -,.. und Sie haben sie einfach behalten?« Na ja, wenn man es so sah ... »Ich musste sie behalten«, sagte ich abwehrend. »Warum?« Ja, warum eigentlich? Panik überkam mich, bis mir endlich eine Lüge einfiel, die so überzeugend klang, dass sie fast die Wahrheit zu sein schien. »Weil ich es für sie übernehme.«
Sein Gesicht nahm augenblicklich einen anderen Ausdruck an, wie eines dieser Schiebepuzzles, dessen Teile man so lange verschiebt, bis sie ein Bild ergeben — in seinem Fall war es allerdings noch nicht ganz fertig, und da ich nicht wusste, wie es zum Schluss aussehen würde, redete ich weiter. »Ich dachte mir, wenn Marissa es nicht mehr selbst tun kann, dann ... dann sollte ich es wohl machen. Schließlich bin ich diejenige, die am Steuer saß, als der Unfall passierte. Ich fühle mich verantwortlich.« Und da war es: Das Eis schmolz dahin und wurde durch einen Ausdruck ersetzt, den ich zwar nicht genau deuten konnte, den ich aber mochte. Endlich verspürte ich den ersehnten Frieden. Ich war nicht länger June Parker, die am Tod eines anderen Menschen schuld war und im Begriff stand, ihr Leben zu vertrödeln. Ich war die Sorte Frau, die eine Liste unerfüllter Träume fand und es auf sich nahm, sie zu verwirklichen. Ich schwebte wie auf Wolken. »Das ist ... wunderbar«, brachte er hervor und fuhr dann zu meinem Schrecken fort: »Haben Sie die Liste dabei? Können Sie sie mir zeigen?« »Sie liegt zu Hause«, erwiderte ich hastig. »Und ich fürchte, Sie wären enttäuscht, wenn Sie sie sehen. Ich habe bislang noch nicht viel abgehakt ... aber bis zu ihrem Geburtstag dauert es ja auch noch ein paar Monate.« Der 28. Juli, wie ich gerade auf dem Grabstein gelesen hatte. Weitere sechs Monate. »Lassen Sie uns bitte keine große Sache daraus machen. Ich bin schon aufgeregt genug. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich im Moment lieber nichts weiter dazu sagen.« »Verstehe.« Er nickte. »Kein Problem.« Ich sah demonstrativ auf die Uhr. »Ich muss leider los.« »Klar.« Als ich in mein Auto stieg, zog er seine Brieftasche hervor und nahm eine Visitenkarte heraus. »Rufen Sie mich an, wenn ich Ihnen helfen kann. Egal, um was es geht.« Mir fiel ein, dass er tatsächlich etwas tun konnte.
»Es würde mir möglicherweise weiterhelfen, wenn ich ein wenig mehr über Marissa wüsste. Wenn es Ihnen keine Umstände macht, könnten Sie mir vielleicht ihre alten Jahrbücher aus der Schule oder ein paar Fotoalben schicken. Irgendetwas, was ein wenig Licht darauf wirft, warum sie gerade die Dinge, die auf der Liste stehen, tun wollte.« Er nickte, ohne zu zögern, und ich gab ihm meine Visitenkarte, bevor ich davonfuhr. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich befürchtete, dass man es pochen sehen konnte. Ich würde es tun. Ich würde die Aufgaben auf Marissa Jones' Liste eine nach der anderen erledigen. Wenn ich schon nichts aus meinem Leben machen konnte, dann konnte ich wenigstens aus ihrem Leben etwas machen. Das erste Mal seit langer Zeit seit dem Unfall und sogar noch davor — spürte ich wieder ein heftiges Gefühl in mir aufwallen, eines, das mir so wenig vertraut war, dass ich die ganze Fahrt nach Hause brauchte, um zu begreifen, was es war. Hoffnung. Ich empfand Hoffnung. Und das hatte mich dahin geführt, wo ich mich gerade befand: in eine Bar, wo mir soeben klar wurde, dass ich diesen Idioten ganz bestimmt nicht küssen würde, gleichgültig, wie sehr es mich drängte, einen Punkt von der Liste zu streichen. »Also«, sagte er und bedachte mich mit einem strahlend weißen Lächeln, als er mir die Liste zurückgab (nebenbei gesagt, man kann es mit dem Zahnweiß auch übertreiben). »Welche Art von Kuss?« Sein Freund Frank klärte ihn auf: »Auf den Mund. Zunge optional.« »Lassen Sie nur«, sagte ich, »ich wollte bloß —« Bevor ich den Satz zu Ende sprechen konnte, hatte er schon seinen Mund auf meine Lippen gepresst und seine Zunge zwischen meine Zähne geschoben. Es war gar nicht einmal so unangenehm. Meine ersten Versuche mit Grant
Smith in der Highschool waren jedenfalls um einiges feuchter gewesen. Aber bei Grant hatte ich einen ganzen Schwärm Schmetterlinge im Bauch gefühlt. Dieser Kuss hinterließ bei mir dagegen das Gefühl, als wäre ich von der Taille abwärts gelähmt. Schließlich trat er einen Schritt zurück und sagte mit einem Zwinkern: »Bitte schön. Allzeit bereit.« Bitte nicht. Wenn er das gesagt hätte, während er mich küsste, hätte ich zugebissen. »Danke«, sagte ich und legte Bedauern in meine Stimme. »Aber leider steht auf der Liste ausdrücklich, dass ich den Kuss geben muss, dass ich küsse und nicht geküsst werde. Ich fürchte, das eben zählt nicht. Kann man nichts machen, aber« - ich zwinkerte den Männern am Tisch kurz zu, bevor ich mich abwandte - »ich danke Ihnen trotzdem für die Mühe.« Auf dem Rückweg zu meinem Tisch stieß ich beinahe mit einem jungen Kellner zusammen. Hm. Er war um die siebzehn und praktischerweise so groß wie ich. »Wenn Sie bitte entschuldigen«, sagte ich. Dann packte ich ihn am Kragen, zog ihn näher an mich heran und - nachdem ich kurz inne gehalten hatte, um ihm Gelegenheit zur Flucht zu geben -gab ihm einen festen Kuss auf den Mund. Ohne Zunge, aber mit viel Wärme und Zärtlichkeit und - ja! - ein paar von den erwähnten Schmetterlingen. Dann sagte ich über das Gelächter der Männer hinweg zu Susan: »Lass uns gehen.« Ich hatte schließlich noch eine ganze Menge Häkchen mehr auf der Liste zu machen und, wie meine Großmutter zu sagen pflegte: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«
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20 Dinge, die ich vor meinem 25. Geburtstag gemacht haben will
1.50 Kilo abnehmen 2.Einen Fremden küssen. 3.Jemandes Leben verändern 4.Sexy Schuhe tragen 5.Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen 6.Ohne BH losziehen 7.Buddy Fitch zahlen lassen 8.Die heißeste Frau im Oasis sein 9.Ins Fernsehen kommen 10.In einem Hubschrauber fliegen 11. Eine tolle Idee in der Arbeit präsentieren 12. Boogieboarding ausprobieren 13.In der Öffentlichkeit Eis essen 14.Zu einem Blind Date gehen 15.Mit Mom und Grandma zu einem Konzert Von Wayne Newton gehen 16.Mir eine Massage geben lassen 17.Meine Badezimmerwaage wegwerfen 18.Einen Sonnenaufgang miterleben 19.Meinem Bruder zeigen, wie dankbar ich ihm bin 20.Eine große Summe für wohltätige Zwecke spenden
»Auf meiner Liste steht an erster Stelle Fallschirmspringen«, sagte Susan und knabberte an ihrer Eiswaffel. »Du hast auch eine Liste?« »Keine richtige. Aber es gibt natürlich einige Dinge, die ich tun will, bevor ich sterbe.« »Also ich kann mir nichts Schlimmeres als Fallschirmspringen vorstellen - durch die Luft zu
rasen und keinen Einfluss darauf zu haben, wie schnell man fällt und wo man landet. Es ist mir ein Rätsel, was daran Spaß machen soll.« Wir hatten gerade Pause, saßen in einem Straßencafe und leckten jede an einem riesigen Eis. Das Büro von Los Angeles Rideshare, wo Susan Leiterin der Kundenbetreuung mit zwanzig Untergebenen ist und ich als Texterin eher zu den Arbeitsbienen gehöre, liegt in einem der älteren Teile von Downtown. Die stuckverzierten Bürogebäude, die hier die engen Straßen säumen, lassen ihn für Los Angeles geradezu altertümlich erscheinen. Die Nachmittagssonne wärmte unsere Schultern, und wir beobachteten, wie der Regen auf der gegenüberliegenden Straßenseite herunterprasselte, wo gerade ein Werbespot für Visa gedreht wurde. Riesige Maschinen sprühten Wasser auf getürkte New Yorker Taxis. Touristen in ärmellosen T-Shirts und Shorts standen am Rand und hielten Papier und Stift bereit für den Fall, dass der Typ, der in die Kamera grinste, eine Berühmtheit war. Ich war noch ganz selig über meine erfolgreiche Aktion, dem jungen Kellner einen Kuss geraubt zu haben, aber ich wusste, dass ich noch eine Menge zu tun hatte. Ich hatte die Liste mitgenommen, damit Susan und ich die Regeln festlegen konnten - was gestattet war und was nicht, um die Aufgaben zu erfüllen. So entschieden wir zum Beispiel, dass ich sie nicht der Reihe nach abarbeiten musste. Ebenso, dass ich, wie Susan es formulierte, »dem Geist des Ganzen« zu folgen hatte — nachdem ich laut überlegt hatte, dass ich Nr. 8, Die heißeste Frau im Oasis sein, ganz einfach erledigen könnte, indem ich hinging und mich anzündete. »Wie willst du das alles rechtzeitig schaffen?«, fragte Susan und nahm eine Serviette, um die Eiscreme, die auf ihre Bluse getropft war, abzutupfen. Sie sah wie immer toll aus in ihrem schlicht geschnittenen Hosenanzug aus Seide, war bis auf den roten Lippenstift ungeschminkt und hatte die Haare locker hochgesteckt. So viel lässige Eleganz ließ mich meinen geblümten Rock und die Bluse aus dem
Schlussverkauf mit ein bisschen weniger Nachsicht betrachten als damals im Laden, als die Kassiererin die Preise eintippte. »Also«, ich zog die Augenbrauen zusammen, »ich dachte, ich improvisiere.« »Meinst du, das klappt? Einige der Aufgaben scheinen ziemlich zeitaufwendig zu sein. Zum Beispiel:
Jemandes Leben verändern. Das wirst du kaum in der Mittagspause schaffen.« »Gerade um diesen Punkt musst du dir keine Sorgen machen, das habe ich schon getan. Hast du einen Stift? Den kann ich durchstreichen.« Es klang so düster, dass mich Susan verwundert ansah, bis ich es ihr erklärte: »Marissa hat gelebt. Jetzt ist sie tot. Einschneidender kann man das Leben von jemandem wohl nicht verändern, oder?« »June, wie lange willst du dich deswegen noch quälen?« »Bis die Liste abgearbeitet ist, genau so lange.« »Noch ein Grund mehr, sie ernst zu nehmen.« »Ich hoffe nur, dass ich es schaffe.« Mehr musste ich nicht sagen. Susan und ich hatten uns auf der Universität in Santa Barbara kennen gelernt und waren seither die besten Freundinnen. Sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass es nicht leicht für mich werden würde. Sie hatte alles hautnah miterlebt. Die Urlaubsreisen, die ich geplant, aber vergessen hatte zu buchen. Das abgebrochene Marketingstudium, von dem ich gedacht hatte, dass es meiner Karriere den nötigen Schub geben könnte. Und den Poncho, an dem ich so lange gehäkelt hatte, bis Ponchos aus der Mode waren. »Du weißt, wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann tu ich es.« »Das ist nett von dir, danke.« Ich sah auf die Uhr. »Ich geh jetzt wohl besser zurück ins Büro. Lizbeth hat eines ihrer geschätzten spätnachmittäglichen Meetings angesetzt, damit bloß keiner von uns auf die Idee kommt, früher nach
Hause zu gehen. Aber ich will nicht jammern, immerhin habe ich heute eine Aufgabe erfüllt.« Triumphierend hob ich meine Eiswaffel in die Höhe. »Nr. 13, In der Öffentlichkeit Eis essen.« »Wo du es erwähnst, das verstehe ich nicht. Was ist denn schon groß dabei, ein Eis zu essen?« »Dicke Leute dürfen in der Öffentlichkeit nicht essen.« »Machst du Witze?«, sagte sie, ein bisschen von oben herab, wie ich fand. »Ich sehe dauernd dicke Leute essen.« »Eben.« »Wie - eben?« »Man kann sein Essen einfach nicht genießen, wenn man immerzu das Gefühl hat, dass man von allen angestarrt wird und die Leute denken: »Kein Wunder, dass sie so fett ist, wenn sie dauernd frisst.«< »Das glaube ich nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. Ich war zwar nie so übergewichtig wie Marissa gewesen, aber ich wusste, wie sehr es das Leben beeinflussen konnte, wenn man sich für dick hielt. Mein ganzes Leben lang war ich ständig im Begriff gewesen, fünf oder zehn Kilo ab- oder zuzunehmen. Ich gehöre zu dem Typ Frau, der überall Kurven hat. Gegenwärtig bin ich so schlank wie schon lange nicht mehr, was auf meine Depressionen nach dem Unfall zurückzuführen ist — eine Diät, die ich übrigens nicht empfehlen kann. Vom Verstand her weiß ich natürlich, dass ich nicht zu dick bin, aber ich habe Angst, dass ich sofort aufgehen könnte wie ein Hefekloß, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung mache und nach einem Hamburger oder einer Portion Pommes frites zu viel greife. Susan deutete auf meine Eiswaffel. Ich hatte mich schon durch Stracciatella bis Tiramisu vorgearbeitet. »Genießt du es?« »Ehrlich gesagt, bin ich nicht besonders scharf auf Eis.«
»Wie kann man Eis nicht mögen?« »Es verlangt zu viel von einem.« »Das versteh ich nicht.« »Überleg doch mal. Wenn man sich ein Eis gekauft hat, muss man es auf der Stelle essen. Entweder das, oder man wird es für alle Zeit verlieren. Sieh dir dieses Eis hier an. Es tropft schon. Man kann es nicht wegstellen, um es später aufzuessen, wie beispielsweise ein Stück Kuchen.« »Erzähl mir doch nichts! Hast du jemals in deinem Leben ein Stück Kuchen weggestellt, um es später aufzuessen?« »Darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich es könnte, wenn ich wollte.« »Ich glaube, wenn du dieser Aufgabe gerecht werden willst, musst du das Eis genießen. Ohne Schuldgefühle. Ohne Vorbehalte. Dich dem Moment hingeben.« Als ich sie skeptisch ansah, sagte sie: »Das hätte zumindest Marissa getan.« Sie hatte natürlich Recht. Mist. Also schloss ich die Augen und fuhr langsam mit der Zunge über das Eis. Kühl und süß breitete es sich in meinem Mund aus. Ich schmeckte es. Fühlte es. Schließlich schob ich jeden Gedanken an Kalorien und so weiter beiseite, und ich muss gestehen, es war unglaublich. Verführerisch weich und cremig. Voller Begeisterung leckte ich weiter, seufzte und stöhnte genüsslich auf. Und dann öffnete ich die Augen. Peter aus der Buchhaltung stand vor unserem Tisch und grinste mich breit an. »Ich habe gehört, im Pausenraum gibt es Schokoladenkuchen mit Cremefüllung. Sag mir doch Bescheid, wenn du ein Stück essen willst. Ich wäre gern dabei.« Sein Blick wanderte sehnsüchtig zwischen Susan und mir hin und her. »Am tollsten wäre es natürlich, wenn ihr beiden euch ein Stück teilen würdet.« »Hallo zusammen«, sagte ich und setzte mich zu den anderen an den auf Hochglanz polierten Konferenztisch. Eine zwölfköpfige Familie hätte
ohne weiteres daran Platz gefunden. Er war fast so groß wie mein ganzes Büro. Ich stellte meine Cola light ab und beobachtete zufrieden, wie sich ein nasser Ring auf der Tischplatte bildete. Lizbeth Austin Adams' Büro erinnerte mich eher an ein Wohnzimmer als an einen Ort, an dem gearbeitet wurde. Sie hatte Pflanzen und Lampen und alle möglichen anderen Dinge angeschleppt, die es gemütlich machen sollten. Jedes Stück versetzte mir einen neuen Stich, da es bedeutete, dass sie vorhatte, hier Wurzeln zu schlagen. »Ihre Hoheit wird in ein paar Minuten erscheinen«, klärte Brie, Lizbeths Assistentin mich auf, ohne den Blick von der neuesten Ausgabe von Us zu wenden. »Mann, Beyonce tut gerade so, als hätte sie den Knackarsch erfunden.« Sie schlug ihre üppigen Schenkel übereinander und ließ den verstärkten Rand ihrer Strumpfhose sehen. »Ich hatte schon einen knackigen Hintern, als sie noch in Windeln herumlief.« »Moment mal - du bist doch nicht älter als sie«, entgegnete ich. »Das würde bedeuten, dass du damals auch noch Windeln getragen hast.« »Mag schon sein, aber einen knackigen Hintern hatte ich trotzdem schon.« Es war Punkt drei, und die gesamte Marketingabteilung hatte sich versammelt. Ich bekam fast Mitleid mit Lizbeth, als ich meine Kollegen der Reihe nach musterte. Nachdem sie vor zwei Jahren ihre Stelle als Marketingchefin bei L. A. Rideshare, einer Agentur zur Vermittlung von Fahrgemeinschaften, angetreten hatte, führten unerwartete Budgetkürzungen zu einer Reihe von Entlassungen. Das Imperium, das sie hatte leiten sollen und dessentwegen sie von Texas hierhergezogen war, war auf uns vier zusammengeschrumpft. Wie bei Fremden, die sich ein Rettungsboot teilen müssen, war unsere einzige Gemeinsamkeit unser Überlebenswille. Außer Brie und mir gab es noch Greg, den Grafiker, und Dominic Martucci, den alle nur Martucci nannten und der das »Rideshare-Mobil« fuhr. Martucci
zeichnete sich durch ein schmallippiges Lächeln aus und durch die Angewohnheit, an dem dünnen Zopf herumzufummeln, der sich wie ein haariger Regenwurm seinen Nacken herunterringelte. Die Vorstellung, dass er meine Broschüren anfasste, verursachte mir gelegentlich Gänsehaut. »Guten Tag«, sagte Lizbeth, als sie hereingerauscht kam. Martucci und Greg setzten sich gerade hin. Sie hatte auf Männer diese Wirkung. Ich wartete nur noch darauf, dass sie im Chor »Guten Tag, Miss Austin Adams!« riefen. Sie schob mir eine Aktenmappe zu. »Gut gemacht. Ich habe ein paar Bemerkungen an den Rand geschrieben.« Ich blätterte den Entwurf einer Broschüre durch, den ich ihr zum Abzeichnen gegeben hatte. Das Ganze war über und über mit roter Tinte beschmiert, es sah aus, als hätte sie sich beim Lesen die Pulsadern aufgeschnitten. Aber dieses Glück wurde mir natürlich nicht zuteil. »Ganz allgemein fände ich es besser, wenn es weniger nach —« sie bedachte mich mit einem gönnerhaften Blick - »Jane Fonda klingen würde.« »Jane Fonda?« »Na ja, eben nicht so«, sagte sie und zog die Nase kraus, als würde sie etwas sehr Obszönes sagen, »ideologisch.« »Da steht doch nur, dass Autoabgase die Luft verschmutzen.« »Eben.« »Aber das ist doch genau —« »Leute, ich glaube, wir haben heute noch einiges an Arbeit vor uns«, sagte sie, und wie immer ignorierte sie mich und wandte sich stattdessen an alle anderen. »Fangen wir an.« Ich steckte die Broschüre weg. Ich würde die gewünschten Änderungen vornehmen. Es hatte keinen Sinn zu streiten. Wie bei jedem Abteilungsmeeting ließ Lizbeth uns einen nach dem anderen über die Projekte berichten, an denen wir gerade arbeiteten. Als ich an der Reihe war, erwähnte ich eine Broschüre über
Fahrgemeinschaften, an der ich gerade schrieb, und eine Pressemitteilung, in der es um eine neue Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr ging. Selbst mir schliefen bei dem Thema beinahe die Füße ein. Wenn die Leute erfahren, dass ich mein Geld mit Schreiben verdiene, erkläre ich immer sofort, dass ich nicht richtig schreibe. Ich sehe sie große Augen machen — ach, Sie schreiben?! - und versuche, schnell das Thema zu wechseln. Es wäre zwar zu viel gesagt, dass ich mich schäme, aber wir wollen doch ehrlich sein: Meine Arbeit ist ohne jeden Glamour. Fahrgemeinschaften sind einfach nicht sexy. Deshalb kann ich immer noch nicht begreifen, wie jemand wie Lizbeth Austin Adams hier landen konnte. Unser Chef »entdeckte« sie auf einer von ihr organisierten Konferenz. Diese Geschichte wurde bei uns im Büro so ehrfürchtig erzählt wie die von Lana Turners Entdeckung bei Schwabs. Lizbeths Stärke war Event-Management. Bei unserem ersten Abteilungsmeeting vor zwei Jahren hatte sie damit geprahlt, dass sie einen Schwarz-Weiß-Ball für die Bush-Zwillinge organisiert hatte, woraufhin Brie sich auf ihren ewig entblößten Schenkel schlug und rief: »Dass die Schwarze privat einladen, hätte ich nie gedacht!« Lou Bigwood, offenbar beeindruckt von Lizbeths Referenzen — oder von irgendetwas anderem -, hatte ihr auf der Stelle einen Job angeboten. Nur dass es nicht irgendein Job war. Es war mein Job. Gut, er war es nicht offiziell. Aber mein ehemaliger Vorgesetzter hatte ihn mir mehr oder weniger versprochen. Mein Team hätte aus zwölf Leuten bestanden und wäre für Anzeigenkampagnen und Presseveröffentlichungen zuständig gewesen, darüber hinaus für die Organisation von PromotionEvents — Riesenpartys, auf denen wir die Leute mit Hotdogs abgefüttert hätten und ihnen dann, wenn sie satt und zufrieden gewesen wären, erzählt hätten, dass Fahrgemeinschaften eine prima Sache seien. Stattdessen musste ich mich zu einem Lächeln zwingen und klatschen, als Lou Bigwood bei einer
Mitarbeiterversammlung Lizbeth aus dem Hut zauberte und sie als die neue Marketingchefin vorstellte. Vermutlich hätte ich nicht überrascht sein sollen. Er war berüchtigt dafür, gut aussehende Frauen aufzugabeln und ihnen - zum großen Missfallen des Personalleiters - ein gewaltiges Gehalt und die besten Posten anzubieten, ohne sich mit jemandem abzusprechen. In dieser Hinsicht war er ein einsamer Wolf. Lizbeth, blond und Ende dreißig, sah aus wie eine Fernsehansagerin. Das an sich war schon verwunderlich. Bigwood neigte für gewöhnlich zum exotischeren Typ, dunkelhaarigen Schönheiten wie meiner Freundin Susan. Ich erwähne Susan hier nicht nur zu Vergleichszwecken; sie war selbst zu meinem Schrecken eine Zeit lang das Objekt seiner Begierde gewesen. »Willst du damit etwa sagen, dass er dich in seine Schönheitengalerie eingereiht hat?«, hatte ich damals ausgerufen, als Susan beiläufig erwähnte, dass Bigwood sie eingestellt hatte, nachdem sie sich auf einer Konferenz (wo sonst?) kennen gelernt hatten. Ich glaube, ich arbeitete damals erst seit ein paar Wochen bei L. A. Rideshare, nachdem mich Susan als Texterin empfohlen hatte. »Ja, aber wenigstens in die Unterabteilung >schön und schlau<«, erwiderte sie. »Aber das ist doch furchtbar! Er hat dich nur wegen deines Aussehens eingestellt!« Sie zuckte mit den Schultern. »Macht dir das nichts aus?« »Eigentlich nicht.« Ich muss mich damals ziemlich aufgeplustert haben, und meine Stimme war wohl recht schrill geworden, denn dann sagte sie: »Ich weiß, dass Bigwood ein Arschloch ist, aber das sind alle Firmenchefs. Ich mache meine Arbeit. Die Leute respektieren mich. Was interessiert es mich, warum er mich eingestellt hat? Abgesehen davon ist es nur gerecht.
Hast du eine Ahnung, wie viele Männer einen Job bekommen, nur weil sie als Mann in den Ring steigen?« Da hatte sie Recht. Und jetzt, stellte ich mit einem Seufzen fest während ich Lizbeth zusah, wie sie Gregs Webdesign auf ihre kühle, keinen Widerspruch duldende Art zerlegte —, hatte ich eine Chefin, die das Gemüt eines Preisboxers hatte. »Ich habe heute mit drei Journalisten gesprochen«, sagte sie, als sie an der Reihe war. »Aber das war nichts Halbes und nichts Ganzes.« Sie meinte das Projekt »Freunde von Rideshare«. Der Gedanke daran war mir ungefähr so angenehm wie die Erinnerung an den Tippfehler, der mir 2002 in einem Newsletter unterlaufen war (ich hatte versehentlich »Wartehöschen« statt »Wartehäuschen« geschrieben). Die Idee zu »Freunde von Rideshare« war Teil meiner Bewerbung für den Job gewesen, den ich dann nicht bekam. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir Verkehrsreporter bitten, auf Fahrgemeinschaften zu sprechen zu kommen, wenn sie über die aktuelle Verkehrslage berichten. Sie könnten die Vorzüge von Fahrgemeinschaften hervorheben, zum Beispiel dass es Spaß macht, an einem Stau vorbeizufahren, weil man zu mehreren im Auto sitzt und deshalb die Busspur benutzen darf. Mein ehemaliger Boss war begeistert gewesen. Als Lizbeth kam, behauptete sie, die Idee stamme von ihr, und fing sofort an, sich an irgendwelche Celebrities heranzumachen. Ich habe gehört, dass sie monatelang hinter Brad Pitt hertelefoniert hat, um ihn als Fürsprecher zu gewinnen. Sie drang nicht einmal bis zur Assistentin seiner Assistentin durch. Das Projekt ging den Bach runter, und Lizbeth machte überall publik, dass es meine Idee gewesen war. »Ich gebe mir jede erdenkliche Mühe, diese Schnapsidee auf eine nüchterne und solide Grundlage zu stellen«, hörte ich sie einmal gegenüber einem anderen Abteilungsleiter jammern. Und jetzt erklärte sie uns, dass sie die Filmstars und Musiker aufgegeben hatte und etwas anderes
probieren wollte -etwas ganz Neues! -, nämlich Leute von den Verkehrsnachrichten anzusprechen. Auch wenn sie keineswegs sicher war, seufzte sie, dass sich dadurch das Projekt retten ließe. »Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen«, sagte sie. Ziege. Wir beendeten das Meeting und packten unsere Sachen zusammen, als Martucci sagte: »Vielleicht könnte June mit Troy Jones sprechen.« Wie bitte? Wie kam er auf Troy Jones? Lizbeth fragte sich offensichtlich das Gleiche. »Wie kommst du auf die Idee?« »Weißt du das nicht? June hat im Juli seine Schwester überfahren.« »Ich habe sie nicht überfahren!«, protestierte ich. Martucci klappte seinen Aktenordner zu. »Gut. Sie hat sie nicht überfahren. Jedenfalls war die Frau in ihrem Auto die Schwester von Troy Jones. Stimmt das etwa nicht, Parker?« Lizbeth musterte mich neugierig. »Ist das wahr? Das war deine Beifahrerin bei dem Unfall? Warum hast du nie was davon erzählt?« Eine schreckliche Ahnung überkam mich. Offenbar wussten alle, wer Troy Jones war, abgesehen davon, dass er Marissa Jones' Bruder war. Ich hätte es auch gerne gewusst, aber eher hätte ich mir die Zunge abgebissen, als danach zu fragen. Glücklicherweise kam mir Greg zu Hilfe. »Wer ist Troy Jones?« »Er ist Verkehrsreporter bei K-JAM«, sagte Lizbeth. »Hat vor kurzem dort angefangen. Der kommende Mann ... ist ständig auf Sendung.« Troy machte also Verkehrsnachrichten. Vermutlich hätte ich das wissen sollen, aber ich hatte schnell das Interesse an solchen Dingen verloren, als es mit der Beförderung nicht geklappt hatte. Es gab wenig Grund, mich ständig auf dem Laufenden zu halten, wenn ich nicht dafür bezahlt wurde. Lizbeth wandte sich zu mir um. »Sprichst du bald mit Troy?«
»Weswegen?« »Was eben so ansteht. Gedenkgottesdienste. Verstreuen der Asche. Solche Dinge. Es wäre toll, wenn er mit uns zusammenarbeiten würde. Da wir jetzt durch dich einen persönlichen Kontakt zu ihm haben —« Ich starrte sie mit offenem Mund an. Meinte sie das ernst? »Ich habe ihn auf der Beerdigung seiner Schwester kennen gelernt!« Martucci, der alte Schleimer, sagte: »Das ist doch eine ausgezeichnete Gelegenheit. Wie heißt es so schön?« Er schnippte mit den Fingern. »Ja, genau. Jedes Ende ist ein neuer Anfang.« Ich funkelte ihn an. Wie konnte er es wagen, einen der Lieblingssprüche meiner Großmutter gegen mich zu verwenden? »Das stimmt. Man kann nie wissen«, sagte Lizbeth. »So traurig das Ableben seiner Schwester auch ist«, sie streckte die Hände über den Tisch, aber glücklicherweise saß ich weit genug von ihr entfernt, sonst hätte sie wahrscheinlich meinen Arm getätschelt, »aber aus solchen tragischen Ereignissen können tiefe Freundschaften entstehen.« Du hast seine Schwester ja schließlich nicht mit Absicht überfahren«, sagte Martucci fast freundlich. »Wisst ihr, wen sie hätte überfahren sollen?«, schaltete sich Brie ein. »Rick Hernandez von Channel 5. Der Mann ist klasse. Bei dem hätte ich mich sofort in Mund-zu-Mund-Beatmung versucht.« »Ich ... habe ... niemanden ... überfahren«, zischte ich. Martucci verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Kein Grund, sich künstlich aufzuregen, Parker. Wir machen hier nur Brainstorming.« »Vielleicht sollten wir die Sache erst einmal auf sich beruhen lassen«, schaltete sich Greg ein, dankenswerterweise. Martucci hätte eine schlagfertige Antwort verdient, und da mir natürlich keine einfiel, musste mir einfach jemand beispringen. »Dieser Troy ist nicht der einzige Verkehrsreporter auf der Welt. Ich habe den
Eindruck, dass June den Unfall lieber vergessen würde.« Dankbar lächelte ich Greg an. Er hatte es geschafft, Martucci zum Schweigen zu bringen, aber Lizbeth gab leider nicht so schnell auf. Sie sah mich an. »Denk noch mal darüber nach.« Ihre Stimme hatte wieder ihren geschäftsmäßigen Ton angenommen. »Wenn wir Troy Jones mit ins Boot holen könnten, bekäme die Abteilung mehr Geld. Das Verdienst könntest du dir ans Revers heften.« Ein besserer Mensch, als ich es bin, wäre aufgesprungen und hätte gebrüllt: »Wie kannst du nur von mir verlangen, einen solchen Unglücksfall auszunutzen?« Rein zu meinem Vergnügen stellte ich mir noch vor, wie ich Lizbeth eine Ohrfeige verpasste. Auf den Fuß trat. Ihr den Arm verdrehte. Sie dazu zwang, eine ganze Chilischote zu essen. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, genoss ich es, im Rampenlicht zu stehen. Wie der Klassendepp, der eine Eintrittskarte für das tollste Popkonzert des Jahres übrig hat. Ich fühlte mich aus irgendeinem merkwürdigen Grund gut. Nicht, dass ich vorhatte, mich tatsächlich an Troy Jones heranzumachen. Um nichts in der Welt hätte ich welche Beziehung auch immer, die ich zu Marissas Bruder haben mochte, ausgenutzt, um meine Karriere zu befördern. Oder, realistischer betrachtet, die von Lizbeth. Allein der Gedanke daran trieb mir die Schamesröte ins Gesicht. Und doch konnte ich mich nicht dazu aufraffen, nein zu sagen. Stattdessen machte ich das, was ich immer machte. Ich zauderte. Darin bin ich ungekrönte Königin. »Wenn ihr meint, dass es etwas bringt«, sagte ich und sammelte meine Zettel ein, »werde ich sehen, was ich tun kann.«
3
Ein paar Tage später fuhr ich gut gelaunt nach Hause. Nach Büroschluss war ich zu Susan gefahren, um auf die Zwillinge aufzupassen. Ihr Mann Chase war auf Geschäftsreise, der Babysitter hatte einen Termin und Susan machte Überstunden, weil ein Angebot fertig werden musste. Das übernehme ich gern, hatte ich zu ihr gesagt. Nichts baut mehr auf, als ein paar Stunden mit zwei Jungs zu verbringen, die dich für eine echte Wucht halten — selbst wenn sie erst fünf sind. Es war erst zehn, als ich meine Tür aufschloss, aber ich wollte trotzdem nur noch ins Bett. Die beiden Kleinen waren zwar niedlich, aber auch anstrengend. Santa Monica ist eine lebendige Stadt direkt am Meer und sehr liberal, sie sperrt weder Obdachlose aus noch Yuppies, die sich hier niederlassen wollen. Seine Berühmtheit verdankt es O. J. Simpson, dem hier der Prozess gemacht worden war, aber auch Pamela Anderson, die hier für Baywatch den Strand hatte entlanglaufen dürfen. Ich wohne drei Kilometer vom Strand entfernt, unweit der Stadtgrenze zu West Los Angeles. In der Mitte des U-förmig gebauten einstöckigen Gebäudes liegt ein Swimmingpool, den aber kaum jemand von den zwölf Mietparteien benutzt. Meine Dreizimmerwohnung liegt im ersten Stock. Ich wohne hier seit zwölf Jahren, und bevor Susan Chase heiratete, hatten wir uns die Wohnung geteilt. Man wird mich hier mit den Füßen voran hinaustragen müssen, weil ich dank Mietpreisbindung nur 550 Dollar im Monat für eine Wohnung zahle, die mehrere Tausend wert ist. Mein Vermieter versucht mit allen Mitteln, mich loszuwerden, und lässt deshalb keine Reparaturen vornehmen, die sich auch nur im Entferntesten als Schönheitsreparaturen bezeichnen lassen. Vor ein paar Jahren führten wir einen erbitterten Streit darüber, ob es eine »notwendige« Reparatur sei, den ständig größer werdenden Riss in der Decke zu schließen. Der
Teppichboden ist daher ziemlich abgetreten, und auch die Küche hat bessere Tage gesehen, aber die Wohnung ist großzügig geschnitten und hell. Ich warf die Schlüssel auf den Küchentisch und drückte auf den Wiedergabeknopf meines Anrufbeantworters, während ich zum Kühlschrank ging, um zu sehen, ob sich noch irgendetwas zu essen darin fand. Es waren zwei Nachrichten, beide von meiner Mutter. »Junie, ich bin's. Ruf mich bitte zurück, wenn du Zeit hast.« Ich würde sie gleich morgen früh anrufen. Es war schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal mit ihr telefoniert hatte. Meine Eltern leben im San Fernando Valley, in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Normalerweise spreche ich einmal in der Woche mit meiner Mutter — und mit meinem Vater die fünf Sekunden, die er braucht, um »Ich geb dir mal deine Mutter!« zu sagen, sollte er zufällig den Hörer abgenommen haben. Die zweite Nachricht von ihr — keine Ahnung, wann sie die hinterlassen hatte, weil ich mir nie die Mühe gemacht hatte, die Uhr des Anrufbeantworters einzustellen, so dass die digitale Stimme immer irgendeine falsche Zeit angibt — klang seltsam. Irgendwie gehetzt und durcheinander. Hallo Schätzchen. Ich hatte gehofft, du wärst zu Hause ... Also, ich will dir das lieber nicht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich wollte .. ach. Ruf mich bitte zurück.« Ihre Stimme wurde leiser. »So bald wie möglich.« Mein Herz beschleunigte den Takt. Was war da los? Es musste etwas passiert sein. Etwas so Schreckliches, dass sie es mir nur persönlich sagen konnte. Jemand war gestorben. Mein Vater ... oder mein Bruder ... Mit zitternden Händen wählte ich ihre Nummer, und es schien eine halbe Ewigkeit zu klingeln. Nimm ab ... nimm schon ab ... »Hallo?« Die Stimme meiner Mutter. »Ich habe eben deine Nachricht abgehört. Was ist los? Was ist passiert?« Sie hörte die Sorge aus meiner Stimme heraus. »Oje, ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist alles in Ordnung. Ich wollte dich nur fragen, ob du gestern
ferngesehen hast. Ich war mit deinem Vater bei der Jahresfeier seines Bowling-Vereins und dachte, ich hätte den Videorekorder richtig programmiert, aber ich muss irgendetwas falsch gemacht haben. Ich würde ja Pat Shepic fragen, aber -« »Ich dachte, Dad ist gestorben!« »Tut mir leid«, sagte sie betroffen. »Oder dass er einen Herzinfarkt hatte.« »Aber nein ... allerdings«, und sie hob ihre Stimme, damit auch mein Vater mitbekam, was sie sagte — »wenn er weiter so viele Kartoffelchips isst, könnte er durchaus einen Herzinfarkt kriegen!« »Ich habe die Tüte doch eben erst aufgemacht!«, hörte ich ihn im Hintergrund protestieren. »Und?«, fragte sie. Wir brachten uns gegenseitig auf den neuesten Stand unserer Lieblingsvorabendserie, und dann sprachen wir über Marissas Liste, von der ich ihr erzählt hatte, nachdem ich Troy Jones auf dem Friedhof über den "Weg gelaufen war. Mom war enttäuscht gewesen, dass »Mit Delfinen schwimmen« nicht dabei war, im Übrigen aber von dem Projekt begeistert. Sie glaubte, dass ich auf diese Weise wieder einen Mann kennen lernen könnte, nachdem seit der Trennung von Robert nun schon einige Zeit ins Land gegangen war, und wollte einfach nicht wahrhaben, dass es auf der Liste keinen Punkt »Einen Mann suchen« gab. »Aber es gibt doch das mit dem Blind Date«, hatte sie eingewendet. Worauf ich sagte: »Bei einem Blind Date geht es darum, einen aufregenden Abend mit einem Fremden zu verbringen und nicht ein Leben lang seine Socken vom Fußboden aufzusammeln.« Worauf sie entgegnete: »Am Ende wirst du auch noch seine schmutzigen Unterhosen aufsammeln.« Daraufhin war das Gespräch unvermittelt versiegt. Die Mikrowelle piepste, und ich sagte, dass ich Schluss machen müsste. Mein Abendessen war fertig. Ich hatte ein »internationales Menü« komponiert, bestehend aus Spaghettiresten (italienisch), einem Fisch-Taco vom Imbiss um die Ecke (mexikanisch),
zwei Sushis (japanisch) und einer Scheibe fettfreiem Käse (französisch). Bevor sie auflegte, sagte meine Mutter noch: »Es tut mir leid, wenn ich dir einen Schrecken eingejagt haben sollte.« »Mach dir keine Sorgen. Ich denke in letzter Zeit wohl zu viel an den Tod.« Sie lachte bitter. »Warte erst mal, bis du in meinem Alter bist.« Ich beugte mich über Susans Schulter, um auf den Bildschirm sehen zu können, und staunte: »Das ist ja wie im Supermarkt.« Sie scrollte durch eine Reihe von Männerfotos. »Wie wäre es mit dem: >TollerTyp sucht wilde, freizügige Frau<.« »Iiih. Warum schreibt er nicht gleich: >Geiler Kerl sucht ebensolche Frau, weil ihm Nutten zu teuer sind« »Stell dich nicht so an«, sagte sie in jenem überlegenen Ton, wie ihn nur glücklich Verheiratete zustande bringen. »Wo bleibt deine Abenteuerlust?« »Die sitzt zu Hause auf dem Sofa und sieht sich die Programmvorschau an.« »Du musst mehr unter die Leute kommen.« »Darum geht es doch hier, oder nicht?« Die meisten Kollegen waren schon nach Hause gegangen. Susan und ich machten Überstunden, um im Internet nach einem Mann für mich zu suchen, ohne Angst haben zu müssen, dass wir dabei erwischt wurden. Aufgabe Nr. 14, Zu einem Blind Date gehen, wollte ich als Nächstes erledigen. Meine Mutter hatte mehrmals bemerkt, dass sie das für mich organisieren könnte. Sie hatte mir erklärt, dass einige Söhne ihrer Freundinnen in Scheidung lebten und wieder zu haben seien; und wer wusste schon, für wie lange? Bei einer solchen Mutter war Angriff die beste Verteidigung. Meinen Computer konnten wir nicht benutzen. Zum einen hatte mein Büro keine Tür und er stand so, dass jeder, der auf dem Flur vorbeiging, auf den Bildschirm sehen konnte, und zum anderen hatten Angestellte in meiner Position keinen
unbeschränkten Zugang zum Internet. Offenbar durften nur Führungskräfte Flirt-Websites besuchen und den ganzen Tag lang Pornos anschauen. »Der sieht ganz nett aus.« Ich deutete auf das Foto eines Mannes, der ... ich würde ihn ja gern beschreiben, aber er hatte ein Gesicht, das man sofort wieder vergaß. Sein Inserat war überschrieben mit »Netter, ganz normaler Mann«. »Was willst du mit einem netten, ganz normalen Mann?« Ich verzog das Gesicht. »Was soll denn an einem netten, ganz normalen Mann falsch sein?« »Nichts.« »Na also.« »Erinnerst du dich, dass du mich gebeten hast, ehrlich zu sein?« »Ja«, sagte ich zögernd. »Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass du feige bist.« »Danke.« »Ernsthaft! Der Grundgedanke bei dieser Aufgabe ist doch, sich auf die freie Wildbahn zu begeben, ein Risiko einzugehen. Tut mir leid, aber ich finde nun einmal, dass du eine witzige, kluge und sehr hübsche Frau bist. Ein solcher Mann kann dir nicht das Wasser reichen. Du hast etwas Besseres verdient.« Es ist schwer, jemandem zu widersprechen, der seine Kritik in einem Kompliment verpackt. Wahrscheinlich mögen Susans Mitarbeiter sie deswegen so sehr. Man kann ihr einfach nicht böse sein. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«, fragte ich grinsend und hoffte, das Thema wechseln zu können. »Überhaupt nicht. Erinnerst du dich an die Fotos von C.J.s und Joeys Geburtstag letzten Monat? Ich habe sie an ein paar Leute gemailt, und Kevin, ein Freund von Chase, hat geantwortet und sich erkundigt, wer denn die tolle Frau in dem roten T-Shirt ist.« »Wirklich?« Ich muss zugeben, selbst ich finde, dass ich in
diesem T-Shirt ziemlich gut aussehe. »Warum lassen wir den Unsinn hier dann nicht sein und du arrangierst ein Bind Date mit Kevin für mich?« »Erstens lebt er in Simbabwe. Zweitens kann er dir nicht das Wasser reichen.« Ich seufzte. Wenn so viele Männer mir nicht das Wasser reichen konnten, sollte man doch meinen, dass ich ein aufregenderes Liebesleben hätte. »Ich will damit nur sagen«, fuhr sie fort, »dass du jetzt die Gelegenheit hast, etwas zu wagen. Greif nach den Sternen. Schau dich nach jemandem um, der auf den ersten Blick nicht in deiner Liga spielt. Alles andere ist lächerlich. Zum Beispiel«, und sie scrollte nach unten, bis sie einen Mann entdeckt hatte, der wie Brad Pitt aussah. »Der hier. Personal Trainer sucht humorvolle und sportliche Lady.« »Der will mich nicht. Ich bin keine Lady.« »Wen interessiert denn, was er will?« »Ich weiß nicht. Er sieht fast zu gut aus. Abgesehen davon ist sein Lieblingsbuch >Ich mag Filme lieber.« Susan suchte weiter und stoppte dann bei einem Typen, der einer Calvin-Klein-Anzeige entsprungen zu sein schien. Dunkle Haare, Dreitagebart, intelligente und doch schmelzend blickende Augen, die Hände lässig in die Taschen einer Hose gesteckt, die zu einem offensichtlich teuren Anzug gehörte. »Vergiss es«, sagte ich und zuckte bei der Erinnerung an den Kerl in der Bar innerlich zusammen. Von Männern, die wie Unterwäsche-Models aussahen, hatte ich die Nase voll. »Er ist Texter!« Sie hatte sein Profil angeklickt. »Er heißt Sebastian und arbeitet bei einer Werbeagentur. Dreiunddreißig, ledig, Nichtraucher, he, und sieh mal, er ist Manns genug, >jedes Alten anzukreuzen, statt zu sagen, dass er eine Frau will, die jünger ist als er. Dem sollten wir eine E-Mail schicken. Der ist einfach perfekt!« Eben. Genau das war das Problem. Ein Risiko einzugehen war die eine Sache, aber dieser Mann spielte nicht nur nicht in meiner Liga, wir trieben nicht einmal denselben Sport. »Er fährt regelmäßig
nach St. Croix in Urlaub. Ich weiß nicht mal, wo das ist!« »Jetzt komm schon -« »Ich bin bereit, mich auf ein Blind Date einzulassen, aber auf der Liste steht nichts davon, dass ich mir eine Abfuhr holen und mich demütigen lassen soll. Nein, danke.« Sie erklärte mir, ich wäre kindisch, aber nach einer Weile gab sie es auf, und ich fuhr ins Fitnessstudio. Die Überwindung meiner Depression bedeutete leider auch, dass mein Appetit fröhliche Urständ feierte. Susan blieb noch im Büro, um einen Bericht abzuschließen. Zweifellos ist ihre Arbeitsmoral der Grund dafür, dass sie eine Bürotür und unbeschränkten Zugang zum Internet hat und ich nicht. Am nächsten Morgen rauschte Brie in mein Büro. Sie trug ein gelbes Oberteil, das über ihren großen Brüsten spannte, und einen Minirock mit Leopardenmuster. Ihren Haaren — stets eine Quelle des Entzückens und oft ein regelrechtes Kunstwerk — hatte sie eine Außenrolle verpasst, die an Diana Ross in ihrer Supremes-Zeit erinnerte. Alles in allem recht sittsam für Brie. »Ich habe das da im Drucker gefunden«, sagte sie und wedelte mit einem Blatt Papier vor meiner Nase herum, »aber ich weiß nicht, ob es für dich oder für Susan ist. Es ist von ihrem Computer aus gedruckt worden, aber dein Name steht drauf.« Ich war gerade tief in Gedanken - auf der Suche nach einem Wort für eine Headline, das sich auf Transport reimte -, daher sah ich nicht einmal auf. »Danke.« »Es ist eine Nachricht von einem gewissen Sebastian«, fuhr sie fort, gerade als ich Mord verwarf, weil es zu negativ war. Erschrocken fuhr ich zusammen. »Sebastian?« »Ja. Das Ganze ist etwas seltsam, weil er sich mit einer von euch beiden verabreden will - ich glaube,
du bist gemeint, Susan ist ja, soweit ich weiß, verheiratet. Allerdings kommt das von ihrem Computer und -« Ich riss ihr das Blatt aus der Hand. Munter fuhr sie fort: »Er lädt dich zu einer Lesung ein. Das hört sich ganz nach dir an. So was Intellektuelles. Ich mag's ja gerne ein bisschen aufregender. Irgendwas, wofür ich mich schick machen kann. Eine Diskonacht zum Beispiel -kennst du übrigens diesen neuen Club in Hollywood? Da war ich letzte Woche, der ist echt abgefahren. Ich hatte meinen neuen rosa Lederrock an und -« »Du sagst«, unterbrach ich sie, »du hast diese Nachricht im Drucker gefunden?« »Ja. Ist Schluss mit Robert?« Als ich nicht gleich antwortete, sah sie mich mit missbilligendem Blick an. »Oder betrügst du ihn etwa?« »Wir haben uns vor ein paar Monaten getrennt. Darf ich das mal kurz lesen, bitte?« Ich überflog die Nachricht, eine ausgedruckte E-Mail. Sie war tatsächlich von Sebastian. Er bedankte sich für meine Mail, erklärte, wie begeistert er sei, dass ich auch Texterin bin, und dass er das Foto toll fände, das ich ihm geschickt hatte. Und dann lud er mich zu einer Lesung am Donnerstag um sieben Uhr im Book Soup ein. »Es wird Wein und Käse geben und danach können wir essen gehen«, stand da. »Ich weiß, der Termin ist ein bisschen knapp, aber vielleicht schaffst du es ja. Ich würde mich freuen, dich kennen zu lernen und mehr von dir zu erfahren.« »Susan muss ihm geschrieben haben«, sagte ich und merkte zu spät, dass ich das nicht hätte sagen dürfen, als ich sah, dass Brie abwehrend die Hände hob und sich zum Gehen wandte. »Das geht mich überhaupt nichts an. Was immer ihr da ausheckt, es ist ganz allein eure Sache.« Toll. Jetzt würde sie im ganzen Büro herumposaunen, dass Susan und ich unser Liebesleben aufpeppen wollten. »Komm mit.« Ich packte Brie am Arm, marschierte mit ihr zu Susans Büro und warf die Tür hinter uns zu. Susan sah vom Bildschirm auf. Wortlos hielt ich ihr den Ausdruck vor die Nase.
»Ach«, sagte sie, »der Drucker hat also doch funktioniert.« »Das kann man wohl sagen«, blaffte ich sie an. »Gestern Abend hat er nicht gedruckt«, erklärte sie. »Ich wollte dir die Nachricht heute Morgen zeigen und mit dir darüber reden. Jedenfalls dachte ich, ich hätte den Druckauftrag gelöscht —« »Du hast ihm geschrieben und so getan, als wärst du ich!«, unterbrach ich sie. »Ja, und er wollte sich mit uns verabreden!«, sagte sie, nur um sich gleich zu korrigieren. »Mit dir, natürlich. Ich hab dir doch gesagt, das Foto von dir auf dem Fest ist umwerfend. Er hat mir innerhalb von Minuten geantwortet. Dann haben wir ein paarmal hin und her gemailt. Ich bin keine begnadete Briefschreiberin, und es ist eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal geflirtet habe, aber offensichtlich habe ich es noch nicht verlernt. Ein Date! Ein Blind Date, wenn du mir folgen kannst.« »Brie hat das Blatt gefunden«, sagte ich mit spitzer Stimme. Susan zog entschuldigend die Schultern hoch, aber nur kurz. »Was soll denn die Geheimniskrämerei? Das ist doch albern. Wenn ich etwas Gutes tue, kann es ruhig jeder wissen.« Ich seufzte, und dann sah ich zu Brie. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass sie schlecht über mich dachte. Ich bewunderte sie dafür, dass sie sich nichts gefallen ließ. Keiner kam so gut mit Lizbeth zurecht wie sie. Brie wusste natürlich von dem Unfall, daher musste ich ihr nur noch von Marissas Aufgabenliste erzählen und dass ich sie für sie abarbeiten wollte. Als ich fertig war, sprudelte Brie los: »So was habe ich mal in der Springßeld Story gesehen! Die Frau hatte eine seltene Blutkrankheit und nur noch sechs Wochen zu leben, deshalb versuchte sie vor ihrem Tod schnell noch ein paar Dinge zu tun, die sie schon immer tun wollte. Ach, übrigens, wenn du sie dir auch ansehen willst, ich lege die Termine für Lizbeth immer auf zwei Uhr, so dass ich den Fernseher in ihrem Büro benutzen kann.« »Brie, das bleibt unter
uns, in Ordnung?« »Klar. Aber nur, wenn das mit dem Fernseher auch unter uns bleibt.« Bevor ich ging, zwangen sie mich, Sebastian zu mailen und seine Einladung anzunehmen. Was blieb mir übrig? Ich hatte sowieso keine anderen Kandidaten für das Blind Date. Dann klingelte Susans Telefon, und Brie begleitete mich zurück zu meinem Büro. »Was steht denn noch alles auf dieser Liste?«, fragte sie. Ich ratterte ein paar der Aufgaben herunter, und dann überlegte ich, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, dass Brie Bescheid wusste. Als Assistentin von Lizbeth konnte sie mir möglicherweise helfen. »Da fällt mir ein«, sagte ich nach einem Moment, »eine der Aufgaben besteht darin, dass ich in der Arbeit eine tolle Idee präsentieren muss. Ich habe mit dem Gedanken an die Vergabe von Gratisbenzin gespielt, aber Lizbeth scheint so versessen auf dieses Projekt mit den Verkehrsnachrichten zu sein, dass sie für nichts anderes mehr Ohren hat. Oder meinst du, da könnte doch noch was gehen?« Brie dachte schweigend nach. »Die Frau ist ein Bullterrier. Wenn sie das, was sie will, nicht auf die eine Art bekommt, dann versucht sie es auf die andere. Es wird nicht leicht sein, aber mach dir keine Sorgen«, sagte sie schließlich, als sich auf dem Flur unsere Wege trennten, »ich steh dir bei.«
4 Bislang hatte ich acht Freunde, durchschnittlich hielt jede Beziehung 9,8 Monate. Die längste dauerte 14,4 Monate. In zwei von acht Fällen - also sage und schreibe 25 Prozent - hießen die Männer Scott. Zu dieser Statistik gelangte ich an einem Wochenende, das ich vor einer Weile mit ein paar Freundinnen in Palm Springs verbrachte und an dem wir uns im Hotelzimmer mit Kartenspielen
und Beziehungskalkulationen vergnügten, weil es die ganze Zeit regnete. Linda, die ich seit der Highschool kannte, hatte ihren Laptop dabei, so dass wir das Ganze in Tabellenform bringen konnten. Meine Leistungen schienen mir ganz passabel zu sein, bis Linda anfing, weitere Berechnungen anzustellen. »Sieh dir das mal an«, sagte sie. »Zwischen deinen Beziehungen hast du durchschnittlich 13,4 Monate allein verbracht. Das bedeutet« — sie klapperte ein bisschen auf der Tastatur herum, und eine neue Tabelle erschien auf dem Bildschirm -, »dass du 50 Prozent mehr Zeit als Single verbracht hast als in einer Beziehung.« Tja. Immerhin. Ich wagte gar nicht daran zu denken, dass schon fast ein halbes Jahr vergangen war, seit Robert mich verlassen hatte, und sich noch immer nichts Neues am Horizont abzeichnete. Klar, ich hatte viel zu tun gehabt. Zunächst mal waren da die vielen interessanten Sendungen im Fernsehen. Dann die Liste. Aber trotzdem. Wenn man sich all die Prominenten ansieht, die schon wieder vor dem Altar stehen, kaum dass die Druckerschwärze der Berichte über das Scheitern ihrer letzten Beziehung getrocknet ist. Das war nicht gerecht. Ich will heiraten! Ich will Kinder!, dachte ich verzweifelt, als ich am Morgen meines Blind Date unter der Dusche stand. Für andere Leute waren Ehe und Familie offenbar gottgegebene Rechte, während sie für mich einer geradezu herkulischen Arbeit gleichkamen. Dabei bin ich eigentlich recht bescheiden - ich will nur einen Ehemann. Andere Frauen haben in meinem Alter schon zwei oder drei gehabt. Von denen wahrscheinlich einer meiner hätte sein sollen. Wahrscheinlich hatten sie auch meine Kinder. Ich hatte mit manchen meiner acht Männer (Nummer drei und sieben) Zeiten erlebt, da dachte ich, ich hätte den Richtigen gefunden. Vorausgesetzt, die eine oder andere Schwäche ließ sich ausbügeln. Wenn er es nur schaffen würde, a) beziehungsfähiger
zu sein, b) einen Job zu behalten, c) auf die Angewohnheit zu verzichten, seine Zehennägel im Wohnzimmer zu schneiden. Und wenn ich es nur schaffen würde, mir jenes geheimnisvolle gewisse Etwas anzueignen, das Männer fesselt und an dem es mir offensichtlich mangelt - zumindest auf Dauer. Ach, Duschen ist wunderbar. Es gibt nichts Besseres, als an einem verregneten Januarmorgen heißes Wasser auf sich niederprasseln zu lassen, um die Kälte aus den Knochen zu vertreiben. Selbst wenn man später dafür büßen muss. Meine Wohnung hat nur einen einzigen kleinen Heißwasser-Boiler. Wenn der leer ist, ist er leer. Ich betete zu den Heißwassergöttern, und da ich schon einmal dabei war, gleich noch zu den BlindDate-Göttern. Bitte macht, dass genügend heißes
Wasser da ist, bis ich das Shampoo ausgespült habe, und bitte macht, dass er mich mag. Es war nicht mein erstes Blind Date, aber die bisherigen waren weniger blind gewesen als dieses. Eine Freundin veranstaltete eine Party oder verabredete sich mit ein paar Freunden in einer Bar und lud mich und das potentielle Liebesobjekt dazu ein. Möglicherweise hatte sie vorher ihm von mir oder mir von ihm vorgeschwärmt, aber im Allgemeinen konnte man so tun, als wüsste man nichts von dem Arrangement, wenn es nicht funkte. Bitte macht, dass es heute
Abend funkt. Von meiner Seite stand dem nichts entgegen. Ich sprühte schon Funken, wenn ich nur an das Foto von ihm dachte. Was mich nicht gerade beruhigte. Sebastian kam mir vor wie einer von diesen Männern, die an jedem Finger zehn Frauen haben können und nicht wissen, wie sie sie wieder loswerden. Bestimmt gab es bei ihm nicht durchschnittliche 13,4 Monate Pause zwischen den Beziehungen. Eher 13,4 Minuten. Glücklicherweise musste ich zu keinem Bewerbungsgespräch für das Blind Date antreten, bei dem ich einen Lebenslauf und Zeugnisse über mein trostloses Liebesleben vorzulegen hatte. Kaum
auszudenken, wenn Sebastian so was zu Gesicht bekäme! »Nun, June«, würde er zweifellos sagen und mich über den Restauranttisch hinweg mustern. »Das sieht ja nicht schlecht aus. Aber was hast du in der Zeit zwischen Jason und Mark gemacht? Hier steht, dass mit Jason im August 1999 Schluss war - nachdem du endlich eingesehen hattest, dass er ein Maulheld war, der ansonsten nichts zustande brachte —, aber dann kommt eine Auszeit von drei Jahren, bis du wieder etwas mit einem Mann angefangen hast.« »Waren es wirklich drei Jahre? Gott, das hätte ich nie gedacht ...« »Ja, da ist in deinem Lebenslauf eine riesige Lücke.« »Jetzt, wo du es sagst. Ja, das ist tatsächlich eine ziemlich lange Zeit.« »Vielleicht hast du dich damals ja auf deine Karriere konzentriert«, könnte er mir netterweise in den Mund legen. »Oder du hast eine Weltreise gemacht? Eine neue Sprache gelernt?« Kläglich schüttelte ich den Kopf. »Dann warst du wählerisch? Hast dich mit immer neuen Männern getroffen, weil du sichergehen wolltest, dass der Nächste einer ist, der deine Liebe verdient?« Das hörte sich gut an — und verdiente mit Sicherheit ein begeistertes Nicken. Selbst wenn es eine Lüge war. In Wahrheit nämlich ... ich wusste nicht, was die Wahrheit war. Nur dass ich die Angewohnheit hatte, mich jedes Mal, wenn eine Beziehung in die Brüche ging, in mein Schneckenhaus zurückzuziehen. Ich konnte die Erinnerung nicht einfach von mir abschütteln und mich dann an den nächsten Versuch wagen. Das Einzige, was mich aus meinem Schneckenhaus holen konnte, war eine mutige Hand, die hineingriff und mich herauszog. Allerdings konnte ich wohl kaum davon ausgehen, dass ein Mann, den Susan im Internet für mich aufgestöbert hatte, dazu bereit war. Vor allem hatte ich dieses Blind Date ja auch nur, um die Wunschliste einer anderen Frau zu erfüllen.
Abgesehen von dem, was er in seinem Profil angegeben hatte, wusste ich nichts über ihn. Als ich an diesem Morgen unter der Dusche stand, stellte ich jedoch fest, dass ich wie ferngesteuert den Haufen längst nicht mehr benutzter Kosmetikartikel nach einem Luffa-Schwamm durchsuchte. Falls es zufällig funken sollte, dachte ich, musste ich ihn durch raue Ellbogen und Knie ja nicht gleich wieder vertreiben. Ich kam zehn Minuten zu spät zum Book Soup und war völlig durch den Wind. Abgesehen davon, dass ich Stunden damit verbracht hatte, mir zu überlegen, was man wohl am besten zu einer Lesung anzieht, war da noch Lizbeths Abteilungsmeeting, das völlig aus dem Ruder gelaufen war. Um fünf wären wir eigentlich fertig gewesen. Alle wollten schon aufstehen und zur Tür hechten, da ergriff Brie noch einmal das Wort: »Sag mal, June, warum erzählst du uns nicht von deiner tollen Event-Idee?« Ich verkniff es mir, sie böse anzufunkeln. Bries Vorstellung von »Ich steh dir bei« bestand offensichtlich darin, dass sie mich ohne Vorwarnung den Wölfen zum Fraß vorwarf. Als Erster fletschte Martucci die Zähne. »Na, da bin ich ja mal gespannt«, flüsterte er Greg für alle hörbar zu, legte seine Notizen zurück auf den Tisch und blickte mich erwartungsvoll an. Die anderen folgten seinem Beispiel. June will uns
eine neue Idee auftischen, wo ihr »Freunde von Rideshare«-Programm gerade dabei ist, röchelnd sein Leben auszuhauchen? Brie hätte mir wirklich sagen sollen, was sie vorhatte. Ich hätte gern ein paar Diagramme oder Zahlen oder Notizen oder irgendwas bei mir gehabt. Allerdings ... die Vorstellung, zwei Aufgaben auf der Liste an einem Tag erledigen zu können, war ein echter Ansporn.
»Ich habe mir überlegt«, sagte ich und versuchte dabei möglichst überzeugend zu klingen, »dass wir eine Gratisbenzin-Aktion machen könnten. Die Benzinpreise sind so hoch wie nie. Wir könnten die Nachricht verbreiten, dass L. A. Rideshare Leute, die sich zu Fahrgemeinschaften zusammenschließen, mit einer Tankfüllung belohnen. Auf so etwas stürzen sich die Medien doch.« »Interessant«, sagte Lizbeth langsam. »Nur hat die Sache den üblichen Haken. Geld. Wer soll dafür aufkommen?« »Ein Sponsor. So viel würde es gar nicht kosten. Es soll ja nicht jeder, der einer Fahrgemeinschaft angehört, Benzin bekommen. Wir könnten bekannt geben, dass wir uns heimlich an irgendwelchen Tankstellen postieren, und dann schleichen wir uns an, wenn jemand gerade an einer Zapfsäule steht, und rufen: >Überraschung! Wir übernehmen Ihre Benzinrechnung!<« »Aber wie sollen die Medien davon Wind bekommen, wenn wir das heimlich tun?«, fragte Martucci. »Wir geben ihnen vorher einen Tipp«, erwiderte ich, erfreut, dass ich eine Antwort parat hatte und ihm nicht mal wieder die Genugtuung gab, mich auflaufen zu lassen. »Wir müssen nur darauf bestehen, dass sie die jeweiligen Tankstellen nicht bekannt geben.« »Das klingt wirklich ... interessant«, sagte Lizbeth. »Und es gefällt mir, dass du so viel Initiative zeigst. Nur glaube ich nicht, dass wir diesen Weg einschlagen sollten. Nein, wir sollten uns darauf konzentrieren, jemanden von den Verkehrsnachrichten für uns zu gewinnen. Ach, und wo wir gerade davon sprechen«, sagte sie, »hast du dich schon mit Troy Jones in Verbindung gesetzt?« Ich dachte an die Schachtel auf meinem Schreibtisch, in der Marissas Jahrbücher und eine Nachricht des fraglichen Reporters lagen. Ich hoffe, es hilft Ihnen weiter. Ich hatte noch nicht den Mut gefunden, sie mir genauer anzusehen. Eine der Aufgaben, die mir besonderes Kopfzerbrechen bereiteten (neben Nr. 3, Jemandes Leben verändern, die mir schier unerfüllbar vorkam), war Nr. 7, Buddy Fitch zahlen
lassen. Ich) hatte keine Ahnung, wer Buddy Fitch war, geschweige denn, was er Marissa Schreckliches angetan hatte. Ich hoffte, dass ich in diesen Jahrbüchern einen Hinweis darauf fand - vielleicht war er irgendein fieser Kerl, der sie wegen ihres Übergewichts aufgezogen hatte. Ein Widerling, der wusste, dass Marissa Jones sich viel zu viel gefallen ließ. Der Gedanke allein machte mich wütend. Lizbeth musste von alldem natürlich nichts wissen. »Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen«, log ich, ohne mit der Wimper zu zucken, »aber ich werde es noch einmal versuchen.« Lizbeth nickte, dann wandte sie sich den anderen zu. »Leute, wir haben eine Menge zu tun, und unser Budget reicht nicht einmal für die Projekte aus, die wir schon am Laufen haben. Wir wollen auf dem Teppich bleiben, ja? Ich wünsche euch einen schönen Abend.« Als ich das Konferenzzimmer verließ, verdrehte Brie die Augen und schüttelte den Kopf. »Das war wohl nichts«, sagte sie. Gesenkten Hauptes trat ich den Rückzug an. Nachdem ich mein Make-up aufgefrischt und versucht hatte, meine Haare dazu zu bringen, jenes Maß an Selbstkontrolle zurückzugewinnen, das sie vorher angedeutet hatten, ging ich zu der Boutique, in der ich mit Susan verabredet war. Sie hatte sich bereit erklärt, mich beim Kauf eines Kleidungsstücks zu beraten, das sexy und zugleich intellektuell wirken sollte, nachdem sie mir verboten hatte, das rote T-Shirt anzuziehen, weil mich Sebastian darin schon gesehen hatte. Womit sie natürlich Recht hatte. Eine Stunde und zweihundert Dollar später trug ich ein Jackett mit Nadelstreifen über einem ärmellosen T-Shirt und ein Paar Jeans, deren Bund so tief angesetzt war, dass ich meine Unterhose umschlagen musste, damit sie nicht herausspitzte. Ich ging als völlig neue Frau zu meiner Verabredung. Das Book Soup ist ein unabhängiger kleiner Buchladen in einer angesagten Ecke auf dem Sunset Boulevard in West Hollywood. Als ich dort eintraf,
hatte sich schon eine Schlange vor dem Laden gebildet. Ich hatte mich mit Sebastian nebenan in einem Cafe verabredet und war reichlich nervös, weil ich Angst hatte, er könnte enttäuscht sein, wenn er mich in Fleisch und Blut sah. Brie hatte gemeint, dass ich mir eher über den umgekehrten Fall Sorgen machen sollte, und bitter hinzugefügt: »Die Typen, die ich übers Internet kennen gelernt habe, sahen vielleicht irgendwann wirklich so aus wie auf ihren Fotos. Nur dass die Fotos vor zwanzig Jahren gemacht wurden, als sie noch rank und schlank waren.« Ich erkannte Sebastian sofort. Er glich seinem Foto aufs Haar, nur dass er in Farbe war und dreidimensional. Er sah wirklich toll aus und hatte wieder einen Anzug an, der ziemlich edel wirkte. Als er sich erhob, um mich zu begrüßen, stellte ich fest, dass er auch gut roch. »Du bist June Parker?« »Ja. Hallo«, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen. Er drückte sie so fest, als wollte er meinen Mittelhandknochen brechen. »Schön, dich kennen zu lernen. Das Foto wird dir überhaupt nicht gerecht.« Bevor ich etwas erwidern oder erröten konnte, fügte er hinzu: »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir gleich in die Buchhandlung gingen? Ich möchte nicht zu spät kommen.« Wir verließen das Cafe, und er lief an der Schlange vorbei direkt zum Eingang. Der Türsteher - oder wie man ihn nennen sollte - ließ uns hinein. In der Mitte des Ladens waren mehrere Reihen Klappstühle aufgestellt worden. Ihnen gegenüber befand sich ein Podium mit Mikrofon. Ein paar Stühle waren schon besetzt, und an den Regalen standen Leute, die in Büchern blätterten und Wein tranken. »Kennst du den Autor?«, fragte ich. »Offen gestanden«, erwiderte er scheu, »bin ich der Autor.« »Wie bitte?« Er nahm ein Buch und hielt es mir hin. Ein Mann, eine Frau, Roman von Sebastian Forbes. »Das Buch ist von mir. Ich werde heute Abend daraus lesen.« Er schlug es auf und zeigte mir das Autorenfoto. Es war
dasselbe, das er auf die Flirt-Website gestellt hatte. »Du hast das geschrieben?« »Ja, es ist mein Werk. Ich bekenne mich schuldig.« »Das glaube ich nicht.« Was ich meinte, war natürlich: Ich kann nicht
glauben, dass du mich unbesehen zu deiner Lesung einlädst. »Na ja, es ist keine große Literatur. Eher ein netter witziger Liebesroman. Was nicht heißt, dass ich nicht stolz darauf bin.« »Aber warum ...«, begann ich. »Warum ich dich eingeladen habe?«, beendete er den Satz für mich. Als ich nickte, grinste er. »Kann man einem Mann den Wunsch vorwerfen, eine Frau beeindrucken zu wollen? Die andere Möglichkeit wäre gewesen, dich zu einem Abendessen nach Paris zu entführen, aber von der Idee habe ich dann doch Abstand genommen. Zu angeberisch.« Jetzt hätte ich etwas ebenso Charmantes erwidern müssen, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, Er mag mich!'zu denken, was meine Schlagfertigkeit stark beeinträchtigte. Stattdessen sah ich mich scheinbar gelassen um.
(Er mag mich!) (Er hat einen Roman veröffentlicht und mag mich!) (Mich!) »Ein Glas Wein?«, fragte er. »Gerne.« »Ach ja«, sagte er, als er mir das Glas gab, »ich finde, wir sollten es für uns behalten, dass es unser erstes Treffen ist.« Ich nickte lächelnd und nahm einen Schluck. (Er schämt sich für mich!) Um meine Unsicherheit zu überspielen, griff ich auf einen Rat zurück, den ich vor langer Zeit einmal in einer Mädchenzeitschrift gelesen hatte. Ich fragte ihn über sein Leben aus. Das entspannte mich sofort. Sebastian Forbes konnte auch nur mit einem Bein nach dem anderen in seine Armani-Hosen steigen. Ich erfuhr, dass er als Texter für eine große Werbeagentur arbeitete und in den letzten zwei Jahren seine gesamte Freizeit für den Roman
geopfert hatte. Das hatte bedeutet, jeden Gedanken an ein Sozialleben aufzugeben, erklärte er mir, und statt nachts die Clubs unsicher zu machen, sich hinter die Tastatur zu klemmen. (Ich fragte mich, um was ich ihn mehr beneiden sollte: um das Schreiben oder das Nachtleben.) Er wusste nicht, ob sich die Leute für das, was er schrieb, überhaupt interessierten. »Aber die Geschichte brannte mir auf den Nägeln, ich musste sie einfach loswerden«, sagte er. »Auch wenn sich das abgedroschen anhört.« Er fand einen Agenten, der sich bereit erklärte, sein Manuskript anzubieten, und bald darauf stellte er fest, dass sich die Verlage darum balgten wie eine Hundemeute um einen Knochen, was bei einem Erstlingswerk die absolute Ausnahme ist. Aber erst, nachdem er die mühselige Überarbeitung des Manuskripts hinter sich gebracht hatte, wurde ihm klar, wie viel seiner Lebenszeit er investiert hatte, und — hier stellten sich meine Ohren auf — jetzt wollte er das Versäumte möglichst schnell wieder aufholen. Der Mann wurde von Minute zu Minute attraktiver. Was es umso erstaunlicher machte, dass ich mich in seiner Gegenwart wohl fühlte. Es war, als würde ich mit einer meiner Freundinnen plaudern - einer sehr gut gebauten Freundin allerdings, an deren starkem, männlichem Kinn ein leichter Schatten von Bartstoppeln zu sehen war. »Bist du nicht nervös?«, fragte ich. »Ein bisschen. Ich komme mir immer noch vor wie in einem Film. Und dann hat sich auch noch der Kritiker von der L. A. Times angekündigt.« »Scheint eine große Sache zu sein.« Er atmete tief ein. »Es könnte die Chance meines Lebens sein.« Langsam füllte sich der Raum, und ich belegte den Star des Abends mit Beschlag. »Sag mal, willst du dich nicht ein bisschen um die Leute kümmern?«, fragte ich. »Du hast Recht, auch wenn ich über die Ablenkung froh bin. Wir sollten uns unters Volk mischen.« Er nahm meinen Arm, zögerte dann aber. »June, hast du eigentlich einen Spitznamen?«
»Meine Mutter hat mich immer >mein Junikäferchen< genannt. Die Namen, die mir mein Bruder gegeben hat, möchte ich lieber nicht verraten. Warum?« »June passt nicht zu dir, finde ich. Etwas Frecheres wäre besser. So was wie JJ.« Mit diesen Worten wandte er sich der Menge zu. »Komm JJ, du musst mir Schützenhilfe leisten.« Er stellte mich seinem Agenten und seinem Verleger vor, die beide meine Hand schüttelten und Dinge zu mir sagten wie »Schön, Sie endlich kennen zu lernen« und, was noch seltsamer war, »JJ, Sie übertreffen meine kühnsten Erwartungen«. Ich hatte gehört, dass die Leute aus der Filmbranche ununterbrochen logen, und vielleicht taten Verlagsleute das ja auch - immerzu Küsschen austauschen und so tun, als sei man dick befreundet. Es verwirrte mich dennoch, wie viele Leute mir gratulierten. Dass sie Sebastian gratulierten, konnte ich ja verstehen, aber mir? Nachdem es zum dritten Mal passiert war - die Frau hatte sogar meine Hand hochgehalten und gesagt: »Sebastian, du böser Junge, da fehlt ja immer noch der Ring!« —, drehte ich mich zu Sebastian um. »Kannst du mir mal erklären, was das alles —« »Tut mir leid«, unterbrach er mich schnell, »ich glaube, wir müssen jetzt.« Er begleitete mich zu einem Stuhl in der ersten Reihe. »Ich habe diesen Platz für dich reservieren lassen«, sagte er und küsste mich auf die Wange, bevor er zum Podium ging. Sebastian las einige Passagen aus seinem Roman vor, der ziemlich gut war. Es ging um einen Mann, der in den Sechzigern auf einem Konzert von Peter, Paul & Mary die Frau seines Lebens kennen lernt. Der Roman erzählte die Geschichte ihrer Liebe vor dem Hintergrund der Folk-Ära. Er war klug und witzig. Eine Liebesgeschichte aus der Perspektive eines Mannes. Nach der Lesung beantwortete Sebastian Fragen aus dem Publikum. Dann stellte er seinen Agenten und seinen Verleger vor und dankte ihnen. Und zu guter Letzt sagte er: »Erlauben Sie mir, Ihnen JJ vorzustellen. Der Mensch, der mir am wichtigsten
ist, wie Sie wissen.« Alle klatschten Beifall, und er forderte mich auf, mich zu erheben. Verwirrt stand ich auf und winkte den Leuten zu, während die schlimmsten Ahnungen in mir aufstiegen. Der
Mensch, der ihm am wichtigsten war? Ein Verrückter. Der Typ war eindeutig verrückt.
Warum nur hatte ich mich von Susan zu dieser Internet-Aktion überreden lassen? Wo doch jeder weiß, dass es dort von Irren wimmelt! Während ich mir vorstellte, wie Sebastian mich in einem Keller gefangen hielt und sich überlegte, aus welchem Teil meiner Haut er sich einen Mantelärmel schneidern wollte, gab der Typ, der vorher den Einlass gemacht hatte, bekannt, dass Mr. Forbes nach einer kurzen Pause sein Buch signieren werde. Sebastian trat zu mir und küsste mich auf die Stirn. »Wie war ich?«
Bleib ruhig ... ganz ruhig, mach ihn bloß nicht wütend. »Ganz toll! Aber mir ist gerade eingefallen, dass ich dringend nach Hause muss.« Seine Miene verfinsterte sich. »Du willst gehen?« »Ich hatte ganz vergessen, dass ich morgen ein wichtiges Meeting habe.« Ich tat, als unterdrückte ich ein Gähnen. »Aber ich finde dein Buch ganz toll. Vielen Dank für die Einladung.« »Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben?« Bloß
keine schnellen Bewegungen, die ihn erschrecken könnten. »Leider nicht. Es war wirklich nett. Aber ich muss jetzt los.« »Nur ein paar Minuten, bitte. Ich will es dir erklären.« Er klang so ernst - und für einen Psychopathen war er tatsächlich sehr hübsch -, dass ich mich von ihm hinter ein Regal führen ließ, von wo man meine Schreie ziemlich sicher hören konnte.
»Der Kritiker von der L. A. Times ist noch nicht da, aber mein Verleger meint, er müsste jeden Augenblick kommen. Kannst du nicht wenigstens noch so lange bleiben?« »Ehrlich gesagt, Sebastian, verstehe ich nicht, was hier vor sich geht.« »Vor sich geht?« »Alle tun so, als ob sie mich kennen würden, und gratulieren mir. Und dann erzählst du auch noch, ich wäre der Mensch, der dir am wichtigsten ist.« »Was ist denn gegen ein bisschen Nettigkeit zu sagen?« »Nichts. Ich gehe jetzt.« »Warte doch«, flüsterte er und packte mich am Arm. »Da ist noch etwas.« »Ich höre.« »Möglicherweise habe ich die eine oder andere Andeutung fallen lassen, dass wir verlobt sind.« »Verlobt?! Warum das denn?« »Überleg doch mal. Ich schreibe eine Liebesgeschichte. Es geht um einen Mann und eine Frau, und dann betrete ich die Bühne als einsamer Wolf. Niemand würde mich ernst nehmen.« »Und du hast keine Freundin, die diesen Part hätte übernehmen können?« Er ließ meinen Arm los. »Das wäre mir verlogen vorgekommen. Ich hatte gehofft, du würdest es gar nicht merken und mein Buch wäre auf der Bestsellerliste, bevor die Sache auffliegt.« »Na, dann viel Glück. Aber -« »Kein Aber, bitte! Ich flehe dich an! Tu bitte nur noch eine Stunde so, als wären wir zusammen. Bitte! Eine Gefälligkeit unter Kollegen. Ich weiß, das ist viel verlangt, aber als ich dein Foto und deinen Brief bekommen habe, da hast du einen so netten Eindruck gemacht.« »Mir gefällt diese Geschichte nicht. Tut mir leid.« Damit wandte ich mich zum Gehen. Er ließ sich gegen das Regal sinken. »Du hältst mich für verrückt, oder?« »Ich ... äh ...«Ja! »Würde es dich beruhigen, wenn ich dir sage, dass du zwar bezaubernd bist, aber überhaupt nicht mein
Typ?« »Wie bitte?« Jetzt reichte es mir endgültig, und das sollte er ruhig wissen. Ich ließ mich doch nicht von einem Verrückten beleidigen! »Weil ich nicht genauso durchgeknallt bin?« »Nein, weil du eine Frau bist.« Ich starrte ihn an, er zuckte mit den Schultern, und dann fiel der Groschen. »Oh.« Kein Wunder, dass er so gut aussah. »Ich habe damit eigentlich keine Probleme, aber weil es mein erstes Buch ist, meinte mein Verleger, es wäre besser, wenn die Leute glauben, ich wäre hetero. Das Buch hat gute Rezensionen bekommen. Aber wenn die Zeitungen herausfinden, dass ich schwul bin, würde es darauf reduziert werden, dass es eine Liebesgeschichte von einem Schwulen ist, egal was in den Rezensionen sonst noch steht. Und das will ich nicht. Glaub mir, wenn es erst mal richtig eingeschlagen hat, ist es mir egal, was man von mir denkt. Dann werde ich auf der Schwulenparade mit einem Bauchladen rumrennen und kostenlose Exemplare verteilen.« »Ich will nicht behaupten, dass ich etwas vom Bücher schreiben verstehe«, sagte ich - und verzichtete dabei wohlweislich darauf, meinen Ratgeber für Fahrgemeinschaften zu erwähnen -, »aber heißt es nicht, dass man über die Dinge schreiben soll, die man kennt? Hättest du nicht über eine schwule Beziehung schreiben sollen?« »Aber ich kenne die Geschichte doch. Es ist die meiner Eltern; und es ist zwar eine Liebesgeschichte, aber gleichzeitig ist es eine Geschichte über Drogensucht und Partnertausch und alle möglichen anderen Dinge, die sie irgendwann hinter sich gelassen hatten und von denen sie nicht gewollt hätten, dass irgendjemand davon erfährt. Sie sind tot. Ich habe das Buch in Erinnerung an sie geschrieben, aber wenn ich überall ausposaunen würde, dass es ihre Geschichte ist, würden sie sich im Grab umdrehen.« Und damit hatte er mich.
Einem Mann, der die Liebesgeschichte seiner toten Eltern aufschreibt, konnte ich doch keine Bitte abschlagen, oder? »Dann ...« Er sah seine Chance und nutzte sie. »Setz dich neben mich, während ich signiere. Verströme Östrogen. Mehr verlange ich nicht.« »Gut«, sagte ich noch immer etwas verstimmt. »Aber ich warne dich, wenn ich herausfinden sollte, dass du doch nicht schwul bist -« »Also bitte. Würde ein heterosexueller Mann vielleicht so teure Schuhe tragen?« Während unseres anschließenden Abendessens weihte er mich in die ganze Geschichte ein. JJ war sein Freund, dem er das Buch gewidmet hatte und der - wie alle seine Freunde - die Lesung boykottiert hatte. Sie nahmen es ihm übel, dass er sein Schwulsein verbergen wollte. Nur eine Freundin Mjorka, ein serbisches Model, das Schauspielerin werden wollte und zu jedem Unsinn bereit war — hatte sich bereit erklärt, die Rolle seiner Verlobten zu übernehmen. Als sie ihm wegen eines FotoShootings in Bolivien in letzter Minute abgesagt hatte, hatte er sich in seiner Verzweiflung bei einer Flirt-Website angemeldet, um Ersatz zu suchen. Und so war ich ins Spiel gekommen. »Vielleicht ist mit JJ jetzt ohnehin Schluss«, jammerte er. »Dann werde ich mein Profil bei einer Schwulenseite eingeben. Was hältst du von der Partnersuche per Internet?« Ich erzählte ihm von Marissas Liste und beschloss, den Punkt Zu einem Blind Date gehen an Ort und Stelle abzuhaken. Er applaudierte so heftig, dass die Kellnerin kam und fragte, ob sie uns Champagner bringen solle.
5
Rose
Morales musterte mich über den roten Rand ihrer Lesebrille hinweg. »Dann schießen Sie mal los«,
sagte sie und rückte die Unterlagen auf dem Schreibtisch gerade, »warum wollen Sie eine Große Schwester werden?« »Ich mag Kinder und ich glaube, dass ich ihnen viel geben kann«, erwiderte ich und sagte dann mein Sprüchlein auf, das ich mir zurechtgelegt hatte, bevor ich zum Büro von Big Sister gegangen war. »Ich wollte schon immer gerne ein junges Mädchen unter meine Fittiche nehmen ihr etwas von meinen Erfahrungen vermitteln.« Rose nickte. Sie schien es mir abzukaufen. Sie leitete das Programm von Big Sister in Los Angeles und prüfte Kandidatinnen auf ihre Eignung als Große Schwester, musste also die Betrügerinnen und Spinnerinnen auslesen, die sich immer auch bewarben. Während sie sich darüber ausließ, was es bedeutete, eine Große Schwester zu sein - eine »Große«, wie sie sagte -, saß ich lächelnd da und gratulierte mir im Stillen zu meinem cleveren Plan. Susan hatte gemeint, ich könnte die Aufgabe, jemandes Leben zu verändern, nicht in der Mittagspause erledigen, aber da saß ich nun, um zwölf Uhr mittags an einem Donnerstag, und tat genau das. Oder leitete es zumindest in die Wege. Die Idee war mir gekommen, als ich letzte Woche mit dem Bus nach Hause gefahren war. Ich hörte Whitney Houston auf meinem iPod und starrte aus dem Fenster - ich hatte den Ton so leise gedreht, dass mein gut aussehender Sitznachbar nicht mitbekam, was ich da hörte —, als wir an einem Werbeplakat von Big Sister vorbeifuhren. In drei Meter großen Lettern sprang es mir entgegen: »Verändern Sie ein Leben - werden Sie eine Große Schwester!« Wenn das kein Zeichen war. Kaum war ich zu Hause, füllte ich online ein Anmeldeformular aus. Gut, zuerst hatte ich zu Abend gegessen und bei eBay nach einer neuen Sonnenbrille gesucht. Dennoch, das Tempo, mit dem ich mich an die Umsetzung der Idee machte, überraschte mich selbst, schließlich war es die schwierigste Aufgabe auf der Liste. Jemandes Leben
verändern. Es würde Zeit brauchen, Ausdauer. Eine Aufgabe von der Art also, die ich normalerweise auf die lange Bank schob - bis ich sie irgendwie umgangen hatte und überhaupt nicht mehr zu erledigen brauchte. Und jetzt hatte ich mir genau so etwas aufgehalst. Wenn alles gut ging — und Rose schien ziemlich beeindruckt zu sein, dass ich mein Geld mit Schreiben verdiente, auch wenn es nur das Schreiben von Broschüren war —, hätte ich bald eine Kleine Schwester. Die Vorstellung von einem niedlichen, sommersprossigen kleinen Stück Lehm, das sich darauf freute, von meinen Händen geformt zu werden, machte mich ganz aufgeregt. Ich würde ihr Luftballons kaufen und sie zum Ponyreiten mitnehmen. Sie würde mit glänzenden Augen zu mir aufsehen, ihre winzige Hand in meine legen und sagen: »Du bist viel cooler als meine Mom.« Gut, meine Motive waren nicht ganz astrein. Mir ging es eher darum, jemanden zu verändern, nicht für ihn da zu sein. Aber als ich Rose zuhörte, wie sie von der überaus wichtigen Rolle eines Vorbilds im Leben dieser Mädchen sprach, erinnerte ich mich daran, dass ich tatsächlich davon überzeugt war, dass Kinder unsere Zukunft sind. Dass sie gute Schulen brauchen. Dass ein Kinderlächeln mehr bedeutet als »Wie oft würden Sie die Kleine sehen wollen?«, fragte Rose unvermittelt. »Wie oft?« »Ja. Die meisten Leute vereinbaren einmal in der Woche. Oder alle zwei Wochen.« »Einmal in der Woche«, sagte ich, überrascht, dass nicht mehr von mir erwartet wurde. Warum war ich erst jetzt auf die Idee gekommen, eine solche Aufgabe zu übernehmen? Warum kamen nicht mehr Leute darauf? »Auf jeden Fall einmal in der Woche.« Aufgeregt fugte ich hinzu: »Ich freue mich schon so darauf! Ich werde mit ihr zum Einkaufen gehen, ihr hübsche Sachen zum Anziehen kaufen und -«
»Von solchen Einkaufstouren halten wir nicht besonders viel«, unterbrach mich Rose. »Es geht nicht darum, die Mädchen zu verwöhnen, sondern einen positiven Einfluss auf sie auszuüben. Wir schlagen Sportveranstaltungen vor oder Museumsbesuche. Selbst zusammen zu kochen kann viel Spaß machen und für beide Seiten sehr lohnend sein.« »Natürlich«, sagte ich und lief rot an. Jetzt wusste ich, warum nicht mehr Leute so etwas machten. Es ist schon schlimm genug, wenn man eine Arbeitsstelle, um die man sich bewirbt, nicht bekommt, aber es ist geradezu beschämend, wenn man für ein Ehrenamt abgelehnt wird. Was für eine Flasche muss man sein, damit einem das passiert? Ich wollte es lieber nicht herausfinden. Die Frist lief am 28. Juli ab. Wenn ich bis dahin keine Kleine Schwester bekam, sah es düster aus, denn dass ich noch mehr solche Werbetafeln zu sehen bekäme, die mir sagten, was ich tun sollte, war ziemlich unwahrscheinlich. Rose musste mir meine Besorgnis angesehen haben, weil sie mich anlächelte und sagte: »Gegen einen gelegentlichen Einkaufsbummel ist natürlich nichts einzuwenden.« Dann erklärte sie mir, dass sie meine Referenzen prüfen und ein paar Erkundigungen über mich einziehen müsse, was normalerweise einige Tage dauerte. »Wenn nichts gegen Sie spricht, werden wir hoffentlich bald das passende Mädchen für Sie finden«, sagte sie und legte mein Anmeldeformular in einen Ordner. »Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?« Ich dachte an die fünf Monate, die mich noch von meiner Deadline trennten. Die Frist schien reichlich knapp bemessen zu sein, wenn man jemandes Leben verändern wollte, aber mehr hatte ich nicht. »Ich würde mich freuen, wenn ich bald anfangen könnte«, sagte ich und lächelte.
Der 14. Februar. Valentinstag, der Tag der Liebe. Allein das genügte, um mir schlechte Laune zu
bereiten. Aber es kam noch schlimmer, und das, bevor ich meinen Schlafanzug ausgezogen hatte. Ich stieg nämlich auf die Waage und stellte fest, dass ich fünf Pfund zugelegt hatte. Und jedes einzelne dieser Pfunde war direkt auf meinen Hüften gelandet. Auch ohne Linda und ihr Tabellenkalkulationsprogramm wusste ich, dass die ganze Arbeit der letzten Monate umsonst gewesen war. Keine Schokolade, seufzte ich. Keine herzförmigen Kekse, die die Leute heute mit ins Büro bringen würden. Und auch sonst würde ich angesichts meines Gewichts diesen Tag nicht so begehen können, wie es mir zur Gewohnheit geworden war; ich konnte ihn nicht als Entschuldigung dafür nehmen, ohne Gewissensbisse Unmengen von Süßigkeiten in mich hineinzustopfen. Andererseits ... Ich bückte mich, nahm die Waage und trug sie schnurstracks zum Müllschlucker. Nr. 17, Meine Badezimmerwaage wegwerfen. Diese Marissa war wirklich ein Genie, dachte ich glücklich, als ich mir zum Frühstück Rührei machte - ein kleiner Ausgleich für alles Leid, das meinem Blutzuckerspiegel später widerfahren würde. Die Waage loszuwerden war tatsächlich befreiend. So sehr, dass ich auch meine figurformende Unterwäsche weggeworfen hätte, wenn da nicht dieses eine blaue Kleid gewesen wäre, in dem man ohne Panty einfach jede einzelne Speckfalte sah. Kurz nach dem Mittagessen - ich hatte einen Salat mit Hühnerbrust genommen, um meinen Blutzuckerspiegel wieder etwas zu senken - sah ich bei Susan im Büro vorbei. »Bleibt es dabei, dass ich heute Abend auf die Zwillinge aufpasse?« Sie linste an einem Blumenstrauß vorbei, der groß genug war, um für einen Strauch durchzugehen. Typisch Chase. Besser zu viel als zu wenig. »Wenn es dir nichts ausmacht — ich wäre dir sehr dankbar. Wir haben bei Nic's reserviert. Die Mutter von Chase hat angeboten, auf die Jungen aufzupassen, aber sie
ist vor kurzem am Zeh operiert worden. Und ich finde, da sollte sie nicht wieder gleich zwei Fünfjährigen hinterherjagen müssen.« »Ich mach's gern«, versicherte ich ihr. Ich wusste, dass der Valentinstag etwas Besonderes für die beiden war, da sie sich — und so was brachte nur Susan zustande - am Valentinstag kennen gelernt hatten, als wir alle noch aufs College gingen. Susan und ich saßen in einer Bar und taten so, als juckte es uns überhaupt nicht, dass wir solo waren. Plötzlich rempelte ein Betrunkener mit dem Körperbau eines Bulldozers Susan an, und sie verschüttete ihren Drink auf ihre Hose. Ohne ein Wort der Entschuldigung ging der Kerl weiter. Chase - der mit seinen knapp eins fünfundachtzig damals nicht viel mehr als sechzig Kilo mit Schuhen auf die Waage brachte kam zu uns herüber. Er deutete mit dem Kinn in die Richtung des Rüpels und sagte: »Soll ich ihm eine verpassen?« Wir starrten ihn einen Moment lang erstaunt an, dann fuhr er fort: »War nur ein Witz. Der Typ würde mich zerquetschen wie eine Laus.« Susan war sofort hin und weg, und ich freue mich, mitteilen zu dürfen, dass Chase seither um einiges zugelegt hat. Sie wohnten nicht weit von mir, in Brentwood, in einem Haus im Ranchstil, das sie einst für einen Apfel und ein Ei auf einer Auktion erstanden hatten und das vor kurzem -dank Kaliforniens boomendem Immobilienmarkt — auf mehr als eine Million Dollar geschätzt wurde. Ich nannte es nur den Palast, obwohl es nicht mehr als 160 Quadratmeter hatte. Ich kam um sieben Uhr. CJ und Joey waren satt und frisch gebadet und steckten in ihren Schlafanzügen. »Hallo, ihr Monster!«, rief ich ihnen zu. Sie spielten im Wohnzimmer mit ihren Legosteinen. CJ und Joey waren beide dunkelhaarig, groß und dünn. Das kam vom Vater. Ich konnte sie nur auseinanderhalten, weil Joey eine Narbe hatte, die er sich als Kleinkind bei einem Sturz vom Tisch zugezogen hatte. Joey schrie aufgeregt: »Was ist das?«, als er die große Schachtel in meiner Hand bemerkte. Als ich ihnen gezeigt hatte, dass kein Ge-
schenk für sie, sondern nur Marissas Jahrbücher darin waren, wandten sie sich wieder ihrem Spiel zu. »Ich dachte, ich könnte sie heute durchsehen«, erklärte ich Susan, als sie und Chase sich die Mäntel überzogen. »Viel Glück. Hoffentlich findest du, wonach du suchst. Und noch mal vielen Dank, dass du auf die Jungen aufpasst«, sagte Susan. »Wir werden nicht lange wegbleiben.« »Nicht länger als bis zehn«, fügte Chase hinzu. »Ich möchte rechtzeitig zu Hause sein, um mir mein Valentinstags-Präsent abzuholen.« Susan grinste ihn an. »Dann haben wir es bis Ostern wieder hinter uns.« »Ich wette, das hältst du nicht durch. Abgesehen davon«, er nahm seine Schlüssel und öffnete die Tür, »hast du den President's Day vergessen.« »Hört endlich auf, mit eurem Sexleben anzugeben!«, rief ich, als sie mir und den Kindern zum Abschied zuwinkten. Kaum waren sie gegangen, schob ich mir eine Pizza in den Ofen und machte das, was ich immer machte, wenn ich auf CJ und Joey aufpasste: Ich ließ sie herumtoben. Bei mir durften sie Spielzeug und Stofftiere anschleppen, ohne dass sie die beiseite gelegten Sachen vorher aufräumen mussten; und sie durften essen, was sie wollten. Ich dachte, das ginge in Ordnung, weil ich nicht oft auf sie aufpasste. Vielleicht war das aber auch der Grund, warum ich nicht oft auf sie aufpasste. An diesem Abend schimpfte ich nur einmal mit ihnen, als ich merkte, dass sie die Tür des Meerschweinchenkäfigs offen gelassen hatten. Das Meerschweinchen hieß Tante June, so wie ich. (Susan meinte, es sei ein Zeichen ihrer großen Zuneigung zu mir; ich fragte mich allerdings, ob sie bei der Namensgebung nicht ein bisschen nachgeholfen hatte.) "Wir lassen sie immer offen«, erklärte CJ, als ich ihn darauf aufmerksam machte. Läuft es denn nicht weg?« »Nö.« Um es mir zu beweisen, holte Joey einen Petersilienzweig aus dem Kühlschrank. Selbst als er
dem Meerschweinchen damit vor der Nase herumwedelte, streckte es nur den Kopf zur Käfigtür heraus und quietschte. Er warf die Petersilie in den Käfig. »Wir wollen ja auch lieber einen Hund.« Kurz nach neun schliefen die Jungen endlich auf dem Fußboden ein. Ich musste über CJ steigen, der sich zu meinen Füßen zusammengerollt hatte, um zu der Schachtel mit den Jahrbüchern zu gelangen. Auch wenn es schmerzhaft war, zwang ich mich, jedes einzelne durchzublättern. Aber es gab keine Spur von Buddy Fitch. Es gab nicht einen Menschen, der mit Nachnamen Fitch hieß. Dann war er also kein Klassenkamerad von der Highschool. Wenn das auch bedeutete, dass ich weitersuchen musste, verspürte ich doch eine gewisse Erleichterung. Ich bin mit Teenager-Filmen groß geworden, in denen nur das Recht des Stärkeren galt, und hatte daher das Schlimmste erwartet. Ich hatte mir alle möglichen Geschichten über Buddy Fitch ausgedacht. In den meisten trat er als der reiche, arrogante Fiesling auf, ein Junge, der Spaß daran hatte, Marissa zu verletzen, nur weil sie dick war. Und das war sie. Dick. Das arme Mädchen. Die Jahrbücher zeigten die Fortschritte, die sie in dieser Hinsicht machte. Sie hatte die Junior Highschool mollig begonnen und wurde von Jahr zu Jahr dicker. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, gab es Fotos von ihr mit der Marschkapelle, dem Schulchor und als Mitglied der Schachmannschaft. Warum trug sie nicht gleich ein Schild auf dem Rücken mit der Aufschrift „Größter Depp des Jahrhunderts«? Auf dem Foto aus ihrem letzten Schuljahr lächelte Marissa glücklich, und das Lächeln schien echt zu sein. Vielleicht dachte sie gerade: »Gott sei Dank, bald habe ich es hinter mir!« Oder — wer weiß? — sie ging gern auf die Highschool. Als ich noch in der Schule war, hatte ich ja auch geglaubt, ich würde gern hingehen. Erst als ich meinen Abschluss gemacht hatte und in die Welt entlassen worden war, begriff ich, wie wenig erfreulich diese Zeit gewesen war.
Eines war sicher: Ich würde mich ganz schön anstrengen müssen, um Buddy Fitch zu finden. Aber ich musste nun mal herauskriegen, wer er war und was er getan hatte, um abschätzen zu können, welche Strafe er verdiente. Und ich sollte mich beeilen. Ein Monat war bereits vorbei, und ich hatte erst vier der Aufgaben erledigt. (Ich hatte gedacht, fünf, aber als ich Susan von meinem Versuch erzählt hatte, Lizbeth beim Abteilungsmeeting von meiner Idee zu überzeugen, hatte sie bloß gerufen: »Und das nennst du eine tolle Idee präsentieren?«, und ich hatte mich nicht mehr getraut, den Punkt auszustreichen. Stattdessen wollte ich mich hinsetzen und üben, üben, üben.) Ich legte das letzte Jahrbuch beiseite und zog die Liste aus meiner Handtasche.
20 Dinge, die ich vor meinem 25. Geburtstag gemacht haben will
1.50 Kilo abnehmen 2.Einen Fremden küssen. 3.Jemandes Leben verändern 4.Sexy Schuhe tragen 5.Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen 6.Ohne BH losziehen 7.Buddy Fitch zahlen lassen 8.Die heißeste Frau im Oasis sein 9.Ins Fernsehen kommen 10.In einem Hubschrauber fliegen 11. Eine tolle Idee in der Arbeit präsentieren 12. Boogieboarding ausprobieren 13.In der Öffentlichkeit Eis essen 14.Zu einem Blind Date gehen 15.Mit Mom und Grandma zu einem Konzert Von Wayne Newton gehen 16.Mir eine Massage geben lassen
17.Meine Badezimmerwaage wegwerfen 18.Einen Sonnenaufgang miterleben 19.Meinem Bruder zeigen, wie dankbar ich ihm bin 20.Eine große Summe für wohltätige Zwecke spenden
Ein Anfang war gemacht, aber mir war klar, dass noch eine Menge Arbeit auf mich wartete. Wenn ich es schaffen wollte, musste ich endlich in die Gänge kommen. Für nächsten Dienstag hatte ich mir Nr. 6, Ohne BH losziehen vorgenommen. Die meisten meiner Kollegen wären dann auf der Verkehrsmesse. Ich würde im Büro den ganzen Tag über kaum jemandem über den Weg laufen. Damit machte ich es mir vielleicht ein bisschen leicht, aber ich konnte es mir nicht leisten, bei der Wahl meiner Mittel wählerisch zu sein. Als ich mich am Dienstagmorgen anzog, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass das Leben ungerecht war. Schließlich war Marissa, um es höflich zu sagen, zierlich gewesen. Im Sinne von flachbrüstig. Im Höchstfall Cup A, schätzte ich. Nicht dass ich viel Zeit damit verbracht hätte, ihr auf den Busen zu starren, aber ich erinnerte mich ziemlich genau daran, dass sie nicht besonders üppig ausgestattet gewesen war. Daher hätte sich das zeremonielle Weglassen des BHs für sie sicher ebenso angefühlt wie das Wegwerfen der Waage: befreiend. Für mich lag es an der Grenze zum Obszönen. Nicht dass ich eine riesige Oberweite hätte normalerweise Cup C, bei manchen BHs gelegentlich auch D. Das ist nichts verglichen mit dem, was in Los Angeles Standard ist. Anders als die Brüste von vielen meiner Geschlechtsgenossinnen im Land des schönen Scheins sind meine allerdings echt, und genau darin liegt das Problem. Weil sie sich nämlich
bewegen. Sie hüpfen und wackeln, führen ein regelrechtes Eigenleben. Um den möglichen Schaden zu begrenzen, suchte ich in meinem Schrank nach den konservativsten Klamotten, die ich besaß, und entschied mich für eine graue Seidenbluse zu schwarzen Hosen. Vor dem Spiegel sprang ich ein paar Mal auf und ab. Oje, da konnte ich ja gleich nackt gehen. Ich zog die Bluse aus, schlüpfte in ein enges schwarzes T-Shirt und streifte die Bluse wieder über. Ich hüpfte noch einmal auf und ab. Besser. Wie erwartet, war das Büro nahezu verwaist, als ich dort ankam. Ich verbrachte den Vormittag damit, monatelang liegen gebliebene Unterlagen abzuheften, und wollte gerade in den Pausenraum, um den Salat zu essen, den ich mir mitgebracht hatte, als das Telefon klingelte. Es war Rose Morales von Big Sister. »Ich habe wunderbare Neuigkeiten«, sprudelte sie hervor. ES kommt nur selten vor, dass sich so schnell etwas ergibt, aber ich habe das perfekte Mädchen für Sie gefunden. Sie haben doch gesagt, Sie wollen so bald wie möglich anfangen?« Das stimmt.« »Sie heißt Deedee und sie ist ein echter Schatz. Ich bin mir sicher, dass Sie von ihr begeistert sein werden. Deedee träumt davon, später einmal Schriftstellerin zu werden, und da habe ich an Sie gedacht. Das passt doch ausgezeichnet. Lassen Sie mich mal überlegen«, fuhr sie fort. »Was kann ich Ihnen noch von ihr erzählen? Mütterlicherseits ist sie mexikanischer Abstammung. Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, als sie noch ein Baby war. Sie wohnt nicht weit von Ihnen in Mar Vista, und sie ist auf der Highschool in der —« »Highschool?«, rief ich. »Wie alt ist sie denn?« »Vierzehn.« Auf einen Schlag zerplatzten meine Träume. Wie sollte ich denn einen Teenager formen und bilden? Lehm ist zu diesem Zeitpunkt einfach schon ziemlich ausgehärtet. Ich konnte meine
Enttäuschung nicht verbergen. »Ich hatte gehofft, dass sie ein bisschen jünger ist.« Rose blieb einen Moment lang still, und dann sagte sie: »Sie ist noch ein Mädchen. Und ein nettes Kind. Ihre Mutter ist blind. Deedee kümmert sich um sie und um ihren Bruder. Sie verdient es unserer Meinung nach, hin und wieder ein bisschen Spaß zu haben.« »Natürlich, es hat auch nur damit zu tun, dass sie schon vierzehn ist. Ich habe keine Ahnung, was man mit einer Vierzehnjährigen unternimmt.« »Sie könnten mit ihr ins Kino gehen. Make-up ausprobieren, zum Inlineskaten gehen, das machen Sie doch so gern«, sagte sie, und ich zuckte zusammen, als ich mich erinnerte, dass ich das auf dem Formular angegeben hatte. »Sie werden feststellen, dass Sie mit einem älteren Mädchen möglicherweise mehr gemeinsam haben als mit einem jüngeren.« Als ich nicht gleich antwortete, fügte sie hinzu: »Aber ich will Sie zu nichts überreden.« »Ich weiß.« »Sie ist ein nettes Mädchen, dem ein bisschen Abwechslung guttäte.« »Darf ich es mir überlegen?« »Selbstverständlich. Wenn Sie sich Sorgen wegen ihres Alters machen, werden wir ein anderes Mädchen für Sie finden, auch wenn ich offen gestanden nicht weiß, wann das sein wird. Bei jüngeren Mädchen achten wir in der Regel darauf, dass sie aus derselben ethnischen Gruppe wie ihre Große Schwester stammen. Es könnte Monate dauern. Aber es ist wichtig, dass Sie das Gefühl haben, eine Beziehung zu dem Mädchen aufbauen zu können; vielleicht ist es also besser, zu warten.« Monate! Ich hatte nicht monatelang Zeit! »Wahrscheinlich ist es ziemlich schwer, eine Mutter zu haben, die blind ist«, tastete ich mich vor. »Deedee muss sehr viel mehr Verantwortung tragen, als es für eine Vierzehnjährige gut ist«, stimmte Rose mir zu. »Aber sie lässt sich nicht unterkriegen.« Dann fragte sie: »Wie alt sind Sie noch mal?« »Vierunddreißig.« »Dann sollten wir auch noch etwas anderes bedenken. Ich vermute, dass Sie in absehbarer Zeit
selbst eine Familie gründen wollen.« Ich unterdrückte ein Schnauben, während sie fortfuhr. »Könnten Sie die Bedürfnisse einer Kleinen Schwester mit denen Ihrer neuen Familie vereinbaren? Leider werden in einem solchen Fall viele Mädchen abgeschoben. Bei einem Teenager ist es anders. Sie wird Sie nur ein paar Jahre brauchen, wenn überhaupt.« Kurze Zeit später beendeten wir das Gespräch, nachdem wir vereinbart hatten, doch den nächsten Schritt zu wagen. Gemeinsam wollten wir Deedee und ihrer Mutter einen Besuch abstatten. Das Mädchen und ich könnten uns kennen lernen, ohne irgendwelche Verpflichtungen einzugehen. Nach eins kehrte ich vom Mittagessen in mein Büro zurück. Ich hätte mich ohrfeigen können, weil ich »Inlineskaten« in das Formular eingetragen hatte. Unter der Rubrik »Hobbys« war so viel Platz gewesen, dass ich mich geschämt hätte, überhaupt nichts hinzuschreiben. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich es nicht merkte, als mir auf dem Flur Bubba entgegenkam. Bubba war der schwarze Labrador vom Boss, den er manchmal mit ins Büro brachte. Er grub sofort seine Schnauze in meinen Schoß. Wie das Herrchen, so der Hund. Was bedeutete, dass Lou Bigwood nicht weit sein konnte, wie mir mit Schrecken klar wurde. »Hallo, Bubba«, rief ich und versuchte, seinen Kopf wegzudrücken. Dabei tätschelte ich ihm beschwichtigend den Rücken, während er vermutlich ganz woanders getätschelt werden wollte. Bubba wusste offenbar nicht, dass sexuelle Belästigung nicht mehr zu den Kavaliersdelikten gehört. Meine Versuche, ihn loszuwerden, erregten ihn nur noch mehr, und unvermittelt stürzte er sich auf mich. Ich verlor das Gleichgewicht und streckte den Arm aus, um mich an der Wand abzustützen. »Bubba!« Das war Lou Bigwood. »Komm her!« In der ganzen Zeit, die ich nun für L. A. Rideshare arbeitete, hatte ich Bigwood immer nur aus der Ferne auf irgendwelchen Mitarbeiterversammlungen
gesehen. Ich war viel zu unbedeutend, als dass er Zeit mit mir verschwendet hätte. Bigwood musste Ende fünfzig sein — graue Schläfen, braun gebrannt, sehnig. Statt eine Verkehrsagentur zu leiten, könnte er genauso gut Kapitän auf einem Schiff sein. »Hallo, Mr. Bigwood.« Er hielt Bubba am Halsband fest und sah mich an. »June, habe ich Recht?« »Ja.« »Wie läuft es denn ... im Marketing, stimmt's?« »Stimmt. Sehr gut, danke.« Ich wollte ihm einen schönen Tag wünschen und mich davonmachen, aber er starrte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an und strich sich dabei übers Kinn, wie es manche Leute tun, um zu zeigen, dass sie angestrengt über etwas nachdenken. »Irgendetwas ist anders an Ihnen«, sagte er. »Ich frage mich nur, was.« »Ich kann mir nicht denken, was Sie meinen.« »Vielleicht Ihre Haare. Haben Sie Ihre Frisur verändert? »Ich habe drei Töchter, so etwas kriege ich normalerweise mit.« Ich schüttelte den Kopf, und er sagte: »Der Jahresbericht war übrigens sehr gut.« Ich war so überrascht, dass er meiner Arbeit überhaupt Beachtung schenkte, dass ich nur ein kurzes »Danke« herausbrachte. Er machte keine Anstalten, weiterzugehen, sondern fing an, über künftige Broschüren mit mir zu plaudern. Niemand kam vorbei. Ich überlegte, ob er sich aus reiner Langeweile mit mir unterhielt, aber er schien wirklich an dem interessiert zu sein, was ich sagte. Ich fragte mich, ob er meine Brustwarzen durch das T-Shirt sehen konnte. Auf dem Flur war es ein bisschen kühl, so dass sie bestimmt spitz hervorstachen. Durch schiere Willenskraft versuchte ich meine Brustwarzen dorthin zurückzubringen, wohin sie gehörten. Bubba sprang erneut an mir hoch, und ich fiel beinahe um.
Bigwood schnippte mit den Fingern. »Jetzt habe ich's! Sie tragen heute flache Schuhe und wirken kleiner als sonst.« Da ich wie immer flache Schuhe trug, nickte ich. »Sehen Sie«, prahlte er, »ich hab Ihnen gleich gesagt, dass ich so etwas herauskriege.« Bigwood heftete seinen Blick auf etwas hinter mir und riss plötzlich erschrocken die Augen auf. »Stimmt diese Uhr etwa?« Ich drehte mich um. Viertel nach eins. »Kann sein, dass sie ein, zwei Minuten vorgeht«, sagte ich. »June, ich brauche Ihre Hilfe«, erklärte er in hektischem Ton. »Ich habe in dreißig Minuten einen Termin in Long Beach, zu dem ich auf keinen Fall zu spät kommen darf. Wenn Sie mich begleiten, sitze ich nicht allein im Auto und kann die Busspur benutzen.« Er machte auf dem Absatz kehrt, ohne meine Antwort abzuwarten, und eilte im Laufschritt den Flur hinunter. Bubba sprang hinter ihm her. »In zwei Minuten bei den Aufzügen!« Da zeigte es sich mal wieder, Männer wollten mich immer nur wegen meines Körpers. Er hatte einen Termin mit S. C. Electric, erzählte er mir, als wir in sein Cabrio stiegen; er hoffte, sie als Geldgeber zu gewinnen. »Die Chancen stehen nicht besonders gut, geizig wie sie sind. Aber wenn ich Glück habe, kann ich vielleicht ein paar Dollar aus ihnen herauspressen.« Ich drückte ein Notizbuch an meine Brust, das ich noch schnell von meinem Schreibtisch mitgenommen hatte -warum hatte ich keinen ErsatzBH in der Schublade? Das hier wäre sicher als Notfall durchgegangen, und ich hätte die Aufgabe an einem anderen Tag erledigen können. Wir rasten mit mindestens hundertfünfzig Sachen die Busspur entlang. »Sehen Sie sich das an!«, rief Bigwood und deutete mit dem Kopf nach rechts. Selbst in der Mittagszeit fuhren die Autos dort Stoßstange an Stoßstange. »Aus genau diesem Grund machen wir die Arbeit, die wir machen!« Dann machten wir unsere Arbeit offenbar nicht besonders gut.
Heil angekommen, versuchte ich mir die Haare glatt zu streichen, um nicht so auszusehen, als wäre ich nur knapp der Hölle entronnen. Bigwood betrat mit mir das Firmengebäude von S. C. Electrics. Wir waren pünktlich auf die Minute. Ich erwartete, dass er mich bitten würde, in der Lobby auf ihn zu warten, aber stattdessen bestand er darauf, dass ich ihn begleitete. »Die Praxis ist der beste Lehrmeister«, sagte er in einem Ton, den er seinen Töchtern gegenüber wahrscheinlich ständig gebrauchte. Im Konferenzzimmer wurden wir bereits erwartet. Bigwood stellte mich zwei Männern und zwei Frauen als Leiterin der Marketing-Abteilung vor - da Lizbeth nicht da war, sah ich keinen Grund, ihn zu korrigieren - und erklärte dann, ohne lange darum herumzureden, warum uns S. C. Electrics Geld geben sollte. Sein Vorschlag erntete, obwohl er ziemlich schwungvoll vorgetragen worden war, wenig Beifall. Und dann kam völlig unverhofft meine große Stunde. Selbst im Rückblick könnte ich nicht sagen, ob mir Bigwood Gelegenheit geben wollte zu zeigen, was in mir steckt, oder ob er mich nur als Rettungsring mitgenommen hatte, für den Fall, dass er das sinkende Schiff verlassen musste. Die Leute von S. C. Electrics hatten ohne Umschweife erklärt, dass sie uns nicht unterstützen könnten, weil ihnen die Mittel dazu fehlten. Bigwood dankte ihnen, und ich erwartete, dass wir nun gehen würden. Aber dann drehte er sich zu mir um und sagte: »June, wollen Sie noch etwas sagen?« Im echten Leben - das heißt, in meinem früheren Leben, in dem ich nicht einmal dort gewesen wäre, weil ich nicht mit wippenden Brüsten im Flur gestanden und Bigwoods Aufmerksamkeit erregt hätte - hätte ich nun irgendetwas Nichtssagendes von mir gegeben, beispielsweise: »Meinetwegen können wir gerne gehen.« Stattdessen legte ich das Notizbuch hin, an dem ich mich bis dahin festgehalten hatte. Lizbeth würde sich meine Idee niemals in Ruhe anhören. Dann musste ich eben diese Gelegenheit nutzen.
Was sollte schon Schlimmes passieren, wenn ich es vermasselte? Ich würde diese Leute nie wiedersehen, und Bigwood konnte mir kaum einen Misserfolg vorwerfen, denn Minuten zuvor war er selbst baden gegangen. »Mir fiele durchaus eine Möglichkeit der Zusammenarbeit ein, bei der für Sie nur geringe Kosten anfallen würden«, sagte ich und bemühte mich, möglichst gelassen zu klingen. »Es könnte ein Einstieg sein. Und wenn Sie erst einmal mit eigenen Augen gesehen haben, wie erfolgreich wir arbeiten, wollen Sie die Zusammenarbeit mit uns sicher intensivieren.« Dann legte ich los und breitete meine GratisbenzinIdee vor ihnen aus. Ich war so konzentriert, dass ich völlig vergaß, dass ich keinen BH anhatte. Da ich meine sorgfältig ausgearbeiteten Diagramme und Tabellen nicht dabeihatte, musste ich mich voll und ganz auf meine verbale Überzeugungskraft verlassen. Ich tat alles, um das Gratisbenzin als nächsten Entwicklungssprung im Reality-TV erscheinen zu lassen. Ich malte ein Bild von glücklichen Autofahrern, die vor Freude jubilieren, wenn sie erfuhren, dass sie eine Tankfüllung gewonnen haben. Sie würden Tränen vergießen vor Dankbarkeit und die großzügigen Spender loben und preisen. Alles vor laufenden Kameras. Und für den Spottpreis von, sagen, wir, ein paar Tausend Dollar! Sie waren begeistert von der Idee - sie waren begeistert von mir! Zwar konnten sie uns die Zusage nicht auf der Stelle geben — so etwas musste erst in der obersten Etage abgesegnet werden -, aber sie versicherten uns, sie würden alles in ihrer Macht Stehende tun, damit diese Idee in die Tat umgesetzt würde. Als wir schließlich zum Auto zurückgingen, drückte Lou Bigwood meine Schulter und sagte, ich hätte ganze Arbeit geleistet. »Danke, Mr. Bigwood.« »Nennen Sie mich einfach Lou.« Und da begriff ich: Auch ich gehörte jetzt zu seiner Schönheitengalerie. Susan würde sich vor Lachen ausschütten. Lizbeth dagegen würde wahrscheinlich weniger begeistert sein. Der Gedanke, dass sie mir in
nächster Zukunft das Leben zur Hölle machen würde, nagte den ganzen Rückweg über an mir. 6
Das Klingeln des Telefons weckte mich. Viertel vor acht an einem Samstag. Wer rief so früh an? Ich ließ den Anrufbeantworter den Anruf entgegennehmen, aber als ich die Stimme meiner Mutter hörte, griff ich nach dem Hörer. »Es ist noch nicht mal acht!« »Ach, wirklich? Tut mir leid. Schlaf weiter.« »Nein ...« Ich wälzte mich aus dem Bett und trottete in die Küche, um die Kaffeemaschine einzuschalten. »Ich hätte sowieso gleich aufstehen müssen. Was gibt's denn?« »Ich wollte dir nur sagen, dass Vons gefrorene Shrimps im Sonderangebot hat, 8 Dollar 99 das Pfund.« Shrimps? Ich hatte keine Ahnung, wie man Shrimps zubereitet. »Schön, danke, aber ich glaube, ich brauche keine.« »Ich weiß, aber dein Vater wollte, dass ich dich anrufe und bitte, welche zu besorgen. Es werden nur fünf Packungen an jeden Kunden abgegeben. Er war schon zweimal dort, und er hat Angst, dass es auffällt, wenn er noch mal hingeht.« Ich musste lächeln. Mein Vater war immer auf Schnäppchenjagd. »Kein Problem.« Nachdem mir meine Mutter noch eingeschärft hatte, dass das Sonderangebot nur bis Mittwoch galt, konnten wir dazu übergehen, über die wirklich wichtigen Dinge zu sprechen. Während ich mir Toast mit Erdnussbutter zum Frühstück machte, nahm ich ihren Blumenrapport entgegen, das heißt, sie informierte mich über den Zustand der verschiedenen Pflanzen in ihrem Garten. »Und, warum musst du heute so früh aufstehen?«, fragte sie, nachdem sie mir vom traurigen Schicksal des Rittersporns erzählt hatte, der bald dem Sensenmann zum Opfer fallen würde.
»Ich treffe mich mit dem Mädchen, das vielleicht meine Kleine Schwester wird«, sagte ich. »Du weißt schon, die Vierzehnjährige.« »Richtig. Das hast du erzählt. Aber klär mich doch mal auf. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass auf der Liste etwas von einer Kleinen Schwester steht.« »Es ist die Aufgabe, bei der es darum geht, das Leben von jemandem zu verändern.« Sie lachte höhnisch auf. »Du willst das Leben eines Teenagers verändern? Na, dann viel Glück.« Oje. »Du meinst, es ist aussichtslos?« »Das sollte ein Witz sein, Schätzchen. Als du in dem Alter warst, wäre ich begeistert gewesen, wenn ein freundlicher Erwachsener sich um dich gekümmert und etwas mit dir unternommen hätte. Vielleicht hättest du das eher angenommen. Gott weiß, dass ich mich bemüht habe, dich dazu zu bringen, etwas Neues auszuprobieren.« »Tatsächlich? Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Was denn zum Beispiel?« »Na ja, dass du ein Instrument spielen lernst oder irgendeinen Sport treibst.« »Was das angeht, hat Bob genug für zwei gemacht«, murmelte ich griesgrämig. Mein Bruder - elf Monate älter als ich - konnte auf dem Bewerbungsformular fürs College so viele Aktivitäten angeben, dass er aus Platzgründen ein paar davon weglassen musste. »Er brauchte eben immer eine Beschäftigung«, erklärte meine Mutter, wie üblich taub gegenüber jedem drohenden Anfall von Geschwisterrivalität. »Aber weißt du, was mir an dir so gefallen hat?« »Was?« »Ich fand es schön, dass du immer so zufrieden gewirkt hast. Du musstest nicht immerzu herumrennen und dir irgendetwas beweisen. Sicher, du hättest weniger Zeit vor dem Fernseher verbringen können. Aber -« »Du hast gedacht, ich bin zufrieden?«
»Es war nicht zu übersehen. Vom Tag deiner Geburt an. Dein Bruder hat als Baby ständig geschrien und gequengelt. Ich musste ihn fast rund um die Uhr beschäftigen. Du dagegen - wir brauchten dich kaum jemals hochzunehmen. Du hast stundenlang in deiner Wiege gelegen, vor dich hin gebrabbelt und an die Decke gestarrt, rundum glücklich.« Die Wolken wollten sich einfach nicht verziehen. Als Rose Morales und ich nachmittags um fünf vor dem Haus hielten, in dem Deedee wohnte, war der Himmel immer noch bedeckt und verbreitete eine düstere Stimmung. Glücklicherweise waren die Häuser in diesem Viertel in leuchtenden Gelb-, Rosa- und Blautönen gestrichen, so dass sie praktisch im eigenen Licht erstrahlten. Deedees Haus war so klein — mitsamt Einfahrt und Garten -, dass es fast in meine Wohnung gepasst hätte. Nur ein paar Meter trennten es von der Auffahrt zum Marina Free-way. Trotz der ständig vorbeifahrenden Autos versuchten ein paar Jungen, auf der Straße Fußball zu spielen. Meine Mietpreisbindung verursachte mir einen Augenblick lang Schuldgefühle, weil all diese Leute wahrscheinlich doppelt so viel zahlten wie ich. Rose parkte ein und kurbelte das Fenster hoch. Ihr Plan sah vor, dass wir uns kurz mit Deedee und ihrer Mutter unterhielten. Die Mutter sprach kein Wort Englisch, also würde Rose als Dolmetscherin einspringen. Danach würden Rose und ich mit Deedee essen gehen. »Gibt's noch etwas, was ich wissen sollte?«, fragte ich, bevor ich ausstieg. Offen gestanden machte es mich ziemlich nervös, dass ich in ein paar Minuten einer fremden blinden Frau gegenübertreten sollte, die nicht die gleiche Sprache wie ich sprach. Was sollten wir machen, zur Begrüßung unsere Nase aneinander reiben? Vielleicht konnten wir über Burritos oder huevos con queso plaudern. Meine Spanischkenntnisse beschränkten sich nämlich auf die Speisekarte des
Mexikaners bei mir um die Ecke. Rose, die mir meine Besorgnis ansah, beruhigte mich: »Es wird alles gut gehen. Maria ist eine nette Frau, und Sie und Deedee werden sich gut verstehen. Und falls es aus irgendeinem Grund schief geht, brauchen Sie es mir nur zu sagen. Dann finden wir ein anderes Mädchen für Sie. So einfach ist das.« Wir gingen zum Haus, und Rose drückte auf die Klingel. Kurz darauf öffnete ein Junge die Tür. Er war ungefähr zehn und hatte einen breiten Mund und eine Frisur, die aussah, als hätte er sie sich selbst verpasst. Er ließ uns vor der Tür stehen und rief irgendetwas auf Spanisch. Kurz darauf erschien ein Mädchen, das wohl Deedee sein musste, und forderte uns auf hereinzukommen. Das Haus war spärlich möbliert und ordentlich aufgeräumt, und mir wurde sofort klar, welche Bedeutung diese Ordnung hatte, als Deedees Mutter - klein, mollig und in einem rosafarbenen Jogginganzug - herbeigeeilt kam, um uns zu begrüßen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie nicht sehen konnte, wenn Rose es mir nicht gesagt hätte. Sie fand sich hervorragend zurecht. Wenn sich meine Mutter darauf hätte verlassen müssen, dass Bob und ich unsere Sachen aus dem Weg räumten, damit sie nicht darüber stolperte, wäre sie ständig hingefallen und hätte sich jeden Tag etwas anderes gebrochen. Rose stellte uns vor, und wir setzten uns ins Wohnzimmer. Deedees richtiger Name war Deanne Garcia Alvarez. Der Junge, der uns die Tür aufgemacht hatte, war ihr Bruder Ricky. Dass bei unserem Besuch peinliches Schweigen herrschen könnte, darüber hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen. Rose plauderte auf Englisch und Spanisch munter drauflos und entlockte dem Rest von uns mühelos Bemerkungen zu einer Reihe unverfänglicher Themen, angefangen bei Fragen der Inneneinrichtung über die Benutzung von Bussen bis hin zu Deedees guten Noten. Ihr Geplauder gab mir Gelegenheit, Deedee verstohlen zu mustern. Sie war ungefähr so groß wie ich, eins sechzig, und hatte
große, mandelförmige Augen — und wenn ich bis jetzt der Meinung gewesen war, ich wäre an dem Tag, an dem ich den Kellner geküsst hatte, großzügig mit Eyeliner umgegangen, dann hatte ich unterschätzt, wie viel Makeup ein Augenlid zu tragen imstande war. Es stand ihr allerdings gut und verlieh ihrem rundlichen Gesicht etwas Katzenhaftes. Sie war ein vierzehnjähriges Mädchen, das älter aussehen wollte. Wie alle vierzehnjährigen Mädchen. Ihre Haare waren nach hinten gebunden, und sie hatte einen Leberfleck über der rechten Augenbraue, den ich reizend fand, aber den sie sicher nicht ausstehen konnte. Sie trug weite knielange Hosen wie ein Hip-Hopper und ein viel zu großes Raiders-T-Shirt. Ich vermutete, dass es in dem Gespräch zwischendurch auch um ihre Aufmachung ging, weil ich sah, dass Maria in der für Mütter typischen missbilligenden Art auf sie deutete, und das war das einzige Mal, dass Deedee irgendwie aufsässig reagierte. Rose verzichtete darauf, diesen Teil der Unterhaltung zu übersetzen. Wenn ich an den anschließenden Besuch im Restaurant zurückdenke, fällt es mir schwer, genau zu sagen, wann ich mich dazu entschloss, Deedees Große Schwester zu werden. Vielleicht war es der Moment, als sie vor der Salatbar verkündete, sie esse furchtbar gern Salat, und sich dann Kartoffelsalat, Nudelsalat, Obstsalat mit Pudding und Götterspeise auf ihren Teller häufte, ohne dass ihr das Komische daran auffiel. Oder vielleicht sogar schon vorher, als wir die Straße überquerten und sie, vermutlich aus reiner Gewohnheit, nach meinem Arm griff, um ihn gleich darauf verlegen wieder loszulassen und einen Schritt beiseite zu treten. Wer weiß? Vielleicht fühlte ich mich von ihrer lebhaften und gutwilligen Art angezogen, die eine gewisse - wie soll ich es nennen? — Formbarkeit versprach. Außerdem tat mir das arme Mädchen leid. Als wir am »All you can eat«-Buffet standen, flüsterte Rose mir zu, dass Deedee noch nie im Kino gewesen war.
Ich nehme an, wenn man eine blinde Mutter hat, kann man genauso gut warten, bis der Film auf DVD zu haben ist. Trotzdem, wenn ich unter allen Mädchen auf der Welt hätte wählen dürfen, weiß ich nicht, ob ich mir gerade Deedee ausgesucht hätte. Schwer zu sagen. Sie hatte auf jeden Fall wenig von der sommersprossigen Kleinen mit Kulleraugen an sich, die ich mir zuerst vorgestellt hatte. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass man sich seine Kinder nie aussuchen kann. Man muss nehmen, was man kriegt. Als ich am Montagmorgen ins Büro kam, fing mich Lizbeth am Empfang ab. »Hast du ihn noch mal angerufen?« »Wen?«, fragte ich, obwohl ich ganz genau wusste, wen sie meinte. Wenn sie die Absicht hatte, mir weiterhin jedes Jahr nur die Minimalprämie zu bewilligen, dann wollte ich mir die auch verdienen. »Troy.« »Troy?« »Troy Jones.« Ich runzelte die Stirn, als versuchte ich angestrengt, den Namen einzuordnen. »Troy Jones, der Verkehrsreporter von K-JAM«, sagte sie spitz. »Du hast doch gesagt, dass du ihn angerufen hast und noch mal nachhaken wolltest, weil er nicht zurückgerufen hat.« Das war wieder einmal ein Augenblick, in dem sie mir leid tat. Ich hätte keine Lust, Mitarbeiter zu führen, die so zwanghaft passiv-aggressiv waren. Aber andererseits verdiente sie es nicht besser. Sie hatte mich angesprochen, bevor ich meine erste Cola light am Tag getrunken hatte. Und sie war Abteilungsleiterin. »Ach so, ja, klar. Das habe ich gemacht. Er sagte, er würde sich darum kümmern und sich wieder bei mir melden.« Ihre Miene hellte sich auf. »Und? Dürfen wir uns Hoffnungen machen? Vielleicht sollte ich ihn auch noch anrufen. Um ihn ein bisschen -«
»Er muss die Sache mit seinem Chef besprechen«, sagte ich hastig. »Die Idee gefällt ihm, aber es ist eine nicht ganz einfache Situation. Senderpolitik und was weiß ich. Ich hatte den Eindruck, dass er es nicht unbedingt schätzen würde, wenn wir ihn drängen.« Lizbeth nickte, sagte, ich solle sie auf dem Laufenden halten, und entschwand, um sich dem nächsten schändlichen Punkt auf ihrer Tagesordnung zu widmen. Als sie weg war, atmete ich erleichtert auf. Wenn ich das nächste Mal versuchte, besonders clever zu sein, musste ich mich vorsichtiger verhalten. Es stimmte zwar alles, was ich ihr erzählt hatte: Ich hatte ihn angerufen, und er hatte gesagt, er würde sich um die Sache kümmern und sich wieder bei mir melden. Nur hatte »die Sache« nichts damit zu tun, für L. A. Rideshare die Werbetrommel zu rühren. Dieses Thema hatte ich nicht einmal angeschnitten. Bei der »Sache« handelte es sich darum herauszufinden, wer Buddy Fitch war und was er Marissa angetan haben könnte. Das allein hatte allergrößtes Fingerspitzengefühl erfordert. Ich hatte Troy angerufen, um mich für die Jahrbücher zu bedanken. Im Lauf des Gesprächs fragte ich ihn beiläufig, ob er einen gewissen Buddy Fitch kenne. Natürlich wollte er wissen, warum ich das fragte. Ich versuchte zwar, ihn mit einer vagen Anspielung auf die Liste abzuspeisen, aber mir war klar, dass er vor Neugier beinahe platzte. »Eine der Aufgaben auf der Liste lautet »Buddy Fitch zahlen lassen«, gestand ich schließlich. »Aber ich weiß nicht, wer das ist oder was er getan hat.« »Da steht, ihn zahlen lassen?« »Ja.« »Merkwürdig. Das klingt so rachsüchtig. Gar nicht wie meine Schwester.« »Nein?« »Nein, es passt nicht zu Marissa. Wenn sie dermaßen sauer war, dann muss der Typ es wirklich verdient haben. Er muss -«
Troy, ich bin sicher, dass es nichts Schlimmes war«, unterbrach ich ihn, damit er diesen Gedanken nicht weiterverfolgte, zumindest nicht im Augenblick. Ich wollte nicht auch noch dazu beitragen, dass sich die Idee, Marissa könnte das Opfer irgendeiner Grausamkeit geworden sein, in seinem Kopf festsetzte. »Vielleicht hat er ihr nur einen Streich gespielt, und sie wollte sich dafür revanchieren.« »Ja, vielleicht«, sagte Troy, aber seine Stimme klang skeptisch. »Sein Name stand also in keinem der Jahrbücher?« »Nein. Deshalb hatte ich gehofft, dass Sie sich vielleicht für mich umhören könnten. Ich dachte, er ist vielleicht ein Freund der Familie oder jemand, mit dem sie zusammengearbeitet hat.« »Gut. Ich frage meine Eltern, und ich werde ihren früheren Chef anrufen. Sobald ich etwas herausgefunden habe, werde ich mich melden.« In einem entschuldigenden Ton fügte er hinzu: »Es könnte allerdings eine Weile dauern. Ich stecke momentan bis über beide Ohren in Arbeit. Der Sender bereitet sich auf den Umwelttag vor, und ich habe mich breitschlagen lassen, bei allen möglichen Sachen einzuspringen. Wie schnell müssen Sie es denn wissen?« »Kein Grund zur Eile. Ich muss nur vor ihrem Geburtstag mit der Liste fertig sein, wir haben also noch genug Zeit.« »So viel auch wieder nicht. Weniger als fünf Monate.« Der mahnende Ton in Troys Stimme entging mir nicht. Er befand sich in dem Glauben, dass ich schon seit dem Unfall im vergangenen Juli fleißig damit beschäftigt wäre, die Liste abzuarbeiten, und nicht erst seit wir uns vor einem Monat auf dem Friedhof über den Weg gelaufen waren. Nach seiner Berechnung war meine Frist bereits zur Hälfte abgelaufen. »Ich wollte Sie nur nicht drängen«, sagte ich zur Erklärung. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, diesen Kerl zu finden. Aber es war mir Ernst mit dem, was
ich gesagt habe. Ich tue alles, was ich kann, um Ihnen zu helfen.« Wenn es jemals den richtigen Zeitpunkt gegeben hatte, um Lizbeth glücklich zu machen und Troy zu bitten, als Fürsprecher für meine Firma aufzutreten, dann jetzt. Ich konnte mich jedoch nicht dazu überwinden, nicht nachdem Troy mir gerade erst erzählt hatte, dass er mit Arbeit überhäuft war. Nicht, nachdem ich ihn gerade erst um einen anderen Gefallen gebeten hatte. Stattdessen bedankte ich mich für das Angebot und wies es bescheiden zurück, selbst als er mich noch einmal ausdrücklich fragte, ob es sonst noch etwas irgendetwas — gäbe, das er für mich tun könnte. Außerdem war es sowieso egal. Die Idee mit den Verkehrsnachrichten war Schnee von gestern. Nachdem ich Lizbeths morgendlichem Verhör entronnen war, saß ich an meinem Schreibtisch und machte heimlich Pläne für die Aktion mit dem Gratisbenzin. Ich hatte zwar noch kein grünes Licht von Bigwood bekommen — was bedeutete, dass S. C. Electric noch nicht zugesagt hatte —, aber ich war sicher, dass es klappen würde. Ich dachte gerade darüber nach, ob ich den Mut aufbringen würde, selbst dort anzurufen, als Phyllis, Bigwoods Sekretärin, in mein Büro kam. »Sie sind spät dran«, sagte sie mit ihrer tiefen, heiseren Stimme. »Spät? Wofür?« Sie verschränkte ihre muskulösen Arme vor der Brust. Phyllis machte mir eine Heidenangst. Mit ihrer wettergegerbten Haut, den breiten Schultern und den langen, grau melierten Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, sah sie ganz so aus, als wäre sie früher tatsächlich mit den Hell´s Angels durch die Gegend gefahren, wie Gerüchte es wollten. »Die Abteilungsleiterkonferenz hat um zehn angefangen. Alle anderen sind schon da.« Ich war zur Abteilungsleiterkonferenz eingeladen? Ich? Das passierte niemandem hier, schon gar nicht mir. Wenn einer meiner Vorgänger und Vorgängerinnen jemals
an einer Chefkonferenz teilgenommen hatte, dann hatte er sie nicht lebend verlassen, sonst hätte ich bestimmt davon gehört. »Keiner hat mir was davon gesagt«, erklärte ich lahm, während ich schnell aufstand und mit Phyllis' forschem Tempo Schritt zu halten versuchte. Dann fügte ich nervös hinzu: »Haben Sie eine Ahnung, warum sie mich dabeihaben wollen?« »Keinen blassen Schimmer«, erwiderte sie, bevor sie mich ohne ein weiteres Wort in Bigwoods Büro schob. Ich blinzelte, um meine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Obwohl Bigwood ein Eckbüro mit einer grandiosen Aussicht hatte, waren alle Vorhänge zugezogen, was dem Raum trotz seiner Größe etwas Höhlenartiges verlieh. Außer ihm waren Lizbeth, Susan und der Leiter der Finanzabteilung anwesend, außerdem noch Ivan Cohen alias Dr. Death (von dem keiner wusste, was er eigentlich machte, aber man packte besser schon mal seine Sachen zusammen, wenn er einen in sein Büro zitierte, weil man sich anschließend entweder auf dem Arbeitsamt oder dem Abstellgleis wiederfand). »Schön, dass du auch dabei bist«, schnurrte Lizbeth. Susan machte den Platz neben ihr frei, und ich formte mit den Lippen ein stummes »Danke« in ihre Richtung. Bigwood musterte mich nachdenklich. »Sie sehen irgendwie anders aus. Woran liegt das nur?« Vielleicht daran, dass ich einen BH trage? Als ich mit den Schultern zuckte, warf mir Susan einen warnenden Blick zu, als wollte sie sagen: Antworte ihm. Ich begriff schnell, warum. Er würde sonst keine Ruhe geben. »Eine Brille - haben Sie früher eine Brille getragen?« Meine Gedanken überschlugen sich. Was sollte ich sagen? Neuer Nagellack? Frisch gezupfte Augenbrauen? »Warten Sie.« Er schnippte mit den Fingern. »Sie haben ein paar Kilo zugenommen!«
Lizbeth kicherte. »Erraten«, erwiderte ich so fröhlich wie möglich in Anbetracht der Tatsache, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. »Steht Ihnen gut«, sagte er. »Sie sehen so blühend aus. » Ich bewundere Frauen mit einem gesunden Appetit.« Um ihm noch eine Freude zu machen, nahm ich mir einen Keks aus der Schale, die mitten auf dem Tisch stand. An die Stelle der Aufregung darüber, ins Allerheiligste gerufen worden zu sein, trat rasch tödliche Langeweile. Wie hielt Susan das nur Woche für Woche aus? Mir zu Füßen saß Bubba, wahrscheinlich weil ich ihm dauernd Kekse zusteckte. Die anderen diskutierten über Strategien und Finanzierungsmöglichkeiten und ich weiß nicht mehr, was noch alles, jedenfalls war irgendwann die Schale leer, ich konnte mir nicht mehr die Zeit damit vertreiben, Bubba mit Keksen zu füttern, und als ich mich gerade zu fragen begann, ob es noch Winter war oder schon Frühling, und kurz davor stand, über den Tisch zu klettern und Dr. Death zu bitten, meinem Elend ein Ende zu machen, wandte Bigwood sich mir zu. »June, ich übertrage Ihnen die Leitung der Gratisbenzin-Aktion. Ich hätte gern, dass sie noch in diesem Monat stattfindet.«
Endlich! Der Grund, warum ich hier war. Offenbar war mein Projekt nicht nur genehmigt; man betraute mich sogar mit der Durchführung. Und das auch noch über Lizbeths Kopf hinweg! So begeistert ich war, besaß ich dennoch genug Verstand, meine Gefühle nicht zur Schau zu stellen. »Gut«, sagte ich so beiläufig wie möglich. Ich wagte es nicht, Lizbeth anzusehen, weil ich Angst hatte, dass sie mich auf der Stelle in eine Salzsäule verwandeln würde. »Gratisbenzin-Aktion?«, hörte ich sie sagen. Offenbar hatte sie keine Ahnung gehabt, und sie schien nicht besonders erfreut darüber zu sein, dass man sie übergangen hatte. »Also, Lou, ich glaube nicht, dass ich -« Bigwood fiel
ihr ins Wort. »June wird Ihnen alle nötigen Informationen geben.« Und das war's. Er erhob sich, und alle anderen taten es ihm nach, einschließlich Lizbeth - entweder weil sie respektierte, dass Bigwood das letzte Wort hatte, oder weil sie zu beschäftigt damit war, meine Ermordung zu planen, um weitere Einwände zu erheben. Langsam und vorsichtig, wie man sich einem Raubtier nähert, ging ich zu ihr. »Sag mir Bescheid, wann es dir passt. Ich würde dir gern erklären, wie ich mir das alles vorstelle.« Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, erwiderte sie kühl: »Davon bin ich überzeugt.« 7
Beim
Abarbeiten einer Liste wie der von Marissa stellt sich bald das Problem, dass man keine Lust mehr hat, seine Energie mit irgendetwas zu verschwenden, was nicht unmittelbar mit den Aufgaben zu tun hat. Man fragt sich, ob es sich lohnt. Wie in der Schule, wenn uns ein Lehrer mit leuchtenden Augen von einem aufregenden Bildungsangebot berichtete, einem Theaterstück oder einer Ausstellung, die etwas mit unserem Unterrichtsstoff zu tun hatte. Vielleicht klang es sogar leidlich interessant. Aber letztlich lief es immer auf die Frage hinaus, die irgendeine tapfere Seele stellvertretend für uns alle schließlich stellte: Zählt das für die Note? So ging es mir, als Sebastian Forbes anrief, um mich zu seiner Party einzuladen. Er wollte den Erfolg seines Buchs feiern - zurzeit die Nummer eins auf der Bestsellerliste der Los Angeles Times und Nummer fünf auf der der New York Times. In Publisher's Weekly wurde es als eine meisterliche bitterböse Humoreske bezeichnet. »Ich verdanke dir praktisch nichts«, sagte er fröhlich,
»aber ich hätte gern, dass du zu der Party kommst und dir das miese Pack anschaust, das mich in meiner schweren Zeit im Stich gelassen hat.« »Sie sind also zurückgekommen?« »Sie umschwirren mich wie die Motten das Licht.« Er deutete an, dass vielleicht auch einige Schriftstellerkollegen und Schauspieler da sein würden; man sprach bereits davon, seinen Roman zu verfilmen. Trotzdem musste ich mich dazu zwingen, die Einladung anzunehmen. Mein einziger Gedanke war: Gibt dort jemand Massagen? Komme ich ins Fernsehen? Ich ging im Geist die anderen Aufgaben auf der Liste durch, die ich noch erfüllen musste werde ich dort Boogieboarding ausprobieren können? Ist Buddy Fitch eingeladen? Schließlich sagte ich zu und ließ mir den Weg zu seinem Haus beschreiben. Bevor wir auflegten, sagte er: »Übrigens, ich habe einen neuen ... Arzt.« »Oh.« Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Wenn man bedachte, dass wir uns erst vor kurzem kennen gelernt hatten, schien mir das eine ziemlich vertrauliche Mitteilung zu sein. Abgesehen davon hatte er einen recht gesunden Eindruck gemacht. Er bemerkte mein Zögern. »Nein, ich meine, ich habe einen neuen Freund, einen Arzt. Sein Name ist Kip, und er ist klug und sieht umwerfend aus und er wird auch auf der Party sein, also benimm dich.« Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus. »JJ ist also endgültig passe, wenn ich das richtig verstehe?« »Wer ist JJ?« Sebastian wohnte in den Hollywood Hills in einem Haus, das im Stil einer mediterranen Villa erbaut war. »Haus«, stimmt nicht ganz. Es war eher ein Anwesen. Ich stieß einen bewundernden Pfiff aus, als ich mit Susan die Eingangshalle betrat. (Sie hatte mich angebettelt, sie mitzunehmen, nachdem ich ihr von der Party erzählt hatte; sie hatte sich mein Exemplar von Ein Mann, eine Frau ausgeliehen und
konnte gar nicht mehr aufhören, davon zu reden.) Die Wände waren in Goldtönen gehalten und mit abstrakten Gemälden bedeckt. Ich war sicher, dass sie alle nackte Menschen zeigten. »So sehen also die Tantiemen eines Bestsellerautors aus«, sagte ich zu Sebastian, als er uns die Mäntel abnahm. »Das hier? Wohl kaum«, erwiderte er mit einem Schnauben. »Mein Vorschuss war nicht der Rede wert. Das Haus verdanke ich meiner Großmutter, die vor ein paar Jahren gestorben ist.« »Tut mir leid ...« »Nicht nötig. Sie war eine böse, verbitterte alte Hexe, die allen das Leben schwer gemacht hat.« »Ich finde Ihr Buch toll!«, platzte Susan so unvermittelt heraus, dass ich zusammenzuckte. Sebastian strahlte. »June, wer ist deine reizende Freundin?« Ich stellte die beiden einander vor, während er uns in den Wohnbereich führte. Susan ließ einen Wortschwall vom Stapel und sagte unter anderem, dass sie die Erdbeben-Metapher, die er benutzt hatte, um die stürmische Beziehung zu seiner Mutter zu beschreiben, zu Tränen gerührt hatte. Ich krümmte mich innerlich vor Verlegenheit. Ungefähr ein Dutzend Leute standen in dem hohen, spärlich möblierten Raum herum, der anstelle von Wänden deckenhohe Fenster hatte. Wir sahen direkt auf die glitzernde und funkelnde Stadt zu unseren Füßen. Die Nacht war kalt und klar. Auf der Fahrt hierher hatten wir einen sternenübersäten Himmel gesehen, was wegen des ständigen Dunsts, des Smogs und der Lichter in Los Angeles eine Seltenheit ist. Von meiner Wohnung aus bekomme ich nachts gewöhnlich nur wenige Sterne zu Gesicht. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Los Angeles ist die Stadt der Stars, der Sterne der Leinwand, die sich am Boden befinden, Premieren besuchen und die besten Tische in den schicksten Restaurants bekommen. »Es ist noch früh, es sind noch nicht viele Leute da«, sagte Sebastian. »Früh? Es ist halb elf1.«, rief ich.
»Ich weiß. So gesehen, sind es doch schon ziemlich viele.« Ich hoffte, dass Susan und ich nicht unangenehm auffielen. Wir trugen beide Schwarz. Sie hatte etwas klassisch Elegantes aus Seide an; mein Outfit dagegen machte den Eindruck, als stamme es vom Ständer mit den Sonderangeboten, was auch der Fall war. Allerdings hatte es in der Umkleidekabine wesentlich besser ausgesehen als hier. Ich aß gerade ein Krabbenbrot von einem Tablett, das durch den Raum getragen wurde, als ein dunkelhäutiger, gut gebauter Mann in einem Kleidungsstück vorbeiging, das auf den ersten Blick eine normale Herrenhose zu sein schien. Auf den zweiten Blick war der Bund hinten so tief angesetzt, dass man die Pofaite sah. Die Hose war nicht nach unten gerutscht, so dass die Unterhose zum Vorschein kam, wie bei Jugendlichen. Sie war einfach so geschnitten, und weit und breit war keine Unterhose zu sehen. »Arschmani«, sagte Sebastian, als er meine großen Augen sah. »Wie bitte?« »Der letzte Schrei aus New York. Läuft unter der Bezeichnung Arschmani. Ich mag altmodisch sein, aber ich ziehe es vor, meinen Hintern nur Installateuren und Hafenarbeitern zu zeigen.« Ich fühlte mich sofort besser. Es bestand nicht die geringste Chance, dass ich mit der Mode, die hier heute Abend präsentiert werden würde, mithalten konnte. Der ganze Druck fiel von mir ab. Meinem Outfit mochte es an Extravaganz fehlen, aber zumindest konnte mir niemand vorwerfen, dass ich mich anbiederte. »Nehmt euch was zu trinken«, sagte Sebastian und deutete auf die Bar in der Ecke, bevor er uns verließ, um sich seinen anderen Gästen zuzuwenden. »Übrigens ist auch meine Verlegerin da, Hillary, wenn du Lust hast, dich mit jemandem zu unterhalten. Sie war auf der Lesung. Du erinnerst dich doch, oder?« Als wir uns schließlich mit Drinks versorgt hatten, war Hillary allerdings gerade in ein angeregtes Gespräch mit Arschmani vertieft, also nutzte ich die Gelegenheit, um ein russisches Ei zu verdrücken und
Susan von meiner ersten Unternehmung mit Deedee an diesem Nachmittag zu berichten. Ich hatte sie abgeholt, wir waren ins Kino gegangen, und dann hatte ich sie wieder nach Hause gebracht. »Das war's«, beklagte ich mich. »Nicht gerade eine Unternehmung, die ein Leben verändert.« »Was hast du denn erwartet? Ihr habt euch nur einen Film angesehen.« »Und Popcorn gegessen«, fügte ich entschuldigend hinzu. »Hat es ihr Spaß gemacht?« »Schwer zu sagen. Sie ist nett, aber nicht gerade eine Plaudertasche. Ich habe genau das gemacht, was Teenager nicht ausstehen können, und sie mit Fragen gelöchert.« Ich schnitt eine Grimasse, als ich mich an unsere Unterhaltung erinnerte.
» Wie gefällt es dir in der Schule?« »Es ist okay.« » Was ist dein Lieblingsfach?« (Achselzucken) »Sprachen und so.« »Stimmt. Rose hat erwähnt, dass du Schriftstellerin werden willst.« (Keine Antwort, da ich keine richtige Frage gestellt hatte.) » Was schreibst du denn?« »Geschichten und so.« »Ach ja? Was für Geschichten?« »Kurzgeschichten.« »Sie wird schon noch offener werden«, beruhigte mich Susan. »Und ob du nun ihr Leben verändern kannst oder nicht, in jedem Fall wirst du Geduld haben müssen. Für mich klingt es so, als hätte sie bis jetzt nicht viel Gelegenheit gehabt, jung und unbeschwert zu sein. Vielleicht weiß sie gar nicht, wie das geht, und es reicht schon, mit ihr loszuziehen und dafür zu sorgen, dass sie ein bisschen Spaß hat, auch wenn es sich dabei bloß um einen Kinobesuch am Samstagnachmittag handelt.« »Ich habe wohl auf ein Wunder gehofft.« »Tun wir das nicht alle?« Es dauerte nicht länger als eine Stunde, bis sich der Raum gefüllt hatte. Sebastian präsentierte die Berühmtheiten, die er versprochen hatte — vorausgesetzt, man fasste den Begriff »Berühmtheit« nicht allzu eng. Da war ein Mann, den ich schon
einmal in einer dieser Junggesellenshows gesehen hatte, und eine Frau, deren fünfzehn Minuten Fernsehruhm darauf beruhten, dass sie einen Becher voll Würmer geleert und es geschafft hatte, sie unten zu behalten. »June! Susan! Kommt mal her!« Sebastian winkte uns zu sich und dem Grüppchen von Leuten, bei denen er stand. Eine der Frauen zog sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine riesenhafte hellblonde Göttin mit ausgeprägten Wangenknochen und den Schultern einer olympischen Schwimmerin. Er stellte sie als Mjorka vor, serbisches Model/Schauspielerin, die ursprünglich die Rolle von JJ hätte spielen sollen, bevor ich als Zweitbesetzung eine Glanzleistung hingelegt hatte. Zu der Runde gehörten außerdem noch seine Verlegerin Hillary, Arschmani und Sebastians Freund, Kip, der mit seinem Ziegenbärtchen und der rahmenlosen Brille so niedlich aussah, dass man ihn am liebsten immerzu über den Kopf gestreichelt hätte. »Ich habe gerade von deiner Liste erzählt«, sagte Sebastian. »Ich habe versucht, mich an die Aufgaben zu erinnern, aber mir ist nur das Blind Date eingefallen ... und dass du fünf Kilometer laufen musst.« »Wenn ich wüsste, dass ich bald sterben muss«, warf Arschmani ein, »würde ich Fallschirm springen.« Susan klatschte in die Hände. »Ich auch!« Ich verdrehte die Augen - mir reichte es langsam. Das Gespräch wandte sich einer Geschichte zu, die Arschmani in Hühnersuppe für die Seele gelesen hatte. Sie handelte von einem Mann, der im Alter von fünfzehn Jahren eine Liste mit hundertzwanzig Dingen aufgestellt hatte, die er machen wollte. (Ich kannte das Buch, ich hatte es letztes Weihnachten bei meinen Eltern gelesen, als mir der Lesestoff ausgegangen war. Auf der Liste des Mannes stand zum Beispiel Sprachen lernen, Berge besteigen, primitive Kulturen erforschen, exotische Haustiere besitzen, Naturwunder fotografieren - Dinge, von denen man sich nicht vorstellen konnte, wie sie ein Mensch in
einem einzigen Leben schaffen sollte. Ich erinnerte mich, dass ich mit meiner Mutter darüber gesprochen hatte. Angeblich hatte dieser Mann das meiste davon getan und es außerdem noch fertig gebracht, zu heiraten und fünf Kinder zu zeugen. Sie hatte geschnaubt und geantwortet: (»Sicher hat er das getan, aber ich wette, dass er nie eine Windel gewechselt hat« — was mich überrascht hatte, da meine Mutter sonst selten sarkastisch ist.) »Das Interessante an Junes Situation ist«, sagte Sebastian und lenkte damit das Gespräch wieder auf mich zurück, »dass sie die Liste einer anderen Frau abarbeitet.« Er drehte sich zu mir. »Was steht noch drauf?« Ich zählte das auf, was mir spontan einfiel. Als ich bei »in der Öffentlichkeit Eis essen« angelangt war, machte Mjorka ein erstauntes Gesicht. Mit starkem Akzent fragte sie: »Meinst du damit, während du nackt bist?« »Oder beim Fallschirmspringen?« Dieser Einwurf kam von Arschmani. Ich schüttelte den Kopf. »Ihr müsst das richtig verstehen. Die junge Frau, die diese Liste geschrieben hat, war fast ihr ganzes Leben lang übergewichtig und hat sehr darunter gelitten. Sie hat sage und schreibe fünfzig Kilo abgenommen. In aller Öffentlichkeit ein Eis zu essen wäre -« Mjorka unterbrach mich. »Ihr Amerikaner esst zu viel Kartoffelchips und zu viel Süßigkeiten.« »Wir essen wirklich gern«, sagte Hillary zustimmend und klopfte sich auf ihre ausladenden Hüften. »Ihr esst gar nicht gern. Ihr habt Angst vor dem Essen. Deshalb esst ihr Abfall. Ihr vergiftet eure Körper und werdet fett und hässlich«, sagte Mjorka. Hillary wirkte verletzt. Kip drehte sich zu mir. »Sebastian hat mir erzählt, dass sie ihr Übergewicht erst vor kurzem losgeworden war.« Als ich nickte, fuhr er fort: »Das ist traurig. Ich kann mir gar nicht richtig vorstellen, wie es ist, wenn man sein ganzes Leben lang zu dick ist. Die Leute können furchtbar
gemein sein. Ich wette, diese Liste war der erste Versuch, ein normales Leben zu führen. Und dann —«, er schnippte mit den Fingern, »- einfach weg. Sie hatte nie eine Chance, ihr Glück auszukosten.« Ah, Kip, ich weiß, du hast es gut gemeint, aber ... oje. »Warum glaubt ihr eigentlich alle, dass sie unglücklich war?«, fragte Hillary beleidigt. »Es gibt jede Menge dicke Leute, die ein glückliches und zufriedenes Leben fuhren. Sie haben Freunde und einen Beruf, der sie ausfüllt, und, man glaubt es kaum, sie verlieben sich sogar und heiraten. Nicht jeder ist besessen von der Idee, so spindeldürr wie ein Model« - an dieser Stelle bedachte sie Mjorka mit einem verächtlichen Blick - »zu sein. Das ist doch Konfektions-größen-Terrorismus.« »Wenn sie so glücklich war, wie du sagst«, erwiderte Mjorka, »warum wollte sie dann abnehmen?« »Und warum machte sie dann die Liste?«, ergänzte Sebastian. »Ich habe auch eine Liste«, blaffte Hillary, »und ich bin ein glücklicher Mensch!« Nur in diesem Moment war sie das offensichtlich nicht. Susan ist Meisterin darin, die Wogen zu glätten. Auch diesmal probierte sie es. »Das ist wunderbar«, sagte sie. „Was steht auf Ihrer Liste?« Hillary wurde rot, und bevor sie etwas sagen konnte, rief Mjorka: »Ich weiß es! Du willst nicht länger dick sein! Das steht auf deiner Liste!« Daraufhin stürmte Hillary davon, Arschmani folgte ihr, und Mjorka entschwand mit einem Achselzucken, um einen Bekannten auf der anderen Seite des Zimmers zu begrüßen. »Und«, sagte Sebastian an mich gewandt, »wie geht's mit der Liste denn nun voran?« »So weit, so gut.« »Dir ist doch hoffentlich klar, dass du nicht alles für dich behalten darfst. Du hast mir versprochen, mich daran teilhaben zu lassen. Ich tue zurzeit nichts außer schreiben, ich muss wenigstens parasitär am Leben eines anderen teilhaben.« »Das stimmt«, warf Kip ein. »Das braucht er zum Leben.«
»Also June, was hast du für mich?«, hakte Sebastian nach. Ich zuckte mit den Schultern und dachte an die Aufgabe, die mir am schwierigsten zu sein schien. »Ich nehme nicht an, dass einer von euch einen gewissen Buddy Fitch kennt.« »Doch, den kenne ich!«, rief Sebastian. »Wirklich?!« Mein Gott, es war einfach unglaublich! Ich machte einen Luftsprung. Die Sucherei war vorbei! O Mann, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Sebastian Ich hielt inne. »Du verscheißerst mich, oder?« »Ich konnte ja nicht wissen, dass du gleich so ausflippst. Wer ist er?« »Keine Ahnung. Das ist ja das Problem. Auf der Liste steht, dass Buddy Fitch zahlen soll. Aber es ist schwer, sich an jemandem zu rächen, wenn man keinen Schimmer hat, um wen es sich handelt.« »Hast du im Internet gesucht?«, fragte Kip. Ich berichtete ihnen, was ich bis jetzt unternommen hatte: Ich hatte die Jahrbücher durchforstet, im Internet gesucht und mit Troy gesprochen, der mich angerufen hatte, um mir mitzuteilen, dass die Leute, die er gefragt hatte, auch nichts wussten. »Weißt du was«, sagte Sebastian, »ich habe ein paar Privatdetektive engagiert, die mir bei der Recherche für mein neues Buch helfen. Ich werde sie bitten, sich mal nach diesem Buddy Fitch umzuhören.« »Das kann ich nicht von dir verlangen.« »Ich tu es gern. Ich bin dir was schuldig.« Da hatte er Recht. Außerdem wusste ich nicht, an wen ich mich sonst noch wenden konnte. Es war unbedingt erforderlich, dass ich Buddy Fitch fand. Welch ein Jammer, all diese Anstrengungen auf sich zu nehmen, wenn man Gefahr lief, am Ende an einer einzigen Aufgabe zu scheitern.
8
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Um mich dafür zu bestrafen, dass man mich mit der Durchführung der Gratisbenzin-Aktion betraut hatte, weigerte Lizbeth sich, mir auch nur einen meiner übrigen Termine zu erlassen - und dachte sich vermutlich zusätzliche Arbeiten aus, die sie mir aufhalsen konnte. An den meisten Tagen saß ich bis spätabends im Büro und versuchte, den Zeitplan einzuhalten. Mir war gar nicht aufgefallen, wie fleißig ich war, bis meine Mutter mich anrief, um wieder einmal über unsere Lieblingsvorabendserie mit mir zu plaudern, und mir bewusst wurde, dass ich vergessen hatte, sie mir anzusehen. Nicht die gesamte Staffel, sondern nur ein paar Folgen, aber immerhin. (Normalerweise passiert mir dass genauso wenig, wie ich vergessen würde zu essen.) Trotz all der Hektik im Büro nahm ich mir die Zeit, jeden Samstagnachmittag mit Deedee ins Kino zu gehen. Obwohl sich die Dinge zwischen uns nicht so schnell entwickelten, wie ich gehofft hatte. Ich hatte es ihr überlassen, unser Programm zu bestimmen, und Woche für Woche sagte sie, sie wolle ins Kino. Wahrscheinlich hatte sie Nachholbedarf. Mir wurde nur langsam klar, dass sich auf diese Weise nicht gerade die Art von Beziehung aufbauen ließ, die es mir ermöglichen würde, Einfluss auf ihr Leben zu nehmen. Ich holte sie zu Hause ab, wir fuhren zehn Minuten zum Kino, und unterwegs sprachen wir hauptsächlich über das, was wir im Vorbeifahren sahen - Werbeplakate, die Frau mit dem Einkaufswagen, welche Pizzeria am meisten Käse auf ihre Pizzen streute. Sobald wir im Kino waren, besorgten wir uns Knabberzeug und Getränke, sahen uns den Film an, und dann fuhren wir wieder nach Hause. Die einzige Lektion, die ich ihr bisher beibringen konnte, war mein Trick beim Kauf von Pop-corn: Ich bestand darauf, dass der Verkäufer den Becher zuerst halb mit Popcorn füllte, einen Teil der Butter dazugab und dann den Becher ganz füllte und die restliche Butter darauf verstrich. »So verteilt sich die Butter besser«, erklärte ich ihr.
Und auch wenn sie ziemlich beeindruckt schien — bei unseren folgenden Kinobesuchen bestellte sie Popcorn wie ein Profi —, bezweifelte ich, dass Marissa etwas in der Art im Sinn gehabt hatte, als sie Jemandes Leben verändern auf ihre Liste setzte. Um mit den Aufgaben voranzukommen, schlug ich Deedee beim vierten Mal vor, etwas anderes zu unternehmen. Im Science Center gab es eine Sonderausstellung mit präparierten Leichen. Ich war sicher, dass sie das interessieren würde - welcher Teenager hatte keine Schwäche für gruseliges Zeug? »Aber der neue Film mit Chris Rock ist gerade angelaufen! Den muss ich unbedingt sehen!« Ich legte meinen Gurt um und startete den Motor. »Wäre es nicht nett, mal was anderes zu machen?« »Biiiitte«, flehte sie. »Er soll wirklich lustig sein. Alle haben ihn schon gesehen. Wenn ich ihn nicht sehe, bin ich in der ganzen Schule die Einzige, die nicht mitreden kann.« Dabei wackelte sie vor Ungeduld auf ihrem Sitz hin und her wie ein Pudding. Wie konnte ich da nein sagen? »Okay, dann also Chris Rock.« Alles lief wie gewohnt, bis wir für Popcorn anstanden. Ich hörte Deedee »Scheiße« murmeln, gefolgt von ein paar Brocken Spanisch. »Was ist?«, fragte ich, aber da ich inzwischen gelernt hatte, ihr Fluchen zu ignorieren, wandte ich meine Aufmerksamkeit sofort wieder dem Mann hinter dem Tresen zu. »Nein, nicht ganz voll machen. Nur halb. Dann die Butter dazu ...« Ich drehte mich zu Deedee, um ihr verschwörerisch zuzublinzeln, aber sie war nicht mehr da. Ich bezahlte die Snacks und die Getränke und bemühte mich, das Papptablett ruhig zu halten, auf dem zwei Becher Cola standen, ein riesiger Eimer Popcorn, eine Schachtel mit Hamburgern und ein paar Schokoriegel. Das Foyer war überfüllt. Von Deedee keine Spur. Bitte sag, dass ich sie nicht verloren habe. Ich hatte die Eintrittskarten, sie konnte also noch nicht im Kinosaal sein. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was sie anhatte.
Ausgebeulte Jeans, vermutlich. Eine graue Kapuzenjacke. Ich steckte den Kopf durch die Tür der Damentoilette und rief nach ihr. Keine Antwort. Vor Angst kroch es mir eiskalt über den Rücken, aber ich sagte mir, dass das albern war. Sie war schließlich kein kleines Kind mehr, das in ein Auto laufen würde. Sie war vierzehn. Um mich wimmelte es von Teenagern - lauten, fröhlichen Grüppchen Jugendlicher, die herumalberten und lachten und die Aufmerksamkeit auf sich zogen, während sie so taten, als sei das das Letzte, was sie wollten -, nur war keiner von ihnen mein Teenager. Das verhieß nichts Gutes. Die Leute von Big Sister mochten es sicher gar nicht, wenn man seinen Schützling verlor. Ich überlegte gerade, ob ich Deedee ausrufen lassen sollte, obwohl ich wusste, dass sie mir das nie verzeihen würde, als ich sie in der Ecke des Foyers entdeckte. Sie saß vor einem Videospiel. »Deedee?« Ich beugte mich zu ihr, darauf bedacht, nichts zu verschütten. »Oh, hi«, sagte sie. »Ich habe nur das Spiel hier ausprobiert.« Sie hatte kein Geld eingeworfen. Auf dem Bildschirm stand noch »Game over« vom letzten Spieler. »Du hast mir einen Riesenschrecken eingejagt. Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.« »Tut mir leid.« »Der Film fängt gleich an.« »Okay.« Sie machte jedoch keine Anstalten aufzustehen, sondern reckte stattdessen den Hals, um an mir vorbeizusehen, offenbar auf der Suche nach etwas ... oder jemandem? »Gibt's ein Problem?« »Nee. Alles okay.« Nach etwa einer Minute erhob sie sich schließlich und nahm sich einen Becher von meinem Tablett, wodurch alles andere aus dem Gleichgewicht geriet. Ich machte ein paar Verrenkungen, um das Unglück zu verhindern, aber ohne Erfolg. Deedee schnappte sich den Eimer Popcorn, und ich schaffte es, die Schokoriegel zu retten. Alles andere landete in einem triefenden Haufen auf dem Boden und spritzte meine Hose voll. Die Umstehenden klatschten Beifall. Als ich mich bückte, um die Schweinerei zu
beseitigen, hörte ich jemanden sagen: »Super, Deedee. Sehr geschickt.« Ich hob den Kopf und erblickte ein Mädchen, das wahrscheinlich hübsch war. Im Augenblick sah ich allerdings nur ihr hämisches Grinsen. »Oh, hi, Theresa«, sagte Deedee lässig. »Ich wusste gar nicht, dass du auch da bist.« Plötzlich verstand ich Deedees Flucht. Sie war wohl über den Anblick dieses Mädchens ebenso glücklich wie ich jeden Morgen über den von Lizbeth. »Ich und Claudia sind hier mit Tony und den anderen verabredet.« Dann fragte sie: »Und mit wem bist du da?« Deedee, die offensichtlich keinen anderen Ausweg sah, deutete mit einem Kopfnicken auf mich. »Mit ihr.« Ich war auf ein Pronomen reduziert. Theresa schien auf eine Erläuterung zu warten. Deedee blieb stumm, und mir fiel nichts ein, was sie nicht noch mehr in Verlegenheit gebracht hätte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie peinlich es sein musste, an einem Samstagnachmittag mit einer Erwachsenen im Kino erwischt zu werden, während alle deine Klassenkameraden mit ihren Freunden da sind. War ich eine Freundin der Familie? Eine Verwandte? Würde mein Geständnis, dass ich ihre Große Schwester war, das gesellschaftliche Aus für sie bedeuten? In Ermangelung einer besseren Ausrede sagte ich schließlich: »Ich bin ihre Betreuerin.« Zu meiner Überraschung brach Deedee daraufhin in schallendes Gelächter aus, die spontanste Gefühlsäußerung, die ich in den vier Wochen, die wir uns jetzt kannten, je bei ihr gesehen hatte. Theresa kicherte verlegen, nicht ganz sicher, ob es sich vielleicht um einen Witz handelte, der auf ihre Kosten ging. »Ja, ich bin mit Drogen erwischt worden«, sagte Deedee. »Aber wir sollten jetzt besser reingehen. Der Film fängt gleich an.« Als wir uns in der ersten Reihe niederließen - die Strafe dafür, sich einen Film gleich nach dem Kinostart anzusehen -, flimmerten kaum zwei Meter von uns entfernt bereits die Werbespots über die
Leinwand. Ich beugte mich zu Deedee und sagte: »Bilde ich mir das nur ein, oder ist deine Freundin Theresa tatsächlich eine widerliche Zicke?« Deedee grunzte zustimmend und nahm sich eine Hand voll Popcorn. »Sie tut immer so freundlich, aber wehe, man dreht ihr den Rücken zu.« »Ein Lästermaul?« »Ja, und außerdem nicht besonders helle. Wahrscheinlich posaunt sie jetzt überall herum, dass ich eine amtliche Betreuerin habe.« »Das scheint dir nicht viel auszumachen. Immer noch besser, als wenn sie allen erzählt, dass du mit einer Großen Schwester unterwegs bist, oder?« Nachdem sie einen Schluck von der übrig gebliebenen Cola getrunken hatte, die wir uns teilten, sagte sie: »Nee, du bist okay. Einige der anderen Mädchen haben auch Große Schwestern. Meine Freundin Janelle hat schon drei verschlissen.« Während ich ein stummes Dankgebet gen Himmel schickte, dass man mir nicht Janelle zugeteilt hatte, fuhr sie fort: »Es ist nur so, dass ich nie was mit meinen Freunden unternehmen kann. Ich muss dauernd auf meinen bescheuerten Bruder aufpassen. Jeden Tag nach der Schule. Fast das ganze Wochenende. Ich hab den kleinen bicho nur nicht am Hals, wenn ich mit dir zusammen bin. Ach ja, und einmal war ich auf einer Schulparty. Und selbst da wollte meine Mutter, dass ich sofort danach nach Hause komme. Ich konnte nur deshalb länger bleiben, weil ich gesagt habe, ich hätte meine Uhr verloren.« »Sehr schlau.« »Fand ich auch.« Ich schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben, dass jemand so viel von einer Vierzehnjährigen verlangt. Und wann hast du mal Zeit, etwas zu tun, was Spaß macht?« »Jetzt.« Ihre Stimme klang düster und ließ erkennen, wie wenig unsere gemeinsamen Unternehmungen mit ihrer Vorstellung von Spaß zu tun hatten. »Und das auch nur, weil diese Rose von Big Sister zu meiner Mutter gesagt hat, dass ich ausrasten und auf die schiefe Bahn geraten könnte oder irgend so was, wenn sie mir nicht hin und wieder mal ein bisschen
Abwechslung gönnt. Dass ich sonst jede Freiheit ausnutzen würde oder so. Ich hab das Gespräch mitbekommen. Das war das erste Mal, dass es jemand geschafft hat, Mami ein schlechtes Gewissen zu machen. Wegen irgendwas.« Sie trank noch einen Schluck. »Rose ist echt cool. Sie hat meiner Mutter die Hölle heiß gemacht. Sie hat gesagt, in meinem Leben muss sich was ändern und dass sie dafür sorgen will, dass das passiert.« Als ich das hörte, hätte ich die Schachtel mit den Hamburgern beinahe ein zweites Mal fallen lassen. Das war ja ein starkes Stück! Rose Morales half nicht mir dabei, mein heimliches Ziel zu erreichen und einen Punkt auf meiner Liste abzuhaken, das Biest machte mir Konkurrenz! Um die Sache richtig zu stellen — wenn hier irgendeine Veränderung in jemandes Leben stattfand, dann war ich diejenige, die sie herbeiführte -, sagte ich: »Ich weiß, ich bin nicht so gut wie eine Freundin in deinem Alter, aber ich bin froh darüber, dass wir gemeinsam etwas unternehmen. Ich hoffe, es war für dich bisher okay.« Mit einem Schulterzucken sagte Deedee: »Klar. Es ist okay.« Dann warf sie einen Blick auf die Schachtel mit den Hamburgern. »Machst du die irgendwann auch mal auf?« Nach dem Film schlug ich ihr vor, noch eine Viertelstunde dranzuhängen und der Parfümerie um die Ecke einen Besuch abzustatten, wo ich ihr einen flüssigen Eyeliner kaufte. Mit achtzehn Dollar war er immer noch billiger als die Snacks fürs Kino und dem freudigen Ausruf nach zu urteilen, den sie von sich gab, als ich ihn ihr überreichte -eine sehr viel klügere Investition, um ihre Zuneigung zu gewinnen. »Wir wär's, wenn wir nächste Woche das Kino mal ausfallen ließen und stattdessen an den Strand fahren?«, fragte ich sie auf dem Weg zum Auto. Sie sollte um vier wieder zu Hause sein und es war bereits fünf nach vier. »Ich wollte mal Boogieboarding ausprobieren.« (Das war natürlich lächerlich. Jedem, der mich kannte, wäre klar gewesen, dass ich das niemals wollen würde. Es war
lediglich eine Aufgabe auf meiner Liste. Aber da Deedee nichts von der Liste wusste - und auch niemals etwas davon erfahren würde, weil sie schließlich zu den Aufgaben gehörte -, nahm sie meine Erklärung glücklicherweise für bare Münze.) »Gut. Ich kann mich in die Sonne legen. Aber ich gehe auf keinen Fall ins Wasser. Um diese Zeit ist es bestimmt noch eiskalt.« »Ich würde es als erfrischend bezeichnen«, entgegnete ich. »Wenn du meinst.« Na gut, dann würde ich mich eben allein ins Wasser wagen. Zumindest würden wir etwas anderes machen, als auf eine Leinwand zu starren. Nachdem ich mich in den fließenden Verkehr eingefädelt hatte, fragte ich: »Kriegst du Ärger, weil du zu spät kommst?« »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Meine Mutter wird sauer auf dich sein, nicht auf mich. Ich soll auf Prinz Ricky aufpassen.« »Dein Bruder, nehme ich an?« »Du glaubst es nicht, was für eine Nervensäge er ist, aber meine Mutter hält ihn für einen Engel. Immerzu heißt es, Ricky hier und Ricky da. Ich bin nur dazu da, um auf ihn aufzupassen. Du kannst dir das nicht vorstellen.« Als wir vor einer Ampel halten mussten, drehte ich mich zu ihr. »Fühl mal deinen Hinterkopf.« Sie sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Mach schon.« Mit leidendem Blick hob sie die Hand und strich sich über den Kopf. »Spürst du, wie schön rund er ist?« Ich beugte mich zu ihr, ohne die Ampel aus den Augen zu lassen. »Jetzt fühl mal meinen. Merkst du, wie flach er ist?« Sie folgte meiner Aufforderung und nickte. »Hm. Ja. Er ist irgendwie flach.« Zum Vergleich befühlte sie noch einmal ihren. »Das kommt daher, dass meine Eltern immerzu meinem Bruder hinterhergejagt sind, als ich ein Baby war. Er war ein richtiger Satansbraten. Ich dagegen war ein unkompliziertes Baby, deshalb haben sie mich den ganzen Tag allein in meinem Bett liegen lassen. Die Köpfe von Babys sind noch weich, deswegen ist meiner irgendwann ganz flach geworden.«
Deedee dachte darüber nach. »Du hast Glück, dass du so viele Haare hast. Die verdecken es. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass du einen flachen Kopf hast.« »Was ich damit sagen will: Du bist nicht die Einzige. Ich weiß, wie es ist, wegen eines Bruders vernachlässigt zu werden.« Und den Beweis dafür hatte sie gefühlt. Am Strand von Santa Monica in der Nähe des Piers wimmelte es von Menschen. Zu spät fiel mir wieder ein, dass heute der Umwelttag mit großer Strandreinigung stattfand. Es war noch außerhalb der Saison, und doch sah man überall Zelte und Buden. Aus den Lautsprechern ließ K-JAM, der Radiosender, der die Veranstaltung sponserte, die Top-40-Hits dröhnen, die ich wesentlich mehr genossen hätte, wenn ich nicht sieben Dollar fürs Parken hätte hinblättern müssen. Deedee schleppte eine Strandtasche, und ich war mit Badetüchern und einem Boogieboard beladen, das ich mir von Susan geliehen hatte und lässig am Riemen über der Schulter trug wie Sinatra seinen Regenmantel. Der Tag war klar, aber windig. Die Wellen schlugen mit lautem Getöse ans Ufer. Trotz der für März angenehm warmen Luft war die Wassertemperatur zweifellos noch eisig. Die Surfer trugen Neoprenanzüge (daran hätte ich auch denken sollen), aber der Umstand, dass sich ein paar Schwimmer in normalen Badesachen unerschrocken in die Fluten stürzten, machte mir Mut. Da wir sowieso an den Buden vorbeimussten, um zum Wasser zu kommen, hatte Deedee sicher nichts dagegen, wenn wir nachsahen, ob auch L. A. Rideshare einen Stand aufgestellt hatte, und ich konnte Elaine begrüßen, die Frau, die bei solchen Wochenendveranstaltungen für uns arbeitete. Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, dass mein plötzliches Interesse an meiner Kollegin Elaine etwas mit der Höhe der Wellen zu tun haben könnte. Es stand zwar außer Frage, dass ich die vor mir liegende Aufgabe erfüllen würde, aber ich hatte es nicht besonders eilig damit. Wir passierten einige Stände,
bis ich das Transparent von Los Angeles Rideshare erblickte. Brie war da, allein, und sie winkte mir zu, als sie mich mit Deedee im Schlepptau näher kommen sah. Sie stand hinter einem Tisch, auf dem verschiedene Broschüren, Schlüsselanhänger, Stifte, Antennenbälle und anderer Krimskrams mit unserem Logo aufgereiht waren. »Was machst du denn hier?«, fragte ich überrascht. »Elaine hat sich eine Grippe eingefangen. Ich habe ihr gesagt, dass ich gern für sie einspringe. Dafür kriege ich 50 Prozent Überstundenzuschlag.« In diesem Augenblick gesellte sich Martucci zu uns — wer auch sonst. Er schleppte eine Kiste, die er mit einem lauten Plumps auf dem Tisch abstellte. »Hey, Parker«, sagte er und musterte mich ungeniert von Kopf bis Fuß. »Bist du zum Arbeiten hier?« »Sehe ich vielleicht so aus?« Ich trug ein weites TShirt über meinem Bikini und hatte immer noch das Boogieboard über der Schulter hängen. Er zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Aber falls du es dir anders überlegst - ich hätte da noch ein paar Kisten, die hergebracht werden müssen. Brie hat Angst, dass sie sich einen Nagel abbrechen könnte.« »Ich war gerade erst bei der Maniküre«, erklärte sie und hielt die Hände in die Höhe. Ihre Fingernägel waren mit Blümchen verziert. »Tut mir leid, dich zu enttäuschen«, sagte ich zu Martucci. »Aber ich wollte nur kurz Hallo sagen.« Ich stellte ihnen Deedee vor, und Brie rief: »Das ist also deine Kleine Schwester! Wir haben schon so viel von dir gehört. Warte mal -« Sie griff in die Kiste, die Martucci angeschleppt hatte, und überreichte Deedee einen Stift mit unserem Logo und einer Leuchtspitze, die die Farbe wechselte, wenn man auf einen Knopf drückte. »Da, für dich. Die guten Sachen verteile ich nur an Freunde.« »Cool«, sagte Deedee und drückte auf den Knopf. »Danke.« Brie drehte sich zu Martucci. »Wie wär's, wenn du mal die Kiste mit den T-Shirts holst? Ich wette, das Mädchen hier hätte gern eins davon.« »Hey, bin ich vielleicht euer Packesel?«, brummte er. »Elaine trägt ihren Kram selbst, wenn wir
zusammenarbeiten.« »Das liegt daran, dass sie nicht über meine Talente verfügt. Mein Job ist es, Kunden anzulocken«, sagte Brie. »Und das kann ich nicht mit abgebrochenen Nägeln.« Er warf Deedee einen genervten Blick zu. »Welche Größe?« »Large, denke ich«, erwiderte sie. Er machte sich auf den Weg, irgendetwas Unverständliches vor sich hin murmelnd. Als er außer Hörweite war, sah ich Brie an und sagte: »Eigentlich solltest du einen Zuschlag von 100 Prozent bekommen, wenn du mit dem zusammenarbeiten musst.« »Wen meinst du? Martucci? Du magst Martucci nicht?« »Magst du ihn etwa?« »Er ist in Ordnung.« »Ich kann es nicht ausstehen, wie er sich an Lizbeth ranschleimt. Und dieser Zopf ist einfach grässlich. Er fingert die ganze Zeit daran herum.« »Vielleicht hat er Angst, dass er davonkriechen könnte«, sagte Brie und lachte. »Aber egal, ich denke, ich kann ihn dazu bringen, ein paar belegte Baguettes zu besorgen, wenn er zurückkommt. Von dem ewigen Stehen hier kriege ich Hunger. Wollt ihr auch eins?« »Nein danke.« Obwohl ich eine Ausrede gehabt hätte, noch dreißig Minuten zu warten, bevor ich ins Wasser ging, wenn ich jetzt etwas aß. Brie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Deedee zu. »Also, Schätzchen, erzähl mal, hast du einen Freund?« Ich konnte es nicht fassen, dass sie ihr eine so persönliche Frage stellte. Ich rechnete damit, dass Deedee sofort dichtmachen würde, wie ich es von ihr kannte, aber stattdessen gab sie einen Laut von sich, der wie pjffi klang, und verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: Jungs. »Das kenne ich«, sagte Brie verständnisvoll. »Komm schon, erzähl Mama Brie alles. Wer ist der Kerl, und was hat er gemacht?« »Carlos«, antwortete Deedee in einem Ton, als würde sie von einem Hund sprechen, der ihr auf die Schuhe gepinkelt hat. »Hm, hm ...«
»Und er sagt, dass er mich mag, dass ich hübsch bin und so weiter ...« »Kenne ich ...« »Und dann trifft er sich mit -« Sie hielt inne, weil es offensichtlich zu grauenvoll war »— Theresa.« Ich mischte mich ein. »Die Theresa aus dem Kino?« »Ja. Er war an dem Tag auch da, was sie ganz zufällig vergessen hat zu erwähnen.« Brie schüttelte verächtlich den Kopf. »Vergiss Carlos. Er ist ein Idiot, wenn er sich mit einer Tussi wie Theresa abgibt. Weißt du, was ich glaube?« Sie beugte sich vor und zog an dem viel zu großen ärmellosen T-Shirt, das Deedee trug. »Da drunter steckt eine richtig niedliche Figur. Du solltest dich sexy anziehen und diesem Carlos zeigen, was ihm entgeht. Ich habe ein paar Sachen, die ich nicht mehr anziehe. Sie müssen beim Waschen eingegangen sein, weil sie mir nicht mehr passen, aber ich bin sicher, dir würden sie gut stehen. Was hältst du davon, wenn ich sie June für dich mitgebe? Du kannst behalten, was dir gefällt, und den Rest wirfst du weg.« Deedee sollte Bries abgelegte Klamotten auftragen? Dieses knallenge bunte Lycra-Zeug? Was für ein Witz! Dass sie das machen würde, war so wahrscheinlich wie — »Klar.« Deedee strahlte. »Sind das solche Sachen wie die, die Sie gerade anhaben?« »Das alte Zeug?« Sie trug ein lila Tank-Top zu farblich passenden knappen Shorts. »Nein, viel besser.« Was sagt man dazu? Innerhalb von fünf Minuten hatte Brie es geschafft, eine engere Beziehung zu Deedee aufzubauen als ich in einem ganzen Monat. Obwohl es schön war zu sehen, wie Deedee Vertrauen gewann, selbst wenn ich nicht gemeint war. Zumindest geschah es in meiner Anwesenheit. »Hey, das hätte ich fast vergessen«, sagte Brie zu mir. »Dieser Verkehrsreporter ist da gewesen und hat sich nach dir erkundigt. Trey ... ?« »Troy Jones?« »Ja, genau. Er sagte, er wäre für K-JAM hier, um bei der Strandreinigung zu helfen. Wo wir gerade davon reden. Pass mal auf.« Sie zerknüllte eine Broschüre und warf sie in den Sand. Innerhalb von Sekunden
kamen zwei Kinder mit Müllsäcken angerannt und begannen sich darum zu streiten. »Das funktioniert jedes Mal! Ich schätze, hier sind mehr Leute zum Müllsammeln erschienen, als es Müll gibt.« Deedee fand das offenbar amüsant, aber ich war mehr damit beschäftigt, Ausschau nach Troy Jones zu halten. Hoffentlich war er inzwischen wieder weg. Das konnte ich nun wirklich nicht brauchen, dass er hier herumlungerte, während ich versuchte, eine der Aufgaben auf der Liste zu erfüllen — noch dazu eine, die eine derart spärliche Bekleidung erforderte. »Ich hoffe, Martucci kommt bald mit den T-Shirts zurück. Wir müssen weiter«, sagte ich. Brie musterte das Boogieboard. »Sieht so aus, als hättest du noch was vor. Apropos, bleibt es bei unserer Verabredung für morgen?« »Ja.« »Du bist immer noch entschlossen, es durchzuziehen?« »Ja.« Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis Martucci endlich mit einer Kiste auftauchte, die er in den Sand plumpsen ließ. Dann wühlte er darin herum und warf Deedee ein T-Shirt zu. »Hier, bitte«, sagte er. »Mach ihm keine Schande.« »Danke.« Sie hielt es hoch und betrachtete es. »Das ist süß.« »Wenn du dieses T-Shirt schon für süß hältst«, sagte Brie, »dann solltest du erst mal das Outfit sehen, dass ich für June für morgen ausgesucht habe. Das ist wirklich cool. Das Oberteil ist metallic-blau, so was Glänzendes, weißt du? Und dann sind da lauter Glitzerdinger dran -« »Schon gut!«, unterbrach ich sie, weil ich nicht wollte, dass sie sich vor Martucci darüber ausließ, wo die Glitzerdinger angebracht waren. Zu spät. »Wo sind sie dran?«, erkundigte er sich, ein wenig zu unschuldig, und ließ seinen Blick ein Stück nach unten wandern, um zu zeigen, dass er es sich ziemlich gut vorstellen konnte. »Wir gehen jetzt«, sagte ich bestimmt, aber Brie ließ sich nicht beirren und strich sich als Antwort viel sagend über die Brust.
»Wie reizend«, sagte Martucci. »Und was steht morgen an?« »Frauenabend«, erwiderte Brie. Ich fürchtete, dass sie jetzt auch noch von der Liste erzählen würde, aber sie sagte nur: »Wir gehen ins Oasis. So heißt die Bar doch, oder, June? Oasis?« Ich nickte, und sie fuhr fort: »Auf jeden Fall werden den Typen die Augen aus dem Kopf fallen, wenn sie June sehen. Sie wird nämlich —«, an dieser Stelle hielt sie kurz inne, um mir zuzuzwinkern - »die heißeste Frau dort sein.« Lieber Gott. Mach, dass sich der Boden auftut und mich verschlingt. Ich war mir nicht sicher, wem das Ganze besser gefiel, Martucci oder Deedee. Glücklicherweise kam in diesem Moment ein richtiger Kunde an den Stand und hielt Brie davon ab, noch weitere Peinlichkeiten von sich zu geben. Ich packte unsere Strandsachen zusammen, verabschiedete mich kurz und machte mich mit Deedee auf den Weg zum Wasser. Obwohl ich früher ziemlich viel Bodysurfing gemacht hatte, war ich noch nie mit einem Boogieboard im Wasser gewesen. Von Geburt mochte ich ja Kalifornierin sein, aber ich war im Valley aufgewachsen, im Land der Klimaanlagen und Swimmingpools. Jeder, der einmal während einer Hitzewelle im August in Van Nuys gewesen ist, versteht, warum die Frauen aus dem Valley in dem Ruf stehen, ständig im Einkaufszentrum herumzuhängen. Die Devise ist Shoppen oder Schmelzen. Und der Strand - der wunderbare, von einer leichten Brise umfächelte Strand, der jenseits der Hügel und fünfundvierzig Fahrminuten entfernt lag -, der hätte genauso gut tausend Kilometer entfernt sein können, was die Bereitschaft meiner Eltern anging, uns dorthin zu fahren. (Obwohl ich zu meiner Schande gestehen muss, dass ich die paar Meter zum Strand von Santa Monica auch nicht wesentlich öfter geschafft habe, seit ich dort wohne.) Als ich bei Susan vorbeigefahren war, um mir ihr Boogieboard auszuleihen, hatte Chase mir einige Tipps gegeben.
Er hatte mir erklärt, dass ich bis zu der Stelle paddeln sollte, wo sich die Wellen brachen. Dann warten, bis eine Welle den höchsten Punkt erreicht hatte, mich auf das Brett legen, wie verrückt paddeln und elegant ans Ufer tragen lassen. »Du musst nur auf deine Welle warten«, hatte er mir geraten, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, was er meinte. Ich breitete unsere Badetücher aus und rieb mich mit Sonnencreme ein. Ich trug einen blauen Bikini mit Blumenmuster aus dem letzten Jahr — einer der wenigen mit einem Unterteil, das das meinige tatsächlich bedeckte, und einem Oberteil mit Bügel. Wenn ich damals gewusst hätte, wie selten und kostbar diese Kombination war - ich erfuhr es leider erst, als ich in diesem Jahr vergeblich versuchte, einen neuen Bikini zu erstehen —, hätte ich den ganzen Laden leer gekauft. Sicher, mein Bauch war nicht so flach, wie er sein sollte. Und wenn schon. Ich hatte im Bus auf der Fahrt zur Arbeit Frauen gesehen, die noch viel mehr Bauch zur Schau stellten. Wer immer das Gerücht verbreitet hatte, dass Los Angeles die Stadt der straffen, perfekt getrimmten Körper sei, war offenbar noch nie mit einem öffentlichen Verkehrsmittel gefahren. Ich hielt das Boogieboard in beiden Händen. Die Wellen waren zwar nicht gerade haushoch, aber auf einen Feigling wie mich wirkten sie Furcht einflößend genug. Deedee hielt sich an ihr Versprechen, nicht ins Wasser zu gehen, und hatte es sich auf ihrem Handtuch bequem gemacht. »Kommst du mit, um mich anzufeuern?«, fragte ich. »Ich geh bis zu den Knöcheln rein«, sagte sie, ohne ihre Chipstüte loszulassen. »Keinen Schritt weiter.« Das Wasser war so kalt, dass ich einen Frostschock bekam, als ich die Zehen eintauchte. Deedee sagte: »Gar nicht so schlimm, wie ich dachte.« Ich brauchte eine Weile, um mit dem Brett hinauszuschwimmen, da alle meine Gliedmaßen völlig taub waren. Außerdem spülte mich jede neue Welle wieder zurück. Zu guter Letzt schaffte ich es irgendwann bis hinter die Brandung, wo ich mich damit abmühte, eine Welle zu erwischen. Meine
Technik bestand darin, mir eine Welle auszusuchen, vom Brett zu rutschen und unter den Wassermassen begraben zu werden, während mir das Boogieboard, das an meinem Handgelenk hing, kräftig um die Ohren schlug. Trotz meiner Erschöpfung stürzte ich mich immer wieder ins Wasser. Schließlich erblickte ich das, was zweifellos meine Welle war - aber dann stellte ich fest, dass ich mich geirrt hatte. Es war keine Welle. Es war das Chrysler Building. Es war der Kilimandscharo. Es war die Chinesische Mauer, die vor mir aufragte und im Begriff stand, auf mich herabzustürzen. Was sie dann auch tat. Sie drosch auf mich ein und schleuderte mich herum, bis ich nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Ich traf ein paarmal unsanft auf dem sandigen Meeresboden auf, wurde aber sofort wieder hochgezerrt — oder nach unten - oder in irgendeine andere Richtung -nur nicht an die Luft. Obwohl meine Lungen kurz vor dem Bersten waren, zwang ich mich dazu, den Anweisungen zu folgen, die uns die Rettungsschwimmer eingeimpft hatten: nicht gegen die Welle anzukämpfen. Im letzten Augenblick schmiss sie mich und mein Brett ans Ufer. Ich lag alle viere von mir gestreckt im Sand, schnappte nach Luft und hatte das Gefühl, keinen heilen Knochen mehr im Leib zu haben. Da hörte ich eine Männerstimme verächtlich sagen: »Pass auf die große Frau auf, Tommy. Tritt nicht auf die große Frau.« Die Füße eines Kleinkindes stapften vorsichtig über meinen Kopf. Nach schön. Ich geb's auf. Ich befreite mich von dem Brett und wollte mich gerade mühsam aufrichten, als zwei weitere Füße in meinem Blickfeld auftauchten. »Alles in Ordnung?« Diese Stimme kam mir bekannt vor. Ich sah nach oben - es war Troy Jones. O Gott. Ich stand auf und versuchte, den Sand von mir abzuwischen. Er klebte überall. Ich war ein menschliches Stück Schleifpapier. Mein Bikinihöschen fühlte sich an wie eine volle Windel. »Mir geht's gut.« Troy grinste. »Ein wirklich beeindruckender Wellenritt. Wenn auch der Abstieg ein bisschen missglückt war.« »Ich
hatte auf Punkte bei der B-Note gehofft.« Ich versuchte zu lächeln. Von den Augenbrauen rieselte mir Sand in die Augen. Um Würde bemüht, sagte ich so munter wie möglich: »Wie geht's mit dem Müllsammeln voran?« »Gut. Allerdings liegt nicht genug Müll herum.« Deedee trat zu uns. »Sie sollten sich mal unter dem Pier umsehen. Da liegt das ganze gute Zeug. Meine Freundin Janelle hat mir erzählt, dass sie dort mal eine Tüte Crystal Meth gefunden hat.« Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Noch mehr Sand rieselte. »Troy«, sagte ich, um das Thema zu wechseln und den kurzen Moment der Ablenkung zu nutzen und an meinem Bikinihöschen zu ziehen und einen Teil des Sands zu entfernen. »Das ist Deedee, eine Freundin von mir. Deedee, das ist Troy.« Sie gaben sich die Hand, und sie musterte ihn von oben bis unten. Er trug ein T-Shirt mit dem Logo von K-JAM und Shorts, und das alles gefiel ihr offensichtlich, da auf ihrem Gesicht der gleiche Ausdruck erschien wie vor kurzem im Kino: Verlegenheit, weil sie sich in der Gesellschaft von jemandem wie mir befand. »Wissen Sie, June sieht nicht immer so schrecklich aus.« »Danke«, zischte ich. Troy lachte. Sie versuchte, meine Haare zu glätten, die mir auf einer Seite am Kopf klebten und auf der anderen Seite in die Höhe standen. »Okay, im Moment ist es nicht unbedingt umwerfend. Aber morgen Abend geht sie aus, und sie wird supercool aussehen. Komm schon, erzähl ihm, wie toll du aussehen wirst.« Troy grinste. »Ja ... bitte.« »Wirklich!«, fuhr Deedee fort. »Die Typen im Oasis werden gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.« »Ich werde mich waschen und kämmen«, sagte ich mit undurchdringlicher Miene. »Sagten Sie Oasis?«, fragte Troy. Ich nickte. »Das ist eine kleine Bar in der Nähe -« »Ja«, sagte er. »Die kenne ich. Ich war da hin und wieder mit meiner Schwester. Sie hatte eine Schwäche für den Barkeeper.«
Ich zog ein aufgeweichtes Bonbonpapier aus meinen Haaren und ließ es angeekelt fallen. Ein Junge schrie: »Das ist meins!«, und kam angeflitzt, um es aufzuheben und in seinen Müllsack zu stopfen. Daraufhin ließ Deedee die leere Chipstüte fallen und sah erfreut zu, wie sich das Ganze wiederholte. »Ich schau mal nach, was wir noch an Abfall haben. Das ist lustig.« Als sie weg war, sagte Troy: »Sie stehen also auf Boogieboar-ding?« »Ich hab's noch nie vorher gemacht.« »Gibt es irgendeinen Grund, warum Sie es heute probiert haben?« Wieder rieselte mir Sand in die Augen. Hoffentlich dachte er nicht, ich würde ihm zuzwinkern. »Wollen Sie wissen, ob es etwas mit der Liste zu tun hat?« »Ich wollte es nicht so deutlich sagen.« »Die Antwort ist ja. Ja, es steht auf der Liste.« Er blickte einen Moment aufs Meer hinaus, bevor er fragte: »Haben Sie ein paar gute Wellen erwischt?« »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe es ein paarmal geschafft, mich ein Stück tragen zu lassen, aber ich weiß nicht, ob das bedeutet, dass ich die richtige Welle erwischt habe.« Mir ging durch den Kopf, dass es sich mit dem Erwischen von Wellen vielleicht so ähnlich verhielt wie mit Orgasmen — wenn man sich nicht sicher war, ob man jemals einen gehabt hatte, dann hatte man nicht. »Wahrscheinlich nicht.« »Gehen Sie noch mal raus?« Noch mal raus? Sollte das ein Witz sein? Ich würde nie mehr ins Wasser gehen, nie mehr. Seit dieser Erfahrung, bei der ich schon die Engel hatte singen hören, lag mir der Gedanke gar nicht mehr so fern, meine Sachen zu packen und nach Montana zu ziehen - oder in irgendeinen anderen Staat, der im Landesinneren lag und so weit wie möglich weg von allem, was groß, nass und salzig war. »Natürlich«, sagte ich unerschrocken, als mein Stolz über alles, was einem vernünftigen Gedanken ähnelte, den Sieg davontrug.
»Ich gebe Ihnen einen Schubs.« Ohne weitere Erklärung zog er sich das T-Shirt über den Kopf und ließ es fallen. Nicht übel! Er hatte kräftige Schultern und Arme wie jemand, der ehrliche körperliche Arbeit verrichtet und sich nicht nur vor einem Spiegel im Fitnessstudio in Positur wirft. Und auf seiner Brust kräuselten sich hellbraune Haare, die bis hinunter zu einem Bauch reichten, der straff war, aber kein Waschbrettbauch. In diesem Augenblick bemerkte ich die riesige Narbe, die sich fast über sein ganzes Bein zog, vom Saum der Shorts quer über den Oberschenkel bis zum Schienbein. »Was für einen Schubs?«, fragte ich und hoffte, dass ich ihn nicht zu auffällig angestarrt hatte. Aber immerhin hatte er sich vor mir ausgezogen. Es wäre unhöflich gewesen, nicht hinzuschauen. »Das werden Sie schon sehen.« Er rief seinen Abfall sammelnden Kollegen zu, dass er gleich wiederkäme, und griff nach dem Boogieboard. Ich folgte ihm ins Wasser. Ohne Brett war es einfacher hinauszuschwimmen, und die Rückkehr ins Wasser hatte den Vorteil, dass ich mir den Sand aus den Haaren und ein paar delikaten Körperöffnungen spülen konnte. Das Wasser reichte Troy bis zur Brust, und ich hielt mich an dem auf und ab schaukelnden Brett fest. Wir waren uns nicht näher als während unserer Unterhaltung am Strand, aber dass wir gemeinsam im Wasser waren, verlieh der Situation etwas merkwürdig Intimes. Troy gab mir die gleichen Tipps wie Chase, nur dass er außerdem sagte, wenn die richtige Welle käme, würde er mir einen Schubs verpassen. »Sie surfen also?«, fragte ich, auf und ab schaukelnd. »Hin und wieder. Seit ich nachts um drei aufstehe, um zu arbeiten, leider nicht mehr so oft.« »Lieber Himmel, um die Zeit torkele ich für gewöhnlich betrunken nach Hause.« »Ja, etwas in der Art habe ich mir schon gedacht.« Wir plauderten eine Weile über seine Lieblingsstellen zum Surfen, und dann sagte er, ich solle mich bereitmachen, die nächsten Wellen kämen. Ich klammerte mich an das Brett, die Arme
um das vordere Ende geschlungen, Hintern und Beine im Wasser. Ich war auf das Ufer ausgerichtet wie eine abschussbereite Rakete. Troy stand links hinter mir — nicht gerade in einem Winkel zu meiner Rückseite, den ich mir ausgesucht hätte, wenn ich die Wahl gehabt hätte. »Wenn ich los sage, fangen Sie an zu paddeln«, wies er mich an. Ich warf einen Blick nach hinten und sah, dass eine Welle heranrollte. Als sie mich erreichte, rief er: »Los!« Ich tauchte die Hände ins Wasser, und die Welle begann das Brett anzuheben. Troy legte eine Hand auf das Brett, die andere auf meinen Hintern und gab mir einen kräftigen Schubs. Plötzlich flog ich dahin. So also war es, wenn man eine Welle erwischte, und meine Vermutung erwies sich als richtig: Ich hatte noch nie zuvor etwas erlebt, was damit zu vergleichen gewesen wäre. Es fühlte sich an, als hätte sich das Wasser unter mir in ein Meer von Händen verwandelt, die mein Brett emporhoben und vorwärtsschoben - gleitend und schwebend, bis ich vor Begeisterung laut schrie und mir wünschte, dieses unglaubliche Glücksgefühl würde ewig andauern. 9
Ich war bestimmt schon hundertmal am Oasis vorbei gefahren, ohne es je betreten zu haben. Im Allgemeinen mied ich Lokale in Einkaufspassagen, die sich einen tropischen Anstrich gaben. Aber als Brie, ihre Freundin Chanel und ich durch die Tür traten, fand ich mich zu meiner Überraschung in einer angenehm geräumigen Bar, in der für einen Sonntagabend ziemlich viel los war. »Ausgezeichnet, es sind hauptsächlich Männer hier. Weniger Konkurrenz«, sagte Brie und zupfte an dem knapp sitzenden Top, das sie speziell für diesen Anlass ausgewählt hatte, weil es die Farbe von Haferschleim hatte; damit würde sie mich garantiert nicht ausstechen. Chanel hatte verkündet, dass in einer Bar
mit dem Namen Oasis in einer Einkaufspassage sicher keine interessanten schwarzen Männer anzutreffen seien und sie deshalb genauso gut etwas Hässliches anziehen könne. Das hätte ich allerdings noch mehr zu schätzen gewusst, wenn ich nicht zufällig das gleiche T-Shirt besessen hätte. Egal. Das Einzige, was zählte, war, dass ich im Begriff stand, Aufgabe Nr. 8, Die heißeste Frau im Oasis sein, zu erfüllen. Aus diesem Grund trug ich das bereits erwähnte metallic-blaue Top mit den Pailletten am Ausschnitt und die tief auf den Hüften sitzende Jeans, die ich mir für mein Blind Date gekauft hatte. Ich hatte eine Ewigkeit damit zugebracht, mir die Haare zu föhnen. Als echtes Kind der Achtziger kann ich einfach nicht anders: Wenn es um Haare geht, ist für mich mehr gleichbedeutend mit besser. Bries Angebot, sich um mein Make-up zu kümmern, hatte ich allerdings abgelehnt. (Ich hätte es beinahe angenommen, bis sie prahlte: »Ich schminke ein Gesicht, und es steht jedem.«) Wir setzten uns an einen hohen Tisch in der Mitte des Raums. Die Kellnerin kam, und Brie und Chanel bestellten Pinks Ladys und ich ein Glas Chardonnay. »Und was jetzt?«, fragte Chanel, als wir unsere Getränke hatten. Ich musterte mit einem raschen Blick die Leute um uns herum. »Ich denke, wenn wir uns einig sind, dass ich die heißeste Frau im Raum bin, können wir in aller Ruhe austrinken und wieder gehen.« »Von hier aus kann ich keine Frau entdecken, die sonst in Frage käme, aber wir wollen lieber mal nachsehen«, sagte Brie. Sie und Chanel nahmen ihre Gläser und standen auf, um die Bar zu durchforsten. Ich blieb am Tisch sitzen und versuchte ... ja was, heiß zu sein? Uff. Dürfte ich bitte auf die Idee zurückkommen, mich anzuzünden? Die Wahrheit war, dass ich mir noch nie in meinem Leben so lächerlich vorgekommen war. Ich kam mir albern vor, weil Brie und Chanel herumliefen, um festzustellen, ob ich die bestaussehende Frau im Raum war, und noch alberner, weil ich hoffte, dass ich es war. Ich verstand, was Marissa sich gewünscht
hatte: das aufregende Gefühl, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, weil sie hübsch war, nicht weil sie dick war. Aber die meisten Augen im Oasis waren nicht auf eine Frau gerichtet, sondern auf die Fernseher in den Ecken, wo gerade ein Spiel der Lakers übertragen wurde. Die beiden kamen zurück und zogen bedauernd die Mundwinkel nach unten. »Da drüben, bei der Musikbox hinter der Säule«, sagte Brie. »Die ist heißer.« Chanel nickte. »Der Busen ist nicht echt, aber sie hat was von Lindsay Lohan. Du weißt schon, Mädchen vom Land, aber verdorben.« Ich reckte den Hals. Verdammt! Sie war wirklich heiß. »Mit der kann ich nicht konkurrieren! Was soll ich denn jetzt machen?«, jammerte ich. »Immer wieder herkommen, in der Hoffnung, dass ich an irgendeinem Abend die einzige Frau bin? Es wird immer eine da sein, die besser aussieht als ich!« »Mach dir keine Gedanken«, sagte Brie mit Unheil verkündender Stimme. »Wir schaffen sie uns vom Hals.« »Was habt ihr vor?«, fragte ich leicht beunruhigt. Sie griff in ihre Handtasche, und mich überkamen schon die schlimmsten Befürchtungen, aber sie holte nur ihren Lippenstift heraus und zog sich die Lippen nach. »Wir haben schon ein paar Ideen. Ich denke, wir stellen uns neben sie und unterhalten uns darüber, dass draußen auf dem Parkplatz jemand seine Musterkollektion von Designerschuhen verkauft. Das sollte sie eigentlich auf Trab bringen. Und falls das nicht funktioniert, könnten wir sagen, dass wir in der Küche eine Ratte gesehen haben.« Nachdem sie sich aufgemacht hatten, um ihre Mission zu erfüllen, blieb ich mir selbst und meinem Wein überlassen. Ich war gerade damit beschäftigt, die Barkeeper einer genaueren Musterung zu unterziehen, und fragte mich, auf welchen von ihnen Marissa ein Auge geworfen hatte, als — mit einem Bier in der Hand und einem Grinsen im Gesicht — kein Geringerer als Troy Jones auftauchte. »Sie hatten Recht. Sie sehen wirklich gut aus, so frisch gewaschen und gekämmt«, sagte er. »Haha.«
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich hier bin. Ich war um die Ecke und habe mich von meiner Mutter bekochen lassen.« »Haben Sie ein Glück. Ich muss bis ins Valley fahren, um ein richtiges Familienessen zu kriegen.« »Sind Sie allein hier?« »Nein, meine Freundinnen sind gerade unterwegs, um ...« äh, heiße Frauen aus dem Weg zu räumen? »... Bekannte zu begrüßen.« Ich warf einen verstohlenen Blick zu Brie und Chanel. Sie standen hinter dem Tisch von Lindsay Lohans Doppelgängerin und waren wild gestikulierend in eine lautstarke Unterhaltung vertieft. Niemand schenkte ihnen die geringste Beachtung. Nachdem Troy meiner Aufforderung, sich zu mir zu setzen, gefolgt war, deutete er mit dem Kopf zum Tresen. »Das dort ist der Typ, auf den meine Schwester abgefahren ist, der in dem rosafarbenen Polohemd. Sie fand, er sähe aus wie der Leadsänger von Nine Inch Nails.« Schwer zu sagen, was merkwürdiger war: dass die nette junge Frau, als die ich mir Marissa Jones vorstellte, auf Nine Inch Nails stand oder dass sie fand, jemand in einem rosafarbenem Polohemd könnte Ähnlichkeit mit Trent Reznor haben. »Aha«, sagte ich. »Ich dachte nur, ich sollte Sie darauf hinweisen. Falls Sie es brauchen.« Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis der Groschen fiel. »Worauf wollen Sie hinaus?« Statt einer Antwort nahm er einen Schluck von seinem Bier. »Es hat nichts mit dem Barkeeper zu tun«, sagte ich. »Das habe ich mir gedacht. Sie müssen ihn also nicht anmachen oder irgendwas in der Art?« »Nein.« Ich wusste, dass er hier war, weil er hoffte, ich würde ihm die Liste zeigen, und er hatte auch das Recht, sie zu sehen — genau genommen war ich diejenige, die keinen Anspruch darauf hatte.
Aber ich fürchtete nach wie vor, dass er enttäuscht sein könnte. Es waren noch nicht sehr viele Aufgaben abgehakt, nicht so viele, wie es sein sollten. Um abzulenken, fragte ich: »Wie sind Sie eigentlich bei den Verkehrsnachrichten gelandet?« »Aha, geschickter Themenwechsel. Ich erzähle es Ihnen, aber die wirklich interessanten Stellen der Geschichte spare ich mir für meine Biographie auf, die eine Millionenauflage haben wird.« Er lehnte sich zurück und setzte gekonnt eine träumerische Miene auf. »Alles fing damit an, dass ich im Alter von drei Jahren mein erstes Dreirad bekam ...« »Ist das die Stelle, an der das Bild verschwimmt und die Rückblende einsetzt?« »Sie ziehen die Kurzfassung vor? Mit einem Wort: Ich mag alles, was einen Motor hat. Mit sechzehn habe ich den Führerschein gemacht. Im gleichen Jahr den fürs Motorrad. Für den Pilotenschein musste ich warten, bis ich siebzehn war, und professionell darf man erst mit zwanzig fliegen.« »Da haben Sie ganz schön Gas gegeben.« »Genau genommen habe ich noch auf der Highschool angefangen, Motorradrennen zu fahren. Ich habe sogar ein paar Sponsoren gefunden. Ich dachte, ich könnte vielleicht Profi werden. Aber dann habe ich einen Sturz gebaut« - er hielt kurz inne und klopfte sich aufs Bein, als wäre es aus Holz — »und mir das Bein aufgeschlitzt. Das Knie war mehr oder weniger Matsch. Das war das Ende meiner Rennfahrerkarriere.« Ich sah ihn mitfühlend an: »Das muss schlimm für Sie gewesen sein.« »Wissen Sie, was komisch ist? Meine Familie dachte immer, ich wäre derjenige, der jung stirbt. Bei dem Tempo, das ich vorgelegt habe, hat keiner von uns damit gerechnet, dass ich meinen dreißigsten Geburtstag erlebe.« Auf diese Weise wieder daran erinnert zu werden, wieso wir uns hier gegenübersaßen, ließ mich unbehaglich auf meinem Barhocker hin und her rutschen, und er war so gnädig, auf etwas anderes zu sprechen zu kommen
und zu fragen: »Was sagt eigentlich Ihr Freund zu der ganzen Sache?« Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ich Robert ihm gegenüber erwähnt hatte, als er hinzufügte: »Ich nehme an, das war Ihr Freund, der mit Ihnen auf der Beerdigung war.« »Oh, ja, wir haben uns vor ein paar Monaten getrennt.« »Tut mir leid.« Ich machte eine wegwerfende Geste, die ausdrücken sollte, nicht weiter wichtig, cest la vie, weil niemand gern zugibt, dass er abserviert worden ist und, schlimmer noch, dass es wehtat. »Was trinken Sie?«, fragte Troy. »Möchten Sie noch mal das Gleiche?« »Nein, danke.« Ich warf einen Blick zu Brie und Chanel. Sie saßen bei der heißeren Frau und deren Freunden am Tisch, jubelten den Lakers zu und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. »Ach, kommen Sie«, drängte er. »Ihr Glas ist fast leer.« »Nein, wirklich, das reicht. Ich muss noch fahren.« »Schade.« Er betrachtete mich mit einem Ausdruck, den meine Mutter als teuflisches Grinsen bezeichnet hätte. »Ich hatte gedacht, wenn ich es schaffe, Sie betrunken zu machen, würden Sie mir die Liste zeigen.« Was sollte ich tun? Wie man es auch drehte und wendete: Die Liste war Diebesgut. »Also gut«, sagte ich widerstrebend. »Ich zeige sie Ihnen. Aber erst will ich sicher sein, dass Sie begreifen, dass viele Punkte nur deshalb nicht abgehakt sind, weil ich noch daran arbeite.« »Okay.« »Ich bin gerade dabei, sie zu erledigen.« »Ich hab's kapiert.« »Und es wäre nicht in Ordnung, sie abzuhaken, bevor ich damit fertig bin.« Er nickte. »Sie in Marissas Sinn erledigt habe.« »June ...« »Ja?«
Er streckte die Hand aus. »Die Liste ...?« Ich zog sie aus meiner Handtasche und gab sie ihm. Er faltete sie auseinander und fing an zu lesen. 20 Dinge, die ich vor meinem 25. Geburtstag gemacht haben will
1.50 Kilo abnehmen 2.Einen Fremden küssen. 3.Jemandes Leben verändern 4.Sexy Schuhe tragen 5.Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen 6.Ohne BH losziehen 7.Buddy Fitch zahlen lassen 8.Die heißeste Frau im Oasis sein 9.Ins Fernsehen kommen 10.In einem Hubschrauber fliegen 11. Eine tolle Idee in der Arbeit präsentieren 12. Boogieboarding ausprobieren 13.In der Öffentlichkeit Eis essen 14.Zu einem Blind Date gehen 15.Mit Mom und Grandma zu einem Konzert Von Wayne Newton gehen 16.Mir eine Massage geben lassen 17.Meine Badezimmerwaage wegwerfen 18.Einen Sonnenaufgang miterleben 19.Meinem Bruder zeigen, wie dankbar ich ihm bin 20.Eine große Summe für wohltätige Zwecke spenden
Seine Miene war ernst, als er die einzelnen Aufgaben überflog. An einer Stelle stieß er laut die Luft aus und rieb sich die Stirn. Ich war mir nicht sicher, ob ich etwas sagen sollte, deshalb beschränkte ich mich auf ein knappes »Alles in Ordnung?«
»Nr. 19 ist ziemlich heftig. Weil ...«, setzte er an, um gleich wieder innezuhalten. Nach einem kurzen Moment fuhr er fort: »Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?« »Natürlich.« Er legte die Liste auf den Tisch und bahnte sich einen Weg zur Toilette. Sobald ich allein war, kam Brie angefegt. »Wir haben sie nicht dazu bringen können zu verschwinden, aber ich glaube, es geht auch so.« Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Sie hat ganz hinten einen kaputten Zahn.« »Da habe ich aber Glück.« »Das kann man wohl sagen. Wie ich sehe, hast du dir bereits einen Verehrer geangelt. Der ist wirklich niedlich.« »Du hast ihn gestern kennen gelernt. Das ist Troy Jones, Marissas Bruder.« »Ach ja, stimmt. Dachte ich's mir doch, dass er mir bekannt vorkommt.« »Ich habe ihm die Liste gezeigt«, sagte ich mit einem Blick zur Tür der Toilette. »Er hat ziemlich heftig darauf reagiert.« »Na klar. Ist ja auch schwer zu verdauen, wenn du liest, dass deine Schwester vorhat, ohne BH herumzulaufen.« Sie hatte Recht. Ich hatte überhaupt nicht bedacht, wie persönlich einiges auf der Liste war. Ich schickte Brie weg, bevor Troy zurückkam. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es mich so sehr trifft«, sagte er. »Sie hatten wohl eine ziemlich enge Beziehung?« »Sie war meine kleine Schwester. Ich war schon fünf, als sie auf die Welt kam. Ich habe auf sie aufgepasst und all diese Dinge, Sie wissen schon.« Ein Bruder, der auf seine kleine Schwester aufpasste? Nein, das war mir fremd. Mich selbst betrachtete ich eher als Einzelkind.
»Jedenfalls«, fuhr er fort, »hat sie mir ihre Dankbarkeit oft genug gezeigt, als sie noch lebte. Den Punkt können Sie von der Liste streichen.« Was für eine Versuchung! Zögernd sagte ich: »Nein, das geht nicht.« Dann erklärte ich ihm, welche Regeln Susan und ich aufgestellt hatten: dass ich die Aufgaben nicht in ihrer Reihenfolge auf der Liste erledigen musste, dass ich die dahintersteckende Absicht beachten musste und dass ich mich nach Kräften zu bemühen hatte, sie zu meinen eigenen Anliegen zu machen. Das bedeutete, fügte ich abschließend hinzu, dass ich meinem Bruder zeigen musste, wie dankbar ich ihm war, bevor ich den Punkt abhaken konnte. Ich verschwieg allerdings, dass ich selbst gespannt war, wie das gehen sollte. Wie sollte ich zum Beispiel ausdrücken, was ich empfunden hatte, als er mir in der Küche mit einem Buttermesser vor der Nase herumfuchtelte, um mich zum Weinen zu bringen? »Dann gibt es da noch den hier, Nr. 15, Mit Momi und Grandma zu einem Konzert von Wayne Newton gehen«, sagte ich betrübt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das schaffen sollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Lust hatten, nach Las Vegas zu fahren. »Sie wären sicher begeistert«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. Ich stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Jede Familie hütet ein paar peinliche Geheimnisse.« Er bat mich, ihm die Liste noch einmal zu geben, und als er sie dieses Mal durchlas, schien er sie mehr von der heiteren Seite zu nehmen. »Da stehen einige Dinge drauf, von denen man sich nicht unbedingt vorstellen will, dass die eigene Schwester sie tut.« »Versteh ich.« »Aber es macht mir nichts aus, mir vorzustellen, dass Sie sie tun.«
Er sah mich an, und ich verschränkte instinktiv die Arme vor der Brust. »Also, wen haben Sie geküsst?«, fragte er. »Irgendeinen Kellner.« »Ich wette, er war hingerissen.« Und in diesem Moment - Mist! - konnte ich es nicht mehr leugnen. Irgendetwas in mir begann sich zu regen. Die Schnecke in ihrem Häuschen hielt zaghaft Ausschau in der frischen Luft. Und ich hielt Ausschau nach einem Baseballschläger, um ihr eins überzuziehen. Konnte ich mich bei all den vielen Männern auf der Welt nicht vielleicht von einem anderen angezogen fühlen? Einem, dessen Schwester ich nicht ins Jenseits befördert hatte? Falls wir ein Paar würden — o Gott, meine Fantasie hatte offenbar Flügel bekommen -, müssten wir für den Rest unseres Lebens lügen, wenn uns jemand fragte, wie wir uns kennen gelernt hatten. »Bei der Aufgabe, bei der es darum geht, in einem Hubschrauber zu fliegen, kann ich Ihnen helfen«, sagte Troy und trank sein Bier aus. »Das hat Marissa aufgeschrieben, weil ich sie immer gedrängt habe, mal mitzufliegen.« »Mitzufliegen?« »Dass sie mich begleitet, wenn ich Verkehrsmeldungen durchgebe.« »Das wäre großartig!« Und - hör auf., schalt ich mich selbst. Hör sofort damit auf, mit den Wimpern zu klimpern1. In diesem Augenblick kamen Brie und Chanel kopfschüttelnd zurück an den Tisch. »Ganz eindeutig Schiebung. Das war hundertprozentig kein Foul.« Nachdem ich alle einander vorgestellt hatte, stand Troy auf. »Ich mache mich besser wieder auf den Weg - ich habe Ihnen schon genug von Ihrer Zeit gestohlen.« Er schob mir die Liste zu. »Übrigens, das hier ist erledigt.« Er deutete auf Nr. 7: Der ungemein peinliche Grund, warum wir heute hier waren.
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn das süße Ding da drüben nicht wäre.« »Leider wahr, sie ist heißer«, pflichtete Brie mir traurig bei und deutete mit dem Kinn auf meine Konkurrentin. Troys Augen folgten unserem Blick. Er nahm einen Stift aus dem Ständer mit der Karte, auf der die Nachos angepriesen wurden. Dann beugte er sich über die Liste und strich Die heißeste Frau im Oasis sein sorgfältig durch. Anschließend gab er sie mir zurück. »Nicht mal annähernd.«
10
Wir
hingen mit unserer Gratisbenzin-Aktion fest, weil wir keine einzige Tankstelle auftreiben konnten, die bereit gewesen wäre, mit uns zusammenzuarbeiten. Offenbar gab es da eine Kleinigkeit namens »Haftung«, die Probleme bereitete. Der Betreiber einer Tankstelle wollte, dass ich eine Versicherung über eine Million Dollar abschloss, für den Fall, dass jemand vor Aufregung einen Herzinfarkt bekam, wenn wir seine Benzinrechnung übernahmen. Selbst mit der Erklärung, dass es nicht mehr als fünfzig Dollar pro Fahrzeug geben würde - und auch das nur für diese großen, benzinfressenden Geländewagen -, ließ er sich nicht umstimmen. »Man kann nie wissen«, sagte er. »Meiner Schwägerin ist beim Staubsaugen eine Spinne vor die Füße gefallen, sie ist furchtbar erschrocken, und bumm, das war's.« Ich hatte wochenlang ohne den geringsten Erfolg Tankstellen abgeklappert. Die Aktion sollte am 16. April stattfinden, und bis dahin waren es nur noch zwei Wochen. Ich kam mir vor wie eine Braut, die
schon die Band und die Hochzeitstorte bestellt hat und der immer noch der Bräutigam fehlt. Auf Lizbeths wöchentlichem Abteilungsmeeting gab Mar-tucci mir einen Tipp, der viel versprechend klang. Er sagte, ich solle mein Glück mal bei einem Mann namens Armando versuchen, der eine Tankstelle in Burbank betrieb. Ich bekam vor Aufregung feuchte Hände, weil in der Nähe viele der großen neuen Fernsehstudios lagen. »Was springt für mich dabei raus?«, fragte Armando, als ich ihn anrief, um ihn zu fragen, ob wir die Gratisbenzin-Aktion an seiner Tankstelle durchführen könnten. Während unseres Gesprächs bediente er die Registrierkasse. Ich konnte das Klingeln hören, mit dem sich die Geldschublade öffnete und schloss. »Es wäre eine tolle Publicity für Ihre Tankstelle. Außerdem hätten Sie an dem Tag sicher viele zusätzliche Kunden.« »Wie soll das denn gehen? Haben Sie nicht gerade gesagt, Sie wollen die Leute überraschen? Warum sollten dann neue Kunden kommen, um ihr Geld an meiner Tankstelle loszuwerden?« »Na ja, aber -« Ich hörte, wie er jemandem zubrüllte: »Da nicht! Da ist der Griff kaputt! Nummer fünf, gehen Sie zur fünf!« Dann war er wieder da. »Was meinen Sie, wie viel zusätzlichen Umsatz wir an dem Tag machen würden?« »Es geht mehr um die gute Sache. Sehen Sie -« »Gute Sache! Solange die nicht grün-weiß ist, mit dem Bild von einem Präsidenten drauf, kann mir Ihre gute Sache gestohlen bleiben. Zapfsäule fünf, habe ich gesagt! Herrgott noch mal, können Sie nicht zählen? Eins, zwei, drei, vier, fünf!« »Aber die Leute werden Ihre Tankstelle im Fernsehen sehen oder im Radio davon hören und —«
»Nein, die funktioniert nicht, Schlaumeier! Sie stehen an der falschen Zapfsäule!«, brüllte er. Dann sprach er wieder in den Hörer. »Kein Interesse.« Als ich Martucci erzählte, dass ich mit meinem Anruf kein Glück gehabt hatte, sagte er: »Du hast angerufen? Na, dann ist es kein Wunder. Am Telefon erreichst du gar nichts. Du musst schon persönlich hinfahren und mit ihm reden.« Er nahm einen Zettel von seinem Schreibtisch und schrieb mir den Weg zu der Tankstelle auf. »Und, Parker, zieh was Enges an!« »Die Sache läuft!«, jubelte ich auf dem Abteilungsmeeting ein paar Tage später. Dank der fünf Pfund, die ich zugenommen hatte - vielleicht auch mehr, aber woher sollte ich das wissen, nachdem ich meine Badezimmerwaage weggeworfen hatte? -, war praktisch jedes Kleidungsstück, das ich besaß, eng. Ich war direkt nach der Arbeit nach Burbank gefahren, um den Deal perfekt zu machen. Ich würde zwar gern behaupten, dass Armando meinem Charme sofort erlag, aber der Ehrlichkeit halber muss ich zugeben, dass er sich lange wehrte. Am Ende bekam ich ihn jedoch herum — nicht zuletzt durch die Versicherung, ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, damit er ins Fernsehen kam. Das, und ja, ich würde wieder dieses rote Top anziehen. Brie hatte ebenfalls eine kooperationsbereite Tankstelle aufgetrieben. In der Nähe des Flughafens, betrieben vom Freund eines Freundes. Die Zusagen von zwei Tankstellen erschienen mir ausreichend. Ich hatte sogar T-Shirts bedrucken lassen, die das Personal tragen sollte. Ich hielt eines in die Höhe, knallig lila mit der Aufschrift Die Große Gratisbenzin-Aktion in Weiß auf der Vorderseite und unserem Logo mit Telefonnummer auf der Rückseite.
Lizbeth rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Nett ... obwohl ich nicht weiß, ob man bei zwei Tankstellen schon von >groß< reden kann.« Nach der Besprechung zog mich Brie beiseite und grinste mich aufmunternd an. »Das wäre doch einen Anruf bei deinem Verkehrsreporter wert. Der gesagt hast, du bist heiß.« »Halt die Klappe«, sagte ich und wurde rot. »Das Kompliment habe ich doch regelrecht aus ihm rausgepresst.« Aber sie hatte Recht. Ich sollte Troy anrufen und ihm von der Aktion erzählen, damit er sie erwähnen konnte, wenn er auf Sendung war. Aber noch nicht jetzt. Zwei Wochen vorher anzurufen, um einen zehn Sekunden langen Beitrag zu ergattern, das war einfach eine erbärmlich schlechte Ausrede. »Ich bin platt! Du siehst fanta-!«, rief ich laut aus, bevor Deedee die Augen aufriss und heftig den Kopf schüttelte, um mich am Weitersprechen zu hindern, »-stisch aus«, beendete ich den Satz etliche Dezibel leiser. »Gehen wir«, sagte sie steif. Als sie mir die Tür aufmachte, trug sie Bries Klamotten: Jeansjacke über gestreiftem Lycra-Top und pinkfarbene Hose, die tief auf den Hüften saß. Sicher, sie wirkte in den Sachen wie die Chilischote, die man in eine Olive quetscht, aber es war eine solch erfrischende Abwechslung gegenüber ihren unförmigen T-Shirts und ausgebeulten Hosen, dass ich einfach etwas dazu sagen musste. »Buenos dias«, rief ich wie immer ihrer Mutter zu, während Deedee bereits aus dem Haus stürmte. Als wir in mein Auto stiegen, fragte ich: »Wo liegt das Problem? Will deine Mutter nicht, dass du so was anziehst?« »Machst du Witze? Sie wäre begeistert. Sie nervt mich schon seit einer Ewigkeit damit, dass ich aufhören soll, wie ein Sack herumzulaufen«
»Aha.« Ich erinnerte mich daran, dass sich Deedees Mutter bei meinem ersten Besuch bei Rose über die Aufmachung ihrer Tochter beklagt hatte. Das Ganze war offensichtlich zu einem Machtkampf zwischen den beiden ausgeartet. Sie wollte, dass Deedee sich weiblicher anzog, und so wie es aussah, wollte Deedee das eigentlich auch, hätte es aber nie zugegeben. »Ich glaube, es reicht schon, wenn sie nur denkt, dass ich in weiten Klamotten rumlaufe.« Sie grinste triumphierend. »Trotzdem muss ich vorsichtig sein, weil sie nicht völlig blind ist. Ich muss mit den Farben aufpassen, wenn sie in der Nähe ist.« »Wirklich schlau. Zu schade, dass du nicht auch deine guten Noten vor ihr verstecken konntest.« Sie ging auf meinen ironischen Ton ein. »Rose hat mich verpfiffen.« »Du bist wahrscheinlich der einzige Teenager in ganz Amerika, der seine guten Leistungen vor seiner Mutter zu verbergen versucht. Wie dem auch sei, ich wollte vorhin jedenfalls sagen, dass du fantastisch aussiehst.« »Danke. Du sagst ihr doch nichts, oder?« »Wie denn?« »Ach so, ja.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Sie spricht ein bisschen Englisch und versteht auch mehr, als sie erkennen lässt. Da, wo sie arbeitet, sprechen alle um sie herum Englisch.« »Sie arbeitet?« »Ja, sie arbeitet. Sie ist Köchin. In einem echt vornehmen Restaurant.« »Das ist erstaunlich. Ich bin eine furchtbare Köchin, und dabei bin ich nicht einmal behindert. Man sollte annehmen, dass sie sich die Finger verbrennt, oder -« »Sie verbrennt sich nie die Finger. Dazu ist sie viel zu perfekt.« Deedee drehte an einem Knopf an ihrer Jacke. »Jeden Tag muss ich mir anhören, was sie alles
kann, obwohl sie nichts sieht. Ununterbrochen hackt sie auf mir herum, dass ich etwas aus mir machen soll, so wie sie. Und nicht wie so viele andere Mädchen ein Kind nach dem anderen kriegen soll. Sie will, dass ich aufs College gehe und viel Geld verdiene.« »Willst du das denn nicht auch?« »Klar, aber vielleicht will ich zuerst Kinder. Bevor ich zu alt bin, verstehst du.« Gleich darauf wurde ihr offenbar bewusst, was sie da eben gesagt hatte, weil sie hastig hinzufügte: »Nicht dass es schlimm ist, alt zu sein, wenn man Kinder kriegt.« Wir schwiegen einen Moment, bevor sie fragte: »Hast du jemals daran gedacht, Kinder zu bekommen?« »Sicher. Und obwohl ich inzwischen so alt bin, dass meine Eierstöcke bestimmt schon ganz verschrumpelt und voller Staub sind, probiere ich es vielleicht sogar noch.« »Du könntest ja auch eins adoptieren.« »Ich bin vierunddreißig. Du tust gerade so, als ob es schon völlig hoffnungslos wäre.« »So habe ich es nicht gemeint. Es ist nur so, dass da, wo ich herkomme, die Frauen in deinem Alter schon Großmutter sind.« Wir trafen uns mit Sebastian und Kip in einem Laser-Spielsalon in Pasadena. Das war ursprünglich nicht vorgesehen gewesen. Ich hatte an ein Mittagessen mit Sebastian gedacht, bei dem er sich mit Deedee über ihre schriftstellerischen Ambitionen unterhalten konnte. Aber dann hatte er gefragt, ob er Kip mitbringen könnte, und wenn wir schon zu viert wären, dann könnten wir doch auch ein bisschen Spaß haben, oder? Ich hatte also meinen Plan über den Haufen geworfen, und als ich die drei jetzt beobachtete, war ich froh darüber. Sie hatten einen Riesenspaß. Dee-dee ging aus sich heraus, wie
sie es nur selten tat. Sie unterhielt sich lautstark mit Kip auf Spanisch, spielte die mexikanische Gangsterbraut und kreischte vor Lachen. Leider blieb mir der besondere Reiz des Spielsalons verschlossen. In dem Raum war es so dunkel, dass ich mich immer wieder verlief. Soweit ich es erkennen konnte, traf ich mit meiner Laserpistole nie irgendein Ziel, und ich kapierte einfach nicht, wie das mit dem Nachladen funktionierte. Hinterher machten sich die drei darüber lustig, dass ich erschossen worden war und es nicht einmal gemerkt hatte. Offenbar hatte ich noch drei Runden mitgespielt, obwohl ich bereits tot war, als schießender Zombie, sozusagen. Dann trennten wir uns, und ich fuhr Deedee nach Hause. »Viel Glück beim Reinschleichen«, sagte ich, als sie ausstieg. »Und lass dich bloß nicht beim Bravsein erwischen!« Sie verdrehte die Augen. Als ich meine Wohnung betrat, klingelte das Telefon. Es war Kip. »Rufst du an, um mit deinem Sieg anzugeben?«, fragte ich. »Ich wollte mit dir über Deedee reden«, erwiderte er in ernstem Ton. »Ist irgendwas passiert?« »Ich könnte mich natürlich irren ...« »Ja?« »Aber ich glaube nicht. Ich spreche jetzt in meiner Eigenschaft als Arzt. Ich habe in letzter Zeit sehr viele junge Frauen behandelt, und zwar fast ausschließlich mexikanischer Herkunft, der Körperbau ist mir also vertraut, und ich weiß, welchen Tonus die Haut normalerweise hat und -« »Kip. Was ist los?« »Ich glaube, deine Kleine Schwester ist schwanger.«
Ich verbrachte den Rest des Wochenendes mit Grübeln. Konnte es tatsächlich sein, dass Deedee schwanger war? Sie war doch erst vierzehn! Vielleicht irrte sich Kip - aber was, wenn er Recht hatte? Ich sollte mit Rose Morales sprechen. Wahrscheinlich gab es auch für diese Situation irgendwelche Regeln. Eine Art Bedienungsanleitung für die Beziehung zu einer Kleinen Schwester. Aber wenn ich mit Rose sprach und falsch lag, würde Deedee mir nie mehr vertrauen. Der Teufel, der auf meiner Schulter hockte, riet mir, so zu tun, als hätte Kip mich niemals angerufen. Que sera sera und so weiter. Doch der Engel auf meiner anderen Schulter — er sah einem dünnen schwulen Mann mit Kindergesicht, Ziegenbärtchen und Brille verdächtig ähnlich - sagte, ich müsse etwas unternehmen, und zwar schnell. Die Anzeichen, die er bemerkt hatte, der leicht gewölbte Bauch und die veränderte Hautfarbe, deuteten darauf hin, dass sie schon ziemlich weit war. Und wenn es so war, dann zählte jeder Tag, falls sie ... na ja ... »Falls sie was?«, hatte ich Kip am Telefon gefragt. »Das Kind nicht bekommen will«, hatte er erwidert. »Ach so.« »Ich will damit ja nur sagen, wenn sie sich für eine Abtreibung entscheiden sollte, dann je früher, desto besser. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass sie den Zeitpunkt verpasst, zu dem ein Arzt noch bereit ist, es zu tun. Ich sage dir lieber nicht, zu welchen Mitteln diese Mädchen in ihrer Verzweiflung manchmal greifen.« Gut, dass er es nicht tat. Ich wollte es nicht hören. Als ich mich am Montagmorgen um halb sieben mit Martucci zum Laufen traf, wusste ich noch genauso
wenig, was ich tun sollte, wie in den Stunden zuvor, seit ich mitten in der Nacht aufgewacht war. Zurzeit stand wirklich alles auf dem Kopf. Deedee war vielleicht schwanger. Ich war für eine Weile von meiner banalen Texterei freigestellt, um das größte Promotion-Event meiner beruflichen Laufbahn zu organisieren. Meine Libido führte derweilen ihre eigene Kampagne gegen mich, um mich dazu zu bringen, mit einem gewissen Verkehrsreporter Kontakt aufzunehmen, der mich eigentlich hassen müsste, aber das Gegenteil zu tun schien. Ich hatte noch zehn von zwanzig Aufgaben zu erledigen, zu deren Erfüllung innerhalb von ein paar Wochen ich mich aus Gründen der Ehre verpflichtet sah. Und ich trainierte dreimal in der Woche für einen 5-Kilometer-Lauf - jeden Montag, Mittwoch und Freitag -, ausgerechnet mit Dominic Martucci. War es da ein Wunder, dass ich an Schlafstörungen litt? Ursprünglich hatte ich gehofft, dass es nicht nötig sein würde, zu solch drastischen Mitteln wie einem regelmäßigen Training zu greifen, um Nr. 5 auf der Liste, Einen 5-Kilome-ter-Lauf schaffen, abzuhaken. Im Mai fand in Manhattan Beach ein Lauf statt, an dem ich teilnehmen wollte. Als ich dann im Fitnessstudio aufs Laufband gehüpft war, hatte ich noch gedacht, das Ganze wäre ein Spaziergang. Nach einer Minute — nicht nach einem Kilometer, nach einer Minute — hatten sich meine Lungen angefühlt, als würde ich Ziegelsteine einatmen statt Luft. Ich keuchte und stöhnte und war so fertig, dass ich um ein Haar heruntergeplumpst wäre wie ein Brötchen vom Fließband einer Brotfabrik. Ich begriff, dass ich es ohne eine gewisse Anstrengung nicht schaffen würde. Da ich keine Ahnung hatte, wie man sich auf einen 5-Kilometer-Lauf vorbereitet, fragte ich im Büro herum, ob jemand ein paar Tipps
für mich hatte. Zu meinem größten Missfallen fiel immer wieder der Name Martucci. Obwohl es mir zuwider war, ihn um Rat zu bitten, tat ich es. Alles, was er sagte, war: »Klar, ich helf dir.« »Gibt es etwas Bestimmtes, das ich beim Training beachten muss? Spezielle Schuhe oder so?« »Klar«, wiederholte er. »Ich trainiere dich. Aber ich verlange hundertprozentiges Engagement. Drei Mal die Woche. Du musst pünktlich sein, und du musst dich anstrengen. Und« - er nahm mir eine Tüte Bonbons aus der Hand »ich würde vorschlagen, dass du aufhörst, dieses Zeug in dich reinzustopfen.« »Du brauchst mir nicht zu sagen —« Er musterte mich abschätzend von oben bis unten. »Wie geht's denn bisher mit dem Laufen?« Nicht besonders gut. Ich sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Warum willst du mir helfen?« »Sagen wir mal, weil ich es gut finde, dass du die Liste für das tote Mädchen abarbeitest.« »Du weißt von der Liste?« »Jeder weiß von der Liste.« »Und ich hab wirklich geglaubt, dass Brie ein Geheimnis für sich behalten kann«, murmelte ich. Er klopfte mir auf die Schulter. »Schade, dass ich den Tag verpasst habe, an dem du ohne BH rumgelaufen bist.« Und jetzt stand ich also noch vor Sonnenaufgang hier im Freien und machte Aufwärmübungen. Martucci ging nach der Intervalltrainingsmethode vor. Ich musste fünf Minuten schnell gehen, dann eine Minute laufen, fünf Minuten gehen, eine Minute laufen und so weiter, bis ich mitten auf dem Weg zusammenbrach, worauf er mich wieder hochzerrte und zwang, das Ganze von vorne anzufangen. Nach dem ersten Teil des Trainings rang ich keuchend nach Luft. Martucci trug knappe Joggingshorts und ein Sprintertrikot, das seine drahtigen Arme und Schultern sehen ließ.
»Letzte Nacht wieder mal versumpft, Parker? Du bist ja noch schlechter in Form als sonst.« »Ich habe einfach zu viele Sorgen. Ich kenne ein Mädchen, das vielleicht schwanger ist.« Wie kam ich bloß auf die Idee, Martucci ins Vertrauen zu ziehen? Susan war übers Wochenende nicht da gewesen, also lag es wohl an dem aufgestauten Redebedürfnis. Oder ich verlor mit jedem Schritt auf dem Trimmpfad ein paar Tausend Gehirnzellen. Er stieß hörbar den Atem aus. »Das ist nicht einfach. Aber Laufen ist mit das Beste, was du machen kannst. In den letzten drei Monaten musst du wahrscheinlich kürzer treten, aber es ist wichtig, in Form zu bleiben, dann kannst du besser pressen, wenn es so weit —« »Es geht nicht um mich«, fuhr ich ihn an. »Es geht wirklich um ein Mädchen, das ich kenne. Du kennst sie übrigens auch: Deedee, meine Kleine Schwester, mit der ich neulich am Strand war. Das arme Kind ist erst vierzehn. Was soll sie machen? Ich meine, falls sie tatsächlich schwanger ist. Ein Freund von mir, ein Arzt, meint, dass sie es selbst vielleicht noch gar nicht weiß. Vielleicht ignoriert sie die Symptome einfach. Soll ich es ihrer Mutter sagen? Oder der zuständigen Frau bei Big Sister?« »Magst du das Mädchen?« »Ja«, sagte ich, ohne zu zögern und zu meiner eigenen Überraschung. »Sogar sehr.« »Dann besorg ihr einen Schwangerschaftstest. Vergewissere dich, dass sie wirklich schwanger ist, bevor du es irgendjemandem sagst. Wenn ich an der Stelle des Mädchens wäre, hätte ich gern die Gelegenheit, das selbst zu tun.« »Ich sage es zwar nicht gern, aber du hast Recht.« »Kauf den in der blauen Schachtel, mit dem Bild von dem Hasen drauf. Da steht das Ergebnis in Worten, und du
musst keine Punkte oder Streifen enträtseln. Ist weniger nervenaufreibend.« »Wie kommt's, dass du dich so gut mit Schwangerschaftstests auskennst?« »Diese Frage stellst du einem italienischen Hengst wie mir? Die Frauen nennen mich Sperminator. Ich trau mich nicht, einer zu nahe zu kommen, aus Angst, dass ich sie allein durch meinen männlichen Geruch schwängern könnte.« Am folgenden Abend rief ich Deedee an und sagte, ich sei zufällig in der Nähe und würde sie gern auf eine Pizza einladen, wenn ihre Mutter nichts dagegen hätte. Als ich sie abholte, wartete ich, bis sie die Beifahrertür zugeschlagen hatte, bevor ich sagte: »Es gibt zwei Möglichkeiten, wo wir zum Pizzaessen hingehen können. Mario am Culver Boulevard. Oder zu mir nach Hause. Da müssen wir nur die Mikrowelle anwerfen. Der Vorteil, wenn wir zu mir fahren, besteht darin« - ich machte eine Pause — »dass ich zu Hause auch einen Schwangerschaftstest habe. Für den Fall, dass du aus irgendeinem Grund einen brauchst.« Sie starrte mich schweigend an. Ich fuhr fort: »Kip hatte den Verdacht, dass du schwanger sein könntest.« Immer noch keine Reaktion. »Könntest du schwanger sein?« Sie ließ sich auf ihrem Sitz zurücksinken, schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß es nicht.« Das klang nach Pizza aus der Mikrowelle. In meiner Wohnung las ich ihr die Anleitung für den Schwangerschaftstest mit so neutraler Stimme vor, als handle es sich um die Backhinweise auf der Pizzaschachtel. »Brauchst du Hilfe?«, fragte ich, als sie sich auf den Weg ins Badezimmer machte. »Ich kann allein pinkeln.«
»Tut mir leid. Ich hatte moralische Unterstützung gemeint.« Darauf sagte sie in entschuldigendem Ton: »Du kannst hinterher reinkommen.« Vier Minuten später fing die Mikrowelle an zu piepsen. Die Pizza blieb jedoch unberührt, weil der Teststreifen das Ergebnis anzeigte. Deedee rang nervös die Hände. Deshalb nahm ich den Teststreifen und drehte ihn so, dass man das Ergebnis ablesen konnte. Schwanger. Martucci hatte sich geirrt. Ich hätte ein paar rosafarbene Punkte dem Wort, das mir entgegenstarrte, vorgezogen. Deedee schloss die Augen und flüsterte: »Ich kann mir die Kugel geben.« Ich nahm sie in die Arme und zog sie an mich. »Das kommt alles wieder in Ordnung«, versicherte ich. Sie drückte sich an mich. Schon erstaunlich, dachte ich. Da hatte ich vor wenigen Sekunden den Beweis dafür in Händen gehabt, dass sie eine Frau war, und doch war sie mir noch nie so kindlich vorgekommen.
11
Falls sich Maria Garcia Alvarez fragte, warum ein Arzt ihr beibrachte, dass ihre vierzehnjährige Tochter schwanger war, statt dass sie es von ihr selbst erfuhr, dann zeigte sie es nicht. Offenbar war es ihr egal, wen sie anbrüllte. Kips Gesichtsausdruck blieb ruhig, während sie dort auf dem Sofa saßen, so dicht nebeneinander, dass sich ihre Knie berührten, und Maria auf Spanisch auf ihn einschrie. Deedee saß ebenfalls auf dem Sofa, auf der anderen Seite ihrer Mutter, mit verschränkten Armen und tief in die Kissen gesunken.
Ich konnte nichts weiter tun, als die Szene von meinem Sessel aus zu verfolgen. Ich hatte keine Ahnung, was gesprochen wurde. Kip hatte mir das spanische Wort für schwanger gesagt, embarasada, aber sie sprach so schnell und in einem solch aufgebrachten Ton, dass ich nicht einmal das verstand. Ich hatte Deedee versprochen, dass ich sie unterstützen würde, ganz gleich, wie ihre Entscheidung ausfiel. Wir hatten eine Stunde darüber geredet, bevor ich sie nach Hause gefahren hatte. Sie hatte schon vermutet, dass sie schwanger war, wollte es sich nur nicht eingestehen. Eine einfache Rechnung — sie hatte nur einmal mit Carlos geschlafen, nach der Schulparty, zu der sie hatte gehen dürfen — ergab, dass sie im vierten Monat war und das Baby Mitte August zur Welt kommen würde. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie das Baby bekommen und nach der Geburt zur Adoption freigegeben, aber sie bezweifelte, dass das möglich war. Ich beruhigte sie. Es war ohne Zweifel das Beste, was sie tun konnte. Sie war vierzehn! Sie war eine ausgezeichnete Schülerin und wollte aufs College! Als ich ihr das sagte, lachte sie bitter auf. »Du begreifst das nicht. Bei uns gibt man sein Kind nicht weg«, sagte sie dann mit ausdrucksloser Stimme. »Das macht man einfach nicht.« Also baten wir Kip, uns zu helfen. »Vielleicht können wir deine Mutter dafür gewinnen«, hatte ich zu Deedee gesagt. »Sie will doch schließlich auch, dass du aufs College gehst.« Doch ein Blick auf Maria, als sie jetzt mit Kip sprach — wild gestikulierend, während der Wortschwall kein Ende nehmen wollte —, zeigte mir, dass es leider nicht so glatt gehen würde. Kein Wunder, dass Deedee mein Angebot, ihr beizustehen, gleich angenommen hatte. Ihre Mutter hatte etwas Furchteinflößendes. Wenn sie meine Mutter gewesen wäre, wäre ich in Tränen
ausgebrochen und hätte mich in die nächste Ecke verkrochen. Ich verstand zwar kein Wort von dem, was gesagt wurde, aber es war nicht schwer, sich vorzustellen, wovon die Rede war. Ich hatte einmal einen Freund gehabt, der sich die Seifenopern auf Telemundo angesehen hatte - oder genauer gesagt, der sich die vollbusigen, leicht bekleideten Schauspielerinnen in den Seifenopern auf Telemundo angesehen hatte. Er hatte die Dialoge für mich simultan übersetzt. Es war immer so etwas wie: »Meine Brüste sind so groß, die sprengen meine Bluse«, oder: »Hier ist die Waffe, mit der Pedro umgebracht wurde, und während ich sie dir gebe, streiche ich mir mit der anderen Hand langsam über den Körper und lecke mir provozierend die Lippen.« Die Szene, die sich vor meinen Augen abspielte, war nicht weniger dramatisch, auch wenn keinerlei Sex dabei im Spiel war. Marias Text war zu umfangreich, um ihn zu synchronisieren, aber es ging zweifellos vor allem darum, dass Deedee sich selbst in diese missliche Lage gebracht hatte und jetzt mit den Folgen fertig werden musste. »Aber Mami«, rief Deedee — das einzige Mal, dass sie etwas lauter wurde -, und ganz ehrlich, sie konnte kaum auf eine Karriere in der Welt der spanischsprachigen Seifenoper hoffen, wenn sie ihre Stimmfestigkeit nicht ein bisschen verbesserte. Was den Rest ihres Texts anbelangte, musste ich raten, weil sie ihn auf Spanisch vorbrachte, aber wenn ich von dem Gespräch ausging, das ich mit ihr geführt hatte, lautete er in etwa: »Ich habe nur diesen einen Fehler gemacht! Und dafür soll ich ewig büßen? Das Baby sollte nicht darunter leiden! Was für eine Mutter könnte ich mit meinen vierzehn Jahren schon sein? Ich will die Highschool abschließen und aufs College gehen und Schriftstellerin oder Ärztin werden und
eines Tages vielleicht auch Mutter — aber noch nicht jetzt!« Maria warf ihr einen finsteren Blick zu. »Daran hättest du denken sollen, bevor du mit diesem tollen Carlos geschlafen hast! Meinst du vielleicht, ich will noch ein Kind großziehen? Ich habe einen Job, der mir Spaß macht! Ich bin die beste blinde Köchin von ganz Los Angeles! Und jetzt soll ich plötzlich die Verantwortung für ein Enkelkind übernehmen!« »Das muss doch nicht sein«, erwiderte Deedee flehend. »Wir können ein gutes Zuhause für das Kind finden, wo es geliebt und umsorgt wird. Bedeutet es nicht auch das, Mutter zu sein? Schwere Entscheidungen zu treffen?« »Wir sind ein stolzes Volk, Deedee, vergiss das nicht! Die Familie ist das Wichtigste für uns! Man darf die Familie nicht im Stich lassen, selbst wenn das heißt, dass man die eigenen Hoffnungen und Träume dafür aufgibt.« »Ach Mami! Bitte, ich will doch nur -« »Ladies, bitte!«, meldet sich jetzt Kip mit sonorer Stimme zu Wort. »Lassen Sie uns doch aufhören zu streiten. Gibt es auf der Welt nicht schon Zwistigkeiten genug?« Auf der Fahrt nach Hause erfuhr ich von Kip, dass ich trotz der Sprachbarriere gar nicht so weit danebengelegen hatte — zu meiner größten Enttäuschung. »Mach Deedee keine Vorwürfe, weil sie nicht mehr Rückgrat gezeigt hat«, sagte er. »Wahrscheinlich empfindet sie die Vorstellung, das Kind wegzugeben, als noch größere Schande als die Schwangerschaft selbst. Was du und ich für die richtige Entscheidung halten würden, ist für sie egoistisch, auch wenn sie eigentlich unserer Meinung ist. So ist es nun mal.« »Es ist so traurig.«
»Auf jeden Fall schließt Maria eine Adoption nicht ganz aus. Aber es muss sich bei den Adoptiveltern um Verwandte handeln oder um Leute aus der Nachbarschaft, die sie kennt. Sie will auch Rose Morales um Hilfe bitten und sich über die Möglichkeiten informieren, die ihnen offen stehen. Es würde in erster Linie an ihr hängen bleiben, das Kind großzuziehen, und von dieser Aussicht ist sie nicht gerade begeistert. Sie wäre froh, wenn es irgendeinen Ausweg gäbe. Irgendeine Möglichkeit, ihrem Kind ein besseres Leben zu bieten, ohne ihr Enkelkind weggeben zu müssen.« »Aber es ist Deedees Leben. Sie sollte die Entscheidung treffen.« »Rechtlich gesehen, ja«, sagte Kip. »Aber würdest du es ernsthaft mit Maria Garcia Alvarez aufnehmen wollen?« Ich schauderte. »Nicht mal mit kugelsicherer Weste und Boxhandschuhen.« »Das Schlimmste dabei ist«, sagte ich zu meiner Mutter und zupfte an etwas, von dem ich hoffte, dass es Unkraut war, »dass sie unbedingt das Richtige tun will.« »Armes Mädchen. Sie steht bestimmt furchtbar unter Druck. Wird sie weiter zur Schule gehen?« »Sie weiß es nicht. Wahrscheinlich steht sie immer noch unter Schock.« Ich war am Sonntag zu meinen Eltern gefahren, um meiner Mutter bei der Gartenarbeit zu helfen. Sie veranstalteten demnächst eine große Party; das war auch der Grund, warum mein Vater diese Menge gefrorene Shrimps gebraucht hatte. Sobald ich angekommen war, hatte ich ihm als Erstes die fünf Packungen überreicht, die ich mitgebracht hatte. Er hatte sie dankbar in Empfang genommen und sich dann wieder ins Wohnzimmer verzogen, um vor dem Golfturnier, das gerade im Fernsehen übertragen wurde, in seligen Schlummer zu sinken.
Während meine Mutter ein paar Triebe von den Rosenbüschen schnitt, fragte sie: »Bist du jemals schwanger gewesen?«, und zwar so beiläufig, dass es einen Moment dauerte, bis ich begriff, was sie gerade gesagt hatte. »Äh ... meinst du nicht, dass du das gemerkt hättest?« »So naiv bin ich nun auch wieder nicht. Du hättest abtreiben können.« »Stimmt. Nein«, erwiderte ich. »Nein, ich bin nie schwanger gewesen.« Sie nickte. »Hat mich nur interessiert.« Na, wenn das kein bewegender Moment zwischen Mutter und Tochter war! Ich war froh, dass es sie nicht auch noch nur interessiert hatte, ob ich jemals geglaubt hatte, ich wäre schwanger, weil ich dann nämlich hätte sagen müssen: »Klar, unzählige Male.« Nicht dass ich nicht verhütete. Aber auch wenn ich in meinem Erwachsenenleben mehr Zeit als Single verbracht hatte als in einer festen Beziehung, kam es doch hin und wieder vor, dass ein Kondom riss. Oder dass ich mein Diaphragma vergaß, wenn ich übers Wochenende zum Zelten fuhr, und zu dem Schluss kam, dass Millionen von Katholiken nicht irren konnten, was die Zählmethode betraf. Oder dass sich meine Periode völlig grundlos verspätete. Das letzte Mal, als ich auf einen Teststreifen gepinkelt hatte, hatte die Anzeige »Ja« oder »Nein« dem neuesten Stand der Technik entsprochen. Und es war wie immer ein Nein gewesen. Aber bis zu dem Augenblick, in dem ich es sicher wusste, hatte ich mir Gedanken über die Frage Was wäre, wenn? machen können. Klar, ich hatte immer vorgehabt, mich an die traditionelle Reihenfolge zu halten, und war deshalb meistens erleichtert. Aber ein kleiner Teil von mir hätte sich gefreut. Es wäre mit vielen Unwägbarkeiten verbunden gewesen: Würden wir heiraten? Müsste ich mich darauf einstellen, eine allein erziehende Mutter zu sein? Aber so oder so, ich hätte ein Kind gehabt ... jemanden, für
den ich der wichtigste Mensch auf der Welt gewesen wäre. Und alles, was ich tun musste, um meinem Leben eine völlig neue Wendung zu geben, war, mich hinzulegen, die Beine zu spreizen und es einfach geschehen zu lassen. »Das Leben ist schon ungerecht, nicht wahr?«, sagte meine Mutter und gab mir einen Haufen Blätter, den ich in einen Sack steckte. »Dein Bruder und Charlotte versuchen seit Jahren, ein Baby zu bekommen, und es klappt einfach nicht. Dieses Mädchen schläft ein einziges Mal mit einem Jungen, und peng! Sie ist schwanger.« Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Das war's! Meine Mutter war ein Genie. »Warum ist mir das nicht schon längst selbst eingefallen!«, rief ich. »Die beiden können Deedees Kind adoptieren! Das ist die perfekte Lösung. Sie sind keine Fremden, ich weiß, dass das wich—« »Ich zerstöre deine Hoffnungen nur ungern«, fiel mir meine Mutter ins Wort. »Aber das kommt für die beiden nicht in Frage. Glaub mir, ich habe oft mit ihnen darüber geredet. Sie wollen ein eigenes Kind. Charlotte macht gerade eine Hormonbehandlung, wenn du es genau wissen willst.« »Mist«, sagte ich enttäuscht. »Diese Behandlungen sind wirklich schrecklich«, sagte meine Mutter. »Man kriegt Depressionen und legt an Gewicht zu. Sie nimmt da ganz schön viel auf sich.« »Das Schwerste ist sicher, dass sie mit Bob schlafen muss«, sagte ich und schüttelte mich. Sah das meinem Bruder nicht mal wieder ähnlich?, dachte ich. Seiner Frau all das zuzumuten, damit er seine kostbaren Gene weitergeben konnte. »Manchmal«, sagte meine Mutter, legte ihre Gartenschere weg und strich sich mit dem behandschuhten Handrücken die Haare aus der Stirn, »frage ich mich, was Gott sich bei all dem denkt.«
Am Mittwoch erledigte ich spätnachmittags noch einige allerletzte Anrufe, um auf unsere Gratisbenzin-Aktion am nächsten Tag aufmerksam zu machen, als mich Phyllis aus Bigwoods Büro anrief. »Was würden Sie sagen, wenn ich dafür sorgen könnte, dass über Ihre Aktion morgen im Fernsehen berichtet wird?«, fragte sie mit dieser Stimme, die nach zwei Päckchen am Tag klang. »Ich fürchte, ich kann nicht ganz folgen«, sagte ich. »Sie haben Kontakte zum Fernsehen?« (Und wenn das so ist, dachte ich verärgert, konntest du dann nicht während des Mitarbeitermeetings am Nachmittag damit rausrücken? Ich hatte mein Bestes getan, um die »Vielleichts«, die ich von verschiedenen Nachrichtensendern auf meine Anfrage erhalten hatte, als positive Antwort zu verkaufen, aber Lizbeth hatte nur glockenhell gelacht und gesagt: »Wenn sie vielleicht sagen, heißt das nein. Aber ich denke, ich komme trotzdem mal vorbei, für alle Fälle.«) Phyllis räusperte sich. »Ich kann dafür sorgen.« Plötzlich verstand ich, wie Woodward und Bernstein sich bei der WatergateAffäre gefühlt haben mussten. Ich versuchte, meine Aufregung im Zaum zu halten, aber ein Fernsehteam wäre einfach der Knüller. Damit würde ich Bigwood zeigen, dass ich ein erfolgreiches Promotion-Event auf die Beine stellen konnte. Und obwohl mir natürlich klar war, dass Lizbeth jede Gelegenheit nutzen würde, um vor der Kamera zu stehen, könnte ich im Hintergrund mal zufällig durchs Bild laufen, um Aufgabe Nr. 9 auf meiner Liste zu erfüllen, Ins Fernsehen kommen. »Das wäre klasse«, sagte ich. Aber warum tat Phyllis so geheimnisvoll? »Und wie kann ich mich dafür revanchieren?« »Mit einem Gefallen. Ich hab's nicht so mit Schreiben und Sie sind doch Texterin. Ich brauche Hilfe bei einem Brief.« »Klar, ich komme gleich rauf und —« »Nicht hier.«
Aha. So ein Brief. Da war jemand auf der Suche nach einem neuen Job. »Wie schnell brauchen Sie ihn denn?« »Ich hatte gehofft, Sie könnten heute nach der Arbeit zu mir nach Hause kommen. Ich wohne in Culver City, das wäre kein besonders großer Umweg.« »Abgemacht.« »Sie helfen mir«, sagte sie, bevor sie auflegte, »und ich kümmere mich darum, dass im Fernsehen mehr über die Aktion berichtet wird, als Sie sich vorstellen können.« Es war ein paar Minuten vor sechs, als ich mein Auto am Straßenrand vor Phyllis Haus abstellte. Ihr Auto stand in der Einfahrt — hinter einer riesigen Harley, die mich an ein Wohnmobil erinnerte. Vielleicht war an den Gerüchten mit den Heils Angels ja doch was dran. Ich studierte im Vorbeigehen die Aufkleber auf der Karosserie, aber die meisten stammten offenbar von ganz normalen Motorradclubs. Keine Totenköpfe mit gekreuzten Knochen. Phyllis trat zu mir. »Steht auf Ihrer Liste auch etwas von Motorradfahren?« Ich hob zur Begrüßung kurz die Hand, dann fragte ich: »Sie wissen von der Liste?« »Jeder weiß von der Liste.« Ich seufzte. »Nein, davon steht nichts drauf.« »Fahren Sie?« Als ich den Kopf schüttelte, sagte sie so ungläubig »Noch nie?«, als hätte ich ihr gerade gestanden, die älteste lebende Jungfrau auf der Welt zu sein. »Warten Sie.« Sie verschwand in der Garage und kam kurz darauf mit zwei Helmen und einer Lederjacke zurück, die sie mir zuwarf. »Dann holen Sie sich keine Abschürfungen, wenn wir umfallen.« Abschürfungen? O nein! Ich hatte mich bereit erklärt, mich mit ihr an den Schreibtisch zu setzen, nicht auf ein Motorrad. »Danke für das Angebot, aber wir sollten lieber mit dem Brief anfangen. Ich bin ein bisschen in Eile.«
»Blödsinn«, sagte sie. »Aber wenn Sie es so eilig haben, können wir während der Fahrt darüber reden.« Zum Teil wegen meiner neu entdeckten Abenteuerlust, zum weitaus größeren Teil jedoch, weil ich Angst vor Phyllis hatte, setzte ich mich gehorsam hinter sie. Es war, als würde ich in einem Sessel sitzen, es gab sogar eine Rückenlehne und gepolsterte Armstützen. Der Sitz unter mir begann zu vibrieren, und als Phyllis aus der Einfahrt fuhr, dachte ich, so ähnlich müsse es wohl sein, auf einem Nashorn zu reiten, einerseits Furcht einflößend, andererseits aufregend. Als Phyllis mir zurief: »Na, wie gefällt es Ihnen?«, sagte ich ihr genau das. »Die meisten anderen Leute sagen, es wäre wie ein Orgasmus, aber das muss sich ja nicht widersprechen.« »Also, worum geht es?«, brüllte ich, um den Motor zu übertönen, als wir an einer roten Ampel hielten. »Sehen Sie sich nach einem neuen Job um?« »Es hat nichts mit der Arbeit zu tun. Ich will einen Brief an meine Tochter schreiben.« »Ihre Tochter?« Die Ampel sprang auf Grün, und wir setzten uns dröhnend wieder in Bewegung. Wir fuhren an den Filmstudios vorbei, die sich in dieser Gegend niedergelassen hatten, und durch alte Wohnviertel, die für L. A. geradezu idyllisch waren, mit Backsteinhäusern und dicht belaubten Bäumen. Während der Fahrt erzählte mir Phyllis die ganze Geschichte und verstreute intime Einzelheiten ihres Lebens auf den Straßen der Stadt wie Bonbons bei einer Parade. Es war nichts, was ich nicht schon dutzendmal in irgendwelchen Talkshows im Fernsehen gehört hatte: Mom und ihr Rockerfreund kriegen ein Baby Sie nennen das Baby Sunshine. Als ob das nicht reichen würde, um der Kleinen das Leben zu vermiesen, trinken sie weiterhin viel zu viel und nehmen viel zu viele Drogen. Sie lassen das Kind in der Obhut von Freunden, Verwandten und Pflegeeltern. Schließlich geht Mom auf Entzug und der Rockerfreund sonst wohin. Die Tochter, die sich inzwischen Sally nennt, geht aufs College und bekommt einen guten Job als
Abteilungsleiterin, vielleicht auch einen Ehemann und Kinder, aber das weiß man nicht genau. Und sie ist genauso scharf darauf, ihre Mom wiederzusehen, wie darauf, dass man ihr die Zehennägel rausreißt, obwohl Mom seit zehn Jahren trocken und clean ist. Wir bogen wieder in Phyllis' Einfahrt ein. Das Leben ist schon merkwürdig, dachte ich, als ich mein Bein über den Sitz schwang. Die einen lebten zu exzessiv, die anderen gähnten ständig vor Langeweile. Ob wohl irgendjemand auf der Welt das richtige Maß an Leben hinbekam? »Sie sind eine gute Beifahrerin«, sagte Phyllis. »Dafür muss man nichts weiter können als sitzen.« »Das stimmt nicht. Sie müssen sich mit mir in die Kurve legen. Sie müssen Vertrauen haben, voraussehend sein. Sie wissen ja nicht, wie viele Leute den Kopf verlieren, wenn das Motorrad um die Kurve fährt, und sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die andere Seite werfen.« Um auf den Grund meines Hierseins zurückzukommen, fragte ich: »Also, was wollen Sie Sally mit diesem Brief sagen?« Phyllis nahm ihren Helm ab und antwortete schließlich mit leiser Stimme: »Dass ich weiß, dass ich eine beschissene Mutter war.« »Okay.« »Und dass es mir leid tut, dass ich ihr wehgetan habe.« »Na gut«, sagte ich und ging zu meinem Auto, um ein Blatt Papier und einen Stift zu holen. »Dann wollen wir ihr das mal sagen.
12
Der Wecker klingelte um fünf, eine unmenschliche Zeit, aber selbst das war noch nicht früh genug. Ich musste in einer Stunde an der Tankstelle in Burbank sein, und deshalb sollte ich sofort aus dem Bett springen und unter die Dusche steigen. Wenn ich allerdings die Haarspülung nur eine Minute einwirken ließ, könnte ich mich noch mal für zwei Minuten umdrehen ... Kurz vor sechs schlug ich die Haustür hinter mir zu, später als geplant. Schließlich musste ich unterwegs noch Heliumballons besorgen, und zu allem Überfluss — wirklich sehr komisch — musste ich tanken. Die Morgendämmerung brach an, als ich auf den Freeway nach Burbank einbog. Mein Toyota war bis unters Dach mit Ballons gefüllt, und wenn mein Leben ein Cartoon gewesen wäre, wäre das Auto inklusive meiner Wenigkeit langsam in die Luft gestiegen und davon gesegelt. Ich ging die Radiosender durch. Ich freute mich auf den vor mir liegenden Tag. Martucci und Phyllis waren an der Tankstelle beim Flughafen postiert. Martucci hatte viel Erfahrung mit Promotion-Events, daher würden die beiden die Gratisbenzin-Aktion ohne Probleme allein bewältigen. Brie und Greg würden an der Tankstelle in Burbank die Stellung halten, während ich die Reporter bei Laune hielt und Lizbeth Interviews gab — vorausgesetzt, Phyllis hatte nicht heillos übertrieben, was ihre Kontakte zum Fernsehen anging. Unser Plan sah vor, dass wir uns im Verborgenen hielten und warteten, bis ein Auto
mit mindestens einem Fahrgast an einer Zapfsäule vorfuhr. Dann würden wir in unseren lila T-Shirts und mit Ballons in der Hand vorstürmen und rufen: »Fahrgemeinschaften lohnen sich! Heute zahlen wir Ihr Benzin!« Die Autofahrer würden vor Freude in die Hände klatschen, und die Fernsehleute würden das Ganze mit ihren Kameras einfangen und in allen Haushalten Südkaliforniens verbreiten. Jedes Team hatte ein Kreditvolumen von tausend Dollar, was zumindest für den Vormittag reichen sollte. Bevor ich von zu Hause aufgebrochen war, hatte ich mit Brie gesprochen, die mit Greg schon an der Tankstelle war und sich bereithielt. Ich stellte K-JAM ein. Troy hatte mir versprochen, die Aktion in den nächsten Stunden ein paarmal zu erwähnen. Und er hielt Wort. Nachdem er die ersten Staumeldungen durchgegeben hatte, sagte er: »Und wenn Sie einer Fahrgemeinschaft angehören, könnte heute Ihr Glückstag sein. Die netten Leute von Los Angeles Rideshare warten irgendwo da draußen auf Sie, um vielleicht gerade Ihnen eine Tankfüllung zu schenken. Halten Sie Ausschau nach ihnen! Vielleicht zählen Sie schon bald zu den Glücklichen!« Was für ein Mann. Kostenlose Publicity, nur für mich! Als ich mein Handy herauszog, um Brie mitzuteilen, dass ich schon unterwegs war, stellte ich fest, dass ich mehrere Nachrichten hatte. Ich musste den Klingelton des Handys versehentlich ausgestellt haben. Der erste Anruf stammte von Brie: »Wir haben ein Problem. Ruf mich an.« Der zweite Anruf stammte von Brie: »Hier sind massenhaft Leute. Ruf mich so schnell wie möglich an.« Der dritte Anruf stammte von Brie: »Ich habe gesagt, Sie sollen einen Moment warten - June, wo zum Teufel steckst du?« Um genau zu sein, waren sämtliche Nachrichten von Brie, und sie klang von Mal zu Mal hysterischer. Ich hörte immer noch ihre Nachrichten ab, als mein Handy zu vibrieren anfing. »Ja?«
»Wo bleibst du?« Brie. »Ich kann mir das nicht erklären, aber hier ist die Hölle los. Da stehen eine Million Leute Schlange und schreien, dass sie endlich ihr Gratisbenzin wollen!« »Ich bin auf der 405 stecken geblieben«, log ich lächerlicherweise. »Da muss irgendein ein -« »Beweg deinen Hintern einfach so schnell wie möglich her. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Es ist der helle Wahnsinn. Die Leute behaupten, wir hätten kostenloses Benzin für alle versprochen. Die Autoschlange reicht bis zum Ventura Boulevard und blockiert den Verkehr, und irgendein Typ hat mir erzählt, dass sie sich sogar schon auf dem Free-way stauen.« Ich hörte, wie sie jemandem zurief, er solle einen Moment Ruhe geben, dann war sie wieder da. »Greg zapft Benzin, so schnell er kann. Aber die Leute werden langsam wütend, und wir haben bald kein Geld mehr. Er sagt jedem, dass er nur noch für fünf Dollar pro Auto Benzin ausgibt. Und Armando ist auch ziemlich sauer.« Mist. »Sind die Leute vom Fernsehen schon da?«, fragte ich besorgt. »Ja!«, rief sie, merklich fröhlicher. »Channel 2 baut gerade die Kameras auf, und der Übertragungswagen von Channel 4 versucht noch zu uns durchzukommen, was bei dem Chaos nicht so leicht ist. Moment mal. Gute Frau, ich bediene hier nicht, verstanden? Zwingen Sie mich nicht, Ihnen zu sagen, was Sie mit dieser Zapfpistole machen können.« »Haltet die Stellung«, rief ich. »Ich bin gleich da.« Binnen kürzester Zeit war ich in Burbank und stellte mein Auto zwei Querstraßen von der Tankstelle entfernt ab, um nicht in den Rückstau zu geraten. Mit den Luftballons in der Hand - ich hatte keine Ahnung, warum ich die mitnahm, vielleicht wollte ich mich von dem Gedanken, dass dies ein Tag der Freude werden sollte, noch nicht ganz verabschieden - rannte ich los, dank des Trainings mit Martucci in einem ganz guten Tempo. Oje. Martucci. Er meldete sich beim zweiten Klingeln. »Wie steht's bei euch?«, stieß ich atemlos und noch immer im
Laufschritt hervor. Die Ballons tanzten über mir in der Luft. »Es war der komplette Irrsinn«, sagte er. »Aber wir haben die Lage im Griff. Phyllis hat ein Schild aufgestellt, auf dem steht, dass es kein Gratisbenzin mehr gibt. Wir haben die Einfahrt gesperrt und die Polizei ist da, um den Verkehr weiterzuleiten.« »Polizei? Die Polizei ist da?« »Sie haben uns ein Bußgeld von achthundert Dollar aufgebrummt, aber wenigstens werden wir nicht mehr vom Mob überrannt.« »Ich kann mir das alles überhaupt nicht erklären ...« »Mir hat ein Mann erzählt, dass sie im Fernsehen die Tankstellen, an denen wir uns befinden, durchgeben - auf allen Kanälen. Sie sagen den Leuten, sie sollen sich mit irgendjemand ins Auto setzen, damit es aussieht wie eine Fahrgemeinschaft, und sich dann ihr Gratisbenzin holen. Ich habe ganze Familien hier. Ein Typ ist von El Monte rübergefahren — fast vierzig Kilometer für eine lausige Tankfüllung!« »Aber sie sollten es doch geheim halten!« »Tja, das haben sie offensichtlich nicht gemacht, Baby!« Als ich an der Tankstelle eintraf, stapelten sich die Autos dort schon beinahe, und in jedem saß mehr als eine Person. Das Hupkonzert war ohrenbetäubend. An der Tankstelle gab es acht Zapfsäulen, die alle in Betrieb waren. Die Übertragungswagen von Channel 2, Channel 4 und Fox News hatten sich an den Rand gequetscht, und die Kameras surrten, um das Chaos festzuhalten. Armando stand wild gestikulierend da und dirigierte die Autos herum, die ständig ankamen und wegfuhren. »He, Sie«, brüllte ein Mann aus dem Fenster seines Kleinlasters. »Ich warte hier schon eine Dreiviertelstunde. Können die nicht schneller machen? Ich komme zu spät zur Arbeit!« Brie kam auf mich zu. »Wir brauchen keine Ballons. Scheint so, als wüsste jeder, dass hier eine Party stattfindet.« »Das ist eine Katastrophe«, jammerte ich. »Wart erst mal ab, bis Lizbeth hier ist. Dann ist es eine echte Katastrophe. Aber wir wollen uns nicht beklagen«, rief sie, »wenigstens ist das Fernsehen da!«
Ich stöhnte auf, als ich eine Fernsehkamera sah, die auf einen verärgerten Autofahrer gerichtet war, während er gerade von einem Reporter interviewt wurde. »Wie viel Geld haben wir noch?« »Frag mich was Besseres. Greg hat sich eine Hand voll Schokoriegel und Kaugummis von drinnen geholt. Er verteilt sie an die Leute und sagt ihnen, dass sie wegfahren sollen. Vorhin hat er geheult. Diese Künstlertypen sind einfach furchtbar sensibel.« Ich konnte es nachempfinden. »Danke, dass du dich um alles hier gekümmert hast, Brie. Die Leute spinnen doch. Es geht schließlich nur um ein paar Liter Benzin! Man könnte meinen, dass wir Diamanten verteilen!« »Jeder will was haben, wenn es umsonst ist. Mach dir keine Sorgen. Ich beherrsche Tae Bo, mir kann keiner was. Aber du musst dir schnell was einfallen lassen. Wenn Greg die Schokoriegel ausgehen, könnte eine Rebellion ausbrechen.« »Weißt du was«, sagte ich, »such dir ein Stück Pappe. Schreib ganz groß >Kein Gratisbenzin< drauf und häng es an den Baum dort drüben. Und hier«, ich gab ihr die Ballons, »verteil die unter den Kindern.« »Wird gemacht.« Ich holte mein Handy aus der Tasche und rief Susan an, die noch zu Hause war. »Du musst mir helfen«, platzte ich heraus, kaum dass sie abgenommen hatte. Nachdem ich ihr die Lage geschildert hatte, sagte ich ihr, dass sie die Notbremse ziehen müsse. Das heißt, sie musste bei allen Fernsehsendern anrufen und sie bitten, unsere Standorte nicht mehr durchzugeben. Die Gratisbenzin-Aktion war zu Ende. Wie wahrscheinlich auch meine Karriere bei Rideshare, aber eins nach dem anderen. Dann marschierte ich zu den Fernsehleuten hinüber. Ich trug schließlich für das alles hier die Verantwortung. Crystal Davis, eine Reporterin von Channel 5, stand da und puderte sich die Nase. Sie war schon eine halbe Ewigkeit beim Fernsehen und hatte sich erstaunlich gut gehalten — wie ihre
Haare, die sich wahrscheinlich nicht einmal während eines Orkans von der Stelle rühren würden. Ich stellte mich vor und fuhr dann fort: »Sie müssen den Leuten sagen, dass sie nicht mehr herkommen sollen.« »Sind Sie für die Aktion hier verantwortlich?«, fragte sie. Es half alles nichts. »Ja.« »Gut. Wir brauchen ein Interview. Sind Sie bereit?« »Nein ... äh ... ja ... äh ... eine Sekunde noch.« Aus dem Augenwinkel hatte ich Lizbeth gesehen, die sich gerade einen Überblick über die Lage zu verschaffen schien und keineswegs wütend oder erschrocken wirkte - was es mir wenigstens ermöglicht hätte, meine Würde zu wahren —, sondern ausgesprochen erfreut. Ihre Miene sagte: Toll, das ist ja ein Riesenspaß hier, und dabei habe ich nicht einmal Geburtstag! Ich hasste sie aus ganzem Herzen dafür, aber nur einen Moment lang. Dann erinnerte ich mich daran, dass sie meine Vorgesetzte war und deshalb das Interview geben musste. Der Gedanke, dass sie nichts anderes machen konnte, als das von mir angerichtete Chaos wieder in Ordnung zu bringen, versetzte mich schlagartig in bessere Laune. »Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Crystal Davis. »Lizbeth!«, rief ich fröhlich. »Channel 5 möchte mit dir über—« »Vergiss es.« »Aber du bist doch unsere —« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. »Ich will dich doch nicht um deinen großen Auftritt bringen«, schnurrte sie. »Lou Bigwood hat ein solches Vertrauen in dich gesetzt! Er hielt es nicht einmal für nötig, mich einzuweihen. Schade, dass es offenbar schief gegangen ist.« Wenn sie sich nicht schützend vor mich stellen wollte, brauchte ich mir auch nicht ihre Beleidigungen anzuhören. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging zu Crystal Davis zurück.
Auf dem Weg kam ich an Greg vorbei, der sich an einer Autoschlange entlangarbeitete und dabei mit verzweifelter Stimme erklärte: »Bitte, das Gratisbenzin ist aus. Hier, nehmen Sie einen Schokoriegel. Bitte fahren Sie weiter.« »Ich bin so weit«, sagte ich zu Crystal. »Dann wollen wir mal.« Sie blickte in die Kamera und sagte: »Wir befinden uns hier an einer Tankstelle, wo eine PromotionAktion von Los Angeles Rideshare Hunderte von Fahrgemeinschaften angelockt hat, die sich eine kostenlose Tankfüllung abholen wollen. Neben mir steht June Parker. June, haben Sie mit dieser überwältigenden Reaktion gerechnet?« Alles in mir drängte danach, zu sagen:
Nein, du Knalltüte ... und wenn ich jemals den Armleuchter zu fassen bekomme, der unsere Standorte rausposaunt hat... Nach einem kurzen Blick zu Armando, der sich gerade zwischen zwei Autofahrer warf, die an einer Zapfsäule miteinander rangelten, sagte ich mit einem breiten Lächeln: »Wir wussten, dass sich die Autofahrer über die hohen Benzinpreise ärgern, aber dass dieser Ärger so groß ist, hätten wir nicht gedacht.« »Werden die Leute ihr Gratisbenzin bekommen?« Mein Lächeln wurde noch breiter. Ich sah bestimmt wie einer dieser schrecklichen Clowns aus, die angeheuert werden, um Kinder auf Geburtstagsfeiern zu terrorisieren. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Aber eines ist sicher: Wenn man Mitglied einer Fahrgemeinschaft ist, spart man immer Benzingeld!« Bevor das Interview zu Ende war, schaffte ich es noch, unsere Servicenummer loszuwerden, während ich mich die ganze Zeit nach Leibeskräften bemühte, den Blick auf Greg zu versperren, der schluchzend an einem Kleinlaster lehnte. Diese Übung wiederholte ich mit Channel 7 und Channel 4 plus zwei lokalen Radiosendern, der Los Angeles Times und Press Enterprise. Ich gab mir die größte Mühe, das Ganze in einem positiven Licht erscheinen zu
lassen, aber dass die Nachrichtenleute nach dem Interview mit mir noch verärgerte Autofahrer befragten, verhieß nichts Gutes. Um neun kam die Polizei, schloss die Tankstelle und brummte auch mir ein Bußgeld auf. Lizbeth hatte sich irgendwann davongestohlen. Ich versuchte, Brie und Greg versöhnlich zu stimmen, indem ich ihnen ein opulentes Frühstück in Aussicht stellte - natürlich auf meine Kosten. Armando redete mit Engelszungen auf die Polizisten ein und unterbrach seine Ausführungen nur, um mir zu erklären, dass er uns auf Schadenersatz verklagen würde. Sein puterrot angelaufenes Gesicht sagte mir, dass kein Top der Welt eng genug war, um ihn dieses Mal umzustimmen. Alle Welt weiß, dass das Essen in Max's Grill schlecht und überteuert ist, und das war der Grund, warum ich Susan dieses Lokal als Treffpunkt für ein Mittagessen vorgeschlagen hatte. Je geringer die Wahrscheinlichkeit, jemandem über den Weg zu laufen, den ich kannte, desto besser. »Ich wüsste zu gern, wie das passieren konnte«, sagte ich und wickelte verkochte Spaghetti um meine Gabel. »Ich glaube nicht, dass es Phyllis war. Sie schwört, dass sie nur einen ihrer Kontakte angerufen hat, bevor das Chaos ausbrach.« Susan starrte missgelaunt auf ihren Teller. »Ich verstehe nicht, wie du mich dazu zwingen kannst, hier zu essen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, etwas zu bestellen, bei dem sie nichts falsch machen können. Wie schafft man es bloß, Hamburger und Pommes frites zu verhunzen?« Sie hob die obere Hälfte des Brötchens hoch. »Iih. Ist das etwa Mayonnaise und Thousand Island Dressing zusammengemixt?« Ich fuhr unbeirrt fort: »Abgesehen davon hätte sie keinen Grund gehabt, die Aktion zu sabotieren. Sie hätte sich damit ins eigene Fleisch geschnitten, schließlich stand sie auch an einer Tankstelle. Lizbeth dagegen hatte nichts zu verlieren und allen Grund zu hoffen, dass ich die Sache vermassele. Ich möchte darauf wetten, dass sie es war.« Susan hielt
mir ihren Teller unter die Nase. »Sieh dir das mal an. Ist das eine Gurkenscheibe oder Fleisch? Was meinst du?« »Sämtliche Anrufe bei den Medien habe ich selbst getätigt. Es hätte überhaupt nicht schief gehen dürfen.« »Es hat dieselbe Farbe wie eine saure Gurke, aber gleichzeitig ist es befremdlich groß.« »Verdammt noch mal«, fuhr ich sie an. »Hörst du mir überhaupt zu? Mein Job steht auf dem Spiel, und du machst dir Gedanken wegen einer Gurke?« »Entschuldigung.« »Meiner Meinung nach ist das übrigens Fleisch.« »Das habe ich befürchtet.« Nachdem ich nach dem Frühstück mit Brie und Greg ins Büro gegangen war, hatte ich den halben Vormittag damit verbracht, bei den verschiedenen Fernsehsendern anzurufen, um rauszukriegen, wer uns verpfiffen hatte. Was war zwischen »Vielleicht schicken wir ein Kamerateam, um einen kleinen Bericht zu machen« und »Hallo, Autofahrer, holt euch euer Gratisbenzin!« passiert? Diese Leute, die mit Fragenstellen ihr Geld verdienten, erwiesen sich beim Antwortgeben als ziemlich verstockt. Das Einzige, was ich in Erfahrung bringen konnte, kam von einem Reporter von Fox News, der sich zu erinnern meinte, dass er irgendein Fax gesehen hatte; aber er wusste weder, wo es zu finden war, noch wer die Bekanntgabe der Tankstellen veranlasst hatte. Doch keine Sorge, so etwas wie schlechte Publicity gab es nicht! »Wenigstens hast du die Interviews gut hinbekommen«, sagte Susan. »Ach ja?« »Ja. Ich habe mich durch die Sender gezappt und war beeindruckt, wie du es gescharrt hast, das Ganze als einen Erfolg zu verkaufen — auch wenn die Fernsehleute natürlich versuchten, das Gegenteil rüberzubringen. Stell dir vor, Crystal Davis lässt dich sagen: >Ist es nicht toll, wie viele Leute sich zu Fahrgemeinschaften zusammenschließen, und in der nächsten Sekunde schwenkt sie zu einer Tante in einem Geländewagen, die sich totärgert, weil sie kein
Gratisbenzin kriegt. Als könnte sie es sich nicht leisten, es aus eigener Tasche zu zahlen.« Ich seufzte und sah zu, wie Susan vorsichtig in ihren Burger biss, bis ich schließlich mit der Frage herausrückte, die ich viel lieber nicht gestellt hätte. »Was meinst du, was jetzt passiert?« Ich wusste nicht, ob die Grimasse, die Susan zog, auf den Bissen, auf dem sie herumkaute, oder auf meine Frage zurückzuführen war. Als Angehörige des Managements hatte sie Einblick in die internen Firmenangelegenheiten, und ich konnte darauf vertrauen, dass sie ehrlich zu mir war, auch wenn wir möglichst wenig über diese Dinge sprachen. »Zunächst einmal die gute Nachricht: Es ist niemand zu Tode gekommen«, sagte sie schließlich. »Du hast Glück, dass Bigwood nicht hier ist. Soweit ich weiß, nimmt er an irgendeiner Konferenz in Fresno teil. Er wird also erst im Nachhinein von alldem erfahren. Schlimmer wäre es, wenn er es hautnah mitbekommen hätte. Jetzt kann man nichts mehr daran ändern, und es geht nur noch darum, den Schaden zu begrenzen. Darüber hinaus scheint dich Phyllis aus irgendeinem Grund zu mögen.« Sie warf mir einen verwunderten Blick zu. »Ich war zufällig dabei, als sie der neuen Empfangsdame erzählte, dass du die Sache wunderbar hinbekommen hättest. Und Bigwood hört normalerweise auf sie.« »Er tut, was seine Sekretärin sagt?« »Schon immer. Wahrscheinlich hat er eine Leiche im Keller, und sie weiß davon. Vielleicht wird dir das helfen. Andererseits hast du eine ganze Menge Autofahrer mit deiner Aktion verärgert, und das ist nicht gerade eine Empfehlung für die Firma. Dann ist da noch die Drohung des Tankstellenbesitzers, Klage gegen uns zu erheben. Ich bin zwar überzeugt, dass wir uns gütlich mit ihm einigen können, aber das wird teuer. Und das ist der eigentliche Grund, weswegen ich mir Sorgen mache.« Sie unterbrach sich, um sich den Mund mit einer Serviette abzuwischen. „Die ganz oben geraten nämlich in Panik, sobald es ums Geld geht. Und dann brauchen sie einen Sündenbock.«
»Oje«, sagte ich. »Was nicht unbedingt heißt, dass du das sein musst. Du weißt, dass ich alles tun werde, um dich zu verteidigen.« »Danke.« »Aber vielleicht solltest du vorsichtshalber doch schon mal deinen Lebenslauf auf den neuesten Stand bringen.«
13
Als
ich am Montag in der Firma eintraf, wartete Dr.J. Death am Eingang meines Mauselochs auf mich. Das hätte mich nicht überraschen sollen. Martucci hatte mir beim Morgentraining erzählt, dass Armando nicht einlenken wollte. Er behauptete, dass ihm zehntausend Dollar an Einnahmen entgangen seien. Das Renommee seiner Tankstelle sei zerstört. »Ich hätte nie gedacht, dass er solche Wörter kennt«, grummelte ich, worauf Martucci antwortete: »Der Typ ist ein Arschloch - das Einzige, was ihn interessiert, ist Geld. Er hat massenhaft Publicity bekommen. Und trotzdem versucht er, aus uns herauszuquetschen, was geht.« Offenbar war er besonders erbost darüber, dass wir das Regal mit den Schokoriegeln leer geräumt hatten. Ich hatte das ganze Wochenende damit verbracht, mir die Haare zu raufen. Es ging nicht nur um meine Karriere. Deedee und ich hatten uns durch einen Eisbecher von der Größe eines Weltmeisterschaftspokals gearbeitet, während wir die Möglichkeiten erörterten, die ihr offen standen. Aber wir waren zu keinem Ergebnis gekommen. Sie schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Was auch ich tun sollte, dachte ich, als ich Montagmorgen als Erstes Dr. Death in die Arme lief.
Er versuchte sich an einem Lächeln, als ich an ihm vorbeischlüpfte und ihn zu mir ins Büro bat. »Wie ich höre, hatten Sie letzte Woche einen aufregenden Tag«, sagte er und kicherte. Ich erwiderte nichts. Er räusperte sich und nahm auf meinem Besucherstuhl Platz. Selbst schuld, dachte ich. Wenn du derjenige bist, der mich feuert, dann brauchst du nicht zu denken, dass ich auch noch über deine Witze lache. Dr. Death, alias Ivan Cohen, war Ende vierzig, mittelgroß, hatte runde, gutmütig blickende Augen und Segelohren. In Anbetracht seines Rufs wirkte er merkwürdig freundlich; seit der Abteilungsleiterkonferenz war ich ihm nicht mehr so nahegekommen. Ich hielt die Luft an. Ich war noch nie gefeuert worden, aber ich hatte von anderen genug mitbekommen, um zu wissen, dass es hart sein konnte. Höhere Angestellte wurden fast immer gleich hinausbegleitet - wahrscheinlich, damit sie keine Akten klauen oder rufschädigende Anrufe tätigen konnten. Ich hoffte, dass sie mir wenigstens zwei Wochen zugestehen würden, in denen ich Bewerbungen verschicken konnte und vor allem weiter Gehalt bekam. Was konnte ich schon anrichten? Eine schlechte Broschüre schreiben? Ein Verb falsch konjugieren? »Wie Sie vielleicht schon gehört haben, haben wir vom Anwalt eines gewissen Armando Bomaritto einen Brief erhalten.« »Ja, davon habe ich gehört.« »Könnten Sie mir vielleicht sagen, was letzten Donnerstag vorgefallen ist?« Aha. Er wollte sein Opfer also langsam verbluten lassen. Ich gab ihm einen ausführlichen Bericht, angefangen bei der Planung der Aktion, über die Anrufe bei den Reportern bis hin zu den Ereignissen am Donnerstag. »Ich verstehe es einfach nicht«, gab ich zu. »Ich habe jedem, mit dem ich darüber gesprochen habe, eingeschärft, auf keinen Fall zu verraten, an welchen Tankstellen wir uns postieren wollten.«
»Und es hat außer Ihnen niemand mit den Reportern gesprochen?« »Nein.« »Hatte jemand Zugang zu der Liste Ihrer Kontakte?« »Lizbeth ... Sie wollte jeden Abend eine Liste mit den Anrufen, die ich tagsüber getätigt hatte.« Kaum hatte ich das letzte Wort ausgesprochen, traf es mich wie ein Keulenschlag. Man musste nicht Perry Mason sein, um zu erkennen, was das bedeutete. Angestrengt überlegte ich, wie ich Lizbeths Rolle in dem Stück aufbauschen konnte. Am liebsten hätte ich Dr. Death mit großen, sanften Rehaugen angesehen und erklärt: »Ich bin sicher, dass Lizbeth mich niemals reinlegen würde, auch wenn sie wütend und neidisch war, weil Bigwood mir die Verantwortung für das Projekt übertragen hat, was, wenn ich es mir recht überlege, ein Motiv sein könnte. Aber Dr. Death - darf ich Sie vielleicht Ivan nennen? —, glauben Sie wirklich, dass sie so etwas tun würde? Glauben Sie wirklich, dass sie meine Kontakte anrufen und die Leute instruieren würde, unsere geheimen Standorte zu verraten?« Doch so verführerisch der Gedanke auch war, ich sagte bloß: »Sie ist meine Vorgesetzte.« Ich wollte großmütig sein und es dabei belassen, aber er hakte nach. »Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Vorgesetzte selbst bei den Sendern angerufen hat?« Ich sah keine Möglichkeit, loszujammern, sie täte alles, um mir zu schaden, ohne dabei wie jemand auszusehen, der genau so etwas sagt, daher zuckte ich nur die Achseln: »Sie war mit der ganzen Aktion nicht zufrieden, wenn es das ist, was Sie meinen.« Seine Miene verriet, dass er gar nichts gemeint hatte. Dr. Death wusste von nichts. »Wurde mit Mr. Bomaritto ein Vertrag abgeschlossen?« »Ich hatte eine mündliche Vereinbarung mit ihm. Er überließ uns die Tankstelle, dafür verschafften wir ihm kostenlose Werbung.« Dass ich ihm versprochen hatte, mein rotes Top zu tragen, ließ ich unter den Tisch fallen. »Hm«, sagte er. »Ist das schlecht?« »Ist was schlecht?«
»Dass es keinen Vertrag gibt.« »Ich versuche mir nur einen Überblick zu verschaffen. Und Sie haben mir sehr geholfen.« Dr. Death stand auf. Ich war unendlich erleichtert. Bis jetzt hatte er nicht mit dem Finger auf mich gezeigt und gedonnert: »Sie sind entlassen!« »Was jetzt?«, fragte ich. »Wir bereiten eine Antwort auf Mr. Bomarittos Schreiben vor, und Phyllis kauft Schokoriegel, um die Vorräte der Tankstelle wieder aufzufüllen.« »Musste Phyllis extra deswegen -?« Er winkte ab. »Wir haben ohnehin Kaffee gebraucht.« Ich war immer noch nervös. Im Grunde wollte ich nur wissen, wie weit die Schlinge um meinen Hals schon zugezogen war. Er schien mir die Frage vom Gesicht abzulesen. In durchaus freundlichem Ton sagte er: »Wir hoffen, die Angelegenheit außergerichtlich regeln zu können. Zu welchen Bedingungen, weiß ich noch nicht. Sie werden von mir hören.« Nachdem er gegangen war, hörte ich meine Nachrichten ab. Eine stammte von Phyllis, die mich fragte, ob sie mir etwas mitbringen sollte. Ja, dachte ich, einen riesigen Kuchen und eine Gabel, und jemanden, der dafür sorgt, dass sich keiner in meiner Nähe blicken lässt. Die andere Nachricht stammte von Troy Jones. »June«, sagte er, und der Rest ging weitgehend in seinem Gelächter unter. »Ich habe Ihre Gratisbenzin-Aktion angepriesen, aber soweit ich mitbekommen habe, war das überhaupt nicht nötig ... hahaha ... habe die Standorte der Tankstellen über den Bordticker erfahren und bin vorbeigeflogen ... hahaha ... machte von oben den Eindruck, als hätten Sie neben dem Freeway einen Schrottplatz eröffnet ... hahaha ... schätze mal, ich war der Einzige, der die Tankstellen geheim gehalten hat ... hahaha ...« Haha. Troy Jones und ich spielten die ganze Woche lang telefonisch »Hasch mich«. Es ist nicht leicht, einen Mann zu erwischen, dessen Arbeitsplatz morgens der
Himmel ist und der nachmittags keine Anrufe entgegennimmt. Ich hatte ihm schon längst verziehen, dass er sich über mich lustig gemacht hatte, denn ich wollte ihn um einen Gefallen bitten. Einen großen. Troy Jones war jetzt offiziell Teil meines Plans, die allerbeste Angestellte zu werden, die L. A. Rideshare jemals gehabt hatte. Er war, offen gestanden, der ganze Plan. Nachdem wir uns also tagtäglich gegenseitig Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatten, erreichte Troy mich endlich Donnerstagabend zu Hause. Es war fast neun, als das Telefon klingelte. »Müssten Sie nicht schon längst im Bett liegen?«, fragte ich ihn. Schließlich war ich selbst schon fast im Bett und ich musste nicht um drei Uhr morgens aufstehen. »Ich lege mich nachmittags immer ein bisschen hin.« »Ach, deshalb habe ich Sie nie erreicht.« »Wenn Sie wollen, bekommen Sie eine direkte Verbindung zu meinem Sofa.« Keine schlechte Idee. Ich stellte mir vor, wie er auf seinem Sofa lag. Dann stellte ich mir vor, wie er ohne Hemd auf seinem Sofa lag. Noch besser. Gerade wollte ich mich die Szene betreten lassen - noch unentschieden, in welchem Bekleidungszustand -, doch dann gebot ich meinen Hormonen Einhalt. »Davon später«, fuhr ich in geschäftsmäßigem Ton fort, »aber Sie haben mir vor einiger Zeit angeboten, mich in Ihrem Hubschrauber mitzunehmen -« »Wann immer Sie wollen. Sie müssen mir nur einen Termin nennen.« »Das ist nett. Aber ich wollte Sie um einen großen Gefallen bitten. Sie wissen ja, dass die GratisbenzinAktion nicht ganz glatt gelaufen ist -« »Das ist eine reizende Untertreibung«, unterbrach er mich. »Im Sender reden sie immer noch davon. Ryan, ein Kumpel von mir, ist mit seiner Tochter zu der Tankstelle in Burbank gefahren. Er hat erzählt, dass er drei Stunden gebraucht hat, um wieder aus
dem Stau rauszukommen, und kein Mensch hätte auch nur einen Tropfen Benzin gekriegt. Ich habe gehört, dass es sogar zu Schlägereien gekommen ist.« »Es gab nur eine!«, protestierte ich. »Und der Tankstellenbesitzer ist sofort eingeschritten. Er verklagt uns übrigens.« »Sie machen Witze. Weswegen?« »Entgangene Einnahmen, Schmerzensgeld und Rufschädigung. Das Übliche. Da ich im Grunde für die ganze Aktion verantwortlich war, ist mein Job in Gefahr. Deshalb habe ich mir gedacht, dass es meine Chefin vielleicht milde stimmt, wenn wir sie mitnehmen. Sie hätte dann auch die Gelegenheit, im Radio Werbung für uns zu machen. Ich weiß nicht, ob das möglich ist, oder —« »Sie könnten wegen dieser Geschichte entlassen werden?« »Durchaus möglich.« »Das hätte ich nie gedacht.« Er stöhnte. »Und ich habe gelacht, als ich Ihnen die Nachricht hinterlassen habe.« »Nicht so schlimm.« »Sie müssen mich für ein ziemlich gemeines Arschloch halten.« Eine Minute lang. »Nein, nein.« »Ich nehme Sie gern auch beide mit. Es ist genug Platz im Hubschrauber. Aber ob ich Ihnen Sendezeit geben kann, weiß ich nicht. Das muss ich vom Produzenten genehmigen lassen. Hängt auch davon ab, wie die Verkehrslage an dem Tag ist. Freitags ist der Verkehr meistens ruhiger, wenn Ihnen das passt ...« »Klar, Freitag wäre wunderbar.« Wir einigten uns auf den Freitag der nächsten Woche. Der Hubschrauber, den er flog, war am VanNuys-Flugplatz stationiert, ein paar Kilometer vom Haus meiner Eltern entfernt. »Ich starte um fünf«, sagte er, »wenn Sie also um halb fünf am Flugplatz wären, könnten wir noch ein paar Dinge durchsprechen.« »Halb fünf? Morgens?« Ich schluckte. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich im Schlafanzug komme?« »Sie können tragen, was Sie wollen. Es ist ja nur
Radio.« Er hielt kurz inne und sagte dann: »Was für einen Schlafanzug?« Ich sah meinen Lieblingsschlafanzug vor mir. Eine karierte kurze Flanellhose und ein T-Shirt mit kleinen Sushis drauf. Sehr sexy. »Lassen Sie sich überraschen«, erwiderte ich. »Hört sich viel versprechend an.« Er erklärte mir, wie ich seinen Hangar auf dem Flugplatz fand, und als ich mich erneut bedankte, sagte er: »Ich freue mich drauf. Noch eine Frage: Sind Sie schwindelfrei?« »Ja.« »Angst vor hohen Geschwindigkeiten?« »Macht mir nichts aus.« »Loopings, Rolle rückwärts, Schraube, freier Fall?« »Wie wäre es, wenn Sie mich rausließen, bevor Sie zu diesem Teil kommen? Aber meine Chefin fände es bestimmt toll.« Am nächsten Tag marschierte ich guten Mutes ins Büro — zum ersten Mal seit dem Tankstellenfiasko. Lizbeth würde garantiert einen anderen Ton mir gegenüber anschlagen, wenn ich ihr erzählte, dass ich Troy Jones für eine Zusammenarbeit gewonnen hatte. Sie würde sich Dr. Death in den Weg werfen, damit ich meine Stelle behalten könnte. Gut, es war nur ein Flug, aber ich musste ja nicht ins Detail gehen. Lizbeth war den ganzen Vormittag über in einem streng vertraulichen Meeting. Ich überarbeitete gerade den Newsletter, als ich sah, dass Dr. Death sich meinem Büro näherte. Mir rutschte das Herz in die Hose. O nein, nicht bevor ich die Gelegenheit gehabt hatte, mit Lizbeth zu sprechen! Das durfte er einfach nicht tun! Das ist das Problem bei diesen winzigen Büros. Man kann sich einfach nirgends verstecken. Wenn ich nur ... Moment mal - er ging vorbei. Ich atmete tief aus. Gerade noch einmal gut gegangen. Als sich meine Gänsehaut wieder geglättet hatte, spähte ich um die Ecke. Ich sah ihn ein paar
Worte mit Brie wechseln, dann ging er in Lizbeths Büro. Ich floh in die Cafeteria im Erdgeschoss und holte mir Donuts und eine Cola light. Ich wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, Dr. Death zu begegnen, bevor ich mit Lizbeth gesprochen hatte. Als ich die Nase wieder durch die Flurtür steckte, um zu sehen, ob er verschwunden und sie wieder aufgetaucht war, war es fast Mittag. Brie saß an ihrem Schreibtisch und blätterte in der neuesten Ausgabe von Ebony. »Kann ich mit Lizbeth sprechen?« »Sie ist weg.« »Mist! Ich hatte gehofft -« Sie hob den Kopf. »Hast du nicht verstanden? Sie ist weg. Dr. Death hat sie vor einer Stunde gefeuert. Sie vor die Tür gesetzt. Er hat ihr gerade noch Zeit gelassen, ihren Kram zusammenzupacken, und dann auf Nimmerwiedersehen.« »Lizbeth ist gefeuert? Lizbeth ist gefeuert?« »Ja. Sitzt mit ihrem mageren Hintern auf der Straße.« »Warum?« »Das weiß keiner. Und sie hatte auch keinen blassen Schimmer, das kann ich dir versichern. Eine so weiße Weiße habe ich noch nie gesehen. Sah aus wie ein Gespenst beim Anblick eines Gespensts.« »Das glaube ich nicht.« Lizbeth - gefeuert! Es wollte mir nicht in den Kopf. Ich hätte jubeln, einen Freudentanz aufführen sollen. Aber ich stand nur wie betäubt da. Warum hatten sie Lizbeth rausgeworfen? »Ich versteh das nicht«, murmelte ich vor mich hin. »Ja, aber weißt du, was wirklich traurig daran ist? Sie hat ihren Fernseher mitgenommen. Wo soll ich mir in Zukunft die Springfield Story ansehen? Und das gerade jetzt, wo Edmund dabei war, herauszufinden, ob Dinah ihn mit seinem bösen Zwillingsbruder betrogen hat.« Die Gerüchteküche brodelte den ganzen Tag. Unter anderem hieß es, Lizbeth sei entlassen worden, weil
sie meine Gratisbenzin-Aktion hintertrieben hatte (meine Lieblingsversion, der ich nicht widersprach) oder weil das heimliche Verhältnis mit Bigwood in die Brüche gegangen sei. Zu guter Letzt hielt ich es nicht mehr aus und machte mich auf die Suche nach Phyllis. Sie war nie weit von Bigwood entfernt. Vielleicht wusste sie etwas. Wahrscheinlich wusste sie etwas. Die Frage war nur: Würde sie es mir erzählen? »Hallo, Phyllis«, sagte ich und steckte den Kopf in ihr Büro. Ein fensterloser Vorraum mit Akten bis zur Decke und einem übervollen Schreibtisch. Aber wenigstens hatte sie eine Tür. Sie war die einzige Sekretärin mit Tür, was einiges über ihre Stellung in der Firma aussagte. »Haben Sie eine Minute Zeit?« »Klar. Um was geht's?« Ich deutete auf Bigwoods Büro und formte mit den Lippen die stumme Frage Ist er drin? Sie schüttelte den Kopf. Ich schloss die Tür hinter mir, nahm mir einen Mini-Schokoriegel aus der Schale auf ihrem Schreibtisch und setzte mich. »Ich bin bestimmt nicht gekommen, weil ich tratschen will, das müssen Sie mir glauben«, erklärte ich. »Aber ich brauche ein paar Informationen.« »Worüber?« »Warum Lizbeth entlassen wurde.« »Zuletzt habe ich gehört, dass sie Geld veruntreut hat. Oder war es, weil man sie erwischt hat, als sie eine von diesen aufblasbaren Puppen auf dem Beifahrersitz hatte, damit sie auf der Busspur fahren durfte?« »Ich meine es ernst.« Dieselbe Geschichte hatte ich gerade eben schon von Brie gehört. »Sie denken wahrscheinlich, dass mich das nichts angeht, aber es hat sehr wohl etwas mit mir zu tun. Ich war verantwortlich für die Gratisbenzin-Aktion, die gründlich in die Hose ging. Und jetzt wird meine Chefin entlassen.« Phyllis kippelte mit dem Stuhl nach hinten und legte die Fingerspitzen aneinander. »Warum sind Sie hier? Weil Sie die Schuld auf sich nehmen oder weil Sie ein Lob einheimsen wollen?«
»Keines von beidem. Ich will nicht so tun, als hätte ich für Lizbeth besonders viel übrig. Im Gegenteil, sie war die schlimmste Chefin, die ich jemals hatte. Daher bin ich hocherfreut, dass sie weg ist. Aber Dr. Death, äh, ich meine, Ivan, also er hat mich ausgefragt, was passiert ist. Wenn Lizbeth mein Projekt an die Wand gefahren hat, dann, finde ich, sollte ich Bescheid wissen.« »Wie kommen Sie darauf, dass ich Bescheid wüsste?« »Sie wissen doch über alles Bescheid.« »Stimmt.« Nachdem sie mich einen Moment lang gemustert hatte, sagte sie: »Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Ich erzähle Ihnen das nur, weil ich Ihnen etwas schuldig bin. Lizbeth hatte nichts mit der Sache zu tun, genauso wenig wie Sie, aber das wissen Sie ja selbst. Soweit wir herausbekommen konnten, hat ein Typ von Fox News das Ganze ins Rollen gebracht. Die anderen Sender haben die Nachricht natürlich sofort weiterverbreitet.« »Wenn es so war, warum sagen wir dann nichts dazu? Wir stehen da wie die letzten Idioten, und dabei war es nicht einmal unser Fehler!« »Lou ist ziemlich dicke mit ein paar hohen Tieren von Fox. Sie sind alle im selben Country Club. Und der Besitzer der Tankstelle wollte einen Sündenbock. Den hat er gekriegt. Lizbeth. So ließ sich eine gerichtliche Auseinandersetzung am leichtesten vermeiden.« »Wie schrecklich. Und es war nicht einmal ihre Schuld.« »Wäre es Ihnen lieber, wenn Sie der Sündenbock gewesen wären?« »Natürlich nicht.« Ich nahm noch einen Schokoriegel, bevor ich mit der nächsten Frage herausrückte. »Aber warum hat es nicht mich getroffen? Ich war für das Projekt verantwortlich. Und ich bin diejenige, auf die der Tankstellenbesitzer sauer ist.« »Das kann ich leider nicht beantworten. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Lou ein gewisses Potential in Ihnen entdeckt zu haben glaubt und denkt, dass
Sie eine zweite Chance verdienen. Und übrigens: Da Lizbeth nun weg ist, ist eine Stelle frei.« Anders gesagt: Nur weil ich die Lawine losgetreten hatte, die Lizbeth unter sich begrub, hieß das nicht, dass ich mich nicht um ihren Posten bewerben konnte. »Wann wird die Stelle ausgeschrieben?«, fragte ich. »Haben Sie nichts daraus gelernt, als man Sie das letzte Mal übergangen hat? Lou wird die Stelle nicht ausschreiben. Er holt niemanden ins Management, der nicht den nötigen Drive hat. Pfeif auf die Vorschriften, pfeif aufs Protokoll. Er stellt die Leute ein, wie es ihm passt.« »Drive? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen? Er stellt die Leute ein, die eine gute Figur haben.« »Hat Ihre Freundin Susan etwa nichts anderes zu bieten als eine gute Figur? Und was ist mit mir? Wenn Sie den Job haben wollen,, müssen Sie zeigen, was Sie können. Die Nummer ohne BH war übrigens brillant.« Ich spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. Sie glaubte offenbar, dass ich den BH ausgezogen hatte, um meine Karriere zu befördern. »Das reicht, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber mehr auch nicht. Sie müssen Ihr Versprechen schon noch wahr machen.« »Mein Versprechen wahr machen? Ich gehe nicht mit Bigwood ins Bett!« Sie ließ ihren Stuhl mit einem Knall wieder nach vorn fallen und starrte mich an. In diesem Moment konnte ich sie mir gut in einem Billard-Salon vorstellen, zusammen mit anderen Heils Angels, Witze reißend und mit einer Kippe im Mundwinkel. Ich fragte mich, ob Bigwood sie behielt, weil er Angst vor ihr hatte. »Halten Sie mich für eine Zuhälterin? Ich dachte, Sie hätten etwas mehr in der Birne, aber da habe ich mich offenbar getäuscht. Unternehmen Sie etwas. Und zwar etwas, das ihn umhaut. Und seien Sie schnell, bevor er eine andere findet, die das schafft.«
14
Mein
Vater saß auf der Veranda, trank ein Glas Wein und hörte Roy Orbison auf seinem Ghettoblaster, als Deedee und ich mit unseren Reisetaschen ankamen. «Der Rasen sieht gut aus, Dad«, sagte ich und stellte ihm Deedee vor. Er gab ihr die Hand. »Es gibt Steaks zum Abendessen. Magst du Steak, Deedee?« »Sehr gern, toll.« »Ich hatte schon Angst, du wärst Vegetarierin.« Dann wandte er sich an mich. Offenbar fiel ihm nichts mehr ein, worüber er mit ihr hätte plaudern können. »Deine Mutter ist drinnen.« Es war Donnerstagabend und der Hubschrauberflug mit Troy sollte morgen früh stattfinden. Deedee und ich verbrachten die Nacht bei meinen Eltern, weil sie nur ein paar Kilometer vom Flugplatz entfernt wohnten. Wenn ich um halb fünf antreten sollte, wollte ich mir wenigstens die Fahrt sparen. Ich hatte Deedee eingeladen mitzukommen. Lizbeths Platz war frei, und ich hatte mir überlegt, dass dem Mädchen eine kleine Abwechslung guttäte. Wenn ich die Gelegenheit bekam, etwas im Radio zu sagen, wäre das sicher nichts, womit ich Bigwood umhauen konnte. Aber es würde vielleicht seine Aufmerksamkeit erregen — gar nicht zu reden davon, dass ich zwei Punkte auf der Aufgabenliste abhaken konnte. »Hallo, Mom!«, rief ich, als Deedee und ich in die Küche kamen. Meine Mutter stand am Tisch und schnitt Gemüse für den Salat. Auf dem Herd köchelte etwas, und es roch wunderbar würzig. »Du siehst deiner Mutter ziemlich ähnlich«, sagte Deedee leise, und wahrscheinlich sahen wir uns auf den ersten Blick tatsächlich ähnlich. Wir hatten dieselben nicht zu bändigenden Locken, nur dass sie ihre kurz trug. Und von Doris habe ich auch all die Kurven geerbt und das spitze Kinn. Gott sei Dank
habe ich nicht auch noch die Nase der Delaneys von ihr mitbekommen, die meiner Mutter steht, aber bei dem Rest der Familie wie ein Habichtschnabel aussieht. »Das also ist Deedee!«, rief meine Mutter. Sie legte ihr Messer hin und ging an mir vorbei, um Deedee zu umarmen. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen. June hat mir erzählt, wie viel Spaß ihr miteinander habt.« Als wir unsere Taschen abgestellt hatten, erkundigte sich meine Mutter, wie die Fahrt gewesen sei. »Ich hab die 405 genommen«, erzählte ich. »Und wie üblich standen wir im Stau.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich sage immer, mit dem Verkehr ist es wie mit dem Wetter. Alle reden darüber, aber keiner unternimmt etwas.« »Ich versuche es doch!«, protestierte ich. Mom überging meinen Einwand und sagte zu Deedee: »Freust du dich auf den Flug morgen?« Sie plauderten über den Ausflug am nächsten Tag — ein unverfängliches Thema. Ich hatte meine Eltern präpariert, dass sie bloß nicht auf das Kind zu sprechen kommen sollten. Genauer gesagt, weder auf Kinder im Allgemeinen noch auf Themen, die irgendwie mit Kindern zusammenhingen. Es sollte einfach kein Kind geben. Deedee war im sechsten Monat, und ihr Bauch war schon ziemlich vorgewölbt, auch wenn man kaum etwas davon sah, weil sie wieder ihre weiten Klamotten trug. Sie hatte noch niemandem in der Schule etwas davon erzählt und war bisher auch noch nicht darauf angesprochen worden. Wir trugen Schüsseln und Platten mit Essen ins Esszimmer und setzten uns. Zuerst gab es Suppe, dann Salat und schließlich Pommes frites aus dem Ofen und Steaks, die mein Vater grillte. Meine Mutter hatte den Tisch mit Sets und Tellern mit Papageienmuster gedeckt. Die Griffe des Bestecks waren wie kleine Palmen geformt, und die Wassergläser waren mit Hula-Mädchen bemalt. Seit mein Vater in Rente war, wurde das Essen zu Hause
immer opulenter und ausgefallener. Vorher hatte er sich auf den Grill beschränkt, an dem er es allerdings zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte. Aber in den letzten Jahren hatte er angefangen, in der Küche zu experimentieren - ein Salat hier, eine Nudelsoße da. Meine Mutter musste sich bedroht gefühlt haben, weil sie plötzlich anfing, neue Rezepte auszuprobieren, von denen wir noch nie etwas gehört hatten, und Sachen zu sagen wie: »Martin, dein Salat ist einfach köstlich! Wusstet ihr eigentlich, dass ein Pavian Salat machen kann? Ungelogen, habe ich neulich in einem Tierfilm gesehen.« Mein Vater machte meiner Mutter die Herrschaft am Herd streitig, und da ich nun mal gerne gut esse, tat ich nichts, um ihre kleinen Wettkämpfe zu verhindern. »Die Steaks riechen wunderbar, Dad!«, rief ich, als meine Mutter die gefüllten Suppenteller hereinbrachte. »Hm, Mom, hast du die Suppe etwa selbst gemacht?« Mein Vater rührte mit dem Löffel in seinem Teller. »Was ist das?« »Zu Ehren von Deedees mexikanischer Herkunft habe ich Taco-Suppe gemacht.« Meine Mutter lächelte Deedee an. »Es ist zwar kein traditionelles Rezept, aber ich hielt es für vermessen, mich an einem Gericht zu versuchen, das du zu Hause vielleicht jeden Tag bekommst, nur besser und authentischer. Eine Freundin von mir hat das Rezept von einem Weight-Watchers-Treffen mitgebracht und ...« Der Rest von dem, was sie noch sagte, ging an mir vorbei, weil es in meinem Kopf zu summen begann, als hätte sich ein Schwärm Bienen dort niedergelassen. Hatte sie Taco-Suppe gesagt? War es etwa die Taco-Suppe? Ich wollte gerade fragen, was sie alles hineingetan hatte, als ich sie sagen hörte: »Und ehrlich gesagt, muss man nur ein paar Dosen öffnen können.« Deedee langte kräftig zu. »Fmeckt eft gug«, sagte sie, den Mund voll heißer Suppe. »Gratias, senorita«, sagte meine Mutter, deren Spanischkenntnisse ungefähr so umfassend waren wie meine. Ich sah die Suppe an, als wäre sie eine
Mordwaffe, was sie in gewisser Weise ja auch war. Dann sagte ich mir, sei's drum, ich habe Hunger, und sie riecht gut. Ich nahm einen Löffel, pustete und probierte. Stimmt, sie war gut. Eft gug sogar, dachte ich und aß weiter. Vielleicht konnte ich jetzt sogar beim Dschungelcamp mitmachen, denn wenn ich, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Suppe essen konnte, die in so engem Zusammenhang mit dem Tod eines Menschen stand, würde ich es wohl auch schaffen, einen Becher voll Würmer runterzuwürgen. »Gehst du gern in die Schule?«, fragte meine Mutter Deedee. »Manchmal.« »June hat mir erzählt, dass du Klassenbeste bist. Find ich toll. Hast du auch schon einen Freund?« Deedee schüttete Ketchup auf ihre Pommes und sah aus, als wäre sie am liebsten unter den Tisch gekrochen. »Eigentlich nicht.« Ich warf meiner Mutter einen Blick zu. Was hatte sie vor? Hatte ich nicht deutlich genug gesagt, dass wir nicht über solche Dinge sprechen sollten, und wies der Umstand, dass Deedee ein Kind erwartete, nicht darauf hin, dass es einen Freund gab oder zumindest eine kurze Zeit gegeben hatte? Meine Mutter plauderte weiter und tat so, als würde sie die Dolche meiner Blicke nicht bemerken, mit denen ich sie bewarf. »Das kommt schon noch. Wirst schon sehen, sie werden dir bald scharenweise hinterherlaufen, hübsch wie du bist.« Deedee fühlte sich offensichtlich immer weniger wohl, und um meine Mutter von dem unglückseligen Thema abzubringen, sagte ich: »Sie hat Recht. Aber ansonsten solltest du nicht allzu viel auf das geben, was meine Mutter sagt. Als ich in deinem Alter war, fand sie mich auch hübsch.« »Du warst doch auch hübsch!«, beharrte meine Mutter. Mein Vater gluckste. »Hatte sie nicht eine Zahnspange? Und eine Augenklappe?«
»Was konnte ich denn dafür, dass ich geschielt habe? Und ich musste sie auch nur ein paar Monate tragen!« Deedee prustete los. »Eine Augenklappe? Im Ernst? Wie ein Pirat?« Als wäre es damals nicht schon schlimm genug gewesen. »Hast du ein Foto von dir aus der Zeit?« »Tut mir leid. Von mir gibt es keine Fotos, weil ich so hässlich war ... und weil ich das zweite Kind war. Wenn du dagegen Fotos von meinem Bruder sehen willst, davon haben wir Tonnen.« Dann tätschelte ich meinen Hinterkopf, um sie daran zu erinnern, wie vernachlässigt ich gewesen war. »Hör nicht auf sie, Deedee«, sagte meine Mutter. »Sie mag damals eine etwas seltsame Phase gehabt haben, aber als sie auf die Highschool kam, blühte sie regelrecht auf. Ehrlich, das ist die schönste Zeit im Leben. Du wirst schon sehen. So schön und klug wie du bist, wirst du bestimmt viele tolle Sachen erleben.« Aha. Das hatte sie also im Sinn. Zuerst hatte ich es nicht begriffen, aber dann dämmerte es mir, dass dies Doris Parkers Ein-Frau-Aufklärungskampagne war. Sie wollte Deedee dazu ermutigen, das Kind zur Adoption freizugeben. Nicht besonders subtil, aber immerhin. Deedee versank in tiefes Schweigen und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Zersäbeln ihres Steaks, bis mein Vater schließlich glaubte, sich rechtfertigen zu müssen: »Also eigentlich sollte man es mit der Gabel zerteilen können, so zart ist es.« Zum Nachtisch gab es Rhabarberkuchen mit Vanilleeis. Er wurde auf der Terrasse serviert. Dazu gab es das Summen des elektrischen Fliegenfängers und einen Klagemonolog meines Vaters, dass die Bloomingdales von nebenan ihren Garten neu angelegt hätten, mit Wüstenpflanzen und einem Steingarten statt des Rasens. »Es ist doch nicht zu fassen! Was glauben die eigentlich, wo wir hier sind? In der Sahelzone? Haben die noch nie etwas von einem Gartenschlauch gehört? Als Nächstes werden sie sich noch eine von diesen Solaranlagen aufs Dach montieren lassen.«
»Deine Eltern sind echt lustig«, sagte Deedee, als ich sie in das Zimmer meines Bruders führte, wo sie schlafen sollte. Es war erst neun, aber da wir um drei schon wieder aufstehen mussten, wollten wir früh ins Bett. Ich stieg unter die Dusche, damit ich es mir in der Früh sparen konnte. Um Viertel vor zehn hatte ich mir die Haare geföhnt und an den Fingern die Stunden abgezählt, die mir zum Schlafen blieben - fünf. Mann, wie schaffte Troy das nur jede Nacht? Bevor ich ins Bett schlüpfte, ging ich noch mal zu Deedee, unter deren Tür ich Licht hatte brennen sehen. Ich klopfte an und trat ein. Sie lag im Bett, noch immer in ihrem T-Shirt, und las eines der alten Comic-Hefte meines Bruders. »Ich kann noch nicht schlafen«, sagte sie. »Ich schon. Ich bin eine begnadete Schläferin. Bei mir hapert es eher mit dem Aufwachen.« »Bei mir auch. Aber ich habe mir den Wecker gestellt.« »Das ist gut. Eine von uns beiden wird es schon schaffen, aus dem Bett zu kommen.« Ich setzte mich auf die Bettkante. »Soll ich dir ein Schlaflied singen?« Ich trällerte: »Schlaf, Kindchen, schlaf...« Sie ließ den Comic sinken. »Du hast deiner Mutter gesagt, dass ich schwanger bin.« Ich versuchte möglichst unschuldig dreinzusehen, aber sie fügte hinzu: »Ich bin nicht blöd.« »Tut mir leid. Sie ist meine Mutter, ich hätte es ihr nicht verschweigen können.« »Wenigstens war sie nett. Meine Mutter brüllt mich nur noch an. Ich wette, deine brüllt nie.« »Zur Entschuldigung deiner Mutter muss ich sagen, dass ich dafür auch schon ein bisschen alt bin.« »Aber ich wette, deine Eltern haben dich auch nie angebrüllt, als du noch ein Kind warst.« Ich überlegte. »Nicht sehr oft wahrscheinlich. In unserer Familie wird allgemein nicht viel geschrien, aber das heißt nicht, dass sie mir alles durchgehen ließen.« Sie schnaubte. »Was hast du schon angestellt?«
»Einiges.« »Vergiss es. Dazu bist du viel zu brav. Ich wette, du hast dein ganzes Leben noch nichts angestellt.« »Aber sicher!« »Was denn zum Beispiel? Was war das Schlimmste, was du jemals gemacht hast?« Vielleicht lag es an der Taco-Suppe oder daran, dass ich Troy Jones in wenigen Stunden sehen würde, jedenfalls dachte ich an Marissa, und bevor ich es mir anders überlegen konnte, war es schon heraus: »Ich habe jemanden umgebracht.« »Ich mein's ernst.« Ich bereute schon, es ihr gesagt zu haben. Deshalb lachte ich und versuchte mich an irgendein anderes Verbrechen zu erinnern, das ich begangen hatte, um sie abzulenken. Leider fiel mir nur ein, dass ich mich auf Kathy Berz' Abschlussfeier heimlich über die Früchtebowle hergemacht hatte und dann kotzen musste, und das war einfach nichts im Vergleich mit einem Mord. Ich stotterte herum, bis Deedee sagte: »Scheiße, du hast wirklich jemanden umgebracht!« »Nein, das war —« »Lüg nicht. Du brauchst gar nicht versuchen, es zurückzunehmen. Du hast es getan.« Ich seufzte. »Du hast Recht, ich habe es getan. Es war ein Unfall.« Ich wandte meine Aufmerksamkeit einem losen Faden in der Decke zu. »Allerdings war ich daran schuld, daher weiß ich nicht, ob Unfall das richtige Wort ist.« Auf ihr Drängen hin erzählte ich ihr die Einzelheiten: angefangen bei dem Küchenschrank, der vom Laster fiel, meinem Ausweichmanöver, bei dem mein Auto sich überschlug, bis hin zu meiner ersten Fahrt in einem Notarztwagen. Ich erwähnte natürlich nicht, dass Marissa Troys Schwester war, und sagte auch nichts von der Liste. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Deedee herausbekam, dass sie selbst zu den Aufgaben gehörte. »Und woran ist sie gestorben?«, fragte Deedee, als ich fertig war. Ich starrte sie an, und sie sagte: »Ich weiß, dass sie bei dem Unfall gestorben ist und dass der
Küchenschrank runtergefallen ist, aber woran genau ist sie gestorben?« Sie sagte das ohne eine Spur Mitleid, aber es schien auch keine Sensationslust dahinterzustecken. Es war eine nüchterne Frage nach etwas, was ich unterschlagen hatte. »Sie war nicht angeschnallt und ist aus dem Wagen geschleudert worden, als er sich überschlug.« »Durchs Fenster?« Und jetzt geschah etwas Seltsames: Ich spürte, dass ich es endlich aussprechen konnte. Die Details dieses Abends, die ich Susan verschwiegen hatte, meinem Freund Robert, meinen Eltern, allen. Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion gehabt, vor ihrem Mitleid. Alles, was ich ihnen mitgeteilt hatte, war, dass Marissa gestorben war, als sich der Wagen überschlagen hatte. Mehr hatten sie nicht erfahren. »Ja, durch die Windschutzscheibe«, sagte ich nüchtern. »Sie ist durch die Windschutzscheibe geflogen.« »Ist sie verblutet?« »Nein, soweit ich weiß, starb sie, weil mein Auto ...« Ich holte tief Luft, bevor ich fortfuhr. »Es ist auf sie draufgefallen.« »Wohin? Auf den Kopf?« »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich mitten auf sie.« »Krass. Was hast du gemacht?« »Nichts«, antwortete ich und zog den losen Faden aus der Decke. »Ich habe nichts gemacht.« Der Airbag hatte mich in meinen Sitz gedrückt, und ich hatte keine Ahnung, wo Marissa war. Aber ich hatte auch nicht versucht, mich zu befreien und nach ihr zu suchen. Ich starrte vor mich hin. Summte ein Lied. Ich hatte darauf gewartet, dass man mich rettete, während mein Auto auf Marissa Jones lag und sie langsam zerquetschte. Das Schlimmste war, dass weder die Polizei noch die Ärzte oder die Schwestern im Krankenhaus mich damit getröstet hatten, dass sie schnell gestorben sei. Sie sagen so etwas immer, und da sie es in diesem Fall nicht taten, musste ich annehmen, dass das Gegenteil der Fall war.
Ich stand auf. »Es ist spät, ich gehe jetzt schlafen«, sagte ich und knipste das Licht aus. Aus Gewohnheit fügte ich noch die Worte hinzu, die meine Mutter früher immer zu mir gesagt hatte: »Träum schön.« Der Wecker klingelte, und ich brachte ihn durch einen kräftigen Schlag zum Schweigen. O Gott. Mir war ganz übel vor Schläfrigkeit. Drei Uhr morgens. Warum hatte ich nicht durchgemacht? Dann wäre ich jetzt zumindest schon wach, statt noch aufwachen zu müssen. Ich zwang mich aufzustehen und streifte meine Jeans und das langärmelige TShirt über. Dann band ich mir die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und ging zu Deedee, die auf der Bettkante saß und aussah, als hätte man sie aus dem Mülleimer gezogen. Sie trug dieselben Sachen, in denen sie geschlafen hatte, und nachdem sie in ihre Turnschuhe gestiegen war, erklärte sie, dass sie fertig sei. Dann kroch sie noch einmal unter die Decke und sagte, ich solle sie wecken, wenn wir losmüssten. Trotz allem wollte ich nicht ungeschminkt aus dem Haus gehen. Meine Augen waren nur Schlitze. So gut ich konnte, bearbeitete ich sie mit Wimperntusche und Lidschatten. Später, wenn sie nicht mehr ganz so zugeschwollen waren, würde ich feststellen können, ob es sich gelohnt hatte oder ob ich eher wie Bette Davis in Alles über Eva aussah. Egal. Wenn Troy gut aussehende Fluggäste haben wollte, musste er zur Nachmittagsschicht wechseln. Der Van-NuysFlugplatz war klein und wurde überwiegend von Privatmaschinen und Hubschraubern genutzt. Deedee und ich kamen ein paar Minuten zu früh und fanden Troys Hangar ohne Probleme. Er war schon da, trug Jeans und ein Kapuzen-Shirt, trank Kaffee und blätterte Papiere durch. Draußen vor dem Hangar stand ein quietschgelber Helikopter, auf dem »K-JAM geht für L. A. in die Luft!« stand. »Hallo, guten Morgen!«, rief Troy, als wir näher kamen. »Zu einem guten Morgen gehört Sonne«, nörgelte ich.
»Das ist kein guter Morgen.« »Na, dann werde ich Sie mal herumführen«, sagte er und klatschte in die Hände. »Wollen wir bei der Kaffeemaschine anfangen?« Er zeigte uns alles und erklärte, wie sein Job funktionierte. Er arbeite unter ungewöhnlichen Bedingungen, sagte er. Die meisten Verkehrsreporter seien bei einer Nachrichtenagentur angestellt, während er selbstständig sei und den Radiosender direkt bediene. Das Musikprogramm von K-JAM bestand aus den Top-40-Hits und Hip-Hop. Das Vormittagsprogramm von K-JAM war sehr beliebt, und das war auch der Grund, warum Lizbeth so scharf darauf gewesen war, in seine Sendung zu kommen. »Kennen Sie Fat Boy?«, fragte Deedee. Fat Boy war der mexikanischstämmige DJ des Morgenprogramms; sein Spitzname kam nicht von ungefähr, er wog an die zweihundert Kilo. Auf den Werbetafeln, die man überall in der Stadt sah, trug er nichts außer einer dicken Brille, einem Hut und einer Badehose. »Klar. Wir sind heute sogar gemeinsam auf Sendung, aber wir werden ihn nicht sehen. Er ist im Studio.« »Fat Boy ist irre komisch«, sagte Deedee. »Ich könnte mich immer totlachen, wenn er irgendwelche Leute anruft und so tut, als sei er eine alte Frau.« »Du hörst K-JAM?«, fragte er. »Ja, wenn ich mich für die Schule fertig mache.« »Und was hältst du von meinen Verkehrsberichten?«, fragte er, während er uns zum Hubschrauber führte. Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Könnten lustiger sein. Mehr Witze. Aber ich denke, Ihre Verkehrsmeldungen sind in Ordnung. Genau weiß ich das allerdings nicht, weil ich ja noch nicht Auto fahre.« Sie grinste ihn an: »Ich interessiere mich eigentlich nicht dafür. Mir macht es nichts aus, dass Sie sich das alles aus den Fingern saugen.« »Mist, ich hatte gehofft, es merkt keiner.« Ein untersetzter Mann mit Baseballkappe und Bart und einer Donut-Tüte in der Hand kam uns entgegen. Troy stellte ihn uns als seinen Kopiloten Dickie Ruiz vor. »Dickie und ich müssen ein paar Dinge
durchgehen. Ihr könnt ja inzwischen noch mal aufs Klo«, sagte Troy. »Dazu werdet ihr die nächsten Stunden nämlich keine Gelegenheit mehr haben.« Deedee und ich müssen ziemlich erschrocken ausgesehen haben, weil er sagte: »Falls nötig, kann ich natürlich eine Notlandung machen.« »Ich muss in letzter Zeit alle paar Minuten pinkeln«, flüsterte Deedee mir zu, als wir zu den Toiletten gingen. »Wie geht es dir?«, fragte ich. »Willst du es wirklich wagen?« »Ja, klar. Ich finde das echt cool.« Kurz darauf waren wir wieder beim Hubschrauber. Troy sagte: »Gute Neuigkeiten, June. Ein Sponsor fällt aus, das heißt, dass ich Ihnen so um sieben ein paar Fragen stellen könnte. Irgendwelche besonderen Wünsche?« Während ich überlegte, sagte Deedee: »Fragen Sie sie doch, was ihr Lieblingslied ist. Oder sie soll die besten Clubs in L. A. verraten. Sie könnte auch von den Leichen erzählen, die wir im Museum gesehen haben.« »Danke«, sagte ich. »Aber es sollte doch eher um den öffentlichen Nahverkehr gehen. Vielleicht könntest du mich etwas über die neue Metro nach Downtown fragen.« »Das ist ja todlangweilig«, sagte Deedee. Troy versprach, dass er sich bemühen werde, das Ganze spannend zu machen, dann öffnete er den Einstieg des Hubschraubers. »Fertig?«, fragte er. Er und Dick halfen uns, nach hinten zu klettern, wo wir gerade genug Platz zum Sitzen hatten. »Und wo sind die Fallschirme?«, fragte ich, als ich den Gurt umlegte. »Kann ich das Klapptischchen auch als Schwimmhilfe benutzen?« Ich plapperte nervös drauflos, weil mir plötzlich mulmig zumute war. Ich litt zwar nicht unter Flugangst, aber ich war noch nie in einem Hubschrauber geflogen und wusste nicht, was mich erwartete. Darüber hinaus sollte ich auch noch live im Radio sprechen, was eine zusätzliche Zerreißprobe für meine Nerven darstellte. Es ging schließlich um eine ganze Menge, jetzt, da Lizbeths Stelle vakant war. Troy drückte ein
paar Knöpfe, und Dickie reichte Deedee und mir zwei Headsets mit riesigen Kopfhörern, die wie Ohrenschützer aussahen. An jedem war ein kleines Mikrofon angebracht, das zum Mund führte. »Wenn er den Rotor angeworfen hat, wird es hier drinnen sehr laut. Ihr braucht die Dinger, um mitzubekommen, was in der Sendung vor sich geht. Über die Mikrofone könnt ihr euch mit uns im Hubschrauber unterhalten. Dann muss man nicht so brüllen. June, Ihr Mikrofon ist so eingestellt, dass Sie damit auch auf Sendung gehen können.« Er lächelte. »Sie wissen, welche Wörter verboten sind, oder?« »Ja, klar.« »Ich will's auch wissen!«, sagte Deedee. »Arsch ist verboten«, erwiderte Dickie. »Arsch darf man auf keinen Fall sagen.« »Und wie ist es mit Scheiße?«, fragte Deedee. »Ich könnte wetten, dass sie das manchmal ausblenden.« »Scheiße ist auch nicht erlaubt«, mischte sich Troy ein. »Aber ab und zu rutscht es durch. Und June, Sie dürfen sich gerne ausführlich darüber auslassen, wie unglaublich attraktiv ich bin. Es gibt kein Verbot für Wörter wie Adonis, sexy, göttergleich ...« »Egomanisch«, ergänzte Dickie und hielt uns die Donut-Tüte hin. »Er leidet furchtbar darunter, dass er nur im Radio ist und die Damenwelt keine Ahnung hat, wie gut er aussieht.« Wir futterten Donuts, bis Troy uns ein Zeichen gab und wir uns wappneten. Er startete den Rotor; der Lärm war tatsächlich ohrenbetäubend. »Ich dachte immer, das wäre nur Show!«, brüllte ich. »Dass Sie in einem Studio sitzen und das Geräusch vom Band kommt!« Dickie drehte sich zu uns und deutete auf seine Ohren. »Ach ja.« Deedee und ich stülpten uns die Kopfhörer über, und ich schob mein Mikrofon zurecht. Troy fragte: »Könnt ihr mich hören?« Deedee nickte. Ich streckte meinen Daumen nach oben. »Los geht's«, sagte er, und der Hubschrauber erhob sich in die Luft. Einen Moment lang blieb er ein paar Meter über dem Boden stehen, dann
kletterte er weiter in die Höhe und startete durch. Mein Magen machte einen Salto, Deedee schrie begeistert auf. »Bei euch da hinten alles in Ordnung?«, fragte Troy. Deedee nickte, und ich streckte noch einmal meinen Daumen nach oben. Über meinen Kopfhörer hörte ich Troy lachen. »Ihr dürft ruhig reden«, sagte er. »Ich gebe euch rechtzeitig Bescheid, bevor wir auf Sendung gehen. Und Deedee, bei dir kann ohnehin nichts passieren, weil nur Junes Mikro live geschaltet werden kann.« Der Donut rollte in meinem Magen herum. Es gibt keinen Anlass, sich Sorgen zu machen, sagte ich mir. Troy wird bestimmt keine schweren Fragen stellen. Ich werde das schon schaffen, die GratisbenzinAktion habe ich ja schließlich auch überstanden. Mein Kopf schien sich von alldem einlullen zu lassen. Mein Verdauungssystem blieb skeptisch. Ich zwang mich dazu, die Aussicht zu genießen, während sie im Radio einen Song von den Black Eyed Peas spielten. Der Nachthimmel verfärbte sich grau. Offensichtlich überlegte sich die Sonne gerade, bald aufzugehen. (Ich vergaß keine Sekunde, dass ich bei diesem Ausflug einen Bonus bekam: Ich würde nicht nur Nr. 10, In einem Hubschrauber fliegen, sondern auch Nr. 18, Einen Sonnenaufgang miterleben, abhaken können.) Wir waren in San Fernando Valley gestartet und überflogen nach wenigen Minuten den Hügelkamm. Ich war schon oft im Flugzeug über Los Angeles geflogen, aber noch nie in so geringer Höhe, dass ich einzelne Gebäude ausmachen konnte. Das DodgerStadium, das Getty-Museum, die Villen entlang des Mulholland Drive ... Selbst der Freeway 405 sah beeindruckend aus, wie er sich den Hügel hinaufwand, gesprenkelt mit dem Scheinwerferlicht der ersten Pendler. Troy drehte sich zu uns um. »Wie findet ihr es?« »Wer hätte gedacht, dass Straßenverkehr so schön sein kann«, sagte ich.
»Wenn Sie das schon schön finden«, bemerkte Dickie, »dann warten Sie erst mal bis zur Rushhour. Ein wahres Kunstwerk!« Deedee drückte sich die Nase an der Scheibe platt. »Das ist der Wahnsinn. Das glaubt mir kein Mensch, wenn ich es erzähle!« Troy gab die ersten Verkehrsmeldungen durch. Ich hörte über meine Kopfhörer, was Troy sagte, aber die Antworten von Fat Boy waren stumm geschaltet. Troy sprach mit seiner Radiostimme, die tiefer und lebhafter klang als seine normale Sprechstimme. Auf den Straßen war noch nicht viel los, und es war merkwürdig, nur immer eine Seite des Gesprächs mitzubekommen. Irgendwann sagte Troy: »Ich hab keine Ahnung, Fat Boy, es ist eine Weile her, dass ich einen Affen aus der Nähe gesehen habe«, und ich fragte mich, wie die Frage zu dieser Antwort wohl gelautet haben mochte. Gerade als der Himmel von Grau zu Orange wechselte, kamen wir an dem berühmten Hollywood-Schild vorbei. Von hier oben sah man, dass die einzelnen Buchstaben tatsächlich fast 15 Meter hoch waren. »Ich dachte, dass der Sonnenaufgang von hier aus besonders schön ist«, sagte Troy zu mir. Es war die einzige Anspielung auf die Liste, die er machte. Dann drehte der Hubschrauber nach links ab, und Troy erklärte: »Wir fliegen jetzt zum Freeway 101. Angeblich hat es dort eine Massenkarambolage gegeben. June, in der nächsten Runde sind Sie dran.« »Prima!«, krächzte ich. Mir war schlecht. Ich versuchte, mich zu beruhigen, und zwang mich, an schöne Dinge im Zusammenhang mit Fahrgemeinschaften zu denken. Du musst die
Servicenummer unterbringen, du musst die Servicenummer unterbringen ... Was immer du sagst, fluch nicht ... und sag bloß nicht Scheiße. Scheiße, jetzt hab ich's mir auch noch eingeprägt ... O verdammt ... ich meine, Scheiße ... O Gott, ich werde Schimpfwörter von mir geben wie eine Geisteskranke mit Tourette-Syndrom ...
»Okay, wir sind so weit«, sagte Troy. »Ich fange mit den Verkehrsmeldungen an. Dann werde ich Sie vorstellen, June, und Ihnen ein, zwei Fragen stellen.« »Aber bitte nur einfache«, sagte ich mit Piepsstimme. Er drehte kurz den Kopf und blinzelte mir zu. »Keine Sorge, Baby.« Dann wandte er sich wieder seiner Instrumententafel zu und sagte: »Also, alles wie gehabt. Sie werden meine und Ihre Stimme über den Kopfhörer hören. Fat Boy hören Sie nicht, aber er weiß Bescheid. Verstanden?« »Verstanden.« Die Musik im Radio wurde ausgeblendet, und ich hörte, wie Troy berichtete, dass der Verkehr auf der 101 und der 405 ins Stocken geraten sei und die Autos auf der 90 Höhe Riverside nur noch Schritttempo fuhren. Dann sagte er: »Wenn ihr keine Lust mehr auf Staus habt, kann euch die Frau, die hier mit mir im K-JAMHubschrauber sitzt, erzählen, wie ihr sie vermeidet ... June Parker von Los Angeles Rideshare.« Es war so weit. Mein Herz schlug wie wild, und mein Magen grummelte so laut, dass ich Angst hatte, man könnte ihn über den Lärm des Rotors hinweg hören. »June, was würden Sie jemandem raten, der in diesem Moment allein in seinem Auto sitzt und sich wünscht, irgendwo ganz weit weg zu sein?« »Na ja«, sagte ich, als Dickie herumfuhr und mich mit Panik im Blick ansah. »Sie sind nicht zu hören!«, zischte er. »Ich kann Sie nicht hören!« Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, sprach ich einfach weiter: »Ich würde ihm sagen —« Aber Troys Stimme unterbrach mich. »Als Erstes würden Sie natürlich sagen, dass er aussteigen und zu Fuß gehen soll. Haha. Aber was noch?« »So eine Sch—«, setzte Deedee an, verstummte aber sofort wieder. Ich konnte ihre Stimme über meinen Kopfhörer hören. Sie schien es in der gleichen Sekunde zu kapieren wie wir anderen: Ihr Mikrofon war eingeschaltet und meines nicht. Dickie hielt die Kabel hoch, die von der Instrumententafel zu uns führten. Wir mussten die Headsets vertauscht haben. Ich erstarrte. Was sollte
ich bloß tun? Troy hielt einen Finger vor den Mund und sagte: »Da hast du völlig Recht, Fat Boy.« Bei diesen Worten richtete sich Deedee auf und plärrte in ihr Mikrofon: »Hier ist June! Wissen Sie was, Troy? Ich sage immer, mit dem Verkehr ist es wie mit dem Wetter - alle reden davon, aber keiner unternimmt was.« Troy lachte auf und sprach gleich weiter. »Wie wahr. Und was könnte man unternehmen?« «Zuallererst«, sagte sie mit vor Aufregung aufgerissenen Augen, »sollten alle, die ein Auto haben, Fahrgemeinschaften bilden. Gerade jetzt, wo Benzin praktisch unbezahlbar ist.« »Sie müssen mir nachher noch verraten, wo Sie tanken, damit ich einen großen Bogen um die Tankstelle machen kann«, witzelte Troy. Ich war mit den Nerven fertig, aber er schien völlig gefasst zu sein. Dickie streckte den Arm nach hinten und drückte Deedee aufmunternd die Hand. »Bus«, soufflierte ich ihr stumm. »Und wenn sie kein Auto haben«, fuhr sie fort, »können sie auch mit dem Bus fahren. Meine Mutter zum Beispiel ist blind, deswegen ist sie auf den Bus angewiesen, und es klappt, sie kommt überall hin.« »Prima Sache«, sagte Troy. Ich holte rasch einen Stift aus meiner Tasche, schrieb die Servicenummer der Firma auf die Rückseite der Donut-Tüte und hielt sie Deedee unter die Nase. »Es braucht mir keiner zu erzählen, dass das nicht geht. Wenn meine blinde Mutter mit dem Bus fahren kann, dann können andere, die nicht behindert sind, das gleich dreimal.« »Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie heute hier sind, June, und uns von Ihrem Anliegen erzählen«, sagte Troy. Er konnte kaum ein Grinsen unterdrücken. Er genoss die ganze Sache auch noch! »Das tu ich gern«, sagte Deedee stolz. »Ach, und wenn jemand irgendwelche Fragen hat, muss er nur 1-800-RIDE-SHARE wählen. Und keine faulen Ausreden. Die Nummer ist zwar lang, aber leicht zu merken.«
Troy sprach ein paar Schlussworte, dankte den Sponsoren, und dann hörte ich wieder Musik in meinem Kopfhörer. »Du warst toll, Deedee«, rief Troy aus. »Du bist ein echtes Naturtalent.« Dickie tätschelte ihr zur Bestätigung das Bein. Ich versuchte, ähnlich begeistert wie Troy zu klingen, als ich sagte: »Das hast du besser hingekriegt, als ich es gekonnt hätte.« »Darf ich noch mal?«, fragte sie aufgeregt. Dickie schüttelte den Kopf. »Wir wollen unser Glück nicht überstrapazieren.« »Schade, ich habe nämlich vergessen, meine Freundin Rebecca zu grüßen.« Zum krönenden Abschluss unserer Tour flog Troy über den Strand, der abgesehen von ein paar Surfern zu dieser frühen Stunde verlassen dalag, und über das riesige Riesenrad am Pier von Santa Monica. Als wir wieder gelandet und aus dem Hubschrauber geklettert waren, wäre ich am liebsten in die Knie gegangen und hätte den Boden geküsst. Gute alte Mutter Erde! Am Anfang hatte es ja Spaß gemacht, aber ich war noch nie so froh gewesen, dass etwas vorbei war. Sämtliche Einwohner von Los Angeles glaubten jetzt, dass meine Mutter blind sei, aber das war nicht das eigentliche Problem. Das eigentliche Problem war, dass ich es vermasselt hatte. Wieder einmal. Als wir gemerkt hatten, dass mein Mikrofon nicht funktionierte, hatte Deedee geistesgegenwärtig reagiert, nicht ich. Wäre sie nicht gewesen, hätte es im Äther das längste Schweigen in der Geschichte des Radios gegeben. Erst im Nachhinein fiel mir ein, dass ich mich ja einfach zu Deedee hätte beugen und in ihr Mikrofon sprechen können, bis wir die Gelegenheit gehabt hätten, die Headsets auszutauschen. Ich war zutiefst niedergeschlagen, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen, da die anderen von dem Flug geradezu berauscht wirkten.
»Abgesehen davon, dass ich im Radio gewesen bin, war das Tollste der Unfall«, sagte Deedee in aufgeregtem Plapperton. »Die Autos sahen wie Spielzeugautos aus. Und das eine lag verkehrt rum da. Gruselig.« »Weißt du, was komisch ist?«, erwiderte Dickie, während wir zum Hangar gingen. »Dass man immer von Unfällen redet, als könnte niemand etwas dafür.« »Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht«, bemerkte Deedee. Mir stockte der Atem bei seinen Worten. Dann stürzte alles über mir zusammen. Die Taco-Suppe ... mein Gespräch mit Deedee am Abend zuvor ... Troy Jones zu sehen, der mangelnde Schlaf und das ungesunde Frühstück, das vermasselte Interview und die schwangere Deedee und warum ich nicht einfach in ihr Mikrofon gesprochen hatte und der ganze Kaffee und dass es Unfälle gar nicht gibt, weil jemand schuld sein musste, und das Allerallerschlimmste - Troys Blick, der sich auf mich richtete. In seinen Augen sah ich etwas, das ich nicht ertrug, das in mir brannte, als hätte jemand Öl in das schwelende Feuer meines Kummers gegossen. Ich sah Mitleid darin. »Entschuldigung, ich muss -« Ich deutete nach draußen, als ob ich dort dringend etwas erledigen müsste. Kaum war ich aus ihrem Blickfeld, rannte ich schnell um das Gebäude herum. Ich ließ mich gegen die Mauer sinken und heulte los. Die Tränen strömten nur so aus meinen Augen, als ich dem Schmerz nachgab, und ich rang schluchzend nach Luft. Ich hörte mich an wie die Seelöwen am Pier 39 in San Francisco, wo sie zu Dutzenden im Hafenbecken herumtollen und vor Freude grunzen. Bei mir waren es allerdings keine freudigen Laute. Es waren Laute reinster Verzweiflung. Der Schrei eines Mädchens in einem Horror-Film. Die quietschenden Bremsen eines alten Lasters auf dem Freeway. Es klang hässlich und erbärmlich, und ich konnte nichts dagegen tun. Dann spürte ich, wie sich zwei Hände auf meine Schultern legten. Troy drückte mich sanft nach
unten, bis ich saß — gegen die Mauer gelehnt, meine Knie umklammernd. Dann schob er meine Arme zur Seite und drückte meine Beine auseinander. Behutsam zog er mich nach vorne, bis ich den Kopf zwischen die Knie sinken ließ. »Atmen Sie«, befahl er mir. »Atmen Sie langsam ein und aus.« »Ich ... ich ... kann ... nicht.« »Psst, atmen Sie tief ein.« Und er atmete tief ein und aus, um es mir zu zeigen. »Kommen Sie, machen Sie es mir nach.« Und zwischen zwei Schluchzern schaffte ich es, ein paarmal ein- und auszuatmen, dann noch einmal, und nach einer Weile atmete ich mit Troy im Takt und kam mir, ehrlich gesagt, reichlich lächerlich vor. Seine Hand, die beruhigend meinen Rücken streichelte, tat mir allerdings gut. Es war mir auch keineswegs unangenehm, dass er neben mir saß und wir uns leicht berührten. Bevor ich den Kopf hob und er den Schaden sehen konnte, den die Heulerei in meinem Gesicht angerichtet hatte, wischte ich schnell mit meinem T-Shirt darüber. Es saugte sich mit Wimperntusche, Tränen, Rotz und weiß der Teufel was noch voll. Troy hatte aufgehört, meinen Rücken zu streicheln, und rutschte ein Stück beiseite, damit er mich besser sehen konnte. (Tolle Aussicht!) »Dickie hat nicht Sie gemeint.« Ich zuckte mit den Schultern. Er weiß nichts von dem Unfall. Haben Sie das gehört? Ich habe Unfall gesagt. Weil es einer war.« Ja ich mit meinen verquollenen Augen und der rot angelaufenen Nase sowieso nichts mehr zu verlieren hatte, fragte ich ihn unverblümt: »Warum sind Sie eigentlich so nett zu mir?« Es klang fragend und vorwurfsvoll zugleich. »Warum sollte ich das nicht sein?« »Muss ich das wirklich sagen? Wenn ich es tue, dann« - und ich deutete auf meine Augen — »fängt das vielleicht wieder an.« »Bitte nicht wieder weinen.« »Ich war diejenige, die hinter dem Steuer saß. Sie haben allen Grund, mir die Schuld dafür zu geben,
dass Ihre Schwester ...« - es ließ sich einfach nicht beschönigen —, »dass sie tot ist. Sie sollten mich hassen. Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht tun. Entweder Sie sind ein Heiliger oder ... nein, etwas anderes als Heiliger fällt mir eigentlich nicht ein.« »So hat mich noch niemand genannt. Wenn Sie mich kurz entschuldigen, das muss ich gleich an sämtliche Nachrichtenagenturen weitergeben.« »Ich meine es ernst.« »Ich weiß. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich wütend bin, wenn ich daran denke, was passiert ist. Aber nicht auf Sie. Glauben Sie mir, wenn ich jemals den Typen zwischen die Finger kriege, der zu blöd war, einen Schrank auf seinem Laster festzuzurren ... und dann nicht einmal angehalten hat.« Er schüttelte den Kopf. »Das möchten Sie bestimmt nicht miterleben. Für mich tragen Sie keine Schuld. Sie haben überlebt, und ich wünschte, meine Schwester hätte das auch. Das ist alles.« Ich nickte und vermisste die Wärme seiner Hand auf meinem Rücken. Aber so wohl mir seine Worte auch taten, es gab da etwas, das mir noch wichtiger war: die Wahrheit. Ich war lange vor ihr weggelaufen, und jetzt war es an der Zeit, mich ihr zu stellen. »Troy, ich möchte, dass Sie mir eine Frage beantworten und dass Sie mir ehrlich antworten.« »Okay.« »Versprochen?« »Ja.« Er sah mich ernst an. »Versprochen.« »Als Ihre Schwester starb, ging es ... schnell? Ich meine, sofort? Oder ...« Ich beendete den Satz nicht. Ich sah, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. Sein Mund öffnete sich und schloss sich wieder. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er schließlich sagte: »Ja. Uns wurde gesagt, dass sie sofort tot war.« Er war der schlechteste Lügner, dem ich jemals begegnet war. Damit war meine Frage beantwortet. Nur war es nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte. Ich hatte mir gewünscht, dass eine Last von meinen
Schultern genommen würde, aber jetzt war sie nur noch schwerer. Troy stand auf und streckte mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. »Deedee war gut in dem Interview, oder? Sie ist ziemlich helle.« Offensichtlich wollte er das Thema wechseln, die Stimmung auflockern. Bereitwillig fügte ich mich, ergriff seine Hand und ließ mich hochziehen. »Ja, aber Sie waren auch nicht schlecht«, sagte ich und zwang mich, fröhlich zu klingen. »Wie Sie ihr die Bälle zugespielt haben.« »Man muss es nehmen, wie es kommt. Aber, sagen Sie mal«, fuhr Troy fort und zupfte an meiner Hose. »Was sollen eigentlich die Jeans?« »Warum? Sie haben doch auch welche an. Sie haben selbst gesagt, dass wir nur im Radio auftreten.« »Enttäuscht bin ich trotzdem. Mir ist schließlich ein Schlafanzug versprochen worden.« »Viel haben Sie nicht verpasst«, beruhigte ich ihn und klopfte meinen Hintern ab. »Meine Schlafanzüge sind nichts Besonderes. Und die halbe Zeit schlafe ich sowieso mit fast nichts an.« Als mir bewusst wurde, was ich gesagt hatte, stieg mir die Schamesröte ins Gesicht. Troy lachte leise. »Bis eben war ich nur enttäuscht. Jetzt bin ich geradezu am Boden zerstört.«
15
Meine
Eltern stritten nur selten. Und wenn sie es doch taten, konnte man darauf wetten, dass mein Bruder und ich mit sicherem Gespür gerade diesen Augenblick wählten, um sie um etwas zu bitten. Entweder wir wollten später ins Bett gehen. Oder eine Pizza. Oder die Kombination zum Schnapsschrank. Es war riskant. Wenn man Pech hatte, wurde man einen Kopf kürzer gemacht. Aber
genauso bestand die Chance, dass sie uns etwas erlaubten, was sie uns unter normalen Umständen niemals erlaubt hätten. Wir mussten sie nicht streiten hören - es war, als würden wir ihre besondere Verletzlichkeit riechen. Ich könnte nicht einmal sagen, dass wir die Situation bewusst ausnutzten. Zumindest galt das für mich. Es war einfach unser kindlicher Instinkt, der uns veranlasste zuzuschlagen, wenn der Gegner geschwächt war. Vermutlich war es dieselbe Art Instinkt, die Deedee dazu brachte, genau in diesem Moment — als ich noch immer mit der Vorstellung von Marissas letzten Minuten zu kämpfen hatte — zu mir zu sagen: »Ich habe nachgedacht.« »Ach. Das ist eine schöne Abwechslung.« Ich fuhr sie nach dem Ausflug mit Troy zur Schule, und wir waren in den Stoßverkehr geraten, der von oben so schön ausgesehen hatte. Von unten war er weniger schön. Ich saß fest hinter einem riesigen Laster mit der Silhouette einer nackten Frau auf den Schmutzfängern der Räder und dem Aufkleber »Meiner ist länger« auf der Stoßstange. Irgendein Auto in unserer Nähe musste die letzte Abgasprüfung nicht bestanden haben, denn ich erstickte beinahe in dem Qualm. In der letzten Stunde waren wir ungefähr einen halben Meter vorangekommen. »Ich glaube, ich kenne jemanden, der das Baby adoptieren könnte.« »Das ist ja toll, Deedee!«, rief ich aufgeregt. »Warum hast du mir noch nichts davon erzählt? Ist deine Mutter einverstanden damit? Oh, ich freue mich so für dich! Wer ist es? Sind es Verwandte von dir?« »Sozusagen.« »Ja?« »Eine Schwester.« Ich sah verwirrt zu ihr hinüber. »Eine Schwester? Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast.« »Eine große Schwester.« »Was? Du hast eine große Schwester? Wie ist es möglich, dass -« Und dann kapierte ich. O nein. War sie verrückt geworden?
»Du meinst doch nicht etwa mich?« »Warum denn nicht?«, sagte sie mit trotziger Stimme. »Das wäre doch perfekt! Du könntest die Mutter von dem Kind sein, und wir könnten immer zusammen sein und Sachen miteinander unternehmen.« »Aber Deedee —« »Du willst doch ein Kind, das hast du selbst gesagt.« »Irgendwann einmal, habe ich gemeint.« »Es ist ja auch erst im August.« Ich seufzte. »In deinem Alter hat man nicht mehr viel Zeit«, sagte sie mit unheilschwangerer Stimme. »Ich hatte eigentlich nicht vor, so schnell den Löffel abzugeben.« »Du weißt schon, was ich meine.« »Ich verstehe ja, dass dir die Idee gefällt. Und ich fühle mich auch sehr geschmeichelt. Aber falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich bin Single. Wäre es dir nicht lieber, wenn dein Kind zu einem verheirateten Paar käme?« »Ich kenne keine verheirateten Paare. Ich kenne nur dich.« »Es gibt Agenturen, wo sie dir alle möglichen Leute vorstellen können, die liebend gern -« »Das geht nicht. Und das weißt du. Meine Mutter wird nie zulassen, dass das Baby zu Leuten kommt, die sie nicht kennt. Und ich will das auch nicht. Woher weiß ich, ob sie bei irgendwelchen Fremden gut behandelt wird? Dass sie sie nicht herumschubsen oder die ganze Zeit anschreien? Oder noch was Schlimmeres?« »Sie?«, fragte ich. »Hast du -« »Es ist ein Mädchen.« »Glückwunsch«, sagte ich und fügte mit sanfterer Stimme hinzu: »Glaub mir, die Vorstellung, das Baby zu adoptieren, ist sehr verlockend. Aber, Schätzchen, deine Mutter wird niemals damit einverstanden sein.« »Doch, ist sie. Wir haben schon darüber gesprochen.« »Ach ja?«
»Es war meine Idee. Die hatte ich schon, als ich noch gar nicht genau wusste, ob ich schwanger bin. Nachdem du und Kip bei uns wart, haben meine Mutter und ich darüber geredet. Und gestern, als ich bei euch zu Hause war, da war ich mir plötzlich sicher.« Ich stieß hörbar die Luft aus. »Ich habe kaum Verwandte hier«, sagte sie. »Fast die ganze Familie von Mami lebt in Mexiko. Meinen Vater kenne ich überhaupt nicht. Und du wärst bestimmt eine tolle Mutter. Und du hast eine große Wohnung mit Pool vor dem Haus. Das Baby hätte Großeltern, die in der Nähe wohnen. Und ich könnte so was wie eine große Schwester für sie sein.« Der Verkehr begann wieder zu fließen; er hatte sich wegen eines Unfalls gestaut. Als ich an die Stelle kam, verlangsamte ich das Tempo, um zu gucken. Ich hatte so lange gewartet, da wollte ich auch was zu sehen bekommen. Aber es gab kaum etwas zu sehen. Eine verbogene Stoßstange, offenbar keine Verletzten. All die Warterei, nur um zwei Leuten beim Austausch ihrer Versicherungsnummern zuzuschauen. Ich gab Gas und drehte an dem Gebläse herum, um mir ein bisschen Luft zufächeln zu lassen. »Und es macht dir nichts aus, dass ich nicht verheiratet bin?« »Das ist vielleicht sogar ein Vorteil. Dann bekommt das Baby mehr Liebe von dir. Weil du sonst niemanden hast. Ihr habt nur euch beide.« »Und wenn ich einen Mann kennen lerne?« Deedee gab ein Grunzen von sich. »Das kann durchaus passieren!«, sagte ich abwehrend. »Das war schon in Ordnung. Du würdest keinen Typen heiraten, der keine Kinder will. Weißt du, ich glaube, Dickie mag dich.« »Dickie?« »Er hat die ganze Zeit mit dir geflirtet.« »Du meinst nicht vielleicht Troy?« »Warum? Magst du Troy?«, fragte sie mit zuckersüßer Stimme. Dieses Mädchen musste klüger sein, als ich dachte. »Nein, ich dachte nur, dass du vielleicht die Namen durcheinandergebracht hast. Dass du Troy meinst, weil du ihn schon mal gesehen
hast... am Strand.« Sie fing an zu singen. »Du ma-a-agst ihn.« »Sei still.« »Du findest ihn se-e-e-xy.« »Wir fahren immer noch langsam genug, dass ich dich aus dem Auto schubsen könnte und wahrscheinlich nicht einmal einen Strafzettel dafür bekäme.« »Du willst ihn kü-ü-ü-ssen.« Ich fuhr sie an: »Könnten wir vielleicht das Thema wechseln?« »Wie du willst. Wirst du nun mein Kind adoptieren oder nicht?« Aus dem Regen in die Traufe. »Ich muss darüber nachdenken. Das ist eine wichtige Entscheidung.« Ich fühlte mich genau wie in den sechzig Wartesekunden bei einem Schwangerschaftstest. Ich empfand dieselbe Mischung aus Angst und Freude. Der Unterschied war nur, dass es dieses Mal von mir abhing, welches Ergebnis angezeigt wurde. »Okay, aber warte nicht zu lange«, sagte sie. »Wenn du es nicht willst, muss ich bald anfangen, Babysachen zu kaufen. Und mich beim Fernunterricht anmelden. Und Troy und Dickie haben vorhin gesagt, dass ich im Herbst ein Praktikum bei ihrem Radiosender machen kann. Das geht nicht, wenn ich mich um das Kind kümmern muss. Dann muss ich sie anrufen und absagen.« Als ich Deedee an der Schule ablieferte, lief gerade »Hero« von Mariah Carey im Radio. Ich fühlte mich gar nicht heldenhaft. Ich hatte einen Kloß im Hals. Nicht dass ich richtig geweint hätte. Das hob ich mir für später auf, wenn mich jemand sehen konnte. Es war nur der Vorbote einer heftigen Gefühlsaufwallung. Als ich endlich ins Büro kam, war Susan die Einzige, die gemerkt hatte, dass nicht meine Stimme auf KJAM zu hören gewesen war. Alle anderen beglückwünschten mich. Weiter so!, riefen sie. Phyllis kam vorbei und sagte: »Das ist ein Anfang.« Meine Mutter hatte mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen: »Warum hast du
gesagt, dass ich blind bin? Ich verstehe ja, dass du dem Thema Fahrgemeinschaften eine persönliche Note geben willst. Aber hättest du nicht deinen Vater blind machen können? Er muss nicht in die Arbeit gehen und seinen Kollegen gegenübertreten.« Dann seufzte sie. »Na ja, vielleicht bekomme ich dafür einen Behindertenparkplatz.« In der nächsten Woche konnte ich an nichts anderes denken als daran, Deedees Baby zu adoptieren. Natürlich hätte ich mir auch über andere Dinge den Kopf zerbrechen sollen. Im Büro ging es zu wie im Tollhaus. Da Lizbeth weg war, blieb ihre Arbeit an mir hängen, auch wenn ich noch nichts davon gehört hatte, dass ich (oder irgendjemand sonst) ihre Stelle bekäme. Darüber hinaus drohte das Ende des Geschäftsjahres, so dass ich die Projekte, die ich lange vor mir hergeschoben hatte, möglichst schnell abschließen musste. Aber all das machte ich wie ein Automat. Ich hatte nur noch eine Sache im Kopf. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich verstehen, warum sich das Denken so vieler Frauen ausschließlich um Schwangerschaft und Kinder dreht. Hiermit entschuldige ich mich bei allen Frauen, hinter deren Rücken ich Grimassen geschnitten hatte, wenn sie das Gespräch mal wieder auf Strampelanzüge, Babywannen und Bäuerchen brachten. Eines Tages war ich unterwegs und stellte plötzlich fest, dass mein Auto wie von allein auf ein MutterKind-Geschäft zusteuerte, das ich früher nur betreten hatte, wenn ich wieder einmal ein Geschenk für eine frischgebackene Mutter kaufen musste, und dann mit Widerwillen. Aber jetzt lief ich durch die Gänge und bewunderte die winzigen Kleidungsstücke. Wandelte im Geiste mein unbenutztes Zimmer in ein Kinderzimmer um. Falls ich das Kind adoptierte, ermahnte ich mich. Was verrückt wäre. Komplett verrückt! Oder doch nicht? Es war eine einmalige Gelegenheit, so viel war sicher. Es war, als hätte ich eine Million Dollar in der
Lotterie gewonnen und würde überlegen, ob ich den Lottoschein einlösen sollte oder nicht. Was dafür sprach, war, dass ich reich wäre. Was dagegen sprach, war, dass ich nicht sicher sein konnte, ob mich ein potentieller Heiratskandidat meinetwegen oder meines Geldes wegen lieben würde. Zum Teufel, wem versuchte ich hier eigentlich etwas vorzumachen? Selbstverständlich würde ich das Geld nehmen. Aber die Sache mit dem Kind war um einiges vertrackter. Jedenfalls musste ich alles gründlich durchdacht haben, bevor ich mich damit an die Öffentlichkeit wagte. Natürlich würde es mir helfen, mich mit Freunden und Verwandten zu beraten. Aber nicht mit denen, die ich hatte. Sie würden nur versuchen, mir ihre Meinung aufzudrängen. Besser, ich fand erst einmal selbst heraus, wo ich stand und was ich wollte. Da ich kürzlich erfahren hatte, dass Listen eine echte Hilfe sein konnten, wenn man seinem Leben eine neue Richtung geben wollte, holte ich mir Papier und Bleistift und schrieb das Für und Wider einer Adoption auf.
Gründe, die dafür sprechen, das Kind zu adoptieren: I. Da ist ein Baby, das eine Mutter braucht. 2. Ich wäre eine wunderbare Mutter, würde das Kind nie anschreien und ihm immer Biogemüse und fast nie Donuts zum Essen geben. 3. Bin 34. 4. Fast 35. 5. Könnte meine einzige Chance sein, Mutter zu werden. 6. Könnte Nr.3, Jemandes Leben verändern, mit Fug und Recht durchstreichen. 7. In die Gänge kommen = etwas aus deinem Leben machen, vgl. Alison Freeman *.
Gründe, die dagegen sprechen, das Kind zu adoptieren: 1. Es ist vielleicht nicht so toll, eine allein erziehende Mutter zu sein. 2. Ich will ein Kind, aber will ich gerade jetzt ein Kind? 3. Könnte ich ein Kind lieben, das nicht »meins« ist? 4. Es besteht die Möglichkeit, dass ich schneller als erwartet den Mann meiner Träume kennen lerne, eine Märchenhochzeit feiere und eine eigene Familie mit eigenen Kindern gründe, vgl. Alison Freeman *. * Alison Freeman: ehemalige alleinstehende Arbeitskollegin, wohnte in einem winzigen Apartment und hatte lange keine feste Beziehung. Dann wurde sie fünfunddreißig und beschloss, nicht länger auf den Traummann zu warten. Sie versilberte ihre Lebensversicherung, kaufte ein niedliches, kleines Häuschen und meldete sich bei einer Samenbank an. Verliebte sich in den Schreiner, der ihr die neue Küche einbaute. Nahm allen Mut zusammen und erklärte ihm, wohl wissend, dass sie ihn damit auch ganz schnell loswerden konnte: »Ich habe vor, innerhalb des nächsten halben Jahres schwanger zu werden. Du kannst der Vater sein. Oder es ist der anonyme Samenspender Nr. 433. Die Entscheidung liegt bei dir.« Sie heirateten innerhalb von drei Monaten und haben mittlerweile zwei reizende kleine Mädchen. Kaum hatte ich meine Liste fertig, strich ich Nr. 3 unter »Gründe, die dagegen sprechen« wieder durch. Natürlich würde ich das Kind lieben. Man musste sich nur mal Angelina Jolie ansehen. Hätte irgendjemand geglaubt, dass eine Frau, die eine Ampulle mit Blut um den Hals trägt, so schnell eine tiefe mütterliche Beziehung zu einem fremden Kind aufbauen kann? Und doch scheint sie gar nicht genug von den kleinen Rackern zu bekommen. Liebe wäre demnach nicht das Problem.
Es gab auf meiner Liste entschieden mehr Gründe, die dafür sprachen als dagegen. Aber das allein konnte nicht den Ausschlag geben. Wie gewichtig waren die jeweiligen Gründe? Gab es einen, der alle anderen aufwog? Ein wirklich schlagendes Argument? Ich wusste es nicht. Vielleicht sollte ich Linda anrufen, die damals die BeziehungsTabellenkalkulation für mich gemacht hatte. Vielleicht konnte sie es für mich errechnen. Ich seufzte und legte die Liste beiseite. Nein, das war keine Entscheidung, die sich errechnen ließ. Sie musste von Herzen kommen. Für was ich mich auch entschied, mein Leben wäre nie mehr dasselbe. Das könnte die Gelegenheit sein, alles nachzuholen, was ich bisher versäumt hatte. Oder es könnte der größte Fehler sein, den ich jemals gemacht hatte. Hältst du es für verrückt, dass ich überhaupt darüber nachdenke?«, fragte ich Martucci bei unserem Training am Montagmorgen. Mittlerweile lief ich den Kilometer in sechs Minuten. Vor allem tat ich inzwischen etwas, das wirklich wie Laufen aussah, während ich am Anfang immer nur abwechselnd gegangen war und Spurts eingelegt hatte, bis zum Zusammenbruch. Da ich meine Badezimmerwaage weggeworfen hatte, wusste ich nicht, ob ich abgenommen hatte, aber meine engen Sachen passten mir wieder. Das war ein gutes Zeichen. »Klingt, als würdest du nicht mehr darüber nachdenken. Klingt, als hättest du dich schon entschieden. Ich finde es großartig, dass du das Kind adoptieren willst. Es gibt doch nichts Schöneres als Kinder.« Ich hatte im Laufe der zwei Monate, die wir nun miteinander liefen, genug von Martucci erfahren, um zu wissen, dass er keine Kinder hatte. Auch keine Frau. Bei einer Freundin war ich mir nicht so sicher, aber genauer wollte ich das gar nicht wissen. »Was verstehst du schon von Kindern?« »Hör mal, ich bin italienischer Abstammung! Ich habe dreizehn Nichten und Neffen. Und zwei
weitere sind bald fällig. Die Frau meines Bruders in Pittsburgh wirft sie aus wie Toastbrote.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Okay, packen wir's. Eine Minute spurten. Los!« Ich raste los. Der große Lauf war in zwei Wochen. Ich würde ihn nicht gewinnen, aber dank des Trainings würde es auch nicht allzu peinlich werden. Als die Minute, die sich wie eine Stunde angefühlt hatte, vorbei war, verlangsamte ich mein Tempo wieder. »Willst du selbst welche?«, schnaufte ich. »Kinder?« »Irgendwann mal. Ich habe es nicht eilig. Was das angeht, sind wir Männer in der besseren Position. Wir können noch Kinder machen, wenn wir hundert sind, selbst wenn wir eine Hand voll Viagra dafür brauchen. Eine Frau über dreißig dagegen ... ich wette, deine biologische Uhr hat schon laut zu ticken angefangen.« »Erst seit kurzem. Ich wollte zwar immer Kinder haben, aber so dringend war es mir auch wieder nicht. Aber jetzt schon.« Er dachte kurz nach, und dann sagte er: »Kann ich gut verstehen. So geht es mir manchmal, wenn ich denke, dass ich keinen Hunger habe. Kaum gehe ich aber an einem Imbiss vorbei und rieche das Essen, habe ich das Gefühl, ich müsste tot umfallen vor Hunger. Ich hätte vorher schon etwas essen können, ich wusste nur nicht, wie viel Hunger ich hatte.« »Genau so ist es.« Wer hätte gedacht, dass in Martucci ein so weiser Mensch steckte? Plötzlich war ich von Babys besessen. Ich sah sie überall. Ich konnte nicht genug von ihnen kriegen! Ich ertappte mich dabei, wie ich ihnen über die Wange strich. Ihre Mütter fragte, wie alt sie waren. Ob sie die Nacht durchschliefen. Schon feste Nahrung zu sich nahmen. Ob ich sie einmal auf den Arm nehmen durfte. Vor einigen Tagen war ich in einem Park gewesen und hatte mit einer Mutter mit zwei kleinen Kindern gesprochen. Ich hatte ihr von dem Kind, das ich
adoptieren wollte, erzählt, als sei es eine feststehende Tatsache. Ich hörte mir gerne dabei zu. Mein Baby kommt im August. Ich treffe schon jede Menge Vorbereitungen für mein Baby. Natürlich musste die Frau alles verderben, indem sie sagte: »Ihr Partner freut sich sicher schon.« Worauf mir nichts anderes übrig blieb, als »Ja, meine Partnerin ist ganz aus dem Häuschen« zu antworten, um das Gesicht zu wahren. Daraufhin war sie sofort still. »Wie kommst du darauf«, fragte ich Martucci, »dass ich mich schon entschieden habe?« »Du hast mir doch vorhin unumwunden erklärt, dass du in ein paar Wochen ein Kind adoptieren wirst.« Ich blieb stehen. »Wirklich?« Martucci drehte sich um und lief vor mir auf der Stelle. »Wirklich.« »Einfach so?« Er wiederholte das, was ich gesagt hatte, und er hatte Recht. Ich hatte es gesagt. Es war mir so rausgerutscht. Ich werde in ein paar Wochen ein Kind adoptieren. Ich hatte nicht gesagt »vielleicht« oder »möglicherweise«. Ich hatte gesagt, dass ich es tun werde. Und da wusste ich es. Es war keine Entscheidung des Verstands. Nicht einmal des Herzens. Sie kam aus dem Bauch heraus. Mein Bauch hatte ja gesagt. Ja, ja, ja! »O Mann!«, rief ich. »Ich werde Mutter!« »Herzlichen Glückwunsch.« »Danke.« Der plötzliche Endorphinausstoß machte mich ganz schwindlig. Selbst meine Ellbogen prickelten. Ich wusste natürlich, dass noch eine Menge zu klären war, bis alles unter Dach und Fach war. Ich musste zu einem Anwalt, der sich auf solche Dinge spezialisiert hatte, oder mich wenigstens im Internet informieren. Ich musste mich mit Deedee und ihrer Mutter hinsetzen und alles durchsprechen. Aber es gab keinen Zweifel und kein Zögern mehr: Ich würde alles unternehmen, um dieses Kind zu bekommen.
»Und was sagt deine Familie dazu?«, fragte Martucci. »Ich habe es ihnen noch nicht gesagt. Ich habe es noch niemandem gesagt.« »Ich bin der Erste?« »Offenbar.« »Parker, ich fühle mich zutiefst geehrt.« Er packte mich und umarmte mich. Ich zuckte zusammen, als sein Schweiß auf mich niedertropfte, an meinem Hals entlanglief und in meinem T-Shirt versickerte. Aber da ich bald Mutter wäre, sagte ich mir, sollte ich mich an den Kontakt mit fremden Körperflüssigkeiten gewöhnen, seien sie wohlriechend oder nicht. »Ich wusste gar nicht, dass ich dir so viel bedeute«, sagte Martucci, als ich mich aus seinen Armen befreite. Ich wischte mit meinem T-Shirt seinen Schweiß ab. »Machst du Witze? Du bist schließlich mein Joggingpartner.« Ich musste ihm ja nicht gleich sämtliche Illusionen zerstören. Bei Martucci war es ein leichtes Spiel gewesen, ich hatte sicher sein können, dass ich offene Türen einrannte. Andere Freunde und meine Familie dagegen würde ich wohl nicht so leicht überzeugen können
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3. Jemandes Leben verändern 5. Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen 7. Buddy Fitch zahlen lassen 15. Mit Mom und Grandma zu einem Konzert Von Wayne Newton gehen 16. Mir eine Massage geben lassen 19. Meinem Bruder zeigen, wie dankbar ich ihm bin 20. Eine große Summe für wohltätige Zwecke spenden
Bis zu Marissas Geburtstag waren es jetzt nur noch fünf Wochen, und ich berief eine Krisensitzung im Brass Monkey ein. Die Bar in der Nähe meines Büros war nicht nur wegen ihrer Happy Hour berüchtigt. Hier hatte ich auch vor fünf Monaten den jungen Kellner geküsst. Aber heute hatte er wohl seinen freien Tag. Oder er hatte gekündigt, weil er es satt hatte, von Gästen sexuell belästigt zu werden. Vielleicht hatte er mich auch gesehen und versteckte sich im Hinterzimmer. Wie auch immer, ich konnte ihn jedenfalls nirgends entdecken. Ich hatte meine Truppe - Susan, Brie und Martucci - mit dem Versprechen hergelockt, dass ich ihnen so viele Happy-Hour-Margaritas spendieren würde, wie sie trinken konnten. Weil ich Hilfe brauchte, und zwar dringend. Die hässliche, nackte Wahrheit war: Ich bekam es langsam mit der Angst. Marissa hatte zwei Aufgaben von der Liste gestrichen. Ich hatte elf geschafft. Blieben noch sieben. Ich war zwar kein MatheGenie, aber selbst mir war klar, dass ich mich beeilen musste, wenn ich das Ganze rechtzeitig über die Bühne bringen wollte. Hinzu kam, dass ich mir die schwierigsten Aufgaben natürlich wieder einmal bis zum Schluss aufgehoben hatte. Klar, ich konnte versuchen, einen Zahn zuzulegen. Aber da ich jetzt so sehr mit der Adoption des Babys beschäftigt war, fürchtete ich, dass mir der nötige Biss fehlte. Heute war Karaoke-Abend, deshalb war der Laden wieder rappelvoll. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass in meinem Cocktail nicht genug Tequila war, aber so viel Tequila gab es auf der ganzen Welt nicht, dass ich mich dazu hergegeben hätte, Karaoke zu singen. Ich dankte Marissa tagtäglich im Stillen dafür, dass sie diesen Punkt nicht auf ihre Liste gesetzt hatte. Davon abgesehen sorgte die Singerei für ausgelassene Stimmung, und wer hätte sich nicht schon mal gewünscht, zwei betrunkene Japanerinnen »I will survive« singen zu hören?
Wir saßen an einem Ecktisch, schaufelten Chips in uns hinein und brüteten über der Liste. Genauer gesagt, nicht über der Liste an sich. Um Schäden durch verschüttete Cocktails zu vermeiden, hatte ich die Originalliste in Sicherheit gebracht und die übrig gebliebenen Aufgaben auf ein gesondertes Blatt Papier geschrieben. Marissas Liste war inzwischen so wertvoll wie die Unabhängigkeitserklärung. Eigentlich musste sie in einer Glasvitrine unter Verschluss gehalten werden, bis die Zeit gekommen war, sie hervorzuholen und dem Volk zu präsentieren. Was du vorhast, um das Leben von jemandem zu verändern, wissen wir«, sagte Martucci, der sich viel darauf einbildete, als Erster von der Adoption erfahren zu haben. »Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass du ein Kind haben wirst«, sagte Brie. Susan tippte mit dem Finger auf die Liste. »Trotzdem wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns einen Notfallplan überlegen. Für den Fall, dass es mit der Adoption nicht klappt.« Es wird klappen«, sagte ich mit mehr Zuversicht, als ich empfand. Vor zwei Wochen hatte ich einen Anwalt engagiert. Es gab so viele Dinge zu berücksichtigen, an die ich nicht gedacht hatte, zum Beispiel die Übernahme zusätzlicher Kosten im Krankenhaus, die Rechte des Kindesvaters etc. pp. Aber so weit, so gut. Deedee hatte zu weinen angefangen, als ich ihr gesagt hatte, dass ich das Baby adoptieren würde — das heißt, nachdem Kip ihre Mutter angerufen hatte, um sicherzustellen, dass Maria mit dem Plan einverstanden war. Seither hatte sie bei jedem unserer Treffen von nichts anderem geredet als davon, wie cool es sein würde, wenn wir beide große Schwestern wären. Die ganze Adoptionsgeschichte kam mir immer noch wie ein etwas seltsames Geschäft vor, aber ich wusste, das würde sich in dem Moment schlagartig ändern, in dem ich das Baby in den Armen hielt. Trotzdem versuchte ich, mich keinen allzu großen Erwartungen hinzugeben, für den Fall, dass doch noch etwas schief ging. Meinen
Eltern hatte ich bisher überhaupt nichts gesagt. Es wäre grausam gewesen, ihnen zu verkünden, dass sie Großeltern würden, wenn der Traum anschließend wieder zerplatzen konnte wie eine Seifenblase. Von der Handvoll Leute, denen ich bis jetzt davon erzählt hatte, war Susan die Einzige, die skeptisch reagierte. Was mich nicht weiter verwunderte. Sie stellte mir so oft die Frage Warum?, dass ich mir allmählich vorkam, als würde ich mit einem ihrer fünfjährigen Söhne reden. Als sie ungefähr zum hundertsten Mal sagte: »Ich hatte eigentlich nie den Eindruck, dass dir so viel an einem Kind liegt«, platzte mir der Kragen. »Das kommt daher, dass ich es bis jetzt einfach für unmöglich gehalten habe«, fuhr ich sie an. »Ich laufe ja auch nicht herum und verkünde allen, wie gern ich mit Orlando Bloom schlafen würde, aber glaub mir: Wenn er eines Tages mit einem Handtuch um den Hüften vor mir steht und fragt, ob ich ihm den Rücken eincreme, dann lautet meine Antwort: Nichts lieber als das.« »Ein Notfallplan ist keine schlechte Idee«, sagte Martucci und riss mich aus meinen Gedanken. »Für den Fall, dass du es nicht schaffst, das Leben dieses Mädchens zu verändern. Was könntest du sonst noch tun?« Wir saßen schweigend da. Ein stämmiger Mann mit Cowboyhut sang diesen Countrysong, in dem es darum ging, dass man jeden Tag so leben soll, als ob es der letzte wäre. Es passte zu ihm, denn er sah aus, als könnte er jeden Augenblick tot von der Bühne kippen. »Geld«, sagte Brie. »Wie ich immer sage: Geld verändert alles.« »Das hast du von Cindy Lauper«, witzelte ich, erntete aber nur verständnislose Blicke. »Das ist aus einem Song! Zwingt mich nicht dazu, mich in die KaraokeListe einzutragen und es euch zu beweisen!« Martucci schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Lotterielose! Du kaufst hundert Lotterielose und verteilst sie an Leute, die du kennst. Eines davon gewinnt, und schon hast du das Leben dieses Menschen verändert.«
»Hey, das ist eine gute Idee«, sagte Brie und sah mich an. »Ich spiele beim Lotto immer die gleichen Zahlen, also frag mich, bevor du meins kaufst. Ich nehme mein Alter, meinen Geburtstag, die Zahl der Typen, mit denen ich Sex hatte -« »Lottozahlen gehen doch nur bis neunundneunzig«, sagte Martucci grinsend. »Ich weiß, deshalb brauche ich ja auch zwei Scheine.« »Gut, das wäre also geklärt. Obwohl ich sicher bin, dass mit der Adoption alles glattgeht -« ich sah Susan mit zusammengekniffenen Augen an; sie sollte bloß nicht wagen, mir zu widersprechen -, »ist Lotto der Plan B. Eine Aufgabe gestrichen, dann sind's nur noch sechs. Lasst uns weitermachen.« »Wozu die Eile? Du solltest einen Kneipenabend genießen, solange du noch kannst«, schnurrte Susan. »Das wirst du bald für lange Zeit nicht mehr können. So ist es, wenn man Kinder hat.« Ich sah sie finster an. »Du gehst doch auch aus. Und du hast Kinder.« »Sie sind zu Hause bei meinem Ehemann. Hast du vielleicht einen?« Aua. Offenbar war mir anzusehen, dass der Hieb gesessen hatte, weil sie sagte: »Tut mir leid. Das war nicht nett. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Eine allein erziehende Mutter zu sein ist nicht einfach. Glaub mir, ich kenne genug. Aber von jetzt an benehme ich mich. Versprochen.« »Schwamm drüber«, sagte ich. Auch wenn Susan sich ihre spitzen Bemerkungen nicht verkneifen konnte, wäre sie doch die Erste, die mir im Notfall helfen würde, das wusste ich. Und ich würde oft genug einen Babysitter brauchen. »Nächster Punkt: Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen«, las Martucci vor. »Das wird am kommenden Wochenende erledigt, du Sprinterass.« »Martucci trainiert mit mir«, erklärte ich Brie und Susan. »Ihr seid herzlich eingeladen, euch anzuschließen. Läufst du eigentlich, Brie?«
»Kommt darauf an.« Sie schob sich ein paar Chips in den Mund. »Wenn mich jemand verfolgt.« »Das heißt nein.« Susan versprach, mit Chase und den Jungen zu kommen, um mich anzufeuern, und dann wandten wir uns dem Punkt auf der Liste zu, der mir wesentlich mehr Kopfzerbrechen bereitete: Nr. 7, Buddy Fitch zahlen lassen. Ich berichtete ihnen, dass mich Sebastian vor kurzem angerufen hatte, um mich über den neuesten Stand zu informieren. Seine Privatdetektive hatten die Vereinigten Staaten abgegrast und drei Männer namens Buddy Fitch ausfindig gemacht. Da gab es einen achtundsechzigjährigen Rentner in Florida, einen siebenunddreißigjährigen Mechaniker in Michigan und einen Vierundvierzigjährigen in Texas, seit kurzem arbeitslos. Das war's. Sebastian hatte gesagt, dass die Suche schwierig gewesen sei, weil Buddy ein gebräuchlicher Spitzname ist. Der Mann konnte auch ganz anders heißen, hatte er gemeint, und nur Marissa hatte ihn Buddy genannt. Es könnte sich als Sackgasse erweisen. Trotzdem rief ich die drei Buddys an. Es war aber nichts dabei herausgekommen. »Sie haben behauptet, sie hätten noch nie von einer Marissa Jones gehört«, sagte ich betrübt. »Du hättest sagen sollen, dass sie ihnen etwas hinterlassen hat«, sagte Brie. »Ich wette, das hätte ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen.« Ich schlug mir auf die Stirn. »Das wäre es gewesen! Wie einer dieser Polizeitricks, wenn sie einen Haufen Verdächtige vorladen und ihnen weismachen, sie hätten einen Preis gewonnen. Ich hab's vermasselt. Jetzt bin ich genauso weit wie am Anfang.« »Nicht unbedingt«, sagte Martucci. »Auf der Liste steht >Buddy Fitch zahlen lassen<. Da steht nicht, welchen Buddy Fitch. Such dir einfach einen aus und tu ihm irgendwas an. Ich bin für den Mechaniker. Man kann schlecht einem Rentner oder einem Arbeitslosen was antun. Das wäre unfein.« Susan war entsetzt. »Und jemandem etwas anzutun, nur weil er
zufällig den richtigen Namen trägt, ist nicht unfein?« »Susan hat Recht«, sagte ich widerstrebend. »Es muss ja nichts richtig Gemeines sein«, schlug Brie vor. »Du könntest etwas tun, was ein bisschen gemein ist. Ihm die Milch vor der Tür klauen zum Beispiel.« »Na klar. Ich fliege nach Michigan, um irgendeinem Mann die Milch vor der Tür zu klauen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wäre total sauer. Ich muss morgens meinen Milchkaffee haben, sonst bin ich den ganzen Tag mies drauf.« »Ich denke, wir stellen das erst mal zurück«, sagte ich mit einem Seufzer. »Sebastian meinte, seine Privatdetektive würden an der Sache dranbleiben. Außerdem habe ich Troy Jones angerufen und ihn gebeten, sich noch einmal umzuhören. Irgendjemand, der Marissa gekannt hat, muss uns doch sagen können, wer dieser Typ ist. Was uns zu Nr. 15 führt. Ich muss mit Mom und Grandma nach Vegas.« »Deine Mom und Grandma oder ihre?«, fragte Brie. »Ihre.« Susan runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass Wayne Newton in Las Vegas ist?« »Er tritt dort regelmäßig auf«, erwiderte Martucci. Gleich darauf hob er abwehrend eine Hand und protestierte: »Grinst mich nicht so blöde an. Das gehört zum Allgemeinwissen.« »Stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Es gibt noch Karten für seine Show an den nächsten Wochenenden.« Brie gab ein Schnauben von sich. »Das ist echt hart.« »Und«, fuhr ich fort, »auf meine Bitte hin hat Troy mit seiner Mutter und seiner Großmutter gesprochen. Sie halten sich jeden Termin frei, der mir passt. Er sagte, sie wären schon ganz aufgeregt.« »Wirklich?«, fragte Susan. »Offenbar sind sie dir dankbar, weil du die Liste abarbeitest. Aber es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie sie sich dabei fühlen — ein Kind zu verlieren. Es gibt nichts Schlimmeres. Hast du keine Angst, dass es irgendwie
...« Ihre Stimme verlor sich, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Seltsam werden könnte?«, schlug ich vor. »Unangenehm? Vielleicht der schlimmste, schrecklichste Trip nach Las Vegas, den ich jemals gemacht habe. Bestimmt noch schrecklicher als damals, als mir jemand den Geldbeutel gestohlen hat und ich mir einen so üblen Sonnenbrand geholt habe, dass meine Augen völlig zugeschwollen waren. Ja. Ich hab Angst davor. Danke, dass du mich daran erinnerst.« Ich hatte keine Ahnung, wie ich das hinkriegen sollte. Ich hatte Marissas Familie nur einmal gesehen, auf der Beerdigung, und danach noch kurz bei ihnen zu Hause, und ich hatte so wenig wie möglich mit ihnen gesprochen. Troy zufolge war diese Liste wie ein Geschenk des Himmels für sie. Wie konnte ein Ausflug nach Las Vegas ihre Erwartungen erfüllen? Vor allem ein Ausflug, für den nicht gerade Millionen zur Verfügung standen. Ich begann den anderen meinen Plan auseinanderzusetzen, der vorsah, dass wir uns in Las Vegas die Show ansehen, die Nacht dort verbringen und am nächsten Tag zurückfahren würden. Aber Martucci unterbrach mich. »Du kannst das nicht mit angezogener Handbremse machen. So wie du es erzählst, hatten sie wahrscheinlich mehr Spaß auf der Beerdigung. Es muss eine Party werden. Sie müssen sich amüsieren und betrunken ins Bett taumeln.« »Eine Party? Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, so etwas auf die Beine zu -« »Natürlich nicht«, pflichtete er mir bei. »Ich werde mich darum kümmern. Ich kenne da einen Typen im Flamingo und —« »So einen wie den Tankstellenbetreiber damals?«, fragte ich misstrauisch. »Der uns verklagt hat?« Susan schüttelte den Kopf. »Er hat die Klage zurückgezogen. Bigwood wollte sich nicht näher darüber auslassen. Ich weiß nicht, vielleicht ist dem Kerl klar geworden, dass er nichts in der Hand hat. Oder es hat ihm vielleicht schon gereicht, dass jemand gefeuert wurde. Jedenfalls ist die Sache vom Tisch. Es
gibt keinen Rechtsstreit.« »Also, wie ich gerade gesagt habe«, nahm Martucci den Faden wieder auf. »Ich erzähle meinem Kumpel, dass wir vorhaben, ein Gewinnspiel für Fahrgemeinschaften zu veranstalten und als Hauptpreis Trips nach Las Vegas verschenken und dass wir in geheimer Mission unterwegs sind, um uns ein bisschen umzusehen. Er wird uns kostenlos Zimmer zur Verfügung stellen. Mensch, überleg mal, Las Vegas im Juli? Da ist es so heiß, dass sie Hotelgutscheine in Cornflakespackungen verteilen, damit die Leute hinfahren.« »Wir?«, sagte ich. »Wir sind in geheimer Mission unterwegs?« »Ich fahre das Rideshare-Mobil. Da ist auch jede Menge Platz für Mom und Grandma.« Er lehnte sich zufrieden zurück. »Et voilá, schon hast du deine Party.« »Ich bin dabei«, sagte Brie. »Ich kann's gut mit Moms und Grandmas.« Susan sah mich flehentlich an. Ihr Blick sagte: Zwing
mich nicht mitzukommen, bitte zwing mich nicht mitzukommen. Susan hasst einfach alles an Las Vegas — den Lärm, die Spielhallen, den Zigarettenrauch. Sie begreift nicht, warum Leute hundert Dollar in einen Spielautomaten stecken, ohne etwas dafür zu bekommen, wenn sie sich von demselben Geld doch ein Paar Schuhe kaufen könnten. Die Shows sind albern. Überall laufen Betrunkene herum. Mit anderen Worten, sie hasst alles an der Stadt, was ich daran liebe. Aber sie ist meine Freundin, und deshalb würde sie mitkommen, wenn ich sie darum bitten würde, selbst wenn sie lieber in das Margarita-Glas gebissen hätte, das sie in der Hand hielt. Ich hätte ihre Hilfe zwar brauchen können, aber wer will schon mit einem Spielverderber nach Las Vegas fahren. »Martucci«, sagte ich fröhlich. »Das klingt fantastisch. Und Susan, du bist entschuldigt, du musst nicht mitkommen.« Sie stieß vor Erleichterung einen so tiefen Seufzer aus, dass es mich beinahe vom Stuhl gefegt hätte. Ich griff erneut nach der Liste. »In Las Vegas kann ich auch gleich
noch ein paar von den anderen Aufgaben erledigen. Nr. 16, Mir eine Massage geben lassen. Das ist ganz einfach. Und Nr. 20, Eine große Summe für wohltätige Zwecke spenden. Ich werde einfach ein Vermögen beim Roulette gewinnen und es dann verschenken.« Martucci und Brie nickten zustimmend, aber Susan rief: »Darauf kannst du dich doch nicht verlassen! Hast du eine Ahnung, wie groß die Gewinnchancen beim Roulette sind?« »Eins zu sechsunddreißig, wenn man auf Zahl setzt«, erwiderte Martucci. Sie hob abwehrend die Hände. »Ja, ja, schon gut.« »Ich denke, das war's«, verkündete ich. »Danke, dass ihr gekommen seid und mir —« Brie nahm mir das Blatt aus der Hand. »Was ist damit? Nummer neunzehn. Da steht: Meinem Bruder
zeigen, wie dankbar ich ihm bin.« »Hm?« Ich bemühte mich, eine möglichst nichts sagende Miene aufzusetzen. »Deinem Bruder oder ihrem Bruder?«, fragte Martucci. Ich sank auf meinem Stuhl zusammen. »Meinem Bruder.« »Ich vergesse immer, dass du einen Bruder hast«, sagte Susan. »Ist das nicht schrecklich?« »Wieso, ist er ein Arschloch oder was?«, fragte Brie. »Er ist in Ordnung. Ich finde nur, dass >dankbar< so ein starkes Wort ist.« »Also, was willst du machen?«, fragte Susan. »Bei meinen Eltern findet nächsten Samstag diese Wohltätigkeitsparty statt.« Ich hielt kurz inne und sah Susan an. »Du und Chase, ihr kommt doch, oder?« »Ich würde mir um nichts in der Welt den Shrimpscocktail von deinem Vater entgehen lassen.« »Mein Bruder und seine Frau Charlotte werden auch da sein. Und ich habe mir überlegt ...«, ich zögerte kurz, weil ich selbst nicht davon überzeugt war, »ich habe mir überlegt, dass ich ihm einen Brief schreibe und ihm sage, was für ein guter Bruder er war. Den gebe ich ihm dann auf der Party. Selbst wenn ich irgendwas erfinden muss.« Ich senkte den Kopf und wartete auf die hämischen Bemerkungen.
»Das ist schön.« »Ja.« »Ich würde mich freuen, so einen Brief zu kriegen.« »Findet ihr das wirklich?«, fragte ich. »Weißt du, was gut wäre?«, fuhr Brie fort. »Steck ein Bild von euch beiden dazu. Vielleicht ein Kinderfoto von euch. Du hast doch bestimmt ein hübsches?« Meine Gedanken wanderten zu dem Foto, das meine Mutter auf dem Kaminsims aufgestellt hatte. Es zeigte Bob und mich als Kleinkinder. Ich liege auf dem Boden, und er macht ein überraschtes Gesicht. Meine Mutter erzählte mir, dass er das immer machte, als ich gerade sitzen gelernt hatte. Er warf mich um und tat dann überrascht, als wäre er völlig unschuldig. »Bei dem Bild bin ich mir nicht sicher«, sagte ich. Als ich die feuchte und mit Salsa bekleckerte Liste wieder in meiner Handtasche verstaute — wie gut, dass ich nicht das Original genommen hatte -, ließ sich hinter mir eine Männerstimme hören. Sie war so tief, dass mein Stuhl regelrecht zu vibrieren begann: »Entschuldigen Sie bitte ...« Als ich mich umdrehte, sah ich mich einem riesengroßen Schwarzen gegenüber, der mich so strahlend anlächelte, dass ich selbst zu vibrieren begann ... bis mir klar wurde, dass sein Lächeln Brie galt. »Da muss jemand einen schrecklichen Fehler gemacht haben«, sagte er mit Bassstimme. »Ich werde mal ein Wörtchen mit dem Besitzer reden. Wie kann man eine so schöne Frau in die hinterste Ecke verbannen?« »Ja, es ist wirklich eine Schande, nicht wahr?«, pflichtete Brie ihm bei. Er hielt die Karaoke-Liste in die Höhe. »Wie wär's vielleicht ein Duett?« Sie schnappte sich ihre Handtasche und ließ sich vom Stuhl gleiten. Dann nahm sie seine Hand und entschwand, ohne uns zum Abschied auch nur einen Blick zuzuwerfen. »Ich mache mich dann auch mal auf den Weg«, sagte Susan. »Soll ich dich mitnehmen?« Wir überließen es Martucci, Brie anzufeuern, und verließen die Bar. Draußen fanden wir uns im gleißenden Sonnenlicht wieder. In der Bar war es so dunkel gewesen, dass man leicht vergessen konnte,
dass es erst sechs war. Auf dem Weg zum Auto sagte Susan: »Ich kann es gar nicht glauben, dass du mit Martucci nach Las Vegas fährst. Er ist so -«, sie zog die Nase kraus —, »eingebildet. Und was ist mit seinem Pferdeschwanz?« »Zopf.« »Das Ding sieht aus wie ein Wurm, der ihm über den Nacken kriecht.« »Ach, Martucci ist gar nicht so übel«, sagte ich. »Man muss ihn nur zu nehmen wissen.
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Martucci
machte Dehnübungen, um sich für den Lauf aufzuwärmen. Der Morgen, an dem der 5Kilometer-Lauf stattfand, war kühl und verhangen. Wir Strandbewohner sagten »Dunst«, alle anderen nannten es Nieselregen. »Da wären wir also mal wieder in trauter Zweisamkeit. Du kannst gar nicht genug von mir kriegen, was, Parker?« »Ich denke täglich tausendmal an dich«, erwiderte ich und streckte ein Bein nach hinten, um den Oberschenkelmuskel zu dehnen. »Soll das etwa heißen, du träumst noch nicht von mir? Aber ich kann warten. Es ist nur eine Frage der Zeit.« Ich trug ein Tank Top, Stretch-Shorts und einen straff sitzenden Sport-BH, der den Deckel auf einem Dampfkochtopf hätte festhalten können. Martucci war in einer ähnlichen Aufmachung erschienen, nur ohne BH. Dafür trug er ein Frotteeband um die Stirn. Später, wenn die Sonne durchkam, würde ich froh sein, dass ich nicht so viel anhatte, aber im Moment zitterte ich und hatte Gänsehaut. Vielleicht lag es aber auch an der Vorstellung, dass Martucci in meinen Träumen auftauchen könnte. Rings um uns dehnten und streckten sich Hunderte von Leuten. Der Lauf sollte in fünfzehn Minuten beginnen. Start war am Pier von Manhattan Beach, und anschließend ging es durch die Stadt. Auf der Herfahrt hatte ich bemerkt,
dass diese Stadt viel hügeliger war, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Ich hatte bis jetzt noch niemanden aus meinem Fanblock entdeckt, aber sie hatten versprochen, dass sie in der Nähe der Ziellinie stehen würden, damit wir nach dem Lauf miteinander frühstücken gehen konnten. Susan brachte ihre Familie mit, und auch Sebastian und Kip wollten kommen und unterwegs noch Deedee abholen. »Übrigens, das mit Vegas geht klar«, sagte Martucci. »Ich habe uns Zimmer im Flamingo besorgt.« »Oh, gut!« »Übernächstes Wochenende. Freitagund Samstagnacht. Mein Kontaktmann hat drei Zimmer rausgerückt. Also, ein Zimmer für mich, eins für dich und Brie und eins für Mom und Grandma.« »Prima.« »Schade, dass ich dir kein Einzelzimmer besorgen konnte; ich meine, immerhin wirst du ja bald Mutter. Du solltest dir einen Mann suchen und dir eine letzte Affäre gönnen.« »Vergiss es. Es wird keine Affäre geben.« »Ich weiß nicht. Nach allem, was man so hört, wird dich das Baby ganz schön in Trab halten. Es könnte lange dauern, bis du mal wieder die Gelegenheit hast. Vielleicht Monate.« Monate? Ha! »Ich bin schon mal drei Jahre ohne Sex ausgekommen«, sagte ich. Ich hätte genauso gut sagen können, dass ich eine Geschlechtsumwandlung hinter mir hatte. Er starrte mich fassungslos an. »Mein Gott. Wie hast du das ausgehalten?« Dann legte er mir die Hand auf die Schulter und fuhr ernst fort: »Wir sind Freunde, und du sollst wissen, dass ich für dich da bin. Und dass ich mir nicht zu schade dafür bin einzuspringen, wenn Not am Mann ist.« »Danke. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dein Angebot zu schätzen weiß. Aber ich fahre nur aus einem einzigen Grund nach Las Vegas: um ein paar Aufgaben auf der Liste abzuhaken. Alles andere ist —«
Bevor ich den Satz zu Ende sprechen konnte, rempelte ein Junge Martucci an, und er fiel gegen mich. »Pass doch auf, Kleiner!«, fauchte er. »Mann, das war ein Versehen.« Der Junge war ungefähr zehn, dünn, rothaarig und mit Sommersprossen übersät. »Alles in Ordnung?« »Nichts passiert«, sagte ich. »Er hat's nicht so gemeint.« »Doch«, knurrte Martucci. »Scheiße. Ich bin umgeknickt.« Er setzte sich auf den Boden, um seinen Knöchel zu untersuchen, und der Junge beugte sich über ihn. Über die Startnummer, die er auf dem Rücken trug, hatte er mit einem dicken Stift »Flash« geschrieben. »Flash?«, fragte ich. »Warum?« Er drehte sich grinsend zu mir um. »Mein Dad nennt mich so. Weil ich schnell wie der Blitz bin.« Martucci ließ sich von dem Jungen beim Aufstehen helfen. »Ich hab vorhin drüben am Pier einen Getränkeverkäufer gesehen. Ich schau mal, ob er auch Eis hat.« »Ich mach das schon«, sagte der Junge und schoss, nomen est omen, blitzschnell davon. Ein paar Minuten später kam er mit zwei Bechern voller Eiswürfel und Papierhandtücher zurück. Wir verbanden Martuccis Knöchel, der bereits anzuschwellen und sich blau zu verfärben begann. »Ist er verstaucht?«, fragte ich. »Sollen wir dich zu einem Sanitäter bringen?« »Wird schon wieder, aber ich sollte ihn nicht belasten«, antwortete er. »Ich fürchte, den Lauf musst du allein hinkriegen.« »Allein?« Die hügelige Laufstrecke schüchterte mich ein. »O Gott, ich wünschte, wir hätten in den Bergen trainiert.« »Sie sind noch nie über einen Hügel gelaufen?«, fragte Flash.
»Keinen einzigen. Noch nicht mal über eine Bodenwelle. Außerdem bin ich daran gewöhnt, dass er mir Befehle zubrüllt«, sagte ich und deutete mit dem Kopf auf Martucci. »Was ist Ihre Zeit?«, fragte der Junge. »Ein Kilometer in sechs Minuten.« Er nickte und dachte kurz nach. »Bin gleich wieder da.« Die Veranstaltungsleiter begannen damit, die Läufer an der Startlinie Aufstellung nehmen zu lassen, und ich machte noch ein paar letzte Dehnübungen. Martucci gab mir vom Straßenrand her Anweisungen. »Behalt dein Tempo bei. Sobald du einen Hügel vor dir hast, wirst du automatisch langsamer. Gib nicht nach. Aber auch kein übertriebener Ehrgeiz, Parker. Du willst es bloß bis zur Ziellinie schaffen.« »Verstanden.« Er streckte die Faust in die Luft. Als ich ihn verständnislos ansah, sagte er: »Du musst mit deiner Hand draufschlagen. Wie bei Stein-Schere-Papier. So machen das echte Sportler.« Lieber Himmel, was war denn mit dem guten altmodischen High-Five-Handschlag passiert? Aber ich tat ihm den Gefallen. Die Leute um mich herum gingen in Startposition, als sei es kein harmloser Nachbarschaftslauf, sondern ein internationaler Marathon. Ich versuchte, meine Nebenmänner zu ignorieren, lief auf der Stelle und wartete auf den Startschuss, als der Junge neben mir auftauchte. »Hi, Flash«, sagte ich. »Was gibt's?« »Nicht so schnell auf der Stelle treten. Bewegen Sie sich nur ein bisschen vor und zurück, sonst sind Sie gleich müde.« Ich befolgte seinen Rat, und er fuhr fort: »Mein Dad sagt, es ist in Ordnung, wenn ich mit Ihnen laufe.« »Danke, aber das brauchst du nicht. Ich will nicht, dass du meinetwegen langsamer laufen musst oder —« »Ich habe Ihren Trainer verletzt. Es ist nur gerecht.« In diesem Moment ertönte der Startschuss, und wir rannten los. Schon nach ein paar Metern trennte sich die Spreu vom Weizen. Die Schnellen setzten sich an die Spitze, und der Rest von uns schleppte sich, jeder in seinem eigenen Tempo, hinterher.
Wir liefen zunächst am Strand entlang, auf der Straße, die parallel zum Ufer verlief, mit dem Meer zu unserer Linken und glamourösen Multimillionärshäusern zu unserer Rechten. Vom Wasser her wehte eine leichte Brise, und meine Beine fanden mühelos ihren Rhythmus. Das Training machte sich bezahlt. Ich wollte mich mit Flash unterhalten, aber er brachte mich sofort zum Schweigen, indem er sagte: »Lady, wenn Sie noch reden können, laufen Sie nicht schnell genug.« Nicht zu fassen - ein Martucci in Miniaturausgabe. Einen Kilometer später bogen wir in eine Straße ein, die uns an Läden und Restaurants vorbeiführte und hmm! Ich roch Pfannkuchen! Eine weitere Biegung. »O nein, sieh dir diesen Hügel an, die reinste Steilwand!« »Sie schaffen das schon«, versicherte Flash. »Beugen Sie sich ein bisschen nach vorne, so.« Er führte es mir vor. »Und jetzt laufen Sie im Gleichschritt mit mir.« »Braucht man zum Klettern nicht eine spezielle Ausrüstung?«, keuchte ich gereizt. Au. Uff. Ächz. Stöhn. »Kriegt man nicht —« »Nicht reden«, ermahnte er mich. »Laufen.« Unter heftigem Protest jedes einzelnen Muskels in meinem Körper erreichte ich die Spitze des Hügels. Flash klopfte mir auf die Schulter, ohne langsamer zu werden. »Ich wusste, dass Sie es können!« Das war die steilste Erhebung gewesen, alles, was danach kam, war ein Kinderspiel. Die Strecke beschrieb einen weiten Kreis und endete nicht weit vom Start entfernt. Wenige Meter vor der Ziellinie hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Es gab Pfiffe und aufmunternde Zurufe wie »Du schaffst es, Baby!« und »Weiter so!« Ich winkte meinen Fans triumphierend zu, und dann überquerte ich mit galoppierendem Herzen die Ziellinie. Neunundzwanzig Minuten. Nicht schlecht, bei dieser Strecke. Viele der Läufer standen noch herum und machten Entspannungsübungen. Ich vermutete allerdings, dass ein paar auch schon zu Hause am gedeckten
Frühstückstisch saßen. Aber ich hatte es geschafft, und nicht einmal als Letzte. Nicht einmal annähernd als Letzte. Das war besonders toll, weil ich mich noch nie in meinem Leben in irgendeiner Weise mit Erfolg sportlich betätigt hatte. Meine Sportkarriere war geradezu tragisch gewesen. In der vierten Klasse zum Beispiel, als mein Bruder mich dazu überredet hatte, mich der Softball-Mannschaft anzuschließen, hatte sich herausgestellt, dass mein einziges Talent darin bestand, die Taktik festzulegen. Das heißt, ich rief meinen Mitspielerinnen auf dem Spielfeld Anweisungen zu, in welcher Form sie mir Rückendeckung geben sollten, falls der Ball in meine Richtung flog. Heute musste mir niemand Rückendeckung geben. Heute hatte ich mich als echte Sportlerin bewiesen. Mein Fanblock kam zu Flash und mir herüber. Ich fuhr dem Jungen durch die Haare. »Danke für die Hilfe, Coach. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.« »Doch, hätten Sie«, sagte er mit einem ernsten Ausdruck auf dem sommersprossigen Gesicht. »Sie schaffen alles. Ich glaube an Sie. Vergessen Sie das nicht.« »Wenn du meinst«, sagte ich und lachte. Ich blickte ihm nachdenklich hinterher, als er zurücklief zu seinem Vater. Woher kamen plötzlich all die Kinder in meinem Leben? Wo waren sie vorher gewesen? Waren sie schon immer da gewesen und hatten sich nur versteckt? Ein Handtuch traf mich am Kopf. »Gut gemacht, Sportsfreund«, sagte Martucci. »Danke, auch für deine Hilfe.« Ich meinte es ernst. Danach gingen Susan, Chase und die Zwillinge, Martucci, Kip, Sebastian, Deedee und ich zum Frühstücken ins Uncle Bills, das Cafe, aus dem es so gut nach Pfannkuchen gerochen hatte. Als wir am Tisch saßen und ich den zusammengewürfelten Haufen betrachtete, den ich in den vergangenen Monaten um mich versammelt hatte, musste ich
unwillkürlich lächeln. CJ schüttete Joey den Sirup über die Hose. Kip aß dauernd von Sebastians Teller. Susan fing geistesabwesend an, die Pfannkuchen ihres Mannes in kleine Stücke zu schneiden, bevor Martucci sie darauf aufmerksam machte, und die nächsten zehn Minuten verbrachten wir damit, sie deswegen aufzuziehen. Aber es war Deedee, die für den Höhepunkt sorgte, als sie ausrief: »Psst, seid mal still«, und dann meine Hand nahm und auf ihren Bauch legte. Und da spürte ich es. Das Baby strampelte. Es war, als würden der Raum und all die Geräusche und die Leute verschwinden, und ich hörte oder schmeckte oder roch nur noch das, was sich unter meinen Fingerspitzen bewegte. Das war kein Geschäft mehr. Das war ein Kind. Und ich war ihm noch nie so nahe gewesen.
18
Sie führen sich auf wie eine eifersüchtige Ehefrau«, spöttelte Phyllis. »Untersuchen Sie demnächst noch seinen Hemdkragen auf Lippenstiftspuren?« Ich hatte gesehen, wie Lou Bigwood den Aufzug mit einer Frau betrat. Mit einer schönen Frau. Sie war in dieser Woche die dritte, mit der ich ihn gesehen hatte. Natürlich war ich sofort in Phyllis' Büro gerannt, um herauszufinden, was dahintersteckte. Ich hatte keine Ahnung, warum mich das interessierte. Alles, was sie mir sagte, war der Name der Frau und die Firma, für die sie arbeitete. Das hatte ich durch einen Blick auf die Besucherliste am Empfang schon selbst herausgefunden. »Führt er Bewerbungsgespräche?«, fragte ich. »Nein.« Ich sah sie misstrauisch an. Die Antwort war zu schnell gekommen. »Oder anders gesagt: Könnte eine
dieser Frauen möglicherweise den Job von Lizbeth bekommen?« »Ja.« Ich breitete die Arme aus. »Dann führt er also doch Bewerbungsgespräche!« »Nein. So was macht Lou nicht.« Wenn ich mit Phyllis sprach, kam ich mir immer vor wie Alice im Wunderland. Nichts ergab irgendeinen Sinn, und trotzdem war alles ganz klar. Ich musste bald den nächsten Schritt unternehmen. Aber wie sollte er aussehen? Ich hatte nach wie vor keine Ahnung, womit ich den Boss so beeindrucken könnte, dass er mir die Beförderung zugestand, die ich verdiente. »Was meinen Sie, wie viel Zeit bleibt mir noch?«, fragte ich und machte mich auf eine weitere unverbindliche Antwort von Phyllis gefasst. »Schwer zu sagen.« »Stellen Sie sich vor, jemand würde Ihnen eine Pistole an den Kopf halten. Was würden Sie dann antworten?« »Drei Wochen.« »Wirklich. So schnell?« »Nein, aber unter Druck sage ich alles.« Ich bat Phyllis, mir in zwei Wochen einen Termin bei Bigwood zu geben, an einem Freitagnachmittag, bevor er die Stadt verließ, um zu einer Konferenz zu fahren. Es war wichtig, dass ich mit ihm sprach, bevor er sich auf den Weg machte. Er hatte Lizbeth auf einer Konferenz kennen gelernt. Ich konnte es nicht riskieren, dass sich so etwas wiederholte. Obwohl es zur Zeit weiß Gott genug Dinge gab, um die ich mich kümmern musste, würde ich es mir nie verzeihen, wenn ich jetzt tatenlos zusah, wie er eine andere einstellte - eine Frau mit dieser gewissen Mischung aus Aggressivität und gutem Aussehen, die für ihn so attraktiv zu sein schien. Kaum war ich wieder in meinem Büro, klingelte das Telefon. Es war Troy. Als ich seine Stimme hörte, spürte ich, wie sich meine Mundwinkel automatisch nach oben bewegten und mein IQ nach unten sank. Ja, ich war verknallt. Ehrlich gesagt, wurde es immer
schlimmer. Troy hatte sich als Vermittler betätigt und den Trip nach Vegas mit seiner Mutter und seiner Großmutter für mich arrangiert. Bisher hatten wir meistens nur kurze, höfliche Nachrichten auf dem Anrufbeantworter des anderen hinterlassen, statt wirklich miteinander zu sprechen, aber auch das reichte, um meinen Puls zu beschleunigen. Der Trip nach Las Vegas war für nächstes Wochenende geplant, und er hatte gesagt, seine Mutter und seine Großmutter würden sich schon sehr darauf freuen. Es war alles erledigt, deshalb war ich überrascht, jetzt von ihm zu hören. Vielleicht war irgendetwas schief gelaufen. Vielleicht hatten sie es sich anders überlegt. Ich kaute auf meinem Fingernagel herum. »Ja?« »Ach, Sie sind selbst dran«, sagte er und klang erstaunt. »Ich hatte mit Ihrem Anrufbeantworter gerechnet.« »Ich kann ihn einschalten, wenn Ihnen das lieber ist.« »Nein, das Original ist viel besser.« Wir tauschten Höflichkeitsfloskeln aus, dann sagte er: »Ich wollte Ihnen nur meine Hilfe anbieten, falls Sie mich in Vegas brauchen.« »Als Eskorte?« »Ich tue gern alles, was ich kann.« Dann setzte er hastig hinzu: »Natürlich würde ich mich selbst um alles kümmern, mir auch ein Hotel besorgen.« Bevor ich mich versah, hörte ich mich sagen: Aber klar, kommen Sie doch mit.« Aber gleich darauf kamen mir Bedenken, und ich ergänzte: »Sind Sie sicher, dass Ihre Mutter und Ihre Großmutter diesen Ausflug wirklich machen wollen? Es hätte nämlich keinen Sinn, ihn nur wegen der Liste zu machen, wenn sie -« »Sie freuen sich schon, wirklich, obwohl es gelogen wäre zu behaupten, dass es nicht auch traurig für sie werden wird. Deshalb dachte ich, es wäre vielleicht ganz gut, wenn ich dabei wäre. Nur für alle Fälle.«
Für welche Fälle?
Mir fiel Susans Bemerkung wieder ein, dass der Verlust eines Kindes das Schlimmste sei, was man sich vorstellen konnte. Verlangte ich vielleicht zu viel von einer trauernden Mutter? Ich hatte keine Ahnung, ob sie sich tatsächlich auf den Ausflug freuten, wie er sagte, aber ich beschloss, ihm zu vertrauen. »Okay«, sagte ich. »Aber Sie brauchen nicht selbst zu fahren. Sie können mit uns fahren. Wir brechen am Freitag um drei auf.« »Danke für das Angebot, aber ich habe am Nachmittag noch eine Besprechung«, sagte er. »Ich fahre mit dem Motorrad, das heißt, ich bin wahrscheinlich sogar vor Ihnen da.« »Sie glauben, dass Ihr Motorrad schneller ist als unser Ride-share-Mobil?« »Sie nennen es doch nicht wirklich so, oder?« »Aber sicher. Es handelt sich um ein zehn Meter langes Wohnmobil, auf dem links und rechts in riesigen Buchstaben der Name steht. Ich hoffe, Ihre Mutter und Ihre Großmutter sind durch einen peinlichen Auftritt nicht so schnell aus der Fassung zu bringen.« »Natürlich nicht - als Fans von Wayne Newton. Und ich bin bestimmt schneller als Sie. Ich kann um die Staus herumfahren. Sie werden darin stecken bleiben.« »Ja, aber Sie vergessen, dass wir die Busspur benutzen dürfen.« Ich hatte es kaum ausgesprochen, als mir die Erleuchtung kam. Ich muss laut nach Luft geschnappt haben, weil er fragte: »Alles in Ordnung?« »Sie sind ein Genie.« »Schön, dass Sie es bemerkt haben. Gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie mir das gerade jetzt sagen?« »Sie haben mich auf eine großartige Idee gebracht.« »Gerade jetzt?« »Ja. Etwas, was auch die Medien interessieren könnte. Und es muss nicht einmal zu Schlägereien kommen.« »Schade«, sagte er lachend. »Eigentlich erwarte ich, dass immer etwas Aufregendes passiert, wenn Sie in der Nähe sind.«
Am Freitagabend saß ich in meiner Wohnung und kämpfte gegen meine Frustration an. Ich hatte Stunden damit zugebracht, mich durch Fotoalben und Jahrbücher zu arbeiten, und war keinen Schritt weitergekommen. Am nächsten Tag fand die Party meiner Eltern statt, auf der ich meinem Bruder den Brief geben wollte. Man sollte doch meinen, dass ich in der Lage war, eine schöne gemeinsame Erinnerung auszugraben, aber ich schaffte es einfach nicht.
Lieber Bob, ich schreibe Dir diesen Brief, um Dir zu sagen, wie dankbar ich dafür bin, dass Du und Deine Freunde es damals lustig fanden, den Jungen, mit dem ich zum Schulball ging, gegen die Wand zu drücken, ihm die Faust unters Kinn zu halten und ihn zu fragen, ob er ernste Absichten hat. Großartig! In Liebe, June PS: Es war besonders amüsant, weil dieser Junge aus meiner Klasse sich danach, glaube ich, vor Angst in die Hose gemacht hat.
Lieber Bob, ich kann Dir gar nicht genug dafür danken, dass Du ein Foto von mir mit Augenklappe in Deiner Brieftasche aufbewahrst und es bei jeder Gelegenheit herumzeigst. Wie viele Frauen haben schon einen Bruder, der immer ein Foto von ihnen dabeihat? Ich fühle mich geschmeichelt und bin Dir, keine Frage, sehr dankbar. In schwesterlicher Zuneigung, June
Lieber Bob,
nimm meinen bescheidenen Dank dafür entgegen, dass Du mein Leben mit so vielen Menschen bereichert hast, vor allem all den Mädchen, die so getan haben, als wären sie meine Freundinnen, um dann die ganze Zeit Dich anzuhimmeln, wenn ich sie mit nach Hause brachte. Deine Beliebtheit und Dein Charme bleiben mir ein steter Ansporn. In familiärer Verbundenheit und Freundschaft, June
Lieber Bob, Worte können nicht ausdrücken, wie sehr ich meinen letzten Besuch bei Dir genossen habe, bei dem Du in der Sekunde, in der ich das Haus betrat, zu einem Golfwochenende verschwunden bist. Es war eine wunderbare Gelegenheit für Charlotte und mich, unsere Beziehung zu vertiefen. Sie hat mich hervorragend bekocht, und wir sind miteinander shoppen gegangen und haben uns Filme angesehen und die Dinge getan, die Frauen eben so tun, obwohl, zumindest der Geburtsurkunde nach, eigentlich Du mein Verwandter bist. Herzliche Grüße von Deiner Schwester June
Lieber Bob, wie in aller Welt hast Du Charlotte dazu gekriegt, Dich zu heiraten? Sie ist so klug und warmherzig, und ich mag sie sehr. Hast Du sie erpresst? June
»Hallo?« Die Stimme meiner Mutter klang argwöhnisch. »Was ist los?«, fragte ich. »Störe ich?« »Ach, du bist's, Schätzchen. Nein, ist schon gut. Ich dachte, du wärst jemand, der absagen will. Um diese Zeit beginnt die Zahl der Gäste immer zu schwinden.
Gerade haben die Kolesars angerufen und mitgeteilt, dass sie wegfahren. Dein Vater und ich veranstalten diese Party seit zehn Jahren immer am gleichen Wochenende, und sie haben die Einladung seit einem Monat.« »Ich komme auf jeden Fall«, versicherte ich ihr. »Na, wenigstens eine feste Zusage. Ich hoffe, du bringst Hunger mit.« Sie veranstalteten diese Party jedes Jahr, um Geld für ein Studentenhilfswerk zu sammeln, das mein Vater zum Gedächtnis an seinen besten Freund, einen Lehrer, der an Krebs gestorben war, ins Leben gerufen hatte. Man zahlte fünfzig Dollar pro Nase und konnte dafür so viel essen und trinken, wie man runterkriegte. Für gewöhnlich kamen an die hundert Leute. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich normalerweise beim Schnipseln und Schneiden und was weiß ich noch alles geholfen hätte - ich bin zwar nicht gerade eine begnadete Köchin, aber ein gutes Küchenmädchen. In letzter Zeit hatte ich jedoch den Kontakt mit meinen Eltern gemieden, weil ich Angst hatte, damit herauszuplatzen, dass ich Deedees Baby adoptieren würde. Eigentlich wollte ich ihnen erst davon erzählen, wenn es sicher war. »Ich weiß, dass du viel zu tun hast«, sagte ich. »Kann ich dich trotzdem was fragen?« »Natürlich. Ich schleudere gerade den Salat. Das kann ich auch machen, während ich mit dir rede.« »Ich sitze an dem Brief an Bob, von dem ich dir erzählt habe. Und mir fallen keine schönen gemeinsamen Erinnerungen ein.« »Sag mir, was du bis jetzt hast.« »»Lieber Bob<«. Schweigen. »Das ist alles?« »Ich hatte gehofft, du könntest mir weiterhelfen.« Sie stieß einen Seufzer aus. »War ich so eine schlechte Mutter? Wie kommt es, dass du keine einzige schöne Erinnerung an deine Kindheit hast?« »Ich habe jede Menge schöne Erinnerungen. Weißt du noch, das eine Mal, als wir nach New York gefahren sind und dort gemerkt haben, dass wir Bob
zu Hause vergessen haben? Und dann haben wir ... nein, warte ... das war ein Film.« »Du hast deinen Bruder gern!«, sagte sie beharrlich. »Natürlich habe ich ihn gern. Er ist mein Bruder. Es gibt nur Zeiten, in denen ich ihn nicht besonders mag.« »Bob war dir immer ein wunderbarer Bruder.« Meine Finger schwebten über der Tastatur. »Inwiefern«, begann ich vorsichtig, »meinst du, dass er ein wunderbarer Bruder war? Und versuche es bitte in vollständigen Sätzen zu sagen.« »O Gott. Na gut. Wie wär's damit, dass er dich für die Softball-Mannschaft angemeldet hat?« »Das war eine der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens!« »Ich fand es sehr nett, dass er sich alle deine Spiele angesehen hat.« »Er hat sich meine Spiele angesehen?« »Er hat kein einziges verpasst. Es war nicht seine Schuld, dass du so eine miserable Spielerin warst. Nimm es mir nicht übel. Ich wiederhole nur, was du mir erzählt hast.« Ich hackte in die Tasten. Bob, ich werde nie
vergessen, wie es war, dich dort auf der Tribüne zu sehen, wenn du mich angefeuert hast... »Was noch?« »Warte mal.« Sie hielt den Hörer weg und rief: »Martin! Das Wasser kocht!« Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir. »Lass mich nachdenken ... Es gab so vieles. Bob hat sich immer diese kleinen Stücke für uns ausgedacht. Er hat einen Dollar Eintritt verlangt. Und weißt du noch, als wir uns diesen Film angesehen haben, Die Vögel? Er hat dich danach eine Woche lang jeden Tag von der Schule nach Hause begleitet, weil du dir diese verrückte Idee in den Kopf gesetzt hattest, dass dich irgendjemand plötzlich angreifen könnte.« »Dieser Film war schrecklich!« Während ich tippte: Bob, du hast mich immer beschützt nahm ich mir vor, mein Kind niemals Horrorfilme ansehen zu lassen. Was hatten sich meine Eltern nur dabei gedacht?
»Und dann ... warte noch mal kurz, die Suppe kocht über.« Der Hörer wurde abgelegt und ich hörte sie mit Töpfen klappern und meinen Vater anschreien, ob sie nun den Herd ausschalten solle oder nicht. Als sie schließlich wieder zum Telefon kam, sagte ich: »Klingt, als hättest du viel zu tun. Ich lass dich besser in Ruhe.« »Ich muss noch mal in den Supermarkt fahren.« Sie ließ eine kurze Pause folgen, bevor sie weitersprach: »Liebes? Gib deinem Bruder eine Chance. Ich weiß, er war damals nicht immer nett zu dir. Er konnte eine ziemliche Nervensäge sein. Aber ihr beiden hattet auch Spaß miteinander. Ihr habt zusammen ferngesehen oder Spiele gespielt oder Platten gehört. Weißt du, er hat sich im Lauf der Zeit geändert. Du solltest ihn mal mit Charlotte sehen. Er vergöttert sie, trägt sie auf Händen. Ich weiß nicht, vielleicht musste er einfach erst erwachsen werden. Und - sei mir nicht böse, wenn ich das sage - vielleicht bist du ihm gegenüber nicht immer gerecht.«
Mrs. Mankowski wedelte mit einem Shrimp in der Luft herum. »Wenn ich morgen sterben müsste, würde ich Fallschirmspringen.« »Großer Gott!«, sagte mein Vater, sichtlich entsetzt. »Ich würde es vorziehen, im Schlaf zu sterben.« Meine Mutter schaltete sich ein. »Martin, ich glaube, sie meint, bevor sie stirbt.« Die Liste war Gesprächsthema Nummer eins auf der alljährlichen Party. Ich war um zwei Uhr gekommen, und seither hatte ich mehr über die unerfüllten Träume der Freunde meiner Eltern erfahren, als ich jemals hatte wissen wollen. Jede Menge Fallschirmsprünge, Reisen, Tauchreisen, Ballbesuche und Veröffentlichungen von Romanen waren im Lauf von vielen Leben unterblieben. Die arme alte Mrs. Gorman sagte, sie würde gern eine Fremdsprache lernen, und ihr Mann — der es sich angewöhnt hatte, ihre Sätze für sie zu beenden, weil
sie immer vergaß, was sie sagen wollte - schnaubte: »Warum fängst du nicht mit deiner Muttersprache an?« Als ich Charlotte sah, die Frau meines Bruders, war ich froh, dass ich noch nichts von der Adoption erzählt hatte. Sie hatte mindestens fünfzehn Kilo zugenommen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Schlimmer noch, sie sah griesgrämig und aufgedunsen aus. Ihr einst herzförmiges Gesicht war vollmondförmig geworden, und die blonden Haare hingen glanzlos und strähnig herunter. Ich hatte davon gehört, dass Hormonbehandlungen schreckliche Wirkungen hatten. Wenn man gerade eine durchmacht und immer noch keinen Erfolg vorweisen kann, sind Kinder vermutlich ein heikles Thema. Vor der Party hatte ich Susan angerufen und ihr gesagt, sie solle Chase daran erinnern, dass er nicht davon anfing. Offensichtlich hatte sie den Auftrag ausgeführt, weil er sofort nach seiner Ankunft meinen Blick suchte und den Finger auf die Lippen legte. Nach einigen Stunden hatte sich die Zahl der Gäste auf die engere Familie, Susan und Chase und ein Ehepaar aus der Nachbarschaft reduziert. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und die drückende Hitze im Valley ließ langsam nach. Meine Eltern hatten den ganzen Tag lang Ventilatoren und Luftbefeuchter laufen lassen, sonst hätten wir den Hamburgern auf dem Grill Konkurrenz gemacht. Jetzt saßen wir in kleiner Runde in Gartenstühlen auf der Terrasse, und allmählich überkam uns die typische Post-Party-Trägheit. Ich nahm einen Schluck von meinem alkoholfreien Bier, das Getränk meiner Wahl an diesem Tag. Mein Vater mixte einen hervorragenden Mai Tai, aber seine Cocktails rührte ich lieber nicht an. Bevor man einen ausgeschlürft hatte, war man schon hinüber. »Ich begreife einfach nicht, was an Fallschirmspringen so toll sein soll«, sagte ich. »Wie ich mich kenne, würde ich rausspringen und dann mitten in der Luft feststellen, dass ich den Fallschirm
vergessen habe. Oder ich hätte ihn umgeschnallt, aber ich hätte überhaupt keinen Spaß dabei, weil ich die ganze Zeit nur daran denken würde, dass ich rechtzeitig die Reißleine ziehen muss.« Susan - die offenbar nichts von den Gefahren der Mai Tais wusste — nuschelte: »Schobald die Jungsch grosch genug schind, geh ich Fallschirmschpringen. Dasch war schon immer mein Traum.« Chase fing meinen Blick auf und zwinkerte mir zu. Das Zwinkern hieß: Wetten, dass ich heute Nacht zum Zug komme, und dabei ist nicht mal Feiertag. »Was ist mit dir, Bob?«, fragte meine Mutter. »Was stünde auf deiner Liste?« »Ich weiß nicht. Über solche Sachen mache ich mir keine Gedanken. Ich habe Charlotte, ein tolles Haus, einen sicheren Job. Ich muss nicht irgendwelche >Aufgaben< erfüllen, um zufrieden zu sein.« Hallo - war das mein Bruder, der das gerade gesagt hatte? Er sah aus wie mein Bruder. Die gleichen kurz geschnittenen braunen Haare, die gleiche markante Nase, die gleichen jugendgefährdenden Grübchen. Allmählich wurde mir klar, warum Charlotte nicht schwanger wurde - offensichtlich hatten Aliens meinen Bruder entführt und Besitz von seinem Körper ergriffen. Meine Mutter warf mir einen Blick zu. Siehst du? Charlotte strahlte. »Ist dieser Mann nicht unglaublich?« Susan hob ihr Glas, um einen Schluck Mai Tai zu trinken, verfehlte jedoch ihren Mund. »Dasch ischt groschartig, Bob. Einfach groschartig.« »Das ist es, was ich meinem Bruder immer beizubringen versuche«, mischte sich mein Vater ein. »Ständig gibt er damit an, dass seine Kinder dieses oder jenes gemacht haben. Der eine ist Arzt, der andere irgendein ach so wichtiger Produzent. Und ich denke dann immer: Was für ein Angeber. Meine Kinder werden nie in ihrem Leben etwas Bedeutendes zustande bringen! Sie werden niemandem das Leben retten. Keinen Roman schreiben! Mein Gott, meine Tochter geht auf die vierzig zu und ist noch nicht mal verheiratet!«
»Ich bin vierunddreißig!«, platzte ich heraus. »Und wisst ihr was?«, fuhr er fort. »Der Grund dafür ist, dass wir Parkers wissen, worum es im Leben wirklich geht. Es geht darum, mit Freunden zusammen zu sein, etwas zu trinken, ein gutes Essen zu genießen, Roy Orbinson zu hören. Es geht nicht um irgendwelche albernen Doktortitel und Notendurchschnitte.« Er erhob im schwindenden Licht sein Glas zu einem Toast, und wir taten es ihm nach. Ich wünschte mir, mein Vater könnte sich dazu entschließen, mit etwas anderem zu prahlen. »Ich bin jedenfalls froh, dass nur noch sechs Aufgaben übrig sind«, sagte ich, um das Gespräch zurück auf die Liste zu bringen. »Danach kann ich dann wieder die liebenswerte Versagerin sein, die ich schon immer war.« Mrs. Mankowski sah mich forschend an. »Steht auf der Liste irgendwas davon, einen Ehemann zu finden?« Ticktack!«, fühlte sich Mr. Mankowski bemüßigt hinzuzufügen. Und diesen Leuten hatte ich jeden Sommer beim Marmeladeeinkochen geholfen! June wird schon heiraten, wenn sie den Richtigen gefunden hat«, sagte mein Bruder (oder derjenige, der sich für ihn ausgab). Vierunddreißig ist doch kein Alter«, pflichtete Charlotte Ihm bei. »Und so was kann ganz schnell gehen. Ich wette, dass sie eines Tages aus heiterem Himmel anruft und uns mit der Neuigkeit überrascht, dass sie sich verliebt hat und heiraten wird.« Gerade als ich darüber nachdachte, ob ich mich heimlich ins Haus schleichen könnte, um an den Brief an meinen Bruder ein Postskriptum anzufügen, schwenkte Susan ihr Glas und sagte: »June hat schon jetscht eine grosche Überraschung für euch!« Lautes »Was?« - »Sag schon!« - »Eine Überraschung?!« hallte durch die Abendstille. Ich hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht. »Keine Ahnung, wovon sie redet«, sagte ich, um einen
Gesichtsausdruck bemüht, der sagte: Wem wollt ihr glauben, mir oder einer Betrunkenen? »Ich wette, du hast jemanden kennen gelernt!«, rief Mrs. Mankowski. »Eine grooosche Überraschung.« »Sie müssen meiner Frau verzeihen«, sagte Chase. »Sie neigt zu Halluzinationen, wenn sie trinkt.« Mrs. Mankowski spann den Faden weiter. »Sie hat jemanden kennen gelernt und sich sofort mit ihm verlobt!« »Die Überraschung ischt kein Mann. Ischt ein Määädchen.« Chase versuchte Susan mit einem lauten »Pst!« zum Schweigen zu bringen. Mein Vater wurde blass. »O Gott.« Zahlreiches Räuspern war zu hören. »Tscheit, dasch du esch ihnen endlich sagscht. Dasch glückliche Ereignisch schteht unmittelbar bevor!« »Ist das jetzt gesetzlich erlaubt?«, fragte Mr. Mankowski. Dafür würde Susan büßen, und zwar gründlich. Ich würde einen Platz in der Hölle für sie reservieren, eine Woche Las Vegas rund um die Uhr. »Ich bin nicht lesbisch, okay?«, sagte ich scharf. »Gott sei Dank«, flüsterte mein Vater. »Wie hätte ich meinem Bruder jemals wieder unter die Augen treten sollen?« Meine Mutter stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. »Wir würden dich trotzdem lieben, Schätzchen.« »Also, was ist es dann für eine Überraschung?«, fragte Bob. Auf Susan war kein Verlass mehr. Da konnte ich es genauso gut selbst sagen: »Es steht noch nicht endgültig fest, deshalb habe ich bis jetzt nichts davon erzählt. Aber wenn Deedee im August ihr Baby bekommt —« »Deedee ischt ihre kleine Schweschter«, warf Susan hilfsbereit ein. »Also wenn sie das Baby bekommen hat, werde ich es adoptieren.« Wenn Stille ein Geräusch verursacht, dann war es in diesem Augenblick sehr, sehr laut. Susan brach das Schweigen. »June wird Mutter!« »Ohne Mann?«, fragte Mrs. Mankowski. »Ja. Das Mädchen ist erst vierzehn. Sonst würde sie das Kind
großziehen. Und ich habe mir immer Kinder gewünscht, also schien es ...« Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Ich wusste nicht, welche Reaktion ich erwartet hatte, aber diese war es nicht. Meine Mutter rieb sich die Stirn. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Hertschlichen Glückwunsch! Dasch schagt man norma-lerweische!« »Ich glaube, wir haben schon genug Schaden angerichtet. Wir gehen jetzt besser«, sagte Chase und zerrte Susan hoch. Er nickte meinen Eltern zu. »Vielen Dank für die Einladung.« »Ja. Hertschlichen Dank.« Charlotte sprang auf. »Herzlichen Glückwunsch«, presste sie hervor, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Das ist eine wunderbare Neuigkeit.« Damit drehte sie sich um und rannte ins Haus. Bob folgte ihr. Es blieb wieder eine Weile still, und dann sagte mein Vater: »Du adoptierst dieses Baby nicht zusammen mit einer anderen Frau, oder?« Ich würdigte ihn keiner Antwort und ging ins Haus, um nach Bob und Charlotte zu sehen. Bob kam gerade mit einer Reisetasche aus seinem früheren Zimmer. »Ihr geht?«, fragte ich. »Ja. Charlotte sitzt schon im Auto.« »Bob, es tut mir leid. Ich wollte heute nichts davon sagen. Ich weiß —« »Mach dir keine Gedanken. Aber wir müssen jetzt los. Ich wollte mich gerade verabschieden.« »Mom hat mir erzählt, was ihr alles auf euch genommen habt, und —« »Ich muss los ... ich will Charlotte nicht so lange draußen warten lassen.« »Kann ich mit ihr sprechen?« Er schüttelte den Kopf. »Es hat nichts mit dir zu tun, June. Es wird nur eine Weile dauern, bis sie die Neuigkeit verdaut hat. Wir wünschen uns schon so lange ein Baby.« »Mom hat mir erzählt, dass ihr keins
adoptieren wollt.« »Es tut immer noch weh. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Er legte den Arm und mich und drückte mich kurz an sich. »Meinen Glückwunsch.« »Danke«, sagte ich leise. Dann gab ich ihm den Umschlag mit dem Brief. »Du musst ihn nicht gleich lesen. Es ist nur etwas, von dem ich wollte, dass du es weißt.« Auch die Mankowskis konnten nicht schnell genug gehen. Meine Eltern und ich beseitigten die Überreste der Party, ohne ein Wort über die Adoption zu verlieren. Wir waren beschwipst und müde, und die Parkers sprachen nie über irgendetwas, wenn sie es vermeiden konnten. Erst am nächsten Morgen, bei einem Frühstück mit übrig gebliebenen Sandwichs, hatte ich die Gelegenheit, mit meiner Mutter über das Baby zu sprechen. Ich ließ mir von ihr alle möglichen Horrorgeschichten über die Elternschaft erzählen, mit denen sie mich davon abhalten wollte, eine übereilte Entscheidung zu treffen. Geduldig nickte und lächelte ich, während sie von den schlaflosen Nächten, den aufgeschlagenen Knien und den Aufsässigkeiten berichtete, auf die ich mich vorbereiten müsste. »Versteh mich nicht falsch«, sagte sie und nippte mit aufgestützten Ellbogen an ihrem Kaffee. »Ich bin begeistert von der Aussicht, Großmutter zu werden. Und ich werde dem Kind so viele Sachen schenken, dass du dir vielleicht eine größere Wohnung suchen musst. Ich frage mich nur, ob du gründlich genug über alles nachgedacht hast. »Ich habe in letzter Zeit praktisch nichts anderes getan.« Sie stellte ihre Tasse ab. »Ich spiele jetzt nur mal >Was wäre, wenn<. Was wäre, wenn morgen der richtige Mann aufraucht und sagt: >Ich will dich heiraten, aber du hast ein Kind« »Dann ist es wohl kaum der richtige Mann, oder?« »Nein«, erwiderte sie, »wahrscheinlich nicht.« »Jetzt lass mich mal >Was wäre, wenn< spielen. Was wäre, wenn der richtige Mann niemals auftaucht?« »Ach, Schätzchen«, sagte sie und nahm über den Tisch hinweg meine Hände. »Er wird schon auftauchen.
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Im
letzten Moment machten Marissas Mutter und Großmutter einen Rückzieher. Sie sagten, sie würden lieber nach Las Vegas fliegen und sich im Hotel mit uns treffen. Wahrscheinlich waren sie nicht besonders wild darauf, fünf Stunden im Wohnmobil über die Straßen zu schaukeln und Konversation zu machen. Ich hätte es als Beleidigung empfunden, wenn es mir nicht gleichfalls davor gegraut hätte. Ich brauchte Ruhe, um mich für das vor mir liegende Wochenende zu wappnen, weswegen ich auch Brie beinahe geohrfeigt hätte, als sie nicht aufhören wollte herumzujammern, wie öde diese Fahrt doch sei und warum wir nicht daran gedacht hätten, DVDs mitzunehmen? Es war acht, als Martucci das Rideshare-Mobil schließlich auf den Parkplatz des Flamingo abstellte. Wir checkten ein und gingen auf unsere Zimmer. Marissas Mutter und Großmutter waren schon da, nur Troy noch nicht. (Ha, ich hatte ihm ja gleich gesagt, dass wir auf der Busspur Zeit sparen würden. Außerdem war Martucci die ganze Strecke durchgefahren. Brie und ich konnten das Klo im Wohnmobil benutzen, und Martuccis Blase hatte offenbar die Größe eines Öltankers.) Nachdem ich Kitty Jones angerufen hatte, um mit ihr auszumachen, dass wir uns alle um neun in der Lobby treffen wollten, ließ ich mich aufs Bett fallen. »Wie kann man vom bloßen Rumsitzen nur so müde werden?«, jammerte ich. »Das versteht kein Mensch.« Unser Zimmer war eingerichtet wie jedes Hotelzimmer -zwei Betten, eine Kommode und ein Fernseher. Von unserem Fenster aus sah man das Bellagio. Die Springbrunnen in dem künstlichen See veranstalteten gerade ihre Laser-Wasser-Show. Es war wunderschön, aber auch grotesk, wenn man bedenkt, wie viel Wasser dafür mitten in der Wüste verschwendet wurde.
Brie ging ins Badezimmer, und ich schloss kurz zur Entspannung die Augen. Gleich darauf hörte ich sie rufen: »Aufwachen! Die Party wartet!« Als ich die Augen öffnete, stand Brie über mich gebeugt, in ein knappes weißes Top und eine weiße Lederhose gezwängt. Ihre Haare - zurzeit schulterlang mit Außenrolle und rosafarbenen Strähnen — waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. »Mist«, sagte ich. »Das wollte ich anziehen.« »Es ist fast neun. Ich hoffe doch, dass du dich noch ein bisschen aufstylst.« Widerwillig erhob ich mich vom Bett. Dieser Abend war nichts, worauf ich mich freute. Warum hatte ich mich von Martucci zu einer Party überreden lassen? Ich hätte einfach mit ihnen herfliegen, in das Konzert von Wayne Newton gehen und anschließend wieder nach Hause fliegen sollen. Aber dafür war es jetzt zu spät, dachte ich, während ich mich umzog: kurzer Rock, keine Strümpfe, Stöckelschuhe und eine auf Figur geschnittene Jacke über einem engen Top. Ich putzte mir die Zähne, legte ein wenig Make-up auf und schüttelte meine Haare. Ein prüfender Blick in den Spiegel - gefolgt von noch ein bisschen Make-up und Haareschütteln — und ich war fertig. »Okay, wir müssen uns noch ein Zeichen überlegen«, sagte Brie. »Wenn über dem Türgriff eine Socke hängt, heißt das, nicht reinkommen.« »O nein. Ich will heute Nacht ruhig schlafen. Wehe, du schleppst hier einen Kerl an.« »Ich würde ihn ja nicht über Nacht bleiben lassen.« »Nein! Keine Männer! Haben wir uns verstanden?« »Keine Feier ohne Langweiler, deshalb haben wir Ju—« »Wie bitte?« »Schon gut. Reg dich bloß nicht künstlich auf. Ich hab's kapiert.« Ich hatte mich mit Kitty, Marissas Mutter, und ihrer Großmutter bei dem riesigen, zwei Meter hohen Spielautomaten in der Lobby verabredet, und es war gut, dass ich den Treffpunkt so genau festgelegt hatte, sonst hätte ich sie nämlich nicht
wiedererkannt. An die Großmutter konnte ich mich überhaupt nicht mehr erinnern, und Kitty Jones hatte auf mich klein und farblos gewirkt, als ich sie auf der Beerdigung kennen gelernt hatte - als hätte sie jemand zu heiß gewaschen und getrocknet. Soll heißen: Sie hatte ganz und gar nicht so ausgesehen wie die Frau mit der gesunden Strandbräune, die jetzt vor mir stand. Mitte fünfzig, kräftig und mit einem blonden Strähnchen-Bob, sah sie so sehr nach einem etwas in die Jahre gekommenen kalifornischen Beach-Girl aus, dass ich es merkwürdig fand, sie mit einem Akzent aus dem Mittleren Westen sprechen zu hören. »June, schön, Sie wiederzusehen. Ich bin Kitty. Erinnern Sie sich an meine Mutter, Mrs. Jameson?« »Nennen Sie mich Gran. Das machen alle«, sagte die winzige Frau an ihrer Seite. Sie trug einen Trainingsanzug aus Samt, und bei ihrem braunen Lockenschopf handelte es sich eindeutig um eine Perücke, die sie zurechtrückte, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. Ich stellte Brie vor und erkundigte mich: »Wie war Ihr Flug?« »Keine Störungen«, erwiderte Kitty. »Obwohl man für eine Packung Erdnüsse extra bezahlen musste«, knurrte Gran. »Ist das zu fassen? Einen Dollar fünfzig für eine lausige Packung Erdnüsse, die es früher umsonst gab! Und was Richtiges zu essen kann man sich gleich aus dem Kopf schlagen.« »Oh, haben Sie Hunger?«, fragte ich. »Wir könnten essen gehen.« »Danke, aber wir haben uns Sandwichs aus dem Laden im Hotel geholt«, sagte Kitty. »Für acht Dollar«, ergänzte Gran. »Man sollte doch meinen, dass sie bei dem Preis wenigstens einen etwas besseren Senf drauf tun, aber nein, Fehlanzeige. Der stinknormale mittelscharfe.« »Trinken Sie auf gar keinen Fall die Flasche Wasser, die in Ihrem Zimmer steht«, sagte Brie mit warnender Stimme. »Sie denken, die ist kostenlos, aber es klebt ein kleiner Zettel drauf, auf dem steht,
dass sie drei Dollar kostet. Die rechnen damit, dass Sie zu betrunken sind, als dass es Ihnen auffällt, oder zu durstig.« »So durstig bin ich nie«, sagte Gran. Sie sagte nicht, fiel mir auf, dass sie nie so betrunken war. »He, wo ist Martucci?«, fragte ich, teils aus Neugier und teils, weil mir der Gesprächsstoff ausging. »Das ist der Freund, der uns hergefahren hat«, erklärte Brie, bevor sie sich mir zuwandte. »Während du deinen Schönheitsschlaf gehalten hast, hat er mir eine SMS geschickt, dass er an einem der Pokertische sitzt. Falls wir ihn nicht vorher brauchen, treffen wir uns morgen früh.« Kitty warf einen Blick auf ihre Uhr. »Troy sollte jeden Augenblick hier sein, aber ich will nicht, dass Sie unsertwegen warten.« »Kein Grund zur Eile«, sagte ich. »Ich muss mich nur noch für morgen zur Massage anmelden.« »Tolle Idee«, sagte Kitty. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns anschließen? Ein Nachmittag unter Frauen im Spa, das klingt gut. Und dann am Abend Wayne Newton. Ein Höhepunkt nach dem anderen!« Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass die Massage eine der Aufgaben auf der Liste war, entschied mich dann jedoch dagegen. Es war alles wesentlich einfacher, wenn ich so tat, als wäre dies ein ganz normaler Ausflug nach Las Vegas. Im Moment würde die Liste nur wirken wie ein Elefant im Porzellanladen. Kitty rief gerade Troy an, um sich zu erkundigen, wo er steckte, als er um die Ecke bog - und ich musste unwillkürlich an einen kühlen Drink mitten in der Wüste denken. Schwarze Jeans, lässiges Seidenhemd, Dreitagebart. Hmm. »Ach, du Armer«, sagte Kitty und drückte ihn zur Begrüßung an sich. »Du musst völlig erledigt sein. Du bist doch bestimmt wieder seit drei Uhr auf den Beinen.« »Ja«, sagte er lächelnd und umarmte seine Großmutter. Ich hoffte, dass für mich auch eine Umarmung abfallen würde, aber für mich und Brie hatte er nur ein Nicken übrig. »Meine Damen. Wie geht's?«
»Ausgezeichnet«, sagte ich, während wir in Richtung Hotelcasino gingen. Brie rieb sich die Hände. »Ich will jetzt erst mal was zu trinken und dann an einen Würfeltisch - in der Reihenfolge. Und wenn am Würfeltisch ein oder auch zwei interessante Männer stehen, umso besser.« »Bei dem Drink schließe ich mich an«, sagte Troy. »Was die Männer angeht, sind Sie auf sich gestellt.« Er deutete auf eine der Bars. »Wer will was?« Er nahm unsere Bestellungen entgegen und machte sich auf den Weg. Kitty fragte: »Hat jemand Lust auf Blackjack?« »Da sitzt man für meinen Geschmack zu viel rum«, erwiderte Brie. »Beim Würfeln kann man viel besser kreischen und auf und ab hüpfen.« Wie auf Stichwort drang von einem der Würfeltische lautes Gejohle zu uns. Es kam von einer Gruppe Männer, die meisten davon mit Cowboyhut, die ordentlich auf den Putz hauten. Obwohl an dem Tisch kaum noch jemand Platz hatte, sagte Brie: »Das ist mein Tisch. Bring mir die Pina Colada rüber, wenn Troy zurückkommt, ja?« Kitty, Gran und ich standen eine Weile da und sahen zu. »Spielen Sie?«, fragte mich Kitty. »Manchmal. Vor allem Roulette. Heute Nacht will ich mal richtig abräumen.« »Sie scheinen von Ihrem Glück überzeugt zu sein«, sagte Gran. Da war er wieder, der Elefant. Ja, ich hatte vor zu gewinnen ... um das Geld zu spenden. Eine weitere Aufgabe auf der Liste. Die Liste. Ich tat, als würde sie nicht existieren, obwohl sie der einzige Grund für unser Hiersein war. Nachdem Troy uns unsere Drinks gebracht hatte, machten Kitty und Gran sich auf die Suche nach den einarmigen Banditen. Troy sagte zu mir: »Sind Sie bereit, sich an einen Spieltisch zu wagen?« »Liebend gern.« Im Casino herrschte Hochbetrieb. Wir fanden nur noch einen einzigen freien Platz an einem der Roulettetische, und dort betrug der Mindesteinsatz 25 Dollar. Mein persönlicher Höchsteinsatz belief sich zwar für gewöhnlich auf
5 Dollar, aber ich setzte mich dennoch auf den freien Platz. »Wer wagt, gewinnt«, sagte ich tapfer. Troy kramte in seiner Brieftasche und zog einen Hundertdollarschein heraus. »Hier, setzen Sie für mich mit.« Ich schob seine Hand zur Seite. Ich hatte ein paar Grundregeln für Besuche in Las Vegas, an die ich mich strikt hielt: Nicht mit meinen Reizen geizen, jeden Drink annehmen, der daherkam, und immer, immer nur mit dem eigenen Geld spielen. »Passen Sie gut auf«, sagte ich großspurig, drehte mich um und blätterte dem Croupier fünf Zwanzigdollarscheine hin, »damit Sie was lernen.« An dem Tisch saßen ein älteres Paar, ein betrunkener Mann, von dem ich im ersten Moment dachte, er wäre eingeschlafen, und vier junge Frauen, die ihren letzten gemeinsamen Single-Abend feierten. Eine von ihnen trug einen kurzen, schicken Brautschleier. Der Croupier, ein asiatisch aussehender Mann, auf dessen Namensschild »Jose« stand, schob mir zwanzig grüne Chips zu. »Passend zu Ihren Augen«, sagte er lächelnd. Troy beugte sich zu mir. »Mir ist bis jetzt gar nicht aufgefallen, dass Sie neongrüne Augen haben.« »Ich hatte gehofft, dass er mir lilafarbene gibt«, flüsterte ich, »passend zu meinem Teint.« Vier Drehungen des Rouletterads später war ich pleite. »Kaum zu glauben, dass es nicht einmal mit Carre oder Dutzend geklappt hat«, bemerkte Troy überflüssigerweise. Der betrunkene Kerl hatte einen ganzen Berg an Chips vor sich. Mein einziger Trost war, dass es den Single-Mädchen nicht sehr viel besser ergangen war als mir. Ich legte weitere hundert Dollar auf den Tisch und sagte zu Jose: »Geben Sie's mir noch mal.« Dieses Mal hatte ich Glück, als ich auf Transversale setzte und die 12 gewann, und bekam den sechsfachen Einsatz zurück. Das reichte, um mich weitere fünf Minuten über Wasser zu halten, dann war ich erneut am Ende. An diesem Tisch hat es keinen Sinn«, sagte ich mit einem Stinrunzeln und stand auf. »Vielleicht habe ich bei den
Spielautomaten mehr Glück.« Ich sah mich im Casino um, das inzwischen gesteckt voll war mit Spielern und anderen Leuten, die sich auf dem Weg zu den Restaurants und den Shows durch die Menge schoben. Dollar oder Vierteldollar?«, fragte Troy. Vierteldollar. Sie haben den Anfang und das Ende meiner tollkühnen Phase miterlebt.« "Wenn Sie keine Lust haben, müssen wir nicht spielen.« Doch, müssen wir«, sagte ich grimmig. »Ich habe vor, eine Menge Kohle zu gewinnen, damit ich sie für einen wohltätigen Zweck spenden kann. Um einen Punkt auf der Liste abzuhaken.« »Ach ja, ich erinnere mich. Gut, ich lege alles dazu, was ich heute Nacht gewinne - und, ganz egal, wie lange es dauert, wir geben nicht auf, bevor wir im Geld schwimmen.« Wir gingen zu zwei freien Spielautomaten. »Wie wär's damit?«, fragte er. »Sehr gut«, sagte ich, während ich mich so lässig wie möglich auf der Kante des Hockers niederließ und einen Vierteldollar in den Schlitz steckte. »Also, Troy ... Wie geht's Ihrer Mutter? Sie macht einen gefassten Eindruck, aber ich weiß nicht, ob das stimmt, ich kenne sie ja nicht so gut.« »Es geht ihr ganz gut.« »Soll ich ihr eine Kopie der Liste geben? Ich meine, ich habe nicht -« »June, zerbrechen Sie sich deswegen nicht den Kopf. Alles läuft bestens. Meine Mutter und Gran sind sehr gerührt, dass Sie das hier tun.« »Ich könnte schon eine Kopie davon machen. Ich bin sicher, dass es hier im Hotel einen Fotokopierer gibt.« Er legte mir die Hand auf den Nacken und rieb ihn leicht. Wärme durchströmte mich. »Sie können sich entspannen, wirklich.« Leichter gesagt als getan, solange ich seine Hand auf meiner Haut spürte! Eine Kellnerin kam und erkundigte sich, was wir trinken wollten. Troy bestellte ein Bier. Da ich den Verdacht hatte, dass eine lange Nacht vor mir lag, bestellte ich Kaffee mit Schlagsahne. »Viel
Schlagsahne«, sagte ich. »Mit Schirmchen?«, fragte sie mit todernster Miene. »O ja! Bitte!« Nachdem sie wieder weg war, hoffte ich, dass Troy mit der Nackenmassage weitermachen würde, aber stattdessen fragte er: »Und, wie steht's in der Arbeit? Irgendwelche Krisen in letzter Zeit?« »Es geht gut. Ich habe diese Woche eine große Präsentation beim Chef. Wenn ich das hinkriege, werde ich vielleicht ins Management befördert«, sagte ich. »Deshalb war ich neulich so froh, als Sie mich auf diese Idee gebracht haben.« »Eine Beförderung? Da muss mir irgendwas entgangen sein. Als wir das letzte Mal miteinander telefonierten, standen Sie kurz vor der Entlassung.« Ich drückte den Hebel des Spielautomaten nach unten und gewann drei Dollar. »Ja, mein Leben ist eine einzige Achterbahnfahrt.« »Mal im Ernst. Worum geht es bei der Idee?« Plötzlich war es mir peinlich, dass ich es laut aussprechen sollte. Was, wenn es eine dumme Idee war? Aber vermutlich war es besser, ich fand das jetzt heraus als bei Lou Bigwood, obwohl ich mich auch vor Troy nicht gern blamieren wollte. Zögernd sagte ich: »Ein Straßenrennen. Ein HighwayRennen, um genau zu sein. Ich habe vor, während der Rushhour zwei Autos zu einem Wettrennen loszuschicken. Eins, in dem der Fahrer allein sitzt, und das andere mit einer Fahrgemeinschaft.« »Das verstehe ich nicht. Zur Rushhour hätte das nicht viel mit einem Rennen zu tun. Wie schnell könnten sie fahren -dreißig Kilometer in der Stunde?« »Das ist der springende Punkt. Der Fahrer, der allein unterwegs ist, müsste sich durch den Verkehr quälen. Die Fahrgemeinschaft könnte die Busspur benutzen. Sie würden mit ziemlicher Sicherheit gewinnen. Es wäre eine überzeugende Demonstration, dass man als Fahrgemeinschaft schneller vorankommt.« »Und das ist meine Idee? Mein Gott, ich bin tatsächlich ein Genie.«
»Finden Sie sie wirklich gut?« »Die Aufmerksamkeit der Medien ist Ihnen sicher. Glauben Sie mir, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Der Managerposten gehört Ihnen.« »Hoffentlich. Sie kennen sich mit Rennen aus. Ich weiß nicht, ob das auf meinen Boss auch zutrifft. Er versteht es vielleicht nicht.« »Wenn er ein Mann ist, dann versteht er es. Wir können nicht anders, wir stehen irgendwie unter dem Zwang, schnell zu fahren. Bier zu trinken. Kriege zu fuhren. Aber falls Sie Befürchtungen haben: Was halten Sie davon, wenn ich bei Ihrer Präsentation dabei bin? Wir könnten Ihrem Boss eine Live-Demonstration geben.« »Ist das Ihr Ernst?« »Klar, warum nicht? Ich fahre mit meinem Auto auf der normalen Spur, und Sie und Ihr Boss können die Busspur nehmen. Ich ziehe sogar meinen Rennfahreranzug an, um klarzustellen, dass Sie nicht gegen einen unbedarften Gegner antreten. Ich werde aussehen wie ein Profi.« Das klang zu schön, um wahr zu sein. Ich fragte mich, wo der Haken war. »Die Präsentation soll kommenden Freitag um drei stattfinden«, sagte ich vorsichtig und halb in der Erwartung zu hören, dass er keine Zeit hatte. »Ich werde kommen. Darauf können Sie sich verlassen.« Bester Laune drückte ich den Hebel des Spielautomaten ein zweites Mal nach unten. Ich
werde kommen. Darauf können Sie sich verlassen. Gab es, abgesehen von »Nein, nein, ich bestehe darauf, dass du das letzte Stück Schokolade nimmst«, noch etwas anderes, bei dem einer Frau so warm ums Herz wurde? Die Wärme hatte noch nicht nachgelassen, als Kitty und Gran aufkreuzten. »Hier steckt ihr!«, rief Gran. »Wir waren drüben bei den Zehn-Cent-Automaten. Ich habe fünfzehn Dollar abgestaubt. Das hättet ihr mal sehen sollen.« »Toll, Gran«, sagte Troy. »Aber vielleicht willst du deinen Gewinn beisteuern. June versucht, Geld zu gewinnen, um es zu spenden. Das ist nämlich«, setzte er beiläufig hinzu, »eine der Aufgaben auf der Liste. Marissa wollte eine große Summe für einen
wohltätigen Zweck spenden.« Ich funkelte ihn an hatte ihm niemand erklärt, dass es verboten war, den Elefanten zu erwähnen? »Oh, das ist wunderbar!«, rief Kitty aus. »Ma, wir müssen unseren Gewinn dazulegen!« In Anbetracht ihrer Erregung über die acht Dollar für das Sandwich erwartete ich, dass Gran Ausflüchte machen würde. Stattdessen sagte sie: »Zu dumm. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich zu den Vierteldollar-Automaten gegangen.« Kitty drehte sich zu mir. »Was für ein wohltätiger Zweck sollte es sein?« »Das hat sie nicht festgelegt. Aber hier sammeln alle möglichen Einrichtungen auf der Straße. Gab es eine, die Marissa besonders gut fand?« »Ihre Getränke!« Die Kellnerin kam mit Troys Bier und meinem Kaffee mit Schlagsahne und - ja! - einem Schirmchen. Während ich nach der Tasse griff und ein Trinkgeld auf das Tablett legte, hörte ich Kitty flüstern. »Ein Schirmchen.« »Hm?« Kitty sah plötzlich wieder genauso bleich und mitgenommen aus wie auf der Beerdigung. »Ein Schirmchen«, murmelte sie. »Marissa ... sie mochte diese Schirmchen so gern. Schon als kleines Mädchen, wenn wir im Restaurant waren, hat sie immer darauf bestanden, dass sie ihr einen in ihr Glas Milch steckten. Wer bekommt schon einen Kaffee mit Schirmchen? In irgendeinem exotischen Cocktail, ja, aber ... im Kaffee?« Tränen liefen ihr übers Gesicht, das vor meinen Augen zu schrumpfen und sich aufzulösen schien. Troy sprang auf und legte den Arm um sie. »Schon in Ordnung, Mom. Alles ist gut.« »Tut mir leid«, stotterte ich. »Ich wollte nicht ... ich meine, ich ...« Troy zog Kitty auf die Seite, um sie zu trösten, während ich hilflos dastand.
Gran seufzte. »Es ist also mal wieder so weit.« »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich hätte nicht ...« Was hätte ich nicht? Keinen Kaffee mit Schirmchen bestellen sollen? Wie hätte ich das wissen sollen? »Sie müssen sich keine Vorwürfe machen«, sagte sie. »Sie geben sich alle Mühe. Das wissen wir. Es ist nur so, dass einen manchmal irgendwelche Kleinigkeiten aus der Fassung bringen. Kitty kann sich ein Wochenende lang zusammenreißen, um sich eine Show von Wayne Newton anzusehen ... Übrigens, ich bin schon ganz aufgeregt. Ich bin sein größter Fan. Aber manchmal erwischt es einen eben kalt. Sie hat nicht mit diesem Schirmchen gerechnet. Wie hätte sie das tun können?« Gran ging zu Kitty, nahm sie beim Arm und führte sie weg. Troy kam zu mir. »Meine Mutter möchte auf ihr Zimmer.« »Natürlich.« »Sehen wir uns morgen?« »Sicher.« Eine weniger edelmütige Frau hätte vielleicht darauf hingewiesen, dass sich doch bestimmt auch Gran um Kitty kümmern konnte - dass ich allein war, wenn sie Troy mitnahmen. Ganz allein. In Vegas, umgeben von klingelnden Automaten und Menschen, die tranken und sich amüsierten. Ja, eine weniger edelmütige Frau hätte vielleicht Bedauern verspürt, dass ihr eine wilde Nacht mit Glücksspielen und einem verheißungsvollen Flirt entging. Sie hätte vielleicht darauf gepocht, dass Troy versprochen hatte, bei ihr zu bleiben und ihr zu helfen, eine Menge Geld zu gewinnen. Sie hätte sich vielleicht sogar ein wenig über den Anblick dieser drei Leute geärgert, die zum Aufzug gingen, während sie allein hier stand und das Geld einsammelte, das ihr Spielautomat ausspuckte. Die beiden Vierteldollarmünzen gaben ein leises PlingPling von sich, als sie in die Schale fielen. Die Anstrengungen dieses Tages machten sich jetzt bemerkbar und forderten ihren Tribut. Schlaf. Ich
brauchte Schlaf. Warum musste ich unbedingt heute spielen? Morgen ging es genauso gut. Bevor ich auf mein Zimmer ging, machte ich noch einen Abstecher zu den Pokertischen. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Mit irgendjemandem. Allmählich wurde mir klar, wie schwierig dieses Wochenende werden würde, und dieser Tatsache wollte ich nicht allein ins Auge blicken. Und da war Martucci. Ich war noch nie so froh gewesen, ihn zu sehen. »Martucci!« Er grunzte zur Begrüßung etwas Unverständliches in meine Richtung, ohne den Blick von den Karten in seiner Hand zu heben. Ich stellte mich hinter ihn. »Bist du die ganze Zeit hier gewesen? Wie läuft das Spiel? Gewinnst du? Ist das ein gutes Blatt, was du da hast?« Einer der anderen Spieler kicherte. Martucci nahm einen 25-Dollar-Chip von dem Stapel vor ihm und gab ihn mir. »Wofür ist das?«, fragte ich. »Geh und spiel irgendwo.« »Wa-?« Er sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Parker, ich bin hier mitten in einem Spiel.« »Schon gut, schon gut.« Ich stampfte davon und hielt Ausschau nach Brie. Als ich sie nirgends entdecken konnte - bitte, lieber
Gott, lass keine Socke an der Tür hängen, wenn ich nach oben komme -, gab ich auf. Es war an der Zeit, dass ich die Augen zumachte und es für diesen Tag gut sein ließ. Es war nur vernünftig. Schadensbegrenzung. Auf dem Weg zum Aufzug kam ich an dem Roulettetisch vorbei, an dem ich zuvor mein ganzes Geld verloren hatte. Ein neuer Croupier hatte seinen Dienst angetreten, und die Single-Mädchen waren längst weitergezogen. Der einzige Spieler am Tisch war der Betrunkene, dessen Chipsberg zu einem armseligen Häufchen geschrumpft war. Ach, zum Teufel. Der Croupier drehte die Roulettescheibe, und bevor die Kugel fiel, setzte ich Martuccis Chip. Auf die 27. Marissas Geburtstag. Als
die Kugel über das Rad klickerte und der Croupier die Hand hob, um zu zeigen, dass keine Einsätze mehr angenommen wurden, fiel es mir siedend heiß ein. Mist! Sie hatte am 28. Geburtstag! Ich hatte auf
die falsche Zahl gesetzt! »Es gewinnt die Zahl siebenundzwanzig!«, verkündete der Croupier. Ich hatte gewonnen. Niemand war da, der mir zujubelte. Der Betrunkene bekam es nicht einmal mit. Noch nie hatte ich einen solchen Haufen Geld gewonnen, aber ich empfand seltsamerweise überhaupt nichts. Als ich damals auf der Weihnachtsfeier im Büro bei der Tombola einen Kaffeebecher gewonnen hatte, hatte ich mich mehr gefreut. Der Croupier schob mir neun Hundertdollarchips zu. Ich war oft genug in Las Vegas gewesen, um zu wissen, dass es nicht schwer sein würde, meinen Gewinn loszuwerden. Ich ging hinaus auf die Straße, wo selbst zu dieser späten Stunde immer noch Massen von Menschen unterwegs waren. Die warme Nachtluft umfing mich wie eine Decke. Ich hatte mich kaum einen Schritt vom Casino-Eingang entfernt, als ich eine Nonne in Ordenstracht sah, die eine Sammelbüchse mit der Aufschrift »Helfen Sie misshandelten Kindern« in der Hand hielt. •Sind Sie eine echte Nonne?«, fragte ich sie. Es trieben sich sehr viele Schwindler hier herum, aber andererseits gab es auch jede Menge seriöse Wohltätigkeitsorganisationen, die darauf bauten, dass die Leute hier schnell jegliche Vorstellung vom Wert eines Dollars verloren. »Ja, ich gehöre zur St.Thomas-Gemeinde hier in der Stadt.« Ein paar Schritte weiter stand ein Polizist, was ich als gutes Zeichen wertete. Je früher ich meine milde Gabe loswurde, desto früher konnte ich außerdem die Aufgabe auf meiner Liste durchstreichen und hatte mein Tagwerk vollbracht. Das war ein genauso guter Grund wie jeder andere, ihr zu vertrauen.
Ich hielt die Chips in die Höhe. »Nehmen Sie so was auch?« »Aber natürlich.« »Dann, Schwester«, sagte ich, »ist heute Ihr Glückstag.« Ich warf die Chips einen nach dem anderen in die Sammelbüchse. »Gott segne Sie, mein Kind.« »Prima, ich kann jede Hilfe brauchen.«
20
Es
war eins, als wir zum Swimmingpool kamen. Vorher hatten wir ausgeschlafen und ausgiebig gefrühstückt. »Mein Gott, hier geht's ja zu wie auf dem Rummelplatz!«, rief Kitty, als sie sich umsah. Zu meiner Erleichterung war sie wieder ganz sie selbst wenigstens äußerlich. Es war so schwül, dass man in der stehenden Luft beinahe die Klangwellen der Calypsomusik sehen konnte. Durch ein Meer von Körpern bahnten wir uns den Weg zu ein paar Liegestühlen neben dem Pool. Brie hatte sie für uns reserviert, bevor sie morgens um acht in unser Zimmer gestolpert war und mich geweckt hatte, um mir mitzuteilen, dass ich eine Wahnsinnsparty im Hard Rock verpasst hätte. Jeder suchte sich ein Plätzchen, und ich fand mich zwischen Martucci und Kitty wieder. Troy belegte den Stuhl neben seiner Mutter, und Brie landete ganz am Ende der Reihe. Gran hatte beschlossen, auf ihrem Zimmer ein Nickerchen zu machen, statt sich Sonnenflecken zu holen und in der Hitze einen Schlaganfall zu riskieren; eine Entscheidung, die wir nur gutheißen konnten. Brie ließ sich bäuchlings auf ihren Liegestuhl fallen. »Weckt mich in einer Stunde auf. Damit ich mich umdrehe.« Ich zog mich bis auf den Badeanzug aus und beugte mich nach unten, um mein Buch aus der Tasche zu fischen. Martucci gab mir einen Klaps auf den Hintern. »He, was soll das!«, protestierte ich.
»Das, Leute, ist das Ergebnis eines professionellen Trainings!«, brüstete er sich lautstark. »Dieser Körper ist allein mein Werk.« Bevor ich Martucci eine scheuern konnte, bemerkte Kitty: »Der liebe Gott hatte vielleicht auch ein bisschen die Hand im Spiel.« »Na dann, gelobt sei der Herr«, sagte Troy. Seine Mutter versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. »Zeig gefälligst ein bisschen mehr Respekt, junger Mann.« »Ich dachte, das hätte ich getan«, sagte er lachend und zwinkerte mir zu. Langsam drängte sich mir die Frage auf, ob ich hier nicht vielleicht in meiner persönlichen Hölle gelandet war: Da flirtete ein kluger, gut aussehender, humorvoller Mann ununterbrochen mit mir, ohne dass jemals etwas dabei herauskam. Seine Mutter stand buchstäblich zwischen uns. Und jetzt bat mich Martucci auch noch, ihm den Rücken einzucremen. »Normalerweise finde ich ja, Sonnencreme ist was für Mädchen«, erklärte Martucci und hielt mir die Flasche vor die Nase. »Aber dieser Wüstensonne traue ich nicht. Sie kann die Haut zerstören.« Er drehte sich auf den Bauch. Zwischen seinen Schulterblättern hatte er die Tätowierung eines Adlers, der mit den Flügeln zu schlagen schien, als der Rücken sich streckte. Typisch. Ein paar Meter weiter weg befand sich ein Rücken, den ich mit Wonne eingecremt hätte, aber stattdessen musste ich mich Martucci widmen. Es ekelte mich, als ich seinen Zopf zur Seite schob. »Fertig«, erklärte ich wenige Sekunden später, obwohl sein Rücken noch weiß von der Creme war, die ich kaum verstrichen hatte. Ich nahm mein Buch — eine wunderbar schlechte Schmonzette, die ich im Supermarkt gekauft hatte — und machte es mir auf meinem Liegestuhl bequem. »Wollen Sie sich nicht eincremen?«, fragte Troy. »Genau«, mischte Martucci sich ein. »Ich hätte so gern zugesehen, wie du an dir rumrubbelst.« Grrr! »Martucci, du bist wirklich ein Widerling. Ich hab
mich schon auf dem Zimmer eingecremt. Das ist nämlich gesünder. Deshalb wirst du gerade geröstet, während ich, weise wie ich bin, nur so viele Sonnenstrahlen an meine Haut lasse, dass sie einen goldenen Schimmer bekommt.« Dann verschanzte ich mich hinter meinem Buch, um zu zeigen, dass die Unterhaltung beendet war. Martucci schlief beinahe genauso schnell ein wie Brie. Ich versuchte zu lesen, wurde aber dadurch abgelenkt, dass Troy sich auf den Rücken drehte, seinen Liegestuhl zurechtrückte, seufzte, hustete und sich wieder auf den Bauch drehte. Schließlich setzte er sich auf und sagte: »Wie lange wollen wir eigentlich hier herumliegen?« »Wir sind doch erst ein paar Minuten da«, sagte ich. »Es ist so heiß. Es kommt mir vor wie Stunden.« »Das liegt nicht an der Hitze«, Kitty blickte von ihrer Zeitschrift auf. »Er ist immer so. Der Junge kann einfach nicht stillsitzen.« »Kann ich wohl«, sagte er und stand auf. »Ich glaube, ich schwimme mal eine Runde.« »Sehen Sie?«, sagte Kitty und grinste. Ich sah ihm über den Rand meines Buchs hinweg nach, als er zum Becken ging und mit einem Kopfsprung ins Wasser tauchte. Dann fing er an zu kraulen, was bei den vielen herumplanschenden Kindern und den Leuten, die auf Luftmatratzen auf dem Wasser schaukelten, vermutlich ähnlich viel Spaß machte, als würde man über ein Minenfeld joggen. »Es ist so schön, ihn schwimmen zu sehen«, sagte Kitty. »Wir wussten ja nicht, ob er jemals wieder dazu in der Lage sein würde. Er hat Ihnen von seinem Motorradunfall erzählt, oder?« Ich ließ das Buch sinken. »Er hat von einem Sturz geredet«. »Ha! Sturz! Die Narbe ist nur eine schwache Erinnerung an das, was er durchgemacht hat. Er konnte ein Jahr lang nicht gehen, und dann hat er noch eine Ewigkeit gehinkt. Hat er Ihnen das auch erzählt?« Ich schüttelte den Kopf.
»Mit dem Jungen hatte ich keine ruhige Minute, das kann ich Ihnen sagen«, sagte sie und kicherte. »Ich dachte immer, wir haben Glück, wenn wir beide noch seinen achtzehnten Geburtstag erleben.« »Ja, er hat mir erzählt, dass er immer dachte —« Ich hielt abrupt inne. Die ungesagten Worte hingen in der Luft, und ich hoffte, dass Kitty nicht weiter darauf eingehen würde, aber sie beendete meinen Satz. »Dass er vor Marissa sterben würde.« »Tut mir leid. Ich wollte nicht von ihr anfangen. Schließlich sind wir hier, damit Sie ein bisschen Spaß haben.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich spreche gern von Marissa. Es ist merkwürdig, dass sich die Leute nicht trauen, ihren Namen zu erwähnen. Als würden sie mich daran erinnern, dass sie nicht mehr lebt, indem sie ihn aussprechen. Als ob ich mir dessen nicht jede Sekunde bewusst wäre.« »Es muss sehr schwer für Sie sein.« »An manchen Tagen ist es einfacher als an anderen.« Sie lächelte mir aufmunternd zu. »Heute ist ein solcher Tag.« Ich schwieg einen Moment. »Würde es Ihnen etwas ausmachen«, setzte ich dann vorsichtig an, meine Worte sorgfältig wählend, »wenn ich Sie frage, wie Marissa war? Alles, was ich von ihr weiß, ist das, was auf der Liste steht. Und ein paar Dinge aus den Jahrbüchern, die Troy mir überlassen hat. Ich wüsste gern mehr über sie.« »Ich erzähle Ihnen liebend gern von ihr. Sie war ein sehr fröhliches Mädchen, müssen Sie wissen. Sie hat sich nie unterkriegen lassen. Witzig. Gescheit. Und sie hatte viele Hobbys — ich erinnere mich, dass sie eine Zeit lang mit Begeisterung genäht hat. Sie hat alle Vorhänge in unserem Haus genäht. Ein anderes Mal war sie Feuer und Flamme für Modellflugzeugbau. Und sie liebte Kinder. Sie sagte immer, sie würde ein ganzes Haus voller Kinder adoptieren, wenn sie erwachsen wäre - Sie wissen schon, arme Kinder, die sonst niemand will. Ich glaube, sie hatte eine Schwäche für die Benachteiligten unserer Gesellschaft. Vielleicht haben sie all die Jahre, in denen sie so viel Übergewicht
hatte, sensibel gemacht. Mit einem Wort, sie war ein echtes Goldstück. Ich nehme an, das sagt jede Mutter von ihrer Tochter, aber Marissa war es wirklich. Sie hat immer an andere gedacht. Sie wollte helfen.« Ja, das Letzte kam mir bekannt vor. »Wussten Sie, dass eine der Aufgaben, die Marissa auf ihre Liste gesetzt hat, lautete, das Leben von jemandem zu verändern?« Kitty lächelte. »Davon hat Troy mir nichts gesagt, aber es passt zu ihr. Er hat erwähnt, dass eine der Aufgaben war, in einem Hubschrauber zu fliegen ... und sich eine Massage geben zu lassen ... und abzunehmen, natürlich. Und noch ein paar andere. Soweit ich weiß, waren es insgesamt zwanzig Aufgaben, oder?« Ich nickte. »Ich habe die Liste nicht bei mir, aber sie ist oben in meinem Zimmer. Ich könnte schnell hinauflaufen und sie holen, wenn Sie möchten —« »Nein, nein«, unterbrach sie mich. »Ehrlich gesagt, würde ich sie lieber erst lesen, wenn alles erledigt ist.« »Dann hoffen wir mal das Beste«, sagte ich. »Was wollen Sie damit sagen - ist es schwierig?« »Nein. Aber es ist sicher auch nicht einfach. Einige der Aufgaben sind ganz schön knifflig.« »Zum Beispiel, mit ihrer verrückten Familie nach Las Vegas zu fahren?«, fragte Kitty spöttelnd. »Nein, das ist gar nicht schwer. Bis jetzt ist es richtig schön. Und ehrlich gesagt, ich habe das auch gebraucht.« »Aha. Und warum?« »Ich glaube, ich habe in letzter Zeit an gar nichts anderes mehr gedacht als daran, alles rechtzeitig hinzukriegen. Ich war völlig versessen darauf, möglichst schnell einen Punkt nach dem anderen abzuhaken. Ich wünsche mir so sehr, dass ich es schaffe. Aber jetzt mit Ihnen hier zu sein, das wirft ein anderes Licht auf die Sache. Jetzt weiß ich wieder, warum ich diese Liste überhaupt abarbeite.« Sie drehte sich auf ihrem Liegestuhl zu mir herum. »Warum tun Sie es?«
Da war sie, die Eine-Million-Dollar-Frage. Ich beschloss, ehrlich zu sein, da wir nun schon einmal so ein trautes Gespräch führten. »Ich glaube, am Anfang hatte es vor allem damit zu tun, dass ich mich so furchtbar schuldig gefühlt habe.« »Der Unfall war nicht Ihre Schuld, June.« Ich zuckte mit den Schultern. Wie sollte ich es ausdrücken? Es ging nicht darum, dass ich mich schuldig fühlte, weil ich dem Schrank ausgewichen war und das Auto sich dabei überschlagen hatte. Oder weil ich sie um dieses blöde Rezept gebeten hatte und sie deswegen nicht angeschnallt gewesen war. Oder weil ich Marissa überhaupt angeboten hatte, sie mitzunehmen. Zugegeben, ich verbrachte viel Zeit damit, über all das nachzudenken, aber das war nicht der eigentliche Antrieb. Es hatte mehr damit zu tun, dass zwei Frauen einen Unfall gehabt hatten und ich mich des Verdachts nicht erwehren konnte, dass die Falsche mit dem Leben davongekommen war. »Ich möchte etwas wiedergutmachen. Das ist alles. Ich weiß, es ist nicht viel, was ich tue, und es ändert nichts, aber —« »Es ist sehr viel. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel es uns bedeutet. Uns allen. Troy redet ununterbrochen davon, wie beeindruckend er es findet, was Sie auf sich nehmen.« »Das freut mich.« »Ich will Sie wirklich nicht unter Druck setzen, aber nachdem wir jetzt wissen, dass ihr 25. Geburtstag so wichtig für sie war, haben wir beschlossen, eine kleine Party für Marissa zu veranstalten. Im Oasis, dieser Bar, in die sie so gern gegangen ist. Nichts Besonderes. Aber wir würden uns freuen, wenn Sie kämen. Bringen Sie die Liste mit. Ansonsten können Sie mitbringen, wen Sie wollen.« »Ich komme sehr gern. Und die Liste sollte bis dahin erledigt sein. Sie wird erledigt sein. An diesem Tag endet die Frist.« »Ja, das habe ich mitbekommen.« Sie machte eine kurze Pause. »Wissen Sie, ich hatte keine Ahnung,
dass sie eine Liste gemacht hat. Sie war überhaupt kein verschlossener Mensch.« Weil mir der traurige Ausdruck nicht gefiel, der Kittys Gesieht plötzlich verdüsterte, sagte ich schnell: »Vielleicht waren ihr einige der Dinge, die sie aufgeschrieben hat, peinlich. Eine der Aufgaben bestand darin, die heißeste Frau in einer Kneipe zu sein. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber das gehört nicht unbedingt zu den Dingen, die man seiner Familie auf die Nase bindet. Eine andere Aufgabe war, sexy Schuhe zu tragen.« »Das erklärt einiges!« Kitty lachte. »Wir konnten uns nämlich beim besten Willen nicht erklären, warum sie mit diesen silbernen Sandalen herumgelaufen ist. Das war so gar nicht ihr Stil. Andererseits«, fuhr sie aufseufzend fort, »kann man es wissen? Sie war so schlank geworden. Es gab vermutlich eine ganze Menge Dinge, die sie ausprobieren wollte.« Mein Magen zog sich zusammen, aber in Kittys Stimme schwang nichts Anklagendes mit, als sie weitersprach. »Ich weiß, June, ich habe eben gesagt, dass ich die Liste jetzt noch nicht sehen will, aber sagen Sie mir eins: Steht auch etwas drauf, das mit Liebe zu tun hat?« Ich ging die Liste im Geist durch. »Eigentlich nicht. Allerdings bestand eine der Aufgaben darin, zu einem Blind Date zu gehen.« »Wirklich? Und, haben Sie das gemacht?« »Ja. Es stellte sich heraus, dass der Mann schwul ist.« »Wie komisch! Ich frage mich, wie es gewesen wäre, wenn Marissa Gelegenheit gehabt hätte, die Liste selbst abzuarbeiten. Hätte sie bei diesem Date einen Mann kennen gelernt, in den sie sich verliebt hätte? Vielleicht sogar die Liebe ihres Lebens?« »Oh, Kitty ...« Sie lächelte mich beruhigend an. »Das ist eine schöne Vorstellung. Sie gibt mir das Gefühl, dass sie hier bei uns ist.« »Falls es ein Trost für Sie ist: Ich bin überzeugt, dass Marissa bei ihrem Blind Date mehr Glück gehabt hätte.« Daraufhin deutete Kitty mit dem Kopf auf Martucci, der so laut schnarchte wie ein ganzer Lkw-
Konvoi. »Was ist mit Ihnen beiden? Läuft da irgendetwas?« »Zwischen Martucci und mir? Ganz und gar nicht. Wir sind nur Freunde.« »Ich finde, er sieht gut aus«, sagte Kitty. »Finden Sie nicht, dass er gut aussieht?« »Wir sind Arbeitskollegen. Das ist alles.« Mein Blick wanderte zu Troy. Er saß am Beckenrand und warf ein paar Kindern einen Ball zu. Mir lief geradezu das Wasser im Mund zusammen. Er sah verdammt appetitlich aus, und es war lange her, dass ich einen Mann vernascht hatte. »Wie schade«, sagte Kitty und griff nach ihrer Zeitschrift. »Nennen Sie es mütterliche Intuition, aber ich könnte schwören, dass Liebe in der Luft liegt.« Nachdem wir uns zum vereinbarten Termin ins Spa begeben und die weißen Bademäntel angezogen hatten, die man uns dort gab, saßen Brie, Kitty, Gran und ich in der Lounge und warteten darauf, dass man uns zu unserer Massage rief. Der Raum war in beruhigenden Grüntönen gehalten, und es duftete schwach nach Eukalyptus. Es war kaum zu glauben, dass wir uns im gleichen Gebäude befanden wie das Casino mit seinen bunten Lichtern und dem Rattern der Automaten. Ich genoss die friedliche Stimmung ... bis ein Mann den Raum betrat. Ich sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel, dass er nicht mein Masseur war. Ich hatte mich noch nie zuvor in die Hände eines Masseurs begeben, und der hier sah aus, als könnte er mich knicken wie einen trockenen Zweig. Er war sah aus wie ein Olympiaschwimmer mit seinen breiten Schultern und schmalen Hüften. Seine taillenlangen schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und seine makellosen Gesichtszüge wirkten wie aus Granit gemeißelt. Wenn mir dieser Mann in einer dunklen Gasse begegnet wäre, wäre ich in Ohnmacht gefallen.
Bitte sag nicht meinen Namen ...
»June Parker?« Ein sanftes Dröhnen erfüllte die Luft.
Na toll. »Das bin ich«, sagte ich, stand auf und zog den Bademantel fester um mich. Meine Begleiterinnen kicherten und murmelten beifällig. »Mit dem hat sie den Jackpot gewonnen. Was für ein Gesicht. Wie ein griechischer Gott!« »Schau dir diese Hände an!« »Wie von einem Catcher.« »Ich habe noch nie so große Hände gesehen.« »Und wie heißt es so schön ...« »Das sagt man von der Nase.« »Und wenn schon. So beeindruckend, wie der von vorne aussieht, kann ich mir vorstellen -« Brie gab mir einen Schubs. »Jetzt geh endlich. Wir wollen ihn von hinten sehen.« Ich winkte ihnen zum Abschied zu. Sie lächelten wie stolze Mütter, die ihre Tochter losschicken, damit sie sich nackt den Händen eines Wildfremden ausliefert. Er sagte, er heiße Runner, und führte mich in einen schwach beleuchteten Raum, der kaum groß genug für den Massagetisch war. Dann ging er hinaus, während ich mich auszog und mit dem Gesicht nach unten unter das Tuch auf dem Tisch legte. Als er zurückkam, verhielt er sich ausgesprochen professionell. Ich wünschte, ich hätte das Gleiche von mir behaupten können. Aber je genauer ich ihn mir ansah, desto mehr geriet ich ins ... na ja ... Grübeln. »Mögen Sie es lieber hart oder weniger hart?«, fragte er in aller Unschuld. »Hart«, presste ich hervor, nicht ganz so unschuldig. »Okay. Sagen Sie Bescheid, wenn es Ihnen zu viel wird.« Er begann, mit festen, langsamen Bewegungen meinen Rücken und meine Schultern zu massieren. Ich konnte ihn atmen hören. Er achtete darauf, dass ich bedeckt blieb. Ich fühlte, wie seine Hüfte an mir entlangstrich, aber es war alles ganz korrekt und anständig und distanziert und, verdammt, ich war so scharf. Es ließ sich nicht leugnen. Die Kerzen ... die leise Musik ... die starken
Hände eines Mannes, die mich kneteten und rieben ... die heiseren Laute, die er dabei von sich gab. Wie hätte ich da keine unanständigen Gedanken haben sollen? Auch wenn ich entsetzt gewesen wäre, wenn seine Hände tatsächlich auf Abwege geraten wären, konnte ich mich doch der Fantasie hingeben, wie es wäre, wenn ... Er zog das Tuch zurecht und stieß seine Finger in meine Oberschenkel. Ich konnte nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken. Ich fragte mich, wie viele Frauen ihm einen Schein in den Hosenbund steckten und um eine Massage »mit allem Drum und Dran« baten. Ich fragte mich, ob er ja sagte. Und wie viel würde es kosten? Nicht dass ich daran interessiert gewesen wäre. Bloß neugierig. Er sagte, ich solle mich auf den Rücken legen, und dann bedeckte er meine Augen mit einem kühlen Tuch. Meine Gedanken schweiften ab, zuerst zu meiner Arbeit ... dann zu der Liste ... und dann zu Troy Jones, wie er im Pool schwamm und bei jedem Schwimmzug die Muskeln an seinem Rücken spielten. Wie er sich das Wasser aus den Haaren geschüttelt hatte, nachdem er aus dem Becken gestiegen war, und die Badehose ihm an der Haut klebte. Bei der Erinnerung musste ich einen Seufzer ausgestoßen haben, denn Runner murmelte: »Fühlt sich das gut an?« Seine Hände packten meine Hüften, bewegten sich mit festem Griff auf und ab, was mich wieder in die Gegenwart zurückbrachte. »Hm, hm.« »Gut.« Er machte weiter, und all das Kneten und Reiben und Drücken ließ ein tiefes Keuchen aus seiner Kehle aufsteigen. Ich versuchte, das zu tun, was Männer tun, um ihre Erregung im Zaum zu halten, und dachte an etwas Neutrales wie Einkaufen - ich stellte mir vor, bei Pottery Barn die Teller zu kaufen, die mir so gut gefielen —, als ich merkte, dass Runner die Stellung wechselte und jetzt hinter meinem Kopf stand. »Wir sind fast fertig«, sagte er. Ich spürte, wie er eine Hand gegen meine rechte Schläfe presste. Dann die andere Hand gegen meine linke Schläfe. Dann drückte er mit der dritten Hand fest gegen meinen Scheitel.
Mit der dritten Hand? Ich erinnerte mich genau daran, dass er zu Beginn der Massage nur zwei Hände gehabt hatte, also was drückte er dann gegen meinen Kopf? O mein Gott - es war sein Penis. Er presste seinen steifen Schwanz gegen mich. Ich spürte ihn über meine Kopfhaut reiben, in festen kleinen Kreisen. Ich musste Signale ausgesandt haben. Er dachte wahrscheinlich, ich würde es genießen! Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Natürlich, wenn ich ihn darum gebeten hätte -
würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihre pulsierende Männlichkeit an mir zu reiben? —, aber das hatte ich nicht getan. Wenn der Typ dachte, dass er danach die vollen fünfzehn Prozent Trinkgeld bekommen würde ... Ich musste etwas sagen. Ihm klarmachen, dass er zu weit ging. Denn obwohl ich nach wie vor unter dem Tuch lag, fühlte ich mich nackt. Ausgeliefert. Wie
konnte er nur? Er gab einen Laut von sich ... mmmm ... und ich lag einfach da, mit einem Tuch über den Augen, und tat nichts. Ich musste ihm eine Ohrfeige verpassen, das war ja wohl das Mindeste. Oder ihn bei der Geschäftsführung melden! Ich nahm all meinen Mut zusammen, entfernte das Tuch und öffnete die Augen. Und da sah ich, dass er gar nicht seinen Penis gegen mich drückte. Er stand nicht einmal hinter mir. Er stand neben mir. Eine seiner riesigen Hände lag über meinem Gesicht und umfasste meine beiden Schläfen gleichzeitig. Und das hieß, dass seine andere Hand frei war und er sie mir auf den Kopf legen konnte. »Wie war das?«, fragte er und lächelte mich freundlich an. »Großartig«, sagte ich und versuchte, dabei nicht rot zu werden.
War es meine Schuld, dass der Mann abartig große Hände hatte? Jeder an meiner Stelle wäre demselben Irrtum erlegen. Als ich mir den Bademantel überwarf, wieder hinauf auf mein Zimmer ging und mich zum Abendessen umzog, dämmerte mir, dass all die aufgestaute sexuelle Energie dringend ein Ventil brauchte. Und ich wusste auch schon genau, wie das Ventil aussah. Es kam mir beinahe ungerecht vor, dass ich nicht sofort Troy Jones anrief, um ihm das Startsignal zu geben.
31
Das ist Ihr Motorrad?« »Stimmt was nicht damit?«, fragte Troy und drückte mir einen Helm in die Hand. »Und wo soll ich sitzen?« »Ich merke schon, Sie sind Besseres gewöhnt.« Dann klopfte er auf die hintere Hälfte der nicht gerade langen Sitzbank. »Sie sitzen hier. Das ist genug Platz.« Als Troy mir angeboten hatte, mich auf seinem Motorrad mitzunehmen, hatte ich ihm gesagt, ich hätte Erfahrung als Beifahrerin. Bis zu dem Hotel, in dem Wayne Newton auftrat, waren es nur ein paar Kilometer. Wir hätten zwar bei Kitty und Gran im Taxi mitfahren können, aber sie wollten möglichst früh am Büffet erscheinen, das ich wiederum zugunsten eines Nickerchens und eines Automatensandwichs auslassen wollte. Außerdem meinte Troy, dass er Lust auf eine kleine Spritztour hätte. »Lust« war mein Stichwort, und so nahm ich sein Angebot bereitwillig an. Was ich in diesem Moment zu bereuen begann . Dieses Motorrad sah völlig anders aus als das von Phyllis. Wo war mein
Wohnwagen auf zwei Rädern? Wo war meine Rückenlehne? Wo meine gepolsterten Armstützen? Bei der ersten Bodenwelle würde ich herunterrutschen. Troy half mir, den Helm zu schließen, dann schwang er sich auf die Maschine. Ich nahm in schicklichem Abstand Platz. Als ich hinter mir nach der Sitzbank tastete, griff ich ins Leere. Mein Hintern schwebte über dem Abgrund. Warum musste ich auch diese alberne glänzende Hose anziehen? Sicher, sie stand mir und sie war silbern ... und ich hatte sie mit einem schwarzen Stretch-Top und High Heels kombiniert. Passend zu Las Vegas - ein bisschen trashig, ein bisschen glitzrig. Aber ich hätte besser etwas mit Bodenhaftung tragen sollen. Gummi. In meinem Schrank hätte sich sicherlich etwas aus Gummi gefunden. Und Brie hätte garantiert etwas gehabt. Troy ließ den Motor an, und ich zuckte zusammen. Es war völlig verrückt - ich würde ein Taxi nehmen. Ich wollte gerade absteigen und Troy sagen, dass sein Motorrad zu klein für uns beide war, als er nach hinten griff. Er drückte mich fest an sich. Dann nahm er meine Arme und legte sie sich um die Taille. »Ich will ja niemanden verlieren«, sagte er. Oh. Das fühlte sich schon besser an. Wir fuhren aus der Parkgarage und bogen in eine Nebenstraße, und mir fiel ein, was Phyllis gesagt hatte, dass ich nämlich eine gute Beifahrerin sei. Troy beugte sich nach vorne und ich beugte mich mit ihm nach vorne. Völlig selbstverständlich. Dawar Eintracht. Da war Vertrauen. Da waren meine Brüste und meine Schenkel, die sich an ihn pressten, und seine festen Muskeln unter meinen Händen. Wie zufällig wanderten meine Hände hoch zu seiner Brust. Aber nicht allzu lüstern.
Nur so, dass man glauben konnte, ich suchte nach einem sicheren Halt. Der Verkehr auf dem Las Vegas Boulevard bewegte sich im Schritttempo, und wir schlängelten uns an den stehenden Autos vorbei. Es war praktisch - auch deshalb, weil wir zu spät losgefahren waren. Die Sonne stand niedrig und tauchte alles in ein glühendes Licht, das mit den Lichtern der Casinos wetteiferte. Meine Hormone tanzten. Weil Troy so nah war ... und ich ein bisschen Angst hatte ... und seinen Geruch nach Seife und Hitze einatmete ... und die feuchte Abendluft ... und das Vibrieren des Motorrads unter mir ... In diesem Augenblick sprang die Ampel vor uns auf Rot. Troy hielt das Motorrad mit einem Bein im Gleichgewicht und drehte sich zu mir um. »Und, wie ist es -«, setzte er an, aber ich hatte keine Lust auf Konversation. Ich hatte keine Lust mehr, schüchtern zu sein. Es war an der Zeit, in die Gänge zu kommen. Ich schob zuerst das Visier meines Helm nach oben und dann seines. Dann umfasste ich seinen Nacken und zog ihn zu mir, bis unsere Lippen miteinander verschmolzen - zumindest hatte ich das vorgehabt. Aber bevor ich meinen Mund auch nur in die Nähe von seinem gebracht hatte, stießen unsere Helme aneinander. Er lachte, und ich fluchte, neigte meinen Kopf ein wenig zur Seite, vielleicht würde ja dann ... »Es geht nicht«, sagte er und öffnete den Verschluss seines Helms. »Aber ich muss sagen, deine Herangehensweise gefällt mir.« Die Autos um uns herum fuhren an. Hinter uns hupte ein Geländewagen. »Es ist grün«, sagte ich enttäuscht.
»Mhm, mhm.« Er nahm seinen Helm ab, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Die Leute hupen schon.« »Sollen sie doch.« Er machte Anstalten, mir meinen Helm abzunehmen. »Nein!«, protestierte ich lachend. »Bist du verrückt? Die Ampel ist grün! Wir stehen mitten auf der Straße, wir blockieren den ganzen Verkehr!« Troy seufzte, drehte sich aber dennoch nicht nach vorn. Seine Hand glitt über meinen Rücken und verharrte an der Stelle zwischen Top und Hose, wo ein Streifen nackter Haut hervorsah. Da mein Mund hinter dem Helm immer noch unerreichbar war, drückte er einen sanften Kuss auf meine bloße Schulter. Ließ seine Lippen zu meinem Hals hochwandern. Ich spürte seinen heißen Atem, als er murmelte: »June, du hast ja keine Ahnung ...« Und ob ich eine Ahnung hatte. Ganz gegen meine Gewohnheit, mich in mein Schneckenhaus zurückzuziehen, streckte ich furchtlos meine Fühler aus. Mehr noch, ich warf mein Häuschen ab und reckte und streckte mich befreit und selig. Wenn da nicht der Geländewagen gewesen wäre, der langsam auf uns zurollte. Und die Show, die bald anfangen würde. »Wir müssen wirklich weiter.« »Du hast Recht. Aber ich warne dich. Ich bin ein Mann, der zu Ende bringt, was er einmal begonnen hat. Und das heißt, dass diese wunderbaren Lippen ...«, er berührte meinen Mund zärtlich mit den Fingerspitzen, »mir gehören.« Eine Viertelstunde vor Beginn der Show trafen wir auf dem für Motorräder reservierten Parkplatz vor dem Hotel ein. Troy schloss die Helme am Motorrad fest, und wir eilten im Laufschritt ins Casino. Kitty
und Gran hatten zwar bestimmt schon ihre Karten an der Kasse abgeholt, aber ich wollte nicht, dass sie den Anfang der Show verpassten, nur weil sie auf uns warten mussten. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal wegen eines Konzerts von Wayne Newton Seitenstechen bekomme«, ächzte Troy. Kitty erwartete uns vor dem Eingang zum Saal. »Da seid ihr ja! Wir haben langsam angefangen, uns Sorgen zu machen. Ma ist schon reingegangen.« Sie gab uns die Eintrittskarten und scheuchte uns durch den Vorhang an der Tür. Auf dem Weg zu unseren Plätzen berichtete sie uns von dem Büffet und den Leuten, mit denen sie beim Anstehen ins Gespräch gekommen war, und den »Waynabelia« - das heißt, den Wayne-NewtonMemorabilien —, die sie erstanden hatten. Wir hatten einen Tisch genau in der Mitte neben einem Raumteiler. Die Bühne war relativ weit weg, aber wir hatten freie Sicht. Kitty und Gran saßen nebeneinander an der einen Seite des Tischs, und Troy und ich nahmen gegenüber Platz. Der Tisch stand voll mit Getränken. »Du hast wohl Durst, Gran«, witzelte Troy. »Haha. Wir haben uns erlaubt, für euch beide mitzubestellen«, sagte sie. »Jeder bekommt zwei Gratisgetränke. Ich dachte, wenn wir nicht gleich bestellen, sehen wir die Kellnerin vielleicht nie wieder. Also, greift zu.« Kitty nahm einen bunten Cocktail — ohne Schirmchen, schoss es mir durch den Kopf - und sagte: »Einen Toast.« Jeder von uns nahm einen Drink. Ich hob eines der beiden riesigen Gläser mit Weißwein in die Höhe und sagte: »Darauf, dass man seine Träume wahr macht.« »Genau«, rief Gran, und wir stießen an. Gran und Kitty blätterten die Las-Vegas-Führer durch, die sie gekauft hatten, während ich mich im Saal umsah.
Troy und ich waren offenbar die jüngsten Gäste. Der Saal war gesprenkelt mit grauen und kahlen Köpfen ein Berberteppich aus gealterten Fans. Vorne bei der Bühne stieß ein Mann im Takt der Musik aus den Lautsprechern seine Krücke in die Luft. Ich beugte mich zu Troy und sagte: »Hat Wayne Newton nicht diese tolle Cover-Version von >Pump me up< von Will Smith gemacht?« »Wo du gerade davon sprichst«, sagte er lässig. »Der Sender veranstaltet ein Riesenkonzert. Am zwanzigsten August. Will Smith tritt auf. Hast du Lust zu kommen?« »Gerne!« »Dann haben Verabredung.
wir
eine
Verabredung.«
Eine
Aber war da nicht irgendwas am Zwanzigsten? Ich hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzugrübeln, weil ein Conferencier auf die Bühne trat, der uns begrüßte und aufforderte, den berühmten Mr. Las Vegas mit einem großen Applaus zu empfangen. Ein Aufschrei ging durch den Saal, als die Bühnenbeleuchtung aufflammte. Die Leute räusperten sich ein letztes Mal, dann wurde es still. Es war erstaunlich, welche Bühnenpräsenz Wayne Newton entfaltete. Er sah genauso aus, wie ich ihn aus dem Wachsfigurenkabinett in Hollywood in Erinnerung hatte, bis hin zu den schwarzen Haaren und den aufgemalten Augenbrauen. Gebannt verfolgte ich, wie er sich stimmlich gegen sein zwölfköpfiges Begleitorchester durchzusetzen versuchte. Die Musiker saßen fein säuberlich aufgereiht hinter ihm -die Männer sahen unauffällig aus, die Frauen waren vollbusig und übertrieben geschminkt, und trotzdem wirkten sie irgendwie harmlos und nett. Während Wayne sang und Geschichten aus der guten alten Zeit in Vegas erzählte, flüsterte mir Troy fortwährend irgendwelche Sachen ins Ohr wie: »Der Mann ist
doch unfassbar!«, »So was Durchgeknalltes habe ich noch nie erlebt«, und: »Du riechst vielleicht gut ...« Nach seinen größten Hits stimmte Wayne ein Medley patriotischer Lieder an. Gran beugte sich aufgeregt vor. »Darauf freue ich mich schon die ganze Zeit. Eine Frau am Büffet hat gesagt, dass seine Version von >America the Beautiful< ein echter Knaller ist.« Eine Kellnerin quetschte sich zwischen den Tischen durch und verteilte stimmungsfördernde Fähnchen. Kitty und Gran nahmen je eine und schwenkten sie im Takt. Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich Kitty beobachtete. Das alles musste schmerzhaft für sie sein, und doch war sie fest entschlossen, sich zu Ehren ihrer Tochter zu amüsieren. Und bei diesem Gedanken traf es mich wie ein Hammerschlag. Denn in diesem Moment erinnerte ich mich wieder daran, was ich am zwanzigsten August vorhatte. An diesem Tag war Deedees Geburtstermin. An diesem Tag sollte ich Mutter werden. Und ich hatte es komplett vergessen. »Ich ... o Mist, ich ...« »Alles in Ordnung?«, fragte Troy. Ich packte das Weinglas und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter. Wie hatte ich das nur vergessen können? Die Leute klatschten jetzt im Takt, und ich machte mit, zum Teil weil ich verwirrt war, aber auch weil ich so unauffällig wie möglich nachdenken wollte. Leise sagte ich zu Troy: »Der zwanzigste August ... gerade ist es mir wieder eingefallen. Ich kann nicht. Da soll das Kind von Deedee kommen.« »Deedee?« »Ja.« »Sie ist schwanger? Wirklich? Das habe ich überhaupt nicht bemerkt.« Nach einer Weile sagte er: »Du möchtest sie an dem Tag nicht allein lassen.«
»Ich werde bei der Geburt dabei sein.« Ich unterbrach das Klatschen lange genug, um von dem zweiten Glas Wein zu trinken — von dem ersten spürte ich immer noch nichts. Während ich anschließend weiterklatschte, sagte ich: »Und dann ... danach ... werde ich das Kind adoptieren.« »Wie bitte?« »Das Kind adoptieren. Deedee ist noch viel zu jung, um die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen, und ich wollte schon immer ein Kind, also ...« Ich verstummte, als ich Troys Miene sah. Er machte ein Gesicht, als hätte ich einen Witz erzählt und er würde die Pointe nicht verstehen. »Das habe ich jedenfalls vor«, sagte ich. Er lachte, aber es klang nicht belustigt. »Verdammt ... ein Kind. Du wirst in ein paar Wochen ein Kind haben. Ein Baby. Das ist ...« Er rieb sich den Nacken. »Puh.« Plötzlich spürte ich eine Distanz zwischen uns, er saß auf einmal praktisch am Nebentisch. »Es ist ein Mädchen«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Er nickte mit finsterer Miene. »Weißt du, was komisch ist? Wir haben hundert Mal miteinander telefoniert, um alles Mögliche zu besprechen. Und wir haben den ganzen gestrigen Abend und den heutigen Tag zusammen verbracht. Da sollte man doch denken ... dass du mir davon erzählst.« »Ich erzähle es dir jetzt.« »Nett von dir.« Da war eine Schärfe in seiner Stimme, die ich nicht von ihm kannte. »Was zum - warum bist du denn so sauer?« »Ich bin gar nicht sauer. Ich find's toll. Ein Kind.« Das rhythmische Klatschen im Saal mündete in tosenden Applaus, als Wayne das Medley beendete und mitteilte, dass er nun einen seiner Lieblingssongs vortragen werde, von einem Mann, der Las Vergas so
sehr geliebt habe wie er selbst. Dann stimmte er »I Can't Help Falling In Love With You« von Elvis an. »Wie kommst du eigentlich dazu, den Beleidigten zu spielen«, zischte ich. »Ich adoptiere ein Kind, na und? Wenn ich mich recht erinnere, wird einem normalerweise gratuliert, wenn man Mutter wird.« »Du hast Recht. Entschuldige, das war unhöflich«, sagte er steif. »Meinen Glückwunsch.« »Danke«, erwiderte ich spitz. Was hatte er nur? Meine Enttäuschung verhinderte jeden klaren Gedanken. Gar nicht zu sprechen vom billigen Wein. Eine Weile taten wir so, als nähme uns Wayne Newton gefangen, der jetzt mit dem Mikrofon in der Hand die Bühne verließ. Offensichtlich war der Raumteiler ein Laufsteg. Wayne lief darauf entlang und beugte sich immer wieder nach unten, um den Leuten die Hand zu schütteln, während er sang. Winzige Lichter leiteten ihn geradewegs zu uns. »June, sieh mal!« rief Kitty. »Er kommt hierher. Vielleicht können wir ihm ja auch die Hand schütteln!« Ich nickte Kitty lächelnd zu, froh über die Ablenkung. Mein Blick wanderte kurz zu Troy. Erstaunlich, wie schnell Vernarrtheit in Gereiztheit umschlagen konnte. Aber das war völlig egal, denn in diesem Augenblick stand der einzigartige, wunderbare, unvergleichliche Wayne Newton höchstpersönlich vor unserem Tisch. Vor mir. Na gut. Ich konnte genauso gut versuchen, mir den Abend nicht vermiesen zu lassen. Ich streckte ihm meine Hand entgegen. Statt sie zu ergreifen, schüttelte er den Kopf, richtete sich auf und zuckte hilflos die Schultern, als bitte er das Publikum um Verzeihung. »Ich kann einfach nicht anders«, sagte die Geste. Dann brachte er mich dazu aufzustehen, und ehe ich mich's versah, hatte er
einen feuchten, schmatzenden Kuss auf meine Lippen gedrückt. Es war, als zöge mich eine Schlange mit weit aufgerissenem Maul immer tiefer in sich hinein. Einen Moment lang befürchtete ich, es nicht zu überleben, aber gleich darauf gab er mich wieder frei. Die Menge brüllte und klatschte und Wayne sagte: »Ich danke Ihnen, schöne Frau.« Er fuhr mit der nächsten Strophe des Songs fort und ging weiter. Ich trocknete mir mit einer Serviette den Mund und wischte die Theaterschminke ab, die er in meinem Gesicht hinterlassen hatte. Bis sein Aftershave verflog, würden einige Wochen ins Land ziehen. »Sie Glückliche!«, rief Gran. Vielleicht hätte ich mich als etwas Besonderes gefühlt, wenn er nicht in der Folge so gut wie jede Frau im Saal abgeküsst hätte. Er kletterte sogar vom Laufsteg, um eine nette alte Dame im Rollstuhl mit einem Kuss zu beglücken. »Es ist >Die Nacht der Tausendundein Küsse<. Er ist berühmt dafür«, erklärte Kitty. »Aber Sie waren die Erste!« »Gott sei Dank«, sagte Gran. »Ich weiß nicht, ob ich diesen Mund auf mir hätte spüren wollen, nachdem ich gesehen habe, wo er schon überall gewesen ist.« Troys versteinerter Miene nach zu urteilen, war das sicher der einzige Kuss, den ich an diesem Abend abbekommen würde. Nachdem ich das zweite Glas Wein hinuntergekippt hatte, schnorrte ich noch den Daiquiri, den Gran nicht mehr schaffte. Als die Show schließlich zu Ende war und wir vom Tisch aufstanden, kam mir auf einmal der Boden entgegen. Ich stolperte, und Troy fing mich auf, nur um mich so schnell wie möglich wieder loszulassen. Auf dem Weg nach draußen schwatzten Kitty und Gran munter vor sich hin. Würde ich auf dem Motorrad zurückfahren? Oder war Troy so verschreckt, dass er mich lieber an
ein Seil gebunden hinter sich herschleifte, als den Sitz mit mir zu teilen? Er hatte anderes im Sinn. Leise sagte er zu mir: »Du solltest mit Mom und Gran zusammen im Taxi zurückfahren. Du bist nicht in der Verfassung, auf ein Motorrad zu steigen.« »Wenn du meinst. Es tut mir leid, wenn ich dir zu betrunken bin.« »Ich möchte nicht, dass du dir wehtust.« Zu spät. Die Sache war klar: Ich hatte das mit dem Kind zur Sprache gebracht, und jetzt wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich erinnerte mich an das Spielchen »Was wäre, wenn«, das ich erst vor ein paar Tagen mit meiner Mutter gespielt hatte, und das Herz wurde mir schwer. Es war einfach nicht gerecht. Hatte es nicht so ausgesehen, als könnte Troy der Richtige sein? Gut, ich hatte die Adoption bisher nicht zur Sprache gebracht. Aber er hatte sich auch nicht als Kinderhasser zu erkennen gegeben. Er hätte es besser sofort gesagt. Hallo, bist du oft hier? Ach ja, ich mag
übrigens keine Kinder. Auf einmal war ich wütend. »Was hast du eigentlich gegen Kinder?«, fuhr ich ihn an. »Jetzt mach mal halblang. Du musst zugeben, dass das ziemlich schräg ist.« »So schräg auch wieder nicht. Es werden dauernd Kinder adoptiert.« Er schwieg, schloss die Augen und rieb sich über den Nasenrücken. Sammelte sich. Dann ging er ohne ein weiteres Wort zu Kitty und Gran und erklärte ihnen, dass er uns im Hotel treffen würde. Er sagte auch, dass ich besser bei ihnen mitfahren sollte. Bevor ich den beiden folgte, um mich mit ihnen in die Schlange am Taxistand einzureihen, konnte ich es mir nicht verkneifen, zu Troy zu sagen: »Ich habe
dich nicht gebeten, den Vater für das Kind abzugeben.« »Es hat nichts mit dir zu tun. Ich fühle mich nur noch nicht bereit für ein Kind. Ich habe in letzter Zeit eine Menge durchgemacht. Und dann haben wir beide ja noch nicht einmal -« Er beendete den Satz nicht. Er musste ihn auch nicht beenden. Einen Abend zu zweit verbracht? Geküsst? Gevögelt? Es war egal, weil das Ergebnis dasselbe war. Und da gab ich auf. So würde mein Leben von nun aussehen, wurde mir klar. Ich sollte mich besser bald daran gewöhnen. Ich wachte vom Geräusch der Dusche auf. Und ... Auweia. Mein Schädel und mein Mund fühlten sich an, als wären sie mit Pelz gefüttert. Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich rekonstruiert hatte, dass ich in meinem Hotelzimmer in Las Vegas im Bett lag und es Morgen war. Wie ich hierhergekommen war, entzog sich allerdings meiner Kenntnis. Wasser. Ich brauchte Wasser. Ich hätte sogar Wasser für drei Dollar die Flasche getrunken. Ich schwang meine Beine aus dem Bett. Mein Magen torkelte hinterher. Keine gute Idee. Vielleicht brauchte ich doch nicht so schnell Wasser. In diesem Moment bemerkte ich die Hose auf dem Boden und das Männerhemd ... und waren das dort nicht Boxershorts? Panisch versuchte ich mich zu erinnern, wie ich in mein Zimmer und - ich sah an mir herunter - in das T-Shirt gekommen war. Kein BH oder sonstige Unterwäsche. Die Dusche wurde abgedreht, und ich hörte einen Mann summen.
Okay, June. Denk nach. Gestern Nacht. Nach dem Konzert hatte ich Brie und Martucci in der Hotelbar aufgespürt. Sie tranken Tequila um die Wette. Kitty und Gran hatten
beschlossen, ins Bett zu gehen, weil sie am nächsten Morgen früh am Flughafen sein mussten. Sie dankten mir und luden uns alle zu Marissas Geburtstagsparty ein. Als sie gegangen waren, kam Troy herunter, in Jeans und Lederjacke und mit einer Reisetasche in der Hand. Er gab Brie seinen Zimmerschlüssel und sagte, dass sie sein Zimmer haben könne, weil er nach Hause fahren wolle. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, dass Martucci mich aufgefordert hatte, einen Tequila verkehrt zu trinken. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich von Troy verabschiedete. Ich hatte mit dem Kopf nach unten über dem Barhocker gehangen. Und gesehen, wie er mit den Füßen nach oben wegging. Dann hatte mir Martucci Tequila in den Mund gegossen, bis mir die Kehle brannte und meine Augen zu tränen begannen. Martucci. O Gott. Jetzt fiel es mir wieder ein. Wie er mich auf mein Zimmer verfrachtet hatte. Mir das Oberteil ausgezogen hatte. Und ich meinen Slip abgestreift hatte. Neben dem Bett stand ein Papierkorb. Ich warf einen Blick hinein, in der bangen Erwartung, ein benutztes Kondom oder eine Verpackung darin zu entdecken. Er war leer. Was sowohl eine gute als auch eine schlechte Nachricht sein konnte — entweder hatte ich nichts getan oder ich hatte etwas getan, nur ohne Gummi. In diesem Moment konnten Martuccis Spermien in mir herumflitzen und damit beschäftigt sein, kleine Martuccis zu produzieren. Die Klinke an der Badezimmertür bewegte sich nach unten, und — woher plötzlich diese Schamhaftigkeit kam, weiß ich nicht - ich deckte mich schnell zu. Heraus kam ... Runner. Mein Masseur. Oh. Er hatte ein Handtuch um die Hüften geschlungen, und seine Haare hingen ihm nass über den Rücken, ansonsten war er nackt.
»Guten Morgen«, sagte er aufgeräumt. »Morgen.« »Wie geht's?« »So lala.« »Ja, gestern Nacht ging's ziemlich heiß her.« Er hob das Hemd vom Boden auf und schlüpfte hinein. Ich wandte meinen Blick ab, als er in die Boxershorts stieg und dann in die Hose. »Du warst ja völlig enthemmt.« Hatte Runner mich ausgezogen? Es musste wohl so sein, aber gleichzeitig standen mir überdeutlich Bilder von Martucci vor Augen. Wie ich ihn an seinem Zopf gezupft hatte. Gut, es konnte auch Runners Pferdeschwanz gewesen sein. Oder beides. Wer wusste das schon? Ich konnte genauso gut meinen ersten One-Night-Stand wie meine erste Orgie erlebt haben. »Okay«, sagte Runner und ging zur Tür. »Brie sollte mittlerweile aus der Badewanne raus sein. Danke, dass ich bei dir duschen durfte.« Bei mir duschen? »Dann haben wir nicht miteinander geschlafen?« Er lachte laut. »Ich wollte noch duschen, bevor ich mit der Arbeit anfange. Brie lag schon in der Wanne und hatte keine Lust, so bald wieder rauszugehen ... oder mich mit reinzulassen. Deshalb hat sie mir vorgeschlagen, dein Bad zu benutzen.« »Ach, dann habt ihr, du und Brie ...« »Klasse Frau, deine Freundin. Bin froh, dass ich bei euch hängen geblieben bin. Wow, du hast gestern Abend ganz schön viel Tequila in dich reingeschüttet. War noch nicht mal Mitternacht, als du weggekippt bist.« »Wo du gerade davon sprichst«, sagte ich und sah ihm mutig in die Augen, »hast du mich auf mein Zimmer gebracht?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das war dein Freund. Der mit dem italienischen Namen.« Ich nickte und lächelte, als wäre ich hocherfreut über diese Nachricht.
Runner ging, und ich schleppte mich unter die Dusche, packte meine Tasche und traf die anderen vor dem Ride-share-Mobil, wo ich mich sofort in eine der Schlafkojen zurückzog und einschlief. Später wachte ich nur lange genug auf, um irgendeinen Mac in mich hineinzustopfen. Martucci brachte zuerst Brie und dann mich nach Hause, was mir Gelegenheit gab, ihn über das auszufragen, was ich nicht wissen wollte, aber musste. Ich setzte mich neben ihn auf den Beifahrersitz. Er knabberte Sonnenblumenkerne und spuckte die Schalen in eine Tüte auf dem Armaturenbrett. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, deshalb frage ich ganz einfach«, sagte ich. »In Ordnung.« »Hatten wir Sex?« »Du erinnerst dich an überhaupt nichts, oder?« »Wenn du es unbedingt wissen willst, ich erinnere mich lebhaft daran, wie du mich ausgezogen hast.« »Ja«, sagte er und grinste. »Ich mich auch.« »Sehr lustig. Das war ein hartes Wochenende für mich. Ich war extrem verletzlich. Ich finde es unglaublich, dass du diese Situation ausgenutzt hast. Dass du -« »Parker, reg dich nicht künstlich auf. Ich hab nur Spaß gemacht. Es ist nichts passiert.« »Bitte, lüg mich nicht an.« Ich stellte mir plötzlich meine Zunge vor, die ihm übers Gesicht fuhr. »Ich lüge nicht. Du warst völlig hinüber, deshalb habe ich dich auf dein Zimmer gebracht. Und du hast darum gebettelt, Schätzchen. Hast mich praktisch angesprungen. Du solltest wirklich nicht so lange auf Sex verzichten.« »Und ich soll dir glauben, dass du meine Lage nicht ausgenutzt hast?« Ich war misstrauisch und offen gestanden auch ein bisschen beleidigt.
»Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich habe gewisse Grundsätze.« »Du willst mir also erzählen, dass du mich ausgezogen hast, ohne hinzugucken?« »Doch, natürlich habe ich hingeguckt. Aber nicht angefasst. Und willst du wissen, warum?« Ich verdrehte die Augen. »Aus Achtung vor mir.« »Nein ... weil du mir Angst eingejagt hast. Du hast nicht aufgehört, mir das Gesicht zu lecken. Du hast an meinem Zopf gezogen und ihn als meine Kraftquelle bezeichnet. Irgendwas davon gefaselt, dass ich Samson bin und du mir meine Kraftquelle abschneiden wirst, während ich schlafe.« »Aha.« »Ich hatte Angst, dass du es auch noch auf meine andere Kraftquelle abgesehen hast. Mich kastrierst. Ich war froh, lebend davonzukommen.« »Tut mir leid«, sagte ich verlegen. Er konzentrierte sich wieder auf die Straße. »Was hast du eigentlich gegen meinen Zopf?
22
Gut, dass du es herausgefunden hast«, sagte Susan. »Dann verschwendest du wenigstens keine Zeit mit einem Mann, der eine Ewigkeit braucht, um sich für ein Kind zu entscheiden.«
»Bis August ist es nicht gerade eine Ewigkeit.« »Du brauchst ihn überhaupt nicht zu entschuldigen«, sagte sie und deutete mit ihrer Plastikgabel auf mich. »Wenn du so weitermachst, bleibst du nur in Beziehungen hängen, die keine Zukunft haben. Du verdienst was Besseres.« Es war Montagmorgen und Susan hatte mich zum Frühstück eingeladen. Wir aßen Ei-Sandwichs und Obstsalat in einem Deli in der Nähe unseres Büros, während ich sie auf den neuesten Stand brachte. Was ich ihr natürlich nicht erzählte, war, dass ich Martucci beinahe vergewaltigt hatte. Den restlichen Sonntag hatte ich damit verbracht, meinen Kater auszukurieren und mir zu wünschen, dass sich die Sache mit Troy anders entwickelt hätte. Die Vorstellung, dass mich diese Liste zu meiner großen Liebe führen würde — okay, das war albern, aber ich war trotzdem enttäuscht. Mit Troy hätte ich es gut aushalten können, egal ob mit oder ohne Kind. Ich fühlte mich zwar nicht unbedingt unbekümmert in seiner Gegenwart — wegen seiner Schwester war ich immer noch etwas befangen —, aber ich hatte gehofft, dass wir darüber hinwegkämen. »Etwas Besseres als dieses Kind konnte dir wahrscheinlich gar nicht passieren«, sagte Susan. »Es ist wie ein Barometer. Du weißt sofort, ob ein Mann bereit ist, eine ernste Beziehung einzugehen, oder nicht. Voilá.« »Aber ich hatte wirklich geglaubt, dass Troy ... der Richtige ist«, sagte ich mit hängendem Kopf. »Man glaubt jedes Mal, dass es der Richtige ist, bis man ihn näher kennen lernt. Aber natürlich hat jeder seine Macken. Wenn ich dir erzählen würde, was mich alles an Chase nervt, säßen wir wahrscheinlich morgen noch hier. Aber sauer zu sein, weil du ein Kind haben willst - damit hat er sich selbst aus dem Rennen geworfen.« Ich seufzte.
»Es ist nicht nur das. Ich würde mich um einiges besser fühlen, wenn ich selbst das Kind nicht vergessen hätte.« »Du hast das Kind doch nicht vergessen, June. Von Vergessen könnte man reden, wenn du es in der Tragetasche auf dem Autodach liegen gelassen hättest und losgefahren wärst. Du hast eine Zeit lang an etwas anderes gedacht. Das ist erlaubt.« »Ist dir das jemals passiert?« »Na hör mal! Ich war mit Zwillingen schwanger. Ich wünschte, ich hätte mal an etwas anderes denken können. Oder auch nur schlafen. Aber bei dir kann ich mir gut vorstellen, wie das passiert. Es kommen ja nicht dauernd Leute zu dir, die mal deinen Bauch anfassen wollen.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »June, ich möchte dir das eigentlich nicht sagen. Ich weiß, dass der Zeitpunkt denkbar schlecht ist. Aber ich sage es trotzdem. Keiner - wirklich keiner — würde dir einen Vorwurf machen, wenn du es dir anders überlegst.« »Ich werde es mir aber nicht anders überlegen.« Ich straffte meine Schultern. »Ich habe mich entschieden.« »Gut«, sagte sie, stand auf und nahm ihr Tablett. »Denn in genau dieser Minute warten dreißig Leute in meinem Büro, die alle ein Geschenk für dich haben. Wenn du die Sache also durchziehen willst, hast du schon mal eine hübsche Babyausstattung. Für den Fall, dass du es dir doch noch anders überlegst, würde ich die Etiketten dranlassen.« Wir entsorgten die Reste auf unseren Tabletts in dem bereitstehenden Mülleimer, und Susan fügte hinzu: »Ach ja, und tu so, als wärst du überrascht.« Meryl Streep bleibt die bessere Schauspielerin. Als sie »Überraschung!« riefen, schlug ich die Hände vors Gesicht und kreischte auf, aber es merkten bestimmt
alle, dass Susan mich eingeweiht hatte. Egal. Ich sackte trotzdem ganz gut ein. Nachdem ich jahrelang meinen Beitrag zu Hochzeiten und Geburten geleistet und palettenweise Kuchen bei Wohltätigkeitsveranstaltungen gekauft und Zeitschriften abonniert hatte, bekam ich endlich etwas zurück. Aufgeregt packte ich die Geschenke aus. Das größte war ein Kinderwagen, für den sie in der Firma gesammelt hatten. Und es war nicht irgendein Kinderwagen, wurde mir erklärt, sondern der Cadillac unter den Kinderwagen. Ich hoffte, ich konnte ihn auch fahren. Außerdem bekam ich eine Babyschaukel, eine Badewanne, Decken, ein Ohrthermometer, Handtücher und ein paar Strampelanzüge, die hübscher waren als jedes Kleidungsstück, das ich selbst besaß. Am meisten faszinierte mich ein TShirt mit kleinen Autos und Bussen darauf. Es war so winzig. Ich hielt es immer wieder in die Höhe und wunderte mich, dass ein Mensch da hineinpasste. Als wir später bei Kaffee und Kuchen zusammensaßen, überhäuften mich die anderen mit Fragen. Wie wollte ich das Kind nennen? (Ah ... ich hatte mich noch nicht entschieden.) Würde ich in Mutterschaftsurlaub gehen? (Bestimmt, aber wie lange, wusste ich noch nicht.) Würde ich mit in den Kreißsaal gehen? (Sicher.) War ich nervös? (Ja.) Würde ich stillen? (Diese Frage kam von Martucci. Ich sparte mir die Antwort.) Irgendwann einmal fragte Mary Jo vom Fuhrpark: »Das Kind kommt im August zur Welt, oder?« »Hm, hm.« »In diesem August?« »Natürlich in diesem August. Warum fragst du?« »Na ja, bis dahin ist es nicht mehr lange, und du machst nicht den Eindruck, besonders gut vorbereitet zu sein.« »Ich bin vorbereitet«, verteidigte ich mich,
wohl wissend, dass sie Recht die leiseste Ahnung, welchen geben wollte. Irgendetwas verdächtig, aber ich wollte nachdenken.
hatte. Ich hatte nicht Namen ich dem Kind daran war höchst lieber nicht darüber
Schließlich gingen die Leute wieder an die Arbeit, und Susan musste in ein Meeting. Ich packte gerade die Geschenke zusammen, als Phyllis auftauchte. Eine Besprechung mit Bigwood habe sich in die Länge gezogen, entschuldigte sie sich. »Das ist für Sie.« Sie hielt mir ein Päckchen entgegen. »Ich habe dasselbe für meinen Enkel besorgt.« Die implizite Bedeutung ihrer Worte entging mir nicht. »Ihre Tochter hat den Brief gelesen«, sagte ich leise. »Sie haben sich versöhnt.« »Na ja, wir sitzen nicht gerade händchenhaltend da und singen >Kumbaya<, aber« - ihr Gesicht begann zu leuchten — »wir haben miteinander geredet. Ich habe ihren Mann kennen gelernt. Und sie hat wirklich reizende Kinder. Die beiden haben richtige Lockenköpfe, keine Ahnung, von wem sie das geerbt haben. Danny ist drei und Jennifer ist gerade ein Jahr alt geworden.« »Ziemlich normale Namen für jemanden, der selbst Sunshine heißt.« »Sally«, korrigierte sie mich. »Sie nennt sich Sally. Aber wissen Sie was: Ihr Mann fährt Motorrad! Ich dachte, ich höre nicht recht! Zwar nur eine lächerliche kleine Honda, aber immerhin. Wenn sie sich so einen Mann ausgesucht hat, besteht Hoffnung.« Sie deutete auf das Geschenk. »Nun machen Sie es schon auf.« Während ich das Päckchen auswickelte, fragte mich Phyllis, wie ich mit der Liste vorankäme. »Ich bin fast durch. Für die letzten beiden Aufgaben habe ich noch eine Woche«, sagte ich und hielt eine winzige
Motorradjacke in die Höhe. »Ach, ist die niedlich! Danke, Phyllis.« Sie nickte und dann sagte sie: »Welche Aufgaben sind denn noch übrig?« »Einen Typen namens Buddy Fitch zahlen lassen. Das ist schwierig. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich ihn finden soll. Nacht für Nacht suche ich nach ihm im Internet. Und dann wartet noch die Aufgabe auf mich, jemandes Leben zu verändern.« »Der Brief, den Sie für mich geschrieben haben, hat mein Leben verändert«, sagte Phyllis. »Die Aufgabe können Sie beruhigt abhaken.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Ich habe nur ein paar Worte zu Papier gebracht. Dass Sie sich mit Ihrer Tochter ausgesöhnt haben ... das haben allein Sie zuwege gebracht. Aber ich werde kommenden Samstag die Adoptionspapiere mit Deedee und ihrer Familie durchgehen. Wenn wir alle unterschrieben haben, ist es offiziell. Dann, glaube ich, kann ich mit Recht behaupten, dass ich das Leben von jemandem verändert habe.« Als ich das sagte, geriet mein Herz aus dem Takt. Phyllis musste es bemerkt haben, denn sie meinte: »Kein Grund, nervös zu werden. Wird schon schief gehen.« Ich hoffte, sie hatte Recht. Das kleine namenlose Mädchen verdiente die bestmögliche Mutter. Deedee wurde blass, als sie die sich windende nackte Frau auf dem Bildschirm beobachtete. Dieser Geburtsvorbereitungskurs war vielleicht doch ein Fehler. Der Anwalt hatte ihn empfohlen, weil er sich speziell an Mädchen richtete, die ihr Kind zur Adoption freigeben wollten. Ich hatte versprochen, dass ich Deedee jeden Mittwochabend bis zur Geburt dorthin begleiten würde. Nur hatte Deedee in diesem Moment offenbar mehr Angst als ich vor Hitchcocks
Vögeln.
Ich bemühte mich, sie zu beruhigen. »Wer sich bei der Geburt filmen lässt, schreit auch gern«, flüsterte ich ihr zu. »Und du musst bestimmt nicht völlig nackt sein.« Ein Mädchen, das laut Namensschild Janai hieß, beugte sich vor: »Ich sage euch, was der fehlt: eine vernünftige Rasur. Ich dachte erst, das da unten wären die Haare von dem Kind.« Eine andere meldete sich zu Wort. »Warum lässt sie sich kein Schmerzmittel geben?« »Die sollen mir gleich eine Ladung Schlaftabletten verpassen und mich erst wieder aufwecken, wenn es vorbei ist«, erklärte Janai. »Und ich lass mir einen Bikinischnitt verpassen, bevor ich ins Krankenhaus gehe. Ich hab keine Lust, da unten wie ein Urwald auszusehen, wenn mich so viele Leute anstarren.« »Vielleicht lenkt das von meinem Hintern ab«, ergänzte ein anderes Mädchen in klagendem Ton. »Ich weiß ja, dass Männer es mögen, wenn sie was zwischen den Pfoten haben, aber ich kann mit meinem Hintern Mutter Erde Konkurrenz machen.« »Wem sagst du das«, warf eine andere ein. Ich sah es Deedee an, dass sie am liebsten mitgeredet hätte, aber da konnte sie nicht mithalten. Die anderen Mädchen waren zwar nicht älter als sie, doch ihre Kindheit schien schon viel länger zurückzuliegen. All ihre derben Sprüche — die erste halbe Stunde hatten sie sich über ihre treulosen Freunde unterhalten, gegen die Troy Jones wie der Vater des Jahres wirkte — konnten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie furchtbare Angst hatten. Der Film endete, und die Kursleiterin forderte die Mädchen auf, Fragen zu stellen. Janai meldete sich. Ich erwartete, dass sie sich nach Schmerzmitteln erkundigte, was ich an ihrer Stelle getan hätte. Aber sie sagte: »Was ist, wenn mit dem Baby was nicht stimmt, und die wollen es dann doch nicht?«
Die Kursleiterin - die weiß Gott eine schwere Aufgabe hatte - gab eine umfassende Erklärung zu den Rechten der leiblichen Mutter und der Adoptiveltern ab. Auf der Heimfahrt war Deedee wieder so wortkarg wie bei unseren ersten Treffen. Aber ich drängte sie nicht. Mir ging selbst genug durch den Kopf. In dem Film hatte es eine Szene gegeben, in der ein Mädchen ihr Kind in die Arme der Adoptivmutter legte. Das Glück, das das Gesicht der Frau ausstrahlte, versetzte mich in Panik. Ich hätte darauf wetten können, dass sie den genauen Geburtstermin im Kopf gehabt hatte. Dass sie einen Namen ausgesucht hatte. Dass sie über die Vor- und Nachteile von Schnullern informiert war. Wahrscheinlich hatte sie Dutzende Ratgeber von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Stimmte etwas nicht mit mir? Ich hatte Susan gesagt, dass ich es mir bestimmt nicht anders überlegen würde. Aber wie auch, wenn ich überhaupt nicht darüber nachdachte? Ich hatte damit gerechnet, dass mit dem Näherrücken des Geburtstermins meine Aufregung zunehmen würde. Stattdessen beschlich mich der Verdacht, dass ich einen Riesenfehler beging. Es fiel mir immer schwerer, das zu ignorieren. Bald würde ein kleines Mädchen auf die Welt kommen, das mich brauchte. Ich durfte es nicht im Stich lassen. Als ich anhielt, um Deedee aussteigen zu lassen, sah ich ein unbekanntes Auto in der Einfahrt stehen. »Ihr scheint Besuch zu haben.« Sie seufzte. »Der Verlobte von Mom.« Ich sah sie überrascht an. »Ich wusste überhaupt nicht, dass deine Mutter heiraten will. Nicht einmal, dass sie einen Freund hat.«
»Er ist Geschäftsführer in dem Restaurant, in dem sie arbeitet. Sie sind schon länger zusammen.« »Ist er nett?« »Sie knutschen dauernd im Wohnzimmer herum«, gab sie zur Antwort und tat so, als müsste sie würgen. »Wann wollen sie heiraten?« Sie zuckte mit den Schultern. »Aus irgendeinem Grund will Mom unbedingt vor ihrem dreißigsten Geburtstag heiraten. Und der ist im Dezember.« Mir blieb der Mund offen stehen. »Deine Mutter ist erst neunundzwanzig?« »Ja, warum?« Sie kicherte. »Wie alt dachtest du denn, dass sie ist?« »Ich weiß nicht. Auf jeden Fall älter als ich. Sie wird bald Großmutter sein!« »Nein, wird sie nicht«, sagte Deedee leise und stieß die Autotür auf. Was sollte ich darauf sagen? Sie hatte Recht. Es war meine Mutter, die Großmutter werden würde. Als ich Deedee hinterhersah, wie sie die Stufen zum Haus hinaufstieg, fiel mir wieder die Szene aus dem Film ein. Die ganze Zeit über hatte mein Blick auf den Armen geruht, die das Kind in Empfang nahmen. Jetzt kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass Deedees Blick vermutlich die ganze Zeit auf den Armen geruht hatten, die das Kind weggaben. Als ich zu Hause ankam, war es zehn. Ich schlüpfte in ein bequemes T-Shirt und meinen Bademantel, dann hörte ich den Anrufbeantworter ab, während ich die Kaffeemaschine für den nächsten Morgen einsatzbereit machte. Ich hatte drei Nachrichten. Die erste stammte von meiner Mutter, die wissen wollte, ob ich nächsten Samstag Zeit hätte; sie wollte Babysachen mit mir einkaufen gehen. Dann hörte ich die Stimme meines Bruders: »June, bist du zu
Hause? Nimm bitte ab, wenn du da bist. Nein? Na gut, dann probier ich es später noch mal.« Es war das erste Mal seit der Party bei meinen Eltern, dass ich von ihm oder Charlotte hörte. Bob rief mich selten an. Eigentlich nie. Es war immer Charlotte, die sich meldete, selbst an meinem Geburtstag. Dann kam die dritte Nachricht, und mein Herz machte einen Dreifachsalto. »Hallo June, hier ist Troy. Ich habe dauernd versucht, dich zu erreichen, aber du machst dich ja ziemlich rar. Ich würde dir das lieber direkt sagen, aber es bleibt mir offenbar nichts anderes übrig, als es auf deinen Anrufbeantworter zu sprechen. Wir haben doch ausgemacht, dass ich nächsten Freitag zu dem Meeting in deiner Firma kommen soll, und -« In diesem Augenblick klopfte es an meiner Tür. Wer konnte das so spät noch sein? Ich drückte auf die Stopp-Taste — ich hatte sowieso keine Lust, mir anzuhören, wie Troy mir noch eine Abfuhr erteilte. Er hatte mir seine Haltung unmissverständlich klargemacht, und schon beim ersten Mal war es keine allzu große Freude gewesen, ihn auf meinen Gefühlen herumtrampeln zu lassen. »Wer ist da?«, rief ich. »Ich bin's, Bob.« Mein Bruder? Hier? Ich riss die Tür auf. Bob stand verlegen grinsend mit einer Reisetasche in der Hand vor mir. »Ich habe dich zu erreichen versucht, aber —« »Komm rein«, sagte ich und trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. »Ist Charlotte auch mitgekommen?« »Nein«, er sah sich um. »Hübsch hast du's hier.« Ich bot ihm ein Bier an, goss mir selbst ein Glas Wasser ein, und wir plauderten über dies und das, während er es sich auf dem Sofa bequem machte und ich mir auf einem Sessel. »Also, was führt dich in meine bescheidene Hütte?«, fragte ich ihn schließlich.
»Ich habe mich gefragt, ob du mich für ein paar Tage beherbergen könntest. Ich wäre ja zu Mom und Dad gefahren, aber ...« Er zuckte mit den Schultern. »Klar. Du kannst bleiben, solange du willst. Ich habe ein Gästezimmer.« »Das künftige Kinderzimmer.« »Im Moment benutze ich es noch als Abstellraum, du wirst also erst mal ein paar Sachen wegräumen müssen, bevor du ins Bett kannst. Aber du hast Recht, ich wollte nächste Woche anfangen, es einzurichten. Was ist los, bist du wegen der Arbeit hier?« Seine Firma hatte eine Niederlassung in Los Angeles in der Nähe meines Büros in Downtown. Wir hatten früher manchmal davon gesprochen, dass wir zusammen mittagessen gehen könnten, wenn er in der Stadt war, hatten es aber nie gemacht. »Ja - oder vielmehr nein.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich meine, ich kann auch in unserem Büro arbeiten, aber deshalb bin ich nicht da. Charlotte und ich ... wir brauchen ein bisschen Abstand voneinander.« »Ihr trennt euch doch hoffentlich nicht!« Das konnte nicht sein. Ich wusste, dass er sie vergötterte. Zu meiner Erleichterung sagte er: »Nein, nie im Leben. Aber ich kann es nicht mehr hören, wenn sie wieder von dieser Adoption anfängt. Ich brauche einfach ein bisschen Ruhe.« Jetzt war es an mir, den Kopf hängen zu lassen. »Daran bin nur ich schuld.« Statt mir zu versichern, dass das nicht der Fall sei, nickte Bob. »Seit sie weiß, dass du ein Kind adoptieren willst, steht sie völlig neben sich. Die letzten anderthalb Wochen haben wir über nichts anderes gesprochen. Sie lässt mir nicht einmal nachts
Ruhe. Ich muss endlich einmal wieder richtig durchschlafen.« Er tat mir zwar leid, aber gleichzeitig fand ich, dass er sich das selbst zuzuschreiben hatte. Warum musste er auch so stur sein? Auf die Gefahr hin, mich in etwas einzumischen, was mich nichts anging, sagte ich: »Darf ich dir eine ganz persönliche Frage stellen?« »Solange es nichts mit der Zahl meiner Spermien zu tun hat.« »Nein, ich bin nur neugierig: Warum bist du gegen eine Adoption? Nur weil ein Kind nicht deine Gene hat, heißt das noch lange nicht, dass du es nicht lieben kannst.« Bob sah mich an, als hätte ich einen Sprung in der Schüssel. »Glaubst du vielleicht, das wüsste ich nicht? Ich bin nicht derjenige, der gegen eine Adoption ist, June. Das ist Charlotte. Ich würde mein linkes Ei für ein Kind hergeben. Irgendein Kind.« »Charlotte?« »Charlotte hat sich in den Kopf gesetzt, dass es unbedingt unser eigenes Kind sein muss«, erklärte Bob. »Und wenn ich mir ihre Familie ansehe, kann ich das auch verstehen. Sie hat ihren Vater nie kennen gelernt und will sichergehen, dass ich mich für das Kind verantwortlich fühle. Aber mir ist das inzwischen scheißegal. Laut Aussage der Ärzte gehen unsere Chancen, ein eigenes Kind zu bekommen, gegen null. Die meisten haben gesagt, dass es einem Wunder gleichkäme, wenn sie schwanger würde. Ich habe die Nase voll von Hormonen und Thermometern. Ich habe mittlerweile nicht mal mehr Lust, mit Charlotte zu schlafen.« »Erzähl mir doch nichts.« Er lächelte. »Stimmt, ich habe keine Lust mehr, mit ihr nach dem Kalender zu schlafen. Jedenfalls ist Charlotte komplett durchgedreht, als sie hörte, dass
du Mutter wirst. Sie drängt mich andauernd, wir sollen es noch einmal mit künstlicher Befruchtung probieren, weitere Tests machen ... und mir reicht es. Sie will nichts davon hören, aber es ist so. Mir reicht es einfach.« »Ihr werdet sicher eine Lösung finden«, sagte ich. »Ich glaube nämlich, dass du ein wunderbarer Vater wärst.« »Danke.« Er kippte den letzten Rest Bier hinunter. »Und danke auch für deinen Brief. Ich habe ja schon immer gewusst, dass du deinen großen Bruder bewunderst.« Als ich ihm half, das Bett im Gästezimmer herzurichten, sah ich, wie sein Blick auf die Babysachen fiel, die ich dort verstaut hatte. »Tut mir leid, dass hier ein solches Durcheinander ist«, sagte ich und wünschte, ich hätte ihn auf das Sofa verbannt, denn dort hätte er wenigstens nicht sehen müssen, was er verdiente, was aber aus irgendeinem rätselhaften Grund mir zugefallen war.
23
Nachts um drei rüttelte ich meinen Bruder wach. »Was zum -?«, murmelte er. Ich schaltete die Deckenlampe ein, und er hielt sich schützend die Hand vor die Augen. »Ihr solltet das Kind adoptieren«, sagte ich aufgeregt. Ich stand wie unter Strom. Ich hatte keine Sekunde geschlafen. »Und das fällt dir mitten in der Nacht ein? Haben wir das nicht schon besprochen? Ja, klar, ich will ein Kind adoptieren. Jetzt mach das Licht aus und lass mich weiterschlafen.« »Du hast mich nicht richtig verstanden. Nicht irgendein Kind. Mein Kind ... ich meine, Deedees Kind. Sie wird bestimmt damit
einverstanden sein. Ihr gehört zur Familie, ihr gehört zu mir. Du wärst ein großartiger Vater. Und ich weiß zwar, dass Charlotte von einer Adoption nichts wissen will, aber wenn wir ihr erklären, dass es sich nicht um einen fernen Traum handelt, dass es um ein echtes Kind geht, das in einem Monat auf die Welt kommt, vielleicht ändert sie dann ihre Meinung.« Bob setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. »Jetzt mal langsam. Ich kann dir nicht ganz folgen. Warum willst du eigentlich, dass wir dein Kind adoptieren?« Ich setzte mich auf die Bettkante. »Weil es jemand tun sollte, und ich kann es nicht.« Die Worte fielen wie Ziegelsteine zu Boden. »Du kannst es nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Jedenfalls sollte ich es nicht tun.« »Warum?« »Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Ich glaube, ich war so versessen darauf, das Leben eines anderen Menschen zu verändern, dass ich mir eingeredet habe, meine biologische Uhr würde in nächster Zeit ablaufen. Ich weiß nicht ... Jetzt frage ich mich, ob das alles nicht nur heiße Luft gewesen ist.« Ich versuchte zu lachen, was mir nicht ganz gelang. »Statt der Geburt des Kindes entgegenzufiebern, wird mir immer klarer, dass es der größte Fehler meines Lebens wäre.« »Du hast Angst. Ich wette, das würde in der Situation jedem so gehen.« »Wäre es das, was du empfinden würdest, wenn du bald ein Kind bekämst? Angst?« »Bestimmt. Ein bisschen.« »Aber vor allem würdest du dich freuen, oder?« »Ja.« »Ich freue mich nicht. Überhaupt nicht. Ich tu entweder so, als wäre nichts, oder ich versuche mir einzureden, dass alles gut gehen wird. Dass sich alles
einrenkt, sobald das Baby erst einmal da ist. Aber als du mir gestern Abend erzählt hast, was ihr alles auf euch genommen habt, um ein Kind zu bekommen, konnte ich mir nicht länger etwas vormachen. Ich bin noch nicht dazu bereit, Mutter zu sein. Jedenfalls nicht auf mich allein gestellt. Nicht so.« Seit ich Bob vor ein paar Stunden gute Nacht gewünscht hatte, war ich nicht mehr aus dem Grübeln herausgekommen. Ich konnte das wachsende Unbehagen, das ich empfand, seit ich Deedees Geburtstermin vergessen hatte, nicht mehr ignorieren. Hier ging es nicht darum, eine Aufgabe von einer Liste zu streichen. Es ging um ein Kind, ein echtes Kind, das bald auf die Welt kam. Ich war entschlossen gewesen, die Zähne zusammenzubeißen und die Adoption durchzuziehen. Aber plötzlich wurde mir klar, was für ein Fehler das wäre. Sicher, ich wäre als Mutter besser geeignet als ein vierzehnjähriges Mädchen, aber nicht wesentlich besser. Andererseits konnte ich Deedee nicht einen Monat vor der Geburt im Stich lassen. Sie hatte bereits Pläne gemacht. Es war undenkbar, dass ich am Samstag zu ihr ging und einfach verkündete, dass ich es mir anders überlegt hatte. Aber wenn ich ihr erklärte, dass ich eine bessere Lösung gefunden hatte - ein Paar, von dem ich wusste, dass es ihrem Kind alles geben würde, was es brauchte, und noch viel mehr —, das würde gehen. »Du meinst es ernst«, sagte Bob. »Wenn nicht, soll mich auf der Stelle der Schlag treffen.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Weißt du, Charlotte könnte sich vielleicht darauf einlassen. Die Vorstellung, dass es ein Kind gibt, das sie braucht — ein Kind, das sonst bei einer Mutter landet, die es nur nimmt, weil sie es versprochen hat, nicht weil sie es wirklich will -« »So schlimm bin ich nun auch wieder nicht«, protestierte ich.
»Ja, ja. Ich meine ja auch nur, dass ich Charlotte damit von einer Adoption überzeugen könnte, sonst fällt mir nämlich nichts mehr ein. Sie war völlig außer sich, dass du ein Kind bekommst. Sie hat ununterbrochen davon geredet, dass sie eine viel bessere Mutter wäre, als du es jemals sein könntest. Dass dieses Kind beide Eltern braucht. Dass du es kaum schaffst, eine Topfpflanze am Leben zu halten, wie viel weniger dann ein Kind. Jetzt hätte sie Gelegenheit zu beweisen, dass sie es wirklich besser kann.« Ich erwog gerade ernsthaft, mein Angebot zurückzuziehen, so beleidigt war ich, als ich merkte, dass mein Bruder bereits sein Handy hervorgekramt hatte. »Liebling, ich bin's ... Mir geht es gut ... Ja. Ich weiß, es war blöd von mir, einfach zu verschwinden, und es ist mitten in der Nacht, aber hör mir mal zu ...« Und er begann, ihr die Idee auseinanderzusetzen. Er hatte Recht gehabt: Es brauchte nicht viel Überredungskunst, damit Charlotte sich mit dem Plan einverstanden erklärte. Im Gegenteil. Als er sagte, das Baby würde in einem Monat auf die Welt kommen, hörte ich sie einen kleinen Schrei ausstoßen. In der folgenden halben Stunde einigten wir drei uns, dass Bob nach San Diego zurückfuhr und Charlotte holte, die sich sogar spontan bereit erklärte, nach Los Angeles umzuziehen, wenn es sein müsste. Am Samstagvormittag kämen sie zu mir und wir würden gemeinsam zu Deedee fahren. Deedee hätte die Gelegenheit, sie kennen zu lernen, und wenn alles gut ging, könnten wir an Ort und Stelle alles Nötige in die Wege leiten, um die Adoptionspapiere umschreiben zu lassen. Während des Gesprächs sah ich praktisch vor mir, wie Charlotte bereits das Kinderzimmer einrichtete, und ich wäre jede Wette eingegangen, dass sie auch schon über Namen nachdachte.
Bevor er auflegte, sagte Bob leise: »Char, ich kann es noch gar nicht glauben. Nach all den Jahren könnte es jetzt endlich so weit sein.« Am Freitagvormittag kam Martucci mit einer Schachtel Matchbox-Autos, die von einer Promotion-Aktion im vergangenen Jahr übrig geblieben waren, in mein Büro. »Was hast du eigentlich damit vor?« »Du kommst gerade noch rechtzeitig! Die sind für meine Besprechung mit Bigwood um drei.« Während ich nach der Schachtel griff, sah ich ihn an und sagte: »Hey, irgendetwas ist anders an dir. Ich frage mich nur, was.« »Einfach perfekt, wie du das gesagt hast. Bigwood wird dir aus der Hand fressen. Nachahmung ist die aufrichtigste Form der Schmeichelei, weißt du.« »Ich meine es ernst! Du siehst irgendwie anders aus.« Er zuckte mit den Schultern. »Sag mir lieber, was du mit diesen Autos vorhast.« Ich zeigte ihm die ein mal zwei Meter große, dreidimensionale Straßenkarte, an der ich den größten Teil des Vormittags gebastelt hatte. Besonders stolz war ich darauf, wie gut mir die Hügel aus Ton gelungen waren. Martucci schnitt eine Grimasse. »Dein Sachkunde-Projekt aus der fünften Klasse?« »Damit kann ich das Rennen auf dem Freeway demonstrieren. Siehst du, ich lasse die Autos über die Karte fahren, brumm, brumm« — ich nahm zwei und zeigte es ihm - »und das auf der Busspur gewinnt.« Martucci erwiderte nichts. Das beunruhigte mich. Er hielt mit seiner Meinung normalerweise nicht hinterm Berg. »Was ist?«
»Nichts.« »Jetzt sag schon.« »Wenn du meinst. Das ist so ziemlich das Albernste, was ich jemals gesehen habe.« Ich ließ die Schultern hängen und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Besser kann ich es nicht. Eigentlich hätte mir Troy Jones helfen sollen. Er hätte ein echtes Rennen auf echten Freeways gefahren, aber er hat sich gedrückt.« »Warum hast du mich nicht gefragt?« Gute Frage. Warum hatte ich ihn nicht gefragt? Vielleicht weil er keinen schicken Rennfahreranzug besaß wie den, den Troy hatte anziehen wollen? »Oh, es wäre toll, wenn du -« »Zu spät. Ich bin heute nicht mit dem Auto gekommen, und das Wohnmobil ist in der Waschanlage.« »Dann muss ich wohl doch auf mein SachkundeProjekt zurückgreifen«, seufzte ich. »Weil ich mich nämlich ganz bestimmt nicht hinstelle und einfach nur über meine Idee rede.« »Warum denn nicht?« »Phyllis hat gesagt, ich muss etwas machen, was Bigwood umhaut. Das erwartet er angeblich. Einen echten Hit.« »Na gut, aber ein Rennen ist ein Rennen. Das kannst du in einem Satz erklären, nur ein kompletter Vollidiot kapiert das nicht. Allerdings scheinst du noch nicht kapiert zu haben, worum es geht. Du sollst Bigwood kein Rennen verkaufen.« »Ach nein? Und was soll ich ihm verkaufen?« Martucci verschränkte die Arme und lehnte sich gegen meinen Schreibtisch. »Dich.« »Dann kann ich mir gleich einen Strick nehmen.« Als er die Augen verdrehte, fuhr ich fort: »Ehrlich. Ich hab das schon mal versucht, habe ein
ausführliches Expose geschrieben mit allen möglichen Vorschlägen, die ihn von meinen überragenden Qualitäten überzeugen sollten - da hat er Lizbeth den Auftrag gegeben.« »Ich bezweifle, dass Bigwood dein Expose jemals gelesen hat. Und selbst wenn — versteh das bitte nicht falsch —, kann ich es ihm nicht verübeln, dass er dich beim ersten Mal übergangen hat.« »Besten Dank!« »Nein, wirklich. Ehrlich gesagt, hast du nicht den Eindruck gemacht, als wärst du Feuer und Flamme für die Arbeit. Du hast eher wie jemand gewirkt, der Dienst nach Vorschrift macht. Mir ist es immer so vorgekommen, als wärst du bloß hier, weil du nicht weißt, wo du sonst hingehen sollst.« »So war es aber nicht. Du hast mich eben nicht gekannt.« »Ich glaube, dass dich außer Susan überhaupt niemand gekannt hat.« Darauf fiel mir keine passende Erwiderung ein. »Worum es also geht, ist«, fuhr er fort, »dass du Bigwood klarmachen musst, dass June Parker eine Größe ist, mit der man rechnen muss. Dass du schon einiges geleistet hast. Dass du Ideen hast. Dass was in dir steckt.« »Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Er tätschelte mir den Arm. »Klar kannst du das. Lad ihn auf einen Drink ein - er steht übrigens auf Bourbon. Zeig ihm die Ausschnitte mit deinen Interviews bei der Benzinaktion.« »Ich soll ihn an dieses Fiasko erinnern?« »Du sollst ihm zeigen, dass du dich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt.« »Hm ...«, sagte ich zögernd. »Wahrscheinlich könnte ich mir die Aufzeichnungen von Brie geben lassen. Sie hat auch einen DVD-Player. Ich könnte alles zusammenpacken und mit Bigwood ins Brass Monkey gehen.« »Das ist die richtige Einstellung.
Und noch eins, lass ihn auf keinen Fall zahlen, und wenn er noch so sehr darauf besteht. Entreiße ihm die Brieftasche, wenn es sein muss. Die Rechnung zu übernehmen ist ein Zeichen von Dominanz.« »Verstanden.« »Gut. Und noch eine Frage, nur aus Neugier: Warum liegt dir denn auf einmal so viel an dieser Beförderung? Ich hätte gedacht, wo du demnächst einen Kinderwagen schiebst, lässt du es mit der Arbeit etwas langsamer angehen.« »Also erstens ist das sexistisch«, sagte ich in tadelndem Ton. »Eine Frau kann durchaus gleichzeitig Karriere machen wollen und eine Familie haben. Zweitens«, ich zupfte einen unsichtbaren Fussel von meinem T-Shirt, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, »adoptiere ich das Baby doch nicht.« »Tut mir leid, das wusste ich nicht. Ist irgendwas schief gelaufen?« »Ich habe es mir anders überlegt.« »Gerade noch rechtzeitig, oder? Und jetzt kannst du dein zügelloses Singleleben wieder aufnehmen.« »Tja, was das angeht, hat das Gerücht, dass ich Mutter werde, den potentiellen Kandidaten in die Flucht geschlagen«, sagte ich betrübt. Als Martucci mich verständnislos ansah, erklärte ich: »Troy. Kaum hatte ich ihm erzählt, dass ich ein Kind adoptieren will, ist er abgezischt wie eine Rakete.« »Verstehe.« »Es ist so traurig. Ich hatte das Gefühl, dass mir die Liste dabei hilft, mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich dachte, aha, was fehlt, sind Mann und Kinder. Aber das kann es wohl doch nicht sein — sonst hätte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.«
»Jetzt mach mal halblang. Es wird noch viele Gelegenheiten geben.« »Mag sein, aber ich habe trotzdem ganz schön daran zu kauen. Insgeheim hatte ich gehofft, dass die Liste eine größere Wirkung haben würde. Dass sie mir dabei helfen würde, herauszufinden, was ich wirklich will.« »Vielleicht wird dir wenigstens klar, was du verdienst.« »Und das wäre?« »Auf jeden Fall keinen Kerl, der sich hektisch aus dem Staub macht, sobald du die Rede auf ein Kind bringst.« »Ja, so was in der Art hat Susan auch gesagt.« »Und sie hat Recht. Du verdienst was Besseres. Jemanden, der dich so nimmt, wie du bist, mit Kind oder ohne. Oder auch mit einem Dutzend Kindern. Glaub mir, manche Männer fänden es sehr sexy, was du alles auf dich genommen hast.« »Ach Quatsch, Martucci«, sagte ich lachend und umarmte ihn. Seine Arme schlössen sich um mich, ich blickte über seine Schulter und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als ich vor dem Eingang zu meinem Mauseloch keinen Geringeren als Troy stehen sah. »Hallo, June«, sagte er und hob unsicher die Hand. Er trug eine lederne Rennkluft. Ich befreite mich verblüfft aus Martuccis Armen. Was wollte Troy denn hier? »Ich dachte, du hast keine Zeit«, stotterte ich. »Hast du meine Nachricht nicht bekommen?« Er gab Martucci die Hand, während ich versuchte, mich an Troys Anruf zu erinnern. Ich hatte die Nachricht gerade abgehört, als mein Bruder aufgetaucht war. Ich hatte angenommen, dass Troy absagen wollte, und hatte mir deswegen nicht die Mühe gemacht, sie mir bis zum Schluss anzuhören.
»Sie war schlecht zu verstehen«, sagte ich, was der Wahrheit immerhin nahe kam. »Und ... was hast du gesagt?« »Dass ich heute wie verabredet komme, falls ich nichts anderes von dir höre. Und außerdem —«, er warf einen verlegenen Blick zu Martucci -, »habe ich versucht, dir zu erklären, warum ich so schnell aus Vegas verschwunden bin.« »Ach ja?« Wollte Troy damit sagen, dass es eine Erklärung für seinen hastigen Rückzug gab - oder war das nur das Geräusch gewesen, mit dem sich meine beiden Gehirnhälften öffneten und wieder schlössen. Martucci hatte die Hände in den Hosentaschen und machte Anstalten, mein Büro zu verlassen. Bevor er auf den Flur hinaustrat, blieb er noch einmal kurz stehen. »Na, Parker, ich schätze, damit kehrst du wieder zu Plan A zurück. Viel Glück.« Ich sah auf meine Uhr. Noch eine Viertelstunde bis zur Besprechung. Das Rennen käme bestimmt gut vor allem weil Troy wie ein echter Vollprofi aussah —, aber Martuccis Worte hallten in meinem Kopf nach. Was wollte ich wirklich? Wollte ich Bigwood ein Rennen verkaufen, oder hatte ich den Mumm, mich selbst zu präsentieren? Ich wandte mich Troy zu und sagte: »Tut mir leid, dass du umsonst hierhergekommen bist, aber ich habe inzwischen etwas anderes vor.« »Also kein Rennen?« Ich schüttelte den Kopf. »Ja, dann — okay. Kein Problem. Aber -«, erneut wanderte sein Blick zu Martucci -, »wenn du kurz Zeit hast, würde ich gern über ein paar Dinge mit dir reden ...« Ich hätte gern gewusst, was er mir zu sagen hatte, aber nicht jetzt, wenige Minuten vor meiner Präsentation. Ich musste Brie suchen und mir die Interviews auf eine CD brennen lassen, und ich
musste noch etwas essen, um eine Unterlage für den Bourbon zu haben. Wenn alles vorbei war, konnte ich schnell nach Hause fahren und mir Troys Nachricht anhören, um herauszufinden, aus welchem Grund er mich sitzen gelassen hatte. Vielleicht war der Grund stichhaltig — und dann, wer weiß? »Ich wollte, ich hätte Zeit«, sagte ich. »Aber ich muss jetzt wirklich los.« »Dann will ich dich nicht aufhalten«, sagte Troy. Er schien von meiner Reaktion nicht besonders überrascht zu sein. Obwohl er in voller Rennmontur vor mir stand, hatte er offenbar damit gerechnet. Beunruhigt fügte er hinzu: »Du kommst doch aber zu der Party am Dienstag?« »Die lasse ich mir auf keinen Fall entgehen«, versicherte ich ihm. »Martucci kommt auch mit ... und Brie ... und noch ein paar Freunde, die mir mit der Liste geholfen haben. Deine Mutter sagte, ich könnte so viele Leute einladen, wie ich will, also habe ich das getan.« Er lachte und sagte: »Klingt gut. Sie spricht immer noch von einer kleinen Familienfeier, aber die Party wird von Tag zu Tag größer. Wenn das so weitergeht, müssen wir noch das Convention Center mieten.« Nachdem Troy gegangen war, drückte ich Martucci die Schachtel mit den Spielzeugautos in die Hand. »Gut, ich werde es ganz allein mit Bigwood aufnehmen«, sagte ich. »Ich hoffe in deinem Interesse, dass du Recht hast.« »Ich habe Recht. Du allein reichst, um den Mann in Atem zu halten.« Als ich zwei Stunden und drei Bourbons später zurück ins Büro torkelte, waren die meisten meiner Kollegen schon nach Hause gegangen. Ich machte einen kleinen Umweg über Susans Büro und erwischte sie gerade noch, als sie das Licht ausschaltete und gehen wollte.
»Ich hatte schon Angst, ich würde dich nicht mehr sehen!«, rief sie. »Und? Wie ist es gelaufen?« »Sagen wir mal, ich habe mich selbst überrascht.« Offenbar hatte ich einen leichten Zungenschlag, weil sie grinste. »Er hat dich zu einem dritten Glas überredet, was?« »Ja, aber das spielt keine Rolle. Zu dem Zeitpunkt hat er mir bereits aus der Hand gefressen.« »Das glaube ich. Hast du die Stelle?« »Er sagte, er hat vor umzustrukturieren, die Stelle als solche gibt es deshalb nicht mehr, aber er wird mich auf jeden Fall befördern. Die Idee mit dem Rennen hat ihm gefallen ... obwohl« — ich nahm mir vor, später ein paar Takte mit Martucci zu reden - »es eine Weile dauerte, bis er kapiert hat, wovon ich rede. Er sagte, er hätte gern eine Demonstration gesehen.« Fünfte Klasse Sachkunde, von wegen. »Meinen Glückwunsch! Ich würde dich ja zur Feier des Tages auf einen Drink einladen, aber ich muss die Kinder abholen, und ich bin sowieso schon spät dran. Willst du mitfahren?« »Danke, aber ich nehme den Bus.« »Bist du sicher? Wir könnten bei uns zu Abend essen, wenn du nichts gegen Cheeseburger hast. Ich habe es den Jungs versprochen.« »Ganz sicher. Ich will nur noch nach Hause und alle viere von mir strecken. Die vergangene Woche war der Hammer, und morgen früh um neun kommen Bob und Charlotte zu mir, um noch ein paar Dinge durchzusprechen, bevor wir zu Deedee fahren.« »Ja, richtig. Ach, June, ich finde es einfach unglaublich, wie auf einmal alles so gut läuft.« »Bis jetzt steht noch gar nichts fest«, erwiderte ich. »Deedee muss noch ja sagen.« »Das tut sie bestimmt.«
Nachdem ich Susan versprochen hatte, sie anzurufen, falls ich irgendetwas brauchte, ging ich schnurstracks in Martuccis Büro. Kaum war ich durch die Tür, sagte er: »Offensichtlich habe ich vergessen, dir zu sagen, dass er versuchen wird, dich zu einem dritten Glas zu überreden.« Da ich noch keinen Ton von mir gegeben hatte, musste ich eine beträchtliche Fahne haben. »Willst du gar nicht wissen, wie es gelaufen ist?« »Bei dem breiten Grinsen auf deinem Gesicht? Ich fürchte, du wirst mir gleich erzählen, dass er dich zu meiner Chefin gemacht hat.« »Das ist noch nicht klar. Er hat ein paar Veränderungen vor, aber ich komme auf jeden Fall ins Management.« »Und jetzt bist du hier, um mir zu sagen, dass du das alles nur mir zu verdanken hast.« »Ich wollte mich tatsächlich bei dir bedanken. Ich würde dich ja noch mal in den Arm nehmen, aber du weißt, wie ich bin, sobald ich ein bisschen Alkohol intus habe. Ich könnte mich wieder an diesem Zopf vergreifen.« Bei diesen Worten grinste er mich an, drehte sich um und strich sich über den Nacken. Die Haare waren ordentlich gestutzt. Kein haariger Regenwurm weit und breit. »Er ist weg!«, schrie ich. »Wusste ich's doch, dass irgendetwas an dir anders ist. Was hat dich denn dazu veranlasst?« »Ich fand es einfach an der Zeit.« Ich verzichtete auf den Hinweis, dass ihm das zwanzig Jahre zu spät eingefallen war. »Steht dir gut.« »Freut mich, dass es dir gefällt.« Ich musste eigentlich los, wenn ich den Bus um Viertel nach fünf erreichen wollte, aber ich hatte mich bei Martucci noch nicht für alles bedankt. Das zumindest war ich ihm schuldig.
»Übrigens«, sagte ich und fühlte mich plötzlich verlegen. »Danke wegen neulich. Du hättest die Situation wirklich leicht ausnutzen können. Das war doch ehrlich, oder? Ich meine, dass nichts passiert ist?« Er kippte seinen Stuhl nach hinten. »Wenn dir diese Ehre jemals zuteilwerden sollte, Süße, dann wäre es ganz egal, wie viel du getrunken hast - du würdest es nicht vergessen.«
24
Ich
spielte Troys Nachricht auf dem Anrufbeantworter fünf Mal ab, bevor ich auch nur die Schuhe auszog. Vor paar Tagen hatte ich genug gehört, um daraus zu schließen, dass er mir absagen wollte. Und als er im Büro sagte, er habe mir zu erklären versucht, warum er so schnell aus Las Vegas verschwunden war, nahm ich an, es handele sich um eine lahme Entschuldigung in der Art von: »Mir ist plötzlich was dazwischengekommen«. Das Letzte, was ich erwartet hatte, war das, was ich jetzt zu hören bekam. Ich drückte noch einmal auf Play.
»Hallo, June, hier ist Troy. Ich habe dauernd versucht, dich zu erreichen, aber du machst dich ja ziemlich rar. Ich würde dir das lieber direkt sagen, aber es bleibt mir offenbar nichts anderes übrig, als es auf deinen Anrufbeantworter zu sprechen. Wir haben doch ausgemacht, dass ich dir nächsten Freitag in deiner Firma helfen soll, und ich würde es verstehen, wenn du das jetzt nicht mehr willst. Ich habe allerdings immer noch vor zu kommen. Um
drei. Ruf mich an, wenn du nicht willst, dass ich aufkreuze, ja? Und, also, wie soll ich es sagen? Du hast dich wahrscheinlich gefragt, warum ich Samstagnacht so schnell verschwunden bin. Du sollst wissen, dass es nichts mit dem zu tun hat, was du gesagt oder getan hast. Es ist nur ... das klingt jetzt vielleicht verrückt... aber auf einmal kam es mir nicht richtig vor, dass wir beide da saßen, der Musik zuhörten, uns amüsierten und Pläne schmiedeten und dass du demnächst ein Kind adoptieren wirst und das Leben einfach so weitergeht. Ich weiß nicht, warum, aber es hat mich wütend gemacht. Ich kann es nicht erklären, es war einfach so. Meine Mutter weint, um mit alldem fertig zu werden. Ich trete gegen Türen und fahre zu schnell und bin gemein zu netten Frauen. Es tut mir leid. Der Tod meiner Schwester hat mich doch mehr mitgenommen, als ich dachte. Ich wünschte, wir hätten uns anders kennen gelernt, ich weiß auch nicht, im Supermarkt vor den Dosensuppen zum Beispiel. Ich weiß, dass ich lauter Unfug rede, aber ich wollte dir unbedingt sagen, dass ich dich toll finde, und unter anderen Umständen — « Piep. Mein Anrufbeantworter schnitt ihm das Wort ab, und wenn ich beim ersten Mal die Leerstellen nicht richtig ergänzt hatte, so war ich mir dieses Mal sicher. Unter anderen Umständen hätte zwischen uns etwas laufen können. Aber sie sind nun mal nicht anders. Deshalb läuft nichts. Auf eine seltsame Weise war ich einverstanden. Es war ja nicht so, als hätte er mich vor dem Altar stehen lassen. Wir hatten uns nicht einmal - wie Troy beinahe gesagt hatte - geküsst, hatten weder einen Abend zu zweit verbracht noch gevögelt.
Die wirklich wichtige Frage, überlegte ich, während ich es endlich schaffte, in Jogginghose und Hausschuhe zu schlüpfen und mir eine Tasse Tee zu machen, drehte sich deshalb vielleicht nicht darum, warum ich nicht am Boden zerstört war, sondern warum ich mir überhaupt Hoffnungen gemacht hatte. Klar, er war süß, aber das traf auf viele Männer zu. Jetzt, wo Martucci sich von diesem ekligen Zopf getrennt hatte, hätte man sogar sagen können, dass er ... nee. Ich strich den Gedanken. Auf Martucci würde das Wort »süß« nie passen. Häschen sind süß. Er war eher mit einem Wesen zu vergleichen, das Häschen verschlingt. Außerdem trug ein schönes Gesicht nur bis zu einem bestimmten Grad dazu bei, dass ich mich von einem Mann angezogen fühlte. Bei Troy musste es mehr gewesen sein. Als ich ihm vor Monaten auf dem Friedhof über den Weg gelaufen war, hatte ich mitten in einer tiefen Depression gesteckt. Die Liste abzuarbeiten hatte meinem Leben einen Sinn gegeben. Auf gewisse Weise schuldete ich ihm dafür Dank, auch wenn er keine Ahnung hatte, dass er der Auslöser gewesen war. Es war dieser Blick gewesen, mit dem er mich angesehen hatte, als ich ihm erzählte, ich würde die Liste seiner Schwester an ihrer Stelle zu Ende bringen. Mit diesem einen Blick hatte er meine ganze öde Vergangenheit ausgelöscht. Mich mit Troys Augen zu sehen gab mir das Gefühl, in einen Zerrspiegel zu blicken, der mich tapferer und wagemutiger erscheinen ließ, als ich war. Und obwohl ich wusste, dass es eine Täuschung war, konnte ich meinen Blick nicht mehr davon abwenden. Aber brauchte ich diese Illusion überhaupt noch? Ich stand im Begriff, etwas zu tun, was vor ein paar Monaten noch unvorstellbar gewesen wäre. Ich
würde auf einen Schlag das Leben so vieler Menschen verändern. Mein Bruder und Charlotte bekämen das Baby, nach dem sie sich schon so lange sehnten. Ein Kind bekäme ein gutes Zuhause. Deedee bekäme die Chance, die Highschool zu beenden und aufs College zu gehen. Und Troy, Kitty und die gesamte Familie Jones würden wissen, dass diejenige Aufgabe auf der Liste, die sie am meisten an ihre geliebte Marissa erinnerte — jemandes Lebens verändern —, in allen Ehren erfüllt worden war. Die Adoptionsunterlagen lagen auf meinem Sofatisch. Mein Bruder und Charlotte würden morgen früh zu mir kommen. Wir würden zu Deedee fahren - ich hatte bereits angerufen und angekündigt, dass ich ein paar Dinge mit ihr besprechen wollte. Ich konnte es kaum erwarten. Als ich an die Haustür klopfte, versuchte ich nicht daran zu denken, wie oft ich mir diesen Augenblick schon ausgemalt hatte. Ich nahm den Geruch von Charlottes neuem Kleid wahr und hörte, wie mein Bruder ein paarmal tief ein- und ausatmete, um sich zu beruhigen. Auf der Herfahrt hatte ich im Stillen meinen Text geprobt. Ich wollte Deedee sagen, wie wichtig es für ihr Kind war, alles zu haben, was es brauchte, und dass ich gedacht hatte, ich wäre diejenige, die ihm alles geben konnte. Aber ich hatte mich geirrt. Das Kind verdiente eine Mutter und einen Vater. Ich würde Deedee daran erinnern, dass sie ihr Kind nicht zu Fremden geben wollte. Das musste sie auch nicht. Die beiden gehörten zu meiner Familie. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie gute Eltern waren. Liebevoll und fürsorglich. Ein Mann öffnete die Tür und stellte sich als Javier vor, der Verlobte von Deedees Mutter. Selbst in der brütenden Julihitze trug er eine Baseballkappe, aber
er lächelte so freundlich und seine runden Augen funkelten so fröhlich, dass ich sein Lächeln unwillkürlich erwiderte. »Die beiden kommen gleich«, sagte er. »Treten Sie doch ein.« Ich stellte alle einander vor, und als Maria und Deedee kamen, wiederholte ich das Ganze. Deedee setzte sich neben ihre Mutter und Javier aufs Sofa. Statt des gewohnten übergroßen T-Shirts trug sie ein ärmelloses Top, das ihren Bauch in seiner vollen Pracht hervortreten ließ. Charlotte ließ sich auf dem Sessel nieder, und für Bob und mich hatte Javier zwei Küchenstühle geholt. »Sie haben ein sehr schönes Haus«, sagte Charlotte zu Maria. Javier übersetzte und Maria sagte: »Gratias.« Die Unterhaltung drohte schon jetzt ins Stocken zu geraten, da Charlotte und ich kein Spanisch sprachen - während Bob es fließend beherrschte -, daher beschloss ich, gleich zum Punkt zu kommen. »Bevor wir die Adoptionspapiere unterschreiben«, sagte ich, »müssen wir noch über ein paar Dinge reden.« Javier sagte auf Spanisch etwas zu Maria. Ich nahm zuerst an, er übersetzte meine Worte, aber dann hörte er überhaupt nicht mehr auf zu reden. Sie erwiderte hin und wieder etwas. Sie schienen sich mitten in einer lebhaften Diskussion zu befinden. Bob verstand natürlich, was sie sagten, deshalb war ich zutiefst beunruhigt, als er das Gesicht in den Händen vergrub und murmelte: »Mein Gott. Das ist furchtbar.« »Was ist denn los?«, flüsterte ich. Javier und Maria setzten ihre Debatte fort, als wären wir gar nicht anwesend. Deedee starrte auf den Teppich. Bob rieb sich mit den Händen übers Gesicht und stieß laut den Atem aus. »Ich muss Charlotte hier rausbringen«, sagte er dann so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Dann sagte er laut etwas auf Spanisch. Maria und
Javier verstummten und blickten ihn schuldbewusst an, so als hätte er sie beim Knutschen auf dem Sofa erwischt. Bob packte Charlottes Hand - sie wirkt« völlig verstört - und sagte: »Wir warten draußen.« Als er mir dann noch einen Kuss auf die Stirn drückte, bevor er mit Charlotte das Haus verließ, bekam ich es richtig mit der Angst zu tun. Worum es auch ging, es musste etwas Schlimmes sein. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, fragte ich: »Was ist denn los?« Javier räusperte sich, bevor er sprach. »Wir danken Ihnen, dass Sie heute hergekommen sind«, sagte er steif, und es klang, als hätte er die Worte eingeübt. »Wir sind Ihnen dankbar dafür, dass Sie Deedees Baby adoptieren wollten, aber wir möchten Ihnen sagen, dass das nicht nötig ist.« Nicht nötig? Ich suchte Deedees Blick. Ihre Augen waren immer noch auf den Teppich gerichtet. Er fuhr fort: »Maria hat eingewilligt, meine Frau zu werden. Wir werden ein gemeinsames Leben beginnen, als Familie. Und deshalb wollen wir Deedees Kind als unser eigenes großziehen.« Meine blumige Ansprache mit dem Tenor, dass es von entscheidender Bedeutung für das Kind sei, zwei Eltern zu haben, verdorrte mir auf der Zunge. Es kam mir vor, als schrumpfte ich, als versuche mein Körper, sich dem Gefühl von Bedeutungslosigkeit anzupassen, das ich empfand. Sie wollten das Baby behalten. Ich wurde nicht gebraucht. Bob und Charlotte wurden nicht gebraucht. Dedee«, brachte ich mit Mühe heraus. »Willst du das auch?« Sie nickte, ohne mich anzusehen. Sie kann weiter zur Schule gehen«, sagte Javier. »Wir brauchen natürlich ihre Hilfe zu Hause, aber als große Schwester. Nicht als Mutter.«
So viel zu meinem Vorhaben, jemandes Leben zu verändern. Ich hatte überhaupt nichts zuwege gebracht. Trotz aller Anstrengungen würde Deedees Leben genauso verlaufen, wie es verlaufen wäre, wenn sie mich nie kennen gelernt hätte. Mein Bruder und seine Frau waren durch meine Einmischung noch schlimmer dran als zuvor. Ich war mit ihnen auf den Gipfel des Bergs marschiert und hatte ihnen gezeigt, was sie haben könnten: ein neues Leben, ein Baby in den Armen. Die Familie, von der sie immer geträumt hatten. Und dann hatte ich sie wieder nach unten getrieben, ohne ihnen irgendetwas gegeben zu haben. Doch es gab noch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Deedee würde mich zumindest im Kreißsaal brauchen. Ihre Mutter, blind und nur des Spanischen mächtig, konnte ihr dort wohl kaum von Nutzen sein. »Dann sehen wir uns also am Mittwoch im Geburtsvorbereitungskurs, oder?« »Ich geh nicht mehr hin«, murmelte Deedee. Es war das erste Mal, dass sie den Mund aufmachte, seit ich gekommen war. »Wo ich das Baby nicht weggebe, kann ich jetzt nicht mehr hingehen.« Dann korrigierte sie sich, ganz die Einser-Schülerin, die ich kannte: »Weil ich das Baby nicht weggebe.« »Aber du musst doch wissen, was du machst, wenn die Wehen kommen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Rose von Big Sister hat einen anderen Kurs für mich gefunden. Der ist zweisprachig, also kann meine Mom mit mir hingehen. Aber er ist am Samstag, deshalb —« Ich beendete den Satz für sie. »Deshalb kannst du dich nicht mehr mit mir treffen.« Der letzte Hoffnungsschimmer erlosch. Es war vorbei. Wir schwiegen. Es war kein einträchtiges Schweigen. Es war ein Schweigen, das unsere Aufmerksamkeit beanspruchte wie ein hyperaktives
Kind. Schließlich stand ich auf. Was gab es noch zu sagen? Deedees Kind verdiente ein Elternpaar und eine Familie, und genau das würde es bekommen. Ich rang mir ein paar matte Glückwünsche ab und ging zur Tür. »Sei mir nicht böse«, sagte Deedee so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Ich trat hinaus in den brütend heißen Julinachmittag und sah Bob und Charlotte mit hängenden Köpfen in meinem Auto sitzen. Ich ließ mich auf den Fahrersitz sinken. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie leid mir das tut.« »Du hast uns vorher klipp und klar gesagt, dass es nicht hundertprozentig sicher ist«, sagte Bob. »Wir haben es versucht. Es hat nicht geklappt.« Charlotte fügte mit zitternder Stimme hinzu: »Ich habe von so etwas schon gehört. Dass es sich die leibliche Mutter anders überlegt. Das passiert ständig.« Diese Worte machten mich nur noch trauriger. Dank meiner Bemühungen hatte Charlotte jetzt aus nächster Nähe miterlebt, wie so etwas komplett schief gehen konnte. Nachdem sie mich nach Hause gebracht hatten, fuhren sie sofort nach San Diego weiter. Ich ging geradewegs zu meinem Sofa und saß dann einfach nur da wie betäubt. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Wie hatte ich mir einbilden können, ich würde die Liste schaffen? Warum versuchte ich nicht gleich in die Olympiamannschaft der Eiskunstläufer zu kommen? Oder den Mount Everest in Flip-Flops zu besteigen? So frustrierend es auch war, es war an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Marissas Liste abzuarbeiten lag jenseits meiner Fähigkeiten. Ich konnte die wichtigste Aufgabe nicht erfüllen. Verdammt, ich hatte noch nicht einmal Buddy Fitch aufgestöbert. Ich war einen Tag lang ohne BH herumgelaufen. Hatte eine
Badezimmerwaage weggeworfen. Tolle Leistung. Ich hatte geglaubt, ich könnte die Träume einer anderen Frau zu meinen machen, und auf diese Weise würde sich etwas von ihrer Lebenslust auf mich übertragen. Und was war dabei herausgekommen? Ich hatte versagt, wie immer. Das Wochenende über klingelte andauernd mein Telefon, aber ich nahm nicht ab. Irgendwann würde ich zurückrufen. In der Zwischenzeit schaffte ich es gerade, mir die Nachrichten von Susan und meiner Mutter anzuhören, und wieder Susan und noch vier Mal Susan, die unerträglich fröhlich klang und begierig darauf war, die guten Neuigkeiten zu erfahren. Am Montag stellte ich schnell fest, dass die jüngsten Ereignisse im Büro schnell die Runde gemacht hatten, und anfangs kamen meine Kollegen noch vorbei, weil sie mich trösten wollten. Als sie jedoch merkten, wie wenig mir daran lag, darüber zu reden, zogen sie sich zurück und ließen mich in Ruhe. Das sind Freunde. Susan rief sogar Sebastian für mich an und sagte ihm, er solle etwaige letzte Versuche, Buddy Fitch zu finden, einstellen. Ich stürzte mich in die Arbeit - die einfachste Art, die Gedanken, die an mir nagten, beiseite zu schieben. Und es gab mehr als genug zu tun. Bigwood hatte mir zwar gesagt, ich würde Lizbeths alten Job nicht bekommen, aber er hatte eine Menge ihrer nicht abgeschlossenen Projekte in der Schublade liegen, die er jetzt mir aufhalsen konnte. Trotzdem musste selbst er gemerkt haben, dass etwas nicht in Ordnung war, denn obwohl ich durch die Flure schlich wie ein Zombie, fragte er kein einziges Mal, was heute anders an mir sei. Wie Troy es ausgedrückt hatte: Das Leben ging weiter, ganz gleich, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte mich einfach in Luft auflösen und
verschwinden. Ich schaffte es, mich mehr oder weniger mit Arbeit abzulenken, bis der gefürchtete Dienstagabend schließlich gekommen war und - eine halbe Stunde bevor Marissas Geburtstagsparty beginnen sollte - Susan und Brie in meinem Büro auftauchten. »Wir fahren jetzt. Sollen wir dich mitnehmen?«, fragte Brie. »Ich muss erst noch was erledigen. Ich nehme den Bus.« Susan sah mich argwöhnisch an. »Du willst dich doch nicht drücken, oder? Wenn es sein muss, schleife ich dich an den Haaren hinter mir her zu der Party. Die Leute zählen auf dich. Keiner wird sich darum scheren, dass du mit der Liste nicht fertig geworden ist.« »Ich komme nach, versprochen. Der 440er fährt direkt den Wilshire Boulevard entlang. Es wird nicht lange dauern. Reserviert mir schon mal ein Canape.« »Das kann ja heiter werden«, murmelte Brie. »Du willst doch hoffentlich nicht den ganzen Abend trübselig auf einem Sofa rumsitzen.« Im Weggehen sagte Susan: »Lass uns nicht zu lange warten.« »Nein, ich beeile mich«, erwiderte ich mit ergebener Stimme. Ich würde zu der Party gehen, aber möglichst spät und ohne einen großen Auftritt hinzulegen. Wenn ich mit niemandem sprach, musste ich auch nicht zugeben, dass ich die Liste nicht zu Ende gebracht hatte. Ich dachte sogar kurz daran zu lügen — und hätte es getan, wenn ich nicht ein bisschen Angst gehabt hätte, dass mich zur Strafe der Blitz trifft. Allerdings war die Zeit noch nicht abgelaufen. Irgendwann im Lauf des Tages hatte ich mich an Martuccis Vorschlag erinnert. Hatte er nicht gesagt, falls das mit der Adoption nicht klappe, könnte ich versuchen, jemandes Leben zu verändern, indem ich Lotterielose verteilte? Es war zwar ein kläglicher Versuch, aber ich würde es trotzdem tun.
Als ich sicher sein konnte, dass alle weg waren, ging ich hinunter in den Schnapsladen und kaufte hundert Rubbel-lose. Dann hielt ich wahllos Leute auf der Straße auf und bat sie, das Los auf der Stelle freizurubbeln. Wenn man wissen will, welcher Mangel an Vertrauen heutzutage in unserer Gesellschaft herrscht, dann muss man nur mal versuchen, etwas zu verschenken. Aus Zeitgründen verteilte ich immer mehrere Lose auf einmal. Um sieben, als die Party bereits in vollem Gang sein sollte, hatte ich erst zwei Gewinner: zehn Dollar und sechzig Dollar. Der Gewinner der zehn Dollar sagte: »Hey, vielen Dank, das reicht fast für zwei Schachteln Kippen«, und die Gewinnerin der sechzig Dollar freute sich zwar, aber angesichts ihres Verlobungsrings, der sicher sechzigtausend gekostet hatte, bezweifelte ich, dass die paar Kröten tatsächlich ihr Leben veränderten. Mit dem letzten Los in der Hand machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Da stand eine Frau in schmutzigen Sachen und mit mehreren Zahnlücken — genau das, worauf ich gehofft hatte. Selbst wenn sie nur eine kleine Summe gewann, könnte sie doch viel für sie bedeuten. »Hi«, flötete ich. »Ich habe hier ein Los für Sie.« Sie sah mich misstrauisch an. »Warum? Ist das ein Trick?« »Nein. Hier bitte.« Ich gab es ihr. Sie machte Anstalten, es in ihren Ausschnitt zu stecken, und ich sagte: »Bitte rubbeln Sie es gleich frei. Ich muss wissen, ob es ein Gewinn ist.« »Ich hab keine Münze.« Ich kramte in meinem Geldbeutel und gab ihr ein Zehn-Cent-Stück. »Mit 'nem Vierteldollar geht es besser«, sagte sie dreist. Ich kramte weiter, bis ich einen Vierteldollar gefunden hatte, und dann hielt ich den Atem an,
während sie damit auf dem Los herumkratzte. Eine Niete. Bittere Enttäuschung stieg in mir auf. Ich muss ziemlich niedergeschlagen ausgesehen haben, weil sie sagte: »Ist doch nicht so schlimm, Mädchen.« »Wenn es ein Gewinn gewesen wäre, hätte es vielleicht Ihr Leben verändert. Das hätte ich gern geschafft.« »Sie wollen mein Leben verändern?« »Unbedingt.« Sie musterte mich langsam von Kopf bis Fuß. »Ihre Schuhe da sehen bequem aus. Meine drücken ganz fürchterlich. Ich wette, wenn Sie mir die Schuhe geben, war das eine echte Verbesserung meines Lebens.«
Meine Schuhe? Ich wollte schon nein sagen, aber dann dachte ich, was soll's. Ich schlüpfte aus den Schuhen, die ich erst kürzlich für hundertzwanzig Dollar bei Macy's erstanden hatte. Sie nahm sie und ging ohne Dank oder sonst ein Wort davon. Mit einem Seufzen stellte ich mich an die Haltestelle und wartete auf den Bus. Vielleicht würde mir morgen, wenn ich eine Nacht darüber geschlafen hatte, etwas Besseres einfallen. Jedenfalls würde ich die Liste nicht zurückgeben, bevor dieser Punkt erledigt war. Ich würde zu der Party gehen und jedem als Versagerin gegenübertreten. Aber immerhin. Ich hatte es versucht. Der Gedanke traf mich wie ein Blitz. Ich hatte es versucht. Ich war gescheitert. Ich hatte mich wieder aufgerappelt, den Staub von mir geklopft und es noch einmal versucht. Ich! Natürlich — das war es! Neben mir ertönte eine Hupe und riss mich aus meinen Gedanken.
»Hey!« Es war Martucci, der mir durch das heruntergelassene Fenster seines Mercedes zurief: »Steig ein, verrücktes Frauenzimmer! Ich nehme dich mit.« Ich rannte zu ihm, ließ mich auf den Beifahrersitz sinken und, hmm, gegen den Geruch von echtem Leder kam eine gewöhnliche Bushaltestelle einfach nicht an. Martucci legte grinsend den Gang ein. »Ich würde ja fragen, warum du barfuß da rumgestanden hast, aber ich bin nicht sicher, ob ich es wirklich wissen will.«
25
20 Dinge, die ich vor meinem 25. Geburtstag gemacht haben will
1.50 Kilo abnehmen 2.Einen Fremden küssen. 3.Jemandes Leben verändern 4.Sexy Schuhe tragen 5.Einen 5-Kilometer-Lauf schaffen 6.Ohne BH losziehen 7.Buddy Fitch zahlen lassen 8.Die heißeste Frau im Oasis sein 9.Ins Fernsehen kommen 10.In einem Hubschrauber fliegen 11. Eine tolle Idee in der Arbeit präsentieren 12. Boogieboarding ausprobieren 13.In der Öffentlichkeit Eis essen 14.Zu einem Blind Date gehen 15.Mit Mom und Grandma zu einem Konzert
Von Wayne Newton gehen 16.Mir eine Massage geben lassen 17.Meine Badezimmerwaage wegwerfen 18.Einen Sonnenaufgang miterleben 19.Meinem Bruder zeigen, wie dankbar ich ihm bin 20.Eine große Summe für wohltätige Zwecke spenden
Das Nebenzimmer des Oasis war gesteckt voll. Leute saßen an hohen Tischen und standen herum, Gläser und Teller mit Essen in der Hand. Als Martucci und ich den Raum betraten, stand eine Frau namens Norma - ich erinnerte mich, dass sie das Treffen der Weight Watchers geleitet und Marissa in der Nacht ihres Todes die Ehrennadel überreicht hatte - mit einem Mikrofon in der Hand neben der Bar und war gerade dabei, eine Geschichte zu erzählen. Der Satz »Und von diesem Tag an hat sich praktisch jede Frau in der Gruppe nackt ausgezogen, bevor sie sich auf die Waage stellte«, mit dem sie endete — gefolgt vom lauten Gelächter der Gäste zeigte, welche Stimmung herrschte. Es war, wie Kitty gehofft hatte, tatsächlich eine Party. Wir ließen uns von dem Barkeeper ein Bier geben und bahnten uns einen Weg zu dem Tisch, an dem Susan und Brie mit Sebastian und Kip saßen. »Ich habe schon angefangen, mich zu fragen, ob du auch wirklich kommst«, sagte Susan und nahm Jacke und Handtasche von den Stühlen, die sie für uns reserviert hatte. »Wo sind denn deine Schuhe abgeblieben?« »Frag lieber nicht.« Während ich mich setzte, nahm Troy Norma das Mikrofon ab. Er trug Jeans und ein Hemd mit
offenem Kragen, und seine Haare waren frisch geschnitten — aber er weckte kein Verlangen in mir, eher den Wunsch, ihm über den Kopf zu streichen. »Jeder, der noch etwas sagen will«, sagte Troy, »ist hiermit herzlich eingeladen, es zu tun.« Er hielt das Mikrofon in die Höhe. Brie knuffte mich in die Seite. »Geh schon.« Eine junge Frau trat ans Mikrofon und verschaffte mir damit einen Aufschub. Sie stellte sich als Marissas Schulfreundin vor und begann zu erzählen, wie sie und Marissa in Mathe immer Spickzettel ausgetauscht hatten. »June muss nichts sagen, wenn sie nicht will«, sagte Susan leise zu den anderen am Tisch. »Dass sie gekommen ist, reicht schon«, stimmte Sebastian ihr zu. Martucci nahm einen Schluck Bier. »Natürlich sollte sie was sagen. Sie ist der Grund, warum diese Party überhaupt stattfindet.« »Bin ich nicht!«, zischte ich. Das hatte mir gerade noch gefehlt, dass er mich unter Druck setzte! »Diese Party findet statt, weil Marissa eine Liste mit Dingen aufgestellt hat, die sie vor ihrem 25. Geburtstag tun wollte ... was, nebenbei bemerkt, nicht passiert ist. Ich meine, es sind nicht alle Aufgaben erfüllt.« Brie schüttelte den Kopf. »Achtzehn von zwanzig. Wirklich schade.« »Wenn man es genau nimmt«, sagte ich, und es gelang mir nicht, ein stolzes Lächeln zu unterdrücken, »ist nur noch eine offen.« »Du hast Buddy Fitch gefunden?«, fragte Sebastian so aufgeregt, dass er zu flüstern vergaß. Ein paar Köpfe drehten sich in unsere Richtung, und ich hielt einen Finger an die Lippen. »Nein, das muss ich noch machen.« »Was denn dann —? Wie —? Ich meine, ich dachte ...« Als Sebastian
verwirrt verstummte, nutzte Brie die Gelegenheit, mich mit dem Ellbogen anzustoßen. »Dein Typ, Troy, sieht wirklich ziemlich gut aus.« »Der Bruder?«, fragte Kip. »Du hast was mit dem Bruder?« »Bei dem würde ich auch nicht nein sagen«, meinte Sebastian mit unverhohlenem Interesse. »Zwischen Troy und mir ist nichts.« »Zumindest noch nicht«, sagte Brie unerbittlich. »Die Nacht ist noch jung.« »Ja, genau. Jetzt, wo du kein Kind adoptierst, ist er ja vielleicht wieder interessiert«, sagte Martucci grob, wie er war. Susan schnaubte ärgerlich. »Lasst sie in Ruhe.« »Es ist nicht so, wie ihr denkt«, sagte ich. Ich wollte die Sache richtig stellen, und aus irgendeinem Grund wandte ich mich an Martucci. »Er ist einfach über den Verlust seiner Schwester noch nicht hinweg. Sie standen sich sehr nahe. Er tut mir irgendwie leid.« »Habe ich was verpasst?«, fragte Susan. »Läuft was zwischen euch?« »Bestimmt nicht«, sagte ich. Troy hatte das Mikrofon wieder an sich genommen und hielt es auffordernd in die Höhe für jeden, der als Nächster etwas sagen wollte. Seine Augen wanderten suchend durch den Raum, und als sich unsere Blicke trafen, verzogen sich seine Lippen zu einem schüchternen Lächeln. »Er ist ein netter Kerl«, sagte ich und stand auf. »Aber um ehrlich zu sein, er ist nicht mein Typ.« Ich nahm Troy das Mikrofon aus der Hand, und er gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor er zu seiner Familie ging. Ich atmete einmal tief durch, und dann wandte ich mich an die etwa sechzig versammelten Gäste. Ich hatte keine Rede geschrieben. Nicht, dass ich sie im Geist nicht unzählige Male gehalten hätte — aber da hatte ich noch angenommen, bis heute alle Aufgaben auf der
Liste erfüllt zu haben. In der Rede, die ich im Stillen immer wieder geübt hatte, berichtete ich von meinem Triumph: Die Liste sollte ein Geschenk sein, das ich der trauernden Familie machte. Das konnte ich jetzt vergessen. »Hallo, ich bin June Parker«, sagte ich und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Das eine oder andere Gesicht kannte ich noch von der Beerdigung, obwohl dieser Tag mittlerweile eine Ewigkeit zurückzuliegen schien. »Wie einige von Ihnen vielleicht wissen, war ich diejenige, die mit Marissa im Auto saß, als sie den Unfall hatte. Was Sie vermutlich nicht wissen, ist, dass Marissa eine ganz besondere Liste geschrieben hatte. Sie hatte sich zwanzig Aufgaben gestellt, die sie bis zu ihrem Geburtstag erfüllt haben wollte: heute.« Ich hielt inne, und aus der Menge war Gemurmel zu vernehmen. Die meisten wussten offensichtlich nichts von der Liste. »Marissa zu Ehren habe ich mich darangemacht, ihre Liste abzuarbeiten. Sie selbst hatte bereits zwei Aufgaben abgehakt. Eine bestand darin, 50 Kilo abzunehmen. Dieses Ziel hatte sie erreicht, und sie war, soweit ich weiß, ziemlich stolz darauf. Zu meinem Glück waren nicht alle Aufgaben so schwierig. Die andere Aufgabe, die Marissa selbst erledigt hat, war, ein Paar tolle, sexy Schuhe zu tragen ...«, an dieser Stelle blickte ich lächelnd auf meine bloßen Füße, »was bedauerlich ist, weil ich nichts dagegen gehabt hätte, das zu tun.« Das entlockte einigen Anwesenden ein Kichern, und ich blickte in lauter lächelnde, freundliche Gesichter. Diese Leute waren mir bestimmt nicht feindlich gesinnt, sie waren begierig darauf zu hören, wie sich Marissas Träume erfüllt hatten. Ich hoffte nur, dass mein fehlgeschlagener Versuch sie nicht allzu sehr enttäuschen würde. »Ich hatte keine Chance, Marissa näher kennen zu lernen«, fuhr ich
fort. »Ich kenne nur die Marissa, die die Liste aufgestellt hat, und daraus schließe ich, dass sie ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein muss.« Diese Bemerkung erntete Kopfnicken. Unsicher fragte ich: »Ich nehme an, Sie würden gern erfahren, was auf der Liste stand?« Die Antwort bestand in aufmunterndem Applaus und einem Chor von »Ja«-Rufen. »Na, dann wollen wir mal sehen ...«, sagte ich und begann mich zu entspannen. »Sie wollte Boogieboarding ausprobieren. Sich eine Massage geben lassen. Zu einem Blind Date gehen. Einer wohltätigen Organisation viel Geld spenden. Mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter« - ich sah zu dem Tisch, an dem die Familie saß, und Kitty zwinkerte mir zu - »nach Las Vegas fahren, um ein Konzert des großen Wayne Newton zu erleben.« Dies wurde mit »Ah« und vereinzeltem Beifall quittiert, und ich dachte angestrengt nach, was sonst noch auf der Liste stand. Obwohl sie im vergangenen halben Jahr eine so große Rolle in meinem Leben gespielt hatte, fiel es mir schwer, mich an alle Aufgaben zu erinnern. »Es stand natürlich noch mehr drauf«, sagte ich. »Aber ich möchte Ihnen von der wichtigsten Aufgabe erzählen, einer Aufgabe, die Marissa, wie ich glaube, sogar noch wichtiger war, als abzunehmen. Sie hatte sich vorgenommen, das Leben eines Menschen zu verändern. Diejenigen unter Ihnen, die Marissa nahestanden, wissen wahrscheinlich, wie sehr ihr das am Herzen gelegen haben muss. Jeder sagt mir, was für ein selbstloser Mensch sie war. Ich habe mich also darangemacht, jemandes Leben zu verändern — und Sie werden mir sicher zustimmen, dass das keine leichte Aufgabe ist. Ich wollte etwas Besonderes tun, und ich dachte, ich
hätte das Richtige gefunden. Ich sah eine Möglichkeit, einem Ehepaar, das sich verzweifelt ein Kind wünscht, dabei zu helfen, das Baby eines jungen Mädchens zu adoptieren, das es nicht selbst großziehen kann. Nur -«, ich stellte fest, dass meine Ansprache wesentlich persönlicher wurde, als ich es vorgehabt hatte, und dass es mir schwerfiel, die Worte auszusprechen, »hat es leider nicht geklappt. Das Mädchen hat sein Kind behalten, und das Ehepaar ... nun ja, sie sind immer noch kinderlos.« Ich fing den Blick einer älteren Frau auf, die mich mit bangem Ausdruck ansah. Wahrscheinlich befürchtete sie, dass diese Rede sehr bald eine sehr emotionale Wendung nehmen würde. Es war wohl besser, ich kam ohne weitere Umschweife zur Sache. »Und doch ist der Punkt, jemandes Leben zu verändern, abgehakt. Um das zu erklären, muss ich Ihnen etwas erzählen, was ich nicht unbedingt gern zugebe. Bevor ich mit dieser Liste anfing, hatte ich nämlich nicht sehr viel aus meinem Leben gemacht. Jemand, der mir in den vergangenen Monaten ein guter Freund geworden ist, der immer da war, wenn ich ihn brauchte, und dessen Meinung ich wirklich zu schätzen gelernt habe, sagte, er hätte immer den Eindruck gehabt, ich würde lediglich Dienst nach Vorschrift machen. Und so ungern ich das auch hörte, er hatte Recht, und zwar nicht nur auf die Arbeit bezogen. Ich habe mir die Liste auch deshalb vorgenommen, weil ich wissen wollte, wie es ist, sich Ziele zu setzen, so wie Marissa es getan hat. Ich hatte keine Ahnung, ob ich sie zu Ende bringen würde, und jetzt muss ich gestehen, dass ich es nicht geschafft habe. Eine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Aber genau darauf will ich hinaus. Auf dem Weg hierher habe ich immer noch versucht, die Liste zu Ende zu brin-
gen. Auch wenn ich es nicht rechtzeitig geschafft hatte, wollte ich nicht aufgeben.« Die letzten Worte presste ich in piepsigem Ton heraus. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich hörte Kitty sagen: »Sie machen das großartig, mein Kind.« Mit zitternder Stimme fuhr ich fort: »Mir ist klar geworden, dass ich nicht das Leben von jemand anderem verändern muss. Weil Marissa mein Leben verändert hat. Durch sie habe ich gelernt, was es bedeutet, das Leben wertzuschätzen. Mich anzustrengen. Mich für etwas einzusetzen, was mir wichtig ist. Ich hatte gehofft, ich könnte heute Abend hierherkommen und Ihnen erzählen, was ich für Marissa getan habe. Stattdessen kann ich nur sagen, wie dankbar ich für alles bin, was sie mir gegeben hat. Das werde ich nie vergessen. Ich werde es immer zu schätzen wissen.« Damit legte ich das Mikrofon weg und ging unter Beifall und Bravorufen zurück zu meinem Platz. Susan brach mir mit ihrer Umarmung beinahe die Rippen, und Sebastian und Kip schnieften beide leise. »Das war verdammt noch mal die beste Rede, die ich jemals gehört habe«, sagte Martucci und wischte mir mit dem Daumen eine Träne von der Wange. Brie schnauzte sich. »Ich weiß jetzt, was ich tun werde. Ich mache auch so eine Liste.« Ein Mann mit Dudelsack, der seinen Worten zufolge mit Marissa zusammen in einer Marschkapelle gewesen war, trat vor und erklärte, er wolle ihr Lieblingslied spielen, »Amazing Grace«. Wir hörten aufmerksam zu. Auch deshalb, weil es ziemlich schwierig ist, sich zu unterhalten, wenn jemand Dudelsack spielt. Als er fertig war und sich niemand mehr meldete, der etwas sagen wollte, dankte Troy allen Anwesenden für ihr Erscheinen. »Bitte bleiben
Sie«, sagte er. »Es gibt noch massenhaft Essen. Außerdem werden wir bald die Torte anschneiden.« Die Musicbox hatte gerade angefangen zu spielen, als Norma mit einem Stück Kuchen in der Hand zu uns an den Tisch kam. Ich fand es bewundernswert, dass sie es als Leiterin einer Weight-Watchers-Gruppe offenbar nicht für nötig hielt, sich deswegen zu entschuldigen. »Meinen Glückwunsch, dass Sie die Liste geschafft haben«, sagte sie. »Fast geschafft«, verbesserte ich sie. »Ach was. So genau muss man es auch nicht nehmen. Schade, dass Sie nie mehr zu unseren Treffen gekommen sind. Aber Sie sehen gut aus. Schlank.« »Das war die >Ich-bin-zu-deprimiert-um-zu-essen
»Doch, ich glaube, sein Nachname ist Fitch. Warum — kennen Sie ihn?« Ich traute meinen Ohren nicht. Ich hatte überall nach diesem Mann gesucht, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er in der Weight-WatchersGruppe sein könnte. Vielleicht war ich ihm an dem Abend, an dem ich zum ersten und einzigen Mal an einem Treffen teilgenommen hatte, sogar begegnet. Das Letzte, was ich wollte, war, diesen Leuten noch einmal gegenüberzutreten. Aber wenn es sein musste, würde ich es tun. Dann könnte ich die Liste abschließen. »Ich würde ihn gern kennen lernen«, sagte ich. »Kommt er noch zu den Treffen?« »Nicht mehr, seit er sein Idealgewicht erreicht hat«, sagte Norma. »Ach schade.« Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen. Aber wahrscheinlich hatte sie eine Adresskartei. Ich konnte — »Aber wenn Sie ihn kennen lernen wollen, ist das kein Problem. Er ist hier.« Sebastian schlug mit der Hand so fest auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. »Mich laust der Affe! Hier? In der Bar?« »Ja. Als Kitty Jones mich eingeladen hat, sagte sie, ich könnte mitbringen, wen ich will.« »Er ist hier«, sagte ich völlig baff. Buddy Fitch war hier. »Wo ist er?« Norma deutete auf einen Mann, der mit einem Grüppchen von Leuten zusammenstand. »Da drüben. Ich kann Sie miteinander bekannt machen. Lassen Sie mich nur schnell —« Ich wartete nicht einmal, bis sie zu Ende gesprochen hatte. Das war meine Chance, den letzten Punkt auf der Liste abzuhaken! Ich hoffte nur, dass er freiwillig erzählte, was immer er der armen Marissa Böses angetan hatte. Wenn nicht, würde ich ihn eben foltern müssen.
»Das war eine tolle Rede«, sagte er, als ich zu ihm getreten war. Er war stämmig, hatte schütteres rotes Haar und ein kantiges, aber freundliches Gesicht. »Danke« sagte ich und kam dann ohne Umschweife zum Punkt. »Sind Sie Buddy Fitch?« »Ich? Nein. Mein Name ist Peter Fitch.« Ich sah meine Felle schon wieder davonschwimmen, als eine Jungenstimme sagte: »Ich bin Buddy.« Mir stockte der Atem. »Bist du nicht Flash?«, sagte ich im gleichen Moment, in dem er auf mich zeigte und sagte: »Jetzt weiß ich wieder, wer Sie sind! Sie sind die Frau von dem Rennen!« »Und du bist Buddy Fitch?« Wie konnte der nette Junge von dem 5-Kilometer-Lauf etwas getan haben, was Marissa verletzte? Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln. »Ich muss mal kurz mit dir reden«, sagte ich und führte ihn zu einer Stelle, wo wir unbeobachtet waren. »Laufen Sie noch?«, fragte er, während er sich auf einen Stuhl hinter einem riesigen Farn plumpsen ließ. Ich sah ihn schuldbewusst an und gestand, dass ich das nur wegen der Liste getan hatte. »Wo wir gerade dabei sind«, fuhr ich dann fort und faltete sie auseinander. »Vielleicht kannst du mir was erklären.« Ich zeigte ihm Punkt Nr. 7, Buddy Fitch zahlen lassen. »Hast du eine Ahnung, warum Marissa aufgeschrieben haben könnte, dass du für irgendetwas zahlen sollst?« »Klar. Wir hatten miteinander gewettet. Als ich zu den Weight Watchers gekommen bin, hatte ich fünfzehn Kilo Übergewicht. Ich wollte in die Laufmannschaft in der Schule, und bei einem Treffen saß ich neben Marissa und habe zu ihr gesagt, ich wette, dass ich das nie schaffe. Sie hat dagegengehalten. Sie hat auch versprochen, dass sie mir beim Training hilft.«
Ich musste lachen. »Dann war das also wörtlich gemeint. Du solltest eine Wettschuld bezahlen.« »Sie ist ein paarmal nach der Schule mit mir gelaufen, bevor sie ... also ... Jedenfalls habe ich nicht aufgegeben. Ich bin weiter gelaufen.« »Um wie viel habt ihr gewettet?« »Einen Dollar.« Ich beugte mich zu ihm hinunter, bis unsere Augen auf gleicher Höhe waren. »Dann will ich jetzt nur noch eins von dir wissen: Bist du in der Laufmannschaft?« »Ja.« »In diesem Fall, Buddy Fitch -« Ich hielt ihm die offene Hand unter die Nase. »Her mit der Kohle!« 7.Buddy Fitch zahlen lassen Kurz nachdem ich mit der Liste an unseren Tisch zurückgegangen war und die letzte Aufgabe durchgestrichen hatte, brachen meine Freunde auf. »Ich bin so froh, dass es euch gibt«, sagte ich aus tiefstem Herzen. Allmählich drang es in mein Bewusstsein, dass ich die Liste zu Ende gebracht hatte. Noch vor ein paar Minuten hatte ich gedacht, es läge noch ein weiter Weg vor mir. »Ohne eure Hilfe hätte ich das alles nie geschafft.« Sie murmelten irgendwas von »Keine Ursache« und »Hab ich doch gern gemacht«, bis Martucci sagte: »Fang bloß nicht an, mich vollzuheulen, Parker. Das ist ein ganz neues Hemd.« »Gibst du die Liste zurück?«, fragte Susan. Ich nickte. »Das hatte ich von Anfang an vor: dass ich sie zurückgebe, sobald ich damit fertig bin. Ich hatte nur langsam befürchtet, dass ich es nie schaffe.«
»Aber du hast es geschafft, und zwar rechtzeitig«, sagte Sebastian freundlich. »Das muss die Texterin in dir sein -Hauptsache, bis zur Deadline ist alles fertig.« Dann gingen alle bis auf Martucci, der sagte, er würde warten und mich nach Hause bringen. Ich machte mich auf die Suche nach Kitty Jones. Als ich sie fand, band sie gerade Luftballons zusammen. »Hier, bitte sehr«, sagte ich und überreichte ihr die Liste. »Alles abgehakt.« Ich erklärte ihr die Sache mit Buddy Fitch. »Er hat mir erzählt, dass er dank Marissa in die Laufmannschaft seiner Schule aufgenommen wurde«, sagte ich. »Es ist also eigentlich eine Aufgabe, die sie selbst erfüllt hat.« Kitty drückte meinen Arm und ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Bringen Sie mich nicht zu guter Letzt doch noch zum Weinen. Bis jetzt habe ich es geschafft, mich zusammenzureißen. Ich nehme das mit —« sie hielt die Liste hoch — »und schaue es mir zu Hause in aller Ruhe an.« Ich sah mich unter den Gästen um, von denen einige bereits im Aufbruch begriffen waren. »Ich muss jetzt gehen, aber ich wollte mich vorher noch von Troy verabschieden.« »Er steht dort drüben am Büffet mit seiner Tante Lorraine. Sie löchert ihn wahrscheinlich gerade, warum er noch nicht verheiratet ist. Er wird Ihnen bis in alle Ewigkeit dankbar sein, wenn Sie ihn aus ihren Fängen befreien.« Das war kein Witz gewesen. Sobald ich mich den beiden näherte, sagte Troy laut: »Nett, mal wieder mit dir geplaudert zu haben, Tante Lorraine, aber jetzt muss ich kurz mit June sprechen.« »Rate mal, was passiert ist«, sagte ich, als er mich in eine ruhige Ecke führte. »Wir haben Buddy Fitch gefunden. Er ist hier - es ist ein Junge aus ihrer Weight-Watchers-Gruppe. Damit ist die Liste komplett.«
»Das ist ja unglaublich, June.« »Jedenfalls wollte ich dir noch für alles danken, bevor ich gehe.« »Ich habe ja nicht besonders viel getan, aber du weißt, dass ich dir gern geholfen habe, soweit ich konnte.« »Übrigens«, sagte ich voller Stolz, »das mit meiner Beförderung hat geklappt.« »Ich wusste, dass du es schaffst.« Er fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. »Hör mal ... wegen neulich, als ich zu dir ins Büro gekommen bin. Du hast gesagt, du hättest meine Nachricht auf deinem Anrufbeantworter nicht ganz gehört. Wahrscheinlich ist das ganz gut so. Ich habe viel Unsinn geredet. Worum es mir in erster Linie ging — ich weiß, das klingt jetzt ziemlich abgedroschen aber das, was in Las Vegas passiert ist, hatte nichts mit dir zu tun. Es lag allein an mir.« »Ist schon gut.« »Nein. Ich habe dich angefahren, weil du ein Kind adoptieren wolltest. Und ich weiß nicht, ob ich das vorhin richtig verstanden habe, aber es klang so, als würdest du es jetzt doch nicht tun.« »Ich wollte im Grunde nie eine allein erziehende Mutter sein — ich bin da einfach irgendwie reingerutscht. Und was Las Vegas betrifft, das war nicht weiter schlimm. Ehrlich. Du hast viel durchgemacht, du und Marissa, ihr standet euch sehr nah. Ich kann verstehen, dass du hin- und hergerissen warst.« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich hätte es kommen sehen müssen. Ich erinnere mich daran, wie ich dich das erste Mal auf der Beerdigung gesehen habe, als du uns dein Beileid ausgesprochen hast. Du hattest dieses riesige Veilchen, und als du vor mir gestanden bist, dachte ich, wow, die ist
klasse, und ich habe mich dabei ertappt, dass ich dir in den Ausschnitt geschielt habe, um herauszufinden, wie weit der Bluterguss reicht. Danach habe ich mich dafür geschämt, dass mir auf der Beerdigung meiner Schwester so etwas überhaupt aufgefallen ist.« Bevor ich etwas darauf erwidern konnte — was hätte ich auch sagen sollen? -, trat eine Frau zu uns und sagte: »Troy, deine Großmutter lässt dir ausrichten, dass du gebraucht wirst. Sie wollen die Torte anschneiden.« »Sag ihr, ich komme gleich.« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Lässt du mal was von dir hören?« »Soll das ein Witz sein? Jetzt, wo ich den neuen Job habe, brauche ich dringend gute Kontakte.« »Einen hast du. Jederzeit.« Ich drückte Troy zum Abschied an mich und ging dann zurück zu Martucci, der sich mit Buddy Fitch über verschiedene Lauftechniken unterhielt. »Meinetwegen können wir gehen«, sagte ich. An der Tür blieb ich noch einmal kurz stehen, um einen Blick zurückzuwerfen. Troy und seine Familie hatten sich um die Torte herum aufgestellt. Es brannten fünfundzwanzig Kerzen, deren Licht über ihre Gesichter flackerte, als sie sich vorbeugten. Niemand sang »Happy Birthday«. Erschöpft, aber so zufrieden wie noch nie, sah ich Kitty tief Luft holen. Und dann bliesen alle gemeinsam die Kerzen aus.
26
Seltsam, dass ich jetzt auf einmal gar nichts mehr zu
tun habe«, sagte ich, als Martucci vor meinem Haus anhielt. Es war ein warmer Abend, und durch das offene Schiebedach seines Wagens sah man die Lichter der Stadt. »Du hast deine Sache gut gemacht.« »Ich will nur nicht wieder in den alten Trott zurückfallen.« Er stellte den Motor ab. »Dann tu es nicht.« »Und wie?« Die Frage überraschte mich selbst. Wieder einmal wandte ich mich Rat suchend an Martucci, während ich es noch vor wenigen Monaten kaum ertragen hatte, mich mit ihm auch nur im gleichen Raum aufzuhalten. Ich fand ihn überhaupt nicht mehr abstoßend, sondern ... ach, keine Ahnung. Ich war gern mit ihm zusammen. Plötzlich fielen mir Dinge auf, die ich früher nicht bemerkt hatte, zum Beispiel, dass er gut roch ... seine tiefe Stimme ... die Fältchen in seinen Augenwinkeln, wenn er lächelte. »Das ist doch ganz einfach«, sagte er und grinste und da waren sie wieder, die Fältchen. »Denk dran, was du vorher gemacht hättest, nämlich nichts. Du musst also nur etwas machen.« »Sehr komisch.« Nach einer kleinen Pause fügte ich hinzu: »Mein altes Ich wäre jetzt ausgestiegen und ins Haus gegangen.« Er hob eine Augenbraue. »Und das neue Ich ... ?« Ich drehte mich auf meinem Sitz um, zog mit einer Hand seinen Kopf zu mir und gab ihm einen Kuss. Es fühlte sich gut an - warm und sanft und weich und ich küsste ihn noch einmal und noch einmal, und kurz darauf verschlang ich ihn geradezu, und er drückte mich an sich, vergrub seine Hände in meinen Haaren, und es war einfach verrückt ... von allen Männern auf der Welt ausgerechnet Dominic Martucci! Doch ausnahmsweise verzichtete ich dar-
auf, lange zu grübeln oder mich Selbstzweifeln hinzugeben. Ich war ganz sicher - wohin auch immer es führen und was auch immer daraus werden würde: In Martuccis Auto quer auf dem Beifahrersitz zu liegen und mit meiner Zunge gierig seine zu suchen war genau das, was ich im Augenblick wollte. Er sah mich an und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Um eins klarzustellen, Parker«, sagte er. »Das hier zählt.« »Freut mich, dass wir einer Meinung sind. Jetzt, wo ich keine Liste mehr habe, muss ich mich auf mich selbst verlassen.« »Hm. Ich habe übrigens auch eine Liste aufgestellt.« »Ach ja?« »Ja. Seit ich dich in Vegas ins Bett gebracht habe und einen näheren Blick auf dich werfen durfte, habe ich ununterbrochen daran denken müssen, was ich gerne mit dir machen würde.« Er bedeckte meinen Hals mit Küssen und arbeitete sich langsam zu meinem Mund vor. »Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass du jetzt keine Liste mehr hast. Meine wird dich nämlich ganz schön in Trab halten.« Ich starrte auf das leere Blatt und kaute auf meinem Stift herum. Es war schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Alles, was ich bis jetzt zu Papier gebracht hatte, war »Junes Aufgabenliste«. Eigentlich brauchte ich gar keine Liste. Mein Leben hatte sich im Vergleich zu früher bereits verändert, außerdem erwies sich Martuccis Liste als ausgesprochen zufriedenstellend. Trotzdem konnte es wohl nicht schaden, mir ein paar Ziele zu setzen, die unter anderem meine Garderobe betrafen. Das Erste, was ich am Samstag nach Marissas Geburtstagsparty getan hatte, war, die Geschenke
meiner Kollegen für das Baby zusammenzupacken und zu Deedee zu fahren. Ich wusste zwar, dass samstags der Geburtsvorbereitungskurs stattfand, aber der konnte ja nicht den ganzen Tag dauern. Möglich, dass sie vorgehabt hatte, mich loszuwerden, aber um das zu schaffen, musste sie schon schwerere Geschütze auffahren. Deedee öffnete mir die Tür in einem Top, das sich über einem gewaltigen Bauch spannte, und ich starrte sie mit offenem Mund an. »Mein Gott, hast du die Olson-Zwillinge verschluckt, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe?« »Ich weiß. Ich sehe aus wie eine fette alte Kuh, was?« »Nein. Du bist hübsch wie immer. Aber dein Bauch ist eine ziemliche Wucht.« Sie runzelte die Stirn. »Warum bist du hier? Ich war sicher, dass du nie mehr was mit mir zu tun haben willst.« »Vergiss es. Ich gebe zu, dass ich enttäuscht war, aber wie könnte ich sauer auf dich sein? Du hast eine gute Entscheidung getroffen. Also was ist, willst du mich den ganzen Tag vor der Tür stehen lassen oder lässt du mich rein, damit ich dir meine Geschenke geben kann?« Sie rief Maria, und ich brauchte niemanden, der mir die Ahs und Ohs übersetzte, vor allem, als ich den Cadillac von einem Kinderwagen ins Zimmer rollte. Ich hatte keine Skrupel gehabt, die Geschenke meiner Kollegen zu behalten. Mit dem Geld, das ich im Lauf der Jahre für andere Leute ausgegeben hatte, hätte ich die Anzahlung auf eine Eigentumswohnung leisten können. Ich erklärte den Leuten einfach, dass ich die Geschenke an eine arme, blinde werdende Großmutter weitergeben würde, und damit basta. Es gab keinen Grund zu erwähnen, dass sie erst neunundzwanzig war.
Als Deedee ausführlich zu erzählen begann, dass sie neulich ihrer Erzfeindin Theresa über den Weg gelaufen sei, musste ich lächeln. Ich hätte beinahe ein Kind adoptiert, weil ich so fasziniert von der Vorstellung gewesen war, dass es da ein kleines Mädchen gab, das mich brauchte. Und es gab tatsächlich immer noch ein kleines Mädchen, das mich brauchte. Sicher, sie neigte dazu, zu fluchen und zu viel Eyeliner aufzutragen, aber sie brauchte mich. Ein paar Tage später rief mich mein Bruder an und forderte mich auf, mir endlich mal wieder meine EMails anzuschauen. »Ich habe dir unsere Bewerbung für die Adoptionsagentur geschickt. Du bist doch Texterin. Ich wollte wissen, ob du irgendwelche Verbesserungsvorschläge hast.« »Ihr wollt ein Kind adoptieren — das ist wunderbar! Wie kommt das auf einmal?« »Bleib dran, das soll dir die Chefin erklären«, sagte er und reichte den Hörer an Charlotte weiter. Sie berichtete mir, sie und Bob hätten auf der Heimfahrt darüber geredet und ihr sei durch die Sache mit Deedee klar geworden, dass sie auch ein fremdes Kind lieben könnte. Das Adoptionsverfahren konnte ein Jahr oder länger dauern, sagte sie, aber das war nichts im Vergleich dazu, wie lange sie bereits gewartet hatten. »Und es macht dir nichts aus, dass es mit Deedees Baby nicht geklappt hat?« »Zuerst war es schwer. Aber dann ist mir klar geworden, dass es eines Tages klappen wird. Bob und ich werden irgendwann Eltern sein. Wir müssen eben noch ein bisschen Geduld haben, bis es so weit ist. Ich war traurig, aber ich musste es akzeptieren — dieses Kind war einfach nicht für uns bestimmt.«
Vielleicht sollte ich Mit Delfinen schwimmen auf meine Liste setzen. Andererseits, vielleicht auch nicht. Meine Mutter mochte den Wunsch verspüren, mit Flippers kleinen Freunden herumzutollen, aber auf meiner Liste hatte es nichts zu suchen. Die Wahrheit war, ich hatte den größten Teil meines Lebens verplempert, ohne mir groß Gedanken darüber zu machen, was ich eigentlich wollte. Selbst im letzten halben Jahr, als ich mich so angestrengt hatte, die Liste zu Ende zu bringen, hatte es sich um eine Liste von Träumen einer anderen Frau gehandelt. Es war an der Zeit, dass ich mich an die Erfüllung meiner eigenen Träume machte. Es gab so viele Orte zu sehen. So viele Dinge zu tun. Ich könnte heiraten, Kinder kriegen. Stepptanz lernen. Die Klassiker lesen. Einen Sportwagen kaufen. Es gab eine Million Dinge, die ich auf meine Liste schreiben konnte. Was ich aufschrieb, war: 1. Fallschirmspringen. Wie kam ich denn auf einmal darauf? Ich hatte noch nie die geringste Neigung verspürt, mich aus einem Flugzeug zu stürzen. Ehrlich gesagt, hatte ich es immer für so ziemlich das Dümmste gehalten, was jemand tun konnte. Doch auf einmal klang die Idee, einen kühnen Sprung zu wagen - schwerelos durch die Luft zu wirbeln und dabei darauf zu vertrauen, dass ich den richtigen Moment zum Öffnen des Fallschirms erwischte, um weich zu landen - na ja, plötzlich klang das, als würde ich es gern mal ausprobieren.