Die Zeit des Bösen von Adrian Doyle
Manchmal öffnen sich Türen. Besondere, unsichtbare Türen. Und ehe man sich versieh...
23 downloads
691 Views
777KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Zeit des Bösen von Adrian Doyle
Manchmal öffnen sich Türen. Besondere, unsichtbare Türen. Und ehe man sich versieht, sind sie wieder verschlossen. Glücklich, wer dann der Verlockung widerstanden hat. Und ein armer Tropf, wer plötzlich auf der anderen Seite steht, denn seine Tage werden von nun an finster wie die Nächte sein! Von Gott und der Welt verlassen, wird er unter Feinden wandeln … Durch welches Tor mag ich gekommen sein? Denn eines weiß ich sicher, und ich schwöre jeden Eid darauf: Hierher gehöre ich nicht! Aber wohin dann? Wer bin ich überhaupt? Und wann – hören endlich diese schrecklichen Schreie aus meinem Munde auf …?
Was bisher geschah Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine ein Knabe geboren, der sich der Kraft der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Die Epidemie macht auch vor dem Häuptling eines Stammes von Vampir-Indianern nicht halt, die sich vom Bösen abgewandt haben, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, den Adlern, halten. Makootemane kämpft mit dem Traumbild der Seuche – einem Purpurdrachen – und drängt ihn zurück. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Kindes namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Rafael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie aus einer Traumwelt, in der Vampire die Erde beherrschen, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der den Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens scheinen eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor – und die Mächte dahinter – aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet … In der Zwischenzeit führt die Seuche einen zweiten Schlag gegen die Vampir-Indianer. Hidden Moon, Makootemanes Schüler, bittet Lilith Eden um Hilfe. Sie steht den Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler und letztlich – durch Lilith – auch Makootemane tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen To-
temtieren. Hidden Moon schließt sich Lilith an. Das wird beiden beinahe zum Verhängnis. Denn Lilith tötete Hidden Moons Totemtier, und nun »staut« sich das Böse in dem Arapaho – bis er erkennt, daß Lilith die Rolle seines Adlers übernommen hat und er nur in ihrer Nähe dem Bösen widerstehen kann. Doch als seine angestauten Energien auf Lilith übergehen, verändert dies ihr Gleichgewicht: Liliths böse, vampirische Seite gewinnt die Oberhand! Schließlich können Lilith und Hidden Moon ihre wahre Natur wiederfinden, doch schon droht die nächste Gefahr: Gabriel, der mehr über die Halbvampirin erfahren möchte, versetzt sie abermals in einen Traum – und diesmal in ihren eigenen. Lilith findet sich in Sydney wieder, in der Traumwelt, in der sie die ersten 98 Jahre ihrer Existenz schlafend verbrachte. Während Gabriel die Charaktere aus dem Traum übernimmt, um Lilith auszuhorchen, versucht Hidden Moon in der Realität, Lilith zurückzuholen. Dabei erhält er unverhofft Hilfe: von den Traumgestalten Duncan Luthers und Esben Storms, die Gabriel nicht in seine Gewalt bringen kann, weil sie anderen Göttern dienten. Abermals muß das Kind sich geschlagen geben …
Prolog Sie schwebte. Zwischen ihrem Sein, ihrer Noch-Existenz, und jener magischen Grenze, hinter der nur das unentdeckte Land liegen konnte: der Tod. Eine Balance, von der sie zuvor nicht einmal etwas geahnt, sich nie den Kopf darüber zerbrochen hatte, glaubte sie nun intuitiv zu durchschauen: die Balance des Kommen und Gehen, des Lebens und seinem Gegenteil … Gegenteil? Unter ihr lag das, was sie meinte. Genau unter ihr lag die Frau, die sie einmal gewesen war. Sterblich. Gestorben! Ihr Kopf lag in unmöglichem Winkel vom Körper abgewandt. Als sie aus einem Impuls heraus glaubte, die Konfrontation mit dieser nie mehr atmenden, erkalteten Hülle nicht mehr ertragen zu können, entzog sie sich dem Anblick tatsächlich durch eine schattenhafte Flucht ihres Geistes! Zufrieden machte es sie nicht, sich von dem, was sie ein Leben lang begleitet hatte, abrücken zu sehen. Zufrieden nicht, nein, todunglücklich wurde sie … Ihre Sicht der Dinge, diese unmögliche außerkörperliche Erfahrung, erfuhr eine neuerliche Wandlung. Ihre Umgebung, in der es wenigstens noch den vertrauten Bezugspunkt ihres Leichnams gegeben hatte, entartete nun völlig, zog sich enger und enger um sie zusammen und bildete eine Art … Schlauch. Ein Tunnel? Ein Korridor, der in purpurnen Schimmer von einer solchen Verderbtheit und Düsternis getaucht war, daß selbst einer losgelösten, einsamen Seele, die ihn durchirrte, schaudern mußte!
Am Ende des Korridors, so weit entfernt, daß körperliche Augen es nicht hätten sehen können, war dagegen ein helles Licht – strahlend und rein und überhaupt nicht vergleichbar mit dem gräßlichen Abglanz, dessen Ursprung in einer Quelle lag, um deren Dämonie die fliehende Seele zumindest noch verschwommen wußte. Purpur war die Farbe des Bösen. Des Bösen, das auch sie umgebracht hatte … Da waren Türen zu allen Seiten des Korridors, der kein »oben« und kein »unten«, kein »links« und kein »rechts« zu kennen schien, sondern sich schnurgerade wie ein Lineal von einem Ankerpunkt des Nichts zum anderen zu ziehen schien. Keine der Türen stand offen. Was sie verbargen, kümmerte die Seele nicht. Nie wieder Türen oder Tore!, dachte sie voller Grauen. Hinter einem Tor war sie ermordet worden – feige und gemein, und der Gipfel der Niedertracht war, daß sie nicht einmal im Tode ihre Ruhe finden durfte …! Also mied sie diese Ausgänge ins Unbekannte, floh weiter zielstrebig dem Ende des Tunnels entgegen, wo jenes warme Licht loderte, von dem sie sich Trost erhoffte. Und Hilfe. Ewigen Schlaf … … oder einen Platz zum Sein, an dem sie nie mehr – von niemandem – gestört werden würde! Je länger diese sphärenhafte Reise nach dem eigenen Empfinden dauerte, desto selbstverständlicher wurde sie. Die Seele verschwendete keinen Gedanken mehr daran, welche Kraft sie eigentlich bewegte. Sie hatte es verdient, nicht einfach zu erlöschen wie eine von boshaftem, klirrendem Atem ausgeblasene Kerzenflamme. Verdient! Warum hat sie das getan?
Immer wieder glomm die Frage nach dem Motiv ihrer Mörderin in ihr auf. Aber eine Antwort blieb ihr versagt. Hoffentlich brätst auch du in der Hölle! Hoffentlich gibt es eine Hölle NUR FÜR DICH! Haß überrollte sie wie eine alles verschlingende Woge, griff nach ihren Gedanken und vergiftete sie mit Purpur. Was war das? Im gleichen Maße, wie die Wut sie überkam, schien sich ihr Geist mühsamer auf das Licht zubewegen zu können. Als würden die zerstörerischen Gelüste, die sie selbst sich in dieser Intensität nicht erklären konnte, den Vorwärtsdrang hemmen, sie von dem Licht, der Wärme und Zuflucht fernhalten wollen. Sie hielt inne. Es ging ganz leicht: Die Gedanken, das Wollen und die Hoffnung waren mächtig an diesem Ort, und so drängte sich der Seele die Frage auf, warum sie sich nicht einfach zum Ende des Tunnels wünschte. DA GESCHAH ES. Noch ehe sie ihren Einfall erproben konnte, strömte der Purpur explosionsartig aus den umgebenden Wänden des Tunnels und hüllte alles in seinen monströsen Schein! Sie wußte es, ohne den Grund für dieses Wissen zu erfahren: Etwas war jenseits der Schwelle ihrer Wahrnehmung, am Ende der Zeit ERWACHT! Plötzlich waren da andere Seelen, die der einsamen entgegenrasten – von jenem immer noch fernen, immer noch erhaben strahlenden und von Purpur unberührten Punkt des Korridors! Diener-Seelen! (?) Geister von Toten, von denen einige der Ermordeten im Leben bekannt gewesen waren. Sogar ein Freund war darunter … Hat sie also auch dich geopfert? fragte die wohlbekannte Stimme. Hat sie auch dich im Stich gelassen und hintergangen – um ihrer »Bestim-
mung« willen? Bleib! Sage mir … Er war vorbei! Wie ein Blatt im Sturm war er mit all den anderen über sie hinweg oder an ihr vorbei gerast. Achtlos. Und … … froh? Erlöst? Befreit? VON WEM? UND WARUM ERBARMT SICH NIEMAND MEINER …? Erneut drängte sich Haß in ihre Gedanken, die sinnlose Wut auf ihre Mörderin, ihr vertanes, viel zu kurzes Leben, auf den Widerstand, den das Licht ihr entgegensetzte. Niemand antwortete der Seele. Doch als der Purpur erlosch und die Wände zu einer grauen Fläche degenerierten, die ihren Schrecken verlor, sah sie, daß sich wieder etwas geändert hatte: Alle Türen standen nun offen, als hätte der Zug der Geister sie im Vorbeijagen aufgerissen! Nein, keine Türen, keine Tore, nie wieder …! Die Seele blieb sich treu. Sie widerstand der Verlockung dessen, was hinter all diesen Unterbrechungen des unendlich scheinenden Korridors wartete. Den Sog, der jäh aus einem dieser Löcher nach ihr griff, dem sie am nächsten war, kümmerte dies nicht. Er scherte sich nicht um ihr Wollen, er zwang sie in sich hinein, unwiderstehlich, als hätte sich nicht nur eine Tür, sondern ein Rachen geöffnet – ein hungriger Schlund, dem die erstbeste Beute gerade gelegen kam! Es gab kein Entrinnen. Finstere Tore wie dieses gab es viele im Korridor der Zeit … … aber nur in wenigen lauerte die Inkarnation des Urbösen …
* Dresden, im Frühjahr 1618
Nur das goldene Wabern einer einzelnen Kerze erhellte die Kammer. Sie schuf einen flackernden Kreis, der kaum groß genug war, das schmale Bett zur Gänze auszuleuchten. Und die Bewegung jenseits des Fußendes war allenfalls zu erahnen, nicht jedoch wirklich auszumachen. Dennoch wußte der junge Bursche, der nackt ausgestreckt auf dem Bett lag, was dort vor sich ging. Das Rascheln von Stoff verriet ihm, daß sie gerade dabei war, ihre Kleider achtlos zu Boden rutschen zu lassen – über ihre samtene, bleiche Haut, entlang ihrer herrlich geformten Gestalt, von der er wußte, daß nicht der Schöpfer sie geschaffen hatte … Justus versuchte den Gedanken zu verdrängen. Sie mochte durchaus in der Lage sein, ihn zu lesen. Und wenn nicht das, dann mußte sie ihn in seinem Gesicht entdecken, wo er sich als furchtsames Zucken niederschlug. Vielleicht aber würde sie das nervöse Regen seiner Züge auch für etwas ganz anderes halten. Und wenn er ehrlich sich selbst gegenüber war, dann rührte es in der Tat von der Erregung her, die aller Angst, die ihre Präsenz und das Wissen um ihr wahres Wesen in ihm schürte, wie zum Trotze in seinen Lenden flammte. Ihre Schritte waren kaum zu vernehmen, wie das Tappen einer Katze mehr zu spüren, denn zu hören. Und mit der Geschmeidigkeit und Grazie einer solchen schlich sie auch zu ihm. Das Kerzenlicht gaukelte eine güldene Färbung ihrer nackten Haut vor, als sie schnurrend zu ihm auf das Bett glitt und sich schlangengleich an ihn schmiegte. Justus fröstelte unter der Berührung ihres kühlen Leibes, dem das Feuer, das in ihm brannte, wohl fremd sein mußte. Denn die Hitze seines Körpers vermochte nicht einmal die Kühle des ihren mindern. Schön war sie, atemberaubend schön. Und es schien ihm einen Moment lang wie ein Verbrechen, solche Schönheit zerstören zu
wollen … Aber auch diesen Gedanken verbat er sich. Er zerfloß ohnehin, als ihre Finger auf Wanderschaft gingen. Über seine noch haarlose Brust erst, dann tiefer hinab, wo sie mit kleinen, aber geschickten Bewegungen das verbotene Feuer in ihm weiter schürte. Er wuchs in ihrer Hand, und die Größe schien ihr zu gefallen, denn sie lächelte, zufrieden und voll gieriger Vorfreude. »Unsere Begegnung scheint mir ein Glücksfall.« Rauh und kehlig klang ihre Stimme, sehr viel mehr wie die eines Tieres als die der schönen Frau, die sie zu sein vorgab. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen, ihre Zunge zauberte ihm flüchtige Feuchtigkeit auf die Lippen. Justus schauderte, und konnte doch nicht verhindern, daß sein Glied in ihrer Hand zu noch mächtigerer Größe anschwoll. Sie quittierte es mit lüsternem Gurren. »Unsere Begegnung …«, setzte er an. »Ja?« Er schluckte hart, weil ihm die Worte nicht aus der trocken gewordenen Kehle wollten. »Sprich, süßer Jüngling«, forderte sie ihn neckisch. Ihr Lächeln entblößte für die Dauer eines Lidschlages die Gefahr, die jenseits ihrer dunklen Lippen lauerte. Es schmerzte ihn fast in der Seele, tun zu müssen, was getan werden mußte. Wie es der Plan wollte. »Unsere Begegnung bedeutet deinen Tod«, brachte er dann endlich hervor – und begann lauthals zu brüllen! Die Zeit genügte kaum, sie zurückzucken zu lassen. Fauchend wollte sie von dem jungen Burschen lassen, als hinter ihr auch schon die Tür zur Kammer aufflog und krachend gegen die Wand schlug. Bewegung entstand in der Öffnung, Schatten quollen herein. So schien es bis zu dem Moment, da die ersten Fackeln geschwungen wurden und die Kammer mit rötlichem Flackern füllten.
Rötlich wie Blut fast … Die Frau kreischte auf. Nicht weil der Gedanke an das entgangene Mahl ihre Gier in Irrsinn umschlagen ließ. Sondern weil die Kreuze, die ihr in einem halben Dutzend Fäusten entgegengereckt wurden, den Schmerz in ihr hochschlagen ließen, wie ein Sturm die Wogen der See auftürmte. Justus rollte sich derweil auf der anderen Seite vom Bett, raffte seine dort abgelegten Kleider zusammen und schlüpfte rasch in eine Ecke der Kammer, die das Fackellicht aussparte. Dort kleidete er sich hastig an. Die anderen mußten nicht sehen, in welchem Maße er der Blutsaugerin verfallen war, was ihre spürbare Leidenschaft in und vor allem an ihm bewirkt hatte … Dabei ließ er das Geschehen jedoch nicht aus dem Blick. Sechs dunkel gekleidete Männer bannten die Vampirin mit Kruzifixen. Es zischte auf, als einer von ihnen die Nackte unversehens damit berührte. Ihre Schreie erreichten eine neue, noch furchtbarere Qualität. Schwach lag der Geruch verbrannten Fleisches in der Luft. Justus wollte die Augen schließen, als ihm ein Gefühl erwuchs, das er nicht haben durfte. Mitleid verdienten Bestien wie sie nicht. Mitleid würde ihn untauglich machen für die Aufgabe, die er dereinst übernehmen sollte. Wenn er nicht mehr nur Gehilfe des Meisters sein würde … So hielt er die Augen weiter geöffnet, starrte hin zu der Vampirin und zu den anderen. Deren Halbkreis teilte sich jetzt wie auf ein geheimes Kommando hin. Sie machten einer weiteren Gestalt Platz, ebenso dunkel gekleidet. Auch dieser Mann hielt ein Kreuz in der Hand, in der anderen jedoch keine Fackel, sondern ein Glasfläschchen. Vor der noch immer fauchenden und keifenden Vampirin blieb er stehen. »Fein bist du mir in die Falle gegangen«, sagte er, weder triumphierend noch sonst von irgendeiner Regung geprägt. »Mag dein Tod deiner Rasse eine Lehre sein.«
»Die meinen werden mich rächen«, zischte die Blutsaugerin. »Unsinn«, erwiderte der Mann, »vorsichtig werden sie sein, wenn sie so klug sind, wie ich meine. Für eine Weile zumindest …« Mit einem Wink befahl er zwei seiner Vasallen die Vampirin zu packen. Sie ergriffen sie an den Armen, eine Faust wühlte sich in ihr langes, schwarzes Haar und riß ihr den Kopf in den Nacken. Mehr vor Wut denn vor Schmerz schrie sie auf. Darauf hatte der Mann nur gewartet. Blitzschnell hielt er ihr das Fläschchen über den geöffneten Mund und kippte es. Eine farblose Flüssigkeit netzte ihre Lippen und traf schließlich das dunkle Rund ihres Mundes, in das zwei elfenbeinerne Fangzähne hineinragten. Im Reflex schluckte die Blutsaugerin, was ihr da eingeflößt wurde. Jetzt kerbte doch ein zufriedenes Grinsen die Lippen des anderen, für einen Moment jedenfalls. »Nun versuche uns zu entkommen«, forderte er sie auf, »indem du dich –«, er bewegte die angewinkelten Arme wie verkrüppelte Flügel, »– verwandelst.« Sie erstarrte im Griff der Häscher. Ihr Blick schien sich nach innen zu kehren, ihre Konzentration war fast spürbar. Doch nichts geschah. Sah man davon ab, daß die Vampirin sich wie toll gebärdete, als die Reglosigkeit der Anspannung schließlich von ihr abfiel. »Was hast du getan, du elender Wurm?« brüllte sie. Der Mann hielt das Fläschchen ins Fackellicht. »Ein wahrhaft edles Tröpfchen, das mir da gelungen ist«, sagte er mit stillem Lächeln. Dann wandte er sich und hieß Justus mit einem Wink zu sich. »Komm, mein Junge!« rief er ihm zu. Justus ging zur Tür, ohne den Blick von der Vampirin abzuwenden. Ihr Anblick berührte etwas in ihm, erweckte, was eben wieder eingeschlafen war. Seine Gedanken bewegten sich von selbst an einen Punkt der Zeit, den sie beide nicht erreicht hatten.
Der junge Bursche erschrak regelrecht, als er feststellte, daß es vages Bedauern war, was er empfand. Obwohl er doch wußte, daß es seinen Tod bedeutet hätte, wenn sie weitergegangen wären. Oder zumindest das Ende des Lebens, wie er es kannte … Als er Matthäus Wenzel, dem Meister, aus der Kammer folgte, sah es nicht nur aus wie Flucht. Die Sonne schob sich über den Horizont. Der Himmel über Dresden schien wie mit Blut getränkt. Vielleicht, überlegte Justus, während er neben Matthäus Wenzel einherschritt, war dies der Grund, weshalb Hinrichtungen oft zu dieser frühen Stunde vorgenommen wurden. Die Gassen waren noch fast menschenleer. Die Wenigen, die noch oder schon wieder auf den Beinen waren, schenkten dem unauffälligen Paar, das wie Vater und Sohn aussah, kaum Beachtung. Alsbald erreichten sie noch spärlicher belebte Bereiche der Stadt. Schließlich langten sie am Ufer der Elbe an und folgten ihrem Lauf. Seit ihrem Aufbruch hatten der junge Bursche und der Mann kaum ein Wort miteinander gewechselt. Jetzt aber brach Justus das Schweigen: »Ich möchte nicht ungehorsam erscheinen, aber erlaubt Ihr mir eine Frage?« Wenzel nickte und sah den Jungen von der Seite her an. »Natürlich. Frag nur.« Justus zögerte, als suchte er noch nach den rechten Worten, obwohl ihm die Frage schon seit ihrem Aufbruch auf der Zunge lag. »Ist es denn eine weise Entscheidung, sie hinzurichten?« fragte er dann endlich. Matthäus Wenzel lachte auf, freudlos, aber auch ohne Verachtung, sondern fast in der Weise emotionslos, wie die meisten seiner Worte klangen. Diese Gefühllosigkeit, so meinte Justus, mochte eine Art Selbstschutzmaßnahme Wenzels sein. In seinem Geschäft konnten Gefühle – nun, vielleicht nicht tödlich, zumindest aber doch zermür-
bend sein. Vielleicht aber hatte das Geschäft, in dem er tätig war, seine Gefühle auch absterben lassen … »Das ist es«, antwortete Matthäus Wenzel. »Sie brächte vielen Menschen Unheil und Tod, wenn wir sie am Leben ließen. Überdies sehe ich ihre Hinrichtung als eine Erlösung ihrer Seele an.« »Aber«, erwiderte Justus, »hätte es nicht Sinn gemacht, sie einer Befragung zu unterziehen, bevor …« Wenzel winkte ab. »Es gibt nichts, das sie mir verraten könnte, was ich nicht schon wüßte.« »Ihr kennt ihre Art also?« fragte Justus verunsichert. »Schon lange«, erklärte Matthäus Wenzel. »Ich weiß um ihre Triebe, und es ist mir bekannt, daß sie diese Stadt und viele andere unterwandert haben. Wie Ratten beinahe. Wie sehr kluge Ratten allerdings.« »Aber … muß man sie denn nicht ausmerzen? Ich meine.« »Würde man konzentriert gegen diese Vampire vorgehen, wäre es wie mit der Hydra aus der griechischen Sage«, erwiderte Matthäus Wenzel. »Man könnte einen Kopf abschlagen, und es würden drei neue nachwachsen. So würde die Gefahr nur größer, ihre Zahl wachsen. Sie würden vielleicht nicht mehr nur aus dem Verborgenen heraus zuschlagen, sondern offen angreifen und die Herrschaft anstreben. Und ich glaube nicht, daß man ihrer dann noch Herr werden könnte.« »So begnügt Ihr Euch gewissermaßen mit Warnungen«, mutmaßte Justus. Wenzel nickte. »Ja. Ab und an locke ich einen der ihren in eine Falle, so wie wir es mit diesem Weib getan haben, und statuiere ein Exempel. Immer dann, wenn ihre Umtriebe auszuufern drohen. Das genügt meist, um sie in ihre Schranken zu verweisen. Für eine Weile jedenfalls. Bis zum nächsten Mal eben …« Sie erreichten eine Gegend, die nicht mehr Teil Dresdens zu sein
schien. Alt und heruntergekommen, verlassen von jeglichem Leben schien alles um sie her. Nur für den Tod war dies der rechte Ort, und er wartete bereits hier, unsichtbar, aber doch nicht zu leugnen. Dies war nicht der Ort, an dem Hinrichtungen sonst vollzogen wurden. Hierher kamen keine Schaulustigen, um sich am Tode Verurteilter zu ergötzen. Was hier getan wurde, geschah heimlich und unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Denn es hätte gehörig für Unruhe im Volke gesorgt, wenn bekannt geworden wäre, welche Art von Wesen die hier Hingerichteten waren … So war hier im blutigen Licht des jungen Tages auch nur eine Handvoll Personen versammelt. Wenzel kannte sie freilich allesamt, nickte ihnen wortlos zu. Justus fühlte sich unbehaglich unter ihren fragenden Blicken. Niemand schien zu verstehen, weshalb Wenzel ihn mitgebracht hatte; die meisten schienen die Gegenwart des Jungen sogar zu mißbilligen. Einer sprach es offen aus. »Haltet Ihr es für klug …?« Sein Blick ging von Wenzel hin zu Justus und vollendete seine Bemerkung ohne Worte. »Das tue ich«, nickte Matthäus Wenzel. »Sonst wäre Justus nicht hier.« »Wie Ihr meint«, sagte der andere. »So meine ich es.« Auf Wenzels Aufforderung hin traten sie an ein ohne große Sorgfalt zusammengenageltes Podest heran. Justus schluckte heftig, als ihr Blick ihn von dort oben traf. Alle anderen schien sie zu ignorieren, nur ihn zu sehen. Er hätte Haß darin in ihren Augen erwartet, Verachtung – doch nichts von alledem fand er in den tiefgrünen Augen, deren Glanz alsbald verloschen sein sollte. Nur – Schmerz und ein Flehen, das ihn tief rührte und … »Spürst du es?« Wenzel sprach den jungen Mann an, ohne ihm den Blick zuzuwenden. Aber er lächelte, bitter und müde.
Justus sah fast erschrocken zu ihm hin. Der seltsame Bann brach. »Ja«, nickte er, »ich habe es gespürt.« »Sie versucht dich zu betören. Und sie wird es so lange versuchen, bis …«, den Rest des Satzes ließ Matthäus Wenzel unausgesprochen. Dennoch sah Justus wieder zu der Vampirin hin, über die drohend ein dunkler Schatten fiel. Der Schatten eines Mannes, dessen Gesicht eine lederne Kapuze verhüllte und der beide Fäuste auf eine schwere Axt gestützt hatte. Augenblicklich nahm er es wieder wahr, diese tieftraurige Empfinden, das von ihr in ihn strömte, lautlos und gefährlich wie Gift. Doch diesmal ging er dagegen an. Auch wenn es ihm nur leidlich gelang, sich dagegen zu wehren … »Verstehst du nun, weshalb ich dich mit mir genommen habe?« fragte Wenzel, so laut, daß auch die anderen es hören konnten. Justus nickte lahm. »Du sollst bereit sein, wenn dereinst du selbst meine Stelle einnimmst«, ergänzte Wenzel. Dann befand er, daß es für dieses Mal genug war, Justus der Versuchung auszusetzen. Er hob die Hand, und der Henker auf dem Podest nickte zum Zeichen dafür, daß er verstanden hatte. Er packte die halbnackte Frau, die an Händen und Füßen gefesselt war, und zerrte sie zu einem groben Holzklotz. Dort zwang er sie, den Kopf hinaufzulegen. Wie apathisch ließ sie bis dahin alles mit sich geschehen. Doch dann wandte sie noch einmal den Blick hinab zu den wenigen Zuschauern. Jeden einzelnen sah sie an, auf Matthäus Wenzel ließ den Blick schließlich verweilen. »Verflucht seist du«, sagte sie, weder keifend noch zischend, sondern ruhig, fast gelassen, »und alle jene möge dieser Fluch treffen, die um dich sind …« Wenzel unterbrach sie mit ruhigem Lächeln: »Hätten sich alle Flüche, die schon gegen mich ausgesprochen wurden, erfüllt, so wäre ich entweder längst nicht mehr am Leben oder schon vor langer Zeit
zu einer siebenbeinigen Kröte geworden.« Nach einer knappen Pause hob er die Stimme und rief: »Möge der Herr sich ihrer Seele erbarmen – so sie noch eine hat …« Und dann: »Henker, walte deines Amtes!« Justus sah, wie der Mann mit der Kapuze die gewaltige Axt hob. Schwarz wie ein Scherenschnitt zeichnete sich das grausige Szenario gegen den blutigen Himmel ab. Unwillkürlich schloß der Junge die Augen. Aber er sah trotzdem. Er hörte den schneidenden Luftzug, mit dem das Beil niederfuhr; das feuchte Knirschen, mit dem die Schneide Knochen, Fleisch und Sehnen durchtrennte, und schließlich den dumpfen Hieb, mit dem sie tief in das Holz fuhr. Etwas polterte, dann spürte Justus eine Berührung an den Füßen. Er riß die Lider auf. Und sah ein letztes Mal in ihre Augen. Der abgeschlagene Kopf war in einer Spur schwarzen Blutes vom Podium herabgerollt, und eine böswillige Macht hatte ihn bis zu Justus hin getrieben. Doch der Ausdruck in ihren Augen schien ihm weder anklagend noch von Schmerz erfüllt. Sondern wie – abschiednehmend … Und es dauerte eine schier unnatürlich lange Weile, bis der Glanz darin erlosch – und ein anderer Glanz erwachte. Ein schauriges, der Hölle entliehenes Licht brach aus den Schründen des zerfallenden Körpers, aus dem das Übernatürliche ebenso wich wie das Natürliche. Schön wurde häßlich. Jung wurde alt. Uralt … und schließlich Staub. Kalte Asche. Justus wußte nicht, wie lange er auf das, was übrigblieb, hinabgestarrt hatte, bis ihn die Hand seines Mentors an der Schulter faßte und endlich mit sanftem Druck fortschob.
*
Ende April, vor den Toren Prags Jiri, der Hirte, erwachte wegen einer großen Unruhe in seiner Herde. Es war zur Mitte der Nacht, und die Sterne am Himmel funkelten, als wären sie auf glatten schwarzen Samt hingestreute Juwelen – eines prächtiger als das andere. Das Blöken der Schafe veranlaßte Jiri, sich aus seinen Felldecken zu schälen und aufzustehen. Der schmächtige Mann mit der schiefen Nase besaß ein untrügliches Gespür für die Stimmung innerhalb einer Herde. Sein nächster Gedanke galt Flav, der für einen Hütehund manchmal noch etwas zu ungestüm war. Daß er aber gar nicht hörbar reagierte, war völlig ungewohnt … Nach einer Weile hatten sich Jiris Augen an die sternenhelle Nacht gewöhnt. Seine Blicke fanden die im Finstern wie Schatten treibenden Schafe, die ihre Schreie inzwischen wie einen gespenstischen Kanon über die weite Ebene vor den Toren der Stadt wehen ließen. Die Herde gebärdete sich immer toller – als hätte sich ein verkappter Wolf unter sie gemischt und spähe nun seine Beute aus! Jiri klaubte den langen, von seinem Vater geerbten Hirtenstock, der sich durchaus als ernstzunehmende Waffe einsetzen ließ, vom Boden auf und umklammerte ihn mit seinen knochigen Händen. Noch einige Male rief er nach Flav, wobei er Mühe hatte, das allmählich von Panik gefärbte Geblöke zu übertönen – aber der Hund antwortete kein einziges Mal. Jiri prüfte noch den Sitz des Messers in der Gürtelscheide, dann mischte er sich unter die im steten Fluß befindlichen pelzigen Leiber. Er stieß gegen sie und wurde von den blind umherirrenden Tieren hin und her gestoßen, manchmal förmlich gerammt. Angst kam nicht in ihm auf. Es war wichtig, die Übersicht zu bewahren. Zugleich wuchs jedoch seine Irritation darüber, daß die Tiere zwar immer nervöser wurden, aber die Herde an keinem Punkt
ihres imaginären Zusammenhalts gesprengt wurde. Soweit er es unter den herrschenden Bedingungen überblicken konnte, gab es keine Auflösungserscheinungen. Die Schafe – ob nun ältere Tiere oder wenige Tage junge – sprangen umeinander und tönten immer schriller, aber kein einziges entfernte sich hinaus in die Nacht. So als ahnten alle ohne Ausnahme, daß ihnen nur hier, inmitten der Menge, eine Überlebenschance blieb, sie draußen aber unrettbar verloren gewesen wären … Eine Überlebenschance wogegen? dachte Jiri, denn vergeblich hielt er Ausschau nach der Ursache dieses Tohuwabohus. Im nächsten Augenblick, der Hirte stand erst ein paar Schritte tief innerhalb der Herde, geschah etwas Unheimliches, das Jiris Körper vom Kopf bis zu den Zehen in eine Gänsehaut tauchte. Schlagartig stellten alle Schafe ihr Blöken ein. Eine betäubende Stille fiel über die Ebene mit dem spärlichen Graswuchs, über vereinzelt ihre Äste in den Himmel bohrenden Bäume … und schien selbst bis hinüber zu den Grenzen der Stadt – vielleicht sogar über sie hinweg – zu reichen! Jiri erstarrte. Auch das Gewoge der Leiber ringsum erstarrte. Die Nacht schien mit allem, was sich darin befand, einzufrieren, und möglicherweise dauerte dieser Zustand nicht länger als einen einzigen flüchtigen Moment – gerade einmal solange, wie ein Augenlid brauchte, um zu zwinkern … Dann barst diese Stille und mündete in ein leises Wimmern und Gewinsel, das Jiri unter anderen Umstände sicher überhört hätte. So aber vernahm er es nicht nur, sondern bildete sich darüber hinaus sogar ein, die Richtung bestimmt zu haben, aus der es gedrungen war. Und während sich um ihn herum bereits wieder das Blöken der Schafe aufklang und alles erneut in furchtsamen Zuckungen und Geschrei versank, bahnte sich Jiri entschieden einen Weg durch die Tiere.
Flav? dachte er. Warst du das, Flav …? Er hielt kurz inne, als er den Rand des Gewoges überschritten hatte. Seine Augen suchten in der Richtung, aus der das Winseln gekommen war. Als es nicht gelang, etwas zu erkennen, marschierte Jiri energisch weiter. Und plötzlich … … entdeckte er doch etwas, und zwar etwas ähnlich Unheimliches, ähnlich Gespenstisches wie das vorübergehende Schweigen und Ruhen der Herde: Ein Licht. Ein pulsierendes, nie gesehenes Licht geradeaus in der Nacht, in Form und Gestalt einer unirdisch schönen Frau nicht nur ähnlich, sondern gleich …
* Während Jiri, wie von einem Magneten angezogen, auf das Licht zuging, schweiften seine Gedanken zu seinem Bruder Frantisek, der sich im Haus ihrer Eltern eingerichtet und Jiri vor die Tür gesetzt hatte. Frantisek war fast einen Kopf größer als Jiri und stark wie ein Ochse. Vor zwei Jahren war erst ihre Mutter und ein paar Wochen danach auch ihr Vater an einem grassierenden Fieber gestorben. Danach war es öfter zum Streit zwischen den Geschwistern gekommen, und eines Tages hatte Frantisek seinem zwei Jahre jüngeren Bruder gedroht, ihn windelweich zu prügeln, wenn er noch einmal seinen Fuß über die Schwelle ihres Elternhauses setzen würde … Jiri hatte darauf verzichtet – nicht nur aus Angst, auch aus Stolz. Da Frantisek keine Ansprüche auf die Herde ihres Vaters erhoben hatte, schlug Jiri sich seither recht und schlecht durchs Leben. Er schlief in einem kleinen Stall, was sommers nicht weiter schlimm war. Nur der zurückliegende zweite Winter war brutal gewesen, und um ein Haar hätte Jiri seinen Bruder besucht, um reumütig die Wiederaufnahme in das Haus zu erbetteln, das ihnen eigentlich bei-
den zustand. Letztlich hatte er es aber dann doch sein lassen. Daß er seinen Bruder regelrecht haßte, war ihm nie so bewußt geworden wie … in diesen Momenten, da er auf die Lichtfrau zuschritt. Lichtfrau? Jiri hielt inne. Sein Magen verkrampfte sich, weil er urplötzlich überzeugt war, dies alles hier entweder nur zu träumen – oder es mit einer Ausgeburt des Wahnsinns zu tun zu haben. Seines Wahnsinns! Frantisek hatte ihn oft genug für verrückt erklärt. Frantisek … Jiri ballte die Fäuste und stolperte weiter. Als ihm bewußt wurde, daß er den Hirtenstab offenbar verloren hatte, war ihm diese Erkenntnis nicht wichtig genug, um zurückzulaufen. Noch zehn Schritte … acht … vier … Die Schönheit der Frau traf und erschütterte ihn wie eine Urgewalt. Seine Fäuste öffneten sich. Sein trockener Mund auch. Ganz kurz glaubte Jiri eine Erklärung für das Leuchten, das dieses Körper umhüllte, gefunden zu haben. Einmal hatte er Leuten zugehört, die von dem Licht erzählt hatte, das im Dunkeln von stark verwesten Toten ausging. Leichenlicht. Doch dann erkannte er den Widerspruch in sich: Diese Frau mochte tot sein, aber wenn, dann war sie es erst seit kürzester Frist, denn nichts an ihr zeugte von geringstem Verfall oder gar Verwesung. Sie sah aus, als schliefe sie lediglich. Und noch etwas war seltsam: Vielleicht narrten ihn nur seine Augen, aber ihr Körper sah wie durchscheinend aus, als käme das Licht von einem Punkt aus ihrem Inneren und durchdringe gläserne Haut. Nackte gläserne Haut! Jiri konnte seine Blicke kaum bezähmen, denn sie gehorchten seinen stärksten Trieben, die von der Nacktheit dieser Frau ebenso ge-
schürt wurden wie von ihrer nie gesehenen Anmut … Der Hirte kniete neben ihr nieder. Du Schweinehund! Verdammt, wie konnte er ausgerechnet jetzt schon wieder an Frantisek denken? Ich werde ihm den fetten Hals umdrehen …! Das Blöken der Herde verfolgte auch jetzt noch Jiris Weg. Aber dann setzte es noch einmal aus wie vorhin – als legte eine aus dem Himmel schießende Hand ein dickes, alles erstickendes Tuch über die Häupter der Tiere … … und Jiri hörte erneut das Gewinsel. Diesmal war es Flavs Gewinsel! Flav, der unmittelbar hinter der Lichtgestalt am Boden lag und – das meinte Jiri im Widerschein, den die Frau warf, zu erkennen – gerade dabei war, sich selbst zu verzehren …! Zwischen zwei Herzschlägen war Jiri wie gelähmt. Die märchenhaft schöne Frau, die seine kühnsten Vorstellungen sprengte, schien nun hörbar aufzuflackern, begleitet von einem strengen, aggressiven Summen, das Saiten in dem Hirten zum Schwingen brachte, von deren Existenz er bis dahin nichts geahnt hatte. Irgend etwas in ihm, das finster und schlecht war und nicht – niemals! – verzeihen konnte, schraubte, bohrte und fraß sich mit quälenden Spiralbewegungen an die Oberfläche seines Denkens, ins Jetzt und Hier. Frantisek, du … Der Blick seines Hütehundes traf ihn. Flavs Augen bettelten, und dieses Flehen schnürte Jiri den Hals eng, erstickte ihn, als versuchte jemand, ein Holz tief hinab in den Rachen zu stoßen. Es sagte: Töte mich! Schnell, töte mich! Ich ertrage nicht mehr, was ich mir antue. Antun muß …! Wer zwang ihn? Was veranlaßte ihn, dazuliegen und an seinen Vorderläufen her-
umzukauen, zuzubeißen, daß die Knochen hörbar splitterten, die Sehnen rissen und – – – In diesem Augenblick verdunkelte sich die Umgebung, als wären alle Sterne auf einmal verloschen! Aber Jiri kannte den wahren Grund: Nicht die Sterne, sondern die unglaubliche Frau dort am Boden war erloschen – zumindest das, was sie ausgeströmt hatte, dieses düstere, jenseitige Licht … Im nächsten Moment erstarb auch das Blöken der Schafe. Und das Gewimmere des Hundes. Und die Kraft, die Jiri so lange auf den Beinen gehalten hatte. Die Dunkelheit wurde absolut, und dann stürzte er schwer neben der Frau zu Boden. Dort, wo seine Hand zufällig ihre nackte Haut berührte, leckte ein fahles Gemisch aus in sich gespaltenen, winzigen Blitzen über ihre beiden Körper. Blitze, die aussahen wie züngelnde Schlangen. Ein Geruch wie aus Schwefelklüften entwickelte sich. Aber das nahm Jiri, der Hirte, schon nicht mehr wahr. Auch nicht, wie sich der dunkle Mund der Frau zu öffnen begann und etwas entließ. Einen nicht mehr enden wollenden, animalischen Schrei …
* Wie geschieht mir? Es fließt in mich. Es durchzuckt mich wie ein belebender Strom, den ich erfolglos festzuhalten versuche. Er ist zu schwach, zu gering. Und eigentlich weiß ich nicht einmal, woraus er besteht, und wozu ich ihn bräuchte … Meine Augen sind sprödes Glas. Lichter, über deren Herkunft ich so wenig weiß wie über meine eigene, verfangen sich darin, ohne wirklich meine Seele zu berühren. Es ist ein ruhiges, kaltes, erhabenes Licht, umgeben von jener Schwärze,
die ich noch mit in den grauenden Tag nehmen werde. Woher ich diese Gewißheit, dieses Wissen nehme, vermag ich nicht zu beantworten. Auch nicht, wo bin ich. Wer ich bin. Und warum es mich aus der kühlen Ewigkeit hierher verschlagen hat …
* Die Sonne stach vom hohen Zenit herab, als Jiri die tiefe Ohnmacht wie einen bleiernen Schlaf abschüttelte. Mühevoll schlug er die Augen auf, deren Lider klebrig nachgaben, als wären sie von einem Insektenkokon umsponnen. Seine Lungen rasselten, als er die warme Mittagsluft dieses Spätapriltages zu atmen versuchte. Es tat weh. Das bloße Luftholen schien ihn innerlich zerreißen zu wollen – aber dann war es gerade dieser Schmerz, der ihn ernüchterte und zu sich kommen ließ. Er richtete sich auf. Jeder Muskel, jeder Knochen im Leib brannte und schmerzte höllisch. Und je mehr Jiri sich darauf versteifte, die Erinnerung an die vergangene Nacht zurückzugewinnen, desto weiter schien sie von ihm abzurücken. Bis seine Augen die Frau wiederfanden, die immer noch neben ihm lag – wie die pure Sünde! Der Rückfluß der Erinnerungen kam mit der Wucht eines Fausthiebs direkt in die Magengrube. Jiri drehte Kopf und Oberkörper, um in alle Richtungen zu spähen, ob nicht einer der Mönche aus der nahen Benediktinerabtei zufällig des Wegs kam und ihn hier neben dem verruchten Weib hätte entdecken können. Die Folgen wären unabsehbar gewesen … Während er noch angstvoll Umschau hielt und verwundert feststellte, wie trübe seine Augen geworden waren und wie ver-
schwommen er seine fernere Umgebung wahrnahm, löste sich ein Seufzer aus dem Mund der Nackten. Jiri zuckte zusammen. Wer bist du? versuchten seine bebenden, aber wie miteinander verwachsenen Lippen zu fragen. Ein Weib wie dich sah ich nie … Alles fiel ihm plötzlich wieder ein. Alles. Auch das mit … Flav! Der Hütehund lag drei Schritte hinter der Frau. Grotesk verkrümmt, beide Vorderläufe bis auf zwei Stümpfe abgenagt, und das darum liegende Gras glänzte in scheinbarer dunkler Nässe, obgleich das Blut längst versickert oder zu einer harten, staubtrockenen Kruste erkaltet war! »Flav …!« Heiser löste sich die Wut aus Jiris Kehle. Gleichzeitig aber begriff er, daß dem Tier, das ihm ans Herz gewachsen war, nichts und niemand auf der Welt mehr hätte helfen können. Es war verblutet. Und erneut wankte Jiri unter einem unsichtbaren Faustschlag, denn zu unauslöschlich hatte sich das Bild in sein Gedächtnis gebrannt, wie der treue Hütehund sich an sich selbst vergangen und sich selbst begonnen hatte auf-zu-fres-sen … Das wirst du mir büßen, dachte Jiri. Sein Blick glitt zurück zu der Frau, aber seine Gedanken schlossen den Schwur hohl wispernd auf eine andere Person bezogen: Büßen … Frantisek, mein elender Bruder …!
* Am Nachmittag klopfte es. Frantisek fluchte wüst. Er erwartete keinen Besuch, weil er keine Freunde hatte. Die Saufkumpane, mit denen er sich manchmal in der Stadt traf, um sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, hätten den weiten Weg nie auf sich genommen, um zu ihm zu kommen … Also konnte das Klopfen nur eines bedeuten: Ärger. Während er seinen Körper zur Tür lenkte, versuchte sich Frantisek
zu erinnern, ob er sich während seiner jüngsten Zechtour etwas zuschulden hatte kommen lassen. Etwas, was die Büttel auf den Plan gerufen haben könnte … Nein! Außerdem lag sein letzter Aufenthalt in der Stadt bereits drei Tage zurück, und so lange hätten die Schergen der Grafen sicher nicht gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. Frantisek war bekannt in den Gastschenken … Ahnungslos schob er den Riegel zurück, und ahnungslos öffnete er die Tür. Draußen stand ein uralter, schwer schnaufender Mann, mindestens doppelt so alt wie Frantisek. »Was ist?« herrschte er den anderen grob an, während seine Augen gegen das grelle Sonnenlicht blinzelten. »Was willst du? Ich kenne dich nicht!« Täuschte er sich, oder gruben seine Worte einen staunenden Zug in das runzelige, von einem schütteren Haarsaum umrahmte Gesicht? Matte, fast erloschene Augen sahen ihm entgegen. Ein ausgefranster Mund, eingegrenzt von zwei eingefallenen Wangen, grinste ihn grimassenschneidend an, und plötzlich … urplötzlich erkannte Frantisek den Mann hinter all den Jahren, die den vermeintlich Fremden verändert hatten … Frantiseks Augen quollen beinahe über die Wülste seiner Augenbrauen hinaus. Die Schwere des eigenen Körpers, der ihn zu Boden ziehen wollte, hatte er noch nie mit solcher Macht verspürt. Zitternd suchte er Halt am Rahmen der offenen Tür. In diesem Augenblick tat der draußen mit pfeifenden Lungen stehende Greis etwas völlig Unerwartetes, indem er fast ansatzlos ausholte und … Frantisek starrte auf den Dolch, von dem nur noch der abgewetzte Hirschhornschaft aus seinem Bauchfell ragte. Glühend heiß erschien ihm der Stahl, der sich in seine Eingeweide
gebohrt hatte – und Gluthitze breitete sich von dieser Stelle bis in die fernsten Winkel seines ungeschlachten Körpers aus … »Was –?« Er taumelte zurück ins Haus. Seine Arme ruderten durch die Luft und verfingen sich schwach in einigen von der Decke hängenden Bündeln Trockenkräuter. Wie durch blutrote Schleier sah er den Greis sich abwenden und aus dem Türviereck verschwinden. Jiri? Es konnte nicht Jiri sein! Wie sollte …? Frantisek prallte mit dem Rücken gegen die Wand und riß ein Regal herunter. Sein Kinn fiel auf die Brust, als wollte es sie durchstoßen. Frantisek starrte ungläubig an sich herab, keuchte: »Jesus, Maria!«, ertastete den Griff des Messers, umklammerte es mit beiden Händen und strengte sich an, es herauszuziehen. Als es gelang, erkannte er seinen Fehler, denn danach ging alles nur um so schneller. Sturzflutartig brach Blut aus der breiten Wunde, und nicht einmal mit der prankenartigen Hand vermochte er das auseinanderklaffende Fleisch zusammenzuhalten. Der Druck von innen war zu groß, die Kraft aus seinen Armen zu sehr gewichen … Röchelnd rutschte er mit dem Rücken an der Wand entlang zu Boden. Seinen Mund füllte eiserner Blutgeschmack, wie schon manches Mal, wenn er sich eine Schramme zugezogen und die Lippen über eine harmlosere Verletzung gestülpt hatte. Diese Blutung jedoch, die ihren Weg in Schüben aus des Bauches Tiefe nach oben fand, war durch nichts und niemanden mehr zu stoppen. Und Frantisek begriff es bis zuletzt nicht: Begriff nicht, wie aus einem duldsamen, lammfrommen Bruder ein silbergrauer, zerzauster, tollwütiger Wolf im Schafspelz hatte werden können …
*
Jiris Verstand verwirrte sich, als würde er sich in zum Himmel aufsteigenden Rauch verwandeln – oder in fetten schwarzen Qualm, der geradewegs hinab in die Hölle gezogen wurde! Was hatte er getan? Sein Blick irrte zu des Bruders Leichnam … … dann hin zu der Fracht, die er auf den klobigen Küchentisch gelegt hatte. Die Frau. Die erloschene Lichtgestalt. Der Teufel hat mich versucht, dachte Jiri erschüttert. Dieses Weib … IST der SATAN! Am Boden neben ihr sitzend, zog er die Knie an den sich wie in Krämpfen schüttelnden Körper und schluchzte. Wie schwer es ihm gefallen war, sie hierher zu tragen. Wie schrecklich müde er sich seit dem Mittag fühlte, an dem er draußen auf der Schafsweide erwacht war, nach einer Nacht, die kein Alptraum gewesen war, sondern sich als schreckliche Wirklichkeit entpuppt hatte … Jiris Schluchzen ging in ein trocknes Husten über. Schon unterwegs hatte sein Körper Geräusche produziert, die an welkes, hartes Laub erinnerten, das man zwischen den Fingern zerreibt. Und nun, zu Hause, wo es einen Spiegel gab, wagte er nicht mehr, hineinzublicken. Er wollte die Wahrheit nicht erfahren. Er sah seine Hände, seine Arme, und er konnte den geschrumpften Körper unter dem Stoff seiner Kleider erfühlen. Was hat sie mir angetan? Flav, was hat sie DIR angetan …? In diesem Augenblick erhob sie sich vom Tisch …
* Eben noch hatte Jiri die Frau für den Teufel selbst gehalten.
Doch in dem seltsam zeitlosen Moment, in dem sie sich neben ihm aufrichtete und in einer geschmeidigen, fast fließenden Bewegung vom Tisch glitt, erschien sie ihm wie ein leibhaftiger Engel! Ihr nackter Körper war von vollendeter Anmut, ihre zarte Haut von einer durchscheinenden Blässe, die völlige Unschuld und tiefgehende Reinheit verhieß. Und doch wußte der gebrechlich gewordene Hirte, daß all dies nicht mehr war als bloßer Schein. Seine erblindenden Augen mochten sich davon über ihr wahres Wesen hinwegtäuschen lassen, aber mit seinem Herzen oder etwas anderem, Namenlosem, das tief in ihm wurzelte, spürte er das Fremdartige dahinter. Es schien ihm von einer Kälte zu sein, wie es vielleicht zwischen den Sternen am nächtlichen Himmel herrschen mochte. Was immer es war, das diesem Weib unsichtbar innewohnte, es konnte nicht von dieser Welt sein. Jiri schauderte vor seinem eigenen Ächzen, als seine Nackenmuskeln versagten, weil er einfach nicht mehr genug Kraft aufbringen konnte, um den Blick weiter nach oben zu richten. Wieder ließ kratzender Husten seinen dürren Leib erbeben, so schmerzhaft, als brächen seine morschen Knochen unter der an sich lächerlichen Bewegung. All das war ihre Schuld … Der Hirte zwang das bißchen Kraft, das er noch in sich fand, zusammen und schaffte es, den Kopf von neuem zu heben. Mühsam klomm sein trüber Blick an ihrem beinahe milchweißen Leib empor. Der Anblick ihrer leicht knabenhaften Gestalt rührte an Dingen tief in ihm, denen längst die Kraft fehlte, sich zu erheben. Triebe wollten auflohen, doch sie fanden nichts mehr, was ihnen Nahrung gewesen wäre. Jiri sah in ihr ebenmäßiges Gesicht unter dem kurzen Haar, das sie zu ihm herabgewandt hatte. Und schließlich begegnete sein Blick dem ihren. Die Farbe ihrer Iris vermochte er nicht zu bestimmen, weil etwas anderes seine angestrengt aufrechterhaltene Aufmerksamkeit an sich band: der merkwürdige Ausdruck in ihren Augen.
Leer schien er ihm, an der Oberfläche jedenfalls; denn jenseits dieser Leere war etwas. Als wären ihre Pupillen dunkle Schächte, die tief in das Weiß ihrer Augäpfel hineinreichten und an deren Grund sich etwas rührte, matt und mühevoll, als wäre es noch zu kraftlos, um den Blick zur Gänze mit Leben zu erfüllen. Doch die Bewegung tief in dieser Schwärze geriet im Wortsinn zusehends in Wallung. Mit jeder Sekunde, die Jiri dem Blick der Fremden standhielt, gewann sie an Macht – während etwas in ihm versiegte, wie eine Quelle, aus der hastig geschöpft wurde, ohne daß sie fürderhin gespeist wurde … »Wer bist du?« Der Hirte verstand selbst kaum seine Worte. Seine Stimme rasselte wie rostiges Eisen, das aneinanderrieb. Und selbst der Geschmack, der mit den Worten seinen Mund füllte, erinnerte ihn daran. Er schmeckte alt und legte sich ihm wie eine klebrige Kruste auf Zunge und Gaumen. Etwas Neues mengte sich in den Ausdruck der Augen, die von oben auf ihn herabsahen. Hätte Jiri geglaubt, daß die Frau zu einer solchen Regung fähig gewesen wäre, hätte er es für Trauer oder eine Art schwache Verzweiflung gehalten. Aber das tat er nicht. Sie hatte furchtbare Dinge in Gang gesetzt, denn obschon er keine Vorstellung davon hatte, wie sie es getan hatte, so wußte er doch, daß sie die Schuld an allem trug – daran, daß Flav sich selbst getötet hatte, und daß er seinen Bruder Frantisek ermordet hatte. Nein, ein Weib wie sie konnte zu keiner anderen Empfindung fähig sein als Haß und Bösartigkeit. Unwillkürlich fröstelte der Hirte erneut, als er sich die Frage stellte, was wohl der eigenartige Ausdruck in ihrem Blick bedeuten mochte – und was ihm für eine neue Ungeheuerlichkeit folgen würde … Er erfuhr es nie. Als die Frau den Mund öffnete, meinte er zwar, sie würde antwor-
ten. Und im ersten Moment bewegten sich ihre Lippen und die Zunge dahinter auch, als wollte sie zum Sprechen ansetzen. Doch letztlich tat sie nichts anderes, als zu schreien! Schrill, markerschütternd, schrecklich – – und endlos. Aber auch das bekam Jiri nicht mehr mit. Denn während die Fremde brüllte, nahm das Wogen tief in ihren Pupillen zu. Und der Hirte fühlte, wie im gleichen Maße die Kraft aus ihm floß. Seine mageren Muskeln schienen schmerzhaft zu verhärten, fast zu versteinern, und seine Haut verlor den letzten Rest ihrer Elastizität, spannte sich wie trocknendes Leder um Fleisch und Knochen. Als der Schmerz kaum noch erträglich schien, brach er ab. Die Frau verstummte. Dann verließ sie das Haus, ohne die Tür zu schließen. Ein hereinfahrender Luftzug genügte, den im Sitzen erstarrten Leib des Hirten umzustoßen. Raschelnd wie Papier trieb der Wind Jiris dürren Leichnam in den Schoß des ebenso gealterten und verdorrten Frantisek. Der Tod vereinte die Brüder in einer Eintracht, die sie zu Lebzeiten nicht mehr gekannt hatten.
* Obgleich so vieles geschehen ist, habe ich auf kaum eine meiner Fragen eine Antwort gefunden. Noch immer weiß ich nicht, wer ich bin, noch woher ich komme; und ebensowenig weiß ich, was ich hier tue und was mit mir vorgeht. Allein die Frage nach dem Ort meiner Gegenwart vermag ich inzwischen zu beantworten. Wenn auch nicht zu meiner Zufriedenheit. Ich sehe nur, daß das Haus, in dem ich mich aufhalte, in wenig gepflegtem, fast schon heruntergekommenem Zustand ist. Zugleich kommt es mir auf eine Weise alt vor, die doch nichts mit diesem Zustand zu tun hat. Es ist die Art, wie
es gebaut und eingerichtet ist, die mir – nun, eben nicht vertraut scheint. Wenngleich ich nicht weiß, wie etwas sein müßte, damit es mir vertraut erschiene. Nein, meine Fragen sind nicht weniger geworden. Und an diesem Ort wird niemand mir sie beantworten können. Denn eines weiß ich doch: Tote reden nicht. Diese beiden Toten hier zumindest würden es nicht tun … Welch seltsamer Gedanke … Ich muß nach anderen Quellen suchen, aus denen ich meinen Wissensdurst, der wie tatsächlicher Durst in mir brennt, stillen kann. Aber ich spüre, daß ich sie hier nicht finden werde. Doch nicht allein nach Antworten verlangt mich. Fast ebenso sehr wünsche ich mir, daß sich der dunkle Strom fortsetzen möge, der wie aus dem Nichts in mich geflossen ist. Im Gegensatz zum vorherigen Mal ist es mir diesmal gelungen, ihn festzuhalten und bis zur Neige auszukosten. Und es ist in der Tat, wie ich es erahnt habe: Er, oder etwas in ihm, belebt mich; auf eine Weise, der etwas Süchtigmachendes anhängt. Ich möchte mehr davon, denn es läßt jenes Gefühl schwinden, daß mir suggeriert, ich sei eine Fremde – nicht nur an diesem Ort, sondern selbst in dieser Welt … eigentlich sogar im Leben an sich … Ich gehe aus dem Haus, sehe mich umgeben von Wiesen und Wäldern. Hügel verwehren mir den Blick in die Ferne. Doch ich spüre, wohin mein Weg mich führen muß. Etwas führt mich. Lockt mich. Ich kann gar nicht anders, als ihm zu nachzugeben und zu folgen. Aber ich würde mich dem namenlosen Locken auch gar nicht widersetzen wollen. Denn hinter den Hügeln warten Antworten auf mich. Antworten und mehr. Das Leben selbst.
*
»Nun werd nicht müde, Alter. Wir haben’s doch bald geschafft!« Karel ließ die Peitsche über dem Kopf des Braunen knallen, der sich darob aber nicht merklich ärger ins Zeug legte. Wohl weil er längst zu taub war, als daß er es noch gehört hätte. So rumpelte der Karren weiter in jenem Tempo durch die tiefen Spurrillen des Weges, daß selbst ein altes Weiblein bequem nebenher hätte laufen können. Karel verzichtete darauf, den Kutschgaul weiter antreiben zu wollen. So würden sie die Stadt wohl erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Aber vielleicht war es ja auch besser, die Fracht, die er hinten im Karren mit sich führte, im Schutze der Nacht zu übergeben. Allzu leicht konnte man ihm einen Strick aus dem Geschäft drehen, wenn falsche Augen Zeuge wurden. Er seufzte schwer, und es klang in der Tat bedauernd. Manchmal gefiel das Geschäft, das er betrieb, ihm nämlich bei weitem nicht in dem Maße, wie er sich selbst oft einzureden versuchte und wie andere, die darum wußten, es glauben mochten. Manchmal kam Karel sich vor wie der Schuft, der er war. Aber meistens genügte dann ein Gedanke daran, wie er früher sein Geld verdient hatte, um ihn solcherlei Melancholie vergessen zu lassen. Nein, einfacher war diese Art des Broterwerbs allemal, verglich er sie mit dem Leben, das er als Söldner geführt hatte. Den Kopf hatte er hingehalten für Auseinandersetzungen, die nicht die seinen gewesen waren. Und oft genug war man ihm und jenen, die an seiner Seite ins Feld gezogen waren, den Sold schuldig geblieben. Dann hatten sie noch froh sein dürfen, wenn ihnen das Leben geblieben war … Nein, da gefiel ihm seine jetzige Profession schon besser. Nur nachdenken durfte er halt nicht darüber; nicht zu sehr jedenfalls. Aber das war nicht so einfach, wenn er hier auf dem Kutschbock saß und hinter sich die jungen Dinger aufschreien hörte, wenn der Karren wieder mal über einen besonders großen Stein fuhr und die »Fracht« durchgebeutelt wurde …
Inzwischen ahnten die Mädchen vielleicht, daß Karel nicht der war, der er zu sein vorgab. Mit allerlei Versprechungen pflegte er sie von den Höfen und aus den Dörfern ihrer Alten wegzulocken. Ein Leben im Wohlstand malte er ihnen in schillerndsten Farben aus, wenn er ihnen wie zufällig über den Weg lief. Die reichen Herren der Stadt, versprach er ihnen, würden sich die Finger lecken nach solcher Anmut, und sie würden jeden Dienst reich belohnen und dafür Sorge tragen, daß keines ihrer Mädchen Not litt … Nun, so ganz und gar gelogen war das nicht. Karel beruhigte sich selbst mir der Darstellung, daß er den leichtgläubigen Hühnern, die von der harten Arbeit und dem kargen Leben auf dem Lande die Nase voll hatten, nicht alles erzählte. Daß sie nur den geringsten Teil des Geldes, das die Herren dafür zahlten, daß sie die Beine breitmachten, selbst bekamen, merkten sie schon selbst. Wenn Karel längst wieder mit seinem Karren kreuz und quer durchs Land fuhr, um nach »neuer Fracht« Ausschau zu halten … Vorzugsweise von solcher Güte, wie er sie jetzt erblickte! »Ich glaub’, ich träume!« entfuhr es ihm. Fast unbewußt griff er in die Zügel und hieß dem Gaul zu halten. »Brrr, Alter, bleib stehen.« Diesen Befehl wenigstens verstand das Pferd. Schnaubend verhielt es, während der Karren hinter ihm knarrend und quietschend zum Stehen kam. »Was ist los?« »Warum hältst du an?« Karel wandte rasch den Kopf über die Schulter: »Es geht gleich weiter. Bleibt im Wagen!« Dann rutschte er vom Kutschbock. Blindlings griff er dabei noch nach der Peitsche, ohne den Blick von dem zu wenden, was ihm selbst jetzt noch, da sie schon etliche Herzschläge währte, wie eine Vision am Wegesrand schien. Langsam ging er darauf zu, vorsichtig, als könnte eine hastige Bewegung sie verscheuchen. Karel hatte schon allerlei erlebt, seit er seinen Gelderwerb mit der
Beschaffung junger Weiber betrieb. Die meisten von ihnen waren ihm ohne wirkliche Zier zu Willen gewesen, wenn er ihnen erst einmal das Danach in Aussicht gestellt hatte. Aber daß sich ein Weib – noch dazu von solcher Jugend und Schönheit! – ihm splitterfasernackt in den Weg stellte, das war ihm noch nicht untergekommen! Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen. Sein Mund hatte die ganze Zeit über offengestanden, Zunge und Gaumen waren ihm trocken geworden, und so brauchte es jetzt drei Anläufe, ehe er auch nur einen Ton hervorbrachte. Noch ein bißchen länger dauerte es, ehe er etwas sagen konnte. »Was tust hier? Und wer bist du, schönes Kind?« Den Gedanken, daß die blonde Frau womöglich unter die Räuber gefallen und ihnen entkommen war, ließ er fahren. Sie wirkte nicht verängstigt oder so, als wäre ihr Schlimmes widerfahren, allenfalls sah er einen Anflug von Verwirrung in ihrem schönen Gesicht, als wüßte sie nicht recht, was sie ihm antworten sollte. Ansonsten tat sie nichts anderes, als ihn anzusehen. Anzustarren. Karel fröstelte unter ihrem stieren, seltsam glanzlosen Blick. Als glotzte mich eine Tote an! durchfuhr es ihn. Und der Gedanke schien ihm viel weniger befremdlich, als er es eigentlich hätte tun müssen … Und seltsam – erst jetzt, da er ihr nahe war und auch erst nach einer kleinen Weile bemerkte er, daß er durch sie – hindurchsehen konnte? Nein, er mußte sich täuschen, das konnte doch nicht sein! »Wo kommst du her?« versuchte er es noch einmal, sie zum Reden zu bringen. Aber seine Stimme bebte nicht mehr vor Überraschung und Erregung. Zu seiner eigenen Verwunderung war es aber auch nicht Angst, was da in ihm hochkroch. Der Blick des nackten Weibes weckte etwas gänzlich anderes, das er tief auf den Grund seiner Seele hinab verbannt hatte. Weil er doch kein schlechter Kerl sein woll-
te. Nicht vor sich selbst zumindest … Er dachte zurück, weit zurück. An Anna. Süß und jung war sie damals gewesen, begehrenswert. Allzu bereitwillig hatte sie seinem Werben nachgegeben – und ihn verlacht und verhöhnt, als er nicht gekonnt hatte, was zu tun sie einander in jenem Stall geplant hatten. Süß und jung war sie auch noch gewesen, als sie tot und stieren Blickes vor ihm gelegen hatte, ihr Hals noch zwischen seinen Händen, ihr Lächeln zur Grimasse geronnen … Warum nur muß ich gerade jetzt daran denken? ging es Karel durch den Sinn. Er hatte sich lange Jahre nicht mehr daran erinnert, hatte die Bluttat beinahe schon vergessen gehabt … In Vergessenheit geriet sie auch jetzt wieder. Etwas lenkte ihn ab. Die Frau öffnete die Lippen, zögernd erst, dann mit einem Ruck. Und schrie! Schrie so laut, daß Karel fürchtete, man würde es bis zur Stadt hin hören. Irgend jemand hatte mit Karel einmal gewettet, er würde es nicht schaffen, einen Ochsen niederzuschlagen. Der andere hatte verloren. Karel hatte es sehr wohl zustande gebracht. Für das schreiende Weib hier reichte seine Kraft allemal. Wie abgerissen verstummte ihr Schrei. Ehe sie zu Boden fallen konnte, hatte Karel sie aufgefangen. Das vage Knistern, das er zu hören und zu spüren glaubte, als er sie berührte, schob er seiner Einbildung zu. Und als er sie zu den anderen Mädchen in den Karren schaffte, war die Nackte für ihn schon nichts anderes mehr als bare Münze.
* »Wer ist das?« »Was ist mit ihr?« »Karel, wo kommt sie her?«
»Maul halten, verfluchte Weiber, sonst lernt ihr mich kennen!« Die Stimmen der anderen drei Mädchen und Karels erreichten Jana nicht allein wie aus weiter Ferne, sondern klangen zusätzlich gedämpft wie durch wattige Mauern. Mauern, die sie im Schlaf zwischen dem Reich ihrer Träume und der immer bedrohlicher werdenden Wirklichkeit errichtet hatte. Wie zum Schutz vor den Greueln, die da draußen auf sie warten mochten. Auf sie alle vier … Jana schien die einzige unter ihnen, die ihren Entschluß, sich Karel anzuschließen und von ihm in die Stadt bringen zu lassen, zu bereuen begann. Weil Zweifel in ihr keimten; Zweifel an dem, was Karel ihnen in Aussicht gestellt und versprochen hatte: ein Leben ohne Not und Mangel. Mit jedem Mal, das Jana daran dachte, kamen ihr diese Versprechungen phantastischer und unglaubwürdiger vor. Ein Leben ohne Not und Mangel – das konnten kaum mehr als leere Worte sein, in einer Zeit wie dieser … Jana kroch nur langsam aus dem Reich ihrer Träume, und sie mühte sich nicht sonderlich dabei. Am liebsten wäre sie gar nicht aufgewacht, und so hielt sie die Augen noch eine ganze Weile geschlossen und stellte sich schlafend, als sie längst wach war. Dann jedoch wurden die Bewegung und Aufregung um sie her so deutlich spürbar, daß sie die Lider wie von selbst aufschlug. Zwei- oder dreimal blinzelte Jana noch, dann hatten sich ihre Augen an das trübe Grau gewöhnt, in das die Karrenplane das Tageslicht hier auf der Ladefläche verwandelte. Noch ein wenig benommen vom langen Schlaf richtete sie sich auf ihrem kaum so zu nennenden Lager auf – eine stinkende, feuchte Decke mit drei Handvoll fauligen Strohs darunter, mehr war es nicht. Ihre drei ›Leidensgenossinnen‹ hockten am hinteren Ende des Bretterbodens und sahen auf etwas hinab, auf das sie Jana den Blick verwehrten. Das junge Mädchen kroch zu ihnen und streckte den Kopf zwischen zwei Schultern hindurch. Dann entfuhr auch ihr die Frage:
»Wer ist das?« Wie schlafend lag die junge Frau da, sicher ein wenig älter als jedes einzelne der vier Mädchen, die Karel in den Dörfern aufgelesen hatte. Ihre Haut kam Jana so blaß vor, daß sie beinahe durchscheinend wirkte. Aber fast noch beunruhigender war die Tatsache, daß die Fremde keinen Faden am Leibe trug. Achselzucken antwortete ihr. »Wir wissen es nicht«, sagte Petrina, eine glutäugige Schönheit mit dunklem Teint. »Karel hat sie einfach zu uns hereingeworfen«, ergänzte Yvi. Ihr Haar flammte selbst im Dämmer unter der Plane wie der Horizont, wenn die Sonne glutrot dahinter versank. »Ihr sollt ruhig sein da hinten!« donnerte Karels Stimme in diesem Moment zum wiederholten Male. Gleichzeitig ließ er die Peitsche und Zügel knallen. Schwerfällig und schaukelnd setzte sich der Karren wieder in Bewegung. »Sie ist schön«, meinte Jana. »Ihr Haar, es ist so kurz wie das eines Burschen«, wunderte sich Rela, die vierte in ihrem nicht ganz freiwilligen Bunde. »Wie auch ihr Leib«, sagte Petrina. »Fast wie der eines Knaben scheint er mir.« Zaghaft berührte sie die milchige Haut der Fremden, fuhr mit sanften Fingern darüber und verharrte, ehe sie die kleinen Brüste erreichte. Die Zeit schien stehenzubleiben für eine nicht meßbare Spanne. Als die Fremde die Augen öffnete.
* Wieder habe ich etwas Vertrautes gefunden. Etwas, das ich einst als Schmerz gekannt hatte. Heute empfinde ich es anders. Nur eines ist geblieben: Es läßt das Licht ringsum erlöschen und schickt mich zurück in jene
Richtung, aus der ich gekommen bin – der kühlen Ewigkeit zu, nur ein Stückweit jedoch; nicht so weit zurück, wie ich den Weg dorthin schon einmal gegangen bin … Ich weiß nicht, wie lange ich zuvor über Wiesen und durch Wälder gelaufen bin. Zeit ist ein Begriff, dessen Bedeutung mir zwar noch geläufig ist, aber für mich ist sie erloschen. Das mag der Preis dafür sein, wenn man einmal geschaut hat, was ich geschaut habe. Und der Gedanke daran schürt jenes dunkle Gefühl in mir, das mir allmächtig fast scheint. So stark, daß kein anderes neben ihm Platz hat. Etwas wie Wut, weil mir entgangen ist, was schon zum Greifen nahe war; und Haß auf jene, deren Tat dies alles in Gang setzte … Irgendwann spürte ich das Nahen von Menschen und erwartete sie. Die Begegnung war kurz – und schmerzhaft. Und nun erwache ich von neuem. In fremder Umgebung. Alles um mich her scheint in Bewegung, voller Geräusche, leisem Donner gleich. Gesichter hängen wie schwebend über mir, sehen auf mich herab. Müde und bleich sind sie – aber nur so lange, bis mein Blick sie trifft. Sie weichen zurück, ein wenig nur, als erschrecke sie etwas, dessen sie erst jetzt ansichtig werden, da mein Blick den ihren trifft. Ihre Lippen bewegen sich, gebären Laute, die mir fremd und unverständlich sind. Ich wünschte, ich könnte sie verstehen, denn ich weiß, daß Antworten auf meine Fragen darin lägen. Wie gern würde ich zu ihnen sprechen. Ich versuche es. Doch es mißlingt auch diesmal. Wieder bringe ich nur jene schrecklichen Schreie zuwege, die mir selbst in den Ohren schmerzen. Schreie, die mehr sind als sinnloses Gebrüll – Ausdruck meiner tiefen Verzweiflung. Verzweiflung und Wut über mein unfertiges, fremdartiges Dasein. Doch beides entlädt sich in diesen Schreien. Sie erleichtern mich, leiten meinen Zorn fort aus mir und zu anderen hin.
Bis meine Kraft zum Schreien versiegt, meine Lider sich schließen und Schwärze mich umfängt, erholsamer und regenerierender Schlaf mich gefangennimmt.
* »Bei allen Heiligen, was war das?« Petrina nahm die Hände von den Ohren. Sie hatte versucht, sich vor den schmerzenden Schreien der Fremden zu schützen, doch es hatte wenig genutzt. Den anderen dreien war es nicht anders ergangen, wie sie in ihren bleichen Gesichtern lesen konnte. Das Entsetzen hatte neben der Erschöpfung, verursacht durch die lange, beschwerliche Reise, tiefe Spuren hineingegraben. »Ich weiß es nicht«, flüsterte Rela tonlos. »Aber es war grauenhaft«, fügte Yvi hinzu. »Was kann einen Menschen veranlassen, solcherart zu schreien?« fragte Jana atemlos. Die Vorstellung des Grauens, das dahinterstecken mußte, ließ sie schaudern wie in der Kälte des Winters. Der Karren wurde ein wenig langsamer. Karels Stimme brüllte von vorne: »Verdammt, was geht da hinten vor?« »Nichts!« rief Petrina eilig zurück. »Es ist schon gut.« »Das will ich euch raten. Hüah!« Karel trieb den Gaul unbarmherzig voran. Eine Weile herrschte Stille auf dem Karren, sah man vom Knarren und Knirschen des Holzes ab. Schweigend sahen die vier Mädchen auf die Nackte hinab, deren Schreie so plötzlich abgebrochen waren, wie sie begonnen hatten. Sie hatte die Augen wieder geschlossen und erweckte ganz den Eindruck einer Schlafenden. Aber die Ruhe schien den Mädchen trügerisch, von einer Art, die größeren Schrecken in sich bergen konnte, als sie ihn sich vorzustellen vermochten. Und etwas, ein Hauch dieses Schreckens, schien wie greifbar zwischen ihnen zu liegen. Für eine Weile jedenfalls. Dann versickerte er.
Aber nicht dorthin, woher er gekommen war … Etwas Kaltes, das über das körperlich wahrnehmbare Maß von Kälte hinausging, floß in die vier Mädchen. Auf Wegen und durch Kanäle, von deren Existenz sie nie etwas geahnt haben mochten. Und es floß dorthin, wo sich alles Dunkle, das je in ihrem Denken und Empfinden gewesen war, abgesetzt hatte wie stinkender Bodensatz. Unsichtbar rührte etwas darin, rührte auf was sich dort niedergelegt hatte. Schleichend wie Gift stieg es auf und mengte sich in ihre Gedanken. Machte Harmloses zu Üblem, ließ vage Furcht zu Panik werden, und Unbehagen schließlich zu Zorn. Zu Zorn, der sich entlud. In mörderischer Gewalt. Kräfte verströmten, wenn auch nicht ziellos. Bis daß der Tod seine Ernte einbringen konnte.
* Vaclav langweilte sich schier zu Tode. Die Größe seiner Aufgabe rührte ihn nicht. Weil sie nur von scheinbarer Größe war. Prag, seine Stadt, sollte er vor unbefugtem Zutritt schützen. Doch der Befehl war kaum das Papier wert, auf dem er geschrieben stand. Ganz abgesehen davon, daß er, Vaclav, ihn nicht einmal lesen konnte … Tatsächlich gab es niemanden, den er nicht durch jenes Tor, das er zu bewachen hatte, nach Prag hineingelassen hätte. Weil keiner der Ankömmlinge Böses im Schild führte – oder zumindest nicht so dumm war, es den Wachsoldaten bei seiner Ankunft zu verraten. Zudem wurde das Übel ohnehin nicht von draußen in die Stadt hineingetragen. Es gärte längst jenseits der Mauern, in der Stadt selbst. Und es war abzusehen, daß es schon bald schlimme Folgen zeitigen würde. Etwas lag in der Luft, das Vaclav von vielen Schlachtfeldern, auf denen er schon zugange gewesen war, her kannte: der Geruch von Tod und Gewalt …
Doch das mußte ihn nicht kümmern, noch nicht jedenfalls … So hatte Vaclav seine eigenen Regeln für den Wachdienst an der Stadtmauer aufgestellt. Und die erste lautete, jeden Fremden zu filzen und zu schikanieren, bis daß es ihm selbst zu blöde wurde. Auf diese Weise verging wenigstens die Zeit … Ein müdes Grinsen glitt über das Gesicht des längst nicht mehr jungen Soldaten, als er in seinem Unterstand im Tor das Rumpeln hölzerner Räder und den trägen Schlag von Hufen auf dem Pflaster draußen hörte. Ächzend richtete er sich auf, zog seine Kleidung halbwegs gerade. Dann trat er, auf seine Hellebarde gestützt, hinaus. Und sein Grinsen verflog. Der Alte, der da auf dem Bock des Plankarrens hockte, würde ihm nicht viel Kurzweil bereiten. Er sah mehr tot aus denn lebendig, und es schien dem Soldaten ein kleines Wunder, daß die jämmerliche Gestalt sich noch aus eigener Kraft dort oben halten konnte. Dennoch verstellte er ihm den Weg. »He da!« rief er energisch. »Halt an, Alter!« Der Kutscher reagierte nicht sofort. Es dauerte eine Weile, ehe er auch nur den Kopf hob und den Blick in Vaclavs Richtung wandte, und dann noch einmal ein wenig, bis er in die Zügel seines kaum weniger gebrechlichen Gauls griff und ihn zum Stehenbleiben veranlaßte. Der Soldat trat seitlich an den Karren heran, sah auf – und fröstelte unvermittelt. Die Augen in diesem uralten Gesicht dort oben – etwas wohnte ihnen inne, das nichts Gutes verhieß. Jenseits ihres trüben Schimmers brodelte es wie am Himmel, wenn ein Gewitter bevorstand … Vaclav mußte sich die Kehle freiräuspern, bevor er zum Reden ansetzen konnte, aber auch dann klang seine Stimme noch ein kleines bißchen weniger sicher und selbstgefällig als sonst: »Wer bist du? Wo kommst du her, und was ist dein Begehr, Alter?«
Der Angesprochene antworte nicht gleich, als müßte er sich erst darauf besinnen, daß er eine Stimme sein eigen nannte. Dann endlich sagte er, schwer und von seltsamer Trauer erfüllt: »Man nennt mich Karel. Und ich habe Ladung für Eure Herren in der Stadt.« »Ladung welcher Art?« fragte Vaclav. »Das geht dich nichts an«, erwiderte der Alte. Vaclavs Hellebarde schoß dem Gesicht Karels zu wie ein matter Blitz. Nur Fingerbreit vor der dürren Nase des Alten kam sie zur Ruhe. »Was wagst du da, du Narr?« knurrte der Torwächter. Das Gewitter in den Augen des Alten brach aus! Mit einem Aufschrei und vor allem einer Geschmeidigkeit, die niemand dem gebrechlichen Leib mehr zugebilligt hätte, stürzte Karel sich vom Bock. Seine Faust beschrieb einen flirrenden Bogen, während er auf Vaclav herabfiel. Trotzdem sein Kettenhemd ihn schützte, spürte der Soldat die wütende Kraft, die hinter dem Messerstoß des Alten lag. Aufstöhnend wankte er zurück. Mit irrem Blick und geifernd stand ihm der Kutscher gegenüber, die Klinge vorgereckt. »Steck das Messer weg, Alter«, empfahl der Soldat. »Dann werd’ ich vielleicht vergessen, was du versucht hast.« »Du wirst gleich vergessen, daß du je gelebt hast!« keuchte der Alte und kam näher. Vaclav nahm den Schaft der Hellebarde quer, wartete, bis Karel noch ein bißchen weiter heran war, dann stieß er ihm das stumpfe Stielende entgegen. Er traf ihn vor der Brust. Der Stoß ließ den Alten zurücktaumeln. Rasch hakte der Soldat ihm den Schaft zwischen die Knie, brachte ihn ins Straucheln und schließlich zu Fall. Ehe der andere sich wieder erheben konnte, schlug er ihm den Schaft der Waffe gegen die Schläfe. Mit einem seltsam erleichterten Seufzen sank Karel zurück.
»Was mag nur in den armen Tropf gefahren sein?« wunderte sich Vaclav schweratmend. »Scheint’s, der Leibhaftige selbst …« Er trat neben ihn und vergewisserte sich, daß der Alte vorerst wirklich keine Gefahr mehr darstellte und ihm nicht unversehens in den Rücken fallen konnte. Dann ging er an dem Karren entlang bis zum hinteren Ende, griff nach der Plane und schlug sie ein Stück zur Seite, die Hellebarde so im Griff, daß die Spitze ins Innere des Karrens wies. Nur für den Fall, daß dort mehr von der Sorte des Alten lauerten … Aber von keinem derer, die sich unter der Plane befanden, drohte mehr Gefahr. Dennoch entwich dem Soldaten ein entsetztes Keuchen. Freilich hatte er dem Tod schon oft ins Auge gesehen. Aber selten zuvor solcherart unvermittelt. Vier Tote lagen da vor ihm. Vier alte Weiber, die aber gewiß nicht an Altersschwäche krepiert waren. Denn ihre Leichname wiesen schlimmste Wunden auf, und das Blut ringsum legte den Verdacht nahe, daß sie alles, dessen sie habhaft geworden waren, als Waffe genutzt hatten. Trotzdem empfand Vaclav diesen Teil des Szenarios nicht als den schlimmsten. Um einiges furchteinflößender schien ihm jene, die inmitten der Leichen hockte. Nackt, bleich und teilnahmslos, als ginge sie das Grauen um sie her nichts an – oder so, als nähme sie es gar nicht wahr. Und vielleicht tat sie das auch nicht. Denn Vaclav schien es, als wäre sie gar nicht Teil dieser Welt. Wie ein Gespenst kam sie ihm einen Moment lang vor. Weil er glaubte, durch sie hindurchsehen zu können … »Rühr dich nicht von der Stelle«, stammelte Vaclav tonlos. Hastig wandte er sich dann ab, rannte zum Stadttor hin, um Alarm zu schlagen.
Er hatte es noch nicht getan, als hinter ihm markerschütternde Schreie laut wurden, wie er sie nie zuvor gehört hatte. Und, so betete er, hoffentlich nie mehr würde hören müssen …
* Tage danach, Prag im Mai 1618 Es gab Tage, da wußte Justus nicht, wohin mit seiner Schüchternheit – und ein anderes Mal sprühte er förmlich vor Erlebnishunger – der Sehnsucht nach neuen Erfahrungen und neuen Dingen, die es hier zuhauf zu bestaunen gab. Laute Mönchsgesänge hatten ihn, obwohl eigentlich noch müde von der langen Kutschfahrt, auf einen der Höfe gelockt. Obwohl Justus sich mitunter nicht schlüssig war, ob er tatsächlich ein frommer oder nur ein frömmelnder Jüngling war, hatte ihn die Hoffnung auf eine Andacht aus seiner gerade erst bezogenen Unterkunft getrieben. Schon die Reise hierher war so voller Eindrücke gewesen, daß er seine widerstreitenden Gefühle kaum ordnen konnte. Ein wenig innere Einkehr konnte nicht schaden, zumal er sich unter Mönchen mit keinem falschen Schein zu umgeben brauchte. Niemand würde einen anderen in ihm zu sehen erwarten als den, der er tatsächlich war! Justus seufzte. Über die Turmstiegen erreichte er den Innenhof, auf dem der obligate Brunnen … aber auch noch etwas nicht gar so Übliches zu finden war: Ein gewaltiges Feuer leckte zur frühen Abendstunde über ein nachlässig gezimmertes Gerüst, auf dem der Torso einer enthaupteten Frau aufgebahrt lag! Um eine herkömmliche Bestattung handelte es sich keinesfalls. Solcherart verfuhr man nur mit Menschen, die selbst im Tode noch
für begangene Untaten gestraft werden sollten! Die Neugierde trieb Justus näher an das Geschehen heran, obgleich der Anblick der kopflosen Frauenleiche ihm den Magen anheben wollte. »Verschwinde!« fauchte ihn unvermittelt von hinten eine barsche Stimme an. Als er sich umdrehte, sah Justus ins Gesicht eines Burgsoldaten, dem es nicht einmal über die Uniform gelang, Vertrauen zu wecken. Im Gegenteil: Justus war selten einem Menschen begegnet, dessen Blicke ihn dermaßen abgestoßen hatten. Trotzdem faßte er sich ein Herz und fragte: »Wer ist sie? Warum wird sie verbrannt?« Der Gefragte bleckte die schwärzlichen Zähne zu einem gemeinen Grinsen. »Es gefällt dir, das man sie nackt einäschert, hab’ ich recht? Dir steht die Wollust um die Nase geschrieben! Hast du es schon mal mit einer Leiche getrieben? Die hier würde dir tüchtig einheizen … Steig nur hoch zu ihr! Schnell; die Pfaffen, so sie ihre Arbeit ernst nehmen, werden ihre Blicke nicht zu ihr erheben. Sie beten nur für die arme Seele, die doch längst zur Hölle hinabgefahren ist!« Justus wurde vollends schlecht. Angewidert kehrte er dem Soldaten den Rücken zu. Die Flammen, die eben erst am Gerüst zu nagen begonnen hatten, umtanzten nun bereits den Torso, dessen Blässe auf das ihm entwichene Blut zurückzuführen sein mußte. Und trotzdem … … war sie engelsschön! Nicht einmal die Vampirin in Dresden hatte einen Körper wie diese Frau hier ihr eigen genannt! Die Proportionen lenkten kurzzeitig sogar von dem Makel des fehlenden Hauptes ab. Obwohl es ihm zutiefst widerstrebte, fragte Justus mit rauher Stimme hinter sich: »Wo ist ihr Kopf? Was hat man mit ihm getan?« Der Hartgesottene in seinem Rücken lachte. »Vielleicht will ihn sich der Graf als Trophäe präparieren lassen. Es ist nicht das erste Hexenweib, das er aufs Schafott brachte. Vielleicht eröffnet er ir-
gendwann eine Ausstellung mit all den Häuptern, die …« Die Stimme verstummte, so als fürchtete selbst ein Zyniker wie dieser, daß er zuviel sagen könnte. Lügen oder Wahrheiten, die ihn selbst um Kopf und Kragen bringen konnten. »Wer bist du überhaupt? Ich hab’ dich hier noch nie herumlungern sehen. Du solltest vorsichtiger sein, und wenn du nicht gleich Fersengeld gibst …« Justus hörte gar nicht mehr zu, weil er in diesem Moment etwas anderes seine Aufmerksamkeit zu fesseln begann. Mechanisch setzte er sich in Bewegung und lief über den erstaunlich menschenleeren Hof. Justus konnte sich das mangelnde Interesse an der Verbrennung nur damit erklären, daß die üblichen Schaulustigen bereits bei der Hinrichtung der Frau zufriedengestellt worden waren. Das Weinen des Mädchens erschütterte ihn zutiefst. Vorhin hatte er es nur schwach erkennen können, weil der brennende Haufen dazwischengestanden hatte. Nun, da er ihn in weitem Bogen umgangen hatte, sah er nicht nur das Mädchen deutlich, sondern auch, warum es solche Tränen vergoß. Es stand vor einem Tisch. Und auf dem Tisch stand ein gläserner Behälter, in dem … ein Kopf schwamm! Nicht einmal der Moment des gewaltsamen Todes, als das herabsausende Fallbeil ihn vom Körper getrennt hatte, hatte genügend Schrecken in die Züge der Frau meißeln können, um die unirdische Schönheit zunichte zu machen! Selbst jetzt, von wasserklarer Flüssigkeit umgeben, strahlte sie noch einen Zauber aus, der ihr womöglich zum Verhängnis geworden war, und nicht einmal die Röte ihres Haares hatte unter der Tinktur so gelitten, daß man nicht hätte ahnen können, wie es ihr Gesicht einmal umschmeichelt hatte. Kupferrot war auch das Haar des Mädchens, das vor dem Tischchen kniete, die Hände zu Fäusten geballt, aber nicht zum Gebet gefaltet, und den Blick gefangen von dem offenen Mund der Geköpf-
ten, als wartete sie inständig auf ein tröstendes Wort daraus … Justus konnte es nicht länger ertragen. Er wollte zu dem Mädchen eilen und es von dem zur Schau gestellten Haupt der Hexe wegziehen. Doch in diesem Moment packte jemand ihn von hinten am Schlafittchen! »Wer nicht hören will, muß fühlen!« zischte eine Stimme, die gar nicht erst die Frage aufkommen ließ, wer ihn so grob zurückriß. »Loslassen! Sofort!« schrie Justus. »Du wirst es bereuen, wenn du mich –« »Bereuen wirst du es, wenn du nicht gleich das ungewaschene Maul hältst! Und jetzt verschwinde, ehe ich mich wirklich vergesse!« Justus wurde nicht nur brutal zu Boden gestoßen, sondern erhielt auch noch einen Tritt in die Seite, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Keiner der Mönche griff ein. Ihr Gesang übertönte nicht nur das Prasseln der Flammen und das Schluchzen des Mädchen, sondern auch Justus’ Stöhnen, als er sich vom Pflaster aufrappelte und geduckt dorthin zurückschlich, woher er gekommen war. Übertriebene Tapferkeit war seine Sache nicht …
* Vom Hradschin aus betrachtet wirkte Prag, als hätte jemand die ganze Stadt achtlos mit flüssigem Blei übergossen, so daß jetzt über allem, was sich darin befand oder bewegte, eine grauschwarze Patina aus Verdorbenheit lag. Graue Schwärze wie die Not und der Tod schlechthin! Matthäus Wenzel fröstelte beim Blick aus dem offenen Palastfenster, ohne allerdings auch nur zu ahnen, daß sich dieser Schauder vom üblichen Ungemach seines Geschäfts unterschied. Wenige Stunden zuvor hatte er die böhmische Hauptstadt erreicht und war von Vilem Slavata, einem der gräflichen Statthalter des Kö-
nigs, empfangen worden. Graf Jaroslav Martinic selbst, der ihn wegen eines »absonderlichen Problems« eigens von Dresden hierher beordert hatte, war bei dieser Begrüßung nicht anwesend gewesen, Slavata hatte ihn unter Berufung auf dringliche Angelegenheiten entschuldigt, jedoch versprochen, daß Martinic noch bis zum Abend persönlich bei Wenzel vorstellig würde. Inzwischen dämmerte es draußen, aber der Graf war immer noch nicht erschienen, und Wenzel wurde allmählich nicht nur ungeduldig, sondern auch ungehalten. Reisen in dieser Zeit war nicht einfach, sondern generell gefährlich, insbesondere aber, wenn man sich auf Boden wie diesen begab. Unterwegs hatten die Nachrichten, die sich mit der hohen Politik befaßten, Wenzels geheime Befürchtungen mehr und mehr bestätigt: Ein explosives Gemisch braute sich in der Stadt an der Moldau zusammen! Matthäus Wenzel war von Natur aus ein vorsichtiger Mann, aber Vorsicht allein genügte längst nicht immer, um sich vor den Unbilden und Auswüchsen einer immer mehr ins Sinnlose eskalierenden Gewalt zu schützen. Prag, das hatte sich schon auf dem Weg, mehr aber noch bei der Ankunft bestätigt, glich einem gigantischen Pulverfaß. Möglicherweise genügte ein winziger Funke, um nicht nur den in dieser Stadt schwelenden Konfliktstoff, sondern auch zwischen Böhmen und dem Hause Habsburg generell zur fatalen Entladung zu bringen. Seit geraumer Zeit rebellierten die Stände der Stadt immer heftiger und unverblümter gegen die Beschneidung ihrer Rechte; dabei pochten sie auf einen neun Jahre zuvor erlassenen Kaiserlichen Majestätsbrief, der ihnen Glaubensfreiheit und bei Bedarf einen aus Protestanten zusammengesetzten Ausschuß für Verhandlungen mit ihrem Monarchen zubilligte. König Ferdinand indes hatte dieses Recht schon wiederholt mit Füßen getreten, und von Seiten Slavatas und Martinics, so hörte
man allenthalben, gab es keine Bereitschaft, zwischen Herrscher und Volk zu vermitteln. Beide königliche Statthalter hatten sich auf den harten Kurs ihres Herrn eingeschworen, und über kurz oder lang mußten die Stände darauf reagieren … Matthäus Wenzel hoffte, daß er Prag wieder den Rücken gekehrt haben würde, wenn der sich abzeichnende Konflikt ausbrach. Trotz einer fünfköpfigen Gefolgschaft konnte er sich ausmalen, was ein wütender Mob anzurichten vermochte, und irgendwo erschreckte ihn das menschenverachtende Kalkül (oder war es einfach nur Unverstand?), mit dem einige Statthalter des Königs buchstäblich auf die Katastrophe zuarbeiteten. Er drehte sich um. Es hatte an die Tür seiner Unterkunft gepocht. »Tretet ein!« rief er, in Erwartung des Grafen Martinic. Matthäus Wenzel war nicht wirklich überrascht, als statt dessen sein Ziehsohn Justus eintrat. Der siebzehnjährige, schlanke Knabe begleitete ihn überall hin, seit Wenzel die Pflegschaft übernommen hatte. Justus’ Augen schimmerten so überquellend, als wollten jeden Moment Tränen daraus hervorschießen, und es hätte den Reisenden im Auftrag der Heiligen Inquisition nicht weiter verwundert, wenn dies tatsächlich geschehen wäre. Der Junge war bekanntermaßen extrem zart besaitet – wiewohl er inzwischen genügend gesehen und erlebt haben sollte, um etwas abgestumpfter auf das die Welt prägende Leid reagieren zu können. Manchmal fragte sich Wenzel, wie Justus es anstellte, sich diese Unschuld des Herzens zu bewahren. Und manchmal beneidete er ihn gar darum, insgeheim, versteht sich. »Was hast du?« Mehr brauchte Wenzel nicht zu fragen, denn schon brach das, was Justus bedrückte, aus ihm hervor. Mit heiserer und schwankender Stimme sagte er: »Ich sah mich ein wenig in den Burghöfen um, Ihr hattet es mir erlaubt …« Er blickte scheu, wie um sich zu versichern,
und Wenzel nickte geduldig. »Auf einem war man gerade zugange, eine Frau zu verbrennen – ihren Leichnam. Sie muß erst kürzlich geköpft worden sein. Angeblich soll sie eine Hexe gewesen sein …« »Angeblich?« »Sie war so … unschuldig schön – selbst im Tode noch!« »Du läßt dich also immer noch von solcher Oberflächlichkeit narren.« Matthäus Wenzel machte kein Hehl aus seiner Enttäuschung. »Nein, nein!« widersprach Justus etwas zu heftig, um es glaubhaft scheinen zu lassen. Mit gespreizten Fingern fuhr er sich leidenschaftlich über das glatte Gesicht, auf dem noch immer nicht das geringste Anzeichen eines Bartwuchses zu entdecken war. Er hat die Haut eines Mädchens, dachte Wenzel bei solchen Gelegenheiten üblicherweise, und dann staunte er meist über die Engelsgeduld, die er dem Sohn seines verstorbenen Freundes entgegenbrachte – er, der sonst so harte, unbestechliche Richter … »Nein!« wiederholte Justus. »Ihr habt mir selbst erzählt, wie oft es vorkommt, daß Unschuldige von ihren Mitmenschen denunziert werden! Ich bin sicher, bei ihr handelte es sich –« Er verstummte, weil es von draußen gegen die Tür klopfte. Matthäus Wenzel begnügte sich diesmal nicht mit einem Zuruf. Er ließ Justus stehen und ging, um aufzumachen. Seine Ahnung trog ihn nicht: Diesmal stand draußen auf dem dämmrigen Korridor ein stattlicher Mann in kostbarer Robe, bei dem es sich nur um Jaroslav Martinic handeln konnte – zumindest gelangte Wenzel sofort zu dieser Einschätzung, obwohl er dem Grafen noch nie begegnet war. Begrüßung und Vorstellung des Besuchers verliefen fast unhöflich knapp. »Ich weiß, Ihr seid gewiß müde von der beschwerlichen Reise«, beendete Martinic die wenigen Floskeln, wobei er auf dem Flur stehenblieb und über Wenzels Schulter hinweg auf Justus schaute, der
sofort den Blick zu Boden richtete und die hageren Schultern sinken ließ. Einen Augenblick lang erinnerte diese Pose an eine Schildkröte, die sich vollständig in ihren Panzer zurückzog, weil sie dem Irrglauben anhing, sich dadurch unsichtbar für die Außenwelt machen zu können. »Aber mir läge viel daran«, fuhr Martinic in bemüht unverfänglichem Ton fort, »wenn Ihr sie Euch heute wenigstens noch ansehen und mir Eure erste Meinung über sie sagen könntet …«, sein Blick fand zu Wenzel zurück, »… Inquisitor!« Matthäus Wenzel nickte. »Dann gehen wir gleich.« Er gab Justus einen Wink. Martinic verzog das feiste, nicht sehr vertrauenerweckende und von morbider Dekadenz gezeichnete Gesicht. »Ich hielte es nicht für ratsam, einen Jüngling dabeizuhaben, der …« Wenzel schüttelte den Kopf. »Ich bin alt«, erklärte er zunächst in einem Tonfall, als handele es sich um keine sehr bedeutungsvolle Feststellung. Dann jedoch hob er seine Stimme an, und der Graf erhielt eine vage Vorstellung von der zwingenden Kraft, die in Wenzel wach wurde, sobald es erst um Dinge ging, für die zu fechten es sich aus seiner Sicht lohnte: »Justus ist mein Schüler. Eines Tages wird er vielleicht meinen Platz einnehmen – und wie sollte er dies, wenn ich ihn von allen wirklichen Beschwernissen und Prüfungen fernhielte?« Martinic zuckte unverhohlen mürrisch mit den Schultern und wandte sich ohne einen weiteren Versuch des Widerspruchs zum Gehen. Matthäus Wenzel hörte ihn leise fluchen, nickte Justus noch einmal zu, und dieser schloß sich ihm mit kaum weniger Widerwillen an, als es der Graf gezeigt hatte. Draußen auf dem Gang empfahl sich Jaroslav Martinic mit den Worten: »Ich muß mich entschuldigen, daß ich Euch nicht selbst geleiten kann. Aber Slavata erwartet mich. Wir müssen noch einen Er-
laß an die Stände verfassen …«
* In den Tiefen der weitverzweigten Burg nistete klamme Kälte, und das verschlungene Gewölbe erschien Justus wie eine eigenständige Welt von erdrückender Fremdheit, die nicht das geringste von dem verschwenderischen Prunk ein paar Treppen darüber erahnen ließ. Martinic hatte ihnen drei Soldaten seiner Leibgarde zur Verfügung gestellt. Einer von ihnen war Justus schon aufgefallen, als er sich auf den Burghöfen umgesehen hatte: ein knochiger, hochgeschossener Mann mit einem kaum zu mißdeutenden brutalen Zug um den Mund. Er sprach nur das Nötigste und ging voraus, während die beiden anderen die Nachhut bildeten. Schon frühzeitig waren Schreie zu hören, aber je weiter sie hinabstiegen, desto mehr überlagerte ein ganz bestimmter alle anderen. Er war von solcher Qual gefärbt, daß es Justus fast so eng ums Herz wurde wie droben, als er Zeuge der Verbrennung des Leichnams geworden war … Die bloße Erinnerung daran weckte Übelkeit. Wie oft hatte er sich vorgestellt, Matthäus Wenzel einfach davonzulaufen. Doch das Unbekannte hatte ihn bei diesem Mann ausharren lassen. Wenn man so wollte, empfand Justus ihn einfach als das kleinere von zwei wählbaren Übeln. Und mochte sich Wenzel auch etwas anderes einbilden, so sah Justus selbst in ihm keineswegs den Vaterersatz. Manchmal verabscheute er ihn regelrecht – natürlich nicht dafür, daß er sich um Essen, Unterkunft und Ausbildung kümmerte, sondern dafür, daß er Justus mit allen erdenklichen menschlichen Abgründen und Perversionen konfrontierte. Es gab wenig, was Justus in Wenzels Dunstkreis erspart blieb. Kaum eine größere Stadt, die nicht von Hexen oder Satanstreuen unterwandert war. Überall in den Landen wurden heikle Prozesse
geführt, und nicht einmal kleine Kinder waren gegen Anfeindungen oder die folgenschwere Anklage gefeit, mit dem Teufel gebuhlt zu haben. Justus hatte aber auch absurden Gerichtssitzungen und noch absurderen Hinrichtungen beigewohnt, einmal der eines störrischen Gauls, unter dessen Hufschlag sein Besitzer ums Leben gekommen war, und bis heute begriff Justus nicht, warum sein Ziehvater diesen Humbug mitgemacht hatte. »Hier ist es«, sagte der vorausgehende Soldat, der auf den Namen Niklas Strohov hörte. Er war ganz am Ende des von Fackeln erhellten Ganges stehengeblieben und zeigte auf eine vielfach gesicherte Tür, deren Holz sich mit Feuchtigkeit und zusätzlicher Schwere vollgesogen hatte. Und nicht nur damit, dachte Justus – ohne benennen zu können, was seine Instinkte darüber hinaus wahrnahmen. Aber dann entfernte Strohov sorgfältig jeden Riegel und verschaffte ihnen Zugang und Einblick in die Schreckenskammer dahinter … Justus erbrach sich sofort, nachdem er begriffen hatte, worauf der plötzliche Gestank beruhte, der ihnen aus dem Innern des Verlieses entgegenschlug. Und selbst Matthäus Wenzel prallte innerlich vor dem Grauen des Bildes zurück. »Allmächtiger, wie konnte man zulassen, daß …?« »Zulassen?« Strohov unterbrach ihn grob. »Natürlich hätten wir die Leichen entfernen können! Aber der Graf meinte, Ihr solltet alles so vorfinden wie wir. Die Eindrücke sollten nicht verwässert werden …« Matthäus Wenzel ließ zu, daß Justus hinter ihm zurückfiel. Dieses eine Mal hatte er jedes Verständnis für dessen Reaktion, denn was der Soldat gerade angeführt hatte, konnte keine Rechtfertigung sein. Nicht für dies! Leichen … Über die Enge der Verlieskammer verteilt lagen mehrere Tote in unterschiedlichen Stadien der Verwesung oder … Wenzel fröstelte
… der Mumifizierung. Er mußte sehr genau hinsehen, um ihre Zahl zu bestimmen. Er kam auf sieben, und dazwischen befand sich eine zwar noch lebende, aber wohl dem Irrsinn verfallene Frau, die angekettet auf einer Pritsche kauerte. In unregelmäßigen Abständen stieß sie jene schaurigen, durch die Gänge hallenden und selbst andere Inhaftierte zum Erzittern bringenden Schreie aus. »Das ist die Frau, deretwegen wir aus Dresden gerufen wurden?« fragte Wenzel, und für einen Augenblick meinte er, daß die Schwärze erfolgreich gegen das Licht ihrer Fackeln ankämpfte – es nicht einlassen und nicht weichen wollte … Strohov fand die Frage des Inquisitors offenbar keiner Antwort wert. Statt dessen erkundigte er sich in rüdem Ton: »Wollt Ihr mit ihr reden? – Aber ich sage Euch gleich, das könnt Ihr Euch sparen. Sie redet mit niemandem …« Matthäus Wenzels Lächeln ließ sein Gegenüber spüren, was er von ihm hielt. »Es kommt wohl auf die Sprache an, derer man sich bedient …« Strohov machte eine Handbewegung, die ebensoviel Verachtung ausdrückte, und wollte sich seinen Kameraden zuwenden. Doch Wenzels Stimme hielt ihn noch zurück: »Ich warte immer noch auf deine Erklärung, Soldat!« »Erklärung wofür?« »Für die Toten!« Strohov lächelte abstrakt, und nicht minder mysteriös waren seine Worte: »Es steht mir nicht zu, Euch Ratschläge zu erteilen, trotzdem solltet Ihr Euch vorsehen! Es gibt wenige, die sich überhaupt noch hier herunter wagen, und der Grund dafür ist sie …« Er wies auf die blonde Frau. »Sie bringt jedem den Tod, der sich längere Zeit in ihrer Nähe aufhält … Zumindest behaupten das all die Elenden, die hier liegen …« »Ich wäre dir dankbar, wenn du mir das ein wenig genauer erklä-
ren könntest.« Das Lächeln, das keines war, verschwand aus Strohovs Zügen, und das Verschlagene darin erblühte wieder zu seiner vollen und vordergründigen Größe. »Ich dachte, es wäre nicht mißzuverstehen, entschuldigt. Es ist ganz einfach: Dieses Hexenweib bringt jeden um! Jeden, der eine Nacht neben ihr verbrachte, war am nächsten Morgen mausetot!« »Aber wenn sie immer angekettet war …« »Seit wann stört das ein solches Weibsstück?« Strohov riß die Augen auf, zweifellos irritiert darüber, daß sich ein angeblich erfahrener Inquisitor von ihm erklären ließ, wozu Hexen fähig waren. »Woran sind sie gestorben?« Die Miene des Soldaten verschloß sich endgültig. »Das müßt Ihr wohl andere fragen. Ich bin kein Medikus, und der Graf hat mehrere Heilkundige kommen lassen. Was dabei herauskam … Nun, ich weiß es nicht, denn ich verstehe mich nicht auf das Kauderwelsch der Quacksalber!« Auch seine beiden Kameraden bekundeten Unwissen. Zugleich bemerkte Matthäus Wenzel bei ihnen etwas, was Strohov trefflich verbarg: Furcht. Keiner von ihnen hatte auch nur einen flüchtigen Blick für das lebendige Bündel Frau auf der Pritsche übrig, obwohl sie ihr körperlich haushoch überlegen waren. Sie fürchten ihren Fluch, dachte Wenzel, dem solche Reaktionen nicht fremd waren. Aber er selbst kannte diese Scheu nicht. Zu oft war er mit tatsächlichen oder vermeintlichen Ausgeburten der Hölle konfrontiert worden. Trotzdem zögerte er, sich die Frau jetzt schon vorzunehmen. Um Justus’ willen. »Genug!« sagte er. »Wir kommen ein anderes Mal wieder! Ich will noch diese Stunde mit dem Grafen konferieren!« Für die Soldaten mochte dies ein Zeichen von Schwäche sein – vielleicht hielten sie ihn für zu feige, sich der satanischen Sünderin
zu nähern. Matthäus Wenzel war es egal. Er trat zurück, legte den Arm um Justus’ Hüfte und führte ihn wie einen von Krankheit Geschwächten, der seiner Stütze bedurfte, nach oben. Nach soviel geballter Finsternis wollte auch er zurück ans Licht …
* Zur gleichen Zeit, unten in der Stadt Hieronymus Neruda beobachtete das Treiben in der rauchgeschwängerten Stube mit unverhohlener Skepsis – und das wiederum quittierten die meisten seiner Standesgenossen mit Unverständnis. Aus manchem Blick glaubte er sogar Feindseligkeit herauszulesen. Aber das bewies nur, wie empfindlich die Vertreter der protestantischen Stände, zu denen auch Neruda zählte, auf den Versuch der katholischen Liga reagierten, den Majestätsbrief zu umgehen, der unter anderem das Recht auf freien Kirchenbau garantierte. Die Atmosphäre, unter der diese Zusammenkunft stattfand, war ein fruchtbarer Nährboden für Fanatismus. Aber zu diesem wollte Neruda sich nicht bekennen. Er glaubte immer noch, daß der König und seine Vasallen auf dem Verhandlungsweg zum Einlenken gebracht werden konnten. Und auch wenn es während der hitzig geführten Dispute nicht immer so deutlich wurde: Seine Meinung hatte Gewicht in der Runde, und gerade deshalb nahmen es ihm viele übel, sich nicht offen zu einer notfalls auch gewaltsamen Konfrontation mit den Königstreuen zu bekennen … »Mit deinem Zögern machst du dich doch nur zu ihrem Handlanger!« mußte er sich sagen lassen. Es war noch das Harmloseste, was man ihm an den Kopf warf. Diejenigen, die selbst noch zauderten, schwiegen. Sie hatten weder genügend Courage, Neruda demonstrativ beizustehen, noch sich
unmißverständlich auf die Seite der einen oder anderen Partei zu schlagen. »Wenn war jetzt nachgeben und uns dieses verbriefte Recht nehmen lassen«, sagte einer der anderen Sprecher gerade, »werden sie uns auch noch andere Rechte beschneiden!« Mit »sie« meinte er König und Statthalter. »Das darf nicht geschehen!« »Niemals!« Wieder gingen die Rufe kreuz und quer. Plötzlich stand Neruda auf, und sofort wurde es still, weil man offenbar zunächst glaubte, er wollte sich Gehör für eine Rede verschaffen. Doch er hob nur grüßend die Hand, knöpfte sein Wams vor der Brust zu und wandte sich zur Tür. »Du willst gehen? Jetzt?« »Frische Luft schnappen, ja. Und dasselbe rate ich jedem von euch, bevor ihr uns hier alle um Kopf und Kragen redet!« Mit diesen Worten entriegelte er die von innen verschlossene Tür und ging nach draußen. Ein paar empörte Rufe folgten ihm. Doch schon bald verfiel die Kulisse wieder in ihr unterbrochenes Fahrwasser zurück. Heftig wurde das Für und Wider eines Marsches zur Burg erörtert, um dem berechtigten Begehren Nachdruck zu verleihen. Indes lenkte Hieronymus Neruda seine Schritte bereits über das naßschimmernde Pflaster der Zeltnergasse, in Sichtweite des Hauses Zu den drei Königen, dessen hölzerner Dachstuhl noch aus dem 14. Jahrhunderts erhalten geblieben war. Neruda kannte alle verborgenen Schätze der Stadt, in der er geboren war und die er liebte. Und genau deshalb wollte er nicht zulassen, daß sie wegen der fast schon traditionellen Eifersüchteleien zwischen Katholiken und Protestanten zu irreparablem Schaden kam. Ein Aufstand konnte nicht nur ans Leben Einzelner gehen, sondern auch Kleinode architektonischer Kunst unwiederbringlich
vernichten. Brände waren schnell gelegt … Schon nach wenigen Schritten änderte er plötzlich seinen Entschluß und entschied, an diesem Abend nicht mehr in die hitzige Diskussion einzugreifen. Die Sonne war hinter den Dächern versunken, und kühle Luft umfächelte Nerudas rosiges Gesicht. So lenkte er seine Schritte heimwärts. Vielleicht, so rechtfertigte er sein Verhalten, brachte gerade sein Fernbleiben den ein oder anderen doch noch zur Besinnung. Eine kühne Hoffnung … Neruda wohnte in einem Haus in der Nähe des Pulverturms, an der Grenze zwischen Alt- und Neustadt. Zu dem Haus gehörten ein Garten und ein Stall, in dem er neben Hühnern auch ein paar Ziegen hielt. Eine davon war hochträchtig, und fast gewohnheitsmäßig lenkte Neruda seine Schritte mehrmals am Tag in den kleinen Verschlag, um nachzusehen, ob sie schon geworfen hatte. Es war dunkel, als er heimkam. Um auf andere Gedanken zu kommen, entzündete er eine Lampe und suchte den Stall auf. Außer dem leisen Gegacker der Hühner, die schon auf ihren Stangen saßen, und ab und zu einem Scharren war kaum ein Laut zu hören, als Neruda durch das Holztor eintrat und den Schein der Lampe vor sich hertrug. Ohne sich anderweitig aufzuhalten, ging er schnurstracks zu der mit Heu ausgestreuten Box, in der das trächtige Muttertier gesondert untergebracht war, bis es sich seiner Last entledigt hatte. Im Näherkommen blickte er direkt in die Augen der Ziege. Neruda war tief gerührt von dem Gefühl, das er darin zu entdecken meinte. Vielleicht, so glaubte er, fühlte dieses Wesen, daß er sich Viehzeug nicht nur zum Schlachten und Verspeisen hielt, sondern ganz einfach auch die Gesellschaft von Tieren mochte. Neruda war unverheiratet, seine Eltern lebten schon viele Jahre nicht mehr, und irgendwie fand er auch keinen rechten Zugang zu den Weibsleuten, so daß er in stillen Stunden durchaus unentschie-
den war, ob er unter seinem Alleinsein leiden oder nicht doch ganz froh darüber sein sollte. Eine Ehe hatte schließlich nicht nur ihre sonnigen, heiteren Seiten. Wer mit offenen Augen und Ohren durchs Leben ging, der erhielt dafür jeden Tag neue Bestätigung … Neruda stieg über die kniehohe Bretterwand, setzte sich neben der ruhig daliegenden Ziege ins Heu und streichelte über ihr borstiges Haarkleid. Als er vorsichtig über ihren prallen Bauch strich, geschah es. Die Wehen setzten ein! Das Tier stieß einen langgezogenen Schrei aus, und dann öffnete es sich auch schon dem neuen uralten Leben, das mit berserkerhaftem Druck und unaufhaltsamer Dynamik aus ihm herausdrängte …
* In der Prager Burg »Vielleicht habt Ihr recht, vielleicht hätte ich Euch reinen Wein einschenken und Euch warnen müssen – aber die Sorge, Ihr könntet unverzüglich wieder abreisen, hielt mich davon ab …« Matthäus Wenzel überlegte, ob ihn die Worte des Grafen Martinic noch wütender machen sollten, oder ob er sie als schwache Entschuldigung gelten lassen konnte. Bei Kerzenschein saßen sich die beiden so gänzlich unterschiedlichen Männer gegenüber – unter vier Augen. Wenzel hatte auf Zeugen verzichtet, und Jaroslav Martinic ebenfalls. »In der Nachricht, die mich in Dresden erreichte«, sagte Wenzel, »war die Rede von einer durchscheinenden Frau, die überall bitteres Sterben hinterließ, wo sie sich herumtrieb … Doch davon sah ich nichts, als ich ihren Kerker betrat.« »Ich selbst vermag dies nicht zu bezeugen«, gab der Graf unumwunden zu, während er einen durstigen Schluck aus einem Brokat-
kelch nahm, in dem schwerer Wein schimmerte. Wenzel hatte jeden ihm angebotenen Umtrunk, selbst reines Brunnenwasser, abgelehnt. Was das Trinken anging, so hielt er strenge Zeiten ein. Dies hatte er von seinem Vater übernommen, und dieser schon von seinem. »Als man sie dingfest machte, hatte sie die Transparenz, die ihr die Leute nachsagen, bereits verloren – vollständig. Aber die tödliche, unsichtbare Aura, die jeden, der sich über längere Zeit in ihrer Nähe aufhielt, zum Ausdörren und Sterben brachte, war ihr noch zueigen. Ich erließ Befehl, Schwerverbrecher zu ihr in die Kerkerzelle zu sperren … Anfangs überlebten sie die erste Nacht nicht. Danach schritt das Siechtum derer, die ich folgen ließ, langsamer – aber auch qualvoller – voran. Inzwischen hat das böse Karma so sehr nachgelassen, daß ich es wagen konnte, Euch hinabzuschicken. Ihr müßtet Tage nah bei ihr verbringen, um vielleicht auch noch Schaden zu nehmen. – Ich bitte Euch nochmals um Vergebung für das Versäumnis, Euch schon bei Eurer Ankunft in alle Details einzuweihen. Aber … mir schien es wichtig, Euch unvoreingenommen ein Urteil bilden zu lassen!« Matthäus Wenzel schüttelte den Kopf. »Ich habe Euch nun genügend kennengelernt, um im künftigen Umgang mehr Mißtrauen walten zu lassen. Solltet Ihr allerdings wirklich von mir erwarten, daß ich Euch über das Wesen dieser jungen Frau unterrichte, habt Ihr das Amt, das der König Euch gab, eigentlich nicht verdient …« Der Kelch, den Martinic mit beiden Händen umfaßt hielt, erzitterte so heftig, das es aussah, als würde sich sein Inhalt über dessen Robe ergießen. Doch der Graf faßte sich ebenso schnell wieder, wie er beinahe die Contenance verloren hätte. »Man warnte mich vor Euch als einem Mann, der keinen Respekt kennt und der kein Blatt vor –« »Hört nur auf mit diesem Gewäsch!« Wenzel stemmte sich zornig aus dem weichen Sesselpolster und blieb noch einen Moment vor
dem Grafen stehen, ehe er sich zur Tür des Kaminzimmers wandte. »Veranlaßt, daß mir eine Kammer für meine Gerätschaften geräumt wird – am besten in Nähe der Verliese! Danach laßt die Toten dorthin schaffen. Ich werde einen jeden aufschneiden, um zu erforschen, woran er starb!« Graf Martinics Gesicht hatte die Farbe des beinahe verschütteten Weines angenommen. Er nickte. »Danach möchte ich mit denen sprechen, die Umgang mit der Frau hatten, bevor sie gefangengenommen wurde!« Vor der Tür blieb Wenzel noch einmal stehen. Nicht zurück, sondern auf die kunstvoll vertäfelte Tür starrend, sagte er: »Zuguterletzt würde mich noch interessieren, inwieweit andere, der Graf Slavata zum Beispiel, über die Bedeutung der Gefangenen informiert sind.« »Nur Slavata ist eingeweiht«, erreichte ihn die Antwort. »Sonst kennen ein paar Soldaten Bruchstücke der ganzen Wahrheit …« »Falsch!« korrigierte ihn Wenzel, ehe er den Raum endgültig verließ. »Die Wahrheit, damit solltet Ihr Euch abfinden, kennt noch niemand! Aber ich kam, um sie zu finden – und ich schwöre Euch, auch wenn Ihr es durch Euer Verhalten nicht verdient habt, ich werde sie ans Licht zerren!«
* Der Hautsack wurde um so voluminöser, je mehr er dem Ziegenschoß entglitt, der sich wie eine klaffende Wunde geteilt hatte! Hieronymus Neruda erschrak nicht nur der ihm unfaßbaren Größe des hervordrängenden Neugeborenen wegen, sondern auch angesichts der Umstände, die diesen Akt begleiteten. Es war nicht die erste Niederkunft eines Tieres, der er beiwohnte, aber solche Gerüche, solche Laute, die nicht aus dem Maul des Muttertiers kommen konnten (aber woher dann – etwa schon von jenseits der grauen Hülle, die das in die Welt gesetzte neue Leben enthielt?), hatte
er noch niemals zuvor bemerkt. Selbst das Licht im Stall schien sich zu verändern. Das Licht, das nicht mehr nur der mitgebrachten Lampe entströmte, sondern außerdem – und absonderlich fremd – ein Abglanz der feucht-geschmeidigen, zum Bersten prallen Hülle war, die ins Heu entlassen wurde! Normalerweise bereitete Neruda einen Bottich mit heißem Wasser und Leinentücher vor, aber hier verlief alles dermaßen überfallartig und irgendwie … monströs, daß er seine Gedanken kaum zu ordnen vermochte. Eine ganze Weile folgte sein Körper nur blind den einstudierten Reflexen. Seine Hände packten zu und versuchten dem völlig überforderten Muttertier zu helfen, das die Schwere seiner Aufgabe mit geradezu unnatürlicher Demut ertrug. Zugleich aber wurde dadurch die Abnormität des Geschehens auf die Spitze getrieben: Kein Laut löste sich aus der Kehle des Muttertieres, und kurzzeitig glaubte Neruda, es sei bereits an einer Überanstrengung des Herzens gestorben. Doch dann fand sein Blick wieder die Augen der Ziege – was für Augen, o Gott! –, die Neruda anschauten, als würde durch seine bloße Nähe und Gegenwart alles gut. Als vertrauten sie seinem Geschick, dies alles zu einem verträglichen Ende zu bringen … Aber die Hülle schwoll immer noch an! Und Neruda hatte nun das durch nichts mehr belegbare Gefühl, daß sie außerhalb des Ziegenbauchs größere Dimension erlangte, als es innerhalb überhaupt möglich gewesen wäre. Der graue »Sack« war jetzt schon ebenso groß wie das komplette Muttertier, und er hörte immer noch nicht auf, sich aufzublähen …! Ein Unding. Ein … Hieronymus Neruda suchte nach Worten, und er suchte auch, verzweifelt, nach einem Ausweg! Irgendwo in seinem Hirn, in einem
sehr entlegenen Winkel, war die Angst erwacht. Lähmend kaltes Entsetzen, wie eine sich auf der Haut niederschlagende Kruste aus Eis – ein unbeweglicher Panzer! Neruda, neben Muttertier und … ja, was eigentlich? … kniend, wurde plötzlich von einer ungeheuer starken Vision überrannt. Eine Vision von bedrückender Schärfe, in der er nicht nur seine eigene kleine, private, sondern die Welt insgesamt in Not und Tod versinken sah! Ich muß es verhindern! durchzuckte es ihn in düsterer Klammheit. Er wußte nun, daß hier kein unschuldiges Zicklein ins Leben geworfen wurde, sondern etwas, DAS NIE UNTER DIE MENSCHEN KOMMEN DURFTE! Er versuchte die Kälte, die ihn fesselte und seine Lippen knebelte, von sich zu schütteln. Die Lampe stand in Armnähe auf einem Schemel. Ihr in Petroleum getränkter Docht brannte … Während es vor Hieronymus Neruda fauchend atmete und pulsierte und die Membran, die den Inhalt der Hülle von der Außenwelt trennte, immer dünner, immer durchscheinender wurde, während all dies einem schauerlichen Höhepunkt entgegentrieb, sammelte der Protestant alle Kräfte, alle Konzentration, um die Nacht, die sich in ihm ausbreitete, noch einmal zurückzuschlagen. Noch einmal die Gewalt über den eigenen Körper zurückzuerobern! Er sprengte das ihn lähmende Korsett! Mit einem dumpfen Aufschrei schwenkte er die ausgestreckten Arme dorthin, wo die Lampe stand, bekam sie zu fassen, zog den Stopfen vom Einfüllstutzen und schüttete den Petroleum über das zuckende Etwas, das sich beim Aufprall der Feuchtigkeit noch heftiger zu krümmen und zu winden schien. Hieronymus Neruda verlor keine Zeit. Kaum war der Großteil des Petroleums ausgelaufen, zerschlug er die Glashülse, die die Flamme vor Zugluft schützte, mit der freien Faust und stieß den immer noch
brennenden Docht wie eine Waffe gegen das sich einmal weitende, dann wieder zusammenziehende Gebilde, das augenblicklich von einem flirrenden und knisternden Hitzepolster umschlossen wurde. Überall, wohin der Petroleum gedrungen war, waberte blauviolettes Feuer! Neruda versuchte auf die Beine zu kommen und von der Gefahr abzurücken. Die Flammen griffen auch teilweise auf das Muttertier über … und spätestens da entpuppte sich die Ruhe, die es beibehielt, als etwas zutiefst Abnormes! Die Augen der Ziege starrten selbst dann noch vertrauensvoll auf Neruda, als die Flammen sich über das versengende Fell zu ihnen vorarbeiteten. Neruda sah nicht mehr hin. Unweit stand eine Heugabel gegen einen Stützbalken gelehnt. Nur noch vom dem Drang beherrscht, das Wahrwerden seiner Vision zu verhindern, taumelte er darauf zu, riß sie an sich – und stieß den eisernen Dreizack mit voller Wucht in die gerade wieder gewaltig aufgeblähte Haut. Sie barst. Und nicht nur das. Ein Laut, von dem Neruda instinktiv wußte, daß er noch keinem anderen Bürger dieser Stadt je zu Ohren gekommen war, erschütterte ihn bis ins Mark – und brachte etwas in seinem Verstand zum Zerspringen! Ein Lallen, das Neruda selbst zutiefst erschreckte, kam über seine Lippen. Irgendwo tief in ihm brach ein Damm … Etwas rüttelte an der Heugabel, die er immer noch festhielt, und als er hinabsah auf die zerrissene Membran, starrten ihm von dort Augen entgegen, denen das immer noch prasselnde Feuer nichts anzuhaben vermochte. Augen, die das einzig Fertige in einem sonst völlig unbeschriebenen Gesicht waren! Die mannsgroße, fahlblasse Gestalt schälte sich aus dem zusam-
mengesunkenen Sack und streifte ihn ab wie ein altes Kleidungsstück. Ohne sich vor Neruda zu genieren, bildete das entsteigende Neutrum die Merkmale eines Mannes aus, dessen Geschlechtsteile und typischen Haarwuchs. Fast beiläufig berührten die Hände den Stiel der Heugabel und zogen den eisernen Dreizack mit einem saugenden Geräusch aus dem Körper. Nerudas Erwartung, Blut hervorquellen zu sehen, wurde enttäuscht. So schnell, daß der Blick kaum folgen konnte, schlossen sich die Einstiche und verheilten spurlos. Keine Narben … nichts! Abschätzige Blicke vermaßen Neruda, der die Gabel wie unter Zwang losließ. Noch während er den fremden Blicken trotzte, spürte er, wie das Blut in seinen Adern wärmer wurde, beinahe zu kochen anfing. Er stöhnte. Spielerisch drehte die Gestalt vor ihm die Heugabel, und während sich ein Lachen auf den allmählich an Ausdruck gewinnenden Zügen herauskristallisierte, erhielt Neruda seine Lektion in Sachen Schmerz. Er bekam zu spüren, wie es war, wenn ein Dreizack Bauch und Brust durchbohrte … Es gab kein Ausweichen, keine Chance zur Flucht. Die Umgebung explodierte für Neruda ins Groteske. Noch nie war er sich seiner so bewußt gewesen wie in den letzten Atemzügen, die der NEUGEBORENE ihm gönnte. Dann aber setzte der freie Fall ein. Der Absturz und das Verlöschen aller Sinne! Das letzte, was Neruda noch begriff, war, daß das Gesicht des Ungeheuerlichen eine verhöhnende Vertrautheit angenommen hatte – sich in einen Spiegel verwandelte. Einen Spiegel, der den Tod dessen, den er zeigte, überdauerte …
*
Matthäus Wenzel stieg noch vor Morgengrauen ein zweites Mal hinab in das Kerkergewölbe. Alles, was er vom Grafen Martinic verlangt hatte, war ihm bewilligt worden. Soldaten und Angehörige von Wenzels eigenem Gefolge, die er eigenhändig aus dem Schlaf gerüttelt hatte, waren dabei, ein kleines Laboratorium einzurichten, wie man es sonst vermutlich nur bei Alchimisten fand. Wenzel hatte viele Künste studiert, und selbst Alchimie, sofern sie sich nicht der unterirdischen Kräfte und der Finsternis bediente, war kein Tabu für ihn. Manchmal mußte man sich das Wissen des Feindes, den man anprangerte und bekämpfte, zueigen machen, um seine Überlegenheit zu wahren … Wenzel hatte vorsorglich Weisung erteilt, Justus nicht mit dem nächtlichen Treiben zu behelligen. Der Junge sollte sich ausschlafen und sein junges Leben nicht unnütz gefährden, solange nicht erforscht war, woraus die Gefahr genau bestand. Hätte Graf Martinic von dieser Rücksichtnahme erfahren, wäre er bestimmt darauf zu sprechen gekommen, was Wenzel in seinem Beisein geäußert hatte: ›Justus ist mein Schüler. Eines Tages wird er vielleicht meinen Platz einnehmen – und wie sollte er dies, wenn ich ihn von allen wirklichen Beschwernissen und Prüfungen fernhielte?‹ Aber auch Wenzel war nur ein Mensch, der seine Ansichten den Gegebenheiten anpaßte, und seit er das Verlies mit den Leichen betreten hatte, die mutmaßlich auf die dort gefangenengehaltene Frau zurückgingen, vertraute er auf die innere Stimme, die ihm bestätigte, daß er auf einen solchen Gegner noch nie zuvor getroffen war! Was ihn aber gänzlich erschütterte, war, daß dieses tödliche Weib auch für ihn fühlbar ein gefährliches Charisma verströmte, eine Anziehungskraft, deren Natur solcher Art war, daß es Wenzel durchaus schwerfiel, sich ihre Wirkung auf sich einzugestehen … Während die Helfer also noch beschäftigt waren, die Gerätschaften
aufzustellen, die der Inquisitor für seine Untersuchungen benötigte, begab er sich, nur von einem einzigen Soldaten begleitet, abermals zum Kerker jener Frau, von der die Rede ging, sie sei anfangs fast durchscheinend gewesen. Es war Niklas Strohov, den sich Wenzel zum Begleiter, weniger zum Beschützer wählte …
* Der Türwächter reagierte zögernd, als das mit den Teilnehmern der Versammlung verabredete Klopfzeichen ertönte. Erst nachdem er sich über Blicke mit anderen in der Stube verständigt hatte, schob er den Riegel beiseite. Seine Miene hellte sich sofort auf, als die altbekannte Gestalt eintrat. »Hieronymus! Wir dachten nicht, daß du heute noch einmal zu uns findest! Es wird dir wohltun, wenn du hörst, daß deine Skepsis Früchte trägt. Einige von uns …« Der Sprecher schluckte kurz, weil er eine ungewohnte Atemnot verspürte, als Hieronymus Neruda an ihm vorbeitrat und sich an den Tisch drängte, an dem die anderen Ständevertreter mehr Sitzfleisch als er bewiesen hatten. Sofort riß er das Wort an sich: »Es tut mir leid, wenn ich euch mit den Problemen allein ließ, aber ich brauchte die Zeit, um mir Klarheit über das zu verschaffen, woran ich aus tiefstem Herzen glaube und …«, er machte eine Pause, die keinesfalls zufällig gewählt war, »… wofür ich auch zu kämpfen bereit bin – wenn nötig, um den Preis meines Lebens!« Seine Worte schufen staunende Stille, denn schon jetzt war Nerudas grundlegender Gesinnungswandel zwischen den Zeilen herauszulesen, und es bedurfte kaum noch der Sätze, die er hinzufügte: »Auch ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß wir nicht klein beigeben dürfen. Wenn wir uns in dieser Frage ins Bockshorn jagen las-
sen, wird Ferdinand denken, er könne alles mit uns machen! Als nächstes wird die Abgabenschraube angezogen werden, und man wird uns – im Namen des Königs – weitere verbriefte Rechte stehlen … Nein!« Er hieb mit der Faust auf den Tisch, daß einige ihren Genossen kaum wiedererkannten. »Hier und jetzt sage ich nein! Laßt uns den Bürgern die Augen öffnen – die meisten werden auf unserer Seite stehen und uns begleiten!« »Wohin begleiten?« rief jemand, der Nerudas Meinung war, aber dem gerade Gehörten noch keinen rechten Glauben schenken wollte. »Zur Burg!« ließ der Gefragte ihn keinen Moment länger im Ungewissen. »Wir marschieren hinauf zur Burg und stellen die Grafen für das unverschämte Pamphlet zur Rede, das sie an uns adressierten …!« Der Schluß des ebenso kurzen wie leidenschaftlichen Appells versank bereits im frenetischen Beifall der Versammelten.
* Was will er von mir? Da schwebt dieses Gesicht vor mir, und da ist dieses GERÄUSCH, verursacht von fremden Lippen – oder dem, was sich dahinter regt. Ich wünschte, ich wüßte, wer bei mir ist – oder verstünde, was er sagt. Mein Nacken schmerzt so sehr. Immer wieder durchzucken mich phantomhafte Blitze, die von dort nach überallhin strahlen … ES … TUT … SO … WEH! Wo bin ich nur? Warum knipst niemand ein Licht an? Ich meine RICHTIGES Licht, denn dieses Zittern der Flammen ertrage ich nicht mehr lange. Es spendet den einzigen Hauch von Helligkeit, der sich von Zeit zu Zeit hierher in meinen steinernen Kokon verirrt … Wer bin ich? Was tue ich hier? Warum sieht niemand – oder will niemand sehen –, wie ich leide, und beendet meine Qual?
Warum nicht …?
* Es brauchte eine Weile, bis Matthäus Wenzel eine gewisse Methodik und linguistischen Sinn aus den gestammelten Lautfolgen der in Eisen gelegten Frau heraushörte. Aber er mußte schon sehr genau lauschen und über manche schludrige Aussprache hinweghören, um ein paar Brocken dessen, was sie von sich gab, auch zu verstehen. Sie bediente sich, so stellte sich heraus, einer Abart des Angelsächsischen, eines Dialekts, dem Wenzel auf all seinen Reisen nie zuvor begegnet war. Dies für sich genommen war jedoch noch nichts Besonderes, denn er maßte sich nicht an, sämtliche in Umlauf befindliche Sprachen und Untersprachen kennen zu müssen. Doch dann entdeckte er zwischen dem angelsächsischen Gestammel plötzlich Wortfetzen, die einem gänzlich anderen Kulturkreis angehörten: dem fernöstlichen! In seinem Leben hatte Matthäus Wenzel nicht viele Leute getroffen, die auch nur in Ansätzen des Japanischen mächtig gewesen wären, und daß ausgerechnet die Frau mit der tödlichen Aura sich dieses seltenen Idioms bediente, unterstrich ihre Exotik auf kaum zu überbietende Weise! »… bin ich? … Was tue ich hier? …« Die Sprachen überlagerten sich. Von dem, was ihre Zunge formulierte, blieb kein Satz nur einer Ausdrucksform treu. Aber das Germanische oder Lateinische beherrschte dieses merkwürdige Geschöpf allem Anschein nach nicht. Wenzel hatte es lange und geduldig genug versucht, ihr damit nahezukommen. Ab und zu warf er einen Blick hinter sich, wo Strohov stand. Die Haltung des Soldaten, auch die obszöne Weise, in der er immer wieder seine Lippen schürzte, verriet, wie sinnlos er das einschätzte, was Wenzel mit der Gefangenen tat. Der zwischen Begierde und be-
rechtigter Vorsicht schwankende Blick Strohovs offenbarte, wie er mit ihr verfahren wäre, hätte man es ihm gestattet. Wenzel wußte, daß nur die Todesangst ihrer Wärter die Frau bislang vor Mißbrauch geschützt hatte. Lange würde dieser zweifelhafte Schutz aber nicht mehr seine Wirkung zeigen, denn das, was Graf Martinic schon angedeutet hatte, war bestimmt auch schon zu Galgenvögeln wie Strohov vorgedrungen: die tötende Ausstrahlung der Gefangenen hatte spürbar nachgelassen, und vielleicht würde sie bald ganz erloschen sein – und dann … Als Wenzel unmittelbar nach dem Verstehen erster Worte wieder einmal über die Schulter blickte, spottete Strohov, der sich wenig beeindruckt von Wenzels Status zeigte: »Was zwitschert unser hübsches Vögelchen denn so? Es sieht hungrig aus. Falls Ihr versteht, was ich meine …« Wenzel gab keine Antwort. Es kam selten vor, daß ihm mit solcher Dreistigkeit begegnet wurde. Die meisten Menschen, denen er von Amts wegen begegnete, verwandelten sich in stiefelleckende Duckmäuser – schon aus Sorge, der Vertreter der Heiligen Inquisition könnte auch bei ihnen ein Haar in der Suppe finden. Im Grunde hätte Strohov bewundernden Respekt für seine Unerschrockenheit verdient … wenn nicht gleichzeitig auch pure Bosheit aus ihm gesprochen hätte! »Laß mich mit ihr alleine!« Ohne daß er sich umzudrehen brauchte, wußte Wenzel, daß Strohov erstarrte. »Geh schon!« »Wenn Ihr es wünscht …« Rauh und ungeschliffen, wie das ganze Erscheinungsbild, war auch Strohovs Stimme. Wenzel lauschte den sich entfernenden Schritten und dem Geräusch, mit dem die Tür ins Schloß fiel. Er war sich keineswegs sicher, klug gehandelt zu haben. Neben der Gefangenen, deren kuttenartiges Gewand vor ihr schon
viele Träger besessen haben mußte, ging er in die Hocke und brachte sein Gesicht dem ihren ganz nah. Er fürchtete sie nicht. Nicht genügend jedenfalls, um ihr die Fragen zu ersparen, die ihm auf der Seele brannten. Sie konnte nicht sehen, wie sich seine Hände in den Taschen seines Mantels um die Kruzifixe schlossen, die er Vater und Mutter geweiht hatte. Beide lebten nur noch in Wenzels Erinnerung. Aber gerade sie schenkten ihm Kraft, wann immer er sich schwach und nichtig fühlte. Wie jetzt. Unter ihren Augen … »Wer bist du?« fragte er in einer der Sprachen, die sie zu beherrschen schien. Tatsächlich füllte sich die Leere ihres Blicks unverzüglich mit etwas, das Wenzel nur als Hoffnung interpretieren konnte. Erstmals kamen ihm Zweifel, ein Ungeheuer wie das vom Grafen Martinic geschilderte vor sich zu haben. »Wer bist du?« wiederholte er und bemerkte, wie ihre Lippen seine Frage nachäfften. Lautlos. Als souffliere sie ihm in zaghafter Pantomime. »Wer bist du?« krächzte sie plötzlich heiser. »Warum … bin ich hier?« »Das weißt du nicht?« »Ich weiß gar nichts! Ich … erinnere mich an nichts – nicht einmal meinen Namen!« Er war versucht, ihr zu glauben. »Du weißt nicht, daß du dich vergangen hast?« »Vergangen?« »An zahlreichen deiner Mitmenschen. Du hast sie getötet – und um herauszufinden, auf welche Weise, hat man mich gerufen. Darum, und um dir das Handwerk zu legen!« »Getötet?« echote sie so unschuldsvoll, daß ihr ein jeder die Lauterkeit abnehmen mußte, sofern er kein Herz aus Stein in seiner
Brust herumtrug. Sie seufzte abgrundtief. »Tod … O ja, der Tod sagt mir etwas … Aber nicht der Tod anderer, sondern …« »Ja?« Ihr Kopf sank nach vorn auf die angezogenen Knie. »Nein! Es ist … Unsinn! Wo bin ich? Warum erscheint mir alles hier so … seltsam?« »Beantworte mir erst die Frage, woher du kommst«, sagte Wenzel. »Danach …« Sie drückte das Gesicht noch fester gegen die Knie. »Ich – weiß – es – nicht! Ich sagte es schon!« »Dein Starrsinn wird dir nichts helfen«, warnte er. »Nenn es, wie du willst, aber ich verstelle mich nicht: Ich erinnere mich wirklich nicht!« »An gar nichts?« »Nein!« »Das lügst du!« »Warum sollte ich?« »Vielleicht … um dem Scheiterhaufen zu entgehen?« »Dem Scheiterhaufen?« Sie zuckte zusammen, hob das Haupt, dessen helles Haar Wenzel an feinste Fäden eines edlen und unglaublich biegsamen Metalls erinnerten. Alles an dieser Frau besaß diesen Ruch des Kostbaren – und zugleich des Verdorbenen. Aber vielleicht rührte letztere Impression einzig aus der Furcht, die sie gesät hatte und deren dämonischer Kraft auch Wenzel sich nicht zu entziehen vermochte. Eine Vampirin, soviel stand fest, war sie nicht. Auch daß sie einem der geheimen Zirkel angehörte, die sich durch abenteuerliches Gebräu die Lebenszeit verlängern oder Unglück über ihre Feinde bringen wollten, erschien ihm unwahrscheinlich. Wer aber war sie dann? Und warum hatte er von einem Geschöpf wie diesem noch nie auch nur gehört?
»Du wirst brennen«, versicherte er jetzt. »Du hast so Schlimmes angerichtet, und an deiner Täterschaft gibt es so geringen Zweifel, daß sie dich, wenn sie wollten, auch ohne vorherigen Prozeß deinen Taten angemessen strafen könnten!« Sie blieb stumm. Lange starrte sie ihn an, als wäre er dieses Ungeheuer, das man sie beschuldigte zu sein. Schließlich fragte sie matt, beinahe schicksalergeben: »Und warum macht man sich die ›Mühe‹?« Wenzel antwortete offen: »Weil sie Angst haben. Angst vor einer Wiederholung deines Falles, mit der man dann, würde man dich gleich verbrennen, ebenso unerfahren umgehen müßte wie mit dir. Es scheint ihnen und mir klüger, dich erst zu studieren, dein Wesen zu ergründen, ehe man es auslöscht …« Vielleicht begriff sie ihre Lage erst jetzt in voller Konsequenz. Matthäus Wenzel jedenfalls wußte nicht, wie er ihre Blicke – beschattet von ähnlichem Entsetzen, wie sie es ihre Opfer gelehrt hatte – anders hätte deuten können …
* Justus erwachte, als die Sonne bereits warm und freundlich durch die Fensterchen seines Turmzimmers hereinschien. Müde und zerschlagen, als hätte er kein Auge zugetan, richtete er sich auf. Der seltsame Traum schwang in ihm nach. Er hatte von der kopflosen Frauenleiche und dem Mädchen geträumt, denen er bei seiner Ankunft auf der Burg begegnet war. Besonders das rothaarige, weinende Mädchen hatte tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Das weite Hemd, das er vor dem Schlafengehen angelegt hatte, bezeugte dies, denn es klebte feucht an einer Stelle, die keinen Zweifel darüber ließ, welche Gefühle ihn im Traum bewegt hatten. Peinlich berührt und in Sorge, seinem Vormund könnte es gerade
jetzt einfallen, ihn zu besuchen, raffte er das Nachthemd hoch, klemmte es zwischen Brust und Kinn und rieb sich mit einem Lappen, den er in die bereitstehende Karaffe getaucht hatte, über das noch halbsteife und über das Normale hinaus angeschwollene Glied sowie die umgebende Haut. Dabei wagte er kaum hinzusehen. Das Unvermögen, natürlich mit seinem Körper umzugehen, war in seiner Erziehung tief verwurzelt, nicht erst seit Wenzel sich um ihn kümmerte, auch schon davor. Er war noch ganz in die Waschung vertieft und in Gedanken mit dem Problem beschäftigt, wie er die verräterischen Flecke aus seinem Hemd entfernen könnte, als ihm plötzlich bewußt wurde, wovon der schon eine Weile anschwellende, zunächst aber noch ferne Lärm rührte. Ein Fest? Eine Versammlung? Die Neugierde nicht länger bezähmend, ließ er das Hemd wieder nach unten fallen und eilte zu einer der Luken, durch die ein Jüngling seiner Größe nur auf Zehenspitzen Ausschau halten konnte. Justus reckte den Hals lang und länger. Und dann begriff er, wie klein sein Problem gegenüber dem war, was sich von der Stadt her, ungefähr von dort, wo nach Wenzels flüchtigen Erklärungen der Sitz des Magistrats liegen mußte, schnurgerade auf den Weg zuwälzte, der zum Hradschin und zur Burg hinauf führte. Die erhobenen Waffen und Fäuste der Menge drohten genau in diese Richtung, aus der auch Justus dem Strom der Zornigen und Aufgebrachten entgegenblickte. Was aber weder er noch ein anderer sehen oder ahnen konnte, war, daß dieser Gift und Galle speiende Mob von einem leibhaftigen Teufel angeführt wurde …
*
Matthäus Wenzel hob den Glaskolben mitsamt dem Sud, den das köchelnde Leichengewebe ergeben hatte, gegen das Kerzenlicht und versuchte der schleimigen Masse rein optisch etwas abzuringen, was als Hinweis auf die Todesursache hätte gedeutet werden können. Wie die Male davor scheiterte er auch jetzt. Der abscheulich riechende Extrakt bewahrte vorerst sein Geheimnis, aber Wenzel ließ sich nicht entmutigen, sondern bereitete sofort das nächste Experiment vor. An den ihn umgebenden Verwesungsgestank hatte er sich gewöhnt, ebenso an seine redefaulen Handlanger, von denen keine Inspiration zu erwarten war, um das Mysterium zu enträtseln. Wie üblich befolgten sie nur blind seine Weisungen. Die vier hageren Männer muteten wie Geschwister an, so frappierend war ihre Übereinstimmung nicht nur im Äußeren, sondern bis hin zur Körperhaltung. Natürlich waren sie nicht wirklich miteinander verwandt. Im Laufe der Jahre hatte sich einer nach dem anderen bei Wenzel als Assistent im weitesten Sinne beworben, und er hatte sie nach einer angemessenen Probezeit für sich angestellt. Sie verdienten nicht viel bei ihm – die Erfahrung aber, die sie sammeln konnten, war mit Geld nicht aufzuwiegen. Trotzdem war Wenzel nicht immer in der Stimmung, diese mausgesichtigen Helfer zu ertragen. Auch heute strapazierten sie seine Geduld aufs Ärgste, was vielleicht aber auch in seinem und ihrem Schlafmangel begründet lag. Keiner hatte diese Nacht Ruhe gefunden, und auch jetzt machte Wenzel noch keine Anstalten, sie aus seinen Diensten zu entlassen, damit sie sich in ihren Kammern hätten aufs Ohr legen können. Mitten in diese ebenso unfruchtbare wie angespannte Atmosphäre hinein platzte ein aufgelöster Justus, der die Tür zu ihrem provisorischen Laboratorium aufstieß. Wenzel gelang es nicht einmal, danach
zu fragen, woher sein Mündel denn überhaupt Kenntnis von seinem Aufenthaltsort erhalten hatte, denn über Justus’ Lippen sprudelte bereits der atemlose Bericht, was sich über ihren Köpfen, im frühmittäglichen Sonnenlicht, zutrug. »So haben sie also den Bogen überspannt …«, kommentierte Matthäus Wenzel das Gehörte. Es klang fast emotionslos, doch in seinem Herzen entzündete sich ehrliche Sorge um die Zukunft. »Meint Ihr, sie werden sich gewaltsam Zutritt zur Burg verschaffen?« fragte Justus bang. »Das kommt auf das diplomatische Geschick der Burgherren an«, gab Wenzel eine Antwort, die ihn selbst nicht zufriedenstellte. Sein Blick irrte unentschlossen zwischen den Apparaturen und seinen Helfern hin und her. Dann wandte er sich wieder an Justus und erkundigte sich: »Hast du einen der Grafen gesehen? Slavata oder Martinic? Was für Maßnahmen haben sie angeordnet? Wurde bereits alles zur Verteidigung in die Wege geleitet? – Allmächtiger, hier unten ist man vom Geschehen abgeschnitten, als läge man in einem tiefen Grab!« »Nein«, antwortete Justus dumpf. »Ich habe niemanden gesehen.« »Dann such nach ihnen! Halte dich am besten an Martinic! Er muß uns Sicherheit garantieren! Er kann nicht verlangen, daß wir die Hälse für seine Narretei hinhalten und mit ausbaden, daß er die Stände und den ihnen hörigen Pöbel bis aufs Blut reizt!« »Ihr kommt nicht mit …?« Justus schnitt eine Grimasse, die seine Unbeholfenheit fast schon selbst karikierte. »Nein, ich unterbreche meine Arbeit nicht, bis ich wieder von dir höre. Geh jetzt …« Und noch während sein Mündel unentschlossen von einem Fuß auf den anderen trat, wandte sich Wenzel bereits wieder den verstümmelten Toten auf den Tischen zu, denen die Gefangene zum Verhängnis geworden war …
* Die Machthaber beratschlagten sich untereinander. Die wahren Machthaber. Jene Unsterblichen, die Blut brauchten, um zu überdauern – und denen ein Gefäß von unheiliger Kraft dereinst ein Leben von dunkler Magie eingeflößt hatte: der Lilienkelch. Der Gral, auf den alles vampirische Leben zurückging … »Sie werden gleich da sein – wie sollen wir sie empfangen?« Aufgereiht wie unnahbare Ikonen standen sie an den gemauerten Fensteröffnungen des höchsten Turms ihrer Festung. Hier gehörte ihnen alles – auch wenn Marionetten den steten Anschein erweckten, honoriger Adel würde die Geschicke der Stadt regieren und über die Ordnung dort wachen. In Wahrheit verstanden es die bluttrinkenden Kinder des Kelchs seit Jahrhunderten, aus dem Verborgenen heraus zu lenken und zu richten. Und in all dieser Zeit war es nicht ein einziges Mal vorgekommen, daß ein Ereignis sie in solchem Maße überraschte wie dieser Menschenzug dort unten, der sich lärmend aus dem Stadtkern zur Burg hinauf wälzte. Bis zum Morgengrauen hatten sie noch geglaubt, die Zügel fest in der Hand zu halten. Aber dann hatte sich Widerstand in den Straßen formiert und eine Dynamik entwickelt, die sich wie ein Lauffeuer verselbständigte. »Gleich erreichen sie das untere Burgtor …!« Noch immer gab es keinen Grund, um die Macht zu fürchten. Noch immer sah alles aus wie ein kleiner, zufällig ihrer Kontrolle entglittener, leicht korrigierbarer Zwischenfall. »Sollen wir ihnen entgegeneilen? Wenn wir –« Das Oberhaupt der Sippe brachte den Fragesteller zum Schweigen. »Nein. Wir lassen sie ein! Ich will sehen, wie weit sie gehen! Der materielle Schaden wird uns nicht schmerzen. Wir werden uns unter ihre Anführer mischen und alles verhüten, was uns zwänge, unsere
Zukunftspläne allzusehr nach ihnen auszurichten …« Niemand, der ihm zuhörte, zweifelte an der Machbarkeit seiner Worte. Bis sie denjenigen, der den Mob anführte und begleitete, spüren konnten. »Er ist kein Mensch!« erkannte das Oberhaupt verblüfft. »Und auch keiner von uns«, fügte einer der Sippe hinzu. Noch konnte diese Entdeckung keinen wirklichen Schrecken in ihren kalten Herzen wecken. Eher Neugierde. Doch die sollte sich bald in Furcht wandeln. Dann in Panik. In die nackte Angst um ihr untotes Leben …
* Justus meinte Bleigewichte auf den Schultern liegen zu haben, als er zurück zum mittleren Burghof stieg, wohin die Treppe aus den Verliesen führte. Die Unruhe, die ihm entgegenschlug, kaum daß er ans Tageslicht zurückkehrte, erschreckte ihn in gleichem Maße wie sein Auftrag. Er sollte den Statthaltern das Ultimatum seines Vormunds (denn um nichts anderes handelte es sich) überbringen? Ihn schauderte. Um so mehr, als er nach wenigen Schritten über den Palasthof begriff, daß Wenzels Weisung bereits überholt war … Justus prallte zurück, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gestoßen. Aus verschiedenen Richtungen strömte die aufgebrachte Meute auf den Hof, der hufeisenförmig vom Königspalast umrahmt wurde! Zuerst wollte Justus es nicht wahrhaben, und tatsächlich ging sein inneres Sträuben, die Wahrheit anzuerkennen, soweit, daß er ein paar Herzschläge lang die Augen fest geschlossen hielt, als könnte er die Realität dadurch in seinem Sinne beeinflussen.
Aber die Geräusche änderten sich nicht. Der Strom, aus protestantischen Bürgern, böhmischem Halbadel und anderen waffenschwingenden Sympathisanten der Burgstürmer bestehend, ergoß sich nach allen Seiten und verschaffte sich Zugang zu den angrenzenden Bauten und den nur vom Hof aus zugänglichen Burgflügeln. Zitternd riß Justus endlich wieder die Augen auf. Vielleicht war es seine einfache Kleidung, vielleicht sein unreifes Gesicht, dem die kalkige Blässe noch mehr Durchsetzungsvermögen absprach als sonst, auf jeden Fall ignorierte ihn die einfallende Horde total! Ungeschoren bis auf ein paar blaue Flecke, die er sich von den ungestüm vorbeidrängenden Männern einhandelte, denen er im Wege stand, fand er sich kurze Zeit später auf einem fast verlassenen Hof wieder. Sein erster Gedanke war, zurück zu seinem Vormund zu eilen und ihm von der Katastrophe zu berichten. Doch dann entdeckte er einen ganz neuen Zug an sich, der an Verwegenheit grenzte und ihm einen fast wohligen Schauer bescherte: Neugierde. Die Beobachtung, daß sich offenbar selbst Soldaten, die die Burg und ihre Bewohner eigentlich hätten verteidigen sollen, auf die Seite der Eindringlinge geschlagen hatten, gipfelte in der Erkenntnis, daß er es keineswegs mit tolldreisten Mordbuben zu tun hatte. Diese Bürger sahen ihre Rechte in Gefahr, und deshalb handelten sie … … was natürlich nicht ausschloß, daß der eine oder andere Tropfen Blut fließen würde. Schreie, so schrill und entsetzlich, daß sie durch Mark und Bein gingen, unterbrachen Justus’ Gedankengang und zwangen ihn, den Blick zum Himmel hinauf zu richten. So sah er gerade noch die letzten beiden dem Turm entsteigen, der zum innersten Palastbezirk gehörte – – die letzten beiden von insgesamt sieben Fledermäusen, groß wie Hunde und geradezu verzweifelt mit ihren ledrigen Schwingen auf die Luft einschlagend, als versuchten sie, eine unsichtbare Fessel zu zerreißen, die sie an ihrer Flucht hindern wollte!
Flucht, ja, anders war dieses panische Bemühen, den Himmel zu erklimmen, nicht zu deuten. Aber Flucht wovor? Es sah aus, als wären Fänger hinter ihnen her – Verfolger, die es auf das Leben dieser niederen Kreaturen abgesehen hatten. Aber wer, in Gottes Namen, sollte es in dieser Situation auf Fledermäuse abgesehen haben …?
* Justus zögerte nicht länger. Er rannte zu der Tür zurück, die von der Meute – noch – unbeachtet geblieben war und die geradewegs zu den Verliesen hinab führte. So zwiespältig sein Verhältnis zu seinem Vormund auch war, es gab nicht den geringsten Zweifel für Justus, daß er ihn warnen mußte. Wenzel und sein Gefolge durften nicht ahnungslos weiter ihren Untersuchungen nachgehen. Wer wußte schon, wen der Mob als nächstes aufs Korn nehmen würde … Doch kaum war Justus durch die Tür ins Halbdunkel der überdachten Stufen getaucht, die nur in größeren Abständen von blakenden Fackeln erhellt wurden, blieb er unvermittelt stehen. Vor ihm, direkt am Beginn der Treppe, stand das Mädchen! Das Mädchen, das um die Enthauptete geweint hatte, und das ihn unverwandt anstarrte! Es lächelte – und brachte ihn damit vollends aus dem Konzept. So sehr, daß es plötzlich nicht mehr allzu vordringlich schien, Wenzel oder irgend jemanden sonst zu warnen … »Warum siehst du mich so an? Geh mir aus dem Weg!« »Und wenn nicht?« Was für eine Frage! »Laß mich vorbei!« »Heute nacht warst du netter … und anschmiegsamer.« Justus’ Gedanken überstürzten sich. »Was willst du damit sagen?«
»Daß es schön war. Aber wenn du das nicht mehr selbst weißt …« »Wie sollte ich wissen, was nie passiert ist?« Er blinzelte, stand aber weiter wie angenagelt da. Plötzlich, er wußte selbst nicht, wie er es zulassen konnte, kamen ihm Zweifel. Sollten sie etwa tatsächlich …? Er hatte ja von ihr geträumt – aber doch eben nur geträumt! Oder? »Bist du eine Hexe wie deine Mutter?« Sie zuckte zusammen. Ganz kurz erstarb das Lächeln um ihre Lippen, die jetzt schon, im zarten Alter von vielleicht fünfzehn Jahren, so sinnlich, so magisch anziehend wirkten, daß schon abzusehen war, wo auch dieses Geschöpf eines Tages enden würde. Diese rothaarige kleine … Nein! maßregelte sich Justus selbst, weil er nicht zulassen wollte, daß sein erster Eindruck von diesem Mädchen so radikal umgeworfen wurde. »Woher weißt du, daß sie meine Mutter war?« Die Frage verblüffte ihn – zu offensichtlich war die Ähnlichkeit der beiden. Aber vielleicht nur für ihn, nicht für sie … »Beantworte zuerst meine Frage: Bist du eine …?« »Und wenn?« Sie lachte klirrend und warf den Kopf zurück, daß ihre wilde Haarmähne nach hinten peitschte. »Hast du Angst vor Hexen? – Natürlich! Jeder fürchtet sie … aber auch wieder nicht so sehr, um sich davor zu scheuen, den Ofen mit ihnen zu schüren! Ach, wie gut sie brennen, findest du nicht auch …?« »Ich verstehe, daß du verbittert bist.« »Verbittert? Ach! Nennt man es jetzt verbittert?« Wieder lachte sie auf … … aber nur, um übergangslos loszuheulen. So heftig, daß Justus sich nur staunend selbst dabei beobachten konnte, wie er zu ihr trat und sie in die Arme nahm. Sie wehrte sich nicht. Heiß durchdrangen ihre Tränen den Stoff seines Hemdes. Er be-
kam eine Erektion und wußte in diesem Moment nicht, ob er noch ganz bei Trost war. Die Reaktion seines Körpers, während sein Geist sich in aufrichtigem Mitleid mit dem Mädchen beschäftigte, war ihm nicht nur unverständlich, sondern geradezu unentschuldbar! Er war überzeugt, daß sie spüren mußte, was so hart gegen ihren Unterleib drückte – und daß sie wußte, worum es sich handelte. Aber sie hielt ganz still, weinte hemmungslos. Justus hatte keinerlei Zeitempfinden mehr. Plötzlich rückte sie etwas von ihm ab und sagte: »Danke.« »Wofür?« Sie zuckte die Achseln. Ihre Schultern waren schmal, ihre ganze Figur zierlich. Dennoch besaß sie die Rundungen einer ausgereiften Frau. Und sie schien sich der Macht dieser Formen bewußt zu sein. Sehr bewußt. »Ich war wirklich bei dir heute nacht …« »Das glaube ich nicht!« »Doch … Aber ich stand nur neben deinem Bett und habe dich betrachtet.« Er schüttelte den Kopf. »Die Tür war verschlossen; außerdem war es dunkel!« Wieder diesen Lächeln. »Es gibt nicht nur sichtbare Türen … und du ahnst nicht, wieviel man selbst im vermeintlichen Dunkel sehen kann …« Er versteifte sich. »Mein Vormund lehrte mich von denen, die im Finstern sehend sind. Wenn du sagen willst, daß du ein …« »… daß ich ein Vampir bin?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber nein. Ich bin wahrhaftig geboren, wie du mich hier siehst, nicht erst durch einen Kelch!« »Kelch?« »Vergiß es. Wir reden ein anderes Mal. Außerdem hättest du die Kreaturen, für die du mich gerade hieltest, vorhin sehen müssen …«
»Wo?« »Als sie zum Himmel stiegen.« »Die Fledermäuse?« »Wer sonst?« Sie sah ihn an, als könnte sie nicht glauben, soviel Naivität geballt in einer einzigen Person anzutreffen. »Sie hausen hier, denn sie sind die wahren Herrscher – nicht nur über diese Stadt!« »Warum sind sie dann geflohen?« »Das«, erwiderte das Mädchen, von dem er nicht einmal den Namen kannte, »ließe sich nur erklären, wenn mein Flehen Gehör gefunden hätte.« »Welches Flehen?« »Daß sie alle dafür büßen sollen, was sie meiner Mutter angetan haben – besonders er!« »Er?« »Mein Vater! Der Graf Slavata!«
* Die Grafen Jaroslav Martinic und Vilem Slavata hielten sich im Ludwigsflügel der Burg, in den Räumlichkeiten der böhmischen Kanzlei auf, als sie die Kunde vom Sturm der Bastion erreichte. Der Schreiber, der die Nachricht überbrachte, war derselbe, dem sie auch den Erlaß an die Prager Stände diktiert hatten, in welchem die verbrieften Rechte auf freiheitliche Religionsausübung, freien Kirchenbau und noch andere Privilegien im Namen des Königs grundlegend in Frage gestellt worden waren. Martinic und Slavata, die nicht nur verschwägert, sondern überdies in aufrichtiger Freundschaft miteinander verbunden waren, standen eine ganze Weile stumm und wie vom Donner gerührt da. Nie hatten sie es wirklich für möglich gehalten, daß ihnen die Lage entgleiten könnte …
»Die Rädelsführer müssen aufgeknüpft werden!« erboste sich der schwergewichtige Graf Martinic und bewies mit seinem Aufschrei, daß er die Situation immer noch nicht begriffen hatte. »Wir müssen fürchten, aufgeknüpft zu werden«, korrigierte ihn deshalb Slavata und tupfte sich mit einem Tuch über das schweißnasse Gesicht. Das Puder darauf hatte sich an einigen Stellen schlagartig in eine geronnene, unansehnliche Masse verwandelt. »Ihr meint …?« Slavata kam nicht mehr dazu, seine Meinung zu erläutern. Die Tür der Kanzlei wurde nicht nur aufgestoßen, sondern regelrecht aufgebrochen! Sofort stürmten mehrere Gestalten herein, angeführt von einem, den die Statthalter namentlich und persönlich kannten … … und dies war ein weiterer Schlag ins Kontor, denn daß sich ausgerechnet der besonnene Hieronymus Neruda dafür hergab, die Unantastbarkeit königlicher Statthalter zu verletzen – Die Gedanken der Grafen und ihres Sekretärs gerieten ins Stocken. Wie ihr Atem. Eisig schlug ihnen die Luft aus Nerudas Richtung entgegen, und als sie in seiner Mimik nach Anzeichen suchten, die gezeigt hätten, daß er sich der Unverzeihlichkeit seiner Tat bewußt war und mit sich selbst haderte, hatten sie das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu starren. Martinics Erstarrung löste sich als erste. Er begann zu wanken. Den Schritt, den er nach vorn taumelte, bremste er selbst abrupt wieder ab und wich statt dessen rückwärts zu den Fenstern der Kanzlei, von denen aus der Altstädter Ring zu überblicken war. »Kommt wieder zu Sinnen!« keuchte er. Da sprang Neruda auf ihn zu und streckte ihn mit einem Fausthieb gegen das Kinn nieder. Martinic sackte zu Boden, schwer wie ein Fels. Als er benommen
aufblickte, sah er sich von mehreren Vertretern der Stände in Nerudas Gefolgschaft umzingelt, die haßerfüllt auf ihn herabstarrten und solch derbe Drohungen ausstießen, daß er endgültig um sein Leben zu fürchten begann. Und wieder war es Neruda, der den Drohungen auch Taten folgen ließ. Er gab das Kommando, wie mit dem Grafen zu verfahren sei, und vergeblich hoffte Martinic auf das Eingreifen seines alten Herrn Oheims und Schwagers, der zur gleichen Zeit, etwas abseits, ebenso wie der Schreiber in Schach gehalten wurde. »Nein!« keuchte Martinic mit schriller Stimme. »Wagt es nicht –!« Jemand riß ein Fenster auf, und obwohl Neruda Martinics Hüfte in stählernem Griff umschlungen hielt, meinte der Graf einen Moment lang, ihn schattenhaft auch dort drüben bei den Fenstern gesehen zu haben … Dann zerplatzten alle Gedanken wie Seifenblasen in seinem Kopf. Er fühlte nur noch, wie die Hände von ihm abließen, wie ihn Luft umfauchte und er für eine unbestimmbare Zeitspanne strampelnd und mit den Armen rudernd nach unten fiel. Wie ein Senklot in die Tiefe. Dann erlosch jede Wahrnehmung in einem Aufprall, bei dem er glaubte, jeden Knochen in seinem Leib zersplittern zu spüren …
* »Anna«, erwiderte das Mädchen auf Justus’ Frage. »Ich heiße Anna. Wie meine Mutter.« »Ihr hattet den gleichen Namen?« »Eigentlich dürfte ich gar keinen haben.« »Warum nicht?« »Weil ich nicht existieren dürfte.« »Du liebst es, in Rätseln zu sprechen.« »Das ist wahr. – Aber gut, warum solltest du es nicht wissen: Sla-
vata holt sich gerne Gespielinnen aus den Kerkern. Meist sind es Frauen, die der Hexerei bezichtigt werden. Ihnen glaubt ohnehin niemand, und um am Leben zu bleiben, tun sie alles, dem Grafen zu gefallen. Die Vampire dulden diesen Zeitvertreib ihrer Diener.« »Du redest schon wieder von ihnen?« »Weil sich alles um sie dreht – um ihr Wollen, normalerweise! Ich sagte ja, ich verstehe auch nicht, warum sie vor den Aufständischen gewichen sind. Sie hätten es gewiß nicht nötig.« »Du kennst sie? Und sie dich, und trotzdem …?« »Trotzdem lassen sie mich ungeschoren, aber ja. Ich bin keine Gefahr für sie. Und Mutter war es auch nicht.« Justus kam ein Gedanke. »Wenn es wäre, wie du sagst, sind sie vielleicht vor meinem Vormund geflohen … Natürlich!« Anna musterte ihn mit einem so mitleidigen Ausdruck, daß er vor Wut errötete. »Was soll das? Sieh mich nicht so an! Er ist ein bekannter Inquisitor, und eines Tages …« »… wirst du in seine Fußstapfen treten, ich weiß. Ich habe dieses eitle Geschwätz gehört.« »Wann? Wo?« Er war zunehmend konsternierter. »Ich sagte es bereits. Es gibt Türen und Wege …« »Schon gut!« unterbrach er sie und geriet noch mehr in Rage. Erst ihr Blick besänftigten ihn wieder. »So wie ich es verstehe«, sagte Anna, »schreckt dein Vormund nur einen.« »Und wen?« »Slavata. Als klar war, daß der Inquisitor kommen würde, opferte er meine Mutter, um nicht selbst angeklagt zu werden. Er gab auch Befehl, mich zu beseitigen. Offiziell bin ich bereits tot …« Justus blickte sie fragend an. »Er beauftragte jemanden aus seiner Leibgarde, mich umzubringen«, sagte sie. »Aber der schonte mich, weil ich ihm meinen Körper und meine Talente angeboten habe – und ihm versprach, mich nicht
nur aus der Burg, sondern aus der Stadt zu stehlen und nie mehr –« »Du hast …?« »Zerstöre ich jetzt dein Bild von mir? – Und du? Was hättest du alles getan, wenn du in meiner Lage gewesen wärst? Meinst du, es machte mir Spaß, ihn über mir liegen zu haben und mich wundstoßen zu lassen? Allmächtiger, ihr Mannsbilder seid alle so beschränkt …!« Justus senkte den Blick. »Was ist jetzt?« Er sah wieder auf. »Was meinst du?« »Soll ich dir zeigen, wo die geheimen Wege verlaufen?« fragte sie. »Willst du mit mir kommen, wenn ich nachsehe?« »Nachsehe?« »Ob man ihm endlich dem Schädel einschlägt, diesem Scheusal!« »Slavata?« Sie hielt die Frage keiner Antwort wert. Brüsk drehte sie sich um und ließ ihn stehen. Justus überlegte gerade so lange, wie sie brauchte, um ins Sonnenlicht hinauszutreten. Dann hatte er sich entschieden – gegen Matthäus Wenzel und für das Mädchen, und es störte ihn kaum, daß er das Gefühl hatte, in diesem Augenblick noch weniger von ihr zu wissen als bei ihrer ersten flüchtigen Begegnung …
* »Edle Herren, da habt ihr den anderen!« Die Worte des Grafen Thurn, eines der anderen königlichen Statthalter, der mit kaum jemandem ein gutes Verhältnis pflegte, brannten sich wie Säure in Vilem Slavatas Schädel. Thurn war verstohlen durch die Tür getreten und hatte, als er sah, was dem Grafen Martinic widerfahren war, offenbar genügend Mut gefaßt, sich Slavata offen als Verräter zu erkennen zu geben.
Weil er wußte, daß auch Slavata gleich zum Fenster hinausfliegen würde? Slavata verzog angewidert das Gesicht. Dann fühlte auch er sich schon zu Fall gebracht, und wieder – wie schon bei seinem guten Freund – war es Hieronymus Neruda, ein ehemals geschätzter und seiner Besonnenheit wegen gerühmter Mann, der zuvorderst wirbelte, um auch diesen »Verletzer des Majestätsbriefes«, wie laute Stimmen aus dem Hintergrund hetzten, für den Affront büßen zu lassen! »Haltet ein!« keuchte Slavata, als er schon mit dem Kopfe nach unten, samt Mantel und Rapier, das er nicht zu ziehen gewagt hatte, aus dem Fenster hing. Das Blut sackte ihm so heftig aus den Füßen ins Gesicht, daß er verzweifelt gegen die Ohnmacht ankämpfte. »Ihr werdet alle auf dem Schafott landen! Ferdinand wird den Mord an seinen Getreuen blutig rächen …!« »Dann sehen wir uns wohl bald wieder«, zischte ihm Neruda zu, und seine Worte senkten sich wie eine Wolke aus betäubendem Gas über Slavatas Sinne. »In der Hölle …« Nach dieser Prophezeiung ließen sie den Grafen los, und da er mit weit weniger Schwung als Martinic hinausgetragen wurde, schlug er bereits im Fallen mit dem Hinterkopf gegen einen steinernen Sims und verlor augenblicklich das Bewußtsein. Den Aufprall im Burggraben und wie er bis zu dessen Grund hinabzurollen drohte, spürte er schon nicht mehr.
* »Jaaaa …! O jaaa!« Annas Fingernägel gruben sich in Justus’ Unterarm. Ihr Geruch berauschte ihn regelrecht, und er wußte beim besten Willen nicht, warum er sich auf ein solches Abenteuer einließ. Wenn Wenzel je davon erfuhr, was er hier trieb, würde er ihn verstoßen, würde er ihn …
»Dieses Schwein, wie ich ihm das gönne! Hoffentlich hatte er noch Zeit genug, an all die Unschuldigen zu denken, die auf seinem Gewissen lasten …!« Ihre Stimme war zu einem Flüstern gesenkt, das nur er, Justus, hören konnte. Aber er wußte genau, wovon sie sprach, denn er hatte es ja auch gesehen – gerade noch. Durch die geheimen Gänge, die Anna ihm gezeigt hatte, wurden sonst die Frauen geschleust, die Slavata sich in sein Bett geholt hatte – aber sicher dienten die schmalen Korridore nicht nur diesem Zweck. »Wenn du wirklich des Grafen Tochter bist«, hatte er sich an Anna gewandt, während sie durch die finstere Enge gehetzt waren, »müßte er sehr lange mit deiner Mutter zusammen gewesen sein, ehe er sie …« »Sehr lange? Und wenn? Entschuldigt das, daß er –?« »Nein, sicher nicht, aber …« »Sei still!« »Ich verstehe sein Handeln auch deshalb nicht, weil er und Martinic meinen Vormund doch gerufen hatten. Wenn Slavata die Inquisition fürchtete, hätte er doch bloß Stillschweigen wahren müssen!« »Die durchscheinende Frau kam ihm gelegen. Er war meiner Mutter schon lange überdrüssig. Aber offenbar brauchte er einen äußeren Anstoß, um sie in einem Schnellverfahren aburteilen und hinrichten zu können …« »Dann wäre er ein Schuft, aber kein gar solches Monster, wie du ihn mir vorhin beschrieben hast.« Nachdem er dies gesagt hatte, war sie stehengeblieben und hatte ihn geohrfeigt. Und erst als die Wange wie Feuer zu brennen begann, begriff er, wie beleidigend er gesprochen hatte. Danach hatte er geschwiegen, bis Anna ihm bedeutete, daß sie am Ziel angelangt seien. Dort, wohin es auch den Mob gezogen hatte.
Und wo Slavata gerade kopfüber aus dem Fenster gestürzt wurde … Justus hatte – wie Anna – eines seiner Augen gegen die Spionöffnung gepreßt, die sie ihm zugewiesen hatte. Dadurch konnte auch er den Tumult verfolgen, der sich im Innern der Kanzlei abspielte – und der sich schlagartig legte, nachdem die beiden Grafen auf so martialische Weise beseitigt worden waren. »Wer ist dieser Mann, der noch kurz mit Slavata sprach, ehe er …?« Justus redete nicht weiter. Er konnte es nicht. Noch während er die auffällige Gestalt betrachtete, die aus der Menge hervorstach, obwohl weder Kleidung noch das Aussehen an sich irgendwie extravagant waren, wurde ihm plötzlich kalt, eiskalt, und er hatte das abscheuliche Gefühl, daß dieser Mann dort ihm in die Augen sah – durch die winzige Öffnung in der Wand hindurch … … in beide Augen! »Spürst du – das auch?« Es war Anna, die die Frage an Justus richtete und dessen Verwirrung komplett machte. »Du meinst …?« »Er starrt uns an! Er – zum Henker, ich bin sicher, er sieht uns!« »Du bist verrückt!« »Ach? Zitterst du deshalb wie Espenlaub?« »Verflucht, kannst du dein Schandmaul nicht einmal halten? Ich –« Seine Stimme erstarb. Justus sah dasselbe wie Anna: Der Mann, der in der Kanzlei gerade maßgeblich dafür verantwortlich gewesen war, daß Graf Slavata aus dem Fenster gestoßen wurde, rückte wie beiläufig immer weiter von seinen Begleitern ab. In einem Moment, da er sich unbeobachtet wähnte, sonderte er plötzlich etwas ab … Justus wußte nicht, wie er es besser hätte beschreiben können.
Von dem unbekannten Rädelsführer schien etwas wie dunkler Nebel abzufallen, zu Boden, wo es augenblicklich spurlos-schattenhaft versickerte. Worte konnten die Gespenstigkeit dieser Beobachtung nicht wiedergeben. Es war … Anna schmiegte sich plötzlich dicht an Justus. »Verschwinden wir!« flüsterte sie mit einer Betroffenheit, daß Justus noch einmal ganz anders wurde. »Du hast es auch gesehen …« Unbeweglich stand er da, unfähig, sich zu rühren. »Was war das? Für einen Augenblick dachte ich, er würde im Boden versinken … Aber ich muß mich täuschen. Er steht immer noch dort! Jetzt redet er mit anderen …« »Komm endlich!« drängte Anna noch einmal. »Ich glaube, ich weiß es jetzt.« »Du weißt was?« »Wovor die Vampire geflohen sind …«
* Matthäus Wenzel vertiefte sich immer mehr in seine Arbeit, aber einen Silberstreif am Horizont, eine Hoffnung, das Geheimnis um die Verstorbenen, die urplötzlich um Jahrzehnte gealtert zu sein schienen, bald lüften zu können, sah er nicht. Trotzdem gab er nicht auf. Und während die Bewegungen seiner Helfer immer fahriger wurden, steigerte er selbst sich in eine fast tranceartige Konzentration, und der Raubbau, den er mit seinen Kräften trieb, auch den Kräften anderer, wurde ihm überhaupt nicht mehr bewußt. Niemand wagte es, zu murren. Wenzel war eine anerkannte Autorität. Doch dann näherten sich Schritte die Treppe herab und durch die Tür dieses geräumten und umgestalteten Kerkerraums.
Schritte, die Wenzels Aufmerksamkeit mühelos auf sich zogen und ihn der Arbeit, mit der er gerade beschäftigt war, entrissen. Einen Moment lang blickte er noch irritiert auf seine Finger, die das scharfe Messer hielten, mit dem er das vertrocknete, wie verdorrt anmutende Herz eines der Mumifizierten zerlegt hatte – dann spähte er zum Ausgang der unterirdischen Kammer und nickte, als fiele ihm plötzlich wieder ein, wo er sich aufhielt und für wen er all dies hier tat. »Ihr seid es … So hat Euch Justus also doch noch gefunden. Tretet ein. Aber ich muß Euch enttäuschen, wenn Ihr schon Antworten erwartet. Die kann ich Euch nicht geben. Was ich aber von Euch brauche, ist die Zusicherung –« Er wurde unterbrochen. »Später! Das hier …«, die Geste fuhr über die Leichen hinweg, »… ist nicht alles, womit Ihr Euch befaßt, oder?« »Ihr meint Eure Gefangene?« »Meine Gefangene … Ja! Wo ist sie?« »Immer noch in ihrer Zelle. Ich verstehe nicht …« »Wärt Ihr so freundlich, mich zu ihr zu führen?« »Ihr wollt mit ihr sprechen? Auf einmal habt ihr den Mut …?« »Würdet Ihr das für mich tun?« Wenzel spürte plötzlich, daß etwas nicht stimmte – nicht stimmen konnte. Aber was? Er zitterte leicht. Das Atmen fiel ihm ein wenig schwerer als sonst. Die Erschöpfung … »Ihr seht nicht sehr gesund aus. Das Herz? Manche Herzen quälen sich, obwohl sie schon aussehen wie das, welches Ihr gerade zerlegt habt …« Was sollte das? Wenzel blickte erzürnt zu der Gestalt in der Tür. Hitze staute sich in seiner Brust. Eine Beklemmung, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er röchelte leise und sah sich nach dem Krug um, aus dem er hin und wieder Wasser getrunken hatte.
Er fand ihn nicht. Die Stimme holte ihn ein: »Können wir jetzt gehen?« Ja. Ja! Plötzlich lockerte sich der Ring um Wenzels Brustkorb. Saugend holte er Luft. Die Schatten vor seinem Blick wichen. Er band sich die Schürze ab. Ein Blick in die Runde seiner Helfer ernüchterte ihn endgültig. »Schluß für heute! Geht, ruht euch aus! Ich rufe euch, sobald ich euch wieder brauche …« Und dann, als fiele ihm erst jetzt wieder ein, worüber Justus ihm berichtet hatte, wischte er sich über die müden Augen. »Ich habe ganz vergessen: Hat mein Mündel wieder einmal übertrieben, den Teufel an die Wand gemalt? Mit dem angeblichen Einfall Aufständischer, von dem mir berichtet wurde, kann es wohl nicht weit hergewesen sein, Graf …?« Noch ehe die wuchtige Gestalt im Eingang antworten konnte, brach aus dem dunkel-feuchten Gang dahinter ein Schrei zu Wenzel durch – ein Schrei, der das Wesen in der Tür zwang, Farbe zu bekennen und die Maske, die es angelegt hatte, fallen zu lassen: »Vorsicht, Vater, gebt acht!« rief Justus aus. »Das kann nicht der Graf Martinic sein! Unmöglich! – Im Namen des Herrn und aller Apostel: Seht Euch vor …!«
* Zur gleichen Zeit, im Burggraben Dort unten lag sein lieber Gespann und treuer Freund, der Graf Slavata, und röchelte, daß es Martinic eng ums Herz wurde. Daß sie überhaupt noch lebten, glich einem Wunder! Aus dieser Höhe hinabzustürzen auf den harten Grund hätte ihnen beiden das
Genick brechen können und – wenn es nach denen dort droben ging – wohl auch sollen …! »Dieser Hundsfott von Verräter!« fluchte Martinic im Gedenken an den Grafen Thurn und wälzte sodann seine Leibesfülle hinab zum Schwager, den es tiefer in den Graben getragen hatte und wohl auch ärger getroffen. Immer wieder verwickelte sich Martinic in seinem Mantel und fügte sich mit dem eigenen Rapier und dem an der Hüfte befestigten Dolch Verletzungen zu, schlimmer als die, die er sich beim Sturz zugezogen hatte. Trotzdem gab er nicht eher Ruhe, bis er bei seinem Oheim angelangt war, dessen Gesicht voller Blut war. Martinic säuberte es notdürftig mit einem Tuch und betete inständig, daß Slavata wieder die Augen öffnen möge. Um dem nachzuhelfen, zog er ein kleines Etui hervor, in dem er sein Schlagbalsam aufbewahrte, und rieb damit Schläfen und Oberlippe des Ohnmächtigen ein, dem der strenge Duft sogleich in die Nase steigen mußte. Martinic seufzte gottergeben, als ihm der Graf nach einer Weile blinzelnd entgegenstarrte, und es war ein Schwur, mit dem er ihn im Leben zurück begrüßte: »Das werden sie bereuen! Das wird der König ihnen nicht vergeben, und du und ich, wir wissen, was das bedeutet, alter Freund!« Stumm starrte Slavata an Martinic vorbei zu dem östlichen Fenster der Kanzlei hinauf, durch das sie in die Tiefe gestürzt worden waren. Noch immer war dort oben das Toben der Aufständischen zu hören, aber, wie Martinic, meinte auch Slavata bereits anderen Lärm herauszuhören. Den drohenden Unterton eines nun unvermeidbar gewordenen, noch blutigeren Gemetzels – eines Krieges, von dem auch die beiden Grafen nicht ahnen konnten, daß er dreißig lange Jahre Not, Tod und Verwüstung über die Lande speien würde …
*
Die gerade noch Larmoyanz verströmende feiste Gestalt des Grafen schien im nächsten Augenblick zu einer massiven Statue zu erstarren – zu einem Klotz bar jeden Lebens, bar jeglicher Menschlichkeit! Justus bereute es, den warnenden Ruf getan zu haben, kaum daß er seine Kehle verlassen hatte – denn ihm wurde klar, daß er sich dadurch den Zorn des Unheimlichen zugezogen hatte. Aber es war zu spät! Alles schien zu spät! Anna war ihm hinab ins Gewölbe gefolgt. Er hatte sie gebeten, bei ihm zu bleiben, wenn er seinem Vormund Kunde vom Fenstersturz überbrachte … … und dann hatten sie wohl beide ihren Ohren und Augen mißtraut, als sie hier unten auf den Grafen Martinic gestoßen waren – oder jenes Wesen, das vorgab, der Graf zu sein …! »Komm!« Annas Hand riß ihn an der Schulter zurück. Das Ende des Wortwechsels zwischen dem falschen Grafen und dem Inquisitor hatten sie noch mitbekommen. Das, was dort halb in der Tür zu Wenzels Laboratorium und halb auf dem Gang zu den Verliesen stand, hatte sich nach der Gefangenen erkundigt, deren bloße Nähe Leben und Jugend aus den Körpern ihrer Mitgefangenen zog! Was bedeutete dieses Interesse? Daß sie einander verwandt waren …? Es konnte alles heißen! Alles! Justus befreite sich von Annas Hand, die immer noch versuchte, ihn zur Flucht zu bewegen. Aber zur Flucht wohin – und wovor? Wer war der Mann in Martinics Maske – und wie gelang es ihm, den Grafen derart perfekt zu imitieren? Justus konnte und wollte sich nicht von dem Bild losreißen, das alles übertraf, was seine Augen in Gesellschaft Wenzels bisher geschaut hatten. Und vielleicht – sicher! – auch alles, was Wenzel selbst bis zu die-
sem Moment begegnet war! »Es ist kein Mensch – es sieht nur so aus!« flüsterte Anna in seinem Rücken. »Selbst die heimlichen Herrscher der Stadt sind vor ihm gewichen, begreif das doch! – Flieh! Flieh mit mir! Es wird gleich zeigen, was in ihm steckt; ich kann es spüren! Hörst du denn dieses Knistern nicht? Wie es dabei ist, die Schale zu sprengen, die Hülle, mit der es sich selbst fesselt und seiner wahren Möglichkeiten beraubt …?« »Es … es!« keuchte Justus, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Du redest, als würdest du ihn kennen, diesen …« »Jeder kennt ihn, auch wenn er ihm noch nie begegnet ist – und jeder fürchtet ihn. Der Tod ist sein Diener!« Annas Stimme verwehte. Und dann, wie zur Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen, gab die Gestalt in der Tür nicht nur Graf Martinics Aussehen auf, sondern entartete vollständig. Und niemand, der sich in Wenzels Laboratorium aufhielt, schaffte es, an ihm vorbeizukommen – weder lebendig noch tot. Am allerwenigsten Matthäus Wenzel selbst …!
* Wo bleibt er? Wo bleibt der, der mit mir sprach und mich verstand, so wie ich ihn. Seine Worte jedenfalls. Seinen Wink mit dem Scheiterhaufen … Warum läßt er mich warten? Er könnte mir helfen, vielleicht, und wenn es nur durch den Stoß seines Dolches in mein unwirklich pochendes Herz wäre! Wie kam ich hierher? Wie soll ich all die Leute, die ich gar nicht kenne, getötet haben? Ich bin eine Fremde unter Fremden und werde dies – das kann mir niemand ausreden – für immer bleiben! Mich überkommt Gänsehaut vor mir selbst, und ich verstehe, wenn man
mich meidet. Ich an ihrer Stelle würde es auch tun! Ich kenne mein Geheimnis nicht, aber es ist tödlich. Nur wenn sie auch mich töten, wird es seinen Schrecken verlieren! … Es ist der Wahnsinn, der mir Worte wie diese auf die Zunge legt! Ich selbst kann doch nicht wollen, daß man mir den Kopf vom Halse schlägt – mich bei lebendigem Leib verbrennt oder mir das Genick bricht …! … (… das … Genick … bricht …?) Alles um mich herum dreht sich. Mein Nacken schmerzt, als würden ihn Nägel von absonderlicher Beschaffenheit durchbohren, und nicht nur meinen Nacken … HELFT MIR, DENN ICH HABE GELOGEN, ICH WILL NICHT STERBEN! ES IST MIR GANZ UND GAR NICHT GLEICH, OB ICH LEBE ODER HIER UNTEN VERFAULE. ODER OB DIE RATTEN SICH AN MEINEM GEDÄRM LABEN! ODER – – – Nein, ich will nicht! Laßt mich doch gehen! BITTE, laßt mich gehen, bevor ich wieder … Halt! Ist da wer, draußen vor der Kerkertür? Ich höre, nein, ich spüre dich! Wer bist du? Ein Freund, oder …? Wer immer du sein magst, H-I-L-F M-I-R …! Nein, BLEIB! Komm nicht! Es beginnt wieder! Ich merke, wie es wächst. Ich kann es nicht stoppen! Wer bin ich? Was für Türen? Welche Tore? Nein, ich kam durch keinen Korridor! Ich …
* Im ersten Moment dachte Wenzel, die Steinquader der Wände würden plötzlich anfangen, eine Form von Helligkeit auszuschwitzen, die in sofortigen Wettstreit mit dem Licht der überall verteilten Kerzen trat. Doch dann verlor dieses Faktum seine Bedeutung. Der Ring war wieder da. Das Band um Wenzels Brust, das sich ruckartig und mitleidlos zusammenzog! Von IHM gesteuert! »Wer … seid Ihr?« krächzte Wenzel. Justus’ Rufe dröhnten noch in seinen Ohren. Die Worte, die alles ausgelöst hatten. Wenn dies nicht der Graf war … … wer dann? Immer noch verhielt die Gestalt auf der Schwelle. Wenzels Helfer, die dem Erscheinen des Besuchers anfangs keine besondere Bedeutung beigemessen hatten – warum auch? –, wichen zuerst tief in die entfernteste Ecke des Raumes zurück, ehe sie, ohne überhaupt kurz zur Ruhe zu kommen, in die entgegengesetzte Richtung taumelten – geradewegs in die Arme des … Matthäus Wenzel krümmte sich unter den Schmerzen, die nicht nur seine Bediensteten in unartikuliertes Gebrüll ausbrechen ließen. Auch er fühlte sich angezogen von diesem … Monument! Ja, das war es: ein fraglos lebendiges Monument – aber ebenso fraglos anders lebendig als alles, was Wenzel davor gesehen hatte. Ein Ding, das nur zu einem Bruchteil verriet, welches Ausmaß, welche Dimension in ihm steckte! Aber dieses Stück, das es von sich preisgab, war bereits von zerschmetternder, zermalmender Kraft. Unwiderstehlich in seiner Begierde, sich der Menschen hier zu bemächtigen! Matthäus Wenzel war sich nie so bewußt gewesen, wie gering eines Menschen Wissen, selbst das Wissen vermeintlicher Genies, im
Vergleich zu dem war, was sich hier vor ihm auftat. Ein Abgrund. Wie viele Leben ballten sich hier in einer Manifestation? Welche Art Leben? Was tun wir eigentlich? dachte er, während die Schwäche in ihm auch die letzten Reserven seiner Kraft eroberte. Womit beruhigen wir uns selbst? Wie konnte ich je denken, dem, was ich bekämpfe, gewachsen zu sein? Was sind ein paar lächerliche Hexen und Vampire gegen … DAS, was sich hier offenbart? Die Erkenntnis, ein Nichts gegen dieses Konzentrat an Bösem zu sein, machte Wenzel noch wehrloser, noch ohnmächtiger, als er es bei klarem Verstand und etwas mehr Besonnenheit vielleicht gewesen wäre. Das Fremde, das in sein Leben getreten war, um es gleichsam zu beenden, rief einen nach dem anderen zu sich, und selbst die verstümmelten Leichen auf den Tischen folgten dem Ruf. Nein! Wenzel suchte sein Heil in einem Gebet. In den Insignien, die er unter seiner Kleidung trug und die sich – statt zu helfen und zu schützen –, je näher er dem WESEN kam, um so tiefer in sein Fleisch hineinbrannten! Kein Wort drang über seine Lippen. Nicht einmal in Gedanken war er mehr fähig, Gebete zu formulieren. Das Fremde lähmte ihn. Das Fremde, das diesen Raum aus der Wirklichkeit herauszuschälen und in ein eisiges Jenseits zu verwandeln begann. Einen Ort ohne Wiederkehr! Und dann meinte Wenzel, die Tür zu durchschreiten. In Wahrheit aber … … betrat er IHN. Und ER würde ihn nie wieder loslassen.
*
Justus kam erst wieder zur Besinnung, als er mit dem Kopf gegen einen querlaufenden Stützbalken des Gewölbes stieß. An dieser Stelle war die Decke so niedrig, daß nur eine geduckte Gangart möglich war, und er war mit seinen Gedanken viel zu weit weg gewesen, um darauf zu achten … Benommen bohrten sich seine Blicke in die Schwärze, in der sich Anna, einen Schritt voraus, befinden mußte. Sie hielt seine Hand, und bei seinem ruckartigen Stehenbleiben hatte auch sie abgebremst. »Ich habe doch gesagt, du sollst aufpassen!« Hatte sie das? Es war so dunkel, stockfinster! Nirgends brannte mehr eine Fackel oder Kerze. »Wo – sind wir?« »Vertrau mir!« Er erinnerte sich. Das hatte sie auch vorhin gesagt, als es ihr doch noch gelungen war, ihn aus seiner Starre zu reißen und von dort wegzulotsen, wo sich die Tragödie abgezeichnet hatte. Das Sterben … »Wenzel, mein Vormund … ist er …?« »Woher soll ich wissen, was aus ihm wurde?« Anna klang gereizt, was nur allzu verständlich war, aber Justus ertappte sich dabei, daß er ihr ein völlig überzogenes Maß an Beherrschung und Schläue zubilligte. »Warum ist es so dunkel hier?« »Warum? Man könnte meinen, ich hätte den Falschen an der Hand … Gott, du wirst doch gesehen haben, daß ich jede Fackel, an der wir vorbeikamen, aus ihrer Halterung gerissen und am Boden ausgetreten habe!« Gesehen vielleicht, aber nicht begriffen … »Du?« stammelte Justus. »Warum?« Er biß sich auf die Unterlippe.
Anna schnaubte verächtlich. »Weil ich nicht will, daß es uns folgt und findet … Darum, verdammt!« Es … Justus haßte es, daß sie den falschen Grafen Martinic so nannte. Aber dies war nicht der Ort und nicht die Zeit, über solche Geringfügigkeiten zu streiten. »Sag mir, was du vorhast!« »Wir müssen zurück an die Oberfläche!« »Warum haben wir dann nicht die Treppe genommen? Warum hast du uns –« Ihre Hand fuhr über sein Gesicht und fand, flüchtig tastend, seinen Mund, auf den sie sich preßte. Stille. Dann hörte es auch Justus. Ganz in ihrer Nähe rief und weinte jemand. Er befreite seinen Mund. »Das ist sie!« »Ich dachte schon …« Anna seufzte. Doch ihre Erleichterung war verfrüht. Eine Windbö – zumindest hielten sie es dafür – fuhr ihnen aus der Dunkelheit entgegen, so heftig, daß sie beide schwankten. Gleichzeitig begann sich die Qualität der umgebenden Finsternis zu verändern … »Jesus, Maria! Es hat uns gefunden!« Justus drehte es den Magen um. Annas Fatalismus war ansteckend. Doch schon ein paar Herzschläge später bewies sie wieder, daß sie durchaus auch praktisch denken konnte. Effektiver vielleicht als er! »Wen meintest du eben mit ›sie‹? Die Hexe, die durch ihre bloße Nähe tötet?« fragte sie, und in ihrer Stimme glomm ein Hoffnungsschimmer, den Justus beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte. Zugleich umklammerten ihre Finger sein Handgelenk mit einer Gewalt, daß er fast aufgeschrien hätte. »Ja!« gab er rauh zurück. »Aber ich wüßte nicht …«
»Was haben wir zu verlieren? Los, komm! Vielleicht können wir Feuer mit Feuer bekämpfen …« Sie zog ihn auf das Schluchzen zu. Nach einer Weile, in der Justus immer wieder hinter sich lauschte, wo er den unmenschlichen Verfolger wähnte, blieb sie stehen, und er hörte mehrere Riegel zurückschnappen. Eine Tür schwang auf, und dahinter … Der Kerker! Es gab einen Gang direkt in das Verlies der Burg! Justus glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Andererseits war der Grund dafür nachvollziehbar. Wenn Graf Slavata sich seine Gespielinnen unter den Gefangenen gewählt hatte, war eine Verbindung zum Kerker mehr als nützlich für ihn. So hatte er seine Opfer holen und wieder zurückbringen können, ohne daß auch nur die Wachen es bemerkt hatten. Und je weniger Menschen von seinen Untaten wußten, desto besser … Trotz der auch hier herrschenden Dunkelheit war die Frau auf der Pritsche so deutlich zu erkennen, als wäre sie eingewoben in eine strahlende Korona – einen Schein, vor dem Justus regelrecht zurückprallte, weil er nicht vergessen hatte, was über dieses Geschöpf erzählt wurde. »Vorsicht!« Anna schien keine Angst zu kennen – zumindest ließ sie sich nicht davon beherrschen. Etwas, das kein Erbarmen kannte, war ihnen auf den Fersen! Anna hatte recht: Was hatten sie zu verlieren? Nichts! Dumpf verfolgte Justus, wie das Mädchen ohne Zögern zur Pritsche eilte, auf der die beklemmend schöne Frau saß, die etwas in einer Sprache hervorstieß, der weder Justus noch Anna mächtig waren. Anna rüttelte an den Ketten, die man der Hexe angelegt hatte –
dann hörte Justus sie fluchen: »Ohne Werkzeug ist da nichts zu machen … Verdammt! Aber vielleicht wird es schon aufgehalten, wenn wir einfach die Tür offenstehen lassen …« Schneller als er ihren Gedankensprüngen folgen konnte, war sie bereits wieder bei ihm und drängte ihn zurück auf den Gang. Dem flehend ausgestreckten, leuchtenden, nun fast wieder durchscheinenden Arm der Gefangenen, die Anna festzuhalten versuchte, schenkten sie keinen Blick mehr. »Wohin jetzt?« seufzte Justus. »Nicht weit von hier ist ein weiterer geheimer Gang. Wenn es sich ein wenig hier aufhält, können wir es schaffen«, flüsterte Anna. »Sind wir erst einmal im Korridor …« Justus leistete keinen Widerstand, zumal »Es« jetzt ganz nahe zu sein schien.
* Die Schritte verstummen. Doch dann tritt jemand zu mir, dessen Gang lautlos ist. Eine Hand greift nach mir, umspannt mein Kinn. Ich schaudere, weil ich die Anwesenheit von jemandem fühle, ohne auch nur einen Schemen von ihm zu erkennen. Ich höre nicht einmal Atem. Aber ich spüre diese Berührung in meinem Gesicht, zart wie ein Schmetterlingsflügel. Für eine Ewigkeit, die eine Sekunde dauert, scheint die Welt in vollkommenem Gleichgewicht. Seit ich mich hier wiedergefunden habe, ist es das erste Mal, daß ich mich von Grund auf wohl fühle. Etwas fällt klirrend zu Boden. Meine Fesseln? Ich – begreife nicht. Dann verläßt mich die Berührung, und ich erhebe mich von meinem Lager, an das mich nichts mehr bindet. Ich bin wieder allein.
Aber meine Zweifel sind geschwunden. Dort vorn, an der Tür, beginnt eine Spur … eine Spur, die ich zu lesen vermag, als hätten kleine dumme Tiere ihre Fährten in weichen Sand getreten, damit der hungrige Räuber ihnen mich ja gut zu folgen vermag. Und jener hungrige Jäger, dem nach allem giert, was menschliche Uhren am Ticken hält, dieser nach ihrer Lebenszeit hungernde und dürstende Vampir … … bin ich! Epilog Das Wesen, das aus einer Ziege geschlüpft war und sich bereits einmal gespalten hatte, folgte der transparenten, nymphenhaften Frau in einem Abstand, der jederzeit zu überschauen war. Es hatte die Weichen gestellt. Die Welt würde anders aussehen nach diesem Tag, andere Wege beschreiten, als sie es getan hätte, wäre Hieronymus Neruda, der Besonnene und Feind aller Gewalt, nicht von etwas heimgesucht worden, das stärker und vorausschauender war als er. Stärker als alles in dieser Stadt. Und weit darüber hinaus. Von dieser Stunde an würde Prag ein verbotener, ein unbetretbarer Ort sein. Zumindest für jenes Gezücht, das dem Schoß einer Mutter entsprungen war, die in grauer Vorzeit lebendig von ihrem Schöpfer begraben worden war … Aber was für die Vampire nur lästig war – den Menschen würde es Tod und Verderben, Seuchen und Armut, Mord und Niedertracht bedeuten, für lange, lange Jahre. Das Wesen hatte die Weichen dafür gestellt, so wie es schon unzählige Male in die Geschicke der Welt eingegriffen hatte, um das Böse zu schüren. Oftmals bedurfte es dafür nur eines kleinen Anstoßes, eines falschen Wortes zur richtigen Zeit, einer eigentlich unbedeutenden Verletzung, gleichgültig, ob körperlicher oder nur seeli-
scher Natur. Die Menschen waren schwach, manipulierbar in solch vielerlei Weise, daß es ihm leicht fiel, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Tod und Leid … Auch jene seltsame Frau, die das Wesen im Kerker vorgefunden hatte, würde die Saat ausbringen, auf ihre eigene Art. Wo sie herkam, wer ihr diese Fähigkeit (diesen Fluch!) verliehen hatte – es interessierte den aus einem Tier Geborenen kaum. Er hatte die Anwesenheit der Frau gerochen und sie aufgesucht, um sie zu prüfen. Ein einziger Blick in ihren Geist hatte genügt. Die Frau würde weiter töten, um selbst zu leben. Damit arbeitete sie seiner Passion, seiner Bestimmung zu. Den nagenden Zweifel, den er in ihren verwirrten Gedanken gefunden hatte und der ihre Effizienz mindern mochte, hatte er fortgewischt. Das Wesen lächelte – was bei ihm aber nicht mehr bedeutete, als daß es seine Masken beherrschte. Mit der Illusion eines Schuhs, den es über die Illusion eines Fußes gestreift hatte, stieß es gegen die beiden mumifizierten Hüllen, die unter dem Anstoß knisterten. Zu mehr waren sie nicht mehr fähig. Wie hatten sie glauben können, ihm zu entkommen? Und war es nicht ebenso lächerlich, wie sich ihre Hände selbst im Tode noch aneinander klammerten, als könnten sie dadurch eher dem Schicksal trotzen? Ihre Zukunft war hier und jetzt zu Ende gegangen, während die des Schrecklichen, der ihnen wieder den Rücken kehrte, gerade erst begonnen hatte … ENDE
Lykanthropie Schon in Band 9 versorgte euch Carter Jackson mit vampirischen Informationen. Jetzt hat er mir wieder einen Auszug aus seinem Taschenbuch zur TV-Kultserie »Akte X« überlassen, das im Juni dieses Jahres im Bastei-Verlag erscheinen wird (»Die Welt der X-Akten«, Bestellnummer 3-404-13905-4, 12,90 DM). »Der ganze Lebenslauf eines Menschen ist Verwandlung; alle seine Lebensalter sind Fabeln derselben, und so ist das ganze Geschlecht in einer fortgehenden Metamorphose.« Johann Gottfried Herder Neben den Vampiren gehören die Werwölfe (auch Wehrwölfe bzw. Wärwölfe) zu den »dienstältesten« Wesen der Schattenwelt. Zwar konnte bis heute nicht gesichert nachgewiesen werden, woher der Lykanthropen-Mythos, also der Glaube, daß sich ein Mensch unter gewissen Voraussetzungen in einen Wolf verwandelt, ursprünglich stammt, doch schon der griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet im 5. Jahrhundert vor Christi, daß die Griechen und Skythen, die an der Schwarzmeerküste beheimatet waren, von den einheimischen Neurern glaubten, sie würden einmal im Jahr für einige Tage zu Wölfen werden. Auch in der klassischen römischen Literatur tauchen schon Werwölfe auf, beispielsweise bei Vergil oder Petronius, dessen bekannter satirischer Roman Satyricon von Lykanthropen erzählt. Etwa zur gleichen Zeit berichtet Ovid in seinem Werk Metamorphosen, das wundersame Verwandlungen von den Anfängen der Welt bis in die Zeit Caesars beschreibt, daß der mythische König von Arkadien, Lykaon, von dessen Namen die Bezeichnung Lykanthropie hergeleitet
ist, Jupiter (Zeus) eine Speise aus Menschenfleisch vorsetzte, um zu prüfen, ob der Gott zwischen Mensch und Schwein unterscheiden konnte. Für diesen Frevel, am Allwissen Jupiters zu zweifeln, wurde er zur Strafe in einen Wolf verwandelt, um fortan Angst und Schrecken bei seinen Untertanen zu verbreiten. Damit hatten die Götter ein Privileg, das sie bis dahin nur für sich selbst in Anspruch nahmen, ebenfalls den Menschen zuteil werden lassen, auch wenn die Verwandlung als eine Bestrafung gedacht war. Gleichzeitig schimmert in Ovids sagenhafter Erzählung die Tendenz durch, die »kannibalistische Lust« des Jupiter zu unterschlagen und ihn auf diese Weise davon zu entlasten, daß er durchaus Menschenfleisch begehrte. Die Verwandlung in ein Tier ist die göttliche Strafe für Kannibalismus und bannt die unreinen Gelüste nach dem Fleisch der eigenen Art in das Bild einer Kreatur, dessen Gier als seiner Natur entsprechend angesehen wird. Während der Wandel eines Menschen in ein Tier von den Ägyptern als erhöhende Ehrung empfunden wurde, empfanden die Völker im Norden, einschließlich der Griechen, ihn als »Mißgeschick«, wie Klaus Völker anführt. »Je unbeliebter das Tier war, in das man verwandelt wurde, desto furchtbarer die Strafe. So wurde der Wolf, den die Ägypter als hilfreichen Beschützer verehrten, in Europa wegen seiner Raubgier und Schnelligkeit gefürchtet.« Das ging soweit, daß man zur Zeit Karls des Großen (768 – 814 n. Chr.) in Frankreich spezielle Regierungsmaßnahmen zur Wolfsbekämpfung erließ, die bis ins 20. Jahrhundert beibehalten wurden. Später, im Mittelalter, waren die Wölfe in bestimmten Teiles Europas zu einem so großen Problem geworden, daß etwa in Irland nach dem Feldzug Oliver Cromwells im Jahre 1649 für jeden erlegten Wolf eine Prämie von fünf Pfund ausgesetzt wurde, was der Sachbuchautorin Jane Goldman zufolge »dieselbe fürstliche Summe war, die auch für katholische Priester gezahlt wurde«. Wölfe galten als schlau, gerissen und bösartig und eigneten sich damit wie ihre engsten Verwandten, die Vampire, ausgezeichnet als
Sündenböcke für jede Art von Unglück, ob es nun Mißernten, die Pest oder brutale Straßenräuber waren. Als im Mittelalter darüber hinaus merkwürdige Geschichten zu kursieren begannen, in denen sich Menschen in Wolfsfelle hüllten, verbreitete sich in einem Europa, dessen weltliche und kirchliche Instanzen alles daransetzten, um das herrschende apokalyptische Klima des Hexenwahns und der Teufelsbündelei noch weiter anzufachen, der Aberglaube an Werwölfe wie ein Buschfeuer. Die grausamen Einzelheiten der Geständnisse angeklagter Mörder trugen ebenfalls dazu bei, dem Lykanthropen-Mythos Glaubwürdigkeit zu verschaffen, so daß sich bald jeder, von dem das – oft absichtlich verbreitete – Gerücht ging, er oder sie sei ein Werwolf, sich auf dem Scheiterhaufen wiederfand. Besonders in Frankreich und Deutschland forderte der Werwolfwahn etliche Opfer. In Frankreich sind den Gerichtsarchiven zufolge zwischen 1520 bis 1630 mehr als dreißigtausend Werwolfprozesse geführt worden, die nahezu immer mit dem Todesurteil des Beklagten endeten. Nachdruck erhielt der Glaube der Menschen an Werwölfe durch den Umstand, daß in der damaligen Zeit einige besonders kaltblütige Mörder selbst davon überzeugt waren, sich in Wölfe verwandeln zu können. Nachdem im Herbst 1573 ein Parlamentsbeschluß die Bauern in der Gegend des französischen Dôle dazu autorisierte, auf Werwölfe Jagd zu machen, dauerte es nicht lange, bis sich der »Eremit von St. Bonnot«, Gilles Garnier, dafür verantworten mußte, nach eigenen Angaben als Wolf mehrere Kinder getötet zu haben. Garnier sagte aus, zwei Mädchen und einen Jungen mit den Händen und Zähnen umgebracht zu haben. Um seinen »Wolfshunger« zu stillen, hätte er das Fleisch ihrer Bäuche, Schenkel, Arme und Beine gefressen. Gefaßt wurde Garnier, nachdem er nahe des Ortes Perrouze einen Jungen erdrosselte und die Leiche in ein Gebüsch geschleift hatte, um sich dort daran zu laben, woran er allerdings von einigen Passanten gehindert wurde, die später vor Gericht einhellig erklärten, Garnier hätte zu diesem Zeitpunkt seine menschliche Gestalt be-
sessen. Gilles Garnier wurde wegen vierfachen Mordes und Lykanthropie zum Tode verurteilt und bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein ähnlicher Fall trug sich im Jahre 1598 bei Caude zu, wo eine Gruppe französischer Bauern in den Wäldern die schrecklich zerfleischte Leiche eines fünfzehnjährigen Jungen fanden, an der sich zwei Wölfe vergingen, die flüchteten, als die Männer sich näherten. Obgleich die Bauern ihnen sofort nachstellten, verloren sie die Spur der Tiere rasch. Dafür entdeckten sie in einem Dickicht einen verwilderten Jugendlichen mit langem Haar, zottigem Bart und blutigen Händen, unter deren krallenartigen Nägeln Fleischfetzen klebten. Da einige der Männer behaupteten, gesehen zu haben, wie der geistig zurückgebliebene Knabe, ein gewisser Jacques Rollet, der sich seinen kargen Lebensunterhalt zusammen mit seinem Cousin Julien und seinem Bruder Jean in den umliegenden Dörfern erbettelte, zusammen mit den beiden Wölfen flüchtete, als die Bauern sich dem Leichnam näherten, wurde er in Angers vor Gericht gestellt. Im Verhör gab Rollet an, daß er sich wie sein Cousin und sein Bruder mit Hilfe einer Salbe, die er von seinen Eltern bekommen habe, in einen Wolf verwandeln könne. Er gestand, daß er den Jungen überfallen und erdrosselt hätte, um sich zusammen mit den zwei Wölfen, bei denen es sich um Julien und Jean handelte, über ihn herzumachen und sich an seinem Fleisch zu laben, woraufhin der Lieutenant criminel den vermeindlichen Werwolf zum Tode verurteilte. Doch das Parlament in Paris hob dieses Urteil später auf, da der Richter, der den Fall in der von Jacques Rollet erbetenen Berufungsverhandlung behandelte, nicht davon überzeugt war, es mit einem Werwolf zu tun zu haben, weil sich herausstellte, daß Rollet bereits zwei Wochen vor seiner Festnahme von Zuhause fortgelaufen war und sich seitdem in den Wäldern aufhielt, wo es wenig zu essen gab. Der Richter argumentierte, daß in Wahrheit wohl die flüchtenden Wölfe den Fünfzehnjährigen gerissen hatten und Rollet sich vor Hunger an dem bereits Toten verging, und erklärte, daß »weitaus
mehr Tollheit in dem armen Idioten stecken würde als Bosheit und Zauberei«. Er ordnete an, Rollet für mehrere Jahre in einer Irrenanstalt unterzubringen, »damit er unterrichtet und zur Erkenntnis Gottes zurückgeführt werde, die er in seiner großen und bitteren Armut außer Acht gelassen habe«. Ohne Zweifel wäre dieses Vorgehen auch bei anderen vermeindlichen Werwölfen, die zu jener Zeit ihr »Unwesen« trieben, angebrachter gewesen als der Scheiterhaufen. Wesentlich rätselhafter als die Fälle Garnier und Rollet, die sich mit der psychischen Instabilität der selbsternannten Werwölfe erklären lassen, ist die Geschichte des dreizehnjährigen Knaben Jean Grenier, der sich im Jahre 1603 vor dem Parlament von Bordeaux unter dem Vorsitz des damaligen Präsidenten Daffis dafür verantworten mußte, mindestens fünf Kinder aus der Gegend des Ortes Paulot getötet zu haben. Dabei war Grenier lediglich deshalb festgenommen worden, weil er ein junges Mädchen namens Marguerite Poirier, mit dem zusammen er das Vieh seines Herrn Peter Combaut hütete, angegriffen hatte. Doch als Grenier, der wie Jacques Rollet »einigermaßen stumpfsinnig« war und zudem über eine ausgeprägte »Hundephysiognomie« verfügte, in der Haft zu dem Vorfall befragt wurde, berichtete er dem fassungslosen Richter voller Stolz, daß er das Mädchen gefressen hätte, wenn es Marguerite Poirier nicht gelungen wäre, ihn mit dem Hirtenstab zu vertreiben. Außerdem erklärte er, daß er von einem Mann mit dem Namen Pierre Labourant im Tausch gegen seine Seele ein Wolfsfell und eine magische Salbe bekommen hätte, die es ihm ermöglichten, sich in einen Wolf zu verwandeln. Grenier gab an, den Zauber bereits nach wenigen Tagen beherrscht und danach in Wolfsgestalt fünf Kinder gerissen zu haben, die sich allein auf den Feldern aufhielten. Bestätigt wird dies durch die Aussage von Marguerite Poirier, die behauptete, daß Grenier, als er sie angriff, auf alle Viere niedergesunken und »dünn und knochig« geworden sei. Seine Zähne hätten zwischen seinen Lippen hervorgeragt, und sein Gesicht wäre »lang und haarig« gewesen. Alles in allem, so das Mädchen, sah Grenier aus wie ein großer Wolf.
Gestützt wurden ihre Worte von den Eltern eines der Opfer, die behaupteten, ihr Kind sei von einem Werwolf geholt worden. Aber wie bei Jacques Rollet ließ der Richter Gnade vor Recht ergehen und verzichtete darauf, Grenier wegen Mordes zum Tode auf dem Scheiterhaufen zu verurteilen. Statt dessen wurde Grenier mit der Drohung, sofort hingerichtet zu werden, sollte er versuchen zu flüchten, in einem Kloster in Bordeaux untergebracht, um den Mönchen für den Rest seines Lebens zu Diensten zu sein. Als Pierre de Lancre den »Werwolf« 1610 besuchte, verriet Grenier ihm, daß er noch immer große Lust verspüren würde, das Fleisch von Kindern zu essen, besonders das von jungen Mädchen, das ein »wahrer Leckerbissen« sei. Noch im selben Jahr starb Grenier, der sich trotz seines offensichtlichen Hangs zum Kannibalismus für seine Taten schämte und angeblich niemandem in die Augen zu sehen wagte, unter der Obhut der Klosterbrüder. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, daß die Geschichte, die Jean Grenier bei seiner Vernehmung erzählte, große Ähnlichkeit mit dem Fall des Jacques Rollet aufweist, der ebenfalls angab, sich mit Hilfe einer bestimmten Salbe in einen Wolf verwandeln zu können. Doch obgleich die Fälle sich beide in Frankreich ereigneten und zeitlich nur wenige Jahre auseinanderlagen, ist es unwahrscheinlich, daß Grenier Rollets Aussage »plagiierte«. Vielmehr gehört jene mysteriöse Salbe, die wahlweise aus Eisenkraut oder Binsen besteht, dem Volksglauben nach seit jeher zu den Utensilien, mittels derer man seine Menschlichkeit ablegen und die Gestalt eines Wolfes annehmen kann. Dieselbe Wirkung sollen ein Ring aus – vorzugsweise von einem Selbstmörder oder Ermordeten stammender – Menschenhaut, durch welchen man dreimal kriechen muß, sowie ein Gürtel oder ein Wolfsfell besitzen, das man sich überwirft, um die Metamorphose einzuleiten. Vorwiegend in den skandinavischen Ländern glaubte man außerdem, daß gewisse Umstände bei der Geburt den »Werwolfkeim« in das Baby pflanzen würden. Wenn beispielsweise eine Schwangere
durch die Eihülle eines Fohlens kroch, empfand sie beim Gebären zwar keinerlei Schmerz, nahm dafür aber in Kauf, daß sich das Kind, sobald es erwachsen wurde, fast jede Nacht in einen Werwolf verwandelte, um über schwangere Frauen herzufallen. Die Vorstellung, daß ein Lykanthrop seine Krankheit – denn als solche wird Lykanthropie allgemein betrachtet – ähnlich einem Vampir durch eine Wunde, die er einem Menschen zufügt, an sein Opfer weitergibt, stammt jedoch aus Hollywood, das die Gestalt des Werwolfs mit Filmen wie George Waggners »The Wolf Man« (1941) mit Lon Chaney, Jr. und »Frankenstein Meets the Wolf Man« (1943) von Roy William Neill populär machte. Dasselbe gilt für den »Irrglauben«, daß sich Werwölfe lediglich bei Vollmond in reißende Bestien verwandeln können. Auch heute noch ist der Glaube an Werwölfe auf der ganzen Welt verbreitet, genährt von den vielen Horrorfilmen und -romanen, die sich dieses Themas im Laufe des 20. Jahrhunderts angenommen haben. Als 1925 in dem Städtchen Uttenheim bei Straßburg ein Polizist einen Jugendlichen erschoß, weil er ihn für einen Werwolf hielt, stellte sich beinahe die gesamte Bevölkerung hinter den Ordnungshüter. Im Jahre 1957 bekam die Polizei in Singapur offiziell den Auftrag, vermeindliche Lykanthropen-Angriffe auf die Schwestern eines Klosters zu untersuchen. Und 1975 gingen Berichte über einen Siebzehnjährigen aus Eccleshall, Staffordshire, durch die englische Presse, der davon überzeugt war, ein Werwolf zu sein, und sich ein Klappmesser ins Herz stieß, damit er seinen Mitmenschen nichts Böses tat. Der Umstand, daß in den Vereinigten Staaten ein Reservat der Navajo-Indianer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zeitlang von einer Bestie heimgesucht wurde, die die Navajos, deren Kultur reich an Sagen über Lykanthropen ist, allgemein als Werwolf betrachteten, mag die Schöpfer der »X-Files« zu der Episode »Shapes« inspiriert haben, in der Mulder und Scully in einem Reservat der Trego-Indianer in Montana einem vermeindlichen indianischen Werwolf nachspüren.
Obgleich, wie eingangs erwähnt, trotz intensiver Forschung nach wie vor mehr oder weniger im Dunkeln liegt, wie der Mythos des Werwolfs entstand, ist die wahrscheinlichste Möglichkeit hierfür wie bei den Vampiren vermutlich eine seltene Erbkrankheit, die Porphyrie, die auf die vermehrte Bildung und Ausscheidung von Porphyrinen zurückgeführt wird, also bestimmter Naturfarbstoffe, zu denen unter anderem die Farbkomponenten des Blutes und bestimmter Enzyme wie Zytochrome und Peroxidasen gehören. Porphyriker haben eine gelbliche, häufig stark beharrte Haut, die mitunter sehr lichtempfindlich sein kann, so daß Erkrankte sich nur im Dunkeln frei bewegen können, um keine Gewebeschäden zu riskieren. Zudem werden ihre Hände und Füße von Geschwüren derart deformiert, daß sie mitunter wie Pfoten wirken. Außerdem können durch Pigmente verursachte Verfärbungen der Pupillen und der Zähne auftreten. Anfang des Jahrhunderts wurden Porphyriker wie der »hundegesichtige Jojo« in den Kuriositätenkabinetts und Freakshows vor allen in den Vereinigten Staaten öffentlich zur Schau gestellt. In diesen bedauernswerten Menschen Werwölfe zu sehen, ist aufgrund ihrer Erscheinung nicht sonderlich schwer. Es ist also durchaus vorstellbar, daß der Lykanthropen-Mythos im Endeffekt auf nichts weiter als der Fehldeutung einer damals zweifellos noch unbekannten Stoffwechselkrankheit basiert. Carter Jackson
Der 30jährige Krieg Im Jahr 1617 wird Erzherzog Ferdinand von Habsburg ohne Zustimmung der böhmischen Stände König. Um seine Position zu festigen, steht er zunächst zum Majestätsbrief von 1609 und bestätigt ihn. Aber schon bald darauf erweist er sich als unnachgiebiger Gegenreformator. Am 23. Mai 1618 wird die Prager Burg durch die böhmischen Stände besetzt. Der Konflikt entzündet sich an Versuchen der katholischen Liga, das durch den Majestätsbrief garantierte Recht des freien Kirchenbaus und andere Privilegien zu brechen. Nachdem die protestantischen Ständevertreter gegen dieses Vorgehen zum Widerstand aufgerufen haben, ziehen sie, begleitet von einer großen Menge Sympathisanten, zur Prager Burg. Die Habsburger Statthalter Martinic und Slavata, zwei besonders verhaßte Repräsentanten der katholischen Partei, werden aus einem Fenster geworfen. Dieser Vorfall, bekannt als »Prager Fenstersturz«, ist zugleich Auslöser des Dreißigjährigen Kriegs, der sich in mehrere Kriege unterteilt. Zeittafel 1618 – 1623: Böhmisch-pfälzischer Krieg. 1619: Die böhmischen Stände erklären Ferdinand II. für abgesetzt und wählen Friedrich V. von der Pfalz zu ihrem König. 1620: Am 8. November wird das Heer der böhmischen Stände von der katholischen Liga Ferdinands II. in der Schlacht am weißen Berg bei Prag besiegt. Friedrich, auch als »Winterkönig« apostrophiert, flieht nach Holland. 1621: Am 21. Juni werden auf dem Altstädter Ring die 27 Anführer der böhmischen Stände auf Befehl Ferdinands II. brutal gefoltert und öffentlich hingerichtet. Ihr Besitz, wie der von 150.000 protes-
tantischen Emigranten aus ganz Böhmen, wird beschlagnahmt und verteilt, wodurch neue Adlige zu Macht und Reichtum kommen, beispielsweise die Familien Waldstein, Cernin und Fürstenberg. Auch die Kirche geht nicht leer aus. Ferdinand II. vernichtet öffentlich den Majestätsbrief. 1625 – 1629: Dänisch-niedersächsischer Krieg. 1626: Sieg der katholischen Liga über König Christian IV. von Dänemark; Tilly und Wallenstein erobern Norddeutschland für die Liga. 1627: Eine erneuerte Landesordnung erklärt den Katholizismus zur alleinigen Religion und Böhmen zum Erbe Habsburgs. 1629: Restitutionsedikt: Protestanten müssen Kirchengüter zurückgeben. Die Oberschicht sowie das aufsteigende Bürgertum beginnt sich österreichisch zu orientieren (Voraussetzung für Karrieren waren katholische Konfession und deutsche Sprache). Schon jetzt zeichnet sich ab, daß der Dreißigjährige Krieg für Böhmen verheerende Folgen hat. Die Prager Bevölkerung schrumpft bis zum Ende des Kriegs auf die Hälfte, Wirtschaft und Handel sinken auf ein Minimum. Einzig die im Rahmen der Rekatholisierung vorangetriebene Barockisierung von Sakral- und Profanbauten erlebt eine Blüte. 1630 – 1635: Schwedischer Krieg. 1631: Gustav Adolf von Schweden schlägt Tilly. 1632: Anfang November Sieg der Schweden bei Lützen, Gustav Adolf aber findet den Tod. 1635: Friede zwischen Kaiser und Sachen; schwedisch-französischer Krieg. 1635 – 1648: Bündnis zwischen Schweden und Frankreich; der unentschiedene Kampf führt zu Friedensverhandlungen (Osnabrück mit Schweden, Münster mit Frankreich). 1648: Die Prager Burg und die Kleinseite werden zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs von den Schweden besetzt; diese können jedoch die Altstadt nicht einnehmen, da sie von den Prager Studenten auf der Karlsbrücke zurückgeschlagen werden. Es kommt zum
Westfälischen Frieden. Die Bilanz dieses Krieges, der insgesamt dreißig Jahre dauerte: totale Verwüstung und Verarmung Deutschlands, Schwächung von Kaiser und Reich, aber Stärkung der fürstlichen Souveränität. Truppen jeglicher Couleur haben in den fruchtbaren Landstrichen Böhmens und Mährens fürchterlich gewütet. Später werden die hohen Verluste in der tschechischen Bevölkerung durch den Zugang deutscher Einwanderer wieder ausgeglichen. Ingesamt verliert die böhmische Krone ungefähr ein Drittel ihrer Untertanen – nicht nur durch den Kriegstod, auch durch verschiedene Pestwellen und Vertreibung. 1650 wird das Land von einer großen Hungersnot heimgesucht, die ihre Wurzeln durchaus in den Zerstörungen des zurückliegenden Krieges hat. In den Städten macht sich der Einwohnerschwund am kraßesten bemerkbar: In Prag stehen noch 1656 die Hälfte aller Wohnungen leer …
Der Hort der Wächter von Timothy Stahl Es heißt, alle Wege führten nach Rom. Auch für Lilith und Landru trifft dies – beinahe – zu. An einem Ort nördlich der Ewigen Stadt treffen die beiden Erzfeinde abermals aufeinander: beim Kloster Monte Carnago, einem der vielleicht mysteriösesten, gewiß aber gefährlichsten Orte der Welt. Denn hier befindet sich das Tor. Und hier schlägt das Wesen zu, das im Körper eines Kindes wohnt und nur im Traum sein wahres Aussehen offenbart. Es will die Schlösser des Tores sprengen, den Weg öffnen in eine Welt, die keines Menschen Auge je geschaut hat. Sollte es ihm gelingen, steht die Menschheit an ihrem Wendepunkt …