WILSON TUCKER
Die Zeitbombe
MOEWIG-VERLAG • MÜNCHEN
Originaltitel: TIME BOMB Aus dem Amerikanischen übertragen von ...
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WILSON TUCKER
Die Zeitbombe
MOEWIG-VERLAG • MÜNCHEN
Originaltitel: TIME BOMB Aus dem Amerikanischen übertragen von Peter Mathys
Ein deutscher Erstdruck
TERRA-Sonderbände erscheinen monatlich im Moewig-Verlag, München, 2, Türken-Straße 24, Postscheckkonto München 139 68. Erhältlich bei allen Zeitschriftenhandlungen – Preis je Band DM 1. – . Gesamtherstellung: Buchdruckerei Hieronymus Mühlberger, Augsburg. – Printed in Germany 1960. – Scan by Brrazo 03/2008. – Anzeigenverwaltung des Moewig-Verlags: Mannheim R3, 14. Zur Zeit ist Anzeigenpreisliste Nr. 4 gültig. – Für die Herausgabe und Auslieferung in Österreich verantwortlich: Farago & Co. Baden bei Wien. Dieser Band darf nicht in Leihbüchereien und Lesezirkeln geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden.
1. Kapitel Der Regen fiel in Strömen. In Springfield im Staate Illinois erschütterte eine ungeheure Explosion die Nacht. Der bedeckte Himmel erhellte sich im Widerschein der Detonation und des darauffolgenden Feuers, und der Regen vermochte den entstandenen Brand nicht einzudämmen. Leutnant Danforth rollte im Moment der Explosion aus seinem Bett; es war eine Reflexbewegung, die ihn auf die Füße brachte, bevor er sich des Vorgefallenen vollständig bewußt geworden war. Er hielt sich am Bettrand fest und schüttelte sich benommen den Schlaf aus den Augen. Sein Kopf klärte sich ein wenig. In seiner lebhaften Phantasie stellte er sich den hellen Schein vor und vermeinte, die auf die Erde stürzenden Trümmerstücke sehen zu können. Etwas in ihm fragte sich, wie viele Personen wohl diesmal davon betroffen worden waren. Schwerfällig griff er nach seinen Kleidern und begann sich anzuziehen, und seine Stimmung war so schwarz und so verschwommen wie die Nacht. Das Radiophon auf dem Nachttischchen summte leise. Er griff nach dem Hörer. „Danforth“, meldete er sich. „Ich habe es gehört. Ich komme.“ „Viel Glück!“ sagte eine männliche Stimme am anderen Ende. Dann war die Verbindung unterbrochen. Danforth lauschte den Sirenen, die entfernt in der Nacht heulten; dann kam das etwas höhere Jaulen der Polizeisire4
nen. Viel Glück – für ihn! Sogar der Polizeifunker wußte alles und fühlte mit ihm! Die soeben erfolgte Explosion war die letzte für ihn; sie würde ihn und seine Gruppe erledigen. Ein Mann und eine Frau saßen in ihrem Wohnzimmer und spielten Schach. Nur ein Teil ihrer Aufmerksamkeit galt dem eingeschalteten Fernsehgerät, das an der gegenüberliegenden Wand schimmerte. „Du bist am Zug“, murmelte der Mann. Die Lautstärke des Fernsehgeräts war so schwach, daß die Stimme des Schauspielers nur mehr wie entferntes Bellen wirkte, und das geistlose Gelächter der Menge wie das Plätschern von Wellen am Strand. Sie schaute zufällig auf den Bildschirm. „Gilbert …“ Sie sahen schweigend zu, wie der Clown seine Szene spielte, in der eine Zeitmaschine vorkam, und lauschten dem antwortenden Lachen der Zuschauer im Saal. Künstliches Gelächter war der übertragenen Sendung von den Technikern beigefügt worden, um die Zuschauer an den Fernsehempfängern tiefer zu beeindrucken. Gilberts Abscheu kam in seiner Stimme klar zum Ausdruck. „Und dafür bekommt der Kerl Geld!“ „Es wird ihm auch etliche Drohbriefe einbringen“, sagte seine Frau. „Er tut mir leid.“ Gilbert blickte wieder auf den Schirm und lachte vor sich hin. „Wenn Wünsche töten könnten …“ Seine Frau nickte. „Genau das meine ich. Deshalb tut er mir auch leid. Vielleicht können sie es eines Tages tatsächlich, erreichen ihn dort auf der Bühne und bringen ihn um. 5
Und er wird sterben wie ein Narr, während der Schuldige entkommt.“ „Shirley, du liest in meinen Gedanken! Ich dachte soeben auch an das. Es war ein aufgelegter Schwindel, ein Köder.“ „Köder“, wiederholte sie. „Köder, ausgelegt von geheimnisvollen Männern, die sich irgendwo verbergen.“ „Ach ja“, sann Gilbert vor sich hin. „Das geheimnisumwobene kleine Männchen, das im Hintergrund lauert und es auf Narren wie ihn abgesehen hat.“ Er nickte gegen den Bildschirm zu. „Die Welt läuft über vor dunklen Verschwörungen und finstern Winkelzügen. – Wohin mit der Menschheit?“ „Es ist meine Menschheit“, erklärte seine Frau, „und ich liebe sie! Sei nicht so überlegen, sonst melde ich der Öffentlichkeit, daß du nicht menschlich bist.“ Gilbert Nash lachte und streckte den Arm über das Schachbrett, um seiner Frau einen leichten Klaps zu versetzen. „Man wird dich mit aufhängen, Mitverschwörer!“ * Leutnant Danforth von der Abteilung für Bombenattentate stieß die Tür zu seinem Dienstraum auf und durchschritt ihn, ohne das Licht anzudrehen. Die Dunkelheit war ihm erwünscht und willkommen. Er ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen und starrte auf den rechteckigen Flecken Nachthimmel, der durch das Fenster sichtbar wurde. Langsam streckte er eine Hand aus und drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch nieder. 6
„Hier Danforth“, sagte er laut. Eine körperlose Stimme schien ihm aus der Luft über dem Schreibtisch zu antworten. Es war die Stimme des Nachrichtenoffiziers, die er vor einer Weile über sein Radiophon vernommen hatte. „Immer dasselbe, Leutnant. Zerstörung vollkommen, wie üblich; Ursache unbekannt, auch wie üblich. Vor siebzehn Minuten in South Kingman Nr. 205. Sie wissen, wer dort wohnte.“ Die Stimme tönte flach und interesselos. „Es wird nach Überlebenden gesucht.“ Danforth schloß die Augen in innerem Schmerz. Er wußte, wer dort lebte – gelebt hatte, bis vor siebzehn Minuten. Simon Oliver, Staatssekretär; Simon Oliver, der große Parteibonze. „Haben Sie den Captain benachrichtigt?“ „Nein. Ich kann ihn nicht auffinden. Er ist weder in seinem Büro noch bei sich zu Hause. Daher rief ich Sie an.“ „In Ordnung. Ich übernehme den Fall, bis Sie ihn ausfindig gemacht haben. Sonst alles wie üblich?“ „Ja. Ein Stadtpolizist machte die Meldung. Er war gerade auf seiner Runde, ungefähr drei Häuserblöcke von der Unglücksstelle entfernt, als es geschah. Er fand ein Liebespaar auf der Straße, beide von den Trümmern verletzt. Sie sagen, der Mann hätte das Mädchen heimbegleiten wollen.“ „Im Regen?“ „Sie behaupten es. Sie befinden sich jetzt im Memorial Hospital unter Bewachung. Der Polizist rief die Brandwache herbei, erst dann seine eigenen Vorgesetzten. Diese schickten dann einen Krankenwagen und benachrichtigten 7
danach uns. Drei Mann und die Photographen brachen hier vor neun Minuten auf. Ich habe für Sie einen Wagen bereitstellen lassen.“ „In Ordnung“, wiederholte Danforth niedergeschlagen. „Ich komme sofort.“ Er unterbrach die Verbindung. Zögern und Dunkelheit lasteten in dem Raum, bevor er den zweiten Knopf niederdrückte. Er fuhr sich durch das kurzgeschnittene Haar und versuchte, seine Stimme so unpersönlich klingen zu lassen wie die soeben vernommene. „Mr. Ramsey: ein weiteres Attentat, vor siebzehneinhalb Minuten in South Kingman Nr. 205. Simon Oliver, Staatssekretär. Vollkommene Zerstörung, Ursache unbekannt – wie immer. Suche nach Überlebenden eingeleitet.“ Er sprach, als säße ihm der andere Mann am Schreibtisch gegenüber. „Captain Redmon kann nicht erreicht werden, und so habe bis auf weiteres ich das Kommando übernommen. Spezialisten und Kameraleute befinden sich bereits am Tatort. Ich selber fahre jetzt gleich hin und bringe Ihnen die Abzüge, sobald sie bereit sind. Irgendwelche sonstigen Befehle?“ Die körperlose Stimme Mr. Ramseys enthielt einen eigenartigen, klangvollen Unterton und wirkte irgendwie beruhigend. „Leutnant!“ „Ja?“ „Sagen Sie vorläufig nichts, bis wir die Abzüge haben. Captain Redmon war in jenem Haus!“ Danforth preßte vor Überraschung seine Lippen aufeinander. 8
Der Tod seines Vorgesetzten machte ihn automatisch zum Leiter der Spezialgruppe für Bombenattentate. Eine zweifelhafte Ehre. Er erkannte, daß seine neue Führerstellung von sehr kurzer Dauer sein würde. Vielleicht bis zum Sonnenaufgang morgen früh – höchstens. Und dann würde er auf der Straße stehen, ein Opfer von verängstigten Parteiführern. Aber Captain Redmon war tot! Simon Oliver war ein wichtiger Parteifunktionär gewesen und bekannt dafür, sich strikt an die Parteilinie zu halten; es war daher völlig ungefährlich, von ihm eine Abendeinladung anzunehmen. Außerdem war es ein ausgezeichnetes Aushängeschild gewesen, einen Captain der Spezialgruppe zur Beobachtung einzuladen. Mr. Ramseys Stimme unterbrach Danforths Gedankenflug. „Das ist soweit alles, Leutnant.“ „Jawohl, Sir“, erwiderte Danforth und schaltete ab. Er saß einen Moment lang in nachdenklichem Schweigen da. Es war eine geschichtliche Tatsache, daß das Zeitalter des Reisens durch die Zeit noch nicht begonnen hatte. Aber es stand kurz bevor. Es war sogar so nahe, daß die Menschen bereits Witze darüber machten oder Protestschriften dagegen abfaßten. Informierende Anzeigen, die die Zeitreisen rühmten und deren verlockende Aussichten verkündeten, erschienen bereits in den öffentlichen Blättern. Wochenmagazine und Sonntagsausgaben pflegten Sonderbeilagen darüber zu bringen, und beigefügte Illustrationen stellten die Maschine als Kiste, als Fahrrad oder glockenförmig dar. Spaßmacher spotteten darüber, und viele Ta9
geszeitungen brachten den Roman „Die Zeitmaschine“ von Wells in Fortsetzungen. Eine englische Firma glaubte das erste Modell in etwa fünf Jahren auf den Markt bringen zu können, und die Polizeiorgane überall hofften, es wäre erst in fünfhundert so weit. Die Einwohner der Stadt, in der die Firma ihren Sitz hatte, behaupteten steif und fest, daß hohe Angestellte jener Firma bereits ein fertiges Versuchsmodell hätten und damit weiß der Teufel wohin reisten. Andere wieder meinten, daß, wenn Gott gewollt hätte, daß die Menschen auf diese Weise reisten, er es ihnen auch ermöglicht hätte, rückwärts zu leben. Auf das Drängen des Militärs hin stellte die Regierung eine Abteilung Beobachter in der Fabrik auf, und eine rechtliche Streitfrage entstand über das Problem, wem überhaupt das Recht zustehe, eine Zeitmaschine zu bauen. Aber jedermann war froh darüber, daß die Telepathie vor dem Zeitreisen aufgekommen war. Wäre es umgekehrt gewesen, hätte wohl auch die beste Polizeiorganisation nicht das entstehende Chaos bekämpfen können. Das Geheimnis der Zeitreise – in die richtigen Hände gegeben – könnte und würde jedes Nest des Verbrechens aufdecken; in falschen Händen jedoch … So hatte sich die Polizei in weiser Voraussicht jeden bekannten Telepathen gesichert und ausgebildet und bereitete sich auf den Tag vor, an dem ein neues Verkehrsmittel in die Mode kommen würde. Die Telepathen waren im allgemeinen nicht beliebt und fanden es schwierig, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Die Sicherheitspolizei von Illinois besaß einen Telepathen. 10
Mr. Ramsey. Leutnant Danforth rieb sich die Handflächen an seinen Hosenbeinen, stand auf und ging zur Tür. Die Stadtpolizei hatte die Unglücksstätte abgesperrt und hielt damit eine beträchtliche Menschenmenge zurück, die sich trotz des Regens ansammelte. Leutnant Danforth verließ seinen Wagen und bückte sich unter den Seilen der Absperrung durch, um sich seinen Weg durch ein Gewirr von Feuerwehrschläuchen zu bahnen. Der Sitz des Staatssekretärs war eine respektable Villa gewesen – mit ungefähr achtzehn bis zwanzig Räumen, vermutete Danforth. Er war nie im Inneren des Gebäudes gewesen und hätte auch nicht erwartet, es je zu betreten, wenn es weiterbestanden hätte. Er war kein fanatischer Mitläufer und auch kein Politiker. Simon Oliver und seine Partei bedeuteten ihm nichts. Jetzt waren die Trümmer von achtzehn oder zwanzig Räumen über eine weite Fläche verstreut. Einige der Trümmerstücke waren auf die Straße gefallen und andere lagen immer noch auf den Dächern der Nachbarhäuser. Feuerwahrleute richteten Leitern auf, um sie herunterzuholen. Alles in allem, so dachte Danforth, war es doch ein ziemlicher Aufwand. Er kletterte über die Bruchstücke auf das zu, was einst eine Ecke des Hauses gewesen war. Ein Photograph stand dort, einen schützenden Schirm über seine Chrono-Kamera haltend. Danforth fragte sich, ob die leise surrende Kamera ihren Zweck auch erfüllte. Niemand würde das sicher wissen, bis die Spule abgelaufen und in den Entwickler gelegt worden 11
war. Chrono-Kameras waren in der Theorie eine bemerkenswerte Einrichtung: man drehte eine Wählscheibe, stellte die richtigen Linsen ein und überließ den Rest der Kamera. Diese vermochte einige Minuten in die Vergangenheit zurückzugreifen und festzuhalten, was damals geschah. Wenn also der Fotograf die ungefähre Zeit der Explosion wußte und den Ort rasch genug erreicht hatte, konnte er seine Kamera einstellen und das Ereignis in einer Art rückwirkendem Effekt aufnehmen. Der Kameramann hörte ihn kommen und blickte sich um. „Hallo, Leutnant – Sie kommen spät!“ „Ich habe geschlafen“, erklärte Danforth. „Geschlafen? Zu dieser Zeit?“ Der Mann schaute auf seine Uhr. „Es muß schön sein; die Nacht hat ja kaum begonnen.“ „Sie begann für mich bei Sonnenuntergang; ich hatte es nötig. War die ganze letzte Nacht über auf.“ Der Kameramann grinste breit. „Die Angelegenheit im Kongreßbüro, wie? Ich habe heute morgen davon gehört. Ziemlich aufregend, was?“ „Aufregend“, bestätigte Danforth. „Wir kämmten das Gebäude von oben bis unten durch, fanden aber nirgends eine Bombe.“ „Ich hörte, es sei Feuer ausgebrochen.“ „Das kam später. Wir schickten die Leute hinaus, während wir suchten; es müssen über tausend gewesen sein. Wir fanden nichts. Dann gingen die Leute wieder hinein, und jemand steckte ihr Banner in Brand. Ich war immer noch dort. Mehr als tausend ,Söhne Amerikas’ hüpften auf12
geregt umher wie Maiskörner in einer Pfanne. Irgendjemand betätigte daraufhin die Alarmanlage, und die Feuerwehrleute setzten diesem Treffen ein Ende.“ „Ich möchte dabeigewesen sein!“ Er brach in ein bellendes Lachen aus. „Sie haben einen gehörigen Schreck nötig.“ „Sicher, aber lassen Sie das niemand hören.“ Der Leutnant schaute sich um. „Stellen sind heute rar.“ „Darauf können Sie wetten! Aber unter uns gesagt, Leutnant, ich habe noch keinen von Bens Anhängern gesehen, der nicht ein aufgeblasener Wicht gewesen wäre. Oder noch schlimmer. Meine Frau wollte mich vor ein paar Jahren bewegen, der Partei beizutreten, aber ich wollte nichts wissen davon.“ Er schüttelte den Kopf in entschlossener Ablehnung. „Sie dringen überall durch, sogar bei den vornehmen Leuten.“ „Gewiß. Bereits die Kinder tragen ihre Abzeichen: ,Ich bin für Ben, und mein Vater ist ein Sohn Amerikas.’ Wenn man nicht dazu gehört und seinen Kindern nicht eine Handvoll ihrer Abzeichen gibt, so grämen sie sich, weil alle anderen Kinder in der Straße eines haben. Dummköpfe!“ Danforth lächelte zustimmend. „Sie würden sich besser fühlen, wenn Sie letzte Nacht dabeigewesen wären. Auf dem Banner stand ,Wir sind für Ben, und Ben ist für uns.’ Aber Ben vermochte die Zusammenkunft trotzdem nicht zu retten.“ Der Kameramann schaute auf die Uhr und wischte einen Wassertropfen von seiner Kamera. „In sieben Minuten ist alles vorbei“, sagte er. 13
„Ich nehme die Kopien gleich mit.“ „Gut. Geben Sie uns eine Viertelstunde Zeit im Lastwagen, und Sie können das Zeug haben. Die fertige Arbeit wird am Morgen auf Ihrem Schreibtisch liegen –“ Er verstummte, um den Leutnant anzublicken, bemüht, seine aufkommende Verlegenheit zu unterdrücken. Danforth führte den Gedanken für ihn zu Ende. „Wenn ich am Morgen immer noch dort bin. Was ich bezweifle.“ „Tut mir verdammt leid, Leutnant.“ „Machen Sie sich keine Sorgen.“ Danforth ging mit einem Achselzucken darüber hinweg und beugte sich vor, um in die Linse der Kamera zu blicken. „Wenn ich am Morgen nicht da bin, geben Sie die Bilder Mr. Ramsey.“ Der Kameramann sprang auf. „Tun Sie das nicht, Leutnant! Ihr Atem wird sich an der Linse niederschlagen und sie verschleiern.“ Mit einem Stück Stoff seines Anzuges wischte er über das Glas. „Dieses Dreckwetter verpfuscht alles. Erwarten Sie nicht zu viel von den Bildern.“ „Schade.“ Der Kameramann befestigte den Schirm, drehte sich um und betrachtete das zerstörte Gebäude. „Leutnant, ich habe eine Theorie.“ Danforth lächelte kurz und bitter. „Jedermann hat eine. Wie lautet die Ihre?“ „Passen Sie auf: sechsmal ist dies jetzt bereits vorgefallen, nicht?“ „Sechsmal in sechs Wochen, ja. Zweimal in Chicago, einmal in Peoria und dreimal hier. Und wir suchen noch immer nach einer Gemeinsamkeit.“ „Richtig. Jetzt hören Sie zu: Jedesmal, als es geschah, 14
wurde ein wichtiger Parteifunktionär betroffen. Ob der Kerl nun eine Staatsstellung innehatte oder nicht, auf alle Fälle gehörte er zu den Anhängern Bens und nahm bei seinem Tod eine Menge Parteiangehörige mit sich. Das stimmt doch soweit?“ „Ja.“ „Gut, jetzt kommen wir darauf. Bens Anhänger sind jedesmal die Opfer. Und letzte Nacht löste jemand im Kongreßgebäude, wo die ,Söhne Amerikas’ ihr Treffen abhielten, eine Panik aus. Nur geschah nichts.“ „Paßt dies in Ihre Theorie hinein?“ „Gewiß. Dadurch wurde ein Notfall geschaffen, der eine Anzahl Parteigrößen dazu veranlaßte, sich heute hier in Simon Olivers Haus zu treffen. Und päng …! Eine vollkommene Arbeit, und immer dieselbe Ausgangslage; Bens Anhänger werden betroffen. Jemand haßt sie bis aufs Blut.“ „Viele Leute hassen sie. Aber fahren Sie weiter!“ „Nun, meine Lösung: Zeitreisende!“ Danforth runzelte die Stirn; er hatte das erwartet. „Es gibt keine Zeitmaschinen.“ „Es gibt“, beharrte der Photograph. „Geheim.“ „Wenn Zeitreisende existierten, wüßten es unsere Telepathen und könnten sie erwischen.“ Der Kameramann schüttelte den Kopf. „Nein. Sie haben einen Schutz. Etwas Neues vielleicht, ein elektronischer Abwehrstrahl. Sie können nicht aufgespürt werden.“ „Dann die Fabriken. Es gibt keine Zeitmaschinen in den Fabriken und Laboratorien, die unter Aufsicht der Bundesregierung stehen. Und vergessen Sie nicht, daß auch Bens Anhänger dort 15
arbeiten; diese würden eine derartige Maschine entdecken und die Neuigkeit nach Washington weiterleiten.“ „Diesmal nicht. Nach meiner Theorie wurde die Maschine im geheimen gebaut, und zwar von einem oder zwei Männern, die allein arbeiteten und nicht in diesen verdammten Labors. Der Bursche, der sie gebaut hat, will nicht, daß sie den Bundesbeamten in die Hände kommt und will vor allem nicht, daß sie Ben in die Finger kriegt. Aber er will an Bens Anhängern, vielleicht an Ben selber, Rache nehmen. Daher löscht er sie einen nach dem andern aus. Habe ich recht, Leutnant?“ Der Leutnant seufzte. „Wer bin ich, zu unterscheiden, ob Sie recht oder unrecht haben? Ich weiß es nicht, niemand scheint es zu wissen. Die Leute im Hauptquartier haben diese Theorie ebenfalls unter die Lupe genommen, oder jedenfalls eine, die ihr ähnlich lautet. Sie sind zu keinem lohnenswerten Entschluß gekommen. Und Mr. Ramsey sagt immer noch: nein!“ „Ein elektronischer Schutz könnte ihn täuschen“, erklärte der Kameramann mit Entschiedenheit. „Wenn Radiound Drahtfunkmitteilungen abgeschirmt werden können, so können es auch Gedanken. Der Schutz könnte beispielsweise im Hut oder in der Tasche getragen werden. Man könnte damit Mr. Ramsey bis auf drei Meter nahekommen, ohne daß er die geringste Kleinigkeit aus dem Gehirn zu entnehmen vermag.“ „Dieser Umstand wäre an sich schon verdächtig“, meinte Danforth. „Mr. Ramsey würde die Abwehrvorrichtung spüren und bis zu ihrem Träger zurück verfolgen. Seine Anwesenheit wäre damit verraten.“ 16
Der Kameramann stand schweigend da. Schließlich sagte er: „Daran habe ich nie gedacht.“ „Oh, das macht nichts. Ich leite Ihre Idee weiter. Jemand wird sich damit beschäftigen. Die Bundespolizei hat sich bereite für den Fall interessiert – für alle Fälle. Da Ben sich für die Wahl zum Vizepräsidenten aufstellen lassen will und seine Anhänger die Opfer sind, müssen sie sich dafür interessieren. Und wenn jemand heimlich eine Zeitmaschine gebaut hat, vermute ich, daß sie doch früher oder später entdeckt werden wird.“ Sie schauten schweigend zu, wie die Rettungsmannschaft die nutzlose Suche abbrach und zu ihren Ambulanzen zurückkehrte. Polizisten und Feuerwehrleute stocherten in den Trümmern herum, suchten nach nichts Bestimmtem, aber suchten, weil es von ihnen erwartet wurde. Der Regen klatschte auf das Schuttfeld nieder, und Dampf stieg davon auf. Wasser sammelte sich in Pfützen an, und der Geruch von Gas lag in der Luft. Danforth spreizte seine langen Beine, um gegen den Regen einen festeren Stand zu gewinnen. Er betrachtete das Bild vor seinen Augen mißmutig. – Die sechste Explosion. Und seine letzte! Es war immer der gleiche zerstörende Knall gewesen und immer nachts. Und jedesmal ohne den geringsten Anhaltspunkt zu einem Motiv. Sogar die Chrono-Kameras zeigten nichts. Immer nachts, wiederholte er für sich. Und was sonst noch? Es war jedesmal noch „etwas anderes“, aber er vermochte dieses andere nicht richtig zu identifizieren. Die „Söhne Amerikas“ schrien am lautesten und prügel17
ten die Sicherheitspolizisten wegen ihrer scheinbaren Untätigkeit durch. Sie verdächtigten die Kommunisten, die Republikaner, die Demokraten und verschonten die Prohibitionspartei nur aus Versehen. Sie hielten Massenzusammenkünfte ab, sandten Telegramme ins Weiße Haus und schrien protestierend nach Aktivität. Der Vorsteher eines Elektrikerverbandes in Illinois war das erste Opfer gewesen; er hatte das Amt des Schatzmeisters in der Bewegung bekleidet, die als „Söhne Amerikas“ bekannt war. Dann kam der Anführer der Nationalgarde von Illinois in seinem Hauptquartier in Peoria um. Zusammen mit ihm wurden eine Anzahl Militärpersonen und etliche Lastwagen erwischt. Das dritte Attentat in der dritten aufeinanderfolgenden Woche traf eine ganze Auswahl an bedeutenden Männern in Chicago, und hier wurde das Muster, nach dem bei den Anschlägen vorgegangen wurde, schmerzhaft klar. Damals auch erhoben die „Söhne Amerikas“ erstmals das große Zetergeschrei. Das vierte, fünfte und sechste Bombenattentat traf Springfield in der vierten, fünften und sechsten Woche und erledigte einen Senatsführer, den Besitzer eines Theaterkonzerns, einen Zeitungsverleger und schließlich den Staatssekretär Simon Oliver. Und nächste Woche? Danforth schüttelte den Kopf. Wer war der nächste große Parteimann, der das Opfer der unbekannten Attentäter wurde? Es brauchte nicht am gleichen Abend in der Woche zu sein, aber immer in der Nacht und immer – immer was? Da war es wieder. Ein weiteres Etwas, das hartnäckig in ihm rumorte. Danforth richtete sich gerade auf und starrte auf den 18
dampfenden Trümmerhaufen. Er drehte sich auf die Seite, um den Kameramann und seinen Regenschirm zu beobachten. Regen! Immer Regen! Jedes der sechs Attentate war in der Nacht geschehen, jedes folgte dem vorhergehenden in der nächsten Woche und jedes hatte sich in einer Regennacht ereignet. Nur in Regennächten! Was hatte dies zu bedeuten? * Der Kameramann beugte sich über den Apparat und brachte einen Verschluß über der Linse an. Dann drehte er den Motorschalter ab, bedeckte die Kamera mit einem Plastiküberzug und faltete den Regenschirm zusammen. Mit einer schrill klingenden Pfeife rief er die anderen Mitglieder seiner Mannschaft zusammen, nahm die Kamera und das Stativ auf und drehte sich zum Lastwagen um, der in der Kurve wartete. „Alles erledigt, Leutnant. Die Explosion ist vorbei.“ „Ich warte auf die Kopien“, sagte Danforth. „In einer Viertelstunde!“ versprach der Kameramann erneut. Danforth ging mit ihm bis zur Straße. Der Lastwagen diente als fahrendes Laboratorium und Dunkelkammer. Er wollte sich gerade auf einen nassen Kotflügel setzen, als ihn einer der Fotografen wegschickte. Die Chrono-Kamera war ein heikles Gerät, das eine vorsichtige Handhabung verlangte. Ihr Geheimnis lag in einer strahlungssicheren 19
Emulsion, die aber nicht – wie vielleicht erwartet – die Filme zerstörte. Und in einer besonderen Linsenanordnung in der Kamera selber. Sie fertigte nicht einfach Bilder von Objekten an, die vor ihr standen, sondern vermochte – unter günstigen Bedingungen – bis zu siebenundzwanzig Minuten in die Vergangenheit zurückzublicken. Wie manche andere revolutionäre Erfindung und Entdeckung früher, verursachte auch die Vervollkommnung der Chrono-Kamera einen Ausbruch von auseinandergehenden Meinungen. Nicht nur die berufsmäßigen Neuigkeitenjäger, sondern auch rückständige oder nachdenklich veranlagte Menschen sahen – oder vermeinten es wenigstens – den nächsten großen Schritt voraus: die wundervolle Zeitmaschine. Und so befand sich die zivilisierte Welt erneut auf einer verrückten Jagd, um der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen. Ein Team von Spezialisten hatte jahrelang daran gearbeitet, eine Kamera herzustellen, die in der Lage war, die unmittelbare Vergangenheit zu fotografieren, und jetzt traten ganz erstaunliche Erfolge zutage. Von der Polizei ausgebildete Telepathen suchten nach Zeitreisenden, während fortschrittliche Fabriken gleichzeitig ankündigten, sie wären drauf und dran, eine Zeitmaschine zu bauen. Und dieses offensichtliche Paradoxon war verwirrend. * Das Lichtsignal der Dunkelkammer blinkte auf, und die Hintertür wurde vorsichtig gegen den Regen geöffnet. Der Kameramann streckte seinen Kopf hinaus und überreichte Danforth eine runde Dose. 20
„Nichts Besonderes, Leutnant. Ich habe es Ihnen vorausgesagt.“ „Aber wenigstens etwas?“ „Sicher. Man kann Leute und Hunde erkennen. Und das Haus. Aber passen Sie auf die Explosion auf; sie verletzt die Augen, wenn man sie direkt durch den Projektor betrachtet.“ Danforth dachte darüber nach, auf die Dose in seiner Hand starrend. Dann blickte er dem Kameramann ins Gesicht. „Haben Sie einen Geigerzähler?“ „Einen Gei…“ Neugierige Verwunderung stand im Gesicht des Mannes. „Sicher. Wir haben einen, um den Zustand des Filmes zu überprüfen.“ „Leihen Sie mir ihn, bitte!“ „Leutnant, Sie glauben –“ „Egal, was ich glaube. Ich will sicher sein. Den Zähler, bitte.“ Der Kameramann gab ihm das Instrument, sprang aus dem Wagen und folgte Danforth über den Rasen zu den Ruinen des Hauses. Sie kletterten über den Rand das Fundamentes und erreichten das eigentliche Zentrum der Zerstörung. Danforth bückte sich und hielt das Gerät gegen die zerstörten Backsteine. Der Zähler begann langsam, aber gleichmäßig zu ticken. Die Strahlung war schwach. Die beiden Männer wechselten einen Blick. Der Kameramann sagte plötzlich: „Leutnant, es kann keine Atombombe gewesen sein. Nicht einmal eine Miniaturbombe, wie sie die Armee zum Spielen braucht! Sie hätte unsere Filme zerstört.“ 21
„Schauen Sie sich den Zähler an.“ „Ich sehe das, aber es ist zu schwach. Es kann keine Bombe gewesen sein – nicht so, wie Sie denken. Die bei einer Atomexplosion auftretende Strahlung hätte unseren Film durchlöchert. Es muß etwas anderes gewesen sein.“ „Etwas war es ganz gewiß.“ „Sicher. Vielleicht hatte der Staatssekretär eine Menge Leuchtuhren in seinem Haus, oder etwas Ähnliches. Aber es war keine Bombe, das können Sie mir glauben.“ Danforth erhob sich und gab den Geigerzähler dem Kameramann zurück; Sie schritten schweigend gegen die Straße zu, ohne den fallenden Regen zu beachten. Jetzt war ein weiterer scheinbar zusammenhangloser und verwirrender Umstand zu den früheren drei beizufügen: die Explosionen erfolgten nur einmal in der Woche, nur nachts, und nur wenn es regnete. Der neue, vierte Faktor war die Tatsache, daß die Trümmerstücke eine schwache radioaktive Strahlung aussandten. Eine schwache Strahlung, nicht einmal stark genug, um eine Gefahr darzustellen, aber doch zu stark, um natürlich zu sein. Die durchschnittliche Strahlung auf der Erde war zwar beträchtlich angestiegen, seit die Nationen begonnen hatten, Atombomben versuche durchzuführen; aber diese Strahlung hier überstieg dennoch die gegenwärtige Norm. Und er war schon lange genug Polizeioffizier, um zu wissen, daß scheinbar unzusammenhängende Tatsachen höchst selten nichts miteinander zu tun hatten. Sie verhüllten möglicherweise äußerst aufregende Zusammenhänge. „Nehmen Sie das mit ins Hauptquartier; geben Sie es Mr. Ramsey“, sagte Danforth. 22
„Gehen Sie nicht selber hin, Leutnant?“ „Nicht jetzt, nein. Wenn ich schon morgen ausgeschaltet werden soll, so sind da noch einige Dinge, die ich heute nacht erledigen muß.“ Er wich den Feuerwehrleuten aus, welche die Schläuche aufrollten, und kehrte zu seinem Wagen zurück. Dann nahm er das Radiophon von der Gabel. Die bekannte Stimme am anderen Ende sagte: „Hier Zentrale.“ „Danforth. Informieren Sie Mr. Ramsey und geben Sie es an alle Posten durch. Sämtliche kürzlich erfolgten Bombenattentate sind wie folgt auf ein gemeinsames Muster zu überprüfen: Erstens, sie erfolgen nur in regnerischen Nächten; zweitens, die Trümmer senden eine schwache radioaktive Strahlung aus, die immerhin beträchtlich über dem Durchschnitt liegt; drittens, die Explosionen kommen, wie bis jetzt festgestellt, nur einmal in der Woche vor. Weisen Sie alle Posten an, ihre Ergebnisse sofort zu melden, besonders diejenigen über die Strahlung.“ „In Ordnung, Leutnant.“ „Teilen Sie Mr. Ramsey außerdem mit, daß nicht ich mit den Bildern zurückkomme; die Kameramannschaft bringt sie. Ich gehe ins Memorial Hospital, um mit den beiden Verwundeten zu reden. Ende.“ 2. Kapitel Nur einige wenige Lichter kennzeichneten die dunkle Masse des Spitalgebäudes. Am entfernteren Nordende schimmerte das große Fenster eines Operationsraumes in blauweißer Helligkeit, und einige Lichter waren im ober23
sten Stockwerk in der Frauenabteilung zu sehen. Danforth parkte seinen Wagen auf dem für Ärzte reservierten Platz und schritt den Weg zur Empfangshalle entlang. Ein weißgekleidetes Mädchen saß dort auf einem Stuhl und las in einer Zeitschrift für Kinderpflege. „Hallo“, sagte der Leutnant. Sie lächelte ihn an. „Dritter Stock, Südflügel.“ „Wie bitte?“ „Wenn wir Patienten haben, die unter polizeilicher Bewachung stehen, weiß es immer das ganze Spital. Sie finden sie auf dem dritten Stockwerk im Südflügel.“ Sie blickte auf die Pfütze, die sich um seine Füße auf dem Boden bildete. „Sie können Ihren Hut und Regenmantel hierlassen, wenn Sie wollen.“ Sie schaute ihm zu, wie er die nassen Kleidungsstücke auszog und aufhängte. „Der Lift befindet sich in diesem Gang, gerade um die Ecke.“ „Danke“, sagte Danforth und nickte der Schwester zu. Dann nahm er den Lift ins dritte Stockwerk. Er verließ ihn und stand einer zweiten Schwester gegenüber, die hinter einem kleinen Schreibtisch saß und eifrig Spitalformulare ausfüllte. Sie blickte zu ihm auf, unterzog seine Uniform und seine nassen Schuhe einer raschen Musterung und wies mit ihrem Federhalter auf den schwachbeleuchteten Südkorridor. Ein Polizist der Stadtwache döste in einem Stuhl neben einer halboffenen Tür. Auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors, einige Türen weiter, saß eine Polizeibeamtin und blickte ihm entgegen. Danforth nickte ihr zu und berührte den dösenden Mann an der Schulter. Zusammen gingen sie hinein. 24
Danforth drehte das Licht an. Der junge Mann, der sich im Bett aufsetzte, war vollkommen wach. Er trug einen Verband um den Kopf und einen weiteren um die linke Wange. Er begrüßte sie alles andere als lächelnd. „Ein und aus“, beklagte er sich bitter. „Ein und aus, die ganze Nacht hindurch. Werdet ihr Kerle eigentlich nie müde?“ „Ach, hören Sie auf!“ knurrte der Stadtpolizist. Danforth machte eine vage Handbewegung. „Tut mir leid, aber es muß sein“, sagte er zu dem Mann im Bett. „Ich bin Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei. Ich habe einige Fragen an Sie zu richten.“ „Zum Teufel, sie haben alle einige Fragen …“ Er winkte resigniert ab. „Nun also. Was ist?“ „Wir wollen mit Ihrem Namen und Adresse beginnen und denjenigen der jungen Dame.“ „Aber ich habe ihnen all dies schon früher gesagt. Sie haben es alles aufgeschrieben.“ „Ich habe sie aber noch nicht. Ich war noch nie hier.“ Danforth bewahrte seine Ruhe. „Erzählen Sie.“ „Nun gut, also. Haben Sie eine Zigarette?“ Er behielt die Zigarette zwischen den Lippen, bis ihm der Leutnant Feuer gegeben hatte, dann legte er sie weg und sagte: „Mein Name ist Raymond Boggs. Ich habe ein möbliertes Zimmer in North Monument 1312. Ich arbeite bei Alton & Co.“ Er drehte sich um und richtete einen Blick auf den Polizisten. „Ich bin kein Radikaler und ich habe das verdammte Haus nicht in die Luft gesprengt. Was sonst noch?“ „Wissen Sie, wer es tat?“ „Nicht die Spur einer Idee.“ 25
„Das nahm ich auch nicht an“, murmelte Danforth. „Es geht nie so leicht. Wie ich hörte, begleiteten Sie die junge Dame vom Theater nach Hause. Im Regen?“ „Das stimmt.“ Er blickte Danforth mit grimmiger Entschlossenheit an, die einen Widerspruch geradezu herausforderte. „Im Regen. Zufällig gefällt uns das. Die Vorstellung war langweilig, und ich habe die abgerissenen Eintrittskarten noch in der Tasche und kann es beweisen. Wenn sie nicht jemand weggenommen hat!“ Er warf einen Blick auf den Polizisten der Stadtwache. „Tut nichts zur Sache; ich glaube Ihnen. Aber wieso im Regen? Und warum gerade diese Straße zu dieser Zeit?“ „Wir spazierten durch den Regen, weil wir das gerne haben.“ Boggs machte keine Anstalten, den Trotz in seiner Stimme zu verbergen. „Wir waren bloß um die falsche Zeit dort, weil wir eben das Theater verließen, als wir es taten und dort vorbeigingen, als es geschah.“ „Und warum gerade diese besondere Straße?“ „Weil es der beste Spazierweg zwischen der Stadt und der Stelle ist, wo sie den Bus nimmt.“ „Wohin fährt der Bus?“ fragte Danforth. „Zum See hinaus. Sie arbeitet dort als Dienstmädchen und bleibt auch über Nacht.“ „Zum See? Und wo war sie heute nacht?“ „Ich begleitete sie heim.“ „Und nachher?“ „Nachher wollte ich zur Arbeit gehen. Nachtschicht. Ich bin Bremser in Altons Fabrik.“ „Wie heißt das Mädchen?“ „Barbara Brooks. Und Sie lassen sie gefälligst in Ruhe! 26
Sie weiß nicht mehr über die ganze Angelegenheit als ich.“ „Sie wohnt am See?“ „Ja und nein. Meistens. Sie arbeitet unter der Woche an drei oder vier Stellen dort draußen, einmal bei der einen Familie, dann wieder bei der anderen.“ „Ich verstehe“, sagte Danforth. „Und sie bleibt jeweils über Nacht bei der betreffenden Familie?“ „Ja“ „Wo war sie heute nacht?“ „Der Name des Mannes ist Nash, Gilbert Nash. Ich weiß die Nummer nicht, aber ich kann das Haus auch im Dunkeln finden. – Aber hören Sie: Gehen Sie jetzt nicht dorthin und lassen den Teufel los! Sie könnte ihre Stelle verlieren.“ „Beruhigen Sie sich. Ich habe nicht die Absicht, den Teufel loszulassen. Der Teufel und ich vertragen uns nicht sehr gut“, fügte Danforth trocken hinzu. „Haben Sie die Leute in Kenntnis gesetzt?“ „Ich – d. h. die Wächterin – rief den Arbeitgeber an. Nash selber hat kein Telefon.“ „Ich werde sie benachrichtigen“, versprach Danforth, „wenn es die Polizei nicht schon getan hat. Jetzt, Boggs, nehmen Sie bitte Ihren Grips für einen Moment zusammen. Denken Sie ganz genau nach und sagen Sie mir, ob Sie irgendetwas Ungewöhnliches kurz vor de Explosion sahen oder hörten.“ Boggs grinste. „Sie scherzen wohl? Das Einzige, was ich sah um hörte, war Barbara.“ „Zweifellos. Aber versuchen Sie es trotzdem. Erinnern Sie sich noch an das Haus?“ 27
„Oh, ich weiß,, wo wir waren und ich kannte den Ort. Irgendein großes Tier wohnt dort. Hält sich ein Paar Doggen – und ich könnt sie bellen hören.“ „Bellten sie Ihretwegen?“ „Himmel, nein, sie waren einen halben Häuserblock von mir entfernt. Beim Haus oben, vermute ich. Aber sie vollführten eine Meng Lärm.“ „Hörten Sie jemand sprechen oder schreien?“ „Nein.“ „Nichts außer dem Gebell der Hunde?“ „Stimmt.“ „Haben Sie eine Idee, was sie zum Bellen veranlaßte?“ „Guter Gott, nein! Ich konnte sie nicht einmal sehen.“ „Waren andere Leute in der Nähe?“ „Niemand, den ich gesehen hätte.“ „Fahrzeuge?“ „Habe ich keine gesehen – aber wenn auch, ich schaute nicht hin.“ „Natürlich. Sie schauten Miss Brooks an.“ „Warten Sie, bis Sie sie sehen. Sie werden ebenfalls schauen!“ Danforth zog sich einen Stuhl von der Wand heran und setzte sich. Er schloß die Augen. „Nun, es tut mir leid, daß ich Sie gestört hab‹ Boggs. Ich danke Ihnen für die Mitarbeit. Ich hoffte, Sie würden mir etwas mitteilen können. Irgendetwas.“ „Nein, das ist wirklich alles, Leutnant. Als Sie so hereinkamen dachte ich, Sie würden so wie die anderen sein.“ Boggs warf eine raschen Blick auf den uniformierten Schutzmann im Hintergrund „Sie geben verdammt wenig 28
auf den Schlaf eines Mannes und sie denken, jedermann sei ein Lügner oder ein Betrüger. Beschuldigte mich sogar, ein Radikaler zu sein.“ „Nehmen Sie es den Männern nicht krumm; sie waren ziemlich aufgebracht. Sie haben über die Bombenanschläge gelesen?“ „Sicher. Die Anarchisten möglicherweise.“ „Vielleicht. Aber wir wissen wenig mehr darüber, als Sie in dieser Augenblick. Das ist der Grund, weshalb Sie jetzt die Zielscheibe alle Fragen sind. Sie hatten das Pech, in der Nähe der Unglücksstätte zu sein, als es geschah.“ „Das bedrückt mich, Leutnant. Zu all diesen Scherereien verliere ich noch einige Tage Arbeit. Und wir sparen, um heiraten zu können.“ „Ich werde bei ihr hineinschauen, bevor ich gehe.“ „Aber, Leutnant, gehen Sie schonend mit ihr um. Sie weiß nichts und die ganze Angelegenheit ist ihr zuwider.“ „Ich werde zuvorkommend und höflich sein.“ Danforth stand auf. „Gute Nacht.“ * Barbara Brooks war so, wie es Boggs vorausgesagt hatte. „Miss Brooks, ich bin Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei. Ich habe soeben mit Boggs über den Vorfall von heute nacht gesprochen.“ Danforth legte sich in Gedanken seinen Plan zurecht. Wenn sie die Antworten gehört hatte, die Boggs gegeben hatte, würde sie ihre eigenen danach zurechtschneiden. 29
Daher wiederholte er ihr leise und eindringlich alles, was ihm der Mann erzählt hatte und fragte sie daraufhin, ob sie etwas beizufügen habe. Das Mädchen schloß die Augen für lange Minuten. Als sie sie wieder öffnete, blickte sie dem Leutnant ins Gesicht. „Sie denken doch nicht, ich bilde mir etwas ein, Leutnant?“ „Bestimmt nicht! Was war es?“ „Ein Rauschen.“ Danforth runzelte die Stirn. „Rauschen?“ Sie nickte. „Leutnant, haben Sie je das Rauschen eines Schiffes vernommen, das sich im Wasser bewegt? Genau so war es.“ „Das Rauschen eines Schiffes?“ fragte er verständnislos. „Sie hörten heute nacht ein solches Rauschen?“ „Ja. Gerade bevor die Ziegel begannen, auf die Straße niederzufallen. Es war das Rauschen eines Schiffes, das durchs Wasser dahingleitet.“ „Es regnete“, erinnerte sich Danforth. „Könnte es nicht das Geräusch des fallenden Regens gewesen sein?“ „Nein. Ich hörte das auch. Aber das andere war ein Geräusch, das ich seit Jahren nicht mehr vernommen hatte.“ „Hörte es Boggs auch?“ „Kaum. Er hörte nicht hin.“ „Wo war das Rauschen? Hinter der Mauer? Können Sie mir den Ort beschreiben?“ „O nein.“ Sie schaute ihn an mit einem Ausdruck, der Verwirrung oder auch Verlegenheit bedeuten konnte. „Es war überall und nirgends. Es schien in der Luft rund um mich herum zu sein. Leutnant, einen Moment lang war es 30
so wirklich – nur einen Moment lang – daß ich mich nach dem Schiff umschaute.“ „Aber da war kein Schiff?“ sagte er daraufhin. „Nein“, stimmte sie zu. „Und bevor ich wußte, was geschah, begannen die Trümmer herunterzufallen, und – hier bin ich nun.“ Danforth seufzte und stand auf. Er vergrub die Hände in den Taschen und blickte auf sie hinunter. „Ja, hier sind Sie. Es ist ein ungemütlicher Abschluß eines netten Abends. Übrigens, ich versprach Boggs, ich würde Ihren Arbeitgeber benachrichtigen, diesen Mr. Nash. Wie es scheint, hat er kein Telefon.“ „Nein, er ist schrecklich altmodisch. Bitte sagen Sie den Leuten, daß es mir gut geht, Leutnant. Mrs. Nash wird sich furchtbar aufregen.“ „Ich will das tun“, versprach er. Er wußte nichts mehr zu sagen. Er zögerte noch einen Augenblick und sagte schließlich: „Gute Nacht.“ „Gute Nacht, Leutnant.“ Danforth fuhr mit dem Lift hinunter und holte sich seinen Hut und Regenmantel in der Empfangshalle. Während er zu seinem Wagen ging, hielt er plötzlich auf halbem Wege an und schaute in den Himmel. „Rauschen!“ sagte er laut. „Jetzt ist es ein Rauschen. Aber ich will verdammt sein, wenn ich das durchgebe!“ * Danforth grübelte weiter über das Problem nach, als er zum See hinunterfuhr. Der Betonbelag der Straße glitzerte vor 31
Nässe und reflektierte die Lichter entgegenkommender Wagen. Danforth blinzelte und behielt seine Geschwindigkeit bei. Die Anwesenheit der Polizeiwache im Spital verriet deutlich, daß die Stadtbehörden das junge Paar noch immer verdächtigten, aber Danforth war anderer Meinung. Er wußte in dieser Sekunde viel mehr über den Anschlag als die Stadtpolizei, und es gab nichts, weshalb man Boggs und das Mädchen für das Verbrechen hätte verantwortlich machen können. Das Mädchen hatte ein Geräusch in der Regennacht vernommen ein Rauschen, das an die Bewegung eines Schiffes im Wasser erinnerte Er bedauerte, daß sie bei dem Unglück verletzt worden war, aber er war froh, daß sie dabei gewesen war, denn jetzt vermochte er dei anwachsenden Liste einen weiteren Umstand beizufügen. Ausbildung und Erfahrung erforderten, daß alles fein säuberlich zusammengefügt wurde, und sein Fingerspitzengefühl verriet ihm, daß die Dinge die er bis jetzt kannte, miteinander verknüpft waren. Während er im Regen dahinfuhr, versuchte er die Ereignisse zu ordnen, sie in eine richtige zeitliche Aufeinanderfolge zu bringen. Ganz am Anfang stand ein Oppositionist namens Ben. Vor etwa zehn Jahren hatte er seine eigene Partei gegründet: die Söhne Amerikas. Seine Anhänger erhielten eine rasch steigernde Stimmenzahl, indem sie aktive Parteipropaganda betrieben und falsche Wahlurnen aufstellten an einigen Orten sogar unter Gewaltanwendung. Ben zog als Senator triumphierend in Washington ein. Und war immer noch dort. 32
Jetzt im kommenden November war der nächste große Schritt in der bewegten Karriere dieses Mannes. Am ersten Dienstag im nächsten November würden die Wähler von fünfzig vereinigten Staaten an die Urnen gehen und unter sechs politischen Parteien eine Wahl treffen: Republikanern, Demokraten, Söhnen Amerikas, Prohibitionisten, Vegetariern und Sozialisten, Ein Niemand namens Smith, der von Hawaii abgeordnet war, bewarb sich um die Präsidentschaft Amerikas, während sich Ben bescheiden mit dem Amt des Vizepräsidenten begnügte. Doch dadurch ließ sich keiner beirren; alle wußten, daß Ben dann nicht nur den Senat anführen würde, sondern Smith und das Weiße Haus dazu. Nichts schien ihn aufhalten zu können. An zweiter Stelle, und vielleicht gleichzeitig mit dem Erscheinen Bens auf der Bühne der Öffentlichkeit, kamen die Telepathen. Die Armee hatte einen von ihnen während des Zweiten Weltkrieges entdeckt und danach krampfhaft immer nach weiteren Ausschau gehalten; eine geheime Sicherheitsorganisation entdeckte auch kurz darauf wieder zwei bei Oak Ridge. Jetzt befanden sich etliche Telepathen in öffentlichen Diensten, meistens bei dar Polizei, dem Militär oder in diplomatischen Ämtern; es wunde jedoch vermutet, daß andere im Privatleben verborgen lebten und es auch zu bleiben beabsichtigten. Als Drittes im Ablauf der Dinge kam die Erfindung der Chrono-Kamera vor einigen Jahren, aber es erwies sich, daß sie der eigentliche Urheber von manchen der heutigen Schwierigkeiten war – Danforths persönliche Bürde eingerechnet. Die Kamera war als bedeutender Schritt vorwärts 33
im Fortschritt der Wissenschaft begrüßt worden, und ihre Erfinder waren die Helden des Tages. Irgendein Theoretiker brachte aber dann den schönen Plan in Verwirrung, als er die Idee der Zeitmaschine in den Vordergrund schob und erklärte, daß man sie aus dem Gebiet der Science Fiction in die Wirklichkeit herübernehmen und praktisch auswerten könne, wie schon manche andere Erfindung zuvor. Der Theoretiker hielt an seinem Gedanken fest, und auf einmal nahmen ihn die Zeitungen und Fernsehkomiker auf. Und so war der Wettstreit um den Bau der ersten Zeitmaschine in vollem Gange, mit all den Komplikationen, die dieser Wettstreit den Polizei-, Militär- und politischen Organisationen auf der Welt bereitete. Sie und ihre Telepathen schauten zu, während die breite Masse wartete. Dann, vor sechs Wochen, war eine Reihe von Bombenanschlägen gestartet worden, die systematisch eine politische Figur nach der anderen auslöschten – Männer, die eines gemeinsam hatten, ihre Zugehörigkeit zu den „Söhnen Amerikas“ und eine laute Zuneigung zu Ben. Das Motiv für die Attentate schien klar: Die Ausschaltung von Anhängern vor den Wahlen im November! Danforth war genau bei diesem Punkt hineingezogen worden. Und jetzt, heute nacht, schien die lange Kette von schwach miteinander zusammenhängenden Vorfällen ihren Höhepunkt in einem persönlichen Unheil zu finden. Sein vorgesetzter Offizier war tot, ein Opfer des letzten Attentates, und so war das Kommando an ihn übergegangen. Aber infolge des starken Druckes, der von politischer Seite und 34
auch von der Regierung aus auf die Sicherheitspolizei im allgemeinen und. auf seine Abteilung im besonderen ausgeübt wurde, konnte das Kommando im allerbesten Falle nur für einige wenige Stunden in seinen Händen bleiben. Und dann die Entlassung. Sein Leben und seine dienstliche Karriere waren noch bis vor sechs Wochen eine schön geordnete Angelegenheit gewesen, bis eines Tages ein Verrückter damit begonnen hatte, seine Feinde auszuradieren. Danforth begann damit, den Verrückten zu verfluchen und hörte damit auf, daß er hinter einem rücksichtslosen Fahrer herfluchte, der ihn beim Überholen schnitt und Schmutz und Wasser auf seine Windschutzscheibe spritzte. Als er sich dem See näherte, bog er in eine Asphaltstraße ein, die den Konturen des Ufers folgte. Er fuhr langsam dahin, bis im Licht seiner Scheinwerfer ein Briefkasten auftauchte. Er hielt an und leuchtete mit einer Taschenlampe zu dem Briefkasten hinüber. Er fand den Namen, den er suchte: Gilbert & Shirley Nash. Er parkte den Wagen und schritt in das Dunkel hinein, einem kleinen Weg folgend, der vom Briefkasten zum Haus führte. Danforth tastete am Hauseingang nach einer Glocke, als die Tür vor ihm plötzlich geöffnet wurde. Ein Mann stand dort. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte Danforth. „Ich fand die Klingel nicht.“ „Kommen Sie herein“, lud ihn Nash ein. „Ich hörte Sie den Weg heraufkommen.“ 35
Danforth fragte sich, ob das möglich sei. „Ich bin ziemlich naß“, wandte er ein. „Kommen Sie“, wiederholte Nash. „Wir besorgen das schon.“ Er hielt die Tür auf und trat zurück. Danforth ging hinein, dabei automatisch seinen Regenmantel ausziehend. „Ich bin Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei.“ Er übergab Nash den tropfenden Überzieher. „Ich dringe nicht gern einfach so bei Ihnen ein.“ „Gilbert Nash“, stellte sich Nash vor. „Meine Frau ist im anderen Zimmer. Ist etwas nicht in Ordnung?“ „Ja und nein. Nichts Schlimmes – nicht für Sie jedenfalls.“ Er biß sich auf die Lippen. So viel hatte er nicht zu sagen beabsichtigt. Nash entfernte sich von ihm, ein kleiner, schlanker Mann, der über seine Anwesenheit oder das, was er soeben gesagt hatte, nicht besonders beunruhigt schien. Danforth folgte ihm durch einen bogenförmigen Eingang ins angrenzende Zimmer und verglich das Verhalten des Mannes mit demjenigen der vielen Leute, die aufgeregt wurden, wenn unerwartet ein Polizist bei ihnen eintrat. Mit einem raschen und allumfassenden Blick übersah er den Raum; den dunklen, in die Wand eingebauten Fernsehempfänger, den hohen, gutgefüllten Bücherschrank, die übrigen Möbel, das Schachbrett am Boden und die anziehende Frau, die davor saß. Er stand still und nickte ihr zu, als Nash sie einander vorstellte. „Nehmen Sie Platz, Leutnant“, begrüßte sie ihn. „Trinken Sie etwas?“ „Nein danke, ich bin im Dienst.“ „Aber Kaffee?“ 36
„Gerne, ja, wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht.“ „Absolut nicht.“ Die Frau erhob sich und Danforth ertappte sich dabei, wie er ihre Figur musterte. „Ist etwas passiert?“ „Ja, Ihrem Mädchen, Barbara Brooks.“ Shirley Nash schrie auf, dann tat sie etwas Eigenartiges. Sie rannte durch das Zimmer und faßte ihn beim Handgelenk, um es mit einem festen, schmerzhaften Griff festzuhalten. Er war erstaunt. Die Frau löste ihren Griff. Sie öffnete ihre Augen und trat zurück, ihrem Mann einen Blick zuwerfend. Danforth sah das Stirnrunzeln des Mannes; dann betrachtete er den Eindruck ihrer Nägel auf der Haut. Sie waren tief eingedrungen. „Ich hole Ihren Kaffee“, sagte Shirley Nash, eine momentane Verwirrung verbergend. „Erzählen Sie Gilbert, was geschehen ist.“ Dann war sie aus dem Raum verschwunden. Danforth grinste hinter ihr her und wandte sich Nash wieder zu. „Entschuldigen Sie, daß ich es sage, aber das ist vielleicht eine Frau!“ „Ja“, sagte sein Gastgeber trocken. „Ich habe das bereits herausgefunden.“ Er wies dem Leutnant einen bequemen Sessel an und setzte sich daneben hin. „Nun, was ist geschahen?“ Danforth berichtete von dem nächtlichen Attentat und der Rolle, die das junge Paar zufälligerweise gespielt hatte. Er erwähnte auch, daß er gekommen sei, um die Botschaft zu überbringen, weil kein Telefon vorhanden sei, und um die Echtheit der Geschichte der beiden an Ort und Stelle 37
nachzuprüfen. Er beschränkte sich bei seinem Bericht vorsichtig auf die Tatsachen, die höchstwahrscheinlich auch in den Zeitungen erscheinen würden. Nash hörte bis zum Ende zu und nickte dann. „Sie können uns einen Gefallen tun, Leutnant, wenn Sie wollen. Wenn Sie in die Stadt zurückkehren, lassen Sie bitte beim Spital eine kurze Mitteilung zurück, daß wir Barbara am nächsten Morgen besuchen werden. Oh – und sagen Sie, daß ich die Rechnung übernehmen werde. Für beide. Krankenhäuser sind kleinlich in solchen Dingen.“ „Das stimmt. War wirklich Pech, daß die beiden dort waren. Ich nehme an, die Geschichte des Mädchens stimmt, soweit Sie sie jetzt wissen?“ „Ja.“ Nash nickte zustimmend. „Wenn Sie Referenzen über sie brauchen, so wenden Sie sich an mich. Was sie Ihnen erzählte, war äußerst ehrlich und aufrichtig.“ „Sagen Sie mir, ist sie schwermütig? Leidet sie unter Tagträumen? Oder Wahnvorstellungen?“ „Das wäre mir neu“, erklärte Nash. „Wie kommen Sie darauf? Wenn Sie es mir sagen wollen!“ „Barbara sagte, sie hätte ein Geräusch gehört. Einen Ton, wie von einem Schiffsbug, der durchs Wasser gleitet. Sie sagte, es sei so echt gewesen, daß sie sich nach dem Schiff umgeschaut habe. Und dann fiel ein Ziegel auf sie nieder.“ „Hm“, sagte Nash. „Verteufelt.“ „Wie bitte?“ „Ich versuche es mir gerade vorzustellen.“ „Ich auch.“ Danforth musterte die Zimmerdecke mit 38
schwachem Interesse und fragte sich, ob ihn sein Gesicht verraten würde. „Ich komme allmählich zum Schluß, daß sie es sich doch eingebildet hat.“ Nash grinste ihn an. „Wenn sie darauf besteht, ein Geräusch gehört zu haben, dann hat sie es auch.“ Er kratzte sich am Kopf und betrachtete den Leutnant spöttisch. „Es ist ein Problem. Haben Sie sonst noch jemanden ausfindig gemacht, der ähnliche Geräusche gehört hat? Bei den anderen Anschlägen?“ „Nein. Unglücklicherweise hat es bis heute noch keiner überlebt, so daß er hätte darüber sprechen können. Und sie ist lediglich noch am Leben, weil sie nicht näher beim Haus war.“ „Nun gut, dann habe ich eine Idee.“ „Ich höre“, sagte Danforth. „Finden Sie heraus, wer nächste Woche an der Reihe ist und senden Sie einen Mann hin, der genau aufpaßt und zuhört!“ Danforth starrte auf seine nassen Füße hinunter und dann zu Nash hinüber. „Es tut mir leid, aber ich finde die Geschichte gar nicht spaßig.“ „Ich spaße nicht, Leutnant, ich meine es ernst.“ Nash hielt eine Hand in die Höhe und spreizte die Finger. „Zählen Sie ab. Jetzt sind noch soundsoviele bedeutende Männer in Illinois am Leben. Und bis zur nächsten Woche wird sich eine ganze Menge von ihnen aus dem Staube gemacht haben, wenn sie schlau sind. Finden Sie heraus, wer übrig ist und heften Sie jedem einen Schatten an die Fersen. Erraten Sie, wer das nächste Opfer sein wird – das verlockendste Opfer – und setzen Sie zwei Schatten auf ihn. Las39
sen Sie sie genügend Abstand halten und vergewissern Sie sich, daß sie die Ohren offenhalten.“ „In Illinois?“ wiederholte Danforth verwundert. „Ja“, nickte Nash, den Offizier beobachtend. „Den Nachrichten zufolge ereigneten sich alle Attentate in diesem Staat: in Chicago, Peoria und hier. Es scheint mir, daß sich der Bursche aus irgendeinem unersichtlichen Grund auf das Gebiet hier beschränkt. Er geht nicht nach Indianapolis, sondern wartet, bis die Politiker von dort hierher kommen. Haben Sie Grenzpatrouillen aufgestellt, etwa um ihn aufzuhalten, seinen Wagen zu durchsuchen?“ „Nein.“ „Dann ist das nicht die gesuchte Antwort.“ Nash stützte das Kinn in seine Hand und schaute das Schachbrett an. „Dann würde ich eine andere geographische Begrenzung vorschlagen. Ich weiß jetzt zwar nicht gerade, was. Vielleicht wohnt er an einer Stelle, die von allen drei Städten gleichweit entfernt ist, zwischen ihnen also, sozusagen. Oder vielleicht lebt er in einer Stadt, von der aus ihm alle drei Orte leicht zugänglich sind, oder er nimmt sich einfach nicht die Mühe, sein Operationsgebiet auszudehnen; diese drei Städte kamen ihm gerade gelegen und jede enthielt ein ganzes Nest von politischen Opfern.“ „Dann sollte man meinen, daß Washington die geeignete Zielscheibe wäre“, warf Danforth ein. „Möglicherweise. Während der Amtsperiode, ja. Aber Bens wirkliche Stärke liegt hier im Land draußen; seine Anhänger befinden sich hier.“ Nash schüttelte den Kopf. „Nein. Meine Theorie ist die, daß der Mann hier lebt und 40
die drei Städte ausfindig gemacht hat, wo sich die meisten großen Tiere aufhalten.“ „Und er wird nächste Woche wieder losschlagen?“ „Wenn sich ihm eine Gelegenheit dazu bietet – gewiß.“ Danforth verfiel in Schweigen und dachte nach. Es war ein Irrtum, jetzt anzunehmen, das Muster sei klar. Es war noch immer undurchsichtig und verschwand zeitweise ganz. Eine Regennacht in der Woche, in oder um Mittelillinois, mit einem Rauschen und einer radioaktiven Strahlung. Aber was in dieser Kette von Umständen verursachte die Explosion einer Bombe? Eigenartigerweise, gegen seinen Willen, entstand in ihm der Gedanke an Zeitreisende. Shirley Nash betrat den Raum mit einer Kanne und mit Täßchen, die viel zu klein und zierlich waren, um einen richtigen Schluck Kaffee fassen zu können. Sie schenkte zuerst Danforth ein und zögerte einen Moment, als sie ihrem Gatten einschenkte. Schließlich setzte sie sich auf den Boden neben dem Schachbrett und füllte ihre eigene Tasse. Danforth hob die Tasse an seine Lippen, dann hielt er an und schnupperte. Der Kaffee enthielt Brandy. Shirley lachte über seinen Gesichtsausdruck. „Eine sehr nasse Nacht, Leutnant. Und Sie dürfen während Ihres Dienstes nicht trinken. Dies ist dann das Nächstbeste, nicht wahr?“ Er lachte und stimmte ihr zu. Während er an seinem Kaffee nippte und ihrem Geplauder zuhörte, dachte er über die eigenartige Weise nach, wie sie ihrem Mann eingeschenkt hatte. Nachdem sie Nash die kleine, dampfende Tasse gegeben hatte, hatte sie einen 41
Moment lang ihre Fingerspitzen auf seinen Handrücken gelegt. Und dann hatte sie sich von ihrem Gatten entfernt und sich gesetzt. Der Gesichtsausdruck von keinem der beiden versteckte eine Andeutung auf irgend etwas. Es war lediglich ein flüchtiger Kontakt gewesen, mehr nicht. Er ertappte sich dabei, wie er Shirley Nash anstarrte. Ihr Mann sagte: „Leutnant, warum halten Sie nicht einen Geigerzähler über die Trümmer des Hauses?“ 3. Kapitel Ein Mann mittleren Alters tastete ungeduldig seine Taschen nach seiner Tonpfeife ab. Nach einem Augenblick erinnerte er sich, daß er sie oben auf dem Schreibtisch gelassen hatte. Er stand noch einen Moment lang still und überlegte, weshalb er eigentlich heruntergekommen war. Eine magere, schwarze Katze strich ihm zwischen den Füßen umher. Oh, natürlich – die Wasserheizung war ausgegangen. Er kniete nieder, strich ein Zündholz an und tastete suchend im Innern des Ofens nach dem Anzünder. Mit einem dumpfen Geräusch erwachte er zum Leben. Der Mann stellte den Regler auf eine hohe Temperatur ein, blies das noch immer brennende Zündholz aus und schickte sich an, die Treppe hinaufzusteigen. Die Katze machte sich davon, und der Mann fuhr sich über sein Haar und ging hinauf, erneut geistesabwesend seine Taschen absuchend. Die Pfeife war dort, wo er sie gelassen hatte. Er dachte daran, den Stapel von Blaupausen wegzuräumen, der auf dem Schreibtisch lag. Er rollte sie zusammen, schob ein 42
Gummiband darum und warf das Bündel in eine Schublade. Wieder an der Tür, blickte er über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, daß der Fernseher ausgeschaltet war. Er ging in die Küche, schüttete ein wenig Milch in ein kleines Gefäß für die Katze. Dann setzte er sich und wartete, bis das Wasser für sein Bad heiß wurde. * Er war ein großer, schlanker Bursche; er war aus dem Geschäft hinausgeeilt und hatte ein leeres Taxi bestiegen, das am Ende der Straße parkte. Jetzt trieb er den Fahrer unablässig zu immer höherer Geschwindigkeit an, indem er dem Mann in seiner wachsenden Aufregung auf die Schultern hämmerte. Die normalerweise zwanzig Minuten dauernde Fahrt durch die Stadt wurde unter seinem fortwährenden Drängen in siebzehn Minuten bewältigt. Er war außerordentlich verängstigt, aufgeregt und furchtsam. Am Bestimmungsort angelangt, bezahlte er den Fahrer und rannte über einen weiten grünen Rasen auf den Seiteneingang eines unbeleuchteten, verschlossenen Hauses zu, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Er betrat das Haus mit einem Schlüssel. Im Innern erwartete ihn ein Mann ruhig in der Dunkelheit. Der Mann stellte ihm eine Frage. „Ja“, stammelte der magere und verängstigte Bursche, „ja, ja.“ Er streckte die Hand aus, erwartete Geld. Der Mann, der ihn gleichmütig erwartet hatte, zog eine 43
Pistole aus der Tasche und feuerte drei Schüsse in das schmale und schreckverzerrte Gesicht. Aus einer Entfernung von nur wenigen Metern schlugen die Kugeln in das Gesicht und rissen den ganzen Hinterteil des Kopfes weg. Der Schütze nahm den Schlüssel aus den leblosen Fingern und ging hinaus. * Leutnant Danforth stellte die Kaffeetasse sorgfältig ab. Einen gedankenvollen Moment lang betrachtete er das Schachbrett, das vergessen am Boden lag, dann blickte er in die warmen und freundlichen Augen von Shirley Nash. Langsam, beinahe zögernd, wanderte sein Blick zu ihrem Gatten weiter. „Ich komme mir vor wie in einem Schachspiel“, bemerkte er. Nash grinste nur. „Das war eine gutüberlegte Frage, Mr. Nash.“ „War es!“ gab der Mann arglos zu. „Sie wissen oder vermuten, daß ich die Trümmer bereits mit einem Geigerzähler untersucht habe.“ Nash nickte. „Ich weiß es, ja.“ Danforth bewegte einen Finger. „Sie sind am Zug!“ „Ich möchte gerne darüber sprechen. Ich möchte gerne mit Ihnen darüber sprechen. Jetzt ist es gesagt.“ Danforth beobachtete ihn immer noch; sein Ausdruck war eine nichtssagende Maske. Nach einer langen Weile entspannte er sich plötzlich und erlaubte sich ein reuevolles Lächeln. 44
„Ich muß mich entschuldigen. Ich habe Sie unterschätzt – beide.“ „Ich auch“, entgegnete Nash. „Es scheint mehr hinter Ihnen zu stecken, als auf der Oberfläche erscheint.“ „Danke. Das Berufsgesicht. Die Öffentlichkeit erwartet von den Polizisten, daß sie unbeholfen und phantasielos sind. Das Resultat von zu vielen irreführenden Fernsehsendungen, Filmen und Büchern. Und um von ihnen die gewünschten Antworten zu erhalten, stellt man den Leuten das flache, phantasiearme Gesicht gegenüber. So ist meines. Was liegt hinter dem Ihren?“ Nash lachte vergnügt. „Ich glaube, ich bin mit Ihnen einig. Radioaktive Strahlungen und Zeitmaschinen haben meine Gedanken durchkreuzt, obwohl nicht unbedingt ein Zusammenhang besteht. Ich vermute, daß auch Sie sich damit befaßt haben, und vielleicht haben Sie auch bereits etwas unternommen. Ich fühle mich irgendwie erleichtert. Es ist beruhigend, zu wissen, daß nicht irgendein gescheiter Bursche eine Atombombe im Taschenformat erfunden hat.“ „Irgendein gescheiter Bursche hat das aber“, sagte Danforth ruhig. Nash richtete sich auf. „Nicht dieses –“ „Nein, nicht dieses Attentat. Die Trümmer sandten eine schwache Strahlung aus; höher als die normale Strahlung in der Atmosphäre, aber immer noch nicht hoch genug, um die Chrono-Kameras anzugreifen. Aber ein heller Kopf in Dakota hat genau das getan, was wir befürchtet haben.“ „Ich habe nichts darüber gehört“, warf Shirley ein. „Das freut mich“, sagte Danforth grimmig. „Es wurde 45
nämlich aus den Nachrichten weggelassen.“ Erfuhr sich mit der Hand über das Haar und sank in dien Sessel zurück. „Es ist beängstigend und doch eigenartig komisch. Ein grüner Junge tat es. Es geschah vor ungefähr zwei Jahren in einer Universität in Dakota. Ein Physikstudent reichte eine Arbeit ein über die Atombombe – Pläne, technische Ausführung und Bau. Es war eine Leistung! Aber scheinbar war sein Professor gewähnt, derartige Projekte vorgelegt zu bekommen und der ganzen Sache überdrüssig. Kurz gesagt, er wies es ab. Sie können sich die Reaktion des Studenten vorstellen. Er fühlte, daß man ihm nicht einmal die geringste Beachtung geschenkt hatte. Er gehörte nun zu der Sorte junger Männer, die alles tun, um etwas zu beweisen, an das sie glauben, und er brachte einen Sommer damit zu, nachzuweisen, daß sein Professor im Unrecht gewesen war. Er beschaffte sich einen alten Geigerzähler und suchte die Hügel von Nevada ab, bis er das Erz beisammen hatte, das er benötigte. In der Werkstatt seines Vaters schmolz er es ein und bewegte seinen Vater, ihm ein Gerät nach seinen Anweisungen zu bauen. Der alte Herr fand ganz offensichtlich nie heraus, was er eigentlich konstruierte. Dann nahm der Sohn seine Bombe hinaus in die Wüste, wo sie keinen Schaden anrichten würde, brachte einen Zeitzünder an und rannte in Deckung. Die Bombe ging genau zur vorausberechneten Zeit hoch, aber sie verursachte ein größeres Loch als vorgesehen. Sie hätten es sehen sollen!“ „Ich kann es mir vorstellen“, sagte Nash trocken. „Aber wie erklärten es die Behörden nachher?“ 46
„Erdbeben.“ Nash schlug sich auf die Schenkel vor Lachen. „Eine Aufklärungstruppe der Armee in Oregon fand die Spuren der Strahlung auf ihren Schutzfiltern und eilte herbei. Sie hatten geglaubt, die Russen hätten ein Fernlenkgeschoß durch ihre Abwehrvorrichtungen hindurchgebracht. Der Student erzählte nachher alles – er war recht stolz auf seine Leistung. Heute zählen seine Aufzeichnungen zu den wichtigsten Unterlagen auf dem Gebiet. Der Junge hatte den Wissenschaftlern gezeigt, wie man die Bombe besser, kleiner, billiger und wirksamer konstruieren konnte, als es sich die besten Köpfe vorgestellt hatten. Man glaubt es kaum, daß er seine Versuchsbombe in einem alten Eimer zum Versuchsgelände hinausgetragen hatte.“ „Verdammt zuversichtlicher Bursche!“ Nash blickte in seine Tasse und fand sie leer. Er hielt sie seiner Frau hin, um sie nachfüllen zu lassen. „Hat aber mit diesen Attentaten nichts zu tun, wie?“ „Nein. Auf alle Fälle nicht mit demjenigen von heute nacht. Die Strahlung war viel zu gering und das zerstörte Gebiet zu klein.“ „Einfach so aus dem Stegreif“, sagte Nash, „kann ich keine Erklärung finden.“ „Ich auch nicht.“ „Dann wollen wir uns einmal die Angelegenheit mit der Zeitmaschine ansehen!“ „Mr. Ramsey erklärt, es gäbe keine!“ sagte Danforth. „Mr. Ramsey?“ fragte Nash. „Unser Telepath.“ Nash tauschte einen Blick mit seiner Frau. Nach einem 47
Augenblick wandte er sich wieder Danforth zu. „Sie haben also einen?“ „Wir haben einen!“ „Hm – er sollte es wissen.“ Er zackte die Achseln. „Vor einer Weile“, beharrte Danforth, „schlugen Sie mir vor, das vermutliche Opfer der nächsten Woche ausfindig zu machen und von einigen Männern beobachten zu lassen. Nun könnte es sein, daß ich nächste Woche nicht mehr das Kommando habe – aber lassen wir das. Glauben Sie, daß dieser – dieser Anarchist seine Verbrechen solange fortsetzen wird, bis er die Söhne Amerikas in diesem Staat ausgerottet hat?“ Nash schaute ihn an. „Er wird weitermachen, bis er Ben selber erwischt. Wenn Sie ihn nicht vorher aufhalten.“ „Das Schiffsgeräusch, das Barbara gehört hat!“ sagte Shirley unvermittelt. Danforth wandte seine Aufmerksamkeit ihr zu. Er hatte zu ihr nichts über das Geräusch gesagt und darüber, was das Mädchen im Krankenhaus ihm erzählt hatte. Er hatte die Angelegenheit mit Gilbert Nash besprochen, während sie in der Küche Kaffee zubereitete. „Was ist mit dem Geräusch?“ fragte er. „Der Bug eines Schiffes, der durch das Wasser gleitet“, erklärte sie. „Das Geräusch einer Maschine, die durch die Zeit gleitet!“ Danforth runzelte seine Brauen. „Sagen Sie es nochmals!“ „Ich überlegte mir, ob nicht das fremdartige Geräusch, das sie hörte, auf solche Weise erklärt werden könne. Ein Schiff, das sich über das Wasser bewegt, erzeugt ein ge48
wisses Geräusch. Könnte nun aber nicht ein Schiff, das durch die Zeit reist, für einen unbeweglichen Beobachter, der an der richtigen Stelle steht, ein ähnliches Geräusch erzeugen?“ „Unbeweglich“, wiederholte Danforth sinnend. „Unbeweglich in bezug auf den Augenblick, in dem wir gerade leben?“ „Ja. Barbara stand sozusagen still in bezug auf die Zeit. Das Schiff kam von irgendwoher in der Zukunft und fuhr an ihr vorbei – fuhr nahe an ihr vorbei, nach dem zu schließen, was sich an dem Haus ereignete.“ Danforth entsann sich, daß er auch über das nächtliche Bombenattentat ihr gegenüber nichts erwähnt hatte. „Aus der Vergangenheit vielleicht“, wandte Nash ein. „Ich würde eher Zukunft sagen“, entgegnete seine Frau. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn man das Schiff einmal hat, kann es von beiden Seiten gewesen sein. Ich hätte die Vergangenheit gewählt.“ Shirley schüttelte den Kopf. „Nein. Es muß aus der Zukunft sein. Der Mann nimmt sich eine Zeitung oder hört sich die Rundfunknachrichten an; daraus entnimmt er, daß irgendein wichtiger Politiker sich gestern bei der und der Adresse aufhielt. Die Gelegenheit erscheint ihm günstig, und er fährt mit seiner Zeitmaschine nach gestern zurück und bombardiert die Adresse.“ „Jetzt hab’ ich dich!“ rief Nash. „Wenn er das täte, könnte er in der Zeitung gar nicht lesen, daß der Mann sich bei der Adresse aufhielt. Statt dessen würde er erfahren, daß er umgebracht wurde; die Zeitungen vom folgenden Tag würden die Tragödie berichten. Daher aber würde er 49
gar nicht auf den Gedanken kommen, nach gestern zu reisen und den Mann umzubringen, weil ihm die Zeitung mitteilt, daß es bereits getan wurde. Jetzt reime dir das zusammen!“ „Aber er würde trotzdem“, bestand Shirley. „Wenn nicht, würde das Bombenattentat nicht in der Zeitung stehen. Er muß!“ „Aus der Vergangenheit!“ erklärte ihr Mann. „Aus der Vergangenheit!“ „Es gibt keine Zeitreisenden!“ mischte sich Danforth ein, um der Verwirrung ein Ende zu bereiten. Sie drehten sich gleichzeitig nach ihm um und starrten ihn an. „Spielverderber“, sagte Nash. „Wir haben eine ganze Menge davon“, erklärte Shirley, „Zeitmaschinen, meine ich, nicht Reisende.“ „Im Ernst“, sagte Danforth. „Das Paradoxon läßt deren Existenz überhaupt nicht zu. Und es würde vor allem die phantastische Reihenfolge nicht zulassen, die Sie soeben aufgezählt haben.“ „Quatsch!“ erwiderte die Frau hitzig. „Paradoxa gibt es nur in beschränkten Gehirnen. Sie existieren nur in der aristotelischen Logik.“ Nash hob vorwurfsvoll den Finger. „Ich fand eines in der booleanischen Algebra, denk daran! Vielleicht sollte ich für irgendeine technische Zeitschrift einen Artikel darüber schreiben und die wissenschaftliche Welt vor den Kopf stoßen?“ „Entschuldigen Sie mich“, sagte Danforth und stand auf. „Es wird spät. Ich habe noch in der Stadt zu tun.“ 50
Sie waren ein nettes Paar, freundlich und entgegenkommend. Sie waren aber auch außerordentlich neugierig und hatten ihm alles entlockt, was er sich selber zu sagen erlaubt hatte. Und noch mehr dazu! Die Frau hatte weit mehr gewußt, als er in Worte gefaßt hatte; hatte es irgendwie erfahren, obwohl er keine Absicht gehabt hatte, es zu verraten. Sie hatte die Auskünfte entweder von ihrem Mann bekommen oder selber herausgebracht. Zusammen schienen die zwei bedeutend mehr zu wissen, als er gesagt hatte. Und dieser letzte hitzige Wortwechsel! Diese eigenartige Unterhaltung, ob die Zeitreisenden von gestern oder von morgen kamen, um ihre Bomben zu werfen. Das war nur für ihn bestimmt gewesen. Shirley Nash hatte die Diskussion mit ihren Bemerkungen über die Schiffsgeräusche angefacht, während ihr Gatte die Sache weiterführte, indem er die Unterhaltung auf Vergangenheit oder Zukunft brachte. Sorgfältig und berechnend hatten die beiden alles nur getan, um ihn für die Möglichkeiten zu interessieren, um seine Gedanken in die von ihnen gewünschten Bahnen zu lenken. Es war ein Köder! Danforth setzte sich in seinen Wagen. Er hob das Radiophon aus seiner Gabel. „Zentrale“, sagte die bekannte Stimme. „Danforth hier. Gehöre ich noch zur Abteilung?“ „Soviel ich weiß: ja, Leutnant.“ „Das überrascht mich. Ich möchte eine Identitätskontrolle über Mr. und Mrs. Gilbert Nash. Gilbert und Shirley Nash, wohnhaft Linden Lane am See.“ Er verstummte gedankenverloren einen Moment lang. „Tun Sie mir einen 51
Gefallen, bitte. Wenn Sie in unseren Archiven nichts finden, so senden Sie eine Anfrage nach Washington. Das Haus ist nicht sehr alt; die beiden können hergezogen sein und hier gebaut haben.“ „In Ordnung, Leutnant. Sagen Sie – haben Sie kürzlich Radio gehört?“ „Nein. Was ist geschehen?“ „Ihr Lieblingskomiker wurde umgelegt.“ „Mein was? Ach, Sie meinen Kid Cooky.“ „Das ist er. Er hat seinen letzten Witz gemacht. Es geschah keine halbe Minute, nachdem er heute nacht die Bühne verlassen hatte.“ „Wie?“ fragte Danforth berufsmäßig. „Zyankali in einer Flasche Milch.“ „Wie um alles in der Welt konnte das geschehen?“ „Das ist noch nicht ganz geklärt. Es scheint, daß Kid Cooky ganz bestimmte Eßgewohnheiten hatte; er hatte einen schwachen Magen und vertrug nicht alles an den Tagen, an denen er auftreten sollte. Aber sobald die Sendung jeweils vorbei war, pflegte ihm einer der Platzanweiser eine Flasche Milch aus einem Geschäft zu bringen, das die ganze Nacht offen hat. Er trank das und ging erst später essen.“ Danforth nickte. „Das erklärt die Sache.“ „Richtig. Der Platzanweiser und zwei Frauen werden festgehalten – wußten Sie übrigens, daß der Mann zwei Frauen hatte? Seine Frau und seine Geliebte waren Schwestern, und beide saßen dort im Studio.“ „Um ihm Glück zu bringen“, meinte Danforth. „Gebracht zu haben – Vergangenheitsform! Aber sie 52
werden nur zwecks Zeugenaussagen festgehalten. Der Hauptverdächtige ist ein Angestellter des Geschäftes, der während der Sendung verschwand. Zog seine Schürze aus und rannte weg, gerade nachdem er dem Platzanweiser die Milch verkauft hatte. Todsicherer Fall.“ „Ich vermute, daß es so ist. Gut, ich komme. Ist Mr. Ramsey noch dort?“ „Ja, Leutnant.“ „Richten Sie ihm aus, daß ich ihn sprechen möchte, sobald ich dort bin.“ „In Ordnung.“ „Ende“, sagte Danforth und hing das Radiophon auf. Er ließ den Motor an, fuhr auf der Seestraße dahin und lenkte den Wagen zur Stadt. Der Regen schien nachgelassen zu haben. Kid Cooky und Zyankali! Wenn das nicht eine Wahnsinnshandlung von Seiten des Angestellten jenes Geschäftes gewesen war, dann war es organisierter Mord. Es verriet eine saubere, gutdurchdachte Organisation von Anfang bis Ende. Die Gepflogenheiten des Komikers waren bekannt gewesen und studiert worden, der Mordplan im voraus entworfen, und der Angestellte war einfach ein Werkzeug, das seinen Teil des Ganzen erfüllt hatte und danach verschwand. So hatte es sich wahrscheinlich zugetragen. Was den Angestellten betraf, so gab es nur zwei Zukunftsaussichten für den Mann. Entweder wurde er ausgezahlt und aus dem Land weggeschickt oder zum Schweigen gebracht. Saubere und unfehlbare Organisation! Irgendeine große Persönlichkeit hatte es auf Kid Cooky abgesehen. Nun, darüber konnte sich Los Angeles den Kopf zerbrechen … 53
Sein Radiophon summte. Er griff nach dem Hörer. „Danforth.“ Die bekannte Stimme warnte ihn. „Leutnant, Sie werden ersucht, so rasch als möglich im Hauptquartier Ihren Bericht persönlich abzugeben. Persönlich, auf keine andere Weise. Bitte bestätigen.“ „Bestätigt“, sagte Danforth ruhig. Die Stimme des Mannes hatte ihm verraten, daß sich noch andere Personen in jenem Raum aufhielten. „Ich komme in etwa zwanzig Minuten.“ „Jawohl, Sir. Ende.“ Danforth hing das Radiophon auf. Es war soweit. * Danforth parkte den Polizeiwagen in der Garage hinter dem Gebäude des Hauptquartiers und zögerte einen Moment, um auf das Armaturenbrett hinunterzublicken. Der Wagen gehörte ihm nun schon so lange, daß er bereits so etwas wie Besitzerstolz fühlte, gehörte ihm seit dem Tag, an dem er in die Polizeigarage gebracht worden war mit nur vier Meilen auf dem Kilometerzähler. Er entdeckte, daß er ganz gewohnheitsmäßig den Zündschlüssel abgezogen hatte und ihn nun fest in dar Hand hielt. Danforth steckte den Schlüssel in den Wagen zurück und entfernte sich. Der Garderobenraum und die Duschen lagen neben dem Hintereingang des Gebäudes. Danforth zog seinen Regenmantel aus, nahm seinen Hut, sein Abzeichen und den Schulterhalfter ab und verstaute sie vorschriftsmäßig im 54
Schrank. Er verschloß die Schranktür und ging weiter in den Nachrichtenraum, wo der Offizier neben dem Sprechfunkgerät saß. Der Mann sah ihn kommen, grinste spöttisch und machte eine vielsagende Handbewagung. Danforth kannte das Zeichen. Einige Söhne Amerikas befanden sich im Gebäude und machten sich auf übliche Weise breit. „Maine Ausrüstung befindet sich in meinem Schrank“, sagte Danforth zum Nachrichtenoffizier und schob ihm den Schlüssel hin. „Haben Sie schon etwas über Nash herausgefunden?“ „Hier nicht, Leutnant. Ich habe in Washington angefragt.“ „Danke. Was auch geschehen mag dort drinnen, ich bin stets daran interessiert. Würden Sie mich benachrichtigen, wenn irgend etwas darüber hereinkommen sollte?“ „Wir sind schon lange Freunde, Leutnant!“ „Nochmals meinen Dank. Sie kennen meine Adresse – die Miete ist für drei Wochen im voraus bezahlt. Viel Glück.“ „Danke ebenfalls. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung. – Sie sind in Mr. Ramseys Büro versammelt.“ Danforth ging durch einen dunklen Korridor und stieg die Treppe zum zweiten Stockwerk hoch. Vor einem beleuchteten Raum hielt er an und klopfte. „Herein, Leutnant“, rief Mr. Ramseys ruhige Stimme. Einer von der Kameramannschaft hatte eine Leinwand und einen Projektor aufgestellt. Der Raum schien mit Männern vollgepfercht zu sein. Da war der Chef, grimmig und sauer blickend, bereit, seinen Zorn über irgend jemand 55
zu ergießen. Neben ihm saß ein Captain, der unzweifelhaft den Befehl ausgegeben hatte, Danforth herbeizurufen. In einer Reihe vor einer langen Wand standen drei Männer mit weißen Gesichtern in krampfhaft starrer Haltung; sie schienen es nicht zu wagen, sich zu setzen. Danforth empfand Mitleid mit ihnen; sie stellten seine gesamte Mannschaft dar, und ihre Anwesenheit in diesem Zimmer konnte nur eines bedeuten. Mr. Ramsey saß in einem anderen Stuhl neben dem Schreibtisch und versuchte die Gelassenheit nachzuahmen. Um ihn herum standen oder saßen in verschiedenen Posen der Niedergeschlagenheit sechs Söhne Amerikas. Alle wandten den Kopf, als Danforth eintrat. Mr. Ramsey sagte ruhig: „Wir haben auf Sie gewartet, Leutnant. Wir wollen uns zuerst die Aufnahme ansehen, bevor wir Ihren Bericht anhören.“ „Jawohl, Sir.“ Danforth bewegte sich durch den Raum und stellte sich neben seine Leute an die Wand. Sie mieden geflissentlich seinen Blick. „Wir dürfen von den Bildern nicht allzuviel erwarten“, fuhr Mr. Ramsey fort, „wegen des Wetters. Ich habe sie bereits gesehen und möchte doch sagen, daß es nicht die Schuld der Kameraleute ist. Können wir anfangen?“ Jemand löschte das Licht, und ein Kameramann trat zum Projektor. Die Köpfe drehten sich zur Leinwand. Der Regen war stark. Und durch den Regen tollten zwei große, verspielt aussehende Wachhunde. Hinter ihnen, im Dunkel der Nacht, erhob sich das Haus, das noch bis vor wenigen Stunden unversehrt dagestanden hatte. Ein vereinzeltes Licht schimmerte über dem Eingang. Während meh56
rerer Minuten war nichts anderes zu sehen. Es schien endlos zu dauern, aber Danforth kannte den verfälschten Eindruck, den ein unbewegtes Bild hervorruft und vermutete, daß es nicht mehr als dreieinhalb bis vier Minuten waren. Dann tauchten plötzlich die Hunde wieder auf und rannten wie toll über den Garten auf die Straße zu. Langsam in den Sichtbereich des Gerätes rollend, erschien ein Wagen der Sicherheitspolizei. Die Hunde wirbelten herum und begleiteten den Wagen, als er den Weg zum Haus hinauffuhr, und schnappten nach den Reifen. Der Wagen hielt an, die Scheinwerfer erloschen, die Wagentür wurde aufgestoßen, und Captain Redmon trat in den Regen hinaus. Die Hunde waren sofort an seiner Seite und beschnupperten ihn. Er tätschelte ihre Köpfe, stieß sie zur Seite und betätigte einen altmodischen Messingklopfer, der am Hauseingang hing. Dann, in einer unbewußten und völlig nutzlosen Bewegung, streckte er die Arme aus, wie wenn er durchsucht würde. Einer der Zuschauer im dunklen Raum kicherte. Danforth unterdrückte ein Grinsen. So war sein Vorgesetzter gewesen. Er pflegte automatisch die Arme auszustrecken, wenn er wußte, daß Suchstrahlen seinen Körper abtasteten. Er hatte die alte Gewohnheit nie abgeschüttelt, die noch üblich gewesen war, als er der Polizei beitrat. Diese zu beiden Seiten der Tür verborgen angebrachten Suchgeräte brachten ein eventuell vorhandenes Geschoß zur Explosion, fanden unweigerlich eine Klinge oder andere Metallgegenstände unter den Kleidern auf und erhitzten sie bis zu einem unerträglichem Grad. Redmon hatte die Vorsichtsmaßnahme ergriffen und seine Ausrüstung im Wagen ge57
lassen, aber er hielt dennoch die Arme in die Höhe, um sich durchsuchen zu lassen. Die Tür öffnete sich, und ein Diener ließ Redmon ein. Dann schloß sie sich wieder, und die Hunde rannten davon. Das war alles, und der nun folgende Abschnitt der Bewegungslosigkeit war wirklich lang. Einmal oder zweimal kreuzten die Wachhunde die Bildfläche, aber die meiste Zeit über war nichts zu sehen außer dem großen Haus, dem Licht, das über der Tür brannte und dem unaufhörlichen Regen. Sie warteten. Mr. Ramseys weiche Stimme unterbrach plötzlich das im Raum lastende Schweigen. „Ich würde Ihnen anraten, jetzt die Augen abzuschirmen. Der Schein ist sehr grell.“ Hände wurden im Halbdunkel erhoben, und die Augen bis auf schmale Schlitze zwischen den Fingern verdeckt. Jedermann wollte es sehen, obwohl sie alle solchen Szenen bereits früher beigewohnt hatten und eine derartige Zerstörung nicht wieder zu sehen wünschten. Sie saßen oder standen nervös und in unbequemen Stellungen, warteten in der gespannten Stille auf das Kommende. Die Hunde erschienen auf der Leinwand. Sie rannten bellend auf das Haus zu. Sie hatten es nahezu erreicht, als sich die klaren Umrisse aufzulösen begannen. Es war nichts zu erkennen außer dem nur Bruchteile von Sekunden währenden Anblick von Wänden, die sich nach innen krümmten und dem undeutlichen Eindruck des herabfallenden Daches. Dann wischte die schreckliche Explosion überhaupt alles außer Sicht mit einem gräßlichen, blendenden Lichtschein. Die Fläche der Leinwand glitzerte 58
hell wie ein Spiegel, der die Nachmittagssonne reflektierte. Der Raum war für Sekunden in helles Licht getaucht, und dann wurde es wieder dunkel, und die Trümmer begannen herabzuregnen. Der Film war zu Ende. In der schweigenden Dunkelheit ertönte die Stimme Mr. Ramseys: „Andere Aufnahmen zeigen die Seiten- und Rückansicht. Sie fügen hier nichts hinzu. Wünschen Sie sie trotzdem zu sehen?“ Jemand antwortete „Nein!“ Es war nur ein Flüstern. „Gut dann. Bitte Licht.“ Danforth fand sich selber in der Mitte des Raumes stehend, er war sich gar nicht bewußt, daß ihn seine Erregung dorthin getragen hatte. „Diese Wände explodierten einwärts!“ schrie er dem Telepathen entgegen. „Genau.“ „Nun, zum Teufel!“ sagte einer der Politiker. „Das war eine Implosion!“ beharrte Danforth. „Ja“, bestätigte Mr. Ramsey. „Das war es.“ „Was zum Teufel ist eine Implosion? Sie schwatzen wirres Zeug!“ „Eine Implosion“, erklärte Mr. Ramsey gelassen, „ist einfach das Gegenteil einer Explosion.“ Der Politiker öffnete den Mund, schloß ihn wieder und hob hilflos die Hände. „Die Wände des Gebäudes fielen nach innen, das Dach nach unten und innen“, erläuterte Mr. Ramsey. „Und nur ganz zufällig fielen einige Trümmerstücke wie bei einer 59
normalen Explosion nach außen. Eine Begleiterscheinung vielleicht. Das Haus aber wurde durch eine Implosion zerstört. Und wir dürfen annehmen, daß die vorhergehenden Attentate auf gleiche Weise erfolgten.“ „Aber ihre Filmaufnahmen waren nicht zufriedenstellend“, sagte Danforth. „Sie wurden zu spät aufgenommen, und die Ausbeute war mager. Dies ist das erste Mal, daß wir ein eindeutiges Bild haben.“ „Ich bitte Sie“, warf der Oberleutnant ein. „Was soll all dieses Geschwätz! Sprechen Sie es aus!“ „Es bedeutet, daß jemand etwas Neues erfunden hat. Eine implodierende Bombe!“ „Gut! Dann ist es also eine neue Bombe!“ schnappte der Offizier. „Neue Bomben hat es schon früher gegeben, und man ist mit ihnen fertiggeworden. Aber was wollen Sie jetzt unternehmen, junger Mann?“ Danforth blickte ihn prüfend an und erkannte, daß er noch nicht informiert war. Er schaute zum Telepathen hinüber. Mr. Ramsey schloß die Augen und nickte. „Nichts“, sagte Danforth deutlich. „Waaas?“ „Ich bin erledigt. Nichts.“ Er genoß es beinahe. Der Offizier kam aus seinem Sitz hoch. Mr. Ramsey streckte eine Hand aus, um ihn zurückzuhalten. „Der Leutnant wurde auf einstimmigen Beschluß seiner Vorgesetzten seines Kommandos enthoben“, sagte der Telepath langsam. „Es war ein Entschluß, dem ich zustimmte. Sie haben soeben den Tod von Captain Redmon miterlabt, der die Abteilung für Bombenattentate kommandierte. Mit 60
der Entlassung von Leutnant Danforth und der Neueinteilung seiner Leute wird die Gruppe aufgelöst. Die leitenden Offiziere dieser Abteilung erachten dies als notwendig. Eine neue Mannschaft wird zusammengestellt werden, die das Problem frisch anpackt.“ „Es wird aber auch langsam Zeit!“ knurrte einer der Söhne Amerikas. „Sie können doch nicht einfach dabeistehen und zusehen, wie wir in unseren Betten ermordet werden!“ Danforth betrachtete seine geröteten Wangen und fragte sich, welches der beste Ansatzpunkt sei. „Sie sind jetzt nicht im Bett“, sagte er steinern. „Wie meinen Sie das?“ „Ich meine, daß sechs von Ihnen jetzt, in diesem Raum zusammen mit dem Oberkommando dieser Abteilung versammelt sind. Die Bombenanschläge sind speziell auf Versammlungen wie diese gerichtet.“ „Warum? Verdammt noch mal …!“ „Ruhe!“ brüllte der Oberleutnant. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, um die Ordnung wiederherzustellen. „Seien Sie kein Narr. Der junge Mann hat recht. Wir wollen abschließen und machen, daß wir hier herauskommen, bevor etwas geschieht.“ Er wandte sich dem Telepathen zu. „Was wird die neue Gruppe dagegen unternehmen? Sagen Sie mir das!“ „Ich weiß es nicht. Zum Teil, so nehme ich an, werden sie sich an gewisse Tatsachen und Beweise halten, die von Leutnant Danforth diesen Abend zusammengetragen wurden.“ „Beweise? Was für Beweise?“ 61
Mr. Ramsey schlug höflich vor, daß der Leutnant die Einzelheiten selber erzähle. Er wollte sie nicht aus Danforths Gehirn entnehmen und danach laut wiedergeben. Danforth erzählte ihnen alles und wies zum Schluß darauf hin, daß bis heute alle Anschläge auf das Gebiet von Illinois beschränkt waren, obwohl auch in benachbarten Staaten mögliche Opfer lebten. Dann erinnerte er sie nochmals an die Aufnahme, die sie soeben angesehen hatten und in der ein Haus durch eine Implosion zerstört worden war. „Und? Was ist damit? Und mit der Strahlung, die Sie erwähnten?“ „Ich bin noch nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken, Oberleutnant. Außerdem, erinnern Sie sich noch daran, wie wir vor ein paar Jahren jene Atombomben erwischten, welche die Chinesen auf Vorrat gelegt hatten? Und erinnern Sie sich, daß gewisse technische Daten über diese Bomben für die Öffentlichkeit freigegeben wurden?“ „Natürlich. Aber Sie meinen doch nicht, die Chinesen –“ „Nein. Ich weise bloß darauf hin, daß die Auslösevorrichtung einen Implosionseffekt zur Folge hatte. Die Bombe wurde durch eine Implosion ausgelöst, erst dann explodierte sie auf normale Weise.“ „Nun, es scheint, daß wir langsam zu einem Ziel kommen. Besteht irgendein Zusammenhang zwischen der Implosion und der von Ihnen entdeckten radioaktiven Ausstrahlung?“ „Ich weiß es nicht. Es könnte sein. Bis heute haben wir noch nichts von der Sorte.“ Er legte besondere Betonung auf das Wort „heute“. Mr. Ramsey blickte ihn mit einem Anflug von Lächeln an. Niemand bemerkte es. 62
„Redmon hat bestimmt nichts in das Haus mitgenommen?“ „Nein, Sir. Auch niemand von den übrigen Anwesenden, es sei denn, die Suchstrahlen wurden abgeschaltet. Aber das ist unwahrscheinlich.“ Der Beamte blickte ihn mit kalten Augen durchdringend an. „Und wie wäre es mit einer Zeitbombe, die vor einigen Tagen dort eingeschmuggelt wurde?“ „Diese Frage liegt außerhalb meiner Urteilsfähigkeit“, sagte Danforth mit Nachdruck. „Ich habe keinerlei Hinweise auf einen Zeitreisenden oder eine Zeitmaschine gefunden“, warf Mr. Ramsey ruhig ein. „Keine Spur. Ich nehme an, das beantwortet Ihre Frage, Oberleutnant?“ „Es muß wohl! Aber ich würde gerne die wirkliche Antwort auf diese Frage kennen.“ Er stand auf. „Implosionen und Strahlung, aber doch soll es keine Atombombe sein. Wir kommen mit niemand in Berührung außer mit den Leuten, die wir unsere Freunde nennen, und Sie sagen, es sei kein Zeitreiserader gewesen. Dann, wer zum Teufel, tat es eigentlich? Und wie?“ „Vergessen Sie auch nicht: warum?“ sagte Danforth. Die Mienen der Söhne Amerikas wurden frostig. 4. Kapitel Sie saßen allein und musterten einander gegenseitig. Mr. Ramsey war ein junger Mann. Vielleicht knapp über Dreißig, vielleicht etwas weniger. Es war schwierig, sein Alter einfach zu erraten, indem man seine Gesichtszüge 63
und sein Haar betrachtete und seine Haltung. Er war ruhig und beherrscht, lächelte selten, ging nie aus sich heraus, redete nur, wenn es nötig war und schloß keine Freundschaften. Weil er ein Telepath war, hatte er die eiserne Regel aufgestellt, daß alle Unterhaltungen in seiner Gegenwart laut geführt wurden. Er bestand darauf und erlaubte es nicht, daß ihm irgendwelche Berichte aus zeitsparenden Gründen auf rein gedanklichem Weg übermittelt wurden. Es war eine weise Regel und hatte zum Erfolg, daß der Verdacht und das Mißtrauen, die gewöhnliche Sterbliche einem Telepathen gegenüber nun einmal hegten, herabgemindert wurden. Heute war es das erste Mal – soweit Danforth wußte – daß diese Regel gebrochen worden war. Sie mochten ungefähr das gleiche Alter haben, Danforth und der Telepath. Auf alle Fälle war der Unterschied nicht groß. Danforth war größer, schlanker, sportlicher. Er trug sein Haar in einem Bürstenschnitt aus dem einzigen Grund, weil es so einfacher zu zähmen war. Er besaß ein Durchschnittsgesicht – eine erste Bedingung für einen Beamten, der gelegentlich in Zivil arbeitet. Und da er weitsichtig war, trug er zum Lesen eine Brille. Er war der Sicherheitspolizei von Illinois beigetreten, weil er die Jagd liebte. Er verließ sie wieder, weil er in seiner Jagd versagt hatte. „Es tut mir leid“, sagte Mr. Ramsey unvermittelt. „Was?“ „Daß ich meine eigene Regel gebrochen habe. Daß ich eine neue Tatsache ausgesprochen habe, bevor Sie sie erzählt hatten.“ 64
Danforth rieb seine Hände an den Hosen und erwiderte mit breitem Grinsen: „Macht nichts, Mir. Ramsey. Ich hatte meine Rache dafür.“ „Also gut. Jetzt möchte ich Sie um einen Gefallen bitten.“ „Gerne – wenn ich Ihnen helfen kann.“ „Berichten Sie mir über Gilbert und Shirley Nash!“ Danforth zuckte überrascht zusammen. „Darüber wollte ich soeben Sie fragen!“ „Und wenn wir nun unser Wissen austauschen? Ich bin höchst neugierig, was diesen Mr. Nash und seine Frau anbelangt.“ „Die beiden sind ebenfalls ein neugieriges Paar, Mr. Ramsey. Eigenartig von Anfang bis Schluß – und ich glaube nicht, daß das Ende schon gekommen ist. Ich möchte ihnen gerne einen weiteren Besuch abstatten. Ich verspüre bainahe einen Drang, zurückzugehen.“ „Das ist richtig. Ein solcher Drang besteht; er wurde in Ihr Unterbewußtsein eingepflanzt.“ „Den Teufel wurde er! – Sie sind also doch telepathisch!“ „Ja und nein. Nicht in dem Sinn, wie Sie meinen.“ „Entweder sind Sie es oder nicht“, warf Danforth in einiger Verwirrung ein. „Ich hatte bereits den Verdacht gefaßt, Sie seien es.“ „Verstehen Sie mich bitte richtig. Sie sind in gewissen Grenzen telepathisch veranlagt; aber nicht so, wie Sie die Telepathie kennen. Ein sehr starker Wunsch, zurückzukehren, wurde Ihnen tatsächlich eingegeben.“ „Weshalb?“ 65
„Ganz offensichtlich, um weitere Informationen zu erhalten. Sie sind an gewissen Schritten interessiert, die Sie unternehmen.“ Danforth kratzte sich am Kopf. „Hm – inwiefern?“ „Lassen Sie mich Ihr Gedächtnis ein wenig auffrischen. Als Sie das Haus betraten und erzählten, was dem Mädchen zugestoßen war, was geschah dann?“ „Mrs. Nash rannte auf mich zu und grub ihre Fingernägel in mein Handgelenk. Sie schloß ihre Augen. Dann ging sie in die Küche, um Kaffee zu machen und bat mich, ihrem Mann zu erzählen, was vorgefallen war. Damals schon begann mein Verdacht.“ „Ja. Und sie bezeigte kein weiteres Interesse über das Wohlergehen des Mädchens?“ „Nein. Es kann sein, daß wir später nochmals darüber gesprochen haben, aber sie stellte keine Fragen.“ „Wie ich erwartete.“ Mr. Ramsey faltete die Hände in seinem Schoß. „Und Sie erzählten Nash wörtlich, was geschehen war. Und dann, als Mrs. Nash den Kaffee brachte …?“ „Ich meinte zu sehen, wie sie zögerte, als sie ihrem Gatten einschenkte. Sie berührte seine Hand oder seine Finger.“ „Schüttelte Gilbert Nash Ihnen die Hand?“ „Als ich mich verabschiedete, ja.“ „Und ich nehme an, daß während der ganzen Unterhaltung sowohl er als sie im Besitz von mehr Informationen zu sein schienen, als Sie ihnen tatsächlich gaben?“ „Das stimmt.“ „Und sie verleiteten Sie absichtlich dazu, Ihre Gedanken in ganz bestimmte Bahnen zu lenken?“ 66
„Ja“ „Sehen Sie! Waren es nicht Zeitmaschinen, oder?“ * Leutnant Danforth streckte seine Beine aus und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er Mr. Ramsey. „Wie Sie wissen“, begann dieser, „gibt es eine ganze Anzahl von Telepathen in öffentlichen Ämtern, und vielleicht vermuten Sie, daß es auch andere im Privatleben gibt, die keine Absicht haben, bekannt zu werden. Zu diesen zwei Arten hinzu gibt es jedoch noch eine dritte. Telepathen, die mehr oder weniger im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden, sich dann jedoch ins Privatleben zurückgezogen haben. Um genau zu sein, die den Staatsdienst verließen und verschwanden.“ „Das ist eine Neuigkeit!“ „Ihre Anzahl ist jedoch beschränkt“, sagte Mr. Ramsey. „Zwei.“ „Nur zwei?“ „Der erste war ein junger Mann, der in der Armee Dienst tat und der nichts von seiner Fähigkeit wußte, Paul Breen. Schließlich wurde er in die Umgebung von Washington versetzt und vom CIC mit Beschlag belegt. Nach einer Anzahl von Jahren verschwand er plötzlich, wobei er gleichzeitig eine junge Frau mitnahm, die er zu heiraten beabsichtigte. Keiner von beiden wurde seither wiedergesehen. Der zweite war ein anderer Mann, der in der Nähe von Oak Ridge entdeckt wurde, zu einer Zeit, als Forschungen 67
von großer Wichtigkeit dort betrieben wurden. Man weiß von ihm mit Sicherheit, daß er eine Rolle gespielt hatte, als die Raumstation gebaut wurde, die jetzt über uns kreist. Dieser Mann nahm nicht direkt Anteil am öffentlichen Leben, doch leistete er gute Dienste vor allem dabei, das Forschungsprojekt nach außen zu schützen. Wie der erste verschwand auch er und nahm eine Frau mit sich, die eine Stelle als Sekretärin in einer geheimen Dienststelle bekleidet hatte.“ „Gilbert und Shirley Nash?“ fragte Danforth ruhig. „Dahin lautet meine Vermutung, gestützt auf Ihre Auskünfte.“ „Aber Sie erwähnten eine bestimmte Form von Telepathie.“ „Auch ein Teil meiner Vermutung. Mrs. Nash berührte erst Sie und danach ihren Mann. Später schüttelte er Ihnen die Hand, und jetzt verspüren Sie einen Drang, dorthin zurückzukehren. Ich nehme nun an, daß sie nicht wirkliche Telepathen sind in dem Sinne, wie ich es bin, sondern auf körperlichen Kontakt angewiesen sind, um eine Verbindung herzustellen.“ Danforth schaute auf sein Handgelenk hinunter. „Sie las also in meinen Gedanken, als sie mich anfaßte?“ „Ja. Sie entnahm sich ihre Auskünfte vermittels eines persönlichen Kontaktes. Ferner haben Sie festgestellt, daß sie ihren Gatten auf die gleiche Weise berührt hat; das war nötig, um ihm die Informationen zu übermitteln, die sie von Ihnen in Erfahrung gebracht hatte.“ „Und das Händeschütteln war –“ „War wiederum der erforderliche Kontakt, um eine Ver68
bindung herzustellen. Es spielt dabei keine Rolle, daß Sie keine telepathischen Fähigkeiten besitzen.“ Mr. Ramsey senkte seinen Blick und studierte angelegentlich die Oberfläche seines Schreibtisches. „Das Händeschütteln vermittelte Ihnen eine Botschaft, die mit einem posthypnotischen Befehl zu vergleichen ist. Er wünschte, daß Sie zurückkehrten und ließ den Wunsch so erscheinen, als ob es Ihr eigener wäre.“ „Ich kann nicht gerade sagen, daß mir das gefällt!“ Mr. Ramsey hob die Augen und meinte: „Wenn Sie wollen, Leutnant, kann ich den Befehl wieder entfernen.“ Danforth warf ihm einen überraschten Blick zu. „Danke“, sagte er nach einer Weile. „Nein. Jetzt will ich zurückkehren!“ „Ich hoffte es.“ „Warum?“ „Weil ich gerne Mr. und Mrs. Nash kennenlernen würde. Ich möchte gerne von Ihnen dort eingeführt werden.“ Danforth grinste nur, statt einer Entgegnung. „Warum vermuten Sie, wollen die Leute wohl, daß Sie zurückkehren?“ fragte Mr. Ramsey. „Um mich auszuhorchen. Ich baue keine Zeitmaschine, aber wenn sie es tun, so wollen sie auf dem laufenden bleiben über die Fortschritte, die die Polizei in ihrer Sucharbeit erzielt.“ „Genau das. Aber trotzdem begrüße ich die Gelegenheit, weitere Auskünfte einholen zu können. Immer vorausgesetzt, daß meine Vermutungen richtig sind und sie die Leute sind, die früher bei Oak Ridge gelebt haben. Zu jener Zeit waren von der Sekretärin keinerlei telepathische Fä69
higkeiten bekannt, sondern lediglich von dem Mann. Aber es gibt immer noch einen unbekannten Faktor, und den möchte ich gerne in Erfahrung bringen. Telepathie, auch in jener beschränkten Form, war nicht unbedingt die einzige interessante Erscheinung bei Gilbert Nash. Er ist spezialisiert auf Langlebigkeit.“ Danforth überlegte eine Weile und schüttelte den Kopf. „Der Mann ist nicht über Vierzig.“ „Und seine Frau?“ „Vielleicht um die Fünfundzwanzig.“ „Das Paar bei Oak Ridge war etwas jünger. Er war etwas über Dreißig und sie wenig über Zwanzig.“ „Aber das war vor mehr als zwei Jahrzehnten, wenn ich recht verstehe“, entgegnete Danforth. „Ich sagte bereits, die Spezialität dieses Mannes war Langlebigkeit.“ Mr. Ramsey stieß seine Fingerspitzen zusammen und starrte über den Schreibtisch zu Danforth hinüber. „Das Alter oder scheinbare Alter einer Person täuschen oft. Sind Sie mit dem Namen Gilgamesch vertraut?“ „Nein … ich glaube nicht.“ „Altertum. Der Name stammt aus der prähistorischen Zeit.“ „Tut mir leid. Ich habe in der Schule nie davon gehört.“ „Einigen Steintafeln zufolge, die in irgendeinem archäologisch interessanten Winkel der alten Welt ausgegraben wurden, war Gilgamesch ein prahlsüchtiger Abenteurer, der vor vier- oder fünftausend Jahren gelebt hat.“ „Ich glaube es nicht“, sagte Danforth offen. „Es ist eine archäologisch nachgewiesene Tatsache“, beharrte Mr. Ramsey. 70
„Nicht das. Sie wissen, was ich meine. Der Mann, den ich gestern nacht dort draußen traf, war keine vier- oder fünftausend Jahre alt.“ „Und ich vermute, daß auch die Frau nicht über Vierzig war?“ „Kaum.“ Mr. Ramseys kaum wahrnehmbares Nicken war das einzige Zeichen, daß er anderer Meinung war. „Ich möchte Gilbert und Shirley Nash wirklich gerne kennenlernen, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich vorstellten.“ „Vielleicht wollen die beiden aber Sie nicht kennenlernen – Sie haben ihnen gegenüber schließlich einen großen Vorteil.“ „Richtig. Es wäre am besten, wenn Sie sich vorher darüber erkundigten.“ „Das kann ich tun. Wann?“ „Sobald Sie Zeit haben. Was haben Sie für Pläne?“ Danforth schielte zur Wanduhr hinüber. „Mein erster Plan heißt nach Hause gehen und schlafen. Ich war schon gestern wegen der Angelegenheit im Kongreßgebäude die ganze Nacht auf.“ „Der Schlaf wird Ihnen guttun“, sagte Mr. Ramsey. „Gestatten Sie mir zu sagen, daß es mir leid tut. Ich wollte, Sie wären bei uns geblieben.“ In Danforths Blick stand offener Unglaube. „Ihre vorgesetzten Offiziere“, fuhr Mr. Ramsey fort, „waren sich in ihrem Entschluß einig. Sie standen natürlich unter starkem politischem Druck. Sie suchten einen Sündenbock und wählten Sie dazu. Ich gab meine Zustim71
mung, um weiterhin gefügig zu erscheinen. Und nun möchte ich Ihnen sagen, daß – obwohl es mir persönlich leid tut – ich es als Vorteil für uns betrachte, daß es so gekommen ist.“ „Erklären Sie mir das bitte“, forderte Danforth. Er beobachtete den Telepathen gespannt und versuchte herauszufinden, worauf er abzielte. „Sie werden sich außerhalb der Polizeitruppe als viel wertvoller erweisen als innerhalb.“ „In Zivilkleidung?“ fragte Danforth. „Auf eigene Faust?“ „Ja.“ „Und meine Informationen nur an Sie weitergeben?“ „Ja. Der erste wunde Punkt bei unsern Gegnern hat sich bereits gezeigt.“ Danforth überlegte einen Moment lang, dann entsann er sich der Geschichte, die ihm der Nachrichtenoffizier erzählt hatte. „Sie meinen den Fernsehkomiker? Was hat er getan?“ „Seine Nummer an diesem Abend war eine erschreckende, aber durchaus glaubhafte Parodie auf eine Zeitmaschine. Der Komiker wurde ermordet, und die Art, wie es geschah, verriet umsichtige Planung.“ „Ich sehe aber keinen Zusammenhang zwischen den sechs Bombenanschlägen und der Ermordung des Komikers.“ „Doch. Eine fanatische Partei steuert die Führung der Nation an. Inzwischen suchen eine oder mehrere genau so fanatische Parteien fieberhaft nach einer wirksamen Zeitmaschine. Die erste Partei hat tödliche Furcht vor der Ma72
schine, weil diese ihr Ende bedeuten könnte. Erinnern Sie sich an die Attentate und den in der Öffentlichkeit vorherrschenden Verdacht, und denken Sie an den Mann, der die Maschine auf der Bühne erwähnte und dafür sein Leben verlor!“ „Sie sind also immer noch überzeugt, daß es keine Zeitreisenden gibt?“ „Ich bin überzeugt, daß kein Zeitreisender in der vergangenen Nacht in der Nähe von Außenminister Olivers Haus war. Ich glaube auch nicht, daß einer in der Stadt war oder hier ,vorbeifuhr’.“ Mr. Ramsey faltete die Hände. „Aber ich weiß auch, daß mir nur wenige glauben werden, weil man mir nicht glauben will. Die Söhne Amerikas sind überzeugt, von einem derartigen Zeitreisenden umgebracht zu werden.“ Sie saßen in nachdenklichem Schweigen. Nach einiger Zeit stellte Danforth eine Frage, die ihn beschäftigte, seit er die Aufnahme der Chronokameras gesehen hatte. „Haben Sie gesehen, wie eine Sekunde vor der Implosion die Hunde auf das Haus zurannten? Sie waren aufgeregt.“ „Ich glaube, ja.“ „Messen Sie dem irgendwelche Bedeutung bei?“ „Eigentlich nicht. Ohne ein Urteil über den Wert des Aberglaubens zu fällen, dürfen wir doch annehmen, daß sie den Tod herannahen fühlten.“ „Vielleicht“, sagte Danforth zögernd. „Oder sie bemerkten plötzlich, daß dort oben etwas nicht in Ordnung war.“ Er blickte den Telepathen an. „Haben Sie den Ort unter 73
Kontrolle gehalten? Was taten jene Männer in den letzten paar Sekunden?“ „Ich folgte Captain Redmon andauernd, seit er das Hauptquartier verließ“, antwortete Mr. Ramsey ruhig. „Er nahm einen Whisky von einem der Bediensteten entgegen und setzte sich, um der Unterhaltung zuzuhören. Er beantwortete die Fragen, die an ihn gerichtet wurden, beteiligte sich jedoch sonst nicht an den Gesprächen. Nach einigen Minuten begab er sich zur Bar. Er füllte sein Glas nach, nahm ein kleines Stehaufmännchen in die Hand, betrachtete es, Und das war das Ende.“ Danforth lehnte sich nach vorne. „Was für ein Stehaufmännchen?“ „Eine Gummipuppe.“ „Eine Gummipuppe?“ wiederholte Danforth. „Eine Puppe mit rundem Fuß. Eine kleine Puppe, die nicht umgestoßen werden kann. Sie springt immer wieder in ihre aufrechte Ausgangslage zurück. Ein richtiges Stehaufmännchen.“ „Schwerlich eine Implosionsbombe“, sagte Danforth gedehnt. „Schwerlich“, stimmte ihm Mr. Ramsey zu. „Hat sie der Captain einige Male angestoßen, bevor er sie aufnahm?“ „Ja. Danach hob er sie hoch und untersuchte den Fuß.“ „Päng!“ sagte der Leutnant humorlos. Mr. Ramsey antwortete nichts. Danforth fuhr fort: „Ich versprach einem der Kameraleute, daß ich Sie über Schutzschirme fragen würde. Über Zeitreisende und Schutzschirme. Ist, es möglich, Gedanken 74
vor Ihnen zu verbergen? Mit mechanischen Hilfsmitteln, meine ich? Der Mann hatte die Theorie entwickelt, daß sich die Zeitreisenden vor Ihnen verbargen, indem sie einen Metallschutz trugen oder irgend etwas, das ihre Gedanken abschirmte.“ „Eine unterhaltende Theorie, muß ich zugeben, aber eine nutzlose. Gedanken, wie auch die meisten Strahlungen, können nur mit einem Mittel abgeschirmt werden. Bleipanzer.“ „Und Sie würden einen solchen Panzer wahrnehmen?“ „Ein solcher Schutzschirm würde den beabsichtigten Zweck selber zunichte machen. Der Schirm selber und das Nichtvorhandensein von normalen Gedankenmustern würde auffallen.“ „Weshalb denn“, fragte Danforth gedankenvoll und neugierig, „haben Sie nichts von dem Nash-Ehepaar bemerkt?“ „Idi wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen Fehler nicht der Öffentlichkeit preisgäben. Einige Angehörige meiner Abteilung wissen um die Beschränkung meiner Fähigkeit, aber die meisten wissen nichts davon. Ich habe keine Bedenken, es Ihnen zu verraten, aber ich bitte Sie, es nicht weiterzusagen.“ „Sie haben mein Wort!“ „Danke. Telepathie – meine Form der Telepathie – ist keineswegs die geheimnisvolle Zauberei, welche die meisten Leute dahinter sehen. Es besteht eine eigenartige Beschränkung. Ich kann nur die Gedanken derjenigen Personen lesen, denen ich persönlich begegnet bin. Dann allerdings kann ich ihnen für den Rest ihres Lebens überallhin folgen. 75
Ich kann die Stadt und die umgebenden Gebiete mit den Leuten, die darin wohnen, zwar wahrnehmen, aber ich kann ihre Empfindungen nicht erkennen, solange ich ihnen nicht persönlich begegnet bin. Ich habe nicht alle Männer vorher gekannt, die sich gestern abend in Olivers Haus getroffen haben, aber ich war imstande, sie durch Captain Redmons Augen und Geist zu sehen. Ich habe Gilbert oder Shirley Nash nie gesehen, und ich hätte sie wahrscheinlich auch solange nicht bemerkt, bis sie nicht irgendeine auffällige Handlung begangen hätten, die meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Genauso können Sie ein bestimmtes Gebiet unter Beobachtung halten, aber einen Gesetzesbrecher darin solange nicht auffinden, bis er ein Verbrechen begeht.“ „Sie haben die beiden aber jetzt gesehen.“ „Ich sah Mr. und Mrs. Nash diesen Abend, während Sie sich in ihrem Haus aufhielten, aber ich sah sie nicht mehr, nachdem sie gegangen waren. Wenn ich das Glück habe, ihnen einmal zu begegnen, so werde ich sie nie mehr verlieren, ohne auf Ihre Anwesenheit angewiesen zu sein.“ Mr. Ramsey spreizte seine Finger. „Ich nehme Ihre nächste Frage gleich vorweg. Sie ist berechtigt, erfordert aber eine recht komplizierte Antwort. Sie können fragen, was ist mit diesem angenommenen Zeitreisenden, der die Stadt betritt, einem Mann, der mir unbekannt ist. Als erstes möchte ich feststellen, daß niemand, der mir bis heute begegnete, ein Zeitreisender war. Ich bin ganz sicher, daß heute nacht kein Zeitreisender in dieser Stadt weilte, obwohl ich natürlich keinen Beweis für meine Behauptung antreten kann. Ich bin nicht vollkommen und habe auch Fehler, aber ich glaube, daß ich in der Lage wä76
re, die Anwesenheit eines Fremden zu erkennen, der sich unserer Stadt und unserer Zeit mit einer Zeitmaschine nähert.“ „Wie?“ fragte Danforth offen. „Falls ein Zeitreisender jene Bombe in Simon Olivers Haus begleitet hat, so ist es logisch, anzunehmen, daß er zusammen mit den anderen umgekommen ist. – Leutnant, haben Sie je einen Mann sterben hören? Sterben durch rohe Gewalt? Und dann stellen Sie sich vor, einen Mann auf dem Weg über seine Seele und seinen Geist sterben zu hören! Eine ganze Anzahl von Männern starben in dieser Nacht. Und ich kann lediglich sagen, es war furchtbar. Ich hörte jeden von ihnen sterben, jeden Mann im ganzen Haus. Einige von ihnen waren mir nicht bekannt; ich kannte sie jedoch im Moment ihres Todes. Die Gedanken eines Zeitreisenden waren nicht darunter. Auch ein Bleipanzer hätte in diesen letzten Augenblicken keinen Schutz mehr gewährt.“ „Aber …“ „Ich sagte bereits, daß es schwierig zu beantworten wäre. Es ist schwierig, Begriffe in Worte zu fassen, welche nur vom inneren Ich eines Menschen erkannt werden können. Ich sagte, daß ich der Leute in der Stadt, ihrer Bewegungen und Anzahl gewahr sei. Ich habe sie nie persönlich getroffen, aber trotzdem nehme ich sie wahr. Und sollte ein Zeitreisender eintreffen, so würde ich die Zunahme bemerken und die außergewöhnliche Bewegung seines Kommens entdecken. Der Vorgang seiner Ankunft oder ,Durchfahrt’ selber würde meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“ „Damit komme ich wieder zum Ausgangspunkt zurück“, 77
sagte Danforth. „Jemand jagte ein Haus in die Luft und verschwand ohne jede sichtbare Spur.“ „Jawohl.“ Mr. Ramsey gab seine Antwort mit kühler und beherrschter Stimme. * Ex-Leutnant Danforth drehte den Schlüssel im Schloß seiner Wohnungstür und trat ein, ohne sich die Mühe zu machen, das Licht anzudrehen. Ganz gewohnheitsmäßig zog er seine graugrüne Uniform aus und hing sie sorgfältig in den Wandschrank neben seine drei Zivilanzüge. Er öffnete die Kleiderschublade und entnahm ihr saubere Unterwäsche. Dann suchte er ein großes, grüngestreiftes Badetuch hervor und ging ins Badezimmer, um sich zu duschen. Der Regen hatte endlich ganz aufgehört, und der Nachthimmel klärte sich allmählich. Einige wenige Sterne waren sichtbar, und ein schwachleuchtender, blasser Mond vermittelte eine Andeutung von Licht. Danforth kam von der Dusche zurück und legte sich auf sein Bett. Er lag da und starrte auf den Flecken Hummel, der durch das Fenster sichtbar wurde. Eine bewegte Nacht! An diesem einen Abend hatte er in vielen Beziehungen mehr gelernt als während der ganzen Jahre seiner Zugehörigkeit zu der Sicherheitspolizei. Und jede einzelne dieser Erfahrungen war eine Überraschung. Mr. Ramsey war nicht vollkommen! Heute nacht hatte ein Telepath seine Grenzen zu erken78
nen gegeben; er vermochte nur die Gedanken derjenigen Personen zu lesen, denen er persönlich begegnet war. Er war eine Art höherstehendes Lebewesen und bemerkte doch das Vorhandensein eines anderen Telepathen in seiner Nähe nicht, bis man ihm die Tatsache auf den Tisch legte. Er war unvollkommen. Gilbert und Shirley Nash – eine weitere Überraschung! Eine völlig neue Form der Telepathie. Eine Form von Telepathie, die auf körperlichen Kontakt mit der betreffenden Person angewiesen war. Heute nacht hatte Shirley Nash sein Handgelenk mit einem heftigen Griff umklammert und so seinem Gehirn alles über den Vorfall entnommen, was sie wissen wollte. Und dann hatte sie mit einer leichten Berührung ihrer Fingerspitzen die gestohlenen Auskünfte an ihren Gatten weitergegeben. Dieser hatte dann frei und offen über die Information geredet und schien sich nicht darum zu kümmern, daß Danforth ihren geheimen Gedankenaustausch bemerken könnte. Das konnte jedoch bewußte Irreführung sein; ein unschuldiges Gesicht und Benehmen, das dazu benutzt wurde, einen unschuldigen Charakter vorzutäuschen. Gilbert Nash vier- oder fünftausend Jahre alt? Ob der Wunsch dazu jetzt seinem Gehirn eingepflanzt worden war oder nicht, er würde zu jenem Haus am See zurückkehren und das nette Ehepaar besuchen. Vielleicht würde diesmal er ihnen Informationen entlocken. All dieses kluge Scheingeschwätz über Zeitmaschinen und Zeitreisen von gestern nach morgen und umgekehrt könnte ja schließlich auch irgendwohin führen … Danforth setzte sich in seinem Bett auf. 79
Mr. Ramsey behauptete, daß keine Zeitreisenden heute nacht die Stadt betreten hätten. Und doch hatte er nichts von Gilbert und Shirley Nash gewußt. Beide hätten eine Zeitmaschine bedienen und dennoch der Wachsamkeit des Telepathen entgehen können. Wenn nicht irgend jemand log. Danforth fiel auf sein Lager zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Er fragte sich, ob Mr. Ramsey jetzt gerade seine Gedanken beobachtete und schüttelte den Kopf, um von solch verwirrenden Gedanken freizukommen. Zum Teufel – die Polizisten früherer Zeiten wußten gar nicht, wie glücklich sie waren! Die sechs Bombenattentate hatten ihn und, seine Mannschaft umgeworfen, weil sie mit keinem der bestehenden Muster übereinstimmten, weil sie keinen Hinweis auf ihren Urheber lieferten. Sie hatten für sich selber ein neues Muster geschaffen, hatten das Zeitalter des Schwarzpulvers hinter sich zurückgelassen und erforderten zu ihrer Aufklärung eine neue Technik. Die vorhandenen Indizien bewiesen deutlich, daß bei den Anschlägen etwas völlig Neues zur Anwendung gebracht wurde, etwas, mit dem die Abteilung noch nie zuvor zu tun gehabt hatte. Danforth richtete sich erneut auf. Die Bettfedern quietschten protestierend. Hören Sie eigentlich zu, Mr. Ramsey? Sie haben mir gegenüber angegeben, daß Sie durchaus nicht vollkommen sind. Und Sie könnten nur schwer eine Maschine ohne Gehirn ausfindig machen. Eine Bombe, die durch die Zeit reist, ohne menschlichen Piloten, könnte al80
so neben Ihnen vorbeifliegen, ohne irgendwelchen Schutzschirm zu benötigen. Und schließlich erfordern Fernlenkgeschosse durchaus nicht einen Menschen, der mit ihnen fliegt … 5. Kapitel In Los Angeles verfolgte die Mordkommission die Spur eines Taxis quer durch die Stadt, erreichte schließlich ein abgelegenes, dunkles Haus und fand eine schon beinahe erkaltete Leiche ausgestreckt in der Küche liegen. Vom Gesicht war nicht genug übriggeblieben, um den Mann identifizieren zu können, doch paßte die Kleidung auf die Beschreibung des kürzlich verschwundenen Angestellten eines kleinen Geschäftes. Die Mordkommission fand bestätigt, was sie vermutet hatte. Der Mörder war stumm gemacht worden; es blieb die Aufgabe, den oder die Männer ausfindig zu machen, die hinter dem Mörder standen. Natürlich hatte keiner der Nachbarn die Schüsse gehört oder jemand das Haus verlassen sehen. * Gerade vor Anbruch der Dämmerung am folgenden Morgen, in der kühlen und grauen Stille, die die Welt in den letzten paar Minuten vor Sonnenaufgang bedeckt, fand ein Farmer ein Ding im Weiher auf seiner Weide. Es war eine runde, zerbrochene Maschine irgendwelcher Art, aber sie verriet keinen Sinn. Bevor sie zerschellt war, mochte sie ungefähr anderthalb Meter lang gewesen sein 81
und der Durchmesser etwa die Hälfte betragen haben; sie war leer, und einige schwarze Stäbe ragten aus einer Öffnung hervor. Ferner war noch ein Gewirr von Drähten da, in denen der Farmer Automobilkabel zu erkennen glaubte. Als er sich bückte, um einen Blick ins Innere zu werfen, erlitt er einen Schock. Es befand sich eine tote Katze darin, eine magere, schwarze Katze. Der Farmer wußte nichts anzufangen mit dem Ding. Es war gestern noch nicht dort gewesen. Es sah irgendwie einem großen Preßluftbehälter ähnlich, den jemand vom Himmel heruntergeworfen hatte. * Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei – Exleutnant Danforth – öffnete vorsichtig ein Auge und blickte in das helle Tageslicht. Dann schaute er auf die Uhr und sprang unwillkürlich aus dem Bett, erschreckt über die späte Stunde. Als beide Füße den Boden berührt hatten, entsann er sich, daß er Exleutnant Danforth war und fiel langsam wieder zurück. Irgendwie gefiel ihm das ebenfalls. Nach einiger Zeit stellte er fest, daß er hungrig war und stand ein zweites Mal auf, um sich anzukleiden. Er war unten auf der Treppe und beinahe schon bei der Tür, als aus einem angrenzenden Raum seine Wirtin hervorgestürzt kam. „Schlecht“, erklärte sie mit erhobenem Zeigefinger. „Schlecht, schlecht, schlecht!“ „Schlecht?“ fragte Danforth. Die Wirtin nickte. „Nur das Schlechte schläft so lange. 82
Rechtschaffene Leute stehen mit der Sonne auf. Es tut mir leid, Mr. Danforth.“ „Was tut Ihnen leid?“ wollte er wissen. „Daß Sie Ihre Stelle verloren haben. Diese Leute sind schlecht.“ „Einen Augenblick, bitte. Woher wissen Sie, daß ich meine Stelle verloren habe, und wer ist nun schlecht?“ „Die Beamten der Staatsverwaltung. Man kann niemandem von der Staatsverwaltung trauen, Mr. Danforth. Das soll Ihnen eine Lehre sein.“ Sie trat näher zu ihm heran, einen Staublappen schwenkend. „Sie haben Sie an die Luft gesetzt. Es kam im Radio heute früh. Aber ich bin auf Ihrer Seite, Mr. Danforth. Machen Sie sich über die Miete keine Gedanken!“ „Nun, danke – vielen Dank!“ Er schien verlegen. „So, ich bin also in den Nachrichten? Was wurde über mich gesagt?“ „Sie sagten, Sie hätten Ihre Pflicht vernachlässigt, und Sie hätten es zugelassen, daß das Haus jenes Politikers letzte Nacht in die Luft gesprengt wurde. Sie sagten, sie hätten eine gründliche Säuberung in der ganzen Abteilung vorgenommen. Ich wußte, daß hinter allem diese sündhaften Zeitmaschinen steckten!“ „Was?“ „Die Zeitmaschinen. Sie wissen schon, Mr. Danforth. Man hat eine entdeckt und den Mann festgenommen. Es kam auch in den Nachrichten heute morgen.“ Danforth fuhr herum. „Wo wurde sie gefunden? Wen haben sie verhaftet?“ „Oh, sein Name wurde nicht genannt. Irgendein Ingenieur bei Great Electric.“ 83
„Aber wo?“ fragte er. „Ich habe es ja soeben gesagt. Dieser Ingenieur bei Great Electric. In Binghamton glaube ich, hat der Ansager berichtet. Oder vielleicht war es auch Birmingham. Ach – wo diese Fabrik oben ist. Sie wissen das ja.“ Er wußte es nicht, aber er erfuhr es, als er das Restaurant erreichte, wo er gewöhnlich zu frühstücken pflegte, und dort eine Zeitung in die Hand nahm. Die ersten drei Zeilen der Geschichte überzeugten ihn, daß es sich um eine Falschmeldung handelte, veranlaßt von einem übereifrigen Zeitungsreporter. Aber es gab eine gute Schlagzeile ab. Danforth wandte seinen Blick von der Geschichte ab und suchte auf der ersten Seite nach dem anderen aufregenden Ereignis des Tages, den Einzelheiten über die Explosion der vergangenen Nacht. Eine große Aufnahme zeigte die Überreste von Simon Olivers Villa. Die Geschichte enthielt nichts, was Danforth nicht schon wußte. „Sie sind auf Seite drei!“ ertönte plötzlich eine weibliche Stimme. Danforth schielte über die Zeitung nach dem Mädchen, das hinter der Theke stand. „Hallo, Dutch. Ich habe Hunger.“ „Dem kann man abhelfen. Miserables Bild, übrigens.“ „Wirklich?“ Danforth wendete die Zeitung und schaute auf Seite drei nach. Das Bild, das beim Bericht über seine Entlassung abgedruckt war, stellte ihn dar, wie er vor einigen Jahren ausgesehen hatte. Es war ihm nie aufgefallen, daß er so sehr gealtert war, wie das Bild anzeigte. „Ich werde sie verklagen“, sagte er zu dem Mädchen. „Taten Sie es wirklich?“ wollte sie wissen. 84
„Wirklich was?“ „An jenem Ort eine Bombe legen?“ „Nein.“ „Dann verklagen Sie die Leute!“ stimmte sie zu. „Was ist mit dem Kerl, den sie verhaftet haben? Dem Ingenieur?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich zweifle auch daran.“ Dutch nickte. „Der Koch auch. Er sagte, es sei alles Schwindel. Nimmt mich wunder, wie er das wissen konnte?“ Sie wartete nicht auf eine Antwort. „Hörten Sie je von dem Neunmalklugen, der im Keller seines Hauses ein Boot gebaut hatte und es dann nicht herausnehmen konnte, als es fertiggestellt war? Nun, das ist dasselbe. Kein Ingenieur würde sich in seinem Keller eine Zeitmaschine bauen und dann die Wände niederreißen, um die Maschine herauszubekommen. Alles ein aufgelegter Schwindel, sagt der Koch. Er meint, der Ingenieur hätte vielleicht an irgendeinem neuen Kolben herumexperimentiert.“ „Freut mich, das zu hören“, meinte Danforth. „Jetzt, wo wir uns einig sind, könnte er vielleicht für mein Frühstück sorgen?“ „Ich kann es ihm ausrichten“, sagte Dutch. „Was?“ Danforth bestellte, und sie verschwand durch die Flügeltüren im Hintergrund des Raumes. Grinsend begann er zu überlegen, welche Art Spezialerziehung wohl notwendig sei, um die Menschen an die Tatsachen zu gewöhnen, wenn die Zeitreise je Wirklichkeit wurde, um sie zu überzeugen, daß vier Wände für eine Zeitmaschine kein Hindernis darstellten. Auf der einen Seite vermuteten sie, daß bevorzugte Beamte diese Maschinen besaßen und damit heimliche Vergnügungsfahrten durchführten, aber anderer85
seits klammerten sie sich an die merkwürdige Vorstellung, ein Mann könne eine derartige Maschine nicht aus seinem Kellergeschoß entfernen. Für eine Zivilisation, die daran gewöhnt war, sich mit den verschiedenartigsten Geschwindigkeiten zwischen Spazierschritt und Raketenflug durch den Raum fortzubewegen, durch die Zeit jedoch lediglich durch das Weiterleben von Tag zu Tag, würde dieser Begriff einigermaßen schwierig zu fassen sein. Notwendigerweise – überlegte er weiter – würde ein Zeitreisender in der Lage sein müssen, sich sowohl durch den Raum als auch durch die Zeit zu bewegen, sonst würde seine wundervolle Erfindung hilflos bis in alle Ewigkeit auf einem einzigen Fleck festgenagelt bleiben. Betrachten wir einmal diesen verflixten Ingenieur mit seiner Bastelei im Keller. Angenommen, es war eine Zeitmaschine in seiner Werkstatt. Falls er sie erfolgreich zum Funktionieren gebracht hatte, falls sie sich tatsächlich nach seinen Anordnungen durch die Zeit bewegte – dann was? Sie würde vorwärts oder rückwärts durch die Zeit reisen, das nächste oder das vergangene Jahr besuchen, aber doch immer noch innerhalb der Begrenzung durch jenen Keller verbleiben; immer noch mit der Stelle verwurzelt, an der sie gebaut und in Betrieb gesetzt worden war. Wenn der Ingenieur die Maschine einige Jahre zurückzuschicken vermochte in die Zeit, bevor der Keller ausgegraben und das Haus gebaut war, würde er sie unter einigen Metern Erde begraben wiederfinden. Oder wenn er sie um denselben Betrag vorwärtsschickte, vielleicht in eine Zeit, in der das Haus wieder abgerissen und die Kellerwölbung aufgefüllt wäre, würde er sie erneut eingegraben finden. Er würde also je86
desmal eine Schaufel mitnehmen müssen, um sich seinen Weg ans Tageslicht zu graben. (Und wohin mit dam Schutt, wenn der Weg von unten her gegraben werden muß?) Jetzt hat aber irgendwann in der Zukunft vielleicht eine neue Einrichtung die alte ersetzt. In diesem Fall würde sich auch der Plan des Grundstückes geändert haben. Was früher die Werkstatt gewesen war, konnte dann die Heizkammer oder die Waschküche sein. Und was würde ein Zeitreisender machen, wenn sich seine Maschine im Innern eines Ofens oder einer Waschmaschine materialisierte? Oder angenommen, das Haus wurde abgerissen und der Grund, auf dem es gestanden hatte, abgetragen, um einer Straße Platz zu machen. Wenn der Ingenieur mit seiner Maschine in diesem Moment ankommen sollte, würde er mit tödlicher Sicherheit sofort auf das neue Niveau der Bodenoberfläche niederstürzen – und was dann, mit einer zerschmetterten und unbrauchbaren Zeitmaschine? Es war also nötig, daß sich die Maschine sowohl durch Raum als auch Zeit bewegen konnte. Wenn nicht, hatte man ein Automobil ohne Räder erfunden. Danforth starrte verdrossen auf das Wasserglas, das die Kellnerin auf dem Schanktisch vor ihm hatte stehen lassen. Ob wohl die Maschine des Ingenieurs ein Rauschen verursachte, wenn sie sich durch Raum und Zeit bewegte? * Er trieb sich ohne bestimmtes Ziel in der Stadt herum. Zufällig kam er bei dar öffentlichen Bibliothek vorbei, und so 87
ging er hinein und erkundigte sich nach dem Roman von H. G. Wells „Die Zeitmaschine“. Die Geschichte war ziemlich bekannt geworden, seit der Zeit, da die Sache mit den Chrono-Kameras und den Zeitmaschinen in Schwung gekommen war, doch vermochte er sich nicht zu entsinnen, sie wirklich einmal gelesen zu haben. Vielleicht war es eines jener namenlosen Bücher, die er in der Schule gelesen hatte, um sie sofort hinterher wieder zu vergessen. Die Bibliothekarin erkannte ihn von seinem Bild in der Zeitung her und musterte ihn eingehend, aber sie suchte ihm den gewünschten Band heraus, ohne ihm gutgemeinte Ratschläge oder eigene Theorien anzubieten. Es war eine alte und ziemlich mitgenommene Ausgabe. Danforth nahm das Buch unter den Arm und ging. In seinem Nacken fühlte er die Blicke der anderen Angestellten. Sein Dahinschlendern führte ihn an die Stelle, wo vergangene Nacht das Bombenattentat stattgefunden hatte, aber wenig ereignete sich dort. Er gewahrte nur einen Mann, der in den Trümmern herumkletterte, mit einem Geigerzähler in der Hand. Ein Versicherungsagent. In den Zeitungsnotizen, die er gelesen hatte, war nichts von der Radioaktivität erwähnt worden, irgend jemand hielt offensichtlich diese aufragende Wendung in der ganzen Angelegenheit zurück. Dieser Jemand wäre wenig erfreut gewesen, wenn er jetzt den Versicherungsagenten zufällig hätte sehen können. Danforth bückte sich unter dem Absperrungsseil hindurch und überquerte die Straße, die der Vorderseite des Grundstückes entlangführte. Er zögerte und blickte nach beiden Seiten, um herauszufinden, wo Boggs und das 88
Mädchen gestanden haben mochten, als plötzlich der Himmel über ihnen einzustürzen begann. Dort unten – näher bei jener Baumgruppe. Er hatte mit ihr über das Geräusch des fallenden Regens gesprochen, und sie war sicher gewesen, ein anderes Geräusch gehört zu haben. Hier ungefähr. Er schaute zum zerstörten Gebäude hinüber, das jetzt durch die zerstörte Mauer und die entwurzelten Hecken hindurch sichtbar war. Dann drehte er sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung. Flaches Land erstreckte sich in jener Richtung, zahllose Motels, ein Bahnhof, und die vierspurige Autobahn Nummer 66 nach Chicago. Außerdem ein halbes hundert Dörfer und Städte von verschiedener Größe der Autobahn entlang. Der verspätete Gedanke von gestern nacht kehrte in seine Erinnerung zurück. Eine seelenlose kleine Maschine, die die Nacht durchquerte. Ein Fernlenkgeschoß, das durch die Zeit fallend geradewegs auf Simon Oliver und die bei ihm versammelten Söhne Amerikas niederstürzte. Ein Geschoß ohne menschlichen Piloten, das aus diesem Grund keine Ausstrahlungen von sich gab, die seine Anwesenheit verraten hätten. Was halten Sie davon, Mr. Ramsey? Danforth fuhr erneut herum und schaute zu den Trümmern und dem Versicherungsagenten hinüber. Es war eine Implosion gewesen. Implosion – einwärts, nicht Ex – auswärts! Die seelenlose, kleine Maschine, die Zeitbombe im eigentlichsten Sinne des Wortes, war einwärts explodiert und hatte die Gewalt der Detonation mit sich gerissen. Einwärts; in die Vergangenheit. Dieser Gedanke entlockte ihm ein Stirnrunzeln. 89
Eine rückläufige Explosion? Eine Explosion, die dem normalen Verlauf der Zeit, dem normalen Lebenslauf genau entgegengesetzt war? Leben strebte der Zukunft entgegen, der Mensch lebte von einem Augenblick zum nächstfolgenden, und seine Betrachtungsweise war notwendigerweise dieselbe. Wie würde einem Menschen eine Explosion erscheinen, deren Ablauf auf umgekehrte Weise erfolgte? Wenn sie jetzt, in diesem Augenblick, begann, sich danach jedoch rückwärts statt vorwärts weiterentwickelte? Würden die Chrono-Kameras einen Vorgang enthüllen, der einer Implosion gleichkam? Er schüttelte den Kopf. Sollte sich Mr. Ramsey damit befassen! Sollten sich doch sämtliche Mr. Ramseys und Polizisten auch der folgenden Jahre mit – um einen neuen Ausdruck zu prägen – diesen Chrono-Verbrechen abgeben! Er verließ das seilbegrenzte Gebiet und setzte seinen Spaziergang fort. Um sich selber zufriedenzustellen – obwohl er ihnen glaubte, daß sie die Wahrheit gesagt hatten – folgte er dem wahrscheinlichen Weg, den das Paar in der vergangenen Nacht im Regen eingeschlagen hatte. Doch Boggs und Barbara Brooks waren genau das, was sie angegeben hatten und hatten genau das getan, was sie gesagt hatten. Er wartete auf den Bus und fuhr in die Stadt zurück. Außer einer Frau, die ein Bündel Wäsche trug, war er während des größten Teils der Strecke der einzige Fahrgast. Der Wagenführer war zu einem Gespräch aufgelegt und übernahm unverzüglich fünfundneunzig Prozent der Unterhaltung. Er redete über den Mord an dem Komiker, die Verhaftung des Ingenieurs von Bellingham, die kürzliche Sichtung 90
von Fliegenden Untertassen, das Bombenattentat und über den Polizisten, der letzte Nacht seine Stelle verloren hatte. Alles in allem, faßte er seine Meinung zusammen, hatte sich in der vergangenen Nacht allerhand ereignet, oder? Danforth stimmte zu. Nun dann, was war das nächste? Was konnte möglicherweise als nächstes geschehen? Danforth dachte an das Ende der Welt. Das wäre ganz gewiß einmal etwas Neuartiges. * Er stattete dem Spital einen kurzen Besuch ab, um mit dem jungen Paar zu reden und überbrachte das Angebot der Hilfsbereitschaft von Nash. Boggs wollte nichts davon wissen und sagte es auch. „Ich will seine Almosen nicht!“ drückte er es aus. „Machen Sie das mit ihm aus“, sagte Danforth. „Ich habe Ihnen lediglich die Nachricht überbracht.“ „Gut, gut. Er hat aber auch ein Gemüt! Sind Sie bereits bei Barbara gewesen? Sie wollen mich nicht zu ihr lassen.“ „Es geht ihr ausgezeichnet. Übrigens sind Sie beide von der Liste der Verdächtigen gestrichen, wenn ich richtig gelesen habe. Die Polizeiwache ist entfernt worden.“ „Wunderbar!“ „Oh, vielleicht läßt man Sie noch für eine Weile beschatten.“ „Wofür denn, zum Teufel?“ „Vielleicht hoffen sie, daß Sie sie an den Ort zurückführen, wo Sie das Dynamit verborgen haben.“ 91
„Ach, die Dummköpfe.“ Er bat Danforth um eine Zigarette. „Ich hörte einige der Schwestern hier miteinander reden. Niemand scheint zu wissen, was los. ist.“ „Das stimmt. Niemand, bis zuoberst hinauf nicht.“ „Und ich behaupte immer noch, daß es ein Anarchist gewesen ist.“ „Vielleicht haben Sie recht.“ Dann schaute er bei dem Mädchen herein und fragte sie nochmals über das Geräusch, das sie gehört hatte. Ihre Antworten blieben dieselben und waren genauso fruchtlos wie vorher. Das Rauschen hatte nicht vom Regen in den Bäumen hergerührt. Er brach seinen Spaziergang durch die Stadt ab und ging in ein Lokal. Er blätterte müßig in dem Buch von Wells, bis ihm das Essen gebracht wurde. Er entdeckte, daß der fehlende Teil einer Illustration ursprünglich ein grauenhaftes, krabbenähnliches Ungeheuer gezeigt hatte, das einen Mann verspeiste. Die Geschichte nannte ihn den Reisenden. Der unglückliche Mann war mit seiner Maschine gekommen, um in einer weit in der Zukunft liegenden Zeit den Rest seines Lebens zu verbringen, in einer Zeit, da menschliches Leben längst von der Erde verschwunden war und Himmel und Erde nur noch sterbende Materie waren und die Rotation des Planeten allmählich langsamer wurde. Ein Mann wie der Reisende war willkommene Nahrung für das Monstrum, das aus dem Meer hervorgekrochen war. Danforth schmeckte sein Essen nicht mehr. Als er das Lokal verließ und in das helle Sonnenlicht des Nachmittags hinaustrat, bemerkte er den Streifenwagen der 92
Stadtpolizei. Er war offensichtlich erst gerade hier angekommen, denn einer der vorne sitzenden uniformierten Polizisten war soeben am Aussteigen. Der Mann hielt an, als er Danforth erblickte. „Danforth – das Hauptquartier sucht nach Ihnen. Rufen Sie dort an!“ Danforth schwenkte die Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte und betrat das Restaurant wieder. Während er die Nummer wählte, überlegte er sich, wie es ihnen gelungen war, ihn ausfindig zu machen. Der Nachrichtenoffizier der Tagschicht nahm seinen Anruf entgegen. „Verbinden Sie mich mit Mr. Ramsey, bitte.“ „Jawohl, Sir“, antwortete die, Stimme unpersönlich. „Wer ist dort?“ „Geheimagent X.“ Der Mann zögerte unwillkürlich, dann lachte er, als er Danforths Stimme erkannte. Er sagte bereitwillig: „Ein Freund von Ihnen hat einige Informationen für Sie bereit. Er hat eine Meldung zurückgelassen für den Fall, daß Sie anrufen. Er wird bis knapp vor sechs Uhr zu Hause sein.“ „Danke. Ich rufe ihn an.“ Dann wurde die Verbindung mit dem anderen Büro hergestellt. „Mr. Ramsey?“ „Ganz recht, Leutnant! Ich habe es so eingerichtet, daß Sie einen unserer Wagen haben können. Die Wache hat vor kurzem einen Anruf von einem Farmer namens Joseph Sohl erhalten, der zwei Meilen östlich von Ruckhart wohnt. Der Farmer berichtete, daß eine seltsame, metallene Appa93
ratur entweder gestern nacht oder heute früh auf seine Weide gefallen sei. Auf unsere Frage hin gab er zu, das Ding nicht selber fallen gesehen zu haben, und er kann auch nicht endgültig beweisen, daß es irgendeine Apparatur ist. Nach seiner Beschreibung hat man auf der Wache vermutet, daß es sich einfach um ein Stück weggeworfenes Altmetall handelte. Leutnant, es scheint mir so, als ob es –“ „Ich habe begriffen“, sagte Danforth. „Ich werde das Ding sofort untersuchen. Noch etwas, bitte: Wissen Sie etwas über den Ingenieur in Bellingham? Echt oder Falschmeldung?“ „Falsch. Ich glaube, der Mann arbeitete an einer Art militärischer Waffe, die er der Regierung zu verkaufen hoffte. Ich glaube, er beschrieb es als eine revolutionäre Mine, die durch die Gedankenmuster der anrückenden Feinde zur Explosion gebracht werden kann.“ „Danke! Ich bin bereits unterwegs!“ Er rannte aus dem Restaurant, winkte einem Taxi und fuhr durch die Stadt ins Polizeihauptquartier. Der Nachrichtenoffizier warf ihm ein Bündel mit Schlüsseln zu und grinste wissend. Danforth erwiderte das Grinsen und hastete durch die Tür zum Parkplatz hinunter. Buckhart war acht oder neun Meilen östlich von Springneid gelegen. Ein Teil der Strecke bestand aus einer gut asphaltierten Hauptstraße, dann folgte eine schlecht asphaltierte Nebenstraße. Die Straße, an welcher der Farmer wohnte, war noch schlechter und endete in einem holprigen Kiesweg. Danforth erkannte Sohls Farm am handgeschriebenen Namensschild auf dem Briefkasten und an dem kleinen 94
Jungen, der daneben im Schatten hockte. Der Knabe betrachtete den Polizeiwagen mit scheuer Bewunderung. Er sagte, daß sein Vater außer Rufweite pflüge, daß er selber aber gerne das Amt des Führers übernehmen würde. Danforth öffnete ihm die Tür, und sie führen langsam einen staubigen Feldweg neben dem Bauernhaus und den abliegenden Gebäuden entlang. Vieh war an der Hinterseite der Scheune angebunden und drängte sich in den Schatten. Der Knabe lief voraus, um das Weidegatter zu öffnen, und deutete wortlos auf einen kleinen Weiher. Danforth stieg aus, um sich das Ding anzusehen. Es war ein Metallzylinder, der halb vergraben im schmutzigen Wasser des Weihers lag, ein unbeschreibliches, zerbrochenes Etwas, mit einem Durcheinander von stumpfen, schwarzen Stäben und zerrissenen Drähten, die aus seinem offenen Ende hervorhingen. Es sah so aus, als ob es einfach hingeworfen worden sei. Rostflecken hatten sich schon seit einiger Zeit auf der ganzen Länge des Zylinders angesetzt. Die Öffnung am Vorderende war uneben und eingedrückt, und die Einbuchtungen von Hammerschlägen waren deutlich sichtbar. Das Ding war ursprünglich verschließbar gewesen, jetzt jedoch fehlte der Deckel. Irgend etwas hatte dem Zylinder in der Mitte einen heftigen Schlag versetzt. Danforth wußte, daß er es gefunden hatte! Ohne auf den Schmutz zu achten, ließ er sich auf die Knie nieder, um in das Innere des Zylinders hineinzuschauen. Überrascht sprang er wieder auf und sah, daß ihn der Knabe beobachtete. „Ich hätte Ihnen sagen können, daß die Katze drinnen ist.“ 95
„Gehört sie dir?“ „Nein.“ „Gehört sie einem Nachbarn?“ „Nein. Nicht diese Katze.“ Danforth schaute nochmals hinein. Die Katze war fest verstrickt in dem Wirrwarr von Drähten und Stäben. Sie war offensichtlich hängengeblieben, als sie versucht hatte, sich einen Weg durch den Irrgarten zu bahnen – mit dem einzigen Erfolg, daß sie sich selber erwürgt oder aufgespießt hatte. Danforth blickte genauer hin. Oder aber sie war vom niederfallenden, defekten Zylinder aufgespießt worden. In einer plötzlichen Eingebung befahl Danforth dem Knaben, sich vom Weiher zu entfernen und hinter dem Wagen in Deckung zu gehen. „Wozu, Mister?“ „Weil ich dieses Ding aus dem Wasser herausnehmen werde und es dabei in die Luft gehen könnte. Und jetzt, geh!“ Danforth faßte das scharfkantige offene Ende des Zylinders mit beiden Händen an und zog es nach hinten. Es glitt so leicht aus dem Weiher heraus, daß er stolperte und beinahe hingefallen wäre. Er zog nun den Gegenstand ganz vom Ufer weg und ließ ihn auf dem Gras liegen, dann trat er zurück und betrachtete ihn. Es war nichts anderes als eine leere Blechwalze, ungefähr anderthalb Meter lang und mit einem Durchmesser von vielleicht siebzig Zentimetern; die Wände waren ziemlich stark und wasserdicht. Rost und Dreck bedeckten das einstmals glänzende, galvanisierte Äußere, und am Boden war ein Deckel angeschweißt. Er 96
bewegte den Zylinder mit dem Fuß, und eine fachmännisch zusammengeschweißte Naht kam zum Vorschein. Es schien wirklich nichts mehr zu sein als … Etwas auf dem Boden zog seinen Blick an. Er ließ sich erneut auf seine Knie nieder und kratzte den feuchten Schmutz weg, der dort haftete. Der Junge stand neben ihm und verfolgte jede seiner Bewegungen. „Was steht dort geschrieben?“ „Es heißt“, las Danforth vor, „galvanisierter Stahl, Fassungsvermögen 120 Liter, hergestellt in den USA.“ „Was bedeutet das?“ „Daß das ein Wasserbehälter ist. Ein rostiger, verbeulter Wassertank aus einer Heißwasserheizung,“ „Mit einer toten Katze darin?“ „Mit einer toten Katze darin, jawohl. Bemerkenswert, nicht?“ „Was?“ „Ist es nicht bemerkenswert, was ein verkanntes Genie fertigbringt, wenn es sich etwas vornimmt?“ Der Knabe verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Danforth klopfte mit den Knöcheln auf den Behälter und schüttelte den Kopf in reuevoller Bewunderung. „Ich habe zu viele hausgemachte Bomben gesehen, um eine weitere nicht ebenso erkennen zu können. Und noch keine einzige war bemalt oder verchromt gewesen, das kommt erst später.“ Er rollte den Tank mit der Hand hin und her. „Sie sind ohne Chrom und Bemalung genauso wirksam.“ Der Knabe schaute ihn verständnislos an. Danforth drehte den Zylinder mit dem offenen Ende ge97
gen die Sonne zu, und hob ihn auf seine Knie, um das Innere genauer sehen zu können. Irgend etwas rollte lose hin und her, als er ihn bewegte. Das Gewirr von Drähten und zerbrochenen Stäben ließ ihn nicht klüger werden als vorher, aber er vermochte jetzt wenigstens hinter den Körper der toten Katze am anderen Ende des Zylinders zu blicken. Ein schmutziges, zerrissenes Stück einer Decke war dort befestigt – das Lager der reisenden Katze. Ein bequemer Ort, um seinen Körper daraufzulegen auf der langen Reise – wohin? Zum Opfer der nächsten Woche? Auf einem Haufen wahllos durcheinander lagen auf der Decke ferner zwei Batterien und eine Prince Albert-Tabaksdose. Er vermeinte ein Ende eines feinen Drahtes aus dem verschlossenen Deckel der Dose hervorragen zu sehen. Die Pole der Batterien waren nirgends angeschlossen, aber etliche kurze Drahtstücke lagen auf dem Boden des Behälters. Danforth ließ den Tank fallen und rannte zum Wagen. Er öffnete den Kofferraum. Ein Geigerzähler lag dort, eingebettet in einer Pappschachtel. Er schlang den Aufhängeriemen des Gerätes um seine Schultern und kehrte zum Zylinder zurück. Dann senkte er den Zähler tief in den Behälter hinein. „Was verursacht das klickende Geräusch, Mister? Uran?“ „Kann sein. Ich weiß es noch nicht.“ Er legte den Zähler beiseite und langte nochmals hinein, um die Katze herauszunehmen. Es war eine magere, schwarze Katze, die offensichtlich in ihrem ganzen Leben keine einzige ausreichende Mahlzeit bekommen hatte; der hinterste Abschnitt ihres langen Schwanzes war in einem 98
eigenartigen Winkel gekrümmt, wie wenn er gebrochen wäre, und in einem Ohr befand sich ein kleiner Einriß. Danforth rührte nicht an dem schwarzen Stäbchen, das wie ein Dolch zwischen ihren Rippen stak. Das Blut war längst eingetrocknet. Eine Weile später überprüfte er die Katze mit dem Geigerzähler, aber es zeigte sich kein Ausschlag. Als nächstes wurden die beiden Batterien in das Sonnenlicht gelegt, und wieder schwieg der Zähler. Danforth entdeckte Reste einer Lötmasse an den Enden der Pole. „In dieser Dose hat es ganz gewiß Uran!“ brach es aus dem Jungen hervor. Er starrte mit großen Augen auf den Zähler. „Ich habe das schon mal im Fernsehen gesehen.“ Vorsichtig öffnete Danforth den Verschluß der Dose. Erde. Er strich ein wenig davon auf seine Hand und holte den Geigerzähler herbei. Die Erde war radioaktiv. Danforth legte den Zähler beiseite, strich den Schmutz wieder in die Dose zurück, verschloß sie und stellte sie auf den Boden. Dann setzte er sich hin und stützte das Kinn auf die Hand. Der Knabe schaute ihm sekundenlang zu und tat es ihm dann gleich. 6. Kapitel Moskowitz, der Labortechniker, pflegte im Laboratorium einen grünen Arbeitskittel zu tragen, der ihm bis zu den Knien herabhing. Er ließ ihn zweimal im Jahr waschen, ob er die Reinigung benötigte oder nicht, und er hatte die Taschen daran schon vor langer Zeit weggeschnitten, weil seine Arbeitskollegen die Gewohnheit angenommen hatten, Gegenstände hineinzulegen – unerwartete und oftmals un99
erwünschte Gegenstände. Er blickte mit höchster Verachtung auf ihre weißen, nur bis zu den Hüften reichenden Arbeitskittel herab. Außerdem liebte und trug er farbenfreudige Krawatten. Die aufregende rosa Krawatte, die er jetzt gerade umgebunden hatte, paßte in keiner Weise zu seinem grünen Kleidungsstück. „Ein Schwindel“, erklärte er. „Ein ausgemachter Schwindel an der Öffentlichkeit. Eine Verschwörung zu Schwindel und Betrug, eine fürchterliche Verdrehung von Tatsachen. Und ihre Reklame ist es offensichtlich ebenfalls.“ „Es ist lediglich radioaktiver Dreck“, erinnerte ihn Danforth. Moskowitz drehte sich vom Spektroskop weg und schwenkte ein kleines Quantum des Schmutzes in seiner Hand. Er schien es zu wägen, roch daran, blickte es prüfend an und zerdrückte es schließlich in seiner Faust. „Ein Schwindel, sage ich. Ein kaltblütiger Schwindel, welcher der leichtgläubigen Masse da vorgelegt wird. Eine minderwertige Ware, die mit großen Worten gepriesen und an grüne Studenten verkauft wird. Es sollte ein Gesetz dagegen geben!“ Danforth seufzte und rieb geduldig seine Handflächen an seinen Hosen. „Bitte, Moskowitz, was ist es?“ „Seltene Erde.“ „Das?“ „Grob!“ „Grob was?“ „Grobe Irreführung. Kein Mensch, der alle Sinne beieinander hat, wäre darauf hereingefallen.“ „Was ist es?“ fragte Danforth erneut. 100
„Reine Erde in Rohform. Vermischt mit ganz gewöhnlichem Dreck, um das Verkaufsgewicht zu erhöhen. Ich kann mir jetzt ungefähr ein Bild ihres Katalogs machen. Seltene Erden, das Pfund nur zwei Dollar fünfundneunzig.“ Er zerrte erbost an seiner Krawatte. „Auswahl zwischen sechs verschiedenen Mischungen; Kalifornium, Lanthan, Cer, Neodym, Europium und Holmium. Fordern Sie unseren illustrierten Katalog an!“ „Wessen Katalog?“ fragte Danforth. „Des Versandhauses, das diesen Dreck verkauft.“ „Das Zeug kann einfach so auf dem Markt gekauft werden?“ „Natürlich.“ Die rosa Krawatte wurde erneut zurechtgezerrt. „Sie haben die grundlegendsten Anstandsgesetze vergessen. Man sollte sie anzeigen, daß sie solche betrügerische Ware verkaufen.“ Danforth betrachtete die Handvoll Erde. „Vielleicht hat er sie nicht in einem Versandhaus gekauft. Vielleicht hat er sie in seinem Garten ausgegraben.“ Moskowitz lächelte überlegen. „Seltene Erden werden nicht in Gärten gefunden. Unmöglich.“ „Nein? Soviel ich mich erinnere, wurde Uran auch nicht eher in Kalkstein entdeckt, bis jener Indianer zufällig darüber stolperte.“ „Ein Zufall“, sagte Moskowitz. „Seltene Erden werden in Mineralien gefunden, die nur vereinzelt vorkommen. Monazit, Gerit, Gadolinit, Samarskit – hatte es etwas von diesen im Garten?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe den Garten noch nicht gefunden. Wie gewinnt man sie, wie werden sie abgebaut?“ 101
„Ziemlich einfach. Die Trennung von seltenen Erdmetallen und gewöhnlichen Metallen erfolgt gewöhnlich durch Ausscheidung mittels eines geeigneten Lösungsmittels. Es gibt eine Menge davon.“ „Das freut mich; du kannst sie mir später einmal aufzählen. Aber jetzt, was haben wir vor uns?“ Moskowitz hielt die Erde sorgfältig albwägend in seiner Hand. „Ich habe hier“, sagte er feierlich, „in meiner Hand eine winzige Menge seltener Erde, die auf hinterlistige Weise mit gewöhnlicher Erde vermengt wurde. Letztere stammt aus einem Garten, erstere nicht. Ich vermute, daß erstere aus einem Versandhaus stammt, das sie mit betrügerischer Absicht verkauft hat.“ Danforth setzte sich. „Ich warte seit einer Viertelstunde darauf, das zu hören.“ Moskowitz sah zu ihm hinüber, den Sarkasmus in seiner Stimme heraushörend. „Ich werde in der Lage sein, dir anzugeben, um welche seltene Erde es sich handelt, nachdem ich einige Versuche damit angestellt habe. Es gibt eine Menge davon.“ „Natürlich“, stimmte Danforth zu. „Was ist eigentlich außergewöhnlich an dem Zeug?“ „In welchem Sinn? Du mußt dich deutlicher ausdrücken. Es wird in der Industrie verwendet.“ „In einer Bombe, beispielsweise.“ Der Techniker warf ihm einen überraschten Blick zu. „Das Attentat von gestern nacht?“ vermutete er scharfsinnig. Danforth nickte. „Nun“, rief Moskowitz aus, „ich bin verblüfft! Natürlich 102
unmöglich. Die meisten Zusammensetzungen von seltenen Erden sind stark paramagnetisch, wenn dir das weiterhilft.“ „Paramagnetisch?“ „Ja. Ein Körper, der magnetische Polarität aufweist in der gleichen Richtung wie die magnetische Kraft selber, wird paramagnetisch genannt, als Gegensatz zu diamagnetisch.“ „Ach so, das erklärt natürlich alles! Nun, dann wurde Simon Oliver durch Paramagnetismus in ein frühes Grab gesandt. Falls die einzelnen Bestandteile seines Körpers noch aufzufinden sind.“ „Das ist Stoff für ein Witzblatt!“ „Ich bezweifle, daß Simon Oliver lachen würde“, spottete Danforth. „Ich nehme nicht an, daß du in der Lage warst, den aufgefundenen Mechanismus auszuprobieren?“ „Die Überreste schon, den kompletten Apparat nicht. Ich habe den Behälter, die Tabakdose, zwei Batterien, einen Haufen Draht und eine tote Katze, aber keine blasse Idee, wie alles zusammengehört. Ein Draht steckte in der Dose, bevor ich sie herausnahm, und ich vermute, daß weitere Drähte an den Polen der Batterien angeschlossen waren. Eine Weckeruhr fand ich nicht – wenn ich eine gefunden hätte, so würde ich sagen, sie sei der Zeitzünder gewesen. Unmöglich, aber dennoch eine Bombe.“ „Eine tote Katze?“ forschte Moskowitz. „Wozu?“ „Als Pilot“, schlug Danforth vor. Moskowitz ‘setzte sich. „Du tust mir leid“, sagte er. „Weshalb?“ „Du schaust dich doch nach einer anderen Stelle um, oder?“ 103
„Das hat noch Zeit.“ „Du wirst schwer haben, eine Stelle zu finden ohne Referenzen von deinem früheren Arbeitgeber. Wenn ich dieser Arbeitgeber wäre, so würde ich besagte Referenzen nicht abgeben. Du bist noch nicht alt genug für eine Pension, wie?“ Danforth lachte. „Ich erwarte noch reich zu werden. Ich halte mir als Ansporn immer das Bild jenes armen alten Indianers vor Augen, der sich über ein Kalkgebirge schleppte und Uran entdeckte.“ „Das war ein Zufall, nichts als ein Zufall“, schnappte Moskowitz. „Das Erz hatte kein Recht, dort zu sein.“ „Dasselbe kann für die Erde in meinem Garten gelten!“ * Danforth ging, um an seinem Fund weiter zu arbeiten. Er leerte den Inhalt der Tabaksdose in einen großen Umschlag und steckte ihn in seine Tasche. Die Dose selber steckte er in einen zweiten Umschlag und versah diesen mit seinen Initialen. Dann klemmte er ungefähr einen Meter von dem Draht ab, rollte ihn auf und etikettierte ihn wieder mit seinen Initialen. Das gleiche tat er mit den beiden Batterien sowie einem halben Dutzend der schwarzen Stäbe verschiedener Länge. Alle diese Einzelteile legte er zusammen in eine kleine Pappschachtel. Schließlich entnahm er dem ersten Umschlag ein wenig von der Erde und schüttete sie in einen gewöhnlichen Briefumschlag, auf welchen er ebenfalls seine Anfangsbuchstaben schrieb. 104
Es war Polizeiroutine, der übliche Arbeitsvorgang, um aus spärlichsten Beweisfetzchen ein Maximum an Resultaten zu erlangen. Die Tabakdose würde zuerst einer Joddampf-Behandlung ausgesetzt werden, um Fingerabdrücke aufzudecken. Einige der so enthüllten Abdrücke würden Danforth gehören, einige dem Händler, der den Gegenstand verkauft hatte, und einige würden den Käufer kennzeichnen. Danforth wollte die Abdrücke des Käufers. Danach würde die Dose dem Verkäufer oder der Herstellerfirma übergeben werden, in der Hoffnung, daß sie bis zu einem endgültigen Bestimmungsort an einer einzelnen Adresse zurückverfolgt werden konnte. Unterdessen würde ein Teil der Erde aus der Dose in das Laboratorium der Universität von Illinois gesandt werden. Dort würde sie verschiedenen Tests unterworfen, um ihre chemische Zusammensetzung, das mögliche Vorhandensein unbekannter Stoffe sowie die einzelnen übrigen Bestandteile zu bestimmen. Dies würde sodann ermöglichen, den ungefähren Ort zu ermitteln, an dem die Erde gefunden wurde. Moskowitz, trotz seines offensichtlichen Unglaubens, würde die Bestandteile an seltener Erde von der übrigen Mischung abtrennen und die betreffenden Elemente bis zu dem Versandhaus oder dem Laboratorium zurückverfolgen, das sie verkauft hatte. Daraus würde sich wiederum eine Liste von kürzlichen Käufern ergeben. Auf ähnliche Weise würden dann auch Informationen über den Draht, die Batterien und die Stäbe gesammelt werden. Die Batterien trugen zudem nicht nur den Namen der Herstellerfirma, sondern darüber hinaus Serienziffern, welche zu dem Geschäft führen konnten, das sie verkauft 105
hatte. Mit dem Draht würde es schwieriger sein, denn Teile davon würden zuerst verschiedenen Herstellern zur Identifikation vorgelegt werden müssen, danach erst konnte wiederum in mühsamer Kleinarbeit der Zwischenhändler ausfindig gemacht werden und die Geschäfte, die den Draht verkauften. Eines dieser Geschäfte würde dann vielleicht in demselben Gebiet liegen, in welchem die Tabakdose und die Batterien verkauft worden waren und aus dem die Erde herstammte; auf diese Weise würde die Liste der möglichen Käufer allmählich auf eine einzelne Person eingeschränkt werden. Danforth legte die letzten der mit seinen Initialen versehenen Beweisstücke in die Pappschachtel und nahm sie mit. Er legte die Schachtel auf den Sitz neben sich und fuhr quer durch die Stadt zur Wohnung des Nachrichtenoffiziers der Nachtschicht. Er fuhr die Zufahrt hinauf, stellte den Motor ab und vernahm das unverkennbare Geräusch eines Rasenmähers vom Garten her. Danforth stieg aus und schritt um das Haus herum zum Garten. „Hallo, Dave.“ Er setzte sich neben dem Mann hin und fuhr mit den Fingern durch das frischgemähte Gras. „Riecht gut, nicht?“ Dave nickte ihm zu. „Haben Sie bei der Identitätskontrolle der Nashs etwas entdeckt?“ Der Nachrichtenoffizier begann zu lachen. „Leutnant, Sie sind mit ihren Nachforschungen gegen eine Betonmauer gestoßen! Washington sagt: Hände weg!“ „Was?“ „So hieß es. Zuerst suchte ich in unseren eigenen Archi106
ven, aber es war nichts vorhanden, so fragte ich in Washington an. Die Antwort kam heute morgen, kurz bevor mein Dienst zu Ende war. Ich habe das Tonband im Haus, aber ich kann Ihnen das meiste auch so sagen. Sie haben eine VIP angerührt (VIP = very important person). – Solange Sie nicht eindeutige Beweise über irgendwelche kriminellen Handlungen haben, lassen Sie die Hände davon. Mischen Sie sich nicht ein.“ Danforth fiel auf das Gras zurück und blickte in den Himmel. „Dieser Gilbert Nash“, fuhr Dave fort, „stand irgendwie in Verbindung mit den Oak Ridge Laboratorien vor Jahren – gerade um die Zeit herum, als die atomaren Geschosse erfunden wurden und die Raumstation auf ihre Kreisbahn geschickt wurde. Washington war nicht sehr mitteilsam. Ich vermute, daß er im Sicherheitsdienst eine Rolle spielte, seine Frau auf jeden Fall. Shirley Nash – damals waren sie noch nicht verheiratet – arbeitete für eine der Sicherheitsorganisationen. Wie dem auch sei, die beiden müssen in Ruhe gelassen werden, wenn Sie nicht eindeutige Beweise gegen sie haben. Und wenn Sie solche haben, so müssen Sie sich direkt mit Washington in Verbindung setzen, und zwar unverzüglich und bevor Sie irgend etwas eigenmächtig unternehmen. Und nun verdauen Sie das.“ „Dasselbe, was Sie mir gesagt haben“, erklärte Danforth, „habe ich bereits aus einer anderen Quelle erfahren, aber ich glaubte es nicht. Gilbert und Shirley Nash sind also nicht. Ich kann geradeso gut die gesamte Aussage glauben.“ Dave blickte ihn an, sagte aber nichts. 107
„Ich habe die Zeitbombe gefunden, die Simon Oliver erwischt hat!“ sagte Danforth etwas später. „Was Sie nicht sagen!“ „Was ich nicht sage“, nickte Danforth. „Dort draußen im Wagen.“ Dann korrigierte er sich. „Es ist nicht dieselbe Bombe; es ist ein Zwilling von ihr.“ „Entschärft, hoffe ich!“ Dave blickte zur Auffahrt hinüber. „Meinen Glückwunsch, Captain! Wann treten Sie wieder Ihren Dienst an?“ Danforth streckte sich lang aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Es gefällt mir so. Warum sollte ich wieder meinen Dienst aufnehmen?“ „Es muß schön sein.“ „Die Bombe ist in kleine Stücke zerlegt“, erklärte Danforth. „Ich habe eine Schachtel voll Einzelteile mitgebracht, von denen ich möchte, daß Sie sie für mich weiterleiten. Batterien, Draht, eine Tabakdose und etwas, das wie Aluminiumstäbe aussieht. Es wäre gut, wenn wir alles bis zu dem Mann zurückverfolgen könnten, der die Dinge gekauft hat.“ „Es wäre genauso gut, wenn die Steuern abgeschafft würden. Ich werde aber heute nacht noch damit beginnen. Wie gelang es den Leuten bloß, eine Zeitbombe in jenes Haus hineinzubringen?“ „Zeit-Bombe, Dave!“ Der Nachrichtenoffizier sprang auf. „Großer Gott, nein!“ „Doch!“ „Eine richtige Zeitbombe, Leutnant? Die Sache mit Great Electric?“ „Ja, aber Great Electric hat nichts damit zu tun. Ein Frei108
zeitmechaniker verfertigte diese.“ Er stand auf. „Kommen Sie zum Wagen und schauen Sie sich das Ding an!“ Danforth öffnete den Kofferraum, um den Tank und dessen Zubehör zu zeigen. Dave staunte. „Ich kann es nicht glauben!“ erklärte er nach kurzer Betrachtung. „Das ist ja nichts anderes als der Wassertank einer alten Wasserheizung!“ „Denken Sie an all die vielen, die Schwarzpulver in Milchflaschen füllten und damit wirksame Bomben besaßen?“ erinnerte ihn Danforth geduldig. „Es ist nicht nötig, ein fabrikmäßig hergestelltes Gerät zu haben.“ „Gut, gewiß, aber – all das Zubehör!“ „Dieses Zubehör war genauso sinnreich, so einfach und so tödlich wie jene Milchflaschen. Dave, es funktionierte! Ich weiß nicht wie, aber es funktionierte.“ Er rollte den Zylinder etwas zur Seite und deutete darauf. „Sehen Sie, wie zerschmettert er ist? Wenn er nicht irgendwie mitten in seinem Flug aufgehalten und in den Weiher eines Farmers gestürzt wäre, so hätte er heute, oder morgen oder nächste Woche so sicher jemanden getötet, wie sein Zwillingsbruder gestern nacht Simon Oliver tötete. Er war irgendwohin unterwegs und erlitt einen Zusammenstoß. Ich habe keine Ahnung, wie er gestartet, gelenkt oder ausgelöst wurde, aber ich werde es noch herausfinden.“ Der Nachrichtenoffizier überwand seine Abneigung und beugte sich über den Tank, um ihn genauer zu betrachten. „Sagen Sie, ist es dies – meinen Sie, Gilbert Nash hat dieses Ding gebaut?“ Danforth runzelte die Stirn. Dieser Gedanke war ihm 109
zum erstenmal gekommen, als er das Ding aus dem Wasser gezogen hatte, und er hatte seinen Geist auf dem ganzen Weg zur Stadt beschäftigt. „Ich glaube es nicht“, antwortete er langsam. Er blickte auf den Tank und betastete den Umschlag mit der Erde in seiner Tasche. „Nein, ich glaube nicht. Ich habe Nash und seine Frau gesehen. Dies scheint mir nicht die Art Arbeit zu sein, die zu ihnen paßt. Verstehen Sie, was ich meine?“ „Vielleicht. Ich weiß nicht. Nein.“ „Die beiden sind Könner. Wenn sie ihre Zeit und Begabung dazu verwendet hätten, eine derartige Waffe zu bauen, so würde sie fabrikmäßig aussehen. Diese hier ist zu unfertig, zu hastig zusammengebastelt. Nein – ich glaube nicht, daß Nash verantwortlich zu machen ist.“ „Was unternehmen Sie, wenn nun doch alle Spuren bei den beiden enden?“ „Washington unterrichten“, sagte Danforth kurz. „Ja, Leutnant, das Leben ist nicht leicht!“ Er überlegte einen Augenblick. „Wer weiß alles davon?“ „Mr. Ramsey, Moskowitz vom Labor, Sie und ich. Es darf nicht weiter bekannt werden.“ „Wie Sie meinen. Wo sind die einzelnen Teile?“ Danforth überreichte ihm die Schachtel. „Wenn Sie irgendwelche Unterstützung brauchen, wenden Sie sich an Mr. Ramsey, aber verraten Sie nichts. Geben Sie nichts an die Zeitungen durch oder gar an die Söhne Amerikas, wenn nicht Mr. Ramsey die Erlaubnis dazu gibt. Moskowitz weiß nicht, daß Sie im Bilde sind; er wird seine Ermittlungen direkt weiterleiten. So, das dürfte alles sein – oh, ich möch110
te gerne Ihr Telefon benützen. Mr. Ramsey wartet auf meinen Bericht.“ „Gerne. Kommen Sie, ich will Ihnen den Apparat zeigen.“ * „Danforth hier“, sagte er, als die Verbindung hergestellt war. „Ich habe das Objekt ausfindig gemacht.“ „Ich weiß“, bestätigte Mr. Ramsey. „Ich habe es vor wenigen Minuten erfahren. Die Landpolizei ist höchlichst erbost über diesen angeblichen Einbruch in ihr rechtmäßiges Hoheitsgebiet. Ich wurde der rechtswidrigen Machtübertretung angeklagt. Zum Glück war der Knabe nicht in der Lage, eine zuverlässige Beschreibung von Ihnen abzugeben, so bleibe ich der einzige Angeklagte.“ „Soll ich das Ding hinüberbringen?“ „Ich denke nein. Es ist am besten, wenn Sie so wenig Verbindung wie möglich mit mir und dieser Abteilung halten. Ich habe es durchsetzen können, daß Sie den Wagen auf unbestimmte Dauer behalten können, aber es wäre nicht klug, die Vertrautheit über diesen Punkt hinaus auszudehnen. Wo befinden Sie sich jetzt?“ Danforth nannte ihm die Adresse und den Namen des Hauseigentümers. Es entstand eine gedankenvolle Pause. „Ist er Ihr Vertrauensmann? Verläßlich?“ „Ja.“ „Ausgezeichnet. Wenn er bereit ist, uns sein Haus als Treffpunkt zur Verfügung zu stellen, so möchte ich Sie heute abend dort treffen. Bringen Sie das Objekt dort oder 111
sonstwo in Sicherheit, wir wollen es dann gemeinsam untersuchen. Ich möchte lieber nicht mehr am Telefon besprechen.“ „Auf heute abend, dann.“ Danforth hing das Telefon auf und ging durch die Küche in den Garten zurück, wo der Nachrichtenoffizier seine Arbeit mit dem Rasenmäher wieder aufgenommen hatte. Er hörte sofort auf damit, als Danforth auftauchte. „Fühlen Sie sich nicht wie ein Verschwörer, Dave?“ Der Nachrichtenoffizier lachte. „Sie haben es erraten, Leutnant. Ich werde mir wohl am besten gleich einen Schlapphut besorgen, um meiner neuen Rolle gerecht zu werden.“ * Mr. Ramsey saß mit gekreuzten Beinen auf dem Küchenboden. Danforth hatte den Telepathen bis heute in einer ganzen Anzahl von Stellungen gesehen; aber dies war das erste Mal, daß er ihn außerhalb des Hauptquartiers sah – und dazu mit gekreuzten Beinen auf einem Küchenboden sitzend. Es machte Mr. Ramsey irgendwie ein wenig menschlicher. Mr. Ramsey hatte den leeren Tank mit den Knöcheln abgeklopft, die Schriftzeichen auf dem Boden des Tanks gelesen und lange und neugierig in dessen leeres Innere geschaut. Nach seiner ausführlichen Untersuchung hatte er einen Bleistift hervorgezogen, um damit behutsam zwischen der Menge von Draht und Aluminiumstäben herum112
zustochern, die jetzt über den Boden verstreut waren. Von Zeit zu Zeit zog er eine flüchtig hingeworfene Skizze zu Rate, welche den Zusammenhang zwischen den fehlenden Bestandteilen und den vorhandenen angab. Danforth hatte keinerlei Veranlagung zu künstlerischer Betätigung; er hatte lediglich eine einfache, grobe Zeichnung angefertigt, welche die ungefähre Lage der Batterien, der Tabakdose, der Katze und der Decke zeigte, so wie er sie zuerst gefunden hatte. Eine weitere Abbildung stellte den Behälter dar, wie er teilweise überdeckt im Weiher lag. „Wir wollen einmal annehmen, daß jemand, der uns offensichtlich überlegen ist, ein neues technisches Gerät entwickelt hat“, begann Mr. Ramsey. „Wie die meisten derartigen Erfindungen, scheint es mehr als nur einem Zweck zu dienen, eingeschlossen dem Zweck des Tötens. Die Geschichte wiederholt sich an dieser Stelle, Leutnant. Ich habe mich mehrmals gefragt, wieso die Erfinder der ChronoKamera ihrem Gerät nicht irgendeine Möglichkeit zum Töten eingebaut haben. Sie haben sich eine einzigartige Gelegenheit und nicht geringen Reichtum entgehen lassen, indem sie dieses Detail wegließen. Ihre Nachkommen werden ihnen nie verzeihen.“ Danforth legte die Hand auf den Tank. „Ich denke, sie haben es doch getan, Mr. Ramsey. Die Kamera war der Großvater von dem hier!“ „Möglicherweise haben Sie recht. Die Antwort liegt in der Zukunft, wenn wir überhaupt je eine haben werden.“ Er schaute Danforth an. „Eine tote Katze?“ „Ja – hier“, deutete Danforth und gewähnte sich allmählich an den raschen Themawechsel des Telepathen. „Das 113
Stück Decke war dort am hinteren Ende und die beiden Batterien wahrscheinlich etwa hier – wo sie eine Trennung zwischen der Decke und dem Rest des Tankes bildeten. Oder vielleicht ein paar Zentimeter mehr auf dieser Seite.“ Er zeigte auf die Skizze. „Ich glaube, die Katze lag auf der Decke, als das Geschoß gestartet wurde; vielleicht ist sie sogar betäubt worden. Ich komme sogleich darauf zurück. Dann, als der Tank mitten im Flug getroffen wurde, oder als er auf den Boden stürzte, wurde die Katze entweder nach vorne geworfen und durchbohrt, oder sie war wach und versuchte, sich einen Weg nach vorne zu bahnen. Es ist auch möglich, daß der Deckel weggerissen wurde und die Katze Tageslicht hereinströmen sah – oder Sternenlicht – und versuchte, hinauszugelangen. Die logischste Erklärung ist die, daß der Aufprall den Deckel wegriß und die Katze erschreckte; sie versuchte, nach vorne zu kommen, als der Zylinder aufschlug und sie aufspießte.“ „Das Folgende ist nun eine höchst interessante Frage“, sagte Mr. Ramsey. „Was traf den Zylinder mitten in seinem Flug? Ich habe bei einigen der nächstliegenden Flugplätze angefragt. Keine ihrer Maschinen wurde in irgendeiner Hinsicht beschädigt. Aber das drängt eine andere Frage in den Vordergrund. Wie hoch fliegt das Ding? Und weshalb sollte es gerade in der Höhe fliegen müssen, in der der Luftverkehr sich abwickelt?“ Mr. Ramsey zuckte bedauernd die Achseln. „Um bei Ihrer Frage zu bleiben, es nimmt mich wunder, ob das Ding überhaupt zu fliegen braucht?“ 114
„Nun … es bewegt sich sowohl durch den Raum als auch durch die Zeit.“ „Das stimmt. Aber muß es denn in die Höhe steigen? Wenn sich das Geschoß vom Moment des Startes von einer Werkbank bis zum Moment der Zerstörung durch die Zeit bewegt, muß es dann von seinem Direktflug auf ungefähr einem Meter Höhe abweichen?“ Danforth beobachtete ihn und hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Er bewegte seine Lippen und stieß einen pfeifenden Ton aus. „Ja, Leutnant?“ sagte der Telepath. „Mr. Ramsey, würden Sie mir bitte die Szene wiederholen, die Sie in Simon Olivers Wohnzimmer sahen? Sie erwähnten, daß Captain Redmon ein Glas Whisky von einem Diener entgegennahm und sich dann niedersetzte, um der Unterhaltung zuzuhören. Was geschah danach?“ „Captain Redmon beantwortete die paar Fragen, die an ihn gerichtet wurden, mischte sich aber sonst nicht in das Gespräch“, sagte der Telepath rasch. „Nach einigen Minuten begab er sich zur Bar und füllte sein Glas nach.“ „Und dann – was weiter?“ „Er nahm das Stehaufmännchen in die Hand, die Gummipuppe mit dem runden Fuß. Er stieß sie einige Male hin und her, dann nahm er sie auf, um den Fuß näher zu betrachten.“ „Richtig“, bestätigte Danforth. „Und das war alles?“ „Das war alles“, nickte der Telepath. „Ich glaube, über die Puppe haben wir bereits gesprochen.“ „Sie würden also sagen“, fragte Danforth behutsam, „daß die Hausbar ungefähr einen Meter hoch ist? Daß ihre 115
Oberfläche mit der Puppe etwa einen Meter über dem Fußboden liegt?“ „Ich bin geneigt, der Theorie zuzustimmen, die Sie da entwickeln, Leutnant. Es ist eine ausgezeichnete Theorie, vorausgesetzt, daß unsere Annahmen zutreffen. Und Sie vermuten nun, daß das Stehaufmännchen mit der gleichen Erde angefüllt war wie die Tabakdose?“ Danforth sprang auf und schritt in der Küche auf und ab. „Diese verflixte kleine Gummipuppe hat mich vom ersten Moment an verwirrt, als Sie sie erwähnten. Mr. Ramsey, irgend jemand könnte das Ding in das Haus gebracht oder mit der Post hingeschickt haben. Die Tatsache, daß es dort war, zeigt, wie leicht es in den Raum gebracht werden konnte, wie leicht es die elektronischen Suchstrahlen passierte. Es kann schon Monate dort liegen! Aber als dann Redmon kam und es aufhob – bumm! Moskowitz erwähnte etwas davon, daß seltene Erden paramagnetisch seien; ich wollte, ich wüßte genau, was er damit meinte. Paramagnetisch. Sagt Ihnen der Ausdruck etwas?“ „Schwach“, nickte Mr. Ramsey. „Ich habe mir die Bombe immer als Fernlenkgeschoß vorgestellt, gesteuert von dem Mann, der sie losgelassen hat. Angenommen aber, sie wurde in einem anderen Sinn gesteuert? Angezogen? Die Mischung im Innern der Gummipuppe zog die Maschine in der Tabakdose an!“ Mr. Ramsey blickte zu ihm auf. „Die Katze“, sagte er lediglich. Danforth verhielt seinen Schritt, drehte sich herum und sank auf seine Fersen nieder. „Wieso bloß wurde die Katze in den Zylinder gesetzt?“ 116
fragte er den Telepathen. „War das nur ein Scherz? Eine Katze, die durch die Zeit reist? Was werden die Historiker dazu sagen?“ Der Telepath wußte keine Antwort. „Ich möchte wissen, ob die Katze betäubt war. Ihr Platz, der ihr für die Reise zugedacht war, befand sich auf der Decke am hinteren Ende des Zylinders. Man wollte sie dort haben. Warum?“ „Redmon hielt die Puppe in seiner Hand“, versetzte Mr. Ramsey leise. „Und?“ „Ich frage mich, ob nicht vielleicht ein körperlicher Kontakt nötig war. War an der Katze irgendein Draht angeschlossen?“ „Ich weiß nicht. Ein Aluminiumstab –“ „Aha! Und Redmon hielt die Puppe in der Hand. An beiden Orten befand sich also ein lebender Organismus in naher Verbindung zu den Erdzusammensetzungen. Was meinen Sie, Leutnant, würde ein solcher Kontakt Paramagnetismus herbeiführen?“ Danforth stand auf und lachte. „Mr. Ramsey, Sie fragen den falschen Mann.“ „Wirklich?“ Danforth trat einen Schritt zurück und musterte den Mann am Boden. Der Telepath erwiderte den Blick geduldig. Nach kurzem Schweigen wies der Leutnant das Zwingende der Schlußfolgerung wieder von sich. „Nun?“ fragte er. „Bis gestern nacht“, sagte Mr. Ramsey, „war die Gesamtsumme unserer Anhaltspunkte über die Bombenan117
schläge noch nahezu gleich Null. Wir wußten nicht mehr über sie, als daß sie geschehen waren. Aber in der vergangenen Nacht übernahmen Sie das Kommando der Spezialgruppe und entdeckten oder folgerten in kürzester Zeit eine ganze Anzahl Dinge, die vorher nicht bekannt gewesen waren. Sie entwickelten eine Theorie, die den Umständen zu entsprechen schien; Sie stellten verschiedene Faktoren fest, welche andere vor Ihnen übersehen hatten und fügten sie in die Theorie ein. Sie lieferten eine logische, fachmännische Überlegung, in welche alle bekannten Tatsachen einbezogen waren, und haute nachmittag fanden Sie eine Maschine, welche genau diejenige zu sein scheint, nach der Sie suchten.“ „Ich bin nicht so phantasiebegabt, Mr. Ramsey. Etliche dieser Vermutungen entstanden erst nach gründlicher Überlegung.“ „Vergessen Sie solche Gedanken, Leutnant. Ich bin nicht so beschränkt, daß ich glaube, Sie hätten schon vorher über diese Dinge Bescheid gewußt. Statt dessen vermute ich genau das Gegenteil.“ Danforth wartete mit aufeinandergepreßten Lippen. „Es scheint mir, daß Sie darauf gestoßen wurden, Leutnant!“ „Gestoßen? Worauf?“ „Die Einzelteile, die Sie zur Identifikation weitergaben, können zu leicht zurückverfolgt werden. Ein gescheiter Mann würde sich diese Nachlässigkeit nicht zuschulden kommen lassen.“ „Vielleicht nicht. Aber jeder Mann meiner Gruppe hätte auch tun können, was ich getan habe; jeder von ihnen hätte 118
mit dem Paar im Spital sprechen können, hätte den Umstand des Regens und der Radioaktivität finden können.“ „Hätten sie aber ihren Denkapparat so einsetzen können wie Sie? Hätten sie vom Nash-Ehepaar so viele Auskünfte einbringen können? Hätten sie dieses Gerät mit gleichem Scharfsinn und gleichen Ergebnissen auseinandernahmen können? Hätte auch nur einer Ihrer Leute die Theorie aufstellen können, die Sie entwickelten?“ „Auf viele meiner Überlegungen wurde ich erst durch Sie oder andere gebracht.“ „Richtig.“ Mr. Ramsey nickte zustimmend. „Wir wollen zunächst das ganz Offensichtliche klarstellen. Die Zubehörteile dieser Bombe sind zu leicht identifizierbar, können zu leicht verfolgt werden. Es gibt darüber nur zwei mögliche Schlußfolgerungen. Normalerweise wird die Bombe zusammen mit ihrem Opfer vernichtet, daher besteht kein Grund, die Herkunft ihrer Bestandteile zu verschleiern. Hier jedoch spielte sie uns ein glücklicher Zufall im wesentlichen unzerstört in die Hände. Ein vorsichtiger und vorausblickender Mann hätte diese Möglichkeit in Betracht gezogen und hätte daher alle möglicherweise auf ihn hindeutenden Schlüsse beseitigt.“ „Der Mann, der diese Bombe baute, kümmerte sich nicht darum!“ „Wieder richtig. Also werden Sie doch darauf gestoßen. Ich vermute, der Erbauer dieser Waffe wünscht, daß Sie ihn finden. Oder aber er gab sich einfach keine Mühe, weil er wußte, daß er auf irgendeine andere Art geschützt ist.“ Danforth verzog das Gesicht. „Oh, sicher. Er könnte sich als einer von uns herausstellen.“ 119
7. Kapitel Die Tonpfeife und eine magere, schwarze Katze waren seine ständigen Gefährten. Er war vor einem Augenblick aus dem Haus getreten, nachdem er eine weitere – vielleicht die hundertste oder die hundertunderste – fruchtlose Suche abgeschlossen hatte. Wie ein übergründliches altes Dienstmädchen hatte er sein kleines Häuschen inspiziert, aber nichts gefunden. Endlich strich er mit leeren Händen einen weiteren Tag auf dem großen Kalender in der Küche durch und zog sich auf die Veranda in seinen Schaukelstuhl zurück. Er war ein Mann, der seine mittleren Jahre überschritten hatte. Zufrieden schaukelte er auf der Veranda auf und ab, von Zeit zu Zeit gedankenverloren seinen hoffnungslos veralteten Schnurrbart zurechtstreichend und zu irgendwelchen alten Erinnerungen und geheimen Gedanken nickend. Die Kinder in der Nachbarschaft lachten manchmal über ihn und seinen Schnurrbart und machten sich über seine abgetragenen Kleider lustig, aber er nahm keine Notiz von ihnen. Er setzte sich gerne hin und liebte es, gemütlich zu leben und der Welt zuzuschauen, wie sie sich wie verrückt um ihn herum drehte. Er pflegte dem Verkehr auf der Autobahn zu lauschen, die drei Häuserblocks von ihm entfernt lag, den vorbeibrausenden Wagen zuzuhören, aber nie bog einer davon ab, um ihn aufzusuchen. Die Katze sprang auf seinen Schoß und machte es sich bequem. Gemächlich kraulte er sie hinter den Ohren und zog an seiner Pfeife. 120
* Die Fische bissen nicht an, aber Danforth kümmerte sich nicht darum. Er richtete sein Augenmerk wieder auf die Bambusrute. Es war ein strahlender Tag, und der Sonntag lag immer noch vor ihm. Er war am Vormittag zu dam Haus am See hinausgefahren mit der festen Absicht, nicht mehr als eine oder zwei Stunden dort zu verbringen – bis ihn das Paar überredet hatte. Das war nicht allzu schwierig gewesen. Sein ursprünglich kurzer Besuch war zuerst um eine Stunde bis nach dem Essen ausgedehnt worden und dann um einen ganzen Nachmittag am See, worauf sofort eine Einladung folgte, er solle für den Rest des Wochenendes dortbleiben. Es war ihm auch hier nicht schwergefallen, anzunehmen. Obwohl er es erst einmal in einer Regennacht gesehen hatte, gefiel ihm das Heim der Nashs. Es schien von der Zivilisation wie abgeschnitten zu sein, wohlverborgen zwischen den Bäumen, die am Seeufer entlang standen. Danforth war im Frieden mit sich selber. Shirley Nash bereitete dem ein Ende. „Kürzlich irgendwelche Verbrecher gejagt?“ foppte sie ihn lachend. „Nicht kürzlich“, entgegnete er finster. „Müssen Sie damit den netten Nachmittag verderben?“ „Es tut mir leid“, sagte sie, aber ihr Tonfall widersprach ihren Worten. „Ich glaubte, Sie hätten Ihren Mann noch immer erwischt.“ Er blickte sie an. „Manchmal ist es eine Frau.“ 121
„Oh, wie romantisch! Was machen Sie mit weiblichen Gefangenen?“ „Wir haben Spezialzellen mit Vorhängen an den Fenstern. Außerdem werden sie jeden Tag sauber gefegt.“ „Erregend. Fangen Sie viele weibliche Verbrecher?“ Er musterte die anziehende Frau und fragte sich im stillen, ob sie lediglich belanglose Konversation machte oder ob sie damit ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen beabsichtigte. Sie hatte den Frieden des Augenblicks ohnehin gebrochen. „Ja“, gab er zu. „In der Tat habe ich noch vor wenigen Tagen eine Frau verfolgt.“ „Wirklich?“ ihre Augen blickten offen und gerade. „Haben Sie sie erwischt?“ „Nein. Washington untersagte es mir.“ Shirley Nash hielt für einen Moment den Atem an. „Washington tat das?“ wiederholte sie. „Sie taten das, in unmißverständlichen Worten. Die Dame hat einflußreiche Freunde in hohen Ämtern. Sie banden mir die Hände.“ „Es ist gut, das zu wissen. Oh, es tut mir leid für Sie, aber es ist tröstlich, so etwas zu wissen.“ Danforth legte die Angelrute nieder und griff in den tragbaren Kühlschrank nach einer Büchse Bier. „Seit einiger Zeit ergriff mich ein plötzliches Interesse an dar Archäologie. Ich ging sogar so weit, zwei Bücher darüber zu lesen; in der Schule habe ich mich nie viel damit befaßt, deshalb fehlen mir die Grundlagen dafür. Was ich entdeckte, war lehrreich, aber nicht unbedingt befriedigend. Um ganz offen zu sein, ich kann es nicht glauben.“ 122
Die Frau antwortete während langer Minuten nichts. Sie legte ihre Rute ebenfalls beiseite und griff mechanisch nach dem Bier, das er ihr entgegenhielt. Endlich wandte sie ihm ihr Gesicht zu. „Mein Mann ist auch in archäologischen Schriften erwähnt.“ „Das war der Teil, den ich am schwersten glauben konnte.“ „Ich verstehe das, Mr. Danforth. Nur sehr wenige Leute würden es glauben.“ Danforth leerte sein Bier. „Gilgamesch?“ „Gilgamesch“, wiederholte sie ruhig. „Nicht einmal jene einflußreichen Freunde in Washington glauben die ganze Wahrheit. Ich kann von Ihnen nicht erwarten, daß Sie es tun.“ „Man sagt, dieser Gilgamesch sei vier- bis fünftausend Jahre alt!“ „Zehntausend wären etwas genauer.“ Er überlegte das eine Weile, fand aber, daß diese Zahl auch nicht viel mehr konkreten Sinn ergab als die erstgenannte. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen und auch Ihre Gastfreundschaft keineswegs herabmindern“, sagte er, „aber ich muß bald gehen.“ „Ich verstehe das. Wissen Sie was – im Haus haben wir ein oder zwei Bücher, die Sie heute nacht vielleicht lesen könnten. Da werden sie leichtere Kost finden als archäologische Studien. Das eine wurde von einem bekannten wissenschaftlichen Autor geschrieben und verfolgt die Legende von Gilgamesch von ihrem tatsächlichen Ursprung bis zu ihrem scheinbaren Ende im Britischen Museum. Das andere ist ein Werk eines Verfassers historischer Romane; 123
der arme Gilgamesch wird darin durch eine unglaubliche Menge von Abenteuern gejagt.“ „Was hält Gilgamesch von all dem?“ erkundigte sich Danforth vorsichtig. „Von den beiden Büchern? Er findet sie lustig.“ „Ich habe Unsterbliche und Märchenhelden immer auf die gleiche Ebene gestellt.“ Danforth blickte über das Wasser. Shirley nippte an ihrem Bier. „Gilgamesch ist nicht unsterblich. Sein schließlicher Tod ist klar und eindeutig bestimmt. Der richtige Ausdruck ist Langlebigkeit; zehntausend Jahre oder mehr bedeuten für ihn eine durchschnittliche Lebensspanne. Ich würde Ihnen anraten, das bessere der beiden Bücher zu lesen. Die Angelegenheit wird darin sorgfältig und glaubwürdig dargelegt; vielleicht vermag es Sie zu überzeugen.“ „In Oak Ridge befanden sich zwei Leute“, sagte Danforth nach einer Weile. „Washington gab soviel zu und empfahl mir, die Sache zu vergessen.“ „Jawohl, wir waren in Oak Ridge.“ „Die zwei Leute in Oak Ridge“, fuhr er fort, wie wenn sie ihn nicht unterbrochen hätte, „besaßen ein gewisses Alter und hatten gewisse Posten inne, die etwas mit Geheimhaltung zu tun hatten. Ich verstehe gut, daß sie nach Erfüllung ihrer Pflichten das Gebiet verließen, ebenso verstehe ich, daß sie in all den Jahren nicht wahrnehmbar gealtert waren. Ich versuche zu sagen, daß ich einen Teil davon verstehe. Ich nehme als erwiesen an, daß das Paar in Oak Ridge gearbeitet hat, und ich beneide es um die Fähigkeit, nicht zu altern. Soviel kann ich begreifen. Aber – “ „Aber es bleiben dennoch eine Menge unbeantworteter 124
Fragen und die unüberwindbare Weigerung, an das Unmögliche zu glauben?“ „Ja!“ Sie lächelte. „Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Glauben Sie mir, auch ich stand einmal vor demselben Problem.“ Er drehte sich zu ihr um und runzelte die Stirn. Er forschte immer noch nach irgendwelchen verwirrenden Erklärungen, und sie hatte sie ihm fast freiwillig gegeben. „Nein, Mr. Danforth, ich bin nicht ein zweiter Gilgamesch. Nicht im eigentlichen Sinne, müßte ich vielleicht sagen. Ich sollte das eigentlich nicht sagen, aber, ich werde kein zweites Mal vierzig sein.“ Er starrte auf ihr attraktives Gesicht und ihre faltenlose Haut und verspürte den heftigen Wunsch, ,Quatsch!’ zu rufen. Sie war eine äußerst anziehende, jugendliche Frau. „Es ist die Wahrheit, Mr. Danforth. Ehrlich. Wenn ich lüge, dann höchstens, weil ich ein paar Jahre abgezogen habe.“ Er konnte es immer noch nicht glauben. Der Telepath hatte es ihm zuerst gesagt, und jetzt hatte sie es ihm bestätigt. Von irgendwoher und irgendwann, vor ungefähr zehntausend Jahren, tauchte ein Mann namens Gilgamesch auf der Erde auf. Er existierte bereits, als die Erde noch jung war, lebte Seite an Seite mit einem Baumbewohner, der nicht weit vom Affen einzustufen war und erlebte Noah mit der Arche. Er schien unsterblich zu sein und suchte dennoch das Geheimnis der Unsterblichkeit. Die alten Aufzeichnungen gingen in diesem Punkt auseinander. Aber sie beharrten darauf, daß er noch gelebt hatte, als die Tafeln aus dem Lehm gehauen wurden, in die sie eingekratzt worden waren. Danforth leerte die zweite Dose Bier und warf sie ins 125
Wasser. Einen Augenblick später erinnerte er sich an seine Manieren und bückte sich, um sie wieder herauszufischen. „Fühlen Sie sich nun besser?“ erkundigte sich Shirley Nash. „Es hilft meistens.“ Es bedeutete eine Anstrengung, sie anzublicken. „Wenn Sie gestatten, so möchte ich Ihnen noch eine Frage stellen. Dann werde ich dem Befehl von Washington gehorchen.“ „Bitte.“ „Sind Sie nur vierzig Jahre alt?“ Sie hörte die Betonung heraus und lachte erfreut. „Danke. Ich fasse das als Kompliment auf. Etwas mehr als vierzig, Mr. Danforth. Ich vermute, daß ich über viele, viele Generationen hinweg die Enkelin meines Gatten bin.“ „Wie?“ „Ganz am Anfang war Gilgamesch nicht allein. Es waren noch viele andere wie er da, obwohl er der einzige ist, der jetzt noch lebt. Ich bin entweder ein Nachkomme jener anderen oder ein Nachkomme von ihm selber. Was vielleicht meine eigene scheinbare Langlebigkeit erklärt.“ Sie schaute gedankenverloren auf den See hinaus. „Wenn ich Glück habe, kann ich vielleicht ein paar hundert Jahre mit ihm zusammenleben.“ * Etwas später folgte Danforth seinen liebenswürdigen Gastgebern ins Wohnzimmer und tat es ihnen gleich, indem er die bequemen Sessel verschmähte und sich auf den Boden setzte. „Wie geht es Ihrer Jagd?“ fragte Gilbert Nash. 126
Als Entgegnung tat Danforth etwas, das ihn selber verwunderte und Nash überraschte. Er streckte den Arm aus und berührte die Hand des Mannes und hielt den Kontakt für einige Sekunden aufrecht. Dann zog er ihn wieder zurück, seiner unerwarteten Kühnheit erst jetzt gewahr werdend. Nash richtete sich auf und zog eine Zigarre aus seiner Tasche. Er wickelte sie aus dem Papier, zündete sie an und blickte seinen Gast über die Flamme hinweg an. „Jemand hat geplaudert!“ klagte er mit gespielter Ernsthaftigkeit. „Man ist in seinem eigenen Haus nicht mehr sicher. Verräter! Spitzel!“ Danforth war immer noch leicht erregt über seine impulsive Handlung. „Mr. Ramsey möchte Sie gerne kennenlernen“, sagte er. „Er ist der Ansicht, daß Vögel der gleichen Rasse zumindest des andern Nest besuchen sollten.“ „Etwas roh ausgedrückt, aber zutreffend. Bitte übermitteln Sie Mr. Ramsey unseren herzlichen Willkomm, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen.“ „Das ist nicht mehr nötig“, erinnerte ihn Danforth. „Er weiß es jetzt bereits.“ „Ach ja“, sagte Nash. „Ihre Aufrichtigkeit gefällt mir.“ „Ich kann nicht viel selber zu der Sache tun. Meine Gedanken stehen ihm offen.“ „Würde das nicht einfach so sagen; wirklich nicht.“ Nash schüttelte entschieden den Kopf. „Wenn Sie einmal der Sache überdrüssig sind, lassen Sie es nur mich wissen. Ich tue gerne einem Freund einen Gefallen.“ „Meinen Sie damit, daß Sie einen Schutzschirm dagegen haben …?“ 127
Nash nickte. „Ich habe eine Abschirmung, ja. Ich trage sie entweder unter einer Perücke oder unter dem Hut.“ „Ein Schutzschirm?“ fragte Danforth mit gespanntem Interesse. „Ein – ein Abwehrblock?“ „Ein Elektroblock. Ich vergaß zu erwähnen, daß man eine Batterie in der Tasche mittragen muß. Lästige Notwendigkeit.“ „Und dieses Gerät schirmt nun tatsächlich die Gedanken ab?“ „Ja“, nickte Nash abwesend, „sofern Ihre Gedanken nicht durch die Ohren fließen.“ Danforth feuchtete seine Lippen an. „Haben Sie“, fragte er sachlich, „dieses Gerät bei irgendeiner Gelegenheit an Zeitreisende ausgeliehen?“ Das explosionsartige Lachen seines Gastgebers schallte als Antwort durch den Raum. „Nun, ich mußte doch wenigstens fragen“, sagte Danforth zu seiner Verteidigung. „Ich wußte, daß die Frage Sie beschäftigte.“ Nash blickte auf, plötzlich ernst und nachdenklich geworden. „Ich möchte gerne einem begegnen. Ich bin höchst neugierig. Aber ich glaube nicht, daß ein Zeitreisender die auftretenden körperlichen Anstrengungen ertragen würde.“ Danforth machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich habe viel über das Problem nachgedacht, aber auf diesen besonderen Punkt bin ich nie gestoßen. Ehrlich gesagt, verstehe ich sehr wenig davon – ob sie überhaupt existieren oder nicht, gesund oder anders. Aber ich habe etwas, das einem Fernlenkgeschoß ähnlich sieht und mit et128
was Glück werde ich auch in einigen Tagen den Mann haben, der es abgeschossen hat.“ „Gute Jagd! Dumm von dem Burschen, die Teile herumliegen zu lassen. Ist bloß noch ein Zusammensetzspiel.“ „Mr. Ramsey denkt, daß es eine Einladung war.“ „Ich auch. Werde demnächst ein wenig herumexperimentieren. Ich las Ihre Skizze. Jeder Kreislauf interessiert mich; ich glaube aber, Sie verloren irgend etwas davon. Einen Transistor oder sonst etwas.“ Danforth war einen Augenblick lang überrascht, bis er sich klar wurde, daß Nash die Zeichnung des Apparates in seinem Gehirn gesehen hatte. „Ich habe jeden einzelnen Bestandteil nachgeprüft“, berichtete er seinem Gastgeber. „Den Zylinder ausgeräumt und alles in einer Liste aufgezeichnet. Fangen Sie jetzt um Himmels willen nicht auch noch an, Zeitbomben zu bauen!“ „Ruhig, mein Freund, nur ruhig! Alles im Interesse der Wissenschaft! Aber ich verspreche Ihnen – keine Bomben!“ Sein Ausdruck wandelte sich in Verwirrung. „Danforth, ich kann mir die Kraftzufuhr nicht vorstellen. Zugegeben, der Mann weiß vorläufig mehr als wir, – aber es ist Energie nötig, um jenes Geschoß fortzubewegen. Ich versuche eine Parallele zum Transistor für diesen Fall hier zu finden. Die Tontechniker haben sie benützt, um ein Piepsen in Getöse umzuwandeln; könnte Ihr Mann nun nicht die Energie eines Wasserfalles aus zwei gewöhnlichen Batterien herausholen?“ „Ich werde Ihnen eine Kopie seines Geständnisses zuschicken“, versprach der Leutnant. „Wenn es Ihnen gelingt, ein funktionierendes Modell herzustellen, so nehmen wir Sie vor Gericht als Sachverständigen.“ 129
„Um am Tag darauf von der Öffentlichkeit gesteinigt zu werden? Nichts zu machen!“ „Die Polizei könnte einen Mann wie Sie gebrauchen. Wenn ich das Vorhandensein von seltener Erde in Simon Olivers Haus nachweisen kann, nehme ich an, den Fall aufbauen zu können.“ „Nicht nötig, daß sie im Inneren des Hauses war“, widersprach Nash. „Hatte er zufällig Rosenbüsche vor dem Hauseingang? Man brauchte in dam Fall das Zeug nur in den Blumenbeeten zu verstreuen.“ Danforth blickte den Mann überrascht an und gab ihm im stillen recht. Das Stehaufmännchen konnte schließlich doch nur ein harmloses Spielzeug gewesen sein; ein Einschlag zehn Meter von der Gummipuppe entfernt war genauso wirksam wie ein Volltreffer. Ein Sack voll von dem Gemisch im Abfalleimer hinter dem Haus würde sich als genau so tödlich erweisen. Einmal zum Starten gebracht, würde die Bombe das Gegenstück zu der Zusammensetzung in ihrer Nase anpeilen, die entsprechende Erde suchen, die entweder sorgfältig in ein Haus verbracht, in einem Garten verstreut oder mit der Post zugesagt worden war. Diese konnte in einer Gummipuppe verborgen worden sein, oder sie wurde von schmutzigen Schuhen hereingebracht. Zeitbombe – ein tödliches Wortspiel! * Er lag bis spät in die Nacht hinein wach und las in einem der beiden Bücher, die ihm Shirley Nash geliehen hatte. 130
Der Band, den er ausgewählt hatte, fesselte seine Gedanken. Er las ihn, ohne auf die verstreichenden Stunden zu achten, ohne der allmählich verstummenden Geräusche im Haus gewahr zu werden, ohne das plätschernde Geräusch des Wassers am Ufer zu hören. Er las, bis ihm die Augen schmerzten und bemerkte erst dann, daß er seine Brille zu Hause gelassen hatte. Schließlich legte er das Buch beiseite und drehte das Licht aus. Auf leisen Sohlen begab er sich zu den geöffneten Fenstern. Als er hinausschaute, entdeckte er, daß alle Schlafräume gegen den See zu gelegen waren. Danforth zog einen Stuhl ans Fenster, setzte sich hin und blickte auf das schwarze Wasser hinaus. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Jemand schwamm auf den Landesteg zu. Sein Interesse erwachte, und er beobachtete die Gestalt, vermochte aber ihre Identität nicht auszumachen. Der Schwimmer bewegte sich geräuschlos durch das Wasser, geschickt und anmutig und ohne das sonst übliche Plätschern und Spritzen. Wenig hinter ihm tauchte eine zweite Gestalt auf. Er erkannte Shirley Nash an ihrer Haltung und ihrem Gang. Der Schwimmer sah sie herankommen, schwang sich auf den Steg und ging ihr entgegen. Einen Moment lang verschmolzen die beiden Schatten auf dem dunkeln Steg ineinander und hielten einander umschlungen, dann machte die Frau eine leise, unverständliche Bemerkung. Ihr Mann lachte und machte Anstalten, ihr einen Klaps zu versetzen. „Wir schwimmen über den See um die Wette!“ forderte sie ihn heraus. „Abgemacht!“ 131
Danforth hastete zum Bett hinüber und schlüpfte eilig in seine Schuhe. Dann zog er seine Hosen über den geborgten Pyjama und kehrte ans Fenster zurück, um die beiden Schwimmer zu beobachten, bis sie einen Punkt erreicht hatten, der ungefähr fünfzig Meter im See draußen lag. Dann verließ er das Zimmer. Er überquerte den teppichbelegten Gang und ging zu dem Zimmer, von dem er wußte, daß sie darin zu schlafen pflegten. Der Raum enthielt nichts, das nicht in ein Schlafgemach gehörte. Danforth zog sich rasch zurück und schloß im Vorübergehen seine eigene Zimmertür, für den Fall, daß jemand durch den Gang schritt, solange er sich draußen befand. Die Schlafräume waren parallel gebaut zum restlichen Teil des Hauses, bloß daß säe einem Vorsprung und drei Stufen höher als der Wohnteil gelegen waren. Danforth nahm die drei Stufen in einem Satz und eilte quer durch den Raum zur Eingangshalle und zur Küche, die dahinter lag. Die erste Tür, die er aufstieß, enthüllte nichts als eine Wasserheizungsanlage und einen Besenständer. Der zweite Eingang führte zur Kellertreppe. Er bewegte sich vorsichtig, da er es nicht wagen durfte, Licht zu machen, und tastete sich die Treppe hinunter. Im Dunkeln machte er zwei graue Rechtecke aus, die wahrscheinlich die Kellerfenster waren. Beide Fenster waren in die vom See abgekehrte Wand eingelassen. Danforth zündete ein Streichholz an, hielt das Licht von seinen Augen weg und schaute sich um. Der Keller bestand aus einem einzigen Raum; der Rest des freien Raumes unter dem Haus war nicht ausgeschachtet. Jener 132
Raum enthielt etwas, was seiner Schätzung nach ein 1000Liter-Öltank war, einen Ölbrenner, eine automatische Wasch- und Trockenmaschine und einen mit Segeltuch bespannten Gartenstuhl. Außer den verschiedenen Kleinigkeiten, die sich in einem Keller anhäufen, befand sich nichts darin. Keine Zeitmaschinen und auch keine Verbrecher. Um ganz sicher zu gehen, klopfte er den Öltank ab und bestimmte den ungefähren Stand der Flüssigkeit darin. Eher erleichtert als enttäuscht, stieg er die Treppe wieder hoch und verschloß die Tür. Einer Eingebung folgend drehte er rasch das Küchenlicht an, um sich zu vergewissern, daß er keine Spuren hinterlassen hatte. Er öffnete den Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Milch ein, wobei er die Teller auf dem Geschirrost leicht verschob. Minuten später spülte er das Glas aus und legte es ins Waschbecken. Dann begab er sich hinauf und ging zu Bett. 8. Kapitel Montagvormittag. Danforth wurde eine maschinengeschriebene Liste übergeben. Die Erdproben stimmten überein mit Funden aus den Gegenden von Livingston, McLean und Logan. Der hohe Fluorgehalt deutete außerdem besonders auf Livingston und McLean hin. Die Herstellungskennzeichen auf der Tabakdose verrieten, daß sie aus einer Serienfabrikation stammte, die für ein Warenhaus in Mittelillinois angefertigt worden war. Weitere Anhaltspunkte ergaben sich keine daraus. 133
Der Draht, ursprünglich als Automobilkabel gedacht, war für eine Reihe von Autohändlern hergestellt und verkauft worden. Neunzehn dieser Geschäfte hatten ihren Sitz in Illinois und vier immer noch innerhalb der weiter oben angeführten Gebiete. Die Batterien waren als Bestandteile einer umfangreicheren Lieferung für dieselben Händler hergestellt worden, und sie hatten in jedem der neunzehn Geschäfte erstanden werden können. Die einzigen erkennbaren Fingerabdrücke (außer denjenigen von Ex-Leutnant Danforth), die auf der Dose gefunden worden waren, gehörten dem Besitzer eines Ladens in Lexington. Die seltenen Erden, eine Zusammensetzung von Ytterbium und Kalifornium sowie die Aluminiumstäbe und eine Anzahl Transistoren waren von einer Firma für technische Ausrüstungen zu wiederholten Malen an einen einzelnen Käufer abgegeben worden; die Postadresse lautete Water Street 260, Lexington, Illinois. Der Name des Kunden war Theodore Mays. * Das weißgetünchte Haus mit der blauen Fensterreihe war einige Meter von der Straße zurückgesetzt. Der Rasen war ausgedehnt und sorgfältig gepflegt, er machte einen besseren Eindruck als derjenige der angrenzenden Grundstücke. Ein mit Zementplatten belegter Weg führte von der Ecke der Straße zur Veranda; auf der Straße selber gab es keinen Bürgersteig. Es war ein kleines Haus in 134
einem kleinen Ort, der daran war, zur Stadt zu werden. Danforth hatte den Wagen hinter der Tankstelle angehalten, um die Lage auszukundschaften. Eigenartigerweise verspürte er keinerlei Aufregung, keine Genugtuung, daß er dem Mörder nahe war. In früheren Fällen, wo jede Schlußfolgerung, jeder Schritt vorwärts eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen, ein altbewährtes, starres Schema, da war der Mangel an Erregung vor dem Zusammenziehen der Schlinge verständlich. Aber hier, wo etwas Neues zutage trat, wo neue Leute mit neuen Einfällen aufwarteten, sollte sich die Spannung in direktem Verhältnis zum näherrückenden Ende der Jagd steigern. Doch diesmal war es anders. Vielleicht war dies das erste sichere Anzeichen, daß er für den Polizeidienst nicht mehr taugte. Er ließ den Motor an und entfernte sich von der Tankstelle. Sein Dienstrevolver, der ihm zusammen mit der maschinengeschriebenen Liste übergeben worden war, hing locker im Holster. Danforth fuhr bis vor das Hans und parkte den Wagen. Er sah keinen Grund, weshalb er sich nicht offen annähern sollte. Er stieg aus und ging über den plattenbelegten Weg zur Tür. Theodore Mays saß auf der Veranda und schaukelte. Und wartete. Niemand im Ort hatte Danforth, als er seine Erkundigungen einzog, auf die Augen des Mannes aufmerksam gemacht. Sie strahlten in tiefem Blau. Auch sonst hatten die Nachbarn von Theodore Mays keine gute Beschreibung gegeben. Er war nicht greisenhaft oder krank, sondern ge135
beugt. Sein schwarzes Haar wurde an den Schläfen langsam grau, aber es war nicht unbedingt Alterschwäche; sein Körper – auch wenn er sich wie jetzt im Stuhl ausruhte – war nicht von den Jahren niedergedrückt, sondern von Kummer und Schmerz. Und über allem, in auffälligem Gegensatz zu seiner restlichen Erscheinung, leuchteten die höchst lebendigen, einmalig blauen Augen. Sie musterten Danforth mit ebensoviel Interesse, wie der Leutnant ihren Besitzer geprüft hatte. Danforth löste seinen Blick vom Gesicht des Mannes und bemerkte die Bewegung in seinem Schoß. Die magere, schwarze Katze lag dort, blickte ihn an und bewegte langsam einen gebrochenen Schwanz hin und her. Danforth starrte das Tier an wie unter einem Zauberbann. Der Bann wurde gebrochen, als sich dar Mann im Schaukelstuhl vorbeugte und ihm die Glastür der Veranda öffnete. Er hielt sie offen, abwartend und einladend, bis Danforth seinen Fuß über die Schwelle setzte und die Veranda betrat. Hinter ihm fiel die Tür geräuschvoll wieder zu. Langsam und mit sichtlicher Mühe nahm Theodore Mays einen Spazierstock vom Boden auf und hakte ihn an der Lehne eines anderen Stuhles ein. Er zog den Stuhl heran und lud seinen Besucher mit einer Handbewegung ein, es sich bequem zu machen. Nach kurzer Suche in seinen Taschen förderte er eine Tonpfeife zutage und zündete sie an. Dann fiel er in seinen Stuhl zurück und fuhr fort zu schaukeln, geistesabwesend die Katze zu streicheln und Danforth zu beobachten. Danforth zögerte und setzte sich dann auf den angebotenen Stuhl. Er blickte erneut auf die rätselhafte Katze, auf 136
die Prince Albert Tabakdose, die auf dem Fensterbrett lag und auf die außergewöhnlich blauen Augen. Die einzigen Geräusche auf der Veranda waren das rhythmische Knirschen des Schaukelstuhls und das unablässige Schnurren einer Katze, die er kürzlich tot gesehen hatte. Es mochten nur wenige Minuten verstrichen sein, oder es mochte eine ganze Stunde gedauert haben, bis einer der Männer sprach. Mit eigenartig krächzender Stimme sagte Theodore Mays: „Hallo, mein Sohn!“ „Sie sind Theodore Mays“, stellte Danforth eher fest, denn daß er fragte. „Ja, der bin ich.“ „Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden kann und daß Ihnen das Recht offensteht, einen Anwalt beizuziehen.“ „Wir können dieses Recht für eine Weile beiseite lassen, mein Sohn.“ „Wie Sie wollen. Sie wissen, weshalb ich hier bin.“ „So, weiß ich das?“ „Ich nehme es an. Wünschen Sie eine Aussage zu machen?“ „Bin ich verhaftet?“ „Nein – noch nicht. Ich habe keinen Haftbefehl. Wenn es sich jedoch als nötig erweisen sollte, so kann ich die Hilfe der Ortspolizei in Anspruch nehmen und Sie unter Hausarrest setzen. Ich hoffe, daß Sie mir nicht entgegenarbeiten.“ Er kam sich dumm vor, als er dies sagte. Das Ge137
setz verlangte es von ihm, aber in der Gegenwart dieses Mannes tönte es sogar außerordentlich dumm. Mays lächelte zu ihm hinüber. „Deshalb bin ich ja hier – mein Sohn, um Ihnen zu helfen. Wollen Sie mich durchsuchen?“ Danforth wollte sich erheben, überlegte es sich dann aber anders. „Tragen Sie eine Waffe bei sich?“ „Nein, Sir.“ „Befinden sich im Haus irgendwelche Waffen?“ „Nein, Sir.“ Danforth lehnte sich gespannt vor. „Wirklich keine? Irgendwelcher Art?“ Er gewann den flüchtigen Eindruck, daß die blauen Augen über ihn lachten. „Wirklich keine“, wiederholte Mays. „Durchsuchen Sie das Haus, wenn Sie wollen, mein Sohn.“ „Verschwunden?“ fragte Danforth explosionsartig. „Wie wenn sie nie dagewesen wären.“ „Abgeschossen? Katapultiert – oder wie Sie es nennen?“ „Wir nennen es aufgestellt und abgefeuert.“ „Wir nennen es Mord!“ Mays bückte sich nach seinem Spazierstock und nickte feierlich. „Es wird immer noch Mord genannt, und ist immer noch üblich. Sogar noch ein wenig mehr.“ „Dann geben Sie also zu, daß Sie die Bomben abgefeuert haben – Sie?“ „Ich feuerte sie ab. Mit Freude im Herzen.“ „Warum?“ Die blauen Augen wurden plötzlich wie Eis. „Seien Sie kein so verdammter Narr, mein Sohn! Sie wissen 138
weshalb. Sie lesen die Zeitungen. Sie können es voraussehen.“ „Ich will es von Ihnen hören“, bestand Danforth. Theodore Mays schlug den Griff des Stockes auf den Verandaboden. Die Katze flüchtete erschreckt. „Warum!“ Er schrie beinahe. „Weil der dreckigste Verräter, den dieses Land je gesehen hat, sich auf dem Weg ins Weiße Haus befindet. Soeben jetzt! Weil das Blut, das fließen wird, Sie in die Knie zwingen und zum Weinen bringen wird. Weil die Nation mitten entzweigerissen und der Bürgerkrieg nur noch wie ein Kinderspiel anmuten wird! Weil dreißig Jahre lang kein Mann und keine Frau einen freien Atemzug machen oder ein freies Wort sprechen wird. Weil die Verfassung und die Menschenrechte in einer öffentlichen Kundgebung verbrannt werden. Weil jeder Staat sein eigenes Konzentrationslager haben wird, aus denen niemand je lobend wieder herauskommen wird. Weil Sie einem einzelnen Mann eine tägliche Abgabe leisten werden, um am Leben bleiben zu dürfen. Warum? Weil ein gemeiner Dreckkerl dieses Land mit bloßen Händen erwürgen wird! Jetzt – jetzt haben Sie es von mir ausgesprochen gehört. Was werden Sie nun unternehmen?“ Danforth war in seinen Stuhl zurückgesunken und starrte vor sich hin. Der Ausbruch hatte ihm die Fassung genommen. „Sind Sie eigentlich verrückt?“ „Ja, ich bin verrückt! Ich bin geisteskrank von meinen Gedanken und den gräßlichen Dingen, die ich gesehen habe. Ich bin aufgerüttelt, entsetzt über die Dinge, die meinen Freunden und Nachbarn zugestoßen sind. Ich werde 139
wahnsinnig beim Gedanken an den fürchterlichen Alptraum, der über mein Land kommt. Auch Ihr Land! Danforth, nennen Sie mich einen Narren oder einen irregeleiteten Patrioten – nennen Sie mich, wie Sie wollen, aber ich bin besessen von dem einen Ziel, jenem Mann in den Arm zu fallen, ihn wenn nötig eigenhändig umzubringen! Ja, ich bin verrückt.“ „Sie sprechen, wie wenn dies alles schon geschehen wäre.“ „Es ist schon geschehen.“ „Wo?“ „Hier. In dieser Stadt und in jeder andern auch.“ Er zeigte auf die Straße hinüber. „Jene Kinder dort rennen geradewegs hinein. Einige von ihnen sind schon so gut wie tot.“ „Einen Augenblick mal. Sie sagen, all dies habe sich für Sie bereits ereignet?“ „Aber für mich ist es nicht geschehen.“ „Noch nicht.“ „Ich bin ein einfacher Mann“, sagte Danforth, „und ein geduldiger Mann. Ich besitze ein gewisses Maß an Vorstellungskraft. Ich war mein ganzes Leben lang so und deshalb bin ich heute, wo ich bin. Und jetzt erzählen Sie mir eine Geschichte und verlangen, daß ich Ihnen glaube. Sie behaupten, daß diese – diese gräßliche Geschichte mir zustoßen wird. Und diesen Kindern. Daß sie sich in unserer Zukunft abspielen wird!“ „In Ihrer allernächsten Zukunft, mein Sohn, wenn Sie nicht handeln!“ „Woher wissen Sie all das?“ „Ja, woher wohl?“ fragte Mays zurück. 140
* Die Dunkelheit war angebrochen. Danforth trommelte mit seinen Fingern auf den Küchentisch. „Ich glaube es, wenn ich es sehe!“ bestand er hartnäckig. „Zeigen Sie es mir!“ Mays sah ihn über den Tisch hinweg an, über einen Tisch, auf dem jetzt eine ganze Anzahl leerer Teller und Schüsseln standen. Er besaß kein geringes Kochtalent und hatte es nun Danforth soeben zu dessen Zufriedenheit bewiesen. Die Katze hockte unter dem Tisch und leckte die Reste auf. Wortlos erhob sich Mays und verließ die Küche. Danforth folgte ihm. Er wurde in einen Raum geführt, der offensichtlich Arbeitszimmer und Werkstatt des Mannes darstellte; einen Raum, der einen Schreibtisch und einen Stuhl enthielt, ein Fernsehgerät, einen Bücherschrank und hundert andere Dinge, die sich mit der Zeit an einem derartigen Ort ansammeln. Mays fegte die staubige Unordnung auf dem Tisch beiseite und öffnete eine Schublade. Er entnahm ihr ein Bündel Pläne und breitete sie aus. Dann trat er zurück und beobachtete Danforth schweigend. Danforth sog scharf seinen Atem ein und beugte sich über die Zeichnungen. Beim ersten raschen Blick erkannte er das Herz der Maschine, das verwirrende und doch bereits vertraute Schema, das er vor ein paar Tagen mit soviel Mühe auf Zeichenpapier zu rekonstruieren versucht hatte. Er entdeckte nun unschwer seine Fehler und Ungenauigkeiten. Der Plan zeigte die richtige Anordnung der Batteri141
en, die beiden Transistoren, deren Anwesenheit Nash vermutet hatte, den Behälter mit der seltenen Erde und dem darin eingebetteten Kontaktstück sowie einen weiteren Anschluß, der zu einem kleinen, mit einem Fragezeichen markierten Rechteck führte. Seine Augen wanderten weiter zum Rest der Maschine, aber nach kurzer Betrachtung wandte er sich wieder dem Anschluß mit dem Fragezeichen zu. Er blickte zu Mays hinüber. Mays krempelte einen Hemdsärmel bis zum Ellbogen hoch und zeigte auf eine Narbe. Sie war dreieckig und noch rot, weil sie erst kürzlich verheilt war. „Der Auslösemechanismus beruht auf einem Zeitzünder“, sagte er. „Wir hatten nichts Besseres, deshalb benützten wir den Pulsschlag.“ „Sie bauten Ihren eigenen Herzschlag in das Ding ein?“ „Den Puls“, wiederholte Mays. „Irgendeine regelmäßige Schwingung. Ich fing Ratten, betäubte sie mit Chloroform und hakte sie in dem Kreislauf fest, mit einem Transistor auf jeder Seite. Ich schnitt ihnen die Haut mit einem Skalpell auf und legte einen Aluminiumstab an eine Vene. Sobald nun die Haut wieder zugewachsen ist, hat man einen wirksamen Impulssender. Es ist grausam, Danforth, aber es funktioniert einigermaßen, und wir konnten uns einfach nichts Besseres leisten.“ „Wir?“ fragte Danforth. „Meine Brüder.“ Mays schien plötzlich unendlich müde. „Meine beiden Brüder und ich. Sie bauten es, ich setzte es in Betrieb.“ Danforth blickte sich um. „Wo sind sie?“ 142
In den blauen Augen stand Schmerz. „Einer von ihnen ist tot. Unsere erste Maschine explodierte. Der andere ist immer noch drüben – ich hoffe und bete, daß er noch unversehrt drüben ist.“ „Was bezeichnen Sie mit drüben’?“ „Können Sie es so schwer glauben, Danforth?“ Mays machte eine umfassende Handbewegung und deutete auf den Raum. „Nach all dem zweifeln Sie noch an mir? ,Drüben’ ist meine Welt, meine Zeit! Das Ende dieses Jahrhunderts und der Beginn des nächsten. Vor nicht allzulanger Zeit erlebte ich den Neujahrstag des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Er wurde nicht gefeiert. Zweitausendundeins kam in Blut und Finsternis – wie üblich.“ Danforth musterte ihn prüfend. Seine Hand ruhte auf dem Stapel von Plänen, und nach einer Weile bemerkte er es. Langsam studierte er das Schema, um sich dann genauso langsam wieder Mays zuzuwenden. „Das einundzwanzigste Jahrhundert …“ Mays nickte und erklärte bitter: „Einige Männer sehnten diesen Tag herbei, diesen Wendepunkt. Männer aus Ihrer Zeit und aus der Zeit Ihres Vaters. Die Zahl hatte einen magischen Beiklang, und sie dachten, das neue Jahrhundert würde ihnen große Dinge bescheren. Sie meinten, man würde zum Mond vorstoßen und zu den Planeten, glaubten, Krankheit, Hunger und Elend würden besiegt werden. Sie hätten sich nicht mehr täuschen können! Die magische Jahreszahl brach an mit Blutvergießen, Dunkel und Verzweiflung. Es gibt keine Raumschiffe, einzig die Raumstation, die Bens Welt umkreist und für ihn bewacht.“ Er schlug mit wilder Kraft auf den Schreibtisch. 143
„Ich muß Sie überzeugen, Danforth! Es wird die zweitschwerste Arbeit meines Lebens sein, Sie zu überzeugen!“ „Warum versuchen Sie es nicht?“ fragte Danforth eindringlich. „Zeigen Sie mir die Beweise!“ Theodore Mays grinste ihn unvermittelt an. „Ich werde etwas Besseres tun!“ Er ging hinkend um den Tisch herum und riß eine Reihe von Schubladen auf. Aus der untersten nahm er eine Rolle Draht und zwei Batterien, aus einer anderen ein Bündel Stäbe. In einer Baumwollpolsterung war sorgfältig ein Dutzend Kleinsttransistoren verpackt. Mays wählte zwei aus und legte sie auf den Plan. Aus seiner Tasche zog er die Tabakdose hervor, leerte ihren Inhalt in eine Ecke einer Schublade und füllte sie aus einem Topf, der Erde enthielt, vorsichtig wieder auf. Mit sicherem Auge schätzte er die Menge Erde in der Dose, fügte ein wenig hinzu und nickte befriedigt. Er öffnete eine weitere Schublade, und ein schwerer Behälter wurde sichtbar. Mays nahm den Deckel ab. Der Behälter war mit Blei gefüttert und enthielt ein paar Gramm eines unscheinbaren Materials, das gelegentlich im Widerschein der Deckenbeleuchtung farbig glitzerte. Er klaubte eine winzige Menge davon heraus und fügte es der Erde in der Dose bei und schüttelte diese sodann, um ihren Inhalt zu vermischen. Zuletzt brachte er ein Löteisen hervor, steckte es in einen Lötkolben und überreichte es dem erstaunten Danforth. „Machen Sie sich an die Arbeit!“, befahl er. „Folgen Sie dem Schema. Ich schaue unterdessen die Fallen nach und suche einen Behälter.“ „Ich?“ Danforths Unterkiefer sank herab. 144
„Sie!“ Der Schnurrbart zitterte, als ob ein Lachen dahinter verborgen sei. „Aber – ich erwartete nicht – “ „Sie verlangten Beweise, mein Sohn. Hier gebe ich sie Ihnen. Und jetzt sehen Sie zu, daß Sie vorankommen!“ Und er schlurfte aus dem Raum, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Als Danforth die Gegenstände überblickte, die über den Schreibtisch ausgebreitet lagen, entdeckte er, daß keine Lötmasse vorhanden war. Er öffnete daher eine Schublade nach der andern und fand schließlich eine Rolle Lötdraht und eine kleine Dose Lötpaste. Noch immer zögernd und fassungslos, was mit ihm geschah, blickte er auf den Plan und sagte sich, daß es am besten sei, bei den Batteriepolen zu beginnen und von dort auszugehen. Er wartete, bis das Löteisen heiß war, dann machte er sich an die schwierige Aufgabe, das Präzisionswerk der Maschine zusammenzubauen. Die Arbeit schritt langsam voran, weil er seiner selbst nicht sicher war. Nach einer endlos scheinenden Zeitspanne hörte er den alten Mann über die Treppe zurückkommen, einen schweren Gegenstand nach sich ziehend. Das Ding schlug geräuschvoll gegen jede Stufe. Danforth schaute neugierig auf, als Mays es durch die Türe hereinzerrte. Es war ein rostiger 120-Liter-Tank aus einer alten Warmwasserheizung. Danforth staunte, dann nahm er etwas verwirrt die Batterien nochmals auf, um ihre Serienziffern zu lesen. Trotz der vorausgegangenen Warnung durch den Zylinder versetzten ihm die Zahlen einen Schock. Endlich griff er auch 145
nach der Tabakdose, obwohl er wußte, daß er seine Fingerabdrücke darauf zurückließ. Mays richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand erschöpft über das Gesicht. „Ich gehe die Fallen nachschauen.“ Mechanisch, beinahe geistesabwesend, fuhr Danforth fort, den Apparat zusammenzusetzen. Schließlich trat er zurück, um die beendete Arbeit zu betrachten. Es war liederliches Flickwerk. Er spürte plötzlich, daß Mays hinter ihm stand und drehte sich um. Der Mann stand gebückt da und hatte die Augen niedergeschlagen. Er hielt die magere, schwarze Katze in den Armen. Mit langsamer, unsicherer Stimme sagte er: „Die Fallen waren leer. In jener Schublade dort ist eine Flasche Chloroform.“ „Jetzt aber halt!“ protestierte Danforth. „Dieses Spiel wurde weit genug getrieben –“ „Sie finden ein Skalpell neben der Flasche. Eingewickelt in einen Fetzen schwarzes Tuch. Legen Sie beides auf den Tisch, und ich erledige den Rest. Es dauert nicht lange.“ Zärtlich drückte er die Katze an seine Brust. „Lassen Sie die Katze los“, beharrte Danforth. „Ich habe genug gesehen.“ „Nichts haben Sie gesehen!“ Mays schrie beinahe. „Sie leben in einer ruhigen, sicheren Zeit. Sie haben den Wahnsinn und das Morden nicht gesehen – nicht das Blut in den Straßen und die Leichname, die an den Bäumen hängen! Sie haben nicht erlabt, wie die Lynchjustiz die Nationale Gesetzgebung hinwegfegte. Und Sie haben nicht gesehen, wie Männer ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie ver146
botene Zeitungen lasen!“ Er verstummte, außer Atem geraten, aber mit brennendem Zorn in den Augen. Danforth ruderte hilflos mit den Armen und fand keine Worte. „Geben Sie mir das Messer und das Chloroform, mein Sohn. Und dann sehen Sie genau zu, was ich mache – weil Sie es vielleicht bald auch tun müssen!“ * Eine leere Schreibtischplatte, leer bis auf einen Krug Kaffee und zwei Tassen. „Wissen Sie, was ich getan habe?“ fragte Danforth. Der anfängliche Schock der Überraschung war noch nicht ganz verflogen. „Ich vermute es. Wohin fiel sie?“ „In einen Weiher – fünf Meilen südlich von Springfield.“ „Ja, das kann stimmen. Sie sucht Wasser, wenn sie nicht ein vorbereitetes Ziel findet.“ Mays nickte gedankenverloren und nippte an dem dampfenden Kaffee. Danforth starrte auf den Schreibtisch. Er sah immer noch das Bild vor sich, wie jener rostige Tank vor seinen Augen verschwand und sich in Nichts auflöste. Er war langsam durchsichtig geworden und schließlich mit der schwachen Andeutung eines Rauschens ganz verschwunden. „Ich fragte mich bereits, warum auf den Teilen so viele Fingerabdrücke von mir gefunden worden waren. Mays, ich fand diese Bombe in einem Weiher und feuerte sie fünf Tage später selber ab! Es muß so sein, denn ich fand das verflixte Ding letzten Mittwoch nachmittag und begann es 147
zurückzuverfolgen. Ich mußte es ja wiederfinden – wo ich es selber gebaut habe!“ „Ich sehe nichts Aufregendes daran. Sie kam vergangenen Mittwoch herunter, sagen Sie. Es hätte aber auch nichts ausgemacht, wenn sie erst nächsten Mittwoch heruntergekommen wäre. Sie haben kein bestimmtes Ziel festgelegt; sie konnte daher in beide Richtungen fliegen.“ Er wies mit dem Finger auf eine Schublade. „Wenn ich die Erde nicht in einer abgeschirmten Dose aufbewahrte, so wäre die Bombe hier zu uns zurückgekommen.“ „Aber es ist, wie wenn man rückwärts lebte“, protestierte Danforth. „Ich fand sie, bevor ich sie gebaut hatte.“ „Sie würden das nicht denken, wenn Sie sie erst am nächsten Mittwoch gefunden hätten. Dann würden Sie es glauben.“ „Nun – vermutlich schon.“ Dann lachte er plötzlich kurz und humorlos. Mays blickte ihn über den Rand der Tasse hinweg an. „Was ist?“ „Dieser dumme Tank hat eine Rundreise gemacht. Heute nacht schoß ich ihn in die Vergangenheit. Und heute vormittag brachte ich ihn zurück.“ Er wies auf die Straße. „Im Kofferraum meines Wagens!“ 9. Kapitel „Was wird geschehen?“ hatte Danforth den Zeitreisenden gefragt. „Wie sieht es ,drüben’ aus?“ Er bekam seine Antwort in harten, erbarmungslosen Worten … 148
* Die neue Regierung war beinahe ein Jahr im Amt, bis ihre Machenschaften augenfällig wurden. Der Finanzhaushalt bekam ein einseitiges Aussehen, wurde unausgeglichener als je zuvor, und es wurde nicht einmal darüber gesprochen, ihn wieder zu stabilisieren. Nationale Stiftungen und Geldvorräte sanken auf den Nullpunkt, und die Etats der Ministerien für Arbeit, Handel und Wohlfahrt wurden auf nahezu nichts beschnitten. Die früher selbstverständliche Unterstützung von Schulen, Krankenhäusern, Bahnen und ähnlichen Einrichtungen wurde kurzerhand eingestellt. Aber das Militärbudget stieg steil an. Gegen Ende des zweiten Jahres geschah etwas, das beinahe niemand erwartet hatte, etwas, das die große Mehrheit der erschreckten Bevölkerung bis zum Wahnsinn aufpeitschte. Der Niemand namens Smith, der erste von Hawaii stammende Präsident, wurde ermordet, als er im Ballsaal eines Hotels stand und eine Rede über nationale Sicherheit hielt. Selbstverständlich übertrugen die Radio- und Fernsehsender den Anlaß, und so sah und hörte das Land seinen Präsidenten sterben. Ben war der Situation gewachsen. Man könnte beinahe sagen, er war darauf vorbereitet. Er nannte die Mörder. Natürlich wußte er nicht den Namen und die Adresse des Mannes, der den Schuß abgefeuert hatte, aber er nannte die Gruppe, die das Attentat geplant hatte, nannte die Partei, die es unterstützt hatte und die europäische Regierung, die 149
indirekt dafür verantwortlich war. Und er verlangte eine gerechte Rache,. Es wurden keine förmlichen Noten vom Staat ausgearbeitet und von einem ebenso förmlichen Botschafter überreicht, keine fruchtlosen Vergeltungsmaßnahmen ergriffen und keine internationalen Beziehungen abgebrochen. Ebensowenig wurden Entschuldigungen oder Entschädigungen gefordert. Ben hielt nichts von Diplomatie. Eine Kompanie Truppen stieg vor der Botschaft von ihren Lastwagen. Sie rannten das Tor ein, marschierten über den Rasen und brachen die Türen auf. Und dann durchsuchten sie die Botschaft systematisch vom Keller bis zum Dach und töteten jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, die sie darin fanden. Das, eröffnete Ben seinen verblüfften Mitbürgern, sei die gerechte Rache für die Ermordung ihres geliebten Präsidenten. Gegenmaßnahmen wurden erwartet, blieben aber seltsamerweise aus. Der umsichtige Ben hatte sich auch darum gekümmert. Natürlich gab es einige Gegenschläge; aber die Bombenabwürfe waren nicht annähernd so genau, wie es wünschenswert gewesen wäre. Die Bombardierungen nach einem bestimmten Plan begannen am östlichen Ende von Finnland, Deutschland und Österreich und fegten weiter gegen die sibirischen Ebenen zu; von in Alaska gelegenen Stationen erhob sich eine weitere Flotte in die Luft, um Sibirien zu bombardieren. Die Arsenale waren überfüllt. Es gab gelenkte und freifliegende Geschosse, Stratosphärenraketen ähnlich den alten V-2, Langstreckenflugzeuge und Atomunterseeboote, Bomben 150
und Landminen jeglicher Beschreibung. Und die Raumstation zeigte plötzlich, daß sie nicht nur Beobachtungsstation war. Alle diese Todesboten waren mit Atomgeschossen beladen und trugen zudem chemische und bakteriologische Vernichtungswaffen mit sich. Sie wurden über einem überraschten und völlig überrumpelten Feind abgeworfen, der sich seit langem auf ein solches Ereignis vorbereitete, aber nie damit rechnete, daß es eines Tages eintreffen könnte. Natürlich entschuldigte sich Ben! Er bedauerte den unerwarteten Schaden an Finnland; der Wind hatte plötzlich gewechselt und Giftgase in eine Grenzstadt getragen, aber derartige Fehler können im Krieg vorkommen. In Wirklichkeit schulde ihm die Welt Dank. Ben wurde für eine zweite Regierungsperiode wiedergewählt, und das war die letzte Wahl für nahezu dreißig Jahre. Er widmete den Rest seines Lebens der Aufgabe, Amerika für die loyalen Amerikaner sicher zu machen. Selbstverständlich definierte er den Begriff „Loyalität“. Eine neue Liste von Staatsverbrechen wurde aufgestellt. Sie wuchs auf vier enggeschriebene Seiten an. * Exleutnant Danforth saß auf den Stufen vor dem Haus, seinen Kopf zum Himmel emporgerichtet. Seine Augen suchten nach jenen vertrauten Sternen, die er kannte und aufzufinden vermochte; sie waren treue Gefährten und schon seit undenklichen Zeiten dort oben und unveränderlich leuchtend. „Ich will nicht in einer solchen Welt leben“, erklärte er fest. 151
Hinter ihm knarrte der Schaukelstuhl. „Ich schätze mich glücklich, mein Sohn. Ich entkam dieser Welt!“ Pfeifenrauch schwebte langsam durch die schweigende Nachtluft. „Ich bin zu alt und zu müde, um dorthin zurückzukehren. Was dort auch geschehen mag, ich will nicht zurück!“ Er schaukelte eine Zeitlang in Schweigen und fügte dann bei: „Ob wir nun hier verlieren oder gewinnen, ich gehe nicht zurück. Ich will den November nicht wieder erleben.“ „November“, sann Danforth vor sich hin. „Noch etwa vier Monate …“ „Ich wollte, es wären vier Millionen Jahre! Und das wäre noch zu wenig, wenn dann noch Menschen lebten. Mein Wort darauf, mein Sohn. Es ist höllisch, an jenem ersten Mittwochmorgen im November aufzuwachen und den Namen des nächsten Präsidenten zu vernehmen. Lassen Sie es nicht geschehen!“ „Aber Sie sagten, es sei bereits geschehen – und geschehe immer weiter bis ins nächste Jahrhundert hinein?“ „In meinem Leben. Aber es kann anders werden im Ihrigen. Wir können es von heute an in wenigen Tagen ändern – wenn Sie den Mut dazu haben. Meine Brüder wußten, was sie taten.“ „Ja, Ihre Brüder, was ist mit ihnen? Wie konstruierten sie die Zeitmaschine? Wie bauten sie sie?“ „Jahre …“ erwiderte die alte Stimme bitter. „Es kostete sie Jahre, während derer sie flüchteten, sich verbargen und in Löchern lebten; Jahre, in denen sie Fragen ausweichen und neugierige Spitzel überlisten mußten. Die Wälder sind voll von Leuten, die einen für einen Dollar ausliefern oder 152
für die Erwähnung ihres Namens in der Zeitung. – Jahre“, wiederholte er. „Es begann mit der Chrono-Kamera wie heute. Sie brachten Jahre damit zu, Teile von überallher zu stehlen; sie bettelten um Draht, suchten Stäbe aus Abfallhaufen hervor und logen, um die Batterien zu bekommen, die sie brauchten.“ Er lehnte sich weit aus dem Schaukelstuhl vor, um Danforth auf die Schulter zu tippen. „Wissen Sie, wie ich hierherkam, mein Sohn? Wissen Sie, was sie für mich bauten? Einen Sarg! Einen gestohlenen Sarg aus einem Friedhof! Es gibt viele Särge dort drüben.“ Er verstummte für eine Weile, und Danforth vermeinte, ein leises Flüstern zu hören. „Mein Bruder starb in einer Kiste; irgend etwas mit jener Maschine war nicht in Ordnung, etwas überhitzte sich und explodierte. Und diesmal kamen sie uns verdammt nahe – es blieben Spuren zurück.“ „Radioaktivität“, nickte Danforth rasch. „Sie hinterlassen eine Spur von Radioaktivität.“ „Jene Explosion zeigte uns, wie man sie zum Explodieren bringen konnte“, gab Mays zurück. „Zufällig. Wir wußten bereits, daß sie nachts am besten funktionierten – keine störenden Auswirkungen von der Sonne – und bei Regenwetter. Nässe erhöht ihre Wirksamkeit. Wasser zieht sie an, wenn nicht ein Ziel für sie vorbereitet wurde. Aber es dauerte lange, bis wir die richtige Zusammensetzung fanden: Ytterbium und Kalifornium. Es war eine lange Zeit.“ „Aber die letzte der Bomben implodierte“, wandte Danforth ein. „Einige von meinen implodierten.“ 153
„Aber weshalb?“ „Wegen dem Mischungsverhältnis. Wenn die Zusammensetzung zu stark ist, so implodiert die Bombe eher als daß sie explodiert. Was macht das schon aus?“ „Ich dachte, es sei, weil die Maschine rückwärts reiste – in die Vergangenheit.“ „Unsinn!“ Mays Stimme tönte ungeduldig. „Der Sarg brachte mich hierhin zurück, aber jetzt kann ich sie nicht mehr so groß und so wirksam herstellen. Nicht mit den wenigen Hilfsmitteln, die mir zur Verfügung stehen, mit dem wenigen, was ich weiß. Es wäre anders, wenn mein Bruder nicht gestorben wäre, wenn er jetzt an meiner Stelle säße. Aber er ist nicht hier, und ich weine nicht deswegen. Ich tue mein Bestes. Kleine, schwache Dinger, wie Sie eines abfeuerten. Sie sind recht für ein paar Stunden, ein paar Meilen – für die Lebensdauer der Batterien, oder der Katze.“ „Ich errate Ihre Arbeitsweise“, sagte Danforth. „Die Zusammensetzung, die Sie beim Opfer anbrachten. Die Gummipuppe …“ „Die Puppe?“ erwiderte Mays neugierig und kicherte dann. „So gelangte sie also hinein, wie? Das war die schwierigste Aufgabe, die ich je hatte! Ich strich tagelang um den Platz herum, ich versuchte sie mit der Post zu schicken, ich warf sie über die Mauer, stieß sie zu den Hunden hinüber. Sie trugen die Puppe also ins Haus, nicht?“ Er schien ein eigenartiges Vergnügen darin zu finden. „Die Puppe erfüllte also ihre Aufgabe. Sobald die Maschine abgefeuert ist, beginnt sie nach dem gleichen Material zu suchen, das sie in ihrer Spitze mit sich trägt. Natürlich muß es innerhalb von ein paar hundert Meilen sein; 154
diese Begrenzung besteht. Und dann peilt sie die Zusammensetzung an. Deshalb auch muß ich den Vorrat in einer Bleibüchse aufbewahren, sonst würde ich mich selber in die Luft sprengen. Der Teil der Mischung, der sich beim Opfer befindet, zieht die Maschine an und bewirkt ihre Auslösung. Je näher sie dem Ziel kommt, desto stärker erhitzt sie sich. Und sobald sie sich genau darüber befindet, fällt sie. Das ist so ziemlich alles.“ „Einfach!“ sagte Danforth. Er versuchte nicht, seinen Sarkasmus zu verbergen. „Ich war lange Jahre Bombenspezialist, aber ich verstehe es nicht!“ Theodore Mays ließ Schweigen aufkommen zwischen ihnen. Er schaukelte und sog geräuschvoll an seiner Pfeife, er griff geistesabwesend in seinen Schoß, um die Katze zu streicheln, die gar nicht mehr dort war. Und nach einer langen Weile sagte er ruhig, zu ruhig: „Sie können aussteigen, mein Sohn, wenn Sie wollen!“ Danforth drehte sich auf der Treppe um, damit er ihn besser sehen konnte. Er schwieg. „Wenn Sie wollen, können Sie es selber erleben. Lassen Sie den November herankommen. Lassen Sie geschehen, was geschehen wird. Und in acht oder zehn Jahren, wenn Sie dann noch am Leben sind, sage ich Ihnen, wo Sie meine Brüder finden können. Sie können sie dann beobachten, wie sie die große Maschine bauen, meinen Sarg! Das wird Ihnen dann vielleicht genügen. Sie brauchen es nur zu sagen, mein Sohn.“ Seine Stimme blieb leise und beherrscht. Danforth schaute Mays lange an und wandte sich dann wieder dem Nachthimmel zu. Die Stadt war dunkel. Sie 155
schlief. Der Verkehr auf der Autobahn war auf das nächtliche Mindestmaß herabgesunken, und davon war der größte Teil Lastwagen. Die Tankstelle hatte die Nacht über geschlossen. Laute wurden in der nächtlichen Stille weit getragen. Er dachte an all die Vorfälle, die ihm zugestoßen waren seit, der Explosion in jener Dienstagnacht – auf die er im Grunde genommen gestoßen worden war und an die Leute, die dabei in seinen Gesichtskreis geraten waren. Er erinnerte sich daran, wie ihn die Detonation aus dem Bett getrieben hatte, und an das hartnäckige Summen des Radiophons einige Minuten darauf. Der Nachrichtenoffizier und der Kameramann waren sehr teilnahmsvoll gewesen; sie wußten, ohne daß es ihnen gesagt worden war, daß er erledigt war. Der Telepath war zuerst zugeknöpft und später höchst aufrichtig und offen gewesen. Er erinnerte sich an seine ersten aufregenden Entdeckungen am Tatort des Attentates und an das, wohin sie geführt hatten, entsann sich des nächtlichen Besuches im Spital und wohin dieser geführt hatte. Zu dem einladenden Haus am See und einem unbegreiflichen Mann, der auf dem See umherschwamm. Und Shirley Nash, die zum Wasser hinuntergeschritten war, um sich ihrem Gatten anzuschließen. Was würden sie tun, wohin würden sie nach den Novemberwahlen gehen? Nach den Novemberwahlen! Und nun endete die Spur hier bei einem kleinen, weißen Häuschen, das in einer Seitenstraße stand, in einer Kleinstadt an der Autobahn. Kein lärmerfülltes Laboratorium, keine gigantische Fabrik, kein Regierungsbüro. Eine friedliche Stadt, ein unbeachtetes Häuschen und ein menschli156
ches Wesen, das von den Nachbarn als alter Mann bezeichnet wurde – ein Altwarenhändler. Ein Chrono-Mann, wenn man ihn so bezeichnen konnte, der mit einer wackligen Maschine hergekommen war, die in einen gestohlenen Sarg eingebaut worden war; ein ChronoMann, der am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts gelebt hatte. Der genügend mit seinen Mitmenschen – Freunden und Unbekannten – fühlte, um seinen Körper bei der Zeitreise in Fetzen reißen zu lassen. Der sein Land liebte und den Mann haßte, der es umzubringen gedachte. Danforth hatte seinen Entschluß gefaßt. „Wie wollen Sie einen Mann wie Ben aufhalten?“ „Wie würden Sie ihn aufhalten?“ fragte Mays zurück. Ohne Zögern erwiderte Danforth: „Ich würde meine Taschen mit der Erde aus Ihrer Bleibüchse füllen oder sie in einem Sack um meinen Hals hängen! Und ich würde bei der Massenversammlung in St. Louis dabeisein. Ich würde so nahe wie möglich beim Rednerpult stehen, hurra rufen und schreien und ihn den größten Mann nennen, der je auf der Erde wandelte. Ich würde ihn umarmen, wenn er es zuließe. Ich wäre sein Judas. Ich würde ihm auf den Fersen bleiben, bis ich ein Rauschen vernähme, das aus dem Nichts zu kommen scheint.“ Danforth rieb seine plötzlich feuchten Handflächen über den Stoff seiner Hosen. „Und dann würde ich noch ein klein wenig länger bleiben!“ „Ich hatte an so etwas gedacht, mein Sohn. Und ich möchte dir die Hand drücken.“ „Aber was geschieht mit Ihnen?“ erkundigte sich Danforth. „Ich ließ eine meilenweite Spur zurück. Man hat alle Einzelheiten über mich im Polizeihauptquartier. Sie wer157
den sich beeilen müssen nachdem Sie das Ding abgefeuert haben.“ Mays schüttelte den Kopf. „Nicht nach dieser Explosion. Mein Sohn, es wird reiner Zufall sein, ob zuerst die Polizei oder eine lynchfreudige Meute hier sein wird. Aber wenn du meinst, daß auch nur die geringste Chance besteht, so bleibst du hier, und ich gehe nach St. Louis.“ „Ich habe die Judasrolle schon gewählt“, erinnerte ihn Danforth. „Dann ist es abgemacht. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit.“ Mays erhob sich aus dem knarrenden Schaukelstuhl. „Ich mache mich besser auf und gehe die Fallen nachsehen und suche etwas, wo wir die Maschine hineintun können.“ „Nicht nötig. Ich habe etwas im Kofferraum meines Wagens.“ Er zog die Schlüssel aus der Tasche und schritt zum geparkten Wagen hinaus. Er öffnete das Schloß, hob den Deckel in die Höhe und klopfte auf den rostigen Zylinder. „Das ist für Ben!“ 10. Kapitel Die Stadt war ein dichtgedrängter Dschungel von Menschen und Fahrzeugen, Lärm und Bewegung. Sie ertönte in einem nichtendenwollenden Crescendo von schreiendem Getöse und hastigem Vorüberfluten, lediglich von Zeit zu Zeit unterbrochen von tönenden Verkehrssignalen. Es war ein Tollhaus auf Rädern. Drei Geschäftsstraßen trafen im nördlichen Teil der Stadt zusammen, wo sie einen kleinen, dreieckigen Platz 158
bildeten, der die Kreuzung markierte. Ein Fleckchen Gras bedeckte die Stelle, ein seltenes Stück lebendiges Grün in einer zementerstickten Stadt. Das Dreieck hatte sogar einen Namen. ,Etwas-Platz’, aber es war kein eigentlicher Platz, und sein Name bedeutete nichts oder fast nichts, ausgenommen für Historiker. Niemand beachtete den Platz. Gleich wie auf Hunderten von ähnlichen Stellen war ein Denkmal in seinem Zentrum errichtet worden, ein mächtiger Granitsockel, der himmelwärts strebte. Irgendein längst vergessener Bildhauer hatte zwei Männer daraufgesetzt, die Arm in Arm auf einen unbekannten Ort zuschritten. Aber wer achtet schon auf namenlose, längst gestorbene Männer, kümmert sich um die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts? Der dreieckige grüne Fleck und das Denkmal darauf waren bereits zum Abbruch vorgesehen, da der wertvolle Raum für den ständig anwachsenden Verkehr benötigt wurde. Gilbert Nash rieb ein wenig Schmutz weg, der den Sockel des Denkmals bedeckte, um die Namen sichtbar zu machen, die dort eingehauen waren. Er blickte auf die Namen, starrte länger, als ein Kind gebraucht hätte, um sie viele Male zu überlesen. Seine Frau berührte ihn am Arm. „Komm weiter. Wir machen bereits die Leute auf uns aufmerksam.“ „In einem Moment“, sagte Nash. „Ein Mann hat das Recht, ein paar Minuten bei einem alten Freund zu verbringen.“ ENDE
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Als TERRA-Sonderband 30 erscheint:
Die Söhne der Erde (THE ENEMY STARS) von POUL ANDERSON Sie tauften das Schiff Kreuz des Südens und schickten es hinaus auf den Weg, dessen Ende keiner von ihnen je sehen würde. Monate später hatte es halbe Lichtgeschwindigkeit erreicht. Stille senkte sich über das Schiff und hüllte es ein während der vierundeinhalb Jahrhunderte, die es nun antriebslos fiel. Zehn Generationen später war die Kreuz des Südens ihrem endgültigen Ziel kaum um die Hälfte nähergekommen, obgleich sie zu diesem Zeitpunkt von allen von Menschen geschaffenen Dingen die Erde schon am weitesten hinter sich gelassen hatte. Man sah es ihr an: Kratzer und Flickwerk unterbrachen an vielen Stellen die glatte Rundung ihrer Hülle, und auf ihren Wänden erinnerten Kritzeleien an die lange Reihe gelangweilter einsamer Männer, die ihren Flug überwacht hatten. Aber immer noch durchforschten jene Energiefelder und Partikelströme, die ihr als Auge, Hirn und Nerven dienten, unermüdlich den Himmel; ein jeder Mann ihrer Besatzung nahm, wenn er abgelöst wurde und den Einhundert-Lichtjahr-Schritt zum Mond der Erde machte, ein Kästchen mit Mikroplatten mit, das Ergebnis jener unermüdlichen Suche. Während des Jahrhunderts, in dem die Menschheit hauptsächlich damit beschäftigt war, 160
zu überleben, gingen zwar viele dieser Platten verloren, doch schließlich kam der Augenblick, als eine geduldige Maschine sich wieder an die Sichtung vieler solcher Platten von vielen Schiffen machte – und damit gewisse Leute zum Tode verdammte. Erstmals stellt der Moewig-Verlag mit diesem großen Science-Fiction-Roman den Autor Poul Anderson vor, der in Amerika zu den beliebtesten Science-Fiction-Autoren zählt. Versäumen Sie nicht, TERRA-Sonderband 30 bald bei Ihrem Zeitschriftenhändler zu verlangen.
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