Die Zeitschwadron
von PETER TERRID
Die Hauptpersonen des Romans: Tovar Bistarc alias Wood Emerson — Ein Mann der Zeit...
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Die Zeitschwadron
von PETER TERRID
Die Hauptpersonen des Romans: Tovar Bistarc alias Wood Emerson — Ein Mann der Zeitschwadron schlüpft in einen anderen Körper. Don Slayter — Chef der Zeitschwadron. Richard Holbrook — Ein Mörder wird zur Strecke gebracht. Roger Bourke — Opfer eines Justizirrtums. Maipo — Neues Mitglied der Zeitschwadron.
1.
Clem Ottway war für einen Beamten in einer Strafanstalt ein außergewöhnlich höflicher Mensch. Er machte sich sogar die Mühe, anzuklopfen, bevor er das Handlinienschloß der Zellentür betätigte. Roger Bourke saß wie immer auf dem Bett und starrte die kahlen Wände der Zelle an. Langsam drehte er sich zu Ottway herum, als dieser die Zelle betrat. Roger Bourke war etwas über vierzig Jahre alt, und die Hälfte seines bisherigen Lebens hatte er in einer Zelle verbracht, meist in der, in der er augenblicklich saß. Er war dazu verurteilt, auch den Rest seines Lebens dort zu verbringen, wenn nicht einige Ereignisse eintraten, von denen er selbst zu glauben begann, daß sie Wundern entsprächen. „Post für Sie!“ sagte Ottway. Bourke hatte das Bündel unter dem Arm des alten Wärters bereits gesehen. Zwei der Umschläge leuchteten grellrot, sie stammten von der Staatsanwaltschaft. Der grüne Umschlag mußte von einer hohen Bundesbehörde abgeschickt worden sein, vermutlich dem Revisionsgerichtshof. „Wollen Sie nicht öffnen?“ Bourke zuckte mit den Schultern. „Was soll schon drinstehen? Ich habe es aufgegeben, auf meine Rehabilitierung zu hoffen. Wenn es Ihnen Spaß macht...“ Bourke machte eine einladende Handbewegung. Ottway setzte sich neben dem Häftling auf das Bett und öffnete nacheinander die Umschläge. „Von Ihrer Frau, offenbar ist die Scheidung perfekt.“ Bourke biß sich auf die Unterlippe, aber er zog es vor, zu schweigen. Rasch überflog Ottway die einzelnen Schriftstücke, dann schüttelte er den Kopf. „Sämtliche Anträge abgelehnt“, sagte er. „Das waren Ihre letzten Möglichkeiten, nicht wahr?“ Ottway zog ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche und bot Bourke ein Stäbchen an. Der Gefangene zögerte einen Augenblick, dann nahm er dankend an. „Eine Möglichkeit bleibt Ihnen noch, Bourke“, sagte Ottway eindringlich, während er Bourkes Zigarette anzündete. „Ich weiß“, entgegnete der Gefangene mürrisch. „Ich kann noch immer ein Gnadengesuch einreichen.“ „Tun Sie’s Mann“, beschwor ihn Ottway. „Ich kenne den Laden, in spätestens fünf Jahren wären Sie wieder ein freier Mann. Wenn Sie weiterhin so störrisch bleiben, werden Sie hier drin verschimmeln, und dann wird man Sie eines Tages dort drüben einscharren!“ Ottway deutete aus dem vergitterten Fenster auf den Friedhof der Anstalt. „Ich will keine Gnade“, stieß Bourke hervor. „Ich will mein Recht, ich bin unschuldig, zumindest an dem Mord. Den Einbruch habe ich gestanden, und die Strafe dafür ist längst abgebüßt.“ Ottway schüttelte bedauernd den Kopf. 1
„Ich kenne Sie, Bourke, schließlich lebe ich ebensolange in diesem Bau wie Sie. Ich kenne Sie, und ich kenne auch die Akten Ihres Falles. Ich habe sie mir angesehen. Darf ich ehrlich sein?“ „Nur zu“, murmelte Bourke. „Nach allem, was ich mit Ihnen erlebt habe, würde ich Ihnen niemals einen Mord zutrauen. Aber wenn ich - damals oder heute - Ihr Geschworener wäre, ich würde Sie ebenfalls schuldig sprechen.“ „Ich weiß. Die Indizien sind erdrückend, wie es so schön heißt. Trotzdem, ich bin unschuldig.“ „Wenn dem so ist, dann wissen es nur zwei Menschen auf der Welt, der wirkliche Mörder und Sie selbst. Alle anderen werden nach wie vor glauben, daß Sie die Frau getötet haben, und ich kann diese Mehrheit sehr gut verstehen!“ „Scheren Sie sich zum Teufel“, erwiderte Bourke. Ottway zuckte mit den Schultern und stand auf. „Sie sehen ziemlich blaß aus, Bourke. Ich werde zusehen, daß Sie nachher eine zusätzliche Portion Gemüse und Salat bekommen.“ „Danke“, sagte Bourke, ohne sich umzudrehen. Er konnte hören, wie hinter ihm die schwere Zellentür wieder ins Schloß fiel, dann war er wieder mit sich und seinen Gedanken allein. Bourke wußte, wie hart es ist, eingesperrt zu sein. Er hatte grauenvolle Monate hinter sich. Ihm war klargeworden, daß er diese Strafanstalt niemals mehr verlassen würde, und so hatte er sich dazu durchgerungen, die Scheidung seiner Ehe voranzutreiben, obwohl sich seine Frau hartnäckig widersetzt hatte. Inzwischen hatte er auch diese Prozedur überstanden. Seine Frau war wieder ein unabhängiger, freier Mensch. Bourke allerdings blieb gefangen, aber das war nicht das Schlimmste. Bourke war unschuldig, doch nur er wußte es. Und jene Person, die damals die Frau getötet und damit auch Bourkes Leben vernichtet hatte. * Tovar Bistarc hörte hinter sich das Kreischen von Metall. Ohne zu zögern,
fuhr er herum.
Der kleine Sportgleiter hatte einen Laternenpfahl gerammt, die Fahrerin war
herausgeschleudert worden und lag auf der Straße. Mit aufheulenden Motoren
kamen andere Fahrzeuge zum Stillstand. Nur ein schwerer Lastengleiter nicht,
er raste mit höchster Geschwindigkeit davon.
Tovar murmelte einen Fluch, dann rannte er zu der Unglücksstelle hinüber.
Tovar war Polizeibeamter, und er wußte, was er zu tun hatte. Vorsichtig
bewegte er den Körper der Verletzten, bis er ihn so hingelegt hatte, wie es den
Vorschriften für Rettungsmaßnahmen am Unfallort entsprach. Tovar wischte
der Frau das Blut aus dem Gesicht und breitete eine Decke über sie, die er in
der Schale des Sportgleiters gefunden hatte.
„Ruhig, Mädchen, ganz ruhig. Es wird alles wieder gut!“
2
Tovar konnte sich ausrechnen, daß die Frau kaum die Hälfte von dem
verstehen würde, was er ihr sagte, aber es war wichtig, daß jemand sanft und
beruhigend zu ihr sprach, wenn ihr Bewußtsein zurückkehrte. Viele
Unfallopfer starben weniger an den erlittenen Verletzungen als vielmehr am
Schock, gegen den sich medizinisch nur wenig unternehmen ließ.
Ein Polizist in Uniform kam auf Tovar zugerannt.
„Ist ein Rettungswagen alarmiert?“ fragte Tovar. Der Beamte nickte hastig.
„Gut, kümmern Sie sich um den Verkehr, ich bleibe bei der Verletzten!“
Es dauerte nicht lange, bis der rotlackierte Rettungswagen erschien. Die Frau
wurde behutsam auf eine Trage gelegt und abtransportiert. Wenig später
erschien auch eine Polizeistreife, die Tovar auf das nächste Revier beförderte.
Der Wachhabende hatte die wenig angenehme Aufgabe, den Vorfall zu
protokollieren und Tovars Aussage festzuhalten.
„Haben Sie den Unfall gesehen?“
Tovar schüttelte den Kopf.
„Nur gehört. Aber den Fahrer des Lastengleiters, der den Unfall verursachte,
habe ich kurz gesehen. Und natürlich sein Kennzeichen.“
Der Wachhabende stutzte.
„Haben Sie die Nummern behalten können?“
Lächelnd nannte Tovar das amtliche Kennzeichen. Er wußte, daß nur wenige
Stunden vergehen würden, bis man den Mann und sein Fahrzeug sichergestellt
hatte. Die restliche Arbeit konnten das kriminaltechnische Labor und die
Gerichte übernehmen.
„Erstaunlich“, murmelte der Wachhabende. „Wie lange haben Sie den
Lastengleiter gesehen?“
Tovar zuckte mir den Schultern.
„Eine halbe Sekunde vielleicht. Er fiel mir auf, weil er so grell lackiert war,
hellrot mit schwarzen Streifen.“
„Und diese Zeit hat Ihnen gereicht, um sich die Nummer zu merken?“ wollte
der Wachhabende wissen, während er Tovars Angaben niederschrieb.
„Gemerkt habe ich mir die Nummer nicht“, gestand Tovar. „Ich habe sie
gesehen und zufällig behalten. Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis.“
„Erstaunlich“, murmelte der Wachhabende wieder. „Wirklich erstaunlich. Fürs
erste genügen Ihre Angaben. Sie werden später noch von uns hören, vielleicht
werden Sie als Zeuge vor Gericht gebraucht. Sie können jetzt gehen!“
Tovar grüßte freundlich, dann verließ er das Polizeirevier. Er hatte Urlaub, und
er gedachte die vierzehn dienstfreien Tage damit zuzubringen, sich
auszuruhen, Sport zu treiben und nebenbei seine Sprachkenntnisse ein wenig
aufzubessern. Während Tovar noch überlegte, woher er eine niederländische
Grammatik beziehen konnte, vergaß er bereits den Unfall und seine Folgen.
* Tovar grinste vergnügt. Er konnte förmlich sehen, wie der Hefeteig an Umfang gewann. Es war vielleicht nicht ganz korrekt, die Schüssel mit dem Vorteig 3
ausgerechnet unter den Heizkörper zu stellen, aber es funktionierte. Auf dem hölzernen Küchentisch standen bereits einige kleine Schüsseln, angefüllt mit Schinken, kleingeschnittener Hartwurst, geriebenem Käse, Thunfisch, Oliven, Paprikaschoten und einigen anderen Dingen, die in einer Stunde zusammen mit dem quellenden Hefeteig - eine monströs große und dicke Pizza nach Art Tovars ergeben sollten. Beim Gedanken an das Essen lief Tovar bereits das Wasser im Munde zusammen. Entsprechend ungehalten reagierte er auf das Summen des Videos. Eine Störung um diese Tageszeit konnte nur Unangenehmes bedeuten. Tovars Freunde waren ebenfalls in Urlaub, von seiner Freundin hatte er sich vor einem Monat ersatzlos getrennt - es blieb nur die eine Möglichkeit, daß man ihn - wieder einmal - aus seinem Urlaub holte, damit er einen erkrankten Kollegen vertrat. Für solche Zwecke waren anhangslose Junggesellen gerade richtig. Tovar hatte richtig getippt. Als sich das Bild stabilisiert hatte, konnte Tovar das Gesicht eines Mannes in Uniform sehen. Allerdings handelte es sich um keinen Beamten, den Tovar kannte. Zudem trug der Mann an den Kragenspiegeln der Uniformjacke ein Abzeichen, das Tovar noch nie gesehen hatte: eine pechschwarze Sanduhr, durch die goldfarbener Sand rieselte, davor kreuzten sich ein Schwert und ein modernes Lasergewehr. Der Mann machte Tovar neugierig, vor allem, weil er nicht die geringste Lust zeigte, das Gespräch zu eröffnen. Tovar beschloß, auf diese, Unfreundlichkeit nicht zu reagieren. Höflich sagte er: „Mein Name ist Tovar Bistarc, aber das werden Sie vermutlich bereits wissen. Was wollen Sie von mir? Und wer sind Sie überhaupt?“ „Fragen stelle ich“, gab der Unbekannte zurück. „Haben Sie Interesse an einer neuen reizvollen Aufgabe innerhalb der Polizei? Der Job ist interessant, wird hervorragend bezahlt und bringt gewisse Risiken mit sich. Wenn Sie Lust haben, dann packen Sie unverzüglich Ihre Sachen. Sie kündigen Ihre Wohnung zum nächsten Termin, und morgen früh wird einer meiner Männer Sie mit einem Gleiter abholen. Nehmen Sie mit, was Sie brauchen - Ihre Wohnung werden Sie im nächsten halben Jahr nicht wiedersehen. Ende!“ Bevor Tovar reagieren konnte, hatte der Unbekannte die Verbindung unterbrochen. „Eine bodenlose Frechheit!“ erregte sich Tovar, während er in die Küche zurückging. „Nennt keinen Namen, aber kommandiert herum. Was denkt sich dieser Bursche eigentlich?“ Zwei Stunden später hatte Tovar gegessen und das Geschirr gespült. Dann machte er sich daran, seine Sachen zu packen. * Tovar schnappte nach Luft. In dicken Tropfen lief ihm der Schweiß über Gesicht und Rücken. Sein Gegner hatte ihn fest im Griff, Tovar brauchte alle Kräfte, um nicht schon in der ersten Runde durch Schultersieg zu verlieren. 4
Der Gegner drückte mit seinem Körper auf Tovar, um dessen Schulterblätter auf den Boden zu bringen, und Tovar strengte sich mit letzter Kraft an, diesen Erfolg zu verhindern. Endlich gelang es ihm, seinen Fuß irgendwo festzuhaken. Mit aller Kraft zog Tovar die Beinmuskeln zusammen, und er konnte spüren, daß sein Gegner aus dem Gleichgewicht geriet. In die beiden ineinander verkeilten Körper kam Bewegung. Tovars Gegner mußte seinen Griff lockern, und Tovar nutzte die kurze Zeitspanne, um sich aus der Umklammerung zu lösen. Sekunden später standen sich die beiden Männer wieder mit herabpendelnden Armen gegenüber und lauerten auf eine unvorsichtige Bewegung des anderen, um einen Griff oder Wurf ansetzen zu können. Die Pfeife des Schiedsrichters machte dem Kampf ein Ende. Schweratmend reichte Tovar seinem Gegner die Hand, dann verschwanden beide Männer unter den Duschen. Während das heiße Wasser Schweiß und Staub von Tovars Körper spülte und gleichzeitig half, einen mörderischen Muskelkater zu verhindern oder wenigstens abzumildern, dachte Tovar über die letzten Wochen und Monate nach. Der unbekannte Anrufer, dessen Namen Tovar immer noch nicht hatte herausfinden können, hatte nicht zuviel versprochen. Pünktlich war der Gleiter zur Stelle gewesen und hatte Tovar in ein Ausbildungslager gebracht. Wo sich dieses Lager befand, welchem Zweck die harte und unerbittliche Ausbildung diente, hatte Tovar nicht ergründen können. Die Männer, mit denen er verkehrte, waren ungewöhnlich schweigsam und zugeknöpft, und die anderen Bewohner des Lagers waren ähnlich schlecht informiert wie Tovar. Daß es sich bei diesem Haufen um eine Spezialabteilung handelte, war allerdings nicht zu übersehen. Psychologen nahmen die Kandidaten in die Mangel, Geheimdienstexperten suchten nach weichen Punkten in der Vergangenheit der Bewerber, und die Trainer hatten offenbar nur die eine Aufgabe, ihre Schützlinge an den Rand der physischen Belastbarkeit zu bringen. Was Tovar allerdings sehr wunderte, war das ungemein intensive Gedächtnistraining, dem er unterzogen wurde. Immer neue mnemotechnische Tricks mußte er lernen und üben. Lange Zahlenreihen wurden ihm vorgelegt, die er später zu wiederholen hatte - vorwärts wie rückwärts. Bilder wurden ihm vorgeführt, und man erwartete von ihm, daß er sich noch nach Tagen selbst an kleinste Details erinnerte. Welche Farbe hatte die Krawatte des Mannes auf dem Bild? (Er trug keine. ) Wo lag die Katze? (Im Korb, der eigentlich dem Hund gehörte, wie das danebenliegende Halsband bewies. ) In den wenigen freien Stunden, in denen er weder körperlich noch geistig beansprucht wurde, versuchte Tovar, herauszufinden, was man mit ihm trieb. Tagelang hatte er über das merkwürdige Emblem nachgegrübelt, das die Beamten und Angestellten des Trainingslagers an ihren Uniformen trugen. Was das Lasergewehr zu bedeuten hatte, war offenkundig. Das Schwert aber konnte sowohl eine militärische Institution symbolisieren als auch an das Schwert der Gerechtigkeit erinnern. Was es aber mit der Sanduhr auf sich 5
hatte, blieb Tovar verborgen.
„Wenigstens stimmt die Bezahlung“, murmelte er.
Die heiße Luft, die im Vorraum der Dusche aus einigen hundert Düsen gepreßt
wurde, hatte den Körper abgetrocknet. Tovar zog sich rasch an, dann wollte er
das Zimmer aufsuchen, das man ihm zugewiesen hatte.
Eine Überraschung wartete auf ihn.
Auf Tovars Bett saß jener Mann, der Tovar vor etwas mehr als zehn Wochen
angerufen hatte. Er grinste Tovar freundlich entgegen.
„Mein Name ist Don Slayter“, stellte sich der Uniformierte vor und reichte
Tovar die Hand. „Ich nehme an, daß Sie allmählich wissen wollen, wozu wir
Sie hierher eingeladen haben.“
„Vor allem wüßte ich gerne, wozu ich mich hier schinden muß“, sagte Tovar.
„Wie heißt der Laden eigentlich?“
„Sie befinden sich in einem Trainingscamp der time-squad!“
„Bitte?“
Tovars Gedanken wirbelten durcheinander. Zeit-Schwadron? Er konnte sich
unter diesem Begriff überhaupt nichts vorstellen. Das einzige, was er begriff,
war der Symbolgehalt der Sanduhr im Emblem.
„Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen alles!“
Slayter stand auf und ging zur Tür hinüber. Auf der Schwelle blieb er stehen
und erklärte freundlich: „Ich bin übrigens der Chef dieses -Ladens, wie Sie ihn
nannten.“
„Aha“, machte Tovar.
Slayter führte Tovar einen langen Gang entlang, der sich unmerklich neigte.
„Ich will versuchen, Ihnen das Wesentliche zu erklären. Die time-squad ist
eine Sonderabteilung der Polizei des Terrestrischen Bundes. Wir klären
Verbrechen auf, und zwar mit Hilfe einer Zeitmaschine!“
Tovar blieb stehen, als sei er gegen eine Wand aus zolldickem Glas gerannt.
„Sagten Sie Zeitmaschine? Wollen Sie mich veralbern? So etwas gibt es
überhaupt nicht!“
„Sie werden es erleben, Tovar Bistarc. Sehr bald sogar!“
Der Gang mündete in einen kreisrunden Schacht, der senkrecht in die Tiefe
führte. Tovar sah sich neugierig um, und ihm entgingen nicht die
handtellergroßen Öffnungen in den Wänden. Vermutlich steckten hinter den
Luken Laserkanonen und andere Abwehrwaffen. Nervös leckte sich Tovar die
Lippen.
„Sie brauchen sich nicht aufzuregen. Der Zugang ist zwar mehrfach gesichert,
aber die Wachkomputer kennen meine Daten und lassen mich ohne
Schwierigkeiten durch. Das gleiche gilt für Personen in meiner Begleitung.“
Slayter schwang sich in den Schacht und griff nach einer Haltestange.
Langsam schwebte er in die Tiefe, wobei er mit der Hand, die die Haltestange
umklammert hielt, Geschwindigkeit und Körperhaltung kontrollierte.
In regelmäßigen Abständen entdeckte Tovar neue Abwehrsysteme.
Laserkanonen, Säurewerfer, Infraschallprojektoren - Tovar konnte sich nicht
vorstellen, daß es irgendwo auf der Welt einen Antigravschacht gab, der in
6
ähnlich aufwendiger Art und Weise gegen unerwünschte Besucher gesichert war. Slayter ließ sich nach Tovars grober Schätzung fast vierhundert Meter tief fallen, dann erst verließ er den Schacht. Eine leichte Handbewegung genügte, um den Körper aus dem Bereich der stark verminderten Schwerkraft zu befördern. Tovar fiel auf, daß Slayter praktisch nur einige Millimeter tief fiel, als er wieder in den Bereich der normalen Schwerkraft geriet. Offenbar war der Chef körperlich ebensogut trainiert wie seine Untergebenen. „Nach links!“ Tovar trottete folgsam hinter seinem Chef her. „Sie können also durch die Zeit reisen?“ erkundigte er sich. „Wir können - und Sie werden!“ Tovar grinste freudlos. „Wieso gerade ich? Ich bin Polizist, kein Historiker. Was soll ich in der Vergangenheit oder der Zukunft?“ „Beobachten“, lautete die knappe Antwort. „Wir sind am Ziel!“ Slayter holte einen kleinen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn in das winzige Schloß. Erst jetzt erkannte Tovar, daß die stählerne Wand vor ihm nicht das Ende des Korridors bedeutete. Leise glitt das Schott zur Seite. Tovar warf einen flüchtigen Blick darauf - dieser Zugang wurde von einer Stahlschicht versperrt, die mindestens einen Meter dick war. Der Raum war hell erleuchtet, und Slayter ließ Tovar genügend Zeit, sich umzusehen. In der Mitte des rechteckigen Saales stand eine Art Tisch - eine ovale Platte aus dunklem, vermutlich beschichtetem Metall, die von acht Stützen gehalten wurde. Die Stützen bestanden ebenfalls aus Metall und glichen zwei rechtwinkligen Dreiecken aus Stahl, die an der kürzeren Kathete miteinander verbunden waren. In die Dreiecksflächen waren kreisrunde Löcher gestanzt worden, die offenbar aber nur dekorativen Sinn hatten. Sie können ruhig näher treten!“ Über der Platte schwebte der Körper eines Mannes. Der Mann schien zu schlafen oder betäubt zu sein, er rührte keinen Muskel. Nur an einer leisen Bewegung der Brust konnte Tovar erkennen, daß der Mann überhaupt noch lebte. Ein leises Rauschen machte Tovar klar, was den Körper in der Schwebe hielt. Aus Hunderten von kleinen Düsen wurde von der Tischplatte Druckluft senkrecht nach oben geblasen, gerade stark genug, um den Körper eine Handbreit über dem Metall schweben zu lassen. Weit interessanter als dieses Detail war das rötlich schimmernde Feld, das den Körper des Mannes vollständig einhüllte. Woher dieses Feld stammte, entdeckte Tovar sofort. An der Decke des Raumes, der etwa acht zu zwölf Meter maß, befanden sich sechzehn Projektoren, jedenfalls gab Tovar instinktiv den Geräten diesen Namen. Die Spitzen dieser Projektoren zielten auf den Tisch. Sie bestanden aus rot schimmernden Spitzkegeln aus Metall, deren Außenfläche leicht nach innen 7
gekrümmt war. Darüber erkannte Tovar fünf weißglänzende Ringe, offenbar Isolatoren. Daran schloß sich ein schwarzer Metallzylinder an, der unmittelbar an der Decke befestigt war. Daß die Projektoren etwas mit dem roten Energiefeld zu tun hatten, war nicht zu übersehen - immer wieder zuckten Entladungen von dem Feld zu den Projektoren hinüber. „Nun?“ fragte Slayter. „Eine eindrucksvolle Kulisse für einen Science-Fiction-Film“, meinte Tovar. „Keine SF, das ist Realität. Dieser Mann ist einer unserer Beobachter. Er befindet sich zur Zeit knapp vier Wochen in der Vergangenheit - genauer gesagt, sein Geist hält sich dort auf. Der Körper bleibt hier im Zeitfeld, bis er den Wunsch hat, zurückzukehren.“ „Und was macht der Mann in der Vergangenheit?“ „Er beobachtet. Er klärt gerade einen Mord auf, bei dem es leider keine Zeugen und auch keine Leiche gab.“ Tavor kannte die angelsächsische Rechtssprechung gut genug, um zu wissen, was dies bedeutete. Kein englischer oder amerikanischer Richter hätte einen Mann wegen Mordes verurteilt, wenn nicht entweder die Leiche gefunden worden war, oder aber zweifelsfrei feststand, was aus dem Körper des Opfers geworden war. Tovar erinnerte sich eines Mannes namens John George Haigh, der fest davon überzeugt gewesen war, man könne ihn nicht wegen Mordes verurteilen, wenn die Polizei keine Leiche fand, und der deshalb seine Opfer in Säure auflöste. Dennoch gelang es den Gerichtsmedizinern, den Verbleib der Opfer zweifelsfrei zu klären - daraufhin wurde Haigh am 6. August 1949 im Gefängnis von Wandsworth gehenkt. „Unser Täter hat sich etwas Besonderes einfallen lassen. Er schleppte die Leiche zu einem Hochofen und warf sie hinein. Dabei bleibt von dem Körper natürlich nicht genug übrig, um ihn identifizieren zu können. Unser Beobachter wird die Tat verfolgen und später, sobald er wieder in die Gegenwart zurückgekehrt ist, den Täter mit einer detailgetreuen Erzählung konfrontieren. Bis jetzt hat noch jeder Täter gestanden.“ Tovar nickte nachdenklich. Er mußte zugeben, daß er stark beeindruckt war. Er war lange genug Polizist gewesen, um zu wissen, wie sehr die Bürger unter Verbrechern zu leiden hatten, vor allen Dingen unter den Syndikaten, die reich und mächtig genug waren, um sich sogar mit der Polizei anzulegen. Die kriminalistischen Möglichkeiten, die diese Zeitmaschine anbot, waren unabsehbar. Jetzt endlich konnte die Polizei die internationalen Syndikate bis in die letzten Schlupfwinkel hinein verfolgen, sie konnte Kartellabsprachen abhören, Diebstähle und Betrügereien aufklären... „Phantastisch!“ rief Tovar aus. Slayter lächelte sanft, griff in die Tasche und holte ein Abzeichen hervor. „Stecken Sie das Ding an. Sie sind von jetzt an Beamter der timesqard. Sie sind einer von zweihundert, die wir getestet haben - und der einzige aus dieser Gruppe, der alle Tests bestanden hat. Herzlich willkommen!“ Tovar schüttelte Slayters Hand, dann befestigte er das Emblem der timesquard an seiner Uniform. 8
„Falls Sie Rangabzeichen erwarten, muß ich Sie enttäuschen. So etwas gibt es bei uns nicht. Ob Beobachter, Verwaltungsmann, Forscher oder Techniker alle bekommen das gleiche Gehalt und bekleiden den gleichen Rang. Die Bezahlung wurde übrigens nach dem Motto festgelegt, daß es sich bei uns jeder leisten kann, unbestechlich zu sein.“ Tovar nickte. Unbestechlichkeit, Gesetzestreue - das waren zwei der Voraussetzungen, die jeder Mitarbeiter der time-squad mitzubringen hatte. Die Zeitmaschine gab denen, die sie benützten, ein Machtpotential in die Hände, das von keiner Behörde kontrolliert werden konnte. Entsprechend gesiebt wurden die Personen, die in die Geheimnisse der Anlage eingeweiht wurden. „Noch etwas zur Technik. Rechts von diesem Raum liegt die Energieversorgung der Projektoren, links die Energieversorgung der telemetrischen Systeme, mit denen der Körper des Beobachters überwacht wird. Hinter der Stirnwand gibt es je einen Kontrollraum für die Zeitprojektoren und die Telemetrie. Zwischen den Kontrollräumen und den Energieversorgungen befindet sich je ein Komputerraum. Eine einfache, übersichtliche Anlage.“ Hinter Slayter verließ Tovar den Projektorraum. Slayter führte ihn in sein Büro, das ebenfalls tief unter dem Erdboden lag. „Was wird meine Aufgabe sein?“ wollte Tovar wissen, nachdem er es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte. „Sie werden als Beobachter eingesetzt werden, Bistarc. Das wird Ihr erster Fall sein. Es handelt sich um einen Mann, der wegen Mordes verurteilt wurde, aber hartnäckig leugnet. Er hat sich im Gefängnis ziemlich umfangreiche Kenntnisse des Strafrechts und des Strafprozeßrechts angeeignet, und damit hält er seit Jahren die Justiz in Atem. Ich möchte diesen Fall geklärt wissen. Machen Sie sich mit den Einzelheiten vertraut. Sobald Sie fertig sind, geben Sie mir Bescheid. Sie werden übrigens ebenfalls hier unten wohnen. Die Ordonnanz wird Ihnen ein Quartier zuweisen!“ Damit war die Unterredung beendet. Tovar verabschiedete sich und klemmte sich das gewichtige Bündel unter den Arm. Hinter der Tür wurde Tovar von einer jungen Frau in Empfang genommen. In Gedanken versunken folgte er ihr in sein neues Quartier.
2. Eine fieberhafte Spannung hielt Tovar gefangen. Er mußte noch eine halbe Stunde warten, bis er an der Reihe war. Tovar hatte sich mit dem Fall Roger Bourke vertraut gemacht, er wußte, wo und was er zu suchen hatte. Was er nicht wußte, war, was mit ihm während der Zeitreise geschehen würde. Der schmächtige, kahlköpfige Mann, der besser eine Brille anstelle der Kontaktlinsen getragen hätte, gab sich alle Mühe, Tovar auf seine erste 9
Zeitreise vorzubereiten. „Es wird Ihnen vorkommen wie ein Traum. Sie werden einschlafen und in einer völlig veränderten Umgebung aufwachen. Dann werden Sie feststellen, daß Sie keinen Körper mehr haben, und damit entfallen auch alle körperlichen Hindernisse für Sie. Sie können im Bruchteil einer Sekunde den Ort wechseln, in Rom oder Alaska auftauchen. Sie können ohne Schwierigkeiten Wände durchdringen, denn körperlich sind Sie in der Vergangenheit gar nicht vorhanden. Haben Sie begriffen?“ Tovar nickte hastig. „Jetzt etwas Wichtiges. Sie werden zwar feststellen, daß Sie keinen Körper mehr haben, aber Ihr Geist wird Ihnen nach wie vor einen entsprechenden Eindruck vermitteln. Das bedeutet: Wenn Sie eine Straße überqueren, werden Sie gleichsam fühlen, wie Sie Schritte machen, obwohl Sie völlig körperlos sind. Sollte jetzt ein Gleiter vorbeikommen und Sie rammen, dann wird dieser imaginäre Körper den gleichen Schmerz empfinden, den Sie real auch erleben würden. Diese schockartigen Schmerzen können Sie sogar töten!“ „Augenblick“, protestierte Tovar. „Haben Sie nicht gerade gesagt, ich könnte durch Wände gehen?“ „Richtig. Aber in diesen Fällen schalten Sie das Empfindungsvermögen bewußt aus. Wenn Sie vergessen, daß Sie keinen Körper mehr haben, kann Ihnen alles zustoßen, was einem normalen Menschen auch geschehen kann. Sobald Sie sich der Tatsache aber bewußt sind, kann Ihnen die Realität der Vergangenheit nichts anhaben. Der Gleiter fährt durch Sie hindurch, ohne Ihnen auch nur den leisesten Schmerz zu bereiten - das aber nur dann, wenn Ihnen voll bewußt ist, daß Sie keinen Körper mehr besitzen. Das alles hört sich ein bißchen umständlich an, verhält sich aber so. Sie werden es ja erleben! Und nun wünsche ich Ihnen viel Glück bei Ihrer ersten Reise durch die Zeit. Ich bin sicher, Sie werden Gefallen daran finden.“ „Hoffentlich“, meinte Tovar, als er sich verabschiedete. * Die Vorbereitungen waren abgeschlossen.
Tovar lag lang ausgestreckt auf der ovalen Platte. Von seinem Körper führten
zahlreiche Kabel und Leitungen zu dem Raum hinter seinem Kopf. Dort
wurden ununterbrochen seine Atmung, sein Herzschlag und andere wichtige
Körperfunktionen überwacht. Gab es irgendwelche Komplikationen, würde
man ihn eilends wieder zurückholen.
Die Druckluft, die Tovars Körper in der Schwebe hielt, war angenehm warm
und hüllte ihn ein wie eine Bettdecke.
„Sie wissen, was Sie zu tun haben, Tovar?“
Tovar beantwortete Slayters Frage mit einem knappen Nicken.
„Volle Kraft auf die Projektoren!“
Das waren die letzten Worte, die Tovar hören konnte.
10
* Es war wirklich wie ein Einschlafen. Übergangslos kam Tovar wieder zu sich. Um ihn herum erstreckte sich eine Wiese, auf der einige Kinder spielten. Aus der Tatsache, daß sie nicht schreiend davonliefen, folgerte Tovar, daß man sein Erscheinen nicht bemerkt hatte. Unwillkürlich versuchte Tovar, aufzustehen. Noch fühlte er sich so wie vor einigen Sekunden, und der nicht vorhandene Körper reagierte präzise. Jetzt begriff Tovar die Warnung des Wissenschaftlers. Solange er einen Körper haben wollte, verschaffte ihm sein Geist das Gewünschte. Es war wirklich wie im Traum, er konnte sich bewegen, sehen und hören, er besaß ein Gefühl, das ihm einen Körper suggerierte. Probeweise schlug Tovar mit den Armen. Er stellte sich einfach vor, er sei so leicht, daß diese Bewegung ausreichen würde, um ihn wie einen Vogel fliegen zu lassen. „Phantastisch“, dachte Tovar. „Es klappt!“ Er flog, bewegte sich in der Luft, beschrieb Loopings und Rollen. Im Sturzflug jagte er auf die spielenden Kinder herab, schwang sich wieder nach oben und flog weiter. Rasch gewann er an Höhe und konnte die Stadt überblicken. Unter sich sah er die Bucht von San Francisco. Und wenige Sekunden später sah er auch, daß er tatsächlich in der Vergangenheit angekommen war. Noch war die Golden Gate Bridge eine Ruine. Die Brücke war bei einem heftigen Erdstoß vor einigen Jahren eingestürzt. Aber Tovar wußte, daß sie in seiner Zeit wieder stand - und er hatte sie oft genug befahren. Tovar hatte den Stadtplan genau im Kopf. Er wußte, wo sein Ziel lag. Als imaginärer Vogel jagte Tovar auf den Bezirk am Stadtrand zu. Er landete auf einem achtzehnstöckigen Hochhaus. Dann ließ er sich fallen. Er stellte sich vor, daß er sanft und sicher landete. Und wieder erfüllte sein Geist seinen Wunsch prompt und präzise. Er landete weich und wandte sich nach rechts. Einen Augenblick lang zögerte er noch, aber dann schritt er durch die Wand. Es war ein höchst eigentümliches Gefühl - von einer Sekunde zur anderen hatte das Bild sich geändert Die roten Ziegelsteine hatten sich in Luft aufgelöst, statt dessen sah Tovar jetzt die Eingangshalle des Hotels. Menschen gingen durch die Halle, und keiner nahm Notiz von ihm. „Natürlich nicht“, dachte Tovar „Schließlich bin ich ein Geist!“ * „Wie macht er sich?“ „Augenblicklich ganz gut. Die erste Erregungsphase ist abgeklungen. Die Angst vor seinem neuen Zustand dürfte er überwunden haben. Aber der kritische Teil kommt noch.“ 11
Slayter warf einen Blick auf den reglosen Körper Tovar Bistarcs. Obwohl er wußte, daß Geist und Körper getrennt waren, wartete er doch auf irgendein Zeichen. „Das Elektronenzephalogramm zeigt eine deutlich gestiegene Erregungskurve, Chef. Jetzt schnüffelt er wahrscheinlich in Ankleideräumen und Badezimmern herum. Es ist immer das gleiche mit den Burschen!“ „Wenn sich daran innerhalb der nächsten fünf Minuten nichts ändert, müssen wir ihn zurückrufen“, bestimmte Slayter. * „So also wird das gemacht!“ stellte Tovar zufrieden fest, dann verschwand er aus der Hotelküche. Es hatte sich gelohnt, dem Koch auf die Finger zu sehen, auch wenn Tovar dabei einen fürchterlichen Hunger bekommen hatte. Tovar warf einen Blick auf die Hoteluhr. Es wurde langsam Zeit für ihn. Genau betrachtet, war es lächerlich, aber eingefleischste Gewohnheiten ließ Tovar den Lift benutzten, obwohl er ohne weiteres durch die Decken hätte schweben können. Zwar hielt der Aufzug nicht in dem Stockwerk, das Tovar aufsuchen wollte, aber die Doppeltür stellte für Tovar kein Hindernis dar, ebensowenig die Tür, die die Suite 12 a vom Korridor trennte. Was ihn erwartete, wußte Tovar bereits. Die Suite wurde von einem gewissen Richard Holbrook und seiner Frau bewohnt. Mrs. Holbrook hatte die leichtsinnige Angewohnheit, ihren kostbaren Schmuck nicht im Hotelsafe einschließen zu lassen, sondern immer mit sich zu führen. Ein gefundenes Fressen für einen raffinierten Hoteldieb. Rasch überprüfte Tovar die Räume. Mrs. Holbrook lag in ihrem Bett und schlief. Der zweite Platz in dem breiten Bett war leer. Tovar fand Richard Holbrook in seinem Arbeitszimmer, wo er auf einem lederüberzogenen Sessel hockte und wie ein alter Skythe soff, riesige Mengen und unverdünnt. Offenbar war Richard Holbrook nervös, immer wieder sah er auf die Armbanduhr, dann auf die Tischuhr auf dem Schreibtisch, dann auf die Quarzuhr, die in das Video eingebaut war. Obwohl alle drei Instrumente präzise die gleiche Zeit anzeigten, wurde Holbrook nicht ruhiger. „Wann kommt der Bursche endlich?“ murmelte er und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Tovar wurde stutzig. Wen erwartete Holbrook? Außerdem fiel Tovar ein, daß Holbrook für die Tatzeit ein Alibi besaß, und zwar ein gutes. Tovar durchstieß kurz die Außenwand und orientierte sich. Es dämmerte bereits stark. Fahrzeuge schalteten die Lampen ein, und an den Straßen flammten die Leuchtreklamen auf. Tovar kam gerade rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie Holbrook das Licht löschte. Nur eine kleine Lampe im Arbeitszimmer brannte noch. Holbrook schüttete den restlichen Schnaps in den Ausguß, dann spülte er das Glas aus und stellte es, sobald es trocken war, zu den anderen. 12
Aus einem Fach in seinem Schreibtisch brachte er einen Narkonadler zum
Vorschein, dazu eine reichlich merkwürdig aussehende Konstruktion aus
Leder und Metall, ferner einen handelsüblichen Laser und eine Gesichtsmaske.
Holbrook zog die Maske probeweise über, und Tovar mußte eingestehen, daß
er Holbrook in dieser Verkleidung niemals wiedererkannt hätte.
Ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch ließ Holbrook zusammenzucken.
Rasch ging er auf Zehenspitzen zur Tür und stellte sich dahinter. Schritte
wurden hörbar, dann konnte Tovar einen Mann sehen, der leise in das
Arbeitszimmer schlich.
Tovar erkannte den Mann sofort es war Rogar Bourke.
Bourke sah sich kurz um, aber er war zu sorglos. Er entdeckte nicht den Mann,
der hinter der Tür auf ihn wartete. Bourke ging zum Schreibtisch hinüber.
Holbrook hustete.
Bourke fuhr erschreckt herum, aber bevor er erkannte, daß man ihm eine Falle
gestellt hatte, schlug bereits die Narkonadel in seinem Körper ein. Holbrook
ließ die Waffe fallen und sprang zu Bourke hinüber. Er konnte den
Getroffenen gerade noch auffangen, bevor er hörbar auf den Boden gefallen
wäre.
Holbrook setzte den bewußtlosen Bourke auf den Stuhl hinter dem
Schreibtisch, dann befestigte er das Gestell aus Metall und Leder daran. Tovar
konnte sehen, daß das Gestänge abgefüttert war, daß keine Kratzer am
Schreibtisch zurückblieben. Dann holte Holbrook eine Waffe aus einer kleinen
Sammlung, die an der Wand hing. Es handelte sich um einen uralten Colt,
noch ein Vorderladermodell aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.
Dann endlich begriff Tovar.
Holbrook drückte dem Bewußtlosen die Waffe in die Hand, anschließend
spannte er Hand und Waffe in das Gestell ein. Der Lauf zielte auf die offene
Tür zum Arbeitszimmer.
Holbrook streifte sich wieder die Maske über, dann rief er nach seiner Frau.
„Lilly! Komm bitte einmal her!“
„Was ist denn, ich bin gerade eingeschlafen!“
Tovar hörte das Tappen nackter Füße, dann erschien die Frau im Türrahmen.
Sie blinzelte gegen das Licht der Tischleuchte.
„Was...“
Tovar stürzte nach vorne und versuchte, den festgeschnallten Arm von Bourke
wegzudrücken, aber er glitt durch den Körper hindurch. Ein wahnsinniger
Schmerz durchzuckte Tovar. In sein Stöhnen fiel der Schuß.
Lilly Holbrook brach zusammen.
Holbrook ging rasch zu ihr hinüber und drückte der Toten den Nadler in die
Hand, dann löste er mit rasender Geschwindigkeit das Gestell vom
Schreibtisch und von Bourkes Arm. Der schwere Colt fiel aus Bourkes
schlaffer Hand. Holbrook verstaute das Gestell in einem kleinen Koffer, dann
verschwand er aus dem Arbeitszimmer.
* 13
„Los, holt ihn zurück!“
Tovars Körper auf dem ovalen Tisch krümmte sich und zuckte. Schlagartig
stellten die Projektoren ihre Arbeit ein, und im gleichen Augenblick begann
Tovar schmerzlich zu stöhnen.
Ein Arzt spritzte ihm eine große Dosis eines schmerzbetäubenden Mittels ein,
dann trat er wieder zurück. Besorgt betrachtete Slayter das Gesicht des
Beobachters, das immer blasser wurde.
* Langsam kehrte Tovar ins Bewußtsein zurück. Der tobende Schmerz hatte nachgelassen, aber die Übelkeit war noch nicht abgeklungen. Tovar hätte sich ausrechnen können, was ihm bevorstand, aber er hatte nicht daran gedacht, daß er bei der Ermordung eines Menschen würde tatenlos zusehen müssen. „Beruhigen Sie sich, Tovar“, hörte er Slayter sagen. „Das geht jedem so, es gehört zu unserem Beruf. Sie werden sich daran gewöhnen!“ „Gewöhnen?“ ächzte Tovar. Er stand langsam auf und stützte sich auf den Rand des Tisches. „Ich glaube nicht.“ „Was haben Sie beobachtet?“ wollte Slayter wissen. „Bekommen wir endlich ein Geständnis von Bourke?“ Tovar schüttelte langsam den Kopf. „Von Bourke nicht. Er ist nämlich unschuldig, ein Hoteldieb zwar, aber keineswegs ein Mörder. Holbrook selbst hat seine Frau erschossen, und ich werde ihn dazu bringen, daß er diesen Mord gesteht. Verlassen Sie sich darauf!“ * „Alle Wetter“, staunte Tovar, als er das Haus sah. „Der Kerl hat es verstanden, das Geld seiner Frau zu mehren!“ Richard Holbrook bewohnte eine riesige Villa am Stadtrand, ein eindrucksvolles Gebäude im Stil der frühen Kolonialzeit des Südens, umgeben von weitflächigen Parkanlagen. Natürlich gehörte ein privater Landeplatz für Fluggleiter zum Gelände, ein ausgedehntes Freitiergehege, das sogar vier Riesenpandas aufzuweisen hatte. Holbrook hatte Geld, und er zeigte es auch. An der Tür wurden Tovar und seine drei Begleiter, Beamte der örtlichen Kriminalpolizei, von einem würdevoll dreinbückenden Butler empfangen. Tovar wartete nicht erst ab, bis man ihn ansprach. Er hielt dem Butler die Metallmarke unter die Nase, dann trat er ein. Dennoch brauchte Tovar mehr als eine Viertelstunde, bis er endlich Richard l Holbrook gegenübertreten konnte. Holbrook hatte sich nach jener Mordnacht stark verändert, er hatte Fett angesetzt und ein beachtliches Doppelkinn bekommen. Eines jedoch war geblieben, die heimtückische Freundlichkeit, mit der er seine Frau an den Tatort gelockt hatte und mit der er jetzt die Beamten 14
begrüßte. „Ich kann mir kaum vorstellen, was die Kriminalpolizei von mir will“, erklärte er und setzte sich wieder. „Darf ich den Herren etwas zu trinken anbieten?“ Tovar nickte, die anderen Beamten verneinten. Holbrook schenkte ein. Tovar verdünnte den Whiskey mit Soda, Holbrook trank pur. „Ich sehe, Sie haben Ihre Gewohnheiten kaum geändert. Sie trinken pur, wie damals!“ „Damals?“ „Als Sie Ihre Frau ermordeten. Sie tranken Whiskey in riesigen Mengen, vor der Tat, versteht sich. Dann haben Sie das Glas gespült und wieder weggestellt. Es muß ziemlich an Ihren Nerven gezerrt haben, das Warten auf Bourke!“ „Ich verstehe nicht ganz!“ Nervös leckte sich Holbrook die Lippen. Er führte das Glas an die Lippen, dann setzte er es ab, ohne etwas getrunken zu haben. „Ich will Ihnen sagen, was Sie gemacht haben. Sie hatten damals schon ziemlich gute Verbindungen zur Unterwelt, und Sie haben diese Beziehungen dazu benutzt, dem Hoteldieb Roger Bourke einen brandheißen Tip zu geben die Juwelen Ihrer Frau. Der Ärmste wußte natürlich nicht, daß Sie ihn zum Mörder umfunktionieren wollten.“ Die drei Beamten der Kriminalpolizei blieben ruhig sitzen und lächelten, als Tovar den Mord rekonstruierte. Aber sie ließen Holbrook nicht aus den Augen. „Der Trick mit dem Gestell war erstklassig, das muß ich zugeben. Jeder andere hätte die Frau erschossen und ihr dann die Waffe in die Hand gedrückt, um einen Selbstmordversuch vorzutäuschen. Aber Sie waren gerissener - und besser informiert. Sie wußten nämlich, daß bei jedem Schuß Pulverschmauch entsteht, der sich an der Hand und der Kleidung des Täters festsetzt. Eine Leiche, die in der Hand zwar eine Waffe, aber daran keinen Pulverschmauch hat, kann sich also niemals selbst getötet haben. Diese Tatsache ist ziemlich bekannt, schließlich leben eine ganze Reihe von Schriftstellern davon, daß sie mit solchen Konstruktionen ihre Romane füllen. Sie machten es besser. Sie präsentierten die Leiche Ihrer Frau mit einem Nadler, der natürlich keinen Pulverschmauch entwickelt. Dazu einen bewußtlosen Mörder, der förmlich nach Schwarzpulverrückständen stank. Darum benutzten Sie zur Tat auch den uralten Colt und nicht einen modernen Laser. Sehr raffiniert, aber nicht geschickt genug!“ „Wie sind Sie mir auf die Spur gekommen?“ wollte Holbrook wissen. Er wirkte überraschend ruhig. Das machte Tovar stutzig. Tovar erklärte Holbrook, wie er den Mord beobachtet hatte. Der Mann schien nicht im mindesten davon überrascht zu sein, er äußerte nicht den geringsten Zweifel an Tovars Darstellung. „Ich nehme an, ich bin verhaftet“, sagte Holbrook schließlich. „Darf ich einige Kleinigkeiten einpacken, bevor Sie mich abführen. Außerdem möchte ich mich mit meinem Anwalt in Verbindung setzen.“ Tovar sah seine Kollegen an. Was nun kam, war Sache der Kriminalpolizei. Die time-squad durfte nur beobachten, exekutive Vollmachten hatte sie nicht. Beamte der time-squad 15
durften weder verhaften noch durchsuchen, sie durften auch keine Waffen bei sich führen. „Vorwärts!“ sagte einer der Kriminalpolizisten. „Packen Sie Ihre Sachen!“ Zusammen mit zwei Beamten verließ Holbrook den Raum. Tovar sah sich inzwischen im Arbeitszimmer des Mannes um. Holbrook mochte ein skrupelloser Mörder sein, aber der Mann hatte auch Geschmack. Tovar fand in den Regalen etliche Bände über Kunst, Musikgeschichte, Biographien und einige bibliophile Kostbarkeiten. Auch eine hochwertige Musikanlage konnte Tovar erkennen, zusammen mit einer erstaunlich großen Sammlung von Bändern. Tovar fand Bachs Gesammelte Werke, mehr als eintausend Titel, und das in doppelter Ausfertigung. Beethovens Gesamtwerk lag sogar in fünf verschiedenen Interpretationen vor. Tovar überlegte gerade, wie sich ein so ausgefeilter Geschmack für Musik mit Mord auf einen Nenner bringen ließ, als es im Nebenzimmer laut wurde. Schreie waren zu hören, dann das charakteristische Zischen eines Strahlschusses. Der Kriminalbeamte sprang auf und rannte in den benachbarten Raum, Tovar folgte sofort. Einer der beiden Polizisten lag besinnungslos am Boden, der zweite stand neben der Glastür, die in den Garten führte, und hielt sich mühsam aufrecht. „Er hat mich nur gestreift“, murmelte er, dann setzte auch bei ihm die Wirkung der Narkonadel ein. Tovar fing den Mann auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Im Garten lag Richard Holbrook, neben ihm ein Narkonadler. In dem Raum entdeckte Tovar einen großen Safe, der weit offenstand. „Er muß die Waffe im Safe versteckt haben“, kombinierte der Polizist. „Dann hat er einen Fluchtversuch unternommen, Fred betäubt und ist losgerannt. Leider hat Tom ihn voll mit dem Laser erwischt. Von Holbrook bekommen wir kein Geständnis mehr. Ich rufe das Revier an!“ Während der Beamte seine Kollegen alarmierte, studierte Tovar den Inhalt des Safes. Dort lag alles säuberlich beieinander, die Konten, auf denen die hinterzogenen Gelder lagen, schriftliche Aufzeichnungen über Kartellabsprachen, Durchschläge von Schreiben an kleinere Zulieferfirmen, die Holbrook schamlos erpreßt hatte - die Sammlung reichte nach Tovars vorsichtiger Schätzung für mindest ein Jahrzehnt Haft, wenn nicht mehr. „Ich möchte wissen, was er zu retten versucht hat“, murmelte Tovar. Er ging hinaus in den Garten, wo Holbrook regungslos auf dem dichten Rasen lag. Neben dem Toten stand der Butler und sah vorwurfsvoll auf seinen Arbeitgeber herab. Vorsichtig drehte Tovar die Leiche auf den Rücken. Vor die Brust gepreßt hielt Holbrook ein dickes Heft. Behutsam löste Tovar die Papiere aus den Händen des Toten. „Das glaubt mir keiner“, murmelte er. „Noten!“ „Die Kollegen kommen in wenigen Minuten“, gab der Polizist bekannt. „Damit wäre der Fall wohl abgeschlossen.“ „Vermutlich. Sagen Sie, kann ich dieses Notenpapier behalten? Ich stelle Ihnen selbstverständlich eine Quittung aus. Wenn unsere Leute die Papiere 16
untersucht haben, geben wir die Dokumente selbstverständlich zurück.“
„Mir soll’s recht sein“, murmelte der Polizist. „Glauben Sie, daß dieses Zeug
etwas wert ist?“
„Wir werden es erleben“, meinte Tovar freundlich.
* Mit einer für ihn völlig ungewöhnlichen Rücksichtslosigkeit betrat Clem Ottway Roger Bourkes Zelle. Weder klopfte er an, noch begrüßte er den Gefangenen. „Aufstehen!“ schnauzte er Bourke an. „Was soll das?“ fragte Bourke erstaunt, während er aufstand. Ottway machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Sie werden rausgeschmissen“, erklärte er grinsend. „Man will Sie hier nicht länger haben. Hier, lesen Sie! Ich habe den Direktor darum gebeten, es Ihnen selbst bringen zu dürfen!“ Mit zitternden Händen riß Bourke den Umschlag auf. Er überflog die wenigen Zeilen, zwinkerte und las ein zweites Mal. Ottways Grinsen wurde breiter. „Sie dürfen es ruhig glauben. Sie sind frei, entlassen wegen erwiesener Unschuld. Eine Sonderabteilung der Polizei hat herausgefunden, daß Sie den Mord nicht begangen haben. Jetzt können Sie Ihre Frau wieder heiraten, und eine saftige Haftentschädigung gibt es auch!“ Bourke sank auf die Pritsche zurück, und Ottway gab ihm sein Taschentuch, damit er seine Tränen abtrocknen konnte. Zwei Stunden später schüttelte Clem Ottway Burke zum - vorläufig - letzten Mal die Hand, dann rasteten hinter Roger Bourke geräuschvoll die Tore der Strafanstalt ein. Auf der anderen Seite der Straße wartete ein Gleiter, in dem eine attraktive Frau saß und Bourke zuwinkte. Fast ein Viertel seines Lebens hatte Roger Bourke unschuldig hinter Gefängnismauern verbracht. Er war das Opfer eines Justizirrtums, aber Bourke verspürte keinen Groll, nur eine tiefe Dankbarkeit den Männern gegenüber, die nach so langer Zeit seinen Fall wieder aufgegriffen und ihm die Freiheit zurückgegeben hatten.
3. „Setzen Sie sich, Tovar!“
Slayter deutete auf einen freien Platz, den anderen Sessel hatte ein junger
Mann belegt, groß und breitschultrig, sonnenverbrannt und gutgelaunt.
„Ich darf vorstellen: Das ist Angelo Parcelli, Musikhistoriker. Tovar Bistarc,
einer unserer Beobachter, genauer gesagt, der Mann, der uns auf diese Spur
gebracht hat!“
17
Die Männer schüttelten sich die Hände.
Vor Slayter lag auf dem Schreibtisch das Notenbündel, das Tovar bei der
Leiche Holbrook entdeckt hatte. Inzwischen sahen etliche von Holbrooks
Mitarbeitern einer Verhandlung wegen Wirtschaftsverbrechen entgegen.
„Wissen Sie, was Sie da gefunden haben?“ fragte Parcelli grinsend. „Nein? Ich
werde es Ihnen erklären. Sehen Sie dieses Papier?“
Er nahm einige Blätter von dem Stapel und drückte sie Tovar in die Hand.
„Notenpapier“, stellte Tovar fest. „Leider schon von irgend jemand
bekritzelt!“
Parcelli lachte, bis seine Augen tränten.
„Mann“, prustete er. „Wenn Sie das diesem Jemand sagen, wird er Sie
erschlagen. Immerhin, Sie haben recht. Das ist ganz gewöhnliches
Notenpapier, wie Sie es in jedem einschlägigen Geschäft kaufen können.
Dieses hier ist vielleicht ein halbes Jahr alt, keinesfalls älter als höchstens zwei
oder drei Jahre.“
„Ist das von Bedeutung?“
„Warten Sie es ab. Jetzt dieses Papier!“
Parcelli löste behutsam einige andere Blätter von dem Stapel.
„Dieses Papier ist wesentlich älter, es stammt aus dem beginnenden
neunzehnten Jahrhundert.“
„Auch gut. Jemand hat auf altem Papier angefangen, und als es ihm ausging,
hat er seine Arbeit auf modernem Papier fortgesetzt. Was ist daran
verwunderlich?“
„Der Jemand“, erklärte Angelo Parcelli ernst. „Es handelt sich um Ludwig van
Beethoven. Dies hier ist eine neue Symphonie von ihm, seine zehnte.“
Diese Eröffnung verschlug Tovar die Sprache.
„Augenblick“, wehrte er ab. „Das muß ich erst sortieren. Also: Beethoven hat
insgesamt neun Symphonien geschrieben, von einer zehnten gibt es nur
fragmentarische Skizzen, Gestorben ist er im Jahre 1827. Diese Symphonie
muß eine Fälschung sein!“
„Das haben wir auch geglaubt, aber es gibt einiges, was dagegenspricht. Da ist
erstens einmal das Papier - jeder Fälscher kann sich ausrechnen, daß man
darüber stolpert. Dieses Papier kann Beethoven niemals benutzt haben.
Da ist zweitens die Handschrift. Wir haben diese Noten mit anderen,
unzweifelhaft echten Partituren Beethovens verglichen. Die Handschrift
stimmt, sie ist nicht gefälscht. Man kann zwar eine Unterschrift leidlich
perfekt fälschen, aber einige hundert Blätter damit füllen - ausgeschlossen.
Drittens: Jeder Künstler hat seine persönliche Machart, seine charakteristische
Handschrift, eine ihm eigene Weise, zu malen, zu schreiben, zu komponieren.
Diesen Stil kann man nicht fälschen, bestenfalls imitieren. Und meine
Mitarbeiter und ich sind uns sicher - dies hier ist Beethovens zehnte
Symphonie, von ihm selbst zu Papier gebracht!“
Tovar schüttelte den Kopf. Er glaubte immer noch nicht.
„Wann hätte er diese Symphonie schreiben sollen? Nach seinem Tode
vielleicht?“
18
Slayter schüttelte den Kopf. „In den letzten Jahren, in unserer Zeit. Daher auch das Papier. Die Krankheit, an der Beethoven starb, ist mit heutigen Kenntnissen mühelos zu heilen. Man hat den todkranken Mann gegen eine Robotkopie ausgetauscht. Das ist technisch zwar ziemlich aufwendig, aber durchaus machbar. Schließlich kann man von einem Sterbenden keine besonderen Geistesleistungen mehr erwarten, niemand wundert sich, wenn er nur ächzt und seufzt und nicht mehr viel sagt. Obendrein war Beethoven taub, das hilft enorm. Man hat ihn also ausgetauscht, ihn in unsere Zeit gebracht und geheilt. Und jetzt lebt er irgendwo und komponiert.“ „Mich persönlich freut das“, erklärte Parcelli grinsend. „Vielleicht ist jene Gruppe auch bereit, Mozart in unsere Zeit zu retten. Er starb bekanntlich sehr jung!“ „Ich akzeptiere die Vorstellung, daß Beethoven lebt“, sagte Tovar. „Aber ich begreife nicht, warum Sie so besorgt dreinblicken, Chef!“ „Sorge?“ seufzte Slayter. „Wir stehen am Rande einer Katastrophe. Überlegen Sie, Tovar: Es gibt außer der time-squad und einigen sehr sorgfältig ausgesuchten historischen Instituten noch andere, die über eine Zeitmaschine verfügen. Und diese andere Gruppe hat obendrein ein Problem gelöst, an dem wir noch immer arbeiten - wir können zwar auch einen Körper in die Vergangenheit schicken, aber wir bekommen ihn nicht zurück. Wir kennen praktisch nur eine Einbahnstraße in der Zeit. Aber die anderen fahren offenbar nach Belieben in der Zeit herum, tauschen Personen aus und leisten sich sogar den Luxus, ihre private Musikalität zu befriedigen. Schließlich durfte Holbrook diese Partitur niemals veröffentlichen. Er konnte sie nicht einmal hören, nur lesen. Stellen Sie sich das vor, Tovar: Diese Leute gehen mit einer Zeitmaschine um wie mit einem Gleiter. Was, glauben Sie, würde ich Ihnen erzählen, würden Sie eines Tages darum bitten, eine Zeitreise unternehmen zu dürfen - nur um das Endspiel vor vier Jahren noch einmal live erleben zu können. Unsere Gegner erlauben sich aber genau diesen Luxus. Erkennen Sie langsam die Größe dieser Gefahr?“ Tovar kratzte sich nervös hinter dem Ohr. „Wenn diese Leute so souverän mit der Zeit spielen, wieso merken wir davon nichts?“ wollte er wissen. „Offenbar sind sie noch nicht lange an der Arbeit. Aber ich fürchte, wir werden uns bald darauf einstellen müssen, daß sie damit anfangen, die Zeit zu verändern. Sie werden Präsidenten ermorden, Kriege beeinflussen, die Wirtschaft manipulieren ihnen stehen alle Möglichkeiten offen.“ „Und was sollen wir tun, was werden wir unternehmen?“ „Darüber haben wir uns auch schon den Kopf zerbrochen. Unsere Überlegungen sehen so aus: Um eine Zeitmaschine bauen zu können, braucht man Einfluß und Beziehungen, kurz ausgedrückt, man braucht sehr viel Geld. Dieses Geld muß man sich erst beschaffen. Dafür gibt es eine hervorragende Möglichkeit, vor allem dann, wenn man die Kunst beherrscht, in der Zeit 19
spazierenzufahren.“ „Das große Chaos an der Börse im Sommer ‘56!“ rief Tovar aus. „Damals zerrannen Millionenvermögen wie Schnee in der Mittagssonne.“ „Und andere, glücklichere Spekulanten sackten diese Vermögen wieder ein“, ergänzte Slayter. „Seinerzeit wurden Aktienpakete derart schnell und raffiniert umgewälzt, daß selbst die Börsenaufsicht nicht mehr folgen konnte. Heutzutage dürfte es unmöglich sein, Riesenvermögen zusammenzuspekulieren, ohne daß die Börsenaufsicht es merkt. Vermögen aus früheren Jahren sind damals durch die Inflation vernichtet worden - wenn unser Mann also steinreich geworden ist, dann in dieser Zeit. Dort müssen wir nach ihm suchen!“ „Das Suchen wird vielleicht einfach sein“, warf Parcelli ein. „Wie steht es aber mit dem Finden? Wie will die time-squad den richtigen Mann aufspüren, wenn dies selbst der Börsenaufsicht nicht gelungen ist.“ „Dafür haben wir Tovar“, erklärte Slayter. „Von allen unseren Beobachtern hat er das mit Abstand beste Gedächtnis. Er wird die Börsenzettel dieses Jahres auswendig lernen.“ Tovar machte ein entgeistertes Gesicht. „Chef“, protestierte er. „In der Stock Exchange Gazette stehen jeden Tag achtzehn Seiten mit Börsenkursen, in Kleinschrift. Ich kann unmöglich siebentausend Seiten behalten.“ „Keine Sorge, Tovar“, wehrte Slayter ab. „Auch für dieses Problem haben wir eine Lösung gefunden. Unser Mann wird, so nehmen wir an, nicht ruhig spekulieren. Er wird keine Aktien kaufen, die im Laufe des Jahres eine fette Rendite abwerfen er wird sich vielmehr auf kleinere Wert konzentrieren, auf Aktien, deren Kurse in kurzer Zeit raketenhaft stiegen und dann mit der gleichen Geschwindigkeit absackten. Unser Mann kann sich dank seiner Informationen die heißesten Papiere aussuchen, die es gibt - er weiß schließlich ganz genau, an welchem Tag er kaufen und wann er die Papiere wieder abstoßen muß. Wir haben eine Liste von solchen Eintagsfliegen aufgestellt, etwa fünfzig engbedruckte Seiten. Wenn sich unser unbekannter Freund mit diesen Aktien beschäftigt und jede noch so kleine Chance nutzt, kann er in diesem Jahr aus zehntausend Soldor ein Vermögen von mehr als einer Billion machen. Das jedenfalls sagen unsere Rechner!“ Parcelli und Tovar pfiffen gleichzeitig durch die Zähne. „Eine Billion?“ staunte Tovar. „Das ist die Hälfte des Staatshaushalts der USA.“ Slayter nickte düster. „Das eben macht unseren Mann so gefährlich. Mit diesem Kapital und der damit verbundenen Macht kann dieser Mann ganze Staaten ruinieren oder erpressen. Ich nehme an, Sie haben begriffen, wie wichtig dieser Auftrag ist, Tovar. Fangen Sie gleich mit den Vorbereitungen an!“ *
20
Es war dunkel in der Stadt, als Tovar eintraf. Der größte Teil der Leuchtreklamen war erloschen, nur einige kleine Bars lockten noch zahlungskräftige Kunden an. Die Bürger von San Francisco träumten dem nächsten Tag entgegen. Tovars Plan stand fest; in langen Besprechungen mit Slayter und anderen Mitarbeitern der time-squad war er sorgfältig erarbeitet worden. Tovar schwebte auf die Straße herab. Am Eingang des großen Parks stand eine Hinweistafel, sie war Tovars erstes Ziel. Er brauchte zwei Minuten, bis er die Adresse gefunden hatte, nach der er suchte. Das große Krankenhaus lag im Osten der Stadt. Die Kilometer, die zwischen dem Park und der Anstalt lagen, legte Tovar in Sekundenbruchteilen zurück. Er wünschte sich einfach an den Ort, und die Kraft des Gedankens schaffte ihn prompt ans Ziel. Psychiatrische Klinik des Staates Kalifornien. Das Messingschild am Eingang war neu, die Anstalt hingegen schon ziemlich alt. Ein düsteres Gemäuer, das mehr an ein Gefängnis erinnerte als an ein Krankenhaus, nicht zuletzt der Gitter wegen, mit denen alle Fenster gesichert waren. Tovar drang durch die Mauern ein. Auf dem Flur herrschte schwaches Dämmerlicht. In der Eingangshalle gab es eine Hinweistafel und eine elektronische Türsperre, die jedem Zuchthaus Ehre gemacht hätte. Wer hier eingeliefert wurde, kam entweder geheilt oder tot wieder heraus ein Ausbruch war ausgeschlossen. Rasch hatte Tovar die Abteilung gefunden, die er für seine Zwecke brauchte. Ob er passendes Material vorfinden würde, wußte er nicht, aber diese Klinik war die größte ihrer Art. Bessere Aussichten als hier gab es nicht. Tovar fegte durch die Gänge, seinem Ziel entgegen. Die schwere Doppeltür, die das Krankenzimmer vom Korridor trennte, gab Tovar keine Rätsel auf. Ohne Mühe drang er in den Raum ein. Acht Betten standen darin. Jedes Bett war belegt mit Männern, die dieses Haus niemals mehr verlassen würden. Unheilbare, hoffnungslose Fälle. Tovar schwebte langsam über die Betten hinweg. Schließlich verharrte er. Von dem jungen Mann konnte er nur den Kopf sehen, der Körper steckte unter einer dünnen Bettdecke. Der Patient war jung und sehr gut aussehend. Emerson Wood stand auf der Tafel am Kopfende des Bettes. Emerson Wood war als Säugling in dieses Haus gekommen. Er hatte wenn auch nur sehr langsam - gelernt, sich fortzubewegen, war größer und stärker geworden. Er war in den Trakt für Kinder umgezogen, hatte gelernt, unter Aufsicht zu essen und zu trinken. Seine Pubertät hatte er in der Abteilung für Jugendliche durchlebt. Jetzt lag Emerson Wood in der Männerabteilung. Irgendwann würde man ihn in seinem Bett in ein Sterbezimmer rollen, und dort würde er - vielleicht sogar als alter Mann - das Ende seines Lebens erwarten, von dem er nicht wußte, ob er es überhaupt gehabt hatte. Emerson Wood war ein Idiot, sein Intelligenzquotient lag weit unter fünfzig. 21
Er war nichts weiter als ein erwachsener Säugling, den man füttern und baden mußte. Auf die wenigen angenehmen Ereignisse in seinem Leben reagierte er mit einem glücklichen Lallen, Unangenehmes beantwortete er mit dem Greinen eines Säuglings, Meist war er glücklich, niemals aggressiv. Emerson Wood hatte etwas, was Tovar fehlte - einen Körper. Ihm fehlte, was Tovar besaß - Geist. Menschen der Art, die Emerson Wood verkörperten, waren die idealen Ausgangsbasen für die time-squad. Es kostete Tovar wenig Mühe, in den Körper des Idioten einzudringen und den winzigen Rest von Persönlichkeit und Individualität, den Emerson Wood noch besaß, aus diesem Hirn herauszuboxen. Tovar wußte, daß dieser winzige Funke von Geist durch die Zeit wandern würde und in seinem Körper in der Zeitmaschine landete. Dort würde er bleiben, bis Tovar sich dazu entschloß, den Körper des Emerson Wood wieder zu verlassen. Dann würde Emerson Wood in seinen Körper zurückkehren, und wenn diese Zwangsaussiedlung lange genug dauerte, würde sich seine Intelligenz um zehn bis dreißig Punkte gesteigert haben. Diesem Umstand allein verdankte die time-squad die gesetzliche Erlaubnis zur Anwendung dieses Verfahrens. Vielleicht hatte Emerson Wood Glück, dann konnte er, wenn er seinen Körper wieder besaß, vielleicht halbwegs verständlich reden. Er konnte - vielleicht - selbstständig essen und trinken, Bad und Toilette benutzen, man würde ihm erlauben, im Park der Anstalt spazierenzugehen. Aber das waren die Probleme von Emerson Wood. Tovars Aufgabe sah anders aus, war komplizierter und langwieriger. Drei Jahre würde dieser Auftrag beanspruchen, drei Jahre in der Vergangenheit. Ein Jahr lang hatte Tovar Zeit, der Leitung der Anstalt eine langsame Heilung vorzutäuschen, sich seine Freiheit zurückzuerobern. Dann blieben ihm annähernd zwei Jahre Zeit, seinen eigentlichen Auftrag zu erfüllen. Am Ende dieser Zeit stand Tovar die wenig angenehme Aufgabe bevor, sich wieder einen Platz in einer solchen Anstalt zu besorgen. Erst wenn ihm dies gelungen war, konnte er in seinen Körper zurückkehren. Für Slayter und das Team der time-squad allerdings würden bestenfalls einige Tage vergehen, und Tovar hatte einsehen müssen, daß er auch nur für diese in der Gegenwart verbrachte Zeit sein Honorar beziehen würde. Tovar machte sich daran, seinen neuen Körper zu übernehmen. Langsam nur setzte sich sein Geist im Hirn Emerson Woods fest. Die time-squad hatte herausgefunden, daß die Persönlichkeit eines Menschen praktisch in zwei Ausführungen vorhanden war. Einmal als reines Abstraktum, als Geist, der den Körper verlassen und auf Zeitreise gehen konnte. Die zweite Aufprägung war rein körperlicher Art. Die Informationen, die der Zeitreisende im Laufe seines Lebens gesammelt hatte, hatten sich in der Struktur seines Hirns biochemisch niedergeschlagen. Tovars Aufgabe bestand in erster Linie darin, sein Wissen dem umnachteten Hirn des Idioten aufzuprägen und auch dort biochemisch zu verankern. Tovar begann unterdrückt zu stöhnen. 22
Bei dieser Arbeit mußte er notgedrungen die Erfahrungen des Kranken in seine eigene Persönlichkeit integrieren. Tovar mußte alle Kräfte aufbieten, um sich gegen die anstürmenden Wellen von Depressionen zu wehren. Der Kranke mochte nicht in der Lage dazu gewesen sein, aber Tovar war es - er mußte die Leiden des Kranken geistig verarbeiten, mußte sich gegen die neurotischen Schmerzen verteidigen. In wenigen Sekunden mußte Tovar die Leidenszeit des Emerson Wood aufarbeiten, und als die neue Schwester ihren Dienst antrat, fand sie Emerson Wood neben seinem Bett liegend, gekrümmt vor Schmerz, mit weit aufgerissenen Augen, die Stirn schweißbedeckt. Beim Anblick der Frau schien Emerson laut auf, dann fiel er in Ohnmacht. * „Viel Glück, Emerson!“ sagte der Pförtner. Emerson lächelte schwach. Elf Monate waren vergangen, dreihundertvierunddreißig Tage, in denen Emerson einen erbitterten Kampf um seine Freilassung geführt hatte. In unregelmäßigem Wechsel hatte er an Intelligenz zugenommen, Rück-Schläge vorgetäuscht, neue Fortschritte gemacht - drei Schritte vorwärts, zwei zurück. Elf Monate war er eingesperrt gewesen, in einem Lebensbereich, der einem „normalen“ Menschen wie eine vorweggenommene Hölle erscheinen mußte. Er hatte dennoch geschafft, die Anstalt als freier Mann zu verlassen. Was er selbst nicht bemerken konnte, das waren die Wunden, die diese Zeit bei ihm hinterlassen hatten. Es blieb nicht ohne Folgen, wenn man über einen langen Zeitraum hinweg einen Geisteskranken spielen mußte, noch dazu ohne jede Unterbrechung, bei Tag ebenso perfekt wie bei Nacht. Emerson trug einen schäbigen Koffer in der Hand. Er enthielt Unterwäsche, Hemden, einen nicht mehr modernen Anzug - und Emersons kostbarsten Besitz. Fünfzig Dollar, zusammengespart aus kleinen Trinkgeldern, verlorengegangenem Kleingeld und gewonnenen Wetten. Fünfzig Soldor besaß Emerson Wood, und seine Aufgabe bestand darin, aus diesem geringen Betrag ein Vermögen zu machen. Emerson wußte auch schon, wie er dies bewerkstelligen würde. * Das Pferd lief da, wo es eigentlich gar nicht hingehörte, nämlich an der Spitze des Feldes. Kaktusblüte war der krasseste Außenseiter, der jemals am California Derby teilgenommen hatte. Aber irgendwie hatten die Veranstalter ein komplettes Feld zusammenstellen müssen, schließlich konnte man die fünf Favoriten für die vorderen, gewinnträchtigen Plätze nicht allein laufen lassen. Daß diese fünf die Sache unter sich ausmachen würden, galt als feststehend, und daher hatte kaum ein Rennstall die Neigung verspürt, seinen Galoppern die Schmach einer völlig überflüssigen Niederlage anzuhängen. So war es 23
gekommen, daß neben den fünf erklärten Favoriten weitere fünf Pferde an den Start geführt worden waren, eines chancenloser als das andere, mit Kaktusblüte als hoffnungslosestem Fall. Emerson Wood war nervös, sehr nervös sogar. Immer wieder griff er mit der Hand in die Tasche, fühlte nach dem Quittungsschein des Totalisators. Um den Eintrittspreis hatte sich Emerson herumgedrückt, und die fünfzehn Kilometer Distanz zwischen der Klinik und der Galopprennbahn hatte er zu Fuß zurückgelegt. Seine gesamte Barschaft hatte er verwettet, begleitet vom mitleidigen Lächeln des Mannes hinter dem Schalter, der nicht verstehen konnte, daß dieser schäbig gekleidete junge Mann offenbar sein ganzes Vermögen sinnlos opfern wollte. Die Startautomatik hatte dafür gesorgt, daß alle Pferde völlig zeitgleich starteten, und Kaktusblüte hatte sich sofort an die Spitze des Feldes gesetzt. Gelächter war im Publikum aufgekommen, daneben wurden einige bösartige Bemerkungen über den Jockey laut, der offenbar gewillt war, sein Pferd zu Tode zu schinden. Die Favoriten hielten sich weiter zurück. Sie würden das Derby im Spurt unter sich ausmachen. Je länger das Rennen dauerte, desto schwächer wurden die Anfeuerungsrufe für die einzelnen Favoriten. Langsam wurde es den Rennfreunden zu riskant, Kaktusblüte so weit vorzulassen. Eine Sensation schien sich anzubahnen. Neben Emerson seufzte ein Mann erleichtert auf, als die Favoriten endlich zum Spurt ansetzten. „Endlich“, stöhnte der Wetter. „Ich habe hundert Soldor auf die Nummer vier gesetzt. Ich hatte schon Angst, diese Schindmähne würde mich um meinen Gewinn bringen, ein todsicherer Tip, wissen Sie, von meiner Frau, die hat nämlich eine Freundin, und deren Schwägerin ist weitläufig...“ Emerson hörte nicht zu. Er wußte, daß der Sprecher in den nächsten Minuten nur noch verzweifelt nach Luft schnappen würde. Es war die wildeste Aufholjagd, die es jemals beim California Derby gegeben hatte, aber die Favoriten hatten die klapprige Kaktusblüte um eine Winzigkeit unterschätzt. Während Hunderte von Gesichtern wechselweise bleich oder rot wurden, brüteten die Richter über dem Zielfoto. Drei Minuten später stand das Ergebnis fest: Das legendäre California Derby war gelaufen, Kaktusblüte hatte die Nasenspitze vorne gehabt. Der Rennausgang war eine Sensation ersten Ranges. Noch bis ins Jahr ‘78 würde man von diesem Rennen sprechen, würden selbst Menschen davon reden, die ansonsten von Turf überhaupt nichts verstanden - Menschen wie Tovar Bistarc zum Beispiel, der jetzt Emerson Wood hieß und mit mühsam gewahrter Fassung zum Zahlschalter hinüberging. Der Mann hinter dem Schalter hielt das Geld schon bereit. 167 860 zu 10 lautete die Quote, und Tovar hatte fünfzig Dollar gesetzt. „Haben Sie öfter so viel Glück?“ erkundigte sich der Mann hinter dem Schalter, als er Emerson den Barscheck übergab. Emerson hatte sich damit einverstanden erklärt. 24
„Ab und zu“, sagte Emerson lächelnd. „Vielleicht sehen wir uns bald wieder.“
Der Kassierer wurde blaß.
„Lieber nicht“, murmelte er, aber Emerson hörte ihn nicht mehr.
Er nutzte die allgemeine Verwirrung, als der Sieger vorgeführt wurde und
seinen Lorbeerkranz um den Hals gelegt bekam, und verschwand in der
Menge.
* Emerson grinste zufrieden. Er war stolz auf sich. Zunächst hatte er es geschafft, einen Monat früher entlassen zu werden, als dies in seinem Zeitplan vorgesehen war, und dann hatte er sich gerade noch rechtzeitig erinnert. In Gedanken bedankte sich Emerson bei den Wettfreunden, die er in einem Bus zufällig getroffen hatte. Ihre lautstarke Unterhaltung hatte jene längst verschüttete Information wieder wachgerufen, die den Ausgang des Derbys betraf. „Das Schwierigste ist geschafft“, murmelte Emerson. Er erreichte den Eingang des Parks. Der Weg hindurch war entschieden kürzer als die normale Straße, darum wählte Emerson die Abkürzung, obwohl es bereits dunkel geworden war und die Wege im Park nur mäßig erleuchtet waren. Die Wirtschaftskrise warf - in diesem Fall wörtlich - ihre Schatten voraus, die Städte hatte kein Geld mehr. „Als erstes eine Wohnung, standesgemäß natürlich“, überlegte Emerson halblaut seine nächsten Schritte. „Vernünftige Kleidung, ein Gleiter und dann...“ Emerson hatte es nicht wagen dürfen, mit einer der oft attraktiven Pflegerinnen anzubändeln, aber jetzt... ? Der Schlag traf ihn völlig überraschend. Er spürte einen wütenden Schmerz im Nacken, dann sank er in die Knie. Vor seinen Augen verschwamm das Bild des Weges, in seinen Ohren wütete ein ferner Donner. „Los, wir hauen ab. Laß ihn liegen, der Koffer dürfte das Wertvollste sein. Geld hat er bestimmt keines!“ Emerson hörte die Stimme des jungen Mannes, dann, wie durch zentimeterdicke Watte gedämpft, das Geräusch von hastigen Schritten. Eine wohltuende Ohnmacht bewahrte ihn einige Stunden lang vor der Erkenntnis, daß er einen Fehler gemacht hatte - einen katastrophalen Fehler, der nicht wieder zu reparieren war. Eingedenk der Weisheit, daß Vertrauen zwar gut, Kontrolle jedoch besser sei, hatte Emerson, so bald ihm dies ohne Gefahr möglich gewesen war, die Daten, die er sorgfältig auswendig gelernt hatte, zu Papier gebracht. Eine vollständige Liste, handschriftlich zwar, aber sehr gut lesbar, die alle wichtigen Börsennotierungen der kommenden Monate enthielt, hatte sich in dem Koffer befunden, und wenn die jugendlichen Räuber auch nur einen Funken Intelligenz besaßen, würden sie von dieser Liste weidlichen Gebrauch machen. 25
Emersons Woods Plan schien gescheitert, bevor er noch zur Ausführung gelangt war.
4. „Du mußt leider draußen bleiben, Liebling!“ Christina Brill machte ein saures Gesicht. Sie war relativ jung, gut anzusehen und ziemlich intelligent. Ihr einziger, aber dafür durchschlagender Makel war ihre Stimme; ihr Sprechorgan, erst einmal zum Patent angemeldet, hätte die internationale Seeschiffahrt revolutioniert. „Warum?“ wollte das Mädchen wissen. „Tradition“, erklärte Emerson. „Frauen sind in den inneren Räumen der Börse leider nicht zugelassen!“ Christina schüttelte den Kopf. „Das werden wir sehen“, erklärte sie trotzig. Emerson versuchte, sie zurückzuhalten, aber es war zu spät. Geschickt entwand sie sich seinem Griff und huschte durch die Schwingtür. Was sich dann abspielte, konnte Emerson zwar nur hören, aber er wußte, welches Bild sich der temperamentvollen jungen Frau bieten würde. Der Wachtposten, der seit Jahrhunderten nur für diesen einen Zweck engagiert wurde, stieß den traditionellen Warnruf aus, und in wahnwitziger Geschwindigkeit suchten die Makler das Weite. Bevor das Mädchen mehr als zehn Schritte hatte machen können, war der Saal leer. Emerson kannte die uralten Regeln und wartete draußen, bis der Saaldiener die völlig entgeisterte Christina herausführte. „Das gibt es doch nicht“, sagte sie fassungslos. „Sie sind einfach weggerannt, schneller als bei einem Großfeuer! Nur noch die Rechner sind da, blinken und summen, und der ganze Boden liegt voller Aktien!“ „Gehört die... Dame... zu Ihnen, Mister Wood?“ erkundigte sich der Saaldiener. Zu seinem Glück war Christina noch viel zu verblüfft, sonst hätte sie die bezeichnenden Pausen vor und nach dem Wort Dame sicher bemerkt und dem Mann gezeigt, wie undamenhaft sie zu fluchen verstand. „Allerdings, Mac“, erklärte Emerson seufzend. „Setzen Sie die Sachen auf meine Abrechnung!“ Er nahm Christina beim Arm und führte sie beiseite. „Ich hoffe, du siehst jetzt ein, daß ich dich nicht mit hineinnehmen kann. Mich wird dein Test übrigens eine beträchtliche Stange Geld kosten. Wir sehen uns später!“ Er winkte einen Taxigleiter heran und trug dem Fahrer auf, das Mädchen nach Hause zu bringen. Dann betrat Emerson wieder das Börsengebäude. Im großen Saal herrschte gedämpfte Heiterkeit, und bald erfuhr Emerson auch den Grund. Bei ihrer Massenflucht hatten die Börsianer sämtliche Wertpapiere zurückgelassen. Man hätte vermuten können, daß es später beim Einsammeln 26
Zank und Streit gegeben hatte, daß wertvolle Papiere verschwunden waren das Gegenteil war eingetreten, zwei Aktien hatten sich wiedergefunden, die vor mehr als zweihundert Jahren verloren worden waren und nun einen stattlichen Wert repräsentierten. Dieser Betrag wurde, wie Emersons Strafgebühr, einem Sonderkonto zugeschrieben, von dem die Gehälter der Saaldiener bezahlt wurden. Emerson hatte es geschafft, er selbst war kaum mehr in der Lage, sein gewaltiges Vermögen einigermaßen abschätzen zu können. Dennoch galt er allgemein als nicht sonderlich vermögend. Emerson hatte vorsichtshalber den größten Teil seiner Transaktionen über Mittelsmänner abgewickelt, die selbst nicht wußten, für wen sie arbeiteten. Nur einige Geschäfte kleinerer Art hatte „r in aller Öffentlichkeit abgewickelt und sich so den Ruf eines ausgesprochen raffinierten Fuchses erworben. Es hatte Emerson fast zehn Monate gekostet, sein privates Wirtschaftsimperium aufzubauen. Während dieser Zeit hatte Emerson immer wieder versucht, den Mann zu finden, der die gleichen Informationen wie er besaß. Er konnte sich nicht vorstellen, daß der Räuber der Liste die wertvollen Informationen einfach weggeworfen hatte. Es gab einige hundert zugelassener Broker an der Börse, Emerson kannte die meisten, aber den Mann, den er wirklich suchte, hatte er nicht gefunden. Einer der relativ alten Freunde Emersons näherte sich, er lächelte geheimnisvoll. Emerson grinste, als er das Gesicht des Mannes sah. „Was hast du vor, und wieviel erwartest du dabei von mir? Verstelle dich nicht, du hast einen ganz dicken Fisch an der Angel!“ „Stimmt, Emerson, einen verteufelt dicken Fisch. Namen kann ich einstweilen nicht nennen, aber ich kann garantieren, daß wir bei dem Geschäft einen phantastischen Gewinn machen werden.“ „Das bleibt abzuwarten“, entgegnete Emerson gelassen, er wußte, daß es an der Börse nur eine Art von Garantie gab: Wer die sogenannten garantierten Geschäfte abschloß, verlor dabei garantiert sein Vermögen. „Aber laß hören!“ „Du kennst sicher die Seeland Mining Corporation, ein ziemlich lausiges Papier. Du wirst mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß diese Gesellschaft das Jahresende nicht überleben wird. Wenn der Wirtschaftsprüfer kommt und sich die Bücher ansieht, dann geht Seeland abgrundtief in den Keller, und keine Macht der Welt wird dieses Papier wieder handelsfähig machen. Ich habe einen Idioten gefunden, der mit mir ein Leergeschäft tätigen will.“ Emerson wurde stutzig. Leergeschäfte waren die heißeste Form der Spekulation, die es an der Börse gab. Man verkaufte Aktien, die man überhaupt nicht besaß. Der Käufer zahlte den Tagespreis und hoffte darauf, daß der Kurs steigen würde, der Verkäufer kassierte den Tagespreis und betete, daß der Kurs fiel. Am Stichtag nämlich hatte er die Papiere zu liefern - zu dem Kurs, der an diesem Tag notiert wurde. War er in der Zwischenzeit gefallen, bekam der Verkäufer die Papiere billiger, als er sie früher verkauft hatte, und konnte sich freuen - dafür saß der Käufer dann auf Papieren, für die er entschieden zuviel bezahlt hatte. Hatte der Kurs 27
angezogen, war der Verkäufer ruiniert - einer von beiden Partnern kam in der Regel an den Rand des Konkurses. Dieses Spiel war bei bekannten Werten schon heiß genug, bei einem derart wackligen Papier wie den Anteilsscheinen der Seeland Mining kam ein Leergeschäft einem Selbstmordversuch gleich. Emerson allein wußte, daß in vier Monaten genau diese Aktien einen sensationellen Aufschwung erleben würden dank einiger äußerst erfolgreicher Erzbohrungen. Allerdings würde diese Seifenblase nach weiteren zwei Monaten platzen, und von dieser Talfahrt würde sich die Aktie nie mehr erholen. Emerson hatte Mühe, ein befriedigtes Grinsen zu unterdrücken. Endlich hatte er seinen Mann gefunden, hatte er zumindest die Spur aufgenommen. Eines stand fest: Der Mann, der an dem Leergeschäft mit den Seeland-Papieren interessiert war, war entweder völlig wahnsinnig, oder aber er besaß präzise Informationen, und die konnte er nur der Liste entnommen haben, nach der Emerson verzweifelt gefahndet hatte. „Wenn ein Lamm unbedingt geschoren werden will, soll man es nicht daran hindern“, murmelte Emerson. „Ich mache mit!“ Drei Stunden später war Emerson im Besitz von einhunderttausend Anteilscheinen. Der Tageskurs hatte zwar leicht angezogen, aber Emerson war es gelungen, den größten Teil der Käufe so diskret zu tätigen, daß kaum jemand die plötzliche Nachfrage nach diesem Papier bemerkte. „So, und jetzt hätte ich gerne unseren Geschäftsfreund gesehen“, erklärte Emerson. „Ich bin gespannt, wie ein Mann aussieht, der sich mit aller Gewalt ruinieren will!“ * Emerson wußte, daß er jetzt vor dem schwierigsten Teil seiner Aufgabe stand. Er mußte die Liste zurückerobern und ihren jetzigen Besitzer ausschalten, um jeden Preis. Dann galt es, den dritten Mann ausfindig zu machen, der gleich Emerson und dem Räuber im Park Kenntnisse aus der Zukunft hatte. Allmählich wurde die Zeit für Emerson knapp - schließlich mußte er auch den geheimnisvollen dritten Mann aus dem Spiel bringen. Emerson wurde von seinem hoffnungsvoll gestimmten Partner in das kleine Restaurant geführt, das einige Häuserblocks von der Börse entfernt war. Es war eine der gemütlichsten, weil ruhigsten Gaststätten der Umgebung, und der Koch war ein Meister seines Faches. Für gutes Essen hatte Emerson stets viel übrig gehabt, jetzt besaß er auch das nötige Kleingeld. Emersons Partner verzog leicht das Gesicht, als Emerson ein Gericht mit Knoblauchmayonnaise bestellte, aber Emerson störte sich nicht daran. „Und wenn unser Partner etwas gegen Knoblauch hat?“ wollte Emersons Gegenüber wissen. Emerson grinste. „Geschäfte dieser Art sind ohnehin ein wenig anrüchig, da stört auch ein Hauch Knoblauch nicht! Ist er das?“ 28
Mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung deutete Emerson auf einen Mann, der gerade das Lokal betreten hatte und sich umsah. Die Antwort wurde überflüssig, als der Mann zielstrebig auf den Tisch zuging, an dem Emerson saß. „Ich darf vorstellen: Gabriel Hasting, Emerson Wood, mein Partner in dieser Angelegenheit.“ Während Emerson die Hand schüttelte, die ihm entgegengestreckt wurde, faßte er den Mann schärfer ins Auge. Knapp vierzig Jahre alt, unauffällig bis zur Farblosigkeit, mittelgroß, mittelblond, kleiner Bauchansatz, beginnender Haarausfall - der Mann hätte das halbe Lokal zusammenschießen können, identifiziert hätte man ihn nicht. Gabriel Hastings war von jener bestechenden Unauffälligkeit und Durchschnittlichkeit, die ihn befähigte, in einer Menschenmenge von drei Personen unterzutauchen. „Hören Sie“, eröffnete Emerson das Gespräch. „Ich will nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen, daher eine Frage: Sind Sie sich völlig darüber im klaren, worauf Sie sich einlassen?“ Hastings nickte lächelnd. „Sie haben Ihren Riecher für Geschäfte, ich habe meinen. Es wird sich herausstellen, wer letztlich draufzahlt.“ „Wie Sie wollen. Wie viele Aktien wollen Sie haben, und wann sollen wir liefern?“„ Die Antwort kam knapp und präzise. „Mindestens zweihunderttausend Stück zum heutigen Kurs. Zahlung bei Lieferung, geliefert wird in fünf Monaten!“ „Also in der Zeitspanne zwischen dem 15. August und dem 11. Oktober, nicht wahr?“ Emersons Zwischenfrage verfehlte nicht ihre Wirkung. Am 15. August würde die Himmelfahrt des Papiers beginnen, und wer bis zum 11. Oktober nicht verkauft hatte, blieb auf einer Menge sehr teuren Abfallpapiers sitzen. Das waren die beiden Stichdaten, die Emerson auswendig gelernt und auf der Liste notiert hatte. Emersons Partner sah ihn verwundert an, Emerson aber studierte befriedigt die Reaktion von Gabriel Hastings. Der Unterkiefer des unscheinbaren Mannes klappte herunter, sein Gesicht rötete sich. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Emerson an, es war ihm anzusehen, daß Emersons harmlos klingende Frage voll ins Schwarze getroffen hatte. Emerson hatte seinen Mann gefunden, den ersten. Hastings lächelte verzerrt. „Ungefähr in dieser Zeitspanne“, murmelte er und gewann langsam seine Fassung wieder. „Wie kommen Sie ausgerechnet zu diesen Daten, Mister Wood?“ „Zufall“, sagte Emerson lächelnd. „Oder Riecher, wie Sie wollen!“ Hastings hatte sich von seinem Schock noch immer nicht ganz erholt, aber er besaß Geistesgegenwart genug, das Gespräch sofort in andere Bahnen zu lenken. Emerson überließ das Aushandeln der Modalitäten seinem Partner. Er selbst war mit dem Essen beschäftigt. Er ließ sich Zeit damit, und genau, wie 29
er es erwartet hatte, gelang es Hastings, nach dem Abschluß des Geschäfts eine Ausrede zu finden, die es ihm ermöglichte, in dem Restaurant zu bleiben und mit Emerson allein zu sprechen. * „Wer sind Sie?“ Hastings hatte sich wieder beruhigt. Vor Emerson stand eine gefüllte Kaffeetasse, in der er langsam herumrührte. „Emerson Wood, Börsenmakler, begabt mit einem besonderen Gespür für riskante Geschäfte. Hier!“ Emerson zog ein Stück Papier aus der Tasche und gab es an Hastings weiter. „Sie haben Seeland-Papiere gekauft? Bereits jetzt?“ „Selbstverständlich, und ich werde in den nächsten Wochen noch mehr kaufen. Sie werden verstehen, daß ich auch verdienen möchte. Es reicht, wenn Sie meinen Partner ruinieren!“ Emerson blieb gelassen, während Hastings wieder nervös zu werden begann. Emerson kam zu der Schlußfolgerung, daß Hastings offenbar vorgeschoben war, daß hinter ihm ein anderer stand. Hastings war viel zu nervös und leicht erregbar, um erfolgreich an der Börse arbeiten zu können - er hätte sich schon viel früher verraten, wenn er nicht, wie Emerson vermutete, bindende Handlungs-Vorschriften erhalten hätte. Emersons Ziel mußte sein, diesen Hintermann zu finden. „Woher kennen Sie die Börsenkurse der nächsten Monate so genau?“ wollte Hastings wissen. „Leugnen Sie nicht, daß Sie sie kennen, ich kann es beurteilen. Woher also?“ Emerson überlegte, wieviel er sagen sollte, als ihm ein Zufall zu Hilfe kam. Ein buddhistischer Bettelmönch betrat das Lokal. Zwar trug er nicht das typische gelbe Gewand, aber der kahlrasierte Schädel war deutlich genug. Gemäß den Verträgen mit den Religionsgemeinschaften und den Versammelten Patriarchen der Regierung der Heiligen Stätten in Jerusalem hatte der Mönch zwar das Recht, sich überall frei zu bewegen, seine Religion ausüben und für sie werben durfte er allerdings nur auf dem Gebiet der Heiligen Stätten. Emerson wußte, daß es eine solche Heilige Stätte in der Nähe von San Francisco gab, Treffpunkt für Gläubige aller Religionen und Kulte, darunter zahlreiche Magier aller Schattierungen. „Ich hatte ein Gesicht“, offenbarte Emerson. „Es überfiel mich eines Nachts mit unglaublicher Klarheit und Eindringlichkeit. Ich habe damals alles aufgeschrieben, und als ich feststellte, daß diese Eingebungen zur Wirklichkeit wurden, habe ich nach diesen Eingebungen gehandelt.“ Während er sprach, behielt Emerson Hastings fest im Auge. Der unscheinbare Mann nickte einige Male, offenbar hielt er diese Möglichkeit für durchaus glaubwürdig. „Leider ist mir eine Panne unterlaufen“, berichtete Emerson weiter. „Ich habe eine Liste angefertigt, und diese Liste wurde mir eines Abends geraubt.“ 30
Emerson brauchte nicht weiterzusprechen, auf den ersten Blick war klar, daß
Gabriel Hastings nicht der Besitzer oder gar der Räuber der Liste war.
Emerson konnte sehen, wie Hastings erbleichte.
„Heißt das, daß außer uns beiden noch jemand... ?“
Emerson nickte knapp.
Um seine Aufregung zu überspielen, winkte er einen Kellner heran und
bestellte noch eine Portion Kaffee.
Volltreffer, dachte er.
Er hatte sich innerlich dazu gratuliert, den Räuber der Liste gefunden zu
haben, aber dies war ein wesentlich größerer Erfolg - er hatte den dritten Mann
aufgespürt, jene Person, die die Existenz der time-squad bedrohte und eine
nicht zu unterschätzende Gefahr für die gesamte Menschheit darstellte.
Natürlich war es möglich, daß der Hintermann von Hastings im Besitz der
Liste war, aber Emerson hatte das sichere Gefühl, daß er diese Möglichkeit
ausschließen konnte.
„Von wem bekommen Sie Ihre Weisungen?“ wollte Emerson wissen.
Hastings schüttelte den Kopf.
„Ich bin nicht befugt, darüber Auskünfte zu geben. Aber ich werde mich mit
meinem Auftraggeber in Verbindung setzen!“
„Tun Sie das“, sagte Emerson freundlich. „Und tun Sie es schnell, die Zeit
drängt!“
* Während des Fluges rekapitulierte Emerson, was er über die Osterinsel wußte. Entdeckt wurde die Insel im Ostpazifik von dem britischen Seeräuber Edward Davis im Jahre 1687, der aber an der kahlen Insel wenig Interesse hatte. Am Ostertag des Jahres 1722 wurde sie von dem Holländer Roggeveen wiederentdeckt und bekam den Namen nach dem Datum der Entdeckung. Roggeveen war der erste, dem die riesigen Steinskulpturen auffielen, die seither Historiker und Ethnologen die größten Rätsel aufgaben. Ganz genau wußte immer noch kein Forscher, wer die Statuen aufgerichtet hatte; die Theorien zu diesem Thema wucherten wilder als der tropische Regenwald. Inzwischen war die Insel eine der zahlreichen Heiligen Stätten geworden, die auf der gesamten Erde verteilt waren. Welcher Kult sich dieser Insel bediente, wußte Emerson nicht, aber er war sicher, diese Frage bald beantworten zu können. Neben Emerson saß Hastings, wie immer sichtlich nervös. Offenbar freute er sich nicht sehr über das Wiedersehen mit seinem Arbeitgeber. Knapp einhundert Meter über dem Wasserspiegel des Pazifischen Ozeans jagte der große Interkontinentalgleiter seinem Ziel entgegen. Die meisten Passagiere des vollbesetzten Gleiters waren Gläubige, verteilt auf mindestens dreißig verschiedene Kulte und Sekten. Emerson amüsierte sich insgeheim über die Tatsache, daß fast alle dieser Kulte behaupteten, sie allein führten den Anhänger auf den einzig richtigen Weg ins Glück - in diesem Gleiter saßen die 31
Anhänger nebeneinander und diskutierten ihre Anschauungen wie die letzten Eishockeyergebnisse. Die Osterinsel kam in Sicht. Das eher karge Eiland war in den letzten Jahrzehnten von den Sekten sorgsam aufgeforstet worden. Die meisten Orden, Kulte und Sekten erhielten genug Spenden von ihren jeweiligen Gläubigen, um sich diesen Luxus leisten zu können. Die gewaltigen Steinkolosse, die die Ureinwohner aus dem Fels gemeißelt, an den Strand geschafft und dort aufgestellt hatten, waren nicht zu erkennen. Sie verschwanden hinter Bäumen, allerdings führten gepflegte Wege von einer Statue zur anderen. Die Kolosse standen frei genug, um den Gläubigen Raum für Anbetungen zu geben. Der Interkontinentalgleiter landete in der Nähe des Strandes. Dort stand ein flaches Gebäude, in dem die Passagiere rasch und unbürokratisch abgefertigt wurden. Das Innere des Gebäudes glich einer genetischen Musterausstellung der Spezies Mensch, nahezu jedes Volk und jede Rasse waren hier vertreten, dazu jede nur denkbare Mischform. Mit der Cleverneß routinierter Geschäftsleute hatten die Wahrer der Heiligen Stätten ihr Geschäft aufgezogen. Hinweistafeln gab es in vielen Sprachen, fast alle Mitarbeiter waren in mehreren Sprachen bewandert. „Sehen Sie so etwas zum ersten Mal?“ wollte Hastings wissen. „Ich war einmal in einer Heiligen Stätte, als Jugendlicher“, gestand Emerson beeindruckt. „Einen derartigen Rummel habe ich allerdings damals nicht gesehen.“ „Dies hier ist ein Zentrum“, klärte ihn Hastings auf. „Die gesamte Insel wurde aufgekauft und zur Heiligen Stätte erklärt. Auf den ersten Blick wirkt alles ein wenig verwirrend, aber Sie werden sich daran gewöhnen. Folgen Sie mir bitte!“ Emerson stellte fest, daß Hastings sich jetzt überlegen fühlte und sehr an Selbstsicherheit gewann. Hastings winkte einen Mietgleiter heran und forderte Emerson auf, darin Platz zu nehmen. „Zentrum der Sieben Weisheiten“, befahl Hastings dem Fahrer. Summend setzte sich der Gleiter in Bewegung. „Sieben Weisheiten?“ fragte Emerson mit leisem Spott. „Eine wirkliche Weisheit würde vollauf genügen!“ Hastings schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, der Fahrer grinste hinterhältig. Emerson nützte die Fahrtzeit, um sich die Menschen anzusehen, die sich auf den Straßen und Plätzen bewegten. Erstaunlich viele junge Leute waren darunter, den Löwenanteil aber stellte die ältere Generation. Vielleicht wurden Menschen, die langsam dem Tode entgegengingen, von mystischen Dingen stärker angezogen als andere, die mehr Zeit für die Bewältigung ihrer praktischen Probleme aufzuwenden hatten. „Wir sind am Ziel!“ erklärte der Fahrer und streckte die Hand aus. Hastings bezahlte den Transport, während Emerson mit leichter Verwunderung das Zentrum der Sieben Weisheiten betrachtete. Mehr als ein allerdings beeindruckend großer Eingang zu einer Höhle war nicht zu sehen. Eine 32
Hinweistafel, die einem Ortskundigen Näheres hätte verraten können, fehlte. Das Zentrum der Sieben Weisheiten gab sich schlicht. „Kommen Sie mit, Sie werden staunen!“ sagte Hastings und ging voran. „Ich beginne bereits damit“, murmelte Emerson. In der linken Hand trug er den fast schon standardisierten Koffer mit Geschäftspapieren, außerdem war in dem Koffer ein hochempfindliches Aufzeichnungsgerät enthalten. Später wollte Emerson jedes Wort, das sein Gegenüber gesagt hatte, abschreiben und nach Möglichkeit auswendig lernen. Außerdem hatte er sich, seit er die Klinik verlassen hatte, intensiv mit Malerei beschäftigt, vor allem mit der Kunst des Porträtierens. Emerson war sicher, daß er in der Zukunft ein sauberes, verwendungsfähiges Zeichenbild von seinem Gesprächspartner würde anfertigen können. Hastings marschierte mit flottem Tempo in die Höhle hinein, die sich hinter der großen Öffnung rapide verkleinerte. Obwohl es keine Beschilderung gab, zögerte der Mann bei keiner der zahlreichen Verzweigungen des Stollens, der von einem diffusen roten Licht schwach erhellt wurde. Emerson stellte fest, daß die Wände des Stollens sorgfältig bearbeitet worden waren. Reliefs waren zu erkennen, in denen sich alle Monstren der Vergangenheit ein Stelldichein gaben — chinesische Drachen, malaiische Dämonen, die Titanen der griechischen Mythologie, Hexen und Zauberer aus dem Sagenkreis des mittelalterlichen Europa. Es war eine Darstellung von beeindruckender Scheußlichkeit. Offenbar erzählte das Reliefband eine Geschichte, es erinnerte stark an den langen Teppich von Bayeux, auf dem die Eroberung Großbritanniens durch die Normannen im Jahre 1066 christlicher Zeitrechnung verewigt worden war. Allerdings ging Hastings so schnell, daß Emerson keine Einzelheiten dieser Geschichte erkennen konnte. Ein Felsdom nahm die beiden Männer auf. Emerson sah eine gewaltige Höhlung, annähernd kreisrund. Am Boden stiegen die Wände fast senkrecht auf, in der Höhe verstärkte sich die Krümmung mit jedem Meter. In der Spitze dieser granatförmigen Kuppel saß eine dunkelrot leuchtende Kugel, die sich langsam drehte. Das Reliefband, das Emerson bereits aufgefallen war, zog sich rings um die Wände, an drei Stellen von weiteren Zugängen unterbrochen. Im Zentrum der Halle stand ein großes, kupfernes Becken, ebenfalls mit Reliefs bedeckt. Darin flackerte ein Feuer, dessen Flammen ein verzerrtes Bild der Besucher an die Wände warfen, wo sich die Silhouetten gespenstisch mit den Gestalten der Reliefs vereinigten. Emerson sah, daß das schwere Metallbecken eine Handbreit über dem Felsboden schwebte, eingerahmt wurde es von einem Pentagramm auf dem Boden, das in einem fahlen Gelb schimmerte. „Ziemlich beeindruckend“, murmelte Emerson aufrichtig, allerdings fühlte er sich, als sei er unversehens in ein Filmstudio geraten, das sich auf Horrorstreifen spezialisiert hatte. Es war für Emerson klar, daß dieser gespenstische Humbug nur dazu gedacht war, die leicht zu beeindruckenden Besucher in Bann zu schlagen, und angesichts der Perfektion, mit der die 33
Effekte aneindergereiht waren, konnte sich der Eigentümer dieses Zentrums der Sieben Weisheiten seines Erfolges sicher sein. „Warten Sie bitte!“ Emerson nickte, während sich Hastings entfernte. Emerson nutzte die Zeit, um sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Neugierig trat er an das Becken, betrachtete das Relief auf dem Kupfer. Er wußte, daß es ein Relief gab, aber er konnte es nicht entdecken. Er sah nur eine Reihe von vertieften oder erhobenen Stellen, ohne Form und Gestalt. Unwillkürlich griff er mit der rechten Hand nach dem Material. Das Kupfer war kühl, dennoch stöhnte Emerson unterdrückt auf. Sein Arm begann zu schmerzen, er war befallen von einer unglaublichen Kälte, die rasch höher kroch. Emerson fühlte, wie die Muskeln erstarrten, mit einem Ruck riß er sich los. Sein Herz jagte wild, Angst hatte ihn erfaßt, eine Angst, deren Ursache er nicht kannte. „Kommen Sie bitte, Mister Wood!“ Vorsichtshalber schlug Emerson einen Bogen um das Pentagramm auf dem Boden, als er auf Hastings zuging. Der führte ihn in einen benachbarten Raum. Emergon begann zu grinsen. Der Schmerz war verschwunden, die Angst zog sich in einen Winkel seines Unterbewußtseins zurück; der Kontrast zwischen der schaurigen Halle und diesem Raum war dazu angetan, den Besucher zu erheitern. Es handelte sich um ein Büro, mit einer Einrichtung, wie sie sich in fast allen Büroräumen der Erde fand, speziell in den Chefetagen. Ein großer, schwerer Schreibtisch, mit allerlei elektronischem Gerät gespickt, in einem Winkel eine einladenden Sitzecke, neben der die schier unvermeidliche Bar stand. Emerson konnte sich wie ein seinem eigenen Arbeitszimmer fühlen. „Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen, Mister Wood!“ Der Mann hinter dem Schreibtisch stand auf und reichte Emerson die Hand. „Mein Name ist Valcarcel, ich bin der Leiter dieses...ähem... Instituts.“ Valcarcel war alt, er mußte das achte Lebensjahrzehnt erreicht haben. Der Mann war groß, sehr schlank, aber noch erstaunlich beweglich. Valcarcel trug einen bodenlangen Umhang aus dunkelblauer Seide, auf der Brust mit einer verschnörkelten Sieben aus gelber Seide bestickt. Das Gesicht war schmal und sehr ernst, obwohl Valcarcel lächelte. Die Augen lagen tief in den Höhlen, blickten ruhig und gleichzeitig angespannt. Der Schädel des Mannes war fast kahl, das wenige verbliebene Haar schimmerte weiß im Licht der Deckenlampe. Emerson spürte die Kraft, die von Varcarcels Händedruck ausging, eine Kraft, die nicht von seinen Muskeln herrührte. „Setzen Sie sich, bitte!“ Eine unmerkliche Handbewegung scheuchte Hastings aus dem Raum. Benommen setzte sich Emerson auf einen freien Sessel. Varcarcel ging zur Bar hinüber, wühlte kurz zwischen den Flaschen und füllte dann zwei Gläser. Eines stellte er vor Emerson ab, dann prostete er dem Besucher zu. Verwirrt griff Emerson nach dem Glas und trank. Seine Verwirrung steigerte sich, als er 34
feststellte, daß es sich um einen Cocktail handelte, dessen Rezept er einem geschickten Mixer abgekauft hatte. Niemals hatte er das Rezept dieses Cocktails verraten; er pflegte seine Freunde mit dieser raffinierten Mixtur zu überraschen. „Woher kennen Sie diesen Cocktail, Mister Valcarcel?“ „Lassen Sie die Anrede weg, jeder nennt mich einfach Valcarcel. Selbstverständlich kenne ich Ihre kleinen Geheimnisse. Früher hießen Sie einmal Tovar Bistarc, damals, als Sie Ihren Dienst bei der time-squad antraten.“ Das Glas fiel aus Emersons Hand, der Cocktail versickerte auf dem Teppich. Diesen Augenblick hatte sich Emerson anders vorgestellt. Er wußte, wo er war, in der Höhle des Löwen; nun hatte der Löwe ihn überrascht, nicht umgekehrt, wie Emerson es geplant hatte. Varcarcel lächelte und machte eine kleine Handbewegung; Der Cocktail lief in das Glas zurück, es stieg in die Höhe und setzte sich auf dem flachen Tisch ab. Emerson spürte, wie etwas Kaltes an seinem Rücken in die Höhe kroch, wie seine Nackenhaare sich aufrichteten. Unwillkürlich sank seine Unterlippe herab, fletschte er die Zähne wie ein eingekreister Wolf. „Nur eine meiner Fähigkeiten“, sagte Varcarcel lächelnd. „Die anderen werden Sie später kennenlernen. Wir werden gut zusammenarbeiten, glauben Sie mir. Sie sollten etwas trinken, um sich zu beruhigen!“ Emerson gehorchte. Er konnte so einige Sekunden überbrücken, seine Fassung vielleicht zurückgewinnen. Der scharfe Alkohol ließ ihn husten, trieb ihm die Tränen in die Augen. Valcarcel trat lächelnd zu ihm und klopfte ihm auf den Rücken. Jede einzelne leise Berührung ließ Emerson zusammenzucken. Es fühlte sich an, als würden glühende Messer in sein Hirn getrieben. Er begann nach Luft zu schnappen, Angst schnürte ihm die Kehle zu. Mühsam nach Worten suchend, stammelte er: „Ich fühle mich nicht ganz wohl, könnten wir das Gespräch morgen fortsetzen?“ „Gewiß“, sagte Valcarcel freundlich. „Dort ist der Ausgang!“ Emerson kam auf die Füße, mit schleppenden Schritten wankte er zurück, erreichte die große Halle. Sein verschleierten Blick fiel auf die kupferne Schale, auf die Reliefs.
5. Den ersten Teil des nun folgenden Berichts kann ich nicht aus eigenem Erleben erzählen, aus Gründen, die im Verlauf des Berichts offenkundig werden. Ich war gezwungen, die Ereignisse zu rekonstruieren: aus eigenem Erleben, den Berichten der Mitarbeiter der time-squad und einem Film, der mir von der time-squad später zur Auswertung überlassen wurde, dazu den wissenschaftlichen Erläuterungen von Fachleuten, die ich nicht überprüfen 35
konnte. * Ich kam zu mir.
Sofort begann ich zu schreien. Ich hatte nur ein Gefühl - Schmerz. Er saß
überall, verdrängte jede andere Empfindung. Es war Schmerz in der reinen,
fast abstrakten Form. Mein Körper stand in Flammen, gleichzeitig überfielen
mich Depressionen, man riß mir die Fingernägel aus den Nagelbetten, man
demütigte mich, setzte mich herab, ich fühlte die Angst eines Ertrinkenden,
spürte die Messer, mit denen man meinen Körper zerstückelte. In mir und um
mich herum war nur Schmerz.
„Er kommt zu sich“, rief Don Slayter. Es klang entsetzt. „Was ist geschehen?“
„Eine Panne“, rief ein Techniker. „Das Feld steht, er kann nicht zu Bewußtsein
kommen. Er ist in der Vergangenheit, wäre er zurückgekehrt, hätte sich das
Feld selbsttätig abgestellt.“
„Ein Beruhigungsmittel“, forderte Slayter erregt. „Beeilt euch, Leute!“
Es folgte eine Serie von Flüchen.
Das Mittel wurde mir eingespritzt, der Schmerz ließ nach.
Langsam wuchs der Funke, tastete sich vor. Informationen wurden gefunden
und geschluckt, Gedankenketten geschlossen, die keinen Sinn ergaben.
Erinnerungen tauchten auf, wurden mit anderen Erinnerungen konfrontiert.
„Das Elektronenzephalogramm spielt verrückt“, klang es aus einem
Lautsprecher. „Wenn er zurückgekommen ist, dann muß er total wahnsinnig
sein. Das würde auch erklären, warum das Feld nicht ausgefallen ist. Von
seiner Ich-Identität, die das Feld ausgeschaltet hätte, ist nur noch ein winziger
Fetzen vorhanden. Sehen Sie sich die Kurven an, Chef. In seinem Schädel geht
es völlig chaotisch zu!“
Slayter betrachtete das Bild auf dem Monitor und fluchte erbittert.
„Schaltet das Feld aus“, kommandierte er. Schlagartig stellten die Projektoren
ihre Arbeit ein. Auf der ovalen Platte lag ein Mann, dessen Körper sich in
Krämpfen wand.
Von meinen Lippen kam unkontrolliertes Stammeln. Ich schnappte nach Luft
wie ein Ertrinkender, aber niemand half mir. Ich schlug um mich, rutschte von
der Tischplatte und stürzte auf den Boden. Ich kam mit dem Kopf zuerst auf,
aber ich wurde nicht bewußtlos.
Ein Schemen näherte sich mir, den winzigen Schmerz des Einstichs spürte ich
tausendfach verstärkt, und wieder schrie ich. Dann endlich senkten sich
schwarze Schatten auf mich herab, ich verlor die Besinnung.
Emerson blieb wie gebannt stehen.
Die Strukturen auf der Außenfläche der Kupferschale stabilisierten sich,
gerieten in Bewegung. Emerson trat näher, obwohl es in seinem Schädel
hämmerte, als wolle er platzen.
Die Klinik, jene fürchterliche Nacht, in der man ihn mit einem Derilierenden
eingeschlossen hatte, einem schreienden alten Mann, dessen alkoholvergiftetes
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Hirn die schrecklichsten Phantasien erzeugte, gegen die sich der Mann verzweifelt zur Wehr setzte. Stundenlang hatte er geschrien, getobt, sich in Krämpfen gewunden. Emerson hatte nur wenige Meter neben dem Alten gelegen. Er hatte ihm nicht helfen können, ihm hatten die Kenntnisse gefehlt, außerdem hatte er seine Rolle nicht aufgeben dürfen. Damals war der Haß zum ersten Mal aufgekeimt, der brennende Haß auf jene, die ihn zu einem solchen Leben verdammt hatten, die ihn durch diese Hölle hatten gehen lassen. Dann jener Augenblick, in dem ihm klargeworden war, daß er nun einer der reichsten Männer der Erde war, das plötzlich aufsteigende Gefühl, diesen Reichtum nicht wieder herauszugeben. Die Macht, die mit diesem Geld verbunden war, die sich steigern ließ, wenn er mit Valcarcel zusammenarbeitete. Emerson begann zu stöhnen. Ein unerträglicher Schmerz tobte in seinem Schädel. Übergangslos verschwand die Kupferschale, das Leuchten des Pentagramms verstärkte sich. Langsam ging Emerson auf das Zeichen zu, übertrat die Markierung, erreichte den Mittelpunkt des Gebildes. Rauch wallte auf, dann wuchs aus dem Boden ein Feuer, stieg höher und höher, schloß Emerson ein. Er begann zu schreien. Emerson versuchte zu flüchten, zurückzukehren in den Körper, den er in der Station der time-squad zurückgelassen hatte, der auf ihn wartete. Der Versuch scheiterte, irgend etwas hielt ihn fest. Und gleichzeitig stieg sein unterbewußtes Verlangen, diesen Körper des Idioten zu behalten, die Macht, das Geld. Der Haß wurde stärker, überschwemmte seinen Verstand. Emersons Körper begann sich zu drehen, stieg in die Höhe. In halber Höhe der Kuppel verharrte er, dann zerfaserte der Körper, verband sich mit dem Feuer und dem Rauch. Wild wirbelten die Schwaden durcheinander, dann ballten sie sich wieder zusammen. Für einen winzigen Augenblick verlor Emerson das Bewußtsein, löste sich sein Geist in winzige Bruchstücke auf. Als sich die Teile wieder zusammenfanden, der Körper Gestalt annahm und langsam auf den Boden zurücksank, begann Emerson Wood zu lächeln. Das Feuer erlosch, der Rauch verschwand. Emerson Wood verließ das Pentagramm, in dem wenig später wieder die kupferne Schale erschien. Valcarcel hielt zwei Gläser in der Hand, eines gab er Emerson. „Auf gute Zusammenarbeit“, sagte er lächelnd. * „Tovar, Tovar, reden Sie, Mann! Was fehlt Ihnen?“
Ich hörte das Geräusch, zuckte zusammen. Tovar? Wer oder was war Tovar.
Etwas in mir begann zu arbeiten, suchte Worte zusammen, betätigte die
Muskeln, die Lippen und Zunge bewegten, den Atemstrom regulierten.
„Ich, nicht Tovar!“
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Ich, was war ich? Wer war ich? Was war ich? Slayter schaute entgeistert drein. „Wer, zum Teufel, sind Sie dann?“ Frage, ein Problem, das gelöst werden mußte, eine Aufgabe. Hast du nicht gelernt, wie man Aufgaben löst? „Nicht Tovar, weiß nicht!“ „Er muß völlig verrückt sein, hat den Verstand verloren“, murmelte Slayter. „Was hat das alles zu bedeuten?“ „Chef?“ mischte sich die junge Ärztin ein. „Haben Sie eine Idee? Was ist mit Tovar passiert?“ „Ich vermute, daß Tovar Bistarc sich dazu entschlossen hat, den Körper, den er übernommen hat, endgültig zu verlassen. Mit diesem Entschluß löste er aus seinem, diesem Körper jenen letzten Funken Bewußtsein, mit dem er die Psyche des Idioten gefangenhalten konnte. Dieser Mann, genauer gesagt, sein Bewußtsein, ist nicht Tovar Bistarc. Es ist der Idiot, und er hat jetzt gewaltige Schwierigkeiten!“ „Blödsinn“, knurrte Slayter. „Völlig absurd. Was für Schwierigkeiten kann ein so hoffnungslos Schwachsinnigerhaben?“ Sie sprachen von mir, ich spürte es mehr, als daß ich es begriff. „Sehen Sie, Chef: Dieser Geist ist sich wahrscheinlich nicht einmal seiner eigenen Existenz bewußt. Und dieses minimale Bewußtsein wird nun mit den gesammelten Informationen gefüttert, die der alte Tovar gespeichert hatte. Aber er kann mit den Informationen überhaupt nichts anfangen. Stellen Sie sich vor, Sie müßten ein komplettes, zwanzigbändiges Lexikon bearbeiten, in einer Sprache, von der Sie nur ein paar Worte verstehen. Jeder Begriff, den Sie finden, wird mit Worten erklärt, die Sie noch nicht kennen. Stellen Sie sich die Schwierigkeiten vor. Sie schlagen an einer Stelle auf: Gleiter. Es wird im ersten Satz als Fortbewegungsmittel definiert. Sie wissen nicht, was das ist, blättern zurück und landen beim Wort Fort, und das ist eine altes Wort für Festung. Schon hängen Sie fest. Wenn Sie Glück haben, können Sie über Bewegung, Massenträgheit, Einstein und dergleichen eine Bezugskette bilden, die bis zur Urknallhypothese reicht - und das alles nur, weil Sie nicht wissen, was ein Gleiter ist!“ Slayter kratzte sich hinter dem Ohr. „Glauben Sie an diese Hypothese?“ erkundigte er sich skeptisch. „Mir erscheint sie offengestanden etwas reichlich kühn.“ „Warten Sie es ab, Chef. In den ersten Wochen und Monaten werden wir große Schwierigkeiten mit ihm haben. Gerade die ersten Schritte sind für ihn unerhört kompliziert. Dann aber wird er immer rascher die Informationen in sein Bewußtsein einbauen, die Tovar Bistarc früher gesammelt hat. Sie werden es erleben!“ „Einverstanden“, sagte Slayter. „Bringen Sie mir diesen...“ „Vorsicht, Chef. Er könnte Sie hören und Ihre Worte behalten, und eines 38
Tages wird er auch begreifen, wie Sie ihn genannt haben!“
„... Gentleman wieder zu sich“, setzte Slayter seinen Satz grinsend fort. „Viel
Glück!“
„Lück“, lallte ich. „Wäääh!“
„Warte nur, Kleiner, bald bekommst du etwas!“
* Ich muß an dieser Stelle einfügen, daß dieser Teil meiner Erinnerung äußerst lückenhaft ist. Eine Gewähr für die Richtigkeit des Dargestellten kann ich nicht übernehmen. * Daß sich unter dem weißen Kittel eine attraktive Figur verbarg, hatte ich mir gedacht, daß zu dieser Figur aber auch zwei muskulöse, sehr flinke und kräftige Arme gehörten, war einigermaßen überraschend. Sie hatte einen Doppelnelson angesetzt, und sie hielt diesen Griff, obwohl ich aus Leibeskräften Gegenwehr leistete. Dann kamen zwei Männer herbeigeeilt, packten mich und rissen mich hoch. „Ist er frech geworden, Martha?“ Die junge Ärztin hob zwei abgerissene Knöpfe auf und steckte sie in die halb abgerissene Tasche ihres Kittels. Das Stethoskop lag irgendwo unter einem Schrank. Plötzlich begann sie zu lachen. „Daß es so kommen mußte, war schließlich vorauszusehen, schließlich kümmern sich seine Hormondrüsen nicht um seinen Geisteszustand. Aber die Technik, die unser Sorgenkind anwandte, war doch einigermaßen verblüffend. Vermutlich hat er in den Erinnerungen des alten Tovar herumgekramt, jedenfalls begann er plötzlich mit mir zu flirten, und zwar auf die dümmste und albernste Art, die sich nur denken läßt. Ständig nannte er mich Susan, und auf das, was ich sagte, hörte er überhaupt nicht. Wahrscheinlich hat er einfach eine bestimmte Erinnerung von Tovar so abgespult, wie er sie vorgefunden hat!“ Die beiden Männer grinsten breit, während ich mich am liebsten irgendwo verkrochen hätte. Ich wußte, daß ich etwas falsch gemacht hatte, auch wenn mir nicht ganz klar war, worin mein Fehler bestand. Zwei Wochen waren vergangen, seit ich aufgetaucht war. Ich konnte inzwischen auf mich selbst aufpassen - mit leichten Einschränkungen - und täglich vergrößerte sich mein Wissen. Immer wieder geschah es, daß man mir etwas sagte, das ich nicht verstand, aber einige Stunden später begriff ich dann schlagartig, vor allem morgens. Wahrscheinlich war es so, daß sich die Gedanken von selbst sortierten, während ich schlief. Meine beiden Begleiter brachten mich zu Slayter, der mich mit sichtlicher Skepsis begrüßte. „Sie haben sich gut erholt, Tovar“, eröffnete er das Gespräch. 39
„Ich bin nicht Tovar Bistarc“, entgegnete ich. „Sie sollten das wissen!“ Slayter zuckte mit den Schultern. „Wer sind Sie dann, wenn nicht Bistarc?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Chef“, entwertete ich ratlos. „Ich versuche, mich zu erinnern, aber mir fällt nichts ein. Ich weiß nur, daß ich hier plötzlich aufgetaucht bin und von Tag zu Tag mehr lerne. Sprachlich mache ich keine Fehler mehr, lesen kann ich ebenfalls, beim Schreiben habe ich noch leichte Schwierigkeiten, weil mir die Übung fehlt. Ich habe inzwischen auch erfahren, was die time-squad ist und wie sie arbeitet.“ „Das trifft sich gut. Dann werden Sie auch verstehen, daß wir herausfinden wollen, was aus Ihnen, pardon, Tovar Bistarc, geworden ist. Wir müssen das wissen, es steht sehr viel auf dem Spiel.“ „Mit meiner Hilfe können Sie nicht rechnen“, sagte ich ruhig. Slayter sah mich entgeistert an. „Mann“, rief er impulsiv. „Sie machen mir Spaß. Bis vor ein paar Tagen waren Sie praktisch nicht vorhanden. Wir haben Ihnen geholfen, zu sich selbst zu finden. Und gerade Sie verweigern jetzt Ihre Hilfe?“ Ich hatte mich eingehend mit diesem Problem beschäftigt, daher wußte ich, was ich Slayter zu sagen hatte. „Als ich in dieser Zeit eintraf, war ich nichts weiter als ein Bewußtseinsfunke, das stimmt. Aber inzwischen habe ich einen Körper, und ich lerne täglich besser mit ihm umzugehen. Rein organisch steht mir jetzt ein hervorragendes Gehirn zur Verfügung, und auch dessen Möglichkeiten werde ich in kurzer Zeit voll ausschöpfen können. Erwarten Sie allen Ernstes von mir, daß ich Ihnen helfe, mich in das Dasein eines Umnachteten zurückzustoßen?“ Slayter stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. „Wenn Tovar sich entschließt, seinen Körper wieder zu übernehmen, werden Sie ihm weichen müssen. Es tut mir natürlich leid für Sie, aber daran läßt sich nichts ändern. Außerdem werden Sie dann einen Teil der Intelligenz, die Sie inzwischen erworben haben, mitnehmen können!“ „Dreißig Punkte, vielleicht ein wenig mehr“, sagte ich bitter. „Ich war früher ein Idiot, und ich weiß auch, was das bedeutet. Mit dreißig IQ-Punkten zusätzlich käme ich über das Stadium der Debilität niemals hinaus, und das wissen Sie. Würden Sie an meiner Stelle zur Mitarbeit bereit sein?“ Slayter biß sich auf die Lippen. „Erwarten Sie allen Ernstes von mir, daß ich bei vollem Bewußtsein freiwillig ein Leben als Schwachsinniger auf mich nehme, zum Wohle der time-squad, die mich letztlich in diese Lage gebracht hat. Was käme dabei heraus? Ich wäre wieder ein Idiot, und Sie bekämen einen Mitarbeiter zurück, der Sie verraten hat, der zum Gegner übergelaufen ist. Anders kann man Tovars Entschluß, auf seinen Körper zu verzichten, kaum interpretieren!“ „Ich verstehe Sie“, sagte Slayter sehr leise. „Begreifen Sie aber auch, wie wichtig es ist, den unbekannten Gegner zu fassen zu bekommen, dessen Tätigkeit die gesamte Menschheit bedroht. Ich werde mir Ihren Fall überlegen, 40
vielleicht tun Sie das gleiche.“ Ich zog mich zurück. Mir war klar, was ich nun zu tun hatte. * Die time-squad war hervorragend gegen eventuelle Angreifer und Eindringlinge gesichert, niemand war bis jetzt auf den Gedanken gekommen, die Anlagen auch gegen Ausbrecher zu sichern. Die beiden Wachen am Eingang setzte ich mit dem Narkonadler außer Gefecht, dann genügten ein paar Schritte, um mir die Freiheit wiederzugeben. Ich war sehr gespannt auf das, was mir bevorstand. Was Wetter war, wußte ich nur aus Tovars Erinnerungen, aber was genau ich mir dabei vorzustellen hatte, war mir verborgen geblieben. Mein Gedächtnis wies überhaupt große Lücken auf, wenn auch nicht so viele, wie die Mitarbeiter der time-squad annahmen. Sobald ich herausgefunden hatte, was mit mir geschehen war, hatte ich mir eingestehen müssen, daß ich so schnell wie möglich verschwinden mußte. Ich wußte, daß der alte Tovar mit meinem Körper in der Vergangenheit lebte, und dort sollte er auch bleiben. Daß die time-squad versuchen würde, uns wieder auszutauschen, lag auf der Hand, also mußte ich zusehen, daß aus diesem Handel nichts wurde. Daher hatte ich mich auch entschieden dümmer gestellt, als ich wirklich war - es konnte mir nur nützlich sein, wenn man mich unterschätzte. Tovars Körper und seine Informationen waren das Wertvollste, was ich besaß. Es fiel mir nicht ein, diese Errungenschaften wieder herzugeben. Tovar war körperlich in Hochform gewesen, und was seine geistigen Fähigkeiten anging, wurde ich immer wieder angenehm überrascht. Es war dunkel, als ich das unterirdische Quartier der time-squad verließ. Draußen war es neblig und kühl, ein starker Wind fegte über das kahle Land. Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und marschierte los. Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht, es sei denn, den festen Willen, irgendwo unterzutauchen. Ich brauchte Geld, nicht nur, um zu leben, ich mußte mir auch Papiere besorgen, Dokumente, die ich brauchen würde, wenn ich eine Arbeit suchte, eine Wohnung mietete oder mich ausweisen mußte. Das war um so schwieriger, als die zentrale Bundesregistratur in Des Meines über jeden Bürger eine lückenlose Liste führte. Sämtliche Verwaltungsvorgänge wurden dort erfaßt, Steuerzahlungen, Krankheiten, Vorstrafen die Dossiers waren in jedem Fall vollständig. Zwar gab es strenge Gesetze gegen Datenmißbrauch, wie dieses Verbrechen genannt wurde, aber es existierten doch kleine Lücken, durch die man hindurchschlüpfen konnte. Für teures Geld konnte man in einschlägigen Kreisen eine vollständige Identität kaufen, die selbst Überprüfungen standhielt. „Irgendwie muß ich an Geld kommen“, murmelte ich. Ich begann zu frieren, meine Kleidung war nicht für ein solches Wetter gedacht. Immerhin konnte ich die • Fernstraße bereits sehen, die in der Nähe der time-squad Station verlief. Ich sah die Lichter der Gleiter vorbeifegen. Vielleicht nahm mich einer mit. 41
Ich stellte mich fröstelnd an den Straßenrand und gab Zeichen, aber zunächst
kümmerte sich kein Fahrer um mich. Als endlich ein Gleiter hielt, war ich total
durchfroren.
„Steigen Sie ein!“ rief mir die Frau entgegen. „Panne gehabt?“
Ich schlüpfte schnell in den Gleiter. Innen war es warm, und das tat mir gut,
obwohl mir die plötzliche Hitze fast die Luft nahm.
„Miserables Wetter“, meinte der Fahrer. Er war schon ziemlich alt, die Frau
auf dem Beifahrersitz ein wenig jünger. Beide waren ungemein freundlich,
offen und herzlich.
Hatten so meine Eltern ausgesehen? Rein rechnerisch konnten sie es sogar
sein, ein merkwürdiges Gefühl.
„Trinken Sie“, riet mir die Frau und hielt mir einen Becher unter die Nase.
„Was ist das?“ fragte ich vorsichtig. Es erinnerte an den Tee, den ich von den
Ärzten der time-squad regelmäßig bekommen hatte, aber da war ein anderer,
unbekannter Geruch.
„Tee mit Rum“, sagte die Frau lächelnd. „Trinken Sie ruhig, wir werden Sie
schon nicht vergiften!“
Die Flüssigkeit schmeckte hervorragend, ich konnte förmlich fühlen, wie sie
mich von innen aufheizte. Dazu kam aber noch ein anderer Effekt, den ich
nicht kannte. Meine Koordination wurde gestört, irgendwie fühlte ich mich
bald benebelt. Daher lehnte ich einen zweiten Becher sanft ab.
„Wie kommen Sie an den Straßenrand“, wollte der Fahrer wissen. „Und wohin
sollen wir Sie bringen?“
„Ich hatte eine Panne mit meinem Gleiter. Irgendeine Leitung muß gerissen
sein, ich kenne mich da nicht sonderlich gut aus.“
Damit gaben sich die beiden zufrieden. Ich nannte ihnen mein erstes Ziel, das
Heim einer wohltätigen Organisation, bei der ich für einige Tage unterkriechen
konnte, ohne lästige Fragen gestellt zu bekommen.
„Brauchen Sie Hilfe, junger Mann?“ erkundigte sich die Frau mitfühlend.
„Haben Sie Schwierigkeiten?“
„So kann man es nennen“, sagte ich und setzte ein Lächeln auf, das müde und
resigniert wirken sollte. Der Blick der Frau fiel auf meinen Oberkörper, ich
hatte die Jacke geöffnet, weil mir warm geworden war. Der Kolben des
Nadlers war deutlich zu erkennen.
„Polizei?“
„Nicht ganz“, wehrte ich ab. „Verbrechen habe ich jedenfalls nicht begangen!“
„Sie sehen auch nicht danach aus“, sagte der Fahrer, der mich immer wieder
über den Innenrückspiegel beobachtete. Ich lächelte dünn.
„Könnte man Verbrecher an der Nasenspitze erkennen, hätte die Polizei wenig
zu tun.“
Mann und Frau wechselten einen raschen Blick.
„Sie können mit uns kommen“, sagte der Fahrer. „Unser Haus ist groß genug,
die Kinder sind an der Universität. Sie können bei uns wohnen und in Ruhe
über sich nachdenken. Fragen werden wir nicht stellen.“
„Danke“, sagte ich, und ich meinte es ehrlich.
42
*
Herbert und Kate Polder bewohnten ein großes Haus am Stadtrand, ein Anwesen, bei dem auf den ersten Blick liebevolle Pflege erkennbar war. Das war nicht verwunderlich, sie hatten lange Zeit eisern gespart, um sich diesen Wunsch erfüllen zu können. Eigentlich überstieg die Haltung dieses Hauses ihre finanziellen Mittel, aber die beiden verzichteten auf viele kleine Annehmlichkeiten, um sich diesen Luxus leisten zu können. Eine Woche war seit meiner Flucht vergangen, seit dieser Zeit wohnte ich bei den beiden. Sie hatten mir tatsächlich keine Fragen gestellt und mich so ausdauernd junger Mann genannt, bis ich schließlich freiwillig einen Namen nannte - den Namen des Körpers, den ich besaß. Schwierigkeiten hatte ich keine mehr, Körper und Hirn waren in Hochform. Ich hatte von Tovar Bistarcs Körper vollständig Besitz ergriffen. Entsprechend gering war mein Verlangen, an diesem Zustand etwas zu ändern. Es war Abend, eine jener sich lang hinziehenden Dämmerungen, in denen edle, aber einsame Cowboys auf einem Schimmel gegen die untergehende Sonne reiten und sich im Zwielicht verlieren - kitschig bis zur Unerträglichkeit, aber Realität. Tovar Bistarc hatte etliche dieser Sonnenuntergänge gesehen, ich erlebte ihn zum ersten Mal, und ich spürte keine Lust, künftig darauf zu verzichten, das Schauspiel sehen zu können, ohne es zu begreifen. „Tovar“, hörte ich Kate rufen. „Komm bitte herunter, das Essen ist fertig.“ Ich schloß das Fenster und ging nachdenklich hinunter. Mit jedem Tag, den ich hier verbrachte, stieg die Gefahr, daß die time-squad ihren Kampf verlor, daß der Gegner die Macht an sich reißen würde. Ich wußte genug über die technischen Möglichkeiten dieser Zeit, um zu wissen, daß mit ihrer Hilfe eine Diktatur aufgebaut werden konnte, die an Perfektion alles Dagewesene übertreffen würde. Sie wieder zu beseitigen, würde die Menschen einen mindestens hundert Jahre dauernden Untergrundkampf kosten. Kate lächelte mir freundlich zu, als ich im Eßzimmer eintraf. Sie kochte vorzüglich, nach Tovars Erinnerungen konnte ich es beurteilen. Die Polders waren einfache, normale Leute, bescheiden und rücksichtsvoll und außerordentlich glücklich, am Ende eines mit harter Arbeit erfüllten Lebens so leben zu können, wie sie es sich immer gewünscht hatten. Mir war klar, daß ich in Klischees schwelgte, dennoch quälte mich eine Frage: Hatte ich das Recht, dieses stille Glück der Polders und der Millionen, die ähnlich lebten, aufs Spiel zu setzen? Hatten Sie ihrerseits das Recht, mich in das Schicksal eines lallenden Idioten zurückzustoßen? Ich hing meinen Gedanken nach, während ich lustlos aß, daher bemerkte ich die beiden Männer viel zu spät. Sie standen plötzlich im Eßzimmer und richteten ihre Waffen auf um. Nach einem Blick auf ihre Gesichter war mir klar, daß sie zwar nicht töten wollten, 43
aber eine solche Situation ebenfalls zum ersten Mal erlebten. Es war möglich,
daß sie die Nerven verloren und deshalb ihre Laser gebrauchten.
„Nehmt die Hände hoch!“
Die Polders warfen einen Blick auf mich, und ich zögerte nicht, dem Befehl
Folge zu leisten. Einem Faustschlag kann man noch ausweichen, einem
lichtschnellen Laserschuß nicht. Meine Waffe lag oben in meinem Zimmer,
wir waren wehrlos.
Die beiden Männer, sie waren kaum älter als zwanzig und furchtbar nervös,
durchsuchten uns nach Waffen und Geld. Meine Taschen waren leer, und
Herbert Polder hatte nie viel Geld im Haus.
Der größere der beiden Männer winkte mit dem Laser.
„Los, mach den Safe auf!“
Polders Gesicht zeigte echte Bestürzung.
„Ich habe keinen Safe“, sagte er hastig. „Ich besitze nicht genug für eine
solche Einrichtung.“
Die Männer grinsten spöttisch.
„Alter, versuche nicht, uns aufs Kreuz zu legen. Wer ein solches Haus besitzt,
hat auch Geld. Zwinge uns nicht, Gewalt anzuwenden!“
Die Blicke der Männer wanderten von Herbert Polder zu seiner Frau, hängen
blieben sie an mir.
„Deine Frau fällt vielleicht vor Schreck tot um, wenn wir sie auf unsere Art
befragen. Statt dessen werden wir uns deinen Sprößling vornehmen! Vielleicht
werdet ihr gesprächiger, wenn wir ihm ein paar Finger oder Zehen
abgeschossen haben!“
Unversehens war ich offenbar zu Eltern gekommen, aber ich hatte keine Zeit,
mich darüber zu freuen. Ein Laserschuß ging an meinem rechten Ohr vorbei,
durchschlug einen Zinnteller an der Wand und versengte die Tapete. Das war
als Warnung gedacht, aber ich ließ den beiden keine Zeit, ernsthaft zur Sache
zu gehen. Mir stand Tovar Bistarcs Körper zur Verfügung, und Tovar war ein
hervorragender Kämpfer gewesen. Mit einem Satz stand ich zwischen den
beiden, fast gleichzeitig schlug ich mit beiden Handkanten zu. Etwas knackte,
dann polterten die Waffen auf den Boden. Ein Faustschlag traf mich in der
Magengrube, ich schnappte nach Luft. Dennoch gelang es mir, einen der
beiden Angreifer auf den Boden zu bringen. Mein Fuß verhakte sich in seiner
Kniekehle, der Mann kippte zur Seite. Ich erwartete den nächsten Treffer von
meinem zweiten Gegner, dann hörte ich Polders Stimme: „Schluß jetzt! Nehmt
die Hände hoch!“
Er hatte die wenigen Sekunden, in denen ich die Banditen beschäftigt hatte,
dazu genutzt, einen der Laser an sich zu reißen. Jetzt zielte er mit der Waffe
auf die Banditen, seine Frau saß auf einem Stuhl. Sie war so weiß wie das
Tischtuch vor ihr.
Ich rappelte mich langsam hoch und nahm den zweiten Laser an mich.
„Rufen Sie die Polizei, Herbert“, sagte ich leise. „Und dann rufen Sie diesen
Anschluß an!“
Ich nannte ihm die Nummer der time-squad.
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„Sagen Sie, daß sie Tovar Bistarc bei Ihnen abholen können!“ Polder sah mich verständnislos an, aber er gehorchte. Mir war in den endlos lang erscheinenden Sekunden, in denen ich bedroht worden war, einiges klargeworden. Zum einen, daß auch ich ein Opfer der Diktatur geworden wäre, die die time-squad zu Recht befürchtete. Zum anderen, daß es zu einem Austausch der Körper weder kommen mußte, noch kommen konnte. Mir war endlich eingefallen, wer ich war.
6. „Also, was haben Sie uns zu sagen?“
Slayters Stimme klang unfreundlich, ich konnte es ihm nicht verdenken.
Tagelang hatte er mit der Befürchtung leben müssen, daß ich alle
Informationen über die time-squad an die Presse weitergab. Damit hätte ich
die Organisation in die größten Schwierigkeiten gebracht, schließlich wußten
nur sehr wenig Menschen, daß es sie überhaupt gab.
„Ich habe ein paar Bedingungen, Chef“, sagte ich so freundlich wie möglich.
Dennoch verhärteten sich Slayters Züge.
„Lassen Sie hören“, erklärte er. „Dieser Körper gehörte früher einem Mann
namens Tovar Bistarc“, begann ich. „Es würde sehr schwierig werden, für ihn
eine neue Identität zusammenzubauen. Da Sie mich immer noch hartnäckig
Tovar nennen, möchte ich dessen Rolle auch ganz übernehmen - mit allen
Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Ich werde seine Stelle einnehmen,
seinen Namen, seine Papiere - und auch seinen Beruf!“
Slayter staunte, es war nicht zu übersehen.
„Sie wollen einen Posten bei der time-squad?“
„Genau das. Ich kann alles, was Tovar auch konnte, ich bin Tovar Bistarc
geworden, und ich will es bleiben.“
„Einverstanden“, murmelte Slayter. „Sie sagten Bedingungen, obwohl wir
nichts von Ihnen gefordert haben. Wissen oder können Sie etwas, was die
time-squad dringend braucht?“
„Ich weiß jetzt, wer ich früher einmal war. Vor allem aber weiß ich, was aus
meinem Körper geworden ist. Früher hieß ich einmal Emerson Wood.“
„Das ist kein sonderlich seltener Name, was sollen wir damit anfangen?“
„Verbinden Sie den Namen mit Wood Enterprise, und Sie haben den Schlüssel
zu allen Problemen.“
Slayter zwinkerte irritiert, abwehrend hob er beide Hände.
„Lassen Sie mich nachdenken. Von Wood Enterprise bekommen wir ungefähr
achtzig Prozent unserer Bauteile, den Rest von anderen Firmengruppen,
darunter die wichtigen Projektorspitzen. Wenn Tovar Bistarc nun Emerson
Wood heißt, dann...“
„... stellt er den größten Teil der Zeitmaschine selbst her!“ ergänzte ich. „Er
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hat sich in aller Ruhe ein gewaltiges Wirtschaftsimperium zusammengekauft. Nicht ohne Grund nennt man ihn den ungekrönten König aller Bosse. Wood konnte geduldig abwarten, bis die Halderson-Legierung auf den Markt kam, die er für die Projektorspitzen braucht. Im Gegensatz zur time-squad wußte er sofort, was er damit anzufangen hatte. Mit den Kenntnissen, die er sich hier erworben hat, konnte er nach einiger Zeit auch ohne große Forschungsstätten eine Zeitmaschine bauen. Der Kreis durch die Zeit hat sich geschlossen - der Gegner der time-squad ist aus Ihren eigenen Reihen hervorgegangen. Sie haben sich immer gefragt, wie der Gegner zu seinen Kenntnissen kam, Sie haben ihn selbst hier geschult. Ein so gerissener Mann wie Wood hätte natürlich niemals einem Mann die ominöse Symphonie zugespielt, von dem er genau wußte, daß diese Tatsache entdeckt würde. Aber er mußte es tun, nur so konnte er den Kreis durch die Zeit schließen. Jetzt hat er nichts mehr zu befürchten, er kann in aller Ruhe weiterarbeiten!“ Die anderen Mitarbeiter im Raum waren sehr still geworden. „Es kommt noch schlimmer, Chef! Wood weiß genau, daß die time-squad völlig unvorbereitet ist. Er aber hatte viel Zeit zur Verfügung, um sich gegen uns vorzubereiten. Zu allem Überfluß ist er uns auch technisch voraus - er kann körperliche Zeitreisen machen. Jetzt kommt alles darauf an, was wir unternehmen. Rechtlich können wir nicht gegen ihn vorgehen, schon gar nicht offiziell. Stellen Sie sich die Aufregung in der Presse vor. Es gibt, glaube ich, nur einen Weg, dieses Problem zu lösen. Die Mitarbeiter der time-squad, zumindest einige von ihnen, müssen exekutive Vollmachten bekommen, großzügige Vollmachten.“ Slayter lachte auf, es klang bitter. „Was, glauben Sie, das ich zu hören bekommen werde? Man wird vermuten, daß die time-squad das erreichen will, was Wood im Sinn hat, nämlich eine Diktatur aufzubauen!“ „Wenn Sie den Regierungsstellen verbesserte Kontrollmöglichkeiten an die Hand geben, werden Sie vielleicht zu Zugeständnissen bereit sein. Es schadet schließlich nicht, wenn man uns auf die Finger sieht solange diese Finger sauber sind.“ Slayter nickte, dann hatte er seinen Entschluß gefaßt. „Ich werde versuchen, erweiterte Vollmachten einzuhandeln. Ich lasse Sie wieder rufen, wenn ein Verhandlungsergebnis vorliegt!“ Damit waren wir entlassen. Während die Mitarbeiter in ihre Arbeitsräume zurückkehrten, blieb ich zurück. Slayter sah mich und machte eine abwehrende Geste. „Sie können auch gehen, Tovar. Ich weiß, was Sie von mir wollen, ich werde es nicht vergessen!“ Damit scheuchte er mich aus dem Zimmer. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Slayter war ein merkwürdiger Chef, mal brummig, manchmal regelrecht cholerisch, aber er kannte seine Leute, auch mich. * 46
Die Einsatzbesprechung fand während des Fluges statt. Wir hatten eine kleine Insel im Pazifik zum Ziel, die Hocitica genannt wurde. Dort lebte Emerson Wood, so zurückgezogen und von der Welt abgekapselt, wie dies seine Geschäfte überhaupt zuließen. Seit vielen Jahren war er nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Unsere Aufgabe stand darin, ihn aus seinem Versteck zu holen und Beweismaterial zu sammeln, um ihn dann vor Gericht stellen zu können. Slayters Verhandlungen waren erfolgreich gewesen. Die time-squad besaß nun eine Gruppe von aktiven Agenten, die Waffen tragen durften und erhebliche Vollmachten besaßen. Slayter hatte mir meinen Wunsch erfüllt, ich gehörte zu dieser Truppe. Warum er mich aber sofort zum Anführer befördert hatte, war mir ein Rätsel, allerdings zerbrach ich mir nicht den Kopf darüber. „Wir werden folgendermaßen vorgehen“, erklärte ich. „Zunächst werde ich mit einem Begleiter Emerson Wood hochoffiziell aufsuchen und verhaften. Fügt er sich drein, ist unsere Arbeit fast erledigt. Widersetzt er sich aber der Verhaftung, greift der Rest ein. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß Wood seinen Schlupfwinkel sorgfältig abgesichert hat. Ich rechne mit Fallen, Selbstschußautomaten und ähnlichen Dingen, dazu mit einer kleinen Truppe von Leibwächtern.“ Insgesamt einhundert Männer waren mir unterstellt. Davon zählten nur zehn zur time-squad, der Rest bestand aus regulären Soldaten der Armee, jeder einzelne ein ausgesuchter Einzelkämpfer. Wie erfolgreich Slayter verhandelt hatte, war daran abzulesen, daß die Armee die Männer für eine Organisation abgestellt hatte, die so jung war wie das Agentenkorps der time-squad. „Wen willst du mitnehmen?“ „Maipo Rueda“, sagte ich. Der hünenhafte Schwarze grinste mich an. Er gehörte zu den Soldaten, und bei den Vorbesprechungen für unseren Einsatz hatte ich mich mit ihm angefreundet. Über mir quäkte der Kabinenlautsprecher. „Hocitica kommt in Sicht, macht euch fertig!“ Ich sah aus dem Fenster. Vor uns lag die kleine Insel. Genau betrachtet handelte es sich nur um einen Vulkan, der an dieser Stelle aus dem Meer ragte. Er galt als erloschen. Bewohnbar war lediglich der breite Streifen Land, der sich im Laufe vieler Jahrhunderte am Fuß des Vulkans gebildet hatte. Dort wollten wir landen. Während Maipo und ich Wood aufsuchten, sollten die anderen den Strand absuchen und Boote oder Gleiter sicherstellen. Rasch kam der Strand näher, knirschend setzte der Gleiter auf. Die große Luke klappte auf, rasch verließen wir die Kabine. Sofort schwärmten die Soldaten aus und besetzten den Strand. Ich suchte mit dem Fernglas den Hang des Vulkans ab, nach kurzer Zeit hatte ich gefunden, was ich suchte. Wood hatte sich, wie erwartet, seine Behausung in den Vulkan hineingebaut, nur ein Teil des Gebäudes ragte ins Freie. „Alle Wetter“, staunte Maipo. „Mit dem Geld, das dafür verbaut wurde, könnte man einer Division ein Jahr lang den Sold zahlen.“ 47
Ich ging voran, Maipo folgte mir. Wir bewegten uns nur langsam vorwärts, stets darauf gefaßt, mit einer Falle konfrontiert zu werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sich Wood nicht gegen unliebsame Besucher abgesichert hatte. Noch war die time-squad eine junge Organisation, noch gab es organisierte Verbrecher, denen durchaus zuzutrauen war, daß sie mit einem Stoßtruppunternehmen Wood gefangennahmen und nur gegen ein astromonisches Lösegeld wieder freiließen. Wir stießen auf einen kiesbestreuten Weg. An einem Ende des Weges vermutete ich einen Landeplatz für Gleiter oder seetüchtige Boote, der inzwischen hoffentlich von unseren Freunden besetzt wurde. Am anderen Ende mußte nach menschlichem Ermessen das Haus von Emerson Wood liegen. Der Kies knirschte unter unseren Stiefeln, als wir den Berg hinaufstiegen. Zu sehen war nicht viel, zu hören gab es um so mehr, das Donnern der Brandung, Affengekreisch und die Rufe und Schreie etlicher Vogelarten. Nur der sorgfältig angelegte Kiesweg deutete darauf hin, daß es hier auch Menschen gab. Dann stießen wir auf ein erstes Hindernis. Es handelte sich um einen Drahtzaun, knapp zwei Meter hoch und, wie wir sehen konnten, in den Boden eingelassen. Vermutlich sollte er einige der wild lebenden Tiere abhalten. Für uns stellte er kein Hindernis dar - das Gatter war offen. An den Haltepfosten des Drahtzauns entdeckten wir kleine Ultraschallprojektoren, mit denen das Areal insektenfrei gehalten werden sollte. „Wo bleibt der Wächter?“ murmelte Maipo. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Zugang zu der Behausung unbewacht ist.“ Ich deutete wortlos auf einen Gegenstand, den ich in einem Baum entdeckt hatte. Eine kleine Kamera, und die Tatsache, daß sie sich bewegte und unserer Spur folgte, ließ nur den einen Schluß zu - wir waren bereits entdeckt worden. Dennoch gingen wir aufrecht weiter. Unwillkürlich fuhr ich mit der Hand in die Hosentasche. Der kleine Kodegeber war noch vorhanden. Im Notfall genügte ein Fingerdruck, um die Soldaten zu alarmieren. Das Haus kam in Sicht. Emerson Wood schien einen sehr eigenartigen Humor zu haben. Mein Blick fiel auf die Außenwand des Hauses, auf ein sehr sauber und deutlich ausgeführtes Mosaik. Was es darstellen sollte, konnten nur wenige Besucher wissen. Es war eine klar erkennbare Darstellung einer Zeitmaschine des Typs, den ich in der Station der time-squad gesehen hatte. Einen deutlicheren Beweis für Woods Tätigkeit konnte man sich kaum vorstellen. Oder verbarg sich dahinter eine Falle? Wollte uns Wood signalisieren, daß er mit einem Angriff der time-squad gerechnet hatte? Maipo und ich gingen um das Haus herum und suchten nach einem Eingang. Wir fanden ihn. Auf der Schwelle stand ein Mann, die Waffe in seiner Hand zielte auf mich. „Was schnüffeln Sie hier herum?“ fuhr der Wächter uns an. „Haben Sie Ihren Besuch überhaupt angemeldet?“ 48
„Polizei“, sagte ich kurz und hielt ihm meine Erkennungsmarke unter die Nase, dann zog ich den Haussuchungsbefehl aus der Tasche. Mißtrauisch prüfte der Mann die Dokumente. „Und der?“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Maipo. „Ein mehr zufälliger Begleiter. Führen Sie uns zu Emerson Wood, wir müssen mit ihm reden!“ Knurrend gab der Posten mir meine Papiere zurück, die Waffe behielt er allerdings in der Hand. Mit einer unwilligen Handbewegung forderte er uns zum Eintreten auf. Mit kurzen Kommandos gab er uns Anweisungen, wo wir zu gehen hatten. Woods Versteck war luxuriös und auch geschmackvoll eingerichtet. Den größten Teil der Gegenstände hätte ich selbst gern besessen, nur in einigen Fällen schien sich sein Geschmack entschieden geändert zu haben. Immerhin hatte er viele Jahre Zeit gehabt, den Charakter zu verändern, den ich kannte. Wir fanden Emerson Wood in seinem Arbeitszimmer. Er hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und las in der Morgenzeitung, ziemlich gelangweilt, wie es schien. In zwei Tagen würden die Schlagzeilen wesentlich interessanter werden, dann würde die Presse wahrscheinlich über seine Verhaftung berichten. „Sie sind Emerson Wood?“ fragte ich. Wood drehte sich zu mir herum. Maipo bewegte sich sehr langsam und unverdächtig so, daß er im Notfall mit einem Griff den Wächter entwaffnen konnte. Ich zog den üblichen Zettel aus der Tasche und verlas langsam die vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung. Natürlich wußte Wood, daß er sich mit einem Anwalt in Verbindung setzen durfte, daß alles, was er sagte, gegen ihn vor Gericht verwendet werden konnte... und so fort. Schließlich war er selbst einmal Polizeibeamter gewesen. Dennoch mußte ich die Erklärung vorlesen, die Dienstvorschrift befahl es. Wood hörte mir interessiert zu, er lächelte. „Sieh an“, sagte er, als ich fertig war. „Emerson Wood II!“ „Ich heiße jetzt Tovar Bistarc“, eröffnete ich ihm. „Sie wissen, warum Sie verhaftet werden?“ „Werden soll“, sagte Wood freundlich. „Sie glauben doch nicht, daß ich mich einfach von Ihnen abführen lasse? Was würden Sie zu einem kleinen Tausch sagen, einem Körpertausch?“ „Versuchen Sie es!“ forderte ich ihn auf und lächelte zurück, obwohl ich Angst hatte. Wenn er tatsächlich versuchte, seinen alten Körper wieder zu übernehmen, war ich in einer üblen Lage. Wie sollte ich diesen Vorgang einem Gericht glaubwürdig machen? Körpertausch war einstweilen nicht juristisch erfaßbar. Ich konnte nichts spüren, was auf einen Versuch Woods hingedeutet hätte. Was hatte dieser Mann vorbereitet, wieso war er nicht erschrocken, als er mich erkannt hatte? 49
„Ich will Ihnen etwas zeigen“, sagte Wood und ging langsam zu seinem Schreibtisch hinüber. Ich wollte ihn daran hindern und ging einen Schritt nach vorn. Fast gleichzeitig riß der Wächter seine Waffe hoch, und im gleichen Augenblick traf Maipos Handkante auf seinen Unterarm. Der Wächter schrie schmerzerfüllt auf, die Waffe polterte auf den Boden. Maipo stieß den Wächter zurück, nahm die Waffe an sich und richtete sie auf Wood. „Idiot“, sagte Wood. Ich konnte aus seinem Blick nicht ablesen, ob er damit den Wächter oder mich meinte. „Ich will nicht versuchen, eine Waffe zu ziehen“, erklärte ich. „Das würde die Arbeit für Sie wesentlich vereinfachen, nicht wahr?“ „Richtig geraten“, meinte Maipo grinsend. „Ich würde Sie in Notwehr erschießen, und die Justiz hätte nicht viel Arbeit mit Ihnen. Versuchen Sie es doch?“ „Ich kämpfe mit dem Kopf, nicht mit Waffen“, konterte Wood ruhig. Er betätigte eine Reihe von Schaltern. Eine Seitenwand des Raumes glitt geräuschlos in die Tiefe, dahinter tauchte eine stattliche Reihe von Monitoren auf. „Ich will Ihnen nicht zeigen, wie Sie mit Ihren Männern auf Hocitica gelandet sind, das wissen Sie bereits. Das hier aber dürfte Ihnen neu sein!“ Ein halbes Dutzend Bildschirme flammte gleichzeitig auf. Wood hatte recht, diese Bilder waren mir neu. Unsere Männer waren mit einem verzweifelten Abwehrkampf beschäftigt, sie mußten gegen eine mehr als doppelt so starke Leibgarde Woods antreten, und diese Männer hatten den Vorteil, daß sie das Gelände bestens kannten. Unser Stoßtrupp war an den Strand zurückgetrieben worden. Es hatte Verletzte gegeben, und es zeichnete sich der Augenblick ab, an dem weiterer Widerstand sinnlos wurde. Ich grinste Wood an, stemmte die Hände in die Hüften, eine Hand steckte ich in die Hosentasche. Rasch betätigte ich den Kodegeber. Den Soldaten befahl ich mit den Zeichen, keine Ausfälle zu unternehmen, den Widerstand gegen Woods Leibwache so lange fortzusetzen, wie es ihnen sinnvoll erschien - denn mit dem gleichen Befehl wurde das Hauptquartier der time-squad davon unterrichtet, daß wir uns in ernsthaften Schwierigkeiten befanden. Dieses Manöver hatte nur einen Haken - es würde Stunden dauern, bis Entsatz eintreffen konnte. Was Wood in dieser Zeit mit uns veranstalten würde, stand auf einem anderen Blatt. „Rufen Sie ihre Männer zurück“, befahl ich Wood. „Andernfalls... ,“ Ich schielte auf den Laser in Maipos Hand. Wood grinste unverschämt. „Meine Leute werden kaum auf einen solchen Erpressungsversuch reagieren“, sagte er kalt. „Ich weiß nur zu gut, daß Sie keinesfalls das Recht haben, mich zu erschießen, wenn ich Ihnen keinen Widerstand leiste. Eine hübsche juristische Zwickmühle, nicht wahr?“ Er hatte recht. Auf einen Mann, der uns nicht unmittelbar angriff, durfte ich selbstverständlich nicht schießen. Selbst wenn seine Männer auf seine Befehle 50
nicht reagierten, wie es vorauszusehen war, durfte ich gegen Wood selbst nicht vorgehen. Eine üble Lage. Maipo fluchte unterdrückt. Wood tat so, als wären wir überhaupt nicht vorhanden. Er aktivierte weitere Monitoren. „Der Luftraum ist leer“, murmelte er. „Also wird Ersatz für Ihre Truppen erst in einigen Stunden eintreffen. Das reicht.“ Ich sah nur noch eine Möglichkeit. Wir mußten Wood fesseln und uns mit ihm in seinem eigenen Haus verbarrikadieren. Wenn es uns gelang, seine Männer bis zum Eintreffen weiterer Truppen zu beschäftigen, hatten wir gewonnen. Ich ging auf Wood zu, Maipo folgte mir mit schußbereiter Waffe. Wood grinste, er hatte unsere Absicht erkannt. Er hielt uns beide Arme entgegen. Emerson Wood war nach meinen Informationen annähernd vierzig Jahre alt, aber er sah entschieden jünger aus. Er hatte etwas Fett angesetzt, aber ich hätte damit rechnen müssen, daß er diesen Körper ständig trainiert hatte. Sein Angriff traf uns völlig überraschend. Blitzschnell griff er nach dem Laser, den Maipo ihm unvorsichtigerweise entgegenstreckte. Ich versuchte zurückzuspringen, aber da prallte schon Maipos Körper gegen mich. Mit einem gekonnten Hüftwurf hatte Wood den Schwarzen ausgeschaltet, und da ich unter dem Aufprall des Körpers ebenfalls zu Boden ging, hatte er auch mich geschlagen. Als wir uns langsam erhoben, lag Maipos Waffe in Woods Hand. Er würde keine Hemmungen haben, die Waffe rücksichtslos gegen uns zu verwenden. „Parker!“ rief Wood laut. Wenig später tauchte sein Leibwächter auf. „Fessele die beiden, aber gib acht, vielleicht haben sie noch einige Waffen am Körper versteckt.“ Der bullige Leibwächter schien Erfahrung in solchen Aufgaben zu haben. Nicht ein einziges Mal geriet er in die Schußlinie, aber er fand alles, was wir am Körper trugen und notfalls als Waffe hätten verwenden können. Dann band er uns mit Plastikschnüren die Hände auf dem Rücken. Rücksichtsvoll war er nicht, die dünnen Schnüre schnitten ins; Fleisch, das Blut staute sich in den Händen. „Nimm Sie mit. Ich gehe voraus!“ Da wir wußten, daß Parker eine Waffe auf unsere Rücken gerichtet hatte, zögerten wir nicht und folgten Wood. Der Zeitverbrecher machte ein außerordentlich zufriedenes Gesicht. Um seine Leibgarde kümmerte er sich nicht. Mochten die Männer zusehen, was sie nach dem Eintreffen weiterer Truppen anstellten. Wood führte uns zu einem Antigravschacht, der im Boden verschwand. Er selbst sprang als erster hinab, dann folgten wir, „Paß auf, daß sie sich nicht die Schädel einschlagen“, rief Wood in die Höhe. Sein Befehl kam ziemlich spät. Da wir mit unseren gefesselten Händen nicht nach den Haltestangen greifen konnten, waren wir hilflos umhergewirbelt worden. Ich hatte unabsichtlich Maipo in die Magengrube getreten, zum Ausgleich war meine Stirn an der Wand des Schachtes entlanggestreift. Die eigentlich geringfügige Verletzung tat höllisch weh, und ich konnte spüren, wie Blut über meine Stirn lief. Dann fühlte ich den Zugriff von Parkers Hand. 51
Er stabilisierte meinen Fall, während sich Wood um Maipo kümmerte. Ich versuchte, die Tiefe zu schätzen, in der wir uns befanden. Ich tippte auf mehr als zweihundert Meter. Was hatte Wood so tief unter dem Erdboden verborgen? Wir schwebten an einigen Ausstiegen vorbei. Die Gänge, die in den Schacht mündeten, waren erleuchtet, bei einem Gang glaube ich im Vorbeischweben, Musik gehört zu haben. Wir landeten auf dem Boden des Schachtes. Von dort führte ein weiterer Gang nach meiner Schätzung auf den Strand zu. Nach einigen hundert Metern Marsch mußten wir anhalten. Eine Wand aus massivem Stahl hielt uns auf. Wood betätigte das Wärmeschloß und wartete einen Augenblick. Langsam schwang das Schott zur Seite. Eine Grotte nahm uns auf. Das Gewölbe war aus dem Stein herausgesprengt worden. Es gab eine Felsplatte, auf der man gehen konnte. Ich sah etliche Maschinen, deren Zweck ich nicht begriff, eine Zeitmaschine war allerdings nicht darunter. Dann entdeckte ich das glitzernde Wasser und das Tauchboot, das darauf schwamm. Wood hatte vorgesorgt. Vermutlich stand diese Grotte mit dem offenen Meer in Verbindung. Wood brauchte nur das Boot zu besteigen, die Grotte zu fluten und dann unbemerkt seinen Schlupfwinkel zu verlassen. Die Soldaten am Strand würden viel zu beschäftigt sein, um sein Verschwinden überhaupt zu bemerken. „Bring die beiden an Bord, Parker!“ bestimmte Wood. „Ich habe hier noch etwas zu tun!“ Er trat zu den Maschinen am Ufer. Ich konnte sehen, wie er auf seine Uhr blickte, kurz nachdachte und dann eine Schaltung vornahm. Ich wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, aber ich ahnte es. Es war schwierig, mit den gefesselten Händen in die Hosentasche zu kommen, aber ich schaffte es. Dann erst wurde mir klar, daß sich der Kodegeber in Woods Händen befand. Ich hatte keine Möglichkeit mehr, meine Freunde zu warnen. „Ich vermute, er will die ganze Insel in die Luft sprengen“, murmelte Maipo in mein Ohr. „Wenn ich ihn nur zu fassen bekommen könnte!“ Ich konnte die Wut meines Freundes verstehen. Uns blieb nur die Hoffnung, daß die Männer genügend Zeit hatten, sich mit Gleitern oder Booten rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. „Was wird er mit uns vorhaben?“ wollte Maipo wissen. „Er wird versuchen, alles aus mir herauszuholen, was ich über die time-squad weiß. Wie er das machen wird, kannst du dir vorstellen, und was er anschließend mit uns anfängt, liegt auf der Hand!“ Ich konnte hören, wie Maipo mit den Zähnen knirschte, er begann zu fluchen, als er Wood sah, der gerade das Tauchboot bestieg. Das Boot war knapp vierzig Meter lang und bot Platz für zwanzig Personen. Das Boot war tauchfähig bis zu einer Wassertiefe von fünfhundert Metern; angetrieben wurde es von Staustrahltriebwerken. Zusätzlich gab es Antigravanlagen und normale Gleitertriebwerke. Das Boot konnte nach 52
Belieben unter, auf und über dem Wasser fahren. Über uns schloß sich die Luke. Wood steuerte das Boot allein, Parker hatte lediglich die Aufgabe, uns zu bewachen. Maipo und ich hielten uns bei Wood in der Führerkapsel auf, wahrscheinlich wollte Wood uns sicherheitshalber in seiner Nähe haben. Ein Funksignal ließ die Schleusentore aufgleiten, Wasser strömte in die Grotte. Gleichzeitig saugten die Pumpen des Bootes Wasser an, damit das Boot seine relative Position beibehielt und nicht in die Höhe getragen wurde. Erst als das Wasser seinen höchsten Stand erreicht hatte, setzte Wood das Boot in Bewegung. Ich hörte das Summen der Maschinen. Vier Scheinwerfer flammten auf und erleuchteten den Tunnel im Fels, durch den wir langsam glitten. Es war ein faszinierendes Schauspiel, aber mit jedem Meter, den wir zurücklegten, wuchs meine Besorgnis. Das Errichten dieses unterirdischen Hafens, das Heraussprengen der Kaverne, des Tunnels - hier waren hervorragende Techniker am Werk gewesen. Natürlich hatte Wood genügend Geld, um diesen Aufwand zu bezahlen, aber was war aus den Männern und Frauen geworden, die diese Anlage geschaffen hatten? Wie hatte sich Wood ihres Schweigens versichert? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er sie getötet hatte. In unserer Zeit war es wohl kaum möglich, einige Dutzend hochqualifizierte Ingenieure einfach verschwinden zu lassen. Hatte es die time-squad am Ende gar nicht mit Wood allein zu tun, sondern vielmehr mit einer regelrechten Organisation, zu der Hunderte, vielleicht Tausende von Mitarbeitern und Helfern gehörten? Das Boot verließ den Tunnel und nahm Fahrt auf. Wir mochten einige Kilometer von der Küste entfernt sein, als Wood das Boot aufsteigen und wenden ließ. Das Meerwasser lief über die dicken Scheiben der Führerkapsel, dann tauchte die Insel vor uns auf. „Es wird noch ein paar Sekunden dauern“, murmelte Wood und sah mich herausfordernd an. Ich starrte mit angespannten Muskeln auf die Insel, vor allem auf den Spitzkegel des Vulkans, der als erloschen galt. Ich ahnte, welches Bild sich uns in wenigen Augenblicken bieten würde. Zuerst wurde die Rauchfahne sichtbar, dann der erste gewaltige Ausstoß von Schlacken. Ein Regen kleinerer und größerer Lavasteine ging auf die Insel nieder. Der Rauch wurde dichter und hüllte die Spitze des Vulkans ein. Ich konnte Bewegungen am Strand sehen, offenbar versuchten jetzt beide Parteien, sich vor dem Wüten des Vulkans in Sicherheit zu bringen. Parker setzte mir grinsend ein Fernglas an die Augen. Das Bild war leicht verschwommen, aber einigermaßen zu erkennen. Ich sah, wie unsere Freunde in die Gleiter und Boote sprangen, Verletzte mitschleppten, auch verwundete Leibwächter, die kurz zuvor noch auf sie geschossen hatten. Dann geriet Woods Haus in mein Blickfeld, es war bereits zur Hälfte zusammengestürzt. Ein dunkles Rot durchsetzte das Grau des 53
Rauches an der Spitze des Vulkans. Flüssiges Gestein begann die Hänge hinabzufließen. „Schluß jetzt“, bestimmte Wood und ließ die Maschinen anlaufen. „Wir müssen aufpassen, daß wir nicht in die Flutwelle geraten!“ Die Antigravprojektoren brummten stärker, dann heulten die Triebwerke auf. Langsam stieg das Boot in die Luft, nahm Fahrt auf. Wood ließ die Maschinen mit äußerster Kraft laufen, mit mehr als zweihundert Kilometern in der Stunde entfernten wir uns von Hocitica. Ich konnte nur hoffen, daß meine Kameraden eine ähnlich schnelle Flucht gelang. Bald war von der Insel nichts mehr zu sehen, nur eine riesige Rauchsäule, die langsam in die Höhe stieg und sich in den höheren Schichten der Atmosphäre auszubreiten begann. Das düstere Bild paßte zu meiner Stimmung. Die time-squad hatte eine böse Schlappe erlitten. Jetzt lag es bei Maipo und mir, daraus keine Katastrophe werden zu lassen.
7. Mit gleichbleibender Geschwindigkeit raste der Gleiter über das Wasser. Ein automatischer Pilot hielt es auf Kurs. Für den Notfall war Parker an den Kontrollen zurückgeblieben. Wood hatte also Zeit, sich um uns zu kümmern. Maipo war besinnungslos. Noch hatte Wood keine Apparate, mit denen er uns hätte foltern können. Daher hatte er auf seine Fäuste zurückgreifen müssen, in Maipos Fall hatte er zu hart zugeschlagen. Informationen hatten er keine erhalten. Maipo hatte eisern geschwiegen. Er hatte es sogar fertiggebracht, die Schmerzen zu unterdrücken, die Woods Treffer ausgelöst hatten. Statt dessen hatte er Wood verhöhnt, das hatte den Verbrecher so wütend gemacht, daß er Maipo bewußtlos geprügelt hatte. Jetzt war ich an der Reihe. „Willst du reden, oder muß ich dich zwingen?“ fragte Wood. „Gib dir keine Mühe, ich kenne meinen Charakter. Ich war immer ein sehr vorsichtiger Mensch, überflüssige Risiken bin ich nie eingegangen. Wenn du willst, kannst du mich sogar einen ausgemachten Feigling nennen.“ Daß er recht hatte, wagte ich nicht zu bezweifeln. Ich spürte, wie die Angst mich würgte. „Da du offenbar den größten Teil deiner Persönlichkeit meinen Erinnerungen verdankst, wirst du auch einen ähnlichen Charakter haben, Also rede!“ Wood wartete einige Sekunden, dann schlug er zu. Der Hieb traf mich in den Unterleib. Ich krümmte mich vor Schmerzen und stöhnte auf. Dieser Schurke kannte mich und sich sehr genau, viel zu genau. Nur eines hatte er übersehen, den Haß, der in mir aufstieg. Haß ist ein starkes Gefühl, es kann sogar die Angst überwinden. Ich sagte nichts, auch dann nicht, als ich vor Schmerz kaum mehr etwas sehen konnte, als mein ganzer Körper in Flammen zu stehen 54
schien. Als Wood von mir abließ, war ich kaum noch bei Besinnung. Aus weiter Ferne schien seine Stimme zu kommen: „Warum soll ich mich anstrengen? Ich werde dich zu Sprechen bringen, du kannst dich darauf verlassen. Es gibt andere Mittel!“ Noch einmal schlug er zu, dann verlor ich das Bewußtsein. * Als ich erwachte, hatte sich der Schmerz wieder gelegt. Dennoch fühlte ich mich benommen. Neben mir lag Maipo, auch er war bei Bewußtsein, und er hatte sogar sein unverschämtes Grinsen wiedergefunden. „Willkommen in der Wirklichkeit“, begrüßte er mich. „Hast du noch Schmerzen?“ Ich schüttelte den Kopf, aber das verzogene Gesicht, das ich dabei zeigte, bewies Maipo, daß ich noch nicht völlig in Ordnung war. „Wir sind wieder getaucht“, berichtete mir Maipo. „Aber ich habe keine Ahnung, wo wir uns derzeit befinden!“ „Wood wird es uns sagen“, murmelte ich. Während wir besinnungslos gewesen waren, hatte man offenbar unsere Fessel ein wenig gelockert. Das Blut staute sich nicht länger in den Händen, aber immer noch saßen die Schnüre so straff, daß an eine Befreiung nicht zu denken war. Ein leichter Ruck ging durch das Tauchboot. Offenbar hatte Wood sein Ziel erreicht. Ich war gespannt auf das, was uns erwartete. „Bist du sicher, daß wir nicht aufgetaucht sind?“ fragte ich leise. „Völlig sicher“, gab Maipo flüsternd zurück. „Ich kam zu mir, als Wood gerade ein Tauchmanöver einleitete. Seit dieser Zeit war ich ununterbrochen wach, ein Auftauchen hätte ich bemerkt!“ „Also wieder eine Station unter Wasser“, stellte ich fest. Langsam begann ich zu ahnen, daß wir keineswegs nur mit Wood allein zu tun hatten. Offenbar wurde in aller Heimlichkeit, aber mit um so größerem Aufwand, gegen die time-squad gearbeitet. Parker erschien und stellte uns auf die Beine. Mühsam kletterten wir die Sprossen der Leiter hoch, die in die Führerkapsel führte. Von Wood war nichts zu sehen, vielleicht hatte er das Boot bereits verlassen. Diese Station unterschied sich beträchtlich von der auf Hocitica. Während Parker uns führte, konnten wir genug sehen. Offenbar hatte sich Wood für ein Atoll entschieden, eine jener kleinen Inseln, die aus dem Meer gewachsen, deren Grundlage Korallenriffe waren, die langsam vom Meeresboden in die Höhe wuchsen. Sie erreichten dabei oft solche Dichte und Festigkeit, daß eine regelrechte Insel entstand, die nicht selten auch bewohnt wurden. Meist bildeten Atolle ein annähernd ringförmiges Gebilde von Inseln, die aus dem Wasser ragten, und Korallenriffen, die zwischen den Inseln lagen, aber nicht über den Meeresspiegel hinausragten. 55
Woods Station lag innerhalb des Atolls auf einem großen Korallenschiff. Wir konnten sehen, daß dies nicht nur ein einfaches Versteck war. Die Einrichtung zeigte, daß hier für einen längeren Aufenthalt von Menschen vorgesorgt worden war. Ein großer Teil der Außenwände war durchsichtig, wir konnten die Schwärme von Fischen sehen, die dieses Meer bevölkerten. Auf dem Weg in unsere Zellen wurden wir durch Wohnräume geführt, die alles enthielten, um freiwilligen Gästen ein angenehmes Leben zu gestatten. Sogar eine reich bestückte Bibliothek konnte ich entdecken. „Woods Unterwasserpalast“, murmelte Maipo. „Ziemlich beeindruckend.“ Parker stieß ihm die Waffe in den Rücken, um ihm so zu bedeuten, er solle den Mund halten. Der Leibwächter führte uns in eine Zelle, einen kleinen Raum, der nur zwei Betten und einen Tisch enthielt. „Geh zur Wand!“ befahl mir Parker. Ich stellte mich gegen die Mauern. Er richtete seine Waffe auf mich, gleichzeitig löste er mit der freien Rechten die Fesseln an Maipos Handgelenken. „Den Rest könnte ihr allein besorgen“, erklärte Parker und gab Maipo einen Stoß. Dann verließ er die Zelle, die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Maipo brauchte fünf Minuten, um sich seiner Fesseln zu entledigen, eine Minute später war auch ich frei und rieb mir die schmerzenden Handgelenke. Es tat weh, als das Blut nun wieder stärker durch die halb abgestorbenen Hände floß. „Das immerhin hätten wir erreicht“, murmelte Maipo. „Aber was kommt jetzt?“ Ich zuckte mit den Schultern. Auch ich wußte keine Antwort auf diese naheliegende Frage. * Unsere Uhren zeigten uns, daß wir fast fünfzig Stunden in unserer Zelle verbracht hatten. Viermal war Parker erschienen und hatte uns Essen gebracht. Ich hatte schon bessere Mahlzeiten verspeist, dennoch wurden wir angenehm überrascht. Wenn das, was man mit uns vorhatte, von ähnlicher Qualität war wie das Essen, konnten wir zufrieden sein. Wir fühlten uns frisch und munter, nur reichlich unsauber. Es gab keine Wachgelegenheit in der Zelle. Mit der Zellentür hatten wir uns nur kurz beschäftigt, es war uns ziemlich bald klargeworden, daß hier kein Durchkommen möglich war. Wir saßen auf den Betten und unterhielten uns leise, als die Zellentür geöffnet wurde. Parker erschien im Eingang und starrte uns mürrisch an. „Los, aufstehen. Du gehst dorthin!“ Angesichts der Waffe, die er auf uns richtete, blieb uns nichts anderes übrig, als seinem Befehl zu folgen. Wieder wurden wir gefesselt, aber diesmal ging Parker weder so brutal noch so sorgfältig vor wie früher. Es gelang mir, die Muskeln so anzuspannen, daß die Plastikschnüre einigermaßen locker saßen. Es würde zwar mühevoll werden, aber es konnte gelingen. 56
„Vorwärts!“ herrschte uns Parker an. Ich beschloß, mich für die Unfreundlichkeit zu einem passenden Zeitpunkt zu revanchieren. Wie Schlachttiere trieb Parker uns voran. Wir wurden in die Tiefe geführt. Als wir am Ziel angelangt waren, wußte ich, was Wood plante. Die Zeitmaschine stand in der Mitte des Raumes. Sie glich aufs Haar dem Modell, das ich von der time-squad kannte. Auffällig war allerdings, daß die Kontrollinstrumente im Raum standen. Offenbar wurde diese Maschine von nur einer Person bedient. Das ließ den Schluß zu, daß Woods Organisation offenbar nicht genügend Mitarbeiter besaß, um die Maschine mit dem gleichen Aufwand zu warten, den die time-squad betrieb. Wood stand vor den Pulten und bereitete die Schaltungen vor. Er grinste höhnisch, als er uns sah. „Meine Herren“, begann er mit der ihm eigenen spöttischen Freundlichkeit. „Sie werden bereits ahnen, was dies ist.“ „Eine Zeitmaschine“, sagte Maipo unbekümmert. „Richtig. Wir werden damit einen kleinen Ausflug machen, und wenn wir am Ziel angelangt sind, werden Sie bald einsehen, daß es nicht nur für Sie besser ist, wenn Sie Ihre Verstocktheit aufgeben!“ Das bedeutete, daß Wood noch weitere Stützpunkte besaß. Zu einem von ihnen wollte er uns schaffen, und ich war mir sicher, daß wir dort keine Möglichkeit mehr hatten, uns seinem Zugriff zu entziehen. Es galt zu handeln, und das schnell. Ich arbeitete an meinen Fesseln, langsam lockerten sie sich. Die ersten Schnüre hingen lose herab. Wenn Parker mich so sah... Der Leibwächter schien eine Zeitreise zum ersten Mal zu erleben, jedenfalls starrte er wie hypnotisiert zu Wood herüber, der rasch und geschickt die Programme in die Rechner eingab. „Ich werde als erster reisen, Parker. Sie werden anschließend die beiden Gefangenen nachschicken. Alles, was Sie zu tun haben, ist, diese Männer nacheinander auf die Platte zu legen. Dann drücken Sie diesen roten Startknopf, alles Weitere erledigt sich von selbst. Wenn die Gefangenen sich wehren, wenden Sie Gewalt an. Begriffen?“ Parker nickte eifrig. Ich zerrte an meinen Fesseln, Wood durfte uns nicht entkommen. Es gab Millionen von Verstecken auf der Erde, wo wir ihn nur mit Mühe finden konnten, aber wenn außer den drei räumlichen Dimensionen auch noch die zeitliche Dimension zu berücksichtigen war, wurde es fast unmöglich, ihn wiederzufinden. Wo und wann hätten wir suchen sollen? Wood grinste uns zum Abschied an, dann kletterte er auf den Tisch und streckte sich aus. Die folgenden Ereignisse liefen mit der Schnelligkeit eines zeitgerafften Filmes ab, so schnell, daß niemand die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse zu rekonstruieren vermochte. Ich bekam die Hände frei. Um Woods Körper baute sich das Zeitfeld auf. Ich schlug Parker auf die Waffenhand, rammte ihm meinen Ellenbogen in die Seite. Der Mann schrie auf, verlor die Waffe. Ich bückte mich danach, ein Fußtritt Parkers traf mich an der Brust, dennoch bekam ich die Waffe zu 57
fassen. Nach Luft ringend, kam ich wieder hoch. Maipo stürzte sich, obwohl gefesselt, auf Parker. Ich riß die Waffe hoch. Woods Körper auf dem Tisch begann sich aufzulösen. Ich feuerte, traf, feuerte erneut. Die Welt schien unterzugehen wollen. Ich hörte einen langgezogenen Schrei, dann ein dumpfes Stöhnen. Parker krümmte sich vor Schmerz. Woods Körper verschwand in einem Feuerball, der sich auf dem Tisch zusammenballte. Entladungen zuckten zwischen Tisch, Projektoren und den Instrumenten hin und her. Explosionen krachten, und aus den Geräten stieg fetter Qualm auf. Es wurde unerträglich heiß. Hustend kam Maipo auf mich zugerannt, drehte sich herum und hielt mir die gefesselten Hände entgegen. Ich beugte mich zu Parker herab, zog ihm das Messer aus dem Gürtel und durchschnitt Maipos Fesseln. „Weg von hier!“ schrie Maipo durch den immer dichter werdenden Qualm. „Der ganze Laden fliegt in die Luft.“ „Wir müssen Parker mitnehmen!“ schrie ich zurück. „Wir können ihn nicht einfach umkommen lassen!“ Ich packte den Laser am Lauf und unterdrückte einen Schmerzenslaut, als das Metall meine Hand versengte. Ich hieb Parker den Kolben auf den Kopf. Der Mann brach bewußtlos zusammen. „Faß an!“ Wir packten Parker an den Schultern, zerrten ihn vorwärts. Hinter uns verwandelte sich der Raum in ein Chaos aus Feuer, Energie und herumwirbelnden Metallsplittern. Wir rannten, so schnell dies unsere Last zuließ, weg von der explodierenden Maschine, deren Energieträger in kurzer Zeit die gesamte Station in Stücke reißen würde. In das Prasseln der Brände mischte sich das Gellen der Sirenen. Aus irgendwelchen Ecken kamen Wartungsrobots angestampft und warfen sich in die Schlacht gegen den Untergang der Station. „Wohin?“ schrie Maipo. „Zum Boot!“ gab ich in gleicher Lautstärke zurück. „Es ist unsere einzige Chance!“ Risse tauchten in den Wänden auf, auf dem Boden bildeten sich erste Pfützen. Offenbar drang das Meerwasser in die Station ein. Wenn größere Mengen des Wassers mit dem weißglühenden Maschinenpark zusammentrafen, würde der plötzlich entstehende Dampf die Station zerfetzen. Meine Lungen begannen zu schmerzen, meine Muskeln begannen sich zu verkrampfen. Lange würde ich diese Strapaze nicht durchstehen. Wir rannten planlos, keiner wußte genau, wo das Boot lag. Wir hatten Glück, riesiges, unverschämtes Glück. Plötzlich standen wir in der Schleusenkammer, sahen das Boot auf dem Wasser schaukeln. „Geschafft!“ murmelte Maipo. Wir ließen Parker auf den Boden fallen und rannten zu dem Boot hinüber. Die Einstiegsluke war offen. Während Maipo sofort den Führerstand besetzte und die Maschinen anlaufen ließ, rannte ich zurück, um Parker zu holen. Der Mann war noch immer ohne Bewußtsein. Ich 58
schleifte ihn über den rauhen Boden. „Beeile dich!“ schrie mir Maipo aus dem Innern des Bootes entgegen. Ich legte eine sekundenlange Pause ein. Mein Atem ging gehetzt, meine Brust senkte und hob sich, in krampfhaften Zügen versuchte ich, die schmerzenden Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Dann sah ich die Risse in der gläsernen Kuppel. In fingerdicken Strahlen schoß das Wasser in die Station, es war nur eine Frage von Sekunden, bis das Glas endgültig brechen würde. Ich warf Parker in die Luke. Es war besser, es brach sich dabei einige Knochen, als daß er hier ertrank. Ich hörte den Knall, mit dem das Glas barst. Instinktiv ließ ich mich fallen, schlug hart auf und blieb wie benommen liegen. Die Welt um mich herum tanzte, bewegte sich wie wahnsinnig auf und ab. Die hereinbrechenden Wassermassen hatten das Boot erfaßt und wirbelten es umher. „Die Luke!“ schrie Maipo. „Mach die Luke dicht!“ Wie betrunken kroch ich vorwärts. Wasser schlug mir entgegen und nahm mir die Sicht. Ich fühlte mehr als daß ich sah, wo ich mich befand. Meine Hände griffen nach Metall, zogen daran. Wieder kam Wasser über. Wie eine Sturzflut brach das Meer über mich herein. Mit letzter Kraft zerrte ich am Verschlußhebel. Das leise Zischen, mit dem sich die Hydraulik in Bewegung setzte, nahm ich nicht mehr wahr. Ich fiel zurück und schlug um mich. Ich versuchte, mich in die Höhe zu kämpfen, an die Luft zu kommen. Keuchend sog ich den Sauerstoff ein. Langsam klärte sich mein Blick. Immer noch bewegte sich das Boot heftig, aber es war dicht. Ich fühlte mich völlig zerschlagen, als ich zu Maipo in den Führerstand kroch. Über das Gesicht meines Freundes lief Blut, er hielt sich krampfhaft an seinen Instrumenten fest. Außer den Sichtscheiben war fast alles, was aus Glas bestanden hatte, geborsten. „Wir müssen warten“, stieß Maipo hervor. „Warten, bis das Wasser die ganze Schleuse gefüllt hat, dann können wir versuchen, durch die Lücke zu schlüpfen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit“, keuchte ich. „Der Reaktor für die Zeitmaschine kann in jeder Sekunde hochgehen. Dann bleibt von uns nicht mehr viel übrig.“ Maipo nickte kurz, dann ließ er die Maschinen mit aller Kraft laufen. Ich starrte mit jagendem Herzen auf das weißschäumende Wasser, das uns umströmte. Von der Öffnung, durch die dieses Wasser in die Station gedrungen war, war nur wenig zu erkennen. Aber durch eben diese Öffnung mußten wir die Station verlassen. Es gab niemanden mehr, der die normale Schleuse hätte bedienen können. Vielleicht existierte ein Kodegeber für diesen Zweck an Bord, aber wir hatten keine Zeit, danach zu suchen. Wahrscheinlich war die Elektronik der Schleuse ohnehin ausgefallen. Es gab einen heftigen Schlag, der das ganze Boot erschütterte. Hinter mir hörte ich einen dumpfen Schrei. Offenbar war Parker wieder zu sich gekommen und wurde jetzt von den hektischen Bewegungen des Bootes immer wieder umgeworfen. Ich ließ Maipo im Führerstand zurück und ging nach hinten. Schnell hatte ich Parker gefunden, und ich brauchte nicht lange, um ihn wieder 59
in das Reich der Träume zu schicken, diesmal mit meinen Narkonadler, den ich zufällig gefunden hatte. Ich ließ Parker liegen und ging zu Maipo zurück. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie das Boot förmlich aus dem Wasser sprang. Gischt wirbelte auf, als der schwere Metallkörper wieder auf das Wasser aufprallte. Ich sah die Risse über die Glasscheiben zucken und packte Maipo an der Schulter. Ich hätte ihn nicht zu ziehen brauchen, das plötzlich hereinschießende Wasser spülte uns zurück. Ich prallte auf hartes Metall, überschlug mich und hörte Maipos entsetzten Schrei. Ich handelte wie in Trance. Ich kam auf die Füße und kletterte den Turm hinauf. Wieder suchte ich nach dem Schlußhebel. Ich fand ihn rasch, das obere Luk schwang auf. „Vergiß Parker nicht“, rief ich hinunter. Ich sah Maipo, der bis an die Knie im Wasser stand. Er griff nach dem Körper des Mannes und stemmte ihn in die Höhe. Es war erstaunlich, welche Kräfte Maipo nach allen Anstrengungen noch entwickelte. Ächzend schaffte ich Parkers Körper nach draußen. Maipo folge sofort. Wir hatten nicht viel Zeit. Durch die zersprungenen Fenster floß Wasser in das Boot. Ich sah mich rasch um. Die Insel war etwa zwei Kilometer entfernt. Keine unüberwindliche Strecke für einen geübten Schwimmer, aber für uns würde es mörderisch werden. Wir waren am Ende unserer Kräfte, vor allem mußten wir einen Bewußtlosen mitschleppen, der erst in einigen Stunden wieder zu sich kommen würde. „Also los“, murmelte Maipo. „Bringen wir es hinter uns, so oder so!“ Wir ließen Parkers Körper ins Wasser gleiten, dann schwammen wir los. Das Wasser war angenehm warm, die Sonne strahlte auf uns herab. Zu anderen Zeiten hätte mir dieses Schwimmen Spaß gemacht, nicht aber unter den jetzigen Bedingungen. Wir schwammen auf dem Rücken, um Parker besser über Wasser halten zu können. Es gurgelte zu uns herüber, als das Tauchboot endgültig im Wasser versank. Wenig später stieg, einige hundert Meter von uns entfernt, eine Wassersäule schäumend in die Höhe. Der Reaktor der Station war explodiert, wenn auch nicht mit solcher Gewalt, wie ich angenommen hatte. „Wir müssen langsam schwimmen“, sagte Maipo leise. „Und ruhig, sonst gehen uns die Kräfte aus!“ Er sprach leise. Er war erschöpft, und ich war es auch. Mit weichen, gleichmäßigen Schlägen von Armen und Beinen bewegten wir uns auf die Insel zu. Hoffentlich war sie bewohnt, dann bestanden gute Aussichten, daß es dort ein Funkgerät gab, mit dem man Hilfe für uns herbeifunken konnte. * Die Insel war nicht bewohnt.
Als wir am Strand ankamen, waren wir so erschöpft, daß wir uns gerade noch
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einige Meter landeinwärts schleppen konnten, damit uns die Flut nicht im Schlaf überraschte. Ich hatte meinen Verstand noch soweit beieinander, daß ich dem bewußtlosen Parker noch zwei weitere Nadeln in den Leib schoß. Er würde mit Sicherheit erst einige Stunden nach uns aufwachen. Als wir erwachten, stand die Sonne hoch über dem Horizont. Ich gähnte ausgiebig, reckte die geschundenen Glieder. Ich suchte mit den Augen nach Maipo, aber ich fand ihn nicht. Nur Parker lag auf dem feinen weißkörnigen Sand und schnarchte vernehmlich. Ich hatte Hunger und vor allem Durst. Mühsam rappelte ich mich auf. Ich sah die Spuren, die Maipos Füße hinterlassen hatten, und ich folgte dieser Spur. Ich fand ihn an einer kleinen Süßwasserquelle. Er trank wie ein Verdursteter, ich konnte es ihm nachfühlen. Als wir unseren Durst gelöscht hatten, begrüßten wir uns ausgiebig. Maipo zeigte eine prächtige Stimmung. Er hatte inzwischen auch einige eßbare Früchte zusammengetragen, an denen wir unseren wühlenden Hunger stillten. „Wir haben übrigens etwas vergessen“, sagte Maipo fröhlich, als wir, mit Früchten und Kokosnüssen beladen, zum Strand zurückkehrten. „Ich wüßte nicht, was“, gab ich zurück. „Haie!“ Ich wurde nachträglich noch blaß. „Dieses Seegebiet wimmelt von ihnen“, sagte Maipo. „Du kannst dich davon überzeugen.“ Er deutete auf die Wasserfläche. Ich zählte mindestens ein Dutzend der typischen Dreieckflossen. „Laß Sie nur, sie erfüllen eine wichtige ökologische Aufgabe“, sagte Maipo, der sah, wie ich zum Gürtel griff, um den Haien ein paar Narkonadeln hinüberzuschicken. „Was fangen wir nun an? Ein paar Monate werden wir uns hier halten können, aber überwintern möchte ich hier nicht. Schon gar nicht in solcher Gesellschaft!“ Er deutete auf Parker. Der Schläfer hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt. Maipo hatte recht. Wo blieben die Eingeborenen, vor allem die Mädchen? Offenbar hatte man hier noch nie etwas davon gehört, wie anständige Südseebewohner schiffbrüchige Weiße zu begrüßen hatten. „Die halbe Südsee ist Reservatgebiet“, klärte mich Maipo auf. „Man ist - nach sehr langer Zeit - endlich zu der Einsicht gekommen, diese Menschen so leben zu lassen, wie es ihnen gefällt. Hier haben Europäer oder Amerikaner nichts zu suchen. Wenn man uns findet, dann nur durch Zufall!“ Was das hieß, wußte ich nur zu genau. Es gab unzählige Inseln und Atolle im Pazifik. Bis man uns zufällig fand, konnten Jahre vergehen. Vielleicht gehörte unser Atoll zu der heimtückischen Sorte, die alle fünf oder zehn Jahre von Orkanen ersäuft wurden und daher nicht besiedelt waren. Niedergeschlagen hockte ich mich ans Ufer und sah den Wellen zu. Mit einem Nadler als Werkzeug konnte man kein Boot bauen, und für weitere Schwimmübungen fehlte mir angesichts der Haie jegliche Lust. 61
Den Gleiter sah ich erst, als er fast zum Greifen nahe war. Noch erstaunlicher als das Auftauchen des Fahrzeugs war das Emblem an der Seitenwand. Die time-squad kam, um uns abzuholen. * „Eines möchte ich wissen, Chef. Wie haben Sie uns gefunden? Nicht, daß wir Ihnen deswegen böse wären, aber ich wüßte gern, wie Sie dazu kamen, so zielsicher ausgerechnet diese unscheinbare Insel anzufliegen?“ Slayter machte ein verlegenes Gesicht. „Wissen Sie, es gibt da kleine und größere Raumflugkörper, die man für wissenschaftliche Untersuchungen verwendet. Es gibt auch solche, die mehr... interessehalber... gestartet werden. Sie verstehen?“ Ich verstand. Irgendeiner der Hunderte von Spionagesatelliten hatte zufällig die Explosion von Woods Unterschlupf aufgenommen. Slayter hatte von den Männern, die sich gerade noch rechtzeitig ohne Verluste von Hocitica hatten absetzen können, erfahren, daß Wood offenbar mit einem flugtüchtigen Tauchboot verschwunden war. Der Rest war eine simple Kombinationsaufgabe. „Was ist mit Wood, Tovar?“ „Er ist tot“, erklärte ich. „Ich hörte seinen Schrei, als ich auf ihn schoß. Dieser Schuß führte letztlich zur Zerstörung der Station. Wenn Wood zu diesem Zeitpunkt noch nicht tot war, dann wird ihn die defekte Zeitmaschine in einzelne Teile durch die Zeit zertreut haben.“ „Das kann ich bestätigen!“ Seinen militärischen Vorgesetzten hätte er niemals ein solches Grinsen zu zeigen gewagt, aber inzwischen gehörte Maipo zur time-squad. Er hatte von sich aus eine Bewerbung aufgesetzt, und Slayter hatte sofort zugegriffen. Mitarbeiter von Maipos Qualität fanden sich nicht alle Tage. „Damit hat die Affäre Wood erst einmal ein Ende gefunden“, stellte Slayter fest. „Angesichts der Schwierigkeiten, die Sie hatten, bewillige ich Ihnen Urlaub!“ „Wie lange?“ „Unbegrenzt“, beantwortete er Maipos Frage. „Das heißt, wenn ich Sie nicht zu einem früheren Zeitpunkt dringend brauchen sollte.“ Ich wußte, was das hieß. „Bis morgen also, Chef!“
ENDE
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