Die Zombie-Invasion von Frederic Collins
Bis zuletzt wehrte sich George Poppard gegen das Grauen. Dann gab er sich sel...
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Die Zombie-Invasion von Frederic Collins
Bis zuletzt wehrte sich George Poppard gegen das Grauen. Dann gab er sich selbst auf. Nichts und niemand konnte ihm mehr helfen. Er verwandelte sich langsam in ein Schuppenmonster! Entsetzt starrte er an sich hinunter. Es gab keinen Zweifel. Er schrieb noch einen Brief an seine Freundin Ann, dann einen Brief an seine Mutter. Beide bat er, nicht allzu traurig zu sein, wenn sie ihn nicht wiedersahen. Er verschwieg, wie sein Ende aussah. Das wollte er ihnen ersparen. Dann machte er sich auf den Weg zum Großmeister. Es war sein letzter Weg …
George Poppard suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, von London nach Brighton an der englischen Südküste zu gelangen. Er mußte es schaffen! Wenn er nicht den neuen Großmeister des weißmagischen Ordens in Brighton warnte, ging der ganze Orden einer tödlichen Gefahr entgegen. George Poppard war jung und kräftig. Er war ein hervorragender Sportler, studierte Sport und ließ keine Gelegenheit zum Training verstreichen. Doch jetzt hatte der schwarzmagische Bann die Saat des Verderbens in seinen Körper gelegt. Alle weißmagischen Gegenmittel wirkten nicht. Selbstverständlich hatte George Poppard von Anfang an versucht, gegen das schleichende Gift der Schwarzen Magie in sich anzukämpfen. Dadurch hatte er viel Kraft verloren und wertvolle Zeit vergeudet. Vielleicht hätte er noch gerettet werden können, wäre er sofort zu seinem Großmeister aufgebrochen. Jetzt konnte er Peter Winslow jedoch nicht einmal mehr telefonisch um Hilfe bitten. Die Stimme versagte ihm. Er brachte nur noch heiseres Fauchen und Röcheln zustande. Er konnte auch nicht mehr schreiben. Seine teilweise zu Klauen umgewandelten Finger konnten keinen Stift halten. Deshalb vermochte er auch nicht, andere Personen schriftlich um Hilfe zu bitten. Autofahren fiel aus. Er selbst konnte keinen Wagen steuern, und ein Taxifahrer wäre beim Anblick seiner Veränderungen geflohen. Der Zug war eine Möglichkeit, doch George Poppard scheute vor den Stufen der Wagen zurück. Er erinnerte sich an den Bus, der zur Südküste fuhr. Er war Georges letzte Hoffnung. Bevor er seine Wohnung verließ, vermummte er sich, so gut es ging. Es war Mitte Mai, nicht besonders warm und regnerisch. Daher fiel es nicht auf, daß er sich eine Mütze tief ins Gesicht schob und einen Schal vor sein Gesicht schlang. Es war Samstag Abends. Soho belebte sich mit Leuten, die nichts
als leichte Unterhaltung und seichte Entspannung suchten. Niemand ahnte, wer da in leichten Schlangenlinien durch die engen Gassen von Soho eilte. Die meisten Leute hielten George Poppard für einen gewöhnlichen Betrunkenen. So erging es auch dem Busfahrer, in dessen Wagen sich George mit letzter Kraft zog. Ahnungslos nahm der Fahrer das Geld entgegen und mußte dem Fahrgast den Fahrschein in die Jackentasche schieben, weil der Mann das kleine Ticket nicht halten konnte. George verkroch sich im wahrsten Sinn des Wortes auf die letzte Sitzbank. Er konnte kaum noch aufrecht gehen. Sie machen einen Dämon aus mir, dachte er bitter. Sie machen mich zu einem jener Schuppenungeheuer, die ich bekämpfen wollte! Noch überwogen die positiven Kräfte in ihm. Sechsundzwanzig Jahre lang war das so gewesen. Sechsundzwanzig Jahre, die George Poppards Leben zählte, das nun zu Ende ging. Der Bus rollte über dunkle Landstraßen, hielt gelegentlich, ließ Leute zusteigen. Kurz vor Brighton schrillte die Notklingel vorne beim Fahrer. Der Mann rammte den Fuß auf die Bremse. Die hintere Falltür flog krachend auf, aber der Fahrer und die Passagiere sahen niemanden aussteigen. Erst bei genauerem Hinsehen merkte der Fahrer, daß der vermeintlich Betrunkene fehlte. »Der muß auf allen Vieren hinausgekrochen sein«, sagte der Fahrer. »Wann geht es denn weiter?« rief eine hagere Frau mit randloser Brille gereizt. »Ich will nicht eines Betrunkenen wegen so viel Zeit verlieren!« »Ich kann den Mann nicht hilflos da draußen liegen lassen«, wandte der Fahrer ein. Er stieg aus und sah sich am Straßenrand um. Der seltsame Fahrgast war verschwunden. Achselzuckend stieg der Fahrer wieder ein. Der Bus rollte an.
Mitten auf der Straße kam unter dem abfahrenden Wagen eine flach auf den Asphalt gepreßte Gestalt zum Vorschein. Das rote Licht der Heckleuchten fiel auf George Poppard. Er hob den Kopf, der nur noch wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte. Aus seinem Mund drang ein gefährliches Zischen. George Poppard hatte sich auch innerlich stark verwandelt. Ein dämonischer Geist versuchte, von ihm Besitz zu ergreifen. Noch reichten seine Kräfte, um sein ursprüngliches Ziel zu verfolgen. Er mußte den Großmeister warnen. Auf allen Vieren hetzte George Poppard davon. Sein Ziel hieß Sagon Manor.
* Sagon Manor war mehr als ein altenglisches Herrenhaus. Äußerlich schien es nur ein prächtiges Gebäude mit Türmen und Zinnen, Erkern und Balkonen zu sein. Eingeweihte wußten, daß hier der Großmeister des Ordens der Weißmagier seinen Sitz hatte. Peter Winslow war zu seinem zwanzigsten Geburtstag neuer Großmeister geworden. Sein Vater hatte ihm diese Würde abgetreten, die mehr eine Bürde war. Butler Harvey betrat das Kaminzimmer und betrachtete sekundenlang Lord Winslow, dessen Sohn und Tochter. Der Lord wirkte wie ein müder, alter Mann, obwohl er erst achtundfünfzig war. Dreißig Jahre im Dienst des Ordens hatten ihn ausgelaugt und verbraucht. Anders der junge Peter Winslow. Blond, blauäugig, sportlich. Wie er da in einem der alten Ledersessel halb lag, Jeans, weiße Tennisschuhe, schwarzes T-Shirt, hätte man ihn für einen Schüler oder Studenten gehalten, nicht aber für den Großmeister. »Ja, Harvey?« fragte seine ältere Schwester Alicia den Butler. »Verzeihung, ich wollte nur fragen, ob ich abschließen darf«, er-
kundigte sich der Butler in seiner steifen, altmodischen Art. »Dad?« Alicia Winslow wandte sich an ihren Vater. Lord Winslow zuckte leicht zusammen. Vor neunzehn Jahren hatten ihm Schwarzmagier seine Frau entrissen und getötet. Vor kurzer Zeit erst hatte er seine zweite Tochter an die Schwarzmagier verloren, und niemand wußte, was aus ihr geworden war. Seither war der Lord mit seinen Gedanken oft sehr weit weg. »Was ist, Alicia?« fragte Lord Winslow verwirrt. »Harvey möchte abschließen«, wiederholte Alicia. In ihren schwarzen, temperamentvollen Augen glomm Mitleid. »Ja, ja«, murmelte der Lord. »Vielen Dank!« Harvey wollte sich mit einer Verbeugung zurückziehen, als Peter Winslow das Buch entglitt. Es fiel mit einem lauten Knall auf den Boden. Alle im Raum schraken zusammen. »Hat jemand nach mir gefragt, Harvey?« Peters blaue Augen richteten sich groß und fragend auf den Butler. »Nein, Sir«, versicherte Harvey. »Ich hätte es sofort gemeldet! Sie können sich auf mich verlassen.« »Jemand will zu mir.« Peter Winslows Augen wurden starr, als blickten sie in eine andere Welt. »Harvey, Sie dürfen nicht abschließen. Er könnte mich nicht erreichen.« In den alten Lord kam Leben. Er richtete sich auf und beugte sich gespannt zu seinem Sohn. »Wer will zu dir, Peter?« fragte er eindringlich. »Hast du eine Vision?« Doch Peter schüttelte nur den Kopf. »Schließen Sie ab, Harvey«, entschied Alicia, als sie merkte, daß weder Vater noch Bruder in der Lage waren, eine Entscheidung zu fällen. »Wenn wirklich jemand zu Peter möchte, dann wird er klingeln.« »Sehr wohl, Miß!« Harvey zog sich zurück. Der durchdringende,
leere Blick der blauen Augen des Großmeisters verwirrte ihn jedoch so, daß er die Verbeugung vergaß, ein Formfehler, den er sich selbst nur schwer verzeihen konnte. Er schloß die Eingänge von Sagon Manor sorgfältig wie immer. Als er den Küchenausgang kontrollierte, tauchte neben ihm Mrs. Applegast auf, ebensogute wie tatkräftige und füllige Köchin von Sagon Manor. »Was ist?« fragte sie energisch. »Was ist geschehen?« »Nichts, Mrs. Applegast, machen Sie sich keine Sorgen«, erwiderte der Butler. Mißtrauisch beobachtete die Köchin, wie er besonders gewissenhaft die Riegel kontrollierte. Sie verzichtete auf weitere Fragen. Wenn Harvey nicht sprechen wollte, sagte er auch nichts. Inzwischen stand Lord Winslow auf. Er warf einen letzten Blick auf das heruntergebrannte Kaminfeuer. »Es wird Zeit zum Schlafengehen«, sagte er. »Kommt ihr?« Alicia schloß sich ihm an. Peter schüttelte den Kopf. »Ich warte hier«, entschied er. »Du hörst auch oben in deinen Räumen die Klingel«, wandte sein Vater ein, doch Peter beachtete ihn gar nicht mehr. Sein abwesender Blick glitt durch die kleinen Scheiben des Sprossenfensters in den nächtlichen Park von Sagon Manor. Alicia nahm ihren widerstrebenden Vater am Arm und führte ihn hinaus. Sie wußte, daß sie ihren Bruder nicht umstimmen konnte. Nach zwanzig Minuten betrat sie noch einmal auf Zehenspitzen das Kaminzimmer. Peter war nicht allein. Butler Harvey breitete soeben über seinen jungen Herrn eine Decke. Peter war in dem Sessel eingeschlafen. Alicia nickte dem Butler dankbar zu. Beunruhigt kehrte sie in ihre Räume im ersten Stock zurück. Wenn Peter etwas vorhersagte, traf es auch ein. Der Großmeister verfügte über besondere Kräfte, die gewöhnlichen Menschen verschlossen blieben.
In dieser Nacht kam die junge Frau nicht zum Schlafen. So oft sie zu dösen begann, schrak sie wieder hoch. Sie wartete auf das Schrillen der Klingel in der Halle. Es blieb aus. Und sie dachte voll Unbehagen an die bösen Kräfte, die auf Sichtweite lauerten. Das Böse hatte einen Namen. Mortland. Mortland war das zerstörte Gut ihrer Mutter. Es lag gleich neben Sagon Manor wie ein Symbol dafür, wie dicht Gut und Böse beieinander liegen können. Auf Sagon Manor herrschte in dieser Nacht allgemeine Unruhe. Niemand fand wirklich Erholung. Nur der Großmeister, der junge Peter Winslow, lag in tiefem Schlaf. Sein Geist jedoch forschte ruhelos nach dem Hilfesuchenden, ohne ihn zu finden. Die Mächte des Bösen hatten großes Interesse daran, daß kein Kontakt zustande kam. In dieser Nacht siegten sie.
* Es war George Poppards einzige Chance gewesen, den Bus anzuhalten und zu fliehen. Noch einige Minuten länger in der Nähe der ahnungslosen Menschen hätten zu einer Katastrophe geführt. Während er sich wie ein Krokodil flach auf den Boden gepreßt über die Dünen schob, konzentrierte er sich auf zwei Dinge. Auf der Sagon Manor und darauf, noch einige Zeit ein Mensch zu bleiben. Er fühlte die Mächte, die an ihm zerrten und ihn endgültig in das Lager der Dämonen holen wollten. Mit letzter Kraft leistete er ihnen Widerstand.
Sie wollten ihn von Sagon Manor fernhalten, damit er den Großmeister nicht warnen konnte. Jeder Schritt wurde für George Poppard zur Qual, als müsse er sich eine Steilwand hinaufkämpfen. Dabei schob er sich nur über eine sanft ansteigende Wiese zur Kuppe hinauf. Er erreichte völlig erschöpft den höchsten Punkt und hielt an, um sich zu orientieren. Er war noch nie auf Sagon Manor gewesen, doch wie jedes Mitglied des lose zusammengefügten Ordens der Weißmagier wußte er, wo der Großmeister lebte. Und plötzlich geschah das Unglaubliche … Der Druck der Schwarzen Magie schwand. George Poppard stand mit einem tiefen Seufzen auf, ohne zu schwanken. Schon schöpfte er neue Hoffnung, als sein Blick auf seine Hände fiel. Mit einem heiseren Schrei torkelte George Poppard zurück. Der abnehmende Mond lieferte genügend Licht, daß George die schwarzen Schuppen erkannte, die seine Hände bedeckten! Ein trockenes Schluchzen stieg aus seiner Brust. Es war etwas anderes, ob ihm sein Verstand das Ende ankündigte, oder ob er es mit eigenen Augen sah! Er hatte gewußt, in welcher Gestalt er enden würde. Aber jetzt war die Verwandlung schon so weit fortgeschritten, daß er sie nicht mehr übersehen konnte. In blindem Entsetzen lief er davon, den Hügel hinunter und den nächsten hinauf, taumelte in einen Taleinschnitt und erreichte eine Asphaltstraße, die sich schmal und gewunden zwischen den Dünen entlangzog. George Poppard rannte wie von allen Dämonen genetzt, bis sein Verstand Alarm schlug. Die Schwarzmagier trieben ihn an, sie nutzten sein Entsetzen aus! Er lief ihnen genau in die Falle! George blieb stehen. Seine Brust hob und senkte sich unter tiefen
Atemzügen. Gierig sog er die kühle Nachtluft ein. Irgendwo hinter den Dünen brach sich donnernd das Meer am Strand. In der Gegend mußte es auch Klippen geben. Wenn er sich nicht vorsah, stürzte er zu Tode! Licht stach in seine Augen. Es schmerzte so sehr, daß er die Hände vor das Gesicht riß. Autoscheinwerfer näherten sich, schwenkten zur Seite, richteten sich wieder auf George Poppard. Dieser folgte dem ersten Impuls und floh, bis er ein dichtes Gebüsch neben einer Ausweiche erreichte. Mit einem Satz warf er sich in Deckung. Der Wagen wurde langsamer, schwenkte in die Ausweiche und hielt. Der Motor erstarb. Tiefe Stille trat ein. Die sich abkühlende Maschine knackte. Von Ferne erklang wieder das Rauschen der Brecher. Der Wind strich flüsternd über das harte Dünengras. George atmete mit weit geöffnetem Mund, um sich nicht zu verraten. Wer saß in diesem Auto? Waren es Leute von Sagon Manor, die ahnten, daß er kam? Wollten sie ihm helfen? Er hörte leises Kichern, sah das Aufflammen eines Feuerzeuges. Zwei rote Lichtpunkte kamen aus der Flamme. Sie erlosch. Die Lichtpunkte teilten sich. Die beiden Insassen rauchten nichtsahnend. Sie unterhielten sich. George robbte näher heran und erkannte einen jungen Mann und ein junges Mädchen. Er sagte etwas, worauf sie drohend die Hand hob. »Stell dich nicht so an, deshalb bist du mit mir doch hierher gefahren«, sagte er lachend, aber mit Unsicherheit in der jugendlich hellen Stimme. »Trotzdem«, murrte das Mädchen. »Du kannst es nett versuchen, aber so einfach nur sagen, was du willst, mag ich nicht.
Verstanden?« Er warf seine Zigarette aus dem offenen Wagenfenster. »Schon gut, tut mir leid«, sagte er sanft. »Du weißt, daß ich dich wahnsinnig gern mag!« »Klingt schon besser!« Jetzt war auch ihre Stimme unsicher. »Ich will mit dir allein sein. Nur … sind wir auch allein? Ich weiß nicht, ich habe das seltsame Gefühl, daß jemand in unserer Nähe ist.« »Unsinn«, meinte der Junge lachend. »Hier draußen? Da ist es so einsam, daß sich nicht einmal die Füchse gute Nacht sagen! Keine Angst! Ich bin bei dir!« In diesem Moment fühlte George Poppard ein grauenhaftes Verlangen in sich. Schwarzmagier gaben es ihm ein! Sie waren nicht hier, zumindest nicht in unmittelbarer Nähe. Doch seit sie ihn mit dem tödlichen Bann belegt hatten, konnten sie ihn lenken. Und jetzt befahlen sie ihm, dieses junge Pärchen zu töten. Dieser Doppelmord sollte seine Probe sein und ihm endgültig den Weg in das Lager der Dämonen ermöglichen! George preßte die Zähne zusammen, daß es knirschte, und grub die schuppenbedeckten Finger in den Boden. Er wollte weglaufen. Es ging nicht. Zitternd blieb er liegen. »Da, ich habe deutlich ein Knurren gehört!« rief das Mädchen im Wagen. »Du bildest dir etwas ein«, antwortete der Junge. »Oder du willst mich hinhalten! Ich …« George röchelte. Seine Kraft reichte nicht aus. Er schob sich ein Stück vorwärts und glitt lautlos hinter den Wagen. »Da war es wieder!« rief das Mädchen. Der Junge antwortete diesmal nicht. Er hatte auch etwas gehört. Atemlos lauschten die beiden. Als sich jedoch nichts rührte, vergaßen sie wieder ihre Ängste. Eine gewaltige schwarzmagische Kraft trieb George Poppard an.
Er schob sich neben dem Wagen vorwärts, auf der Seite des Mädchens, bis unter das offene Fenster. Seine Finger krümmten sich. Noch einmal schrak er zusammen, als er die langen Krallen entdeckte, die aus seinen Fingern gewachsen waren. Der Mordbefehl peitschte auf ihn nieder. Er spannte sich. Ein Sprung würde genügen … die Tür aufreißen … erst das Mädchen, dann der Junge … beide waren chancenlos … jeden Moment würden die bösen Kräfte überwiegen … Die beiden waren ahnungslos. Sie dachten nicht mehr an die seltsamen Geräusche, die sie eben noch erschreckt hatten. Der Mond schien heller und färbte sich purpurrot, obwohl er hoch am Himmel stand. Von seinen Strahlen ging eine unwiderstehliche Kraft auf George Poppard nieder. Das Wesen, halb Mensch, halb Dämon, richtete sich auf. Viel zu lange Arme stützten den von dichten schwarzen Schuppen bedeckten Oberkörper auf dem Boden ab. Der Kopf schob sich vor. Hinter den spröde gewordenen Lippen blitzten lange, nadelspitze Zähne. Die Hand näherte sich dem Türgriff. In diesen Sekunden verlor Poppard völlig die Kontrolle über sich selbst. Er konnte sich nicht mehr gegen die Einflüsterungen der Schwarzmagier stemmen. Im letzten Moment erkannte er, daß er mit diesen Pranken die Tür nicht mehr öffnen konnte. Seine Klauen zielten daher gegen den Kopf des Mädchens. Er nahm Maß, um sein Opfer mit einem Griff zu packen … Die Welle der beruhigenden, besänftigenden, friedvollen Einflüsse überschwemmte George Poppard wie eine warme Woge, hüllte ihn ein und schirmte ihn ab. Die Schwarzmagier kamen nicht mehr an ihn heran. Stöhnend ließ er sich zu Boden sinken. Das ganze Ausmaß des Grauens wurde ihm bewußt. Messerscharf begriff er, was er beinahe getan hätte.
Der neue Einfluß half ihm, zurückzuweichen und zu fliehen. Mit zwei langen Sätzen war er wieder hinter dem Wagen, so daß ihn die beiden jungen Leute in dem Auto gar nicht bemerkten. Er rannte in weiten Sprüngen quer über die Dünen davon, der Quelle des Guten entgegen. Nun fühlte er deutlich, woher diese rettenden Wellen kamen. Sagon Manor, sein Ziel, sandte sie aus. Doch es gab noch eine zweite Quelle, und von dort kamen Befehle zur Umkehr und zum Morden. Diese Quelle lag dicht bei Sagon Manor. George Poppard hatte keine Erklärung dafür. Sie war für ihn auch nicht wichtig. Er mußte nach Sagon Manor, und er sah seinen Weg nun deutlich vor sich. Mit den unbeholfenen Sprüngen des umgewandelten Menschen näherte er sich einer Weggabelung. Er wählte den Weg nach Sagon Manor und ließ schaudernd die Abzweigung hinter sich. Endlich kam er an die Grenze von Sagon Manor. Auf der Straße vor ihm war kein Hindernis zu sehen, und doch prallte er plötzlich gegen einen unüberwindlichen Widerstand. Er wurde zurückgeschleudert und sackte mitten auf der Straße in sich zusammen. Erst nach langer Zeit fand er die Kraft, neben der Straße einen Zugang zu suchen. Der Sitz des Großmeisters war jedoch hermetisch abgesichert. Diese unsichtbare Barriere wirkte nach allen Seiten und hielt alles ab, was eine schwarzmagische Ausstrahlung besaß. Mit einem letzten Funken Kraft schleppte sich George Poppard zur Straße zurück. Er fühlte, daß er verloren hatte. Das Wesen, das einst George Poppard gewesen war, blieb reglos auf der Straße liegen. Es gab kein Lebenszeichen mehr von sich.
*
Der junge Großmeister von Sagon Manor blinzelte verstört und griff sich stöhnend an die Stirn. Er war schweißgebadet und fror zur gleichen Zeit. Um seine Beine hing eine Wolldecke. Sie rutschte zu Boden. Das Feuer im Kamin war ausgegangen. Stöhnend stemmte sich Peter Winslow aus dem Sessel und streckte sich. Alle Knochen taten ihm von der unbequemen Nacht weh. Er trat wankend an das Fenster, stützte sich ab und blickte starr in den Park hinaus. In seinem Kopf dröhnte es. Wirre Bilder seiner Träume mischten sich mit den Nebelschwaden, die zwischen den Bäumen des Parks dahinzogen. Sah er wirklich dort draußen abstoßende Satansfratzen mit schuppenbedeckten Gesichtern? Griffen aus dem bleichen, grauen Morgen Krallen nach ihm? Peter faßte sich an die Stirn. Was war mit ihm los? Er erinnerte sich deutlich, daß er auf einen Besucher gewartet hatte, der offenbar nicht gekommen war. Danach versank alles in einem Brei aus Alptraum und Kopfschmerzen, Bruchstücken und Visionen. »Haben Sie einen Wunsch, Sir?« erklang hinter ihm die Stimme des Butlers. »Ich wage nicht, Sir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen. Ich befürchte, daß Ihr Morgen angesichts der unbequemen Ruhestatt nicht gut ist.« Peter Winslow verzog sein Gesicht zu einem schmerzlichen Grinsen. Wenn er lachte, wirkte er noch jünger als sonst. »Sie scheinen unter die Hellseher gegangen zu sein, Harvey«, sagte er heiser und räusperte sich. »Sie haben nicht zufällig eine große Kanne mit umwerfend starkem Kaffee bei sich?« Es sollte ein Scherz sein. Harvey, grauhaarig, gestreifte Jacke, schwarze Hose mit tadellosen Bügelfalten, verneigte sich, trat für einen Moment auf den Korridor und rollte einen kleinen Servierwagen herein. Darauf stand eine Tasse, daneben eine Kanne auf einem
Stövchen. »Ich dachte mir, Sir, daß Sie Kaffee benötigen würden«, bemerkte Harvey und schenkte ein. »Ein Stück Zucker?« Peter antwortete nicht. Sein Gesicht nahm wieder einen abwesenden Ausdruck an. Seine Augen blickten ins Leere, als er die Tasse entgegennahm. »Ich empfehle Vorsicht bei dem Genuß des Kaffees, Sir«, warnte der Butler. Peter hörte es nicht, verbrannte sich die Lippen und erwachte augenblicklich aus dem tranceähnlichen Zustand. Er murmelte etwas, das man von einem Großmeister nicht erwartete. »Die Nacht war ruhig, nicht wahr?« fragte er danach und tastete behutsam mit der Zunge über die verbrannten Lippen. »Ja, Sir, mir ist nichts aufgefallen.« Harvey musterte seinen jungen Herrn mit einem beunruhigten Blick. »Drohen Gefahren, Sir?« Peter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die drohen immer, das ist nicht ungewöhnlich. Und trotzdem … Ich werde mich draußen umsehen. Allein«, fügte er hinzu und kam einer Frage seines Butlers zuvor. Harvey nahm ihm die leere Tasse ab und blickte ihm sorgenvoll nach, als er durch den nebligen Park eilte. Sagon Manor war durch einen weißmagischen Bann gegen Angriffe des Bösen weitgehend geschützt, eine Tat des alten Lords. Doch Peter Winslow hielt sich nicht an die Grenzen. Außerhalb war er genau so ungeschützt wie jeder andere Mensch. Peter Winslow war auf der Suche nach der Erinnerung. Letzte Nacht hatte sich auf Sagon Manor etwas ereignet, wovon niemand etwas wußte. Er mußte herausfinden, was es war. Dabei ließ er sich von dem Instinkt leiten, den er als Großmeister des Ordens entwickelte. Nach wenigen Minuten entschied sich Peter für eine Richtung. Er nahm die Straße, die hinunter an die Küste von Brighton führte.
Wandte er den Kopf, sah er hinter den hohen Bäumen die Türme von Mortland, dem mit einem Fluch beladenen Herrenhaus, das einst der Familie seiner Mutter gehört hatte. Der Nebel war eine hervorragende Deckung für jeden Feind. Daß Peter Winslow sich trotzdem unbesorgt bewegte, kam nur durch den schützenden Bann, der über Sagon Manor lag. Sehr schnell erkannte Peter jedoch, daß er einem deutlichen Ruf folgte. Und dieser Ruf kam von außerhalb. Nun bedauerte er, allein gegangen zu sein und keine Waffe bei sich zu haben. Vielleicht stellten ihm die Geister und Dämonen von Mortland eine Falle? Oder ein Feind versuchte, ihm vor der Grenze aufzulauern? Peter ging vorsichtig weiter. Äußerlich bot er das Bild eines gelassenen Spaziergängers, die Hände in die Hosentaschen gehakt, lässig schlendernd. Doch seine Blicke waren überall, und er war innerlich gespannt. Die Nebelschwaden zwischen den alten, teilweise verwachsenen Bäumen gaukelten ihm Feinde vor, wo keine waren. Es sah aus, als huschten Dämonen von Baumstamm zu Baumstamm. Bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich jedesmal als Luftwirbel oder Baumstrunk. Der Ruf wurde schwächer. Da Peter schon fast die Grenze erreicht hatte, wollte er umkehren, als er mitten auf der Straße eine dunkle Erhebung entdeckte. Er war noch zu weit entfernt, um Einzelheiten auszumachen. Deshalb ging er vorsichtig näher an die Grenze heran, ohne sie zu überschreiten. Doch auch von der Grenze aus unterschied er die einzelnen Teile des Gebildes noch nicht. Es sah aus, als habe jemand zahlreiche Schlangenhäute übereinander gestapelt. Es hatte keine Form und regte sich nicht. Wenn das eine Falle ist, dachte Peter Winslow, ist sie sehr raffiniert gemacht. Er war selbstverständlich neugierig, was hier direkt
vor seinem Besitz lag und die Straße versperrte. Wenn ihm jemand an den Kragen wollte, brauchte er nur im Hinterhalt zu lauern. Hätte Harvey sich doch nicht an die Anweisungen gehalten! Da er als perfekter Butler jedoch alles befolgte, was man ihm auftrug, war er im Haus geblieben. Peter mußte allein den entscheidenden Schritt tun, trat zögernd über die Grenze und wartete auf den Angriff. Nichts geschah! Der Klumpen auf der Straße rührte sich noch immer nicht, und in den umliegenden Büschen blieb alles ruhig. Drei Schritte trennten Peter noch von dem unbekannten Objekt, als Leben in die Masse kam. In der Mitte der Erhebung teilten sich die Schuppen, von denen das Wesen überzogen war. Ein Kopf kam zum Vorschein! Peter Winslow besaß noch nicht die Erfahrung seines Vaters, der dreißig Jahre lang gegen das Dämonische gekämpft hatte. Doch auch mit größerer Erfahrung wäre er bei diesem Anblick zu Tode erschrocken. Nun erkannte er, was er vor sich hatte. Es war ein Mensch, der sich weitgehend in ein Schuppenmonster verwandelt hatte! Der Anblick war so unbeschreiblich, so erschreckend, daß Peter für Sekunden eine lebende Zielscheibe für jeden Angriff war. Hätten seine Feinde in diesem Moment zugeschlagen, wäre er verloren gewesen. Sie versäumten es jedoch, und gleich darauf hatte sich der junge Großmeister wieder in der Gewalt. Zwischen Angst, Grauen und Mitleid schwankend, starrte er auf den Kopf, der zwischen den Schuppen emporgewachsen war. Er konnte nicht sagen, wie dieser Mann früher ausgesehen hatte, aber deutlich waren noch Augen, Nase und Mund zu erkennen. Gleich darauf passierte etwas, das Peter völlig aus der Fassung brachte.
Er taumelte mit einem Aufschrei zurück, als sich die Augen des Unglücklichen veränderten. Sie waren vorher von einer unklaren Farbe gewesen, nicht grau und nicht grün. Auf einmal jedoch erstrahlten sie in leuchtendem Blau. Es war das Erkennungszeichen des Ordens der Weißmagier! Peter hatte einen seiner eigenen Helfer vor sich! Das blaue Leuchten der Augen erlosch sofort wieder. Der Unglückliche hatte nicht die Kraft, die Verbindung zur Weißen Magie länger aufrecht zu erhalten. »Wer …!« Peter mußte sich räuspern, ehe er weitersprechen konnte. »Wer bist du? Kenne ich dich?« Ein rasselnder Atemzug kam aus dem Mund, der mit dolchspitzen Zähnen bewaffnet war. »Nein«, drang es undeutlich aus dem Mund des Opfers. »Du hast mich noch nie gesehen, obwohl du mich in der Nacht vor einem Doppelmord bewahrt hast. Sagon Manor hat mich gerettet.« Diese Worte lösten die Sperre in Peters Gedächtnis. Er erinnerte sich daran, daß er während seines Schlafes gesehen hatte, wie dieser Unglückliche ein Liebespaar umbringen wollte. Also war es kein Traum gewesen, sondern schauderhafte Wirklichkeit. »Wie kann ich dir helfen?« Peter beugte sich über den Mann, der fast vollständig von den schwarzen, glänzenden Schuppen bedeckt war und dessen Hände sich bereits in Dämonenpranken verwandelt hatten. »Du bist das Opfer eines schwarzmagischen Bannfluchs, nicht wahr?« Das Wesen, halb Mensch, halb Monster, nickte. Es konnte nur noch abgehackt sprechen. »… George Poppard … London, Charing Cross Road … Haus zum Soho Square …« Peter wartete vergeblich auf weitere Erklärungen. »Du gehörst zu unserem Bund«, sagte Peter hastig, als der Mann schwieg. »Du heißt George Poppard und wohnst in London in der
Charing Cross Road. Das habe ich verstanden. Aber wer hat dich mit diesem Bann belegt? Weißt du es?« Jede Bewegung machte George Poppard sichtlich Mühe. »Ja«, flüsterte er heiser. Seine Worte waren kaum noch zu verstehen. »Mieter aus Haus … jemand aus Haus … Wohnung genommen … Magier gesucht …« Peter überlegte fieberhaft, wie er George Poppard helfen konnte. Das Beste wäre gewesen, ihn nach Sagon Manor zu bringen. Er war ohne Zweifel der Hilfsbedürftige, dessen Ankunft Peter vorausgesehen hatte. Gleichzeitig verstand der Großmeister aber auch, weshalb der erwartete Bittsteller nicht eingetroffen war. Seine teilweise Verwandlung in einen Dämon hatte ein Überschreiten der Grenze verhindert! »Ich werde dich jetzt gleich zu mir …!« Peter Winslow verstummte, als er einen Blick in die Augen des Unglücklichen warf. Sie waren gebrochen. George Poppard war tot!
* Vergeblich wartete Harvey auf die Rückkehr seines jungen Herrn. Er stand am Fenster des kalten Kaminzimmers und blickte so angestrengt in den Park, daß seine Augen schmerzten. Als jemand neben ihn trat, schrak er heftig zusammen. »Guten Morgen, Miß Winslow«, grüßte er, als er Alicia erkannte. »Haben Sie gut geschlafen, wenn ich mir die Frage erlauben darf?« »Sie dürfen, aber ich habe nicht gut geschlafen, Harvey«, erwiderte Peters ältere Schwester. »Ich wartete auf irgendein Ereignis. Wo ist Peter?« Harvey erklärte es. »Er ist schon ziemlich lange draußen«, fügte er hinzu. »Ich mache mir Sorgen.«
Auch Harvey gehörte zum Orden. Sprach er über Dinge, die diese Vereinigung angingen, verzichtete er auf seine geschraubte Ausdrucksweise, die er als Butler pflegte. »Sehen wir nach«, sagte Alicia entschlossen. Harvey wollte ihr nachrufen, daß ihr Bruder keine Begleitung wünschte, doch Alicia Winslow hatte den Raum schon verlassen. Harvey blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Im Freien sah sich Alicia um und deutete erleichtert zur Straße. »Dort komm Peter!« rief sie aufgeregt. »Es muß etwas passiert sein! Ich erkenne es an seinem Gesicht!« Harvey widersprach ihr nicht. Zu deutlich war das Entsetzen des Großmeisters zu erkennen. »Schnell, wir müssen ihm helfen!« schrie Peter, während er auf die beiden zulief. »Er liegt dort drüben außerhalb der Grenze!« Weder Alicia noch Harvey verstanden, wovon er sprach. »Komm, beeilt euch!« wiederholte Peter und kehrte um. Nun hasteten sie hinter ihm her. Die Straße schwang um eine enge Kurve. Dahinter wäre Alicia fast gegen ihren Bruder geprallt. Peter stand mitten auf der Straße und stierte geistesabwesend auf den Asphalt. Dort gab es nichts zu sehen, nicht einmal den üblichen Müll, der sich an Straßenrändern sammelt. »Peter!« Alicia legte ihrem Bruder behutsam die Hand auf den Arm. »Komm, Peter! Was war denn los? Was hast du gesehen? Du mußt es uns erzählen.« Peter Winslow schüttelte den Kopf, wandte sich schweigend ab und kehrte zum Haus zurück. »Bleiben Sie in seiner Nähe, ich sehe mich um!« entschied Harvey, der in diesen Minuten seine Rolle als Butler völlig vergaß. Während Alicia hinter ihrem Bruder hereilte, ging Harvey an der Grundstücksgrenze entlang. Er hielt nach allen Seiten Ausschau,
doch es war vergeblich. Er mußte warten, bis der Großmeister berichtete. Als er endlich nach Sagon Manor zurückging, hörte er schon von Ferne jene Glocke, die alle zusammenrief. Peter Winslow läutete sie eigenhändig auf dem Erker über dem Eingang. Harvey fand sich zugleich mit dem verschlafen wirkenden Lord Hubbard und dem restlichen Personal in der Bibliothek ein. Mrs. Applegast, die Köchin, kam im Hausmantel, den sie kaum schließen konnte. Sie hatte nicht einmal die Zeit gehabt, die Lockenwickler aus den Haaren zu nehmen. Maud, das Hausmädchen, war ebenfalls noch nicht richtig angezogen, sah aber munter aus. Peter erklärte in knappen Worten, was er erlebt hatte. »Ich weiß nicht, was aus George Poppard wurde«, meinte er abschließend. »Wahrscheinlich hören wir noch von ihm. Unsere Feinde geben sich nicht damit zufrieden, ihn zu töten. Das hätten sie bereits in London erledigen können. Vorerst aber haben wir ein wichtigeres Problem. Ich werde Sagon Manor verlassen.« Mit dieser Ankündigung rief er Unruhe hervor. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Peter wartete, bis Stille einkehrte. »Ich ziehe nach London und nehme mir George Poppards Wohnung«, fuhr er fort. »Wahrscheinlich weiß noch niemand, daß er tot ist. Ich gebe mich einfach als sein Freund aus, dem er die Wohnung für einige Zeit überlassen hat.« Maud, das Hausmädchen mit den wachen grünen Augen und den Sommersprossen, meldete sich zu Wort. Sie strich sich eine Strähne ihrer roten Haare aus der Stirn. »Einer weiß, daß Poppard tot ist, Sir«, sagte sie ruhig. »Der Schwarzmagier, der Poppard mit dem tödlichen Bann belegte!« »Wobei gar nicht sicher ist«, fügte Lord Hubbard hinzu, »daß es sich um einen Mann handelt. Auch eine Frau kommt in Frage.«
Peter nickte scheinbar gleichmütig. »Diese Person wohnt in dem Haus an der Charing Cross Road. Deshalb ziehe ich dorthin, um den Feind zu entlarven. Wer einen solchen Bann sprechen kann, ist gefährlich. Ich muß ihn unschädlich machen.« Peter wartete, ob jemand seinem Plan widersprach. Alle nickten zustimmend, sogar sein Vater. Dem alten Lord stand die Sorge um seinen einzigen Sohn ins Gesicht geschrieben. Dennoch versuchte er nicht, Peter zurückzuhalten. Er wußte, daß es sinnlos gewesen wäre. Der junge Großmeister mußte gehen. »Willst du ein Ordensmitglied zu Hilfe rufen?« fragte Lord Hubbard nur. »Der Satansspürer könnte dich unterstützen.« Peter erinnerte sich noch sehr gut an den Mann mit der Glatze und dem schwarzen Vollbart. Man nannte Mr. Baker Satansspürer, weil er mit seinem sechsten Sinn der Spur des Bösen folgen konnte. »Ich werde den Satansspürer in das Haus schicken, Dad«, versicherte er. »Harvey, rufen Sie Mr. Baker an. Vielleicht löst sich auf diese Art der Fall schnell und ohne weitere Gefahren. Ich werde mich dennoch vorbereiten, einige Zeit in dem Haus zu bleiben.« Die kurze Besprechung war zu Ende. Harvey verließ die Bibliothek. Peter ging nach oben, um sich reisefertig zu machen. Er hatte eben geduscht und sich umgezogen, als Harvey klopfte. »Ich bedauere, Sir, Ihnen keine bessere Nachricht geben zu können«, meldete er. »Ich konnte Mr. Baker nicht erreichen, da er verreist ist. Seine Verwandten konnten mir nicht sagen, wann er zurückkehrt. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.« »Danke, Harvey.« Peter griff zu seiner alten, abgeschabten Reisetasche, in die er die nötigsten Dinge gepackt hatte. »Bringen Sie mich mit dem Wagen nach Brighton. Ich fahre mit dem Bus nach London. Das ist unauffälliger.« »Es wird Ihrem Gegner trotzdem nicht entgehen«, mahnte Harvey. »Vielleicht doch.« Peter zeigte sein unbeschwertes, jungenhaftes Lächeln. »Auch Schwarzmagier sind nicht immer auf dem Posten,
nicht wahr?« »Sehr wohl, Sir«, versicherte Harvey mit einer Verneigung. »Darf ich mir den Hinweis erlauben, daß Maud bereits im Wagen vor dem Haus wartet. Sie möchte Sie fahren.« »Ist mir auch recht«, meinte Peter. »Sorgen Sie dafür, daß in meiner Abwesenheit hier alles gut läuft, Harvey. Und leben Sie wohl!« »Ich wünsche Ihnen alles Glück, das es nur gibt«, erwiderte Harvey steif. In der Halle verabschiedete sich Peter von seinem Vater und seiner Schwester, die ihn stumm an sich drückten. Sie wußten, daß er in einen Kampf auf Leben und Tod ging. Auch als Großmeister des Ordens der Weißmagier war er nicht unbesiegbar. Im Gegenteil, nur sehr selten unterstützten ihn besondere Helfer. Mrs. Applegast mußte sich auf die Zehen stellen, als sie den groß gewachsenen jungen Mann kurz an sich drückte. »Alles Gute, mein Junge«, flüsterte sie Peter zu. Dann trat sie respektvoll zurück. Maud startete sofort, als er die Reisetasche auf die Rücksitze warf und sich neben sie setzte. Sie verließen Sagon Manor und hielten auf Brighton zu. Peter drehte sich noch einmal um. Hinter einer Düne ragten die Spitzen von Mortland, dem Satansgut, auf. »Haltet ein Auge auf Mortland«, sagte er dumpf. »Dort wird sich bald wieder etwas tun.« »Ja, Sir«, versicherte Maud wortkarg. »Laß den ›Sir‹ weg, wenn wir allein sind«, bat Peter. »Du weißt, Maud, daß ich diese Förmlichkeiten nicht mag.« »Sie sind der Großmeister, Sir!« »Hör auf, Maud!« rief er lachend. »Ich weiß, daß ich der Großmeister bin. Ich weiß auch, daß wir vor den anderen Mitgliedern des Bundes die Form wahren müssen. Aber wenn wir allein sind …« »Okay, Peter, jetzt sind wir allein!« Maud, neun Jahre älter als er,
lächelte verkrampft. »Dann verrate mir ohne alle Förmlichkeiten, wie du das Haus finden willst! George Poppard hat dir die Nummer nicht genannt.« »Es ist ein Haus zwischen Charing Cross Road und Soho Square«, hielt Peter entgegen. »Und wie willst du hineinkommen?« forschte Maud weiter. »Irgendwie!« Er hob die breiten Schultern. »Wenn ich da bin, werde ich entscheiden.« Sie lachte. »Man merkt, daß du jung und ungestüm bist!« rief sie aus. »So gefällst du mir schon besser«, stellte Peter grinsend fest. »Maud, die nicht auf den Mund gefallen ist! Warum hat man dich nicht zur Großmeisterin gemacht?« »Das mußt du die Ordensmitglieder fragen, die dich gewählt haben«, entgegnete sie schlagfertig. »Ich wäre übrigens gar nicht so gern Großmeisterin. Ich bin lieber ein einfaches Ordensmitglied, das jederzeit helfen kann, wenn es gebraucht wird. Das genügt mir.« Eine Weile schwiegen sie, bis die ersten Häuser von Brighton in Sicht kamen. »Deine Sommersprossen sind schon sehr schwach geworden«, sagte Peter sanft. »Wird Zeit, daß du in die Sonne kommst und sie auffrischst.« Doch jetzt schüttelte Maud den Kopf. »Hör auf, Peter«, bat sie. »Du weißt, daß ich es nicht mag, wenn du so redest. Du bist der Großmeister, und ich bin eine Helferin. Und dabei bleibt es!« Er lächelte ein wenig traurig. »Ich weiß schon, der Großmeister steht über den Dingen.« Er seufzte. »Denkst du auch daran, daß ich ein Mann bin? Zwar noch sehr jung, aber trotzdem …?« »Nein, ich denke nicht daran«, erwiderte Maud heftig. »Sonst vergesse ich meine Prinzipien.« Sie bremste hart neben der Bushaltestelle. »Viel Glück, Sir«, sagte sie absichtlich, um wieder Distanz zwi-
schen ihnen zu erzeugen. Peter, der sich von ihr mit einem Kuß hatte verabschieden wollen, wurde augenblicklich ernüchtert. »Danke, Maud«, sagte er verhalten. »Bis bald!« Er stieg aus, holte seine Reisetasche von den Rücksitzen und gesellte sich zu den vier Wartenden. Maud wendete und fuhr nach Sagon Manor zurück. Als der Wagen jenseits der Dünen verschwand, kam sich Peter Winslow sehr einsam vor. Verstohlen musterte er die anderen Wartenden, ob sich vielleicht einer von ihnen als Schwarzmagier zu erkennen gab. Sie interessierten sich überhaupt nicht für den blonden jungen Mann, was aber nichts zu sagen hatte. Jeder von ihnen konnte ein Mörder im Dienst der Hölle sein. Peter Winslow machte sich keine Illusionen. In diesem Kampf auf Leben und Tod lagen die Vorteile vorläufig bei der Gegenseite. Das bedeutete, daß er seine ganze Kraft und Geschicklichkeit würde aufbieten müssen, um diesen Einsatz zu überleben. Als der Bus kam, dachte er daran, daß er sich immer ein Leben in London gewünscht hatte. Das war vor der Wahl zum Großmeister gewesen. Nun kam er nach London, aber unter ganz anderen Umständen. Der Bus rollte an. Brighton und Sagon Manor blieben hinter Peter Winslow zurück. Vor ihm lag der Höllendschungel von London, ein todbringendes Gestrüpp satanischer Fallen. Peter wußte darüber nicht mehr, als daß es bereits einen der Ihren erwischt hatte. Kein ermutigender Anfang, dachte der junge Großmeister und unterdrückte die aufkeimende Angst.
*
Der Orden der Weißmagier war nicht straff organisiert. Es gab auch viele Menschen, die sich dem Kampf gegen das Böse verschrieben hatten und gar nicht dem Orden angehörten. Es existierten keine Mitgliederlisten, und es gab nur ein einziges Erkennungszeichen. Die Augen der Weißmagier konnten eine intensive blaue Färbung annehmen. An diesem strahlenden Leuchten erkannten sie einander in Notsituationen. Auch die Gegenseite verfügte über keine Organisation. Schwarzmagier und Satansanbeter, Geister und Dämonen, Wesen von dieser und solche aus einer anderen Welt, sie alle verfolgten ein und dasselbe Ziel. Sie wollten das Böse verbreiten. Als Peter Winslow davon sprach, daß die Gegenseite seine Fahrt nach London hoffentlich verschlief, meinte er es nicht ganz ernst. Er ahnte schon bei seiner Abreise, daß sein Unternehmen nicht unbemerkt blieb. Als sich der Bus mit dem Großmeister in Bewegung setzte, betrat ein unscheinbarer Mann eine Telefonzelle in der Nähe der Station. Er wählte eine Londoner Nummer. Der Teilnehmer meldete sich nach dem dritten Zeichen. »Er ist unterwegs«, sagte der Mann in Brighton nur und legte auf. Der Empfänger der Botschaft war gewarnt. Der Großmeister kam nach London. George Poppard war nicht rechtzeitig abgefangen worden. Das ergab eine neue Situation. Ursprünglich war es nur der Kampf gegen einen einzelnen Weißmagier gewesen. Nun schaltete sich der Großmeister ein. Die Anhänger der Schwarzen Magie begingen nicht den Fehler, den neuen Großmeister aufgrund seiner Jugend zu unterschätzen. Sie hatten schon seinen Vater, Lord Hubbard, kennen und fürchten gelernt. Und sie wußten, daß sein Sohn noch unerfahren war, jedoch über ausreichende Fähigkeiten verfügte. Das Haus in der Londoner Charing Cross Road wurde sorgfältig in eine Todesfälle verwandelt.
Gleichzeitig erging ein Befehl nach Brighton. Sagon Manor sollte von der Außenwelt abgeschlossen werden, damit der Großmeister von dort keine Unterstützung bekam. Die Zufahrtsstraße nach Sagon Manor mußte blockiert werden. Wenn solche Befehle erteilt wurden, gab es kein Zögern. Die Vertreter des Bösen nahmen es auch ohne Widerspruch hin, als der Befehl erweitert wurde. Wer nach Sagon Manor wollte, sollte getötet werden. Nicht nur das Haus in London, sondern auch die Straße nach Sagon Manor verwandelte sich in eine Todesfalle. Zwei Frauen liefen blindlings in die Falle. Mrs. Poppard und Ann Bliss, die Mutter und die Freundin des verschwundenen George Poppard. Sie verfehlten den Großmeister nur um zwanzig Minuten. Als ihr Bus in Brighton ankam, war Peter Winslow schon nach London unterwegs. Sie nahmen sich am Busbahnhof ein Taxi. Der Fahrer sah sie verblüfft an, als sie Sagon Manor als Ziel nannten, stellte jedoch keine Fragen. Das Taxi verließ Brighton und schraubte sich auf einer vielfach gewundenen, schmalen Straße in die Dünen hinauf. Die Sicht reichte nicht weit, weil Nebel über dem ganzen Gebiet lag. Die beiden Frauen schwiegen nicht nur wegen der bedrückenden Stimmung in diesem Gebiet. Beide wurden von der Sorge um George gepeinigt. Nach zehn Minuten war die Fahrt zu Ende. Ein Graben zog sich quer über die Straße. »Wieder einmal ein Erdrutsch.« Der Fahrer drehte sich um. »Soll ich Sie zurückbringen, oder wollen Sie zu Fuß weiter?« »Wie weit ist es noch?« fragte Ann Bliss. Der Fahrer zuckte die Schultern. »Vielleicht eine halbe Meile.« Die beiden Frauen wollten weitergehen. Sie hatten wenig Gepäck, das sie leicht tragen konnten.
Der Fahrer wendete. Der Wagen verschwand zwischen den Dünen. Es wurde still auf der Zufahrtsstraße. Hoch über den Köpfen der beiden Frauen zogen Möwen kreischend ihre Kreise. Manchmal hörte man das ferne Donnern der Brecher. »Gehen wir«, sagte Mrs. Poppard beklommen. »Ich muß endlich wissen, was mit George ist.« Schweigend nahm Ann Bliss ihre Reisetasche und folgte der Mutter ihres verschwundenen Freundes. Sie umrundeten den Graben in der Straße und gingen auf der anderen Seite weiter. Die beiden Frauen wußten nicht, daß sie sich nicht nur Sagon Manor, sondern auch Mortland näherten. Sie hatten noch nie von Mortland gehört. Das verfallene Landgut Mortland erwachte zu einem unheimlichen Leben. An zahlreichen Stellen war der Erdboden eingesunken und gab den Blick in unterirdische Gewölbe frei. Aus diesen Öffnungen krochen Wesen, die sich moderne Menschen kaum vorstellen konnten. Die meisten von ihnen erinnerten an Abbildungen auf alten Gemälden, Monstren, die keine Ähnlichkeit mit Menschen besaßen. Sie verteilten sich in den Büschen und näherten sich in breiter Front jener Straße, auf der die beiden Frauen nach Sagon Manor gingen. Die ersten Dämonen erreichten die Straße, bevor Mrs. Poppard und Ann Bliss vorbei waren. Sie bezogen Stellung und warteten auf Opfer. Es dauerte nicht lange, bis sich auf der Straße Schritte näherten. Gleich darauf bogen die beiden Frauen um die letzte Kurve vor dem Hinterhalt.
*
George Poppard hatte Telefon besessen. Dem Großmeister genügte daher ein Blick in das Londoner Telefonbuch, um die genaue Adresse des Unglücklichen zu erfahren. Ein Taxi brachte ihn in die Charing Cross Road. Das Haus wirkte auf den ersten Blick abstoßend und feindselig. Die Fenster starrten wie schwarze Löcher auf den Großmeister herunter. Die Scheiben waren in allen Wohnungen seit Wochen oder sogar Monaten nicht geputzt worden. Dahinter konnte man nichts erkennen, keine Gardinen, auch kein Licht. Eine morsche, aber sehr massive Tür sicherte den Eingang. Sie gab nicht nach, als Peter Winslow dagegen drückte. Er sah sich um. Auf der Charing Cross Road waren viele Menschen unterwegs. Er konnte sich jetzt keinen Einbruch leisten. Man hätte ihn sofort erwischt. Zögernd betätigte er die Klingel neben der Tür. Es gab nur einen einzigen Klingelknopf. Peter vermutete daher, daß er auf diese Weise den Hausmeister rief. Es dauerte Minuten, ehe sich die Tür knarrend und quietschend einen Spalt breit öffnete. Dahinter erschien ein zerknittertes Gesicht, das von einer großen Nase mit messerscharfem Rücken beherrscht wurde. Die kleinen Augen standen dicht beisammen und funkelten mißtrauisch. »Was ist?« schnarrte der ungefähr sechzigjährige Mann. »Vielen Dank, sehr freundlich«, sagte Peter Winslow lächelnd, drückte gegen die Tür und schob den Mann mitsamt der Tür zurück. Er stand schon im Treppenhaus, ehe der Hausmeister protestierte. »Ich wollte nur, daß mir jemand die Tür öffnet. Vielen Dank!« Peter schritt zur ausgetretenen Steintreppe, als der Mann hinter ihm zu zetern begann. »Halt, so geht das nicht!« schrie er. »Ich bin hier der Hausmeister! Sie können nicht einfach hereinkommen! Wohin wollen Sie? Wer
sind Sie?« Peter stieg langsam die Treppe hinauf. »Ich bin ein Freund von George Poppard«, sagte er über die Schulter zurück. »George ist für ein paar Tage verreist und hat mir seine Wohnung überlassen. Sie brauchen sich nicht zu bemühen, ich finde meinen Weg schon!« Aus den Augenwinkeln heraus merkte er, daß ihm der Hausmeister entgeistert nachstarrte. Irgend etwas erschien diesem Mann völlig unglaublich. Vielleicht konnte er nicht fassen, daß jemand freiwillig in dieses alte Haus zog. Oder er wußte, wie George Poppard geendet hatte. Dann durchschaute er Peters Trick. Ganz gleich, wie es um den Hausmeister stand, er tat etwas, das Peter nicht brauchen konnte. Er folgte dem jungen Großmeister. Peter mußte ihn loswerden, sonst hätte der Hausmeister gesehen, daß er keinen Schlüssel hatte. Peter blieb stehen. »Wie heißen Sie?« fragte er den Hausmeister schroff. »Jeremy Silex«, antwortete dieser verblüfft. »Okay, Mr. Silex, Sie brauchen nicht mitzukommen! Ich finde den Weg selbst! Danke!« Er ging weiter, und Jeremy Silex ließ sich tatsächlich überrumpeln. Er blieb unten stehen, auch wenn er neugierig nach oben äugte. George Poppards Wohnung lag unter dem Dach. Auf dieser Etage gab es kein weiteres Apartment, nur eine Tür, die auf das Flachdach führte. Silex konnte von unten nicht sehen, was Peter hier oben tat. Der junge Großmeister überprüfte die Wohnungstür und gab sofort auf. Dieses komplizierte Schloß konnte er nicht knacken. Er wurde höchstens mit einem Schloß fertig, das man mit einer Haarspange öffnen konnte. Also gab es nur einen Weg in das Apartment. Peter zögerte nicht, stellte seine Reisetasche vor der Tür ab und stieg auf das Flachdach hinauf. Er nickte, als er die Dachluke sah, die zu Poppards Wohnung führte und ihr Licht spendete. Gleich darauf erlebte er die nächste Enttäuschung. Offenbar hatte
Poppard gründlich für seine Sicherheit gesorgt. Die Dachluke war vergittert, damit man nicht über das Dach eindringen konnte. Nun blieb Peter nichts anderes mehr übrig, als sich bis an die Dachkante zu wagen. Er blickte in einen lichtlosen Hinterhof mit schwarzen Mauern. Dennoch war der Ausblick in zweierlei Hinsicht interessant. Erstens endete direkt neben Peter auf dem Dach eine Feuertreppe, die auch an Poppards Wohnung vorbei führte. Und zweitens entdeckte er, daß Poppard an alles gedacht hatte. Man gelangte über eine Mauer zum gegenüberliegenden Haus. Über die Flachdächer konnte man an der Charing Cross Road entlang laufen. Eine zweite Feuerleiter führte in eine Seitengasse, die schmal wie ein Handtuch war. Diese Wohnung unter dem Dach war nicht nur hermetisch abgesichert, sondern stellte auch den reinsten Fuchsbau dar. Poppard hatte mit der Gefahr gelebt und sich gegen sie gesichert. Dennoch war der letztlich von seinem Schicksal ereilt worden. Für einen Moment schweiften Peters Gedanken ab. Er hätte gern gewußt, wo Poppard jetzt war. Er mußte noch leben, wenn auch nicht im normalen Sinn. Er war kein lebender Mensch mehr, aber er hatte den Hauch der Hölle in sich getragen. Bestimmt existierte er weiter, vielleicht sogar auf Mortland. Peter hätte sich darum gekümmert, wäre dieses Haus hier nicht wichtiger gewesen. Prüfend stellte er einen Fuß auf die Feuerleiter. Sein Tennisschuh haftete gut auf der eisernen Sprosse. Die Leiter war fest in der Mauer verankert. Keine Gefahr! Fast wunderte sich Peter, daß es ihm so leicht wurde. Er schwang sich auf die schmale Eisenleiter hinaus. Nichts passierte. Unter ihm gähnte ein Abgrund über vier Stockwerke. Unten wartete Betonboden auf ihn, wenn er abstürzte. Verlor er den Halt, war er dem Tod geweiht. Trotzdem unternahm niemand einen Anschlag auf ihn.
Wußte die Gegenseite wirklich nicht, daß er hier war? Das wäre eine Erklärung gewesen, warum er nicht angegriffen wurde. Aber vielleicht hatten sie sich ihre Überraschungen für ihn aufgehoben. Er brauchte nur wenige Sprossen in die Tiefe zu steigen, um sich auf den schmalen Balkon vor Poppards Wohnung zu schwingen. Auch hier fand er festen Halt. Durch die Fenster sah er in das Apartment. Es war leer. Ein Fenster war nicht verriegelt. Peter schob es hoch, stieg in die Wohnung und fand auf Anhieb neben der Tür auf einem Schränkchen einen Schlüsselbund. Poppards Schlüssel! Peter hatte Glück, eigentlich zu viel, fand er. Er schloß die Tür von innen auf, öffnete und wollte nach seiner Reisetasche greifen. Vor ihm stand der Hausmeister. Peters blaue Augen richteten sich scharf forschend auf den kleinen, hageren Mann. »Schnüffeln Sie hinter mir her?« fragte er hart. Jeremy Silex kroch in sich zusammen. Er wurde rot, und seine Augen blickten verschlagen. »Ich wollte nur sicher sein, daß alles in Ordnung ist, Mister«, sagte er kriecherisch. »Ich bin für dieses Haus verantwortlich.« »Aber nicht für mich!« fuhr Peter ihn an. Er mußte sich diesen neugierigen Kerl vom Hals schaffen, sonst konnte er keinen Schritt unbeobachtet tun. »Ich dachte, daß es nicht gut ist, die Reisetasche im Treppenhaus stehen zu lassen.« Silex deutete auf die Tasche. »Es wird in dieser Gegend viel gestohlen.« »Sie halten die Eingangstür unter Verschluß, wer sollte stehlen?« fragte Peter, nahm die Tasche an sich und sah den Hausmeister noch einmal durchbohrend an. »Wenn Sie mir in die Quere kommen, sorge ich dafür, daß Sie hier die längste Zeit Hausmeister waren. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt, Mr. Silex?«
Der hagere Kopf des Mannes wippte in hektischem Nicken auf und ab. Silex wandte sich um und hastete die Treppe in einem Tempo hinunter, daß Peter schon meinte, er würde sich den Hals brechen. Er tat es nicht, kam heil im Erdgeschoß an und schlug krachend eine Tür zu. »Na also«, murmelte Peter zufrieden, schloß ab und stellte die Tasche neben die Garderobenwand. Er betrat das Wohnzimmer und sah die Spinnen. Es waren vier dicke, schwarze Spinnen. Jede von ihnen hatte sich in einer der vier Ecken unter der Zimmerdecke ein Netz gebaut. Das kam Peter zwar sonderbar vor, aber er zuckte nur die Schultern. Sie hatten sich den Raum eben brüderlich aufgeteilt. Er packte die Reisetasche aus. Das dauerte ungefähr zwanzig Minuten. Und dann sah er die Spinnen wieder. Aber wie hatten sie sich verändert! Peter wankte und brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um nicht schreiend zu fliehen …
* »Ist es noch weit?« fragte Mrs. Poppard. Die Frage war überflüssig, weil Ann Bliss auch noch nie auf Sagon Manor gewesen war. Sie wußte genau so wenig wie die Mutter ihres Freundes. »Warten Sie, Mrs. Poppard!« rief Ann der vorausgehenden Frau zu. »Ich nehme Ihnen die Tasche ab.« »Nein!« Mrs. Poppard winkte ab. »Sie haben selbst eine Tasche, Ann! Es geht schon.« Ann Bliss beobachtete Mrs. Poppard mit wachsender Sorge. Die Frau sah müde aus. Sie ging in leichten Schlangenlinien, als würde
sie jeden Moment zusammenbrechen. »Gehen Sie langsamer«, mahnte Ann. »Sie halten sonst nicht durch, Mrs. Poppard!« »Ich muß wissen, was mit George geschehen ist!« Sie ging sogar noch schneller. »Ich muß es wissen! Verstehen Sie nicht, Ann? Diese Leute wissen es!« Erst jetzt erkannte Ann Bliss, in welch schlechtem Zustand sich Mrs. Poppard befand. Ann hätte es sich denken müssen. Das Schicksal ihres einzigen Sohnes war ungewiß. Wahrscheinlich lebte er nicht mehr. Kein Wunder, daß ihre Kräfte nachließen. Ann holte mit weiten Schritten auf und wand Mrs. Poppard mit sanfter Gewalt die Tasche aus der Hand. Jetzt hatte sie doppelt zu schleppen. Das machte ihr jedoch weniger zu schaffen, als wenn ihre Begleiterin zusammengebrochen wäre. »Es ist nicht mehr weit, Mrs. Poppard«, redete sie beruhigend auf die Ältere ein. »Nur Mut, wir haben es gleich geschafft.« Tatsächlich war es nicht nur ein leeres Versprechen. Sie umrundeten einen Hügel und sahen ein Stück vor sich Türme hinter Büschen auftauchen. »Das soll ein bewohntes Haus sein?« fragte Mrs. Poppard unbehaglich. »Man sieht nicht viel, aber es wirkt eher wie eine Ruine.« »Das ist bestimmt nicht Sagon Manor.« Ann Bliss deutete auf die gut asphaltierte Straße, die geradeaus weiter führte. »Zu diesem Gebäude dort drüben führt nur ein verwachsener Weg. Wir müssen auf der Straße bleiben.« Mrs. Poppard ging wie ein Automat weiter. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und hielt sich starr aufrecht. Schon überlegte Ann, ob sie es noch bis Sagon Manor schaffen konnten, als etwas Ungewöhnliches geschah. Rechts neben der Straße rauschte es in den Büschen. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie einen schwarzen, unförmigen Körper, der sich zwischen den Baumstämmen über den Boden schob.
Sie dachte für einen Moment an einen Bären oder ein anderes großes Tier, doch gleich darauf floß die Gestalt wie Brei auseinander. Ann glaubte an eine Sinnestäuschung. Wahrscheinlich hatte sie der Nebel getäuscht. Dumpfes Stöhnen ließ sie herumfahren. Mrs. Poppard griff sich an den Hals. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. »Mrs. Poppard!« Ann stützte sie, mußte beide Taschen absetzen und konnte sich nicht weiter um die Umgebung kümmern. Ann glaubte, daß Georges Mutter endgültig schlappmachte. Doch Mrs. Poppard stieß sie kräftig von sich. Ihr starrer Blick ging an Ann vorbei. Erschrocken wandte sich die junge Frau um. Ihr schriller Schrei drang weit über die Dünen. Sie kreischte und streckte dem Monster abwehrend die Hände entgegen. Es war ein Ungeheuer, wie sie es noch nie gesehen hatte, unförmig, schwarz, von Schuppen bedeckt. Sie konnte weder einen Kopf, noch Arme oder Beine erkennen. Das mußte das Wesen sein, das sie vorhin zwischen den Büschen beobachtet hatte. Jetzt kam es durch den Straßengraben und schob sich hinter ihnen auf die Straße. Es war ungefähr so groß wie ein Bär, veränderte aber dauernd die Form. Etwas in Ann Bliss regte sich, womit sie gar nicht rechnete. Mitleid! Es war das scheußlichste Wesen, das sie je gesehen hatte. Und doch schnürte sich ihre Kehle zu. Tränen stiegen in ihre Augen. »Schnell, Mrs. Poppard!« schrie sie, als sich das Monster genau auf ihre Begleiterin zuwälzte. Sie hatte kaum den Namen ausgesprochen, als mit dem Ungeheuer eine seltsame Verwandlung vor sich ging. Plötzlich bewegte es sich nicht mehr. Zitternd und pulsierend verharrte es an derselben Stelle.
An seiner Oberseite bildete sich ein Klumpen, der entfernt an einen Kopf erinnerte. Sogar zwei Augen waren zu unterscheiden, und diese Augen jagten einen Schock durch Ann Bliss. Noch immer begriff sie die grauenhafte Wahrheit nicht, weil diese einfach zu schrecklich war. Doch der Anblick des deformierten Kopfes und der Augen lähmte sie. Auch Mrs. Poppard rührte sich nicht. Das Monster griff nicht an. Es richtete sich hoch auf. Langsam nahm es die Umrisse eines Menschen an, obwohl die schwarzen Schuppen nicht abfielen. Wieder raschelte es in den Büschen. Andere Ungeheuer tauchten auf, und sie besaßen klare Gestalten. Zwei Wesen, die an fernöstliche Dämonenfiguren erinnerten, überquerten in weiten Sätzen den Straßengraben, drängten sich an dem Schuppenmonster vorbei und sprang die beiden wehrlosen Frauen an. Wieder schrie Ann Bliss auf, während Mrs. Poppard stumm in die Knie sank. Ann sah dolchartige Klauen, aufgerissene Mäuler mit blauschwarzen Zungen und blitzenden Zähnen. Während sie ohnmächtig wurde, sah sie Mrs. Poppard, die von einem der Monster zu Boden gerissen wurde. Dann war es für Ann Bliss endgültig vorbei. Ann war ohnmächtig, aber auch Mrs. Poppard sah nicht, was ihr das Leben rettete. Das Monster, das sie angesprungen hatte, setzte zum tödlichen Biß an. Im letzten Moment flog es zur Seite und landete krachend an einem Baumstamm. Das von Schuppen bedeckte Ungeheuer hatte eingegriffen. Es beförderte mit einem Prankenschlag das zweite Monster aus Anns Nähe. Danach konnte es seine Form nicht länger halten. Der Arm, mit dem es Mrs. Poppard und Ann Bliss verteidigt hatte, verschmolz mit dem restlichen Körper. Die menschlichen Umrisse und der Kopf flossen ineinander über.
Wie eine schwarze Öllache, auf der Schuppen schwammen, glitt es in den Straßengraben. Die beiden Monstren erholten sich und griffen erneut an. Sie gingen gegen die Frauen vor, von denen die eine ohnmächtig, die andere schwer geschockt war. Schon streckten sie die Klauen nach den Frauen aus. In diesem Moment erklangen zwei Geräusche, mit denen man hier in den Dünen nicht rechnete. Hinter dem Hügel dröhnte ein schwerer Motor in hohen Drehzahlen. Und aus einiger Entfernung erklang eine wohltönende Glocke. Ihr Schlag hallte weit über die Hügel hinweg. War es der Motor, war es die Glocke, die Monstren zögerten. Da tauchte der Geländewagen auf. Am Steuer saß eine junge Frau in einem Jeansanzug. Sie hatte rote Haare, grüne Augen und unzählige Sommersprossen um die Nase. Es war Maud, das Hausmädchen von Sagon Manor. Genau so ahnungslos wie die beiden ihr fremden Frauen hatte sie sich auf den Weg gemacht, doch sie reagierte blitzschnell. Maud gehörte nicht nur zum Hauspersonal von Sagon Manor, sie war auch Mitglied im Bund der Weißmagier. Sie kannte die Geschichte von Mortland und wußte, woher die Bestien stammten, die zwei Frauen überfielen. Der Motor des Geländewagens dröhnte so laut auf, daß er sogar die Glocke von Sagon Manor übertönte. Mit durchdrehenden Reifen machte der Wagen einen Satz vorwärts. Die Kotflügel bestanden aus dickem Stahlblech. Es krachte, als die vordere Stoßstange mit einem Monster zusammenstieß. Gleich darauf rammte der Kotflügel das zweite Ungeheuer. Die beiden Sendboten der Hölle wurden in hohem Bogen zur Seite geschleudert. Ein Ungeheuer landete im Straßengraben. Maud sah ihm nach und entdeckte die schwarze schuppenbedeckte Masse, die sich zuckend zurückzog.
Sie kannte George Poppards Geschichte. Sofort dachte sie an den unglücklichen Weißmagier, den ein satanischer Fluch verwandelt hatte. Doch sie hatte keine Zeit, sich weiter um dieses seltsame Wesen im Straßengraben zu kümmern. Das eine Ungeheuer hatte den Zusammenprall nicht überstanden. Es war förmlich zerplatzt. Sein Begleiter jedoch raffte sich aus dem Straßengraben und ging zum Angriff über. Maud rammte den Rückwärtsgang hinein. Sie stellte den Wagen so, daß er dem Ungeheuer den Weg zu den Frauen versperrte. Die junge Frau lag reglos auf dem Asphalt. Maud erkannte nicht, ob sie nur ohnmächtig oder gar tot war. Die ältere Frau stand mit flackernden Augen da, ließ die Arme hängen und war vor Entsetzen so gut wie ohnmächtig. Sie konnte sich nicht verteidigen. Das Monster war heran. Seine Pranken zischten durch die Luft, verfehlten das Fenster auf Mauds Seite und trafen das Stahlblech der Karosserie. Maud kannte und fürchtete die Stärke dieser Ungeheuer, die direkt aus einer anderen Dimension stammten. Doch auch für diese Scheusale gab es Grenzen. Das Stahlblech knickte ein, wo die Pranke traf, doch das Ungeheuer wurde so geschwächt, daß Maud Zeit fand, den Wagen ein Stück zurückzusetzen. Sie rammte wieder den ersten Gang hinein, beschleunigte, ging auf den zweiten Gang und gab Vollgas. Als es zum Zusammenstoß mit dem Ungeheuer kam, schloß sie für einen Moment die Augen. Ein dumpfer Aufprall, ein Knall. Maud öffnete die Augen. Von dem Monster war nichts mehr zu sehen. Nur eine tiefe Einbuchtung an der Motorhaube ihres Wagens verriet, daß sie sich nichts eingebildet hatte und alles tatsächlich geschehen war. Sie stieg aus und lief zu der älteren Frau, nahm sie am Arm und
führte sie zu dem Auto. Die Frau ließ alles mit sich geschehen. Sie leistete keinen Widerstand, zeigte aber auch nicht, daß sie für die Hilfe dankbar war. Sie stand unter einem schweren Schock. Maud lief zu der zweiten Frau und untersuchte sie flüchtig. Sie atmete auf. Auch die zweite jüngere Frau lebte, war jedoch ohnmächtig. Schon wollte Maud versuchen, sie zu dem Wagen zu schaffen, als sie abgelenkt wurde. Das Wesen aus dem Straßengraben stabilisierte sich. Es stieg heraus, allerdings auf der abgewandten Seite. Es verschwand langsam zwischen Büschen und Bäumen und schlug die Richtung nach Mortland ein. Dabei nahm es ungefähr die Figur eines Menschen an. Maud sah die zu Krallen umgewandelten Finger und den schuppenbedeckten Kopf. Das Wesen drehte das unförmige Gesicht in ihre Richtung. Nun zweifelte Maud nicht mehr. Sie erinnerte sich an Peter Winslows Schilderungen. Genau so hatte George Poppard ausgesehen, als ihn der Großmeister gefunden hatte. »Poppard«, murmelte Maud erschüttert. »George Poppard.« Er war gestorben und existierte als Dämon weiter. Seine Umwandlung war nur noch nicht ganz vollzogen. »George?« Ohne, daß Maud es bemerkte, war die junge Frau erwacht. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und starrte aus fassungslos aufgerissenen Augen hinter dem schwarzen Schuppenmonster her. »Das ist George?« »Aber nein«, winkte Maud hastig ab. Sie mußte vermeiden, daß diese Frau wieder zusammenklappte. Offenbar kannte sie George Poppard. »Sie bilden sich etwas ein!« »Das ist aus George geworden?« wiederholte die Fremde mit blutleeren Lippen. Sie richtete ihren zerquälten Blick auf Maud. »Sagen Sie ihr nichts«, flüsterte sie heiser und deutete mit einem Kopfnicken auf die ältere Frau im Wagen. »Sie ist Georges Mutter!« Maud schluckte. Diese junge Frau vor ihr hatte recht. Man konnte
es einer Mutter nicht antun, ihr diese schauerliche Wahrheit über ihren Sohn zu sagen. »Ich werde schweigen«, versprach Maud, während sie der Fremden auf die Beine half und sie zum Wagen führte. Zuletzt lud sie noch die beiden Taschen ein, wendete und kehrte nach Sagon Manor zurück. Sie mußte ihr ursprüngliches Vorhaben verschieben und hoffte, daß Peter es eine Weile ohne sie in London aushielt.
* Während des Auspackens hatten sich die Spinnen vergrößert. Jetzt waren ihre Körper ungefähr so groß wie eine Männerfaust, ihre Beine etwa doppelt so lang wie ihr Durchmesser. Entsprechend groß waren die Netze, die sie in rasender Eile anfertigten. Angewidert blickte Peter in die vier Ecken des Raumes hinauf. Die Riesenspinnen liefen hin und her, als ginge es um ihr Leben. Wenn sie so weitermachten, würden sie diesen Raum in ungefähr einer Stunde vollständig mit ihren Netzen ausfüllen. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Peter hatte sich nicht getäuscht, seine Gegner wußten, daß er hier war. Sie sorgten für einen heißen Empfang. Noch schien keine Gefahr zu bestehen. Er konnte jederzeit das Apartment verlassen. Dennoch sah er sich nach einer geeigneten Waffe um. Er fand ein langes Messer in der winzigen Küche und kehrte in den Wohnraum zurück. Wieder zuckte er zusammen, denn in der Zwischenzeit waren die Spinnen auf das Dreifache angeschwollen. Er sah sogar ihre Augen, die schwarz und böse auf ihn herunterfunkelten. Natürlich war Peter klar, daß normale Spinnen weder bösartig noch wirklich gefährlich waren. Diese hier waren jedoch zu Werkzeugen seiner Feinde geworden. Sie wurden gelenkt, und ihre Auf-
gabe stand fest. Mord! Es wurde Zeit, daß er die Wohnung vorläufig räumte. Er mußte erst ein Mittel gegen die magischen Spinnen finden und das Apartment von ihnen säubern. Dann konnte er zurückkommen. Er lief zur Tür und zog daran. Sie rührte sich nicht. Aufgeregt rüttelte er am Türknauf, bis ihm einfiel, daß er vielleicht zweimal zugesperrt hatte. Er drehte den Schlüssel, doch es war nicht zugesperrt. Die Tür ließ sich dennoch nicht öffnen. Er versuchte es mit aller Kraft. Es war vergeblich. Endlich fiel sein Blick durch Zufall auf eine schimmernde Linie, die sich über die ganze Wand und quer über die Tür zog. Ehe er genauer ermittelte, worum es sich dabei handelte, fiel ein Schatten auf ihn. Instinktiv duckte er sich. Keine Sekunde zu früh! Eine Spinne lief dicht über ihm durch ihr Netz und schlug mit einem ihrer Beine nach ihm. Ihr Körper besaß die Größe eines Menschenkopfes, jedes Bein war so lang wie ein Männerarm. Entsprechend viel Kraft saß hinter dem Schlag, der wirkungslos verpuffte. Das schwarze, behaarte Bein pfiff an Peters Ohr vorbei. Entsetzt blickte er der Spinne nach, die sich an einem dünnen glänzenden Faden wieder höher zog. Jetzt wußte er, wieso er die Tür nicht öffnen konnte. Eine Spinne hatte einen Faden quer über den Eingang gesponnen. Die klebrige Substanz hielt die Tür zu. Die zweite Spinne griff an. Ihr Netz hing tiefer als das der ersten, so daß Peter sich zu Boden werfen mußte, um dem Schlag zu entgehen. Er packte das Messer fester und stach nach dem Faden an der Tür. Die Klinge traf und glitt über das schimmernde Gebilde, erzielte jedoch nicht die geringste Wirkung. Obwohl das Messer scharf geschliffen war, widerstand der Spinnenfaden.
Nun erkannte Peter das ganze Ausmaß der Gefahr. Seine Blicke zuckten gehetzt durch den Raum. Er versuchte, gleichzeitig alle vier Gegner zu beobachten. Sie liefen unaufhörlich hinauf und hinunter, fügten ihren kunstvollen Netzen weitere Lagen hinzu, erweiterten sie und arbeiteten sich zum Boden vor. Nun bogen sich die Netze schon unter ihrem Gewicht durch. Die nächste Spinne griff an. Peter rollte sich zur Seite. Es knirschte, als ihr Bein den Fußboden traf. Sie riß ein großes Stück aus dem Teppichboden und hinterließ ein tiefes Loch in dem darunterliegenden Holzboden. Peter schauderte. Diese Bestien verfügten über gewaltige Kräfte. Die Tür mußte er vergessen. Sie würde sich für ihn nicht öffnen. Blieb nur der Balkon mit der Feuerleiter. Doch um dorthin zu gelangen, mußte er quer durch den Raum, zwischen den Spinnen hindurch und unter ihren Netzen hinweg. Es war fast aussichtslos, und doch mußte er es versuchen. Er hatte gar keine andere Wahl. In diesen Momenten hätte er sich eine Waffe gewünscht, mit der er alles Schwarzmagische ausrotten konnte. Da er eine solche Waffe nicht besaß, mußte er sich auf seine Kraft und sein Geschick verlassen. Eine Minute zwang er sich zum Stilliegen. Er beobachtete sein Feinde, merkte sich ihre Wege in den Netzen und schätzte den richtigen Zeitpunkt ab. Als sich alle vier der Zimmerdecke näherten und möglichst weit von ihm entfernt waren, schnellte er sich vom Boden hoch und hechtete durch den halben Raum, prallte mit der Schulter auf den Teppich und rollte sich ab. Noch während er sich herumwälzte, sah er, wie sie sich auf ihn stürzten. Eine Spinne ließ sich fallen. Mit einem häßlichen platschenden Ge-
räusch kam sie dicht neben ihm auf. Die drei anderen umzingelten ihn. Eine versperrte ihm den geraden Weg zum Balkon. Die beiden anderen sicherten die Seiten. Peter wirbelte im Liegen herum. Sein rechter Fuß zuckte vor und traf den Spinnenkörper, schleuderte ihn hoch und wich einem Schlag aus. Die Spinne versuchte, sich an seinem Bein festzuklammern, schaffte es nicht und wurde in ihr eigenes Netz hochkatapultiert, verfing sich darin und kam nicht sofort frei! Doch da waren die drei anderen. Eine Spinne spuckte einen silbrigen Faden nach Peter und traf ihn an der Schulter. Er wollte ausweichen, doch der Faden klebte fest. Er hing wie an einer Leimrute und konnte sich nicht befreien. Die beiden anderen Ungeheuer rückten weiter vor. Sie hatten ihn in der Zange und brauchten sich nicht zu beeilen. Er entkam ihnen nicht mehr! Zu dritt waren sie schon unüberwindlich. Nun befreite sich auch noch die vierte Spinne und fiel Peter in den Rücken. Je mehr er sich gegen den klebrigen Faden wehrte, desto stärker verstrickte er sich. Bei jeder Berührung hing er fester. Hastig riß er sich die Jacke vom Körper. Sie war untrennbar mit dem Spinnfaden verbunden. Ein Ruck! Die Spinne zog den Faden ein. Die Jacke flog durch die Luft und blieb im Netz hängen. Sofort stürzte sich die Bestie darauf. Mit Schaudern sah Peter, wie sich die Beine um die Jacke spannten und sie zusammendrückten. Das Ungeheuer bemerkte zu spät, daß er nicht darin steckte. Es zerfetzte die Jacke vollständig. Die einzelnen Teile verschwanden in einem schmatzenden Maul. Diese Spinnen widersprachen in allen Punkten der Natur. Sie waren bloßes Dämonenwerk. Mit bebenden Lippen flüsterte Peter eine weißmagische Beschwörung. Er packte das Messer fester, obwohl er schon ahnte, daß es
ihm im entscheidenden Moment nicht half. Die Jacke war völlig verschwunden. Alle vier Spinnen nahmen ihr Opfer aufs Korn. Sie ließen dem jungen Großmeister keine Chance. Um Handbreite nur verfehlten ihn ihre Schläge. Eines der schwarzen Spinnenbeine traf das Messer. Es flog in hohem Bogen davon, blieb in einem Netz hängen und klebte fest. Auch die weißmagische Beschwörung hatte nichts genützt. Es war vorbei! Wie auf ein geheimes Kommando hoben alle vier Riesenspinnen die vordersten Beine. Sie zielten auf den eingeschlossenen Großmeister. Ihre schwarzen Augen waren auf Peter Winslow gerichtet. Ihre harten Beine mit den spitzen Enden zielten auf seinen Kopf. Peter griff zum allerletzten Mittel. Er schickte einen lautlosen Hilferuf in eine andere Dimension. Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als die Riesenspinnen zuschlugen!
* Butler Harvey stand vor dem Portal von Sagon Manor, als Maud den Geländewagen abbremste. Sein scharfer Blick erfaßte sofort die Beulen in dem starken Stahlblech. Er brauchte nicht erst zu fragen. Es war unterwegs etwas geschehen. Wenn auf Sagon Manor etwas geschah, ging es fast immer von Mortland aus. Harveys Blick zuckte zu den Turmspitzen des fluchbeladenen Herrenhauses hinüber, ehe er neben den Geländewagen trat. »Wir müssen sie vorsichtig ins Haus bringen«, sagte Maud und stieg aus. Mit einer müden Handbewegung deutete sie auf die beiden Frauen. »Und wir dürfen sie in der nächsten Zeit nicht unbeob-
achtet lassen.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Harvey half der jüngeren Frau aus dem Wagen. »Was ist passiert?« erklang Lord Hubbard Winslows Stimme. Er und seine Tochter Alicia kamen aus dem Haus. Maud deutete auf die beiden Frauen. »Sie wurden überfallen.« Der Lord blickte automatisch nach Mortland hinüber. Von dort drüben war seine Frau zu ihm gekommen, ohne zu ahnen, daß ihr Vater ein Schwarzmagier war. Er selbst hatte sie noch in jungen Jahren in den Tod geschickt. Lord Hubbard Winslow schob diese trüben Gedanken von sich und half mit, die beiden Frauen in den Wohnraum des Hauptgebäudes zu bringen. Dort legten sie sie auf die breiten, bequemen Sofas. Der Lord schenkte Cognac in zwei Gläser, während sich Maud und Alicia Winslow um die Opfer des Überfalls kümmerten. »Wissen Sie nichts Genaues, Maud?« fragte der Lord dabei. Sein Hausmädchen hätte ihm erklären können, womit der Besuch der Frauen vermutlich zusammenhing. Sie wollte jedoch nicht so deutlich werden, so lange George Poppards Mutter mithörte. Deshalb hob sie bedeutungsvoll die Augenbrauen. Die Jüngere nahm das Glas und trank den Cognac in einem gierigen Schluck wie eine Ertrinkende. Der Älteren mußte Maud den Cognac einflößen. Sie verschluckte sich, hustete und bekam wieder Farbe. »Wo … bin ich?« fragte sie stockend. »Auf Sagon Manor, Madam.« Lord Winslow setzte sich. »Wollten Sie zu uns?« »Ja!« Die Ältere nickte heftig. »Ich bin Mrs. Poppard, Mutter eines gewissen George Poppard. Mein Sohn hat Abschiedsbriefe an mich und seine Freundin geschickt. Ach, das ist Ann Bliss, die Freundin meines Sohnes.« Ann Bliss sah zu Maud und schüttelte leicht den Kopf.
»Seien Sie ganz ruhig, Miß Bliss«, sagte Maud. »Ich tue für Sie, was ich kann.« Ann verstand und nickte beruhigt. »In diesen Abschiedsbriefen«, fuhr Mrs. Poppard fort, »kündigte mein Sohn an, daß wir ihn nie wiedersehen würden. Das Schicksal hätte ihn frühzeitig abberufen. Er drückte sich nicht genauer aus. Wir sollten nicht nach ihm suchen. Aber schon früher sagte er uns, daß wir auf Sagon Manor nach ihm fragen sollten, falls ihm einmal etwas zustoßen sollte. Verstehen Sie das, Mister …?« »Winslow, Lord Hubbard Winslow.« Der Lord brauchte von Maud nicht eigens um Vorsicht gebeten zu werden. Er hatte schon begriffen. »Ich habe einen sehr großen Bekanntenkreis, Mrs. Poppard«, sagte er ausweichend. »Unter Umständen erfahre ich etwas über Ihren Sohn. Ich werde mich erkundigen. So lange bleiben Sie in meinem Haus.« »Ich bringe Sie in das Gästezimmer«, bot Alicia an. »Sie müssen sich nach den Strapazen erholen, Mrs. Poppard.« Die Mutter des unglücklichen Opfers der Schwarzmagier nickte. »Ich fühle mich schwach«, murmelte sie. »Was war auf der Straße los? Wer hat uns überfallen? Was waren das für … für Wesen?« fragte sie stockend. »Darüber sprechen wir, wenn Sie sich erholt haben«, entgegnete der Lord und gab seiner Tochter einen Wink. Alicia führte die Frau aus dem Zimmer. Als sich die Tür hinter ihr schloß, gab Maud einen kurzen Überblick. »Wohin wollten Sie überhaupt, Maud?« fragte Butler Harvey, der an dieser Besprechung teilnahm. »Ich wollte dem Großmeister nach London folgen«, gab Maud zu. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Viel wichtiger ist, daß Sagon Manor wahrscheinlich von der Außenwelt abgeschnitten ist.« »Die Straße ist durch einen Erdrutsch unterbrochen«, sagte Ann Bliss. Sie wirkte gefaßt. »Sagen Sie, bitte, wer diese entsetzlichen Un-
geheuer waren! Verkleidete Rocker? Oder maskierte Mörder? Und war dieses seltsame, mit Schuppen bedeckte Wesen wirklich George?« Maud warf dem ehemaligen Großmeister einen fragenden Blick zu, und der Lord nickte. Daraufhin gab das Hausmädchen einen kurzen Überblick und erzählte so viel wie nötig über den Bund der Weißmagier. Ann Bliss schüttelte leidenschaftlich den Kopf, als Maud endete. »Das kann ich nicht glauben, ausgeschlossen!« rief sie heftig. Lord Winslow trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ob Sie es glauben oder ob Sie uns für Verrückte halten, Miß Bliss«, sagte er leise, »es ändert nichts am Verlauf der Dinge. Sie müssen bei uns bleiben, bis die Straße wieder frei ist. Daran können auch Sie nichts ändern!« »Ich will mich draußen umsehen!« fuhr Ann Bliss auf. »Und Sie werden mich nicht daran hindern! Ich muß die Wahrheit herausfinden!« Lord Winslow nickte. »Ich kann Sie nicht hindern, das stimmt«, bestätigte er. »Aber wenn Sie das Gebiet von Sagon Manor verlassen, sind Sie verloren. Sie werden dann vielleicht die Wahrheit finden, gleichzeitig aber auch den Tod.« »Bleiben Sie hier«, redete Maud ihr zu. »Nach einiger Zeit werden Sie einsehen, daß wir recht haben.« Ann zögerte und sah die sympathische junge Frau eindringlich an. »Bleiben Sie auch hier, Maud?« fragte sie ängstlich. »Nein«, erwiderte Maud. »Ich werde mich durchschlagen und nach London fahren.« Maud wartete auf Widerspruch des Lords. Hubbard Winslow konnte ihr die Fahrt als ihr Arbeitgeber auf Sagon Manor verbieten, nicht jedoch im Rahmen des Ordens. Er war nicht mehr Großmeister. Doch Lord Winslow schwieg. »Wenn Sie gehen, bleibe ich auch nicht«, bestimmte Ann Bliss.
»Ich bin hierher gekommen, um etwas über Georges Schicksal zu erfahren, aber Sie erzählen mir nur eine Menge Schwachsinn von Dämonen und Geistern! Dort draußen laufen irgendwelche seltsamen Leute herum, die sich wie Fabelwesen verkleiden! Ich will weg hier! Verstehen Sie? Ich bleibe nicht!« Lord Winslow setzte zu einer heftigen Entgegnung an. Er durfte nicht zulassen, daß die junge Frau in den Tod ging. »Verzeihung, Sir«, mischte sich Butler Harvey rasch ein. Er erriet die Gedanken seines Herrn. »Vielleicht darf ich einen Vorschlag machen? Miß Maud und ich sollten Miß Bliss auf einem kleinen Umweg nach Brighton bringen.« Lord Hubbard Winslow sah seinen Butler forschend an. »Umweg?« fragte er. »Wie soll ich das verstehen?« »Wir könnten den Erdrutsch umgehen, indem wir den Weg über Mortland einschlagen«, erwiderte Harvey. Ein schmerzliches Zucken lief über Lord Hubbards Gesicht, wurde er doch an das schreckliche Schicksal seiner Frau erinnert. Dennoch nickte er. »Das ist eine gute Idee, Harvey. Gehen Sie mit Miß Bliss nach Mortland.« Er stand auf und verließ den Raum. Ann Bliss wandte sich an Maud. »Heißt das, daß Sie mich nicht in diesem Haus festhalten?« »Davon war nie die Rede«, entgegnete Maud. Sie stand auf. »Kommen Sie!« »Und was ist mit Mrs. Poppard?« fragte die Freundin des Verschollenen. »Sie muß selbst wissen, was sie will«, sagte Maud entschieden. »Kommen Sie! Wir wollen uns beeilen, damit Sie schnell nach Brighton gelangen.« Ann Bliss sah nicht, daß Butler Harvey einige Vorbereitungen traf und Gegenstände zu sich steckte, die man bei einem herrschaftli-
chen Butler nicht vermutete. Als sie Maud und Harvey quer durch den Park von Sagon Manor folgte, wußte sie auch nicht, daß die beiden sie direkt in die Hölle führten.
* Die vier Riesenspinnen flogen durch die Luft. Mit ihren langen, kräftigen Beinen hatten sie sich von ihren Netzen abgestoßen und zielten auf Peter Winslow. Sie konnten ihn gar nicht verfehlen. Peter krümmte sich zusammen. Sein letzter Gedanke hatte seiner toten Mutter gegolten. Jetzt würde er gleich bei ihr sein, wo immer sich ihr Geist auch aufhielt. Diesen Angriff überlebte er nicht. Alle seine Muskeln zogen sich krampfartig zusammen. Jeden Moment erwartete er den Aufprall der schweren Spinnenkörper, den Druck ihrer Beine, mit denen sie ihn zermalmten. Er hörte ihren Aufprall, ohne ihn zu spüren. Es klatschte viermal so rasch hintereinander, daß nur ein scharfes Ohr alle vier einzelnen Geräusche unterscheiden konnte. Gleich darauf ertönte schrilles Pfeifen und Kreischen, das Peter in den Ohren schmerzte. Alles spielte sich schneller ab, als man es beschreiben kann. Sogar die schnellste Phantasie reicht nicht aus, um sich diesen ungleichen Kampf vorzustellen. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile erkannte Peter Winslow, daß die Riesenspinnen gegen ein Hindernis geprallt waren und ihn nicht berührten. Das belebte ihn augenblicklich. Er warf sich herum, streckte sich und sah die vier Ungeheuer eine Handbreit über ihm. Es wirkte, als würden sie auf einer Glasplatte sitzen, die ihn gegen ihren Angriff abschirmte. Wütend schlugen sie mit ihren langer Beinen gegen das unsichtbare Hindernis, ohne es zu überwinden. Es krachte und knirschte bei
jedem ihrer Schläge. »Peter«, flüsterte eine weiche, sanfte Stimme, und ein warmer Lufthauch strich über sein Gesicht. »Peter …« Kein Mensch war in seiner Nähe, und doch fühlte er, daß er nicht mehr allein war. »Ja, ich höre dich, Mutter«, flüsterte er und blieb trotz des grauenhaften Anblicks der Spinnenmonster still liegen, um sich ganz auf den Geist seiner Mutter zu konzentrieren. »Peter«, wiederholte der Geist. »Kämpfe! Ich kann dich nicht lange schützen! Ich muß mich zurückziehen. Bald sind sie frei und werden dich erneut angreifen … und dann bist du allein … gegen die Todesspinnen … kämpfe, Peter, kämpfe …« Die letzten Worte verwehten. Die Stimme entfernte sich. Das Gefühl der absoluten Sicherheit schwand, und Panik griff nach dem jungen Großmeister. Der Geist seiner Mutter war seinem lautlosen Hilferuf im Moment höchster Gefahr gefolgt. Seine Mutter hatte den Angriff der Riesenspinnen aufgehalten. Sie kämpfte jedoch allein gegen die Mächte der Finsternis. Die Feinde waren stark und sorgten dafür, daß der Kontakt zwischen Mutter und Sohn nie lange anhielt. Seine Mutter ging wieder von ihm, doch sie hinterließ ihm etwas. Als Peter sich verzweifelt nach einer Waffe zu seiner Verteidigung umsah, entdeckte er das Messer. Als er es aus George Poppards Küche geholt hatte, war es ein ganz gewöhnliches Messer gewesen. Jetzt leuchtete die helle Klinge so grell, daß sie Peter blendete. Das Messer lag in Griffweite. Auch das hatte er dem Geist seiner Mutter zu verdanken. »Danke«, flüsterte er, zwang sich dazu, nicht nach oben zu den tobenden Spinnen zu blicken, und hechtete auf das Messer zu. Seine Finger schlossen sich um den Griff. Neue Kraft durchströmte ihn. Er fühlte, daß er stark genug war, um es mit jedem Feind aufzunehmen.
Und das hatte er bitter nötig, denn im selben Moment brach der Schutzschild zusammen, den der Geist über ihm errichtet hatte. Kreischend fielen die Spinnen auf ihn und hackten mit ihren Klauen auf ihn ein. Peter schrie, warf sich auf den Rücken und stach kreisförmig zu. Die Messerklinge traf, und wo sie über die Dämonenspinnen hinwegstrich, stieg schwarzer Rauch auf. Unerträglicher Gestank nach Pech und Schwefel erfüllte den Raum. Die Qualmwolken waren so dicht, daß sie Peter die Sicht nahmen. Er bekam kaum Luft, röchelte und wälzte sich zur Seite. Zwei Dämonenspinnen waren von dem weißmagisch aufgeladenen Messer voll getroffen worden. Ihre abstoßenden Körper lagen auf dem Teppich und zerflossen zu einer übelriechenden breiartigen Masse. Die beiden anderen Spinnen waren nur leicht verletzt. Mit den verbliebenen Beinpaaren schlugen sie heftig in Peters Richtung. Ein Beinende streifte den jungen Großmeister und schleuderte ihn gegen die Wand. Dabei geriet er zu nahe an das tief hängende Netz. Sofort verfing er sich darin und konnte sich von den klebrigen Fäden nicht befreien. Die angeschlagenen Dämonenspinnen sahen ihr Opfer, wie es zappelte und um sich trat und nicht mehr freikam. Sie rückten von zwei Seiten vor, die vordersten Beinpaare triumphierend erhoben. Peters Herz krampfte sich zusammen. Die Bestien zielten nach seiner Brust. Seine Finger klebten an dem Messer genau so fest wie er selbst an dem Spinnennetz. Heiße Impulse jagten von der weißmagischen Waffe durch seinen Körper und trieben seinen Lebenswillen hoch. Peter vollbrachte das scheinbar Unmögliche. In dem Netz hängend, drehte er sich so weit, daß er mit der rechten Hand an seinen linken Arm heran kam. Dazu mußte er seine
ganze Kraft anstrengen, um den Widerstand des Netzes zu überwinden. Er keuchte. Sein Gesicht lief rot an. Schweiß lief in Strömen von seiner Stirn. Er mußte es schaffen! Es blieben ihm nur noch wenige Sekunden. Zoll um Zoll näherte er die rechte Hand mit dem Messer dem linken Arm. Er setzte die Klinge an und schob sie unter die klebrigen, fingerdicken Fäden des Gespinstes. Ein Ruck! Diesmal gab das Netz nach. Mit einem hellen, singenden Ton sprang der Strang entzwei. Peter konnte seinen linken Arm bewegen. Sofort wechselte er das Messer in die linke Hand, befreite auf die gleiche Weise seinen rechten Arm, und aus der Drehung heraus stach er nach der ersten Angreiferin. Die Spinne war nicht mehr so schnell wie zu Beginn. Das Messer hatte sie schon einmal verletzt, und die weißmagischen Kräfte der Klinge wirkten nach. Deshalb könne sie jetzt nicht rechtzeitig ausweichen. Peters Stich traf sie mitten in den aufgeblähten Körper. Aus ihrem Maul scholl ein gräßlicher Schrei, dann erklangen Worte in einer Sprache, die Peter nur zu gut kannte. Es war die Sprache der Schwarzmagier und Satansverehrer, der Dämonen und aller, die sich dem Bösen verschrieben hatten. Er verstand sie nicht, doch er fühlte, daß ihm der Dämon der vergehenden Riesenspinne einen schauerlichen Fluch entgegenschleuderte. Sofort kreuzte er die Messerklinge mit seiner linken Hand und erwiderte den Fluch mit einem weißmagischen Bannspruch, holte aus und stach nach der letzten noch existierenden Riesenspinne. Sie war raffinierter und vor allem durch den Tod der anderen gewarnt. Sie wich mit einem mächtigen Satz der Messerklinge aus, packte das Netz und zog sich daran höher. Peter verlor sie aus den Augen, als sie in dem Gewirr der schim-
mernden Fäden verschwand. Es war totenstill im Raum. Nicht einmal Straßenlärm drang bis hier herauf. Mit angehaltenem Atem lauschte er, ob er irgendwo ein Lebenszeichen der Spinne erhaschte. Es blieb still. Das Netz bewegte sich nicht. Peter mußte sich erst vollständig befreien, um seine Bewegungsfreiheit wiederzuerlangen. Er setzte das Messer an den Fäden an, die seine Beine zusammenhielten, schnitt sie durch und stürzte aus dem Netz auf den Boden. Kaum prallte er auf, als er über sich einen schwarzen Schatten sah. Die Riesenspinne ließ sich von der Zimmerdecke auf ihn fallen. Der Geist seiner Mutter war noch unsichtbar bei Peter, sonst hätte er nicht so schnell reagieren können. In einer fließenden Bewegung reckte er der Spinne das Messer entgegen. Er fühlte den gewaltigen Ruck, als das Monster auf die Klinge fiel und sich selbst tötete. Angewidert schleuderte er das Messer und den ausgeschalteten Dämon von sich und stand auf. Er konnte sich zu seiner vollen Größe aufrichten, da mit der letzten Spinne auch die Netze zerfielen. Sie lösten sich zu feinem Staub auf, vor dem Peter sich auf den Balkon rettete. Ein Windstoß fauchte durch die Wohnung. Eine silbrig schimmernde Wolke trieb aus einem offenen Fenster und verschwand in dem Hinterhof des fluchbeladenen Hauses. Die erste Falle der Feinde war zwar zugeschnappt, hatte ihr Opfer jedoch wieder freigegeben. Peter brauchte bestimmt nicht lange zu warten, bis er in die zweite Falle geriet. Seine Feinde konnten es sich nicht leisten, ihn am Leben zu lassen. Sie mußten ihn töten, wollten sie ihr schändliches Werk vorantreiben. Der junge Großmeister streckte und dehnte sich, daß die Nähte seines T-Shirts gefährlich knackten. Er mußte unter die Dusche und
frische Kleider anziehen. Und dann wollte er sich die anderen Hausbewohner vornehmen. Einer von ihnen hatte George Poppard mit dem todbringenden Fluch belegt. Als Peter Winslow das Apartment betrat, war keine Spur des Spinnenangriffs mehr zu sehen. Die Wohnung wirkte, als habe soeben eine Putzkolonne eine Großreinigung durchgeführt. Er klappte seine Reisetasche auf und packte fertig aus, nahm frische Wäsche und wollte ins Bad, als er wie angewurzelt stehenblieb. Wenn er sich nicht sehr täuschte, erklang von der Tür feines Schaben. Peter konnte sich auf seine Sinne verlassen. Er schlich zur Tür, schloß blitzschnell auf und riß sie auf. Jeremy Silex hatte nicht genügend Zeit, um sich aus der gebeugten Stellung aufzurichten. »Das Auge am Schlüsselloch«, sagte Peter spöttisch. »Ist das Ihre Auffassung von den Pflichten eines Hausmeisters, Silex?« Der hagere Mann wurde puterrot im Gesicht. »Ich habe Geräusche gehört«, murmelte er. »Schreie und Poltern.« »Hier hat niemand geschrien oder gepoltert, Silex.« Peter deutete zur Treppe. »Dort geht es zu Ihrer Wohnung hinunter, okay? Und wenn ich Sie noch einmal beim Schnüffeln erwische, werde ich unangenehm! Typen wie Sie mag ich nämlich gar nicht!« In geduckter, demütiger Haltung schlich Jeremy Silex zur Treppe und hastete nach unten. Auf dem ersten Absatz warf er einen Blick zu Peter Winslow zurück, und dieser Blick versprach nichts Gutes. Peter las darin mühsam zurückgehaltene Wut. Er hatte diesen Mann zweimal zurechtgewiesen und ihn bei seiner Lieblingstätigkeit, dem Spionieren, erwischt. Das verzieh Silex ihm nie, und Peter wußte, daß er sich in Silex einen zusätzlichen Feind geschaffen hatte. »Als ob ich nicht schon genug Todfeinde hätte«, sagte er halblaut, als er unter die Dusche stieg.
* »Dieses Anwesen«, erklärte der voranschreitende Butler Harvey, »gehörte einst einem Anhänger der Schwarzen Magie. Als er starb, setzten sich hier Geister und Dämonen fest. Manchmal halten sich auch Untote auf Mortland auf. Das sind Leichen, die zu einem zweiten, zu einem unnatürlichen Leben erwachen und von Schwarzer Magie gesteuert werden.« Er wandte den Kopf zu den beiden Frauen, die ihm schweigend folgten. »Können Sie verstehen, was ich sage, Miß Bliss?« George Poppards Freundin nickte mit einem spöttischen Lächeln. »Selbstverständlich! Jedes Wort ist klar! Klingt alles ganz logisch.« Harvey antwortete nicht. Ann Bliss glaubte kein Wort über Geister und Dämonen. Genau aus diesem Grund wollten er und Maud ihr Mortland zeigen. Sie mußte ihre Meinung ändern, damit sie keinen selbstmörderischen Alleingang versuchte. Das Hausmädchen Maud spielte ihr eigenes Spiel, doch das brauchte noch niemand zu wissen. Maud hakte sich leicht bei Ann Bliss unter. »Was soll das?« fragte Ann gereizt. »Lassen Sie mich los!« »Wir überschreiten die Grenze von Mortland«, erklärte Maud. Gleich darauf versuchte Ann nicht mehr, sich loszureißen. Auch sie als Uneingeweihte spürte die Veränderung. Eine Aura der Bedrohung schlug ihr entgegen. Sie begann zu zittern. Maud fühlte es. »Wir sind bei Ihnen, Ann«, flüsterte Maud. »Bleiben Sie immer in Harveys Nähe. Er wird Sie schützen.« Ann zitterte noch heftiger, als ihnen eisiger Lufthauch entgegenstrich. Es roch nach Moder und Fäulnis. »Das sind die unterirdischen Gewölbe von Mortland«, erklärte Harvey gedämpft. »Dort unten halten sich immer einige Höllenboten auf.«
Sie schritten zwischen entlaubten Büschen auf ein mächtiges, halb zerfallenes Herrenhaus zu. Die Fensterhöhlen waren leer. Sie glotzten schwarz und drohend auf die Menschen herunter, die sich hierher wagten. Neben dem Weg gähnten riesige Gruben. Unten zweigten Stollen ab. Ann Bliss sah nur schwarze Löcher. In die Stollen selbst konnte man nur sehen, wenn man sie betrat. Die Gruben waren sehr tief. Wer da hinunter fiel, riskierte es, sich den Hals zu brechen. Daß da unten noch andere Gefahren lauerten, merkte Ann Bliss gleich darauf. Sie stieß einen schrillen Schrei aus und wäre gestürzt, hätte Maud sie nicht festgehalten. In einer Grube platzte die lockere Erde auf. Ein Untoter schob sich aus dem Boden hervor. Er schlug mit den Armen um sich und starrte aus erloschenen Augen zu den Menschen herauf. Deutlich war zu sehen, daß er an einer Halsverletzung gestorben war. Dennoch bewegte er sich und grub sich frei, versuchte den Aufstieg und rutschte ab. Harvey ging weiter, als habe er nichts bemerkt. Er strebte dem Haupteingang von Mortland zu. »Maud, wer ist das?« flüsterte Ann bebend und deutete in die Grube. Maud antwortete nicht. Ann hätte ihr nicht geglaubt. Jetzt noch nicht! Sie brauchte mehr Anschauungsunterricht. Den bekam sie gleich darauf, als Harvey den Fuß auf die unterste Stufe der Freitreppe setzte. Aus der leeren Öffnung des Portals trat ein Skelett. Ein halb verrottetes Leichengewand hing um die knöchernen Schultern. In den leeren Augenhöhlen glomm ein roter Funke, der sich von Sekunde zu Sekunde verstärkte. Die roten Lichtstrahlen aus dem Totenschädel schweiften kurz über die Treppe und trafen Ann Bliss.
Die junge Frau bäumte sich auf. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, brachte jedoch keinen Ton hervor. In diesem Moment war sie durch die roten Strahlen mit den Bewohnern von Mortland verbunden. Sie erkannte, wie diese Wesen fühlten und dachten und von welchen Kräften sie gesteuert wurden. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Dieser kurze Kontakt mit dem Knochenmann bewirkte mehr, als Lord Winslow und seine Helfer je vermocht hätten. Ann Bliss wußte, daß ihr bisheriges Weltbild falsch war. Sie erkannte, welche Wesen es gab, Wesen, die meistens von den Menschen unbemerkt handelten. »Ich will weg!« schrie sie auf. »Bringt mich weg!« Harvey griff unter seine Dienerjacke. Plötzlich lag in seiner Hand eine schwere Pistole. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Aus dem Lauf der Pistole kam kein Geschoß. Ein unter gewaltigem Druck stehender Wasserstrahl zischte auf das Skelett zu, traf den Totenschädel und hüllte das Monster in Sekundenbruchteilen in einen Flüssigkeitsnebel ein. Der Knochenmann schleuderte die Arme hoch, konnte sich jedoch nicht gegen den Beschuß wehren. Das rote Leuchten seiner Augenhöhlen erlosch. Er brach in die Knie, und im nächsten Augenblick setzte die Wirkung der Flüssigkeit ein. Dämpfe stiegen auf. Das Skelett zerfloß wie Butter auf einer Herdplatte. Es verlor völlig die Form und war Sekunden später völlig verschwunden. »Dieses Wasser wurde mit weißmagischen Essenzen vermischt«, erklärte Butler Harvey und klopfte auf seine Pistole. Er tat, als wäre es für einen herrschaftlichen Butler ganz selbstverständlich, mit speziellen Pistolen Skelette auszuschalten. »Können wir jetzt zurückgehen, Miß Bliss?« Ann Bliss starrte ihn aus großen Augen an. Dann begann sie, abgehackt zu lachen. »Ihr seid alle verrückt!« schrie sie Harvey an.
Maud nickte dem Butler zu. »Gehen wir, sie hat verstanden«, sagte sie leise und führte Ann zurück. Sie kamen nicht weit. Der Untote hatte sich aus der Grube befreit und versperrte ihnen den Weg. Er griff an, ehe Harvey seine Spezialpistole einsetzen konnte. Mit weit vorgestreckten Händen wankte er auf Ann Bliss zu, die vor Entsetzen in die Knie brach. Anstatt wegzulaufen, blieb Ann in Reichweite des wandelnden Leichnams. Maud hatte keine andere Wahl, als sich auf einen ungleichen Kampf einzulassen. Sie schnellte sich an Ann vorbei und warf sich auf den Zombie. Sie sah seine Hand auf sich niedersausen und riß den Kopf zur Seite. Seine Hand streifte ihre Schulter, daß sie zur Seite geschleudert wurde. Maud brach auf dem Weg in die Knie. Jetzt konnte sie Ann nicht mehr helfen. Das war auch nicht nötig, denn nun war Harvey heran. Er hüllte auch den Untoten in einen Nebel der weißmagischen Flüssigkeit. Der Zombie wich zurück, geriet an den Rand einer Grube und stürzte hinunter. Auf dem Grund löste er sich auf, wurde zuerst zum Skelett und zerfiel danach völlig zu Staub. Harvey zog Ann Bliss auf die Beine. Maud sprang auf und sah sich um. Die Gelegenheit war günstig. Kein Angreifer zeigte sich in der Nähe. Sie waren noch auf dem Gebiet von Mortland. »Harvey!« rief Maud hastig. »Ich schlage mich zu Peter durch. Er braucht mich! Viel Glück!« Sie wußte, daß der Butler Ann nach Sagon Manor zurückbringen konnte. Dazu brauchte er sie nicht. »Warten Sie, Maud!« rief Harvey hinter ihr her, doch Maud lief bereits los.
Sie schlug einen Bogen um die Gruben, in denen sich einige abscheuliche Gestalten regten. Keiner der Höllenboten war schnell genug, um Maud aufzuhalten. Ann war vor Entsetzen wie von Sinnen. Sie war dankbar, daß der Butler sie fest am Arm nahm und sie mit sich zog. Fünf Minuten später erreichten sie und Harvey Sagon Manor. Der Butler meldete dem Lord, daß Maud nach London unterwegs war. Maud überquerte zur selben Zeit die Grundstücksgrenze von Mortland. Seitlich in den Büschen rauschte es. Drei Dämonen erschienen. Ihre hervorquellenden Froschaugen in den schuppigen Gesichtern glühten in intensivem Rot, doch sie hatten nicht damit gerechnet, daß ein Gegner von Mortland kam. Sie hatten die Straße beobachtet. Maud war vorbei, ehe die Monstren angriffen. Sie verfolgten die junge Frau, doch Maud war zu schnell. Sie vergrößerte ihren Vorsprung. Die Dämonen gaben die Verfolgung auf. Zwanzig Minuten später sah sie Brighton vor sich, ging langsamer und erreichte die Busstation fünf Minuten vor Abfahrt des nächsten Wagens nach London. Obwohl auch Maud mit einer Überwachung durch Schwarzmagier rechnete, entdeckte sie niemanden. Sie sah auch den Mann nicht, der kurz nach ihrer Abfahrt eine Telefonzelle betrat und nach London meldete, daß nun auch sie unterwegs war. Die Gegenseite kannte Mauds Fähigkeiten. Sie war wichtig genug, um gemeinsam mit dem Großmeister in der Falle der Charing Cross Road zu sterben. Nur deshalb ließ man sie überhaupt bis London kommen.
* Die ganze Zeit unter der Dusche hatte Peter Winslow das Gefühl, daß jemand intensiv an ihn dachte. Er war kein Medium und hatte
bisher an sich keine parapsychischen Fähigkeiten entdeckt. Das schloß jedoch nicht aus, daß auf geistigem Weg ein Ordensmitglied Kontakt aufnehmen wollte. Er entspannte sich und versuchte, an nichts zu denken. Dennoch kam kein Kontakt zustande. Jeden Moment rechnete er damit, daß das Telefon oder die Türklingel sein Duschvergnügen beenden würde. Nichts geschah. Erst als er sich abtrocknete, schlug der Türgong an. Peter schlüpfte schnell in einen von George Poppards Bademänteln und lief zur Tür. »Wer ist da?« rief er, bevor er öffnete. »Sie haben jemanden zum Überprüfen der Leitungen angefordert, Sir!« antwortete draußen eine klangvolle Stimme. Peter erkannte den Mann augenblicklich an der Stimme. Erleichtert schloß er auf. »Gut, daß Sie so schnell kommen«, sagte er so laut, daß man es im Treppenhaus hörte. Bestimmt schnüffelte irgendwo Hausmeister Silex herum. »Kommen Sie herein.« Er ließ den Mann mit dem schwarzen Vollbart, der Glatze, dem schütteren Haarkranz und der randlosen Brille eintreten. Der Mann war ungefähr vierzig Jahre alt, hieß Baker, trug eine Werkzeugtasche bei sich und war innerhalb des Ordens als Satansspürer bekannt. Mr. Baker verneigte sich, als Peter die Tür schloß. »Ich stehe zu Ihren Diensten, Großmeister«, sagte er höflich. »Danke!« Peter streckte ihm die Hand entgegen. »Was soll die Werkzeugtasche?« Baker zuckte die Schultern. »Sie möchten, daß ich in diesem Haus die Spur des Bösen verfolge, Sir. Nun, ich werde in allen Wohnungen die Gasanschlüsse kontrollieren. Das ist unverdächtig, Sir!« »Ausgezeichnete Idee«, lobte Peter. Der Satansspürer holte einen Ausweis aus der Tasche. Mark Baker, stand darin zu lesen, war
Techniker der Londoner Gaswerke. »Der Ausweis ist echt«, erklärte Mark Baker. »Ich arbeite tatsächlich für die Gaswerke.« Peter lachte. Er klopfte dem Satansspürer anerkennend auf die Schulter. Dann erklärte er in knappen Worten, worum es ging. »Wir müssen also den Bewohnern dieses Hauses finden, der George Poppard mit dem schwarzmagischen Bann belegte«, schloß er. »Sie erhoffen sich von mir schnelle Hilfe, Sir«, stellte der Satansspürer fest. »Sie irren sich.« »Und warum?« fragte Peter enttäuscht. »Haben Sie Ihre Fähigkeiten inzwischen verloren?« »Keineswegs«, antwortete Mark Baker. »Aber ich habe schon im Treppenhaus unzählige Spuren des Bösen festgestellt. Sie führen überallhin. Wenn es danach ginge, könnten wir alle Bewohner dieses Hauses verdächtigen.« »George Poppard sprach nur von einer Person.« Peter Winslow überlegte angestrengt. »Halten Sie es für möglich, Mark, daß einer der Unseren längere Zeit in einem Haus voller Schwarzmagier existieren könnte?« »Nur unter einer sehr guten Tarnung«, erwiderte Baker. »Sonst würden ihn die Schwarzmagier sofort beseitigen.« »Poppard war kein besonderes Mitglied des Ordens«, überlegte Peter laut. »Ich hätte sonst von ihm gehört. Auf Sagon Manor kannte ihn niemand. Ausgerechnet er sollte sich in einem Haus voller Schwarzmagier eingeschlichen haben? Das glaube ich nicht. Ich vermute, daß es nur einen Schwarzmagier hier gibt. Den müssen wir finden.« Mark Baker deutete zur Tür. »Ich mache mich gleich an die Überprüfung der Gasanschlüsse«, bot er an. »Ich begleite Sie«, entschied Peter. »Ich bleibe ständig in Ihrer Nähe, dar Ihnen nichts zustößt.« »Sehr beruhigend, Sir«, erwiderte Mark Baker mit einem knappen
Lächeln. »Verzichten Sie auf das ›Sir‹, es ist zu verräterisch«, bat Peter. »Gehen wir! Bei dieser Gelegenheit lerne ich gleich die Leute kennen.« Auf seiner Etage wohnte niemand. Sie stiegen eine Treppe tiefer. In jedem Stockwerk gab es zwei Wohnungen. Peter Winslow klingelte an der einen Tür. »Hamilton« stand auf dem Schild. Eine alte Frau mit dicken Brillengläsern und schlohweißen Haaren öffnete lächelnd. Als sie die Fremden sah, stieß sie einen Schrei aus und knallte ihnen die Tür vor der Nase zu. Während sich Peter Winslow und Mark Baker noch verblüfft anstarrten, ertönte hinter der Wohnungstür der Mrs. Hamilton lautes Poltern, als schlage jemand mit einem Hammer gegen die Wand. Gleich darauf flog die zweite Wohnungstür auf diesem Treppenabsatz auf. Ein Mann, blond, bärtig, in verwaschenen Jeans und mit einem zerknitterten bunten Hemd schoß aus seiner Wohnung. Er blieb stehen, als er Peter und den Satansspürer sah, betrachtete sie aufmerksam und klopfte gegen Mrs. Hamiltons Tür. »Ich bin es, Robby!« rief er. »Alles in Ordnung?« Die alte Frau öffnete die Tür. »Robby! Gut, daß Sie kommen! Wer sind diese Leute? Ich dachte, Sie wären es, und öffnete.« Der Blonde grinste. »Mrs. Hamilton ist vorsichtig«, sagte er entschuldigend zu Peter. »Ich beschütze Sie. Kenne ich Sie?« Peter stellte sich vor. »Ich wohne für einige Zeit da oben.« Er deutete zum vierten Stock. »Ich habe nicht so viel Zeit«, rief Mark Baker mit gespielter Ungeduld. Er stellte sich ebenfalls vor. »Darf ich reinkommen, Mrs. Hamilton?« »Ja, aber nur Sie!« entschied die alte Frau. »Robby! Bleiben Sie in der Nähe?« »Hier vor Ihrer Tür, Mrs. Hamilton«, versicherte Robby. Er wandte sich an Peter. »Endlich kommt ein junges Gesicht in dieses Haus. Ich heiße Robby Blake und bin Kunststudent. Mrs. Hamilton vertraut
mir. Wissen Sie, Peter, sie kann ihre Wohnung nicht verlassen. Drei Treppen sind für sie zu viel. Also kaufe ich für sie ein und mache alle anderen Besorgungen. Dafür gibt sie mir ein wenig Geld, wenn ich knapp bei Kasse bin, und das bin ich immer.« »Wenn Sie Lust haben, können Sie mich jederzeit besuchen.« Peter mochte rein gefühlsmäßig den jungen Mann, blieb jedoch vorsichtig. Er durfte sich nicht auf Äußerlichkeiten verlassen. »Sie sind anders als Poppard«, stellte Robby Blake fest. »Poppard grüßte nur und wollte mit niemandem im Haus etwas zu tun haben.« »Die Menschen sind eben verschieden«, sagte Peter. »Wo ist Mr. Poppard?« erkundigte sich Robby Blake. »Verreist«, wich Peter aus. »Welche Kunstrichtung studieren Sie, Robby?« »Malerei!« Blake deutete auf seine Wohnungstür. »Kommen Sie herein, Peter. Ich zeige Ihnen meine Kunstwerke.« Mrs. Hamiltons Wohnungstür öffnete sich. Der Satansspürer trat auf den Korridor. »Alles in Ordnung, Mrs. Hamilton«, versicherte er. »Nun zu Ihnen, Mr. Blake.« Peter warf dem Satansspürer einen fragenden Blick zu und erhielt ein leichtes Kopfschütteln als Antwort. Baker hatte nichts entdeckt. Die Wohnung des Malers sah chaotisch aus. Überall lagen Farbtuben herum. Bilder hingen an den Wänden. Unbenutzte Leinwand lag auf dem Boden. Peter starrte fasziniert auf die Bilder. Sie übten eine fast hypnotische Wirkung aus. Wirre Farben und Linien verstärkten den Eindruck. »Unglaublich«, murmelte Peter. »Da staunst du, was?« rief Robby Blake. »Ja, ich bin wirklich ein Künstler! Ich habe den menschlichen Geist studiert und weiß, wie man Wirkung erzeugt. Nur die Kritiker und Galeriebesitzer wissen
nicht, wie gut ich bin.« »Ich verstehe nichts von Gemälden«, sagte Mark Baker ungeduldig. »Ich verstehe nur etwas von Gasgeräten. Wo sind sie, Mr. Blake?« »In der Küche und im Bad, wo sonst?« fuhr ihn der Maler wütend an. »Ein unmöglicher Kerl, Peter, findest du nicht?« Peter Winslow antwortete nicht. Er ging von einem Gemälde zum anderen. Er hatte das Gefühl, als wollten die Bilder mit ihm sprechen und ihm etwas mitteilen. »Bist du ein Medium, Robby?« fragte Peter leise. »Hellseher? Hast du ungewöhnliche Fähigkeiten?« Er fing den verblüfften Gesichtsausdruck des Malers auf, ehe er sich dem nächsten Bild zuwandte. »Wie kommst du zu dieser Frage?« forschte Robby Blake. Peter zeigte auf die Gemälde. »Sie leben«, sagte er stockend. »Sie können sprechen. Ich muß ihre Sprache nur erst lernen.« »Sie gefallen dir?« fragte Robby unsicher. Peter wandte sich ihm zu. »Sie sind faszinierend«, sagte er heiser. »Sie strahlen das Böse aus! Verstehst du, Robby? Sie sind dämonisch!«
* Obwohl er nicht mehr der Großmeister war, runzelte Lord Hubbard Winslow doch die Stirn. »Wie kann Maud das tun?« fragte er. »Sie hat weder mich als ihren Arbeitgeber, noch meinen Sohn als ihren Großmeister um Erlaubnis gefragt.« Butler Harvey stand mit undurchdringlicher Miene neben dem Lord. »Es war mir leider unmöglich, Maud aufzuhalten, Milord«, erklärte er leise. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Harvey«, entgegnete Lord Winslow. »Ich stelle nur fest, daß es unter meiner Führung eine sol-
che Disziplinlosigkeit nicht gegeben hätte.« Harvey räusperte sich. »Vielleicht, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, hat es etwas mit dem besonderen Verhältnis zwischen Maud und dem neuen Großmeister zu tun.« »Besondere Beziehung?« Lord Winslow wurde hellhörig. »Drücken Sie sich deutlicher aus, Harvey. Wie meinen Sie das? Mein Sohn und Maud …?« »Sicher nicht so, wie Sie nun vermuten mögen, Sir!« Harvey bemühte sich um klare Ausdrucksweise, was ihm sichtlich schwer fiel. »Trotz der Stellung Ihres Sohnes als Großmeister, fühlt Maud sich irgendwie für ihn verantwortlich. Sie meint, daß sie ihn beschützen muß, weil sie älter und erfahrener als er ist.« Lord Winslow hob belustigt eine Augenbraue. »Erfahrener – auf welchem Gebiet, Harvey?« »Milord!« rief der Butler hastig. »Ich spreche von Schwarzer und Weißer Magie!« »Dann bin ich beruhigt«, antwortete Lord Winslow lächelnd. »Gut, danke Harvey! Ach, noch etwas! Was machen unsere Gäste?« »Mrs. Poppard schläft, und Miß Bliss hat nicht mehr den Wunsch, Sagon Manor auf eigene Faust zu verlassen.« Harvey verneigte sich und verließ den Raum. Lord Winslow warf einen Blick in den Park. Es war nebelig, wobei er nicht unterscheiden konnte, ob dieser Nebel von der allgemeinen Wetterlage herrührte, oder ein Bestandteil der Blockade durch die Dämonen von Mortland war. Er beschloß, sich an den Grenzen umzusehen, verließ das Haus und nahm seinen Rundgang auf. Er war noch keine zehn Schritte gegangen, als er hinter sich jemanden näherkommen hörte. Rasch drehte er sich um. »Mrs. Poppard«, sagte der Lord überrascht. »Ich dachte, Sie ruhen sich aus.« Seine von Natur aus blauen Augen richteten sich forschend auf die
Frau, in deren Gesicht sich tiefe Spuren von Gram eingegraben hatten. »Ich habe keine Minute geschlafen«, erwiderte Mrs. Poppard. »Darf ich mich Ihnen anschließen?« Lord Winslow lud sie herzlich ein, ihn zu begleiten. Er fühlte Mitleid mit dieser Frau, obwohl er in dreißig Jahren als Großmeister gelernt hatte, daß er wie ein Arzt handeln mußte. Es war seine Pflicht, allen in Not geratenen Menschen zu helfen. Er durfte aber nicht unter ihrer Trauer und Angst leiden, sonst hielt er nicht durch. Dennoch wurde er immer wieder von den Schicksalen der Menschen berührt. »Was ist mit meinem Sohn geschehen, Milord?« fragte Mrs. Poppard nach einer Weile. »Sagen Sie mir bitte die ungeschminkte Wahrheit! Ich will es wissen!« Lord Hubbard Winslow zögerte. »Sind Sie auch fähig, die Wahrheit zu hören? Ich fürchte, Sie überschätzen Ihre Kräfte.« Mrs. Poppard bestand darauf. Lord Winslow begann zu erzählen. Dabei näherten sie sich mehr und mehr der Grenze von Mortland.
* »Die Geräte sind in Ordnung«, meldete Mark Baker und wollte die Wohnung des Malers verlassen. Mit Robby Blake ging jedoch eine seltsame Veränderung vor sich. Er vertrat Baker den Weg. »Warten Sie!« bat er. »Setzen Sie sich! Ich möchte Sie malen! Sie haben ein faszinierendes Gesicht!« Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Peter Winslow über die Miene des Satansspürers lachen müssen. Mark Baker war völlig verwirrt, weil jemand sein Gesicht faszinierend fand. Ungläubig betastete er seinen Bart.
Robby holte Leinwand und Farben. Baker warf Peter einen fragenden Blick zu. Der junge Großmeister nickte. Er war gespannt, was bei diesem Versuch herauskam. Robby sah und hörte nicht mehr, was um ihn herum vor sich ging. Er merkte nicht einmal, daß Peter in das angrenzende Schlafzimmer ging und dort Schränke und Regale durchsuchte. Peter arbeitete unbesorgt. Der Satansspürer würde ihn rechtzeitig warnen, falls Robby seine Arbeit unterbrach. Peter erwartete, Bücher über Magie und verwandte Themen zu finden. Er wurde enttäuscht. Es gab einige Bildbände über französische Maler, außerdem Kriminalromane in jeder Menge. Sie schienen die einzige Zerstreuung des Malers zu sein. Peter fand auch einen Reisepaß. Robby Blakes Angaben über seine Person stimmten. Er studierte auch tatsächlich Malerei. Nach außen hin war alles mit ihm in Ordnung. Und doch hatten seine Bilder den Großmeister zutiefst aufgewühlt. Nach fast einer Stunde erst kehrte er in den Wohnraum zurück, der Robby als Atelier diente. Der Satansspürer konnte das Bild nicht sehen, das Robby von ihm anfertigte. Peters Blick fiel zuerst auf das Gemälde. Er stieß einen unterdrückten Schrei aus und schwankte zwischen Überraschung, Begeisterung und Schrecken. Beide Männer sahen ihn an. Robby wurde wütend, während Mark Baker sich anspannte. »Was soll das?« schrie Robby seinen Besucher an. »Warum störst du mich?« Peter winkte ab und machte auch zu Baker eine beruhigende Geste. »Schon gut, tut mir leid«, murmelte er. »Ich bin von jetzt an still. Mach weiter!« Doch Robby schleuderte den Pinsel gegen die Wand. »Ich kann nicht mehr«, sagte er enttäuscht. »Du hast mich aus meiner Stimmung gerissen. Ein zweites Mal finde ich den Anschluß nicht.«
Ehe Peter etwas erwiderte, ertönten drei Schläge an der Wand. »Mrs. Hamilton ruft mich«, sagte Robby und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung. Mark Baker glitt von dem Hocker, auf dem er Modell gesessen hatte, und kam zu Peter. Als er sein Bild sah, weiteten sich seine Augen. »Das darf nicht wahr sein!« rief er aus. »Dieser Robby Blake kennt mich, oder er ist ein Medium!« »Beides ist möglich«, sagte der Großmeister. »Das wäre auch eine Erklärung, weshalb seine anderen Bilder dämonische Ausstrahlung besitzen.« Er konnte seinen Blick nicht von dem Gemälde wenden. Robby hatte Bakers Gesicht gemalt. Baker war deutlich zu erkennen. Es war ein gut gelungenes Porträt. Doch was hatte er hinein gezeichnet! Unter der Haut der Stirn schimmerten vielfach verschlungene Linien durch. Auf den ersten Blick ergaben sie keinen Sinn. Ließ man sie auf sich wirken, formten sie sich zu dämonischen Wesen, die miteinander rangen. Satansfratzen grinsten dem Betrachter entgegen. Unter den Wangen verbargen sich riesige Augen, die den Betrachter zu durchdringen schienen. Die Linien, die Robby innerhalb der Nasenkonturen gemalt hatte, formten ein rüsselartiges Gebilde, das sich wie die Augen in den Wangen auf den Betrachter richtete. Die Wohnungstür öffnete sich. Robby kam zurück. »Ich muß etwas für Mrs. Hamilton einkaufen«, sagte er und hatte seinen Ärger über die Störung schon überwunden. »Was sagt ihr zu dem Bild?« »Ich möchte es kaufen«, entschied Peter spontan. »Wieviel verlangst du, Robby?« Der Maler nahm das Bild von der Staffelei und reichte es Peter. »Ich schenke es dir.«
Peter nahm lächelnd das feuchte Bild entgegen. »So kommst du nie auf einen grünen Zweig«, meinte er. »Wieviel?« Doch Robby blieb hartnäckig. »Es ist ein Geschenk! Du kannst mir auch mal einen Gefallen tun, okay?« »Okay!« Peter zögerte, ehe er eine Frage aussprach. »Wieso hast du dieses Gesicht so sonderbar gemalt?« Robby sah Peter an, als habe er die dümmste Frage der Welt gestellt. »Ich sehe diesen Mann so«, sagte er. Peter Winslow und Mark Baker verließen die Wohnung des Malers. Sie gingen nach oben in Peters Wohnung. Der Großmeister wollte das Bild in Sicherheit bringen und die ersten Ergebnisse hören. »Unglaublich«, murmelte der Satansspürer und deutete auf das Bild. »Unsichtbare Augen und eine überdimensionale Spürnase, die ich auf die Menschen richte. Meine Gedanken sind von Geistern und Dämonen erfüllt. Er hat meine geheimste Funktion als Satansspürer erkannt. Dieser Mann ist ein Phänomen!« »Oder ein Schwarzmagier«, ergänzte Peter Winslow. Er hängte das Bild in Poppards Wohnung an die Wand. »Ich bringe es nach Sagon Manor. Dort bekommt es einen Ehrenplatz. Das bisher einzige Bild des Satansspürers. Was haben Sie herausgefunden?« Baker seufzte. »In beiden Wohnungen gibt es unzählige Spuren des Bösen. Und die Bilder in Robby Blakes Wohnung sind mit dämonischen Kräften förmlich überladen.« »Das habe sogar ich gefühlt.« Peter nagte an seiner Unterlippe. »Mrs. Hamilton oder Robby als Schwarzmagier?« Baker zuckte die Schultern. »Ich muß erst die anderen Wohnungen kontrollieren.« »Gehen wir«, entschied Peter. »Ich bin gespannt, die anderen Bewohner dieses sonderbaren Hauses kennenzulernen.« Im dritten Stock trafen sie Robby, der mit einer Einkaufstasche sein Apartment verließ. Im zweiten Stock befanden sich wieder zwei
Türen. Mark Baker klingelte an der ersten und zückte seinen Ausweis. VALE stand an der Tür. Drinnen drehte sich der Schlüssel im Schloß. Die Tür flog auf. Vor dem Satansspürer und dem Großmeister stand ein Mann mit blutunterlaufenen Augen. In seiner erhobenen Hand blitzte ein Dolch. Mit einem unmenschlichen Schrei stürzte er sich auf Peter Winslow und stach zu …
* Während der ganzen Busfahrt von Brighton nach London glaubte Maud beobachtet zu werden. Sie versuchte mehrmals herauszufinden, wer sich für sie interessierte. Es war vergeblich. Zuletzt setzte sie sich ganz nach hinten, so daß sie die anderen Fahrgäste vor sich hatte. Sie zählte sechsunddreißig Personen. Während der langen und langweiligen Fahrt drehte sich der eine oder andere Passagier schon einmal nach ihr um. Das war unverdächtig. Dennoch wurde Maud das Gefühl nicht los, daß sie unter scharfer Bewachung stand. Der Bus erreichte London in der Abenddämmerung. Peter hatte einen ziemlichen Vorsprung, und Maud machte sich Sorgen um ihren Großmeister. Er besaß noch so wenig Erfahrung! Sie hatte schon an einigen großen Auseinandersetzungen des Ordens teilgenommen. Bis vor kurzer Zeit hatte Peter Winslow nicht einmal geahnt, daß es diesen Orden der Weißmagier überhaupt gab. Sein Vater hatte es vor ihm geheim gehalten. Der Bus rollte schon durch London, als weiter vorne ein junger Mann aufstand und sich zu Maud setzte. Sie blickte ihn irritiert an, weil er ihr bisher nicht aufgefallen war. Er mochte zwanzig sein,
war auf jeden Fall jünger als sie, hatte lustige dunkle Augen, einen flotten Schnurrbart und einen dunklen Lockenkopf. »Hallo«, sagte er. »Ich bin Peter.« Es berührte Maud, daß er genau wie ihr Großmeister hieß. Dennoch wußte sie nicht, was dieser Peter hier von ihr wollte. »Sehen Sie mich nicht so böse an, Miß«, bat er. Sein Lächeln schmolz ihren Widerstand. »Ich überlege mir schon seit Brighton, wie ich Ihre Bekanntschaft machen könnte. Jetzt sind wir schon in London. Wir beide verlassen in wenigen Minuten diesen Bus und werden uns nie wiedersehen, wenn ich Sie nicht anspreche. Nun ja, das habe ich hiermit getan. Peter Law.« Maud hatte alles andere im Kopf als einen Flirt, obwohl der junge Mann nicht nur gut aussah, sondern auch nett wirkte. »Vielen Dank, ich habe es sehr eilig«, sagte sie. »Ich habe eine Verabredung.« Er wirkte enttäuscht. »Sie haben mich so seltsam angesehen, als ich sagte, daß ich Peter heiße.« Der junge Mitreisende beugte sich zu ihr. »Weshalb denn?« »Ich kenne einen anderen Peter«, gab Maud zu. Sie wollte ihn nicht zu schroff behandeln. »Lieben Sie diesen anderen Peter?« fragte er direkt. Sie richtete sich überrascht auf, schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein! Trotzdem habe ich keine Zeit. Vielen Dank.« »Ich könnte Sie anrufen und mich mit Ihnen für später verabreden«, schlug Peter Law vor. »Nein«, erwiderte sie knapp. Er zuckte die Schultern. »Schade! Sagen Sie mir wenigstens, wie Sie heißen.« Die Angehörige des Ordens der Weißmagier wollte wütend auffahren, sah seine bittenden Augen und lächelte. »Maud«, sagte sie. »Wir sind da. Leben Sie wohl!« »Bis bald, Maud«, erwiderte Peter Law, stand auf und stieg aus. Er schien sich nicht mehr um sie zu kümmern, was Maud erleichterte.
Sie mußte sich auf ihre Aufgaben konzentrieren. Sie verließ den Bus, sah sich nach einem Taxi um und fand keines. Die anderen Passagiere hatten alle freien Wagen in Beschlag genommen. Sie stand am Straßenrand in einer dunklen Ecke des Busbahnhofs und wartete vergeblich auf ein Taxi, als ein Wagen am Bordstein hielt. Die Seitentür flog auf. »Steigen Sie ein, Maud!« rief Peter Law. Er lachte über das ganze Gesicht. »Taxi gefällig, Miß?« »Fahren Sie!« rief Maud heftig. »Verstehe Sie nicht? Sie sollen nicht mit mir zusammen gesehen werden. Es könnte für Sie unangenehm werden! Sogar gefährlich!« Sie übertrieb keineswegs. Bei einem Angriff von Schwarzmagiern geriet jeder in Gefahr, der sich in ihrer Nähe aufhielt. Sie erreichte mit ihrer Warnung das Gegenteil. Peter Law stieg aus und trat neben sie. Er sah sie ernst an. »Sie sind in Schwierigkeiten, ja?« fragte er. »Kommen Sie!« Ohne sich um ihre Proteste zu kümmern, schob er Maud mit sanftem Nachdruck auf den Beifahrersitz. »Wohin?« fragte er. »Charing Cross Road.« Maud seufzte. »Und halten Sie an der nächsten Telefonzelle.« Er tat es, und sie sah genau wie der Großmeister im Telefonbuch nach, fand George Poppards Adresse und nannte sie Peter Law. »Wer ist hinter Ihnen her?« fragte Peter Law nach einer Weile. »Niemand«, schwindelte Maud, obwohl sie sich ständig nach allen Seiten umsah. Sie befürchtete einen Angriff. »Lassen Sie mich doch hier aussteigen! Sie geraten durch mich nur in Lebensgefahr!« »Gangster?« Peter Law drehte während der Fahrt den Kopf. »Dann bringe ich Sie zu Scotland Yard.« »Nein, keine Gangster«, wehrte Maud ab. »Lassen Sie mich aussteigen und vergessen Sie mich! Ich hätte gar nicht nachgeben und
einsteigen sollen!« »Schütten Sie mir Ihr Herz aus, Maud!« bat Peter Law eindringlich. »Ich habe keine Angst. Ich bin nicht feige.« »Das habe ich auch nicht angenommen.« Maud seufzte. »Sie haben aber keine Ahnung, worum es geht. Sie können mir nicht helfen. Ich kann mich aber sehr gut selbst schützen. Halten Sie an!« Peter Law schüttelte hartnäckig den Kopf. »Ich bringe Sie in die Charing Cross Road, und dann vereinbaren wir ein Wiedersehen, ob Sie wollen oder nicht.« Maud seufzte noch einmal. Sie mochte diesen jungen Mann, und es gefiel ihr gar nicht, daß er ihretwegen in Gefahr kam. Doch sie konnte ihn nicht mit Gewalt zum Halten bringen. »Also gut, ich sage es Ihnen!« Maud entschloß sich zur Wahrheit. »Peter! Ich gehöre einem Bund an, der Schwarze Magie und Dämonen bekämpft. Wenn ich überfallen werde, kann ich mich wehren. Und wenn es passiert, sind es Leute, die nicht mit normalen Waffen kämpfen. Sie setzen Dämonen ein oder Zombies! Verstehen Sie jetzt?« Peter Law trat hart auf die Bremse und fuhr an den Straßenrand. Er starrte Maud entgeistert an. »Sie machen sich über mich lustig, ja?« fragte er tonlos. Maud entdeckte die Scheinwerfer hinter seinem Wagen. Sie kamen rasch näher. Zu rasch! Es hatte keinen Sinn, Peter Law alles zu erklären. Er verstand es ohnedies nicht! Um ihn zu schonen, stieß sie die Wagentür auf und sprang ins Freie. Alles war besser, als das Leben dieses netten Jungen aufs Spiel zu setzen. Die Scheinwerfer waren heran. Bremsen kreischten. Maud lief um ihr Leben. Sie wandte kurz den Kopf. Ja, es waren Verfolger! Sie konnte den Mann am Steuer nicht erkennen, aber sie sah die drei Männer, die aus dem Wagen stiegen
und hinter ihr herhetzten. Sie sah die erloschenen Augen, die starren Gesichter, die unbeweglichen Mienen, die eckigen und doch unheimlich schnellen Bewegungen. Der Gegner hetzte Zombies auf sie, um sie von dem Großmeister fernzuhalten! Hinter ihr gellte ein Schrei. Peter Law hatte ihn ausgestoßen. »Warten Sie, Maud!« brüllte er. »Ich helfe Ihnen!« Maud lief so schnell sie konnte. »Verschwinden Sie, Peter!« schrie sie zurück. Er hörte nicht auf sie, verließ seinen Wagen und lief hinter ihr her. Und er holte tatsächlich auf. Maud verwünschte seine Hilfsbereitschaft. Nun mußte sie nicht nur sich selbst, sondern auch noch diesen Träumer retten. Sie jagte auf die nächste Straßenecke zu, hinter sich die Zombies, neben sich Peter Law. Sie war noch sieben Schritte von der Ecke entfernt, als vor ihr drei weitere Zombies auftauchten. Maud prallte zurück und wandte sich nach links. Doch von dort kamen zwei Zombies, und von rechts erschienen vier Untote, um den Kreis zu schließen. Maud und Peter Law waren gefangen. Und weit und breit gab es keine Hilfe.
* Der Angriff kam so überraschend, daß Peter Winslow nicht rechtzeitig auswich. Er hatte nicht damit gerechnet, mit einem Messer überfallen zu werden. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, bis der Mann mit dem Messer heran war. In dieser kurzen Zeitspanne nahm Peter dennoch das Bild einer schluchzenden Frau in sich auf, die in der Diele auf
dem Boden kauerte. Sie schrie gellend auf. Das fuhr dem Mann durch Mark und Bein. Seine starren Augen weiteten sich. Er taumelte. Das Messer erhielt eine andere Stoßrichtung. Die Klinge strich nur über den Ärmel von Peters Jacke. Der Großmeister explodierte im nächsten Moment. Er hatte seine Verblüffung überwunden. Seine Faust fuhr hoch und traf den Mann unter der Achsel. Der Arm des Mannes wurde herumgerissen. Das Messer entglitt seiner Faust, flog durch die Luft und landete scheppernd auf der Treppe, rutschte hinunter und blieb auf dem nächsten Absatz liegen. »Was ist denn da oben los?« erklang die unangenehme Stimme des Hausmeisters. »Gar nichts!« rief Peter, packte den Mann, der ihn angegriffen hatte, und stieß ihn in seine Wohnung. Er selbst drängte sich hinterher. Der Satansspürer folgte und schloß die Tür. Draußen im Treppenhaus hörten sie gemurmelte Flüche und Verwünschungen des Hausmeisters. Sie kümmerten sich nicht darum. Mr. Baker half der Frau auf die Beine und führte sie in das angrenzende Wohnzimmer, sah kurz in die anderen Räume und kam zu Peter zurück. »Sonst ist niemand da«, sagte er. Der junge Großmeister nickte. Er ließ den Mann los. »Sie sind Mr. und Mrs. Vale?« fragte er. Die verstörte Frau nickte ängstlich und steifte ihren Mann mit einem flackernden Blick. »Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist«, flüsterte sie. »Kurz bevor Sie klingelten, lief er in die Küche und kam mit dem Messer wieder. Ich dachte schon, er wollte mich umbringen, aber er stieß mich nur zur Seite und stürzte sich auf Sie!« Mr. Vale blickte starr vor sich zu Boden. Es schien, als müsse er sich aus einem Alptraum befreien.
»Was ist denn los?« murmelte er nach einer Weile und setzte sich. »Was ist passiert? Wer sind diese Leute?« Seine Frau wagte sich wieder in seine Nähe. Während sie ihm erklärte, was vorgefallen war, zog Peter den Satansspürer auf die Seite. »Wie ist es in dieser Wohnung?« fragte er leise. »Wie in den anderen«, erwiderte Mark Baker. »Überall Spuren des Bösen. Der Satan hat im ganzen Haus gewirkt.« »Hören Sie, Mister!« Mr. Vale wandte sich an Peter. »Sie werden mir wahrscheinlich kein Wort glauben, aber ich habe keine Ahnung von diesem Angriff. Ich weiß nichts von einem Messer, und ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen nichts tun wollte!« Peter nickte. »Okay, ich glaube Ihnen.« Mr. Vale starrte ihn entgeistert an. »Tatsächlich?« fragte er. »Werden Sie mich anzeigen?« Peter schüttelte den Kopf. »Keine Ursache, Mr. Vale. Ich dachte mir schon, daß Sie nicht ganz bei sich waren. Sie hatten einen so abwesenden Gesichtsausdruck.« Er hätte dem Mann sagen können, daß er mit weiteren Angriffen der Gegenseite gerechnet hatte. Er hätte auch erklären können, daß Schwarzmagier oft andere Leute die Kastanien aus dem Feuer holen ließen. Er sagte jedoch nichts dergleichen, um nicht zu viel von sich zu verraten. »Wenn Sie mich anzeigen, verliere ich meine Arbeit«, jammerte Mr. Vale. Er war durcheinander. »Ich könnte meine Familie nicht mehr ernähren und …« »Machen Sie sich keine Sorgen!« fiel ihm Peter Winslow ins Wort. »Jeder von uns flippt einmal aus. Das nehme ich Ihnen nicht übel. Ich wohne übrigens oben in Mr. Poppards Wohnung. Er hat sie mir für eine Weile überlassen.« »Ach, wirklich?« fragte Mrs. Vale erstaunt. »Ich dachte, er wäre im Krankenhaus.«
»Wieso das?« fragte Peter. Er wurde hellhörig. »Ich traf ihn vor zwei oder drei Tagen, und er machte keinen gesunden Eindruck«, erklärte Mrs. Vale. »Er ging gebückt und war blaß. Und er sagte, daß er sich nicht gut fühlt. Ich wollte mich schon bei ihm erkundigen, ob ich ihm helfen könnte, aber er hat nicht geöffnet. Geht es ihm denn jetzt wieder besser?« »Ja, alles in Ordnung«, versicherte Peter. Um den Schein zu wahren, wies sich Mark Baker aus und überprüfte die Gasgeräte. Dabei hatten er und sein Großmeister keine Hoffnung mehr, einen brauchbaren Hinweis zu finden. »Wer wohnt noch auf diesem Stockwerk?« erkundigte sich der Satansspürer. »Miß Dolly Craigh.« Mrs. Vale warf ihrem Mann einen giftigen Blick zu. »Ein blutjunges Ding. Sie arbeitet ganz in der Nähe in einer Bar.« »Sie ist jetzt nicht zu Hause, ich sah sie vorhin weggehen«, fügte Mr. Vale hinzu. »Natürlich, du siehst Dolly Craigh immer weggehen und heimkommen«, sagte seine Frau gereizt. »Meinst du … ach, lassen wir das!« Peter Winslow war froh, nicht in einen Ehestreit verwickelt zu werden. Es genügte ihm, daß Mr. Vale grundlos mit einem Messer auf ihn losgegangen war. »Also dann, vielen Dank«, sagte Mark Baker. »Ich muß meine Runde fortsetzen.« Mr. Vale wandte sich noch einmal an Peter, während sie zur Tür gingen. »Und Sie nehmen mir die Sache von vorhin wirklich nicht übel, Mr. Winslow?« Peter öffnete die Tür. Der Hausmeister hatte gerade noch Zeit, sich aus der gebückten Haltung aufzurichten. In den Händen hielt er das Messer, das über die Treppe hinunter gefallen war. »Vielen Dank, das hatte ich verloren«, sagte Peter mit einem brei-
ten Grinsen, nahm ihm das Messer aus der Hand und schloß die Tür wieder. »Schnüffelt der Kerl immer im Haus herum?« fragte er das Ehepaar Vale. »Ständig«, bestätigte Mrs. Vale und nahm erleichtert das Messer in Empfang. »Es wird nicht mehr vorkommen, Mr. Winslow, ganz bestimmt nicht!« Peter war anderer Meinung. Die Vales gehörten vielleicht zu den Feinden. Dann würden sie den Angriff wiederholen. Oder der Schwarzmagier benutzte das Ehepaar als Werkzeug. Auch dann konnte es jederzeit zu einer zweiten Attacke kommen. Trotzdem nickte er den Leuten zu und verabschiedete sich freundlich, ehe er auf den Korridor hinaus trat. Jetzt war der Hausmeister verschwunden. Sie klingelten an der Tür von Dolly Craigh. Sie war tatsächlich nicht da. Im ersten Stock wohnte nur der Hausmeister. Mr. Silex öffnete sofort, als Mark Baker klingelte. Peter bat er ebenfalls in die Wohnung, die mit uralten und geschmacklosen Möbeln eingerichtet war. An einer Wand hing ein Pinupkalender. Sonst gab es keinen Wandschmuck. »Ich finde es nett«, sagte Jeremy Silex in einer abstoßend schleimigen Art, »daß Sie sich bei allen Hausbewohnern vorstellen, Mr. Winslow. Haben Sie schon Miß Dolly Craigh kennengelernt?« Er spitzte die Lippen und schmatzte, um ihre Klasse anzudeuten. »Nein«, erwiderte Peter knapp. »Sie wissen, daß sie vorhin wegging. Ihnen entgeht doch nichts, oder?« »Nun, man muß aufpassen, daß sich kein Gesindel einschleicht«, erwiderte Silex und rieb sich die Hände. »Wer wohnt in der zweiten Wohnung in dieser Etage?« fragte Baker, als er mit der Überprüfung fertig war. »Die Wohnung steht leer«, gab Silex an. »Und im Erdgeschoß befinden sich nur Wirtschafts- und Lagerräume.«
»Ich muß alles sehen«, verlangte Baker, wurde von Silex in die übrigen Räume geführt und kam enttäuscht zu Peter zurück. »Keine Hinweise«, gestand er. In diesem Moment betrat eine blonde, bildhübsche junge Frau das Haus und stieg die Treppe hinauf. Peter bekam einen tiefen Einblick, während er ihr entgegen sah. »Hallo!« Die Blondine blieb stehen und musterte Peter mit einem aufreizenden Lächeln von Kopf bis Fuß. »Seit wann gibt es in diesem alten, verrotteten Haus so toll aussehende junge Männer?« Sie streifte den Hausmeister mit einem verächtlichen Blick. »Sonst sind nur lüsterne Männchen hinter mir her!« Silex wurde rot im Gesicht und verschwand in seiner Wohnung. »Sie sind Dolly Craigh, richtig?« fragte Peter lächelnd. »Ja, aber für Sie bin ich Dolly!« Sie kam die Treppe herauf und blieb vor ihm stehen. Sie benutzte ein süßliches, aber gutes Parfüm. »Ich bin Peter«, erwiderte der Großmeister und erklärte, wieso er hier wohnte. Dolly war schon für ihre Arbeit in der Bar zurechtgemacht. Etwas zu aufreizend, fand Peter, aber sie schien ein nettes Mädchen zu sein. Sie ließ Baker und den Großmeister in ihre Wohnung, als sie Bakers Ausweis sah. »Du, Peter, brauchst keinen Ausweis, wenn du zu mir kommen willst«, sagte sie leise und strich mit einem langen, rot lackierten Fingernagel eine blonde Haarsträhne aus Peters Stirn. »Du hast immer freien Eintritt!« »Danke!« Er erwiderte ihr Lächeln. »Ich werde es mir merken.« Sein Blick ging an Dolly vorbei zu dem Satansspürer. Verblüfft stellte er fest, daß Baker völlig durcheinander war. Er verabschiedete sich von Dolly Craigh und ging mit Baker nach oben in seine Wohnung. »Heraus mit der Sprache«, forderte Peter den Satansspürer auf. »Was stimmt mit Dollys Wohnung nicht?«
»Alles stimmt, das ist ja das Sonderbare«, erwiderte Mark Baker. »Ihre Wohnung ist die einzige im ganzen Haus, in der es nicht die kleinste Spur dämonischer oder satanischer Kräfte gibt. Und gerade das finde ich mehr als merkwürdig!« Peters Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Genau, das ist auch sehr merkwürdig«, bestätigte er. »Ich werde mir Dollys Apartment heute nacht genauer ansehen.« Der Satansspürer konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Das würde ich auch gerne tun«, sagte er. Peter lächelte nicht. »Nachts ist Dolly in der Bar, Baker«, sagte er ernst. »Und für Abenteuer habe ich keine Zeit.« »Tut mir leid, Sir«, entschuldigte sich Mark Baker. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, fahre ich nach Hause.« Peter verabschiedete sich von seinem Helfer, von dem er sich mehr versprochen hatte. Baker hatte sein Bestes getan. Es lag nicht an dem Satansspürer, daß er diesmal versagte. Es lag an der satanischen Ausstrahlung, die diesem ganzen Haus anhaftete. Peter Winslow machte sich auf einen langen Aufenthalt in diesem Haus gefaßt und meinte, die Charing Cross Road würde für die nächste Zeit seine Heimat werden. Er täuschte sich. Es ging alles viel schneller, als er vermutete. Seine Gegner ließen ihm keine Zeit. Sie gingen zum massiven Großangriff über.
* Maud krallte ihre Finger in den Arm ihres Begleiters. »Sie bleiben bei mir!« schrie sie ihn an. »Wenn Sie weglaufen, sind Sie verloren!« Peter Law stierte fassungslos auf die Zombies, die sie von allen Seiten einkreisten. Er konnte nicht fassen, was er deutlich vor sich
sah. Zu schauerlich waren die lebenden Leichen, die eine böse Macht aus ihren Gräbern geholt hatte. »Wir haben nicht viel Zeit!« zischte Maud dem jungen Mann zu. »Paß genau auf, was ich dir sage! Weiche ihnen aus! Du darfst dich nicht packen lassen. Sie sind viel stärker als jeder Mensch! Wenn sie dich erwischen, stoße sie von dir, sonst nichts!« Er gab ein leises Stöhnen von sich. »Hörst du mir überhaupt zu?« schrie Maud ihren Begleiter an. Sie rüttelte ihn heftig. Sie hatte keine Zeit, um Peter Law besser auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Die Untoten griffen an. Sie taten es lautlos. Nur ein besonders massiger Kerl stieß ein leises, heiseres Röcheln aus, das sogar Maud einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Sie hatte nicht zum ersten Mal mit Zombies zu tun, und doch trieben ihr diese Monstren immer wieder Angstschweiß auf die Stirn. Erloschene Augen starrten ihr entgegen. Die Hände waren zum tödlichen Griff erhoben, die Finger leicht gekrümmt. Sie wirkten wie Wachsfiguren aus einem Schreckenskabinett, und sie bewegten sich wie Puppen, doch sie konnten einen Menschen schneller töten als jede Waffe. »Bleib bei mir«, flüsterte Maud ihrem Begleiter noch einmal zu. »Wir müssen durchbrechen.« Peter Law gab nicht zu erkennen, ob er sie verstand, ob er überhaupt noch fähig war, etwas aufzunehmen. Der Schock setzte ihn völlig außer Gefecht. Er blieb sogar stehen, als ein Untoter direkt auf ihn zumarschierte und sich vor ihm aufbaute. Wie hypnotisiert blickte er auf die weißen Hände des Mörders. Maud hatte genug mit sich selbst zu tun. Zwei Zombies drängten sich an sie heran. Der erste schlug zu. Doch er traf nicht, da Maud sich rechtzeitig nach hinten warf. Dadurch kam sie dem zweiten
Zombie zu nahe. Er packte sie. Seine Finger gruben sich in ihre Schulter. Maud ließ sich nicht lähmen. Sie wand sich aus dem Griff und schlug mit beiden Händen die Pranke des Untoten zur Seite. Ihr Fuß zuckte hoch. Sie versetzte Peter Law einen Tritt in den Rücken, der ihn flach auf das Pflaster schleuderte. Es war die einzige Rettung für den jungen Mann. Alles andere wäre zu spät gekommen. Die Hände des Zombies erwischten statt Peter den Laternenpfahl, vor dem der junge Mann gestanden hatte. In seiner blinden Zerstörungswut knickte der Untote den Pfahl wie ein Streichholz und zerfetzte die Trümmer. Dabei löste sich die Isolation des Kabels, und als der Zombie auch noch das Kabel zerstörte, geriet er in den Stromkreis. Er schrie nicht, als ihn der Stromschlag traf. Für einen Moment waren der Untote und der stromleitende Pfahl in einen grellen Lichtblitz getaucht. Dann wurde es so dunkel, daß Maud kaum die Hand vor Augen sah. Sie beobachtete nicht, wie der zerstörte Untote zu Boden sank, sondern warf sich neben Peter Law zu Boden. Peters Hände schnellten vor. Er wollte sie packen und schrie gellend auf, weil er Maud für einen Angreifer hielt. »Los, komm!« schrie sie ihn an, packte ihn und zerrte ihn auf die Beine. Er kam hoch, doch das half auch nichts. Die Zombies versperrten jeden Fluchtweg. Sie kamen auf dem Bürgersteig von allen Seiten. Auch auf der Fahrbahn stand ein Untoter. »Maud«, jammerte Peter Law. »Halt den Mund!« Sie krallte ihre Finger in seine Jacke. »Du tust, was ich dir sage!« Sie ließ die Zombies von beiden Seiten herankommen. Als nur noch wenige Schritte fehlten, zerrte sie Peter Law wieder auf den
Asphalt. »Unter den Wagen durch«, flüsterte sie und wälzte sich unter einen geparkten Wagen. Er folgte ihr sofort. Entweder hatte er eingesehen, daß sie richtig handelte, oder ihr schroffer Ton hatte ihn beeindruckt. Maud wußte, wie schnell diese Zombies waren. Sie wußte aber auch, daß sie nicht selbständig dachten. Sie befolgten einen einmal erteilten Befehl, verhielten sich jedoch nicht schlau. Ihre Gehirne waren schon vor vielen Jahren gestorben. Sie wurden nur von dem Geist der Hölle angetrieben. Maud tauchte als Erste auf und sah ihre Chance. Der Zombie auf der Straße sah in die andere Richtung. Er erwartete nicht, daß seine Opfer unter einem Auto hervorkamen. Maud richtete sich auf und zog Peter Law hinter sich her. Ein Krachen hinter ihr ließ sie entsetzt herumfahren. Die Untoten auf dem Bürgersteig bemerkten ihr Verschwinden. Sie schienen auch zu ahnen, auf welchem Weg ihre Opfer geflohen waren, da sie den parkenden Wagen zertrümmerten. Es entsprach diesen maschinenartigen Wesen. Sie wandten nur Gewalt an. »Lauf!« schrie Maud Peter zu und versetzte ihm einen Stoß. Peter Law stellte keine Fragen mehr. Er zögerte auch nicht. Vor ihm lag die freie Straße. Er rannte los, aber er beschrieb einen Bogen und steuerte seinen eigenen Wagen an. Er wollte mit dem Auto fliehen. »Weglaufen!« schrie Maud verzweifelt. Peter Law unterschätzte die Schnelligkeit der Untoten. »Weg!« Sie war geradeaus gelaufen und hatte sich schon ein ganzes Stück von Peter Laws Auto entfernt. Sie zögerte nicht, kehrte um und rannte zurück. Peter Law riß die Fahrertür auf und warf sich hinter das Steuer. Er verlor wertvolle Sekunden, weil er seinen Schlüssel nicht sofort fand.
Maud schluchzte vor Aufregung. Sie lief, als ginge es um ihr eigenes Leben. Nur wenige Schritte trennten sie von dem Auto. Gleichzeitig tauchte von der anderen Seite her einer der Untoten auf. Er war vor ihr an dem Wagen. Seine Faust fuhr nieder, traf das Wagendach über dem Fahrersitz und beulte es weit ein. Es traf Peter Law, der sich erschrocken duckte. Noch hätte er aus dem Auto springen können, doch der Schock lähmte ihn erneut. Er blieb sitzen, als der Zombie mit bloßer Hand die Frontscheibe durchstieß und ihn packte. Peter Law konnte nicht einmal mehr schreien. Er starb lautlos … So hart es Maud auch traf, sie verlor nicht die Nerven, bog ab und floh in der anderen Richtung. Sie konnte dem jungen Mann nicht mehr helfen. Nun mußte sie ihre eigene Haut retten. Sie sah sich ein paarmal um. Von den Zombies war keine Spur mehr zu sehen. Sie verzichteten auf Verfolgung. Den Grund hörte Maud gleich darauf sehr deutlich. Polizeisirenen! Die Untoten hatten wohl den Befehl erhalten, den Mord in aller Heimlichkeit auszuführen. Maud erinnerte sich daran, daß drei von ihnen aus einem Auto gestiegen waren. Wer immer ihren Tod wollte, war ihr mit diesem Wagen gefolgt und hatte die Zombies im geeigneten Moment auf sie gehetzt. Wahrscheinlich hatte er seine unheimlichen Helfer zurückgepfiffen, als die Polizei auftauchte. Auch das war typisch für die Anhänger Satans. Sie taten alles heimlich, damit die bedrohten Menschen so wenig wie möglich erfuhren. Sie sollten nichts von den Gefahren ahnen, die überall lauerten. Maud hätte auf die Polizei warten sollen. Sie tat es nicht. Was hätte sie über Peter Law sagen können? Die Polizisten sahen selbst den zerschmetterten Wagen. Niemand hätte ihr geglaubt, wer die Täter waren. Also war es für Maud besser, wenn sich die Polizei einen ei-
genen Reim auf diesen Mord machte. Einen Verantwortlichen, den man zur Rechenschaft ziehen konnte, gab es ohnedies nicht. Niemand konnte einen Zombie vor Gericht stellen. Es gab noch einen zweiten Grund, weshalb Maud sich nicht bei der Polizei meldete. Sie hätte viel Zeit verloren, und sie hatte es plötzlich sehr eilig, in die Charing Cross Road zu Peter Winslow zu gelangen. Der Großmeister brauchte bestimmt ihre Hilfe. Nachdem sie gesehen hatte, mit welch unglaublicher Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit der Feind vorging, war sie doppelt davon überzeugt. Es dauerte noch fast eine Stunde, bis sie endlich vor dem alten, schäbigen Haus in der Charing Cross Road stand. Alle Fenster waren dunkel, als wäre das Haus unbewohnt. Nach fünf Minuten entschloß sich Maud zum Klingeln. Sie hatte gehofft, irgendwie anders Kontakt mit dem Großmeister aufnehmen zu können. Auf einen Anruf von der nächsten Telefonzelle hatte er nicht reagiert. Er war entweder nicht in seiner Wohnung, oder jemand störte das Telefon. Sie legte den Finger auf den Klingelknopf. Fast im selben Moment flog die Haustür auf. Ein kleiner, hagerer Mann mit einer scharfen Nase und verschlagenen, eng beisammen stehenden Augen musterte sie eindringlich. »Ach, ich weiß«, sagte er mit einer unangenehm gepreßten Stimme. »Sie kommen wegen der leerstehenden Wohnung, die wir angeboten haben, nicht wahr?« Maud überwand ihre Überraschung so schnell, daß der Mann nichts davon merkte. »Ja, genau deshalb«, erwiderte sie. »Sind Sie der Hausbesitzer?« »Der Hausmeister.« Der Mann grinste und musterte Maud so eindringlich von Kopf bis Fuß, daß sie vor Ärger rot wurde. »Mein Name ist Jeremy Silex. Meine Freunde nennen mich Jeremy.« »Okay, Mr. Silex«, sagte Maud betont, »zeigen Sie mir die Wohnung.«
Jeremy Silex gab kichernd die Tür frei. »Kommen Sie herein, Miß, kommen Sie! Es wird Ihnen bei uns gefallen!« Als hinter Maud die Haustür zuschlug, kam sie sich wie eine Maus vor, die soeben in eine raffiniert getarnte Falle getappt war.
* Bei Einbruch der Dunkelheit tat Peter Winslow etwas, das er verabscheute. Er spionierte. Er schloß die Tür des Apartments nicht, sondern ließ sie eine Handbreit offen stehen. Dann zog er sich einen Stuhl in das Vorzimmer und lauschte auf jedes Geräusch im Treppenhaus. Er hörte, wie Robby Blake, der Maler, zu Mrs. Hamilton ging. Anschließend verließ er das Haus und kam nach zehn Minuten wieder, ging erneut zu Mrs. Hamilton und verschwand endgültig in seiner Wohnung. Jeremy Silex schlich ständig durch das Haus. Er schien nichts anderes zu tun zu haben. Nur bis in den vierten Stock wagte er sich nicht. Vor Peter hatte er Respekt. Der Großmeister hatte ihm zu deutlich gezeigt, wo seine Grenzen lagen. Peter hatte genug Zeit, um sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Der Satansspürer hatte in allen Räumen dieses Hauses Spuren des Satans gefunden. Der Schwarzmagier, der dieses Gebäude beherrschte und als Versteck benutzte, war demnach überall gewesen. Mit Ausnahme von Dolly Craighs Apartment! Sollte die hübsche Dolly die Gesuchte sein? Hatte sie deshalb ihr Apartment frei von allen schwarzmagischen Einflüssen gehalten? Peter war fest entschlossen, das Rätsel zu lösen. Es war völlig dunkel, als er die Gelegenheit bekam. Dolly verließ ihre Wohnung. Gleich darauf schlug die Haustür zu.
Peter wartete zehn Minuten. Als sie noch immer nicht zurückgekehrt war, nahm er an, daß sie zur Arbeit gegangen war. Soho war nur einen Steinwurf entfernt, und es war die richtige Zeit für eine Bardame. Der Großmeister bewaffnete sich mit einer Taschenlampe. Auf andere Waffen verzichtete er. Auf Zehenspitzen schlich er die Treppe hinunter, bis er vor Dollys Apartment stand. Ihr Türschloß war genau so alt wie das ganze Haus, so daß es dem jungen Großmeister keine Schwierigkeiten bereitete, in Dollys Wohnung zu gelangen. Schon nach dem vierten Versuch schnappte die Verriegelung zurück. Er schlüpfte in das Vorzimmer, schloß hinter sich die Tür und blieb mit weit geöffnetem Mund stehen. Sein Atem verursachte kein Geräusch. Er hörte nur seinen eigenen Herzschlag. In dem Apartment rührte sich nichts. Irgendwo tickte eine Uhr. Bei Mr. und Mrs. Vale lief der Fernseher so laut, daß man jedes Wort verstand. Publikum lachte über die albernen Scherze eines Entertainers. In der Etage über Peter klopfte die alte Mrs. Hamilton gegen die Wand, um Robby Blake zu rufen. Er reagierte aber nicht. Das Klopfen ging weiter. Peter verzichtete auf Licht, damit man es nicht von draußen bemerkte. Statt dessen schaltete er seine Taschenlampe ein und schirmte den Strahl mit der Hand ab. Das Vorzimmer war in knalligem Rot gehalten. Im angrenzenden Wohnzimmer lag ein weißer Teppich. Dolly liebte Kontraste. Wegen des weißen Teppichs sah Peter sofort die reglose Gestalt auf dem Boden. Dolly Craigh war zwar ausgegangen, auf anderem Weg jedoch wieder zurückgekommen. Jetzt lag sie auf dem Teppich. Ihre Augen waren weit aufgerissen und in namenlosem Grauen auf Peter Winslow gerichtet. Sie lebte. Dennoch holte sie kaum Atem, denn auf ihr hockte ein
Wesen, das an einen Riesenfrosch erinnerte. Der Körper war über und über mit schwarzen Schuppen bedeckt. Die Beine endeten in Klauen. Die weit aus dem unförmigen, platten Kopf ragenden Augen glühten in tiefem Rot. Aus dem breiten Maul standen zwei Reihen spitzer Zähne hervor. Und zwischen diesen Zähnen steckte Dollys Hals! Peter Winslow stand wie gelähmt an der Tür. Er war machtlos und konnte Dolly im Moment nicht helfen. Bevor er auch nur einen Schritt getan hätte, wäre sie tot gewesen. Nun wußte er, weshalb der Satansspürer in ihrem Apartment nichts gefunden hatte. Der Schwarzmagier hatte dafür gesorgt, daß es in Dollys Wohnung keine Spuren gab, um Peter neugierig zu machen. Und er, Peter, hatte sich anlocken lassen. Er war in die Falle gegangen. »Keine Bewegung«, ertönte eine rasselnde, fauchende Stimme. Einen Moment wußte Peter nicht, wer zu ihm sprach, bis er es erkannte. Es war der Dämon selbst. »Wenn du mich angreifst, töte ich sie«, fuhr das Monster fort. »Höre die Forderungen meines Herrn.« »Wer ist dein Herr?« fragte Peter, obwohl er wenig Hoffnung hatte, auf diese Weise den Schwarzmagier zu entlarven. Der Dämon ging nicht auf seine Frage ein. »Wenn du das Leben dieser Frau retten willst, mußt du dich ergeben!« verlangte das Monster im Auftrag seines Herrn. »Du mußt dich gefangen nehmen lassen.« »Das ist ausgeschlossen«, erwiderte Peter leise. »Ich bin es meinen Anhängern schuldig, in Freiheit zu bleiben. Ich muß an sie denken. Sie zählen nach Hunderten und Tausenden.« »Ich weiß, daß du der Großmeister bist, Peter Winslow.« Aus dem Froschmaul erklang heiseres Lachen. Peter war überzeugt, daß nicht der Dämon sprach. Sein Meister, der Schwarzmagier, hörte und sprach durch ihn. »Trotzdem, Peter Winslow, du mußt dich ent-
scheiden! Ergibst du dich, lasse ich sie frei!« Peter Winslow überlegte fieberhaft. Er wußte, wie viel das Wort eines Dämons oder Schwarzmagiers wert war. Nichts! Niemand garantierte ihm, daß dieses Ungeheuer Dolly Craigh tatsächlich freiließ, wenn er sich ergab. Außerdem mußte er an seine Stellung als Großmeister denken. Er trug die Verantwortung für alle Mitglieder des Bundes, die sich nach ihm richteten und seine Führung brauchten. Doch ein einziger Blick in die angstgeweiteten Augen der jungen Frau verjagte alle Überlegungen. Er brauchte überhaupt nicht nachzudenken. »Also gut, ich ergebe mich«, sagte Peter mit belegter Stimme. »Laß die Frau frei!« Er hatte Angst vor dem Dämon und dem Schwarzmagier, der diese Bestie leitete. Beide würden nicht zögern, ihn zu töten. Er war ihnen zu gefährlich geworden. Sie fürchteten den Großmeister sogar, wenn er sich auf Sagon Manor aufhielt. Erschien er aber direkt in der Nähe von Schwarzmagiern, setzten sie sich zur Wehr. Peter war auch gespannt, welche Folgen seine Entscheidung haben würde. Was veränderte sich dadurch, daß er sich ergab? Er sollte es gleich darauf erfahren. Er fühlte einen leichten Ruck an seinen Handgelenken und blickte erschrocken auf seine Hände. Eine schimmernde Linie schlang sich mehrmals um seine Gelenke. Als er sich dagegen stemmte, merkte er, daß es magische Fesseln waren. Sie hielten besser als stählerne Handschellen. Im nächsten Moment spürte er den gleichen Ruck an seinen Fußgelenken. Bevor er nach unten blickte, wußte er, daß auch seine Beine in magischen Fesseln steckten. Tatsächlich schlangen sich die glänzenden Linien um seine Füße. »Ich habe mich ergeben«, sagte er wütend. »Laß endlich Dolly
Craigh frei!« Der Dämon kauerte weiterhin über Dolly. Der Schwarzmagier löste sein Versprechen nicht ein. »Du bist feige«, sagte Peter voll Verachtung. »Du versteckst dich vor mir, zeigst mir nicht dein Gesicht und schickst einen Handlanger hierher, um eine Wehrlose zu bedrohen. Wirklich, sehr mutig!« Doch auch damit erzielte er keinen Erfolg. Er verstand nicht, wieso der Dämon nichts tat. Offenbar erhielt er von seinem Meister keine neuen Befehle. Warum schwieg der Schwarzmagier? Peter erhielt unmittelbar darauf die Antwort. Die Wohnungstür öffnete und schloß sich. Jemand war eingetreten. Das konnte nur der Schwarzmagier sein! Er kam in den Wohnraum und blieb neben Peter stehen. Der Großmeister wollte den Kopf drehen, um endlich zu sehen, gegen wen er die ganze Zeit kämpfte, doch er war wie zu Stein erstarrt. Sein Blick blieb auf Dolly und den Dämon gerichtet. Der Schwarzmagier, das sah Peter aus den Augenwinkeln, hob den Arm und streckte ihn dem Dämon entgegen. Die Bestie biß zu … Peter Winslow hatte gute Nerven. Dennoch war dieser Anblick für ihn zu viel. Er wäre in diesem Moment zusammengebrochen, hätten ihn nicht die schwarzmagischen Kräfte aufrecht gehalten. Allerdings verlor er das Bewußtsein, wenn auch nur für kurze Zeit. Als er wieder zu sich kam, fiel sein Blick noch einmal auf Dolly Craigh. Sie lag unverändert auf dem Teppich. Der Dämon hatte sich von ihr zurückgezogen. Jemand zerrte Peter am Arm aus dem Raum. Benommen wandte der Großmeister den Kopf. Er prallte zurück, als er den Mörderdämon erkannte. Die Bestie hatte ihre Klauen um Peters Arm geschlossen und zog den Großmeister in das Treppenhaus und die Stufen hinunter. Peter
konnte wegen seiner Fesseln nur kleine Schritte machen. Er wäre auf der Treppe gestürzt, hätte ihn der Dämon nicht gestützt. Der Schwarzmagier zeigte noch immer nicht sein Gesicht. Peter hörte hinter sich Schritte. Der Schwarzmagier folgte seinem Gefangenen. Das Treppenlicht brannte. Vergeblich sah sich Peter nach einer spiegelnden Fläche um, in der er seinen Gegner erkennen konnte. Der Schwarzmagier hatte an alles gedacht. Es gab keine Spiegelungen. Das gab dem Großmeister trotz allem neue Hoffnung. Der Schwarzmagier wollte ihn offenbar nicht sofort töten, sonst hätte er sich zeigen können, ohne ein Risiko einzugehen. Offenbar wollte er den Großmeister der Weißmagier vorerst nur gefangen halten. Sie erreichten das Erdgeschoß. Peter mußte noch weiter in die Tiefe steigen. Die Kellerräume hatten er und der Satansspürer nicht durchsucht. Die Treppe war feucht und glitschig. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu reinigen. Hier lag der Schmutz fingerdick. Die Mauern waren nicht verputzt. Man sah die feuchten Ziegel. An der Decke hing eine nackte Glühlampe. Unten angekommen, erhielt Peter einen Stoß, der ihn in ein Kellerabteil beförderte. Peter sah eine Ziegelmauer auf sich zurasen. Er stürzte darauf zu … und dann versank er in tiefer Dunkelheit …
* Maud Orwell, das Hausmädchen von Sagon Manor, sah sich unbehaglich in der leerstehenden Wohnung um. Es gab keine Einrichtung. Wenigstens funktionierten Strom und Wasser. An den Zimmerdecken hingen nackte Glühlampen. »Sehr gemütlich«, sagte sie zu sich selbst.
Es war keine Luxuswohnung, aber sie hatte auch nicht die Absicht, dieses Apartment zu bewohnen. Sie brauchte nur einen offiziellen Grund, um sich in diesem Haus aufzuhalten. Nicht jeder sollte sofort erkennen, daß sie mit Peter Winslow zu tun hatte. Manchmal war es besser, den Feind von zwei Seiten zu packen. Während Maud noch ihre neue Behausung inspizierte, kamen ihr Zweifel an ihrem Plan. Der Feind wußte ohnedies, daß sie hier war. Er hätte ihr sonst nicht die Untoten auf den Hals gehetzt. Doch jetzt hatte sie schon diesen Weg eingeschlagen und wollte ihn weitergehen. Dazu mußte sie erst einmal Kontakt zu Peter aufnehmen. Irgendwo im Haus plärrte ein Fernseher in unverschämter Lautstärke. Das kam aus dem zweiten Stock aus einer Wohnung mit dem Namensschild Vale. Maud schlich in der Dunkelheit weiter nach oben. Sie hatte eine kleine Taschenlampe bei sich. Ihr Licht reichte aus, um die nächsten Stufen zu erkennen. Die zweite Wohnungstür im zweiten Stock trug die Anschrift CRAIGH. Dahinter war es still. Im dritten Stock klopfte jemand an eine Mauer. Maud vermutete, daß es mit dem Fernseher zu tun hatte. Sie war schon in den vierten Stock unterwegs, als sich unter ihr eine Tür öffnete. Sie sah einen jungen, bärtigen Mann, der an die Nachbartür klopfte und gleich darauf mit einer alten Frau sprach. Die beiden gingen in die Wohnung der Frau. Im selben Moment flammte die Treppenbeleuchtung auf. Im ersten Stock öffnete sich leise eine Tür. Schlurfende Schritte waren zu hören. Der Hausmeister spionierte. Maud wartete, bis das Licht erlosch. Sie spähte durch den Treppenschacht nach unten und sah die hagere Gestalt von Mr. Silex. Endlich verschwand er in seiner Wohnung und schloß hinter sich ab.
Maud konnte sich nun um Peter kümmern, ohne daß es jemand bemerkte. Sie klopfte an George Poppards Tür, die unter der Berührung nachgab und nach innen aufschwang. Maud warf sich erschrocken zur Seite, doch nichts geschah. Die Tür war nur angelehnt gewesen. Drinnen rührte sich nichts. Sie leuchtete das Türschloß ab. Es war unversehrt. Fast sah es so aus, als habe der Großmeister die Tür absichtlich offen gelassen. Mit angehaltenem Atem und jederzeit fluchtbereit schob sich Maud in das Vorzimmer der fremden Wohnung. Sie lauschte, hörte nichts und wagte sich weiter vor. Der Strahl ihrer Taschenlampe kreiste durch das Wohnzimmer. Es war leer. Peter hielt sich hier nicht auf. Von ihrem Standort konnte Maud auch Bad und Küche überblicken. Beide Räume waren unordentlich, doch nichts deutete auf einen Kampf oder einen Hinterhalt hin. Blieben noch Schlafzimmer und Balkon. Sie wagte nicht zu rufen. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Schlafzimmer und spähte hinein. Erleichterung durchflutete sie. Peter lag in seinem Bett und schlief wahrscheinlich so fest, daß er nichts hörte. Er war so unvorsichtig gewesen, die Tür des Apartments nicht zu schließen. Maud trat an sein Bett. Sie unterdrückte ihre Gefühle, die sie für Peter Winslow hegte. Er war der Großmeister des Ordens, dem auch sie angehörte. Das durfte sie nicht vergessen. Um ihn im Schlaf nicht zu stören, richtete sie den Lichtstrahl auf den Boden. Schon wollte sie sich zurückziehen, als ihr ein Fleck vor dem Bett auffiel. Durch Zufall streifte das Licht darüber hinweg. Sofort leuchtete Maud noch einmal auf diese Stelle. Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken. Das war Blut! Sie brauchte sich nicht einmal zu bücken, um es genauer zu untersuchen.
Ihre Hand zitterte, als sie die Taschenlampe kippte und das Bett anleuchtete. Es war blutig … Peter …! Sie wagte den Gedanken nicht zu Ende zu führen. Dennoch mußte sie sich Gewißheit verschaffen. Sie leuchtete auf das Kopfkissen. Das war nicht Peter! Das Licht traf erloschene Augen. Maud kannte die junge Frau nicht. Sie war tot. Maud sah keine Wunde. Sie holte tief Luft, ehe sie nach der Bettdecke griff und sie ein Stück zurückzog. Als ihr Blick auf die Halswunde fiel, taumelte sie zurück, schlug die Hand vor den Mund und unterdrückte ein entsetztes Stöhnen. Maud wußte nicht, wer diese Frau war und wie sie in Peters Bett kam. Sie ahnte nur, welch schauerliches Wesen dieses unglückliche Opfer getötet hatte. Offenbar war Peter Winslow kurz nach seiner Ankunft in schreckliche Ereignisse verstrickt worden. Für Maud gab es jetzt nur eine Aufgabe. Sie mußte den Großmeister finden und ihm ihre Hilfe anbieten. Dabei brauchte sie auf Tarnung keinen Wert mehr zu legen. Schnelligkeit allein zählte, denn sie zweifelte, ob Peter mit diesen skrupellosen Gegnern allein fertig wurde. Sie wußte nur nicht, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte. Maud warf noch einen Blick auf den Balkon, auf dem alles in Ordnung war. Sie kümmerte sich nicht weiter um die Tote, sondern verließ die Wohnung. Vorher sorgte sie dafür, daß die Tür nicht ins Schloß fallen konnte. Dann stieg sie in den dritten Stock hinunter. Sie sah nicht mehr, wie sich die Tote langsam in dem Bett aufrichtete und ein Bein auf den Boden stellte.
*
Sein Kopf schmerzte zum Zerspringen. Es war völlig dunkel. Dennoch wußte Peter Winslow sofort, was mit ihm geschehen war. Wäre es ihm nicht eingefallen, hätten die schimmernden magischen Fesseln an Händen und Füßen seinem Gedächtnis nachgeholfen. Sie waren in der Dunkelheit nicht zu übersehen. Stöhnend versuchte der junge Großmeister, sich aufzusetzen und zu orientieren. Das Aufsetzen schaffte er erst nach dem dritten Anlauf. Er fand eine Mauer, gegen die er sich lehnen konnte. Gleich darauf wünschte er sich, liegen geblieben zu sein. Der dunkle Raum schien sich rasend schnell um ihn zu drehen. Keuchend holte er tief Luft. Obwohl sie verbraucht, feucht und moderig war, erfrischte sie ihn doch so weit, daß er sitzen konnte. Sein Kopf klärte sich ein wenig. Er pfiff ein paarmal, um sich am Klang des Echos zu orientieren. Vermutlich lag er noch in dem Raum, in den ihn der Dämon gestoßen hatte. Es war ein kleiner Verschlag mit zumindest einer Ziegelmauer. Mit dieser hatte sein Kopf Bekanntschaft geschlossen. Die Fesseln behinderten Peter. Dennoch schaffte er es, von einer Wand zur anderen zu rutschen und die Mauern zu betasten. Auf diese Weise fand er heraus, daß sein Gefängnis massiv gemauert war und keine Tür besaß. Dabei erinnerte er sich deutlich, daß ihn der Dämon durch eine Tür geschoben hatte. War er doch in ein anderes Gefängnis gebracht worden? Weshalb hätten sie dies tun sollen? Peter schob sich an den ursprünglichen Platz zurück und begann zu überlegen. Nach ungefähr einer Stunde war ihm noch nichts eingefallen. Alle Befreiungsversuche scheiterten. Die lautlosen Rufe nach dem Geist seiner Mutter blieben unbeantwortet. Entweder war der Geist zu weit von ihm entfernt, oder seine Feinde hatten das Gefängnis hermetisch auch gegen telepathische Botschaften abgeschirmt. Jetzt bereute Peter, allein nach London gefahren zu sein. Er hätte
wenigstens den Satansspürer in seiner Nähe behalten sollen. In seinen nächsten Fällen wollte er stets für ausreichende Rückendeckung sorgen. Falls es nächste Fälle gab … Peter Winslow versuchte noch einmal, Kontakt zu dem Geist seiner Mutter aufzunehmen. Als das wieder nicht klappte, konzentrierte er sich auf seine Schwester Marthe. Sie war in die Fänge des Bösen geraten und hatte sich auf die Seite der Schwarzmagier geschlagen. Niemand wußte, wo sie sich aufhielt und ob sie überhaupt noch lebte. Aber auch seine Schwester Marthe nahm keinen Kontakt auf, so daß Peter nur weiter warten konnte. Peter Winslow war verbittert. Es war keine Ruhmestat für den Großmeister, blindlings in eine solche Falle zu tappen. Er hatte Dolly Craigh helfen wollen. Nun war sie tot. Niemand konnte sie mehr lebendig machen, und dabei hatte sie so nett gewirkt. Peter wurde abgelenkt. An einer Stelle begann die Mauer zu schimmern. Es war ein schwaches Leuchten, doch es genügte, daß er die Veränderung erkannte. Ein Teil der Ziegelwand löste sich auf. Eine Eisentür wurde dahinter sichtbar, schwang zurück und gab den Blick auf eine starre Gestalt frei. »Dolly«, flüsterte Peter Winslow. Sie trug noch die gleichen Sachen, in denen er sie in ihrer Wohnung gesehen hatte. Die tödliche Wunde blutete nicht mehr, ihre Augen waren geöffnet und richteten sich auf Peter. Der Großmeister biß die Zähne zusammen. Der Schwarzmagier, den er suchte, schickte Dolly Craigh zu ihm – als Zombie. Die Untote betrat den Kellerraum. Mit ihr kam das milchige Leuchten in das Verlies, so daß Peter seine Umgebung genauer erkannte. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war ein fensterloser Raum, der an
allen vier Seiten von Mauern umschlossen war. Die Decke wurde aus großen Steinplatten gebildet. Hinter Dolly schloß sich die Mauer wieder lückenlos und verdeckte die Eisentür. Die Untote kam langsam näher. Peter bäumte sich verzweifelt in den magischen Fesseln auf. Wenn es ihm nicht gelang, sich von ihnen zu befreien, war er der Untoten hilflos ausgeliefert. Er setzte seine ganze Kraft ein und stöhnte vor Anstrengung, doch es half nichts. Er hätte es wissen müssen. Magische Fesseln konnte er nur durch eine Gegenbeschwörung lösen. Dolly Craigh blieb einen Schritt vor ihm stehen. Ihre toten Augen blickten ausdruckslos auf ihn hinunter. »Dolly«, flüsterte Peter heiser. »Dolly, erkennst du mich? Du mochtest mich auf Anhieb! Weißt du noch? Du sagtest, ich könnte jederzeit zu dir kommen!« Er hoffte, daß die Untote nicht alles aus ihrem früheren Leben vergessen hatte. »Dolly«, wiederholte Peter eindringlich. »Weißt du, wer ich bin? Ich war dir sympathisch!« Die lebende Leiche hob die Hand und griff sich an die Stirn. »Es … ist … so … weit … weg …«, sagte sie abgehackt. Das Sprechen fiel ihr schwer. »Ich … weiß … nicht … mehr …!« »Du mußt dich erinnern, Dolly!« redete er beschwörend auf sie ein. Er kannte keinen Fall, in dem jemand einen Untoten erfolgreich an sein früheres Leben erinnert hatte. Diese lebende Leiche gehorchte den Gesetzen der Schwarzen Magie. Aber vielleicht schaffte Peter, was vor ihm noch niemandem gelungen war. »Dolly, ich sollte zu dir kommen«, fuhr der junge Großmeister fort. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen, obwohl es in dem Keller kalt war. »Du mochtest mich, und ich mochte dich auch! Denk nach! Ich bin Peter!« »Ich bin zu dir gekommen«, sagte die Untote plötzlich ohne zu
stocken. »Ich mußte zu dir kommen.« »Ja, Dolly!« Peter schluckte vor Aufregung. »Weshalb mußtest du zu mir kommen?« fragte er hoffnungsvoll. »Um dich zu töten«, lautete die Antwort. »Mein Meister hat es mir befohlen! Du mußt sterben!«
* Maud Orwell klingelte an Mr. Blakes Tür. Er war zu Hause und öffnete, ließ sie eintreten und zeigte ihr sofort seine Bilder. Er redete wie ein Wasserfall und ließ Maud kaum zu Wort kommen. »Ich suche einen Bekannten«, sagte sie endlich. »Peter Winslow, er wohnt oben …« »Ich weiß, ich weiß!« rief Robby begeistert. »Peter war schon bei mir. Meine Bilder gefallen ihm. Eines hat er sogar mit nach oben genommen. Ich habe einen Angestellten der Gaswerke gemalt. Peter war davon fasziniert.« Maud hatte keine Zeit, um sich länger mit dem Maler zu unterhalten. »Ich weiß nicht, wo ich Peter finde«, sagte sie nervös. »In seiner Wohnung ist er nicht.« Robby Blake hob die Schultern. »Hier auch nicht. Ich werde Mrs. Hamilton fragen. Vielleicht weiß sie etwas.« Er erlaubte Maud, in seiner Wohnung zu warten. Sie sah sich in der Zwischenzeit seine Bilder genauer an, ohne ihnen etwas abzugewinnen. Sie ahnte nicht, welche Ausstrahlung Peter in diesen Gemälden gefühlt hatte. Fünf Minuten später kam Robby zurück. »Tut mir leid, bei Mrs. Hamilton ist er auch nicht. Weißt du, Maud, sie ist sehr ängstlich und läßt nicht jeden in ihre Wohnung. Wenn du etwas von ihr willst, solltest du dich zuerst an mich wenden.« Maud bedankte sich und ging darüber hinweg, daß er sie wie eine alte Freundin behandelte. Je länger sie nach Peter suchte, desto
ängstlicher wurde sie. »Ich frage die anderen Leute im Haus, vielen Dank«, sagte sie und ging zur Tür. »Bei Dolly Craigh brauchst du nicht zu klingeln, die arbeitet um diese Zeit«, rief der Maler ihr nach. »Sie ist drüben in einer Bar in Soho.« Maud erinnerte sich an die Aufmachung der Toten in Peters Wohnung und beschrieb sie. »Ja, das ist Dolly«, bestätigte Robby Blake. »Woher kennst du sie?« »Ich kenne eine Menge Leute«, erwiderte Maud ausweichend und lief einen Stock tiefer. Unten ging eine Tür auf. Mr. Silex steckte wieder seine Nase in das Treppenhaus, um ständig auf dem laufenden zu sein. Dieser Mann ging Maud schrecklich auf die Nerven. »Kann ich Ihnen helfen, Miß Orwell?« rief er mit falscher Freundlichkeit herauf. »Ich suche Mr. Winslow«, antwortete Maud. »Haben Sie ihn gesehen?« Silex beugte sich über das Treppengeländer und verdrehte den Kopf, um zu ihr hochblicken zu können. Er grinste breit. »Kommen Sie zu mir in die Wohnung«, bot er an. »Dann können wir darüber sprechen.« »Nein, danke!« antwortete Maud schroff und klingelte bei Vale. Drinnen wurde der Fernseher leiser gestellt. Schritte näherten sich der Tür. »Wenn Sie sich beschweren wollen …!« rief der ungefähr vierzigjährige Mann, der die Tür aufriß. Er verstummte, als er Maud vor sich sah. »Ja? Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Maud sagte ihren Spruch auf, daß sie neu war und Mr. Winslow suchte. »Wer ist denn da?« erklang von drinnen die Stimme einer Frau. »Kommen Sie herein«, bot Mr. Vale an.
Maud folgte seiner Einladung. Sie fühlte sich sicher, weil auch Mrs. Vale hier war. Der Wohnungsbesitzer betrat das Wohnzimmer. »Geh Bier holen!« fuhr er seine Frau an. »Es ist keines mehr da! Geh zum Pub am Soho Square!« Mrs. Vale sah aus, als habe sie geweint. Unter ihren Augen lagen tiefe Ringe. Sie streifte Maud mit einem ängstlichen Blick. »Ja, gleich«, murmelte sie. Ehe Maud etwas sagen konnte, verließ Mrs. Vale das Apartment. Sie wollte der Frau folgen, doch Mr. Vale hielt sie mit erstaunlicher Kraft am Arm zurück. »Sie suchen Mr. Winslow?« fragte er leise. »Weshalb denn? Kennen Sie ihn?« »Würde ich ihn sonst suchen?« erwiderte Maud gereizt. »Nehmen Sie Ihre Pfote weg.« »Einen Moment!« Er dachte gar nicht daran, seinen Griff zu lockern. »Weshalb suchen Sie Winslow? Was hat er Ihnen erzählt? Sie sind doch nicht von der Polizei, oder doch? Er hat versprochen, daß er nichts unternimmt!« »Ich bin nicht von der Polizei«, sagte Maud nachdrücklich. »Lassen Sie mich los! Wovon sprechen Sie überhaupt?« Zu spät merkte sie, daß Mr. Vale nicht mehr Herr über sich selbst war. Seine Augen flackerten. Aus seinem Mund drang ein abgehacktes Lachen. »Das könnte euch so passen!« zischte er. »Ihr wollt mich reinlegen. Du und dieser Winslow!« Er stieß Maud vor sich her in die Küche. Maud stemmte sich gegen ihn, doch der Mann entwickelte übermenschliche Kräfte. Wahrscheinlich stand er unter schwarzmagischem Einfluß. Verzweifelt suchte Maud nach einem Ausweg. Dieses ganze Haus schien unter schwarzmagischem Einfluß zu stehen, ein Höllennest, ein Vorposten des Satans zu sein.
Entsetzt starrte sie auf die Messer, die in einem Bord an der Wand hingen, säuberlich der Größe nach geordnet. Mr. Vale streckte die Hand aus und packte das längste Messer. Maud griff zu einem letzten Mittel. Plötzlich wurde sie ganz schlaff und ergab sich scheinbar in den eisernen Griff. Mr. Vale ließ sich für einen Moment ablenken. Er lockerte die Kraft in seinem Arm, und diesen Augenblick nutzte Maud. Sie ließ sich fallen. Er packte sie sofort wieder, doch ihr Arm glitt durch seine Hand. Maud schlug auf den Boden und rollte sich blitzschnell herum. Vale warf sich auf sie. Maud wich unter den Küchentisch aus und kippte ihn um. Die Kante traf Mr. Vales Handgelenk und prellte ihm das Messer aus den Fingern. Vale schrie wütend auf. Er packte den Tisch mit einer Hand und schleuderte ihn zur Seite. Maud duckte sich, trat nach dem Messer und brachte es außer Reichweite. Das hielt Mr. Vale nicht ab. Er schnellte sich auf Maud zu, die Hände vorgestreckt. Er wollte sie am Hals packen. In letzter Sekunde warf sie sich zur Seite. Der Mann prallte gegen den Küchenschrank und blieb benommen liegen. Diese Chance nutzte Maud. Sie sprang auf, beugte sich über Vale und murmelte eine weißmagische Beschwörung. Vale richtete sich wieder auf. Maud berührte seinen Nacken und wiederholte den Bannspruch. Mit einem gepreßten Seufzer streckte er sich, rollte sich auf den Rücken und sah verstört zu Maud hoch. Es gelang der jungen Weißmagierin kaum, den völlig verzweifelten Mr. Vale zu beruhigen. Erst gemeinsam mit seiner Frau schaffte sie es, ihn zur Vernunft zu bringen und ihn davon zu überzeugen, daß er nichts für den Angriff konnte.
Maud hatte damit allerdings noch immer nicht ihren Großmeister gefunden. Nur ihr Gefühl, daß er in einer argen Klemme steckte, hatte sich verstärkt. Zu Mr. Silex brauchte sie gar nicht zu gehen. Bei diesem unangenehmen Menschen hielt sich Peter bestimmt nicht auf. Deshalb wartete Maud Orwell, bis der Hausmeister wieder einmal für einige Zeit in seiner Wohnung verschwand und nicht herumspionierte. Sie stieg in den Keller und begann dort mit einer gründlichen Durchsuchung.
* Peter Winslow lauschte den Worten der Untoten nach. Sie war gekommen, um ihn zu töten … »Nein!« schrie er und bäumte sich in seinen Fesseln auf. Ungeahnte Kräfte durchströmten ihn. Wenn er als Großmeister einen lebensgefährlichen Einsatz hatte, wurde er von weißmagischen Kräften unterstützt. Sie halfen ihm, die Überlegenheit seiner Feinde auszugleichen. In diesem Fall reichten sie nicht aus. Er zerrte an den schimmernden magischen Fesseln. Es gelang ihm sogar, sie zu dehnen, doch er konnte sie nicht abstreifen, schon gar nicht sprengen. Dolly Craigh schlug zum ersten Mal nach ihm. Peter schnellte sich zur Seite, prallte mit der Schulter gegen die Mauer seines Gefängnisses und rutschte zu Boden. Wieder spannte er alle Muskeln an, und wieder dehnte er die Fesseln. Hätte er sich bloß nicht in Dollys Apartment ergeben! Nur so war es seinen Feinden möglich gewesen, ihn so wirkungsvoll zu fesseln! Die Untote folgte dem Befehl jenes Magiers, der alles in diesem Haus steuerte. Sie schlug und trat nach Peter Winslow, der ihr nur mit akrobatischen Sprüngen auswich. Gegen einen Zombie hätte er
schon ungefesselt geringe Chancen gehabt. In diesem engen Verlies war seine Aussicht auf Überleben gleich null. Mit den Fesseln … Wieder schlug Dolly auf den Großmeister ein. Wie ein Blitz durchzuckte ihn eine Idee. Er sah Dollys Hand niedersausen. Sie zielte auf seinen Kopf. Er riß die Fäuste hoch, spannte die Arme und zog die Handfesseln auseinander. Dollys Schlag pfiff zwischen seinen Fäusten hindurch und traf die schwarzmagische Fessel. Der Ruck riß Peter zu Boden, aber er hatte es geschafft. Seine eigene Kraft und die der Untoten zusammen hatten die Fessel gesprengt. Noch stellte sich der Zombie nicht auf die neue Taktik des Großmeisters ein. Peter versuchte es ein zweites Mal und schaffte es. Dolly half ihm unfreiwillig auch die Beinfesseln zu durchtrennen. Dennoch versuchte sie nach wie vor, ihn zu töten. Daran änderte sich nichts. Er konnte ihr jetzt nur etwas besser ausweichen. Geduckt schnellte er sich von einer Ecke des Raumes in die andere und tauchte unter den tödlichen Schlägen weg. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Dolly ihn dennoch erwischte. Ein Untoter erlahmte nicht, Peter schon. Die ungeheuren Anstrengungen beim Sprengen der Fesseln hatten einen Großteil seiner Energien gekostet. Und jetzt mußte er schneller als das Auge sein, wollte er noch eine Weile leben. Er hatte sich die Stelle gemerkt, an der sich hinter Mauerwerk verborgen die Tür befand. Er warf sich dagegen, aber es fühlte sich wie eine massive Mauer an. Er hielt sich die schmerzende Schulter und verwünschte alle Schwarzmagier der Welt. »Peter!« Er zuckte zusammen, als er die vertraute Stimme hörte. Beinahe hätte er auf den nächsten Schlag der Untoten zu langsam reagiert. Als er sich fallen ließ, spürte er den Luftzug von Dollys Faust. »Peter, wo bist du?« rief Maud.
Ihre Stimme klang gedämpft, doch sie mußte in der Nähe sein. »Maud, hilf mir raus!« schrie Peter. Mit hageldicht fallenden Schlägen trieb ihn die Untote in eine Ecke. Er versuchte, ihr zu entwischen, aber diesmal nagelte sie ihn fest. Sie standen einander so dicht gegenüber, daß Peter kein Platz für eine wirkungsvolle Abwehr blieb. Dolly hob die Hände. Von ihren Fingern strahlte eisige Kälte aus. Ein letzter Gedanke an den Geist seiner Mutter, und Peter schloß mit dem Leben ab. Er sammelte alle Kräfte, um sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Chancen rechnete er sich nicht aus. Jetzt nicht mehr! Da geriet die Untote ins Wanken. Mit schußähnlichem Knall sprang die Eisentür auf, die das Verlies nach außen abschloß. Die Zügel, die diese Tür verdeckt hatten, verschwanden spurlos. Sie waren nur Blendwerk gewesen. Die Untote drehte sich um, als ein neuer Feind auftauchte. »Maud!« Mit diesem Aufschrei tauchte Peter Winslow unter Dollys Armen durch und lief zu Maud hinüber, die der Untoten einen Bannspruch entgegenschleuderte. Peter wankte an Maud vorbei aus dem Verlies. Draußen drehte er sich noch einmal um. Die Untote hatte ihre Aufgabe nicht erfüllt. Sie nützte ihrem Meister nichts mehr. Er zog sich von ihr zurück. Sie sank in sich zusammen und rollte schwerfällig auf den Kellerboden. »Ich fand sie wirklich sympathisch«, murmelte Peter Winslow, ehe er die Eisentür schloß und von außen verriegelte. Maud atmete erleichtert auf. Sie hatte so viele Fragen auf der Zunge, doch jetzt war keine Zeit für Worte. Sie hasteten nach oben in Peters Wohnung. Von dort aus rief er die Polizei an und meldete die Leiche im Keller, ohne seinen Namen zu nennen.
Der Rest der Nacht verging mit Verhören durch Beamte von Scotland Yard. Die Kriminalisten sprachen mit allen Hausbewohnern, ohne etwas herauszufinden. Peter schilderte Maud seine Erlebnisse, und sie berichtete, unter welchen Umständen sie das Haus in der Charing Cross Road erreicht, hatte. »Wir haben eine ganze Menge erlebt und überstanden«, sagte sie zum Schluß. »Wir wissen aber noch immer nicht, wer für all dieses Grauen verantwortlich ist. Und ich kenne keinen Weg, wie wir ihn entlarven könnten. Er ist zu raffiniert.« Sie saßen in George Poppards Wohnzimmer. An der Wand hing das Bild, das Robby Blake von dem Satansspürer gemalt hatte. Peter deutete auf das sonderbare Porträt, das unter dem normalen Gesicht visionsartig die besonderen Eigenschaften des Satansspürers zeigte. »Wir fahren nach Sagon Manor zurück«, bestimmte Peter Winslow. »Und wir nehmen dieses Bild sowie seinen Maler mit. Ich glaube, ich habe eine Idee.« Maud beugte sich gespannt vor. »Welche? Peter, gib mir ein Stichwort!« Der junge Großmeister nickte. »Okay, ein Stichwort.« Er wartete einen Moment, ehe er leise sagte: »Mortland!«
* Im Morgengrauen rief Peter Winslow auf Sagon Manor an. Butler Harvey kam schon nach dem dritten Klingelzeichen an den Apparat. »Ich hatte heute nacht die letzte Wache, Sir«, erklärte er. »Wir haben die Blockade von Sagon Manor gesprengt und die Wesen von Mortland vertrieben. Die Straße ist wieder in Ordnung.« »Okay, Harvey, wir sind in ein paar Stunden da«, erwiderte Peter,
gab Anweisungen und legte auf. Sie verließen zu dritt das Haus, ohne noch einmal angegriffen zu werden. Peter und Maud sicherten Robby Blake sorgfältig ab. Er war im Moment für sie die wichtigste Person. Während der Fahrt an die Südküste erklärte Peter dem Maler, was es mit dem Orden der Weißmagier auf sich hatte. Er schilderte auch, was sich in dem Haus an der Charing Cross Road ereignet hatte. »Du besitzt mediale Fähigkeiten«, schloß Peter. »Das merkte ich an dem Porträt des Satansspürers. Und nun sollst du noch ein Porträt malen, um den Schwarzmagier zu entlarven.« »Habt ihr wirklich Vertrauen zu mir?« erkundigte sich Robby Blake gähnend. »Ich meine, glaubt ihr mir, daß ich nicht dieser Schwarzmagier bin?« »Nein«, erwiderte Peter offen. »Du kannst genau so gut der gesuchte Verbrecher sein wie jeder andere. Aber wenn du es bist, läufst du mir direkt in die Falle. Bist du es nicht, muß ich den Schuldigen erst holen.« Der Maler lachte kurz auf. »Es ist schön, bei wahren Freunden zu sein!« stellte er bitter fest. »Bei der Bekämpfung der Schwarzen Magie kann man nicht vorsichtig genug sein«, entgegnete Maud. »Das hat nichts mit Freundschaft zu tun. Wir werden dir erst vertrauen, wenn wir dich geprüft haben.« »Okay!« Robby Blake zuckte die Schultern. »Wie wollt ihr das tun?« »Indem wir dich nach Mortland bringen«, erwiderte Peter ausweichend. Er wollte noch nicht alles verraten. Sie erreichten Sagon Manor ohne Zwischenfälle, wurden von Harvey, dem Lord und Alicia Winslow empfangen. Auch Mrs. Applegast, die Köchin, wollte alles wissen, was in London geschehen war, doch Peter ging auf nichts ein.
»Wir gehen sofort nach Mortland«, sagte er zu seinen Verbündeten und Verwandten. Er deutete im Park auf eine Frau in mittleren Jahren. »Ist das George Poppards Mutter?« Sein Vater nickte. »Sie kennt die Wahrheit und trägt sie mit Fassung.« Peter lernte auch noch Ann Bliss kennen, die Freundin des in einen Dämon verwandelten George Poppard. Sie bestand darauf, mit Peter und Maud nach Mortland zu gehen. »Ausgeschlossen«, lehnte Peter ab. Ann hielt den jungen Großmeister am Arm zurück. »Sie wollen George von diesem schauerlichen Dasein erlösen, nicht wahr?« Peter nickte. »Das ist nichts für Sie«, sagte er unbehaglich. »Doch«, erklärte sie entschieden. »Ich muß wissen, daß er Frieden gefunden hat, sonst komme ich nie mehr zur Ruhe.« Sie überredete Peter. Er wandte sich an Harvey, der ihm eine Leinwand brachte. Peter gab sie an Robby Blake weiter. »Diese Leinwand ist präpariert«, erklärte Peter Winslow. »Harvey hat sie nach meinen telefonischen Anweisungen magisch behandelt.« Mehr sagte er nicht. Sie verließen das Gebiet von Sagon Manor. Harvey hatte sich mit Waffen gegen Dämonen und ähnlichen Wesen ausgerüstet. Er sollte die kleine Gruppe absichern. Sie wurden jedoch nicht angegriffen. Die Wesen, die auf Mortland hausten, fühlten, daß sie diesmal nicht direkt bedroht waren. Und da sie keinen Befehl zum Angriff erhielten, blieben sie in ihren Verstecken. Peter Winslow wies dem Maler einen geschützten Platz auf der Terrasse des verfallenen Herrenhauses an. Harvey baute sich neben Robby Blake auf und behielt die Umgebung im Auge. Niemand hörte die Beschwörungen, die der junge Großmeister flüsterte. Es dauerte zehn Minuten, ehe sich in dem Herrenhaus et-
was bewegte. Ann Bliss stöhnte auf, als ein mit schwarzen Schuppen bedecktes Monster ins Freie wankte, unförmig und doch entfernt an einen Menschen erinnernd. »George«, flüsterte sie. Kein Zweifel, George Poppard war kein Mensch mehr, sondern bereits ein Dämon. Nur Peter Winslows ununterbrochen gemurmelte Beschwörungsformeln hielten ihn von einem Angriff ab und bannten ihn auf eine Stelle. »Male, was du bei seinem Anblick empfindest«, flüsterte Maud Robby Blake zu. Und Robby begann zu malen … Er brauchte zwanzig Minuten, bis er das Porträt des Schwarzmagiers fertig hatte. George Poppard erinnerte sich an seinen Mörder, obwohl er sich in einen Dämon verwandelt hatte. Und Robby Blakes Begabung als Medium bewährte sich. Er fing Poppards Gedanken auf und hielt sie auf der Leinwand fest. Als er fertig war, erwachte er wie aus Trance und starrte verblüfft auf das Bild. »Silex!« rief Robby. »Dieser unsympathische Kerl ist tatsächlich der Magier?« Maud nickte. »Diese präparierte Leinwand zwingt ihn, hierher zu kommen. Wir brauchen gar nicht lange zu warten. Die Kraft der Weißen Magie reicht aus, um Jeremy Silex nach Mortland zu holen.« Robby Blake war fassungslos. Er warf einen schaudernden Blick zu dem Schuppenmonster, das einmal sein Nachbar gewesen war. Dann betrachtete er Peter Winslow, der mit seinen Kräften den Dämon bannte. »Was werdet ihr mit Silex machen?« fragte der Maler. »Tötet ihr ihn?« »Wir töten niemanden«, erwiderte Maud hastig. »Wir werden versuchen, ihm seine schwarzmagischen Fähigkeiten zu nehmen, ihn
zu einem Geständnis zu bringen und ihn der Polizei zu übergeben. Mehr können und dürfen wir nicht tun!« »Warum erlöst Mr. Winslow George nicht endlich?« fragte Ann Bliss schluchzend. »Ich ertrage Georges Anblick nicht länger.« »Noch brauchen wir ihn«, erwiderte Maud angespannt, »um das magische Gleichgewicht zu halten. Erst wenn Silex hier ist, können wir George erlösen.« Das Tageslicht verdüsterte sich. Aus heiterem Himmel schlug ein gewaltiger Blitz in einen nahen Baum und ließ ihn zersplittern. Aus der Rauchwolke wankte Jeremy Silex hervor, der Schwarzmagier, der sich in der Rolle des ständig herumschnüffelnden Hausmeisters verborgen hatte. Er war sichtlich verwirrt und konnte sich nicht erklären, wo er war. Doch dann fiel sein Blick auf den mit schwarzen Schuppen bedeckten Dämon, auf Peter Winslow, Maud Orwell und Robby Blake. Er schrie gellend auf. »Ihr bekommt mich nicht!« kreischte er. »Hölle, stehe mir bei! Kommt, Wesen der Finsternis, und rettet mich! Tötet sie alle! Tötet sie!« Er breitete beschwörend die Arme aus, doch seine Flüche kamen zu spät. George Poppard entglitt Peter Winslows Kontrolle. Er ließ sich nicht länger zurückhalten und verwandelte sich in die reißende Bestie, zu der Jeremy Silex ihn gemacht hatte. In weiten Sätzen schnellte er sich auf den Schwarzmagier, der ihn mit dem tödlichen Bann belegt hatte. Poppard rächte sich an seinem Peiniger. Zu spät erkannte Jeremy Silex die Gefahr. Niemand konnte eingreifen, weil Silex in der Schußlinie stand. Harvey ließ seine Waffen sinken. Er hätte Silex getroffen, nicht das Schuppenmonster. Auch Peter Winslows Beschwörungen versagten. Zu stark war der Wunsch nach Rache, der George Poppard antrieb. Ann Bliss stand wie erstarrt, als der Mörder ihres Freundes starb.
Sie rührte sich auch nicht, als das Schuppenmonster, das einmal George Poppard gewesen war, nach dieser Tat schlaff zur Seite rollte. Doch als sich die Schuppen lösten, und darunter der leblose Körper George Poppards zum Vorschein kam, brach sie ohnmächtig zusammen. Peter Winslow und Harvey schafften sie nach Sagon Manor hinüber. Von dort verständigten sie die Polizei, damit diese sich um die beiden Toten auf Mortland kümmerte. Sie brachten Mrs. Poppard schonend bei, was mit ihrem Sohn geschehen war. Sie nahm es gefaßt auf. »Nun hat George wenigstens Frieden gefunden«, sagte sie leise. »Ich werde nie vergessen, was ich hier erlebt habe, aber jetzt kann ich nach Hause zurückfahren.« Lord Hubbard Winslow lud sie ein, noch einige Tage auf Sagon Manor zu bleiben. »Ich denke«, sagte er. »Sie haben Erholung nötig, Mrs. Poppard. Ich schätze, daß in den nächsten Tagen die Sonne scheinen wird. Dann können Sie von hier oben sogar das Meer sehen.« Doch Mrs. Poppard lehnte ab. »Sagon Manor ist wunderschön, Lord Winslow«, antwortete sie. »Aber man sieht von hier aus auch die Türme dort drüben.« Sie deutete auf die Turmspitzen von Mortland. »Und dieser Anblick erinnert mich zu sehr an das Schicksal meines Sohnes.« Peter Winslow, der junge Großmeister, und Maud tauschten einen Blick des Einverständnisses. Auch für sie verband sich Mortland mit schmerzlichen Erinnerungen, doch für sie gab es nur einen Ort, an dem sie leben wollten. Und das war Sagon Manor. Nach der Abreise von Mrs. Poppard und Ann Bliss unternahmen Peter und Maud einen langen Spaziergang über die Dünen. Auf einer Hügelkuppe blieben sie stehen und blickten auf das Meer hinunter.
»Es könnte alles so schön sein, wenn es das Böse nicht gäbe«, sagte Maud leise. Peter Winslow wandte sich um und warf einen Blick zu Mortland zurück, dem Besitz des Bösen. »Wir können Mortland nicht vernichten«, sagte er schwach lächelnd, »aber wir können versuchen, seinen Einfluß zurückzudrängen. Mortland und Sagon Manor sind ein Abbild unserer Welt. Unsere Aufgabe ist es, Sagon Manor zu stärken und den Einfluß von Mortland zurückzudrängen. Dafür leben wir!« Maud blickte Peter lange lächelnd an. In ihren Augen stand eine stumme Frage, doch sie sprach sie nicht aus. »Gehen wir weiter«, sagte sie nach einer Weile. Peter Winslow nickte und unterdrückte den Wunsch, einen Arm um ihre Schultern zu legen. ENDE
Der Stamm der Magier von Henry Wolf Sie waren Söldner, Menschen, die für Geld töteten, Menschen, die keine Angst und keinen Schrecken kannten. Das dachten alle, die sie kannten. Und das dachten sie auch selbst. Doch als das unbeschreibliche Grauen mitten im Urwald über sie hereinbrach, wurden sie eines Besseren belehrt. Plötzlich waren sie nur mehr Nervenbündel, angsterfüllte Geschöpfe in einer Welt des Horrors. In einer dämonischen Welt, aus der es kein Entrinnen gab. Denn hier herrschte …