Die Zusammenkunft von Adrian Doyle
Schon seit vorchristlicher Zeit ist Stonehenge ein Ort der Mythen und Legenden und ...
15 downloads
666 Views
691KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Zusammenkunft von Adrian Doyle
Schon seit vorchristlicher Zeit ist Stonehenge ein Ort der Mythen und Legenden und auch in der Gegenwart ein Wallfahrtsort für Menschen, deren Glaube im Übersinnlichen verwurzelt ist. Während Landru unterwegs ist, um die Archonten, eine verschollene Loge des Satans, zu finden und zu einem geheimen Ort zu führen, sammeln sich beim monumentalen Steinkreis von Stonehenge andere Scharen, die im Dienst des Teufels stehen: entflohene Schwerverbrecher aus einer nahegelegenen psychiatrischen Anstalt. Doch keiner von denen, die sich bei der uralten Kultstätte einfinden, vermag zu ahnen, welchen Plan er hier erfüllen soll. Der Preis, für den ihre Seelen gepfändet wurden, ist schrecklicher als der Tod …
Was bisher geschah … Im Dunklen Dom, der Heimstatt der Hüter, ist Anum erwacht, einer der Vampirfürsten, die vor Urzeiten über die Menschheit regierten. Durch Liliths Schuld wurden fast alle Schläfer getötet. Nur Anum und Landru existieren noch. Als Anum von Landrus Machtgelüsten und Versagen erfährt, nimmt er das Schicksal seines Volkes, der Alten Rasse, in die eigenen Hände. In Uruk trifft er auf die Halbvampirin Lilith, die dort Erinnerungen an ihr früheres Leben sucht, und Beth MacKinsay, Liliths ehemalige Freundin, die einen Weg zurück in die Zukunft finden wollte, denn in Uruk besteht ein Korridor durch die Zeiten. In ihm erfüllte sich Beth’ Schicksal, als ihr Körper sich im Zeitstrom auflöste und nur ihr Geist übrig blieb. In der Gegenwart empfängt Lilith beim Betreten des Zeitkorridors einen Hilferuf von Beth. Anum, dessen Geist in den Korridor eingedrungen ist, droht sie zu vernichten. Lilith rettet Beth’ Seele, indem sie sie in sich aufnimmt – und damit ihre verlorene Identität mit der von Beth auffüllt! Sie verläßt den Zeitkorridor und schließt das Tor, noch bevor Anum nachfolgen kann. Dann stößt sie auf dessen Körper, der im Vorraum zurückgeblieben ist, und nimmt ihn mit sich nach Jerusalem. Sie verfällt ihm, obwohl Anum in todesähnlichem Schlaf liegt, da sein Geist vor Schließen des Korridors nicht zurück in den Körper fahren konnte. Nur der Lilienkelch hält noch die Verbindung zum Zeitentunnel. Nun fallen der Kelch und Anum in die Hände einer entarteten Vampirsippe, während Lilith fliehen kann. Remigius, der Führer der Sippe, konnte als ehemaliger Illuminat den Vampirkeim unterdrücken, als Landru ihn einst damit infizierte. Er schwor sich, alles Böse von Jerusalem abzuwenden. Auch Landru, der im Auftrag des Satans (der in der Gestalt des Knaben Gabriel wiedergeboren wurde) hierher reiste, befindet sich seit Tagen in der Gewalt der entarte-
ten Sippe. Jetzt erforscht Remigius den Lilienkelch, auf dessen Grund er ein Bewußtsein spürt. Zu spät erkennt er, daß es Anums Geist ist, der endlich zurück in den Körper fahren kann. In das folgende Gemetzel greift auch Lilith ein, und es gelingt ihr, Landru zu pfählen! Ihr Erzfeind, einst der Mächtigste der Vampire, ist endlich tot! So scheint es … … denn es war nicht Landru! Gabriel hat den einst von Herak geschaffenen Genvampir aus dem ewigen Eis befreit und ihm Landrus Aussehen und Gedächtnis verliehen! Der falsche Landru sollte Anum töten – oder, falls er unterlag, zumindest dafür sorgen, daß dieser glaubte, er hätte den verhaßten Bruder beseitigt. So ist der Weg für den echten Landru frei, denn er erhält von Gabriel endlich seinen Auftrag: die Archonten, eine uralte, vergessene Loge des Satans, aufzuspüren und nach Stonehenge zu führen.
Vergangenheit Tobias Stifter wurde aus tiefem Schlaf gerissen. Jemand zerrte und rüttelte an ihm. Desorientiert richtete er sich auf. »Elisabeth …?« rann es aus seinem Mund. Langsam kehrte die Erinnerung zurück – an eine ganz besondere Liebesnacht mit einer einzigartigen Frau. Seiner Frau … In diesem Moment schrie der häßliche, totenbleiche Eindringling, der seinen Arm umklammert hielt: »Los, rede! Wo ist sie?« Beim Sprechen schien er die Luft einzusaugen, anstatt sie – wie es normal gewesen wäre – hervorzustoßen. Gleichzeitig zündeten seine stechend roten Augen kleine, unlöschbare Brände in Tobias’ Seele. »Sag mir, wohin sie verschwunden ist!« Vergeblich hielt nun auch Tobias selbst Ausschau nach seiner Frau, mit der er die glühendste Liebesnacht seines Lebens verbracht hatte. »Ich … weiß nicht, wo sie hin ist. Gerade eben war sie noch –« »Schweig, du lächerliches Ding!« Tobias gehorchte, wenn auch mehr aus Irritation denn aus Angst. Vor Stunden erst hatte er sich in dieser fremden Umgebung wiedergefunden – in einem verliesartigen Raum, in den kurz darauf Elisabeth eingetreten war. Schießschartenkleine Öffnungen im Mauerwerk gestatteten zwar einen Blick nach draußen, aber dort herrschte stockfinstere Nacht. Tobias hatte nichts erkennen können, gar nichts. Dennoch beharrte sein Gefühl weiterhin darauf, daß dieser Raum sich nicht im Monte Cargano, dem Sitz der Illuminaten, befand. Verrückt … »Warum nennst du mich ›Ding‹?« brach Tobias sein Schweigen. »Und wo bin ich hier? Wie sind Elisabeth und ich hierher gelangt?« Der Blick des Fremden gloste, als würde ein Schmiedefeuer von einem fauchenden Luftstrom in Gang gehalten.
»Sie hat dir nichts von ihren Fluchtplänen verraten?« »Fluchtpläne?« Der schlanke junge Mann schüttelte den Kopf. »Sie würde nie ohne mich –« »Davon gingen wir auch aus«, fiel ihm die sonderbare, leichenblasse Gestalt ins Wort. »Offenbar haben wir sie unterschätzt. Ein unverzeihlicher Fehler …« »Laß mich los – sofort!« Tobias versuchte sich des Griffes zu entledigen, mit dem der andere ihn festhielt. »Schon gut …« Die Finger lösten sich. Tobias Stifter wollte sich vollends vom Boden erheben und zu ganzer Größe aufrichten. Da stieß die Hand des Bleichen auf sein Gesicht zu. Der leicht gekrümmte Zeigefinger hackte wie ein Schnabel in eines der verwirrt dreinblickenden Augen und durchbohrte es. Tobias Stifter, dieser Tobias Stifter, starb in der Blüte seines Lebens – und mit einem grauenhaften Schrei auf den Lippen.
* Natan sah hinab auf den dunkelhaarigen Mann, der seinem äußeren Erscheinungsbild nach um die fünfundzwanzig Jahre alt sein mußte und der jetzt mit einem langgezogenen, hohlen Seufzer in sich zusammensank. Stifters Kopf fiel schlaff zur Seite. Ein fahlgraues Rinnsal lief aus dem zerstörten Auge heraus und verlor sich in der Streu des Bodens. Ein Lufthauch streifte Natan. Eine zweite Gestalt, die große Ähnlichkeit mit ihm, aber auch unübersehbare Unterschiede zu ihm aufwies, betrat den Kerker. Grundverschiedene leibliche Väter hatten sie gezeugt und ebenso unterschiedliche Mütter hatten sie in diese Welt geboren, doch nach ihrem allzu frühen Tod im Kindesalter hatte sich ihr aller Vater ihrer erbarmt, sich um sie gekümmert und ihnen einen Neubeginn ermöglicht.
Doch ihre Schuld an ihn hatten sie noch nicht abtragen können. Vielleicht würde sie dazu nie mehr in der Lage sein, denn der Satan, der ihren fast verloschenen Lebensfunken wiederentfacht hatte, war seinem ewigen Widersacher zum Opfer gefallen: 1666, vor nun beinahe vierzig Jahren, war er durch den Illuminaten-Führer Salvat und dessen Armee bei einer Pestgrube zu London ausgelöscht worden! * In seinen letzten Zügen hatte sich Satan damals der zwölf Kinder erinnert, die er in einem Haus in Perpignan in sicherer Obhut zurückgelassen hatte. Sein in sie strömender Odem hatte sie aus ihrem langen Heilschlaf erweckt und mit Wissen und Macht ausgestattet – einem Abglanz seiner eigenen Fähigkeiten. So hatten die Archonten, wie sich die erwachsen gewordenen Kinder nannten, auch von Elisabeth Stifter erfahren, der Einen unter Millionen. Einer Frau, deren Schicksal einzig auf der Welt war. Denn sie stammte aus ferner Zukunft und beherrschte die Magie der Zeit, die sich Satan zunutze gemacht hatte, um drei Jahrzehnte auf der Flucht vor seinen Verfolgern zu »überspringen«. Letztlich war auch dies vergebens gewesen, dennoch hatten die Archonten in ihr den Schlüssel gesehen, Satans Niederlage vielleicht doch noch in einen Sieg umzuwandeln. Geduldig hatten sie darauf gewartet, bis Elisabeth Stifter das italienische Kloster, das Sitz der Illuminaten war, nach dem Tod ihres Mannes verlassen hatte, um nach Uruk aufzubrechen, wo … ja, wo der Eingang zu dem Korridor war, aus dem sie 1618 herausgeschleudert worden war: eine durchscheinende, wie gläsern wirkende Frau, die anfangs jedem Menschen in ihrer Nähe des Tod eingebracht hatte. Als sich die kalte Hand seines Bruders Loth auf seine Schulter legte, drehte sich Natan nach ihm um. »Wir müssen ihr sofort hinterher!« sagte Loth. »Wir kennen das Ziel ihrer Flucht!« Natan nickte benommen. *siehe VAMPIRA T25: »Inkarnationen«
»Ja«, stimmte er zu. »Aber hättest du je gedacht, daß sie unser Angebot ausschlagen könnte?« Sein Blick streifte den Toten. Bereits vor Wochen war Tobias Stifter als altersschwacher Greis im Kloster Monte Cargano gestorben. Dieser Leichnam hier war lediglich die Prämie, welche die Archonten Elisabeth Stifter versprochen hatten, wenn sie sich bereit erklärte, die zwölf Stiefkinder des Teufels durch den freigelegten magischen Korridor von Uruk zu führen. In die Zeit vor dem Kampf ihres »Vaters« mit Salvat in der Heiliggeistkirche zu Heidelberg.* 1635 waren Satan und Salvat zum ersten Mal aufeinandergeprallt, und das Einschreiten der Illuminaten hatte verhindert, daß die Inkarnation des gefallenen Engels zu ihrer vollen Stärke hatte heranwachsen können. Wir wollten ihn vor Heidelberg und der dortigen Übermacht warnen, dachte Natan. Nun scheint auch diese Chance dahin – es sei denn, wir – »– wir holen sie noch ein, bevor sie in den Korridor flüchten und entkommen kann«, vollendete Loth die Gedanken seines Bruders in drängendem Ton. »Worauf warten wir?« Ein letztes Mal streifte Natans Blick den Köder, den sie der trauernden Elisabeth Stifter hingeworfen hatten. Sie hatte ihn nicht angenommen. Sie hatte sich auf keinen noch so verführerischen Kontrakt mit den Waisen des Satans eingelassen. Natan stieß den Toten mit seiner Schuhspitze an. Jener Tobias Stifter mochte greifbare Illusion, eine unerhörte Gaukelei sein – aber das hätte er nicht bleiben müssen. Die Eine unter Millionen hatte es in der Hand gehabt, ihm dauerhafte Existenz einzuhauchen. Sie, die jetzt gen Uruk strebte, hätte nur auf die Forderung der Archonten eingehen müssen. Ein Pakt zwischen ihnen und ihr hätte ihre Liebe neu erschaffen. Ihre Liebe, echote es klamm in Natans Geist. Selbst etwas anfangen *siehe VAMPIRA T20-21
mit diesem Begriff konnte er nicht – nicht einmal in Bezug auf den höllischen Vater, den er mit seinesgleichen retten wollte. Nichts auf dieser Welt ist stärker als ein Abkommen mit dem Urbösen und uns, seinen Vasallen. Aber es muß freiwillig erfolgen. Aus eigenem Willen und Wollen … Hinter seinem Bruder Loth stürmte Natan aus dem Verlies, dessen Tür Elisabeth Stifters besonderen Kräften nicht standgehalten hatte.
* Kamelhufe wirbelten Wolken von Staub auf, und die Tiere selbst brüllten gequält unter den Tritten, mit denen die Reiter ihre Flanken malträtierten und sie zwangen, verschärft in Richtung Uruk zu galoppieren. Die Feste Ophit blieb hinter den Archonten zurück. So weit das Auge reichte, erstreckten sich die Sanddünen wie ein endloser, welliger Teppich vor den beiden Männern, die Elisabeth Stifters Verfolgung aufgenommen hatten. Die Sterne am Himmelszelt funkelten in einem eisigen Licht. Irgendwann erhellte sich der östliche Horizont, und der Morgen graute. Das Zagros-Gebirge war hinter Elisabeth’ Jägern verschwunden, und weit voraus tauchten vereinzelte Felsstrukturen auf, die aussahen, als hätte sie jemand achtlos hingestreut. Nach vielen Stunden erreichten Natan und Loth den Ort, von dem aus die damals fruchtbare Uferregionen des Euphrat und Tigris einst regiert worden waren. Uruk. Das Zentrum des versunkenen Reiches Sumer … »Dort!« rief Natan, ohne aufzuhören, sein erschöpftes Kamel anzuspornen. »Sieh nur – da vorne!« Selbst wenn Loth dem Hinweis des Bruders nicht gefolgt wäre, hätte er im selben Moment wie dieser gewußt, was er entdeckt hatte.
Ein unsichtbares Netz verknüpfte die Archonten miteinander – jeder besaß in jedem Moment das gesamte Wissen aller. Und so wußten auch Zoe, Jada und die anderen, die unterwegs zur Feste Ophit waren, längst, daß ihre beiden Brüder Elisabeth Stifter, die Diebin der Zeit, zunächst hatten entkommen lassen … … und nun wieder, weit voraus, die Treppe zum Eingang des magischen Korridors hinabsteigen sahen! Elisabeth Stifter war den weiten Weg zu Fuß gegangen, und dennoch hatte sie ihr Ziel vor ihren berittenen Häschern erreicht. Sie mußte beinahe ebenso erschöpft und am Ende ihrer Kraft sein wie die Tiere, die Natan und Loth getragen hatten. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie hatte es geschafft. Sie war wieder dort, von wo aus sie in die Zeit aufbrechen konnte, aus der sie gekommen war. Die Zukunft. Aber solange ihr aller Vater tot war, interessierte die Archonten nur die Vergangenheit. Nur dort lag der Schlüssel, den Tod des Teufels zu verhindern … Wir schaffen es nicht, raunte es in Natans Hirn. Alles war vergebens. Er wußte, daß ihre zehn in die fernsten Winkel der Welt verstreuten Geschwister zur Feste Ophit aufgebrochen waren, um sich dort zu sammeln. Zwölf waren sie insgesamt – und zu zwölft hatten sie sich von Elisabeth Stifter an der Hand nehmen lassen wollen, um durch den gefahrenreichen magischen Tunnel zum richtigen Zeitpunkt geführt zu werden. In der Vergangenheit hatten sie die Weichen für eine Zukunft im Sinne Satans stellen wollen. Doch nun … »Wir haben uns zu sehr darauf verlassen, daß sie bestechlich ist und unser Angebot nicht ausschlagen würde«, erreichte Loths Stimme Natans Ohr. Auch der Bruder war vor Enttäuschung am Boden zerstört. Auch er hatte begriffen, daß sie zu spät kommen würden. Aus eigener
Kraft würden sie Elisabeth Stifter nicht mehr am Betreten des Korridors hindern können. Die Flüchtige war längst ihren Blicken entschwunden, als die Archonten ihre zu Tode geschundenen Kamele vor der Treppe stoppten, die zu einem Phänomen führte, das sich jedem Erklärungsversuch entzog. Herzzerreißend röchelnd brachen die Tiere zusammen, nachdem Natan und Loth aus den Satteln gesprungen waren. Die Herzen der Archonten rührte es nicht. Sie hetzten auf die Treppe zu und die Stufen hinab. »Elisabeth Stifter!« schrie Natan, als er abrupt vor der Schwelle anhielt, vor der er schon einmal gestanden hatte. Sein Ruf schien in der schrecklichen Weite des Korridors zu verhallen, der aus purer Zeit und aus nichts anderem zu bestehen schien. »Elisabeth Stifter – komm zurück!« Jenseits der Schwelle lag das Kleid, das die Verfolgte getragen hatte, als sie in der Feste Ophit eingekerkert gewesen war. Von der knabenhaft schlanken Frau selbst war nichts mehr zu sehen. Nicht das geringste. Dafür nahte etwas anderes. Das groteske Gespenst, das schon den Vampir Tyk verschlungen hatte, als er auf Natans Geheiß in den Korridor getreten war … *
* »Wo ist sie? Hast du ihr etwas angetan?« »Wem?« »Der Frau, die gerade in den Tunnel gegangen ist!« »Hier ist keine Frau.« Die Stimme, die Loths Fragen antwortete, klang, als wehe sie aus einem tiefen Schacht herauf – dabei trennten die albinoiden Archon*siehe VAMPIRA T40: »Beth«
ten rein optisch nur wenige Schritte von der schattenhaften Gestalt hinter dem Tor, deren Konturen nicht fest, sondern in ständiger Bewegung befindlich waren, gerade so, als drohte sie zu zerlaufen. »Du lügst!« Natan trat neben seinen Bruder. »Du mußt sie bemerkt haben! Nennst du dich nicht Wächter dieses Tores? Und wachst du nicht aufmerksam?« »Ich bin der Wächter«, bestätigte der verschwommene Schemen emotionslos. »Bleibt nicht draußen stehen, kommt herein. Wir können über alles reden. Ihr seid … sonderbar. Ich habe Mühe, euch zu erkennen. Wer seid ihr? Was wollt ihr? Kennt ihr die Erlöserin? Seid ihr ihre Vorboten?« Nach einer »Erlöserin« war schon Tyk gefragt worden. Und wer erlöst uns? dachte Loth abstrakt. »Wir kennen deine Erlöserin nicht«, sagte er, ohne sich den Kopf über mögliche Folgen zu zerbrechen. »Hilf uns, die Frau zu finden, die wir suchen, und wir erlösen dich, ganz gleich, wie der Fluch beschaffen sein mag, der auf dir liegt!« »Ihr wißt nicht, was ihr redet. Ihr seid nicht die Erlöserin.« »Wenn du Elisabeth wahrhaftig nicht bemerkt hast, bist du ohnehin wertlos für uns«, sagte Natan. »Solltest du hingegen lediglich lügen, könnten wir ins Geschäft kommen. Nenn uns den Lohn, den du für deine Hilfe verlangst, und wir werden ihn dir geben. Was immer es ist.« Der Schemen rückte ein wenig von ihnen ab. Zunächst sah es aus, als wollte er in die endlose Weite des Tunnels entfliehen. Da wurde Natan zum ersten Mal bewußt – und parallel dazu auch seinem Bruder –, daß der Korridor von diesem Toreingang aus betrachtet nur schnurgerade in eine Richtung verlief: in die Vergangenheit. Wie hatte Elisabeth überhaupt in eine Richtung gelangen wollen, die es dem Anschein nach gar nicht (oder noch nicht) gab? Oder existierte sie doch schon und war nur von hier draußen aus nicht zu erkennen?
Das Phänomen, das Mos Iranshars Leute hier am Rande der unter Sandmassen begrabenen Überreste einer einst stolzen Stadt freigeschaufelt hatten, war mit dem Verstand nicht zu greifen, erst recht nicht zu begreifen. Welche Macht mochte dies erschaffen haben? Und wozu? »Ihr dürftet mich nicht erlösen, selbst wenn ich wollte«, sagte die Stimme aus dem Tunnel in diesem Moment. »Meine Arbeit ist noch nicht vollbracht. Und wer sollte an meiner statt hier wachen und warten, bis die wahre Erlöserin kommt?« »Wie lautet der Name dieser … Person?« fragte Loth. Wieder herrschte eine lange Weile Stille. Dann sagte das gespenstische Ding auf der anderen Seite: »Lilith.« Der Name als solcher war den Archonten nicht unbekannt. Aber es war viel zu unwahrscheinlich, daß sie ein und dieselbe Frau meinten. »Du wirst weiter auf deine Lilith warten müssen – vielleicht noch eine Ewigkeit«, sagte Natan. »Es sei denn, du übergibst uns die Frau, die kurz vor uns hier eintraf. Sie muß den Gang betreten haben! Halte uns nicht zum Narren! Fange sie für uns ein, wo immer sie sich gerade aufhalten oder verbergen mag. Und sobald du sie uns ausgeliefert hast …« »Was dann?« »… wird sich dein größter Wunsch erfüllen: Die Erlöserin wird dir erscheinen!« Der Schemen gerann kurz zu einer bis dato nicht erlebten Schärfe. Die Umrisse einer perfekt gewachsenen Frauengestalt kristallisierten sich heraus – aber sie erreichten nie den Grad, ab dem Geschöpfe wie Natan oder sein Bruder Loth die Bereitschaft entwickelt hätten, zu glauben, eine verführerische Frau aus Fleisch und Blut vor sich zu haben. Den Archonten gegenüber vermochte der Wächter dieses Korridors auch jetzt noch nicht das Element zu verleugnen, das seine
monströse Natur entlarvte. Er war und blieb unmenschlich. Eine stumme Drohung, wahrscheinlich sogar das Todesurteil für jeden, der sich in sein Revier vorwagte. Was mochte Tyk, der aus Bagdad verschleppte Vampir, in diesem Ding gesehen haben? Vielleicht tatsächlich eine überirdisch attraktive Frau, deren Liebreiz und Anziehungskraft er nicht hatte widerstehen können? »Darüber könnt ihr nicht bestimmen! Sie wird kommen, wenn die Zeit reif ist – nicht, wenn ihr es wollt.« »Wir können jeden Wunsch erfüllen, der aus tiefsten Sehnen heraus an uns herangetragen wird.« »Ich habe keine Wünsche …«, sagte der Wächter, »… außer dem einen, daß ihr zu mir kommt und ich euch –« Loth zog Natan vom Toreingang des Zeitkorridors fort. »Komm, es hat keinen Sinn.« Natan schüttelte enttäuscht den Kopf. »Nein, das hat es wohl nicht.« Auch er kehrte dem Tunnel den Rücken. »Was meinst du, was aus ihr geworden ist?« »Elisabeth?« Natan schwieg. »Vielleicht ist sie dort, wohin sie wollte«, sagte Loth. »Aber lieber wäre mir, sie würde in ewiger Verdammnis braten!« Schulter an Schulter stiegen sie wieder die Stufen empor, die sie herabgekommen waren. Plötzlich hielten sie beide inne und sahen einander an. »Jada und Zoe sind angekommen«, sagten sie wie aus einem Munde. Ihre Schwestern wußten bereits, wie die Verfolgungsjagd nach Uruk ausgegangen war. Natürlich wußten sie es …
*
Gegenwart Highgate Hall »Alles friedlich und still.« »Hm. Totenstill …« Devan Daridov schob den Steuerknüppel einen Tick nach vorne. Der zweisitzige Hubschrauber ging gehorsam tiefer. Die trutzigen Bruchsteinmauern rückten fast sprunghaft näher, schienen auf unmögliche Weise noch in die Höhe zu wachsen. Dahinter erstreckten sich gepflegte Parkanlagen, in deren Mitte eine Anzahl unterschiedlich großer Gebäude viktorianischen Stils lag. Irgendwann einmal war Highgate Hall ein herrschaftlicher Landsitz gewesen. Heute aber … »So sieht also die sprichwörtliche Hölle auf Erden aus.« Glory Anson lächelte spröde. Daridov nickte und wies zur rundumverglasten Kanzel hinaus, wo jetzt das gewaltige Tor innerhalb der Außenmauer zu erkennen war. »Und irgendein Trottel hat die Tür offengelassen …« Sekundenlang zerrte und rüttelte ein künstlich erzeugter Sturm fauchend an Gesträuch und Geäst, riß Blätter von Bäumen und Büschen. Dann berührten die schmalen Kufen des Hubschraubers den Boden, Motor und Rotor kamen zum Stillstand, und der Sturm verebbte. Stille kehrte wieder ein, so tief und vollkommen, daß selbst das Geräusch, mit dem Daridov und Anson vom Cockpit aus auf den kurzgeschnittenen Rasen hinabsprangen, laut klang. Zwei Leichen hatten sie bereits im Anflug ausmachen können. Gekrümmt lagen sie nahe des Torhauses, mit dem das große Portal in der Außenmauer umbaut war. Devan Daridov ging zügig voran, seine Kollegin folgte ihm etwas
langsamer. Sie ließ den Blick schweifen, nicht suchend, sondern um das Bild des Anwesens, das sie sich vom Helikopter aus gemacht hatte, um Details zu ergänzen. Daridov indes schien sich für Einzelheiten oder verdächtige Regungen nicht zu interessieren. »Waren Sie schon einmal auf Highgate Hall?« fragte Glory Anson, als sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Sie strich sich eine Strähne ihres rotblonden Haars aus dem Gesicht und sah zu ihm auf. Daridov überragte sie fast um Haupteslänge. Aber Körpergröße entschied nicht darüber, ob man in »die Firma« aufgenommen wurde; andere Qualitäten waren im Einsatz von weitaus größerer Bedeutung. Agent Daridov schüttelte den Kopf, jenes jungenhafte Lächeln auf den Lippen, das bei Fremden den Anschein von Harmlosigkeit erweckte und über Devan Daridovs wahres Wesen hinwegtäuschte. »Nein«, antwortete er dann. »Niemand, der Highgate Hall einmal betreten und verlassen hat, kehrt hierher zurück.« Glory Anson zog die Stirn kraus. »Ich verstehe nicht, was –« »Das Personal, das auf Highgate Hall Dienst tut, wird im ZweiJahres-Turnus ausgetauscht – und dann aus dem Regierungsdienst entlassen. Nach dem Motto: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen«, erklärte Daridov, ohne seine Kollegin anzusehen. Sein Blick war starr auf die beiden Toten gerichtet, denen sie mittlerweile nahe genug waren, um das Blut auf ihren Körper sehen zu können – und Daridov meinte sogar, es riechen zu können. Ungerührt fuhr er fort: »Die Leute bekommen eine Abfindung, die hoch genug ist, damit sie irgendwo ein neues Leben anfangen können – weit weg von Highgate Hall. Und außerdem wird dafür gesorgt, daß sie Highgate Hall vergessen – und alles, was sie hier gesehen und erlebt haben.« »Das klingt –«, begann Anson. »– wie der blanke Irrsinn«, fiel ihr Daridov ins Wort. »Ich weiß. Und treffender kann man es kaum bezeichnen. – Meine Güte, sehen Sie sich diese Schweinerei an.«
Sie hatten die beiden Leichen erreicht. Devan Daridov ging in die Knie, holte dabei ein Paar dünner Gummihandschuhe aus seiner Tasche und streifte sie über. Dann berührte er den männlichen Toten, zog die blutdurchtränkte und mittlerweile rostfarbene Kleidung vor dessen Brust auseinander – und schluckte hart. Glory Anson würgte hörbar. »Großer Gott, was –«, keuchte sie. »Das Herz«, sagte Daridov tonlos. »Man hat ihm –«, er warf einen kurzen Blick auf die Frauenleiche und korrigierte sich, »– man hat ihnen das Herz aus dem Leib geschnitten.« »Aber … wer tut so etwas?« »Milton Banks.« Daridov erhob sich schwerfällig. Die gläsernen Blicke der beiden Toten schienen ihm zu folgen, und er hatte das irrationale Gefühl, etwas wie stumme Anklage darin zu spüren. »Es ist nicht meine Schuld«, flüsterte er. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe meine Pflicht getan.« Glory Anson vermied es, die Leichen anzusehen. Ihr Blick hing wie gebannt an Daridov. »Was reden Sie da?« fragte sie verwirrt. »Milton Banks«, wiederholte Daridov. Er klang müde, beinahe erschöpft wie von einem langen, harten Kampf. »Sagt Ihnen der Name etwas?« Sie hob zögernd die Schultern, überlegte und sagte schließlich: »Banks war ein Serienmörder, wenn ich mich recht erinnere. Einer von der ganz üblen Sorte. Er hat seine Opfer gegessen, oder jedenfalls Teile von –« Wie magisch angezogen fiel ihr Blick auf die klaffenden Brustwunden der beiden Leichen. Ihr Magen revoltierte von neuem. »Wollen Sie damit sagen …?« wandte sie sich an Devan Daridov. Ihr ohnedies stets blasses Gesicht wirkte grau.
Daridov nickte und sah sich um. »Milton Banks war einer der Insassen von Highgate Hall. Und der Appetit scheint ihm nicht vergangen zu sein.« Er grinste verunglückt. »Irgendeine Zeitung hat damals Banks’ Rezepte veröffentlicht.« Noch während er sprach, drehte sich Daridov um und setzte sich in Richtung der Hauptgebäude in Bewegung. »Haben Sie mal eines nachgekocht?« wollte Glory Anson wissen. Sie versuchte Daridovs Grinsen zu kopieren, während sie sich ihm anschloß, aber ihr Versuch fiel noch kläglicher aus. »Nein. Meine Kochkunst hört bei Spaghetti auf.« »Kein Wunder, daß Sie mich noch nicht zum Essen eingeladen haben.« »Oh, mein Frühstück ist grandios«, gab Daridov anzüglich zurück. Glory Anson bog das Thema ab; vielleicht deshalb, weil sie nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, würde Devan Daridov sie zum Frühstück einladen. Er war – nett. Er sah nicht schlecht aus. Und Glory Anson hatte lange keinen Sex mehr gehabt – jedenfalls nicht zu zweit … »Was ist hier nur passiert?« fragte sie leise, wie im Selbstgespräch. Ihre Stimme klang belegt – wie nach einer langen Nacht. Ihre Augen irrten hierhin und dorthin, ohne auch nur den Ansatz einer Antwort auf die eigene Frage zu finden. Nirgends regte sich etwas, und nirgends lag etwas, das weiteren Aufschluß hätte geben können. Die Informationen, mit denen »die Firma« sie nach Highgate Hall geschickt hatte, waren dürftig. In der Nacht zuvor war die Satellitenverbindung zur entfernt gelegenen Zentrale unterbrochen worden – angeblich wegen Wartungsarbeiten, wie eine entsprechende Nachfrage auf Highgate Hall ergeben hatte. Spätere Kontaktversuche waren ergebnislos geblieben; auf Highgate Hall hatte sich niemand mehr gemeldet. Woraufhin man Devan Daridov und Glory Anson in Marsch gesetzt hatte, damit sie vor Ort nach dem Rechten sahen. Ohne Aufse-
hen zu erregen, wie es in der Order geheißen hatte. Deshalb hatte man auch nur ein Zweiergespann losgeschickt. Denn Highgate Hall unterlag höchster Geheimhaltung, und jeder größere Truppenaufmarsch hätte unweigerlich unerwünschtes Interesse in der Umgebung und womöglich auch seitens der Medien geweckt. Darin erschöpfte sich zumindest Glory Ansons Wissen über Highgate Hall auch schon. Devan Daridov dagegen schien mehr zu wissen. Das lag zum einen sicher daran, daß er schon seit längerem im Dienst der »Firma« stand; zum anderen aber ging Anson auch seine Bemerkung im Zusammenhang mit Milton Banks nicht aus dem Sinn … Sie fragte ihn ohne Umschweife. Geheimniskrämerei mochte zwar zu ihrem Job gehören – nach außen hin, nicht aber untereinander. »Was wissen Sie über Highgate Hall, was ich nicht weiß?« »Genug, daß man mich in die Verbannung schicken würde, wenn die richtigen Leute davon wüßten.« Devan Daridov grinste abermals auf die für ihn so typische Weise. »Und woher wissen Sie mehr als andere?« »Weil ich mich einmal sehr für Highgate Hall interessiert habe.« »Aus welchem Grund?« »Weil Milton Banks hierher gebracht wurde –«, antwortete Daridov, und nach kurzem Zögern ergänzte er, leiser und ernst, »– nachdem ich den verdammten Bastard erwischt hatte. Endlich – und doch viel zu spät …« Anson musterte ihn lauernd. »Was meinen Sie damit?« Devan Daridov wich ihrem Blick aus. Sein Gesicht schien versteinert, nur ein nervöses Zucken seines Augenlids verriet Leben. Seine Stimme klang kalt und knirschend wie brechendes Eis. »Wir hatten Milton Banks lange gejagt. Aber ich schnappte ihn erst, nachdem er meine damalige Partnerin ermordet hatte. Als ich sie fand, fehlten ihre – Nieren …« »Das … das tut mir leid, Daridov.«
Sekunden waren vergangen, ehe Glory Anson etwas auf Daridovs Eröffnung erwidern konnte. Und selbst dann stockte sie noch. Der Tonfall ihres Partners, seine Miene – all dies verriet ihr, daß er damals mehr als nur eine Kollegin verloren hatte … »Keine Sorge, seitdem passe ich besser auf meine Partnerinnen auf«, versuchte Daridov die Situation locker zu überspielen. Aber die Tatsache, daß er Glory Anson dabei nicht ansah, sagte ihr, daß ihm das Erlebnis von damals noch immer zusetzte – und es immer tun würde. Was für ein Tiefschlag mußte es für ihn sein, daß Milton Banks jetzt allem Anschein nach aus Highgate Hall entkommen war? Er mußte erschüttert sein; Zorn, Haß und Schmerz mußten in Daridov fressen wie hungrige Ratten – »Milton Banks ließ mich wünschen, die Todesstrafe wäre niemals abgeschafft worden«, sagte er, als habe er Ansons Gedanken gelesen. Sie waren weitergegangen, näherten sich dem ersten der Gebäude. Wie eine steingewordene Drohung ragte es vor ihnen auf, finster und so hoch, als sei es zu dem Zweck erbaut worden, den Himmel selbst am hellichten Tage zu verdunkeln. Devan Daridovs Blick war starr auf das bruchsteinerne Mauerwerk fixiert, als er weitersprach: »Ich war dagegen, daß man ihn nach Highgate Hall brachte, und ich war gegen die Art der Behandlung, die ihm hier zuteil wurde.« Er zuckte die Schultern. »Aber natürlich konnte ich meine Bedenken nicht laut äußern. Schließlich hätte ich damit verraten, daß ich in geheimsten Akten und Dateien herumgeschnüffelt hatte. Also mußte ich so tun, als wüßte ich nur, daß Milton Banks aus dem Verkehr gezogen worden war und in einem Hochsicherheitsgefängnis irgendwo in England schmorte.« Der Gedanke an sein damaliges Stillschweigen schien Devan Daridov noch heute Magendrücken zu verursachen. Er zog ein Gesicht, als habe er Zitronen gefrühstückt.
Glory Anson konnte sich eines Fröstelns nicht erwehren. Das lag zum einen an dem, was Daridov (noch) nicht ausgesprochen hatte, an der tatsächlichen Wahrheit zwischen seinen Worten; und zum anderen daran, daß von den düsteren Gebäuden, die in ihrer Gesamtheit Highgate Hall darstellten, etwas wie ein jenseitiger Hauch ausging – Glory Anson glaubte sich von totenklammen Fingern berührt und zugleich von kalten Blicken seziert, als würde sie aus jedem der dunklen Fenster ringsum beobachtet und als könnten die imaginären Unsichtbaren bis in ihre Seele hinabsehen. »Was ist Highgate Hall?« fragte sie schließlich, aus echtem Interesse und um sich von ihren eigenen bedrückenden Phantasien abzulenken. »Und was geschah hier mit Milton Banks?« Seite an Seite stiegen sie die fünf Stufen der Freitreppe zum doppelflügeligen Portal hinauf. Das Knirschen ihrer Schritte klang in der Stille um sie her wie zischende Warnlaute. Ohne sich absprechen zu müssen, zogen sie synchron ihre Pistolen aus der Schulterholster. »Offiziell wäre Highgate Hall wohl das, was man gemeinhin als psychiatrische Klinik bezeichnet. Aber der Begriff ›Irrenanstalt‹ trifft wohl eher zu, so sehr das Wort auch verpönt ist. Schwerste Fälle werden hier sozusagen entsorgt, und die meisten Insassen waren infolge ihrer Erkrankungen straffällig geworden«, erklärte Daridov, während er mit dem Rücken zur Tür Aufstellung nahm und mit der freien Hand nach der schmiedeeisernen Klinke faßte. Glory Anson stand einen Schritt von der Tür entfernt, die Waffe im Anschlag. »Dann ist Highgate Hall also doch eine Art Gefängnis?« fragte sie und nickte ihrem Partner gleichzeitig zu. Er drückte die Klinke nieder, versetzte der Tür mit der flachen Hand einen Stoß, ging in die Knie und wirbelte um die Kante herum ins Innere des Gebäudes, mit dem schwarzen Auge der Pistolenmündung jedem seiner hin- und herflitzenden Blicke folgend. Seine Partnerin zielte über Daridovs Scheitel hinweg in die Düster-
nis jenseits der Eingangsschwelle. Das leise pfeifende Geräusch, mit dem sie schließlich den angehaltenen Atem entließ, nahm Devan Daridov als Zeichen der Entwarnung. Er erhob sich. Hinter der Tür lag eine kahle Empfangshalle. Das massive Gitter, dessen oberes Ende sich im Dunkel verlor und vermutlich mit der Decke hoch über dem Hallenboden abschloß, zählte gewiß nicht zum ursprünglichen Interieur von Highgate Hall, ebensowenig der halbrunde Tresen auf halbem Wege zu diesem Gitter. Als Daridov und Anson ihn erreichten, sahen sie eine Vielzahl von Schaltern und Knöpfen sowie kleiner Monitore und Leuchtanzeigen, die allesamt erloschen waren. Hinter dem Gitter zog sich schnurgerade ein Korridor ins Innere des Gebäudes. Das durch die abgedunkelten, eher an Schießscharten erinnernden Fenster einfallende Licht ließ links und rechts des Ganges in regelmäßigen Abständen Türen erkennen, schmucklos, metallen und sicher nicht »original«. Devan Daridov nahm den Gesprächsfaden auf, als habe er ihn nie fallengelassen. »In Highgate Hall wird kein Wert auf Rehabilitation oder sonstige Behandlung der Patienten gelegt. Man sperrt sie weg, stellt sie ruhig und – nun, man nimmt sie den Aufzeichnungen zufolge für Experimente her, für die Ratten und andere Tiere nicht taugen …« »Das glaube ich nicht!« entfuhr es Glory Anson unwillkürlich. Aber sie spürte förmlich, daß ihr Partner die Wahrheit sagte, obgleich er sie nicht aus eigener Anschauung kennen konnte. Es war, als würden noch leise Echos von Schreien zwischen diesen Mauern schwingen, und ganz ähnlich verhielt es sich mit Leid und Schmerz: Sie schienen in der Luft zu liegen wie ein Geruch, den man mit jedem Atemzug unweigerlich einsog. Daridov nickte kaum merklich. »Ich weiß, es klingt unglaublich. Aber ist nicht schon die Tatsache, daß Highgate Hall offiziell nicht existiert, Beweis genug, daß hier Dinge geschehen müssen, von denen niemand wissen will?«
Ein etwas über zwei Meter im Quadrat messendes Segment innerhalb des Gitters war beweglich auf Schienen gelagert. Ein elektronischer Schließmechanismus sicherte es – normalerweise; jetzt stand der Durchgang in den hinteren Bereich der Halle und zu dem davon abführenden Korridor offen, die optischen Statusanzeigen waren auch hier tot. Tot wie der Mann, den die beiden Agenten weiter unten im Gang fanden. »Erwürgt«, diagnostizierte Daridov mit einem Deut auf die dunklen Male am Hals des Leichnams. Die Zunge lag wie ein zu großer Fremdkörper im Mund des Toten, die graue Spitze hing wie festgeklebt zwischen den blauverfärbten Lippen. Die Augen saßen Murmeln gleich in den Höhlen, so weit hervorgetreten, daß die Iris in ihrer ganzen Rundung zu erkennen war. »Wissen Sie, wer er war?« fragte Glory Anson. Ihr Partner zuckte die Schultern und zeigte auf die weiße Uniform des Mannes. »Einer vom Wach- beziehungsweise Pflegepersonal, vermute ich. Der Unterschied zwischen beidem dürfte hier eher gering sein.« Sie gingen weiter, warfen sichernde Blicke in jeden der vom Gang abführenden Räume – schmale Zellen, karg oder gar nicht möbliert, winzige Fenster, die vergittert waren … … aber nirgends auch nur die Spur einer Menschenseele. »Sie sagten vorhin, Sie seien mit der Behandlung von Milton Banks nicht einverstanden gewesen«, kam Glory Anson schließlich auf das ursprüngliche Thema zurück. »Wenn man ihn hier aber als menschliches –« »Milton Banks war nie ein Mensch!« wurde sie von Devan Daridov unterbrochen. »Er war ein Monster – und daran hat sich allem Anschein nach nicht das Geringste geändert.« »– wenn man ihn als Versuchskaninchen benutzte«, fuhr Anson unbeirrt fort, »wofür auch immer … müßte das nicht in Ihrem Sinne
gewesen sein, wenn Sie ihn doch so hassen?« Daridov schüttelte den Kopf, lachte hart auf. »Nein, Milton Banks erfuhr eine Sonderbehandlung. An ihm und ein paar Typen von ähnlichem Kaliber wurde etwas ausprobiert, das man als ›zerebrale Dividation‹ bezeichnet.« »Die Lydendorff-Methode?« fiel ihm Glory Anson ins Wort. »Sie haben davon gehört?« »Ja. Oder gelesen. Aber ich wußte nicht, daß man diese Methode in der Praxis angewandt hat. Sie ist umstritten, und die meisten Fachleute gehen davon aus, daß sie sogar undurchführbar sei.« »Nun«, sagte Daridov, »auf Highgate Hall hat man es versucht, wie gesagt, an Banks und anderen. Insgesamt fünf Kandidaten wurden für die zerebrale Dividation herangezogen, und wenn man den Berichten glauben kann, erzielte man überraschende Erfolge damit.« »Sie meinen, es gelang den Ärzten, Milton Banks sozusagen von seinem alten Ego zu trennen, so daß es ihm vorkommen mußte, sein früheres Leben sei das eines Fremden?« »So ist es. Und wenn man das nicht blanken Wahnsinn nennen kann, dann –« Sie fanden den nächsten Toten, wiederum ein Angehöriger des Personals, erdrosselt mit einem Patientenhemd. Doch weiterhin entdeckten sie nicht den geringsten Hinweis auf den Verbleib der Anstaltsinsassen. »Aber wenn Sie mit Ihrer Annahme Recht haben und Milton Banks ist der Mörder des Paares, das wir drunten am Tor fanden, dann –«, meinte Glory Anson im Weitergehen. »Dann taugt entweder die Lydendorff-Methode nichts«, ergänzte ihr Partner, »oder ein ›zerebraler Zauberer‹ hat Banks’ Nervenkostüm und Hirn wieder zusammengeflickt.« Was als Scherz gemeint war, hinterließ einen schalen Geschmack auf Daridovs Zunge. »Das ist unmöglich!« behauptete Anson. »Ich weiß«, nickte Daridov. »Aber ist nicht diese ganze Anstalt
eine Unmöglichkeit per se?« Zur Durchsuchung der weiteren Gebäude brauchten sie annähernd zwei Stunden. Sie fanden leere Zellen, verwaiste Personalräume und -wohnungen, Operationssäle sowie Räumlichkeiten und Gerätschaften, deren Sinn und Zweck sich einem gesunden Geist kaum erschloß. Ein knappes Dutzend Tote entdeckten sie außerdem, aber nicht einen einzigen derer, die auf Highgate Hall inhaftiert waren … gewesen waren! Als Daridov und Anson das letzte Gebäude verließen, sank die Sonne schon dem westlichen Horizont entgegen. Von ihrer Position aus wirkte es, als kauere das glühende Rund auf den Zinnen der Mauer um Highgate Hall. »Wissen Sie, was das heißt?« fragte Devan Daridov in Anspielung auf das Ergebnis ihrer Suche. Er wartete Glory Ansons Antwort nicht ab. Mit dem Kinn wies er zum Tor hinab. »Über dreihundert gemeingefährliche Irre und Schwerstverbrecher sind auf der Flucht –« »– und werden die Hölle auf Erden entfachen«, führte Anson seine Worte fort. Sekundenlang schwiegen sie. Dann stieß Daridov seine Partnerin an, wies über den sorgsam gestutzten Rasen in Richtung des Tores. »Sehen Sie das?« »Was meinen Sie?« »Die Spur!« rief Daridov aufgeregt wie ein Kind. Anson nickte. »Tatsächlich. Scheint so, als seien die Insassen alle zugleich zum Tor hinausmarschiert.« Das Gras war niedergedrückt unter unzähligen Schritten, und im Licht der tiefstehenden Sonne wirkte es fast, als führe eine flache Schneise durch das Gras zum Tor hin. »Kommen Sie!« Daridov rannte schon zum Helikopter. Anson folgte ihm. Sie ahnte, worauf er seine Hoffnung setzte.
Eine Minute später befand sich der Hubschrauber bereits in der Luft. Devan Daridov lenkte ihn über das Tor von Highgate Hall hinweg – und schrie auf! »Ja! Sehen Sie nur!« Glory Anson erwiderte nichts, nickte nur. Die Spur der Flüchtlinge setzte sich jenseits der Mauer sichtbar fort. Sie schienen sich nicht getrennt zu haben, sondern alle mit einem gemeinsamen Ziel weitermarschiert zu sein, in östlicher Richtung. Daridov hielt die Maschine in der Luft auf der Stelle. Glory Anson mußte dabei an einen Westernhelden denken, der sein Pferd zügelte. Sie lächelte. »Wissen Sie, was in dieser Richtung liegt?« fragte er. Sie überlegte, dann antwortete sie zögernd: »Ja … aber – meinen Sie, das hat etwas zu bedeuten?« Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.« Er wandte ihr das Gesicht zu, erwiderte das Lächeln, das noch immer auf ihren Lippen lag. »Finden wir es heraus.« Glory Anson ließ sich von seinen Augen gefangennehmen, einen zeitlosen Moment lang. Dann löste sie sich von ihm, fast gewaltsam, und sah zum Cockpit hinaus, der Spur nach. »Die Wahrheit liegt irgendwo da draußen«, meinte sie. »Yee-haa!« machte Daridov, gab dem Helikopter die Sporen und trieb ihn in Richtung – – Stonehenge.
* Zur gleichen Zeit Von einer Nacht in die andere: Eisige Fremde umfing die Gestalt, als das Nichts sie ausspie, und einen Atemzug lang stand sie wie zur Salzsäule erstarrt da, ehe sich ihre Lippen teilten.
»Gabriel, du Teufel …!« Der Mann, der sich unter dem Sternendiadem am Fuß eines weitläufigen Gebirgszugs wiederfand, lauschte dem Klang seiner eigenen Stimme, als könnte er darin Halt finden und verhindern, daß ihn die umgebende Weite und Verlassenheit verschlang. Die Stille und der jähe Wechsel der Landschaften brachten seine Seele beinahe zum Erfrieren. Sekunden zuvor war Landru noch der festen Überzeugung gewesen, erst eine langwierige Reise absolvieren zu müssen, ehe er den erhaltenen Auftrag in die Tat umsetzen konnte – den Gefallen, den der leibhaftige Satan soeben von ihm eingefordert hatte. Im monumentalen Steinkreis von Stonehenge, dem Ort der Wiederbegegnung mit Luzifers Gesandtem hier auf Erden. Nun aber … »Dir muß die Zeit wahrhaftig unter deinen dämonischen Nägeln brennen!« murmelte der Vampir, der schon gelebt hatte, als der Boden unter seinen Füßen noch fruchtbar, noch keine Wüste gewesen war. Während sein Blick über das wildzerklüftete Bergmassiv schweiften, schloß er nicht aus, daß Gabriel tatsächlich hören konnte, was sein Bote in diesem Moment an fernem Ort über ihn redete. Landrus Züge formten eine Grimasse, die mehr ausdrückte als bloße Abscheu: Er haßte Gabriel von ganzem Herzen. Haßte es, einem Feind verpflichtet zu sein, noch dazu einem Feind, dessen Beweggründe er weniger denn je durchschaute. »Du wirst aufbrechen, um meine Jünger zu finden und um mich zu scharen«, hatte Gabriel ihn aufgefordert. »Es ist an der Zeit, daß sie erfahren: Ihr Vater ist zurückgekehrt – die Schmach von London ist überwunden! Der Moment der Rache und der finalen Schlacht ist nah! Merke dir die Botschaft gut, die du ihnen überbringen mußt: Euer Vater ruft euch zu sich, Kinder! Euer Vater erwartet euch …!« Ja, eine Botschaft sollte er überbringen. Das und nichts anderes
war die Essenz, die er aus seiner Begegnung mit Gabriel zwischen den steinernen Ringen des wahren Stonehenge gezogen hatte. Und trotzdem mochte Landru noch immer nicht glauben, daß sein Gegenspieler nichts anderes als einen simplen Botendienst als Preis dafür erwartete, daß Landru seine in der Hölle verlorene Persönlichkeit zurückerhalten hatte! Seit wann gab der Teufel sich mit Peanuts zufrieden? Wenn er den Aufenthaltsort der Archonten, wie sich seine »Jünger« nannten, bereits kannte, so hätte er doch auch selbst mit einem einzigen Schritt – ZZZUUUWWW! – vor sie treten und sich ihnen offenbaren können. »Du hast mir nicht alles gesagt«, murmelte Landru überzeugt. »Bestimmt hast du mir nicht alles gesagt …« Vor ihm erhoben sich die zerklüfteten Ausläufer eines Feldmassivs, dessen Name Gabriel genannt hatte: das Zagros-Gebirge. Hier, daran hegte Landru nach dem jähen Kulissenwechsel keinen Zweifel mehr, sollte der Kontakt zu den zwölf Jüngern des Satans hergestellt werden, um sie gen Jerusalem zu führen. In jene Stadt, in der in diesem Moment vielleicht gerade Landrus Doppelgänger den Hohen Mann Anum tötete – oder durch Anums Hand starb, um diesen glauben zu machen, sich seines Bruders für alle Zeit entledigt zu haben … Obwohl Landru Gabriel von Grund auf mißtraute, wollte er aus mannigfachen Gründen nicht einmal versuchen, den erhaltenen Auftrag zu verweigern. Hoch über ihm, an der Steilflanke des Gebirges, klebte etwas, das aussah, als hätten riesige Vögeln einen steinernen Horst erbaut: die Feste Ophit, von der Gabriel gesprochen hatte? Jene abgeschiedene Bastion, in der sich zwölf »erwachsen« gewordene Kinder aus dem 17. Jahrhundert eingenistet haben sollten? Tote, die dereinst vom Odem der Hölle wiederbelebt, wiederbeseelt und zu getreuen Dienern herangezogen worden waren …?
Unmittelbar über den Zinnen der halb verfallenen Festung wechselte Landru zurück in seine humanoide Gestalt und landete federnd auf dem ehemaligen Wehrgang. Ledrige Schwingen hatten ihm, dem lange Zeit mächtigsten aller Vampire, den Aufstieg über schwer begehbare Pfade und Pässe erspart. Hier oben schien ein noch eisigerer Wind als in der Ebene zu blasen, und Landru schärfte die Sinne, die diesem Körper eigen waren, um etwaige Geräusche oder Bewegungen auszumachen, die nicht von den Turbulenzen hervorgerufen wurden. Vergeblich. Es schien, als wäre er das einzige denkende Geschöpf in diesem trutzigen Gemäuer, das wie ein dunkles Geschwür am helleren Grau des Felsens prangte. Die Nacht stahl sämtliche Farben. Landru lächelte voller Ingrimm, als ihm klar wurde, welch profanes Bedürfnis sich selbst nach einer so absonderlichen Reise wie dieser in ihm bemerkbar zu machen begann. Durst! Der zügellose, hemmungslose Durst nach Blut …! Während er seine Lungen mit frostkaltem Atem flutete, kehrten seine Gedanken zu Gabriel zurück. Landru schloß nicht aus, daß der Teufel in Menschengestalt ihm dieses machtvolle und plötzliche Verlangen aus einer seiner Launen heraus suggeriert hatte, ehe er seinen »Gesandten« von Stonehenge aus in diese Einöde versetzt hatte. Vermutlich sollte es Landru die Erfüllung seiner Aufgabe erschweren, denn in dieser Ruine würde sich kaum jemand aufhalten, der unter die Kategorie »normalblütiger Mensch« fiel. Archonten sollten hier auf die Wiederkehr ihres »Vaters« warten. Jene zwölf vor langer Zeit auf Perpignans Friedhöfen begrabenen und von dort verschleppten Kinder, die inzwischen jahrhundertealt sein mußten! Bislang hatte Landru nur von Vampiren mit solch hoher Lebenserwartung gewußt – aber hatte Gabriel nicht schon bei der bloßen Er-
wähnung des Wortes Leben zynisch aufgelacht? Er löste sich aus seiner Erstarrung. Einen Steinwurf entfernt mündete der Wehrgang in ein Tor, das ins Gemäuer führte. Landru schritt entschlossen darauf zu. Das Gefühl, beobachtet zu werden, seit er seine Füße auf den Boden der Festung gesetzt hatte, begleitete ihn. Dann tauchte er durch den Torbogen, hinter dem eine schmale, gewendelte Treppe nach unten führte. Bald erschwerte eine Art »Dunst« Landru die Sicht, denn das Dunkel im Innern des Gemäuers hatte eine andere Qualität als die Nacht außerhalb. Ein Mensch hätte ohne künstliche Lichtquelle nur noch kompakte Schwärze um sich herum wahrgenommen. Glücklicherweise bin ich kein Mensch, dachte Landru sarkastisch. Die Begierde, die jedem Vampir vertraut war, die ihn geißelte, aber auch am Leben erhielt, schwoll in ihm an wie eine stetig lauter werdende, bittersüße Melodie …
* England, Salisbury Plains Morgan McDermott kannte keine Angst mehr. Die grauenhaften Ereignisse nur weniger Stunden hatten genügt, um die emotionale Bedeutung dieses Wortes aus dem Bewußtsein des Farmers zu tilgen. Wohl hatte McDermott noch am eigenen Leibe erlebt, wie gewöhnliche Angst sich steigern und schließlich die Grenze zu panischem Entsetzen erreichen konnte. In dem Moment aber, da sein Empfinden über diese imaginäre Scheide hinausgegangen war, hatte etwas in ihm kurzerhand abgeschaltet; als seien die Sicherungen seiner Psyche durchgebrannt. Und der Vergleich mochte nicht einmal zu weit hergeholt sein … Dennoch war Morgan McDermott noch klar zu denken imstande. Auf einer ganz tiefen Ebene seines Unterbewußtseins hatten seine
Gedanken Zuflucht gefunden, auf so engem Raum aber, daß nur Platz für das Wesentliche blieb. McDermotts Unterbewußtsein behalf (und schützte) sich damit, alles Furchtbare von der Situation gleichsam abzuspalten und außen vor zu lassen. Sein Denken beschränkte sich mithin auf den reinen Wunsch zu überleben, und so sann er darüber nach, wie dieser Wunsch Wirklichkeit werden könnte. Einen Weg indes fand er nicht … Dafür aber vermochte er zu rekapitulieren, was geschehen war in diesen wenigen Stunden, seit es begonnen hatte. Es – die Besetzung seines Gehöftes, das nahe Stonehenge lag, bis zum heutigen Tage einsam, fernab der Straßen, fast abgeschieden von der Welt. An diesem Morgen aber hatten die McDermotts Besuch bekommen, den ersten seit Jahren – und in einer Zahl, die alle bisherigen Gäste zusammengenommen weit übertraf! Über dreihundert Menschen waren es, die im Morgengrauen den Hof gewissermaßen erobert hatten, obschon diese Inbesitznahme gewaltlos vonstatten gegangen war. Zu diesem Moment war noch kein Blut geflossen. Aber der Moment war vergangen, und die Dinge hatten ihren Lauf genommen. Furchtbare Dinge, die Morgan McDermott sich nie hätte ausmalen mögen oder können. Nun hatte er sie mit eigenen Augen ansehen müssen. Und jetzt, nur wenig später, konnte er sich ihrer erinnern, ganz nüchtern, weil das Entsetzen, das ihnen anhing, ihn nicht mehr zu berühren vermochte. Es war, als sei er resistent geworden gegen solches Empfinden, als liege ein Panzer aus Eis um sein Denken, den die ebenso kalten Finger des Grauens nicht durchdringen konnten. Selma, seine Frau, besaß diesen Schutz ganz offensichtlich nicht. An ihrem Geist zerrte das Entsetzen noch immer mit unverminderter Kraft, obwohl es ihn doch längst schon in Stücke gerissen haben mußte. Morgan McDermott erkannte in ihr kaum mehr die Frau, die seit so vielen Jahren an seiner Seite ein zwar schlichtes, aber gutes Leben
geführt hatte. Ein wimmerndes Bündel Mensch war sie nur mehr, geifernd und greinend kauerte sie in einer Ecke ihres Schlafzimmers, in das sie sich zurückgezogen hatten. McDermott betrachtete Selma so emotionslos, als sei sie eine völlig Fremde – weniger noch, nicht einmal mehr ein menschliches Wesen, dessen erbärmlicher Anblick kein Mitleid in ihm zu wecken verstand. Sie hatte den Tod ihrer beiden Kinder nicht verwunden, war im buchstäblichen Sinne an Leib und Seele daran zerbrochen, deren Sterben und weiteres Schicksal mitansehen zu müssen. Morgan McDermott dachte an Sohn und Tochter wie an zwei namenlose Unbekannte, von deren Ableben er lediglich gehört und das sich weit entfernt zugetragen hatte. Daß auch er von ihrem Mörder gezwungen worden war, es zu bezeugen – diese Erinnerung war von barmherziger Hand aus seinem Kopf gelöscht worden. Daß die Tür geöffnet wurde, merkte McDermott erst, als ein Windzug sein Gesicht fächelte. Dennoch blickte er nicht gleich auf. Erst als Schritte sich dem Stuhl näherten, auf dem er seit Stunden reglos saß, hob er den Kopf – und sah ein Lächeln, das ihm zu jeder anderen Zeit freundlich erschienen wäre. Nicht aber jetzt, und nicht im Gesicht dieses Mannes! Das Grauen wollte sich endlich doch Bahn brechen, um Morgan McDermotts Denken zu fluten und alle restliche Besinnung zu ertränken. Aber irgend etwas verhinderte es im allerletzten Moment. Der keimende Sturm in McDermotts Innerstem legte sich, noch ehe er wirklich begonnen hatte. Lethargie überkam ihn, und mit ihr eine dumpfe Nüchternheit, wie tiefe Erschöpfung sie bescherte. Seine Züge erschlafften, und müde sah er in das Gesicht des anderen. Es wirkte wie das eines jener Gentlemen, die McDermott stets in den alten Clubs Londons vermutet hatte: aristokratisch, distinguiert … Daß sich hinter dieser Maske ein wahrer Teufel verbarg, hatte
Morgan McDermott schon wieder vergessen dürfen. Dieser Mann war es gewesen, der jene Heerschar weißgekleideter Menschen zu seinem Hof geführt hatte, wie ein General seine Truppen. Vier weitere Männer in ganz alltäglicher Kleidung hatten ihn begleitet.* Die Masse war von den fünfen in Scheune und Stallungen getrieben und wie folgsames Vieh darin eingeschlossen worden. Türen und Tore hatten die fünf Männer verriegelt. Seine vier Getreuen hatte dieser Mann dann zum Wachdienst abkommandiert, den sie draußen versahen, indem sie über den Hof und um die Gebäude patrouillierten, während er selbst sich am Herd der McDermotts ein absonderliches Frühstück zubereitet hatte – aus zwei Herzen, die er mitgebracht hatte und die der Größe nach von Schweinen hätten stammen können. »Ihre Frau scheint mir recht mitgenommen, Mr. McDermott«, unterbrach Milton Banks’ Stimme seine Gedanken. Er beugte sich zu Selma hinab. Seine schmalen Finger mit den langen dunklen Nägeln malten unsichtbare Linien auf ihren Leib, wie ein Chirurg, der Vorbereitungen für eine plastische Operation traf, indem er die Schnittstellen für das Skalpell auf der Haut markierte. »Sie ist nur müde«, sagte McDermott lahm und ohne darüber nachzudenken. »Des Lebens müde scheint sie mir, mein Bester«, erwidert Milton Banks. »Ich könnte ihr helfen –« Daß Morgan McDermott aufgestanden war, kam ihm selbst erst zu Bewußtsein, als er schon hinter Milton Banks stand. Und noch eine halbe Sekunde brauchte er, bis er bemerkte, daß er den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, hoch über den Kopf schwang – – und auf Milton Banks herabsausen ließ! Und das wiederum begriff McDermott erst, als Banks schon aufstöhnend zur Seite kippte und still liegenblieb. Blut lief ihm über das Gesicht, füllte träge das Muster der Falten darin. *siehe VAMPIRA T44: »Satans Ritter«
So behutsam, als könne eine zu heftige Bewegung ihn beschädigen, stellte Morgan McDermott den Stuhl an den alten Platz zurück. Dann verließ er das Schlafzimmer. Als sei nichts geschehen. Und als gebe es nichts, was er fürchten müßte. Denn Angst kannte er nicht mehr.
* Bazon Thorne fluchte und biß sich noch im selben Atemzug so heftig auf die Lippen, als könne er die unflätige Bemerkung damit noch ersticken. Das Licht war aber auch geradezu beleidigend schlecht! »Andererseits«, sagte Bazon Thorne im Selbstgespräch und lächelte, »ist es eine Herausforderung für den wahren Künstler, auch unter schlechtesten Bedingungen das Beste zu erschaffen.« Dabei flog seine rechte Hand leicht wie eine Feder über das Papier, und das Kohlestück zwischen seinen Fingern hinterließ Striche und Schatten darauf, die sich nach und nach zu einem Bild fügten. Die feuchte Luft des Kellerverschlags, den Bazon Thorne sich zum behelfsmäßigen Atelier erkoren hatte, legte sich über das Papier und ließ manche Linie verwischen. Erst hatte Thorne sich darüber geärgert, jetzt aber, da das Werk Gestalt annahm, empfand er die feuchten Flecke als reizvollen Effekt, der ihm von bloßer Hand allein nie gelungen wäre. Nach der langen Zeit der erzwungenen Abstinenz hatte Bazon Thorne es kaum mehr erwarten können, endlich wieder künstlerisch tätig zu werden – seiner ganz eigenen Kunst zu frönen! Den Augenblick unmittelbar vor der Mortifikation, dem Absterben von Organen und Gewebe also, einzufangen und zu konservieren über alles Vergängliche hinaus, dies war Bazon Thornes Leidenschaft – die Schönheit, die der Tod bedeuten kann, zu zeigen! Daß er die künstlerische Freiheit dabei strapazierte, gestand er sich
durchaus ein. Doch schließlich war das der Sinn solcher Freiheit – sie zu interpretieren, für den eigenen Zweck auszulegen und zu nutzen. Insofern sah er es jetzt sogar als vorteilhaft an, mit Kohle arbeiten zu müssen. Dieses Werk würde sich allein auf die Wirkung von Schwarz und Weiß beschränken müssen – und damit die Phantasie des Betrachters beflügeln: Was mag bloß Schatten sein auf diesem Bild? würde er sich fragen, – und was Blut? Bazon Thorne lächelte ob dieser Vorstellung. Doch die Regung seiner Lippen erstarb, als ihm einfiel, daß niemand, der seine Kunst zu würdigen wußte, seine Werke je zu Gesicht bekommen würde. So war es in der Zeit vor Highgate Hall gewesen – und daran würde sich jetzt, quasi in der zweiten Periode seines Schaffens, nichts ändern. Jene, die seine Bilder damals fanden, nachdem sie ihn als mehrfachen Mörder entlarvt hatten, hatten keinen Blick und Sinn für ihre morbide Schönheit besessen. Nur Ekel hatten sie empfunden in Anbetracht seines mitunter fast fotorealistischen Darstellungsvermögens … Und Mörder – diesen Begriff wollte Bazon Thorne noch heute nicht für sich gelten lassen. Zwar hatte er getötet, sicher – aber hatte er allen, die von seiner Hand gestorben waren, nicht im Grunde Unsterblichkeit geschenkt? Hatte er sie nicht im Wortsinn verewigt, indem er sie gemalt hatte? »Ars longa, vita brevis«, seufzte Thorne. »Lang ist die Kunst, kurz das Leben.« Ein schleifendes Geräusch, gefolgt von einem dumpfen Laut, ließ ihn erschrocken von seiner Arbeit aufsehen. Sein »Modell« hatte sich – bewegt … Die Tote – schön noch immer, trotz der blutroten Wunde, die unter ihrem Kinn klaffte wie ein zweiter Mund, zu einem breiten Lächeln verzogen – war von ihrem Thron gerutscht, den Bazon Thorne ihr
aus Holzkisten und feuchten Kartons errichtet hatte. »Na, nicht so eilig«, sagte er lächelnd, »wir sind noch nicht am Ende unserer Sitzung.« Er stand auf, ging zu der Toten und brachte sie von neuem in Position, bis das flackernde Kerzenlicht wieder jenes Schattenmuster, das er in Ansätzen schon festgehalten hatte, auf ihre Haut warf. Einen Moment lang wollte Beunruhigung über ihn kommen. Weil er dieses Mädchen nicht hätte töten dürfen … Milton Banks hatte es ihnen untersagt, auch nur einen von denen, die mit ihnen aus Highgate Hall geflohen und auf dieses Gehöft gekommen waren, anzurühren. Ihre Zahl durfte nicht verändert werden. Jetzt waren es nur 349 hochgefährliche »Patienten«, die über Bazon Thorne in den Stallungen des Hofes gefangen saßen … Er zuckte die Schultern. Einer mehr oder weniger – was sollte das ausmachen? Und schließlich – er hatte einfach töten müssen! Weil er malen mußte. Viel zu lange hatte er es nicht tun dürfen, nicht tun können – er hatte sogar Abscheu vor seinem einstigen Tun empfunden! Weil die »Ärzte« auf Highgate Hall etwas wie eine Mauer zwischen jenem Bazon Thorne, der er einmal gewesen war, und dem Bazon Thorne, der in Highgate Hall einsaß, gezogen hatten. Wie gefangen in fremdem Geist und Körper hatte er sich gefühlt. Bis dieser junge Bursche in der gestrigen Nacht aufgetaucht war – und ein Wunder vollbracht hatte! Dieser Jüngling hatte es geschafft, jene Mauer zwischen damals und heute niederzureißen – und dafür hatte er einen vergleichsweise lächerlich geringen Gefallen verlangt, den Bazon Thorne im gerne erweisen würde … … wenn es an der Zeit dafür war. Diese Zeit aber konnte jederzeit gekommen sein. Bazon Thorne ließ das Kohlestück schneller über das Papier kratzen und streifen –
– und schrak abermals auf! So heftig diesmal, daß Papier und Kohle seinen Händen entglitten. Das Kerzenlicht tanzte im Luftzug, der durch die offene Tür hereinfuhr. Schattengestalten schienen über die Wände aus rohem Stein zu rasen. Und zu rasen schien auch Carl Palmoy – vor Zorn! »Bist du irre?« keifte er. Speichel sprühte ihm von den wulstigen Lippen. Sein Gesicht wirkte nicht allein des Kerzenscheins wegen rot. »W-was hast d-du d-denn?« stammelte Bazon Thorne, auf dem Boden umherkriechend und blind nach seinen Utensilien tastend, weil er Carl Palmoy, dessen bullige Gestalt zu hochgeschossen war für den niederen Raum, nicht aus den Augen ließ. Palmoys fleischiger Zeigefinger stieß vor, als wolle er die Tote aufspießen. »Du hast sie umgebracht, verdammt!« grollte er. »Ja, gut, ich habe sie umgebracht«, gestand Thorne, merklich ruhiger als eben noch. »Und? Was macht’s? Ich mußte es tun, versteh doch –« »Fragt sich, ob Milton das verstehen wird«, gab Palmoy lauernd zurück. »Du weißt, was er gesagt hat.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Er muß es ja nicht erfahren«, meinte Bazon Thorne. »Er wird kaum nachzählen, ob noch alle da sind, oder?« »Er wird es erfahren«, erklärte Carl Palmoy. »Weil du es ihm erzählen wirst!« »Den Teufel werde ich –!« Ein verschlagenes Funkeln lag mit einem Mal in Palmoys kleinen Augen. »Du sollst den Namen deines Herrn nicht unnütz führen!« warnte er. »Was redest du da?« »Du glaubst es noch immer nicht, wie?«
»Was?« »Daß nur der Teufel uns aus dieser Scheißhölle namens Highgate Hall herausgeholt haben kann!« »Du bist ja völlig verrückt!« »Sind wir das nicht alle … wieder?« Carl Palmoy grinste breit. Dann wandte er sich ruckartig um und verließ den engen Verschlag. »Komm mit«, raunzte er. »Wir müssen mit Milton reden.« »Aber … warum, in drei Teu-?« Bazon Thorne unterbrach sich selbst. Aus irgendeinem Grund wollte ihm der Fluch plötzlich nicht mehr über die Lippen. Palmoys Warnung mußte etwas in ihm angerührt haben, das er vor sich selbst noch leugnete. »Weil ich überzeugt bin, daß die Zahl aus einem ganz bestimmten Grund nicht verändert werden darf!« erwiderte Palmoy. »Und Milton soll entscheiden, wie wir geradebiegen können, was du verbockt hast!« Während er Palmoy nachtrottete, ging es Bazon Thorne durch den Kopf, daß der andere nicht das geringste Recht hatte, ihm seine Lust zu töten vorzuwerfen – immerhin verfolgte er damit ein höheres Ziel! Während Carl Palmoy in seiner Zeit vor Highgate Hall aus ganz anderem Grund zum mehrfachen Mörder geworden war – seiner kranken Libido wegen und seiner perversen Art, seine Triebe zu befriedigen. Wahrscheinlich hatte Palmoy die vergangenen Stunden droben in den Viehställen zugebracht. Über eine schmale Treppe, deren Stufen ins Erdreich geschlagen und nur notdürftig mit Steinen befestigt waren, gelangten sie nach oben ins schwindende Licht des Tages. Die Kellerluke lag im Schatten der Scheunenwand. Hinter dem Holz rumorte es. Die Meute wurde unruhig. Hunger und Durst mußten sie quälen, ebenso wie die dämmernde Erkenntnis, daß sie mit dem Entkommen aus Highgate Hall nur vom Regen in die Traufe geraten waren.
Was immer es gewesen war, das den Geist dieser Leute während der Flucht gelähmt hatte, es schien an Wirkung zu verlieren. Sie benahmen sich wie Lämmer, die instinktiv spürten, daß sie zur Schlachtbank geführt werden sollten … Carl Palmoy drosch mit seiner gewaltigen Faust gegen das Holz. »Ruhe da drinnen!« brüllte er. Doch er erreichte nur, daß die Unruhe jenseits der Wand noch zunahm. Bazon Thorne hinter sich, stiefelte er quer über den Hof auf das Wohnhaus zu. Schon drei Schritte von der Tür entfernt streckte Palmoy die Hand nach der Klinke aus und blieb dann stehen, als sei er gegen eine Glaswand gelaufen – – weil die Tür von innen aufgerissen wurde und eine Gestalt mit blutverschmiertem Gesicht herausstürmte! »Milton?« fragte Palmoy verdutzt. Aus irgendeinem Grund erwartete Bazon Thorne, der nicht minder überrascht war, daß Milton Banks zu toben anfangen würde. Aber er tat es nicht. Seine Stimme klang ruhig und beherrscht, freundlich wie stets, als er sagte: »Sucht Morgan McDermott, meine Freunde, und bringt ihn zu mir. Ich werde seine Schädeldecke als Wok benutzen und sein Gehirn darin auf kleiner Flamme garen.«
* In der Feste Ophit … Der Pfuscher rieb sich die Hände. Weil er kein Pfuscher mehr war. An sein Spiegelbild gewandt, sagte er: »Bald. Bald ist meine Arbeit hier getan. Mein Kunstwerk. Dann entläßt sie mich. Zurück in die Welt, aus der sie mich geholt hat. Sie hält ihr Versprechen. Sie ist daran gebunden …«
Dem Mann im weißen Kittel wurde bewußt, daß seine Worte wie ein Gebet klangen. Er drehte den Kopf und verengte die Augen, weil er fürchtete, die, von der er gesprochen hatte, könnte hinter ihm stehen. Könnte sein Reden belauscht haben und es mißbilligen. Aber er war immer noch allein. Ganz allein. Mit keinem anderen als mit ihr sprechen zu können, war das Schwerste. Anfangs hatte er es nicht für möglich gehalten, so darunter leiden zu können. Aber die Isolation hatte ihn verändert. Er war nicht mehr der gleiche wie vor diesem Job. »Job? Es ist viel mehr als ein Job«, setzte er sein Selbstgespräch fort. »Es ist meine Zukunft. Der Grundstein einer beispiellosen Karriere. Das ist mein Lohn. Für sie ist es ein Kinderspiel, ihn zu zahlen …« Er brauchte sich nur umzusehen, um zu wissen, wozu sie fähig war. Sie war kein Mensch. Was dann? Der Teufel? Der Mann im Kittel erhob sich. Er hatte noch am Schreibtisch gesessen und ein paar aktuelle Nachuntersuchungsergebnisse ausgewertet. Die Verträglichkeit der UV-Bestrahlung ließ zu wünschen übrig. Immer noch, obwohl der rein optische Befund das Gegenteil zu belegen schien. Der Mann gähnte, ohne sich die Mühe zu machen, die Hand vor den Mund zu halten. Etikette war etwas, das er nicht vermißte. Sein Blick fand ein Bild, auf dem zwei Kinder zu sehen waren, lachend, im Hintergrund eine Frau, griesgrämig. Manchmal vermißte der Mann die Kinder. Die Frau vermißte er nicht. Ich werde eine andere Frau haben. Ich werde viele Frauen haben, hübscher und liebenswürdiger als diese, dachte er. Wenn ich erst der Größte bin … Der würde er sein. Sie hatte es versprochen.
Etwas unruhiger als zuvor knetete er seine Hände und überlegte, ob er noch weiterarbeiten oder sich etwas hinlegen sollte. Es gab keine Uhr, aber er wußte, daß es Nacht war. Seine innere Uhr verriet es ihm. Das künstliche Licht, das den Raum erhellte, war fast angenehmer als natürliches. Wie sie das machte, entzog sich seiner Kenntnis. Woher all diese Dinge, mit denen er arbeitete, all die hochmodernen Hilfsmittel, aber auch so banale Dinge wie seine Mahlzeiten oder der elektrische Strom kamen, hatte sie ihm nie erklärt. Der Blick des Mannes blieb an einem Arbeitsblatt hängen, das er mit seinen Initialen signiert hatte. J.S. Wie würde er wohl unterschreiben, wenn er diesen Ort verließ und wieder ins pulsierende Leben einer Metropole zurückkehrte? Eine neue Identität war unabdingbar, um ein neues Leben zu beginnen. Und auszukosten. Ohne Frauen wie die Mutter seiner Kinder. Kinder. Ich werde wieder Kinder haben, dachte er. Ich werde eine wunderbare Familie haben und ein großes Haus mit einem phantastischen Pool, ein Auto, um das mich jeder Mann in der Straße beneidet und – Er räusperte sich. Fing an zu schwitzen. Was war los? Der Traum? War es der Traum von letzter Nacht? Mach dich nicht verrückt. Sie hat es versprochen. Sie hält ihr Wort … Sein Blick blieb an dem Sofa hängen, auf das er sich legte, wenn er zwischendurch ein wenig Schlaf nötig hatte und nicht zu Bett gehen wollte. Die Arbeit, der er nachging, war nicht wirklich Arbeit, sondern Leidenschaft und … Sucht. Ja, er war schon immer ein Workaholic gewesen, nur war ihm früher nicht viel von dem, was er anpackte, gelungen.
Er entschloß sich, es zu tun. Sich etwas aufs Ohr zu legen. Verdammt, wovor fürchtete er sich? Daß sich dieser Scheißtraum wiederholte, kaum daß er die Augen schloß? Daß wieder dieser unschuldig dreinschauende Junge aus der Schwärze auf ihn zukam und sagte: »Dein Traum wird sich nicht erfüllen. Du wirst diesen Ort nie mehr verlassen. Er wird dein Grab.«? Es war ihm unglaublich schwer gefallen, dem Traumbild überhaupt zu widersprechen. »Aber wir haben einen Vertrag. Ich erfülle meine Pflicht, und sie …« »Sie wird ihn nicht brechen.« »Nein?« Seine Erleichterung war nicht von Dauer gewesen. »Ich werde ihn annullieren«, hatte der Junge gesagt und hohl gelacht. »Ich werde jemanden schicken mit Durst. Mit großem Durst. Alles andere wird sich ergeben.« Der Mann im weißen Kittel fröstelte. Und fröstelnd ließ er sich auf das Sofa sinken. Wie konnte er sich von einem Traum so einschüchtern lassen? Die Frau hatte ihn noch nie belogen. Er konnte ihr vertrauen. Seufzend ließ er seinen Oberkörper zurück auf das Kissen sinken, das über der Couchlehne lag. Dann griff er nach rechts, fand den Schalter und löschte das Licht. Wie müde er tatsächlich war, wurde ihm schon nicht mehr bewußt, so schnell war er eingeschlafen. Der Traum ließ ihn in Frieden. Ein anderer nicht …
* Je weiter Landru in das uralte Gemäuer vordrang, desto mehr schwand sein Glaube, hier auf einen Archonten – oder auf irgend jemanden anderes – zu stoßen. Gabriel hat sich geirrt, dachte er. Unter seinen Sohlen knirschte
Sand, der es geschafft hatte, durch Löcher und Ritzen selbst in diese Bereiche der Festung vorzudringen. Hier ist niemand mehr – weder lebendig noch tot! Langsamer, müder wurde sein Schritt, obwohl sich die Chimären des Durstes drängender in ihm zu Wort meldeten. Such! jammerten und bettelten sie. Such weiter und finde etwas, das uns zur Ruhe kommen läßt! Blut … Warmes, rotes, köstliches Blut … Nicht nur Landrus Gedanken, auch seine Vorwärtsbewegung geriet ins Stocken. Unvermittelt tauchte vor ihm eine Tür auf. Es war die erste Tür überhaupt, auf die er innerhalb des Gemäuers traf. Sie war der erste Hinweis, daß Gabriel doch recht haben könnte. Sie war neu, ziemlich neu jedenfalls, nur das bröckelige Mauerwerk, das sich zu allen Seiten an sie anschloß, war es nicht … Nach kurzem Zögern ging Landru auf das Hindernis aus Akazienholz zu und drückte dagegen. Es bewegte sich nicht, hielt dem Druck seiner Hände stand. Ein Riegel oder ein anderer Mechanismus zum Öffnen war auf dieser Seite der Tür nicht zu erkennen. Landru machte kurzen Prozeß. Dort, wo seine Handflächen auflagen, strömte magische Energie in die Maserung des Holzes, das knisternd entflammte. Landru wich einen Schritt zurück und wartete ab. Es war kein normales Feuer, das die Barriere zerstörte. Ein solches hätte viel länger gebraucht – wenn es überhaupt ausreichend Nahrung in dem harten, überaus trockenen Material gefunden hätte. Sekunden später rieselte graue Asche zu Boden. Die Tür sank wie ein fallender Vorhang in sich zusammen. Landru übertrat die Schwelle. Auch in dem Raum, in den er gelangte, brannte kein Licht. Dennoch mußte er bis vor kurzem noch benutzt worden sein. Landru fühlte sich in …
… ein Krankenhaus versetzt? In einen Operationssaal …? Ungläubig schüttelte er den Kopf. Im selben Augenblick erhaschte er aus den Augenwinkeln eine schattenhafte Bewegung. Als er genauer hinsah, schwang eine zweite Tür zu, die zuvor ein Stück weit offen gestanden hatte, und ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Landru reagierte. Mit zwei, drei Sätzen erreichte er die Tür und äscherte auch sie ein. Der Gang dahinter war ebenso klinisch sauber und steril wie der »Operationssaal«. Zu beiden Seiten tauchten weitere Türen auf, allesamt verschlossen. Aber keine fliehende Gestalt … Landru zerquetschte den Fluch, der ihm auf der Zunge lag, zwischen den Zähnen. Such! raunte es wieder durch seine Hirnwindungen. Finde ein Opfer, still deinen Durst …! Genug! Er ballte die Fäuste. Er war nicht hier, um irgendwelche Begierden zu stillen. Er war gekommen, um seine Verpflichtung gegenüber Gabriel zu erfüllen und endlich wieder frei in seinen Entscheidungen zu werden! Nachdem das Pfand von seiner Seele genommen war, wollte er unverzüglich nach Anum Ausschau halten. Es mußte eine Möglichkeit geben, ihn davon zu überzeugen, daß er, Landru, nicht sein Feind, sondern immer noch sein Bruder war. Und dann … konnten sie gemeinsam gegen den Leibhaftigen vorgehen, ihm mit vereinten Kräften klarmachen, daß auch er nicht unbezwingbar war. Falls Anum nicht schon tot war. Doch daran mochte Landru nicht glauben. Wahrscheinlicher war, daß Gabriels zweite Absicht, mit der er den Klon losgeschickt hatte, aufgehen würde oder schon aufgegangen war: Anum würde das Double vernichten – und glauben, Landru besiegt zu haben. »Wer bist du?« rief er in den hallenden Korridor. »Ich weiß, daß du da bist – versteck dich nicht! Ich will dir nichts tun!« Zumindest nicht, wenn du einer von denen bist, die ich hier abholen und
nach Jerusalem führen soll, fügte er in Gedanken hinzu. Landru erhielt keine Antwort auf sein Rufen. Ohne Anhaltspunkt, wohin der flüchtige Schatten verschwunden war, wählte Landru ein Tür zu seiner Linken und öffnete sie. Dahinter – – lag ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer mit Unmengen von Büchern in Regalen, einem Schreibtisch und einem Ruhesofa. Es war kein Bett, sondern diente offenbar für kleinere Nickerchen. Der hagere Mann, der darauf lag, war vollständig angezogen. Er schlief und atmete in tiefen Zügen. Sein Gesicht war Landru zugewandt. Die Entspanntheit darin verriet, daß der Schläfer noch nicht auf den ungebetenen Besucher aufmerksam geworden war. Während Landru den Schlafenden betrachtete, drohte ihn das Gefühl zunehmender Unwirklichkeit zu überrollen. An der Situation, die er hier vorfand, an dem ganzen Szenario stimmte so rein gar nichts. Ein uraltes Gemäuer, und dann das! Er ging auf den Mann im weißen Kittel zu. Lautlos huschten seine Füße über ein Parkett, das erst gestern verlegt worden schien. Und diese elektrischen Gerätschaften, die Deckenleuchten, die Stehlampen … Es war lächerlich anzunehmen, hier gäbe es Strom, gäbe es elektrisches Licht … Als er an einem Wandschalter vorbeikam, konnte Landru sich nicht verkneifen, ihn zu drücken. Sofort flutete Helligkeit den Raum. Der Mann auf der Liege schrak hoch.
* »Wer –?« »– ich bin?« Landru überwand sowohl die Strecke, die sie voneinander trennte, als auch seine Verblüffung. »Viel mehr würde mich offengestanden interessieren, wer du bist!«
Kompromißloser Wille verwandelte sein Gegenüber in eine gehorsame Marionette. »Dr. Joseph Sisko«, leierte der Mann, der jetzt aufrecht auf der Liege saß. »Ein Arzt?« Landru schüttelte den Kopf. Nicht, weil er Siskos Aufrichtigkeit in Zweifel zog, sondern weil er sich fragte, was diese Antwort bedeutete. Er streckte die Hand aus und berührte den Hageren. Sein Finger zeichnete eine Linie über die Wange des Mannes. Die Haut platzte auf. Blut von aufreizender Farbe und Konsistenz quoll hervor. In Landrus Schädel zündete eine kleine kalte Explosion. Das Lebenselixier, das in den Adern dieses Mannes wie im Körper eines jeden atmenden Menschen kreiste, ließ ihn den eigentlichen Grund seines Kommens vergessen. Sofort gruben sich seine Klauen ins Schlüsselbein des Arztes und zerrten ihn hoch. Vampirzähne wucherten über sinnlich-verdorbene Lippen, und dann – jenseits des klaren Verstandes – biß der Gesandte des Teufels zu. Nicht einmal das durch den Raum spritzende Blut des Hypnotisierten vermochte Landru zu stoppen oder auch nur zu ernüchtern. Versunken in einem Rausch, gegen den er nur halbherzig ankämpfte, ließ er das warme, prickelnde Blut durch seine Kehle rinnen. Die Schritte im Hintergrund überhörte er in der Ekstase. Erst der Schrei ließ ihn wieder halbwegs zur Besinnung finden. »Oh, neeeiiiinnn …!« Der Siechende entglitt tödlich verletzt Landrus Fingern, die sich reflexartig spreizten und ihn freigaben. Als Gabriels Bote herumwirbelte, erblickte er die merkwürdigste Frau, die jemals seinen Weg gekreuzt hatte. Ihre Figur war bei weitem nicht perfekt, aber akzeptabel, und ihre blauschwarzen Haare waren schön, wunderschön. Die Augen leuchteten in einem satten Azur, und die Bräune ihrer faltenlos glatten Haut verlieh der unbekannten Schönen zusätzliche Rasse.
Absonderlich war eigentlich nur eines an ihr: ihre Kleidung – oder das, was sie wie Kleidung trug. Auf den ersten Blick erinnerte es an ein bis zu den Knien hinab verlängertes, mittelalterliches Kettenhemd. Erst bei genauerem Hinsehen wurde Landru klar, daß es sich nicht aus Eisengliedern zusammenfügte, sondern aus überaus kunstvoll miteinander verbundenen Knochen. Auch die Schädel kleinerer Tiere waren filigran eingearbeitet. »Wie konntest du ihn mir wegnehmen, du …?« Ihr anklagender Blick nagelte Landru förmlich an der Stelle fest. Und dann, einen Atemzug später, veränderte sich seine Umgebung radikal! Die Kulisse – denn mehr schien es nie gewesen zu sein – verblaßte. Wo eben noch hübsch gemusterte Tapeten geklebt hatten, ersetzte nun verwittertes Gestein, in dessen Fugen Spinnen und Käfer wohnten, die verflogene Sauberkeit. Auch sämtliches Inventar verschwand. Die Feste Ophit offenbarte, was sie wirklich war: dem schleichenden Zerfall und Untergang preisgegeben …
* Der hagere Mann lag immer noch dort, wo Landru ihn hatte fallen gelassen. Inzwischen mußte sein Herz aufgehört haben zu schlagen. »Verdammter Blutsauger!« schnarrte die fremde Frau mit einer Stimme, hart und schneidend wie ein Diamant. »Ich weiß nicht, wie du hierher gefunden hast und warum. Aber dafür wirst du mir –« »Übernimm dich nicht.« Landru machte einen Schritt auf sie zu. Da griff etwas nach ihm. Ein dunkler Funke, der von der Unbekannten auf ihn übersprang und jeden Muskel in seinen Beinen paralysierte. Landru kam zu Fall. Unglaube verzerrte seine Züge. »Das war erst der Anfang«, spottete sie. »Wer bist du?« Sein erster Impuls war: Töte sie! Röste sie im Drachenatem deiner Ma-
gie! Doch dann obsiegte die Vernunft. »Ich wurde geschickt«, sagte er mühsam beherrscht. »Mit einer Botschaft.« Die Frau machte aus ihrer Verachtung keinen Hehl. »Wer sollte einen wie dich für Botendienste nehmen?« »Du kennst mich doch gar nicht.« »Ich kenne deine Natur – du hast sie gerade vorgeführt. Das reicht, um dich abzuschätzen.« Landru setzte sich auf und blickte hinunter zu dem Toten. »Hatte er solche Bedeutung für dich?« »Ich verdanke ihm viel – auch daß der Aufenthalt in all den Jahren erträglich war.« »Das mußt du mir genauer erklären. Wer bist du? Und wer war er?« Ein Gelächter, kalt wie eine Novembernacht in dem Nebelland, das Landru gerade verlassen hatte, schlug ihm entgegen. »Nicht du stellst hier die Fragen! Also: Wer hat dich geschickt?« »Gabriel«, sagte Landru, während er versuchte, wieder Macht über seine tauben Beine zu erlangen. »Ich komme in Gabriels Auftrag.« »Ich kenne keinen –« »Er ist der Teufel – der leibhaftige Teufel.« Die drei Schritte entfernt stehende Frau schien zu erbeben. Jede Kaltschnäuzigkeit wich von ihr. Statt abermals in Hohngelächter auszubrechen, fragte sie mit zittriger Stimme: »Wie lautet deine Botschaft?« Landru spürte die Veränderung der Lage. Schwache Stromschläge schienen durch die Länge seiner Schenkel zu zucken, als Gefühl in sie zurückkehrte. »Meine Botschaft ist nicht für dich bestimmt.« »Was macht dich da so sicher?« »Ich erhielt eine unmißverständliche Beschreibung Seiner Jünger.«
»Seiner …« Ihre Stimme versagte. Schneller als Landrus Augen folgen konnten, war sie bei ihm und half ihm, aufzustehen. Ihre plötzliche und unmittelbare Nähe verschlug ihm schier den Atem. Die winzigen Knochen ihres Kleides rieben aneinander, und das entstehende Geräusch verursachte Landru eine Gänsehaut, die allein schon völlig absurd war. »Wie lautet die Botschaft?« »Ich suche zwölf Albinos, haarlose Geschöpfe mit rotglühenden Augen und pigmentlos weißer Haut, die sich als Archonten bezeichnen. Für sie ist die Nachricht be-« »Du hast sie gefunden!« fiel ihm sein Gegenüber ins Wort. »Bei allen dunklen Mächten, daß ich diesen Moment noch erleben darf …!« »Wenn du wirklich weißt, wo ich diese Wesen finde, führe mich sofort zu ihnen!« verlangte Landru. »Vielleicht werde ich dann Gnade vor Recht walten lassen und dein armseliges Leben schonen.« »Das ist nicht nötig.« »Nicht nötig?« »Ich bin eine von denen, die du suchst«, erklärte die Frau. Und nach dieser Offenbarung legte sich ein schmerzlicher, fast melancholischer Zug um ihren Mund. Landru schüttelte den Kopf. Er glaubte ihr nicht, denn ihr Äußeres widersprach Gabriels Beschreibung in so gut wie jedem Punkt. »Leider bin ich auch die Letzte von ihnen«, fuhr sie fort. »Die Letzte von zwölf …«
* »Die Letzte?« Landrus Kehle war rauh und ausgedörrt, als hätte nicht gutes Blut kurz zuvor noch die Stimmbänder geölt. Er sah sich und seinen Auftrag scheitern, und für einen nicht enden wollenden Moment überkam ihn Hoffnungslosigkeit, überhaupt jemals wieder aus der
Pflicht und Verpflichtung dem Teufel gegenüber entlassen zu werden. Noch schärfer faßte er die Frau, die kein Albino war, ins Auge. Ihre Haut war nicht weiß wie Schnee und die Augen nicht von der Farbe blutroter Rosen … »Wie ist dein Name?« »Jada.« Tatsächlich war dies einer der zwölf Namen, die Gabriel genannt hatte. Aber das reichte ihm noch nicht. »Hast du außer diesem Namen noch andere Beweise für deine Identität?« »Den einzigen Zeugen, mit dem ich hätte aufwarten können, hast du umgebracht.« »Dr. Sisko? Was hätte er bezeugen können?« »Daß ich, bevor er sich meiner annahm, exakt dem Bild entsprach, nach dem du suchst. Ich war haarlos, bleichhäutig und rotäugig wie alle meine Brüder und Schwestern – bis er einen Menschen aus mir machte.« »Machte?« »Als Schönheitschirurg war er ein Pfuscher – bis zu dem Tag, da ich ihn besuchte und ihm ein Angebot unterbreitete. Du ahnst, welches?« Landru nickte. »Und er ist freiwillig mit dir in diese Einöde gezogen?« »Hier hatte er alles, was er sich wünschte – vor allem ein Objekt, an dem er sich nach Herzenslust austoben konnte …« »Du meinst –?« »Über Nacht wurde er zum Genie. Er transplantierte Echthaar, bräunte meine Haut mit dosierten UV-Strahlen und paßte mir künstliche Linsen an, die meine natürliche Augenfarbe verdeckten. Sie ist immer noch rot. Aber selbst ich ertrug ihre Glut beim Blick in einen Spiegel kaum.«
»Du bist eitel?« Landrus Stimme schwankte. Noch immer wußte er nicht, ob er dieser Frau glauben konnte. Sekundenlang blickte sie zu Boden. Als sie ihn wieder ansah, sagte sie: »Vermutlich weißt du, was es heißt, Jahrhunderte zu durchwandern. Aber weißt du auch, wie es ist, begafft zu werden wie eine Aussätzige?« Landru ging nicht auf die Frage ein. »Diese … Kulisse, die ich vorhin durchschritt. Du behauptest, der von dir verschleppte Arzt hätte dich hier operiert? Aber es war nur Illusion! Keines der Dinge war echt!« »Wie kommst du darauf?« »Sie hätten nicht funktioniert. Nichts davon ist geblieben.« »Offenbar hat Er dir nichts über unsere Macht erzählt. Alles verschwand, als Dr. Sisko starb. Wäre er noch am Leben, würde auch all das noch existent sein, was er sich erträumte. Ich habe ihn nicht ›verschleppt‹. Er folgte mir freiwillig. Dies war das Opfer, das er bringen wollte, um zu werden, was ich ihm versprach: Der Tag, an dem er in die Welt zurückkehren durfte, war festgelegt. Er wäre zum angesehensten Spezialisten auf seinem Gebiet geworden. So lautete das Abkommen.« Landru spürte seine Verunsicherung, und er war wütend darüber. »Ihr könnt Pakte schließen wie euer … Vater?« »Er gab uns die Macht.« »Und trotzdem bezeichnest du dich als die letzte der Archonten? Sind alle anderen umgekommen, trotz ihrer Macht?« Das letzte Wort spie er ihr entgegen. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Die Lippen zuckten. »Umgekommen?« Sie atmete tief ein und aus. »Ich wünschte, ich wüßte, was aus ihnen geworden ist. Sicher ist: Das Band zwischen uns ist zerschnitten, und das kann nur bedeuten, daß sie nicht mehr am Leben sind.« »Erzähl mir, was passiert ist.«
»Wenn du mir meines Vaters Botschaft nennst.« Landru zögerte. Doch er hatte kaum noch Zweifel, einer der Gesuchten gegenüberzustehen. Deshalb gab er sich einen Ruck und zitierte Gabriel. »Der Moment der Rache, die finale Schlacht ist nah?« wiederholte Jada. »Unser Vater erwartet uns? Wo?« »In Jerusalem.« »Ausgerechnet …« Damit sprach sie Landru aus der Seele. »Wahrscheinlich können wir uns den Weg sparen«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß du allein Ihm von Nutzen sein könntest … Aber erzähl, wo die anderen geblieben sind. Vielleicht –« Jada schüttelte den Kopf. »Es ist sinnlos. Seit damals bin ich allein. Das Band ist zerrissen.« »Wann war das?« »Seit wir versuchten, den Weg ohne sie zurückzugehen, um das Geschehene ungeschehen zu machen.« Landru sah das in Knochen gekleidete Wesen fragend an. Und Jada fing an zu erzählen …
* Uruk, 1705 und zu anderer Zeit »Sie kommen«, sagt Zoe. Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Warmer Wind bewegt die Schleier meines Gewands, unter dem ich den Körper verberge, für den Hitze und Sonne ein ewiger Feind sind. Die Blässe, die das Grab auf meiner Haut hinterlassen hat, reagiert über die Maßen
empfindlich, wenn kein Tuch sie schützt. Einmal habe ich eine großflächige, schwer heilende Verbrennung erlitten, und die Narben sind noch heute zu erkennen. Dieser Körper, so bescheiden er sonst in seinen Ansprüchen auch sein mag, verzeiht, was man ihm antut, nur schwer. Aber vielleicht ist es gerade diese Empfindlichkeit, die mich und meinesgleichen daran gemahnen soll, welche Gnade wir überhaupt erfahren haben, als wir den Bauch der Erde noch einmal verlassen durften. Der Tod von damals ist noch heute Teil meiner Erinnerung und wird es bleiben, genau wie die Qual und die Furcht, die mein Sterben im zarten Kindesalter begleitet haben …* »Ja«, sage ich. »Ich weiß.« Zu Fuß nähern sich die beiden Gestalten aus der Ferne, und es dauert noch einmal Stunden, bis sie endlich den Berg erklommen haben, an dem die Feste der Ophiten sich erhebt. Seit Jahrhunderten hat keiner ihrer Erbauer, kein Gnostiker mehr seinen Fuß in sie gesetzt, aber uns Archonten wird sie als Ort dieser ersten Zusammenkunft seit Jahrzehnten willkommen sein. Die Zeit hat uns von Perpignan aus in alle Winde verweht, aber niemals haben wir jene Frau aus den Augen verloren, auf die wir all unsere verbliebene Hoffnung setzten. Die Frau, die nun – wahrscheinlich für immer – unserer Reichweite entrückt ist … »Ihr habt Elisabeth Stifter in den Korridor entkommen lassen«, wirft Jada unseren Brüdern vor, als wir einander im ehemaligen Versammlungssaal der Ophiten begegnen. Kein Gruß, keine Wiedersehensfreude versüßt den Schmerz. Ihr Fußmarsch, nachdem sie ihre Kamele zu Tode geritten haben, hat Loth und Natan nicht merklich erschöpft. Sie fühlen weder Hunger noch Durst, nur dieselbe tiefe Enttäuschung wie jeder Archont, ganz gleich, wo er sich gerade aufhält. Von der katastrophalen Wen*siehe VAMPIRA T38: »Das Gift des Bösen«
de in der Entwicklung wissen sie alle. Elisabeth Stifters Flucht in den Zeitkorridor vereitelt alle Pläne. »Wir haben versagt«, bestätigt Natan, und Loth nickt. »Wir waren unserer Sache zu sicher. Die große Liebe ihres Lebens wiederzubekommen, so dachten wir, wäre ihr jede Hilfe wert. Aber dem war nicht so.« »Liebe …« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Das Tuch scheuert auf meiner Haut. Im Innern der Festung verzichte ich auf jede einengende Bekleidung. Scham voreinander kennen wir nicht. Der einmal erlebte Tod hatte vieles relativiert und manches Gefühl für alle Zeit erstickt. »Und nun? Was sollen wir nun tun?« »Wir warten auf die Ankunft der anderen«, sagt Zoe. »Was sonst?« Sie ist einen Kopf kleiner als ich, aber etwas stämmiger gebaut. »Und wozu?« fragt Loth, in dem die Enttäuschung noch heftiger zu nagen scheint als in uns anderen. »Wir können die Sache abblasen! Nun haben wir auch unseren letzten Sinn verloren. Allein werden wir uns in diesem magischen Gang, von dem wir nicht wissen, wer ihn geschaffen hat und wozu, niemals zurechtfinden!« »Unser einziger Vorteil ist es, daß wir nichts mehr zu verlieren haben«, hält Natan dagegen. »Warten wir auf die anderen und besprechen dann, wie es weitergehen soll. Ob wir uns noch einmal in alle Himmelsrichtungen zerstreuen wollen, oder –« »Oder?« Meine Frage ist rhetorischer Natur. Ich kenne Natans Idee im selben Moment, als sie in seinem Hirn geboren wird. Mit Gedankenlesen hat dies nichts zu tun. Es ist einfach, als wären zwölf Hirne eins. Immer und überall. »Warum hat unser Vater uns wohl wirklich zu dem gemacht, wie wir heute sind?« Drei Augenpaare richten sich auf Zoe, die philosophiert, was jeden von uns von Zeit zu Zeit bewegt. »Wir müssen noch eine andere Aufgabe haben als die, die wir uns
selbst nach 1666 gegeben haben. Wenn wir sie wüßten, könnten wir versuchen, wenigstens sie zu erfüllen …« »Aber wir kennen sie nicht«, wischt Natan ihren Einwand harsch beiseite. »Er hat es nicht für nötig befunden, sie uns zu verraten, als Er damals in uns fuhr, um uns mit einem Abglanz Seiner eigenen Macht auszustatten.« »Wahrscheinlich«, ergreift wieder Zoe das Wort, »wäre sie ohne Seine Gegenwart auch ganz und gar sinnlos.« Wir anderen nicken. Die Zeit verstreicht. Nacheinander treffen sämtliche Waisen des Satans in der Festung der Einsamkeit ein, und als wir vollzählig sind, treffen wir den Entschluß, der uns zu Lemmingen macht. Todesmutig werden wir uns in den rätselhaftesten aller Abgründe werfen.
* Wer uns damals hätte sehen können, der wäre überzeugt gewesen, eine Prozession ziehe zum Rand des alten Uruk – ein Zug zu Ehren eines Verstorbenen, und im Grunde war es auch nichts anders. Wenngleich der Tod, der uns in Bewegung setzte, seinerzeit bereits 39 Jahre her war. Damals, in London, war unser Vater von furchtlosen Gegenspielern in die Dimension zurückgeschleudert worden, die ihm zu eng geworden war. Seine Manifestation war restlos getilgt worden – mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft. Eine solch umfassende Niederlage hatte er nie zuvor erlitten, obschon er seit ewiger Zeit in unterschiedlichster Gestalt auf Erden wandelte. Wenn er kam, säte er Zwietracht und Chaos – und kehrte wieder heim in die Gefilde des Wahnsinns, die nicht umsonst Hölle heißen. Eine Aussaat wie die seine reift erst in vielen Menschengeschlech-
tern. Es braucht Generationen, bis der Tag naht, an dem das Dunkel angemessen Früchte trägt. Oft nur einmal in einem Jahrtausend ist die Konstellation ideal, sind die Bedingungen perfekt, um einen großen Schritt auf das Endziel zuzutun. Was ich darüber weiß und sagen kann, weiß ich von meinem Vater, den ich so nenne, weil er sich weit mehr um mich kümmerte, als es mein leiblicher Erzeuger, der auch lange schon tot und verfault in der Erde liegen mag, je tat. Auch nicht die Frau, deren Schoß mir einst, solange ich ungeboren war, Wärme und Geborgenheit schenkte. Auch daran geistern noch verschwommene Erinnerungen durch mein Hirn. Ich weiß nicht, wie ich sie verbannen könnte. »Dort«, höre ich Natan rufen, »dort ist es! Seht ihr das vom Wind gebeutelte Zelt?« Es ist nicht zu übersehen. Dort vorn hat jene Elisabeth mit den Männern aus Mos Iranshars Karawanserei campiert. Und mit dem Quajaren Karim Joran, der versucht hat, ihr ein treuer Freund und Ratgeber zu sein. Bis der Durst eines blutsüchtigen Untoten ihm zum Verhängnis wurde. Einer Kreatur, die wir auf ihn hetzten. Und die uns gemeinsam mit anderen Kreaturen half, Elisabeth in unsere Gewalt zu bringen. Vorübergehend. Zu kurz, um Nutzen daraus zu schlagen. Wir erreichen die Grabungsstätte. Unweit der Stelle liegt das, was von Uruk übrig blieb – was die Jahrtausende von der Metropole eines gewaltigen Reiches übrig ließen. Sumer. Vater war schon dort zu Hause … Vor uns liegt eine zweiundzwanzigstufige Treppe. Sie führt zu einem steinernen Tor, das in den Boden geglitten ist und den Zugang zu etwas freigegeben hat, das Elisabeth Stifter den »Korridor der Zeit« nannte.
Wir steigen aus den Sätteln unserer Kamele. Die Brüder und Schwestern, die nach uns kamen, brachten Ersatz für die Tiere mit, die Natan und Loth zu Tode geschunden haben. Immer zwei von uns steigen nebeneinander die Stufen hinab. Das Tor ist offen, wie erwartet. Niemand schloß es in den Wochen, die vergangen sind, seit Elisabeth es öffnete. Ich gehe neben Loth, wir führen die anderen an, und so sehen wir als erste den Wächter, der unermüdlich auf seiner Seite ausharrt und uns nahen sieht. »Willkommen«, schallt es uns entgegen. Wir halten nicht inne. Wir haben uns vorher entschieden. Neben mir übertritt Loth die Schwelle. Hinter uns folgen Zoe und Natan, Maryam und Hesek, Gideon und – Mir wird ganz eigentümlich zumute. Der Einfluß des Mediums, in das wir eingetaucht sind, wird spürbar. Einen Moment, dessen wahre Dauer ich nicht einmal ahne, habe ich das Gefühl, von Wasser umschlossen zu sein und auf den tiefen Grund eines Meeres hinabzusinken. Etwas zerrt an meinem Innersten, nicht an meinem Körper, sondern an dem, was ihn bewohnt … »Spürt ihr das auch?« fragt Gideon. Seine Stimme scheint von weither zu kommen. Ich will antworten, doch in diesem Moment gleitet der Schemen auf mich zu, der schon Natan und Loth überreden wollte, den Korridor zu betreten. Nun sind mehr gekommen, als er erwarten durfte. Ich bleibe stehen, mache keinen Versuch, dem Wächter auszuweichen oder zu entkommen. Die anderen rücken näher auf mich zu, um Beistand zu leisten. Wir wissen nicht, was uns erwartet. Der Wächter ist stark, vielleicht stärker als wir alle zusammen. Wir wissen nichts über ihn – und er nicht über uns, aber vielleicht … Da! Was ist das? Ich spüre eine Berührung am Bauch. Sie durchdringt meine Kleidung, als wäre sie nicht vorhanden, und dann streicht sie über mei-
ne Haut, die mehr Widerstand leistet. Etwas vergessen Geglaubtes überfällt mich. Diese zarte Berührung ist – ich suche nach dem passenden Wort – so erotisierend, daß mich schaudert. Erotisierend. Die Fähigkeit, Lust zu empfinden, ist mir im Grab abhanden gekommen. Verliere ich jetzt den Verstand? Jetzt – was ist das? Wohin treibe ich, während ich das denke? Wie viele Jahre sind ein Schritt? Ein einziger Schritt? Der Schemen löst sich von mir und wendet sich Natan zu. Ich höre, wie er zu ihm spricht. Sehe, wie er auch ihn … berührt. Das Band zwischen den Archonten existiert auch in dieser Sphäre. So weiß ich, daß auch Natan, ebenso erstaunt wie ich, eine unmöglich gehaltene Erregung in sich spürt. »Ich kann euch nichts anhaben – wie sonderbar«, sagt der Wächter, ehe er Natan verläßt und sich Zoe zuwendet. Einem jeden von uns, als hoffe er, daß sich einer von uns angreifbar ist. Als er nicht fündig wird, wendet er sich von uns ab. »Wo ist es hin?« fragt Loth, noch ganz erschüttert von dem, was die Berührung des Schemen auch in ihm hervorgelockt hat. Jeder weiß von jedem, was geschah. Wir verlieren kein Wort darüber. »Ich weiß nicht«, sagt Natan. »Aber das ist auch bedeutungslos. Laßt uns gehen. Laßt uns tun, was wir besprochen haben. Wir suchen nach der nächsten Tür, die es hier gibt, dem nächsten Ausgang. Dort wird einer von uns Abschied nehmen und sein Glück versuchen. Der Rest geht weiter, bis wir an eine weitere Tür gelangen, durch die wiederum einer von uns tritt. Zwölf Chancen stehen uns offen. Einem von uns muß und wird es so gelingen, eine Zeit zu erreichen, in der er unseren Vater vor dem Erzengel und den Illuminaten warnen kann!«
Wir marschieren los. Der Korridor ist so breit, daß wir nebeneinander gehen könnten. Nichts und niemand hält uns auf oder verstellt uns den Weg. Und finster gähnt das erste Tor zu unserer Rechten. »Wer geht?« fragt Loth. Ich spüre, wie wichtig dieser Moment ist. Deshalb trete ich vor und sage: »Ich werde gehen.« Ich spüre ihre Erleichterung – und sie meine Anspannung. Grußlos trete ich in das Dunkel. Alles ist gesagt. Ich glaube, sie nie mehr wiederzusehen, meine Brüder und Schwestern. Ich bin überzeugt, von nun an allein durch eine Welt streifen zu müssen, die ich erst neu für mich entdecken muß, um den finden zu können, nach dem wir alle – an unterschiedlichen Punkten der Zeit – suchen wollen. Doch alles kommt anders. Niemand von uns konnte das voraussehen …
* Wo bin ich hier? Oder … wann? Die Sonne, die vom Himmel brennt, sieht unverändert aus. Doch sie scheint die einzige Konstante zu sein, das einzige, was noch so ist, wie es war, als ich in den magischen Korridor trat. Wo hat das dunkle Tor mich ausgespien? Hier stehe ich im Schatten eines Baumes inmitten einer Alptraumlandschaft. Wüste sehe ich nicht, soweit das Auge reicht. Und der Baum, von dem ich sprach, ist blattlos und kahl, seine Rinde sieht aus wie mit einer Schlammkruste überzogen, welche die Tageshitze zu einem harten, schwarzen Panzer buk. Unweit erheben sich Strukturen, die einmal Häuser gewesen sein müssen. Viele Häuser. Eine Stadt. Ehe sich die Schlammlawine darübergewälzt hat …
Mich friert. War mein Wagemut am Ende ganz umsonst? In welcher Sackgasse bin ich angelangt? Das hier, ich spüre und begreife es mit einem Schlag, ist zu weit – so weit zurück in der Zeit zu gehen, macht keinen Sinn! Hier werde ich nicht finden, wen ich suche. Selbst wenn ich einen von der Art meines Vaters träfe, er würde mich nicht einmal als sein Kind erkennen. Entsprechend sinnlos wäre eine Warnung vor Geschehnissen in fernster Zukunft … Nein, so weit zurück, das macht wahrhaftig keinen Sinn! Aber warum? Wieso führte bereits das erste Tor, auf das wir stießen, so weit ins Gestern? Ein paar Jahre, auch Jahrzehnte habe ich einkalkuliert. Aber … Jahrhunderte, gar Jahrtausende …? Ich kann meinen Blick nicht wenden von der Stadt, die aussieht, als hätte sie auf dem Grund eines Ozeans geschlummert, dessen Wasser nun ins Nirgendwo versickert sind. WO BIN ICH? Langsam drehe ich mich um meine Achse und suche nach vertrauten Bildern an einem Ort, der in mir nur Grausen hinterläßt. Dann plötzlich – höre ich Stimmen. Sie hallen aus der nahen Stadt zu mir herüber, aus dem Gestank ihrer schattigen Gassen. Algenreste an den Häuserwänden sehen aus wie Krätze. Mich überläuft es heiß und kalt. Die Stimmen … Ich weiß, wem sie gehören, doch bevor ich ihnen aufgewühlt folge, meldet sich mein Verstand zu Wort und verlangt von mir, die Stelle, an der ich stehe, zu untersuchen. Den Punkt, an dem ich herausgetreten bin aus einem diesseits unsichtbaren Tor. Ist eine Rückkehr in den Korridor für alle Zeit verwehrt? Oder vermag der, der ihn verläßt, auch wieder in ihn zurückzukehren, um seine Wanderschaft fortzusetzen? Zwar ist ein Tor, beschaffen wie jenes, durch das ich ging, nirgends zu erblicken. Aber neben mir erhebt sich ein Felsklotz, der meine Aufmerksamkeit erregt.
Die Stimmen mehren sich, während ich darauf zugehe. Wissen strömt mir zu. Allmächtiger Vater … Nicht viel höher als ich selbst, ragt der Gesteinsbrocken aus dem rissigen Boden. Schwüle Hitze umgibt mich. Salziger Wind zerrt an meinem Gewand … Einen Moment habe ich Mühe, mich an mich selbst zu erinnern. An meine Herkunft und die Absicht, die ich mit meinen Brüdern und Schwestern verfolge. Ich war der Macht, die uns dem Grab entriß, nie ferner als hier und jetzt, das spüre ich mit jeder Faser meines Seins! Ich taste über rauhen Stein, während in meinem Hirn ein Chaos tobt, geschürt noch von den Stimmen. Plötzlich versinken meine Hände in scheinbar festem Stein wie in einem nachgiebigen Morast. Ich vermissen die Genugtuung über meine Entdeckung. Bis zu den Ellbogen schiebe ich die Arme in den Stein, ehe ich sie zurückhole. Hier – hier an dieser Stelle gibt es ein Nadelöhr, das zurück in den endlos scheinenden Korridor führt, in den wir bei Uruk marschiert sind. Ich wende mich der Stadt zu. Der Fels ist markant, ich werde ihn wiederfinden. Noch bevor ich die ersten Häuser erreiche, kommen sie mir entgegen: die, die ich hier nie erwartet hätte – genau wie sie mich nicht. »Jada!« ruft Natan mir zu und winkt. Die Gesichter meiner Geschwister sind Spiegel meiner eigenen Verwirrung. »Wie konnte das geschehen?« rinnt es aus meinem Mund. Ich weiß, daß sie keine Antwort für mich haben. Sie wissen es auch nicht. Ein jeder von ihnen, das wurde mir längst klar, schritt zu einem anderen Tor des Korridors und ging hindurch. Wie kann es dann aber sein, daß wir uns hier alle am selben Punkt der Zeit wiedertref-
fen? Es widerspricht dem, was wir über dieses Phänomen zu wissen glaubten. Es widerspricht allem und durchkreuzt auch den letzten Rest von Hoffnung … »Diese Stadt«, sagt Gideon, »ist tot. Weder Mensch noch Tier leben darin.« »Uruk«, murmele ich. »Es ist Uruk in ferner Vergangenheit … Wie fern?« »Es gibt keine Möglichkeit, dies zu erfahren«, sagt Zoe. »Seht euch um: Wie wüst und leer alles wirkt. Als wäre sämtliches Leben ertränkt und fortgespült worden!« Niemand erwidert etwas darauf. Auch ich nicht. Plötzlich werden die Blicke der anderen ganz starr, wie gläsern, und sie bewegen sich nicht mehr. Was für ein Moment! Vorhin, beim Passieren des Tores, war es ähnlich: Der Kontakt zu den meinen riß vorübergehend ab – zum ersten Mal in diesem Leben waren jene immateriellen Nabelschnüre gekappt, die uns zu einem Kollektiv der Individuen machen. Ein leiser Schrei entflieht meiner Kehle. Ich meine den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Natan … Loth … Maryam …« Die Starre fällt von ihren Körpern, und als ich schon hoffe, daß die Normalität zurückkehrt, geschieht das Gegenteil: Stumm setzen sie sich in Bewegung, schreiten auf die Stadt zu, aus der sie gerade kamen! Ich hastete Gideon hinterher, der mir am nächsten steht. Er läuft wie die anderen Richtung Stadt. Was geschieht? Wo ist die Verbindung, die uns nie im Stich ließ? Die Bande, stärker als die Distanzen, die uns trennen? Ich müßte wissen, was in meinen Gefährten vorgeht – mich müßte bewegen, was sie bewegt. Aber wir sind getrennt.
Hat der Korridor der Zeit damit zu tun? Oder verbirgt sich etwas in der Stadt, womit wir nicht rechnen konnten? Etwas … Mächtiges? Es muß mächtig sein, denn meine Geschwister tanzen nach seiner Pfeife. Blicklos schreiten sie gen Uruk. Wenn es denn Uruk ist. Ich überhole Gideon und stelle mich ihm in den Weg, rüttele ihn an den Schultern und schreie ihn an: »Komm zu dir! Was geht hier vor? Gideon!« Er schleudert mich zu Boden. Seine Rücksichtslosigkeit entsetzt mich mehr als seine Kraft. Benommen bleibe ich sitzen, unfähig, neue Initiative zu entfachen. Meine Brüder und Schwestern aus dem Grab entfernen sich. Mühsam, als drückten Zentnergewichte auf meine Schultern, schließe ich mich ihnen an, ehe sie meinen Blicken entschwinden. Ich darf sie nicht verlieren! Ohne sie bin ich nichts … Die Straßen der untergegangenen Stadt nehmen mich auf. Was ist hier passiert – und wie lange ist es her? Wie tote Augenhöhlen glotzen mich Fenster an. Ich weiß nicht, wie lange wir die Stadt durchqueren, bis wir aus dem Labyrinth der Gassen auf einen freien Platz treten und ein Bauwerk in mein Blickfeld gerät, das alle anderen verlassenen Gebäude überragt. Es steht auf einem Hügel. Und vom ersten Augenblick an besteht kein Zweifel, daß dies das Ziel der Archonten ist! Meine nutzlosen Gedärme scheinen sich unter der Erkenntnis zu verdrehen. Schmerzen, wie ich sie nicht einmal litt, als die Sonne einst meine Haut verbrannte, bohren sich durch mein Fleisch. »Bleibt stehen! Geht nicht weiter!« Meine Stimme ist so heiser, daß ich sie selbst nicht erkennen würde. Und niemand hört auf mich. Sie überqueren den Platz und steigen ramponierte Stufen hinauf. Zum Tempel. Daß es ein Tempel ist, daran gibt es keinen Zweifel. Auch er hat gelitten wie die Stadt, über der er thront. Und doch ist
noch etwas darin, das Macht hat. Macht über solche wie uns. Warum nicht über mich? Warum tappe ich nicht ebenso stier und blicklos ins Verderben wie die elf, die jetzt das Ende der Stufen erreichen und sich ins Innere des Baues begeben? In die Falle … »Bleibt stehen! So bleibt doch stehen!« Ich bleibe stehen. Noch vor der ersten Stufe halte ich inne und denke: Nein! Ihr Schicksal will ich nicht teilen! Ich will nicht enden wie sie! Dabei weiß ich nichts über ihr Schicksal. Nichts über das, was in diesem einst prunkvollen Tempel lauert. Oder einfach nur wartet … Ich will es gar nicht wissen. Ich wende mich ab und renne den ganzen Weg zurück, den ich gekommen bin. Renne um mein Leben, dieses Leben, das dem Herrn der Finsternis geweiht ist, dem Sohn der Hölle – niemandem sonst! Irgendwann finde ich die Stelle wieder, an der ich aus dem Korridor getreten bin. Den Fels, der nur massiv aussieht, es aber nicht ist. Wie von Sinnen und ohne mir Gedanken über die Folgen zu machen, stürze ich mich hinein, taumele durch die Ewigkeit, die dahinter wartet, und schaue nicht nach rechts und nicht nach links. »Wie ich dem Korridor entkam, weiß ich nicht mehr. Irgendwann spie er mich aus. Genau dort, wo ich ihn betreten hatte – aber das wurde mir erst später klar. Ich war ins Jahr 1705 zurückkehrt – das Jahr, aus dem wir aufgebrochen waren, um unser aller Vater zu erretten. Vergebens …«
* Gegenwart
Jadas Augen sahen aus wie Perlen, die von innen beschlagen waren, dadurch aber noch mehr an Reiz gewannen. Landru ließ eine Weile verstreichen, aber irgendwann konnte er den Stoßseufzer nicht länger unterdrücken: »Beim dunklen Dom und meinen toten Geschwistern! Ich glaube, ich verstehe …« Der Nebel in ihren Augen geriet in Bewegung. »Du verstehst?« fragte Jada. »Was willst du damit sagen?« Landru ballte die Fäuste so fest, daß es in den Gelenken seiner Finger knackte. »Das geht nur ihn und mich an«, sagte er abweisend. »Wie ging es damals weiter?« »Als ich mich von dem Schock des Verlustes erholt hatte, bereiste ich viele Jahre planlos die Welt. Ich suchte nach Anzeichen, daß Er vielleicht doch wiedergeboren worden sei. Aber ich fand nur die aufgehende Saat, die er hinterlassen hatte. Ein Jahrhundert griff ins nächste. In unterschiedlichen Abständen kehrte ich immer wieder hierher zurück, als wäre dies ein Stück Heimat, an dem ich zur Besinnung finden konnte. Als die weltumspannenden Kriege ausbrachen, suchte ich die Anstifter auf, weil ich in ihnen eine neue Inkarnation des Satans zu erkennen hoffte. Aber auch sie waren nur aufgehende Saat, Früchte, denen Er lediglich den Boden bereitet hatte, ehe er selbst davon getilgt worden war …« »Die Weltkriege«, murmelte Landru. »Die Sippen hatten nichts damit zu tun. Hitler, Stalin … Jetzt schwant mir, warum dies Unantastbare waren – auch für uns. Sie widerstanden jeder Beeinflussung, gingen ihren Weg, der Millionen Leben kostete … Seine Saat? Was heißt das? Wie hat er sie verstreut, wann und wo wird sie noch aufgehen?« Jada reagierte nicht. »Antworte!« Sie schüttelte den Kopf. »Darüber weiß ich nichts.« »Vielleicht ist das die Wahrheit«, sagte Landru zornig. »Warte hier auf mich!«
»Warten? Wohin willst du? Seit Jahrhunderten ersehne ich diesen Tag … Nein, ich lasse dich nicht gehen! Bring mich erst zu dem, der dich geschickt – und der sich meiner erinnert hat! Ich bin nicht nutzlos! Auch ganz allein, als letzte von zwölf, bin und bleibe ich sein Kind …!« »Du kannst mich nicht aufhalten!« Landru verdrängte die Erinnerung an das, was schon einmal auf ihn übergesprungen war wie ein Funke von lähmender Kraft. »Und selbst wenn du dazu in der Lage wärst – Er würde es dir kaum verzeihen, denn Er hat mich geschickt …« Sie kniff die Lippen zusammen. »Ich kann nicht noch eine Ewigkeit ertragen.« »So lange wird es nicht dauern. Hast du später je versucht, herauszufinden, was aus den Archonten wurde, die den Weißen Tempel von Uruk betraten?« Jada nickte. »Jedesmal, wenn ich hierher zurückkehrte, suchte ich auch Uruk auf. Erfolglos. Die Zeit hat alle Spuren verwischt.« »Vielleicht finde ich das, wonach du vergeblich gesucht hast.« »Warum sollte dir gelingen, was mir versagt blieb?« »Weil ich mich in meinem Haus gewiß besser auskenne als du!« »In deinem Haus …?« Landru verzichtete auf eine Erklärung. Ungehindert kehrte er auf die Zinnen der Feste Ophit zurück, verwandelte sich in das geflügelte Tier, das zum Sinnbild seiner Art geworden war – – und jagte dem Ort entgegen, von dem aus er einst, vor der Sintflut, über diese damals noch kleine und überschaubare Welt geherrscht hatte. Er und andere schreckliche Götzen.
* England
Die Spur, im Gras sichtbar wie ein schwach ausgetretener Trampelpfad, hatte bis zu einem einsam gelegenen Gehöft geführt – und dort geendet. Devan Daridov hatte den Hubschrauber in großer Höhe über den Hof hinwegfliegen lassen, hatte ihn dann in eine weite Schleife gelenkt und schließlich eine knappe Meile von dem Anwesen entfernt gelandet. Jetzt, während die Sonne jenseits des Horizontes hinter ihnen in roter Glut versank, pirschten Daridov und Glory Anson sich an das Gehöft heran, jede Deckung nutzend, immer wieder verharrend und beobachtend. Aber zwischen den schlichten Gebäuden vor ihnen rührte sich nichts. Wie ausgestorben lag der Hof da. Und es stand zu befürchten, daß dieser Vergleich durchaus zutreffend war … »Sie müssen sich noch auf dem Hof befinden«, beharrte Daridov zum wiederholten Male. »Wir hätten ihre Spuren sehen müssen, wären sie weitergegangen.« »Ich verstehe das alles nicht«, sagte Glory halblaut, obwohl absolut nicht anzunehmen war, daß man sie über diese Entfernung hätte hören können. »Warum haben sie sich nicht getrennt? Warum sind sie alle denselben Weg gegangen – und warum verstecken sie sich auf diesem Hof?« »Die letzte Frage ist leicht zu beantworten«, erwiderte Devan Daridov. »Sie warten, bis die Nacht anbricht, ehe sie weitergehen. Und die Antwort auf Ihre anderen Fragen liegt irgendwo –«, er grinste schief, »– da drüben.« Er streckte den Finger in Richtung der kleinen Farm. »Dann sollten wir sie uns holen«, meinte Anson und lief los. Niedrige Buschreihen und Bodenmulden schützten sie vor Entdeckung. Lediglich auf den letzten fünfzig Yards des Weges gab es keinen Sichtschutz mehr. Getrennt voneinander legten Anson und
Daridov die Distanz zurück, wobei einer dem anderen Waffendeckung gab. Schließlich kauerten sie hinter einer Scheunenecke. »Was jetzt?« fragte Glory. »Dasselbe Spielchen wie auf Highgate Hall«, schlug ihr Partner vor. »Wir nehmen uns ein Gebäude nach dem anderen vor und durchsuchen es.« Glory Anson erstarrte neben ihm. Fast tonlos flüsterte sie: »Ich glaube, die Mühe können wir uns ersparen.« »Wie kommen Sie darauf?« »Fragen wir doch ihn, wo all die Leute stecken.« Glory wies mit dem Kinn auf einen Mann, der nur wenige Yards von ihnen entfernt im Begriff stand, etwas Furchtbares zu tun – und dessen stierer Gesichtsausdruck unmißverständlich verriet, daß ihn nichts auf dieser Welt mehr schrecken konnte … … weil er ohnedies im Begriff stand, sie zu verlassen.
* Tief in sich nahm Morgan McDermott vage Verwunderung wahr – darüber, daß niemand ihn aufhielt und daß er niemanden sah. Schließlich befanden sich über dreihundert Menschen auf seinem Hof! Wie konnte es da angehen, daß er völlig unbehelligt blieb? Er zuckte die Schultern. »Um so besser«, sagte er sich. Er öffnete die Tür des kleinen Heuschobers und zog sie hinter sich gewissenhaft zu. Dann ging er in den hinteren Teil des Baus, ohne sonderliche Eile, und dabei sah er sich um, als schaue er nach dem Rechten, ob alles Gerät auch an seinem angestammten Platz lag und stand. Vereinzelt drang rotgoldenes Licht durch Ritzen in der östlichen Schoberwand. Staubkörner tanzten in den schmalen Bahnen wie winzige glühende Insekten.
McDermott stieg eine knarzende Leiter hinauf, die zum oberen Heuboden führte. Hier stapelten und reihten sich Strohballen dicht an dicht. Nur ein schmaler Weg war freigeblieben. Er endete vor einer Luke in der Wand. Morgan McDermott stieß die niedrige Tür auf. Aus der Wand über der Luke ragte ein breiter Balken; an seinem Ende war eine Seilrolle befestigt, über die ein fingerstarker Strick lief. Damit hatten sie die Heuballen heraufgezogen, um sie hier oben zu lagern. Heute würde Morgan McDermott etwas anderes damit tun … Er bekam ein Ende des Seils zu fassen und schlang einen starken Knoten hinein, so daß es nicht von der Rolle rutschen konnte. Ins andere Ende knüpfte Morgan McDermott eine Schlinge. Und die wiederum streifte er sich über den Kopf. Sein Gesicht wirkte dabei völlig unbewegt, seine Hände arbeiteten wie mechanisch. Einen Moment lang stand er noch still in der Luke. Daß unter ihm jemand rief, hörte er nicht … Als habe er einen leichten Stoß in den Rücken erhalten, kippte Morgan McDermott vornüber. Er fühlte sich so leicht, als könne er fliegen. Davonfliegen … Ja, das wollte er. Allem davonfliegen. Und er flog. Stürzte in die Tiefe …
* »Nein, nicht!« rief Glory Anson, als sich der Mann aus der Luke stürzte. Für einen winzigen Moment schien er aller Unmöglichkeit zum Trotz regelrecht in der Luft zu liegen, still und starr. Dann obsiegte die Schwerkraft – – und Schüsse krachten! Donnernd laut, unmittelbar neben Glorys
Ohr! Und Devan Daridov vollbrachte ein kleines Wunder. Das Seil, an dem der Mann sich erhängen wollte, indem er sich vom Heuboden stürzte, wurde von den Kugeln zerrissen! Glory Anson glaubte sogar zu sehen, wie der Strick zerfaserte und endlich riß. Im freien Fall stürzte der Mann dem Boden entgegen, fünf, sechs Meter tief. Hart schlug er auf, hörbar trieb ihm der Aufprall die Luft aus den Lungen. Und Glory meinte, noch mehr zu hören – das unangenehme Geräusch brechender Knochen … Daridov war schon auf dem Weg zu dem Mann. Sie folgte ihm, noch fast taub von den Schüssen. Gemeinsam zogen sie den Verletzten um die Ecke des Heuschobers, wo sie zumindest etwas Sichtschutz fanden. Wo auch immer sich die Flüchtlinge verbargen, die Schüsse würden sie aus ihrem Versteck locken. Der Mann war nicht ansprechbar. Er schien auf jenem schmalen Grat zwischen Bewußtsein und Besinnungslosigkeit zu balancieren. Er stöhnte leise; ein schmaler Blutfaden sickerte ihm aus dem Kinnwinkel. Ebenso rasch wie vorsichtig untersuchte Glory den Verletzten. »Und?« fragte Devan Daridov. »Er braucht einen Arzt.« »Ach?« Sie mußten lauter reden, als es in der Situation ratsam gewesen wäre. Beide hatten sie noch ein unangenehmes Klingeln im Ohr, eine Nachwirkung der Schüsse. Und daran lag es auch, daß sie gleichsam taub für andere Geräusche waren. Für leise Schritte etwa, die sich ihnen näherten … … erst die Stimme hörten sie! »Ich glaube nicht, daß Mr. McDermott in ärztliche Behandlung muß.«
Glory Anson schrak hoch. Devan Daridov blieb reglos. »Milton Banks«, knirschte er. Es gab Dinge, die ein Mensch nie vergaß – und für Devan Daridov zählte die Stimme von Milton Banks zu diesen Dingen. »Wie schön, daß Sie sich an mich erinnern«, bemerkte Banks jovial. Glorys Waffenhand verharrte auf halber Höhe. Sie sah sich einer solchen Übermacht gegenüber, wie sie sie nie zuvor gesehen hatte. Und nie gespenstischer! Weißgekleidete Gestalten reihten sich um sie her. Ihre Zahl schien stetig anzuwachsen, ihr Nachschub unerschöpflich, und sie staksten umher wie Zombies, tumb und eckig. Dennoch ging die größte Gefahr momentan nicht von ihnen aus, und auch nicht von Milton Banks, der Glory Anson überdies eher an einen freundlichen Großvater erinnerte als an den abartigen Mörder, der er war. Was sie von jeder hastigen Bewegung oder gar Gegenwehr Abstand nehmen ließ, war die doppelläufige Flinte, die ein bulliger Kerl mit fleischigen Lippen und glitzernden Schweinsäuglein auf sie richtete! Devan Daridov hatte noch immer nicht aufgeschaut. »Was sollte mich daran hindern, Sie einfach umzulegen, Banks?« fragte er kalt. Erst jetzt hob er den Kopf, und gleichzeitig stieß er seine Pistole in Banks’ Richtung. Carl Palmoy drückte ab. Glory Anson schrie auf. Und Morgan McDermott zuckte wie unter einem Stromschlag in die Höhe, sackte dann zurück und blieb still liegen. Sein Hemd färbte sich rot. »Die nächste Kugel könnte Ihre hübsche Begleiterin treffen«, sagte Milton Banks im Plauderton. »Mr. McDermotts Waffe ist zwar nicht mehr die neueste, aber mein Freund Carl ist ein guter Schütze, wie
Sie feststellen konnten, nicht wahr?« Er klopfte dem Hünen kameradschaftlich auf die Schulter. »So«, fuhr Milton Banks fort und rieb sich die Hände wie in Vorfreude, »und nun legen Sie bitte beide Ihre Waffen beiseite.« Sie gehorchten, Glory Anson eine Spur rascher als ihr Partner. »Ich freue mich wirklich, Sie wiederzusehen, Mr. Daridov«, sprach Milton Banks dann weiter, und ganz ohne Arg ergänzte er: »Ich fürchte, Sie müssen zum Essen bleiben.« Er zwinkerte Daridov verschwörerisch zu. Und Glory Anson drehte sich fast der Magen um.
* Die Situation war absurd. Irreal wie ein Alptraum. Einer von der Art jedoch, das spürte Glory Anson, aus denen es kein Erwachen gab, bevor nicht das bittere Ende erreicht war … Sie waren in die geräumige Wohnküche des McDermottschen Hauses geführt worden, nachdem die weißbekittelten Männer und Frauen wie Vieh in die Stallungen und sonstigen Wirtschaftsgebäude des Hofes gepfercht und eingeschlossen worden waren. »Was soll das alles, Banks?« hatte Devan Daridov auf dem Weg zum Haus gefragt. Milton Banks hatte gelächelt und gesagt: »Das muß Sie nicht interessieren, Mr. Daridov. Ich gehöre nicht zu jenen Bösewichten, die ihren Widersachern kurz vor deren Ende noch ihre Pläne minutiös darlegen. Sie wissen doch – ich bin eher ein … sagen wir, stiller Genießer.« Jetzt saßen sie um den massiven Küchentisch. Carl Palmoy stand etwas abseits und hielt die nachgeladene Flinte auf die beiden Agenten gerichtet, denen man zwischenzeitlich Hände und Füße gefesselt hatte. Bei aller zur Schau gestellten Jovialität ging Milton Banks doch kein Risiko ein.
Er saß ihnen gegenüber und stellte nun seine Freunde vor, als säßen sie tatsächlich in Erwartung eines gemeinsamen Dinners beisammen, zu dem er eingeladen hatte. »Carl Palmoy haben Sie ja bereits kennengelernt«, sagte Banks. »Dies hier –«, er deutete auf einen schmächtigen Mann mit öligem Haar und Basedow-Augen, »– ist Bazon Thorne, ein begnadeter Maler. Und hier haben wir –«, Banks zeigte auf den nächsten in der Runde, ein Typ mit dunklem Teint, der seine südländische Herkunft verriet, »– Anthony Portobello, einen Mann, der nach großer Macht strebt und in der Wahl seiner Mittel nicht eben zimperlich ist. Die Mächtigen dieser Welt beseitigen, um ihren Platz einzunehmen – das war sein Motto, und das wird es wohl wieder werden, nachdem wir jenen ungastlichen Ort namens Highgate Hall verlassen durften.« »Wie haben Sie das geschafft?« warf Daridov ein. »Und warum ließ die Wirkung dieser Lydendorff-Methode nach?« »Ich sehe, Sie sind bestens informiert«, stellte Banks anerkennend fest. »Nun, ehrlich gesagt, alles andere hätte mich enttäuscht. Ich kenne Sie, Mr. Daridov, besser, als Sie glauben.« »Das ist keine Antwort.« »Wer sagt denn, daß ich antworten möchte?« lächelte Banks. »Nur soviel sei Ihnen verraten: Eine Hand wäscht die andere …« »Wer Ihre Hände wäscht, Banks, holt sich so schmutzige Finger, daß er den Dreck nie mehr abbekommt!« »Oh, glauben Sie mir, Mr. Daridov – es gibt Schlimmere als mich. Wahre Teufel gibt es da draußen.« Wieder lächelte er sein gönnerhaftes Großvaterlächeln. Dann wandte er sich dem letzten seiner »Freunde« zu. Ein jungenhaft wirkendes Bürschlein, das wie verängstigt auf seinem Stuhl saß und dem das blonde Haar strähnig in die Stirn fiel. »Das ist –«, begann Banks. Daridov unterbrach ihn. »Ich weiß, wer das ist. Mitchell Laughlin.
Er hat seine Eltern umgelegt, weil sie ihm ein Leben lang den Arsch versohlt haben, und danach meinte er, zum Rächer aller mißhandelten Kinder werden zu müssen, indem er auch deren Eltern ermordete.« »Ein guter Junge, nicht?« meinte Banks. »Ansichtssache. – Für mich sieht es schlicht so aus, daß sich fünf der abartigsten Mörder Englands hier versammelt haben.« Devan Daridovs Blick wanderte von einem zum anderen und blieb schließlich an Milton Banks hängen. »Und speziell in Ihrem Fall«, fuhr er mit eisigem Ton fort, »hätte ich mir gewünscht, daß Sie bei Ihrer Festnahme Widerstand geleistet hätten.« »Damit Sie einen Grund gehabt hätten, mich zu erschießen?« Daridovs Schweigen war Antwort genug. »Nun, dann stellt sich mir die Frage, wer von uns beiden mehr der Barbarei verfallen ist«, meinte Banks. »Das heißt – sie stellt sich im Grunde nicht, sondern beantwortet sich schon selbst.« Er wandte seinen Blick Glory Anson zu. »Wie ich sehe, haben Sie jemanden gefunden, der Sie über Ihren tragischen Verlust von damals hinwegzutrösten versteht.« Banks lächelte anzüglich. »Wir sind Partner«, erklärte Daridov. Glory schwieg. »Nein«, sagte Milton Banks, »Sie sind mehr als das. Sie jedenfalls –«, sein Blick bohrte sich in Glorys, »– würde gerne mehr als Ihre Partnerin sein. Ich sehe es in ihren Augen.« »Sie reden Unsinn, Banks«, meinte Daridov. »Das tue ich nicht.« Glory schwieg weiter. Banks lächelte von neuem, anders diesmal – fast so, als sei er erleichtert. »Und ich muß sagen, daß mir diese Konstellation sehr zupaß kommt.« »Was haben Sie vor, verdammt?« verlangte Daridov zu wissen. Er
hatte Mühe, seine Erregung im Zaume zu halten. Längst waren seine Handgelenke blutig gescheuert von seinen Versuchen, sie aus den Fesseln zu winden. »Durch den Übereifer meines Freundes Bazon Thorne –«, Banks warf dem Genannten einen undeutbaren Blick zu, »– wurde meine Legion um ein Mitglied dezimiert.« »Ihre Legion? Sie sind ja –« »Irre, ich weiß«, nickte Banks. »Sie erzählen mir damit nichts Neues. Wo war ich stehengeblieben? – Ach ja, wie gesagt also, ich muß diese meine Legion nun aufstocken. Und Ihre hübsche Freundin scheint mir die geeignete Kandidatin zu sein. Ich brauche nur zu wecken, was in ihr steckt, und schon –« »Nur über meine Leiche, Banks!« zischte Daridov. Milton Banks lächelte, nickte. »So sei es, Mr. Daridov.«
* Zu viert hatten sie Devan Daridov auf einen Tisch gelegt und so verschnürt, daß jedes Aufbäumen in seinen Fesseln nur sinnlose Kraftvergeudung war. Seine Kniekehlen ruhten auf der Kante, seine Unterschenkel waren an die Tischbeine gebunden. Die Arme lagen seitlich ausgestreckt. Glory Anson wollte nicht hinsehen, aber sie mußte es. Sie glaubte, daß Devan das, was diese Ungeheuer ihm antun würden, leichter ertragen konnte, wenn sie die Blickverbindung zu ihm aufrechterhielt – ihn nicht allein diesen Verbrechern überließ. Zudem hielten Carl Palmoy und Anthony Portobello, Banks’ willfährige Marionetten und Knechte, Glorys Kopf so unnachgiebig fest, daß sie das Gesicht gar nicht hätte abwenden können. Sie hätte die Augen schließen müssen, um sich den Blick auf das Kommende zu ersparen. Aber das konnte sie nicht – noch nicht jedenfalls.
Es sind keine Menschen, dachte sie fortwährend und hoffte, daß Devan ihre Gedanken nicht in ihren Augen lesen konnte. Menschen würden so etwas nicht tun! Diese Schweine! Diese verdammten Schweine … Milton Banks hatte an jenem Ende des Tisches Aufstellung genommen, wo sich Devan Daridovs Kopf befand. Nun griff er in seine Jackentasche und holte ein Messer hervor, das große Ähnlichkeit mit dem Skalpell eines Chirurgen hatte. »Es gibt viele Todesarten, Mr. Daridov«, sagte Banks. »Über meine Wahl werden Sie nicht enttäuscht sein.« Er führte die schlanke Klinge auf das Gesicht des Gefesselten zu und fragte: »Angst? Empfinden Sie Reue, meine Freundschaft nicht gesucht zu haben?« Devan Daridov verdrehte die Augen und versuchte den Blick auf die Klinge zu vermeiden, statt dessen zu Glory zu sehen. Seine Lippen bebten. Schweiß saß ihm in glitzernden Perlen auf Stirn und Wangen, sammelte sich zu dünnen Rinnsalen, die wie Tränenbäche über sein Gesicht rannen. Glory hatte das Gefühl, das Skalpell senke sich in ihr eigenes Herz, noch bevor es Devan überhaupt berührte. Angst und Verzweiflung ließen alle Dämme in ihr brechen. »Ich liebe dich!« schrie sie Devan zu. Er lächelte starr, und in dieses Lächeln senkte Milton Banks völlig ungerührt seine Klinge.
* Banks schürzte die Lippen. Dann wandte er sich von dem Toten ab und ging auf Glory zu. »Er weilt jetzt in einer besseren Welt. Wir sollten ihn rasch vergessen und uns den Anforderungen des Diesseits stellen. Das Jenseits empfängt uns noch früh genug. Und, wer weiß, vielleicht sehen wir beide Mr. Daridov dort wieder. Das könnte eine interessante Begegnung werden …«
Seine Worte wehten an Glory Anson vorüber, streiften ihr Bewußtsein nur, ohne sich darin zu verfangen. Den stechenden Geruch ihres eigenen Erbrochenen nahm sie ebenso wenig wahr. Sie empfand nur noch Schmerz, den Wut und Haß unaufhörlich schürten. Und jeder Blick, den sie Devans Leichnam schenkte, war Öl in dieses Feuer, das in ihr brannte und fraß, alles verzehrte, was nicht Abscheu war wider seinen Mörder. »Nun, Miss Anson, wie geht es Ihnen?« fragte Milton Banks beiläufig, obwohl ihr Innerstes gleichsam nach außen gekehrt war und in jedem Zucken ihrer Miene zu lesen stand. »Ich hasse Sie, Banks!« zischte sie flammenden Blickes. »Töten Sie mich –« »Wo werd’ ich hin!« »– sonst töte ich Sie!« »Was ich zu bezweifeln wage.« Banks tätschelte väterlich Glorys Wange. »Aber so gefallen Sie mir – denn genau so brauche ich Sie, Miss Anson. Voller Haß und Wut, bereit zu töten. Wunderbar, ganz ausgezeichnet.« Er gab Carl Palmoy, der Glory gemeinsam mit Anthony Portobello nach wie vor festhielt, einen knappen Wink. Glory Anson nahm die Bewegung Palmoys nur aus den Augenwinkeln wahr – und dann nichts mehr. Für eine Sekunde überwog neuer Schmerz in ihrem Kopf jenen in ihrer Brust. Und er genügte, um jedes Empfinden auszulöschen.
* Milton Banks atmete die Nacht. Klar und rein war sie, erhaben, und er fühlte sich, wie die Nacht war.
Durch Bazon Thornes eigenmächtiges Handeln war der Plan gefährdet gewesen. Er aber, Milton Banks, hatte die Dinge wieder ins rechte Lot gerückt. Die Dinge konnten ihren Lauf nehmen – – wie der junge Herr es wünschte! Milton Banks würde ihn nicht enttäuschen, schließlich verdankte er ihm sein zweites Leben. Dafür mußte er ihm einen Gefallen erweisen – und der hieß, seinen Ruf abzuwarten, um den Flüchtlingsstrom aus Highgate Hall endlich ans Ziel zu führen. Ganz ähnlich, wie Moses es weiland mit dem Volk Gottes getan hatte. Nur würde Milton Banks sein dreihundertfünfzigköpfiges Volk nicht ins gelobte Land führen – – sondern in die Verdammnis. Er zuckte die Schultern bei diesem Gedanken. Es kümmerte ihn nicht. Was war deren Leben gegen das seine? »Armselig«, befand er zufrieden. Vielleicht, überlegte Milton Banks, konnte er sein Leben noch reicher machen. Vielleicht sollte er die Nähe dieses Jünglings suchen … Wer wußte schon, zu welchen Dingen und Taten er noch fähig war – und wozu er andere befähigen konnte! Dies war die Nacht des Wiedersehens mit ihm. Milton Banks wußte es. Das volle Rund des Mondes verhieß es ihm. Einem toten, narbigen Gesicht gleich sah er vom Firmament. Und dann schien dieses Antlitz der Nacht selbst zu sprechen – zu rufen … Der Ruf! Er erfolgte ohne Worte, doch Milton Banks verstand ihn. Und tat, wie ihm geheißen ward. Er sammelte seine Getreuen. Sie entließen die Legion aus ihren Kerkern – – und Milton Banks führte sie. Hin zu einem sagenumwobenen Ort, dessen Geheimnisse die Menschen zu kennen glaubten, dessen Wahrheit aber kein Mensch kannte.
Sie sollte sich erst in dieser Nacht offenbaren. Doch niemand würde sie bezeugen können. Niemand jedenfalls, dem man noch Glauben schenken würde …
* Uruk Keine noch so flüchtige Sekunde lang hatte Landru das Gefühl, heimzukehren, als er im Zentrum des Alten Uruk – dem, was davon heute noch sichtbar war – die Fledermaus-Gestalt aufgab. Fühlt sich eine Schlange noch der Haut verbunden, die sie einmal abgestreift hat? tat er den Mangel an Wehmut brüsk ab. Zur Mitte des Tages aufgebrochen, hatte er sein Ziel in der Abenddämmerung erreicht. Die Strecke war lang, unterwegs hatte er pausieren müssen. Nun würden bald wieder die Sterne Löcher ins samtene Tuch der Nacht brennen. Vom Weißen Tempel des Landes Sumer war nichts mehr geblieben. Bis auf die Grundmauern hatte der Wind der Zeit ihn erst abgeschliffen und anschließend mit einem dicken Teppich aus Sand zugedeckt. Selbst Heerscharen von Archäologen war es in mühsamer Sisyphusarbeit lediglich gelungen, sein früher umspannendes Areal abzustecken und die Bodenplatte freizulegen. Aus Trümmern, Überlieferungen, uralten Schriften und nicht zuletzt der eigenen Phantasie hatte die Wissenschaft Bilder entworfen, die vorgaben, den Weißen Tempel und die darunterliegende Stadt authentisch zu zeigen. Landru hätte diese Darstellungen erst in jüngster Zeit im Pariser Louvre gesehen und wußte heute, wie falsch die Historiker in vielerlei Hinsicht lagen. Die Lehmbauten der Stadt hatten damals viel schlichter, viel ärmlicher gewirkt als auf diesen bildhaften Rekonstruktionen. Wie die Behausungen seltsamer Tiere hatten sie vom Tempel aus gewirkt. Seltsame Tiere … Nichts anderes waren die
Menschen jener Zeit für die herrschende Kaste der Vampire gewesen: Schlachtvieh mit geringem Verstand, aber großem Nutzen. Landru zog sich ein paar Atemzüge lang hinter seine geschlossenen Lider zurück, um diese Zeit wiedererstehen zu lassen. Aber auch ihm gelang, beladen mit Millionen neuerer Erinnerungen, nicht mehr als ein fader Abglanz der damaligen Wirklichkeit, und so gönnte er seiner geschundenen Seele den Balsam der Rückbesinnung nur kurz. Wenig später schon stieg er die Stufen zur Kuppe des Hügels empor, auf dem der Weiße Tempel gethront hatte. Das Monument, das elf von zwölf Satanskindern irgendwann nach der Urflut (das zumindest hatte Jadas Schilderung ihm suggeriert) zum Verhängnis geworden war. Darin waren sie verschollen. Ausgerechnet darin … Etwas hat sie in seinen Bann geschlagen und gezwungen, den Tempel zu betreten, kroch es düster durch die Windungen von Landrus Gehirn, das noch älter war als diese Begebenheit. Und während die ebene Fläche des Gipfels in sein Blickfeld rückte und er die letzten fünf, sechs Stufen überwand, wurde ihm schmerzhaft bewußt, wie sehr sich die Schicksale der Hüter und derer, die sich Archonten nannten, letztlich doch ähnelten: Sie haben einen Vater verloren und wir eine Mutter. Unsere rabenschwarze Rabenmutter! Nicht mehr so leichtfüßig wie vorher schritt er die fast windstille Anhöhe ab. Er war allein. Touristen mieden dieses Land, seit ein Schlächter es regierte. In Landrus Vorstellung erstanden Wände neu, formten sich längst verfallenen Gemächer mit all ihrem damaligen Prunk, der so manchen Narren zum Stehlen verführt hatte. Aber unseren strengen Augen entging keiner, dachte Landru in einem Anflug wirren Stolzes. Das Herrschen lag uns im Blut. Ach, Blut … Darum drehte und dreht sich alles … Er hielt inne.
Atmete die Stille und fuhr sich mit der Hand ins Genick. Rieb die Haut. Fühlte die knöchernen Wirbel und genoß einfach seine Existenz … … bis sich wieder der Schatten darüber breitete. Der lange Schatten Gabriels. Weiter! spornte er sich selbst an. Such weiter! Sieh nach, ob du nach all der Zeit noch einen Hinweis findest, der deinen Verdacht untermauert! Daß ausgerechnet die Tempelruine von Uruk den Archonten zum Verderben geworden war, daß der magische Korridor sie alle in derselben Zeit ausgespien hatte, obwohl sie verschiedene Tore durchschritten hatten, das alles bestärkte Landru in seinem Verdacht, die Fallenstellerin zu kennen. Damals war sie uns noch gewogen, dachte er klamm. Unsere – Das Wort Mutter formulierte sein Geist schon nicht mehr aus. Denn in diesem Augenblick fühlte er etwas, das seine Instinkte und ihn selbst in einen Alarmzustand versetzte. Und dann, als hätte auch ihn ein fremder Wille übertölpelt, als zöge auch ihn ein unwiderstehlicher Magnet an, justierte er seinen Körper neu aus und schlug die Richtung ein, aus der es ihn rief. Und bald schon wußte er, worauf er zusteuerte. Lilienkelch, Opferschlange und Agrippa, dachte er aufgewühlt. Von hier brachte euch Anum damals, am Vorabend der Flut, mit. Er strauchelte und wollte sich, einem inneren Impuls folgend, herumwerfen, um diesem Ort und seinen nun quälend gewordenen Erinnerungen zu entfliehen. Doch er hielt aus. Ich muß. Ich habe keine Wahl. Ich brauche das Pfand zurück, das meine Seele knebelt! Langsam ging er in die Knie. Beugte sich über das magische Siegel, unter dem der Raum versteckt lag (immer noch), in dem Anum einst Zwiesprache mit dem Geist der Mutter gehalten hatte. Und wo die Ur-Lilith mit der Macht ihrer Träume drei Artefakte hatte entstehen
lassen, die ihre Kinder mit an Bord der Dunklen Arche genommen hatten … Landru streckte die Hände aus, um das Siegel zu berühren – – und zu brechen. Die gemarterten Schreie, die dann seinem Mund entflohen, verhallten ungehört in der Weite des Himmels, wo der hellste Stern gerade sichtbar wurde. Vergeblich versuchte er, die Hände wieder zurückzuziehen. Es war unmöglich. Der vermeintliche Stein, auf den Landru sie gepreßt hatte, hielt sie unlösbar fest. Anfangs. Daß das uralte Siegel entartet war, erkannte der Vampir zu spät. Zeitlupenhaft langsam versank er darin wie in einem Sumpf. Wurde davon gefressen …
* Nein! Setz dich zur Wehr! Leiste Widerstand! Du warst hier zu Hause! Nichts auf Welt kann daran etwas ändern! Besinne dich der Macht, die in dir steckt! … Landru war in einer immateriellen und dennoch zähen Masse versunken, die alles, was außerhalb lag, absorbierte. Alles Licht, alle Atemluft, Geräusche … Er versuchte zu verstehen, was aus dem schlichten magischen Pfropf geworden war, der den Zugang in die Tiefe seit jeher verdeckt hatte. Schon vor Jahrtausenden war keines Menschen Auge fähig gewesen, dieses Siegel überhaupt wahrzunehmen. Der Boden hier unterschied sich nicht erkennbar von der Umgebung. Daß es einen Einstieg in die Unterwelt gab, wo die Gesetze von Raum und Zeit aufgehoben waren – niemand, der es nicht wußte, hätte es auch
nur erahnen können! Ich wußte es, dachte Landru, und was hat es mir eingebracht? Er versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren. Das Siegel zehrte wie eine gigantische Zecke an ihm. Eine Zecke, die sich nicht mit seinem Blut begnügte, sondern den ganzen Körper wollte! Landru mobilisierte seine Hüterfähigkeiten. Seine Magie, die einst von gleicher Art gewesen war wie die Magie des Siegels, nur mächtiger, viel, viel mächtiger … Einst! Er zuckte innerlich zurück, als er entdeckte, was sich an dem Siegel verändert hatte. Als er das besondere Fluidum spürte, das auch … Gabriel auszeichnete! Gabriel? Landru merkte, wie seine Gedanken zerfaserten. Wie der Schock der Erkenntnis ihn lähmte und dem Untergang einen riesigen Sprung näherbrachte! Gabriel hatte nicht zufällig ihn ausgesandt, um die Archonten zu sammeln! Der Teufel überließ nichts dem Zufall! In einer Lage, wie sie mißlicher kaum sein konnte, dämmerte Landru, daß er Gabriel noch ärger auf den Leim gegangen war, als er bislang glaubte. Falls es die Archonten noch gab, dann waren sie hier – hier unter dem Siegel, das Gabriel gewiß schon selbst zu brechen versucht, es aber nicht vermocht hatte! Statt dessen hatte die Manipulation des Satans es entarten und nun auch zur Gefahr für solche werden lassen, denen es eigentlich nichts hätte anhaben dürfen …! Gabriel, du Teufel! Wie oft würde dieser Fluch noch durch sein Hirn kriechen? Nie wieder? Weil sein Hirn mit allem, was dazu gehörte, hier verenden würde?
Aber dann hast du nichts gewonnen, mein Feind! dachte Landru so emotional, als bedeutete dies noch wirklichen Triumph für ihn. Noch einmal lehnte er sich gegen den drohenden Untergang auf, stemmte er sich gegen den magischen Moloch, der begonnen hatte, ihn wie ein gigantischer Magen zu »verdauen« … Alles in ihm sträubte sich bei dem Gedanken, daß Gabriel weiterleben, er selbst aber hier krepieren sollte! Nein! NEIN! NEIN! Er hatte kein Gefühl mehr für seinen Körper. Vielleicht gab es ihn schon nicht mehr. Vielleicht war seine Seele das Einzige, was noch existierte. Und vielleicht – war diese Seele dazu verdammt, ewig in dem Siegel gefangen zu bleiben – bei vollem Bewußtsein! Umgeben von Dunkelheit. Und Stille. Neeeeiiiiinnnnn! Als ihm endlich die Sinne schwanden, hoffte er inständig, nie wieder zu erwachen, nur um festzustellen, daß seine Vision ewiger Gefangenschaft Wirklichkeit geworden war …
* Augen, so düster und rot wie Fenster in Luzifers Reich, blickten auf ihn herab, und Landrus erster Gedanke war: Was für ein elendes Gespenst ist das …? Bis zu diesem Moment war die Beschreibung, die Gabriel ihm von seinen Jüngern gegeben hatte, rein abstrakt geblieben. Jada hatte so nicht ausgesehen – sie hatte sich untrügliche Merkmale eines Individuums einpflanzen lassen. Kennzeichen, die sie – zumindest äußerlich – von den wahren Archonten abgrenzten … Das Wesen, das seinen Blick in Landrus Augen gesenkt hatte, entsprach noch ganz dem ursprünglichen Erscheinungsbild.
Es ist ein Archont, dachte Landru und versuchte, sich aufzurichten, um herauszufinden, was passiert war. Warum er wieder unter freiem Himmel lag und am Horizont die Sonne auf- und nicht unterging. Sanft drückte ihn die kahlköpfige, bleiche Frau wieder zu Boden. »Komm erst zu Kräften. Ruh dich aus.« Sie trug eine Kutte wie ein Mönch. Und nachdem sie einen Blick in Richtung der aufgehenden Sonnen geworfen hatte, stülpte sie die Kapuze über ihr Haupt, so daß auch das Gesicht beschattet wurde. »Wer – bist du?« »Zoe.« Landru streifte ihre Hand ab und setzte sich auf. Der Gedanke an Schonung war absurd. Unmittelbar neben ihm begann die Treppe, die noch für keinen Menschen sichtbar gewesen war. Das Tarnfeld aus Magie war verschwunden. Das entartete Siegel … »Was ist passiert?« murmelte Landru. »Weißt du, was passiert ist?« Zoe machte eine bejahende Geste. Ihre Häßlichkeit beeindruckte Landru nicht. Er dachte nur: So würde auch Jada aussehen, hätte sie nichts dagegen unternommen. Er brachte Verständnis auf, daß sie unter diesem Äußeren gelitten hatte. »Dann sag es mir!« »Wir sahen dich blitzeumzuckt in der Luft schweben. Dort, wo aller Weg seit damals endet. Aber irgendwann wurden die Entladungen schwächer. Es sah aus, als würde dein Körper der Umgebung die Kraft entziehen …« Landru hatte es genau umgekehrt in Erinnerung. Aber er sagte nichts und ließ Zoe weitersprechen. »Irgendwann bist du gefallen. Auf die Stufen. Zu uns herab …« »Zu euch – was heißt das? Wo sind die anderen? Ihr wart einmal elf …« »Zwölf«, verbesserte Zoe ihn. »Und zwölf sind wir wieder.«
»Du weißt, daß Jada noch lebt?« »So wie sie weiß, daß wir noch existieren – oder wieder.« »Aber der Kontakt war abgebrochen …« »Du hast das, was ihn verhinderte, beseitigt. Du bist der Gesandte unseres Vaters.« Landru kämpfte den Schwindel nieder, der ihn in die nächste Ohnmacht zu zerren drohte. »Auch das weißt du bereits?« Er schüttelte den Kopf, weil er sich erst daran gewöhnen mußte, daß Jada auch in diesem Punkt die Wahrheit gesprochen hatte: Die Hirne der Archonten schienen magisch vernetzt zu sein – und die artfremde Magie des Siegels hatte diese Verbindung für lange Zeit erstickt. Ohne Zoes Antwort abzuwarten, kam er auf deren Brüder und Schwestern zurück. »Wo sind die anderen? Noch – unten?« »Nein. Sie gingen, um ein Transportmittel zu besorgen. Etwas, mit dem wir alle zusammen erst zur Feste und dann …« Sie kniff kurz die Lippen zusammen. »… und dann mit Jada nach Jerusalem weiterreisen können.« Das Jetzt holte Landru endgültig wieder ein. »Jerusalem, ja«, murmelte er. »Wo ihr euren ›Vater‹ treffen sollt.« »Du bist sein Gesandter. Du bist ihm bereits begegnet. Wie sehr wir dich darum beneiden!« Landru erhob sich und widerstand der Versuchung, die freigelegte Treppe hinabzusteigen, um die Atmosphäre des Raumes auf sich wirken zu lassen, in dem der Geist seiner Mutter einst präsent gewesen war. »Beneiden?« Kopfschüttelnd musterte Landru die Gestalt in der Kutte. Er sagte nicht, was ihm eigentlich auf der Zunge lag, sondern: »Was geschah damals mit euch, nachdem ihr in den Tempel getreten seid? Habt ihr je erfahren, wer euch hier einsperrte?« »Ja.« Zoes Blick schien sich zu trüben. »Wer?« »Eine Macht – sie nannte sich Lilith.«
Also doch. Obwohl er damit gerechnet hatte, versetzte ihm die Bestätigung einen Stich. Vielleicht würde er das Trauma, das mit diesem Namen verbunden war, nie ganz verwinden. »Nannte sie euch den Grund eurer Gefangenschaft?« »Nein. Aber sie muß uns gefürchtet haben.« »Wie kommst du darauf?« »Sie war nicht so stark, wie es zunächst den Anschein hatte. Aber das verriet sie uns erst, als unser Kerker verschlossen war.« »Was meinst du damit?« »Es kostete sie immense Kraft, uns auch nur vorübergehend in ihren Bann zu schlagen. Kraft, die ihr noch lange danach fehlte, um sich angemessen anderen Zielen zu widmen.« »Ich verstehe nicht, worauf –« »Sie hat uns absichtlich von unserer Schwester getrennt«, sagte Zoe. »Sie wollte uns schwächen – und es gelang ihr auch. Natürlich. Nur zusammen können wir unsere wahre Stärke entfalten.« »Eure wahre Stärke. Was ist das? Wofür wurdet ihr erschaffen? Wie sollt ihr dem … eurem Vater helfen?« »Das weiß nur unser Vater.« »Ihr selbst habt keine Ahnung?« »Nein.« Motorengeräusch lenkte Landru ab. Gemeinsam mit Zoe ging er zum Rand des Hügels. Unter ihnen tauchte ein klappriger alter Bus in einer Staubwolke auf. Hinter den Scheiben der Fenster saßen Gestalten in ähnlichen Kutten, wie Zoe sie trug. Hie und da schimmerte bleiche Haut. Der Fahrer hielt am Fuß der Treppe. Auch er schien ein Archont zu sein. Landru verkniff sich die Frage, wo er fahren gelernt hatte. Wahrscheinlich hatte Jada sich diese Kenntnisse irgendwann angeeignet. Das genügte. Effektiver konnte ein Kollektiv nicht funktionieren … »Komm«, sagte Zoe und ergriff seine Hand. Ihre Haut war kalt,
aber nicht unangenehm. »Schlagen eure Herzen?« fragte Landru unzusammenhängend. »Natürlich.« »Aber ihr seid keine Menschen mehr.« Sie tat es mit einem Achselzucken ab. »Menschen«, sagte Landru, »hätten in der Einsamkeit eures Kerkers den Verstand verloren. Und Vampire auch.« »Vampire sind toter als wir«, sagte Zoe etwas, das ihn verletzte – mehr als eine Waffe es je vermocht hatte. »Was willst du damit sagen?« fauchte er. Ihre Augen schienen in Blut zu schwimmen. Dann drehte sie ihr Gesicht weg und stieg die Treppe hinab. »Nichts. Komm.« Landru ballte die Fäuste. Unten stand der Bus mit laufendem Motor im Licht des Morgens. Ich war viele Stunden ohne Bewußtsein, dachte Landru. Er warf einen letzten Blick zurück zu dem Loch im Boden, über das sich irgendwann Archäologen freuen würden. Dann folgte er Zoe. Und die Archonten ihm. Nach Jerusalem …
* … während Stunden zuvor, in England, die Nacht ein Heer von Gestalten wie in einen Kokon aus geronnener Finsternis eingesponnen hatte. Das milchene Licht des vollen Mondes vermochte die Versammelten nicht zu berühren. Es wob nur die Ebene in matten Glanz, schien aber vor der geisterhaften Prozession, die darüber zog, auf unmögliche Art zurückzuschrecken –
– und es tauchte die Steinkreise in ein Silberbad. Glory Anson wußte, daß Stonehenge das Ende ihres Weges war. Niemand hatte es ihr gesagt – so wie niemand ihr irgend etwas gesagt hatte, seit sie von McDermotts Farm aufgebrochen waren –, aber es konnte keinen Zweifel geben. Die Zielstrebigkeit, mit der Milton Banks und seine gemeingefährlichen Schergen die Menschenmenge über die Weite der Salisbury Plains führten, ließ keinen anderen Schluß zu. Eine Antwort aber auf die Frage, warum sie nach Stonehenge marschierten, wußte Glory nicht. Und niemand gab sie ihr. Noch vor dem Abmarsch war sie gefesselt worden, und auf dem Weg wichen Carl Palmoy und Anthony Portobello nicht von ihrer Seite. Doch solche Vorsicht wäre nicht einmal vonnöten gewesen. Glory sann nicht über Fluchtmöglichkeiten nach – nur darüber, wie sie Milton Banks zur Rechenschaft ziehen konnte für das, was er Devan Daridov angetan hatte. Nur Banks’ Tod konnte der angemessene Preis für den Mord sein, das stand für Glory fest. Wie sie ihn aber herbeiführen sollte, davon hatte sie noch immer nicht die geringste Vorstellung. Einzig ihr Wunsch, es zu tun, ließ nicht nach. Das Feuer aus Zorn und Haß in ihr würde allein Milton Banks’ Blut löschen können. Er hatte ihr den Menschen genommen, der zur Liebe ihres Lebens hätte werden können; und er hatte es getan, bevor die Zeit Glory die Augen hatte öffnen können. So hatte Devans Tod sie sehend gemacht für die Wahrheit, für das, was er ihr insgeheim bedeutete – und der Schmerz über den Verlust von Daridov war von fast irrationaler Gewalt gewesen. Und er war es noch … Nie hätte Glory Anson geglaubt, daß etwas oder jemand blanke Mordlust in ihr wecken könnte. Zwar mochte sie in vielerlei Hinsicht nicht mit sogenannten normalen Maßstäben zu messen sein;
schließlich verlangte »die Firma« von ihren Agenten einiges, das über die Qualifikation von Otto Normalverbraucher hinausging. Gewisse Hemmschwellen, emotionale und moralische Grenzen aber gab es sehr wohl in Glory Anson – oder vielmehr: es hatte sie gegeben. Milton Banks hatte sie niedergerissen. Buchstäblich binnen zweier Augenblicke … Wie mußte da erst Devan Daridov gelitten haben in all der Zeit, seit Milton Banks ihn seelisch solcherart verwundet hatte? fragte sich Glory, und zugleich bewunderte sie ihren Partner dafür, daß er sich seinen Schmerz über all die Jahre nicht hatte anmerken lassen. Sicher, im nachhinein ließen sich manche Äußerung seinerseits und Aspekte seines Verhaltens dahingehend interpretieren, daß sich sein tiefer Schmerz darin Bahn gebrochen hatte. Aber insgesamt hatte Devan ihn doch still erduldet. Schon deswegen wuchs er noch im Tode in Glorys Achtung und Wertschätzung. Und um so lauter schrie dieser Tod nach Rache! Als die Bewegung des gewaltigen Trupps, in dem Glory Anson mitmarschierte, ins Stocken kam und schließlich ganz verebbte, wurde sie von dieser scheinbaren Plötzlichkeit überrascht, so tief war sie in finsteren Gedanken versunken gewesen. Sie hatten Stonehenge erreicht. Die Weißgekleideten scharten sich in weitem Halbkreis um den äußeren Kreis des Monuments, von dem der Zahn der Zeit und Menschengenerationen nicht sehr viel übrig gelassen hatten. Die einstige Größe von Stonehenge bestand nur noch in dem, was Forscher ermittelt und auf Zeichnungen sowie Computersimulationen rekonstruiert und festgehalten hatten. Die verbliebene Ansammlung der Mono- und Trilithen war jedoch kaum mehr beeindruckend für den, der nur sein Auge sehen ließ. Palmoy und Portobello drängten Glory in die vorderste Reihe der Versammelten.
Eine eigenartige Spannung lag über der Szenerie, als sei die Luft von lautlos knisternder Elektrizität erfüllt. Dann aber, mit jeder Sekunde, die verstrich, meinte Glory, dieses eben noch imaginäre Knistern würde tatsächlich hörbar und stetig lauter, bis es wie das Summen in der Nähe eines Umspannwerkes klang. Sie spürte ein feines Kribbeln auf ihrer Haut, als liefen Ameisen darüber, und ihre Haare – wollten sich wie in statischer Ladung aufrichten …? »Was geschieht hier?« flüsterte sie. Sie erhielt keine Antwort. Milton Banks trat vor, blieb zwischen den Steinen des äußeren der beiden konzentrischen Kreise stehen. In theatralischer Geste reckte er die Arme, und mit flehender Stimme rief er: »Herr, wir sind gekommen! Zeig dich uns, wir bitten dich!« Glory Anson ruckte fast instinktiv an ihren Fesseln. Wäre sie jetzt freigekommen, hätte es ihr keine Mühe bereitet, Milton Banks zu töten. Nur Schnelligkeit wäre vonnöten gewesen: zu ihm hinlaufen und ihm den Hals brechen – drei Sekunden hätten ihr genügt. Aber Glory bekam sie nicht. »EUER WUNSCH IST MIR BEFEHL!« Die Stimme drang aus den Schatten zwischen den Steinen. Meckerndes Lachen hing den Worten an. Und dann begann der Schatten eines der Trilithen – zu leben?
* Die Finsternis, eben noch substanzlos flach am Boden, begann zu wabern, zu wogen und schließlich zu brodeln wie ein schwarzer Sud. Das Dunkle stieg auf wie schwarzer Nebel, wurde dichter, wie Rauch, dessen Schlieren tanzten wie zu unhörbarer Musik eines wahnsinnig gewordenen Orchesters. Sie schlangen sich so ineinander, daß es ihrer Formlosigkeit zum Trotz abgrundtief obszön wirkte. Dann gewannen die Schlieren Substanz – Schatten, Nebel und
Rauch festigten sich. Letzte Reste, die sich wie von einem Wind aus dem Nichts davontreiben lassen wollten, wurden von unsichtbarer Kraft und mit lautem schlürfenden Geräusch zu jenem immer noch formlosen Gebilde im Zentrum des Geschehens hingesogen – und urplötzlich war das schwarze Ding von erkennbarer Gestalt. Es vollzog sich binnen der Zeitspanne, die ein Mensch brauchte, um einmal zu blinzeln. Im allerersten Augenblick wirkte die Gestalt noch wie von kunstfertiger Hand aus schwarzem Marmor gehauen, im nächsten schon – lebte sie! War sie aus Fleisch und Blut – und doch auch spürbar noch aus etwas ganz und gar anderem … Selbst Milton Banks konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Doch er schrieb es seiner Ergriffenheit zu. Das Ereignis überwältigte ihn, und noch immer hegte er die Hoffnung, mehr für sich herausholen zu können als nur das, was ihm versprochen worden war. »Herr, ich grüße Euch.« Banks senkte das Haupt in Demut. »Laß den Quatsch«, raunzte der dunkelhaarige Jüngling unwirsch, als er nun vollends aus den Schatten trat, ganz so, als schäle er sich daraus wie aus einem Kokon. »Nun gut, wie Ihr wollt«, gab Banks zurück. Fast klang er ein kleines bißchen eingeschnappt. »Gute Arbeit«, lobte Gabriel, während er seinen Blick über die Reihen der Angetretenen schweifen ließ. »Du hast sie alle zu mir gebracht –« Ruckartig wandte sich der Inkarnierte Milton Banks zu, und seine Augen verströmten Gletscherkälte. »– fast alle!« zischte er. »Eine fehlt!« Banks hob beschwichtigend die Hände. »Laßt mich erklären, Herr«, bat er. »Ich habe Ersatz gefunden. Sie wird –« »Sie nützt mir nichts«, entgegnete Gabriel gereizt. »Nicht ohne einen Pakt!«
»Ich verstehe nicht, was Ihr –« »Natürlich verstehst du nicht, Kretin!« fauchte der Junge, dessen wahres Alter hinter dieser Maske fast mit dem der Schöpfung gleichzusetzen war. »Wie könntest du auch?« Sein Ton mäßigte sich. »Und warum solltest du?« »Ist es nicht am wichtigsten, daß sie hier ist … Herr?« fragte Milton Banks weiter. Seine Selbstsicherheit, seine Jovialität – alles fiel von ihm ab wie alter Putz von einer Fassade. Und darunter kam zum Vorschein, was er wirklich war: nur ein Mensch, dem ganz allmählich zu Bewußtsein kam, worauf er sich eingelassen hatte – und vor allem, mit wem! »In gewisser Hinsicht«, nickte Gabriel, »sicher.« Sein ausgestreckter Finger beschrieb den Halbkreis nach, in dem die anderen Aufstellung genommen hatten. »Aber mit jedem von ihnen verbindet mich ein Kontrakt – jedem von ihnen habe ich einen Gefallen erwiesen, und sie werden ihn mir vergelten.« Sein Finger blieb in der Luft hängen, und dachte man sich die Richtung seines Deutens als Linie fort, so endete diese Linie exakt zwischen Glory Ansons Augen! »Nur mit ihr habe ich keinen solchen Handel abgeschlossen«, sagte Gabriel. »Aber –« Milton Banks hob verzweifelt die Schultern. Gabriel überging es und wandte sich statt dessen direkt an Glory Anson. »Du!« rief er. »Komm zu mir.« Glory konnte nicht anders, als zu gehorchen. Mit mechanischen Schritten trat sie näher. Das Flackern ihres Blickes jedoch hatte nichts mit Verunsicherung oder Furcht zu tun. Es wurde nach wie vor von dem genährt, was in ihr wütete. Und die Nähe zu Milton Banks fachte es noch an. Gabriel lächelte, und diese kaum nennenswerte Regung ließ ihn in Glorys Augen sympathisch erscheinen. Vielleicht aber lag es schlicht daran, daß in Milton Banks’ Gegenwart jedermann sympathisch
wirken mußte – selbst der Leibhaftige würde sich im Vergleich wie ein Lämmchen ausnehmen … »Oh, wie nett«, bemerkte Gabriel, ohne daß Glory wußte, was er damit meinte. Dann fuhr er fort, und sein Ton war warm, seine Stimme angenehm, verführerisch fast: »Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, daß ich deinen sehnlichsten Wunsch kenne?« Glorys Blick spießte Milton Banks förmlich auf. »Selbst ein Blinder müßte diesen Wunsch erraten können«, gab Glory zurück. »Wie witzig«, meinte Gabriel. »Wirklich originell … Nun aber im Ernst, meine Liebe: Würdest du mir auch glauben, wenn ich dir verspräche, dir diesen Wunsch zu erfüllen?« Glory lachte hart auf. »Natürlich, sicher, mein Bester.« »Schön«, Gabriel klatschte erfreut in die Hände. »Was wärest du bereit, mir im Gegenzug dafür zu geben?« »Such dir was aus.« »Was ich will?« »Was du willst.« »Deinen Haß. Deinen Zorn.« »Meine Seele?« Glory grinste freudlos. Was sollte dieses Spiel? Und warum spielte sie es mit? »Nehme ich noch dazu«, nickte Gabriel. »Meinetwegen.« »Na gut, dann – töte ihn!« Glory schrak auf, als die Fesseln von ihren auf den Rücken gebundenen Händen fielen, als habe jemand sie blitzschnell aufgeknotet. Sie wirbelte herum, aber da war niemand. Entgeistert schaute sie auf ihre Handgelenke hinab, dann zu Gabriel hin. »Was –?« setzte sie an, aber er unterbrach sie. »Frag nicht«, sagte er, »tu es!« Er wies auf Milton Banks.
Der wich zurück, einen Schritt, dann noch einen. »Herr, was soll das?« fragte er beunruhigt. Sein Blick flimmerte und wieselte zwischen Gabriel und Glory hin und her. »Ihr habt mir versprochen, daß ich –« Gabriel nickte. »Daß du wieder ganz der Alte und frei sein würdest.« Er zuckte die Schultern. »Und? Habe ich mein Wort etwa nicht gehalten?« »Doch, schon, aber –« »Na also. Die Dauer dieser Freiheit war nicht Teil unseres Paktes.« Der Leibhaftige lächelte maliziös. »Verdammt! Das ist Betrug!« »Nein, sicher nicht«, erwiderte Gabriel. »Denn des Betrugs bin ich gar nicht fähig.« Milton Banks griff in seine Tasche. Als seine Faust wieder zum Vorschein kam, ragte die schmale Klinge eines Skalpells daraus hervor. »Das wäre Betrug an meiner neuen Partnerin«, sagte Gabriel und warf im wörtlichen Sinne einen Blick auf die Waffe in Banks’ Hand. Die Klinge verfärbte sich schwarz, verformte sich, schmolz. Wie Schlacke floß sie über Banks’ Finger – glühendheiß! Er wollte das Skalpell loslassen, aber es hatte sich schon in seine Haut gebrannt, unlösbar. Ein Schuß krachte! Carl Palmoy hatte abgedrückt, um Banks’ beizustehen. Gabriel streckte in fast beiläufiger Geste die Hand aus und fing die Kugel ab, die Glory gegolten hatte. Zugleich explodierte die Flinte in Palmoys Fäusten. Aufschreiend ging er zu Boden, wo er sich stöhnend im Staub wand, die blutenden Hände zwischen die Schenkel geklemmt. Glory Anson sah nicht hin. Ihre Aufmerksamkeit galt allein Milton Banks, der wimmernd vor Schmerz zurückwich. Keine Sekunde wollte sie sich entgehen lassen, noch das geringste Quentchen seiner
Angst auskosten. Eine rasche Bewegung brachte seinen Kopf in ihren Griff. Das Geräusch der brechenden Wirbel versetzte Glory Anson einen Stich in die Brust. Sie genoß das Gefühl mit geschlossenen Augen, hielt den Toten noch sekundenlang im Griff. Doch auch nachdem sie ihn losgelassen und in den Staub gestoßen hatte … … brannte das Feuer in ihr mit kaum verminderter Stärke weiter. Im Gegenteil, jetzt, da sie das Mittel, es zu löschen, ohne den erhofften Erfolg genutzt hatte, erlangte der Schmerz in ihr eine ganz neue, noch grausamere Qualität. Denn Glory wußte, daß es jetzt nichts mehr gab, mit dem sie ihn bekämpfen konnte. Sie würde mit ihm leben müssen bis ans Ende, und fast sehnte sie dieses Ende herbei. Eine Hand berührte sie an der Schulter. Wie in Trance hob sie den Kopf. Der Jüngling lächelte ihr zu. Nicht mehr so gewinnend wie zuvor. Es war, als habe er eine Maske fallen lassen und eine andere aufgesetzt. »Geh zu ihnen«, verlangte er und wies auf die Menge. Glory gehorchte, weil sie nicht einmal mehr die Kraft für den bloßen Gedanken an Widerstand aufzubringen imstande war. Dann trat Gabriel vor jene, die er zu sich gezwungen hatte, indem er ihnen Freiheit versprochen hatte – und eine sorglose Zukunft. Jedem einzelnen von ihnen. Dreihundertneunundvierzig an der Zahl. Und als Glory Anson sich eingereiht hatte, nickte Gabriel befriedigt. »Dreihundertfünfzig«, flüsterte er beinahe andächtig. »So war es – und so mußte es wieder sein. Jetzt kann es beginnen!«
* Dreihundertfünfzig Menschen bildeten einen weiten Kreis um den Kromlech, den äußeren Ring von Stonehenge. Reglos standen sie da, bereit, wenn auch nicht alle willens, ihren Preis für die versprochene
Freiheit zu zahlen. Von Gabriels Warte aus – nackt stand er inmitten des inneren Steinkreises – wirkte die geschlossene Reihe da draußen wie eine Mauer, mannshoch und wie aus schwarzem Stein. Er hob den Blick zum Himmel, und es schien, als wende sich der Mond ihm zu. Dessen silbernes Licht bündelte sich auf unbeschreibliche Weise, fokusierte sich auf Gabriels Gesicht. Er öffnete den Mund, breitete die Arme aus, hieß willkommen, was diese Nacht ihm schenkte, nahm alles Licht in sich auf. Es drang ihm zwischen die Lippen, in Nase und Augen, versickerte in den Poren seiner Haut und wurde darunter zu etwas wie kalter Weißglut, so strahlend hell, daß sie eine wahre Lichtgestalt aus dem Jüngling machte. Dann – explodierte er! So schien es jedenfalls. Was er in sich aufgesogen hatte, brach mit unvorstellbarer Gewalt wieder aus ihm hervor! Die gleißende Lichtfülle blähte sich um ihn her, verästelte sich in feine und feinste Blitze – und jeder einzelne von ihnen fand sein Ziel! Raste hinaus aus den steinernen Kreisen und hin zu jenem dritten Ring, den die Flüchtlinge aus Highgate Hall gebildet hatten. Die Blitze schlugen ihnen zwischen die Augen, ohne daß die Menschen unter der Wucht auch nur gezuckt hätten. Reglos ließen sie geschehen, was geschah – noch reglos. Das Wimmern und Stöhnen hob erst an, als die Blitze, ohne zu verlöschen, ihre wahre Wirkung taten. Und es wurde mit jeder Sekunde lauter, bis es sich zu einem grauenhaft mißtönenden Chor aus Schreien steigerte, den dreihundertfünfzig Kehlen anstimmten. Gabriel beobachtete fasziniert und glühenden Blickes, wie sein Plan sich erfüllte. Die Schädel der Menschen dort wurden – durchscheinend. Als würden Haut, Fleisch und Knochen zu Glas. Und die Hirne glühten in
grellstem Licht! Brannten aus, ohne sichtbaren Schaden zu nehmen. Die Blitze wüteten darin, tasten wie substanzlose Tentakel in jede Windung, sogen jede Zelle leer und raubten alles, was sie an bösem Willen und dunkler Energie in diesen Menschen, die ihrer greulichen Verbrechen wegen in die Verbannung von Highgate Hall geschickt worden waren, fanden. Gabriel wußte, spürte, wann dieser Prozeß abgeschlossen war – jetzt! Er riß befehlend die Arme in die Höhe, und als habe er damit eine ungeheure Sogkraft entfesselt, rasten die Blitze wieder in seine Richtung, auf das Zentrum von Stonehenge zu. Zurück blieben dreihundertfünfzig Menschen, die nie mehr wissen würden, daß sie Menschen waren. Nurmehr Hüllen aus Fleisch und Blut waren sie, bar allen Geistes, wahrlich befreit von allem … Die Blitze sammelten sich, bündelten sich und schlugen in die Mono- und Trilithen von Stonehenge ein, ganz so, wie Gabriel es ihnen mit fliegenden Händen, einem irrsinnigen Dirigenten gleich, befahl. Es krachte wie im schlimmsten Unwetter, doch kein Stein nahm Schaden. Sie sogen sich gleichsam voll mit Geist und Licht, bis sie wie in weißer Glut dastanden, so strahlend hell, daß jeder einzelne von ihnen sein Abbild in die Nacht zu projizieren schien. Aber so war es nicht … Tatsächlich überstrahlte ihr Licht Grenzen, die kein Mensch kannte und nie zu überschreiten vermocht hätte. Der Weg von jenseits dieser Barrieren ins Diesseits wurde gleichsam freigebrannt – und herüber kam, was vor Urzeit dort deponiert worden war … … Stonehenge! Jenes Stonehenge, das einmal gewesen war und das die Zeit gefressen hatte. Jetzt nahm es seinen angestammten Platz ein. Legte sich wie in einer Doppelbelichtung über die Ruine der Gegenwart – und wurde wirklich.
Gabriel ließ die Arme sinken, erschöpft, aber lächelnd. »Geschafft«, rann es ihm von den Lippen, »fast geschafft …« Der Inkarnierte streckte die Hand zum Mond hin aus, als wolle er nach einem Gesicht greifen, um es sich zuzudrehen. Und tatsächlich sank das volle, bleiche Rund am dunklen Himmel, zog schneller seine Bahn, als es normal gewesen wäre, bis es aussah, als sitze es auf dem Querstein des mächtigsten Trilithen. Unverändert hielt Gabriel die Hand ausgestreckt, während er mit der anderen eine kreisförmige Bewegung vollführte, die auf unfaßbare Weise jeden Stein der Kreise berührte – und ihm etwas nahm. Blutrot strömte es durch Gabriels Finger, entlang seines Armes, durch seine Brust, um in den ausgestreckten anderen Arm geleitet zu werden und wiederum in dessen Finger, die nach dem Mond gereckt waren. Magie nutzte Licht, um Distanz zu überbrücken. Für die Dauer weniger Augenblicke existierte etwas wie eine Brücke zwischen Stonehenge und dem Mond. Und als sie zerbrach – – verhüllte der Mond sein bleiches Antlitz in blutiger Röte. Sein Licht erhellte die Welt nicht länger, verdunkelte sie, durchwob die Nacht mit blutfarbenen Schatten, die wie lebend überall nisteten und krochen – und ihre Adressaten fanden, überall auf der Welt. Gabriel ließ den Arm sinken. Tief befriedigt lauschte er in die Nacht, das Wimmern seiner Opfer dort draußen ignorierend. Selbst ihm mußte es unmöglich sein, und doch glaubte er, es zu hören – – ein fernes Heulen, in das andere einfielen, bis ein Chor entstanden war, der die Welt erzittern ließ. Wolfsheulen … ENDE
Böses Erwachen Leserstory von Britta Trachternach Es war dunkel, als ich erwachte, und ich konnte mich an nichts erinnern. Das Einzige, was mir sofort auffiel, war, daß ich einen unheimlichen Hunger verspürte. Dazu kam eine seltsame Dunkelheit, die irgendwie … hell zu sein schien. Und als mein Blick zur Seite auf die andere Betthälfte fiel, schrak ich zusammen. Anstelle meines Mannes lag dort ein wildfremder Kerl! Als ich meinen Schock überwunden hatte, sah ich ihn mir noch einmal genauer an. Irgendwo in meinem Unterbewußtsein versuchte eine Erinnerung an die Oberfläche durchzubrechen – vergebens. Plötzlich drehte sich der Fremde um und sah mir in die Augen. Ein kalter Schauer rann über meinen Rücken. Dann verzog er seine Lippen und grinste mich an. Meine Nackenhärchen stellten sich auf, und aus meinem Mund drang ein gequältes Stöhnen. Seine Eckzähne waren unübersehbar: sehr lang und sehr spitz. Natürlich wußte ich sofort, was da neben mir im Bett lag. Mit einem Schlag war auch die Erinnerung wieder da; als hätte jemand eisiges Wasser über mein Gehirn ausgeschüttet. Ich war im Park spazieren gegangen, als plötzlich ein attraktiver Mann mich ansprach. In dem Moment, als sein Blick den meinigen traf, passierte es dann: Ich konnte mich seiner starken Ausstrahlung nicht widersetzen und lud ihn zu mir nach Hause ein. Mein Mann war ausgerechnet dieses Wochenende mit seinem Bruder seine Eltern besuchen gefahren, und ich hatte nicht mitkommen wollen. Bei der einfachen Einladung blieb es aufgrund seines hypnotischen Einflusses natürlich nicht. Ich erschrak über mich selbst, als die Erinnerung daran zurückkehrte, wie ich über den Vampir herge-
fallen war und welche Lust er in mir entfacht hatte. Obwohl das »Liebesspiel« sehr rauh war, genoß ich es in vollen Zügen. Und als ich in völliger Ekstase zum Höhepunkt kam, spürte ich seine Lippen an meinem Hals. Dann kam der Biß. Der Schmerz war kurz, dann merkte ich ein gieriges Saugen, das ich aber als angenehm empfand. Nach kurzer Zeit spürte ich bleierne Müdigkeit. Dennoch dauerte es noch Minuten, bis mir klar wurde, was wirklich mit mir geschah. Zur Gegenwehr blieb natürlich keine Chance mehr. Mein letzter Gedanke galt meinem Mann. Ich würde ihn nie mehr wiedersehen. Das schlechte Gewissen, ihn kurz vor meinem Tod noch betrogen zu haben, blieb mir erspart. Den Tod selbst bekam ich gar nicht mehr mit. Auch nicht, daß etwas völlig anderes in mir erwachte: ein neues Geschöpf der Nacht, dem das Geschenk ewigen Lebens zuteil wurde … Der Schock verging. Ich sah mein Gegenüber immer noch an und begann ebenfalls zu lächeln. Nun merkte ich auch meine körperliche Veränderung. Meine Eckzähne waren ebenfalls lang und sehr spitz geworden. Und jetzt war mir auch endlich klar, worauf ich Hunger hatte. Zusammen verließen wir das Haus und begaben uns auf die Jagd. Anfangs sträubte ich mich noch dagegen, doch als ich dann im wahrsten Sinne des Wortes Blut geleckt hatte, konnte ich mich kaum bezähmen. Am Morgen trennten wir uns mit dem Versprechen, in der nächsten Nacht wieder auf gemeinsame Jagd zu gehen. Da mir vorerst kein besserer Unterschlupf einfiel, versteckte ich mich im Keller vor der Sonne. Die darauffolgende Nacht war wieder ein wahrer Blutrausch, und ich genoß die Jagd mit meinem neuen Lebensgefährten. Als ich das nächste Mal erwache, bin ich noch sehr erschöpft und öffne mühsam meine Augen. Das Zimmer ist in Dämmerlicht getaucht. Mein Mann sitzt neben mir am Bett. »Hallo Schatz«, sagt er. »Dem Himmel sei Dank. Ich habe mir
schon Sorgen um dich gemacht.« »Wieso? Was ist geschehen?« frage ich matt. »Als ich nach Hause kam und nach dir rief, bekam ich keine Antwort. Ich habe dich im Keller gefunden und nach oben getragen. Du hast bestimmt eine deiner Kreislaufschwächen gehabt und bist bewußtlos geworden. Du bist noch ganz blaß.« »Danke, daß du dich so um mich sorgst«, sage ich. »Mir geht es wirklich nicht gut. Außerdem hatte ich einen fürchterlichen Alptraum.« »Jetzt ist ja alles vorbei. Ruh dich aus. Ich lasse ein bißchen Frischluft ins Zimmer.« Mein Mann geht zum Fenster und zieht die Vorhänge zurück. Draußen herrscht ein herrliches Wetter. Die Sonne scheint, und ihre Strahlen treffen wärmend mein Gesicht. Plötzlich durchzucken mich unheimliche Schmerzen, und ich schreie gequält auf. Ich sehe auf meine Hände, und Entsetzen überkommt mich. Auch mein Mann stiert mich ungläubig an, unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Zu groß muß der Schock für ihn sein. Größer jedenfalls als für mich, denn mit dem Rest klaren Verstands, der mir bleibt, erkenne ich, daß es kein Traum war, sondern bittere Wirklichkeit. Mein Fleisch wirft Blasen! Eiter und Blut quellen hervor, und kleine Rauchfahnen steigen auf. Dann fängt mein Körper an, langsam zu zerfallen. Mit dem letzten bißchen Willenskraft, das mir noch bleibt, sehe ich meinen Mann verzweifelt an. Irrsinn flackert in seinen Augen. »Ich liebe dich! Vergib mir, bitte«, schaffe ich – oder besser gesagt, das, was von mir übrig ist – noch zu sagen, bevor ich vollends zu Staub zerfalle. © Britta Trachternach, Alte Grenzstr. 158, 45663 Recklinghausen ENDE
Wolfslegende von Adrian Doyle Satan ruft seine Heere zusammen. Auch die Werwölfe sollen in der finalen Schlacht gegen das Gute eine entscheidende Rolle spielen. Satans Ruf weckt ein schlafendes Erbe in ihnen. Selbst Chiyoda, der längst glaubte, den Wolfsfluch in sich besiegt zu haben, entkommt seiner Bestimmung nicht. Er verwandelt sich in eine reißende Bestie. Und auch in Nona bricht das Tier durch, das zu jeder Vollmondnacht Besitz von ihr ergreift. Mordend irrt sie durch Jerusalem – und begegnet dem, der alles von ihr weiß. Alles über sie und über ihre Art. Der Moment scheint gekommen, da Nona Sinn und Zweck ihrer Verdammnis erfahren soll, die Wahrheit über die Herkunft der Werwölfe …