Gordon Eklund
Dämmerfluß
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Science Fiction-Abenteuer
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Gordon Eklund
Dämmerfluß
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Science Fiction-Abenteuer
Band 23 017
© Copyright 1979 by Gordon Eklund
All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1983
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Originaltitel: THE TWILIGHT RIVER
Titelillustration: Duncan Macaulay/Agentur Thomas Schlück
Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg
Druck und Verarbeitung:
Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
Printed in Western Germany
ISBN 3-404-23017-5
Die Menschheit scheint am Ende. Lange nach der großen Katastrophe fristen nur noch wenige ihr erbärmliches Dasein als Sklaven der außerirdischen Herrscher der Erde, den Rangels – Werwölfe, Vampire, Magier und andere Wesen aus dem Reich der Fabel breiten sich immer mehr aus und machen den Menschen ihren Platz streitig. In dieser düsteren Szenerie fliehen der Schreckliche Sam, Spielmann von Beruf und aus Leidenschaft, und Trina, die Tochter eines Hexers, vor dem schrecklichen Zorn der Rangels den Dämmerfluß hinunter. Sie suchen die legendäre »Heimstatt der freien Menschen«, die letzte Hoffnung menschlicher Ehre und Würde in einer verfallenen und zerstörten Welt…
I
DES HEXERS TOCHTER
Der Schreckliche Sam, der Spielmann, kauerte hinter einem blutroten Busch. Er spähte durch die im Zwielicht heraufsteigenden Nebelschwaden die den langen Fluß verhüllten und grinste beim Anblick dessen, was er dort sah. »Nun sieh dir das an«, flüsterte er. Cazie, eine sechs Fuß lange Kobra mit auffallend hellem Muster lag zusammengerollt um seinen stämmigen Nacken. »Hast du jemals etwas Hübscheres gesehen?« Er meinte das Mädchen. Nackt stand es im Fluß, bis zu den Knien im Wasser. Es beugte sich ein wenig vor und spritzte mit gewölbten Handflächen Wasser auf ihren schlanken, liebreizenden Körper. Sam atmete schwer. Musiker, der er war, zog Schönheit ihn in ihren Bann, wo immer er auf sie traf. Seine Bewegung ließ Cazie unruhig werden. Sam streichelte ihren Bauch, unmittelbar unter dem Kiefer, dort, wo ein dunkler Fleck auf der Haut von schwungvollen Linien und kühnen Wirbeln durchzogen war. »Ruhig, Mädchen. Verscheuch sie nicht.« Mit Anbruch der Nacht hatte Sam seine Erdhöhle in den Bergen verlassen, um das Gelände zu erkunden. Er war auf der Suche nach Nahrung, deren Diebstahl lohnenswert schien. Auf den Anblick des Mädchens war er völlig unvorbereitet gewesen. Er vermutete, daß es das Mädchen war, über das er flußabwärts lüsterne Geschichten gehört hatte, Trina, die einzige Tochter von Kaspar, dem Hexer dieser Gegend, einem unangenehmen und selbstsüchtigen alten Mann, der, wie Sam gehört hatte, genau dem Typ entsprach, den die Rangels gerne
zum Hexer bestellten, Sam wußte, daß vor langer Zeit die Hexer tatsächlich einmal eine sinnvolle Aufgabe erfüllt hatten. Als Priesterschaft der alten Religion waren sie dazu bestimmt gewesen, die Gemeinden vor bösen übernatürlichen Wesen zu schützen, von denen man annahm, daß sie spät in der Nacht den Fluß unsicher machten. Aber die Zeit verging, Teufelsspuk wurde seltener, und die Religion verlor an Macht, was aus den meisten Hexern nur den Rangels ergebene Kröten machte, deren Beschäftigung mit der spirituellen Sphäre sich darauf beschränkte, leere Zaubersprüche von sich zu geben und abgestanden schmeckende Zaubertränke zu mixen. Zusätzlich hatten sich die meisten von ihnen, wie auch Kaspar, zum Hüter und Kontrolleur von Sitte und Anstand ernannt. Die Hexer hätten eigentlich die schlimmsten Feinde von Vagabunden wie Sam sein müssen. Daß sie es nicht waren, hatten die Vagabunden allein der glücklichen Tatsache zu verdanken, daß fast alle Hexer so ungeheuer dumm waren. Was Kaspar betraf, so erzählte man sich, daß er seine junge Tochter Trina, eine überwältigende Schönheit mit korngelbem Haar, himmelblauen Augen und sonnenbraunen Sommersprossen, in einem Hinterraum der Kapelle unter Verschluß hielt. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme hatte es bestimmte Geschichten gegeben, so wie Sam es verstanden hatte; das Mädchen hatte schon gewisse Erfahrungen gesammelt, nahm er an. Sam studierte die Badende mit besonderer Aufmerksamkeit: blondes Haar, Haut blaß und eben wie Elfenbein. Um die Augen oder die Sommersprossen zu erkennen, war es zu dunkel. Einige hundert Schritte weiter, in Richtung der Berge, zeichnete sich undeutlich der Umriß einer Kapelle ab. Sam nickte: ganz sicher handelte es sich hier um Kaspars Tochter. Falls der alte Hexer wüßte, worauf mein Vagabunden-Blick gefallen ist, dachte Sam, würde er sicherlich vor Wut platzen.
Trina kniete sich nieder und gab den Blick auf ihren Rücken frei, so knöchern wie der eines Jungen. Das arme Ding, dachte Sam voller Mitleid. Direkt nach Cazie und seiner Harfe liebte Sam das Essen am meisten von allen Dingen auf der Welt. Mit ansehen zu müssen, daß jemand anders dieses Vergnügen entbehren mußte, verletzte ihn mehr als ein Messerstich. Trina brauchte jemanden, der für sie sorgte. Hätte er nur die Gelegenheit gehabt, Sam hätte sie begeistert mit Tomaten, Äpfeln, Karotten, feinem Salat, Pfirsichen und Runkelrüben gefüttert. Er würde Wild für sie jagen und das Fleisch über einem lodernden Feuer rösten. In seine Träumerei versunken, beobachtete Sam nicht mehr so aufmerksam den Fluß. Als er mit seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte, stellte er fest, daß Trina nicht mehr allein war. Lautlos und leichtfüßig war ein Rangel ans Ufer getreten. Auch Trina hatte die Anwesenheit des Fremden noch nicht bemerkt. Der Rangel war ein gewöhnlicher Vertreter seiner Rasse. Er hatte eine Glatze, erhob sich dreieinhalb Meter über den Boden, war dünn wie ein Stock, hatte große rote Augen, Fühler anstelle von Ohren und runzelige gelbbraune Haut. Sams Angst wuchs, als er am Koppel des Rangels ein Glasauge erkannte. Sam wußte über diese Augen Bescheid; sie funktionierten genauso wie richtige. Alles, was sich vor diesem Auge abspielte, erschien als Bild unmittelbar im Wachturm der Rangels, hoch oben über dem Fluß. Und was das Auge in diesem Moment sah, war die Tochter des Hexers. Der Rangel stand hinter Trina und erhob dröhnend seine Stimme. »Verschwinde, geh nach Hause!« Der Rangel zeigte unbestimmt in Richtung der Kapelle. »Möglicherweise wird es gefährlich.« Sam hätte drauf wetten können, daß der Rangel ihn damit meinte. Ein Vagabund in der Gegend blieb nicht lange unentdeckt.
Trina reagierte sofort. Sie duckte sich ins Wasser und versuchte, ihren Körper möglichst vollständig zu verbergen. Sam war verdutzt. Was gab es da für Probleme? Schließlich war sie doch keine Jungfrau mehr oder, wie Sam, von den Rangels ausgestoßen. Tausende von Meilen den Langen Fluß hinauf und hinab verbannt. Sie verhielt sich so, als ob sie in Gefahr sei. Ganz offensichtlich schätzte Trina die Situation falsch ein. Sie preßte sich die Hände vor den Mund und stieß einen Schrei aus. Sam hielt sich die Ohren zu, und die arme Cazie ließ sich zur Erde nieder und verschwand im Unterholz. Sie hatte die Hoffnung auf Schlaf aufgegeben. Trina versuchte zu laufen. Wie von Sinnen stürzte sie nach vorn in den Fluß, dorthin, wo man ohnehin schlecht laufen konnte. Pflichteifrig jagte der Rangel hinter ihr her. Er packte ihren Arm, drehte sie sanft zu sich um und zog sie an seine Brust. Immer noch schreiend, trommelte Trina mit geballten Fäusten auf den Rangel ein. Dieser, höchst erstaunt über die heftige Attacke, trat zurück, verfing sich dabei mit dem Fuß in einem vorstehenden Ast und verlor das Gleichgewicht. Instinktiv warf er die Arme nach hinten. Trina kam frei, fiel, setzte sich mit dem Hinterteil in den Schlamm und stieß ein fürchterliches Geheul aus. Sam sprang auf die Füße. Jetzt hatte Trina mit den Händen den Hals des gefallenen Rangels umklammert und schien zuzudrücken. Was, um alles in der Welt, hatte sie vor? Niemals zuvor in seinem Leben war Sam Zeuge eines solchen Wahnsinns geworden. Trina löste eine Hand vom Hals des Rangels und tastete sich langsam an seinem Körper hinunter. Sam brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, was sie vorhatte. Der Rangel trug an seinem Koppel, neben dem Glasauge, eine Pistole. Völlig
verblüfft sah Sam zu, wie Irina die Waffe aus dem Halfter riß und den Lauf gegen die Brust des Rangels richtete. Ohne zu überlegen, aus einem Impuls heraus, handelte Sam. Er warf sich nach vorn und winkte mit den Armen. »Nicht. Nicht schießen. Er will nicht…!« Die Strahlenpistole summte. Wie versteinert blieb Sam stehen. Der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus. Trina rollte sich von dem toten Rangel herunter. Sie zielte mit der Pistole in Sams Richtung. »Was, zum Teufel, machst du hier?« »Ich… ich…« Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Wortlos zeigte er auf den toten Rangel. »Du hast ihn umgebracht.« »Sicher.« Sie hielt die Waffe im Anschlag. »Willst du der nächste sein?« Sam traute seinen Ohren nicht. Handelte es sich hier tatsächlich um dasselbe Mädchen, von dem er noch vor einigen Minuten angenommen hatte, es sei die menschgewordene, personifizierte himmlische Schönheit? »Nimm die dumme Waffe runter.« Sie konnte sich nicht von seinem durchdringenden Blick lösen. »Du willst was von mir, nicht wahr?« »Nein, nein, ganz sicher nein. Bleib wo du bist, beweg dich nicht.« Vorsichtig kam Sam näher. Er beugte sich über den Körper des toten Rangels. Wegen des Gestanks mußte er die Luft anhalten. Er machte das Koppel des Fremden los und trat hart mit dem Fuß auf das Glasauge. Die ganze Zeit hatte er achtgegeben, nicht in das Blickfeld des Auges zu gelangen. Neugierig beobachtete ihn Trina. »Warum machst du das?« »Weißt du das nicht?« »Ich habe mich immer gefragt, was das wohl ist, dieses glänzende Ding.« »Es ist ein Auge. Die Rangels im Turm können alles sehen, was das Auge sieht.«
Sie lachte. »Das ist albern.« »Ich fürchte, nein.« »Aber das würde doch bedeuten, daß sie wissen, was ich getan habe.« »Selbst wenn sie es im Augenblick noch nicht wissen, sie werden es schnell genug erfahren.« Zum ersten Mal sah sie besorgt drein. »Sie werden wütend sein, nicht wahr?« »Trina«, sagte Sam ganz ruhig, »sie werden dich töten.« »Mein Vater ist Kaspar, der Hexer.« Unbeeindruckt grunzte Sam. »Er ist nicht in der Lage, dich zu schützen. Selbst wenn er wollte, könnte er es nicht. Aber das bezweifle ich.« »Mein Vater verehrt mich«, sagte sie selbstgefällig. »Dann ist er anders als alle anderen Hexer, die ich kenne. Das einzige, was sie verehren, ist ihre eigene Haut.« Er wies auf den Kleiderhaufen, der auf einem Felsen am Ufer lag. »Zieh dich an. Vermutlich sind sie jede Minute hier unten.« Jetzt erst wurde sich Trina ihrer Nacktheit wieder bewußt, sie verzog schmollend das Gesicht. »Du kannst dir was einbilden. So wie du hat mich vorher noch kein Mann gesehen.« »Das ist aber nicht das, was ich gehört habe.« »Wer hat dir was erzählt?« »Ist egal. Du hast jetzt andere Sorgen. Mord, zum Beispiel.« »Aber die Rangels sind nicht wirklich…« Sam verlor die Geduld. Er holte aus, ergriff sie, aber kaum hatte er ihre glatte, nasse Haut berührt, zog er seine Hände zurück. Ewige Zeiten waren vergangen, seit er zum letzten Mal eine Frau berührt hatte. Seit Ellen O’Denver nicht mehr. Er biß sich auf die Lippen. Er wollte nicht mehr daran erinnert werden, nicht jetzt. »Zieh dich an«, sagte er.
Plötzlich war Trina ganz gehorsam, sie ging los und hob ihr Kleid auf. Sie begann sich anzukleiden, als sie plötzlich aufsprang und entsetzt schrie. Sam rannte zu ihr. In den Falten eines ihrer Unterkleider hatte sich Cazie zusammengerollt. »Sie gehört mir«, sagte Sam. Er legte sich die Kobra um den Hals. »Sie heißt Cazie.« »Aber das ist doch eine Giftschlange. Wenn sie jemanden beißt, stirbt er.« »Cazie beißt nur Leute, die sie nicht mag.« Der Schrecken hatte Trina aufgerüttelt, sie zog sich nun schnell an. Fertig angekleidet, verkündete sie, daß sie bereit sei. »Was ist hiermit?« Sie streckte ihre Hand vor. Sam hatte die Strahlenpistole völlig vergessen. »Gib sie mir«, sagte Sam. Trina fügte sich, wobei sie Cazie argwöhnisch beobachtete. Sam schleuderte die Waffe in die Dunkelheit des Flusses. Weit entfernt hörten sie gedämpft das Aufklatschen. »Wir hätten sie noch benutzen können«, meinte Trina. »Was ist, wenn wir auf dem Weg zur Kapelle noch einen Rangel treffen?« »Wir gehen nicht zur Kapelle. Ist dir das noch nicht klargeworden?« Sie schüttelte den Kopf und blieb wie angewurzelt stehen. »O doch, das werden wir wohl tun. Entweder gehen wir zu meinem Vater oder nirgendwohin. Er ist der einzige, der uns jetzt helfen kann.« Sam schüttelte den Kopf. Sie konnte doch wirklich nicht so dumm sein, wie es den Anschein hatte. »Ich erkläre es dir noch einmal. Dein Vater ist bei den Rangels im Dienst. Sie haben ihn zum Hexer ernannte, und sie können ihn absetzen, wann immer sie wollen. Ich habe oben in den Bergen eine Höhle. Ein sicheres Versteck, für den Augenblick. Geh nach Hause zu
deinem Vater, wenn du willst. Ich seh’ zu, daß ich von hier wegkomme.« Sam drehte sich um und verschwand im Unterholz. Er kletterte durch das Gebüsch und ließ allmählich den Fluß hinter sich. Er war noch nicht weit gekommen, als er Trina hörte. »Ich habe mir überlegt, das es sicher mehr Spaß macht, wenn ich dich begleite«, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte! »Halt den Mund«, erwiderte Sam. »Mach keinen Lärm beim Gehen.« »Du brauchst dich doch nicht so eklig zu benehmen.« »Ich bin eklig.« Wann und wo auch immer der Fluß Sam zu einem neuen Ort brachte, kümmerte er sich als erstes um eine sichere Erdhöhle, nachdem er sein Floß gut versteckt hatte. Im Allgemeinen hatte er Glück und stieß bald auf etwas Geeignetes. Hier in der Gegend hatte er eine kalte, feuchte Höhle in dem Berghang, der zur Flußseite zeigte, gefunden. Sam hielt die Ohren gespitzt, damit ihm nichts entging, was auf die Verfolgung durch die Rangels hinweisen konnte. Er kannte das vertraute Pfeifen ihrer Flugschiffe so gut wie seinen eigenen Herzschlag. Die Nacht war ruhig. In der Ferne schrie eine streunende Katze. Hinter seinem Ohr summte ein schwerfälliges Insekt. Am Himmel glänzten vier Mondbrocken, zwei weitere stiegen geduldig in den mitternächtlichen Zenit auf. Nach einiger Zeit kamen sie bei Sams Erdloch an. Von der Kletterpartie war Trina noch völlig außer Atem. Vorsichtig schob Sam das Dickicht aus Blättern und Ästen beiseite, das den Eingang zur Höhle verdeckt hatte. Im Mondlicht sah er, wie Trina die Stirn runzelte. »Da hinein?« Sie stellte ihre Frage mit allen Anzeichen des Abscheus.
»Entweder das oder den Tod riskieren.« Trina schien unentschlossen. »Können wir denn nicht hier draußen warten? Es ist eine warme Nacht und wir…« Das Geräusch war laut genug, so daß auch Trina es gut hören konnte: Ein schriller, anschwellender Pfiff. Sam packte Trina und schob sie zum Erdloch. »Geh rein!« Nach ihr warf er sich ebenfalls in die Höhle, landete unsanft auf dem Bauch und wand sich wie eine Schlange weiter. Mit der Hand angelte er noch einmal nach draußen, grapschte nach den Blättern und Ästen und zog sie wieder vor den Eingang. Sam und Trina lagen dicht aneinandergedrängt in der völligen Dunkelheit. Draußen wurde das Pfeifen lauter. »Feucht ist es hier«, sagte Trina. »Sei still.« »Ist es aber wirklich.« »Leise, verdammt noch mal.« Allmählich wurde das Pfeifen schwächer, dann hörte es auf. Sam stieß zischend den Atem aus. »Bestimmt sind sie unten am Fluß gelandet.« »Dann hast du also die Wahrheit gesagt. Es stimmt mit dem Auge.« »Natürlich hab’ ich die Wahrheit gesagt. Warum sollte ich denn lügen?« »Es klang mir zu sehr nach Zauberei. Mein Vater sagt, daß es so etwas nicht gibt. Zauberei sei nur ein Trick, um die Dorfbewohner zu beeindrucken.« »Die Rangels haben ihre eigenen Tricks«, erwiderte Sam. »Nur, da steckt auch was dahinter.« »Also, was machen wir jetzt?« Sam spürte, wie sie fror. »Mir ist kalt.« »Komm mit.« Sam führte sie ein paar Meter den Tunnel entlang. Der Boden der Höhle war abschüssig, die Decke dagegen wölbte sich nach oben. Schließlich konnten sie
aufrecht stehen. Sam tastete an der Wand entlang und fand die Lampe, die er zurückgelassen hatte. Er legte den Hebel um. Der Lichtschein gab eine geräumige Kammer frei. Sam breitete seine Arme aus. »Das ist mein Heim.« Sie machte ein mürrisches Gesicht. »Was ist denn das da, auf deinem Arm?« Sam schaute auf den rotgrünen Drachen auf seinem Bizeps. »Das ist eine Tätowierung.« »Scheußlich.« Trina schaute sich in dem Keller um. »So schrecklich finde ich es gar nicht. Ein oder zwei Stunden werde ich es wohl hier drin aushalten.« Sam brachte es nicht übers Herz, ihr zu erklären, daß sie entweder lernen müsse, diese Höhle zu ertragen – und noch Hunderte andere dieser Art – oder zusterben. Sie würde es selbst schnell genug herausfinden.
II
DIE HEIMSTATT DER FREIEN MENSCHEN
In der Höhle am Berghang über dem Fluß warteten Sam und Trina beim schwachen Lichtschein der Laterne auf die Morgendämmerung. Die Nacht verstrich langsam. Trina beklagte sich laut und häufig über ihren unerträglichen Hunger, bis Sam seine Vorräte in einer hinteren Ecke des Kellers durchstöberte und ihr zwei Handvoll Nüsse und Beeren reichte. Trina runzelte die Stirn. »Das krieg’ ich nicht runter. Hast du nicht irgendwas Richtiges zu essen da?« »Ich habe die Nüsse und Beeren auf dem Land deines Vaters gepflückt.« »Aber es ist nicht für uns bestimmt. Wir verfüttern das Zeug an unsere Arbeiter. Es ist kein standesgemäßes Essen für die Tochter eines Hexers.« »Entweder das oder gar nichts«, sagte Sam. Er fuhr fort, daß es ihm jetzt unmöglich sei, seinen gewohnten nächtlichen Streifzug zu unternehmen. Er erklärte ihr, daß die Rangels im Umkreis von fünf Meilen jeden Baum und jeden Strauch durchstöberten, und daß, falls sie es irgendwie bewerkstelligen konnten, in dieser Höhle unentdeckt zu bleiben, sie dies nur einer Kombination von seinem Verstand und ihrem Glück zu verdanken hätten. »Warum, um alles in der Welt, machst du auch solche Dummheiten?« fragte er sie zum Schluß. »Es ist mir völlig gleich, wie dich dein Vater abgeschirmt hat, aber du hättest doch wissen müssen, daß du keinen Rangel töten darfst. Und erzähl mir nicht, du hättest es deswegen getan, weil er dich ohne Kleider gesehen hatte. Ich habe dich auch nackt
gesehen« – in Erinnerung daran mußte er schmunzeln –, »und ich bin nicht tot.« »Falls mein Vater dich erwischt, wirst du auch tot sein.« »Hat er die anderen auch erwischt?« Verbittert starrte sie ihn an. »Das ist nicht fair. Es stimmt nicht, daß ich eine Hure oder so was bin. Ich habe mich nur manchmal gelangweilt. Weißt du, die Tochter eines Hexers sein, das ist gar nicht einfach. Beim geringsten Anlaß fangen die Leute an zu tratschen. Übrigens, mein Vater weiß nichts von den anderen.« »Dann ist er ja noch dümmer, als ich dachte. Aber er ist mir gleichgültig. Ich will mehr über dich wissen. Wenn wir uns zusammen durchschlagen müssen, habe ich ein Recht zu wissen, warum du getan hast, was du getan hast.« Sie schien zu überlegen, ob eine Beichte wirklich angemessen sei. Als sie schließlich zu sprechen anfing, hatte ihre Stimme einen neuen, ernsten Unterton: »Ich habe es getan, weil ich sie hasse – diese Rangels. Schon als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich sie gehaßt. Wegen der Art, wie sie meinen Vater behandelt haben. Die Leute im Dorf, alle hassen sie meinen Vater. Nicht um seinetwillen oder weil er Hexer ist, sondern wegen der Rangels hassen sie ihn. Sie behandeln ihn wie einen Sklaven, schlimmer noch. Das ist nicht richtig. Er ist der Hexer, und die Rangels – sie sind ja noch nicht einmal menschliche Wesen.« »Aber sie haben die Macht. Wir kommen nicht gegen sie an. Wir müssen tun, was sie sagen.« »Tust du es?« fuhr sie ihn an. »Nein«, gestand er. »Aber ich bin eben auch kein Hexer. Ich bin ein Vagabund und ein Gesetzloser. Ich nenne nicht eine warme Kapelle mein Zuhause. Ich muß mir mein Essen zusammenklauben nach dem Gesetz des Stärkeren.«
Sie kicherte und zeigte auf Sams wohlgerundeten Bauch. »Du siehst so aus, als ob du ein paar tolle Fänge gemacht hast.« »Das macht die Übung.« Sam streichelte Cazie, die neben ihm schlief, über den harten flachen Kopf. »Ich mag viel Freiheit haben, aber ich habe keine Bequemlichkeit. Bei deinem Vater ist es umgekehrt. Er hat jeden Komfort, den er braucht, aber er ist nicht frei.« »Aber wozu sind sie gut? Ich meine, wozu brauchen wir eigentlich die Rangels?« Sam zuckte mit den Achseln. »Warum brauchen sie uns? Wer weiß darauf eine Antwort? Das einzige, was ich genau weiß, ist, daß die Rangels aus einer anderen Welt zu uns gekommen sind. Sie wurden nicht auf der Erde geboren.« »Von einer anderen Welt, so wie die Mondbrocken?« »Von einem Stern, der noch viel weiter entfernt ist, so weit weg, daß wir ihn nicht einmal sehen können.« »Aber das ist doch unmöglich. Oder Zauberei. Wie, um alles in der Welt, sollten sie denn von dort nach hier gelangt sein?« »Sie haben Flugschiffe. Einige sind hundertmal größer als die, die wir gesehen haben. Es ist keine Zauberei. Sie sind nur einfach gescheiter als wir.« Sie lachte nervös. »Der, den ich getötet habe, scheint nicht besonders schlau gewesen zu sein.« Sam hielt darauf eine grobe Antwort für angebracht. »Ich finde das nicht lustig, Trina. Töten ist immer schlecht, auch wenn es ein Rangel ist. Wenn du bei mir bleiben willst…« »Wie kommst du darauf, daß ich bei dir bleiben will?« Sam seufzte. Es wurde ihm klar, daß er sie zwingen mußte, ihre traurige Lage zu begreifen. Er bemühte sich, so nett wie möglich zu ihr zu sein. »Niemand zwingt dich, mit mir zusammenzubleiben. Aber du solltest dir darüber klar sein, welche Möglichkeiten du sonst noch hast. Ich bin ein Vagabund. Ich habe ein Floß, und ich will den Fluß runter. Du
bist mehr als herzlich eingeladen, mit mir zu kommen. Das ist die eine Möglichkeit. Oder du gehst los und baust dir allein ein neues Leben auf. Das ist die andere Möglichkeit. Aber das ist schwierig. Viel eher besteht die Aussicht, daß dich die Rangels in ein paar Tagen aufgreifen.« »Und eine dritte Möglichkeit«, setzte Trina fort, »ist, daß ich abwarte, bis sich die Aufregung gelegt hat und dann zu meinem Vater zurückgehe. Und das werde ich tun.« Sorgenvoll schüttelte Sam den Kopf. »Die Aufregung wird sich nicht legen, Trina.« »Die Rangels können mir doch nicht ewig diesen dummen Fehler nachtragen.« »Sie können und sie werden.« »Nein, du… du lügst.« »Trina, du hast einen von ihnen umgebracht. Bedenk doch mal, was das heißt. Ihre Macht begründet sich auf unbedingten Gehorsam. Sie können dich so nicht davonkommen lassen. Sieh mich an. Ich habe niemals einem Rangel Leid zugefügt. Selbst, wenn sie mir so nahe wären, daß ich ihnen nicht mehr entrinnen könnte, und selbst wenn ich wüßte, daß mein Leben auf dem Spiel steht, selbst dann würde ich es nicht tun.« Einiges von dem, was er sagte, schien bei ihr anzukommen. »Aber ich will kein Vagabund sein«, sagte sie. »Ich weiß es. Aber du hast keine andere Wahl. Du hast dich entschieden, als du den Abzug der Waffe betätigt hast.« »Ich war wütend – erschrocken. Ich habe gar nicht nachgedacht. Ich möchte am liebsten tot sein.« Sam wollte es einfach nicht glauben. Gerne hätte er jetzt seine Harfe vorgeholt und ihr ein wenig vorgespielt. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß Musik auf höchst wunderbare Weise eine lindernde Wirkung hat. »Komm, laß mich dir einiges über das Leben eines Vagabunden erzählen. Und vielleicht findest du es dann doch nicht mehr ganz so schlecht.
Überleg mal, du hast selbst gesagt, daß du die Freiheit gut findest.« Sie nickte, ihre Wangen waren tränenfeucht. In Sam verstärkten sich frühere Eindrücke: Ihre Augen waren so blau wie der Morgenhimmel, ihr Gesicht war von rostbraunen Sommersprossen übersät. Sam berichtete: »Ich begann mein Vagabundenleben, als ich knapp dreizehn war. Davor hatte ich mit einer Frau – meiner Mutter – auf einem Schiff gelebt. So habe ich den Fluß kennengelernt…« »Und warum hast du sie verlassen?« fragte Trina dazwischen. »Hast du deine Mutter nicht geliebt?« Sam hatte nicht vorgehabt, auf diesen Teil seiner Geschichte weiter einzugehen. Er bezwang seinen Unmut. »Sie war kein guter Mensch. Sie war… sehr böse… teuflisch. Ich habe jemand anderes getroffen, einen Freund, er war Vagabund. Wir gingen zusammen weg.« »Ein Mädchen?« »Ja, eine Frau.« »So.« Nun war es Trina, die sich unbehaglich fühlte. »Und was ist mit deinem Vater? Wo war er die ganze Zeit?« Sam schüttelte den Kopf. »Das war alles sehr eigenartig. Bisher hatte er erst wenigen Leuten und denen so gut wie nichts erzählt – und niemals nach so kurzer Zeit. Er ging vom Schiff, als ich noch ein Kind war. Ich habe ihn gar nicht richtig kennengelernt.« »Ist er wegen deiner Mutter weggegangen?« »Ja«, sagte Sam. »Ich glaube jedenfalls. Ich habe gehört, daß es so gewesen sein soll.« »Dann war er nicht böse?« »Nein, überhaupt nicht. Er soll sogar ein sehr guter Mensch gewesen sein. Aber er liebte meine Mutter. Das war es, was
ihn fertiggemacht hat. So bösartig wie sie auch war, er liebte sie.« Mitfühlend nickte Trina. »Irgendwie ist es bei mir ähnlich. Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Ich habe sie auch nie kennengelernt.« »Das tut mir leid.« Trina zuckte mit den Achseln. »Es war nicht traurig. Weißt du, ich war ganz zufrieden mit mir und der Welt.« Sam lächelte ein wenig. »Aber das wollte ich dir eigentlich gar nicht erzählen. Ich wollte mit dir vielmehr über die schönen Dinge des Vagabundenlebens sprechen. Ich wollte dir erzählen, wie ich mein Floß gebaut und in den Fluß geworfen habe, und wie ich mich von der Strömung habe treiben lassen. Das war vor fünf Jahren, und ich habe es danach unzählige Male wiederholt. Es ist kein schlechtes Leben, Trina, wirklich nicht. Meistens bleibe ich an einem Ort nicht länger als ein paar Tage. Die Rangels wissen genau über mich Bescheid, aber in der Regel lassen sie uns Vagabunden in Ruhe. Auf meinen Wanderungen habe ich sicherlich schon an die hundert Menschen getroffen, die ebenso leben wie ich. Und sie sind die interessantesten Menschen der Welt. Ich glaube bestimmt, daß es auch dir gefallen wird, ihre Bekanntschaft zu machen.« »Ich hoffe es.« Plötzlich lächelte sie. »Sam, ich mag dich wirklich.« »Danke schön«, sagte er. Sein Entzücken war offenkundig, denn die Röte stieg ihm ins Gesicht. »Aber eins versteh’ ich noch nicht. Bei all deinen Reisen scheint dir kein Ort besonders am Herzen gelegen zu haben. Gibt es einen Ort, wo du hinwillst? Hast du kein Ziel vor Augen?« Sam zögerte, bevor er antwortete. Das war auch wieder so etwas, das er selten irgendwem anvertraute. Nur, war Trina
nun sein Partner, oder nicht? Hatte sie nicht sogar ein Recht darauf, es zu erfahren? »Ja, es gibt einen Ort«, gab er schließlich zu. »Es ist ein Ort, von dem ich nicht einmal genau weiß, ob er existiert. Es ist die Heimstatt der Freien Menschen. Vielleicht hast du auch schon davon gehört.« Sie schüttelte verneinend den Kopf, Strähnen des blonden Haares fielen ihr in die Stirn. »Also, angeblich soll es der einzige Platz auf der Erde sein, wo die Rangels sich nicht hintrauen. Es soll ein Ort vollkommener Harmonie sein, fruchtbar, wo alles wächst, was man zum Leben braucht, und keiner muß das Land bestellen. In vielem ist die Heimstatt so ähnlich wie das, was die Hexer Himmel nennen. Außer daß du nicht erst sterben mußt, um dorthin zu kommen.« »Weißt du, wo sie ist?« »Ich habe eine Karte, aber es ist nur ein Stück von einer Karte, und ich bin noch nicht einmal sicher, ob sie stimmt. Fünf Jahre lang habe ich versucht, mit Hilfe der Karte den Weg zu finden, aber ich bin immer noch nicht angekommen, ich bin nicht einmal nahe dran.« »Wo hast du die Karte her?« »Nun…« Er zögerte wieder, gab sich dann aber einen Stoß. »Meine Mutter hatte sie. Ich nahm sie ihr ab.« »Und wo hat sie sie her?« »Von meinem Vater. Als er mit ihr zusammenlebte, teilte er die Karte, behielt die eine Hälfte und gab ihr die andere. Es war so eine Art Vertrag zwischen ihnen. Mein Vater war tatsächlich einmal dort gewesen. Er hatte die Heimstatt besichtigt und die Karte angefertigt, indem er seine Reiseroute aufgezeichnet hat. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich dorthin will. Mein Gefühl sagt mir, daß mein Vater dort auf mich wartet.«
»Und darum hast du bis heute auch noch nicht deinen Plan aufgegeben?« Er nickte, träumerisch blickte er in die Ferne. »Das werde ich wohl nie aufgeben.« Sie schaute ihn an, und einen Moment lang befürchtete er, daß Trina sich über ihn lustig machen wollte. Dann aber sagte sie: »Wenn das so ist, will ich auch dorthin.« Und, ganz egal, was später noch passieren sollte, von diesem Augenblick an liebte Sam, der Schreckliche, Trina, des Hexers Tochter.
III
ELLEN O’DENVER
Die ersten Schimmer des Tageslichts sickerten durch den abgeschirmten Eingang des Erdlochs und tasteten sich weiter vor bis zu Trina und Sam. Vorsichtig, wie Sam von Natur aus war, schien es ihm sicherer, nicht sofort bei Morgengrauen die Höhle zu verlassen und draußen herumzuirren. Trina war anderer Ansicht. Und als die Nachmittagshitze drückend wurde, widersetzte sie sich hartnäckig. Es wäre verrückt, sich freiwillig hier einzuschließen, wenn nur ein paar Schritte weiter eine frische Brise wehte. Sam sagte immer noch nein. Trina sagte, er sei ein Feigling. Sam sagte, er sei lieber ein Feigling als tot. Trina sagte, daß sie zu schwach sein würde, wenn sie sich schließlich auf den Weg machten. Daraufhin hielt ihr Sam eine Handvoll Nüsse und Beeren hin. Trina sagte, sie wolle lieber sterben. Sam sagte, die Hitze in der Höhle sei immer noch besser als die Hitze aus dem Mündungslauf einer Schußwaffe. »Also gut dann. Du hast es so gewollt.« Flüchtig sah Sam auf. »Was habe ich gewollt?« »Das.« Mit einer schnellen Bewegung zog Trina ihr Kleid aus. Sie warf den Unterrock beiseite und knöpfte die Schuhe auf. Sie stand nackt vor ihm. Sam wurde es unbehaglich, und er schaute zur Seite. »Ich finde, du solltest das lassen.« »Wieso? Am Fluß hat es dich nicht abgestoßen.« »Das ist etwas anderes.« Sam löschte das Licht der Laterne. In der Dunkelheit verschwammen die Konturen ihres
schlanken Körpers. »Und stell dir vor, wenn sie – wenn die Rangels uns hier jetzt so finden würden?« »Bisher wußte ich noch nicht, daß sie im Dunkeln sehen können.« »Aus genau dem Grund hast du einen von ihnen getötet.« »Und du sagtest, daß sei falsch gewesen. Na gut, ich bin ja jetzt deiner Meinung.« Sam stieß einen Seufzer aus. Er erkannte, daß es nutzlos war, weiter zu argumentieren. Trotzdem blieb er hart, er weigerte sich hinauszugehen, währenddessen der lange Tag in die Nacht überging. Trina und er saßen schweigend in dem dunklen Erdloch. Schließlich nickte er, wie um sich selbst zu bestätigen. »Trina, du kannst dich anziehen. Es ist Nacht.« »Woher weißt du das?« Sie sprach seit Stunden zum erstenmal mit ihm. »Wenn du Vagabund bist, bekommst du auf die Dauer ein Gefühl für die Zeit. Die meisten tragen keine Uhr.« »Glaubst du wirklich, daß es jetzt sicher ist?« Nun, da der Augenblick endlich gekommen war, den sie den ganzen Tag herbeigesehnt hatte, zögerte sie. Sam sah keinen Grund, nicht völlig offen zu ihr zu sein. »Ganz hundertprozentig sicher bin ich mir nicht.« »Könnten sie draußen sein – gar auf uns warten?« »Das ist denkbar. Es ist genau das, was ich den ganzen Tag versucht habe, dir klarzumachen.« »Oh«, erwiderte sie gedämpft. Sam wußte, was sie fühlte. Zum erstenmal in ihrem Leben war sich Trina ihrer Sterblichkeit bewußt geworden. »Was sollten wir deiner Meinung nach tun?« fragte sie. »Wir haben keine große Wahl. Wenn sie in der Nähe sind und wir sie ausfindig machen, sollten wir versuchen, wieder hier in Deckung zu gehen.«
»Und falls sie uns sehen, bevor wir sie entdecken?« »Ich werde sie vorher hören.« Sam nestelte an seinen großen weichen Ohrmuscheln. »Die haben mich schon oft gerettet.« Er straffte sich. »Gehen wir?« »Laß mich das noch anziehen.« Sie meinte ihre Kleider. »Belaste dich nicht unnütz. Es reicht, wenn du dein Kleid und die Schuhe anziehst. Dort, wo wir hingehen, brauchst du keine Unterkleider.« Trina zog sich an, Sam wickelte sich Cazie um den Hals und nahm die Harfe über die Schulter. Er war ganz zuversichtlich, daß das Floß noch sicher an dem Platz lag, wo er es versteckt hatte: Am Rande eines schlammigen Tümpels unter einem Berg dornigen Gestrüpps. Das Floß war sein Leben, sein einziges sicheres Fluchtmittel. Er hütete es mit einer Sorgfalt, wie er sie sich selbst selten zukommen ließ. Trina sagte, daß sie fertig sei, und Sam begann mit dem Ausstieg. Kriechend schob er sich bis zur Öffnung der Höhle vorwärts. Vorsichtig drückte er das schützende Dickicht zur Seite. Er genoß die frische Abendkühle, die seinen Körper überrieselte. Er steckte seinen Kopf hinaus und spitzte die Ohren. Über ihm leuchteten zwei Mondbrocken. Sam nahm mit allen Sinnen die Welt um sich auf. Was er aufspüren wollte, war der falsche Ton, der Mißklang in der Harmonie der Natur. »Alles klar«, verkündete er schließlich, »wir können gehen.« Dicht an den Boden gepreßt, robbten sie den Berghang hinunter. Sam wußte, daß Trina sich redlich bemühte, doch sie machte so viel Krach, daß davon leicht ein ganzer Wachturm voller Rangels aufgewacht wäre. Sie trat auf lose Zweige. Sie prustete und keuchte. Die Äste der Büsche schlugen geräuschvoll gegen ihren Körper. Sam legte einen Finger auf die Lippen. »Pssst.« »Ich habe keinen Ton gesagt.«
»Ich meine nicht deinen Mund.« Eine andere Frau, die er gekannt hatte, fiel ihm ein. Ellen O’Denver, die Vagabundin. Ellen hatte nicht nur einfach im Freien überlebt, es war ihr Lebenselixier gewesen. Sie war die Frau, von der Sam Trina erzählt hatte, jene, die ihn zum Vagabundenleben verführt hatte. Ellen war der einzige Mensch, von dem er wußte, daß es ihm gelungen war, Vorräte von den Rangels zu stehlen. Sie glitt durch die Nacht wie ein grauer Schatten. Sechs Monate waren sie Partner gewesen, bis seine Mutter sie mit ihrem Schiff eingeholt hatte. Alles was er wußte, hatte Ellen ihm beigebracht. Sie war damals dreißig Jahre alt gewesen und seine erste Liebe. »Runter«, flüsterte Sam heiser. Sie waren am Fuß des Hügels angekommen, flaches Sumpfland breitete sich vor ihnen aus. »Schnell.« Er zog sie an sich. Verwirrt wehrte sich Trina, sie wand sich in seinem Klammergriff. Sam hielt sie mit aller Kraft fest. Das schwache Pfeifen, das er mehr vermutet als gehört hatte, schwoll an. Endlich hörte auch Trina es und entspannte sich in seinen Armen. Sam spürte, wie sich ein Schrei in ihrer Kehle bildete. Er steckte ihr die Finger in den Mund. Sie biß zu. Sam riß sich zusammen, um den Schmerz zu unterdrücken. Die goldenen Lichtkegel des Flugschiffs der Rangels standen genau über ihnen. Sam wußte, daß sie keine Chance hatten, unbemerkt zu bleiben. Er beugte sich über Trina und preßte seinen Mund auf ihre Lippen. Er umarmte sie und tat so, als würde er vor Leidenschaft stöhnen. Trina trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust und versuchte, ihm das Knie in den Bauch zu stemmen. Um den Schlaf gebracht, rollte sich Cazie ab und verschwand im Gebüsch. Das Flugschiff verharrte nur einen Augenblick lang, dann setzte es langsam seinen Weg flußabwärts fort. Sam verhielt sich so lange ganz still, bis er sicher war, daß keine Gefahr
mehr drohte. Dann erst ließ er Trina los und hielt sich die verletzte Hand. »Ich blute«, sagte er beleidigt. »Bastard«, rief Trina und sprang auf ihre Füße. »Was erlaubst du dir?« »Nun stell dich mal nicht so an.« Sam zog sie zu Boden. »Sie sollten uns für ein Liebespaar halten. Ihre Flugschiffe haben nämlich auch Glasaugen. Sie konnten jede Bewegung sehen, die wir hier unten machten. Von mir wollten sie nichts. Sie haben nur dich gesucht. Also dachte ich mir, welchen besseren Grund als sich zu lieben, gibt es wohl für zwei Leute wie uns, um sich nachts draußen herumzudrücken?« »Du bist ein Bastard«, wiederholte sie, aber ihre Stimme klang längst nicht mehr so zornig. »Ich wußte, daß du es schon die ganze Zeit wolltest. Also gut denn.« Sie breitete die Arme aus. »Nimm mich. Ich bin völlig schutzlos. Fang an. Tu, was du nicht lassen kannst. Ich hoffe nur, daß mein Vater dich eines Tages fangen wird. Wenn er dann herausfindet, was du getan hast, wird er dich mit bloßen Händen erwürgen.« Sam starrte sie an. »Trina, setz dich und halt den Mund. Ich denke nicht im Traum an so etwas. Wir müssen weiter.« Sie ließ sich neben ihm nieder. Ihr ganzes Verhalten änderte sich. »Wie weit ist es noch bis zum Floß?« fragte sie ruhig. »Nicht mehr weit. Sei ganz unbesorgt. Komm, laß uns weitergehen.« Sam hatte ganze Arbeit geleistet: Das Floß war noch an Ort und Stelle. Sam befreite es so schnell wie möglich von dem Gestrüpp und schob es, mit dem Bug voran, ins offene Wasser. Cazie glitt an Bord. Sam reichte Trina die Hand. Sie wich zurück. »Bist du sicher, daß das Ding nicht untergeht?« »Es ist nicht für zwei gebaut.« Das Floß war nur acht Fuß lang und sechs Fuß breit. »Aber wir haben kein anderes.«
»Immerhin kann ich schwimmen.« Versuchsweise stellte Trina einen Fuß auf das Floß und verlagerte langsam das Gewicht. »Es geht«, stellte sie genau in dem Augenblick fest, als oben am Hang eine Laterne aufleuchtete. Der Höhe des Lichtes nach zu urteilen, hielt ein Mensch die Laterne. Sam glaubte auch, ein Gesicht erkennen zu können. Trina sah es auch. Mit einem Sprung war sie vom Floß weg und schwenkte die Arme. »Vater!« rief sie. »Ich bin’s, Trina! Hier unten!« Bevor Sam sie zurückhalten konnte, erklomm Trina schon das abschüssige Ufer. Er warf sich noch nach vorn, um sie an den Füßen festzuhalten, aber er verpaßte sie und fiel aufs Gesicht. »Vater, hier bin ich!« Eigentlich wußte Sam immer, was er zu tun hatte. Er hätte jetzt auf das Floß springen und sich davonmachen müssen. Statt dessen folgte er Trina. Leichtfüßig lief sie vor ihm her. Sam kam auf seinen kurzen, stämmigen Beinen kaum nach, er hatte wenig Hoffnung, sie einzuholen. Vom Laternenlicht erhellt, sah er über sich das Gesicht eines Mannes, der wie ein Hexer gekleidet war. Sam bemühte sich, seine Füße schneller zu bewegen. Trina hatte schon fast ihren Vater erreicht, der regungslos wie festgefroren an seinem Platz stand, dann rannte auch er. Kaspar, der Hexer, jagte den Fußweg hinunter in panischer Angst vor seiner Tochter Trina. Wie toll baumelte die Laterne hin und her. »Vater, halt an!« rief Trina und lief hinter ihm her. »Vater, bitte, halt an!« Trina gewann die wilde Jagd. Sie brachte ihren Vater zum Stehen, indem sie ihm die Arme um den Hals warf. »Vater«, rief sie aus, »ich wußte, daß du mich suchen würdest.« Wie ein Kreisel wirbelte Kaspar herum. »Monster«, stieß er schrill und zornig hervor, »wie kannst du es wagen, in meine Nähe zu kommen?«
Dann hallte ein Klatschen wie von einer Ohrfeige durch die Nacht. Sam verlangsamte seine Schritte. Geräuschlos schlich er an die beiden heran. »Vater, erkennst du mich denn nicht?« sagte Trina. »Und ob ich dich kenne. Du Hure! Nutte! Mörderin! Hast du kein Gefühl für Anstand? Hast du…?« Endlich hatte Sam die beiden erreicht. Seine Rechte schnellte nach vorn und schnitt dem Hexer das Wort ab. Kaspar taumelte nach hinten. Die Laterne entglitt seinen Händen. Schnell löschte Sam das Licht. »Noch ein Wort«, Sam sprach in die Richtung, wo er den Hexer auf dem Boden vermutete, »und ich stampfe dir dein Gesicht in den Boden.« Dann drehte er sich zu Trina um und faßte sie behutsam am Arm. »Fehlt dir auch nichts?« »Sam, Sam… er hat mich geschlagen.« »Ich weiß. Ich habe es gehört. Ich…« Trotz Sams Warnung begann Kaspar wieder zu reden. »Du hast mich ruiniert, du junge Hure. Ich habe die Bilder gesehen, die sie von dir gemacht haben. Du hast dich vor ihnen ausgezogen wie eine Nutte, wie eine gemeine Schlampe wolltest du sie verführen. Und es war nicht das erste Mal. Denk nicht, ich hätte nichts davon gewußt. Du hast es hundertmal getan. Tausendmal. Du hast meinen Namen in den Dreck gezogen.« »Aber ich habe doch nur gebadet«, wandte Trina ein. »Laß doch«, Sam drückte leicht ihren Arm. »Hör nicht hin. Du und ich wissen besser, was passiert ist.« »Aber er haßt mich deswegen.« »Ich hasse alle Huren«, sagte Kaspar. Sam versetzte ihm einen Schlag. Obwohl er es zutiefst verabscheute, auf einen wehrlosen Menschen einzuschlagen,
machte er diesmal bei Kaspar eine Ausnahme. Der Hexer sackte in den Falten seines schwarzen Gewandes zusammen. Trina unterdrückte nur mit Mühe ihre Tränen. »Komm«, sagte Sam, »wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Gefügig ließ sich Trina von Sam den Abhang hinuntergeleiten. »Er hat sich um mich gar keine Sorgen gemacht. Er hat nur an sich gedacht.« Sam brachte es nicht über sich, sie daran zu erinnern, daß er ihr genau das schon einmal gesagt hatte. Sie mußte wohl ihre eigenen Erfahrungen sammeln und daraus lernen. Er half Trina auf das Floß und stieß es vom Ufer weg. Mit kurzen, schnellen Schlägen durchpaddelte er das seichte Gewässer. Endlich erfaßte eine leichte Strömung das Floß, und es schwamm aus eigener Kraft weiter. Cazie, die sich in der Nähe des Bugs eingerollt hatte, schlief fest. Trina weinte lautlos. Sam wußte, daß er ihr nicht helfen konnte. Er schnappte sich das Ruder und steuerte das Floß in die Mitte des Flusses. Wenn die Strömung stärker wurde, wollte er sich auf den Rücken legen und in den Himmel schauen. Trina atmete jetzt ruhig und gleichmäßig. Ihre Tränen waren versiegt. Sie war eingeschlafen. Sam verschränkte die Arme im Nacken und genoß das Bild der Sterne. Er griff nach seiner Harfe und begann zu spielen. Trina seufzte im Schlaf.
IV
EINE ZAHNFISCH-GESCHICHTE
Genau in dem Augenblick, als die Morgensonne die zarten Nebel durchbrach, die die Granitfelsen am Ostufer einhüllten, regte sich der Schreckliche Sam und öffnete die Augen. Er sog den durchdringenden Geruch feuchten Holzes ein, wandte sein Gesicht dem leuchtenden Himmel zu und trank in tiefen Zügen die Morgenluft. Behutsam streckte er sich und vertrieb die Steifheit der Nacht aus seinen Muskeln. Neben ihm schlief Trina, laut atmend und unbeachtet der Morgendämmerung, die unter dem hochgerutschten Kleid ihre schlanken, bleichen Beine den Blicken freigab. Sam griff hinüber und zog ihr den Rock bis zu den Knien herunter, dann stand er auf. Lautlos balancierte er zum Heck. Er hatte Hunger. Sie hatten in der letzten Nacht nichts von den Vorräten aus der Höhle mitnehmen können. Er kniete sich nieder und hob einen langen geschnitzten Stock auf. Versuchsweise hieb er ihn durch die Luft. Es war seine Angelrute, die er an der rechten Seite des Floßes auszuhängen pflegte. Er kramte in den Tiefen seiner Hosentaschen und fand ein Knäuel Garn. Er wickelte ein Ende auf und befestigte es an der Spitze der Rute. In einer anderen Tasche fand er das gebogene Stück Draht, das er als Haken benutzte. Jetzt brauchte er nur einen Köder. In einer Hemdtasche fand er ein paar Beeren. Drei davon befestigte er am Haken. Er holte weit aus und warf die Schnur ins Wasser. Dann setzte er sich und hielt die leicht wippende Angel in seinem Schoß. Aufmerksam beobachtete er die Schnur, die im Kielwasser des Floßes schwamm.
Nach einiger Zeit fing Sam einen etwa 30 Zentimeter langen Stechrochen, kurz darauf einen zweiten. Den ersten Fisch aß Sam auf der Stelle auf und achtete sorgfältig darauf, daß er keine Gräte verschluckte. Er hatte einmal einen Mann gesehen, der sich daran zu Tode gewürgt hatte. Als er den zweiten Fisch über das Floß trug, drehte sich Trina zu ihm um. Sie hatte die Augen geöffnet und beobachtete ihn. Sam lächelte verlegen. Bestimmt ein halbes Dutzend Mal öffnete er seinen Mund, aber es kam kein Laut heraus. Schließlich begann Trina die Unterhaltung. »Ich erinnere mich. Du bist der Schreckliche Sam.« Er nickte zustimmend und klemmte sich den Griff der Angel unter den Absatz. »Hast du gut geschlafen?« »Nicht besonders.« Sie zog etwas hinter ihrem Kopf hervor. »Was ist das? Es stinkt.« Verwirrt errötete Sam. »Ach, das gehört mir. Es ist meine Jacke. Ich hatte gedacht, daß du vielleicht ein, ein… Kopfkissen wolltest.« »Wie liebenswürdig von dir.« Sie schleuderte die Jacke weit von sich in eine Ecke und hockte sich behende neben Sam nieder. »Was machst du da? Wozu brauchst du den Stock?« »Das ist eine Angel. Ich versuche, damit unser Abendessen zu fangen.« »Ich würde eher sagen, daß es Zeit zum Frühstücken ist.« »Nenn es meinetwegen wie du willst.« Er zeigte auf den Fisch zu seinen Füßen. »Das ist deiner.« Sie verzog das Gesicht. »Er stinkt.« »Sicher, weil er tot ist.« »Du erwartest doch wohl nicht, daß ich ihn esse. Er ist ja nicht einmal gekocht.« Sie rückte von Sam ab und machte es sich einige Fuß entfernt wieder bequem. »Ich weiß gar nicht, warum du dir solche Sorgen machst. Von da, wo ich gelebt
habe, ist es nicht einmal eine Tagesreise bis zum nächsten Dorf. Wir werden dort an Land gehen und uns richtiges Essen besorgen.« »Falls du das Dorf meinst, an dem wir letzte Nacht vorbeigekommen sind, das liegt ein ganzes Stück hinter uns.« »Was? Wie konntest du nur so dumm sein. Ich wollte dort aussteigen.« Sam drehte sich zu ihr um. Zorn wallte in ihm auf, so heftig, wie nie zuvor in seinem Leben. »Paß auf, Trina. Deine Beleidigungen drehen mir den Magen um und langweilen mich zu Tode. Bist du denn nicht in der Lage, die einfachsten Dinge zu begreifen? Die Rangels halten nach uns Ausschau. Wenn wir in der Nähe des Tatorts bleiben, dauert es keine zehn Minuten, und sie haben uns in der Hand. Wir müssen den Fluß so lange runter, bis wir so weit weg sind, daß sie uns dort nicht mehr vermuten und suchen. Ich bin sicher, daß dein Vater das Floß nicht gesehen hat, also wissen auch die Rangels nichts darüber. Solange sie glauben, daß wir zu Fuß unterwegs sind, haben wir gute Karten.« »Glaubst du denn, daß mein Vater ihnen von dir erzählt hat?« »Ich glaube, daß er alles, aber auch verdammt alles, zum besten gegeben hat, was er erzählen konnte.« »Ich verstehe.« Nachdenklich nickte sie, und Sam wurde im selben Augenblick klar, daß er ihr weh getan hatte. Trina war eine seltsame Person: einerseits hart und unnahbar wie eine Muschel, andererseits weich und verletzlich wie eine Raupe. Beschämt konzentrierte er sich aufs Fischen. Er hörte, wie sie mit den Fingerspitzen auf den glatten Bohlen des Floßes trommelte. »Wie soll ich es anstellen?« fragte sie. Überrascht schaute er zu ihr hinüber, sie hielt den Fisch in den Händen. Die Augen hatte sie zu ganz schmalen Schlitzen geschlossen, so, als ob sie Angst habe, richtig hinzusehen. »Zeig es mir.«
Sie gab ihm den Stechrochen. »Also, iß das auf keinen Fall.« Er riß Kopf und Flossen ab. »So, und jetzt beiß an der Seite rein. Schäl die Haut mit deinen Zähnen ab, bis das rosa Fleisch zum Vorschein kommt. Kaue sorgfältig jeden Bissen. Es könnten Gräten darin sein.« Trina nahm den Fisch und befolgte Sams Anweisungen. Sie nagte ein kleines Stückchen ab und zermalmte den Bissen langsam zwischen den Zähnen. »Ausgezeichnet«, lobte Sam sie. »Und jetzt schluck runter.« »Ich weiß nicht, ob ich es kann.« Sie hatte ihre Augen wieder geschlossen. »Versuch es.« Ihr Kehlkopf ging auf und nieder, einmal, zweimal. »Salzig«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Dieser Fisch schmeckt überhaupt nicht so wie der Fisch, den ich früher gegessen habe.« »Das liegt daran, daß dies hier ein naturbelassener Fisch ist. Beim Kochen geht viel vom Eigengeschmack verloren. Versuch es noch mal.« Sie nickte und führte den Fisch zum Mund. Dieses Mal bewegte sich ihr Kehlkopf nur noch einmal, als sie den Bissen herunterschluckte. »Es schmeckt besser«, sagte sie. Er deutete auf seine Angel. »Soll ich dir noch einen fangen?« Hastig schüttelte sie den Kopf. »Ich… Ich war noch nie ein guter Esser.« Er betrachtete ihre knochige Silhouette und überlegte, daß sie weniger wog, als gut für sie war. »Dann werde ich eben noch ein paar für mich fangen.« Es war ein klarer, wolkenloser Tag. Während Sam fischte, beobachtete er den Himmel. Er suchte nach irgendwelchen Anzeichen dafür, daß die Rangels unterwegs waren. Es fiel ihm nichts auf, und er schloß daraus, daß sie aus dem engeren Ring der Suchaktionen entschlüpft waren. Zu beiden Seiten
des Ufers ragten steile Felsen hoch, sie hätten hier nirgends an Land gehen können, selbst wenn Sam es gewollt hätte. Trina hatte so gut wie keine Ahnung von lokalen geographischen Gegebenheiten. Sie glaubte, daß es weiter unten flußabwärts eine große Stadt geben müsse, denn sie erinnerte sich, daß ihr Vater dort einmal hin mußte, um einen Sonderauftrag entgegenzunehmen. Sam neigte dazu, die Städte zu meiden. Die meisten hatten eine eigene Polizei, die das Plündern zu einer höchst delikaten Angelegenheit machten. Sam war gerade dabei, Trina das alles zu erklären, als plötzlich unter lautem Klatschen eine Wasserfontäne vor dem Floß in die Höhe schoß und eine Wasserwand in Kaskaden über ihnen zusammenbrach. Sam packte Trina und preßte sie gegen die Planken des Floßes, das wie eine Feder im Wind schaukelte. »Was… Was ist das?« schrie Trina entsetzt, als sich der Wellengang ein wenig beruhigt hatte. Sam starrte auf die Wasseroberfläche vor ihnen. Einige Meter vom Bug entfernt verrieten konzentrische Kreise im Wasser, wo das Tier aufgetaucht war. Sam schnappte sich das Steuerruder und stellte es auf Richtung Ufer ein. »Halt das Ruder«, sagte er zu Trina. »Ich paddele.« »Aber was ist denn passiert?« fragte Trina, während sie das Ruder übernahm. »Was ist los?« »Ein Zahnfisch. Wenn er wieder hochkommt, wollen wir lieber nicht über ihm sein.« Sam kroch nach vorn und paddelte wie ein Wilder. Die Strömung war stark, und es war schwer, dagegen anzukommen. »Und woher weißt du, daß er nicht gerade hier wieder hochkommt?« Trina zeigte auf das Wasser vor ihnen. »Am Ufer ist das Wasser zu seicht. Dort ist dann der einzige sichere Platz, wenn ein Zahnfisch in der Nähe ist.« Sie kamen
jetzt besser voran; Sam glaubte, daß sie bald in Sicherheit sein würden. »Es stimmt doch nicht wirklich, daß die Zahnfische Menschen fressen, nicht wahr?« »Es ist schon vorgekommen.« Ihr Schaudern war bühnenreif. »Ich habe noch nie einen Zahnfisch gesehen.« »Dann hast du nichts verpaßt.« Der größte Zahnfisch, den Sam je gesehen hatte, mußte wohl von der Schnauze bis zum Schwanz an die fünfzehn Meter gemessen haben. Er hatte von welchen gehört, die zweimal so lang gewesen sein sollten. Der Zahnfisch war eigentlich kein richtiger Fisch: Er atmete an der Luft. Die, die Sam bisher gesehen hatte, hatten ihn sonderbarerweise an riesige weißhäutige Schnecken mit großen roten Augen und flachen breiten Schwänzen erinnert. Sam paddelte durch das trübe Wasser bis dicht ans Ufer heran. Trina starrte unablässig auf den Fluß hinaus. Sam verstand, was in ihr vorging. Wie die meisten Landbewohner hatte sie den Langen Fluß bislang für harmlos gehalten; ein weiteres Stück von Trinas Weltauffassung war in die Brüche gegangen. Sam wollte sie trösten. Deshalb beschloß er, ihr eine Geschichte zu erzählen. »Ich hab’ mal einen Mann gekannt, der ist bei lebendigem Leib von einem Zahnfisch verschluckt worden.« Neugierig sah sie zu ihm hinüber, ihr nasses Haar klebte am Kopf, sie lächelte zaghaft. »Vermutlich ein toter Mann.« »Nein, und das ist ja gerade das Interessante daran. Er hat es mir selbst berichtet.« Trina brachte den Ansatz eines richtigen Lächelns zustande. »In Ordnung – ich hab’ angebissen. Erzähl mir die Geschichte.« »Also, er war Vagabund, so wie ich, und er hatte sein eigenes Floß.« Während er sprach, paddelte Sam unaufhörlich weiter. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß der Zahnfisch ihre
Fährte aufgenommen hatte. »Eines schönen Tages beschloß er, wegen der Hitze ein Bad zu nehmen. Gerade, als er ins Wasser eintauchte, kam ein Zahnfisch mit weit aufgerissenem Rachen nach oben und verschluckte ihn. Deswegen ist er auch nicht von den Zähnen zerfleischt worden. Er hatte nichts abgekriegt. Es war ein richtiges Wunder.« »Es ist völlig unmöglich, etwas Lebendiges hinunterzuschlucken«, sagte Trina. »Und selbst, wenn sonst nichts passiert, spätestens im Magen wird alles verdaut.« »Ich weiß«, sagte Sam. »Mein Freund wußte das auch, aber gerade dadurch wird klar, was für ein Glück er gehabt hatte. Denn, als er so die Kehle hinunterrutschte, da hat er in voller Verzweiflung um sich geschlagen und tatsächlich, er bekam etwas zu fassen und hielt sich fest. Im nachhinein vermutete er, daß es ein Knochen gewesen sein mußte, der dem Zahnfisch im Halse steckengeblieben war. Ganz egal, was es auch gewesen sein mag, es hat meinem Freund das Leben gerettet, daß er sich daran festhielt, während der Rest der Mahlzeit gut hörbar in dem mächtigen Leib verdaut wurde.« »Und wie ging es weiter? Er wird doch wohl nicht immer noch dort baumeln.« »Natürlich nicht. Wie ich dir schon sagte, hatte er Glück. Er trug einen Hut mit einer Feder. Mit seiner freien Hand zog er sich den Hut vom Kopf und biß mit den Zähnen die Feder ab.« Plötzlich beäugte ihn Trina mißtrauisch. »Dein Freund ging mit einem Hut auf dem Kopf schwimmen?« »Oh, hatte ich dir das nicht erzählt? Er hatte eine Glatze, sein Kopf war kahl wie eine Runkelrübe. Er hatte Angst vor Sonnenbrand.« »Das hast du mir tatsächlich nicht erzählt.« Sam grinste. »Wie dumm von mir. Wie denn auch immer, rat mal, was er mit der Feder gemacht hat?« »Wenn ich etwas hasse, dann ist es, etwas raten zu müssen.«
»Er hat damit den Zahnfisch von innen in der Kehle gekitzelt – das hat er damit getan. Und wenn du jemals gekitzelt worden bist, weißt du, wie unangenehm so etwas ist. Nur, von innen gekitzelt zu werden, ist noch tausendmal schlimmer, erst recht für einen Zahnfisch. Der Fisch drehte und wendete sich, hustete und würgte, schnaufte und spuckte. Mein Freund kitzelte ohne Unterlaß. Bis es der arme Fisch endlich nicht mehr aushalten konnte. Er nieste, ein gewaltiges Niesen, wahrscheinlich das mächtigste in der ganzen Geschichte. Mein Freund wurde dabei in hohem Bogen aus der Kehle herausgeschleudert, durch die Zähne, durch das Wasser, wieder hoch bis an die Wasseroberfläche und durch die Luft. Zum Schluß landete er am Ufer in den Ästen einer Kiefer, die ihn sanft auffingen. Er hatte Glück gehabt, es war ihm nichts passiert.« Trina gaffte Sam an, dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist verrückt«, sagte sie ungläubig. Sam grinste. »Ich doch nicht – mein Freund! Ich denke, ihr seid beide verrückt.« Sam zeigte auf die Angel. »Noch einen Fisch?« Einen Augenblick lang dachte sie nach, dann nickte sie. »Ja, bitte sehr – einen Fisch.« Sam lächelte vergnügt. Zum erstenmal war er wirklich davon überzeugt, daß aus Trina doch noch ein guter Vagabund werden konnte.
V
DAS SCHWARZE SCHIFF
Nach einigen Tagen traten die Granitfelsen zu beiden Seiten des Ufers zurück, statt dessen überzog ein dichter, grüner Wald das Land. Es war kurz vor Sonnenuntergang, als das Floß einer langgezogenen Kurve folgte und eine größere Stadt ins Blickfeld kam, die sich in die Bucht schmiegte. Hastig steuerte Sam das Floß ans Ufer und ließ es auf einen schlammigen Hügel auflaufen. »Sobald es dunkel genug ist und alle schlafen«, sagte Sam, »schleichen wir uns vorbei.« Trina runzelte die Stirn, warf eine Strähne ihres glanzlosen Haares nach hinten und funkelte ihn an. »Das werden wir nicht tun. Ich bin müde und dreckig, und mir ist schlecht. Ich werde in meinem ganzen Leben keinen Stechrochen mehr sehen können. Wir bleiben hier.« »Das geht nicht.« »Warum nicht?« »Weil… also, weil es noch zu riskant ist. Was, wenn die Rangels…?« »Zur Hölle mit den Rangels.« Flink huschte sie hinter Sams Rücken und ergriff die Angel. Vorsorglich wich sie zurück, dann faßte sie die Rute mit beiden Händen. »Entweder versprichst du mit, daß wir bleiben, oder ich zerbreche sie.« »Trina, sei nicht töricht.« »Ich frage mich, wer hier töricht ist. Ich habe Hunger.« Durch den Tumult aufgestört, hob Cazie ihren Kopf und blickte strafend um sich.
»Gib mir die Angel«, Sam streckte die Hand aus. »Wenn du sie kaputtmachst, gehe ich einfach in den Wald und schneide eine neue.« »Wenn du dir eine neue Angel besorgen kannst, wieso kannst du mir dann nicht was zum Essen besorgen?« »Weil die Rangels sich nicht für Äste interessieren.« »Welche Rangels?« Mit einer Kopfbewegung über die Schulter deutete sie zur Stadt. »Ich sehe keinen Wachturm. Du etwa?« Sam mußte zugeben, daß sie recht hatte. Das Fehlen eines Turms war etwas, das ihm eigentlich schon vorher hätte auffallen müssen. »Das muß nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein. Offensichtlich vertrauen die Rangels den Leuten in der Stadt.« »Sam, verstehst du denn nicht? Das ist mir völlig egal. Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich mich für immer mit meinem Elend abfinde. Ich verlange doch gar nicht viel – nur ein bißchen zu Essen.« Ihm fiel auf, daß sie den Tränen nahe war. Als es dunkler wurde, blinzelten die Lichter der Stadt zu ihnen herüber. Das Vorhandensein von elektrischem Licht war ein gutes Zeichen. Die privilegierten Städte waren in der Regel auch behagliche Städte, die sich um die Grundbedürfnisse keine Sorgen machen mußten. Sam konnte nicht länger Trinas traurigen Augen widerstehen. »Du hast gewonnen, ich gehe.« »Oh, Sam, wirklich?« Sie ließ die Angel fallen, lief auf ihn zu und küßte ihn auf die Wange. »In der Zeit, wo du weg bist, werde ich ein Bad nehmen. Wenn du zurückkommst, werde ich nicht mehr stinken.« Er sah sie besorgt an. »Gibt acht, wer dir zuschaut.« »Ich kann auf mich selbst aufpassen«, erwiderte sie fröhlich. Sam wurde sich des näher kommenden Hufgeklappers bewußt. Er legte einen Finger auf die Lippen und zeigte mit
dem Kopf auf den Wald. »In der Richtung muß eine Straße sein«, flüsterte er. Trina stieß ihn freundschaftlich an. »Laß dich in die Stadt mitnehmen. Dann bist du schneller zurück.« Sam zögerte. »Viele Leute mögen keine Fremden.« »Laß dir eine gute Geschichte einfallen. Erzähl ihnen von deinem Freund, der vom Zahnfisch verschluckt wurde. Geh schon los. Und mach dir keine Sorgen um mich.« Von Trina gedrängt, sprang Sam an Land. Noch immer war der Widerhall der Pferdehufe klar zu hören. Er machte sich auf den Weg in den Wald. »Sam, warte«, rief ihm Trina mit heiserem Flüstern nach. Er blieb stehen und drehte sich um. »Was gibt es noch?« »Sam, bitte, sei vorsichtig. Ich wüßte nicht, was ich tun sollte, wenn ich dich jetzt verliere.« Ratlos schüttelte er den Kopf. Wollte sie ihn absichtlich verwirren, oder war das nur einfach ihre Art? Im Wald kam Sam leicht und geschwind voran. Seine Unbeholfenheit hatte sich zu unverkennbarer Sicherheit in der gewohnten Umgebung gewandelt. Wie eine wohltuende Musik nahm er das Konzert der verschiedenen Gerüche auf; von Harz, Rinde, Kiefernnadeln und Tannenzapfen. Er schätzte die Geschwindigkeit des Pferdes und die Entfernung bis zur Straße, schlug einen Haken zum Fluß hin, brach durch eine dornige Hecke und stand an der staubigen Straße. Zwanzig Fuß entfernt sah er einen zweirädrigen Karren auf sich zukommen. Sam winkte. Das Gefährt hielt neben ihm an. Der Fahrer war ein Mann mit schmalem Gesicht, der einen teuer aussehenden schwarzen Mantel trug. Neugierig beäugte er Sam. »Ich glaube nicht, daß ich dich kenne«, er sprach langsam und leise und dehnte die Worte. »Ich bin fremd hier.« Sam trug den Spruch vor, den er sich ausgedacht hatte und von dem er hoffte, daß er überzeugend
war. »Ich lebe weiter flußabwärts, und ich bin hierhergereist, um meinen Bruder zu besuchen.« »Gibt es Grund zu der Annahme, daß ich ihn kennen sollte?« Der Wagen war leer, eine Tatsache, die Sam bedauerte. Denn hätte der Fremde Lebensmittel bei sich gehabt, wären keine zehn Minuten vergangen, und Sam wäre wieder auf dem Weg zurück zu Trina gewesen. Sam schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Er hält sich nie in der Stadt auf.« Der Fahrer strich gedankenverloren über seinen grauen Schnurrbart. »Ein schlanker Bursche mit einer Hakennase? Dichte zusammengewachsene Augenbrauen? Spricht schnell und freundlich, aber mit traurigem Unterton?« Sam glaubte nicht, daß ihm eine Falle gestellt würde. »Das könnte er sein.« »Ich glaube, dann weiß ich, wer er ist. Er ist letzte Woche in die Stadt gekommen.« Der Fremde rückte zur Seite. »Komm rauf. Ich bin Snick, und wer bist du?« »Sam«, sagte Sam und ließ sich mit seinem breiten Hinterteil auf der schmalen Planke nieder, die den Sitz darstellte. Snick zog die Zügel an, um das alte Pferd wieder in Gang zu bringen. Holpernd und schwankend fuhr der Wagen auf der ausgefahrenen Straße dahin. »Ich bin Händler«, erklärte Snick. »Genauer gesagt, Kleiderhändler. Es hätte mich gefreut, dir etwas vorführen zu können, aber wie du selbst siehst, habe ich alles verkauft.« »Du kommst sicher ganz schön rum.« »Nur um den Fluß herum. Fünfzig Meilen auf dieser Seite, fünfzig Meilen auf der anderen Seite. Die, die weiter weg wohnen, sollen zur Stadt kommen, dort habe ich meinen Laden.« »Auf deinen Reisen, hast du da je ein schwarzes Schiff auf dem Fluß gesehen – ein schwarzes Schiff aus Eisen?«
Snick schüttelte verneinend den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte. Schiffe sind ziemlich selten. Das einzige Schiff, an das ich mich erinnern kann, habe ich gesehen, als ich noch ein kleiner Junge war. Es war ein Schaufelraddampfer und gehörte einem Zauberer, der bei uns anlegte. Abends zog er dann seine Show ab.« Sam nickte höflich. Jetzt, als er erfahren hatte, was er wissen wollte, lag ihm nichts mehr an der Fortsetzung des Gesprächs. Aber bei dem Risiko, das er sowieso schon auf sich nahm, hatte es ihn gedrängt, sich auch gleich nach dem schwarzen Schiff zu erkundigen. Da er nun wußte, daß es nicht in der Nähe war, war ihm wohler. Schweigsam fuhr Snick weiter. Nach einigen Minuten fuhren sie schon an den ersten Blockhäusern der Stadt vorbei. »Wir haben sie Lomata genannt«, erklärte Snick. »Lomata ist die größte und modernste Stadt am Fluß im Umkreis von ungefähr fünfhundert Meilen. Wir haben auch keinen Wachturm, wie du vielleicht schon bemerkt hast. Wir haben die Rangels vor zwanzig Jahren besiegt und aus der Stadt vertrieben.« »Das muß ganz schön schwierig gewesen sein«, sagte Sam. »Eigentlich nicht besonders. Die Rangels haben schließlich begriffen, daß wir mit irgendwelchen dahergelaufenen Vagabunden und Dieben auch ganz gut selber zurechtkamen. In einer ehrbaren Stadt hat Gesindel nichts verloren.« »Dem kann ich nur zustimmen. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur einen von ihnen sehe. Leute, die glauben, sie könnten leben, ohne dafür zu arbeiten. Abstoßend.« »Das kann man wohl sagen«, stimmte Snick zu. Die Stadt war längst nicht so groß, wie Sam aufgrund von Snicks Prahlerei angenommen hatte. Die meisten Häuser waren einstöckige Blockhütten. Die Hauptstraße wurde elektrisch beleuchtet. Sam entdeckte zahlreiche Läden für die verschiedensten Lebensmittel, jetzt waren sie natürlich
geschlossen. Es waren wenige Leute auf der Straße. Wie die meisten Menschen der Erde zogen es auch die Einwohner von Lomata vor, den Gespenstern der Nacht aus dem Weg zu gehen. »Du kannst mich hier irgendwo rauslassen. Ich werde meinen Bruder schon finden.« Sie waren gerade an einem großen Kaufhaus vorbeigekommen. Die Tür war zwar mit einem Vorhängeschloß gesichert, doch Sam konnte sich vorstellen, daß er dort drinnen alles finden würde, was sein Herz begehrte. »Wenn du willst, fahr ich dich hin«, sagte Snick. Er schnalzte dem Pferd aufmunternd zu. »Zufällig weiß ich, wo er wohnt.« »Ich will dir keine Umstände machen.« »Es macht mir keine Umstände. Es liegt an meinem Weg.« Sam zuckte mit den Achseln. Er würde nur unnötig Verdacht erregen, wenn er sich weiter sträubte. Wenn er tatsächlich seinem vermeintlichen Bruder entgegentreten mußte, konnte er immer noch sagen, es handele sich um einen Irrtum. Snick bog in eine weniger gut beleuchtete Straße ein. Die Häuser waren hier größer. Herdfeuer schimmerten hell durch klare Glasfenster. Auf einer Wiese in einem Hof spielte eine Gruppe fröhlich lachender Kinder. In Augenblicken wie diesen verspürte Sam häufig einen Stich im Herzen. Die Freiheit hatte ihre Vorzüge, die Geborgenheit eines sicheren Lebens hatte sie jedoch ebenso. Er entbehrte den Luxus eines gemütlichen Hauses, eines Freundeskreises und eines gesicherten Lebensunterhaltes. Vielleicht würde Trina ihm helfen, zumindest seine quälende Einsamkeit zu überwinden. Es war schon sehr lange her, daß er einen Freund gehabt hatte – Ellen O’Denver. Vielleicht war das sogar der Grund gewesen, warum er Trina mit sich genommen hatte. Vielleicht hatte er nur einen Freund gebraucht. Der Wagen hielt vor einem gedrungenen Ziegelsteinhaus. Snick schwang sich vom Fahrersitz und reichte Sam die Hand,
um ihm beim Hinabsteigen behilflich zu sein. »Ich geh’ mit rein. Ich kann mir vorstellen, daß sich dein Bruder ganz schön freuen wird.« Sam sah keinen Ausweg mehr, seinem Schicksal zu entrinnen. In der Dunkelheit des Himmels entfachten die Sterne ihr leuchtendes Feuer. Im Osten wanderten Mondbrocken, später würden noch mehr auftauchen. Snick klopfte an die Tür. »Toma, Kelp. Ich habe euch einen Gast mitgebracht.« Langsam bewegte sich die Tür in den Angeln. Ein stupsnäsiges, pausbäckiges Gesicht schaute heraus. »Was redest du da, Snick?« »Hier, den Burschen habe ich unterwegs aufgegabelt. Er sagt, er sei Reardons Bruder.« »Tatsächlich, sagt er das?« Der Stupsnäsige grinste breit über das ganze Gesicht. »Toma wird ihm sicher gerne guten Tag sagen wollen.« »Ich bin Sam«, sagte Sam und trat unsicher vor. »Ich bin fremd hier, aber…« »Komm rein.« Snick trat beiseite und ließ Sam als ersten hineingehen. Er hatte kaum die Schwelle überschritten, da wußte Sam, daß er einen Fehler begangen hatte. In dem einzigen Raum des Hauses war ein zweiter Mann. Er hielt den Lauf einer RangelPistole auf seinen Oberkörper gerichtet. »Hände hoch«, sagte er. Sam hob die Arme und schob sich in den Raum. Hinter sich hörte er Snick kichern. »Das ist Sheriff Toma«, stellte er vor. »Sheriff, das ist Reardons Bruder.« »Wie das?« sagte Toma. Er war ein schwerfälliger Mann mit einem Backenbart. »Ohne Zweifel, sehr nett von ihm, mal vorbeizuschauen und guten Tag zu sagen.«
»Hier muß ein Irrtum vorliegen«, sagte Sam. »Mein Bruder heißt nicht…« »Du kommst besser mal mit.« Ohne sich vom Fleck zu rühren, deutete Toma auf eine Tür an der Rückwand des Zimmers. Sam ging durch die Tür und landete in einem Raum, an dessen einer Seite vergitterte Zellen aufgereiht waren. Die letzte Zelle war besetzt. Der Gefangene war groß, knochig, mit himmelblauen Augen, breiter Hakennase und schwarzen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren. »Hallo, Reardon«, rief Sheriff Toma, »hier ist jemand, der behauptet, dein Bruder zu sein.« »Seht ihr?« sagte Sam. »Habe ich es nicht gesagt? Es ist ein Irrtum.« »Genausogut könnt ihr beide lügen. Kelp«, rief Toma den Mann, der Sam in das Gefängnis eingelassen hatte, »mach mal auf. Wir wollen den beiden Gelegenheit geben, sich über ihre Stammbäume zu verständigen.« Hinter Sam fiel die Zellentür klirrend ins Schloß. Der Gefangene, Reardon, lehnte an der Rückwand, die Hände in den Taschen vergraben. »Ich stelle es mir so vor«, Toma sprach mit ihnen durch die Eisenstäbe. »Ihr bleibt hier drei Nächte lang drin. Wenn die letzten Mondbrocken aufgehen, laß’ ich euch raus, vorausgesetzt, ihr seid sauber.« »Drei Nächte!« schrie Sam. »Ich kann nicht drei Nächte hierbleiben!« Toma zuckte mit den Achseln. »Ich weiß keinen anderen Weg, um herauszukriegen, ob einer von euch beiden lügt.« Langsam dämmerte es Sam. Der Aufgang der letzten Mondgestirne konnte nur eins beweisen. »Du denkst, ich sei…«
Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter: Es war Reardon. »Ich fürchte, dein Verdacht ist richtig. Sie glauben, wir könnten Werwölfe sein.« »Aber es gibt doch gar keine Werwölfe«, kam es Sam automatisch über die Lippen. Sorgenvoll wiegte Toma den Kopf. »Genau das wollen wir herausfinden.«
VI
WOLF-MENSCH
Sobald sie allein waren, streckte Reardon seine schmale Hand nach der Bank aus, die an Ketten von der Wand herunterhing. »Leg dich drauf, wenn du willst, Bruder. Es freut den Sheriff, wenn er sieht, daß ich die ganze Nacht wach bin.« Sam sah sich in der engen Zelle um. Außer der Bank gab es keine Möbel, nicht einmal ein Waschbecken. Ein Loch im Fußboden diente als Toilette, und durch das vergitterte Fenster an der Rückwand der Zelle sah man nur auf die weiße Wand des Nachbarhauses. Sam konnte vor Zorn nicht einschlafen. »Es geht mir nicht in den Kopf, daß Leute so dumm sein können. Werwölfe sind doch nichts anderes als verrückte Phantastereien, die den Gehirnen der Hexer entsprungen sind, um die Leute zu erschrecken und sich nachts in ihren Häusern zu halten. Wie kann ein vernunftbegabtes Wesen nur an so etwas glauben?« Reardon lächelte schief. »Bist du sicher, daß du nicht einen Faktor übersehen hast, Bruder?« »Hör auf, mich Bruder zu nennen. Verdammt noch mal, wir sind nicht verwandt. Nenn mich Sam – so heiße ich nämlich.« »Tut mir leid, Sam. Du hast nämlich was übersehen: Der Sheriff ist gar nicht so dumm, wie er aussieht. Weißt du, ich bin nämlich ein Werwolf.« Sam glotzte Reardon an und erwartete, daß dieser jeden Augenblick dem Witz ein Ende machen und zu lachen anfangen würde. Das war aber nicht der Fall. »Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich das glaube.«
Reardon zuckte mit den Achseln. Er saß mit hochgezogenen Knien auf der Kante der Bank. »Glaub, was du willst, aber Tatsache ist, daß ich mich in drei Tagen in dieser Zelle einer Verwandlung unterziehen werde, die zur Folge haben wird – dessen bin ich mir ziemlich sicher –, daß du freigelassen wirst und ich eine Silberkugel durchs Herz geschossen bekomme. Dieser Teil des Mythos stimmt übrigens: Werwölfe sind gegenüber den meisten Mordinstrumenten immun, aber Silber schafft uns.« Sam hörte nicht auf, ihn anzustarren. »Sie können dich doch nicht einfach töten?« »Sicher können sie. Warum denn nicht? Was würdest du denn machen, wenn du plötzlich einer wütenden Bestie in Menschengestalt gegenüberstehst?« »Du machst Witze.« »Ich mache daraus keine Witze. Wenn du in meinem Alter wärst – ich bin so um die 150 Jahre alt –, wäre dir die Lust auf Späße auch schon längst vergangen. Ich fand es nicht einmal witzig, als du hier reinkamst und vorgabst, mein Bruder zu sein. Wie bist du überhaupt auf so eine verrückte Idee gekommen?« Sam hatte keine Lust, es ihm zu erklären. Schon beim bloßen Gedanken daran fiel ihm Trina ein. Sie müßte mit ihrem Bad inzwischen fertig sein. Was würde sie jetzt anstellen? Wie lange würde es dauern, bis sie durchdrehte und irgend etwas Dummes anstellen würde? »Bist du wirklich 150 Jahre alt?« fragte Sam. »Ich bin wirklich hundertfünfzig Jahre alt. Eins ist sonderbar. Mein Alter scheint die Leute am meisten zu beeindrucken. Der Werwolf, der mich gebissen hat, der, der mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin, gab an, er sei mehr als tausend Jahre alt. Er sagte, er könne sich noch gut daran erinnern, wie die Welt beschaffen war, bevor die Rangels kamen.«
Sam sah nichts Schlimmes darin, sich mit ihm zu unterhalten. Und wenn es nur war, um die Zeit schneller vergehen zu lassen. »Ich habe mich schon immer gefragt, wie die Welt vor den Rangels ausgesehen haben mag.« »Anders als jetzt – ganz anders. Besser? Für einen Werwolf vielleicht. Wenige Leute haben damals an so etwas geglaubt. Der Durchschnittsmensch nicht, würde ich sagen. Es war eine entsetzliche Zeit. Milliarden von Menschen auf dem Globus, und kaum genug Lebensmittel, um die Hälfte davon zu ernähren. Lange davor hatten sich die Menschen mal auf den Weg zu den Sternen aufgemacht, aber die Rasse war alt und müde und starb, ohne es zu bemerken. Das ist vielleicht immer noch so. Die Rangels haben uns einige zusätzliche Jahrhunderte gegeben.« »Woher weißt du das alles?« »Ich sagte es dir doch schon. Der Mann, der mich zum Werwolf machte, hat es mir erzählt. Es war so seine Art Verteidigungsrede, nachdem er mich zu dem gemacht hatte, was ich nun bin. Er war nicht mehr zu stoppen.« »Und was ist mit den Rangels? Wie haben sie uns geholfen? Soweit ich weiß, haben sie alles zerstört – die Städte und überhaupt alles.« »Das stimmt. Es war ein furchtbarer Krieg. Millionen von Menschen starben. Eine Zeitlang sah es aus, als ob die Rangels alles Leben auslöschen wollten, aber dann hielten sie plötzlich inne, siedelten die Überlebenden hier am Fluß an und errichteten ihre Wachtürme. Und sind geblieben.« »Der Mann, der dich gebissen hat, muß doch wahnsinnig glücklich gewesen sein, daß er überlebt hat.« »Die meisten Werwölfe überlebten. Das ist ganz merkwürdig, aber die Rangels haben uns immer in Ruhe gelassen. Auch heute noch. Meine Theorie ist, daß sie uns nicht als Menschen betrachten. Für sie sind wir eine eigene Spezies.«
»Du bist also nicht der einzige Werwolf?« »Bestimmt nicht. Ich schätze, daß es ein paar hundert von uns hier am Fluß gibt. Ich habe niemals genau nachgezählt, und wir sind wenig gesellig. In neunundneunzig von hundert Fällen stirbt das Opfer eines Werwolfs. Wir können uns in dem Stadium nicht mehr beherrschen.« Gegen seinen Willen spürte Sam Übelkeit in sich aufsteigen. Wenn Reardon die Wahrheit sagte, was würde sich dann in dieser winzigen Zelle abspielen, wenn der letzte Mondbrocken am Himmel aufging? Reardon stand auf. Er ging auf Sam zu und senkte vertraulich die Stimme. »Sam, ich möchte dich etwas fragen. Ist dir je ein Vampir begegnet? Eines von diesen Wesen, die Blut trinken und niemals sterben?« Langsam schüttelte Sam den Kopf. Er mußte erst einmal Zeit gewinnen, um den Schock zu verdauen, den Reardons Frage ihm versetzt hatte. »Nicht, daß ich wüßte.« »Ich frage aus einem bestimmten Grund. Es ist so, ich habe einmal eine Frau geliebt. Sie ist das schönste Wesen, das je lebte. Sie ist zehntausend Jahre alt, und sie ist ebenso weise und grausam, wie sie schön ist. Ich liebe sie, Sam. Hast du je eine Frau geliebt?« »Ich habe einmal eine geliebt.« Er wandte sich ab, um sein Gesicht dem neugierigen Blick Reardons zu entziehen. »Dann weißt du, was ich fühle. Es ist jetzt gerade vier Jahre her. Ich habe sie geliebt und verloren. Sie ist ein Ungeheuer, Sam, und am liebsten hätte sie mich getötet. Ich habe geglaubt, daß mein Leben mehr wert sei als meine Liebe, aber ich habe mich geirrt.« »Wie heißt sie?« Sam blieb die Frage beinahe in der Kehle stecken.
»Nerdya.« Spöttisch fragte ihn Reardon, »du kennst sie nicht zufällig?« Noch immer das Gesicht abgewandt, schüttelte Sam mit dem Kopf. »Bitte, tu mir einen Gefallen. Halt nach ihr Ausschau. Nerdya befährt den Fluß mit einem schwarzen Schiff aus Eisen. Wenn du sie triffst, dann sag ihr bitte folgendes: Reardon, der Werwolf, starb mit deinem Namen auf den Lippen. Sag es ihr, und vielleicht wird sie die Qual begreifen, die ich erduldet habe, seit ich sie verließ.« »Aber noch bist du nicht tot«, brachte Sam unter Mühen heraus. Reardon schien es nicht zu bemerken. Er war in seiner eigenen Welt versunken. »Noch nicht, aber es dauert nur noch drei Nächte. Es ist nicht so schlimm. Wenn nicht die Sache mit Nerdya wäre, würde ich den Tod willkommen heißen wie einen guten Freund. Ich habe alles gesehen, Sam. Ich habe diese gottverdammte Welt von einem Ende zum anderen durchwandert. Ich habe den Riesensee und das große Meer gesehen und alles, was dazwischenliegt. Ich habe alles gesehen, außer der Heimstatt der Freien Menschen, und ich bezweifle, daß es sie gibt. Denn würde sie existieren, hätte ich sie gefunden. Versprich es mir, Sam. Versprich mir, daß du Nerdya finden und ihr berichten wirst, was ich dir gesagt habe. Bitte. Das ist die einzige Bitte, die ich an dich habe.« Sam nickte. Was hätte er auch sonst tun sollen? »Ich verspreche es.« Offensichtlich zufrieden, wandte sich Reardon ab. Die Erinnerung an Nerdya, den Vampir, hatte ihn nachdenklich und wehmütig werden lassen. Er lag in der Hängematte und starrte die Wand an. Sam blickte auf die Zellentür. Die Eisenstäbe warfen breite schwarze Schatten auf sein Gesicht.
VII
NERDYAS SOHN
In den darauffolgenden beiden Tagen überwand sich Sam und fragte Reardon genauer über Nerdya aus, vor allem über ihren augenblicklichen Aufenthaltsort. Reardon versicherte, daß ihm dieser völlig unbekannt sei. »Seit ich von ihrem Schiff geflohen bin wie der feigste aller Feiglinge, habe ich sie und das Schiff nicht mehr gesehen. In den letzten vier Jahren habe ich immer wieder Gerüchte über ihren Aufenthaltsort gehört, aber stets war keine Spur mehr von dem schwarzen Schiff zu sehen, wenn ich in der bezeichneten Stadt oder in dem Dorf angelangt war. Deshalb bin ich auch nach Lomata gekommen, aber wie du siehst, war es wieder eine falsche Fährte.« »Dann hast du auch keine Ahnung, welche Route sie hat? Ich meine, wenn du wüßtest, wohin sie will, hättest du ihr zuvorkommen können.« »Daran hatte ich auch schon gedacht, aber es ist einfach nicht möglich. Sie verfolgt jemanden – das hat sie schon getan, als ich sie kannte. Sie ist hinter ihrem Sohn her.« »Ihrem Sohn?« »Ja. Ein oder zwei Jahre, bevor ich auf sie stieß, muß er wohl das Schiff verlassen und irgend etwas Wertvolles aus Nerdyas Besitz mitgenommen haben. Das will sie zurückhaben, und deshalb sucht sie ihn.« »Was hat er denn mitgenommen?« »Ich weiß es nicht. Sie hat es mir nie erzählt. Du kennst sie eben nicht, Sam. Nerdya ist die geheimnisvollste Frau, die je gelebt hat.«
Das Schlimmste an der Tatsache, im Gefängnis zu sitzen, war für Sam nicht das Eingesperrtsein, sondern Trinas Lage. Wo war sie jetzt? Was tat sie? Immer, wenn Sheriff Toma oder Kelp, sein Assistent, das Essen brachten, versuchte er, sie auszufragen. Etwa, hat es neue Unruhen in der Stadt gegeben? Ist wieder ein Vagabund aufgegriffen worden? Sind Besucher in der Gegend? Er bemühte sich, seine Fragen möglichst geschickt zu stellen, aber schließlich bemerkte Reardon doch, daß da etwas nicht stimmte. Es war am Nachmittag des zweiten Tages, nach dem Mittagessen, als er sich zu Sam umdrehte und sagte: »Du hast also noch einen Freund draußen, nicht wahr?« »Da irrst du dich.« Er traute niemanden, wenn es um Trina ging. »Vagabunden gehen grundsätzlich alleine – das müßtest du doch wissen.« »Ist es eine Frau?« »Ich habe dir doch gesagt, du irrst dich.« »Ist sie hübsch?« »Nein. Ich meine ja. Ich meine, ach, halt den Mund, und laß mich in Ruhe.« Es blieb Sam nichts anderes übrig, als auf das baldige Ende seiner Gefangenschaft zu hoffen. Sobald der letzte Mondbrocken aufging und bewies, daß er kein Werwolf war, würde man ihn freilassen. Vorausgesetzt, daß Reardon ihn nicht vorher schon zerrissen hatte. Doch noch am Abend des gleichen Tages zerstörte Sheriff Toma sogar diese Hoffnung. Er lehnte an der Wand des Zellenblocks und nestelte an der Rangelwaffe an seinem Koppel. »Es ist also ein Rangelmörder unter uns, nicht wahr?« Während er sprach, sah er Sam an. Sam drehte sich der Magen um. »Sie können unmöglich mich meinen, Sheriff.«
»Du brauchst es gar nicht abzustreiten.« Toma seufzte. In seinem Blick war so etwas wie Bewunderung. Sam nahm an, daß auch Toma nicht viel für die Rangels übrig hatte, trotz des guten Rufs der Stadt für absoluten Gehorsam ihnen gegenüber. »Ich hab’ vor ein paar Minuten einen Hinweis vom Wachturm bekommen. Sie suchen einen Mann, dessen Beschreibung haargenau auf dich paßt, der irgendwo die Waffe eines Rangels in den Fluß geschmissen hat. Es muß wohl auch noch ein Mädchen mit im Spiel sein.« »Das bin ich nicht. Das ist ein Irrtum.« »Vielleicht. Das zu entscheiden, ist nicht meine Aufgabe, und auch nicht deine. Es ist schon ein Flugschiff auf dem Weg, das dich abholt. Es müßte in einigen Stunden hier sein.« Toma stieß sich von der Wand ab. »Über das Mädchen weißt du nichts? Die Rangels sind an ihr anscheinend noch mehr interessiert. Sie soll die Tochter eines Hexers sein.« »Es ist alles nur ein dummer Irrtum – weiter nichts!« »Das ist deine Sache, mir ist es egal.« Nachdem Toma gegangen war, kam Reardon zu Sam. Sorgenvoll schüttelte er den Kopf. »Das tut mir sehr leid. Da habe ich doch gedacht, daß ich dich morgen abend zum Essen hier hätte.« »Halt die Klappe, und laß mich in Ruhe!« »Ein Rangelmörder. Ich muß gestehen, daß ich beeindruckt bin. Selbst zu meinen besten Zeiten als Werwolf bin ich nie auf die Idee gekommen, sie auch nur zu belästigen. Sie wirken so harmlos, trotz allem, was sie hier tun.« »Ich habe dich gebeten, den Mund zu halten.« »Oder hat es das Mädchen getan? Die Tochter eines Hexers. Das wäre genauso beeindruckend.« Sam ging Reardon an die Kehle. Er war wild entschlossen, ihn zum Schweigen zu bringen, aber ein Blick in seine müden, leeren Augen hinderte ihn daran, sein Vorhaben auszuführen.
Er sah beinahe so aus, als wolle Reardon, daß Sam ihn angriff, um sich durch ihn einen einfachen Tod zu verschaffen. Sam ließ von Reardon ab. »Tut mir leid«, sagte Reardon sanft. »Manchmal bin ich übermäßig gehässig.« Er krabbelte in die Hängematte, drehte sich mit dem Gesicht zur Wand, und nach einigen Minuten war er fest eingeschlafen. Bis kurz vor Mitternacht passierte nichts mehr. Als es losging, war Reardon gerade wach. Die Zellentür schwang weit auf, schlotternd trat Kelp ein. Er war nicht allein. Mit ihm war ein buckliger Hexer in schwarzen sackleinenen Gewändern gekommen. Das einzige, was Sam von seinem Gesicht erkennen konnte, war ein glattes, gutrasiertes Kinn. »Und du bist sicher, daß Toma einverstanden war«, sagte Kelp. »Er hat mir nämlich Order hinterlassen, nicht jeden einzulassen.« »Der Ritus der Geisterbeschwörung muß heute nacht stattfinden oder nie«, sagte der Hexer mit dünner, aber seltsam tiefer Stimme. »Wenn du willst, frag ihn selbst. Oder Hexer Quill. Er kann für meine Integrität bürgen.« Kelp seufzte. »Hoffentlich kann ich dir vertrauen.« Er zog die Rangel-Pistole aus dem Gürtel und richtete sie auf die Gefangenen. »Ihr beiden, stellt euch an die Wand. Der Hexer hier will mit euch sprechen.« Sam war nicht in Stimmung für Konversation, aber die Waffe erlaubte keine langen Diskussionen. Reardon und er lehnten sich an die Mauer. Kelp schloß die Zellentür auf und winkte den Hexer herein. Dann verschloß er die Tür wieder und quetschte sich selbst in den engen Flur vor der Zelle und blieb dort mit erhobener Pistole stehen. Eine hastige Kopfbewegung des Hexers in Richtung Kelp verriet seine Ungeduld. »Um den Ritus zu erfüllen, muß ich allein sein. Es ist so vorgeschrieben.«
»Aber ich kann nicht einfach gehen«, brachte Kelp vor. »Gesetzt den Fall, du kommst in Schwierigkeiten, wer soll dann Hilfe holen?« »Schwierigkeiten? Welche Schwierigkeiten? Ich bin mit den Männern hier drin, und du bist da draußen. Die Zelle ist fest abgeschlossen.« »Mir gefällt das nicht.« Zögernd rückte Kelp zur Tür vor. »Falls irgendwas passieren sollte, ruf nach mir. Schrei, was deine Lungen hergeben, dann komme ich und blas die beiden aus.« »Ich schätze deine Umsicht, Sheriff.« »Hilfssheriff. Ich bin nur Hilfssheriff.« Kelp war kaum gegangen, da faßte sich der Hexer an den Buckel, warf den schwarzen Umhang zur Seite und enthüllte sein Gesicht. Völlig überwältigt, stand Sam regungslos da. »Trina!« rief er aus. »Trina, was um…« Warnend hob sie den Finger an die Lippen. »Sam, nicht so laut.« »Aber, wie kommst du hier herein?« fragte er, nun mit leiserer Stimme. Sie grinste listig und zeigte ihre Zähne. »Hast du nicht gehört, was ich Kelp eben gesagt habe? Ich bin hier, um eine Geisterbeschwörung vorzunehmen. Wenn ich mich nicht täusche, bist du ein Werwolf.« »Ich nicht.« Sam zeigte auf Reardon. »Der da ist es.« Reardon verneigte sich unbeholfen. »Reardon, der Werwolf, zu Ihren Diensten.« Trina war sich ihrer nicht ganz sicher. »Du siehst nicht wie ein Werwolf aus.« »Warte bis morgen nacht«, sagte Sam. »Wir müssen hier raus.« Trina setzte sich wieder ihren Buckel auf. »Die ganze Stadt ist wild auf deinen Kopf, Sam.
Letzten Monat, als alle Mondbrocken am Himmel standen, sind ein Mann und eine Frau von einem großen Tier umgebracht worden.« Sam blickte auf Reardon, aber der tat so, als ob er nicht zuhören würde. »Noch schlimmer, Trina. Sie wissen über den Rangel Bescheid. Ein Flugschiff ist unterwegs, um mich abzuholen. Du wärst besser abgehauen, als du dazu noch Gelegenheit hattest. Sie suchen dich genauso wie mich.« Sie zuckte die Schultern und heuchelte Sorglosigkeit. »Wenn ich es nicht von mir aus getan hätte, hätte Cazie mich darum gebeten. Sie sehnt sich nach dir, Sam.« »Wo ist das Floß?« »Hinter der Stadt. Ich habe es letzte Nacht dorthin gebracht, als ich sicher war, daß du nicht mehr kommen würdest.« »Und wo hast du diese Hexerkleider her?« »Was denkst du? Gestohlen habe ich sie. Der Hexer hier in der Gegend ist ein alter Mann namens Quill. Er kennt meinen Vater. Ich stattete ihm heute nachmittag einen Höflichkeitsbesuch ab und ließ meine Finger wandern. Was ist nun? Seid ihr bereit?« »Aber wie willst du es anstellen…?« »Paß nur auf.« Trina hielt ihre Hände trichterförmig an den Mund. »Kelp! Kelp! Kelp, komm her!« rief sie mit männlicher Stimme. Kelp platzte herein. Er hatte nicht viel mehr Zeit gebraucht, als Trina für ihren Hilferuf. Er hielt die Waffe schußbereit in der Hand. Verdutzt ließ er jetzt die Hand wieder sinken. »Was ist denn los, Hexer?« »Ich bin sehr erzürnt«, sagte Trina. »Wie kann man von mir verlangen, daß ich in diesem Raum meine Arbeit tue?« »Eine Zelle ist eben eine Zelle«, begann Kelp. »Ich habe das durchaus verstanden. Aber wovon ich spreche, das ist das – das hier.« Sie zeigte neben die Hängematte,
dorthin, wo kein Licht hinfiel. »Das ist schlicht und einfach unerträglich.« Angestrengt schielte Kelp zu den Schatten hinüber. »Ich sehe nichts.« »Dann komm rein und überzeug dich selbst.« Völlig verwirrt, sperrte Kelp die Zellentür auf. Als er hereinkam, trat Trina übertrieben höflich zur Seite und ließ ihn durch. Sie holte mit dem Arm aus und ließ ihn niedersausen. Ihre harte Handkante traf Kelp hinten am Nacken. Bewußtlos sank er zu Boden. Reardon applaudierte. »Bravo«, rief er, »Bravo!« Trina lächelte schüchtern. »Mein Vater hat mir das beigebracht. Er hielt viel von Selbstverteidigung.« »Wir sollten uns jetzt beeilen«, sagte Sam. Er blickte Trina erstmals voller Respekt an. »Die Rangels können jeden Augenblick hier eintreffen.« »Ich weiß.« Trina bückte sich und hob die Pistole auf. »Du hast doch wohl nicht vor, die Waffe zu behalten«, sagte Sam besorgt. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Lektion gelernt. Ich will sie auf der Straße verlieren.« »Gut.« Draußen hielt Trina ihr Versprechen. Sie schleuderte die Waffe und die Gefängnisschlüssel weit hinaus in die Nacht. Dann schlugen die drei den Weg zum Fluß ein. Sam kontrollierte den Himmel. Er wollte das Flugschiff der Rangels eher entdecken als sie ihn. Ein kalter Wind blies und trieb Nebelfetzen vor sich her. Da es so spät war, hielt sich glücklicherweise niemand mehr auf der Straße auf, nur hinter einigen Scheiben glimmten noch schwache Lichter. Trina ging voran. Sie machte immer noch viel zuviel Lärm beim Gehen, aber Sam brachte es nicht übers Herz, es ihr zu sagen.
Der vertraute Geruch des gurgelnden Flusses trieb sanft zu Sam herüber. Trina führte sie nach unten auf einen schmalen Pfad, der am Ufer entlangführte. Nach etwa fünfzehn Metern bog sie eine große Hecke auseinander und winkte die anderen hindurch. Dort tanzte das Floß im seichten Wasser. Ein regloser Haufen im vorderen Teil war Cazie, die fest schlief. Sam hörte ein durchdringendes Pfeifen und schaute zum Himmel. Die goldenen Lichter eines Rangelluftschiffs trieben in ungefähr fünfzehn Meter Höhe über sie hinweg. »Sie wollen in die Stadt«, sagte Sam, »es scheint sich um meine Eskorte zu handeln.« »Und was machen wir jetzt?« fragte Trina. »Auf den Fluß können wir uns jetzt nicht wagen, oder?« »Wir müssen«, erwiderte Sam. »Sie wissen immer noch nichts von dem Floß. Ich habe mich bemüht, den Eindruck zu erwecken, daß wir zu Fuß unterwegs sind. Solange wir uns dicht am Ufer halten, müßten wir sicher sein.« Reardon räusperte sich. In der Aufregung der Flucht hatte Sam ihn vergessen. »Ich will nicht aufdringlich sein, aber bin ich zu der Vergnügungsfahrt eingeladen oder nicht?« Sam war versucht, nein zu sagen. Er stieg auf das Floß, griff nach dem Paddel und setzte sich in Positur, um das Floß abzustoßen. »Es ist nicht sehr groß.« »Wenn sie mich kriegen, töten sie mich – so wie dich.« »Ich dachte, dir macht der Tod nichts aus.« »Nur solange ich dachte, daß ich keine Aussicht mehr auf Leben hatte.« Sam sah Trina an. Ihre Gefühle waren leicht zu deuten. Sie hatte Mitleid mit Reardon – Mitleid mit einem Werwolf. »Ich bin einverstanden. Spring auf.« »Sam, du bist ein ausgesprochen nettes und großzügiges menschliches Wesen.«
Sam stieß das Floß vom Ufer ab. Er übergab Trina das Paddel und übernahm selbst das Ruder. Er stieß durch den dichtbewachsenen Uferstreifen. Er drehte sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf Lomata. Die Stadt lag in völliger Dunkelheit, eine schwache Andeutung von Zivilisation. Aus den Augen, aus dem Sinn, dachte er. Wegen der beständigen Strömung des Flusses besuchte er nie seine Vergangenheit. Seine Fahrt auf dem Fluß entsprach der Reise des Lebens durch die Zeit. Ein einmal gelebter Augenblick verschwand für immer. Er würde diese Stadt nie wiedersehen.
VIII
MYLAN DER MAGIER
Sam hatte sich vorgenommen, Reardon an Land zu setzen, sobald sie die nächste Siedlung erreichten. Unglücklicherweise war es fast dunkel, als sie am nächsten Tag an einer einsamen Blockhütte vorüberkamen. Als Sam kurz darauf am östlichen Ufer ein kleines Dörfchen erspähte, war ihm schon längst klargeworden, daß der einzige Weg, Reardon loszuwerden, der war, ihn ins Wasser zu werfen. Reardon war schon viel zu lange auf dem Floß – er würde bleiben. Trina würde sich für ihn einsetzen. Sam wußte, daß sie nichts dafür konnte; sie kannte ganz einfach die Gesamtsituation nicht. Und Reardon hatte »Lady Trina« den ganzen Tag hofiert. »Lady Trina« hier und da, und sie war die wunderbarste und schönste Frau, die ihm jemals begegnet war. So war es auch kein Wunder, daß sie ärgerlich mit dem Fuß aufstampfte, als Sam ein paar hundert Meter oberhalb des Dorfes das Floß ins seichte Wasser steuerte. »Sam, ich kann nicht glauben, daß du wirklich so grausam sein kannst. Sieh dir diesen Ort an. Absolutes Niemandsland, und dort steht auch ein Wachturm. Wenn du Reardon hier an Land gehen läßt, was meinst du, wie lange er durchhalten kann?« »Ungefähr so lange, wie er bis jetzt schon durchgehalten hat: etwa hundertfünfzig Jahre.« »Sam, du bist nicht fair.« »Ebensowenig ist es fair, daß Reardon hier auf dem Floß ist.« »Das müßtest du mir schon genauer erklären.« Sam öffnete den Mund, um mit seiner Erklärung zu beginnen, aber es fehlten ihm die richtigen Worte, um auszudrücken, was
er ihr sagen wollte. Wie sollte das auch möglich sein, wo doch Reardon dicht hinter ihnen saß? Nein, es war unmöglich. Sam hatte eine ganze Reihe von Gründen, warum er Reardon gerne losgeworden wäre, aber einer war mit Abstand der schwerwiegendste: Nerdya, der Vampir. Reardon hatte im Laufe des Tages durchblicken lassen, sie könnten ein Stück weiter flußabwärts ihr Schiff treffen, wenn das Gerücht, das er im Gefängnis aufgefangen hatte, zuträfe. Deshalb war Sams Floß für ihn ein geeignetes und schnelles Transportmittel. Aber wie sollte er all das Trina erklären. Er hätte ihr dann fairerweise genau erklären müssen, warum sie, koste es, was es wolle vermeiden mußten, näher als hundert Meilen an Nerdya heranzukommen. Und darüber konnte er so lange nicht sprechen, wie Reardon ihnen zuhörte. »Wir haben letzte Nacht ein Abkommen getroffen«, wandte sich Sam, einen letzten Ausweg suchend, an Reardon, »wenn du ein anständiger Mensch bist, gehst du jetzt freiwillig.« Fröhlich lächelnd, schaute Reardon ihn an. »Ich fürchte, ich muß mich deiner Gnade unterwerfen. Ich habe herausgefunden, daß mir das Leben auf dem Fluß gefällt. Ich habe dich gern und natürlich auch Lady Trina. Wenn du es mir nur erlaubst. Bleibe ich gerne.« Sam wußte, es hatte keinen Zweck. Die Nacht brach herein, und er war entsetzlich müde. Wenn er noch an dem Dorf vorbei und einen sicheren Ort für die Nacht finden wollte, mußte er jetzt weiterfahren. »Dann bleib meinetwegen. Ich denke, ich kann dich jetzt nicht rauswerfen. Aber eins sage ich dir, Reardon. Sobald wir weit genug von Lomata entfernt sind und eine andere große Stadt anlaufen, mache ich dir Beine.« »Aber natürlich, Sam. Das ist nur fair, nicht?« Reardon grinste entwaffnend. »Ihr wart beide sehr anständig zu mir.« Zähneknirschend ergriff Sam das Paddel und stieß es tief ins Wasser. Seine Arme taten ihm so weh, daß selbst die geringste
Anstrengung ihm heftigste Schmerzen verursachte. Das Floß passierte das unscheinbare Dorf. Später, als Sam eine geschützte Bucht entdeckte, beschloß er, dort hineinzufahren, in der Hoffnung auf einen ausgedehnten Nachtschlaf. Es war schon so dunkel geworden, daß das Ufer nur mehr als verschwommener, kaum wahrnehmbarer Schatten erkennbar war. Vorsichtig manövrierte Sam das Floß durch den Schlick, und dann streckte er sich unter den ausladenden Ästen einer Weide aus. Ein dunkler Schatten glitt über ihn. Sam öffnete die Augen und sah Reardon. »Was willst du denn jetzt noch?« Reardon deutete auf das Seil, das Sam als Gürtel benutzte. »Kannst du das entbehren?« »Dann verliere ich meine Hose.« »Ich spreche nicht von jetzt – ich meine, brauchst du es diese Nacht?« Reardon beugte sich zu ihm herunter und sprach mit so leiser Stimme, daß Trina, die neben dem nächsten Baum lag, ihn nicht hören konnte. »Hast du vergessen, welche Bedeutung diese Nacht für mich hat?« Sam erschrak. Tatsächlich hatte er es völlig vergessen. Im Gefängnis in Lomata war Reardons Werwolfidentität eine ganz reale Sache gewesen, aber hier, in der frischen und wohlriechenden Luft am Fluß erschien Sam die ganze Geschichte schlicht absurd. »Du glaubst doch nicht, daß es wirklich passiert?« Reardon nickte ernst. »In wenigen Minuten wird sicher der zivilisierte Mensch, den du jetzt vor dir siehst, in eine wilde Bestie verwandeln.« Nervös blickte Sam sich um, als ob die Schatten der Nacht plötzlich Gestalt angenommen hätten. »Und wo gedenkst du diese Verwandlung durchzumachen? Willst du, daß ich dich auf die andere Seite des Flusses fahre?«
»Ich fürchte, die Strecke kann ich gut zurückschwimmen, Sam.« »Der Fluß ist immerhin drei Meilen breit.« »Weniger als ein Zoll, wenn ich ein Werwolf bin. Sieh doch, Sam, ich bin nicht um meine eigene Sicherheit besorgt. Es geht um dich und Trina. Wenn ich erst einmal ein Wolf bin, kann mich nichts mehr davon abhalten, euch ohne jeden Gewissensbiß umzubringen. Und ich wüßte am nächsten Morgen nicht, was ich getrieben habe.« Mit Mühe richtete Sam sich auf, die schmerzenden Muskeln versagten fast ihren Dienst. »Was hast du also vor?« fragte er besorgt. »Deshalb habe ich dich nach deinem Gürtel gefragt. Das einzig wirksame Verfahren ist, daß du mich sorgfältig an einen Baum bindest, bis morgen früh bei mir wartest und betest, daß ich die Fesseln nicht sprenge.« »Und wenn du dich losreißt?« »Dann solltest du wegrennen, Sam – so schnell du kannst.« Sam fluchte leise. Das einzige was ihn im Augenblick interessierte, war ein ausgedehnter Nachtschlaf. Aber so blieb ihm nichts anderes übrig, als mühsam aufzustehen und Trina Bescheid zu sagen, was er tun mußte. Sie bot ihm an, ihn zu begleiten, aber Sam war dagegen. Reardon unterstützte Sams Entscheidung. Er erklärte, daß am nächsten Morgen mindestens einer von ihnen genügend ausgeruht sein müsse, um das Floß zu rudern. Sie gingen in den Wald hinein, und nach etwa hundert Metern hielt Reardon bei einer stämmigen Eiche an. Er schlug Sam vor, hier seinen Gürtel auszuprobieren. Reardon stellte sich mit dem Rücken an den Stamm des Baumes, und Sam schlang sein Seil einmal herum und verknotete es sorgfältig. »Versuch’s mal«, sagte Sam.
Reardon stemmte sich so heftig gegen das Seil, daß selbst in dem dämmrigen Sternenlicht die anschwellenden Venen auf Reardons Stirn erkennbar waren. »Hoffentlich hält es«, sagte er, und seine Stimme klang dabei weniger überzeugt, als Sam es gehofft hatte. »Und was jetzt?« »Warte.« Sam ließ sich auf den mit Nadeln und Blättern gepolsterten Waldboden nieder. »Kann ich schlafen?« »Du kannst es versuchen.« Reardon schien müde zu lächeln. Zwanzig Minuten verstrichen, bevor etwas geschah. Durch das dichte Blätterdickicht über sich sah Sam einen kleinen Ausschnitt des Sternenhimmels. Als alle zwölf Mondbrocken deutlich sichtbar waren, betrachtete Sam Reardon aufmerksamer. Sie hatten beide die ganze Zeit kein Wort miteinander gesprochen. Reardons Kopf war auf die linke Schulter gesunken, es sah so aus, als würde er schlafen. Als erstes bemerkte Sam den Pelz. Große graue Flecken sprossen auf Reardons Gesicht. Dann veränderten sich die Ohren – sie formten sich zu spitzen Dreiecken –, dann die Augen – bösartig gelb, nicht mehr blau. Reardons Mund wurde zu einem schmalen Schlitz voller scharfer Fangzähne. Seine Nase hatte sich in eine flache schwarze Schnauze verwandelt. Er begann tief unten in der Kehle zu knurren. Dann versuchte er auszubrechen. Vor Schreck sprang Sam hoch. Das Seil hielt glücklicherweise. Die Bestie – Reardon – sprang wieder nach vorn. Die stämmige Eiche schwankte. Große rotbraune Blätter flatterten zu Boden. Sam sprang auf, bereit jederzeit zu fliehen. Es war ein phantastisches Schauspiel, Sam hatte vorher noch nie einen Werwolf zu Gesicht bekommen.
Die ganze Nacht lang versuchte die Bestie unaufhörlich freizukommen, der Baum schwankte, das Seil ächzte. Sam fand, daß es ein recht grausames Spiel war, das Reardon da spielte. Denn, obwohl er unvorstellbar erschöpft war, tat Sam in dieser Nacht kein Auge zu. Immer, wenn er gerade einnickte, sprang der Werwolf wieder los. Gegen Morgen war Reardon wieder er selbst. Die blauen Augen strahlten in seinem lächelnden Gesicht. »Du kannst mich jetzt losbinden, Sam. Für heute ist es vorbei.« Das war die erste Nacht gewesen. Die zweite, zwanzig Meilen weiter flußabwärts, lief genauso ab. Reardon hatte gesagt, daß der ganze Spuk gewöhnlich nicht länger als drei Nächte dauerte. Sam freute sich auf einen erholsamen Schlaf, wie ein Verdurstender einen fernen blauen See erwartet. Als die dritte Nacht hereinbrach, machte Sam sein Floß am Ufer fest und zwang seine müden Beine, ihn ans Ufer zu tragen. »Bist du soweit?« fragte er Reardon. »Von mir aus können wir aufbrechen.« »Wenn du soweit bist, Sam, bin ich auch bereit.« sagte Reardon. »Und diese Nacht ist es wirklich das letzte Mal? Bist du sicher?« Bis jetzt hatte er sich gescheut, diese Frage zu stellen. »Normalerweise, ja«, betonte Reardon. »Allerdings hat man auch von seltsamen Dingen gehört. Wenn Übernatürliches im Spiel ist, weiß man nie so recht, was los ist.« Sam nickte. Er wollte sich nicht streiten. Aber wenn Reardon darauf bestand, auch noch eine vierte Nacht den Werwolf zu spielen, dann konnte er das von ihm aus verdammt noch mal tun, aber allein. Sams Geduld war genauso erschöpft, wie sein Körper. Außer Sichtweite des Ufers fanden sie eine recht stabile Tanne. Sam zog seinen Gürtel aus und band Reardon am Stamm fest. Er setzte sich nieder, schaute zum Himmel und
zählte die Mondbrocken, die am Himmel aufgingen. Die Sterne schienen müde zu flackern. In dieser Nacht gelang es Sam zum ersten Mal zu schlafen, selbst als Reardon wütete. Er hatte wohl eine, vielleicht zwei Stunden geschlafen, als ihn eine Hand an seiner Schulter berührte und ihn aus seinen verrückten Träumen riß. Sam sprang entsetzt auf, aber es war nur Trina. Mit offenem Mund starrte sie erstaunt zum Baum hinüber. »Das hast du also die letzten Nächte durchgemacht?« Sam nickte. »Das ist Reardon.« »Er sieht nicht einmal mehr wie ein Mensch aus.« »Er ist keiner mehr.« »Er sieht aber auch nicht aus wie ein Wolf. Eher wie eine große zweibeinige Katze.« »Wenn er gekonnt hätte, hätte er uns beide umgebracht.« »Ich weiß. Ich mußte es mir einmal ansehen.« Sam forderte sie zum Bleiben auf. Trina hatte Cazie mitgebracht. Einige Minuten lang betrachteten die drei schweigend den wütenden Werwolf. Dann rollte sich Cazie ein und schlief. Als eine Kreatur der Wildnis war Cazie Schlimmeres gewöhnt als einfache Werwölfe. Sam vermutete, daß es mindestens ein zwölfbeiniger Zahnfisch oder ähnliches sein mußte, um Cazie den Nachtschlaf zu rauben. »Sam, findest du, daß du dich mir gegenüber fair verhalten hast?« Sam drehte sich neugierig zu ihr um. »Was meinst du mit fair?« »Du verheimlichst mir etwas. Du hast mir nicht alles erzählt.« Irritiert schüttelte er den Kopf. »Wie kommst du darauf?« »Sam, ich bin doch nicht blöd. Alles, was mit dir zu tun hat, ist geheimnisvoll. Und dann sagte Reardon heute nachmittag noch etwas, als du geschlafen hast.«
Sam blickte zu dem Werwolf hinüber. Er war jetzt ruhig und sammelte Kraft für einen neuen Ausbruchsversuch. Obwohl Reardon nachdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß er sich an nichts mehr erinnern könne, was während seiner Zeit als Werwolf geschehen sei, wollte er auf Nummer Sicher gehen und senkte die Stimme. »Was hat Reardon gesagt?« »Er hat mir von dem Vampir erzählt, den er liebt.« »Nerdya?« »Ja.« »Und was hat das mit mir zu tun?« »Er sagte, daß sie etwas sehr Wertvolles sucht, das ihr jemand gestohlen hat. Er sagte, sie würde vor nichts haltmachen, um es wiederzubekommen. Ich habe darüber nachgedacht. Ist es nicht möglich, daß sie auf der Suche nach einer Landkarte ist, einer Karte, die den Weg zur Heimstatt der Freien Menschen zeigt?« »Ich habe nur eine Kartenhälfte«, sagte Sam schnell. »Aber die hast du ihr weggenommen?« Er nickte. »Weiß es Reardon?« »Er ist sich nicht sicher. Deshalb hat er mich auch gefragt. Als er noch bei ihr war, hörte er von ihr die Beschreibung der Person, hinter der sie her ist. Es gibt wohl niemanden, der so aussieht wie du, Sam. Reardon mußte dich ganz einfach verdächtigen.« »Was hast du ihm gesagt?« »Ich habe ihm gesagt, daß du es nicht sein könntest. Ich sagte ihm, alles, was du besitzt, sind die Kleider auf deinem Leib und eine alte, arg strapazierte Harfe. Und das ist alles nicht besonders wertvoll. Ich habe ihm gesagt, daß du einen Bruder hättest, der dir sehr ähnlich sieht.« »Hat Reardon das geschluckt?« »Ich glaube nicht.«
»Trotzdem, danke.« »Gern geschehen. Aber ich finde immer noch, daß es nicht fair von dir ist. Reardon ist nicht dein Partner, aber ich bin es. Wenn du ihm nicht die Wahrheit sagst, kann ich es verstehen, aber wie sieht es mit mir aus?« »Ich könnte nicht ertragen, daß dir etwas zustößt. Nerdya würde dich töten – oder schlimmer noch als töten –, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Sie ist eine Teufelin, Trina – wirklich und wahrhaftig eine Teufelin.« »Und du warst auch ihr Liebhaber, nicht wahr? Genau wie Reardon?« Sam schüttelte den Kopf. »Schlimmer als das. Nerdya ist meine Mutter.« »Nein!« Trina schrie entsetzt auf und vergaß völlig, daß sie vorsichtshalber leise sprechen wollte. »Das kann nicht wahr sein!« Sam fand sich darin bestätigt, daß er Trina bis jetzt nichts erzählt hatte – er hatte gewußt, daß sie genauso reagieren würde, wie sie jetzt reagiert hatte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bin kein Vampir, es ist nicht vererbbar.« Er hatte sie gekränkt. »Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich habe mir vorgestellt, wie schrecklich das für dich gewesen sein muß, mit ihr zu leben, und zu wissen, was sie ist, und es nicht verstehen zu können. Wie bist du von ihr weggekommen?« Er zuckte mit den Achseln. »Mein Vater hat mir geholfen. Er hat mir eine Frau geschickt, die mich retten sollte. Ellen O’Denver, die Vagabundin, von der ich dir schon erzählt habe. Sie kam täglich an Bord des Schiffes, während Nerdya schlief. Sie hat mir das mit der Karte gesagt und mich auch sonst über alles unterrichtet. Ich hatte bis dahin noch nie einen richtigen Menschen gesehen – abgesehen von einem Freund –, sonst nur
Nerdya, ihre Liebhaber und ihre Kobolde. Kobolde, so habe ich Nerdyas Geliebte genannt, wenn sie tot und ihre Diener waren. Ellen hat mir alles von der wirklichen Welt beigebracht und mir klargemacht, daß ich fliehen müsse. Sie wollte mich zu meinem Vater bringen. Darum haben wir die Karte gestohlen.« »War sie deine Geliebte, diese Ellen O’Denver?« »Meine erste – und meine einzige.« »Was ist aus ihr geworden?« »Nerdya hat sie umgebracht.« »Oh.« »Wir waren schon sechs Monate vom Schiff weg, als sie gekommen ist. Ich war in der Nacht auf Streifzug, lernte wie ein Vagabund zu leben. Als ich am Morgen zurückkam, sah ich als erstes das schwarze Schiff, das am Ufer vor Anker gegangen war. Ich rannte zu Ellen, aber es war zu spät. Nerdya hatte jeden Tropfen Blut aus ihr herausgesaugt. Es blieb mir nichts anderes mehr zu tun, als einen spitzen Stock zu suchen, den ich ihr durchs Herz stoßen mußte. Das war nämlich der einzige Weg, um zu verhindern, daß auch sie ein Kobold von Nerdya wurde.« »Das muß furchtbar gewesen sein.« »Es war furchtbar.« »Und du hast deinen Vater niemals gefunden?« »Nein. Ellen hatte mir ein wenig von ihm erzählt, er hätte ein Schiff und würde auf uns warten. Wo genau, hat sie mir nicht gesagt. Wahrscheinlich hat sie nicht damit gerechnet, zu sterben.« »Du hast dann versucht, ihn auf eigene Faust zu finden.« Sam nickte. »Aber das ist nicht so einfach. Es gibt so vieles, was ich nicht weiß. Wo ist er? Wie sieht er aus? Lebt er überhaupt noch? Ellen hat mir nicht einmal seinen Namen
genannt. Wenn er nicht in der Heimstatt der Freien Menschen auf mich wartet, werde ich ihn wohl nie finden.« »Vielleicht findet er dich. Er hat dich doch schon einmal ausfindig gemacht. Wieso kommst du darauf, daß er aufgegeben hat?« »Aber er weiß doch nicht einmal, wie ich aussehe. Ich war noch so klein, als er wegging. Drei oder vier Jahre alt.« »Ein Vater erkennt immer sein eigen Fleisch und Blut, Sam.« »Hoffentlich hast du recht.« »Aber wenn Nerdya auch hinter dir her war, warum hat sie dich nicht auch getötet? Warum hat sie sich nicht die Kartenhälfte wiedergeholt?« »Wahrscheinlich war ich zu geschickt für sie. Ich kannte ihre Schliche zu gut. Ich habe mich jede Nacht versteckt und bin wie der Teufel jeden Tag vor ihr weggerannt. Es war ein Wunder, daß ich ihr entkommen konnte. Sie hat noch nicht aufgegeben. Sie versucht immer noch, mich zu erwischen. Beim nächsten Mal könnte ich weniger Glück haben.« »Du kannst dich doch weiter verstecken.« »Das schon, aber inzwischen muß man so viele andere Dinge berücksichtigen. Zum Beispiel Reardon. Er wäre glücklich, wenn er mich ihr ausliefern könnte. Ich weiß, wie es Männern in seiner Lage geht. Sobald sie Nerdya kennengelernt haben, sind sie ihr mit Haut und Haaren ausgeliefert.« Trina stand auf. »Dann werden wir ihn hier zurücklassen.« Sam schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.« »Wieso denn nicht? Wolltest du das denn nicht schon am ersten Tag tun? Du hast ihm nur deswegen gestattet zu bleiben, weil ich es wollte.« »Ich habe es noch aus einem anderen Grund getan, Trina. Ich habe meine Meinung geändert. In den vergangenen drei Nächten hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich kann nicht mein Leben lang davonlaufen. Vielleicht ist es besser, wenn
Nerdya mich aufspürt. Ich bin es leid, mich immer verstecken und wegrennen zu müssen. Ich glaube, daß ich auch dich aus einem ähnlichen Grund mitgenommen habe. Ich war es leid, allein zu sein.« »Aber du darfst ihr deswegen doch kein leichtes Spiel machen.« »Mache ich das?« Er schüttelte den Kopf. »Reardon weiß nicht, wo sie ist. Wahrscheinlich ist er in seinem tiefsten Innern auch gar nicht so erpicht darauf, sie zu treffen. Reardon mag Nerdya lieben. Aber verrückt ist er deswegen noch lange nicht. Wenn er Nerdya wiederfindet, ist das gleichbedeutend mit seinem Tod. Er sagt zwar, das das sein innigster Wunsch sei, aber das glaube ich ihm nicht.« »Dann willst du also, daß er bleibt?« Sam machte eine vage Handbewegung zum Baum, wo der knurrende und fauchende Werwolf angebunden war. »Er braucht uns.« In dieser dritten Nacht verwandelte sich Reardon zum letzten Mal in einen Werwolf. Danach ging es allen dreien auf ihrer Fahrt erheblich besser. Sam sprach nicht mehr davon, daß er Reardon an Land bringen wollte, und Reardon kam von sich aus auch nicht mehr auf die Sache zu sprechen. Sie stahlen Lebensmittel, fingen Stechrochen, schliefen am Ufer und ließen sich einfach treiben. Zweimal sahen sie noch RangelFlugschiffe, aber beide Male hatten sie mehr als genug Zeit, um sich in den dichten Wäldern am Ufer zu verstecken. Dieses recht idyllische Leben endete eines Nachmittags mit unerwarteter Schnelligkeit. Das Floß hatte gerade eine scharfe Kurve umschifft, da sah Sam, wie mit enormer Geschwindigkeit etwas auf sie zukam, das auf den ersten Blick aussah, wie ein Haus, das auf dem Wasser schwamm. »Aufpassen!« schrie Sam und ließ das Paddel fallen. Er ließ Trina das Ruder aus der Hand. Er steuerte zum Ufer.
»Ein Hausboot«, sagte Reardon voller Ehrfurcht. »Habt ihr je etwas so Unglaubliches gesehen?« Sam hörte ein Motorengeräusch. An der Rückseite des Schiffes, kaum sichtbar in der Verkleidung, schlug ein Schaufelrad das Wasser. Ein schriller Warnpfiff ertönte. Sam blickte gebannt auf das heranrasende Boot. Hoch oben auf dem Deck winkte ein Mann heftig mit den Armen. »Wetten, daß ich weiß, wer das ist?« sagte Reardon, mit einer Ruhe, die Sam fast zur Weißglut trieb. »Es ist Mylan, der Magier. Niemand sonst könnte so ein Schiff haben. Ich habe Mylan seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.« Das Boot war zu nahe gekommen. Sam blickte zum Ufer. »Springt! Beide! Springt ab! Wir schaffen es nicht…!« Sam sprang ins Wasser. Im nächsten Augenblick gab es eine Explosion wie das Ende der Welt.
IX
RANGEL-REBELL
Das große Schaufelrad stand still, ruhig schaukelte das Schiff inmitten der zersplitterten Überreste des Floßes. Eine Ankerkette rasselte ins Wasser. Vom Oberdeck starrte eine schmächtige Gestalt in einem wallenden Gewand und mit einem blauen Piratenhut auf die zerstörten Überreste neben dem Schiff hinunter. »Hallo, ihr da unten!« rief er. »Haltet durch, ich werfe euch eine Leiter runter.« Sam zählte die Köpfe, die neben ihm auf den Wellen tanzten. Zwei – genau die richtige Anzahl. Einen Augenblick lang glaubte er, Cazie verloren zu haben, aber dann wurde er sich des Gewichts um seinen Hals bewußt. Mit der einen Hand hielt er sich an einer zerborstenen Planke fest, mit der anderen streichelte er der Kobra beruhigend über den Kopf. Es war ihm völlig unklar, wann und wie sich Cazie um seinen Hals gelegt hat. Aus einem Fenster am Oberdeck fiel eine Strickleiter ins Wasser. Sam paddelte hin und winkte Reardon und Trina heran. Als Sam bei der Leiter ankam, hatte Reardon schon einen Fuß in der untersten Sprosse. »Er muß es ganz einfach sein«, sagte Reardon aufgeregt. »Wenn es Mylan ist, dann haben wir wirklich Glück.« Sam konnte dem ganz und gar nicht zustimmen. Nicht mit dem zersplitterten Holz um sich, das einmal sein Floß gewesen war. »Wer ist Mylan?« Reardon schaute überrascht auf. »Willst du damit sagen, daß du noch nichts von ihm gehört hast? Ich hätte gedacht, daß der Name Mylans, des Magiers, flußauf und flußab bekannt sei. Er
fährt von Stadt zu Stadt und gibt seine Vorstellungen. Du mußt dir unbedingt eine ansehen.« Sam schüttelte den Kopf. Seltsam, daß der Name ihm irgendwie bekannt vorkam, er ihn jedoch nicht einordnen konnte. »Ich glaube nicht, daß ich je von ihm gehört habe.« »Nun, du bist noch jung, und wenn ich es mir recht überlege, habe ich in letzter Zeit nicht viel von Mylan gehört. Es ist bestimmt schon zwanzig Jahre her. Ich frage mich, wo er die ganze Zeit gesteckt haben mag.« Darauf wußte auch Sam keine Antwort. Reardon stieg weiter die Leiter nach oben. Sam wartete bis Trina ankam und half ihr dann die Leiter hoch. »Sam«, fragte sie, »was machen wir jetzt? Wer ist dieser Mann?« Sam gab an Trina weiter, was Reardon ihm erzählt hatte. Beide kletterten die Leiter hoch. Nachdem er durch ein offenes Fenster gestiegen war, fand sich Sam in einem großen Raum wieder, der mit mehr Büchern vollgestopft war, als Sam je in seinem Leben gesehen hatte. Es waren bestimmt hundert Bände. Der Mann mit dem blauen Hut saß auf einem hohen Stuhl hinter einem großen Holzschreibtisch. Er war außerordentlich alt. Er hatte ein faltiges, runzliges Gesicht, einen langen und dünnen weißen Bart und überraschend helle grüne Augen. Als ihn Sam so ansah, erschauerte er plötzlich. Dieser Mann erinnerte Sam an seine Kindheit, aber er verdrängte das Gefühl, weil er wußte, daß es falsch sein mußte. Er hatte diesen Menschen noch nie in seinem Leben gesehen. Unmittelbar hinter dem Stuhl des alten Mannes stand eine verwunderliche Gestalt: ein großer, nackter Rangel. »Mach dir keine Sorgen wegen meines Freundes hier«, sagte der alte Mann schnell. Während er sprach, sah er Sam in die Augen. »Das ist Urban, ein Rebell. Die Rangel halten noch viel weniger von ihm als du.«
»Und du bist Mylan«, sagte Sam versuchsweise. Der alte Mann nickte, ohne seine Augen von Sam abzuwenden. »Der Magier.« »Sam glaubt nicht an Zauberei«, warf Trina ein. »Sam? Heißt du so? Sam?« Mylan schien weniger überrascht als erfreut. »Man nennt mich Sam, den schrecklichen Sam.« »Sind wir uns je begegnet?« Sam schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.« Er fragte sich, ob Mylan das gleiche Gefühl wie er gehabt hatte. »Nein, ich bin fast sicher, daß wir uns nicht begegnet sind.« Während der ganzen Zeit hatte Reardon Mylan mit allen Zeichen der Verwirrung angestarrt. Schließlich bemerkte der alte Mann seinen starrenden Blick und drehte seinen Stuhl in Reardons Richtung. »Kenne ich dich nicht von irgendwo her?« »Mylan? Mylan, bist du es wirklich?« »Ich weiß nicht, wer zum Teufel ich sonst sein sollte.« »Von nahem gesehen… du hast dich verändert.« »Wer hat das nicht?« »Ich bin Reardon. Reardon, der Werwolf. Wir haben uns vor Jahren einmal kennengelernt – weit oben am Fluß. Erinnerst du dich?« Mylan schüttelte den Kopf. »Nicht im geringsten.« »Es ist erst zwanzig Jahre her.« »Viel zu lange für einen Mann wie mich.« Sam hatte den Eindruck, daß Mylan mit seiner Unverbindlichkeit ein anderes, tiefer sitzendes Gefühl zu unterdrücken versuchte. Der alte Mann blickte in die andere Richtung. »Und was ist mit dir? Ich nehme an, du bist auch ein alter Freund von mir?« Trina schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich bin ganz einfach Trina.«
»Freut mich, dich kennenzulernen.« Mylan lehnte sich zurück und verschränkte die Arme im Nacken. »Ich nehme an, ich schulde euch allen eine Entschuldigung, warum ich in euer Floß gefahren bin. Es tut mir leid, aber ich konnte es nicht verhindern. Abgesehen von Urban bin ich allein auf dem Schiff. Meine Besatzung hat mich vor kurzem verlassen, und bis jetzt habe ich noch keine neue zusammenbekommen.« Sam hatte das unbestimmte Gefühl, daß Mylan log, aber konnte sich um nichts in der Welt vorstellen, warum. »Wir wären gern bereit, dir zu helfen«, warf Reardon schnell ein. Mylan runzelte die Stirn. »Meinst du nicht, du solltest warten, bis du gefragt wirst?« Entschuldigend wehrte Reardon mit den Händen ab. »Es war nur, weil du gesagt hast, du brauchst Hilfe.« »Was das betrifft, hast du hundertprozentig recht. Aber weißt du, ich brauche eine Mannschaft für unterschiedliche Zwecke. Ich benötige Leute, die mir nicht nur mit dem Boot helfen, sondern auch bei den Vorstellungen in den verschiedenen Städten. Sie sind das einzige, was meinen alten Körper noch am Leben hält.« »Dabei könnten wir dir auch helfen«, sagte Reardon eifrig. Diesmal überhörte Mylan ihn. Er deutet mit dem Daumen über die Schulter. »Urban ist mir keine große Hilfe dabei. Wenn ich versuchte, ihn in einer Vorstellung einzusetzen, würden uns die Bewohner hochkant aus der Stadt werfen.« »Die meisten Menschen hassen und fürchten mich«, sagte Urban. Er hatte zum ersten Mal den Mund aufgemacht – der übliche Singsang der Rangels. »Obwohl ich jetzt genauso harmlos wie ein Heiliger bin.« »Aber du siehst nicht wie ein Mensch aus«, sagte Mylan. »Urban ist von seinem eigenen Volk verbannt worden, weil er
sich verliebt hatte, und zwar in eine, eine…« Mylan zögerte. Er zögerte, als hätte er mehr gesagt, als ihm lieb war. »…weibliche Humanoide«, beendete Urban den Satz. »Eine äußerst närrische und unverzeihliche Tat.« Mylan stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er war ein großer Mann und bewegte sich mit mehr Anmut und Kraft, als man auf den ersten Blick vermutet hätte. »Ich frage euch nun alle drei, und ihr müßt euch jetzt und hier entscheiden. Entweder ihr bleibt bei mir oder nicht. Wenn ihr nicht wollt, setze ich euch gern an Land.« »Ich bleibe in jedem Fall, Mylan«, sagte Reardon sofort. »Um nichts in der Welt würde ich diese Gelegenheit ausschlagen.« »Das mag wohl sein. Aber es geht um alle drei oder keinen. Sam, was ist deine Meinung?« Mylan stand vor ihm. Er ballte die Fäuste, konnte eine plötzliche Spannung nicht verstecken. Seine Halsadern traten vor. »Willst du bei mir bleiben oder nicht?« »Ich bin mir noch nicht sicher. Du fährst flußaufwärts. Da kommen wir gerade her.« »Das ist kein Problem. Wir haben die gleiche Fahrtrichtung. Wir müssen letzte Nacht aneinander vorbeigefahren sein. Ich bin zurückgekommen auf der Suche nach Brennstoff. Der Wald hört nach ein paar Meilen auf, und ich brauche Holz. Sobald ich es habe, drehe ich wieder.« Sam schaute Trina an. Ihre Blicke trafen sich, Trina lächelte ihn an. Sam erriet unschwer, wie sie sich entschieden hatte. Das Hausboot war geräumig und bequem, in keiner Weise vergleichbar mit dem Floß. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich Sam wahrscheinlich für die Rückkehr zum Fluß entschieden. Aber er war nicht mehr allein. Und außerdem spielte Mylan auch eine Rolle. Es schien für den alten Magier außerordentlich wichtig zu sein, daß Sam zustimmte.
»Einverstanden, ich werde bleiben«, sagte er schließlich. Mylan strahlte. »Und du Trina, was ist mit dir?« »Oh, ich bleibe auch«, sagte sie. »Gut«, sagte Mylan. »Ich muß zugeben, daß ich mich sehr freue.« Mylan duckte sich, um unter der Kabinentür hindurchzukommen. »Kommt mit, ich werde euch jetzt das Schiff zeigen. Danach müssen wir uns alle ins Zeug legen und Holz sammeln.« »Oh, Mylan, da ist noch was.« Mylan blieb stehen, eine Hand schon am Türgriff. »Was gibt es, Reardon?« Er wandte ihm sein Gesicht zu, das von feinen Linien durchzogen war. Wie Spuren von Tränen, dachte Sam. »Ich wollte dich noch etwas fragen. Mit deinem Schiff kommst du doch sehr schnell den Fluß rauf und runter. Mich würde interessieren, ob du auf deinem Weg schon einmal eine bestimmte Person getroffen hast.« Sam hatte ein komisches Gefühl im Magen. Er wußte genau, was Reardon meinte. Mylan runzelte die Stirn. »Bevor du mir nicht sagst, von wem du sprichst, kann ich dir nicht antworten.« »Ich spreche von einer Frau«, sagte Reardon. »Sie hat ein eigenes Schiff – ein schwarzes Schiff. Sie heißt Nerdya. Nerdya, der Vampir.« Mylan wollte gerade antworten, doch bevor er ein Wort herausbrachte, durchschnitt ein durchdringender und wehklagender Schrei den Raum. Sam wirbelte auf dem Absatz herum. Urban, der RangelRebell, hatte die Hände an seine Kehle gepreßt. Sein Kopf war nach hinten verdreht, und in seinem Gesicht spiegelte sich der Ausdruck höchsten Entsetzens wider. Urban sah aus, als ob ihm der Tod persönlich begegnet sei. Im nächsten Augenblick fiel Urban starr und steif auf sein Gesicht, streifte den Schreibtisch und rollte auf den Boden.
Mylan sah zu ihm hinunter. »Ich glaube, ich habe den Namen nicht richtig verstanden«, wandte er sich an Reardon. »Ist es jemand, den ich kennen sollte?«
X
HEIMAT-STERN
Je mehr Sam von dem fabelhaften Schaufelraddampfer sah, desto mehr war er beeindruckt. Auf seiner Besichtigungsrunde enthüllte Mylan ihnen Wunder auf Wunder. Auf drei Hauptdecks verteilten sich mehr als zwei dutzend Räume. Jeder Raum war mit Plüsch und dekorativen Möbeln ausgestattet – mit breiten Betten, strahlenden Spiegeln und dicken Teppichen. Die Kombüse im Unterdeck enthielt zwei große Holzöfen, eine geräumige Vorratskammer und genügend Eingemachtes, um die fünf für ein Jahr oder noch länger zu ernähren. Im obersten Deck zeigte Mylan stolz seine Bibliothek vor. Ein großer Raum, der vom Boden bis zur Decke, Wand um Wand, mit alten leinen- oder papiergebundenen Büchern vollgestopft war. »Wann immer ihr eine freie Minute habt und etwas lesen wollt«, sagte Mylan, »fühlt euch völlig frei und leiht euch jedes Buch aus, das euch interessiert.« Sam sah verlegen auf seine Fußspitzen. Er konnte gerade mit Mühe seinen Namen lesen. Trina dagegen, war ganz aufgeregt und holte sich mit Mylans Erlaubnis eifrig drei Bücher von einem hohen Regal und noch ein viertes von einem andern. Auf ihrem Weg nach unten, lösten sich plötzlich Blätter aus einem der Bücher, die Trina in der Hand hielt. »Oh, das tut mir wirklich sehr leid«, sie schaute den losen Blättern nach, die auf den Boden flatterten. »Ich hätte es besser nicht…« »Mach dir keine Vorwürfe.« Mylan führte sie weg. »Es ist alt – das ist alles. Bücher sind eine vergessene Kunst. Nicht so
sehr die Druckerkunst – das würde man wohl noch schaffen –, aber die Kunst, ein Buch zu schreiben, versteht niemand mehr.« »Besser, ich lege die anderen Bücher wieder zurück, bevor sie auch auseinanderfallen.« Mylan schüttelte den Kopf. »Was soll das bringen? Bücher werden geschrieben, damit sie gelesen werden und nicht, um sie in einem dunklen Raum unter Verschluß zu halten.« Sam hatte kein Verständnis dafür, daß man so viel Lärm wegen ein paar alten Büchern veranstaltete. Jedoch verstanden Mylan und Trina möglicherweise mehr davon als er. Plötzlich verspürte er ein unbändiges Verlangen, sich auch ein solches Buch zu nehmen und an den Gedanken teilhaben zu können, die Männer und Frauen vor Jahrhunderten niedergeschrieben hatten. Vielleicht lag darin der wahre Zauber von Büchern, das Geheimnis ihres Reizes: Sie waren Vermittler für ein Gespräch mit den Toten. Sie setzten ihre Besichtigungstour fort, und immer mehr drängte Sam sich ins Bewußtsein, daß dieses Schiff mit einem unvorstellbaren Aufwand an Zeit und Energie erbaut worden sein mußte. Schließlich ließ ihm seine Neugierde keine Ruhe, und er fragte Mylan, wie der Bau vonstatten gegangen sei. »Ach, das war wirklich ganz leicht«, sagte Mylan. »Viel Zeit brauchte ich für das Zusammentragen der Baustoffe – Holz Glas, bis hin zu den Nägeln. Alles zusammenzubauen bereitete überhaupt keine Schwierigkeiten. Ich habe mich dazu der Magie bedient.« »Magie?« »Genau. Ich habe meine Augen geschlossen und mir vorgestellt, wie das Schiff aussehen sollte. Ich habe die Augen geöffnet, und da lag es vor mir auf dem Fluß.« Zum Schluß wies Mylan jedem von Ihnen ein Zimmer im zweiten Deck zu. Der Einbruch der Nacht stand bevor, deshalb
beschloß Mylan das Holzsammeln auf den nächsten Morgen zu verschieben. Trina und Reardon verschwanden in ihren Zimmern. Sam wollte gerade seinen Raum betreten, als Mylan ihn bat, einen Moment zu warten. »Ich habe eine Bitte an dich«, erklärte er ihm. »Der arme Urban hat einen Schock erlitten, und ich möchte nicht, das wir ihn allein lassen. Könnte er vielleicht in deinem Zimmer bleiben, bis er wieder zu sich kommt?« »Willst du damit sagen, er ist immer noch bewußtlos?« »Ich vermute es. Bei den Rangels sind lange Zeiten der Bewußtlosigkeit nicht ungewöhnlich. Eine Bewußtlosigkeit kann manchmal Wochen dauern.« Sam hatte den Eindruck, das Mylan Urban nur als Vorwand benutzte, um mit ihm zu sprechen. »Wenn du willst, daß er in meinem Zimmer bleibt, habe ich nichts dagegen. Aber mir ist unklar, was ihm eigentlich zugestoßen ist. Wenn ich mich nicht täusche, bekam er den Anfall, als Reardon diese Frau erwähnte – wie hieß sie noch? –, Nerdya, der Vampir.« Mylans Augen nahmen einen seltsamen, gequälten Ausdruck an. »Ja, das war der Auslöser. Nerdya war die Frau, die Urban von seinem Volk weggeführt hat. Er wäre fast unter ihren Händen gestorben, trotzdem glaube ich, daß er sie auf seine Art liebt.« »Aber andere als Reardon, nicht wahr? Urban versucht nicht, sie wiederzufinden?« Mylan lächelte dünn. »Versucht Reardon das? Ein Mann in seinem Alter sollte es besser wissen. Es ist nämlich so: Du findest nicht Nerdya – Nerdya findet dich.« »Du sprichst, als ob du sie kennst.« Mylan nickte zweideutig. »Nicht besser als du, Sam.« Er zuckte mit den Achseln. »Das ist alles schon verdammt lange her.« »Dann kennst du sie also«, stellte Sam fest.
»Und wenn es so wäre?« gab Mylan zurück. »Du scheinst dich rasend für Dinge zu interessieren, die dich nichts angehen.« »Ich hatte eigentlich nur wissen wollen, ob… ob sie wirklich so schön ist, wie Reardon behauptet.« »Schön?« Mylans Stimme schien plötzlich weit weg zu sein. »Ich bin mir nicht sicher, ob ein Wort wie schön das ausdrücken kann, was Nerdya für ein Wesen ist.« »Das hört sich so an, als ob auch du Nerdya geliebt hast.« »Geliebt?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, so gut habe ich sie nie gekannt.« Sam ging in sein Zimmer. Kurze Zeit später brachten Mylan und Reardon den bewußtlosen Urban und legten ihn auf ein leeres Bett. Die Tage an Bord des Schiffes vergingen. Je härter Sam arbeitete, je eifriger er Decks schrubbte, Fenster putzte, Messingbeschläge polierte, desto mehr machte es ihm Spaß. Die Alltagsroutine auf dem Floß war ihm zum Schluß zu langweilig geworden, erkannte er jetzt. Zu viele völlig gleiche Tage waren vergangen, angefüllt mit immer wiederkehrenden Beschäftigungen – rudern, stehlen, singen, jagen, fischen. Vielleicht war das ein weiterer Grund gewesen, warum er Trina mitgenommen hatte. Er hatte Abwechslung gebraucht, eine Alternative zu dem Muster, in dem sich sein Leben bewegte, und das durch die ständige Wiederholung so eng wie eine Gefängniszelle geworden war. Rund um die Uhr schoben alle vier – Sam, Trina, Reardon, Mylan – abwechselnd Wache am Steuer. Anfänglich hatte Mylan sich noch vorsichtshalber zu den anderen gestellt und sie eingewiesen. Im Laufe der Zeit hatte er sie dann aber weitgehend ihren Aufgaben überlassen. Das Schiff war trotz seiner Größe und scheinbaren Schwerfälligkeit leicht zu handhaben. Auf der Brücke gab es
ein großes Holzrad, mit dem man fast jedes Manöver ausführen könnte. Man mußte es nur in die Richtung drehen, in die man fahren wollte. Für die Geschwindigkeit gab es einen Stock, der mit den Dampfmaschinen im unteren Deck Verbindung hatte. Um das Schiff anzuhalten, gab es eine Handbremse, die das Schaufelrad stoppte. Vieles von der Mechanik an Bord, zum Beispiel die Dampfmaschinen, war für Sam zu kompliziert. Manchmal glaubte er sogar, daß Mylan die Wahrheit gesagt hatte, als er behauptete, das Schiff sei durch Magie entstanden. Am liebsten stand Sam kurz vor Mitternacht am Steuer. In der Dunkelheit verschwammen die Uferkonturen, und der Fluß erschien erheblich breiter und unergründlicher. Nur ganz selten schwammen Holz oder andere Trümmer in der Mitte des Flusses. Das Steuern war nicht schwierig. Es war eine Zeit des Friedens und andächtiger Stille. Aus den Tagen und Nächten wurden Wochen. Wenn Sam nichts zu tun hatte, verbrachte er seine Zeit entweder in Trinas oder in Reardons Zimmer. Es war seltsam, aber jetzt, wo er Reardon nicht mehr ständig um sich herum hatte, war er ihm längst nicht mehr so verhaßt. Eines Tages erklärte Reardon, warum er so überrascht gewesen war, als er Mylan zum ersten Mal an Bord gesehen hatte. »Als wir noch im Wasser waren, habe ich nicht so genau darauf geachtet, aber er hat sich enorm verändert. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, war er noch ein junger Mann. Und schau ihn dir jetzt an.« »Du hast selbst gesagt, daß das schon zwanzig Jahre her ist«, sagte Sam. »Sicher, aber er sieht doch älter aus. Sieh dir seine Haut und seine Augen an. Ich glaube, ich weiß, woran das liegt. Es ist die Magie. Sie freizusetzen, ist sehr anstrengend. Das hatte er mir jedenfalls erzählt, als ich ihm damals traf. Es verbraucht einen Menschen.«
»Wie alt ist er denn jetzt deiner Schätzung nach? Siebzig? Achtzig?« Grimmig schüttelte Reardon den Kopf. »Nein, und genau das macht mir Sorgen. Ich glaube nicht, daß er älter als fünfundvierzig ist.« »Du machst dich über mich lustig.« Reardon zuckte mit den Schultern. »Frag ihn selbst. Es stimmt.« Seit die drei an Bord waren, hatte das Schiff, trotz der hohen Geschwindigkeit, die um ein Vielfaches höher lag als die des Floßes, noch keine Siedlung passiert. Der Charakter der Landschaft hatte sich erheblich verändert. So wie Mylan gesagt hatte, hatte der Wald nach kurzer Zeit aufgehört, nur noch vereinzelt standen Bäume am Ufer. Es war wie eine große weite, flache Wüste, in der nichts zu wachsen schien. Mylan erklärte, daß sie dringend eine Siedlung erreichen mußten. Die Holzvorräte waren schon erschreckend geschrumpft. »Und ich bin auch unruhig«, gestand Mylan. »Auf einer langen Reise wie dieser überkommt mich schnell Langeweile. Und außerdem bin ich gespannt, wie ihr drei euch bei der Show anstellt. Ein erfolgreicher Zaubertrick ist immer eine Herausforderung. Ausschlaggebend ist die Schnelligkeit der Hand. Ohne sie wäre ich nichts.« Eines Tages, als Sam am Steuer stand, gesellte sich Mylan zu ihm. Angeblich fand er wegen der Hitze keinen Schlaf. Sam war schon recht vertraut mit dem Magier. Nur zu oft hatte ihn Mylan zu sich gebeten, und sie hatten dann lange, weitschweifige Gespräche geführt. »Ich dachte, du seist ein richtiger Magier. Aber was hat denn die Schnelligkeit der Hand mit echter Magie zu tun?« Mylan schüttelte den Kopf. »Mehr als du denkst, Sam. Ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen. Wirkliche Magie ist ein viel zu kostbares Gut, als daß man es leichtsinnig
verschleudern dürfte. Ich gebe zu, daß ich bei meiner Vorstellung so manchen Zaubertrick vorführe.« »Tust du das, weil dich die Verwendung von Magie erschöpft und stark altern läßt?« »Ich wette, das hast du von Reardon, nicht wahr?« Mylan zog spöttisch eine Augenbraue hoch, aber er ging nicht weiter darauf ein. »Teilweise stimmt es, aber der entscheidende Faktor ist, daß niemand von uns genau weiß, was Magie eigentlich ist. Vielleicht ist es eine kosmische Kraft. Es kann etwas mit dem Magnetfeldern der Erde zu tun haben. Ich weiß nur eins: Egal, was es ist, es ist nicht unbeschränkt vorhanden, Magie kann aufgebraucht werden. Darum bin ich so wählerisch. Deshalb benutze ich Magie nicht, nur um einen Nagel mit den Fingerspitzen aus der Wand ziehen. Vor ewigen Zeiten, in der Morgendämmerung der Erde, muß der Anteil an Magie ungeheuer groß gewesen sein. Aber das ist schon lange vorbei. Zu viele verdammte Zauberer haben seit zu vielen verfluchten Jahrhunderten neunundneunzig Prozent davon aufgebraucht. In den nächsten hundert Jahren, vielleicht schon vorher, wird nichts mehr übrig sein. Darum bemühe ich mich, so viel Zauberkraft, wie eben möglich, zu erhalten.« Am elften Tag, nachdem Sam, Trina und Reardon an Bord gekommen waren, erwachte Urban, der Rangel, aus seiner Bewußtlosigkeit. Sam war zufällig im Zimmer. Mylan hatte ihm eine neue Harfe geschenkt, als Ersatz für diejenige, die er mit dem Floß verloren hatte. Sam hielt sie auf seinem Schoß und spielte eine sanfte Melodie, als er merkte, daß ihm jemand zusah und lauschte. Er wandte den Kopf und sah, daß der Rangel ihn beobachtete. »Das war ganz ausgezeichnet«, sagte Urban, »bitte spiel weiter.«
»Wie geht es dir?« Sam legte die Harfe zur Seite. »Soll ich dir irgend etwas bringen?« Urban schüttelte den Kopf. »Danke, mir geht es ganz gut. Ich bin von deiner Musik aufgewacht. Sie war schön und hat mich angerührt.« »Oh, danke, aber… nun, ist dir eigentlich klar, daß du fast zwei Wochen bewußtlos warst?« »Ich habe geschlafen, ja – weil ich so müde war. Schlaft ihr nicht auch?« »Schon, aber nur ein paar Stunden am Tag.« »Das ist bei uns anders. Wir schlafen immer so lange wie ich.« Sam wollte Mylan Bescheid sagen. Aber er fand den Magier weder in seinem Zimmer noch in seinem Büro. Also blieb nur noch die Brücke. Reardon stand am Steuer. Er sagte, daß Mylan dagewesen sei und bald zurückkommen müsse. »Der Rangel ist aufgewacht«, sagte Sam. »Ich könnte mir vorstellen, daß es Mylan interessiert.« »Wenn ich ihn sehe, sag’ ich es ihm. Weiß eigentlich jemand, was ihn so umgeworfen hat?« Sam überlegte, daß es wohl besser sei, Reardon nicht über Urban und Nerdya aufzuklären. »Ich habe den Rangel gefragt. Er sagte, es sei seine übliche Schlafgewohnheit.« Reardons Blick blieb weiter auf den dunklen Fluß gerichtet, als er weitersprach. »Vielleicht stimmt es ja. Trotz all der Jahre die wir schon auf diesem Planeten leben, weiß keiner viel über den anderen. Denk mal, wie lange ich schon lebe. Und Urban ist in diesen hundertfünfzig Jahren der erste Rangel, den ich persönlich kennengelernt habe. Und er hat vom ersten Tag unserer Bekanntschaft an geschlafen.« Sam schaute zum Himmel hoch. Es war eine klare Nacht, und die Sterne funkelten aufreizend. Irgendeiner dieser blinkenden Sterne leuchtet auch auf die Heimat des Rangels, überlegte
Sam. Welcher bloß? Natürlich hatte er keine Ahnung. »Es hat mir nie jemand erzählt, warum die Rangels überhaupt auf die Erde gekommen sind.« »Ich habe die verschiedensten Versionen gehört. Eine davon erscheint mir plausibler als alle anderen. Ich weiß aber natürlich trotzdem nicht, ob sie stimmt.« »Erzähl sie mir.« »Also, das ist eine alte Geschichte.« Reardon zog das Steuer nach links und wich einem Holzklotz aus, der im Mondlicht plötzlich aufgetaucht war. »Demnach hat alles schon begonnen, als vor längst vergangenen Zeiten die Menschen Raumschiffe hatten und zu den Sternen reisten. Wir sollen damals angeblich auch den Stern der Rangels entdeckt haben. Wir sollen uns dort angesiedelt und die Einwohner versklavt haben. Wir haben den Planeten ausgebeutet, die Bodenschätze gestohlen und eine Wüste hinterlassen, wo einstmals ein fruchtbares Land grünte. Das alles soll nur wenige hundert Jahre gedauert haben, ich glaube, es dauerte nicht lange, einen Planeten zu zerstören. Schließlich hatten wir unsere Methoden durch jahrhundertelange Praxis verfeinert.« »Von wem hast du das?« fragte Sam. »Von dem Mann, der dich zum Werwolf gemacht hat?« »Nein, nicht von ihm. Als Werwolf hat es ihn wenig interessiert, was sich außerhalb unserer Erde ereignete.« »Du hast mir aber noch nicht gesagt, wie die Rangels schließlich auf die Erde kamen.« »Nun, die Rangels ließen sich Zeit. Sie waren geduldig und voller Rache. Sie brauchten Tausende von Jahren, um das wiederaufzubauen, was wir zerstört hatten, und weitere Tausende, um eigene Flugschiffe zu bauen, mit denen sie zur Erde fliegen konnten. Was dann passierte, weißt du so gut wie ich. Sie landeten, sahen daß wir schwach und dem Niedergang nahe waren, und eroberten uns.«
»Aber sie blieben«, sagte Sam. »Das verstehe ich nicht. Wenn es nur Rache war, warum haben sie dann nicht alle getötet und sind wieder nach Hause zurückgeflogen?« »Auf diese Frage hat die Geschichte keine Antwort. Willst du meine eigene Meinung wissen?« »Klar.« »Ich glaube, sie blieben, um auch weiterhin ein Auge auf uns zu haben. Ich glaube sie haben Angst, daß sich das wiederholen könnte – das wir wieder den Raum erobern –, daß sich die Menschenplage wieder ausbreitet. Offen gestanden, sie trauen uns zuviel zu. Wir sind zu alt und schwach, um je wieder an die Höhen – oder Tiefen – unserer Geschichte heranzukommen. Aber die Rangels sind vorsichtig. Sie haben ihre Wachtürme gebaut und beobachten uns.« »Aber du weißt nicht, ob es so gewesen ist.« »Nein. Ich habe damals noch nicht gelebt.« »Aber der, der es dir erzählt hat.« Reardon drehte sich jäh um. »Wie kommst du darauf? Ich sagte dir doch schon, es war nicht der Werwolf.« »Nein, es war Nerdya, nicht wahr?« »Vielleicht. Ich weiß es nicht mehr so genau.« Sam nickte langsam. Dann schaute er wieder in den klaren Himmel. Ein Gefühl der Scham stieg in ihm auf. Nicht wegen etwas, was er – oder jemand anders, den er kannte – getan hatte. Er empfand Scham für die Taten seiner Vorfahren, für die Missetaten jener, deren Knochen schon vor Jahrhunderten zu Staub zerfallen waren.
XI
ZAUBERVORSTELLUNG
Wie ein Lauffeuer mußte sich die Nachricht von der Zaubervorstellung ausgebreitet haben, denn als im Westen die Sonne unterging, drängte sich eine solche Menschenmenge auf dem Dorfplatz, daß sie längst keinen Platz mehr innerhalb der Abgrenzungen fand, und sich bis in die Hauptstraßen, die zum Platz führten, erstreckte. Sam stand mit Trina und Reardon in der linken Ecke der behelfsmäßig errichteten Holzbühne. Den ernsthaften Versuch, die Zuschauer zu zählen, hatte Sam aufgegeben, nachdem sein Finger auf fünfhundert unruhig hüpfende Köpfe gezeigt hatte und das immer noch nur einen Teil der gaffenden Menge ausmachte. Sam erkannte, wie beschränkt das Leben der Dorfbewohner sein mußte. Für sie bedeutete diese Vorstellung eines der wenigen Wunder, die sie je in ihrem Leben erleben würden. Sam sah zum Himmel und dann zu Reardon. Er war nervös, trotz Mylans hartnäckiger Beteuerungen, daß sie sich um nichts Sorgen zu machen brauchten. Heute war die erste Nacht, in der wieder der letzte Mondbrocken am Himmel aufging – Sam hätte nie geglaubt, daß schon ein Monat seit dem letzten vergangen war –, und Reardon würde sich zweifellos in wenigen Momenten verwandeln. Reardon schien das ebensowenig wie Mylan zu beunruhigen. Die beiden hatten sich tagsüber eine Stunde lang in Mylans Büro zurückgezogen, und Sam konnte nur hoffen, daß es ihnen dort irgendwie gelungen war, das Problem in den Griff zu bekommen. Aber wie? Innerlich zuckte Sam mit den Achseln. Vielleicht konnte Mylan durch Magie verhindern, daß sich Reardon in eine wilde
Bestie verwandelte. In diesem Augenblick begann Mylan mit seiner Vorstellung. Er kam rasch voran, führte einen Trick nach dem anderen vor. Er griff in die Tasche und zog ein lebendiges, strampelndes Kaninchen heraus. Er lüftete seinen Piratenhut, und ein Schwarm Vögel flatterte darunter hervor. Er lieh sich von einer Frau in der ersten Reihe eine karmesinrote Schärpe und zerriß sie in dünne Streifen, stellte den ursprünglichen Zustand mit einer Bewegung seiner Hand wieder her. Es war eine außerordentlich beeindruckende Vorstellung – das konnte selbst Sam nicht leugnen –, nur, es war keine Magie. Es war Zauberei. Und das ist etwas ganz anderes als Magie. »Wie gefällt es dir?« fragte Trina und kam ganz dicht an Sam heran, um den Applaus der Zuschauer zu übertönen. »Es ist gut, nicht wahr?« Sam nickte. »Hast du eine Ahnung, wie er es macht?« »Findest du das wichtig?« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.« »Ich glaube aber, ich weiß, wie er es macht.« Mylan hatte seinen Hut abgezogen und vor sich auf die Bühne gelegt. Er ging einige Schritte zurück und streckte die Arme über dem Kopf aus. Mit katzenartigen Bewegungen pirschte er sich langsam wieder heran. Vor dem Hut sprang er hoch und schlug die Hände zusammen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er geradewegs auf seinem Hut landen. Aber er kam nicht auf dem Boden an. Mylan blieb in der Luft. Dieses Mal war selbst Sam überrascht. Nach einem Moment der Verwirrung und des Schocks begann die Menge wie verrückt zu klatschen. Sam sah zu Trina hinüber. Sie lächelte. »Und was ist mit dem Trick da?« fragte er sie, indem er dicht an sie herankam. »Ich glaube, von dem weiß ich auch, wie er geht.«
»Erklär’s mir später.« »Gerne.« Für einige spannende Minuten blieb die Bühne leer bis auf den Hut. Und dann bewegte er sich. Zentimeter um Zentimeter löste sich der Hut vom Boden, bis er sechs Fuß über den Boden schwebte. Sam guckte gebannt zu. Dann stieg der Hut weiter. Mylan stand unter ihm. Mit einem breiten Grinsen schnappte er sich den Hut und verbeugte sich vor der Menge. Dieses Mal folgte ein noch betäubender Applaus. Auch Sam klatschte. Wer weiß, dachte er, vielleicht ist es doch echte Magie. Er wollte sich sein Urteil nicht vor dem Ende der Vorstellung bilden. Mylan wandte sich ihnen zu und schnippte mit den Fingern. Sam wußte, was das zu bedeuten hatte. Trina griff nach seiner Hand. »Wir sind dran«, sagte sie. Sam rutschte das Herz in die Hose. Mylan hatte ihm seine Rolle bis in alle Einzelheiten erklärt. Aber über etwas sprechen und nachdenken ist etwas anderes, als es zu tun. Als er auf die Bühne heraustreten mußte, war er einen Augenblick lang ganz steif vor Angst. Trina gab ihm ihre Hand, und er stolperte vorwärts. Ihm wurde klar, was für ein sonderbares Bild sie abgaben. Der dicke, kleine Gorilla mit dem hochgewachsenen blonden, schönen Mädchen. Er drückte die Harfe wie zum Schutz an sich. Cazie um seinen Hals schenkte all dem keine Beachtung. Ihr erster Bühnenauftritt ließ sie völlig ungerührt. Auf halbem Weg ließ Trina seine Hand los und ging allein weiter. Mit zittrigen Fingern löste Sam Cazie von seinem Hals und legte sie vorsichtig auf den Boden. Er setzte sich neben sie, schlug die Beine unter und rückte sich die Harfe zurecht. Er versuchte sich vorzustellen, das Publikum sei nicht da. Er bemühte sich, so zu tun, als sei er allein. Seine Finger griffen den ersten Akkord. Ausgezeichnet. Er gewann wieder ein wenig Vertrauen. Er spielte weiter. Dann kicherte jemand. Es
blieb ihm unklar, warum. Unter Umständen hatte es gar nichts mit ihm zu tun. Seine Finger fummelten unsicher, er griff daneben. Großes Gelächter. Seine Finger wurden feucht. Das Gelächter schwoll an. Er dachte, er sei niemals in der Lage, dieses Lied zu Ende zu spielen. Cazie kam ihm zu Hilfe. Völlig unbeeindruckt von solchen menschlichen Eigenarten wie lautem Gelächter und schlechter Musik und unbeirrt jeder Gefühlserregung spielte sie ihre Rolle. Sie richtete ihren Schlangenkörper senkrecht auf. Dann sperrte sie den Rachen auf und begann im Rhythmus der Musik, die jetzt lebhaft aus Sams Harfe floß, ihren Körper sanft hin und her zu bewegen. Das wirkte. Da die meisten Zuschauer noch nie in ihrem Leben eine Kobra gesehen hatten, breitete sich tiefes Schweigen aus. Sam nahm die Gelegenheit wahr und warf einen verstohlenen Blick zu Mylan und Trina. Ihre Nummer war für ihn genauso rätselhaft, wie das, was Reardon vorhatte, wenn der letzte Mondbrocken aufgegangen war. Mylan meinte, es sei besser, wenn Sam vorher nichts wüßte. Er würde die Show nicht genießen können, wenn ihm bekannt sei, welche Nummer als nächste kommen würde. Trina lag mit dem Rücken auf einem Tisch. Der rote Mantel, den sie trug – ein Geschenk von Mylan –, umhüllte locker ihren Körper. Mylan hielt ein Schwert in seiner Hand, die silberne Klinge blitzte im Fackellicht. Sam wurde es unheimlich. Schmerzliche Töne entströmten in rascher Folge Sams Harfe, aber niemand schien darauf zu achten. Alle starrten auf Mylan und Trina. Cazie ließ sich von den Launen des Publikums nicht beeindrucken und tanzte weiter. Mylan hob das Schwert bis über seinen Kopf. Auf den Zehenspitzen hielt er es einen Augenblick lang ausgestreckt, die Spannung wuchs. Das Schwert fiel, zuerst langsam, dann zischte es durch die Luft. Trina zuckte nicht einmal. Das
Schwert durchtrennte ihren Körper in der Mitte und schlug den Holztisch ein. Bis auf das Rauschen des Windes herrschte Totenstille. Sam hatte aufgehört zu spielen. Er schaute zu Trina hinüber, die sauber in zwei Teile geschnitten war. Mylan ging zum Tisch und zog das Schwert aus dem Holz. Die Menge beobachtete ihn aufmerksam, unsicher wie sie reagieren sollte. Was war angebracht? Klatschen? Beifallrufen? Schreien? Ohnmächtig werden? Sam versuchte weiterzuspielen, aber es ging nicht. Seine Finger waren taub und fühlten sich an, als ob sie doppelt so dick geworden seien. Dann merkte er, daß Trina ihn beobachtete. Er hörte auf zu spielen und starrte zurück. Dann blinzelte sie ihm zu. Als er das sah, wußte er, daß alles in Ordnung war. Ihr war nichts passiert – es war eben nur ein Trick gewesen. Erleichtert und zuversichtlich tanzten seine Finger über die straffen Saiten der Harfe. Natürlich ein Trick. Zum Teufel auch, er hatte es sich doch die ganze Zeit gedacht. Mylan trat an Trina heran. Mit seinem Hut strich er bedächtig über ihren Körper, von den Zehenspitzen bis zum Kopf. Dabei stimmte er einen rhythmischen Singsang an und murmelte unverständliche Worte. Dann setzte er sich den Hut auf und klatschte in die Hände, einmal, zweimal. Er ging einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Trina bewegte sich. Zuerst nur die Finger, dann die ganze Hand, dann einen Fuß. Langsam richtete sie sich auf und schwang die Beine über den Tisch. Sie sprang auf die Füße, stand und beugte sich. Soweit Sam es beurteilen konnte, war sie genauso unversehrt wie vorher. Dieses Mal war der Applaus noch rasender. Sam nutzte den günstigen Augenblick und beendete sein Harfenspiel. Er
wuchtete sich Cazie auf den Arm und wartete auf Trina, die zu ihm herübergelaufen kam. Sie gingen von der Bühne, und überließen den Platz Reardon, der als nächster dran war. Trina lachte lauthals. »Sam, Sam«, sie packte ihn am Arm. »Du hättest dein Gesicht sehen müssen. Einen Moment lang habe ich gedacht, du würdest tot umfallen. Du hast mir nie gesagt, daß du dich so um mich sorgst.« Bei ihrem Gelächter erinnerten sie sich an die Angst, die er erlitten hatte, als das Schwert fiel. »Ich finde das gar nicht lustig. Wie hat er es gemacht? Ich meine – weißt du, es hat so echt ausgesehen.« »Willst du es wirklich wissen?« »Ja, natürlich. Magie war es nicht, das weiß ich. Aber wie…?« »Das einzige, was Mylan wirklich getan hat – soweit ich es gesehen habe –, war, das Schwert in den Tisch zu rammen. Er ist mir nie so nahe gekommen, daß er mich hätte zerschneiden können.« »Aber ich habe doch gesehen, wie er es getan hat«, beharrte Sam. Trina funkelte ihn spöttisch an. »Hast du es wirklich gesehen?« »Ja, sicher, ich…« »Sei still. Ich erzähle es dir später. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie es geht. Komm, wir wollen uns Reardons Auftritt anschauen.« Sam ging wieder zur Bühne zurück, aber da gab es nicht viel zu sehen. Mylan und Reardon standen dicht gegenüber, Auge in Auge. Keiner von beiden sagte ein Wort, rührte sich oder schien auf andere Weise die Anwesenheit des Publikums zu beachten. Nervös begann Reardon mit den Füßen zu scharren. Doch Mylan war die Ruhe selbst. Er fesselte die Menge durch
die Kraft seiner Selbstbeherrschung, als die Minuten vergingen, ohne daß sich etwas tat. Sam konnte sich nicht mehr beherrschen. Er flüsterte Trina ins Ohr: »Was machen die denn da?« »Wenn es das ist, was ich denke, ist es sehr wichtig.« »Wenn sie sich nicht beeilen, ist Reardon ein Werwolf, bevor sie überhaupt noch angefangen haben.« Er zeigte zum Himmel hinauf. »Der zwölfte Mondbrocken geht auf.« »Wenn du Angst hast, können wir ja zum Schiff zurückgehen. Urban würde sich sicher freuen, wenn wir ihm Gesellschaft leisten.« Sam tat so, als habe er ihren Spott überhört und schüttelte den Kopf. »Nein, wir bleiben.« Die Stille hielt an, die Zeit verging. Eine Minute, zwei Minuten, vielleicht sogar mehr. Endlich bewegte sich Mylan. Er hob den Kopf und sah zum Himmel. Sam tat es ihm nach. Er zählte leise. Ein zackiger, bleicher Himmelskörper, der zwölfte Mondbrocken, stand im Osten des Himmels. Das schien ein Signal zu sein. Mylan ließ Reardon stehen und kam nach vorne. »Meine Damen und Herren«, sagte er, »ich werde heute nacht zu ihrem Vergnügen einen Zauber besonderer Art vorführen. Ich nehme an, die meisten von ihnen kennen die Legende vom Werwolf, einer Kreatur, die halb Mensch und halb Wolf ist und in der Zeit des zwölften Mondbrockens die Nächte unsicher macht. Die meisten tun diese Geschichte als Aberglaube ab. Dennoch, ich bin kürzlich durch eine Stadt gekommen, deren Namen ich nicht nennen will, wo der Sheriff selbst eine Jagd auf Werwölfe leitete. Unnötig zu erwähnen, daß er nur einige Einwohner, die ihm persönlich nicht geheuer erschienen, einsperrte.« Glucksend lachten die Zuschauer über den dummen Gesetzesvertreter, und auch Sam stimmte in die Fröhlichkeit ein. Später fragte er sich, warum eigentlich? Die Stadt war
Lomata, und der Werwolf war Reardon. Und wie Sam aus Erfahrung wußte, war Reardon kein Aberglaube. Mylan fuhr fort. »Wie sie vielleicht bemerkt haben, haben wir heute eine solche Nacht wie ich sie beschrieben habe.« Er legte eine Pause ein, und Tausende von Augenpaaren blickten zum Himmel und überzeugten sich von der Anwesenheit sämtlicher Mondbrocken. »Und wie sie mir sicher zustimmen werden, ist der Mann, der hier vor mir steht, ein ganz normaler Mensch. Und bevor ich weitermache, möchte ich Sie beruhigen. Ganz gleich, was auch passiert, es gibt keinen Grund zur Panik. Und sollte zufällig ein Werwolf unter uns erscheinen, so garantiere ich Ihnen, er wird nicht wilder sein als eine Katze auf Mäusefang.« »Stimmt«, murmelte Sam, »aber nur solange man nicht selbst die Maus ist.« »Sam, sei still«, ermahnte ihn Trina. Sam schaute zum Himmel. Was immer Mylan auch vorhatte, es mußte bald geschehen, denn der zwölfte Mondbrocken stand jetzt hoch am Himmel. Sam warf einen Blick auf die Bühne und fühlte wie ihm die Knie weich wurden. Reardons Verwandlung war schon in vollem Gang. Aus seinem Gesicht sproß grauer Pelz. Die Stirn trat zurück, das Kinn wich nach hinten, aus dem Zahnfleisch wuchsen Fangzähne. Sam stand ziemlich nahe an der Bühne, so daß er sogar sah, wie aus den behaarten Fingerspitzen scharfe Klauen stießen. Trina klammerte sich an Sams Arm. Das Raunen unter den Zuschauern wuchs. Jemand schrie auf. Vorsichtshalber ging Sam einen Schritt zurück. Trina hielt ihn zurück. »Nein, warte«, sagte sie. »Ich glaube, ich weiß, was er vorhat.« »Das ist kein Trick. Das ist echt.« »Weiß ich. Paß auf.« Mylan hatte offensichtlich keine Angst. Mit einschmeichelnder, sanfter Stimme sprach er auf Reardon ein.
Er ging auf ihn zu. Reardon knurrte, schlug mit den Armen und bäumte sich bedrohlich auf. Die Zuschauer hatten kein Vertrauen. Fast körperlich spürbar brandete eine Welle der Angst durch die Menge. Die Entsetzensschreie mehrten sich. Einige brachen aus der Menge aus und ergriffen die Flucht. Als Reardon sich nach einigen Minuten immer noch nicht auf Mylan gestützt hatte, kehrte Ruhe auf dem Platz ein. Irgend jemand in der Nähe der Bühne fing an zu klatschen, andere fielen ein, und bald war der Applaus genauso stark wie zuvor. Mylan und Reardon standen sich gegenüber. Sie hielten die Augen geschlossen, keiner von beiden rührte sich. »Das kapiere ich nicht«, sagte Sam. »Warum bringt Reardon ihn nicht um?« »Ich glaube nicht, daß er es kann.« »Er ist doch ein Werwolf, oder?« »Das wissen wir, aber weiß er es auch?« Trina könnte recht haben, aber das war auch das einzige, was Sam dazu einfiel. Mylan führte jetzt mit Reardon eine Reihe von Tricks vor. Knurrend und brummend raste der Wolf auf Händen und Füßen quer über die Bühne. Er schlug Purzelbäume und machte Männchen wie ein Hund. Trina zupfte Sam am Ärmel. »Wollen wir jetzt vielleicht gehen? Ich glaube, wir haben genug gesehen.« Sam war einverstanden. Er bemitleidete Reardon wegen der Demütigung, die Mylan ihm zufügte. »Wohin? Zurück zum Schiff?« »Nein, komm, wir sehen uns die Stadt an.« Sie drängelten sich durch die Menschen, die die Bühne umlagerten. Außerhalb der Menge überraschte sie ein kalter Nachtwind. Sam schauerte und zog Cazie fester um seinen Hals. Die Stadt war düster und menschenleer. Flackerndes Fackellicht erhellte spärlich die besonders dunklen
Straßenecken. Sam fragte sich, ob überhaupt jemand während der Vorstellung zu Hause geblieben war. »Wolltest du mir nicht etwas erzählen?« fragte Sam Trina, während sie weiter durch die Stadt spazierten. »Wenn ich mich nicht irre, sagtest du, du wüßtest, wie Mylan seine Zaubertricks macht.« Sie nickte. »Hast du schon mal von Hypnose gehört, Sam? Mein Vater hat ständig davon Gebrauch gemacht – wie die meisten Hexer –, aber Mylan ist mit Abstand besser als jeder, den ich bisher gesehen habe.« Sam wußte theoretisch, was Hypnose war, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, so etwas je miterlebt zu haben. »Hypnose, das ist doch, wenn einer des anderen Gedanken in seiner Gewalt hat und ihn machen lassen kann, was er will.« »Ja. Nur Mylan scheint gleichzeitig mehr als nur die Gedanken eines Menschen in seiner Gewalt zu haben. Er läßt alle Zuschauer sehen, was er will. Ich würde gern einmal wissen, was passiert, wenn jemand zu spät kommt. Ich wette, daß der dann gar nichts sieht.« »Und Reardon? Glaubst du, Mylan hat auch ihn hypnotisiert?« »Da bin ich sogar sicher. Ich finde, das ist doch ganz klar. Und zwar heute nachmittag, als sich die beiden im Arbeitszimmer Mylans verkrochen hatten.« »Dann habe ich im großen und ganzen doch recht gehabt. Mylan ist nichts als ein großer Schwindler.« Sie zuckte mit den Achseln. »Und durch diese Gewißheit fühlst du dich jetzt wohler.« Seltsamerweise, war das aber nicht der Fall. Sam hatte das Gefühl, als ob er etwas Wertvolles verloren habe. Er erinnerte sich daran, daß Mylan ihm gesagt hatte, der Vorrat an Magie auf der Erde sei beschränkt. Es konnte ja immerhin sein, daß er
die Quelle nicht ausschöpfen wollte. Vielleicht setzte er Magie nur dann ein, wenn es unumgänglich war. Er fragte Trina, was sie davon halten würde. Sie nickte. »Es ist durchaus möglich.« »Ich bin ganz sicher«, sagte Sam. Sie kamen an die Begrenzungsmauern der Stadt. In der Ferne konnte man das Lachen hören. Sams Nase nahm den Duft von gebratenem Fleisch, süßen Blumenduft und frisch gemähtem Gras auf. »Warum hast du nie versucht, mich zu verführen, Sam? Wir sind jetzt schon so lange Zeit zusammen, und du hast nichts in dieser Richtung unternommen. Selbst Reardon war so höflich, wenigstens mal anzufragen, wenn ich ihn, auch sofort abgewiesen habe.« Neugierig sah Sam zu ihr hinüber, überrascht über die plötzliche Wendung des Gesprächs. Gegen seinen Willen stieg Ärger in ihm hoch. »Wann war das? Warum hast du es mir nicht schon früher gesagt?« »Warum denn? Ist das so wichtig?« »Das ist es wirklich, es ist äußerst wichtig.« »Aber warum? Was geht es dich an?« »Weil, weil er… Reardon hat kein Recht dazu.« Sie lachte fröhlich auf und hängte sich bei ihm ein. »Sam, Reardon ist mir egal. Es geht mir um dich. Ist es wegen dieser anderen Frau, wegen Ellen O’Denver? Liebst du sie noch immer?« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Ich habe sie sehr bewundert, sie war einfach phantastisch, aber ich weiß nicht, ob wir uns überhaupt jemals geliebt haben. Sie war so viel älter als ich und auch klüger, nicht so wie du.« »Willst du damit andeuten, ich sei dumm?« »Aber nein«, erwiderte er schnell. »So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte damit sagen, daß sie eine ausgezeichnete
Vagabundin war und wußte, wie man am Fluß überleben konnte, und du bist ja jetzt auch schon viel besser als am Anfang.« »Dann beantworte mir endlich meine Frage. Wenn sie es nicht ist, was ist es dann?« Er zuckte die Achseln. Es gelang ihm nicht, seine Verwirrung zu unterdrücken, und er hoffte nur, daß Trina ihm in der Dunkelheit nicht ins Gesicht sehen konnte. »Mir ist einfach nicht die Idee gekommen. Wir waren Freunde und Partner mehr aber eben nicht. Übrigens, in der ersten Nacht hast du mich davor gewarnt.« »Aber das war doch etwas anderes. Zuerst, klar, da habe ich nicht gewußt, wer du warst und was du wolltest. Und so wie du aussiehst, das sprach nicht gerade für dich. Das weißt du ja wohl.« »Ich bin häßlich.« »Nein, so meinte ich es nicht.« »Wie denn?« »Ich meine, daß ich dich sehr anziehend und gut aussehend finde.« Sie hielt inne, und sah ihn an. Aus irgendeinem Grund schien das Mondlicht besonders hell. Er sah deutlich ihr sommersprossiges Gesicht und ihr silberblondes Haar. Mit erstaunlicher Klarheit erstand wieder das Bild, als er sie zum ersten Mal am Fluß gesehen hatte, und wieder war er von ihrer Schönheit geblendet. »Du bist auch sehr hübsch.« »Danke.« Sam nahm sie in die Arme. Er fühlte sich dick, klobig und unbeholfen. Er sog ihren süßen Körpergeruch ein. Sie küßte ihn. Cazie rührte sich träge. Sam erwiderte Trinas Kuß. »Komm her.« Sie hielt ihn die Hand hin. »Dank Mylan sind wir so allein, wie man es sich nur wünschen kann.«
In der Nähe stand ein großes Steinhaus mit einem Hof. Sie gingen Hand in Hand hinüber und fanden dicht bei der Ziegelmauer im hohen Gras einen geschützten Platz. Trina legte sich auf den Rücken. Sam kniete neben ihr nieder. Selbst hier im Schatten glaubte Sam ihr Gesicht völlig klar zu sehen. Trina griff sich an den Nacken und öffnete den Knoten, der ihr rotes Gewand hielt. Sie zog das Kleid bis zur Taille hinunter. Sam schluckte. Er stemmte die Ellbogen auf seine Knie und starrte auf Trinas Brüste. »Du kannst mich berühren, wenn du magst.« Er nickte. Ihre Brüste waren sehr klein, und wie sie so dalag, waren sie auf der weichen Haut über ihren Rippen kaum erkennbar. Er streichelte ihre Brustwarzen und fühlte, wie sie unter seinen Fingerspitzen groß und hart wurden. Trina seufzte. Sam hätte am liebsten vor Freude gelacht. Er rutschte mit seinem Körper unbeholfen hin und her und lag schließlich neben ihr. Cazie rutschte von seinem Hals und glitt durch das Gras. Trina blickte auf, als die das Geräusch hörte. »Sieh nur, was wir angestellt haben. Die Arme ist wach geworden.« »Ihr geht es gut. Sie weiß, wo das Schiff ist. Soll sie doch Urban Gesellschaft leisten.« »Besser sie als ich«, sagte Trina und drehte Sam zu sich. Er schloß die Augen und preßte seine Lippen fest auf ihren Mund. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Beine. Er strich ihr Kleid hoch. Trina preßte seine Hand zwischen ihre Schenkel. Ihr Körper war anschmiegsam und gleichzeitig seltsam fest, er fühlte ihre gespannten Muskeln unter der straffen, festen Haut. Es war nicht der erste Schrei, den er überhört hatte, vielleicht war es schon der zweite oder auch der dritte gewesen, jedenfalls rief jemand so laut, daß man ihn viel näher vermutete, als er in Wirklichkeit war.
Wie der Blitz war Sam auf und schaute sich um. Der Hof war dunkel und menschenleer, aber er konnte Schritte hören. Die Rufe wurden stärker – mindestens ein Dutzend Stimmen waren es. Trina zog sich hektisch an. Sam half ihr, das Band im Nacken zu verknoten. Sie stand da und ordnete die Falten ihres Kleides. »Was ist los?« fragte sie. »Warum schreien die alle?« »Ich weiß es nicht, aber wir sollten besser nachsehen.« »Ich hoffe nicht, daß bei der Vorstellung irgend etwas schiefgegangen ist.« »Vielleicht hat Mylans Hypnosefähigkeit nicht ausgereicht, und Reardon ist ausgebrochen.« »Teufel noch mal, das will ich nicht hoffen.« »Es gibt nur einen Weg, das rauszukriegen.« Sie liefen zusammen über den Hof zur nächsten Straße. Etwa ein dutzend Leute rannten ihnen entgegen. Sam sprach sie an, aber keiner blieb stehen. Sam schnappte sich einen kleinen Jungen. »Warum rennt ihr so? Ist der Werwolf entkommen?« Heftig schüttelte der Junge den Kopf. »Es ist nicht wegen ihm. Es ist wegen dem da auf dem Fluß. Wegen des Schiffes.« »Ein Schiff?« Kalt stieg eine tödliche Ahnung in Sam auf. »Was für ein Schiff?« »Ein ganz schreckliches. Der Hexer hat gesagt, es sei ein schlechtes Omen, es bedeute unsere Vernichtung. Wir sollten zu unseren Häusern laufen, uns dort verstecken und beten.« Sam schüttelte den Jungen. »Was der alte Narr sagt, ist mir egal. Ich will wissen welche Farbe das Schiff hat. Ist es ein schwarzes Schiff?« Mit offenem Mund nickte der Junge. »Woher weißt du das? Es ist ein schwarzes Schiff ohne Segel, ohne Schaufelrad. Es kommt oben Rauch raus.« Sam ließ von ihm ab. Er ging zu Trina und sagte nur ein Wort: »Nerdya.«
»Denkst du… daß es kein Zufall ist? Glaubst du, daß sie wegen uns gekommen ist?« »Auf jeden Fall wegen mir.« »Sam, was willst du jetzt tun. Du mußt weglaufen. Du hast keine andere Wahl.« Er schaute zum dunklen Himmel hoch. »Es hat doch keinen Sinn. Wenn sie mich hier gefunden hat, wird sie mich auch überall finden. Außerdem bin ich es leid, immer wegzulaufen.« »Du kannst nicht gegen sie kämpfen.« »Ich muß es versuchen. Komm.« Er nahm ihren Arm, und sie gingen zum Platz zurück. Zuerst mußten sie gegen den dichten Menschenstrom, der ihnen entgegenkam, ankämpfen, dann kamen aber immer weniger Leute, und schließlich sahen sie die Bühne. »Da ist Mylan.« Trina deutete auf die einsame Figur, die verlassen auf der Bühne saß. »Ja, aber wo ist denn Reardon? Er müßte doch eigentlich auch hier sein.« »Vielleicht weiß es Mylan.« Sie eilten auf den Magier zu, der nicht einmal den Kopf hob, als er sie kommen hörte. Er saß da, den Kopf in die Hände gestützt, zusammengesunken und mit gebeugtem Rücken. »Wir haben gerade gehört, was passiert ist.« Trina kauerte sich neben den Zauberer. »Dir fehlt doch nichts, oder? Wo ist Reardon?« Mylan schaute hoch. Sein Blick war verschleiert und unstet. »Ist sie es wirklich – ist es wirklich Nerdya?« Sam nickte. »Ich hätte es dir sagen müssen. Sie jagt mich. Ich bin es, hinter dem sie her ist.« Sam sah keinen Grund mehr, die Wahrheit zu verheimlichen. Für Ausflüchte war es jetzt ohnehin zu spät. »Sie sucht dich Sam?« Mylans Stimme kam von weit her. Er sprach wie betäubt.
»Sam hat ihr etwas weggenommen«, erklärte Trina. »Tatsächlich?« »Eine Karte«, sagte Sam leise. »Genauer, ein Stück von einer Karte.« »Nur ein Stück?« »Die andere Hälfte hat mein Vater. Es ist die Karte von der Heimstatt der Freien Menschen.« Mylan nickte und stand auf. Er streckte beide Arme aus und schlug Sam auf die Schulter. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. Er ließ die Arme fallen und wandte sich ab. »Wir sollten zum Schiff gehen«, murmelte er. »Urban ist allein, und er macht sich Sorgen.« »Was ist mit Reardon?« fragte Trina auf dem Weg zum Fluß. »Ist er zum schwarzen Schiff gegangen?« Mylan nickte. In seinen Augen war Trauer. »Ich habe versucht, ihn zurückzuhalten. Wirklich. Aber es war alles vergebens. Kaum hatte das Schiff angelegt, brach er aus und rannte zum Fluß. Wenn er nicht ertrunken ist, wird er jetzt wohl bei ihr sein.«
XII
HAMMER UND PFAHL
An Bord wurden sie von Urban und Cazie erwartet, die sich wie Soldaten vor dem feindlichen Angriff, in den Schutz der Brücke zurückgezogen hatten. Urban beschrieb, wie er das schwarze Schiff entdeckt hatte, als es den Fluß herunterkam, und wie er es auf Anhieb wiedererkannt hatte. »Ich habe mich so bemüht, das Schiff zu beobachten, aber es ist einfach zu dunkel, als daß man etwas klar erkennen könnte. Trotzdem bin ich sicher, daß sie an Bord ist. Ich spüre sie.« Offensichtlich hatte Cazie beschlossen, ihren Groll gegen Sam aufzugeben und rollte sich wieder um seinen Hals. Sam erklärte Urban warum Nerdya wahrscheinlich gekommen war. »Ich habe davon gehört, von dieser Heimstatt der Freien Menschen«, sagte Urban. »Aber wo ist Reardon? Warum ist er nicht mit euch gekommen?« Auch das erklärte Sam. »Ich fürchte, ich kann das bestätigen«, sagte Urban. »Es mag eine Stunde her sein, da hörte ich ein Klatschen im Wasser. Das könnte er gewesen sein, wie er zu ihr hinüberschwamm. Zuerst dachte ich sogar, es könnte Nerdya sein. Deshalb habe ich auch nicht nachgeschaut.« Die Vorstellung, daß Nerdya ihr Schiff verlassen haben könnte, war für keinen der Anwesenden angenehm. Sam vermutete allerdings, daß sie dann schon längst aufgetaucht wäre. Mylan ordnete eine Schiffsdurchsuchung an. Nachdem sie nichts gefunden hatten, trafen sie sich alle in Mylans Arbeitszimmer und beschlossen, dort die Nacht zu verbringen.
Für Sam hatte dieser Raum einen neuen morbiden Charakter. Die alten Bücher waren für ihn nicht länger Symbole einer vergangenen Erleuchtung, sondern er sah in ihnen nur noch Bündel von vermoderndem Papier – sonst nichts. Mylan saß hinter seinem Schreibtisch. Sorgenvoll hatte er den Kopf auf die Arme gelegt. Gegen seinen Willen wurde Sam wütend. Warum ließ Mylan denn jetzt nicht etwas von seiner großartigen Magie frei? Warum ließ er Nerdya nicht einfach verschwinden und rettete sie alle. Trotzdem wartete er wie die anderen geduldig darauf, daß Mylan das Wort ergriff. Ganz zweifellos war er ihr Anführer. Und wenn es nur darum war, daß ihm das Schiff gehörte, auf dem sie zu Hause waren. »Ich würde euch so gerne sagen, daß wir noch Hoffnung haben«, erklärte Mylan schließlich schleppend. »Aber ich fürchte, sie spielt nur mit uns, sonst wäre sie wohl schon hier. Wir alle kennen ihre Macht, abgesehen von Trina. Wann immer sie will, kann sie hereinkommen, und keiner von uns könnte sie daran hindern.« »Es muß doch etwas geben, das uns noch retten könnte«, sagte Trina. »Warum rammen wir nicht ihr Schiff und versenken es oder tun sonst was.« »Ihr Schiff ist aus Stahl, meins ist nur aus Holz. Wir würden sinken, nicht sie.« Sam konnte nicht abstreiten, daß Mylans Pessimismus angebracht war. Er kannte Nerdya wohl am besten von allen. Besonders nachts waren ihre Kräfte grenzenlos, sie bewegte sich wie der Wind. Er hätte etwas gegen sie ausrichten können, allein, mit Trina an der Seite. Aber er war nicht allein. Er mußte Urban, Mylan und sogar Reardon in seine Überlegungen mit einbeziehen. Und vor allem machte er sich um Trina Sorgen. Er hatte schon Ellen O’Denver in den Fängen des Vampirs verloren. Würde er es ertragen können auf
die gleiche schreckliche Weise wieder eine Frau, die er liebte, an Nerdya zu verlieren? »Überhaupt, was ist mit dir?« Schrie Trina los und zeigte auf Mylan. »Unentwegt erzählst du uns, was für ein großer Magier du bist. Warum rettest du uns jetzt nicht? Vielleicht deshalb, weil du nur ein Schwindler bist? Weil deine Magie nichts weiter ist als ein paar faule Tricks?« »Nein.« Mylan richtete sich auf und schüttelte energisch den Kopf. »Sag, was du willst, aber sag nicht so was. Ich würde so gerne helfen. Mir all meiner Kraft bete ich um nichts anderes. Ich war einmal ein großer Magier. Ich konnte die geheimen Kräfte der Erde mit der gleichen Leichtigkeit rufen, mit der ich jetzt zu euch spreche. Wie meint ihr denn – ist dieses fabelhafte Schiff zustande gekommen? Es war Magie – meine Magie!« »Sicherlich, aber das ist lange her«, erwiderte Trina. »Wann hast du das letzte Mal Magie benutzt?« Mylan starrte Trina verdutzt an. Er senkte den Kopf und neigte langsam den Kopf. »Du hast recht. Ich habe keine Kraft mehr. Ich bin auf eine Kraft gestoßen, die mächtiger war, und als ich mich behaupten wollte, habe ich alle Kraft verloren. Ich bin vorher leichtsinnig mit meiner Magie umgegangen. Das war mein Fehler. Ich habe meine Niederlage selbst verschuldet.« »Aber hast du seitdem nie wieder versucht, das, was du verloren hast, wieder zu erobern?« »Aber natürlich, oft sogar. Die Magie ist da. Ich kann sie oft ganz nah bei mir spüren – wie ein elektrisches Prickeln in der Luft. Aber ich kann sie nicht mehr packen. Ich bin ein alter Mann, ein Schatten dessen, was ich einmal war.« Trina schüttelte traurig den Kopf. Keiner von ihnen hatte mehr Lust, den alten Magier weiter anzugreifen. Sam war zu einem Entschluß gekommen. Er wickelte die vom Schwimmen
noch nasse Cazie von seinem Halse. »Ich sollte Nerdya die Karte wiedergeben. Wenn sie sie hat wird sie vielleicht weggehen und uns in Ruhe lassen.« »Nein, das darfst du nicht tun.« Dieses Mal war es nicht Trina, die Einspruch erhob, sondern Urban. Heftig schüttelte der Rangel seinen großen Kopf. »Du kannst nicht zulassen, daß ein Monster wie Nerdya Zugang zur Heimstatt der Freien Menschen erhält. Es wäre das gleiche, als ob du die Heimstatt zerstörst.« »Weißt du denn, was es mit der Heimstatt auf sich hat?« fragte Sam. »Genaueres weiß ich nicht darüber, nur daß es sehr wichtig ist. Es soll ein Ort sein, der weder dem Willen eines menschlichen Wesens noch dem eines Rangels untersteht. Wir müssen auf jeden Fall verhindern, daß Nerdya dort hinkommt.« »Das ist einfacher gesagt als getan. Es kann durchaus sein, daß sie aufs Schiff kommt und sich die Karte holt. Mylan kann uns nicht schützen. Und du?« »Nein«, sagte Urban traurig. »Ich kann euch auch nicht schützen.« »Aber du kannst es, Sam.« Das war Mylan. Kerzengerade saß er in seinem Sessel. »Du bist der einzige unter uns, der sie mit mehr oder weniger gleichen Mitteln bekämpfen kann.« »Ich? Wieso ich? Ich bin nicht anders als ein dahergelaufener Vagabund, der eine Karte gestohlen hat. Ich habe einmal Glück gehabt. Ich bin nicht stark.« »Aber du bist ihr Sohn«, sagte Mylan. Urban konnte sein Erstaunen nicht verhehlen, und Sam bemühe sich um ein gequältes Lächeln. »Der Witz ist gut, Mylan. Wie bist du auf diese verrückte Idee verfallen?« »Ich weiß es von Nerdya. Ich kenne sie seit langem, wie du weißt. Und sie hatte ein Kind. Ich glaube, du bist dieses Kind,
Sam. Niemand sonst hätte so nahe an Nerdya herankommen können, um ihr etwas so Kostbares wie diese Karte zu entwenden.« Sam sah sich hilfesuchend nach Trina um, aber sie signalisierte ihm, daß in dieser Situation nur die Wahrheit weiterhalf. »Ich habe keine Ahnung, wie ich sie töten soll. Wenn ich es könnte, hätte ich es schon vor Jahren getan, als ich mir die Karte gestohlen habe. Tagsüber wird sie ständig von den Kobolden bewacht. Und nachts ist es ganz unmöglich an sie heranzukommen.« Urban hatte inzwischen nachgedacht. »Und wenn wir einen Weg fänden, die Kobolde zu umgehen?« fragte er zögernd. »Meinst du, daß es dann ginge?« Sam hatte niemals ernsthaft daran gedacht, Nerdya offen anzugreifen. »Du kannst die Kobolde nicht umgehen. Sie sitzen in dem Raum, wo ihr Sarg steht.« »Das tun sie nicht. Du vergißt, daß auch ich dort war. Die Kobolde sind vor der Tür, sie sind nie im Raum.« Sam zuckte mit den Schultern. »Ich sehe da keinen Unterschied. Du mußt an ihnen vorbei, und du kannst sie ebensowenig töten wie Nerdya.« »Nicht, wenn sie uns nicht sehen.« »Was redest du da? Sollen wir uns Flügel wachsen lassen und hinfliegen?« »Nicht fliegen, aber kriechen. Wir Rangel sind ruhelose Naturen. Wir schlafen nicht wie die Menschen mehrere Stunden jeden Tag. Als ich am Bord des schwarzen Schiffes lebte, hatte ich genügend freie Zeit zur Verfügung. Tagsüber ging ich meistens an Bord auf und ab. Eines Morgens habe ich etwas entdeckt. Eine Art Muster im Boden des Decks, es waren die Umrisse einer Falltür. Neugierig geworden, beschloß ich herauszubekommen, wohin diese Tür wohl führt. Ich fühlte mich schwach, weil die Nächte mit Nerdya mich
beanspruchten, aber irgendwie schaffte ich es, die verrostete Tür zu öffnen und hindurchzuschlüpfen. Auf der anderen Seite fand ich eine Leiter vor, die zu einem engen waagerechten Tunnel hinunterführte. Meine Neugier wuchs, ich beschloß, auch den Tunnel zu erforschen. Er war schmal und eng, und einem Menschen fällt es sicher leichter als mir, dort hindurchzukriechen. Am Ende des Tunnels kam ich an eine zweite Tür. Ich öffnete auch diese. Dahinter verbarg sich ein schreckliches, modrig riechendes Zimmer, voller Staub und Schmutz. Es war Nerdyas Schlafzimmer, wo ich Nacht für Nacht mit ihr gelegen hatte. Zum erstenmal konnte ich es deutlich sehen. Da war ein langer schwarzer Kasten, ihr Sarg. Meine Finger waren steif vor Angst, aber mit letzter Kraft gelang es mir, den Deckel zur Seite zu schieben. Sie lag vor mir. Sie war wach, sah mich an, konnte sich aber nicht rühren. Wie Feuer brannte mir das Herz in der Brust. Ich dachte, ich müßte auf der Stelle sterben. In ihren Lippen strömte das Blut, das sie aus meinen Venen gesogen hatte. Ich habe geschrien, wie noch nie ein Rangel geschrien hat. Mir wurde übel. Ich taumelte zurück zum Tunnel, und irgendwie habe ich es geschafft, wieder hindurchzukriechen. In einem klaren Moment habe ich sogar die Tür hinter mir geschlossen. Schließlich habe ich das Deck erreicht. Ich konnte einfach nicht mehr aufhören, zu rennen. Ich sprang über Bord und schwamm zum Ufer. Dort rannte ich weiter. Mein Volk hat sich dann geweigert, mich wieder aufzunehmen. Und das konnte ich ihnen nicht verübeln.« »Und du würdest diesen Durchstieg wiederfinden?« fragte Sam. »Ganz sicher.« »Sie hat dich gesehen. Wahrscheinlich hat sie erraten, daß du durch den Tunnel den Weg zu ihr gefunden hast.« »Das Risiko müssen wir wohl auf uns nehmen.«
»Du hättest sie in dem Augenblick töten können.« »Das weiß ich jetzt und ich bedaure zutiefst, daß ich es nicht getan habe. Aber ich liebte sie. Vielleicht kannst du mich verstehen? Bei meinem Volk verliebt man sich nur einmal im Leben – wenn überhaupt. Obwohl ich alles über sie wußte und bei Tageslicht sah – liebte ich Nerdya.« »Und wie ist es jetzt?« fragte Mylan ihn gütig. »Ich liebe sie immer noch.« »Und trotzdem willst du uns helfen, sie zu töten?« fragte Sam. »Ohne zu zögern. Sie ist schrecklich und böse.« »Dann sag mir, wie ich den geheimen Durchgang finde.« »Nein.« Ein breites Grinsen überzog das Gesicht von Urban. Sam hätte niemals gedacht, daß Rangels so breit grinsen konnten. »Ich werde es dir nicht sagen, ich werde es dir zeigen.« »Ich glaube, das ist nicht nötig…« »Die Notwendigkeit ist nur ein Faktor. Ein anderer ist das taktische Vorgehen. Je mehr Augen und Hände, desto besser. Selbst tagsüber ist Nerdya mächtig. Ich habe euch erzählt, wie meine Finger steif wurden, als ich versuchte, den Deckel des Sargs zu öffnen. Für dich, Sam, als ihr eigen Fleisch und Blut, muß die Qual noch viel härter sein.« »Also gut, ich will auch mitgehen«, sagte Trina. »Ich habe keine Angst vor ihr, und außerdem bringe ich noch ein Paar Augen und Hände mit.« Sam wollte Einspruch erheben, wußte andererseits aber auch, daß sie und Urban und er ein gutes Team abgeben würden. Allein zu gehen wäre dumm. Wenn er sich nämlich das Leben nehmen wollte, wäre es einfacher, das sofort zu tun, anstatt sich der Mühe eines Ausflugs auf das schwarze Schiff zu unterziehen. »Ich gehe auch mit.« Erklärte Mylan unvermittelt.
Erstaunt drehte Sam sich um. Das hätte er nicht gedacht. »Bist du sicher? Drei von uns sollten eigentlich reichen.« »Nein.« Mylan blickte Sam fest und unverwandt an. »Ich kann euch vielleicht helfen.« »Wie?« fragte Trina grob. »Ich werde mir schon was einfallen lassen.« »Dann ist die Sache also beschlossen«, sagte Urban. »Bei Anbruch der Morgendämmerung rudern wir vier zum schwarzen Schiff hinüber. Ein kleines Ruderboot haben wir.« »Wir brauchen noch andere Dinge«, erklärte Mylan bedeutungsvoll. »Ich will zusehen, daß ich sie beschaffen kann.« »Welche anderen Dinge?« fragte Trina. »Einen Hammer und einen Pfahl. Um einen Vampir zu töten, muß man ihm einen Pfahl durchs Herz treiben.« »Oh.« Trina wurde bleich. Mylan sah in die dunkle Nacht hinaus. »Ich fürchte, diese Nacht wird lang werden. Wenn wir Glück haben, kommt Nerdya nicht vor der Dämmerung.« Sam ging an Deck. Rund um das Schiff herum gab es einen schmalen Steg. Sam machte sich auf den Weg. Die Nacht war kälter als die vorhergehenden. Cazie kuschelte sich um seinen Hals. Sam ließ seinen Blick über den Fluß und den Himmel schweifen. Auf der anderen Seite des Schiffes, wo sich die gezackte Silhouette des schwarzen Schiffes vor dem strahlend hellen Sternenhimmel abhob, hielt er an. Da hörte er einen Schrei, der ihm das Blut in den Adern gerinnen ließ. Was konnte das sein? Ein Todesschrei? Wollust? Schmerz? Es war Reardon – dessen war er sich sicher. Er lauschte angestrengt, aber der Schrei wiederholte sich nicht. Er hatte schon einmal einen solchen Schrei gehört. Er hatte nur eine schwache Erinnerung an die Zeit, als er als kleiner Junge an Bord des Schiffes gelebt hatte, aber jetzt wurde er an
einen Mann erinnert, der sein Freund gewesen war. Er unterschied sich von den Geliebten, die Nerdya üblicherweise hatte, die sie, kaum daß sie einige Tage an Bord waren, tötete und zu Kobolden machte, wenn sie ihrer überdrüssig wurde. Dieser Mann war jung, blond hübsch, gebildet. Er war jeden Morgen zu Sam ins Zimmer gekommen. Manchmal blieb er den ganzen Tag, und sie unterhielten sich stundenlang über alles mögliche. Dieser Mensch, der sein erster wirklicher Freund war, hatte ihn viel gelehrt – über die Geographie der Erde, die Geschichte der Menschheit, die Rangels und über die Heimstatt der Freien Menschen. Währenddessen setzte er seine nächtlichen Besuche bei Nerdya fort, und nach einigen Wochen wurde er bleich, ausgezehrt, und schwach. Eines Nachts, Sam träumte einen schrecklichen Traum, riß ihn ein Schrei, so entsetzlich, daß ihm das Blut in den Adern gefror, aus dem Schlaf. Steif vor Angst, setzte er sich kerzengerade ins Bett und horchte intensiv in die Nacht. Es folgte kein zweiter Schrei. Am nächsten Morgen erschien der Mann zum erstenmal nicht zur gewohnten Zeit bei ihm. Da wurde Sam klar, was er gehört hatte. Sam sah den Mann nie wieder. Sam verscheuchte die Gedanken an seine Vergangenheit. Er wandte seine Aufmerksamkeit von dem schwarzen Schiff ab und dem Fluß zu. Dort ging etwas vor sich. Das Wasser quirlte und blubberte. Sam ergriff die Reling und lehnte sich weit vor, um besser sehen zu können. Es war ein Zahnfisch. Der riesige weiße Koloß stieß aus dem Wasser. Von seinem breiten Rücken floß in gewaltigen Strömen donnernd das Wasser herab. Sam hielt den Atem an. Er hatte noch nie zuvor einen Zahnfisch aus solcher Nähe gesehen. Sein Körper ragte aus dem Wasser, und Sam hatte den Eindruck, er brauche nur die Hand ausstrecken, um die weiße Haut des Tieres zu berühren. Ihn fielen Dinge auf, die er bisher nie wahrgenommen hatte.
Zum Beispiel war das Fell längst nicht so glatt, wie er vermutet hatte. Wo er auch hinsah, das Fell war buchstäblich von Tausenden kleinen Tieren überzogen dünn und rot. Sie hatten sich festgebissen und sahen aus wie fette Würmer. Sam war augenblicklich klar, daß es sich um Parasiten handelte, deren einzige Tätigkeit darin bestand, das Blut des großen weißen Fisches zu trinken. Dem Zahnfisch schien das allerdings nichts auszumachen. Ganz ruhig trieb er’ unter dem Sternenhimmel. Sam konnte sein Maul nicht erkennen. Aus dieser Perspektive erschien ihm das Biest längst nicht mehr als Verkörperung der Bösartigkeit. Die Parasiten diese Blutsauger stießen Sam weit mehr ab. Er verglich den Zahnfisch mit einem großen Planeten, auf dem die Parasiten die Lebewesen darstellten, sie starben, wie Sam bemerkte. Nun verstand er, warum der Zahnfisch zur Wasseroberfläche gekommen war. In dem fremden Lebenselement konnten die Parasiten nicht mehr atmen und starben zu Tausenden – sie glitten einfach ins Wasser. Die Haltung des großen mörderischen Fisches gefiel Sam. Er lachte laut auf. Das Tier kennt den Kosmos, dachte er, es hat das Rätsel zwischen Leben und Tod begriffen. Er sah, wie ihn das große runde Auge des Fisches beobachtete, und plötzlich ergriff Sam unbändige Freude, und er winkte dem Tier zu. Sobald seine Haut von den Parasiten befreit war, tauchte der Zahnfisch wieder unter. Sam starrte dem weißen Schatten nach, der ins Nirgendwo verschwand. In seinem Kielwasser bildete sich ein Strudel. Überall schwammen die Parasiten auf dem Wasser. Schließlich gingen auch sie unter. »Was war das für ein Lärm?« Sam schaute sich um. Hinter ihm stand Trina. »Ein Zahnfisch. Er ist eben hier aufgetaucht.« Trina starrte auf die jetzt wieder ruhige Wasseroberfläche. »Hier ist es aber doch nicht tief genug.«
»Ich weiß, aber ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Er war förmlich von Blutegeln übersät, die ihm zu schaffen machten, und er hat sie alle getötet. Es war ein phantastischer Anblick.« Trina schaute zu dem schwarzen Schiff hinüber. »Glaubst du, daß sie heute nacht kommt?« Plötzlich war sich Sam ganz sicher. »Nein. Sie spielt nur mit uns. Sie kommt frühestens morgen nacht.« »Damit gewinnen wir Zeit – Zeit um zuerst zuzuschlagen.« »Das wird sich noch herausstellen.« »Das klingt nicht sonderlich ermutigend. Übrigens, Mylan sagt das gleiche. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, bevor ich zu dir ging. Sam, was glaubst du, wer er in Wirklichkeit ist?« »Er ist… ganz einfach Mylan. Wie kommst du darauf, daß er jemand anders sein sollte?« »Du wirst schon recht haben. Nur, findest du es nicht auch merkwürdig? Er scheint sie ganz genau zu kennen.« »Er hat uns doch gesagt, daß er sie kennt.« »Schon, aber…« Ruckartig drehte sich Trina um. »Schau mal. Siehst du es? Das war eben noch nicht da, oder?« Sam schaute in die bezeichnete Richtung. An Bord des schwarzen Schiffes schien ein gelbes Licht. Es sah aus wie eine Laterne hinter einem Fenster. »Was soll das bedeuten«, sagte Trina. »Meinst du, das könnte Reardon sein?« Sam schauderte. Die Nacht war wirklich sehr kalt und dunkel. Er nahm Trina bei der Hand. »Komm, laß uns nach unten gehen.« Sie schaute ihn verwundert an. »Warum denn? Du kannst doch noch nicht müde sein, oder?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Doch. Ich glaube, ich bin wirklich müde.«
Trinas Mund verzog sich zu einem dünnen Lächeln. »Ob du es glaubst oder nicht, ich auch.« »Wir könnten zusammen schlafen«, sagte er impulsiv. »Möchtest du es?« »Ja.« Trina warf einen letzten Blick über den Fluß. »Dann laß uns gehen.«
XIII
KOBOLDE
Sam stieß die Ruder tief ins Wasser und stemmte sich mit aller Kraft gegen die mächtige Strömung. Tief stand die Sonne am westlichen Himmel, der Rumpf von Nerdyas Schiff war nur verschwommen sichtbar. Waren sie dem Schiff überhaupt näher gekommen? Waren sie aus Versehen in eine andere Richtung gerudert? Die Ruder verursachten Blasen auf seinen Handflächen. Es ging Sam einfach nicht schnell genug. »Sam, streng dich nicht so an«, sagte Mylan, der im Bug des kleinen Ruderboots saß. »Wir haben Zeit genug. Bleib ruhig. Wir wollen nicht, daß du erschöpft bist, bevor wir überhaupt da sind.« Obwohl Sam wußte, daß Mylan recht hatte, kam er nicht gegen seine fieberhafte Unruhe an. Er mußte es sich einreden: Sie hatten genügend Zeit, um Nerdya zu töten. Unter dem Gewicht der Ruder spannten sich seine Armmuskeln. Sein Rücken schien unter der Marter zu ächzen. Sam schaute zur Sonne. Sie hing viel zu dicht über dem Horizont. Sam verdoppelte seine Anstrengung. Es kam ihm in den Sinn, wie sie aufgewacht waren. Ein Zauber von Nerdya hatte sie alle in den Schlaf versetzt. Nur Urban, als Rangel, war der völligen Betäubung entgangen und schneller als die anderen aufgewacht. Nach einiger Zeit gelang es ihm, auch Sam, Trina und Mylan aus dem Schlummer zu reißen. Inzwischen war die Sonne am Himmel entlanggewandert und stand kurz vor ihrem Untergang. Mylan hatte als einziger darauf bestanden, daß es für ihre Rettung noch nicht zu spät sei.
In Gedanken daran, wie Urban ihnen aus seiner Sicht den Vorfall dargestellt hatte, mußte Sam lachen. »So, sie denkt also, sie sei schlau? Na, dann würde ich mir keine Sorgen mehr machen. Sie hat eine verdammte Teufelei versucht und ist damit reingefallen. Dank Urban sind wir hellwach. Und die Sonne scheint. Wir sollten jetzt losfahren. Ich meine, jetzt wird es Zeit, daß wir ihr mal zeigen, mit wem sie es aufgenommen hat.« Mylan hielt eine kleine schwarze Tasche umklammert und führte sie zum Unterdeck. Mit einem Knall stieß das Ruderboot an die Wand des schwarzen Schiffes. Sam schreckte hoch. Er war so in Gedanken versunken gewesen, daß er nicht gemerkt hatte, wie nahe sie dem Schiff gekommen waren. Mylan schaute gespannt um sich. »Nun müssen wir irgendwie an Deck kommen. Sam, rudere uns bitte zum Heck. Wir können versuchen, an der Ankerkette hochzuklettern.« »In Ordnung, Mylan.« Sam ruderte vorsichtig los. Der Schiffsrumpf hatte die Sonne verdeckt, ihre Strahlen verbreiteten einen diffusen Schimmer. Am Heck angekommen, ließ Sam die Ruder los und ergriff die Ankerkette. Urban machte das Boot fest. »So, wer will als erster gehen?« fragte Mylan. »So wie ich das sehe, ist das eine Höllenkletterei. Und wir können es uns nicht leisten, daß einer von uns runterfällt.« Sie beschlossen, daß Urban als erster hochklettern sollte. Ihm folgte Mylan, der den schwarzen Sack an sich geklammert hatte und mit erstaunlicher Leichtigkeit hochkletterte. Trina küßte Sam noch einmal, bevor sie ihn verließ. Als ihre Füße in Sams Kopfhöhe waren, machte Sam Cazie von seinem Hals los und legte sie auf die Planken des Ruderbootes. »Ich möchte, daß du hier wartest, bis es dunkel geworden ist. Sollte ich dann noch nicht zurück sein, dann schwimm, so schnell du kannst
von hier weg.« Er streichelte ihr über den Kopf und wußte genau, daß sie ihn verstand. Dann kletterte auch er hoch. An Bord hielt er einen Augenblick inne, um sich zu orientieren. Wie erwartet, war ihm das Schiff noch sehr vertraut. Er versuchte sich von diesem Gefühl frei zu machen. Das Deck war ordentlich und sauber geschrubbt, in einer Ecke war eine Anzahl von Holzkisten gestapelt. Leicht schaukelte das Schiff in der Dünung. Niemand war zu sehen. Sam blickte zur Sonne, die zögernd hinter dem Horizont zu verschwinden drohte. »Urban wird uns den Weg zu der Falltür zeigen«, sagte Mylan. »Hier entlang«, sagte Urban und zeigte in die Richtung der untergehenden Sonne. »Ich hoffe, daß es nicht weit weg ist.« Sie gingen in einer Reihe schnell und geräuschlos hinter ihm her. Urban führte sie über Umwege über das Deck, so daß die Gefahr nicht so groß war, daß plötzlich ein Kobold aus der Dunkelheit vor ihnen auftauchte. Sam versuchte auszurechnen, wieviel Zeit ihnen noch blieb, um Nerdyas Sarg zu erreichen. Sicherlich eine nutzlose Überlegung, aber sie vertrieb ihm die Zeit. Ein kühler Windstoß, Vorbote der Nacht, fuhr durch sein Haar. Vielleicht noch zwanzig Minuten, höchstens dreißig. Er versuchte sich Nerdya tot vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Ich glaube es eben nicht, dachte, ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie wirklich sterben kann. »Paß auf!« Trina hatte die Warnung ausgestoßen. Sam drehte sich auf dem Absatz um und brachte rechtzeitig die Arme hoch, um den Schlag abzuwehren. Durch die Wucht des eigenen Schlages stürzte der Kobold, eine ausgemergelte, bleiche, fast durchsichtige Kreatur, zu Boden. Sam drehte sich um und sah ein halbes dutzend Kobolde auf sie zulaufen. Sam hob seine
Hände zur Verteidigung. Zwei Kobolde liefen zu Urban, zwei andere zu Trina. Sam schnappte sich die letzten zwei. Er schwang seine Fäuste und versetzte beiden gleichzeitig einen Hieb. Es war, als würde er in einen Wasserball stoßen. Das Fleisch der Kobolde gab nach, er spürte keinen Aufprall. Offensichtlich hatten die Kobolde sie kommen sehen und hatten sich auf die Lauer gelegt. Sam hoffte, daß das nicht das Ende war. Nur, wie sollte man Kreaturen verletzen, die man nicht einmal treffen konnte? Urban war niedergeschlagen worden, zwei Kobolde hielten Trina fest. Sam wollte ihr helfen. Doch bereits nach dem ersten Schritt legte sich ein Arm um seinen Hals. Die Berührung war eklig kalt. Er stolperte und schnappte nach Luft. Der Griff um seinen Hals war wie eine stählerne Klammer. Was war mit Mylan passiert? Während er sich freikämpfte, hielt Sam nach ihm Ausschau. Endlich entdeckte er ihn. Irgendwie hatte er es geschafft, den Kobolden zu entkommen. Er kauerte hinter einer der Holzkisten und sah sonderbar aus. Seine Augen waren geschlossen, der Kopf nach hinten geworfen, und sein Gesicht war vor Anspannung verzerrt. Er bewegte sich wie in Trance. Die beiden Kobolde, die er niedergeschlagen hatte, waren wiedergekommen und hielten dem wild um sich schlagenden Sam die Arme fest. Er war hoffnungslos gefangen. Voller Verzweiflung versuchte er, mit ihnen zu sprechen. Er berichtete ihnen von ihrem Vorhaben und bat sie um Hilfe: »Sie hat euch doch getötet. Wißt ihr das überhaupt? Solange sie lebt, seid ihr ihre Sklaven.« Es war zwecklos. Nichts deutete darauf hin, daß sie ihn verstanden. Und dann passierte es. Der Kobold, der Sams Hals umklammert hatte, schrie als erster auf. Es war ein unmenschlicher Schrei. Er verlor das Gleichgewicht und fiel
hin. Er wälzte sich auf dem Boden, zuckte, stöhnte und schrie wie ein Mensch, der bei lebendigem Leibe verbrennt. Das gleiche passierte mit den beiden Kobolden, die Sam an den Armen gepackt hatten. Weiter entfernt fielen zwei weitere Kobolde schreiend auf den Boden. Endlich befreit, stürzte sich Trina auf Sam und umschlang ihn. Er umarmte sie. Auch Urban war inzwischen frei. Alle sieben Kobolde lagen an Deck und erlitten Todesqualen. Schwankend und mit zitternden Händen kam Mylan auf sie zu. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er keuchend. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir…« Er kippte um. Sam fing ihn auf. Wie tot lag Mylan in seinen Armen. Langsam kam der Zauberer wieder zu sich und richtete sich auf. Er schüttelte sich. »Macht euch keine Sorgen um mich. Es ist alles in Ordnung. Wir müssen weiter.« »Was machen wir mit denen da?« Sam zeigte auf die Kobolde. »Sollten wir nicht…?« »Es ist ihnen nichts passiert. Sie leben – wenn man es so nennen will.« »Aber…« Mylan grinste ein wenig. »Ich habe euch doch gesagt, daß ich einmal ein Magier war. Nun, das war Magie. Ich habe es wiedergefunden, Sam. Ich habe es von der Erde genommen und tun lassen, was ich wollte.« Urban führte sie weiter. Die Luke war nur ein paar Schritte von dem Ort des heimtückischen Überfalls entfernt. Die Umrisse der Tür waren deutlich erkennbar. Urban kniete nieder. Mit beiden Händen versuchte er, sie zu fassen. Sam hielt den Atem an, als die Scharniere quietschten. Was, wenn sich die Tür nicht öffnen ließ? Er sah zur Sonne. Sie hatten keine Wahl mehr, entweder sie machten weiter, oder sie würden sterben. Sie hatten nicht mehr genügend Zeit um vor Anbruch der Dunkelheit wieder auf Mylans Schiff zu sein.
Schneller als erwartet ließ sich die Falltür anheben. Sam konnte noch rechtzeitig einen impulsiven Drang, in Triumphgeheul auszubrechen, unterdrücken. Urban schwang seine langen Beine in die Öffnung. Sam erinnerte sich daran, daß sie zuerst eine Leiter hinuntersteigen mußten, bevor sie in den Tunnel kamen. »Wir müssen Körperkontakt halten«, sagte Urban. »Drinnen werden wir nichts sehen können. Sam, du gehst als letzter und schließt hinter dir fest die Tür.« Aufmerksam sah Sam sich um. Wenn jetzt Kobolde kämen, wären sie in der eigenen Falle gefangen. Zuerst stieg Urban und dann Mylan hinunter. Dann verschwand Trina. Die ganze Zeit hielt Sam die Ohren gespitzt. Er hörte immer noch das Stöhnen der Kobolde. Dann war er an der Reihe. Er tastete nach der ersten Sprosse. Als er Fuß gefaßt hatte, stieg er hinab. Er griff nach oben und zog die schwere Luke hinter sich zu. Sie klinkte fest ein. Völlige Dunkelheit umgab ihn. Sam kletterte die Leiter hinunter. Schließlich hatte er festen Boden unter den Füssen. Er kroch weiter und fuchtelte mit der Hand durch die Luft, er berührte etwas Weiches. Trina. Sie lachte. »Sam, faß mich woanders an.« »Hört zu«, sagte Urban flüsternd. »Ich bin jetzt hier am Eingang des Tunnels, ihr folgt mir. Haltet euch an den Händen fest und laßt nicht los. Sprecht nur, wenn es unbedingt nötig ist. Ich weiß nicht, ob sie uns hören kann, aber die Gefahr besteht.« Sam legte seine Hand auf Trinas Rücken. Wenn sie vorwärts kroch, bewegte er sich auch. Der Tunnel verlief gradlinig, leicht nach unten geneigt, ohne Kurven, Steigungen oder Richtungsänderungen. Der Tunnelschaft wurde allmählich niedriger, so daß Sam nach einiger Zeit wie eine Schlange auf dem Bauch weiterkriechen mußte. Er hielt sich mit einer Hand an Trinas Fuß fest. Der Tunnelboden war glitschig und bot kaum Halt. Der Abstieg war langsam und beschwerlich. Eine
Unmenge Zeit schien zu vergehen. In der Dunkelheit konnte man sich schlecht vorstellen, daß draußen noch die Sonne schien. Was, wenn der Tag schon zu Ende war? Was, wenn sie in Nerdyas Zimmer kämen, und sie schon erwacht war und sie lächelnd und mit geifernden Lippen erwartete? »Wartet einen Augenblick«, flüsterte Urban vom Kopf der Schlange. »Es gibt ein Problem. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht hatte ich es damals nicht bemerkt.« Sam hatte wie die anderen angehalten. »Worum geht es?« fragte er flüsternd. »Der Tunnel teilt sich. Ich fühle es mit meinen Händen.« »Und wo gehen wir lang?« »Das ist ja das Problem. Ich weiß es nicht.« Panik schwang in seiner Stimme. Mylan schaltete sich ein. Er sprach mit beruhigender Stimme. »Es ist ganz einfach. Wir müssen uns aufteilen. Urban und ich gehen links weiter, Sam, du und Trina ihr nehmt die rechte Abzweigung.« »Und wenn wir sie finden?« fragte Trina. »Tut was ihr könnt. In dem Fall werden Urban und ich möglichst schnell zu euch kommen. Denkt daran, wir haben Zeit. Wir haben noch viel Zeit.« Das konnte Sam kaum glauben. Trotzdem, sie hatten keine andere Wahl. Er glaubte schon, daß er Nerdya eine Weile hinhalten konnte, wenn Trina und er sie als erste fanden. Sie würde ihn nicht sofort töten. Wahrscheinlich würde sie zunächst versuchen, etwas über die Karte herauszubekommen. Hoffentlich würde er schweigen können. Wenigstens für einige Zeit. Die rechte Abzweigung schien ihnen von Anfang an der falsche Weg zu sein. Es gab zuviel Kurven, Drehungen und Ecken, die nicht in Urbans Beschreibung paßten. Allerdings,
hatte sich Urban auch nicht an die Gabelung erinnert. Deshalb war auch nicht auszuschließen, daß dies der richtige Weg war. Der Tunnel hörte vor einer Wand auf. Trina teilte es Sam über die Schulter mit. »Bist du sicher, daß keine Öffnung drin ist? Die Tür, von der Urban gesprochen hatte?« »Ich taste die Wand mit den Fingerspitzen ab. Sie scheint solide zu sein. Wir sind vielleicht in einem toten Arm, Sam. Wir sollten umkehren.« »Versuch es noch einmal, mit aller Kraft.« »Gut.« Sie stöhnte unter der Anstrengung. »Nichts?« »Ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht hat sie sich bewegt.« »Laß mich mal.« Sam versuchte an ihr vorbeizukommen, aber dafür war es zu eng. Er kletterte über sie und stützte sich mit den Händen ab. Es war keine günstige Stellung, aber schließlich fühlte er die Wand. Trina hatte recht gehabt, es schien eine solide Fläche zu sein. Mit beiden Händen stemmte sich Sam dagegen, und lag dabei mit seinem ganzen Gewicht auf Trina. Zuerst rührte sich die Wand nicht. Dann stieß Sam noch einmal mit aller Kraft zu, und plötzlich fiel das Hindernis in sich zusammen. Helles Licht blendete sie. Sam hielt sich die Hände vors Gesicht und versuchte, etwas zu erkennen. Trina, die neben ihn getreten war, stieß einen lauten Schrei aus. Sam konnte absolut nichts erkennen. Er nahm an, sie seien auf Nerdya gestoßen, was sein Todesurteil bedeutet hätte. Als sich seine Augen endlich dem Licht angepaßt hatten, stellte er fest, daß es nicht ihr Zimmer sein konnte. Er kannte diesen Raum. Es war das Zimmer, in dem er aufgewachsen war. Er hätte nicht sagen können, woran er sein Zimmer wiedererkannt
hatte, denn es gab nicht Charakteristisches, dennoch war er ganz sicher. In der Ecke des Zimmers stand ein kleines Holzbett. Eine Gestalt mit herunterhängenden Armen lag darauf. Unsicher blinzelte Sam. Dann war ihm klar, warum Trina losgeschrien hatte. Der Mann auf dem Bett war Reardon. »Er ist tot, nicht wahr?« fragte Trina. »Ich weiß es nicht.« Sam betrat den Raum. Er drehte sich zu Trina um und half ihr durch das Mauerloch. Reardons Augen waren geöffnet und starrten sie an. Sam wedelte mit seiner Hand vor Reardons Augen. Aus zwei Wunden an jeder Seite seiner Kehle tropfte Blut. Er war wachsbleich. Sam griff nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls. Wie ein Spastiker warf Reardon den Kopf hin und her. »Sam?« fragte er mit bleichen geschwollenen Lippen. »Du lebst.« »Wirklich?« Tief aus Reardons Brust kam eine Art Lachen hoch. »Beweise es mir.« Sam ließ Reardons Handgelenk los und kniete neben ihm nieder, damit er ihn besser hören konnte. »Wir werden dich hier rausholen. Sei unbesorgt. Sie wird dich nie wieder erwischen.« Unentwegt warf Reardon seinen Kopf auf der blutbefleckten Matratze hin und her. »Ich sterbe. Verstehst du das nicht? Ich habe es so gewollt.« »Du läßt dich einfach so von ihr umbringen?« Trina, die hinter Sam stand, sagte es voller Abscheu. »Sie kann sehr nett sein. Ich habe sie nicht daran gehindert.« »Aber wir werden ihrem Treiben ein Ende machen.« Sam schrie die Worte fast. »Deswegen sind wir nämlich gekommen. Wir werden sie töten.«
»Ich wußte, daß ihr es tun würdet. Darum habe ich sie auch gewähren lassen. Ich habe sie die ganze Nacht abgelenkt. Sie hat mich ausgesaugt. Sie wollte zu euch, aber ich habe sie nicht gehen lassen.« »Dann hast du uns gerettet, Reardon.« »Es war das einzige, was ich noch tun konnte.« Er lächelte, tastete nach Sams Hand und drückte sie sanft. »Jetzt geht zu ihr. Laßt mich allein. Laßt mich sterben. Wir sind alle in unserem Schicksal gefangen, Sam. Mein Leben war verdammt lang. Verstehst du, was ich meine?« Sam nickte. »Ja.« »Dann vergib auch ihr.« »Nerdya?« »Ja. Sie ist noch viel älter als ich.« Reardon blinzelte und zog die Schultern hoch. Er rang nach Atem. Sam wollte ihm helfen und ihn bequemer hinlegen, aber Reardon stieß seine Hände weg. Gurgelnd rang er nach Atem, aus seinem Mund rann ein wenig Blut. Sein Brustkorb hob sich nicht mehr. Er sank in sich zusammen. Sam stand auf. »Er ist tot.« »Sieh ihn an«, sagte Trina. »Sieh dir sein Gesicht an. Er sieht fast, ich weiß nicht wie… glücklich aus.« »Zu guter Letzt«, erwiderte Sam, »glaube ich, war er auch stolz.« Sam sah zur Tür. Sie durften sich jetzt nicht durch den Schock über Reardons Tod aufhalten lassen. Trina folgte Sams Blick. »Was machen wir nun?« »Wir müssen ihr Zimmer suchen. Durch den Tunnel können wir nicht zurück, das dauert zu lange. Es muß hier irgendwo sein.« Trina blickte zu Reardon und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Gib mir noch eine Minute Zeit.« Sam wartete. Auch er brauchte noch diese Zeit, um Abschied zu nehmen. »Geht es dir jetzt besser?« fragte er.
Sie nickte. »Wir sollten jetzt gehen.« Ein Schrei drang an Sams Ohren. Es war ein Schrei, wie ihn die Kobolde ausgestoßen hatten, als sie auf Deck von Mylans Magie getroffen worden waren, und er kam ganz aus der Nähe. »Was war das?« fragte Trina. »Laß uns nachsehen.« Sam riß die Tür auf. Vor ihm lag ein Kobold und wand sich in Todesqualen auf dem Boden. Er sah in einen Flur. Am anderen Ende war eine Tür halb geöffnet. Durch den Türspalt sah Sam Mylan und Urban. Mylan stand genau im Türrahmen, mit verzerrtem Gesicht, den Kopf im Nacken und geschlossenen Augen. Wieder in Trance, schoß es Sam durch den Kopf. Mitten im Raum kniete Urban neben einer länglichen Kiste. Nerdyas Sarg! Diese Entdeckung traf Sam wie ein Fausthieb. Es war ihr Zimmer. Sie hatten es gefunden. Sam stieg über den Kobold und drang in den Raum ein. Er hörte wie Trina ihm folgte. »Mach die Tür zu«, rief er ihr zu. »Und schließ ab, wenn es geht. Wir wollen nicht…« Er blickte zu Urban. Wie ein Standbild ragte der Rangel neben dem Sarg auf. Die Hände hielt er, wie im Gebet versunken, vor seiner Brust gekreuzt, in einer Hand hielt er den Hammer, in der anderen den Pfahl. Aber er rührte sich nicht. Sam ging zu ihm. Die ganze Zeit hatte er die Nähe des Sargs und seines Inhalts gespürt. Er packte Urban und schüttelte ihn. »Bist du in Ordnung? Hörst du mich?« Ein Geräusch, wie das Zischen einer Schlange, lenkte ihn ab. Unfreiwillig wanderten seine Augen zum Sarg. Er schaute hinein. Sie lag darin, unversehrt. Plötzlich schienen die Jahre, die er von ihr weggewesen war, wie weggeblasen. Nerdya hatte sich nicht verändert. Er sah ihr schmales Gesicht, die rosa
Wangen und das schwarze Haar, das wie eine Krone um ihren Kopf lag. Sie trug ein weißes, knöchellanges Kleid. Durch den durchscheinenden Stoff schimmerten ihre schweren braunen Brüste und das dunkle Dreieck ihrer Schamhaare. Mit ihren schwarzen tiefgründigen Augen fing sie seinen Blick ein. Am liebsten hätte Sam sich abgewendet. Statt dessen tastete er sich zu Urban und nahm ihm Hammer und Pfahl aus den Händen. Er hielt die Werkzeuge in der Hand, hob den Hammer, aber er war unfähig, zuzuschlagen. Er fühlte, wie sie ihn auslachte. »Sam«, sagte sie lautlos »Sam, du bist zurückgekommen.« Er wußte, daß er nicht sprechen durfte, um ihrem Zauber nicht zum Opfer zu fallen. Mit einer unsäglichen Kraftanstrengung hob er den Pfahl über den Sarg. »Die Karte Sam. Du hast sie. Gib zurück, was du gestohlen hast.« Sams Mund zuckte, er wollte antworten, gehorchen. Er biß sich auf die Zunge und schmeckte sein Blut. Er war unfähig, sie zu töten! Wie ein bleiernes Gewicht wog der Holzpfahl in seiner Hand. Einen kurzen Augenblick lang gelang es ihm, sich von ihren Augen loszureißen. Er sah auf. Urban hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Trina stand an der Tür, regungslos. Mylan war auf die Knie gefallen und stützte den Kopf mit den Händen. Die letzte Anwendung seiner Magie mußte ihn sehr mitgenommen haben. »Sam, sieh mich an!« Wie glühendes Eis brannte sich ihre Stimme in seine Gedanken ein. Sein Kopf zuckte zurück. Sie war so alt – so entsetzlich alt. Ihre Augen waren ein Spiegel der Vergangenheit. Sie zeigten den Strudel ihres Lebens, wie in einem Tunnel durch die Jahrhunderte wirbelnd und versunken im Grund des ewigen Vergessens.
Sie bewegte sich in ihrem Sarg. Als sie es tat, wußte Sam. Daß das Ende gekommen war. Draußen war unbemerkt die Nacht hereingebrochen. Nerdyas Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln. Sie erhob sich. Wie ein Wasserfall ergoß sich bläulichrotes Blut in einem Strom aus ihrem Mund und zeichnete bizarre Gebilde auf ihr Gewand. Es war Reardons Blut, das Blut des armen toten Reardon, Sams Freund. Ohne einen Laut von sich zu geben schrie Sam vor Schmerz. Er streckte ihr die Arme entgegen, hielt ihr den Pfahl und den Hammer hin. Sie lachte, und noch mehr Blut quoll aus ihrem Mund. Die Chance war vorbei, vertan. Nerdya schwebte zu ihm, feierlich wie eine Traumgestalt auf der Wolke ihres fließenden Gewandes. Hart wurde Sam herumgerissen und zu Boden geschlagen. Endlich von Nerdyas Augen befreit, kam Sam wieder zu Sinnen. Hammer und Pfahl wurden ihm aus den Händen genommen. Er hörte Geräusche eines verbitterten Kampfes. Ein Schrei. Eine vertraute Stimme, bebend vor Wut. Es war Nerdyas Stimme! Sam kam auf die Knie. Er hob die Augen und starrte verdutzt auf das Schauspiel, das sich ihm bot. Mylan und Nerdya kämpften miteinander, sie hatten sich im Kampf verkeilt, sie waren sich gegenseitig an die Gurgel gegangen. In einer Hand hielt Mylan Pfahl und Hammer. Langsam zwang er Nerdya zurück zum Sarg. Wie konnte er das schaffen? War es Magie? War es eine bisher unangetastet gebliebene Reserve seiner Kraft? Kreischend krallte Nerdya ihre Fingernägel in Mylans Rücken. Sie zerriß das Hemd. Ihr Gewand wallte wie die gewaltigen Schwingen eines riesigen Vogels. Mylan keuchte, setzte Fuß vor Fuß. Mit einer Hand zwang er Nerdya in den Sarg und hielt sie dort nieder.
Vorsichtig rückte er in der anderen Hand Hammer und Pfahl zurecht. »Du!« stieß Nerdya bitter lachend hervor. »Ich hätte es mir denken können – ich hätte es wissen müssen.« Mylan drückte den Pfahl gegen ihr Herz. »Du willst mich töten? Du, der einzige, den ich je geliebt habe?« Mylan hob den Hammer. »Ich liebe dich!« schrie sie. Der Hammer fiel. »Ja, ja, ja!« Eine Fontäne von Blut spritzte aus dem Sarg. Dann war nur noch ein qualvolles Todesstöhnen zu hören. Sam taumelte hoch, rannte zum Sarg, zog sich hoch und starrte hinein. Dort lag Nerdya mit dem Pfahl im Herzen, in Blut gebadet. Sie rülpste und stieß eine Wolke übelriechenden Gases aus. Der Geruch zwang Sam zurückzutreten. Sie war tot, das war sicher. Wirklich und endgültig tot. Sam stieß mit den Füßen an etwas. Er schaute zu Boden. Da lag Mylan, den Hammer noch immer fest umklammert. Urban und Trina lösten sich aus ihrer Erstarrung. Sie hasteten herüber. »Sie ist tot«, sagte Urban. »Mylan, du hast sie getötet.« Irgend etwas war mit dem alten Magier nicht in Ordnung. »Sam«, sagte er. »Sam, bist du hier?« Sam kniete sich neben ihn nieder. »Hier bin ich, Mylan.« »Komm ganz nahe – bück dich zu mir herunter.« Sam hielt ein Ohr an Mylans Lippen. »In meinem Arbeitszimmer«, sagte Mylan. »Geh dorthin und schau nach. Such ein altes Buch mit grünem Umschlag und goldener Schrift. Schlage Seite hundert auf. Kannst du dir das merken?«
»Ich kann es mir merken. Was finde ich dort.« »Etwas, wonach du gesucht hast.« »Aber.« »Ich konnte es dir nicht vorher geben. Solange sie lebte, hättest du keine Chance gehabt. Jetzt hat sich alles geändert. Mir war vom ersten Augenblick an, als ich dich erkannte, klar, daß du stark genug bist. Du hast genügend gelernt. Und nun… jetzt ist es soweit, geh.« »Aber Mylan, wer bist…« »Auf Wiedersehen, Sam.« »Auf…« Sam preßte die geballte Faust vor den Mund. Er drehte sich um. »Ich glaube, er ist tot«, sagte Urban. »Er ist tot«, bestätigte Sam. Trina hatte inzwischen die Tür des Zimmers geöffnet. »Der Kobold ist weg«, rief sie den anderen zu. »Wir können gehen.« Sam nickte. »Sie müßten inzwischen alle weg sein. Mit Nerdyas Tod waren alle erlöst.« »Findet ihr nicht auch, daß sich alles verändert hat?« Trina holte tief Luft. »Selbst die Luft ist frisch und rein.« Sam nickte. »Seht nur.« Urban stand neben dem Sarg und starrte hinein. Von Nerdya war nichts übriggeblieben als ein kleines Häufchen weißer Staub. Und dann schrie Trina. Sam drehte sich zu ihr um. Mylan hatte sich auch verändert. Sein Gesicht war nicht faltenlos und sein Haar jetzt blond. Plötzlich fiel es Sam ein. Er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen. Es war vor langer Zeit auf diesem Schiff gewesen. Der tote Mann – Mylan – war der Mann, der ihn vor langer Zeit in seinem Zimmer besucht hatte.
Kaum waren sie wieder auf dem Hausboot angekommen, als Sam in Mylans Arbeitszimmer eilte. Er fand das Buch mit dem grünen Umschlag und den goldenen Lettern. Er blätterte bis zur Seite hundert, schüttelte das Buch, und ein gefaltetes Stück Papier flatterte zu Boden. Sam strich es auf dem Schreibtisch glatt. Auf den ersten Blick wußte er, worum es sich handelte. Es war die zweite Kartenhälfte. Sam wurde schlagartig klar, daß seine Eltern beide am selben Tag gestorben waren. Trina legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir gehen jetzt auf dem kürzesten Weg dorthin, Sam. Wir werden die Heimstatt der Freien Menschen finden und das Geheimnis enthüllen, das hinter all den Rätseln unseres Lebens steckt. Wir werden mit Mylans Schiff dorthin fahren. Ich bin sicher; daß er damit einverstanden wäre.« »Du hast es gewußt, nicht wahr?« fragte Sam sie. Sie nickte. »Ich habe es vermutet. Besonders letzte Nacht. Als Mylan wußte, wer du warst. Wer sonst hätte es wissen können?« Auch Sam nickte. »Ich muß dir etwas zeigen.« »Was denn?« »Die andere Hälfte der Karte, meine Hälfte. Ich glaube es ist sicherer, wenn ich dir zeige, wo ich sie versteckt habe.« »Ich habe mich schon immer gefragt, wo du sie hast.« Sam griff sich an den Hals. Er nahm Cazie ab und drehte sie auf den Bauch. Er deutete auf ein farbiges Rechteck, unmittelbar hinter dem Kiefer. »Erinnerst du dich, daß ich dir einmal von meiner Tätowierung erzählt habe? Nun, Cazie hat damals auch eine Tätowierung erhalten.« »Die Karte«, flüsterte Trina. »Könntest du dir einen sichereren Platz vorstellen? Es stimmt, Cazie beißt die Leute, die ich nicht mag«, Sam
versuchte zu lächeln. Aber es gelang ihm nicht. Vor seinem geistigen Auge hatte er immer noch das Bild von Mylan. Beide Gesichter. Das des müden alten Mannes und das des jungen starken. Tränen füllten seine Augen. In all den Jahren hatte er nicht ein einziges Mal geweint. Jetzt weinte er um den Vater, den er trotz allem doch noch kennengelernt hatte.
XIV
DIE HEIMSTATT DER FREIEN MENSCHEN
Selbst mit der vollständigen Karte vergingen mehr als drei Jahre, bevor Sam, Trina, Urban und Cazie die Heimstatt fanden. Viele seltsame, schreckliche und verwunderliche Ereignisse trugen sich im Laufe ihrer Reise zu. Mylans gezaubertes Schiff hatte ihnen für fast ein Jahr gute Dienste geleistet. Dann war es an hohen Felsen zerschellt, die den Eingang zu einem unterirdischen Kanal schützten. Aus dem Holz des zerstörten Schiffes baute Sam für alle ein großes Floß. Darauf verluden sie ihre Habseligkeiten und setzten die Reise fort. Einmal war Trina ausgerutscht, ins Wasser gefallen und in einen Strudel geraten. Sie wäre fast ertrunken, bevor es Sam gelang, sie wieder aufs Floß zu ziehen. Mit Urbans Hilfe, der eine spezielle Technik der Rangels anwandte, pumpten sie Luft in ihre Lungen, und sie begann wieder zu atmen. Die vollständige Karte wies ihnen den genauen Weg: Sie fuhren auf dem langen Fluß nach Süden, wandten sich auf einem kleinen Nebenfluß nach Osten, durchfuhren einen tiefen unterirdischen Tunnel und erreichten die Oberfläche eines zweiten großen Flusses. Auf diesem Fluß wurden sie über mehrere Meilen von einem Flugschiff der Rangels verfolgt. Sie drehten ohne Kommentar ab, als Urban ihnen ihr Ziel mitteilte. An diesem Fluß säumten keine Städte mehr das Ufer. Die Menschen lebten in Stämmen, die primitive Dörfer bewohnten.
Trina meinte, diese Menschen hätten mehr Ähnlichkeit mit Tieren als alle, die sie zuvor kennengelernt hatte. Stammesbewohner, die sich zu einer plündernden Bande zusammengeschlossen hatten und mit Äxten und Speeren bewaffnet waren, nahmen Trina gefangen. Sam und Urban befreiten sie unter Einsatz ihres Lebens. Ein anderes Mal griff eine Gruppe von Männern in Wolfsfellen Urban an. Sam und Trina retteten ihn. Im vierten Monat des zweiten Jahres brachte Trina ihr erstes Kind zur Welt. Es war ein kleiner Junge. Er starb fünf Monate später an einer Entzündung, nachdem auch Urbans Künste versagt hatten. Am Ufer des zweiten großen Flusses lebten große Herden von Antilopen und Bisons und andere wilde Tiere. Sie waren einfach zu jagen, und die Ausbeute war gut. Sie kamen über ein hohes Gebirgsplateau. Zweimal fiel in dieser Zeit Schnee. Sam legte sich flach auf das Floß und ließ sich von den sanften kalten Flocken zärtlich das Gesicht streicheln. Er öffnete die Lippen. Die Schneeflocken schmeckten rein und süß. Und noch viele andere seltsame, schreckliche, fröhliche und wundersame Dinge ereigneten sich auf ihrer dreijährigen Reise. Die meisten davon hatten sie am Ende ihrer Fahrt schon vergessen. Der Fluß brachte sie in ein weites Tal. Sie hatten seit Monaten kein menschliches Wesen gesehen, dafür waren aber die Herden wilder Tiere immer zahlreicher geworden. Sorgfältig studierte Sam die Karte. Er nahm Cazie in die Hand und starrte auf den Fleck direkt unter ihrem Kiefer. Er nickte und lenkte das Floß zum Ufer. »Wir sind angekommen«, sagte er zu Trina und Urban. »Hier ist die Heimstatt der Freien Menschen.«
Das Tal war sehr schön. Sie vertäuten das Floß am Ufer und gingen auf Erkundung. Die Sonne schien, und die Luft duftete süß nach Nektar. Die einzigen Lebewesen, die sie sahen, waren ein paar harmlose Pelztiere, die aussahen wie plumpe, schwanzlose Ratten. Obwohl sie alle sehr hungrig waren, mochte selbst Sam keins dieser Tiere töten. Statt dessen aßen sie rohe Früchte, die an kleinen buschigen Bäumen wuchsen. Die Früchte schmeckten sauer, sättigten aber hervorragend. Sam aß drei faustgroße Beeren und war davon stundenlang satt. Am vierten Tag kamen sie an einen großen See. Sam überlegte schon, ob er sich eine Angelrute schneiden sollte, aber Trina verkündete, daß sie genug Fisch für ihr ganzes Leben gegessen habe. Urban machte sie auf etwas aufmerksam, wonach Sam schon die ganze Zeit Ausschau gehalten hatte: Auf einer Lichtung, in einer Bucht, standen mehrere Grashütten. »Menschen?« fragte Sam. Er war deshalb so überrascht, weil er, seit sie in das Tal eingedrungen waren, ein Gefühl überwältigender Einsamkeit hatte. Sie gingen auf die Grashütten zu, um sie zu erforschen. Sam hatte keine Angst – denn Angst konnte man in diesem friedlichen Tal unmöglich haben –, aber sein Bauch fühlte sich an, wie eine stramm gespannte Trommel. Was ist denn nur los? fragte er sich. Als sie die erste Hütte erreichten, erschien auf der Türschwelle ein gebücktes Wesen. Zuerst dachte Sam, das müsse ein Zwerg in Pelzbekleidung sein. Aber als er näher kam, sah er, daß es gar kein Mensch war. Es war aber auch kein Rangel – es war etwas, das Sam noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Alle drei beobachteten die seltsame Kreatur. Plötzlich gab sie aus tiefer Kehle einen bellenden Laut von sich.
»Ich glaube, ich weiß, was es ist«, meinte Urban. »Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Einer meiner Lehrer hielt es sich als Haustier.« »Als Haustier?« fragte Sam. »Aber dann ist es…« Er hatte sagen wollen menschlich, aber das war ja ganz offensichtlich nicht der Fall. »Es ist ein Hund«, sagte Urban. »Aber sind Hunde denn nicht ausgestorben?« fragte Trina. »Nicht ganz«, erklärte Urban. »Hier sind sie nicht ausgestorben.« Aus der Hütte kamen noch zwei andere Hunde. Einer war ein Weibchen und der andere ein Junges, auch weiblichen Geschlechts. Urban bückte sich zu ihnen nieder. »Mutanten«, meinte er nach einer kurzen Untersuchung. »Sie haben keine Schwänze mehr, und ihre Gesichter sind unbehaart. Und seht euch die Zähne an. Das sind keine Hundezähne mehr. Ich nehme an, sie sind Pflanzenfresser.« »Ich dachte Hunde gingen auf vier Beinen«, sagte Sam. »Das war einmal. Diese laufen nicht mehr auf allen vieren. Das ist eine ganz einfache Entwicklung, man muß nur genügend Zeit verstreichen lassen. Deine Vorfahren liefen auf allen vieren, ebenso wie meine. Warum soll es bei ihnen anders sein?« »Wie lange haben sie dafür gebraucht?« »Wer weiß, wie lange diese Wesen schon in diesem Tal leben? Seit wir, die Rangels, gekommen sind, vielleicht aber auch noch länger.« »Du weißt also von ihnen.« »Ich nicht, aber es gibt jemanden, ich habe es euch doch schon gesagt.« Sam glaubte zu verstehen, was Urban meinte. Die Rangels waren über die »Hunde« informiert, kamen aber selbst nie
hierher. Dies hier war die Heimstatt der Freien Menschen, weil hier Lebewesen wohnten, die gar keine richtigen Menschen waren. »Wir würden uns viel Mühe ersparen, wenn wir mit ihnen reden könnten«, meinte er. »Ganz sicher haben sie auch eine Sprache«, erwiderte Urban. »Wahrscheinlich könnten wir sie von ihnen lernen, oder wir bringen ihnen unsere Sprache bei. Ich bin sicher, daß sie ihre kunstvoll gebauten Häuser nicht ohne halbwegs systematische und verallgemeinernde Sprache errichten konnten.« »Auch Vögel bauen ihre Nester«, sagte Trina. »Das hier ist aber mehr als Nester.« So, als wolle er Urbans Meinung bestätigen, gab der männliche Hund eine Reihe barscher und gutturaler Töne von sich. Gespannt lauschte Sam, und er glaubte, klar unterscheidbare Worteinheiten heraushören zu können. Auch die Bewohner der anderen Hütten kamen nun an. Neugierig bestaunten die Hunde die Besucher. Sam drehte sich zu Urban um. »Sie sind unsere Nachfolger, nicht wahr? So ist es doch wohl. Wenn wir, wenn die menschliche Rasse endgültig ausgestorben ist, erben sie die Erde.« »Wenn sie dann soweit sind. Stört es dich?« Sam schüttelte den Kopf. Er wußte nicht so genau, was er fühlte. »Ich weiß nicht… Ich möchte jetzt lieber allein sein.« Er ging weg. »Ich komme mit«, sagte Trina. Trina und Sam ließen die Grashütten und die Hunde hinter sich. Sie gingen an dem sandigen Ufer des Sees entlang, bis sie an einen glatten Felsen kamen. Sam setzte sich auf die eine Seite, Trina auf die andere. Sam streichelte Cazie. Sie schauten auf die klare, spiegelglatte Oberfläche des Sees.
»Es war ein Fehler«, sagte Sam. Aus dem Augenwinkel sah er zu Trina hinüber und fragte sich, ob sie ebenso wie er empfand. »Wir hätten niemals hierherkommen sollen.« »Wir gehören hier nicht hin«, sagte sie. »Wir sind hier Fremde, genauso wie die Rangels.« »Wir sind es nicht wert. Wir sind alt und müde und verbraucht. Wir werden bald sterben – wir alle.« »Du meinst also, wir sollten wieder weggehen.« Er nickte. »Ich glaube, wir haben keine andere Wahl.« »Es ist so schön hier. Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen. Und wir haben so viel aufgegeben, um hierherzukommen. Wir haben lange und hart dafür gearbeitet. Der arme Reardon. Und Mylan. Es ist, als hätten sie ihr Leben ohne jeden Grund geopfert.« »Zumindest Mylan muß gewußt haben, wie es hier ist. Es ist mir unverständlich, warum er wollte, daß wir hierherkamen. Wir haben doch kein Recht, hier zu bleiben. Dieser Ort gehört ihnen.« Mit einer Handbewegung zeigte er auf die Hütten, die hinter einem kleinen Hügel noch sichtbar waren. »Den Hunden, nicht den Menschen.« Urban kam auf sie zu. Er kam allein. Seltsamerweise blickte er grimmig. Sam teilte ihm Trinas und seine Überlegung mit. Urban runzelte die Stirn. »Ich finde das nicht richtig, Sam. Ihr solltet bleiben.« »Aber verstehst du denn nicht? Hier ist kein Platz für Menschen.« »Wer bist du, das zu entscheiden?« Urban war völlig außer sich. »Aus welchem Grunde, hast du dich so entschieden, Sam? Weil du Mitleid mit dir und mit der menschlichen Rasse hast, ist es nicht so? Du solltest es besser wissen. Deine Zeit, die Zeit der Menschen ist nun mal fast um. Wie kannst du all
das ignorieren, was wir erlebt haben? Aber was ist mit dir, Sam? Mit dir als Einzelmensch, als Individuum?« »Ich verstehe nicht, was du meinst.« »Ich spreche von dem, wovon auch ihr sprecht – davon etwas wert zu sein.« »Wir haben hier keinen Wert mehr«, sagte Trina. »Normale Menschen wie wir sind hier fehl am Platze.« »Das eben bezweifle ich«, erklärte Urban. »Das sagt ihr, weil ihr mit euch Mitleid habt. Ihr seid keine normalen Menschen. Nicht du Trina und auch du nicht, Sam. Meint ihr, sonst hätte Mylan euch die Karte anvertraut? Überlegt einmal, was wir hier gesehen haben. Wenn ihr es nicht wert seid, hierzubleiben, dann bin ich es auch nicht, aber ich habe mich entschieden. Ich werde bleiben.« »Du hast dich entschieden?« fragte Sam überrascht. »Ja.« Urban nickte bestätigend. »Eine Persönlichkeit ist das Resultat eines Lebens und seiner Erfahrungen. Euer Leben und eure Lebenserfahrung waren gut und wertvoll. Ihr habt eine Würde erlangt, die euch von den anderen Wesen eurer Rasse unterscheidet. Es gibt nichts in eurem Leben, für das ihr euch schämen müßtet. Ihr habt eure Würde hundert-, ja tausendmal bewiesen.« »Ich wünschte, ich könnte dir glauben«, sagte Sam, wenig überzeugt. Aber, hatte Urban möglicherweise doch recht? »Komm«, sagte Urban. »Wir wollen wieder zurückgehen.« Sie gingen zu den Hütten. Unterwegs nahm Urban das Gespräch wieder auf. »Soweit ich es beurteilen kann, wäre es nur gerecht und richtig, wenn ihr beide bleibt. Sie sind Hunde, bedenkt das. Einst waren sie eure Haustiere. Ohne die menschliche Rasse wären sie schon längst untergegangen.« »Und nun?« fragte Trina.
»Und nun? Wer außer euch könnte sie so unterrichten, wie ihr es könntet? Wer könnte ihnen besser als ihr die Fehler der Menschheitsgeschichte erklären, damit sie sich nicht aus Unwissenheit wiederholen? Ich glaube, das ist auch der Grund, warum Mylan wollte, daß ihr hierhergehen sollt. Er wußte, daß ihr hier helfen könnt, damit sie bereit sind wenn ihre Zeit gekommen ist.« »Und wir können sie auch beschützen«, meinte Trina. »Wir kennen die Welt um sie herum, sie nicht. Schaut mal. Da kommt einer von ihnen.« Sam glaubte, daß es der Hund war, den sie zuerst getroffen hatten. Der Hund watschelte auf sie zu und hielt ihnen seine unbehaarte, fünffingrige Hand entgegen. Er präsentierte ihnen eine frisch gepflückte, reife Frucht. »Er macht uns ein Geschenk«, sagte Trina. »Oder ein Angebot«, meinte Urban. »Nimm sie, sie ist für dich.« Trina nickte. Sie beugte sich nieder und lächelte den Hund an. Sie nahm die Frucht aus seiner Hand. »Vielen Dank«, sagte sie. Der Hund antwortete mit einem kurzen bellenden Laut. Auch er schien zu lächeln. Urban wandte sich zu Sam. »Ich könnte mir vorstellen, daß er euch gerade mitgeteilt hat, daß es ihn freut, daß ihr gekommen seid.« »Wie kommst du darauf?« »Weil er sich erinnert. Er weiß, was du und die menschliche Rasse für ihn getan haben.« Sam seufzte lang und tief. »Und du glaubst wirklich, er will, daß wir hierbleiben?« »Ja«, sagte Urban. Sam schaute den Hund an und dann an sich herunter. Ihm schien es, als sehe er in einen Spiegel. Verzerrt. Nun gut,
dachte er bei sich. Ich bin also nicht wie alle anderen. Keiner ist wie alle anderen. Ich bin es also wert. Sam sah zu Trina hinüber, und Trina blickte Sam an. In ihren Augen spiegelten sich seine Gedanken wider. »Wir bleiben«, sagte er leise.