Dick Francis Doping Roman
Eines Tages bekommt der australische Pferdezüchter Daniel Roke unvermutet Besuch von einem En...
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Dick Francis Doping Roman
Eines Tages bekommt der australische Pferdezüchter Daniel Roke unvermutet Besuch von einem Engländer, der sich als Earl October vorstellt. Der englische Graf sucht ihn wegen eines ganz besonderen Anliegens auf: Ihn beschäftigt ein mysteriöser DopingSkandal in England, und er braucht einen erfahrenen Fachmann zur Aufklärung des Falls. Daniel Roke soll, als Stallmann verkleidet, in den Gestüten der verdächtigen Trainer arbeiten und heimlich seine Nachforschungen anstellen. Der Job ist gefährlich, bereits hat ein Journalist bei seiner Recherche zum Fall auf rätselhafte Weise sein Leben verloren. Aber Daniel Roke nimmt das Angebot Octobers an, und er lernt so das harte Leben der Pferdepfleger kennen, von denen manch einer an seine Grenzen kommt …
Dick Francis
Doping
Originaltitel: ›For Kicks‹
Aus dem Englischen von Malte Krutzsch
Verlag: Diogenes Verlag AG Zürich
Erscheinungsjahr: 2000
ISBN: 3 257 23254 3
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Eines Tages bekommt der australische Pferdezüchter Daniel Roke unvermutet Besuch von einem Engländer, der sich als Earl October vorstellt. Der englische Graf sucht ihn wegen eines ganz besonderen Anliegens auf: Ihn beschäftigt ein mysteriöser Doping-Skandal in England, und er braucht einen erfahrenen Fachmann zur Aufklärung des Falls. Daniel Roke soll, als Stallmann verkleidet, in den Gestüten der verdächtigen Trainer arbeiten und heimlich seine Nachforschun gen anstellen. Der Job ist gefährlich, bereits hat ein Journalist bei sei ner Recherche zum Fall auf rätselhafte Weise sein Leben verloren. Aber Daniel Roke nimmt das Angebot Octobers an, und er lernt so das harte Leben der Pferdepfleger kennen, von denen manch einer an sei ne Grenzen kommt … »Einen Dick Francis zu lesen bedeutet, das Gewohnte, das Liebge wonnene wiederzuentdecken, wieder zu genießen. Und dabei ist jede Geschichte frisch, neu, phantasiegesättigt. Mit Präzision und Feinfüh ligkeit, mit dezentem Geschmack und enormem Wissen werden die zahllosen Knoten in den Handlungsteppich geknüpft. Der Leser befin det sich vollkommen, aber unmerklich in der Hand dieses Großmei sters des Kriminalromans.« Joachim Huber/Der Tagesspiegel, Berlin »Wer zu den Büchern von Francis greift, weiß, daß er Spannung satt und sauber bekommt.« Martina I. Kischke/Frankfurter Rundschau
Der Autor
Dick Francis, geboren 1920, war viele Jahre Englands erfolgreichster Jockey, bis ein mysteriöser Sturz 1956 seine Karriere beendete. Seit 35 Jahren schreibt er jedes Jahr einen Roman. Dick Francis wurde unter anderem dreifach mit dem Edgar Allan Poe Award und dem Grand Master Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau auf den Cayman-Inseln.
Dick Francis
Doping
Roman
Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch
Diogenes
Titel der 1965 bei
Michael Joseph Ltd., London,
erschienenen Originalausgabe: ›For Kicks‹
Copyright © 1965 by Dick Francis
Die deutsche Erstausgabe erschien 1965
unter dem Titel ›Der Trick, den keiner kannte‹
im Wilhelm Goldmann Verlag GmbH, München
Umschlagillustration von Tomi Ungerer
Neuübersetzung
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2000 Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
250/00/52/1
ISBN 3 257 23254 3
1
D
er Earl of October schneite in einem hellblauen Holden, der schon bessere Tage gesehen hatte, aber nicht gleich nach Gefahr und Tod roch, in mein Leben. Ich sah ihn in die Einfahrt einbiegen, als ich über die kleine Koppel aufs Haus zuging, und beobachtete mißmu tig, wie er sich auf unserem Privatweg näherte. Ein Vertre ter, dachte ich; wir brauchen nichts. Sanft kam das blaue Fahrzeug zwischen mir und der Haustür zum Stehen. Der Mann, der ihm entstieg, sah aus wie Mitte Vierzig, war mittelgroß und kräftig gebaut, hatte einen großen, gutgeformten Kopf und glattgebürstetes braunes Haar. Er trug graue Hosen, ein dünnes Wollhemd mit dunkler, de zenter Krawatte und hielt die unvermeidliche Aktentasche im Arm. Ich seufzte und stieg unter dem Koppelzaun durch, um ihn wegzuschicken. »Wo finde ich Mr. Daniel Roke?« fragte er. Ein Eng lisch, aus dem selbst mein ungeübtes Ohr die teure briti sche Public School heraushören konnte; und nach der zu rückhaltenden Autorität, die er ausstrahlte, zu urteilen, vielleicht doch kein Vertreter. Ich sah mir den Mann ge nauer an und kam davon ab, ihm zu sagen, ich sei nicht zu Hause. Trotz des alten Autos konnte es ein Kunde sein. »Ich bin Daniel Roke«, sagte ich ohne sonderliche Be geisterung. Ein schnelles, überraschtes Blinzeln. »Oh«, sagte er ausdruckslos. 6
Diese Reaktion war ich gewohnt. Ich entsprach nicht der gängigen Vorstellung von dem Besitzer eines erfolgrei chen Gestüts. Schon weil ich zu jung aussah, auch wenn ich mich nicht so fühlte; und meine Schwester Belinda fand, die wenigsten Geschäftsleute hätten soviel von ei nem italienischen Bauernburschen an sich. Nettes Mäd chen, meine Schwester. Es war einfach so, daß ich schwarze Haare und braune Augen hatte und schnell braun wurde bei meinem dunklen Teint. An dem Tag hatte ich noch dazu meine ältesten, abgewetztesten Jeans an, unge putzte Stiefeletten und sonst nichts. Ich hatte einer Stute, die jedesmal unter Schwierigkeiten abfohlte, Geburtshilfe geleistet; da waren Schlips und Kragen fehl am Platz. Das Ergebnis meiner – und der Stu te – Bemühungen war ein schmächtiges Stutfohlen mit einem Stelzfuß vorn links, wenn nicht auch noch vorn rechts, der operiert werden mußte und mich mehr Geld kosten konnte, als das Fohlen einbringen würde. Mein Besucher schaute auf die sauberen, weiß abge zäunten Koppeln, auf den L-förmigen Stallhof und auf die mit Zedernschindeln gedeckten Abfohlboxen drüben, wo das arme Neugeborene im Stroh lag. Alles sah solide und gepflegt aus, denn ich steckte viel Arbeit hinein, um meine Pferde zu guten Preisen verkaufen zu können. Der Blick des Besuchers wanderte zu der großen, blau grünen Lagune links von uns, an deren fernem Ufer die schneebedeckten Berge in steinerner Schönheit steil auf ragten. Weiße Wolken hingen wie Federbüsche über den Gipfeln. Für ihn, der das zum ersten Mal sah, ein tolles, großartiges Panorama. Für mich Mauern. »Wunderschön«, meinte er beifällig. Dann wandte er sich energisch zu mir, sagte aber ein wenig zögernd: »Ich, ehm … hörte in Perlooma, daß Sie einen, ehm … englischen Stallmann haben, der gern, ehm … nach Hause möchte …« 7
Er brach ab und setzte neu an. »Das kommt jetzt viel leicht überraschend, aber wenn er mir geeignet scheint, wäre ich unter Umständen bereit, seine Überfahrt zu be zahlen und ihm drüben eine Stellung zu verschaffen …« Er schwieg wieder. Pferdepfleger, dachte ich, konnten in England schwer lich so knapp sein, daß man sie in Australien beschaffen mußte. »Wollen Sie nicht ins Haus kommen?« fragte ich. »Und mir das erklären?« Ich führte ihn ins Wohnzimmer und hörte seinen er staunten Ausruf, als er hinter mir eintrat. Alle unsere Be sucher waren von dem Raum beeindruckt. Ein großes Fen ster auf der gegenüberliegenden Seite rahmte den präch tigsten Teil der Lagune und der Berge ein, holte sie gleichsam näher heran und machte sie für mich damit nur noch erdrückender. Ich setzte mich mit dem Rücken dazu in einen alten Bugholzschaukelstuhl und bot ihm einen bequemen Sessel mit Blick auf das Panorama an. »Also, Mr. …?« begann ich. »October«, sagte er leichthin. »Nicht Mister. Earl.« »October – wie der Monat?« Es war gerade Oktober. »Wie der Monat«, bestätigte er. Ich musterte ihn neugierig. Er entsprach nicht meiner Vorstellung von einem Grafen. Er sah aus wie ein Ge schäftsmann, ein Generaldirektor auf Urlaub. Dann fiel mir ein, daß eins das andere nicht ausschloß und daß es sicher auch Grafen gab, die in der Wirtschaft tätig waren. »Ich bin ganz spontan hierhergekommen«, eröffnete er mir, »und ich weiß selbst nicht, ob man so etwas tun soll.« Er schwieg, zog ein goldenes Zigarettenetui hervor und gewann Zeit zum Nachdenken, indem er mit seinem Feu 8
erzeug hantierte. Er lächelte flüchtig. »Vielleicht sollte ich erst einmal sagen, daß ich zwar beruflich in Australien bin – ich habe Geschäftsinteressen in Sydney –, daß mich aber eine private Rundreise durch die großen hiesigen Renn sport- und Zuchtzentren zuletzt hier in die Snowies geführt hat. Bei uns in England bin ich Mitglied der Behörde, die für den Sport zwischen den Flaggen – den Hindernissport – zuständig ist, deshalb interessieren mich Ihre Pferde na türlich sehr … Nun, ich habe also in Perlooma zu Mittag gegessen« – er meinte die nächste Stadt, die rund fünfund zwanzig Kilometer entfernt war –, »und dabei kam ich mit jemand ins Gespräch, der gleich hörte, daß ich Brite bin, und mir erzählte, er kenne sonst nur einen einzigen Eng länder hier, und zwar einen Pferdepfleger, der so töricht sei, wieder nach Hause zu wollen.« »Ja«, meinte ich. »Das ist Simmons.«
»Arthur Simmons«, nickte er. »Wie ist der so?«
»Er versteht sich auf Pferde«, sagte ich. »Aber nach
England zieht es ihn nur, wenn er betrunken ist. Und er betrinkt sich nur in Perlooma.« »Oh«, sagte er. »Dann würde er also nicht fahren, wenn er die Gelegenheit bekäme?« »Das weiß ich nicht. Kommt drauf an, was Sie von ihm wollen.« Er zog an seiner Zigarette, klopfte die Asche ab und sah zum Fenster hinaus. »Vor ein oder zwei Jahren hatten wir wiederholt Ärger mit gedopten Rennpferden«, sagte er plötzlich. »Zuviel Ärger. Es gab Gerichtsverfahren und Freiheitsstrafen, die Stallwachen wurden verstärkt, Speichel- und Urinuntersu chungen in größerem Umfang durchgeführt. Bei vielen Rennen kontrollieren wir jetzt die ersten vier Pferde, um so das Doping zur Leistungssteigerung zu unterbinden, 9
und jeder geschlagene Favorit, der uns verdächtig vor kommt, wird auf leistungsmindernde Mittel untersucht. Seit Inkrafttreten der neuen Bestimmungen sind die Er gebnisse fast aller Untersuchungen negativ gewesen.« »Das ist ja sehr erfreulich«, meinte ich ohne allzu großes Interesse. »Nein. Eben nicht. Jemand hat ein Mittel gefunden, das unsere Chemiker nicht nachweisen können.« »Das kann doch wohl nicht sein«, meinte ich höflich. Mir ging der Nachmittag verloren, und ich hatte noch al lerhand zu tun. Er spürte meine mangelnde Teilnahme. »Es geht um zehn Fälle, alles Sieger. Zehn, bei denen wir uns sicher sind. Die betroffenen Pferde wirken offenbar auffällig sti muliert – ich habe selbst noch keins gesehen –, aber die Untersuchungen ergeben nichts.« Er schwieg. »Doping ist fast immer ein Insiderjob«, sagte er und blickte vom Fen ster wieder zu mir. »Das heißt, in der Regel mischen Stall angestellte mit, selbst wenn sie den anderen nur zeigen, welches Pferd in welcher Box steht.« Ich nickte. Schiebe reien gab es auch in Australien. »Wir, das heißt die beiden anderen Leiter der Hindernis behörde und ich, haben schon verschiedentlich überlegt, ob man nicht auch die Aufklärung der Dopingfälle quasi zur Insidersache machen sollte …« »Indem man einen Pferdepfleger als Spion einsetzt?« fragte ich. Er zuckte ein wenig zusammen. »Ihr Australier seid so direkt«, murmelte er. »Aber darauf läuft es hinaus, ja. Wir haben das bisher allerdings nur theoretisch erörtert, weil so ein Vorhaben schwer in die Tat umzusetzen ist und wir offengestanden nicht wußten, wie wir an einen Pferdepfleger herankommen sollten, bei dem man sicher 10
sein kann, daß er, ehm … nicht schon für die Gegenseite arbeitet.« Ich lächelte. »Und Arthur Simmons erscheint Ihnen un bedenklich?« »Ja. Und als Engländer würde er sich auch glatt in die Szene einfügen. Diese Idee kam mir, als ich im Restau rant zahlte. Also habe ich nach dem Weg gefragt und bin kurzerhand hierhergefahren, um ihn mir einmal anzuse hen.« »Sie können gern mit ihm reden«, sagte ich und stand auf. »Aber ich glaube nicht, daß was daraus wird.« »Er würde weit über dem Tarif bezahlt«, erwiderte er, mich mißverstehend. »Ich wollte damit nicht sagen, daß er sich nicht überre den ließe«, erläuterte ich, »sondern daß er für so etwas nicht genug auf dem Kasten hat.« Er folgte mir wieder hinaus an die Frühlingssonne. In dieser Höhe war es immer noch kühl, und ich sah ihn frö steln, als er aus dem warmen Haus trat. Abschätzend blickte er auf meinen immer noch nackten Brustkorb. »Einen Moment, ich hole ihn«, sagte ich, ging um die Ecke und pfiff schrill auf zwei Fingern zu der kleinen Ba racke auf der anderen Hofseite hinüber. Jemand steckte fragend den Kopf zum Fenster heraus, und ich rief: »Ich brauche Arthur.« Der Mann nickte, verschwand, und schon kam Arthur Simmons, klein, alt, säbelbeinig und von ergreifend schlichtem Gemüt, wie ein Krebs aus seiner Höhle. Ich ließ ihn mit Lord October allein, um nachzuschauen, wie das kleine Stutfohlen im Leben zurechtkam. Nicht schlecht, auch wenn seine Stehversuche mit dem verkork sten Vorderbein kläglich anzusehen waren. 11
Ich ließ es bei seiner Mutter und kehrte zu Lord October zurück. Von weitem sah ich, wie er einen Geldschein aus der Brieftasche nahm und ihn Arthur anbot und wie Ar thur, ungeachtet seiner englischen Geburt, das Geld ab lehnte. Er ist schon so lange hier, dachte ich, daß er zum Australier geworden ist. Nach England zieht ihn nichts mehr, ganz gleich, was er im Suff erzählt. »Sie hatten recht«, sagte October. »Er ist ein prima Kerl, aber für unsere Zwecke ungeeignet. Ich habe das gar nicht erst angesprochen.« »Ist es nicht von jedem noch so gescheiten Pferdepfleger etwas viel verlangt, wenn er die Wahrheit finden soll, wo Leute wie Sie mit Ihrem Latein am Ende sind?« Er verzog das Gesicht. »Schon. Da liegt eine der Schwierigkeiten, von denen ich sprach. Wir müssen aber jede, wirklich jede Möglichkeit ausschöpfen. Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie ernst die Lage ist!« Wir gingen zu seinem Wagen, und er öffnete den Schlag. »Vielen Dank für Ihr Verständnis, Mr. Roke. Es war wie gesagt ein spontaner Entschluß von mir, hierherzukom men. Hoffentlich habe ich Ihre Zeit nicht über Gebühr be ansprucht?« Er lächelte noch immer ein wenig verhalten, ein wenig unsicher. Ich schüttelte den Kopf und erwiderte sein Lächeln, dann ließ er den Wagen an, wendete und fuhr davon. Ich hatte ihn schon vergessen, ehe er zum Tor hinaus war. Aus den Augen, aus dem Sinn; aber aus meinem Leben verschwunden war er noch lange nicht. Am nächsten Tag bei Sonnenuntergang kam er wieder. Er saß in dem kleinen blauen Auto und rauchte gemächlich, da er wohl festgestellt hatte, daß niemand im Haus war. 12
Ich ging von dem Stallgebäude, wo ich meinen Anteil an der abendlichen Arbeit verrichtet hatte, zu ihm hinüber und dachte nebenbei, daß er mich schon wieder im schmutzigsten Räuberzivil antraf. Er stieg aus, als er mich kommen sah, und trat seine Zi garette aus. »Mr. Roke.« Er bot mir die Hand, und ich schlug ein. Diesmal beeilte er sich nicht, sein Anliegen vorzubrin gen. Diesmal war er keiner spontanen Regung gefolgt. Er hatte auch nichts Zögerliches mehr an sich. Um so stärker war die von ihm ausgehende Autorität zu spüren, eine Kraft und ein Wille, die sich sicher bestens dazu eigneten, klardenkende Vorstandskollegen für einen unliebsamen Vorschlag zu gewinnen. Im selben Moment wußte ich, warum er wiedergekom men war. Ich sah ihn einen Augenblick prüfend an, deutete dann zum Haus hin und führte ihn wieder ins Wohnzimmer. »Etwas zu trinken?« fragte ich. »Whisky?« »Gern.« Er nahm das Glas. »Wenn Sie erlauben, ziehe ich mich schnell um«, sagte ich. Und nehme Bedenkzeit, ergänzte ich im stillen. Ich ging duschen, zog eine anständige Hose, Socken und Slipper an, dazu ein weißes Popelinehemd und eine mari neblaue Seidenkrawatte. Vor dem Spiegel bürstete ich die noch feuchten Haare sorgfältig nach hinten und vergewis serte mich, daß meine Fingernägel sauber waren. Ge schniegelt und gebügelt diskutierte es sich besser. Beson ders mit einem so resoluten Grafen. Er stand auf, als ich zurückkam, und nahm mein ver ändertes Aussehen mit einem einzigen Blick zur Kennt nis. 13
Ich lächelte flüchtig, goß mir etwas zu trinken ein und schenkte ihm nach. »Sie können sich vielleicht denken, weshalb ich hier bin«, sagte er. »Vielleicht.« »Ich wollte Sie überreden, die Aufgabe zu übernehmen, für die ich Simmons vorgesehen hatte«, sagte er ruhig, ohne weitere Vorrede. »Ja.« Ich trank einen Schluck. »Aber ich kann nicht.« Wir faßten uns ins Auge. Ich wußte, daß der Daniel Ro ke, den er vor sich sah, schon ein anderer war als der, den er kennengelernt hatte. Solider. Vielleicht eher seinen Er wartungen entsprechend. Kleider machen Leute, dachte ich ironisch. Es dämmerte, und ich schaltete das Licht an. Die Berge draußen vor dem Fenster wichen in die Dunkelheit zurück; das war mir nur recht, denn jetzt hieß es stark sein, und October hatte das ganze Massiv bildlich und buchstäblich auf seiner Seite. Das Dumme war nämlich, daß ich sein tolles Angebot liebend gern angenommen hätte. Dabei war es Irrsinn. Ich konnte mir das gar nicht leisten. »Inzwischen habe ich ein ziemlich klares Bild von Ih nen«, sagte er gedehnt. »Als ich gestern von hier wegfuhr, dachte ich auf einmal, schade, daß er nicht Arthur Sim mons ist; Sie wären ideal gewesen. Sie sahen, wenn ich so sagen darf, für die Rolle wie geschaffen aus.« Es klang, als müsse er sich entschuldigen. »Aber jetzt nicht mehr?« »Das wissen Sie doch selbst. Deswegen haben Sie sich ja wohl umgezogen. Aber Sie können, wenn Sie wollen. Auf die Idee wäre ich bestimmt gar nicht erst gekommen, hätten Sie sich mir gestern hier so gepflegt präsentiert wie 14
jetzt. Aber da kamen Sie gerade von der Koppel, abgeris sen und halb nackt, Typ Zigeuner, und ich hielt Sie wirk lich für einen Stallangestellten … tut mir leid.« Ich lächelte ein wenig. »Macht nichts, das kommt öfter vor.« »Und dann, wie Sie reden«, sagte er. »Ihr australischer Akzent ist gar nicht so ausgeprägt, da hört man noch ganz andere … Bei Ihnen klingt das wie reines Cockney, Sie müßten’s nur ein bißchen breitziehen. Wenn man«, fuhr er mit fester Stimme fort, als ich ihn unterbrechen wollte, »einen gebildeten Engländer in einem Stall als Pfleger arbeiten läßt, hören die anderen Pfleger mit großer Wahr scheinlichkeit sofort, daß er unecht ist. Bei Ihnen nicht. Ihr Aussehen stimmt, und wie Sie reden stimmt. Sie scheinen mir die ideale Lösung für unser Problem zu sein. Eine bes sere Lösung, als ich mir hätte träumen lassen.« »Äußerlich«, meinte ich trocken. »In jeder Beziehung. Sie vergessen, daß ich ganz gut ü ber Sie Bescheid weiß. Als ich gestern nachmittag nach Perlooma zurückkam, dachte ich, ehm … den nimmst du mal unter die Lupe, wie man sagt; ich wollte wissen, was für ein Mensch Sie eigentlich sind … ob auch nur die lei seste Chance besteht, daß eine solche Aufgabe Sie reizt.« Er trank, schwieg, wartete. »Ich kann so was nicht machen«, sagte ich. »Ich habe hier genug zu tun.« Die Untertreibung des Monats. »Könnten Sie zwanzigtausend gebrauchen?« Er fragte das ganz nebenbei, im Plauderton. Die Antwort darauf war kurz und bündig ja; doch statt dessen sagte ich nach einem Augenblick: »Pfund oder au stralische Dollar?« Seine Mundwinkel kräuselten sich, und seine Augen wurden schmal; er war belustigt. 15
»Pfund natürlich«, sagte er mit Ironie. Ich schwieg. Ich sah ihn nur an. Als lese er meine Ge danken, nahm er in einem Sessel Platz, schlug lässig die Beine übereinander und sagte: »Ich kann Ihnen verraten, was Sie damit anfangen würden, wenn Sie wollen. Sie würden das Medizinstudium finanzieren, das Ihre Schwe ster Belinda anstrebt. Sie würden Ihre jüngere Schwester Helen auf die ersehnte Kunstschule gehen lassen. Sie wür den genug auf die Seite legen, damit Ihr Bruder Philip, dreizehn, Rechtsanwalt werden kann, wenn er das später noch möchte. Sie könnten hier mehr Leute einstellen, an statt sich kaputtzurackern, damit Ihre Familie genug zu essen und zum Anziehen hat und etwas lernen kann.« Vielleicht verstand sich seine Gründlichkeit von selbst, und doch nahm ich ihm übel, daß er seine Nase so tief in meine Privatangelegenheiten gesteckt hatte. Seit ich aber wegen eines im Zorn gesprochenen Wortes einmal auf einem schon fast verkauften Jährling sitzengeblieben war, der sich in der Woche darauf ein Bein brach, ließ ich mich so schnell zu keiner unbedachten Äußerung mehr hinrei ßen. »Auch ich habe zwei Mädchen und einen Jungen groß gezogen«, sagte er. »Ich weiß, was das kostet. Meine Älte ste studiert, der Junge und seine Zwillingsschwester sind gerade mit der Schule fertig.« Als ich immer noch nichts sagte, fuhr er fort: »Sie sind in England geboren und als Kind nach Australien gekom men. Ihr Vater, Howard Roke, war ein gefragter Rechts anwalt. Er und Ihre Mutter sind beim Segeln verunglückt und ertrunken, als Sie achtzehn waren. Seit damals ernäh ren Sie sich und Ihre Geschwister durch die Pferdezucht. Wie ich höre, wollten Sie eigentlich in die Fußstapfen Ih res Vaters treten, haben dann aber mit dem hinterlassenen Geld hier, im früheren Ferienhaus der Familie, das Ge 16
schäft gegründet. Sie haben Erfolg damit. Ihre Pferde gel ten als rittig und gut ausgebildet. Sie sind tüchtig, und man respektiert Sie.« Lächelnd sah er zu mir auf. Ich stand steif vor ihm. Mir war klar, daß noch mehr kommen würde. Er sagte: »Für Ihren Schulleiter in Geelong sind Sie ein kluger Kopf, der mit seinem Grips nichts anfängt. Ihr Banker meint, Sie geben wenig für sich selber aus. Ihr Arzt sagt, Sie haben in den neun Jahren, die Sie hier woh nen, noch nie Urlaub gemacht, nur mal wegen eines ge brochenen Beins vier Wochen im Krankenhaus gelegen. Ihr Pastor sagt, Sie kommen nie in die Kirche, und ist sehr enttäuscht darüber.« Er trank einen Schluck. Resoluten Grafen, so schien es, standen viele Türen of fen. »Und schließlich«, ergänzte er mit einem schiefen Lä cheln, »meinte der Barmann vom ›Goldenen Schnabeltier‹ in Perlooma, er würde Ihnen trotz Ihres blendenden Aus sehens die eigene Schwester anvertrauen.« »Und welche Schlußfolgerung ziehen Sie aus all dem?« fragte ich, nicht mehr ganz so aufgebracht. »Daß Sie ein langweiliger, fleißiger Tugendbold sind«, antwortete er. Ich mußte lachen und setzte mich hin. »Stimmt«, gab ich zu. »Andererseits sagen alle, daß Sie bei der Stange bleiben, wenn Sie einmal etwas angefangen haben, und daß Sie schwere körperliche Arbeit gewohnt sind. Sie verstehen so viel von Pferden, daß Sie den Pflegerjob mit links hinkrie gen.« »Die ganze Idee ist verrückt«, sagte ich seufzend. »Das klappt so nicht, weder mit mir noch mit Arthur Simmons 17
oder sonst jemand. Das ist einfach nicht durchführbar. Es gibt doch Hunderte von Rennställen in Großbritannien. Man könnte Monate dort herumgeistern, ohne etwas mit zukriegen, während ringsherum gedopt wird, was das Zeug hält.« Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Es gibt erstaunlich wenig unehrliche Pferdepfleger, weit weniger, als Sie und die meisten anderen Leute sich vorstellen. Wenn da einer als käuflich bekannt ist, stürzen sich die Gauner und Ganoven auf ihn wie auf einen unbewachten Geldschrank. Unser Mann brauchte nur dafür zu sorgen, daß sich herumspricht, er sei Angeboten zugänglich. Er würde sie bekommen, glauben Sie mir.« »Aber auch die, um die es Ihnen geht? Das scheint mir doch sehr fraglich.« »Es ist eine Chance. Für uns heißt es, jede Chance nut zen. Jede, die uns noch bleibt. Wir haben alle Leute, die mit den betroffenen Pferden zu tun hatten, eingehend be fragt und sind keinen Schritt vorangekommen. Die Polizei sagt, sie kann uns nicht helfen. Da die verwendete Sub stanz nicht nachgewiesen ist, fehlt ihr ein Anhalt. Wir ha ben ein Detektivbüro beauftragt, und auch das war ein Schlag ins Wasser. Der direkte Weg hat überhaupt nichts gebracht. Der verdeckte Weg kann nicht weniger bringen. Ich bin sicher, und ich setze zwanzigtausend Pfund darauf, daß der Umweg über Sie uns weiterbringt. Machen Sie’s?« »Ich weiß nicht«, sagte ich und verfluchte meine Schwachheit. »Kommt nicht in Frage«, hätte ich sagen müssen. Er stieß sofort nach, beugte sich vor und redete auf ein mal schneller, mit leidenschaftlichem Engagement in jedem Wort. »Kann ich Ihnen begreiflich machen, wie be 18
sorgt meine Kollegen und ich wegen dieser nicht nach weisbaren Dopingfälle sind? Ich besitze mehrere Renn pferde – Steepler hauptsächlich –, und meine Familie liebt und unterstützt den Rennsport seit Generationen. Das Wohl dieses Sports bedeutet mir und meinesgleichen mehr, als ich sagen kann … Und es ist zum zweitenmal innerhalb von drei Jahren ernstlich gefährdet. Bei der letz ten großen Dopingwelle gab es satirische Spitzen in Presse und Fernsehen, und noch einmal darf uns das einfach nicht passieren. Bis jetzt konnten wir vermeiden, ins Gerede zu kommen, weil die Fälle über Monate verteilt sind – der erste liegt über ein Jahr zurück, und auf Nachfragen ant worten wir immer nur, Probe negativ, aber wir müssen dieses neue Mittel nachweisen, bevor es weithin in Ge brauch kommt. Sonst wird das eine größere Gefahr für den Rennsport als alles bisher Dagewesene. Wenn die un nachweislich gedopten Sieger zum Alltag werden, ist es um das Vertrauen der Öffentlichkeit geschehen, und der Hindernissport erleidet einen Schaden, von dem er sich allenfalls nach Jahren erholen wird. Dabei steht weit mehr auf dem Spiel als ein angenehmer Zeitvertreib. Der Renn sport ist ein Wirtschaftszweig mit Tausenden von Beschäf tigten … und Gestütsbesitzer wie Sie stehen mittendrin. Die Abkehr der Öffentlichkeit würde böse Folgen haben. Sie denken vielleicht, ich habe Ihnen ungewöhnlich viel Geld geboten, damit Sie nach England kommen und schauen, ob Sie uns helfen können, aber ich bin ein reicher Mann, und, glauben Sie mir, der Fortbestand des Renn sports ist mir noch viel mehr wert. Meine Pferde haben in der vorigen Saison fast zwanzigtausend an Sieggeld ein gebracht, und wenn ich die einsetzen kann, um der Gefahr ein Ende zu bereiten, will ich das gern tun.« »Sie gehen heute ganz anders zur Sache als gestern«, sagte ich langsam. 19
Er lehnte sich zurück. »Gestern brauchte ich Sie nicht zu überzeugen. Meine Einstellung war dieselbe.« »Es gibt doch bestimmt jemanden in England, der für Sie nachforschen kann«, wandte ich ein. »Leute, die mit der Szene dort vertraut sind. Im Gegensatz zu mir. Ich bin mit neun Jahren nach Australien gekommen. Ich würde Ihnen nichts nützen. Das ist aussichtslos.« Na also, lobte ich mich. Es geht auch härter. Er schaute auf sein Glas, und seine Antwort kam zö gernd. »Nun … wir hatten auch schon jemanden in Eng land … einen Rennsportjournalisten. Bestes Gespür für Stories, sehr diskret; genau unser Mann. Leider hat er ein paar Wochen lang ohne Erfolg recherchiert. Dann ist er tödlich mit dem Wagen verunglückt, der Ärmste.« »Und wenn Sie sich jemand anders nehmen?« beharrte ich. »Er ist erst im Juni verunglückt, als der Hindernissport in der Sommerpause war. Die neue Saison lief im August an, und da kam uns die Idee mit dem Pferdepfleger und all ihren Haken.« »Nehmen Sie einen Bauernsohn«, schlug ich vor. »Ländlicher Akzent, Erfahrung mit Pferden … alles da.« Er schüttelte den Kopf. »England ist zu klein. Wenn da ein Bauernsohn beim Pferderennen ein Pferd im Führring begleitet, spricht sich das rum. Zu viele Leute würden ihn erkennen und Fragen stellen.« »Dann eben einen Landarbeitersohn, der intelligent ge nug ist.« »Sollen wir Tests veranstalten?« fragte er säuerlich. Es trat Stille ein, dann sah er von seinem Glas auf. Sein Gesicht war ernst, beinah streng. »Also?« 20
Ich wollte klipp und klar nein sagen. Tatsächlich sagte ich wiederum: »Ich weiß nicht.« »Was kann ich tun, um Sie zu überreden?« »Nichts«, erwiderte ich. »Ich werde darüber nachdenken. Ich gebe Ihnen morgen Bescheid.« »In Ordnung.« Er stand auf, lehnte meine Einladung zum Essen ab und ging, wie er gekommen war, mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit. Das Haus wirkte leer, als ich nach der Verabschiedung wieder hineinging. Der Vollmond strahlte am schwarzen Himmel, und durch eine Lücke zwischen den Bergen reckte der ferne Mount Kosciusko seinen stumpfen, schneebedeckten Gipfel ins Licht. Ich saß auf einem Felsen hoch oben am Berghang und sah auf mein Zuhause hinunter. Da lag die Lagune, lagen die großen Weiden, die sich bis zum Busch hin erstreckten, die kleinen, weiß eingezäunten Koppeln beim Haus, die Abfohlboxen mit ihrem schim mernden Dach, das große Stallgebäude, die Schlafbaracke, das niedrige Wohnhaus, lang und elegant, gespiegeltes Mondlicht in dem großen Fenster am Ende. Da lag mein Gefängnis. Anfangs war es nicht schlecht gewesen. Wir hatten kei ne Verwandten, die sich um uns kümmerten, und für mich war es eine Genugtuung, die Leute zu widerlegen, die meinten, ich könne nicht genug verdienen, um drei kleine Kinder – Belinda, Helen und Philip – mitzuernäh ren. Ich mochte Pferde, hatte sie immer schon gern ge habt, und das Geschäft lief von Anfang an recht gut. Je denfalls hatten wir alle zu essen, und ich redete mir sogar ein, daß ich für den Anwaltsberuf eigentlich gar nicht geschaffen sei. 21
Meine Eltern hatten Belinda und Helen nach Frensham schicken wollen, und als es soweit war, kamen sie dort auch hin. Sicher hätte sich eine weniger kostspielige Schu le finden lassen, aber sie sollten nach Möglichkeit be kommen, was ich bekommen hatte – und deshalb war Philip jetzt in Geelong. Mein Unternehmen war mit der Zeit gewachsen, aber auch das Schulgeld, die Löhne und die Unterhaltskosten waren gestiegen. Ich war gefangen in einer Aufwärtsspirale, und zu viel hing davon ab, daß ich am Ball bleiben konnte. Mein Beinbruch bei einem Jagd rennen, mit zweiundzwanzig, hatte die schlimmste finan zielle Krise in den ganzen neun Jahren ausgelöst – und notgedrungen hatte ich auf so waghalsige Abenteuer fort an verzichten müssen. Die ewige Arbeit störte mich nicht. Ich mochte meine Geschwister sehr gern. Ich bereute nichts, was ich getan hatte. Aber das Gefühl, Gefangener in einer schönen, selbstgebauten Falle zu sein, nagte empfindlich an meiner Zufriedenheit als treusorgender älterer Bruder. In acht oder zehn Jahren würden sie alle erwachsen, mit ihrer Ausbildung fertig und verheiratet sein, und meine Arbeit war getan. In zehn Jahren war ich siebenunddrei ßig. Vielleicht war ich bis dahin auch verheiratet, hatte eigene Kinder und schickte sie nach Frensham und nach Geelong … Seit über vier Jahren unterdrückte ich nach Kräften den Wunsch auszubrechen. Das ging leichter, wenn meine Geschwister in den Ferien nach Hause ka men, wenn das Haus von ihrem Lärm erfüllt war, wenn Philips Tischlerkünste überall herumlagen und die Rü schenwäsche der Mädchen zum Trocknen im Bad hing. Im Sommer ritten wir oder schwammen in der Lagune (dem See, wie meine britischen Eltern sagten), und im Winter liefen wir in den Bergen Ski. Wir verstanden uns bestens, und sie sahen nichts von dem, was wir hatten, als selbst 22
verständlich an. Auch jetzt, wo sie größer wurden, konnte ich keine Anzeichen von jugendlicher Auflehnung bei ih nen feststellen. Sie machten mir wirklich Freude. Acht Tage nachdem sie ins Internat zurückgekehrt wa ren, packte es mich dann meistens wieder: das heftige Ver langen, frei zu sein, frei und ungebunden für geraume Zeit, um endlich einmal weiter herumzukommen als zu den Verkaufsauktionen, weiter als gerade schnell einmal nach Sydney, Melbourne oder Cooma. Geld verdienen Tag für Tag allein war noch kein Leben, und es gab mehr zu sehen auf der Welt als nur den einen schönen Flecken. Das Füttern der anderen Nestlinge hatte mich so sehr in Anspruch genommen, daß ich noch nie ausgeflogen war. Da konnte ich mir zehnmal sagen, solche Gedanken sei en müßig, das reine Selbstmitleid, ich hätte keinen Grund, mich zu beklagen. Nachts hielten mich schwere Depres sionen wach, und in den schwarzen Zahlen blieb ich nur, weil ich tagsüber das Letzte aus mir herausholte. Als Lord October erschien, waren die Kinder seit elf Ta gen wieder in der Schule, und ich schlief schlecht. Viel leicht saß ich deshalb um vier Uhr morgens an einem Berg hang und versuchte mir darüber klarzuwerden, ob ich eine eigenartige Stelle als Pferdepfleger auf der anderen Seite der Welt annehmen sollte oder nicht. Die Tür des Käfigs hatte sich zwar geöffnet; aber der Köder, der davor baumel te, um mich herauszulocken, schien mir verdächtig groß. Zwanzigtausend englische Pfund … ein Haufen Geld. Allerdings hatte October nicht wissen können, wie es in mir kribbelte, und vielleicht gedacht, mit weniger käme er nicht an. (Wieviel hatte er wohl Arthur bieten wollen?) Andererseits war da der tödlich verunglückte Rennsport journalist … Wenn October oder seine Kollegen den leise 23
sten Zweifel hegten, daß er wirklich einem Unfall zum Opfer gefallen war, hätte das die hohe Summe auch er klärt, nämlich als Reuegeld. Durch den Beruf meines Va ters hatte ich früher einiges über Verbrechen und Verbre cher mitbekommen, und ich wußte zuviel, um die Mög lichkeit eines arrangierten Unfalls als kompletten Unsinn abzutun. Ich hatte die Ordnungs- und Wahrheitsliebe meines Va ters geerbt und sein logisches Denken früh schätzenge lernt, wenngleich ich ihn im Umgang mit unschuldigen Zeugen vor Gericht oft zu rüde fand. Mein Empfinden war stets, daß Recht geschehen sollte und daß mein Vater der Welt keinen guten Dienst erwies, wenn er die Schuldigen herauspaukte. Zum Strafverteidiger taugst du mit dieser Einstellung nicht, meinte er. Geh halt zur Polizei. England, dachte ich. Zwanzigtausend Pfund. Detektiv spielen. Um ehrlich zu sein, Octobers Vorstellungen vom Ernst der Lage hatten mich nicht berührt. Der englische Rennsport fand auf der anderen Seite des Erdballs statt. Ich kannte keinen, der damit zu tun hatte. Wie es um sei nen Ruf bestellt war, kümmerte mich herzlich wenig. Wenn ich hinfuhr, dann nicht aus selbstloser Hilfsbereit schaft. Ich würde nur fahren, weil mich das Abenteuer lockte, weil es spannend zu werden versprach, weil die Sirene sang, ich solle jede Verantwortung sausenlassen, die Fesseln sprengen und ins volle Leben eintauchen. Der gesunde Menschenverstand sagte mir, die ganze Idee sei verrückt, der Earl of October sei ein hoffnungslo ser Spinner, ich hätte kein Recht, meine Geschwister sich selbst zu überlassen, während ich mich in der Weltge schichte herumtrieb, es gebe für mich nur eins, zu bleiben, wo ich war, und damit müsse ich zufrieden sein. Der gesunde Menschenverstand unterlag. 24
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N
eun Tage später flog ich mit einer Boeing 707 nach England. Ich schlief fast die ganzen sechsunddreißig Stunden von Sydney nach Darwin, von Darwin über Singapur und Rangun nach Kalkutta, von Kalkutta nach Karachi und Damaskus und von Damaskus über Düsseldorf zum Lon doner Flughafen. Hinter mir lag eine Unzahl praktischer Vorkehrungen und die Schreibarbeit von Monaten, gedrängt in eine ein zige Woche. Ich wußte zwar nicht, wie lange ich fortblei ben würde, sagte mir aber, daß ein halbes Jahr genügen mußte, um etwas zu erreichen, und ging auch bei meiner Planung davon aus. Der Gestütsmeister sollte die volle Verantwortung für die Ausbildung und den Verkauf der vorhandenen Pferde übernehmen, jedoch keine neuen kaufen oder züchten. Mit der Wartung des Geländes und der Gebäude beauftragte ich eine Firma. Die Frau, die für meine in der Baracke wohnenden Pfleger kochte, versprach mir, meine Ge schwister mitzuversorgen, wenn sie in den großen Weih nachts-Sommerferien von Dezember bis Februar nach Hause kamen. Meine Bank erhielt vordatierte Schecks für Schulgeld, Pferdefutter und Sattelzeug, und meinem Futtermeister übergab ich gleich einen ganzen Stapel Schecks, die er der Reihe nach zur Entlohnung und Verpflegung der Männer 25
einlösen sollte. October versicherte mir, daß mein Honorar mir unverzüglich überwiesen werde. »Wenn ich keinen Erfolg habe, bekommen Sie Ihr Geld zurück, abzüglich meiner Auslagen«, erklärte ich ihm. Er schüttelte den Kopf, aber ich bestand darauf, und am Ende schlossen wir einen Kompromiß. Zehntausend be kam ich sofort, und die anderen zehn, wenn mein Einsatz Erfolg brachte. Ich ging mit October zu meinen Anwälten und ließ die etwas ungewöhnliche Abmachung in die nüchternen Wor te eines rechtsgültigen Vertrags fassen, den er mit einem ironischen Lächeln nach mir unterschrieb. Mit seiner Belustigung war es jedoch prompt vorbei, als ich ihn im Hinausgehen bat, mein Leben zu versichern. »Ich glaube nicht, daß das geht«, sagte er stirnrunzelnd. »Weil sich … kein Versicherer dafür findet?« fragte ich. Er antwortete nicht. »Ich habe einen Vertrag unterschrieben«, hob ich hervor. »Glauben Sie, ich habe das blind getan?« »Das war Ihre Idee.« Er machte ein gequältes Gesicht. »Ich werde Sie nicht darauf festnageln.« »Was ist wirklich mit dem Journalisten passiert?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf und wich meinem Blick aus. »Ich weiß es nicht. Es sah schon aus wie ein Unfall. Er kam in einer Kurve im Moor von Yorkshire von der Straße ab. Der Wagen fing Feuer, als er den Abhang hinunter stürzte. Er hatte keine Chance. Ein so netter Kerl …« »Es schreckt mich nicht ab, wenn Sie Grund haben, an zunehmen, daß es kein Unfall war«, sagte ich ernst, »aber seien Sie offen zu mir. War es keiner, dann müßte er 26
schon weit gekommen sein, dann muß er etwas Entschei dendes herausgefunden haben. Für mich wäre es dann wichtig zu wissen, wo er gewesen ist und was er in den Tagen vor seinem Tod gemacht hat.« »Haben Sie sich das überlegt, bevor Sie zugesagt ha ben?« »Natürlich.« Er lächelte, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. »Bei Gott, Mr. Roke, je näher ich Sie kennenlerne, desto froher bin ich, daß ich in Perlooma zu Mittag gegessen und mich hinter Arthur Simmons geklemmt habe. Nun … Tommy Stapleton – der Journalist – war ein guter Fahrer, aber gegen Unfälle ist wohl keiner gefeit. Es geschah an einem Sonntag Anfang Juni. Eigentlich schon Montag. Er starb gegen zwei Uhr früh. Um halb zwei war einem An wohner der Straße noch nichts aufgefallen, und gegen halb drei sah ein Ehepaar, das von einer Party kam, das durch brochene Geländer an der Kurve und hielt an. Der Wagen brannte noch. Sie sahen den roten Feuerschein im Tal und meldeten den Unfall in der nächsten Stadt. Die Polizei nimmt an, daß Stapleton am Steuer einge schlafen ist. Gibt es ja öfter. Sie konnte aber nicht feststel len, wo er nach der Abfahrt von irgendwelchen Freunden um fünf bis zu dem Unglück im Moor gewesen ist. Das ist nur eine Stunde Fahrt, es bleiben also acht Stunden offen. Niemand hat die Lücke gefüllt und gesagt, er sei den Abend bei ihm gewesen, obwohl in fast allen Zeitungen darüber berichtet wurde. Es hieß dann wohl, er könne mit einer Frau zusammengewesen sein … der Frau eines ande ren, die aus gutem Grund schweigt. Jedenfalls wurde das Ganze als normaler Verkehrsunfall behandelt. Wo er in den Tagen davor war, haben wir unauffällig überprüft. Er hat nichts getan, was von seinem Arbeitsall 27
tag abgewichen wäre. Er fuhr am Donnerstag in London, wo seine Zeitung ihren Sitz hat, los, ging Freitag und Samstag in Bogside zum Pferderennen, blieb zum Wo chenende bei Freunden in der Nähe von Hexham, Northumberland, und brach dort, wie gesagt, am Sonntag gegen siebzehn Uhr auf, um nach London zurückzukeh ren. Die Freunde fanden ihn ganz normal und nett wie immer. Wir, das heißt, meine beiden Amtskollegen und ich, ba ten die Polizei in Yorkshire, uns zu zeigen, was aus dem Wrack geborgen werden konnte, aber es war nichts von Belang dabei. Seine lederne Aktentasche wurde unbeschä digt auf halber Höhe des Hangs gefunden, neben einer der Hintertüren, die beim Überschlagen abgerissen worden war, aber es waren nur die üblichen Rennsportzeitungen und Rennberichte drin. Wir haben genau nachgesehen. Auch bei ihm zu Hause – er war Junggeselle und lebte bei Mutter und Schwester – durften wir uns umsehen, fanden aber keinen Hinweis auf seine Recherchen, nichts. Wir wandten uns an die Rennsportredaktion seiner Zeitung, um zu sehen, was er am Arbeitsplatz zurückgelassen hatte. Nichts als ein paar persönliche Dinge und einen Umschlag mit Zeitungsausschnitten über Dopingfälle. Den haben wir uns geben lassen. Sie können sich die Clips ansehen, wenn Sie nach England kommen. Ich befürchte nur, sie werden Ihnen nichts nützen. Sie sind sehr lückenhaft.« »Okay«, sagte ich. Wir gingen die Straße entlang zu un seren Autos, seinem gemieteten Holden und meinem wei ßen Kombi. Als wir neben den beiden staubigen Fahrzeu gen standen, meinte ich: »Sie möchten gern glauben, daß es ein Unfall war … Sie gäben was drum.« Er nickte ernst. »Der Gedanke, es könnte anders sein, ist gräßlich. Würden nicht diese acht Stunden fehlen, käme man gar nicht darauf.« 28
Ich zuckte die Achseln. »Er kann sie denkbar harmlos zugebracht haben. In einer Bar. Im Restaurant. Im Kino. Mit einem Mädchen.« »Möglich«, sagte er. Aber die Zweifel blieben, bei ihm wie bei mir. Am nächsten Tag wollte er mit dem Mietwagen in Syd ney sein und zurück nach England fliegen. Er gab mir auf dem Gehsteig die Hand und nannte mir die Adresse in London, wo ich mich wieder mit ihm treffen sollte. Mit einem Fuß schon im Wagen, sagte er: »Könnten Sie denn bei Ihrem Einsatz, ehm … auch in die Haut eines, sagen wir, etwas unzuverlässigen Pferdepflegers schlüpfen, da mit die Gauner sich zu Ihnen hingezogen fühlen?« »Klar«, grinste ich. »Dann darf ich vielleicht vorschlagen, daß Sie sich Kote letten wachsen lassen. Es ist erstaunlich, wieviel Mißtrauen ein paar Zentimeter Haar vor den Ohren wecken können!« Ich mußte lachen. »Gute Idee.« »Und lassen Sie Ihre Kleider hier«, fügte er an. »Ich be sorge Ihnen britische Sachen, die zu Ihrer neuen Identität passen.« »In Ordnung.« Er setzte sich ans Steuer. »Au revoir dann, Mr. Roke.« »Au revoir, Lord October«, sagte ich. Als er fort war und seine Überzeugungskraft mit ihm, er schien mir das, was ich vorhatte, unvernünftiger denn je. Aber ich hatte es satt, vernünftig zu sein. Ich setzte die Vorbereitungen für meinen Ausbruch auf Hochtouren fort und erwachte jeden Morgen voller Ungeduld. Zwei Tage vor der geplanten Abreise flog ich nach Gee long, um mich von Philip zu verabschieden, und teilte sei 29
nem Schulleiter mit, daß ich für einige Zeit in Europa sein würde; wie lange, stehe noch nicht fest. Ich flog über Frensham zurück, um meine Schwestern noch zu sehen, die sich beide über die dunklen Backenbartschatten erreg ten, die meinem Gesicht schon den gewünschten unzuver lässigen Touch gaben. »Rasier dir die bloß ab«, meinte Belinda. »Das ist viel zu sexy. Die höheren Semester hier schwärmen ohnehin von dir, und wenn sie dich so sehen, bist du fällig.« »Das klingt doch herrlich«, sagte ich und grinste sie lie bevoll an. Helen, blond, beinah sechzehn, war sanft und anmutig wie die Blumen, die sie so gern zeichnete. Sie war die un selbständigste von den dreien und hatte am meisten unter dem Verlust der Mutter gelitten. »Heißt das«, fragte sie besorgt, »daß du den ganzen Sommer fort bist?« Sie sah mich an, als wäre der Mount Kosciusko eingestürzt. »Ihr kommt schon klar. Du bist doch jetzt ein großes Mädchen«, zog ich sie auf. »Aber die Ferien sind dann so langweilig.« »Bringt eben ein paar Freunde mit.« »Oh!« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Dürfen wir? Ja, das wär’ schön.« Sie küßte mich ein wenig beruhigt zum Abschied und ging in ihre Klasse zurück. Meine älteste Schwester und ich verstanden uns sehr gut, und ihr allein vertraute ich den wahren Zweck meines »Urlaubs« an, weil ich ihr das schuldig war. Wider Erwar ten brachte es sie aus der Fassung. »Liebster Dan«, sie schlang ihren Arm um meinen und hielt ihre Tränen zurück, »ich weiß, es war Knochenarbeit 30
für dich, uns großzuziehen, und wir sollten froh sein, wenn du endlich einmal etwas für dich selber tun willst, aber sei bitte vorsichtig. Wir … wir möchten, daß du wieder kommst.« »Aber natürlich«, versprach ich hilflos und lieh ihr mein Taschentuch. »Ich komme schon wieder.« Das Taxi brachte mich vom Flughafen in einem grauen Nieselregen, der keineswegs meiner Stimmung entsprach, über einen Platz voller Bäume zum Londoner Haus des Earl of October. Ich hatte Sonne in mir. Schwung. Auf mein Klingeln öffnete ein Diener mit freundlichem Gesicht die vornehme schwarze Tür, nahm mir die Reise tasche aus der Hand und sagte, da Seine Lordschaft mich erwarte, werde er mich gleich nach oben führen. »Oben« entpuppte sich als ein purpurroter Salon im ersten Stock, wo drei Männer mit Gläsern in den Händen um einen elektrisch geheizten Adam-Kamin herumstanden. Drei Männer in entspannter Haltung, die Gesichter der sich öffnenden Tür zugewandt. Drei Männer, die alle die glei che Autorität ausstrahlten, die mir bei October aufgefal len war. Das herrschende Triumvirat des Hindernissports. Macher. Verankert und etabliert in hundertjähriger Machttradition. Sie nahmen die Angelegenheit nicht so leicht wie ich. »Mr. Roke, Mylord«, sagte der Diener, als er mich hin einführte. October kam auf mich zu und gab mir die Hand. »Guten Flug gehabt?« »Ja, danke.« Er blickte zu den beiden anderen. »Meine beiden Mit streiter möchten Sie auch begrüßen.« 31
»Macclesfield«, sagte der größere von ihnen, ein älterer Mann mit krummem Rücken und wildem weißem Haar. Er beugte sich vor und streckte eine sehnige Hand aus. »Sehr interessant, Sie kennenzulernen, Mr. Roke.« Er hatte scharfblickende Adleraugen. »Und das ist Colonel Beckett.« Er deutete auf den schmalen, kränklich wirkenden dritten Mann, der mir ebenfalls die Hand gab, aber kaum zufaßte. Dann schwie gen sie vereint und schauten mich an, als käme ich von einem anderen Stern. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte ich höflich. »Ja, gut … kommen wir gleich zur Sache«, sagte Octo ber und bot mir einen Ledersessel an. »Aber möchten Sie etwas trinken?« »Gern.« Er gab mir ein Glas von dem mildesten Whisky, der je meinen Gaumen berührt hatte, und alle setzten sich. »Meine Pferde«, begann October in zwanglosem Gesprächston, »stehen alle bei mir in Yorkshire, wo ich meinen Landsitz habe. Ich bilde sie nicht selbst aus, weil ich zu oft geschäftlich unterwegs bin. Ein Mann namens Inskip hat die Trainerlizenz – er ist selbständig und trai niert außer den meinen noch mehrere Pferde von Bekann ten. Zur Zeit sind etwa fünfunddreißig Pferde dort, von denen elf mir gehören. Wir halten es für das beste, wenn Sie in meinem Stall als Pfleger anfangen; Sie können dann ja wechseln, wenn es angezeigt scheint. Ist das bis dahin klar?« Ich nickte. »Inskip«, fuhr er fort, »ist ein ehrlicher Mensch, aber lei der redet er auch gern, deshalb darf ihm zunächst einmal die Art und Weise Ihres Eintritts in den Stall keinen Grund 32
zum Schwätzen geben. Da die Einstellung der Pfleger allein seine Sache ist, wird er, nicht ich, Sie einstellen müssen. Um dafür zu sorgen, daß wir Leute brauchen und Ihre Bewerbung prompt angenommen wird, schicken Colonel Beckett und Sir Stuart Macclesfield übermorgen je drei Jungpferde zu mir. Die Pferde taugen nichts, möchte ich meinen, aber bessere konnten wir so schnell nicht auftrei ben.« Alle lächelten. Recht hatten sie. Ich begann ihre Pla nungsarbeit zu bewundern. »In vier Tagen, wenn dann alles unter dem Arbeitsanfall stöhnt, tauchen Sie auf und bieten Ihre Dienste an. Okay?« »Okay.« »Hier ist Ihre Referenz.« Er reichte mir einen Umschlag. »Sie stammt von einer Kusine von mir, die in Cornwall ein paar Jagdpferde hält. Ich habe mit ihr vereinbart, daß sie Sie empfiehlt, falls Inskip nachfragt. Allzu suspekt dür fen Sie ja auch nicht gleich erscheinen, sonst stellt Inskip Sie nicht ein.« »Verstehe«, sagte ich. »Inskip wird nach Ihrer Versicherungs- und Ihrer Lohnsteuerkarte fragen, Unterlagen, die man normaler weise von der vorherigen Arbeitsstelle mitbringt. Hier sind sie.« Er gab sie mir. »Die Versicherungskarte ist gestem pelt und stellt kein Problem dar, weil erst im Mai nächsten Jahres wieder danach gefragt wird, und dann brauchen wir sie hoffentlich nicht mehr. Mit der Lohnsteuer ist es schwieriger, aber wir haben die Karte so angelegt, daß die Adresse auf dem Abschnitt, den Inskip bei Ihrer Einstel lung ans Finanzamt schicken muß, unleserlich ist. Daraus sollte sich eine durchaus natürliche Verwirrung ergeben, die ausreicht, um zu verschleiern, daß Sie nicht in Corn wall gearbeitet haben.« 33
»Verstehe«, sagte ich. Und beeindruckt war ich auch. Sir Stuart Macclesfield räusperte sich, und Colonel Be ckett rieb sich die Nase. »Eine Frage zu dem Doping«, sagte ich. »Sie haben mir erklärt, Ihre Chemiker könnten das verwendete Mittel nicht nachweisen, aber mehr weiß ich bisher nicht. Wieso sind Sie denn so sicher, daß gedopt wird?« October blickte zu Macclesfield, der mit seiner schnar renden alten Stimme langsam sagte: »Wenn ein Pferd mit Schaum vor dem Maul aus einem Rennen kommt, wenn ihm die Augen rausquellen und der Schweiß nur so runter läuft, liegt der Verdacht nahe, daß ihm ein leistungsstei gerndes Mittel verabreicht worden ist. Die meisten Do pingsünder fahren ja deshalb schlecht dabei, weil es schwer ist, Reizmittel so zu dosieren, daß ein Pferd ohne verdächtige Symptome gewinnt. Hätten Sie die von uns untersuchten Pferde gesehen, Sie hätten sie für restlos vollgepumpt gehalten. Aber die Proben waren alle nega tiv.« »Was sagen Ihre Chemiker?« »Im gotteslästerlichen Wortlaut?« meinte Beckett ironisch. Ich grinste. »Im Kern.« »Daß es keine Substanz gibt, die sie nicht nachweisen können«, sagte Beckett. »Was ist mit Adrenalin?« fragte ich. Die hohen Herren wechselten Blicke, und Beckett sagte: »Die meisten der betroffenen Pferde hatten zwar einen ziemlich hohen Adrenalinspiegel, aber um zu beurteilen, ob das für ein bestimmtes Pferd normal ist, reicht eine einmalige Untersuchung nicht aus. Die natürliche Adrena linausschüttung variiert von Pferd zu Pferd erheblich, und man müßte sie vor und nach mehreren Rennen und auch in 34
verschiedenen Stadien ihres Trainings kontrollieren, um festzustellen, wo für das einzelne Pferd die Norm liegt. Erst wenn man die normalen Werte kennt, weiß man, ob es eine Dosis zusätzlich erhalten hat. Apropos … Sie wer den wissen, daß man Adrenalin nicht oral verabreichen kann. Es muß gespritzt werden und wirkt sofort. Unsere Pferde waren vor dem Start alle ruhig und gelassen. Durch Adrenalin stimulierte Pferde sind da schon aufgedreht. Außerdem verrät sich die subkutane Injektion von Adrena lin oft auch dadurch, daß dem Pferd weit um die Einstich stelle herum die Haare hochstehen. Wirklich narrensicher ist nur eine Injektion in die Halsschlagader, aber das will gekonnt sein, und wir schließen aus, daß in diesen Fällen so verfahren wurde.« »Die Leute vom Labor rieten uns, von mechanischen Einwirkungen auszugehen«, sagte October. »Da hat man ja schon alles mögliche probiert. Elektroschocks zum Bei spiel. Es gab Jockeys, die haben Batterien in ihren Sattel oder ihre Peitsche eingebaut, um die Pferde mit Stromstö ßen in den Sieg zu treiben. Der Schweiß der Pferde war dabei ein vorzüglicher Leiter. Wir haben diese Dinge wirklich eingehend geprüft und sind der festen Überzeu gung, daß keiner der betreffenden Jockeys unübliche tech nische Hilfsmittel benutzt hat.« »Wir haben unsere Aufzeichnungen, die Laborberichte, zahlreiche Zeitungsausschnitte und überhaupt alles, was uns irgendwie sachdienlich schien, gesammelt«, sagte Macclesfield und wies auf einen Stapel von drei Akten deckeln, die neben mir auf dem Tisch lagen. »Und Sie haben vier Tage Zeit, das durchzulesen und darüber nachzudenken«, fügte October mit einem flüchti gen Lächeln hinzu. »Ein Zimmer ist hier für Sie hergerich tet; mein Diener wird für Sie dasein. Ich kann leider nicht bleiben, ich muß heute abend nach Yorkshire zurück.« 35
Beckett sah auf seine Armbanduhr und erhob sich lang sam. »Zeit für mich, Edward.« Zu mir sagte er mit einem Blick, der so klar und lebhaft war wie sein Körper hinfäl lig: »Sie packen das. Aber machen Sie Dampf dahinter, ja? Die Zeit läuft gegen uns.« Es kam mir vor, als sei October erleichtert. Sicher war ich mir dessen erst, als Macclesfield mir wieder die Hand gab und schnarrte: »Jetzt, wo Sie da sind, scheint mir der ganze Plan auch durchführbar zu sein … Mr. Roke, ich wünsche Ihnen gutes Gelingen.« October brachte die beiden zur Haustür, kam wieder her auf und sah mich in dem purpurroten Zimmer an. »Zu meiner Freude darf ich sagen, daß sie sehr angetan von Ihnen sind, Mr. Roke.« Oben in dem luxuriösen Gästezimmer mit dunkelgrünem Teppichboden und Messingbett, wo ich die nächsten vier Nächte schlafen sollte, stellte ich fest, daß der Diener mei ne wenigen mitgebrachten Sachen ausgepackt und säuber lich in die Fächer eines schweren edwardianischen Klei derschranks geräumt hatte. Auf dem Boden neben meiner lederbesetzten Leinenreisetasche stand ein billiger Kunst faserkoffer mit angerosteten Schlössern. Amüsiert unter suchte ich seinen Inhalt. Obenauf lag ein dickes, zugekleb tes Kuvert mit meinem Namen. Ich riß es auf und fand ein Bündel Fünfpfundnoten darin, vierzig insgesamt – und auf einem beiliegenden Zettel stand: »Gutes Geld für schlech te Zeiten.« Ich lachte laut. Auch sonst hatte October an alles gedacht, von der Un terwäsche bis zum Waschzeug, von Stiefeletten bis zum Regencape, von Jeans bis zu Schlafanzügen. Im Ausschnitt einer schwarzen Lederjacke steckte ein zweiter Zettel von ihm. 36
»Die Jacke ergänzt die Koteletten. Beides zusammen wird Ihre Erscheinung nachhaltig verändern. So laufen hier die schrägen Vögel herum. Viel Glück.« Ich sah mir die Stiefeletten an. Sie waren gebraucht und ungeputzt, paßten aber, wie ich feststellte, erstaunlich gut. Ich zog sie aus und probierte ein Paar superspitze schwar ze Straßenschuhe an. Ein schrecklicher Anblick, aber auch sie paßten, und ich behielt sie an, um meine Füße (und Augen) an sie zu gewöhnen. Die drei Aktendeckel, die ich, als October nach Yorkshi re abgefahren war, mit nach oben genommen hatte, lagen auf einem Tischchen neben einem kleinen Sessel, und mit dem Gefühl, daß keine Zeit mehr zu verlieren sei, setzte ich mich hin, nahm mir den ersten vor und machte mich ans Lesen. Da ich kein einziges Wort ausließ, brauchte ich zwei Ta ge, um den gesamten Inhalt der Mappen durchzuackern. Und doch starrte ich am Ende auf den Teppichboden, ohne eine brauchbare Idee im Kopf zu haben. Da waren handund maschinengeschriebene Protokolle von den amtlichen Befragungen der Trainer, Jockeys, Futtermeister, Pfleger, Hufbeschlagschmiede und Tierärzte, die mit den elf mut maßlich gedopten Pferden zu tun gehabt hatten. Da war der langatmige Bericht einer Detektei, die »in entspannter Umgebung« zahlreiche Jockeys befragt und nichts dabei herausbekommen hatte. Ein Buchmacher berichtete zehn Seiten lang ausführlich über die auf die betroffenen Pferde abgeschlossenen Wetten, faßte aber im letzten Satz bündig zusammen: »Wir haben keinen Hinweis auf Einzelperso nen oder Gruppen, die regelmäßig an diesen Pferden ver dient hätten, und kommen daher zu dem Schluß, daß sol che Einzelpersonen oder Gruppen nur am Totalisator ge wettet haben können.« Weiter unten in der Mappe fand ich einen Brief der Toto GmbH, der besagte, daß keiner ihrer 37
Kreditkunden alle betroffenen Pferde gewettet habe, daß aber die Barwetten auf der Rennbahn freilich nicht zu überprüfen seien. Die zweite Mappe enthielt Laborberichte über elf analy sierte Urin- und Speichelproben. Der erste Bericht bezog sich auf ein Pferd namens Charcoal und war anderthalb Jahre alt. Der letzte galt einem erst im September, als Oc tober in Australien war, kontrollierten Pferd namens Rud yard. Unter jedem einzelnen Bericht stand in säuberlicher Handschrift das Wort »negativ«. Die Presse hatte haarscharf am Verleumdungsparagra phen vorbeigeschrieben. Die Zeitungsausschnitte in Map pe Nummer drei enthielten Sätze wie »Charcoal schlug eine gänzlich ungewohnte Gangart ein« und »Sieger Ru dyard wirkte im Absattelring mächtig erregt ob seines Er folges«. Über Charcoal und die drei Pferde nach ihm gab es noch relativ wenig zu lesen, doch dann hatte jemand ein Medi enbüro beauftragt: Die letzten sieben Fälle waren durch Ausschnitte aus mehreren Tages-, Abend-, Lokal- und Rennsportzeitungen dokumentiert. Unten in Mappe drei fand ich noch einen mittelgroßen gelben Umschlag. Er trug den Vermerk: »Ausgehändigt von der Sportredaktion des Daily Scope am 10. Juni«. Ich begriff, daß es sich um die Ausschnitte handeln mußte, die der unglückliche Journalist Stapleton gesammelt hatte, und öffnete den Umschlag gespannt. Zu meiner großen Enttäuschung – denn ich hätte wirk lich etwas Hilfe gebrauchen können – handelte es sich aber bis auf drei nur um Ausschnitte, die ich schon kannte. Einer von den drei neuen war ein Kurzporträt der Besit zerin von Charcoal, der zweite ein Bericht über ein (nicht 38
zu den elf gehörendes) Pferd, das am dritten Juni in Cart mel, Lancashire, im Führring durchgedreht war und eine Frau tödlich verletzt hatte, der dritte ein langer Artikel aus einer Rennsport-Wochenzeitung über berühmte Doping fälle, wie sie aufgedeckt und wie sie geahndet wurden. Ich las und las und kam auch damit nicht weiter. Nach so viel unergiebiger Konzentration lief ich den ganzen nächsten Tag in London umher, atmete mit einem berauschenden Gefühl der Befreiung die dicke Großstadt luft, fragte immer wieder nach dem Weg und hörte den Auskunftgebenden gut zu. Von meinem Akzent hatte sich October vielleicht zuviel erhofft, denn noch vor Mittag erkannte man mich zweimal als Australier. Meine Eltern waren bis zu ihrem Tod ganz Engländer geblieben, aber ich hatte es mit neun Jahren für ratsam gehalten, in der Schule nicht »anders« zu sein, und mir die Sprechweise meiner neuen Heimat angeeignet. Ich konnte sie nicht mehr ablegen, selbst wenn ich es gewollt hätte; sollte mein Englisch also wie Cockney klingen, mußte ich offensichtlich noch daran arbeiten. Ich wanderte weiter nach Osten, schaute, fragte, hörte zu. Allmählich kam ich zu dem Schluß, daß es gehen könnte, wenn ich nicht ganz so schneidig sprach und den Wortendungen Luft ließ. Ich übte den ganzen Nachmittag, und schließlich gelang es mir sogar, ein paar Vokale ab zuwandeln. Niemand fragte mehr, woher ich kam – für mich ein Zeichen des Erfolgs –, und als ich mich zu guter Letzt bei einem Straßenhändler erkundigte, wo die Busse nach Westen abfahren, konnte ich im Akzent zwischen meiner Frage und seiner Antwort keinen großen Unter schied mehr hören. Ich kaufte mir einen Geldgürtel aus starkem Leinen mit Reißverschluß. Er ließ sich unterm Hemd flach auf der Taille tragen, sogar mit den zweihundert Pfund, und viel 39
leicht würde ich einmal froh sein, dieses Geld griffbereit zu haben. Am Abend versuchte ich mit neuer Energie, das Do pingproblem von einer anderen Seite her anzugehen, in dem ich schaute, ob die Pferde irgend etwas miteinander gemein hatten. Es sah nicht so aus. Alle hatten verschiedene Trainer. Alle gehörten verschiedenen Besitzern, und alle waren von verschiedenen Jockeys geritten worden. Das einzige, was sie miteinander gemein hatten, war, daß sie nichts gemein hatten. Ich seufzte und ging zu Bett. Terence, der Diener, mit dem ich mich ein wenig angefreun det hatte, weckte mich am vierten Tag, indem er mit einem voll beladenen Frühstückstablett in mein Zimmer kam. »Der Verurteilte langte noch einmal kräftig zu«, sagte er, hob den silbernen Deckel ab und ließ mich an einem Tel ler mit Eiern und Schinken schnuppern. »Wie meinen Sie das?« fragte ich, zufrieden gähnend. »Ich weiß nicht, was Sie und Seine Lordschaft vorhaben, aber wo Sie auch hingehen, Sie betreten eine andere Welt. Ihr Anzug zum Beispiel stammt nicht aus derselben Ecke wie das Zeug da.« Er nahm den Kunstfaserkoffer, setzte ihn auf einen Hok ker und klappte ihn auf. Behutsam, als wäre es Seide, legte er eine Baumwollunterhose und ein kariertes Baumwoll hemd heraus, dazu einen gerippten hellbraunen Pullover, eine enge, anthrazitfarbene Hose und schwarze Socken. Mit angewidertem Blick hängte er die schwarze Lederjak ke über die Stuhllehne und ergänzte das Arrangement durch die spitzen Schuhe. 40
»Seine Lordschaft hat mich angewiesen, darauf zu ach ten, daß Sie alle mitgebrachten Sachen dalassen und nur die hier mitnehmen«, sagte er bedauernd. »Haben Sie die gekauft«, fragte ich amüsiert, »oder Lord October?« »Lord October.« Er lächelte plötzlich, als er zur Tür ging. »Hätte ich gern gesehen, wie er da im Discountladen zwischen den drängelnden Hausfrauen am Wühltisch steht.« Ich frühstückte, nahm ein Bad, rasierte mich und schlüpfte von Kopf bis Fuß in die neuen Sachen, ein schließlich der schwarzen Joppe, deren Reißverschluß ich hochzog. Dann bürstete ich mir die Haare nicht nach hin ten, sondern nach vorn, so daß die kurzen schwarzen Fran sen in die Stirn fielen. Terence kam wieder, um das Tablett abzuholen, und sah mich vor dem Wandspiegel stehen. Statt ihn wie sonst an zulächeln, drehte ich mich langsam auf dem Absatz um und fixierte ihn grimmig mit zusammengekniffenen Au gen. »Du liebe Zeit!« entfuhr es ihm. »Gut«, meinte ich vergnügt. »Sie würden mir also nicht trauen?« »Ich würde mich hüten.« »Und welchen Eindruck haben Sie sonst von mir? Wür den Sie mir Arbeit geben?« »Zur Haustür kämen Sie hier erst gar nicht rein. Höch stens hintenrum. Ich würde mir Ihre Referenzen gut anse hen, bevor ich Sie einstellte – und wenn ich nicht schwer unter Druck wäre, würde ich es lieber lassen. Sie sehen verschlagen aus … und, na ja, ein bißchen … gefährlich fast.« 41
Ich öffnete den Reißverschluß der Lederjacke, so daß der karierte Hemdkragen und der hellbraune Pullover zu sehen waren. Eine legere Note. »Und jetzt?« fragte ich. Er neigte prüfend den Kopf zur Seite. »Ja, jetzt würde ich Sie vielleicht nehmen. So sehen Sie gleich normaler aus. Nicht unbedingt ehrlicher, aber leichter zu handha ben.« »Danke, Terence. Das kommt genau hin, glaube ich. Durchschnitt, aber unehrlich.« Ich lächelte freudig. »Dann will ich mich mal auf den Weg machen.« »Sie haben nichts Eigenes bei sich?« »Nur meine Uhr«, versicherte ich ihm. »Gut«, sagte er. Ich bemerkte mit Interesse, daß er zum erstenmal in den vier Tagen das ungezwungene, automatische »Sir« wegge lassen hatte; und als ich den billigen Koffer ergriff, machte er keine Anstalten, ihn mir wie die Reisetasche bei meiner Ankunft abzunehmen. Wir gingen hinunter zur Haustür, wo ich ihm die Hand bot, mich für seine Fürsorge bedankte und ihm einen Fünfpfundschein gab. Einen von Octobers Fünfern. Er nahm ihn lächelnd an und betrachtete mich in meiner neuen Identität. Ich grinste breit. »Wiedersehen, Terence.« »Auf Wiedersehen, und vielen Dank … Sir«, sagte er; und im Davongehen hörte ich ihn lachen. Den nächsten Hinweis darauf, daß mein Kleiderwechsel einen gewaltigen Statusverlust bedeutete, gab mir der Ta xifahrer, den ich am Ende des Platzes heranwinkte. Er wollte erst mein Geld sehen, bevor er mich zum Bahnhof 42
King’s Cross fuhr. Ich nahm den Mittagszug nach Harro gate und fing mir die mißbilligenden Blicke eines vis-à-vis sitzenden steifen Mannes mit ausgefransten Manschetten ein. Das läuft ja alles, dachte ich, während die regennasse Herbstlandschaft an mir vorbeiflog; du machst wirklich einen zweifelhaften Eindruck. Ich mußte um die Ecke denken, um mich darüber zu freuen. Von Harrogate fuhr ich mit dem Bus nach der kleinen Ortschaft Slaw, erkundigte mich nach dem Weg, ging die letzten drei Kilometer bis zu Octobers Landgut zu Fuß und kam dort kurz vor sechs an, die beste Zeit, um Arbeit in einem Rennstall zu finden. Sie hatten wirklich alle Hände voll zu tun; ich fragte nach dem Futtermeister, und dieser brachte mich zu Inskip, der auf seinem abendlichen Rundgang war. Inskip musterte mich und schürzte die Lippen. Er war ein mürrischer, relativ junger Mann mit Brille, schütterem rotblondem Haar und schlafflippigem Mund. »Referenzen?« Seine Stimme hingegen war scharf und gebieterisch. Ich nahm den Brief von Octobers Kusine aus der Tasche und gab ihn ihm. Er faltete ihn auseinander, las ihn und steckte ihn ein. »Mit Rennpferden haben Sie also noch nicht gearbei tet?« »Nein.« »Wann könnten Sie anfangen?« »Sofort.« Ich wies auf meinen Koffer. Er zögerte, aber nur kurz. »Zufällig brauchen wir gerade jemand. Wir versuchen es mit Ihnen. Wally, besorgen Sie ihm bei Mrs. Allnut ein Bett, er kann morgen früh anfan gen. Der übliche Lohn«, wandte er sich wieder an mich, 43
»elf Pfund die Woche, davon bekommt Mrs. Allnut drei für Kost und Logis. Ihre Karten können Sie mir morgen geben. Alles klar?« »Ja«, sagte ich und war im Geschäft.
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ch schlich mich behutsam in die neue Umgebung ein wie ein Ketzer in den Himmel, um nicht auf- und hin auszufliegen, bevor ich ganz dazugehörte. Am ersten Abend kargte ich mit Worten, weil ich meinem angelern ten Akzent nicht traute, aber bald wurde mir klar, daß bei der Vielfalt von Dialekten, die im Stall gesprochen wur den, mein Cockney-Australisch gar nicht auffiel. Wally, der Futtermeister, ein drahtiger kleiner Mann mit schlechtsitzenden dritten Zähnen, hatte mich zur Schlaf platzbelegung in das Haus beim Tor geschickt, in dem etwa ein Dutzend unverheiratete Pferdepfleger wohnten. Ich kam in einen kleinen, vollgestopften Raum im ersten Stock mit sechs Betten, einem Kleiderschrank, zwei Kommoden und vier Stühlen, die die Nachttische ersetz ten; nur in der Mitte waren ungefähr zwei Quadratmeter frei. Dünne, geblümte Vorhänge an den Fenstern, auf dem Fußboden blankes Linoleum. Mein Bett war mit den Jahren in der Mitte zwar arg ein gesunken, aber nicht unbequem, und es war mit weißen Laken und grauen Wolldecken frisch hergerichtet. Mrs. Allnut, die mich ohne zu fackeln in ihrem Haus auf nahm, war eine rundliche kleine Frohnatur mit einem Haarknoten auf dem Kopf. Sie hielt das Haus blitzsauber und achtete auch darauf, daß sich die Pfleger wuschen. Sie konnte kochen, und das Essen war einfach, aber reichlich. Alles in allem ein gutes Quartier. 45
Anfangs nahm ich mich sehr in acht, aber die Anpassung an die Umgebung, an die Gemeinschaft war doch leichter, als ich mir vorgestellt hatte. Ein paarmal konnte ich mich in den ersten Tagen gerade noch bremsen, als ich einem anderen Pfleger sagen wollte, was er zu tun habe; neun Jahre alte Gewohnheiten sind zäh. Und ich war überrascht, ja ein wenig bestürzt über die unterwürfige Haltung, die alle gegenüber Inskip einnah men, wenigstens wenn er dabei war; meine Leute zu Hau se gingen mit mir viel vertraulicher um. Daß ich sie be zahlte und sie Lohn empfingen, stellte mich als Mensch nicht über sie, und das war uns auch allen klar. Aber bei Inskip und, wie ich noch feststellen sollte, überhaupt in England war wenig von dem beinah aggressiven Gleich heitsstreben Australiens zu spüren. Die Pferdepfleger schienen sich generell damit abzufinden, daß sie in der Welt niedriger eingestuft wurden als Menschen wie Inskip und October. Ich fand das würdelos, beschämend und selt sam. Aber ich behielt meine Ansicht für mich. Wally, der es unerhört fand, wie lässig ich bei meiner Ankunft aufgetreten war, wies mich an, Inskip mit »Sir« und October mit »Mylord« anzureden; wenn ich aber ein verdammter Kommunist sei, könne ich gleich wieder ab hauen – und so legte ich schleunigst den, wie er es nannte, »geziemenden« Respekt an den Tag. Andererseits fiel es mir gerade wegen der zwanglosen Beziehung zu meinen eigenen Leuten jetzt nicht weiter schwer, Pfleger unter Pflegern zu sein. Ich spürte keine Zu rückhaltung auf ihrer und – nachdem sich das Akzentpro blem erledigt hatte – auch keine Befangenheit auf meiner Seite. Von daher mußte ich October recht geben: Wäre ich in England aufgewachsen und nach Eton statt nach unserem ebenso exklusiven Geelong gegangen, hätte ich mich in die Stallgemeinschaft nicht so leicht einfügen können. 46
Inskip teilte mir drei neu eingetroffene Pferde zu, und das war aus meiner Sicht nicht gerade ideal, denn auf die Rennbahn würde ich vorerst mit denen nicht kommen. Sie waren weder fit noch für irgendwelche Rennen genannt, und selbst wenn sie sich als brauchbar erwiesen, würde es Wochen dauern, bis sie antreten konnten. Darüber dachte ich nach, während ich ihnen Heu und Wasser brachte, ihre Boxen ausfegte und sie in der Morgenarbeit ritt. Am zweiten Abend erschien October gegen sechs mit einer Gruppe von Gästen. Inskip, vorab informiert, hatte uns allen Beine gemacht, damit wir schneller fertig wur den, und sich durch einen vorgezogenen Kontrollgang überzeugt, daß alles in Butter war. Jeder Pfleger stand bei demjenigen der von ihm betreu ten Pferde, das dem Ausgangspunkt der Inspektion am nächsten war. October und seine Freunde, begleitet von Inskip und Wally, schritten von Box zu Box, plauderten, lachten, besprachen im Vorbeigehen die einzelnen Pferde. Als sie zu mir kamen, warf mir October einen Blick zu und sagte: »Sie sind neu hier, was?« »Ja, Mylord.« Das war es dann auch schon, aber als ich das erste Pferd für die Nacht eingeschlossen hatte und weiter unten im Stall beim zweiten wartete, kam er herüber, um meinen Schützling zu streicheln und seine Beine abzutasten, und als er sich dann aufrichtete, zwinkerte er mir verschmitzt zu. Da die anderen Leute vor mir standen, bewahrte ich mit Mühe ein ernstes Gesicht. Er schneuzte sich, um nicht zu lachen. Wir waren beide in solchen Täuschungsmanö vern nicht geübt. Nach der Inspektion und dem anschließenden Abendes sen mit den anderen Pflegern ging ich mit zweien von ih nen zu Fuß nach Slaw ins Gasthaus. Als wir unser erstes 47
Bier halb getrunken hatten, stand ich auf, spazierte hinaus und rief October an. »Wer spricht, bitte?« erkundigte sich eine Männerstim me. Einen Augenblick war ich ratlos, dann sagte ich: »Per looma«, denn wenn er das hörte, würde er sofort schalten. Er kam an den Apparat. »Probleme?« »Nein«, sagte ich. »Werden vom Amt hier Ihre Gesprä che mitgehört?« »Gute Frage.« Er zögerte. »Wo sind Sie?« »In Slaw, in der Telefonzelle am Ortseingang.« »Ich habe Gäste heute abend; hat es Zeit bis morgen?« »Ja.« Er überlegte. »Können Sie mir sagen, um was es geht?« »Ja. Ich brauche die gesammelten Rennberichte der letzten sieben oder acht Jahre und alles, was Sie an In formationen über die elf … Betroffenen beibringen kön nen.« »Wonach suchen Sie?« »Das weiß ich noch nicht«, sagte ich. »Brauchen Sie sonst noch was?« »Ja, aber das geht nicht am Telefon.« Er überlegte. »Hinter den Stallungen ist ein Bach, der aus dem Moor kommt. Laufen Sie morgen nach dem Mit tagessen ein Stück da hinauf.« »Gut.« Ich hängte ein und kehrte in die Kneipe zu mei nem Bier zurück. »Du warst aber lange weg«, sagte Paddy, einer der bei den Pfleger, mit denen ich dort war. »Wir sind schon eins weiter. Hast du die Wandsprüche auf dem Klo studiert, oder was?« 48
»Da stehen ein paar Sachen«, meinte der andere, ein schlaksiger Achtzehnjähriger, »aus denen ich nicht schlau werde.« »Das schadet nichts«, versicherte ihm Paddy. Mit seinen vierzig Jahren vertrat er bei vielen der jüngeren Pfleger die Vaterstelle. Sie schliefen links und rechts von mir, Paddy und Grits, in unserem kleinen Schlafsaal. Paddy, blitzgescheit im Gegensatz zu Grits, war ein zäher kleiner Ire mit Augen, denen nichts entging. Von dem Moment an, als ich meinen Koffer auf das Bett geworfen und unter seinem neugieri gen Blick meine Schlafsachen ausgepackt hatte, war ich froh gewesen, daß October darauf bestanden hatte, mich völlig neu einzukleiden. »Trinken wir noch ein Glas?« »Na gut«, stimmte Paddy zu. »Eins kann ich mir wohl gerade noch leisten.« Ich ging mit den Gläsern zur Theke und holte Nach schub; Paddy und Grits kramten in ihren Taschen, wurden fündig und gaben mir jeder elf Pence zurück. Das starke, bittere Bier schien mir die sieben Kilometer Fußweg nicht wert zu sein, aber viele von den Pflegern hatten Fahrräder oder klapprige Autos und kamen mehrmals die Woche hierher. »Heute abend tut sich nichts«, brummelte Grits. Sein Gesicht hellte sich auf. »Morgen ist Zahltag.« »Da wird die Bude voll«, stimmte Paddy bei. »Soupy und die Grangerleute und das ganze Volk.« »Die Grangerleute?« fragte ich. »Du weißt aber auch gar nichts«, meinte Grits ein wenig herablassend. »Die Leute von Grangers Stall, auf der an deren Seite vom Berg.« 49
»Kommst du denn vom Mond?« fragte Paddy. »Er ist ja neu im Rennsport«, verteidigte mich Grits. »Na, trotzdem!« Paddy trank über den Mittelstrich weg und wischte sich den Mund mit dem Handrücken. Grits trank aus und seufzte. »Das wär’s. Ich glaub, dann sollten wir mal wieder.« Auf dem Rückweg zum Stall unterhielten wir uns wie immer über Pferde. Am nächsten Nachmittag verließ ich unauffällig den Hof und schlenderte am Bach entlang, wobei ich hin und wie der einen Stein nahm und ihn hineinwarf, als sähe ich gern, wie das Wasser aufspritzte. Ein paar Pfleger spielten auf der Koppel hinterm Hof Fußball, aber sie achteten nicht auf mich. Ein ganzes Stück bergauf, wo der Bach durch eine tiefe, grasbewachsene Rinne lief, stieß ich auf October, der, eine Zigarette rauchend, auf einem Stein saß. Er hatte einen Jagdhund, einen schwarzen Retriever, bei sich und eine Flinte und eine volle Jagdtasche vor sich liegen. »Dr. Livingstone, nehme ich an«, sagte er lächelnd. »Ganz recht, Mr. Stanley. Wie haben Sie das erraten?« Ich setzte mich auf den nächsten Stein. Er tippte mit dem Fuß an die Jagdtasche. »Da sind die Rennberichte drin und ein Notizbuch mit allem, was Beckett und ich an Fakten über die elf Pferde in so kurzer Zeit zusammengekriegt haben. Aber da nützen Ihnen die Berichte in den Akten, die Sie gesehen haben, doch sicher mehr.« »Alles kann nützlich sein … das weiß man nie. In Sta pletons Kuvert war auch ein interessanter Ausschnitt. Ein Artikel über bekannte Dopingfälle. Da stand, daß be 50
stimmte Pferde einfach durch chemische Veränderungen in ihrem Körper harmlose Nahrung in etwas umsetzen, das beim Dopingtest positiv anschlägt. Funktioniert das viel leicht auch umgekehrt? Ich meine, könnte es sein, daß manche Pferde ein Dopingmittel in harmlose Stoffe auf spalten, so daß bei den Kontrollen nichts festzustellen ist?« »Ich kümmere mich darum.« »Etwas anderes noch«, sagte ich. »Ich bin drei von den Kleppern zugeteilt worden, um die Sie Ihren Stall berei chert haben, das heißt, ich komme auf keine Rennbahn. Aber wenn Sie einen davon vielleicht wieder verkaufen, hätte ich Gelegenheit, bei der Auktion mit Leuten von an deren Ställen zusammenzukommen. Da hier noch drei an dere Pfleger je drei Pferde betreuen, wäre ich nicht gleich überflüssig, und vielleicht bekäme ich dann ein renntaug liches Pferd anvertraut.« »Ich verkaufe eins«, sagte er, »aber bis es zur Versteige rung kommt, das dauert. Der Antrag muß fast einen Monat vor dem Verkaufstermin beim Auktionator sein.« Ich nickte. »Es ist zum Verzweifeln. Wenn ich bloß wüßte, wie ich an ein Pferd komme, das demnächst läuft. Am besten noch auf einer weit entfernten Rennbahn, denn mit Zwischenstation wäre es ideal.« »Pfleger bekommen nicht einfach neue Pferde«, sagte er und rieb sich das Kinn. »Ich weiß. Das ist Glückssache. Man kriegt sie, wenn sie kommen, und behält sie, bis sie gehen. Taugen sie nichts, hat man Pech gehabt.« Wir standen auf. Der Retriever, der, die Schnauze auf den Pfoten, die ganze Zeit still dagelegen hatte, kam eben falls hoch, streckte sich, wedelte mit dem Schwanz und sah seinen Herrn vertrauensvoll an. October bückte sich, 51
gab dem Hund einen zärtlichen Klaps und hob die Flinte auf. Ich nahm die Jagdtasche und hängte sie mir um. Wir gaben uns die Hand, und October sagte lächelnd: »Es interessiert Sie vielleicht, daß Inskip der Meinung ist, Sie reiten ungewöhnlich gut für einen Pfleger. Wört lich sagte er, daß er Leuten von Ihrem Aussehen eigentlich nicht traut, aber Sie hätten Hände wie ein Engel. Passen Sie lieber auf.« »Verflucht«, sagte ich. »Daran habe ich gar nicht ge dacht.« Er grinste und ging den Berg hinauf, während ich mich wieder bachabwärts wandte und wenig Grund zum Grin sen fand. So lustig es sein mochte, im Wolfspelz herumzu laufen – wenn ich jetzt auch noch meine Reitkünste ver stecken mußte, ging das an meinen Stolz. Die Kneipe in Slaw hatte Hochbetrieb an diesem Abend, und die Lohntüten wurden geplündert. Etwa die Hälfte von Octobers Leuten waren dort – einer hatte mich im Au to mitgenommen – und auch ein Teil der Grangerleute, einschließlich dreier Mädels, die eine Menge Zweideutig keiten zu hören bekamen und ihren Spaß daran hatten. Hauptsächlich aber wurde immer wieder gutmütig damit geprahlt, daß die eigenen Pferde besser seien als alle ande ren. »Mein Gaul gewinnt am Mittwoch sonnenklar.« »Klarer Fall von denkste …« »Du mit deinem Walroß mußt doch ganz still sein.« »Das war der Jockey, Mann, der hat den Start versaut …« »… fett für zwei und störrisch wie ein Esel.« Die Sprüche flogen hin und her, während die Luft stickig wurde vom Zigarettenrauch und von zu vielen Leuten auf zu engem Raum. In einer Ecke lief ein Dartspiel zwischen 52
schlecht zielenden Gegnern, in einer anderen klackten Bil lardkugeln. Ich lümmelte mich auf einen Stuhl, den Arm über die Lehne gehängt, und sah Paddy und einem von Grangers Leuten bei einer scharfen Runde Domino zu. Pferde, Autos, Fußball, Boxen, Kino, das letzte Tanzfest und wieder Pferde, immer wieder Pferde. Ich hörte mir das alles an und kam lediglich zu der Überzeugung, daß die meisten hier mit ihrem Leben zufrieden, daß sie gutmütig, aufmerksam und harmlos waren. »Du bist neu hier, was?« sagte eine herausfordernde Stimme in mein Ohr. Ich drehte den Kopf und sah zu dem Mann hoch. »Ja«, sagte ich träge. Seine Augen waren die ersten in Yorkshire, in denen ich etwas von der Falschheit entdecken konnte, nach der ich suchte. Ich gab ihm seinen Blick zurück, bis seine Lippen sich in der Erkenntnis kräuselten, daß ich einer von seiner Sorte sei. »Wie heißt du?« »Dan«, antwortete ich, »und du?« »Thomas Nathaniel Tarleton.« Er wartete auf irgendeine Reaktion, bloß ahnte ich nicht, auf welche. »T.N.T.«, sagte Paddy entgegenkommend und sah von seinen Steinen auf. »Soupy.« Sein rascher Blick streifte uns beide. »Hochexplosiv, der Herr«, murmelte ich. Soupy Tarleton zeigte ein kleines raubtierhaftes Lächeln, wohl um mich zu beeindrucken. Er war ungefähr in mei nem Alter, aber ein heller Typ, mit der rötlichen Gesichts farbe, die mir bei so vielen Engländern schon aufgefallen war. Seine hellbraunen Augen standen ein wenig vor, und ein schmaler Oberlippenbart zierte den wulstigen, feucht 53
aussehenden Mund. Am rechten kleinen Finger trug er einen schweren Goldring, am linken Handgelenk eine teu re goldene Uhr. Seine Kleidung war aus gutem Tuch, sehr modisch, und die wunderschöne, mit Webpelz gefütterte Steppjacke, die er über dem Arm trug, mußte ihn drei Wo chenlöhne gekostet haben. Er machte keine Anstalten, sich mit mir anzufreunden. Nachdem er mich so eingehend gemustert hatte wie ich ihn, nickte er lediglich, sagte: »Bis dann« und schob ab, um beim Billard zuzusehen. Grits kam mit einem kleinen Bier von der Theke und setzte sich neben Paddy auf die Bank. »Soupy darfst du nicht trauen«, erklärte er mir freund lich, nichts als Güte in dem grobknochigen, unintelligen ten Gesicht. Paddy legte eine doppelte Drei an, drehte sich zu uns um und warf mir einen langen, prüfenden Blick zu. »Um Dan brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Grits«, sagte er. »Der ist wie Soupy. Die passen gut zu sammen. Gleich und gleich gesellt sich gern, das weißt du.« »Aber du hast doch gesagt, ich soll Soupy nicht trauen«, wandte Grits ein und sah beunruhigt von einem zum ande ren. »Ganz recht«, meinte Paddy nur. Er legte eine Drei-Vier an und konzentrierte sich aufs Domino. Grits rückte ein Stück näher an Paddy heran und warf mir einen wirren, verlegenen Blick zu. Dann hatte er plötzlich nur noch Augen für sein Bierglas und sah mich nicht mehr an. Genau das war der Moment, glaube ich, wo aus dem Spiel für mich Ernst wurde. Ich mochte Paddy und Grits, 54
und drei Tage lang hatten sie mich ohne weiteres akzep tiert. Jetzt sah Paddy mich als jemanden, der Fäden in Richtung Soupy spann, und hatte sich konsequent von mir abgewandt. Ich hätte darauf gefaßt sein müssen, aber es traf mich, und es war ein Vorgeschmack dessen, was kommen sollte. Colonel Becketts Stabsarbeit blieb weiterhin erstklassig. Nachdem wir einmal die Offensive ergriffen hatten, zöger te er nicht, den Angriff massiv zu unterstützen; sobald er also von October erfuhr, daß ich mit drei unnützen Pferden im Stall festsaß, traf er Anstalten zu meiner Befreiung. Am Dienstag nachmittag – ich war seit einer Woche dort – hielt mich Wally, der Futtermeister, an, als ich mit zwei Eimern Wasser über den Hof kam. »Dein Pferd in der 17 wird morgen abgeholt«, sagte er. »Du mußt dich also bis Mittag dranhalten, ihr fahrt um halb eins. Das Pferd kommt in einen Rennstall bei Not tingham. Ihr ladet es aus und bringt dafür ein neues mit. Okay?« »Okay«, sagte ich. Wally wahrte Distanz zu mir; doch übers Wochenende hatte ich mich damit abgefunden, daß ich nun mal ein gewisses Mißtrauen erregen mußte, auch wenn es mir gegen den Strich ging. Fast den ganzen Sonntag über hatte ich die Rennberichte studiert, für die anderen im Haus eine ganz normale Be schäftigung, und als am Abend alle in die Kneipe zogen, machte ich mich mit dem Bleistift konzentriert an die Ar beit und nahm die elf Pferde und ihre forcierten Siege un ter die Lupe. Richtig war, wie ich den Zeitungsausschnit ten in London schon entnommen hatte, daß zu jedem Pferd ein anderer Besitzer, Trainer und Jockey gehörte, doch traf es nicht zu, daß sie überhaupt nichts gemeinsam gehabt 55
hätten. Als ich den Umschlag mit meinen Aufzeichnungen zuklebte und ihn zusammen mit Octobers Notizbuch unter ein paar Rennberichtsjahrgängen in der Jagdtasche ver staute, weg von den neugierigen Blicken der angeheiterten Heimkehrer, war ich im Besitz von immerhin vier, wenn auch wenig hilfreichen Übereinstimmungen. Erstens hatten alle Pferde Verkaufsrennen gewonnen – Rennen, nach denen der Sieger zur Versteigerung kommt. Drei Pferde waren dabei von ihren Besitzern zurückerstei gert, die übrigen zu mäßigen Preisen verkauft worden. Zweitens hatten alle Pferde in ihrer Rennlaufbahn be wiesen, daß sie im Feld gut aussehen konnten, nur beim Finish hatte es ihnen entweder an Kraft oder an Mut ge fehlt. Drittens hatte keines von ihnen je ein Rennen gewonnen außer demjenigen, für das es gedopt worden war, wenn gleich sich alle hin und wieder hatten plazieren können. Viertens, keines von ihnen hatte bei einer Quote unter 110 zu 10 gesiegt. Octobers Notizen wie auch den Rennberichten entnahm ich, daß einige der Pferde mehr als einmal den Trainer gewechselt hatten, aber bei so mäßigen, erfolglosen Tieren war das nicht anders zu erwarten. Ebensowenig half mir die Information, daß die Pferde alle von verschiedenen Vätern und aus verschiedenen Müttern stammten, daß ihr Alter zwischen fünf und elf Jahren lag, daß sie nicht alle von einer Farbe waren. Sie hatten auch nicht alle auf der gleichen Rennbahn gesiegt, allerdings nun auch nicht alle auf verschiedenen; nach der ungefähren Vorstellung in meinem Kopf lagen die fraglichen Bahnen alle im Norden Englands – Kelso, Haydock, Sedgefield, Stafford und Ludlow. Ich wollte mir das auf einer Karte ansehen, aber im Hause Allnut gab es keine. 56
Ich ging zu Bett in dem überfüllten kleinen Schlafsaal, wo die Bierfahnen der Pferdepfleger alsbald den vertrau ten Geruch nach Schuhcreme und Haaröl verdrängten, doch mein Vorschlag, das kleine Schiebefenster etwas mehr als nur zehn Zentimeter zu öffnen, wurde glatt abge lehnt. Anscheinend richteten sich die Jungs alle nach Pad dy, dem Aufgewecktesten am Ort, und wenn Paddy mir nicht grün war, waren sie es auch nicht. Hätte ich unter diesen Umständen verlangt, das Fenster ganz zu schließen, wäre es wahrscheinlich weit aufgestoßen worden, und ich hätte frische Luft genug bekommen. Ich lächelte schief im Dunkeln, lauschte den knarrenden Sprungfedern, den schläfrigen, kichernden Stimmen, die noch einmal die Sprüche des Abends durchgingen, und während ich mich herumwälzte, um eine angenehme Lage auf der verbeulten Matratze zu finden, mußte ich an die Leute in meiner Schlafbaracke daheim denken und fragte mich, wie eigent lich für sie das Leben aussah. Mittwoch früh bekam ich einen Vorgeschmack vom schneidenden Yorkshire-Wind, und während wir mit eisi gen Händen und laufenden Nasen herumsausten, versi cherte mir einer von den Jungs vergnügt, der Wind könne sechs Monate am Stück so blasen. Ich versorgte meine drei Pferde im Eiltempo, aber als der Transporter mich und eines von ihnen um halb eins abholte, dachte ich an gesichts meiner dürftigen Garderobe nur noch, daß Octo bers großes, viereckiges Haus oben an der Auffahrt über eine sehr gute Zentralheizung verfügen müsse. Nach sechs oder sieben Kilometern drückte ich auf die Klingel, die in den meisten Pferdetransportern Laderaum und Fahrerhaus verbindet. Der Fahrer hielt auch prompt und sah mich fragend an, als ich neben ihm einstieg. »Das Pferd ist ruhig«, sagte ich, »und hier hab ich’s wärmer.« 57
Er grinste, fuhr wieder an und brüllte fast, um den Lärm des Motors zu übertönen. »Dacht’ ich doch gleich, daß du nicht alles so genau nimmst. Das Pferd wird verkauft und soll in gutem Zustand ankommen … den Chef würd’s um hauen, wenn er wüßte, daß du vorne sitzt.« Ich war mir ziemlich sicher, daß der Chef, also Inskip, sich darüber keineswegs gewundert hätte; nach mir selbst zu urteilen, waren Vorgesetzte nicht so naiv. »Der Chef kann mich mal«, gab ich zurück. Dafür sah er mich schräg an, und ich dachte bei mir, daß es doch recht einfach war, sich einen schlechten Ruf zu verschaffen, wenn man es darauf anlegte. Pferdetransport fahrer kamen scharenweise zu den Rennen und hatten, wenn sie erst mal dort waren, nichts zu tun. Sie konnten in der Kantine schwätzen, den ganzen Nachmittag konnten sie umherlaufen und reden. Dabei würde sich schnell ge nug herumsprechen, daß es unter Inskips Leuten offenbar ein schwarzes Schaf gab. Wir machten halt, um in einem Fernfahrercafe etwas zu essen, und ein Stück weiter dann noch einmal, damit ich mir zwei Wollhemden, einen schwarzen Pullover, dicke Socken, Wollhandschuhe und eine Strickmütze kaufen konnte, wie die anderen Pfleger sie an diesem kalten Mor gen getragen hatten. Der Fahrer, der mitgekommen war, um sich ein Paar Socken zu kaufen, sah auf mein Zeug und meinte, ich hätte wohl ganz schön Geld. Ich grinste bedeutungsvoll und sagte, man müsse eben wissen, wo es zu holen sei, worauf er sichtlich noch mehr an mir zwei felte. Mitte des Nachmittags rollten wir in den Hof eines Rennstalls in Leicestershire, und hier zeigte sich, wie her vorragend Becketts Stabsarbeit war. Das Pferd, das ich mit zurücknehmen und fortan betreuen sollte, war ein fähiger 58
Hürdler, der, in Jagdrennen noch sieglos, am Anfang sei ner Karriere als Steepler stand, und er war mit sämtlichen Nennungen an Colonel Beckett gegangen. Wie ich von seinem bisherigen Pfleger, der ihn mir mit saurer Miene übergab, erfuhr, konnte er also in allen Rennen starten, für die sein Vorbesitzer ihn gemeldet hatte. »Und wo wäre das?« fragte ich. »Ach, der kommt rum – Newbury, Cheltenham, San down und so weiter, und nächste Woche soll er in Bristol ran.« Traurig gab der Pfleger mir das Strickhalfter in die Hand. »Mir ist schleierhaft, wieso der Alte sich auf ein mal von ihm trennt. Das ist ein Prachtkerl, und wenn er jemals auf der Rennbahn nicht so gut und so gepflegt aussieht wie jetzt, bekommst du es mit mir zu tun, verlaß dich drauf.« Ich hatte schon festgestellt, wie sehr im Rennsport die Pfleger an ihren Pferden hingen, und ich glaubte dem Mann aufs Wort. »Wie heißt er denn?« fragte ich. »Sparking Plug … Gemein, den so zu nennen … He, Sparks, alter Freund … hm, mein Alter … he, Alter …« Liebevoll streichelte er die Nase des Pferdes. Wir luden ihn in den Transporter, und diesmal blieb ich hinten, wo ich hingehörte, um auf ihn aufzupassen. Wenn Beckett sich das Unternehmen ein Vermögen kosten ließ – denn billig kam man an ein so ideales Pferd nicht inner halb von Tagen –, dann sollte das Vermögen auch in guten Händen sein. Ehe wir zurückfuhren, warf ich einen Blick auf die Stra ßenkarte im Fahrerhaus und sah zu meiner Freude, daß alle Rennbahnen im Land darauf mit Tusche markiert wa ren. Ich lieh sie mir sofort aus und studierte sie während der Fahrt. Die Bahnen, für die Sparking Plug laut seinem 59
Pfleger genannt war, lagen fast alle im Süden. Fahrten mit Übernachtung, wie gewünscht. Ich grinste. Die fünf Rennbahnen, auf denen die elf Pferde gesiegt hatten, lagen jedoch nicht alle so weit nördlich, wie ich angenommen hatte. Ludlow und Stafford konnte man noch beinah zum Süden rechnen, zumal ich bei meinem Eng landbild unwillkürlich von Harrogate ausging. Auf der Karte schienen die fünf Bahnen in keiner Beziehung zu einander zu stehen: Weit davon entfernt, einen säuberli chen Kreis zu bilden, aus dem sich ein Mittelpunkt hätte ableiten lassen, waren sie mehr oder weniger in einem Bo gen von Nordosten nach Südwesten angeordnet, und ihre Lage sagte mir nichts. Den Rest der Rückfahrt verbrachte ich – wie überhaupt den größten Teil meiner Arbeitszeit – damit, daß ich mir alles, was ich von den elf Pferden wußte, durch den Kopf gehen ließ und auf eine Eingebung wartete wie ein Angler auf den Fisch, als müßten sich all die unzusammenhängenden Fakten plötzlich zu einem schlüssigen Gesamtbild fügen. Aber ei gentlich rechnete ich noch nicht damit, denn ich hatte ja kaum angefangen, und selbst elektronische Gehirne finden erst Lösungen, wenn man sie ausreichend mit Daten füttert. Am Freitag abend besuchte ich wieder die Kneipe in Slaw und schlug Soupy beim Dartspiel. Er stöhnte, wies auf den Billardtisch und rächte sich umgehend. Dann tranken wir ein Bier zusammen und glotzten uns an. Wir machten we nig Worte und brauchten auch keine; bald stand ich wieder auf, um den Dartspielern zuzusehen. Sie waren so schlecht wie in der Woche zuvor. »Du hast Soupy geschlagen, was, Dan?« Ich nickte, und schon bekam ich ein paar Pfeile in die Hand gedrückt. 60
»Wenn du Soupy schlägst, gehörst du in die Mann schaft.« »Welche Mannschaft?« »Die vom Stall. Wir spielen gegen andere Ställe und ha ben so was wie eine Yorkshire-Liga. Manchmal fahren wir nach Middleham, Wetherby oder Richmond, manchmal kommen die anderen her. Soupy ist der Beste im Granger team. Meinst du, du packst ihn noch mal, oder war das Glück?« Ich warf drei Darts. Alle gingen in die Zwanzig. Aus ei nem unerfindlichen Grund hatte ich schon immer gut zie len können. »Gott«, riefen die Jungs. »Weiter.« Ich warf noch drei: In der Zwanzig wurde es ziemlich voll. »Du bist in der Mannschaft«, sagten sie. »Himmel noch mal.« »Wann ist das nächste Match?« fragte ich. »Hier war vor vierzehn Tagen eins. Das nächste ist kommenden Sonntag in Burndale, nach dem Fußballspiel. Kannst du mit einem Ball zufällig auch so umgehen?« »Bedaure.« Ich schaute auf den letzten Pfeil in meiner Hand. Ich konnte mit einem Stein eine Ratte im Lauf treffen; das war mir oft genug gelungen, wenn meine Leute zwischen den Futterkisten eine entdeckt und sie herausgescheucht hatten. Wieviel einfacher mußte es sein, ein galoppierendes Pferd – eine weit größere Zielscheibe – mit einem Pfeil zu treffen. »Wirf den ins Zentrum«, drängte der Pfleger neben mir. Ich setzte ihn ins Zentrum. Die Jungs jubelten. »Diesmal gewinnen wir die Meisterschaft«, meinten sie grinsend. Grits grinste auch. Nur Paddy nicht. 61
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ctobers Sohn und seine beiden Töchter kamen zum Wochenende nach Hause, das ältere Mädchen in ei nem knallroten TR4, der mir bald zum vertrauten Anblick wurde, da sie öfter an den Stallungen vorbeifuhr, und die Zwillinge mit ihrem Vater, nicht ganz so schnell. Da sie alle drei regelmäßig ausritten, wenn sie zu Hause waren, befahl mir Wally am Samstag, zwei meiner Pferde zum Hinausgehen mit dem ersten Lot zu satteln, Sparking Plug für mich und das andere für Lady Patricia Tarren. Lady Patricia Tarren, so stellte ich fest, als ich das Pferd im ersten Morgengrauen zu ihr hinausführte, war eine hin reißende Schönheit mit blaßrosa Lippen und dichten, ge schwungenen Wimpern, die sie geschickt einzusetzen wußte. Sie hatte ein grünes Kopftuch um ihr kastanien braunes Haar gebunden und trug der Kälte wegen eine schwarzweiß gemusterte Skijacke. In der Hand hielt sie leuchtendgrüne Wollhandschuhe. »Sie sind neu hier«, meinte sie und sah mich unter den Wimpern hindurch an. »Wie heißen Sie?« »Dan … Miss«, sagte ich. Mir war gerade klargeworden, daß ich keine Ahnung hatte, wie eine Grafentochter anzu reden war. Wally hatte sich dazu nicht geäußert. »Gut … dann helfen Sie mir mal rauf.« Ich trat gehorsam zu ihr hin, doch als ich mich bückte, um sie hochzuwerfen, strich sie mir mit der bloßen Hand über Kopf und Hals, nahm mein rechtes Ohrläppchen zwi 62
schen die Finger und kniff mit scharfen Nägeln fest hinein. Ihre großen Augen blitzten herausfordernd. Ich hielt ihrem Blick stand. Als ich mich weder rührte noch etwas sagte, kicherte sie, ließ das Ohr los und zog gelassen ihre Hand schuhe an. Ich warf sie in den Sattel; sie beugte sich vor, um die Zügel aufzunehmen, und ließ direkt vor meinem Gesicht ihre dichten Wimpern klimpern. »Gut schauen Sie aus, Danny«, sagte sie, »Danny mit den feurigen Augen.« Mir fiel keine Antwort darauf ein, die sich mit meiner Stellung vereinbaren ließ. Sie lachte, setzte das Pferd in Bewegung und ritt über den Hof davon. Ihre Schwester, die ein von Grits gehaltenes Pferd bestieg, schien mir aus zwanzig Metern in dem schwachen Licht viel heller im Teint zu sein und beinah genauso schön. Gott helfe Octo ber, dachte ich, wenn er auf die beiden aufpassen muß. Ich wollte kehrtmachen, um Sparking Plug zu holen, und da stand Octobers achtzehnjähriger Sohn neben mir. Er kam ganz nach seinem Vater, war aber noch nicht so kräf tig und im Auftreten weniger souverän. »Um meine Zwillingsschwester brauchen Sie sich nicht weiter zu kümmern«, sagte er mit ruhiger, gelangweilter Stimme und musterte mich. »Sie schäkert gern.« Er neigte den Kopf und ging zu seinem bereitstehenden Pferd; wie es aussah, hatte ich gerade eine Warnung erhalten. Wenn seine Schwester sich allen Männern gegenüber so aufrei zend benahm, mußte er im Warnen geübt sein. Belustigt holte ich Sparking Plug, saß auf und ritt hinter den anderen Pferden über die Felder zum Moor. Die Luft und die Aussicht waren wie immer, wenn das Wetter stimmte, fantastisch. Die Sonne kündigte sich am fernen Horizont erst an und gab ein Licht, als sei die Welt noch im Entstehen. Ich betrachtete die schattenhaften Umrisse 63
der vor mir bergan ziehenden Pferde, sah die weißen Atemwölkchen, die in der kalten Luft ihren Nüstern ent strömten. Als der glitzernde Rand der Sonne hervorbrach, war plötzlich alles in Licht und Farbe getaucht, die Pferde trabten in den verschiedensten Brauntönen, von denen sich die gestreiften Strickmützen der Reiter, die fröhlich bunten Kleider der Töchter Octobers abhoben. October selbst, begleitet von seinem Hund, kam mit ei nem Landrover aufs Moor, um die Pferde bei der Arbeit zu sehen. Samstag war der Tag fürs Galopptraining, hatte ich festgestellt, und da sich der Graf zum Wochenende meist in Yorkshire aufhielt, legte er Wert darauf, dabeizu sein. Inskip ließ uns auf dem Berg im Kreis reiten, während er die Pferde in Zweiergruppen einteilte und ihre Reiter in struierte. Zu mir sagte er: »Dan, gehen Sie etwas mehr als halb schnell. Ihr Pferd läuft am Mittwoch. Nicht zu hart ran nehmen, aber wir wollen sehen, was er draufhat.« Als Be gleitpferd teilte er mir eins der besten des Stalls zu. Nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, trabte er den breiten grünen Grasstreifen entlang, der sich durch das Heidegestrüpp zog, und October fuhr langsam hinter ihm her. Wir gingen weiter im Kreis, bis die beiden am ande ren Ende der etwa zweieinhalb Kilometer langen, sanft geschwungenen, sanft ansteigenden Arbeitsbahn angelangt waren. »Okay«, sagte Wally zum ersten Paar. »Ab!« Die beiden Pferde galoppierten an, gingen zunächst ein gleichmäßiges Tempo, beschleunigten mehr und mehr, zogen an Inskip und October vorbei, wurden langsamer und hielten an. »Die nächsten zwei«, rief Wally. 64
Wir waren bereit und galoppierten sofort los. In Austra lien hatte ich unzählige Rennpferde gezüchtet und angerit ten, aber in England hatte ich mit Sparking Plug zum er stenmal ein gutes erwischt, und mich interessierte, wie er abschneiden würde. Daß er ein Hürdler war und ich mehr an Flachpferde gewöhnt war, erwies sich als ganz unpro blematisch, und trotz seines harten Mauls, gegen das ich liebend gern etwas getan hätte, galoppierte er ausgezeich net. Ruhig und gleichmäßig, in perfekter Haltung, flog er die Bahn entlang und hielt mühelos mit dem sieggewohn ten Begleitpferd mit, und obwohl wir wie angewiesen nur halbes Tempo gingen, stand außer Zweifel, daß Sparking Plug fit und für das kommende Rennen bereit war. Ich war so engagiert geritten, daß ich ganz vergessen hatte, meinen Reitstil zu verhunzen. Das wurde mir erst klar, als ich das Pferd anhielt – keine leichte Übung bei dem Maul – und mit ihm zurückritt. Ich stöhnte innerlich über mich selbst: Was ich in England vorhatte, würde mir nie gelingen, wenn ich mit dem Kopf so wenig bei der Sache war. Ich brachte Sparking Plug neben dem Begleit pferd vor Inskip und October zum Stehen, damit sie sehen konnten, wie sehr die Tiere schnauften. Sparking Plugs Rippen hoben und senkten sich leicht: Er war kaum außer Atem. Die beiden Männer nickten, und mein Kollege und ich sprangen ab und führten die Pferde trocken. Paar für Paar kamen die anderen Pferde die Bahn herun ter, und ihnen folgte eine Gruppe von nur leicht Galoppie renden. Als alle gearbeitet hatten, saßen die meisten Pfle ger wieder auf, und wir traten den Rückweg vom Trai ningsgelände zum Stall an. Ich führte mein Pferd als letz tes im Lot, und Octobers ältere Tochter, die unmittelbar vor mir ritt, schnitt mich praktisch von der Unterhaltung der anderen Pfleger ab. Sie betrachtete die weite Moor landschaft, ohne dabei am Vordermann zu bleiben, und bis 65
wir den Feldweg erreichten, waren ihre Vorderleute zehn Meter entfernt. Als sie an einem Ginsterbusch vorbeikam, flog krei schend und flügelschlagend ein Vogel auf, und ihr Pferd fuhr erschrocken herum und stieg. Mit bemerkenswerter Körperbeherrschung blieb sie oben und zog sich von ir gendwo unter dem rechten Ohr des Pferdes wieder in den Sattel, doch unter ihrem Tritt riß der Bügelriemen, und der Steigbügel fiel klirrend auf die Erde. Ich blieb stehen und hob ihn auf, aber er ließ sich nicht mehr am Riemen befestigen. »Danke«, sagte sie. »Wie ärgerlich!« Sie sprang herunter. »Den Rest kann ich genausogut zu Fuß gehen.« Ich ergriff den Zügel ihres Pferdes, um es für sie zu füh ren, doch sie nahm ihn mir gleich wieder ab. »Sehr liebenswürdig«, sagte sie, »aber das kann ich schon selbst.« Der Weg war hier recht breit, und sie ging neben mir den Hang hinunter. Bei näherem Hinsehen glich sie ihrer Schwester Patricia überhaupt nicht. Sie hatte glattes, silberblondes Haar, helle Wimpern, offen blickende graue Augen, einen festen, freundlichen Mund und strahlte eine Ruhe aus, in der An mut und Zurückhaltung lagen. Unbefangen gingen wir eine Weile schweigend nebeneinander her. »Ein herrlicher Morgen«, sagte sie schließlich. »Herrlich«, stimmte ich zu, »aber kalt.« Die Engländer reden immer übers Wetter, dachte ich, und im November sind schöne Tage so selten, daß man erst recht darüber spricht. Zu Hause ging es auf den Sommer zu … »Sind Sie schon lange bei uns?« fragte sie kurz darauf. »Erst zehn Tage.« 66
»Und gefällt es Ihnen?« »Aber ja. Der Stall ist gut geführt …« »Mr. Inskip würde sich freuen, das zu hören«, meinte sie trocken. Ich warf ihr einen Blick zu, doch sie sah lächelnd vor sich auf den Boden. Nach weiteren hundert Metern sagte sie: »Was haben Sie da für ein Pferd? Ich glaube, das kenne ich auch noch nicht.« »Es ist erst seit Mittwoch hier …« Ich erzählte ihr das Wenige, was ich über Sparking Plugs Herkunft, seine Fä higkeiten und Möglichkeiten wußte. Sie nickte. »Wäre schön für Sie, wenn er ein paar Ren nen gewinnen könnte. Wo Sie ihn doch betreuen.« »Ja«, sagte ich, erstaunt, daß sie so dachte. Wir näherten uns wieder dem Stall. »Entschuldigen Sie«, sagte sie freundlich, »aber ich weiß nicht, wie Sie heißen.« »Daniel Roke«, sagte ich – und wunderte mich, wieso es mir nach all den Leuten, die mich in den letzten Tagen danach gefragt hatten, nur bei ihr angebracht schien, mit dem vollen Namen zu antworten. »Danke.« Sie schwieg und sagte dann in einem ruhigen Ton, aus dem ich erfreut, aber auch belustigt das Bestre ben heraushörte, mich nicht in Verlegenheit zu bringen: »Lord October ist mein Vater. Ich bin Elinor Tarren.« Wir waren beim Hoftor angelangt. Ich ließ ihr den Vor tritt, was mir ein freundliches, wenn auch unpersönliches Lächeln eintrug, und sie führte ihr Pferd über den Hof zu seiner Box. Ein wirklich nettes Mädchen, dachte ich flüch tig, als ich mich daranmachte, Sparking Plug den Schweiß abzubürsten, ihm die Hufe zu reinigen, Mähne und 67
Schweif auszukämmen, Augen und Maul auszuschwam men, sein Stroh zu erneuern und ihm Wasser und Heu zu bringen, bevor ich das Pferd, das Patricia geritten hatte, ebenso versorgte. Patricia, dachte ich grinsend, war ganz und gar kein nettes Mädchen. Als ich zum Frühstück ins Haus ging, gab mir Mrs. Allnut einen Brief, der gerade für mich gekommen war. Der Umschlag, abgestempelt in London am Tag zu vor, enthielt ein Blatt Papier mit einem einzigen maschi negeschriebenen Satz: »Mr. Stanley wird am Sonntag um 15 Uhr bei den Victo riafällen sein.« Ich stopfte den Brief in meine Tasche und ließ mir mei nen Haferbrei schmecken. Es regnete stark, als ich am nächsten Nachmittag den Bach entlangspazierte. Ich war vor October an der kleinen Böschung und wartete auf ihn, während sich die Regen tropfen einen Weg in meinen Kragen suchten. Er kam wieder mit seinem Hund den Berg herunter; sein Wagen, sagte er, stehe oben an der wenig befahrenen Straße. »Wir unterhalten uns aber besser hier, wenn es Ihnen nicht zu naß ist«, fügte er hinzu, »sonst sieht uns vielleicht jemand im Auto hocken und wundert sich.« »Es ist mir nicht zu naß«, versicherte ich ihm lächelnd. »Gut … also, wie kommen Sie voran?« Ich sagte ihm, was ich von Becketts neuem Pferd hielt und von den neuen Möglichkeiten, die es mir bot. – Er nickte. »Roddy Beckett war im Krieg berühmt für die Geschwindigkeit und Präzision, mit der er Versorgungs güter nachschob. Wenn er das Sagen hatte, geriet nie mand an die falsche Munition oder an lauter linke Stie fel.« 68
»Einige Zweifel an meiner Ehrlichkeit habe ich schon mal geweckt«, sagte ich, »aber die kann ich diese Woche in Bristol und nächstes Wochenende in Burndale noch verstärken. Da nehme ich am Sonntag an einem Darttur nier teil.« »In Burndale gab es schon öfter Dopingfälle«, meinte er nachdenklich. »Vielleicht beißt einer an.« »Wäre nicht schlecht …« »Konnten Sie mit den Rennberichten was anfangen?« fragte er. »Haben Sie über die elf Pferde noch mal nach gedacht?« »Ich habe an kaum etwas anderes gedacht«, sagte ich, »und ich halte es für möglich, auch wenn die Chance viel leicht nicht groß ist, daß Sie beim nächsten Pferd, das an die Reihe kommt, einen Dopingtest vornehmen können, bevor es an den Start geht. Immer vorausgesetzt, es gibt ein nächstes Pferd … Aber ich wüßte nicht, was dagegen spricht, da den Verantwortlichen noch nie etwas passiert ist.« Er sah mich gespannt an, während der Regen von der heruntergeklappten Krempe seines Hutes troff. »Sie haben eine Spur?« »Nicht direkt. Es ist nur ein statistischer Anhalt. Aber ich könnte mir denken, daß das nächste Pferd ein Ver kaufsrennen entweder in Kelso, Sedgefield, Ludlow, Staf ford oder Haydock gewinnt.« Ich erläuterte ihm die Grün de für meine Annahme und fuhr fort: »Es müßte doch möglich sein, vor allen Verkaufsrennen auf diesen Bahnen generell Speichelproben zu nehmen – bei einer zweitägi gen Veranstaltung gibt’s ja doch nur immer eins –, und man kann die Proben ja wegwerfen und die Untersu chungskosten sparen, wenn, ehm … kein Dopingverdacht aufkommt.« 69
»Ziemlicher Aufwand«, meinte er langsam, »aber wenn es was bringt, läßt sich das auch machen.« »Vielleicht stoßen die Chemiker auf etwas Brauchba res.« »Ja. Aber auch sonst sind wir schon ein ganzes Stück weiter, wenn wir ein gedoptes Pferd abpassen können, statt nur hilflos dazustehen, wenn wieder eins aufgetaucht ist. Menschenskind«, er schüttelte gereizt den Kopf, »daß wir da nicht längst dran gedacht haben. Jetzt, wo Sie es sagen, liegt es auf der Hand, das so anzugehen.« »Bis jetzt hat ja auch noch keiner wirklich alle verfügba ren Informationen vor sich gehabt und bewußt nach einem gemeinsamen Faktor gesucht. Das Problem ist quasi im mer von der anderen Seite angegangen worden, indem man bei jedem neuen Fall die Frage stellte, wer hatte Zu gang zu dem Pferd, wer hat’s gefüttert, wer gesattelt und so weiter.« Er nickte düster. »Und noch etwas«, sagte ich. »Die Chemiker meinten doch, da keine Droge nachzuweisen sei, sollten Sie nach mechanischen Einwirkungen suchen … Wissen Sie, ob die Pferde äußerlich genauso gründlich untersucht worden sind wie die Jockeys und ihre Ausrüstung? Mir kam neu lich abend der Gedanke, daß ich mit einem Wurfpfeil ohne weiteres ein Pferd in die Flanke treffen könnte, und genau so könnte jeder gute Schütze da ein Gummigeschoß lan den. So etwas würde wirken wie ein Hornissenstich … das macht jedem Pferd Beine.« »Soweit ich weiß, ist bei keinem der Pferde etwas Derar tiges gefunden worden, aber ich frage noch mal. Übrigens habe ich im Labor nachgehört, ob Pferde Drogen in harm lose Substanzen aufspalten können, und es hieß, das sei unmöglich.« 70
»Also wieder eine Unklarheit beseitigt.« »Ja.« Er pfiff seinem Hund, der auf der anderen Seite der Böschung herumstöberte. »Nächstes Wochenende sind Sie ja in Burndale, aber danach sollten wir uns sonntags nachmittags um diese Zeit hier immer treffen und bespre chen, wie es vorangeht. Wenn ich samstags nicht zur Morgenarbeit komme, wissen Sie, daß ich nicht da bin. Übrigens war Ihr reiterisches Können gestern auf Sparking Plug unübersehbar. Dabei hatten wir doch ausgemacht, daß Sie sich etwas zurückhalten. Und obendrein«, setzte er mit einem kleinen Lächeln hinzu, »hält Inskip Sie für ei nen flinken und gewissenhaften Arbeiter.« »Verdammt … wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich noch ein gutes Zeugnis.« »Ein sehr gutes«, ahmte er meinen Akzent nach. »Wie gefällt Ihnen denn das Pferdepflegerdasein?« »Manchmal hat es was … Ihre Töchter sind sehr hübsch.« Er lächelte. »Ja – danke übrigens, daß Sie Elinor geholfen haben. Sie sagte mir, Sie seien sehr aufmerksam gewesen.« »Nicht der Rede wert.« »Patty macht mir ganz schön zu schaffen«, meinte er nachdenklich. »Ich wünschte, sie könnte sich mal ent scheiden, was sie mit ihrem Leben anfangen will. So wie in London geht das mit ihr nicht weiter – endlose Partys, ausgehen bis in die Puppen … na ja, das ist nicht Ihre Sor ge, Mr. Roke.« Wir gaben uns wie üblich die Hand, und er stapfte den Berg hinauf. Es war immer noch trist und naß, als ich den Rückweg antrat. Sparking Plug reiste wie geplant die vierhundert Kilome ter hinunter nach Bristol, und ich begleitete ihn. Die 71
Rennbahn lag außerhalb der Stadt, und der Transportfahrer erzählte mir, als wir unterwegs zum Essen anhielten, daß die Stallungen dort, nachdem ein Feuer sie verwüstet hat te, komplett neu gebaut worden seien. Die Boxen waren wirklich sauber und bequem, doch was die Pfleger in Begeisterung versetzte, waren die neuen Unterkünfte für sie selbst. Auch ich staunte darüber. Im wesentlichen bestand die Herberge aus einem Erholungs raum und zwei langen Schlafsälen mit je dreißig Betten, alle frisch bezogen unter flauschigen blauen Wolldecken. Jedes Bett hatte eine eigene Wandleuchte, die Räume hat ten Fußbodenheizung und waren mit Vinyl ausgelegt, im Waschraum gab es moderne Duschen, daneben einen extra Raum zum Trocknen nasser Kleidung. Das ganze Haus war warm und hell, die Farbenzusammenstellung offen sichtlich Facharbeit. »Gott, wir sind echt im Hilton«, meinte ein Spaßvogel, der, gerade zur Tür hereingekommen, neben mir stehen blieb und seine Leinentasche auf ein freies Bett warf. »Das hier ist noch gar nichts«, sagte ein langer, knochi ger Bursche in einem zu kleinen blauen Pulli, »wenn du durch den Flur gehst, kommst du in eine Riesenkantine mit ordentlichen Stühlen, Fernseher, Pingpongtisch und allem Pipapo.« Andere Stimmen fielen ein. »Das reicht an Newbury ran.« »Aber locker.« »Es schlägt Ascot.« Einige nickten. »In Ascot gibt’s doch nur Etagenbetten.« Die Herbergen in Newbury und Ascot galten offenbar als die komfortabelsten im Land. 72
»Man könnte meinen, die Bonzen hätten plötzlich ge schnallt, daß wir auch Menschen sind«, hetzte ein Fuchs gesicht mit streitlustiger Stimme. »Ein himmelweiter Unterschied zu den verwanzten Pen nen von früher«, nickte ein älterer kleiner Mann mit einem Gesicht wie ein verschrumpelter Apfel. »Aber in Amerika sollen die Jungs es überall so gut haben.« »Die wissen hier auch, daß ihnen die Dreckarbeit bald keiner mehr abnimmt, wenn sie uns nicht anständig be handeln«, sagte der Hetzer. »Die Zeiten ändern sich.« »Wo ich herkomme, wird man ganz gut behandelt«, sag te ich, warf meine Sachen auf das freie Bett neben seinem und gab mich so locker, natürlich, unauffällig, wie es eben ging. Ich war hier viel befangener als in Slaw, wo ich we nigstens meine Arbeit in- und auswendig kannte und zu den anderen Pflegern vorsichtig eine normale Beziehung hatte aufbauen können. Hier blieben mir nur zwei Abende, und wenn ich vorankommen wollte, mußte ich das Ge spräch in die gewünschte Richtung lenken. Die Rennberichte hatte ich inzwischen gut im Kopf, und seit vierzehn Tagen spitzte ich die Ohren, um mir den Rennsportjargon anzueignen; dennoch zweifelte ich, ob ich alles, was ich in Bristol zu hören bekam, verstehen würde, und hatte Angst, ich selbst könnte mich auf die unmöglichste und unpflegerhafteste Art und Weise ver plappern. »Wo kommst’n her?« fragte der Spaßvogel, indem er mich beiläufig musterte. »Von Lord October«, sagte ich. »Ach, von Inskip, meinst du? Da bist du aber weit gefah ren …« »Inskip mag angehen«, räumte der Hetzer widerwillig ein, »aber für manche sind wir doch immer noch die Fuß 73
abtreter; die glauben nicht, daß wir genauso Anrecht auf ein bißchen Sonne haben wie jeder andere auch.« »Ja«, sagte der Knochige ernst. »Ich hab von einem Stall gehört, wo die Pfleger kaum was zu beißen kriegen und geknüppelt werden, wenn sie nicht hart genug rangehen, und auf jeden kommen vier bis fünf Pferde, weil’s da kei ner lange aushält.« »Wo ist denn das?« fragte ich träge. »Damit ich da einen Bogen drum machen kann, wenn ich bei Inskip mal aufhö re.« »Bei dir in der Gegend«, antwortete er unbestimmt. »Irgendwo.« »Nein, weiter nördlich, in Durham …«, meldete sich ein anderer, ein schlanker, hübscher Kerl, dem noch der erste Bartflaum sproß. »Du kennst das also auch?« Er nickte. »Spielt aber eigentlich keine Rolle, weil nur ein Verrückter dahin geht. Ein Ausbeutungsbetrieb ist das, Zustände wie vor hundert Jahren. Die kriegen auch nur Gesindel, das sonst keiner haben will.« »Das muß an die Öffentlichkeit«, schimpfte der Hetzer. »Wem gehört denn der Laden?« »Einem gewissen Humber«, sagte der Hübsche, »Keine Ahnung vom Trainieren und jedes Schaltjahr ein Sieg … Auf der Rennbahn sieht man manchmal seinen Reisefut termeister, wie er Leute zu ködern sucht und dann prompt eine Abfuhr kriegt.« »Da muß man doch was tun«, sagte der Hetzer automa tisch, und ich nahm an, das war seine übliche Leier: Da muß man doch was tun – nur bitte nicht er selbst. Alle zogen in die Kantine, wo es reichlich, gut und ko stenlos zu essen gab. Auf den anschließenden Gang in die 74
Kneipe wurde verzichtet, als sich herausstellte, daß die nächste gut drei Kilometer entfernt war und kein Bus da hin fuhr, daß aber in der schönen, warmen Kantine einige Kasten Bier hinter dem Tresen standen. Es war nicht weiter schwer, die Jungs auf das Thema Doping zu bringen, und dann wollten sie gar nicht mehr damit aufhören. Keiner von den über zwanzig Anwesen den hatte jemals einem Pferd »etwas gegeben«, zumindest gab es keiner zu, aber alle kannten jemanden, der einen kannte, welcher. Ich trank mein Bier, hörte zu und machte ein ungespielt interessiertes Gesicht. »… hat ihn mit einem Spritzer Säure lahmgelegt, als er aus dem Führring kam …« »… ihm eine solche Ladung Langsam-Macher verpaßt, daß er am Morgen in der Box eingegangen ist …« »… sieben Gummiringe aus dem Mist gezogen …« »… derart vollgepumpt, daß er am ersten Sprung durch gelaufen ist; er war stockblind …« »… eine halbe Stunde vor dem Rennen einen großen Ei mer Wasser, das ihm dann im Bauch herumgeschwappt ist.« »… ihm einen halben Liter Whisky eingetrichtert.« »… früher hat man Pferden, die nicht richtig atmen konnten, am Renntag eine Kanüle in die Luftröhre einge setzt, bis sich rausstellte, daß nicht die verbesserte Sauer stoffzufuhr sie zum Sieg geführt hat, sondern das Kokain, mit dem sie vor der Operation vollgeknallt wurden.« »Der hatte einen hohlen Apfel in der Hand, gefüllt mit Schlaftabletten …« »… wirft er die Spritze direkt einem Steward vor die Füße.« »Gibt es denn eigentlich etwas, das noch keiner probiert hat?« fragte ich. 75
»Schwarze Magie höchstens«, meinte der Hübsche. Alle lachten. »Es könnte aber mal einer einen Dreh finden«, warf ich ein, »den keiner durchschaut und den man endlos durch ziehen kann, ohne aufzufliegen.« »Himmel«, rief der Spaßvogel, »beschrei das nicht. Der arme alte Rennsport, man wüßte ja gar nicht mehr, woran man ist. Die Buchmacher würden ausrasten.« Er grinste breit. Der kleine Ältere war weniger amüsiert. »Das gibt’s doch schon lange«, sagte er und nickte ernst. »Manche Trainer haben das zu einer hohen Kunst ent wickelt, aber wirklich. Die dopen ihre Pferde regelmäßig seit Jahr und Tag.« Aber die anderen Pfleger widersprachen. Die Dopingkon trollen hätten mit der alten Garde der falschspielenden Trai ner aufgeräumt; die hätten ihre Lizenz verloren und arbeite ten nicht mehr im Rennsport. Das alte Reglement sei streng gewesen, gaben sie zu, denn danach wurde ein Trainer schon wegen eines einzigen gedopten Pferdes automatisch von allen Rennen ausgeschlossen. Nicht immer aber steckte der Trainer dahinter, schon gar nicht, wenn das Pferd lei stungsmindernd gedopt war. Welcher Trainer, fragten sie, würde ein Pferd verlieren lassen, das er monatelang auf Sieg trainiert hatte? Aber seit der neuen Regelung wurde ihrer Meinung nach wahrscheinlich mehr gedopt als früher. »Ist doch klar, jetzt wissen die Leute, daß sie dem Trai ner nicht gleich das Leben ruinieren, sie versauen ihm höchstens ein Rennen. Gibt weniger Gewissensbisse. Viel leicht wären auch mehr Pfleger bereit, für einen Fünfziger ein paar Aspirin ins Futter zu mischen, wenn sie wüßten, daß der Stall dann nicht zugemacht wird und ihr Job flö tengeht.« 76
Sie unterhielten sich weiter, nachdenklich und derb, doch es war klar, daß sie über die elf Pferde, die mich be schäftigten, nichts wußten. Keiner von ihnen arbeitete für die betroffenen Ställe, und offensichtlich kannten sie die Berichte und Mutmaßungen aus der Presse nicht oder hat ten sie vereinzelt über einen Zeitraum von anderthalb Jah ren gelesen, anstatt wie ich alles auf einmal, in der Zu sammenschau. Die Diskussion verebbte, Gähnen machte sich breit, und als wir schwatzend schlafen gingen, seufzte ich erleichtert, weil ich den Abend hinter mich gebracht hatte, ohne groß aufzufallen. Da ich genau darauf achtete, was die anderen Pfleger ta ten, zog ich auch am nächsten Tag keine neugierigen Blik ke auf mich. Am frühen Nachmittag holte ich Sparking Plug aus dem Stall, führte ihn im Führring herum, hielt ihm den Kopf, während er gesattelt wurde, führte ihn wie der herum, hielt ihn, als der Jockey aufsaß, führte ihn auf die Bahn und schaute dann von der Tribüne fürs Stallper sonal aus dem Rennen zu. Sparking Plug gewann. Ich freute mich. Ich nahm ihn am Ausgang vom Geläuf wieder in Empfang und führte ihn in den großen Absattelring für den Sieger. Colonel Beckett erwartete uns dort, auf einen Stock ge stützt. Er klapste das Pferd, gratulierte dem Jockey, der seinen Sattel abnahm, um zur Waage zu gehen, und mein te ironisch zu mir: »Damit wäre wenigstens etwas vom Kaufpreis wieder reingeholt.« »Es ist ein gutes Pferd und für den Zweck goldrichtig.« »Schön. Brauchen Sie sonst noch was?« »Ja. Noch viel mehr Einzelheiten über die elf Pferde … wo sie gezogen wurden, was sie gefressen haben, ob sie mal krank waren, wo ihre Transportfahrer Rast gemacht 77
haben, woher ihr Zaumzeug stammt, ob sie auf der Bahn beschlagen wurden und von welchem Schmied … all diese Sachen.« »Ist das Ihr Ernst?« »Ja.« »Aber sie hatten doch nichts gemeinsam, außer daß sie gedopt waren.« »Wie ich das sehe, muß die Frage heißen, was hatten sie gemeinsam, damit sie gedopt werden konnten?« Ich strei chelte Sparking Plugs Nase. Er war nervös und aufgeregt nach seinem Sieg. Colonel Beckett sah mich nüchtern an. »Mr. Roke, Sie werden Ihre Informationen bekommen.« Ich lächelte. »Vielen Dank. Und auf Sparking Plug passe ich jetzt auf. Der holt Ihnen den Kaufpreis leicht wieder raus.« »Pferde wegführen«, rief ein Funktionär; und nach ei nem müden Winken von Colonel Beckett brachte ich Sparking Plug zurück zu den Stallungen und führte ihn, bis er sich beruhigt hatte. An diesem Abend, dem Abend zwischen den beiden Renntagen, waren viel mehr Pfleger in der Herberge, und ich brachte das Gespräch wieder aufs Doping, versuchte außerdem aber auch den Eindruck zu erwecken, ich sei nicht unbedingt der Meinung, ablehnen zu müssen, wenn mich jemand bitten würde, ihm für fünfzig Pfund zu zei gen, in welcher Box ein bestimmtes Pferd stand. Dafür erntete ich ziemlich viele mißbilligende Blicke, aber auch einen sehr aufmerksamen von einem kleinwüchsigen Pfleger, der regelmäßig die zu groß geratene Nase hoch zog. Am nächsten Morgen im Waschraum benutzte er das Becken neben meinem und zischelte: »War das dein Ernst 78
gestern abend, fünfzig auf die Hand, und du zeigst auf eine Box?« Ich zuckte die Achseln. »Warum denn nicht?« Er sah sich verstohlen um. Es war zum Lachen. »Ich könnte dich vielleicht mit einem zusammenbringen, den das interessiert – wenn wir halbe-halbe machen.« »Halbe-halbe?« fuhr ich ihn an. »Wofür hältst du mich?« »Na gut … ich will fünf«, gab er nach und zog die Nase hoch. »Ich weiß nicht …« »Ein reelles Angebot«, murmelte er. »Man darf doch nicht jedem zeigen, wo ein Pferd steht«, sagte ich tugendhaft und trocknete mein Gesicht ab. Er starrte mich verblüfft an. »Unter sechzig geht’s auf keinen Fall, wenn du fünf ab haben willst.« Er wußte nicht, ob er lachen oder fluchen sollte. Ich ließ ihn damit allein und machte mich auf den Weg, um Spar king Plug heim nach Yorkshire zu bringen.
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m Freitag abend war ich wieder in Slaw in der Knei pe und glotzte den zurückglotzenden Soupy an. Am Sonntag hatte das halbe Personal ab Mittag frei, um zu dem Fußballspiel und dem Dartturnier nach Burndale zu fahren, und da wir beides gewannen, wurde anschlie ßend kräftig gefeiert und Bier getrunken. Die Jungs aus Burndale meinten lediglich, daß ich neu sei und Gift für ihre Chancen in der Dartliga, schenkten mir sonst aber kaum Beachtung. Bei ihnen gab es keinen Soupy, auch wenn October von Dopingfällen in dem Ort gesprochen hatte, und kein Mensch interessierte sich dafür, ob ich ein krummer Hund war. In der Woche darauf versorgte ich meine drei Pferde, las die Rennberichte, strengte meinen Kopf an und kam zu nichts. Paddy blieb kühl und ebenso Wally, dem Paddy of fensichtlich von meinem Draht zu Soupy erzählt hatte. Wal ly zeigte sein Mißfallen, indem er mir zusätzliche Nachmit tagsarbeit aufbrummte, so daß ich jeden Tag in den eigent lich zur Entspannung gedachten freien Stunden zwischen Mittagessen und der Abendstallzeit um vier den Hof fegen, Sattelzeug putzen, Hafer quetschen, Stroh häckseln, Inskips Wagen waschen oder die Fenster der Boxen reinigen muß te. Ich erledigte das alles klaglos und dachte bei mir, daß ich mich bei elf Stunden täglich mit Recht über zuviel Ar beit beschweren konnte, wenn ich einmal einen Grund brauchte, Krach zu schlagen und abzuhauen. 80
Freitag mittag reiste ich jedoch wieder mit Sparking Plug, diesmal nach Cheltenham, und es war nicht nur der Transportfahrer dabei, sondern auch Grits mit seinem Pferd und der Reisefuttermeister. In den Rennbahnstallungen erfuhr ich, daß an diesem Abend ein Essen zu Ehren des Champion-Jockeys der ver gangenen Saison gegeben wurde, und die Pfleger, die über Nacht dort blieben, wollten zur Feier des Tages auf ein Tanzfest gehen. Grits und ich fuhren also, nachdem wir unsere Pferde versorgt, Abendbrot gegessen und uns fein gemacht hatten, mit dem Bus in die Stadt und bezahlten unseren Eintritt zu dem Tanz. Der Saal war groß, die Band war laut und heiß, aber noch tanzten nicht viele Leute. Die Mädels standen in kleinen Gruppen da und sahen zu den größeren Gruppen junger Männer hinüber, und gerade noch rechtzeitig unterdrückte ich die Bemerkung, wie selt sam ich das fand; Grits dachte sicher, ich hielte es für normal. Ich ging mit ihm in die Bar, wo Pfleger von der Rennbahn bereits mit den Einheimischen ins Gespräch kamen, und gab ihm ein Bier aus, obwohl es mir leid tat, daß er mit ansehen würde, wie ich den Abend zu nutzen gedachte. Der arme Grits war hin- und hergerissen zwi schen Treue zu Paddy und augenscheinlicher Sympathie für mich, und ich würde ihn schwer enttäuschen. Am liebsten hätte ich ihm alles erklärt. Ich war versucht, den Abend harmlos zu gestalten. Aber wie konnte ich es rechtfertigen, eine einmalige Gelegenheit verstreichen zu lassen, nur um mir vorübergehend die Achtung eines unbedarften Pferde pflegers zu erhalten, so sympathisch er mir auch sein moch te? Ich mußte mir zehntausend Pfund verdienen. »Grits, geh und such dir ein Mädchen zum Tanzen.« Er lächelte zaghaft. »Ich kenne die doch gar nicht.« »Na und? Mit einem netten Kerl wie dir tanzt jede gern. Du brauchst nur eine aufzufordern.« 81
»Nein. Ich bleib lieber bei dir.«
»Also gut. Dann trink noch was.«
»Wenn ich leer habe.«
Ich drehte mich zur Theke um, an der wir lehnten, und
knallte mein kaum angerührtes Glas auf den Tresen. »Der Seich hängt mir zum Hals raus. He, Bedienung, einen doppelten Whisky.« »Dan!« Grits’ Verwirrung zeigte mir, daß ich den richti gen Ton getroffen hatte. Der Barmann goß den Whisky ein und nahm mein Geld. »Bleiben Sie gleich da«, sagte ich laut zu ihm. »Dasselbe noch mal.« Ich spürte eher, als ich sah, daß die Pfleger weiter oben am Tresen sich nach mir umdrehten, also kippte ich den ersten Whisky mit zwei Schlucken hinunter und wischte mir mit dem Handrücken den Mund. Dann schob ich das leere Glas dem Barmann hin und zahlte für das zweite. »Dan«, Grits zupfte mich am Ärmel, »mußt du so range hen?« »Ja«, sagte ich grimmig. »Such du dir ein Mädchen zum Tanzen.« Aber er ging nicht. Er sah zu, wie ich den zweiten Whis ky trank und noch einen bestellte. Kummer stand in seinen Augen. Die anderen Pfleger rückten näher heran. »He, Mann, du schluckst ganz schön«, meinte einer von ihnen, ein Langer in meinem Alter, mit einem knalligen blauen Anzug. »Kümmre dich um deinen Kram«, sagte ich grob. »Bist du nicht bei Inskip?« fragte er. 82
»Doch … Inskip … Prost Mahlzeit.« Ich griff zum drit ten Glas. Whisky vertrug ich eine Menge, außerdem hatte ich besonders gut gegessen. Ich würde mit Sicherheit noch klar im Kopf sein, wenn man mich längst für betrunken hielt; aber ich mußte meine Schau abziehen, solange das Publikum selbst noch nüchtern genug war, um sich nach her genau daran zu erinnern. »Elf lumpige Pfund«, tönte ich, »mehr kriegst du nicht dafür, daß du dich die ganze Woche krummlegst.« Einigen sprach ich aus der Seele, aber der im blauen An zug sagte: »Warum gibst du es dann für Whisky aus?« »Wofür denn sonst? Schmeckt gut, dröhnt gut. Irgendwas braucht man doch bei der Schufterei.« Blauer Anzug meinte zu Grits: »Ist ziemlich schlecht drauf, dein Partner.« »Tja«, sagte Grits unruhig, »diese Woche hat er sich aber auch wirklich ranhalten müssen …« »Du kümmerst dich um Pferde, für die sie Tausende hinblättern, und du weißt, wie du sie pflegst und reitest und versorgst, ist mitentscheidend dafür, ob sie siegen oder nicht, aber du kriegst keinen anständigen Lohn dafür …« Ich trank den dritten Whisky aus, machte hick und sagte: »Verdammt ungerecht.« Die Bar füllte sich, und ihrem Äußeren und ihren hin und her gehenden Begrüßungen nach hatte wenigstens die Hälfte der Gäste etwas mit dem Rennsport zu tun. Buch machergehilfen, Turfspione, Pfleger – die Stadt war voll von ihnen, und für sie wurde der Tanz veranstaltet. Die Alkoholnachfrage stieg, und ich mußte mich mit beiden Händen bemerkbar machen, um meinen vierten doppelten Whisky innerhalb einer Viertelstunde zu bekommen. 83
Ein wenig schwankend, das Glas in der Hand, wandte ich mich dem wachsenden Kreis meiner Zuhörer zu. »Ich wollte, ich hätte«, begann ich. Was zum Teufel wollte ich? »Ich wollte, ich hätte … ein Motorrad. Ich wollte, ich könnte meiner Mieze was bieten. Könnte Ur laub im Ausland machen … in einem feinen Hotel wohnen und die Lakaien scheuchen … Trinken möchte ich, soviel ich will, und eines Tages genug gespart haben für ein Haus. Und kann ich hoffen, daß daraus was wird? Denk ste! Wißt ihr, was ich heute morgen in meiner Lohntüte gefunden habe? Sieben Pfund und vier Pence …« Ich maulte und meckerte weiter, den ganzen Abend lang. Neue Zuhörer kamen, alte gingen, und ich zog meinen Auftritt durch, bis ich ziemlich sicher war, allen aus der Szene vermittelt zu haben, daß einer von Inskips Leuten nach Geld lechzte, je mehr, je lieber. Aber nicht einmal Grits, der mit unglücklicher Miene die ganze Zeit dabei stand und völlig nüchtern blieb, schien aufzufallen, daß ich mich immer betrunkener gebärdete, obwohl ich von Glas zu Glas langsamer trank. Nachdem ich schließlich kunstvoll gegen einen Pfeiler getaumelt war und mich daran wieder hochgezogen hatte, rief Grits mir ins Ohr: »Dan, ich gehe jetzt, und du kommst am besten mit, sonst verpaßt du den letzten Bus, und in deinem Zustand kannst du schlecht zu Fuß gehen.« »Hm?« Ich schielte ihn an. Blauer Anzug, direkt hinter ihm, war auch wieder zur Stelle. »Soll ich dir helfen, ihn rauszuschaffen?« fragte er Grits. Grits sah mich angewidert an, und ich schmiß mich ge gen ihn und umschlang seine Schultern: Auf die Hilfe, die von Blauem Anzug zu erwarten war, verzichtete ich lieber. »Grits, alter Freund, wenn du sagst, wir gehen, dann ge hen wir.« 84
Gefolgt von Blauem Anzug, strebten wir zur Tür, wobei ich so stark schwankte, daß Grits sich gegen mich stem men mußte. Inzwischen hatten aber auch viele andere Schwierigkeiten, gerade zu gehen, und die Abordnung an der Bushaltestelle schaukelte sanft wie Meereswellen. Ich grinste im Schutz der Dunkelheit, blickte zum Himmel und dachte, wenn die Saat, die ich heute ausgestreut habe, keine Früchte trägt, kann es im britischen Rennsport nicht viel Doping geben. Ich war vielleicht nicht betrunken gewesen, wachte aber am nächsten Morgen dennoch mit fürchterlichen Kopf schmerzen auf; alles für einen guten Zweck, dachte ich und gab mir Mühe, den Schmiedehammer hinter meinen Augen zu ignorieren. Sparking Plug lief sein Rennen und verlor mit einer hal ben Länge. Ich nutzte die Gelegenheit, um auf der Tribüne fürs Stallpersonal zu verkünden, daß damit auch der Rest meines Wochenlohns hinüber sei. Colonel Beckett klopfte im vollen Absattelring den Hals seines Pferdes und sagte beiläufig zu mir: »Klappt’s eben nächstes Mal, hm? Was Sie angefordert haben, geht Ihnen mit der Post zu.« Er drehte sich um und redete wieder mit Inskip und seinem Jockey über das Rennen. Am Abend fuhren wir alle zurück nach Yorkshire; Grits und ich schliefen die meiste Zeit auf den Bänken im Transporter. Als er sich hinlegte, meinte er vorwurfsvoll: »Ich wußte nicht, daß du so ungern bei Inskip bist … und betrunken kannte ich dich auch noch nicht.« »Es ist nicht die Arbeit, Grits, nur der Lohn.« Ich mußte meine Rolle beibehalten. »Aber andere haben Frau und Kinder zu ernähren und kriegen auch nicht mehr.« Er sagte das mißbilligend, und 85
mein Verhalten mußte ihn wirklich verstört haben, denn er redete nur noch wenig mit mir. Am nächsten Nachmittag hatte ich October nichts Neues zu berichten, und unser Treffen am Bach war kurz. Er sag te mir jedoch, daß die Informationen, die Beckett abge schickt hatte, von elf eifrigen jungen Offiziersanwärtern gesammelt worden waren, die auf diesem Weg ihre Tat kraft unter Beweis stellen und im Wettstreit miteinander herausfinden sollten, wer den lückenlosesten Bericht über das ihm zugeteilte Pferd liefern konnte. Bestimmte Fragen – die von mir angeregten – waren dabei vorgegeben. Alles andere war ihrer Phantasie und ihrer Spürnase überlassen worden, und Beckett hatte October erzählt, das habe sich voll ausgezahlt. Ich ging den Berg wieder hinunter, mehr denn je beein druckt von der Stabsarbeit des Colonels, und doch setzte mich die Sendung, die am nächsten Tag eintraf, in Erstau nen. Wally fand wieder eine extra Nachmittagsbeschäfti gung für mich, so daß ich erst nach dem Abendessen, als die Hälfte der Leute nach Slaw gefahren war, das Päck chen in den Schlafsaal hinaufbringen und öffnen konnte. Es enthielt einen Schnellhefter mit 237 paginierten Schreibmaschinenseiten, wie ein Buchmanuskript, und so etwas innerhalb einer Woche auf die Beine zu stellen, war nicht nur für die Offiziersanwärter, sondern auch für die Schreibkräfte eine Leistung. Die Berichte bestanden weit gehend aus Stichwörtern und Notizen, auf griffige, aber platzschluckende Formulierungen hatte niemand Wert ge legt – es war kompakte Information von A bis Z. Mrs. Almuts Stimme tönte durch das Treppenhaus: »Dan, würden Sie mir bitte einen Eimer Kohlen holen?« Ich versteckte das Manuskript zwischen den Laken in meinem Bett und ging in die gemütliche Gemeinschafts 86
küche hinunter, in der wir aßen und den größten Teil unse rer Freizeit verbrachten. Was man dort las, bekamen alle mit, und überhaupt war mein Leben praktisch vom Auf stehen bis zum Schlafengehen überwacht; für eine unge störte Beschäftigung mit dem Manuskript blieb nur das Bad. An diesem Abend wartete ich also, bis alle schliefen, dann ging ich über den Flur und sperrte mich ein, bereit, mich auf eine Magenverstimmung herauszureden, falls jemand neugierig wurde. Es ging sehr langsam; nach vier Stunden hatte ich erst die Hälfte gelesen. Steif stand ich auf, reckte mich, gähnte und ging in den Schlafsaal zurück. Niemand muckste sich. In der folgenden Nacht, als ich darauf wartete, daß die anderen einschliefen, damit ich wieder an die Arbeit gehen konnte, hörte ich, wie sie sich über die Kneipe in Slaw unterhielten, wo vier von ihnen den Abend verbracht hatten. »Wer war denn der Typ bei Soupy?« fragte Grits. »Den hab ich noch nie gesehen.« »Gestern abend war der auch da«, sagte ein anderer. »Komischer Vogel.« »Was war denn an dem komisch?« fragte ein Junge, der daheim geblieben war und ferngesehen hatte, während ich in einem Sessel etwas Schlaf nachholte. »Weiß nicht«, sagte Grits. »Der hat sich dauernd umge sehen.« »Als hätte er jemand gesucht«, warf ein anderer ein. Paddy sagte mit fester Stimme rechts von mir: »Haltet euch von dem mal schön fern, und auch von Soupy. Ich sag’s euch, solche Leute taugen nichts.« »Ja, aber der mit dem scharfen goldenen Schlips hat uns doch eine Runde spendiert. Da kann er doch so verkehrt nicht sein …« 87
Paddy seufzte über dieses Ausmaß an Naivität. »Wärst du Eva im Paradies gewesen, du hättest den Apfel gleich verdrückt, auch ohne Schlange.« »Ach, na ja«, gähnte Grits. »Morgen kreuzt der wahr scheinlich nicht mehr auf. Die Zeit wird knapp oder so, hat er zu Soupy gesagt.« Sie wurden immer leiser und schliefen ein, und ich lag wach im Dunkeln und dachte, ich könnte gerade etwas wirklich Interessantes gehört haben. Für den nächsten A bend war jedenfalls ein Kneipenbesuch angezeigt. Bevor mir endgültig die Augen zufielen, gab ich mir ei nen Ruck, stieg aus dem warmen Bett, zog mich ins Bad zurück und las noch einmal vier Stunden lang, bis ich das Manuskript durchhatte. Ich saß auf dem Boden, den Rük ken an die Wand gelehnt, und starrte ohne zu sehen auf die Badezimmereinrichtung. Es gab nicht einen einzigen Fak tor, der übereinstimmend in den mikroskopisch genau do kumentierten Lebensläufen aller elf Pferde auftrat. Keinen gemeinsamen Nenner. Dabei kam es schon vor, daß bei vier oder fünf Pferden das eine oder andere übereinstimm te – etwa die Marke der von ihren Jockeys verwendeten Sättel, das Futterwürfelfabrikat oder der Ort, wo sie zur Versteigerung gekommen waren –, aber meine Hoffnun gen auf einen greifbaren Hinweis in dieser Datenfülle hat ten sich in Luft aufgelöst. Fröstelnd, steif und deprimiert kroch ich wieder ins Bett. Am nächsten Abend um acht ging ich allein nach Slaw, da alle anderen abgebrannt waren und sich sowieso lieber Z Cars im Fernsehen anschauen wollten. »Ich denke, du hast dein ganzes Geld in Cheltenham auf Sparks verwettet«, bemerkte Grits. »So zwei Shilling hab ich noch«, sagte ich und klimperte mit ein paar Münzen. »Für ein Bier reicht’s.« 88
Die Kneipe war wie so oft am Mittwoch leer. Von Soupy oder seinem geheimnisvollen Freund war nichts zu sehen, und nachdem ich ein Bier bestellt hatte, vertrieb ich mir die Zeit, indem ich mehrere Runden von eins bis zwanzig auf der Dartscheibe warf und dasselbe in Trebles versuch te. Schließlich zog ich die Pfeile aus der Scheibe, sah auf die Uhr und sagte mir, ich sei umsonst hergekommen – da erschien, nicht von draußen, sondern aus der Bar nebenan, ein Mann am Eingang. Er hatte ein Glas mit einer leicht sprudelnden, bernsteinfarbenen Flüssigkeit und eine schlanke Zigarre in der Linken, während er mit der Rech ten die Tür aufhielt. Er musterte mich und sagte: »Sind Sie Pferdepfleger?« »Ja.« »Bei Granger oder bei Inskip?« »Inskip.« »Hmm.« Er kam herein und ließ die Tür hinter sich zu fallen. »Sie können sich zehn Shilling verdienen, wenn Sie morgen abend einen Ihrer Kollegen mit hierherbringen … und es gibt Freibier für Sie beide.« Ich sah ihn interessiert an. »Wer soll’s denn sein?« frag te ich. »Ein bestimmter? Am Freitag kommen viele her.« »Also, morgen wär’s mir lieber. Je früher, desto besser, sag ich immer. Und wen Sie mitbringen, ehm … sagen Sie mir doch mal ein paar Namen, dann picke ich einen raus, hm?« Schwachsinn, dachte ich, denn es kam mir vor, als woll te er bloß nicht direkt, nicht ausdrücklich nach mir fragen. »Na gut. Paddy, Grits, Wally, Steve, Ron …« Ich hielt inne. »Weiter«, sagte er. »Reg, Norman, Dave, Jeff, Dan, Mike …« 89
Seine Augen blitzten auf. »Dan«, sagte er. »Der Name läßt sich hören. Bringen Sie Dan mit.« »Der bin ich selber«, sagte ich. Einen Moment lang furchte sich die Stirn unter der Halbglatze, und seine Augen verengten sich vor Unmut. »Lassen Sie die Spielchen«, sagte er scharf. »Sie haben damit angefangen«, erwiderte ich sanft. Er setzte sich auf eine Bank und stellte behutsam sein Glas ab. »Warum sind Sie heute abend allein hergekommen?« fragte er. »Ich hatte Durst.« Eine kurze Stille trat ein, während er sich einen Schlachtplan zurechtlegte. Er war von gedrungener Ge stalt, sein dunkler Anzug eine Nummer zu klein, unter dem offenen Jackett trug er ein cremefarbenes Hemd mit Monogramm und eine goldseidene Krawatte. Seine Finger waren kurz und dick, dick auch sein aus dem Hemdkragen quellender Hals, und der Blick, mit dem er mich ansah, hatte nichts Freundliches. Schließlich sagte er: »Es gibt doch bei Ihnen ein Pferd namens Sparking Plug?« »Ja.« »Und das startet am Montag in Leicester.« »Soviel ich weiß, ja.« »Wie schätzen Sie seine Chancen ein?« fragte er. »Wollen Sie einen Tip, Mister, oder was? Den können Sie haben. Sparking Plug wird von mir betreut, und keiner, der am Montag mitläuft, reicht an ihn heran.« »Sie glauben also, daß er siegt.« »Aber sicher.« 90
»Und Sie setzen auf ihn?«
»Natürlich.«
»Ihren halben Lohn? Vier Pfund oder so?«
»Kann sein.«
»Aber er wird als Favorit starten. Mit Sicherheit. Dann
gewinnen Sie bestenfalls soviel, wie Sie einsetzen – noch mal vier Pfund. Doll hört sich das nicht an, wenn man be denkt, daß Sie über mich auf … runde hundert Pfund kommen können.« »Quatsch«, tönte ich, aber mit einem schrägen Blick, der ihm sagte, daß ich mehr hören wollte. Seiner Sache sicher, beugte er sich vor. »Sie können nein sagen, wenn Sie wollen. Sie können nein sagen, und weg bin ich, und wir haben uns nie gesehen, aber wenn Sie schlau sind und mitspielen, kann ich Ihnen vielleicht etwas Gutes tun.« »Was müßte ich für den Hunderter machen?« fragte ich rundheraus. Er sah sich vorsichtig um und redete noch leiser. »Sie brauchen Sparking Plug am Sonntag abend nur etwas ins Futter zu tun. Weiter nichts. Das ist ein Klacks.« »Ein Klacks«, wiederholte ich; und das war es auch. »Machen Sie mit?« fragte er gespannt. »Ich weiß Ihren Namen nicht.« »Den brauchen Sie auch nicht.« Entschiedenes Kopf schütteln. »Sind Sie Buchmacher?« »Nein«, sagte er. »Und jetzt haben wir mal genug ge fragt. Machen Sie mit?« »Wenn Sie kein Buchmacher sind«, überlegte ich laut, »und Sie wollen es sich hundert Pfund kosten lassen, daß 91
ein bestimmter Favorit nicht gewinnt, dann wollen Sie vermutlich nicht nur absahnen, indem Sie auf die anderen Starter setzen, sondern indem Sie einigen Buchmachern flüstern, daß das Rennen manipuliert ist, und die werden Ihnen dafür so dankbar sein, daß Ihnen jeder mindestens einen Fünfziger zusteckt. Es gibt elftausend Buchmacher im Land. Eine ganze Menge. Aber Sie gehen sicher immer wieder zu den gleichen. Wo Sie immer wieder gern gese hen sind.« Sein Gesicht war ein solches Bild der Bestürzung und Ungläubigkeit, daß ich wußte, ich hatte ins Schwarze ge troffen. »Woher haben Sie das …?« fragte er schwach. »Ich bin doch nicht von gestern«, sagte ich mit einem boshaften Lächeln. »Regen Sie sich ab. Niemand hat mir was erzählt.« Ich schwieg. »Sparking Plug bekommt sei nen Futterzusatz, aber ich will mehr. Zweihundert.« »Nein. Dann lassen wir’s.« Er wischte sich die Stirn. »In Ordnung.« Ich zuckte die Achseln. »Also gut, hundertfünfzig«, sagte er widerstrebend. »Hundertfünfzig«, willigte ich ein. »Im voraus.« »Eine Hälfte vorher, die andere danach«, sagte er auto matisch. Es war keinesfalls das erste Mal, daß er einen derartigen Handel abschloß. Ich erklärte mich einverstanden. Er sagte, wenn ich Samstag abend in die Kneipe käme, würde ich ein Päck chen für Sparking Plug und fünfundsiebzig Pfund für mich erhalten, worauf ich nickte und ging, während er noch mürrisch in sein Glas starrte. Auf dem Heimweg strich ich Soupy von meiner Liste eventuell nützlicher Verbindungsleute. Er hatte mir zwar einen Dopingauftrag verschafft, aber ich war gebeten wor 92
den, einen Favoriten in einem Sieglosenrennen zurückzu halten, nicht etwa ein müdes, lang stehendes Pferd in ei nem Verkaufsrennen anzutreiben. Daß ein- und dieselben Betrüger mit beiden Maschen arbeiteten, war äußerst un wahrscheinlich. In dieser und den beiden folgenden Nächten widmete ich mich wieder Colonel Becketts Manuskript und las es sorg fältig noch einmal. Das einzige nennenswerte Ergebnis war, daß mich die endlose Arbeit im Stall schlauchte, weil ich fünf Nächte hintereinander nur drei Stunden geschla fen hatte. Aber mir graute einfach davor, October am Sonntag sagen zu müssen, daß die elf jungen Männer ihre Mammutuntersuchung umsonst veranstaltet hatten, und ich wurde das dunkle Gefühl nicht los, diesen vollgepack ten Seiten doch noch etwas Wesentliches entnehmen zu können, wenn ich nur dranblieb. Am Sonntag morgen ritten Octobers Töchter mit dem er sten Lot hinaus, obwohl es ungemütlich kalt und windig war. Elinor sagte mir nur im Vorübergehen höflich guten Morgen, aber Patty, die wieder eins von meinen Pferden ritt, ließ, als ich sie raufwarf, ihre Wimpern klimpern und drängte sich unnötigerweise an mich. »Sie sind vorige Woche nicht hiergewesen, Danny«, sag te sie, die Bügel fassend. »Wo waren Sie?« »In Cheltenham … Miss.« »Aha. Und nächsten Samstag?« »Da bin ich hier.« Sie sagte betont von oben herab: »Dann denken Sie nächsten Sonnabend bitte daran, die Bügel kürzer zu schnallen, bevor ich aufsitze. So sind sie viel zu lang.« Anstatt sie selbst anzupassen, bedeutete sie mir, ihr das 93
abzunehmen, und sah mir belustigt dabei zu. Als ich den zweiten Bügel schnallte, ließ sie ihr Knie über meine Hän de streichen und stieß es mir unsanft in die Rippen. »Was du dir alles gefallen läßt, Danny«, meinte sie leise und beugte sich vor. »Ein flotter Kerl wie du sollte sich ein bißchen wehren, hm?« »Ich will nicht rausfliegen«, sagte ich mit unbewegtem Gesicht. »Was für ein Feigling«, spöttelte sie und lenkte ihr Pferd weg. Wenn sie so weitermacht, bringt sie sich noch mal bös in Schwierigkeiten, dachte ich. Sie war zu aufreizend. Ihr tolles Aussehen allein machte es nicht, und ihre schmerz haften kleinen Tricks waren bloß ärgerlich. Irritierend und provozierend war die versteckte Aufforderung in ihrem Verhalten. Ich vergaß sie, holte Sparking Plug, schwang mich auf seinen Rücken und ritt aufs Moor hinaus, um ihm die übli che Bewegung zu verschaffen. Das Wetter wurde an diesem Tag zusehends schlechter, und als wir mit dem zweiten Lot draußen waren, goß es in Strömen, so heftig, daß wir völlig durchnäßt und mit bren nenden Gesichtern zurückkehrten. Vielleicht, weil der Re gen anhielt, vielleicht auch, weil es immerhin Samstag war, gab mir Wally ausnahmsweise keine Nachmittagsbe schäftigung, und ich verbrachte die drei Stunden mit neun oder zehn anderen Pflegern in der Gemeinschaftsküche, wo wir dem um die Ecke pfeifenden Wind lauschten und uns die Chepstower Rennen im Fernsehen anschauten, während unsere nassen Pullover, Reithosen und Socken in der Ofenwärme dampften. Ich legte die Rennberichte der vorigen Saison auf den Küchentisch, stützte den Kopf in die linke Hand und blät 94
terte mit der rechten die Seiten um. Deprimiert darüber, daß ich mit den Dossiers der elf Pferde so wenig anfangen konnte und daß ich mich bei den anderen hier so unbeliebt machen mußte, bedrückt wohl auch, weil mir der Sonnen schein fehlte, den ich sonst um diese Jahreszeit genoß, fragte ich mich, ob die ganze Maskerade nicht von Anfang an ein fürchterlicher Mißgriff gewesen war. Aber ich hatte Octobers Geld genommen und konnte nicht aussteigen, noch Monate nicht. Ein alles andere als tröstlicher Gedan ke. Ich überließ mich meinem Trübsinn und vergeudete die dringend benötigte Freizeit. Heute glaube ich, es war eher das Gefühl drohenden Versagens als bloße Müdigkeit, was mir an jenem Nach mittag zusetzte, denn obwohl noch einige Härten auf mich zukamen, bereute ich nur damals ernstlich, auf October gehört zu haben, und wünschte mir von Herzen, wieder in meinem gemütlichen australischen Käfig zu sein. Die Jungs vorm Fernseher machten abfällige Bemerkun gen über die Jockeys und schlossen untereinander Wetten auf das Rennergebnis ab. »Das entscheidet sich wieder, wenn’s die Zielgerade raufgeht«, meinte Paddy. »Ein langes Ende … das steht nur Aladdin durch.« »Unsinn«, widersprach ihm Grits. »Da kannst du Lob ster Cocktail fliegen sehen …« Mürrisch blätterte ich in den Rennberichten, sah sie planlos vielleicht zum hundertsten Mal durch und stieß durch Zufall in der allgemeinen Einführung auf einen La geplan der Rennbahn von Chepstow. Alle großen Renn bahnen waren dort mit Kursverlauf, Tribünen, Hindernis sen, Start und Ziel schematisch dargestellt, und die Bah nen von Ludlow, Stafford und Haydock hatte ich mir er gebnislos bereits angesehen. Von Kelso und Sedgefield 95
gab es keinen Plan. Auf den Abbildungsteil folgten ein paar Seiten Kurzinformation mit Angaben zur Kurslänge, Rennvereinsadressen, Bahnrekorden und so weiter. Spaßeshalber schlug ich Chepstow nach. Paddys »langes Ende« war dort in Zahlen angegeben: zweihundertfünfzig Meter. Ich sah Kelso, Sedgefield, Ludlow, Stafford und Haydock nach. Sie hatten viel längere Schlußgeraden als Chepstow. Ich schlug die Einlaufgeraden sämtlicher Bah nen nach. Die vom Grand-National-Kurs in Aintree war die zweitlängste. Die längste überhaupt war Sedgefield; an dritter, vierter, fünfter und sechster Stelle kamen Ludlow, Haydock, Kelso und Stafford. Sie alle hatten Zielgeraden von über vierhundert Metern. Die geographische Lage tat nichts zur Sache: Die Doper hatten diese fünf Bahnen fast mit Sicherheit herausgegriffen, weil dort vom letzten Hin dernis zum Ziel gut vierhundert Meter zu laufen waren. Es war ein erster, wenn auch kleiner Fortschritt, diese Gesetzmäßigkeit in dem Allerlei erkannt zu haben. Nicht mehr ganz so niedergedrückt legte ich die Rennberichte weg und ging um vier wohl oder übel mit den anderen auf den vom Regen überschwemmten Hof hinaus, um mich je eine Stunde meinen drei Schützlingen zu widmen, ihr Fell zu striegeln, damit es einen gesunden Glanz bekam, ihre Streu zu erneuern, ihnen Wasser zu holen, während Inskips Rundgang ihre Köpfe zu halten, ihnen die Stall decke aufzulegen und schließlich noch ihr Futter zu brin gen. Wie üblich wurde es sieben, bis wir alle fertig waren, und acht, bis wir gegessen und uns umgezogen hatten und hinunter nach Slaw brettern konnten, sieben Mann in ei nem klapprigen alten Austin. Billard, Dart, Domino, endlose, harmlose Aufschneide reien, alles wie gehabt. Geduldig saß ich da und wartete. Es war fast zehn, die Zeit, um die Pferdepfleger und ande re Frühaufsteher allmählich austrinken, da schlenderte 96
Soupy in Richtung Ausgang, sah, daß ich ihn beobachtete, und bedeutete mir mit dem Kopf, ihm zu folgen. Ich stand auf, ging hinter ihm hinaus und fand ihn auf der Toilette. »Das ist für dich. Der Rest am Dienstag«, sagte er knapp, zog die Lippe hoch, glotzte mich zum Zeichen sei ner Härte eisig an und gab mir ein dickes braunes Kuvert. Ich steckte es in meine schwarze Lederjacke und nickte ihm zu. Wortlos, ohne zu lächeln, eisigen Blickes drehte ich mich auf dem Absatz um und kehrte in die Bar zurück – Minuten später kam auch er wieder herein, als wäre nichts gewesen. So zwängte ich mich dann zur holprigen Rückfahrt in den Austin und trug, als ich mich in unserem kleinen Schlafsaal hinlegte, fünfundsiebzig Pfund und ein Päck chen weißes Pulver direkt über dem Herzen.
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ctober tauchte den Finger in das Pulver und kostete es. »Ich weiß auch nicht, was das ist«, sagte er kopf schüttelnd. »Wir lassen es analysieren.« Ich bückte mich nach seinem Hund, streichelte ihn und kraulte ihn hinter den Ohren. »Ist Ihnen klar«, sagte October, »was für ein Risiko Sie eingehen, wenn Sie das Geld annehmen, dem Pferd aber das Zeug nicht geben?« Ich grinste ihn an. »Das ist nicht zum Lachen«, sagte er ernst. »Diese Leute können ganz schön ruppig werden, und es nützt uns we nig, wenn man Ihnen die Rippen bricht …« »An sich fände ich es auch besser, wenn Sparking Plug nicht gewinnen würde«, sagte ich, mich aufrichtend. »Die Leute, hinter denen wir eigentlich her sind, werden kaum an mich herantreten, wenn sie hören, daß ich schon mal jemand verladen habe.« »Sie sagen es.« Er hörte sich erleichtert an. »Sparking Plug muß verlieren, aber Inskip … wie erkläre ich dem, daß der Jockey hinterhermachen soll?« »Das geht nicht«, sagte ich. »Die darf man da nicht rein ziehen. Aber ich bin auch noch da. Das Pferd gewinnt schon nicht, wenn ich es morgen früh dursten lasse und ihm kurz vor dem Rennen einen Eimer Wasser hinstelle.« 98
Er sah mich belustigt an. »Sie haben ja schon einiges ge lernt.« »Und ob; die Haare würden Ihnen zu Berge stehen.« Er erwiderte mein Lächeln. »Also gut. Es geht wohl nicht anders. Man fragt sich, was die Hindernisbehörde davon halten würde, daß einer ihrer Leiter mit einem sei ner Stallangestellten verabredet, einen Favoriten zurück zuhalten?« Er lachte. »Roddy Beckett weihe ich ein, aber für Inskip und für die Pfleger hier, die auf das Pferd setzen, ist das gar nicht lustig, und auch für das breite Publikum nicht, das sein Geld verliert.« »Nein«, gab ich zu. Er faltete das Päckchen mit dem weißen Pulver zusam men und steckte es wieder zu dem Geld. Die fünfundsieb zig Pfund im Umschlag bestanden törichterweise aus ei nem Bündel neuer Fünfer mit fortlaufenden Nummern; October wollte versuchen, festzustellen, an wen sie ausge geben worden waren. Ich erzählte ihm von den langen Zielgeraden auf den Bahnen, wo die elf Pferde gewonnen hatten. »Das hört sich fast so an, als hätten sie doch Vitamine benutzt«, meinte er nachdenklich. »Die kann man bei der Dopinguntersuchung nicht nachweisen, da sie letztlich keine Drogen, sondern Nährstoffe sind. Die ganze Vit aminfrage ist sehr schwierig.« »Sie erhöhen die Ausdauer?« »Und zwar beträchtlich. Für Pferde, die auf den letzten achthundert Metern ›eingehen‹ – und wie Sie festgestellt haben, gehören unsere elf ja dazu –, wäre das ideal. Aber an Vitamine haben wir mit als erstes gedacht, und wir mußten sie streichen. In massiver Dosis in die Blutbahn 99
injiziert, können sie Pferden zwar zum Sieg verhelfen, und in der Analyse zeigen sie sich nicht, weil sie bei der Sieges anstrengung aufgebraucht werden, aber sie hinterlassen auch sonst keine Spuren. Sie erregen nicht, und die Pferde sehen nach dem Rennen nicht aus, als ständen sie bis zu den Ohren unter Speed.« Er seufzte. »Ich weiß auch nicht …« Bedauernd gestand ich ein, daß Becketts Manuskript mich nicht weitergebracht hatte. »Weder Beckett noch ich haben uns davon so viel ver sprochen wie Sie«, sagte er. »Ich habe mich diese Woche eingehend mit ihm beraten, wir sind der Meinung, daß Sie am ehesten noch etwas finden können, was bei den breit angelegten Ermittlungen damals übersehen wurde, wenn Sie in einem der Ställe arbeiten, wo die elf Pferde zum Zeitpunkt ihres Dopings trainiert wurden. Acht Tiere sind inzwischen leider verkauft worden und haben den Stall gewechselt, aber drei sind noch bei ihren damaligen Trai nern, und es wäre vielleicht das beste, Sie kämen dort un ter.« »Gut«, sagte ich. »Geht klar. Ich frage bei allen dreien. Aber die Fährte ist schon reichlich kalt … und Kandidat Nummer zwölf wird in einem ganz anderen Stall auftau chen. In Haydock war wohl diese Woche nichts?« »Nein. Wir haben von allen Teilnehmern am Verkaufs rennen vorher Speichelproben genommen, uns die Unter suchung aber geschenkt, weil der Favorit ganz normal ge siegt hat. Da wir dank Ihnen jetzt jedoch wissen, daß die fünf Bahnen bewußt wegen ihrer langen Zielgeraden aus gewählt worden sind, werden wir dort künftig besonders gut aufpassen. Zumal, wenn eins der elf Pferde da wieder läuft.« »Sie können ja im Rennkalender nachsehen, ob eins ge nannt ist«, stimmte ich zu. »Bis jetzt ist aber noch keins 100
zweimal gedopt worden, und ich wüßte nicht, warum sich das ändern sollte.« Eine eisige Bö fegte die Anhöhe hinunter, und er fröstel te. Der Bach, vom gestrigen Regen angeschwollen, rauschte durch sein felsiges Bett. October pfiff seinem Hund, der am Ufer herumschnüffelte. »Übrigens«, sagte er, als er mir die Hand gab, »die Tier ärzte sind der Meinung, daß die Pferde weder durch Pfeile noch durch Gummimunition oder sonstige Geschosse an getrieben wurden. Ganz ausschließen können sie es aller dings nicht. Die Pferde wurden damals nicht allzu genau untersucht. Beim nächsten Mal werde ich dafür sorgen, daß jeder Zentimeter Haut nach Einstichen abgekämmt wird.« »Gut.« Wir lächelten einander an und trennten uns. Ich mochte ihn. Er hatte Phantasie und einen Humor, der sein ehrfurchtgebietendes, machtbewußtes Auftreten milderte. Ein Kämpfer, dachte ich bewundernd: willensstark, kör perlich stark, selbstbewußt; ein Mann, der sich den Gra fentitel verdienen würde, wenn er ihn nicht geerbt hätte. Sparking Plug mußte am Abend und am nächsten Mor gen ohne seinen Eimer Wasser auskommen. Der Fahrer, der ihn nach Leicester brachte, hatte die Taschen voll schwerverdientem Pflegergeld, das er auf ihn setzen sollte, und ich kam mir vor wie ein Verräter. Inskips zweites Pferd, im gleichen Transporter angereist, startete im dritten Lauf, aber Sparking Plugs Rennen war erst das fünfte, so daß ich mir die beiden ersten in Ruhe anschauen konnte. Ich kaufte mir ein Programm, suchte mir einen Platz am Führring und sah zu, wie die Pferde für das erste Rennen herumgeführt wurden. Aus den Rennbe richten kannte ich zwar die Namen vieler Trainer, aber persönlich kennengelernt hatte ich noch keinen, und so 101
versuchte ich interessehalber, den einen oder anderen, der sich da im Führring mit seinem Jockey unterhielt, mit ei nem Namen zu verbinden. Im ersten Rennen waren es nur sieben: Owen, Cundell, Beeby, Cazalet, Humber … Hum ber? Was hatte ich über Humber gehört? Es fiel mir nicht ein. Sicher nicht so wichtig, dachte ich. Humbers Pferd sah von allen im Ring am schlechtesten aus, und dem Pfleger mit den ungeputzten Schuhen und dem schmutzigen Regenmantel, der es herumführte, schien alles egal zu sein. Als der Jockey die Jacke auszog, sah man an seinem Dreß noch die Schlammspritzer aus einem anderen Rennen, und der Trainer, der keinen Wert auf saubere Farben oder gepflegtes Personal gelegt hatte, war ein massiger, übellaunig wirkender Mann, der sich auf einen dicken, knorrigen Gehstock stützte. Humbers Pfleger stand, als wir dem Rennen zuschauten, zufällig neben mir auf der Tribüne. »Gute Chancen?« sprach ich ihn an. »Mit dem Vieh verplempert man nur seine Zeit«, sagte er und zog die Lippe hoch. »Ich kann’s nicht mehr sehen.« »Oh. Vielleicht schlägt sich dein anderes Pferd ja bes ser«, meinte ich, als sich die Teilnehmer am Start aufstell ten. »Mein anderes Pferd?« Er lachte unfroh. »Drei andere hab ich noch, kannst du dir das vorstellen? Mir reicht’s mit dem Laden. Ende der Woche hau ich ab, Lohn hin, Lohn her.« Plötzlich wußte ich wieder, was ich über Humber gehört hatte. Die schlechtesten Arbeitsbedingungen im Land, hat te der Junge in Bristol erzählt: Pfleger, die hungern muß ten und geschlagen wurden, ein Stall, der nur noch den Ausschuß bekam. »Lohn hin, Lohn her?« fragte ich. 102
»Bei denen gibt’s sechzehn Pfund statt elf die Woche«, sagte er, »aber das macht den Bock nicht fett. Ich hab die Schnauze voll von Humber. Ich hör auf.« Das Rennen begann, und Humbers Pferd wurde Letzter. Sein Pfleger verschwand schimpfend, um es wegzuführen. Ich lächelte, ging hinter ihm die Stufen hinunter und vergaß ihn, weil unten an der Tribüne ein ungepflegter Mann mit einem schwarzen Schnurrbart stand, den ich bei dem Cheltenhamer Tanzfest in der Bar gesehen hatte. Ich ging langsam zum Führring hinüber, um mich wieder an die Abzäunung zu stellen, und er kam mir unauffällig nach. Er blieb neben mir stehen, schaute auf das einzige schon im Ring befindliche Pferd und meinte: »Sie sind knapp bei Kasse, wie ich höre.« »Heute abend nicht mehr«, gab ich zurück und musterte ihn. Er warf mir einen Blick zu. »Hm. Sind Sie sich mit Sparking Plug so sicher?« »Bin ich«, sagte ich mit einem fiesen Grinsen. Jemand hatte ihm freundlicherweise erzählt, welches Pferd ich betreute. Er mußte sich also über mich erkundigt haben. Ich ging davon aus, daß ihm nichts Vorteilhaftes zu Ohren gekommen war. »Hmm.« Eine ganze Minute verstrich. Dann sagte er beiläufig: »Haben Sie schon mal daran gedacht, woanders hinzu gehen … zu einem anderen Stall?« »Klar«, gab ich achselzuckend zu. »Wer denn nicht?« »Gute Pfleger sind immer gefragt«, erklärte er, »und Sie sollen mit den Händen sehr geschickt sein. Mit einer Em pfehlung von Inskip kommen Sie überall rein, wenn Sie warten können, bis was frei wird.« 103
»Wo denn?« fragte ich; aber er ließ sich nicht drängen. Nach einer weiteren Pause sagte er, noch immer im Plau derton: »Es kann sehr, ehm … lukrativ sein, für bestimmte Ställe zu arbeiten.« »So?« »Das heißt«, er hüstelte diskret, »wenn man bereit ist, etwas mehr zu tun, als dort verlangt wird.« »Zum Beispiel?« »Ach … Verschiedenes«, sagte er unbestimmt. »Je nachdem. Alles, was demjenigen nützt, der dafür Ihr Ein kommen aufbessert.« »Und der wäre?« Ein dünnes Lächeln. »Betrachten Sie mich als seinen Stellvertreter. Also, er bietet fünf Pfund die Woche für Trainingsergebnisse und ähnliche Auskünfte sowie eine gute Prämie für gelegentliche Sonderaufgaben, die, ehm, heikler sind.« »Klingt nicht übel«, meinte ich langsam und saugte an meiner Unterlippe. »Geht das nicht bei Inskip?« »Nein«, sagte er. »Bei dem laufen die Pferde immer auf Sieg. In solchen Ställen brauchen wir keinen ständigen Mit arbeiter. Zur Zeit gibt es aber zwei wettfreudige Ställe, wo uns ein Mann fehlt, und da könnten wir Sie gebrauchen.« Er nannte die Namen zweier führender Trainer, die nicht zu den dreien gehörten, bei denen ich mich ohnehin be werben wollte. Jetzt mußte ich überlegen, ob es nicht sinnvoller war, mich in einen offenbar gut organisierten Spionagering einzuschleichen, als mich an ein ehedem gedoptes Pferd zu hängen, das mit ziemlicher Sicherheit nicht noch einmal gedopt werden würde. »Ich denke drüber nach«, sagte ich. »Wo kann ich Sie erreichen?« 104
»Bis wir Sie auf der Gehaltsliste haben, gar nicht«, ver setzte er. »Sparking Plug läuft im fünften, oder? Danach können Sie mir ja Bescheid geben. Sie sehen mich, wenn Sie ihn zum Stall zurückbringen. Nicken Sie, wenn Sie dabei sind, sonst schütteln Sie den Kopf. Aber so eine Gelegenheit, die läßt einer wie Sie sich nicht entgehen.« Die leise Verachtung in seinem Lächeln traf mich trotz allem. Er wandte sich ab und ging ein paar Schritte, dann kam er noch einmal zurück. »Soll ich denn auf Sparking Plug ordentlich was set zen?« fragte er. »Ach na ja … ehm, an Ihrer Stelle würde ich mir das Geld sparen.« Er blickte erst überrascht, dann argwöhnisch, dann pfif fig drein. »Also daher weht der Wind«, sagte er. »Ei, ei.« Er lachte und sah mich an, als wäre ich unter einem Stein hervorgekrochen. Ein Mann, der seine Werkzeuge verachtete. »Ich merke schon, daß Sie uns sehr nützlich werden können. Sehr, sehr nützlich!« Ich schaute hinter ihm her. Ich hatte ihm nicht aus Freundlichkeit davon abgeraten, auf Sparking Plug zu set zen, sondern weil ich mir nur damit sein Vertrauen erhal ten konnte. Als er fünfzig Meter weg war, folgte ich ihm. Er ging schnurstracks zum Buchmacherring, schlenderte an den Ständen entlang und studierte die von den einzel nen Firmen angebotenen Quoten; offenbar wollte er aber wirklich nur eine Wette für das nächste Rennen anlegen, denn er machte keine Anstalten, jemandem von dem Aus gang unserer Unterhaltung zu berichten. Seufzend setzte ich zehn Shilling auf einen Außenseiter und ging zurück, um zu sehen, wie die Pferde auf die Bahn kamen.
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Sparking Plug trank durstig zwei volle Eimer Wasser, stolperte über das vorletzte Hindernis und trabte, begleitet von Buhrufen aus den billigen Rängen, müde hinter den sieben anderen Startern durchs Ziel. Er tat mir leid. Wi derwärtig, ein stolzes Pferd so zu behandeln. Der Ungepflegte mit dem schwarzen Schnurrbart stand bereit, als ich das Pferd zu den Stallungen führte. Ich nick te ihm zu, und er grinste bedeutsam. »Sie hören von mir«, sagte er. Auf der Heimfahrt im Transporter und am nächsten Tag zu Hause war die Stimmung gedrückt wegen Sparking Plugs unerklärlicher Niederlage, und am Dienstag abend ging ich allein nach Slaw, wo mir Soupy die zweiten fünf undsiebzig Pfund gab. Ich sah sie mir an. Wieder fünfzehn neue Fünfer, ihre Nummern schlossen an die ersten fünf zehn an. »Danke«, sagte ich. »Und was springt für dich dabei raus?« Soupys wulstige Lippen kräuselten sich. »Genug. Ihr Knaller habt das Risiko, ich kriege einen Anteil dafür, daß ich euch an Land ziehe. Ist doch in Ordnung, oder?« »Klar. Und wie oft ziehst du das so durch?« Ich steckte das Kuvert mit dem Geld ein. Er zuckte die Achseln, machte ein selbstzufriedenes Ge sicht. »Typen wie dich erkenne ich auf zwei Kilometer. Inskip scheint doch nachzulassen. Das erste Mal, daß bei dem so ein falscher Fuffziger landet. Aber die Dartturnie re, die bringen’s. Ich bin gut, verstehst du? Immer in der Mannschaft. Und in Yorkshire gibt es viele Ställe … und immer wieder geschlagene Favoriten, die den Leuten ein Rätsel sind.« »Du bist wirklich clever«, sagte ich. 106
Er lächelte. Das fand er auch. Auf dem Heimweg nahm ich mir vor, unter dem explo siven Herrn TNT eine Lunte anzuzünden. Nach dem Angebot des Mannes mit dem schwarzen Schnurrbart beschloß ich, Becketts Manuskript noch ein mal im Hinblick darauf durchzulesen, ob die elf Doping fälle auf systematische Spionage zurückgehen konnten. Ein neuer Ansatz bringt vielleicht neue Ergebnisse, dachte ich, und um so besser kann ich entscheiden, ob ich den Spionageauftrag sausenlasse und statt dessen wie geplant in einen durch Doping aufgefallenen Rennstall gehe. Im Bad eingeschlossen, begann ich wieder auf Seite 1. Auf Seite 67, im ersten Teil der Lebensgeschichte des fünf ten Pferdes, las ich: »Auf der Auktion in Ascot von D. L. Mentiff, York, für 420 Guineen gekauft; für 500 Pfund wei terverkauft an H. Humber, Posset, County Durham, blieb dort drei Monate, lief zwei Maidenrennen, ohne sich zu plazieren; weiterverkauft in Doncaster für 600 Guineen an N. W. Davies, Leeds, der ihn von L. Peterson in Mars Edge, Staffordshire, trainieren ließ; blieb dort achtzehn Monate, lief vier Maidenrennen, fünf Sieglosenrennen, ohne sich zu plazieren. Liste der Rennen siehe unten.« Drei Monate bei Humber. Ich lächelte. Anscheinend blieben die Pferde auch nicht länger bei ihm als die Pfle ger. Seite für Seite ackerte ich die Einzelheiten durch. Auf Seite 94 las ich folgendes: »Alamo kam dann in Kelso zur Auktion, und Mr. John Arbuthnot, Berwickshi re, erwarb ihn für 300 Pfund. Er wurde von H. Humber, Posset, County Durham, trainiert, aber für kein Rennen genannt, und Mr. Arbuthnot verkaufte ihn zum gleichen Preis an Humber. Einige Wochen später kam er in Kelso erneut zur Auktion. Mr. Clement Smithson, Nantwich, 107
Cheshire, kaufte ihn für 375 Guineen, behielt ihn den Sommer über zu Hause, schickte ihn dann zu einem Trai ner namens Samuel Martin nach Malton, Yorkshire, wo er bis Weihnachten vier Maidenrennen lief, ohne sich zu pla zieren (siehe Liste).« Ich massierte meinen steifen Nacken. Wieder Humber. Ich las weiter. Auf Seite 180 hieß es: »Ridgeway ging dann zur Beglei chung einer Schuld an den Farmer James Green, Home Farm, Crayford, Surrey. Mr. Green ließ ihn zwei Jahre auf der Koppel und anschließend einreiten in der Hoffnung, ein gutes Jagdpferd aus ihm zu machen, verkaufte ihn dann aber an Mr. Taplow aus Pewsey, Wiltshire, der ihn als Rennpferd ausbilden lassen wollte. Ridgeway wurde von Ronald Streat, Pewsey, für Flachrennen trainiert, konnte sich aber in keinem seiner vier Starts in jenem Sommer plazieren. Mr. Taplow verkaufte Ridgeway dar aufhin privat an den Farmer Albert George, Bridge Lewes, Shropshire, der ihn selbst trainieren wollte, jedoch nicht die nötige Zeit fand und ihn an einen Bekannten seines Vetters in der Nähe von Durham verkaufte, einen Trainer namens Hedley Humber. Humber hielt das Pferd offenbar für unbrauchbar; es kam im November in Doncaster zur Auktion und ging für 290 Guineen an Mr. P. J. Brewer, The Manor, Witherby, Lancashire …« Ich las das gesamte Manuskript, wühlte mich durch die Unzahl von Namen, doch Humber wurde nirgends mehr erwähnt. Drei von den elf Pferden waren irgendwann in ihrer Laufbahn für kurze Zeit in Humbers Obhut gewesen. Das war schon alles. Ich rieb mir die vom Schlafmangel entzündeten Augen, und plötzlich schrillte ein Wecker in dem stillen Haus. 108
Überrascht sah ich auf die Uhr. Halb sieben schon. Ich stand auf, streckte mich, benutzte das Bad als Bad, schob das Manuskript unter die Schlafanzugjacke und den Pullo ver, den ich darüber trug, und schlurfte gähnend in den Schlafsaal zurück, wo die anderen bereits aufgestanden waren und mit verquollenen Augen in ihre Kleider stiegen. Im Hof unten war es so kalt, daß alles, was man anfaßte, den Fingern die Wärme zu rauben schien und jeder Atem zug schneidend in die Brust drang. Ausmisten, aufsatteln; raus aufs Moor, galoppieren, führen, zurück zum Stall, Schweiß ausbürsten, Pferd einstellen, mit Futter und Was ser versorgen, dann frühstücken. Das gleiche fürs zweite Pferd, das gleiche fürs dritte Pferd, dann Mittagessen. Während wir aßen, kam Wally herein und wies zwei an dere und mich an, das Sattelzeug zu säubern, und nachdem wir unsere Pflaumen mit Eiercreme verdrückt hatten, gin gen wir in die Sattelkammer und machten uns ans Werk. Es war schön warm dort, weil der Ofen brannte, und ich legte meinen Kopf auf einen Sattel und schlief fest ein. Einer der anderen stieß mich an und sagte: »Wach auf, Dan, wir haben viel zu tun«, womit er mich aus meinen Träumen riß, aber noch ehe ich die Augen aufschlug, meinte der andere: »Ach, laß ihn, der macht schon genug«, und dankbar überließ ich mich wieder dem Schlaf. Viel zu schnell war es vier Uhr, kamen die drei Stunden Abend stallzeit, danach um sieben das Abendbrot, und wieder war ein Tag fast vorbei. Die meiste Zeit dachte ich darüber nach, daß Humbers Name dreimal in dem Manuskript auftauchte. Ich sah ei gentlich nicht ein, warum dem mehr Bedeutung zukom men sollte als der Tatsache, daß vier von den elf Pferden zum Zeitpunkt ihres Dopings Preßfutter bekommen hatten. Bedenklich war nur, daß mir der Name beim ersten und zweiten Lesen glatt entgangen war. Zwar hatte ich keinen 109
Grund gehabt, auf den Namen Humber zu achten, bevor ich ihn und sein Pferd gesehen und mit seinem Pfleger gesprochen hatte, aber wenn mir ein Name entgangen war, der dreimal vorkam, konnte ich auch andere übersehen haben. Nur wenn ich eine Liste von allen im Manuskript erwähnten Namen anlegte, konnte ich sehen, ob sonst noch einer in Verbindung mit mehreren Pferden auftauch te. Ein Elektronenrechner hätte das in Sekunden erledigt. Mich würde es wohl wieder eine Nacht im Bad kosten. Über tausend Namen standen in dem Manuskript. Ich schrieb die Hälfte davon Mittwoch nacht heraus, schlief ein wenig, ergänzte die Liste in der Nacht auf Freitag und fiel wieder ins Bett. Am Freitag schien zur Abwechslung die Sonne, und der Morgen auf dem Moor war schön. Ich ließ Sparking Plug in der Mitte des Lots traben und dachte über die Liste nach. Außer Humbers Namen tauchte nur ein einziger noch in Verbindung mit mehr als zwei Pferden auf. Aber dieser eine war ein gewisser Paul J. Adams, und ihm hat ten zu verschiedenen Zeiten gleich sechs der Pferde ge hört. Sechs von elf. Das konnte kein Zufall sein. Es war einfach zu ungewöhnlich. Ich war mir sicher, die erste ent scheidende Entdeckung gemacht zu haben, auch wenn mir nicht einging, wie der Umstand, daß Paul J. Adams einmal für ein paar Monate ein Pferd besessen hatte, erklären soll te, daß es ein oder zwei Jahre später gedopt werden konn te. Ich grübelte den ganzen Vormittag vergebens darüber nach. Da es draußen schön war, fand Wally, das sei die Gele genheit für mich, ein paar Decken zu schrubben. Gemeint waren die Stalldecken der Pferde; man mußte sie auf dem Beton im Hof ausbreiten, mit einem Schlauch abspritzen, mit einem langstieligen Besen und Waschmittel schrub ben, wiederum abspritzen und sie zum Abtropfen über den 110
Zaun hängen, bevor sie zum Trocknen in die warme Sat telkammer gebracht wurden. Niemand machte das gern, und Wally, der mich seit Sparking Plugs Niederlage noch unfreundlicher behandelte (wenngleich er nicht so weit gegangen war, mir die Schuld daran zu geben), sagte mir mit kaum verhohlener Abneigung, heute sei ich eben an der Reihe. Egal, dachte ich, als ich nach dem Essen fünf Stalldek ken ausbreitete und sie einweichte, so kannst du wenig stens zwei Stunden ungestört nachdenken. Doch wie so oft irrte ich mich. Um drei Uhr, als die Pferde dösten und die Pfleger, so weit sie nicht mit ihrem Wochenlohn nach Harrogate ge braust waren, Siesta hielten, das Leben im Stall also ruhte und nur ich mit meinem Besen widerwillig zugange war, kam Patty Tarren zum Tor herein, überquerte den Hof und blieb vor mir stehen. Sie trug ein einfaches grünes Kleid aus warmem, wei chem Tweed mit Silberknöpfen vom Kragen bis zum Saum. Das kastanienbraune Haar, von einem breiten grü nen Band aus der Stirn gehalten, fiel glatt und glänzend auf ihre Schultern, und mit den langen, dichten Wimpern und dem hellrosa Mund stellte sie ungefähr die reizvollste Unterbrechung dar, die ein hart arbeitender Stallmann sich wünschen konnte. »Hallo, Danny«, sagte sie. »Guten Tag, Miss.« »Ich hab dich vom Fenster aus gesehen«, sagte sie. Ich drehte mich überrascht um, da ich Octobers Haus völlig hinter Bäumen verborgen geglaubt hatte, aber tatsächlich konnte man weiter oben am Hang durch eine Lücke zwi schen den unbelaubten Ästen eine Hausecke und ein Fen ster sehen. Aber es war weit weg. Wenn Patty mich auf 111
die Entfernung erkannt hatte, mußte sie durch ein Fernglas geschaut haben. »Du sahst ein bißchen einsam aus, da dachte ich, ich un terhalte mich mal mit dir.« »Danke, Miss.« »Die übrige Familie«, sagte sie und schlug die Wimpern nieder, »Kommt auch erst heute abend, und allein in dem großen Schuppen wußte ich gar nichts anzufangen, das wird schnell langweilig. Da dachte ich, mit dir kann man wenigstens reden.« »Mhm.« Ich stützte mich auf den Besen, sah in ihr rei zendes Gesicht und fand, daß ihre Augen einen Ausdruck hatten, der ihrem Alter nicht entsprach. »Es ist ziemlich kalt hier, hm? Ich wollte was mit dir be reden … Können wir uns nicht da in den Eingang stel len?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie auf den fragli chen Eingang, es war der des Heuspeichers, zu und trat hinein. Ich folgte ihr und lehnte den Besen gegen den Tür pfosten. »Ja, Miss?« sagte ich. Es war halb dunkel in dem Raum. Wie sich herausstellte, ging es ihr doch nicht in erster Linie ums Reden. Sie schlang die Arme um meinen Hals und bot mir die Lippen zum Kuß. Ich beugte mich vor und küßte sie. Oc tobers Tochter war nicht unerfahren. Sie küßte mit Zunge und Zähnen, und sie bewegte ihren Bauch rhythmisch gegen meinen. Meine Muskeln verkrampften sich. Sie duftete nach frischer Seife, unschuldiger, als sie sich be nahm. »Na siehst du«, sagte sie kichernd, machte sich los und ging auf die Heuballen zu, die den Raum halb ausfüllten. 112
»Komm«, sagte sie über die Schulter und stieg auch schon auf die Ballen, die eine durchgehend gerade Fläche bildeten. Ich folgte ihr langsam. Oben setzte ich mich, schaute auf den Boden hinunter, sah den Besen an der Tür, den Eimer und eine von der Sonne beschienene Stalldecke draußen. Auf dem Heu hatte Philip, als er klein war, jahre lang am liebsten gespielt … und wie gut, daß dir jetzt dei ne Familie einfällt, dachte ich. Patty lag einen Meter von mir entfernt auf dem Rücken. Ihre weit geöffneten Augen glänzten, und auf ihren Lippen lag ein merkwürdiges kleines Lächeln. Ohne den Blick von mir zu wenden, öffnete sie die Silberknöpfe an ihrem Kleid bis weit unter die Taille. Dann ließ sie mit einer schüttelnden Bewegung das Kleid auseinanderfallen. Sie hatte nichts darunter an. Ich betrachtete ihren Körper, perlmuttfarben, schlank, begehrenswert; und es durchlief ihn ein leiser Schauer der Erwartung. Ich sah ihr wieder ins Gesicht. Die Augen waren groß und dunkel, und ihr merkwürdiges Lächeln kam mir plötz lich verstohlen, gierig und ganz und gar verdorben vor. Unvermittelt sah ich mich, wie sie mich sehen mußte, so wie ich mich in dem großen Spiegel in Octobers Stadthaus gesehen hatte, ein flotter, etwas zwielichtiger Bursche mit dunklen Haaren und unlauteren Absichten. Da wußte ich ihr Lächeln einzuordnen. Ich wandte mich ab, drehte ihr den Rücken zu und spür te, wie Zorn und Scham in mir aufstiegen. »Ziehen Sie sich an«, sagte ich. »Warum? Kriegst du keinen hoch, Danny?« »Ziehen Sie sich an«, wiederholte ich. »Der Spaß ist vorbei.« 113
Ich sprang vom Heu herunter und ging, ohne mich um zudrehen, zur Tür hinaus. Schnappte mir den Besen, fluch te verhalten und schrubbte vor lauter Wut über mich selbst die nächste Stalldecke, bis mir die Arme weh taten. Nach einer Weile sah ich sie im wieder zugeknöpften Kleid aus dem Heuspeicher kommen, um sich blicken und zu einer Schlammpfütze am Rand des Betons gehen. Sie saute sich gründlich die Schuhe ein, trat dann wie ein bö ses Kind auf die Decke, die ich gerade gereinigt hatte, und streifte den ganzen Matsch mitten darauf ab. Ihre Augen waren groß, ihr Gesicht ausdruckslos, als sie mich ansah. »Das wird dir noch leid tun, Danny«, sagte sie nur und ging ohne Eile über den Hof davon, wobei das kastanien braune Haar ein wenig auf dem grünen Tweedkleid wipp te. Ich schrubbte die Decke noch einmal. Warum hatte ich sie geküßt? Warum war ich mit ihr, obwohl ich nach die sem Kuß über sie Bescheid wußte, ins Heu gegangen? Wie hatte ich so dumm, so gierig, so unbesonnen sein können? Sinnlose Bestürzung erfüllte mich. Man brauchte eine Einladung zum Essen nicht anzu nehmen, selbst wenn die Vorspeise Appetit gemacht hatte. Nahm man sie aber an, durfte man das Gebotene nicht so schroff zurückweisen. Sie hatte allen Grund, wütend zu sein. Und ich hatte allen Grund, bestürzt zu sein. Seit neun Jahren ersetzte ich zwei Mädchen, von denen eines fast so alt war wie Patty, den Vater. Als sie klein waren, hatte ich ihnen beigebracht, sich nicht von Fremden mitnehmen zu lassen, und als sie größer wurden, wie man raffinierteren Fallstricken entgeht. Und jetzt war ich selbst einer derje nigen, vor denen alle Eltern warnen. 114
Ich hatte ein entsetzlich schlechtes Gewissen gegenüber October, denn es ließ sich nicht leugnen, daß ich das glei che gewollt hatte wie Patty.
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A
m nächsten Morgen ritt Elinor mein Pferd, und Pat ty, die sie offensichtlich überredet hatte, mit ihr zu tauschen, mied es peinlich, mich auch nur anzusehen. Elinor, ein dunkles Kopftuch um das silberblonde Haar, ließ sich ohne weiteres von mir raufwerfen, lächelte dan kend und ritt mit ihrer Schwester an der Spitze des Lots davon. Als wir jedoch vom Training zurückkamen, führte sie das Pferd in die Box und begann es zu putzen, während ich mich um Sparking Plug kümmerte. Ich merkte das erst, als ich den Hof hinunterkam, und war überrascht, sie dort zu sehen, da Patty das Pferd stets gezäumt, gesattelt und verdreckt in der Box zurückgelassen hatte. »Holen Sie Heu und Wasser«, sagte sie. »Den habe ich gleich sauber.« Ich trug Sattel und Zaumzeug in die Sattelkammer und brachte Heu und Wasser. Elinor bürstete die Mähne des Pferdes an, und ich legte ihm die Decke über und schloß den Gurt. Sie sah zu, wie ich Stroh nachstreute, um ihm ein bequemes Lager zu bereiten, und wartete, bis ich die Tür verriegelt hatte. »Danke«, sagte ich. »Vielen Dank.« Sie lächelte. »Das tu ich gern. Wirklich. Ich mag Pferde, besonders Rennpferde. Drahtig, schnell und aufregend.« »Ja«, stimmte ich zu. Wir gingen gemeinsam über den Hof, sie zum Ausgang und ich zum Pflegerhaus. 116
»Es ist so anders, als was ich sonst jeden Tag mache«, sagte sie. »Was machen Sie denn sonst?« »Ach … studieren. An der Uni Durham.« Sie mußte über etwas lächeln, das ihr dabei einfiel. Es hatte nichts mit mir zu tun. Wenn man von gleich zu gleich mit ihr verkehrte, dachte ich, fand man bei Elinor sicher mehr als nur gutes Benehmen. »Sie reiten wirklich erstaunlich gut«, sagte sie plötzlich. »Heute morgen hörte ich Inskip zu Vater sagen, man sollte Ihnen eine Lizenz besorgen. Haben Sie noch nie daran gedacht, Rennen zu reiten?« »Das wäre ein Traum«, sagte ich inbrünstig, ohne zu ü berlegen. »Ja, und was hindert Sie?« »Hm … ich höre hier vielleicht bald auf.« »Schade.« Ein höfliches Bedauern, mehr nicht. Wir kamen beim Pflegerhaus an. Sie lächelte mir freund lich zu und ging weiter, verließ den Hof, verschwand. Vielleicht sehe ich sie nie wieder, dachte ich, und es tat mir ein wenig leid. Als der Transporter mit einem Sieger, einem Dritten und einem Geschlagenen von den Rennen zurückkam, stieg ich ins Fahrerhaus und nahm mir noch einmal die Landkarte vor. Ich wollte feststellen, wo der Wohnort von Paul Adams lag, und nach einigem Suchen fand ich ihn auch. Als mir die Bedeutung dieser Entdeckung aufging, schmunzelte ich erstaunt. Wie es aussah, gab es noch ei nen Stall, wo ich mich bewerben konnte. Ich ging in Mrs. Allnuts gemütliche Küche, aß Mrs. Allnuts köstliche Kartoffeln mit Ei, ihren Kuchen, 117
ihre Butterstullen, schlief schließlich traumlos auf Mrs. Allnuts verbeulter Matratze und badete am nächsten Morgen ausgiebig in Mrs. Allnuts blitzsauberem Bade zimmer. Am Nachmittag ging ich den Bach entlang zu meinem Rendezvous mit October, dem ich nun endlich etwas Brauchbares zu erzählen hatte. Er empfing mich mit steinerner Miene, und bevor ich ein Wort sagen konnte, schlug er mir mit voller Wucht auf den Mund. Es war ein gezielter Schlag mit dem Handrük ken, der aus der Hüfte kam, und ich sah ihn viel zu spät. »Wofür war das denn?« fragte ich, mit der Zunge über meine Zähne fahrend, die zum Glück noch alle da waren. Er starrte mich böse an. »Patty hat mir erzählt …« Er brach ab, als fielen ihm die Worte zu schwer. »Ach so«, sagte ich ausdruckslos. »Ach so, ja!« äffte er mich nach. Er atmete schnaufend, und es sah aus, als würde er mich noch einmal schlagen. Ich stieß meine Hände in die Hosentaschen, und er holte nicht aus, sondern ließ die Arme hängen, wenn er auch die Hände immer wieder zur Faust ballte. »Was hat Ihnen Patty erzählt?« »Alles.« Sein Zorn war fast greifbar. »Heulend kam sie heute morgen zu mir … Sie hat mir erzählt, wie Sie sie in den Heuspeicher gedrängt und sie festgehalten haben, so sehr sie sich auch wehrte … und wo Sie überall mit Ihren Händen waren … bis Sie sie dann gezwungen haben … sie gezwungen haben …« Er brachte es nicht über die Lippen. Ich war entsetzt. »Das stimmt doch nicht«, sagte ich hef tig. »Ich habe nichts dergleichen getan. Geküßt habe ich sie, und das war’s. Alles andere hat sie erfunden.« »Das kann sie gar nicht erfunden haben. So detailgenau … Sie wüßte so was nicht, wenn sie es nicht erlebt hätte.« 118
Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Sicher hat te sie es erlebt; irgendwo, mit irgend jemand, mehr als einmal und bestimmt auch freiwillig. Aber ich merkte schon, daß sie wenigstens bis zu einem gewissen Grad mit ihrer abscheulichen Rache durchkommen würde, denn es gibt Dinge, die man dem Vater einer jungen Frau nicht sagen kann, zumal wenn man ihn mag. »Noch nie habe ich mich so in einem Menschen ge täuscht«, sagte October schneidend. »Ich hielt Sie für ver antwortungsbewußt … oder doch für jemand, der sich be herrschen kann. Nicht für einen geilen Haderlumpen, der mein Geld – und meine Wertschätzung – nimmt und sich heimlich an meiner Tochter vergreift.« Das Körnchen Wahrheit daran traf mich schon, und Schuldgefühle hatte ich wegen meines törichten Verhal tens sowieso. Aber ich mußte mich trotz allem wehren, denn niemals hätte ich Patty Schaden zugefügt, und au ßerdem lief noch die Untersuchung der Dopingfälle. Jetzt, wo ich damit so weit gekommen war, wollte ich mich nicht in Unehren heimschicken lassen. »Ich bin mit Patty in den Heuspeicher gegangen«, sagte ich langsam. »Und ich habe sie geküßt. Einmal. Ein Kuß. Weiter habe ich sie nicht angerührt. Ich habe sie buch stäblich nicht angefaßt, weder ihre Hand noch ihr Kleid … nichts.« Er sah mir lange fest in die Augen, während sein Zorn allmählich nachließ und einer Art Müdigkeit wich. Schließlich sagte er beinah gefaßt: »Einer von euch lügt. Ich muß meiner Tochter glauben.« Die Worte hatten einen unerwartet flehenden Beiklang. »Ja«, sagte ich. Ich wandte den Blick ab, sah den Bach hinauf. »Ein Problem wäre damit immerhin gelöst.« »Welches Problem?« 119
»Wie ich hier ohne Referenz mit Schimpf und Schande gefeuert werden kann.« Das war so weit weg von dem, was ihn beschäftigte, daß es erst nach einigen Sekunden überhaupt zu ihm durch drang, doch dann maß er mich mit einem aufmerksamen Blick aus schmalen Augenschlitzen, dem ich nicht aus wich. »Sie wollen die Untersuchung also fortführen?« »Wenn es Ihnen recht ist.« »Ja«, sagte er mit schwerer Stimme. »Zumal Sie ja weg gehen und keine Gelegenheit mehr haben werden, Patty zu sehen. Was immer ich persönlich von Ihnen halte, Sie bleiben unsere größte Hoffnung in dieser Angelegenheit, und das Wohl des Rennsports muß mir vorgehen.« Er schwieg. Ich sann über die ziemlich trübe Aussicht nach, eine solche Arbeit für einen Mann tun zu müssen, der mich verabscheute. Aber der Gedanke, aufzugeben, schien mir schlimmer. Sehr merkwürdig. Schließlich sagte er: »Wieso wollen Sie denn ohne Refe renz gehen? Ohne Referenzen nimmt man Sie in keinem der drei Stalle.« »Keine Empfehlung ist die beste Empfehlung für den Stall, wo ich hinwill.« »Nämlich?« »Zu Hedley Humber.« »Humber?« sagte er düster und ungläubig. »Wieso denn das nun? Er ist ein miserabler Trainer und hat keines der gedopten Pferde trainiert. Was wollen Sie da?« »Er hat die Pferde nicht trainiert, als sie siegten«, gab ich zu, »aber drei von ihnen sind in ihrer Laufbahn vorher durch seine Hände gegangen. Und es gibt einen gewissen P. J. Adams, der zum einen oder anderen Zeitpunkt weite 120
re sechs von den elf besessen hat. Der Landkarte nach wohnt Adams keine fünfzehn Kilometer von Humber ent fernt. Humber lebt in Posset, das noch in Durham liegt, und Adams in Teilbridge, das schon zu Northumberland gehört. Neun von den elf Pferden waren also zeitweise in diesem kleinen Bereich der Britischen Inseln unterge bracht. Keines blieb lange. Die Dossiers über Transistor und Rudyard sind weit weniger ausführlich als die ande ren, was ihre ersten Jahre angeht, und ich glaube, es ließe sich bestimmt nachweisen, daß auch sie für kurze Zeit un ter den Fittichen entweder von Adams oder Humber gewe sen sind.« »Aber wie soll sich denn der Aufenthalt bei Adams oder Humber auf die Schnelligkeit der Pferde Monate oder Jah re später ausgewirkt haben?« »Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Aber ich würde es ger ne herausfinden.« Ein Schweigen entstand. »Also gut«, erwiderte er mit schwerer Stimme. »Ich sage Inskip, daß Sie entlassen sind. Und zwar, weil Sie Patricia belästigt haben.« »In Ordnung.« Er blickte mich kalt an. »Sie können mir dann schriftlich berichten. Ich will Sie nicht mehr sehen.« Ich schaute ihm nach, als er kräftigen Schrittes den Berg hinaufging. Ich wußte nicht, ob er wirklich noch überzeugt war, daß ich getan hatte, was Patty behauptete; ich wußte nur, daß er es glauben mußte. Die andere Möglichkeit, die Wahrheit, war ungleich schlimmer. Welcher Vater möchte schon wahrhaben, daß seine schöne achtzehnjährige Toch ter ein verlogenes Flittchen ist? Was mich betraf, so war ich alles in allem noch glimpf lich davongekommen; hätte ich gehört, daß jemand Belin 121
da oder Helen unsittlich belästigt habe, hätte ich ihn totge schlagen. Nach dem zweiten Lot am nächsten Tag sagte Inskip mir klipp und klar, was er von mir hielt, und es war nicht schön zu hören. Nachdem er mir zur Schadenfreude der Jungs, die mit ihren vollen Eimern, vollen Heunetzen und langen Ohren um uns herumlatschten, mitten auf dem Hof den Kopf ge waschen hatte, gab er mir meine Versicherungs- und die Lohnsteuerkarte zurück, die mit ihrer unleserlichen Adres se in Cornwall noch immer eine ungeknackte Nuß war, und befahl mir, auf der Stelle meinen Kram zu packen und zu verschwinden. Ich brauchte seinen Namen auch nicht als Referenz anzugeben, denn Lord October habe ihm ausdrücklich untersagt, für meinen Charakter zu bürgen, und er könne die Entscheidung seines Chefs nur begrüßen. Er gab mir einen Wochenlohn als Abfindung, minus Mrs. Allnuts Anteil, und damit hatte es sich. Ich packte meine Sachen in dem kleinen Schlafsaal; klopfte zum Abschied noch einmal auf das Bett, in dem ich sechs Wochen geschlafen hatte, und ging hinunter in die Küche, wo die Jungs zu Mittag aßen. Elf Augenpaare schauten mich an. Die einen verächtlich, die anderen er staunt, ein oder zwei dumm belustigt. Keiner sah aus, als bedauerte er, daß ich fortging. Mrs. Allnut gab mir ein dickes Käsesandwich mit, und das verzehrte ich auf der Talwanderung nach Slaw, wo ich den Zweiuhrbus nach Harrogate nehmen wollte. Und wohin dann? Kein vernünftiger Pferdepfleger würde von einem er folgreichen Stall wie dem Inskipschen direkt zu Humber laufen, auch wenn er hochkant rausgeflogen war; es mußte erst ein Weilchen mit mir abwärts gehen, damit das unver 122
dächtig wirkte. Überhaupt hielt ich es für wesentlich bes ser, wenn nicht ich nach Arbeit fragte, sondern Humbers Reisefuttermeister sie mir anbot. Das konnte so schwer nicht sein. Wenn ich mich auf allen Rennbahnen, wo Humber Starter hatte, blicken ließ und mich jedesmal ein Stück heruntergekommener präsentierte, so als brauchte ich immer dringender Arbeit, dann würde der Stall, der keine Pfleger fand, eines Tages anbeißen. Bis dahin brauchte ich eine Bleibe. Während der Bus hinunter nach Harrogate gondelte, faßte ich meinen Plan. Der Nordosten mußte es sein, da wo Humbers Pferde lie fen. Eine große Stadt, in der ich anonym sein konnte. Eine lebhafte Stadt, damit mir die Zeit zwischen den Renntagen nicht lang wurde. Mit Hilfe der Straßenkarten und Reise führer in der Stadtbibliothek Harrogate entschied ich mich für Newcastle, und dank zweier hilfsbereiter Fernfahrer kam ich am Spätnachmittag dort an und nahm mir ein Zimmer in einem billigen Hotel. Es war ein schreckliches Zimmer mit kaffeebrauner Ta pete, die sich von den Wänden löste, brüchigem, gemu stertem Linoleum am Boden, einer harten, schmalen Liege und verkratzten Möbeln aus gebeiztem Furnierholz. Nur seine unerwartete Sauberkeit und ein nagelneues Wasch becken in der Ecke machten es erträglich, doch ich mußte zugeben, daß es meiner äußeren Erscheinung und meinen Zwecken bestens entsprach. Ich aß gebackenen Fisch mit Pommes frites für drei Shil ling sechs, ging ins Kino und genoß es, weder drei Pferde versorgen noch jedes Wort, das ich sagte, abwägen zu müssen. Die wiedergewonnene Freiheit war so wohltuend, daß meine Stimmung sich erheblich besserte und ich sogar den Ärger mit October vergaß. Am nächsten Morgen schickte ich ihm per Einschreiben die zweiten fünfundsiebzig Pfund, die ich ihm bei unserem 123
Treffen am Sonntag nicht übergeben hatte, zusammen mit einem förmlichen Brief, in dem ich kurz erklärte, warum erst einige Zeit verstreichen sollte, bevor ich bei Humber anfing. Von der Post aus ging ich in ein Wettbüro und schrieb mir die Rennveranstaltungen der nächsten Wochen heraus. Es war Anfang Dezember, und vor der ersten Januarwoche standen im Norden nur wenige Rennen an – vertane Zeit aus meiner Sicht und ärgerlich. Nach dem Renntag in Newcastle am kommenden Sonnabend fanden nördlich von Nottinghamshire bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag, über vierzehn Tage später, keine Rennen mehr statt. Ungeachtet dieses Rückschlags begab ich mich auf die Suche nach einem zünftigen gebrauchten Motorrad. Erst am späten Nachmittag fand ich genau das, was mir vor schwebte, eine vier Jahre alte, frisierte 500-cc-Norton aus der Hand eines jetzt einbeinigen jungen Mannes, der auf dem schnellen Weg nach Norden einmal zu oft Gas gege ben hatte. Der Verkäufer erzählte mir die Geschichte gut gelaunt, während er mein Geld nahm, und versicherte mir, die Maschine schaffe auch jetzt noch 160 Stundenkilome ter. Ich bedankte mich höflich und ließ sie bei ihm stehen, weil sie noch einen neuen Auspufftopf sowie neue Hand griffe, Bremskabel und Reifen bekommen sollte. In Slaw war ich ganz gut ohne eigenes Fahrzeug ausge kommen, und über meine Beweglichkeit in Posset würde ich mir auch keine Gedanken gemacht haben, hätte mir nicht eine warnende Stimme dauernd gesagt, daß ich es vielleicht einmal ratsam finden könnte, mich schnell da vonzumachen. Der Journalist Tony Stapleton ging mir nicht aus dem Kopf. Zwischen Hexham und Yorkshire hatte er acht Stunden verloren und den Tod gefunden. Zwischen Hexham und Yorkshire lag Posset. 124
Der erste, den ich vier Tage darauf in Newcastle beim Pferderennen sah, war der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart, der mir einen Dauerposten als Stallspion an getragen hatte. Er stand unauffällig in einer Ecke am Ein gang und redete mit einem großohrigen Jungen, den ich später ein Pferd aus einem landesweit bekannten Wettstall herumführen sah. Aus einiger Entfernung beobachtete ich, wie er dem Jungen ein weißes Kuvert gab und ein braunes dafür in Empfang nahm. Gekaufte Informationen, dachte ich, und bezahlt vor aller Augen, als wäre nichts dabei. Ich schlenderte hinter Schwarzem Schnurrbart her, als er nach der Transaktion in den Buchmacherring ging. Wieder sah es aus, als studierte er nur die Quoten für das erste Rennen, und wie schon einmal setzte ich ein paar Shilling auf den Favoriten, falls jemand aufgefallen war, daß ich dem Schnurrbärtigen folgte. Der legte trotz seines Kurs vergleichs keine Wette an, sondern ging an die Absper rung, die den Ring von der eigentlichen Bahn trennte. Dort blieb er wie zufällig neben einer künstlich rothaarigen Frau stehen, die eine Leopardenfelljacke über einem dun kelgrauen Rock trug. Sie wandte ihm den Kopf zu, und sie sprachen miteinan der. Nach einer Weile zog er das braune Kuvert aus der Brusttasche und legte es in ein Rennprogramm, das er Au genblicke später mit dem der Frau austauschte. Er entfern te sich von den Rails, während sie das Rennprogramm mit dem Kuvert in einer großen, glänzendschwarzen Handta sche verstaute. Im Schutz der letzten Buchmacherreihe beobachtete ich, wie sie das Clubhaus betrat und auf den Rasen vor der Mitgliedertribüne ging. Dorthin konnte ich ihr nicht folgen, doch von der Haupttribüne aus sah ich, wie sie durch den nächsten Tribünenabschnitt wanderte. Man schien sie zu kennen. Sie unterhielt sich mit ver 125
schiedenen Leuten – einem gebückten alten Herrn mit Schlapphut, einem fettleibigen jungen Mann, der ihr wie derholt den Arm tätschelte, zwei Damen in Nerz, einer Gruppe von drei Männern, die schallend lachten und mir die Sicht verstellten, so daß ich nicht mitbekam, ob sie einem von ihnen das braune Kuvert übergeben hatte. Die Pferde kamen auf die Bahn, und die Zuschauer zo gen auf die Tribüne, um sich das Rennen anzusehen. Die Rothaarige verschwand im Gewühl auf der Mitgliedertri büne, aber ich konnte es nicht ändern. Das Rennen be gann, und der Favorit gewann leicht mit zehn Längen. Das Publikum feierte ihn. Ich blieb stehen, wo ich war, während die Leute ringsum von der Tribüne strömten, und wartete, ohne mir allzuviel Hoffnung zu machen, ob die rothaarige Leopardenfrau nicht noch einmal auftauch te. Und da war sie. In der einen Hand hielt sie ihre Tasche, in der anderen das Rennprogramm. Diesmal wechselte sie ein paar Worte mit einem kleinen dicken Mann, bevor sie zu den Buchmachern herüberkam, die nicht weit von mir an der Absperrung zwischen dem Ring und den Mitglie derplätzen standen. Jetzt erst sah ich deutlich ihr Gesicht; sie war jünger, als ich angenommen hatte, und nicht so hübsch; ihre oberen Zähne standen auseinander. Mit schneidender, blecherner Stimme sagte sie: »Ich möchte bezahlen, Bimmo«, zog ein braunes Kuvert aus ihrer Handtasche und reichte es einem kleinen Mann mit Brille, der auf einer Kiste neben einer Tafel mit der Auf schrift BIMMO BOGNOR, GEGR. 1920, MANCHESTER UND LONDON stand. Mr. Bimmo Bognor nahm das Kuvert und steckte es mit einem kernigen »Man dankt«, das an mein gespitztes Ohr drang, in seine Jackentasche. 126
Ich verließ die Tribüne und holte mir meinen kleinen Wettgewinn und wußte nur, daß die Rothaarige Bimmo Bognor ein Kuvert übergeben hatte, das so aussah wie dasjenige, das Schwarzer Schnurrbart von dem großohri gen Pfleger bekommen hatte, aber nicht, ob es dasselbe war. Sie konnte das Kuvert des Pflegers einem der Leute zugesteckt haben, mit denen ich sie hatte reden sehen, o der sonst jemandem auf der Tribüne, als sie mir aus den Augen geraten war, und hatte dann vielleicht ganz ehrlich ihren Buchmacher bezahlt. Um die Kette genau zu verfolgen, schien es mir das be ste, eine dringende Nachricht auf den Weg zu schicken – so dringend, daß kein langes Hin und Her entstand, son dern eine direkte Verbindung von A nach B und von B nach C hergestellt wurde. Da Sparking Plug im fünften Rennen antrat, stellte die dringende Nachricht kein Pro blem dar; um aber Schwarzen Schnurrbart genau im rich tigen Moment abzupassen, mußte ich ihn den ganzen Nachmittag im Auge behalten. Zum Glück war er ein Gewohnheitstier. Er schaute im mer von der gleichen Tribünenecke aus den Rennen zu, ging zwischendurch immer in die gleiche Bar und stand unauffällig am Eingang zum Geläuf, wenn die Pferde aus dem Führring kamen. Er wettete nicht. Humber hatte zwei Starter, einen im dritten und einen im letzten Lauf, und obwohl ich mein Hauptanliegen da mit bis zum späten Nachmittag beiseite schob, ließ ich das dritte Rennen verstreichen, ohne mich nach seinem Reisefuttermeister umzusehen. Statt dessen blieb ich in einer gewissen Entfernung hinter dem Schwarzen Schnurrbart. Nach dem vierten Rennen folgte ich ihm in die Bar und rempelte ihn kräftig an, als er sein Glas hob. Das Bier schwappte ihm über die Hand und lief an seinem Ärmel 127
runter, und fluchend fuhr er herum und hatte mein Gesicht direkt vor seiner Nase. »Entschuldigung«, sagte ich. »Ach, Sie sind’s!« Ich leg te eitel Überraschung in meine Stimme. Seine Augen wurden schmal. »Was machen Sie denn hier? Sparking Plug läuft doch jetzt.« Ich blickte finster. »Ich bin nicht mehr bei Inskip.« »Haben Sie jetzt einen Job, wie ich ihn empfohlen habe? Gut.« »Noch nicht. Das kann auch ein Weilchen dauern, denke ich.« »Wieso? Ist nichts frei?« »Anscheinend ist keiner versessen auf mich, seit ich bei Inskip rausgeflogen bin.« »Was sind Sie?« fragte er scharf. »Bei Inskip rausgeflogen«, wiederholte ich. »Weshalb?« »Es hat ihnen nicht gepaßt, daß Sparking Plug vor acht Tagen, als Sie mich angesprochen haben, verloren hat. Sie könnten zwar nichts beweisen, meinten sie, aber sie wür den keinen Wert mehr auf mich legen und tschüs.« »Das ist aber schade«, sagte er und wollte sich verkrü meln. »Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, feixte ich und hielt ihn am Arm fest. »Passen Sie auf, Mann, die kriegen ihr Fett.« »Wie darf ich das verstehen?« In seinem Tonfall lag un verhohlene Verachtung, aber seine Augen waren gespannt. »Sparking Plug siegt heute auch nicht«, erklärte ich. »Kann er gar nicht, weil er’s am Magen hat.« »Und woher wissen Sie das?« 128
»Ich habe seinen Leckstein mit Paraffinöl getränkt«, sag te ich. »Seit ich am Montag weg bin, schleckt er ein be währtes Abführmittel. Das dämpft die Lust am Rennen. Der gewinnt garantiert nicht.« Ich lachte. Schwarzer Schnurrbart warf mir einen entgeisterten Blick zu, machte sich von mir los und eilte aus der Bar. Ich folgte ihm vorsichtig. Er stürmte förmlich hinunter in den Buchmacherring und schaute sich verzweifelt um. Die Rothaarige war nirgends zu sehen, doch sie mußte in der Nähe gewesen sein, denn auf einmal kam sie zügig an den Rails entlang zu der Stelle, wo sie sich vorhin getrof fen hatten. Schon war Schwarzer Schnurrbart bei ihr. Er redete heftig auf sie ein. Sie hörte zu und nickte. Ein we nig beruhigt ließ er sie stehen und ging vom Buchma cherring wieder zum Führring. Die Frau wartete, bis er außer Sicht war, betrat dann entschlossen die Mitglieder tribüne und ging an der Absperrung entlang wieder zu Bimmo Bognor. Der kleine Mann beugte sich über den Zaun vor, während sie ernst etwas zu ihm sagte. Er nickte mehrmals, worauf sie wieder lächelte, und als er sich umdrehte, um mit seinen Schreibern zu reden, sah ich, daß auch er breit grinste. Ohne Eile ging ich an den Buchmacherständen entlang und sah mir die Quoten an. Sparking Plug war wegen sei ner wasserbedingten Niederlage neulich nicht Favorit, aber mehr als 60 zu 10 traute sich niemand anzubieten. Zu diesem Kurs setzte ich bei einem sichtlich erfolgreichen und fröhlichen Buchmacher in der hintersten Reihe vierzig Pfund – meinen gesamten Inskiplohn – auf meinen frühe ren Schützling. Wenige Minuten später, immer noch im Ring, hörte ich, wie Mr. Bimmo Bognor einem Strom von Kunden 80 zu 10 für Sparking Plug anbot, und sah, wie er in der Gewiß heit, nichts auszahlen zu müssen, ihr Geld einstrich. 129
Zufrieden lächelnd ging ich auf die Tribüne und sah von ganz oben zu, wie Sparking Plug aus der Konkurrenz Hackfleisch machte und mit beleidigenden zwanzig Län gen gewann. Schade nur, daß ich da oben nicht hören konnte, was Mr. Bognor von dem Ergebnis hielt. Mein fröhlicher Buchmacher blätterte mir anstandslos zweihundertvierzig Pfund in Fünfernoten hin. Um Schwarzem Schnurrbart und eventuellen Vergeltungs schlägen zu entgehen, begab ich mich zu den billigen Plät zen im Innenraum der Rennbahn und verbrachte dort langweilige zwanzig Minuten, ging durch den Ausgang vom Geläuf zurück, als die Teilnehmer des letzten Ren nens aufgaloppierten, und stahl mich die Treppe hinauf zur Tribüne für das Stallpersonal. Humbers Reisefuttermeister stand ziemlich weit oben. Ich drängte mich unsanft an ihm vorbei und stolperte ab sichtlich über seine Füße. »Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten«, sagte er verär gert und fuhr zu mir herum. »Verzeihung, Mann. Hühneraugen, oder was?« »Das geht Sie einen Feuchten an«, sagte er und musterte mich böse. Er würde mich wiedererkennen. Ich biß auf meinen Daumennagel. »Wissen Sie, wer von dem Verein hier Davies’ Futtermeister ist?« fragte ich. »Der da drüben mit dem roten Halstuch. Warum?« »Ich brauche Arbeit«, versetzte ich, und bevor er etwas dazu sagen konnte, drängelte ich mich zu dem Mann mit dem roten Halstuch durch. Sein Stall hatte ein Pferd in dem Rennen. Ich fragte ihn leise, ob sie zwei drin hätten, und er schüttelte den Kopf und sagte nein. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß Humbers Futtermei ster die abschlägige Antwort nicht entgangen war. Wie 130
gewünscht glaubte er offensichtlich, ich hätte nach Arbeit gefragt und sei abgewiesen worden. Nachdem dieser Keim gelegt war, schaute ich mir beruhigt das Rennen an (Hum bers Pferd wurde Letzter) und verließ die Rennbahn un auffällig über den Sattelplatz und den Mitgliederparkplatz, ohne von Schwarzem Schnurrbart oder einem rachsüchti gen Bimmo Bognor abgefangen zu werden. Der Sonntag danach, den ich teils in meinem öden Zim mer, teils auf den menschenleeren Straßen verbrachte, überzeugte mich endgültig, daß ich nicht noch vierzehn Tage untätig in Newcastle herumhängen konnte, und auch der. Gedanke an eine einsame Weihnacht in den kaffee braunen vier alten Wänden war wenig verlockend. Zudem hatte ich zweihundert Pfund Buchmachergeld neben dem Rest von Octobers Vorschuß in meinem Gürtel, und erst am zweiten Weihnachtsfeiertag in Stafford lief wieder ein Pferd von Humber. Ich brauchte nur zehn Minuten, um zu entscheiden, was ich bis dahin anfangen sollte. Am Sonntag abend schrieb ich October einen Bericht über Bimmo Bognors geheimen Nachrichtendienst, und um ein Uhr früh nahm ich den Schnellzug nach London. Den Montag verbrachte ich mit Einkaufen, und Dienstag abend, gepflegt, von Kopf bis Fuß neu eingekleidet und ausgestattet mit einem teuren Paar Kästle-Skiern, trug ich mich in das Fremdenbuch eines gemütlichen, erstklassi gen kleinen Hotels in einem verschneiten Dolomitendorf ein. Die vierzehn Tage in Italien änderten nichts am Ergebnis meiner Arbeit für October, doch für mich waren sie sehr wichtig. Zum erstenmal seit dem Tod meiner Eltern mach te ich richtig Urlaub, zum erstenmal seit neun Jahren dach te ich sorglos und unbeschwert nur an mich selbst. 131
Ich wurde jünger. Anstrengende Tage auf den Hängen und eine Reihe von durchtanzten Après-Ski-Abenden lie ßen die Jahre des Verantwortungsbewußtseins wie Häute von mir abfallen, bis ich mich wie siebenundzwanzig statt wie fünfzig fühlte, wie ein junger Mann statt wie ein Fa milienvater, bis die innere Befreiung, die mit meiner Ab reise aus Australien begonnen und mich durch meine Zeit bei Inskip getragen hatte, plötzlich abgeschlossen schien. Besonders schön war auch die Zeit mit einer der Emp fangsangestellten, einer lebhaften, gutgewachsenen jungen Frau, die mich auf den ersten Blick mochte und sich nicht lange bitten ließ, nachts in mein Bett zu kommen. Sie nannte mich ihre Weihnachtsüberraschung. Ich sei ihr ausgelassenster Liebhaber seit langem und sie sei gern mit mir zusammen. Wahrscheinlich trieb sie es wesentlich wilder als Patty, aber sie war mit sich im reinen, und ich fühlte mich sauwohl mit ihr anstatt beschämt. Am Tag meiner Abreise, als ich ihr ein goldenes Arm band schenkte, küßte sie mich und sagte, ich solle nicht wiederkommen, denn beim zweitenmal sei alles nicht mehr so schön. Für Junggesellen war dieses Mädchen ein Geschenk des Himmels. Ich flog an Weihnachten zurück nach England, geistig und körperlich in Höchstform und gewappnet gegen alles Üble, was von Humber kommen konnte. Das war schon ganz gut so.
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I
n Stafford am zweiten Weihnachtsfeiertag warf eines der im ersten Lauf, dem Verkaufsrennen, startenden Pferde gleich nachdem es an vierter Stelle über das letzte Hindernis gekommen war, seinen Jockey ab, durchbrach die Rails und stob über das ungemähte Gras in der Platz mitte davon. Ein Pfleger, der nicht weit von mir auf den zugigen Stu fen hinter dem Waageraum stand, rannte fluchend los, um es einzufangen, doch da das Pferd wie durchgedreht von einem Ende der Bahn zum anderen galoppierte, brauchten der Pfleger, der Trainer und ungefähr zehn Helfer eine Viertelstunde, bis sie es am Zaum zu fassen bekamen. Ich sah zu, wie sie das Pferd, einen Braunen ohne Abzeichen, mit besorgten Gesichtern von der Bahn herunter und an mir vorbei zu den Stallungen führten. Das arme Tier schäumte und triefte vor Schweiß und war offensichtlich in Panik; Schaum bedeckte Nüstern und Maul, und es verdrehte wild die Augen. Mit angelegten Ohren, zitternden Muskeln schlug es nach jedem aus, der in seine Nähe kam. Dem Rennprogramm entnahm ich, daß es Superman hieß. Es gehörte nicht zu den elfen, über die ich ermittelte, doch sein hochgeputschtes Aussehen und sein panisches Verhalten, noch dazu ausgerechnet hier in Stafford beim Verkaufsrennen, überzeugten mich, daß es das zwölfte in der Reihe war. Das zwölfte; und bei ihm war es schiefge 133
gangen. Wie Beckett gesagt hatte, waren die Anzeichen des Dopings unübersehbar. Ich hatte noch nie ein Pferd in einem solchen Zustand erlebt, für den mir die Bezeich nung »erregter Sieger« aus den Zeitungsausschnitten viel zu mild erschien, und ich kam zu dem Schluß, daß Superman entweder eine Überdosis erhalten oder die bei den anderen bewährte Dosis überaus schlecht vertragen hatte. Weder October noch Macclesfield waren nach Stafford gekommen. Ich hoffte inständig, daß die von October ver sprochenen Vorbeugemaßnahmen wie etwa Speichelpro ben vor dem Start trotz Weihnachten auch hier durchge führt worden waren, denn ohne meine Tarnung auf zugeben, konnte ich weder einen Funktionär danach fra gen noch verlangen, daß man den Jockey nach seinen Ein drücken befragte, ungewöhnliche Wetten überprüfte und das Pferd genauestens auf Einstiche untersuchte. Da Superman alle Sprünge sicher genommen hatte, neig te ich immer mehr zu der Ansicht, daß das Doping erst unmittelbar vor oder nach dem letzten Hindernis auf ihn gewirkt haben konnte. Da erst war er durchgedreht und hatte, statt zu siegen, seinen Jockey abgeworfen und das Weite gesucht. Da erst hatte er den Energieschub für die letzten vierhundert Meter bekommen, für die lange Zielge rade, die ihm Zeit und Raum ließ, an den Führenden vor beizuziehen. Der einzige auf der Rennbahn, mit dem ich unbesorgt reden konnte, war Supermans Pfleger, doch bei dem Zu stand seines Pferdes würde es sicher einige Zeit dauern, bis er aus dem Stall kam. Inzwischen mußte ich mich wei ter darum kümmern, bei Humber eine Stellung zu be kommen. Ich war ungekämmt, mit hochgestelltem Lederkragen auf der Rennbahn erschienen, die spitzen Schuhe unge putzt, die Hände in den Taschen, und zeigte ein mürri 134
sches Gesicht. Ich blamierte die Innung und war mir des sen bewußt. Es war kein Vergnügen gewesen, an diesem Morgen wieder in »Dannys« Klamotten zu schlüpfen. Die Pullover stanken nach Pferd, die enge, billige Freizeithose sah schmuddlig aus, das Unterzeug war grau gewaschen, und an den Arbeitsjeans klebte noch Dreck. Weil es schwierig gewesen wäre, die Sachen an Weihnachten zurückzube kommen, hatte ich darauf verzichtet, sie vor meiner Abrei se in die Reinigung zu geben, und obwohl ich sie ungern so angezogen hatte, wie sie waren, bereute ich es nicht. Um so heruntergekommener sah ich aus. Rasiert und umgezogen hatte ich mich in der Flughafen garderobe in West Kensington, die Skier und mein Reise gepäck hatte ich in der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof Euston deponiert, dann eine Stunde ungemütlich dort auf einem Wartesitz geschlafen und mir Sandwiches und Kaf fee an der Selbstbedienungstheke geholt, bevor ich in den Sonderzug nach Stafford gestiegen war. Wenn das so wei terging, dachte ich ironisch, würden meine Habseligkeiten bald quer über London verteilt sein, denn weder auf der Hin- noch auf der Rückreise hatte ich mich entschließen können, die bei Terence in Octobers Londoner Wohnung zurückgelassenen Sachen abzuholen. Ich wollte October nicht begegnen. Ich mochte ihn und war nicht geneigt, mich seinem bitteren Groll auszusetzen, wenn es nicht unbedingt sein mußte. Humber hatte an Weihnachten nur einen Starter, ein schmächtiges Hürdenpferd im vierten Rennen. Ich hängte mich über die Abzäunung bei den Sattelboxen und schaute zu, wie der Hürdler vom Futtermeister aufgesattelt wurde, während Humber selbst, auf seinen knorrigen Gehstock gestützt, Anweisungen gab. Ihn hatte ich mir noch einmal gut ansehen wollen, und sein Anblick war ermutigend in 135
sofern, als man ihm durchaus Böses zutrauen konnte, und entmutigend insofern, als ich ihm würde gehorchen müs sen. Sein massiger Leib steckte in einem gutgeschnittenen kurzen Kamelhaarmantel, unter dem dunkle Hosen und blitzblanke Schuhe hervorschauten. Auf dem Kopf trug er eine sehr korrekt aufgesetzte Me lone, an den Händen makellose, helle Schweinslederhand schuhe. Sein Gesicht war großflächig, aber nicht fett, mit harten Zügen. Augen, die nicht lächelten, ein verbissener Mund und tiefe Furchen von den Nasenflügeln bis zum Kinn verliehen ihm einen Ausdruck kalten Eigenwillens. Er stand ganz still und machte keine Bewegung zuviel, das genaue Gegenteil von Inskip, der dauernd um die Pferde herumturnte, Gurte und Schnallen kontrollierte, am Sattel schob, am Sattel zog, Beine abtastete und nervös immer noch mal nach dem Rechten sah. Hier bei Humber war der Junge, der das Pferd hielt, ner vös. Verängstigt, konnte man schon sagen. Immer wieder warf er verhuschte, erschreckte Blicke auf Humber, und so gut es ging, blieb er hinter dem Pferd in Deckung. Ein dünner, abgerissener Junge um die Sechzehn, und wie es mir vorkam, geistig nicht ganz auf der Höhe. Der Futtermeister, ein gestandener Mann mit großer Na se und unfreundlicher Miene, paßte in Ruhe den Sattel an und bedeutete dem Pfleger nickend, das Pferd in den Führ ring zu bringen. Humber ging mit. Sein leichtes Hinken wurde durch den Gebrauch des Gehstocks mehr oder min der kaschiert, und er lief stur geradeaus wie ein Panzer, als müßten alle anderen selbstverständlich weichen. Ich folgte ihm, hängte mich an die Führringrails und sah zu, wie er seinen Jockey instruierte, einen Erlaubnisreiter, der sein Pferd mit berechtigter Skepsis betrachtete. Nicht 136
Humber, sondern der Futtermeister warf den Jockey rauf und nahm die Decke des Pferdes an sich. Wieder zurück auf der Tribüne fürs Stallpersonal, stellte ich mich direkt vor den Futtermeister, und in der Stille vor dem Start ver suchte ich den unbekannten Pfleger, der neben mir stand, anzupumpen. Zu meiner Erleichterung, wenn auch nicht unerwartet, lehnte er das Ansinnen so empört und so laut ab, daß Humbers Futtermeister es mitbekommen mußte. Ich zog die Schultern hoch und widerstand der Versu chung, mich umzudrehen und zu schauen, ob es gewirkt hatte. Humbers Pferd machte auf der Zielgeraden schlapp und wurde Zweitletzter. Niemand wunderte sich. Danach postierte ich mich am Stalltor, um Supermans Pfleger abzupassen, aber der ließ noch eine halbe Stunde auf sich warten und kam erst nach dem fünften Rennen heraus. Ich ging wie durch Zufall neben ihm her und meinte: »Du hast ja ganz schön was am Hals, Mann.« Er fragte mich, für wen ich arbeitete; als ich Inskip sag te, taute er auf und meinte, eine Tasse Tee und was zu es sen wäre nach dem ganzen Theater nicht schlecht. »Kommt er immer so überdreht aus dem Rennen?« frag te ich, während wir unsere Käsesandwiches verzehrten. »Nein, normalerweise ist er hundemüde. Aber heute war auch wirklich der Teufel los, Mann.« »Wieso?« »Na, erst mal haben sie allen Startern vor dem Rennen irgendwelche Proben abgenommen. Kannst du mir sagen, was das soll? Wieso vorher? Das bringt doch nichts. Hast du das schon mal erlebt?« Ich schüttelte den Kopf. 137
»Dann ist Super so gelaufen, wie er immer läuft; man denkt, daß er locker ins Geld kommt, und am letzten Hin dernis kann er nicht mehr. Will er nicht mehr, schätze ich. Dummer Sack. Sie haben sein Herz untersucht, aber das ist in Ordnung. Er hat einfach nicht den Mumm zu kämp fen. Und heute, genau am letzten Hindernis, schmeißt er die Bremse weg und dampft los wie vom Teufel gehetzt. Hast du das gesehen? Nervös ist er eigentlich immer, aber als wir ihn heute gefangen haben, ging er die Wände hoch. Dem Chef war angst und bang. Super sah aus wie gedopt, und da wollte er ihn von sich aus untersuchen lassen, be vor die Rennleitung sagt, er hat dem Pferd was gegeben, und ihm seine Lizenz wegnimmt. Ein paar Tierärzte sind um ihn herumgetanzt, um ihm die und die Proben abzu nehmen … wirklich getanzt, weil Super sie zu gern über die Stallwand gekickt hätte … und schließlich haben sie ihm was zur Beruhigung gespritzt. Aber wie wir den nach Hause kriegen sollen, ist mir ein Rätsel.« »Betreust du ihn schon lange?« fragte ich mitfühlend. »Seit Saisonbeginn haben wir ihn. So ungefähr vier Mo nate. Er ist wie gesagt dünnhäutig, aber vor dem Ausfall hier hatte ich ihn gerade so an mich gewöhnt. Ich hoffe bloß, daß er wieder auf den Boden kommt, bis die Spritzen nachlassen.« »Wer hat ihn denn vorher gehabt?« fragte ich beiläufig. »Voriges Jahr war er in einem kleinen Stall in Devon, bei einem Privattrainer namens Beaney, glaube ich. Ja, Beaney, da hat er angefangen, nur gebracht hat er nichts.« »Wahrscheinlich ist er da beim Anreiten nervös gemacht worden«, sagte ich. »Nein, eben nicht, ich hab mit einem Pfleger von Beaney gesprochen, als wir im August bei den Rennen in Devon waren, und der meinte, ich würde von einem anderen 138
Pferd reden, denn Superman sei friedlich, brav und pflege leicht. Oder aber in dem Sommer, nachdem sie ihn abge geben hätten und bevor er zu uns kam, müsse ihm etwas aufs Gemüt geschlagen sein.« »Wo war er denn da?« fragte ich, nach der Tasse orange farbenen Tees greifend. »Keine Ahnung. Der Chef hat ihn, glaube ich, in Ascot gekauft, und zwar billig. Jetzt schlägt er ihn bestimmt wieder los, wenn ihm einer mehr als der Abdecker zahlt. Armer Super. So ein Knallkopf.« Er starrte düster in sei nen Tee. »Du meinst also nicht, daß er heute verrückt gespielt hat, weil er gedopt war?« »Ich glaube, er ist einfach ausgerastet«, sagte er. »Völlig ausgerastet. Es hatte doch keiner Gelegenheit, ihn zu do pen, außer mir, dem Chef und Chalky. Ich hab nichts ge macht, der Chef macht so was nicht, und auch Chalky wird sich hüten, wo er, sein ganzer Stolz, seit letzten Mo nat erst Futtermeister ist …« Wir tranken aus und gingen, um uns das letzte Rennen anzuschauen, doch über Superman wußte sein Betreuer nichts mehr zu erzählen, was mir weitergeholfen hätte. Nach dem Rennen ging ich in die Stadt und gab von ei ner Telefonzelle aus zwei gleichlautende Telegramme an October auf, eins nach London, eins nach Slaw, da ich nicht wußte, wo er sich aufhielt: »Brauche dringend Aus kunft über Superman, besonders, wohin Besitzertrainer Beaney, Devon, ihn ca. Mai letzten Jahres abgegeben hat. Antwort postlagernd, Newcastle-upon-Tyne.« Den Abend verbrachte ich, Welten entfernt von der Hei terkeit des Vortags, in einem dreiviertel leeren Kino, wo ein ödes Musical lief, und die Nacht in einem schmuddli gen Hotel garni, wo man mich von oben herab musterte 139
und im voraus zahlen ließ. Würde ich mich je daran ge wöhnen, wie Dreck behandelt zu werden? Es war jedesmal wieder ein Schlag. Wahrscheinlich hatte ich die Achtung, die man einander in Australien entgegenbrachte, für viel zu selbstverständlich genommen. In Zukunft würde ich sie zu schätzen wissen, dachte ich kläglich, als die Wirtin mich in ein unfreundliches kleines Zimmer führte und mir einen argwöhnischen Vortrag hielt von wegen keine Selbstverpflegung, kein warmes Wasser und kein Damen besuch. Am folgenden Nachmittag lungerte ich mit bedrückter Armesündermiene auffällig vor Humbers Futtermeister herum, und nach den Rennen kehrte ich per Bus und Bahn nach Newcastle zurück. Am nächsten Morgen holte ich. mein aufgerüstetes Motorrad ab und fuhr bei der Post vor bei, um zu sehen, ob schon Antwort von October da war. Der Mann am Schalter gab mir einen Umschlag. Er ent hielt ein mit der Maschine beschriebenes Blatt ohne Anre de, ohne Unterschrift: »Superman wurde in Irland geboren und gezogen. Zweimaliger Besitzerwechsel, bevor er zu John Beaney nach Devon kam. Von Beaney wurde er am 3. Mai verkauft an H. Humber, Posset, County Durham. Humber brachte ihn zur Juliauktion nach Ascot, dort ging er für 260 Pfund an seinen jetzigen Trainer. Die gestrigen Untersuchungen im Fall Superman in Staf ford sind bislang fruchtlos; die Dopingproben sind noch nicht ausgewertet, werden aber kaum etwas bringen. Der Rennbahntierarzt war, wie Sie scheinbar auch, überzeugt, daß die Sache stank, und hat die Haut des Pferdes gründ lich untersucht, aber keine Einstiche gefunden außer de nen, die von seinen eigenen Beruhigungsspritzen stamm ten. Superman war vor dem Rennen offenbar in normaler Verfassung. Sein Jockey fand bis zum letzten Hindernis 140
alles normal, dann bekam das Pferd eine Art Krampf und warf ihn ab. Weitere Ermittlungen über Rudyard ergaben, daß er im Winter vor vier Jahren von P. J. Adams, Tellbridge, Northumberland gekauft und nach kurzer Zeit in Ascot wieder verkauft wurde. Transistor wurde von Adams vor drei Jahren in Doncaster ersteigert und drei Monate später in Newcastle wieder verkauft. Die fortlaufend numerierten dreißig Fünfpfundnoten wurden von der Barclays Bank in Birmingham, Zweigstel le New Street, an einen gewissen Lewis Greenfield ausge geben, der genau Ihrer Beschreibung des Mannes, der Sie in Slaw angesprochen hat, entspricht. Wir werden gegen Greenfield und T. N. Tarleton vorgehen, jedoch damit warten, bis Ihre Hauptaufgabe zu Ende gebracht ist. Ihren Bericht über Bimmo Bognor haben wir zur Kennt nis genommen, doch wie Sie ganz richtig sagen, ist der Erwerb von Rennstallinformationen nicht strafbar. Offizi elle Schritte sind nicht vorgesehen, aber bestimmte Trainer können und sollen auf den Spionagering hingewiesen werden.« Ich zerriß das Blatt und warf es stückchenweise in den Papierkorb, dann setzte ich mich auf mein Motorrad und rauschte die A1 hinunter nach Catterick. Es fuhr sich gut, schön schnell vor allem, und kam tatsächlich noch auf hundertsechzig Sachen. In Catterick biß Humbers Futtermeister an diesem Sams tag an wie eine hungrige Forelle. Inskip hatte zwei Pferde geschickt, von denen Paddy eins betreute, und vor dem zweiten Rennen sah ich den cleveren kleinen Iren auf der Begleitertribüne ernst mit Humbers Futtermeister reden. Ich befürchtete, er könnte sich erweichen lassen, etwas Günstiges über mich zu sa 141
gen, aber die Sorge hätte ich mir sparen können. Er trieb sie mir persönlich aus. »Du bist ein blöder Hund«, sagte er und maß mich vom Zottelkopf bis zu den staubigen Schuhspitzen. »Das hast du jetzt davon. Der Kerl von Humber hat sich nach dir erkundigt; weshalb du bei Inskip rausgeflogen bist, wollte er wissen, und ich hab ihm den wahren Grund gesagt, nicht den Quatsch von der gnädigen Tochter.« »Was für einen wahren Grund denn?« fragte ich erstaunt. Er verzog verächtlich den Mund. »Die Leute reden doch. Meinst du vielleicht, die behalten irgendeinen Klatsch für sich? Meinst du, Grits hat mir nicht erzählt, wie du dich in Cheltenham besoffen hast und über Inskip hergezogen bist? Und deine Sprüche in Bristol, daß du Leuten zeigen würdest, wo bestimmte Pferde stehen, sind auch zu mir gedrungen. Und mit dem schrägen Soupy verstehst du dich ja glänzend. Und als wir damals alle unseren Lohn auf Sparking Plug gesetzt haben und er stehengeblieben ist … jede Wette, daß das dein Werk war. Ich habe Humbers Typ gesagt, er wäre verrückt, dich zu nehmen. Du bist das Letzte, Dan, auf dich kann jeder Stall verzichten, und das hab ich ihm gesagt.« »Danke.« »Reiten kannst du«, stieß Paddy angewidert nach, »das muß man dir lassen. Vergeudetes Talent ist das. Du kommst in keinem ordentlichen Stall mehr unter, einen faulen Apfel muß man von den guten trennen.« - »Hast du das Humbers Stallmann auch gesagt?« »Daß kein ordentlicher Stall dich nimmt, hab ich ihm gesagt«, nickte er. »Und wenn du mich fragst, das ge schieht dir verdammt recht.« Er ließ mich abrupt stehen. Ich seufzte und sagte mir, daß Paddys schlechte Mei nung mir eigentlich schmeicheln müsse. 142
Humbers Futtermeister sprach mich zwischen den bei den letzten Rennen auf dem Sattelplatz an. »He da«, sagte er und packte mich am Arm. »Ich hab gehört, Sie suchen Arbeit.« »Stimmt.« »Da hab ich vielleicht was für Sie. Wird gut bezahlt, weit überm Durchschnitt.« »Bei wem denn?« fragte ich. »Und wieviel?« »Sechzehn Pfund die Woche.« »Läßt sich hören«, sagte ich. »Wo?« »Bei mir. Für Mr. Humber. In Durham.« »Humber«, wiederholte ich mürrisch. »Sie brauchen doch Arbeit, oder nicht? Wenn Sie es natür lich nicht nötig haben, Geld zu verdienen, ist das was ande res.« Spöttisch betrachtete er meinen schäbigen Aufzug. »Ich brauche schon Arbeit«, murmelte ich. »Na und?« »Vielleicht nimmt er mich nicht«, sagte ich grimmig. »Mich haben schon einige abblitzen lassen.« »Wenn ich ein gutes Wort einlege, nimmt er Sie; uns fehlt grad einer. Nächsten Mittwoch sind hier wieder Ren nen. Ich fühle vor, und wenn das klargeht, können Sie am Mittwoch mit Mr. Humber sprechen. Er sagt Ihnen dann, ob er Sie nimmt oder nicht.« »Fragen wir ihn doch gleich«, sagte ich. »Nein. Warten Sie bis Mittwoch.« »Na schön«, sagte ich widerwillig. »Wenn’s sein muß.« Ihm war förmlich anzusehen, wie er dachte, ich würde bis Mittwoch noch mehr nach Arbeit lechzen, nach jedem Strohhalm greifen und mich von Gerüchten über schlechte Bedingungen nicht mehr abschrecken lassen. 143
Ich hatte die zweihundert Pfund des Buchmachers und die Hälfte des bei Inskip verdienten Geldes für meinen Italientrip ausgegeben (der jeden Penny wert war), und nachdem ich das Motorrad und die Übernachtung in einer Reihe billiger Absteigen bezahlt hatte, war von Octobers zweihundert Pfund Spesenvorschuß so gut wie nichts üb rig. Von weiteren Vorschüssen hatte er nichts gesagt, und ich wollte ihn nicht darum bitten, aber da ich die andere Hälfte meines Lohns ausgeben konnte, wie es mir paßte, verbriet ich sie innerhalb von drei Tagen fast restlos auf einer Motorradtour nach Edinburgh, wo ich herumlief, die Schönheiten der Stadt bewunderte und mir unter den vie len Touristen recht merkwürdig vorkam. Am Dienstag abend, zu Silvester, trat ich mutig dem Oberkellner des L'Aperitif gegenüber, dem die vollendete Höflichkeit, mit der er mich bediente, hoch anzurechnen war, wenn er sich auch, bevor er mir einen kleinen Eck tisch zuwies, mit gutem Recht vergewisserte, ob ich genug Geld dabeihatte. Ohne mich um die entrüsteten Blicke besser gekleideter Gäste zu kümmern, aß ich im Gedanken an kommende Humbersche Verhältnisse geruhsam ein erstklassiges, riesiges Diner – Hummer, Ente mit Oran gensauce, Zitronensoufflé, Brie – und trank fast eine ganze Flasche 1948er Château Leauville Lescases dazu. Nachdem ich es so noch einmal ausgiebig genossen hat te, mein eigener Herr zu sein, brauste ich am Neujahrstag die A1 hinunter nach Catterick und heuerte guten Mutes in Englands schlimmstem Rennstall an.
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ie Gerüchte waren Hedley Humber kaum gerecht geworden. Was den Stallangestellten dort Übles zu gemutet wurde, hatte so viel Methode, daß ich am ersten Tag schon zu dem Schluß kam, die Mißstände seien ge wollt, damit niemand zu lange blieb. Ich fand heraus, daß lediglich der Futter- und der Reisefuttermeister, die beide in Posset wohnten, seit mehr als drei Monaten im Stall beschäftigt waren und daß der gemeine Pfleger im Schnitt nach acht bis zehn Wochen zu der Erkenntnis kam, mit sechzehn Pfund sei er hier unterbezahlt. Das bedeutete, daß außer den beiden Futtermeistern niemand vom Stallpersonal wußte, was im Sommer mit Superman geschehen war, denn damals waren sie alle noch nicht hier. Die beiden Topleute aber blieben zweifel los gerade deshalb, weil sie wußten, was ablief; wenn ich sie also nach Superman fragte, konnte es mir sehr schnell so ergehen wie Tommy Stapleton. Ich hatte genug über die schmutzigen, verlotterten Un terkünfte in manchen Ställen gehört und wußte auch, daß manche Pfleger es nicht besser verdienten – etwa solche, die ihre Stühle verheizten, statt Kohlen zu holen, oder die zum Geschirrabwaschen die Toilettenspülung nahmen –, aber die Verhältnisse bei Humber waren nahezu un menschlich. Als Schlafraum diente ein schmaler Heuspeicher über den Pferden. Man konnte jeden Hufschlag und das Rasseln 145
der Ketten hören, und durch die Ritzen im Bretterboden sah man direkt in die Boxen. Eisige Zugluft trug den Ge ruch von schmutzigem Stroh herauf. Über dem Heuspei cher gab es keine Decke, nur die Dachsparren und Schin deln, und er war nur über eine Leiter durch ein Loch im Boden zu erreichen. Eine Scheibe des einzigen kleinen Fensters war zerbrochen und mit Packpapier überklebt worden, so daß statt Licht nur Kälte hereinkam. Die sieben Betten, die das ganze Mobiliar des Heuspei chers darstellten, waren einfache Rahmen aus Metallroh ren mit straff darübergespanntem Segeltuch. Für jedes Bett waren zwei graue Decken und ein Kopfkissen vorgesehen, aber ich mußte mir mein Zeug erst erobern, weil andere es beim Weggang meines Vorgängers in Beschlag genom men hatten. Das Kissen war ohne Bezug, es gab keine La ken, keine Matratzen. Alle schliefen der Wärme wegen in ihren Kleidern, und als ich den dritten Tag dort war, fing es an zu schneien. Die Küche am Fuß der Leiter, der einzige Raum, der den Pflegern noch zur Verfügung stand, war nichts anderes als die letzte Box auf der einen Stallseite. Man hatte so wenig dazu getan, sie wohnlich zu gestalten, daß sich der Gedan ke aufdrängte, ihre Benutzer würden als Tiere angesehen und auch so behandelt. Das kleine Fenster war noch ver gittert, und die zweiteilige Stalltür ließ sich immer noch von außen verriegeln. Der nackte Betonfußboden war von Abflußrinnen durchzogen, eine Wand bestand aus rohen Brettern, die ein Pferd mit den Hufen traktiert hatte, die drei anderen aus nacktem Backstein. Es war immer kalt, feucht und schmutzig in dem Raum, und wenn er einem Pferd vielleicht auch genügend Platz geboten hatte, so war er für sieben Männer doch ungemütlich eng. Die spärliche Einrichtung bestand aus grobgezimmerten Sitzbänken an zwei Wänden, einem Holztisch, einem arg 146
ramponierten Elektroherd, einem Bord fürs Geschirr und einem alten Marmorwaschtisch mit Blechkanne und Blechschüssel, unserem ganzen Bad. Anderen Bedürfnis sen diente ein Holzhäuschen neben dem Misthaufen. Das Essen, von einer schlampigen Frau zubereitet, die allzeit Lockenwickler trug, war noch schlimmer als die Unterkunft. Humber, der mich mit einem gleichgültigen Blick und einem Nicken eingestellt hatte, wies mir mit dem glei chen Mangel an Interesse bei meiner Ankunft im Stall vier Pferde zu und sagte mir ihre Boxennummern. Weder er noch sonst jemand sagte mir ihre Namen. Der Futter meister, der ein Pferd selbst betreute, hatte entgegen der allgemeinen Gepflogenheit offenbar wenig zu sagen; es war Humber, der die Anweisungen gab und darauf achte te, daß sie befolgt wurden. Er war ein Tyrann, nicht so sehr, was das Wie, sondern das Wieviel der geforderten Arbeit anging. Es standen gut dreißig Pferde im Stall. Der Futtermeister versorgte eins davon, der Reisefutter meister, der auch den Transporter fuhr, gar keins. So ka men neunundzwanzig Pferde auf sieben Pfleger, die obendrein die Trainingsbahn und Haus und Hof in Schuß zu halten hatten. An Renntagen, wenn ein oder zwei Pfleger unterwegs waren, mußten die anderen oft jeder sechs Pferde versorgen. Meine Zeit bei Inskip war dagegen ein Erholungsurlaub gewesen. Beim geringsten Anzeichen von Drückebergerei teilte Humber empfindliche kleine Strafen aus und schrie mit schneidender Stimme, er zahle mehr Lohn für mehr Ar beit, und wem das nicht passe, der könne gehen. Da sie alle nur dort waren, weil bessere Ställe die Finger von ih nen ließen, bedeutete der Weggang von Humber automa tisch ihren Abschied von der Rennwelt. Da spielte es dann 147
auch keine Rolle mehr, was sie über den Stall wußten. Klug ausgedacht. Meine Gefährten in diesem finsteren Loch waren weder freundlich noch liebenswert. Der beste von ihnen war noch der zurückgebliebene Junge, den ich Weihnachten in Stafford gesehen hatte. Er hieß Jerry und mußte eine Men ge Knüffe einstecken, weil er langsamer und dümmer war als alle anderen. Zwei der Leute hatten Knasterfahrung, und gegen ihre Lebenseinstellung nahm sich Soupy Tarleton wie ein Sonntagsschüler aus. Einem dieser beiden mußte ich mei ne Decken, dem anderen, einem bulligen Schläger namens Charlie, mein Kopfkissen entreißen. Sie waren die beiden Raufbolde der Truppe und traten nicht nur gern um sich, sondern logen auch wie gedruckt und sorgten dafür, daß stets andere an ihrer Stelle bestraft wurden. Reggie war der Mundräuber. Dünn, blaß, mit einem Tic im linken Augenlid, hatte er lange, geschmeidige Hände, die einem schneller das Brot vom Teller klauten, als das Auge wahrnahm. Ich trat viel von meinen mageren Ratio nen an ihn ab, bevor ich ihn in flagranti ertappte, und es blieb mir ein Rätsel, wie er ein solcher Strich sein konnte, obwohl er mehr als alle anderen aß. Einer war hörbehindert. Eintönig leiernd erzählte er mir, er habe, als er klein war, von seinem Vater zuviel Schläge hinter die Ohren bekommen. Da er sich im Bett manchmal einnäßte, stank er. Der siebte, Geoff, war schon am längsten da und dachte selbst nach zehn Wochen noch nicht ans Weggehen. Er hatte die Angewohnheit, sich verstohlen umzublicken, und da er, wenn Jimmy oder Charlie Schwanke aus dem Knast erzählten, immer aussah, als müsse er heulen, gelangte ich zu dem Schluß, daß er irgend etwas auf dem Kerbholz hat 148
te und befürchtete, es könne herauskommen. Vielleicht waren zehn Wochen bei Humber dem Gefängnis ja vorzu ziehen, aber darüber ließ sich streiten. Der Reisefuttermeister, Jud Wilson, hatte sie über mich ins Bild gesetzt. Daß ich nicht vertrauenswürdig sei, glaubten sie gern, aber ihrer Meinung nach hatte ich gro ßes Schwein gehabt, am Knast vorbeigekommen zu sein, wenn das mit Octobers Tochter stimmte, und sie kriegten sich kaum darüber ein und rissen gnadenlos obszöne Wit ze, die mir oft genug unter die Haut gingen. Ich fand ihre ständige Nähe anstrengend, das Essen scheußlich, die Arbeit aufreibend und die Kälte grauen haft. So lernte ich auf recht unsanfte Weise, daß mein Le ben in Australien auch in den schwierigsten Zeiten ein Zuckerlecken gewesen war. Bevor ich zu Humber ging, hatte ich mich gewundert, wie irgend jemand so dumm sein konnte, für teures Geld einen derart erfolglosen Trainer in Anspruch zu nehmen, aber nach und nach fand ich die Erklärung dafür. Schon der Stall selbst war eine Überraschung. So wie die Pferde auf der Rennbahn aussahen, hätte man sich ihr Zuhause voller Unkraut, mit aus den Angeln gebrochenen Stalltü ren, abgeblättertem Lack vorgestellt, doch der Betrieb war sauber und machte einen gutgeführten Eindruck, für den die Pfleger ihre Nachmittage opferten. Die hübsche Fassa de kostete Humber nichts als hin und wieder einen Eimer Farbe und etwas Sklaventreiberei. Gegenüber den Besitzern, die mitunter zur Stallbesich tigung vorbeikamen, trat er selbstbewußt und überzeu gend auf, und wie ich später herausfand, nahm er gerin gere Gebühren als jeder andere, was ihm natürlich auch Zulauf brachte. Außerdem waren nicht nur Rennpferde bei ihm, sondern auch einige Jagdpferde, deren Unter bringung, Verköstigung und Bewegung er sich gut be 149
zahlen ließ, ohne für ihr Training verantwortlich zu sein. Von den anderen Pflegern erfuhr ich, daß in der ganzen Saison nur sieben Pferde aus dem Stall gestartet waren, die dafür aber um so härter ranmußten und im Schnitt alle zehn Tage ein Rennen absolvierten. Ein Sieger, zwei Zweite, ein dritter Platz war das Ergebnis. Von den sieben betreute ich keins. Ich war einem Quar tett zugeteilt worden, das aus zwei offenbar Humber selbst gehörenden Rennpferden und zwei Jagdpferden bestand. Die beiden Rennpferde waren Braune, ungefähr sieben Jahre alt; das eine hatte ein feines Maul und keinen Speed, das andere ging zwar gut über die Trainingssprünge, war aber unleidlich. Ich löcherte Cass, den Futtermeister, bis er mir sagte, sie hießen Dobbin und Sooty. Diese turfuntypi schen Namen tauchten weder in den gesammelten Renn berichten noch unter Humber in Horses in Training auf, und ich hielt es für mehr als wahrscheinlich, daß Rudyard, Superman, Charcoal und die anderen ihr kurzes Zwischen spiel hier unter ähnlich nichtssagenden Pseudonymen ge geben hatten. Ein aus der Rennwelt verabschiedeter Pfleger würde niemals den Dobbin oder Sooty, den er einmal betreut hat te, mit dem Rudyard in Verbindung bringen, der unter ei nem anderen Trainer zwei Jahre später ein Rennen ge wann. Aber wieso, wieso gewann er zwei Jahre später? Darüber wußte ich noch immer nichts. Die Kälte kam, biß sich fest und blieb. Aber so schlimm wie der vorige Winter könne es unmöglich werden, mein ten die anderen, und ich mußte daran denken, daß ich im Januar und Februar damals in der Sonne gebraten hatte. Ich fragte mich, was Belinda, Helen und Philip aus ihren 150
langen Ferien machten und was sie davon halten würden, wenn sie mich in meinem dreckfressenden Schattendasein sehen könnten. Auch die Vorstellung, was meine Leute wohl zu ihrem auf den Hund gekommenen Chef sagen würden, heiterte mich auf, und solche kleinen Lichtblicke waren es, die mir nicht nur die öde Zeit verkürzten, son dern auch halfen, meine innere Identität zu bewahren. Während die Schinderei tagein, tagaus weiterging, be gann ich mich zu fragen, ob jemand, der sich auf ein so radikales Rollenspiel einließ, wirklich wußte, was er tat. Ausdruck, Sprechweise und Bewegungen mußten rigo ros auf die überzeugende Darbietung blöder Schnoddrig keit hin zugeschnitten werden. Ich arbeitete schlampig und ritt schweren Herzens wie ein Kartoffelsack; aber auch das Verstellen fiel mit der Zeit leichter. Es war, als könnte einem der Verkorkste, den man spielte, in Fleisch und Blut übergehen. Ob man sich die menschliche Würde soweit abschminken konnte, daß man sie schließlich, ohne es zu merken, ganz verlor? Die Frage blieb akademisch, hoffte ich, und solange ich ab und zu noch im stillen über mich lachen konnte, war ich vermutlich außer Gefahr. Meine Annahme, daß die Pfleger nach drei Monaten in aller Form gegangen wurden, fand ich bei Kandidat Geoff Smith bestätigt. Humber ritt nie mit seinen Pferden aus, sondern kam mit einem Kleintransporter zum Trainingsgelände, schaute ihnen bei der Arbeit zu und war vor ihnen wieder daheim, um die Stallungen unter die Lupe zu nehmen. Eines Tages, als wir mit dem zweiten Lot zurückkamen, stand Humber wieder einmal sichtlich mißgestimmt auf dem Hof. »Smith und Roke, Sie bringen die Pferde in ihre Boxen und kommen wieder her.« 151
Wir gehorchten. »Roke.« »Sir.« »Die Krippen Ihrer Pferde sind ja nicht zum Ansehen. Machen Sie die sauber.« »Ja, Sir.« »Und damit Sie sich in Zukunft dafür Zeit nehmen, ste hen Sie nächste Woche um halb sechs auf.« »Sir.« Ich seufzte innerlich, empfand die Schikane aber noch als eine der milderen aus seinem Katalog, da mir Früh aufstehen weiter nichts ausmachte. Man mußte lediglich gut eine Stunde lang untätig im Hof herumstehen. Dun kel, kalt und langweilig. Er selbst war auch kein Lang schläfer. Sein Schlafzimmerfenster ging auf den Hof, und wenn jemand nicht Punkt zwanzig nach sechs mit bren nender Taschenlampe draußen angetreten war, wußte er es immer. »Nun zu Ihnen.« Er sah Geoff berechnend an. »In Box 7 steht der Dreck. Sie schaffen das Stroh raus und schrubben den Boden mit Desinfektionsmittel, bevor Sie essen ge hen.« »Aber Sir«, wandte Geoff unvorsichtigerweise ein, »wenn ich nicht mit den anderen am Tisch bin, lassen die mir nichts übrig.« »Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen, dann hät ten Sie auch Ihre Arbeit gemacht. Für die fünfzig Prozent, die ich mehr zahle als andere Trainer, will ich Leistung sehen. Sie tun gefälligst, was ich Ihnen sage.« »Aber Sir«, jammerte Geoff, der wußte, daß ihm ohne die Hauptmahlzeit schwer der Magen knurren würde, »Kann ich das nicht heute nachmittag machen?« 152
Humber ließ beiläufig den Gehstock durch seine Hand gleiten und faßte ihn am unteren Ende. Dann holte er aus und zog den knorrigen Griff mit Wucht über Geoffs Ober schenkel. Geoff schrie auf und rieb sich das Bein. »Vor dem Essen«, wiederholte Humber – und ging, auf den Stock gestützt, davon. Geoff wurde um seinen Anteil an dem halb zerkochten, wäßrigen Hammelfleisch betrogen und bekam gerade noch mit, wie der letzte Rest Brotpudding in Charlies großem Schlingmaul verschwand. »Ihr Schweine«, rief er hilflos. »Ihr verdammten Sauker le.« Eine ganze Woche hielt er es noch aus. Sechs harte Schläge auf den Körper ließ er sich noch verabreichen, dreimal noch die warme Hauptmahlzeit, zweimal das Frühstück, einmal das Abendbrot wegnehmen. Er heulte nur noch, aber er wollte nicht gehen. Am fünften Tag kam Cass beim Frühstück in die Küche und sagte zu Geoff: »Ich glaube, der Chef hat was gegen dich. Dem kannst du es nicht mehr recht machen. Ich rate dir in deinem eigenen Interesse, dich nach etwas anderem umzusehen. Der Chef kriegt manchmal solche Anfälle, da paßt ihm nichts, was einer macht, und dann ist die Sache gelaufen. Jetzt kannst du rackern, bis du schwarz wirst, der pfeift drauf. Hast du von seinem Knüppel noch nicht ge nug? Was du bis jetzt erlebt hast, war erst der Anfang, verstehst du? Ich sag dir das in deinem eigenen Interesse.« Trotzdem dauerte es noch zwei Tage, bis Geoff, der Ge schundene, seinen alten Tornister packte und schnüffelnd von dannen zog. Als Ersatz erschien am nächsten Morgen ein schmächti ger Junge, der aber nur drei Tage blieb, weil sich Jimmy 153
seine Decken unter den Nagel gerissen hatte und er sich nicht traute, sie ihm abzunehmen. Er stöhnte zwei eiskalte Nächte hindurch jämmerlich und war am dritten Tag ver schwunden. Am nächsten Morgen, vor dem Frühstück, kassierte Jimmy selbst einen Schlag mit dem Gehstock. Er kam verspätet herein, fluchte vor sich hin und riß Jer ry ein angebissenes Brot aus der Hand. »Wo ist mein Frühstück?« Wir hatten es natürlich aufgegessen. »Na ja«, und er sah uns giftig an, »dann könnt ihr euch meine Pferde auch gleich teilen, ich hau ab. Was soll ich hier? Da ist der Knast noch besser. Ich mach hier nicht den Prügelknaben, das steht fest.« »Wehr dich doch«, meinte Reggie. »Wie denn?« »Na … zeig ihn an.« »Sonst geht’s dir noch gut?« fragte Jimmy entgeistert. »So ein Schwachsinn. Soll ich mit meinen Vorstrafen vielleicht zu den Bullen gehen und sagen, Leute, mein Chef haut mich mit seinem Spazierstock? Die lachen mich doch aus. Einen Ast lachen die sich. Und dann? Ange nommen, sie kommen her und fragen Cass, ob er gesehen hat, daß hier einer geschlagen worden ist? Hat er nicht, denn der gute Cass will sein Pöstchen behalten. Aber nein, wird er sagen, Mr. Humber ist immer nett und freundlich, der hat ein Herz aus Gold, aber was kann man von einem Knacki schon anderes erwarten, als daß er Mist erzählt? Da lachen ja die Hühner. Ich hau ab, und wenn ihr ge scheit seid, kratzt ihr auch die Kurve.« Doch niemand befolgte seinen Rat.
Ich erfuhr von Charlie, daß Jimmy vierzehn Tage vor
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ihm bei Humber angefangen hatte, nach seiner Rechnung also rund elf Wochen geblieben war. Als Jimmy trotzig aus dem Hof marschierte, machte ich mich nachdenklich an meine Arbeit. Elf, höchstens zwölf Wochen, bis Humber mit dem Knüppeln anfing. Drei war ich schon dort, blieben mir maximal neun, um herauszu finden, wie er das Doping bewerkstelligt hatte. Wenn es darauf ankam, konnte ich sicher so lange durchhalten wie Geoff, nur mußte ich hinter Humbers Methode kommen, bevor er sich darauf konzentrierte, mich rauszuekeln, denn nachher standen meine Chancen schlecht. Drei Wochen, dachte ich, und herausgefunden hast du lediglich, daß du so schnell wie möglich wieder weg willst. Zwei neue Pfleger kamen für Geoff und Jimmy, ein lan ger Schlaks namens Lenny, der stolz auf seine Zeit in der Besserungsanstalt war, und Cecil, ein hartgesottener Trin ker, Mitte Dreißig. Man habe ihn aus jedem zweiten Rennstall Englands rausgeworfen, weil er die Finger nicht von der Flasche lassen könne, erzählte er. Ich weiß nicht, wie er an den Schnaps kam oder wo er ihn versteckt hielt, aber um vier war er jeden Tag stramm, und jede Nacht schlief er den Schlaf des Vergessens. Das Leben, wenn man das hier so nennen konnte, ging weiter. Alle Pfleger Humbers hatten offenbar triftige Gründe, hinter dem hohen Lohn herzusein. Lenny mußte Geld, das er einem anderen Arbeitgeber gestohlen hatte, zu rückerstatten, Charlie seiner Frau Unterhalt zahlen, Cecil trank, Reggie war ein zwanghafter Sparer, und Jerrys Lohn wurde von Humber direkt an dessen Eltern über wiesen. Jerry war stolz darauf, sie unterstützen zu kön nen. 155
Ich hatte Jud Wilson und Cass zu verstehen gegeben, daß ich dringend sechzehn Pfund die Woche brauchte, weil ich mit der Abzahlung meines Motorrads in Rück stand geraten sei, womit auch hinreichend erklärt war, was ich samstags nachmittags immer auf der Poststelle in Pos set zu suchen hatte. Eine Bus- oder Bahnverbindung nach Posset, dem zwei einhalb Kilometer entfernten, nächsten größeren Ort, gab es nicht. Cass und Jud Wilson hatten zwar Autos, nahmen aber keinen mit. Das einzige andere Transportmittel war mein Motorrad, doch zur lautstark geäußerten Empörung meiner Gefährten weigerte ich mich, es abends auf den vereisten, verschneiten Straßen als Kneipentaxi einzuset zen. So kamen wir selten nach Posset, außer an unseren beiden Samstagnachmittags-Freistunden und abends nach der etwas ruhigeren Sonntagsarbeit, die uns genügend Energie ließ, um zu Fuß in die Kneipe zu gehen. Samstags wickelte ich das Motorrad aus der dicken Pla stikplane und brauste mit Jerry als begeistertem Sozius nach Posset. Ich nahm den einfältigen armen Jungen im mer mit, weil es ihm die ganze Woche am schlimmsten erging, und in Posset hatten wir unsere feste Tour. Als erstes fuhren wir zur Poststelle, weil ich »meine Raten überweisen« mußte. Direkt am Schalter, zwischen Stößen von Telegrammformularen und rosa Löschpapier, schrieb ich meinen Wochenbericht für October, wobei ich acht gab, daß mir niemand vom Stall über die Schulter sah. Eventuelle Antwortbriefe warf ich, nachdem ich sie gele sen hatte, handgeschreddert in den Papierkorb. Jerry ging davon aus, daß ich mindestens eine Viertel stunde am Schalter zu tun hatte, und verbrachte die Zeit arglos in der Spielwarenabteilung auf der anderen Seite des Ladens. Zweimal kaufte er sich ein großes Modellauto mit Friktionsantrieb und spielte in unserem Schlafraum 156
damit, bis sie den Geist aufgaben, und jede Woche kaufte er sich ein Comicheft mit Bildgeschichten, die ihn tage lang erfreuten. Er konnte die Sprechblasen nicht lesen und fragte mich oft, was da geschrieben stand, so daß ich die Abenteuer von Mickey dem Affen und Flip McCoy einge hend kennenlernte. Von der Poststelle düsten wir zweihundert Meter weiter, um essen zu gehen – die rituelle Teemahlzeit in einem ungastlichen Café mit margarinefarbenen Wänden, kaltem Licht und schmutzigen Tischplatten. Pepsi-Cola-Schilder waren das einzige Dekor und die einzige Bedienung ein schlafäugiges, Strümpfe verachtendes Mädchen mit dün nen, graubraunen Haaren, die sie zu einem verfilzten Hau fen hochgesteckt hatte. Sei es drum. Jerry und ich bestellten und aßen mit un beschreiblichem Vergnügen eine Ladung Lammkote letts, Spiegeleier, weiche Fritten und leuchtendgrüne Erbsen. An den Nebentischen ließen es sich Charlie und die anderen schmecken. Das Mädchen wußte, woher wir kamen, und sah auf uns herab, da ihrem Vater das Café gehörte. An der Kasse stopften wir uns noch die Ta schen mit Schokolade zur Ergänzung von Humbers Hauskost voll, ein Vorrat, der jedesmal reichte, bis Reggie ihn fand. Um fünf waren wir wieder im Stall, das Motorrad einge packt, der Höhepunkt der Woche nichts als eine Erinne rung, ein Rülpsen, und vor uns lagen die nächsten trostlo sen sieben Tage. Zum Nachdenken gab es bei diesem Trott Zeit genug. Stunden, während man die Pferde auf Feldwegen in der froststarren Flur herumführte, Stunden, während man ih nen den Staub aus dem Fell bürstete, den Mist aus ihren Boxen schaffte und ihnen Wasser und Heu brachte, Stun den, in denen man nachts wachlag, unterhalten vom 157
Stampfen der Pferde, vom Geschnarche und Geflüster aus den anderen Betten. Immer und immer wieder überdachte ich, was ich gese hen, gelesen, gehört hatte, seit ich in England war, und das Bedeutsamste von allem schien mir der Auftritt Super mans in Stafford zu sein. Er war gedopt worden, er war der zwölfte in der Reihe, nur hatte er nicht gesiegt. Schließlich stellte ich diese Gedankenfolge um. Er war gedopt worden und hatte nicht gesiegt; aber war er tat sächlich der zwölfte in der Reihe? Er konnte der dreizehn te oder vierzehnte sein … schon andere konnten sich als Fehlschlag erwiesen haben. Am dritten Samstag, gut drei Wochen nach meinem An tritt bei Humber, schrieb ich October mit der Bitte, mir den von Tommy Stapleton zurückgelassenen Zeitungsausschnitt über das durchgedrehte Pferd in Cartmel herauszusuchen, das am Führring eine Frau tödlich verletzt hatte. Ich bat ihn, die Lebensgeschichte des Pferdes zu recherchieren. Acht Tage später kam seine maschinengeschriebene Antwort. Old Etonian, getötet Pfingsten letzten Jahres in Cartmel, Lancashire, war den November und Dezember davor bei Humber. Humber hatte ihn nach einem Verkaufsrennen ersteigert und schlug ihn sieben Wochen darauf in Leice ster wieder los. Aber: Old Etonian ist im Führring vor dem Rennen wild geworden; er sollte in einem Ausgleichs-, nicht in einem Verkaufsrennen starten; und die Zielgerade in Cartmel ist kurz. Nichts davon entspricht dem bei den anderen Fällen festgestellten Muster. Die Dopingproben bei Old Etonian waren negativ. Nie mand konnte sich sein Verhalten erklären. 158
Tommy Stapleton mußte eine Ahnung gehabt haben, sonst hätte er den Bericht nicht ausgeschnitten, dachte ich, aber er hatte sich Gewißheit verschaffen wollen. Und das hatte ihn das Leben gekostet. Daran gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Ich zerriß den Brief und fuhr mit Jerry ins Café, hatte die Gefährlichkeit meines Spiels zwar mehr im Hinterkopf als sonst, ließ mir den Appetit auf das einzig wahre Essen der Woche davon aber nicht verderben. Beim Abendessen ein paar Tage später, als Charlie sein Kofferradio mit dem Pop aus Luxemburg, den ich inzwi schen ganz gern hörte, noch nicht eingeschaltet hatte, brachte ich das Gespräch auf die Rennbahn in Cartmel; wie die so wäre, wollte ich wissen. Nur Cecil, der Trinker, kannte sie. »Das ist nicht mehr dasselbe wie früher«, meinte er fei erlich und bemerkte nicht, wie Reggie ihm ein Stück Brot mit Margarine stibitzte. Cecil glaste aus wäßrigen Augen, aber ich hatte meine Frage glücklicherweise genau zum richtigen Zeitpunkt gestellt, in der gesprächigen halben Stunde zwischen der bleiernen Nachmittagsdröhnung und seinem Abtauchen zum Volltanken für die Nacht. »Wie war es denn früher?« fragte ich. »Die hatten einen Jahrmarkt dabei.« Er hickste. »Mit Karussells, Schaukeln, Schaubuden und allem. Für die Feiertage. Pfingsten und so. Außer dem Derby das einzige, wo man beim Pferderennen auf den Rummel gehen konn te. Das ist jetzt vorbei. Die wollen nicht, daß man seinen Spaß hat. Hat doch keinem geschadet, der Jahrmarkt.« »Jahrmärkte«, schnaubte Reggie verächtlich und faßte den Brotkanten ins Auge, den Jerry in der Hand hielt. 159
»Gut zum Abgreifen«, meinte Lenny großspurig. »Ja«, räumte Charlie ein, der sich noch nicht darüber klar war, ob Lenny sich dank der Besserungsanstalt als Kumpel von jemand der hohen Schule qualifizierte. »Was?« Cecil kam nicht mit. »Abgreifen. Taschen ausräumen«, erläuterte Lenny. »Ach so. Damit war es bei den Hunderennen wohl nichts, aber die gibt’s auch nicht mehr. Das ging doch gut zusammen. Ein Renntag in Cartmel war immer was Be sonderes, aber jetzt ist es der gleiche Zimt wie überall. Da kannst du auch nach Newton Abbot gehen. Alles nach Schema F.« Er rülpste. »Was waren das für Hunderennen?« fragte ich. »Na, Hunderennen eben.« Er lächelte töricht. »Gab eins vor und eins nach den Pferderennen, und jetzt ist es Essig damit. Spielverderber sind das. Trotzdem«, er grinste pfif fig, »wenn man sich auskennt, kann man immer noch auf die Hunde setzen. Die laufen jetzt morgens, auf der ande ren Seite vom Ort, aber wenn man sein Pferd schnell ver sorgt, kann man da noch mitwetten.« »Hunde?« sagte Lenny ungläubig. »Die laufen doch auf so ’ner Rennbahn nicht. Schon weil kein elektrischer Hase da ist.« Cecil drehte sich unsicher nach ihm um. »Für Hunde brauchst du keine Bahn«, sagte er beleh rend, mit schwerer Zunge. »Da reicht eine Fährte, Mann. Jemand zieht mit einem Sack Anissamen und Paraffin oder so etwas los und schleift ihn ein paar Mei len durch die Pampa. Dann lassen sie die Hunde los, und der erste, der rumkommt, hat gewonnen. Vor zwei Jahren hat einer im letzten Kilometer auf den Favorit geschossen, und es gab Zoff. Aber der Schuß ging 160
daneben. Getroffen hat’s den Hund dahinter, einen nicht gesetzten Außenseiter.« »Reggie hat mein Brot verputzt«, warf Jerry traurig ein. »Warst du voriges Jahr auch in Cartmel?« fragte ich. »Nein«, bedauerte Cecil. »Hab ich verpaßt. Da ist eine Zuschauerin tödlich verletzt worden.« »Wie denn das?« fragte Lenny gespannt. »Ein Pferd ist im Führring ausgeklinkt und über den Zaun gesprungen, genau auf eine Frau, die sich bloß einen schönen Nachmittag machen wollte. Die hatte wirklich Pech. Das durchgedrehte Pferd muß sie richtig plattge trampelt haben in dem Gewühl. Es kam nicht weit, aber es hat nach allen Seiten ausgekeilt und noch einem Mann das Bein zerdonnert, bevor der Tierarzt es erschießen konnte. Übergeschnappt, hieß es. Ein Freund von mir hat vor dem Rennen ein anderes Pferd rumgeführt, und er sagte, es war furchtbar, wie die halb zerfetzte Frau da vor seinen Augen verblutet ist.« Die grausige Geschichte verfehlte ihre Wirkung auf die Runde nicht, mit Ausnahme von Bert, der kein Wort da von hörte. »So«, sagte Cecil und stand auf, »Zeit für meinen klei nen Spaziergang.« Der kleine Spaziergang führte ihn vermutlich zu seinem Schnapsversteck, denn wie gewohnt kam er knapp eine Stunde später zurück, hangelte sich die Leiter hoch und fiel nur noch aufs Bett.
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egen Ende der vierten Woche verließ uns Reggie (über zu wenig Essen klagend) und wurde ein, zwei Tage später durch einen milchbärtigen Jungen ersetzt, der sich mit heller Stimme als Kenneth vorstellte. Für Humber blieb ich allem Anschein nach ein nichtssa gendes Gesicht in dieser endlosen Prozession menschli chen Treibguts, und da ich nur ungefährdet arbeiten konn te, solange es dabei blieb, vermied ich es tunlichst, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Er befahl, und ich gehorchte, und er bestrafte mich für meine Unterlassungen nicht mehr als jeden anderen auch. Ich lernte seine Stimmungen auf einen Blick erkennen. An manchen Tagen verfolgte er mit finsterer Miene stumm die Arbeit des ersten und zweiten Lots und paßte auf, daß auch beim dritten keiner kniff, und dann war selbst Cass auf der Hut und redete nur, wenn er gefragt wurde. An anderen Tagen war Humber sehr gesprächig, übte sich aber in so giftigem Sarkasmus, daß jeder sein Schweigen vorzog. Hin und wieder wirkte er auch zer streut und sah über unsere Fehler hinweg, und noch selte ner waren die Tage, an denen er mit dem Leben zufrieden zu sein schien. Seine äußere Erscheinung war stets makellos, als wollte er damit den Statusunterschied zwischen sich und uns betonen. Ich hielt ihn in puncto Kleidung für eitel, aber sein Reichtum zeigte sich auch an dem neuen großen 162
Bentley, der in seinem Hof stand. Fernseher im Fond, Teppiche, Funktelefon, Pelzdecken, Klimatisierung und eine eingebaute Bar mit sechs Flaschen, zwölf Gläsern und einer glitzernden Sammlung von verchromten Kor kenziehern, Eispickeln, Rührstäbchen und ähnlichen Utensilien. Ich kannte den Wagen gut, weil ich ihn jeden Montag nachmittag waschen mußte. Bert mußte ihn freitags wa schen. Humber war stolz auf sein Auto. Auf langen Fahr ten chauffierte ihn in diesem eine Nummer zu groß gera tenen Statussymbol Jud Wilsons Schwester Grace, eine maskuline Kämpfernatur, die mit dem Schlitten sehr gut umgehen konnte, ihn aber nicht zu warten brauchte. Ich wechselte kein einziges Wort mit ihr: Sie kam mit dem Fahrrad, von wo auch immer, brachte Humber da- und dorthin und fuhr mit dem Rad wieder davon. Oft fand sie den Wagen nicht sauber genug, aber das ließ sie Bert und mir von Jud ausrichten. Ich flöhte alles durch, wenn ich das Wageninnere säu berte, doch Humber war weder so nachlässig noch so ent gegenkommend, Injektionsspritzen oder Fläschchen mit Aufputschtabletten im Handschuhfach liegenzulassen. Den ganzen ersten Monat hindurch empfand ich die Käl te nicht nur als unangenehm, sondern auch als lästige Ver zögerung. Gab es keine Rennen, konnte Humber nicht do pen, und ich konnte nicht feststellen, ob sich an seinem Tagesablauf etwas änderte, wenn eine Bahn mit langer Zielgeraden auf dem Plan stand. Dazu kam, daß Jud Wilson, Cass und er sich andauernd bei den Stallungen herumtrieben. Ich hätte mich gern ein mal in Humbers Büro, einem kleinen Ziegelbau am oberen Ende des Hofs, umgesehen, aber so war das zu riskant. An einem Renntag hingegen konnte ich die Abwesenheit Humbers und Jud Wilsons nutzen, um in der Mittagspau 163
se, wenn Cass heimgefahren war und die Jungs am Tisch saßen, das Büro zu durchsuchen. Cass hatte einen Schlüssel dafür, und er schloß das Büro morgens auf und abends zu. Soweit ich wußte, sperrte er mittags, wenn er zum Essen heimfuhr, nicht extra ab, und außer sonntags war es normalerweise immer offen. Das konnte zwar bedeuten, daß Humber dort nichts Belastendes liegen hatte, vielleicht fanden sich aber auch Dinge, die harmlos aussahen, ihn jedoch belasteten, wenn man die Zusammenhänge kannte. Dennoch war die Wahrscheinlichkeit, das ganze Rätsel mit der Blitzdurchsuchung eines unverschlossenen Büros zu lösen, zu gering, um eine Enttarnung dafür zu riskieren, und ich hielt es für besser, geduldig abzuwarten, bis meine Stunde kam. Humbers Haus, ein weiß gestrichenes, umgebautes Bau ernhaus, lag neben den Stallungen. Ein paar heimliche Sondierungen nachmittags, wenn ich auf seinem Garten weg Schnee schaufeln mußte, zeigten mir, daß es sich da bei um ein ultrasauberes, seelenloses Gebäude mit Zim mern wie auf einer Möbelmesse handelte, unpersönlich, unbewohnt. Humber war nicht verheiratet, und zumindest im Parterre schien es keinen Raum zu geben, wo er es sich abends gemütlich machen konnte. Durch die Fenster sah ich keinen zur Durchsicht einla denden Schreibtisch und keinen geheimnisträchtigen Tresor; dennoch konnte ich sein Haus nicht einfach aus klammern und nahm mir vor, ihm bei der ersten Gele genheit einen Besuch abzustatten, falls ich bei der Durchsuchung des Büros nichts fand und nicht erwischt wurde. Eines Mittwochabends fing es endlich an zu tauen, und es taute den ganzen Donnerstag und Freitag, so daß sich 164
der Schneematsch Samstag früh in Pfützen auflöste und Jagden und Rennen wieder in greifbare Nähe rückten. Cass sagte mir am Freitag abend, daß der Besitzer der beiden von mir betreuten Jagdpferde sie am Samstag ab holen wollte, und nach dem zweiten Lot führte ich sie hin aus und lud sie in den wartenden Transporter. Der Besitzer lehnte am Kotflügel eines blankpolierten Jaguars. Seine Stiefel blinkten wie Glas, die cremefarbene Reithose saß wie angegossen, die rote Jacke faltenlos, die Halsbinde war blütenweiß. Er hielt eine lange, dünne Hetzpeitsche in der Hand und schlug damit an seinen Stie fel. Ein großer, breitschultriger Mann, barhäuptig, um die Vierzig, nicht schlecht aussehend. Erst wenn man vor ihm stand, bemerkte man den unzufriedenen Zug in seinem Gesicht und sah ihm den ausschweifenden Lebenswandel an. »Sie da!« Er deutete mit der Peitsche auf mich. »Kom men Sie mal her.« Ich ging zu ihm. Er hatte schwerlidrige Augen, und auf seiner Nase und den Wangen zeichneten sich blaurote Äderchen ab. Gelangweilt und verächtlich sah er auf mich herunter. Ich bin einsfünfundsiebzig groß; er überragte mich um zehn Zentimeter und machte einen Meter daraus. »Sie werden mir dafür büßen, wenn meine Pferde den Tag nicht durchstehen. Ich nehme sie hart ran. Die müssen fit sein.« Seine Stimme hatte das gleiche teure Timbre wie die von October. »Sie sind so fit, wie es der Schnee zugelassen hat«, sagte ich ruhig. Er zog die Brauen hoch. »Sir«, setzte ich hinzu. 165
»Mit Unverschämtheit«, sagte er, »Kommen Sie zu nichts.« »Verzeihung, Sir, ich wollte nicht unverschämt sein.« Er lachte unfreundlich. »Das kann ich mir denken. Stel len sind rar, was? Ich rate Ihnen, in Zukunft Ihre Zunge zu hüten, wenn Sie mit mir reden.« »Ja, Sir.« »Und sollten meine Pferde nicht fit sein, werden Sie den Tag verfluchen, an dem Sie auf die Welt gekommen sind.« Cass erschien mit besorgter Miene links neben mir. »Alles in Ordnung, Sir? Hat Roke irgend etwas falsch gemacht, Mr. Adams?« Wie es mir gelang, die Fassung zu bewahren, weiß ich nicht genau. Mr. Adams. Mr. Paul James Adams, ehema liger Besitzer von sieben später gedopten Pferden? »Kann der Zigeuner überhaupt mit meinen Pferden um gehen?« fragte Adams kränkend. »Er ist nicht schlechter als die anderen«, versicherte ihm Cass. »Was noch nicht viel heißt.« Er warf mir einen abschät zigen Blick zu. »Während des Frosts haben Sie es leicht gehabt. Viel zu leicht. Jetzt jagen wir wieder, und Sie müssen sich am Riemen reißen. Ich sehe das nicht so lok ker wie Ihr Chef, lassen Sie sich das gesagt sein.« Ich schwieg. Er schlug knallend mit der Peitsche an sei nen Stiefel. »Haben Sie gehört? Mir kann man es nicht so leicht recht machen.« »Ja, Sir«, sagte ich leise. Er öffnete die Hand und ließ die Peitsche fallen. »Aufheben«, sagte er. 166
Als ich mich bückte, setzte er mir den Fuß auf die Schul ter und gab mir einen jähen Stoß, so daß ich die Balance verlor und der Länge nach in den Dreck fiel. Er lächelte maliziös. »Hoch mit Ihnen, Sie Tolpatsch. Sie wollten doch meine Peitsche aufheben.« Ich stand auf, nahm die Peitsche und hielt sie ihm hin. Er riß sie mir aus der Hand und meinte zu Cass: »Denen muß man zeigen, daß man sich nichts bieten läßt. Immer drauf mit dem Daumen. Der hier«, er musterte mich kalt, »hat einen Denkzettel verdient. Was schlagen Sie vor?« Cass sah mich unsicher an. Ich blickte zu Adams. Es wird ernst, dachte ich. Seine graublauen Augen waren seltsam verschleiert, wie wenn er getrunken hätte, doch er war stocknüchtern. Ich hatte diesen Augenausdruck schon einmal gesehen, bei einem Pfleger, der kurzzeitig bei mir beschäftigt war, und ich wußte, was er bedeutete. Jetzt mußte ich raten – und ich hatte nur einen Versuch –, ob er lieber starke oder schwache Gegner schikanierte. Mein Gefühl sagte mir, vielleicht wegen seiner Körpergröße und seiner augenscheinlichen Weitläufigkeit, daß es ihm zu billig wäre, einen Schwächling niederzutreten. In dem Fall durfte ich jetzt alles, bloß keine Zähne zeigen. Ich machte mich so krumm und klein, wie ich nur konnte. »Ach Gott«, sagte Adams angewidert. »Sieh sich einer den an. Der vergeht ja vor Angst.« Er zuckte gereizt die Achseln. »Na gut, Cass, soll er ein paar Wege fegen oder irgend so ’nen Quatsch. Das bringt ja nichts. Wo kein Rückgrat ist, kann man keins brechen. Da jage ich doch lieber Füchse, die haben wenigstens ein bißchen Pep, ein bißchen Mumm.« Sein Blick schweifte zu Humber, der hinten über den Hof ging. »Sagen Sie Mr. Humber, ich möchte ihn kurz 167
sprechen«, wies er Cass an, und als der gegangen war, wandte er sich wieder an mich. »Wo haben Sie vorher gearbeitet?« »Bei Mr. Inskip, Sir.« »Und er hat Sie rausgeworfen?« »Ja, Sir.« »Weshalb?« »Ich, ehm …« Ich stockte. Es war ungemein ärgerlich, einem solchen Mann Rechenschaft geben zu müssen, aber wenn ich ihm ein paar Häppchen vorwarf, die er überprü fen konnte, würde er mir die faustdicken Lügen vielleicht unbesehen glauben. »Antworten Sie, wenn ich Sie etwas frage«, sagte Adams kalt. »Weshalb hat Inskip Sie gefeuert?« Ich schluckte. »Ich mußte gehen, weil ich, ehm … ich hab mit der Tochter vom Chef herumgemacht.« »Mit der Tochter vom Chef …«, wiederholte er. »Du lieber Gott.« Süffisant fügte er eine obszöne Bemerkung an, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Er sah mich zusam menzucken und weidete sich an meiner Verlegenheit. Cass und Humber kamen. Adams wandte sich lachend an Hum ber und sagte: »Weißt du, warum dieser Gockel bei Inskip geflogen ist?« »Ja«, meinte Humber nur. »Er hat Octobers Tochter ver führt.« Es interessierte ihn nicht. »Dazu kam ein Favorit, der Letzter wurde. Den er betreut hat.« »Octobers Tochter!« sagte Adams überrascht, die Augen zusammenkneifend. »Ich dachte, er meint Inskips Toch ter.« Wie nebenbei gab er mir eine deftige Ohrfeige. »Lügen Sie mich nicht an.« »Mr. Inskip hat keine Tochter«, wandte ich ein. 168
»Und keine Widerrede!« Er schlug noch einmal zu. Die Hand saß locker. Er hatte offensichtlich viel Übung. »Hedley«, sagte er zu Humber, der das einseitige Ge plänkel unbeteiligt mit angesehen hatte, »du kannst am Montag mit mir zum Pferderennen nach Nottingham fah ren. Ich hole dich um zehn Uhr ab.« »Gut«, sagte Humber. Adams wandte sich an Cass. »Denken Sie an die Lektion für den feigen Don Juan da. Damit er sich ein bißchen ab kühlt.« Cass kicherte unterwürfig und machte mir eine Gänse haut. Adams stieg gelassen in seinen Jaguar, ließ den Motor an und fuhr hinter dem Transporter mit seinen beiden Huntern her. Humber sagte: »Daß mir Roke nachher nicht auf dem Zahnfleisch geht, Cass. Der wird hier zum Arbeiten ge braucht. Schalten Sie Ihren Verstand ein.« Er hinkte davon, um die Stallkontrolle fortzusetzen. Cass schaute mich an, und ich sah entschieden an mei nen feuchten, verschmutzten Kleidern hinunter in dem Bewußtsein, daß der Futtermeister auf der Gegenseite stand und nichts als Gefügigkeit in meinem Gesicht er kennen durfte. Er sagte: »Mr. Adams läßt sich nicht gern ärgern.« »Ich habe ihn nicht geärgert.« »Und er duldet auch keine Widerrede. Merk dir das.« »Hat er noch mehr Pferde hier?« fragte ich. »Ja«, sagte Cass, »nur geht dich das nichts an. Er hat aber gesagt, daß ich dir einen Denkzettel verpassen soll, und das vergißt er nicht. Er kommt darauf zurück.« 169
»Ich hab doch nichts getan«, sagte ich mürrisch, den Blick noch gesenkt. Was wohl mein Vorarbeiter dazu sa gen würde? dachte ich und mußte bei der Vorstellung fast schmunzeln. »Das ist auch nicht nötig«, meinte Cass. »Bei Mr. Adams kommt die Strafe vorher, damit man gar nicht erst Mist baut. Irgendwie logisch.« Er lachte schnaubend. »Vorbeugung, gell?« »Hat er nur Hunter?« fragte ich. »Nein«, sagte Cass, »aber deine zwei sind Hunter, denk dran. Die reitet er selbst, und es ist besser, wenn jeder Bürstenstrich an denen stimmt.« »Springt er mit den Pflegern seiner anderen Pferde auch so um?« »Jerry hat sich noch nie beklagt. Und dich läßt er auch leben, wenn du spurst. Aber was geben wir dir denn jetzt zu tun …?« Ich hatte gehofft, er hätte es vergessen. »Du kannst die Gehwege auf den Knien schrubben. Fang gleich an. Du ißt mit den anderen und machst dann weiter bis zur Abendstallzeit.« Ich blieb mit niedergeschlagenen Augen wie ein begosse ner Pudel stehen, obwohl es mir gewaltig gegen den Strich ging. Was erwartete October eigentlich von mir? Wieviel mußte ich mir gefallen lassen? Gab es einen Punkt, an dem er sagen würde: »Schluß, bis hierher und nicht weiter. Stei gen Sie aus«? Wenn ich bedachte, wie schlecht er auf mich zu sprechen war, wahrscheinlich nicht! »Im Sattelkammerschrank ist eine Scheuerbürste. Also bitte.« Cass ging davon. Die betonierten Wege waren fast zwei Meter breit und liefen an den Boxen entlang um den ganzen Hof. Sie wa 170
ren in den vier Wochen meiner Anwesenheit immer schneefrei gehalten worden, damit der Futterwagen zügig von Box zu Box kam, und wurden wie bei Inskip und bei mir und in den meisten modernen Ställen regelmäßig von Stroh und Staub gesäubert; aber sie an einem Tauwettertag Ende Januar beinah vier Stunden lang auf den Knien lie gend zu scheuern, war eine elende, hirnverbrannte, sinnlo se Schinderei. Und es war lächerlich. Ich hatte die Wahl, entweder die Wege zu schrubben oder mich auf mein Motorrad zu schwingen und adieu zu sagen. Im Gedanken daran, daß es mir mindestens zehn tausend Pfund einbrachte, schrubbte ich; und Cass lunger te den ganzen Tag im Hof herum, damit ich ja keine Pause einlegte. Die Jungs, die mich am Nachmittag auf dem Weg zum Café und bei ihrer Rückkehr aus Posset schon schadenfroh verspottet hatten, sorgten am Abend dafür, daß die Wege schließlich schmutziger waren als am Morgen. Das küm merte mich zwar nicht, aber Adams’ Pferde kamen so ver dreckt und verschwitzt zurück, daß ich zwei Stunden brauchte, um sie zu putzen, da mir vor Müdigkeit die Fin ger kaum noch gehorchten. Zur Krönung des Tages kam Adams dann noch einmal. Er parkte seinen Jaguar im Hof, stieg aus, wechselte ein paar Worte mit Cass, der nickte und auf die Gehwege wies, dann kam er ohne Eile zu der Box, in der ich mich noch mit seinem Rappen abmühte. Er blieb in der Tür stehen, sah mich von oben runter an, und ich sah zu ihm hoch. Er war ausgesprochen elegant in dunkelblauen Nadelstreifen, mit weißem Hemd und sil bergrauer Krawatte. Frische Gesichtsfarbe, gekämmtes Haar, saubere, gepflegte Hände. Wahrscheinlich hatte er nach der Jagd daheim ein schönes warmes Bad genom men, sich umgezogen, ein Glas getrunken … Ich hatte seit 171
einem Monat nicht gebadet und würde, solange ich bei Humber blieb, wohl auch nicht dazu kommen. Ich war schmutzig, hungrig und erschöpft. Ich wünschte, er würde abhauen und mich in Ruhe lassen. Von wegen. Er trat in die Box und betrachtete den hartgewordenen Schlamm, der an den Hinterbeinen seines Pferdes klebte. »Sie brauchen aber lange«, meinte er. »Ja, Sir.« »Das Pferd muß doch schon drei Stunden hier sein. Was haben Sie die ganze Zeit gemacht?« »Meine drei anderen Pferde versorgt, Sir.« »Meine gehen vor.« »Der Schlamm mußte erst trocknen, Sir. Naß läßt er sich nicht ausbürsten.« »Ich habe Ihnen doch heute früh gesagt, Sie sollen mir nicht widersprechen.« Er schlug mich wieder auf das Ohr vom Morgen. Dabei lächelte er ein wenig. Es machte ihm Spaß. Mir nicht. Nachdem er sozusagen Blut geleckt hatte, packte er mich plötzlich vorn am Pullover, stieß mich gegen die Wand und ohrfeigte mich einmal mit der Innenhand, einmal mit dem Handrücken. Immer noch lächelnd. Ich hatte Lust, ihm mein Knie zwischen die Beine und meine Faust in den Magen zu rammen, und davon abzuse hen fiel mir nicht leicht. Um das Ganze überzeugender zu gestalten, hätte ich schreiend um Schonung bitten müssen, doch das brachte ich nicht über mich. Man kann aber auch den Körper sprechen lassen, und so nahm ich beide Arme hoch und schlang sie schützend um den Kopf. Er lachte, ließ mich los, und ich ging auf ein Knie hinun ter und drückte mich an die Wand. 172
»Was sind Sie doch für eine feige Seele, schöner Mann.« Ich blieb, wo ich war, und schwieg. Plötzlich schien es, als hätte er kein Interesse mehr, mich zu malträtieren. »Stehen Sie schon auf«, sagte er gereizt. »Ich habe Ihnen ja nichts getan. Das sind Sie gar nicht wert. Machen Sie mein Pferd fertig. Und zwar ordentlich, sonst schrubben Sie morgen gleich noch mal.« Er verließ die Box und überquerte den Hof. Ich stand auf und sah, grimmig gegen den Türpfosten gelehnt, wie er zu Humbers Haus ging. Sicher wartete etwas Gutes zu essen auf ihn. Ein Sessel. Kaminfeuer. Kognak. Ein Gespräch unter Freunden. Ich seufzte schwer und ging wieder mit der Bürste an die Arbeit. Kurz nach dem Abendessen, bei dem ich mir zu trocke nem Brot und Käse derbe Witzeleien über meine Nachmit tagsbeschäftigung und ausführliche Beschreibungen der leckeren Tagesküche in Posset anhören mußte, hatte ich von meinen Kollegen die Nase voll. Ich stieg die Leiter hoch und setzte mich aufs Bett. Kalt war’s da oben. Ich hatte genug von Humbers Rennstall. Ich hatte mich mehr als genug herumstoßen lassen. Ich brauchte nur der Versu chung vom Morgen nachzugeben, das Motorrad auszu packen und den Rückweg in die Zivilisation anzutreten. Zur Beruhigung meines Gewissens konnte ich October einen Großteil des Geldes zurückzahlen und betonen, daß zumindest die halbe Arbeit getan war. Ich blieb auf dem Bett sitzen und überlegte, ob ich mit dem Motorrad davonfahren sollte. Ich fuhr nicht. Nach einer Weile hörte ich mich seufzen. Mir war schon klar, daß sich mir die Frage, ob ich bleiben sollte, nicht ernsthaft stellte, selbst wenn ich jeden Tag die fürchterli chen Wege scheuern mußte. Ganz abgesehen davon, daß ich es mir kaum verzeihen würde, wenn ich wegen ein 173
paar Schikanen davonlief, hatte ich die Gewißheit, daß der skrupellose Mr. P. J. Adams auf dem besten Weg war, mit seinen Machenschaften den Ruf des britischen Rennsports zu ruinieren. Damit ihm das nicht gelang, war ich hier. Das Weite zu suchen, weil ich den Umgang mit ihm uner freulich fand, kam nicht in Frage. Mr. P. J. Adams, bislang nur ein Name auf dem Papier, übertraf Humber an Gefährlichkeit bei weitem. Humber war lediglich grob, habgierig, übellaunig und eitel, und er schlug seine Pfleger einzig, um sie loszuwerden. Aber Adams fand offenbar Spaß daran, andere zu quälen. Hinter der eleganten, kultivierten Fassade, nur wenig unter der Oberfläche, steckte ein verantwortungsloser Barbar. Hum ber wußte, was er wollte, doch Adams schien mir der Kopf des Gespanns zu sein. Er war als Mensch vielschichtiger und als Gegner weitaus mehr zu fürchten. Humber hatte ich mich ebenbürtig gefühlt. Adams machte mir angst. Jemand kam die Leiter herauf. Ich dachte, es sei Cecil, zurück vom Samstagabendtrunk, aber es war Jerry. Er setzte sich auf das Bett neben meinem. Er sah niederge schlagen aus. »Dan?« »Ja?« »Heute … heute war es blöd in Posset, wo du nicht dabei warst.« »So?« »Mhm.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Einen Comic ha be ich mir aber gekauft. Liest du mir daraus vor?« »Morgen«, sagte ich müde. Es war ein Weilchen still, während er sich bemühte, sei ne Gedanken zu ordnen. »Dan?« 174
»Hm?«
»Es tut mir leid.«
»Was denn?«
»Na ja, daß ich dich heute nachmittag ausgelacht hab.
Das war nicht gut … wo du mich doch immer auf dem
Motorrad mitnimmst und so. Damit fahr ich doch so gern.« »Schon gut, Jerry.« »Alle haben dich gehänselt, da hab ich mitgemacht, weil ich … damit sie mich mitnehmen, verstehst du?« »Versteh ich, Jerry. Es ist wirklich nicht schlimm.« »Du lachst mich nie aus, wenn ich was falsch mache.« »Schwamm drüber.« »Ich habe nachgedacht«, sagte er und zog die Stirn kraus. »An meine Mama mußte ich denken. Die hat mal in so einem Büro geputzt. Die Böden geschrubbt. Da war sie immer ganz erschossen, wenn sie heimkam. Junge, das geht aufs Kreuz, hat sie gesagt.« »So?« »Tut dir das Kreuz weh, Dan?« »Ein bißchen.« Er nickte zufrieden. »Meine Mama kennt sich aus.« Dann verfiel er in ein gedankenleeres Schweigen und wiegte sich sanft auf dem quietschenden Bett. Seine Entschuldigung rührte mich. »Ich les dir aus dem Comic vor«, sagte ich. »Bist du nicht zu kaputt?« fragte er eifrig. Ich schüttelte den Kopf. Er holte das Heft aus dem Karton, in dem er seine Sie bensachen aufbewahrte, und setzte sich neben mich. Ich 175
las ihm von Mickey dem Affen, Beryl und Peril, den Bu stom Boys, Julius Cheeser und all den anderen vor. Wir gingen das Ganze mindestens zweimal durch, und er lach te zufrieden und sprach mir die Sätze nach. Bis zum Ende der Woche würde er das meiste auswendig können. Schließlich nahm ich ihm das Heft aus den Händen und legte es aufs Bett. »Jerry«, sagte ich, »welches von den Pferden, die du be treust, gehört Mr. Adams?« »Mr. Adams?« »Der Mann, dessen Jagdpferde ich versorge. Der heute morgen da war, mit einem grauen Jaguar und einer roten Jacke.« »Ach, der Mr. Adams.« »Gibt es denn noch einen?« »Nein, das ist schon der.« Jerry schauderte. »Was weißt du über ihn?« fragte ich. »Der Pfleger, der vor dir hier war, Dennis hieß er, den konnte Mr. Adams nicht leiden. Weil, er war frech zu Mr. Adams.« »Hm«, sagte ich. Ich war mir nicht sicher, ob ich hören wollte, was mit Dennis passiert war. »Er war höchstens drei Wochen da«, meinte Jerry nach denklich. »Die letzten Tage ist er immer wieder hingefal len. War schon komisch.« Ich unterbrach ihn. »Welches von deinen Pferden gehört Mr. Adams?« fragte ich noch einmal. »Gar keins«, sagte er entschieden. »Cass meinte, du hättest eins von ihm.« Er sah überrascht – und erschrocken aus. »Ich will kein Pferd von Mr. Adams, Dan!« 176
»Tja, wem gehören denn deine Pferde?« »Das weiß ich nicht genau. Außer natürlich bei Pageant. Der gehört Mr. Byrd.« »Pageant ist der, den du zu den Rennen begleitest?« »Mhm, den meine ich.« »Und die anderen?« »Da ist einmal Mickey …« Er zog die Brauen zusam men. »Mickey hat die Box neben dem schwarzen Hunter von Mr. Adams, den ich versorge?« »Ja.« Er lächelte strahlend, als bewunderte er meinen Durchblick. »Wem gehört Mickey?« »Weiß ich nicht.« »War sein Besitzer noch nie da?« Er schüttelte unschlüssig den Kopf. Ich wußte nicht, wieweit er sich an Besuche von Besitzern überhaupt erin nerte. »Und dein anderes Pferd?« Jerry hatte nur drei zu ver sorgen, da er langsamer als wir anderen war. »Das ist Champ!« sagte Jerry triumphierend. »Wem gehört er?« »Er ist ein Hunter.« »Ja, aber wem gehört er?« »So einem Typ.« Er dachte scharf nach. »Einem Dicken. Mit so abstehenden Ohren.« Er klappte seine Ohren nach vorn, um es mir zu zeigen. »Kennst du ihn gut?« Er lächelte breit. »Zu Weihnachten hat er mir zehn Shil ling geschenkt.« 177
Es war also Mickey, der Adams gehörte, doch weder Adams noch Humber noch Cass hatten Jerry etwas davon gesagt. Offenbar war es Cass nur so herausgerutscht. »Jerry«, fragte ich, »wie lange arbeitest du schon hier?« »Wie lange?« wiederholte er verständnislos. »Wie lange vor Weihnachten hast du angefangen?« Er legte den Kopf schräg und dachte nach. Sein Gesicht hellte sich auf. »Das war einen Tag nach dem Sieg der Rovers über die Gunners. Zu dem Spiel hat mein Pa mich mitgenommen. Der Heimplatz der Rovers ist bei uns in der Nähe.« Ich stellte ihm noch mehr Fragen, aber genauer konnte er sich nicht erinnern, wann er zu Humber gekommen war. »Und Mickey«, sagte ich, »war der damals schon hier?« »Ich hatte von Anfang an dieselben Pferde«, antwortete er. Als ich keine weiteren Fragen stellte, griff er wieder zu dem Comicheft und schaute sich friedlich die Bilder an. Ich überlegte, wie es sein mochte, wenn man einen sol chen Kopf wie mit Stroh gefüllt hatte, an dem das gesamte Wissen der Welt vorbeiging, in dem Vernunft, Gedächtnis und Bewußtsein auf ein Minimum beschränkt waren. Er lächelte glücklich über die Comic Strips. Eigentlich war seine Einfalt kein großer Nachteil für ihn. Er hatte ein gutes Herz, und was er nicht wußte, konnte ihm nicht weh tun. Ein solches Leben hatte allerhand für sich. Wenn man nicht merkte, daß man der Gegenstand gezielter Demüti gungen war, brauchte man sich nicht dagegen abzuhärten. Wenn ich so unbedarft wäre, dachte ich, käme ich bei Humber sehr viel leichter durch den Tag. Plötzlich schaute er auf, sah, daß ich ihn beobachtete, und schenkte mir ein offenes, zufriedenes, vertrauensvol les Lächeln. 178
»Ich kann dich gut leiden«, sagte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Heft zu. Großes Gepolter ertönte von unten, und die Jungs stürm ten die Leiter herauf, wobei sie den kaum noch gehfähigen Cecil mit sich schleiften. Jerry huschte zu seinem Bett, um schnell den Comic zu verstecken, und wie die anderen wickelte ich mich in zwei graue Decken und legte mich mit Stiefeln und allem auf das ungastliche Segeltuch. Ich versuchte eine bequeme Lage für meine unerhört müden Glieder zu finden, doch leider gelang es mir nicht.
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D
as Büro war so kalt und abweisend wie Humber, doch im Gegensatz zu seinem Wagen überhaupt nicht protzig. Es bestand aus einem langen, schmalen Raum mit Tür und einem kleinen Fenster auf der dem Hof zugewandten Längsseite. Links hinten führte eine Tür zu einem weiß gestrichenen Waschraum mit drei schießschar tenähnlichen Milchglasfenstern und von dort eine Tür zur Toilette. Im Waschraum selbst gab es ein Spülbecken, ei nen Tisch mit Kunststoffplatte, einen Kühlschrank und zwei Wandschränke. Im ersten Wandschrank fand sich alles an Verbandszeug, Salben und Medikamenten, was man üblicherweise zur Verarztung von Pferden braucht. Ohne irgend etwas zu verrücken, sah ich die Flaschen, Schachteln, Dosen durch. Soweit ich feststellen konnte, war nichts Stimulierendes darunter. Der zweite Schrank jedoch enthielt jede Menge Stimu lantien in Form von alkoholischen Getränken, ein ein drucksvolles Flaschenarsenal mit einem gutsortierten Glä serbord darüber. Zur Bewirtung von Besitzern, nicht zum Aufpeppen ihrer Pferde. Ich schloß die Tür. Im Kühlschrank waren lediglich vier Flaschen Bier, Milch und ein paar Schalen mit Eiswürfeln. Ich kehrte ins Büro zurück. Humbers Schreibtisch stand am Fenster, so daß er, wenn er dort saß, direkt auf den Hof sehen konnte. Es war ein massives Möbel mit Schubladen auf beiden Seiten, so auf 180
geräumt, daß es fast schon weh tat. Humber war zwar in Nottingham und hatte sich an diesem Morgen nur kurz im Büro aufgehalten, doch wie es aussah, herrschte hier im mer Ordnung. Die Schubladen waren nicht abgesperrt, und ihr Inhalt (Schreibpapier, Steuertabellen und so weiter) ließ sich auf einen Blick erfassen. Auf der Tischplatte nichts als ein Telefon, eine verstellbare Leselampe, eine Schale mit Schreibstiften und ein grüner Briefbeschwerer aus Glas von der Größe eines Kricketballs. In seinem In nern waren Luftblasen gefangen, ein erstarrter Wasser strudel. Der Bogen Papier, auf dem der Briefbeschwerer lag, war lediglich eine Liste der anstehenden Arbeiten und offenbar für Cass bestimmt. Mit Bestürzung sah ich, daß ich am Nachmittag mit Kenneth, der pausenlos quasselte und quengelte wie ein Kind, das Sattelzeug reinigen sollte und am Abend fünf Pferde zu versorgen hatte, weil Bert auf der Rennbahn war und seine Tiere unter uns anderen auf geteilt werden mußten. Neben dem Schreibtisch hatte der Raum einen bis zur Decke ragenden Schrank, in dem Rennberichte und Renn farben aufbewahrt wurden und in dem sehr viel Luft war. An den Wänden reihten sich drei dunkelgrüne Akten schränke, zwei Ledersessel und ein Stuhl mit ledernem Sitz. Ich zog die unverschlossenen Schubladen der Akten schränke eine nach der anderen heraus und durchsuchte sie rasch. Sie enthielten Rennkalender, alte Bücher, Quittun gen, Zeitungsausschnitte, Fotos, Unterlagen über die in Training stehenden Pferde, Formanalysen, Korrespondenz der Besitzer, Belege über Sattelzeug und Futter; alles, was im Büro eigentlich jeden Trainers zu finden war. Ich sah auf meine Uhr. Cass machte gewöhnlich eine Stunde Mittagspause. Ich hatte fünf Minuten gewartet, 181
nachdem er zum Hof hinausgefahren war, und wollte zehn Minuten vor seiner zu erwartenden Rückkehr das Büro wieder verlassen. Die Dreiviertelstunde, die ich mich also umsehen konnte, war fast zur Hälfte vorbei. Mit einem Bleistift aus der Schreibschale und einem Blatt Papier aus der Schublade klemmte ich mich hinter die laufenden Geschäftsbücher. Für jedes der siebzehn Rennpferde gab es ein eigenes, blau gebundenes Buch, in das alle großen und kleinen Ausgaben für sein Training eingetragen wurden. Ich schrieb mir ihre Namen heraus, von denen mir nur wenige vertraut waren, dazu ihre Besit zer und das Datum ihrer Aufnahme im Stall. Einige waren schon seit Jahren da, doch drei waren in den letzten drei Monaten dazugekommen, und nur die brauchten mich ei gentlich zu interessieren. Keines der gedopten Pferde war länger als vier Monate bei Humber gewesen. Die drei neuesten Pferde hießen Chin-Chin, Kandersteg und Starlamp. Das erste gehörte Humber selbst, die ande ren beiden Adams. Ich räumte die Geschäftsbücher wieder an ihren Platz und sah auf die Uhr. Noch siebzehn Minuten. Ich legte den Bleistift zurück, faltete die Liste mit den Pferdenamen zu sammen und steckte sie in meinen Geldgürtel. Dessen Fä cher füllten sich wieder mit Fünfpfundnoten, da ich von meinem Lohn wenig ausgegeben hatte, doch der Gürtel lag immer noch flach und unsichtbar unter dem Hosen bund, und ich hatte darauf geachtet, daß den Jungs das Versteck verborgen blieb, damit ich nicht bestohlen wur de. Ich blätterte rasch die gesammelten Zeitungsausschnitte und Fotos durch, fand aber nichts über die elf Pferde und ihre Erfolge. In den Rennkalendern immerhin war Superman bei dem Verkaufsrennen am zweiten Weihnachtsfei ertag mit Bleistift angekreuzt, doch in Sedgefield, wo das 182
nächste Verkaufsrennen anstand, war es auch damit wie der nichts. Ganz hinten im Fach mit den Quittungen machte ich den größten Fund. Dort lag ein weiteres blaues Geschäftsbuch, in dem jedem der elf Pferde eine Doppelseite gewidmet war. Zwischen den elf siegreichen waren neun andere do kumentiert, die auf irgendeine Art ihren Zweck nicht er füllt hatten. Dazu gehörte Superman, und dazu gehörte Old Etonian. Auf der linken Seite war jeweils die gesamte Rennlauf bahn der Pferde nachzulesen, und auf der rechten standen bei meinen elf alten Bekannten genaue Angaben zu dem Rennen, das sie mit Unterstützung gewonnen hatten. Die darunter angeführten Summen hatte Humber vermutlich dabei verdient. Es waren jeweils Tausende. Auf Super mans Seite hatte er geschrieben: »Verlust 300 Pfund«. Auf der rechten Seite für Old Etonian stand kein Rennachweis, sondern nur das Wort »Getötet«. Alle Seiten bis auf die für ein Pferd namens Six-Ply wa ren durchgestrichen, und am Schluß waren zwei Doppel seiten neu angelegt, eine für Kandersteg, eine für Star lamp. Die linken Seiten für diese drei Pferde waren ausgefüllt, die rechten leer. Ich klappte das Buch zu und legte es wieder an seinen Platz. Es war höchste Zeit zu gehen, und nachdem ich mich mit einem Blick vergewissert hatte, daß alles genau so war wie vorher, schlüpfte ich unbemerkt zur Tür hinaus und ging in die Küche, um zu sehen, ob die Jungs mir wie durch ein Wunder einen Happen übriggelassen hatten. Fehlanzeige. Am nächsten Morgen verschwand Jerrys Pferd Mickey vom Hof, während wir mit dem zweiten Lot unterwegs 183
waren, doch Cass erzählte Jerry, Jud habe Mickey zu ei nem Bekannten Humbers an die Küste gefahren, damit er zur Kräftigung der Beine im Meerwasser planschen könne, und er werde am Abend zurückgebracht. Doch der Abend kam und Mickey nicht. Am Mittwoch ließ Humber wieder ein Pferd starten, und ich verzichtete auf mein Mittagessen, um mich in seinem Haus umzusehen, solange er fort war. Durch einen geöff neten Luftschacht kam ich zwar leicht hinein, aber ich fand keinerlei Hinweis darauf, wie die Pferde gedopt wur den. Den ganzen Donnerstag machte ich mir Gedanken dar über, daß Mickey noch an der Küste war. An sich schien das ganz in Ordnung. Warum sollte ein Trainer, der zwan zig Kilometer von der Küste entfernt wohnte, die Mög lichkeit nicht nutzen? Seewasser tat Pferdebeinen gut. Aber manchmal geschah bei Humber mit Pferden etwas, das ein späteres Doping ermöglichte, und ich hatte den überaus unangenehmen Verdacht, daß es bei Mickey gera de soweit war und ich die einmalige Chance verpaßte, der Sache auf den Grund zu kommen. Den Geschäftsbüchern nach gehörten Adams neben den beiden Huntern noch vier Rennpferde auf dem Hof. Da sie uns alle nicht unter ihrem richtigen Namen bekannt waren, konnte Mickey jedes von den vieren sein. Er konnte durchaus Kandersteg oder Starlamp sein. Es sah ganz so aus, als wäre er einer von den beiden und sollte in Super mans Fußstapfen treten. Also machte ich mir Gedanken. Freitag früh brachte ein gemieteter Transporter unseren Starter nach Haydock, und Humbers Transporter blieb ebenso wie Jud, der sonst immer die Pferde fuhr, bis Mit tag auf dem Hof. Das war eine klare Abweichung vom Trott, und ich nutzte die Gelegenheit, mir den Kilometer stand auf dem Tacho anzusehen. 184
Jud fuhr mit dem Transporter zum Hof hinaus, während wir noch die Mittagspampe löffelten, und wir sahen ihn auch nicht wiederkommen, da wir auf der am weitesten vom Stall entfernten Arbeitsbahn die Grasplacken wieder einsetzten, die im Lauf der Woche beim Training aus dem weichen Boden gerissen worden waren, doch als wir zur Abendstallzeit um vier zurückkamen, stand Mickey in sei ner Box. Ich stieg ins Fahrerhaus des Transporters und sah mir den Kilometerstand an. Jud hatte genau sechsundzwanzig einhalb Kilometer zurückgelegt. An der Küste konnte er nicht gewesen sein. Grimmig dachte ich mir mein Teil. Als ich mit meinen beiden Rennpferden fertig war, ging ich mit den Bürsten und Heugabeln zu Adams’ schwarzem Hunter hinüber und sah Jerry nebenan mit Tränen im Ge sicht vor Mickeys Box stehen. »Was hast du?« fragte ich und stellte mein Zeug ab. »Mickey … hat mich gebissen«, sagte er. Er zitterte vor Angst und Schmerzen. »Laß mal sehen.« Ich half ihm, den linken Arm aus dem Pullover zu zie hen, und sah mir den Schaden an. Am Oberarm, nicht weit von der Schulter, zeichnete sich blaurot ein dicker, runder Striemen ab. Das Pferd hatte voll zugebissen. Cass kam herüber. »Was ist denn hier los?« Aber er sah Jerrys Arm und wußte Bescheid. Er schaute über die Stalltür in Mickeys Box, wandte sich an Jerry und sagte: »Seine Beine waren schon zu kaputt für die Meer wasserkur. Der Tierarzt meinte, die müßte er scharf ein reiben, und das hat er heute nachmittag gemacht, als Mi ckey wiederkam. Deswegen stellt er sich so an. Er ist et 185
was mitgenommen, und das wärst du ja auch, wenn sie dir ein Pflaster, das so brennt, aufs Bein pappen würden. Also hör auf zu flennen, geh rein und schau, daß du mit ihm fertig wirst. Und du, Dan, machst dich an den Hunter und kümmerst dich um deinen Kram.« Er ließ uns stehen. »Ich kann nicht«, meinte Jerry mehr zu sich selbst als zu mir. »Das schaffst du schon«, ermunterte ich ihn. Er sah mich entsetzt an. »Der beißt mich noch mal.« »Ach was.« »Er hat’s dauernd versucht. Und er keilt wie verrückt aus. Ich trau mich da nicht rein …« Steif, angstbebend stand er da, und mir wurde klar, daß er so wirklich nicht mehr in die Box gehen konnte. »Na schön«, sagte ich, »ich nehme dir Mickey ab, du machst meinen Hunter. Aber mach ihn gut, Jerry, er muß tipptopp sein. Mr. Adams reitet ihn morgen wieder, und ich will nicht noch mal einen Samstag auf den Knien her umrutschen.« Er sah mich verdutzt an. »So was hat noch keiner für mich getan.« »Wir tauschen ja nur«, sagte ich schroff. »Wenn du mit meinem Hunter schluderst, beiße ich dich schlimmer als Mickey.« Er hörte auf zu zittern und grinste, wie ich es mir ge wünscht hatte; dann zog er den Pullover wieder über den schmerzenden Arm, griff sich meine Bürsten und öffnete die Tür zur Box des Hunters. »Du sagst doch Cass nichts davon?« fragte er besorgt. »Nein«, versicherte ich ihm und sperrte Mickeys Tür auf. Das Pferd war fest angebunden und trug einen verstell baren hölzernen Halskragen, damit es sich nicht die Ver 186
bände von den Vorderbeinen abreißen konnte. Unter den Verbänden waren Mickeys Beine laut Cass »geblistert«, das hieß, mit einem scharfen Mittel eingerieben, das zur Straffung und Kräftigung der Sehnen diente. Blistern oder scharfes Einreiben war bei Sehnenschwäche durchaus üb lich. Nur, daß Mickeys Beine der Behandlung nicht be durft hatten. Für meine Begriffe waren sie völlig in Ord nung gewesen. Jetzt dagegen schmerzten sie ihn offen sichtlich und mindestens so sehr wie vom Blistern, wenn nicht stärker. Mickey war so erregt, wie Jerry gesagt hatte. Weder Hand noch Stimme konnten ihn beruhigen; er schlug mit den Hinterbeinen aus, sobald er mich in Reichweite wähn te, und auch mit den Zähnen war er kräftig dabei. Ich hielt mich hinter ihm fern, auch wenn er sich redlich mühte, mich vor die Hufe zu bekommen, während ich die Box einstreute. Ich brachte ihm Heu und Wasser, doch das in teressierte ihn nicht, und legte ihm eine neue Decke auf, da die alte schweißdurchtränkt war und er sich in der Nacht damit erkältet hätte. Der Deckenwechsel gestaltete sich etwas schwierig, aber da ich Mickeys Angriffe mit der Heugabel abwehrte, kam ich mit heiler Haut davon. Ich ging mit Jerry zu den Futterkisten, wo Cass jedem Pferd sein Futter zuteilte, und als wir wieder bei den Bo xen waren, tauschten wir feierlich die Maße aus. Jerry grinste glücklich. Mickey wollte nicht fressen, höchstens ein paar Stückchen von mir. Die bekam er nicht. Ich ließ ihn für die Nacht angebunden und brachte mich mit Jerrys Putzzeug auf der anderen Seite der Tür in Sicherheit. Bis zum Morgen würde er sich hoffentlich einigermaßen be ruhigt haben. Jerry striegelte dem schwarzen Hunter die Haare prak tisch einzeln und summte dabei leise vor sich hin. »Bist du soweit?« fragte ich. 187
»Ist es gut so?« fragte er zurück. Ich trat in die Box, um mir sein Werk anzusehen. »Prima«, sagte ich wahrheitsgemäß. Pferde putzen konn te Jerry wirklich gut; und am nächsten Tag ließ Adams zu meiner großen Erleichterung beide Hunter kommentarlos durchgehen und sagte nichts weiter zu mir. Er war in Eile, weil er zu einem weit entfernten Jagdtreffen mußte, aber anscheinend war es mir doch auch geglückt, einen des Quälens unwürdigen, rückgratlosen Eindruck auf ihn zu machen. Um Mickey stand es an diesem Morgen noch viel schlim mer. Als Adams gefahren war, trat ich mit Jerry an die Tür von Mickeys Box und schaute hinein. Das arme Tier hatte sich trotz des Halskragens einen der Verbände abgerissen, und wir sahen eine große, offene Stelle über der Sehne. Mickey drehte sich mit wildem Blick und angelegten Ohren nach uns um, den Hals aggressiv vorgestreckt. Die Muskeln an seinen Schultern und der Hinterhand zitterten stark. So hatte ich noch nie ein Pferd erlebt, außer wenn es kämpfte, und ich hielt ihn für gefährlich. »Der ist durchgeknallt«, flüsterte Jerry gebannt. »Armes Tier.« »Willst du da reingehen?« fragte er. »Der bringt dich doch um.« »Hol Cass«, sagte ich. »Da gehe ich erst rein, wenn Cass und Humber selbst Bescheid wissen. Lauf zu Cass und sag ihm, daß Mickey übergeschnappt ist. Dann kommt er ihn sich bestimmt ansehen.« Jerry trabte los und kam mit Cass zurück, der zwischen Besorgnis und Verachtung hin- und hergerissen schien. Als er Mickey dann sah, gewann die Besorgnis prompt die 188
Oberhand; er ermahnte Jerry, auf keinen Fall Mickeys Tür zu öffnen, und lief zu Humber. Humber kam, auf seinen Stock gestützt, im Eilschritt über den Hof, während der kleinere Cass neben ihm her trabte. Und Humber sah sich Mickey eine ganze Weile an. Dann richtete er den Blick auf Jerry, der bei dem Gedan ken, ein Pferd in diesem Zustand versorgen zu müssen, wieder zitterte, und schließlich auf mich, der vor der Tür der nächsten Box stand. »Das ist die Box von Mr. Adams’ Hunter«, sagte er zu mir. »Ja, Sir. Mr. Adams hat ihn gerade abgeholt, Sir.« Er musterte mich, musterte Jerry und meinte dann zu Cass: »Roke und Webber tauschen am besten. Sie haben zwar beide keinen Mumm, aber Roke ist größer, kräftiger und älter.« Und außerdem, dachte ich mit plötzlicher Klarsicht, hat Jerry Eltern, die Theater machen, wenn ihm etwas pas siert, wogegen bei Roke keine Angehörigen vermerkt sind. »Alleine geh ich da nicht rein, Sir«, sagte ich. »Cass muß ihn mit der Gabel in Schach halten, während ich sau bermache.« Und selbst dann konnten wir von Glück sagen, wenn wir nicht getreten wurden. Cass erklärte Humber zu meiner Belustigung schleu nigst, wenn ich Angst hätte, es allein zu machen, werde er noch einen Pfleger hinzuholen. Humber beachtete uns je doch beide nicht, sondern starrte düster wieder Mickey an. Schließlich wandte er sich an mich und sagte: »Nehmen Sie einen Eimer und kommen Sie zum Büro.« »Einen leeren Eimer, Sir?« »Ja«, sagte er ungeduldig, »einen leeren Eimer.« 189
Schon drehte er sich um und hinkte zu dem langen Backsteinbau hinüber. Ich nahm den Eimer aus der Box des Hunters, ging hinter ihm her und wartete an der Tür. Er kam mit einem Arzneimittelfläschchen in der einen und einem Teelöffel in der anderen Hand wieder heraus. Das Fläschchen hatte einen Glasstöpsel und war zu drei Vierteln mit einem weißen Pulver gefüllt. Er bedeutete mir, ihm den Eimer hinzuhalten, und schüttete einen hal ben Teelöffel von dem Pulver hinein. »Füllen Sie den Eimer nur zu einem Drittel mit Wasser«, sagte er, »und stellen Sie ihn Mickey in die Krippe, damit er ihn nicht umschmeißen kann. Wenn er das erst mal trinkt, beruhigt er sich.« Er verschwand mit Fläschchen und Löffel wieder im Bü ro, und ich entnahm dem Eimer eine Prise des weißen Pulvers und schüttete sie in die zusammengefaltete Liste von Humbers Pferden in meinem Geldgürtel. Dann leckte ich mir über Finger und Daumen – die Pulverreste hatten einen leicht bitteren Geschmack. Das Fläschchen, das ich schon aus dem Schrank im Waschraum kannte, enthielt laut Etikett »Lösliches Phenobarbital«, und erstaunlich war nur, wieviel Humber davon auf Vorrat hatte. Ich ließ Wasser in den Eimer laufen, rührte es mit der Hand um und kehrte zu Mickeys Box zurück. Cass war verschwunden. Jerry versorgte auf der anderen Hofseite sein drittes Pferd. Ich sah mich nach Hilfe um, aber nie mand ließ sich blicken. Ich fluchte. Allein zu Mickey hi neinzugehen wäre sträfliche Dummheit gewesen. Humber kam wieder über den Hof. »Worauf warten Sie?« »Ich würde das Wasser verschütten, wenn ich ihm aus weiche, Sir.« 190
»Ha!«
Mickeys Hufe krachten wild gegen die Wand.
»Sie trauen sich bloß nicht.«
»Nur ein Idiot geht da allein rein, Sir«, sagte ich mürrisch.
Er starrte mich böse an, merkte aber offenbar, daß es
zwecklos war, mich zu drängen. Plötzlich nahm er den Gehstock in die linke Hand und ergriff mit der rechten die Heugabel, die an der Wand lehnte. »Kommen Sie schon«, sagte er barsch. »Es wird Zeit.« Er gab ein merkwürdiges Bild ab, wie er da in seinem Aufzug wie aus einer Anzeige für Country Life die beiden unkonventionellen Waffen schwenkte. Hoffentlich war er auch so entschlossen, wie er sich anhörte. Ich sperrte Mickeys Tür auf, und wir traten ein. Zu Un recht hatte ich angenommen, Humber könnte die Flucht ergreifen und mich im Stich lassen; er war kaltblütig wie immer, als kenne er überhaupt keine Angst. Geschickt drängte er Mickey erst auf die eine, dann auf die andere Seite der Box, während ich ausmistete und frisches Stroh einstreute, und auch während ich die Futterreste aus der Krippe entfernte und den Eimer mit dem arzneiversetzten Wasser festklemmte, hielt er die Stellung. Mickey machte es ihm nicht leicht. Gebiß und Hufe waren rühriger und gefährlicher als am Abend zuvor. Angesichts der Kaltblütigkeit Humbers war es besonders ärgerlich, den Hasenfuß spielen zu müssen, obschon es mir vor ihm leichter fiel als vor Adams. Als ich fertig war, befahl mir Humber, als erster hinaus zugehen, und sein Anzug hatte nicht ein Stäubchen abbe kommen, als er hinter mir den Rückzug antrat. Ich war mit einem Satz von der Tür weg und mimte Furcht und Zittern. Humber musterte mich angewidert. 191
»Roke«, meinte er sarkastisch, »ich hoffe, wenn Mickey halb betäubt ist, fühlen Sie sich ihm wieder gewachsen.« »Ja, Sir«, sagte ich leise. »Dann schlage ich vor, daß wir ihn noch ein paar Tage unter Beruhigungsmitteln halten, damit Ihr Mut nicht zu sehr auf die Probe gestellt wird. Jedesmal, wenn Sie ihm einen Eimer Wasser holen, lassen Sie sich von Cass oder mir was reintun. Verstanden?« »Ja, Sir.« Ich trug den Sack schmutzigen Strohs zum Misthaufen und sah mir den Verband, den sich Mickey abgerissen hat te, dort genauer an. Blister war ein rotes Zeug. An Mi ckeys Bein hatte ich vergeblich nach roter Paste gesucht, und auch an dem Verband war keine. Von der Größe der Wunde her hätte man eine halbe Tasse voll erwartet. Am Nachmittag nahm ich Jerry wieder auf dem Motorrad mit nach Posset und ließ ihn nach Herzenslust in der Spielwarenabteilung der Poststelle stöbern. Auf mich wartete ein Brief von October: »Wieso haben wir vorige Woche keinen Bericht be kommen? Sie sind verpflichtet, uns auf dem laufenden zu halten.« Ich zerriß das Blatt und schürzte die Lippen. Verpflich tet! Das brachte mich nun wirklich auf die Palme. Als würde ich mich aus Pflichtbewußtsein bei Humber wie ein Sklave halten lassen! Ich war lediglich stur, ich brachte gern zu Ende, was ich anfing, und auch wenn es etwas hochtrabend klang, wollte ich doch nach Möglichkeit den britischen Hindernissport aus Adams’ Klauen befreien. Wäre es nur um Pflichterfüllung gegangen, hätte ich Oc tober sein Geld zurückgegeben und tschüs gesagt. 192
»Sie sind verpflichtet, uns auf dem laufenden zu halten.« Er war immer noch böse wegen Patty, dachte ich mür risch, und den Satz hatte er nur geschrieben, weil er wuß te, daß ich mich daran stoßen würde. Ich setzte meinen Bericht auf. »Ihr ergebener und gehorsamer Diener bedauert, daß es ihm in der vergangenen Woche nicht möglich war, Sie auf dem laufenden zu halten. Vieles ist nach wie vor unklar, doch eines steht jetzt im merhin fest: Die elf Altgedopten werden nicht noch einmal gedopt werden, sondern als nächster Sieger ist ein Pferd namens Six-Ply vorgesehen. Sein derzeitiger Besitzer ist Mr. Henry Waddington aus Lewes in Sussex. Darf ich um die Beantwortung folgender Fragen bitten: Ist das Pulver in dem beigefügten Briefchen lösliches Phenobarbital? Welches sind die eingetragenen äußeren Kennzeichen der Rennpferde Chin-Chin, Kandersteg und Starlamp? Wann hat Blackburn zuletzt in einem Heimspiel Arsenal geschlagen?« Pflicht erfüllt, dachte ich grinsend, als ich den Umschlag zuklebte, und jetzt ist er erst mal dran. Jerry und ich schlugen uns im Café den Bauch voll. Ich war seit fünf Wochen und zwei Tagen bei Humber, und meine Sachen wurden mir zu weit. Als wir nichts mehr hinunterbrachten, fuhr ich noch einmal bei der Post vorbei, um eine Wanderkarte von der Umge bung und einen billigen Zirkel zu kaufen. Jerry leistete sich einen Spielzeugpanzer für fünfzehn Shilling, dem er bisher widerstanden hatte, und – nicht ohne sich zu vergewissern, ob er von mir verlangen konnte, es ihm vorzulesen – ein zweites Comicheft. Dann fuhren wir zurück zu Humber. 193
Tage vergingen. Mickey trank sein präpariertes Wasser, und ich konnte seine Box sauberhalten und ihn ohne große Mühe versorgen. Cass nahm ihm den zweiten Verband ab, und wieder war von roter Paste nichts zu sehen. Die Wun den begannen zu heilen. Da Mickey nicht geritten werden konnte und sehr ängst lich reagierte, wenn man ihn auf die Straße bringen wollte, mußte er jeden Tag eine Stunde im Hof herumgeführt werden, was mich mehr anstrengte als ihn, mir aber Zeit gab, einigen produktiven Gedanken nachzugehen. Humbers Stock krachte Dienstag früh schallend auf Charlies Schultern, und im ersten Moment sah es aus, als würde Charlie zurückschlagen, doch Humber starrte ihn kalt an, bis er den Blick senkte, und versetzte ihm am nächsten Morgen einen noch festeren Schlag auf die Schultern. An diesem Abend blieb Charlies Bett leer. Er war der vierte Abgang in den sechs Wochen meines Auf enthalts bei Humber (nicht mitgezählt den Jungen, der nur drei Tage blieb), und von meinen sechs ursprünglichen Schlafsaalgenossen waren nur noch Bert und Jerry übrig. Der Zeitpunkt, da ich die Abschußliste anführen würde, rückte in greifbare Nähe. Adams begleitete Humber, als der am Donnerstag abend seinen gewohnten Rundgang machte. Sie blieben vor Mickeys Box stehen, begnügten sich aber mit einem Blick über die Halbtür. »Geh nicht rein, Paul«, sagte Humber warnend. »Er ist trotz der Sedierung noch unberechenbar.« Adams sah mich drinnen bei Mickey stehen. »Wieso macht der Zigeuner das Pferd? Ich denke, das hat der Schwachkopf.« Es klang wütend und bestürzt. Humber erklärte ihm, daß er uns hätte tauschen lassen, nachdem Mickey Jerry gebissen habe. Adams hielt zwar 194
immer noch nichts davon, aber wie es schien, wollte er sich erst dazu äußern, wenn sie unter sich waren. Er sagte: »Wie heißt der Zigeuner?« »Roke«, erwiderte Humber. »Na, Roke, dann kommen Sie mal aus der Box raus.« »Denk dran, Paul, daß wir schon einen Mann zu wenig haben«, sagte Humber besorgt. Das hörte sich nicht gerade vertrauenerweckend an. Ich ging durch die Box, ohne Mickey aus den Augen zu las sen, trat zur Tür hinaus, blieb krumm stehen und schaute auf den Boden. »Roke«, sagte Adams mit Kreide in der Stimme, »wofür geben Sie Ihren Lohn aus?« »Ich stottere mein Motorrad ab, Sir.« »Sie stottern was? Ach so. Und wie viele Raten haben Sie noch?« »Ehm, ungefähr fünfzehn, Sir.« »Und Sie wollen hier bleiben, bis Sie es abbezahlt ha ben?« »Ja, Sir.« »Nimmt man Ihnen das Motorrad weg, wenn Sie nicht weiterzahlen?« »Das kann sein, Sir.« »Dann braucht Mr. Humber also keine Angst zu haben, daß Sie ihn verlassen?« Langsam und widerstrebend, durchaus aber wahrheits gemäß sagte ich: »Nein, Sir.« »Gut«, meinte er aufgeräumt, »dann wäre das ja geklärt. Und jetzt sagen Sie mir mal, woher Sie den Mut nehmen, ein unberechenbares, halb verrücktes Pferd zu pflegen.« »Es ist ruhiggestellt, Sir.« 195
»Sie und ich, Roke, wissen doch beide, daß ein ruhigge stelltes Pferd noch kein ungefährliches Pferd ist.« Ich schwieg. Wenn ich jemals eine Eingebung gebraucht hatte, dann jetzt, aber in meinem Kopf war Mattscheibe. »Ich glaube nicht, daß Sie so pflaumenweich sind, wie Sie tun, Roke«, sagte er leise. »Mir scheint, daß sehr viel mehr in Ihnen steckt, als Sie uns weismachen wollen.« »Nein, Sir«, sagte ich hilflos. »Das wollen wir doch gleich mal feststellen.« Er streckte die Hand aus, und Humber reichte ihm seinen Gehstock. Adams holte aus und versetzte mir einen ziem lich schmerzhaften Schlag auf den Oberschenkel. Wenn ich bei Humber bleiben wollte, mußte ich etwas tun, damit er aufhörte. Staub fressen war angezeigt. Ich schnappte nach Luft, rutschte an der Stalltür runter und setzte mich auf den Hintern. »Bitte nicht, Sir«, rief ich. »Ich habe mir Tabletten be sorgt. Weil ich so eine Angst vor Mickey hatte, hab ich mir am Samstag in der Apotheke in Posset Tabletten geben las sen, die Mut machen, und die nehme ich jetzt immer.« »Was für Tabletten?« fragte Adams ungläubig. »Irgendwas mit Trankie, oder wie das heißt.« »Tranquilizer.« »Ja, genau. Schlagen Sie mich bitte nicht mehr, Sir. Ich hatte eine Heidenangst vor Mickey. Bitte schlagen Sie mich nicht mehr, Sir.« »Du liebe Zeit«, lachte Adams. »Ich fass’ es nicht. Dar auf muß man erst mal kommen.« Er gab Humber den Stock zurück, und als wäre nichts gewesen, gingen beide zur nächsten Box. »Hast du Schiß, nimm Tranquilizer. Na ja, warum nicht?« 196
Immer noch lachend, gingen sie zum nächsten Pferd hin ein. Ich stand langsam auf und klopfte mir den Hosenboden ab. Verdammt, dachte ich unglücklich, aber was blieb mir denn anderes übrig? Warum war Stolz nur so wichtig, und warum war es so bitter, ihn aufzugeben? Fest stand, daß Schwäche mein einziger Aktivposten war. Adams hatte den perversen Drang, jeden kleinzukrie gen, der Charakter zeigte. Er beherrschte Humber, ver langte unbedingten Gehorsam von Cass und hatte zwei Verbündete in ihnen. Wenn ich ihm auch nur ansatzweise die Stirn bot, würde ich mir nichts als blaue Flecken ein handeln und ihm Anlaß geben, sich zu fragen, wieso ich trotzdem blieb. Je mehr Standhaftigkeit ich bewies, desto mehr mußte ihn das verwundern. Die Raten fürs Motorrad erklärten nicht alles. Er war auf Draht. Wenn er scharf nachdachte, würde ihm einfallen, daß ich aus Octobers Rennstall kam. Sicher wußte er, daß October in der Hin dernisbehörde saß und damit sein natürlicher Feind war. Tommy Stapleton würde ihm einfallen. Der siebte Sinn des Gejagten würde ihn hellhörig machen. Er konnte auf die Post gehen und in Erfahrung bringen, daß ich nicht jede Woche Geld anwies, er konnte in die Apotheke gehen und herausbekommen, daß ich keine Tranquilizer gekauft hatte. Wer so tief drinsteckte wie er, mußte das Risiko ver meiden, daß ein zweiter Stapleton auftauchte; sobald ich in Verdacht geriet, waren zumindest meine Tage als Ermittler gezählt. Wenn er mich dagegen weiterhin als Menschen ohne Rückgrat ansah, würde er sich den Teufel um mich scheren, und ich konnte nötigenfalls noch fünf bis sechs Wochen bei Humber bleiben. Gott behüte, dachte ich. Auch wenn seine Reaktion nicht vom Kopf, sondern aus dem Bauch kam, war Adams doch zu Recht beunruhigt, daß ich an Jerrys Stelle jetzt Mickey betreute. 197
In den Stunden, die ich bei dem Pferd verbracht hatte, war mir klargeworden, was eigentlich mit ihm los war, und nach und nach hatten sich die gesammelten Informa tionen über die betroffenen Pferde mit dem, was ich über Pferde allgemein wußte, schlüssig zusammengefügt. Ich konnte mir inzwischen denken, wie Adams und Humber ihre Pferde das Siegen gelehrt hatten. Ich ahnte es, wußte es aber nicht genau. Eine These, die noch zu beweisen war. Dafür brauchte ich Zeit, und wenn ich Zeit nur damit erkaufen konnte, daß ich mich auf den Boden setzte und Adams anflehte, mich nicht zu schlagen, dann mußte es eben sein. Abscheulich war es trotzdem.
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ctober vergab sich in seiner Antwort nichts. »Nach Auskunft des derzeitigen Besitzers wird Six-Ply in keinem Verkaufsrennen antreten. Heißt das nun, daß er nicht gedopt wird? Die Antworten auf Ihre Fragen lauten wie folgt: Das Pulver ist lösliches Phenobarbital. Die äußeren Kennzeichen Chin-Chins sind: Brauner Wallach, durchgehende Blesse, weiße Fessel rechts vorn. Kandersteg: Wallach, Hellfuchs, weiße Fesseln an beiden Vorderbeinen und links hinten. Starlamp: Brauner Wal lach, weißer Fuß links hinten. Blackburn schlug Arsenal am 30. November. Ich habe für Ihre Mätzchen kein Verständnis. Greift Ihre Verantwortungslosigkeit jetzt auch auf die Ermittlungen über?« Verantwortungslos. Verpflichtet. Ein Meister der Wort wahl. Ich las die Beschreibungen der Pferde noch einmal durch. Sie sagten mir, daß Starlamp Mickey war. ChinChin war Dobbin, eines der beiden Humber gehörenden Rennpferde, die ich versorgte. Kandersteg war ein von Bert versorgtes, staksiges Geschöpf, das bei uns Flash hieß. Wenn Blackburn Arsenal am dreißigsten November ge schlagen hatte, war Jerry schon seit elf Wochen bei Humber. 199
Ich zerriß Octobers Brief und schrieb zurück. »Six-Ply kann jetzt bei jedem Rennen fällig sein, da er nach dem Pech mit Old Etonian und Superman die einzige Reserve ist. Für den Fall, daß ich mir beim Ausreiten den Hals breche oder unter ein Auto komme, sollen Sie wis sen, daß mir diese Woche klargeworden ist, wie die Sache läuft, auch wenn vieles noch im dunkeln liegt.« Ich schrieb October, daß Adams und Humber tatsächlich mit Adrenalin als Reizmittel arbeiteten und wie sie es meiner Ansicht nach in die Blutbahn brachten. »Daraus ersehen Sie, daß zwei entscheidende Faktoren noch zu klären sind, bevor Adams und Humber zur Re chenschaft gezogen werden können. Mir liegt sehr daran, diesen Sack zuzubinden, aber ich kann nichts garantieren, da die Zeit knapp wird.« Und weil ich mich sehr einsam fühlte, fügte ich spontan – und krakelig – ein Postscriptum an. »Vertrauen Sie mir. Bitte glauben Sie mir, ich habe Patty nicht angerührt.« Dann betrachtete ich angewidert diesen Hilferuf auf dem Papier. Du wirst noch so lasch, wie du tust, dachte ich. Ich riß den Zusatz ab, warf ihn in den Papierkorb und gab den Brief auf. Da ich es für klug hielt, mir für den Fall, daß jemand nachhörte, tatsächlich ein paar Tranquilizer zu kaufen, ging ich in die Apotheke, wo man mir aber leider sagte, daß es sie nur auf Rezept gab. Mehr als peinlich, wenn Adams und Humber das herausfanden. Jerry war enttäuscht, als ich meinen Imbiß im Café hinun terschlang und ihm sagte, er müsse ohne mich weiteressen und von Posset zu Fuß nach Hause gehen, aber ich versi cherte ihm, ich hätte tausend Sachen zu erledigen. Es war höchste Zeit, daß ich mir die Umgebung einmal ansah. 200
Ich fuhr aus Posset heraus, hielt auf einem Rastplatz und nahm mir die Landkarte vor, die ich in der Woche schon mehrmals studiert hatte. Mit Bleistift und Zirkel hatte ich zwei konzentrische Kreise darauf eingezeichnet: Der äuße re hatte, von Humbers Stall ausgehend, einen Radius von dreizehn, der innere einen Radius von acht Kilometern. Wenn Jud direkt hin- und zurückgefahren war, als er Mi ckey abgeholt hatte, mußte sein Fahrtziel in dem Bereich zwischen den beiden Kreisen liegen. Einige Gegenden schieden von vornherein aus, weil dort über Tag Kohle abgebaut wurde, und dreizehn Kilometer südöstlich begannen die Ausläufer der Grubenstadt Clave ring. Im Norden und Westen jedoch war fast nur Heide land mit kleinen Tälern wie demjenigen, in dem Humbers Stall lag, fruchtbaren kleinen Nischen inmitten öder, windgepeitschter Heide. Da Teilbridge, wo Adams wohnte, drei Kilometer außer halb des größeren Kreises lag, schloß ich aus, daß Mickey während seiner Abwesenheit dort untergekommen war. Dennoch hielt ich es für naheliegend, mir das Gebiet un mittelbar zwischen Humbers Stall und Adams’ Wohnort als erstes anzusehen. Damit Adams mich auf den Erkundungsfahrten in sei ner Gegend nicht erkannte, griff ich auf meinen Sturz helm zurück, den ich seit dem Ausflug nach Edinburgh nicht mehr benutzt hatte, und setzte eine große Schutz brille auf, mit der mich nicht einmal mehr meine Schwe stern wiedererkannt hätten. Adams bekam ich auf meinen Touren zwar nicht zu Gesicht, aber ich sah sein Haus, einen quadratischen, cremefarbenen Bau mit Wasserspei erköpfen am Tor. Es war das größte und imposanteste Gebäude in dem kleinen Tellbridge, das nur aus einer Kirche, einem Laden, zwei Gasthöfen und ein paar Häus chen bestand. 201
Ich sprach den Jungen an der Tankstelle im Ort auf Adams an. »Mr. Adams? Ja, der hat vor drei oder vier Jahren das Haus vom alten Sir Lucas gekauft. Als der gestorben ist. Er hatte keine Erben.« »Und Mrs. Adams?« fragte ich. »Gibt’s nicht«, meinte er lachend und strich mit dem Handrücken die blonden Haare aus seiner Stirn. »Es gibt keine Mrs. Adams, aber manchmal hat er massig Frauen da. Das ganze Haus voll. Feine Damen, wohlgemerkt. Der läßt überhaupt nur feine Leute rein. Und was er will, das kriegt er, und zwar schnell. Die anderen müssen se hen, wo sie bleiben. Letzten Freitag hat er morgens um zwei das ganze Dorf aufgeweckt, weil er unbedingt die Kirchenglocken läuten wollte. Er hat ein Fenster einge schlagen, um reinzukommen … also echt! Natürlich sagt keiner was, weil er so viel Geld im Dorf läßt. Essen, Trinken, Löhne und so weiter. Seit er da ist, geht es allen besser.« »Macht er so was öfter – wie das Glockenläuten?« »Na ja, nicht direkt, aber dafür andere Sachen. Geht auf keine Kuhhaut, was man da so hört. Aber anscheinend zahlt er gut, wenn’s Schaden gibt, und da läßt man ihn machen. Übermut nennen sie das dann.« Bloß war Adams dafür schon zu alt. »Tankt er auch bei Ihnen?« fragte ich nebenbei und kramte Geld aus meiner Tasche. »Eher selten, er hat einen Tank daheim.« Das Lächeln auf dem Gesicht des Jungen erlosch. »Ich hab ihn nur einmal bedient, als er daheim nichts mehr hatte.« »Und was ist passiert?« »Na, er hat mir auf den Fuß getreten. Mit Reitstiefeln 202
und allem. Kam mir wie Absicht vor, aber ich wußte es nicht genau, denn warum hätte er das tun sollen?« »Keine Ahnung.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wahrscheinlich dachte er, ich stände da nicht mehr. Er hat den Absatz auf meinen Fuß gestellt und durchgetreten. Ich hatte bloß Turnschuhe an. Daß ich mir da nichts gebrochen hab! Der wiegt doch bestimmt fast zwei Zentner.« Er seufzte, zählte mir das Wechselgeld in die Hand, und ich dankte ihm fürs Tanken und wunderte mich im Weiterfahren, was ein Psy chopath sich so alles erlauben konnte, wenn er intelligent und kräftig war und aus gutem Haus stammte. Es war kalt und bewölkt, aber das störte mich nicht. An einem Aussichtspunkt im Moor hielt ich an und schaute, rittlings auf der Maschine sitzend, über das weitgedehnte, öde Hügelland und die am Horizont hochragenden Schornsteine von Clavering hin. Ich nahm Helm und Bril le ab und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, um den kühlen Wind an die Kopfhaut zu lassen. Belebend. Eigentlich bestand kaum Aussicht, daß ich herausfand, wo Mickey gewesen war. Jede Scheune, jeder Schuppen, jeder Unterstand kam in Frage. Es mußte kein Stall sein und war vermutlich auch keiner; ich konnte nur davon ausgehen, daß sie ihn relativ sicher vor neugierigen Nach barn versteckt hatten. Dummerweise gab es in diesem Teil von Durham mit seinen weitverstreuten Dörfern, unver hofften Tälern und der offenen Heide lauter Winkel, wo man vor neugierigen Nachbarn sicher war. Ich zuckte die Achseln, setzte Helm und Brille wieder auf und verwandte den Rest meiner kärglichen Freizeit darauf, zwei hochgelegene Beobachtungspunkte ausfindig zu machen: einen, von dem man direkt auf Humbers Stall im Tal sehen konnte, und einen mit Blick auf die Haupt 203
kreuzung zwischen dem Stall und Teilbridge und die da von abgehenden Straßen. Da Kandersteg in Humbers geheimem Geschäftsbuch stand, war stark anzunehmen, daß er über kurz oder lang den gleichen Weg wie Mickey gehen würde. Selbst wenn ich das Versteck dann immer noch nicht fand, konnte es nichts schaden, ein klares Bild von der Umgebung zu ha ben. Um vier kam ich mit dem gewohnten Mangel an Begei sterung wieder bei Humber an und machte mich an die Stallarbeit. Sonntag und Montag nichts Neues. Mit Mickey wurde es nicht besser; die Wunden an den Beinen heilten zwar, doch er blieb trotz der Ruhigstellung ein heikler Kunde, und er magerte ab. Obwohl ich noch nie mit einem Pferd in einer solchen Verfassung zu tun gehabt hatte, kam ich bald zu der Überzeugung, daß er sich nicht mehr erholen würde und daß Adams’ und Humbers Rechnung wieder einmal nicht aufgegangen war. Auch Humber und Cass gefiel er nicht, wobei Humber mit jedem Tag mehr verärgert als besorgt zu sein schien. Eines Morgens kam Adams, und von Dobbins Box auf der anderen Stallseite aus sah ich die drei zu Mickey hinein schauen. Nach einer Weile betrat Cass die Box und kam gleich wieder kopfschüttelnd heraus. Adams sah wütend aus. Er nahm Humber beim Arm und ging offenbar unter bösen Worten mit ihm zum Büro. Ich hätte das zu gern mit angehört. Schade, daß du nicht Lippenlesen kannst, dachte ich, oder nicht wenigstens ein Richtmikrofon dabei hast. Als Spion mußte ich noch viel lernen. Am Dienstag morgen beim Frühstück bekam ich einen Brief, abgestempelt in Durham, und betrachtete ihn neu gierig, da doch kaum jemand wußte, wo ich mich aufhielt, 204
oder sich die Mühe machen würde, mir zu schreiben. Ich steckte ihn erst mal weg, um ihn später ungestört zu lesen, und darüber war ich dann froh, denn zu meiner Überra schung kam er von Octobers Ältester. Sie hatte von der Uni aus geschrieben und faßte sich kurz: Lieber Daniel Roke, es würde mich freuen, wenn Sie diese Woche irgendwann bei mir vorbeikommen könnten. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen. Herzlich, Elinor Tarren. Wahrscheinlich soll sie mir etwas von October ausrichten oder zeigen, dachte ich, oder er will mich selbst sprechen, wollte aber nicht das Risiko eingehen, direkt an mich zu schreiben. Verwirrt bat ich Cass um einen freien Nachmit tag, den ich aber nicht bekam. Höchstens Samstag, sagte er, und das auch nur, wenn du parierst. Ich dachte, Samstag könnte schon zu spät sein, oder sie würde zum Wochenende nach Yorkshire fahren, schrieb ihr aber, daß es nur an diesem Tag ginge, und brachte am Dienstag nach dem Abendbrot den Brief in Posset auf die Post. Ihre Antwort kam am Freitag, wieder kurz und bündig und ohne Hinweis darauf, weshalb sie mich sprechen wollte. »Samstag nachmittag paßt mir sehr gut. Ich sage dem Pförtner, daß Sie kommen. Gehen Sie zum Nebeneingang des College (das ist der für die Studentinnen und Besu cher), und lassen Sie sich auf mein Zimmer führen.« 205
Eine beigefügte Bleistiftskizze zeigte mir, wie ich zu dem College kam, und das war alles. Samstag früh mußte ich sechs Pferde versorgen, weil für Charlie noch immer kein Ersatz gefunden und Jerry mit Pageant zu den Rennen gefahren war. Adams kam wie üblich, um mit Humber zu reden und das Verladen seiner Jagdpferde zu überwachen, kümmerte sich dankenswer terweise aber nicht um mich. Zehn von den zwanzig Mi nuten, die er dort war, schaute er mit einem finsteren Aus druck auf dem ebenmäßigen Gesicht in Mickeys Box. Cass, der Futtermeister, war nicht immer unfreundlich, und da er wußte, daß ich den Nachmittag freihaben wollte, ging er sogar so weit, mir zu helfen, damit ich bis zum Mittagessen fertig war. Ich dankte ihm überrascht, und er meinte, er wisse schon, daß alle (ihn selbst ausgenommen) doppelt schwer ackern müßten, weil immer noch ein Mann fehle, und daß ich darüber nicht so gemeckert hätte wie die anderen. Den Fehler darf ich nicht zu oft begehen, dachte ich. Ich wusch mich, so gut es die Umstände erlaubten – man mußte das Waschwasser in einem Kessel auf dem Herd heiß machen und es in die Schüssel auf dem marmornen Waschtisch schütten –, und rasierte mich sorgfältiger als sonst vor dem handgroßen, fliegenverdreckten Spiegel scherben, gedrängt von den anderen, die nach Posset woll ten. Für den Besuch in einem Frauencollege hatte ich nichts zum Anziehen. Seufzend entschied ich mich für den schwarzen Rolli, die anthrazitfarbene Röhrenhose und die schwarze Lederjacke. Kein Hemd, denn ich besaß keinen Schlips. Ich sah auf die spitzen Schuhe, doch da ich mei nen Widerwillen dagegen nicht überwinden konnte, zog ich meine unter dem Wasserhahn im Hof geputzten Reit stiefel an. Die Klamotten hätten alle eine Reinigung ver 206
tragen können, und vermutlich roch ich nach Pferd, aber daran war ich so gewöhnt, daß es mir nicht auffiel. Ich zuckte die Achseln. Es war nicht zu ändern. Ich packte mein Motorrad aus und düste nach Durham.
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linors College lag in einer Allee neben anderen kom pakten Bildungsstätten. Es hatte einen imposanten Vordereingang und eine weniger imposante, geteerte Ein fahrt auf der rechten Seite. Ich nahm die Einfahrt und stellte mein Motorrad neben eine lange Reihe von Fahrrä dern. Hinter den Rädern standen sechs oder sieben PKWs, darunter der kleine rote Zweisitzer von Elinor. Zwei Stufen führten zu einer massiven Eichentür hinauf, an der das Wort »Studenten« prangte. Ich trat ein. Rechts an einem Pförtnertisch saß ein traurig aussehender Mann mittleren Alters, der auf eine Liste schaute. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Können Sie mir sagen, wo ich Lady Elinor Tarren finde?« Er blickte auf und sagte: »Sind Sie zu Besuch? Werden Sie erwartet?« »Ja«, sagte ich. Er fragte nach meinem Namen und fuhr mit dem Finger die Liste entlang. »Daniel Roke für Miss Tarren, bitte hin aufführen. Ja, stimmt. Dann wollen wir mal.« Er stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und führte mich schwer atmend ins Gebäudeinnere. Die Korridore waren so verschlungen, daß ein Führer durchaus zweckmäßig erschien. An den zahllosen Zim mertüren steckten in kleinen Metallrahmen Kärtchen mit den Namen der Bewohnerinnen oder mit Funktionsbe zeichnungen. Nachdem wir zwei Stockwerke hinaufge 208
stiegen und noch um ein paar Ecken gegangen waren, blieb der Pförtner vor einer der besagten Türen stehen. »Bitte sehr«, sagte er mit unbeteiligter Stimme. »Hier wohnt Miss Tarren.« Er drehte sich um und stapfte zu sei nem Posten zurück. Auf dem Kärtchen an der Tür stand MISS E. C. TARREN. Ich klopfte an. Miss E. C. Tarren öffnete. »Kommen Sie rein«, sagte sie. Kein Lächeln. Ich trat ein. Sie schloß die Tür hinter mir. Ich blieb ste hen und sah mir das Zimmer an. Ich war so an die unge mütliche Unterkunft bei Humber gewöhnt, daß ich mich auf einen Raum mit Vorhängen, Teppich, Polsterstühlen, Kissen und Blumen erst wieder einstellen mußte. Blauund Grüntöne in verschiedenen Abstufungen herrschten vor, und eine Schale mit Osterglocken und roten Tulpen hob sich davon ab. Ein großer Schreibtisch, auf dem Bücher und Papiere he rumlagen; ein Bücherregal, ein Bett mit blauer Tagesdek ke, ein Kleiderschrank, ein großer Einbauschrank und zwei Sessel. Hier konnte man sich wohl fühlen. Vor allem gut arbeiten. Hätte ich mich meinen Gedanken überlassen, wäre ich sicher neidisch geworden: Der Tod meiner Eltern hatte mich um genau dies betrogen – die Zeit und die Möglichkeit zu studieren. »Bitte nehmen Sie Platz.« Sie wies auf einen der Sessel. »Danke.« Ich setzte mich, und sie nahm den Sessel mir gegenüber, sah mich aber nicht an. Ernst blickte sie zu Boden, und ich fragte mich bedrückt, ob sie mir von Octo ber nur wieder Unerfreuliches auszurichten hatte. »Ich habe Sie hergebeten«, begann sie. »Ich habe Sie hergebeten, weil …« Sie unterbrach sich, stand plötzlich auf, trat hinter mich und versuchte es noch einmal. 209
»Ich habe Sie hergebeten«, sagte sie zu meinem Hinter kopf, »weil ich mich bei Ihnen entschuldigen muß, und das fällt mir nicht gerade leicht.« »Entschuldigen?« fragte ich verblüfft. »Wofür denn?« »Für meine Schwester.« Ich stand auf und wandte mich zu ihr. »Bitte nicht«, sag te ich heftig. In den vergangenen Wochen war ich derart gedemütigt worden, daß mir nichts daran lag, jemand an deren gedemütigt zu sehen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube«, sie schluckte, »ich glaube, daß meine Familie Sie sehr schlecht behandelt hat.« Das silberblonde Haar schimmerte wie ein Heiligen schein in dem fahlen, durchs Fenster einfallenden Licht. Sie trug ein ärmelloses dunkelgrünes Kleid mit einem knallroten Pulli darunter. Starke Farben, starke Wirkung, und wenn ich sie weiter so ansah, wurde für sie alles noch schwieriger. Ich setzte mich wieder in den Sessel und sag te einigermaßen erleichtert, da sie mir offenbar doch keine Ohrfeige von October zu übermitteln hatte: »Bitte machen Sie sich darüber keine Gedanken.« »Was denn sonst?« rief sie aus. »Ich wußte doch, wes halb Sie entlassen worden waren, und ich habe Vater mehr als einmal gesagt, er hätte Sie hinter Gitter bringen sollen, und jetzt erfahre ich, daß das alles gar nicht stimmt. Wie soll ich mir keine Gedanken machen, wenn alle meinen, Sie hätten sich einen bösen Übergriff erlaubt, und über haupt nichts Wahres daran ist?« Ihre Stimme war voller Anteilnahme. Es störte sie wirk lich, daß jemand aus ihrer Familie sich so unfair verhalten hatte. Und es plagte ihr Gewissen, weil sie Pattys Schwe ster war. Ein sympathischer Zug – aber ich kannte sie ja schon als überaus nette Person. 210
»Woher wissen Sie das?« fragte ich. »Patty hat es mir voriges Wochenende erzählt. Wir hat ten mal wieder alles mögliche durchgehechelt. Von Ihnen wollte sie sonst nie reden, aber diesmal hat sie gelacht und mir alles einfach so erzählt, als wäre es nicht mehr wich tig. Ich weiß natürlich, daß sie, na ja, Erfahrung mit Män nern hat. So ist sie nun mal. Aber das … da war ich doch geschockt. Ich konnte es erst gar nicht glauben.« »Was hat sie Ihnen denn erzählt?« Hinter mir war es still, dann kam ihre Stimme etwas zit ternd wieder. »Sie sagte, sie habe Sie verführen wollen, aber Sie seien nicht darauf eingegangen. Sie habe sich Ih nen nackt gezeigt, und Sie hätten bloß gesagt, sie solle sich wieder anziehen. Sie habe eine solche Wut gehabt, daß sie den ganzen nächsten Tag überlegt habe, wie sie Ihnen das heimzahlen könne, und am Sonntag morgen sei sie dann in Tränen aufgelöst zu Vater gelaufen …« »Na ja«, sagte ich gutgelaunt, »so kommt das den Tatsa chen schon etwas näher.« Ich lachte. »Das ist nicht komisch«, wandte sie ein. »Nein. Ich bin nur erleichtert.« Sie kam um den Sessel herum, setzte sich mir wieder gegenüber und sah mich an. »Es hat Sie also doch getrof fen?« Offenbar stand es in meinem Gesicht zu lesen. »Ja.« »Ich habe Vater gesagt, daß sie gelogen hat. Sonst hatte ich ihm von ihren Liebschaften nie erzählt, aber das war etwas anderes … Jedenfalls weiß er seit Samstag mittag Bescheid.« Sie unterbrach sich, zögerte. Ich wartete. Und sie sprach weiter: »Es war schon seltsam. Als ob er gar nicht überrascht sei. Er fiel nicht wie ich aus allen Wol ken. Er wirkte nur plötzlich sehr müde, als hätte er eine 211
schlechte Nachricht erhalten. Als wäre nach langer Krank heit ein Freund gestorben, so eine Traurigkeit war das. Konnte ich mir nicht erklären. Und als ich sagte, der Ge rechtigkeit halber müsse man Ihnen selbstverständlich Ihre Stelle wieder anbieten, war er strikt dagegen. Ich habe ihm zugeredet, aber er ist eisern. Er will auch Inskip nichts davon sagen, daß Sie zu Unrecht entlassen worden sind, und ich mußte ihm versprechen, daß ich weder Inskip noch sonst jemandem erzähle, was Patty mir gesagt hat. Das ist so unfair«, fuhr sie auf, »und ich fand, wenn es schon sonst keiner wissen darf, sollen wenigstens Sie es wissen. Auch wenn Sie nicht viel davon haben, daß mein Vater und ich jetzt die Wahrheit kennen, wollte ich Ihnen einfach sagen, daß es mir sehr, sehr leid tut, was meine Schwester getan hat.« Ich lächelte sie an. Es fiel mir nicht schwer. Ihr Haar und ihr Teint waren so blendend schön, da spielte es keine Rolle, daß ihre Nase nicht ganz gerade war. In den ehrli chen grauen Augen lag tiefes Bedauern, und ich wußte, daß sie Pattys Fehlverhalten um so schwerer nahm, als sie dachte, der Leidtragende sei ein Pferdepfleger, der sich in solchen Dingen nicht wehren könne. Auch deshalb war eine Antwort schwierig. Mir war natürlich klar, daß October, selbst wenn er es wider Erwarten gewollt hätte, mich nicht für unschuldig erklären und von jedem Verdacht freisprechen konnte, ohne Gefahr zu laufen, daß Humber davon erfuhr, und nichts hätte uns weniger ins Konzept gepaßt, als wenn er mir die Stelle bei Inskip wieder hätte antragen müssen. Kein Mensch, der zu Inskip gehen konnte, wäre bei Hum ber geblieben. »Wenn Sie wüßten«, sagte ich langsam, »wie sehr ich mir gewünscht habe, Ihr Vater würde mir glauben, daß ich Ihre Schwester nicht angerührt habe, dann würden Sie ver 212
stehen, daß mir das, was Sie gerade gesagt haben, zehnmal wichtiger ist, als wo ich arbeite. Ich kann Ihren Vater gut leiden. Ich achte ihn. Und er hat ganz recht. Er kann mich nicht wieder einstellen, weil er damit quasi öffentlich zugeben würde, daß seine Tochter zumindest eine Lügne rin ist, wenn nicht gar Schlimmeres. Das können Sie nicht von ihm verlangen, nicht von ihm erwarten. Ich tue es auch nicht. Am besten läßt man alles, wie es ist.« Sie sah mich eine Weile schweigend an. Ich meinte, Er leichterung in ihrem Gesicht zu sehen, auch Verwunde rung und schließlich Verwirrung. »Wollen Sie denn gar keine Wiedergutmachung?« »Nein.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Hören Sie«, sagte ich und stand auf, um mich ihren neu gierigen Blicken zu entziehen, »so ganz schuldlos bin ich auch nicht. Ich habe Ihre Schwester geküßt. Ich habe sie wohl auch erst mal ermutigt. Dann habe ich mich geschämt und einen Rückzieher gemacht, wenn Sie die Wahrheit wis sen wollen. Es war nicht allein ihr Fehler. Ich habe schon Mist gebaut. Machen Sie sich also meinetwegen bitte kei nen Kopf.« Ich blieb am Fenster stehen und sah hinaus. »Für Morde, die man bleiben läßt, sollte man nicht ge hängt werden«, meinte sie trocken. »Sie sind sehr großzü gig, und damit habe ich nicht gerechnet.« »Dann hätten Sie mich nicht herbitten dürfen«, sagte ich nachdenklich. »Dafür war das Risiko zu groß.« »Was für ein Risiko?« »Daß ich Stunk machen, die Familie bloßstellen, den Ruf der Tarrens beflecken würde. Körbe voll schmutziger Wäsche für die Sonntagszeitungen, schwerer Gesichtsver lust für Ihren Vater gegenüber seinen Geschäftsfreunden.« 213
Sie sah mich erschrocken, aber auch entschlossen an. »Trotzdem – Ihnen war Unrecht geschehen, und das mußte ins reine gebracht werden.« »Ohne Rücksicht auf Verluste?« »Ohne Rücksicht auf Verluste«, wiederholte sie leise. Ich lächelte. Eine Frau ganz nach meinem Herzen. Auch ich hatte mich um Verluste wenig geschert. »Gut«, sagte ich zögernd, »dann will ich Sie nicht län ger stören. Es hat mich sehr gefreut. Sicher war es alles andere als einfach für Sie, sich zu dem Gespräch zu ent schließen, und ich bin Ihnen dafür dankbarer, als ich sa gen kann.« Sie sah auf die Uhr und zögerte ebenfalls. »Es ist zwar nicht gerade die Zeit dafür, aber möchten Sie einen Kaf fee? Ich meine, Sie sind so weit gefahren …« »Gern«, sagte ich. »Gut … setzen Sie sich, ich mache uns einen.« Ich setzte mich wieder. Sie öffnete den Einbauschrank, der auf einer Seite ein Waschbecken mit Spiegel, auf der anderen einen Gasbrenner und ein Geschirrbord enthielt. Mit eleganten, sparsamen Bewegungen setzte sie Wasser auf und stellte Kaffeegeschirr auf den niedrigen Tisch zwischen den beiden Sesseln. Unbefangen, dachte ich. Selbstbewußt genug, um an einem Ort, wo Denkvermögen über Herkunft ging, ihren Titel beiseite zu lassen. Selbst bewußt genug, um einen Mann von meinem Aussehen auf ihr Zimmer kommen zu lassen und ihm ohne Not, rein aus Höflichkeit, einen Kaffee anzubieten. Ich fragte sie, was sie studiere, und sie sagte, Englisch. Sie holte Milch, Zucker und Kekse. »Darf ich mir Ihre Bücher ansehen?« fragte ich. »Bitte«, sagte sie freundlich. 214
Ich stand auf und trat vor das Regal. Sie hatte philologi sche Lehrbücher – Altisländisch, Angelsächsisch, Mittel englisch – und eine umfassende Auswahl englischer Lite ratur, von den Chroniken Alfreds des Großen bis zu den unerreichbaren Amazonen John Betjemans. »Was halten Sie von meinen Büchern?« fragte sie neu gierig. Wie sollte ich darauf antworten? Das Versteckspiel war ihr gegenüber verdammt unfair. »Sehr gelehrt«, sagte ich lahm. Ich wandte mich von dem Regal ab und sah mich plötz lich von Kopf bis Fuß in der Spiegeltür ihres Kleider schranks. Mürrisch betrachtete ich mein Ebenbild, Roke, den Pfer depfleger, den ich zum erstenmal, seit ich vor Monaten Octobers Stadthaus verlassen hatte, wieder so zu Gesicht bekam, und er hatte mit der Zeit nichts gewonnen. Die Haare waren zu lang, die Koteletten gingen fast bis an die Ohrläppchen. Die Haut war fahlgelb, die Sonnen bräune verblaßt. Eine gewisse Anspannung im Gesicht und ein argwöhnischer Augenausdruck waren hinzuge kommen, und in meiner schwarzen Kluft sah ich schäbig und wenig vertrauenerweckend aus. Ihre Gestalt erschien hinter mir, unsere Blicke trafen sich im Spiegel, und ich merkte, daß sie mich beobachtete. »Anscheinend gefällt Ihnen nicht, was Sie sehen«, sagte sie. Ich drehte mich um. »Nein«, erwiderte ich trocken. »Wem soll das gefallen?« »Hm …« Auf einmal lächelte sie verschmitzt. »Ich wür de Sie zum Beispiel nicht auf unser Haus hier loslassen. Aber wenn Sie mich fragen, was für eine Wirkung Sie … 215
Sie sind vielleicht etwas ungeschliffen, aber ich verstehe schon, was Patty, ehm … na ja …« Sie unterbrach sich und war jetzt sichtlich doch verlegen. »Das Wasser kocht«, kam ich ihr zu Hilfe. Erleichtert wandte sie sich ab und goß den Kaffee auf. Ich ging zum Fenster, sah auf den verlassenen Hof hinun ter, drückte meine Stirn an das kühle Glas. Es passiert trotzdem, dachte ich. Die gräßlichen Klamot ten, die schräge Erscheinung änderten nichts. Zum tau sendsten Mal fragte ich mich, welchen Zufällen man es verdankte, daß man mit einem bestimmten Körperbau zur Welt kam. Ich konnte nichts für den Schnitt meines Ge sichts, die Form meines Kopfes. Sie waren mein Erbteil von zwei gutaussehenden Eltern – ihr Werk, nicht meines. Wie Elinors Haar, dachte ich. Angeboren. Nichts, auf das man stolz sein konnte. Zufall, wie ein Muttermal oder ein Schielen. Ich vergaß es nur immer wieder und war betrof fen, wenn mich jemand darauf stieß. Sogar Geld hatte es mich schon gekostet. Zwei potentielle Käufer waren mir entgangen, weil ihre Frauen mehr Augen für mich als für meine Pferde gehabt hatten. Bei Elinor, dachte ich, war es eine vorübergehende An ziehung, weiter nichts. Sie war zweifellos zu vernünftig, um sich mit einem ehemaligen Pferdepfleger ihres Vaters einzulassen. Und für mich wiederum hieß es ganz klar, Hände weg von beiden Tarren-Schwestern. Ich durfte nicht, kaum daß ich mit der einen aus dem Regen kam, mit der anderen in die Traufe springen. Trotzdem schade. Eli nor gefiel mir wirklich sehr. »Der Kaffee ist fertig«, sagte sie. Ich ging zum Tisch zurück. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Der Schalk war aus ihren Augen verschwun den, und sie machte ein beinah strenges Gesicht, als bereu 216
te sie, was sie gesagt hatte, und wollte verhindern, daß ich es ausnutzte. Sie gab mir eine Tasse und bot mir die Kekse an, die mir willkommen waren, da es bei Humber Brot, Margarine und harten, geschmacklosen Käse zu Mittag gegeben hatte und zu Abend wieder geben würde. Samstags sah der Speiseplan fast immer so aus, weil Humber wußte, daß wir dann in Posset aßen. Wir unterhielten uns artig über die Pferde ihres Vaters. Ich erkundigte mich nach Sparking Plug, und sie meinte, er entwickle sich gut. »Ich habe einen Zeitungsausschnitt über ihn«, sagte sie. »Wollen Sie den sehen?« »Gern.« Ich folgte ihr an den Schreibtisch, während sie in den darauf liegenden Papieren suchte. Sie schob ein paar Blät ter weg, wobei das oberste zu Boden fiel. Ich hob es auf und legte es zurück. Es schien eine Art Quiz zu sein. »Danke«, sagte sie. »Das darf ich nicht verlieren, es ist das Preisausschreiben der Literarischen Gesellschaft, und mir fehlt nur noch eine Antwort. Wo hab ich denn bloß den Ausschnitt?« Das Preisausschreiben bestand aus einer Reihe von Zita ten, zu denen man die Autoren finden mußte. Ich nahm es wieder in die Hand und las. »Das erste ist ein Hammer«, sagte sie über ihre Schulter. »Glaub nicht, daß das schon jemand geknackt hat.« »Wer gewinnt denn da?« fragte ich. »Wer als erster alle richtigen Lösungen abgibt.« »Und was gewinnt man?« »Ein Buch. Aber es geht mehr ums Prestige. Wir haben pro Semester nur ein Preisausschreiben, und das ist immer 217
schwierig.« Sie zog eine vollgestopfte Schublade auf. »Ich weiß, daß ich den Ausschnitt hier irgendwo hingetan ha be.« Sie begann den Schubladeninhalt herauszuräumen. »Lassen Sie ruhig«, sagte ich höflich. »Nein, jetzt will ich ihn auch finden.« Eine Handvoll Krimskrams landete klappernd auf dem Schreibtisch. Unter den Sachen war ein verchromtes Röhrchen, unge fähr acht Zentimeter lang, mit einer Kette, die von einem Ende zum anderen lief. Du hast so was schon mal gesehen, ging es mir durch den Kopf. Und zwar schon öfter. Es hat te etwas mit Getränken zu tun. »Was ist das?« fragte ich und zeigte hin. »Das? Ach, das ist eine lautlose Pfeife.« Sie kramte wei ter. »Für Hunde«, erklärte sie. Ich hob sie auf. Eine lautlose Hundepfeife. Wieso brach te ich sie dann mit Flaschen und Gläsern in Verbindung und … die Welt stand still. Mit einem spürbaren Ruck schloß sich der Kreis. End lich hatte ich Adams und Humber am Kragen. Mein Puls ging schneller. So einfach. Ganz einfach. Das Röhrchen ließ sich in der Mitte auseinanderziehen, und die beiden Teile, Pfeife und Schutzkappe, blieben durch die Kette verbunden. Ich setz te das Mundstück an die Lippen und blies hinein. Es gab nur einen dünnen Ton. »Wir hören das kaum«, sagte Elinor, »aber Hunde sehr gut. Und man kann die Pfeife auch so einstellen, daß sie das menschliche Ohr besser hört.« Sie nahm sie mir aus der Hand und drehte an der in sich wiederum zweigeteil ten Pfeife. »Versuchen Sie’s jetzt mal.« Sie gab sie mir wieder. 218
Ich blies noch einmal. Jetzt hörte es sich schon wie eine normale Pfeife an. »Könnten Sie mir die vielleicht für einige Zeit leihen?« fragte ich. »Falls Sie sie nicht brauchen. Ich … ich möchte ein Experiment machen.« »Ja, das geht. Mein alter Schäferhund mußte im Frühjahr eingeschläfert werden, und seitdem habe ich sie nicht mehr benutzt. Aber ich möchte sie gerne wiederhaben. In den großen Ferien bekomme ich einen Welpen, und den will ich damit erziehen.« »Ja, natürlich.« »Gut. Ach, und hier ist auch der Ausschnitt.« Sie gab mir den Artikel, aber ich konnte mich nicht dar auf konzentrieren. Ich sah immer nur die Bar in Humbers Superschlitten vor mir, mit ihrem Sortiment an Eispickeln, Zangen und vielerlei verchromten Utensilien. Die hatte ich nie groß beachtet, aber ein Röhrchen mit einer an beiden Enden befestigten Kette war darunter gewesen. Eine laut lose Hundepfeife. Ich riß mich zusammen, las den Artikel über Sparking Plug und dankte ihr, daß sie ihn mir gezeigt hatte. Dann verstaute ich die Pfeife in meinem Geldgürtel und sah auf die Uhr. Schon nach halb vier. Ich würde zu spät zur Ar beit kommen. Sie hatte mich bei October entlastet und mich auf die Pfeife gebracht. Zwei Riesengefälligkeiten. Dafür wollte ich mich gern revanchieren, und ich sah nur eine Möglich keit. »Nirgends finden wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eigenen Seele …«, zitierte ich. Sie sah mich verblüfft an. »Das ist die erste Frage im Preisrätsel.« 219
»Ja. Dürfen Sie sich helfen lassen?«
»Ohne weiteres. Aber …«
»Das ist Mark Aurel.«
»Wer?« Sie war sprachlos.
»Marcus Aurelius Antonius, römischer Kaiser, 121 bis
180 nach Christus.« »Die Selbstbetrachtungen?« Ich nickte. »In welcher Sprache war der Urtext? Das müssen wir auch angeben. Lateinisch, nehme ich an?« »Griechisch.« »Das ist ja irre. Wo sind Sie denn zur Schule gegangen?« »In einem Dorf bei Oxford.« Zwei Jahre lang nämlich, bis ich acht war. »Und einer der Lehrer hat uns unentwegt mit Mark Aurel vollgestopft.« Aber diesen Lehrer hatte ich in Geelong gehabt. Den ganzen Nachmittag war ich versucht gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen, und ganz besonders jetzt. Ich konnte mich in ihrer Gegenwart einfach nicht verstellen, und schon in Slaw hatte ich mehr oder weniger so mit ihr geredet, wie mir der Schnabel gewachsen war. Es ging mir gegen den Strich, ihr etwas vorzuspielen. Aber ich sagte ihr nicht, woher ich kam und weshalb ich in England war, weil auch October es nicht getan hatte, und der kannte sei ne Tochter sicher besser als ich. Sie hatte gemütliche Plaudereien mit Patty, der Schwester mit dem losen Mundwerk, und vielleicht wollte er seine Ermittlungen nicht unnötig gefährden. Ich wußte es nicht. Aber ich schwieg. »Und das ist ganz bestimmt von Mark Aurel?« hakte sie nach. »Wir dürfen nur einmal raten. Zweiten Durchgang gibt’s nicht.« 220
»Dann würde ich nachsehen. Es steht in einem Abschnitt über die Kunst des Sichbescheidens. Wahrscheinlich habe ich es behalten, weil es ein guter Tip ist, nach dem ich mich viel zu selten richte.« Ich grinste. »Wissen Sie«, sagte sie zögernd, »es geht mich ja nichts an, aber ich meine, Sie hätten einiges erreichen können. Sie scheinen mir wirklich intelligent zu sein. Wie kommt es, daß Sie in einem Stall arbeiten?« »Ich arbeite in einem Stall«, sagte ich wahrheitsgemäß, wenn auch nicht ohne Ironie, »weil es das einzige ist, was ich gelernt habe.« »Werden Sie das bis an Ihr Lebensende tun?« »Wahrscheinlich.« »Und können Sie damit zufrieden sein?« »Das hoffe ich doch.« »Ich hätte nicht gedacht, daß das so ein Nachmittag wird«, sagte sie. »Offengestanden, ich hatte etwas Angst. Und dann war es ganz leicht mit Ihnen.« »Na, sehen Sie«, meinte ich fröhlich. Sie lächelte. Ich ging zur Tür und öffnete sie, und sie sagte: »Ich bringe Sie am besten runter. Die Hütte muß ein Irrgartenspezialist entworfen haben. In den oberen Etagen hat man schon halb verdurstete Besucher aufgegriffen, die seit Tagen abgemeldet waren.« Ich lachte. Sie ging mit mir durch die verzweigten Kor ridore, die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle zum Ausgang, und erzählte mir wie einem Gleichgestellten zwanglos von ihrem Leben hier. Durham sei die älteste englische Universität nach Oxford und Cambridge, meinte sie, und die einzige, an der man Geophysik studieren kön ne. Sie war wirklich nett. Vor der Tür gab sie mir die Hand. 221
»Auf Wiedersehen«, sagte sie. »Es tut mir leid, daß Patty so gemein zu Ihnen war.« »Mir nicht. Sonst hätte ich heute nachmittag nicht hier sein können.« Sie lachte. »Ein ziemlich hoher Preis.« »Den war es wert.« Ihre grauen Augen, fiel mir auf, waren dunkelgrau ge fleckt. Sie sah zu, wie ich aufs Motorrad stieg und den Helm aufsetzte. Dann winkte sie kurz und ging wieder hinein. Schon fiel die Tür hinter ihr zu.
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14
A
uf der Rückfahrt machte ich in Posset halt, um zu sehen, ob October zu meiner Theorie von vor acht Tagen Stellung bezogen hatte, aber es war keine Post für mich gekommen. Obwohl ich schon spät dran war, schrieb ich ihm noch. Mir ging Tommy Stapleton nicht aus dem Kopf, der ge storben war, ohne weitergegeben zu haben, was er wußte. Ich wollte nicht den gleichen Fehler machen. Und sterben noch viel weniger. Ich schrieb sehr schnell. »Der Auslöser ist, glaube ich, eine lautlose Pfeife, wie man sie zur Hundedressur nimmt. Humber hat so eine in der Bar seines Wagens liegen. Erinnern Sie sich an Old Etonian? In Cartmel werden morgens vor den Pferderen nen Hunderennen abgehalten.« Nachdem ich den Brief aufgegeben hatte, kaufte ich mir eine große Tafel Schokolade, dazu den Comic für Jerry und versuchte möglichst unauffällig in den Stall zurück zukommen. Cass erwischte mich trotzdem und meinte säuerlich, den nächsten Samstag bekäme ich wohl kaum frei, da er mich Humber melden werde. Ich seufzte resi gniert, machte mich an die mehr als reichliche Arbeit und spürte, wie die kalte, schmuddelige, aggressive Atmosphä re wieder von mir Besitz ergriff. Aber etwas hatte sich geändert. Die Pfeife lag wie eine Bombe in meinem Geldgürtel. Mein Todesurteil, wenn ich damit erwischt wurde. Nahm ich zumindest an. Ich mußte 223
erst noch prüfen, ob ich keinen falschen Schluß gezogen hatte. Tommy Stapleton hatte wahrscheinlich geahnt, was ab lief, und war geradewegs zu Humber gegangen, um ihn zur Rede zu stellen. Er konnte nicht wissen, daß er es mit Männern zu tun hatte, die auch vor einem Mord nicht zu rückschreckten. Aber weil er umgekommen war, war ich gewarnt. Ich lebte seit sieben Wochen unbehelligt in ihrer Nähe, denn ich hatte aufgepaßt, und da ich bis zum Schluß unentdeckt bleiben wollte, überlegte ich am Sonntag reif lich, wie ich die Probe aufs Exempel machen konnte, ohne aufzufliegen. Sonntag nachmittag gegen fünf kam Adams mit seinem blitzenden grauen Jaguar in den Hof gefahren. Wie immer schlug mir sein Anblick aufs Gemüt. Er begleitete Humber bei der üblichen Stallkontrolle und blieb lange vor Mickeys Box stehen. Weder er noch Humber gingen hinein. Humber war seit dem Tag, als er mir geholfen hatte, den ersten Tränkeimer mit Beruhigungsmittel hineinzustellen, mehr mals in der Box gewesen, aber Adams noch überhaupt nicht. »Was meinst du, Hedley?« fragte Adams. Humber zuckte die Achseln. »Unverändert.« »Abschreiben?« »Sieht so aus.« Humber hörte sich deprimiert an. »Verdammt ärgerlich«, fuhr Adams auf. Er sah mich an. »Machen Sie sich immer noch mit Tranquilizern Mut?« »Ja, Sir.« Er lachte gehässig. Er fand das sehr komisch. Dann ver finsterte sich seine Miene, und er sagte brutal zu Humber: »Es bringt ja doch nichts. Also weg mit ihm.« Humber wandte sich ab und sagte: »Gut, das wird mor gen erledigt.« 224
Sie gingen zur nächsten Box. Ich schaute Mickey an. Ich hatte für ihn getan, was ich konnte, aber es war hoffnungs los; er war von Anfang an nicht zu retten gewesen. Nach vierzehn Tagen innerem Chaos, dauernder Betäubung und Futterverweigerung war er in einem erbärmlichen Zu stand, und ein weniger gefühlloser Mensch als Humber hätte seinem Leiden längst ein Ende gesetzt. Ich machte es ihm für seine letzte Nacht bequem und wich einmal mehr seinen zuschnappenden Zähnen aus. Nicht, daß ich es bedauert hätte, ihn loszuwerden, denn vierzehn Tage mit einem durchgeknallten Pferd sind jedem genug; aber wenn er am nächsten Tag getötet werden sollte, mußte ich mein Experiment sofort anstellen. Das kam mir zu plötzlich. Während ich mein Putzzeug wegräumte und über den Hof zur Küche ging, überlegte ich, ob es nicht wenigstens einen guten Grund gab, damit zu warten. Die Gründe flogen mir zu, bis ich an der unangenehmen Erkenntnis nicht mehr vorbeikam, daß ich zum erstenmal seit meiner Kinderzeit gehörig Angst hatte. Ich konnte October bitten, das Experiment mit Six-Ply zu machen, dachte ich. Oder mit einem der anderen Pfer de. Ich mußte es nicht selber tun. Anders war es viel ge scheiter. Der Graf riskierte dabei überhaupt nichts, wäh rend ich, wenn Humber mich erwischte, so gut wie tot war; am besten also, man überließ es October. Da merkte ich dann, daß ich kneifen wollte, und es gefiel mir nicht. Ich brauchte fast den ganzen Abend, um mich zu entschließen, die Probe selbst zu machen. Bei Mickey. Am nächsten Morgen. Sicher wäre es einfacher gewesen, das Ganze auf October abzuwälzen, aber was hätte mein Gewissen dazu gesagt? Warum war ich von zu Hause weggegangen, wenn nicht, um meinen Mann zu stehen? 225
Als ich am nächsten Morgen mit dem Eimer zum Büro ging, um die letzte Dosis Phenobarbital für Mickey abzu holen, war kaum noch etwas in der Flasche. Cass drehte sie um und klopfte sie am Eimer aus, damit kein Gran des weißen Pulvers verlorenging. »Das war’s dann«, meinte er, als er den Stöpsel auf die leere Flasche setzte. »Schade, sonst hätten wir dem armen Vieh ausnahmsweise die doppelte Dosis gegönnt. Nun mach schon«, fügte er scharf hinzu. »Kein Grund, hier mit Leichenbittermiene rumzuhängen. Dich erschießt heute nachmittag ja keiner.« Das hoffte ich auch. Ich schwenkte den Eimer unterm Wasserhahn, bis sich das Phenobarbital auflöste, und kippte es weg. Dann füllte ich klares Wasser nach und ging damit zu Mickey. Er konnte nicht mehr. Die Knochen traten noch deutli cher unter dem Fell hervor, der Kopf hing zwischen den Schultern herab. Die Augen hatten immer noch einen wir ren, wilden Ausdruck, aber es ging so rapide bergab mit ihm, daß er kaum noch Kraft hatte, jemanden anzugreifen. Er machte nicht einmal den Versuch, mich zu beißen, als ich den Eimer vor ihn hinstellte, sondern ging mit dem Maul hinein und soff halbherzig ein paar Schlucke. Ich ließ ihn allein und holte ein neues Halfter aus dem Korb in der Sattelkammer. Das war streng verboten; nur Cass durfte neues Zeug ausgeben. Ich ging mit dem Halfter zu Mickey und legte es ihm um, nachdem ich das in den vierzehn Tagen seiner Krankheit durch ständiges Zerren strapazierte alte heruntergenommen und unter einem Stroh haufen versteckt hatte. Ich löste die Anbindekette vom alten Halfter und befestigte sie am Ring des neuen. Dann klopfte ich Mickey den Hals, was ihm nicht gefiel, verließ die Box und sperrte nur die untere Hälfte der Tür zu. 226
Wir ritten mit dem ersten, dann mit dem zweiten Lot aus, und ich nahm an, daß Mickeys auf Entzug gesetzte Gehirnzellen inzwischen langsam aus ihrem Dämmer er wachten. Als ich mit Dobbin zum Stall zurückkam, blickte ich von draußen zu Mickey hinein. Sein Kopf pendelte hin und her, und er wirkte sehr unruhig. Armer Kerl, dachte ich. Armer Kerl. Und für ein paar Sekunden würde ich ihn noch mehr quälen müssen. Humber stand an der Tür seines Büros und sprach mit Cass. Die ihre Pferde versorgenden Pfleger eilten hin und her, Eimer klapperten, Stimmen ertönten; der übliche Stallärm. Eine bessere Gelegenheit würde ich nicht be kommen. Ich führte Dobbin über den Hof zu seiner Box. Auf hal bem Weg nahm ich die Pfeife aus dem Geldgürtel und zog die Kappe ab, dann, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß ich nicht beobachtet wurde, drehte ich den Kopf, setz te die Pfeife an und blies kräftig hinein. Es gab nur einen dünnen Ton, so hoch, daß ich ihn zwischen dem Geklap per von Dobbins Schritten kaum hören konnte. Was darauf folgte, war gräßlich. Mickey schrie vor Entsetzen. Seine Hufe droschen gegen den Boden, die Wände, und er riß an der klirrenden Anbindekette. Schnell brachte ich Dobbin in seine Box, band ihn an, steckte die Pfeife in meinen Gürtel und lief zu Mickey. Alle waren auf dem Weg dahin. Humber hinkte rasch über den Hof. Mickey schrie immer noch und schmetterte die Hufe ge gen die Wand, als ich über die Schultern von Cecil und Lenny in die Box schaute. Das arme Tier stand auf den Hinterbeinen und schien eine Bresche in die Ziegelmauer 227
schlagen zu wollen. Dann setzte er die Vorderbeine plötz lich auf und riß mit seiner ganzen versiegenden Kraft zu rück. »Achtung!« schrie Cecil, indem er instinktiv vor den wahnsinnig angespannten Muskeln der Hinterhand zu rückwich, obwohl er draußen in Sicherheit war. Mickeys Anbindekette war nicht lang. Es gab ein wider liches Knacken, als sie gespannt war, und seine Rück wärtsbewegung wurde mit einem Ruck unterbrochen. Er rutschte mit den Hinterbeinen nach vorn und fiel krachend auf die Seite. Die Beine zuckten steif. Sein Kopf, der noch in dem stabilen neuen Halfter steckte, hing verdreht an der straff gespannten Kette über dem Boden, und der unnatür liche Winkel sagte alles. Er hatte sich das Genick gebro chen. Eigentlich hatte ich das für ihn gehofft, damit seine Raserei ein schnelles Ende fand. Die ganze Mannschaft war vor Mickeys Box versam melt. Humber, der nur kurz von draußen einen Blick auf das tote Pferd geworfen hatte, drehte sich um und schaute nachdenklich seine sechs abgerissenen Pfleger an. Der harte Ausdruck seiner zusammengekniffenen Augen ließ nicht zu, daß jemand Fragen stellte. Es blieb erst einmal still. »In einer Reihe antreten«, sagte er plötzlich. Die Jungs waren überrascht, doch sie stellten sich ne beneinander auf. »Taschen ausleeren«, sagte Humber. Verwundert gehorchten sie ihm. Cass ging von einem zum anderen, sah sich an, was vorgezeigt wurde, und zog die Hosentaschen ganz heraus, um sich zu vergewissern, daß sie leer waren. Als er zu mir kam, zeigte ich ihm ein schmutziges Taschentuch, ein paar Geldstücke und stülpte meine Taschen um. Er nahm mir das Taschentuch ab, 228
schüttelte es aus und gab es mir zurück. Die Pfeife unter meinem Hosenbund war nur Zentimeter von seinen Fin gern entfernt. Ich spürte Humbers prüfenden Blick aus zwei Metern, doch während ich mich bemühte, ein unverfängliches, höchstens etwas verwirrtes Gesicht zu machen, stellte ich erstaunt fest, daß ich weder schwitzte noch in Fluchtbe reitschaft die Muskeln anspannte. Angesichts der Gefahr war ich merkwürdig ruhig und klar im Kopf. Es wunderte mich, aber ich konnte es gebrauchen. »Gesäßtasche?« fragte Cass. »Nichts drin«, sagte ich und drehte mich halb zu ihm, damit er es sehen konnte. »Alles klar. Jetzt du, Kenneth.« Ich schob die Taschen wieder in die Hose und stopfte mein Zeug hinein. Kein Zittern in den Händen. Erstaun lich, dachte ich. Humber wartete und wachte, bis auch Kenneths Taschen ergebnislos geleert waren; dann sah er Cass an und wies mit dem Kopf auf die Stallboxen. Cass durchstöberte die Boxen der Pferde, die wir gerade bewegt hatten. Er kam aus der letzten zurück und schüttelte den Kopf. Humber deutete stumm auf die Garage, in der sein Bentley stand. Cass verschwand, tauchte wieder auf und schüttelte erneut den Kopf. Schweigend hinkte Humber, auf den schweren Stock gestützt, zu seinem Büro. Er konnte die Pfeife nicht gehört haben, und er argwöhn te auch nicht, daß einer von uns absichtlich gepfiffen hat te, um die Wirkung auf Mickey zu beobachten, sonst hät ten wir uns nackt ausziehen müssen und wären von Kopf bis Fuß gefilzt worden. Er hielt Mickeys Tod immer noch für einen Unfall, und nachdem sich weder bei den Pflegern noch in den Boxen eine Pfeife gefunden hatte, würde er 229
hoffentlich zu dem Schluß kommen, daß unser verlorener Haufen für Mickeys Hirnsturm nichts konnte. Wenn Adams das auch fand, war ich aus dem Schneider. Am Nachmittag mußte ich den Wagen waschen. Hum bers Hundepfeife war noch an ihrem Platz, fein säuberlich in einer Lederschlaufe zwischen Korkenzieher und Eis zange. Ich rührte sie nicht an. Adams kam am nächsten Tag. Mickey war vom Abdecker geholt worden, der seine Magerkeit bemäkelt hatte, und ich hatte unauffällig das neue Halfter wieder in die Sattelkammer gebracht und das alte an die Anbindekette gehängt. Nicht einmal Cass hatte den Tausch bemerkt. Adams und Humber schlenderten zu Mickeys leerer Box und unterhielten sich, an die Halbtür gelehnt. Jerry steckte den Kopf aus der Nachbarbox, sah sie dort stehen und zog ihn schnell wieder ein. Ich ging wie üblich meiner Arbeit nach, holte Heu und Wasser für Dobbin und brachte den Mistsack weg. »Roke«, rief Humber. »Kommen Sie her, aber dalli.« Ich eilte hinüber. »Sir?« »Sie haben die Box hier nicht saubergemacht.« »Entschuldigung, Sir. Ich mach’s heute nachmittag.« »Sie machen das vor dem Essen«, bestimmte er. Er wußte genau, daß ich dann nichts zu essen bekommen würde. Ich warf ihm einen Blick zu. Er sah mich berech nend an, mit schmalen Augenschlitzen und geschürzten Lippen. Ich blickte zu Boden. »Ja, Sir«, sagte ich brav. Ver dammt, dachte ich bei mir, das ist zu früh. Ich war noch keine acht Wochen da und hatte mir noch mindestens drei 230
ausgerechnet. Wenn er mich jetzt schon abschieben woll te, konnte ich meine Aufgabe nicht zu Ende führen. »Als erstes«, schaltete sich Adams ein, »Können Sie mal den Eimer rausholen und ihn wegschaffen.« Ich sah in die Box. Mickeys Eimer stand noch neben der Krippe. Ich öffnete die Tür, ging hinein, nahm den Eimer und blieb jäh stehen. Adams war mir nachgekommen. Er hatte Humbers Geh stock in der Hand, und er lächelte. Ich ließ den Eimer fallen und wich in eine Ecke zurück. Er lachte. »Heute keine Tranquilizer, was, Roke?« Ich schwieg. Er holte aus, und der Stockknauf landete auf meinen Rippen. Ein harter, gezielter Schlag. Als er wieder den Arm hob, schlüpfte ich darunter durch und stürzte aus der Box. Sein brüllendes Lachen hallte mir nach. Ich lief, bis ich aus seinem Blickfeld war, ging dann im Schritt weiter und rieb mir den Brustkorb. Das würde ei nen ziemlichen blauen Fleck geben, und allzu viele davon wollte ich mir nicht einfangen. Wahrscheinlich konnte ich noch froh sein, daß sie mich auf dem üblichen Weg los zuwerden gedachten und nicht im Sturzflug mit einem brennenden Auto. Den ganzen langen Nachmittag überlegte ich mit lee rem Magen, was zu tun sei. Sollte ich gleich gehen und mich damit abfinden, daß das Ganze nicht zu Ende ge bracht war, oder die paar Tage nutzen, die ich noch blei ben konnte, ohne Humbers Argwohn zu erregen? Wobei sich die bedrückende Frage stellte, was drei oder vier Tage bringen sollten, wenn acht Wochen mir nicht ge nügt hatten. 231
Ausgerechnet Jerry nahm mir die Entscheidung ab. Nach dem Abendessen (gebackene Bohnen auf Brot, sparsam portioniert) saßen wir am Tisch, Jerrys Comic aufgeschlagen vor uns. Seit Charlie gegangen war, hatten wir kein Radio mehr, und die Abende waren langweiliger denn je. Lenny und Kenneth knobelten auf dem Fußboden. Cecil betrank sich irgendwo. Bert saß in seiner stillen Welt neben Jerry auf der Bank und sah zu, wie die Würfel über den Boden rollten. Die Backofentür stand offen, und sämtliche Kochplatten am Elektroherd waren aufgedreht – Lennys schlauer Ein fall zur Verstärkung der kargen Wärme des Ölofens, den Humber widerwillig zur Verfügung gestellt hatte. Bei der nächsten Stromrechnung würde damit wieder Schluß sein, aber vorerst hatten wir es warm. Das schmutzige Geschirr stapelte sich im Spülstein. Spinnweben hingen wie Girlanden zwischen den Ziegel wänden und der Decke. Eine nackte Glühbirne gab Licht. Auf dem Tisch hatte jemand Tee verschüttet, und die Eselsohren von Jerrys Comic hatten ihn aufgesaugt. Ich seufzte. Da setzte man mir die Pistole auf die Brust, und ich zauderte, dieses Schmuddeldasein hinter mir zu lassen! Jerry sah von seinem Heft auf, ließ aber den Finger als Merkzeichen auf der Seite. »Dan?« »Mhm?« »Hat Mr. Adams dich geschlagen?« »Ja.« »Das habe ich mir gedacht.« Er nickte ein paarmal und widmete sich wieder seinem Heft. 232
Mir fiel plötzlich ein, daß er in der Box neben der von Mickey gewesen war, bevor Adams und Humber mich gerufen hatten. »Jerry«, sagte ich langsam, »hast du Mr. Adams und Mr. Humber reden hören, als du bei Mr. Adams’ schwar zem Hunter drin warst?« »Ja«, antwortete er, ohne aufzusehen. »Was haben sie gesagt?« »Als du weggelaufen bist, hat Mr. Adams gelacht und dem Chef gesagt, du würdest das nicht lange aushalten. Aushalten«, wiederholte er verständnislos, »aushalten.« »Und was haben sie vorher gesagt? Als sie dahin kamen und du den Kopf rausgesteckt und sie gesehen hast?« Das beunruhigte ihn. Er setzte sich aufrecht und vergaß, den Finger im Heft zu lassen. »Der Chef durfte nicht merken, daß ich noch da drin war. Ich hätte mit dem Hunter längst fertig sein sollen.« »Ja. Hast du Schwein gehabt. Sie haben dich nicht er wischt.« Er grinste und schüttelte den Kopf. »Was haben sie gesagt?« hakte ich nach. »Sie waren sauer wegen Mickey. Sie sagten, sie würden gleich mit dem nächsten anfangen.« »Was heißt, mit dem nächsten?« »Weiß ich nicht.« »Haben sie sonst noch was gesagt?« Er verzog das schmale Kindergesicht. Er wollte mich zu friedenstellen, und ich sah ihm an, daß er angestrengt nachdachte. »Mr. Adams hat gesagt, du bist zu lange bei Mickey ge wesen, und der Chef hat gesagt, ja, das ist zu … das ist zu 233
… zu riskant, ja, und daß du weg mußt, und Mr. Adams hat gesagt, ja, sieh zu, daß er die Kurve kratzt, und sobald er weg ist, fangen wir mit dem nächsten an.« Stolz, daß er das so auf die Reihe bekommen hatte, riß er die Augen auf. »Sag das noch mal«, bat ich ihn. »Nur das letzte.« Jerry hatte durch die Comic-Vorlesestunden viel Übung darin, Gehörtes auswendig zu lernen. Gehorsam wiederholte er: »Mr. Adams sagte, sieh zu, daß er die Kurve kratzt, und sobald er weg ist, fangen wir mit dem nächsten an.« »Was wünschst du dir mehr als alles andere auf der Welt?« fragte ich. Er war überrascht, wurde nachdenklich, und schließlich nahm sein Gesicht einen verträumten Ausdruck an. »Also?« »Eine Eisenbahn«, sagte er. »Eine zum Aufziehen. Du weißt schon. Mit Gleisen und allem. Und einem Signal.« Er verstummte andächtig. »Kriegst du von mir«, sagte ich. »Sobald ich kann.« Er staunte mit offenem Mund. »Jerry, ich höre hier auf«, sagte ich. »Man kann ja nicht bleiben, wenn Mr. Adams mit Prügeln anfängt. Also muß ich weg. Aber an die Eisenbahn denke ich. Versprochen.« Der Abend verplätscherte wie so viele andere, und wir stiegen die Leiter zu unseren unbequemen Betten hinauf, wo ich im Dunkeln auf dem Rücken lag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und mir vorstellte, wie Humbers Stock am nächsten Morgen wieder irgendwo auf meinen Knochen landete. Fast wie ein Zahnarzttermin, dachte ich kläglich – man malt es sich schlimmer aus, als es ist. Ich seufzte und schlief ein. 234
Operation Rauswurf ging wie erwartet am nächsten Tag weiter: Als ich Dobbin nach der Morgenarbeit mit dem zweiten Lot absattelte, trat Humber hinter mir in die Box und zog mir den Stock übers Kreuz. Ich ließ den Sattel fallen – er landete auf einem Haufen frischem Pferdemist – und fuhr herum. »Was hab ich denn gemacht, Sir?« sagte ich gekränkt. Er sollte kein ganz so leichtes Spiel haben, aber die Antwort kam prompt. »Cass hat mir gesagt, daß Sie vorigen Samstagnachmit tag zu spät zur Arbeit gekommen sind. Und heben Sie den Sattel auf. Was schmeißen Sie den einfach in den Dreck?« Er stand breitbeinig vor mir und maß mit den Augen die Entfernung ab. Na schön, dachte ich. Einen noch, dann ist Schluß. Ich drehte mich um und hob den Sattel auf. Als ich da mit hochkam, schlug er mich erneut ins Kreuz, nur we sentlich fester diesmal. Ein Atemstoß entwich mir durch die Zähne. Ich warf den Sattel wieder in den Dreck und schrie ihn an: »Das reicht! Ich hör hier auf! Aber sofort!« »Bitte sehr«, sagte er kalt, mit merklicher Zufriedenheit. »Gehen Sie packen. Ihre Papiere können Sie im Büro abholen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und hinkte langsam davon, Mission erfolgreich beendet. Was für ein Eisschrank, dachte ich. Gefühllos, ge schlechtslos, berechnend. Unmöglich, sich ihn verliebt, geliebt, mitleidig, traurig oder in irgendeiner Weise ängst lich vorzustellen. Ich machte einen Buckel, verzog das Gesicht und be schloß, Dobbins Sattel im Dreck liegenzulassen. Paßt, dachte ich. Meiner Rolle getreu bis zum bitteren Ende. 235
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I
ch nahm die Plastikplane vom Motorrad und fuhr ohne Eile zum Hof hinaus. Die Jungs waren geschlossen mit dem dritten Lot unterwegs und mußten, wenn sie wieder kamen, noch mal ran; als mir gerade durch den Kopf ging, wie sie zu fünft mit dreißig Pferden fertigwerden wollten, kam mir ein Junge mit Frettchenaugen und umgehängtem Seesack entgegen, der langsam in Richtung Humber latschte. Neues Treibgut. Hätte er geahnt, auf was er sich einließ, wäre er noch langsamer gegangen. Ich fuhr nach Clavering, einer tristen Grubenstadt mit schäbigen Rücken an Rücken stehenden Reihenhäusern rund um ein mit Chrom und Glas aufgemotztes Einkaufs zentrum und rief in Octobers Londoner Wohnung an. Terence meldete sich. Lord October sei in Deutschland, sagte er, wo seine Firma eine neue Fabrik eröffne. »Wann kommt er zurück?« »Samstag morgen, nehme ich an. Er ist am Sonntag weg und wollte acht Tage bleiben.« »Verbringt er das Wochenende in Slaw?« »Wahrscheinlich. Der Rückflug geht nach Manchester, für London hat er mir keine Anweisungen hinterlassen.« »Könnten Sie mir die Telefonnummern von Colonel Beckett und Sir Stuart Macclesfield heraussuchen?« »Augenblick.« Ich hörte ihn blättern, dann gab er mir die Anschriften und Telefonnummern durch. Ich schrieb mit und dankte ihm. 236
»Ihre Kleider sind noch hier, Sir«, sagte er. »Ich weiß«, sagte ich grinsend. »Die hole ich auch bald mal ab.« Wir legten auf, und ich rief bei Beckett an. Eine stock trockene Stimme sagte mir, Colonel Beckett sei nicht zu Hause, werde aber um neun in seinem Club essen und sei dann dort zu erreichen. Sir Stuart Macclesfield, so erfuhr ich, kurierte in einem Sanatorium eine Lungenentzündung aus. Ich hatte gehofft, Hilfe für die Beobachtung von Hum bers Stall zu bekommen, damit wir Kanderstegs Weg ver folgen konnten, wenn er in den Transporter verfrachtet wur de. Aber wie es aussah, hatte ich nur mich, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Ortspolizei meine Geschichte glauben oder mir gar Leute zur Verfügung stellen würde. Ausgerüstet mit einer Decke und einem guten, aus einem Leihhaus stammenden Fernglas, versorgt mit Schweine fleischpastete, Schokolade, einer Flasche Mineralwasser und ein paar Bogen Kanzleipapier, fuhr ich mit dem Mo torrad wieder nach Posset und nahm am Ortsausgang die Straße, die oberhalb des Tals, in dem Humbers Stall lag, verlief. An der auf meiner Erkundungsfahrt markierten Stelle schob ich die Maschine ein paar Meter ins Gebüsch und suchte mir einen Platz unterhalb der Horizontlinie, so daß ich für Vorbeifahrende schwer auszumachen war, aber mit dem Fernglas direkt in Humbers Hof schauen konnte. Es war ein Uhr, und dort unten tat sich nichts. Ich nahm den Koffer vom Gepäckträger, um ihn als Sitz zu benutzen, und richtete mich auf eine lange Wache ein. Selbst wenn ich Beckett um neun telefonisch erreichte, würde er vor morgen früh kaum Verstärkung herbeizau bern können. In der Zwischenzeit konnte ich einen ausführlichen Be richt abfassen und die Gelegenheit nutzen, auf Dinge ein 237
zugehen, die ich in meinen schnell am Postschalter hinge kritzelten Briefen ausgeklammert hatte. Ich nahm das Kanzleipapier hervor und schrieb mit Unterbrechungen fast den ganzen Nachmittag, ohne die Beobachtung durchs Fernglas zu vernachlässigen. Doch bei Humber lief nichts als der normale Stallbetrieb. Ich begann … An den Earl of October, Sir Stuart Macclesfield, Colonel Roderick Beckett Sehr geehrte Herren, im folgenden fasse ich die bisherigen Ergebnisse – beob achtete Fakten und sich daraus ergebende Schlüsse – mei ner in Ihrem Auftrag durchgeführten Ermittlungen zu sammen. Paul James Adams und Hedley Humber erzielen gemein sam seit ungefähr vier Jahren, seit Adams das Schloß in Tellbridge, Northumberland, gekauft hat und dort wohnt, mit unlauteren Mitteln Rennerfolge. Adams ist (soweit ich das als Laie beurteilen kann) eine psychopathische Persönlichkeit, ein Mensch, der leiden schaftlich seine Gelüste auslebt und seine Ziele verfolgt, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen oder mögliche Fol gen für die eigene Person zu bedenken. Er wirkt über durchschnittlich intelligent, und er hat bei dem Gespann das Sagen. Psychopathen neigen meines Wissens oft zu riskanten Betrügereien; vielleicht wäre ein Blick in seine Lebensgeschichte aufschlußreich. Humber hört zwar auf Adams, ist aber nicht ganz so verantwortungslos. Er ist kalt und stets beherrscht. Ich 238
habe ihn nie wirklich wütend erlebt (er setzt Zorn als Waffe ein), und alles, was er tut, wirkt überlegt und be rechnet. Während Adams möglicherweise psychisch ge stört ist, scheint mir Humber einfach bösartig zu sein. Vielleicht hält sein vergleichsweise gesunder Verstand Adams in Schranken, so daß sie nicht schon früher aufge fallen sind. Adams’ und Humbers Methode basiert darauf, daß Pfer de durch Assoziation lernen und Geräusche mit Gesche hen in Verbindung bringen. Wie Pawlows Hunde auf das Klingelzeichen hören, weil es für sie heißt, daß es Fressen gibt, wissen Pferde, wenn der Futterwagen über den Hof rollt, genau, daß ihr Futter kommt. Ist ein Pferd daran gewöhnt, daß auf ein bestimmtes Ge räusch hin etwas Bestimmtes geschieht, dann rechnet es unwillkürlich mit diesem Geschehen, sobald es das Ge räusch hört. Es reagiert auf das Geräusch in Erwartung des Geschehens. Müßte es dieses Geschehen fürchten – gäbe es etwa nach dem Rattern des Futterwagens stets Prügel statt Futter –, dann würde das Pferd sehr bald das Geräusch als böses Vorzeichen fürchten lernen. Das Reizmittel, das Adams und Humber verwenden, ist Furcht. Die verdrehten Augen, der starre Blick, die Schweißausbrüche der scheinbar ›gedopten‹ Pferde nach ihrem Sieg lassen den Schluß zu, daß sie sich in einem Zustand großer Angst befunden haben. Bei Furcht schütten die Nebennieren vermehrt Adrenalin in den Blutkreislauf aus, und diese Adrenalinstöße setzen bekanntlich Energien frei, damit möglichst schnell auf die Situation reagiert werden kann, sei es durch Abwehr oder Flucht. In unserem Fall durch Flucht. Schnellste Flucht, in panischem Schrecken. 239
Den Laborberichten zufolge wiesen die den elf Pferden entnommenen Proben durchweg einen hohen Adrenalin gehalt auf, der allerdings nicht signifikant erschien, da der Adrenalinausstoß von Pferd zu Pferd stark variiert und einige mehr Adrenalin produzieren als andere. Ich halte es jedoch für entscheidend, daß die Adrenalinwerte der elf Pferde einheitlich über dem Durchschnitt lagen. Das Geräusch, mit dem ihre Furcht ausgelöst wurde, ist der hohe Ton einer sogenannten lautlosen Hundepfeife. Pferde hören eine solche Pfeife sehr gut, das menschliche Ohr dagegen kaum, so daß sie für den Zweck hervorra gend geeignet ist, denn etwas akustisch Auffälligeres (etwa eine Klapper) wäre sehr bald bemerkt worden. Humber hat eine Hundepfeife in der Bar seines Bentley. Ich weiß noch nicht genau, wie Adams und Humber den Pferden Angst einjagen, aber ich kann es mir denken. Zwei Wochen lang habe ich ein Pferd mit dem Rufnamen Mickey (eingetragener Name: Starlamp) betreut, das der Behandlung unterzogen worden war. Und das sie nicht verkraftet hat. Mickey kam nach dreitägiger Abwesenheit mit großen, offenen Wunden an den Vorderbeinen zurück und war völlig aus dem Lot gebracht. Nach Angabe des Futtermeisters stammten die Beinwun den von einer scharfen Einreibung. Von einem Einreibe mittel war jedoch nichts zu sehen, und für mich waren es eindeutig von einer offenen Flamme herrührende Verbrennungen. Pferde fürchten Feuer mehr als alles an dere, und ich halte es für wahrscheinlich, daß Adams und Humber die Erwartung des Pferdes, durch Feuer verletzt zu werden, mit dem Klang der Hundepfeife verknüpfen. Ich habe auf einer Hundepfeife geblasen, um die Wir kung auf Mickey zu beobachten. Das war knapp drei Wo chen nach der Konditionierung, und er hat deutlich und 240
überaus heftig reagiert. Wenn Sie wollen, können Sie die Probe auch bei Six-Ply machen, aber dann lassen Sie ihm Platz genug zum Ausbrechen. Adams und Humber haben Pferde ausgewählt, die in ih rer Rennlaufbahn stets eine gute Figur gemacht, aber nie gesiegt haben, weil sie nach dem letzten Hindernis nicht mehr wollten oder konnten, und an solchen Pferden herrscht natürlich kein Mangel. Sie haben eines nach dem anderen günstig auf Auktionen oder bei Verkaufsrennen erstanden, ihnen die Furcht-Assoziation eingeimpft und sie weiterverkauft. Schon dabei haben sie häufig nicht Verluste, sondern Gewinne gemacht (vgl. die Dossiers der Offiziersanwärter). War ein Pferd mit diesem eingebauten Beschleuniger verkauft, warteten Adams und Humber ab, bis es in einem Verkaufsrennen auf einer von fünf ausgewählten Renn bahnen lief, nämlich Sedgefield, Haydock, Ludlow, Kelso oder Stafford. Sie waren offenbar bereit, beliebig lange auf dieses Zusammentreffen von Ort und Austragung zu warten, und in der Tat ist es seit dem ersten Fall vor zwanzig Monaten erst zwölfmal (elf Sieger und Superman) dazu gekommen. Die Rennbahnen wurden wahrscheinlich ausgewählt, weil die Panikreaktion auf ihren überlangen Zielgeraden am besten zur Wirkung kommen konnte. Nach dem letzten Sprung lagen die Pferde oft an vierter oder fünfter Position und brauchten Zeit, um an den Führenden vorbeizugehen. Wenn ein Pferd hoffnungslos abgeschlagen war, konnten Adams/Humber die Pfeife einfach steckenlassen, ihre Ein sätze abschreiben und auf die nächste Gelegenheit warten. Verkaufsrennen sind vermutlich deshalb bevorzugt wor den, weil es da selten zu Stürzen kommt und weil man da mit rechnen kann, daß die Sieger gleich danach den Besit zer wechseln. 241
Auf den ersten Blick könnte man meinen, die beschriebe ne Methode sei eher für Flachrennen geeignet, aber Flachpferde wechseln anscheinend nicht so oft den Besit zer, und das Ganze wäre überschaubarer. Außerdem hat Humber keine Lizenz für Flachrennen und kann wohl auch keine bekommen. Keines der Pferde ist zweimal auf Trab gebracht wor den, vermutlich, weil sie trotz des Pfeiftons unversehrt aus dem Rennen hervorgegangen waren und ihn deshalb nicht mehr zwingend mit Verletzung durch Feuer verbunden hätten. Ihre Reaktion war also nicht mehr so sicher vor auszusagen, daß man darauf wetten konnte. Alle elf Pferde zahlten bei ihren Siegen hohe Quoten, von 110 zu 10 bis 510 zu 10, und Adams/Humber werden ihre Wetteinsätze gut verteilt haben, um nicht aufzufliegen. Ich weiß nicht, was Adams bei den einzelnen Rennen ge wonnen hat, aber Humber kam auf Zahlen zwischen sieb zehnhundert und viereinhalbtausend Pfund. Die Daten sämtlicher konditionierter Pferde, ob erfolg reich oder nicht, sind in einem blauen Geschäftsbuch fest gehalten, das sich gegenwärtig im dritten Fach des mittleren der drei grünen Aktenschränke in Humbers Büro befindet. Wie Sie sehen, ist das Prinzip denkbar einfach. Die Pferde werden dazu gebracht, den Ton einer Hundepfeife mit Feuer in Verbindung zu bringen, und eingangs der Zielgeraden kommt der Pfiff. Keine Medikamente, keine Mechanik, keine Mithilfe sei tens der Besitzer, Trainer oder Jockeys. Die Gefahr, ent deckt zu werden, war gering, weil Adams und Humber mit den Pferden nur entfernt in Verbindung standen. Stapleton hatte sie jedoch in Verdacht, und ich bin über zeugt, daß sie ihn umgebracht haben, auch wenn es dafür keine Beweise gibt. 242
Jetzt wiegen sie sich in Sicherheit, ahnen nicht, daß sie entdeckt sind, und wollen in den nächsten Tagen ein Pferd namens Kandersteg das Fürchten lehren. Ich arbeite nicht mehr bei Humber und schreibe diesen Bericht, während ich seinen Hof beobachte. Wenn Kandersteg fortgebracht wird, will ich dem Transporter folgen, um festzustellen, wo und wie man ihn dem Feuer aussetzt. Ich hörte auf zu schreiben und griff zum Fernglas. Abend stallzeit. Die Pfleger hatten alle Hände voll zu tun, und ich war froh, nicht mehr dabeizusein. Noch würde sich Humber nicht mit Kandersteg befassen, dachte ich, auch wenn es ihm und Adams eilte. Sie hatten nicht wissen können, ob ich vor Mittag oder überhaupt an diesem Tag schon verschwinden würde, und sie hakten mich sicher erst einmal in Ruhe ab, bevor sie weitersahen. Andererseits durfte ich nicht riskieren, den Zeitpunkt zu verpassen. Schon wegen der dreieinhalb Kilometer Fahrt nach Posset schien es mir heikel, Beckett anzurufen. Bis sie ihn in seinem Club an den Apparat geholt hatten, konn te Kandersteg hier längst verladen und abtransportiert worden sein. Mickey-Starlamp war zwar tagsüber wegund auch zurückgebracht worden, und es konnte sein, daß Humber nachts keine Pferde transportierte, aber ich wußte es nicht. Unentschlossen kaute ich an meinem Kuli. Letzt lich beschloß ich dann, nicht zu telefonieren, und fügte meinem Bericht eine Nachschrift an. Ich wäre sehr dankbar, wenn ich die Stellung hier nicht allein halten müßte, denn wenn die Beobachtung über mehrere Tage geht, kann es leicht passieren, daß ich den Transport verschlafe. Ich bin dreieinhalb Kilometer au ßerhalb von Posset an der Straße nach Hexham zu finden, oberhalb des Tals, in dem Humbers Rennstall liegt. 243
Ich fügte Datum und Uhrzeit hinzu und setzte meine Un terschrift darunter. Dann steckte ich den Bericht in einen Umschlag, adressiert an Colonel Beckett. Ich raste nach Posset, um den Brief am Postamt einzuwerfen. Sieben Ki lometer. Knapp sechs Minuten Fahrt. Zum Glück hatte ich weder auf dem Hin- noch auf dem Rückweg Gegenver kehr. Ich bremste besorgt auf der Anhöhe, doch im Stall unten sah alles normal aus. Ich schob das Motorrad wieder in sein Versteck unterhalb der Straße und schaute auf merksam durchs Fernglas. Es begann dunkel zu werden, und aus fast allen Boxen fiel Licht auf den Hof. Die dunklen Mauern von Humbers Haus, das am nächsten zu mir lag, verdeckten sein Büro und den ganzen oberen Teil des Hofs, aber an der Seite sah ich die geschlossenen Türen der Boxenreihe, in der als vierter von links Kandersteg stand. Und da war er auch schon, ein heller Fuchs, der direkt ins Licht trat, als Bert sein Stroh für die Nacht erneuerte. Ich seufzte erleichtert und führte die Wache im Sitzen fort. Der Trott ging unverändert weiter. Ich beobachtete Humber, wie er langsam, auf den Stock gestützt, seinen Kontrollgang machte, und rieb mir geistesabwesend die blauen Flecken, die er mir am Morgen verpaßt hatte. Eine Stalltür nach der anderen wurde verriegelt, und die Lichter gingen aus, bis nur ein einziges Fenster noch erhellt war, das letzte in der Boxenreihe rechts, die Gemeinschaftskü che der Pfleger. Ich legte das Fernglas hin, stand auf und vertrat mir die Beine. Wie immer im Heidemoor war die Luft in Bewegung. Es war kein Wind, keine Brise, mehr ein alles umfließender Kältestrom. Um den Luftzug abzuhalten, stellte ich das Motorrad, zur Straße und zum Moor hin durch Reisig ver deckt, als Barrikade auf. Dahinter saß ich dann windge 244
schützt auf dem Koffer, wickelte mich in die Decke und hatte es halbwegs warm und gemütlich. Ich sah auf die Uhr. Kurz vor acht. Es war eine schöne, klare, sternenhelle Nacht. Den nördlichen Sternenhimmel hatte ich, abgesehen vom Polarstern und vom Großen Bä ren, noch immer nicht im Kopf. Und nach West-Südwest zu blitzte die Venus. Schade, daß ich mir nicht zum Zeit vertreib eine Sternkarte gekauft hatte. Im Hof unten öffnete sich die Küchentür, und ein Licht streifen drang heraus. Cecils Gestalt stand sekundenlang als Schattenriß darin, dann schloß er die Tür hinter sich, und ich konnte ihn im Dunkeln nicht mehr sehen. Sicher auf dem Weg zur Flasche. Ich aß von der Pastete und danach eine Tafel Schokola de. Zeit verging. Bei Humber tat sich nichts. Ab und zu rauschte auf der Straße hinter mir ein Auto vorbei, aber keines hielt an. Neun Uhr und später. Colonel Beckett würde jetzt in seinem Club zu Abend essen, und wie es aussah, hätte ich ihn getrost anrufen können. Ich zuckte die Achseln. Morgen früh bekam er ja meinen Brief. Die Küchentür öffnete sich wieder, zwei oder drei Pfle ger kamen heraus und gingen mit der Taschenlampe zum Abort. Oben im Heuboden schimmerte mattes Licht durch die nicht mit Packpapier verklebte Fensterhälfte. Schla fenszeit. Cecil wankte in die Stube, umarmte den Türpfo sten, um nicht hinzufallen. Unten ging das Licht aus, und oben schließlich auch. Tiefe Nacht. Die Stunden vergingen. Der Mond schien hell. Ich blickte über die urtümliche Heide hin und hegte wenig originelle Gedanken, zum Beispiel, wie schön doch die Erde war und wie bös das Affentier, das sie beherrsch te. Der nimmersatte, fiese, machthungrige, zerstörerische 245
alte Homo sapiens. Sapiens gleich weise, klug, vernunft begabt. Ein Witz. Auf einem so schönen Planeten hätte sich eigentlich ein netteres, vernünftigeres Wesen entwik keln sollen. Eine Gattung, die Leute wie Adams und Humber hervorbrachte, konnte man nicht als vollauf ge lungen betrachten. Um vier aß ich noch etwas Schokolade, trank Mineral wasser und dachte ein Weilchen an mein in der Nachmit tagssonne schmachtendes Gestüt daheim, zwanzigtausend Kilometer entfernt. Dort wartete ein normales, geregeltes Leben auf mich, wenn ich lange genug zu nachtschlafener Zeit auf winterkalten Hängen herumgesessen hatte. Die Kälte drang nach und nach durch meine Decke, aber mehr als in Humbers Schlafraum fror ich auch nicht. Ich gähnte, rieb mir die Augen und begann auszurechnen, wie viele Sekunden noch bis zum Morgengrauen vergehen würden. Wenn die Sonne, wie ich annahm, um zehn vor sieben aufging, dann waren es hundertdreizehn mal sech zig, gleich sechstausendsiebenhundertachtzig Sekunden bis Donnerstag. Ja, und bis Freitag? Ich gab es auf. Es konnte zwar sein, daß ich dann immer noch hier am Hang saß, aber vielleicht hatte ich Glück und ein von Beckett gesandter Mitbeobachter kniff mich wach, wenn es ernst wurde. Um Viertel nach sechs ging bei den Pflegern das Licht wieder an, und der Stall erwachte zum Leben. Eine halbe Stunde später verließ das erste Lot mit sechs Pferden den Hof und zog die Straße entlang nach Posset. Donnerstags ging es nicht zum Galoppieren aufs Moor. Arbeit auf dem Asphalt. Kaum waren sie außer Sicht, kam Jud Wilson mit sei nem dicken Ford in den Hof gefahren und hielt neben der Transportergarage. Cass ging über den Hof zu ihm, und sie unterhielten sich eine Weile. Dann sah ich durchs 246
Fernglas, wie Jud Wilson zur Garage ging und die großen Torflügel öffnete, während Cass geradewegs zu Kander stegs Box marschierte, der vierten von links. Es ging los. Und es ging wie am Schnürchen. Jud Wilson fuhr den Transporter rückwärts in die Hofmitte und ließ die Rampe herunter. Cass führte das Pferd direkt zum Wagen, lud es ein und war binnen einer Minute wieder draußen, um mit Jud die Rampe hochzuklappen und zu verriegeln. Sie blickten kurz zum Haus, und prompt kam Humber ange hinkt. Cass sah zu, wie Humber und Jud Wilson ins Fahrerhaus stiegen. Der Transporter fuhr zum Hof hinaus. Das ganze Verladen hatte keine fünf Minuten gedauert. Ich hatte unterdessen die Decke über den Koffer gewor fen und das Motorrad unterm Reisig hervorgeholt. Das Fernglas umgehängt und unter die Lederjacke gesteckt. Ich setzte Sturzhelm und Motorradbrille auf und zog die Handschuhe an. Obwohl ich davon ausgegangen war, daß sie Kandersteg nach Norden oder Westen schaffen würden, war ich doch erleichtert, daß sich das nun bewahrheitete. Der Transpor ter bog scharf nach Westen ab und fuhr auf der anderen Talseite die Straße entlang, die quer zu derjenigen verlief, an der ich wartete. Ich schob die Maschine auf die Straße, ließ (mit Ver gnügen diesmal) meine dritte Ladung Kleider hinter mir, warf den Motor an und schaute, daß ich zu der Kreuzung kam. Dort sah ich aus einem sicheren Abstand von vier hundert Metern, wie der Pferdetransporter langsamer wur de, rechts abbog und wieder Gas gab.
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ch kauerte den ganzen Tag in einem Graben und beob achtete, wie Adams, Humber und Jud Wilson Kander steg zu Tode ängstigten. Es war übel. Die Mittel, die sie benutzten, waren im Prinzip so ein fach wie die ganze Methode; den Erfolg garantierte eine besonders angelegte, knapp ein Hektar große Koppel. Die schmale, hohe Hecke, die um die Koppel lief, war bis in Schulterhöhe mit dickem, glattem Draht durchzo gen. Vier bis fünf Meter weiter innen verlief ein stabiler Lattenzaun, dessen Holz vom Wetter eine freundliche graubraune Farbe angenommen hatte. Auf den ersten Blick sah es aus wie die doppelte Um zäunung, die man in vielen Gestüten anlegt, damit die Jungtiere sich nicht am Draht verletzen. Aber hier verlief der Innenzaun an den Ecken nicht rechtwinklig, sondern rund, so daß zwischen den beiden Abzäunungen praktisch eine Miniaturrennbahn entstanden war. Es sah ganz harmlos aus. Eine Jungtierweide, eine Trai ningsbahn für Rennpferde, für Springpferde … je nach dem. Mit einem Geräteschuppen gleich draußen am Gat ter. Sinnvoll. Normal. Ich hielt mich halb kniend, halb liegend am Ende der ei nen Längsseite der Koppel in einem Abflußgraben hinter der Hecke verborgen und befand mich knapp hundert Me ter rechts von dem in der anderen Ecke gelegenen Schup 248
pen. Die Hecke war bis dreißig Zentimeter über dem Bo den gestutzt, und der liegengebliebene Schnitt gab mir Deckung, doch weiter oben wuchs der blattlose Weißdorn dürr und gerade in die Höhe, durchsichtig wie ein Sieb. Aber ich nahm an, solange ich mich still verhielt, wurde ich nicht bemerkt. Und auch wenn ich gefährlich nah dran war, so nah, daß ich gar nicht mehr das Fernglas brauchte – es gab weit und breit kein besseres Versteck. Auf der anderen Seite der Koppel und zu meiner Rech ten ragten kahle Hügel auf; hinter mir lagen gut zwanzig Hektar offenes Weideland, und die durch ein paar Nadel bäume von der Straße abgeschirmte Schmalseite links hat ten Adams und Humber direkt vor Augen. Um den Graben zu erreichen, hatte ich den unzureichen den Schutz der letzten kleinen Anhöhe verlassen und eine fünfzehn Meter breite Grasfläche überqueren müssen, als gerade keiner der Männer zu sehen war. Aber der Rückzug würde weniger schweißtreibend sein, denn dann brauchte ich nur die Dunkelheit abzuwarten. Der Transporter stand neben dem Schuppen, und ich war kaum von der Anhöhe zu meinem jetzigen Standort ge langt, als ich auch schon Hufgeklapper auf der Rampe hör te und Kandersteg ausgeladen wurde. Jud Wilson führte ihn durchs Gatter auf die grasbedeckte Bahn. Adams folg te ihm, schloß das Gatter, löste dann eine schwenkbare Zaunlatte und legte sie als Schranke über die Bahn. Er ging an Jud und dem Pferd vorbei und tat das gleiche mit einer zweiten Zaunlatte ein paar Meter weiter, so daß Jud und Kandersteg jetzt in einem kleinen Pferch in der Ecke standen. Ein Pferch mit drei Ausgängen: dem Gatter und den beiden als Schlagbäume dienenden Zaunlatten. Jud ließ das Pferd los, das friedlich zu weiden begann, und er und Adams begaben sich zu Humber in den Schup pen. Der verwitterte Holzschuppen ähnelte einer Stallbox, 249
mit Fenster und im oberen Teil aufklappbarer Tür, und ich nahm an, dort hatte Mickey den größten Teil seiner dreitä gigen Abwesenheit verbracht. Im Schuppen wurde eine Zeitlang geklappert und ge hämmert, doch von meinem Posten aus konnte ich nicht sehen, was vorging. Schließlich kamen alle drei heraus. Adams lief um den Schuppen herum, tauchte hinter der Koppel wieder auf und ging den Hang hinauf. Er ging zügig bis obenhin und blickte ringsum in die Landschaft. Humber und Wilson trugen gemeinsam ein Gerät auf die Koppel, das einem Staubsauger ähnelte, ein trommelför miger Behälter mit Schlauch. Sie stellten die Trommel in die Ecke, und Wilson nahm den Schlauch in die Hand. Kandersteg, der friedlich neben ihnen das Gras abfraß, hob den Kopf und sah sie ohne Neugier, ohne Argwohn an. Er fraß weiter. Humber war mit ein paar Schritten bei der ersten vorge legten Schranke, schien etwas nachzuprüfen und stellte sich dann wieder neben Wilson, der zu Adams hinauf blickte. Adams winkte lässig von oben herunter. Humber führte am Rand der Koppel etwas zum Mund … Ich war zu weit entfernt, um mit bloßem Auge zu erken nen, ob es eine Pfeife war, und zu nah, als daß ich es ge wagt hätte, das Fernglas herauszuholen. Aber auch wenn ich nicht das geringste hörte, bestand eigentlich kein Zweifel. Kandersteg hob den Kopf, spitzte die Ohren und sah Humber an. Ein Flammenstoß schoß plötzlich aus dem Schlauch in Wilsons Hand. Er reichte nicht ganz an das Pferd heran, erschreckte es aber gewaltig. Es fiel auf die Hinterhand zurück und legte die Ohren an. Im selben Moment beweg 250
te Humber den Arm, und die hochklappende Schranke gab den Weg auf die Bahn frei. Das Pferd ließ sich nicht erst bitten. Es stürmte in wilder Flucht um die Bahn, rutschte in den Kurven, schlitterte gegen den Lattenzaun, donnerte drei Meter an meinem Kopf vorbei. Wilson öffnete die zweite Schranke, und er und Humber zogen sich durchs Gatter zurück. Kandersteg ging zweimal mit hoher Geschwindig keit um die ganze Bahn, bevor sein gestreckter Hals sich ein wenig entspannte und er in einen ruhigeren, halbwegs natürlichen Galopp verfiel. Humber und Wilson beobachteten ihn, und Adams, der den Hang herunterkam, gesellte sich am Gatter zu ihnen. Sie warteten, bis das Pferd sich müde gelaufen hatte und ein Stück rechts von mir nach etwa dreieinhalb Runden von selbst stehenblieb. Dann sperrte Jud Wilson mit einer Schranke wieder die Bahn ab und ging, einen Stock und eine Hetzpeitsche schwenkend, hinter dem Pferd her, um es in die Ecke zu treiben. Kandersteg, verunsichert, schwitzend, wollte sich nicht fangen lassen und fiel in ei nen nervösen Trab. Jud Wilson schwenkte Stock und Peitsche und blieb stur hinter ihm. Kandersteg trabte leise an mir vorbei; ich hörte seine Hufe durch das kurze Gras wischen, aber ich schaute nicht mehr hin. Mein Gesicht war am Fuß der Hecke ver graben, und ich hielt krampfhaft still. Sekunden vergingen wie Stunden. Ich hörte ein Hosenbein gegen das andere scheuern, hör te gedämpfte Schritte auf Gras, ein Knallen der langen Peitsche … aber nicht den befürchteten Wutschrei. Wilson ging weiter die Koppel entlang. Meine ganz auf rasche Flucht vom Graben zum Motor rad eingestellten Muskeln entspannten sich langsam. Ich 251
schlug die Augen auf, sah faules Laub vor meiner Nase und brachte erst mal Speichel in meinen Mund. Vorsich tig, Zentimeter für Zentimeter, hob ich den Kopf und lugte über die Koppel hin. Das Pferd hatte die Schranke erreicht, und Wilson schloß gerade hinter ihm die andere, so daß es wieder auf engem Raum eingesperrt war. Eine halbe Stunde ließen sie es in Ruhe. Sie verzogen sich in den Schuppen, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie wieder auf tauchten. Es war ein schöner, klarer, ruhiger Morgen, aber etwas zu kalt, um ihn in einem feuchten Graben zu verbringen. Da jedoch jede Bewegung, die über das Durchbiegen von Fingern und Zehen hinausging, gefährlicher sein konnte als eine Lungenentzündung, blieb ich still liegen und be ruhigte mich mit dem Gedanken, daß ich von Kopf bis Fuß schwarz angezogen war, zudem schwarze Haare hatte und in schwarzbraunem Moderlaub lag. Wegen der schüt zenden Farbe hatte ich den Graben einer Senke am Hang vorgezogen, und das war ein Glück, denn von seinem Aussichtspunkt aus hätte Adams meine dunkle Gestalt an dem hellgrünen Hang mit ziemlicher Sicherheit sofort ent deckt. Ich sah nicht, wie Jud Wilson aus dem Schuppen kam, aber ich hörte ihn das Gatter öffnen, und schon betrat er den Pferch und legte die Hand an Kanderstegs Zügel, als wollte er ihm die Angst nehmen. Aber wie konnte ein Mensch, der Pferde mochte, mit dem Flammenwerfer auf sie losgehen? Und genau das hatte Jud offensichtlich wie der vor. Er ließ das Pferd stehen, ging zu dem Gerät in der Ecke, ergriff den Schlauch und stellte die Düse neu ein. Bald darauf erschien Adams und spazierte den Hang hinauf, und Humber hinkte mit seinem Gehstock zu Jud auf die Koppel. 252
Sie mußten lange auf Adams’ Zeichen warten, denn er ließ erst drei Autos auf der einsamen Heidestraße passie ren. Dann war die Luft rein. Sein Arm ging lässig hoch und wieder runter. Humber führte die Hand zum Mund. Kandersteg wußte schon, was das bedeutete. Verängstigt lief er auf den Hinterbeinen rückwärts, bis der Flammen werfer hinter ihm in Aktion trat und ihn jäh zum Stehen brachte. Diesmal war der Feuerstoß stärker, länger, dichter an ihm dran, und Kandersteg geriet in noch größere Panik. Wieder und wieder raste er um die Bahn – auf mich zu, an mir vor bei, auf mich zu … Aber diesmal blieb er am oberen Ende der Koppel stehen, weit von meinem Versteck entfernt. Jud ging nicht um das Geläuf, sondern mitten über die Koppel, um hinter ihn zu gelangen. Ich seufzte zutiefst erleichtert auf. Obwohl ich mich eigentlich so hingelegt hatte, daß es bequem auszuhalten war, taten mir vom Stillhalten lang sam die Knochen weh, und ich hatte einen Krampf in der rechten Wade, aber solange die drei Männer in Sicht wa ren, wagte ich es dennoch nicht, mich zu bewegen. Sie sperrten Kandersteg in seinen kleinen Pferch und verzogen sich in den Schuppen, und ich reckte und streck te mich ganz vorsichtig, ganz leise in dem faulen Laub, bis der Krampf verschwand und tausend Nadelstiche ihn ablö sten. Nun ja … es konnte nicht ewig dauern. Offensichtlich war aber noch ein Durchgang geplant. Der Flammenwerfer war noch an seinem Platz. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, und ich bemerkte ihren Widerschein auf dem linken Ärmel meiner Lederjacke, nicht weit von meinem Gesicht. Das fiel auf. In Hecken und Gräben gab es normalerweise nichts, was 253
das Licht so zurückwarf wie schwarzes Leder. Mußte Wil son, wenn er noch mal in meine Nähe kam, das merkwür dige Glitzern nicht einfach sehen? Adams und Humber kamen aus dem Schuppen, beugten sich über das Gatter und betrachteten Kandersteg. Dann zündeten sie sich Zigaretten an und hielten ein Schwätz chen. Sie hatten es nicht eilig. Sie rauchten zu Ende, war fen die Kippen weg und blieben noch zehn Minuten, wo sie waren. Dann ging Adams zu seinem Wagen und kehrte mit Flasche und Gläsern zurück. Jetzt kam auch Wilson aus dem Schuppen, und alle drei standen sie in der Sonne, tranken und plauderten gemütlich miteinander, als wäre alles in bester Ordnung. Für sie war es ja auch Routine. Sie hatten das schon mindestens zwanzigmal gemacht. Ihr jüngstes Opfer stand regungslos im Pferch, wachsam, verängstigt, viel zu ver stört, um zu fressen. Ich bekam Durst, als ich den dreien zusah, aber das war eine meiner geringsten Sorgen. Das Stillhalten wurde im mer schwieriger. Geradezu eine Tortur. Endlich ließen sie es gut sein. Adams brachte Flasche und Gläser weg und spazierte wieder den Hang hinauf, Humber sah nach den Schranken, und Jud stellte die Schlauchdüse ein. Adams winkte. Humber pfiff. Diesmal zeichnete sich Kandersteg schwarz gegen eine schreckliche Flammenwand ab. Wilson lehnte sich zurück, und der ausgreifende, helle Feuerstoß kippte ab und geriet plötzlich unter den Bauch, zwischen die Beine des Pfer des. Ich hätte beinah aufgeschrien, als würde ich und nicht das Pferd verbrannt. Und einen gräßlichen Augenblick lang sah es aus, als sei Kandersteg zu erschrocken, um zu fliehen. 254
Dann schrie er und schoß wie ein Meteor um die Bahn, auf der Flucht vor dem Feuer, vor den Schmerzen, vor einer Hundepfeife … Er war so schnell, daß er die Kurve nicht bekam. Er krachte in die Hecke, prallte ab, stolperte und fiel hin. Mit herausquellenden Augen, gebleckten Zähnen rappelte er sich verzweifelt hoch und stürmte weiter, an meinem Kopf vorbei, die Längsseite hinauf, noch einmal rund, noch zweimal. Kaum zwanzig Meter von mir entfernt kam er mit einem Ruck zum Stehen. Schweiß lief ihm an Hals und Beinen hinunter. Seine Muskeln zitterten krampfhaft. Jud Wilson machte sich mit Stock und Peitsche auf den Weg um die Bahn. Ich steckte mein Gesicht wieder ins Laub und sagte mir zum Trost, daß uns ja immer noch ein ordentlicher Drahtzaun trennte, der mir Vorsprung geben würde, wenn er mich sah. Aber das Motorrad war zwei hundert Meter hinter mir im Unterholz versteckt, und die gewundene Straße lag mindestens noch einmal so weit entfernt, und Adams’ grauer Jaguar stand gleich neben dem Pferdetransporter. Ich hätte auf einen Fluchterfolg nicht wetten mögen. Kandersteg war zu verschreckt, um sich zu rühren. Ich hörte Wilson schreien und mit der Peitsche knallen, aber es dauerte eine ganze Minute, bis die Hufe stockend, trap pelnd, stampfend, unsicher an mir vorbeistolperten. Trotz der Kälte schwitzte ich. Meine Güte, dachte ich, du hast mindestens soviel Adrenalin im Blut wie das Pferd – und mir wurde bewußt, daß ich, seit Wilson seinen Scheuchgang um die Bahn angetreten hatte, mein eigenes Herz hämmern hörte. Jud Wilson brüllte Kandersteg so dicht neben mir an, daß es wie eine Ohrfeige war. Die Peitsche knallte. 255
»Na los, na los, komm schon!« Er stand nur Schritte von meinem Kopf entfernt. Kan dersteg rührte sich nicht. Wieder knallte die Peitsche. Jud schrie und stampfte auffordernd mit dem Fuß. Ich spürte die leise Erschütterung des Erdbodens. Ein Meter war vielleicht noch zwischen uns, aber er sah auf das Pferd. Wenn er den Kopf drehte … Ich hatte das Gefühl, sogar entdeckt zu werden sei besser als die furchtbare Anstren gung des Stillhaltens. Dann war es plötzlich vorbei. Kandersteg tänzelte weg, prallte gegen den Lattenzaun und sprang weiter mit unsicheren Schritten die Koppel hinauf. Jud Wilson folgte ihm. Ich blieb steif wie ein Brett liegen; erschöpft. Langsam beruhigte sich mein Puls. Ich konnte wieder atmen … und ließ den Moder los, in den sich meine Finger gekrallt hat ten. Schritt für Schritt trieb Jud den unwilligen Kandersteg in die Ecke, ließ die Schranken herunter und pferchte das Pferd wieder ein. Dann holte er den Flammenwerfer und nahm ihn mit hinaus. Sie waren fertig. Adams, Humber und Wilson stellten sich nebeneinander und begutachteten ihr Werk. Das helle Haarkleid Kanderstegs wies große dunkle Stel len auf, wo ihm der Schweiß ausgebrochen war, und er stand steifbeinig, mit steifem Hals in seinem Pferch. So bald sich einer der drei Männer rührte, schrak er zusam men und stand dann wieder wie erstarrt; es würde zweifel los noch geraume Zeit dauern, bis er sich soweit beruhigt hatte, daß sie ihn verladen und nach Posset zurückbringen konnten. Mickey war drei Tage fort gewesen, doch das führte ich darauf zurück, daß sie ihm versehentlich die Beine so ver 256
brannt hatten. Da Kanderstegs Abrichtung ohne Zwischen fall verlaufen war, stand seiner baldigen Heimkehr nichts im Wege. Mir und meinen geschundenen Knochen konnte das nur recht sein. Ich sah den dreien zu, wie sie in der Sonne herumfuhrwerkten, zwischen Auto und Schuppen, Schuppen und Transporter hin und her liefen, ziellos den Vormittag vertaten, es aber so einzurichten wußten, daß sie dabei keinen Moment alle gleichzeitig außer Sicht wa ren. Ich fluchte vor mich hin und widerstand der Versu chung, mich an der Nase zu kratzen. Endlich ein Lichtblick. Adams und Humber stiegen in den Jaguar und fuhren Richtung Tellbridge davon. Aber Jud Wilson holte eine Tragetüte aus dem Fahrerhaus des Trans porters, setzte sich auf das Gatter und begann sein mitge brachtes Mittagessen zu verzehren. Kandersteg verhielt sich in seinem Pferch so still wie ich in meinem Graben. Jud Wilson aß zu Ende, knüllte die Tüte zusammen, gähnte und zündete sich eine Zigarette an. Kandersteg schwitzte weiter, ich ächzte weiter. Alles blieb ruhig. Zeit verging. Jud Wilson warf die Kippe fort und gähnte wieder. Dann stieg er langsam, ganz langsam vom Gatter herunter und brachte den Flammenwerfer in den Schuppen. Er war kaum durch die Tür, als ich auch schon der Län ge nach ganz in den Graben hineinrutschte, ob er nun feucht war oder nicht, Hauptsache, ich konnte meine sau ren, verkrampften Arme und Beine strecken und entspan nen. Als ich auf die Uhr sah, war es zwei. Ich hatte Hunger und bedauerte, daß ich nicht daran gedacht hatte, Schoko lade mitzunehmen. Ich lag den ganzen Nachmittag im Graben, ohne etwas zu hören, und wartete darauf, daß der Transporter abfuhr. 257
Nach einiger Zeit war ich trotz der Kälte und Jud Wilson nahe daran einzuschlafen – und dagegen mußte ich nun wirklich dringend etwas tun. Ich wälzte mich auf den Bauch und hob vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter den Kopf, um zu Kandersteg und dem Schuppen hinüberzu schauen. Jud Wilson saß wieder auf dem Gatter. Er mußte meine Bewegung aus dem Augenwinkel gesehen haben, denn er wandte sich von dem vor ihm stehenden Kandersteg ab und drehte den Kopf in meine Richtung. Einen Sekunden bruchteil schien es, als sähe er mir direkt in die Augen, dann ging sein Blick über mich hinweg und kehrte zu Kandersteg zurück. Ich stieß langsam die Luft aus und unterdrückte ein Hu sten. Das Pferd schwitzte noch immer, die dunklen Flecken waren deutlich zu sehen, aber es wirkte nicht mehr wie erstarrt, und noch während ich hinsah, schlug es mit dem Schweif und schüttelte unruhig den Kopf. Es war über den Berg. Vorsichtiger denn je ließ ich den Kopf auf die ver schränkten Arme sinken und wartete. Kurz nach vier kamen Adams und Humber mit dem Ja guar zurück, und wie ein Kaninchen beim Verlassen des Baus schob ich die Nase wieder vor. Sie entschlossen sich, das Pferd nach Hause zu schaffen. Jud Wilson fuhr den Transporter rückwärts ans Gatter und ließ die Rampe herunter, und mit Ach und Krach wurde Kandersteg, der sich gegen jeden Schritt sträubte, verla den. Die Not des armen Tiers war selbst von weitem nicht zu übersehen. Ich liebte Pferde. Es freute mich, daß ich dem Treiben von Adams, Humber und Wilson ein Ende machen konnte. 258
Ich tauchte wieder ab, und bald darauf hörte ich, wie erst der Jaguar, dann der Transporter gestartet wurde und beide in Richtung Posset abfuhren. Als sie nicht mehr zu hören waren, stand ich auf, reckte mich, klopfte mir die Laubreste ab und ging an der Koppel entlang, um mir den Schuppen einmal anzusehen. Er war abgesperrt und mit einem aufwendigen Vorhän geschloß gesichert, aber durchs Fenster sah ich, daß außer dem Flammenwerfer, ein paar Kanistern, vermutlich mit Brennstoff, einem großen Blechtrichter und drei Garten stühlen, die zusammengeklappt an der Wand lehnten, kaum etwas drin war. Da lohnte sich ein Einbruch nicht, obwohl das Schloß kein Hindernis darstellte, denn seine Halterung war einfach auf Tür und Rahmen geschraubt. So einfallsreich Gauner mitunter waren, sie konnten auch erstaunlich beschränkt sein. Ich trat durch das Gatter in Kanderstegs kleinen Pferch. Wo er gestanden hatte, war das Gras versengt. Die Zaun latten waren auf der Innenseite weiß gestrichen, so daß sie den Rails auf der Rennbahn ähnelten. Ich schaute sie mir eine Weile an und mußte daran denken, was das Pferd an diesem scheinbar harmlosen Ort durchgestanden hatte; dann riß ich mich los und kehrte an meinem Grabenver steck vorbei zum Motorrad zurück. Ich stellte es auf, hängte den Sturzhelm über den Lenker und trat den Kick starter durch. Das war’s, dachte ich. Meine Arbeit war getan. Heim lich, still und leise. Alles klar. Ich brauchte nur noch den Bericht von gestern zu ergänzen und der Hindernisbehörde das Fazit vorzulegen. Ich fuhr zu der Stelle zurück, von der aus ich Humbers Hof beobachtet hatte, doch da war niemand. Entweder hatte Beckett meinen Brief nicht bekommen, oder er hatte 259
niemanden abstellen können, oder der Abgestellte war das Warten leid geworden und hatte sich getrollt. Meinen Kof fer, die Decke und den Rest Verpflegung hatte niemand angerührt. Bevor ich zusammenpackte und der Gegend adieu sagte, nahm ich auf eine spontane Regung hin das Fernglas her aus, um noch ein letztes Mal hinunter auf die Stallungen zu schauen. Was ich sah, machte meine ganze schöne Selbstzufrie denheit und Selbstbeglückwünschung zunichte. Ein roter Sportwagen bog in den Hof ein. Er hielt neben Adams’ grauem Jaguar, die Tür ging auf, und ein Mäd chen stieg aus. Ich war zu weit weg, um ihr Gesicht zu erkennen, aber ich kannte den Wagen und die fabelhaften silberblonden Haare. Sie warf die Autotür zu und ging zögernd aus meinem Blickfeld hinaus zum Büro. Ich fluchte laut. Etwas Vertrackteres, etwas Schlimmeres hätte überhaupt nicht passieren können! Elinor hielt mich für einen normalen Pferdepfleger, denn ich hatte ihr nichts gesagt. Aber ich hatte mir eine Hundepfeife von ihr ausge liehen. Und sie war Octobers Tochter. Konnte man davon ausgehen, fragte ich mich erschrocken, daß sie beides un erwähnt ließ und Adams nicht auf den Gedanken brachte, sie sei eine Gefahr für ihn? Viel konnte ihr eigentlich nicht passieren, dachte ich. So lange sie erkennen ließ, daß nicht sie, sondern ich allein über die Hundepfeifen Bescheid wußte, war sie in Sicherheit. Und wenn sie das nun nicht klar rüberbrachte? Adams war ja immer unberechenbar. Er dachte nicht normal. Er war ein Psychopath. Ohne lange zu fackeln, hatte er einen Journalisten umgebracht, der ihm zu neugierig geworden war. Was sollte ihn daran hindern, noch einmal zu mor den, wenn er sich einredete, es sei nötig? 260
Ich gebe ihr drei Minuten, dachte ich. Wenn sie nach mir fragt und man ihr sagt, daß ich nicht mehr da bin, und sie fährt gleich wieder, ist ja alles gut. Ich wollte, daß sie aus diesem Büro herauskäme und sich in ihr Auto setzte. Es schien mir ohnehin fraglich, ob ich sie da rausholen konnte, wenn Adams ihr etwas antun wollte, denn dann mußte ich auch mit Humber, Wilson und Cass rechnen. Ich hätte mir das gern erspart. Aber drei Minuten vergingen, und der rote Wagen stand immer noch verlassen auf dem Hof. Sie hatte sich auf eine Unterhaltung eingelassen, und sie ahnte nicht, daß es Dinge gab, die besser ungesagt blieben. Hätte ich ihr seinerzeit erzählt, warum ich bei Humber war, wäre sie niemals gekommen. Es war meine Schuld, daß sie dort war. Ich mußte alles tun, damit sie wohlbehal ten wieder herauskam. Sonnenklar. Ich legte das Fernglas in den Koffer, ließ ihn und die Decke, wo sie waren, zog den Reißverschluß meiner Jacke zu, setzte den Sturzhelm auf, trat die Maschine an und fuhr ins Tal hinab zu Humber. An der Einfahrt ließ ich das Motorrad stehen und ging Richtung Stall, vorbei an dem Schuppen, in dem der Pfer detransporter stand. Das Tor war geschlossen, von Jud Wilson keine Spur. Vielleicht war er schon heimgefahren; hoffentlich. Ich betrat den Stallhof von der Büroseite her und sah Cass auf der anderen Seite über die Tür der vier ten Box von links schauen. Kandersteg war zu Hause. Adams’ Jaguar und Elinors TR4 standen nebeneinander in der Hofmitte. Die Pfleger waren ganz bei ihrer Arbeit, und alles sah normal und friedlich aus. Ich öffnete die Tür zum Büro und trat ein.
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u mit deinen Befürchtungen, dachte ich. Du mit dei ner überschäumenden Phantasie. Niemand wollte ihr was. Sie hatte ein Glas, halbvoll mit einer rosa Flüssigkeit, in der Hand und unterhielt sich lachend mit Adams und Humber, die ebenfalls tranken. Humber wirkte angespannt, doch Adams lachte amü siert. Das Bild prägte sich mir ein, bevor sie alle drei zu mir herüberschauten. »Daniel!« rief Elinor. »Mr. Adams sagte, Sie seien schon weg.« »Ja, aber ich habe etwas vergessen. Das wollte ich noch holen.« »Lady Elinor Tarren«, sagte Adams betont, indem er an mir vorbeiging, die Tür schloß und sich dagegenlehnte, »wollte wissen, ob Sie das Experiment durchgeführt ha ben, für das sie Ihnen die Hundepfeife geliehen hat.« Es war also doch gut, daß ich zurückgekommen war. »Das habe ich so nicht gesagt«, wandte sie ein. »Ich dachte nur, ich könnte die Pfeife mitnehmen, wenn Daniel sie nicht mehr braucht. Ich meine, ich kam gerade vorbei, und dann müßte er sie mir nicht extra schicken …« Ich wandte mich an Adams. »Lady Elinor Tarren«, sagte ich ebenso betont wie er, »weiß nicht, wofür ich ihre Hun depfeife haben wollte. Ich habe es ihr nicht gesagt. Sie hat keine Ahnung.« 262
Seine Augen wurden schmal, dann wieder weit und starrten mich an. Er schob das Kinn vor. Ihm war aufgefal len, wie ich ihn angesprochen, ihn angesehen hatte. So kannte er mich nicht. Er richtete den Blick auf Elinor. »Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte ich. »Sie weiß nichts.« »Worum geht’s denn eigentlich?« fragte Elinor lächelnd. »Was ist das für ein geheimnisvolles Experiment?« »Nichts von Bedeutung«, sagte ich. »Hier, ehm … hier gibt’s einen tauben Stallmann, der wollte wissen, ob er auf einer höheren Frequenz hören kann, das ist alles.« »Oh«, sagte sie. »Und konnte er?« Ich schüttelte den Kopf. »Leider nicht.« »Schade.« Sie trank einen Schluck, und Eis klimperte in ihrem Glas. »Tja, kann ich sie dann wiederhaben, wenn Sie sie nicht mehr brauchen?« »Klar.« Ich holte die Pfeife aus meinem Gürtel und gab sie ihr. Humber sah es mit Verwunderung, Adams schwoll der Hals, weil bei der von Humber veranlaßten Durchsu chung ein so simples Versteck übersehen worden war. »Danke«, sagte sie und steckte die Pfeife in ihre Tasche. »Was haben Sie denn jetzt vor? Gehen Sie zu einem an deren Stall? Wissen Sie«, meinte sie lächelnd zu Humber, »es wundert mich, daß Sie ihn weggehen lassen. Er war der beste Reiter, der je bei meinem Vater gearbeitet hat. So einen muß man doch behalten.« Bei Humber war ich mäßig geritten. Er sagte gewichtig: »So gut ist er auch wieder nicht …«, wurde aber von Adams aalglatt unterbrochen. »Ich glaube, wir haben Roke unterschätzt, Hedley. Lady Elinor, wenn Sie ihn so empfehlen, stellt ihn Mr. Humber sicherlich wieder ein und läßt ihn nie mehr weg.« 263
»Prima«, meinte sie beifällig. Adams sah mich unter gesenkten Augenlidern an, um festzustellen, ob ich seinen kleinen Spaß mitbekommen hatte. Ich fand ihn nicht sehr lustig. »Nehmen Sie doch den Sturzhelm ab«, sagte er. »Wir sind im Haus und sprechen mit einer Dame. Nehmen Sie ihn ab.« »Ich behalte ihn lieber auf«, sagte ich ruhig. Und am liebsten hätte ich noch eine Ritterrüstung dazu gehabt. Adams, der keinen Widerspruch von mir gewohnt war, klappte den Mund zu. Humber sagte verwirrt: »Ich verstehe nicht, was Ihnen an Roke liegt, Lady Elinor. Ich dachte, Ihr Vater hätte ihn rausgeworfen, weil er Sie … nun ja, belästigt hat.« »Aber nein«, erwiderte sie lachend. »Nicht mich, meine Schwester angeblich. Nur war das alles erfunden. Ein Märchen.« Sie trank aus und lieferte mich endgültig ans Messer. »Ich mußte Vater versprechen, niemandem zu erzählen, daß das alles aus der Luft gegriffen war, aber ich finde, Sie als Daniels Arbeitgeber sollten wissen, daß er ein viel besserer Kerl ist, als er sich den Anschein gibt.« Einen Moment lang war es arg still. Dann sagte ich lä chelnd: »Das war das netteste Zeugnis, das ich je bekom men habe … Sie sind sehr liebenswürdig.« »Ach je«, sagte sie lachend, »Sie wissen schon, wie ich das meine. Und ich verstehe wirklich nicht, warum Sie nicht ein bißchen Mut zur Selbstbehauptung haben.« »Das ist nicht immer ratsam«, sagte ich und blickte mit hochgezogener Braue zu Adams. Mein Humor gefiel ihm offenbar auch nicht so. Er nahm Elinors Glas. »Noch einen Gin mit Campari?« fragte er. »Nein, danke, ich muß los.« 264
Er stellte ihr Glas neben seines und sagte: »Glauben Sie, daß Roke jemand ist, der Beruhigungstabletten braucht, bevor er sich an ein schwieriges Pferd heranwagt?« »Beruhigungstabletten? Woher denn? So was hat er be stimmt im Leben noch nicht angerührt, oder?« sagte sie und wandte sich etwas verunsichert zu mir. »Nein«, antwortete ich. Ich wollte unbedingt, daß sie ging, bevor sie ins Grübeln kam. Sie war nur sicher, so lange sie nichts wußte und keinen Verdacht schöpfte. »Aber Sie sagten doch …«, setzte Humber begriffsstut zig an. »Das war ein Scherz. Nur ein Scherz«, meinte ich zu ihm. »Mr. Adams hat sehr darüber gelacht, wenn Sie sich erinnern.« »Stimmt. Ich habe gelacht«, sagte Adams düster. Wenig stens schien er bereit, sie so ahnungslos, wie sie gekom men war, auch wieder gehen zu lassen. »Ach so.« Elinors Gesicht hellte sich auf. »Tja … ich muß mich jetzt auf den Weg ins College machen. Zum Wochenende fahre ich morgen nach Slaw … soll ich mei nem Vater etwas ausrichten, Daniel?« Es war nur eine beiläufig gestellte Frage, aber ich sah, wie Adams erstarrte. Ich schüttelte den Kopf. »Also dann … hat mich sehr gefreut, Mr. Humber. Schönen Dank für den Campari. Hoffentlich habe ich Sie nicht zu lange aufgehalten.« Sie gab Humber und Adams und dann mir die Hand. »Wie gut, daß Sie etwas vergessen haben. Ich dachte, wir hätten uns verpaßt … und ich wäre meiner Pfeife um sonst nachgelaufen.« Sie lächelte. »Ja, traf sich gut«, meinte ich lachend. 265
»Also auf Wiedersehen. Wiedersehen, Mr. Humber«, sagte sie, als Adams ihr die Tür aufhielt. Sie verabschiede te sich von ihm, und über Humbers Schulter sah ich durchs Fenster, wie sie zu ihrem Wagen ging. Sie stieg ein, ließ den Motor an, winkte fröhlich Adams, der noch am Eingang stand, und fuhr zum Hof hinaus. Meine Er leichterung darüber war noch größer als die Sorge, wie ich selbst da herauskommen sollte. Adams kam wieder herein, schloß die Tür, sperrte sie ab und steckte zur Überraschung Humbers, der noch immer nicht verstand, den Schlüssel in die Tasche. »Also irgendwie«, sagte Humber, indem er mich anstarr te, »Kommt Roke mir verändert vor. Er redet auch an ders.« »Der Teufel weiß, wer Roke ist!« Das einzig Gute an dem Ganzen war, daß ich mich vor Adams nicht mehr zu ducken brauchte. Es war schön, einmal aufrecht vor ihm zu stehen. Auch wenn es viel leicht nicht lange gutging. »Soll das heißen, Roke, nicht Elinor Tarren weiß das mit der Pfeife?« »Natürlich«, sagte Adams gereizt. »Menschenskind, ka pierst du denn überhaupt nichts? Es sieht so aus, als hätte ihn October auf uns angesetzt, obwohl der Himmel weiß …« »Roke ist doch bloß ein Pfleger.« »Bloß!« fuhr Adams auf. »Als ob das etwas ändert. Auch Pferdepfleger haben Augen im Kopf. Auch Pferde pfleger können reden, oder nicht? Und schau ihn dir an. Der ist nicht so erbärmlich, wie er immer getan hat.« »Wenn sein Wort gegen deins steht, kommt er nicht durch«, sagte Humber. »Der kommt sowieso nicht durch.« 266
»Was meinst du damit?«
»Ich bringe ihn um«, sagte Adams.
»Das wäre vielleicht die glattere Lösung.« Humber hörte
sich an, als spreche er von einem Pferd. »Dafür ist es zu spät«, sagte ich. »Ich habe der Hinder nisbehörde schon einen Bericht geschickt.« »Das hat man uns schon mal gesagt«, erwiderte Humber, »aber es hat nicht gestimmt.« »Diesmal schon.« Adams sagte heftig: »Bericht hin, Bericht her, ich bringe ihn um. Es gibt noch andere Gründe …« Er brach ab und starrte mich böse an: »Ich bin auf Sie reingefallen. Ich! Wie haben Sie das angestellt?« Ich schwieg. Für leichte Unterhaltung schien mir jetzt nicht die Zeit. »Der hier«, warf Humber ein, »hat ein Motorrad.« Ich entsann mich, daß die Fenster im Waschraum als Fluchtweg alle zu klein waren. Die Tür zum Hof war ab gesperrt, und Humber stand vor seinem Schreibtisch, zwi schen mir und dem Fenster. Wenn ich Lärm schlug, würde nur Cass kommen, aber keiner von den armen Pflegern, die gar nicht wußten, daß ich da war und sonst für mich auch keinen Finger gerührt hätten. Adams und Humber waren beide größer und schwerer als ich, Adams sogar erheblich. Humber hatte seinen Stock, ich ahnte nicht, zu welcher Waffe Adams greifen würde, und ich hatte mich im Leben noch nicht ernsthaft geprügelt. Die nächsten Minuten sahen nicht gerade rosig aus. Andererseits war ich jünger als sie und dank der harten Arbeit, die sie mir abverlangt hatten, durchtrainiert. Ich hatte den Sturzhelm, und ich konnte mit irgend etwas wer fen … ganz aufgeschmissen war ich vielleicht doch nicht. 267
Ein polierter Holzstuhl mit Ledersitz stand an der Wand neben der Tür. Adams packte ihn und kam auf mich zu. Humber blieb stehen, ließ aber den Stock durch die Finger gleiten und hielt ihn schlagbereit. Ich fühlte mich schrecklich wehrlos. Adams’ Blick war verschleierter denn je, und das Lä cheln um seinen Mund erreichte die Augen nicht. »Kosten wir das ruhig aus«, sagte er laut. »Ein verbranntes Unfall opfer wird sich keiner so genau ansehen.« Er schlug mit dem Stuhl nach mir. Ich konnte zwar aus weichen, geriet dafür aber in Reichweite Humbers, dessen Stock mir haarscharf am Ohr vorbei auf die Schulter knall te. Ich stolperte, stürzte, wälzte mich herum und kam ge rade noch rechtzeitig hoch, um dem herabsausenden Stuhl von Adams zu entgehen. Ein Stuhlbein brach beim Auf schlag auf dem Boden ab, und Adams griff es sich. Ein dickes, gerades, vierkantiges Stuhlbein mit einer gefähr lich splitterigen Bruchstelle. Adams lächelte verstärkt und warf den Rest des Stuhls in die Ecke. »Jetzt«, sagte er, »machen wir uns einen Spaß.« Und wenn man so etwas einen Spaß nennen konnte, dann machten sie ihn sich wirklich. Nach kurzer Zeit waren sie jedenfalls noch ziemlich heil, während ich etliche blaue Flecken dazubekommen hatte sowie eine stark blutende Wunde an der Stirn, von Adams abgebrochenem Stuhlbein. Aber der Sturzhelm entschärfte viele ihrer Angriffe, und ich entdeckte, daß ich im Ausweichen nicht unbegabt war. Außerdem trat ich um mich. Humber, nicht der Beweglichste, blieb auf seinem Po sten am Fenster und schlug zu, wann immer ich in Reich weite kam. In dem kleinen Büro geschah das nur zu oft. 268
Ich versuchte von Anfang an, ihnen die Knüppel zu ent reißen, den kaputten Stuhl an mich zu bringen oder etwas Werfbares zu finden, aber das war überhaupt nicht gut für meine Finger, und an den Stuhl ließ Adams, der meine Absichten erriet, mich einfach nicht heran. Alles, was sich in dem kahlen Büro zum Werfen eignete, lag hinter Hum ber auf seinem Schreibtisch. Weil es in der Nacht am Hang so kalt gewesen war, trug ich zwei Pullover unter der Jacke, die ein wenig schlag dämpfend wirkten, aber besonders Adams schlug mit Wucht, und jeder seiner Treffer rüttelte mich durch. Ich hatte auch daran gedacht, durchs geschlossene Fenster zu hechten, aber sie ließen mich da nicht ran, und ich mußte in Bewegung bleiben. Verzweifelt ging ich von der Abwehr zum Angriff über und stürzte mich auf Humber. Ohne auf Adams zu achten, der prompt zwei fürchterliche Treffer landete, packte ich meinen ehemaligen Arbeitgeber beim Wickel, riß ihn, ei nen Fuß gegen den Schreibtisch stemmend, herum und schleuderte ihn durch den schmalen Raum. Er flog kra chend in die Aktenschränke. Auf dem Schreibtisch lag der grüne Briefbeschwerer aus Glas. Groß wie ein Kricketball. Er war gut zu greifen, und mit einer einzigen schnellen Bewegung hob ich ihn auf, drehte mich auf den Zehenspitzen herum und warf ihn nach Humber, der keine drei Meter entfernt noch um sein Gleichgewicht rang. Ich traf ihn genau zwischen die Augen. Ein Volltreffer. Bewußtlos sank er in sich zusammen. Ich war bei ihm, noch bevor er am Boden aufschlug, und griff nach der grünen Glaskugel, die als Waffe jedem Stock oder kaputten Stuhl überlegen war. Aber Adams schaltete zu schnell. Er holte aus. 269
Ich nahm irrtümlich an, ein weiterer Schlag wäre halb so schlimm, und streckte mich weiter nach dem Briefbe schwerer, obwohl ich wußte, daß Adams’ Stuhlbein un terwegs war. Aber diesmal nützte mir der Sturzhelm we nig, weil ich den Kopf gesenkt hielt. Adams traf mich un ter dem Helmrand, hinter dem Ohr. Benommen taumelte ich gegen die Wand und setzte mich hin, die Schultern an die Wand gelehnt und ein Bein unterm Körper angewinkelt. Ich wollte aufstehen, hatte aber einfach nicht die Kraft dazu. Mir schwindelte. Ich sah kaum etwas. Es sang mir in den Ohren. Adams beugte sich über mich, öffnete den Gurt meines Sturzhelms und nahm ihn mir vom Kopf. Der hat doch was vor, dachte ich beduselt. Ich blickte auf. Er stand lä chelnd da und schwang das Stuhlbein. Freute sich. Im allerletzten Moment lichtete sich der Nebel in mei nem Kopf ein wenig, und ich wußte, wenn ich nichts da gegen tat, würde dieser Schlag der letzte sein. Zum Aus weichen war keine Zeit. Ich riß den rechten Arm hoch, um meinen bloßen Kopf zu schützen, und das niedersausende Stück Holz krachte hinein. Es war wie eine Explosion. Meine Hand fiel taub und kraftlos herunter. Wieviel hatte ich noch? Zehn Sekunden. Höchstens. Ich war wütend. Das Vergnügen, mich umzubringen, sollte Adams auf keinen Fall haben. Er lächelte immer noch. Beobachtete mein Gesicht, während er ausholte, um mir den Gnadenstoß zu geben. Nein, dachte ich, wozu hast du denn Beine? Willst du hier liegen, bis er dich ausradiert, statt dich zu wehren? Er stand rechts von mir. Mein linkes Bein war unter mir ein geknickt, und er achtete nicht weiter darauf, als ich es her auszog und über das andere legte. Ich brachte beide Beine 270
hoch, eins vor, eins hinter seinen Füßen, dann schloß ich die Beinschere und rollte mich mit einem Ruck jäh auf die Seite. Adams war völlig überrumpelt. Er verlor die Balance, ru derte wild mit den Armen und fiel krachend auf den Rük ken. Hier kam mir sein Körpergewicht zustatten, denn es verstärkte den Aufprall, der ihm die Luft nahm, und er schwerte ihm das Aufstehen. Meine Rechte war zum Werfen nicht mehr zu gebrauchen. Ich rappelte mich hoch, packte die grüne Glaskugel mit links und schlug sie Adams über den Kopf, während er noch auf den Knien lag. Es schien kei ne große Wirkung zu haben. Er stand auf. Er ächzte. Verzweifelt holte ich aus und schlug noch einmal zu. Ich traf ihn am Hinterkopf; er ging zu Boden und blieb liegen. Benommen, mit flauem Magen, ließ ich mich neben ihn fallen, und meine Schmerzen holten mich ein, während das Blut aus der Wunde an meiner Stirn langsam auf den Boden tropfte. Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, zu Atem und zu Kräften zu kommen suchte, damit ich endlich abziehen konnte, aber allzu lange kann es nicht gewesen sein. Der Gedanke an Cass brachte mich schließlich auf die Beine. Jeder Dreikäsehoch hätte mich jetzt weggehauen, und der drahtige kleine Futtermeister erst recht. Die beiden anderen lagen regungslos am Boden. Adams atmete schwer, beinah schnarchend. Humbers Atem ging ganz flach. Ich fuhr mir mit der Linken übers Gesicht, und sie war blutverschmiert. Dein ganzes Gesicht muß voll Blut sein, dachte ich. So kannst du nicht durch die Gegend fahren. Ich taumelte in den Waschraum. Im Spülbecken lagen halb geschmolzene Eiswürfel. Eis. Benommen guckte ich darauf. Eis im Kühlschrank. Klir 271
rendes Eis in den Gläsern. Eis im Ausguß. Kühl und blut stillend. Ich nahm ein Stück Eis und sah in den Spiegel. Grausig. Ich drückte das Eis auf die Wunde und versuchte, wie man so schön sagt, mich zusammenzureißen. Mit ge ringem Erfolg. Nach einer Weile ließ ich Wasser ins Becken laufen und wusch mir das Blut ab. Dabei stellte sich heraus, daß die Wunde nur ein paar Zentimeter lang, aber nicht tief war, auch wenn sie immer noch nachblutete. Ich suchte ein Handtuch. Auf dem Tisch neben dem Arzneischrank stand eine of fene kleine Flasche, daneben lag ein Teelöffel. Mein Blick glitt auf der Suche nach dem Handtuch darüber hinweg, stockte, kehrte zurück. Ich machte drei unsichere Schritte zum Tisch hin. Mit der Flasche hat es etwas auf sich, dachte ich, aber ich war nicht klar im Kopf. Eine Flasche Phenobarbital in Pulverform, wie ich es Mickey vierzehn Tage lang verabreicht hatte. Nur Pheno barbital, weiter nichts. Ich seufzte. Dann fiel mir ein, daß Mickey den letzten Rest aus der Flasche bekommen hatte. Sie hätte leer sein müssen. Ganz leer. Nicht voll. Die hier war noch bis zum Hals gefüllt, und die Wachsstückchen vom aufgebrochenen Siegel lagen ringsherum. Jemand hatte kürzlich eine neue Flasche Phe nobarbital geöffnet und ihr ein paar Löffel entnommen. Natürlich. Für Kandersteg. Ich fand ein Handtuch und trocknete mir das Gesicht. Dann kehrte ich ins Büro zu rück und kniete neben Adams nieder, um den Büroschlüs sel aus seiner Tasche zu holen. Er schnarchte nicht mehr. Ich drehte ihn auf den Rücken. Es läßt sich nicht in schönen Worten sagen: Er war tot. Blutfäden waren ihm aus Ohren, Augen, Nase und Mund gelaufen. Ich betastete seinen Kopf an der Stelle, wo ich 272
ihn getroffen hatte, und die eingedrückten Schädelknochen bewegten sich unter meinen Fingern. Entsetzt und zitternd suchte ich in seinen Taschen und fand den Schlüssel. Dann stand ich auf und ging langsam zum Schreibtisch, um die Polizei anzurufen. Das Telefon lag auf dem Boden, der Hörer neben der Gabel. Ich bückte mich und hob den Apparat unbeholfen mit der linken Hand auf, und alles schwamm vor den Au gen. Wäre mir nur nicht so übel gewesen. Ich richtete mich auf und stellte das Telefon auf den Schreibtisch. Wieder lief Blut an meiner Braue herunter. Ich hatte nicht die Energie, es abzuwischen. Draußen im Hof brannten ein paar Lampen, auch die in Kanderstegs Box. Die Tür stand weit offen, und das ange bundene Pferd schlug wütend nach allen Seiten aus. Es machte keineswegs den Eindruck, als hätte es ein Beruhi gungsmittel bekommen. Meine Finger stockten an der Wählscheibe, und ich er starrte. Mein Kopf war plötzlich klar. Kandersteg stand nicht unter Beruhigungsmitteln. Seine Erinnerung sollte ja nicht getrübt werden. Im Gegenteil. Mickey hatte erst Phenobarbital bekommen, als er völlig aus dem Lot geraten war. Ich wollte nicht glauben, was mein Verstand mir sagte: daß ein oder mehrere Teelöffel Phenobarbital, aufgelöst in einem großen Glas Gin mit Campari, fast mit Sicherheit den Tod bedeuteten. Ganz genau erinnerte ich mich an die Szene im Büro, an die Gläser, das angespannte Gesicht Humbers, die Belu stigung von Adams. Die gleiche fröhliche Miene, mit der er sich angeschickt hatte, mich umzubringen. Töten mach te ihm Spaß. Er hatte den voreiligen Schluß gezogen, Eli 273
nor kenne den Zweck der Hundepfeife, und hatte nicht gezögert, sie aus dem Weg zu räumen. Kein Wunder, daß er sie nicht gebeten hatte, noch zu bleiben. Sie sollte schön zum College zurückfahren und auf ihrem Zimmer sterben, zig Kilometer entfernt, ein dummes Ding, das eine Überdosis Tabletten geschluckt hatte. Keinerlei Verbindung zu Adams und Humber. Kein Wunder auch, daß er so entschlossen gewesen war, mich umzubringen: nicht nur, weil ich über die Pferde Be scheid wußte, sondern weil ich Elinor den Gin hatte trin ken sehen. Ich konnte mir unschwer vorstellen, was meiner Ankunft vorausgegangen war. Adams, wie er scheinheilig fragte: »Sie wollten also nachhören, ob Roke die Pfeife noch braucht?« »Ja.« »Und weiß Ihr Vater, daß Sie hier sind? Weiß er von der Pfeife?« »Ach was, ich bin ganz spontan hergekommen. Er hat keine Ahnung.« Sicher hatte er sie für dumm gehalten, weil sie einfach so hereingeplatzt war; aber für einen Mann wie ihn waren vermutlich alle Frauen dumm. »Möchten Sie Eis zu Ihrem Drink? Ich hole Ihnen wel ches. Keine Mühe. Gleich nebenan. Bitte sehr, meine Lie be, einmal Gin mit Phenobarbital, und auf geht’s in den Himmel.« Im Fall Stapleton hatte er auf die gleiche Karte gesetzt, und es hatte funktioniert. Wäre er da nicht auch noch mit zwei weiteren Morden durchgekommen, wenn man mich im nächsten Bezirk tot unter den Trümmern meines Mo torrads in einer Schlucht gefunden hätte und Elinor tot in ihrem College? 274
Wenn Elinor starb. Ich hatte den Finger noch auf der Wählscheibe. Ich wählte dreimal die Neun. Niemand meldete sich. Ich drückte auf die Gabel und versuchte es noch einmal. Nichts. Keine Verbindung. Die Leitung war tot. Alles war tot – Mickey war tot, Stapleton war tot, Adams war tot, Elinor … laß das. Ich nahm meinen durcheinandergeratenen Verstand zu sammen. Wenn das Telefon nicht funktionierte, mußte je mand zu Elinor hinfahren, damit sie nicht starb. Mein erster Gedanke war, daß ich nicht fahren konnte. Aber wer sonst? Wenn ich recht hatte, brauchte sie drin gend einen Arzt, und mit jeder Sekunde, die ich nach ei nem Telefon suchte oder nach jemandem, der mir die Fahrt abnehmen konnte, verringerten sich ihre Überle benschancen. Ich konnte in zwanzig Minuten bei ihr sein. Wenn ich zum Anrufen nach Posset fuhr, wurde ihr auch nicht schneller geholfen. Erst beim dritten Versuch brachte ich den Schlüssel ins Schloß. Mit der Rechten konnte ich ihn überhaupt nicht halten, und die Linke zitterte. Ich holte tief Luft, schloß die Tür auf, ging hinaus und zog sie hinter mir zu. Niemand bemerkte mich, als ich den Stallhof auf dem gleichen Weg, den ich gekommen war, verließ und zu meinem Motorrad ging. Aber es sprang nicht sofort an, und schon kam Cass neugierig um die Boxenreihe herum. »Hallo?« rief er. »Bist du das, Dan? Was willst du denn hier noch?« Er kam auf mich zu. Ich trat grimmig auf den Starter. Der Motor blubberte, hustete und heulte auf. Ich zog die Kupplung und legte den Gang ein. »Hiergeblieben!« rief Cass. Aber ich fuhr ihm davon und brauste zum Tor hinaus in Richtung Posset, daß der Schot ter unter den Reifen wegspritzte. 275
Der Gaszug war im rechten Lenkergriff integriert. Man drehte den Griff einwärts, um zu beschleunigen, und vor wärts, um das Tempo zu verlangsamen. Normalerweise drehte er sich leicht. Jetzt allerdings nicht, denn sobald ich die Finger um ihn geschlossen hatte, war es mit der Taub heit in meinem Arm schlagartig vorbei. Fast wäre ich in der Ausfahrt noch vom Bock gefallen. Durham lag sechzehn Kilometer nordöstlich. Zweiein halb bergab nach Posset, zwölf auf einer leidlich geraden, wenig befahrenen Nebenstraße durchs Heidemoor, andert halb durch die Stadt zur Uni. Das letzte Stück würde we gen des Verkehrs, der Abzweigungen, der vielen Tempo wechsel am schwierigsten sein. Nur das Wissen, daß Elinor ohne mich wahrscheinlich sterben würde, hielt mich überhaupt auf der Maschine, und insgesamt war es eine Fahrt, die ich nicht noch einmal er leben möchte. Ich wußte nicht, wieviel Schläge ich abbe kommen hatte, aber mancher Teppich wäre danach staub frei gewesen. Ich konzentrierte mich auf die vor mir lie gende Aufgabe. Wenn Elinor direkt zum College gefahren war, mußte sie bald nach ihrer Ankunft schläfrig geworden sein. Soweit ich wußte – es hatte mich nie sonderlich interessiert –, wirkten Barbiturate erst nach einer Stunde. Aber in Ver bindung mit Alkohol setzte die Wirkung schneller ein. Nach zwanzig Minuten oder einer halben Stunde vielleicht schon. Ich wußte es nicht. In zwanzig Minuten konnte sie zumindest heil von Humber zurückgekommen sein. Und dann? Wahrscheinlich war sie hinauf in ihr Zimmer ge gangen, hatte sich hingelegt, weil sie müde war, und war eingeschlafen. Während ich mit Adams und Humber gekämpft hatte, war sie unterwegs nach Durham gewesen. Ich wußte nicht, wieviel Zeit ich im Waschraum verduselt hatte, aber sie 276
konnte erst kurz, bevor ich losgefahren war, im College angekommen sein. Vielleicht war ihr ja so schwummrig gewesen, daß sie es einer Freundin erzählt oder jemand um Rat gefragt hatte, aber selbst dann konnte niemand ahnen, was mit ihr los war. Ich kam nach Durham, bog ab und wieder ab, hielt sogar bei Rot an einer verkehrsreichen Straße und kämpfte ge gen die Versuchung an, den letzten Kilometer im Schritt tempo zu fahren, nur damit ich nicht mehr am Lenkergriff zu drehen brauchte. Aber die Sorge, das Gift könnte in zwischen irreparable Schäden herbeiführen, trieb mich voran.
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E
s wurde schon dunkel, als ich am College vorfuhr, den Motor abstellte und die Eingangsstufen hinaufha stete. Am Pförtnertisch saß niemand, und alles war ruhig. Ich rannte durch die Gänge, fand die Treppe, lief in den zweiten Stock. Dann war Ende. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo es zu Elinors Zimmer ging. Eine magere, ältere Frau mit Kneifer, die einen Stapel Papiere und ein dickes Buch in den Armen hielt, kam mir entgegen. Eine Lehrerin, dachte ich. »Bitte«, sagte ich, »wie komme ich zu Miss Tarren?« Sie blieb vor mir stehen und musterte mich. Ich gefiel ihr nicht. Was hätte ich in dem Moment für ein gepflegtes Äußeres gegeben! »Bitte«, sagte ich noch einmal. »Es kann sein, daß sie krank ist. Wie komme ich zu ihr?« »Sie haben Blut im Gesicht«, sagte sie. »Das ist nur ein Kratzer … bitte …« Ich packte sie am Arm. »Zeigen Sie mir, wo ihr Zimmer ist, und wenn es ihr gutgeht und ihr nichts fehlt, sind Sie mich gleich wieder los. Aber es kann sein, daß sie dringend Hilfe braucht. Bit te glauben Sie mir …« »Na schön«, sagte sie zögernd. »Sehen wir nach. Hier entlang bitte … und da lang.« Wir kamen zu Elinors Tür. Ich klopfte laut. Keine Ant wort. Ich bückte mich zum Schlüsselloch hinunter. Der 278
Schlüssel steckte von innen, so daß ich nichts sehen konn te. »Machen Sie auf«, drängte ich die Frau, die mich noch immer skeptisch betrachtete. »Machen Sie auf, und schau en Sie, ob es ihr gutgeht.« Sie drückte die Klinke nieder. Aber es war abgeschlossen. Ich hämmerte wieder an die Tür. Nichts. »Hören Sie bitte«, sagte ich eindringlich. »Die Tür ist von innen abgeschlossen, also muß Elinor Tarren im Zimmer sein. Sie meldet sich nicht, weil sie nicht kann. Sie braucht unbedingt sofort einen Arzt. Können Sie das veranlassen?« Die Frau sah mich ernst durch ihren Kneifer an und nickte. Ich war mir nicht sicher, ob sie mir glaubte, aber es sah so aus. »Sagen Sie dem Arzt, daß sie mit Phenobarbital und Gin vergiftet worden ist. Vor ungefähr vierzig Minuten. Und bitte, bitte beeilen Sie sich. Gibt es einen Zweitschlüssel für die Tür?« »Wenn einer steckt, läßt der sich nicht rausdrücken. Wir haben das bei anderer Gelegenheit bei anderen Zimmern schon versucht. Sie müssen die Tür aufbrechen. Ich rufe den Arzt.« Sie entfernte sich gemessenen Schrittes, immer noch unerhört ruhig, obwohl ein fragwürdiger Mensch mit blutender Stirn ihr gerade mitgeteilt hatte, daß eine ihrer Studentinnen mit einem Bein im Grab stand. Eine kampf erprobte Universitätsdozentin. Die viktorianischen Erbauer der Stätte hatten nicht vor gesehen, daß aufdringliche Kerle den Mädchen die Bude einrennen sollten. Da mir die Frau mit dem Kneifer aber zugetraut hatte, daß ich die Tür aufbrechen könnte, streng te ich mich an und trat sie schließlich mit dem Absatz ein. Das Holz barst am Türpfosten, und die Tür flog auf. 279
Der ganze Lärm hatte nicht eine einzige Studentin auf den Gang gelockt: Es war immer noch niemand da. Ich betrat Elinors Zimmer, knipste das Licht an und drückte die Tür hinter mir zu. Sie lag ausgestreckt in tiefem Schlaf auf ihrem blauen Bett, das Gesicht umrahmt von dem silberblonden Haar, friedlich und schön. Sie hatte angefangen, sich auszuzie hen, wohl deshalb auch die Tür abgeschlossen, und trug nur noch Slip, BH und ein schlichtes Unterkleid, alles weiß und mit Rosenknospen und rosa Bändern gemustert. Hübsch. So etwas hätte Belinda gefallen. Die leichte Be kleidung verstärkte jedoch den Eindruck ihrer Wehrlosig keit. Und meine Sorge. Das Kleid, das sie bei Humber getragen hatte, lag auf dem Boden. Ein Strumpf hing über einer Stuhllehne, der andere lag direkt unter ihrer schlaff herabbaumelnden Hand neben dem Bett. Ein frisches Paar Strümpfe war auf der Frisierkommode bereitgelegt, ein blaues Wollkleid hing auf einem Bügel am Kleiderschrank. Sie hatte sich für den Abend umziehen wollen. Wenn ich sie mit dem Lärm der krachenden Tür nicht geweckt hatte, konnte ich sie wohl kaum wachrütteln, aber ich versuchte es. Sie regte sich nicht. Ihr Puls war normal, die Atmung gleichmäßig, ihr Teint zart wie immer. Sie sah nicht aus, als ob ihr etwas fehlte. Es machte mir angst. Warum kam nicht endlich der Arzt? Die Tür hatte mich lange aufgehalten – oder ich hatte mich dumm angestellt, je nachdem –, es mußten jetzt zehn Minuten vergangen sein, seit die Frau mit dem Kneifer ihn rufen ging. Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür, und ein gepfleg ter Mann mittleren Alters in einem grauen Anzug schaute ins Zimmer. Er war allein. In der einen Hand hielt er eine Tasche, in der anderen ein Feuerwehrbeil. Er kam herein, 280
sah auf das zersplitterte Holz, lehnte die Tür an und legte das Beil auf Elinors Schreibtisch. »Immerhin Zeit gespart«, meinte er knapp. Er musterte mich ohne Begeisterung und bedeutete mir, aus dem Weg zu gehen. Dann registrierte er das hochgerutschte Unter kleid Elinors und ihre langen, nackten Beine und fragte argwöhnisch: »Haben Sie sie angerührt?« »Nein«, antwortete ich verärgert. »Ich habe sie am Arm gerüttelt und ihren Puls gefühlt. Sie lag so da, als ich her einkam.« Irgend etwas, und sei es nur meine offensichtliche Mü digkeit, veranlaßte ihn plötzlich, mich mit dem nüchternen Blick des Arztes zu betrachten. »In Ordnung«, sagte er und beugte sich über Elinor. Ich wartete hinter ihm, während er sie untersuchte, und als er sich umdrehte, bemerkte ich, daß er das verrutschte Unterkleid züchtig zu den Knien herabgezogen hatte. »Phenobarbital und Gin?« sagte er. »Sind Sie sicher?« »Ja.« »Absichtlich eingenommen?« Er klappte seine Tasche auf. »Unabsichtlich.« »Sonst wimmelt es hier von Frauen«, sagte er unvermit telt. »Aber anscheinend sind sie alle auf irgendeiner Ver sammlung.« Noch ein prüfender Blick. »Ginge es, daß Sie mir helfen?« »Ja.«
Er zögerte. »Wirklich?«
»Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
»Gut. Bringen Sie mir eine große Kanne und einen Ei
mer oder eine große Schüssel. Ich kümmere mich erst um 281
das Mädchen, Sie können mir nachher erzählen, wie das passiert ist.« Er nahm eine Spritze aus der Tasche, zog sie auf und setzte Elinor eine Injektion in die Vene an der Ellbogen beuge. Ich holte Kanne und Schüssel aus dem Ein bauschrank. »Sie waren schon mal hier«, meinte er mit wiedererwa chendem Argwohn. »Einmal«, sagte ich und fügte Elinor zuliebe hinzu: »Ich bin bei ihrem Vater angestellt. Nichts Persönliches.« »Oh. Verstehe.« Er zog die Nadel heraus, nahm die Spritze auseinander und wusch sich rasch die Hände. »Wie viele Tabletten hat sie genommen, wissen Sie das?« »Keine Tabletten. Es war in Pulverform. Ein Teelöffel voll, wenn nicht mehr.« Er sah bestürzt aus, sagte aber: »Wenn man so viel nimmt, schmeckt das bitter. Das hätte sie gemerkt.« »Gin mit Campari schmeckt sowieso bitter.« »Stimmt. Also gut. Ich pumpe ihr den Magen aus. Das meiste wird schon in der Blutbahn sein, aber bei der Men ge … nun, wir wollen es versuchen.« Er wies mich an, die Kanne mit lauwarmem Wasser zu füllen, während er vorsichtig einen dicken Schlauch in Elinors Schlund einführte. Zu meiner Überraschung legte er dann das Ohr an den Schlauch und erklärte kurz dazu, daß man bei einem bewußtlosen Patienten, der nicht schlucken könne, kontrollieren müsse, ob der Schlauch versehentlich in die Lunge geraten sei. »Wenn Sie den Atem hören, sind Sie falsch«, sagte er. Er steckte einen Trichter in das herausstehende Ende des Schlauchs, ließ sich die Kanne geben und goß behutsam 282
das Wasser ein. Erst nachdem eine für mich unglaubliche Menge davon im Schlauch verschwunden war, hörte er auf, gab mir den Krug zurück und bat mich, die Schüssel zu ihm hin zu schieben. Dann nahm er den Trichter ab und hielt das Schlauchende plötzlich über den Bettrand hinweg in die Schüssel. Das Wasser schoß, zusammen mit Elinors Mageninhalt, wieder heraus. »Hm«, meinte er ruhig. »Sie hat vorher gegessen. Ku chen anscheinend. Immerhin.« Er war um einiges gelassener als ich. »Kommt sie durch?« Meine Stimme klang gepreßt. Er sah mich kurz an und zog den Schlauch heraus. »Sie hat das Zeug knapp eine Stunde vor meiner An kunft getrunken?« »Ungefähr fünfzig Minuten vorher.« »Und sie hatte was im Magen. Ja, das wird schon, bei ih rer Konstitution. Ich habe ihr Megimid gespritzt, ein hochwirksames Gegenmittel. In etwa einer Stunde dürfte sie aufwachen. Eine Nacht im Krankenhaus, und sie hat’s überstanden. Dann ist sie wieder voll da.« Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. »Es kommt sehr auf die Zeit an«, meinte er ruhig. »Wenn sie hier stundenlang gelegen hätte … ein Teelöffel, das sind zwei Gramm, wenn nicht mehr.« Er schüttelte den Kopf. »Das hätte ihr Tod sein können.« Er entnahm eine Probe des Mageninhalts fürs Labor und deckte die Schüssel mit einem Handtuch zu. »Wie sind Sie denn zu der Wunde am Kopf gekom men?« fragte er plötzlich. »Bei einer Rauferei.« 283
»Sie muß genäht werden. Soll ich das machen?« »Ja, gern.« »Sobald Miss Tarren auf dem Weg ins Krankenhaus ist. Dr. Pritchard wollte einen Krankenwagen rufen. Der müßte bald da sein.« »Dr. Pritchard?« »Die Dozentin, die mich verständigt hat. Meine Praxis ist gleich um die Ecke. Sie rief an und sagte, ein blutver schmierter, ungestümer junger Mann behaupte, Miss Tar ren sei vergiftet worden, und ich möchte doch bitte mal nach ihr sehen.« Er lächelte flüchtig. »Sie haben mir noch nicht erzählt, wie das alles passiert ist.« »Das ist auch eine lange Geschichte«, sagte ich müde. »Sie werden sie der Polizei erzählen müssen«, meinte er. Ich nickte. Der Polizei mußte ich viel zuviel erzählen. Ich freute mich nicht darauf. Der Arzt griff zu Papier und Stift und schrieb einen Bericht für das Krankenhaus. Auf dem Gang hörte man plötzlich Mädchenstimmen, leichtfüßiges Getrappel und Türenschlagen. Die Studen tinnen kamen von ihrer Versammlung zurück – für Elinor etwas zu früh, denn nun würden alle mitbekommen, wie man sie abholte. Kräftigere Schritte hielten vor Elinors Zimmer, dann wurde geklopft. Zwei Sanitäter in Weiß kamen mit einer Trage herein, hoben Elinor mit schnellen, geübten Griffen darauf, deckten sie zu und brachten sie fort. Eine Welle mitfühlender, besorgter Fragen begleitete sie. Der Arzt schloß die Tür und nahm ohne weitere Um schweife Nadel und Faden aus seiner Tasche, um mir die Stirn zusammenzunähen. Ich saß auf Elinors Bett, wäh rend er die Wunde desinfizierte und die Naht legte. »Weswegen haben Sie gerauft?« fragte er. 284
»Weil ich angegriffen wurde«, sagte ich. »So?« Er verlagerte sein Gewicht, um aus einem anderen Winkel weiterzunähen, und stützte sich dabei auf meiner Schulter ab. Als er merkte, wie ich unter dem Druck zu rückwich, sah er mich fragend an. »Sie haben also den kürzeren gezogen?« »Nein«, sagte ich langsam. »Ich habe gewonnen.« Er war fertig und schnitt den Faden mit der Schere ab. »Bitte sehr. Da wird kaum eine Narbe zurückbleiben.« »Danke.« Es klang ein bißchen schwach. »Geht’s Ihnen gut?« fragte er plötzlich. »Sehen Sie im mer so grau aus?« »Selten. Aber im Moment paßt grau zu mir. Ich habe auch eins über den Schädel bekommen.« Er untersuchte die Beule hinter meinem Ohr und meinte, ich würde es überleben. Er fragte mich gerade, wo es mir sonst noch weh tue, als wieder schwere Schritte auf dem Gang ertönten und mit Gepolter die Tür aufflog. Zwei breitschultrige Polizisten in Uniform betraten das Zimmer. Sie kannten den Arzt. Offenbar nahm ihn die Polizei in Durham öfters in Anspruch. Sie begrüßten einander höflich, und der Arzt teilte ihnen mit, daß Miss Tarren bereits auf dem Weg ins Krankenhaus sei. Sie ließen ihn nicht ausreden. »Wir kommen seinetwegen, Sir«, sagte der größere der beiden und wies auf mich. »Daniel Roke, ein Pferdepfle ger.« »Ja, er hat Hilfe für Miss Tarren geholt …« »Nein, Sir, wegen einer Miss Tarren oder Hilfe für Miss Tarren sind wir nicht hier. Wir müssen ihn in einer ande ren Angelegenheit befragen.« 285
»Es geht ihm nicht besonders«, sagte der Arzt. »Muten Sie ihm nicht zuviel zu. Hat das nicht bis später Zeit?« »Auf keinen Fall, Sir.« Sie kamen entschlossen zu mir herüber. Der Wortführer war ein Rotschopf etwa in meinem Alter, mit ernstem, gespanntem Gesicht. Sein etwas kleinerer Partner hatte dunkle Haare, braune Augen und war genauso auf der Hut. Es sah aus, als befürchteten sie, ich könnte aufspringen und ihnen die Hälse umdrehen. Wie auf Kommando beugten sich beide vor und nahmen meine Unterarme in den Zangengriff. Der Rothaarige, rechts von mir, zog Handschellen aus der Tasche, und ver eint legten sie sie mir an. »Immer mit der Ruhe, Sportsfreund«, warnte mich der Rothaarige, als ich versuchte, meinen Arm seinem schmerzhaften Griff zu entziehen, was er offenbar als Fluchtabsicht mißverstand. »Lassen Sie mich los«, sagte ich. »Ich haue nicht ab.« Sie nahmen die Hände weg, traten einen Schritt zurück und sahen mich an. Ihre Gesichter waren schon viel ent spannter; sie hatten wohl wirklich mit ernstem Widerstand gerechnet. Es war entnervend. Ich atmete tief durch, um den Schmerzen in meinem Arm beizukommen. »Der macht uns keinen Ärger«, sagte der Dunkelhaarige. »Sieht ja aus wie der Tod.« »Er hat eine Rauferei hinter sich«, bemerkte der Arzt. »Hat er das gesagt, Sir?« Der Dunkelhaarige lachte. Ich sah auf meine nicht nur drückenden, sondern auch demütigenden Handschellen. »Was hat er denn getan?« fragte der Arzt. »Ehm«, antwortete der Rote, »er soll uns bei der Unter suchung des Überfalls auf einen Trainer helfen, bei dem er 286
beschäftigt war. Der Mann ist noch nicht wieder bei Be wußtsein, und einem anderen, der bei ihm war, wurde der Schädel eingeschlagen.« »Tot?« »Soweit wir unterrichtet sind, ja. Wir waren nicht selbst am Tatort, aber da soll es wüst aussehen. Wir sind von Clavering hergeschickt worden, um den Mann abzuholen, weil der Rennstall zu unserem Bezirk gehört, und nach Clavering bringen wir ihn auch.« »Sie sind ihm aber schnell auf die Spur gekommen«, meinte der Arzt. »Ja«, sagte der Rote befriedigt. »Die Jungs waren auf Draht. Vor einer halben Stunde hat eine Frau von hier bei der Polizei in Durham angerufen und unseren Mann da beschrieben, und als dann aus Clavering die Sache mit dem Rennstall gemeldet wurde, hat jemand die beiden Be schreibungen miteinander in Verbindung gebracht und uns Bescheid gesagt. Wir sollten also mal nachsehen, und hoppla, da stand sein Motorrad samt richtiger Zulassungs nummer und allem unten in der Einfahrt.« Ich hob den Kopf. Der Arzt sah mich an. Er war ent täuscht, ernüchtert. Er zuckte die Achseln und sagte müde: »Man sieht es einem eben nicht an. Mir kam er nicht wie ein Schläger vor … und jetzt das.« Er wandte sich ab und griff nach seiner Tasche. Mir war es auf einmal zuviel. Widerspruchslos hatte ich mich von allen Seiten verachten lassen. Jetzt konnte ich nicht mehr. »Ich habe mich nur zur Wehr gesetzt«, sagte ich. Der Arzt drehte sich halb zu mir um. Ich wußte nicht, warum es mir wichtig war, ihn zu überzeugen, aber mir lag daran. 287
Der dunkelhaarige Polizist zog eine Braue hoch und meinte zu dem Arzt: »Der Trainer war sein Arbeitgeber, Sir, und der Erschlagene, soviel ich gehört habe, ein begü terter Mann, dessen Pferde dort trainiert wurden. Der Fut termeister hat die Polizei verständigt. Er sah Roke auf dem Motorrad davonbrausen und wunderte sich, weil Roke gestern entlassen worden war, und als er dem Trainer deswegen Bescheid sagen wollte, fand er ihn neben dem Toten bewußtlos in seinem Büro.« Der Arzt hatte genug gehört. Er ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Was sollte es? Am besten folgte ich dem Rat des Rotschopfs, schluckte alles runter und blieb ruhig. »Dann mal los, Sportsfreund«, sagte der Dunkelhaarige. Sie standen wieder voll Anspannung vor mir, feindselig und wachsam. Ich stand langsam auf. Langsam, weil ich kaum noch die Kraft dazu aufbrachte und weil ich nicht klappriger und mitleidheischender wirken wollte als nötig. Aber es ging. Als ich stand, fühlte ich mich auch im Kopf gleich besser, weil ich mich nicht mehr zwei bedrohlich großen Polizi sten gegenübersah, sondern zwei normalgroßen jungen Männern, die ihre Pflicht taten und auf keinen Fall etwas verbocken wollten. Für sie lief es allerdings umgekehrt. Wahrscheinlich hat ten sie sich einen Pferdepfleger unbewußt kleinwüchsig vorgestellt, aber das war ich nun nicht. Sie wurden merk lich aggressiver, und ich begriff, daß ich ihnen unter den gegebenen Umständen, noch dazu in Schwarz, wahr scheinlich etwas gefährlich vorkam – daß sie, mit einem Wort von Terence, meinten, ich sei schwer zu handhaben. Ich legte keinen Wert darauf, noch mehr Prügel zu be ziehen, erst recht nicht von seiten der Polizei. 288
»Hören Sie«, seufzte ich, »ich mache Ihnen keine Schwierigkeiten.« Aber sie hatten den Auftrag, einen Mann festzunehmen, der ausgerastet war und jemanden erschlagen hatte, und sie gingen kein Risiko ein. Der Rote packte mich am rech ten Oberarm und stieß mich zur Tür, und sobald wir auf dem Gang waren, packte mich der Dunkelhaarige am lin ken. Auf der ganzen Länge des Korridors standen Mädchen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Ich blieb abrupt stehen. Die Polizisten stießen mich weiter. Die Mädchen starrten uns an. Die Redensart vom Erdboden, in dem man am liebsten versinken möchte, bekam eine ganz plastische Bedeutung für mich. Es verletzte den kläglichen Rest meiner persön lichen Würde, so vielen intelligenten und ansprechenden jungen Frauen als Gefangener vorgeführt zu werden. Die Zeugen waren im falschen Alter. Vom falschen Ge schlecht. Ich hätte es leichter genommen, wenn sie Män ner gewesen wären. Nichts zu machen. Es war ein langer Weg von Elinors Zimmer durch die verzweigten Korridore, zwei Treppen hinunter zum Ausgang, und jeder unserer Schritte wurde von interessierten Mädchenaugen beobachtet. So etwas vergißt man nicht, dachte ich unglücklich. Das ging zu tief. Oder konnte man sich sogar daran ge wöhnen, in Handschellen herumgeführt zu werden? Be neidenswert der Unverbesserliche, den das dann nicht mehr kümmerte. Immerhin brachte ich den Weg, sogar die Treppen, hin ter mich, ohne zu stolpern, und das war schon ein kleiner Trost. Aber erst, als ich in den Streifenwagen gestoßen wurde, atmete ich auf. 289
Ich saß vorn, zwischen meinen beiden Bewachern. Der Dunkelhaarige fuhr. »Puh«, sagte er und schob seine Mütze einen Tick nach hinten. »Was für eine Menge Frauen!« Er war unter ihren Blicken rot geworden, und ein wenig Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Ein harter Knochen ist das hier«, meinte der Rote und wischte sich mit einem weißen Taschentuch den Hals, während er mich, an die Tür gelehnt, betrachtete. »Der hat keine Miene verzogen.« Die Lichter von Durham glitten vorbei. Ich sah gerade aus durch die Windschutzscheibe und dachte bei mir, wie wenig man doch an einem Gesicht ablesen konnte. Der ganze Weg war eine Tortur gewesen. Wahrscheinlich hatte man mir das nur deshalb nicht angesehen, weil ich seit Monaten darin geübt war, meine Gefühle und Gedanken zu verbergen. Die Macht der Gewohnheit. Zu Recht nahm ich an, daß diese Gewohnheit mir künftig noch öfter Kraft geben würde. Auf der ganzen Fahrt dachte ich darüber nach, wie bös ich in die Klemme geraten war und wie schwierig es wer den konnte, da wieder rauszukommen. Ich hatte Adams wirklich umgebracht. Da gab es kein Wenn und Aber. Und man würde mich nicht als ehrbaren Bürger betrachten, sondern als Totschläger, der mit allen Tricks versuchte, sich der Verantwortung für seine Tat zu entziehen. Man würde nach meiner äußeren Erscheinung gehen, die wirk lich nicht viel hermachte. Mein Pech. Immerhin hatte ich acht Wochen bei Humber überstanden, weil ich wie Müll aussah. Die Maske, die Adams getäuscht hatte, würde auf die Polizei ebenso überzeugend wirken, ja wirkte jetzt schon so auf sie, wie die wachsamen, feindseligen Männer links und rechts von mir bewiesen. 290
Der Rothaarige ließ mich nicht aus den Augen. »Sehr gesprächig ist er nicht«, sagte er nach einer langen Schweigepause. »Hat viel nachzudenken«, spöttelte der Dunkle. Die Blessuren, die Adams und Humber mir beigebracht hatten, machten sich weiterhin bemerkbar. Ich rutschte unbehaglich auf meinem Sitz, und die Handschellen klirr ten. Die Unbeschwertheit, mit der ich in meinen neuen Kleidern nach Slaw gefahren war, schien weit, weit zu rückzuliegen. Die Lichter von Clavering tauchten auf. Der Dunkelhaa rige warf mir einen zufriedenen Blick zu. Er hatte einen Fang gemacht. Seine Aufgabe erfüllt. Der Rothaarige brach erneut ein langes Schweigen, und auch aus seinen Worten klang Befriedigung. »Der wird ein schönes Stück älter sein, wenn er wieder rauskommt.« Das hoffte ich entschieden nicht, aber ich wußte nur zu gut, daß ich in Untersuchungshaft bleiben würde, bis ich schlüssig nachweisen konnte, daß ich in Notwehr gehan delt hatte. Ich war nicht umsonst Sohn eines Anwalts. Die nächsten Stunden waren grauenhaft. Die Polizei von Clavering war ein zynischer Verein, abgebrüht im Kampf gegen die Kriminalität in einem Bergbaugebiet mit hoher Arbeitslosenquote. Samthandschuhe gab es für sie nicht. Als einzelne liebten sie vielleicht ihre Frauen und waren gute Väter, aber sie hoben sich Humor und Nachsicht für die Freizeit auf. Sie hatten viel zu tun. Hektik und Gedränge auf der gan zen Linie. Immer noch in Handschellen, wurde ich unter Bewachung von einem Zimmer ins nächste gestoßen und angeblafft. Immer hieß es: »Nachher. Den nehmen wir uns später vor. Wir haben die ganze Nacht Zeit.« 291
Ich dachte sehnsüchtig an ein heißes Bad, ein weiches Bett und eine Handvoll Aspirin. Nichts davon bekam ich. Irgendwann am Abend setzten sie mich in einem hellen, kahlen Zimmerchen auf einen Stuhl, und ich erzählte ih nen, warum ich bei Humber gewesen und wie es dazu ge kommen war, daß ich Adams getötet hatte. Ich erzählte alles, was an dem Tag passiert war. Sie glaubten mir nicht, was man ihnen kaum verdenken konnte. Daß sie mich des Mordes beschuldigten, war Formsache. Ich protestierte. Es nützte nichts. Sie stellten mir eine Menge Fragen. Ich beantwortete sie. Sie stellten sie wieder. Ich antwortete. Sie lösten einander mit dem Fragen ab, so daß immer ein frischer Mann am Drücker war, während ich zunehmend abbaute. Ich war froh, daß ich in diesem zermürbenden Dauerstreß kein Lügengespinst aufrechterhalten mußte, denn es war schon schwer genug, die Wahrheit klar im Kopf zu behalten, und sie warteten nur auf einen Fehler von mir. »Jetzt erzählen Sie mal, was wirklich passiert ist.« »Das habe ich Ihnen erzählt.« »Agentenmärchen glauben wir nicht.« »Telegrafieren Sie nach Australien, fordern Sie eine Ko pie meines Arbeitsvertrags an.« Zum dritten Mal wieder holte ich die Adresse meines Anwalts, und zum vierten Mal unterließen sie es, sie zu notieren. »Wer hat Sie angeblich engagiert?« »Der Earl of October.« »Den können wir dann ja sicher auch fragen.« »Er ist bis Samstag in Deutschland.« »So ein Pech.« Sie lächelten boshaft. Sie wußten von Cass, daß ich in Octobers Rennstall gearbeitet hatte. Cass hatte mich als liederlichen Stallmann geschildert, unehr 292
lich, leicht einzuschüchtern und nicht der Hellste. Er hatte aus Überzeugung gesprochen, und er hatte sie überzeugt. »Sie haben Ärger wegen der Tochter Seiner Lordschaft bekommen, nicht wahr?« Cass, das verdammte Plappermaul, dachte ich grimmig. »Und jetzt ziehen Sie seinen Namen da rein, um sich für Ihre Entlassung zu revanchieren, was?« »So wie Sie sich bei Mr. Humber heute für Ihre Entlas sung revanchiert haben?« »Nein. Da bin ich weg, weil meine Aufgabe erledigt war.« »Oder vielleicht dafür, daß er Sie geschlagen hat?« »Nein.« »Der Futtermeister meint, die Prügel seien verdient ge wesen.« »Adams und Humber haben Wettbetrug betrieben. Ich bin ihnen auf die Schliche gekommen, und sie haben ver sucht, mich umzubringen.« Mir kam es vor, als hätte ich das schon zehnmal gesagt, ohne auch nur den geringsten Eindruck zu machen. »Sie haben ihnen die Schläge verübelt. Sie sind zurück gekommen, um sich zu revanchieren … Wir kennen das Spiel.« »Nein.« »Sie haben sich da reingesteigert, sind zurück und auf die beiden los. Das reinste Schlachtfeld. Überall Blut.« »Es ist mein Blut.« »Das können wir nachprüfen.« »Bitte sehr. Es stammt von mir.« »Von der kleinen Wunde da? Reden Sie keinen Stuß.« »Sie ist genäht worden.« 293
»Ach ja, das bringt uns wieder auf Lady Elinor Tarren. Lord Octobers Tochter. An der haben Sie sich vergriffen, was?« »Nein.« »Ihr ein Kind gemacht …« »Nein. Fragen Sie den Arzt.« »Deswegen hat sie Schlaftabletten genommen …« »Nein. Adams hat sie vergiftet.« Schon zweimal hatte ich ihnen von der Flasche Phenobarbital erzählt, und die mußten sie auch gefunden haben, als sie bei Humber wa ren, aber sie gaben es nicht zu. »Der Vater hat Ihnen gekündigt, weil Sie die Tochter verführt haben. Die konnte die Entehrung nicht ertragen. Sie hat Schlaftabletten geschluckt.« »Sie brauchte sich nicht entehrt zu fühlen. Ihre Schwe ster Patricia ist diejenige, die ich angeblich verführt habe. Adams hat Elinor das Gift in Gin mit Campari verabreicht. In Humbers Büro finden sich Gin, Campari und Pheno barbital, und in der Probe von Elinors Mageninhalt auch.« Es fiel auf taube Ohren. »Sie fand heraus, daß Sie sie auch noch sitzengelassen haben. Um sie zu trösten, bot Mr. Humber ihr etwas zu trinken an, aber sie fuhr heim in ihr College und nahm Schlaftabletten.« »Nein.« Was den Flammenwerfer anging, so waren sie, gelinde gesagt, skeptisch. »Sie finden ihn in dem Schuppen.« »Ach ja, der Schuppen. Wo soll der sein?« Ich sagte es ihnen noch einmal genau. »Die Weide ge hört wahrscheinlich Adams. Das läßt sich ja feststellen.« »Die existiert nur in Ihrer Einbildung.« 294
»Wenn Sie nachsehen, finden Sie sie und auch den Flammenwerfer.« »Damit wird wahrscheinlich das Heidekraut abgebrannt. Viele Farmer hier in der Gegend haben solche Dinger.« Ich hatte zweimal anrufen dürfen, um Colonel Beckett zu erreichen. Sein Diener in London sagte, er sei zum Pferde rennen in Newbury bei Freunden in Berkshire. Die kleine Ortsvermittlung in Berkshire sei wegen defekter Kabel in folge eines Wasserrohrbruchs außer Betrieb, teilte mir das Amt mit. Die technischen Reparaturen seien im Gange. Ich fragte meine Verhörer, ob es sie nicht schon über zeuge, daß ich mit einem der führenden Köpfe des Hin dernissports sprechen wolle. »Erinnert ihr euch an den Typen damals, der seine Frau erwürgt hatte? Völlig durchgeknallt. Wollte unbedingt Bertrand Russell anrufen und ihm erzählen, daß er einen Sieg für den Frieden errungen habe.« Gegen Mitternacht erklärte einer von ihnen, selbst wenn ich unwahrscheinlicherweise tatsächlich beauftragt wor den sei, gegen Adams und Humber zu ermitteln (was er persönlich keinen Augenblick glaube), dann hätte mich das noch nicht dazu berechtigt, sie umzubringen. »Humber ist nicht tot«, sagte ich. »Noch nicht.« Mein Herz machte einen Satz. Bloß nicht noch Humber, dachte ich. Nicht auch noch Humber. »Sie haben also Adams mit dem Gehstock erschlagen?« »Nein, mit einer grünen Glaskugel, wie ich schon sagte. Ich hielt sie in der linken Hand und schlug mit aller Kraft zu. Ich wollte ihn nur bewußtlos schlagen, nicht um bringen. Ich bin Rechtshänder … mit der Linken konnte ich den Schlag nicht so genau bemessen.« 295
»Warum haben Sie dann mit links geschlagen?« »Das habe ich schon gesagt.« »Lassen Sie es uns noch mal hören.« Ich sagte es ihnen noch einmal. »Und nachdem Ihr rechter Arm nicht mehr zu gebrau chen war, haben Sie sich aufs Motorrad gesetzt und sind die sechzehn Kilometer nach Durham gefahren? Für wie blöd halten Sie uns?« »Meine Fingerabdrücke sind auf dem Briefbeschwerer. Die von der rechten Hand, da ich ihn nach Humber gewor fen habe, und darüber müssen die Abdrücke der linken Hand sein, mit der ich auf Adams eingeschlagen habe. Sie brauchen das nur nachzuprüfen.« »Ein Fingerabdruckexperte«, meinten sie sarkastisch. »Und wenn Sie schon dabei sind, können Sie auch am Telefon die Abdrücke meiner linken Hand abnehmen. Ich wollte Sie nämlich von dem Büro aus anrufen. Die Spuren meiner linken Hand sind auch an dem Wasserhahn im Waschraum … und am Büroschlüssel und innen und au ßen am Türgriff. Jedenfalls waren sie da …« »Trotzdem sind Sie mit dem Motorrad gefahren.« »Da hatte ich wieder Gefühl im Arm.« »Und jetzt?« »Jetzt auch.« Einer von ihnen kam zu mir, faßte mich am rechten Handgelenk und riß meinen Arm hoch. Die Handschellen und mein linker Arm gingen mit. Die Prellungen auf der anderen Seite schmerzten stark. Der Polizist ließ meinen Arm wieder sinken. Es war erst mal still. »Das hat er gespürt«, meinte einer schließlich widerwil lig. 296
»Er simuliert.« »Mag sein …« Sie hatten den ganzen Abend hindurch ununterbrochen Tee getrunken und mir nicht eine Tasse angeboten. Jetzt bat ich darum und bekam auch eine, aber sie hochzuheben, fiel mir zu schwer, als daß ich sie hätte genießen können. Sie fingen wieder von vorne an. »Zugegeben, daß Adams Sie auf den Arm geschlagen hat, aber das war Notwehr. Er hat gesehen, wie Sie mit dem Briefbeschwerer auf Ihren Chef geworfen haben, und gewußt, daß er als nächster drankommt. Also mußte er sich wehren.« »Er hatte mir schon die Wunde an der Stirn beigebracht … und mich mehrmals auf den Körper und einmal auf den Kopf geschlagen.« »Das war doch alles gestern, sagt der Futtermeister. Des wegen sind Sie wiedergekommen und auf Mr. Humber los.« »Humber hat mich gestern bloß zweimal geschlagen. Das konnte ich verschmerzen. Der Rest ist von heute und kam vorwiegend von Adams.« Mir fiel etwas ein. »Er hat mir den Sturzhelm vom Kopf genommen, als ich ange schlagen war. Seine Fingerabdrücke müssen darauf sein.« »Fingerabdrücke schon wieder.« »Die beweisen doch alles«, sagte ich. »Immer der Reihe nach. Warum sollen wir einem Row dy wie Ihnen glauben?« Rowdy, Rocker, Halbstarker. Ich kannte die Wörter alle. Ich wußte, wie ich aussah. Wie ungünstig sich das jetzt auswirkte. Verzweifelt sagte ich: »Man kann schlecht den schrägen, unehrlichen Stallmann mimen, wenn man nicht auch so aussieht.« 297
»Sie sehen doch so aus«, war die bewußt kränkende Antwort. »Sie haben das im Blut.« Ich sah in ihre steinernen Gesichter, ihre kalten, unbe eindruckten Augen. Erfahrene Kriminalbeamte, die sich nicht hinters Licht führen lassen wollten. Ihr Standpunkt war klar: Wenn ich sie jetzt überzeugte, und nachher stell te sich heraus, daß ich ihnen einen Bären aufgebunden hatte, würden sie nie darüber hinwegkommen. Sie durften mir gar nicht erst glauben. Mein Pech. Die Luft wurde stickig in dem vollgequalmten Zimmer, und mir wurde es in der Jacke und den beiden Pullovern zu warm. Sie dachten natürlich, der schwitzt vor Angst, nicht vor Schmerzen oder weil ihm zu warm ist. Ich beantwortete weiterhin ihre Fragen. Sie gingen noch zweimal mit unvermindertem Eifer alles durch, stellten mir Fallen, wurden ab und zu laut, tigerten um mich her um, ohne mich noch einmal anzurühren, schossen aber von allen Seiten ihre Pfeile ab. Für so etwas war ich wirk lich viel zu müde, da mich nicht nur die Verletzungen schwächten, sondern mir auch der Schlaf der vergangenen Nacht fehlte. Gegen zwei Uhr konnte ich vor Erschöpfung kaum noch sprechen, und nachdem sie mich in einer hal ben Stunde dreimal aus tiefstem Dämmer geweckt hatten, gaben sie es auf. Von Anfang an hatte ich gewußt, daß es für diesen Abend nur einen logischen Abschluß geben konnte, und ich hatte den Gedanken daran verdrängt, weil er mir unan genehm war. Es führte aber kein Weg daran vorbei. Zwei uniformierte Polizisten, ein Sergeant und ein Wachtmeister, brachten mich zu einem Nachtquartier, ge gen das Humbers Schlafraum direkt noch traumhaft war. Eine würfelförmige Zelle, zweieinhalb mal zweieinhalb mal zweieinhalb Meter, die glasierten Ziegel bis in Schul 298
terhöhe braun, darüber weiß. Ein zum Hinausschauen zu hoch angebrachtes kleines Gitterfenster, eine schmale Be tonplatte als Bett, ein Deckeleimer in der Ecke, eine Hausordnung an der Wand. Das war’s. Beklemmungen inbegriffen, und ich hatte mir aus engen, geschlossenen Räumen noch nie etwas gemacht. Die zwei Polizisten befahlen mir, mich auf das Betonbett zu setzen. Sie zogen mir die Stiefel und den Gürtel meiner Jeans aus. Auch den Geldgürtel fanden und entfernten sie. Dann nahmen sie mir die Handschellen ab. Sie gingen hinaus, warfen die Tür zu und sperrten mich ein. Die übri ge Nacht war in jeder Beziehung das Letzte.
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s war kühl und still in den Korridoren von Whitehall. Ein ausgesucht höflicher junger Mann zeigte mir ehr erbietig den Weg und öffnete die Mahagonitür zu einem leeren Büro. »Colonel Beckett wird gleich bei Ihnen sein, Sir. Er be rät sich nur gerade mit einem Kollegen. Ich soll ihn ent schuldigen, wenn Sie vor ihm eintreffen, und Ihnen etwas zu trinken anbieten. Zigaretten finden Sie dort in der Dose, Sir.« »Danke.« Ich lächelte. »Könnte ich einen Kaffee be kommen?« »Selbstverständlich. Bringen wir Ihnen sofort. Wenn Sie mich entschuldigen?« Er ging hinaus und schloß leise die Tür. Es amüsierte mich fast, wieder mit Sir angeredet zu wer den, noch dazu von weltläufigen Regierungsbeamten, die kaum jünger waren als ich selbst. Schmunzelnd machte ich es mir in dem Ledersessel vor Becketts Schreibtisch bequem, schlug die in eleganten Hosen steckenden Beine übereinander und wartete. Ich hatte es nicht eilig. Es war Dienstag, elf Uhr früh, und ich hatte den ganzen Tag nichts weiter vor, als eine Spielzeugeisenbahn für Jerry zu kaufen und den Rückflug nach Australien zu buchen. Kein Laut drang in Becketts Büro. Der Raum war qua dratisch, mit einer hohen Decke, die in dem gleichen ruhi 300
gen Graugrün gehalten war wie die Wände und die Tür. Ich nahm an, daß sich die Ausstattung hier nach dem Rang richtete, doch als Außenstehender war man weder von dem großen, ausgetretenen Teppich, dem ausgesuchten Lampenschirm noch von den Ledersesseln mit den Mes singknöpfen besonders beeindruckt. Nur Eingeweihte ver standen diese Zeichen zu deuten. Ich fragte mich nach Becketts Funktion hier. Er hatte auf mich den Eindruck gemacht, als sei er im Ruhestand oder gar invalid, weil er so krank aussah, und dabei schien er hier beim Verteidigungsministerium fest im Sattel zu sit zen. October hatte mir erzählt, im Krieg sei Beckett einer je ner Versorgungsoffiziere gewesen, die niemals die falsche Munition oder nur linke Stiefel auf den Weg brachten. Versorgungsoffizier. Er hatte mir Sparking Plug und das Rohmaterial mit den Hinweisen auf Adams und Humber besorgt. Er hatte genug Einfluß bei der Armee, um kurz fristig elf junge Offiziersanwärter auf Recherchen über unbedeutende Hindernispferde anzusetzen. Mich hätte interessiert, was er normalerweise so besorgte. Plötzlich fiel mir ein, daß October gesagt hatte: »Wir dachten daran, einen Pferdepfleger einzuschleusen« – nicht »ich dachte daran«, sondern »wir«. Aus irgendeinem Grund war ich mir jetzt sicher, die Idee müsse von Beckett gekommen sein; daher auch Octobers Erleichterung, als Beckett auf Anhieb mit mir einverstanden war. Über all das dachte ich nach, während ich zwei Tauben zuschaute, die um das Fenstersims flatterten, und darauf wartete, mich von dem Mann zu verabschieden, dank des sen Stabsarbeit mein Einsatz zum Erfolg wurde. Es klopfte, und eine hübsche junge Frau brachte ein Ta blett, auf dem eine Kanne Kaffee, ein Kännchen Milch 301
und eine hellgrüne Tasse mit Untertasse standen. Sie frag te lächelnd, ob ich sonst noch etwas wünschte, und ging, als ich verneinte, anmutig hinaus. Ich kam mit der linken Hand mittlerweile ganz gut zu recht. Ich goß mir den Kaffee ein, trank ihn schwarz und ließ ihn mir schmecken. Zwischendurch gingen mir die Erlebnisse der letzten Ta ge im Kopf herum … Drei Tage und vier Nächte in Polizeigewahrsam, allein mit dem Bewußtsein, daß ich Adams getötet hatte. Es war eigenartig, aber ich hatte zwar oft an die Möglichkeit ge dacht, umgebracht zu werden, aber nie daran, daß ich sel ber jemand umbringen könnte. Darauf, wie auf so vieles andere, war ich überhaupt nicht vorbereitet gewesen, und wenn man den Tod eines anderen Menschen herbeigeführt hat, mag das noch so sehr dessen eigene Schuld gewesen sein, es schlägt dennoch aufs Gewissen. Drei Tage und vier Nächte auch, während derer ich lang sam lernte, daß sich selbst die Schande des Eingesperrtseins ertragen ließ, wenn man innerlich Ruhe bewahrte – noch einmal schönen Dank für deinen Rat, rothaariger Polizist. Nachdem am ersten Tag ein Richter angeordnet hatte, daß ich eine Woche in Gewahrsam bleiben sollte, kam ein Polizeiarzt und befahl mir, mich auszuziehen. Das konnte ich nicht allein, und er mußte mir helfen. Er sah sich die Ergebnisse von Adams’ und Humbers Zusammenarbeit ungerührt an, stellte ein paar Fragen und untersuchte mei nen rechten Arm, der vom Handgelenk bis weit über den Ellbogen blauschwarz verfärbt war. Trotz der schützenden zwei Pullover und der Lederjacke war mir von dem Stuhl bein die Haut aufgeplatzt. Der Arzt half mir gleichmütig, mich wieder anzuziehen, und ging. Ich fragte ihn nicht nach seiner Meinung, und er behielt sie für sich. 302
Den größten Teil der drei Tage und vier Nächte hindurch wartete ich einfach, Stunde um Stunde. Dachte an Adams, den lebenden und den toten. Sorgte mich um Humber. Überlegte, was ich hätte anders machen können. Hielt mir vor Augen, daß ich vielleicht erst nach einem Prozeß, viel leicht auch nie wieder freikam. Wartete darauf, daß die Schmerzen nachließen, suchte vergebens eine bequeme Schlafhaltung auf dem Beton. Zählte, aus wieviel Ziegeln, Wandhöhe mal Wandbreite, abzüglich Tür und Fenster, die Zelle bestand. Dachte an mein Gestüt, meine Geschwi ster und überlegte, wie mein Leben weitergehen sollte. Am Montag morgen hatte ich das mir inzwischen ver traute Klirren gehört, mit dem die Tür aufgesperrt wurde, doch hereingekommen war nicht wie sonst ein Polizist in Uniform, sondern October. Ich stand gegen die Wand gelehnt. Wir hatten uns ein Vierteljahr nicht gesehen. Er schaute mich erst einmal lange an und nahm mein zerknittertes Aussehen sichtlich erschrocken zur Kenntnis. »Daniel«, sagte er mit leiser, belegter Stimme. Mitgefühl brauchte ich nicht. Ich hakte den linken Dau men in die Hosentasche, warf mich ein wenig in Pose und lächelte. »Hallo, Edward.« Sein Gesicht hellte sich auf, und er lachte. »Sie kriegt nichts klein«, sagte er. Sollte er das ruhig glauben. »Könnten Sie sich dafür einsetzen, daß ich ein warmes Bad bekomme?« »Sie können haben, was Sie wollen, sobald Sie draußen sind.« »Draußen? Endgültig?« »Endgültig«, nickte er. »Die Anklage wird fallengelassen.« 303
Ich konnte meine Erleichterung nicht verbergen. Er lächelte ironisch. »Es wäre Verschwendung von Steuergeldern, Ihnen den Prozeß zu machen. Sie würden garantiert freigesprochen. Tötung aus Notwehr, dafür wird man nicht bestraft.« »Ich dachte, die glauben mir nicht.« »Alles, was Sie am Donnerstag ausgesagt haben, ist überprüft und offiziell bestätigt worden.« »Wie … wie geht es Humber?« »Soviel ich weiß, ist er seit gestern wieder bei Bewußt sein. Allerdings noch nicht so klar im Kopf, daß er befragt werden kann. Hat Ihnen die Polizei nicht gesagt, daß er außer Gefahr ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Die sind hier nicht besonders gesprächig. Wie geht’s Elinor?« »Gut. Nur ein bißchen schwach ist sie noch.« »Tut mir leid, daß sie da hineingeraten ist. Es war meine Schuld.« »Daran war sie selbst schuld, mein Lieber«, widersprach er. »Und Daniel … wegen Patty … was ich da gesagt habe …« »Vergessen«, sagte ich. »Das ist lange her. Ich kann raus, haben Sie gesagt – heißt das, ich kann gleich raus?« Er nickte. »Klar.« »Hätten Sie was dagegen, wenn wir dann langsam mal von hier verschwinden?« Er schaute sich um und fröstelte unwillkürlich. Als er meinem Blick begegnete, sagte er entschuldigend: »Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet.« Ich lächelte ein wenig. »Ich auch nicht.« Wir waren nach London gefahren; mit dem Wagen bis Newcastle, dann weiter mit der Bahn. Weil ich auf der 304
Polizeistation erst noch eine Vorladung zur gerichtlichen Untersuchung von Adams’ Tod bekam, hatte ich mich nicht mehr waschen können, sonst hätten wir den Flying Scotsman verpaßt, in dem October uns Plätze reserviert hatte. Wir waren zusammen in den Speisewagen gegangen, doch als ich ihm gegenüber Platz nehmen wollte, hatte mich ein Kellner am Ellbogen gepackt. »Sie nicht«, sagte er grob. »Sie sind hier erster Klasse.« »Ich habe einen Fahrschein für die erste«, sagte ich ru hig. »So? Den würde ich gern mal sehen.« Ich nahm das weiße Kärtchen aus der Tasche. Er zog die Nase hoch und wies mit einer Kopfbewegung auf den Platz gegenüber October. »Na schön.« Zu October sagte er: »Wenn er lästig wird, brauchen Sie es nur zu sa gen, Sir, dann fliegt er raus, mit oder ohne Fahrschein.« Und in der Bewegung des Fahrt aufnehmenden Zuges schwankend, war er davongegangen. Unnötig zu sagen, daß sich alle Speisewagengäste um gedreht hatten, um das Spektakel mitzubekommen. Ich setzte mich grinsend. October wirkte ungemein ver legen. »Machen Sie sich meinetwegen keinen Kopf«, sagte ich. »Ich bin das gewohnt.« Und mir wurde klar, daß ich nun wirklich daran gewöhnt war und daß mir eine solche Be handlung nie mehr unter die Haut gehen würde. Ich griff zur Speisekarte. »Aber Sie dürfen auch gern so tun, als ob Sie nicht zu mir gehören.« »Sie sind beleidigend.« Ich lächelte ihn über die Karte hinweg an. »Gut.« 305
»So was Hinterhältiges wie Sie gibt’s nicht noch mal, Daniel. Vielleicht abgesehen von Roddy Beckett.« »Mein lieber Edward … ein Scheibchen Brot für Sie?« Er lachte, und wir waren einträchtig nach London gefah ren, sicher eines der merkwürdigsten Paare, die je den Kopf in die gestärkten weißen Polsterschoner der British Rail gedrückt hatten … Ich goß mir Kaffee nach und sah auf die Uhr. Colonel Beckett war schon zwanzig Minuten zu spät. Die Tauben saßen friedlich auf dem Fenstersims, und ich verlagerte mein Gewicht im Sessel, aber nicht aus Ungeduld, nicht aus Langeweile, und dachte an meinen Besuch bei Octo bers Friseur, an die Freude, mit der ich mich von den lan gen Zotteln und den Koteletten getrennt hatte. Der Friseur (der sein Geld im voraus verlangt hatte) war von dem Er gebnis, wie er sagte, selbst überrascht. »Das kann sich doch wenigstens sehen lassen, hm? Aber dürfte ich noch … eine Haarwäsche empfehlen?« Grinsend hatte ich der Haarwäsche zugestimmt, die auf halber Höhe meines Halses eine Hochwassermarke der Sauberkeit hinterließ. In Octobers Haus genoß ich dann den fabelhaften Luxus, mich meiner dreckigen Verklei dung zu entledigen, ein Vollbad zu nehmen und – ein ganz eigenartiges Gefühl – nachher meine eigenen Sachen an zuziehen. Ich betrachtete mich wieder in dem großen Spiegel. Das war der Mann, der vor vier Monaten aus Au stralien gekommen war, ein Mann in einem dunkelgrauen Anzug, weißem Hemd, dunkelblauer Krawatte: das war jedenfalls seine Schale. Im Innern war ich nicht mehr der selbe und würde es auch nie mehr sein. Ich ging hinunter in den roten Salon, wo October ernst um mich herumschritt, mir ein Glas strohtrockenen Sherry gab und meinte: »Es ist einfach nicht zu glauben, daß Sie 306
der junge Flegel sind, der mit mir im Zug nach London gekommen ist.« »Ich bin’s«, sagte ich nur, und er lachte. Er bot mir einen Sessel an, der mit dem Rücken zur Tür stand, und ich trank Sherry und hörte mir an, wie er von seinen Pferden plauderte. Er stand dabei etwas verlegen am Kamin, und ich fragte mich, was er wohl vorhatte. Ich kam bald dahinter. Die Tür öffnete sich, und er schaute an mir vorbei und lächelte. »Ich möchte euch jemanden vorstellen«, sagte er. Ich stand auf und drehte mich um. Patty und Elinor standen vor mir. Sie erkannten mich nicht gleich. Patty bot mir die Hand, sagte: »Guten Tag« und erwartete offensichtlich, daß ihr Vater uns bekannt machte. Ich nahm ihre Hand in meine Linke und führte sie zu ei nem Sessel. »Setzen Sie sich«, sagte ich. »Es gibt eine Überra schung.« Sie hatte mich drei Monate nicht gesehen, aber Elinors verhängnisvoller Besuch bei Humber lag erst vier Tage zurück. Elinor sagte zögernd: »Sie sehen nicht so aus … aber Sie sind Daniel.« Ich nickte, und sie wurde knallrot. Pattys strahlende Augen schauten in meine, und ihre rosa Lippen öffneten sich. »Ist das wahr? Sie sind Danny?« »Ja.« »Oh.« Sie bekam einen genauso roten Kopf wie ihre Schwester, und das wollte bei Patty etwas heißen. October sah, wie seine Töchter sich wanden. »Geschieht ih nen recht«, meinte er. »Nichts als Ärger haben sie gemacht.« 307
»Aber nein«, rief ich aus, »Sie sind zu streng … und Sie haben ihnen immer noch nichts über mich erzählt, oder?« »Nein«, sagte er unsicher, da ihm der Verdacht kam, seine Töchter könnten mehr Grund zum Erröten haben, als er ahnte, und das unverhoffte Wiedersehen könnte nicht ganz so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. »Dann tun Sie das bitte jetzt, während ich mich mit Te rence unterhalte. Und Patty … Elinor …« Sie waren er staunt, daß ich sie mit dem Vornamen anredete, und ich lächelte flüchtig. »Ich vergesse immer alles ganz schnell.« Sie wirkten beide bedrückt, als ich wiederkam, und Oc tober druckste verlegen um sie herum. Väter können, ohne es zu wollen, sehr unfreundlich gegen ihre Töchter sein, dachte ich. »Kopf hoch«, sagte ich. »Ohne Sie beide hätte ich mich in England nur gelangweilt.« »Sie waren gemein«, versetzte Patty mit alter Angriffs lust. »Ja … es tut mir leid.« »Sie hätten es uns doch sagen können«, meinte Elinor leise. »Quatsch«, warf October ein. »Dafür redet Patty zu gern.« »Ach so«, verstand Elinor. Sie blickte zögernd zu mir. »Ich habe mich noch nicht dafür bedankt, daß Sie … mich gerettet haben. Der Arzt hat mir … alles erzählt.« Sie wurde wieder rot. »Dornröschen«, sagte ich lächelnd. »Sie haben ausgese hen wie meine Schwester.« »Sie haben eine Schwester?« »Zwei«, sagte ich. »Sechzehn und siebzehn.« 308
»Oh.« Ihr schien gleich wohler zu sein. October warf mir einen Blick zu. »Sie sind viel zu nett zu denen, Daniel. Die eine hat mich dazu gebracht, Sie zu verabscheuen, die andere hätte Sie beinah das Leben ge kostet, und Sie scheint das nicht zu kümmern.« Ich lächelte ihn an. »Nein. Tut’s auch nicht. Vergessen wir’s einfach.« So gestaltete sich der Abend trotz des schleppenden Auf takts schließlich noch angenehm; die beiden Mädchen konnten mir am Ende sogar ohne rot zu werden in die Au gen sehen. Als sie zu Bett gegangen waren, zog October mit zwei Fingern ein Stück Papier aus der Anzugjacke und gab es mir wortlos. Ich faltete es auseinander. Es war ein Scheck über zehntausend Pfund. Lauter Nullen. Ich sah sie mir schweigend an. Dann riß ich das Vermögen in der Mitte durch und warf die beiden Hälften in den Aschenbecher. »Vielen Dank«, sagte ich. »Aber ich kann das nicht an nehmen.« »Sie haben Ihre Arbeit getan. Weshalb sollten Sie sich dafür nicht bezahlen lassen?« »Weil …« Ich schwieg. Ja, weshalb? Ich wußte es nicht in Worte zu fassen. Es hing damit zusammen, daß ich mehr als erwartet gelernt hatte. Daß ich in zu tiefes Was ser vorgedrungen war. Daß ich getötet hatte. Ich wußte nur, daß ich den Gedanken, dafür Geld zu nehmen, nicht mehr ertragen konnte. »Sie müssen doch einen Grund haben«, sagte October ein wenig gereizt. »Nun, ich habe es eigentlich sowieso nicht des Geldes wegen getan, und so viel kann ich mir dafür nicht geben 309
lassen. Wenn ich zu Hause bin, erstatte ich Ihnen auch alles, was von den ersten Zehntausend noch übrig ist.« »Nicht doch«, widersprach er. »Die haben Sie sich ver dient. Behalten Sie das Geld. Sie brauchen es für Ihre Fa milie.« »Was ich für meine Familie brauche, verdiene ich mit dem Verkauf von Pferden.« Er stupste seine Zigarre aus. »Man fragt sich, wie je mand, der so unverschämt selbständig ist, es als Pferde pfleger ausgehalten hat. Warum haben Sie das gemacht, wenn’s nicht ums Geld ging?« Ich setzte mich anders. Die Knochen taten mir immer noch weh. Ich lächelte schwach. »Zum Spaß, nehme ich an.« Die Tür des Büros öffnete sich, und Beckett kam ohne Eile herein. Ich stand auf. Er bot mir die Hand, und seinen schwachen Händedruck brauchte ich nun wirklich nicht zu fürchten. Kurz und schmerzlos. »Lange nicht gesehen, Mr. Roke.« »Über drei Monate«, stimmte ich zu. »Und Sie sind ins Ziel gekommen.« Ich schüttelte den Kopf. »Am letzten Hindernis leider gestürzt.« Er zog seinen Mantel aus, hängte ihn an einen Haken und nahm den grauen Wollschal ab. Sein Anzug war schwarzgrau, eine Farbe, die ihn noch dünner und sein Gesicht noch blasser erscheinen ließ, doch die Augen in den dunklen Höhlen waren so lebhaft wie immer. Er mu sterte mich aufmerksam. »Nehmen Sie Platz«, sagte er. »Tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte. Wie ich sehe, hat man sich um Sie gekümmert.« 310
»Ja, danke.« Ich setzte mich wieder hin, während er sich behutsam hinter dem Schreibtisch niederließ. Sein Sessel hatte Armlehnen und eine hohe Rückenlehne, und er drückte die Arme und den Kopf an. »Ich habe Ihren Bericht erst am Sonntag morgen erhal ten, als ich von Newbury zurückkam«, sagte er. »Der Brief war von Posset zwei Tage unterwegs und ist erst am Frei tag bei mir angekommen. Als ich ihn gelesen hatte, rief ich Edward in Slaw an, und da hatte der gerade einen An ruf von der Polizei in Clavering gekriegt. Die habe ich dann wiederum angerufen. Noch am Sonntag habe ich ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und mit etlichen einfluß reichen Leuten gesprochen, damit Sie schnell freigelassen werden, und Montag früh hat die Staatsanwaltschaft ent schieden, daß Sie sich nicht vor Gericht zu verantworten brauchen.« »Vielen Dank«, sagte ich. Er betrachtete mich schweigend. »Sie haben mehr dazu getan als Edward oder ich. Wir haben nur Ihre Aussage bestätigt und allenfalls dafür gesorgt, daß Sie ein, zwei Tage früher rausgekommen sind. Die Polizei in Clavering hatte aber wohl bei der Spurensicherung in dem Büro schon festgestellt, daß Ihre Aussage der Wahrheit ent sprach. Sie hatte auch mit dem zu Elinor gerufenen Arzt und mit Elinor selbst gesprochen, sich den Schuppen mit dem Flammenwerfer angesehen und sich von Ihrem An walt eine Kurzfassung Ihres Vertrags mit Edward schicken lassen. Als ich da anrief, waren sie in Clavering schon von Ihrer Geschichte überzeugt und sich darin einig, daß Sie Adams in Notwehr getötet hatten. Der Polizeiarzt, von dem Sie untersucht wurden, hatte ihnen gleich gesagt, daß die Prellungen an Ihrem rechten Unterarm von einem Schlag stammten, den kein Schädel heil überstanden hätte. Seines Erachtens war der Schlag 311
nicht quer, sondern längs auf die Arminnenseite aufgetrof fen und hatte deshalb zwar die Muskeln und Gefäße stark beschädigt, aber keinen Knochenbruch zur Folge; und der Arzt hat auch bestätigt, daß Sie eine Viertelstunde später durchaus in der Lage waren, Motorrad zu fahren.« »Ich hatte wirklich den Eindruck, die glauben mir kein Wort«, sagte ich. »Mhm. Nun, ich habe mit einem Ihrer Vernehmer vom Donnerstag abend gesprochen. Sie waren erst mal ein ganz klarer Fall für die, sagte er, und Sie hätten schlimm ausge sehen. Sie hätten ihnen eine hanebüchene Geschichte er zählt, und man habe versucht, Sie in Widersprüche zu verwickeln. Ein Kinderspiel, dachten sie, aber es sei so gewesen, als ob man auf Stein beißt. Zum Schluß hätten Ihnen, sehr zu ihrer eigenen Überraschung, alle geglaubt.« »Hätten sie mir das nur gesagt«, seufzte ich. »Nicht ihr Stil. Das sind harte Jungs.« »Den Eindruck hatte ich auch.« »Jedenfalls haben Sie es überstanden.« »Gewiß.« Beckett sah auf die Uhr. »Haben Sie’s eilig?« »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Gut … ich hätte einiges mit Ihnen zu bereden. Essen wir zusammen zu Mittag?« »Ja, gern.« »Prima. Jetzt zu Ihrem Bericht.« Er zog die handge schriebenen Blätter aus der Brusttasche und legte sie auf den Tisch. »Ich hätte gern, daß Sie den Absatz über die angeforderte Verstärkung streichen und dafür die Flam menwerferprozedur beschreiben, okay? Dort drüben sind Tisch und Stuhl. Fangen Sie gleich an, dann lasse ich das Ganze tippen.« 312
Als ich den Bericht beendet hatte, erklärte er mir, welche rechtlichen Schritte gegen Humber, Cass und Jud Wilson, aber auch gegen Soupy Tarleton und seinen Freund Lewis Greenfield eingeleitet worden waren. Dann sah er wieder auf die Uhr und entschied, es sei Essenszeit. Er führte mich in seinen Club, der ganz in Dunkelbraun gehalten schien, und wir nahmen Rindfleischpastete mit Nierchen und Pilzen, die ich deshalb aussuchte, weil ich sie unauf fällig nur mit der Gabel essen konnte. Er bemerkte es trotzdem. »Macht Ihnen der Arm noch zu schaffen?« »Halb so schlimm.« Er nickte nur. Dann erzählte er mir, daß er tags zuvor bei einem älteren Onkel von Adams gewesen sei, der als wohlhabender Junggeselle am Piccadilly lebte. »Der junge Paul Adams war nach Ansicht seines Onkels ein Kandidat für die Besserungsanstalt, er hatte aber eben reiche Eltern gehabt. In Eton wurde er wegen gefälschter Schecks hinausgeworfen, und von der nächsten Schule flog er wegen fortgesetzten Glücksspiels. Seine Eltern mußten ihm immer wieder aus der Klemme helfen und sich von einem Psychiater sagen lassen, daß er sich nie mals ändern würde, höchstens im späten Erwachsenenal ter. Er war ihr einziges Kind. Es muß schrecklich für sie gewesen sein. Der Vater starb, als Adams fünfundzwanzig war, und seine Mutter gab sich weiterhin Mühe, ihn aus dem Schlimmsten herauszuhalten. Vor ungefähr fünf Jah ren mußte sie ein Vermögen zahlen, um zu vertuschen, daß Adams offenbar ohne Grund einem jungen Mann den Arm gebrochen hatte, und daraufhin drohte sie ihm, wenn er so etwas noch einmal mache, werde sie ihn entmündigen lassen. Ein paar Tage später stürzte sie aus ihrem Schlaf zimmerfenster und starb. Der Onkel, ihr Bruder, ist immer der Meinung gewesen, daß Adams sie gestoßen hat.« 313
»Nicht unwahrscheinlich«, stimmte ich zu.
»Sie haben ihn also zu Recht als Psychopath bezeich
net.« »Da gab es kaum Zweifel.« »Nach Ihrer persönlichen Erfahrung mit ihm?« »Ja.« Wir waren mit der Pastete fertig und beim Käse ange langt. Beckett sah mich neugierig an und sagte: »Wie hat es sich denn eigentlich gelebt bei Humber?« »Oh«, meinte ich lächelnd, »ein Feriendorf ist schon was anderes.« Er wartete, und als ich es dabei beließ, fragte er: »Mehr wollen Sie dazu nicht sagen?« »Ich glaube nicht. Der Käse ist ausgezeichnet.« Wir tranken Kaffee und ein Glas Kognak aus einer Fla sche, auf der Becketts Name stand; dann gingen wir ge mütlich zu seinem Büro zurück. Er ließ sich wieder matt in seinen Sessel sinken, lehnte Arme und Kopf an, und ich setzte mich ihm gegenüber. »Sie fliegen jetzt also bald heim nach Australien?« frag te er. »Ja.« »Und sicher freuen Sie sich darauf, daß die alte Tret mühle Sie bald wiederhat?« Ich sah ihn an. Er erwiderte meinen Blick ruhig und ernst. Er wartete auf eine Antwort. »Nicht unbedingt.« »Wieso?« »Eine Tretmühle ist eine Tretmühle.« Eigentlich kein Thema, dachte ich. 314
»Auf Sie wartet ein gutes Leben, gutes Essen, Sonnen schein, Ihre Familie, ein schönes Haus und ein Beruf, der Ihnen liegt … habe ich recht?« Ich nickte. Es war unvernünftig, davor zurückzuscheuen. »Seien Sie offen«, sagte er plötzlich. »Sie brauchen nicht drumherumzureden. Woran fehlt’s?« »Ich bin ein unzufriedener Kerl, weiter nichts«, meinte ich leichthin. »Mr. Roke.« Er beugte sich ein wenig vor. »Ich stelle Ihnen diese Fragen mit gutem Grund. Antworten Sie bitte der Wahrheit gemäß. Was stört Sie an Ihrem Leben in Au stralien?« Stille trat ein; er ließ mich nachdenken. Auch ohne seine Gründe zu kennen, antwortete ich schließlich in dem Ge fühl, daß Offenheit nicht schaden konnte. »Ich habe eine Arbeit, die mich ausfüllen sollte, aber sie langweilt mich und höhlt mich aus.« »Ein Fleischfresser, der von Milch und Honig lebt«, meinte er. Ich lachte. »Vielleicht fehlt mir die Würze.« »Was wären Sie geworden, wenn Ihre Eltern nicht ver unglückt wären und Sie nicht für drei Geschwister hätten sorgen müssen?« »Anwalt, glaube ich, aber …« Ich zögerte. »Aber?« »Nun, es hört sich etwas seltsam an, besonders nach den letzten Tagen, aber vielleicht auch … Polizeibeamter.« »Ah«, sagte er leise, »das kommt hin.« Er lehnte den Kopf wieder an und lächelte. »Vielleicht würden Sie ruhiger, wenn Sie heirateten«, meinte er. 315
»Dann wäre ich noch mehr gebunden«, sagte ich. »Hätte noch eine Familie zu versorgen. Kein Ende der Tretmüh le.« »So sehen Sie das. Ja, und Elinor?« »Sie ist nett.« »Aber nicht die große Liebe?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben alles getan, um ihr das Leben zu retten«, hob er hervor. »Sie war ja nur durch mich in Gefahr geraten.« »Wobei Sie nicht wissen konnten, daß sie, weil sie sich unwiderstehlich, ehm … zu Ihnen hingezogen fühlt, extra dort vorbeikommt, um Sie noch mal zu sehen. Als Sie zu rückgefahren sind, um sie bei Humber rauszuholen, hatten Sie die Ermittlungen doch schon ganz abgeschlossen, ohne entdeckt worden zu sein. Hab ich recht?« »Kann man sagen.« »Hat es Ihnen Spaß gemacht?« »Spaß gemacht?« wiederholte ich erstaunt. »Oh, ich meine nicht die Keilerei zum Schluß oder die viele mühselige Arbeit vorher, sondern« – er lächelte flüchtig – »sagen wir, die Jagd?« »Sie meinen, ob ich ein geborener Jäger bin?« »Sind Sie’s?« »Ja.« Es war still. Meine klare, direkte Antwort hallte nach. »Hatten Sie Angst?« fragte er sachlich. »Ja.« »Hat Sie das behindert?« Ich schüttelte den Kopf. 316
»Sie wußten, daß Adams und Humber Sie umbringen würden, wenn Ihre Tarnung auffliegt. Wie hat sich das Leben in ständiger Gefahr auf Sie ausgewirkt?« Seine Stimme war so klinisch neutral, daß ich ebenso distanziert antwortete. »Ich habe mich vorgesehen.« »Weiter nichts?« »Also, wenn Sie meinen, ob ich dauernd nervlich ange spannt gewesen bin, das war ich nicht.« »Mhm.« Wieder schwieg er kurz. »Was ist Ihnen am schwersten gefallen?« Ich kniff die Augen zusammen, grinste und flunkerte ihn an. »Mit den scheußlichen spitzen Schuhen herumzulau fen.« Er nickte, als wäre meine Antwort durchaus aufschluß reich. Wahrscheinlich war sie es. Die spitzen Schuhe hat ten zwar nicht an den Füßen gedrückt, aber meinen Stolz verletzt. Und mein Stolz hatte auch nicht zugelassen, daß ich Eli nor gegenüber bei meinem ersten Besuch an ihrem Col lege den Dummkopf spielte. Da hatte ich ihr mit Mark Aurel ganz einfach imponieren wollen, und die Folgen waren verheerend gewesen. Ich mochte gar nicht daran denken, geschweige denn es zugeben. Beckett fragte wie nebenbei: »Könnten Sie sich vorstel len, etwas in der Art noch mal zu machen?« »An sich schon. Aber so nicht mehr.« »Wie meinen Sie?« »Nun … ich wußte zum Beispiel nicht genug. So war es lediglich Glück, daß Humber sein Büro immer offenließ, denn sonst wäre ich nicht hineingekommen. Ich weiß nicht, wie man Türen ohne Schlüssel aufkriegt. Eine Ka 317
mera wäre gut gewesen … dann hätte ich das blaue Ge schäftsbuch seitenweise ablichten können und so weiter, aber ich verstehe so gut wie nichts vom Fotografieren. Und ich hatte mich im Leben noch nie geprügelt. Wäre ich im Kampf ohne Waffen ein bißchen geübt, hätte ich wahr scheinlich weder Adams umgebracht noch selbst so viel einstecken müssen. Davon abgesehen hatte ich keine Mög lichkeit, Sie im Notfall schnell zu erreichen. Ich war hoff nungslos isoliert.« »Verstehe. Trotz alledem haben Sie die Sache zu Ende gebracht.« »Das war Glück. Nichts, womit man rechnen darf.« »Stimmt.« Er lächelte. »Was werden Sie mit Ihren zwanzigtausend Pfund anfangen?« »Ich, ehm … die kann Edward zum größten Teil behalten.« »Wie bitte?« »So viel Geld kann ich nicht annehmen. Ich wollte ja ei gentlich nur mal von zu Hause weg. Das Riesengeld war sein Vorschlag, nicht meiner. Er dachte wohl, sonst würde ich’s nicht machen, aber das war ein Irrtum. Ich hätte es auch umsonst gemacht, wenn das gegangen wäre. Er soll mir nur die Kosten für den Aufenthalt erstatten. Das habe ich ihm gestern abend schon gesagt.« Es war eine Weile still. Schließlich setzte sich Beckett auf und griff zum Telefon. Er wählte eine Nummer und wartete. »Hier Beckett«, sagte er. »Es geht um Daniel Roke … ja, er ist hier.« Er zog eine Karte aus dem Jackett. »Was die heute früh angesprochenen Punkte betrifft – ich habe mich mit ihm unterhalten. Haben Sie Ihre Karte vor sich?« Er lauschte einen Moment und lehnte sich wieder in den Sessel zurück. Sein Blick ruhte auf meinem Gesicht. 318
»Okay?« sagte er in den Hörer. »Eins bis vier geht klar. Fünf hinreichend. Punkt sechs ist seine Schwachstelle … vor Elinor Tarren hat er die Rolle nicht konsequent ge spielt. Sie fand ihn intelligent und guterzogen. Damit stand sie allerdings allein. Ja, nehme ich auch an, Imponierge habe … offenbar nur, weil Elinor nicht allein hübsch, son dern auch klug ist, denn bei der jüngeren Schwester hat er den Schein gewahrt … Ja, sie war mit Sicherheit nicht nur von seinem Äußeren, sondern auch von seiner Intelligenz angetan … er sieht sehr gut aus, das ist ja manchmal gün stig … ach was. Er hat weder im Club noch hier im Haus in den Spiegel gesehen … Nein, zugegeben hat er’s nicht gerade, aber ich denke, er weiß genau, daß er da gepatzt hat. Teuer bezahlt, ja. Kann sich wiederholen, kann auch nur Mangel an Erfahrung gewesen sein … das klärt am besten Ihre Miss Jones.« Es gefiel mir zwar nicht, daß ich so kalt analysiert wur de, aber ich mußte entweder hinauslaufen oder es mir an hören. Er sah mich immer noch ausdruckslos an. »Punkt sieben … normale Reaktion. Acht, ein bißchen zwanghaft, was Ihnen ja nur gelegen kommt.« Er blickte kurz auf die Karte in seiner Hand. »Neun … tja, er ist zwar in England geboren und aufgewachsen, aber Austra lier aus Neigung, und so leicht kuscht er vor keinem … Weiß ich nicht, das war nicht aus ihm rauszukriegen … Einen Märtyrerkornplex würde ich nicht mal im Ansatz sehen, weit entfernt davon … Aber irgendwo hakt’s doch bei allen … Das liegt ganz bei Ihnen. Punkt zehn? Das GGE. GG läuft nicht, dazu ist er entschieden zu stolz. Bei E würde er sich Rat holen. Ja, er ist noch hier. Keine Mie ne verzogen. Sie sagen es … okay, ich rufe Sie wieder an.« Er legte auf. Ich wartete. Er ließ sich Zeit, und ich dachte nicht daran, unter seinem Blick zu zappeln. 319
»Nun?« sagte er schließlich. »Wenn Sie meine Antwort hören wollen, die ist nein.« »Weil Sie nicht möchten oder wegen Ihrer Geschwi ster?« »Philip ist erst dreizehn.« »Verstehe.« Er wedelte matt mit der Hand. »Trotzdem sollten Sie zumindest wissen, was Ihnen entgeht. Der Kol lege, der mich heute morgen aufgehalten hat und mit dem ich gerade telefoniert habe, leitet eine Abteilung der Ab wehr, die nicht nur im politischen Bereich, sondern auch in Wissenschaft und Industrie arbeitet – wo immer es brennt. Seine Truppe ist spezialisiert auf Einsätze wie den Ihren – verdecktes Ermitteln als Randfigur. Es ist erstaun lich, wie wenig selbst Agenten auf Diener und Handwer ker achten … seine Leute haben schon große Erfolge er zielt. Sie werden oft auf angebliche Einwanderer oder fragwürdig erscheinende politische Flüchtlinge angesetzt, aber die beobachten sie nicht aus der Ferne, sondern in dem sie täglich unter ihnen arbeiten. In letzter Zeit waren sie am Bau mehrerer geheimer Objekte beteiligt, bei denen so gut wie nichts geheim blieb; ganze Pläne von Geheim anlagen wurden ins Ausland verkauft, und es stellte sich heraus, daß Bauarbeiter einen Industriespionagering mit Informationen versorgt und die Anlage in jedem Stadium fotografiert haben.« »Philip«, sagte ich, »ist erst dreizehn.« »Man stürzt sich nicht Hals über Kopf in so ein Leben. Sie sagen ja selbst, daß Ihnen die Ausbildung fehlt. Sie würden mindestens ein Jahr lang in verschiedenen Sparten geschult, bevor Sie zum Einsatz kämen.« »Es geht nicht«, sagte ich. »Zwischen den Einsätzen bekommen die Leute immer Urlaub. Dauert ein Einsatz wie bei Ihnen jetzt gerade vier 320
Monate, dann gibt es rund sechs Wochen frei. Sie arbeiten nach Möglichkeit höchstens neun Monate im Jahr. In den Schulferien könnten Sie oft zu Hause sein.« »Wenn ich nicht immer da bin, kann ich die Schule nicht bezahlen und der Hof geht flöten.« »Die britische Regierung würde Ihnen zwar weniger zahlen, als Sie jetzt verdienen«, räumte er ein, »aber es gibt doch immerhin auch Gestütsverwalter.« Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder. »Denken Sie darüber nach«, sagte er sanft. »Ich muß noch mit einem anderen Kollegen sprechen … In einer Stunde bin ich wieder da.« Er stemmte sich aus dem Sessel und ging langsam aus dem Zimmer. Die Tauben vorm Fenster schlugen friedlich mit den Flügeln. Ich dachte daran, wie ich über Jahre das Gestüt aufgebaut und was ich daraus gemacht hatte. Ich war noch relativ jung, und bis ich fünfzig war, konnte mein Gestüt durchaus zu den führenden Australiens zählen, und damit würden Ansehen, Wohlstand und Einfluß ein hergehen. Was Beckett mir anbot, war ein einsames Leben voll un dankbarer Aufgaben und trister Quartiere, ein Leben in ständiger Gefahr, das leicht mit einer Kugel im Kopf en den konnte. Vernünftig gesehen, gab es nur eins: Belinda, Helen und Philip brauchten nach wie vor ein richtiges Zuhause und einen Ersatzvater, der für sie da war. Außerdem würde kein vernünftiger Mensch sein gutgehendes Geschäft ei nem Verwalter übergeben, nur um so etwas wie ein Aus putzer für die kleineren Sorgen der Welt zu werden – hö her ließ sich das nicht einstufen. 321
Aber Vernunft hin, Vernunft her … Ein kleiner Anstoß hatte mich bereits dazu gebracht, meine Familie sich selbst zu überlassen, denn da hatte Beckett recht, ich taugte nicht zum Märtyrer, und mein gesundes Geschäft hatte mich schon einmal in die tiefste Depression getrieben. Ich wußte jetzt, wer ich war und was ich leisten konnte. Mir fiel ein, wie ich fast den Mut verloren und dann doch weitergemacht hatte. Mir fiel ein, wie ich Elinors Hundepfeife in der Hand gehalten und mit einem direkt spürbaren Schlag die Wahrheit erkannt hatte. Mir fiel die Genugtuung ein, die ich in Kanderstegs versengtem Pferch empfunden hatte, weil ich wußte, Adams und Humber wa ren überführt und aus dem Spiel. So glücklich hatte mich der Verkauf eines Pferdes noch nie gestimmt. Die Stunde verging. Die Tauben beschmutzten das Fen ster und flogen davon. Colonel Beckett kam zurück. »Also?« sagte er. »Ja oder nein?« »Ja.« Er lachte laut. »Einfach so? Ohne Fragen, ohne Vorbe halte?« »Ohne Vorbehalte. Aber ich brauche Zeit, um daheim al les zu regeln.« »Selbstverständlich.« Er griff zum Telefon. »Mein Kol lege wird Sie sprechen wollen, bevor Sie nach Hause flie gen.« Er legte die Finger auf die Wählscheibe. »Ich melde Sie an.« »Eine Frage hätte ich.« »Ja?« »Was ist das GGE von Punkt zehn?« Er lächelte heimlich, und mir wurde klar, daß er die Fra ge hatte hören wollen; ich sollte also auch die Antwort hören. Wirklich hinterhältig. Meine Nasenflügel bebten im 322
Duft einer ganz neuen Welt. Einer Welt, die für mich ge schaffen war. »Ob man Sie mit Geld, Gewalt oder Erpressung dazu bringen kann, die Seite zu wechseln«, sagte er beiläufig. Er wählte die Nummer und veränderte damit mein Le ben.
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