R. A. Salvatore
Abtei im Zwielicht Dämonendämmerung 6
Aus dem Amerikanischen von Christiane Schott-Hagedorn
BLANVALE...
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R. A. Salvatore
Abtei im Zwielicht Dämonendämmerung 6
Aus dem Amerikanischen von Christiane Schott-Hagedorn
BLANVALET
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »The Demon Apostle« (Parts 4 + 5) bei Del Rey/Ballantine Books, New York Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. Deutsche Erstveröffentlichung 9/2000
Copyright © der Originalausgabe 1999 by R. A. Salvatore Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH This translation was published by arrangement with The Ballantine Publishing Group, a division of Random House, Inc. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Krasny Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 24937 Redaktion: Alexander Groß V B. • Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-24937-6
Der Waldläufer Eibryan und seine geliebte Pony müssen sich trennen, um den Häschern des Abtes Markwart zu entgehen. Der ist von einem Dämon besessen. Als Pony während einer Prozession den verhassten Kirchenmann erspäht, versucht sie, ihn zu töten, doch er überlebt und macht nun seinerseits Jagd auf Pony. Und auch Eibryan droht ihm in die Falle zu gehen. Mit vereinten Kräften versuchen die beiden Liebenden, den bösen Geist endgültig bezwingen…
Für Gary, den geborenen Kämpfer
Teil eins Das Herz von Korona
Ich hatte vorher noch nie darüber nachgedacht, Onkel Mather, denn es hat bis jetzt für mich gar keine Rolle gespielt. Außerdem hatte mir noch nie zuvor jemand diese Frage gestellt. Ist König Danube Brock Ursal nicht auch Nachtvogels König?, hat mich Shamus gefragt. Das hört sich einfach an, und doch hat mich diese Frage so überrumpelt, dass mir keine Antwort einfiel. Ich habe irgendetwas gesagt, und doch bin ich mir immer noch nicht wirklich darüber im Klaren. Bin ich denn ein heimatloser Landstreicher? Meine Kindheit habe ich in Dundalis verbracht, doch dieser Ort existiert nicht mehr, auch wenn auf seinen Ruinen bald neue Häuser stehen werden. In Andur’Blough Inninness bin ich zum Mann geworden, bei den Elfen, die mir ans Herz gewachsen sind. Aber sind sie deshalb meine Familie? Nein, ich kann weder Belli’mar Juraviel wirklich meinen Bruder noch Lady Dasslerond meine Königin nennen, auch wenn ich ihn wie einen Bruder liebe und ihr Wunsch mir als Befehl gilt. Es ist einfach eine Tatsache, dass die Elfen die Welt mit anderen Augen sehen als wir Menschen. Und so kann Andur’Blough Inninness nicht meine Heimat sein, so sehr ich mir das vielleicht auch wünsche. Als ich zum Elfental zurückkehrte, hat man mir sogar den Zugang verwehrt. Juraviel hat mich einmal als n’Touel’alfar betitelt, und wenn ich auch mit ihm darüber gesprochen und ihn sogar von meiner Sicht der Dinge überzeugt habe, wissen wir doch
beide, was das bedeutet: Eibryan – der Nachtvogel – der Zögling von Caer’alfar, der das Elfenvolk liebt, ist dennoch keiner der ihren. Und Lady Dasslerond ist nicht meine Königin. Aber macht das allein König Danube zu meinem Herrn? Nein, Onkel Mather, und jetzt weiß ich auch, dass sein Vater nicht dein König war. Sind wir also alle beide heimatlos? Kaum. Denn meine Heimat ist hier, in den Wäldern der Waldlande, in den Wilderlanden, in den Wiesen und Feldern im Norden des Bärenreiches und an den steilen Berghängen des südlichen Alpinador, wenn es mir so beliebt. Das ist ein weiterer Aspekt des Lebens als Hüter, über den ich mir erst vor kurzem klar geworden bin. Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Und dieses Gefühl ist unabhängig von irgendwelchen Mauern. Ich bin hier in den Wäldern zu Hause, weil ich mich hier immer wieder aufs Neue zu Hause fühle. Erzählt mir also nichts von Königen und Königreichen. Tür mich ist es ganz unwichtig, wessen Herrschaftsgebiet sich über dieses Land erstreckt, denn Grenzen sind nur auf der Landkarte zu sehen und nicht in Wirklichkeit. Sie sind nur ein Mittel, um zu Macht und Wohlstand zu gelangen. Doch die Macht ist eine Falle und der Wohlstand trügerisch. Ja, trügerisch, Onkel Mather, und lediglich dazu angetan, dass sich einer dem andern überlegen fühlt. Avelyn hat mir einmal eine Geschichte erzählt. Sie handelt von einem Turm am Stadtrand von Ursal. In diesen Turm steckte man jene, die den König verunglimpft hatten, und seine Tür öffnete sich für diese bedauernswerten Geschöpfe für gewöhnlich nur in eine Richtung. Als Jahrzehnte später ein neues Gefängnis gebaut wurde, brauchte man diesen Turm nicht mehr. In einer Anwandlung von Großmut schenkte ihn der König daraufhin einem lebenslustigen Herzog. Dieser wusste jahrelang nicht recht, was er mit dem Gebäude anfangen sollte, denn wenn es
dort auch sehr gemütlich war, nachdem man alle Anzeichen seines früheren Gebrauchs – wie Folterwerkzeuge und Ketten – entfernt hatte, so befand es sich doch zu weit vom Hof in Ursal entfernt, wo der Herzog seinen Liebesabenteuern nachzugehen pflegte. Doch er war erfinderisch, Onkel Mather, und so schwärmte er bei Hofe immer wieder von der herrlichen Aussicht, die er von seinem Turm aus habe. Solche Schönheit, so meinte er schließlich, müsse den Wohlhabenden vorbehalten bleiben, und da er sich nicht oft genug dort aufhalten könne, um den Turm instand zu halten, wolle er ihn vermieten, und zwar zu einem Preis von fünfhundert Goldbären pro Jahr. Allein dieser ungeheuerliche Preis brachte viele der Edelleute auf die Beine, die den Turm besichtigen wollten, und immer wenn sie zusammenkamen, sorgte der Herzog eifrig dafür, dass über die einzigartige Aussicht geredet wurde. So spielte er sie in ihrer Eitelkeit gegeneinander aus, und nach Avelyns Worten entspannen sich über der Frage, wer den Turm bekommen sollte, blutige Duelle, und fast wäre es sogar zu einem kleineren Krieg zwischen drei verschiedenen Provinzen gekommen. Edelfrauen lagen ihren Männern in den Ohren, und einzelne Höflinge wollten den Turm für ihre Liebesabenteuer benutzen. Schließlich verlangte die Königin von ihrem Gemahl, die Schenkung wieder rückgängig zu machen, doch der König wollte als Ehrenmann nicht sein Wort brechen, und so mietete er am Ende den Turm für sage und schreibe tausend Goldbären pro Jahr. Nun bekam die Königin also ihre herrliche Aussicht, die man den Gefangenen jahrzehntelang gratis hatte zuteil werden lassen. Wohlstand ist lediglich eine Frage des Blickwinkels, Onkel Mather. Und das Bedürfnis, besser zu sein als alle anderen,
zeigt nur die eigene Schwäche. Der König sitzt in der Falle seines Staatsapparates, denn Neid und Missgunst seiner Untergebenen lauern überall. Ich werde mir meine Freiheit bewahren, Onkel Mather, ebenso wie meine Liebste, Jilseponie, und gemeinsam werden wir dort zu Hause sein, wo wir unsere Zelte aufschlagen, und wir werden reicher sein in unseren Herzen und Seelen als jeder andere. Und diese beiden Schätze sind der einzige Reichtum, der für mich wirklich zählt. ELBRYAN WYNDON
1. Erste Schritte
Sie nannten es »Tauwetter«, und obgleich sich dieses Ereignis bei jedem Jahreswechsel zu wiederholen schien, gerieten die Leute jedes Mal wieder ganz aus dem Häuschen und schüttelten verdutzt die Köpfe. Und diesmal gab es tatsächlich etwas, worüber sie sich wundern konnten, denn der Frühling brach ganz plötzlich über Palmaris herein, mit mehreren aufeinander folgenden Stürmen, die mit bedrohlichen Schneemengen anfingen, die jedoch in Regen übergingen, ehe noch der zweite Monat begonnen hatte. Der Winter, einer der mildesten, an die sich selbst die ältesten Leute erinnern konnten, war schnell vorüber, und Ponys Bauch war allmählich nicht mehr zu übersehen. Und so band sie ihre Schürze vorsichtshalber gar nicht mehr ab, auch wenn sie gerade nicht im Gasthaus arbeitete, sondern bei Nacht ausging, um sich, so wie heute Abend, mit dem einen oder andern ihrer Verbindungsleute zu treffen. Das Fundament ihres Widerstands wurde immer fester, sagte sie sich zuversichtlich, während sie an Belster vorbei- und zur Tür hinausschlüpfte. Mit Hilfe von Colleens Berichten aus dem feindlichen Lager und Al’u’mets wachsamen BehreneserFreunden nahmen die Gegner von Bischof De’Unnero zunehmend Einfluss auf den Klatsch und Tratsch in den Straßen des Hafenviertels. Nicht, dass sie ihre Überzeugungen offen ausgesprochen hätten – soweit war es bis jetzt nicht gekommen. Noch nicht. Vorläufig streuten sie nur die Saat des Aufruhrs aus, indem sie dem Unmut über die Schreckensherrschaft der Kirche Nahrung gaben und so das Aufbegehren schürten.
Wenn es jemals zum offenen Kampf kam – und ein großer Teil in Pony wünschte sich das sehnlichst –, dann würden sich der Bischof und seine Anhänger über das Ausmaß des Widerstandes wundern. Diese Vorstellung beschleunigte Ponys Schritt, als sie sich auf den Weg zu ihrer Verabredung mit Colleen Kilronney machte. Der brennende Wunsch nach Vergeltung loderte unvermindert in ihrem Herzen, und sie war entschlossen, wenn es zum Äußersten käme, all ihre Zauberkräfte, Avelyns Kräfte, zur Vernichtung dieser verfluchten Kirchenfürsten aufzubieten, die ihre Eltern und Freunde umgebracht hatten. Als sie in die Gasse einbog, sah sie erstaunt, dass Colleen nicht allein war, und ihre Überraschung wuchs noch beim Anblick des anderen. Ein Mönch! Der Mann trug die Gewänder von St. Precious! Vorsichtig kam sie näher. Mit einem Satz war er bei ihr, und seine Hände umklammerten ihren Hals. Wie alle Abellikaner war er ein geübter Kämpfer, und so traf sie sein Angriff blitzschnell und zielsicher. Sein Gewicht warf sie zurück. Sie packte seine Handgelenke und versuchte, den eisernen Griff zu lösen. Dabei verfiel sie automatisch in ihren gewohnten Kampfstil und im selben Augenblick, als Colleen von hinten herbeieilte, hakte sie die Daumen unter die des Mönches und ließ sich dann unvermittelt auf die Knie fallen, sodass sie den Angreifer mit sich zog. Nun ließ sie die Hebelwirkung für sich arbeiten, und eine einfache Drehung sprengte den Griff des Mönchs. Sie hätte diesem dabei mit Leichtigkeit die Daumenknochen zerquetschen können. Doch soweit ging sie nicht – aus Respekt vor Colleen, die den Mann zu ihr gebracht hatte. Schnell fuhr sie wieder in die Höhe und riss dem Mönch die Arme mit einer schwungvollen
Handbewegung weit auseinander. Dann streckte sie eine Handfläche aus, zog die Finger fest ein und stieß dem Mönch kräftig den Handballen unters Kinn, sodass er das Gleichgewicht verlor und etliche Meter rückwärts taumelte. Während er noch hilflos mit den Armen in der Luft herumfuchtelte, schoss sie schon wieder auf ihn zu wie eine angriffslustige Schlange. Diesmal versetzte sie ihm einen heftigen Schlag aufs Nasenbein und dann noch einen, als Blut aus seinen Nasenlöchern zu fließen begann. Colleen fing den Taumelnden auf, bevor er vollends zu Boden gehen konnte, und hielt ihn fest. »Wie ich sehe, hast du deine Freunde mitgebracht«, meinte Pony ironisch, während sie ihre Kleider glatt strich und den Mann drohend ansah. Bis jetzt hatte sie ihren aufsteigenden Zorn, die Wut, die sie jedes Mal überkam, wenn sie einen Mann in dieser Ordenstracht sah, bezwungen, doch wenn er sie noch einmal angriff, würde er nicht lebend davonkommen. »Diese Frau…«, versuchte der Mönch jetzt Colleen zu erklären, dabei spuckte er beständig Blut. »Wird dir noch dein blödes Genick brechen«, erwiderte Colleen trocken. »D-die Freundin vom N-Nachtvogel«, stotterte der Mönch. »Hab ich dir ja gleich gesagt«, meinte Colleen. »Die Freundin von Avelyn, dem Ketzer, der die heiligen Steine gestohlen hat und mit dem Dämon im Bunde war«, fuhr der Mönch fort. »Die Geschichten über dich werden jedes Mal spannender«, sagte Colleen zu Pony. »Du wirst mir immer sympathischer, Mädchen.« »Was wisst Ihr schon!«, rief der Mönch. »Ich weiß genau, dass ich dich jetzt loslassen und zusehen könnte, wie sie dich umbringt«, erwiderte Colleen und lockerte
ihren Griff. »Na los, ich freu mich schon drauf zu sehen, wie meine Freundin dir das Lebenslicht auspustet.« Der Mann zögerte und schaute nervös von Colleen zu Pony. Dann wischte er sich mit dem Ärmel die blutige Nase ab. »Die Freundin von Avelyn, ganz recht«, sagte Pony, holte einen Lappen aus ihrer Schürze und warf ihn dem Mönch zu. »Von Avelyn, der den geflügelten Dämon vernichtet hat, ganz gleich, was euch eure Meister erzählt haben.« Der andere rührte sich nicht von der Stelle und blickte nur weiter um sich. »Warum hast du ihn mitgebracht?«, fragte sie Colleen. »Er ist kein Freund von De’Unnero«, erwiderte diese. »Und ich dachte, ein gemeinsamer Feind ist ein guter Grund, sich zu verbünden. Stell dir mal vor, wie nützlich so ein Mann in St. Precious für uns sein kann! Außerdem hatte ich keine Ahnung«, fügte sie hinzu und versetzte dem Mönch einen Tritt. »Ich hab ihm von dir erzählt, und er schien ziemlich angetan.« »Eine Finte, um an mich heranzukommen«, meinte Pony. »Wir können ihn ja einfach aus dem Weg räumen«, erwiderte Colleen und zog einen Dolch aus ihrem Gürtel, den sie dem Mönch fest zwischen die Schulterblätter setzte, sodass er den Rücken durchbiegen musste. »Ich bin kein Freund von Bischof De’Unnero«, sagte der Mann schließlich. »Hab’s mir schon gedacht«, meinte Colleen, ohne den Dolch wegzunehmen. »Dann seid Ihr auch kein Freund des ehrwürdigen Vaters und des Abellikaner-Ordens«, sagte Pony. »Und Avelyn Desbris im Geiste näher, als Ihr denkt.« »Das Kollegium hat ihn zum Ketzer und Mörder erklärt.« »Zum Teufel mit Eurem Kollegium!«, entgegnete Pony. »Ich habe keine Zeit, Euch die Wahrheit beizubringen, Bruder…«
»Bruder Talumus«, erklärte Colleen, »den ich für einen Freund gehalten habe.« Der Mönch wandte sich halb um und sah sie finster an. »Da wusste ich noch nicht, dass Ihr mit Verbrechern gemeinsame Sache macht.« »Eine seltsame Auffassung für einen, der hergekommen ist, um sich gegen De’Unnero zu verschwören«, meinte Pony. »Sollen wir ihn nun überzeugen oder umbringen?«, fragte Colleen ungerührt, und sowohl Pony als auch Bruder Talumus war klar, dass sie es ernst meinte. »Nicht umbringen«, sagte Pony schnell. »Bist du also gewillt, dich eines Besseren belehren zu lassen?«, brüllte ihm Colleen ins Ohr. Talumus gab keine Antwort, aber er erweckte auch nicht den Anschein, als wolle er nicht zuhören. »Habt Ihr Euren früheren Abt verehrt?«, fragte ihn Pony jetzt. »Sagt ja nichts Schlechtes über Abt Dobrinion!«, erwiderte der Mönch aufgebracht. »Niemals«, sagte Pony. »Dobrinion war ein guter, außergewöhnlicher Mensch, er war Avelyn ähnlicher, als Ihr denkt. Deshalb hat ihn Vater Markwart auch umbringen lassen.« Der Mönch stammelte etwas, dann biss er sich auf die Lippen. »Colleen hat dich hergebracht, und ich gehe davon aus, dass sie dich richtig eingeschätzt hat«, sagte Pony. »Auch wenn sie vorhin ein bisschen danebenlag«, fügte sie mit einem entwaffnenden Lächeln in Richtung der Frau hinzu. »Ich werde dir einfach erzählen, wie es wirklich war, dann kannst du dir selbst ein Urteil bilden.« »Und wenn du dann immer noch nicht überzeugt bist…«, sagte Colleen und fuchtelte mit dem Dolch in seinem Rücken herum.
»Dann werden wir Euch solange sicher unterbringen, bis diese abscheuliche Sache erledigt ist«, fiel ihr Pony ins Wort. »Auf alle Fälle wird man Euch nichts zuleide tun.« »Abt Dobrinion ist von einem Pauri ermordet worden«, sagte Talumus. »Wir haben das Scheusal tot in seinem Schlafzimmer gefunden, und ich habe noch nie gehört, dass es in St. Precious Pauris gäbe.« »Und dieser Pauri hatte es so eilig, dass er Keleigh Leigh nicht mal einen Kratzer zufügte, um seine Mütze in ihr Blut zu tauchen?«, fragte Pony, und der Gesichtsausdruck des Mönches zeigte ihr, dass ihn dieser Einwand aus dem Konzept brachte. Er wollte ihr schon entgegenhalten, dass der Pauri vielleicht wirklich keine Zeit hatte, doch dann überlegte er es sich anders und fragte sie: »Woher wisst Ihr das?« »Weil Connor Bildeborough es mir gesagt hat.« »Der Connor, der Euch damals verstoßen hat?«, fragte Bruder Talumus skeptisch. »Und der in den Norden gekommen ist, um mich zu warnen, dass der Mann, der Abt Dobrinion getötet hat, auch hinter ihm und mir her ist«, verbesserte Pony. »Der Connor, der dann ebenfalls von einem dieser Männer, einem Bruder Richter, umgebracht wurde, die der ehrwürdige Vater von St. MereAbelle auf ihn angesetzt hatte.« »Der Connor, dessen Onkel von dem Mann ermordet wurde, den Ihr jetzt Euren Bischof nennt«, fügte Colleen hinzu. Der Mönch sank unter dem Gewicht dieser Anschuldigungen in sich zusammen, die er offensichtlich nicht zum ersten Mal hörte. Pony sah, dass er hin und her gerissen war. Wenn sich ihre Behauptungen als wahr erwiesen, würde das seine gesamte Welt ins Wanken bringen. »Die Behreneser werden verfolgt«, erklärte sie unumwunden.
Talumus nickte nur hilflos. »Und das könnt Ihr nicht gutheißen?« Wieder ein Nicken. »Dann stellt Euch auf unsere Seite oder wenigstens nicht gegen uns«, sagte Pony und machte Colleen ein Zeichen, die nun endlich den Dolch wegsteckte. »Ich werde mich meinem Orden nicht entgegenstellen«, erklärte Bruder Talumus bestimmt. »Dann bleibt im Hintergrund und haltet Augen und Ohren offen«, sagte Pony. »Und fordert Eure Brüder in St. Precious auf, dasselbe zu tun. Bischof De’Unnero ist kein guter Mensch und kein aufrichtiger Abellikaner. Das werdet Ihr noch merken.« »Wir sind schon seit Jahren gute Freunde«, meinte Colleen nachdrücklich. »Und du wirst mich jetzt nicht hereinlegen!« »Ich werde aufpassen«, erklärte der Mönch. »Und über das nachdenken, was Ihr mir erzählt habt. Aber sollte ich am Ende zu der Überzeugung gelangen, dass Ihr Unrecht habt und Eure Anschuldigungen gegen die Kirche ungerechtfertigt sind, dann werde ich Euch bekämpfen.« Colleens Hand griff sofort wieder zum Dolch, doch Pony hielt sie zurück. »Mehr können wir nicht verlangen«, erwiderte sie. »Das ist ein großzügiges und kluges Angebot.« Vorsichtig wich Talumus jetzt vor den beiden zurück, wobei er Pony ängstlich im Auge behielt. Erst als er sich in sicherem Abstand glaubte, machte er kehrt und lief eilig davon. »Du hättest ihn nicht herbringen sollen!«, tadelte Pony Colleen. »Jetzt noch nicht.« »Wann denn?«, hielt ihr diese entgegen. »Was glaubst du eigentlich, wie lange wir ohne die Mönche noch gegen Bischof De’Unnero bestehen können? Pah!« Sie schnaubte verächtlich. »Die finden dich schneller, als du denken kannst, und dann murksen sie dich ab, darauf kannst du Gift nehmen. Ich hab
Talumus bloß angeschleppt, weil er mir verraten hat, dass ein anderer von ihnen letzte Nacht in der Gegend vom Gasthaus magische Schwingungen geortet hat, und er weiß, dass ich da manchmal hingehe.« Pony erschrak, als sie das hörte. Sie hatte in der vergangenen Nacht noch einmal den Hämatit hervorgeholt, um mit dem Kind, das in ihr heranwuchs, Verbindung aufzunehmen, diesem Kind, das ihrem Leben neuerdings so viel Hoffnung gab. Konnte diese kleine Exkursion jetzt alles verdorben haben? Waren De’Unnero und seine Schergen denn überall? »Er hat mir geraten, mich dort nicht mehr sehen zu lassen«, fuhr Colleen fort. »Dann ist De’Unnero schon unterwegs«, überlegte Pony. »Nein«, sagte Colleen. »Der andere Mönch hat es keinem außer Talumus erzählt, und der nur mir. Da hab ich Talumus gesagt, er soll dem anderen erzählen, dass er selber mit den Steinen hantiert hätte und es kein Feind war. Und so hat er ‘s auch gemacht und wird wohl dabei bleiben, so wie du mit ihm umgesprungen bist.« Pony dachte nach. Sie überlegte, ob sie besser alle drei das Wirtshaus verlassen sollten, doch ein solcher Schritt würde die gesamte Untergrundarbeit der letzten Wochen zunichte machen. »Bruder Talumus ist ehrlich«, entschied sie schließlich. »Er wird uns nicht in den Rücken fallen, zumindest vorläufig nicht.« »Dann müssen wir uns sputen«, meinte Colleen.
Getreu seinem Versprechen ließ sich Bruder Talumus schon auf dem Heimweg nach St. Precious einiges durch den Kopf gehen. Unter den Ereignissen der letzten Zeit erschien ihm besonders eines von Bedeutung. Kurz bevor Bischof
De’Unnero in Palmaris eingetroffen war, hatte Baron Bildeborough in Begleitung eines anderen Mannes St. Precious einen Besuch abgestattet und sich mit ihm über den Mord an Abt Dobrinion unterhalten. Und kurz darauf war der Baron auf dem Weg nach Ursal ermordet worden. Bei diesem Gespräch hatte er ebenfalls erwähnt, dass der Pauri Keleigh Leigh keine Verletzung zugefügt hatte, um seine Kappe in ihr Blut zu tauchen. Das fiel dem jungen Mönch jetzt wieder ein. Allerdings kannte er sich nicht sehr gut aus mit den Gepflogenheiten der Pauris. Konnte dieser Umstand denn wirklich Beweis genug sein für eine solche Niederträchtigkeit? Konnte der Abellikaner-Orden sich tatsächlich in so verabscheuungswürdiger Weise an einem seiner hoch geachteten Würdenträger vergangen haben? Bruder Talumus konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. In der Eingangshalle von St. Precious lief ihm ein Freund über den Weg, Bruder Giulious, der die magischen Schwingungen beim Gasthaus aufgespürt hatte. »Um Gottes Willen, Bruder!«, rief Giulious und zeigte entsetzt auf Talumus’ blutige Nase. »Was ist geschehen?« »Die Sache mit den Steinen ist erledigt«, sagte Talumus zu ihm. Giulious blieb stehen und sah ihn skeptisch an. »Hast du nicht gesagt, dass du es warst, der damit hantiert hat?« »Das war nur die halbe Wahrheit«, meinte Talumus mit gespielter Verlegenheit, und Bruder Giulious sah ihn groß an. »Ich habe die Dienste einer Frau dort unten in Anspruch genommen. Ja, Bruder, mein Fleisch war schwach wie das von uns allen.« Pius Giulious machte ein durchaus übliches, wenn auch selten gebrauchtes religiöses Zeichen. Er hielt die Hand senkrecht vor die Brust, führte sie dann hinauf an die Stirn,
dann wieder hinab und zur einen Seite und zurück und zur anderen – das Zeichen des Lebensbaums. »Die Frau war krank«, fuhr Talumus fort. »Eine Schwäche der Lenden, wie es schien. Und so lieh ich ihr den Seelenstein, um ihr Leiden zu heilen…« »Ein Straßenmädchen, das sich auf den Gebrauch der heiligen Steine versteht?«, fragte Bruder Giulious ungläubig. Talumus lächelte verschmitzt. »Straßenmädchen verstehen sich auf so mancherlei«, meinte er und nutzte die Verlegenheit des anderen, um jeden Verdacht zu ersticken. »Ich bin heute Abend noch einmal hingegangen, um mir den Stein zurückzuholen, aber die Frau wollte ihn nicht mehr hergeben.« »Bruder Talumus!« »Sie hat mich geschlagen«, erklärte der Mönch. »Aber den Stein hast du zurückbekommen?« »Natürlich«, log Talumus und hoffte, der andere würde ihn nicht sehen wollen. Aber Bruder Giulious, dem die anderen in St. Precious den Spitznamen »Giulious der Unschuldige« gegeben hatten, war eine gutgläubige Seele, und so machte er lediglich noch einmal das Zeichen des Lebensbaums. »Ich verlasse mich darauf, dass diese Sache unter uns bleibt«, erklärte Talumus. »Und sag niemandem ein Sterbenswörtchen über deine Entdeckung. Bischof De’Unnero ist nicht besonders gut auf mich zu sprechen, und ich kann keinen weiteren Ärger mit ihm gebrauchen.« Giulious lächelte seinen Freund gutmütig an. »Du solltest dich schämen!«, schimpfte er liebevoll. »Und besser darauf achten, mit wem du dich abgibst.« Talumus erwiderte das Lächeln dieses Mannes, den er für einen guten Freund hielt. Beruhigt half Bruder Giulious ihm jetzt, sein Gesicht zu waschen, wobei er sich über die schlagenden Talente dieses Straßenmädchens ereiferte.
Talumus grunzte hin und wieder zustimmend, doch in Wirklichkeit waren seine Gedanken ganz woanders. So vieles ging ihm im Kopf herum, und all diese Dinge waren mehr als beunruhigend.
»Her mit dem Zeug!«, grölte der Trunkenbold und grapschte so schwungvoll nach dem Becher, der neben ihm zu Bruch gegangen war, dass er sogar im Sitzen das Gleichgewicht verlor und kopfüber im Straßendreck landete. Belli’mar Juraviel sah wirklich sehr nach einem Gassenjungen aus: Das Gesicht hatte er mit Ruß geschwärzt, um die markanten Züge zu verbergen, die Flügel waren – ziemlich unbequem – unter einem Umhang zusammengefaltet. Als er keine Anstalten machte, nach dem Becher zu greifen, hob der andere von Neuem mit seinem Geschrei an. »H-he, Bürschchen, ha-hast du nicht gehört?«, lallte er und zog sich mühsam Stück für Stück wieder an der Mauer hoch. »Her mit dem Zeug, oder es setzt was!« Juraviel schüttelte angewidert den Kopf. Dieser Mann gehörte zu den übelsten Vertretern der menschlichen Spezies – noch schlimmer als die drei Fallensteller, denen er einmal auf seinen Reisen mit Nachtvogel begegnet war. Und er wusste genau, dass seinen Elfenbrüdern, die sich überall an strategisch günstigen Stellen verschanzt hatten, das wüste Gezeter des Betrunkenen allmählich genauso auf die Nerven ging. »Willst du wohl hören, Bürschchen!« Der andere wurde immer lauter. Jetzt machte er einen Schritt vorwärts. Da versetzte ihm Juraviel blitzschnell einen Tritt in die Leistengegend. Unwillkürlich wollte er dabei mit den Flügeln schlagen, doch der Schmerz belehrte ihn sofort eines Besseren. Dann landete er ein paar handfeste Treffer im Gesicht des
Mannes, die diesen wieder gegen die Hauswand taumeln ließen. »B-ist ja g-ganz schön auf Draht!«, lallte er und versuchte sich von der Wand abzustoßen. Plötzlich zuckte er heftig – und Juraviel fuhr ebenfalls zusammen –, als ein Dachziegel an seinem Kopf abprallte und im Rinnstein zerbarst. Das setzte ihn außer Gefecht. Der Elf schaute empor und sah einen der seinen an der Dachkante stehen. »Du hast ihn vielleicht umgebracht«, flüsterte Juraviel strafend. »Falls er noch einmal aufwacht und wieder mit diesem unflätigen Lärm anfängt, dann werde ich das bestimmt tun!«, sagte eine Stimme, in der Juraviel Lady Dasslerond persönlich erkannte, und ihrem Tonfall konnte er entnehmen, dass sie es völlig ernst meinte. Mit einer Behändigkeit, die den geschicktesten Menschen in den Schatten stellte, schwang sich die Elfenkönigin über die Dachrinne, und im nächsten Moment stand sie neben Juraviel, der sich über den Trunkenbold beugte, um festzustellen, ob er noch atmete. »Ist sie schon zurückgekommen?«, fragte Lady Dasslerond. »Sie ist drinnen und hilft Belster«, sagte Juraviel. »Als seine Frau.« »Seine schwangere Frau«, betonte Lady Dasslerond. »Für jeden, der richtig die Augen aufmacht.« Juraviel konnte ihr da nicht widersprechen, denn Ponys Zustand wurde von Tag zu Tag augenfälliger. »Den Mönch hat sie wirklich geschickt abgefertigt«, sagte sie fröhlich. Juraviel war jedoch klar, dass sie das nur ihm zuliebe sagte, um ihm zu zeigen, dass sie nichts gegen Jilseponie hatte.
»Aber Ihr macht Euch Sorgen, weil sie in diesen unsicheren Zeiten einem Abellikaner-Mönch über den Weg gelaufen ist«, erwiderte Juraviel. »Ein gefährliches Wagnis von der Soldatin, ihn mitzubringen«, erklärte Lady Dasslerond. »Fürchtet Ihr die Abellikaner so sehr?«, fragte Juraviel. »Ich nicht, aber deine Freundin sollte das auf alle Fälle tun.« »Lady Dasslerond aber auch«, stellte Juraviel fest, der sie aufmerksam beobachtet hatte. Zu seiner Erleichterung widersprach ihm die Herrin von Andur’Blough Inninness nicht. »Ich fürchte alle Menschen, die glauben, im Namen ihres Gottes jede Untat begehen zu können«, räumte sie ein. »Und diese Kirche hat die Angewohnheit, alle zu Feinden zu erklären, die anders sind als sie selbst. Sieh dir nur einmal an, wie sie mit den Behrenesern umgehen. Und die Touel’alfar hätten wohl kaum etwas anderes zu erwarten.« »Was kümmert das die Touel’alfar?«, fragte Juraviel. »Wir haben viel mehr mit den Menschen zu tun, als wir uns eingestehen wollen«, erwiderte Lady Dasslerond grimmig. Juraviel verstand kein Wort. Das Einzige, was sie seines Wissens mit den Menschen verband, abgesehen von den Hütern, waren kleine Geschäfte mit ein paar ausgewählten Kaufleuten, die ihnen im Austausch gegen den Elfenwein jene Waren lieferten, die es im Nebeltal nicht gab. All das geschah in aller Stille, und die meisten der Krämer wussten nicht einmal genau, wo der Wein herkam. »Der Krieg ist vorbei«, erklärte Lady Dasslerond. »Und nach jedem Krieg dehnen die Menschen unweigerlich ihre Grenzen aus. Nach Süden werden sie nicht gehen, denn die Leute im Bärenreich sind nicht erpicht auf einen Krieg mit Behren, trotz allem, was der Bischof hier mit den Behrenesern veranstaltet. Nach Norden auch nicht, denn dort würden sie es unweigerlich
mit den grimmigen Alpinadoranern zu tun bekommen. Und im Osten liegt nur das Meer.« »Und im Westen Andur’Blough Inninness«, ergänzte Juraviel. »Sie stehen bereits vor der Tür, wenn du mich fragst. Besonders dann, wenn die fanatischen und selbstgerechten Abellikaner das Ruder an sich reißen«, sagte Lady Dasslerond. »Aber womit können wir sie aufhalten außer mit einem Krieg?«, fragte Juraviel. »Und den könnten wir niemals gewinnen.« »Vielleicht ist es Zeit, einmal offen mit dem König des Bärenreiches zu reden«, sagte Lady Dasslerond schlicht, und bei dieser verblüffenden Feststellung wurden Juraviel die Knie weich. »So wie wir es in längst vergangenen Zeiten getan haben.« »Wird der jetzige König überhaupt noch wissen, wer die Touel’alfar sind?«, fragte Juraviel. »Vielleicht sind wir für ihn nur noch Gestalten aus Kindermärchen.« »Wenn er nicht mehr weiß, wer wir sind, dann müssen wir es ihm eben beibringen«, erwiderte Lady Dasslerond. »Aber vielleicht kommt es ja gar nicht so weit. Vielleicht ist Palmaris ja für die Kirche das Ende vom Lied.« »Nach allem, was man hört, ist der König schon hierher unterwegs«, warf Juraviel ein. »Und der ehrwürdige Vater auch«, sagte Lady Dasslerond. Das wusste Juraviel natürlich schon, trotzdem zuckte er jetzt zusammen. »Wir sind hier, um etwas herauszufinden«, sagte die Elfenkönigin bestimmt. »Und dazu haben wir die beste Gelegenheit, wenn die beiden stärksten Mächte des Landes vor unserer Nase zusammenkommen. Hab also keine Angst, Belli’mar Juraviel. Es kann den Touel’alfar nur zugute
kommen. – Und das«, fügte sie hinzu und sah ihn scharf an, »ist das Einzige, was zählt.« Belli’mar Juraviel pfiff leise durch die Zähne und starrte ratlos die Wand des Gasthauses an. Die Aussichten für seine Freundin Jilseponie wurden immer trüber, und es sah ganz so aus, als könnte er daran herzlich wenig ändern.
Kaum hatte Pony ihre Verkleidung angelegt und den Schankraum betreten, da spürte sie auch schon, dass es Ärger gegeben hatte. Einer von Belsters Hauptinformanten machte sich nach einem flüchtigen Kopfnicken in ihre Richtung eilig aus dem Staube und ließ einen verdrossen dreinblickenden Wirt am Tresen zurück. Es war schon spät und nicht mehr sehr voll, und so machte sie sich eifrig an die Arbeit in der festen Überzeugung, dass sie bald in Ruhe mit Belster würde reden können. Doch sie sollte sich irren, denn jetzt strömten immer mehr Leute in die Schankstube, und Pony merkte schnell, dass die meisten von ihnen zu ihrer Untergrundorganisation gehörten und auf Neuigkeiten aus waren. Das bestätigte nur ihren Verdacht, dass etwas Unangenehmes geschehen sein musste. Endlich, lange nach Mitternacht, torkelte der letzte Gast zur Tür hinaus und ließ Pony mit Belster und Dainsey allein. »Am Hafen hat es eine Schlägerei gegeben«, sagte Belster, noch ehe Pony ihre Frage aussprechen konnte. »Eine Horde Soldaten, betrunken nach allem, was man hört, sind zum Hafen hinuntermarschiert und haben sich auf Kosten der Behreneser ein bisschen amüsiert.« »Ein Kind zu schlagen!«, fiel ihm Dainsey wütend ins Wort. »Nennst du das etwa amüsieren?« »Ich nenn das einfach nur Unfug«, verbesserte Belster missmutig. »Außerdem haben sie den Jungen – wohl eher ein
junger Mann als ein Kind – gar nicht geschlagen, sondern nur herumgeschubst.« »Und dafür bekommen, was sie verdient haben, wenn du mich fragst«, meinte Dainsey trotzig. »Haben die andern dem Jungen geholfen?«, fragte Pony. »Gleich ein Dutzend von ihnen«, erwiderte der Wirt. »Sind mit Knüppeln bewaffnet auf die Soldaten losgegangen.« »Eine ordentliche Abreibung haben sie ihnen verpasst«, murmelte Dainsey. »Einer wär fast krepiert, aber die Mönche sollen ihn gerade noch gerettet haben. So ein Pech!« »Gott sei Dank, meinst du wohl«, fuhr ihr Belster über den Mund. »Wie es aussieht, sind spätestens morgen früh tausend Soldaten auf dem Weg zum Hafen.« »Dann werden sie wahrscheinlich keinen einzigen Behreneser mehr finden«, meinte Pony. »Das wäre sicher eine weise Entscheidung«, erwiderte Belster mürrisch. »Ach, das renkt sich schon wieder ein«, verkündete Dainsey optimistisch und klatschte ihren Lappen schwungvoll auf eine Tischplatte, um sie anschließend kräftig zu schrubben. »Die Leute haben ein kurzes Gedächtnis, besonders wenn sie zu tief ins Glas geschaut haben.« »Es ist eher anzunehmen, dass der Bischof sich ein oder zwei Sündenböcke schnappt und sie auf dem Marktplatz hängen lässt«, überlegte Belster. »Was wird wohl dein Kapitän Al’u’met dazu sagen? Wenn er überhaupt noch da ist, mein ich.« Das ließ Pony aufhorchen. »Noch da?«, wiederholte sie. »Al’u’mets Schiff ist in See gegangen und hat die Segel gesetzt«, erklärte Belster. »In Richtung Süden, hab ich gehört.« Pony dachte einen Moment lang nach. Es kam ihr merkwürdig vor, dass Al’u’met einfach aufbrach, ohne ihr Bescheid zu sagen. Was konnte ihn dazu veranlasst haben?
Wollte er vielleicht am Hof in Ursal um Audienz bitten, oder suchte er in den Städten südlich von Palmaris nach Verbündeten? In der Stadt munkelte man, dass der König einen Besuch beabsichtigte. Wollte Al’u’met ihn etwa abfangen? »Al’u’met wird bald wieder da sein«, sagte sie entschieden, denn sie war sicher, dass er seine Landsleute nicht einfach im Stich lassen würde. »Und er wird nicht zulassen, dass sie einen von ihnen aufhängen. Eher gibt es einen offenen Kampf.« »Dann sind die Behreneser Dummköpfe!«, erwiderte Belster, und seine Offenheit verschlug Pony fast die Sprache. »Wenn sie dem Bischof erst einmal die Entschuldigung liefern, die er braucht, dann wird er sie bis zum letzten Mann ausrotten.« »Und was werden wir dazu sagen?«, fragte Pony argwöhnisch. »Wo stehen wir dabei?« »Auf der Galerie«, erklärte Belster bestimmt. »Als Zuschauer.« »Können wir denn nichts tun?« »Nur zuschauen«, sagte der Wirt noch einmal. »Wir sind noch nicht so weit, eine Schlacht zu führen«, fügte er hinzu und schnaubte verächtlich. »Und wahrscheinlich werden wir’s nie sein. Bilde dir bloß nicht ein, dass du viele findest, die dir dabei helfen, für die Schwarzhäute zu kämpfen.« Pony atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen und einen Moment nachzudenken. »Und wo steht Belster?«, fragte sie schließlich, obgleich ihr die Antwort mehr als klar war. »Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich kein großer Freund der Behreneser bin«, räumte Belster ein. »Etwas anderes hab ich nie behauptet. Ich mag es nicht, wie sie riechen, und ihren Gott mag ich auch nicht.« Pony sah Hilfe suchend zu Dainsey hinüber, doch die schrubbte immer hingebungsvoller auf dem gelben Tisch herum.
»Zu welchem Gott sie beten, ist ihre Sache«, sagte Pony. »Und was ihren Geruch angeht – also, ich schätze, dass ihnen Belster O’Comely auch nicht besonders behagen würde, so von oben bis unten mit Bier bekleckert.« »Das ist ihr Problem und nicht meins.« »Und was ist, wenn ich mich auf ihre Seite schlage?«, fragte Pony. »Steht Belster dann bei den feigen Gaffern auf der Galerie?« »Damit lockst du mich nicht aus der Reserve, Mädchen«, erwiderte Belster so ruhig, dass Pony klar wurde, dass sie auf diese Weise wenig erreichen würde. »Du wusstest ganz genau, was ich von den Schwarzhäuten halte. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Und ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Wenn die Behreneser mit uns gegen den Bischof kämpfen wollen, na schön, aber…« »Aber wir kämpfen nicht auf ihrer Seite«, beendete Pony den Satz. Ihre Stimme bebte vor Zorn, und sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Wer von beiden hat da wohl einen stärkeren Charakter, Belster O’Comely? Wer verdient eher Freunde und Verbündete, und wer ist erbärmlich feige?« »Gib’s auf, Mädchen!«, sagte Belster. »Du wirst meine Meinung nicht ändern. Glaub das ja nicht.« Pony drehte und wand sich und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Schließlich lief sie in ihr Zimmer, um allein zu sein. Sie kochte innerlich, doch noch schlimmer war das Gefühl der Enttäuschung. Mit hängenden Schultern ließ sie sich aufs Bett fallen. Sie hatte so eine Reaktion vermutet, seit sie mit Belster zum ersten Mal über die Behreneser und Kapitän Al’u’met geredet hatte, es aber nie darauf ankommen lassen. Denn sie hatte diesen Mann wirklich gern, und er hatte sie wie eine Tochter behandelt – ja, er erinnerte sie tatsächlich an ihre Pflegeeltern, auch wenn sein Temperament eher dem von Pettibwa ähnelte
als dem von Graevis. Ja, sie hatte ihn wirklich ins Herz geschlossen, aber wie konnte sie über diese offensichtliche Schwäche hinwegsehen? Als Pony hochschaute, stand Dainsey in der Tür. Das tat sie anscheinend immer. »Verurteilt ihn nicht zu hart«, sagte Dainsey ruhig. »Belster ist eine gute Seele – nur ein bisschen blind, wenn es um die Schwarzhäute geht. Er kennt nicht viele und keinen besonders gut.« »Entschuldigt das etwa alles?«, fuhr Pony sie an und verschanzte sich hinter ihrem Zorn. »Eigentlich nicht«, erwiderte Dainsey. »Aber er sagt das ja nur so, weil er Angst hat. Er glaubt einfach nicht, dass wir siegen können, mit oder ohne Schwarzhäute. Wartet erst mal ab, bis es richtig losgeht. Belster O’Comely wird nicht dastehen und zuschauen, wie sie einen Unschuldigen aufknüpfen, ganz egal, was er für eine Hautfarbe hat.« Jetzt war Ponys Wut verraucht. Sie glaubte Dainsey, musste ihr einfach glauben. Und wenn Sie auch befürchten musste, dass Belster Recht hatte mit seiner Angst, so beruhigten sie Dainseys Worte doch erst einmal. »Würdet Ihr tatsächlich mit den Schwarzhäuten zusammen kämpfen?«, fragte Dainsey jetzt. »Ganz allein, meine ich.« Pony nickte und wollte ihr gerade erklären, dass sie dann wenigstens endlich gegen De’Unnero zum Zuge käme und immerhin ihre Befriedigung darin fände, den niederträchtigen Bischof mit ins Verderben zu ziehen, auch wenn die gesamte Armee und die Abtei von Palmaris über sie herfielen. Sie wollte betonen, dass es ihr mehr ums Prinzip ging als um die Hoffnung auf einen Sieg. Doch dann verstummte sie unvermittelt, machte ein verdutztes Gesicht und griff sich an den Bauch.
Im Nu war Dainsey bei ihr. »Was ist los, Miss Pony?«, fragte sie erschrocken. Doch Pony sah sie nur an, und ein seliges Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Er hat sich bewegt«, sagte sie. Dainsey klatschte in die Hände und legte dann eine Hand auf Ponys Bauch. Und schon spürte sie es auch – den Tritt eines kleinen Fußes oder den Stoß einer winzigen Hand. Pony versuchte gar nicht erst, die Tränen zurückzuhalten, auch wenn sie wusste, dass es nicht nur an der puren Freude über die erste deutliche Bewegung ihres ungeborenen Kindes lag. Wie konnte sie unter diesen Umständen mit gutem Gewissen in einen Kampf ziehen?
2. Losgelassen
»Von Hauptmann Kilronney«, sagte der Soldat und händigte dem Bischof das Pergament aus. De’Unnero sah ihn überrascht an. »Kann der Mann denn schreiben?«, fragte er ungläubig. »Ein einfacher Soldat?« Der andere warf sich empört in die Brust, doch der Bischof schnaubte nur verächtlich. Er ließ die Soldaten seine Geringschätzung immer deutlich spüren. Bei ihren gemeinsamen Rundgängen in der Stadt hatten die Mönche, ganz gleich, welchen Ranges, stets mehr zu sagen als die ranghöchsten Soldaten, was diese zwar gehörig verdross, doch das kümmerte De’Unnero, der sich seiner Macht nur allzu sicher war, herzlich wenig. Ganz im Gegenteil kostete er jetzt die Situation genüsslich aus. »Hast du es gelesen?«, fragte er den Boten. »Natürlich nicht, ehrwürdiger Herr.« »Hättest du es denn überhaupt lesen können?«, fragte De’Unnero hinterhältig. »Ich hatte den Befehl, es so schnell wie möglich abzuliefern«, erwiderte der Soldat und trat unbehaglich von einem Bein aufs andere, was De’Unnero ausgesprochen amüsierte. »Also bin ich geritten, was das Zeug hält, so schnell, dass mein armes Pferd nicht mehr zu gebrauchen war und sie mir ein anderes geben mussten. Dreihundert Meilen hab ich hinter mir, Herr, und das in kaum einer Woche.« »Dafür sollst du auch belohnt werden«, versicherte ihm der Bischof. Dann hielt er dem Soldaten das Pergament vor die Nase und fragte erneut: »Hast du es nun gelesen oder nicht?« »Nein, Herr.«
»Hättest du es denn überhaupt lesen können?« Der andere zögerte. Da streifte der Bischof mit einem hämischen Grinsen das Band ab, entrollte das Pergament und hielt dem Soldaten die beschriebene Seite hin. Der Mann wand sich verlegen, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. »Was steht da?«, wollte De’Unnero wissen. Der Soldat knirschte mit den Zähnen und sagte kein Wort. »Wird’s bald?« »Ich weiß nicht, Herr.« De’Unnero nahm das Schriftstück, ging zu seinem Schreibtisch hinüber und ließ sich gemütlich auf einer Ecke nieder. Dann drehte er das Pergament mit spitzen Fingern herum. »Dein Hauptmann kann gut schreiben«, hob er an und überflog die gleichmäßigen Buchstaben, doch plötzlich hielt er inne, als er ihre Bedeutung begriff und ihm klar wurde, dass ihm dieser Nachtvogel offenbar schon wieder entwischte. Mit einem wütenden Knurren warf er das Pergament auf den Tisch und sah den Soldaten an, der einige Schritte in Richtung Tür zurückgewichen war. »Verschwinde!«, bellte der Bischof, und der Mann machte so überstürzt kehrt, dass er erst einmal heftig gegen die Tür rannte, bevor es ihm schließlich gelang, den Raum zu verlassen. De’Unnero griff nach der Tigertatze in seiner Tasche und hätte sich beinahe hineinfallen lassen, um Hals über Kopf nach Norden zu jagen. Doch dann dachte er an seine anderen Aufgaben, die der ehrwürdige Vater für wichtiger hielt, auch wenn er selbst diese Ansicht nicht teilte, und er steckte den Stein wieder ein und holte stattdessen den Seelenstein hervor. Markwart musste von der Sache erfahren, sagte er sich. Er würde den ehrwürdigen Vater schon noch überzeugen.
Markwart versuchte krampfhaft, sich auf seine Gebete zu konzentrieren, doch die Stimme in seinem Kopf wurde immer aufdringlicher. Herr im Himmel, gib, dass die heiligen Steine von deiner Kraft künden immerdar. Lass ihn gehen. Ich bitte dich, Herr, führe und leite mich nach deinem ewigen Ratschluss. Lass ihn gehen. Zeig mir das Böse, auf dass ich es vernichte. Lass ihn gehen. Zeig mir das Gute, auf dass ich wandle in deiner Gnade. Lass ihn gehen! Und so ging es immer weiter. Unmittelbar vor seinem Abendgebet hatte Markwart eine Unterredung mit Bischof De’Unnero gehabt, und dieser hatte ihn bekniet, ihm endlich freie Hand zu lassen, ehe sich nicht nur dieser Nachtvogel, sondern auch die fünf Ketzer für alle Zeiten ihrem Griff entzogen hätten. Lass ihn gehen! Der ehrwürdige Vater gab es auf und erhob sich von seinem Gebetsschemel. »Warum ausgerechnet zum Barbakan?«, fragte er sich laut. Was wollten der Nachtvogel und die fünf abtrünnigen Mönche an diesem gottverlassenen Ort? Markwart hatte seinerzeit im Körper von Bruder Francis das Ziel der Expedition gesehen, und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welchen Sinn eine Reise zu diesem Trümmerhaufen haben sollte, in dem Avelyn und der Dämon untergegangen waren. »Ob sie vorhaben, einen Schrein zu errichten?« Der Abt musste lachen bei dieser Vorstellung, denn wie lange würde irgendein von Menschenhand erbautes Gebilde wohl in dieser
Wildnis stehen bleiben? Aber vielleicht war das dennoch ihre Absicht, grübelte er. Vielleicht wollten sie tatsächlich einen Schrein bauen und Pilgerfahrten durchführen, so wie er selbst es früher auch für etliche Heilige getan hatte. Wieder verzog sich der verschrumpelte Mund des ehrwürdigen Vaters zu einem hämischen Grinsen. Er sah im Geiste Hunderte von verblendeten Dummköpfen, die sich aufmachten, einem Ketzer zu huldigen, nur um sich unterwegs von marodierenden Ungeheuern abschlachten zu lassen. Es gab doch eine höhere Gerechtigkeit! Doch die Stimme in seinem Kopf zeigte ihm eine andere Szene, in der Avelyns Anhänger – oder zumindest die Gegner der jetzigen Kirchenvertreter – so zahlreich wurden, dass die Straßen ruhig und Pilgerfahrten an der Tagesordnung waren. Und dann kam noch ein Köder: Vielleicht haben sie ja nicht alle Steine. Markwart nickte, noch ehe er wieder die alte Leier vernahm: Lass ihn gehen. Ja, sagte sich der ehrwürdige Vater, es war Zeit, De’Unnero von der Leine zu lassen und die Sache mit diesem Nachtvogel zu erledigen. Außerdem war es Zeit für eine Kursänderung in Palmaris. Die Kirche musste ein freundlicheres Gesicht zeigen, wenn der König der Stadt seinen Besuch abstattete. Kurz darauf klopfte der Abt an die Tür von Bruder Francis Dellacourt. Dieser hatte offenbar schon geschlafen. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und riss sie dann weit auf, als er den Besucher erkannte. Markwart schlüpfte hinein und bedeutete ihm, die Tür zu schließen. Francis gehorchte und eilte dann zum ehrwürdigen Vater.
»Bischof De’Unnero muss eine Reise antreten«, erklärte Markwart. »Keine spirituelle, eine richtige«, fügte er hinzu, als er Francis’ verschlafenes Gesicht sah. »Aber die Stadt…«, hob dieser an, doch Markwart fiel ihm ins Wort. »Du musst so schnell wie möglich nach Palmaris«, sagte er. »Nimm einen ordentlichen Vorrat an Steinen mit – alles, was du für nötig hältst.« »Für nötig?«, echote Francis, der gar nicht wusste, wie ihm geschah. »Du wirst Bischof De’Unnero in St. Precious vertreten, solange er fort ist«, erklärte Markwart. Francis schwankte und sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. »Ich komme bald nach, um mich mit König Danube in der Stadt zu treffen«, fuhr Markwart fort. »Du sollst Bischof De’Unneros Politik nicht ändern, aber lass die Zügel ein bisschen lockerer. Im Gegensatz zu Marcalo De’Unnero sollen die Leute von Bruder Francis Dellacourt nur Gutes sagen.« Der Abt hielt inne und horchte auf die Stimme in seinem Kopf. »Von Meister Francis Dellacourt.« Diesmal musste sich Francis auf die Bettkante setzen, sonst wäre er glatt umgefallen. »Aber die Prozedur meiner Ernennung ist langwierig«, wandte er ein. »Darüber haben wir bereits gesprochen«, sagte Markwart streng. »Warum bist du so überrascht?« »Erst Meister und dann auch noch zeitweise Bischof?«, fragte Francis ungläubig. »Das geht alles so schnell, noch dazu in solchen Krisenzeiten.« »Es ist die einzige Zeit, zu der so etwas möglich ist«, erklärte Markwart. »Die anderen Äbte werden sich nicht querlegen, wenn ihnen klar wird, dass du einfach nur eine Schachfigur
bist, die dafür sorgt, dass wir Palmaris noch fester in den Griff bekommen.« Francis blinzelte nervös und versuchte krampfhaft, das Ganze zu verdauen. »So werde ich es natürlich darstellen«, sagte Markwart lachend und legte Francis begütigend die Hand auf die Schulter. »Auch wenn wir beide es besser wissen.« Francis nickte ergeben. »Ich fürchte nur, ich werde Eure Erwartungen nicht erfüllen«, sagte er mit gesenktem Kopf. Markwart lachte ihn aus. »Ich hege keinerlei Erwartungen«, sagte er, und seine Stimme wurde auf einmal ernst, ja fast drohend. »Es wird nicht viel von dir verlangt. Du gehst einfach nach Palmaris und lässt den Dingen ihren Lauf. Je weniger die Leute von dir sehen und hören, desto besser. Das betrifft auch deine Brüder in St. Precious. Lass einfach nur die Zügel locker. Nimm die Kontrollen und die Steuerforderungen zurück, und sag den Predigern, sie sollen sich in ihren Äußerungen mäßigen.« »Muss ich irgendwelche Zeremonien abhalten?«, fragte Francis. »Nein!«, sagte Markwart scharf. »Das würde höchstens Kritik herausfordern, und das kannst du dir nicht leisten, wenn ich deine Position weiter festigen soll – als Meister oder als Bischof.« Francis schlug die Augen nieder. »Keine Angst, dein Tag kommt eher, als du glaubst«, versprach ihm Markwart. »Vom Obermeister zum Abt von St. Precious ist es nur ein kleiner Schritt, verlass dich drauf. Und vielleicht kommt ja nur zu bald der Zeitpunkt, wo ich Bischof De’Unnero endgültig austauschen muss. Es kann jedenfalls gut sein, dass der König das von mir verlangt. Und dann ist es doch ausgesprochen bequem für mich, wenn ich schon einen Nachfolger an Ort und Stelle habe.«
Francis hatte es jetzt völlig die Sprache verschlagen, und so überließ ihn Markwart wieder sich selbst. Die Ausführungen des Abtes verleiteten ihn zu der Annahme, De’Unnero müsse bei diesem gänzlich in Ungnade gefallen oder würde für längere Zeit abwesend sein. Jedenfalls sagte sich der angehende Meister Francis, dass Markwarts Beschreibung von ihm als Strohmann der Wahrheit entschieden näher käme, als dieser ihn glauben machen wollte. Doch all das focht ihn nicht weiter an. Das Wichtigste war jetzt, dass er noch immer eine entscheidende Rolle an der Spitze des Ordens spielte, obwohl er den abtrünnigen Mönchen zur Flucht verholfen hatte, auch wenn es lediglich die Rolle eines Strohmanns war. Zwar hatten ihm auch Jojonah und Bruder Braumin das Unrecht an Grady Chilichunk vergeben, doch Vater Markwart hatte ihm gar nicht erst einen Vorwurf gemacht. Und das war nach Francis Geschmack nun doch entschieden vorzuziehen.
»Ich habe mir deine Nachricht gründlich durch den Kopf gehen lassen«, sagte der Geist des ehrwürdigen Vaters am selben Abend in Chasewind Manor zu Bischof De’Unnero. »Bist du sicher, dass dieser Nachtvogel nach Norden will?« »Das waren die Worte von Shamus Kilronney«, erwiderte De’Unnero. »Ich sehe keinen Grund, warum er mich belügen sollte.« »In Palmaris gibt es eine Menge Unmut«, sagte Markwart. »Shamus Kilronney ist ein Mann des Königs, mit dem Baron hatte er nichts zu tun«, erwiderte De’Unnero schnell. »Ich habe ihn mir als Spion ausgesucht, weil ich mich auf seine Loyalität der Krone gegenüber verlassen kann und damit auch mir gegenüber als der Stimme des Königs in Palmaris.«
»Das ist gut«, meinte Markwart. »Und was ist mit den anderen sechs Männern, von denen du gesprochen hast? Können wir sicher sein, dass es unsere verlorenen Brüder sind?« »Höchstwahrscheinlich sind Bruder Braumin und die anderen vier dabei«, sagte De’Unnero. »Was den sechsten angeht, kann ich nichts Genaues sagen.« »Dann finde es heraus!«, befahl ihm Markwart. »Ich habe Spione…« »Nichts da!«, brüllte der Abt. »De’Unnero wird das allein erledigen.« Der Bischof sah ihn empört an, doch dann weiteten sich seine Augen, als er langsam begriff, worauf der ehrwürdige Vater hinauswollte. »Soll ich selber gehen?«, fragte er vorsichtig. »Du hast mir jahrelang in den Ohren gelegen«, erklärte Markwart. »Und jetzt hast du mich endlich überzeugt, dass vielleicht wirklich nur Marcalo De’Unnero diesen Mann zur Strecke bringen kann. Enttäusch mich nicht! Die Rückgabe der gestohlenen Steine und der Tod von Avelyns Anhängern wird unsere Position im Orden stärken und damit die Position der Kirche im ganzen Reich.« »Und was soll ich mit Braumin und den anderen Ketzern tun, wenn sie es wirklich sind?«, fragte De’Unnero atemlos. Er lechzte geradezu nach dieser Möglichkeit. »Es wäre nicht schlecht, wenn wir einen oder mehrere von ihnen zu fassen bekämen«, überlegte Markwart, »damit wir ein Geständnis aus ihnen herauspressen können, bevor wir sie alle auf den Scheiterhaufen schicken. Nimm dir den Nachtvogel, sein Weib und diesen dreckigen Zentauren vor und lass Kilronney die anderen festnehmen. Wenn sie Schwierigkeiten machen, dann bring sie ebenfalls um. Alles, was ich von dir verlange, ist, dass du mir die Köpfe der beiden Freunde von
Avelyn und die Steine bringst. Um Braumin und seine Handlanger können wir uns immer noch kümmern. Was für einen glorreichen Sieg haben wir vor uns, mein Freund«, fuhr Markwart fort. »Damit haben wir den König in der Hand. Er wird es nicht wagen, uns Steine in den Weg zu legen, wenn wir mit unseren grausigen Trophäen durch die Straßen von Palmaris ziehen und verkünden, dass wir zur Freude Tausender das Böse ausgerottet haben.« »Ich hab Euch ja immer gesagt, dass dieser Nachtvogel meine Sache ist«, brüstete sich De’Unnero. »Jetzt weiß ich, wofür mich Gott nach St. Mere-Abelle gerufen und meinen Körper durch viele Stunden harten Trainings hat gehen lassen. Dies ist die Aufgabe, für die Marcalo De’Unnero geboren wurde, und ich werde sie zuverlässig erfüllen!« Markwart zweifelte keinen Augenblick an diesen Worten, das zeigte das boshafte Gelächter, in das sein Geist jetzt ausbrach. De’Unnero lachte nicht mit, er rieb sich voller Ungeduld die Hände. »Wann kann ich gehen?« »Sobald du alle Vorbereitungen getroffen hast«, erwiderte Markwart. »Vorbereitungen?« De’Unnero schnaubte verächtlich. »Was für Vorbereitungen denn?« »Nur ein paar Kleinigkeiten wie Proviant und Fortbewegungsmittel«, meinte Markwarts Geist ironisch. »Willst du ein Pferd nehmen oder einen Wagen?« »Weder noch«, erwiderte der Bischof. »Ich werde laufen und mir unterwegs meine Nahrung suchen.« »Erzähl mir mehr darüber!«, forderte Markwart ihn auf. Nun war der Bischof nicht mehr zu halten. Er ging um sein Bett herum und hielt dem Geist seine Hand mit der Tigertatze hin. »Es ist unglaublich«, sagte er aufgeregt. »So wie Ihr mit dem Seelenstein habe ich mit der Tigertatze eine ganz neue
Ebene erreicht. Als ich hinter Baron Bildeborough her war, hat der Zauber nicht nur meine Glieder erfasst. Ich war der Tiger, ehrwürdiger Vater, mit Leib und Seele. Und so einem Tier kann der Winter mit Sicherheit wenig anhaben.« Markwart war verblüfft. Das musste er erst einmal verdauen. Er fragte sich, ob De’Unnero womöglich auch diese innere Stimme entdeckt hatte, die Stimme Gottes. Doch seine Eitelkeit ließ ihn hoffen, dass es nicht so war. Doch dann sagte ihm die Stimme, dass De’Unnero diese Ebene nur durch die außergewöhnliche Gemütsverfassung erlangt hatte, als er den Baron gejagt hatte. Diese Intensität würde jetzt nützlich sein, dachte Markwart. Wieder einmal hatte ihm die Stimme den richtigen Weg gezeigt. »Trotzdem musst du noch einige Vorkehrungen treffen«, sagte er zu De’Unnero. »Wer ist dein Stellvertreter?« »Ein erbärmlicher Kerl namens Bruder Talumus.« »Traust du ihm?« »Nein.« »Sag ihm, dass du fort musst. Er soll aber nichts unternehmen und niemandem ein Wort sagen«, wies ihn Markwart an. »Sag ihm, er soll allen Fragen über deinen Aufenthaltsort ausweichen.« De’Unnero schüttelte den Kopf. »Es wird immer geredet«, erklärte er. »Ich habe einen langen Weg vor mir.« »Und Bruder Francis macht sich morgen früh nach St. Precious auf, um dich zu vertreten«, fuhr Markwart fort. »Er ist vertrauenswürdig und zu unbedeutend, um uns irgendwelche Schwierigkeiten zu machen.« Nun musste De’Unnero doch grinsen. »Und noch etwas«, sagte Markwart, der wieder auf die innere Stimme gehorcht hatte. »Was ist aus diesem Kaufmann Crump geworden?« »Er hockt noch in den Verliesen von St. Precious.«
»Hat er gestanden?«, fragte Markwart. »Wohl kaum«, erwiderte der Bischof. »Der ist viel zu stolz und eigensinnig, um seinen Fehler einzugestehen.« »Dann führ ihn morgen früh öffentlich an den Pranger«, befahl der ehrwürdige Vater. »Klage ihn laut und deutlich des Hochverrats an, dann wird der Dummkopf schon reden.« »Er wird alles abstreiten.« »Dann lass ihn im Namen des Königs hinrichten«, sagte Markwart unbarmherzig. Das schreckte selbst den brutalen De’Unnero ab. Doch nur einen Moment lang, dann überzog ein hämisches Grinsen sein Gesicht. »Und jetzt gib gut Acht«, sagte Markwart schließlich. »Ich zeige dir, wie du am besten mit deinem Lieblingsstein umgehst und mühelos diese höchste magische Ebene erreichst.« Dann verbanden sich die Geister der beiden, und Markwart übermittelte dem Bischof die nötigen Informationen. Als sie fertig waren, konnte De’Unnero mit Leichtigkeit diese gewaltigen Kräfte hervorbringen, die er auf der Jagd nach Baron Bildeborough freigesetzt hatte. »Möge der Herr deinen Beinen Schnelligkeit verleihen!«, sagte Markwart. Ein Abschiedsgruß nach altem Brauch, wenn man es eilig hatte. Als Antwort hielt De’Unnero dem Geist die Tigertatze hin. »Das wird er«, sagte er grinsend. »Das wird er.«
3. Lichtblick
Stolz und unerschütterlich stand Aloysius Crump am nächsten Morgen auf dem Marktplatz und spielte seine Rolle perfekt. Die Hände auf den Rücken gebunden und an einem dicken Pfahl befestigt, quittierte er De’Unneros Anschuldigungen lediglich damit, dass er dem Bischof ins Gesicht spuckte. Das brachte diesen erst richtig in Stimmung. Während er den Namen Gottes lobpreiste, brachte er einen Serpentin zum Vorschein und errichtete einen bläulichweißen Schutzschild – nicht um sich selbst, sondern um den verdutzten Crump. Die Menge, einige Hundert Mann stark, die meisten davon Straßenverkäufer und Fischhändler, die früh auf den Beinen waren, schnappte hörbar nach Luft, wenn sie auch nicht wussten, was die Vorstellung zu bedeuten hatte. Eine aber kannte dieses Glühen genau, allerdings fragte sie sich, warum es den Angeklagten einhüllte. Pony sah dem Schauspiel schweigend zu, während Dainsey neben ihr sie ununterbrochen mit Fragen überschüttete, ohne jemals die Antwort abzuwarten. Nun errichtete De’Unnero einen zweiten Schild, diesmal um sich selbst, und hielt dann einen funkelnden roten Stein in der ausgestreckten Hand. »Ein Rubin«, sagte Pony. »Aber sein Feuer kann den Serpentinschild nicht durchdringen.« »Wozu dann?«, fragte Dainsey. Pony schüttelte ratlos den Kopf, doch dann sah sie mit schreckgeweiteten Augen, wie De’Unnero die Hand mit dem Rubin in den Serpentinschild des anderen tauchte und Crump den roten Stein an die Schulter hielt.
»Großer Gott!«, keuchte sie. »Was macht er da?«, fragte Dainsey. »Ich gebe dir noch eine letzte Chance, deine Missetaten zu gestehen, Aloysius Crump!«, rief De’Unnero mit donnernder Stimme. »Eine letzte Chance, den Verrat an König und Vaterland zuzugeben und mit dem Leben davonzukommen.« Crump aber spie ihn erneut an. Als er es jedoch gerade zum dritten Mal tun wollte, riss er plötzlich keuchend die Augen auf, denn der Speichel schäumte in seinem Mund, während De’Unnero das Feuer des Rubins in seinem Körper entfachte. Rauch stieg von seiner Schulter, und er verdrehte die Augen. »Im Namen des Königs, so mögen dich die göttlichen Flammen läutern!«, verkündete De’Unnero. »Und möge sich der Herr deiner sündigen Seele erbarmen!« Damit entfesselte er die ganze Kraft des Rubins. Der Serpentinschild bebte und wölbte sich, doch nichts konnte nach außen dringen. »Er verbrennt bei lebendigem Leib!«, schrie Dainsey, und auch den anderen auf dem Marktplatz stand das blanke Entsetzen im Gesicht, denn die Gestalt in der durchscheinenden Hülle war jetzt ein glutrotes Flammenbündel. Die Flammen verschlangen ihn schnell, sie erfassten seine Kleidung und seine Haut mit verzehrender Kraft und brachten seine Körperflüssigkeit zum Verdampfen. Als De’Unnero seine Hand zurückzog und den Serpentinschild fallen ließ, sackten die verkohlten Überreste von Aloysius Crump in sich zusammen. »Gelobt sei der Herr!«, sagte der Bischof und machte auf dem Absatz kehrt. Nun hatte er sich auch dieser letzten Pflicht entledigt und konnte sich endlich in das lang ersehnte Abenteuer stürzen, das ihn zu Nachtvogel führen würde.
Als sich Bruder Francis an diesem Vormittag in St. MereAbelle auf den Weg machte, hatte De’Unnero Palmaris bereits Hals über Kopf in Richtung Norden verlassen. Francis legte ein entschieden gemächlicheres Tempo vor. Zusammen mit fünf Leibwächtern fuhr er in einem Wagen, den zwei kräftige Pferde beharrlich die Straße nach Westen entlang zogen. Sie führten eine kostbare Fracht mit sich, denn man hatte Francis etliche Truhen mit Goldmünzen mitgegeben, um sich bei der Bevölkerung von Palmaris beliebt zu machen. Normalerweise brauchte man für die siebzig Meilen bis zum Masurischen Fluss drei volle Tage, doch Markwart hatte verlangt, er solle in zweien dort sein. Zu diesem Zweck hatte einer der anderen Brüder einen Hämatit und einen Türkis bei sich. Mit ihrer Hilfe wollte er aus dem Wald Tiere heranschaffen, um sie ihrer Lebenskraft zu berauben und damit die Pferde zu stärken. Auf diese Weise hatten Francis und seine Begleiter am Abend des ersten Tages vierzig Meilen zurückgelegt. Als die Nacht hereinbrach, fuhren sie ohne Rast weiter, denn das Gespann war noch immer frisch und munter. Francis war das nur recht, denn es ersparte ihm all die Fragen und Zweifel, die ihn in jeder Mußestunde überfielen. Er trieb die Pferde an, bis ihn die Erschöpfung übermannte und er für einen Augenblick einnickte. Kurz nach Sonnenaufgang fiel er noch einmal in einen längeren Schlaf, aus dem er zwei Stunden vor Mittag wieder erwachte, um festzustellen, dass sie den breiten Fluss erreicht hatten. Dicker Nebel lag über dem Wasser, und so konnte er die Umrisse der Stadt, die nun sein neues Zuhause sein sollte, nicht sehen. Als die Fähre langsam die Mitte des Flusses erreichte, hatte sich der Nebel verzogen. Und jetzt sah Francis all seine Zweifel vor sich ausgebreitet liegen.
König Danubes Reise nach Palmaris ging nicht annähernd so schnell vonstatten, dafür war sie aber auf jeden Fall bequemer. Der König segelte mit Herzog Targon Bree Kalas, Constance Pemblebury und etlichen anderen Edelleuten auf der königlichen Karavelle River Palace, die mit den erfahrensten Seeleuten und Ruderern aus dem Heer des Königs bemannt sowie den hübschesten Frauen und köstlichsten Speisen und Getränken ausgestattet war. Begleitet wurde das Schiff von der halben königlichen Flotte, zehn Kriegsschiffen voll beladen mit Waffen und Soldaten. Die Flotte bewegte sich in der gemeinhin als Lanzenformation bezeichneten Aufstellung – zwei Schiffe hinter der River Palace, zwei an Backbord, eins direkt vorneweg und die restlichen fünf an Steuerbord in westlicher Richtung neben dein Bug aufgereiht. Das Vorhutschiff war ungefähr sechs- bis achthundert Fuß voraus. Späher hielten Ausschau nach Gefahren zu Wasser und zu Lande. Nicht dass der König und sein Gefolge irgendwelchen Ärger erwartet hätten. Man hatte Reiter an beiden Ufern vorausgeschickt und die Bevölkerung aufgefordert, sich vom Wasser fernzuhalten, wenn das rote Segel mit dem schwarzen, aufrecht stehenden Bären, das jedes Kriegsschiff aus Ursal als Großsegel führte, in Sicht käme. Da sie es nicht eilig hatten, wollten sie fast jeden Hafen anlaufen. Der König hatte ihnen ganze drei Wochen in gemächlichem Tempo eingeräumt, und so vergingen die Tage müßig und ereignislos, und die Gesellschaft an Bord wurde mit jedem Tag ausgelassener. Mitten in all dieser Schwelgerei schlingerte das Schiff plötzlich eines späten Nachmittags, sodass einige an Deck den Halt verloren. »Könnt Ihr das nicht vorher sagen?«, rief der König dem Kapitän zu, der auf dem Kommandodeck stand.
»Gefechtsmast!«, unterbrach ihn Targon Bree Kalas und lief am König vorbei nach vorn. Dieser drehte sich um und sah, wie der Mann zu einem Segel hinübersprang, nach einer der Leinen griff und sich dann soweit es ging hinauslehnte, um ungehindert über den Fluss vor ihnen zu blicken. »Das Vorhutschiff hat das Großsegel eingeholt!«, erklärte Kalas. »Und das zweite ebenfalls.« »Was ist los?«, fragte König Danube seinen Kapitän. »Vor uns befindet sich ein Schiff«, antwortete Kalas, noch ehe der Kapitän ein Wort sagen konnte. »Ein gewöhnliches Handelsschiff nach seinen Segeln zu schließen.« »Ich dachte, wir hätten Befehl gegeben, dass sich alle vom Wasser fernhalten sollten«, erwiderte König Danube. »Wie Ihr befohlen hattet, Majestät«, bestätigte der Kapitän. »Aber der hier hat es entweder nicht gehört, oder es kümmert ihn nicht«, meinte Herzog Kalas. »Dann befehlt ihm, Platz zu machen«, sagte der König, »oder versenkt es!« »Wir gehen schon in Position«, versicherte ihm der Kapitän. Herzog Kalas sah den König an und schmunzelte über die plötzliche Beflissenheit des Mannes. König Danube war sicher ebenso begeistert, denn es war das erste Mal während der ganzen Reise, dass der Kapitän sich vehement in andere als fleischliche Aktivitäten stürzte. Doch Danube musste sein Gesicht wahren, deshalb auch die harsche Ermahnung. Sie wussten beide, dass das Schiff ausweichen würde, denn es hatte keine Chance, gegen die Flotte des Königs anzutreten. Die River Palace und ihre Eskorte holten die Segel ein, und die Ruderer legten sich in die Riemen. Das Handelsschiff hatte eine weiße Flagge gehisst und war zum Zeichen der Verhandlungsbereitschaft vor Anker gegangen. Die Kriegsschiffe hatten sich im Dreieck darum herum angeordnet, die Katapulte, Ballisten und Bogenschützen schussbereit.
»Nichts weiter da vorn im Wasser«, beobachtete Kalas. Nun sahen sie alle fasziniert zu, wie ein kleines Boot von dem Handelsschiff abgefiert wurde und auf das nächst gelegene Schiff aus Ursal zusteuerte. »Saudi Jacintha!«, erscholl alsbald von diesem ein Ruf, der weitergetragen wurde, bis er König Danubes Ohr erreichte. »Saudi Jacintha?«, wiederholte Constance Pemblebury, der dieser Name nichts sagte, mit verständnislosem Gesicht. »So heißt das Schiff«, erklärte Kalas. Dann legte er den Finger ans Kinn und überlegte. Irgendwo hatte er diesen Namen schon einmal gehört. Jetzt wurde eine zweite Nachricht übermittelt, die besagte, Kapitän Al’u’met sei den ganzen Weg von Palmaris hierher gesegelt und bitte König Danube um eine Unterredung. »Ich kenne den Mann nicht«, sagte Danube ungehalten. »Kapitän, sagt ihm, er soll mit seinem Schiff den Weg freimachen, oder es versinkt in den Fluten. Ich habe keine Zeit…« » Al’u’met!«, sagte Kalas, der sich plötzlich wieder erinnerte. »Natürlich.« »Kennt Ihr den Mann?«, fragte König Danube. »Ein Behreneser«, erwiderte Kalas. »Und ein prächtiger Seemann, nach allem, was man hört.« »Ein Behreneser?«, wiederholte Danube ungläubig. »Dieses Schiff ist aus Behren?« »Es segelt zwischen Ursal und Palmaris«, stellte Kalas klar. » Al’u’met selbst ist Behreneser, aber seine Mannschaft und sein Schiff sind es nicht. Soviel ich weiß, macht er geltend, ein Untertan des Königs vom Bärenreich zu sein.« Da war auch noch eine Kleinigkeit in Bezug auf Al’u’mets religiöse Überzeugung, von der Kalas wusste, doch er hielt es für besser, das vorläufig für sich zu behalten. »Kennt Ihr ihn?«
»Ich kenne seinen Namen, das ist alles«, meinte Kalas. »Ein behrenesischer Schiffskapitän auf dem Masurischen Fluss ist sicher eine Seltenheit, und so ist Al’u’met kein Unbekannter.« »Und jetzt ist er extra aus Palmaris gekommen, um mit mir zu reden«, murmelte König Danube. »Ziemlich dreist, möchte ich meinen.« »Vielleicht«, sagte Kalas nachdenklich. Dann tauschten sie einen viel sagenden Blick, denn ihnen war beiden klar, dass ein behrenesischer Seemann nicht von ungefähr aus Palmaris kam. Was würde dieser Al’u’met König Danube zu sagen haben? Was hatte Bischof De’Unnero noch alles angerichtet? Neben ihnen trat Abt Je’howith nervös von einem Bein aufs andere, und das war Wasser auf Kalas’ Mühlen. »Hört ihn an«, bat er den König. »Wir wissen nicht, was wirklich in Palmaris vor sich geht, denn wir haben es bisher nur von aufgebrachten Kaufleuten und Kirchenmännern gehört, und beide sind offensichtlich voreingenommen.« »Ebenso wie ein Behreneser«, bemerkte Je’howith spitz. »Dann verschafft es uns zumindest einen dritten Blickwinkel«, parierte Kalas, und die beiden sahen sich giftig an. König Danube blickte um sich und versuchte, die Stimmung seines Gefolges abzuschätzen. Er wollte die Gesellschaft nicht um ihr Vergnügen bringen, noch dazu wegen eines einfachen Behrenesers. Aber vielleicht war dies ja auch eine willkommene Abwechslung. »Ihr könnt nicht jedem hergelaufenen Kerl Audienz gewähren«, erklärte Je’howith, doch der Widerspruch des Abtes bestärkte den König nur in seinem Entschluss. »Schickt einen Boten zu ihm und erkundigt Euch, was er wünscht«, sagte er zu Herzog Kalas. »Wenn es die Sache wert ist, dann sorgt dafür, dass uns das Handelsschiff nach Palmaris
begleitet, damit ich dort einen Augenblick mit dem Mann reden kann.« »Lasst ein Boot mit zwei Mann zu Wasser!«, befahl Herzog Kalas und nahm die Sache in die Hand. Die Mannschaft, die es nicht wagte, seine Autorität anzuzweifeln, machte sich auf der Stelle ans Werk. Zur Überraschung aller und unter den bewundernden Blicken vieler Damen schwang sich der Herzog über das Schanzkleid und sprang behände in das kleine Boot, wo er sich breitbeinig am Bug postierte, als die Ruderer sich in die Riemen legten. »Was für ein Mann!«, murmelte Constance Pemblebury, aber ihr süffisanter Tonfall ging in der Euphorie der anderen unter. Targon Bree Kalas liebte das Wasser, den Wellengang und das Gefühl des feuchten Windes im Gesicht. Er hätte mit Vergnügen seine Ländereien für den Titel Herzog des Mirianik eingetauscht, doch dieser gehörte Herzog Bretherford von Entel, und dieser ließ leider keinerlei Anzeichen eines baldigen Ablebens erkennen, außerdem besaß er etliche Erben. Also nahm Kalas jede Gelegenheit wahr, seiner Wasserleidenschaft zu frönen – und die bot sich hier gerade. Der Anblick der drei Kriegsschiffe aus Ursal erfüllte ihn mit Stolz. Auf einem waren zwei schwere Wurfmaschinen leicht aufwärts geneigt. Kalas wusste, dass man damit spiralförmige Bänder abschoss, die mit Ketten umwickelt waren. Durch die rotierende Bewegung wurden die gezackten Ketten im hohen Bogen durch die Luft geschleudert und zerfetzten die Segel des feindlichen Schiffes. Ein anderes war mit zwei kleinen Katapulten ausgerüstet, die brennendes Pech abschossen. Und das dritte feuerte mit Metallspitzen versehene Wurfspeere ab, die gefährliche Löcher in den Rumpf der meisten Schiffe rissen, die nicht außerordentlich gut gepanzert waren. Wenn man zu alldem noch die diversen Reihen geübter Bogenschützen hinzunahm –
deren Eibenholzbögen gespannt waren und deren mit Lumpen umwickelte Pfeile nur darauf warteten, angezündet zu werden –, dann wusste Kalas ohne jeden Zweifel, dass die Saudi Jacintha keine Wahl hatte. Der geringste Widerstand würde unweigerlich zum sofortigen Untergang des Schiffes und seiner Besatzung führen. Kalas wies die Ruderer an, ihn zu einer Jakobsleiter zu bringen, die man an der Längsseite herabgelassen hatte. In dem Mann, der oben am Schanzkleid stand, erkannte er Kapitän Al’u’met. »Ihr habt um Audienz beim König ersucht?«, fragte der Herzog und griff nach der Hand, die ihm der andere entgegenstreckte, um ihm an Deck zu helfen. »Nichts anderes hat mich bewogen, nach Süden zu segeln«, erwiderte Al’u’met. »In Palmaris erzählt man sich, dass König Danube unterwegs sei, und ich weiß, dass der König zu dieser Jahreszeit eigentlich nicht zu reisen pflegt. Ich hoffte, dass er den bequemeren Weg zu Wasser den Straßen vorziehen würde.« Kalas blickte zu den Kriegsschiffen hinüber. »Seht Ihr das etwa als Glücksfall an?«, fragte er mit unüberhörbarer Ironie. »Ich habe nichts anderes erwartet«, erwiderte Al’u’met. »Ehrlich gesagt, wenn ich meinen König weniger gut bewacht sähe, wäre ich beunruhigt.« Über diese äußerst diplomatische Antwort musste Kalas lächeln. »Ich bitte Seine Majestät untertänigst, mich anzuhören«, fuhr Al’u’met fort. »Das ist alles, was ich erhoffe, und mehr, als ein einfacher Seemann verlangen kann. Aber in Palmaris gibt es Schwierigkeiten, von denen er erfahren sollte, und ich bin vielleicht mehr als jeder andere in der Lage, sie ihm zu schildern.« »Aus Eurer Sicht«, sagte Kalas.
»Eine ehrliche Sicht«, erwiderte der dunkelhäutige Hüne und straffte die Schultern. »Und diese Schwierigkeiten betreffen die Behreneser von Palmaris?« Al’u’met nickte. »Sie werden von einem hemmungslosen Bischof ohne Grund verfolgt…« Er verstummte, als Kalas lächelnd die Hand hob. »Das ist dem König bereits bekannt«, erklärte der Herzog, dem der Kopf schwirrte angesichts der Möglichkeiten, die sich hier auftaten, denn es war nicht zu übersehen, dass Al’u’met ausgesprochen nützlich sein würde, wenn es darum ging, den Bischof abzusetzen und die Kirche in ihre Schranken zu verweisen. König Danube hatte sich bereit erklärt, mit dem Seemann zu reden, doch dieses Gespräch würde erst in Palmaris stattfinden, und er befürchtete, Je’howith könnte einen Weg finden, die Sache bis dahin abzubiegen. Vielleicht war ja auch der ehrwürdige Vater dann bereits dort. »Aber vielleicht ist es ja besser, wenn er es noch einmal von einem Augenzeugen hört«, entschied der Herzog und wandte sich zum Gehen. Al’u’met folgte ihm nach einem vorsichtigen Rundblick in das Ruderboot. Kalas nahm wieder seinen Platz am Bug ein, sodass er als Erster das ungläubige Gesicht des Königs zu sehen bekam, als sie sich der River Palace näherten und dieser den zusätzlichen Passagier bemerkte. »Bitte, mein König, hört diesen Mann jetzt gleich an«, sagte Herzog Kalas und erklomm das Schanzkleid, hinter dem König Danube, Constance Pemblebury und die anderen auf ihn warteten – ein ausgesprochen missgelaunter Abt Je’howith Inbegriffen. »Er ist extra aus Palmaris gekommen, um uns von den jüngsten Vorfällen zu berichten.« Damit drehte er sich um, griff nach Al’u’mets Hand und hievte ihn an Deck.
König Danube sah den dreisten Edelmann eine ganze Weile an, und allen wurde unbehaglich zumute. Gleichzeitig wollte er aber auch nichts von Je’howiths Gezeter hören und brachte diesen jedes Mal mit erhobener Hand zum Schweigen, wenn er die Stimme erheben wollte. »Du bist gekommen, um für deine Landsleute zu sprechen«, sagte der König zu Al’u’met. »Ich bin gekommen, um für jene Einwohner von Palmaris zu sprechen, die man im Namen des Königs schlecht behandelt«, verbesserte ihn Al’u’met. »Behreneser!«, murmelte eine der Hofdamen angewidert, doch als sich daraufhin aller Augen auf sie richteten, schaute sie betreten zur Seite. »Einwohner mit behrenesischer Abstammung«, räumte Al’u’met ein. »Viele dieser Familien leben schon fast ein Jahrhundert in Palmaris. Ein paar sind auch erst in letzter Zeit aus dem Königreich im Süden heraufgekommen. Wir sehen anders aus und das befremdet«, erklärte er treuherzig. »Unsere Bräuche kommen euch seltsam vor, uns aber geht es mit den euren ebenso. Wir sind jedenfalls keine Verbrecher und haben uns als ehrliche Leute in der Stadt niedergelassen. Und deshalb verdienen wir es nicht, dass man so mit uns umgeht.« »Hat Euch das Euer Gott so beigebracht?«, ließ sich Abt Je’howith vernehmen. Herzog Kalas musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht zu lachen, denn er wusste nur zu genau, dass der Abt sich damit aufs Glatteis begeben hatte, denn Al’u’met war Abellikaner. »Mein Gott ist Euer Gott«, erklärte dieser jetzt ganz ruhig. »Und er hält uns allerdings dazu an, unseren Mitmenschen Achtung und Anstand entgegenzubringen, ganz gleich, welche Hautfarbe sie haben. Abt Dobrinion von Palmaris hat das gewusst.«
»Abt Dobrinion ist tot«, sagte Je’howith spitz, und in seinem Tonfall schwang sein ganzer Verdruss mit. »Die ganze Stadt trauert um ihn«, erwiderte Al’u’met. »Was Ihr nicht sagt. War Dobrinion nicht Abt von St. Precious, als sich der Dämon wieder erhob und der Krieg über unser Land kam?« »Wollt Ihr etwa behaupten, dass Abt Dobrinion dabei eine Rolle gespielt…«, hob Al’u’met aufbrausend an, doch der König hatte genug. »Ich habe nicht vor, hier auf diesem Schiff einen Krieg ausbrechen zu lassen«, sagte er. »Wenn ihr unbedingt weiter mit diesem Mann streiten wollt, Abt Je’howith, dann wartet damit bitte, bis wir in Palmaris sind, oder tragt Euer Gefecht auf seinem Schiff aus, wenn wir hier fertig sind. So«, sagte er dann zu Al’u’met gewandt, »Ihr seid ja hergekommen, um mir etwas zu erzählen – ich höre!« Herzog Kalas lächelte scheinheilig. Abt Je’howiths Auftritt kam ihm ausgesprochen gelegen. Er wusste, dass dessen Benehmen ihm genauso zum Vorteil gereichen würde wie die Geschichte, die Al’u’met zu erzählen im Begriff stand. Er machte sich berechtigte Hoffnungen, dass die Tage der Kirchenherrschaft in Palmaris gezählt waren. Natürlich hatte Herzog Kalas keine Ahnung von dem nächtlichen Geisterbesuch des ehrwürdigen Vaters beim König. Kapitän Al’u’mets langer und ausführlicher Bericht untermauerte nicht nur die Klagen der Kaufleute und den Protest des Botschafters Rahib Daibe, sondern verlieh diesem Problem auch eine neue Dimension und Dringlichkeit. Die Schilderungen des Kapitäns von Frauen, Kindern und älteren Leuten, die sich nur durch einen Sprung ins kalte Wasser den Schikanen der Stadtwache entziehen konnten, ließ die Hofdamen nach Luft schnappen, die Edelleute schüttelten
empört den Kopf, und selbst der König sah den zunehmend nervös werdenden Abt Je’howith verärgert von oben bis unten an. Nicht dass die vornehme Gesellschaft auf der River Palace das Schicksal dieser einfachen Leute wirklich gekümmert hätte – Constance Pemblebury vielleicht einmal ausgenommen –, schon gar nicht das dieser schwarzhäutigen Behreneser, aber König Danube beschämte es doch irgendwie, dass man einige seiner Untertanen so sträflich behandelte. Als Al’u’met geendet hatte, war Abt Je’howith gehörig unwohl zumute. »Ich habe bereits von diesen Dingen gehört«, sagte der König zu Al’u’met. »Und sie sind der eigentliche Grund für meine Reise.« »Und werdet Ihr wieder für Recht und Ordnung sorgen?«, fragte der Behreneser. Der König sah den Mann mit zusammengekniffenen Augen an. Er war es nicht gewöhnt, dass ihm ein Untertan Fragen stellte – Al’u’met war lediglich die Erlaubnis erteilt worden, ihm seine Geschichte zu erzählen. »Ich werde mir einen Überblick über die Lage verschaffen«, antwortete er kühl. »Ich hoffe nur, dass Ihr die Sache aus dem Blickwinkel derer betrachtet, die den unverschuldeten Zorn von Bischof De’Unnero zu spüren bekommen haben«, erwiderte Al’u’met. »Wenn mein Bericht nur das bewirkt hat, dann war meine Reise nicht umsonst.« Dann nahm Herzog Kalas seinen Arm, denn beiden war klar, dass Al’u’mets Zeit ablief. »Ich danke Euch, dass Ihr mich angehört habt, mein König!«, sagte dieser mit einer tiefen Verbeugung. »Euer Ruf als großer und ehrenhafter Staatsmann ist ohne Zweifel nicht unverdient.« Er verneigte sich erneut, bevor er Herzog Kalas zu dem wartenden Ruderboot folgte. »Gut gemacht«, flüsterte ihm Kalas zu, als sie sich am Schanzkleid trennten.
Als er wieder zum Hauptdeck zurückkehrte, herrschte beklommene Stille, und viele Blicke hefteten sich noch immer auf Abt Je’howith. Es fiel jedoch kein böses Wort, denn alle warteten darauf, dass der König den Anfang machen würde. König Danube aber dachte an seine mitternächtliche Begegnung mit Vater Markwart, und es wollte ihm nicht viel einfallen.
»Wie Ihr wünscht, Meister Francis«, sagte der Mönch schon zum wiederholten Male, und obwohl Francis diesen Titel gern hörte, machte ihn der übertriebene Eifer des anderen langsam, aber sicher nervös. »Die ehemaligen Wohnräume von Abt Dobrinion genügen mir vollkommen«, erklärte er. »Aber Chasewind Manor…«, wollte Bruder Talumus erneut einwenden. »Chasewind Manor muss für den Besuch wichtigerer Männer als Meister Francis vorbereitet werden.« »Obermeister Francis«, verbesserte Bruder Talumus nervös. »Obermeister von St. Precious, und deshalb sollte er auch in St. Precious sein«, erklärte Francis bestimmt. »So wie auch Bischof De’Unnero dort sein wird, falls er zurückkommt, bevor der ehrwürdige Vater und der König die Stadt wieder verlassen haben.« Bruder Talumus sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. »Bischof De’Unnero wird sich sicher dem Wunsch des Königs und des ehrwürdigen Vaters beugen«, erklärte Francis, der den Schreck des anderen verstand. Er an seiner Stelle hatte De’Unnero auch nicht gern mitteilen wollen, dass man ihn aus seinem Palast ausquartiert hatte. »Die Sache ist erledigt, Bruder«, sagte er. »Wir haben noch wichtigere Dinge zu besprechen.«
Nun schien sich Talumus endlich zu beruhigen. Der Mann hatte sich in schrecklicher Aufregung befunden, seit am Morgen der Wagen aus St. Mere-Abelle in der Abtei eingetroffen war, mit dem neuen Obermeister und, wie man munkelte, einem königlichen Schatz. »Ich werde noch heute anfangen, mit den Kaufleuten zu reden«, erklärte Francis. »Du hast natürlich eine Liste der Namen.« »Mit genauer Angabe, wer welche Steine abgeliefert hat«, bestätigte ihm Talumus. »Ich will sie sofort sehen«, sagte Francis, »und dann einen nach dem andern einladen.« »Einer wird nicht kommen können«, meinte Bruder Talumus leise. »Er hat die Meinungsverschiedenheiten mit Bischof De’Unnero nicht überlebt und ist an dem Morgen, als der Bischof abreiste, auf dem Marktplatz hingerichtet worden.« Francis schnappte nach Luft, doch als er an De’Unneros Jähzorn dachte, überraschte ihn die Sache nicht sonderlich. »Dann lade die Hinterbliebenen ein«, ordnete er an. »Ich fürchte, es gibt keine«, erwiderte Talumus. »Aloysius Crump hatte keine Familie. Ich habe gehört, viele seiner Bediensteten seien in dem Haus geblieben.« Francis überlegte. Sein erster Impuls war abzuwarten, bis der ehrwürdige Vater da war, und ihn entscheiden zu lassen, was mit Crumps Haus geschehen sollte. Doch dann überwand er sich. Er war jetzt Meister, sagte er sich, Obermeister von St. Precious, und bald würde er womöglich Bischof von Palmaris sein. Er musste entschlossen handeln, im Sinne des ehrwürdigen Vaters und zum Besten des Ordens. »Konfisziere sein Haus«, sagte Francis. Bruder Talumus sah ihn erschrocken an. »D-die Leute sind schon verärgert über das, was mit Master Crump passiert ist«, stotterte er. »Sollen wir sie jetzt auch noch beleidigen?«
»Wir nehmen sein Haus für die Kirche«, sagte Francis noch einmal mit Nachdruck. »Behalte das Personal, und bezahle die Leute gut!« »Und wozu brauchen wir das Haus?«, fragte Talumus. »Wollt Ihr denn dort wohnen?« »Hab ich dir denn nicht gesagt, dass ich hier bleibe?«, fuhr ihn Francis mit gespieltem Zorn an. »Nein, wir finden schon noch einen Verwendungszweck, der den Leuten von Palmaris zugute kommt. Vielleicht richten wir dort eine Armenküche ein oder eine Heilstätte mit den Edelsteinen.« Bruder Talumus’ Stirnrunzeln verwandelte sich allmählich in ein Lächeln, und Francis wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er der Kirche ein wertvolles Stück Grundbesitz zugeführt und im selben Atemzug dem Wohl der Bevölkerung seinen Tribut gezollt hatte. »Die Liste, Bruder«, sagte er jetzt und deutete auf die Tür. »Und schick Boten zu den betroffenen Kaufleuten. Lass ihnen ausrichten, dass sie heute noch entschädigt werden.« Der Mönch fiel fast über seine eigenen Füße, als er kehrtmachte und die Tür ansteuerte. »Und Bruder Talumus!«, rief Francis ihm hinterher, kurz bevor er draußen war. »Sag den Boten, dass diese Sache kein Geheimnis ist!« Talumus lächelte und war im nächsten Augenblick verschwunden. Zurück blieb ein mit sich äußerst zufriedener Francis. Man konnte sich an diese Machtposition gewöhnen, dachte der neue Meister. Dieses kunstvolle Spiel der Politik fing an ihm zu gefallen.
4. Nordwärts
In Caer Tinella herrschten wieder Ruhe und Frieden. Man hatte bereits begonnen, die Felder zu pflügen und die Häuser instand zu setzen, außerdem waren ein paar neue hinzugekommen. Und obwohl es erst wenige Monate her war, seit die Stadt von den Goblins und Pauris besetzt gewesen war, fiel De’Unnero auf, dass sich ihr Gestank inzwischen verzogen hatte und die Leute wieder zu ihrem normalen Alltag zurückgekehrt waren. Und dabei sollte es nach Meinung des Bischofs auch bleiben. Er blickte von einer Anhöhe aus auf die Stadt hinab und nahm zögernd die Wirkung der Tigertatze zurück. Fast fünf Tage lang hatte er jetzt in dem Gefühl geschwelgt, halb Mensch und halb Raubkatze zu sein, und er hatte seine Kräfte und seine Freiheit in vollen Zügen genossen. Vielleicht ein bisschen zu sehr, dachte der Bischof. Er wusste, dass er auf den kräftigen Beinen des Tigers die hundertfünfzig Meilen von Palmaris nach Caer Tinella in zwei oder drei Tagen hätte zurücklegen können, nachdem er festgestellt hatte, dass er sich mit dem Seelenstein von Aloysius Crump die Lebenskraft anderer Tiere zunutze machen konnte, eine verfeinerte Variante der Technik, mit deren Hilfe die Mönche unterwegs die Kräfte ihrer Pferde aufzufrischen pflegten. Als Tiger konnte De’Unnero jetzt den direkten Weg gehen und seiner Beute unmittelbar die Lebenskraft entziehen. Eine perfekte Energieübertragung, dachte er. Und nach einem solchen Festschmaus war De’Unnero, der Tiger, dann wieder in Höchstform. Und doch hatte er sich eigentlich viel zu viel Zeit gelassen, obwohl er so begierig war, mit dem Nachtvogel abzurechnen,
denn er hatte seine Reise immer wieder unterbrochen, nur um sich gütlich zu tun. Aber das war nicht so schlimm, sagte er sich, denn er konnte die verlorene Zeit wieder aufholen, und der Nachtvogel würde ihm am Ende doch nicht entkommen. Schließlich ging er im schlichten Mönchsgewand hinunter nach Caer Tinella und setzte ein harmloses Gesicht auf. »Gott schütze Euch, Vater!«, grüßten ihn die Bauern, einer nach dem anderen, die emsig damit beschäftigt waren, ihre Häuser zu reparieren und die Felder vorzubereiten, was erstaunlich war, denn bis zum Frühlingsanfang waren es noch volle zwei Wochen. Der letzte Sturm war verregnet gewesen und hatte den ganzen Schnee in den Niederungen schmelzen lassen, und nun schichteten die Bauern Steine auf, um die neuen Grenzen ihrer Ländereien zu markieren. »Dich auch, mein Sohn!«, erwiderte er dann jedes Mal höflich. »Kannst du mir wohl sagen, wo ich Euren Anführer finde?« Die hilfsbereiten Dorfbewohner nannten ihm den Namen und zeigten über den Feldweg hinweg zu den Feldern auf der Nordseite, die von dichten Wäldern gesäumt waren, in denen noch die Spuren des Winters zu sehen waren. Sie war nicht schwer zu finden: eine stämmige Frau um die vierzig, die energisch auf ihrem Feld arbeitete. Als sie De’Unnero kommen sah, stützte sie sich mit beiden Händen auf den Stiel ihrer Hacke und legte das Kinn obenauf. »Seid Ihr Janine vom See?«, fragte De’Unnero verbindlich. »Bin ich«, antwortete sie. »Und Ihr? Wollt Ihr etwa hier in Caer Tinella eine Kirche einrichten?« »Ich bin Bruder Wohlgemut«, log De’Unnero, »und ich bin lediglich auf der Durchreise. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass die Kirche einen Priester herschicken wird, sobald die Welt wieder in Ordnung ist.«
»Also, wir haben ja unsern Bruder Pembleton«, meinte die Frau. »Gerade mal eine Tagesreise östlich von hier. Für mehr fromme Sprüche sind die Leute eh nicht zu haben, wenn Ihr mich fragt.« De’Unnero hätte sie am liebsten geohrfeigt. »Aber Ihr seht aus, als könntet Ihr einen Happen vertragen«, fuhr sie fort. »Ganz recht«, erwiderte der Mönch und schlug demütig die Augen nieder. »Eine kleine Mahlzeit und ein paar Neuigkeiten über die Straße nach Norden wären nicht schlecht. Ich muss nämlich in die Waldlande, wo die Leute schon lange keinen Priester mehr gesehen haben.« »Wahrscheinlich noch nie, nach allem, was ich über diese Wildnis gehört habe«, meinte Janine lachend. »Sucht Euch mal ein schattiges Plätzchen, und ruht Euch aus. Ich bin hier bald fertig mit meiner Arbeit, dann päppel ich Euch ein bisschen auf für Eure Reise.« »Ach, bitte, gute Frau«, erwiderte De’Unnero scheinheilig und griff nach der Hacke, »ich will mir mein Essen gern selbst verdienen.« Die Bäuerin war aufrichtig überrascht, aber sie ließ die Hacke los. »Hätte nicht gedacht, dass ein Mönch aus St. Precious auf Arbeit aus ist«, erklärte sie freimütig. »Aber ich nehme das Angebot dankend an.« De’Unnero arbeitete unermüdlich, eine Leistung, die niemand dem Bischof von Palmaris zugetraut hätte, wie er annahm, und die auch von dem einfachsten AbellikanerMönch zu viel verlangt gewesen wäre. Anschließend bewirtete Janine ihn und ein paar ausgesuchte Dorfbewohner mit einer köstlichen warmen Mahlzeit, wenn De’Unnero diese auch etwas unbefriedigend fand nach all dem frischen Fleisch der letzten Tage.
Man unterhielt sich höflich und versicherte dem Gast, dass die Straße nach Norden nach allem, was man gehört hätte, sicher sei und die Reise in die Waldlande nicht schwieriger wäre als der Weg von Palmaris bis hierher – es sei denn, der Winter käme noch einmal zum Vorschein. Dort oben bliebe der Schnee länger liegen, meinten sie. Nach dem Essen entschuldigte sich Bruder Wohlgemut artig und gab vor, Janines Einladung anzunehmen und in der Scheune zu übernachten. Er erklärte noch, sie würde ihn am nächsten Morgen wahrscheinlich nicht mehr vorfinden, da er so früh wie möglich aufbrechen wolle. Tatsächlich war er bereits nach einer Stunde auf und davon, und nachdem er Caer Tinella hinter sich gelassen hatte, ließ er sich mit jedem Schritt über die mondbeschienenen Felder tiefer in den Bann der Tigertatze fallen. Bald wurde seine Mönchskutte zum Fell, der Ring an seinem Finger zierte ein Glied der Tigerpranke, und als er das nördlichste Feld überquerte, hatte er den federnden Gang weicher Katzenpfoten und die scharfen Sinne des nachtaktiven Raubtiers angenommen. Jetzt jagte er mit großen Sätzen dahin, und die Vorderpfoten berührten jeweils nur sekundenlang den Boden. Und dann nahm er auf einmal die Witterung eines anderen Tieres auf. Mit schnellem Schritt folgte er dem Geruch und schwelgte darin, denn es war nicht die Losung eines Tieres, auch nicht der Duft nach nassem Fell. Es war pure Angst, und er empfand sie als etwas Köstliches und Unverfälschtes. Und diese Angst strömte von allen Seiten auf ihn ein. Lautlos und unsichtbar schlich sich der Tiger vorwärts, er ging vollständig im nächtlichen Wald unter, doch seine Beute spürte genau, dass er näher kam. Das machte es umso verlockender.
Seine scharfen Ohren hörten ein Rascheln, und dann sah er sie auch schon: ein Rehbock mit stark verzweigtem Geweih und eine Hirschkuh. Behutsam setzte der Tiger eine Pfote vor die andere. Der Rehbock scharrte mit den Hufen, das Weibchen machte einen Satz, als wolle es davonspringen. Doch es wusste nicht, in welche Richtung es laufen sollte. De’Unnero war nur noch einen gewaltigen Sprung weit entfernt. Zuerst würde er den Bock aufs Korn nehmen, das gefährlichere Objekt. Mit schaurigem Gebrüll und gespreizten Klauen setzte er zum Sprung an, doch der Bock ergriff nicht die Flucht und stand auch nicht da wie erstarrt, sondern er drehte sich zu dem Angreifer um und senkte den Kopf mit dem kolossalen Geweih. De’Unnero spürte, wie sich ein Zacken in seinen Brustkorb bohrte, doch er nahm kaum Notiz davon, so sehr war er jetzt in wilde Raserei verfallen. Noch ein Brüllen, und die Pranke des Tigers peitschte auf den Hirsch herab, verhakte sich im Geweih und riss den Kopf zur Seite – ein gewaltsamer Ruck, ein Knacken, dann fiel das Tier kraftlos zu Boden. De’Unnero machte sich sofort über die Halsschlagader her und badete im hervorsprudelnden Blutstrom. Instinktiv wanderten seine Gedanken zu dem Seelenstein, und er nahm die ganze Lebenskraft seiner Beute in sich auf. Anschließend zog er sich nicht in einen ruhigen Winkel zurück, um sich auszuruhen, denn nun war er voll neuem Tatendrang. Er wusste, dass er eigentlich schnurstracks nach Norden ziehen sollte, nach Dundalis, doch dieser Geruch der Angst war noch immer da. Und so machte er sich auf die Suche nach der Hirschkuh, und als er sie gefunden hatte, fand ein weiteres Festmahl statt.
»Da vorn ist alles klar«, verkündete Roger, als er wieder mit Eibryan und Bradwarden zusammentraf, die nach Osten und Westen ausgeschwärmt waren. Hinter ihnen auf einer Lichtung neben der Straße – eigentlich war es nur eine Schneise, die das Dämonenheer bei seinem Durchzug hinterlassen hatte – kauerten die fünf Mönche im Kreis um ein knisterndes Feuer und aßen, was Bruder Viscenti aus Wurzeln und Kräutern zusammengekocht hatte. »Wo sind sie bloß abgeblieben?«, fragte der Hüter kopfschüttelnd. Sie hatten inzwischen mehr als die halbe Strecke von Dundalis zum Barbakan zurückgelegt, ohne die geringste Spur irgendwelcher Ungeheuer zu entdecken. »Die Wilderlande sind größer, als man denkt«, erklärte Bradwarden. »Größer als alle menschlichen Königreiche zusammen. Der Ruf des Geflügelten ist bis in die entferntesten Winkel gedrungen, zu den verborgenen Schlupflöchern der Goblins und den Höhlen der Riesen in namenlosen Gebirgskratern. Und sogar bis zu den Felsklippen der Pauris mitten im Meer.« »Und dort scheinen sie sich jetzt auch wieder verkrochen zu haben«, sagte der Hüter. »Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, als ob die Welt sicherer geworden wäre.« »Komisch, wie die Menschen sich immer wieder selber die Laune verderben«, meinte Bradwarden trocken. Erneut schüttelte der Hüter den Kopf und schaute in alle Richtungen. »Ich finde, wir sollten froh sein«, mischte sich Roger ein, der die Skepsis des Hüters für Enttäuschung hielt. »Besser gar keine Gegner als zu viele.« »Einer wäre schon zu viel«, erwiderte Eibryan. »Außer man will mal was Besseres zwischen die Zähne kriegen als Suppe.« Der Zentaur grinste. »Ho-ho-hoppla!«
Bei dieser Erinnerung an Avelyn zog sich ein breites Lächeln über Eibryans Gesicht. »Musste das jetzt sein?«, fragte er. Der Zentaur nickte. »Ziehen wir noch mal los?«, fragte Roger, und den anderen entging nicht sein sehnsüchtiger Blick zum warmen Feuer. »Heute nicht mehr«, sagte Eibryan, obwohl er wusste, dass er später noch einmal hinausgehen und Bradwarden dann ebenfalls seine Runden drehen würde. »Setz dich zu den Mönchen ans Feuer und schlaf ein bisschen.« Roger nickte und beeilte sich, Bruder Castinagis zuzurufen, er solle ihm noch etwas von der Suppe übrig lassen. Als Eibryan Bradwarden ansah, machte dieser ein finsteres Gesicht. »Er hat ganz Recht mit dem Feuer«, meinte der Zentaur. »Der Wind ist ein bisschen frisch«, pflichtete Eibryan ihm bei. »Mehr als das, fürchte ich«, erklärte Bradwarden. »Bis jetzt haben wir verdammtes Glück gehabt, Hüter. Hier oben kann einem der Wind die Knochen gefrieren lassen, und wenn wir Pech haben, wachen wir eines Morgens auf, und der Schnee liegt höher als das Geweih eines Hirsches.« »Wir sind schon hoch im Norden.« Bradwarden nickte. »Und früher, als gut ist, wenn du mich fragst. Der Frühling steht vor der Tür, so viel ist sicher, aber im Barbakan ist Frühling nicht dasselbe wie in Dundalis. Ich kann nur hoffen, dass der Berg, als er in die Luft flog, dem Winter den Garaus gemacht hat. Vielleicht ist ja genug davon am Himmel gelandet, um als Baldachin zu dienen. Hast du die Farben gesehen, wenn die Sonne auf- und untergeht? Macht alles nur der Staub, und vielleicht macht er ja auch das Wetter irgendwie zu ‘nem Mittelding zwischen Sommer und Winter, könnt ich mir vorstellen.«
Tatsächlich färbte sich der Himmel in diesem Moment im Westen gerade blutrot, fast als würden die Wolken in Flammen aufgehen. Bradwardens Überlegungen erschienen dem Hüter einleuchtend, und selbst wenn nicht, er hätte ihm stillschweigend geglaubt. Der Zentaur war mindestens dreimal so alt wie der älteste Mensch, und niemand, nicht einmal Lady Dasslerond von den Touel’alfar, kannte sich besser aus mit den Abläufen der Natur. Einen Gedanken hatte Bradwarden allerdings unausgesprochen gelassen, doch Eibryan konnte es sich auch selbst sagen, nämlich dass die Kälte nur schlimmer werden konnte, je weiter sie nach Norden kämen, und erst recht, wenn sie in die Berge hinaufkletterten, die den zertrümmerten Aida umgaben. Hatten sie sich von der ungewöhnlich milden Witterung in den Waldlanden täuschen lassen? Vielleicht waren die Passstraßen im Norden verschneit. »Komm«, sagte er zu Bradwarden. »Wir wollen mit unseren Freunden zusammen einen Happen essen.« Der Zentaur aber schüttelte den Kopf. »Keinen Appetit«, sagte er. »Hab zwar vorhin keine Ungeheuer gesichtet, aber dafür rannte eine ganze Menge Essbares in der Gegend herum.« Unter erneutem Gelächter sprengte er davon und streifte dabei seinen gewaltigen Bogen von der Schulter. »Bleib in der Nähe!«, rief ihm Eibryan hinterher. »Hast du Angst, dass du irgendwelche Ungeheuer übersehen hast?«, rief Bradwarden zurück. »Keineswegs«, erwiderte der Hüter. »Mir ist nur heute Abend so nach Bradwardens Dudelsack zumute!« »Sollst du haben!«, röhrte der Zentaur und verschwand in den Büschen, sodass nur noch seine donnernde Stimme zu vernehmen war. »Wenn mir nicht die Lippen an den verdammten Pfeifen festfrieren!«
Von seinem Aussichtsposten auf einem hoch gelegenen Ast konnte De’Unnero die kleine Ortschaft überblicken. Er merkte sofort, dass Dundalis sich erheblich von Caer Tinella unterschied. Es war nicht sosehr die Größe, auch wenn Dundalis in seinem gegenwärtigen Zustand kaum halb so groß war wie Caer Tinella. Es war eher die Umgebung. Hier gab es keine ausgedehnten Felder, auf denen Bauern ihrem Tagewerk nachgingen, denn Dundalis war nie eine Gegend des Ackerbaus gewesen. Doch auch von den für diesen Landstrich typischen Tätigkeiten wie dem Bäumefällen und dergleichen war bislang noch nichts zu sehen. Hier im Norden war man noch nicht so weit zum normalen Alltag zurückgekehrt. Dundalis wirkte eher wie eine Festung als wie eine Ansiedlung, ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch die Anwesenheit von Hauptmann Kilronney und seinen Männern. De’Unnero bemerkte ein Dutzend im Bau befindliche Häuser und etliche, die bereits fertig gestellt waren, doch am auffälligsten war die mächtige Stadtmauer, die alles umgab, höher als ein groß gewachsener Mann und von vielen Soldaten bewacht. Am Nordhang hatte man einen Turm errichtet, und der Bischof konnte die Umrisse zweier Männer erkennen, die sich gegen den schummrigen Abendhimmel abzeichneten. Natürlich waren auch im Wald Wachtposten aufgestellt, obwohl De’Unnero hier draußen keinen der gut ausgebildeten Soldaten entdeckt hatte und ohne große Mühe durch die kaum gesicherten Reihen geschlüpft war, um seinen Aussichtsposten zu beziehen. Am liebsten hätte er die ganze Stadt links liegen gelassen, doch er wollte mit Shamus reden und den Hauptmann vielleicht sogar auffordern, ihn mit seinen Soldaten in den Norden zu begleiten. Vorsichtig stieg er von dem Baum herab und zog sich in den Wald zurück; dabei überlegte er, wie er zu Kilronney gelangen konnte, ohne
irgendeinen der mutmaßlichen Freunde des Nachtvogels darauf aufmerksam zu machen, dass der Bischof von Palmaris ganz allein so weit in den Norden gekommen war. Als er kurz darauf zwei Kundschafter belauschte, wusste er, was er tun musste. Der eine war mittelgroß und von unscheinbarem Äußeren, der andere stämmig und von beträchtlicher Körpergröße. Aus der Art, wie der schmächtigere mit dem anderen sprach – er nannte ihn Tomas –, wurde deutlich, dass letzterer eine höhere Stellung in der Stadthierarchie innehatte. Und zu De’Unneros Entzücken sprachen sie gerade über Shamus Kilronney. Bei diesem Stichwort trat er dazwischen. Die beiden machten einen Satz, und der größere zog im Handumdrehen ein Schwert und richtete es auf den Mönch. »Ruhig, Bruder, ich bitte Euch!«, sagte De’Unnero und streckte seine leeren Hände in die Höhe. »Ich bin nur ein demütiger Diener Gottes.« Tomas senkte sein Schwert. »Wie seid Ihr hier heraufgekommen?«, fragte er. »Und mit wem?« »Auf meinen eigenen Füßen und nur mit mir selbst als Begleitung«, antwortete De’Unnero lächelnd. Die beiden anderen sahen sich skeptisch an. »Der Bischof von Palmaris ist betroffen, dass die Waldlande so ganz ohne Beteiligung der Kirche wieder eingenommen werden«, sagte De’Unnero. »Die Kirche hat sich noch nie um die Waldlande geschert«, meinte der kleinere der beiden. Nun hörte De’Unnero, wie sich hinter ihm im Wald etwas bewegte – die Tritte zweier Männer, die zweifellos nachsehen wollten, was die aufgeregten Stimmen zu bedeuten hatten. »Die alte Kirche nicht«, verbesserte der Bischof. »Wir sind jetzt viel enger mit den Vorgängen im Reich verknüpft.« Er
rührte sich nicht, als die beiden Soldaten hinter ihn traten und sich rechts und links von ihm aufbauten. »Die Waldlande gehören nicht zu König Danubes Reich«, meinte der schmächtige Mann verächtlich. Tomas scharrte unbehaglich mit den Füßen. »Du redest schon wieder von der Vergangenheit, mein Freund«, erklärte De’Unnero. »Der Krieg hat vieles verändert.« »Wollt Ihr etwa behaupten, dass Dundalis dem König des Bärenreichs gehört?«, entgegnete der Mann aufgebracht. »Ich sage nur, dass man nicht wissen kann, was aus Dundalis oder den Waldlanden wird«, erwiderte De’Unnero, den die Meinung dieser Männer nicht sonderlich interessierte. »Und dass ihr alle gut daran tut, das zu begreifen, ganz besonders mit einem Kontingent Soldaten des Königs in eurer Mitte.« Das brachte die beiden vorübergehend in die Defensive, und der Große trat wieder von einem Bein aufs andere. »Ich bin Tomas Gingerwart«, sagte er vernehmlich, aber in freundlichem Tonfall und streckte die Hand aus. De’Unnero war froh, dass er die Tigertatze in der linken Hand hielt, als er dem anderen die Hand schüttelte. »Sind da nicht auch ein paar Abellikaner-Mönche in den Mauern von Dundalis?«, fragte der Bischof unvermittelt und ergötzte sich einmal mehr an der Verlegenheit des anderen. »Hier sind keine Mönche«, erwiderte Tomas ein bisschen zu schnell. »Wie schade, dass sie schon wieder abgereist sind«, sagte der Bischof. »Es waren nie welche hier«, sagte Tomas unbeirrt. De’Unnero machte ein nachdenkliches Gesicht. »Sie sind noch gar nicht hier angekommen?«, fragte er betroffen und brachte die beiden damit noch mehr aus dem Konzept. Jetzt wussten sie gar nicht mehr, ob er nun über Braumin und die
anderen redete oder nicht, und das war genau das, was er beabsichtigt hatte. Tomas’ Reaktion hatte ihm alles verraten, was er über dessen Verbindungen wissen wollte – er war zweifellos ein Freund dieses Nachtvogels. Alle waren sie es. »Ich mache mir Sorgen um meine Brüder«, sagte der Bischof. »Aber die Straße war den ganzen Weg von Palmaris und durch Caer Tinella frei. Was mag sie wohl aufgehalten haben?« »Hier gibt’s noch eine Menge Ungeheuer«, sagte Tomas wenig überzeugend. De’Unnero musste beinahe lachen über die Ironie dieser Feststellung, denn noch während Tomas sie aussprach, ließ sich der Bischof in die Kraft seines Edelsteins fallen. Schnell verbarg er seine linke Hand in den großzügigen Falten seines langen Ärmels. »Kommt mit in die Stadt«, sagte Tomas. »Da können wir weiterreden.« Er wollte losgehen, blieb aber wieder stehen, als er merkte, dass De’Unnero sich nicht rührte, sondern nur den Kopf schüttelte. »Tomas Gingerwart ist der Anführer in Dundalis«, erklärte der kleinere Mann. »Tomas Gingerwart führt nur die an, die sich von ihm anführen lassen«, erwiderte De’Unnero. »Was kann er schon gegen einen Hauptmann der königlichen Armee ausrichten? Oder gegen einen Abgesandten des Abellikaner-Ordens?« »In der Stadt«, sagte Tomas und zeigte in Richtung Dundalis. »Geht Ihr in die Stadt, Bruder Tomas«, sagte De’Unnero jetzt im Befehlston. »Beeilt Euch und holt mir Hauptmann Kilronney her!« Seine anmaßende Art ließ Tomas erneut herumfahren und ihn empört ansehen, während die anderen drei unruhig wurden und murrten.
»Du kannst von Glück sagen, dass ich keine Zeit habe, mich mit dir herumzustreiten«, sagte De’Unnero. Ihm war klar, dass es ihm wenig nützen würde, sich mit diesen Männern anzulegen, doch es machte ihm einfach zu viel Spaß, um jetzt damit aufzuhören. »Ich will mit Hauptmann Kilronney reden, aber hier draußen. Ich habe keine Lust, das dreckige Loch zu betreten, das Ihr Stadt nennt.« Wieder hörte er hinter sich das Murren der beiden. »Dann macht kehrt und geht zurück nach Süden«, sagte Tomas angriffslustig. »Wo Ihr hergekommen seid und wo Ihr hingehört.« »Dann stimmt es also«, sagte De’Unnero. »Ihr seid ein Freund des Mannes, den sie Nachtvogel nennen.« Tomas riss erschrocken die Augen auf, doch noch ehe er oder seine Freunde reagieren konnten, fuhr De’Unnero wie ein Blitz herum und ließ seine linke Hand, die Tigerpranke, über den Brustkorb des verblüfften Spähers schrammen. Er hätte den Mann umbringen können – und eigentlich hatte er das auch vorgehabt –, doch dann hielt er sich wohlweislich zurück und zerfetzte lediglich den ledernen Panzer des Mannes mit einem einzigen gnadenlosen Hieb. Dieser fuhr mit einem Schreckensschrei zurück, und sein Begleiter ging auf De’Unnero los. Doch der Bischof war schneller und wandte sich mit einer Rechtsdrehung dem ankommenden Späher zu. Und wieder hatte er den anderen außer Gefecht gesetzt, bevor ihn irgendjemand daran hindern konnte. Mit der menschlichen Hand packte er den Soldaten beim Haarschopf und bog ihm den Kopf zurück, die Tigerpranke hatte er ihm aufs Gesicht gedrückt, die Krallen ausgefahren, sodass sie ihm in die Haut stachen, aber nicht so weit, dass Blut floss. Die drei anderen wichen einen Schritt zurück und hoben beschwörend die Hände.
Zu ihrer Überraschung ließ De’Unnero jetzt sein Opfer los und schubste es Tomas’ Begleiter in die Arme. »Männer in Eurer Position sollten aufpassen, mit wem sie sich anlegen«, erklärte der Bischof. »Ihr solltet nicht unterschätzen, was die Kirche hier vorhat oder wie weit sie gehen wird, um ihre Ziele zu erreichen. Geh jetzt und hol mir Hauptmann Kilronney. Ich habe weder die Zeit noch die Geduld für Eure albernen Spielchen.« Zuerst rührte sich keiner der vier, doch dann sah Tomas’ Begleiter seinen Anführer fragend an, und dieser schickte ihn mit einem Kopfnicken los. »Wann sind sie zum Barbakan aufgebrochen?«, fragte der Bischof. Tomas und die beiden anderen gaben keine Antwort. »Ganz wie Ihr wollt«, meinte der Bischof mit einer Verbeugung. »Zu welchem Lager Ihr gehört, ist klar, aber ich warne Euch: Man beurteilt einen Menschen nur zu leicht nach den Freunden, mit denen er sich umgibt.« »Ihr seid ein bisschen voreilig«, sagte Tomas. »Ihr redet von diesem Nachtvogel, als müssten wir den Mann oder die Frau, oder was immer es ist, kennen. Aber…« Er verstummte, als De’Unnero die Hand hob und wegschaute. »Wie Ihr wollt«, sagte er noch einmal und zeigte auf eine Gruppe dicker Kiefern. »Sagt Hauptmann Kilronney, dass ich da hinten auf ihn warte, damit wir uns unter vier Augen unterhalten können.« Damit ließ er die Männer, die er soeben quasi zu seinen Feinden erklärt hatte, stehen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Er war völlig sicher, dass sie ihn nicht angreifen würden, denn De’Unnero hatte für solche Dinge ein unfehlbares Gespür – vielleicht seine größte Stärke als Kämpfer. Und er wusste, dass diese Selbstsicherheit Leute wie Tomas Gingerwart und seine Begleiter noch zusätzlich einschüchterte und von jeglichem Handeln abhielt.
Als Shamus Kilronney sich bald darauf bei De’Unnero einfand, senkte sich bereits die Abenddämmerung auf den Wald. Der Hauptmann, dem man lediglich gesagt hatte, ein Abellikaner-Mönch wünsche ihn zu sprechen, war überrascht, den Bischof selbst am bezeichneten Ort vorzufinden. »Warum habt Ihr den Nachtvogel einfach fortgehen lassen?«, fragte De’Unnero, noch ehe Kilronney ihn richtig begrüßen konnte. »W-was hätte ich denn tun sollen?«, stotterte Shamus. »Ihr hattet mir untersagt, gewaltsam gegen ihn vorzugehen.« Seine Stimme war gefährlich laut geworden, und De’Unnero machte ihm ein Zeichen, leise zu sein, und bedeutete ihm, es gäbe hier viele neugierige Ohren. »Ihr solltet auf ihn aufpassen«, sagte De’Unnero ruhig. »Und nun finde ich Euch in diesem elenden Kaff, während der Nachtvogel fröhlich nach Norden zieht.« »Ich habe ihn gebeten, mich mitzunehmen«, hielt ihm Kilronney entgegen, »aber er wollte nicht.« »Ihr habt ihn gebeten?«, wiederholte De’Unnero ungläubig. »Ein Hauptmann der königlichen Armee?« Shamus lachte nur und schüttelte den Kopf. »Ihr kennt diesen Mann nicht«, versuchte er sich zu rechtfertigen, »und seine Stellung unter den Leuten hier. Ihm gegenüber würde hier oben wahrscheinlich selbst der König den Kürzeren ziehen.« »Eine gefährliche Annahme«, erwiderte der Bischof grimmig. »Ihr hättet ihn begleiten oder ihm zumindest auf den Fersen bleiben sollen. Ihr trommelt Eure Männer noch heute Nacht zusammen und setzt Euch auf seine Fährte.« »Werdet Ihr uns begleiten?« De’Unnero sah ihn abschätzig an. »Ich werde vorausgehen«, erklärte er. »Bis Ihr mich eingeholt habt, bin ich längst mit dem Nachtvogel fertig. Ihr werdet mir helfen, die
Überlebenden nach Palmaris zu bringen, falls es irgendwelche geben sollte.« Shamus wollte etwas entgegnen, doch der Bischof schnitt ihm das Wort ab. »Es wird Zeit!«, erklärte er und trat aus dem Wäldchen hinaus. Dort standen Tomas und ein paar Männer und gaben vor, mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. »Sie wissen, dass Ihr hinter dem Nachtvogel her seid«, flüsterte Shamus De’Unnero ins Ohr. Der Bischof schnaubte, als kümmere ihn das nicht. »Dass wir hinter ihm her sind, meint Ihr wohl«, flüsterte er zurück. »Sagt ihnen nicht, wer ich bin.« Shamus nickte nur, denn er wollte sich über diesen Bischof, der das Sprachrohr seines Königs war, keine Gedanken machen. Nicht jetzt. Tomas und die anderen standen kerzengerade da, als die beiden näher kamen, und etliche umklammerten ihre Waffen. Doch sie würden ihn nicht angreifen, das wusste De’Unnero genau. Dazu fehlte ihnen der Mut. Und so trieb er zum Spaß die Spannung auf die Spitze. »Sollte es irgendjemand wagen, mir zu folgen oder mir gar zuvorzukommen auf dem Weg zu diesem Nachtvogel, dann sagt ihm, dass er dem AbellikanerOrden zuwiderhandelt und ihm seine Strafe sicher ist«, sagte er ruhig. Shamus hielt ängstlich die Luft an und fragte sich, ob De’Unnero damit nicht zu weit gegangen war. Aber der Bischof hatte alles fest im Griff, und Tomas und die anderen traten beiseite und ließen ihn vorbei. Mehr verärgert als beeindruckt ging Kilronney zögernd weiter und musterte dabei De’Unnero während sie nun allein im Wald verschwanden. Erst jetzt bemerkte er die Tigerpranke des Bischofs, deren mächtige Krallen zwischen den Falten seines weiten Ärmels hervorschauten. Ein kalter Schauer
durchfuhr ihn, und er sagte auf dem ganzen Weg nach Dundalis kein Wort mehr. Dort angelangt, schärfte ihm De’Unnero erneut ein, noch in derselben Nacht aufzubrechen, dann stürmte er in Richtung Norden davon. Im Wald inspizierten Tom Gingerwart und seine Freunde den ruinierten Waffenrock, dessen Leder in Fetzen herabhing. »Nachtvogel wird ihn sich schon vorknöpfen«, verkündete einer der Männer unter beifälligem Murmeln und Kopfnicken der übrigen. Und auch Tomas stimmte in diesen Chor mit ein, obwohl er da gar nicht so sicher war, denn er wollte ihnen die vage Hoffnung und das Vertrauen in ihren Freund Nachtvogel auf keinen Fall nehmen. Dieser seltsame und unheimliche Mönch hatte sie alle in Unruhe versetzt, und besonders Tomas, der dem Mann in die Augen geschaut hatte, war dort einer Willensstärke und Selbstsicherheit begegnet, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Er konnte nur beten, dass dieser Mönch seinen Freund nicht finden möge. Es war keine richtige Höhle – eher eine Vertiefung in der Felswand, wie ein natürlicher Alkoven –, doch Eibryan, der nie über etwas Komfortableres verfügt hatte als eine verlassene Bärenhöhle oder das natürliche Zelt aus den tief hängenden Zweigen einer ausladenden Kiefer, fand, dass er Glück hatte, dieses Plätzchen gefunden zu haben, das wie geschaffen schien für sein Orakel. Er zog sich tiefer in den Schatten zurück, während die Sonne am westlichen Horizont versank, der noch immer in roten, rosa und violetten Farbtönen erstrahlte, und lehnte seinen Spiegel an einen Stein. Dann hängte er seine Decke vor die Öffnung, um das Licht noch mehr zu dämpfen, und warf einen letzten Blick hinaus in den wunderschönen Abendhimmel. Dann setzte er sich nieder, an den kalten Fels gelehnt, starrte in den kaum noch sichtbaren Spiegel und ließ seinen Blick in
die Tiefen des Glases eintauchen. Im Nu verschleierte sich das Innere des Spiegels, und der Geist erschien. »Onkel Mather«, begrüßte der Hüter die stumme Erscheinung. Er stützte das Kinn in die Hand und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er hatte an diesem Abend das dringende Bedürfnis verspürt, mit seinem Onkel Mather zu reden, denn er fühlte sich irgendwie unbehaglich. Bis jetzt hatte er noch nicht herausgefunden, woran das lag, er wusste nur, dass er jetzt lieber nicht auf diesem Weg gewesen wäre. »Ist mir meine Begeisterung verloren gegangen?«, fragte er offen. »War meine Ausbildung bei den Touel’alfar dauerhafter als mein Pflichtgefühl? Bei den letzten Kämpfen, als uns die Goblins überfielen und die Soldaten erschlagen wurden… da wollte ich nicht dabei sein. Nicht weil ich Angst hatte, ich hatte auch keine Hemmungen, ein paar Goblins umzubringen, aber ich verspürte einfach nicht mehr diese Begierde, Onkel Mather, und sie ist auch bis jetzt nicht zurückgekehrt. Ich weiß, wie wichtig diese Reise zum Barbakan für Bruder Braumin und seine Gefährten ist und dass sie meinem Freund Avelyn eine große Ehre erweisen, indem sie sein Grab aufsuchen, und doch…« Eibryan verstummte und ließ mit einem tiefen Seufzer den Kopf hängen. Die ganze Zeit, seit er von den Elfen fortgegangen war, hatte ihn sein Pflichtgefühl angetrieben. Während des Krieges hatte er monatelang regelrecht den Kampf gesucht. Und als die Ungeheuer vertrieben waren, hatte er ein neues Ziel vor Augen gehabt – Bradwardens Kerkermeister zu besiegen. Jetzt konnte er sich sagen, dass diese Reise in den Norden lediglich ein Ausläufer der Schlacht war, die Fortführung von Avelyns Kampf gegen seine niederträchtigen Ordensbrüder.
Doch irgendwie hatte er nicht mehr dieses Gefühl von dringender Notwendigkeit. Irgendetwas fehlte inzwischen. »Pony«, flüsterte er und merkte kaum, dass er ihren Namen ausgesprochen hatte. Er schaute auf und sah wieder in den Spiegel, und ihm wurde schmerzlich bewusst, was er entbehrte. »Es ist Pony, Onkel Mather«, stellte er entschieden fest. Aber was war mit Pony? Natürlich fehlte sie ihm, schon lange, schon seit sie ihn in Caer Tinella verlassen hatte; von dem Augenblick an, als sie auf der Straße nach Süden seinen Blicken entschwunden war, hatte er sie vermisst. Aber sie fehlte ihm immer, wenn sie nicht bei ihm war, selbst wenn es nur für einen Tag war, an dem er auf Erkundungstour durch die Wälder gezogen war. Eibryan verstand das alles nicht, aber er kämpfte auch nicht gegen seine Gefühle an. Er liebte sie von ganzem Herzen und konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Sie spornte ihn an. Und sie hatte ganz sicher dafür gesorgt, dass er Bi’nelle dasada zu höchster Vollkommenheit entwickelt hatte. Doch es war mehr als eine körperliche Angelegenheit. Pony hob Eibryan emotional auf eine höhere Ebene, ließ ihn die Welt um sich herum und seinen Platz darin deutlicher erkennen und erfüllte ihn jeden Tag mit Freude. Sie war seine Ergänzung, und so verwunderte es ihn ganz und gar nicht, dass sie ihm jetzt fehlte. Aber ihm war klar, dass es mehr war als das. »Ich habe Angst, Onkel Mather«, sagte er leise. »Pony befindet sich in viel größerer Gefahr als ich, obwohl ich in die Wilderlande marschiert bin, auf dem Weg zur Behausung des Scheusals, das die ganze Welt in die Finsternis gestürzt hat. Ich kann ihr nicht helfen, wenn sie mich braucht. Ich kann sie nicht hören, wenn sie nach mir ruft.«
Wieder seufzte er und starrte den Geist an, als erwarte er von ihm eine Bestätigung und hoffe, Onkel Mather würde ihm sagen, er solle umkehren und nach Süden an Ponys Seite eilen. Doch die Erscheinung im Spiegel rührte sich nicht. Nun dachte Eibryan erneut nach, und als das auch nichts half, erforschte er sein Herz. »Ich habe Angst um sie, weil wir so auseinander gegangen sind«, hörte er sich sagen, und er überlegte noch einmal genau. Dann musste er sich eingestehen, dass er Pony böse war, weil sie ihn so einfach im Stich gelassen hatte, und dass er eigentlich nicht verstand, welchen Sinn es für sie haben sollte, nach Palmaris zurückzulaufen. Er hatte gar nicht wirklich Angst um sie – sie konnte gut auf sich selbst aufpassen und auf alle Leute um sie herum obendrein, besser als irgendjemand sonst auf der Welt! Nein, er hatte nur Angst, dass irgendetwas passieren könnte, was ihn hinderte, zu ihr zurückzukehren, und dann hätte er sie so verlassen, mit diesem Zorn in seinem Herzen, wo eigentlich nur Liebe und Vertrauen Platz haben dürften. Der Hüter lehnte sich zurück und musste über seine eigene Dummheit lachen. »Ich hätte besser auf sie hören sollen«, erklärte er dem Geist. »Vielleicht hätte mich mein Weg auch nach Süden führen sollen. Vielleicht hätte ich mit ihr gehen sollen.« Er lachte noch einmal: »Zumindest hätte ich besser verstehen sollen, warum sie gehen musste, und es irgendwie akzeptieren sollen, ehe wir uns getrennt haben. Und jetzt sind wir noch weiter voneinander entfernt, Onkel Mather«, klagte er. »Pony ist in Palmaris, und ich gehe genau in die entgegengesetzte Richtung.« Als er geendet hatte, verschwand die Erscheinung langsam im Nebel. Zuerst dachte Eibryan, das Orakel wäre damit beendet und die Eingebung hätte sich verflüchtigt. Vielleicht hatte er ja jetzt die Lösung gefunden. Doch noch ehe er aufgestanden war, lichtete sich in der Mitte des Spiegels der
Nebel noch einmal und machte einem Glühen Platz, das nicht von draußen kam. Und dann sah Eibryan verblüfft ein Bild vor seinen Augen erstehen, kristallklar, obwohl die Felsnische inzwischen nahezu völlig finster war. Und er kannte dieses Bild. Da war die abgeflachte Spitze des Aida-Berges und Avelyns Arm, der aus dem Stein ragte. Ein Gefühl der Wärme durchflutete Eibryan, so voller Liebe und Magie, wie er es selten verspürt hatte. Dann war das Bild verschwunden, und der Hüter brauchte eine ganze Weile, bis er aus seinem Versteck hervorkam. Fast wäre er dabei auf einer dünnen Eisschicht ausgerutscht. Kurz zuvor war es noch eine Wasserpfütze gewesen – dabei waren sie noch nicht einmal in den Bergen. Doch er schlug die Warnungen in den Wind. Das Orakel hatte ihm den Weg gewiesen, und jetzt wusste er ebenso genau wie Braumin und die anderen, dass er zu Avelyn gehen musste. Vielleicht würde ja auch ihm diese Pilgerfahrt die eine oder andere Frage beantworten. Auch der tiefste Schnee würde ihn nicht zurückhalten. Er wickelte sich fest in seine Decke ein, und erst jetzt bemerkte er, dass Bradwardens kleine Weise, das Pfeifenlied des Waldgeistes, mit der Nachtluft herüberwehte. Dennoch folgte er den Klängen nicht, sondern kehrte zum Feuer zurück, um nach den Mönchen und nach Roger zu sehen, der eigentlich Wache halten sollte, jedoch der bezaubernden Melodie erlegen war. Macht nichts, dachte der Hüter, denn er wusste, dass es in dieser Gegend keine Goblins oder anderen Ungeheuer gab. Dann tauschte er die Decke gegen seinen Umhang ein, sah nach, ob Symphony es auch bequem hatte, und ging dann dem Klang nach, wie es nur einer konnte, der bei den Touel’alfar aufgewachsen war.
Er fand den Zentauren auf einer kahlen Anhöhe – das war schon immer Bradwardens Lieblingsstandort gewesen – und schlich sich leise näher, um ihn nicht aus seiner Verzauberung herauszureißen. Und Bradwarden spielte tatsächlich noch eine ganze Weile vor sich hin. Als er schließlich aufhörte und die Augen öffnete, war er nicht sehr verwundert, dass der Nachtvogel neben ihm saß. »Wieder mal mit Geistern geredet, was?«, fragte der Zentaur. »Wohl eher mit mir selber«, verbesserte ihn der Hüter. »Und was hast du dir erzählt?«, fragte Bradwarden. »Dass ich eigentlich gar nicht hier sein will, so weit weg von Pony«, erwiderte Eibryan. »Ich habe mich nur bereit erklärt, die Mönche zu begleiten, weil ich verärgert war. Hast du das gewusst? Ich war böse auf Pony.« »Ein Grund ist so gut wie der andere«, sagte Bradwarden lakonisch. »Sie ist mir in Dundalis im Traum erschienen«, erklärte Eibryan, »und hat mir gesagt, dass wir uns nicht wie verabredet kurz nach Frühlingsanfang wieder sehen könnten. Da habe ich beschlossen, Bruder Braumin zu begleiten, obwohl ich eigentlich gar keine Lust hatte, noch einmal zum Berg Aida zurückzukehren.« »Dundalis ist noch nicht weiter weg als Aida, mein Junge«, meinte der Zentaur. »Und ich kann dir sagen, ich hab noch viel weniger Lust auf die stinkende Dämonenhöhle als du!« Eibryan schüttelte den Kopf. »Ich hab gesagt, ich hatte keine Lust«, erklärte er und betonte die Vergangenheitsform. »Jetzt weiß ich es besser: Ich muss zum Berg Aida, mit oder ohne Bruder Braumin. Schlechte Beweggründe haben mich auf diesen Weg gebracht, aber ich hatte Glück, dass es der richtige Weg ist.« »Sieht so aus, als würdest du nur noch auf Träume und Gespenster hören«, schnaubte der Zentaur. »Ich mache mir
ernsthafte Sorgen um dich, mein Junge, und um mich selber auch, wenn ich dir weiter hinterherlaufe.« Eibryan musste lächeln. Und sein Lächeln hielt an, als Bradwarden zum Dudelsack griff und unvermittelt sein Spiel wieder aufnahm, das bald in eine süße, hauchzarte Melodie überging, die Melodie der Nacht, die Melodie des Waldgeistes.
5. Das Attentat
»Bruder Pantelemone«, meldete der Bedienstete dem Obermeister, einer von fünfen, die dieser aus St. Mere-Abelle mitgebracht hatte. Francis nickte; dieser Besuch kam nicht unerwartet. Bruder Pantelemone war soeben aus St. Mere-Abelle eingetroffen, um die bevorstehende Ankunft des ehrwürdigen Vaters anzukündigen. Der Mönch trat ein, ging schnurstracks auf den Obermeister zu und händigte ihm eine Pergamentrolle aus, deren blaues Band die Insignien des Abtes trug. Francis entrollte sie schnell und überflog die Zeilen, ihr Inhalt überraschte ihn nicht besonders. Der ehrwürdige Vater wünschte einen großen Empfang, die ganze Stadt sollte auf den Beinen sein und ihn überschwänglich willkommen heißen. »Es muss eine monumentale Feier werden«, erklärte Francis den beiden. »Der ehrwürdige Vater wird in drei Tagen eintreffen. Bis dahin muss alles vorbereitet sein.« Jetzt kam ein vierter Mönch hinzu. Bruder Talumus war hastig zu Francis’ Gemächern geeilt, als er gehört hatte, dass jemand aus St. Mere-Abelle eingetroffen sei. »Geht zu den Kaufleuten, denen wir…«, hob Francis an, doch dann unterbrach er sich und lachte in sich hinein. Was hatten sie eigentlich genau mit den Kaufleuten getan? Sie für die eingezogenen Edelsteine entschädigt? Nein, in Wirklichkeit hatte man die Kaufleute schlicht und einfach bestochen. Aber die meisten hatten das Gold lächelnd angenommen, in der Hoffnung, dass damit alles wieder in
Ordnung wäre, denn sie wussten, dass sie es sich nicht leisten konnten, sich mit der Kirche anzulegen. Nicht jetzt. Aber Francis musste es natürlich etwas diplomatischer ausdrücken. »Geht zu den Kaufleuten, die wir entschädigt haben«, erklärte er. »Und sagt ihnen, dass der Urheber ihres neuen Wohlstands, der ehrwürdige Vater höchstselbst, nach Palmaris kommt und dass wir von ihnen erwarten, dass sie uns helfen, ihm einen gebührenden Empfang zu bereiten.« »Ist König Danube nicht auch schon unterwegs?«, fragte Bruder Talumus. »Nach allem, was man hört, ist er mindestens noch eine Woche entfernt«, erwiderte Francis. »Der ehrwürdige Vater wird zuerst hier sein.« »Dann werden wir also in einer Woche noch mal von vorn anfangen«, meinte Talumus. »Denn König Danube muss ja einen ebenso pompösen Festumzug bekommen wie der ehrwürdige Vater, nicht wahr?« Francis gefiel der vorwurfsvolle Ton des anderen nicht. In den letzten zwei Wochen war ihm immer deutlicher aufgefallen, dass es mit Talumus Probleme geben könnte. Der Mönch war häufig unterwegs, und Francis hatte ein Gespräch belauscht, demzufolge dieser sogar einen Seelenstein an ein Straßenmädchen ausgeliehen haben sollte. »Der König hat bestimmt Zuträger in der Stadt, die es ihm sofort berichten werden, wenn sein Empfang weniger pompös ausfällt als der des ehrwürdigen Vaters«, sagte Talumus. »Das zu entscheiden und zu organisieren ist Sache des ehrwürdigen Vaters«, erwiderte Francis. »Unsere Pflicht ist es einzig und allein, die Festlichkeiten für den ehrwürdigen Vater vorzubereiten.« Talumus wollte protestieren, obwohl die beiden neben ihm stehenden Mönche die Gesichter verzogen, doch Francis wollte nichts mehr hören.
»Vater Markwart kennt sich in diesen Dingen besser aus«, erklärte er. »Niemand auf der Welt weiß so gut über das Protokoll Bescheid, das könnt ihr mir glauben. Vater Markwart hat unzählige Male königliche Hoheiten empfangen und erst vor ein paar Monaten erfolgreich ein Äbtekollegium abgehalten.« »Aber…«, wollte Talumus einwenden, doch als er sich umsah und feststellte, dass er keinerlei Unterstützung fand, hob er nur resignierend die Hände und fragte: »Was sollen wir sonst noch tun, Obermeister?« »Fangt mit den Kaufleuten an, dann schickt die Soldaten auf die Straße, zu den Märkten und Gasthäusern«, erklärte Francis. »Wir bereiten eine Begrüßung an der Fähre vor, und dann stellen wir die Bevölkerung von Palmaris den ganzen Weg nach St. Precious entlang auf.« Nun hatten sie genug zu tun, dachte er und wedelte mit den Händen. Zwei der Mönche liefen hastig davon, während Bruder Talumus langsam hinterher schlurfte und sich noch ein paar Mal nach dem neuen Obermeister umsah. Francis atmete auf, denn die Zeit seiner Bewährung, die so wichtig war, neigte sich langsam ihrem Ende zu. Und er hatte seine Sache gut gemacht, davon war er überzeugt. Die meisten der Kaufleute waren zufrieden, und selbst diejenigen, die murrend wieder fortgegangen waren, würden ihn nicht beim ehrwürdigen Vater anschwärzen, denn Obermeister Francis war ihnen mit Sicherheit lieber als Bischof De’Unnero. Und er wusste, dass es dem einfachen Volk nicht anders ging, denn die Predigten waren in letzter Zeit entschieden freundlicher geworden und die Abgaben weniger erdrückend. Markwart hatte seinem Handlanger genaue Anweisungen erteilt, wie er mit der Stadt verfahren sollte, und Francis hatte sie zweifellos mit größter Akribie ausgeführt. Jetzt blieb nur
noch die Empfangszeremonie, und das, dachte Francis, war das Einfachste von allem.
Im Gasthaus entspannen sich an diesem Abend lebhafte Diskussionen über das bevorstehende Ereignis und die Rolle, die die Leute dabei spielen sollten. Die Schankstube füllte sich immer mehr, und keiner, der sich erst einmal auf die hitzigen Debatten über die Ereignisse der letzten zwei Wochen eingelassen hatte, ging so bald wieder nach Hause. Solange De’Unnero die Stadt regiert hatte, war man sich darüber einig gewesen, dass die Kirche auf die Dauer in Palmaris keinen guten Stand haben würde, aber jetzt… Jetzt wussten die Leute nicht mehr so genau, was sie davon halten sollten. Für Pony, die beim Servieren an jedem Tisch etwas von der Unterhaltung mithörte, war das Ganze äußerst beunruhigend. Immer wenn jemand wohlwollend über den neuen Klostervorstand sprach, zuckte sie zusammen, als hätte man sie geohrfeigt, denn sie erinnerte sich von ihrer Reise nach St. Mere-Abelle nur zu gut an diesen Francis. Bradwarden hatte ihn als Markwarts verlängerten Arm bezeichnet. Und tatsächlich hatte er den gefangenen Zentauren gerade geschlagen, als Eibryan ihm in die Quere gekommen war. Und nun war er hier und machte sich mit seinem verlogenen Grinsen und seinem Gold bei der geplagten Bevölkerung von Palmaris lieb Kind. De’Unnero hatte ihnen deutlich die Macht der Kirche vor Augen geführt. Darauf konnte Francis nun aufbauen und den barmherzigen Wohltäter spielen. Im Laufe des Abends verlagerte sich die Stimmung immer mehr zu Francis’ Gunsten, und die Hoffnungen schienen sich zunehmend auf den Besuch des ehrwürdigen Vaters zu richten.
»Kann sein, die Kirche zeigt uns den richtigen Weg, jetzt wo der Krieg aus ist und alles«, meinte einer. Sofort erhoben ein paar andere ihre Gläser auf die Abellikaner und den neuen Bischof – möge er im Amt bleiben, auch wenn De’Unnero zurückkäme! – und auf den ehrwürdigen Vater – möge er die Rufe des einfachen Volkes erhören! Als sie den letzten Trinkspruch ausbrachten, hatte Pony bereits die Schankstube verlassen und war in die Nacht hinausgegangen, wo ein frischer Wind von Norden wehte. Als sie ein paar Mal tief Luft geholt hatte, ohne dass sich ihre Nerven wesentlich beruhigt hätten, ging sie um das Haus herum zur Regenrinne, um sich zu ihrem Versteck auf dem Dach zu begeben. »Du willst doch wohl in deinem Zustand nicht da hinaufklettern?«, ertönte eine Stimme hinter ihr. »Hast du Dainsey etwa mit dem vollen Laden allein gelassen?«, meinte Pony, obwohl sie Belsters Einwand nicht so einfach vom Tisch wischen konnte, denn ihr Bauch war inzwischen tatsächlich im Wege, zumal das Kind sich dauernd bewegte. »Mallory hilft ihr«, erwiderte Belster wegwerfend. »Und Prim O’Brien ist auch da. Die meisten haben sowieso schon mehr als genug und werden nichts mehr bestellen.« »Wenn ich bloß ihr dummes Geschwätz auf die Trinkerei schieben könnte«, sagte Pony. Belster stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dass du immer noch diesen Zorn mit dir herumschleppst, Mädchen«, sagte er. Pony starrte ihn ungläubig an. Hielt er ihren Zorn etwa für ungerechtfertigt? »Sogar du mit deinem ganzen Hass auf die Kirche musst zugeben, dass dieser Bischof immer noch besser ist als der letzte«, sagte Belster jetzt. »Für einige Leute ist das genug.« Kopfschüttelnd lehnte sich Pony gegen die Regenrinne.
»Du hast deine ganz persönlichen Erfahrungen mit der Kirche«, sagte Belster ruhig und legte tröstend den Arm um sie. »Niemand kann dir deinen gerechten Zorn verdenken. Aber die meisten Leute hier versuchen verzweifelt nach vorn zu schauen und nicht zurück. Sie wollen einfach nur in Frieden ihrem Tagewerk nachgehen und ein bisschen Spaß haben, und alles, was sie von ihrem Oberhaupt erwarten, ist, dass es sie schützt, falls die Goblins noch einmal zurückkommen sollten.« »Und die Kirche soll dieses Oberhaupt sein?«, fragte Pony skeptisch. »Bischof Francis etwa?« Belster zuckte die Achseln, und um ein Haar hätte Pony ihn geohrfeigt. »Dann wird Belster also mitjubeln, wenn der ehrwürdige Vater kommt?«, fragte sie giftig. »So hat man es uns gesagt, und dann müssen wir es wohl so machen«, erklärte der Wirt. »Wenn es den ehrwürdigen Vater freut und uns dadurch das Leben ein bisschen leichter gemacht wird, was ist schon dabei?« »Heuchler!«, schrie Pony und stieß ihn zurück. Und obwohl sie sah, dass sie ihn verletzt hatte, konnte sie nicht aufhören. »Du weißt ganz genau, was sie getan haben!« »Sicher«, sagte Belster finster. »Sicher weiß ich das. Und ich mache mir nichts vor, was den neuen Bischof und den ehrwürdigen Vater angeht. Aber vielleicht sind sie gut zu der Bevölkerung von Palmaris, wenn es ihren Zwecken dienlich ist. Was kann das einfache Volk sonst noch erwarten?« Ponys Zorn schlug in Verwunderung um. »Redest du von einem Kampf zwischen Kirche und Regierung?«, fragte sie. »Denkst du, der ehrwürdige Vater versucht die Stadt gegen den König auszuspielen?« »Vielleicht nicht so sehr ein Kampf«, erklärte Belster. »Aber nach allem, was ich von meinen Freunden gehört habe, die die Kaufleute gut kennen, sieht es so aus, als wollten beide Seiten
Anspruch auf Palmaris erheben, obwohl ich glaube, die Kirche ist mehr an der Stadt interessiert.« »So sehr, dass sie Abt Dobrinion und Baron Bildeborough ermordet hat«, sagte Pony nachdrücklich. Belster fuchtelte beschwichtigend mit den Händen in der Luft herum. »Willst du sie etwa daran hindern?«, fragte er ruhig. »Darüber unterhalten wir uns jetzt schon seit Wochen, und du siehst doch ein, dass du nichts gegen sie unternehmen kannst. Vielleicht haben wir ja Glück, und es ist gar nicht nötig; das wäre eine feine Sache, Mädchen, für Palmaris und für dich auch – und vor allem für das Kind in deinem Bauch.« Ponys Hand fuhr automatisch zu ihrem gewölbten Leib. Für Belster lief immer alles darauf hinaus. Jedes Mal wenn Pony darüber redete, dass sie handeln mussten, erinnerte er sie nur freundlich an das Baby. Langsam beruhigte sie sich ein bisschen. Das tat sie immer, wenn sie das neue Leben spürte, das in ihr heranwuchs. Und sie nahm Belsters Einstellung als das, was sie war, nicht Feigheit, sondern Pragmatismus. Der Wirt hatte sich inzwischen in der Stadt eine ordentliche Existenz aufgebaut wie die meisten Leute. Und wie alle andern zog er es vor, sich nicht darum zu kümmern, was ihre Anführer in der Vergangenheit verbrochen hatten, solange sie ihnen nur im Augenblick nichts taten. Bei Belster und den andern konnte Pony das akzeptieren, und sie gab sich alle Mühe, sie nicht zu verurteilen. Aber für sie selbst kam eine solche Haltung absolut nicht in Frage. Es handelte sich hier um Francis, der Bradwarden gefoltert hatte, und der ehrwürdige Vater war verantwortlich für den Tod ihrer Pflegeeltern und ihres Adoptivbruders. Das konnte Pony nicht vergeben und vergessen. Es schmerzte sie zu hören, wie leicht sich Leute, die sie für Freunde gehalten hatte, Sand in die Augen streuen ließen. Doch es hatte wenig Sinn, sich jetzt hier
draußen in der kalten Winternacht mit Belster darüber zu streiten. »Geh und hilf Dainsey«, sagte sie. »Ich möchte noch ein bisschen allein sein.« Belster wollte protestieren, doch Pony ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Ich werde darüber nachdenken, was du gesagt hast«, versprach sie ihm. »Vielleicht kommen wir ja doch noch einmal um einen Krieg herum.« Belster zögerte noch einen Moment, doch dann sah er ein, dass Pony ihm schon so weit entgegengekommen war, wie sie konnte. Er ging auf sie zu und umarmte sie – und sie erwiderte die Umarmung. Dann machte er kehrt und sagte nur: »Untersteh dich, da hinaufzuklettern mit deinem Bauch!« Sie lächelte nur, und das genügte Belster, um sich wieder an die Arbeit zu machen. Kaum war er verschwunden, stieg Pony auch schon mühelos mit Hilfe des Malachits zum Dach empor. Sie verkroch sich in ihre Lieblingsecke, wo sie sich mit dem Rücken an ein Dachfenster lehnte. Sie ließ sich Belsters Worte immer wieder durch den Kopf gehen, doch das Ganze wollte ihr einfach nicht einleuchten. Jedes Mal wenn sie sich fragte, ob es für Palmaris nicht besser war, die Vergangenheit ruhen zu lassen, fielen ihr Graevis und Pettibwa wieder ein, diese beiden lieben, unschuldigen Menschen. Nein, sagte sie sich, dieser neue Bischof war auch nicht besser als der alte, und der ehrwürdige Vater war sowieso der Schlimmste und Gefährlichste des ganzen Haufens. Sie hatten doch nichts getan, um den Leuten in Palmaris das Leben zu erleichtern, wenn man sich vor Augen führte, wie es hier vor dem Tod von Baron Bildeborough und Abt Dobrinion ausgesehen hatte. Doch daran schien sich bereits niemand mehr zu erinnern! Das Einzige, worüber sie jetzt im Gasthaus plapperten, war, dass der neue Bischof sie besser behandelte
als der vorige, dass die Kirche die Abgaben gesenkt hatte und die Predigten sich weniger böse anhörten. Und damit gaben sie sich zufrieden. Für Pony war das alles zu einfach, und sie fragte sich, ob die augenblickliche Situation nicht vielleicht sorgfältig inszeniert worden war. Eine endlose Karawane wälzte sich auf das Ufer des Masurischen Flusses zu. Die Prozession des ehrwürdigen Vaters, zwanzig Wagen stark, die von bewaffneten Mönchen bewacht wurde, hatte eigentlich mit Hilfe der magischen Kräfte des Bernsteins übersetzen wollen. Als Markwart jedoch die prächtigen Fährschiffe und die Begleitflotte sah, die ihn schon erwarteten, befahl er den Mönchen, den Bernstein wieder einzustecken. Mehr als zwanzig Schiffe dümpelten im Hafen von Amvoy, und etliche Lastkähne waren an der Werft vertäut, um die Wagen aufzunehmen. Auf einem stand die neue Kutsche für den ehrwürdigen Vater, ein prunkvolles vergoldetes Gefährt mit einem Gespann von vier prächtig herausgeputzten weißen Pferden, die ungeduldig mit den Hufen auf den Planken herumstampften. Der Kutscher, ein Mann von der Stadtwache, trug eine herrliche Uniform mit sämtlichen Insignien von Baron Bildeboroughs Leibgarde. Als die Flotte auf den Fluss hinausfuhr, schmetterten Trompeter auf den Begleitschiffen Begrüßungsfanfaren, und ein Schiff nach dem andern nahm die Melodie auf, die von der bevorstehenden Ankunft kündete. Francis hatte das Ganze so perfekt organisiert, dass sich der Ruf bis zu den Docks von Palmaris fortpflanzte, wo Waldhörner ihn als Echo zurückwarfen. Was Francis allerdings nicht verhindern konnte, war das langsame Vorankommen der plumpen, schwerfälligen Boote im Wasser. Die Zeit verging, und aus einer Stunde wurden
zwei. Schließlich kam der Hafen von Palmaris in Sicht, und nun drangen Trompetenklänge und Jubelrufe ans Ohr des ehrwürdigen Vaters. Das Volk raste! »Was für ein Unterschied zu meinem letzten Besuch«, sagte der alte Mann zu den beiden Meistern, Theorelle Engress und einem sehr viel jüngeren neben ihm. »Es sieht fast so aus, als hätten sie die Herrlichkeit der Kirche endlich schätzen gelernt.« »Ein Beweis für die gute Arbeit von Bischof De’Unnero«, sagte der junge Meister. Markwart nickte nur, denn er hatte keine Lust, große Erklärungen abzugeben, doch er wusste genau, dass es Francis’ Verdienst war, wenn man ihn hier feierte. Und letzten Endes war es natürlich sein eigenes Werk, das der Obermeister lediglich in die Tat umgesetzt hatte. Die Menge drängte sich bis zum Hafen hinunter, und Markwart fiel auf, dass auch viele Behreneser darunter waren, die, wenn auch nicht so überschwänglich wie die weiße Bevölkerung von Palmaris, in die Hände klatschten und den Namen des ehrwürdigen Vaters riefen. »Ach, Francis«, murmelte der alte Mann, »du hast mir meine Aufgabe hier wirklich sehr erleichtert.« Hocherfreut nahm Markwart in der goldenen Kutsche Platz und ließ die Mönche, die er zu seinen Leibwächtern erwählt hatte, auf den Trittbrettern Aufstellung nehmen. Die beiden Meister scharten noch viele andere Mönche um die prächtige Kutsche. Einer, der mit Pferden umgehen konnte, ließ sich neben dem Kutscher auf dem Bock nieder. Und dann setzte sich der prunkvolle Umzug in Bewegung. Trompeten erschallten aus jedem Winkel der Stadt und wurden von den Jubelrufen noch übertönt. Gaukler jedweder Art – Jongleure, Taschenspieler und viele Barden – mischten sich
singend und lachend unters Volk. Natürlich waren da auch noch die Soldaten, die sich möglichst aus dem Blickfeld des ehrwürdigen Vaters fern hielten, während sie die Leute anstießen, mehr Begeisterung zu zeigen. Markwart badete in dem Gefühl seines Ruhms, den er seiner Meinung nach verdient hatte. Schließlich hatte er das Bärenreich erfolgreich durch den Krieg gebracht, den Sieg über die Pauri-Flotte in St. Mere-Abelle hatte er sogar höchstpersönlich angeführt. Und hatte er nicht in Palmaris wieder für Ruhe und Ordnung gesorgt, während der König untätig in Ursal gesessen und sich mit seinen Frauen und Pferden vergnügt hatte? Natürlich dachte der ehrwürdige Vater dabei nicht an die hinterhältigen und weniger ruhmreichen Taten, die ihn so weit gebracht hatten und die er mit dem Argument rechtfertigte, dass Dobrinion und Bildeborough eben nichts getaugt hätten, weil sie es nicht verstanden hatten, die Chancen, die ihnen die Zeit nach dem Kriege bot, zu nutzen. Doch solch düstere Überlegungen konnte er ein andermal anstellen. Jetzt lehnte sich Markwart lieber bequem zurück, winkte von Zeit zu Zeit und lächelte huldvoll, wenn der Jubel draußen daraufhin anschwoll. Er würde Francis zum Bischof machen, das beschloss er in diesem Augenblick. Wenn De’Unnero mit dem Kopf des Nachtvogels und den gestohlenen Steinen zurückkehrte – vielleicht sogar mit den fünf Ketzern im Schlepptau –, dann würde er für ihn eine andere Verwendung finden, eine Aufgabe, die eher einen Mann der Tat erforderte als einen Diplomaten. Ja, jetzt fügte sich alles wie von allein zu dem Puzzle zusammen, das es den Abellikanern erlauben würde, König Danube immer mehr von seinen Pfründen abspenstig und das Bärenreich wieder zu dem Kirchenstaat zu machen, der es in besseren Zeiten einmal gewesen war.
Hier in Palmaris fing alles an, und dieser Traum hallte mit jedem Jubelruf und jedem Trompetenstoß aufs Neue in Markwarts Ohren wider. Die Menge tobte, und ihre Begeisterung war echt, wie ein Dankgebet der einfachen Leute dafür, dass sie jetzt wieder zu ihrem normalen Leben zurückkehren konnten und die trostlosen Zeiten vorbei waren. Der ehrwürdige Vater sah das alles ganz klar, und so sonnte er sich im Glanz seines großen Auftritts. In einigen hundert Fuß Entfernung saß Pony auf dem schrägen Dach eines höheren Gebäudes und sah sich den Umzug an. Auch sie wusste genau, dass dieser Jubel nichts anderes war als das verzweifelte Flehen um Milde. Sie würden die Vergangenheit vergessen – nicht alle, aber doch zu viele, als dass sie auf Unterstützung in ihrem Widerstand gegen die Kirche hoffen konnte. Sie würden vor den Morden und Ungerechtigkeiten die Augen verschließen, würden zwar immer wieder, wenn sie ins Gasthaus kämen, das Schicksal der Chilichunks beklagen, aber sie würden es ein »Unglück« oder einen »schrecklichen Schicksalsschlag« nennen und nicht als Niedertracht und Verbrechen ansehen, das nach Vergeltung schrie. Diese Bevölkerung hatte in den letzten paar Monaten zu oft erleben müssen, dass ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt wurde. Wie viele Jahre hatte Abt Dobrinion zuvor in Palmaris nach dem Rechten gesehen? Und die Bildeboroughs waren Jahrzehnte-, ja jahrhundertelang als Herrscher in Chasewind Manor hoch geschätzt gewesen. Und das alles war innerhalb weniger Wochen zusammengebrochen. Jetzt wünschten sich die Leute einfach nur, ihre sichere Existenz zurückzuerlangen. Und in ihrer Vorstellung war Vater Dalebert Markwart derjenige, der sie ihnen zurückgeben konnte.
Bei dem Gedanken ging Pony die Galle über, und ihr zitterten die Hände vor Wut. Sie biss sich auf die Lippen und hätte am liebsten laut geschrien, um den Jubel nicht hören zu müssen. Und dieser Jubel hörte und hörte nicht auf! Sie feierten den Mann, der Avelyn gejagt und Graevis, Pettibwa und Grady zu Tode gefoltert hatte! Der den heldenhaften Bradwarden in Ketten aus den Trümmern des Aida-Berges gezerrt und in St. Mere-Abelle ins Verlies gesteckt hatte. Den Mann, der Abt Dobrinion und Baron Bildeborough hatte ermorden lassen! Die Jubelrufe wollten nicht enden und hämmerten unaufhörlich in Ponys Kopf, als würden sie all ihre Hoffnungen zerschlagen, es diesem Mann und seiner korrupten Institution jemals heimzuzahlen. Und ihr wurde klar, dass der Gedanke an einen Aufstand gegen die Kirche in diesem Augenblick hier in den Straßen von Palmaris im tosenden Beifall zu Grabe getragen wurde. Pony ballte die Fäuste, und erst jetzt bemerkte sie, dass sie einen der Steine aus ihrem Beutel herausgefischt hatte. Noch ehe sie ihn ansah, wusste sie, dass es der Magnetit war, und es war sicher kein Zufall, dass sie gerade nach diesem Stein gegriffen hatte. Erneut schaute sie zu dem Mann in der goldenen Kutsche hinüber. Er kam immer näher und würde in kaum hundert Schritt Entfernung an ihr vorbeifahren. Pony konnte ohne weiteres mit dem Ladestein hundert Schritt weit zielen.
»Na los, elendes Pack!«, bellte der Soldat und versetzte dem vermeintlichen kleinen Jungen einen Stoß. Belli’mar Juraviel nahm es gelassen hin, er wusste ja, dass sie alle nur Beobachter waren, die keinerlei Aufmerksamkeit erregen durften. Er warf einen Blick zu Lady Dasslerond
hinüber, die der Soldat offensichtlich als Nächste aufs Korn nehmen würde, und sie zwinkerte ihm zu weiterzumachen. Dann brach sie in Jubelrufe aus, noch ehe der Soldat bei ihr angelangt war, und ihre Leute stimmten alle mit ein. Und doch war das alles für die Elfenkönigin höchst beunruhigend. Sie wollte mit dem König verhandeln, wenn sie sich schon überhaupt mit irgendwelchen Menschen abgeben musste, um die Sicherheit ihres Volkes zu gewährleisten. Aber die pompöse Inszenierung zum Empfang des ehrwürdigen Vaters machte ihr klar, dass dieser gefährliche Mann für die Zukunft von Palmaris und die Entwicklung des gesamten Menschenreiches eine viel größere Rolle spielen würde, als sie angenommen hatte. Doch sie jubelte weiter, und der Anfeuerer nahm sich den Nächsten vor, der seiner Meinung nach nicht genügend Begeisterung an den Tag legte.
»Bin ich etwa eine feige Attentäterin?«, fragte sich Pony laut, und sie verzog angewidert das Gesicht. Sie war eine ausgebildete Kämpferin und pflegte ihren Feinden offen entgegenzutreten, ob mit dem Schwert oder mit Magie. Und auf diese Weise hatte sie auch mit Markwart abrechnen wollen. Doch jetzt wurde ihr schmerzlich bewusst, dass es nie so weit kommen würde, denn es würde keinen Aufstand geben und damit auch keinen offenen Kampf. Jetzt hielt sie den ausgestreckten Arm über den Dachfirst und schaute daran entlang wie an einem angelegten Pfeil. Mehr aus Neugier ließ sie sich in den Stein fallen und nahm ihr Ziel ins Visier. Sie konnte jetzt jeden Metallgegenstand auf dem Weg deutlich erkennen, die Schwerter der Soldaten im Hintergrund, die Hufeisen der Pferde, ja sogar den Festtagsschmuck der Zuschauer.
Jetzt engte sie ihr Blickfeld erst auf die Kutsche ein und dann auf die Metallgegenstände, die der ehrwürdige Vater an seinem Körper trug. Sie bemerkte die drei Ringe an seinen Händen und die Brosche, die seine Gewänder zusammenhielt. Ja, diese Brosche. Sie befand sich zwar nicht in der Mitte und saß zu weit über dem Herzen, doch ein Treffer an dieser Stelle würde einen alten Mann wie Markwart mit Sicherheit schwer, möglicherweise sogar tödlich verwunden. Langsam ließ Pony den Arm wieder sinken. Konnte sie einen wehrlosen Mann wirklich so einfach umbringen? Da spürte sie ein seltsames Kribbeln in dem Stein, und als sie den Arm erneut anhob und in den magischen Kanal schaute, sah sie den Ring an Markwarts linkem Zeigefinger genauer und merkte, was es war: Der Ring war mit Magnetiten besetzt, die alle Geschosse mit Metallspitzen von ihm ablenken würden. Und höchstwahrscheinlich trug er noch andere Schutzsteine bei sich, beispielsweise einen Smaragd, der Holz abwehren konnte. Jetzt umklammerte Pony ihren Stein umso fester. Er war also gar nicht wehrlos. Das änderte die Sache grundlegend. »Glaubst du wirklich, du könntest das hier aufhalten?«, flüsterte sie grimmig und nahm erneut die Brosche ins Visier in der Absicht, damit den Brustkorb und die Schulter des Mannes zu durchschlagen. Sie ließ immer mehr Energie in den Stein fließen, bis er ein starkes Kraftfeld zu seinem Ziel aufgebaut hatte. Schon wollte er sich ihrem Griff entziehen, doch Pony hielt ihn noch fest und lud ihn weiter auf, bis sie ihn kaum noch bändigen konnte. Da spürte sie plötzlich einen neuen Impuls, als der ehrwürdige Vater der jubelnden Menge mit einem breiten Lächeln dankte und dabei einen Goldzahn aufblitzen ließ.
Sie änderte ihren Winkel nur geringfügig und konzentrierte sich einzig auf diesen Zahn, während sie alle anderen Metallgegenstände ausblendete. Der Stein vibrierte inzwischen heftig, doch Pony hielt ihn noch einen Augenblick mit aller Kraft zurück. »Glaubst du wirklich, du könntest das hier aufhalten?«, fragte sie noch einmal, dann öffnete sie die Hand. Das Geschoss zischte mit der vielfachen Geschwindigkeit eines Falken davon, der aus der Luft auf seine Beute herabstößt. Es hatte sein Ziel erreicht, noch ehe Pony den Arm zurückgezogen hatte, und dennoch sah sie es wie in Zeitlupe über die Dächer schweben. Fast hätte es unterwegs eine Dachrinne abgerissen und eine Zuschauerin getroffen, die gerade den Kopf in die Schusslinie halten wollte, doch glücklicherweise zu langsam war, sodass es knapp an der verdutzten Frau vorbeizischte. Dann war der Weg frei, und der Stein landete mit ungeheurer Wucht im Gesicht des alten Mönches, zerfetzte die Haut und zerschmetterte den Kieferknochen, bis er auf der anderen Seite des Schädels wieder austrat, um schließlich in der Wand der Kutsche stecken zu bleiben. Pony sah, wie Markwarts Kopf ruckartig zur Seite wegknickte, wie er sich aufbäumte und dann leblos zusammensackte, während Blut über seine Gewänder, das Innere der Kutsche und die herbeieilenden Mönche spritzte.
Um Lady Dasslerond und ihre Gefährten herum brach das absolute Chaos aus, denn die Kutsche befand sich fast unmittelbar vor ihnen, als der ehrwürdige Vater getroffen wurde. Ein paar Elfen liefen los, um festzustellen, was passiert war, aber die Herrin und Juraviel wussten auch so Bescheid. »Die Steine«, sagte Juraviel finster.
»Deine Freundin scheint sich ja einiges vorgenommen zu haben«, erwiderte Lady Dasslerond in wenig schmeichelhaftem Ton. Sie schüttelte angewidert den Kopf und widmete sich wieder dem Durcheinander bei der Kutsche. Soldaten und Mönche schirmten den Verletzten ab und riefen dem Kutscher zu, so schnell wie möglich nach St. Precious zu fahren. Lady Dasslerond aber konnte nur zusehen, wie ihre Kundschafter ausschwärmten, um ihr einen möglichst genauen Bericht zu liefern. Sie wusste, dass die Lage jetzt noch verzwickter geworden war, und das war Juraviel, der hoffte, ihr Verdacht den Attentäter betreffend möge sich als Irrtum herausstellen, ebenfalls klar.
Pony wälzte sich auf den Rücken und ließ sich das abschüssige Dach hinabgleiten, bis sie sich außer Sichtweite des Geschehens befand. Sie war also eine Mörderin – jedenfalls wenn das alte Ekel starb, bevor die Mönche ihn mit dem Seelenstein behandeln konnten. »Nein«, sagte sie laut und schüttelte die Vorstellung ab wie ein lästiges Insekt. Sie hatte den Aufschlag gesehen und kannte die Kraft dieses Steines nur zu gut. Markwart musste sofort tot gewesen sein. Auf einmal erfasste sie ein seltsames Gefühl der Leere anstelle der erwarteten Befriedigung. Dieser elende Kerl hatte ihre Eltern und ihren Bruder umgebracht, und es konnte nur gut sein, dass sie die Welt von diesem gefährlichen Wahnsinnigen befreit hatte. Doch das alles vermochte sie in diesem Augenblick nicht zu trösten. Hinter sich hörte sie den Aufruhr und die Schreie, doch sie wollte jetzt nichts davon wissen. Sie fühlte sich unrein und verdorben, und dann stieg sie noch weiter hinunter und übergab sich, bis ihr die Seiten wehtaten.
6. Dem Tod ins Auge geschaut
Amüsiert, aber nicht ohne Stolz sahen sie zu, wie er die steilen Klippen hinaufkletterte, denn Eibryan bewegte sich so behände und geschmeidig, wie es normalerweise kein menschliches Wesen schaffte, schon gar nicht eines von seiner Körpergröße. Die Touel’alfar führten diese natürliche, tierähnliche Anmut auf ihr Training und ihre Lebensart zurück; für ihre Begriffe hatten sie dem Nachtvogel diese Fähigkeiten vermittelt, und dennoch hätte er es ihrer Meinung nach kaum mit dem tolpatschigsten Elfen aufnehmen können. Tief unten auf den steinigen Überresten eines ausgetrockneten Flussbettes im Schatten eines Kiefernwäldchens waren Bradwarden, Roger und die Mönche emsig damit beschäftigt, das Lager aufzuschlagen. Die beiden Elfen hatten sie so unsichtbar und unbemerkt beobachtet, wie sie es schon während der ganzen Reise getan hatten, und dann waren sie dem Nachtvogel ebenso unauffällig gefolgt. Der Hüter tastete sich vorwärts, und seine Finger suchten über seinem Kopf nach einem Halt. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Fingerspitzen, ließ sie förmlich für ihn »sehen«. Dann fand er so hoch über ihm, dass er sich auf die Zehenspitzen stellen musste, einen Spalt, der kaum so tief war wie seine Fingerspitzen und gerade so breit wie eine Hand. Nun verfiel der Hüter in einen Zustand absoluter Ruhe und ließ die Muskeln seiner Hand starr werden. Stück für Stück tastete er sich aufwärts, ohne die Bewegung richtig wahrzunehmen, denn all seine Willenskraft war auf diese eine Hand konzentriert.
Schließlich schob sich seine Schulter am Ellbogen vorbei nach oben. Er tastete mit der anderen Hand weiter aufwärts, auf der Suche nach dem nächsten Halt. Diesmal fand er einen tieferen Spalt, und es gelang ihm, sich dort festzukrallen; dann schwang er einen Fuß herum und setzte die Zehen in den Felsspalt. Was jetzt kam, war einfach: Mit Händen und Füßen zog er sich nach oben. Als nächstes fand er eine breitere Lücke, und dann konnte er sich mit beiden Händen an einem schmalen Vorsprung festhalten, der zum Ausruhen einlud. Eibryan zog sich vorsichtig hoch – und wäre vor Überraschung beinahe abgestürzt, denn dort wartete Ni’estiel auf ihn, ein Pfeifchen im Mund, und blies Rauchringe in die Luft. »Hast ja reichlich lange gebraucht«, nörgelte der Elf. Der Hüter machte es sich erst einmal bequem und holte tief Luft. »Es wäre sicher schneller gegangen, wenn ich auch so ein Paar Flügel hätte«, erwiderte er trocken. »Und erst recht, wenn du nicht in so einem großen, unhandlichen Körper stecken würdest«, sagte Ni’estiel. »Was unternimmst du überhaupt solche Verrenkungen, obwohl die Sonne bereits tief im Westen steht? Es wird unbarmherzig kalt hier oben, wenn die Sonne untergegangen ist. Und wie willst du dann noch mit deinen dicken Menschenfingern den eiskalten Stein zu fassen kriegen?« »Ich wollte mir einen Überblick verschaffen«, erklärte der Hüter. »Roger hat etwas entdeckt, das auf Goblins hinweist, einen kleinen Schuppen.« »Warum hast du uns nicht einfach gefragt?«, meinte Tiel’marawee und landete flügelschlagend neben ihrem Gefährten. »Was heißt hier gefragt? Ich wusste ja nicht einmal, ob die Touel’alfar überhaupt mit auf die Reise gegangen sind«, erwiderte der Hüter. »Außerdem wart ihr offenbar nicht sehr
erpicht darauf, mir zu helfen, egal, was auf mich zukommen würde.« Die beiden Elfen sahen sich an, Ni’estiel schüttelte den Kopf, und dann warfen sie dem Hüter einen nicht eben begeisterten Blick zu. »Was habe ich euch eigentlich getan?«, fragte Eibryan geradeheraus. »Ihr benehmt euch wirklich nicht wie gute Freunde, und ich weiß nicht einmal, warum.« »Freunde?«, wiederholte Tiel’marawee skeptisch. »Solange du in Andur’Blough Inninness warst, haben wir nie ein Wort miteinander geredet, Nachtvogel. Wie kannst du also davon ausgehen, dass wir Freunde wären?« Das versetzte dem Hüter einen Stich, doch er musste sich eingestehen, dass sie Recht hatte. »Aber ich bin doch ein Freund der Elfen«, wandte er ein. »Ist denn ein Freund von Lady Dasslerond kein Freund aller Touel’alfar?« »Du hast diese Freundschaft ziemlich strapaziert«, meinte Ni’estiel unverblümt. »Was hab ich denn verbrochen?«, ereiferte sich der Hüter. »Als Belli’mar Juraviel fortging…« »Du hast es ihr verraten«, sagte Ni’estiel. »Verraten?«, wiederholte Eibryan verwundert, doch dann verstand er, was der Elf meinte. »Wir haben dir Bi’nelle dasada geschenkt«, erklärte Tiel’marawee. »Du hattest nicht das Recht, dieses Geschenk weiterzugeben.« »Darüber habe ich mich schon mit Juraviel unterhalten«, versuchte der Hüter sich zu rechtfertigen. »Belli’mar Juraviel hat in dieser Sache noch lange nicht das letzte Wort gesprochen«, entgegnete Ni’estiel. »Lady Dasslerond wird darüber entscheiden, ob du für diesen Unfug bestraft wirst. Aber merke dir, Nachtvogel, selbst wenn die
Herrin ein Auge zudrücken sollte, wir anderen werden trotzdem nicht vergessen, was du getan hast.« »Ganz und gar nicht«, betonte Tiel’marawee. »Pony ist ein Teil von mir«, wandte Eibryan ein. »Sogar Belli’mar Juraviel war beeindruckt, als er unsere Übereinstimmung sah. Gehöre ich nun zu den Touel’alfar oder nicht? Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll nach all dem Gerede von Freundschaft und…« »Wie lange war Jilseponie denn überhaupt in Andur’Blough Inninness«, fiel ihm Ni’estiel ins Wort, »und hat mit einem Touel’alfar über die alten Weisheiten geredet? Wer hat ihr die innere Reife beigebracht, die man braucht, um mit dieser ungeheuren Waffe verantwortungsvoll umzugehen?« »Unser Tanz…«, begann der Hüter. »Ist eine rein körperliche Angelegenheit«, fiel ihm Ni’estiel ins Wort. »Doch in Wahrheit geht Bi’nelle dasada viel tiefer. Die Körperbewegungen kann jeder lernen, aber es wäre eine äußerst gefährliche Sache, wenn es sich darauf beschränkt.« »Der Kämpfer muss mit Leib und Seele dabei sein«, fügte Tiel’marawee hinzu. »Es genügt nicht zu wissen, wie man die Klinge führt, wenn man nicht auch über die Weisheit verfügt, die einem sagt, wann man sie einsetzen darf.« »Und gegen dieses ungeschriebene Gesetz hast du verstoßen, Nachtvogel«, fuhr Ni’estiel fort. »Du hast es dieser Frau beigebracht, und sie wird es irgendwann jemand anderem beibringen. Und wenn es so immer weitergereicht wird, was bleibt dann am Ende noch von unserem Geschenk übrig?« Eibryan schüttelte den Kopf, denn er kannte Pony besser und wusste, sie würde das Geheimnis für sich behalten. Er konnte ihr Wesen besser beurteilen als diese beiden Elfen und wusste genau, dass es niemanden gab, mit dem er oder Pony eine so intime Erfahrung hätte teilen wollen. Doch der Hüter sagte nichts, denn er konnte die Befürchtungen der beiden verstehen.
Trotz der Unterschiede in Bezug auf Körpergröße und Kraft – vielleicht sogar gerade deswegen – konnte ein durchschnittlicher Elf mühelos selbst geübte Krieger im Zweikampf besiegen. Durch den Schwerttanz waren sie den Menschen überlegen, diese Kampftechnik machte sie unschlagbar. Dennoch hatte der Hüter nicht das Gefühl, einen Vertrauensbruch begangen zu haben, denn Pony war ein Teil von ihm und hatte diesen Tanz mindestens ebenso sehr verdient wie er selbst. »Lady Dasslerond wird zu ihr gehen«, sagte er. »Lady Dasslerond, Belli’mar Juraviel und die anderen sind bereits in Palmaris«, räumte Ni’estiel ein. Einen Moment lang hatte der Hüter Angst, die Elfen könnten Pony etwas zuleide tun, um das Geheimnis zu bewahren, doch dann verwarf er den Gedanken. Das Elfenvolk hatte einen anderen Begriff von Gut und Böse als die Menschen, und das war manchmal gefährlich; trotzdem würden sie Pony nichts tun. »Ich bitte um Entschuldigung für mein unbefugtes Handeln«, sagte Eibryan. »Das heißt, ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, die es euch bereitet hat. Aber ich versichere euch, dass Lady Dasslerond vollkommen beruhigt sein wird, sobald sie Pony gesehen hat.« Die Gesichter der beiden Elfen zeigten ihm, dass sie fürs erste zufrieden waren – soweit das im Augenblick möglich war. »Lady Dasslerond ist nicht in Palmaris, um die Fähigkeiten deiner Liebsten im Schwerttanz zu begutachten«, sagte Ni’estiel und warf seiner Gefährtin einen um Bestätigung heischenden Blick zu, was dem Hüter nicht entging. Er sah den Elf fragend an.
»Sie will Jilseponie, die Geliebte des Nachtvogels, sehen, die bald die Mutter von Nachtvogels Kind sein wird«, fuhr Ni’estiel fort. »Jilseponie und ich haben beschlossen, dass wir erst dann Kin…«, erwiderte der Hüter und hielt inne. Der leichteste Windstoß hätte Eibryan in diesem Moment von dem Felsvorsprung herabwehen können, denn jetzt stürzten alle möglichen Empfindungen gleichzeitig auf ihn ein. »Woher weißt du das?«, fragte er atemlos. »Belli’mar Juraviel wusste es. Er hat es uns auf dem Weg nach Süden erzählt, als er über uns gestolpert ist, während wir Roger Flinkfinger und die fünf Mönche beschattet haben«, sagte Tiel’marawee. »Und deshalb ist Lady Dasslerond mit den meisten von uns nach Süden zurückgegangen, während wir beide allein nach Norden weitergezogen sind.« Eibryan schnappte nach Luft. Es passte alles genau zusammen und erklärte ihm so viele Dinge, zum Beispiel, dass die Elfen ihn nicht vor dem Goblin-Angriff gewarnt hatten. Und doch verstand er es nicht. Wie konnte Juraviel wissen, dass Pony schwanger war? Der Elf war doch die ganze Zeit bei ihm gewesen, seit Pony nach Palmaris abgereist war. Und dann traf ihn die schreckliche Wahrheit wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Pony hatte es schon vorher gewusst. Und sie hatte ihn verlassen, aus Angst um ihr ungeborenes Kind. Und sie hatte ihm nichts davon gesagt! »Jetzt bist du ihr wohl böse, Hüter«, sagte Ni’estiel, der ihn scharf beobachtet hatte. Doch Eibryan schaute mit leerem Blick an ihm vorbei. »Dabei weißt du noch gar nicht alles«, fuhr der Elf fort. »Wie konnte Juraviel das wissen?«, fragte der Hüter. »Hat Pony es ihm erzählt? Und warum hat sie mir dann nichts gesagt?«
»Du kannst nur denken, was dir deine Angst eingibt«, sagte Tiel’marawee jetzt. »Du siehst schwarz, und dabei solltest du doch eigentlich überglücklich sein.« Eibryan hob hilflos die Hände. Er wusste nicht mehr, was er denken oder empfinden sollte. »Ich muss zu ihr«, sagte er dann. »Typisch Mensch«, meinte Ni’estiel trocken. »Vielleicht hast du ja Recht«, fügte Tiel’marawee hinzu. »Lass alles stehen und liegen und lauf zu ihr, aber du wirst dort keinerlei praktischen Nutzen haben.« »Du meinst, ich sollte jetzt nicht bei Pony sein?« »Wenn die Situation es zuließe, solltest du das natürlich«, erwiderte Ni’estiel unerbittlich. »Aber das ist wohl eher eine Frage des Vergnügens und nicht der Zweckmäßigkeit. Die Vernunft gebietet, dass du zuerst hier deine Aufgabe zu Ende führst.« »Und jetzt geh und leg dich schlafen«, sagte Tiel’marawee. »Wir sehen uns inzwischen einmal die Straße nach Norden an und sagen dir morgen früh Bescheid.« Der Hüter nickte, und langsam überzog ein Lächeln sein gut aussehendes Gesicht, während er die finsteren Gedanken verscheuchte. Natürlich wünschte er sich dieses Kind mehr als alles andere – am liebsten gleich hundert davon! Schließlich war es doch ein Geschenk des Himmels. »Die Sonne berührt schon den Horizont«, sagte Ni’estiel warnend. Als Eibryan in die Tiefe schaute, verschwand sein Lächeln. »Das wird dauern«, sagte er seufzend und streckte sich. »Hast du nicht gerade behauptet, du gehörst zu den Touel’alfar?«, neckte ihn Tiel’marawee. »Dann beweg mal schön deine Flügel, du Elf!« Mit einem Stöhnen machte sich der Hüter an den Abstieg.
Das Elfenpärchen aber brach wie versprochen unverzüglich nach Norden auf. Sie fanden die beschriebene Scheune und dahinter noch mehr Goblin-Spuren, unter anderem ein erst kürzlich verlassenes Lager. Da sie sich mitten in den Wilderlanden befanden, in einem Gebiet, in dem die Goblins ihr Unwesen trieben, überraschten sie diese Entdeckungen nicht besonders. Es hätte sie eher beunruhigt, wenn sie gar keine Anzeichen der Scheusale gefunden hätten oder stattdessen womöglich sogar auf Pauris gestoßen wären, denn diese waren weitaus gefährlichere Gegner. Doch die beiden waren ziemlich sicher, dass sich keine Pauris in der Gegend aufhielten, denn die Zwerge bauten selbst übergangsweise anders und stabiler als die Goblins. »Nur Goblins«, sagte Ni’estiel zu seiner Gefährtin, als Sheila am östlichen Horizont aufging und das Lager so weit beleuchtete, dass der Elf ein besonders wackliges Gebäude ausmachen konnte. Jetzt brauchten sie nur noch die ziemlich einfältigen Kreaturen ausfindig zu machen und dem Nachtvogel und seinen Freunden zu sagen, wie sie ihnen am besten aus dem Weg gehen konnten.
Doch noch ein anderes Augenpaar hatte diesen Schuppen aufs Korn genommen. Die scharfen Katzenaugen durchdrangen den nächtlichen Wald so mühelos wie am helllichten Tag. Er sah die Elfen und hörte ihre Unterhaltung, und seine feine Raubtiernase witterte das Blut in ihren zarten Körpern. Vorsichtig schlich sich der Tiger näher heran. Er hatte keine Erfahrung mit den Touel’alfar, aber er wusste dennoch, mit wem er es hier zu tun hatte, und ihrer Unterhaltung hatte er entnommen, dass sie Freunde des Nachtvogels waren. Außerdem wusste De’Unnero aus den Legenden über die Elfen, dass sie starke und wachsame Gegner waren.
Also war es besser, sie gleich aus dem Weg zu räumen, dachte er, damit ihm seine Beute schutzlos ausgeliefert war. Lautlos setzte er eine Pfote vor die andere. Ni’estiel erstarrte ebenso wie Tiel’marawee. Sie spürten seine Gegenwart und die Stille, die dem Sprung ihres Angreifers vorausging. Zierliche Schwerter streckten sich ihm entgegen, als De’Unnero mit einem Satz auf Ni’estiel zuschoss. Dessen Klinge bohrte sich wiederholt in sein Fleisch, doch seine messerscharfen Klauen konnten es durchaus mit ihm aufnehmen und rissen klaffende Wunden in Muskeln und Sehnen. Im Nu war Tiel’marawee zur Stelle, ihr Schwert blitzte auf, und De’Unnero musste beiseite springen. Doch nun hatte er nur noch einen Gegner, denn Ni’estiel wälzte sich stöhnend am Boden und rief seiner Gefährtin zu, sie solle fliehen. »Versucht doch!«, sagte der Tiger, und die beiden Elfen waren wie vom Donner gerührt. Dann begann er sich vor ihren schreckgeweiteten Augen zu verwandeln. Zuerst den Kopf, dann den Oberkörper, die Gliedmaßen jedoch blieben bis auf einen Arm unverändert. »Was ist das für ein Dämonenspuk?«, sagte Tiel’marawee und stürzte sich auf ihn in der Hoffnung, die Verwandlungsphase für einen tödlichen Stoß nutzen zu können. Doch De’Unnero kam ihr zuvor und wehrte den Schwerthieb mit der Tigerpranke ab, ohne sich um den Schmerz zu kümmern, den der kräftige Hieb verursachte. Dann schoss sein anderer Arm nach vorn, und Tiel’marawee entging nur mit knapper Not einem verheerenden Treffer ins Gesicht. »Sehr beeindruckend«, meinte der Mönch, dessen Gesicht jetzt wieder seine menschlichen Züge angenommen hatte. »So habe ich mir die Elfen immer vorgestellt.«
»Wer bist du?«, fragte Tiel’marawee, und ihr Tonfall zeigte, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Welcher Dämon ist diesmal aus seinem Loch gekrochen, um die Welt ins Elend zu stürzen?« »Dämon ist gut!«, meinte der Bischof und lachte in sich hinein. »Du könntest kaum schlechter geraten haben, kleine Elfe. Kennst du etwa Marcalo De’Unnero nicht, den Bischof von Palmaris?« Tiel’marawee wurde kreidebleich. Es erschien ihr unmöglich, geradezu lächerlich, und doch musste sie sich eingestehen, dass sie nicht an seinen Worten zweifelte. »Und deine Kirche betrachtet die Touel’alfar als Feinde«, fragte sie unverblümt und gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben, was ihr allerdings schwer viel, als sie zu Ni’estiel hinübersah, der jetzt reglos am Boden lag. »Ich bezeichne jeden als Feind der Kirche, der mit dem Verbrecher Nachtvogel befreundet ist!«, knurrte De’Unnero. Das Gesagte empörte Tiel’marawee. »Du brauchst also gar keine Gerichtsverhandlung, um jemanden zu verurteilen?«, erwiderte sie. »Das ist mein Vorrecht«, antwortete der Bischof und schnellte auf seinen kräftigen Hinterbeinen vorwärts. Doch sie war darauf vorbereitet und schlug mit den Flügeln, um über seinem Kopf zu landen. Dann fuhr sie herab wie ein Raubvogel, das Schwert voran wie einen spitzen Schnabel. De’Unnero ging zu Boden und überschlug sich, mit dem Arm fuchtelte er wie wild herum und versuchte, die Klinge abzuwehren. Diese Elfen wurden ihrem legendären Ruf wirklich gerecht! Er schlug mit der flachen Hand gegen das Schwert, doch ehe er es zu fassen bekam, war Tiel’marawee bereits zur Seite gesprungen und ein Stück weit entfernt gelandet.
»Gut gemacht!«, sagte der Bischof, der nun aufrecht vor ihr stand, während seine Beine wieder ihre ursprüngliche Form annahmen, bis er sich schließlich völlig in seiner menschlichen Gestalt zeigte. »Du irrst, Bischof von Palmaris«, sagte Tiel’marawee. »Willst du etwa einen Krieg gegen die Touel’alfar anzetteln? Glaub mir, das würde dir schlecht bekommen.« »Da zittere ich aber vor Angst«, erwiderte De’Unnero. »Lass mal sehen, vielleicht kann man sich ja gütlich einigen, allerdings…« Er brach ab und lachte lauthals. »Allerdings finde ich es äußerst faszinierend, wie meisterhaft ihr das Schwert führt und wie geschmeidig ihr Euch dabei bewegt«, redete er weiter. »Und deshalb muss ich unbedingt wissen, wie weit diese Kunstfertigkeit geht.« Mit diesen Worten ging er in Kampfstellung, baute sich breitbeinig auf und schwenkte die Arme abwehrend hin und her. Er hatte bereits etliche Wunden davongetragen – das Blut glänzte im Mondlicht auf seiner nackten Haut –, aber auch wenn ihr Gegner nur ein Mensch war, wusste Tiel’marawee doch, dass sie sich vorsehen musste. Dieser Kerl war gerissen und zu kräftig für sie. Sie musste warten, bis er so viel Blut verloren hatte, dass er ermüdete. Als sie Ni’estiel um Atem ringen hörte, wurde ihr jedoch klar, dass sie nicht genug Zeit hatte, und so stürzte sie sich mit dem Schwert voran auf ihren Gegner. Aber sie hatte sich verrechnet. Der Kampfstil der Elfen bestand aus blitzschnellen geraden Stößen, die ein zierliches Elfenschwert im Handumdrehen weit nach vorn brachten. Doch auch die Abellikaner-Brüder waren es gewöhnt, mit geraden Ausfällen anzugreifen, und so fing De’Unnero das Schwert des Elfenmädchens im richtigen Moment mit seinen gekreuzten Unterarmen ab und riss es
senkrecht nach oben, ohne selbst größeren Schaden zu erleiden. Das nahm ihr die Deckung, und so versuchte sie einen weiteren blitzschnellen Angriff. Da klatschte De’Unneros Handfläche mit solcher Wucht gegen ihre Wange, dass sie benommen zurücktaumelte und ihr Schwert fallen ließ. »Lauf weg!«, rief Ni’estiel mit blutgetränkter Stimme. Die Worte setzten sich in Tiel’marawees Kopf fest, und ihre Beine und Flügel arbeiteten fieberhaft, obwohl sie es kaum über sich brachte, ihren Gefährten im Stich zu lassen. Doch wie alle Elfen wusste sie nur zu genau, was sie ihrem Volk schuldig war, dass sie überleben musste, um Lady Dasslerond vor dem Bischof und seiner Kirche zu warnen. Ihr Tempo verblüffte De’Unnero. Schon erhob sie sich in die Luft und wäre ihm glatt entkommen, doch nun griff der Bischof noch einmal nach seinem Edelstein und setzte auf seinen Tigerpfoten zum Sprung an; dann packte er sie mit dem klauenbewehrten Arm des Raubtiers. Er erwischte sie an der Seite dicht unter dem einen Flügel, und es war reine Glückssache, dass die Krallen den Flügel nicht in Fetzen rissen und Tiel’marawee zum Absturz brachten. Das Elfenmädchen schrie auf, flog jedoch unbeirrt weiter aufwärts, denn sie wusste genau, dass es ihr sicherer Tod wäre, wenn sie sich festhalten ließ. Die Kralle riss ein großes Stück Haut von der Hüfte bis zum Knie heraus, doch schließlich war sie frei und flog höher und höher hinauf, bis sie einen sicheren Ast erreichte. Dann drängte sie weiter vorwärts, eisern nur das eine Ziel vor Augen: lebendig zum Nachtvogel zurückzukehren. De’Unnero ließ sich immer tiefer in den Stein fallen in der Hoffnung, dass er sie als Tiger doch noch einholen würde.
Während sie von Baum zu Baum flatterte, jagte er am Boden entlang und sprang jedes Mal in die Höhe, wenn sie ihm etwas näher kam, um einem Ast auszuweichen oder kurz den Fuß aufzusetzen. Jetzt probierte Tiel’marawee eine andere Taktik aus. Von einem hohen Ast herab deckte sie den Tiger mit einer Flut kleiner Pfeile ein. Sie landete einen Treffer nach dem andern, doch obwohl ihr Köcher schon bald halb leer war, musste sie feststellen, dass sie nicht viel ausgerichtet hatte, denn die Wunden ihres Gegners schienen im Handumdrehen zu heilen. Für Tiel’marawee war das kein Rätsel, denn sie wusste ja von den Edelsteinen und konnte sich sagen, dass dieser Mann nicht nur den einen bei sich hatte, mit dessen Hilfe er sich verwandeln konnte, sondern noch einen anderen, der seine Wunden heilte. Immerhin hatte sie mit ihrer Attacke ein bisschen Abstand gewonnen. Sie schoss noch einen Pfeil ins Gebüsch, in dem der Tiger gerade verschwunden war, dann lief sie davon in der Hoffnung, schon weit fort zu sein, bevor dieser wieder auftauchte. Es war auch höchste Zeit, stellte sie fest, denn ihr aufgerissenes Bein war ganz taub, und das Blut lief in Strömen daran hinab. Sie fröstelte, und allmählich wurde ihr schwarz vor Augen, während der Tod an ihr heraufkroch. Sie taumelte und schlug verzweifelt mit den Flügeln, doch dann versagten ihre Kräfte, und sie landete in einem Haufen Gestrüpp. Sie versuchte sich zu orientieren, um wieder in den Baum hinaufzugelangen. Doch dann sah sie, wie der Tiger unaufhaltsam näher kam, und sagte sich, dass es vorbei war. Selbst wenn sie es noch einmal schaffte, sich aufzurichten und hochzuspringen, hätte die Raubkatze sie doch mit einem Satz im Flug erwischt. Es gab kein Entrinnen, und eine Welle der Traurigkeit überrollte sie, weil sie nun so viele Jahrhunderte
versäumen würde, und vor allem, weil sie versagt hatte und ihre Herrin jetzt nicht mehr warnen konnte, denn die heraufziehenden Ereignisse konnten leicht die zerbrechliche Welt der Touel’alfar unter sich begraben. Die Katze setzte zum Sprung an, und Tiel’marawee schloss ihre goldfarbenen Augen. Sie hörte noch ein Knurren, dann spürte sie, wie etwas donnernd von der Seite heranstürmte. Als sie die Augen öffnete, sah sie den Tiger davonjagen, und kraftvolle Pferdebeine zerstampften den Boden um sie herum. Symphony wieherte laut und stieß sie an. Als sie es nicht schaffte, sich hochzuziehen, ging das Pferd in die Knie, um sie aufzunehmen. Der Tiger sprang vorwärts und versetzte Symphony einen bösen Hieb gegen die Flanke. Die Jagd war eröffnet. Tiel’marawee hielt sich mit aller Kraft fest, während Symphony unter den Bäumen hindurchraste und enge Haken schlug. De’Unnero blieb ihnen auf den Fersen, doch nicht lange, dann konnte er mit dem mächtigen Hengst nicht mehr Schritt halten. Da versuchte es der Bischof mit einer anderen Strategie. Er legte seine Tigergestalt ab und nahm durch den Hämatit mit dem Hengst Verbindung auf – was ihm durch den Türkis auf Symphonys Brust mühelos gelang. Er glaubte sich bereits am Ziel – was für ein Festmahl das geben würde! –, doch Symphony war kein gewöhnliches Pferd, und alles, was De’Unnero als Antwort erhielt, war geballter Zorn. Wütend machte der Bischof kehrt und lief wieder zurück zu Ni’estiel, in der Hoffnung, die Elfe wäre so dumm, einen Rettungsversuch zu unternehmen.
Doch Tiel’marawee kannte ihre Pflicht, und außerdem hätte sie Symphony gar nicht dazu bewegen können, denn das Pferd hatte seinen eigenen Kopf. Als er sah, dass Ni’estiel noch am Leben war, wenn auch kaum noch bei Bewusstsein, zeigte sich ein boshaftes Lächeln auf dem Gesicht des Bischofs. Er schlüpfte wieder in seine Tigergestalt, witterte das Blut und fiel in wilder Raserei über den halb ohnmächtigen Elfen her.
Einige Zeit später sah Bradwarden den Hengst schweißglänzend und außer Atem, aber immer noch zielstrebig auf das Lager zutraben. Tiel’marawee lag bewusstlos über seinem Rücken, und das Tier gab sich alle Mühe, sie nicht zu verlieren. »Beim Gott Dinoniel!«, murmelte der Zentaur, als er die klaffende Wunde sah. Auf der Stelle löste er das magische rote Elfenband, das ihn wochenlang am Leben erhalten hatte, als er in den Trümmern des Aida verschüttet war, von seinem Arm und band es Tiel’marawee um, obwohl er keine Ahnung hatte, ob es auch half, wenn man es erst nachträglich anlegte. Erleichtert sah er, wie der Blutstrom etwas nachließ. Trotzdem bezweifelte er stark, dass er das arme Wesen noch retten konnte. Er hob sie vom Pferd, nahm sie in seine starken Arme und lief so schnell er konnte ins Lager, Symphony an seiner Seite. Eibryan sah sie erschüttert und fassungslos an. Welche Kreatur konnte den Touel’alfar so etwas antun? Und vor allem: Wo war Ni’estiel? »Sie hat kein Wort gesagt, seit ich sie auf deinem Pferd gefunden habe«, erklärte Bradwarden. »Ich denk mir, was auch immer sie so zugerichtet hat, Symphony hat sie gerade noch da rausgeholt.«
Der Hüter sah zu dem Pferd hinüber, stellte über den magischen Türkis auf Symphonys Brust eine geistige Verbindung her und nickte. Seine Besorgnis wuchs, als er das Bild einer gewaltigen Raubkatze empfing, die genau der Beschreibung entsprach, die ihm Roger von Baron Bildeboroughs Mörder gegeben hatte. »Ach, hätte ich doch bloß einen Seelenstein aus dem Kloster mitgenommen!«, jammerte Bruder Viscenti, als er mit den anderen hinzukam. Auch Eibryan bedauerte – und nicht zum ersten Mal –, dass er Ponys Angebot nicht angenommen hatte, als sie ihm beim Abschied den Stein geben wollte. »Wird sie überleben?«, fragte Roger, als Bruder Braumin, der in den Heilkünsten gut bewandert war, sich über das Elfenmädchen beugte, um es ihr ein bisschen bequemer zu machen. Da er nicht wusste, was es mit der Armbinde auf sich hatte, wollte er sie entfernen, aber Bradwarden und Eibryan hielten ihn schnell davon ab. »Sie sieht schon ein bisschen besser aus«, meinte der Zentaur hoffnungsvoll. »Aber ihre Wunden stammen von den Klauen einer Raubkatze«, erklärte der Hüter, »und sind schmutzig.« »Eine Raubkatze?«, fragte Roger mit schreckgeweiteten Augen. Eibryan sah ihn scharf an und nickte. »Eine große orangefarbene Katze mit schwarzen Streifen«, erklärte der Hüter. Rogers Knie gaben nach, und er wäre beinahe hintenüber gefallen, wenn ihn Bruder Castinagis nicht festgehalten hätte. »Wie die, von der Baron Bildeborough umgebracht wurde«, bestätigte der Hüter. »Bischof…«, ließ sich eine schwache Stimme vernehmen. »Bischof… Tiger – «
Eibryan beugte sich zu Tiel’marawee hinab. »Der Bischof?«, fragte er, aber sie hatte die Augen schon wieder geschlossen und lag ganz still da. »De’Unnero«, erklärte Bruder Braumin. »Der Bischof von Palmaris. Er ist dafür bekannt, dass er einen wirkungsvollen Stein besitzt, die Tigertatze, mit deren Hilfe man seinen Arm in eine Tigerpranke verwandeln kann.« »Nicht nur den Arm«, meinte Roger. »Er ist hier?«, sagte der Hüter ungläubig und suchte mit den Augen den Wald ab, als erwarte er, der Tiger könne jeden Augenblick über sie herfallen. »Und der Zweck der Übung dürfte wohl klar sein«, meinte Bradwarden. »Er ist auf der Suche nach uns«, überlegte Bruder Braumin. »Wir haben dich in Gefahr gebracht.« Der Hüter schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, er hat es viel eher auf mich abgesehen als auf dich und deine Freunde.« »Und am meisten auf Pony«, fügte Bradwarden hinzu, eine Vorstellung, die Eibryan gar nicht behagte. Wenn De’Unnero hier draußen hinter ihm her war, hieß das womöglich, dass der Mann Pony in Palmaris aufgespürt und gefoltert hatte, um herauszubekommen, wo er sich aufhielt? »Ich muss ihn finden«, sagte Eibryan unvermittelt und starrte in den Wald, während die Angst um Pony und sein ungeborenes Kind in ihm hochstieg. »Schätze, dass er dich noch früh genug finden wird«, meinte Bradwarden trocken. »Was sollen wir denn tun?«, fragte Bruder Braumin. »Wir gehen weiter wie gehabt«, antwortete Bradwarden, bevor der Hüter etwas sagen konnte. Der Zentaur war klug genug, um zu wissen, dass Eibryan an Pony dachte und am liebsten nach Palmaris zurückgekehrt wäre. Das aber wäre nach Bradwardens Meinung ein großer Fehler gewesen.
»Gerade heute Abend hast du mir noch erzählt, dass die Elfen bei ihr in Palmaris sind«, sagte er, um den Hüter zu beruhigen. »Die passen bestimmt genauso gut auf sie auf wie du.« Eibryan war da nicht so sicher. Nachdem die Elfen offensichtlich derart verärgert waren, fragte er sich, ob sie Pony überhaupt beschützen würden. Doch er verscheuchte diesen Gedanken und sagte sich, dass die Touel’alfar trotz aller Meinungsverschiedenheiten schließlich ihre Verbündeten waren. »Oder bist du etwa so von dir überzeugt, dass du dich für besser hältst als Lady Dasslerond und Belli’mar Juraviel und alle andern zusammen?«, sagte Bradwarden herausfordernd. Eine lächerliche Unterstellung, aber sie erinnerte Eibryan daran, was die Touel’alfar tatsächlich vermochten. »Wir gehen weiter«, willigte der Hüter ein. »Aber wir verschärfen unsere Sicherheitsmaßnahmen.« »Und was ist mit der Kleinen?«, fragte Bradwarden und schaute auf Tiel’marawee herab. »Ich glaube nicht, dass sie jetzt schon in der Verfassung ist, die Reise zu überstehen.« »Ich weiß nicht einmal, ob sie diesen Tag übersteht«, meinte Bruder Braumin. »Wir warten, bis es so weit ist«, sagte der Hüter, ohne zu zögern. »So oder so«, murmelte Bruder Castinagis. »Und ich mache mich mit Symphony auf die Suche nach Ni’estiel«, fügte der Hüter hinzu und überhörte die Bemerkung. Er wusste ja, dass der Mönch es nicht böse gemeint hatte. »Du gehst aber nicht allein«, erwiderte der Zentaur. »Ich komme schneller voran, wenn ich allein reite.« »Ich werde schon mithalten«, sagte der Zentaur hartnäckig.
Eibryan sah sich zu seinen Freunden um. Die Vorstellung, die anderen allein zurückzulassen, auch wenn sie sechs Mann waren, gefiel ihm gar nicht. »Nimm ihn mit«, redete ihm Bruder Castinagis zu. »Es wäre tollkühn, allein gegen De’Unnero loszuziehen.« »Der Bischof ist ein gefährlicher Gegner«, fügte Bruder Mullahy hinzu. Das brauchte dem Hüter niemand zu sagen. Einer, der zwei Touel’alfar gewachsen war, musste ein gefährlicher Gegner sein. »Ich mache mir mehr Sorgen um die, denen ich den Rücken kehre«, sagte er aufrichtig. »Wir sind immerhin zu sechst«, erwiderte Roger. »Und wir fünf aus St. Mere-Abelle verstehen uns aufs Kämpfen«, versicherte ihm Bruder Castinagis im Brustton vollster Überzeugung. Der Hüter machte Bradwarden ein Zeichen, dann ging er, um Symphony zu satteln. Aber ein Blick auf das schweißgebadete Pferd, dessen Flanke einen ziemlich bösen Riss aufwies, sagte ihm, dass er das Tier lieber erst ein bisschen verschnaufen lassen sollte, und so warf er Bradwarden stattdessen Decke und Sattel über und führte den Hengst am Zaumzeug in den Wald, den Zentauren neben sich. Nach zwei Stunden fanden sie die traurigen Überreste von Ni’estiel, während der Tiger nirgends zu sehen war. »Du wirst es ihm heimzahlen«, sagte der Zentaur. Eibryan starrte auf das zerfetzte Bündel, dann blickte er wieder in den Wald und nickte grimmig. Am nächsten Morgen war Tiel’marawee noch immer nicht reisefähig, doch sie sah schon etwas kräftiger aus und brachte es sogar fertig, die Augen zu öffnen und ihnen Genaueres über dieses Untier zu erzählen, das sie überfallen hatte und mal ein Mensch, mal ein Tiger und manchmal auch irgendein
Zwischending war. Sie bestätigte ihnen auch, dass der Bischof hinter dem Nachtvogel her war und mit Vergnügen jeden umbrachte, der sich als Freund des Hüters bezeichnete. Dann schloss Tiel’marawee ihre sanften goldenen Augen und legte sich zurück, und sie wirkte so zerbrechlich, als stünde sie dicht an der Schwelle des Todes. Unbeirrt machte sich der Hüter auf zu einer Lichtung am Rand eines kleinen Teiches. Er legte seine Kleider ab und versenkte sich wütend in den Schwerttanz wie zur Bestätigung seiner Verbundenheit mit den Elfen und seiner Entschlossenheit, diesen Frevel zu rächen. Und auch wie eine Herausforderung an De’Unnero, in der Hoffnung, der Bischof würde auftauchen, in welcher Gestalt auch immer, damit er hier und jetzt mit ihm abrechnen konnte. Und tatsächlich beobachtete dieser das Schauspiel aus einiger Entfernung, und während er näher kam, überlegte er, ob er als Mensch oder Tiger zuschlagen sollte. Dann entschied er sich dafür, sich zu beweisen, dass er auch ohne Zauberkraft der bessere Kämpfer war, und als Mensch seine Macht zu behaupten. Aber dann entdeckte er den riesigen Zentauren, der ebenfalls zusah, und so überzeugt De’Unnero auch von sich war, mit allen beiden wollte er es denn doch nicht aufnehmen. Er konnte abwarten, sagte er sich, und verschwand wieder im Dunkel des Waldes. Allerdings blieb er in der Nähe, denn er wollte den Rest dieses Schauspiels nicht versäumen. Shamus Kilronney war schon mit seinen Soldaten unterwegs und würde die Freunde des Hüters übernehmen. Dann wäre De’Unneros Stunde gekommen.
7. Fatale Folgen
»Weg von der Straße!«, brüllte der Soldat den verdutzten Belster O’Comely an, der gerade aus der Schänke trat, um einen Eimer mit Abfall auszukippen. Mit gezogener Waffe ging er auf den Wirt los, der sofort seinen Eimer stehen ließ und mit erhobenen Händen zurückwich. »Lass dich ja nicht wieder hier draußen blicken!«, hörte er den Mann noch hinter ihm herrufen, während er die Tür schloss. Mit einem Stoßseufzer ging Belster zurück in den Gemeinschaftsraum, wo Dainsey und Mallory einträchtig beieinander saßen. Noch heute Morgen hatte er Mallory und Prim O’Brien extra angeheuert, in Erwartung eines Ansturms von Gästen, die sich in neugierigem Geschwätz über die Ankunft des ehrwürdigen Vaters und das bevorstehende Eintreffen des Königs ergehen wollten. Jetzt kam ihm das geradezu lächerlich vor, denn die Schankstube war leer bis auf drei Burschen, die sich bereits am Tag zuvor im Gasthaus eingemietet hatten. Die klatschsüchtigen Gäste aber mussten zu Hause bleiben, ob sie wollten oder nicht. »Wo ist sie?«, fragte Belster, und Dainsey zeigte auf die Tür zu den Privaträumen. Pony saß ganz still im Dunkel ihres Zimmers und starrte durch das einzige Fenster hinaus. Von Zeit zu Zeit hörte man, wie ein Soldat oder ein Mönch jemanden anbrüllte, der sich auf der Straße sehen ließ. Nach dem Attentat auf den ehrwürdigen Vater hatte St. Precious über die ganze Stadt eine Ausgangssperre verhängt.
»Mädchen, was hast du da bloß angerichtet!«, sagte Belster und baute sich vor ihr auf. »Das warst du – erzähl mir nichts! Der Letzte, der ins Wirtshaus gekommen ist, hat mir erzählt, dass der ehrwürdige Vater von einem Edelstein getroffen wurde und dass sich die Mönche gewundert hätten, wie jemand aus so weiter Entfernung eine solche Durchschlagskraft entwickeln konnte. Es heißt, sie hatten Schutzvorkehrungen getroffen – und das bedeutet, dass der Attentäter ungewöhnlich gut mit den Steinen umgehen kann. Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der das kann.« »Avelyn Desbris hätte ihm den Kopf von den Schultern gepustet«, erklärte Pony nüchtern, ohne ihren Blick vom Fenster zu lösen. Diese Ungerührtheit versetzte Belster unvermittelt in Rage. Er packte sie bei den Schultern und drehte sie heftig zu sich herum. »Aber Avelyn ist tot!«, fuhr er sie an. »Und wir wissen alle beide, wer seine Edelsteine hat. Und einer davon war ein Ladestein, oder? Und es war ein Ladestein, der den ehrwürdigen Vater getroffen hat. Also, wo ist dein Ladestein Mädchen?« Ponys große blaue Augen wurden schmal, und sie sah ihn so durchdringend an, dass er einen halben Schritt zurückwich. »Du hast auf den Abt geschossen«, sagte Belster ruhig. »Ich würde mich genauso wenig dafür entschuldigen, wenn ich den ehrwürdigen Vater umgebracht hätte, wie ich es tue, weil ich mitgeholfen habe, Bestesbulzibar zu vernichten«, sagte sie bestimmt, und dabei entging ihr völlig die Ironie dieser Feststellung. »Was hast du bloß angerichtet!«, jammerte Belster erneut, hob beschwörend die Hände und lief nervös auf und ab. »Glaubst du etwa, du hättest deinen Freunden damit einen Gefallen getan? Oder dir selbst? Sieh doch mal aus dem
Fenster, Mädchen! Hast du heute Abend schon irgendeine Menschenseele herkommen sehen?« »Sie werden sich schon wieder beruhigen«, sagte Pony. »Sie haben Angst vor einem Aufstand, deshalb scheuchen sie die Leute von der Straße. Das ist bald vorbei.« »Und was ist mit deinen Behreneser-Freunden?«, fragte Belster. »Werden die Vergeltungsaktionen der Kirche an den Schwarzhäuten auch bald vorbei sein? Und wie schnell werden die Überlebenden des zu erwartenden Gemetzels die Hingerichteten vergessen?« »Die Behreneser?« »Ist dir nicht klar, dass man sie für das Attentat verantwortlich machen wird?«, fragte Belster ungläubig. Pony schnaubte verächtlich über diese absurde Vorstellung. »Die Behreneser können ja gar nicht mit den Steinen umgehen«, erwiderte sie. »Ihr Glaube erkennt die Steine nicht einmal als Gottesgeschenk an, sondern behauptet, sie wären eine Versuchung von Ouwillar, den sie für das verkörperte Böse halten. Die Yatol-Priester sehen die Steine als Mittel an, sich vor schwerer, ehrlicher Arbeit zu drücken, weil sie Menschen Macht verleihen, die sie dieser Macht für unwürdig erachten. Die Vorstellung, dass ein Behreneser mit einem Edelstein auf den ehrwürdigen Vater geschossen hat, ist einfach…« »Sehr bequem«, fiel ihr Belster ins Wort. »Nun hast du also deinen Spaß gehabt. Fühlst du dich deshalb jetzt wohler?« Pony schüttelte enttäuscht den Kopf. Warum verstand er sie nur nicht? Ob sie sich wohl fühlte? Wohl kaum! Sie hatte lediglich getan, was nötig war, was sie für die Chilichunks und Connor hatte tun müssen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für dieses Königreich. »Du hast uns alle ganz schön in die Klemme gebracht«, meinte Belster. »Vielleicht machen sie jetzt diesen elenden
De’Unnero zum ehrwürdigen Vater, dann bekommt das ganze Land zu spüren, was er bisher nur in Palmaris veranstaltet hat.« Wieder schüttelte Pony den Kopf. »Markwart war die treibende Kraft hinter dem Ganzen«, sagte sie. »Er hat Palmaris an sich gerissen, und ohne ihn…« »Er hat deine Eltern umgebracht«, sagte Belster. »Und das ist das Einzige, was für dich zählt. Mag ja sein, dass Markwart das verdient hat, aber glaub ja nicht, dass du irgendeinem von uns einen Gefallen getan hast. Keinem Einzigen, sag ich dir! Wir gehen jetzt alle durch die Hölle, die Pony uns bereitet hat.« Pony schaute unentwegt weiter aus dem Fenster und wäre fast vor Schreck von ihrem Stuhl aufgesprungen, als der Wirt die Tür hinter sich zuschlug. Sie sagte sich immer wieder, dass er Unrecht hatte. Es würde vielleicht für eine Weile ein bisschen schwierig werden, aber das ginge vorbei. Ihrer Einschätzung nach würde die Stadt jetzt wahrscheinlich eher unter weltliche Herrschaft gelangen, und dann würden die Leute wieder in Ruhe und Frieden leben können. Daran musste sie einfach glauben, denn darüber hinaus hatte ihr das alles wenig eingebracht. Sie hatte damit vielleicht ihren größten Rachedurst gestillt, aber das hatte so gut wie gar nichts daran geändert, dass der Tod von Graevis, Pettibwa und Grady eine Lücke in ihrem Herzen hinterlassen hatte. Und der von Connor. Doch sie hoffte, dass sie jetzt wenigstens besser damit fertig werden konnte.
»Es war die Frau«, erklärte Tallareyish Issinshine Belli’mar Juraviel und Lady Dasslerond am Abend des Attentats auf den ehrwürdigen Vater. »Sie saß ein Stück weit entfernt auf einem Dachfirst.«
»Du scheinst wirklich nicht übertrieben zu haben, was ihre Fähigkeiten mit den Edelsteinen betrifft«, sagte Lady Dasslerond zu Juraviel, und es klang leider alles andere als schmeichelhaft. »Der Abt Markwart hat Jilseponie großes Leid zugefügt«, versuchte Juraviel zu erklären, aber seine eigenen Worte klangen ihm hohl und leer. Pony hätte klüger sein müssen, mit Rücksicht auf ihre Position und weil sie Nachtvogels Kind unter dem Herzen trug. Sie hätte mehr Verantwortungsgefühl zeigen und an das Gesamtwohl der Welt denken müssen anstatt an ihren persönlichen Rachefeldzug. »Sie hat kopflos reagiert«, sagte Lady Dasslerond in der ihr eigenen Direktheit, »und nicht über ihre Nasenspitze hinausgeschaut.« »Sie wusste ja auch noch nichts von uns«, wandte Juraviel ein. »Allein das Kind in ihrem Bauch hätte sie hindern müssen«, sagte die Elfenkönigin schnell. Juraviel wollte erwidern, dass Pony offenbar angenommen hatte, ohne größeren Schaden davonzukommen, von dem Verlust des einen Steines einmal abgesehen. Doch er hielt lieber den Mund, denn ihm wurde klar, dass dies alles nur Ausreden waren. In Wirklichkeit war Belli’mar Juraviel alles andere als begeistert und betrachtete diese jüngste Entgleisung lediglich als einen Fehler von vielen, seit sie Nachtvogel verlassen hatte, ohne ihm von dem Kind zu erzählen. Denn Juraviel war schließlich auch ein Touel’alfar und konnte die Welt nicht mit den Augen der Menschen sehen, auch wenn er häufig mit ihnen zu tun hatte. »Jetzt werden die Abellikaner die Stadt vollkommen in ihre Gewalt bringen«, fuhr Lady Dasslerond fort. »Und sie werden König Danube auf Schritt und Tritt bewachen, unter dem Vorwand der Sicherheit. Deine Freundin hat uns große
Schwierigkeiten bereitet. Wie soll ich jetzt ein Treffen mit Danube Brock Ursal bewerkstelligen? Ganz gewiss können wir uns nicht vor der Kirche offenbaren. Jilseponie hat eine große Dummheit begangen, wie es nur ein Mensch fertig bringt.« Ihr enttäuschter Seufzer zeigte Juraviel deutlich das Missfallen der Elfenkönigin darüber, dass diese Frau das Geheimnis des Schwerttanzes mit ihnen teilte. Pony würde es nicht leicht haben, das verlorene Terrain wieder zurückzugewinnen, und die Empfindungen der Herrin Pony gegenüber würden sich auf ihre Geduld mit dem Nachtvogel auswirken. Aber daran konnte Juraviel vorläufig nichts ändern. Pony war nur eine Schachfigur in dem großen Spiel, das in Korona ausgetragen wurde, und Schachfiguren musste man nun einmal gelegentlich opfern.
Die drei Gäste, die in der Herberge wohnten, leisteten Belster und seinen vier Helfern Gesellschaft – denn Pony war aus dem Hinterzimmer gekommen, und Prim O’Brien hatte es irgendwie geschafft, sich ins Gasthaus zu schleichen –, aber darüber hinaus hatten nur zwei mutige Gäste den Wachtposten getrotzt und waren in die Wirtschaft gekommen. Alle zehn schauten erschrocken auf, als die Tür zur Schankstube aufflog und eine Horde Soldaten hereinmarschiert kam. Ponys eine Hand fuhr automatisch an ihren Edelsteinbeutel, während die andere nach dem Schwert griff, das auf einem Brett hinter dem Tresen lag. Sie entspannte sich jedoch sofort, ebenso wie Belster und Dainsey, als sie die Frau bemerkte, von der die Soldaten angeführt wurden. Es war Colleen Kilronney. »Master O’Comely«, sagte sie und machte ihren Kameraden – einige waren von der Stadtwache und andere von den
Kingsmen – ein Zeichen, sich an zwei in der Nähe stehende Tische zu setzen. »Bier für meine Freunde!« »Zu Diensten, gute Frau«, erwiderte der Wirt, eilte beflissen an den Tresen, füllte einen Krug nach dem andern und reichte Dainsey und Mallory je ein Tablett. Inzwischen kam Colleen zu Belster herübergeschlendert. Sie rief ihren Kameraden zu, dass sie sich um die Bezahlung kümmern wolle – wozu etliche der Kingsmen herumkrakeelten, der Wirt müsse eigentlich stolz sein, dass ihn königliche Soldaten beehrten, und sie freihalten. Colleen brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen und holte, am Tresen angekommen, einen prall gefüllten Geldbeutel hervor. Belster wollte gerade protestieren, doch ihr Blick sagte ihm und Pony, dass Colleen nur einen Vorwand gesucht hatte, um ungestört mit ihnen reden zu können. »Sie haben gesagt, dass der Abt durch Zauberkraft niedergestreckt wurde«, flüsterte sie. »Und dass noch keiner von ihnen so etwas erlebt hätte.« Colleen entging nicht der Blick, den Belster Pony zuwarf. »Du warst es also wirklich«, sagte sie grinsend. »Nicht schlecht, ich muss schon sagen.« »Ich habe nur die Welt ein bisschen sicherer gemacht«, erwiderte Pony. »Das Volk des Bärenreiches, ja von ganz Korona, ist besser dran ohne den ehrwürdigen Vater.« »Ohne ihn?«, fragte Colleen skeptisch. Ponys Lächeln erstarb. »Er ist noch am Leben?«, fragte Belster. »Gesund und munter«, erwiderte Colleen. »Die Mönche, die bei ihm waren, als er getroffen wurde, dachten schon, er wäre tot, aber der zähe alte Knochen hat’s irgendwie geschafft, und dann haben ihn die Mönche in St. Precious mit ihren Heilsteinen verarztet. Sie behaupten, es wäre ein Wunder, und
manche sagen sogar, der liebe Gott wollte den ehrwürdigen Vater in diesen kritischen Zeiten nicht sterben lassen.« Belster stöhnte und sackte in sich zusammen. Wenn er Pony auch böse war, so hatte er doch gehofft, ihr tollkühnes Vorgehen hätte die Welt von Markwart befreit. Pony war am Boden zerstört. »Ich habe ihn viel zu hart getroffen«, sagte sie mit erstickter Stimme, als bekäme sie keine Luft. »Ich hab doch gesehen, wie sein Kopf zersprungen ist; den hätte kein Seelenstein je wieder zusammenbekommen. Ich habe ihn ganz bestimmt getötet. Die Kraft dieses Steines hätte einen Riesen umgebracht.« »Er ist aber nicht tot, auch wenn ich wünschte, es war so«, erwiderte Colleen. Dann lächelte sie breit und nickte Pony anerkennend zu. »Alle Achtung, du bist nicht zu schlagen!« »Ihr Dickschädel auch nicht!«, beklagte sich Belster. Colleens Lächeln verschwand, als einer der KingsmenSoldaten zu ihr herüberkam und fragte: »Will er feilschen?« »Der liebe Belster gibt uns einen aus«, erwiderte Colleen. »Und er will wissen, wann die Leute wieder auf die Straße dürfen, damit der Laden wieder voll wird.« »Das hat Vater Markwart zu bestimmen«, sagte der Soldat. »Oder König Danube, wenn die Ausgangssperre bis zu seiner Ankunft noch nicht aufgehoben ist.« Dabei ließ er Belster und Pony nicht aus den Augen, und Pony hielt die Luft an, denn sie kannte den Mann vom Feldzug gegen Caer Tinella und konnte nur hoffen, dass ihre Verkleidung hieb- und stichfest war. Jetzt ging er wieder zu den anderen – aber er sah sich dabei immer wieder argwöhnisch um. »Der ist immer so«, erklärte Colleen. »Bist du sicher, dass der Abt noch lebt?«, fragte Pony ruhig. Colleen nickte. »Hab’s mit eigenen Augen gesehen, wie er die Mönche in St. Precious herumkommandiert hat«, sagte sie.
»Redet ein bisschen wirres Zeug, wenn du weißt, was ich meine, aber er ist putzmunter und fuchsteufelswild, kann ich dir sagen!« »Verdammt«, murmelte Pony und blickte voller Wut und Enttäuschung zu Boden. Wie war das möglich? Wie konnte irgendjemand einen solchen Anschlag überleben? Nun wurde ihr klar, dass dieser Mann ein viel gefährlicherer Gegner war, als sie geglaubt hatte. Trotzdem hatte sie noch immer die Absicht, ihn zu töten. Davon würde sie nichts abbringen. »Der Stein steckte tief in der Seitenwand der Kutsche«, erklärte Tallareyish, als er wieder zu Lady Dasslerond zurückkehrte. Diesmal war die Herrin allein, denn Juraviel war unterwegs und beobachtete die Soldaten und Mönche in den Straßen, um sich einen Eindruck vom Ausmaß der neuen Sicherheitsmaßnahmen zu verschaffen. Außerdem wollte er mit Pony reden, wenn er die Gelegenheit fände, und das mit allerhöchstem Segen, obwohl Lady Dasslerond ihm genaue Anweisungen erteilt hatte, was er ihr erzählen durfte. »Nachdem er seinen Schädel durchschlagen hatte?«, sagte sie jetzt. »Und da lebt er noch?« »So ist es«, bestätigte Tallareyish. »Und die Mönche, die bei ihm waren, marschieren jetzt im Korridor auf und ab und senden dabei lauthals Gebete zu ihrem Gott und reden von einem Wunder, das ihren hochverehrten ehrwürdigen Vater gerettet habe.« »Seine Verletzungen waren also schwer?« »Unsere Kundschafter schwören, dass keiner der Mönche ihm die geringste Chance gegeben hat, selbst dann nicht, als sie anfingen, ihn mit den Seelensteinen zu behandeln«, erklärte Tallareyish. »Man hatte ihm sogar schon die Sterbesakramente erteilt. Seine untere Gesichtshälfte war völlig weggerissen. Und jetzt, nur wenige Stunden später, ist der Mann schon
wieder auf den Beinen und schäumt vor Wut, und alles, was an das Attentat erinnert, ist ein leichtes Lispeln und ein geschwollener Unterkiefer.« Lady Dasslerond prägte sich diese Beschreibung genau ein, als sie Tallareyish jetzt wieder losschickte, damit er Juraviel im Auge behielt. Dann zog sie sich allein in einen ruhigen Winkel des Daches zurück, den sie sich als provisorischen Stützpunkt auserkoren hatte. Auch wenn ihr Volk kaum Edelsteine gebrauchte, verstand Lady Dasslerond mehr als alle anderen Touel’alfar von der Kraft dieser Steine, und so war es ihr unbegreiflich, wie Markwart – oder irgendein anderer Mensch, noch dazu ein alter – ein solches Attentat überlebt haben konnte. Und doch war er wieder quicklebendig! Lady Dasslerond, die sich auskannte in den Legenden aller Völker und ihrer Dämonen, war ernsthaft besorgt.
8. Beobachter aus dem Hinterhalt
»Willst du etwa schon wieder da raus, du unverbesserlicher Dummkopf?«, fragte Bradwarden am zweiten Morgen ihres unfreiwilligen Aufenthalts. Es war kurz vor Tagesanbruch, und Eibryan hatte eben noch einmal nach Tiel’marawee gesehen, die zwar friedlich schlief, aber noch immer nicht transportfähig zu sein schien. Jetzt begann er seine Kleider auszuziehen. »Jeden Tag«, erwiderte der Hüter. »Im Schwerttanz finde ich mein Gleichgewicht und mache meinen Kopf frei für das, was mich am Tage erwartet.« »Pass mal auf, dass dich nicht gleich da draußen was erwartet, wenn sich der Bischof immer noch da herumtreibt«, meinte der Zentaur. Eibryan grinste und marschierte mit entschlossenem Schritt aus dem Lager. »Pass auf unsere Freunde auf!«, rief er Bradwarden, der die sieben schlafenden Gestalten bewachte, noch vom Waldrand aus zu, und schon war er verschwunden. Er begab sich wieder zu der Lichtung an dem kleinen Teich. Nachdem er auch noch die letzten Reste seiner Kleidung abgestreift hatte, trat er in die Mitte, holte tief Atem und versuchte, alle beunruhigenden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, die Angst um Tiel’marawee, um seine Begleiter, um sich selbst und um Pony – die immer stärker in seinem Kopf herumspukte. Als er all das abgelegt hatte, wurde er zu Nachtvogel, dem Hüter aus der Elfenschule, und er wurde eins mit seiner Umgebung. Er spürte das vereiste Gras unter seinen Füßen, sah die Morgensonne, die sich in der dünnen Eisschicht des Teiches spiegelte, und er konnte nicht umhin, sich über die ungewöhnliche Kulisse zu wundern, die ihn umgab.
Normalerweise lag um diese Jahreszeit der Schnee etliche Fuß hoch, und der Teich wäre weiß gewesen über einer dicken grauen Eisschicht. Stattdessen war er nur an einigen Stellen mit einer dünnen Eisschicht überzogen, und wo die Strömung am anderen Ufer auf traf, war offenes Wasser. Es war wirklich ein seltsamer Winter, aber darüber, sagte sich der Nachtvogel, konnte er ein anderes Mal nachdenken. Er musste sich bewegen und sein Blut in Fluss bringen, denn seine Füße wurden langsam taub in dem eiskalten Gras. Und so ließ er sich in die perfekte Harmonie und das vollkommene Gleichgewicht des Bi’nelle dasada fallen. Anmutig und kraftvoll glitt er dahin, seine Muskeln spannten und entspannten sich in ausgewogenen Drehungen und gezielten Schwerthieben. Dabei musste er gar nicht erst nachdenken, denn die Bewegungsabläufe waren ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sich mühelos eins aus dem andern ergab. Drehung und Schwertstoß folgten automatisch auf Paraden, ein Sprung endete in plötzlichem Vorwärtsstürmen, und seine Beine landeten genau in der richtigen Position, um ihm den nötigen Schwung zu verleihen, als er mit den Füßen kurz den Boden berührte. Es war jeden Tag eine andere Abfolge, denn der Nachtvogel hatte es inzwischen zu solcher Meisterschaft gebracht, dass er ständig improvisieren konnte. Es war wirklich ein köstlicher Anblick, und für Bischof De’Unnero, der im Gebüsch verborgen zusah und diesmal genau wusste, dass der Nachtvogel hier allein war, steigerte dieses Schauspiel nur den Reiz. Der da war möglicherweise die größte Herausforderung, die er je finden würde, sagte er sich. »Und ganz ohne Rüstung, wie ich sehe«, meinte De’Unnero und trat aus seinem Versteck auf das Feld hinaus. Er trug die einfache braune Ordenstracht mit einem weißen, mit Goldfäden durchwirkten Strick als Gürtel und flache weiche
Stiefel. Ein Ring schmückte einen seiner Finger, ansonsten trug er keinen Schmuck und keine Edelsteine. »Ebenso wie Ihr«, sagte der Hüter ruhig und keineswegs überrascht, denn der Wald hatte ihm längst die Anwesenheit des anderen verraten. Genau genommen war er sogar eigens hergekommen in der Hoffnung, dass De’Unnero auftauchen würde. »Ich trage nie eine Rüstung«, meinte dieser jetzt und beschrieb einen Kreis nach rechts. Der Hüter setzte sich auf die gleiche Weise in Bewegung. »Nicht einmal das Lederwams des Nachtvogels oder die schweren Stiefel. Das ist ja eigentlich unfair.« »In voller Bekleidung trage ich nichts, was auch nur einem lächerlichen Goblin-Speer widerstehen würde«, sagte der Hüter. »Dann fühlst du dich also nicht im Nachteil?«, fragte De’Unnero, denn er wollte ausschließen, dass der andere das womöglich im Nachhinein geltend machte. Damit es eine echte Herausforderung war und er den Sieg genießen konnte, mussten gleiche Bedingungen herrschen. »Alles in Ordnung«, erwiderte der Hüter mit grimmigem Lächeln. »Nur dass Ihr scheinbar Eure Waffe vergessen habt.« De’Unnero lachte und hob den Arm, sodass seine Hand aus dem weiten Ärmel zum Vorschein kam, während sie sich wieder in die Tigerpranke verwandelte. »Ich trage meine Waffen nur etwas näher am Körper, das ist alles«, erklärte der Bischof. Er musste kichern, aber nicht über Nachtvogels erstauntes Gesicht, sondern darüber, wie einfach die Verwandlung vonstatten gegangen war, ohne dass er den Edelstein überhaupt aus dem Beutel genommen hatte! Vater Markwart hatte ihn wirklich auf eine höhere Ebene der Macht geführt.
»Macht nur weiter!«, forderte Nachtvogel ihn auf. »Nehmt ruhig ganz die Gestalt an, in der Ihr den Elf ermordet habt und Baron Bildeborough und sein Gefolge.« Nun lachte De’Unnero noch lauter. Er dachte einen Augenblick über den Vorschlag nach, doch dann schüttelte er den Kopf. Er wollte den Nachtvogel unter gleichen Voraussetzungen schlagen. Seinen Tigerarm betrachtete er als Gegenstück zu dem prächtigen Schwert, das der andere trug. »Weißt du eigentlich, warum ich hier bin?«, fragte er. »Ich weiß nur, dass Eure Kirche nie um eine Ausrede verlegen ist«, entgegnete der Hüter. De’Unnero schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um die Kirche, Nachtvogel«, erklärte er. »Ich bin hier als Marcalo De’Unnero, nicht als Bischof De’Unnero. Wenn du jetzt bereit wärst, dich zu ergeben, so müsste Bischof De’Unnero das zwar akzeptieren, aber Marcalo De’Unnero würde sich damit nicht zufrieden geben.« Der Hüter sah ihn fragend an. »Ich bin deinetwegen hier, De’Unnero gegen den Nachtvogel«, fuhr der Mönch fort. »So wie es sein soll.« Jetzt musste der Hüter lachen, als er die Absurdität des Ganzen erkannte. »Es geht also lediglich um Euren Stolz und gar nicht um Eure verdrehte Auffassung von Gerechtigkeit«, sagte er. »Es geht nur darum, wer der bessere Kämpfer ist.« »Der beste Kämpfer«, korrigierte ihn De’Unnero. »Ich will die Sache ein für alle Mal klären.« »Und dann?« »Wenn ich dir das Herz aus dem Leib gerissen und es verspeist habe, dann mache ich kurzen Prozess mit deinen Freunden«, versprach ihm der Bischof, der ganz richtig vermutete, dass der Hüter sich nie und nimmer auf einen Machtkampf einlassen würde. »Zuerst bringe ich den Zentauren um und dann dieses Bürschchen. Und dann
kümmere ich mich um die Mönche. Vielleicht biete ich ihnen an, mitzukommen und sich der Anklage wegen Ketzerei zu stellen in der albernen Hoffnung, der ehrwürdige Vater würde sie verschonen. Vielleicht bringe ich sie aber auch einen nach dem andern um und reiße ihnen die Köpfe ab. Damit würde ich dem ehrwürdigen Vater eine große Freude machen.« Der Nachtvogel hörte auf, seine Kreise zu ziehen, und De’Unnero ebenfalls. »Hast du einen Gott, zu dem du beten musst?«, fragte De’Unnero. »Mein Gebet ist dieser Tanz«, erwiderte der Hüter. »Und ich bete, dass Gott sich der Seelen derer erbarmen möge, die ich töten muss.« Mit einem wilden Aufschrei stürzte sich der Bischof auf ihn, denn er wusste, dass er im Vorteil war, wenn er das todbringende Schwert des Hüters zu fassen bekäme. Doch das war auch dem Nachtvogel klar, und obwohl ihn die Wendigkeit des anderen überraschte, wandte er sich ab, hielt jedoch seine Schwertspitze unverändert dem Bischof entgegen, sodass dieser ausweichen musste, um nicht aufgespießt zu werden. Doch sobald er daran vorbei war, ging De’Unnero schnell in die Knie und machte dann einen gewaltigen Satz über die Klinge hinweg, um mit einem Fuß flüchtig die Schulter des Hüters zu streifen. Wieder standen sie sich gegenüber und starrten sich diesmal wortlos an, zwei Rivalen, die sich aus tiefster Seele hassten. Der Hüter fragte sich im Stillen, ob er seinem verblüffend schnellen Gegner die Offensive überlassen oder ihn mit einem plötzlichen Angriff zurückschlagen sollte. Doch im nächsten Augenblick hatte sich die Frage bereits erledigt, denn De’Unnero machte einen Satz vorwärts und landete so geschickt auf seinen Beinen, dass er automatisch nach rechts
befördert wurde. Er drehte sich einmal um sich selbst und holte dabei mit der Tigerpranke weit aus, um den Kopf des Hüters zu treffen. Zwar verfehlte ihn dessen Schwert, aber der Hüter konnte die Klinge noch rechtzeitig herumschwingen und den Arm abwehren, wobei er ihm am Handgelenk eine klaffende Wunde zufügte, während er selbst einen tiefen Riss an der linken Schulter davontrug. Der Bischof schien den Schmerz nicht zu spüren und stürmte weiter vorwärts, was den Hüter zu einem unkontrollierten Rückzug zwang. Jetzt war Nachtvogel am Zug. Er ließ das Schwert fallen und versetzte dem überraschten De’Unnero einen kräftigen Fausthieb gegen das Kinn, sodass dieser in die Knie ging. Mehr um sich festzuhalten als um anzugreifen, schlang der Bischof seine Tigerpranke um den Leib des Hüters und schlug ihm die Klauen ins Fleisch. Gleichzeitig versuchte er, mit dem anderen Arm den plötzlichen Hagel von rechten und linken Schwingern abzuwehren. Nachtvogel spürte den stechenden Schmerz dicht neben seinem Rückgrat. Er wusste, dass er De’Unnero keine Zeit lassen durfte, sonst würde ihm dieser im Handumdrehen den halben Rücken aufreißen. So setzte er dem anderen eine kurze Rechte zwischen die Rippen und landete einen plötzlichen linken Haken unter dessen Kinn, sodass De’Unneros Kopf zur Seite gerissen wurde. Als der Bischof sich wegdrehen wollte, spürte Nachtvogel das Ziehen in seinem Rücken und hakte seinen rechten Arm in die Tigerpranke, um ihn festzuhalten und ihm noch ein paar Schläge mit bloßen Fäusten zu verpassen. So hatte er es sich jedenfalls gedacht. Doch Marcalo De’Unnero war der beste Kämpfer, den St. Mere-Abelle je hervorgebracht hatte. Er hatte Bruder Richter trainiert, von denen ihm keiner jemals das Wasser reichen konnte.
Nachtvogel hatte ihn überrumpelt und ein paar verblüffende Treffer gelandet, doch jetzt holte De’Unnero aus und führte ein paar kurze Schläge gegen das Kinn des Hüters – und das auch nur, weil Nachtvogel rechtzeitig gemerkt hatte, dass es der andere auf seine Kehle abgesehen hatte, und wusste, dass der Kampf vorbei wäre, wenn ihm das gelänge. Doch selbst sein erfolgreiches Ausweichmanöver konnte nicht verhindern, dass der Hüter Blut schmeckte. Er teilte noch ein paar Schläge aus, dann änderte er die Taktik, drückte dem Bischof seine große Hand aufs Gesicht und quetschte es mit aller Kraft zusammen. Der andere stöhnte und ließ auf der Stelle von ihm ab; dabei versuchte er vergeblich, den eisernen Griff seines Gegners zu lockern. Nachtvogel sah den Sieg in greifbare Nähe gerückt. Er hielt die Umklammerung aufrecht, hielt die gefährliche Tigerpranke unerbittlich fest, und die Muskeln seines rechten Arms zogen sich noch fester zusammen wie eiserne Stricke, und seine Finger krallten sich mit solcher Kraft ins Fleisch des anderen, dass sie alle beide dachten, der Kopf des Bischofs müsste unter dem Druck zerspringen. De’Unnero zog und zerrte, doch der Kraft des Hüters war er nicht gewachsen. Nachtvogel knirschte siegesgewiss mit den Zähnen. Doch plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz in der Mitte seines Handgelenks, direkt unterhalb der Handfläche, als De’Unnero die Spitze seines Daumens genau in den Druckpunkt bohrte. Verblüfft merkte der Hüter, wie sein Zeige- und sein kleiner Finger nachgaben, und zu seinem Entsetzen entwand der andere ihm jetzt seinen Kopf und riss den Arm des Hüters zur Seite. Instinktiv zog Nachtvogel den Kopf ein, als De’Unnero den seinen jetzt vorwärts schnellen ließ, und nur mit einigem Glück befand sich seine Stirn unterhalb der des Bischofs, als sie
krachend mit den Köpfen aufeinander prallten. Beide taumelten, doch De’Unnero hatte am meisten abbekommen. Benommen zog der Bischof das Knie an und zielte auf die Leistengegend des Hüters, doch dieser machte eine knappe Drehung und fing den Tritt mit der Hüfte ab. Diese Bewegung kostete ihn das Gleichgewicht, und so ging der Hüter mit zu Boden, als sich De’Unnero plötzlich zurückwarf, und sie rollten alle beide den kurzen Abhang hinunter und mitten in den Teich hinein. Einen Augenblick hielt das Eis, dann brachen sie ein und landeten in dem eiskalten Wasser. Das Wasser schäumte und färbte sich rot, und sie waren beide zu erstarrt vor Kälte und zu sehr außer Atem, um ihren Kampf fortzusetzen. Prustend und keuchend kam Nachtvogel an die Oberfläche und erwartete, De’Unnero neben sich auftauchen zu sehen. Stattdessen sah er Bradwarden und Roger, die über die Lichtung rannten. Als sie ihren Freund entdeckten, beeilten sie sich, ihm zu Hilfe zu kommen. »Seit wann findet dein Tanz im Wasser statt?«, fragte Bradwarden und galoppierte herbei, um seinen angeschlagenen Freund aus dem kalten Wasser zu fischen. Als Eibryan zitternd und blutend an Land ging, genügte ein Blick auf die Spuren an seinem Rücken, die den Verletzungen von Tiel’marawee verdächtig ähnlich sahen, und die beiden anderen wussten, was passiert war. Mit einer Handbewegung griff Bradwarden nach seinem riesigen Bogen und legte einen Pfeil an. »D-d-da im W-w-asser«, sagte Eibryan zähneklappernd. Roger zog seinen Umhang aus und legte ihn mit ungläubigem Gesicht seinem Freund um. »Das war Bischof De’Unnero?«, fragte er. »Wo ist der Dummkopf?«, fragte der Zentaur. »Hast du ihn erledigt? Oder wenigstens so schwer verletzt, dass die Ratte abgesoffen ist?«
Eibryan zuckte die Achseln und suchte mit den Augen die Wasseroberfläche ab; er war sich nicht sicher. Plötzlich tauchte De’Unneros Kopf in der Mitte des Teiches auf, bewegte sich einen Augenblick lang von ihnen weg und tauchte dann wieder unter. Bradwarden schoss den Pfeil trotzdem ab, der aber nur die Wasseroberfläche streifte, ohne etwas auszurichten. »Irgendwo muss er ja wieder rauskommen«, sagte der Zentaur und legte einen neuen Pfeil. »Und dann hab ich ihn.« Im selben Moment tauchte der Bischof als Raubkatze aus dem Wasser auf und verschwand so plötzlich im Wald, dass Bradwarden nicht einmal dazu kam, den Pfeil abzuschießen. »Wenigstens ist er abgehauen«, sagte Roger. Eibryan schüttelte den Kopf, denn daran glaubte er keinen Moment. Dieser Mann gab nicht auf. Dieser Mann konnte ihnen allen gefährlich werden. Und er war noch lange nicht mit ihm fertig. »Wir können ihn doch jagen«, meinte Roger. »Aber das Elfenmädchen ist noch nicht wieder auf den Beinen«, erinnerte ihn Bradwarden. »Die schafft noch keinen Schritt, wenn ihr mich fragt.« »Egal, was wir tun, wir sind auf jeden Fall besser dran, wenn wir zusammenbleiben«, sagte der Hüter und zog sich schnell wieder an. Dann begaben sich die drei auf den Weg zurück zum Lager. Unterwegs trafen sie Symphony, dem der Hüter auf telepathischem Wege übermittelt hatte, er solle in der Nähe bleiben. Tiel’marawee ging es inzwischen schon besser, wenn man sie auch noch lange nicht allein lassen konnte. Doch sie hatten das Gefühl, dass sie ganz langsam mit ihr weiterziehen konnten. Da er wusste, dass De’Unnero noch in der Nähe war, wollte Eibryan nicht zu lange an derselben Stelle bleiben, sonst würde der Mann sie wahrscheinlich früher oder später angreifen. Also
setzten sie langsam, aber sicher ihren Weg fort und legten nicht mehr als drei Meilen am Tag zurück. Der Hüter ritt die ganze Zeit voraus und hielt Ausschau, in der Hoffnung, De’Unnero noch einmal über den Weg zu laufen. Immer wenn er außer Reichweite des wachsamen Bradwarden war, versuchte er den Mann – oder den Tiger – durch wüste Beschimpfungen aus dem Wald zu locken. Doch der Bischof ließ sich nicht blicken, nicht an diesem und auch nicht an den beiden darauf folgenden Tagen. Dann mussten sie erneut Rast machen, denn Tiel’marawee konnte nicht weiter. Sie bat die anderen, ohne sie weiterzuziehen und ihr lediglich für eine Woche Proviant dazulassen, und versicherte ihnen, sie würde schon allein zurechtkommen. Das wäre natürlich keinem der Freunde auch nur im Traum eingefallen. Sie schlugen das Lager auf und warteten den nächsten Tag ab und dann noch einen. Am Morgen des dritten Tages kam Bradwarden ins Lager galoppiert. »Von Süden sind Soldaten im Anmarsch!«, rief er. »Und ich wette, unser Freund der Bischof ist auch dabei.« In Sekundenschnelle saß Eibryan auf dem Pferd und ritt hinter Bradwarden her. »Sichert das Lager!«, rief er Roger und Braumin zu. »Bleibt dicht zusammen und nehmt euch in Acht. Vielleicht haben es die Soldaten auf uns abgesehen, aber auch wenn nicht, der Bischof könnte die Gelegenheit nutzen und zuschlagen.« Er gab Symphony einen telepathischen Befehl, und das Pferd machte einen Satz und holte den Zentauren mühelos ein. Als sie die Anhöhe erreicht hatten, von der aus Bradwarden die Truppe erspäht hatte, waren die Soldaten nah genug herangekommen, dass man sie erkennen konnte. »Shamus Kilronney«, murmelte der Hüter.
»Und De’Unnero ist auch dabei«, bemerkte der Zentaur. »Und wir können nicht abhauen, es sei denn, du willst Tiel’marawee ihrem Schicksal überlassen.« »Kommt nicht in Frage«, sagte Eibryan bestimmt. »Sind mehr als zwanzig«, stellte der Zentaur fest. »Da wär abhauen eigentlich nicht verkehrt.« »Ich denke gar nicht dran«, erklärte der Hüter. »Ich meinte die da«, sagte Bradwarden trocken. Der Hüter sah ihn von oben bis unten an. »Sollen wir den andern Bescheid sagen?«, fragte Bradwarden. Eibryan überlegte einen Moment. »Die Mönche haben nichts bei sich, womit sie kämpfen könnten«, sagte er schließlich. »Ich wüsste nicht, was sie einer bewaffneten Truppe entgegensetzen könnten.« »Papperlapapp, du willst bloß den ganzen Spaß für dich allein haben«, erwiderte der Zentaur. »Die anderen sollen sich verstecken«, überlegte der Hüter. »Und dann treten wir Shamus und seinen Leuten entgegen. Wenn es zum Kampf kommt – « »Meinst du etwa, das passiert nicht?«, fragte Bradwarden ungläubig. »De’Unnero ist mit dabei. Du glaubst doch wohl nicht, dass er extra hergekommen ist, nur um mit dir zu plaudern!« »Dann verpassen wir ihnen eins von weitem und verteilen uns dann im Wald«, sagte der Hüter. »Zu zweit kann man sich schlecht verteilen«, meinte Bradwarden. »Zu zweit kann man höchstens abhauen.« »Das ist dasselbe«, erklärte Eibryan. »Wir bringen sie ordentlich in Trab und geben ihnen dabei reichlich Feuer, bis ihre Zahl so weit geschrumpft ist, dass wir uns den Rest vorknöpfen können.«
»Das können wir auch gleich tun«, meinte der Zentaur hartnäckig. »Na, dann los!«, sagte der Hüter zum Schein. Natürlich machten sie es so, wie Eibryan vorgeschlagen hatte. Sie kehrten zuerst zu den anderen zurück und betrauten Roger und Bruder Castinagis damit, die Gruppe in ein sicheres Versteck zu bringen. Als sie kurz darauf wieder auf die Hauptstraße kamen, sahen sie Shamus und seine Soldaten schon von weitem, denn der Trupp kam ihnen auf dem einzigen begehbaren Weg direkt entgegen. Als sie sich dem Hüter und dem Zentauren ungefähr bis auf dreißig Meter genähert hatten, machten die Reiter Halt, in der Mitte der ersten von drei Reihen der Hauptmann und rechts neben sich De’Unnero, zu Pferde – ein ungewöhnlicher Anblick bei einem Mönch. »Ich freue mich, Shamus Kilronney wiederzusehen!«, rief der Hüter. »Und ich würde mich noch mehr freuen, wenn Ihr in besserer Gesellschaft wärt.« De’Unnero flüsterte dem Hauptmann etwas zu, woraufhin dieser zurückrief: »Wir müssen Euch festnehmen, Nachtvogel, und den Zentauren und die Mönche ebenfalls. Du deckst Verbrecher, die von der Kirche gesucht werden. Ruf sie zusammen, Ihr werdet fair behandelt, das verspreche ich Euch!« »Ihr könnt uns mal…«, setzte Bradwarden an, aber der Hüter schnitt ihm das Wort ab. »Ich werde fair behandelt?«, fragte der Hüter mit Betonung auf dem ersten Wort. »Habe ich dann auch das Vergnügen, meine Freunde hängen zu sehen? Oder vielleicht, wie sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen – das soll ja das Lieblingsspiel der Abellikaner-Mönche sein.« »Wir wollen nicht mit dir kämpfen«, erklärte Shamus.
»Dann seid Ihr schlauer, als Ihr ausseht«, meinte Bradwarden. Der Hauptmann sah De’Unnero nervös an. Bei allem Respekt vor dem Nachtvogel bezweifelte er nicht, dass er ihn und seine Hand voll Freunde mühelos mit seinen Soldaten überwältigen konnte. Doch das war nicht das Problem. Es verging ein Augenblick gespannter Erwartung. »Holt sie Euch!«, sagte De’Unnero schließlich zu Shamus. Als der Hauptmann sich nicht vom Fleck rührte, wiederholte er den Befehl an die Soldaten gewandt. Etliche von ihnen wollten ihm Folge leisten, doch Shamus hob die Hand und hielt sie zurück. Das war vielleicht der schlimmste Augenblick im Leben von Shamus Kilronney. Er und der Nachtvogel hatten innerhalb weniger Wochen eine Freundschaft und ein Vertrauen aufgebaut, wie man es brauchte, um Seite an Seite in die Schlacht zu gehen. Er kannte diesen Mann nur zu gut und wusste genau, dass er nichts verbrochen hatte. Andererseits waren da noch der Zentaur, den sein Freund aus den Verliesen von St. Mere-Abelle befreit hatte, das hatte er selbst zugegeben, und die abtrünnigen Mönche, die man vor ein Inquisitionsgericht stellen und höchstwahrscheinlich wegen Ketzerei und Hochverrats hinrichten würde. Er starrte vor sich hin, und sein Blick traf auf die grünen Augen des Hüters. »Nehmt sie fest!«, befahl De’Unnero noch einmal. »Mir nach!« Damit ließ er den Arm mit der tödlichen Tigerpranke durch die Luft peitschen, und sein Pferd machte einen Satz. »Halt!«, rief Shamus, ehe seine Soldaten hinterher reiten konnten. De’Unnero aber war völlig klar, dass er allein gegen die vereinten Kräfte des Nachtvogels und seines riesigen Freundes machtlos war.
Er riss sein Pferd herum und starrte den Hauptmann ungläubig an. Und Shamus starrte ihn seinerseits an – oder genauer gesagt: Er starrte auf den Tiger arm, und ihm fiel ein, was mit Baron Bildeborough passiert war. »Was ist, Hauptmann?«, knurrte De’Unnero. »Ich bin der Bischof von Palmaris, und ich befehle Euch, diesen Mann und das elende Scheusal, das er bei sich hat, festzunehmen!« Eibryan und Bradwarden sahen sich schmunzelnd an, denn das Gesicht des Hauptmanns sprach Bände. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich gehe nicht gegen den Nachtvogel vor«, erklärte er bestimmt. »Und meine Männer auch nicht.« »Verbrecher!«, brüllte De’Unnero. »Allesamt!« Und seine Pranke beschrieb einen Kreis über ihren Köpfen. »Jeder der sich weigert, mir zu folgen, ist ein Feind des AbellikanerOrdens, und ich kann euch sagen, das ist kein erstrebenswerter Zustand!« Er machte eine Kehrtwendung, als wolle er auf den Hüter und den Zentauren losgehen, aber niemand rührte sich – die Soldaten standen hinter ihrem Hauptmann wie ein Mann. »Na, komm schon!«, forderte Bradwarden den Bischof auf. »Hab zwar noch nie einen Menschen gefressen, aber für dich mach ich glatt mal ‘ne Ausnahme.« »Wir sind noch nicht miteinander fertig!«, sagte De’Unnero zu dem Hüter. »Diesmal entwischst du mir nicht.« »Das versuch ich ja gar nicht«, erwiderte dieser grimmig. De’Unnero sah den Nachtvogel und seinen kolossalen Freund scharf an, dann drehte er sich um und musterte Shamus Kilronney und dessen Soldaten. Eibryan erkannte, was passieren würde, und er trieb sein Pferd unvermittelt vorwärts.
De’Unnero reagierte schnell. Er riss sein Pferd herum, gab ihm die Sporen und schoss an Shamus und seinen Soldaten vorbei und die Straße nach Süden entlang. Bradwarden griff nach seinem Bogen und schickte ihm einen riesigen Pfeil hinterher, doch der Bischof, der so etwas geahnt hatte, schlug mehrere Haken, und das Geschoss zischte an ihm vorbei. Während Symphony das Pferd von De’Unnero allmählich einholte, griff der Hüter ebenfalls nach seinem Bogen, doch plötzlich sprang der Bischof vom Pferd und verwandelte sich im Handumdrehen von Kopf bis Fuß in den Tiger, um im nächsten Augenblick im Gebüsch zu verschwinden. Symphony setzte ihm nach, und Nachtvogel hängte sich den Bogen wieder über die Schulter, denn er wusste, dass er in dem Dickicht nicht würde schießen können. Dann duckte er sich, nahm sein Schwert zur Hand und trieb Symphony energisch vorwärts. Dennoch konnte das Pferd nicht mit dem pfeilschnellen Raubtier Schritt halten, und als Nachtvogel aus dem Unterholz hervorbrach, sah er De’Unnero bereits auf der anderen Seite nach Süden hin abtauchen. Da versetzte er Symphony in langsamen Trab, denn ihm war klar, dass er den Bischof nicht mehr einholen würde. Er machte kehrt, und als er wieder bei den Soldaten ankam, standen sie noch immer kopfschüttelnd und zähneklappernd da, denn so etwas hatten sie noch nie gesehen, einen Mann, der sich in eine Raubkatze verwandelte! »Nun sind wir also alle Verbrecher«, sagte der Hüter zu Shamus, während er sein Pferd zu der Truppe hinüberführte, »kraft der Erklärung des Mörders von Baron Bildeborough.«
9. Licht und Schatten
»Wahrhaftig ein Wunder«, murmelte Bruder Francis fassungslos, als er den ehrwürdigen Vater in St. Precious aus seinem Zimmer kommen sah. Der Mann wirkte so kräftig und kerngesund wie ehedem und hatte den gleichen entschlossenen Schritt an sich. Francis hatte zumindest erwartet, den alten Mann nach diesem brutalen Anschlag verbittert zu sehen, zornig, verunsichert oder verängstigt. Doch Markwart hatte nichts von alledem erkennen lassen, seit er wieder zu sich gekommen war, hatte lediglich ein öffentliches Dankgebet für die Rettung seines Lebens gesprochen – mit völlig intaktem Unterkiefer, dem man nichts davon ansah, dass er noch wenige Stunden zuvor zertrümmert gewesen war! –, und dann hatte er erklärt, ihm sei soeben die Eingebung gekommen, die Sache könnte sehr wohl ihr Gutes haben, denn nun würde der König viel eher einsehen, weshalb Bischof De’Unnero damit begonnen hatte, die Edelsteine wieder einzuziehen. Und das würde Markwarts Ausführungen zufolge die Macht der Kirche ins Unermessliche steigern. Für Bruder Francis, der noch immer mit seinen Schuldgefühlen zu kämpfen hatte, klang das wie der Beweis dafür, dass er recht getan hatte, an den ehrwürdigen Vater zu glauben. Er musste sich sputen, seinen Meister einzuholen, und hatte alle Mühe, dann mit ihm Schritt zu halten. König Danube Brock Ursal war, umgeben von einer Schar Leibwächter, nach St. Precious gekommen, um dem Verletzten Trost zu spenden. Wie erstaunt war er nun, als Markwart zielstrebig in den Audienzsaal marschierte, ein breites, wenn auch etwas schiefes
Lächeln auf seinem alten, runzligen Gesicht. Er nahm König Danube gegenüber Platz, während seine Begleiter sich beeilten, ihre Stühle in respektvollem Abstand hinter ihm aufzubauen. »Seid gegrüßt, ehrwürdiger Vater«, brachte der König mühsam hervor, nachdem sich sein erster Schreck über die wundersame Genesung von Markwart gelegt hatte. »Man hatte mir berichtet, Ihr wärt schwerer verletzt worden – einige Eurer Mönche äußerten sogar die Befürchtung, Ihr würdet womöglich nicht überleben, nicht einmal mit ihren heilenden Zauberkräften.« »Das hätte ich wohl auch kaum«, erwiderte Markwart mit leichtem Lispeln, »wenn der Herr nicht beschlossen hätte, mich zu verschonen.« Herzog Kalas, der hinter dem König saß, schnaubte verächtlich und versuchte dann eher halbherzig, es als Hustenanfall zu kaschieren. Markwarts Blick machte dem ein Ende, denn der ehrwürdige Vater kniff die Augen gefährlich zusammen, und der sonst so selbstsichere Kalas wurde blass bei diesem Anblick, ebenso wie König Danube, der den alten Mann schon einmal so gesehen hatte, bei seiner nächtlichen Visite. »Er weiß, dass ich hier noch einiges zu erledigen habe«, fuhr Markwart fort und ließ es dabei bewenden. »Er?«, fragte Danube, den der beängstigende Blick sichtlich aus dem Konzept gebracht hatte. »Gott«, erklärte Markwart. »Wie oft haben Menschen schon ihre Taten gerechtfertigt, indem sie den Namen Gottes beschworen haben«, meinte Kalas. »Bei weitem nicht so oft, wie Zweifler zu spät die Wahrheit erkannt haben, um ihr elendes Leben zu retten«, erwiderte Markwart. »Nur zu viele haben auf dem Totenbett um
Vergebung gebettelt, nachdem sie endlich begriffen hatten, dass Gott allein die Wahrheit ist. Denn die einzige Zukunft, die wirklich zählt, ist die, der wir entgegensehen, wenn wir unsere erbärmliche sterbliche Hülle abschütteln.« Bruder Francis und Constance Pemblebury sahen sich betreten an, denn sie fühlten sich beide nicht sehr wohl bei dieser Unterhaltung. In diesem Moment war beiden klar, wer als Sieger aus diesem Gefecht hervorgehen würde, sollte Kalas weiter gegen den ehrwürdigen Vater opponieren. Markwart würde ihn gnadenlos vernichten. Das war auch König Danube klar. »Nun versteht Ihr auch die Einziehung der Edelsteine«, sagte Markwart zu ihm. »Sie gehören nicht in die Hände des gemeinen Volkes.« »Die Edelleute des Bärenreiches kann man wohl kaum als ›gemeines Volk‹ bezeichnen«, meinte Herzog Kalas. »Als heilig auch nicht«, erwiderte Markwart ruhig. »Und das ist der einzige Unterschied, den ich mache. Die Steine sind ein Geschenk Gottes für seine Auserwählten.« »Also Ihr und Euresgleichen«, sagte Kalas trocken. »Wenn Ihr den Wunsch habt, dem Orden beizutreten, dann erweist Euch als würdig, und ich werde persönlich für Eure Aufnahme sorgen«, erwiderte Markwart. Kalas starrte ihn feindselig an. »Warum sollte ich so etwas tun?«, fragte er. »Diese Frage bestätigt nur meinen Standpunkt«, sagte Markwart. »Im Abellikaner-Orden predigen wir emotionale Selbstbeherrschung, bevor wir jemandem so viel Macht verleihen. Ohne diese Sicherheitsvorkehrung ist die Gefahr zu groß. Also müssen die Steine wieder eingezogen werden. Und zwar jeder einzelne Stein.« Diese Erklärung kam für alle völlig überraschend, und selbst Abt Je’howith, der ehrerbietig hinter Markwart stand,
schnappte nach Luft, denn er hatte König Danube gerade noch versichert, dass die Rückrufaktion der Steine auf Palmaris beschränkt wäre und den Hof nicht betreffen würde. Nun rechnete er jeden Augenblick damit, dass der König vor Wut außer sich geriet. Doch Markwart hielt ihn mit seinem Blick in Schach, der den König stillschweigend an die nächtliche Begegnung erinnerte. »Ich muss sicher sein, dass die Kraft der Edelsteine auch weiterhin im Einklang mit den Wünschen der Krone eingesetzt wird, wenn sich die Steine in der Obhut der Kirche befinden«, sagte König Danube zum allergrößten Erstaunen seiner Berater, Je’howith inbegriffen. »Die Einzelheiten werden noch besprochen«, sagte Markwart und verlagerte seinen drohenden Blick auf Kalas, der offensichtlich gerade zum Protest ansetzen wollte. Dann erhob sich der ehrwürdige Vater und gab den anderen zu verstehen, dass die Audienz beendet sei, ohne auch nur auf das Einverständnis des Königs zu warten. »Ich hoffe, Eure Unterbringung im Hause des Kaufmanns Crump ist zu Eurer Zufriedenheit, König Danube«, sagte er. Constance und Kalas schnappten beide nach Luft, denn Markwarts Tonfall hatte nichts Untertäniges an sich, wie es sich gehört hätte, sondern zeigte deutliche Herablassung. Und noch mehr verblüffte sie, dass der König nur gottergeben nickte. Francis war der letzte der Mönche, die den Saal verließen. Als er sich noch einmal umdrehte und den König und sein Gefolge sprachlos und wie vom Donner gerührt dasitzen sah, wusste er einmal mehr, dass er sich auf die richtige Seite geschlagen hatte. Markwarts gute Laune nach der Unterredung mit König Danube hielt nicht lange an. Er hatte an diesem Vormittag noch ein zweites Treffen anberaumt, um mit den
Befehlshabern der Soldaten und den ranghöheren Mönchen aus St. Precious einen Schlachtplan zur Auffindung des Attentäters zu entwerfen. Doch keiner von ihnen lieferte ein brauchbares Konzept für die Suche oder den leisesten Hinweis auf die Person des Angreifers. Die meisten verdächtigten die Behreneser, aber Markwart glaubte nicht einen Augenblick an diese Möglichkeit. Er wusste zu genau, dass die Religion der Yatols den Gebrauch von Edelsteinen ablehnte, und er hatte noch von keinem einzigen Behreneser gehört, der damit umgehen konnte. Und wer auch immer auf ihn gezielt hatte, verfügte zweifellos über starke Zauberkräfte. Die Soldaten hatten drei Stellen ausfindig gemacht, von denen das Attentat erfolgt sein konnte und die sich alle auf Hausdächern fernab der Umzugsstrecke befanden. Jemand, der einem Ladestein über eine derartige Entfernung solche Durchschlagskraft verleihen konnte, musste über Fähigkeiten verfügen, die jene der Meister von St. Mere-Abelle in den Schatten stellten – und sich mit Markwarts Macht messen konnten! Das und die Tatsache, dass ein Ladestein unter den von Avelyn Desbris gestohlenen Steinen gewesen war, sagte dem ehrwürdigen Vater einiges über den Attentäter, und der Name »Jill« ging ihm während der Unterredung nicht aus dem Kopf. Und noch etwas anderes machte ihn stutzig. Unter den Soldaten war eine widerborstige rothaarige Frau namens Colleen Kilronney, die eigensinnig darauf beharrte, es müsse ein verbrecherischer Kaufmann oder ein von einem solchen gedungener Mörder gewesen sein. Als Francis und die anderen sie eingehender befragten, konnte sie jedoch keine praktischen Gründe für ihre Behauptung liefern, dennoch hielt Colleen Kilronney hartnäckig daran fest. Vielleicht ein bisschen zu hartnäckig. Das war nur eines von vielen Dingen, die ihm durch den Kopf gingen, als er sich wieder in seine Privatgemächer begab.
Hier war zwar kein Pentagramm in den Fußboden geritzt, trotzdem räumte er eine Zimmerecke frei, setzte sich mit dem Gesicht zur Wand nieder und reinigte seinen Geist, um sich in einen Zustand tiefer Versenkung fallen zu lassen. Die Stimme, die ihm inzwischen schon so vertraut war, folgte ihm in diese Leere. Nun versuchte er, die verschiedenen Meinungen gegeneinander abzuwägen, stellte die Vorstellung vom Anschlag eines Behrenesers der Möglichkeit gegenüber, dass ein erboster Kaufmann es bewerkstelligt haben könnte, einen Ladestein vor De’Unneros Suchtrupp zu verbergen. Doch all diese Möglichkeiten konnten Markwarts Verdacht nicht entkräften, dass der Attentäter diese Jill oder irgendein anderer Jünger von Avelyn Desbris war. Und die ganze Zeit über flüsterte ihm die Stimme etwas von der rothaarigen Soldatin ins Ohr. Zuerst wollte Markwart widersprechen, denn er dachte, die Stimme versuche ihn von der Richtigkeit der Kaufmanns-Theorie zu überzeugen, doch dann merkte er, dass sie ihm etwas ganz anderes sagen wollte. Er stürmte hinaus und befahl Bruder Francis, Colleen Kilronney auf der Stelle zu ihm zu bringen. Und dann wartete er wie die Spinne im Netz. An der Art, wie Colleen vorsichtig den Raum betrat, merkte Markwart, dass sie auf der Hut war – und das zeigte ihm einmal mehr, dass er die Stimme richtig verstanden hatte. »Ihr seid überzeugt, dass der Attentäter ein Kaufmann oder ein von ihm gedungener Mörder ist«, sagte er ohne Umschweife und forderte Colleen mit einer Handbewegung auf, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Dann bedeutete er Bruder Francis, sie allein zu lassen. »Sieht ganz so aus«, sagte sie. »Tatsächlich?« Die schlichte Frage machte Colleen misstrauisch, und sie neigte den Kopf zur Seite und musterte
den alten Mann eingehend, eine Bewegung, die dem wachsamen Markwart nicht entging. »Euer Bischof hat sich da ein paar Feinde gemacht«, erklärte Colleen. »Vor allem unter den Freunden von Aloysius Crump. Hat ihn einfach umgebracht, in aller Öffentlichkeit und auf ganz bestialische Weise.« Markwart hob die Hand. Er hatte absolut keine Lust, sich mit dieser unbedeutenden Person über De’Unneros Fehltritte zu unterhalten. »Könnten es nicht auch Freunde von Avelyn Desbris gewesen sein?«, fragte er scheinheilig. »Kenn ich nicht«, sagte Colleen schnell, doch ihre Körpersprache strafte ihre Worte Lügen. »Ach so«, meinte Markwart und nickte. »Das erklärt natürlich, warum Ihr die Theorie mit den Kaufleuten verfechtet.« Er tippte sich mit dem Finger an die Lippen und entließ Colleen mit einer Handbewegung. Als sie gerade die Tür öffnen wollte, rief er ihr nach, sie solle Bruder Francis sofort wieder zu ihm schicken, und die Frau nickte nur verwirrt. »Finde heraus, wo sie sich herumtreibt!«, verlangte Markwart kurz darauf von Francis, denn er wusste genau, und die Stimme pflichtete ihm voll und ganz bei, dass Colleen Kilronney den Namen Avelyn Desbris nicht nur kannte, sondern sogar noch vor kurzem mit einem von Avelyns Jüngern zu tun gehabt hatte, und zwar wissentlich. Noch ehe der Tag um war, hatte der ehrwürdige Vater ein neues Ziel für seine Suche ausfindig gemacht: das Gasthaus von Belster O’Comely In dieser stürmischen Nacht machte sich sein Geist wieder einmal auf den Weg. Bei diesem Wetter waren nur wenige Soldaten auf der Straße, und so wagten sich die nach Geselligkeit dürstenden Bewohner von Palmaris aus ihren Häusern. Das Gasthaus platzte aus allen
Nähten, alle redeten aufgeregt durcheinander, um zu erfahren, was sich seit ihrem letzten Beisammensein bis zu dem Attentat auf den ehrwürdigen Vater ereignet hatte. Einige unterhielten sich darüber, dass sie den König sehen würden, andere äußerten die Hoffnung, dieser würde wieder für Recht und Ordnung in der Stadt sorgen und die Kirche in ihre Schranken weisen. Etliche der Gäste widersprachen dem jedoch und meinten, dass der brutale Anschlag auf Markwart dessen Position gefestigt habe und der König jetzt auf keinen Fall gegen ihn vorgehen würde. Diese Erkenntnis machte Pony natürlich schwer zu schaffen, während sie von Tisch zu Tisch ging. Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass Markwart den Anschlag überlebt hatte, aber da der Mann offensichtlich wohlauf war, machte sie sich bittere Vorwürfe. Noch immer wünschte sie, sie hätte das alte Scheusal umgebracht, doch sie musste sich eingestehen, dass sie jetzt tatsächlich seine Position gestärkt hatte. In dieser langen Nacht stieß sie einen hilflosen Seufzer nach dem andern aus.
Während das Menschenvolk von Palmaris sich beeilte, ins Trockene zu gelangen, machten den Touel’alfar Sturm und Regen nicht das Mindeste aus. Die Elfen lebten so sehr im Einklang mit der Natur, dass sie nahmen, was sie ihnen bot. Nur Schneestürme konnten sie zu einer ruhigen Verschnaufpause an einem gemütlichen Feuerchen veranlassen, doch sobald Wind und Schneetreiben abnahmen, waren sie wieder auf den Beinen, tollten übermütig umher und lieferten sich Schneeballschlachten oder gruben Tunnel in den Schnee. Und so konnte ihnen dieser spätwinterliche
Sturmschauer nicht viel anhaben, sondern erleichterte ihnen nur ihre Erkundungsgänge durch die Straßen von Palmaris. Lady Dasslerond und Belli’mar Juraviel saßen auf dem Wirtshausdach unter einem Vorsprung und unterhielten sich leise über die jüngsten Ereignisse und ihr weiteres Vorgehen. Ein paar andere Elfen schlichen um das Haus von Crump herum, auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihrer Herrin zu einer Unterredung mit dem König des Bärenreiches zu verhelfen – mit Hilfe eines der Leibwächter oder der Gefolgsleute oder indem sie heimlich in die Privatgemächer des Königs eindringen würde. »Ich bin froh, wenn wir hier fertig sind und wieder zu den friedlichen Auen von Andur’Blough Inninness zurückkehren können«, sagte Lady Dasslerond. Juraviel konnte ihr da nur beipflichten. »Schließlich habe ich den Nachtvogel verlassen, um endlich wieder einmal dort umherzuspazieren«, erklärte er. »Ich hatte gehofft, das ganze Frühjahr in unserem Tal zu verbringen.« »Nur das Frühjahr?« »Und alles, was danach kommt«, sagte Juraviel seufzend. »Ich habe wahrhaftig genug von den Problemen der Menschen.« Diese Erklärung erleichterte Lady Dasslerond sehr, denn sie machte sich große Sorgen um ihn wegen seiner tiefen Zuneigung für den Nachtvogel und Pony. Wie alle anderen Hüter betrachtete sie auch diesen beinahe als ihr Kind. Und nach allem, was sie gehört hatte, konnte sie sich durchaus vorstellen, dass es ihr mit Pony ebenso ergehen würde. Doch sie waren nun einmal keine Touel’alfar – ein nicht ganz unerheblicher Umstand für die stammesbewussten Elfen. Und sie war das Oberhaupt von Andur’Blough Inninness und hatte in erster Linie für ihr Elfenvolk zu sorgen.
»Aber ich freue mich schon darauf, die beiden wieder zu sehen«, räumte Juraviel ein. »Und ihr Kind, das vielleicht einmal ein ungeahntes Erbe antreten wird, das die Menschheit dringend nötig hat.« »Vielleicht werde ich dich dann begleiten«, sagte Lady Dasslerond, und Juraviel war vollkommen klar, welche Ehre sie ihm und seinen Freunden mit diesen freundlichen Worten angedeihen ließ. »Wenn sich die Menschenwelt erst einmal beruhigt hat, können wir uns womöglich auch wieder hinauswagen, und sei es nur zum Vergnügen. Vielleicht heben wir auch eines Tages den Schleier, der das Nebeltal verschließt, und laden den Nachtvogel und seine Familie ein, uns zu besuchen.« Juraviel sah sie lange und nachdenklich an, verwundert über ihre sanftmütigen Worte. Er wusste, dass sie noch immer verärgert war über Nachtvogels Indiskretion und Ponys voreiligen Anschlag auf Markwart, aber die Herrin gab sich offenbar alle Mühe, darüber hinwegzusehen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und so hatte auch Belli’mar Juraviel in dieser finsteren, stürmischen Nacht die Hoffnung, dass die Sonne bald wieder aufgehen würde. Doch auf einmal umgab ihn eine solche Dunkelheit und Eiseskälte, wie er sie bisher nur einmal mitten im Wald verspürt hatte, als er sich der menschlichen Flüchtlinge angenommen hatte. Lady Dasslerond, die es ebenfalls bemerkt hatte, sprang sofort auf und griff mit der einen Hand nach ihrem Schwert und mit der anderen nach dem Säckchen an ihrem Gürtel, in dem sich ein einzelner Edelstein befand. Der große grüne Smaragd war ein Geschenk, das Terranen Dinoniel den Elfen viele hundert Jahre zuvor, während des letzten Krieges gegen den Geflügelten, hinterlassen hatte – und mit Sicherheit der wirkungsvollste Stein, den die Touel’alfar besaßen.
»Jilseponie«, flüsterte Lady Dasslerond, und sie huschten beide an die Hausecke und gaben einem weiteren Elf zu verstehen, er solle die anderen zusammentrommeln.
Pony wollte gerade ein neues Tablett voller Bierkrüge vom Tresen holen, doch auf einmal blieb sie stehen und sah sich irritiert nach allen Seiten um. Sie hatte das seltsame Gefühl, irgendjemand hätte nach ihr gerufen. »Wenn du dich nicht ein bisschen beeilst, werden sie noch alle verdursten«, rief Belster lachend. Pony machte noch einen Schritt, doch dann hielt sie erneut inne und schaute sich nervös um. Ihre Nackenhärchen sträubten sich, und all ihre Sinne waren aufs Äußerste gespannt. »Caralee?«, fragte Belster, der sorgfältig darauf achtete, sie in der Öffentlichkeit nie bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Pony drehte sich zu ihm um und zuckte hilflos die Achseln. Dann ging sie rasch zu ihm hinüber, band die Schürze ab und legte sie auf den Schanktisch. »Ich bin gleich wieder da«, versprach sie, während sie sich eilig an Belster vorbeischob und hinter der Tür zu den Privaträumen verschwand. Noch ehe sie ihr Zimmer erreicht hatte, blieb sie erneut stehen, denn sie spürte deutlich, dass sie nicht allein war. Und dann nahm ihre Ahnung immer klarer Gestalt an: Sie wurde von einem Mönch beobachtet! Pony rannte in ihr Zimmer, ohne zu wissen, was sie tun sollte. Sollte sie nach einem Stein greifen und damit den Geist zur Rede stellen? Oder lieber wieder an ihre Arbeit gehen und ihre Rolle weiterspielen, als wäre nichts geschehen? Jill!, rief jetzt eine Stimme in ihrem Kopf. Sie hielt den Atem an und versuchte herauszufinden, woher die Worte kamen.
Du bist Jill, sagte die Stimme, und ihr wurde klar, dass sie es nicht mit einem Freund zu tun hatte. Sie machte kehrt und wollte wieder zurück in die Schankstube, um sich unter die Leute zu mischen, doch plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Die Erscheinung Markwarts schwebte unübersehbar im Türrahmen und starrte sie an. »Jill, die Komplizin vom Nachtvogel und von Avelyn Desbris!«, sagte die Stimme nun laut und vernehmlich. Pony wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. So etwas hatte sie noch nie erlebt, und sie hatte keine Ahnung gehabt, dass man Geistreisen bis zu diesem Grad betreiben konnte. »Jill, die Meuchelmörderin«, sagte der ehrwürdige Vater. »Du hast gut getroffen, mein Kind.« Sein hämisches Lachen ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. »Ich glaube, du hast etwas, das mir gehört, Komplizin von Avelyn«, fuhr er fort. »Etwas, das Avelyn mir gestohlen hat.« »Verschwindet!«, erwiderte Pony so nachdrücklich, wie sie es bewerkstelligen konnte. »Ihr habt hier nichts zu suchen.« Der Geist lachte schallend. »Ich will meine Edelsteine wiederhaben«, sagte Markwart. »Und zwar noch heute Nacht. Ich weiß, wer du bist, Jilseponie Chilichunk.« Der Name versetzte ihr einen Stich und ließ den Zorn in ihr aufsteigen – trotz ihrer berechtigten Angst. Dieser Mann hatte ihre Eltern ermordet, und sie wollte ihn vernichten. Und doch konnte sie sich seiner Gegenwart nicht entziehen, dieser Macht, die sie noch nie erlebt hatte… Doch, ein einziges Mal, musste sie sich zu ihrem Entsetzen eingestehen. »Sieh her, was du mir angetan hast!«, sagte der Geist und verwandelte sich vor ihren Augen. Sein Unterkiefer war jetzt so gut wie verschwunden, und die Reste der Zunge hingen aus seinem zerfetzten Mund. »Ja, du! Und nur mit Hilfe der Steine
kann ich mein Gesicht für die anderen wieder heil erscheinen lassen, und nur der Seelenstein lässt mich mit ihnen reden, als wäre nichts geschehen.« Pony klappte erstaunt die Kinnlade herunter – sie glaubte diesem Mann. Sein Gesicht war zertrümmert – sie hatte es zerstört –, und dennoch gelang es ihm durch pure Zauberkraft, einen unversehrten Anblick hervorzurufen und seine Stimme erschallen zu lassen! Sie konnte es kaum fassen, dass so etwas möglich war. »Ich kenne dich, und ich komme wieder«, sagte der Geist drohend. Da riss sie sich mit einem Ruck ihre Verkleidung vom Leib und packte ihr Schwert und das Säckchen mit den Steinen. »Du kannst mich nicht einschüchtern!«, knurrte sie und rannte mitten durch das Gespenst hindurch – ein ausgesprochen ungemütliches Gefühl. Erst wollte sie zu Belster, doch dann wurde ihr klar, dass es für ihre Freunde am besten war, wenn sie einfach davonlief. Doch bevor sie die Hintertür erreicht hatte, lief sie Dainsey Aucomb in die Arme. »Ach, Miss Pony, alles in Ordnung?«, fragte diese. »Belster sagt, Ihr seid einfach hinausge…« »Hör gut zu, Dainsey«, sagte Pony, nachdem sie sich mit einem nervösen Rundblick überzeugt hatte, dass der Geist ihr nicht gefolgt war. »Ich gehe fort, wahrscheinlich für immer.« »Aber das Kind…« Pony schnitt ihr das Wort ab aus Angst, Markwart könnte doch zuhören. »Ihr wisst alle nichts über mich«, sagte sie dann ziemlich laut, in der Hoffnung, die Freunde damit zu entlasten. »Hol Belster und versteckt euch. Es ist besser, wenn ihr beide da nicht mit hineingezogen werdet.« »A-aber Miss Pony«, stotterte Dainsey.
»Mehr kann ich dir jetzt nicht erklären«, sagte Pony schnell, packte das Mädchen bei den Schultern und schüttelte es sanft, um es wieder zu sich zu bringen. »Leb wohl, Dainsey. Du warst eine gute Freundin.« Sie küsste sie auf die Wange. »Gib Belster einen Kuss von mir, und bringt euch in Sicherheit!« Dainsey stand einfach nur da wie vor den Kopf geschlagen. »Verspricht mir!«, sagte Pony. »Und jetzt geh und macht, dass ihr wegkommt! Sofort! Versprich mir das!« Das Mädchen nickte benommen, und Pony stürzte hinaus in die stürmische Nacht. Ihre Gedanken überschlugen sich. Man hatte sie entdeckt, und jetzt mussten die, die sie liebte, womöglich dafür büßen. Das Einzige, was sie jetzt noch für Belster, Dainsey und die anderen tun konnte, war, so weit wie möglich fortzugehen. Und das hieß, dass sie nicht einfach durch die Straßen der Stadt lief, sondern gleich zum nördlichen Stadttor und in den nahe gelegenen Stall, in dem sie Greystone untergebracht hatte.
Belli’mar Juraviel und Lady Dasslerond sahen ihr nach, als sie in Nacht und Regen hinauslief. »Das war er«, flüsterte Juraviel. »Er weiß Bescheid.« Ein anderer Elf kam zu ihnen gelaufen. »Schick sie alle zum nördlichen Stadttor«, sagte Lady Dasslerond schnell. »Wir müssen ihr helfen«, erklärte Juraviel und schaute zu seiner Herrin auf, die gerade eben noch davon geredet hatte, Pony, Nachtvogel und das Kind zu besuchen, und er sah die Sorge in ihrem schönen Gesicht. Immerhin würden sie Pony jetzt auf ihrem Weg in den Norden begleiten.
Sie war erleichtert, als sie den Stall erreichte und sah, dass dort alles ruhig war und keine Soldaten in der Nähe waren. Die ganze Zeit hatte Pony Angst gehabt, Markwart habe womöglich alles herausgefunden und ihr sämtliche Fluchtwege abgeschnitten. Doch der Stallbursche half ihr, das Pferd zu satteln, und gab ihr sogar ein paar alte Satteltaschen und ein wenig Proviant mit. Dann war sie auch schon wieder draußen auf der Straße und zuckte bei dem lauten Getrappel der frisch beschlagenen Hufe zusammen. Sie versuchte, sich einen Schlachtplan zurechtzulegen, um unauffällig zum nördlichen Stadttor hinauszugelangen – vielleicht, indem sie sich als Bauersfrau ausgab, doch diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Die Wachtposten erkannten sie womöglich, und bei diesem Wetter ging sowieso kein Mensch hinaus, wenn nicht gerade ein Notfall vorlag. Sie schlug stattdessen einen anderen Weg ein, der sie weit an dem bewachten Tor vorbeiführte, bis zu einer dunklen, ruhigen Stelle an der Stadtmauer. Dort versetzte sie Greystone in einen kurzen Trab und ließ sich dann mit dem Pferd zusammen von der Kraft des Malachits über die Mauer tragen. Schwerelos erhoben sie sich in die Luft, während der Schwung sie weiter vorwärts trieb. Greystone wieherte vor Angst, doch Pony hielt ihn fest und steigerte die Energie des Steines, die sie kraftvoll hinübertrug und dann sanft im feuchten Gras auf der anderen Seite landen ließ. Hinter sich hörte sie die Wachen aufgescheucht nach der Ursache des Geräusches suchen, doch sie kümmerte sich nicht darum, sondern trieb Greystone in schnellem Galopp über die im Dunkeln liegenden Felder. Bis der leibhaftige Markwart und sein Tross beim Gasthaus angelangt waren, würde sie hoffentlich schon längst weit oben im Norden sein. Und sie konnte nur beten, dass Dainsey sie
nicht enttäuschte und mit Belster bis dahin ebenfalls verschwunden war – vielleicht mit Kapitän Al’u’met, vielleicht auch in den geheimen Grotten der Behreneser. Die Vorstellung, dass man noch mehr Menschen, die sie liebte, ihretwegen umbrachte, war ihr unerträglich, und einen Augenblick dachte sie daran, umzukehren und sich Markwart auszuliefern, damit man keinen ihrer Freunde in Palmaris mehr verfolgen und foltern würde, um etwas über sie herauszufinden. Doch dann dachte sie an ihr ungeborenes Kind, Eibryans Kind, und sie wusste, dass sie Belster und Dainsey und all den anderen vertrauen musste. Ach, was war sie doch für eine Närrin gewesen, dass sie Markwart angegriffen und sie alle damit in Gefahr gebracht hatte! Ihre Tränen vermischten sich auf ihren Wangen mit dem strömenden Regen. Doch sie würde weiterreiten, immer weiter bis nach Caer Tinella, bis nach Dundalis und in Eibryans zärtliche Arme. Gemeinsam würden sie Markwart die Stirn bieten. Alle beide. Auf einmal zuckte Greystone zusammen, wieherte wie wild und bäumte sich auf. Pony flog im hohen Bogen in den Morast. Sie rollte sich ab und stöhnte, dann wollte sie instinktiv nach ihrem Bauch greifen, denn sie hatte Angst um das Kind. Ein stechender Schmerz in der Schulter hinderte sie jedoch daran, und noch etwas anderes, das Gefühl eines nie gekannten Entsetzens. Sie verbiss sich den Schmerz, richtete sich auf und sah nach ihrem Pferd. Greystone stand unbeweglich und mit gesenktem Kopf da. Pony rappelte sich mühsam auf und griff mit dem unverletzten Arm nach dem Säckchen mit den Steinen.
Und dann stand er plötzlich da – nicht leibhaftig, sondern als Geist –, und Pony konnte jede Einzelheit deutlich erkennen. »Nur Feiglinge laufen davon«, sagte Markwart. »Nach allem, was ich über die großartige Jilseponie gehört habe, hätte ich eigentlich gedacht, dass du dich darüber freuen würdest, dich mit mir messen zu können.« »Ich bin kein Feigling, aber Ihr seid ein Mörder, Markwart!«, antwortete Pony mit allem Mut, den sie aufzubringen in der Lage war. Tatsächlich hätte sie zu einem anderen Zeitpunkt die Gelegenheit begrüßt. Doch jetzt musste sie an das Versprechen denken, das sie Juraviel gegeben hatte, als sie sich im Norden von ihm verabschiedet hatte – und das eigentlich ein Versprechen an ihr ungeborenes Kind war. »Das kränkt mich aber schwer«, spottete der Abt. Verblüfft sah Pony, wie sich die Erscheinung jetzt manifestierte, als hätte Markwart leibhaftig das Geisterbild ausgefüllt. »Wenn du dich ergibst, verspreche ich dir einen schnellen Tod«, sagte der ehrwürdige Vater. »Einen gnädigen sogar, vorausgesetzt, du schwörst dem Ketzer Avelyn öffentlich ab.« Pony lachte nur. »Anderenfalls verspreche ich dir nur, dich so lange zu foltern, bis du ihm abschwörst«, fuhr Markwart fort. »Und dann töte ich dich langsam und mit großem Vergnügen. Aber glaub mir, du wirst selbst darüber noch froh sein, denn alles, was irgendwie zum Tode führt, ist dem Leben vorzuziehen, das du sonst zu erwarten hast.« »Dem Leben, das all Eure Untergebenen zu erwarten haben«, entgegnete Pony. »Wie tief seid Ihr von Gott abgefallen! Ihr habt ja keine Ahnung von Avelyns Weisheit und von dem Licht, dass um ihn leuchtete. Ihr habt ja…« Die Worte blieben ihr im Halse stecken, als Markwart sie packte – nicht leibhaftig, aber mit einer geistigen Energie, die
sie ebenso würgte, wie seine Hände es getan hätten. Pony griff nach ihrem Hämatit und konzentrierte sich auf den Geist. Da sah sie den Schatten greifbar vor sich stehen, und seine Hände streckten sich nach ihr aus und umklammerten ihren Hals. Nun wuchsen auch aus Ponys Gestalt schwarze Schattenarme heraus und griffen nach Markwarts Geisterbild. Sie drängte ihn mit aller Kraft zurück, bis die beiden Geister mitten zwischen ihren Körpern standen. »Du bist stark«, hörte sie Markwart erstaunlich vergnügt sagen. »Darauf habe ich allzu lange gewartet!« Knurrend griff Pony noch fester zu, zwang den anderen Schatten noch weiter zurück, wuchs über ihn empor und drückte ihn nieder. Jetzt schien ihr Geist an Substanz zuzunehmen, dunkler und kräftiger zu werden, während der seine verblasste und grau wurde. Dann ging Markwart noch einmal mit zehnfacher Kraft auf sie los und versuchte, ihren Geist in den Körper zurückzuzwingen. Und irgendwie wusste sie, wenn ihm das gelang, dann wäre sie verloren. Sie wehrte sich aus Leibeskräften, und ihr Geist wich keinen Schritt zurück. Doch sie konnte Markwart nicht zurückdrängen. Stattdessen lachte sie der Abt aus. Als die Elfen die Stelle erreicht hatten, wo Pony über die Stadtmauer gesetzt hatte, suchten etliche Wachen die Gegend ab. Doch Lady Dasslerond wollte sich einfach nicht aufhalten lassen, nicht jetzt. Sie winkte den anderen, und schon flatterten sie alle hinüber. Die Soldaten versuchten wie wild, ihrer habhaft zu werden, doch die Elfen waren längst in der Nacht verschwunden und ließen die Wachen verdutzt zurück. Auf der anderen Seite fanden sie sich wieder zusammen und brachen sofort in Richtung Norden auf, doch auf einmal hielt
Lady Dasslerond unvermittelt inne, wandte sich um und sah ihre Gefährten fragend an. »Was ist los?«, fragte Belli’mar Juraviel. Die Herrin von Andur’Blough Inninness war nicht ganz sicher. Irgendetwas war an ihnen vorbeigerauscht und hatte die Materie um sie herum in Unordnung gebracht. Die Elfen verfügten über drei unterschiedliche Arten von Zauberkraft. Die eine war ihr Gesang, mit dem sie einen Menschen in Schlaf versetzen und die Nebel über Andur’Blough Inninness jeden Abend teilen und bei Sonnenaufgang wieder verdichten konnten. Die zweite – und sehr entscheidend für die Touel’alfar – war ihre umfassende Kenntnis der Pflanzen. Die Elfen kannten sämtliche Pflanzen und ihre Verwendungsmöglichkeiten. Sie konnten Heilsalben und sogar Flüssigkeiten herstellen, die es einem erlaubten, eine Weile ohne Atemluft auszukommen. Sie konnten mit den Pflanzen reden und von ihnen etwas über einen Ort erfahren oder über die Menschen, Freund oder Feind, die dort in letzter Zeit vorbeigekommen waren. Die dritte Zauberkraft hatten sie von einem Menschen erhalten, einem großen Helden, der Menschen- und Elfenblut in den Adern gehabt hatte, was äußerst selten war. Er hieß Terranen Dinoniel und hatte in der ersten Schlacht der Elfen und Menschen gegen Bestesbulzibars Horden den Touel’alfar den Smaragd geschenkt, einen der wirksamsten Zaubersteine der Welt. Dieser Stein war der Stein der Erde, und er schärfte Lady Dassleronds Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber allen lebendigen Dingen um sie herum und verband sie noch stärker mit ihnen. Mit Hilfe dieses Steins konnte sie Andur’Blough Inninness seine übernatürliche Schönheit bewahren und das Elfental vor Gefahren von außen schützen. Denn mit ihm konnte sie die Wege um das Tal herum verändern und die
Richtungen vertauschen, sodass jeder potentielle Eindringling im Kreis herumlief. Und jetzt sagte ihr dieser Stein, dass irgendetwas an ihnen vorbeigekommen war. Sie wusste, wer das war, und so trieb sie ihre Schar zu noch größerer Eile an.
Sie kämpften verbissen, und keiner von beiden gab auch nur einen Fußbreit nach. Pony versuchte, all ihre Wut zu entfesseln, indem sie an das zerstörte Dundalis dachte und vor allem an ihre ermordeten Eltern, deren dämonenbesessene Leichname sich in den Verliesen dieses bösen Scheusals gegen sie erhoben hatten. Fürs Erste schien das zu funktionieren, denn ihr Schatten wurde dunkler und kräftiger und drängte Markwart einen Schritt zurück. Doch dann brach die Verzweiflung über sie herein, die Angst um das Kind in ihrem Bauch und die Traurigkeit darüber, dass sie Eibryan das Kostbarste auf der Welt vorenthalten hatte: seinen Sohn. Sie versuchte sich zu konzentrieren und bot all ihre Willenskraft auf, um rasch eine Mauer des Zorns zu errichten, doch zu spät. Markwarts Geist fiel bereits mit aller Macht über sie her – und es kam Pony so vor, als wären dem Schatten riesige schwarze Flügel gewachsen. Schon war sie wieder in ihrem Körper und spürte die eiskalten Hände, die sich um ihre Kehle krallten und ihr die Luft abdrückten. Langsam, aber sicher senkte sich Finsternis auf sie herab. Endlich hatte er sie! Doch er wollte sie vorerst noch nicht töten, sondern nur seinen Sieg auskosten. Was für ein köstlicher Spaß!
Der Geist zwang Pony in die Knie, und Markwart sah amüsiert, wie sie verzweifelt versuchte, seinen Griff um ihre Kehle zu lösen, und sich in seine Schattenarme krallte, ohne ihnen jedoch das Mindeste anhaben zu können. Nun konnte er nicht mehr an sich halten, zu aufregend war dieser Augenblick des Triumphes über seinen größten Feind. Er sah Blutstropfen an Ponys Kehle herabrinnen und hörte, wie sie verzweifelt nach Atem rang. Doch auf einmal war da noch etwas. Er blickte suchend um sich, denn er dachte, jemand wäre ihr zu Hilfe gekommen. Seine Gedanken überschlugen sich, doch als er genauer hinsah, bemerkte er Ponys gewölbten Bauch und lachte schadenfroh.
Sie versank im Dunkel und sah die Welt wie durch einen langen schwarzen Tunnel. Sie bekam keine Luft und spürte nicht, wie sich ihre Finger in ihre Kehle krallten und dort tiefe Spuren hinterließen. Und obwohl sie wusste, dass ihre Hände den Schattenarmen nichts anhaben konnten, war ihr Überlebenswille noch immer so stark, dass sie nicht einhalten konnte. Plötzlich ließ die Umklammerung der Geisterhände nach, und ein stechender Schmerz durchzuckte Ponys Leib. Voller Panik brachte sie ihre geballte Energie in einem gellenden Schrei ihrer Seele zum Ausbruch, der den ehrwürdigen Vater zurückprallen ließ. Und dann kam ihr der Erdboden entgegen, als wolle er sie verschlingen, und sie lag keuchend und völlig erschöpft auf dem Rücken. Und er stand über ihr und sah triumphierend auf sie herab. Er streckte die Arme aus, als wolle er ihren geschundenen Körper davon schleppen.
Sie konnte sich nicht mehr wehren. Doch mit einem Mal bebte die Erde, und Markwarts Geist blickte überrascht um sich. »Elendes Elfenpack!«, hörte Pony ihn noch rufen – dann erstarb seine Stimme, und die Gestalt verblasste zusehends. Nun versank Pony in so vollständiger Finsternis, wie sie ihr nie zuvor begegnet war.
Lady Dasslerond hatte nicht mehr viel Kraft übrig, um die tödlich Verwundete zu behandeln, denn es hatte sie die letzten Reserven gekostet, Markwarts Geist wieder in seinen Körper zu bannen. Und selbst die enormen Energien des Smaragds hätten kaum ausgereicht – wenn sie ihn nicht überrumpelt hätte. Dieser Mann verfügte über ungeahnte Kräfte. Jetzt scharten sich die Elfen unter Anleitung von Belli’mar Juraviel um Pony und versorgten emsig ihre Wunden mit Hilfe ihres Heilsalbenzaubers. Ein paar Kratzer am Hals waren leicht zu behandeln, doch es gab Wunden, die viel tiefer gingen und bis zu ihrer Seele hinabreichten. Trotz aller Mühe konnte der Elf nur traurig den Kopf schütteln, als er seiner Herrin Bericht erstattete. »Was ist mit dem Kind?«, fragte ihn Lady Dasslerond. Juraviel zuckte ratlos die Achseln. »Vielleicht ist es das Kind, das sie umbringt«, überlegte er. »Vielleicht hat Jilseponie nicht mehr genügend Kraft für beide.« Ein anderer Elf kam herbeigeeilt und meldete der Herrin, dass die nördlichen Stadttore von Palmaris sperrangelweit offen stünden und Soldaten und Mönche hinausströmten. Da wusste Lady Dasslerond, was sie zu tun hatten.
10. Das Wunder
»Ihr müsstet verrückt sein, wenn Ihr da hingeht!«, sagte Bradwarden zu Shamus, als sie alle wieder im Lager waren, wo Tiel’marawee friedlich schlief. Der Kapitän war fest entschlossen, mit seinen Männern nach Palmaris zurückzukehren und den Bischof vor den Gerichtshof des Königs zu bringen. »Er wird Euch auf dem Marktplatz anzünden lassen, bevor Ihr auch nur ein Wort mit dem König reden könnt.« »Die Kirche regiert nicht das ganze Bärenreich«, meinte Shamus Kilronney so überzeugt, wie er irgend konnte, doch sein kläglicher Versuch zeigte bereits die ganze Hilflosigkeit eines Mannes, der in den Grundfesten wankte. »Bradwarden hat Recht«, sagte Eibryan. »Wir erwischen De’Unnero nicht mehr, bevor er wieder in Palmaris ist. Und dort kommt man nicht an ihn heran. Auf diese Weise können wir ihn nicht erledigen.« »Wie dann?«, fragte Shamus. »Wir müssen dem König Bescheid sagen!« »Der König hat den Mann zum Bischof gemacht«, sagte Bradwarden trocken. »Er konnte ja nicht wissen…«, wollte Shamus einwenden, doch dann verstummte er und schüttelte nur resigniert den Kopf. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen. Der Bischof von Palmaris, eingesetzt vom König und vom ehrwürdigen Vater, hielt die Macht über die gesamten nördlichen Bezirke des Bärenreichs in Händen. »Vielleicht weiß König Danube noch zu wenig über diesen Mann«, sagte Eibryan, um seinen Freund ein wenig zu
beruhigen. »Wenn er die Wahrheit erfährt, können wir vielleicht nach Palmaris zurückkehren und auf die Einsicht eines gerechten und öffentlichen Gerichts hoffen. Aber bis jetzt ist es noch lange nicht so weit!« »Dann müssen wir dem König reinen Wein einschenken«, sagte Shamus. »Dazu müsstet Ihr erstmal an De’Unnero vorbeikommen«, erinnerte ihn Bradwarden. Doch Eibryan schüttelte den Kopf. »Dafür haben wir einen Verbündeten«, erklärte er. »Allerdings weiß ich nicht, ob König Danube auf sie hören wird. Für ihn ist es vielleicht einfacher, sich mit dem ehrwürdigen Vater und seinem Handlanger zu arrangieren.« »Und dann?«, fragte Shamus. »Dann sind wir für alle Zeiten Geächtete«, sagte Eibryan, »und müssen uns für den Rest unserer Tage in den Wäldern des Nordens verschanzen und jeden in die Flucht schlagen, der im Namen des Königs oder der Kirche vorbeikommt.« »Keine sehr erhebenden Aussichten«, flötete Bruder Braumin dazwischen, doch er lächelte, denn zu dieser Erkenntnis waren die Mönche auch schon gelangt. »Wer ist dieser Verbündete?«, fragte Shamus. »Pony«, sagte der Hüter, ohne zu zögern. »Sie ist in Palmaris und baut den Widerstand gegen De’Unnero auf. Ihr solltet sie nicht unterschätzen!«, fügte er schnell hinzu, als er sah, wie Shamus und einige andere die Stirn runzelten. »Sollen wir uns etwa so lange verstecken?«, meinte einer der Soldaten. »Wir ziehen nach Norden zum Barbakan«, erklärte Eibryan, und einige schnappten erstaunt nach Luft. »Ich habe ihn darum gebeten«, sagte Bruder Braumin. »Denn am Grabe von Bruder Avelyn werden wir unseren Frieden und unsere Bestimmung finden. Ich weiß das, Hauptmann
Kilronney, denn ich hatte eine Vision. Ich muss unbedingt dorthin, und gesegnet sind die, die mit mir gehen!« Seine großen Worte wurden von den anderen vier Mönchen mit inbrünstiger Zustimmung bedacht, während Eibryan, Roger und Bradwarden sich ein dünnes Lächeln abrangen. Die Soldaten hegten offensichtlich weniger hochfliegende Hoffnungen. Kilronney gab seinen Männern ein Zeichen. »Wir müssen allein über diese Dinge reden«, sagte er zu den anderen. »Eine so weitreichende Entscheidung müssen alle Beteiligten gemeinsam treffen.« Dann stieg er aufs Pferd und führte seinen Trupp davon. »Kannst dich drauf verlassen, ein paar von denen werden deinem Freund sagen, er soll uns lieber ausliefern«, meinte Bradwarden, als sie von weitem die erhitzte Debatte unter den Soldaten vernahmen, von der allerdings nur Wortfetzen bis zu ihnen herüberdrangen. »Wo sie jetzt wissen, in welcher Zwickmühle sie stecken, wird ihnen De’Unneros Vorschlag wahrscheinlich aussichtsreicher vorkommen.« »Ich vertraue Shamus«, erwiderte der Hüter. »Ein paar von ihnen werden es vielleicht vorziehen, sich von ihm zu trennen, aber der Hauptmann wird nichts gegen uns unternehmen, und er wird auch nicht zulassen, dass jemand anders es tut.« »Ich verlass mich auf dich«, meinte der Zentaur. »Aber eins sag ich dir, mein Freund: Wenn dein Hauptmann auch nur einen Finger gegen uns rührt, leg ich ihn um, noch ehe er das Kommando zum Angriff gegeben hat.« Eibryan sah, dass Bradwarden bereits einen neuen Pfeil an die Sehne seines riesigen Bogens gelegt hatte, und zweifelte keinen Augenblick daran, dass er seine Drohung ohne zu zögern wahrmachen würde. Doch so weit kam es zum Glück nicht, denn ein paar Minuten später kam Shamus Kilronney bereits zurückgetrabt. Er stieg
ab und trat zu den beiden. »Ein paar von ihnen wollten nicht mitkommen«, sagte er. »Aber die übrigen sind einverstanden mit der Reise. Und sogar die Unschlüssigen haben sich bereit erklärt, denn sie sehen kaum andere Möglichkeiten.« Eibryan nickte grimmig. Er wusste zu genau, was vor ihnen lag, als dass ihn diese Erklärung in wilde Begeisterung gestürzt hätte. »Vielleicht kann Tiel’marawee morgen früh reisen«, erwiderte er. »Bis dahin müssen wir doppelt wachsam sein. Man kann nicht wissen, ob De’Unnero nicht noch einmal zurückkommt.« Der Rest des Tages und die folgende Nacht verstrichen ereignislos. Am Morgen hatte sich Tiel’marawees Zustand soweit gebessert, dass Bruder Braumin meinte, sie könnten aufbrechen, wenn sie ein langsames Tempo vorlegten. Da machten sie sich auf den Weg, in der Hoffnung, dass sie nicht von einem verspäteten Wintersturm überrascht wurden.
»Ihr kennt uns doch«, sagte die zierliche Gestalt mit melodiöser Stimme. König Danube wich keuchend einen Schritt zurück und umklammerte einen Leuchter, nach dem er vor Schreck gegriffen hatte. »Ihr seid doch von edler Abstammung«, sagte Lady Dasslerond vorwurfsvoll. »Man hat Euch sicher von Kindesbeinen an von den Touel’alfar erzählt, wenn Eure Familie nicht gerade dümmer ist, als ich es mir vorstellen kann.« »Alles Märchen«, meinte König Danube unsicher. »Und Ihr wisst auch über Questel ni’touel Bescheid, den ihr Elfennebel nennt«, fuhr die Herrin fort und kam langsam näher. »Ihr wisst, worum es geht, König Danube, also nehmt
Euch zusammen. Ich habe nicht viel Zeit, und ich muss Euch ein paar Dinge erzählen.« Der König des Bärenreiches, des größten Landes in der bekannten Welt und Abkömmling eines alten Königsgeschlechts, stand da und zitterte vor diesem winzigen geflügelten Geschöpf, das ihm vorkam wie einem Kindermärchen entstiegen. Doch sie hatte Recht, man hatte ihm als Kind tatsächlich viele Geschichten von den Touel’alfar erzählt, und so gewann er allmählich seine Fassung zurück. Einige Zeit später verließ sie ihn wieder heimlich durch den unbenutzten Kamin, den ihre Kundschafter in dem Herrenhaus ausfindig gemacht und für sie hergerichtet hatten. Sie hatte König Danube von den Ungeheuerlichkeiten erzählt, die sich in letzter Zeit in Palmaris zugetragen hatten, und mit ihrer Meinung über den ehrwürdigen Vater und den Abellikaner-Orden nicht hinter dem Berg gehalten. Doch dem König stand noch immer Markwarts nächtliche Erscheinung vor Augen, und dieser Eindruck war stärker als all die Jahre auf dem Herrscherthron.
Lady Dasslerond gab Belli’mar Juraviel ein Zeichen, und er händigte Belster O’Comely das Säckchen mit Ponys Steinen aus. Der Wirt nahm sie mit zitternden Händen entgegen. »Was ist, wenn sie nicht wieder gesund wird?«, fragte er und schaute auf die zerbrechlich wirkende Gestalt herab, die man im Keller des Wirtshauses auf ein weiches Lager gebettet hatte. »Das ist Eure Sache«, erwiderte Lady Dasslerond. »Wir haben Euch Pony zurückgebracht, und die Verantwortung für die Edelsteine liegt immer noch bei ihr. Damit haben die Touel’alfar nichts zu tun, ebenso wenig wie mit ihr selbst.«
Belli’mar Juraviel zuckte zusammen. Er konnte sich mit dem rigorosen Vorgehen der Herrin, als Pony halb tot draußen auf dem Feld lag, noch immer nicht recht abfinden, aber er wusste, dass er ihre Entscheidung akzeptieren musste. »W-wir haben Freunde«, stotterte Belster. »Der Seemann aus Behren…« »Das kümmert mich nicht«, unterbrach ihn Lady Dasslerond kalt. »Diesen Kampf habt ihr Menschen euch selbst ausgesucht, ich wünsche euch viel Glück – und das ist mehr, als irgendeiner von euch verdient. Macht mit ihr, was Ihr wollt. Ich kann nur sagen, sie hat sich das alles selbst zuzuschreiben, auch wenn ich ihr nichts Böses wünsche.« Belster wollte etwas entgegnen, doch die Elfenkönigin wandte sich bereits ab und verließ mit ihrer Schar den Keller des Gasthauses. Belster folgte ihnen die Treppe hinauf; oben nickte er der verängstigten Dainsey kurz zu und gab ihr die Steine. Das Mädchen warf einen nervösen Blick auf die ungewohnten Gäste und eilte dann hinunter zu Pony »Gibt es nichts, womit ich Euch umstimmen kann?«, wagte Belster einen letzten Versuch, als Lady Dasslerond mit ein paar Elfen noch einmal kurz stehen blieb – gerade lange genug für einen von ihnen, aus dem Fenster zu schauen und sich von einem anderen, der draußen Wache hielt, bestätigen zu lassen, dass keine Soldaten auf der Straße waren. »Ihr solltet sie von hier fortbringen«, sagte Lady Dasslerond. »Hier wird der ehrwürdige Vater zuerst nach ihr suchen. Ich kann euch nur raten: Nehmt sie mit, und bringt euch selbst ebenfalls in Sicherheit.« Dann waren sie verschwunden, und Belster stand allein und verängstigt am offenen Fenster. Er hatte Mallory und Prim O’Brien bereits losgeschickt, um einen Fluchtweg auszukundschaften, und er konnte nur hoffen, dass Kapitän
Al’u’met und die anderen Behreneser Pony und den Rest von ihnen aufnehmen würden. Lange stand er so am Fenster und starrte nachdenklich hinaus. »Sie ist aufgewacht«, hörte er Dainsey hinter sich sagen. Er drehte sich um und wollte zur Treppe stürzen, doch Dainsey hielt ihn zurück. »Nur für einen kurzen Augenblick«, sagte sie. »Gerade lange genug, um zu merken, dass sie kein Kind mehr im Bauch hat.« Belster zuckte zusammen; es wollte ihm schier das Herz brechen, so Leid tat ihm dieses Mädchen, das in seinem kurzen Leben schon so viel Leid erfahren hatte. »Sie sagt, Markwart hat ihn umgebracht«, fuhr Dainsey fort. »Sie hat den Stich gespürt, als der elende Kerl über sie hergefallen ist, und jetzt schwört sie, dass sie das Ungeheuer umbringen wird.« Belster schüttelte seufzend den Kopf und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Arme Pony, sie war so voller Wut und Hass und innerlich zerrissen. »Dann hat sie geweint und am ganzen Leib gezittert«, erklärte Dainsey. »Sie wollte den grauen Stein benutzen und wollte, dass ich ihr helfe, aber ich glaube, ihr Schmerz sitzt zu tief und nicht nur in ihrem Körper. Deshalb konnte sie auch nicht wach bleiben.« »Gut, dass sie aufgewacht ist«, sagte Belster und versuchte, zuversichtlich zu klingen. Dainsey legte ihm wie zum Trost die Hand auf den Arm. »Man kann noch nicht wissen, ob sie es schafft«, sagte sie betrübt. »Du darfst nicht vergessen, sie ist schwer verletzt.« Da seufzte Belster noch einmal tief. In diesem Moment kam ein völlig verstörter Heathcomb Mallory zur Tür herein.
»Zu viele«, sagte Bradwarden, und es war eines der wenigen Male, dass Eibryan den Zentauren niedergeschlagen erlebte. »Und ich dachte, die verdammten Biester wären bis ans Ende der Welt gerannt, nachdem die Trümmer alle, die da drin waren, unter sich begraben hatten.« »Sie sind zurückgekommen in der Hoffnung, dass ihr Meister vielleicht noch da ist«, überlegte der Hüter. »Und jetzt haben sie vor, hier zu bleiben«, sagte der Zentaur. Unbewusst wanderte Eibryans Blick Richtung Süden. »Wir sind schon zu weit gekommen, um jetzt aufzugeben«, sagte Bruder Braumin bestimmt und marschierte wieder auf die Hügelkette zu, die den Barbakan überragte. »Bischof De’Unnero konnte uns nicht aufhalten, und seine Soldaten haben sich auf unsere Seite geschlagen!« Das war nur zu wahr, sagte sich der Hüter. Seit Tagen kämpften sie sich durch Schnee und eisigen Wind in den Bergen vorwärts, und nun waren sie fast am Ausgang des Passes angelangt, der Eibryan und die anderen schon beim ersten Mal zum Berg Aida geführt hatte. Zweihundert Meter weiter begann der steile Abhang, der in das verwüstete Tal hinabführte, das einst die Horden des Geflügelten beherbergt hatte. Sie hatten bereits hinuntergeschaut, und der trostlose Anblick hatte sie überwältigt und zutiefst betrübt. Nicht einmal der Schnee konnte über die graue Leere und Eintönigkeit hinwegtäuschen und die weit verstreuten Spuren der Eruption verbergen. Braumin Herde hatte dies allerdings als Zeichen des Himmels bezeichnet, denn diese Ödnis würde wahrscheinlich die Ungeheuer dauerhaft fernhalten, und nur so konnten sie vielleicht ihr Vorhaben in die Tat umsetzen und hier einen Wallfahrtsort für einen neuen Orden einrichten. Doch in der ersten Nacht auf dem Bergkamm hatten sie in der Ferne Lagerfeuer entdeckt, und nun hatte Bradwardens Erkundungstour die schreckliche Wahrheit ans Licht gebracht.
Der Hüter sah den Zentauren Rat suchend an. Am liebsten hätte Eibryan kehrtgemacht, um nach Palmaris zu eilen, denn er hatte Angst, dass De’Unnero dort war und herausgefunden haben könnte, dass auch Pony sich dort aufhielt. Pony und sein ungeborenes Kind. Andererseits war er mit einem bestimmten Ziel hierher gekommen, das ihm der brennende Wunsch der fünf Mönche und das Orakel vor Augen geführt hatten. Das Bild von Avelyns ausgestrecktem Arm hatte sich während einer Sitzung mit seinem Onkel Mather tief in sein Bewusstsein eingebrannt und später noch ein paar Mal wiederholt. So gern er auch zu Pony gegangen wäre, Eibryan musste unbedingt die Grabstelle wieder sehen und herausfinden, was ihm das Orakel damit hatte sagen wollen. »Vielleicht geht’s ja auch ohne Kampf«, meinte der Zentaur. »Sind nicht viele Goblins auf dieser Seite des Berges.« »Nur Goblins?«, fragte der Hüter. Bradwarden nickte. »So viel ich gesehen hab. Aber Hunderte von den Biestern hocken in Nischen und Höhlen in den nördlichen und westlichen Wänden des Barbakan.« Der Hüter ließ seinen Blick über das Gebirgsrund schweifen, angefangen im Osten, über den nördlichen Bergkamm und dann wieder zurück nach Westen. Dann betrachtete er wieder den abgeflachten Aida-Berg, der, ein paar Meilen entfernt, einsam aus dem Tal emporragte. Am Umriss der obersten Bergregionen konnte er in etwa die Stelle erkennen, wo Avelyn begraben war, und fast meinte er schon, den Arm in der Ferne aus dem Fels ragen zu sehen, so deutlich stand ihm das Bild wieder vor Augen. »Hab noch Fußspuren von ‘nem Riesen gesehn«, räumte der Zentaur ein. »Sind aber bestimmt nicht viele hier – und keine Spur von den verdammten Pauris.«
»Gut«, sagte der Hüter. Wie alle anderen, die schon einmal gegen die zähen und verschlagenen Zwerge gekämpft hatten, verspürte er keinerlei Lust, ihnen jemals wieder zu begegnen. »Wir schaffen es«, meinte Bruder Braumin mit leuchtenden Augen. »Aber was machen wir, wenn wir da sind?«, fragte der Hüter. »Wir brauchen auf jeden Fall ein Feuer, wenn wir die Nacht da oben im Freien verbringen wollen, und das werden unsere unfreundlichen Nachbarn mit Sicherheit sehen, da können wir uns noch so viel Mühe geben, es zu verbergen.« »Es gibt doch Höhlen da oben«, meinte Braumin hoffnungsvoll. Offensichtlich war er nicht gewillt, so kurz vor dem Ziel aufzugeben. »Schönen Dank auch, dass du mich dran erinnerst«, sagte der Zentaur trocken. »Ich meine…«, wollte Bruder Braumin fortfahren. »Wenn es da oben Höhlen gibt, sind sie womöglich voller Goblins«, unterbrach ihn Eibryan, »oder noch schlimmerer Dinge.« Bruder Braumin stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte sich ab. »Wir sind zu nah dran, um wieder umzukehren«, warf Bruder Castinagis ein. »Ich gehe zum Aida und sehe mir Avelyns Grab an, und wenn ich die Reise allein machen muss!«, sagte der sonst so zaghafte Bruder Mullahy. »Ich habe mein Leben den Grundsätzen von Meister Jojonah und Avelyn Desbris geweiht, und jetzt will ich diesen außergewöhnlichen Ort sehen, selbst wenn ich dort sterben muss.« Seine Inbrunst verblüffte sie alle und freute die anderen Mönche – den armen Marlboro Viscenti vielleicht ausgenommen, der so nervös war, dass er schon die ganze Zeit zitterte wie Espenlaub.
»Wir gehen auch«, ließ sich Shamus Kilronney jetzt vernehmen. »Zumindest ein paar von uns; der Rest bleibt hier bei den Pferden.« Wieder sah Eibryan Bradwarden unschlüssig an, doch der Zentaur zuckte nur mit den Schultern, offensichtlich war er gewillt, sich jeder Entscheidung anzuschließen. »Ich weiß nicht, ob wir lange da oben bleiben können, ich zumindest«, sagte der Hüter. »Aber wenn Bradwarden meint, wir können ohne Kampf dorthin gelangen, dann bin ich einverstanden, es zu versuchen. Wir sind wirklich schon zu nah, und ich möchte ebenso wie Bruder Castinagis das Grab meines lieben Freundes sehen.« In diesem Augenblick tauchte Roger Flinkfinger auf dem Weg direkt unter ihnen auf. Er war ebenfalls auf Erkundungstour gewesen. »Keine Goblins an den unteren Berghängen«, rief er zu ihnen hinauf. »Der Weg ins Tal ist frei.« Sie brachen sofort auf, Bradwarden und Eibryan, Roger und die fünf Mönche, Shamus Kilronney mit einem Dutzend seiner Männer – die Hälfte der Truppe, die Eibryan nach dem unerfreulichen Aufeinandertreffen mit Bischof De’Unnero weiter nach Norden begleitet hatte. Die noch immer stark geschwächte Tiel’marawee ließen sie mit Symphony und den anderen Pferden in der Obhut der wartenden Soldaten zurück. Der Abstieg war einfach, denn der Wind hatte die Wege ziemlich frei gefegt bis auf ein oder zwei vereiste Stellen. Am frühen Nachmittag hatten sie das Tal erreicht und folgten demselben lang gestreckten Ausläufer, den Eibryan und die anderen schon beim ersten Mal beschriften hatten, nur dass er noch länger geworden war, seit die Erschütterung den Fuß des Berges gewaltig verbreitert hatte. Hier unten war es viel wärmer, beinahe gemütlich – vielleicht durch die restliche Hitze des noch nicht vollständig abgekühlten Felsens, auch
wenn die Eruption schon etliche Monate her war. Oder, überlegte Eibryan mit einiger Sorge, vielleicht war der Berg ja immer noch lebendig und voller blubbernder Lava in seinem Innern. »Wir sollten unser Lager auf der Südseite aufschlagen«, entschied der Hüter, als sie sich dem riesigen Berg näherten. »Da finden wir mühelos eine Felsnische, die uns sowohl vor dem Wind als auch vor den Augen der Goblins schützt.« Bald darauf hatten sie ein solches Plätzchen gefunden, entzündeten ein Feuer und verbrachten eine friedliche und ereignislose Nacht. Sie erwachten zeitig und voller Erwartung, was der neue Tag wohl bringen mochte. Kaum waren sie jedoch aus ihrem Versteck gekrochen und hatten sich wieder auf den Weg gemacht, da wurde aus Hoffnung Entsetzen. Goblins – eine ganze Horde! – ergossen sich aus einer Höhle tief unter ihnen und zeigten johlend zu ihnen hinauf. In Windeseile wimmelte es am Fuße der Südwand nur so von den widerlichen Gestalten, die ihnen jeden Fluchtweg abschnitten. »Es sind zu viele«, sagte der Hüter zu Kilronney, als dieser sich anschickte, seine Männer Aufstellung nehmen zu lassen. »Geht alle weiter, Bradwarden und ich halten hier die Stellung.« »Besten Dank für die Ehre!«, sagte Bradwarden, als Shamus mit den anderen außer Sichtweite war und die GoblinSchwärme ihnen allmählich gefährlich nahe kamen. »Wenn ich mich entschließen sollte, mich ins Getümmel zu stürzen, brauche ich etwas zum Reiten«, entgegnete Eibryan unbekümmert. Sie hatten sich entschieden, hierher zu kommen, und gewusst, was sie dabei riskierten. Und jetzt sah es ganz so aus, als hätten sie alles verloren. Doch Eibryan hatte am Rande des Abgrunds gelebt, seit dem Tag, an dem er Andur’Blough Inninness hinter sich gelassen hatte. Und er hatte dieses Leben eines Hüters voll und ganz akzeptiert. Zwar tat es ihm Leid,
dass er Pony und ihr Kind nun niemals wieder sehen würde, aber er verscheuchte diese Gedanken sofort. Er war ein Krieger mit Leib und Seele. Eibryan – nein, der Nachtvogel – war fest entschlossen, so glorreich unterzugehen, dass sämtliche Goblins der Welt ihn so bald nicht vergessen würden. Die ersten waren inzwischen kaum noch fünfzig Meter von ihm entfernt und kamen rasch näher. Nachtvogel hob Falkenschwinge und pustete eines der Scheusale von seinem Standort am Berghang. Das hielt die anderen auf – doch nur vorübergehend. Nachtvogel wusste ebenso gut wie Bradwarden und die Goblins wussten es mit Sicherheit auch –, dass der Hüter und seine Freunde diesmal nicht gewinnen konnten, und wenn sie auch noch so tapfer kämpften. Einen Pfeil nach dem anderen ließen Nachtvogel und Bradwarden in die Menge zischen, und viele Goblins starben. Aber immer mehr strömten herbei, und schon bald mussten die beiden sich eine schmale Stelle suchen, wo man sie nicht von der Seite her angreifen konnte; außerdem mussten sie den Bogen mit Schwert und Keule vertauschen. Bald türmten sich viele tote Goblins zu ihren Füßen. Für kurze Zeit dachten die beiden beinahe, sie könnten doch noch alles retten, indem sie so viele Goblins umbrachten, dass die übrigen aufgeben und die Flucht ergreifen würden. Doch dann krachte auf einmal ein Felsbrocken neben den beiden herab und verfehlte nur knapp Nachtvogels Kopf. Irgendein Goblin hatte einen Tunnel entdeckt, der weiter oben endete. Nun war alles verloren. »Mach, dass du wegkommst!«, brüllte Bradwarden und rannte mit solcher Wut gegen die nächststehenden Goblins an, dass sie vor Schreck zurückwichen. Nachtvogel machte kehrt und rannte den Pfad hinauf, über Steine hinweg, und hangelte sich über Felsvorsprünge – immer
mit Falkenschwinge im Anschlag. Immer wenn er die Goblins sah, die von oben die Brocken herunterwarfen, schickte er einen Pfeil in ihre Richtung. Einer überschlug sich, landete polternd an der Stelle, wo der Hüter eben noch mit Bradwarden gestanden hatte, prallte von dort mit einem widerlichen Knackgeräusch ab und stürzte dann endgültig ins Tal hinab. Dann machte der Weg eine scharfe Biegung, und der Hüter sah sich einer Hand voll Goblins gegenüber, die bereits auf ihn warteten.
Braumin Herde war verdientermaßen der Erste, der einen Blick auf das Grab von Avelyn Desbris warf. Und obwohl er wusste, dass die Ungeheuer ihnen auf den Fersen waren und er diesen Tag wahrscheinlich nicht überleben würde, überwältigte ihn der Anblick des emporgereckten Armes über alle Maßen. Alle neunzehn Männer versammelten sich schweigend um das mumifizierte Körperteil, und selbst Roger und die Soldaten beklagten sich mit keinem Wort. Sie wirkten alle gelöst und zufrieden, obgleich sie von unten die Kampfgeräusche hörten und wussten, dass die Ungeheuer sie nur zu bald eingeholt haben würden. Bradwarden war klar, dass der plötzliche brutale Angriff zwar seinen Tribut gefordert hatte – zwei Goblins waren tot, etliche andere verletzt, und noch mehr liefen davon –, doch nun war der Überraschungseffekt vorbei, und die Ungeheuer stürmten auf ihn ein, sodass er sie unmöglich würde aufhalten können. In wilder Verzweiflung sprang er hin und her und schlug nach allen Seiten aus, ohne jedoch etwas zu treffen. Stattdessen musste eins seiner Hinterbeine einen bösen Stich von einem rostigen Goblin-Schwert einstecken. Doch er lief unbeirrt weiter, während ein Speer sein Hinterteil traf und ein
anderer seinen Rücken entlangschrammte. Und dann traf ein Stein von oben ihn an Kopf und Schulter. Er kniff das blutverschmierte eine Auge zu und rannte davon, die kreischenden Goblins dicht hinter ihm. Dabei dachte er daran, was es doch für eine Ironie war, dass er nun doch an diesem gottverlassenen Ort sterben würde, der ihn schon einmal fast das Leben gekostet hatte.
Sie dachten, sie hätten ihn überrumpelt, und so fielen die vordersten beiden Goblins gierig über den Nachtvogel her. Doch der war ein Hüter, und ein Hüter ließ sich nicht so leicht überrumpeln. Mit einer flinken Handbewegung löste er die Sehne seines Bogens und hielt ihn mit der Spitze voran wie einen kräftigen Stecken vor sich hin. Die Goblins rannten auf ihn zu, auf jeder Seite einer. Beide dachten, der Hüter würde das Nächstliegende tun und versuchen, den Goblin zu seiner Rechten in den Abgrund zu stoßen. Deshalb duckte sich dieser. Doch der Nachtvogel dachte nicht daran, sich auf einen allein zu verlegen, und schneller, als die beiden Goblins es begreifen konnten, schwenkte er Falkenschwinge in großem Bogen herum und steckte einen Keulenhieb ein, um dem links von ihm stehenden Goblin den Stab flach in die Seite zu schlagen. Der Goblin griff nach ihm, doch der Hüter stieß einen wilden Schrei aus, packte die Hände seines Gegners und schleuderte ihn mit Riesenkräften in die Luft, sodass er an seinem kauernden Kumpan abprallte, sich überschlug und im hohen Bogen über die Felskante hinweg in den Abgrund flog. Dann wirbelte der Hüter Falkenschwinge herum und schickte den verbliebenen Goblin mit einem gewaltigen Hieb zu Boden.
Nachtvogel lief an ihm vorbei und hielt gerade lange genug inne, um den Bogen mit dem Schwert zu vertauschen und den bewusstlosen Goblin in den Abgrund zu befördern. Jetzt kamen die vier restlichen Ungeheuer angerannt, einer von ihnen weit voraus. Sturmwind blitzte auf, da waren es nur noch drei. Sie bedrängten ihn immer mehr – eine Keule, ein Speer und ein Schwert attackierten ihn aus jedem erdenklichen Winkel. Doch jetzt ging Nachtvogel völlig im Schwerttanz auf. Er wich dem Speer von rechts aus, tauchte unter der Klinge hindurch, die von links auf ihn zusauste, und musste schließlich einen schmerzhaften Keulenstoß von dem dritten Goblin einstecken. Jetzt trat Sturmwind in Aktion, und der Goblin mit dem Speer kreischte und fiel hintenüber. Der Hüter versuchte es mit einem Täuschungsmanöver: Er zog die Klinge heraus und ließ sie mit einer Drehung des Handgelenks urplötzlich vorwärts und nach rechts schnellen, gerade als der andere Goblin mit seinem Schwert zustoßen wollte. Im nächsten Augenblick bohrte sich Sturmwind schon in dessen Brustkorb. Nun machte Nachtvogel einen Satz nach rechts und rammte seine Schulter dem Keulenschwinger in die Brust, sodass dieser auf den Abgrund zutaumelte und nur mit großer Mühe sein Gleichgewicht wieder fand. Als er sich umdrehte, stand Nachtvogel vor ihm. Der Goblin versuchte verzweifelt mit seiner Keule, den tödlichen Schwertstoß abzuwehren, doch noch ehe er richtig zum Zuge kam, beförderte ihn der Hüter mit einem gewaltigen Faustschlag seiner freien Hand ins Bodenlose. Instinktiv trat der Nachtvogel, die restlichen Goblins im Rücken, jetzt mit dem rechten Fuß zur Seite, beugte das Knie und lehnte sich nach rechts, während er das linke Bein weit von sich streckte.
Schon stolperte der Goblin, den er vorher zurückgeschlagen hatte, der Länge nach darüber und segelte kopfüber ins Leere. Der Hüter fuhr herum und wehrte den Speer des letzten Goblin ab. Dieser rannte zu der steilen Felswand und versuchte verzweifelt, daran empor zu klettern. Doch Nachtvogel setzte ihm nach und packte den Flüchtenden an einem Fuß. Dann griff er auch nach dem anderen Fuß und riss den Goblin mit einem Ruck zu Boden, bevor er ihn im hohen Bogen über die Felskante warf. »Prima Technik!«, gratulierte ihm Bradwarden, der in diesem Augenblick gerade um die Ecke bog. Doch das Lachen verging ihnen sofort wieder beim Anblick der unzähligen Wunden, die der Zentaur davongetragen hatte, und beim Lärm der heranrückenden Gobelin-Horde. Die beiden Freunde rannten weiter, bis sie vor dem letzten Felsabsatz standen. Es war ein steiler Aufstieg von etwa zehn Fuß Höhe, und sie hatten keinen Platz, Anlauf zu nehmen, und so sah der Zentaur keine Möglichkeit, hinaufzugelangen. »Dann bleib ich eben einfach hier stehen«, meinte er, aber davon wollte der Hüter nichts hören. »Halt dich da oben fest und zieh dich mit aller Kraft hoch«, sagte er, »und ich schiebe von hinten.« Zweifelnd tat Bradwarden wie geheißen, reckte sich mit den Vorderbeinen nach oben und suchte mit den Händen irgendwo Halt, dann zog er aus Leibeskräften. Er hörte hinter sich ein Stöhnen und spürte, wie Nachtvogel ihm kräftig in die Flanken griff. Dann wurden seine tausend Pfund in die Luft gehoben, höher und höher, doch er klebte zu dicht an der Felswand, um über den Rand zu klettern. Doch auf einmal waren Roger und Shamus Kilronney über ihm und griffen nach seinen Händen, und die anderen halfen mit, und alle zusammen schafften sie es den mächtigen
Pferdekörper auf das Plateau zu hieven, wo Avelyns sterbliche Hülle ruhte. Nachtvogel kletterte hinterher, und erblickte auch er die zukünftige Wallfahrtsstätte, und ein Gefühl des Friedens überkam ihn. Dann tauchten Goblin-Hände an der Felskante auf, und der Kampf begann aufs Neue. Jetzt verteilten sich die einundzwanzig Männer und kämpften um ihr Leben. Viele Goblins starben, viele wurden zurückgeschlagen, doch mit der Zeit hatten sie immer größere Mühe, alle Goblins im Auge zu behalten, die ständig neue Schlupflöcher fanden. Einer der Soldaten ging schreiend mit einem Pfeil im Bauch in die Knie. Bald folgte ihm Bruder Dellman, von einem Schlag gegen den Kopf getroffen. Während sie die Verwundeten in Sicherheit brachten, wurden die Kämpfer erbarmungslos in die Enge getrieben, bis sie sich dicht um Avelyns emporragenden Arm scharten. Jetzt trat eine Pause ein, während der sich immer mehr Goblins im Umkreis der Talmulde zusammenrotteten, um ihrer Sippschaft zu Hilfe zu kommen. Nach und nach kletterten sie herauf, erst einhundert, dann zweihundert.
Lady Dasslerond und ihre Elfen hatten Palmaris lange vor Mitternacht verlassen und sich auf den Weg nach Norden gemacht, um in Caer Tinella etwas über den Nachtvogel zu erfahren, ehe sie wieder nach Hause zurückkehren wollten. Nach Ansicht der Elfenkönigin war ihre Rolle in diesem Krieg der Menschen jetzt beendet. Sie wollte noch ein letztes Mal mit dem Nachtvogel reden, um ihm von Ponys Zustand zu berichten und ihn dafür zu schelten, dass er ihr Bi’nelle dasada beigebracht hatte. Die Herrin von Caer’alfar hatte ihre Ansicht darüber nicht geändert. Nachtvogel hatte sich die falsche
Person ausgesucht, denn Jilseponies Angriff auf den ehrwürdigen Vater war tollkühn gewesen, und wer imstande war, eine solche Dummheit zu begehen, verdiente es nicht, in den Elfentanz eingeweiht zu sein. Belli’mar Juraviel trottete niedergeschlagen hinter den anderen her und blickte immer wieder nach Palmaris zurück. »Gehabt euch wohl, meine Freunde«, sagte er in den Abendwind. Doch im Grunde seines Herzens wusste er genau, dass es bei ihnen nicht zum besten stand. »Du bist mein Bruder, Nachtvogel, und ich bin dir nicht böse«, sagte er. »Denn Jilseponie ist jetzt meine Schwester, und ihr kann ich jetzt nur ein stillschweigendes Versprechen geben. Und was dich betrifft, Nachtvogel, so bete ich, dass sich unsere Wege noch einmal kreuzen mögen und wir irgendwann bessere Zeiten erleben und wieder einträchtig auf einem Hügel sitzen werden, mit Jilseponie und Bradwarden an einem Ort weit entfernt von den Machtkämpfen der Menschen.« Wie sehr sich Juraviel das wünschte! Tränen liefen aus seinen goldfarbenen Augen; zum ersten Mal in seinem Leben weinte der Elf um einen Menschen. Und eine unendliche Traurigkeit ergriff ihn, als er daran dachte, dass die arme Pony, falls sie überlebte, jetzt noch einen zusätzlichen schweren Verlust ertragen musste. Und so konnte er nur hoffen, dass er seine Freunde eines schönen Tages wieder sehen würde. Doch Juraviel kannte ihren Feind gut genug, um zu wissen, dass dies nur eine sehr vage Hoffnung war. Er wusste, was Nachtvogel und Pony bevorstand und konnte sich nicht vorstellen, dass sie gewinnen würden, jetzt, wo Lady Dasslerond beschlossen hatte, die Menschen sich selbst zu überlassen. Lange lief er allein hinter den anderen her und schaute wehmütig zurück auf die Stadt, die für Pony so gefährlich
geworden war und es wohl bald auch für den Nachtvogel werden würde. Vorn an der Spitze gab Lady Dasslerond den Ton an für Tiesttiel, den Sternengesang, das größte Vergnügen, das die Elfen kannten. Belli’mar Juraviel aber war an diesem Abend nicht danach zumute mit einzustimmen, denn sein Herz war zu schwer für ein Lied.
»Vielleicht soll es ja so sein, dass wir hier sterben«, meinte der Hüter finster. »Ich wünschte bloß, es war noch hundert Jahre hin«, erwiderte Bradwarden. Marlboro Viscenti fing an zu weinen. Roger Flinkfinger versuchte ihn zu trösten, doch auch seine Schultern zuckten verräterisch. »Im Namen von Avelyn Desbris«, hob Bruder Braumin an und hielt den Ton der letzten Silbe lange an, als würde er eine Messe lesen. »So haben wir gefehlt und doch überwunden«, fuhr er fort. »Wir waren die Ersten und werden nicht die Letzten sein, die ihr Herz an diesen Ort führt. Und so haben wir ihn gefunden, den Weg zu Gott, und werden sterben in der Gnade des Herrn.« Er beugte sich tief hinab, als er sein Gebet fortsetzte, sodass der Verwundete, der offensichtlich im Sterben lag, ihn deutlich hören und Trost finden konnte. Da hörte der Mann auf, sich herumzuwälzen und zu stöhnen, und auch Viscenti und Roger hörten auf zu weinen, und sie lauschten alle Braumin Herdes Gebet. Nach einer Weile verkündete Shamus Kilronney: »Sie kommen!« »Betet!«, rief Bruder Braumin.
»Kämpft!«, sagte Nachtvogel grimmig, aber als er den im Staub knieenden Mönch betrachtete, verbesserte er sich: »Kämpft und betet«, sagte er lächelnd. Und so beteten und sangen sie, während Hunderte von Goblins sie langsam umzingelten. Doch auf einmal verstummten sie, denn sie hörten einen tiefen summenden Ton. »Er hat sich den richtigen Moment ausgesucht, um wieder auszubrechen«, meinte Bradwarden und starrte in den gefährlichen Schlund des Berges hinab. Doch dann dachten sie nur noch an die Goblins, denn die Ungeheuer stürmten plötzlich unter ohrenbetäubendem Geheul los. Da erhob sich ein Stöhnen, und eine donnernde Druckwelle ging von Avelyns Hand aus, und alle – die Menschen, der Zentaur und die Goblins – erstarrten, als ein purpurfarbener Kraftring über sie hinwegrollte. Über die Eingeschlossenen hinweg und mitten zwischen die Goblins, deren Körper er durchdrang. Eine Entladung folgte der anderen und rollte über den regungslos verharrenden Kreis der Ungeheuer hinweg wie Flutwellen. Goblins öffneten den Mund, als wollten sie schreien, doch kein Ton kam heraus. Sie wollten Reißaus nehmen, doch ihre Beine schienen wie angewurzelt, und sie konnten lediglich den Oberkörper bewegen. Die Menschen und der Zentaur zuckten zusammen, denn plötzlich konnten sie die Goblins bis auf die Knochen sehen, als wäre ihr Fleisch durchsichtig geworden. Und dann waren da auf einmal nur noch Knochengerippe, wo eben die Goblin-Horde gestanden hatte. Das Summen verebbte, und der purpurne Lichtschein erlosch. Unter ohrenbetäubendem Geklapper fielen Hunderte von Goblin-Skeletten in sich zusammen.
Bruder Braumin warf sich weinend vor dem emporgereckten Arm zu Boden. »Ein Wunder!«, schluchzte er. Und selbst dem skeptischen Eibryan und Bradwarden, der herzlich wenig mit den Religionen der Menschen anzufangen wusste, fiel in diesem Moment keine andere Erklärung ein, denn sie waren beide einfach sprachlos.
Teil zwei Spiegelbilder
Hoffnungen sind manchmal trügerisch. Ich habe noch nie in dieser Weise über den scheinbar ewigen Kampf zwischen Gut und Böse nachgedacht, Onkel Mather, und ehrlich gesagt erschreckt mich diese Erkenntnis. Aber jetzt weiß ich, dass es wahr ist, und das ist, fürchte ich, die eigentliche Gefahr für die Menschenwelt. Der geflügelte Dämon war erschreckender, als man es sich vorstellen konnte. Als ich dieser Bestie in den Tiefen des AidaBerges gegenüberstand, musste ich all meine Willenskraft aufbieten, um Bestesbulzibar entgegenzutreten. Er war das personifizierte Böse, Onkel Mather. Aber ich habe es immer gesagt, und jetzt, wo ich den Erzfeind gesehen habe, weiß ich genau, dass der Geflügelte am Ende doch nie siegen kann. Eine so offensichtliche Schlechtigkeit wird immer Gegner unter den Menschen von Korona finden. Irgendjemand wird immer das Schwert erheben und ihr den Kampf ansagen. Nur wenn er jeden einzelnen Mann und jede Frau aus der Welt der Lebenden hinwegfegte, könnte Bestesbulzibar sich eines unangefochtenen Sieges erfreuen, aber was wäre das für ein Sieg? Selbst wenn seine Horden, die Goblins, Riesen und Pauris, die gesamte menschliche Rasse ausrotten würden, so würde Bestesbulzibar doch nicht den Sieg über die menschliche Seele davontragen. Kann man mit Gerissenheit erreichen, was brutale Gewalt nicht vermag?
Das ist meine Befürchtung, denn viel gefährlicher als die Dämonen und ihre Heerscharen sind die Betrüger, und ich glaube, der Abt Markwart ist so einer, vielleicht sogar der Vorreiter von allen. Er und seine Kirche scheinen die Kunst der Unterdrückung perfektioniert zu haben, und es erschreckt und betrübt mich, wenn ich mir vorstelle, sie könnten am Ende den Gewinn einstreichen, der Bestesbulzibar entgangen ist. Wie raffiniert sie vorgehen! Sie sagen den Leuten immer gerade genug von der Wahrheit, um jenen Philosophien Glaubwürdigkeit zu verleihen, die, für sich allein betrachtet, keiner logischen Erörterung standhalten würden. Sie verbergen ihre Lügen hinter einem Schleier von Halbwahrheiten und rechtfertigen ihre Unmoral mit zwingenden Notwendigkeiten oder schützen passende Traditionen vor, die heutzutage keinerlei Sinn mehr haben. Warum sollte man nicht eine Schiffsmannschaft aus Mönchen aufstellen, um die heiligen Steine zu holen? Und warum nicht die heiligen Steine dazu verwenden, dem einfachen Volk das Leben zu erleichtern? Sie haben auf alles eine Antwort, Onkel Mather. Aber wenn eine kranke Mutter vor dem Tor von St. MereAbelle erscheint und darum bittet, sie wieder gesund zu machen, damit ihre Kinder nicht zu Waisen werden… Dann gibt es keine Entschuldigungen mehr. In so einem Augenblick werden alle Rechtfertigungen zu den Lügen, die sie eigentlich sind. Aber diese Betrüger sind Meister ihres Faches, und das macht mir Angst. Sie verbreiten gerade so viel Wahrheit, dass die Leute ruhig bleiben, und werfen ihnen gerade genug schäbige Almosen hin, dass diejenigen, die um ihr tägliches Brot kämpfen müssen, daran glauben, dass alles besser wird, oder zumindest, dass es ihre Kinder einmal besser haben
werden. Denn das, Onkel Mather, ist letzten Endes der verbreitetste Wunsch der Menschheit. Und das weiß der ehrwürdige Vater nur zu genau. Ich habe einmal halb im Scherz gesagt, dass der Geist von Bestesbulzibar vielleicht in einer viel gefährlicheren Gestalt weiterlebt. Das war eigentlich im übertragenen Sinn gemeint. Aber jetzt, nachdem sich dieser Kampf zwischen mir, Pony und den anderen Anhängern Avelyns und der Kirche – Vater Markwarts Kirche – verschärft hat, frage ich mich langsam, ob sich der Geist von Bestesbulzibar nicht wirklich in den Herzen einiger Menschen eingenistet hat. Ist der teuflische Erzfeind nicht mitten unter uns? Und wenn, werden die guten, gottgefälligen Menschen am Ende die Oberhand gewinnen, oder wird die Menschheit sich von schönen Worten einlullen lassen, angereichert mit ein bisschen Wahrheit, aber im Grunde aus lauter Lügen bestehend? Vielleicht ist Hoffnung manchmal trügerisch. ELBRYAN WYNDON
11. Machtprobe
Als er sich dem nördlichen Stadttor von Palmaris näherte, dämpfte nur sein Zorn die Angst vor der Reaktion des ehrwürdigen Vaters, wenn dieser erfahren würde, dass der Nachtvogel dem Bischof entkommen war. Die Wachen, die ihn nicht erkannten, wollten ihn anhalten, doch er starrte sie so durchdringend an, dass sie unsicher wurden. Schließlich kam ein Soldat hinzu, der den Bischof kannte, erschrak und begleitete den aufgebrachten De’Unnero in die Stadt. Auf dem Wege nach Chasewind Manor erzählte er ihm, was sich inzwischen zugetragen hatte: vom Attentat auf den ehrwürdigen Vater, von den Gerüchten über ständige Auseinandersetzungen zwischen König Danube – der im Haus von Aloysius Crump untergebracht war – und dem Abt, der in dem luxuriösen Chasewind Manor residierte, und auch, zu De’Unneros entschiedenem Verdruss, von der zunehmenden Beliebtheit, der sich der neue Bischof, Francis Dellacourt, bei der Bevölkerung erfreute. Er verschwand im Herrenhaus und stürmte, ohne sich überhaupt anmelden zu lassen, auf die verglaste Veranda, wo Vater Markwart gerade sein Frühstück einnahm, Bruder Francis – oder war es nun Meister, Abt oder Bischof Francis? – an seiner Seite. »Ich seh dir schon von weitem an, dass dir dieser Nachtvogel entwischt ist«, meinte der Abt mit triefendem Sarkasmus in der Stimme. Einen Tag nach seinem unerwarteten Treffen mit König Danube in St. Precious, am Morgen, nachdem er Jill auf dem Feld vor der Stadt aufgelauert hatte, war er hier
eingezogen, denn ihm war klar geworden, dass sonst der König dieses Haus mit Sicherheit zu seiner Residenz gemacht hätte. »Ich hatte ihn schon«, erwiderte De’Unnero wütend. »Oben in den Wilderlanden, weit nördlich der Waldlande, auf dem Weg zum Barbakan.« »Zum Barbakan?«, echote Francis ungläubig und gab damit genau Markwarts Empfindungen wieder, auch wenn der alte Abt sich nichts anmerken ließ. »Ohne seine Freunde hätte ich ihn erledigt«, fuhr De’Unnero fort. »Ich habe ihn im offenen Zweikampf herausgefordert, und ich bin der Stärkere.« »Trotzdem läuft er immer noch frei herum«, meinte Markwart trocken. De’Unnero nickte betreten. »Und was ist mit der Frau, dieser Jill?«, fragte der Abt nach kurzem Nachdenken. »Wahrscheinlich war sie eine von denen, die mich weggezerrt haben, bevor ich meine Beute in Sicherheit bringen konnte«, log De’Unnero. »Dann muss sie wirklich lange Arme haben, mein Freund, die von Palmaris bis in die Wilderlande reichen«, sagte Markwart. De’Unnero brauchte eine Weile, bis er begriff, was der andere meinte. Dann sah er ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Ihr habt sie gefunden?« Der Abt nickte lächelnd. »Wo ist sie?«, fragte De’Unnero blutgierig. »Ich quetsche alles aus ihr heraus, was Ihr wissen wollt, ehrwürdiger Vater, das verspreche ich…« »Wir haben sie noch nicht«, räumte Markwart ein. »Aber sie ist ausgeschaltet worden. Auch wenn sie noch im Besitz der Edelsteine ist, ich glaube nicht, dass sie uns noch gefährlich werden kann. Sie wird wahrscheinlich genug mit sich selbst zu tun haben. Wir müssen uns jetzt vor allem auf die Stadt
konzentrieren und den König besänftigen, der in diesem Augenblick sein Frühstück im Hause des Kaufmanns Crump einnimmt, den du hingerichtet hast. Aber währenddessen müssen wir Palmaris fest in den Griff bekommen.« Er forderte De’Unnero mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen, und winkte dem Mönch, der ihn bediente, dem Neuankömmling ein Frühstück zu bringen. »Die Lage in Palmaris hat sich verändert«, fuhr Markwart fort. »Ein Wachtposten am Stadttor hat mir erzählt, dass Ihr schwer verletzt worden seid«, sagte De’Unnero und bemühte sich, nicht auf die grässliche Narbe zu starren, die sich seitlich über Markwarts runzliges Gesicht zog. »Ein magischer Angriff, hat er gesagt, deshalb nehme ich an, dass die Frau etwas damit zu tun hat.« »Sie ist bereits für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen worden«, erwiderte Markwart. »Ich habe sie aufgespürt und zerschmettert, und genau wie bei deiner Sache im Norden haben nur ihre Freunde ihre endgültige Festnahme verhindert. Aber das haben wir bald, keine Sorge. Die Soldaten und die Mönche sind schon unterwegs. Diesmal entkommt sie uns nicht.« »Und dann holen wir uns die Steine zurück«, ließ sich Francis ziemlich einfältig vernehmen. Offensichtlich war ihm nicht ganz wohl in seiner Haut mit De’Unnero neben sich. »Es ist gut, dass du zurückgekommen bist«, stellte der Abt fest, als wäre ihm dies gerade erst eingefallen. »Obwohl ich wünschte, du hättest den Verräter gleich mitgebracht – was für ein Zeichen hätten wir damit setzen können.« »Das könnte man allerdings so oder so auslegen«, bemerkte Francis zaghaft. »O ja, es hängt alles von der Wahrnehmung ab«, pflichtete Markwart ihm bei. »Aber wenn wir den Mann oder seinen
Kopf hätten, würden wir das Ganze schon so aufziehen, dass die dummen Bauern begreifen würden, welche Gefahr Avelyns Anhänger für ihr Leben darstellen. Aber sei’s drum. König Danube wird sich uns nicht mehr in den Weg stellen, nach diesem Attentat auf mich und nachdem Bischof Francis hier so gut für Ruhe und Ordnung gesorgt hat. Ich habe ihn bei seinem Besuch auf die Probe gestellt, indem ich ihm erklärte, alle Edelsteine im gesamten Reich müssten konfisziert werden, und er hat mir nicht einmal widersprochen. Palmaris ist in unserer Hand, aber wir müssen klug und großzügig vorgehen.« De’Unneros dunkle Augen weiteten sich. Bischof Francis? Ruhe und Ordnung? Seine letzte Amtshandlung vor seiner Abreise war die Hinrichtung von Aloysius Crump gewesen! »Die Lage hat sich geändert«, sagte Markwart noch einmal. »Die Kirche ist jetzt der große Wohltäter unter der Leitung von Bischof Francis.« Er hob beschwichtigend die Hände, bevor De’Unneros zu dem erwarteten Protest anheben konnte. »Der Titel, den ich unserem jungen Bruder verliehen habe, sollte eigentlich nur vorübergehend sein, aber ich habe beschlossen, es dabei zu belassen. Ich habe bereits mit Abt Je’howith geredet, der ebenfalls in Palmaris ist, und er hat nichts dagegen einzuwenden.« De’Unnero starrte Francis feindselig an. »Du glaubst, dass du eigentlich den Titel verdient hast?«, fragte Markwart geradeheraus. »Ich habe nur meine Anweisungen befolgt«, erwiderte De’Unnero. Und erst jetzt wurde ihm langsam klar, dass Markwarts drastische Anweisungen, die öffentliche Hinrichtung von Crump eingeschlossen, nur die Vorbereitung dazu waren, ihn früher oder später wieder als Bischof abzusetzen. Markwart hatte ihn absichtlich so unbarmherzig agieren lassen, damit Francis hinterher um so mehr als Lichtgestalt dastehen würde.
»Voll und ganz«, bestätigte ihm Markwart mit breitem Lächeln. »Ich habe nichts an Bischof De’Unnero auszusetzen. Du warst genau das, was Palmaris in diesen finsteren und unsicheren Zeiten brauchte, aber die Lage hat sich geändert. Jetzt ist die Zeit gekommen für eine sanftere Hand, die der König nicht so ohne weiteres vom Tisch wischen kann.« »Das hattet Ihr von Anfang an so vor, nicht wahr?«, fragte De’Unnero. Francis rutschte in Erwartung eines Wutanfalls von Markwart nervös auf seinem Stuhl hin und her. Doch dieser nickte nur. »Es ging gar nicht anders.« »Und ich soll jetzt dafür büßen?«, meinte De’Unnero zähneknirschend. »Wie das?« Der frühere Bischof hob beschwörend die Hände und blickte um sich, als müsse er erst erklären, dass er schließlich alles verloren habe – seinen Titel und diese Stadt. Doch Markwart blieb völlig ungerührt. »Glaubst du etwa, ich würde dich nicht für deine Ergebenheit belohnen?«, fragte er lachend. »Mein Freund, es sind noch viele Rollen zu besetzen, und ich habe Dinge mit dir vor, die all deine Wünsche erfüllen werden, darauf kannst du dich verlassen. Da sich die Kirche jetzt auch an der weltlichen Regierung beteiligen wird, müssen wir mit vielen Gegnern rechnen. Mächtige Männer wie Herzog Targon Bree Kalas zum Beispiel, der ganz und gar nicht begeistert ist, dass die größte Stadt seines Herzogtums in die Hände der Kirche fällt. Ich bin alt und müde. Es könnte gut sein, dass ich einen Stellvertreter brauche. Und wer wäre da besser geeignet als Marcalo De’Unnero?« »Meister De’Unnero?«, fragte der Mann noch immer aufgebracht. »Oder einfach nur Bruder De’Unnero?« Markwart lachte schallend. »Abt von St. Precious«, verkündete er dann. »Bischof Francis muss sich schon um zu
viele Dinge kümmern. Er wird die rechte Hand der Regierung in Palmaris sein und du die rechte Hand der Kirche. Und ich verspreche dir, deine Befugnisse werden sich nicht auf diese eine Stadt beschränken.« »Und wer untersteht wem?«, fragte De’Unnero und betonte jedes einzelne Wort, während sein Blick Francis durchbohrte. »Der eine vertritt die Regierung, der andere die Kirche«, wiederholte Markwart. »Und beide unterstehen mir. Und damit genug der Streiterei. Wir haben einen gemeinsamen Gegner: König Danube Brock Ursal. Wir müssen ihn und seine Berater im Auge behalten, besonders diesen Kalas, der, wenn man Je’howith glaubt, kein einfacher Gegner ist. Kalas hat einmal die Allheart-Brigade angeführt und dafür zwei große Federn am Helm. Eine Abteilung dieser Eliteeinheit hat den König nach Palmaris begleitet, und auch wenn wir im Augenblick scheinbar alles in der Hand haben, genügt ein einziger Fehler, und dieser Emporkömmling hat die Möglichkeit, seine Macht zu demonstrieren.« Markwart sah die beiden Männer an, und sein eisiger Blick ließ Francis einen kalten Schauer über den Rücken laufen und stachelte De’Unneros Ehrgeiz an. »Wir müssen auf jede Möglichkeit vorbereitet sein«, sagte der ehrwürdige Vater grimmig.
»Er spielt mit Euch wie mit einer Marionette!«, brüllte Herzog Targon Bree Kalas. So hatte er noch nie zuvor mit seinem König geredet. Danubes Blick brachte den rasenden Mann wieder zu sich und erinnerte ihn an seine Stellung. »Und an welchem Faden gedenkt Ihr zu ziehen?«, fragte er ironisch. »Ich bitte um Vergebung, Majestät«, mischte sich Constance Pemblebury ein. »Ich glaube, der Herzog macht sich nur
Sorgen, dass die Krone in Schwierigkeiten geraten könnte.« Sie warf Kalas einen strengen Blick zu. »Ganz bestimmt wollte er Euch nicht beleidigen.« Da lachte Danube, und das löste ein wenig die Spannung. Sie konnten alle die Stimmung verstehen, die in der Stadt herrschte. Vater Markwart war inzwischen so etwas wie ein Volksheld geworden. In Verbindung mit der Arbeit von Francis, der sich als großzügiges Oberhaupt gezeigt hatte, schwächte das die Position des Königs erheblich für den Fall, dass er die Absicht hätte, den Bischofstitel wieder abzuschaffen. »Ihr habt es einfach so hingenommen, dass er sämtliche magischen Steine einziehen will«, hielt ihm Herzog Kalas vor. »Das wird der Kirche ungeahnte Macht verleihen, und die Krone wird völlig ins Hintertreffen geraten.« »Ich habe dem ehrwürdigen Vater neulich nur aus Rücksicht auf seinen heiklen Gesundheitszustand nicht widersprochen«, erwiderte der König und schien zu Constance Pembleburys Erleichterung kein bisschen verärgert. »Seine Äußerung bei dieser inoffiziellen Unterredung hat keinerlei Gewicht. Und selbst wenn er seine Ankündigung wahrmachen sollte, könnte er in Ursal doch nie eine solche Position erlangen – oder in Entel oder irgendeiner anderen Stadt im Süden, wo die Kirche nicht annähernd denselben Einfluss hat wie hier oben in dieser unwirtlichen Gegend.« »Aber hier in Palmaris, wo das Attentat verübt wurde, das er wundersamerweise überlebt hat, ist er ein mächtiger Gegner«, meinte Constance. Das leuchtete sogar dem sichtlich enttäuschten Kalas ein. »Wie wahr, wie wahr«, erwiderte König Danube. Und zwar mehr, als Constance oder Kalas ahnen konnten, sagte er sich eingedenk des nächtlichen Besuchs, den ihm Markwarts Geist seinerzeit in Ursal abgestattet hatte.
»Die Kutsche ist vorgefahren, Majestät!«, meldete Danubes Lieblingsleibwächter. »Eigentlich müsste er zu uns kommen«, knurrte Kalas, »und wir müssten in Chasewind Manor wohnen und nicht hier.« Danube und Constance überhörten seinen Einwand, griffen nach ihren Mänteln und begaben sich eilig zur Tür. Am Eingang des Herrenhauses kam ihnen Abt Je’howith entgegen. Der alte Mann schien bester Laune und empfing den König mit einem breiten Lächeln und einem freundschaftlichen Schulterklopfen. »Bischof De’Unnero ist heute Morgen nach Palmaris zurückgekehrt«, teilte er dem König mit. »Er sitzt mit dem ehrwürdigen Vater und Bruder – Meister Francis Dellacourt am Tisch, der nach dem Willen des ehrwürdigen Vaters eine bedeutende Rolle für die weitere Entwicklung von Palmaris spielen wird.« »De’Unnero!«, zischte Herzog Kalas. »Dem sollte ich den Kopf abhacken.« Abt Je’howith nickte nur lächelnd, denn er wollte darüber nicht streiten. Außerdem war er sicher, dass der gefährliche Mönch den Herzog in Stücke reißen würde, sollte dieser jemals versuchen, seine Drohung wahr zu machen. Die Soldaten des Königs hatten ja keine Ahnung, dachte der alte Abt, während er den König und sein Gefolge in den Empfangssaal geleitete. Ein Mann konnte im Heer bis in die höchsten Ränge aufsteigen und es sogar bis zum Anführer der Allheart Brigade bringen und war doch immer noch weit davon entfernt, sich mit einem Bruder Richter messen zu können, ganz zu schweigen von einem wie De’Unnero! Als er den König und seine Begleiter hineinführte, saßen Markwart, De’Unnero und Francis am einen Ende eines langen Eichentisches. Diese Sitzordnung war kein Zufall, wie Abt Je’howith sofort bemerkte. Der ehrwürdige Vater hatte natürlich einen Platz an der Stirnseite des Tisches für König
Danube frei gelassen, doch unglücklicherweise lag dieser gegenüber dem östlichen Fenster, so dass der König von der Morgensonne geblendet wurde. An den Längsseiten standen je drei leere Stühle, und Constance Pemblebury und Herzog Kalas beeilten sich, die beiden zur Rechten und Linken des Königs einzunehmen. Abt Je’howith starrte die vier leeren Stühle an und wunderte sich, dass Markwart so viele hatte aufstellen lassen, obwohl er genau wusste, dass König Danube nur in Begleitung seiner beiden Berater kommen würde. Doch dann begriff er auch diesen Schachzug und sah den ehrwürdigen Vater mit großem Respekt an. Man wollte ihn auf die Probe stellen: Wo würde sich Je’howith hinsetzen, in die Nähe des Königs oder zu Markwarts Vertrauten? Mit einem nervösen Blick auf König Danube nahm er Platz – unmittelbar neben De’Unnero. Kalas schnaubte verächtlich. Die Fronten waren gezogen. »Ich will gleich zur Sache kommen«, unterbrach der König die Begrüßungsfloskeln des ehrwürdigen Vaters. »Ich bin hier, um mich davon zu überzeugen, dass meine Untertanen anständig behandelt werden und die Stadt ordentlich verwaltet wird.« Markwart sah den Mann an. Die Sonne in seinem Rücken sorgte für eine besonders imposante Erscheinung. »Kennt Ihr Bischof De’Unnero?«, fragte er mit einer Handbewegung nach rechts. Kalas und der Mönch durchbohrten sich mit Blicken. Die offenkundige Loyalität ihren jeweiligen Vorgesetzten gegenüber machte sie unwillkürlich zu Rivalen. »Und das ist Francis Dellacourt«, fuhr Markwart fort und streckte die linke Hand aus. »Bis heute Morgen hatte Bruder Francis das Amt des Obermeisters von St. Precious inne, aber
ich habe beschlossen, ihn jetzt zum Bischof von Palmaris zu befördern.« Vom anderen Ende des Tisches trafen ihn verwunderte Blicke, und selbst Je’howith war erstaunt, denn man hatte ihm nichts davon gesagt, was Markwart mit dem jungen Bruder Francis vorhatte. »Der Bischof sitzt rechts neben Euch, Ihr habt ihn selbst ernannt«, sagte König Danube. »Der frühere Bischof«, meinte Vater Markwart. »Meister De’Unnero hat Palmaris in dieser Funktion gute Dienste geleistet…« Herzog Kalas schnaubte noch einmal vernehmlich. »Denn die Stadt befand sich in völligem Aufruhr«, fuhr Markwart unbeeindruckt fort. »Aber das ist jetzt vorbei. Und deshalb wird er Abt von St. Precious.« Constance Pemblebury sah den König an, und dieser erteilte ihr mit einem leichten Kopfnicken das Wort. »Ist der Bischof von Palmaris nicht gleichzeitig Abt von St. Precious?«, fragte sie und sprach damit die Frage aus, die allen vieren auf der Zunge lag. Ihre Stimme klang beunruhigt und ließ vermuten, dass auch die anderen die Entwicklung mit wachsender Sorge beobachteten. Wollte Markwart etwa gleich zwei mächtige Kirchenvertreter in Palmaris haben? »Ich habe mir viel für St. Precious vorgenommen«, erklärte Markwart. »Die Wiedererschließung der nördlichen Gemeinden und der Waldlande erfordert große Aufmerksamkeit von Seiten der Kirche. Bischof Francis wird keine Zeit haben, sein Augenmerk nach Norden zu richten, während es in Palmaris noch so viele Dinge zu erledigen gibt.« König Danube lehnte sich zurück, um die überraschende Mitteilung zu verdauen. »Vielleicht ist es dann wieder Zeit für einen Abt und einen Baron«, sagte er, und Kalas grinste breit, denn darauf hatte er schon lange gewartet.
»Vielleicht auch nicht«, erwiderte der ehrwürdige Vater, ohne mit der Wimper zu zucken. Auf Seiten des Königs war unbehagliches Füßescharren zu hören. Der ehrwürdige Vater hatte dem Monarchen offen widersprochen! »Ehrwürdiger Vater«, hob der König ruhig, aber bestimmt an, »ich habe mich seinerzeit einverstanden erklärt, probeweise einen Bischof einzusetzen. Nach allem, was ich gehört habe, hat er jämmerlich versagt.« »Dann habt Ihr nicht genug gehört«, erwiderte Markwart. »Wollt Ihr Euer Urteil etwa anhand der ersten paar Wochen fällen, wo die Stadt sich in heillosem Durcheinander befand?« »Ihr übertreibt«, meinte König Danube. Nun beugte sich Markwart über den Tisch und hielt ihm sein Gesicht so hin, dass er die grässliche Narbe sehen konnte. »Wirklich?«, schrie er. Kalas sprang auf und sah De’Unnero an, doch dieser blieb ganz ruhig sitzen. »Das allein ist Beweis genug, dass die heiligen Edelsteine nicht in die Hände von Narren gehören«, psalmodierte der ehrwürdige Vater. Der König lehnte sich zurück und versuchte, Ruhe zu bewahren. »Hat nicht der ehrwürdige Vater selbst diesen ›Narren‹ die Steine verkauft?«, fragte er. »Eure Worte stehen in krassem Gegensatz zu Eurem Verhalten, ehrwürdiger Vater, und darum haben wir hier eine schwierige Situation. Ich kann es mir nicht leisten, die gesamte Kaufmannsgilde zu verärgern.« Jetzt durchbohrte Markwart ihn mit demselben vernichtenden Blick wie seinerzeit der Geist, und der König schrumpfte förmlich zusammen. Aber er war schließlich der König, und so ließ er nicht locker. »Mein lieber ehrwürdiger Vater«, sagte er und gab sich alle Mühe, das Zittern in seiner Stimme zu
unterdrücken, »ich kann keine vernünftigen Beziehungen zu Behren unterhalten, noch kann ich die Bedürfnisse der wichtigen Kaufmannsfamilien befriedigen – die das Bärenreich mit so vielen lebenswichtigen Gütern versorgen –, während Ihr diese Leute hier verfolgt. Das werde ich nicht hinnehmen, ehrwürdiger Vater. Das kann ich nicht hinnehmen!« »Die größte Gefahr droht der Krone von Seiten derer, die die Steine in ihrem Besitz haben«, warf De’Unnero ein. »Von Leuten aus dem Volke, die solcher heiligen Gottesgeschenke nicht würdig sind und nicht mit dieser Verantwortung umzugehen wissen.« Markwart, der dem König gerade eine Antwort geben wollte, schluckte diese herunter und warf De’Unnero einen verärgerten Blick zu, denn es stand diesem ganz und gar nicht zu, hier seine Meinung abzugeben. Aber er wollte keinerlei Unfrieden in den eigenen Rängen, und so ließ er ihn gewähren. »Es sind die Anhänger des Ketzers Avelyn Desbris, und Ihr könnt sicher sein, sie werden sowohl die Kirche als auch die Regierung zerstören«, fuhr der Mönch fort. »Es war einer von ihnen, der das Attentat auf den ehrwürdigen Vater verübt hat – und Ihr könnt Euch darauf verlassen, sie werden es auch noch bei König Danube versuchen.« »Der König ist gut geschützt«, sagte Herzog Kalas und setzte sich wieder. Diesmal sah König Danube seinen Berater verärgert an. Doch dann stützte er sein Kinn in die Hände, und Markwart machte es sich wieder auf seinem Stuhl bequem, und sie wirkten beide eher belustigt als ärgerlich. »Fahrt bitte fort, Herzog Kalas«, sagte Danube. »Und Ihr auch, Abt De’Unnero«, fügte Markwart hinzu. »Ihr habt keine Vorstellung, welche Macht diese Jünger des Ketzers haben, und das kann Euch leicht vom Thron stürzen«, sagte Letzterer, bevor ihm Kalas ins Wort fallen konnte.
Herzog Kalas fuhr erneut von seinem Stuhl hoch und beugte sich drohend über den Tisch, doch Constance hielt ihn am Arm zurück. »Erzählt mir von ihnen«, forderte der König De’Unnero auf. Markwart warf diesem einen Blick zu, der besagte, er solle sich in Acht nehmen. Schließlich ging es um den König und den Niedergang der Monarchie, damit war nicht zu spaßen. »Der Anführer der Bande, ein äußerst gefährlicher Krieger namens Nachtvogel, treibt im Norden sein Unwesen. Zur Zeit ist er am Barbakan und trommelt zweifellos die Ungeheuer zusammen, um sie diesmal selbst ins Feld zu führen«, erklärte der neue Abt von St. Precious. »Das hätte alles noch verhindert werden können, denn ich hatte ihn bereits erwischt – zusammen mit seinen Verschwörern. Ich hätte sie alle an Ort und Stelle getötet oder nach Palmaris gebracht, und man hätte ihnen öffentlich den Prozess gemacht unter dem gemeinsamen Vorsitz des Königs und des ehrwürdigen Vaters, die dem geschundenen Volk so ihr Bündnis hätten vor Augen führen können.« »Geschunden«, echote Herzog Kalas schnaubend, um die Ironie deutlich zu machen, die dieser Begriff aus dem Munde eines solchen Tyrannen beinhaltete. »Das kann man wohl sagen.« Doch König Danube war nicht in der Stimmung für Kalas’ Scherze, denn er spürte, dass De’Unnero ein ernst zu nehmender Gegner war. »Ihr sagt, Ihr hattet sie bereits«, sagte er zu De’Unnero. »Und trotzdem konntet Ihr sie nicht festnehmen?« »Nein«, musste De’Unnero zugeben. »Dieser Nachtvogel und seine Bande laufen immer noch frei herum – und alles nur, weil Soldaten der Krone pflichtvergessen gehandelt haben.« »Wenn einer meiner Soldaten einen Fehler gemacht hat…«, hob der König an.
»Einen Fehler?«, wiederholte De’Unnero empört, was ihm einen strafenden Blick vom König eintrug, der es nicht gewöhnt war, unterbrochen zu werden, und einen zweiten von Markwart, der ihn erneut warnend ansah. »Der Kommandant und seine Soldaten haben keinen Fehler gemacht, Majestät«, erklärte De’Unnero. »Im entscheidenden Augenblick, als man den Aufstand hätte niederschlagen können, haben sie die Krone verraten.« Bei dieser Erklärung hob der König erstaunt den Kopf, und Herzog Kalas wurde sichtlich ruhiger, denn was zunächst wie die Aufschneiderei eines Geltungssüchtigen gewirkt hatte, bekam nun auf einmal großes Gewicht. »Es ist so«, fuhr De’Unnero fort und funkelte Herzog Kalas böse an. »Ich hatte den Nachtvogel da oben im Norden in die Falle gelockt, aber ein Hauptmann der Kingsmen und seine dummen Soldaten weigerten sich, meinen Befehl auszuführen. Jawohl, sie haben sich auf die Seite des Aufrührers geschlagen und ihrem rechtmäßigen Befehlshaber, dem Bischof von Palmaris von Königs und des ehrwürdigen Vaters Gnaden abgeschworen.« »Ein Titel, der Euch nicht mehr zusteht«, erinnerte ihn Kalas spitz. »Zu diesem Zeitpunkt war ich für Hauptmann Kilronney und seine Soldaten der Bischof«, erwiderte De’Unnero unnachgiebig. Er wusste, dass er damit beim König einen wunden Punkt traf. »Trotzdem hat sich mir dieser Hauptmann der Kingsmen widersetzt. Er ist Schuld daran, dass der gefährlichste Mann auf der ganzen Welt immer noch da oben frei herumläuft.« »Während seine Mitverschwörer in Palmaris ihr Unwesen treiben«, fügte Markwart hinzu. Er bedachte den früheren Bischof mit einem beifälligen Nicken. De’Unnero hatte seine
Rolle perfekt gespielt und das Blatt geschickt zugunsten des ehrwürdigen Vaters gewendet. Und so ging es den restlichen Vormittag weiter. Markwart führte in allen Einzelheiten die angeblichen Gefahren in Palmaris aus: die Untergrundbewegung der Behreneser und die Attentäterin Jill, die Komplizin des Nachtvogels und Anhängerin von Avelyn Desbris, die sich auch noch auf freiem Fuß befand. Der König saß da und hörte zu und wies Kalas jedes Mal ungeduldig zurecht, wenn dieser Markwart unterbrechen wollte. Auf der Rückfahrt zum Hause Crump waren alle drei sehr schweigsam. Sie wussten genau, dass Markwart an diesem Tage triumphiert hatte. De’Unneros Erklärung, dass ein Offizier der Krone einem Komplizen des Attentäters geholfen hatte, hatte Markwart einen wichtigen Vorteil verschafft, und diesen Vorteil hatte er für den Rest der Unterredung nicht mehr aus der Hand gegeben.
In Chasewind Manor hörte Je’howith aufmerksam zu, als Markwart De’Unnero beglückwünschte. »Du hast heute Fähigkeiten an den Tag gelegt, die ich nicht vermutet hätte«, meinte Vater Markwart und nickte beifällig. Dabei klopfte er dem anderen sogar anerkennend auf die Schulter. »Genug, dass Ihr mich wieder als Bischof von Palmaris einsetzt?«, fragte De’Unnero und heftete seinen verschlagenen Blick auf Francis. »Nein«, sagte Markwart schnell. »Die Bedeutung dieser Position ist jetzt stark herabgesetzt. Der Bischof wird nicht viel mehr zu tun haben, als die Massen und die impertinenten Kaufleute zu besänftigen. Eine ausgesprochen lästige Aufgabe,
bei der die Fähigkeiten eines Marcalo De’Unnero vergeudet wären.« Das entlockte De’Unnero ein breites Grinsen, während Francis zusammenzuckte. »Nein, mein Freund und Stellvertreter«, gurrte Markwart. »Wir haben ganz andere Dinge vor.« Das Vertrauen war nicht ganz unbegründet, dachte Abt Je’howith. Und gleichzeitig fürchtete er es auch, denn man ließ ihn überraschend links liegen bei dieser Unterhaltung, wie einen Zuschauer bei einer Siegesfeier, nichts weiter. Doch der kluge alte Mann schluckte seinen Ärger hinunter und sagte sich, dass er hier immer noch besser aufgehoben war als bei dem jähzornigen Kalas und dem nervösen König. Ihm war klar, dass Markwart heute den Sieg davongetragen und die Kirche in Palmaris die Oberhand gewonnen hatte. Bald darauf trennten sie sich, und Abt Je’howith zog sich in das Zimmer zurück, das ihm Francis in St. Precious zugewiesen hatte, um nachzudenken. Er wollte auf der Seite des Siegers stehen, ganz gleich, wessen Seite das sein würde. Er hatte sich vorgenommen, sich neutral zu verhalten und weder den ehrwürdigen Vater noch den König zu verärgern. Und jetzt neigte er immer mehr zu Markwart, denn es wurde ihm schmerzlich bewusst, dass der ehrwürdige Vater der Mächtigere war.
12. Meilenweit entfernt
Sie war lange genug wach gewesen, um zu begreifen, dass das Kind nicht mehr da war. Nun hätte sie eigentlich wieder in heilsamen Schlaf sinken sollen, denn ihr Körper war entsetzlich zugerichtet, doch sie konnte nicht mehr einschlafen, und so starrte sie benommen in die Finsternis des Frachtraums. Als Colleen Kilronney wenig später nach ihr sah, nahm sie die Frau kaum wahr. »Gut, dass du aufgewacht bist«, sagte Colleen. Keine Antwort. »Diese Bestie!«, fauchte die Soldatin. »Von wegen ehrwürdiger Vater, ha! Eine Ausgeburt der Hölle ist das, und ich werd’s ihm heimzahlen, diesem Teufel, verlass dich drauf!« Wieder keine Antwort. »Und mein eigener Cousin«, fuhr Colleen fort. »Hauptmann der königlichen Brigade. Außenrum piekfein und nobel, und innen drin so verkommen wie der elende Bischof. Aber das wird er mir noch büßen!« Doch Pony nahm nicht einmal Notiz von ihr, und so gab sie es auf und ging wieder. »Sie ist bestimmt in keiner guten Verfassung«, sagte die rothaarige Frau, als sie zu Belster und Kapitän Al’u’met in die Kapitänskajüte trat. »Dieser Teufel hat ihr das Kind genommen, und diese Wunde wird nicht so schnell heilen.« »Ich hab ihr ja gesagt, sie soll sich nicht mit ihm anlegen«, fuhr Belster dazwischen. »Sie hatte triftige Gründe«, sagte Al’u’met.
»Keine Frage«, erwiderte der Wirt. »Aber man kann keinen Krieg anfangen, wenn man keine Chance hat zu gewinnen. Er ist einfach zu mächtig, genau wie der Bischof.« »Das heißt aber nicht, dass sie im Unrecht war«, widersprach ihm der Kapitän. »Nicht im Unrecht, aber auf jeden Fall leichtsinnig«, meinte Belster und wandte sich ab. Er wusste, dass er den Behreneser nicht überzeugen konnte, aber deshalb würde er seine Meinung doch nicht ändern. »Vielleicht glaubt Ihr ja nur, dass ihre Sache es nicht wert war«, meinte Al’u’met direkt. Belster zuckte zusammen. Er wusste, dass er dem Behreneser nichts entgegenzusetzen hatte. Vielleicht hätte er sich ja wirklich eifriger für die von der Kirche verfolgten Leute eingesetzt, wenn es seine eigenen Landsleute gewesen wären. Zuerst dachte er daran, den Kapitän einfach zu überhören, doch dann dachte er an Pony und sagte sich, dass es Zeit war, den Dingen ins Auge zu schauen. Er sah Al’u’met an. »Vielleicht habt Ihr Recht«, sagte er. »Ich habe mir, wie viele in Palmaris, nie besonders viel aus Euresgleichen gemacht, Kapitän Al’u’met.« »Pony wäre begeistert, wenn sie uns jetzt hören könnte«, meinte Colleen trocken. Die beiden starrten sich nur stumm an und gingen nicht auf ihre Bemerkung ein. Das war kein Machtkampf, sie versuchten lediglich beide, den anderen richtig einzuschätzen. Al’u’met brach das Schweigen als Erster und lachte leise. »Nun, Master O’Comely, dann müssen wir Euch wohl einmal Gelegenheit geben, uns besser kennen zu lernen.« Belster nickte lächelnd. Vielleicht sollte er sich diese Leute endlich einmal etwas genauer ansehen. Doch das musste vorläufig noch warten, denn in diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Pony stand mit
gequältem Blick auf der Schwelle. »Ich muss zu Eibryan«, sagte sie tonlos. »Er ist oben im Norden«, erwiderte Belster und beeilte sich, sie festzuhalten, denn sie sah aus, als würden sie jeden Moment die Kräfte verlassen. Pony schüttelte den Kopf. »Ich muss zu Eibryan«, wiederholte sie unbeirrt, als spielte die Entfernung überhaupt keine Rolle. »Jetzt gleich.« Belster sah erst sie und dann Colleen und Al’u’met an. »Du machst dich, Mädchen«, sagte Colleen. »Ich bring dich zu deinem Liebsten in den Norden.« »Colleen…«, wollte Belster protestieren, doch Al’u’met fiel ihm ins Wort. »Ich kann die beiden zu Wasser in Richtung Norden bringen«, sagte er. »Was reden wir denn hier für einen Unsinn?«, wollte Belster wissen. »Sie wäre eben noch beinahe umgebracht worden, und da wollt ihr sie auf so eine weite Reise schicken, wo der Winter noch nicht mal vorbei ist?« »Denkst du vielleicht, sie ist in Palmaris sicherer?«, erwiderte Colleen. »Sie soll lieber zu ihrem Freund gehen, als hier zu bleiben, bis Markwart sie findet.« »Ich habe selber einen Mund zum Reden«, sagte Pony kühl, »und treffe meine eigenen Entscheidungen. Ich ruhe mich noch ein oder zwei Tage aus, länger nicht. Dann gehe ich zu Eibryan, ganz egal, was ihr euch ausdenkt.« Und damit machte sie auf dem Absatz kehrt. »Also, ich gehe auf jeden Fall mit«, sagte Colleen, immer noch kochend vor Wut. »Ich muss meinem Vetter Shamus einen Besuch abstatten, den er garantiert nie vergessen wird!« Belster und Al’u’met tauschten viel sagende Blicke. Sie wussten beide, wie gefährlich es im Augenblick in Palmaris
war, und befürchteten, es könne womöglich noch schlimmer werden. Es war keine richtige Hütte, nur ein paar aufeinander geschichtete Steine, die sie mit Gestrüpp abgedeckt hatten. Ein weiterer Sturm hatte den Barbakan etliche Fuß hoch im Schnee versinken lassen, und die Bergstraßen nach Süden waren jetzt praktisch unpassierbar geworden. Doch ihr provisorischer Unterschlupf auf dem Felsplateau neben Avelyns Grab brauchte nicht viel auszuhalten, denn weder der Winter noch die Goblins konnten ihnen hier noch irgendetwas anhaben, und so ging es allen hier Versammelten – ob Mensch, Elf, Zentaur oder Pferd – zusehends besser. Die Soldaten, die im Kampf mit den Goblins schwere Verletzungen davongetragen hatten – selbst der Mann, der schon im Sterben gelegen hatte –, und auch Bradwarden erholten sich schnell, und Tiel’marawee war inzwischen völlig wieder hergestellt. Eibryan konnte sich das alles nicht recht erklären, und auch die anderen redeten einfach nur von einem Wunder. Und während er sich freute, dass sie alle noch am Leben waren, starrte Eibryan viele Stunden lang gedankenverloren auf die verschneiten Straßen nach Süden und dachte an Pony und ihr ungeborenes Kind. »Kurz nach Frühlingsanfang, schätze ich«, hatte er Bradwardens Frage beantwortet, wann denn das Kind geboren werden würde. »Bis dahin liefern wir dich schon dort ab«, meinte der Zentaur zuversichtlich. Dabei konnten sie die sechshundert Meilen bis nach Palmaris kaum rechtzeitig bewältigen, wenn sie nicht in den nächsten zwei Wochen vom Barbakan wegkamen – und daran glaubte eigentlich keiner von ihnen. Und so konnte Eibryan nur dastehen und vor sich hinstarren und hoffen, dass es seiner Liebsten gut ginge und das Kind gesund zur Welt kommen würde. Er konnte ja nicht wissen, dass sie ihr Kind bereits verloren hatte.
»Ich empfehle mich«, sagte Tiel’marawee und wollte an den beiden vorbeigehen. »Der Schnee liegt höher als ein großer Elf«, erklärte Bradwarden. Tiel’marawee zog eine Grimasse. Schnee war für die leichtfüßige Touel’alfar noch nie ein Hindernis gewesen. »Wo willst du hin?«, fragte der Hüter interessiert. »Nach Palmaris?« »Ich muss Lady Dasslerond vor Bischof De’Unnero warnen«, erklärte das Elfenmädchen. »Und wahrscheinlich finde ich sie dort.« »Ich komme mit«, sagte der Hüter plötzlich. Die Elfe schnaubte verächtlich. »Du kommst ja mit deinem Pferd gar nicht durch«, sagte sie. »Du würdest es nicht einmal von diesem Plateau herunterkriegen.« »Ich gehe zu Fuß.« »Ich hab aber keine Zeit, auf dich zu warten, Hüter«, erwiderte Tiel’marawee abweisend. Und damit hüpfte sie von dem Felsplateau herab und flatterte mit den Flügeln, um auf einem Vorsprung dreißig Fuß unter ihnen zu landen. Eibryan würde über eine halbe Stunde brauchen, um dort anzukommen. Sie sah sich nicht einmal mehr um. »Du wirst sie schon irgendwann Wiedersehen«, sagte Bradwarden tröstend, als die Elfe davonsprang und im Schatten des Bergmassivs verschwand. »So bald bestimmt nicht«, erwiderte Eibryan. »Und was ist mit denen da?«, fragte der Zentaur mit einer Kopfbewegung in die Richtung der Soldaten und Mönche. »Ich glaube, Bruder Braumin und die anderen wollen hier bleiben«, erwiderte der Hüter. »Roger wird mich sicher begleiten.«
»Warm und sicher ist es ja hier oben«, meinte der Zentaur. »Allerdings werden sie es nicht leicht haben, hier irgendwo etwas Essbares zu finden.« »Ich bin nicht sicher, was Shamus und die Soldaten vorhaben«, musste der Hüter zugeben. »Ich bezweifle, dass sie es wagen würden, nach Palmaris zurückzukehren – jedenfalls solange sie nicht von irgendeinem anderen Abgesandten des Königs oder des ehrwürdigen Vaters etwas über ihre Lage erfahren haben.« »Was gibt’s da schon groß zu erfahren?«, sagte der Zentaur. »Wenn sie zurückgehen, hängt man sie auf. Oder verbrennt sie. Diese Mönche scheinen ja ganz wild aufs Verbrennen zu sein.« »Shamus muss selber wissen, was er tut«, sagte der Hüter achselzuckend. »Mein Weg führt jedenfalls zu Pony.« »Da wird sie aber froh sein«, sagte Bradwarden. »Meinst du wirklich?« Die Frage verblüffte den Zentauren – bis ihm einfiel, was ihm Tiel’marawee über Eibryans Empfindungen erzählt hatte, als er erfuhr, dass Pony ein Kind von ihm erwartete. »Sie ist das tapferste Mädchen, das ich je gesehen habe«, meinte der Zentaur. »Erst recht, wenn sie schon wusste, dass sie schwanger war, als sie von dir fortging.« Eibryan sah ihn irritiert an. »Sie wusste ganz genau, dass du einen anderen Weg vor dir hattest, mein Junge«, erklärte Bradwarden. »Wusste, dass du deinen Weg gehen musstest und sie ihren.« »Du tust ja gerade so, als hätte sie es dir auch erzählt«, sagte der Hüter vorwurfsvoll. »Hast du wirklich eine so schlechte Meinung von ihr?«, erwiderte der Zentaur. »Du solltest sie eigentlich besser kennen und wissen, dass sie alles, was sie je getan hat, stets dir zuliebe tat.«
Dem konnte Eibryan nicht widersprechen. Und während er darüber nachdachte, was Pony alles in den letzten paar Monaten durchgemacht hatte, verflog sein Zorn zum größten Teil. Er wollte noch immer so schnell wie möglich von hier fort und auf die Straße nach Süden, doch nun trieb ihn die Angst um Pony.
Getreu seinem Wort ließ Kapitän Al’u’met die Saudi Jacintha am nächsten Tag trotz stürmischer See auslaufen. Kurz nachdem das Schiff den Hafen verlassen hatte, gingen Pony und Colleen Kilronney an Deck, gerade noch rechtzeitig, um die einsame Gestalt von Belster O’Comely am Kai stehen zu sehen, der ihnen traurig hinterher schaute. »Ich glaube, du hast ihm das Herz gebrochen«, meinte Colleen. »Könnte es sein, dass du deine Rolle als seine Ehefrau ein bisschen zu lebensecht gespielt hast?« Doch ihr Versuch, Pony ein wenig aufzuheitern, ging ins Leere. Sie antwortete nicht, sondern stand nur am Schanzkleid und starrte auf die hinter ihnen liegende Stadt. Sie wusste nicht, ob sie jemals hierher zurückkehren würde – ob sie es überhaupt wollte. Noch immer hatte sie das Bedürfnis, sich an Markwart zu rächen, mehr denn je sogar, aber sie fühlte sich so hilflos. Er hatte sie geschlagen, und jetzt wollte sie nur noch in Eibryans Armen sein und weit weg von diesem elenden Palmaris. »Master O’Comely hat nur Angst um Euch«, meinte Kapitän Al’u’met und trat zu den beiden. »Er hat nichts dagegen, dass Ihr Palmaris verlasst, er macht sich nur Sorgen, dass Ihr noch nicht wirklich reisetüchtig seid, zumal die Möglichkeit besteht, dass der Winter noch einmal zurückkehrt.« »Er macht sich unnötig Sorgen«, erwiderte Pony leicht unterkühlt. »Schließlich habe ich jahrelang direkt an der
Grenze der Zivilisation gelebt. Soll ich mich etwa mehr vor dem Winter fürchten als vor den Abellikanern?« »Ihr solltet beide nicht unterschätzen«, meinte der Kapitän. »Aber macht Belster O’Comely keinen Vorwurf. Ich finde, er ist ein feiner Kerl.« »Das ist er wirklich«, gab Pony zu. »Und Ihr könnt mir glauben, ich mache mir auch Sorgen um ihn. Er bleibt in Palmaris, und ich fürchte, dort ist es viel gefährlicher als in den entlegensten Ecken der Wilderlande.« In diesem Punkt konnte ihr niemand widersprechen. Kapitän Al’u’met setzte Pony und Colleen mit ihren Pferden im Norden der Stadt an Land, wünschte ihnen Glück und versprach, auf Belster und die anderen aufzupassen. »Er wünscht sich nur eins, und das ist Frieden«, meinte Pony, als die beiden sich auf einem matschigen Pfad in Bewegung setzten. »Schätze, den können wir alle gebrauchen«, erwiderte Colleen. »Ein schöner Friede mit Markwart und De’Unnero an der Macht«, sagte Pony. Colleen beließ es dabei, denn sie wusste, dass sie sich nur immer mehr in Rage reden würden, wenn sie so weitermachten. Die Soldatin hasste die Kirchenoberen, die für den Tod ihres geliebten Barons verantwortlich waren, mindestens ebenso sehr wie Pony. Und wie sie sich wünschte, deren Anschlag auf den elenden Markwart wäre erfolgreich gewesen! Aber es war nun einmal nicht so, und sie hoffte, dass auch Pony das einsehen würde. Wenn es zum Kampf käme, würde Colleen erbarmungslos angreifen und hoffen, dass sie ihren eingebildeten Vetter noch erwischen konnte, ehe sie und ihre Mitstreiter unweigerlich untergingen. Doch im Gegensatz zu Pony war sie sich nicht so sicher, ob sie diesen Kampf wirklich
wollte – jetzt, wo sie gesehen hatte, wie mächtig Markwart war, und von den Soldaten in Chasewind Manor und im Hause von Aloysius Crump wusste, dass der Abt den König in der Hand hatte. Nein, Colleen war völlig klar, dass zur Zeit kein Aufstand der Bevölkerung irgendeine Aussicht auf Erfolg haben würde. So ritten sie den Rest des Tages vorwärts und nahmen schließlich dankbar die Einladung eines Bauern an, der ihnen ein warmes Abendessen und ein trockenes Plätzchen für die Nacht anbot. Was sie nicht wussten: Zur selben Zeit versammelte der ehrwürdige Vater in Palmaris seine Handlanger um sich und organisierte eine Reise in den Norden, um den berüchtigten Nachtvogel endlich der vermeintlichen Gerechtigkeit zuzuführen.
13. Immer eine Nasenlänge voraus
König Danube starrte aus dem Fenster seines Übergangsquartiers in Palmaris, und die Tatsache, dass er hier so viel bescheidener untergebracht war als der Abt in Chasewind Manor, führte ihm deutlich vor Augen, wer in dieser Stadt regierte. Tatsächlich war die Auseinandersetzung mit Markwart für ihn – der im Bärenreich seit einem Vierteljahrhundert das Zepter führte – die beängstigendste Erfahrung seines Lebens, mehr noch als der Krieg gegen die Horden des Dämons. Erst jetzt, nachdem er Markwart und seinen Beratern gegenübergesessen hatte, war ihm das ganze Ausmaß seiner Lage bewusst geworden. Der Abellikaner-Orden war schon immer eine starke Macht im Reich gewesen, häufig sogar stärker als die Krone. Zu Beginn seiner Regentschaft, als er noch ein Halbwüchsiger war, hatte die Kirche großen Einfluss ausgeübt, und Abt Je’howith hatte in Ursal eine größere Rolle gespielt als Danube selbst. Doch das war nur vorübergehend so gewesen, eine notwendige Hilfestellung für einen, der, ehe er sich’s versah, in die Rolle des Monarchen geraten war. Und später, als König Danube in diese Rolle hineingewachsen war und mit seinen Untertanen ebenso geschickt umzugehen verstand wie mit dem Botschafter von Behren, da hatte sich die Kirche wieder aus der Regierung zurückgezogen, und Abt Je’howith schien zufrieden mit seinem bequemen Leben im Hintergrund. Nun aber hatte sich die Lage dramatisch geändert. Das hier war kein vorübergehendes Machtspiel des ehrwürdigen Vaters – und seines alten Freundes Je’howith, das musste er sich
immer wieder klarmachen –, denn schließlich war es Je’howith gewesen, der ihn überredet hatte, in Palmaris anstelle eines Barons einen Bischof einzusetzen. Damit hatte er die Kirche fest verankert, und sie jetzt wieder von diesem Platz zu vertreiben, würde ein hartes Stück Arbeit sein. Er musste den Titel auf der Stelle zurücknehmen und Markwart unter vier Augen daran erinnern, wo sein Platz war, oder andernfalls einen Krieg der Krone gegen die Kirche riskieren. Er würde einen solchen Krieg gewinnen, davon war er überzeugt. Vielleicht würde er St. Mere-Abelle nicht erobern können, diese gewaltige Festung, aber seine Truppen – zwanzigtausend Mann stark, die mächtige Allheart-Brigade inbegriffen – konnten die Mönche sicher in ihre Klöster verbannen. Aber so weit würde es gar nicht erst kommen, sagte sich König Danube, denn Markwart würde sicher bald klein beigeben, wenn er merkte, was ihm bevorstand. Doch es gab da noch einen anderen Aspekt, das wusste der König genau. Markwart war in Ursal direkt in sein Schlafzimmer marschiert, und weder die Wachen noch Mauern oder Türschlösser hatten ihn aufhalten können. Er konnte den Krieg gewinnen oder den Orden zumindest deutlich in seine Schranken verweisen, da war er ganz sicher. Doch den persönlichen Krieg zwischen ihm und Markwart, das musste er sich jetzt eingestehen, den konnte er nicht gewinnen. Und so starrte er einfach nur aus dem Fenster, ängstlicher als je zuvor, und er fühlte sich zum ersten Mal, seit er kein Kind mehr war, völlig hilflos. »Ihr habt mich rufen lassen, Majestät«, ertönte die freundliche Stimme von Constance Pemblebury hinter ihm. Er wandte sich um und sah die Frau an. Constance war noch immer sehr anziehend, stellte er fest. Ihr rotblondes Haar war ein wenig heller geworden, aber die fünfunddreißig Jahre
hatten dem Glanz ihrer funkelnden blauen Augen und den zarten Grübchen in ihren Wangen nichts anhaben können. Vor vielen Jahren war sie Danubes Geliebte gewesen – das war bei Hofe kein Geheimnis –, und viele hatten angenommen, dass sie nur deshalb so plötzlich zur persönlichen Beraterin des Königs avanciert war und möglicherweise einmal ein eigenes Herzogtum besitzen würde. Doch das war ein Irrtum. Der König wusste ihre hohe Intelligenz zu schätzen. Constance war der beste Menschenkenner, der ihm jemals begegnet war – besser als Kalas auf jeden Fall. »Ich gehe mit Herzog Kalas in den Norden«, erklärte er jetzt. Constances Augen wurden schmal, offensichtlich wollte man sie bei dieser Sache ausschließen. »Vater Markwart weiß, wo sich dieser Nachtvogel versteckt hält, und deshalb will er sich mit einem Kontingent von einhundert Abellikaner-Mönchen, den früheren Bischof eingeschlossen, selbst auf die Suche machen«, sagte Danube. »Und da könnt Ihr natürlich nicht zurückstehen«, meinte Constance, die sofort begriff. »Wenn der ehrwürdige Vater erst einmal mit dem Gesuchten im Schlepptau in Palmaris einmarschiert, dann würde das seine Beliebtheit enorm steigern, zum Nachteil von König Danube.« »So sieht es aus«, erwiderte der König. »Und Kalas nehmt Ihr als Gegengewicht zu De’Unnero mit«, meinte Constance scharfsinnig. »Ist er Euer Trumpf gegen Markwart?« Der König zuckte zusammen. »Gebt Acht, dass zwischen den beiden kein Wettstreit entbrennt«, sagte sie warnend. »Ich schätze Herzog Kalas als Krieger und Edelmann, aber ich glaube, De’Unnero ist ihm weit überlegen, und Kalas ist viel zu stolz, um das jemals zuzugeben. Wenn Kalas gegen De’ Unnero antritt, wird die Krone verlieren.«
Ein kluger Rat, sagte sich König Danube, und das bestätigte ihn nur in seiner Meinung über sie. Er trat dicht vor sie hin und streichelte liebevoll ihre Wange. »Jetzt brauche ich dich vielleicht mehr als je zuvor«, sagte er. Plötzlich küsste sie ihn ganz unerwartet, doch es lag keine Leidenschaft in diesem Kuss. Dann trat sie einen Schritt zurück und nickte. »Allerdings«, sagte sie. »Auf Abt Je’howith ist kein Verlass mehr. Er wird nur so lange auf Eurer Seite stehen, wie er glaubt, dass Ihr die Oberhand habt. Ihr habt ja gesehen, an welche Seite des Tisches er sich gesetzt hat.« »Was soll ich tun?«, fragte Danube. »Schafft das Amt des Bischofs wieder ab«, riet sie ihm. »Werft Markwart aus Chasewind Manor hinaus, und ernennt Herzog Kalas zum vorläufigen Baron, bis sich ein passender Nachfolger für Bildeborough gefunden hat.« Vollkommen richtig, sagte sich Danube, aber leider undurchführbar, wenn er an seine nächtliche Begegnung mit Markwarts Geist dachte. »Vater Markwart hat bereits verkündet, dass St. Precious wieder einen offiziellen Abt bekommt«, fuhr Constance fort. »Das gibt der Kirche in Palmaris genügend Macht.« »Du hast Recht, aber es ist leider nicht so einfach«, erwiderte Danube und wandte sich ab. Fast hätte er ihr die Wahrheit erzählt, doch dann schämte er sich seiner Angst doch zu sehr. »Wie das?«, fragte Constance. Danube drehte sich unvermittelt wieder zu ihr um und verwarf die Sache mit einer Handbewegung. »Wir reden über das Machtgefüge in Palmaris, wenn ich aus dem Norden zurückkomme«, erklärte er. »Bis dahin brauche ich dich in der Stadt als meine Augen und Ohren. Ich weiß, dass ich bei diesem Kreuzzug an Stärke nicht hinter dem ehrwürdigen Vater zurückstehen darf. Kalas und die Allheart-Brigade werden mich begleiten, das wird ein beeindruckender Auftritt.
Du bleibst hier mit einem starken Aufgebot an Kingsmen und Marinesoldaten, mit denen du eine solide Ausgangsbasis schaffen kannst. Nach außen hin bist du meine Augen und Ohren und achtest darauf, was Bischof Francis tut. Soviel ich weiß, bleibt er in St. Precious.« »Nicht in Chasewind Manor?«, fragte Constance und überlegte, welche Bedeutung das wohl haben könnte. »Ich habe gehört, in St. Precious«, erwiderte der König. »Vielleicht ist Markwart doch noch nicht bereit, Bischof Francis mit so viel Verantwortung auszustatten, wie er vorgibt.« »Dann wird er wahrscheinlich in Markwarts Abwesenheit nicht sehr viel unternehmen«, überlegte Constance. »Das hoffe ich«, erwiderte der König. »Dann wird während Markwarts und De’Unneros Abwesenheit und der von König Danube und Herzog Kalas die mächtigste Stimme in Palmaris die von Constance Pemblebury sein.« »Aber Ihr habt mich ja noch gar nicht zu Eurem Stellvertreter erklärt«, meinte die Frau. »Nicht öffentlich«, sagte der König. »Wir müssen uns im Hintergrund halten. Ich bitte dich nur, Bischof Francis im Auge zu behalten und aufzupassen, dass er nicht über die Stränge schlägt. Ich lasse dir dabei jede Freiheit. Wenn es sein muss, dann schicke deine Garnison gegen St. Precious.« Constance sah ihn mit offenem Mund an. »Ihr verlangt von mir, dass ich einen Krieg gegen den Abellikaner-Orden anfange?«, fragte sie ungläubig. »Ich verlange nichts dergleichen«, erwiderte der König. »Ich überlasse dir nur die Entscheidung. Wenn die Kirche in meiner Abwesenheit nach der Macht greift, dann muss Constance Pemblebury sie daran hindern.« Die Frau nickte.
»Ich brauche dich, Constance«, erklärte Danube ernst und packte sie bei den Schultern. »Wenn ich mich jetzt nicht auf dich verlassen kann, dann wird die Krone großen Schaden erleiden. Stell dir vor, wir müssten den Rest unseres Lebens im Schatten des Abellikaner-Ordens verbringen.« Das Gewicht seiner Worte nahm ihr den Atem. Dann zog König Danube sie noch näher an sich und drückte ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Er wollte gar nicht wieder aufhören, doch Constance schob ihn von sich und trat einen Schritt zurück. »Wenn ich aus dem Norden zurückkomme, haben wir beide eine Menge zu bereden«, sagte König Danube leise. »Ich bin zu alt für eine Mätresse«, sagte sie nachdrücklich. Der König nickte und gab ihr damit zu verstehen, dass er viel mehr im Sinn habe. Dann verließ er sie mit einem Kuss auf die Wange und dem Versprechen, noch vor Sommeranfang zurück zu sein. Constance stand noch eine ganze Weile still in dem leeren Zimmer. Sie dachte an das erste Mal, als König Danube und sie sich geliebt hatten. Er war gerade zwanzig Jahre alt gewesen und sie erst siebzehn. Genauso alt wie Vivian, die er am nächsten Morgen geheiratet hatte. Ihre Affäre hatte etliche Monate gedauert, fast ein Jahr wilder Leidenschaft. Vivian hatte Bescheid gewusst – sie musste es gewusst haben! –, aber sie hatte Constance nie zur Rede gestellt. Natürlich nicht – wenn Vivian sich mit jeder Geliebten ihres Mannes hätte auseinander setzen wollen, dann hätte sie für ihren eigenen Liebhaber keine Zeit mehr gehabt. Etliche Jahre später, lange nach Vivians Tod, war Danube noch einmal zu Constance gekommen, und sie hatte ihn in ihr Bett gelassen. Zu diesem Zeitpunkt war der König nicht mehr so ein Schwerenöter gewesen, und Constance war ziemlich sicher, dass sie seine einzige Geliebte war. Aber er wollte sie
nicht heiraten und erklärte ihr, dass es nicht ginge, weil ihre Abstammung nicht rein genug war für den Geschmack der Adligen. Constance wusste, dass er Recht hatte. Nur große persönliche Leistungen hätten sie zu einer akzeptablen Königin machen können. Nun, nach all den Jahren, brauchte der alternde König dringend einen legitimen Erben – Gerüchte sagten ihm nach, er habe mindestens zwei uneheliche Kinder in die Welt gesetzt –, und Constance hatte inzwischen die erforderlichen Leistungen erbracht. Nun würde man sie für angemessen erachten. Aber sie war jetzt Mitte dreißig, und ihre besten Jahre waren bereits vorüber. Und wenn der König irgendjemanden heiraten würde, dann vor allem, um für einen Erben zu sorgen. Constance dachte über diese Situation nach und stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie dem König kein Kind schenken konnte. Dann würde Danube die Ehe bald annullieren lassen – wenn sie Glück hatte. Oder er musste – wenn die Kirche dem nicht zustimmte – sie womöglich umbringen lassen! Und doch war die Aussicht nur allzu verlockend für Constance Pemblebury. Die Vorstellung, Königin zu sein, gefiel ihr ungemein, auch wenn sie sich keinerlei Illusionen machte, dass sie durch diesen Titel irgendwelche Macht erlangen könnte. Die Gesetze von Ursal waren eindeutig: Danubes Weib wäre Königin, solange er König war, aber wenn er ohne Nachkommen starb, würde sein Bruder, Midalis Brock Ursal, Prinz von Vanguard den Thron besteigen. Und Constance war auch klar, dass selbst zu seinen Lebzeiten keine Königin viel Macht über Danube Brock Ursal gewinnen würde. Und doch… Constance gefiel die Vorstellung, dass der König in allen Dingen auf sie hören würde, dass sie mehr Einfluss auf ihn hätte als der aufsässige Kalas und alle anderen. Doch am
allermeisten gefiel ihr die Vorstellung, die Mutter des zukünftigen Königs zu sein, dieses Kind nach ihren ureigensten Wünschen zu formen und zu dem Herrscher zu machen, der sie selbst gern geworden wäre, wenn das Schicksal ihr keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. O ja, sie würde Palmaris mit großer Umsicht behandeln, so dass der König bei seiner Rückkehr vollauf zufrieden wäre. Und wenn er dann zu ihr käme, würde sie darauf bestehen, dass er ihr die Andeutungen, die er heute Morgen gemacht hatte, erklärte. Vom Fenster aus sah sie zu, wie König Danube und Herzog Kalas mit ihrem Tross zum Tor des Herrenhauses hinausritten, hundert Allheart-Soldaten in prächtigen Rüstungen, die mit den Speerspitzen und Helmen im Sonnenlicht um die Wette glänzten. Es war vielleicht die mächtigste Truppe auf der ganzen Welt, die Leibgarde des Königs vom Bärenreich. Und, dachte Constance verträumt, der Königin vom Bärenreich.
»Hiermit bist du bestens ausgerüstet«, sagte Markwart und händigte Bischof Francis ein Säckchen mit Edelsteinen aus – wie dieser bemerkte, waren es zum größten Teil Graphite und andere Angriffssteine von großer Wirksamkeit. »Du musst hier scharf aufpassen, solange ich mit Abt De’Unnero unterwegs bin.« »Sagt mir nur, was ich tun soll, und ich werde Euren Wunsch ausführen«, erwiderte Francis beflissen. »Im besten Fall brauchst du gar nichts zu tun«, sagte Markwart. »Mach so weiter wie bisher, und unternimm nichts, was entweder die Bevölkerung oder denjenigen verärgern könnte, den König Danube hier als Stellvertreter zurücklassen wird. Wahrscheinlich Constance Pemblebury, und du solltest
sie nicht unterschätzen, Abt Je’howith ist sehr von ihr überzeugt. So wie die Dinge stehen, ist es auch gut möglich, dass noch andere Herzöge hier auftauchen, der Herzog des Mirianik zum Beispiel. Meister Engress wird dir zur Seite stehen. Erwarte aber nicht zu viel von ihm. Er ist alt und müde, wie es scheint, und wäre lieber in St. Mere-Abelle geblieben – und da hätte ich ihn, wenn ich es recht bedenke, auch lassen und stattdessen einen jüngeren, kräftigen Mann mitbringen sollen. Aber er ist nun mal der dienstälteste Meister, und da er nun einmal hier ist, müssen wir ihm den schuldigen Respekt entgegenbringen. Aber keine Angst, die Lage wird sich bald ändern, denn ich werde die unteren Ränge aufstocken. Ein Kontingent von hundertzwanzig Brüdern aus St. Mere-Abelle ist bereits auf dem Weg hierher.« »Ich denke, ich soll gar nichts tun?«, wagte Francis zu bemerken. »Im günstigsten Fall«, betonte Markwart. »Ich wünsche bei meiner Rückkehr alles so vorzufinden, wie es jetzt ist. Damit erweist du mir einen großen Dienst. Ich fürchte jedoch, dass das nicht so einfach ist. Es könnte sein, dass König Danube meine Abwesenheit ausnutzt, um seinen Einfluss in Palmaris auszuweiten, und das musst du unbedingt verhindern.« »Wie will er das anstellen?«, fragte Francis, »wenn er gar nicht da ist und es in Palmaris nicht mal einen Baron gibt?« »Die Stadtsoldaten sind seine Ausgangsbasis«, erwiderte Markwart. »Viele von ihnen stehen bereits in seinen Diensten. Du musst dich an diejenigen halten, die der Kirche ergeben sind.« »Ich werde Euch nicht enttäuschen, ehrwürdiger Vater«, antwortete Francis pflichtschuldigst. Markwart nickte und schickte sich an zu gehen, doch dann drehte er sich noch einmal um und fügte hinzu: »Und verleg
dein Quartier nach Chasewind Manor. Meister Engress kann St. Precious leiten, solange Abt De’Unnero nicht da ist, zusammen mit Bruder Talumus, der die Mönche von Palmaris im Griff hat. Ich möchte den Brauch nicht brechen, dass der Bischof in dem Herrenhaus residiert.« Francis sagte nichts, doch er konnte seine Verwunderung über den Begriff Brauch nicht ganz verbergen. »Jeder Brauch fängt irgendwann einmal an«, sagte Markwart gerissen. »Du wirst ab sofort in Chasewind Manor wohnen, und die Mönche aus St. Mere-Abelle wirst du ebenfalls dort unterbringen. Und behalte auch so viele wie möglich von der Stadtwache da. Behandle sie gut, sichere dir ihre Ergebenheit, aber betraue sie unter keinen Umständen mit wichtigen Dingen.« Als der Abt verschwunden war, starrte Francis mit demselben wild entschlossenen Blick aus dem Fenster, der sich an diesem Vormittag im Gesicht von Constance Pemblebury gespiegelt hatte.
Sie sprengten donnernd zum nördlichen Stadttor hinaus, König Danube und Herzog Kalas mit hundert Allheart-Soldaten. Flankiert wurden sie von dem Tross der Abellikaner, in der Mitte der Abt in seiner von Pferden gezogenen Kutsche, die noch immer das Einschlagloch mitsamt den Blutflecken aufwies, die alle Mühe der Brüder aus St. Precious nicht vollends hatte beseitigen können. Abt De’Unnero marschierte mit hundert Mönchen, die meisten aus St. Precious, neben dem Gefährt her. In ihren braunen Mönchskutten wirkten sie ziemlich unscheinbar neben den prächtigen Soldaten. Vor den Toren ließ Herzog Kalas die Brigade anhalten, während der König zu Markwart hinüberritt, um mit ihm zu reden.
»Ihr habt angedeutet, dass wir volles Tempo vorlegen sollen«, sagte Danube und brachte seinen nervösen To-gai-ruHengst mit einem kräftigen Ruck zum Stehen. »Allerdings«, erwiderte der Abt und zuckte die Achseln, als verstünde er nicht, was die Frage bedeuten sollte. Der König ließ seinen Blick über die Mönche schweifen, dann zuckte er ebenfalls mit den Schultern. »Sie wollen also mit den Pferden Schritt halten?«, fragte er. »Nur wenn sie sich Zeit lassen«, erwiderte Markwart. König Danube galoppierte wieder zu Herzog Kalas zurück. »Sie meinen, sie könnten uns auf den Fersen bleiben«, sagte er grinsend zu seinem Begleiter. »Das wollen wir doch mal sehen.« Herzog Kalas war begeistert, und schon jagten seine Soldaten in Windeseile davon. Und die Mönche hinterher. Verblüfft stellte der König nach einer halben Stunde fest, dass Markwarts Tross noch immer hinter ihnen war und mit riesigen Sätzen den Anschluss hielt. Er warf Kalas einen missmutigen Blick zu, doch dieser konnte nur hilflos die Achseln zucken. Kein normaler Mensch konnte über so lange Zeit ein solches Tempo beibehalten! Auf diese Weise würden sie heute mehr als dreißig Meilen zurücklegen, eine Gewalttour für ein Pferd, aber eine nahezu unmögliche Leistung für einen Menschen – und mit Sicherheit eine, die man nicht zwei- oder dreimal hintereinander bewerkstelligen konnte. Sie legten eine Rast ein, um eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, dann setzten sie ihre Reise fort. Die Mönche wirkten kaum erschöpft und hielten mühelos mit den berittenen Soldaten Schritt. Als sie ihr Nachtlager aufschlugen, hatten sie mehr als dreißig Meilen hinter sich gelassen, und Kalas und Danube
kam es so vor, als wären ihre Männer und Pferde mitgenommener als die Mönche. »Unmöglich«, sagte der Herzog, und der König schüttelte nur fassungslos den Kopf. Doch keiner von beiden kannte Markwarts Geheimnis. Der Abt hatte, angeregt von seiner inneren Stimme, herausgefunden, wie er sich den Malachit, den Stein, der die Schwerkraft aufhob, auf ganz neue Weise zunutze machen konnte. Während er ganz bequem in seiner Kutsche saß, baute er mit Hilfe des Seelensteins eine geistige Verbindung zu all seinen Brüdern auf. Zusammen mit einigen anderen Mönchen setzte er dann die Kräfte des Malachits ein, bis die Brüder draußen nahezu schwerelos dahinflogen. Als sie sich zur Ruhe legten, hatten sie weder Blasen an den Füßen, noch waren ihre Muskeln stärker ermüdet als von einem langen Spaziergang. Vater Markwart und De’Unnero saßen ein wenig abseits beisammen und genossen die sichtbare Fassungslosigkeit des Königs und seiner Leute. Ursprünglich hatte Markwart vorgehabt, seine Mönche reiten zu lassen, aber die Abellikaner hielten für gewöhnlich keine Pferde. Dem Abt war aber klar gewesen, dass seine Truppe nie im Leben mit den geübten Reitern der Allheart-Brigade auf ihren flinken To-gai-ruPferden hätte Schritt halten können. Und die Vorstellung, dass sich auf dieser Reise in den Norden ihre Unterlegenheit zeigen könnte, war Markwart ebenso wie De’Unnero ein Dorn im Auge gewesen. Aber dann hatte ihm diese innere Stimme wieder einmal den Ausweg gezeigt. Und nun waren König Danube und Herzog Kalas an der Reihe, sich zu ärgern, denn die Mönche hatten ihnen mühelos die Schau gestohlen.
14. Die Beute gewittert
»Sie sind nicht mehr weit weg«, sagte Pony zweifelnd, denn als sie und Colleen zwei Tage zuvor den nach Norden ziehenden Tross entdeckt hatten, hatte sich dieser noch viele Meilen hinter ihnen befunden. Nun schienen sie von Tag zu Tag näher zu kommen, und allein die Tatsache, dass ein so großes Aufgebot imstande war, sie einzuholen, sagte ihnen beiden, dass es sich hier nicht um gewöhnliche Leute oder einfache Soldaten handeln konnte. »Wir haben keine Wahl«, erwiderte Colleen. »Du hast das prächtige Pferd von Connor, aber mein armer alter Gaul kann nicht mehr. Übrigens kann es gut sein, dass dein Nachtvogel in Caer Tinella ist.« Pony schüttelte den Kopf. Eibryan war schon lange fort, das wusste sie genau, mindestens in Dundalis und wahrscheinlich noch weiter oben im Norden. Sie warf einen Blick über die Schulter auf die Straße nach Süden. Sie hatten nur wenige Stunden Vorsprung, und der Gedanke, Halt zu machen, um für Colleen ein frisches Pferd zu besorgen, und sich dabei mit den Dorfbewohnern zu unterhalten, die später wahrscheinlich von den Verfolgern ausgefragt werden würden, wollte ihr nicht behagen. Doch ein Blick auf die schweißnasse, lahmende Stute ihrer Gefährtin, die ein Hufeisen verloren hatte, machte ihr klar, dass ihnen nichts anderes übrig blieb. Entweder sie würden hier ein neues Pferd bekommen, oder Colleen würde bald zu Fuß gehen müssen. »Vielleicht finden wir draußen auf den Feldern jemanden, der uns hilft«, meinte Pony hoffnungsvoll. »Einen Bauern vielleicht, der gerade pflügt oder Feuerholz sammelt.«
Colleen nickte, und sie machten erst einen großen Bogen um Landsdown, dann um Caer Tinella. Als sie zwei Männer entdeckten, die gerade Holz hackten, beobachteten sie die beiden eine Weile vom Waldrand aus. Dann hörten sie auf einmal das Rasseln eines Fuhrwerks und das Wiehern eines Pferdes. Sie nahmen ihren Weg zwischen den Bäumen hindurch und kamen bald zu einem Hügel, von dem aus man einen Weg überblickte, der nach Norden führte. Und dort unten rumpelte ein Wagen entlang, von zwei Pferden gezogen, während zwei weitere hinten angebunden waren. Auf dem Bock saß, singend und lachend, ein Hüne mit buschigem schwarzem Haar. Er trug die Ordenstracht der Abellikaner. »Komm bloß nicht auf die Idee, den Mann umzubringen«, flüsterte Colleen. Pony sah sie verdutzt an. »Umbringen?«, echote sie. »Ich kenne ihn ja nicht mal.« »Aber du kennst seine Kleider«, sagte Colleen ruhig. Pony zuckte zusammen und schlug seufzend die Augen nieder. Sie war doch keine Mörderin. Niemals würde sie jemanden angreifen, der es nicht verdient hatte. Doch im selben Augenblick fragte sie sich, ob sie sich überhaupt anmaßen konnte zu entscheiden, wer es verdiente und wer nicht. Wer war sie denn, dass sie über Leben und Tod richtete? Auch wenn ihr Hass auf Markwart unverändert war und sie es wahrscheinlich noch einmal versuchen würde, wenn er vor ihr stünde, machte sich Pony doch ernsthaft Sorgen um ihre Seele. Doch dann verscheuchte sie schnell diese beängstigenden Gedanken. Sie musste jetzt eins dieser Pferde ergattern, am besten, ohne dass der Mönch etwas davon bemerkte. Aber wie? Sie dachte an die Steine. Vielleicht konnte sie den Diamanten nehmen und den Mönch damit blenden und ihn dann mit dem Malachit in die Luft heben. Vielleicht würde er
den Diebstahl gar nicht bemerken, bis sie ihn wieder zu Boden lassen und die Dunkelheit von ihm nehmen würde – vielleicht sogar noch länger, wenn es ihm nicht sofort auffiel, dass man ein anderes Pferd hinten an seinen Wagen gebunden hatte. Aber er würde wissen, dass Edelsteinmagie im Spiel war. Vielleicht würde er sogar die verwendeten Steine identifizieren können und damit Markwarts Tross auf ihre Spur bringen. Nein, sie musste behutsamer vorgehen. »Reite hinunter auf die Straße und warte hundert Meter vor ihm«, sagte sie zu Colleen. »Sattle dein Pferd ab, und wenn er abgelenkt ist, dann tauschst du schnell und leise hinten die Pferde aus.« »Ich hätte eigentlich lieber eins von vorn«, erwiderte diese, doch als Pony sich umdrehte, sah sie, das Colleen grinste. »Geh schon«, meinte sie trocken. Trotz ihrer Verstimmung brachte Pony ein kleines Lächeln zuwege, als Colleen mit dem Pferd fortging. Diese Frau war ihr zu einer echten Freundin geworden, die sie gern um sich hatte, weil sie es verstand, Ponys Gedanken zu lesen und im richtigen Moment das Richtige zu sagen, um den Trübsinn zu verscheuchen und sie in die Gegenwart zurückzuholen. Pony griff in ihr Säckchen und holte den Seelenstein hervor, dann versenkte sie sich und beschwor ein Bild herauf, das Bild ihrer selbst an einem See nach dem Schwerttanz. Sie veränderte dieses Bild in ihrer Vorstellung so weit, dass sie nicht zu erkennen war, und verhüllte ihre Blöße mit durchsichtigen Schleiern. Jetzt umklammerte sie den Hämatit noch fester und fragte sich, ob sie das wohl durchhalten würde. Es musste klappen wie am Schnürchen – ein Ausrutscher, und alles wäre verloren. Erneut ließ sie sich in den Stein fallen und beschwor das Bild herauf, dann sandte sie es in den Kopf des Mönches.
Bruder Pembleton pfiff und sang vor sich hin und freute sich über das schöne Wetter, das schon sehr nach Frühling aussah. »Es wird Frühling!«, rief er fröhlich aus. »Ha-ha!« Er schnalzte mit der Zunge und ruckte an den Zügeln, um die Pferde anzutreiben. Er wollte so schnell wie möglich in Caer Tinella sein. Janine vom See hatte ihm ein leckeres Frühstück versprochen, wenn er rechtzeitig da wäre. Und er wollte… Das Bild schien plötzlich aus dem Nichts zu kommen, und es war äußerst verlockend. Der Mönch ließ die Zügel locker, und das Fuhrwerk kam fast zum Stehen, ohne dass der Mann es in seiner Benommenheit merkte. Er saß bewegungslos da, die Augen geschlossen, und versuchte, sich auf die überwältigende Erscheinung dieser liebreizenden Frau einen Reim zu machen, die so unvermittelt von seinen Gedanken Besitz ergriffen hatte. Er versuchte sogar, sie abzuschütteln, indem er die ersten Worte eines Gebetes sprach. Doch es half alles nichts. Sie war viel zu schön, als dass er sie so einfach hätte verscheuchen können. Das Fuhrwerk bewegte sich jetzt kaum noch. Schnell kam Colleen Kilronney mit ihrem Pferd aus den Büschen, und während sie es mit einem der hinten am Wagen angebundenen Pferde vertauschte, fragte sie sich verblüfft, was Pony wohl mit dem Mann angestellt haben mochte. Als sie wieder bei Pony ankam, befand sich diese noch immer – mit dem Seelenstein in der Hand – in tiefer Versenkung. Als Colleen zur Straße hinabschaute, sah sie den Wagen langsam vorwärts kriechen, während der Mönch auf dem Bock hin und her schwankte. »Was hast du mit ihm angestellt?«, fragte sie und holte Pony aus ihrer Trance. »Ich hab ihm etwas Besseres zu sehen gegeben«, erwiderte diese geheimnisvoll.
Colleen schaute sie einen Augenblick verdutzt an, dann überzog ein schelmisches Lächeln ihr Gesicht. »Na, du bist mir vielleicht eine!«, sagte sie verschmitzt. Die beiden machten sich sofort wieder auf den Weg, hinab zu der Straße und in die entgegengesetzte Richtung, in der Bruder Pembleton, noch immer reichlich benebelt, verschwunden war. Der Mönch setzte seinen Weg gemächlich fort und versuchte dabei die ganze Zeit, das Bild zurückzuholen, bis er Janines Hof erreicht hatte. Und erst als er die beiden Pferde, die er in der Stadt verkaufen wollte, vor der Tür losband, merkte er, dass sich eins davon verändert hatte.
Sie zogen nicht mit großem Tamtam durch Caer Tinella und Landsdown, aber die zweihundert Leute, die sich inzwischen wieder hier angesiedelt hatten, waren natürlich beeindruckt von der Pracht der berühmten Allheart-Brigade auf ihren herrlichen To-gai-ru-Pferden. In Caer Tinella machten sie Station, damit die Pferde ausruhen und die Soldaten nach den Hufeisen sehen und ihre Rüstungen und Waffen ölen konnten. Markwart und König Danube waren sich darüber einig, dass sie nicht länger als eine Stunde verweilen wollten, auch wenn sie nachher nur noch zwei Stunden Zeit hatten, bis die Sonne unterging und sie ihr Lager aufschlagen mussten. »Bruder Wohlgemut!«, rief Janine, als sie De’Unnero unter den Anführern entdeckte, die sich im Gemeinschaftshaus von Caer Tinella versammelt hatten. »Seid Ihr schon wieder zurück? Ich dachte, Ihr wolltet nach Dundalis, um Euren Gott in die Waldlande zu bringen.« De’Unnero wandte sich einfach ab. Er hatte keine Lust, sich mit der Bäuerin zu unterhalten.
»Scheint ja in diesem Jahr alle Welt in den Norden zu wollen«, meinte Janine, während sie die Tür ansteuerte. Markwart, der die Bemerkung gehört hatte, hielt sie sofort zurück. »Was meint Ihr damit?«, fragte er. »Von wem redet Ihr?« Die Frau zuckte mit der Schultern. »Ein Freund hat mir erzählt, dass er erst heute Morgen zwei gesehen hat, die nach Norden geritten sind, keine sechs Stunden, bevor ihr hier angekommen seid, weiter nichts«, erwiderte sie. »Na ja, und dann Euer Bruder Wohlgemut, der vor ein paar Wochen schon mal hier vorbeigekommen ist.« »Zwei Reiter?«, wollte Markwart wissen. »War einer davon vielleicht eine Frau oder auch alle beide?« Die Bäuerin zuckte erneut die Achseln. »Er hat nur zwei Reiter gesehen, ganz weit weg, also kann er’s nicht wissen. War ein komischer Tag heute. Bruder Pembleton, einer von Euch, ist heute Morgen hergekommen, um zwei Pferde zu verkaufen, und jetzt spuckt er Gift und Galle und behauptet, dass sich eins davon unterwegs verwandelt hat, weil es lahmt und ein Hufeisen verloren hat, und er schwört Stein und Bein, dass es vorher noch eins hatte.« »Ein Abellikaner-Mönch ist hier in der Stadt?«, fragte Markwart, dem seine innere Stimme zuflüsterte, dass es damit eine besondere Bewandtnis haben müsse. »Hab ich doch gerade gesagt«, meinte Janine. »Er ist ganz aus dem Häuschen, weil Ihr da seid. Macht sich bloß ein bisschen frisch. Schätze, er wird jeden Moment hier sein.« Im selben Augenblick stürzte Bruder Pembleton herein und rang die Hände, während er sich nervös umschaute. Als er den Abt mit Janine entdeckte, schlurfte er unter ständigen Verbeugungen zu ihnen hinüber.
»Ich wusste ja gar nicht, dass Ihr kommen würdet, ehrwürdiger Vater«, sprudelte er hervor. »Wenn ich gewusst hätte…« Markwarts erhobene Hand ließ ihn verstummen. »Ich höre gerade, du hattest Probleme mit einem Pferd«, sagte er. Bruder Pembletons Augen weiteten sich vor Schreck, und er sah Janine an; es war ihm sichtlich unangenehm, dass der ehrwürdige Vater von der Geschichte erfahren hatte. Womöglich würde er ihn für verrückt halten. »I-ich war ganz durcheinander«, stotterte er. »Vielleicht hab ich mich auch geirrt. Es sieht jedenfalls nicht aus wie mein Pferd, aber ich hab ja so viele – hab so viele verkauft, als ihr im letzten Jahr die Karawane aus St. Mere-Abelle in den Norden geschickt habt, ehrwürdiger Vater.« Erneut brachte Markwart den Mann mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das Pferd lahmt also auf einmal?« Pempleton zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich kann mich nicht mehr erinnern…« »Willst du etwa diese Leute hier betrügen, lieber Bruder?«, fragte Markwart. Jetzt kam De’Unnero herüber und baute sich neben dem Mann auf, und obwohl Pembleton mindestens fünfzig Pfund schwerer war als er, wurde der Mönch ganz nervös. »Nie im Leben, ehrwürdiger Vater!«, rief er aus. »Ich unterhalte schon seit vielen Jahren gute Beziehungen zu Caer Tinella und würde niemals…« »Ein anständiger Mann, der gute Ware für einen guten Preis liefert«, mischte sich Janine ein. »Also, was ist, Pembleton?«, fragte Markwart ruhig. »Ist es dasselbe Pferd, mit dem du deine Kapelle verlassen hast?« Der Mönch schien in die Enge getrieben und sah sich wiederholt ratlos um. »Muss wohl so sein«, murmelte er. »Muss wohl so sein. Schließlich kann man ein Pferd, das
hinten am Wagen festgebunden ist, nicht einfach vertauschen, ohne dass der Kutscher es merkt. Ich frage mich nur…« »Ist es dasselbe Pferd oder nicht?«, Markwart ließ nicht locker. Pembleton blickte sich nervös um. »Sieh mich an!«, sagte Markwart streng. »Ich will eine ehrliche Antwort.« »Es ist nicht mein Pferd«, erwiderte Pembleton. Janine schnaubte nur und verdrehte die Augen. »Bei Gott, ehrwürdiger Vater«, sagte der Mönch verzweifelt. »Ich habe die Pferde schon monatelang in meinem Stall gehabt – seit die Karawane aus St. Mere-Abelle vorbeigekommen ist – und kenne jedes Einzelne von ihnen. Das da gehört mir nicht. Ich habe jedes Pferd selbst beschlagen, aber das da trägt Hufeisen, die ich noch nie gesehen habe.« Markwart sah De’Unnero an. »Nimm ein paar Mönche aus St. Precious mit und zeig ihnen das Pferd. Mal sehen, ob sie die Hufeisen kennen«, sagte er. Dann wandte er sich wieder Pembleton zu und gab sich große Mühe, den Mann zu beruhigen, indem er ihn aufforderte, ihm seine Reise in allen Einzelheiten zu schildern. Pembleton tat das auch, aber einmal geriet er ins Stottern, und wieder sagte Markwart die innere Stimme, das das vielleicht etwas zu bedeuten hatte. Als er den Bruder beiseite nahm, beichtete ihm dieser seine sündigen Gedanken. Markwart wusste sofort, dass es mehr war als das, und er fand seinen Verdacht bestätigt, als De’Unnero zurückkam und ihm berichtete, einer der Mönche habe die Hufeisen erkannt: Sie stammten aus der Schmiede des früheren Barons, denn der Schmied habe sie alle mit einem besonderen Brandzeichen aus seinen Initialen versehen. Das Pferd, das man auf so mysteriöse Weise gegen das von Pembleton ausgetauscht hatte, während er sein Fuhrwerk
keinen Augenblick verlassen hatte, wie er ausdrücklich betonte, war aus Palmaris, und nach De’Unneros Einschätzung war es kürzlich noch scharf geritten worden. Verblüfft ließ es Markwart zunächst dabei bewenden. Später aber, nachdem der Tross zwei Stunden nördlich von Caer Tinella sein Lager aufgeschlagen hatte, konnte es der ehrwürdige Vater kaum abwarten, in seinem Zelt den Seelenstein hervorzuholen. Rasch suchte er die Umgebung im Norden ab – und hatte seine Beute bald aufgespürt. Sie lagerten unter den herabhängenden Zweigen einer alten Kiefer, und ihre Pferde waren in der Nähe angebunden. Markwart erkannte das eine – er hatte es schon einmal auf den Feldern außerhalb von Palmaris gesehen –, und so war er nicht überrascht, als sein Geist unter den Zweigen hindurchschlüpfte und dort seine Erzfeindin mit dem Rücken am Stamm lehnen sah, neben sich noch eine zweite Frau in der Uniform der Stadtwache von Palmaris. Markwart wollte schon auf sie losgehen, doch dann sagte er sich, dass sie diesmal vielleicht besser auf seinen Angriff vorbereitet war. Außerdem konnte er jetzt nicht mehr ihr ungeborenes Kind benutzen, um ihren unbeugsamen Willen zu brechen. Und er war auch nicht sicher, ob Lady Dasslerond womöglich in der Nähe war. So ließ er seinen Geist fürs Erste in seinen Körper zurückkehren. Anschließend eilte er aus dem Zelt und rief nach De’ Unnero. Bald darauf jagte der Tiger mit großen Sätzen geradewegs auf sein Ziel zu. Doch so einfach, wie De’Unnero sich das vorgestellt hatte, war es nicht, denn er stieß unterwegs auf etliche Hindernisse, die Markwarts Geist keine Probleme bereitet hatten, und als er schließlich bei der alten Kiefer anlangte, war der Tag bereits angebrochen, und die beiden Frauen waren verschwunden.
Doch De’Unneros Verdruss hielt nur solange an, bis er merkte, dass er nicht allein war. »Hör zu«, sagte Markwarts Geist. »Konzentrier dich auf den Seelenstein in dem Ring, den du trägst. Ich zeige dir den Weg.« Und schon war er auf und davon. Als er die beiden Frauen aufgespürt hatte, setzte er sich wieder mit De’Unnero in Verbindung. Jetzt war die Jagd eröffnet, auch wenn Pony und Colleen nichts davon ahnten. Am frühen Vormittag hatte der rastlose De’Unnero sie bis auf Sichtweite eingeholt, und Markwart, dessen Körper unterdessen bequem auf einer von Mönchen getragenen Sänfte ruhte, ließ seinen Geist über ihm schweben, denn er wusste um Ponys Kräfte und hatte Angst, sie könnte De’Unnero überrumpeln, falls sie auf den Angriff vorbereitet war und ihre Steine zur Hand hatte. Also nahm er sich erst einmal ihr Pferd vor und sandte ihm einen gellenden Schrei ins Ohr. Greystone scheute und bäumte sich auf, sodass Pony sich kaum noch im Sattel halten konnte. Er drehte sich wie wild um sich selber und schlug nach allen Seiten aus. Colleen schrie etwas und versuchte vergebens, aus dem Ganzen schlau zu werden. Dann flog Pony im hohen Bogen aus dem Sattel und landete rücklings so hart auf dem Boden, dass es ihr den Atem verschlug. Sie war gerade noch geistesgegenwärtig genug, sich zur Seite zu werfen, sodass Greystone nicht über sie hinwegtrampeln konnte. »Was hast du mit ihm angestellt?«, rief Colleen, aber sie brach abrupt ab, als etwas Großes krachend in sie hineinlief und sie aus dem Sattel schleuderte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder aufgerappelt und Blut und Schlamm aus den Augen gewischt hatte. Da sah sie ein riesiges
Ungetüm, das sich über Pony beugte. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sie traute ihren Augen kaum. Von der Taille aufwärts war das Wesen ein kräftiger Mann, sein Gesicht eine seltsame Mischung aus Mensch und Raubkatze. Er hockte jedoch auf den Hinterbeinen eines Tigers, sein gestreifter Schwanz peitschte durch die Luft, und er starrte gierig auf sein Opfer hinab. Pony versuchte ihn abzuwehren, aber De’Unnero rammte ihr seine Faust mitten in den Brustkorb, sodass ihr die Luft wegblieb. Sie fuhr hoch und schlug verzweifelt mit den Armen um sich, doch ihre Kräfte versagten, sie war zu benommen. Colleen erhob sich langsam und zog ihr Schwert. Da ließ das Ungeheuer von Pony ab und drehte sich zu ihr um. »Das wirst du mir büßen!«, schrie Colleen und stürmte mit dem Schwert in der Hand vorwärts. De’Unnero sprang senkrecht in die Luft über ihre Klinge hinweg, dann rammte er ihr mit voller Wucht die Faust gegen das Brustbein, sodass sie rückwärts taumelte. Sie machte eine kraftlose Handbewegung und musste hilflos zusehen, wie ihr Gegner mühelos der Klinge auswich, viel zu schnell, als dass sie ihn hätte treffen können. Dann griff seine Hand nach der Klinge und stieß sie noch weiter zurück. Mit einer Drehung um die eigene Achse kam er auf sie zu und schlug ihr ins Gesicht, sodass sie mehrere Schritte zurückweichen musste. Und noch immer war er dicht vor ihr, drehte ihr den Schwertarm nach oben und bog das Handgelenk zurück, um sie mühelos zu entwaffnen. Jetzt sprang er sie an, und während er sie mit eisernem Griff festhielt, stieß er sie mit seinem ganzen Körpergewicht zwischen die Beine ihres verstörten Pferdes.
»Hau ab!«, hörte sie Pony rufen; dann sah sie, wie sich der Tiger zu ihrer Freundin umdrehte und im nächsten Augenblick von der Wucht eines Blitzschlags getroffen rückwärts taumelte. Doch die Bestie knurrte nur böse und ging dann erneut auf Pony los, bevor diese einen weiteren Schlag auslösen konnte. Colleen rappelte sich wieder auf und kletterte von der anderen Seite auf ihr Pferd. Noch ehe sie richtig im Sattel saß, gab sie dem Tier die Sporen, denn der Tiger war ihr bereits dicht auf den Fersen. Das Pferd brach zwischen den Bäumen hindurch, und die zurückschnellenden Äste schlugen ihr entgegen, bis sie fast das Bewusstsein verlor. Sie hörte, wie die Bestie hinter ihr herjagte, und plötzlich war ihr klar, wer ihren geliebten Baron umgebracht hatte. Als ihr Pferd eine scharfe Kurve nahm, verlor sie den Halt und stürzte in ein Gebüsch aus Nadelhölzern; dann rutschte sie im Matsch und Schnee den steilen Abhang in eine Schlucht hinab, und während sie immer wieder an irgendwelchen Hindernissen abprallte, schwanden ihr allmählich die Sinne, lange bevor sie ganz unten hart an einem Baumstamm landete. Sie hörte gerade noch die Todesschreie ihres Pferdes, als der Tiger darüber herfiel.
Erst das Auftauchen des verärgerten Geistes riss De’Unnero aus seiner blindwütigen Fressorgie. Er legte die Tigergestalt wieder völlig ab – die inzwischen kaum noch mit dem Edelstein zusammenzuhängen schien, denn er wusste nicht einmal genau, wo er die Tigertatze gelassen hatte. Sie befand sich weder in seiner Hand noch in seinem Beutel, aber er brauchte den Stein jetzt auch gar nicht mehr, so als wäre dieser irgendwie in ihm aufgegangen.
Doch nun nahm er wieder seine menschliche Gestalt an, denn er merkte, dass Markwart wütend war, und die Angst überwog selbst seine Mordlust. Gestärkt durch die Lebenskraft des Pferdes kehrte er wieder zu Pony zurück, um festzustellen, dass sie noch am Leben war, und hoffte, dass er sie nicht zu hart geschlagen hatte. Markwart hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er sie ihm lebendig und mit den Steinen zusammen übergeben sollte. Die andere Frau kümmerte Markwart ganz und gar nicht. Als Pony eine Weile später zu sich kam, stand sie mit dem Rücken an einem Baumstamm, und ihre Hände waren schmerzhaft daran festgebunden. Vor ihr stand Marcalo De’Unnero mit zusammengekniffenen Augen und durchbohrte sie mit seinem Blick. »Weißt du eigentlich nicht, wie mächtig deine Feinde sind?«, fragte er und hielt ihr sein Gesicht dicht vor die Nase. Pony drehte den Kopf zur Seite, denn sie konnte seinen Blick nicht ertragen. Da packte er sie beim Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Einen Moment lang dachte sie, er würde sie erwürgen oder ihr Gesicht in seinen Fingern zerquetschen, doch dann überzog auf einmal ein verschlagenes Grinsen sein kantiges Gesicht. Pony wäre beinahe ohnmächtig geworden. Sie war ihm hilflos ausgeliefert, er konnte mit ihr tun, was er wollte. »Was für ein hübsches Kind!«, sagte De’Unnero jetzt in völlig verändertem Tonfall und strich ihr über die Wange. Pony wünschte sich, sie wäre tot. Erneut wandte sie sich ab, doch er hielt sie sofort wieder am Kinn fest und riss ihren Kopf herum. »Hübsch und wehrhaft«, sagte De’Unnero. »Eine Meisterin der Steine und des Schwertes, ganz wie man es mir erzählt hat, und so eigensinnig.«
Pony biss die Zähne zusammen, und ihre blauen Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Hast du Angst, dass ich dich mir nehme?«, fragte De’Unnero mit breitem Grinsen und griff nach ihrem Hemd. »Dass ich dir die Kleider vom Leib reiße und du nackt und bloß vor mir stehst?« Pony sah ihn regungslos an und sagte kein Wort. »Du hast ja keine Ahnung«, fuhr er fort, das Gesicht dicht vor dem ihren. Doch dann ließ er sie plötzlich los und trat einen Schritt zurück. »Ich würde liebend gern auf freiem Feld gegen dich antreten und dich umbringen – so wie ich diesen Nachtvogel umbringen werde«, erklärte er. »Aber ich fröne nicht der Fleischeslust mit einer unwilligen Frau. Schließlich bin ich ein Mann Gottes.« Pony schnaubte verächtlich und schaute weg. Sie wartete darauf, dass er wieder ihr Kinn packen würde. »Du dummes Kind«, hörte sie De’Unnero jetzt sagen, während er sie stehen ließ. »Du hast keine Ahnung von denen, die du als deine Feinde bezeichnest.« Pony schwieg. Da hörte sie plötzlich Pferdegetrappel wie von einer herannahenden Kavallerie, und schon umringten sie alle, Markwart mit den Mönchen, die Soldaten in ihren schimmernden Rüstungen und der König des Bärenreichs!
15. Heimkehr wider Willen
Als Greystone sie fand, war sie so übel zugerichtet, dass gar nicht daran zu denken war, wieder zu ihrer Freundin hinaufzuklettern. Sie war stark benommen und blutete aus etlichen Wunden. Ihre Freundin! Colleen wurde das Herz schwer, als sie zu dem Hang hinaufschaute, wo sie Pony in der Gewalt dieser seltsamen Bestie zurückgelassen hatte. Aber sie konnte ihr nicht zu Hilfe kommen, denn selbst wenn sie den Aufstieg irgendwie schaffte, würde sie der Tiger doch nur zerfleischen. Aber das war graue Theorie, darüber war sich Colleen völlig im Klaren. Sie schaffte es nur mit Müh und Not, auf Greystones Rücken zu klettern, und als sie oben war, konnte sie das Pferd gerade noch wenden und in nördliche Richtung in Bewegung setzen. Zum Glück hatte sie sich vorsichtshalber im Sattel festgebunden, denn während der nächsten Stunde schwanden ihr immer wieder die Sinne. Und so ritt sie auf eigene Faust vorwärts in dem Bewusstsein, dass der grässliche Tigermensch ihr dicht auf den Fersen war. In dieser Nacht machte sie keine Rast. Sie hatte ja nicht einmal die Kraft abzusteigen. Greystone trottete unbeirrt vor sich hin, fraß unterwegs etwas, blieb ab und zu stehen und schlief auch ein wenig, während seine Reiterin schlief.
Wenn Pony sich irgendwelche Hoffnungen gemacht hatte, mit König Danube reden zu können, so wurden sie sofort zerschlagen. Auf ein Handzeichen des ehrwürdigen Vaters hin umringte sie ein Schwarm Mönche, band sie vom Baum los
und zerrte sie davon, ohne dass der König oder irgendjemand aus seinem Gefolge den geringsten Einwand erhoben hätte. Sie sah noch, wie Markwart dem König ihre Edelsteine zeigte und hörte ihn etwas von einem »fehlenden Ladestein« sagen. König Danube sah mit einer Mischung aus Bedauern und Verachtung zu ihr herüber. Dann drehte er sich um und verschwand, und Pony wusste, dass sie verloren war. Gleich darauf kam De’Unnero wieder zu ihr und stellte sich genau neben sie. »Du wirst laufen«, erklärte er. »Die Brüder werden dich stützen und festhalten, wenn deine Beine versagen.« Unterdessen traten zwei kräftige Mönche neben sie und schlangen sich ihre Arme um die Schultern, sodass sie mit den Füßen kaum noch den Boden berührte. »Du solltest über deine Lage nachdenken, bevor wir wieder in Palmaris sind«, sagte De’Unnero. »Was für ein Jammer, dass so ein Prachtexemplar wie du so schrecklich enden wird!« Damit machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand beschwingten Schrittes. Pony wusste nicht, wie sie seine Worte auffassen sollte. Tat sie ihm wirklich Leid, oder trieb er nur sein Spiel mit ihr? Oder steckte womöglich noch etwas Schlimmeres dahinter? Wollte er sie vielleicht überlisten? Was es auch sein mochte, Pony war jedenfalls entschlossen, nicht mitzuspielen. Sie war geschlagen, man hatte ihr alles genommen, aber eins würden sie ihr nicht nehmen: ihre Überzeugungen. Im Übrigen war sie froh, dass De’Unnero hier war, denn so konnte er wenigstens nicht hinter Colleen her sein. Auch wenn Pony natürlich nicht wissen konnte, ob ihre Freundin überhaupt noch am Leben war oder ob er sie umgebracht hatte, bevor er zurückgekommen war.
»Ich werde an meinen Überzeugungen und meiner Hoffnung festhalten«, flüsterte sie, um sich selber Mut zu machen, obwohl sie im selben Moment Angst hatte, die Mönche könnten sie verspotten. Doch keiner der beiden sagte ein Wort, wenn sie auch der eine bewundernd ansah. Dieser Blick gab Pony Kraft. Auch wenn es keine große Leistung war, tapfer zu sterben, war es doch das Einzige, was ihr noch übrig blieb.
Am nächsten Tag waren die Schmerzen schon erträglicher, und Colleen war wild entschlossen, zu Nachtvogel zu gelangen, koste es, was es wolle, und ihm vom Schicksal seiner Liebsten zu erzählen. Sie wusste, dass ihre Verletzungen ernst zu nehmen waren. Ein Arm war gebrochen und ein Knöchel so angeschwollen, dass sie ihren Stiefel ausziehen musste. Und sie hatte eine Menge Blut verloren und fror erbärmlich. Aber sie dachte nur an den Weg, der noch vor ihr lag, und ließ Greystone, dieses wundervolle Pferd, unbeirrt einen Fuß vor den andern setzen. Tag und Nacht verschmolzen in qualvoller Anstrengung. Am dritten Tage begann es zu regnen, doch Colleen, von Fieberträumen geschüttelt, bemerkte es nicht einmal. Ihre Verfolger holten von Tag zu Tag mehr auf, obwohl sie bis tief in die Nacht unterwegs war, doch auch das focht sie nicht an. Sie sah nur die Straße nach Dundalis vor sich, wo sie am Ende würde ausruhen können. Am Nachmittag des vierten Tages verließen sie schließlich ihre Kräfte, und sie glitt aus dem Sattel, bis sie kopfüber an Greystones Bauch hing und mit dem Kopf und den Schultern am Boden entlangschleifte. Das Pferd war so klug stehen zu bleiben, doch das war auch schon alles, was es für Colleen tun konnte, die noch verzweifelt versuchte, sich wieder
aufzurichten, doch vergebens. Kraftlos sank sie zurück, und ihr Gesicht schrammte über den verkrusteten Schnee. Die Sonne stand schon tief am westlichen Himmel, und langsam umfing sie Dunkelheit.
Flink und anmutig, wie es nur die Touel’alfar zuwege bringen, hüpfte Tiel’marawee über die schneebedeckten Hügel im Süden des Barbakan und setzte dann leichtfüßig, halb im Fluge, über lange freie Flächen weiter südlich. Diesmal lief sie nicht fröhlich in Schlangenlinien trotz aller Vorliebe der Elfen für Gesang und Tanz, denn ihr Herz war schwer vom Verlust ihres Gefährten Ni’estiel. Sie musste Lady Dasslerond Bescheid sagen, über den Tod des Elfen und über den mörderischen Bischof und vor allem über den eigenartigen Zauber, der den Nachtvogel – und auch sie selbst – am Berg Aida gerettet hatte. Ohne nachzudenken huschte sie an Dundalis vorbei und ließ den Wachturm am Nordhang unbehelligt hinter sich. Sie wusste, dass sie den Weg nach Westen nehmen musste, wenn sie nach Andur’Blough Inninness wollte, aber sie nahm an, dass die Herrin entweder noch in Palmaris war oder zuerst in den Norden kommen würde, bevor sie wieder heimwärts zog. Sie spitzte die Ohren und lauschte eifrig, ob sie von irgendwoher Tiesttiel, den Sternengesang, hörte. Doch stattdessen vernahm sie das leise Wiehern eines Pferdes und das Stöhnen einer Frau. Tiel’marawee kannte Colleen Kilronney nicht, und sie erkannte auch Jilseponies Pferd nicht. Aber trotz ihrer dringenden Mission brachte sie es nicht über sich, die Frau, die da kopfüber unter dem Pferdebauch hing, einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Mit ihrer zierlichen Elfenklinge schnitt sie Colleen los und gab sich alle Mühe, die Frau
vorsichtig zu Boden gleiten zu lassen. Sie wollte dem Pferd wenigstens den Sattel abnehmen, denn an den Rändern hatte es sich bereits wund gescheuert, und die Frau in die Decke einhüllen, damit sie einigermaßen friedlich sterben konnte. Colleen öffnete mühsam ein Auge; das andere war mit angetrocknetem Blut verklebt. »Nachtvogel«, flüsterte sie mit aufgesprungenen Lippen. »Pony – gefangen.« Tiel’marawees Augen weiteten sich vor Schreck, als sie begriff, was die Worte zu bedeuten hatten. »Pony?«, fragte sie und tätschelte der Frau behutsam die Wange. »Jilseponie? Von wem? Von den Abellikanern?« Doch Colleen hatte getan, was sie konnte, und war bereits in ihren Fieberträumen versunken. Tiel’marawee wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte sich auf keinen Fall aufhalten lassen, trotzdem war ihr klar, dass es sich hier um etwas Wichtiges handelte. Sie rannte zurück zu dem Wachturm und blieb an seinem Fuß stehen. »Da draußen liegt eine Frau!«, rief sie hinauf. Die Wachsoldaten wurden munter. Tiel’marawee hörte ihre schweren Schritte und den Lärm, als sie nach ihren Waffen griffen. »Eine Frau liegt da draußen!«, rief sie noch einmal. »Schwer verletzt. Auf der Straße nach Süden!« »Wer ist da?«, rief einer der Wachposten zurück. Aber Tiel’marawee war schon wieder verschwunden. Kurz darauf konnte sie erleichtert beobachten, wie eine Gruppe von Männern sich in südlicher Richtung auf den Weg machte. Wahrscheinlich hätten sie Colleen nicht so bald gefunden, aber das Elfenmädchen lotste den Trupp geschickt zu ihr hin, indem es das Stöhnen einer verwundeten Frau nachahmte. »Sie gehört zur Stadtwache von Palmaris«, meinte einer der Männer und drehte sie behutsam auf den Rücken, während
einer seiner Begleiter Greystone am Zügel nahm und das Pferd wegführte. »Die Cousine von Shamus Kilronney«, erwiderte ein anderer, kräftiger Mann mit rabenschwarzem Haar. »Colleen heißt sie. Ist nach Caer Tinella gekommen und hat uns die Nachricht vom Tod des Barons überbracht.« »Vielleicht leistet sie ihm bald Gesellschaft«, meinte ein dritter. Doch der erste, der gerade ihre Verletzungen untersuchte, schüttelte den Kopf. »Halb so wild«, sagte er. »Nichts, was ein bisschen Essen und ein warmes Bett nicht wieder in Ordnung bringen könnten. Sie ist in diesem Zustand mindestens schon ein paar Tage unterwegs, wahrscheinlich war sie die ganze Zeit am Sattel festgebunden.« »Prächtiges Pferd«, meinte der dritte, und erst jetzt warf der große Schwarzhaarige einen Blick auf das reichlich mitgenommen aussehende Tier, dessen Fell wund gescheuert war. Er riss erschrocken die Augen auf. »Wer hat denn den Hengst abgesattelt?«, fragte er und beugte sich wieder über Colleen. »Und wer hat uns Bescheid gesagt?«, meinte der dritte. Tomas Gingerwart hatte einen solchen Kloß im Hals, dass er kaum antworten konnte. Er hatte das Tier trotz seines beklagenswerten Zustands erkannt. Das war Greystone, Ponys Pferd! »Bringt sie in die Stadt, schnell«, sagte er zu seinen Kameraden. »Gebt ihr ein warmes Bett und etwas zu essen, und seht zu, dass sie bald reden kann! Na los, geht schon!« Die beiden anderen legten Colleen vorsichtig über Greystones Rücken, dann führten sie das Pferd davon. Tomas folgte ihnen in einigem Abstand und suchte verstört mit den Augen den Wald ab. Diese Gelegenheit nutzte Tiel’marawee, um zwischen dem Blattwerk aufzutauchen.
Der große Mann riss sofort die Hände hoch, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. »Ich bin kein Feind der Elfen«, sagte er und gab sich alle Mühe, sein Erstaunen zu verbergen. »Du kennst uns also und die verletzte Frau ebenfalls«, vermutete Tiel’marawee. »Ich bin Tomas Gingerwart«, erklärte er. »Ein Freund des Nachtvogels und von Jilseponie, deren Pferd die Verwundete hierher gebracht hat.« Tiel’marawee musste an sich halten. Wenn das hier Ponys Pferd war, was war dann mit Lady Dasslerond passiert? »Und ein Freund von Belli’mar Juraviel«, fügte Tomas hinzu. »Oder zumindest ein Kumpel – er hat uns jedenfalls hierher begleitet, bevor er wieder nach Hause gegangen ist.« »Ich bin Tiel’marawee«, erwiderte die Elfe und machte eine tiefe Verbeugung. »Die Frau weiß bestimmt etwas über Jilseponie.« »Dann bitte ich Euch, kommt mit«, sagte Tomas und wandte sich zum Gehen. Das Elfenmädchen überlegte einen Moment, dann nickte sie und folgte ihm. Als sie mit Tomas durch die Stadt ging, streiften sie viele neugierige Blicke. Als sie an Colleens Lager traten, war sie halb bei Bewusstsein und murmelte vor sich hin, dass man Pony gefangen genommen hätte und unbedingt Nachtvogel Bescheid sagen müsse. »Ich habe ihn zuletzt am Barbakan gesehen«, erklärte Tiel’marawee. »Eingeschlossen von einem Wintersturm. So bald wird er da nicht herauskommen, schon gar nicht, wenn der Winter da oben noch einmal zuschlägt.« »Aber Ihr seid durchgekommen«, sagte Tomas nachdenklich. »Und Ihr könntet auch wieder zurück.« Die Elfe sah ihn scharf an.
»Wenn Pony in Schwierigkeiten ist, muss Nachtvogel es erfahren«, sagte Tomas. »Dann geh doch selbst und sag ihm Bescheid«, erwiderte Tiel’marawee kalt und ließ keinen Zweifel daran, dass sie meinte, ihre Pflicht und Schuldigkeit getan zu haben. Tomas sah sie an. »Ihr habt gerade gesagt, dass der Nachtvogel nicht durchkommen würde. Wenn das so ist, wie sollte es da irgendeiner von uns schaffen?« Noch ehe Tiel’marawee etwas antworten konnte, flog die Tür auf und eine aufgeregte Frau stürzte herein. »Soldaten im Anmarsch«, sagte sie völlig außer Atem. »Und Mönche sind auch dabei. Eine ganze Menge sogar.« Als Tomas sich wieder umdrehte, sah er die Elfe gerade noch durch ein Seitenfenster verschwinden. »Um Himmels willen«, murmelte er grimmig. »Haltet sie versteckt«, sagte er dann zu den anderen. »Bei unserer Freundschaft mit dem Nachtvogel, wir wissen nichts von ihr.« Dann lief er eilig hinaus und gesellte sich zu ein paar anderen Leuten, die sich am südlichen Ende der Stadt versammelt hatten, um auf die Soldaten zu warten. Dabei sah er sich ein paar Mal um in der Hoffnung, die Elfe zu sehen, doch er vermutete ganz richtig, dass Tiel’marawee schon weit weg war. »Was denkst du wohl, was die hier wollen?«, fragte einer der Männer. »Mit den Mönchen«, fügte ein anderer sichtlich angewidert hinzu, denn er war dabei gewesen, als der Mönch mit der Tigerpranke vorbeigekommen war und seinem Kameraden den Waffenrock mit einer einzigen Handbewegung zerfetzt hatte. »Allhearts«, flüsterte einer der anderen Tomas zu, als die Truppe in Sichtweite kam. »Ein paar von ihnen haben Federn am Helm.« »Das Eliteabzeichen«, fügte wieder ein anderer hinzu. »Die Leibgarde des Königs.«
»Und so weit weg von Ursal«, meinte ein anderer. Es war ein prächtiger Anblick, doch Tomas achtete mehr auf die Gruppe in den braunen Abellikaner-Kutten, die zu beiden Seiten der berittenen Soldaten einher liefen. Besonders der eine fiel ihm auf, denn es war der Mönch, dem er zwei Wochen zuvor draußen im Wald begegnet war und der ihn und seine Begleiter zu Freunden des Nachtvogels und damit zu Feinden der Kirche erklärt hatte. Als Markwarts Kutsche in Sicht kam, schnappte die Menge um Tomas herum hörbar nach Luft. Er hatte den ehrwürdigen Vater des Abellikaner-Ordens nie zuvor gesehen, aber es hätte ihm niemand zu sagen brauchen, wer in dieser prunkvollen Kutsche saß. »Womit haben wir diese Aufmerksamkeit verdient?«, fragte einer der Umstehenden. »Wohl eher Nachtvogel als wir«, erwiderte ein anderer. Tomas sagte nichts. Er starrte nur unverwandt auf die herannahende Prozession. Und dann sah er Pony, völlig durchnässt und eingeklemmt zwischen zwei Mönchen, und es wollte ihm schier das Herz brechen. Er musste daran denken, wie viele Monate diese Frau und ihr Gefährte für ihn und seine Freunde gesorgt hatten, und ihm fiel wieder der Kampf mit dem Riesenhäuptling ein, als das Ungetüm den Fehler gemacht hatte, Nachtvogel in den Wald zu folgen. Und erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr er die beiden lieb gewonnen hatte und ihren Heldenmut verehrte. Ungefähr zwanzig Fuß von der Menschenmenge entfernt blieb der Zug stehen. Die Soldaten bildeten zwei Reihen und ließen ihre Pferde so dicht Aufstellung nehmen, dass Tomas und die andern die zweite Reihe nicht mehr sehen konnten. »Allhearts«, flüsterte sein Nebenmann erneut, offensichtlich tief beeindruckt. »Bessere gibt’s auf der ganzen Welt nicht.«
Angesichts ihrer Begleitung an diesem Tage war Tomas da nicht so sicher. Ein Mann von etwa vierzig Jahren, kräftig und gut aussehend, der gelassen auf seinem temperamentvollen Pferd saß, löste sich jetzt aus der Gruppe. Auf einen Wink hin folgte ihm einer der Mönche, und zähneknirschend erkannte Tomas den Mann. »Ich bin Herzog Targon Bree Kalas«, sagte der Reiter. »Und ich bin Abt De’Unnero von St. Precious«, beeilte sich der andere hinzuzufügen. »Nennt Ihr Euch noch immer den Anführer der Leute von Dundalis, Tomas Gingerwart?« Die Vertraulichkeit, mit der De’Unnero den Mann begrüßte, verblüffte den Herzog sichtlich, und er sah erstaunt auf den Mönch hinunter. »Wir hätten einen angemesseneren Empfang vorbereitet, wenn wir gewusst hätten, dass uns so bedeutende Männer einen Besuch abstatten würden«, erwiderte Tomas mit einer tiefen Verbeugung. »Eure Empfänge kenne ich nur zu gut«, sagte De’Unnero. Tomas hob abwehrend die Hände. »Ein Fremder ist uns unvorbereitet im Wald über den Weg gelaufen«, erwiderte er. »Das hier ist eine unsichere Gegend, ehrwürdiger Herr.« »Ehrwürdig?«, echote De’Unnero. »Genug des Geplänkels!«, sagte der Herzog und sprang vom Pferd, um genau zwischen Tomas und dem Mönch zu landen. Während Kalas seinen Federhelm abnahm, huschte De’Unnero flink um ihn herum. »Wir sind aus Palmaris gekommen, um diesen Nachtvogel zu suchen«, erklärte Kalas jetzt. »Kennt Ihr ihn?« »Und ob er ihn kennt!«, erwiderte De’Unnero, noch ehe Tomas etwas sagen konnte. »Er steckt mit diesem Mann unter einer Decke – und mit unserem Gast, Jilseponie, der Anhängerin von Avelyn, die den Mordanschlag auf den ehrwürdigen Vater verübt hat.«
Kalas sah den Mönch streng an, doch De’Unnero ließ sich nicht einschüchtern. »Ich warne Euch, Tomas Gingerwart«, sagte er gefährlich leise, »allerdings zum letzten Mal.« »Ich kenne einen Mann namens Nachtvogel«, gab Tomas zu. »Ein wahrer Held ist das.« De’Unnero schnaubte verächtlich. »Nachtvogel«, sprach Tomas unbeirrt weiter, »hat uns zusammen mit Pony – der Frau, die Ihr jetzt gefangen haltet – alle vor den Horden des Geflügelten in Sicherheit gebracht, bevor diese von hier vertrieben werden konnten. Und jetzt behauptet Ihr, dass Ihr ihn sucht. Jagt, meint Ihr wohl! Und wir, die wir ihnen unser Leben verdanken, sollen ihren Feinden Tür und Tor öffnen?« »Ihr werdet tun, was man Euch sagt«, erklärte De’Unnero und ging auf Tomas zu, als wolle er ihn schlagen. »Lieber Master Gingerwart«, schaltete sich Herzog Kalas wieder ein, »ich spreche im Namen von König Danube. Dieser Nachtvogel und die Frau werden der Verbrechen gegen Kirche und Reich bezichtigt. Wir werden sie beide in Palmaris vor Gericht stellen, mit oder ohne Hilfe der Bevölkerung von Dundalis.« »Wir sind hier in den Waldlanden und nicht im Königreich des Bären«, bemerkte ein Mann, der neben Tomas stand. »Dafür könnte ich Euch die Zunge herausschneiden lassen«, sagte Herzog Kalas. »Unser König hat hier keine Machtbefugnis«, erlaubte sich Tomas einzuwenden. »Die Kirche ja auch nicht, wenn es nach Euch geht«, betonte De’Unnero. »Ihr solltet besser aufpassen, wen Ihr Euch zum Feind macht, Master Gingerwart.« »Ich möchte überhaupt niemanden zum Feind haben«, erwiderte Tomas ruhig.
»Dann merkt Euch Folgendes«, antwortete Kalas energisch und schnitt De’Unnero, der gerade wieder den Mund aufmachen wollte, das Wort ab. »Wer uns nicht hilft, hilft dem Nachtvogel, und wenn er der Verbrechen, derer man ihn angeklagt, für schuldig befunden wird, dann werden auch diejenigen, die ihn begünstigt haben, vor König Danubes Augen keine Gnade finden.« Er ließ diese Worte einen Augenblick in der Luft hängen und gab Tomas mit einem scharfen Blick zu verstehen, dass er voll und ganz hinter De’Unnero stand. »Ist er hier?«, fragte Kalas schließlich ruhig. »Nein«, erwiderte Tomas. »Er ist schon viele Tage fort. Ich habe keine Ahnung, wohin er wollte.« »Das wisst Ihr ganz genau«, widersprach ihm De’Unnero. »Er wollte in den Norden zum Barbakan, aber vielleicht ist er ja inzwischen schon wieder da.« »Er ist nicht hier«, sagte Tomas unbeirrt. »Durchsucht die Stadt!«, rief De’Unnero und scheuchte seine Mönche wild gestikulierend fort. Herzog Kalas wollte ihm nicht nachstehen und ließ die Soldaten ebenfalls ausschwärmen. »Wer Widerstand leistet, wird niedergemacht«, sagte er zu Tomas, und dieser brauchte dieselbe Drohung nicht erst von De’Unnero zu hören, um zu wissen, dass die Mönche noch weniger Erbarmen zeigen würden. Sie hatten Colleen Kilronney wirklich gut versteckt, und wenn da nicht Greystone gewesen wäre, hätte sie niemand gefunden. Doch De’Unnero entdeckte das erschöpfte Pferd und zeigte lachend darauf. »Ihr habt also Ponys Pferd gefunden!«, rief er. »Sehr gut. Und nun sagt einmal, lieber Master Gingerwart, wo ist denn der Reiter, der ihn hergebracht hat?« »Er ist auf eigene Faust hergekommen«, sagte Tomas mit zusammengebissenen Zähnen.
»Was Ihr nicht sagt!«, rief De’Unnero theatralisch. »Den ganzen Weg von Caer Tinella bis hierher! Was für ein kluges Tier!« Er kniff bedrohlich die Augen zusammen und brachte sein Gesicht ganz nah an Tomas heran. »Sie ist hier«, sagte er. »Ich rieche sie förmlich. Sucht diese rothaarige Hexe!«, schrie er an seine Mönche gewandt. »Eine Soldatin aus Palmaris. Sie muss verwundet sein.« Um sich nicht ausstechen zu lassen, schickte auch Herzog Kalas seine Leute los. Nun durchkämmten Mönche und Soldaten jedes einzelne Haus und schlugen jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte. Tomas Gingerwart, ihr Anführer, auf den sie alle voller Hoffnung schauten, hatte jetzt genug gesehen. Er schrie De’Unnero an, doch der Mönch schob ihn einfach beiseite und ging auf eigene Faust auf die Suche. Nun richtete Tomas seinen Zorn auf Herzog Kalas, doch sein Protest fand ein jähes Ende, als ein weiterer Mann aus den Reihen der Soldaten auf ihn zuging. »Tomas Gingerwart«, sagte König Danube streng und baute sich vor ihm auf. »Ihr werdet den Mund halten und Euch nicht weiter einmischen! Ich wäre nicht hergekommen, wenn es sich nicht um eine Sache von äußerster Wichtigkeit handelte. Geht aus dem Weg, und sagt den Leuten, sie sollen dasselbe tun!« »M-mein König!«, stotterte Tomas und verneigte sich tief. »Auch hier in den Waldlanden?«, fragte Danube schlau und sah den Mann scharf an, der eben noch geltend gemacht hatte, die Waldlande würden nicht zum Hoheitsgebiet des Königs gehören. Jetzt zitterte Tomas am ganzen Leib, fiel auf die Knie und flehte um Gnade. Doch dann kam Abt De’Unnero zurück, gefolgt von zwei Mönchen, die Colleen Kilronney hinter sich herzerrten. Tomas Gingerwart schloss die Augen. Er hatte das Gefühl, als täte sich unter ihm ein Abgrund auf. Er hörte kaum noch,
wie De’Unnero die Anklage verkündete und Markwart ihn als Verbrecher, Verräter und Verschwörer gegen Kirche und König bezeichnete. »Nicht gegen den König!«, wollte einer der Umstehenden protestieren, doch seine Worte wurden jäh von einem klatschenden Geräusch unterbrochen. Tomas öffnete die Augen und sah den Mann mit dem Gesicht nach unten neben sich liegen, während Abt De’Unnero hinter ihm stand. Tomas sah den König hilfesuchend an, doch der machte ungerührt auf dem Absatz kehrt. Als De’Unnero mit seiner Untersuchung fertig war, hatte man Tomas, fünf weitere Männer und zwei Frauen festgenommen. Der ehrwürdige Vater konfiszierte neun Pferde und ließ die Gefangenen, Pony inbegriffen, kurzerhand quer darüber legen und ihre Hände und Füße mit Stricken um den Bauch der Pferde festbinden. Dann setzte sich die Prozession in Bewegung, die Straße entlang, auf der Nachtvogel noch vor kurzem mit seinen Gefährten nach Norden gezogen war.
Beide hatten Tiel’marawee gebeten, zum Barbakan zu gehen und dem Nachtvogel von Ponys Notlage zu berichten. Und wäre der Hüter ein Touel’alfar gewesen, dann hätte sich die Elfe auch längst dorthin auf den Weg gemacht, als die Soldaten und Mönche in der kleinen Stadt in den Waldlanden wüteten. Doch er war kein Touel’alfar, ebenso wenig wie Pony, und so nahm Tiel’marawee ihren Weg nach Süden, und ihr Entschluss wurde noch bekräftigt durch die zarten Klänge, die an diesem Abend mit dem Nachtwind an ihr Ohr drangen. Am Ende des zweiten Tages hatte sie Lady Dasslerond und die anderen gefunden. Wie nicht anders zu erwarten, traf ihre
Schilderung von Ponys Leid und der Gefahr, die dem Nachtvogel drohte, ihre Gefährten tief, ganz besonders Belli’mar Juraviel. »Das können wir nicht zulassen«, sagte er zur Herrin von Andur’Blough Inninness. »Der König des Bärenreiches leitet zusammen mit dem ehrwürdigen Vater diesen Kreuzzug«, sagte Lady Dasslerond. »Sollen wir vielleicht gegen alle Menschen dieser Welt gleichzeitig Krieg führen?« Juraviel sah ein, dass sie Recht hatte, und ließ den Kopf hängen. »Aber das alles spielt sich dicht vor unserer Tür ab«, gab er zu bedenken. »Das Schicksal des Nachtvogels kann durchaus Folgen für die Touel’alfar haben.« Lady Dasslerond – die des Ganzen so müde war und eigentlich nur noch nach Andur’Blough Inninness zurückkehren wollte – konnte ihm nicht widersprechen. Sie blickte die Elfen an, die sich jetzt dicht um sie scharrten, um ja kein Wort zu verpassen. »Es wird Zeit für uns heimzukehren«, verkündete sie, und alle Köpfe nickten einmütig, selbst der von Juraviel. »Die Lage ist zu verworren und zu gefährlich geworden. Und deshalb ziehen wir uns in unser Tal zurück und verschließen die Zugänge und die Augen vor den Umtrieben der Menschen. Aber nicht unsere Ohren«, fuhr sie nach einer langen Denkpause fort. »Wir kehren alle heim außer dir, Belli’mar Juraviel.« Der Elf sah seine Herrin überrascht an. »Du hast dich selbst als Freund des Nachtvogels und dieser Frau bezeichnet«, erklärte Lady Dasslerond. »Wir empfinden den Nachtvogel alle als unseren Freund«, erwiderte Juraviel.
»Aber niemand steht ihm so nah wie Belli’mar Juraviel«, sagte Lady Dasslerond. »Du hast so lange an der Seite der beiden gekämpft, nun musst du über ihr Schicksal wachen.« »Ich danke Euch, Herrin«, erwiderte Juraviel. »Sieh dir alles genau an«, sagte Lady Dasslerond bestimmt. »Wir haben nichts mit dieser Sache zu tun, Belli’mar Juraviel. Nachtvogel und Pony müssen ihren eigenen Weg finden, oder sie werden untergehen. Merk dir alles gut, und dann komm heim zu uns.« Belli’mar Juraviel verkannte keinen Augenblick, welch hohe Ehre und welches Vertrauen ihm die Elfenkönigin damit erwiesen hatte. Sie wusste genau, was in ihm vorging und dass ihn seine Zuneigung für die beiden zum Eingreifen verführen würde, denn Belli’mar Juraviel war nun einmal ihr Freund. Aber er war auch ein Touel’alfar, und das war noch wichtiger.
16. Noch ein Wunder in Reserve
Es hatte etliche Tage nicht mehr geschneit, und die Luft war ziemlich warm, selbst in den höher gelegenen Regionen des Gebirges, weitab von Avelyns Arm. Eibryan, Roger und ein paar von Shamus’ Männern waren immer wieder bis zur Talsohle hinabgestiegen, um Wild zu jagen, und der Hüter hatte dabei nach einer freien Straße in den Süden Ausschau gehalten. Viel war nicht dabei herausgekommen, aber jedes mal wenn sie zurückkehrten, war Eibryan besserer Stimmung gewesen, denn sie drangen immer tiefer in die Berge vor, und der Zeitpunkt ihrer Abreise schien von Tag zu Tag näher zu rücken. »Heute wird es klappen«, hatte er an diesem Morgen verkündet, als er sich auf den Weg gemacht hatte. Doch als er wieder zurückkam, sah ihm Bradwarden schon von weitem an, dass er noch immer keinen Weg entdeckt hatte, der sie aus dem Barbakan hinausführen würde. Der Hüter wollte sein Pferd benutzen, um möglichst schnell in den Süden und zu Pony zu gelangen, aber während er zu Fuß vielleicht noch durchgekommen wäre, gab es für das Pferd keinerlei Möglichkeit, die verschneiten Gebirgspässe zu überwinden. »Alles zu da oben?«, fragte der Zentaur. »Ich bin gar nicht erst bis ganz nach oben gekommen«, erwiderte Eibryan niedergeschlagen. »Jeder steile Aufgang ist von herabfallenden Schneewehen verschüttet.« »Die sind bald geschmolzen«, sagte Bradwarden zuversichtlich. »Das dauert mir zu lange«, erwiderte der Hüter mit einem Blick auf die Berge im Süden. »Und wenn wir noch einmal
Frost kriegen, überfriert alles, und ich sitze hier noch einen Monat in der Falle.« »Wir kriegen keinen Schnee oder Frost mehr«, meinte Bradwarden unbeirrt. »Und wenn doch, dann wird alles mit der Morgensonne wieder verschwinden.« »Das Schlimmste ist, dass ich sicher bin, auf der anderen Seite ist alles frei«, sagte Eibryan. »Wenn ich bloß irgendwie dorthin kommen könnte, dann wäre der Ritt nach Palmaris eine Kleinigkeit.« »Beruhige dich, mein Junge«, sagte Bradwarden. »Es geht ihr gut. Wir wissen alle, dass du dir Sorgen um sie machst, und mit gutem Grund. Aber du musst ihr vertrauen. Ich wette, Pony hat inzwischen alle möglichen Leute auf ihrer Seite. Sie wird schon mit diesem Markwart – und mit De’Unnero – fertig werden. Und wenn nicht, ist sie sicher schlau genug, sich nicht mit ihnen anzulegen. Darauf kannst du dich verlassen. Es dauert vielleicht noch ein paar Tage, bis der Schnee weg ist. Wenn wir noch mal einen Sturm kriegen, vielleicht auch etwas länger. Symphony ist ein prächtiges Pferd, das beste, das ich je gesehen hab, aber er ist nicht dafür geschaffen, sich durch verschneite Gebirgspässe hindurchzukämpfen. Genauso wenig wie ich – oder hast du mich etwa schon mal bei euren Jagdausflügen gesehen? Nein, mein Junge, du musst dich noch ein bisschen gedulden. Wir bleiben hier, bis der Winter uns rauslässt.« Eibryan nickte lächelnd. Die Argumente des Zentauren waren nicht zu widerlegen. »Wenigstens haben wir genug zu essen!«, erklärte Bradwarden. Da musste Eibryan ihm Recht geben. Sie hatten eine Menge Vorräte, und Avelyns Arm hielt sie warm. Und ein sicheres Plätzchen hatten sie auch, denn seit die Goblins untergegangen
waren, hatte sich kein Ungeheuer mehr in ihre Nähe getraut, nicht einmal während ihrer Ausflüge. Sie konnten also noch von Glück sagen, dass ihre Lage nicht schlimmer war. Doch für Eibryans Geschmack war es immer noch schlimm genug. Er wäre jetzt lieber bei Pony gewesen und hätte ihre Hand gehalten, während sie ihr Kind zur Welt brachte. Er wusste, dass es demnächst so weit sein musste, und wenn er nicht bald hier herauskam, würde es auch Symphony nicht schaffen, ihn noch rechtzeitig nach Palmaris zu bringen.
Markwart und König Danube hatten da gar keine Probleme. Die Straßen nördlich von Dundalis waren frei, und der Tross bewegte sich in ungeheurem Tempo vorwärts. Den ganzen Tag über legten sie nur eine kurze Pause ein, um die Pferde grasen zu lassen und selber etwas zu sich zu nehmen. Die Gefangenen banden sie erst los, als sie ihr Nachtlager aufschlugen. Inzwischen konnten Tomas und die andern sich kaum noch aufrichten. Die arme Pony, die gerade erst den Alptraum des Zweikampfes mit Markwart und den Verlust ihres Kindes bewältigt hatte, konnte sich nicht einmal auf den Beinen halten. Sie krümmte sich am Boden zusammen und hielt sich den Bauch. Tomas bat ihre Häscher, sie mögen sie, oder wenigstens Pony, am nächsten Tage auf ihren Pferden reiten lassen. Markwart wollte davon nichts wissen und sagte nur, dass sie sich ihre Lage selbst zuzuschreiben hätte. Aber De’Unnero machte ihm klar, dass es das Unternehmen unnötig aufhalten würde, wenn sich ihr Zustand verschlimmerte, außerdem wäre das Mädchen lebendig entschieden nützlicher, wenn sie schließlich dem Nachtvogel gegenüberstünden. Am nächsten Tage durfte Pony aufrecht auf dem Pferd sitzen, doch der stechende Schmerz in ihrem Bauch hielt an. Sie
versuchte jedoch tapfer, sich nichts anmerken zu lassen, denn dieses Vergnügen gönnte sie Markwart und den anderen nicht. Sie sah den armen Tomas und die übrigen Gefangenen wie tot über den Pferderücken hängen und sagte sich, dass sie weitaus schlimmer dran waren. Irgendwie brachte sie den Tag hinter sich, und als man das Nachtlager aufschlug, konnte sie immerhin aufrecht sitzen und den anhaltenden Schmerz ignorieren. Sie brachte nur wenig herunter, gerade genug, um sich bei Kräften zu halten – so hoffte sie jedenfalls. Während sie dasaß, kam jemand zu ihr herüber, und obwohl sie den Blick zu Boden gesenkt hatte, erkannte sie Markwart doch sofort an seinem gekrümmten Gang. »Wenn du unterwegs stirbst, werde ich einen Geist herbeirufen, der deinen Körper wieder belebt«, sagte er. »Und dann lockt deine hübsche Stimme den ahnungslosen Nachtvogel direkt in meine Arme.« Pony nahm all ihre Kraft zusammen und begegnete dem hasserfüllten Blick des alten Mannes. »Einen Dämon, meint Ihr wohl«, fauchte sie ihn an. »Auch wenn Ihr diese Ausgeburt der Hölle einen Geist nennt.« »Du erinnerst dich doch sicher noch an dieses Spektakel, nicht wahr?«, fragte Markwart unbeeindruckt. Pony schaute weg. Sie wäre in diesem Augenblick liebend gern auf den Mann losgegangen, mit bloßen Fäusten oder mit einem Seelenstein, wie auch immer. Und sie wusste, dass sie ihn diesmal schlagen würde – trotz ihres erbärmlichen Zustands. Sie würde ihn ein für allemal zerstören und allen die Wahrheit vor Augen führen. Wenn König Danube erst die schwarze Seele des ehrwürdigen Vaters sähe, hätte sie einen starken Verbündeten gegen die Kirche auf ihrer Seite! »Vorhin war ich draußen und habe die Straße vor uns abgesucht«, sagte Markwart jetzt. »Und ich habe ihn
gefunden.« Damit sagte er die Wahrheit, aber er verschwieg, dass ihm auf seinem spirituellen Ausflug etwas Merkwürdiges widerfahren war. Etwas hatte ihn davon abgehalten, zu dem Plateau hinaufzugehen, obwohl er den Hüter und seine Begleiter von weitem dort oben gesehen hatte. Wider alle Vernunft sah Pony Markwart noch einmal an. »Den Nachtvogel, den Zentauren und ihre Freunde, die fünf abtrünnigen Mönche inbegriffen«, fuhr Markwart genüsslich fort. »Sie hocken allesamt, vom Schnee eingeschlossen, da oben auf dem Berg Aida und warten auf uns. Noch drei Tage, mein liebes Kind, und dein Nachtvogel wird uns Gesellschaft leisten. Ich freue mich schon darauf, ihn nach Palmaris zu schleppen! Quer auf ein Pferd gebunden – einen schönen Helden werden wir den Leuten da zeigen, wenn wir ihn im Triumphzug durch die Straßen von Palmaris schleifen.« Pony wandte sich ab. »Das Volk liebt Hinrichtungen«, sagte Markwart und beugte sich zu Pony hinab. »Diese Dummköpfe sehen es zu gern, wenn einer aufgehängt oder gesteinigt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird – ja, das mögen sie ganz besonders. Es gibt ihnen ein Gefühl der Unsterblichkeit, wenn sie den Tod so unmittelbar vor Augen haben. – Vielleicht macht es ihnen auch einfach nur Spaß, andere leiden zu sehen«, beendete der boshafte Greis seine Ausführungen. »Ein Mann Gottes«, murmelte Pony verächtlich. Markwart packte sie unterm Kinn und riss ihren Kopf ruckartig nach oben. »Jawohl, ein Mann Gottes«, schnaubte er, und sein heißer Atem streifte ihr Gesicht. »Eines barmherzigen Gottes für diejenigen, die es verdienen, und eines Rachegottes für die anderen. Ich habe mir deine Spielchen lange genug angesehen, Jilseponie. Du hältst dich für eine Heldin des gemeinen Volkes, für eine, die die Wahrheit gepachtet hat. Aber du bist keine Heldin. Du und dein Freund bringen nur
Unglück über die, von denen ihr behauptet, sie anzuführen und deine ganze Weisheit ist nichts als lächerliches Mitleid, mit dem du das Leid nur vorübergehend linderst, ohne Disziplin und ohne irgendein höheres Ziel.« Pony entzog sich seinem Griff, ohne jedoch den Blick abzuwenden. Einen Augenblick bekam sie es mit der Angst zu tun, seine Worte könnten womöglich ein Körnchen Wahrheit enthalten. Doch dann dachte sie an all die Dinge, die sie mit Eibryan zusammen in diesem Krieg für andere getan hatte, während die Mönche gemütlich in ihren Klosterfestungen gesessen hatten. Und sie dachte auch an den Schwerttanz, den ihr Eibryan beigebracht hatte und der ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung verlangte. Da lagen ihre Wahrheit und ihre Stärke. In diesem Licht betrachtete sie die Worte des alten Mannes etwas genauer und versuchte, zu einer umfassenderen Vorstellung vom Wesen ihres gefährlichen Gegners zu gelangen. Vor allem aber wurde ihr klar, dass Eibryan ihm nicht entkommen würde, wenn sie erst einmal am Barbakan waren. Den ganzen nächsten Tag verbrachte sie in tiefer Versenkung und versuchte, eine Sitzposition zu finden, die ihre Schmerzen erträglich machte. Sie fühlte sich ein wenig besser, so als hätten ihr Markwarts Vorhaltungen wieder einen Lebenssinn gegeben, allerdings bemühte sie sich, De’Unnero, der die ganze Zeit neben ihr herlief nichts davon merken zu lassen. Doch vielleicht konnte sie sich dessen Wachsamkeit zunutze machen, und als der südliche Rand der Berge, die den Barbakan umgaben, in Sicht kam, begann sie einen Plan zu schmieden. In dieser Nacht wirkte sie ziemlich unruhig, obwohl es ihr in Wirklichkeit viel besser ging als den anderen, die den ganzen Tag auf ihren Pferden festgebunden waren. Ihr unterdrücktes
Stöhnen wurde jedes Mal lauter, wenn De’Unnero an ihr vorbeikam. Am nächsten Vormittag gedachten sie die südlichen Ausläufer des Barbakan zu erreichen. Die Karawane zog unaufhaltsam weiter, De’Unnero immer an Ponys Seite. Nachdem sie sich kurz vergewissert hatte, dass niemand anders zusah, biss sie sich kräftig von innen auf die Wange. Als sie ihr eigenes Blut schmeckte, ließ sie sich so plötzlich vornüberfallen, dass sie seitlich vom Pferd rutschte. De’Unnero sprang herbei und zog sie mit Müh und Not wieder hinauf. Doch sie schwankte hin und her und sah aus, als würde sie jeden Augenblick wieder den Halt verlieren. »Lasst mich doch einfach liegen und sterben«, sagte sie mit schwacher Stimme, während ihr das Blut zwischen den Lippen hervortrat. Der Abt von St. Precious starrte sie verwundert an. »Was, schon vorbei?«, sagte er. »Markwart hat noch nicht einmal richtig angefangen, und du willst schon sterben?« »Macht, was Ihr wollt«, erwiderte Pony matt und ließ den Kopf hin und her baumeln, als würde sie gleich wieder vornüberfallen. »Ich weiß, dass es mit mir zu Ende geht. Ich habe innere Blutungen und werde diesen Tag nicht überleben.« Nun sah De’Unnero sie ernsthaft beunruhigt an. Das konnte er nicht gebrauchen, jetzt noch nicht. Wenn Pony nicht dabei war, würden der Hüter und seine Freunde sie sicher angreifen. Zusammen mit den Allheart-Soldaten würden sie zwar schnell mit ihnen fertig werden, aber auf diese Weise wollte De’Unnero die Sache nicht beenden und Markwart mit Sicherheit erst recht nicht. Denn dann konnte der König sich rühmen, die Verschwörung gegen die Kirche niedergeschlagen zu haben, und man würde das rebellische Verhalten von Shamus Kilronney und den Kingsmen unter den Teppich kehren.
Nein, sie brauchten Pony noch als Lockvogel, und so gern er auch noch einmal im Zweikampf gegen den Nachtvogel angetreten wäre, De’Unnero war klar, dass es der beste Weg war, diesen als Gefangenen nach Palmaris zu bringen. Er drehte sich um und sah Markwart bequem mit geschlossenen Augen in seiner Kutsche sitzen und sich auf die Edelsteine konzentrieren, um den anderen Mönchen Durchhaltekraft zu verleihen. Er wollte ihn nicht stören, und so verließ er sich auf seinen eigenen Instinkt und hielt Pony seinen Ring mit dem Seelenstein vor den Leib; dann konzentrierte er sich auf den Stein, um dessen magische Kräfte zu wecken. Pony spürte sofort die einladenden Schwingungen und ließ sich tief hineinfallen, dann verließ sie ihren Körper und schoss wie der Blitz zum Barbakan hinauf. Sie sah die abgeflachte Spitze des Aida-Berges, sah Eibryan – ihren geliebten Eibryan! – und ließ ihren Geist im Sturzflug auf ihn herabfahren. Markwart kommt!, ließ sie ihn verzweifelt wissen. Markwart kommt mit König Danube! Lauft! Lauft um euer Leben! »Was hast du gesagt?«, fragte der Hüter Bradwarden, der neben ihm stand. Doch als der Zentaur ihn verdutzt ansah, merkte Eibryan, wer da mit ihm geredet hatte. »Pony!«, rief er und versuchte, sich irgendwo festzuhalten, doch sie war bereits wieder in ihren Körper zurückgekehrt und lag jetzt am Boden, während De’Unnero, dessen eine Faust blutig war, über ihr kniete. Benommen sah Pony ihn an und musste trotz ihrer blutenden Nase lächeln. Sie wusste, dass sie einen kleinen Sieg errungen hatte, als De’Unnero ihr mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Dann zerrte er sie grob hoch, warf sie quer über den Sattel und befahl den umstehenden Mönchen, sie wieder festzubinden wie die anderen Gefangenen.
Nun ergab sich Pony bereitwillig ihrem Schicksal. Sie konnte nur hoffen, dass Eibryan ihre Warnung gehört hatte und sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. »Was ist hier los?«, fragte Markwart, der zu De’Unnero gelaufen kam und sich dabei nervös umsah, ob König Danube etwas mitbekommen hatte. »Sie wollte von mir Besitz ergreifen«, log der Mönch. »Hat ihren Geist in den Seelenstein geschickt, als ich ihre Wunden heilen wollte – die sie allerdings nur vorgetäuscht hatte.« Markwart warf einen Blick auf Pony. Entwischen wollte sie!, sagte die Stimme in seinem Kopf, und er riss vor Schreck die Augen auf. Um ihre Freunde zu warnen. »Wie lange war sie mit dem Stein in Kontakt, bevor du es gemerkt hast?«, fragte Markwart. De’Unnero zuckte mit den Schultern. »Ein paar Minuten, mehr nicht.« Markwart überlegte. Er war bewandert in dieser Art der Fortbewegung und wusste, wie weit Pony in dieser Zeit gekommen sein konnte. »Sie darf auf keinen Fall mit irgendwelchen Steinen in Berührung kommen, selbst wenn sie in Lebensgefahr ist!«, sagte er. Dann kehrte er zu seiner Kutsche zurück und nahm seinen eigenen Seelenstein zur Hand. Er konnte sich vorstellen, welchen Weg Pony genommen hatte, und ging denselben Pfad über die Berge und hinunter ins Tal; dann schwebte er wieder an der Wand des Aida-Berges hinauf. Er wusste, dass sie noch da waren – Nachtvogel und die anderen Verschwörer. Nun wollte er sehen, was sie unternahmen, um herauszufinden, ob die Frau bis zu ihnen vorgedrungen war. Vielleicht würde er sogar einen von ihnen in Besitz nehmen. Doch wiederum hielt irgendetwas seinen Geist am Rand des Plateaus zurück, so als würde sein Körper gegen eine Mauer rennen.
Markwart versuchte, diese Mauer zu durchbrechen, aber eine Kraft versperrte ihm den Weg, die um ein Vielfaches stärker war als die von Lady Dasslerond, als sie ihn unlängst gezwungen hatte, wieder in seinen Körper in Palmaris zurückzukehren. Er wusste nicht, was es war, aber er wusste genau – ebenso wie die Stimme in seinem Kopf –, dass er dagegen machtlos war. Er sagte sich, dass Braumin und die anderen Mönche über einen ungewöhnlich wirksamen Sonnenstein verfügen mussten. Trotzdem konnte er sich kaum vorstellen, dass es einen solchen Stein gab, denn dieser hätte ungleich prächtiger sein müssen als alles, was er je gesehen hatte. Verdrossen kehrte der ehrwürdige Vater schließlich in seinen Körper in der Kutsche zurück. Als er sah, dass die Mönche hinter den Reitern zurückblieben, griff er schleunigst wieder nach seinem Malachit und versorgte sie mit neuer Energie. Den ganzen Tag dachte er über diese geheimnisvolle Kraft auf dem Bergplateau nach, und er war froh, dass er so schlagkräftige Krieger bei sich hatte.
»Sie haben ihr Lager auf der anderen Seite des Passes, allerdings dürfte es ihnen schwer fallen, mit ihren schweren Rüstungen und Pferden durch den Schnee zu kommen«, vermeldete Roger Flinkfinger, als er an diesem Abend von seinem Erkundungsgang zurückkehrte. Eibryan war völlig klar, dass der ehrwürdige Vater und der König seinetwegen gekommen waren, und höchstwahrscheinlich war De’Unnero bei ihnen. »Sag Shamus, er soll heute Nacht scharf aufpassen«, sagte der Hüter zu Bradwarden. »Vielleicht will der Bischof uns schon vorher einen Besuch abstatten.«
»Hoffentlich«, erwiderte der Zentaur. »Dann haben wir wenigstens die Chance, ihm eins zu verpassen, bevor die ganze verdammte Armee über uns herfällt.« »Sollen wir denn hier oben bleiben?«, fragte Roger ungläubig. »Wo sollen wir denn sonst hin?«, erwiderte Eibryan. »Die Goblins kontrollieren noch immer die Berge um den Barbakan – mit Ausnahme der südlichen Pässe. Markwart findet uns mit seinen Steinen, ganz egal, wohin wir gehen. Hier oben im Schutz von Avelyn sind wir am sichersten.« »Du solltest wenigstens die Mönche wegschicken«, meinte Bradwarden. »Sie müssen ja nicht unbedingt hier oben ihr Leben lassen. Wenn Markwart nur hinter uns beiden her ist, können sie vielleicht entkommen.« »Das habe ich ihnen bereits vorgeschlagen«, erwiderte der Hüter. »Aber Bruder Braumin wollte nichts davon wissen. Er kann es gar nicht abwarten, als Markwarts Gefangener nach Palmaris zurückzukehren und von dem Wunder am Berg Aida zu erzählen.« »Das wird ihm schwer fallen, wenn er keine Zunge mehr im Mund hat«, sagte der Zentaur trocken. Daran hegte Eibryan keinen Zweifel. Markwart würde nie zulassen, dass Braumin oder irgendeiner von ihnen die Wahrheit erzählte. Sie würden hier und jetzt gewinnen oder alles verlieren, neben Avelyns emporgerecktem Arm. Er kannte die Kraft der Steine und wusste, wie man mit dem Seelenstein auf die Suche gehen konnte. Und ihm war klar, dass es kein Entrinnen gab, jetzt, wo Markwart ihnen auf der Spur war. Nein, entweder würden sie mit Avelyns Hilfe siegen, oder alles wäre verloren. Nein, dachte der Hüter plötzlich, nicht alles.
»Du musst noch heute fort«, sagte er zu Roger. »Nimm Symphony und geh in Richtung Süden. Such dir ein Loch, in dem du dich verkriechen kannst. Wenn Markwarts Tross an dir vorbeigezogen ist, dann reite, so schnell du kannst, nach Süden zu Pony und erzähl ihr alles – erzähl ihr von dem Wunder und von unserem letzten Standort. Das hier darf nicht mit uns untergehen.« »Sie wollen dich lebendig«, meinte Roger, der offensichtlich nicht sehr begeistert war. »Sie wollen dich als Gefangenen.« »Dann ist es umso wichtiger, dass du ihnen entkommst«, erwiderte der Hüter. »Nimm das hier«, fügte er fast beiläufig hinzu und nahm den Reif von seinem Kopf, den einzigen Edelstein außer dem einen in seinem Schwertgriff und dem Türkis auf Symphonys Brust, den ihm Pony hinterlassen hatte, als sie sich getrennt hatten. Roger schüttelte entsetzt den Kopf, als fürchtete er, dass er den Nachtvogel dann nie wieder sehen würde. »Ich bin mit dir hierher gekommen, habe dich sogar zu dieser Reise gedrängt, und wenn wir jetzt sterben müssen, dann sterben wir auch gemeinsam.« »Schön gesagt«, meinte Eibryan. »Aber ziemlich dumm. Ich schicke dich nicht fort, weil ich Angst um dich habe, Roger Flinkfinger. Dein Weg könnte sich sogar als gefährlicher erweisen als der meine! Wenn Markwart mich erwischt, tot oder lebendig, und Bradwarden und die Mönche ebenfalls – und wenn der König, falls er wirklich dabei ist, Shamus Kilronney gefangen genommen hat –, werden sie nicht weiter suchen. Du bist als Einziger geschickt und unauffällig genug, um durchzukommen. Da gibt es für mich gar keine Diskussion. Als wir in den Norden kamen, haben wir uns darauf geeinigt, dass ich der Anführer bin. Also nimm Symphony und geh. Schleich dich an Markwart vorbei und schlag dich zu Pony nach Palmaris durch.«
Roger sah Bradwarden Hilfe suchend an, aber dieser schien voll und ganz mit der Entscheidung des Hüters einverstanden. »Glaubst du wirklich, dass Avelyns Kraft ausreicht, um den ehrwürdigen Vater zu schlagen?«, fragte er mit bebender Stimme, während er den Reif an sich nahm. Der Hüter zuckte die Achseln. »Ich hatte uns schon alle aufgegeben«, erwiderte er. »Wer weiß, was Avelyns Geist noch für Wunder für uns bereithält?« Bald darauf machte sich Roger mit Symphony auf den Weg; er trug das Katzenauge, mit dem man auch im Dunkeln sehen konnte. Die Wege waren noch immer tückisch für ein Pferd, aber Symphony schaffte es, und lange vor Sonnenuntergang war Roger weit in die Berge vorgedrungen und lag auf der Lauer.
Normalerweise wären sie nicht weitergekommen, denn die höher gelegenen Wege waren noch immer tief verschneit. Doch Markwart schickte Mönche mit Rubinen voraus und gab ihnen etwas von seiner eigenen Kraft ab. Unter den Flammen, die aus den Steinen schlugen, lösten sich selbst dicke Schneewehen in Pfützen und Dampf auf. Bald nach Mittag sahen sie den Berg Aida vor sich. Sie würden noch vor Sonnenuntergang am Ziel sein.
Neugierig wie immer, stieg Roger vom Pferd und schlich sich näher heran, um dem Schauspiel verblüfft zuzusehen. Seine Ehrfurcht wuchs noch, als der ganze Tross an ihm vorbeisprengte, die stolzen Allheart-Krieger vorneweg. Auf einmal spürte er ein Gefühl der Beklemmung, denn er entdeckte die Gefangenen, und die dicke goldblonde Mähne seiner geliebten Freundin war nicht zu übersehen. Nervös
blickte er sich um, und Panik ergriff ihn. Er musste zu Eibryan und ihm Bescheid sagen! Er musste seine Freunde alarmieren oder irgendwie versuchen, Pony zu retten. Doch das Tempo, in dem die Streitmacht vorwärts stürmte, nahm ihm den Mut. Er konnte nicht zurück, ohne dass sie ihn sehen würden. Und dann würde Markwart oder irgendein anderer Mönch ihn auf der Stelle mit seiner Zauberkraft niederstrecken. Und jeder Versuch, Pony zu befreien, war lächerlich, das war ihm klar. Er konnte nur hilflos dasitzen und zusehen.
»Allhearts«, stöhnte Shamus Kilronney, als sich der Tross durch das morastige Tal des Barbakan wälzte. »Wir sind verloren.« Etlichen seiner Leute stand dieselbe Überzeugung ins Gesicht geschrieben. »Ihr müsst auf Bruder Avelyn vertrauen«, sagte Braumin Herde. »Und auf Euren König«, fügte Bradwarden hinzu. »Ihr habt doch gesagt, er wäre ein anständiger Mensch, und ein anständiger Mensch hört sich an, was ihr zu sagen habt, und hält euch nicht für Verbrecher.« Eibryan blickte auf die immer näher kommenden Truppen hinunter und dachte nach. Wenn Bradwarden Recht hatte, was hätte es dann für einen Sinn, wenn sie sich hier oben verschanzten und Pfeile auf die Soldaten und Mönche abfeuerten? Was würde der König von ihrer Geschichte halten, wenn er seine Leibgarde tot an den Hängen des Aida-Berges liegen sah? Da fasste der Hüter einen Entschluss. Vor allem Bradwarden war gar nicht begeistert, als er ihnen eröffnete, dass sie nicht
kämpfen würden, aber als er ihnen seine Gründe auseinander setzte, akzeptierten sie seine Entscheidung. Und so saßen sie, ebenso wie Roger Flinkfinger, da und warteten ab. Am späten Nachmittag näherte sich die Spitze des Zuges dem Plateau. »Das hier gehört nicht mehr zum Bärenreich!«, rief Bruder Castinagis ihnen zu. »Ihr habt hier keine Machtbefugnis.« Die Antwort war ein Speerfeuer aus Blitzen, wie es die Gefährten noch nie erlebt hatten. Steine splitterten und flogen ihnen um die Ohren, sodass sie zurückweichen mussten, bis sie sich wieder in derselben hilflosen Position befanden wie zuvor, als die Goblins auf sie losgegangen waren. »Euer König scheint ja nicht viel vom Reden zu halten«, meinte Bradwarden und spannte seinen Bogen. »Das werden wir ja sehen«, sagte Eibryan und griff nach dem Bogen, um ihn am Schießen zu hindern, als die ersten Soldaten und Mönche den letzten Hang erklommen, erstere auf der rechten Seite, die einzige Möglichkeit für die Pferde. Die Mönche kamen von links über den Weg, auf dem Eibryan und Bradwarden vor den Goblins geflüchtet waren. An ihrer Spitze befand sich Marcalo De’Unnero. »Also, den da könntest du mir aber wenigstens lassen!«, rief Bradwarden. »So trifft man sich wieder, Nachtvogel«, sagte De’Unnero, unbeeindruckt von dem Zentauren. »Ich stehe Euch gern im Kampf Mann gegen Mann zur Verfügung«, erwiderte der Hüter. Der Abt fand das Angebot äußerst verlockend, doch dann erinnerte er sich an seine Aufgabe und seine Position. »Ein andermal vielleicht«, erwiderte er, »bevor du hingerichtet wirst.« Bradwarden schüttelte den Hüter ab und legte seinen Bogen an.
»Man hat mich geschickt, um dir zu sagen, dass, wenn du Widerstand leistest, deine Freundin, die sich hinter uns in der Gewalt des ehrwürdigen Vaters befindet, grausam sterben wird.« Der Hüter musterte ihn eindringlich, denn er wusste nicht, ob er ihm glauben sollte. Die Drohung ließ Bradwarden innehalten. »Ich bin Targon Bree Kalas, Herzog des westlichen Bärenreichs«, erklärte jetzt einer der Krieger und rückte näher. »Abt De’Unnero sagt die Wahrheit. Wir werden Euch hier nicht bekämpfen, wenn Ihr Euch widerstandslos festnehmen lasst. Ergebt Euch der Krone, und ich verspreche Euch dafür einen fairen Prozess vor dem Gerichtshof des Königs.« Der Hüter sah seine Freunde an, dann hängte er sich den Bogen über die Schulter und gab Kilronneys Soldaten ein Zeichen, die Waffen wegzulegen. Er dachte jedoch nicht daran, sich zu ergeben, sondern hoffte, dass er seine Häscher auf das Plateau locken konnte, damit Avelyn sie noch einmal rettete. Dann würde er schnell zu Markwart laufen, und falls der König sich ihm in den Weg stellen sollte, dann würde das Bärenreich anschließend einen neuen König brauchen. »Ihr kennt mich, Hauptmann Kilronney«, fuhr Herzog Kalas fort. »Sagt Eurem Freund, wie es aussieht, bevor ich die Geduld verliere. Wir sind sechshundert Meilen geritten, um Euch zu finden, und viele meiner Soldaten würden sich nach der langen, eintönigen Reise liebend gern ein bisschen austoben.« »Er ist es wirklich«, sagte Shamus zu dem Hüter. Eibryan nickte. »Bleibt ruhig«, sagte er zu den andern. Der Ring ihrer Verfolger wurde enger und enger. Doch der Berg gab nicht den geringsten Laut von sich, und Avelyns Arm regte sich nicht. »Die Zauberkraft muss erloschen sein«, flüsterte Shamus.
»Nein«, meinte Bruder Braumin. »Aber das da sind nicht die Horden des Dämons.« »Vielleicht nicht bewusst«, sagte Eibryan trocken. Er blickte wieder in die Runde, und ihm wurde klar, dass die anderen nur auf einen Wink von ihm warteten. Wenn er sein Schwert zöge, würden ihm alle bereitwillig in den Tod folgen. Doch das konnte er nicht riskieren. Nicht solange Pony in Markwarts Gewalt war. Plötzlich stieß Bruder Mullahy einen markerschütternden Schrei aus. Der sonst so ruhige Mann konnte es nicht mehr ertragen. »Nein! Ich gehe nicht mit und lasse mich umbringen zur Belustigung von Leuten, die sich von Markwart für dumm verkaufen lassen.« »Beruhige dich, Bruder!«, rief Braumin Herde, und Bruder Castinagis griff nach seinem Freund und zog ihn zurück. »Bring ihn zum Schweigen«, sagte De’Unnero zu einem seiner Begleiter, der einen Graphit bereithielt. »Nein!«, schrie Mullahy noch einmal, riss sich von Castinagis los und lief auf den Rand des Abgrunds zu. »Haltet ihn auf!«, rief De’Unnero. Doch noch ehe die anderen es verhindern konnten, breitete Bruder Romeo Mullahy die Arme aus und sprang mit dem inbrünstigen Ruf nach Avelyn auf den Lippen in die Tiefe. Für einen Augenblick herrschte auf beiden Seiten atemlose Stille. De’Unnero und mehrere seiner Begleiter stießen einen enttäuschten Seufzer aus. Herzog Kalas setzte sich mit seinem Trupp in Bewegung, und auch De’Unnero rückte mit den Mönchen auf. »Also, Nachtvogel«, fragte der Herzog, »hast du oder einer deiner Freunde noch mehr Überraschungen zu bieten?« »Ihr habt mir einen fairen Prozess versprochen«, erwiderte Eibryan. Kalas nickte und sah ihn mit starrem Blick an.
Der Hüter zog sein Schwert aus der Scheide und warf es dem Herzog vor die Füße. Doch De’Unnero griff als erster danach und scheuchte die Mönche schnell zu Bradwarden, den Verschwörern und vor allem zu Nachtvogel. Shamus und seine Männer überließ er großmütig Herzog Kalas. Markwart sah mit gemischten Gefühlen, wie der Tross wieder den Aida-Berg herabmarschiert kam. Er hatte noch einmal versucht, seinen Geist dort hinaufzuschicken, und wieder war es ihm nicht gelungen. Sein Verdruss wuchs ins Unermessliche, als er feststellen musste, dass der Hüter und seine Freunde keinerlei magische Barrieren installiert hatten. Nun, da sie den ganzen Haufen festgenommen hatten, machte er sich noch einmal auf den Weg. Doch er scheiterte auch diesmal wieder.
17. Ein Opfer für den Seelenfrieden
Er war kein großer Reiter, aber bei Symphony war das auch gar nicht vonnöten. Sobald Roger begriffen hatte, dass Avelyn seine Freunde diesmal nicht gerettet hatte, machte sich Roger ebenfalls auf nach Süden. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er jetzt tun sollte. Zuerst dachte er daran, sich ins feindliche Lager zu schleichen und Eibryan oder Pony zu befreien. Schließlich hatte er solche Kunststücke damals in Caer Tinella auch vollführt und den Pauris ihre Vorräte und Gefangenen direkt vor der Nase weggeschnappt. Aber dann verwarf er den Gedanken. Das hier waren keine Pauris, sondern der König des Bärenreiches mit seiner Eliteeinheit. Und was noch schlimmer war, es waren Markwart und Bischof De’Unnero mit einer Horde edelsteinbewehrter Abellikaner-Mönche. Er würde es vielleicht schaffen, sich hineinzuschleichen, aber Roger wusste ganz genau, dass er niemals wieder mit heiler Haut dort herauskäme. Und selbst wenn es ihm gelänge, Eibryan oder Pony oder auch alle beide zu befreien und ihnen ihre Waffen und Steine wieder zu beschaffen, würde das wenig nützen. Schließlich waren sie vorher auch bewaffnet gewesen, und doch sah es fast so aus, als hätte keiner ihrer Häscher auch nur einen Kratzer abbekommen. Also ritt er, so schnell er konnte, nach Dundalis – der prächtige Hengst ließ die Streitmacht mühelos hinter sich. Dort erfuhr er zu seinem Entsetzen, dass man Tomas ebenfalls verschleppt hatte. Da setzte er seinen Weg unbeirrt fort, an Caer Tinella und Landsdown vorbei in Richtung Palmaris – obwohl er wirklich
nicht wusste, was er dort noch hätte ausrichten können. Einsam und allein verbrachte er eine Nacht in einem Kiefernwäldchen, und erst dort merkte er schließlich, dass noch nicht alle seine Freunde tot oder gefangen waren. Denn dort stieß Belli’mar Juraviel auf ihn oder vielmehr auf Symphony und ging der Spur in der frohen Erwartung nach, Nachtvogel sei dem ehrwürdigen Vater doch noch irgendwie entkommen und plane jetzt neue Gegenschläge. Nachdem die anfängliche Freude und Erleichterung beim Anblick von Juraviel sich ein wenig gelegt hatte, erzählte Roger diesem schweren Herzens, was am Barbakan geschehen war. Der Elf hörte ihm mit wachsender Sorge zu, denn nun schien wirklich alles verloren. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Roger schließlich, doch Juraviel schloss nur kurz seine goldenen Augen. Dann blickte er ihn traurig an und schüttelte den Kopf. »Sieh dir alles genau an«, wiederholte er hilflos die Anweisung der Herrin. »Ansehen?«, fragte Roger verständnislos. »Was denn? Eine Massenhinrichtung?« »Vielleicht«, sagte Juraviel. »Waren sie schon in Caer Tinella?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Roger. »Sie waren nur einen Tag nach mir in Dundalis, ich habe sie weiter unten entlang ziehen sehen. Das ist fast eine Woche her. Sie wollten nach Süden, nach Palmaris, nehme ich an. Aber Symphony holen sie nicht ein, deshalb weiß ich nicht, wie weit sie noch hinter mir zurück sind.« »Sind Nachtvogel und Pony noch am Leben?«, fragte Juraviel. Roger zuckte zusammen, denn diese Frage hatte er sich selber in den letzten Tagen immer wieder gestellt. »Wahrscheinlich will sie der König nach Palmaris bringen und dort vor Gericht stellen«, fuhr der Elf fort.
»Dann müssen wir auch dorthin«, meinte Roger. »Wir müssen draußen vor dem Tor auf sie warten«, erwiderte Juraviel. »Ich möchte ihren Einzug in die Stadt sehen, damit wir uns vergewissern können, dass unsere Freunde noch am Leben sind, und wenn wir geschickt sind, finden wir dabei heraus, wo sie sie einsperren.« Rogers Blick wanderte langsam nach Norden. Der Alptraum war in vollem Gange, und er fühlte sich zu schwach, um ihn noch aufzuhalten.
Als die Prozession mit den Gefangenen im Schlepptau in Palmaris Einzug hielt, war der Frühling ausgebrochen. Das einzige Zugeständnis, das König Danube Markwart während der gesamten Reise abgerungen hatte, war, dass die Gefangenen aufrecht auf ihren Pferden sitzen durften, sodass sie noch so lange ihre Würde behielten, bis sie offiziell verurteilt waren. Doch das brachte Eibryan auch keine große Erleichterung. Markwart achtete sorgfältig darauf, dass der Hüter und sein Mädchen sowohl tagsüber als auch während des Nachtlagers keine Gelegenheit erhielten, miteinander zu reden. Sie warfen sich von Zeit zu Zeit einen Blick zu, und der Hüter nutzte diese kurzen Momente, um Pony liebevoll anzusehen, zu lächeln und mit den Lippen die Worte »Ich liebe dich« zu formen, um ihr auf jede erdenkliche Weise zu verstehen zu geben, dass er ihr nicht böse war. Eines beunruhigte ihn allerdings zunehmend: Pony war offensichtlich nicht schwanger. Eine Vielzahl von Fragen stürmte auf den Hüter ein, und es machte ihm zu schaffen, dass er so bald keine Antwort darauf erhalten würde. War das Kind schon geboren? Hatte sie es verloren? Wenn es am Leben war,
wo hatte sie es dann gelassen? Und wenn nicht, wer hatte es getötet? Er hatte keine Ahnung, und niemand würde es ihm sagen. Er wurde von den Allheart-Soldaten bewacht, weit entfernt von Pony, und sowohl Markwart als auch König Danube hatten den Soldaten strikte Anweisungen erteilt. Sie durften nicht mit ihm reden und ihm keinerlei Beachtung schenken, solange sich nicht etwas Unvorhergesehenes ereignete. Zu seinem Leidwesen ereignete sich auf dem ganzen Weg nach Palmaris absolut nichts Unvorhergesehenes. Es tröstete ihn ein wenig, dass Markwart sich in dem Streit mit König Danube um die Unterbringung der Gefangenen durchsetzte und er, Pony, die Mönche und Bradwarden in St. Precious in den Kerker geworfen werden sollten, während Herzog Kalas Colleen, Shamus Kilronney und seine Männer, Tomas und die Leute aus Dundalis im Hause von Aloysius Crump in Gewahrsam nahm. Während sie zu den Verliesen der Abtei hinabstiegen, sah er Pony kurz und kam ihr näher als die ganze Zeit zuvor. »Ich liebe dich«, sagte er schnell, bevor ihn der Mönch neben ihm zum Schweigen bringen konnte. »Wir sehen uns wieder.« Dann fielen zwei andere über ihn her und knebelten ihn. Er hörte Pony ebenfalls sagen »Ich liebe dich« und dass Markwart ihr Kind umgebracht hätte. Und dann stieß man ihn in seine Zelle und schmetterte ihm die schwere Tür ins Gesicht. Nach einer Weile hatte sich der Hüter wieder soweit in der Gewalt, dass er auf allen vieren durch den Schmutz kroch und nach Pony rief. Zu seiner großen Überraschung antwortete ihm eine leise Stimme. »Pony?«, fragte er in verzweifelter Hoffnung.
»Bruder Braumin«, kam die Antwort. »Pony ist ganz am anderen Ende des Ganges, in der allerletzten Zelle. Nur Bradwarden ist in einem anderen Korridor, weil er in keine der Zellen hier hineingepasst hat.« Eibryan seufzte und lehnte niedergeschlagen das Gesicht an die Zellentür. »Meine Brüder und ich stehen alle in einer Reihe, mein Freund«, hörte er Braumin sagen. »Wir werden jedes Wort zwischen euch hin und her tragen, wenn es dir nichts ausmacht, dass wir es auch hören.« Eibryan musste über diese absurde Situation lachen, doch er nahm Braumins Vorschlag dankbar an. Er erzählte Pony alles, was er erlebt hatte, seit sie ihn in Caer Tinella verlassen hatte, und hörte mit Braumins Hilfe in allen Einzelheiten die Geschichte von ihrer Niederlage auf den Feldern vor Palmaris, bei der sie ihr Kind verloren hatte.
»Die Mönche wollen sie zuerst verhören«, meldete Constance Pemblebury ihrem König am nächsten Morgen. Palmaris war inzwischen eine einzige Gerüchteküche; wo auch immer sich zwei Leute auf der Straße begegneten, tauschten sie eifrig Neuigkeiten aus. »Mit den Mönchen werden sie kurzen Prozess machen«, überlegte König Danube. »Markwart wird sie mit Sicherheit hinrichten lassen, aber wahrscheinlich wird er abwarten, bis er auch das Todesurteil für Nachtvogel und die Frau in Händen hält.« »Was für eine widerwärtige Angelegenheit«, meinte Constance. König Danube konnte ihr da nicht widersprechen. »Können wir denn gar nichts dagegen tun?«, fragte sie.
Der König lachte nur hilflos. »Wir müssen selber einen Prozess abhalten«, erklärte er. »Und unsere Urteilssprüche werden vermutlich nicht weniger vernichtend ausfallen als die des ehrwürdigen Vaters. Kilronney und die Frau, die früher im Dienst des Barons stand, haben sich beide ihr eigenes Grab geschaufelt.« »Sie sind doch nur ihrem Gewissen gefolgt und haben sich einer vermeintlichen Ungerechtigkeit widersetzt«, entgegnete Constance. Wieder kicherte der König. »Wer, um alles in der Welt, hat ihnen das gestattet?«, fragte er. »Sollen wir sie uns gleich vornehmen?«, fuhr Constance fort. »Zur selben Zeit mit den Mönchen oder unmittelbar danach?« König Danube lehnte sich in seinem Sessel zurück und überlegte eine ganze Weile. »Zum Schluss«, sagte er dann, obwohl er nicht sicher war, dass er bei seiner Entscheidung bleiben würde. »Vielleicht haben sich die Gemüter bis dahin ein wenig beruhigt, und ich kann wenigstens ein paar von Shamus’ Männern davonkommen lassen.« Constance wandte sich ab. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, dass er schließlich der König war und alle verschonen konnte, wenn er es wollte, selbst Nachtvogel und Pony. Oder konnte er das etwa nicht?, fragte sie sich auf einmal. Was wäre der Preis eines solchen Vorgehens, abgesehen von der offensichtlichen Feindschaft der Abellikaner? »Der Mönch, der in die Tiefe gesprungen ist«, sagte König Danube jetzt kopfschüttelnd, »ist mir direkt vor die Füße gefallen. Ich habe sein Gesicht gesehen, kurz bevor er unten aufschlug.« »Das tut mir wirklich Leid«, murmelte sie. »Ach was!« Danube schnaubte verächtlich. »Der Mann hatte gar keine Angst. Er lächelte. Und das, obwohl er wusste, dass
er im nächsten Augenblick tot sein würde. Ich werde diese Mönche nie verstehen, Constance, sie sind so fanatisch, dass sie sich nicht einmal vor dem Tod fürchten.« »Ihr werdet noch lernen müssen, sie zu verstehen«, erwiderte Constance grimmig, und diese Aussicht erschien ihnen beiden nicht gerade wünschenswert. Es gab keinen Zweifel, dass Markwart jetzt die Oberhand hatte. Markwart, der von den Toten auferstanden war. Markwart, der ruhmreiche ehrwürdige Vater, der trotz seines Alters die weite Reise zum Barbakan auf sich genommen hatte, um die Welt von ihren gefährlichsten Verbrechern zu befreien! Er war der Held des einfachen Volkes, war in aller Munde. Und obwohl König Danube in Palmaris über die stärkere Streitmacht verfügte, schien seine Position im Vergleich zu Markwart doch schwach. In diesem Moment betrat Herzog Kalas, sichtlich wütend, den Raum. »Der Zentaur ist kein Verbrecher«, erklärte er unvermittelt. »Habt Ihr mit ihm geredet?«, fragte König Danube mit großen Augen. »Er heißt Bradwarden«, sagte Kalas. »Nein, die Mönche wollten mich mit keinem der Gefangenen in St. Precious reden lassen.« Der König schlug mit der Faust auf seine Sessellehne. Er hatte Kalas in die Abtei geschickt mit der Anweisung, jeden zu befragen, der etwas Wichtiges für den Prozess gegen Shamus aussagen könnte. Er hatte ihm ein persönliches Schreiben mitgegeben mit dem Siegel der Krone, in dem er eine Befragung anordnete. Und Markwart hatte ihn abgewiesen. »Ich habe Abt Je’howith auf dem Heimweg getroffen, er war gerade unterwegs von St. Precious nach Chasewind Manor«, erklärte Kalas.
»Je’howith!«, meinte der König wegwerfend. »Er wollte auch nicht mit mir reden!«, schrie der Herzog außer sich vor Zorn. »Hat einfach so getan, als würde er mich nicht kennen.« Der König sah ihn verblüfft an. »Erst als ich ihm angedroht habe, ihm die Zunge herauszureißen, wenn er nicht freiwillig reden würde, hat er den Mund aufgemacht«, erklärte Kalas. »Ich hatte zehn Allheart-Soldaten bei mir und er lediglich zwei Mönche.« »Ihr habt den Abt bedroht?«, fragte Constance ungläubig. Allerdings schien sie nicht allzu empört über diesen Umstand. »Ich hätte ihn mitten auf der Straße umgebracht«, erklärte Herzog Kalas kategorisch, »dann hätte mich der ehrwürdige Vater auch noch zum Verbrecher erklären und an den Galgen bringen können!« »Aber Ihr habt es nicht getan«, sagte der König ungeduldig. »Er hat geredet«, erwiderte Kalas. »Und die beiden Mönche auch. Einer von beiden war auf der ersten Reise zum Berg Aida dabei, als Markwart den Zentauren zum ersten Mal festgenommen und in Ketten nach St. Mere-Abelle verschleppt hat.« »Und Nachtvogel und Pony haben ihn dort wieder herausgeholt«, sagte Constance. Kalas nickte. »Und damit ihr Schicksal besiegelt«, erklärte er. »Aber das könnte man ihnen nur dann zum Vorwurf machen, wenn der Zentaur ein Verbrecher wäre, und nach allem, was ich gehört habe, ist das keineswegs bewiesen. Bradwarden war mit Nachtvogel und Pony und einigen anderen am Berg Aida, unter ihnen der Mönch Avelyn Desbris, den das Äbtekollegium im vorigen Jahr offiziell zum Ketzer erklärt hat.« »Dann sind sie also Verbrecher, weil sie diesen Ketzer kannten«, meinte Danube.
»Der Zentaur behauptet, sie wären losgezogen, um die Horden des Dämons zu bekämpfen, die das Bärenreich bedrohten«, erklärte Kalas. »Und die Kirche gibt ja selber zu, dass der Geflügelte dort vernichtet wurde!« »Sie haben unser Land gerettet, und die Kirche sieht sie trotzdem als Verbrecher an«, sagte Constance kopfschüttelnd. »Was sollen wir jetzt tun?«, wollte Herzog Kalas wissen. König Danubes Blick schweifte in die Ferne, während er über das Ganze nachdachte. Er konnte Herzog Kalas verstehen, denn ein großer Teil von ihm verspürte ebenfalls den Wunsch, offen zu erklären, dass die Kirche im Irrtum sei, und die Freilassung aller Gefangenen zu verlangen. Doch gleichzeitig erkannte er die bittere Wahrheit, die ihm die Herrin von Andur’Blough Inninness insgeheim bestätigt hatte, ganz zu schweigen von der Erinnerung an die Begegnung mit Markwarts Geist. Er konnte versuchen, sich ihnen in den Weg zu stellen, ob mit Waffengewalt oder mit Worten, aber wenn es zum Äußersten kam, wäre er Markwart doch unterlegen. »Ich habe gerade zu Constance gesagt, dass wir mit dem Prozess gegen Shamus und die anderen warten sollten, bis die Kirche ihre Urteile gesprochen hat«, sagte Danube schließlich. »Und wir werden uns unseren Gefangenen gegenüber gnädig zeigen. Vielleicht gelingt es uns ja sogar, ein paar von ihnen völlig zu entlasten und damit die Kirche noch nachträglich in Verruf zu bringen.« »Und was wird aus Nachtvogel, Pony und Bradwarden?«, fragte Kalas. »Und aus den gefangenen Mönchen?« »Die Mönche sind nicht unsere Sache«, antwortete König Danube schnell. »Wenn Markwart es für richtig hält, sie hinzurichten – und ich bin sicher, dass er das tut –, dann soll das Volk darüber urteilen.« »Und die anderen?«, fragte Constance.
Der König überlegte lange. »Auch das müssen wir Markwart überlassen«, erwiderte er dann. Constance schüttelte den Kopf, und Herzog Kalas knirschte mit den Zähnen und schlug mit der Faust gegen die Wand. »Wenn er sie hinrichtet…«, begann er. »Was er mit Sicherheit tun wird«, sagte Constance. Der König nickte. »Aber wenn sich dann die Wahrheit herumspricht und das Volk hinterher merkt, dass Nachtvogel, Pony und Bradwarden keine Verbrecher, sondern Helden waren, dann wird der ehrwürdige Vater es auszubaden haben.« Constance und Kalas nickten mit grimmiger Miene. Keinem von beiden gefiel die Idee, unschuldige Menschen zu opfern, aber sie erkannten beide die ausweglose Lage, in der sich der König befand. »Und inzwischen«, fuhr der König fort, »ernenne ich Herzog Targon Bree Kalas vom westlichen Bärenreich zum Baron von Palmaris.« »Aber es gibt doch schon einen Bischof«, wandte Kalas ein. »Wenn Markwart gleichzeitig einen Bischof und einen Abt von St. Precious ernennen kann, werde ich wohl noch einen Baron einsetzen können«, erwiderte der König. »Das kann Markwart mir nicht verwehren, ebenso wenig wie den Wunsch des neuen Barons, in Chasewind Manor zu residieren.« »Und der Bischof?«, fragte Herzog Kalas und grinste verschmitzt. Der Vorschlag gefiel ihm immer besser. »Wir müssen einen einflussreichen Kaufmann finden, der uns noch einen Gefallen schuldig ist. Der soll herkommen und sich als Verwandter von Aloysius Crump ausgeben. Wollen doch mal sehen, ob wir die Kirche nicht aus beiden Häusern vertreiben und wieder nach St. Precious zurückschicken können, wo sie hingehört.« Das brachte ihm den Beifall seiner beiden Berater ein. Auf diese Weise würde der König Markwart klammheimlich in die
Schranken verweisen. Der Gedanke, dass ein paar offensichtlich Unschuldige diesem Schachzug zum Opfer fielen, behagte beiden nicht, aber sie sagten sich, dass Markwarts gegenwärtiger Kurs ihm früher oder später sicher Feinde machen würde. Ihre Meinung schien sich noch am selben Tag zu bestätigen, als Kapitän Al’u’met zu ihnen kam. Danube gewährte dem Mann kurzfristig eine Audienz, und dieser bat den König, sich für Pony und ihre Freunde einzusetzen, nachdem er erklärt hatte, dass sie unschuldig, ja genau genommen Helden seien. Niemand der Anwesenden bezweifelte seine Worte, doch konnte ihm auch keiner von ihnen Hoffnung machen, dass er bei dem Prozess gegen die angeblichen Verschwörer Gehör finden würde. Als der Seemann tief enttäuscht wieder von dannen zog, waren der König und seine Berater jedoch voller Hoffnung, dass Markwart einen Fehler machen und am Ende beim Volk von Palmaris in Ungnade fallen würde. Doch diese Hoffnungen, selbst wenn sie sich erfüllen sollten, würden Eibryan, Pony und ihren Freunden wenig nützen.
Als er das Gasthaus vor sich sah, wollte Roger schier verzagen. Vorher war es eines der beliebtesten in Palmaris gewesen, und jetzt war hier alles dunkel und mucksmäuschenstill. Roger hatte gehofft, dass Belster ihm und Juraviel ein paar wichtige Informationen verschaffen könnte und vielleicht einen Weg wüsste, wie sie zu ihren Freunden gelangen konnten. Doch Belster war nirgends zu finden. Und auch sonst war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Roger ließ traurig den Kopf hängen und begab sich zu der Gasse, wo er sich mit Belli’mar Juraviel verabredet hatte, wenn dieser damit fertig war, St. Precious zu erkunden.
Prim O’Brien und Heathcomb Mallory, als torkelnde Trunkenbolde getarnt, beobachteten ihn aus dem Augenwinkel. »Meinst du, das ist er?«, fragte Mallory, denn Belster hatte sie in der Hoffnung, dass Roger auftauchen würde, dort postiert. Sie kannten ihn beide von ihrer gemeinsamen Zeit im Norden, konnten die schmächtige Gestalt, die da durch die Straßen huschte, aber nicht genau erkennen. »Schon möglich«, erwiderte Prim O’Brien. Die beiden sahen sich um, ob auch keine Soldaten in der Nähe waren, dann folgten sie ihm. Als sie an der nächsten Wegkreuzung angelangt waren, spähten sie vorsichtig um die Ecke, und als sie niemanden sahen, gingen sie flink auf ihn zu. Rogers Miene hellte sich auf, als er die beiden erkannte, und eine knappe Stunde später stand er im Frachtraum der Saudi facintha Belster O’Comely gegenüber. »Markwart hat sie beide erwischt«, erklärte Roger, und der Wirt nickte nur, denn seine Verbindungsleute hatten ihm bereits jede Einzelheit zugetragen. »Kapitän Al’u’met war selber beim König«, erwiderte Belster und deutete auf den schwarzhaarigen Hünen. Roger sah Belsters neuen Freund fragend an. »Ich glaube, der König ist uns wohlgesonnen«, sagte Al’u’met, »aber er wird nichts gegen Markwart unternehmen. Von ihm können unsere Freunde keine Hilfe erwarten.« »Es ist aus und vorbei«, fügte Belster hinzu. »Wir müssen sie da rausholen!«, sagte Roger entschieden, aber sein Tonfall konnte seine Gefährten auch nicht zuversichtlicher stimmen. »Selbst wenn wir jeden Einzelnen meiner Leute für unsere Sache gewinnen könnten und vereint nach St. Precious marschierten, würden wir doch nur innerhalb kürzester Zeit alle tot auf der Straße liegen«, sagte Al’u’met. »Ich fürchte, du machst denselben Fehler wie Jilseponie, wenn du glaubst, wir
könnten die Kirche offen bekämpfen. Damit würden wir nur noch mehr Unglück über uns bringen.« »Sollen wir denn einfach zusehen, wie man sie umbringt?«, fragte Roger gequält. »Wenn wir auch getötet werden, weil wir versuchen, ihnen zu helfen, dann macht das die Sache nur noch schlimmer«, erklärte Belster. »Es ist noch nicht zu spät«, knurrte Roger. »Ich bin mit Belli’mar Juraviel nach Palmaris gekommen, und er wird nicht untätig zusehen, wenn man seine Freunde ermordet!« Der Name Juraviel ließ einen winzigen Hoffnungsschimmer in Belsters traurigen Augen aufflackern. Er sah Al’u’met an. »Juraviel von den Touel’alfar«, erklärte er. »Ein Elfenfreund von Nachtvogel und Pony.« »Der Elf«, sagte Al’u’met und rang sich ebenfalls ein kleines Lächeln ab. Er hatte Juraviel mit Eibryan, Pony und Bradwarden gesehen, als er sie über den Masurischen Fluss gebracht hatte. Der Kapitän wusste praktisch nichts von den Touel’alfar, außer wie Juraviel aussah, aber Rogers zuversichtlichem Tonfall und Belsters hoffnungsvollem Lächeln versuchte er zu entnehmen, dass vielleicht doch noch nicht alles verloren war.
Zur selben Zeit schlich sich Belli’mar Juraviel durch die Korridore von Crumps Haus. Er hatte denselben geheimen Eingang benutzt wie seinerzeit Lady Dasslerond, und im ersten Moment hatte der Elf ebenfalls daran gedacht, mit König Danube unter vier Augen zu sprechen. Doch dann sagte er sich, dass er das nicht tun konnte, denn die Herrin hatte ihm jedes Eingreifen untersagt. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass er irgendetwas für seine Freunde tun musste, und so war er nicht wieder fortgegangen, sondern in
die Eingeweide des alten Hauses vorgedrungen. Ein alter Elfentrick hatte ihn ungesehen an den halb eingeschlafenen Wachen vorbeigebracht, und seine Körpergröße hatte es ihm erlaubt, durch einen Kamin in das verzweigte Gefüge der Schornsteine zu klettern und sich schließlich bis in den muffigen Kellerraum vorzuarbeiten, in dem man Colleen, Shamus und die anderen Soldaten gefangen hielt. Sie waren nicht angekettet und konnten sich frei in dem Keller bewegen, aber natürlich hatte man sie entwaffnet, sodass sie keine Chance hatten zu entkommen. Eine einzige Treppe führte zu der schweren Tür hinauf, und die, das wusste Juraviel, war fest verriegelt. Eine Weile hielt sich der Elf noch verborgen und lauschte. Er versuchte, sich einen Eindruck von der Gruppe zu machen, vor allem von Colleen, die, wie er erfahren hatte, mit Pony befreundet war. Die anderen Soldaten hatten ja Tiel’marawee gesehen, und so vertraute er auf ihre Besonnenheit und ließ sich leise aus dem Kamin nach unten. »Ich bin Belli’mar Juraviel«, erklärte er, »ein Freund von Nachtvogel – und«, fügte er mit einem Seitenblick auf Colleen hinzu, »von Pony.« Die Soldaten umringten den Elf. »Hast du sie gesehen?«, fragte Colleen. Sie war am aufgeregtesten von allen, denn sie hatte zwar schon viel von den Touel’alfar gehört – besonders von Juraviel –, aber noch nie einen Elf gesehen. »Oder Nachtvogel?«, fügte Shamus hinzu. »Wie geht es Nachtvogel?« »Sie sind in St. Precious«, erklärte Juraviel. »Und dort habe ich mich bis jetzt noch nicht hineingewagt. Ich habe Angst vor der Macht der Mönche mit ihren Edelsteinen.« »Man kann keinem trauen«, sagte Shamus. »Denn diejenigen, die an uns glauben, haben nicht die Macht oder nicht den Mut,
für uns einzustehen. Ich kann nur hoffen, dass König Danube mich noch reden lässt, ehe er mich und meine Männer verurteilt, und ich vertraue darauf. Aber wehe dem Nachtvogel und Pony und den anderen, die der ehrwürdige Vater in seinen Klauen hat!« »Dann rede so laut, wie du kannst«, sagte Juraviel eindringlich. »Denn auch wenn es unsere Freunde nicht retten kann, so sorgt es doch dafür, dass sie nicht umsonst gestorben sind.« »Erzähl ihm von dem Wunder«, sagte einer der Soldaten, und Shamus Kilronney erzählte Juraviel die Geschichte von der Niederlage der Goblins auf dem Berg Aida, die er bereits von Roger auf ihrer Reise nach Palmaris gehört hatte. »Vergesst diese Geschichte nie«, sagte Juraviel und lief wieder zum Kamin hinüber, weil er draußen Lärm hörte. Colleen Kilronney eilte hinter ihm her. »Bruder Talumus«, flüsterte sie, während der Elf im Schornstein verschwand, »ein Mönch aus St. Precious. Er könnte vielleicht helfen.« Noch ehe sie ihn genauer beschreiben konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und ein Schwarm Allheart-Soldaten kam mit dem Essen die Treppe hinunter.
Als Roger sich schließlich in der Nähe des Gasthauses wieder mit Juraviel traf, hatte der Elf St. Precious bereits einen Besuch abgestattet, allerdings ohne sich hineinzuwagen und nach Bruder Talumus zu suchen. Die beiden gingen wieder auf die Saudi Jacintha, und Belster O’Comely versicherte ihnen, dass es nicht schwierig sein würde, Bruder Talumus zu finden. Er fügte jedoch noch warnend hinzu, dass dieser AbellikanerMönch nicht zu viel erfahren durfte, denn wenn man ihm nicht trauen könne, würde man ihn nicht wieder gehen lassen.
Am nächsten Abend traf sich Roger mit Bruder Talumus, während Juraviel der Unterhaltung in der Dunkelheit verborgen zuhörte. Erneut zögerte der Mönch, offen etwas gegen die Kirche zu unternehmen, obwohl er zugeben musste, dass er diesen Prozess und die Hinrichtungen nicht gutheißen konnte, und sogar so weit ging zu erklären, der ehrwürdige Vater sei in diesem Fall wohl im Unrecht, als Juraviel ihn bedrängte. »Dann entscheide dich«, forderte ihn der Elf auf. »Und hilf uns irgendwie. Wenn sie uns erwischen, werden wir deinen Namen nicht verraten, das verspreche ich dir. Egal, ob wir es schaffen oder nicht, Bruder Talumus kann jedenfalls mit reinem Gewissen schlafen.« »Das sind große Worte«, erwiderte Bruder Talumus und spähte in die Dunkelheit, obwohl er Juraviel nicht sehen konnte. »Aber du verstehst mich falsch. Du denkst, ich hätte Angst um mein Leben, aber das ist nicht der Fall. Ich fürchte lediglich, meiner Kirche Schaden zuzufügen, denn das könnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Ich bin nicht der Einzige, der diese ganze Situation für entsetzlich und gottlos hält. Ein Meister jedenfalls…« Er brach jäh ab, und es war deutlich zu merken, dass er keinen Vertrauensbruch begehen wollte. »Du willst deiner Kirche nicht schaden«, sagte Juraviel aus dem Dunkel heraus. »Aber wie sollte das geschehen, wenn du Unschuldigen hilfst? Wenn diese Kirche etwas wert ist, sollte ihr dann so etwas nicht eher zugute kommen?« »Du drehst mir die Worte im Munde um«, sagte Talumus, aber ihm wurde langsam klar, dass er nicht einfach dasitzen und all diese schrecklichen Dinge geschehen lassen konnte. Als er wieder fortging, hatten sie einen Plan geschmiedet. Aber als Bruder Talumus wieder durch die mächtigen Tore der Abtei von St. Precious trat, wusste er, dass er nicht die
Kraft aufbringen würde, die Sache durchzustehen. Von Gewissensbissen geplagt, wandte sich der verstörte junge Mann an den Einzigen, dem er glaubte vertrauen zu können, und legte die Beichte ab. Als er die Absolution erhalten hatte, fühlte er sich bedeutend besser, ganz im Gegensatz zu dem Meister, dem er sich anvertraut hatte. Meister Theorelle Engress fühlte sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate hatte er jetzt eine solche Verschwörungsgeschichte zu hören bekommen. Seit vielen Wochen musste der gutmütige Meister schon mit ansehen, wie der ehrwürdige Vater die Kirche in eine neue Richtung lenkte und dabei rücksichtslos über jeden hinwegtrampelte, der ihm im Wege war. Nun war er auf dem besten Weg, den Gipfel seiner Macht zu erreichen, und das auf dem Rücken Unschuldiger. Engress hatte genug gehört. Er ging noch in derselben Nacht zu Bruder Talumus, und der junge Mann war überrascht, was der alte Meister ihm vorschlug. »Er hat Castinagis, Dellman und Viscenti versprochen, sie freizulassen, wenn sie beim Prozess gegen dich aussagen«, berichtete Bruder Braumin Eibryan, als er an diesem Abend nach einem kurzen und brutalen Verhör durch Markwart in seine Zelle zurückgekehrt war. »Und was ist mit Bruder Braumin?«, fragte der Hüter. »Der nicht«, erwiderte der Mönch, und seine Stimme klang nicht besonders verzweifelt. »Sie werden mich so lange foltern, bis ich ein Geständnis ablege, das auch dich, Pony und Bradwarden belastet. Aber ganz gleich, was ich sage, sie werden mich umbringen, sobald ihr drei verurteilt seid. Markwart hat mir einen schnellen Tod versprochen, wenn ich gegen dich aussage, mehr aber auch nicht.«
Der Mann tat Eibryan aufrichtig Leid, obwohl er wusste, dass ihn selbst ein ebenso schreckliches Ende erwartete. »Aber sie haben alle drei geschworen, kein Wort gegen dich zu sagen«, fügte Bruder Braumin mit Entschiedenheit hinzu. »Sie wissen ebenso gut wie ich und Meister Jojonah, dass wir die Sache, an die wir glauben, nicht verraten dürfen, weil das Markwarts Macht noch stärken würde.« »Und dafür werden sie in den Tod gehen; dabei könnten sie mit ein paar Worten ihr Leben retten«, wandte der Hüter ein. »Wir müssen alle einmal sterben«, erwiderte der Mönch ruhig. »Und es ist besser, jung zu sterben und an seinen Überzeugungen festzuhalten, als ein Leben weiterzuführen, das eine einzige Lüge wäre. Was für ein schlechtes Gewissen würde ein Mensch dabei mit sich herumschleppen? Was wäre das für ein Leben? Du musst dir einmal vorstellen, was es heißt, ein Abellikaner-Mönch zu werden. Kein Mensch, der den Tod fürchtet, könnte jemals die Weihen des AbellikanerOrdens empfangen.« Das gab dem Hüter ein wenig Trost. Es schmerzte ihn zwar tief, dass diese Mönche nun sterben sollten, so wie es sie geschmerzt hatte, Bruder Mullahy sterben zu sehen, aber er wusste ebenso gut wie sie, dass es der bessere Weg war, sich selbst treu zu bleiben. Die Unterhaltung brach jäh ab, als sie draußen Schritte hörten und ein Geräusch, als würde jemand mit einem Schlüsselbund an Eibryans Tür herumhantieren. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und der Hüter sah sich erstaunt einem einzelnen Abellikaner-Mönch gegenüber – für gewöhnlich kamen sie immer zu dritt. Eibryan musste sich an der Wand abstützen, als er sich auf wackligen Beinen aufrichtete. Er überlegte, ob er versuchen sollte, den anderen zu überwältigen, aber da dieser die Kapuze
tief ins Gesicht gezogen hatte, fürchtete er, es könnte De’Unnero sein. Und dann fiel er fast hintenüber, als Roger Flinkfinger mit breitem Grinsen die Kapuze abstreifte. »Ich weiß«, sagte dieser entschuldigend, »ich hätte schon viel eher kommen sollen. Aber es gab da ein paar Schwierigkeiten.« Eibryan fiel ihm so heftig um den Hals, dass er ihn fast zu Boden gerissen hätte. »Wie denn?«, fragte er. »Ich musste erst das hier suchen«, erwiderte Roger und öffnete seine Mönchskutte. An seinem Gürtel hing Ponys Säckchen mit den Edelsteinen. »Zum Glück haben sie die Beweisstücke säuberlich zusammen aufbewahrt«, erklärte Roger. »Juraviel wartet draußen auf uns. Er macht sich allerdings Sorgen, weil wir dein Schwert und deinen Bogen noch nicht finden konnten.« Jetzt kam ein weiterer Mann den Gang entlang, ein ranghoher Abellikaner-Meister, nach der goldenen Kordel zu schließen, die seine braunen Gewänder zusammenhielt. Er hatte ein runzliges altes Gesicht und freundliche Augen. »Hol deine Freunde und macht, dass ihr hier herauskommt«, sagte er zu Eibryan. »Und flieht, so weit euch eure Pferde tragen können. Ich fürchte allerdings, dass auch das nicht reichen wird.« »Wer seid Ihr?«, fragte der Hüter. »Wie ist das möglich?« »Meister Engress«, erklärte Roger, während er in dem riesigen Schlüsselbund nach dem Schlüssel für Braumins Tür suchte. »Ein Freund.« »Dann muss er mit uns zusammen in den Norden gehen«, sagte Eibryan, aber der alte Mann lachte nur über diese Idee. »Sie werden mich einsperren, und ich werde nicht leugnen, dass ich euch zur Flucht verholfen habe«, sagte Meister Engress. »Ich bin alt und werde sowieso bald sterben.
Niemand muss traurig sein, weil ich mein Leben für sieben Jüngere hergebe, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben.« Eibryan verstand immer noch nicht ganz, aber er hatte auch keine Zeit mehr zu fragen, denn Roger hatte Braumin inzwischen befreit und lief bereits zur nächsten Tür. Und jetzt hörte er vom anderen Ende des Ganges eine wohl bekannte Stimme. Er rannte zu Pony und tastete die Tür ab, um festzustellen, ob er sie nicht einfach aus den Angeln heben konnte. Als Roger das sah, kam er als Nächstes zu ihm, und kurz darauf lagen sich die beiden Liebenden in den Armen, und es schien ihnen Jahre her, seit sie sich das letzte Mal berührt hatten. Eibryan drückte Pony an sich und flüsterte ihr ins Ohr, jetzt wäre alles wieder gut. Das war natürlich stark übertrieben, aber bald darauf trafen sie alle draußen mit Juraviel zusammen und verschwanden in der Dunkelheit. Da Bradwarden nicht durch die unter Wasser liegenden Öffnungen der Höhlen passen würde, wollte man sie schließlich trennen. Eibryan machte den Vorschlag, dass sie gleich alle gemeinsam die Stadt verlassen und in die Wildnis des Nordens gehen sollten. Doch die Kundschafter meldeten, das sei nicht möglich, da die nördliche Stadtmauer von Allheart-Soldaten und einem Heer von Mönchen bewacht wurde. Es war nicht mehr lange bis Sonnenaufgang, und die Kunde von ihrer Flucht würde sich schnell in der Stadt verbreiten. Es war besser, sich so lange zu verstecken, bis man einen ordentlichen Fluchtplan entwickelt hatte. Als der Tag anbrach, saßen Eibryan, Pony und die vier Mönche bereits in ihrem Versteck am Ufer des Masurischen Flusses.
»Schlagt mich ruhig tot«, sagte Meister Engress zu Markwart und streckte gottergeben die Arme aus. »Ich konnte das nicht zulassen, Dalebert Markwart. Ich habe mit angesehen, wie Ihr Jojonah auf dem Scheiterhaufen verbrannt und Avelyn zu Unrecht zum Ketzer erklärt habt…« Die Worte blieben dem alten Mann im Halse stecken, als Markwarts Geist durch den Hämatit fuhr und sich auf ihn stürzte. Engress ging in die Knie, aber irgendwie gelang es ihm, noch einmal Luft zu holen. »Avelyn hat Bestesbulzibar vernichtet«, keuchte er. »Sie sind keine Verbrecher!« Dann hauchte er am Fußboden von Chasewind Manor sein Leben aus, vor den Augen von De’Unnero, Je’howith, Bischof Francis und etlichen anderen Mönchen – unter ihnen der zitternde Bruder Talumus. Doch Engress hatte seinen Seelenfrieden gefunden. Er war direkt zu dem tobenden Markwart gegangen und hatte sein Vergehen gestanden, und dann hatte er ihn so weit provoziert, dass der Abt ihn kurzerhand umbrachte, bevor er hatte herausfinden können, dass auch Bruder Talumus an der Sache beteiligt war.
18. Veränderte Perspektiven
Die Höhle war bequem, denn es gab genügend Luftzufuhr, um mehrere kleine Feuer zu entzünden, wenn auch der einzige Zugang, durch den ein Mensch hineingelangen konnte, durch das Wasser führte. Sie brauchten die Feuer, um sich nach dem kalten Bad wieder aufzuwärmen und ihre Kleider zu trocknen. Eibryan hockte die ganze Nacht lang mit Pony unter einer Decke, hielt sie im Arm und sagte ihr immer wieder, wie sehr er sie liebte. Dabei gab er sich alle Mühe, ihr zu zeigen, dass er keinen Groll mehr gegen sie hegte, weil sie ihn verlassen hatte, und ihr keinerlei Vorwurf machte, weil sie ihr Kind verloren hatte. Jedes Mal, wenn er das Kind erwähnte, spürte er, wie Pony steif wurde. Keiner von ihnen fand hier sehr viel Schlaf, obwohl sie keine Ahnung hatten, ob es draußen Tag oder Nacht war. Ihre einzige Lichtquelle waren die Feuer, die sie klein halten mussten, denn sie mussten sparsam mit dem wenigen Brennstoff umgehen, da sie nicht wissen konnten, wie lange sie in der Höhle bleiben würden. Eibryan erwachte als Erster. Er rührte sich nicht und sah Pony nur an. Sie wirkte so zart, und er musste daran denken, wie er sie zum ersten Mal geküsst hatte, am nördlichen Berghang von Dundalis, am Tag als die Goblins gekommen waren und sie beide zu Waisen gemacht hatten. Und wie er sie nach langer Trennung endlich wieder gesehen hatte, als sie mit Avelyn nach Dundalis zurückgekehrt war. Sie war noch genauso hübsch wie damals, und das überraschte ihn angesichts all der schlimmen Dinge, die sie
durchgemacht und der Verluste, die sie erlitten hatte. Er strich sanft über ihr Gesicht, und Pony öffnete verschlafen die Augen und sah ihn an. Eibryan schmiegte sich an sie und wollte sie umarmen, doch sie setzte sich abrupt auf, und ihre Armmuskeln wurden hart wie Eisen. »Vergiss doch einmal deinen Zorn«, sagte er sanft. Pony sah ihn an, als hätte er sie gerade verraten. »Der Kampf ist fürs Erste zu Ende«, versuchte der Hüter zu erklären. »Wir werden uns aus dem Staub machen.« »Nein!« Pony schüttelte rigoros den Kopf. »Wir können doch nicht gewinnen.« »Vielleicht muss ich ja gar nicht gewinnen«, erwiderte Pony mit einer solchen Eiseskälte, dass der Hüter nichts mehr sagen konnte. Er schüttelte nur den Kopf und wollte sie wieder in den Arm nehmen, doch sie stieß ihn erneut zurück. »Ich hatte ein Kind im Leib«, erklärte sie. »Dein Kind, unser Kind. Und er hat es mir genommen. Markwart hat unser Kind ermordet, wie er meine Eltern ermordet hat.« Bruder Braumin kroch auf allen vieren zu ihnen herüber, und jetzt erst merkten Eibryan und Pony, dass die anderen ihnen die ganze Zeit zugehört hatten. »Komm mit mir«, sagte Bruder Braumin und streckte Pony die Hand entgegen. »Wir wollen gemeinsam beten, damit deine Seele wieder Frieden findet.« Pony schrak zurück und sah den Mönch ungläubig an. »Markwart«, sagte sie, »der ehrwürdige Vater eurer Kirche, hat mein unschuldiges Kind umgebracht.« »Er ist nicht mein ehrwürdiger Vater«, wollte Braumin ihr erklären, aber Pony hörte vor lauter Hass gar nicht zu. »Ihr habt keine Ahnung, wie abgrundtief schlecht er ist«, fuhr sie fort. »Ich habe zuvor nur einmal so etwas gespürt, und zwar in den Eingeweiden eines Berges hoch oben im Norden,
desselben Berges, wo Markwart euch jetzt alle gefangen genommen hat.« Sie sah Eibryan an, der überrascht wirkte. »Ja«, sagte sie und nickte bekräftigend. »Seine Bösartigkeit ist nur mit der von Bestesbulzibar zu vergleichen.« »Er ist ein Mensch«, wandte Bruder Braumin ein. »Er ist viel mehr als das!«, fuhr ihn Pony an. »Viel mehr, sage ich Euch. Und so wie Avelyn den Kampf mit dem Geflügelten aufnahm, obwohl er nicht daran glaubte, dass er gewinnen könnte, so werde ich Markwart noch einmal bekämpfen, um ihm das Verbrechen an meinem Kind heimzuzahlen und die Welt von diesem Ungeheuer zu befreien.« »Aber ein andermal«, sagte der Hüter. »Wenn er nicht damit rechnet und nicht von De’Unnero, einem Heer von Mönchen und der Allheart-Brigade umgeben ist.« Pony sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken, doch sie widersprach ihm nicht. Den restlichen Vormittag – wenn es Vormittag war – saßen sie alle schweigend da. Eibryan blieb in Ponys Nähe, aber er drang nicht weiter in sie. Noch nie hatte er sie in einer solchen Verfassung erlebt, nicht einmal, nachdem sie Bradwarden befreit hatten und sie am liebsten wieder in die Abtei gestürmt wäre. Das Einzige, was er jetzt tun konnte, war, bei ihr zu sein und sie möglichst weit von ihren übermächtigen Feinden fern zu halten. Das erwies sich als gar nicht so einfach, als eine Weile später ein Behreneser in der Höhle auftauchte. »Sie nehmen die ganze Stadt auseinander«, keuchte er, während er aus dem kalten Wasser kroch. »Die Saudi Jacintha hat versucht, aus dem Hafen zu entkommen, aber ein ganzer Schwarm von Kriegsschiffen hat sie eingeholt und ihre Segel zerfetzt; dann haben sie sie wieder zurückgeschleppt. Kapitän Al’u’met und viele meiner Leute sind festgenommen worden.«
»Vom König oder von der Kirche?«, fragte Eibryan, und der dunkelhäutige Mann starrte ihn an, als verstünde er nicht, was Eibryan meinte. »Es waren Schiffe aus König Danubes Kriegsflotte«, erwiderte er. »Aber die Mönche haben auch viele von der Straße weggezerrt. Und es war eine Horde von Mönchen…« Er verstummte und streifte Pony mit einem mitfühlenden Blick, der den anderen nicht entging. »Euer kleiner Freund hat uns Bescheid gesagt«, stammelte er. »Was hat er euch gesagt?«, wollte Pony wissen. »Das Wirtshaus, in dem Ihr gewohnt habt«, erklärte der Behreneser. »Sie haben es bis auf die Grundmauern niedergebrannt und sind immer noch dabei, die Asche zu durchsieben.« Pony schloss leise stöhnend die Augen. »Was ist mit Belster?«, fragte Eibryan entsetzt. »Er ist untergetaucht«, erwiderte der Mann. »Zusammen mit den anderen, die dort waren. Aber wir fürchten alle, dass man sie bald finden wird.« »Dann bring sie hierher«, sagte Bruder Braumin in dem verzweifelten Bemühen, zu helfen. »Das geht nicht«, erklärte der dunkelhäutige Mann. »Es war schon schwierig genug für mich, zu euch zu kommen. Die Soldaten und Mönche sind überall. Ich kann euch nur raten zu fliehen, wenn ihr irgend könnt. Sie haben viele Leute festgenommen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Geheimnis dieser Höhle entdeckt wird. Vielleicht sind sie ja sogar schon unterwegs«, fügte er grimmig hinzu. »Und nicht nur in Fleisch und Blut, denn diese Mönche können mit ihren bösen Zauberkräften ihren Chezchu…« Er suchte nach dem passenden Wort für den Yatol-Begriff. »Ihren Geist?«, fragte er. Pony nickte. »Sie machen Geistreisen«, erklärte sie.
»Sie können durch die Wände gehen«, sagte der Behreneser. »Niemand ist vor ihnen sicher.« »Wir müssen hier raus«, sagte Bruder Castinagis. »Aber die Stadt ist bestimmt abgeriegelt«, erwiderte Bruder Dellman. »Die ganze Stadtmauer wird von Mönchen und Soldaten bewacht, Hunderte von Soldaten«, bestätigte der Behreneser. »Dann müssen wir den Fluss nehmen«, sagte der Hüter. »Wenn es dunkel ist, verlassen wir die Höhle, aber wir bleiben im Wasser und schwimmen so lange den Fluss hinab, bis wir weit unten im Süden von Palmaris ans Ufer können.« »Der Fluss wird ebenfalls streng bewacht«, sagte der Behreneser warnend. »Die Kriegsschiffe des Königs sind überall.« »Sie werden es bei Nacht nicht sehen, wenn ein Kopf im Wasser schaukelt«, erwiderte Eibryan. »Aber was ist mit dir? Wo willst du denn hin?« Der Mann machte eine Verbeugung zum Zeichen, dass er die Fürsorglichkeit des Hüters zu schätzen wusste. »Ich gehöre zu meinen Leuten«, sagte er. »Ich bin nur hergekommen, um euch zu warnen. Die Sonne hat den Zenit überschritten, steht aber noch nicht einmal auf halbem Wege im Westen. Chezru sei mit euch!« Selbst die Mönche, die den Yatol-Gott normalerweise ablehnten, nahmen den Segen jetzt dankbar an. »Erzähl Belster von unserem Plan«, sagte Eibryan, »und wenn du kannst, sag unseren Freunden Bescheid, dem kleinen Kerl und seinem noch kleineren Begleiter.« Der Mann nickte und tauchte wieder unter. Wenn die Stimmung in der Höhle an diesem Morgen schon gedrückt gewesen war, so war sie es jetzt umso mehr, und die Hoffnung der Schicksalsgemeinschaft schwand zusehends.
Nun musste jeder Einzelne von ihnen einsehen, dass ihr Widerstand gegen Markwart einen hohen Preis von der Bevölkerung forderte. Eibryan behielt Pony scharf im Auge, die einfach nicht stillsitzen konnte. Sie griff nach ihrem Säckchen mit den Edelsteinen. Der Hüter wollte sie ihr wegnehmen, aber der Blick, der ihn daraufhin traf, ließ ihn die Hand sofort wieder zurückziehen. Nun öffnete sie das Säckchen und schüttete die Steine vor sich auf die Decke. Sie waren alle noch da, stellte sie mit einem Blick fest – sogar der Magnetit, mit dem sie Markwarts hässliche Fratze zertrümmert hatte. Sie hatten alle Beweismittel fein säuberlich aufbewahrt, wie Roger gesagt hatte. Sie nahm den Seelenstein in die Hand und schloss sie schnell, als der Hüter danach greifen wollte. Da hielt er stattdessen ihr Handgelenk fest und sah ihr direkt in die Augen. »Wo willst du denn hin?«, fragte er. »Wo ist dieser elende Hund?«, erwiderte sie kalt. »Willst du etwa auf ihn losgehen, während wir hier alle in der Falle sitzen?«, fragte der Hüter. »Wenn er dir nachher folgt, müssen wir alle dafür bezahlen.« Pony ließ den Stein fallen und gab sich geschlagen. »Ich könnte vorsichtig hinausgehen und mich erst einmal umsehen«, sagte sie, während Eibryan die Steine wieder in das Säckchen füllte, doch er schüttelte den Kopf. So saßen sie sich schweigend gegenüber. Die Mönche bildeten einen Kreis und begannen zu beten. Sie fragten Eibryan und Pony, ob sie mitmachen wollten, und der Hüter sah Pony hoffnungsvoll an, denn er dachte, das könnte ihr helfen, aber sie schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab. Eibryan wartete eine Weile, bis der beruhigende rhythmische Singsang den Raum erfüllte, dann setzte er sich wieder zu ihr
und sah sie mit einem entwaffnenden und erstaunlich friedlichen Lächeln an. »Habe ich dir schon von dem Wunder erzählt?«, fragte er ruhig. Pony quittierte die Frage mit einem spöttischen Grinsen. »Wo war Avelyn eigentlich, als Markwart gekommen ist?«, fragte sie. Eibryan ließ ihren Zynismus an sich abprallen und dachte daran, was sie erlitten hatte. Er erzählte ihr noch einmal von dem Kampf gegen die Goblins und streute von Zeit zu Zeit kleine Weisheiten ein mit dem Hinweis, dass Avelyn ihm diese vermittelt habe. Er wusste, dass die Erinnerung an die Zeit vor ihrer ersten Reise zum Berg Aida, als ihr Leben noch so viel einfacher gewesen war und ihre gemeinsamen Ziele so klar vor ihnen gelegen hatten, ihre Gemütsverfassung verbessern würde. Es schien auch zu klappen, und einmal rang Pony sich sogar ein Lächeln ab, doch dann geriet das Wasser auf einmal in Bewegung, und Roger Flinkfinger erschien. »Du solltest doch nicht herkommen!«, schimpfte der Hüter und zog seinen Freund zu sich herauf. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich von uns fern halten…« »Ich musste kommen«, erwiderte Roger. »Juraviel hat mir erzählt, dass Markwart euch entdeckt hat. Er weiß von der Höhle und ist wahrscheinlich schon mit einer Truppe hierher unterwegs!« Da sprangen alle erschrocken auf, suchten ihre Habseligkeiten zusammen, streiften die Kleider ab und schnürten sie zu festen Bündeln. »Macht, dass ihr hier raus kommt! Schnell! Beeilt euch!«, schrie Roger verzweifelt. »Der Pfad führt nach Norden, aber da wollen wir nicht hin«, sagte Eibryan zu den anderen. »Bleibt im Wasser und geht am südlichen Ufer entlang in die andere Richtung. Haltet euch
dicht an den Felsen, um euch dahinter zu verstecken, und seid leise!« Braumin ließ sich ins Wasser gleiten, dann einer nach dem andern – Viscenti, Castinagis und Dellman. Schließlich tauchte auch Roger unter, nachdem er vorher noch kurz Eibryans Handgelenk ergriffen und es fest gedrückt hatte. »Ich liebe dich«, sagte Eibryan zu Pony, als sie an ihm vorbei ans Wasser trat. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte zärtlich. »Ich weiß«, sagte sie und war verschwunden. Mit Hilfe der Halteseile, die die Behreneser installiert hatten, fanden sie ohne große Mühe den Ausgang der Höhle ins offene Wasser des Masurischen Flusses. Als Erste kamen Braumin und Viscenti dort an und machten sich auf den Weg nach Süden, wie es ihnen der Hüter gesagt hatte. Die anderen beiden Mönche und Roger waren dicht hinter ihnen. Als Pony auftauchte, machte sie jedoch nicht an der Wasseroberfläche Halt, sondern stieg immer weiter aus den Fluten auf und schwebte an den Klippen empor, wobei sie ihre freie Hand benutzte, um sich an der Felswand entlang zu tasten. Als Eibryan an die Oberfläche kam, erkannte er sofort, was sie vorhatte. Sie ließ sich von dem Malachit empor tragen und war hinter Markwart her! »Pony!«, rief er, aber sie drehte sich nicht einmal um. Eibryan kletterte ans Ufer und kleidete sich schnell an; Roger und die Mönche kamen hinter ihm aus dem Wasser. »Fort mich euch!«, rief er ihnen zu. »Bringt euch in Sicherheit und legt Zeugnis ab!« Doch niemand hörte auf ihn. Wenn der Hüter Pony nicht im Stich lassen konnte, so würden sie es auch nicht tun.
Pony kam nahezu an derselben Stelle an, wo sie seinerzeit mit den Behrenesern gekämpft hatte. Sie hielt gerade lange genug inne, um ihre Kleider anzulegen, die Edelsteine zu durchforsten und darüber nachzudenken, wie sie jetzt vorgehen sollte. Sie wusste, dass Markwart in Chasewind Manor war – die ganze Zeit, während sich Pony in Palmaris aufgehalten hatte, war er kein einziges Mal nach St. Precious gegangen –, und sie kannte den Weg zum Haus der Bildeboroughs. Doch selbst aus dieser Entfernung konnte sie noch sehen, dass sie nicht so ohne weiteres dorthin gelangen würde. Sie konnte den Tumult in der Stadt bis hierher hören, die donnernden Hufe der Pferde, die Schreie, und sie sah schwarze Rauchschwaden durch die Abendluft ziehen. Sie blickte nach Westen über die Stadt, wo die Sonne schon tief am Himmel stand. Die Dämmerung zog langsam herauf, doch es war noch immer zu hell, um ungesehen durch die Stadt zu gehen. Doch sie konnte nicht erst auf die Dunkelheit warten. Aber wie sollte sie es dann anstellen?, fragte sie sich und besah sich noch einmal ihre Edelsteine. Vielleicht sollte sie mit dem Hämatit ihren Geist zu Markwart schicken. Pony schaute über die Klippe hinab und sah, wie Eibryan und die anderen ans Ufer kamen, und sie wusste, dass sie ihren Körper nicht einfach hier zurücklassen konnte, greifbar für Freund und Feind. Ihr Blick fiel auf den Ladestein, den Magnetit, mit dem sie das Attentat verübt hatte, das Beweisstück, das ihr sicheres Verderben wäre, wenn man sie jemals vor Gericht stellen würde. Ihr fiel ein, wie Bradwarden einmal über diesen Stein gesagt hatte, man könne seine Anziehungskräfte auch noch anders nutzen. Dann betrachtete sie ihren Diamanten, mit dem sie helles Licht erzeugen, aber auch, wie sie in einer Schlacht in
Caer Tinella festgestellt hatte, Dunkelheit heraufziehen lassen konnte. Sie nahm den Ladestein fest in die eine Hand und den Rubin, den Serpentin, den Graphit, den Malachit und den Hämatit in die andere. Dann marschierte sie wild entschlossen los. Ohne sich heimlich im Schutz der Häuser vorwärts zu schleichen, ging sie stolz und aufrecht ihrem Ziel entgegen.
Eibryan und die anderen hatten es nicht leicht, denn die Straßen, die zum Hafen hinabführten, wimmelten von berittenen Soldaten, und mehr als zwei Dutzend voll bemannte Kriegsschiffe aus Ursal lagen am Kai. Sie schlichen sich, so schnell sie konnten, von Deckung zu Deckung. Roger machte Eibryan ein Zeichen und ging seitlich voraus. Unterwegs liefen sie Prim O’Brien über den Weg, der Eibryan aufforderte, ihm zu seinem Versteck zu folgen, doch der Hüter lief weiter und die Mönche ohne zu zögern hinterher. Bald schlossen sich ihnen noch andere an. Belster und Prim, Heathcomb Mallory und Dainsey Aucomb und viele mehr, Freunde von Eibryan und Pony, Anhänger von Markwart und solche, die einfach nur neugierig waren, was da vor sich ging.
Sobald sie westlich vom Hafen in die Stadt kam, fand sich Pony von Allheart-Soldaten umgeben. Doch sie ging unerschrocken weiter und versuchte, harmlos auszusehen, denn in dem allgemeinen Chaos irrten viele Leute zwischen den brennenden Häusern herum. Doch man erkannte sie trotzdem, und Rufe wurden laut. Pony konzentrierte sich und sandte all ihre Wut in den Ladestein.
Sie kehrte seine Kräfte ins Gegenteil, wie sie es in Caer Tinella mit dem Diamanten getan hatte, und anstatt seine Anziehungskraft auf ein einzelnes Ziel zu richten wie bei Markwarts Zahn, versah sie ihn mit Kräften, die alles um sie herum abstießen. Sie hatte keine Ahnung, wie stark die Wirkung sein würde, bis ihr zwei berittene Allheart-Soldaten den Weg versperrten. In zwanzig Fuß Entfernung begannen die Pferde, den Halt zu verlieren, scheuten und schlitterten plötzlich rückwärts. Ihre Reiter rissen mit schreckgeweiteten Augen wie wild an den Zügeln und flogen dann in hohem Bogen durch die Luft. Obstkarren stellten sich senkrecht, metallbeschlagene Türen flogen auf – wurden sogar nach innen gedrückt, obwohl sie eigentlich nach außen aufgingen –, und aus dem Inneren der Häuser hörte sie die erschrockenen Schreie von Frauen, denen ihre Bratpfannen um die Ohren flogen. Allmählich geriet das Ganze außer Kontrolle. Immer mehr Soldaten kamen herbei, manche zu Fuß und andere zu Pferd. Auch sie wurden einfach weggeblasen. Immer mehr Pferde schlitterten rückwärts, fielen um und rutschten dann auf der Seite davon. Pony ließ nicht nach; sie dachte an ihre toten Eltern und an ihr totes Kind. Mit gesenktem Kopf stürmte sie vorwärts, sah nur den frei gefegten Weg vor sich und gab sich alle Mühe, sich von dem Chaos um sie herum nicht ablenken zu lassen.
»Chaos, Majestät! Chaos!«, rief der Soldat und stolperte in den Saal, wo sich Danube gerade leise mit Constance unterhielt. Herzog Kalas folgte dem Boten auf den Fersen. »Es ist diese Frau, Jilseponie«, erklärte der verängstigte Soldat. »Sie marschiert ganz offen durch die Straßen und fegt
uns alle mit unerklärlichen Kräften beiseite, bevor wir überhaupt an sie herankommen!« »Durch die Straßen?«, fragte der König. »Wo will sie hin?« »Nach Westen!«, schrie der Mann. »Zu Euch, Majestät!« Kalas wollte losbrüllen, aber Danube schnitt ihm das Wort ab, indem er kopfschüttelnd die Hand hob. »Wohl eher nach Chasewind Manor«, meinte Constance. »Sie ist hinter Markwart her«, pflichtete ihr der König bei. »Lasst die Kutsche vorfahren!« Constance versuchte ihm klarzumachen, dass er lieber da bleiben sollte, wo er in Sicherheit war. Aber wie so viele andere an diesem Spätnachmittag in Palmaris spürte auch König Danube, dass hier etwas Bedeutendes passierte, und wollte daran teilhaben.
Von der hohen Mauer, die St. Precious umgab, beobachtete Bruder Talumus den Aufruhr mit wachsendem Entsetzen. In der Ferne sah er Jilseponie mit entschlossenem Schritt durch die Straßen laufen. Dann sah er zwei Soldaten und einen Mönch durch die Luft fliegen, als wären sie in einen Hurrikan geraten. Diese entfesselten Kräfte erschreckten ihn, und er fragte sich, was er getan hatte, als er zu Meister Engress gegangen war und damit den ersten Schritt zur Freiheit dieser gefährlichen Verschwörer getan hatte. Sie sollten fliehen und sich in irgendeinem Loch tief in den Bergen verstecken und sich nie wieder hier blicken lassen. Doch Jilseponie war nicht davongelaufen, und er wusste instinktiv, wo ihr Ziel war. Da lief er mit vielen anderen Mönchen hinaus aus der Abtei und zum ehrwürdigen Vater.
In einem abgedunkelten Raum in St. Precious hockte Belli’mar Juraviel mit gesenktem Kopf und wartete darauf, dass sich der Tumult legte. Er hatte sich heimlich durch einen stillgelegten Schornstein eingeschlichen, nachdem er Roger zu seinen Freunden geschickt hatte, denn er wollte Sturmwind und Falkenschwinge, die Elfenwaffen in Sicherheit bringen, die nicht in die Hände von Markwarts Abellikaner-Orden gehörten. Er hatte gehofft, dass er seine Freunde im Norden vor der Stadt wieder treffen würde, doch aus den Worten der aufgeregt umherlaufenden Mönche konnte er entnehmen, dass ihm dieses Vergnügen nicht vergönnt sein würde. Und was das Schlimmste war: Er saß jetzt hier fest und musste mucksmäuschenstill warten, bis er wieder aus der Festung hinauskam.
Nicht weit vom Kloster entfernt stießen Bruder Talumus und seine Schar auf eine andere Gruppe von Mönchen, die im Laufschritt daherkamen. De’Unnero und ein paar Mönche aus St. Mere-Abelle waren zu den Feldern im Norden von Palmaris ausgeschwärmt, um nach den Flüchtigen zu suchen, und wie alle anderen in der Stadt hatten auch sie inzwischen von dem drohenden Unheil gehört. »Es ist die Frau«, erklärte Talumus, als der Abt auf ihn zulief. De’Unnero hörte sich an, was um ihn herum vorging, sah den ausgestreckten Fingern und den durch die Straßen laufenden Menschen nach und jagte in vollem Tempo nach Westen in den wohlhabenderen Teil von Palmaris, nach Chasewind Manor. Und die gesamte Bevölkerung rannte hinter ihm und Pony her auf das mächtige Herrenhaus zu, das einst ihr geliebter
Baron bewohnt hatte und das nun die Würdenträger des Abellikaner-Ordens beherbergte. Zu viele Soldaten und zu viele Mönche. Sie hatten das Kaufmannsviertel noch gar nicht erreicht, da erscholl ein Ruf, und eine Horde von Mönchen fiel über sie her. Auf Geheiß des Hüters teilte sich die Gruppe. Bruder Castinagis wurde beinahe auf der Stelle festgenommen, obwohl er sich tapfer wehrte und es noch schaffte, zwei Mönche abzuschütteln, bevor man ihn zu Boden stieß. Bruder Viscenti ergab sich, von Waffen umzingelt, mit erhobenen Händen, und dann wurde auch Braumin überwältigt. Er leistete keinerlei Widerstand und bat lediglich seine Kameraden, das weiterzusagen, damit die Wahrheit über Markwart ans Licht käme. Ein Mönch machte einen Satz auf Nachtvogel zu und wollte ihn aus einer plötzlichen Drehung heraus mit dem Fuß attackieren. Doch der Hüter duckte sich und rammte dem Angreifer die Faust mit solcher Wucht in den Brustkorb, dass er diesen fast in zwei Teile riss und zitternd zu Boden schickte. Nun sprang ein anderer auf seinen Kopf zu, doch Nachtvogel erwischte ihn noch in der Luft und nutzte seinen Schwung, um ihn mit voller Wucht in den Karren eines Fischhändlers zu befördern. Der Hüter lief weiter und sah bekümmert, wie hinter ihm seine Freunde ihren Verfolgern in die Hände fielen. Dellman war als Einziger noch auf den Beinen, und dann wurde auch er von der Speerspitze eines Allheart-Soldaten in Schach gehalten und ergab sich. Nachtvogel hörte Pferdegetrappel aus einer Seitenstraße und schwenkte in einen Hohlweg ab, da er befürchtete, es wären Soldaten.
Doch dann hörte er Roger rufen, er solle zurückkommen, und sah seinen Freund, der ihm von einem Dachgiebel aus zuwinkte. Die Pferde waren reiterlos und schienen gerade im richtigen Moment aufzutauchen. Nachtvogel machte Roger ein Zeichen und rannte los, um sich eins davon einzufangen. »Also, da bin ich aber wirklich eine bessere Partie als dieser alte Klepper!«, ertönte auf einmal eine wohlbekannte Stimme, und als der Hüter suchend um sich blickte, kam unter einer Decke Bradwardens verräterischer Oberkörper zum Vorschein. Er kam angetrabt, und Nachtvogel sprang auf seinen Rücken. »Nach Chasewind Manor!«, brüllte der Hüter. »Als ob ich das nicht wüsste!«, rief der Zentaur zurück. »Sogar die verdammten Pferde wussten schon Bescheid!«
Die mächtigen metallenen Tore von Chasewind Manor waren fest verschlossen und mit Ketten verrammelt. Pony zuckte zusammen, denn in dem Moment, wo ihre Zauberkraft sie aufsprengte, lief drinnen gerade ein Mönch vorbei und wurde mit voller Wucht getroffen. Als Pony an ihm vorbeiging, wälzte er sich stöhnend am Boden. Nun kamen ihr drei andere entgegen. Der Erste hatte einen Speer mit einer metallenen Spitze in der Hand, der ihm prompt ins Gesicht schlug, sodass der Mann hintenüber fiel, und dann davonflog – wie von einer gewaltigen Wurfmaschine abgefeuert. Der Zweite hatte das Pech, einen metallenen Ring zu tragen, und als er sich eben in Kampfstellung begeben wollte, ruderte er plötzlich mit Armen und Beinen in der Luft herum und flog hinter dem Speer her.
Der Dritte aber hatte keine Metallteile an sich und rührte sich nicht vom Fleck – bis Pony mit grimmiger Miene die andere Hand hob und ihn mit einem Blitzschlag niederstreckte. Im Inneren des Herrenhauses suchten Bischof Francis und Abt Je’howith aufgeregt nach dem ehrwürdigen Vater. Dieser saß gelassen auf seinem Thron im geräumigen Audienzsaal. Sie beknieten ihn zu fliehen. Doch Markwart war ebenso begierig auf diese Begegnung wie Pony und lachte sie nur aus. »Lasst sie kommen«, sagte er. »Und morgen früh wird unsere Macht im Bärenreich ins Unermessliche gestiegen sein. Und jetzt hinaus!« Die beiden Mönche sahen sich ängstlich an und liefen davon.
Die Kutsche des Königs, umgeben von berittenen AllheartSoldaten, raste in dem Moment durch das geborstene Tor, als Pony das Haus betrat. »Da!«, rief Herzog Kalas seinen Männern zu und zeigte auf das Mädchen. »Haltet sie fest!« »Nein!«, fuhr ihm der König in die Parade; dann bedeutete er Kalas, sich neben ihn zu setzen. »Lasst uns sehen, wie die Sache ausgeht«, sagte er zu dem erstaunten Herzog. »Das hier war von Anfang an Markwarts Kampf.« Jetzt drängten immer mehr Soldaten, Mönche und sogar Leute aus der Bevölkerung in den Hof. »Aus dem Weg!«, schrie einer der Soldaten, und alle Blicke richteten sich auf den riesigen Zentauren, der die Hecke über der acht Fuß hohen Mauer durchbrach. Dabei blieb er mit den Vorderhufen hängen, und er und sein Reiter überschlugen sich, wobei Nachtvogel weit von dem Zentauren weggeschleudert wurde. »Au, das hat wehgetan«, stöhnte Bradwarden und versuchte sich wieder aufzurappeln. Nachtvogel wollte zu ihm, aber der
Zentaur, der die Soldaten und Mönche schnell näher kommen sah, verscheuchte ihn. »Kümmer dich lieber um sie!«, rief er. Nachtvogel drehte sich um und sah einen Soldaten mit hoch erhobenem Schwert auf sich zukommen, der ihm offensichtlich den Schädel spalten wollte. Doch schon fuhren Nachtvogels gekreuzte Arme in die Höhe, er machte einen Schritt nach vorn und packte die herabsausenden Hände des Mannes. Er ließ das Schwert noch ein wenig tiefer sinken, dann riss er es schwungvoll in die Höhe und versetzte dem Soldaten einen Schlag ins Gesicht. Er griff nach dessen Armen, zog das Schwert wieder nach unten und löste es aus den Händen seines Gegners. Mit der freien Hand schlug er ihm gleichzeitig so hart ins Gesicht, dass der Mann der Länge nach zu Boden ging. Nun hatte Nachtvogel ein Schwert und die Tür des Herrenhauses vor Augen. Doch ein Dutzend Soldaten und doppelt so viele Mönche versperrten ihm den Weg. »Lasst ihn durch!«, rief König Danube, der hoch aufgerichtet in seiner Kutsche stand, und keiner wagte es, den Mann aufzuhalten, als er jetzt ins Haus stürmte. »Nur ihn!«, rief der König. »Umstellt das Haus und lasst niemanden hinein!« »Ihr riskiert eine ganze Menge«, sagte Constance. Der Blick, mit dem König Danube sie und Kalas bedachte, war eiskalt. So hatten sie ihn beide noch nie gesehen. »Verflucht soll er sein, dieser Markwart!«, zischte er leise. »Hoffentlich kommen die beiden als Sieger wieder heraus, mit seinem Kopf in der Hand.« Constance machte große Augen, doch Herzog Kalas lächelte nur und musste sich zusammenreißen, um seinem König nicht vor lauter Begeisterung um den Hals zu fallen. Als Nachtvogel die Tür erreicht hatte, kamen ihm Je’howith und Francis entgegen. Letzterer ging auf den Hüter los – und
wurde prompt mit einem gewaltigen Hieb außer Gefecht gesetzt, so dass er rücklings im Gras landete. Der alte Abt Je’howith hob abwehrend die Hände und trat beiseite. »Sicher ist sicher«, meinte König Danube trocken. Die Leute liefen jetzt aus allen Ecken von Palmaris im Vorhof des Herrenhauses zusammen. Wohlhabende Kaufleute und arme Bauern, eine verstörte Schar von Mönchen aus St. Precious, einige von ihnen rannten sogar. Und auch eine Abordnung von Behrenesern war erschienen, die im Chor die Freilassung Kapitän Al’u’mets forderten. Herzog Kalas ließ seine Leute Aufstellung nehmen, um die Menge in Schach zu halten, denn er fürchtete, das Ganze könnte in einen Aufstand ausarten. Und in diesem Fall war die Sicherheit des Königs oberstes Gebot. Doch die Menge hielt sich im Großen und Ganzen zurück, nur die Rufe wurden immer lauter. Plötzlich drängte sich ein Abellikaner-Mönch zwischen den Reihen der Soldaten hindurch und wollte auf das Herrenhaus zulaufen. Doch die Soldaten hielten ihn auf, bevor er die Tür erreicht hatte. »Wisst ihr nicht, wer ich bin?«, schrie De’Unnero. Die Soldaten, die den ehemaligen Bischof sehr wohl erkannt hatten, sahen nervös zu Kalas hinüber, der ganz am Rande stand. De’Unneros Protest zum Trotz schüttelte der Herzog den Kopf, und die Männer blieben auf ihren Posten. Da wandte sich De’Unnero der königlichen Kutsche zu. »Ich verlange…«, hob er an. »Ihr habt gar nichts von mir zu verlangen«, schnitt ihm König Danube das Wort ab. »Bewacht das Haus!«, rief er den Soldaten zu. »Es darf niemand hinein!«
De’Unnero machte kehrt und lief wieder auf die Tür zu. Als sie ihn erneut zurückdrängten, rannte er wütend die Vorderseite des Hauses entlang, dann an der Seite. Herzog Kalas schickte zwei seiner Männer hinterher, aber er machte sich keine Sorgen, denn er wusste, dass Chasewind Manor nur zwei Türen hatte, den großen Vordereingang und einen kleineren, streng bewachten an der Seite gegenüber von De’Unneros Laufrichtung. Außer sich vor Wut rannte dieser zur Rückseite des Hauses. Dann blieb er abrupt stehen und schaute zu dem einzigen Fenster empor, das groß genug war, um einem Menschen Eingang zu verschaffen. Doch dieses Fenster lag dreißig Fuß hoch über dem Erdboden. Vorn zerrten jetzt die Allheart-Soldaten Bruder Braumin und die drei anderen Mönche durchs Tor. Kalas befahl ihnen, die Gefangenen einzusperren, doch König Danube stoppte ihn. »Lasst sie hier!«, sagte er. »Das hier könnte ihr Schicksal entscheiden. Gebt Acht auf sie, aber lasst sie zusehen.« Und noch ein anderer Mann kam herbeigelaufen und tauchte in der Menge unter. Roger entdeckte Bradwarden sofort, der aufrecht, doch offensichtlich verletzt, zwischen zwei berittenen Allheart-Soldaten stand. Er hatte das Gefühl, ebenso in der Falle zu sitzen wie der Zentaur, denn er konnte Eibryan nicht zu Hilfe kommen, sondern nur dastehen und abwarten.
Als er erst einmal im Inneren des Hauses war, hatte der Hüter keine Mühe, Pony zu folgen, denn sie hatte eine Spur der Verwüstung hinter sich zurückgelassen: verbogene Metallteile, zertrümmerte Türen, gesplittertes Glas und etliche Mönche, die sich stöhnend am Boden krümmten.
Er lief den Korridor entlang in einen breiten Säulengang und eine große geschwungene Treppe hinauf. Dann durch einen engeren Gang in den prächtigsten Korridor des ganzen Hauses, an dessen hinterem Ende er eine mit Schnitzereien reich verzierte Tür entdeckte. Und ihm war völlig klar, dass sich Pony hinter dieser Tür befand. Zusammen mit Markwart.
Jetzt kamen die Soldaten hinter dem Haus um die Ecke und riefen dem Mönch zu, stehen zu bleiben. Doch De’Unnero kümmerte sich nicht darum, sondern verwandelte seinen Unterleib in die Hinterbeine des Tigers. Er drehte sich noch einmal zu den Soldaten um und knurrte, und sie fielen fast übereinander, als sie zurückwichen. De’Unnero sah zu dem Fenster hinauf. »Du entkommst uns nicht«, hörte er einen der Soldaten sagen, dann machte er einen gewaltigen Satz nach oben und immer weiter nach oben. Nachtvogel rannte mit Riesenschritten an dem prachtvoll verzierten Fenster vorbei, das zum Garten hinausging. Er wollte gerade Anlauf nehmen, um die Tür einzurennen, da stieß er plötzlich einen überraschten Schrei aus, denn er wurde mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert, als De’Unnero krachend das Fenster durchbrach. Im nächsten Augenblick standen sich die beiden Männer gegenüber. »Nun komme ich also doch noch zum Zuge!«, knurrte der ehemalige Bischof.
Wie er da so selbstgefällig thronte, war er für Pony die Verkörperung alles Bösen auf der Welt.
»Das habt ihr schlau angestellt«, sagte er. »Meister Engress hat dafür mit seinem Leben bezahlt.« »Ihr wollt wohl jeden umbringen, der sich Euch in den Weg stellt«, erwiderte sie. »Wenn es sein muss«, sagte Markwart und beugte sich jäh nach vorn. »Ich erhalte nämlich meine Befehle von Gott.« »Euch befiehlt Bestesbulzibar und sonst niemand!«, rief Pony und trat unerschrocken näher. Dann streckte sie die Hand mit dem Hämatit aus und ließ sich mit all ihrem Hass in den Stein fallen. Doch Markwarts Geist wartete schon auf sie, und wenn es ihr auch fürs Erste gelang, ihn mit aller Kraft wieder in seinen Körper zurückzudrängen, so war diese Überlegenheit doch nicht von Dauer. Denn Markwart begegnete ihr mit der Macht eines Dämons.
Nachtvogel wusste genau, wie gefährlich De’Unnero war und dass er im Kampf mit ihm langsam und Schritt für Schritt vorgehen musste. Der Zweikampf vor kurzem hatte ihm gezeigt, dass ihm De’Unnero annähernd ebenbürtig und das hier kein Kräftemessen war, sondern eine Frage der Strategie. Ein winziger Vorteil würde jeweils zum nächsten führen. Aber wie konnte er sich hier so lange aufhalten, während er wusste, dass hinter dieser Tür Pony Markwart gegenüberstand, der sie schon einmal geschlagen hatte? So viel Zeit hatte er nicht. Mit dem unhandlichen Schwert, das er dem Wachtposten draußen weggenommen hatte, ging er energisch auf De’Unnero los. Dieser sprang mit einem Satz über die Klinge hinweg und zwang den Hüter zum Ausweichen, indem er sich gegen die Wand warf, um sich abzustützen.
»Er ist schon dabei, sie zu foltern«, sagte der Mönch verschlagen. Dann baute er sich herausfordernd vor der Tür auf. Nachtvogel schluckte den Köder nicht. Langsam und beherrscht stieß er sich von der Wand ab und sagte sich immer wieder, dass er Pony keinen Gefallen täte, wenn er tot hier draußen auf dem Boden läge. Er machte einen Satz vorwärts und stach zu, während De’Unnero, dessen einer Arm jetzt wieder eine Tigerpranke war, unvermittelt durch die Luft fuhr. Der Hüter schnellte auf ihn zu, doch der Mönch hatte die Reichweite seines Gegners gut abgeschätzt und den Rückzug angetreten, bevor das Schwert ihm etwas anhaben konnte. Und so ging es eine ganze Weile weiter, ohne dass einer von beiden einen entscheidenden Vorteil erringen konnte. Doch auf einmal stieß Pony hinter der Tür einen Schrei aus. De’Unnero grinste breit und ließ seinen Blick auf der Tür ruhen. Nachtvogel attackierte ihn wütend. Und De’Unnero nahm zum Schein Anlauf, kauerte sich dann auf den Boden, um seine Tigerbeine in eine bessere Ausgangsposition zu bringen, schlitterte unter dem ausgestreckten Schwert hindurch und schlug dem Hüter die Klauen ins Knie, sodass dieser zu Boden ging. Nachtvogel rollte sich auf den Rücken und stoppte De’Unnero mit aufwärts gerichtetem Schwert. Er nutzte den Moment für eine Rückwärtsrolle, die ihn mühelos wieder auf die Beine brachte. Mit zwei flinken Schritten war er bei De’Unnero und erwischte ihn mit der Schwertklinge an der Schulter. Hätte er Sturmwind in der Hand gehabt, so wären jetzt Muskeln gerissen und Knochen gesplittert. Aber dieses Schwert riss De’Unnero lediglich die Haut auf. Dennoch schrie der Mönch vor Schmerz, wich zurück und griff sich mit der Tigerpranke an die Schulter.
Nachtvogel setzte ihm nach, doch er hatte die Kraft der Tigerbeine unterschätzt. De’Unnero wankte rückwärts, dann fuhr er die Krallen aus und stürzte sich auf Eibryan. Er stieß die auf ihn gerichtete Klinge beiseite, rammte den Hüter und umklammerte ihn mit den Armen. Nachtvogel spürte, wie sich die Klauen in seinen Rücken bohrten. Er dachte, dass es ihm gelingen könnte, mit einer gewaltigen Anstrengung die Umklammerung zu lösen, doch dann wurde ihm klar, dass De’Unnero ihm dabei den halben Rücken aufreißen würde. Er ließ das Schwert sinken und versuchte verzweifelt, eine Hand frei zu bekommen. De’Unnero griff noch fester zu, und die Klauen gruben sich tief in Eibryans Fleisch. Doch Nachtvogel hatte seinen rechten Arm unter der Tigerpranke und bemühte sich, den Mönch aus dem Gleichgewicht zu bringen, damit dieser einen Teil seiner Kraft auf seine Beine verlagern musste. Dann krümmte er die Schultern, sodass der Griff nachließ. Er spannte die stahlharten Muskeln an und drückte gegen die Tigerpranke, bis der menschliche Arm seines Gegners mehr und mehr den Halt verlor. Plötzlich sah er, wie sich der Mund des Mannes langsam in eine Raubtierschnauze mit spitzen Fängen verwandelte. Er rammte dem Mönch seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Nase, gerade als sie sich zu verlängern begann. Noch einmal hämmerte er die Stirn dagegen, und als er merkte, wie sich auch dessen andere Hand verwandelte und ihm klar wurde, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hatte, breitete er mit einem wilden Schrei ruckartig die Arme aus und nahm dabei den Schmerz in Kauf, als die Tigerklauen ihm tiefe Furchen in Rücken und Brustkorb rissen. Mit der Rechten schlug er dem anderen ins Gesicht, während die Linke De’Unnero in den Schritt griff. Als er ihn mit beiden
Händen festhielt, wirbelte der Hüter herum, riss den Mönch von den Beinen und rammte ihn mit aller Macht gegen die Wand. Er riss ihn wieder zurück und rammte ihn noch ein zweites und drittes Mal gegen die Wand, obwohl De’Unnero wild um sich schlug und dabei einmal mit den Klauen eine tiefe Spur im Gesicht des Hüters hinterließ. Nach dem dritten Mal ließ er ihn los und schlug mit seinen Fäusten auf das Gesicht und den Oberkörper von De’Unnero ein. Er machte einen Satz zurück, hielt einen Augenblick inne und rammte dann mit gesenktem Kopf das entstellte Gesicht des Mönchs. De’Unnero ging in die Knie, doch so einfach wollte der Hüter es ihm nicht machen. Mit einer Hand griff er nach dessen Kinn, mit der anderen packte er ihn im Schritt, und schon hing der Mönch in der Luft. Der Hüter drehte sich um und lief über den Korridor, dann zielte er mit Bedacht auf den Teil des riesigen Fensters, der noch heil geblieben war, und schleuderte den Mann mit voller Wucht durch das Glas, sodass er dreißig Fuß in die Tiefe stürzte. Nachtvogel blickte hinterher und stellte befriedigt fest, dass die gefährliche Kreatur reglos unten im Gras lag, aufgespießt von den spitzen Glasscherben. Er machte sich nicht erst die Mühe, das Schwert aufzuheben, bevor er auf die Tür zuging, denn er wusste genau, dass es im Kampf gegen Markwart nutzlos wäre. Im Übrigen spürte er, wie seine Kräfte ihn immer mehr verließen. Im Gegensatz zu ihrem nächtlichen Kampf auf dem Feld hatte ihr Duell diesmal einen nach außen hin sichtbaren Grad erreicht. Die Menge der Schaulustigen im Hof wich erschrocken zurück, als das ganze Haus plötzlich zu beben begann, Lichter flackerten und Fenster aus ihrem Rahmen fielen.
»Betet, dass sie Markwart besiegen«, flüsterte König Danube seinen beiden Begleitern und Abt Je’howith zu, der in der Nähe der Kutsche stand. Kalas und Constance taten das bereits, und der alte Abt, völlig verängstigt durch das, was sich da vor seinen Augen abspielte, sagte keinen Ton. Selbst Bruder Francis konnte dem Schauspiel nur hilflos zusehen. Die Tür flog auf, und zwei junge Mönche wankten heraus, fielen ins Gras und krochen auf allen vieren davon, wobei sie den Himmel unablässig um Gnade anflehten. Der verdatterte Francis wagte es nicht, das Haus zu betreten.
Diesmal trug sie kein Kind in sich, das sie verletzlich machen konnte, und so kämpfte sie mit aller Kraft und Wut. Doch Pony wusste, dass sie nicht gewinnen konnte. Der Geist, der Markwart lenkte, war stärker als alles, was sie je erlebt hatte. Sie schlug sich tapfer, bot auch den letzten Rest ihrer Willenskraft auf und wich nicht von der Stelle, während eine Minute nach der anderen verging. Überrascht von den Kräften dieses Mädchens ging Markwarts Geist wieder und wieder auf sie los, überragte sie turmhoch und umfing sie, als wolle er sie verschlingen. Doch es gelang ihm nicht, und so kämpften sie weiter und wussten doch beide, dass die Zeit gegen Pony arbeitete und sie trotz ihrer Raserei zuerst erschöpft sein würde. Doch auf einmal spürte sie, wie etwas ihre Schulter berührte – und die kurze Ablenkung genügte, um Markwart einen Vorteil zu verschaffen. Doch es war eine sanfte Berührung, von einem Freund oder Geliebten, und dann war ein dritter Geist bei ihnen, und Nachtvogel kam Pony zu Hilfe.
Gleich alle beide, meinte Markwarts Geist. Umso besser, dann bin ich euch wenigstens auf einen Schlag los. Und schon ragte er riesig über ihnen in die Höhe, und große, fledermausähnliche Schwingen wuchsen aus dem Schattengebilde hervor. Eibryans Geist fand den von Pony, berührte sie, und die beiden verschmolzen in einer Umarmung, inniger als alles, was sie je erlebt hatten. Schon fiel Markwart über sie her. Doch nun waren sie eins, im Geiste verbunden, wie es ihre Körper sooft im Schwerttanz gewesen waren. Gemeinsam hielten sie den Abt in Schach, gemeinsam drängten sie den schwarzen Geist wieder zurück in seine Behausung. Und jeder Zentimeter forderte ihre ganze Kraft und saugte ihnen die Lebensenergie aus. Sie ließen ihr Ziel nicht aus dem Auge; der Hüter übernahm jetzt die Führung und steckte Markwarts Schläge bereitwillig ein, denn Eibryan wusste, was Pony noch nicht klar war, wusste, dass sein Körper in seinem Blute dahinschwand. Wenn sie etwas davon bemerkte, würde es sie nur vom Kampf ablenken, und sie würde versuchen, mit dem Hämatit seine Wunden zu heilen. Eibryan aber hatte gewusst, welches Opfer er bringen musste, als er sich in diese Schlacht gestürzt hatte, und er wusste genau, dass Pony sich keinen Augenblick der Ablenkung erlauben konnte, denn wenn sie ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandte, würde Markwart sie beide vernichten. Sie waren jetzt dicht bei Markwarts Körper angelangt, und allen dreien war klar, dass sie ihn besiegt hätten, sobald der Geist wieder in seine Hülle verbannt wäre. Der Abt zog den Kopf ein, stieß einen telepathischen Schrei aus und wehrte sich erbittert. Kälte umfing den Körper des Hüters. Er spürte sie, und ihm war klar, was das zu bedeuten hatte. Das war seine letzte
Gewissensprobe, dafür war er ein Hüter, um auch dieses allerletzte Opfer zu bringen. Dabei wollte er mit jeder Faser seines Herzens leben, wollte aufhören und ihr alles sagen. Doch er machte unbeirrt weiter. Markwart stieß einen Schrei aus, geistig und körperlich. Eibryan hörte es wie aus weiter Ferne. Die ganze Welt schien sich immer weiter zu entfernen.
Draußen auf dem Vorplatz sah man nur einen gewaltigen Ausbruch schwarzen Lichts, einen ungeheuren schwarzen Blitz, dann war es auf einmal ganz still. Francis stürzte ins Haus, hinter ihm König Danube und seine Berater, Roger und Bradwarden, und niemand versuchte sie zurückzuhalten. Schon im Eingang drehte sich der König noch einmal um und rief seinen Soldaten zu, sie sollten die gefangenen Mönche mitbringen. »Ihr Leben hängt jetzt am seidenen Faden«, erklärte er. Hinter dem Haus warf Belli’mar Juraviel nur einen kurzen Blick auf De’Unneros zerschmetterte Gestalt und flog dann zu dem Fenster hinauf.
Als Pony spürte, wie Markwarts Geist auseinander brach, wusste sie, dass es vorbei war. Doch ihre Freude darüber ließ sofort wieder nach, als sie spürte, dass noch eine andere Seele dahinschwand, und sah, wie Eibryans Lebenskraft vor ihren Augen abnahm. Sie tauchte aus der Versenkung auf und schlüpfte wieder in ihren Körper. Da sah sie Markwart mit zitternden Knien vor sich stehen und sie ungläubig anstarren, und sie sah Eibryans Körper blutüberströmt neben sich liegen, so still und so bleich.
Sie warf sich über ihn, rief verzweifelt seinen Namen und versuchte, ihn mit dem Hämatit zu erreichen. Doch dann sank sie völlig entkräftet zu Boden, und ein tiefer schwarzer Abgrund schien sie zu verschlingen. Markwart starrte entsetzt vor sich hin. Er war geschlagen – nein, nicht er allein, auch diese innere Stimme, die ihn so lange geleitet und die er die ganze Zeit für seine eigene tiefere Einsicht gehalten hatte. Erst jetzt begriff er die Wahrheit und wusste, dass sein Leben eine einzige Lüge gewesen und er auf dem Weg in die Verdammnis war. Er hätte sie jetzt beide töten können, aber das war das Letzte, woran er in diesem Moment des Entsetzens dachte. Verstört trat er zu ihnen, und als er sah, dass für den Mann jede Hilfe zu spät kam, und den Lärm im Haus hörte, hob er die Frau auf und ging steifbeinig auf die Tür zu. Er bemerkte gar nicht die kleine Gestalt, die draußen im Korridor stand. Der arme Juraviel wusste nicht, was er von dem Ganzen halten sollte. Er hörte Pony stöhnen und spürte irgendwie, dass der alte Mann – wie alt und verbraucht Markwart jetzt auf einmal aussah! – ihr nichts mehr tun konnte. Nein, irgendetwas war mit Markwart vorgegangen, und der Elf wusste, dass er geschlagen war und nicht mehr lange zu leben hatte. Dennoch wollte er ihm sein Schwert in den Rücken stoßen, schreckte dann aber doch davor zurück, als er daran dachte, welch schlimme Folgen das für sein Volk haben würde. Er wollte zu Pony und sie den Armen dieses Scheusals entreißen, der so viel Leid über sie gebracht hatte, doch dann sah er seinen Freund, der ihm fast wie ein Sohn gewesen war, leblos am Boden liegen. Juraviel stürzte zu ihm und versuchte verzweifelt, die hervorquellenden Eingeweide mit bloßen Händen wieder zurückzustopfen.
Doch er wusste, dass es bereits zu spät war. Da öffnete der Hüter noch einmal seine grünen Augen. »Pony lebt«, sagte Juraviel und rückte ganz nah an das bleiche Gesicht seines Freundes heran. »Sie hat ihn besiegt«, keuchte der Hüter. »Der Dämon ist ausgetrieben.« Dann verdrehte er die Augen, schloss sie und tat einen tiefen Atemzug. »Dein Sohn!«, sagte Juraviel schnell. »Dein Sohn ist in Andur’Blough Inninness, in Lady Dassleronds Obhut!« Eibryan öffnete ein letztes Mal die Augen, er umklammerte den Arm des Elfen und lächelte schwach. Dann sank er zurück und starb.
Bischof Francis kam als erster die Treppe hinauf, und als er in den langen Korridor einbog, wankte ihm Markwart steifbeinig entgegen, Pony in den Armen. Francis nahm ihm seine Last ab und legte das Mädchen vorsichtig auf den Boden, dann stützte er seinen taumelnden Gönner und führte ihn zur Treppe. Die anderen eilten herbei und Roger rief nach Pony. »Ich habe mich geirrt«, sagte Markwart zu Francis und lächelte matt. »Bei Jojonah und Avelyn. Ja, bei Avelyn. Ich hätte es besser wissen müssen.« »Nicht doch, Vater«, wollte Francis widersprechen. Doch Markwart sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und umklammerte ihn mit erstaunlicher Kraft. »Doch!«, zischte er. »Ich habe alles falsch gemacht. Kümmer dich um meine Kirche, lieber Francis! Sei unseren Schäfchen ein Hirte und kein Diktator. Aber gib Acht…« Er bäumte sich so heftig auf, dass er Francis’ Armen entglitt. Dieser beugte sich über ihn und hielt seinen Kopf. »Gib Acht«, wiederholte Markwart, »dass du vor lauter Menschlichkeit nicht die Mysterien entweihst.«
Er bäumte sich noch einmal heftig auf, und dann hatte der Abellikaner-Orden sein Oberhaupt verloren. »Sie lebt!«, hörte Bischof Francis Roger hinter sich ausrufen. Als er sich umdrehte, sah er, wie dieser sich verzweifelt um Pony bemühte und dabei unwillkürlich das Säckchen mit den Steinen einsteckte. Hinter Roger und der am Boden liegenden Frau standen König Danube mit seinen Beratern und ein paar Soldaten, die die Mönche in Schach hielten. Bradwarden aber ließ sich nicht zurückhalten. Trotz seiner Verletzungen drängte er sich zwischen den Allheart-Soldaten hindurch und am König vorbei. Dann lief er zu dem Saal am Ende des Korridors. Ein paar Soldaten machten Anstalten, ihm zu folgen, doch der König hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Der ehrwürdige Vater!«, schrie der alte Je’howith, der gerade hinzukam. »Ist tot«, sagte Bischof Francis sanft. »Mörder!«, kreischte der Abt. »Diese Bluttat muss gerächt werden! Wachen!« »Haltet den Mund!«, mischte sich jetzt Bruder Braumin ein und riss sich von dem Soldaten los, der ihn festhielt. Und König Danube machte dem Allheart-Krieger ein Zeichen, den Mönch gewähren zu lassen. »Dalebert Markwart ist tot, weil er den Weg der Finsternis eingeschlagen hatte!«, erklärte Braumin unerschrocken. »Das ist Gotteslästerung!«, schrie ihn Je’howith an, doch dann erhielt Braumin von einer Stimme Unterstützung, mit der keiner gerechnet hätte. »Ihr habt doch gehört, Ihr sollt still sein«, sagte Bischof Francis. »Wir besprechen diese Angelegenheit noch ausführlich – bei einem Kollegium, das wir möglichst schnell einberufen müssen.« »Bruder Francis«, protestierte Je’howith.
»Aber ich warne Euch«, fuhr Francis fort, ohne seinen Widerspruch zu beachten. »Wenn Ihr es wie Markwart auf Braumin abgesehen habt, dann werde ich gegen Euch vorgehen.« Je’howith geriet ins Stottern. Hilfe suchend sah er den König an, doch dieser bot ihm ebenfalls keine Unterstützung an. Jetzt drehte sich Francis mit fragendem Blick zu Pony und Roger um, und der Junge nickte zuversichtlich. »Der ehrwürdige Vater hat es selbst in seinen letzten Worten gesagt«, verkündete der Bischof. »Die Zeit ist gekommen, im Orden einiges zu verändern. Da liegt Avelyns Schülerin, die man zur Verbrecherin erklärt hat. Ich aber werde sie zur Mutter Oberin der neuen Kirche ernennen.« »Was ist das für ein Unsinn?«, fragte Je’howith. »Und gleichzeitig beantrage ich die Heiligsprechung von Bruder Avelyn Desbris«, fügte Francis hinzu. »Der heilige Avelyn!«, rief Bruder Viscenti begeistert aus. »Unmöglich!«, brüllte Je’howith. »Wie lange wollen wir uns das noch anhören, Majestät?«, fragte Herzog Kalas angewidert. Danube schmunzelte, denn er hatte wahrhaftig genug von diesen Abellikanern. »Hiermit hebe ich das Amt des Bischofs von Palmaris wieder auf«, sagte er, und sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. »Und ich warne euch alle. Bringt euer Haus in Ordnung, sonst werde ich es für euch tun. Wenn ein Mönch einfach Bischof werden kann, dann kann der König ebenso gut in die Rolle des ehrwürdigen Vaters schlüpfen!« Francis sah Braumin an und nickte ihm bekräftigend zu. Je’howith, dem das nicht entgangen war, begann langsam um sein Amt als Abt zu fürchten. Nun kam Bradwarden wieder aus dem Saal, den toten Eibryan in den Armen, und sie wussten alle, dass es für
diejenigen keinen Grund zum Feiern gab, denen er ein Freund und Kampfgefährte gewesen war. Bruder Braumin und die anderen Mönche neigten ehrerbietig die Häupter. Roger warf sich über Pony und schluchzte für sie beide. Draußen stand Belli’mar Juraviel in den Glasscherben unter dem zertrümmerten Fenster und schaute mit blutendem Herzen ein letztes Mal empor. Er wusste, dass es jetzt Zeit war, nach Andur’Blough Inninness zurückzukehren und die Menschen mit ihren verrückten Kriegen sich selbst zu überlassen. Was er sich nicht erklären konnte, war allerdings, wohin der Leichnam von Marcalo De’Unnero verschwunden war.
Epilog
Sie hörte die Streitgespräche hinter sich im Haus, in denen immer wieder ihr Name fiel, doch Pony interessierte das alles nicht an diesem grauen und stürmischen Sommertag. Das Einzige, was ihr in diesem Moment wichtig erschien, waren die beiden Gedenksteine, die man im Garten von Chasewind Manor aufgestellt hatte. Den einen hatte König Danube gestiftet, als er das Herrenhaus wieder übernommen hatte. Der andere war von Bruder Braumin und, überraschenderweise, von Francis zum Zeichen der Ehrerbietung des neuen Abellikaner-Ordens. Aber war das überhaupt noch der Abellikaner-Orden? Im Verlauf der erhitzten Debatten hatte Bruder Braumin angedeutet, dass er sich mit seinen Anhängern – deren Zahl beträchtlich sein würde, wie selbst Abt Je’howith inzwischen erkannt hatte – von den Abellikanern abspalten, und einen Orden des heiligen Avelyn ins Leben rufen wollte. »Jetzt lieben sie uns alle«, sagte sie zu dem Stein. Es war kein richtiges Grab, denn Pony hatte nicht zugelassen, dass man Eibryan hier zur letzten Ruhe bettete. Er sollte in dem Wäldchen zu Füßen von Dundalis begraben werden, wo er das Grab seines Onkel Mather gefunden und sich Sturmwind erkämpft hatte. Zu diesem Zwecke brachen Bradwarden und Roger an diesem Tage nach Palmaris auf, und der Zentaur zog einen Gerätewagen mit Eibryans Sarg hinter sich her. Pony konnte es immer noch nicht fassen, dass er nicht mehr bei ihr war. Ganz still stand sie da und versuchte sich daran zu erinnern, wie es dazu gekommen war. Doch ihr Kopf war völlig leer, und in ihrer Seele war der Lebensfunke erloschen.
Sie wollten sie zur Mutter Äbtissin und damit zum Oberhaupt ihres Ordens machen. König Danube hatte ihr große Dinge versprochen, vielleicht sogar die Baronie von Palmaris, in Anerkennung ihrer Dienste für das Königreich – denn Markwarts Niederlage wurde jetzt als Sieg der Krone gefeiert. Doch in diesem Augenblick hoffte sie, dass nichts von alledem wahr würde und man sie einfach nur mit ihren Erinnerungen und ihrem Schmerz allein lassen möge. Zwar hatte sie den Wunsch, Gutes zu tun, und vielleicht wäre sie ja ein großartiges Oberhaupt für den Orden und würde ihn in Avelyns Sinne weiterführen. Doch das war ihr egal. Denn jetzt konnte sie nichts spüren als Leere und Hilflosigkeit. All das Schreckliche konnte doch nicht wirklich geschehen sein. Sie dachte an den vergangenen Herbst, als sie und Eibryan sich draußen auf dem Feld in der Nähe von Caer Tinella geliebt hatten, und die Knie wurden ihr weich. Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter, und als sie sich umdrehte, standen Kalas und Constance Pemblebury vor ihr. »Gehst du mit ihnen in den Norden?«, fragte Constance. »Vielleicht morgen«, sagte Pony ausweichend. »Oder wenn die Sache mit dem Orden noch nicht geklärt ist, vielleicht auch erst später.« In Wahrheit wollte sie gar nicht nach Dundalis, denn sie würde es nicht ertragen zuzusehen, wie sie den Sarg in die Erde senkten.
Sie bewegten sich gemessenen Schrittes vorwärts, ohne auf die Menge zu achten, die sich am Straßenrand versammelt hatte. Viele warfen Blumen auf den Wagen. Eibryan, der Nachtvogel, wurde unversehens zum Volkshelden von Palmaris, ein Umstand, den Roger und Bradwarden mit gemischten Gefühlen aufnahmen, denn wenn ihr Freund auch aller Ehren wert war, so wollten sie ihn doch gern so
beeindruckend in Erinnerung behalten, wie er tatsächlich gewesen war, und dieses Bild nicht durch übersteigerte Phantasien zu einer albernen Legende verfälschen lassen. Dieser Augenblick würde in der Erinnerung aller Anwesenden weiterleben – zu denen auch König Danube Brock Ursal zählte. Eine Abteilung berittener Allheart-Soldaten führte den Zug an und würde ihn bis nach Dundalis begleiten. Als sie durch das nördliche Stadttor von Palmaris kamen, standen dort noch mehr Leute; sämtliche Bauern waren von ihren Feldern im Norden hierher gekommen. Und noch einer sah die Prozession vorüberziehen und stieß ein herzzerreißendes Wiehern aus. Symphony stand nicht weit entfernt auf einem Hügel. »Er weiß es schon«, sagte Bradwarden zu Roger. Der mächtige Hengst sprengte jetzt den Hügel hinab und galoppierte an den Allheart-Kriegern vorbei, die vor dem prächtigen Tier in stummer Ehrfurcht erstarrten, das noch kräftiger und flinker war als ihre berühmten To-gai-ru-Pferde. Jetzt stampfte Symphony mit den Hufen gegen den Wagen, und Bradwarden, der die Sprache der Pferde genau verstand, zog sich das Geschirr über den Kopf und streifte es dem Hengst über. Schweigend zogen sie weiter nordwärts.
Von weitem sah Belli’mar Juraviel seinen geliebten Freund auf die letzte Reise gehen, dann machte er sich auf den Heimweg. Was er nicht sehen konnte: Nicht weit von ihm entfernt sah auch Marcalo De’Unnero dem Schauspiel zu. Seine äußeren Wunden waren mit Hilfe des Hämatitringes so gut wie verheilt, doch die seelischen Narben schmerzten noch immer. Und er stellte sich viele Fragen, während er heimlich den
Lobeshymnen der Leute auf den Nachtvogel zuhörte, die Markwart verfluchten und von den wunderbaren Veränderungen redeten, die dem Abellikaner-Orden bevorstanden. De’Unnero konnte all diese Veränderungen kaum fassen, doch er hatte zu viele eigene Probleme, die ihn ins Grübeln brachten. Er hatte seinen Lieblingsstein seit Wochen nicht mehr gesehen und fragte sich, ob dieser womöglich mit seiner Seele verschmolzen war. Denn er war jetzt Mensch und Raubtier zugleich, und wenn er auch meist bewusst von einem Zustand in den anderen wechseln konnte, gab es doch Zeiten, wo der Raubtierinstinkt übermächtig wurde und er die Kontrolle über sich selbst verlor.
Eine dunkle Wolke legte sich über Andur’Blough Inninness, als Belli’mar Juraviel in diesem Sommer mit der Nachricht von Nachtvogels Tod heimkehrte. Wenn auch der Krieg gewonnen und Juraviel wieder da war, wenn auch Ponys Kind prächtig gedieh, lastete doch der Verlust von Nachtvogel und Ni’estiel schwer auf den Schultern der kleinen Familie der Touel’alfar. Der einzige Lichtblick schien wirklich dieses Kind zu sein. Juraviel und Lady Dasslerond gingen oft zu ihm hin, beugten sich zu ihm hinab, und die Herrin strich ihm liebevoll über die zarte Wange. »Er wird einmal etwas ganz Besonderes«, meinte Lady Dasslerond. »Noch viel bedeutender, als sein Vater und seine Mutter es waren.« »Sie lebt ja noch«, erwiderte Juraviel. Die Elfenkönigin bedachte ihn mit einem strengen Blick. Natürlich wusste sie das längst, und ihr war völlig klar, dass Juraviel mit dieser Bemerkung lediglich darauf hinweisen
wollte, dass das Kind seiner Ansicht nach zur Mutter gehörte. Davon aber wollte Lady Dasslerond nichts hören, daran erinnerte ihn dieser Blick. Sie hatten das Kind des Nachtvogels – nicht Eibryans Kind – in ihre Obhut genommen, und jetzt war es das Kind von Andur’Blough Inninness. Für die Herrin war die Angelegenheit damit erledigt. »Ich habe ihnen bei ihrer Flucht geholfen«, gestand Juraviel. Lady Dasslerond lachte leise. »Glaubst du etwa, das wäre mir nicht klar gewesen, als ich dich gehen ließ?«, sagte sie zur großen Erleichterung ihres Schützlings. »Du hast richtig gehandelt.« »Und was ist mit Jilseponie?«, fragte Juraviel. »Sie kennt Bi’nelle dasada. Daran können wir nichts mehr ändern.« Doch Lady Dasslerond schien das nicht zu beunruhigen. »Jilseponie war dem Nachtvogel eine treue Gefährtin«, erwiderte sie. »Sie wird das Geheimnis, das er ihr anvertraut hat, gewissenhaft hüten.« Juraviel konnte nur hoffen, dass sie Recht behielt, denn die Elfenkönigin würde die Menschen jetzt sehr genau im Auge behalten, und wenn Pony irgendjemandem den Schwerttanz beibrächte, beispielsweise den Soldaten des Königs oder den Mönchen, dann würden sie die Touel’alfar sofort gefangen nehmen. Wenn sie Glück hatte und Lady Dasslerond gerade besonders milde gestimmt war. Ein Glucksen von unten lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Säugling. Sein schiefes kleines Grinsen erinnerte sie an den jungen Eibryan, als sie ihn ins Nebeltal geholt hatten, doch seine Augen hatten denselben hellblauen Schimmer wie die seiner Mutter. Außer wenn die Elfen ihn allein ließen. Denn dann glühten hinter diesen blauen Murmeln winzige rote Flämmchen, die weder von seiner Mutter noch von seinem Vater herrührten.
Der Dämon hatte sie während ihres ersten Kampfes mit Markwarts Geist in Ponys Bauch gepflanzt – als heimliches Vermächtnis von Bestesbulzibar.