Claus Nowak
Alaska -Trip Abenteuerroman
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2009 V1.0
Zwei Männer sind unterwegs in de...
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Claus Nowak
Alaska -Trip Abenteuerroman
scanned by tipo corrected by tipo
2009 V1.0
Zwei Männer sind unterwegs in der Tundra Alaskas: Carter, Sohn einer Indianerin, der Reiseführer, und der amerikanische Forscher David Hertzberg, der seine Karriere der Entwicklung und Beobachtung chemischer Kampfstoffe verdankt, den seine Erinnerungen nicht mehr loslassen. Er war beim Contergan-Prozeß dabei, sah die Vernichtung von Urwaldlandschaft in Vietnam, protokollierte die Seveso – Ereignisse, hörte von geheimnisvollen Lagern in Israel. Es beunruhigen ihn diese Tage, die gedacht waren als harmloser Urlaub, durch das allmähliche Begreifen von Schuld immer mehr. Da ereignet sich, weiter im Norden, eine schreckliche Explosion. Carter und Hertzberg versuchen sich zurück zuschleppen – bis es zur letzten Abrechnung kommt, als Breadlaw erscheint, der sie als Versuchsobjekte betrachtet… Dieses Buch, ebenso spannend wie aufschreckend, will Stellung beziehen zu den uns alle bewegenden Fragen von Krieg und Frieden, zu der Frage: Was wäre, wenn?, aber auch: Was ist schon?
Das Buch ist nicht Seitenkonkordant.
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Claus Nowak
Alaska -Trip
Abenteuerroman
Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig
2
1 Die beiden Männer, die sich am späten Vormittag dieses sie bennund zwanzigsten Juli anschickten, den Oberlauf des Sheenjek zu verlassen, schienen keine Eile zu haben. Sie hatten bis gegen acht in ihren Zelten geschlafen, danach ausgiebig gefrühstückt und, als sie mit dem Packen der Trage gestelle eigentlich schon fertig waren, noch einmal Kaffee ge kocht. Die Feuerstelle qualmte noch; ein dünner Rauchfaden stieg ziemlich gerade auf und zerteilte sich erst in einiger Höhe zu einer Schar unordentlicher Fetzen. Über dem Weidengestrüpp trieben sie langsam davon. Zwei Steinwürfe oberhalb der Stelle, an der sie gelagert hatten, begann die erste Terrasse, schütter bestanden mit Schwarzfich ten, dunkelstämmigen Birken und einigen Balsampappeln, die die kümmerlichen Wipfel der dünnen Fichten noch überragten. Es war halb elf und so gut wie windstill. Über dem Fluß stand unbeweglich eine schwärzliche Säule; jedesmal, wenn die Sonne durch die Wolken brach, verfärbte sie sich, sah silbrig aus, graublau oder einfach schmutzig, wie Eis reste im Frühling. Die Säule bestand aus Millionen, wahrschein lich sogar Milliarden von Mücken – Myriaden auf jeden Fall. Mücken stiegen auch unter jedem ihrer Schritte auf, sie saßen überall – im Moos, im Wollgras, im Gesträuch der Lachsbeeren, hinter jedem Blatt und unter jeder Nadel – , sie gehörten zur Ursubstanz dieser Tundra. Die Männer stiegen langsam auf, mit gleichmäßigen, weitgrei fenden Schritten. Es läuft sich gut auf diesem weichen, in genü gender Entfernung vom Fluß nicht mehr zu feuchten Boden, man läuft auf einem Polster von Gräsern, Seggen, Moos, einer Ge sellschaft lebender, sterbender, modernder Individuen, untrenn bar miteinander verquickt und verfilzt – jenseits des Polarkreises 3
wird die Vegetationszeit schnell immer kürzer. Als sie die zweite Terrassenstufe erreicht hatten, blieben sie stehen und schauten zurück. Der Fluß lag an die zweihundert Meter unter ihnen, ein blaues, zerfranstes Band mit weißen Wirbeln in der Mitte und schattendunklen Buchten in Ufernähe. An dieser Stelle verläuft das Tal des Sheenjek beinahe genau in Nord-Süd-Richtung, die Talsohle ist anderthalb, manchmal zwei Kilometer breit, und sie gehört allein dem Fluß. Kies-, Schotter und Sandbänke, Strudellöcher, natürliche Wehre und heimtü ckische Schnellen, tote Arme und ephemere, lagunenartige Seen wechseln ohne erkennbares Prinzip einander ab, und nach jeder Schneeschmelze im Frühjahr ändert sich das Bild. Die Männer wandten sich ab und stiegen weiter. Nicht lange nach Mittag überschritten sie die erste Bergkette – bis zum Co leen waren es noch gute dreißig oder fünfunddreißig Meilen. Wenn sich das Wetter hielt, würden sie die Route in drei Mär schen bequem schaffen. An diesem Tage waren die beiden Männer die einzigen Men schen, die sich im Umkreis von beinahe zwanzig Meilen im ge nannten Bergland zwischen den Oberläufen von Sheenjek und Coleen aufhielten. Die nächsten Menschen, auf die sie – südlicher Richtung fol gend – gestoßen wären, waren drei Fischer: zwei ältere Loucheaux-Athapasken und ein junger Kanadier. Sie hatten am Un terlauf des Coleen mit ihrem Chinook* zu tun. Im Norden wäre ihnen, wenn überhaupt, ein Mensch erst nach zwei harten Tagesmärschen begegnet: in den südlichen Ausläu fern der Wildlife Range war seit einiger Zeit eine Gruppe der University of Alaska unterwegs, bestehend aus einem Botaniker, drei Geologen und dem zuständigen Wildhüter. In östlicher Richtung hätte die fragliche Distanz ganz und gar 4
mehr als vierzig Meilen betragen, der Ort der Begegnung hätte unter Umständen bereits auf kanadischem Territorium gelegen: Zwei Klassen der High School von Old Crow absolvierten unter Aufsicht und Kontrolle zweier Lehrer und einer Lehrerin einen Pfadfinderkursus. Wie später von zwar weitgehend subalternen, aber immerhin sehr gründlichen Beamten festgestellt wurde, überschritten sie im Verlaufe ihrer Übungen mehrfach die – nur auf der Karte auffindbare – Grenze zwischen ihrem Heimatland und seinem Nachbarn, ohne dabei zu irgendeiner Zeit tiefer als fünf Meilen in alaskisches Territorium zu gelangen. Ähnlich lagen die Verhältnisse im Westen: Am Mittellauf des Chandalar befanden sich zu dieser Zeit – jedoch bereits auf dem Rückweg – zwei jeweils siebenköpfige Touristengruppen mit ihren Führern, weiter ein Bushpilot, der mit seiner havarierten Maschine auf einen Mechaniker aus Fort Yukon wartete, und schließlich ein unverheirateter Navigator der Air Force aus Fairbanks (Ladd Field), der einen außerplanmäßigen Kurzurlaub mit der Angel zu verbringen gedachte. (Der Bushpilot hatte ihn gebracht; der Air-Force-Mann ahnte nicht, daß sein Taxi mit gerissenem Benzinschlauch sechs Meilen stromabwärts wasser te.) Selbstverständlich kann solche Aufzählung keinen Anspruch auf unbedingte Vollständigkeit erheben. Das gesamte Territo rium nördlich des Porcupine und oberhalb von Fort Yukon ist verkehrsmäßig immer noch unzureichend erschlossen und wird auch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum von Touristen besucht. Der Verkehr auf dem Porcupine hält sich hinter der Einmündung des Coleen flußaufwärts in Grenzen; es gibt bis auf die kanadische Seite hinüber noch die Leitstellenkette der Air Force, sie bedient jedoch beinahe ausschließlich operative Kommandos, und die Posten sind das ganze Jahr über nur mit 5
wenigen Leuten besetzt. Das Gebiet hat – so äußert sich jedenfalls die Mehrzahl der zi vilen Besucher, die sich, aus welchen Gründen immer, länger als drei oder vier Wochen in ihm aufhielten – einen merkwürdig unberührten Charakter behalten, gleichsam, als würde es von irgend jemand und für irgend etwas in Reserve gehalten. Für größere Dinge oder Aktionen, als sie sich mit Lachsfang, etwas Jagd und der – bis heute jedenfalls – nach einem recht weitma schigen Raster betriebenen geologischen Erkundung verbinden. Aber das weiß man nicht. Die Einschränkung verfolgt hauptsächlich den Zweck, anzu deuten, daß sich in dem uns interessierenden Umkreis durchaus noch der eine oder andere Indianer oder Mischling oder Weiße hätte aufhalten können, ohne daß es bemerkt worden wäre. Oder ein für die Saison kontraktlos gebliebener Guide, der den Som mer nun irgendwo in seinem Blockhaus verbummelte. Um die Betrachtung endlich abzuschließen: Auch im Luftraum war an diesem Tage nicht viel los. Nichts, was den Rahmen des täglich Üblichen überschritten hätte. Das Wetterflugzeug von Fairbanks, eine Staffel Abfangjäger, zweimal die Maschine vom Frühwarnsystem und einmal ein Hubschrauber vom Indianer büro. Die Linienmaschinen nach Prudhoe Bay und Barrow – auch die von Whitehorse und Dawson – fliegen alle auf der Route Eagle – Circle – Fort Yukon, einer navigatorisch leicht zu be folgenden Geraden, von der sie in der Regel nur abweichen, wenn sie ein zu weit nach Norden reichender Wirbel der som merlichen Aleutenzyklone dazu zwingt. Sie also streifen unser Gebiet nicht einmal. Bleibt also: Einsamkeit. Alaska-Idylle, allerdings hochsom merlich. An sonnigen Tagen steigt die Quecksilbersäule bis auf dreißig Grad. 6
2 Am späten Nachmittag bewegten sich die beiden Männer in ei nem lockeren, immer wieder von weiten Lichtungen unterbro chenen Waldstreifen. Hier standen Weißfichten, Espen und Birken in mosaikhafter, regelloser Gesellschaft zusammen, für deren Zustande kommen und Erhalt offenbar nur eine einzige Regel galt: Kein Baum kam dem anderen zu nahe. Die Ent scheidung über Leben oder Tod fiel hier oben schon in den ersten beiden Jahren. Die Sonne begann rasch zu verblassen; es sah aus, als vergrö ßerte sie sich dabei. Eine aufgedunsene, verquollene Scheibe, die weit hinter den Stämmen unschlüssig zu verharren schien. Als sie die nächste Lichtung erreichten, blieb einer der Männer stehen, lehnte das Tragegestell gegen einen Baum und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Kein guter Tag heute, Gerald… Ist das die Hitze? Wir hätten eher losgehen sollen! Dann lachte er leise. Soll ich dir’s sagen? Die Knochen sind es – es reicht einfach nicht mehr… Der so Angesprochene schüttelte ernsthaft den Kopf und beeilte sich, seinem Gefährten die Last abzunehmen. Danach erst setzte er selbst seinen dem Augenschein nach um mindestens zwanzig Kilo schwereren Packen ab und streckte sich. Es ist meine Schuld – so weit hätten wir nicht gehen sollen. Heute ist der siebente Tag – die Krise. Da kommst du nicht drumherum. Sie setzten sich und rauchten. David Hertzberg, Colonel a. D. noch nicht sechzig, und Gerald Carter, Mitte Dreißig, Jäger, Waldläufer, unterwegs als Guide, wenn er Lust hatte und Geld brauchte. Im Winter wohnte er bei seiner Mutter in Fairbanks; sie war als Pflegerin im Hospital tätig, eine Athapaskin und nur 7
siebzehn Jahre älter als er. Seinen „Vater hatte er nie gesehen, und zudem wenigen, was er definitiv von ihm wußte, gehörte die Tatsache, daß ihn irgendwelche Chinesen im nicht allzuweit entfernten Korea eines Tages abgeschossen hatten. Der siebente Tag – vielleicht hast du recht, Gerald. Ich trau’ dir aber nicht, du willst mich bloß schonen! Natürlich sind es die Knochen… David Hertzberg hatte seinen Wohnsitz in Salt Lake City vor neun Tagen verlassen, nachdem er noch von zu Hause aus bei der Agentur in Fairbanks einen Führer gebucht hatte, bis Ende Au gust. Porcupine, Sir, jawohl, ab zwanzigsten. Haben Sie besondere Wünsche? Er sollte sich in der Gegend auskennen und einiger maßen mit unserer Sprache vertraut sein! Sie scherzen, Sir! Es hatte bemerkenswert giftig geklungen, und er hatte aufge legt. Er war über Edmonton geflogen, hatte einen halben Tag in Whitehorse mit dem Einkauf überwiegend unnützer Dinge ver bracht, bloß, weil eine Maschine ausgefallen war, und war dann weitergeflogen nach Fort Yukon. Carter empfing ihn auf dem Flugplatz. Sie machten sich be kannt, warteten auf Hertzbergs Gepäck, und als es endlich kam, standen beide einen Augenblick verlegen in der zugigen Halle herum. Ich hab’ ein Blockhaus am Coleen, ein Stück oberhalb der Mündung, meinte Carter schließlich. Wir können mein Boot nehmen, aber da geht ein Tag drauf. Es ist auch nicht besonders bequem… Hertzberg stutzte einen Moment, nickte dann. Ist mir recht… Und nach einer Weile fügte er hinzu: Sehr recht sogar! Mit dem Boot… 8
Die ersten beiden Stunden sprachen sie überhaupt nicht mitei nander. Carter steuerte, und Hertzberg saß auf der Bugbank und schaute abwechselnd ins Wasser und hinüber zum weit entfern ten, flachen Ufer, das in beruhigender, grüner Gleichförmigkeit vorüberzog. Er hatte sich noch nicht umgekleidet; seine Koffer standen vor der Kajüte, ein größerer und ein kleiner; auf die Mitnahme des kleinen hätte er im Grunde verzichten können; daß er es nicht getan hatte, war ausschließlich dem Umstand zuzuschreiben, daß er ohne ihn in den letzten zwanzig Jahren überhaupt keine Reise unternommen hatte. Dies waren Reisen im Dienst gewesen, Reisen, mit Aufträgen verbunden, die ihn an sehr verschiedene, mitunter auch sehr weit auseinanderliegende Orte des Globus geführt hatten. Gleichsam als müsse oder könne er – rückwirkend sozusagen – den Koffer dafür verantwortlich machen, starrte er eine Zeitlang nur auf ihn, bis er von Carters Stimme aufgeschreckt wurde. Ich hab’ Kaffee gebrüht, Sir, und ein paar Sandwiches gemacht! Er verließ die Bank, ging in die Kajüte und trank langsam den Kaffee. Schließlich raffte er sich auf. Hören Sie mal, Carter… Ich bin keine besondere Nummer und war auch nie eine. Ich bin nicht mal besonders forsch… Ich möchte einfach ein paar anständige Wochen haben – ich hab’ sie nötig, und ohne Sie wird das nichts, glaub’ ich. Ich denke, daß Sie gut sind, und ich bin sicher, daß wir uns vertragen. Er räusperte sich. Also, ich meine, ich bin Dave – das heißt, wenn Sie einverstanden sind? Einverstanden, Sir, sagte Carter, ohne sich umzuwenden… Seine Stimme schien nur über diesen einen Tonfall zu verfügen. Am späten Abend, als sie die Blockhütte erreicht und sich ein gerichtet hatten, waren sie endlich soweit, daß sie nicht mehr 9
über ihre Vornamen stolperten und ihnen das Du einigermaßen glatt über die Zunge ging. Hertzberg war todmüde und schlief nach dem Abendbrot sofort ein. Das Blockhaus stand am Hang, nicht weit vom Fluß, aber hoch genug, mindestens ein Dutzend Schritte über dem Hochwasser saum. Hertzberg hatte die Zeichen gesehen, als er die Koffer hinauftrug: Geröllrinnen, weißgrindige Baumkadaver und weit gefächerte Feinsandlagen – vergeblich versuchte er, sich zu erinnern, wie sie die hellen Streifen hier oben nannten. Er hatte darauf bestanden, den großen Koffer selbst zu tragen; Carter lud sich einen Seesack auf die Schulter, in dem sich ihr Proviant befand. Hertzberg schätzte sein Gewicht auf achtzig oder neunzig Kilo, sagte aber nichts. Der Seesack entstammte offenkundig ausgemusterten Beständen der Navy; die Regist riernummer war mit schwarzer Stempeltusche irgendwann un kenntlich gemacht worden, mittlerweile war die Farbe verbli chen, und die Zahlen kamen wieder zum Vorschein. Für zwölf Dollar bekam man solche Säcke in jedem Army-shop. Sie mußten den Weg vom Boot zum Haus zweimal gehen – Hertzberg, um den kleineren Koffer zu holen, Carter wegen der Batterie und der Gasflaschen. Das Haus war geräumig, noch zu viert hätte man in ihm bequem kampieren können. Es war ein gerichtet wie die meisten dieser Behausungen, die Hertzberg kennengelernt hatte: in Arizona, in Alberta oben und natürlich zu Hause, früher, vor vielen Jahren in den Green Mountains rings um Camel’s Hump. Ein gemauerter Herd mit eisernem Einsatz, zwei breite Schlafpritschen, ein großer Schrank, Regale und vor allem Haken. Haken stellten das billigste, praktischste und unersetzliche Requisit all dieser Hütten dar. Zwei Stühle; ein Tisch, den man dahin rücken konnte, wo man 10
ihn brauchte, auch zwischen die Pritschen. Ein Fenster, ein Gaskocher, eine Lampe… Für die Lampe benötigte Carter die Batterie; Hertzberg hatte sich ihretwegen bereits gewundert. Manchmal gibt es was zu lesen, sagte Carter. Manchmal bleib’ ich auch im Herbst sehr lange oben, bis der Fluß zufriert. Manchmal… Dieser Carter schien sich von früher erlebten Guides in mehrfacher Hinsicht zu unterscheiden. Nicht etwa deswegen, weil er ein Mischling war. Die besten, weißesten Führer, die er in Arizona je gehabt hatte, hatten alle einen reich lichen Schuß mexikanisches, indianisches und was sonst noch für Blut in den Adern. Eine Leselampe jedoch hatte er bei keinem von ihnen angetroffen. Ihre erste Frage hatte stets den Waffen gegolten und ob man »in« war. Für irgendetwas mußte man »in« sein: für Gilatiere, Schlangen, deers. Oder einfach nur für Ab stürze. Wofür, war egal; es mußte nur etwas sein, was dem Guide die Möglichkeit gab, es als berechenbare Leistung vorzuführen. Manchmal… Ein näher schwer zu bestimmendes Phlegma; vielleicht bekam er die Gelegenheit, herauszufinden, woher es rührte. Auf jeden Fall war dieser Carter höflich und zuvorkom mend – nichts entging ihm. Dem Phlegma zum Trotz schien er nichts zu übersehen. Am Morgen darauf begann er vorsichtig, ihn auszufragen und stellte überrascht fest, daß Carter bereit war, Auskunft zu geben. Es dauerte nicht lange, bis sie auf seinen Vater zu sprechen ka men. Das muß ein merkwürdiger Mann gewesen sein… Er stammte aus Pennsylvania, Titusville, glaub’ ich. Sein Vater wieder besaß eine Autowerkstatt, wahrscheinlich hielt er die Familie damit so recht und schlecht über Wasser. Er reparierte auch Fahrräder, Radios, Nähmaschinen – meine Mutter hat mir das später erzählt, 11
weil – dieser Mann ist schließlich mein Großvater. Mein Vater jedenfalls hieß George Thomas Jefferson Carter. Und seine Brüder, vier oder fünf, hatten alle ähnliche Namen. George… Thomas… Jefferson, wiederholte Hertzberg. Das ist Geschichte! Ja, sagte Carter. Die ersten Präsidenten… Meine Mutter war ja erst sechzehn, deshalb mußte er zu ihrem Vormund, der war Hausmeister bei den Methodisten. Er wollte sie unbedingt hei raten, und das hat er auch geschafft. Die Air Force hat das eine Stange Geld gekostet – sie mußte neunzehn Jahre für mich be zahlen. Erst sträubten sie sich – die Crew galt als vermißt. Aber nach dem Waffenstillstand und dem Abschluß der Repatriierung und nachdem die Sache mit dem Listenaustausch erledigt war, haben sie sie für tot erklärt – gefallen für die Ehre und die Un verletzlichkeit und das Ansehen der Vereinigten Staaten, für die Freiheit in der Welt und – es ist eine ziemlich lange Formel. Und von dem Tag an haben sie alles nachgezahlt. Einen Sack voll… Der Methodist hat aufgepaßt und hat meine Mutter erst in ir gendwelche Kurse in irgendwelchen Kirchen geschickt und dann sogar aufs College. Ich hab’ nur die High School gemacht. Und später – hattest du keine Lust? Manchmal schon… Aber – ich hab’ zu viel falsches Blut und das falsche Gesicht. Ich meine das nicht eklig – ich fühle mich gut hier – , und Lesen verbietet mir keiner. Wie kam deine Mutter nach Fairbanks? Vierundvierzig, nach so einem schlechten Winter. Ihre Familie ist verhungert. Vor dem Eisaufbruch sind sie damals – ich meine die Weißen – ein Stück den Yukon raufgefahren und den Porcu pine und haben alles, was noch lebte, aufgesammelt. Meine Mutter kam zu dem Methodisten, der hat sich um sie gekümmert. Ein glücklicher Zufall… 12
3 Die Bücher standen in einem Regal. Es waren ziemlich umfangreiche, schwere Bände; abgegriffen und zerschrammt, vorzeiten nach alter Schule gebunden: Ganz leinen oder Halbleder, mit Goldschnitt und Schnörkeln. Hertzberg zog wahllos einige heraus und blätterte in ihnen, das Papier war grau und an den Rändern vergilbt. Harrimans Alas kaexpedition, fünf Bände; eine Geschichte der Hudsons Bay Company, 3. Auflage, 1910. Volkstümliche Biographien Mon roes, Madisons und John Quincy Adams. Clark, Die Geschichte Alaskas, New York 1930. Er stellte sie zurück, ungewiß, wieviel er von seiner Verblüf fung zeigen und wieviel er davon verbergen sollte; aber Carter hatte ihn beobachtet, es wäre fatal gewesen, gleich die ersten Tage mit Unaufrichtigkeiten zu beginnen. Ziemlich ungewöhnlich, nicht wahr, sagte er deshalb und lä chelte. Carter hob die Schultern. Für einen Mann wie mich, meinst du? Warum? Weil ich über die Berge laufe und mein Brot mit einem Außenseiterjob verdiene oder – weil ich ein Stinky bin, wenn auch nur ein halber? Hör mal, sagte Hertzberg. So geht es nicht…. dann kehr’ ich gleich um! Schon gut – ich red’ eben so. Und das Beste wird sein, du tust es auch. – Ich kümmere mich jetzt ums Frühstück. Holst du uns Wasser? Die Quelle befand sich hundert Meter oberhalb der Hütte, am Hang. Carter hatte sie mit roh behauenen Steinen eingefaßt, auch zwei Eisenrohre in den Boden getrieben. Das Wasser sah weiß aus, es schäumte etwas. Hertzberg schluckte eine Handvoll, es war so kalt, daß die Zähne schmerzten. Es schmeckte nach Kie 13
selsteinen und noch etwas, aber angenehm. Er füllte den Kanister und den Gummieimer, das Wasser floß langsam und gleichmäßig. Weiter unten versickerte es wieder, und noch ein Stück weiter war der Hang trocken und steinig. Ein Drosselschwarm flog flußaufwärts; in den Lärchen hinter der Hütte sang eine Weißkehlammer. Es klang, als schlüge je mand achtlos auf einem Kinderxylophon herum – hell, scharf und eintönig, immer dieselbe Strophe. Die Sandbänke im Fluß schienen ausschließlich den Regenp feifern zu gehören und einer Handvoll Strandläufer; sie riefen ohne Unterlaß. Manchmal flogen sie ein paar Meter, dicht über dem Wasser. Er stand auf, nahm Eimer und Kanister und stieg langsam wieder hinunter. Der Pfad war abschüssig, und er sah sich vor. Ich muß mich, verdammt noch mal, doch erst wieder dran ge wöhnen, dachte er. Der Wunsch, die Koffer zu packen und Carter zu bitten, mit ihm zurückzufahren, war so heftig, daß es ihm fast den Atem nahm. Er hätte ihn für die ganze Zeit bezahlen können. Er hätte ihm noch etwas drauflegen können. Er wäre – noch am gleichen Tage – vielleicht schon bis Whitehorse gekommen. Oder Seward, Valdez… egal. Am gleichen Tag natürlich nicht, aber noch vor Ende der Nacht – es spielte keine Rolle. In der zweiten Nacht wäre er zu Hause gewesen. Vor der Hütte setzte er den Eimer ab, er war immer noch randvoll. Er hatte wenig Wasser verloren unterwegs. Die Sonne stieg schnell; über dem Yukontal zogen Wolken auf, weiße, überkippende Türme. Zu Hause… Wo denn? dachte er. Wohin denn? Zu Ruth? Du kannst immer kommen, zu jeder Zeit, am Tage, nachts, wann du willst. Aber nicht mit leeren Händen… Ich hab’ mich entschie den, und auch du wirst es tun müssen. 14
Carter briet Fleisch, Eier und Kartoffelscheiben, auf dem Tisch standen eine Büchse Tomatensaft und eine Büchse mit Pfirsi chen. Die Bücher sind von meiner Mutter, sagte er, als sie aßen. In ihrer Collegezeit hat sie manchmal in der Bücherei ausgeholfen – es sind ausgesonderte Exemplare. Zu alt… Sie durfte sie mit nehmen, und sie hat sie aufgehoben. Ich habe sie alle gelesen. Und neuere Sachen – ich meine, kaufst du dir welche? Carter nickte. Im Winter – jeden Winter fünfzig oder sechzig Stück. Sie stehen in Fairbanks, in meinem Zimmer. Davon werde ich ungefähr die Hälfte gelesen haben. Mindestens die Hälfte, fügte er nach einer Weile hinzu. Dann liest du ungefähr hundertmal mehr als der Durch schnittsamerikaner, sagte Hertzberg. Carter musterte ihn einen Augenblick, schweigend, aber nicht unfreundlich. Dann verzog er das Gesicht. Der Durchschnittsamerikaner… Gibt es den? Ich glaube immer, er ist die wirklich größte und bedeutendste Erfindung, die in den Staaten je einer gemacht hat. Er trägt alles, hält für alles her und ist für alles gut genug. Und umgekehrt ist alles für ihn gerade gut genug. Denn er ist zuverlässig, tüchtig, tapfer, entschlossen. Nur ein Gesicht hat er nicht, und es erkennt ihn auch keiner. Bist du einer? Ich weiß es nicht, erwiderte Hertzberg und runzelte die Stirn. Carter legte das Messer aus der Hand, und dann hob Hertzberg den Kopf, und ihre Blicke trafen sich, und einen winzigen Au genblick hatte der Colonel das befremdliche Gefühl, sich selbst gegenüberzusitzen. Es währte nur drei oder vier Sekunden, ge rade lang genug, um nichts zu spüren als den Schlag des eigenen Herzens. Wir müssen über so etwas nicht reden, sagte Carter, schnell. 15
Überhaupt meine Rederei… Das liegt aber – entschuldige – auch an dir: Warum bist du so interessiert? Ich denke, daß ich immer so bin, log Hertzberg. Ich habe keine Vorurteile… Gleichzeitig dachte er, daß er ihn nun nicht mehr bitten könne, mit ihm zurückzufahren. Nach dem Frühstück besprachen sie die Liste der Vögel, von denen er gern Aufnahmen gemacht hätte. Carter kannte sie alle, erkannte sogar ihre – nomenklaturgerechten – Namen. Ich war mal ein Vierteljahr mit zwei Ornithologen unterwegs, die arbeiteten an einer Übersicht, für irgendeinen Wildlife Fund. Geld hatten sie wenig, aber ich habe eine Menge von ihnen ge lernt. Sie haben mir auch ein Buch geschickt, es steht unten… Hertzberg zeigte ihm seine beiden Kameras und die Karten, die er mitgebracht hatte. Carter prüfte die Karten und zeigte sich sehr befriedigt. Sie sind gut – wo hast du sie her? Kopien, sagte Hertzberg. Das siehst du ja. Ein Freund hat sie mir beschafft. Sie sind von der Army, sagte Carter. Aber nicht vom Topog raphischen Dienst – dessen Karten kenne ich. Hertzberg nickte. Vielleicht kannst du sie brauchen, ich glaube nicht, daß ich sie wieder mitnehme. Kurz vor Mittag entlud sich ein Fünf-Minuten-Gewitter, danach regnete es. Sie saßen vor der Hütte, rauchten, und Hertzberg dachte, daß es nichts weiter als fair sei, wenn er Carter auch das eine oder an dere von sich erzählte. Um so mehr, als er ja damit begonnen hatte, dem Zustandekommen einer kameradschaflich -vertraulichen Atmosphäre das Wort zu reden. Es würde, wenn man fünf oder sechs Wochen zusammen hauste, aß, schlief und in 16
einer Gegend unterwegs war, wo sich jeder des anderen sicher sein mußte, ohne Intimitäten sowieso nicht abgehen. Nur – was gingen Carter, mochte er noch so aufgeweckt oder gar über durchschnittlich intelligent sein – und zu dem Eindruck zu kommen, daß er das war, dafür hatten die Gespräche der ersten vierundzwanzig Stunden vollauf genügt – , seine, Hertzbergs, Probleme an? Er wußte nicht, ob er sich nicht ärgern sollte, wieder seinen verfluchten humanen Ton angeschlagen zu haben, ahnte jedoch, daß er es wohl noch bereuen würde. Aber selbst diese Ahnung berührte ihn merkwürdigerweise nicht sonderlich, jedenfalls nicht an diesem ersten Nachmittag. Das einzige, was zählte, war, daß er nun hier saß und nicht in Salt Lake City, wo er eigentlich hingehörte, hin gehört hätte auf jeden Fall nach den Ereignissen, mit denen er in den letzten Monaten zu tun hatte, und ganz und gar, nachdem ihn Ruth verlassen hatte. Der Guide konnte ihm genausowenig helfen wie irgendein anderer. Carter selbst schien Erklärungen zur Person übrigens nicht zu erwarten, und wenn er es tat, was immerhin nicht unwahr scheinlich war, so zeigte er es nicht. Nachdem sich der Regen verzogen hatte, schlug er vor, die Route abzustecken und das Gepäck zusammenzustellen. Hertzberg willigte erfreut ein, der unverzichtbare Kaffee wurde gekocht, Carter kramte in einer Kiste herum und fand schließlich auch, was er suchte: ein ziem lich dickes Heft, das aussah, als hätte es die längste Zeit in einem Sumpfloch oder wenigstens im Wasser gelegen. Er warf es auf den Tisch und sagte: Meine Notizen von dem Trip mit den Or nithologen… Wenn ich das Boot festmache, nachher, kannst du ja sehen, ob du was findest! Sie einigten sich auf eine Schleife: hinüber zum Sheenjek, den hinauf, so weit es gehen würde, dann übers Gebirge in umge 17
kehrter Richtung zurück zum Oberlauf des Coleen und den wieder hinunter. Drei Wochen, wenn wir uns beeilen, meinte Carter. Müssen wir das? Müssen wir nicht, sagte Hertzberg. Sie gingen beide hinunter zum Fluß, bugsierten das Boot auf die Rollen, und dann ging Hertzberg wieder hoch in die Hütte und las in dem Heft und vergaß wenigstens für eine Stunde, warum er hierher gefahren war. Er fand so ziemlich alles, wofür sich Strapazen lohnen würden: ein Dutzend namenloser Seen mit Kappensägern, Plüsch- und Büffelkopfenten und Grasläufern und Gelbschenkeln. Schneegänse an einer Stelle zwischen zwei Hochmooren… Sie packten noch vor dem Abendbrot, legten sich zeitig schlafen und verließen die Hütte nach dem ersten Regen. Zwei Tage später erreichten sie den Sheenjek, Hertzberg hatte mehr als dreihundert Aufnahmen gemacht. Am dritten Tag pausierten sie, der Colonel komplettierte bis Mittag seine Notizen, und dann trieb sie ein Gewitterguß in die Zelte.
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4 Am Nachmittag bestiegen sie die niedrigste Kuppe in der Reihe der Berge, die das Tal hier säumten. Oberhalb der letzten Terrasse stockte noch einmal dürftiger, sehr lichter Wald: Weißfichten, beinahe ohne Unterholz, an den trockenen Stellen wucherte Rosengestrüpp zwischen Zwergwa cholder. Die Stämme der Fichten erreichten gerade noch Arm dicke, ein Stück weiter oben, an der Waldgrenze, konnte man sie mit einer Hand umfassen. Dann kam der Hang: fireweed und ausgedehnte, lichte Flecken, auf denen nur noch bluetop grass stand. Ein sanft wogender Teppich in Blaugrün und Rosa… Carter stieg vornweg, Hertzberg blieb immer wieder stehen und suchte vor allem die kahlen Stellen mit dem Glas ab. Vorerst noch ohne Erfolg – die Ptarmigans versteckten sich im Kraut. Lediglich ein Schwarm Rothänflinge folgte ihnen lärmend, seit sie den Busch verlassen hatten. Einmal bückte sich Carter, hob etwas auf und steckte es ein, der Colonel konnte aber nicht sehen, worum es sich handelte. Der Blick von der Kuppe nach Norden war beeindruckend: da ruhte die eisbedeckte Kette der Romanzofs. Hertzberg erkannte, in welch vergleichsweise geringer Höhe sie sich befanden. Vielleicht lag darin die Ursache dafür, daß sie auf kein einziges Felsenhuhn gestoßen waren. Morgen finden wir welche, sagte Carter. Es klang mürrisch, auch gleichgültig, so, als hätte er vergessen, warum sie den Aufstieg unternommen hatten. Hertzberg legte die Hand auf seine Schulter. Du mußt dich nicht ärgern, Gerry! Ich finde es wunderbar. Unten ahnt man nicht, wie weit der Blick reicht hier oben. Carter nickte und wandte sich ab. 19
Ein leichter Wind ging, wie immer aus Südost. Das Rauschen des Sheenjek drang gerade noch bis zu ihnen herauf, sonst war Stille. Und plötzlich hörte der Colonel Carter atmen. Er streckte die Beine aus und drehte sich herum. Was hast du? Fühlst du dich nicht? Carter schüttelte den Kopf und griff in eine seiner Brusttaschen. Er zog eine halbgeleerte Zigarettenpackung heraus und gab sie ihm. Gefunden, meinte er kurz. Sie lag da unten. Daß du etwas aufgehoben hast, habe ich gesehen, sagte der Colonel. Er nahm eine Zigarette heraus, befühlte sie, roch daran und steckte sie zurück. Beinahe frisch… Und keine Spur Schimmel! Nein, knurrte Carter. Die ist höchstens drei Tage alt. Was glaubst du, wo die herkommt? Hertzberg zuckte mit den Schultern. Wir werden nicht die ein zigen sein hier, um diese Jahreszeit. Nein! Sind dir Spuren aufgefallen? Mir nicht! Die hat jemand verloren, ja, aber – aus einem Hubschrauber. Hubschrauber? Der Guide sprang auf. Komm! Ich zeig’ dir was… Sie liefen zurück, und als sie den Wald erreichten, bog Carter talwärts von dem Pfad ab, dem sie bei ihrem Aufstieg gefolgt waren. Hertzberg mußte sich anstrengen, nur mit Mühe gelang es ihm, seinem Guide auf den Fersen zu bleiben. Carter sprang mehr, als er lief, mit der Geschmeidigkeit einer Katze wich er den dünnen Stämmen und den sperrigen, abge storbenen Ästen aus, seine Füße fanden Tritt und Sicherheit, ohne daß er hinsehen mußte. Nach ungefähr zehn Minuten gelangten sie an den Rand einer kleinen Blöße. Eine schmale, aber tiefe und ziemlich dicht bewachsene Schlucht querte sie. Die Schlucht begann weiter oben, am unteren Rand der Blöße verschwand sie 20
im Holz, kaum breiter als ein Graben. Carter blieb stehen und wartete. Schau dir mal die Fichten an! Die drei da, neben dir! Der Colonel keuchte. Keine Luft, murmelte er, hob aber den Kopf. Es waren niedrige Bäume, vier Meter hoch, höchstens fünf. Ihre Wipfel waren geknickt, sie hingen herab, der Bruch sah gelblich aus, hatte auch geharzt. Carter drängte ihn. Hast du sie gesehen, ja? – Komm, ich zeig’ dir noch was! Einige Schritte unter ihnen, in Richtung der Schlucht, stand eine einzelne Schierlingstanne. Ihr Stamm war knotig und verwach sen, aber ungewöhnlich dick. Hertzberg sah die Löcher sofort. Vier Stück, halb so groß wie ein Vorkriegsdollar. In einer sauberen, schräg von oben nach unten verlaufenden Linie. Er ging um den Stamm herum, die Ausschußlöcher waren ungefähr dreimal so groß. Carter beobachtete ihn schweigend. Hertzberg polkte mit dem Zeigefinger in einem der Löcher he rum und schüttelte den Kopf. Vier glatte Durchschüsse… Könnte ein Sturmgewehr gewesen sein! Carter nickte. War es auch! Du müßtest dich da ja auskennen… Ich habe die Schüsse nicht gezählt, es waren fünf oder sechs Salven. Miserable Kerle und miserable Schützen obendrein – sonst würde ich jetzt nicht hier stehen… Der Colonel kniff die Lippen zusammen. Das verstehe ich nicht. Erzähl das mal! Da ist nicht viel… Es war Ende Mai, manchmal geh’ ich diese Tour, wenn ich allein bin. Es ist meist die erste nach dem Winter, ich hab’ sie gern. Da oben, wo wir vorhin saßen, haben sie mich erwischt. Erst wollte ich es nicht glauben, dachte, sie machen sich 21
einen Jux. Dann bin ich gelaufen wie die Pfeifhasen, Beine überm Kopf. Kurz vor dem Holz mußten sie abdrehen, die Salve ist wahrscheinlich in die Wipfel gegangen. Und dann lag ich hier, und sie kamen noch mal. Ich bin da hinunter, in die Schlucht, und hab’ mich nicht mehr gerührt. Eine Viertelstunde sind sie noch gekreist, dann sind sie weg. Und ich hab’ meine Knochen ge zählt… Was ist das für Gesindel? Pipeline-Leute, sagte Carter. Die kommen von Sagwon herüber, angeblich sogar von der Bay. Von der Küste oben, von Prudhoe. Ich hab’ das den Jungs in Fairbanks erzählt, und ich war sicher, daß sie mich auslachen würden. Nothing… Wir treffen uns re gelmäßig zwei- oder dreimal im Sommer, wenn wir nicht gerade unterwegs sind. Im Winter häufiger, oder auch, wenn irgendwas Besonderes im Gange ist. Zwei Kanadier, ein feiner Yankee, noch ein Half, ein Russe aus dem Panhandle, ich und – zehn Leute ungefähr. Sie haben alle ihre Lizenz schon einige Jahre und arbeiten auch alle auf eigene Rechnung – bis auf die Vermittlung. Jedenfalls – der eine der Kanadier wurde gleich stinkig. Er war gerade vom Chandalar zurück, und da hatte ihm einer erzählt, zwei Wochen zuvor hätten Indianer die Leiche eines Mannes aus Tanana gefunden. Nach der Schneeschmelze… Neunzehn Ein schüsse haben sie gezählt! Ein Massaker… Hertzberg setzte sich; nach einer Weile setzte sich Carter neben ihn und holte die Zigaretten heraus. Eine Zeitlang hielt der Rauch die Mücken ah, sie hörten nur ihr feines Sirren, und dann schrien unten am Fluß die Gänse, und gleich darauf erblickten sie einen Adler, der eilig und verärgert abstrich. Killer! sagte Hertzberg. Hobbykiller… Besonders die von den Pumpstationen. Sie sau 22
fen sich tot vor Langeweile, und Indianer gibt es oben schon lange keine mehr. Wenn sie Cariboos zusammenschießen und es kommt einer dahinter, muß die Gesellschaft zahlen. Das zieht sie der Mannschaft dann vom Lohn wieder ab. Der Sheriff macht ein Foto, schneidet die Kugeln ‘raus und schickt sie mit dem Protokoll nach Valdez. Die Zeitungen brin gen das groß ‘raus. Die Natur ist uns heilig, und die Gesellschaft hat erklärt, daß sie für jeden Huf geradesteht… Abends, am Feuer, sagte Hertzberg: Ich muß dir was erklären! Carter lächelte ironisch. Diese Geschichte, nicht wahr? Ich hätte mir denken sollen, daß dir das zuviel ist. Hertzberg hüstelte. Früher hätte ich dir das auch nicht geglaubt. Gegrinst hätte ich… aber offenbar gehört so was jetzt dazu… Er brach ab, starrte minutenlang auf seine Hände. Carter war tete, lächelte aber nicht mehr. Das Feuer knisterte gleichmäßig, prasselte nur manchmal, wenn die Flammen wieder einen Harz klumpen erfaßten. Na gut, meinte Hertzberg schließlich. Ich hatte einen Sohn – Robert. Nach dem Studium war er ein paar Jahre unten in Tuc son, Arizona, als Anwalt. Ein Journalist brachte ihm eines Tages ein Bündel Fotos, da war der Leichnam eines Mexikaners drauf. Für die Aufnahmen hatten sie ihn auf einen Stuhl gesetzt, auf den Fotos war auch eine Hand von irgend jemand zu sehen, die den Kopf der Leiche hielt. Oder – was davon noch übrig war. Auf nahmen aus allernächster Nähe, es ging um die Einschußlöcher: neben dem Hals, auf der Schulter, in der Schlüsselbeingrube. Robert sagte, selbst ein Anfänger wäre unruhig geworden. Die Kanäle verliefen von oben nach unten, gingen beinahe senkrecht in den Körper hinein, und die Ausschüsse befanden sich im Un terleib, zwei sogar im linken Oberschenkel. Fertiggemacht, 23
meinte der Journalist, von oben. Aus dem Hubschrauber, wie bei der Gazellenjagd… Robert hat mir das erzählt, und natürlich hatte er die Fotos nicht mehr, und natürlich hab’ ich nicht daran gedacht, ihm das abzu kaufen. Das heißt, ihm schon – aber nicht dem Journalisten. Denen ist keine Story zu schmutzig… Tun jedenfalls konnte er gar nichts, aber Anzeige hat er erstattet, gegen Unbekannt, und danach bekam er sich mit dem Staatsan walt in die Wolle und mit dem Sheriff, und sie ließen es fallen. Der Sheriff gab ihm noch den Tip, die Anzeige zurückzuziehen. Der Alte war ein Fuchs, was Robert nicht wußte, aber später schnell kapierte. Wahrscheinlich hat er ihm auch einiges geflüs tert – für die grünen Ohren. Als junger Kerl hatte der Sheriff den Südostasienfeldzug mitgemacht und die Philippinen überlebt und danach, nach Kriegsende, sich hochgedient – erst mal noch ein bißchen bei der Army, dann bei der Polizei. Offenbar wußte er gut Bescheid über die Leute im Allgemeinen und darüber, was möglich ist und was nicht. Einige Tage später, sagte Robert, kreuzte der Alte abends bei ihm auf, allein und sehr daran inter essiert, daß es bei diesem Gespräch keine weiteren Zuhörer gab. Und dann haben sie, zu viert – der Sheriff, Robert und der Jour nalist, der zufällig kein übler Typ war und auch nicht geschwät zig, und der Deputy, ein Kriegskumpel von dem Alten – ein paar Mondnächte in der Meza herumgelegen, einige Meilen hinter der Grenze und weit genug entfernt vom nächsten Indianerreservat. Der Deputy hat den Hasen gemacht. In der fünften Nacht hatten sie Erfolg – das heißt… Hertzberg schüttelte sich. Entschuldige… Zum Auskotzen ist das! Ein alter Sikorsky-Blackhawk, ich weiß nicht, ob du den Typ kennst? Die fliegen heute noch hier ‘rum, sagte Carter. Der Gesellschaft 24
gehören allein mindestens zwei Dutzend. – Erzähl weiter! Hertzberg nickte. Der Deputy ist um sein Leben gelaufen – ihm wäre nicht die Spur einer Chance geblieben. Zwei Männer haben nach ihm geschossen, sie wechselten sich ab. Anflug von rechts, dann von links. Und die Maschine kam schnell immer tiefer he runter, und die Kreise wurden immer enger. Wie in einem Trichter – und auf dem Grund des Trichters saß der arme Hund in der Falle. Und soweit ungefähr hatten sie auch gerechnet – wenn an der Geschichte von dem Pressemenschen wirklich etwas dran war. So und nicht anders mußte es sich abspielen oder abgespielt haben, und der Sheriff und sein Deputy waren, wie gesagt, alte Kumpel. Und nun erlebten sie das… Natürlich gab es da ein paar Löcher im Fels, einige Platten, Überhänge – die hatte sich der Deputy vorher eingeprägt, und der hatte auch die Nerven, sie nicht zu vergessen. Und das letzte Loch war das sicherste, und in ihm lag seine Knarre. Der Hubschrauber kam noch ein Stück herunter, sie feuerten immer noch – da hat er ihn runtergeholt. Das war sauber, und damit wären sie auch vor jedem Gericht durchgekommen. Beim Aufschlag ist er explodiert – zwei von ihnen waren gleich tot, der dritte ist an Ort und Stelle gestorben. Der Älteste war sechsundzwanzig, es war ein Neffe vom Bür germeister in Phoenix. Die anderen beiden waren ein Lieutenant vom Grenzschutz und ein in Tucson stadtbekannter Dealer, der schon einmal ein paar Jahre gesessen hatte. Der Blackhawk gehörte einem Fuhrunternehmer in Phoenix, dem war gar nichts nachzuweisen, er vermietete ihn bloß. Aus gegangen ist es so, daß der Deputy mit großer Mühe aus der Sache rauskam: Freispruch wegen Notwehr. Carter zog eine Grimasse. Und die drei? Das hat die Verteidigung erledigt. Ein Jagdunfall, ein Irrtum, schlechtes Licht, Mondlicht, die Schatten von den Felsen. Jagd 25
im Dunkeln ist nicht verboten – im Gegenteil: Was hatten der Sheriff und diese Leute da zu suchen? Robert war erledigt, er hat es dann auch nicht mehr lange da ausgehalten. Der Sheriff hat, glaub’ ich, noch ein Jahr geschafft. – Ich wollte dir das sagen, weil ich nicht will, daß du mich für blöd hältst. Es ist die gleiche Story – hätte ich sie nicht gekannt, hätte ich dir deine nicht ge glaubt. Aber das habe ich schon gesagt. Zwei Brachvögel strichen flach übers Wasser, fielen am ande ren Ufer ein und begannen zu flöten. Carter stand auf, legte Äste nach und setzte sich wieder. Hertzberg schaute unverwandt ins Feuer. Die Flammen zün gelten gierig nach der frischen Nahrung, die Rinde begann zu schwelen, Qualm kräuselte sich. Dein Sohn Robert – warum sagtest du: Ich hatte… Er ist tot, sagte Hertzberg. Tut mir leid, Dave! Carter hob den Arm, zog aber die Hand wieder zurück, als er sah, daß sich Hertzberg nicht regte. Es ist erst vier Monate her… Hertzberg krümmte sich, wie man es tut, wenn man Magenkrämpfe hat. Seine Stirn berührte die hochgestellten Knie, aber seine Hände, um die Stiefel ge schlungen, gaben nicht nach. Nach einer Weile begann sein Oberkörper hin und her zu schwanken, es sah aus, als wollte er sich in Schlaf wiegen. Carter rührte sich nicht, ließ aber kein Auge von ihm. Schließlich richtete sich Hertzberg auf. Ich hätte nicht anfangen sollen, davon… Er hob müde die Schultern. Du mußt das nicht bereuen, sagte Carter ruhig. Nein, ich glaube nicht. Bereuen nicht. Jedenfalls nicht das. Das Schlimmste ist – ich wußte nicht, wie wichtig solche Dinge sind. Mein Gott, ich hab’ es wirklich nicht gewußt…
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5 Am Morgen darauf regnete es wieder, und nach einer Stunde sahen sie ein, daß sie nicht wegkommen würden. Damit mußt du im Sommer immer rechnen, sagte Carter. Das bleibt heute so. Es wird erst gegen Abend aufhören… Sie hatten nichts zu tun. Carter trug Bruchholz zusammen, stapelte es und begann damit, einen Windschirm zu bauen. Hertzberg kritzelte in seinen Noti zen herum, las vier oder fünf Seiten im »North-West-Territories’ Fieldguide«, dann legte er das Buch weg und sah Carter zu. Das Gespräch vom vergangenen Abend stand immer noch zwischen ihnen. Auf den Bänken am Fluß unten lärmten die Regenpfeifer. Erzähl doch was! bat Carter, ohne seine Bastelei zu unterbre chen. Er wandte sich lediglich einmal kurz um und warf Hertz berg einen Blick über die Schulter zu. Irgendwas… was du willst! Wie es bei dir zu Hause war… Zu Hause, wiederholte der Colonel nach einer Weile die Worte des Guides. Es klang, als könne er sich nicht mehr vorstellen, was damit gemeint war. Die Kindheit zum Beispiel, bohrte Carter geduldig weiter. Er schob Weidenruten zwischen die stärkeren Äste, immer zwei auf einmal, rechts – links um die Äste herum; seine Hände bewegten sich flink und geschickt – wie beim Teppichknüpfen. Die freien Enden bog er herum und klemmte sie zwischen dem letzten und dem vorletzten Ast wieder ein, so daß eine Schlinge entstand. Die Kindheit – die vergißt doch keiner… Nein, sagte Hertzberg. Das nicht… Wenn du nicht willst – Carter warf eine Rute weg, sie war ge brochen. Einen Moment schauten sie sich an. Hertzberg hatte sich bisher an allen Tagen rasiert, an diesem jedoch noch nicht. 27
Sein Kinn sah stopplig aus, beinah schwarz. Auch die Augen wirkten – deswegen vielleicht – dunkler als sonst, und die lange Nase mit dem unübersehbaren Knick krümmte sich schlaff und teilnahmslos über dem schmalen Bart auf der Oberlippe. Dabei hatte er helle Augen, wasserhell im Licht, ungefähr in der Farbe des Flußwassers, das unten die Steine benagte. Ich komme von der anderen Seite, sagte er. Beinahe von der Küste – drei Stunden bis zum Atlantik. Oder vier – das hängt vom Wagen ab. Ich hab’ mir das gedacht, meinte Carter. Ich hatte schon mal zwei hier, einen Doc mit seiner Frau, aus Athol, Massachusetts. Man hört das. Ja… Fast unsere Gegend, Neuengland. Viel Nebel, viel Regen und oben, in den Bergen, noch gute Wälder. Fichten, aber andere als hier, und Tannen. Und Eichen, Buchen und natürlich – Ahorn. Zucker! Carter lachte. Kennst du das? Ich hab’ davon gelesen. Bei uns hier lohnt es sich nicht, aber meine Mutter kennt es auch. Weiter unten im Süden zapfen die Indianer heute noch. Wir lebten davon, sagte Hertzberg. Mit unserer kleinen Farm – wir konnten nichts weglassen, was irgendwie Geld einbrachte. Ich kann heute noch eine Kuh melken… Ich bin im März gebo ren, am dreißigsten. Das ist die Zeit – Sap‘s runnin! Mein Vater war draußen mit unseren Pferden und dem Schlitten. Und sein Bruder und dessen Frau und die Kinder. Sap‘s runnin – da hält es keinen zu Hause. Der Frühling… Überall die Berge hinauf hörte man das Geklirr von den Kübeln und den Ketten und die dump fen Schläge, wenn sie die Spundröhren rein trieben. Maple Sy rup. Und überall plätschert es – der Schnee läuft weg, da kannst du zuschauen. Unter Mittag, in der Sonne brauchst du nur ein 28
Hemd, und eine Woche lang ziehen die Drosseln… Meine Mutter war also allein zu Hause. Waterbury, am Winooski – damals war das ein kleines Nest. Heute fährst du eine halbe Stunde mit dem Bus bis zum See – Lake Champlain. Oder vierzig Minuten – aber damals: jedes Jahr Hochwasser. Dann ist eine Nachbarin ge kommen und noch eine – das war so, die Familien hielten zu sammen, und eine Frau, die während Sap‘s runnin entband – das war sowieso ein Glück. Und dann haben sie ein Mädchen mit einer alten Stute rausgeschickt, um meinen Vater zu holen, und als sie zurückkamen, hab’ ich schon gebrüllt. – Meine Mutter hat mir das so erzählt. Carter holte sich die Parka aus seinem Zelt und setzte sich wieder hinter den halbfertigen Schirm. Der Regen hatte nachge lassen, fiel nun gleichmäßig in grauen, dünnen Schnüren, wie ein Vorhang. Auch der Himmel sah grau aus und still, Carter warf einen Blick hinauf und sagte: Höchstens noch zwei Stunden – es geht zu Ende. Sehr weit weg, im Norden, da, wo sich der Kamm der Wildlife Range erstreckte, den sie jetzt nicht sehen konnten, breitete sich langsam ein milchiger, trüber Schein aus. Der Colonel nahm den Faden wieder auf. Wir hatten drei Pferde, ein Dutzend Kühe und an die zweihundert Schafe. Damit konnten wir uns nicht schlecht über Wasser halten. Fleisch, Wolle und Sirup wurden verkauft. Und ein Jahr ums andere ein Waggon Holz. Das brachten sie ‘runter nach Holyoke, in die Mühlen. Fürs Papier… Und dein Vater – ihr wart ansässig dort? Hertzberg schüttelte den Kopf. Mein Vater – ja. Er wurde neunzehnhundert geboren, schon in Waterbury, im gleichen Haus wie ich. Gebaut hat es Großvater, 29
kurz vor der Jahrhundertwende, gleich nach seiner Ankunft. Zuerst kamen – seit den Siebzigern – die Schotten, die Iren und die Deutschen. Dann aus dem Norden die Kanadier, meistens Franzosen. Wir kamen zuletzt, Mitte der neunziger Jahre. Da war nicht mehr viel zu holen, aber für die Alten muß es immer noch eine Menge Glück gewesen sein. Sie kamen aus Europa, aus einer Gegend, die hieß Podolien. Im Sommer waren da Staub, Hitze, Dürre und im Winter Frost, Hunger und Schwindsucht. Großvater hat, sagte Mutter, nichts mitgebracht außer seinen Erinnerungen. Und sein Käppi natürlich und die Riemchen, fürs Gebet. Er hieß Isaak, mein Vater hieß Aaron. Die Namen sind das einzige, was von diesem Podolien geblieben ist. Später, als mein Vater dazukaufen konnte – ein Stück Wald und dann noch ein Stück und noch einen kleinen Bruch dazu – bei uns gab es sehr guten Granit – , erklärte er uns immer wieder: Wir sind Ameri kaner! Er hat sich auch so gefühlt – als Yankee. Seine Heimat waren die Mountains; als ich größer war, ging es jedes Jahr einmal auf den Mansfield hinauf und einmal bis Camel’s Hump. Das war unsere Pilgerfahrt, so bin ich aufgewachsen. Bis zum Krieg – danach war alles anders… Mußte dein Vater mit? Er war drüben. Er kam sogar erst sechsundvierzig zurück. Er hatte sich umgetan – brachte vier Kisten «Zeug mit. Bücher, Bilder, Bibeln… die hat er dann Zug um Zug verkauft, in den Fünfzigern. Von dem Geld habe ich studiert, erst zu Hause, in Burlington, dann in Boston. Zum Schluß in Cambridge. Von der Farm hätte er das nicht bezahlen können – nach dem Krieg war es vorbei. Podolien… Carter wiederholte das Wort, langsam und sorgfäl tig, beinahe buchstabierend. Wo ist das? Irgendwo in der Ukraine, glaube ich, sagte Hertzberg. Heute 30
gehört es den Sowjets, früher war es beim Zaren. Und auch mal bei den Polen oder den Österreichern – dafür habe ich mich nie interessiert. Auch mein Vater nicht. Seine Meinung war, daß es da immer noch so trostlos und dreckig sein müsse wie vor fünfzig Jahren, als Großvater sein Bündel schnürte. Unter den Sowjets könne es höchstens schlimmer geworden sein – ein verfluchtes Land. Den Juden ist es immer und überall schlecht gegangen, sie mußten sich stets durchschlagen. Mit Ausnahme der Juden in Amerika. Amerika ist ein freies Land. Uns geht es gut, sagte er, und wir werden nicht darauf herumpochen, daß wir mal anders gewesen sind. Unser Schweiß ist in diesem. Land geflossen – es ist unseres. Hier ist Amerika, und hier sind wir, hier hast du dein Brot, und unsere Geschichte – das ist die Geschichte dieses Landes… Bei uns dachten alle so. Da gab es Leute, die waren aus Rumä nien gekommen, und Griechen und Polen gab es und einen Schweden. Ich habe mit ihren Kindern die Schulbank gedrückt, und wir lernten Lexington, Concord und Bunkers Hill. Zum Jahrestag stellten wir unsere Modelle aus, und die Leute kamen eine Stunde weit in die Schule, um sich anzusehen, was wir fab riziert hatten. Wir kamen zu acht: Vater, Mutter, meine beiden Schwestern und ich und Vaters Bruder und dessen Frau und ihr Jüngster… Alle in einem Ford, den Vater noch vor dem Kriege gekauft hatte – bar bezahlt. Das war sein Stolz, daß er das Geld auf den Tisch legen konnte. Der Traktor lief auf Raten, die Zentrifugen auch, und eine Zeitlang plante er ganz und gar, un sere Wolle selbst zu entfetten. Wollfett wurde gut bezahlt. Daran konnte ihn meine Mutter Gott sei Dank hindern, und dann kam sowieso bald der Krieg… Wir sind also mit dem Ford gefahren, die Männer hatten ihren guten Anzug an, und Mutter und meine Tante steckten in weißen 31
Kleidern mit viel Spitze und einem Haufen Firlefanz, die Haare hochgebunden zum Knoten. Meine Mutter hatte weizenblondes Haar, es reichte bis zum Gürtel, wenn sie es kämmte. In der Schule wurde gemunkelt, ich würde einen Preis erhalten für mein Panorama. Aufgebaut hatte ich Washingtons Grabrede für Ge neral Braddock nach der Schlacht um Fort Duquesne, Pittsburgh. Neununddreißig Figuren, alle fingerlang, und drei Pferde und zwei Wagen. Und Wald drumherum, Tannen, Buchen und eine riesige Eiche. Vater und ich hatten den ganzen Winter über daran gesessen, er hatte mir sogar irgendwelche besonderen Messer gekauft. Wir haben Lindenholz genommen, und meine Schwes tern mußten die Figuren bemalen, streng nach Vorschrift, rot und blau und schwarz – ich weiß noch, daß uns zum Schluß das richtige Rot ausging und daß unser Lehrer kam und noch drei Tuben brachte. Die Gewehre habe ich aus Draht gemacht, und meine Mutter stichelte nächtelang an den winzigen Hüten he rum… Zum Schluß war es großartig, ich glaube, sie hatten alle die gleichen Gesichter. Nur der tote Braddock sah anders aus – vielleicht war der mir wirklich gelungen. Als es dann soweit war, zur Ausstellung in der Schule, haben ein paar von den Frauen sogar geweint: Wie ein Engel hätte er ausgesehen, der General. Als Vorbild hatte mir ein alter Stich gedient, den ich aus der Schulzeitung ausgeschnitten hatte. Daß Washington beinahe doppelt so groß war wie die anderen, hat keinen gestört – daran war man gewöhnt. Seine Maße kannten wir wie unsere eigenen: sechs Fuß zwei Inch und zweihundert Pfund. So war das da mals… Nachmittags wurde geschossen und geritten, es gab Pfannku chen mit Speck und mit Sirup natürlich, und dann – vor dem Tanz – nahmen der Bürgermeister von Waterbury und unser Direktor die Preisverteilung vor. Das war jedesmal ein ungeheuer feier 32
licher Akt: Die Fahne wurde aufgezogen, und die Kapelle spielte die Hymne, und danach rief der Bürgermeister die Preisträger auf, damit sie in einer Reihe unter der Fahne antraten. In jeder Altersklasse gab es drei Preise, insgesamt zwölf, glaub’ ich. Die Jury bestand aus dem Bürgermeister, dem Geschichtslehrer und einem Anwalt aus der Stadt. Und jemandem von der Zeitung – ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls – ich bekam tatsächlich einen ersten Preis. Die Preise durften die Eltern in Empfang nehmen – Vater und Mutter traten vor, der Bürgermeister kam jedesmal vom Podium herunter und schüttelte ihnen die Hand. Die Väter blinzelten in die Sonne, und die Mütter weinten. Es gab mächti gen Applaus, die Kapelle blies einen Tusch – dann traten die nächsten vor. Mein Preis war eine Freikarte für einen Besuch in der Hauptstadt. Mit dem Geschichtslehrer fuhren wir nach Was hington, ins Capitol… Hertzberg brannte sich eine Zigarette an und schwieg. Ich kenne es nur von Bildern, sagte Carter. So weit bin ich noch nie gekommen – aber eine große Nummer ist es sicherlich. Je denfalls für die Staaten und die Amerikaner… Du bist auch einer, sagte Hertzberg. Carter lächelte. Schon… Aber hier merkst du nichts davon. Hier bist du weit weg vom Schuß – am Rande der Nation. Für einen wie mich wahrscheinlich das beste – über Edmonton bin ich noch nie rausgekommen. Edmonton ist Kanada! Sicher – aber hier oben ist das alles das gleiche. – Das Capitol – ich habe gelesen, daß man reinkann und daß es Führungen gibt. Und die Kongreßbibliothek – die darf man besichtigen… Hertzberg nickte. Stimmt… Wir haben damals sogar drin ge sessen, in einem Restaurant für Gäste. Es war unheimlich billig, 33
obwohl das keine Rolle spielte, weil die Schule alles bezahlt hat. Beim Eintritt bekamen wir eine Menge Stempel auf unser Ticket und eine Nummer, damit war alles frei für uns. Hertzberg erinnerte sich. Washingtons Schlachten: Fort Necessity, Fort Duquesne, Siege of Boston, Long Island, Harlem Heights, White Plains, Trenton, Princetown, Brandywine, Germantown, Monmouth, Yorktown – seine Mutter half ihm dabei mit der Uhr: Die Aufzählung sollte, nebst Angabe der Jahreszahlen, nicht mehr Zeit als eine Minute beanspruchen. Fünf Sekunden pro Battleground – sie reichten aus, um den Namen jedes der denkwürdigen Orte klar, deutlich und unverlierbar zu artikulieren. Ethan Allan führt die Green Mountain Boys in die Schlacht für Vermonts Unabhängigkeit. In der Statuary Hall schaut der zwölfjährige David Hertzberg ins Antlitz seiner Helden. Die ganze Figur schneegrauer Marmor, drei Meter und einen halben. Davids Hände reichen gerade bis unter den Rand der Stiefel. Der Lehrer bestätigt es: Sie dürfen Ethan Allan anfassen. In der Halle ist geheizt, der Marmor ist trotzdem kühl. Ethan Allan schaut über sie hinweg, das Kinn trotzig erhoben, der Blick geht weit fort, hinüber wohl ins Gebirge. Saratoga Springs – das ist so gut wie die Heimat. Burgoyne, der Engländer, zog hier vorbei. Auf der anderen Seite des Champ lain, immer nach Süden. Dann wurde er von Gates gestoppt; ein Foto der Kapitulationsurkunde hängt in der Schule. David Hertzberg in der Rotunda, dem Zentrum des Capitols. Ein namenloser Menschenzwerg, vergleichbar eher einer Ameise. Drei-, vierhundert seinesgleichen mögen es an diesem Novem bertag sein. Draußen schneit es. Ohne Unterlaß, seit sie den Bahnhof verließen. In der Rotunda ist es warm und still; wie die anderen dämpfen sie ihre Stimme, flüstern, zupfen sich am Arm. 34
Hier schlägt das Herz Amerikas, und das spüren sie. Lebensgroß die Figuren auf den Gemälden – gemessenen Schrittes folgen sie ihrem Lehrer. Wieder Washington – nach der letzten Schlacht der Revolution, Yorktown, 19. Oktober 1781. Zu Pferde neben der Fahne, vor seinen Truppen – Lord Cornwallis lehnte es ab, zu erscheinen. Benjamin Lincoln, auf einem Schimmel, führt die Abgesandten der geschlagenen Briten durch die Reihen – auf der anderen Seite der Gasse paradieren die Franzosen unter Rochambeau. Die ersten Siedler – beim Verlassen der Alten Welt, diszipliniert um den Kaplan geschart, unter puritanischen Segeln. Columbus’ Landung auf den Bahamas, der Küstenwind bläht die spanische Flagge. Das goldene Gestade… Zum Schluß der Blick aus der Kuppel des Doms – einhunder tachtzig Fuß hinunter. Der Atem stockt – jetzt müßten sie neben ihm stehen: der Vater, die Mutter, die Familie. Aaron Hertzberg, 41, Farmer. Rosa Hertzberg, geb. Schtainfelt, 39, Ehefrau. Waterbury, Vermont. Genau neunzehn Tage danach überfielen die Japaner Pearl Harbour, und am Tage darauf erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika Japan den Krieg. Wieder drei Tage später über mittelten Deutschland und Italien den Vereinigten Staaten ih rerseits die Kriegserklärung. Um diese Zeit hatte Einstein seinen zweiten Brief an den Präsidenten Roosevelt längst geschrieben, und es war länger als ein Jahr her, daß der deutschen Wehrmacht die Unterlagen der französischen Kernforschung in die Hände gefallen waren. Es sollten allerdings noch ziemlich genau zehn Monate vergehen, bis der Bauplaner und Fachmann für die Er richtung von Camps, Kasernen und ministerialen Prachtbauten – fünfekkigen, wenn es sein mußte – und West-Point-Absolvent 35
Leslie Richard Groves die Leitung des sogenannten Manhattan-Projekts übernahm. Der letzte Satz, den der reichlich aufgeschossene, schlaksig-ungelenke und zu Bläßlichkeit neigende David Hertzberg in seinem rot-blau-rot linierten Schülerheft notierte, lautete: »Vor Gottes Altar habe ich jeder Form der Tyrannei gegen den Geist der Menschheit ewige Feindschaft geschworen.« Der Satz stammt von Thomas Jefferson, er schrieb ihn im Jahre 1800 in einem Brief an einen Freund. Wie es Carter vorausgesagt hatte, hörte der Regen gegen Abend plötzlich auf. Von Norden her zerriß die Wolkendecke, Wind schwang auf, und nach wenigen Minuten bekamen die Berge wieder Konturen. Ein letzter, heftiger Guß prasselte herab – kaum, daß es sich lohnte, seinetwegen ins Zelt zu kriechen. Das Feuer zischte. Hunger hab’ ich nicht, meinte Hertzberg. Wir holen uns unten etwas, erwiderte Carter. Komm… Sie gingen zum Fluß; Carter suchte lange, bis er eine Stelle gefunden hatte, die ihm zusagte. Sie zogen die Stiefel aus, das Wasser war kalt, aber nicht so kalt, daß man es nicht eine Weile aushielt, wenn man sich bewegte. Es reichte nicht einmal bis an ihre Knie; ein seichter Streifen zwi schen dem Ufer und einer Sandbank, die sich weit den Fluß hi nunterzog. Sie riegelten den Durchfluß ab, und bald erschienen die ersten Lachse und sprangen über die Steine. Ihre Flossen zuckten, und ihre Leiber klatschten schlaff auf der anderen Seite in das Becken – sie zogen sofort weiter. Flußaufwärts… Carter wies auf die schweren, gedunsenen Fische. Sie sind müde. Jeder schafft es auch nicht. Sieh mal! Er bückte sich und griff blitzschnell zu. Der Fisch zappelte kaum in seiner Hand, die Kiemen öffneten sich und erstarrten. 36
Ein Chum… Wir nennen ihn Hundelachs. Die Indianer fangen ihn gern, weil er von allen Lachsen das wenigste Öl hat. Deshalb läßt er sich am leichtesten trocknen. Er warf ihn ins Wasser zurück, einen Augenblick blieb er auf der Seite liegen, kippte einige Male um seine Längsachse und drehte sich dann gegen die Strömung. Als sei der Widerstand das unwiderruflich gültige Signal, begann er sofort weiterzu schwimmen. Um diese Zeit mag ich sie nicht, sagte Carter. Sie erhöhten den Wall; einige Lachse versuchten, die Steine hinaufzukriechen. Einige versuchten auch zu springen, aber sie schafften es nicht, und der Colonel warf sie zurück. Carter lachte. Das hat keinen Sinn – es ist ihre Natur. Sie können nicht anders. Aber da – paß auf! Die erste Forelle. Sie glitt mit der Strömung in ihr Becken, wendete, schnappte einmal kurz und strebte sofort zurück. Der Guide bückte sich, verhielt eine Sekunde, dann stieß seine Hand ins Wasser – gleich darauf flog die Forelle ans Ufer. Hertzberg verließ schnell das Wasser – die Forelle krümmte sich und schnellte in kurzen, steilen Bögen über den Kies. Er schlug sie gegen einen Stein und wartete; Carter fing noch vier Stück. Sie buken sie in Lehm und aßen sie ohne weitere Zutat. Die Beeren sind noch nicht soweit, sagte Carter. In zwei Wochen – ja. Dann sammeln wir welche. Überall wuchsen sie: Krähenbeeren, Lachs- und Preiselbeeren. Preiselbeeren, sagte Hertzberg, haben wir zu Hause auch ge sammelt. Jedes Jahr zwei Fässer, das war Sache der Kinder. Meine Mutter hat sie eingezuckert, und Vater hat sie in die Fabrik gefahren. Da wurden sie in Büchsen abgefüllt und zugebördelt. Im Winter wurden sie dann gebraucht, zum Braten und für die Preiselbeerkuchen. Kennst du die? 37
Kuchen nicht. Zum Wild ja, wir nehmen sie vor allem zum Fisch. Deine Mutter, fragte Carter – hattest du sie gern? Hertzberg richtete sich auf, und sein Blick und der stille, nachdenkliche Blick des Guides begegneten einander. Sie schauten sich eine Weile an, und schließlich nickte Hertzberg. Ja… Und meinen Vater auch. Wir hatten es gut zu Hause. Heute denke ich, daß sie nur für uns gelebt haben. Vielleicht kommt das einem auch hinterher nur so vor – ich weiß nicht. Sie haben nur gearbeitet – und zusammengehalten. Das Zeug zum Beispiel, das Vater aus Deutschland mitgebracht hatte – Mutter schlug die Hände überm Kopf zusammen. Natürlich war es ihr egal – Hauptsache, er war zurück. Endlich wieder zu Hause, und mit heilen Knochen. Die anderen hatten Uhren und Ringe im Sack, Schmuck und so etwas. Und er kommt mit Büchern an, staubi gem Krempel. Aber herangelassen hat er uns nicht, auch mich nicht. Er hat sie geputzt und bepinselt und – sogar einen Staub sauger hat er bestellt, ein kleines, scharfes Ding. Mutter hat schon nichts mehr gesagt dazu. Später hat er sie eins nach dem anderen verkauft. Mal zwei, mal drei – er fuhr deswegen ‘rüber nach Boston. Zweimal kamen Leute zu uns, die wollten ganz sicher sein, daß er nicht noch mehr hatte davon. Er hat sie weggeschickt, und zwei, drei Monate später fuhr er wieder los, aber woanders hin. Das ist mein Geschäft, meinte er. Mit der Farm ging es damals schnell bergab. Allein konnte er das nicht mehr bewältigen, und ich war schon in Burlington. Mein Studium war ihm heilig. Er hätte noch mehr Maschinen kaufen müssen – aber die Zinsen damals. Beinahe wie heute. Das hätten wir nicht geschafft. Und er wußte das auch. Nach dem Krieg, nach Europa – irgendwie war er nicht mehr derselbe. Vorher hatte er sich ganz gern auf waghalsige Sachen eingelassen – nun war er vorsichtig gewor 38
den. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste. Aber mit seinen Büchern und Stichen hat er durchgehalten. Den Magister mußte ich in Boston machen, und promoviert habe ich in Cambridge. Und deine Schwester? Die Kleine ist daheim in Waterbury. Sie hat das Haus und ihre Kinder – das heißt, die sind auch schon lange weg. Sie ist Mu siklehrerin. Die andere ist in Philadelphia, ihr Mann ist Makler. Mit ihr hab’ ich wenig Kontakt. Havard, sagte Carter. Fürchterlich teuer, aber es soll das beste sein. Ich habe gelesen, daß Havard die Blüte der Nation ist. Sie nennen es so… Ich bin Chemiker. Gelernt hab’ ich damals wahrscheinlich eine Menge. Jedenfalls hatte ich später nie Grund, mich zu beklagen. Carter sah ihn überrascht an, und Hertzberg lächelte ironisch. Du wunderst dich? Carter zögerte und nickte dann. Du hattest gesagt, du seiest bei der Army gewesen? Die letzten zwanzig Jahre. Das heißt, nicht ganz: achtzehn und ein paar Monate. Aber ich glaube, ich habe auch vorher schon für sie gearbeitet. Carter musterte den Colonel erneut und schwieg; Hertzberg hatte den Eindruck, daß die Lippen seines Guides allmählich schmaler wurden. Wenn sich auch sonst nicht viel regte in dem dunklen Gesicht. Aber vielleicht täuschte er sich auch. Plötzlich lehnte sich Carter zurück und faltete die Hände über den Knien. Du glaubst… Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, daß du viel herumgekommen bist und viel gesehen hast und viel zu tun hat test. Und daß du nun froh bist, daß du es hinter dir hast… Noch nicht, erwiderte Hertzberg leise. Ich hab’ es noch nicht hinter mir… 39
6 Zuerst: Glänzende Zeugnisse… Der letzte Sommer in Boston – der erste mit Ruth. Mit dem Wagen – ihr Vater hatte ihr einen kleinen Wagen gekauft, ein sparsames, aber sehr tüchtiges deutsches Modell, unverwüstlich – fuhren sie die Küste hinauf, bis Brunswick, Boothbay Harbor, bis in die Penobscot Bay. Er erinnert sich: an den Wind über den Klippen, an die Möwen, die vor dem steilen Kliff träge im Aufwind schwebten. Sie übernachteten, wo sie ein Zimmer bekamen. In kleinen, altmo dischen Vorkriegshotels – sie standen immer abseits der Straße, immer konnten sie das Meer sehen, und nachts hörten sie es rauschen. Der Wind klapperte mit den hölzernen Fensterläden. Einmal verdarb sich Ruth den Magen. Die Muscheln, sagte er. Sie waren nicht koscher! Sie hatte erbrochen, aber sie mußte über das Wort lachen und darüber, wie er es aussprach: koscher. Merkwürdigerweise gab es in diesem Hotel keine Milch, er fuhr in die nächste Stadt – war es Camden? Camden oder Belfast! – und kaufte Milch, Tee und eine riesige Melone. Ruth blieb einen Tag im Bett, sie sah blaß aus und schön mit ihren dunklen Haaren. Die Haare rahmten ihr Gesicht auf dem weißen Kopfkissen ein, so daß es noch blasser aussah, und er war sehr besorgt und ärgerte sich, weil er die Melone gekauft hatte. Am Abend stand sie auf, sie gingen langsam hinüber zu den Klippen und standen da in ihren dünnen Trikots und froren. In der Bay tutete ein Dampfer. Diese Bilder… Ihre Haare im Wind, die Felsen und die Möwen im Wind und die Küstenstraße, ohne Ende. Ruth wohnte mit ihren Eltern in einer kleinen, von allen Seiten zugewachsenen Villa zwischen Melrose und Maplewood. Da 40
mals fuhr man noch mit dem Bus hin, heute gibt es da kein freies Fleckchen mehr. Auch die Villa mußte längst weichen, sie ver kauften sie und das Grundstück, als der erste Highway von Medford nach Lynn Harbor hinüber gebaut wurde. Damals fuhr er mit dem Bus zu ihr. Seine Pension befand sich in Dorchester, er mußte durch die ganze Stadt. Tremont- oder State Street, je nachdem, welche Linie zuerst kam. Columbus Avenue, dann die alte Brücke über den alten Charles… Freundlicher Sommerstaub, Ahorn, Platanen, der Geruch von verbranntem Gummi. Und immer der unbeschreibliche, köstli che, tausendfach namenlose Geruch des Hafens: traurig, heiter, beglückend. Er begriff, daß alles nur von ihm selbst abhing. Ihr Vater war ein kleiner, zarter, ungemein beweglicher und quicklebendiger Herr: Pierre-Francois Daladier. Augenzwinkernd beschwor er David: Täuschen Sie sich nicht, junger Mann! Dies ist ein peinliches Mißgeschick – es existiert nichts, was meine Familie mit diesem Monsieur gleichen Na mens verbände… Er besaß eine Möbelfabrik in East-Burton. Ausschließlich handgefertigte Erzeugnisse: Sessel, Stühle, Sofas und Sekretäre à la Louis-quinze und vorzugsweise im Stile seines Nachfolgers, des sechzehnten Ludwig. Die Firma beschäftigte kaum ein halbes Hundert Mitarbeiter, es waren in der Mehrzahl Frankokanadier, die Mister Daladier selbst in Montreal, Quebec und Toronto zusammengesucht hatte. Sie galten als Spezialisten, verstanden ihre Tätigkeit als Kunst und schätzten ihren Brotgeber als Manager of Art. Daladier sah darauf, daß sich seine Beau vaisbezüge in nichts von den heimatlichen Originalen unter schieden. Auch nicht für Kenner, deren Zahl sich übrigens, wie er ohne Sarkasmus bemerkte, im Kundenkreis zwischen Boston und New York in schmalen Grenzen bewegte. 41
Leider – oder soll ich sagen: Gott sei Dank? – , lieber David, ist das nun einmal so: Neunzehn von zwanzig Leuten, die meine Preise bezahlen können, wissen nicht, was sie kaufen. Und das wollen sie auch gar nicht, nicht wahr? Sie wollen Besitz vorzei gen – und sehen die Stücke nicht prächtig aus? Das taten sie. Einlegearbeiten in Acajou mit Bronzebeschlägen; Buchenholz, vergoldet, skulptiert, der Bezug im Stile Huets… Zweimal in jedem Jahr fuhr er nach Frankreich, ausgerüstet mit einer Kamera und einigen hundert Filmen. Studium der Origi nale, Besuch der alten Heimat. Auch er hatte bereits unter den günstigen Sternen des neuen Kontinents das Licht der Welt er blickt: im Gefolge einer bekannten Affäre, die vor der Jahrhun dertwende ganz Frankreich an den Rand des Aufruhrs gebracht hatte, war sein Vater, ein mittelloser, jedoch engagierter Journa list, nach Montreal verschlagen worden. Das Holz, das Daladier in seinen Werkstätten verarbeiten ließ, kaufte er selbst ein: Haiti- und Honduras-Mahagoni, Kailzedra, Sapeli, Okume. Kalifornischen Nußbaum und Pitchpine aus Florida. Die Agenten der Händler suchten ihn in seiner Villa auf. David wurde überwältigt: von Gerüchen, Bildern, Sprachen; von Kultur, von deren Existenz er nichts gewußt hatte. Er kam aus Waterbury, Vermont. Aber er war voller Enthu siasmus: Er wollte Ruth, und in ein, zwei Monaten würde er seinen Havard-Abschluß haben. Seine Arbeit sollte gedruckt werden, und sein Professor beschwor ihn, am Institut zu bleiben. Die Mikrobiologen interessierten sich für ihn, da gab es ein Team von Leuten, die waren nicht viel älter als er, die hatten ihn ein geladen. Bis in die Nacht hatten sie gesessen und debattiert, zehn oder zwölf Mann. Seinetwegen oder genauer: wegen einiger der Dinge, auf die er bei seiner Arbeit gestoßen war. Lockopener hatte er seine Verbindungen genannt – Schleusenöffner. Auf 42
leider nicht befriedigend zu klärende Weise vermittelten sie das Eindringen bestimmter Substanzen in das Innere des Blattes, so daß sie dort ihre Wirkungen entfalten konnten. Ließ man sie weg, tat sich gar nichts. Ein Umstand, der für die Landwirtschaft von Bedeutung sein würde, für den Pflanzenschutz und die Un krautbekämpfung wie für die Einleitung der Krautwelke. Ja – er war fleißig gewesen. Tüchtig? Vielleicht hatte er einfach bloß das Glück auf seiner Seite gehabt. Pierre-Francois Daladier beurteilte das anders. Verstehen Sie doch, Dave – Sie haben zugepackt! Verschmähen Sie jetzt die Früchte nicht – die Zeiten sind nicht danach. Dieser Krieg – er meinte den zweiten Weltkrieg, über den er gern, aus führlich und in einer seinen jugendlichen Zuhörer höchst ver wirrenden Weise sprach – hat als deutsches Unternehmen be gonnen und als russischer Marsch geendet. Die Russen sitzen jetzt, wo sie sitzen – gründlich, was ich einräume – , und das soll man ihnen nicht verdenken. Nur die hiesigen – ich gebe zu, zahllosen – Dummköpfe tun das. Mit Kriegen ist aber nichts zu holen – siehe Korea. Die anderen werden nämlich auch langsam wach. Voilà! Oder – Dien Bien Phu! Stolzes Frankreich – wel cher Reichtum, wenn sie sich das erspart hätten! Aber nein – eine Weile wird das wohl noch so gehen. Aber natürlich nicht ewig – es wäre wider jeden Verstand. Von der Gefahr red’ ich nicht – ich glaub’ nicht daran. Diese Spielerei mit den Bomben – das wird bald aufhören. Das ist zu teuer, sogar für uns. Also, was ich meine, ist: Die Russen sind ein friedfertiges Volk. Sie haben ein Gespür für gute Musik, dicke Romane, Melancholie und oldfas hioned Konfekt. Sie besitzen die phänomenalste Ballettschule der ganzen Welt, und sie sind – große Teetrinker. Verglichen mit dem, was man in England trinkt, ist ihr Tee durchweg mittelmä ßig bis miserabel – aber sie verstehen einfach, ihn zu trinken. 43
Meine russischen Freunde in Paris – o ja! Sie trinken eine ganze Nacht Tee – Tee und Wässerchen – und schwatzen und singen und schwatzen. Sie sind auch gute Philosophen und haben eine Engelsgeduld. Und sie überstehen auch alles. Sogar ihren Stalin haben sie überstanden und ordentlich eingemauert. Dieses Volk ist an Tränen gewöhnt – wieso soll uns das schaden? Darin seh’ ich keine Bedrohung der Demokratie. Und wenn sie in fünfzig Jahren immer noch Tee trinken und unseren Weizen kaufen – das kann uns doch nur recht sein – oder? Allerdings glaub’ ich daran nicht. Sie werden etwas tun – das müssen sie, für die eigenen Leute. Sie werden auch Technik machen, bessere wahrscheinlich als diesen T-vierunddreißig, der ja nicht so schlecht gewesen sein kann. Lassen wir es doch darauf ankommen, Dave: Geist gegen Geist! Unsere Kultur gegen die ihre. So wird es kommen, glau ben Sie mir das! Man wird Havard-Leute brauchen, tüchtige Leute, Dave… Es freut mich für Sie! Ein Vortrag ohne Blinzeln, doch wie stets verwirrend und an keiner Stelle so recht zu packen. Nicht einmal dann, wenn er nur wiederholte, was die Zeitungen brachten: Mit spielerischer Leichtigkeit vermochte er, den Sinn einer Headline ins offenbar obskure Gegenteil zu wenden; verblüfft vernahm David, woran er nicht im Traum gedacht hätte. Traum – um Zweifel auszu schließen. Er zweifelte nicht. Die Havardjahre hatten ihm – höchst nebenbei, wenngleich be ständig – auch zu der Erkenntnis verholfen, wie lückenhaft und grausam unvollständig das war, was sie zu Hause stolz nannten: seine Bildung. Ihm war aufgegangen, wie wenig er wußte. Von Kultur zum Beispiel, auch von Geschichte. Nicht zuletzt von amerikanischer Geschichte, was ihn eine Zeitlang ernsthaft schmerzte. Aber: Das wenige genügte doch, um sicher zu sein – Amerika, das war ein gerader, sauberer Weg von Concord, Le 44
xington, Boston bis zur Vernichtung dieses entsetzlichen Hitler. Und wenn die Zeiten jetzt, wie sein zukünftiger Schwiegervater dies nannte, einfach komplizierter geworden waren, so lag das schon an diesen Russen. Sie drohten doch mit der Bombe… Da lächelte Daladier nachsichtig, rieb sich wohl auch die Hände und beschloß das Gespräch mit einem Hinweis auf das Wetter. Dieser Sommer sechsundfünfzig! Und immer Geld und Ruth und den kleinen, schnellen deutschen Wagen. Hoch hinauf bis Penobscot Bay… Schließlich erlag er dem Angebot von Du Pont, einzusteigen in den Aufbau eines neuen Testsystems für Wirkstoffe in Newark, Delaware. Im Grunde sind Sie unser Mann, Doc! Jedenfalls war dies die Meinung Mister Alfred F. Hopkins’, der David seine Karte ge geben und sich als Mitarbeiter einer Spezialabteilung im Re search Center des Konzerns vorgestellt hatte – ausgestattet mit Vollmachten. Nahezu sechs Wochen hatte er David verfolgt – höflich, beinahe unaufdringlich, aber hartnäckig. Er baute auf seine Argumente und ließ sich einfach nicht abschütteln, und eines dieser Argumente gab schließlich dann den Ausschlag: Fortsetzung der Arbeiten, die er im Institut begonnen hatte. Nur – unter ungleich günstigeren Voraussetzungen. Du Pont war ent schlossen, für Newark zu tun, was die Konkurrenz gebot: Aus stattung mit Labortechnik, die es beinahe noch gar nicht gab, individueller Bestelldienst, jede Literatur. So gut wie ohne Wartezeiten, versprach Hopkins. Wenn Sie erst bei uns sind, werden Sie das begreifen: Die Ja paner, die Deutschen, die Briten – sie schlafen nicht. Die Schlacht um den Markt wird an jedem Tag, in jeder Nacht ge wonnen oder verloren. Der emsige und tüchtige Hopkins irrte lediglich in einer Hin 45
sicht: Er deutete Davids Zögern durchaus unzutreffend. Hertz berg war nichts weiter als unentschlossen und – unerfahren. Als er sich zu guter Letzt doch gegen das Institut und für Newark entschied, bekam er einen Vertrag, daß ihm Hören und Sehen verging. Mit solchen Bezügen war er nicht vertraut. Und natürlich, erklärte er Carter, spielte die Lage eine Rolle. Newark war nicht zu weit entfernt von Boston, eine Flugstunde. Das konnte ich mir nun leisten, und wenn es sein mußte, zweimal in der Woche. Wegen deiner Frau? Ja… Wir heirateten im September, sie hatte noch ein Jahr. Sie studierte alles Mögliche: französische Sprache, Literatur, euro päische Kunstgeschichte. Sie ließ sich Zeit, bei ihr drängte nichts, auf einen Job war sie nicht angewiesen. Ein paar Tage machten wir Urlaub, bei mir zu Hause, in Waterbury. Es gefiel ihr. Danach fuhr ich nach Newark. Es war im Oktober. Im Zug schlug ich die Zeitungen auf, blätterte in ihnen herum, aber mit meinen Ge danken war ich längst unten in Delaware: Wie würde es werden? Ich war siebenundzwanzig. Erst als ich die Zeitungen wegstecken wollte, fielen mir die Fotos auf: in allen Ausgaben Panzer auf der zweiten oder dritten Seite. Panzer quer übers Blatt. Und Balken: Die Russen in Ungarn! Ich dachte, daß sich mein Schwiegervater wohl getäuscht hatte. Ein schlauer Mann, sicher. Aber zu alt für diese Zeit. Zu gutmütig, zu freundlich. Nein, ich glaubte nicht, daß es gut sein würde, einfach zu warten.
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7 In der Nacht erwachte Hertzberg, wälzte sich eine Weile herum und kroch dann aus dem Schlafsack. Er wußte, daß er nicht wieder einschlafen würde. Er zog Socken, Stiefel und die Parka an und öffnete das Zelt. Es war so hell, daß er gerade zwei Sterne entdeckte. Er ging zum Fluß hinunter, setzte sich auf einen Stein. Du gibst keine Ruhe, nicht wahr? Auch in der Nacht nicht… Warum auch – dein Job ist, zu fließen. Das Wasser schoß über die flachen Schnellen, überschlug sich und schäumte kurz auf. Hertzberg schaute über den Fluß und nickte, als müsse er sich selbst recht geben. In der Packung war nur noch eine Zigarette, sie war zerdrückt und krumm, er steckte sie zwischen die Lippen, ohne sie anzu zünden. Er zerknüllte die Packung in der Hand, warf sie in den Fluß, ein Wirbel erfaßte sie, und sie verschwand. Warum erzähle ich ihm das? dachte er. Es ist so sinnlos… Ich sehe ihn nie wieder. In zwei, drei Jahren hat er alles vergessen – Geschichten. Sie fransen aus, zerfasern, lösen sich schließlich auf – wie der Morgendunst in den Fichten. Den vertreibt die Sonne. Geschichten sind Lügen – alle Geschichten sind das. Man er findet sie, um sich mit einer neuen Lüge zu versorgen. Lügen nützen sich ab, immer wieder müssen sie ersetzt werden. Die Newarker Tests zum Beispiel… Mister Hopkins hatte ihm nicht zuviel versprochen. In keinerlei Hinsicht – da stimmte alles: die Technik, das Geld, die Heerschar gewiefter, disziplinierter Laboranten. Kein Wunder, daß die Syntheseabteilungen Mühe hatten, nachzukommen. Bis auf ein winziges Detail: Nicht der Markt saß ihnen im Nacken, und schon gar nicht waren es die Farmer. Für die fiel mehr ab, als sie bezahlen konnten. Oder wollten… Herbizide, Fungizide und so 47
weiter. Die Männer, die sich im dritten Stock nebenan die Klinken in die Hand gaben, gehörten keiner Firma an. Und wenn es auch keinen interessierte – jeder wußte, für wen sie unterwegs waren: CWS. Chemical Warfare Service. Auch ihn interessierte es nicht. Es hat mich nicht interessiert, sagte er. Hörst du? Es hat mich nicht geschert, Fluß… Das Wasser strudelte eilig über die glatten Kiesel. Es hatte ihn wirklich nicht interessiert. Der Boß seiner Abtei lung hieß Forlander, er war ein Schwede aus Philadelphia. Sie kamen glänzend miteinander aus. Forlander war nur fünf Jahre älter als David, aber schon ein alter Hase im Testbetrieb. Er hatte am Projekt mitgearbeitet, und Du Pont hatte ihn übernommen. Daß du dich nicht täuschst, Dave! Wir sind die entscheidenden Jungs hier – nicht die von der Synthese. Den Clou der nächsten Jahre müssen wir bringen, und der heißt – neue Tests. Aber nicht an Pflanzen… Vielleicht noch Pilze, überhaupt: Mikrobiologie. Aber die Schwerpunkte werden ganz woanders liegen… Aus Forlanders Munde hörte er den Namen zum erstenmal: Dugway Proving Ground, Utah. Runde fünfzig Meilen südwest lich von Salt Lake City. Warst du schon mal dort? Hertzberg verneinte. Da arbeiten einige tausend Leute – gegen die sind wir hier ein kümmerlicher Haufen. Ein Jahr später wurde sein Sohn geboren: Robert John Eleazar Hertzberg. Ein paar Tage danach erschien Forlander in seinem Labor. Er grinste. Wir sollen rüberkommen, am besten gleich. 48
David behielt seinen Kittel an. Tatsächlich wurden sie im Staff schon erwartet: von Stones, ihrem Chef, und einem Mann in Zi vil, den er noch nie gesehen hatte. Er stellte sich vor: Breadlaw… Freut mich sehr, Doc! Ein kräftiger Händedruck, Breadlaw hatte ein grobes, aber sympathisches Gesicht. Kurz geschnittene Haare, ein scharf ge stutztes Bärtchen, ein kräftiges Gebiß. Weiße Zähne. Stones hielt sich auffallend zurück, Breadlaw sprach. Sie legen sich mächtig ins Zeug, wie? Ein schnelles, aber herz liches Lächeln. Hertzberg murmelte etwas, Forlander grinste, Breadlaw nickte befriedigt. Stones’ Sekretärin brachte Kaffee und ein Tablett mit Gläsern. Hertzberg verfluchte sich, weil er es gewagt hatte, im Kittel aufzukreuzen. Einen Moment schwiegen sie; als das Mädchen hinausgegangen war, sagte Breadlaw, mit einer Kopf bewegung zu Forlander hin: Seine Stunde hat geschlagen… Und wir dachten, Doc, Sie rücken nach. Sind wir da auf einer Linie? Oh! sagte David. Na wunderbar! Breadlaw stand auf. Er bewegte sich wie ein Pitcher, der weiß, daß er jetzt alle Blicke von der Tribüne in seinem Rücken hat. Er war höchstens dreißig. Sein Anzug – grau, muskat und noch etwas – mußte von einem fabelhaften Schneider stammen, aber Hertzberg blieb wenig Zeit, daran Gedanken zu verschwenden. Dann könnten wir eigentlich, Willie… Das heißt, wenn du uns die Ehre gibst! Stones beeilte sich mit dem Einschenken, sogar David fiel auf, daß es sehr beflissen aussah. Breadlaw stand neben Hertzberg. Er hob das Glas und lächelte ihm zu. Also, David – ich darf das doch so sagen? – das wird eine harte Geschichte. Ziehen Sie weiter so – und alles Gute! 49
Forlander hätte ihn beinahe hinausschieben müssen, so benom men war er. Im Korridor blieb er stehen und versuchte, den lan gen Forlander zu schütteln. Und du, Mensch? Wohin gehst du? Forlander machte sich ärgerlich frei. Komm! zischte er. Hier nicht… Das sind durchlässige Wände. Forlander ging nach Dugway, David bekam das entsprechende Gehalt und einen Aufschlag. Er konnte in Philadelphia ein Häu schen mieten, sehr günstig gelegen. Ridley Park, fünf Minuten hinter Chester Station. Abends, wenn die Rush hour vorbei war, brauchte er eine gute halbe Stunde mit dem Wagen bis nach Hause. Aber das war nicht das wichtigste, sondern, daß sie nun wieder unter ein Dach kamen: er, Ruth und Robert John Eleazar. Die Schnepfen am anderen Ende der Sandbank hoben wie auf Kommando die Köpfe und flogen auf. Ein Whiskey Jack kräch zte verschlafen, schrie zweimal und verstummte. Hertzberg wandte sich um, Carter stand hinter ihm. Habe ich dich geweckt? Der Guide lächelte. Ich hörte, wie du den Reißverschluß öff netest… Hast du kein Feuer? Hertzberg nahm die Zigarette aus dem Mund und warf sie weg. Keinen Appetit. Wie spät ist es? Gleich vier – komm, eine Runde schlafen wir noch. Am späten Vormittag verließen sie den Sheenjek, die Sonne brach immer wieder durch die Wolken. Es wurde schnell schwül. Der Colonel fühlte sich schlapp, die ungewohnten Anstrengun gen der letzten Tage begannen ihren Tribut zu fordern. Schon nach einer Stunde war sein Hemd durchgeschwitzt; erst, als sie höher hinauf kamen, ging es langsam besser. Die Muskeln fügten sich wieder dem Rhythmus. Als die Sonne verblaßte, rasteten sie zum erstenmal. Er lehnte sich an einen Baum, seine Knie zitterten. Carter nahm ihm das 50
Gestell ab. Was glaubst du, wie hoch wir sind? Siebenhundert – höchstens, sagte Carter. Die Kette da drüben ist die Divide, die andere Seite entwässert schon zum Coleen. Wir haben vierzehn oder fünfzehn Meilen geschafft, das ist ganz schön. Du mußt dich wirklich nicht beklagen! Hertzberg schniefte verächtlich und schaute zu dem kahlen Hang hinüber. Und der da? Ein bißchen über tausend – es ist die niedrigste Stelle weit und breit. Früher sind hier auch die Indianer vorbeigekommen, wenn sie zum Mackenzie zogen. Es ist ein alter Trail. Sie aßen jeder eine halbe Tafel Schokolade. Carter schlug vor, noch eine Viertelstunde auszuruhen und dann das Tal zu queren. Auf dem Hang drüben finden wir keinen guten Platz, knurrte der Colonel. Und bis auf die andere Seite – ich weiß nicht, ob ich das heute noch schaffe. Carter gab ihm das Glas. Sieh mal! Ganz unten – erst der Fichtenstreifen und dann, rechts daneben, hinter den Pappeln… Fels! sagte Hertzberg überrascht. Er setzte das Glas ab und gab es zurück. Granit! bestätigte Carter. Auf der anderen Seite auch. Ein paar sehr gute Feuerstellen, selbst wenn es regnet. Ich kenne da auch zwei kleine Höhlen. Ende September gibt es hier manchmal ei nen halben Meter Schnee – in einer Nacht. Noch vor dem rich tigen Frost, da bist du glücklich, wenn du dich für zwei Tage ver kriechen kannst. Mit Wald ist hier nichts mehr, das siehst du ja. – Für den Abstieg brauchten sie noch einmal fast eine Stunde, aber das Lager war wirklich ideal. Das Felsband, kaum zehn Meter breit, war auch nicht besonders hoch – hing aber etwas über und wurde außerdem noch auf beiden Seiten von dem dür 51
ren Gehölz eingefaßt, das Hertzberg bereits mit dem Glas gese hen hatte. Wasser gibt es da unten. Es schmeckt allerdings nicht beson ders, warum, weiß ich nicht. Es ist die einzige Stelle hier, wo es nicht viel taugt, Carter griff nach dem Kanister, und im gleichen Augenblick erstarrte er. Verblüfft schaute Hertzberg auf seinen Guide – Carter rührte sich nicht. Plötzlich hob er die Hand und gab ihm ein Zeichen. Der Colonel kauerte sich neben ihn, aber es ver gingen noch einige Sekunden, bevor auch er das Geräusch wahrnahm. Hubschrauber! Unwillkürlich flüsterte er. Carter biß sich auf die Lippen. Große! Zwei oder drei… Das Geräusch nahm schnell an Stärke zu, offenbar flogen die Maschinen das Tal herauf, genau auf sie zu. Sehen können sie uns nicht, sagte Hertzberg. Jedenfalls nicht so ohne weiteres… Carter erwiderte nichts, der Colonel sah aber, daß der Ausdruck konzentrierter Anspannung im Gesicht des Guides plötzlich verschwand. Carter richtete sich auf und schüttelte sich. Die kenn’ ich – die sind harmlos! Paß auf… da sind sie! Vier große Hubschrauber kamen in Linie das Tal herauf. Sie fliegen ziemlich niedrig, sagte Hertzberg. Wo hast du das Glas? Es liegt hinter dir! In einer Entfernung von einem halben Kilometer flogen die Maschinen vorüber. Scout Defender, sagte der Colonel. Alle vier! Nicht mehr das Modernste, aber zuverlässig – was haben die hier zu suchen? In den letzten beiden Jahren kamen sie öfter. Drei- oder viermal. Sehen irgendwie aus, als gehörten sie der Navy. Findest aber keine Kennzeichen. Ein Stück weiter oben haben sie einen 52
Stützpunkt oder so etwas. Wegen der Erdbeben… Wegen der Erdbeben? wiederholte Hertzberg verblüfft. Das sagst du so! Carter verzog keine Miene. Ich erzähl’s dir nachher, wenn wir essen. Jetzt hole ich Wasser. Vor drei Jahren kamen sie zum erstenmal. Das war Ende Mai, und es lag noch etwas Schnee. Ich war allein hier, ein Sauwetter. Zwei Tage lang Nebel und Regen und immer wieder Schnee. Ich hörte sie erst, als sie schon fast auf meiner Höhe waren. Zwei Stück – dieselben Typen. Später noch einmal zwei und in der Nacht – sechs. Zwei Tage später – inzwischen taute es wie ver rückt – flogen vier zurück. Mich interessierte das, und weil sich das Wetter endgültig beruhigt hatte, blieb ich. Es ging zwei Wochen so. Natürlich ließ ich mich nicht blicken – wozu? Dann machte ich mich auf und folgte ihnen, genau nach Norden – da oben… Sieht jämmerlich hoch aus, meinte Hertzberg und runzelte die Stirn. Strauchtundra, sagte Carter. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich mich trauen sollte. Solange du dich nicht bewegst, fällst du auch von oben nicht auf. Aber – die Maschinen waren alle ohne Kennzeichen, und das hat mich gereizt. Ja, sagte der Colonel, ziemlich mechanisch. Es gibt da eine Handvoll Plateaus – irgendwann in einem Sommer bin ich mal dort gewesen. Sie gehören schon zum Gebiet der Wildlife Range – jedenfalls sieht es auf der Karte so aus. Eine öde Gegend – Rentierflechten, immer wieder Muskegs – der Rest ist Fels, alles Granit. Höchstens noch ein paar Weiden und Po larbirken. In so einem Dickicht lagerte ich und überlegte. Feuer hatte ich nur für die kleine Pfanne gemacht, den Rauch siehst du 53
erst, wenn du davor stehst. Dann hörte ich Stimmen, weit weg. Ich erstickte das Feuer, es ist immer besser. Dann sah ich die Leute, es waren drei Indianer, zwei alte Männer und eine junge Frau. Ich machte mich bemerkbar, und sie kamen heran, und wir besprachen uns. Sie wollten zum Firth River und dann an die Küste, aber die Yankees hatten sie aufgehalten. Sie sollten sich weiter östlich halten. Sie sagten, daß sie Maschinen gesehen hätten und große Kisten und zwei Bohrtürme. Und eine Menge Hubschrauber – wie an der Pipeline… Wir rauchten zusammen, und danach zogen sie weiter. Ich wußte immer noch nicht, ob ich nicht doch versuchen sollte, näher heranzukommen. Ich beschloß, noch eine Nacht zu blei ben, vielleicht war das gut so. Zwei Stunden später kam nämlich noch einer, ein weißer Kanadier. Kein ganz weißer, aber so ziemlich. Er wollte nach Old Crow, er war da zu Hause. Ich zählte die Wildhüter aus der Range auf, die ich kannte, und da stellte sich heraus, daß er einen von ihnen ebenfalls kannte. Wir blieben die Nacht zusammen, und nach dem Essen berichtete er, daß auch er von den Maschinenleuten gezwungen worden sei, seinen Trail zu ändern. Er hatte einige Worte aufgeschnappt und auch die Aufschrift auf einer Kiste gelesen: Seismic Research Point 02. Es müssen eine Menge Leute dabei gewesen sein; später traf er noch mal zwei, die lagen mit dem Walkie-talkie herum. Sie haben auch irgendwo rückgefragt, wohin sie ihn schicken sollen. Die Antwort hatte er nicht verstanden, aber das Wort Sergeant. Das wunderte ihn, weil sie keine Uniformen trugen. Sie hatten solches Zeug an wie die Texaner, wenn sie auf dem Alcan herumrasen. Schnürstiefel und nagelneue Parkas… Das wäre ihm aufgefallen, sagte er. Besonders scharf seien sie nicht gewesen, aber darauf bedacht, daß er verschwinde… Mehr habe ich nicht herausbekommen, und am nächsten Mor 54
gen trennten wir uns. Ich bin zurück zum Coleen und hinunter ins Blockhaus, und zwei Wochen später hab’ ich in Yukon ein biß chen herumgefragt, vorsichtig, aber da wußte keiner etwas. Auch in Fairbanks konnte ich nichts erfahren, und da habe ich mit meiner Mutter gesprochen und sie gebeten, sie möchte mal die Augen offenhalten, ob sie in Ladd Field solche Maschinen ohne Kennzeichen sieht. Sie muß ja manchmal hinüber, von der Klinik aus. Und im vergangenen Jahr sah sie zum erstenmal solche Typen. Solche, wie ich meinte. Das ist alles, was ich weiß. Ge stört haben sie mich jedenfalls noch nicht. Nein, sagte Hertzberg. Komisch… Er nagte mit den Zähnen an der Unterlippe herum. Erdbeben… Kann aber sein! Überzeugt bist du wohl nicht? Das ist eine einsame Ecke hier oben. Es klang, als wolle sich der Colonel entschuldigen. Carter nickte. Ist es… Ich gehe auch sonst nie weiter nach Norden als heute.
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8 Nach dem Abwaschen fragte Carter: Vertragen wir noch einen Kaffee?, und der Colonel holte noch einmal Wasser. Wie ist das eigentlich – wer darf Maschinen ohne Kennzeichen fliegen lassen? Soviel ich weiß – niemand, antwortete Hertzberg. Aber wahr scheinlich weiß ich es einfach nicht. Vier solche Kästen – ir gendwem müssen sie doch gehören… Du sagtest, du seiest Colonel gewesen, zuletzt? Ja… Das ist viel – und gar nichts. Wie man’s nimmt. Wie sich das lügt, dachte er. Mein Gott, wie glatt sich das lügt. Alles Gewohnheit… Das einzig halbwegs Ehrliche, was einmal von mir bleiben wird, wird mein Leichnam sein. Für bestimmte Dinge, meinst du? fragte Carter. Hertzberg nickte. Sie tranken den Kaffee sehr heiß, Carter schwarz, er rührte je desmal drei Löffel Zucker in seine Blechtasse hinein. Hertzberg trank ihn ohne Zucker, dafür mit sehr viel Sahnepulver. Newark, sagte er nach einigen Minuten Schweigens, Newark – das war noch nicht die Army. Nein, das war es noch lange nicht. Aber natürlich wußte ich damals nicht, wie nahe daran oder auch weit entfernt man war. Ich habe das fünf Jahre gemacht und bin so gut wie nie aus meinem Labor und meiner Abteilung heraus gekommen. Ich spürte nur, daß sie – Du Pont – sehr zufrieden waren, und ich sah, wie gut es lief für mich – als Job. Einige Male hatte ich mit Leuten zu tun, die ich nicht kannte. Breadlaw tauchte hin und wieder auf, und Forlander kam manchmal für zwei Wochen. Diese Besuche fielen für unsere Mannschaft im mer sehr günstig aus. Und dann – das hab’ ich wohl schon gesagt – bekamen wir alle Zeitschriften und Bücher und kistenweise Kopien. 56
Eines Tages – einundsechzig war das, ein paar Tage vor Weih nachten – bestellten sie mich nach Wilmington, ins Headquarter. Breadlaw holte mich ab… Vince Breadlaw – er hatte mir, bei einem seiner Besuche, wann, weiß ich nicht mehr, das Du angeboten. Er stammte aus James town, North Dakota. Ich hab’ mich da nie umgesehen – er sagte, für ihn sei es die Hölle gewesen. Einfach die Hölle… Ein paar Hügel und sonst flach bis zum Horizont. Im Winter grau und weiß, nur grau im Herbst, Schlamm im Frühling und gelb im Sommer – nichts als Weizen. Masturbieren habe er in der Schule gelernt, von seiner Familie hat er nichts erzählt. Im ganzen – nichts wie ‘raus da! Vom College in Bismarck ist er geflogen, aber studiert hatte er. In Fargo, glaub’ ich. Irgendetwas mit Landwirtschaft. Anschließend war er eine Zeitlang beim Militär. Na gut – damals dachte ich, er sei bloß ehrgeizig. Ich fand nichts dabei – wenn sein Dakota wirklich so aussah, wie er es geschil dert hatte, wäre ich da auch nicht geblieben. Jedenfalls fragte er mich im Wagen, ob mir der Name Grü nenthal ein Begriff sei. Es handele sich um eine deutsche Firma, und eines ihrer Präparate hieße Thalidomid. Ich sagte ihm, daß ich eine Akte hätte anlegen lassen und einen meiner Leute beauftragt habe, bis Jahresende ein Dossier zu sammenzustellen. God help us, Dave! unterbrach er mich. Du bist wirklich wun derbar. Mir ist es durch die Lappen gegangen. Die Sache verhielt sich so: Die Deutschen hatten dieses Präparat entwickelt, Thalidomid, und siebenundfünfzig hatten sie es auf den Markt gebracht. Zu Hause nannten sie es Contergan und machten eine ungeheure Reklame. Auch eine Firma in den Staaten hatte die Lizenz erworben, und im Herbst sechzig stellten 57
sie den Antrag auf Zulassung bei der Behörde. Der FDA? unterbrach ihn Carter. Ich habe mal was gelesen, da hatten sie Quecksilber im Lachs gefunden, an der Küste, im Panhandle. Sind das die Leute? Ja… Die Food and Drug Administration. Von der bekamen wir auch die ersten Informationen. Du Pont bekam eben alles. Ja – aber irgendwer bei FDA traute dem Zeug nicht, sie verweigerten die Zulassung und verlangten weitere Prüfungsergebnisse. Das war so eine Situation, wo wir anfangen mußten, uns zu interes sieren, und von da an ließ ich Berichte und Veröffentlichungen sammeln – aber viel war es nicht. Allerlei Nebenwirkungen – Gliedertaubheit, Prickelgefühl, Koordinationsstörungen – die Mediziner nennen so etwas toxische Polyneuritis. Trotzdem ging es mit der Klärung nicht voran – kein Ja oder Nein. Und dann bekamen wir eines Tages einen Artikel aus einer großen deut schen Zeitung, Wilmington schickte uns die Fotokopie drei Tage nach dem Erscheinen. Die Schlagzeile hieß – Mißbildungen durch Tabletten – und im Text war die Rede von der »pharma kologischen Bombe«. Frauen, die während einer bestimmten Schwangerschaftsphase Contergan genommen hatten, hatten entsetzlich mißgebildete Kinder zur Welt gebracht. Einige deutsche Ärzte sahen einen kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme des neuen Medikaments und der Mißbildung der Feten als erwiesen an. Dies alles berichtete ich Breadlaw, während wir die paar Meilen hinauf nach Wilmington fuhren. Pharmakologische Bombe? sagst du. Ich kann dir den Artikel schicken, oder du nimmst ihn nachher mit – ich habe auch eine Übersetzung dabei… Ich selbst sprach damals höchstens zweihundert Worte Deutsch, und wir ließen grundsätzlich alles, was aus dem Ausland kam, 58
übersetzen. Nein, nein! wehrte er ab. Das genügt schon, und wenn sie De tails brauchen – du bist ja im Bilde. Die Besprechung im Headquarter dauerte anderthalb Stunden, es war die längste, an der ich bis dahin teilgenommen hatte. Ei nige Leute vom Staff der Division waren da, jemand vom Per sonalbüro, dann noch jemand, der nicht vorgestellt wurde, und Breadlaw und ich. Natürlich ging es um dieses Thalidomid. Der Unbekannte, ein Mann mittleren Alters, mit einem freundlichen, scharf rasierten Bäckergesicht, verlas ein paar Sätze, aus zwei Berichten, die direkt aus Deutschland kamen. Der eine war ein Jahr, der andere eine Woche alt. Eine Menge Namen von Ärzten, Kliniken, Grünenthal-Managern – aber ziemlich wirr alles. Be richte von V-Männern, dachte ich, soviel hatte ich doch schon kapiert. Mit Sicherheit waren es keine Fachleute. Danach sprach Breadlaw. Die Angelegenheit ist verfolgt wor den, sagte er. Uns liegt ein Dossier vor, das – kurz und gut, er schlug vor, daß jemand nach Deutschland müsse, der genug von Pharmakologie und genug von der Forschung verstünde. Und dieser Mann sollte ich sein. Ich traute meinen Ohren nicht, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen. Die Herren vom Staff klebten lächelnd in ihren Sesseln, und nach einigen Sekunden schauten alle zu dem mir Unbekannten. Okay, sagte er und musterte mich. Nun saß ich im Schnittpunkt der Blicke. Okay, wiederholte der Bäckergesichtige schließlich befriedigt. Wann fahren Sie, Doc? Übermorgen, sagte Breadlaw, bevor ich überhaupt den Mund aufmachen konnte. Auf der Rückfahrt entschuldigte er sich. Tut mir wirklich leid, 59
Dave – glaub mir das bitte! Eine heikle Angelegenheit, in Dug way haben wir in der Sache nicht allzuviel unternommen – dein Dossier hat uns gerade noch herausgehauen… Und als er mich in Newark absetzte: Es war auch für mich ziemlich wichtig, ich vergess’ dir das nicht. Für die versauten Weihnachten werde ich mich revanchieren! Grüß deine Frau! Irgendwann in der ersten Dezemberwoche flog ich nach Frankfurt, von da nach Köln. Ein seltsames Gefühl: fünfzehn Jahre danach. Hier hatte der Vater Aaron Hertzberg die letzten Monate des Krieges verbracht. Schade, daß er mit ihm nicht hatte sprechen können, bevor er den Trip antrat, die Zeit war einfach zu knapp. Sie blieb es auch in Deutschland. Er hatte sich vorgenommen, Weihnachten wieder zu Hause zu sein; daß es bei dem Vorsatz blieb, bleiben mußte, war nicht seine Schuld. Du Pont hatte ihn mit den Adressen von Leuten versorgt, mit denen er ins Gespräch kommen sollte. Wahrscheinlich stammten sie aus den dilettanti schen Berichten dieser nichtgenannten Gewährsmänner, die der Dicke in Wilmington zur Hand hatte. Er studierte die Karte, beschloß, von Köln aus zu operieren. Dieses Land war klein, so klein, daß er sich nur wundern konnte. Aber sie hatten es vollgestellt mit Häusern, Fabriken, einer Un zahl von Kirchen und allen möglichen gewaltigen Bauwerken irritierend der Gedanke, daß dieses Land gerade erst den größten Krieg der Geschichte verloren hatte. Die Gegend um Köln herum schien nur aus weiteren großen und kleinen Städten zu bestehen, und bei der ersten Fahrt nach Stolberg wurde er nicht müde, aus dem Fenster der sauberen, aber unglaublich langsamen Eisen bahn zu schauen. Häuser, Fabriken, Gärten, Fabriken, winzige Felder, Häuser, Tankstellen. Es regnete, einen dünnen, verdrießlichen, unange 60
nehm kalten Regen, der mit voluminösen, trüben Schneeflocken vermischt war – sogar unter diesem Regen wirkte das Land wie eine ausgeklügelte, aseptisch-emsige Puppenstube. Auch die Menschen bewegten sich so, als seien sie in einer nach Milli metern und Sekunden berechneten Zwergwelt zu Hause: un verdrossen, unglaublich diszipliniert und pünktlich. Ihre Autos waren so klein und so sauber, daß man sie hätte mit ins Bett nehmen können, und ihre Zeitungen waren so winzig und dünn, daß man wenigstens zehn Stück kaufen mußte, um das vertraute Gefühl unterm Arm zu haben. Die Leute, mit denen er zu tun bekam, waren offenbar auße rordentlich gebildet. Es galt als ausgemacht, daß er mit ihrer Sprache nicht vertraut war – sie sprachen selbstverständlich Englisch. Sie waren fast alle schon in den Staaten gewesen, wo rauf sie ihn beiläufig hinwiesen. Eine Ausnahme machte der Hamburger Arzt. Er weigerte sich, mit ihm zu sprechen, schickte stattdessen einen Brief und ein Bündel Fotos. Hertzberg saß in seinem Hotel in Köln und starrte auf die schwarz-weißen Ungeheuerlichkeiten, Perversitäten der Natur. Den Begriff der Phokomelie kannte er aus der Literatur; auch in Amerika nannte man es so: Robbengliedrigkeit. Die Arme waren so kurz, daß die Hände direkt aus den Schul tern zu kommen schienen. Auch die Beine waren disproportio niert, wenn auch nicht in dem gräßlichen Ausmaß betroffen wie die Arme. Die Gesichter zweier Kinder waren durch riesige Hämangiome bis zur Unkenntlichkeit entstellt… Zwei Ärzte hatten diese Säuglinge ein Jahr zuvor auf einer Pädiatrietagung vorgestellt – ihre Mütter hatten Contergantabletten eingenom men. Die Firma hatte, unter dem Druck der Presse, das Medi kament vor einigen Tagen vom Markt zurückziehen müssen, da – wie ihr Publicrelations-Manager erklärte – die Zeitungen die 61
Basis der wissenschaftlichen Diskussion untergraben würden. Der Hamburger Arzt schrieb in seinem Brief, erst das nächste Jahr werde die Teratogenität des Wirkstoffes Thalidomid in vollem Umfang beweisen. Teratogenität – die Eigenschaft bestimmter Substanzen, zu Mißbildungen und Verstümmelungen der Frucht zu führen, wenn sie in der Frühphase der Schwangerschaft eingenommen werden. Nur dieses Phänomens wegen war er nach Deutschland ge kommen – die Prüfung auf Teratogenität gehörte seit geraumer Zeit zum Testprogramm seiner eigenen Abteilung in Newark. Es gelang ihm doch, mit diesem Arzt ins Gespräch zu kommen. Sie besitzen andere Möglichkeiten als wir, sagte er, als sich Hertzberg verabschiedete. Nutzen Sie sie! Kann man so etwas überhaupt testen? fragte Carter. Ohne Schaden anzurichten? Der Colonel starrte ins Feuer. Man kann es – einigermaßen. Die Programme sind computerisiert, der Computer vereinigt die Er gebnisse aus zwanzig, dreißig Einzeltests und formuliert ein Urteil. Die Einzeltests überdecken ein Spektrum: von bestimm ten Zellkulturen bis zum Bush-baby. Und, bohrte der Guide weiter, was geschieht, wenn man Subs tanzen mit dieser Eigenschaft findet? Sie werden registriert, sagte Hertzberg nach einer Weile. Ja – und dann? Mit solchen Stoffen kann man nichts anfangen. Man dürfte sie gar nicht erst erfinden. Oder – finden, nicht wahr? Ich verstehe das nicht. Nur die Army interessiert sich für so was – das ist grauenhaft. Den Viet-Cong wollten sie damit kaputt ma chen… Nicht mit so was, sagte Hertzberg. Nein? Ich glaube doch… 62
Ich kann es nur versuchen, murmelte der Colonel. Ich meine, es dir zu erklären… Die Chemie sucht immer Verbindungen mit bestimmten Eigenschaften. Daraus sollen Substanzen werden, die man als Medikamente einsetzen kann, für Farbfilme, zur Unkrautbekämpfung, als Treibstoffstabilisatoren… und so wei ter. Substanzen, die in der Medizin eingesetzt werden sollen, müssen besonders sorgfältig geprüft werden. Und die Tests sind kompliziert, dauern oft lange, sind teuer – je mehr man über eine Substanz weiß, um so besser. Die Synthese neuer Verbindungen ist ja sehr aufwendig – die Firma möchte möglichst aus jedem neuen Stoff etwas machen, mit ihm auf den Markt kommen. Deshalb werden alle Erkenntnisse gespeichert – und die Test systeme werden immer größer und natürlich auch immer teurer. Und die Leute, die in der Testung arbeiten, sind kleine Könige. Finden sie etwas – oder nicht? So habe ich damals meine Arbeit verstanden, verstehst du? So und nicht anders… Kam was heraus, war es gut für Du Pont und gut für meinen Job. Das war es, was ich wollte. Und was dann mit solchen Treffern geschah – wer entschied darüber? Wer schon? sagte Hertzberg und senkte den Kopf. Wer schon? Die Firma natürlich – die Kaufleute und die Techniker. Das hast du geglaubt, meinte Carter ruhig. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ja, das habe ich, gestand Hertzberg. Das ist seltsam. Du bist klug, hast studiert und bist ein Mensch. Wie konntest du das glauben? Der Konzern ist kein Mensch – er ist eine Maschine. Er kann gar nicht anders. Alle Konzerne sind schlecht – von guten Konzernen habe ich noch nie etwas gehört. Aber ich verstehe nichts davon… Nein, murmelte Hertzberg. 63
Ich will dich nicht kränken, sagte Carter. Ich glaub’ dir, daß du das nicht, willst. Sie schwiegen, das Feuer brannte langsam nieder. Eine Catowl strich lautlos wie ein Geist über den Hang, umkreiste das Lager. Sie sahen, daß sie neugierig nach ihnen äugte. Einmal hörten sie Gänse schnattern, sehr weit weg. Und wie ging es weiter da in Deutschland? Hertzberg starrte seinen Guide an, als hätte er die Frage nicht verstanden. Er stand auf, ging zum Zelt und kramte in seinem Gestell herum. Zigaretten habe ich hier, sagte Carter. Der Colonel kam zurück. Ich finde sie nicht… danke! Ich brauchte drei Wochen, um die Liste abzuarbeiten. Abends setzte ich mich hin und fing an, den Bericht zu schreiben. Au ßerdem schnitt ich alles aus, was ich in Zeitungen und Zeit schriften der letzten Monate fand – es wurde ein dicker Packen. Komisch war es mit der Sprache. Zeitung lesen ging mit jedem Tag besser, ich sprach auch ein paar Worte und verstand manchmal, was die Leute sagten, im Hotel oder auf der Straße. Weihnachten war ich unterwegs; einen Abend im Konsulat, die hatten mich eingeladen; zwei Tage war ich in Kopenhagen bei einer Cousine von Ruth. Erinnern kann ich mich nur daran, daß mir Kopenhagen nicht gefiel. Es war naß, und in der Stadt war irgendwie alles nackt und kalt. Am besten gefiel es mir in Köln, wahrscheinlich deswegen, weil ich mich da nicht mehr so fremd fühlte. Und einen Tag fuhr ich nach Aachen – das ist so etwas wie ihre heilige Stadt. Sie ist zweitausend Jahre alt, in ihr haben sie ihre Kaiser gekrönt. Die Deutschen hatten viele Kaiser, und meistens hatten sie sie auch gern. Ich habe das Vergessen… Ich lief allein in den engen Straßen herum, und als es dunkel wurde, 64
sah man überall hinter den Fenstern die Weihnachtsbäume mit den Kerzen. Ich war traurig, dachte an Ruth und meinen Sohn Robert, sie waren in Boston, bei ihren Eltern. Die Straßen waren bald menschenleer, und ich lief da herum wie ein Gespenst. Ich fuhr zurück nach Köln, meldete ein Gespräch an, und Ruth holte den Jungen aus dem Garten, sie hatten Schnee… Anfang Januar war ich fertig, ich blieb so lange, bis ich meinen Bericht zusammengeschrieben hatte, und flog zurück. Waren sie zufrieden? Eine ganze Weile hörte ich nichts, und dann, das war schon im März, tauchten Forlander und Breadlaw auf, und Forlander nahm mich bei der ersten besten Gelegenheit beiseite und sagte mir, daß ich die Koffer packen könnte. Das heißt, wenn ich wollte… Natürlich habe ich ja gesagt, und so kam ich nach Dugway. Jahre danach erst erfuhr ich, daß diese Thalidomidgeschichte so wich tig gar nicht war, sie wollten einfach sehen, wie ich zurechtkam. Du hast eine blendende Akte, mein Lieber, sagte Breadlaw. Und es gibt noch andere Dinge zu tun, als sich jeden Tag für die Farmer die Beine auszureißen!
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9 Am nächsten Morgen war es dunstig und für die Tageszeit zu warm. Die Sonne schien wie durch Watte. Der erste Eindruck, den Hertzberg gewann, als er erwachte, war der vollkommener Stille. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Er blieb noch einen Augenblick auf dem Rücken liegen, so, wie er erwacht war, und versuchte, sich zu konzentrieren. Offenbar hatte er geträumt, etwas Trauriges, Bedrückendes. Von einer Frau… Erst nach geraumer Zeit begriff er, daß er schwer atmete: Der Sack war umgekippt und lag quer über seinem Bauch. Er schob ihn beiseite, öffnete das Zelt und kroch heraus. Das Zelt des Guides war leer – von Carter war keine Spur zu sehen. Eine einsame, schleirige Wolke trieb langsam über das Tal westwärts. Hertzberg stocherte in der Asche ihres Feuers herum; an der tiefsten Stelle der Mulde glommen noch einige Bröckchen. Die Wolke war jetzt genau über ihm, die matten Strahlen der Sonne streiften ihre Ränder, sie leuchteten. Die Wolke zog wei ter, und das Leuchten verblaßte langsam. Er zog seinen Dreß aus, absolvierte einige Kniebeugen und die vorgeschriebenen Bewegungen für den Schultergürtel. Dann ging er nach Wasser, um sich zu rasieren. Als er zurückkam, entdeckte er Carter weit oben am Hang, ungefähr eine halbe Meile entfernt. Er näherte sich rasch, Hertzberg fachte das Feuer an und hängte den Topf in den Dreifuß. Danach schaute er wieder zu Carter hinauf; der Guide hatte das Glas mitgenommen, nicht sein eigenes, sondern das des Colonels, welches stärker war. Carter erreichte das Lager, als Hertzberg die Creme über Kinn und Wangen verteilte. Er setzte sich und verfolgte Hertzbergs Verrichtungen. Du mußt das haben – jeden Tag, früh als erstes? Muß ich, 66
murmelte der Colonel mit verkniffenen Lippen. Wo warst du? Oben… Sie sind wieder weg. Hast du sie nicht gehört? Hertz berg schüttelte den Kopf. Ungefähr um zwei – ich wurde wach. Sie sind da drüben lang. Der Spiegel – auf einer Kante am Fels – stand schlecht. Der Colonel rückte ihn ein Stück höher und reckte das Kinn. Allerdings – fuhr Carter fort – waren es nur drei. Der vierte ist entweder oben geblieben oder verschwunden. Oder er hat einen völlig anderen Kurs genommen. Vielleicht in Richtung Küste… Hertzberg wandte sich um, die Partie um die Lippen herum, den Teil der Rasur, der wegen des Bärtchens die meiste Aufmerk samkeit erforderte, hatte er hinter sich gebracht. Warum interessiert es dich? Bisher sind sie immer den gleichen Turn zurückgeflogen. Er lächelte, und Hertzberg drehte sein Gesicht wieder dem Spiegel zu. Ich bin seit vier auf, sagte Carter. Und du? Seit einer halben Stunde, sagte Hertzberg in den Spiegel hinein und trat einen Schritt zur Seite. Jetzt konnte er neben seiner Wange den am Feuer hockenden Guide sehen. Sogar einen Zipfel der einsamen Wolke sah er noch, entlang der Oberkante des Spiegels wanderte er langsam nach rechts. Eine halbe Stunde… Dann hast du wahrscheinlich auch die AWACS nicht gehört? Carter sah jetzt zu Hertzberg hinüber, ihre Blicke begegneten sich auf dem Glas des Spiegels. AWACS? Gegen sechs… Die erste flog allerdings sehr hoch, aber mit dem Glas ist es kein Problem, sie zu finden. Die zweite kam zehn Minuten später – die hättest du hören müssen. Sie flog genau hier bei uns vorbei, aber sehr viel tiefer. 67
Hertzberg beendete die Rasur, wischte sich den restlichen Schaum ab und setzte sich neben Carter. Der Spiegel, sagte Carter, mit einer Kopfbewegung zum Fels. Du vergißt ihn! Nachher… Erkennst du die AWACS-Maschinen? In Fairbanks steht manchmal eine. Und hier oben – hast du sie hier schon öfter gesehen? So häufig bin ich nicht hier. Am Coleen unten ist mir noch nie eine aufgefallen. Meinst du…? Carter hob unschlüssig die Schultern. Hier oben ist immer je mand unterwegs – in der Luft. Viel häufiger als unten. Aber heute… Was denn? fragte Hertzberg. Noch etwas? Eine Galaxy… Wenige Minuten nach der zweiten AWACS – direkt nach Norden. Und ziemlich hoch. Mit dem Glas konnte ich sie gerade noch erkennen. Es ist so dunstig… Hertzberg runzelte die Stirn. Flugtag, meinte er schließlich. Uns gehen sie nichts an… Nein, sagte Carter. Uns nicht – aber ich sehe sie trotzdem nicht gern. Irgendwie sind sie Scheiße. Scheiße? wiederholte der Colonel. Da könntest du recht haben! Machen wir Flapjacks? Carter mußte, wider Willen, grinsen. Okay – dann schneidest du aber den Speck! Carter beherrschte wie jeder gute Guide die Pfannkuchenbe reitung, ein Trail ohne Pfannkuchen war keiner. Er benötigte auch keine Gabel zum Wenden, wenn die Unterseite braun genug war, warf er ihn hoch und fing ihn mit der Pfanne wieder auf. Eine schnelle Bewegung, aus dem Handgelenk heraus – das war alles. Seine Flapjacks gerieten auch nie zu dick. 68
Während er den Speck schnitt, erinnerte sich Hertzberg plötzlich an seinen Traum, und ihm fiel auch ein, wer die Frau gewesen war: Nora Zadler. Er hatte lange mit ihr zusammengearbeitet, in Dugway; aller dings steckte sie in einer anderen Gruppe. Er kannte auch ihren Mann, einen fröhlichen, stets zu irgendwelchem Unfug aufge legten Flieger. Er war Navigator bei der Air Force, in einer Staffel oben in Vancouver, kam aber oft auf Urlaub. Einigemal waren sie gemeinsam unterwegs, auf Wochenendtrips, drei-, vierhundert Meilen, in der Snake Range oder im Canyon. Wenn Cliff mit von der Partie war, brauchten sie sich um Rob nicht zu kümmern. Cliff war versessen auf Kinder, aber irgend wie klappte es damit nicht bei ihm und Nora. Nora war zwei Jahre jünger als Ruth, er und Cliff waren gleichaltrig. Und dann, eines Tages, sie hatten zwei Bungalows in Caliente gemietet, platzte die Zadler-Crew mit der Neuigkeit heraus: Nora würde ein Baby bekommen. Natürlich wurde das Ereignis gebührend gefeiert, um Mitter nacht tanzten er und Cliff um die Mesquite-Büsche. Im Dienst hatte Nora mit neuen Lösungsmitteln zu tun, darunter solchen, die extrem viel Sauerstoff im Molekül enthielten. Sie verlor die Frucht im dritten Schwangerschaftsmonat. Cliff kam zwei Monate nicht auf Urlaub, Nora litt. Cliff dachte, sie hätte nicht aufgepaßt. Zu schwer getragen oder so… Aber ein halbes Jahr später schafften sie es noch einmal. Cliff bat sie, den Dienst zu quittieren. Vielleicht liegt es an dem Zeug, mit dem du zu tun hast… Sag, daß ich recht habe, Dave: Ihr seid alle lausige Gift köche! Es sah aber nicht so aus, als sollte er recht behalten. Es ging alles gut, und als der gefürchtete dritte Monat vorüber war, klopfte ihr Cliff auf die Schulter: Bist doch ein gutes Mädchen – 69
nun muß es nur noch ein Junge werden! Es wurde ein Junge – sie gebar ihn nach sieben Monaten. Die beiden Ärzte, die sie versorgten, gehörten zum Personal in Dugway. Das Baby lebte nur vier Minuten. Sie hat geschrien wie ein Tier. Ich will ihn sehen… gebt mir mein Kind! Sie hielten sie mit Gewalt zurück, und dann gaben sie ihr Spritzen, und auch in den Tagen danach konnten sie sie nur mit Medikamenten über Wasser halten. Immer am roten Strich ent lang. Cliff kam und sprach mit den Ärzten, er war immerhin Lieute nant Colonel. Sie zeigten ihm zwei Fotos. Das glaubst du nicht, Dave! Nie wieder könnte ich so etwas ansehen. Was hat sie bloß unter den Händen bei euch? Bist du wirklich sicher, daß es damit nicht zusammenhängt? Sie ist doch eine normale Frau, Dave. Sie ist gesund – das war sie immer. Warum soll ihr Bauch plötzlich so kaputt sein, daß er so etwas… oh, Dave! Es war scheußlich… Du weißt, daß wir nicht darüber sprechen. Cliff spuckte aus, vor seine eigenen Füße. Nein, natürlich. Das tut ihr nicht. Ich will dir was sagen: Wenn der nächste Krieg so aussieht, müssen sie ihn allein machen. Ich mag die Kremls nicht und meine Jungs auch nicht. Keiner aus der Staffel mag die. Aber die Crews wissen, was auf sie zukommt. Wir sind Jäger, Dave. Sie – oder wir. Das ist die Frage, ob du fit bist, wenn es soweit ist. Die Elektronik allein macht dir das nicht, und das wissen die Jungs. Die Sachen, die ihr ausbrütet, Dave – das ist Mord. Es zerfrißt dir die Därme, und du spürst nicht einmal etwas davon. Eines Tages scheißt du nur noch eine stinkende Brühe, und das ist dann das letzte, was du noch fertigbringst… Nein, sag mir nichts – mir nicht, mir reicht, was sie uns davon erzählen. Cliff, mur 70
melte Hertzberg. O Gott, Dave! Das war unser Kind! Was sind das für Men schen? Als Nora aus dem Hospital entlassen wurde, kündigte sie. Sie mußte eine Menge Papier unterschreiben und bekam eine Menge Geld für einen Holiday-Trip. Aber kein Geld, aus dem sie hätte irgendwelche Ansprüche ableiten können. Sie hätte es auch gar nicht versucht, dazu kannte sie ihren Vertrag als Zivilangestellte der Army viel zu genau. Wer im, mit und für CWS jobte, ver diente so viel, daß es ihm stets blendend ging. Blendend hieß: seelisches Wohlbefinden und familiäre Prosperität in allen Be langen inbegriffen. Davon jedenfalls ging man in Dugway aus. Sie ist dann hinauf nach Vancouver, um in der Nähe ihres Mannes zu sein. Zweimal kamen sie noch zu Besuch, aber es war nie wieder so wie früher. Im Traum hatte er sie gesehen: Sie wiegte ein Kind in ihren Armen, ein großes, dickliches Baby. Ein Baby ohne Hände. Sieh doch, Dave – wie er sich herausgemacht hat! Auch die Hände werden noch kommen, eines Tages… Sie hatte ihn traurig angelächelt. Nora Zadler… Einige Wochen nach seinem Gespräch mit Cliff Zadler gab ihm übrigens Forlander einen Tip. Sei vorsichtig! Kann sein, daß du befragt wirst… Breadlaw! Er kam sogar selbst, an einem sonnigen Novembervormittag kreuzte er im Labor auf. Er bevorzugte immer noch denselben Typ Anzüge wie seinerzeit, als sie sich zum erstenmal begegne ten. Achtzehnhundert-Dollar-Anzüge, er gab sie bei einem Schneider in Denver in Auftrag, jedes Jahr zwei oder drei Stück. Sein Gewicht hatte er gehalten, wahrscheinlich war er jetzt sogar magerer als damals. Auf jeden Fall im Gesicht. Er mußte eine 71
Brille tragen, Dave gewann den Eindruck, daß er darüber nicht unglücklich war. Er sprach auch nicht mehr so schnell wie früher, und sein Du klang irgendwie wärmer. Er wirkte sachlicher und – kultivierter. Sie gingen in Davids Büro, machten es sich bequem, Hertzberg hob die Nase ein wenig und schnupperte. Es war eine Verle genheitsgeste. Breadlaw strich sich über die bläulichen Wangen und lachte. Riecht man es immer noch? Irgendwas Französisches – ich künmere mich nicht darum. Die Frau, weißt du – aber das kennst du ja… Ihr kommt gut voran? Hertzberg schenkte zwei Gläser Whisky ein. Breadlaw runzelte die Stirn, es sah burschikos aus, freund schaftlich. Hör mal, Dave! Laß dir einen Rat geben: Diese Sorte ist, nun, langsam unter deiner Würde. Nicht für mich, weißt du… ein kräftiger Schluck. Aber ich bin sicher, daß sich hier demnächst bald andere Leute die Klinke in die Hand geben… Es ist Bourbon, sagte Hertzberg, verwirrt. Na ja… Lassen wir das! Du verstehst mich nicht falsch, ja! Also… Diese Zadler-Kalamität: Ihr Mann wollte dich ausquet schen? Wer sagt das? Breadlaw nahm die Brille ab und putzte sie sorgfältig. Sei nicht eingeschnappt! Das Problem ist doch, solche Dinge nicht unnötig aufzubauschen. Davon hat keiner was. Und die Jungs von der Air Force – soll ich dir meine Meinung sagen? Das sind alles Helden – wenn es nach ihnen ginge, fände der nächste Krieg immer noch mit Bord-Kanonen und Zwei-Tonnen-Bomben statt. Dafür könnten sie sich dann feiern lassen… Der nächste Krieg? Es klang nicht nur verblüfft, David Hertz 72
berg war es wirklich. Breadlaw musterte ihn abschätzend, inzwischen wieder durch die Brille. Schließlich legte er seine Hand auf Davids Arm: Du vergräbst dich in der Arbeit hier, Dave. Das Beste, was du tun kannst! Aber: Ab und an fehlt dir ein Stück. Schau dich doch um: Mit Verteidigung allein bekommen wir das nie in den Griff. Unsere europäischen Freunde – das sind, entschuldige, Kultur völker. Das waren sie, solange sie denken können – sie sind ja übrigens auch stolz darauf. Da feiern Deutsche und Franzosen gemeinsam ihre glorreiche Geschichte… na gut! Der Russe hat sie längst hypnotisiert. Das hat er geschafft – im Grunde macht der Kreml in Europa, was er will. Und an der anderen Front – daran sind wir doch selbst schuld! Mit den Chinesen geht es nicht voran. Warum – weil ein Team von Nörglern im Kongreß immer nochmit Taiwan liebäugelt. Das ist softy petting – für die Katz. Anstatt diesen Sauladen endlich aufzugeben… Da kann man sich totmachen! Er nahm die Hand zurück, und Hertzberg füllte die Gläser nach. Ein Gefühl wie Taubheit strahlte von seinem Arm aus, bis in die Schulter, bis ins Gesicht. Hypnotisiert, dachte er. Sie haben sie – hypnotisiert. Hypnose ist… Breadlaws Stimme klang in seinen Ohren: warm, dabei kraftvoll. Männlich, gelassen. Was sagte er? … Indochina. Das ist abzusehen, wirklich, Dave! Wir werden deswegen ohnehin bald ins Geschäft kommen. Ich fürchte nur, heute schon, wir werden wieder zur Axt greifen müssen. Ich hasse dies, ich hasse es mit ganzer Kraft, weil – alle Welt wird auf uns zeigen. Und wir müssen uns das bieten lassen… Hertzberg starrte in das glatte, gepflegte Gesicht. Was meinte er? Breadlaw schien es nicht zu bemerken. Er dämpfte nicht einmal 73
die Stimme. Diese Regierung, Dave, ist keine gute Regierung. Sie ist nicht besser als ihr Präsident. Wir mußten Kuba wegste cken, die Schweinebucht und dieses lausige Berlin sowieso. Es kann aber nicht so bleiben… Er zögerte, mit Ruth über Breadlaws Besuch zu sprechen. In der Woche darauf, er hatte sich für einige Tage vom Dienst abgemeldet, weil sie nach Boston fahren wollten, tat er es doch. Du bist wirklich naiv, Dave, sagte sie. Wie lange willst du noch warten? Das ist ein guter Job, ohne Zweifel. Nur sag mir: Mußt du das tun? Steckst du nicht schon sehr weit drin? Ich meine, daß du dir solche Fragen stellen lassen mußt? Du magst ihn nicht, erwiderte er aufgebracht. Mögen! Breadlaw ist ein Fixer – wie ein Aal. Dieser Typ kommt immer mit dem Rücken an die Wand. Kunststück – er hat nicht die Spur Gewissen. Er wird auch nie eines besessen haben. Gewissen! sagte Dave und winkte ab. Gewissen… Ich fürchte, daß er in manchen Dingen recht hat. Er schaltete den Fernseher ein. Der Präsident auf Tour – in Texas. John F. im offenen Wagen auf der Fahrt durch Dallas. Er stand im Fond und winkte. Langsam rollte der Wagen über die breite Avenue. Hertzberg drückte auf die Taste, das Bild verlosch. Ich leg’ mich eine Stunde hin, ich habe Kopfschmerzen. Wir können genausogut erst morgen fahren, schlug sie vor. Er trat hinter sie und legte seine Arme um ihren Hals. Nein, Liebes… Wir fahren heute. Ich habe auch keine Lust, noch umzubuchen. Eine halbe Stunde später weckte sie ihn. Schlaftrunken fuhr er auf; als er begriff, daß sie weinte, war er mit einem Schlage wach. Man hat auf Kennedy geschossen… 74
10 Nach dem Frühstück sagte Carter: Kann sein, daß wir heute auf deine Gänse stoßen. Das heißt, wenn sie noch sitzen – wir sind ein bißchen spät dran. Aber zuerst müssen wir da hoch – hoch und hinüber. Während sie aßen, war eine Wolke nach der anderen aufgezo gen, und als sie packten, frischte es plötzlich auf, und ein paar verirrte Tropfen fielen. Wird nicht viel werden, meinte Carter. Ich glaube, es dreht wieder… Sie machten den Aufstieg in anderthalb Stunden; als sie auf dem flachen Sattel anlangten, warf Hertzberg Gepäck, Glas und den unterwegs ausgezogenen Mackinaw ins schüttere Gras und legte sich daneben. Ärgerlich japste er nach Luft. Du steigst wie eine Maschine, Gerry… kein Genuß! Carter zuckte gleichmütig mit den Schultern. Es ist am besten so! Von hier an geht es abwärts, außerdem – was willst du? Du bist keinen Schritt zurückgeblieben – dabei war gestern der sie bente Tag. Entweder bist du noch dreimal zäher, als du aussiehst, oder es geht bei dir wirklich ohne Krise ab. Vielleicht ist auch beides der Fall. Hertzberg lachte. Die Nacht war nicht besonders. Aber besser als gestern fühle ich mich schon. Jeden Knochen einzeln nennt man das wohl… Sie sahen sich um. Die Wasserscheide markierte offenbar auch so etwas wie eine vorsichtige Grenze in geologischer Hinsicht, äußerlich jedenfalls erweckte es den Anschein. Diese Berge da oben, sagte Carter – das ist alles Granit. Und die dahinter – erkennst du das Eis? Hertzberg griff nach dem Glas. Nach einer Weile knurrte er: Sieht kalt aus! Und die Abhänge herunter – ist das Schnee? 75
Ja… Er liegt das ganze Jahr über. Noch nicht einmal habe ich erlebt, daß er abtaut. Die Höhe macht das. Aber merkwürdig – es sind höchstens zwanzig, fünfundzwanzig Meilen, und hier, das heißt morgen, wenn wir den Coleen erreichen, gibt es schon wieder Wald. Dünn, aber er hält sich… Das ist die Brookskette da oben, sagte Hertzberg. Ich habe das gelesen – sie wirkt als Barriere. Vor ihr staut sich die Arktisluft, vor allem im Winter. Das ist wichtig, weil der Frost die Bäume kaputt macht – sie vertrocknen. Und diese Hochfläche? Die Plains… Wir nennen sie so. Sie haben keinen Namen. Ein Wildhüter erzählte mir einmal, früher hätten sie Goose Plains geheißen, bei den Indianern. Sie fallen allmählich ins Coleen-Tal ein – das schaffen wir noch heute. Der Weg abwärts war angenehm; eine halbe, manchmal eine ganze Meile ließ sich der Lauf des Pfades im voraus erkennen. Allerdings wurde es schnell wieder feucht, bald morastig. Etwa zwei Meilen ging es mitten durch Nigger-head-Tundra; seggen bewachsene Blüten, der Colonel wußte, daß sich Torf unter ihnen befand. »Tetes des femmes« nannten sie die Kanadier. Dazwi schen Wasserpfützen und Wollgrasinseln – ein Bild, das an einen altersschwachen, zerfransten Teppich erinnerte. Bald tauchten die ersten Sträucher auf: Krähenbeeren, Polarweide und Krüp pelbirken. Es wurde wieder trockener, ging steiler bergab, zehn Minuten später blieb Carter stehen. Unter ihnen, noch eine knappe Meile entfernt, erstreckte sich ein ausgedehnter Sumpf in Nord-Süd-Richtung. Da scheint ja eine Menge Leben zu sein, sagte Hertzberg nach einem Blick durch sein starkes Glas. Der Guide nickte. Wasserläufer, Schnepfen und… Da sind sie! Hertzberg hatte sie im gleichen Augenblick entdeckt. Drei Schneegänse ästen auf einem schotterartigen, dunklen Streifen 76
am Rande des Muskegs. Die letzten Minuten des Abstiegs waren mit Schwierigkeiten verbunden – was von oben ausgesehen hatte wie der zugegebe nermaßen etwas steile, verbuckelte Ansatz des Hanges, erwies sich jetzt als heimtückischer, steiler Felsabbruch. Der Guide ermahnte den Colonel, vorsichtig zu sein. Der Granit war morsch, unter jedem Tritt bröckelte es. Wasser rieselte überall – daher auch der Sumpf. Das Tal schien abflußlos zu sein. Nein – es entwässert. Ganz unten, in den Coleen. Carter fand einen trockenen Platz für ihre Zelte, er ähnelte der Lagerstätte der letzten Nacht. Der Fels in ihrem Rücken war trokken, ein paar Meter daneben allerdings lief das Wasser in handbreiten Bahnen über den Stein. Hertzberg wollte sofort los, um nach den Gänsen zu sehen, aber der Guide warnte ihn. Allein schaffst du das nicht – rauch in zwischen eine Zigarette, ich komme mit. Eine Stunde später lagen sie auf einem schmalen, sandigen Streifen am Rande des Sumpfes, etwa gegenüber von ihrem La gerplatz. Zwei Gänse brüteten noch; die Gelege befanden sich kaum einen Steinwurf weit entfernt. Die Annäherung der beiden Männer war von den Vögeln mit Aufmerksamkeit, aber ohne besondere Erregung verfolgt worden. Die Partner der brütenden Gänse hatten das Äsen unterbrochen und sich ein Stück entfernt, aufgeflogen waren sie nicht. Carter warf einen Blick in den Himmel und sog einige Male die Luft mit langen Zügen durch die Nase. Es wird wieder heiß… Paß auf, wir bekommen trockenes Wet ter. Der Wind geht hinüber zum Mackenzie. Du wirst morgen gutes Licht haben für deine Aufnahmen… Perfekt, sagte Hertzberg, ohne das Glas abzusetzen. 77
Carter nickte befriedigt. Dann gehe ich jetzt – bleib aber bitte, bis ich dich hole. Er kroch zurück, und als Hertzberg sich einmal umwandte, sah er gerade noch, wie sein Guide geduckt und leichtfüßig zwischen dem Weidendickicht verschwand. Eine halbe Stunde etwa beobachtete der Colonel die Gänse, dann brach die Sonne endgültig durch die Wolken. Sie stand niedrig über der Bergkette, die sie überquert hatten, ihre Strahlen blendeten ihn. Er drehte sich auf den Rücken, öffnete das Hemd und streckte sich lang aus. Carter richtete die Feuerstelle ein und ging dann am Rande des Sumpfes entlang, bis er auf die ersten niedrigen Schwarzfichten stieß. Er schlug so viel Holz, wie sie für den Abend und die Nacht brauchen würden, schnürte es mit einem Lederriemen zusammen und kehrte mit dem Bündel zurück. Er öffnete zwei Büchsen pork and beans, schüttete den Inhalt in einen Topf und hängte ihn übers Feuer. Dann setzte er sich mit angezogenen Knien daneben. So einen Typ wie Hertzberg hatte er noch nicht gehabt. Nein – das stand außer Frage. Er hatte viele Yankees kennengelernt; die meisten von ihnen, seitdem er eine Lizenz besaß. Seit zwölf Jahren also. Die Lizenz – daß er sich um sie gekümmert und sie schließlich erhalten hatte, war ein Verdienst, das einzig seiner Mutter zukam. Er hatte sich dagegen gesträubt, und sie hatte nicht aufgehört, ihn daran zu erinnern. Meine Mutter ist eine wunderbare Frau, dachte er. Sie erträgt, was ich nie ertragen würde – und tut es für mich. Das Leben ist so eingerichtet, daß sehr verschiedene Menschen miteinander auskommen müssen: reiche und arme, kluge und weniger kluge, gute und böse Menschen. Diejenigen, die viel besitzen, besitzen zumeist auch Bildung und Wissen. Wohl nicht 78
immer, aber oft genug. Einem, der viel besitzt, genügt eigentlich auch schon ein geringeres Wissen, um gut zu leben und sicher zu sein, daß ihm nichts geschieht. Das Schlimmste, was es gibt, ist: nichts besitzen und nichts wissen… Das hat sie ihm immer wieder vorgehalten. Sie zwang ihn, die High school zu besuchen. Danach zwang sie ihn, den Führer schein zu erwerben und Geld zurückzulegen für den Bau der Cabin. Danach drängte sie ihn, sich um eine Lizenz zu kümmern. Als ob man die bekäme! Als ob er sie bekäme… Sie war aber nicht nur klug, sie war auch listig. Sie verstand es, unentbehrlich zu sein in ihrer Klinik. Sie erledigte, was andere nicht erledigen wollten. Zuerst registrierten dies einige Ärzte – es arbeitete sich gut mit der Indianerin. Sie war da, wenn man sie brauchte; sie schwieg stets. Wollte man etwas von ihr wissen, mußte man sie nachgerade ersuchen, gefälligst den Mund auf zumachen. Carter schob eine Handvoll Zweige in die dunkle Glut und lä chelte. Weil sie ihm das erklärt hatte: Sie war nicht nur listig, sie war so listig wie ein Fuchs, wenn er es mit einem Schneehasen versuchte. Nämlich: Sie tat, als wüßte sie nicht, wie wichtig sie ist. Sie ließ sich nie anmerken, wie sehr sie sie für bestimmte Arbeiten brauchten. Für das, was ich am Halse habe, verdiene ich wenig genug. Für uns aber ist es immer noch viel: Du hast Licht und kannst lesen, und der Wind ist – wenn du ihn nicht willst – weit weg. Wir haben noch nie gehungert… Als Indianer in Alaska nicht gehungert zu haben stand für et was. Sie war von ihrer Familie als einzige übriggeblieben – Hungers wegen. Das hat sie nie vergessen. Er hatte – als Mischling – auf der High-School keine Probleme. Keine jedenfalls, was die Art von Auseinandersetzungen anbet 79
raf, die mit physischen Mitteln geführt wurden. Sein Gesicht ähnelte sehr dem seiner Mutter, nur seine Augen waren etwas heller. Von seinem Vater hatte er Knochenbau und Haarwuchs geerbt: Er hatte dickes, lockiges Haar, das überdies pechschwarz war, und wäre nicht dieser eben überkommene Knochenbau gewesen, hätte man ihn leicht für einen Chico halten können. Sein Vater aber war ein Sechs-Fuß-ein-Inch-Mann gewesen, und er selbst erreichte sechs Fuß und zwei Inch, als er achtzehn Jahre alt war. Er war eingerichtet auf Warten; was die Weißen unter Geduld verstehen, ist etwas ganz anderes. Die, die von ihm nichts wußten und es übertrieben, bereuten es hinterher: so geduldig, wie er gewartet hatte, so plötzlich schlug er zu. Und gründlich. Es geschah aber nicht allzu häufig; der Umgang der Rassen war in Fairbanks Ende der Sechziger längst geregelt und spielte sich vornehmlich in den Bereichen ab, in denen es um Jobs, Business und Wahlen ging. Wenn ein Mischling oder ein Chinese oder Philippino überhaupt so weit vordrang… In der Schule spielte es noch nicht die Rolle: in seiner Klasse saßen die Kinder von Frankokanadiern, Japanern, von Eskimos – sogar ein Russe vom Susitna war dabei. Mit dem er sich übrigens prächtig verstand – lediglich seine Sprache war ein Greuel, und noch unverständli cher war die Kirchgeherei. Aber das war bei den Alaskarussen nun einmal so. Er selbst ging nur mit seiner Mutter in die Kirche und – nur ihr zuliebe. Vielleicht noch wegen des Methodisten; er war der erste Yankee, der in seinem Leben eine Rolle gespielt hatte. Eine gute – wenn er davon absah, daß der freundliche Mann der Mutter nicht nur sekundierte, sondern sie in ihren er zieherischen Vorstellungen noch bestärkte. O ja – ein Glück, diese Mutter. Heute jobte er kaum weniger als die meisten der Jungs aus den Villagevierteln um Fairbanks he rum, mit dem Unterschied, daß er ein freier Mann war. Mit den 80
Yankees hatte er zu tun, wenn er wollte. Er verkehrte sozusagen geschäftlich mit ihnen. Seine Dienste und sein Wissen gegen ihr Geld. So war es richtig, und so war es auch gut für die Yankees, es schien in ihrem Leben nun einmal nichts zu existieren, was nicht mit Geld geregelt wurde. Sie waren es so gewohnt. Er hatte fast nie Schwierigkeiten mit ihnen – und hatte die meisten, mit denen er als Guide unterwegs gewesen war, vergessen. Nicht vergessen hatte er nur wenige, die beiden Ornithologen zum Beispiel. Erstens wußten sie Bescheid und kannten sich aus, das hatte er am ersten Tage gemerkt. Unterwegs schon und endgültig, als sie das erste Lager ausfindig machten. Sie taten, was zu tun war, taten es in der richtigen Reihenfolge und mit den richtigen Handgriffen und ohne ein Wort darüber zu verlieren. Zweitens wußten sie ihre Augen zu gebrauchen. Sie sahen, was neunzehn von zwanzig x-beliebigen Yankees nie gesehen hätten. Drittens hatten sie ihn gebeten, keinen Schnaps mitzunehmen. Schnaps war immer eine Sache, für die der aufkam, der die Partie be stellte. Die Yankees kamen selten ohne Schnaps aus, weil stets etwas begossen werden mußte. Ein einmaliger Schnappschuß mit der Kamera, ein Beinahe-Absturz oder einfach eines der üblichen Juli-Gewitter. Dinge, von denen die Leute zu Hause, im Klub in Battie Creek, Michigan, höchstens träumten. Vom Guide wurde erwartet, daß er sich nicht ausschloß. Ein guter Guide war einer, der in der letzten Woche, wenn längst alle Flaschen geleert in einem Felsloch oder einem brackigen Mückentümpel zurückge blieben waren, mit den eigenen Mitbringseln aufwarten konnte. Das mußte gefeiert werden, und das taten die Yankees auch – in dieser Hinsicht waren sie nie undankbar. Er hatte dieses Spiel begriffen und sich daran gewöhnt, das heißt angepaßt. Die Ornithologen wünschten das Gegenteil, und darauf einzu 81
gehen war erst recht kein Problem. Es gibt immer so Sachen, wo man schnell einen Tropfen ge brauchen kann – innerlich wie äußerlich. Dafür haben wir eine große Flasche Spiritus im Sack – das verstehen Sie doch, Gerry… Sage und schreibe einmal mußten sie zu dieser Flasche greifen – zur Desinfektion, weil sich der Ältere der beiden eine böse Schramme geholt hatte. Viertens hatten diese Vogelexperten eine Abneigung gegen Flugzeuge. Flugzeuge nannten sie – teure Kacke. Sie sagten auch: Da fliegen wieder fünf Zehn-Jahres-Programme, Phil… Ein Hubschrauber war soviel wie fünfmal ihr eigenes Programm. Als er sie deswegen fragte, lachten sie sich halbtot. Aber in einer Weise, die ihn nicht beschämte. Die Maschine doch nicht, Gerry! So teuer sind wir nicht. Was die kostet, würden wir in unserem ganzen Leben nicht verforschen, hab’ ich recht, Phil? Nein – nur der Treibstoff. Das war eines ihrer Faibles: auszurechnen, wie viel Sprit von wieviel Maschinen ihnen genügen würde, um ir gendein Kranichproblem zu klären. Und wieviel ungefähr nötig wäre, um ihn – den Kranich – dann noch zu retten. Einmal kamen sie auf zwanzig Galaxy-Stunden – nur der Treibstoff, wie gesagt. Und nur eine einzige Galaxy… Ihm war völlig klar, daß solche Boys unten in den Staaten keine reale Chance hatten. Die Staaten konnten auf so gut wie jeden Kranich pfeifen, aber nicht auf die Galaxys. Kranichprobleme waren sehr gut für die Zeitungen, noch besser für das TV und sonst nur für crazies. Verrückte…. aber sehr nett. Sie hatten ihn eingeladen, sie un bedingt in ihrem Institut zu besuchen – wahrscheinlich würde er es irgendwann einmal tun, vielleicht im nächsten Winter. Auch den Priester aus Alberta würde er nicht vergessen. Er war gekommen, um ein Moos zu finden, das er in ganz Kanada ver 82
geblich gesucht hatte. Ein sehr, sehr merkwürdiger Mann – für Stunden schweigsam und obendrein ziemlich empfindlich. Am Feuer aber konnte er die ganze Nacht erzählen, ohne Pause: von der Vergeblichkeit des Kirchengottes, des Geldes und des Be sitzes zum Beispiel. Er – der Pater – hatte ihn ausgefragt; vor allem wollte er alles wissen über seine Mutter. Es war ihm nicht schwergefallen, zu ihm über seine Mutter zu sprechen, weil der Pater umgekehrt auch ein perfekter Zuhörer sein konnte. Er saß da und schwieg, ließ die Worte ein in seine Ohren und konzentrierte sich. Au ßerdem war dieser Kanadier noch in anderer Hinsicht sehr er freulich: Er war solch ein Riese von Gestalt, daß von ganz allein der Wunsch aufkam, sich hinter ihm zu verstecken. Er hatte auch entsprechende Hände. Nicht, daß sie während ihres Trails jemals in eine entsprechende Situation geraten wären, nein, es war ein fach angenehm, sich den Hünen als Schutzengel vorzustellen. Der Teufel, sagte er, ist ein wichtiger Mann. Ohne ihn geht es nicht, wir brauchen ihn zur Zwiesprache genauso wie Gott. Auch in ihm erkennen wir uns wieder, und das hilft uns. Gott und Teufel werden überleben – das Geld nicht. Eines Tages wird die Menschheit ohne Geld leben und glücklich sein. Das wird un geheuer aufregend, weil – ohne Geld läßt sich besser mit den beiden reden. Du glaubst mir nicht? Ich würde dafür Eisen fres sen… Das Moos fanden sie nicht, und der Pater war darüber sehr glücklich. Wenn er übers Moos und die Flechten sprach, benutzte er eine andere Sprache, als wenn er über Gott redete. Er ge brauchte dann Wörter und Sätze wie die Ornithologen, und man verstand sofort, was er meinte. Er hatte ihn deswegen auch an alle Stellen geführt, wo dieses Moos hätte sein können, und der Pater hatte das sehr gut begriffen. 83
Nein, mein Lieber – hier auch nicht. Höchst interessant… Carter sah zur Sonne hinüber und dann nach der Uhr. Eine halbe Stunde noch… Dieser Colonel jedoch war mit keinem vergleichbar. Er war eine besondere Erfindung; seine Mutter hätte ihn genannt: eine Schöpfung. Ob das komisch war oder nicht: Über die Yankees konnte er am besten mit seiner Mutter sprechen. Sam Bonello, Crawford, Jim »Tooth« Fletcher und – wenn man einige seiner Gewohnheiten übersah – auch »Helpme« Huster galten als die besten Guides, die man in Fairbanks kaufen konnte. Es war immer gut, die eine oder andere Geschichte mit ihnen zu bereden. Jeder von ihnen kannte ein paar Sachen, die er auch für viel Geld nicht mitmachte. Wenn die Yankees darauf scharf waren, mußten sie versuchen, einen anderen Guide zu bekommen. Oder sie mußten es allein organisieren oder darauf verzichten. Zum Beispiel nahmen sie keine Mädchen mit, das war klar. Bei ihnen ereigneten sich aber auch keine Zufälle. Nicht, daß am vierten oder siebenten Tag in irgendeiner Cabin oder einem Camp plötzlich ein Mädchen auf tauchte. Solche und andere Eigenschaften bedeuteten aber nicht, daß sie sich verpflichtet fühlten, sich Gedanken über ihre Kunden zu machen. Der Kunde mußte genommen werden, wie er war. Mal so, mal so. Und natürlich hatten sie sowieso alle einen Tick, denn sonst wären sie ja nicht gekommen. Crawford hatte mal einen, der jeden Abend für eine Stunde verschwand und sich selbst eingrub. Sein Gesicht sah nach drei Tagen aus wie ein Nadel kissen – aber sonst war er ziemlich okay und machte auch keinen Ärger. Crawford meinte, es müsse eine Art Religion gewesen sein. Und damit hatte es sich – es lohnte nicht, Gedanken für so 84
was zu verschwenden. Vielleicht war das einer seiner Fehler: über manche Dinge mußte er einfach nachdenken, und er hätte auch gern über sie gesprochen. Das ging aber nur, indem er sie seiner Mutter er zählte. Es mußte daran liegen, daß sie ihr Leben lang mit Yankees zu tun gehabt, sie beobachtet und kennengelernt hatte. Er bez weifelte nicht, daß sie sich auch bei seinem Colonel ausgekannt hätte. Ein kaputter Mann – das hatte er begriffen, als sie im Boot den Porcupine hinauffuhren. Der Colonel saß im Heck, starrte ins Wasser und sah – nichts. Nichts oder – die Moleküle. Jedenfalls nichts Wirkliches. Daß er ein Yankee war, daran bestand kein Zweifel. Vielleicht war er mehr Yankee als alle anderen, die er bisher geführt hatte. Er benahm sich wie ein guter Mann in einem guten Film, ohne daß es ihn anstrengte. Er war überhaupt nicht obendrauf und war auch kein bißchen power, aber so überlegen, daß er alles fragte, was er wollte. Wenn er es wollte… In Wahrheit schwieg er, seit er angekommen war. Überhaupt war das das wichtigste: Auch wenn er sprach, schwieg er im Kopf weiter. Das hatte er beobachtet. Er mußte Dinge im Kopf haben, an die er nicht einmal sich selbst heranließ. Diese Dinge betrafen natürlich sein Leben, also die Art, wie er früher gelebt hatte. Und die Gedanken, die er sich früher darüber gemacht oder nicht gemacht hatte. So schien das nämlich zu sein: Wenn er am Feuer saß und grübelte, betraf das offenbar nicht die Dinge oder die Ereignisse, sondern die Meinung, die er früher dazu gehabt hatte. Colonel David Hertzberg beschäftigte sich mit seinen Meinun gen. Die Ereignisse selbst traten beinahe in den Hintergrund. Und wenn er erzählte, klang es meistens so, als spräche er nicht über sich, sondern über einen anderen. 85
Carter stand auf, es war soweit. Er nahm den Topf vom Feuer, stellte ihn zwischen die heißen Steine und deckte ihn ab. Es war der achte Tag. Dieser Colonel war nicht nur ein kaputter Mann. Er war auch hilflos. Drei Wochen mindestens würden sie noch zusammen sein. Es war eine sehr merkwürdige Vorstellung: nicht die Möglichkeit, ihm vielleicht helfen zu können, sondern – es überhaupt zu wollen. In diesem Augenblick hatte Carter das sichere Gefühl, daß es ihn wohl noch einige Zeit beschäftigen würde, herauszufinden, warum ihm dieser Mann sympathisch war.
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11 Am anderen Morgen, noch vor dem Rasieren, sah Hertzberg nach den Gänsen, und als er zurückkam, sagte er: Sie werden schlüp fen… Die Alte hat mich angezischt, runtergegangen ist sie nicht. Ich nehme an, daß es die Alte war. Der Ganter ist ein paar Zen timeter größer, er stand weiter oben, am anderen Ende. Es sind blaue, nicht wahr? sagte Carter. Hertzberg nickte. Die blaue Form soll jetzt hier oben häufiger sein als die weiße. Komische Sache. Ich leg’ mich nachher wie der ‘rüber… Carter drehte sich vom Feuer weg und prüfte die Luft. Das Wetter gefällt mir nicht! Hertzberg sah ihn erstaunt an. Ich kann es nicht besser haben – kaum ein halbes Dutzend Wolken. Immer gutes Licht… Wir haben Südwind, sagte Carter. Sieh doch – sie ziehen genau nach Norden. Aber nicht mehr lange – heute abend wird es so schwül sein, daß wir uns vor Mücken nicht retten können, und so bleibt es dann vielleicht zwei oder drei Tage. Ich kenne das! Kurz vor zwei kam Hertzberg zurück, warf die Kamera ins Zelt und setzte sich stöhnend daneben. Der Guide kroch aus seinem Zelt heraus und rieb sich die Augen. Genügt es dir? Kein Hauch da unten… Ich habe zweihundert Aufnahmen ge macht. Ich koche uns Kaffee. Carters Wetterprognose schien sich zu erfüllen. Von der Brise, die am Morgen noch geweht hatte, war nichts mehr zu spüren. Genau über ihrem Sumpf standen zwei kleine Wolken, die aus sahen, als würden sie sich um keinen einzigen Meter weiter be wegen. Das Sirren der Mücken klang nervös und aggressiv. Ich gehe nicht wieder ‘runter, sagte Hertzberg. Wir werden versuchen, ein paar Hühner zu bekommen, erwiderte der Guide. 87
Das ist mal was anderes. Waldhühner? Ja, foolhens. Man bekommt sie mit der Hand. In Richtung zum Coleen hin beginnt bald das Holz, Windbruch und Beeren daz wischen. Da unten – hinter den Felsen. Sieht aus wie ein Pferdekopf… Er heißt auch so. Alle drei haben einen Namen: Saracen Head, Horse Rock und Marshall’s Cabin. – Bis zu den Felsen brauchten sie eine knappe Stunde; der Auf stieg war steil, aber ungefährlich. Aber auch in dieser Höhe wehte kein Lüftchen. Die Biester sind uns gefolgt, knurrte Hertzberg. Möchtest du Spray? Carter lachte. Hilft sowieso nicht viel. Aber egal. Sie umgingen die Felsen, und nach wenigen Minuten bekamen sie Sicht in eine überraschend trockene Senke. Vor nicht allzu langer Zeit müßte hier Wald gestanden haben, sicherlich nicht das, was man ein paar Breitengrade südlicher unter diesem Wort versteht, aber wenigstens ein lockeres Stangenholz, Fichten in der Hauptsache, einige Birken, Erlen und Lärchen dazwischen. Da wird kein Baum höher als drei oder vier Meter, die dicksten Stämme mochten im Durchmesser nicht mehr gebracht haben als ein kräftiger Unterarm. Wahrscheinlich, denn – der Wald war einem Gewitter zum Opfer gefallen. Dead wood, sagte Carter. Das ist gerade zwei Jahre her… Ich war zufällig in der Nähe, es brannte so ziemlich drei Tage. Ich konnte jedoch noch erkennen, daß mindestens drei oder vier Blitze Feuer geschlagen hatten. Hier oben hält sich so ein Friedhof einige Jahre. Komisch, irgendwie erinnert einen der Anblick immer an Leichen. Erst als er sich Hertzberg zuwandte, bemerkte er, daß der Co lonel ihm gar nicht zugehört hatte. Hertzberg starrte über die Senke hinweg. 88
Das Feuer hatte auch die – sicherlich genauso spärliche – Krautschicht vernichtet, neuer Unterwuchs hatte sich in der für nördliche Verhältnisse kurzen Zeit nur zögernd wieder ausgeb reitet; ein wenig Moos, ein paar Gräser – düstere, eher graue als grüne Flecke auf dem fahlen Boden. Vereinzelt blühten da und dort Fireweed-Stauden zwischen den ausgebleichten Stämmen. Das, was einmal lebendes Holz gewesen war, hatte die Farbe von Knochen, die lange genug im Feuer gelegen hatten. Ein Kno chenwald – weiß, grau, kalkig; Regen und Schnee hatten die Brandspuren längst getilgt. Friedhof, hast du gesagt, murmelte Hertzberg. Ja… aber höch stens ein Minifriedhof. Der kleinste Friedhof der Welt… Er setzte sich, Carter sah eine Weile auf ihn herab und setzte sich schließlich neben ihn. Wieviel ist das? fragte Hertzberg. Wieviel Fläche, meine ich. Fünfzehn Hektar, zwanzig vielleicht. Ein Spaß – in fünf, sechs Jahren ist es wieder grün. Dann mußt du dich schon gründlich umschauen, um festzustellen, daß das einmal dead wood war. Die Natur tötet mit Verstand – sie läßt eine Chance. Die Natur? Ja. Wir – nicht. Wir töten für immer! – Und nach einiger Zeit, leise und wieder abwesend: Ich zum Beispiel… Die Army übernahm mich in dem Jahr, als es losging. Und los ging es mit der »Maddox« im Golf von Tonking. Wir bekamen jedes Jahr zweimal Listen mit den Namen derer, von denen die Leute vom Warfare Service meinten, sie könnten an der Reihe sein. Es hing davon ab, was einer wußte, das heißt, woran er ar beitete. Er oder seine Crew. Vorschläge, die dieses Kriterium berücksichtigten, mußten wir unterbreiten. Forlander reichte welche ein, später auch ich. Natürlich hing es nicht nur davon ab. 89
Die Jungs mußten auch wollen. Es war immer ein Puzzlespiel: Mancher wollte, ich meldete ihn weiter, schrieb einen Haufen Zeug, und nach einiger Zeit kam jemand von oben und sagte: Laß das – sie sind nicht interessiert. Oder umgekehrt… Ich wollte nicht, weil – ich hatte einfach Dampf vor der Uniform. Nicht, daß man sie tragen mußte – die Uniform stand für mich als Symbol der Army: Disziplin, An- und Abmeldungen, Überwachung und so weiter. Bürokratischer Scheißdreck… Auf der anderen Seite, sie zahlten gut, noch besser als Du Pont. Und dann, ein paar Tage nach Tonking, rief mich Breadlaw an und sagte: Wir erwarten jetzt deinen Antrag. Nur noch eine Formsache, es ist alles fertig, du rutschst einfach ‘rein! Ich schwieg, mehr verdattert als ab lehnend. Hörst du? fragte er. Als Lieutenant Colonel – Glück wunsch, Dave! Ich sprach mit Forlander. Der Schwede grinste. Schlag es nicht aus! Du bist schon zu weit oben… Sie nehmen das übel, und dann dauert es nicht lange, und sie finden ein Haar in der Suppe. Dann bleiben zuerst die Top-Informationen aus, und nach einiger Zeit werden sie meinen, daß du nicht mehr so ziehst. Es geht bei dir einfach nicht mehr so voran. Sie werden dich bestellen und geben dir – vielleicht – noch mal die Chance! Hast du es dann immer noch nicht begriffen, dann… Also laß es nicht erst darauf an kommen! Und vergiß, daß wir darüber gesprochen haben! Ich schrieb meinen Antrag, ohne mit Ruth zu sprechen. Ich sagte es ihr erst, als ich schon vereidigt war. Sie hat mir keine Schwierigkeiten gemacht – ich habe erst später kapiert, daß sie mich damals immer noch gern hatte. Sogar um die Party, die selbstverständlich fällig war, hat sie sich gekümmert. Und als ich in der Nacht mit ihr sprechen wollte, hat sie mir nur gesagt, daß sie Angst hat um mich. Und daß sie mich nicht verlieren möchte und daß wir von nun an Glück haben müßten, viel Glück. 90
Weswegen? habe ich gefragt, törichterweise. Du hattest immer gebundene Hände, erwiderte sie. Ich glaube nicht, daß es bei so einem Job wie deinem anders sein kann. Du hast für Du Pont gearbeitet, und sie haben gut gezahlt. Ich habe auch davon gelebt und der Junge auch. Aber – es waren immer noch deine Hände. Von nun an bist du eine Nummer, Dave – mehr nicht. Du bist ein Schnipsel in der Lostrommel, und du wirst es nicht erfahren, wenn deine Nummer gezogen wird Ich habe diese Nacht nicht vergessen! In den ersten Jahren da nach sah es allerdings so aus, als hätte sie übertrieben. Es liegt daran, daß die Sache – solange du sie noch unter deinen Fingern hast – nicht anders ist als jede Wissenschaft. Du hast deine sau beren Labors und die herrlichen Apparate, und was du produ zierst, sind Protokolle. Es ist: reine Chemie. Und was anderes wollen sie auch nicht von dir. Damals ging es nicht um Millig ramm, sondern um Tausendstel von ihnen. Wir hatten die besten Chromatographen und die besten Spektroskope, Kernresonanz natürlich, und die Drucker liefen Tag und Nacht. Nur – ich war wirklich schon zu lange dabei. Ich kannte ein paar Leute von der Testdivision, und ein paarmal bin ich mit rausgefahren und habe mir die Parzellen angeschaut. Zehntel- und Viertel-Acres, höch stens. Da war nichts stehengeblieben – kein Gras, kein Strauch – könnten Steine verdorren, ich glaube, sie hätten es getan. Wo unser Zeug draufkam, wuchs nichts mehr. Wir wußten, daß sie es da unten einsetzten. Natürlich waren wir darüber informiert. Sie hatten uns sogar Filme gezeigt: Fünfzig-Meter-Streifen um die Flugplätze herum und rechts und links der Straße. Um sicherer zu sein gegen den Vietcong. Schließlich war Krieg… Später war auch die Rede von Vergeltungsaktionen: Felder waren besprüht worden. Ich wollte mir das nicht vorstellen: ein ganzes Feld. Wenn es so aussah wie in Dugway, mußte es furchtbar sein. Aber 91
ich wollte nicht… Eines Nachts holten sie mich aus dem Bett. Sie hatten uns so ein paar Codes eingetrichtert, ich kapierte nur, daß ich in zwei Stunden abgeholt würde. Ruth weinte. Dann kam ein Wagen, wir fuhren nach Salt Lake, und da saßen schon Forlander und noch einige. Sechs Mann, alles Dugway-Leute. Ein Major instruierte uns, wir flogen nach Denver, da wartete eine zweite Gruppe. Wir stiegen um, und in der neuen Maschine sagten sie uns, wir sollten versuchen zu schlafen. Einer lachte ziemlich nervös und fragte, wie lange, und wieder ein Major, aber ein anderer, ein junger Kerl, zog ein blasiertes Ge sicht und hüllte sich in Schweigen. Guam, knurrte Forlander. Paß mal auf, ich riech’ das… Ich dachte, ich würde kein Auge zubekommen, aber schließlich schlief ich doch ein, und als ich erwachte, war oben und unten alles blau, und dann sah man auch ein paar Inseln und Riffe und viele weiße Brandungskränze und wieder Inseln – es war tat sächlich Guam. Eine unendlich lange weiße Piste und daneben noch eine und hinter der wieder welche und eine Sauhitze. Mir war speiübel, aber nicht nur mir allein ging es mies. Dem Chef der Testabtei lung mußten sie eine Spritze verpassen… Die Jeeps brachten uns in eine Baracke, am Ende von irgendeinem Rollfeld, ein paar Palmen standen da herum und ein paar Kübel, die irgend jemand mal hätte wegbringen müssen. An so etwas erinnert man sich… Breadlaw kam heraus und begrüßte uns; ich hatte ihn zwei oder drei Monate nicht gesehen – er war befördert worden. Wir klapperten ein bißchen mit den Hacken, und einer unserer Be gleiter meldete, und Breadlaw lächelte. Daran erinnere ich mich auch; es war das einzige Mal, daß er es tat, auf dieser Tour. Danach saßen wir im Kasino herum, es gab miserablen Kaffee 92
und Gummitoast mit Gummischinken. Wir probierten die Schwimmwesten an, und dann meldeten sich die beiden Foto grafen und teilten mit, daß sie soweit fertig wären. Insgesamt waren wir, glaube ich, zwölf oder dreizehn Mann. Wir sollten mit einer B-52 fliegen; sie rollte bis vor die Baracke. Schau dir das gut an, Dave! sagte Breadlaw. Im Vorbeigehen – einen Moment spürte ich seine Hand auf meiner Schulter und dann ihren schwachen Druck, als ich mich umwenden und auf stehen wollte. Sein Atem streifte mein Gesicht, und für eine Sekunde erinnerte ich mich, daß er mir einmal etwas von seinen Rasierwasserproblemen erzählt hatte. Er roch immer gut. Schau dir das an… Ich hörte den Unterton, achtete aber nicht darauf. Ich war viel zu aufgeregt. Außerdem hatte ich Angst. Forlander, der sich so gut wie immer einen Informationsvorsprung zu verschaffen wußte, hatte im Korridor zwischen Pissoir und Fernschreibstelle ein paar Worte aufgeschnappt. Das wird heiß, alter Junge, flüsterte er mir zu. Die schicken uns ein paar Jäger hinterher. Ca Mau und Dong Nai… Wir standen am Rand der Piste herum und schwitzten. Die Fo tografen und ein Mechaniker schleppten einen Apparat nach dem anderen in die Maschine. Dann brachte uns ein Lieutenant Tab letten und irgendwelche grüne Röhrchen und verteilte sie, und als wir die Röhrchen weggesteckt hatten, kam ein anderer Lieutenant wie der Blitz aus der Baracke gefegt und sammelte die Röhrchen wieder ein. Statt dessen bekamen wir welche, die gelb aussahen und keine Flüssigkeit, sondern ein Pulver enthielten. Breadlaw winkte den Lieutenant zur Seite, ich konnte aber nicht hören, was er ihm sagte. Breadlaw war jederzeit in der Lage, sehr leise zu sprechen. Der Lieutenant preßte die Lippen zusammen, salutierte und verschwand wieder in der Baracke. 93
Von Jägern war nichts zu sehen, als wir einstiegen, und dann, als wir aufstiegen, verrenkten sich alle die Köpfe. Ohne Erfolg na türlich, von Jägern keine Spur. Einmal ließ sich der Captain blicken, er schlurfte durch den Gang, ohne zu grüßen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals einen so jungen Mann mit einem so mürrischen Gesicht gesehen zu haben. Wir widern ihn eben an, sagte Forlander gleichmütig. Wundert dich das? Ich schlafe jetzt… Auch ich fühlte, daß ich einschlafen würde. Wahrscheinlich begannen die Tabletten zu wirken. Wie lange ich schlief, weiß ich nicht. Forlander weckte mich: Es geht los, Alter! Ich schaute hinaus, und das erste, was ich sah, waren zwei Skyhawks, die fünfhundert Meter entfernt unsere Festung über holten. Da sie mit viel höherer Geschwindigkeit flogen als wir, entfernten sie sich ziemlich schnell, und nach einigen Minuten tauchten sie auf der anderen Seite wieder auf. Die hängen seit Luzon dran, sagte Forlander. Ich kann einfach nicht schlafen… Eine halbe Stunde später war es soweit. Das Herz schlug mir bis in den Hals; Forlander klimperte auf der Schwimmweste herum. Wir überquerten Ca Mau, flogen ein Stück die Westküste hi nauf, kehrten um und überflogen die Halbinsel ein zweites Mal. Ich glaubte, wir seien nicht höher als zweitausend Fuß – aber das war nur die Angst. Dann stieg die Maschine und drehte ab, hinaus auf die See. Meine Ohren waren zu, ich hörte überhaupt nichts mehr, und auch die anderen kauten verzweifelt. Das ganze Manöver wurde dreimal wiederholt. Beim zweiten mal überwand ich meine Angst und begann hinunterzuschauen, und von da an ließ ich kein Auge vom Fenster. Ich empfand auch keine Furcht mehr. Ich sah: Ca Mau. 94
Die Südspitze war völlig tot. Undenkbar, daß dort noch irgend etwas Lebendiges sein sollte. Wie geborstene Knochen – weiß, grau, schwärzlich – Meile um Meile. Ein Leichenteppich bis zum Horizont. Ich war gar nicht mehr in der Lage, irgend etwas zu denken. Ich konnte nur sehen. Breadlaw hatte uns gebeten, Notizen schon in der Maschine zu machen. Als wir, zwei Stunden später, nach Dong Nai hinauff logen, griffen einige tatsächlich nach ihren Blöcken. Ich konnte es nicht. Ein Gedanke beherrschte mich: Heraus aus der Ma schine! Bloß bald heraus! Es war wie eine Folter. Ich merkte nicht, daß wir Saigon überflogen. Die Maschine mußte wieder höher hinauf, ich weiß nicht, ob die Höhe eine Rolle spielte. In der Nähe der kambodschanischen Grenze wur den wir zum erstenmal beschossen, die Granaten explodierten weit hinter uns. Unten sah es genauso aus wie am Kap: weiß und grau – und gelb. Keine Vegetation, kein Land – nur Schorf. Wie Ausschlag oder Lepra. Man sagt das so… Ich wußte, daß es Jahre dauern würde, bis dort überhaupt wieder etwas wuchs, und Jahrzehnte wahrscheinlich, bis da Landwirtschaft wieder Fuß fassen würde. Dead wood. Dead wood, sagte Carter und schaute in die Senke hinunter. Von eurem Zeug… Ja, mit unserem Zeug. Dafür hatten wir in den Staaten gearbei tet, auch wir in Dugway. Du bist heil zurückgekommen? Heil? Der Colonel lachte auf. Heil? Ja… Der Turn zurück ging erst mal nur bis Luzon, in irgendein Nest. Wieder meilenweit Pisten und fünf- oder sechshundert Maschinen. Skyhawks und Transporter und Hubschrauber – alles mögliche. Aber ein gutes, nagelneues Camp mit einem, Haufen Kasinos. Breadlaw befahl 95
uns, auszuschlafen. Report am nächsten Morgen… Zwei Mann kamen in ein Zimmer; ich hatte mit Forlander noch kein Wort gesprochen. So wie er war, warf er sich aufs Bett und stierte an die Decke. Ich saß am Tisch und starrte auf meine Füße. Nach einer Weile gönnte er mir einen aufmerksamen, wachen Blick, angelte einen Fetzen Papier aus der Brusttasche, schrieb etwas.auf und hielt ihn mir hin. Ich las: Leck mich am Arsch und halt die Schnauze! Verstanden? Ich schaute ihn verständnislos an. Er zerknüllte den Wisch und steckte ihn weg. Plötzlich lachte er laut auf. Ich auch, sagte er. Also – Dusche, fein machen und ab ins Ka sino…! Gleichzeitig griff er sich an die Stirn und schnitt eine Grimasse. Ich begriff immer noch nicht, was er wollte. War er durchgedreht? Er zog sich aus, ging ins Bad und drehte alle Hähne auf. Dann kam er zurück und zog mich an die Dusche heran: Kein Wort hier drin – hast du es jetzt kapiert? Heute weiß ich, daß er uns decken wollte. Er war kein schlechter Kerl… Geholfen hat es uns beiden nichts. Hätte ich mich damals ausgequatscht, dann hätten sie was in der Hand gehabt, und es wäre Schluß gewesen. Wir blieben bis Mitternacht im Kasino, ich habe ihn zurück gebracht. Er trank ein Glas nach dem anderen – wie Wasser. Früh sagte er zu mir: Blendend, Dave, blendend! Perfekt! Ich bin so besoffen, daß ich nicht einmal kotzen kann! Und dann der Report… Breadlaw sprach, ungefähr eine halbe Stunde. Er war kein be sonders guter Redner; einige Male hatte ich ihn erlebt, meist in einem kleinen Kreis, bei Du Pont, später in Dugway – er hatte immer Schwierigkeiten mit seiner Stimme. Er sprach am besten, wenn er sich bemühte, einen gleichmäßigen Tonfall beizubehal 96
ten, nicht zu laut, und vor allem, wenn er auf Gestik verzichtete. Gestik mißlang ihm stets. Wie genau er über seine Schwäche Bescheid wußte, erfuhr ich nun. Er stand vor uns, neben seinem Tisch, die Hände behielt er auf dem Rücken. Er brachte es fertig, nicht ein einziges Mal mit ih nen herumzufuchteln. Zwei- oder dreimal wippte er auf den Fußspitzen – das war alles. Er sprach so leise, daß wir jedes Geräusch vermieden. Er sah blaß aus, blasser noch als gewöhn lich, seine Augen schienen gerötet, vielleicht sogar etwas ent zündet zu sein, aber das fiel hinter der Goldrandbrille nicht so sehr auf. … Selbstverständlich haben wir Sie nicht ohne Grund eingela den. Es schien uns einfach unersetzlich zu sein, daß Sie sich selbst überzeugten, welcher Effekt mit den gegenwärtig verfüg baren Mitteln noch erreichbar ist. Verfügbar – unter finanziellen wie logistischen Gesichtspunkten. Ich verrate Ihnen nichts Neues, wenn ich sage, daß dieser Krieg für die Vereinigten Staaten nicht mehr gewonnen werden kann. Der Verlauf unseres Rückzuges wird ausschließlich von politischen Erwägungen diktiert, was Militärs hier noch zu erledigen haben, ist uninte ressant. Sie werden mir beipflichten, wenn ich die Meinung ver trete, daß das, was wir hier zurücklassen, deprimierend ist. Ich spreche nicht vom Vietcong; es ist deprimierend, weil es ver geblich war. Wir haben wenig, im Grunde nichts erreicht. Was Sie heute sahen, wird in ein, höchstens zwei Jahren die Welt sehen. Schäden dieser Art sind schwer reparabel – übrigens wissen Sie das wohl besser als ich. Man wird mit dem Finger auf uns zeigen und nichts unversucht lassen, uns an den Pranger zu stellen. Unsere sogenannten Verbündeten sind heute bereits skeptisch – Sie wissen, daß deren Begriff von Freiheit – nun, eingeschränkter ist als der unsrige… 97
Ich glaube, keiner von uns rührte auch nur den kleinen Finger. Unsere Blicke hingen an seinen Lippen, dergleichen hatten wir – offiziell – noch nie vernommen. Neben mir hörte ich Forlander atmen, er atmete wie ein Kind, wahrscheinlich mit offenem Mund. Ich wagte es nicht, den Kopf zu wenden. … Man wird uns belächeln, lächerlich machen, die Fotos wer den in allen Zeitungen sein. Lächerlich: Ich betone, weil es uns nichts eingebracht hat. Die Schuldigen, meine Herren, sind wir. Wir sollten begreifen, daß wir versagt haben. In die Steinzeit bomben – das ist tatsächlich geschehen. Wir sind den Politikern nachgelaufen, was uns niemand danken wird. Ich wiederhole: Wir haben versagt. Lassen Sie mich hinzufügen, daß wir noch viele Kriege dieser Art führen werden – führen müssen. Ich be schwöre Sie, dafür zu sorgen, daß es der letzte war, der uns zwang, zu vergleichsweise archaischen Mitteln wie den von Ih nen – von uns – entwickelten zu greifen. Der essentielle Kern militärischer Auseinandersetzungen ist immer der gleiche: Wir sind aufgefordert, Besitz zu ergreifen. Von Territorien, Rohs toffen, Kanälen – jedenfalls Ressourcen. Daß wir dies nicht für Dauer tun, sondern zeitweilig, nur so lange, bis unsere Freunde selbst in der Lage sind, mit diesen Gütern zweckmäßig zu wirt schaften, ist Ausdruck der Mission, die wir zu erfüllen haben. Die Vereinigten Staaten sind ohne Freiheit und Demokratie nicht denkbar – ich bin sehr im Zweifel, ob ich Ihnen das sagen muß. Die Tatsache, daß die Lösung solcher Aufgaben in der Regel die Eliminierung des Gegners einschließt, ist im Grunde nicht mehr als ein technisches Detail und eigentlich ohne Belang. Sie erfolgt gegenwärtig noch auf eine überwiegend physische Weise, die so aufwendig wie belastend ist. Ich bin sicher, Sie werden diesen Eindruck bestätigen… Was ich Ihnen vorzuhalten habe, ist: Wir sollten künftig im 98
Besitz besserer, das heißt in erster Linie effektiverer Waffen sein. Wir benötigen Mittel, um den Gegner lautlos, unauffällig und gegebenenfalls zeitweilig zu eliminieren. Wir brauchen auch Mittel, die es uns erlauben, beliebige Flächen in kürzester Zeit wieder bewohn- und bewirtschaftbar zu machen. Wir müssen sauber sein; dieses Vietnam wirft uns um Jahre zurück. Diese Strategie ist falsch – sie zielt am Menschen vorbei. Gras, Bäume, Fische – lächerlich! Es geht um Hirne, Nerven, die Seele! Wir haben vorzudringen in andere Wirkbereiche, in neue Rezepti onsmechanismen – zwangsläufig geht es auch um neue Subs tanzen. Substanzen, deren Wirkung beispielsweise die traditio neller Drogen um Potenzen übertrifft. Wir – Sie – haben Ab schied zu nehmen von einer Ära – mögen die Historiker sie heute schon die klassische nennen. Das sind alles Worte… Was wissen wir wirklich über die Wirkung weicher Strahlen, über die Ver wertung von Mutagenen in der Biosphäre? Von geeigneten Te ratogenen – ganz zu schweigen von Psychopharmaka, zu schweigen von Kombinationen? Ich fürchte, wir haben uns ver zettelt. Verzettelt und verschwatzt. Ich bin sicher, daß Sie mich verstanden haben. Wir erwarten Vorschläge… Machen Sie Vorschläge, dann war dieser Trip nicht umsonst. Ich danke Ih nen. In Begleitung eines Colonels, den weder ich noch Forlander je zu Gesicht bekommen hatten, verließ er den Raum. Wir blieben zurück, es wurde serviert. Ich glaube, es waren Stewardessen, jedenfalls trugen sie keine Uniform. Es gab Dosenbier, Wein, harten Stoff – was wir wollten. Ein Captain informierte uns, daß die Leitungen frei seien – eine halbe Stunde nur für uns. Wir stürzten in die Kabinen, um zu Hause Bescheid zu sagen. Als ich zurückkam, saß Forlander immer noch an unserem Tisch. 99
Willst du nicht telefonieren? Wozu? sagte er. Ich lebe… Was sollte schon passieren? Im schlimmsten Fall hätten sie uns eine Granate in den Arsch ge schossen, und wir wären auf diesem sauberen Friedhof verfault. Schön langsam. Das ist der sauberste Friedhof, den ich je gesehen habe! Big, sagte ich und drückte ihn auf den Stuhl zurück – er war im Begriff aufzustehen. Ich weiß nicht, was passiert wäre – er hatte in den zehn Minuten, die ich weg war, eine ganze Flasche aus getrunken. Seine Augen sahen aus wie die eines Chinchillas. Er war von Natur aus schwach pigmentiert, ein Weißblonder, er sah wirklich schlimm aus. Big Forlander – sein richtiger Vorname war Olaf. Er starrte mich an und feixte. Unsere feisten Ärsche… Nein, uns passiert so was nicht. Wir überleben immer – für die Freiheit! brüllte er plötzlich. For our democracy! Von den andern Tischen schauten sie zu uns herüber, und am Nachbartisch sagte jemand: Der alte Big ist wieder im Gang… Da kam eines von den Mädchen, und Forlander bestellte mit völlig veränderter, ruhiger Stimme eine zweite Flasche. Dieser Colonel hier, wissen Sie – mein Freund. Er säuft wie ein stilles, unendliches Loch. Wissen Sie, was ein unendliches Loch ist? Na, egal – entschuldigen Sie, Sue! Sie heißen doch Sue – oder, nein, warten Sie mal, Sie heißen… Das Mädchen lächelte mir höflich zu und verschwand. Du Mistsau! murmelte Forlander. Dann versuchte er, mich da hin zu bringen, daß ich ihn ansah. Kannst du nicht, sagte er, mich wenigstens einmal ordentlich benennen? Wenn du weißt, was das ist… Nein? Das kannst du nicht? Du bist ein Arschloch, Dave! Schließlich gelang es mir, ihn wegzubringen. Er übergab sich, es kam alles auf einmal, auch das vom vergangenen Abend. Ich 100
hatte eine Stunde zu tun, dann wusch ich seine Sachen und hängte sie ins Bad. Am späten Nachmittag weckte ich ihn, gegen Abend flogen wir zurück. Er hatte noch vier Tage zu leben; er geriet am hellichten Tag mit seinem Wagen so gegen das Brückengeländer, daß der Wagen in den Jordan stürzte. Ein paar Meilen hinter Salt Lake City… Er war kaputt? fragte Carter. Ja… Vorher schon, aber das erfuhr ich erst von seiner Frau. Was bestimmte Dinge anbelangte, wußten wir nicht zuviel vonei nander. Irgendwie war es einfach nicht so. Er trank schon seit drei Jahren – aber wer tat das eigentlich nicht? Der eine mehr, der andere weniger. Den Trip hätte er vielleicht noch überstanden, Breadlaws Botschaft erledigte ihn. Und du? Der Rückflug… Zum erstenmal in seinem Leben begriff er, daß er wirklich ein feiger Mann war. Er wußte, daß er nichts sagen, nichts unter nehmen, sich nicht rühren würde. Er mühte sich nicht einmal, nach Ausflüchten zu suchen. Sie wären zur Hand gewesen – seit zwei Jahren arbeitete seine Abteilung nur noch für die Analytik. Sie waren wirklich sauber. Er hatte mit Spektren zu tun, mit Bandenpeaks, mit Interferenzen. Er war verantwortlich dafür, daß die neuen Laserboxen im Herbst standen – nicht irgendwann im Herbst, sondern perfekt am 20. September. Er tötete nicht. Sowenig wie Forlander. Der Schwede war der zweite Mann in Sachen Viskosität im Camp. Vielleicht der erste… Nein, er machte sich keine Illusionen. Die Wege mochten noch so weit und verschlungen sein und unüberschaubar – sie führten zu dem, was sie gesehen hatten. AGENT ORANGE 101
AGENT BLUE AGENT PURPLE Von jedem von ihnen steckte ein Stück Arbeit, ein Stück reine, saubere Wissenschaft in dem Nebel, mit dem sie die Wälder, die Felder und wer weiß was noch getötet hatten. Sie waren alle so unschuldig wie der Pilot, der nichts bediente in seinem Cockpit als ein paar Tasten. Schließlich war Krieg. Der Junge schlief, als er zu Hause ankam. Ich habe ihm versprochen, daß wir ihn wecken! Robert John Hertzberg – er war inzwischen zwölf. Kein be sonderer Leichtathlet, aber ein guter Schwimmer. Er sah aus wie vierzehn und war so groß wie seine Mutter. Laß ihn, bat er sie. Laß ihn schlafen… Nein, ich habe nichts getan. Ich hatte keinen Mut. Ich glaubte, daß wir meinen Job brauchten. Dieser Krieg würde zu Ende ge hen, retten konnte ich sowieso nichts. Dugway war groß, war sicher, war unangreifbar. Was hätte ich schon vermocht? Carter nickte, eine Weile schwiegen sie, dann schaute Carter auf die Uhr. Wollen wir noch? Komm! sagte Hertzberg.
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12 Foolhens fanden sie nicht, obwohl sie länger als eine Stunde das schnell dichter werdende Gestrüpp durchstöberten. Versteh’ ich nicht! wunderte sich Carter. Auf dem Rückweg gelang es ihm, einen Schneehasen zu schießen. Das Echo des Schusses rollte noch lange im Tal; die Entfernung, auf die der Guide geschossen hatte, betrug mindestens vierzig Schritt. Der Hase hatte sich im Lauf überschlagen. Eine alte Büchse und gutes Schrot, meinte Carter. Er stieg den Hang hinauf, auf dem der Hase lag. Hertzberg sah nach der Uhr – es war ein Viertel vor sechs. Bleib oben, rief er, ich komme nach. Dieser Hang führte geradewegs an den Fuß der vom Guide mit Horse Rock bezeichneten bezarren Felsengesellschaft. Carter wartete auf ihn, sie ließen den Hasen liegen und stiegen gemeinsam weiter. Lohnen tut es sich schon, sagte Carter. Man sieht weit nach Norden und, angeblich, von der Nadel da auch schon bis zum Coleen. Da oben war ich aber noch nicht… Eine Boeing flog hoch über ihnen in Richtung Küste, nach dem Kurs zu urteilen, mußte sie aus Vancouver kommen. Wird um sechs sein, meinte der Guide. Ich glaube, das ist eine von den Abendmaschinen. Sie fliegen über den Pol… Sie schauten ihr nach, bis sie sie im Dunst über dem Horizont nicht mehr ausmachen konnten. Wie ich es prophezeit habe, sagte Carter ärgerlich. Das ist das blödeste Wetter – du wirst sehen, daß es nicht mal zu einem Gewitter reicht. Sie schwitzten; allmählich jedoch verringerte sich die Steigung, und sie fanden leichter Tritt als weiter unten. Einmal schreckten sie einen Pfeifhasen auf und wenig später einen ganzen Flug 103
Rothänflinge. Als sie bei den Felsen anlangten, war es fünf Mi nuten nach halb sieben. Noch höher? fragte Carter. Ein paar Meter noch… Hertzberg keuchte, und der Guide lachte. Stur bist du… Ich schwitze ganz erbärmlich. Der Colonel erwiderte nichts und stieg die nächsten Schritte vornweg. Der Fels war fest und trocken; es stieg sich viel leichter als auf dem Hang, wo die Füße immer wieder ausglitten. Diorit, sagte Hertzberg. Und Granit – saure Ergußgesteine. Ein Gewirr von Blöcken, Nadeln, Wänden und kaminartigen Schründen, immer wieder unterbrochen von kleinen Plattformen und bequemen, beinahe treppenartigen Aufstiegen. Unverkenn bar war außerdem, daß sich nicht zum erstenmal Menschen hier versuchten; eine Art Pfad war erkennbar, eine lose, zuweilen unterbrochene Folge von Trittspuren, die sich durch ihre hellere Färbung von der Umgebung abhoben. Plötzlich rückte die Wand rechts zurück, und gleich darauf er reichten sie ein kleines, nach innen geneigtes Plateau. Sei vorsichtig, warnte Carter. Da vorn geht es senkrecht hi nunter! Die Fläche des Plateaus entsprach angenähert dem Grundriß eines Quadrates, ein Platz, der, wäre die Neigung nicht gewesen, geradezu zum Lagern eingeladen hätte. Hertzberg näherte sich vorsichtig der Kante – die Aussicht war tatsächlich verblüffend. Carter zeigte mit der Hand nach Norden. Wolken sind das nicht – es ist alles nur Dunst. Trotzdem… Das Bergland zwischen ihnen und den höchsten Ketten des Brooksmassivs war überschaubar. Ein Mosaik von Kegeln und Pyramidenstümpfen, schwarz-grau-weiß, auf den höchsten Er 104
hebungen lag Schnee. Irgendwo da oben, sagte Hertzberg, muß es doch sein, wo sich die Brüder umtun. Meinst du die Hubschrauber? Ja! Weiter links! Das ist jetzt schwer zu finden. Irgendwie ähnelt sich alles. Ein paar Schritte abseits von der Kante, zwischen rissigen, morschen Trümmern wucherte hüfthohes Weidengestrüpp. Zwischen dem Moos und den trockenen Gräsern spreizte sich überall ein kleinblättriges, gelbblühendes Kraut. Hertzberg setzte sich. Rauchen wir eine?
Carter nickte. Sauer verdient…
Irgendwo weiter unten machte sich eine Kette Schneehühner zu
schaffen. Sie hörten ihre schrillen Rufe. Im Weidengestrüpp hinter ihnen zankten sich die Baumsperlinge. Die Sonne sank kaum noch. An der tiefsten Stelle des Plateaus hatte sich Wasser gesammelt; zuerst kam ein Häher, und als er sie entdeckte, flog er laut schimpfend auf das Felsband über ihnen, nicht ohne vorher ge trunken zu haben. Nach ihm und ohne sich durch sein Gezeter verwirren zu lassen, erschienen zwei Wanderdrosseln. Sie sahen nur einmal kurz zu den Männern hinauf, schnäpperten hastig ein paar Tropfen und flogen davon. Viertel nach sieben, sagte Carter.
Auch Hertzberg schaute auf die Uhr. Stimmt…
Sie rauchten; zweimal hörten sie das Turbinengeräusch hoch
fliegender Maschinen. Aber sehr weit weg. Carter stand auf, trat an die Kante des Felsabbruchs und schnippte die Kippe seiner Zigarette weg. Sie flog in zuerst schwach gekrümmtem Bogen nach unten, dann, gegen Ende ih 105
res Fluges, fiel sie senkrecht, bis sie auf dem Hang aufprallte. Etwa in der gleichen Sekunde schaute Hertzberg zu dem Tümpel auf dem Grunde des Plateaus, wo sich inzwischen die Hänflinge eingefunden hatten. Ein halbes Dutzend; sie drängten sich auf einem kaum fußbreiten sandigen Fleck. Ununterbrochen spitzes Gewisper… Als Hertzberg den Kopf wandte und, halb über die Schulter, zu Carter hinaufblickte, sah er im ersten Moment überhaupt nichts. Das Licht war so grell und so hart, daß er, noch nachdem sich seine Augen nicht einfach von selbst geschlossen hatten, sondern offenbar zu einem unkörperlich-winzigen, nichts als einen höl lischen Schmerz verbreitenden Zentrum irgendwo in seiner Stirn zusammengeschrumpft waren, Carters Silhouette wie einen Scherenschnitt wahrnahm. Wie eine Insel tiefster Schwärze in einem Meer gleißenden Metalls. Carters Schrei hörte er nicht. Er preßte die Fäuste auf die Augen, stand auf, taumelte. Etwa in diesem Augenblick bebte die Erde. Später glaubte er sich zu erinnern, daß er nicht Angst empfand, sondern Verzweiflung. So, als hätte er, schon in dieser allerersten Spanne zwischen der zweiten und dritten und den dann nachfolgenden Sekunden, gewußt, was ihm hier begegnete. So, als sei ihm, blind und mit Ohnmacht geschlagen, immer noch genug funktionierendes Hirn geblieben, um zu wissen, daß mit jeder dieser in nach wie vor unbeeinflußtem Gleichmaß verstreichenden Sekunden auch ihre Chance verstrich, diesem Ereignis lebend – was immer man darunter verstehen mochte – zu entgehen. Viereinhalb Schritte trennten die beiden Männer. Carter wurde plötzlich gegen ihn geschleudert und riß ihn zu Boden; ineinander verklammert rollten sie in die Senke hinunter, neben dem Wassertümpel blieben sie liegen. 106
Ein Sturm fegte über das Massiv; ein Sinne und Hirn betäubendes gräßliches Jaulen und Heulen füllte die Luft – was heißt Luft – die Atmosphäre hatte sich in eine Furie verwandelt. Erde, Steine, Zweigfetzen prallten wie Geschosse gegen ihre Körper; sie preßten das Gesicht in den Schlamm, lagen erstarrt. Atmeten… (Das Unausweichlich-Unausbleibliche, solange das Letzte noch nicht stattgefunden hat.) Dann: Stimme und Gewalt des fegenden, von wer weiß woher zurückkehrenden gebündelten gebrochenen singenden Orkans. Dann: dem Schmerz zum Trotz das Öffnen der Augen. Licht und Finsternis – zinnbleicher, ätzender Brand auf der Netzhaut. Lidkrampf hinter den Fäusten. Sie stöhnten. Der Sturm verebbte… die ersten Konturen. Sie richteten sich auf. Dave, flüsterte Carter, Dave – was ist das? Sie krochen hinauf, wie Tiere. Von der Kante aus erblickten sie den Pilz, er stieg immer noch. Quoll und quoll, wie Blutstropfen aus einer pulsierenden Schlagader. Im Gleichmaß der Sekun den… Ein Unfall, stammelte der Colonel. Eine Bombe… Wir müssen hier weg! Von diesem Zeitpunkt an, nachdem dieser Satz gesprochen war, galten nicht mehr die blinden Sekunden. Sie lebten noch. Sie wußten nicht, was geschehen war, aber sie begannen zu denken. Sie traten in die zweite Phase ein, die nicht sehr lange währt und in Minuten abgerechnet wird. Den Minuten des wuchernden Pilzes. Es wurde schnell dunkler. Die Erde brennt, Dave; sie haben die Erde angebrannt. Wir werden hier sterben. 107
Hertzberg versuchte, sich Schlamm und Schweiß aus dem Ge sicht zu wischen, ohne Erfolg. Die Haut verlor das Wasser wie ein übervoller Schwamm unter leichtestem Druck. Er riß die Bluse auf, dann das Hemd, ohne Linderung zu verspüren. Die Luft versengte sie; der Wind schien geradewegs aus einem unirdischen, nicht von Menschen gemachten Ofen zu kommen. Carter starrte immer noch dahin, wo noch vor drei oder vier Minuten Norden gewesen war. Da zuckte düsteres Feuer, ver streut in der Finsternis, überall da, wo Lebendiges zwischen den Bergen und dem Fels heimisch geworden war. Es kroch über die Erde. Und obwohl der Wind, der dem Orkan gefolgt war, bereits nachließ, rochen sie seinen tötenden Atem. Hertzberg packte seinen Guide bei den Schultern. Gerald – du findest den Weg! Du mußt – auch im Dunkeln. Zuerst bis in unser Lager… Der Guide schüttelte den Kopf. Wozu, Dave? Wenn es eine von euren Bomben war… Der Colonel biß sich auf die Lippen. Ich weiß es nicht, sagte er hastig. Ich weiß es wirklich nicht! Es gibt Unfälle, ja. Es kann eine Übung gewesen sein, ein Test. Das wird immer geheimge halten. Es gibt Imitationen – mit Sprengstoffen und noch ande rem Zeug – sie fabrizieren den gleichen Pilz. Das kannst du nicht unterscheiden… Ich kenne die Yankees, sagte Carter. Siehst du – sie töten sogar den Stein. Er legte sich auf den Rücken, Hertzberg rüttelte ihn verzweifelt. Der Guide blickte ihn ruhig an: Ich habe keine Hoffnung, Dave. Es ist vergeblich. Hertzberg spürte, wie seine Zunge über die aufgesprungenen Lippen fuhr. Der Durst war unerträglich. Hör mir zu, Gerry – nur eine Minute. Wir werden es schaffen. 108
Wir hatten Glück – wir waren weit genug weg, und die Hitze wird vorbeigehen. Wir schaffen es bis zur Hütte, da liegt dein Boot. Raus hier… weg, den Yukon hinunter. Zu deiner Mutter… Meine Mutter, flüsterte der Guide und krümmte sich. Hertzberg hielt ihn fest, automatisch strichen seine Hände über den Kopf des Mischlings. Komm, Gerry – zu zweit! Sie kriegen uns nicht – du bist ein alter Guide. Mein Guide! Carter richtete sich auf, Hertzberg sah das Weiße in seinen Augäpfeln. Nicht nur sein Kopf pendelte hin und her, Carter begann, seinen Oberkörper zu wiegen. Dein Führer, Dave… Laß mir noch eine Minute! Seine Lippen bewegten sich, Hertzberg vernahm jedoch nicht einmal ein Flüstern. Um sie herum wurde es heller, die Konturen der Felsen wurden sichtbar, schwärzlich-wesenlos zuerst, Schatten im Reich einer Fata Morgana. Da, wo zuletzt die Sonne hinter den Bergen ge standen hatte, glomm ein bleicher Schein und begann, Erde und Himmel wieder zu scheiden. Die Sonne, sagte Carter. Vielleicht ruft sie uns… Es ist gut, Dave. Ich komme. Der Abstieg war mühselig, nicht nur wegen der Lichtverhält nisse. Immer wieder glitten sie aus, fielen, rutschten meterweit, bis die Finger irgendwo ein Stück trockenen Fels zu fassen be kamen. Hertzberg hatte sich schon oben, auf dem Plateau, das rechte Knie aufgeschlagen – die Wunde schien zu bluten, die Hose fühlte sich feucht und klebrig an. Wenn er das Bein belas tete, knickte es einfach weg. Er sagte nichts davon, aber Carter hatte es bemerkt. Immer häufiger wartete er, streckte seine Arme den tastenden Füßen des Colonels entgegen und gab ihm so zu sätzlichen Halt. 109
Allerdings brauchten sie für den schwierigsten Abschnitt nicht einmal eine Viertelstunde, und als sie am Fuße des Hanges an langten und auf ihre Uhren schauten, stellten sie fest, daß es ge rade erst kurz nach acht war. Inzwischen hatte es sich so weit aufgehellt, daß sie die Gänse sehen konnten. Gehört hatten sie die Stimmen schon während des Abstieges. Sie flogen ziemlich hoch; Gänse, Enten und beinahe unübersehbare Scharen von Regenpfeifern, Schnepfen und Kleinvögeln. Die Pulks entschwanden schnell ihren Blicken; sie bewegten sich in geraden Linien auf Südkurs, so, als wären sie bestrebt, möglichst schnell Platz zu machen für die nachfolgen den Scharen. Die Flugzeuge sahen sie nicht. Nach dem Fluggeräusch zu ur teilen, befanden sich sowohl Jäger als auch Bomber in der Luft, offenbar auch auf verschiedenen Routen. Carter hatte sich gefangen. Einige sind hinauf zur Küste, sagte er. Aber die Jäger lagen alle auf Westkurs… Geht es noch mit deinem Knie? Hertzberg winkte ab. Bis zum Lager auf jeden Fall! Komm, wir müssen weiter… Ihre Zelte waren unversehrt; der steile, felsige Hang des Berges hatte sie gegen die Gewalt der ersten Druckwelle abgeschirmt. Ihr Feuer war am Erlöschen, die Hitze und der Wind hatten dafür gesorgt, daß alles Holz, was im Bereich der Flammen gelegen hatte, in wenigen Minuten verbrannt war. Glimmende Stücke hatte es im Umkreis von mehreren Metern verstreut, sie waren verloschen, ohne Nahrung zu finden. Das Dreibein mit dem Bohnentopf stand noch. Hertzberg kroch ins Zelt, durchwühlte seinen Sack, fluchte und kam mit den Zigaretten und einer kleinen Schachtel Tabletten wieder heraus. 110
Sie tranken das Wasser, das noch im Kanister war; erst einen Becher, dann noch einen und, als sie bereits rauchten, jeder noch einen dritten. Dein Knie? fragte Carter. Später! erwiderte Hertzberg. Laß uns erst überlegen – vielleicht ist das unsere einzige Chance, wenn wir jetzt die richtige Rei henfolge finden. Du versuchst, dich selbst zu betrügen – du weißt, daß es die Bombe war! Selbst wenn… Wir werden langsam sterben. Langsamer als – die Vögel! Hertzberg hob schnell den Kopf. Carter lächelte. Hast du sie wirklich nicht gesehen? Da unten… und da drüben auch. Es sind Gänse, das sehe ich ohne Glas. Sie rühren sich nicht mehr. Und die Drosseln vorhin… Ich habe nicht darauf geachtet, murmelte Hertzberg. Vielleicht, sagte Carter. Sie waren nur näher dran als wir. Reichen wird es auch für uns. Der Colonel wollte nicht aufgeben. Sie waren ungeschützt – wir nicht. Wir saßen hinter der Kante, als es passierte. Die ersten Sekunden sind entscheidend! Carter lächelte immer noch. Ja – das hab’ ich auch gelesen. Die ersten Sekunden… Ich aber habe oben gestanden, und ich habe ihn gesehen. Es war ein großer Blitz – er wird für immer in meinen Augen sein. Das ist nun, hatte Ruth gesagt, das letzte, was dir bleibt: die Möglichkeit, dich zu entscheiden. Es ließen sich auch andere Worte dafür finden: deine Chance, deine Pflicht – die Hoffnung. Du hast ihnen alles gegeben: Wissen, Können, Loyalität und Treue. Ich glaube nicht, daß diese Begriffe überhaupt noch einen Sinn haben. Sie hatten ihn, einst. Du hast mitgeholfen, ihn zu 111
zerstören. Patriotismus? Weißt du, was das heute noch sein soll? Ich nicht… Du hast stets für den Sieg gearbeitet – für den Triumph unserer großen amerikanischen Ideen: Freiheit und Menschenrecht. Kannst du nicht sehen, daß beinahe alles, was wir für diese Ideen aufboten, mit Hilfe von Waffen geschah? Mit immer gräßlicheren Waffen? Sie werden sich eines Tages gegen uns selbst kehren. Sie werden uns vernichten. Die Nation, die du die deine nennst, ist in die Hände von Männern gekommen, die wohl nur noch in Kategorien der Zerstörung, der Löschung, der Eliminierung denken können. Es genügt ihnen, wenn zehn Pro zent von uns überleben. Sie vertrauen dem ersten Schlag. Wem soll er nutzen, für wen soll er geführt werden? Dafür gibt es keine Erklärung, weil – es ist alles irre. Sie belauern sich gegenseitig – die Navy die Army, beide mißtrauen gemeinsam der Air Force, und die hintergeht den Präsidenten. Und die stillen grauen fröh lichen Männer verteilen die immer gleichen Karten – mal erhält der, mal der einen Flush. Ein irres Poker! Dieses Land ist mit Bunkern und Lagern und Rampen gespickt – wer weiß noch, wo was rostet? Du bist ein intelligenter Mann und wagst es nicht, auszusprechen, was du längst erkannt hast. Neunundneunzig von hundert wagen es nicht, und der eine ist immer zu schwach. Ich beschwöre dich, Dave – dein Leben, unser Leben – soll es nur für den Abgrund gewesen sein? Soll nichts bleiben eines Tages als Rauch und Asche von diesem Land? Hertzberg fuhr sich mit der Hand über die Augen, als ob er damit das Bild vertreiben könne: Wie sie zuletzt ihre beiden Koffer packte für den Flug nach Boston. Laß mich wissen, wie du dich entschieden hast! Wir gehören immer noch zusammen – aber jetzt kann ich nicht bei dir bleiben. Ich ersticke hier. Meinen Sohn gibt mir keiner zurück – aber 112
vielleicht behalte ich dich… Der Colonel nahm zwei Tabletten aus der Schachtel, für jeden eine. Sie sind harmlos… Ein leichtes Doping, es wird uns helfen. – Hör mir jetzt zu: Ob Bombe oder nicht – wir müssen davon ausgehen, daß es eine war. Wahrscheinlich ein Unfall; an einen Test glaube ich nicht, obwohl ich mit Leuten zu tun hatte, denen ich auch so etwas zutrauen würde. Wir wissen nicht, wieviel wir abbekommen haben. In zwei oder drei Stunden werden wir es sehen. Oder spüren… So lange müssen wir noch warten. Das Lager ist gut, es liegt im Schatten der Strahlung. Wir brauchen Holz und Wasser, Wasser kommt aus dem Berg, das ist sauber. Wir müssen essen und einiges auf Vorrat kochen, jetzt. Und Kaffee… Carter schluckte die Tablette und stand auf. Dave? Hertzberg schaute ihn an. Ja? Ist gut, sagte der Guide. Ich gehe… Hertzberg sah ihm nach, zog dann die Hose aus und untersuchte die Wunde am Knie. Die Haut über der Kniescheibe war verfärbt und geschwollen, der Knochen selbst schien intakt zu sein. Ein nicht sehr tiefer, jedoch langer Riß zwischen Kniescheibe und Beuge hatte aufgehört zu bluten; der Colonel ließ ihn, wie er war, und umwickelte das Knie lediglich und nicht zu straff mit einer Binde. Als er aufstand, wurde ihm schwarz vor Augen. Also geht es schon los, dachte er und sah auf die Uhr: Es war Viertel nach neun. Zwei Stunden etwa – und ich war weniger exponiert als der Junge. Er zwang sich, Carter entgegenzugehen, die Schmerzen unter der Schädeldecke nahmen mit jedem Schritt zu. Carter saß keine fünfzig Meter vom Lager entfernt auf einer Bülte. Das Holz, das 113
er gesammelt hatte, lag neben ihm. Er hatte gerade erbrochen. Hertzberg wollte ihm aufhelfen, aber der Guide schob seine Hände geduldig zurück. Es geht schon besser – die Kopfschmerzen sind schuld daran. Ich habe sonst nie welche. Hertzberg wandte sich ab. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er seit Minuten immer nur. diesen einen Satz dachte: Wenn es eine von euren Bomben war… Gleichzeitig aber, und ohne daß er auch nur den Versuch machte, sich dagegen zu wehren, erlag er einem übermächtigen, geradezu manischen Erinnerungszwang. Wie in einem Traum, dem er ohne Chance des Erwachens ausgeliefert war, reihten sich nun andere Sätze mit visionärer Schärfe aneinander: Louis Slotins Tod dauerte neun lange Tage. Er war zweiunddreißig, und als er in Los Alamos am Straßen rand saß und auf den Kraftwagen wartete, der ihn in die Klinik bringen sollte, wußte er schon, daß er keine Chance haben würde. Die Strahlung, die ihn getroffen hatte, entsprach einer Dosis von ungefähr 2 000 Röntgen. Während der ersten Stunden des ersten Tages erbrach er mehrmals, sein Gesicht rötete sich, aber das erste Fieber verging wieder. Auch die Kopfschmerzen verloren sich. Er fühlte sich besser am dritten und noch am vierten Tag, ob wohl seine Hände aussahen wie Melonen und in zwei Becken mit Eiswasser auf Eisbeuteln lagen. Er konnte noch Nahrung zu sich nehmen. Endgültig stieg seine Temperatur erst am sechsten Tag, und noch der akuten Gefahr, die auftrat, als seine Därme versagten, vermochten die Ärzte zu begegnen, indem sie den angestauten Mageninhalt mittels einer Sonde durch die Nase herausheberten. 114
Am siebenten Tag verwirrte sich sein Geist. Seine Frau, die man schließlich doch benachrichtigt hatte, erkannte er nicht mehr. Die Temperatur seines Körpers betrug etwas über 40°C ohne sich noch zu verändern; das Koma hielt an von Sonntagnacht bis Dienstagmorgen. Louis Slotin ging in die Geschichte ein wegen des bedeutenden Beitrages, den er persönlich zur experimentellen Ermittlung der kritischen Masse für die erste Atombombe geleistet hatte. Ein Protokoll seines Sterbens findet man in den »Annais of Internal Medicine«, Band 36, Nr. 2, S. 281-510 vom Februar 1952. Es ist im Text reich bebildert und enthält außerdem noch 24 farbige Tafeln. Autoren des Protokolls sind die Mediziner Dr. L. H. Hempelmann, Dr. H. Usco und Dr. J. G. Hofmann; mit wissen schaftlicher Akribie haben sie aufgezeichnet, geordnet und ana lysiert, was an Fakten nun einmal zum Akuten Strahlungssyn drom gehört. Es ist beinahe alles eine Frage der Dosis… (In erster, grober Näherung.) Ein anderer Mann, vierunddreißig Jahre alt, wurde von einer Strahlung, die einer Dosis von lediglich 415 Röntgen entsprach, getroffen. Am ersten Tag fühlte er sich übel; seine Temperatur stieg am fünften und sechsten Tag auf 39,2°C; er klagte über Schläfrigkeit, Appetitlosigkeit, Verstopfung. Er wurde mit Peni cillin behandelt, und allmählich sank seine Temperatur. Schon am fünfzehnten Tag konnte man ihn aus der Klinik ent lassen. Er erreichte bald wieder sein Normalgewicht; nach vie reinhalb Monaten begannen seine Haare nachzuwachsen. Spätere Untersuchungen seiner Spermien und des Testikelgewebes er gaben, daß durch die Strahlung Sterilität eingetreten war. Fünf 115
Jahre später jedoch war seine Zeugungsfähigkeit wiederherges tellt; er wurde Vater eines zumindest dem Augenschein nach normalen Kindes. Er selbst behielt nichts zurück als einen Star auf beiden Augen. Die Dosis… Nach der Explosion von Bikini am 1. März 1954 empfingen 64 Einwohner der Insel Rongelap eine Strahlungsdosis von durch schnittlich 175 Röntgen. (Diese Zahl gibt der als »Vater der Wasserstoffbombe« bekannt gewordene Edward Teller in einem in der Zeitschrift »Life« am 10. Februar 1958 veröffentlichten Artikel »The Compelling Need for Nuclear Tests« an.) Sie klagten damals über Übelkeit, Fieber, Magenschmerzen, Hautjucken und -brennen, Hautverletzungen und Haarausfall. Eine Frage… der… Dosis Bruchstücke eines Vortrages, den er gemeinsam mit anderen einmal in Dugway gehört hatte; sogar das Gesicht des dozie renden Majors sah er vor sich: blaß, beinahe wimpernlos und merkwürdig starr, als wäre es erfroren. Als sie aufstanden und die anderen noch die Stühle rückten, hatte er, Hertzberg, hastig den Saal verlassen, aus Furcht, man könne ihm die Scham ansehen, die er gegen Ende der Lektion immer stärker empfunden hatte. Scham… Damals, dachte er. Vielleicht ist es wirklich so, daß es damit beginnt. Der Haß kam später; der Haß, die Reue und… Er wurde gewahr, daß er keuchte. Er warf einen raschen Blick auf Carter, aber der Guide stierte ausdruckslos vor sich hin. Komm, Gerry! sagte Hertzberg leise. 116
Sie schafften das Holz bis an die Zelte heran, Carter brachte das Feuer in Ordnung, und als er aufstand, mußte er erneut erbrechen. Es kam so schnell und so heftig, daß er nicht mehr als zwei Schritte zur Seite treten konnte. Danach legte er sich einfach auf den Rücken. Hertzberg wusch ihm das Gesicht, auch die Hände; die Stirn des Guides verfärbte sich bereits. Da sein ganzes Ge sicht stark gebräunt war und seine Haut ohnehin von Natur aus über intensive Pigmentierung verfügte, fiel es nicht besonders auf, die Rötung des Nasenflügels war jedoch nicht zu übersehen. Die Kopfschmerzen hielten an. Der Colonel versuchte, sich an das zu erinnern, was er vor langer Zeit über die akute Strah lungskrankheit gelesen hatte. Es existierte ein Zusammenhang zwischen der Zeit des Auftretens des Früherythems und seiner Schwere einerseits und der empfangenen Dosis andererseits. Sobald er jedoch versuchte, in präzisen Kategorien zu denken und Zahlen, Zeiten und Entfernungen in eine logische Ordnung zu bringen, gerieten ihm die mühselig bis zu diesem Punkt ge brachten Gedanken außer Kontrolle. Begann er von vorn, tauchten wie aus dem Nichts immer neue Begriffe auf, bis er sich schließlich eingestand, daß es keinen Zweck hatte. Er stand auf, nahm den Kessel vom Feuer und stellte ihn zwi schen die Steine. Carter lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Der Blick seiner Augen war klar. Hertzberg legte ihm die Hand auf die Stirn, nur die Haut war heiß. Kein Fieber, Dave, sagte der Guide und wandte den Kopf. Es geht schon… Bloß müde! So müde war ich noch nie, und schlapp. Ich bring’ dich ins Zelt! Nein! Laß mich hier liegen. Der Magen, weißt du… Hertzberg entfernte sich ein Stück vom Feuer und prüfte die 117
Luft. Sie roch kaum noch brandig. Es war nicht so hell wie sonst, und der Himmel sah anders aus als in den Nächten zuvor. Wie der Marmor in den Geschäften der alten Bostoner Fleischer: rosa, grau und weiß, mit einem düsteren, blutigen Hof. Flugzeuge hatte er seit mindestens einer Stunde nicht mehr gehört. Vielleicht waren auch schon zwei Stunden vergangen, seitdem die letzten Maschinen das Gebiet überflogen hatten. Nein, kein Krieg… Unfälle, hatte ihm Breadlaw einmal erklärt, werden in unserer Branche immer wieder vorkommen. Unsere Arbeiten bewegen sich in einem Bereich der Wissenschaft, wo das Unvorhersehbare im Rang eines unverzichtbaren Kalküls steht. Im Grunde leben wir davon, es ist das, was wir eigentlich suchen. Und so leben wir auch mit dem Risiko… Menschen versagen zuweilen und ma chen Fehler, Maschinen sind in einem allerletzten Sinn prinzipi ell unberechenbar. Jeder Statistiker wird dir das bestätigen. Nicht die – ohnehin wenigen – Unfälle sind das Fatale, sondern unser Unvermögen, sie gründlich auszuschlachten! Hertzberg hatte das nicht verstanden, und Breadlaw hatte es natürlich bemerkt. Ich denke, fuhr er deshalb nachsichtig lä chelnd fort, an solche Ereignisse wie zum Beispiel Bikini. Selbstverständlich war das kein Unfall – im Gegenteil. Bikini war ein sorgfältig geplanter Test. Aber einige der Eingeborenen da erhielten so viel Strahlung, wie gar nicht vorgesehen war. Und nun solltest du mal die Berichte studieren! Alles mögliche haben die Mediziner aufgeschrieben, Seite um Seite mit minutiösen Schilderungen von Haarausfällen, Hautabschälungen und ähn lichen Banalitäten gefüllt und sich an meterlangen Temperatur kurven festgehalten, wobei die meisten von ihnen ohnehin im subfebrilen Bereich verliefen. Nichts jedoch wirst du finden über – und seien sie noch so kurzzeitig gewesen – Veränderungen der 118
psychischen Reaktionen, des Verhaltens; über Anzeichen bei spielsweise für die mögliche Entstehung sagen wir unüblicher, ungewohnter Denkmuster. Von exakten neurohistologischen Befunden ganz zu schweigen… Ich weiß nicht, Dave: Haaraus fall und Erythem – das kannst du nicht erst seit heute mit jedem x-beliebigen Affen oder auch an Ratten exerzieren. Psychische Reaktionen? Nun ja – genau darum handelt es sich doch. Erschreckt dich diese Möglichkeit? Hertzberg wich dem kühl-forschenden Blick Breadlaws aus, er vermochte nicht, dessen Gedanken zu folgen – sie schienen ihm einfach zu ungeheuerlich. Nach einer Weile räusperte er sich verlegen, aber es fiel ihm kein Satz, kein Wort ein, obwohl er das Gefühl hatte, jetzt etwas sagen zu müssen, Breadlaw endlich einmal ins Gesicht hinein zu widersprechen. Nach der Vietnamexkursion waren sie sich immer seltener be gegnet; Breadlaw tauchte zuweilen in Dugway auf, für einen halben Tag und eine Nacht, Hertzberg war stets erleichtert, wenn er zu diesen Rapporten nicht erscheinen mußte. Breadlaw gehörte seit geraumer Zeit schon zu einem der engeren Kreise im Pen tagon; allerdings gab es Leute in Dugway, die vorgaben zu wis sen, daß sich seine Tätigkeit nicht auf die Mitarbeit in diesem Department beschränkte. In Uniform hatte man ihn schon lange nicht mehr gesehen, ganz abgesehen davon, daß militärisches Zeremoniell ohnehin nicht zu den bemerkenswerten Attributen der genannten Rapporte gehörte. Man widersprach Breadlaw nicht, wenngleich er das, was er zu sagen hatte, gern als Meinung oder Vorschlag formulierte: Ich empfehle… Das genügte. Insgeheim hoffte Hertzberg, daß ihn Breadlaw aus den Augen verlieren möge. Es konnte nicht sein, daß er, Colonel David Hertzberg, ein Analytikspezialist, immer noch wichtig für ihn 119
war. Manchmal hatte es den Anschein, als sollte sich diese Hoffnung erfüllen. Aber dieser Schein trog, Breadlaw vergaß ihn nicht nur nicht, er legte im Gegenteil offensichtlich Wert darauf, seinen einstigen Protege in geeigneten Abständen an die eigent lichen Aufgaben zu erinnern. Leichen sind – entschuldige, Dave, ich sage das als Realist! – doch nicht besonders effektiv. Kein Krieg kommt ohne Leichen aus, das ist wahr. Aber es finden sich doch sofort und überall Leute, die einen dafür verantwortlich machen wollen. Es ist ab surd… Jedoch – von diesen Leuten einmal abgesehen: Wir denken doch immer noch in den alten Begriffen. Wir sagen: Krieg, Liquidierung, zwanzig oder dreißig oder zweihundert Millionen Leichen. Notgedrungen! – Ich rede jetzt nicht von irgendwelchen Konflikten… Ist es nicht eleganter, die Aufgabe so zu formulieren: eben diese zwanzig oder zweihundert etc. etc. Millionen für mich zu gewinnen? Als Arbeitskräfte meinetwegen oder – was weiß ich. Das ist doch ein interessantes Potential! Selbstverständlich kommen sie nicht von allein, daran hindert sie schon ihre Ideologie. Waffentechnisch also bedeutet dies nichts anderes, als dieses – bleiben wir bei dem Wort – Potential für ein, zwei, drei Tage außer Gefecht zu setzen. Indem ich seine psy chische und intellektuelle Aktivität auf Null bringe – danach ist es entweder lenkbar oder steht doch zumindest vor vollendeten Tatsachen. Ich gestehe, daß dies Zukunftsmusik ist – ich kann mich aber auch des Eindrucks nicht erwehren, daß unsere ei gentlich zuständige Grundlagenforschung in dieser Hinsicht immer noch zu großzügig, zu lax profiliert ist. Auch dazu hatte er geschwiegen, und Breadlaw hatte sich ver abschiedet, ohne ihn weiter zu drängen. Bemerkenswerterweise hatte sein Lächeln jedoch nichts an Freundlichkeit und Nach sichtigkeit eingebüßt. Ungezwungen, heiter fast legte er seine 120
Hand auf Hertzbergs Schulter. Es kann nicht schaden, Dave, mehr über diese Dinge nachzu denken. Auch wenn deine Arbeit hier – nun, zunächst – nur sehr mittelbar davon betroffen ist. Vergiß aber nicht – du bist im Nanogrammbereich zu Hause, und Strategien der skizzierten Art werden ohne materielle Träger – sprich: Substanzen! – nicht auskommen. Nicht zuletzt wirtschaftliche Erwägungen werden uns zwingen, mit Konzentrationen von zwei oder drei Molekülen im Kubikmeter zu arbeiten. Für keinen mehr nachweisbar – außer für dich und deine Leute: Ihr werdet als einzige dazu in der Lage sein. Deshalb pflege deine Verfahren und – enttäusche uns nicht… Er hörte, wie Carter erneut erbrach, und ging schnell zurück. Der Guide stöhnte. Es kommt nichts mehr… Vielleicht war es das letzte Mal, sagte Hertzberg, um einen forschen Ton bemüht. Er glaubte nicht daran. Carter fiel zurück, und er gab ihm einen Schluck Wasser. Nimm noch eine Tablette, bitte! Carter nickte. Hast du die Hubschrauber gehört? Mindestens drei oder vier… Hertzberg sah ihn überrascht an. Phantasiert er? Ich habe nichts gehört. Bist du sicher? Ungefähr vor fünf Minuten… Sehr leise, sie müssen ziemlich weit entfernt gewesen sein. Auf jeden Fall mehr als zwei Ma schinen… Werden sie uns hier herausholen, Dave? Hertzberg hockte sich neben ihn. Herausholen? Das ist keine Frage! Die Frage ist: wann? Sie müssen doch unser Feuer sehen! Schon… Der Colonel hüstelte. Es ist so, weißt du: Die Army hat für solche Fälle Programme, die arbeiten sie ab. Zuerst muß 121
Gewißheit bestehen, was überhaupt passiert ist. Das werden sie inzwischen wissen. War es ein Depot da oben? Ein Versuchs depot? Sollte es ein unterirdischer Test sein, der durchgeschlagen ist? Wir werden das nie erfahren, Gerry! Es hilft uns auch nicht. Jedenfalls werden sie zuerst das Gebiet eingrenzen und eine Menge Zonen festlegen und alles mögliche absperren. Die Strahlenbelastung muß ermittelt werden. Ich glaube nicht, daß sich so schnell etwas tut… Carter verzog das Gesicht und rieb sich die Augen. Gib mir bitte noch etwas Wasser! Hertzberg beugte sich über ihn. Konjunktivitis, dachte er. Du bekommst eine Bindehautentzündung! Wie ist es jetzt in deinem Bauch? Besser… Wirst du noch mal müssen? Es kommt ganz plötzlich. Jetzt spüre ich nichts. Aber essen kann ich nicht. Und der Kopf? Geht auch… nicht mehr so schlimm wie vorhin. Ich glaube, ich kann einschlafen. – Ist das schlimm mit den Augen? Morgen abend ist es vorbei! Hertzberg überlegte, was er nun tun könnte, und griff schließ lich nach dem Bohnentopf, um ihn übers Feuer zu hängen. Er nahm den Deckel ab, rührte einige Male um und kam gerade noch dazu, den Topf abzustellen. Der Brechreiz überfiel ihn so un vermittelt und war so stark, daß er sich neben dem Feuer über geben mußte. Carter wälzte sich herum. Dann hat es dich auch erwischt… Hertzberg preßte die Hände auf den Magen und nickte stumm. Speichel lief aus seinen Mundwinkeln, übers Kinn, er konnte sich nicht aufraffen, ihn abzuwischen. Als der Schmerz verebbte, ließ er sich auf die Knie fallen. 122
Wir hatten großes Schwein, Gerry… Entweder war es nur eine kleine Bombe, oder wir waren einfach zu weit weg. Die Symp tome… Die zweite Welle… Sie packte ihn mit solcher Heftigkeit, daß er mitten im Satz verstummte. Die Attacke währte jedoch nicht so lange wie die erste. Danach fühlte er sich sogar erleichtert, weil auch die Kopfschmerzen nachließen. Seine Beine zitterten. Ich lege mich neben dich, sagte er. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis er zum Zelt kriechen und seinen Schlafsack herausziehen konnte. Er schlief in der gleichen Minute ein wie Carter.
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13 Als er das erstemal erwachte, war es früh halb vier. Das Feuer war niedergebrannt; von der Sonne war nichts zu sehen. Tief hängende Wolken mit wulstig-verquollenen, tintenfarbenen Rändern zogen in schneller Folge nach Südosten. Der Himmel zwischen den Wolken sah aus wie schlachtfrisches Hirn. Carter schlief, er atmete ruhig. Sein Gesicht war immer noch rot, die Augen jedoch weniger verklebt, als er befürchtet hatte. Er dachte daran, daß er selbst nur zweimal erbrochen hatte und daß auch Carter über diese Phase offenbar hinaus war. Kopfschmer zen, Früherythem, Schwäche, Brechreiz – irgendwann hatte er das alles einmal gelernt. Die Merkmale der Primärperiode… Waren es nicht mehr als dreihundert Röntgen, verschwanden sie nach Ablauf eines Tages. Dreihundert Röntgen bewirkten den mittleren Grad der Strahlenkrankheit, die Überlebensrate betrug nahezu hundert Prozent. Und Gerry war nicht nur gesund und kräftig, seine physische Konstitution durfte mit Sicherheit als Ausnahmefall gelten. Er selbst hatte sowieso viel weniger ab bekommen. Plötzlich empfand er ein geradezu gieriges Verlangen nach ei ner Zigarette. Bemüht, so wenig Geräusch wie möglich zu ma chen, kroch er aus dem Schlafsack. Die Kühle war angenehm, die Luft – verglichen mit dem Abend zuvor – frisch. Er rauchte, und schon nach den ersten Zügen wußte er, daß ihm nicht schwindlig oder übel werden würde. Gleichzeitig spürte er ein Hungergefühl. Er trank mit kleinen Schlucken einen Becher von dem Wasser aus dem Kanister; es schmeckte fade, erfrischte aber trotzdem. Dann kroch er in den Schlafsack zurück. Wie man sich an die Hoffnung klammert… Er wußte, daß die nun folgende Latenzperiode nur einige Tage währen würde. 124
Wenn sie vorbei war, begann das Fieber. Die Zahl der Leuko zyten in ihrem Blut würde schnell sinken, und – sie hatten keine Medikamente, nicht einmal Penicillin. Das, was er mitgebracht hatte, lag im Blockhaus. Es konnten auch vier- oder fünfhundert Röntgen gewesen sein. Es konnte auch eine Strahlung sein, die anders war als die, die man seit Hiroshima kannte. Er zwang sich, daran nicht zu denken. Es durfte nicht sein… Er drückte die Zigarette aus und drehte sich auf die Seite. Carter schlief, auch seine Atemfrequenz hatte sich nicht verändert. Plötzlich begriff Hertzberg, daß er sich diesem Manne, mit dem ihn das Schicksal so plötzlich und auf nie mehr rückgängig zu machende Weise verbunden hatte, nahe fühlte wie selten zuvor einem Menschen in seinem Leben. Von Ruth und Robert abge sehen, natürlich – aber das war etwas anderes. Die Bombe hatte sie nicht nur vereint, sie hatte sie auch – für immer voneinander geschieden. Wenn es eine von euren Bomben war… Der Guide hatte recht: die Bombe gehörte zu den Dingen, die sich Männer wie er, Hertzberg, ausgedacht hatten. Bomben, Gase, Gifte, Raketen – egal, wenn sie nur in der Lage waren, zu töten. Ich werde dich rausbringen, Gerry – und wenn ich dich tragen oder schleifen muß. Sie werden sich nämlich einen Teufel um uns scheren und die anderen armen Hunde, die zufällig irgendwo hier in der Nähe waren. Einen Teufel – jawohl. Denn sie haben jetzt ganz andere Probleme – mit den Russen und der NATO und den Japanern. Und mit den Wolken, die ja irgendwohin gezogen sein müssen, und damit, was in der Stratosphäre los ist. Die Kanadier müssen die Schnauze halten, und den eigenen Leuten kann man sonst etwas erzählen. Eine Zeitlang verfolgte ihn der Gedanke, daß sie es absichtlich 125
getan hatten. Wer weiß, mit welchem Kalkül. Mit keinem ande ren vielleicht als dem, die Russen zu provozieren. Die Zeiger der Geräte in den Stationen auf Kap Deshnew und in Kamtschatka hatten sich todsicher verabschiedet, und den zuständigen Exper ten da drüben werden die Augen aus dem Kopf gefallen sein. Eine hübsche Variante, darauf zu spekulieren, daß die Mann schaft im Kreml den Kopf verliert und ein paar von den eigenen Staffeln losschickt, um nachzuschauen. Ein Touch über die Be ringstraße oder zu den Aleuten hinüber – da könnte man sich dann endlich treffen, und ein Anlaß wäre gegeben. Auf den dieser und jener wartete… Sie gehörten zur Lobby des Präsidenten, saßen schweigsam, still und höflich im National Security Council – allerdings nicht in den Sesseln. Aber es waren immer ihre Männer, und es gab sie auch im Pentagon. Männer von Du Pont, Hughes, Lockheed und… Eine lange Liste. Sie hatten gute Zeiten gehabt und weniger gute, meist waren es gute gewesen. Aber noch nie so gute wie in den Jahren des Schauspielers. So einen Partner wie den Kalifor nier würden sie vielleicht nie wieder bekommen. Ich war immer ein feiger Hund, dachte er. Ich habe alles sehr langsam begriffen, das stimmt, und das kann das Elend nicht sein. Aber ich habe mitgehalten, bis zuletzt… Ein Film fiel ihm ein, den er mit Ruth gesehen hatte eines Tages, als sie noch in dem Häuschen in Philadelphia wohnten. Ein alter Streifen, mit miserabler Technik zusammengezimmert – aber gute Aufnahmen. Damals wurden sie Stück für Stück freigege ben, und es ging um Episoden aus der Zeit, als die erste Bombe entstand. Alamogordo und das Testgelände mit dem Eisengerüst. Es war ein Schwarzweißfilm, und das Gerüst erinnerte an ein überdi 126
mensionales, grausiges Schafott. Das Versuchsgelände hieß Jornada del Muerto – Reise des Todes. Die Gegend sah noch schlimmer aus als Los Alamos. So, als sei sie tatsächlich nur für den Tod und nichts anderes geschaffen. Man sah einen bärtigen Mechaniker im Base camp mit einem Beutel mit den vorge schriebenen Mitteln gegen Schlangenbisse – er baumelte an seinem Gürtel, behinderte ihn bei der Justierung eines Instru mentes. Mit einer wütenden Handbewegung versuchte er ihn beiseite zu schleudern. Dann Saul Allison im Kontrollraum, als er den Countdown begann… Und natürlich Leslie Richard Groves, ein glücklicher Mann an diesem Julimorgen. Nach dem Shot sagte er zu Farrell, seinem Stellvertreter: Eine oder zwei von diesen Dingern, und Japan ist erledigt! Das war auch die Meinung des Überwachungsoffiziers im eng lischen Godmanchester gewesen, als er die auf Farm Hall inter nierten deutschen Atomphysiker über die Wirkung der ersten erfolgreichen Bombe informierte. Regen Sie sich doch nicht so auf! Besser, ein paar tausend Japs sind draufgegangen als ein ein ziger unserer Boys. Das stand in dem umfangreichen Booklet, das er an der Kasse für einen Dollar fünfzig erworben hatte. Die Ereignisse der letzten Stunden beschworen jedoch auch Erinnerungen herauf, die weniger weit zurückreichten, und als er an Mailand und jenen heißen Juli 76 dachte, empfand er noch quälender als zuvor den Druck seiner Schuld und seines Versa gens. Es war der letzte Auftrag gewesen, der ihn ins Ausland geführt hatte. Er saß in seinem Büro und brütete über einer japanischen Ar 127
beit, die sich mit der Extraktion irgendwelcher neuer Radiomi metika aus Rattenlebern befaßte. Es war der elfte Juli, er würde diesen Tag nie vergessen. Da brachte ihm die Sekretärin ein Fernschreiben. Es ist verschlüsselt, Sir. Der Rechner ist frei, ich habe angeru fen. Ihr Jeep wartet draußen… Danke, Helen. Ich fahre selbst. Die Decodierung dauerte nur zwei Minuten. Zu seinem Ers taunen bemerkte er, daß der Text doppelt verschlüsselt war. Er fuhr in sein Büro zurück und nahm die Akte, die den personen gebundenen Schlüssel enthielt, aus dem Safe. Er hatte kein gutes Gefühl, und als er den Text endlich entziffert hatte, spürte er einen ziehenden Schmerz in der Brust. Sofortige Abreise – via Salt Lake – New York – Rom. Die nächsten Instruktionen würde er erst in Rom erhalten, für den Flug nach N.Y. wartete in Salt Lake eine Maschine der Army. Reise in Zivil… Er fuhr nach Hause, zog sich um, Ruth packte seine Tasche, Unterwäsche, Rasierzeug und so weiter. Sie weinte, als er sie küßte. Bitte, Liebster, bitte… Es muß doch einmal ein Ende ha ben… Paß auf dich auf! Ein Captain begleitete ihn bis Kennedy Airport; ein schwatz hafter und offensichtlich neidischer junger Mann, der sich schwungvoll vorstellte: Ich habe Order, Sie einzuweisen, Sir! Von Einweisung konnte keine Rede sein. Immerhin hatte er einen Paß für ihn auf den Namen Edgar Noel Simmons, ein Bündel Panam-Tickets, Geld und eine Nummer, nach der er unter dem neuen Namen im Büro der Panam in Rom fragen sollte. Er schlug den Paß auf, schaute in sein Gesicht und klappte ihn wieder zu. Der Captain gab ihm die Nummer; sie war mit Schreibmaschine auf einer der Visitenkarten geschrieben. Auch daran hatten sie natürlich gedacht: Edgar N. Simmons, Chemist. 128
Du Pont de Nemours, Wilmington (Del.). Er steckte sie in seine Tasche, zwei Dutzend. Sie wissen nicht, Captain, was da los ist? Der junge Mann zierte sich. Ein Unfall in einer Chemiefabrik, Sir. Hochtoxisch… Verstehen Sie bitte, Sir… Schon gut, Captain. Danke! Er war bedrückt. Hochtoxisch? Das besagte gar nichts. Nichts jedenfalls über das, was ihn da wahrscheinlich erwartete. Au ßerdem – er las zwar etwas Italienisch, sprechen konnte er jedoch keine drei Sätze. Er erreichte die Linienmaschine – Beeilen Sie sich bitte, Sir! Sie wurden bereits aufgerufen… Wie üblich konnte er nicht einschlafen und starrte ewig durch das Fenster. Er bestellte einen Kognak, rauchte und dachte an Ruth. Er hätte versuchen sollen, sie zu beruhigen, aber er wußte, daß es vergeblich gewesen wäre – bei Anlässen wie diesem mißlang ihm das stets. Rob war auf dem College, sie war allein zu Hause. Die Woche über ließ sich der Junge selten sehen, meist kam er erst am Sonnabend. Obwohl sie gerade Ferien hatten – aber Rob war nicht nur ehrgeizig, er war auch eigensinnig. Weil sie ihn nicht in die erste Football-Mannschaft aufgenommen hatten, war er zu den Schwimmern gegangen. Da schien es zu klappen – allmählich verschwanden die Wände seines Zimmers unter den Medaillen und Trophäen. Du wirst sehen, Doc – eines Tages betteln die mich noch… Ruth verwöhnte ihn. Er verstand sich glänzend mit seiner Mutter und ging auch stets zuerst zu ihr, wenn er Probleme hatte. Ich brauch’ dich heute für einen Speech, Ma! Checkst du es mit mir durch? Irgendwann verschwanden sie dann im Garten, aber sie ver heimlichten es nicht vor ihm. Jungs waren in dem Alter nicht 129
anders. Geld jedoch nahm er nicht einmal von ihr. Er hatte Spa nisch gelernt und arbeitete nebenher für ein Übersetzerbüro. Seit kurzem befaßte er sich mit Hebräisch. Hertzberg seufzte. Die Sprachbegabung hatte Robert von seiner Mutter geerbt. Die Azoren sahen von oben aus wie ein Schlupfwinkel für Pi raten. Er setzte die Kopfhörer auf, eine Stewardeß verlas mit gelangweilter Stimme etwas über trachytische Tuffe und Lor beerwälder und danach über die Karthager, denen die Inseln als Stützpunkte gedient hatten. Stützpunkte sind immer Scheiße, dachte er, und als die Stewardeß bei Columbus anlangte, schlief er endlich ein. Als die Boeing in Rom landete, hatte er Kopfschmerzen. Es war schwül, sein Hemdkragen war durchgeschwitzt. Am Karussell mußte er beinahe eine Viertelstunde auf seine Tasche warten; der Lärm in der Halle machte ihn nervös. Im Büro der Panam war es angenehm kühl. Das Conditioning funktioniert bei uns immer, dachte er und gab der Hosteß seine Karte mit der Nummer. Sie reichte ihm ein Kuvert, er riß es draußen auf, es enthielt nichts als den Namen des Hotels, das man für ihn gebucht hatte, und einen Zusatz, daß er sich beeilen möge. Er werde erwartet. Das Hotel befand sich in der Nähe des Corso, er nannte dem Taxifahrer den Namen, und der zuckte geringschätzig mit den Schultern. Zweimal fuhren sie über einen Fluß, es mußte der Tiber sein. Er wußte nichts von Rom. Die Fassade des Hotels sah nicht nur schäbig, sondern in einer nicht näher zu definierenden Weise auch wenig vertrauener wekkend aus. Putz bröckelte; neben dem Eingang stand eine total verstaubte Palme in einem morschen Kübel. Der Taxifahrer wurde ungeduldig. Die fremden Geldscheine 130
fühlten sich fettig an, er gab ihm ein nach seiner Meinung hohes Trinkgeld, der Alte ließ es in einer riesigen Brieftasche ver schwind den, ohne ein Wort zu verlieren. Es dämmerte bereits. Die Zeitverschiebung nicht gerechnet, war er beinahe vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Unschlüssig stand er vor dem Hotel, Passanten stießen ihn an. Es stank ent setzlich nach Benzin, Auspuffgasen und ranzigem Öl. In seinem Kopf dröhnte es. Mister Simmons? Er wandte sich um. Ein Mann in seinem Alter, in marineblauem Jackett und grauen Hosen. Hertzberg nickte. Speeder… Jeffrey Speeder – von unserem Konsulat. Er gab ihm eine Karte, es stand nichts weiter drauf als der Name. Speeder lächelte. Goldene Schneidezähne, dachte Hertzberg unsinniger weise. Er muß die echten irgendwo verloren haben… Speeder begleitete ihn in sein Zimmer. Eigentlich waren es zwei, ein größeres und ein kleineres, durch einen Vorhang ge trennt. Hertzberg schaute sich um, es war unvermutet sauber hier, sogar gemütlich. Er stellte die Tasche neben das Bett. Speeder setzte sich in einen geräumigen Sessel, der unter dem Fenster stand. Die Vorhänge waren zugezogen. Hertzberg setzte sich auf das Bett. Das Zimmer ist dicht, sagte Speeder. Wir benutzen es manch mal. Hertzberg nickte. Er war müde. Die Sache ist die, Colonel – Speeder gebrauchte die Rangbe zeichnung mit der Selbstverständlichkeit des Eingeweihten – , daß sich hier oben, ein Stück hinter Mailand, ein ekliger Unfall ereignet hat. Da schwirrt jetzt eine Wolke herum mit einem Haufen Dioxin… Die Kommunisten sind unterwegs, die Ge werkschaften auch. Und der Bürgermeister und die Journalisten 131
und – das ist ein Saustall hier. Hier reißen Leute das Maul auf, die wir zu Hause nicht einmal bei der Müllabfuhr dulden würden. Europa… Seien Sie also vorsichtig! Wir sind an zweierlei Dingen interessiert: erstens wird es wertvoll sein, alles zu erfahren, was mit dem Vorfall unmittelbar zu tun hat. Zweitens müssen wir versuchen, auf die Presse Einfluß zu nehmen. Wir wünschen gerade jetzt keine Dioxindiskussionen. Soweit ich orientiert bin, hat das Zeug in Vietnam eine erhebliche Rolle gespielt. Die Presse ist meine Sache, was wir brauchen, sind Informationen aus erster Hand. Wir haben Sie als Chemiker avisiert, Sie können sich ein paar Tage im Staff aufhalten, die Leute werden mit Ihnen reden. Ohne Begeisterung – ich sage Ihnen das gleich, damit Sie sich einrichten. Breadlaw meinte aber, er sei sicher, Sie würden das managen… Natürlich war die Müdigkeit nicht verflogen. Man sagt das manchmal so. Vielleicht war er nun noch müder als zuvor, ob wohl es nicht das Wort ist, das trifft. Müde… Eher war es ein Gefühl, als hinge ein Mühlstein an seinem Halse und zöge ihn immer tiefer. Breadlaw – schon im Flugzeug hatte er an ihn ge dacht. Es war immer Breadlaw… Speeder nickte ihm kurz zu. Sie müssen müde sein, Colonel. Wir haben daran gedacht – diese Nacht gehört Ihnen. Morgen müssen Sie fit sein – der erste Tag ist der wichtigste. Außerdem drängt die Zeit. Da oben sieht es aus, als wäre ein Volksaufstand im Gang. Er lächelte und zog einen Umschlag aus seinem fas hionablen Jackett. Das Ticket für Mailand, neun fünfundzwanzig Rom ab. Noch ein paar Lire und – der Schlüssel für das Schließfach. Stazione Centrale – Sie brauchen von Ihrem Hotel fünf Minuten zu Fuß. Das hier sind die Namen der Leute, mit denen Sie sprechen müssen. Lassen Sie sich einladen, die Italiener sind gesellig und 132
familiär. Es waren Kopien von Kurzbiographien, mit Foto, pro Name eine Seite. Die übliche V-Mann-Arbeit. Legen Sie die morgen gleich ins Schließfach zurück. Sie müs sen Sie sich einprägen. Speeder verabschiedete sich. Schlafen Sie sich aus, Colonel… Im Kühlschrank stehen ein paar Flaschen und etwas Obst. Ich nehme an, Sie werden noch runtergehen, essen. Die Karte ist gut hier, leider braucht man zwei Stunden. Speeder zog die Tür ins Schloß, es verursachte nur ein leises, schnappendes Geräusch. Hertzberg lauschte, nach einer Weile hörte er, wie der Fahrstuhl heraufkam und sich die Türen öffneten und wieder schlossen. Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Es war dunkel geworden. Sein Appartement lag nach der Hofseite hinaus, ein düsterer Schacht. Darüber das gelbgrün-orange schreiende Feuer der Leuchtreklame: GRAPPA JULIA SNAM PROGETTI MARTINI DRY. Er schloß die Vorhänge wieder, zog sein Hemd aus und ging ins Bad. Das Licht war kalt. Eine einsame Schabe lief ohne Eile über die Konsole unter dem großen Spiegel. Hertzberg fröstelte. Er ließ Wasser in die Wanne laufen und starrte in den Spiegel, ohne sich zu rühren. Ich bin jetzt siebenundvierzig, dachte er. Mitgegangen – mit gefangen – mitgehangen. Der Wasserdruck war gut, das Wasser war auch heiß genug. Nein – nicht einmal hängen würden sie uns. Er ging ins Zimmer zurück und zog sich aus. DIOXIN… 2,3,7,8-Tetrachlor-dibenzo-p-dioxin = TCDD. Es ist rund tau sendmal toxischer als Cyanid. Es entsteht bei der Herstellung von 133
2,4,5-Trichlorphenol, was man für die Erzeugung von Trichlor phenoxyessigsäure (2,4,5-T) benötigt. Es ist stets sein Begleiter; chemisch reines 2,4,5-T gibt es nicht. 2,4,5-T war als Butylester Hauptbestandteil von AGENT ORANGE. Mit ihm befand sich auch Dioxin in den Kanistern. Es ging gar nicht anders, ob man nun darüber nachdachte oder nicht. Er hatte nicht darüber nachgedacht. Er hatte nur analysiert. Vor stufen – alles im ppm-Bereich. Er war Chemiker. Allein vom TCDD gibt es zweiundzwanzig Stellungsisomere. Und sie alle entstanden beim Erhitzen der Vorstufen; ihr Nach weis erforderte nicht nur hohen Aufwand, sondern auch Ge schick, Gespür, Erfahrung. Erst Flüssig-, dann Gaschromatog raphie, zuletzt Massenspektrometrie. O ja! Er war Detektionsexperte. Sie hatten ihn auch nach Edgewood geholt, und Vorträge dar über hatte er in Pine Bluff und Camp Detrick gehalten. Vor Chemikern selbstverständlich, vor seinesgleichen. Er war der Mann, der mit dem teuren Spektakel, wie es Breadlaw gutgelaunt gern bezeichnete, umgehen konnte. Es war reine Chemie. 2,4,5-T wurde seit je im zivilen Bereich als Totalherbizid ein gesetzt, zur Grabenentkrautung, zur Bewuchsbeseitigung auf Flugplätzen und zwischen Eisenbahngleisen. Selbst für diese sehr begrenzten und speziellen Zwecke durfte der Dioxingehalt pro Tonne 2,4,5-T maximal 100 Milligramm betragen. Später erfuhr er, daß eine Tonne des in Vietnam eingesetzten 2,4,5-T siebenundzwanzig Gramm Dioxin enthielt. Es war in voller Absicht und ganz gezielt so synthetisiert worden. Es sollte nicht nur entlauben. Darüber hatte ein Leberchirurg aus Hanoi in Paris 134
gesprochen. Das war fünf Jahre her oder sechs. Er wußte es nicht mehr. Später fand er in Zeitschriften, die nicht zu seiner Dienstlektüre gehörten, die ersten Bilder. Dioxin war teratogen, es bewirkte Anomalien der Chromosomen. Es gab Totgeburten mit zwei Gesichtern, vier Beinen und ohne Gehirn. Ein Fetus bestand nur aus zwei Beinen und einem Unterleib. Ein Kind hatte ein Zyk lopenauge. Ein deutscher Biologe hatte an einer Expedition in die Provinz Dong Nai teilgenommen. Er schrieb: Es war unheimlich. Keine Blüte, keine summende Biene, keine Ameise, kein Vogelgesang. Wo früher tropischer Regenwald stand, wucherte danach nichts als Unkraut. Die Vietnamesen nennen es »American Grass«. AGENT ORANGE… Sie fingen da auch Fische. Sie waren eingeschrumpft, ihre Wirbelsäule war deformiert und ihr Kopf unproportional ver größert und aufgeblasen. In Seveso wurde er mit Zurückhaltung empfangen. Das Werksgelände war abgeriegelt; an allen Ecken und Enden saßen, standen, telefonierten nervöse Carabinieri. Er studierte ihre Ge sichter: Sie sahen verbittert aus. Dienst, dachte er. Die Zufahrt straßen waren gleichfalls gesperrt; auf einem Acker in der Nähe der Fabrik lagen zwei tote Kühe, sie wurden gerade verladen. Zwei Wagen der Carabinieri begleiteten den LKW mit heulender Sirene. Die Männer auf dem Acker trugen Masken und Schutz anzüge. Die wenigen Angestellten im Werk waren übernächtig und ge reizt. Einer der Laborleiter begleitete ihn. Ein kleiner, magerer Mann – Hertzberg schätzte sein Alter auf Mitte der Fünfzig – mit einem ausdrucksvollen Gesicht: ergraute Brauen, ein gleichfalls 135
grauer, sorgfältig gestutzter Bart und helle, wasserblaue Augen. Seine Art von Englisch war unverkennbar: Golfdialekt. Weich und träge schwingend; nur die Geschwindigkeit, mit der er sprach, verriet, daß es nicht seine Muttersprache war. Selbstverständlich wird man uns verantwortlich machen. Für Desaster dieser Art sind immer die Chemiker zuständig. Doch nicht die Herren Ingenieure – ich bitte Sie! Er stieß ein wütendes Lachen aus, seine fleischigen Lippen zuckten. Gleich darauf eilte er weiter, Hertzberg vermochte ihm kaum zu folgen. In die Produktionsanlagen durften sie nicht, die Labors waren leer, die Mehrzahl der Geräte war plombiert oder versiegelt. Schauen Sie sich das an! Lächerlich… Das perlende Stakkato seines Gelächters prallte unkommentiert von den gefliesten Wänden zurück. Als Analytiker wissen Sie ja Bescheid, lieber Simmons. Das ist doch in den Staaten nicht anders – Sie müssen mir das nicht be stätigen. Die Analytiker sind stets – verzeihen Sie! – die Knechte. Das Fußvolk – der Plebs der Wissenschaft. Wir werden vor zugsweise benötigt, wenn etwas schiefgegangen ist – als Aus hängeschild für Perfektion, Sauberkeit, Zuverlässigkeit. Dann haben wir zur Stange zu halten, of course… Warum bin ich in dieses Land zurückgekommen? Warum? Mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der er sich aufgeregt hatte, beruhigte er sich auch wieder. Unsere Jungfrau wird es wissen… Er hieß Percchoni und lud ihn zum Abendessen ein. Meine Familie wird sich freuen, geben Sie uns die Ehre, Doc! Mit dem Wagen ist es kaum eine Stunde… So behende, wie er sprach, dirigierte er auch den neuen Fiat aus dem vollgestopften Mailand heraus. Entsetzlich, nicht wahr? Es wird aber gleich besser. 136
Als Dreizehnjähriger war er mit seinen Eltern ausgewandert, hatte in Austin das College besucht, später studiert und einen guten Job in einer Raffinerie bekommen. Nach dem Krieg lernte ich meine Frau kennen, wir heirateten und kauften ein Haus in Eunice, Louisiana. Sie wissen, wie die Italiener sind, Doc – die ganze Familie, immer alle beisammen, alle auf einem Haufen… Ich übernahm ein Labor in einer Öl mühle… Idiot! Er trat auf die Bremse, schimpfte und winkte dem unfairen Konkurrenten fröhlich zu – alles in einem Atemzug. Keine Dis ziplin, keine Ordnung, keine Rücksicht – oh! Mein Gott! Maria – meine Frau – vertrug das Klima nicht. Zu heiß, zu feucht – nur ein paar gute Monate im Winter… Kennen Sie die Ecke da unten, Doc? Die Swamps, sagte Hertzberg. Da hat es mich – offen gesagt – nie hingezogen. Maria ist Piemonteserin. Vor fünf Jahren sind wir zurück. Ich – fügte er hinzu – stamme aus Mailand. Na ja – die Heimat… Das Haus war hübsch, ziemlich groß, im Bungalowstil gebaut. Es stand mitten auf einem verbuschten Hang, die Ortschaft hieß Cameri. Günstig gekauft, sagte Percchoni. Und gleich neben der Stra da… Signora Percchoni erwies sich als eine sehr schlanke, sehr stille Frau mit einem etwas vertrackten, nicht gleich ins Auge fallen den Charme. Sie war einen halben Kopf größer als ihr Mann und errötete, als sie Hertzberg die Hand reichte. Auch er war befan gen und stand linkisch herum. Unser Sohn, Alfredo… Ein junger Mann schon, Student – Percchoni hatte es ihm im Wagen erzählt. Er erschrak beinahe – im ersten Moment regist 137
rierte er nichts als das irritierende Gefühl, seinen Sohn Robert vor sich zu haben. Das Gespräch bei Tisch war lebhaft, Signora Percchoni be teuerte, wie angenehm es sei, sich wieder einmal in der »alten Sprache« zu versuchen. Hertzberg bestätigte, daß ihr das ganz exzellent gelänge. Per fekt, sagte er. Aber zu Hause bin ich hier, sagte sie. Sie ist Royalistin, warf Percchoni ein und lächelte. Ich bin Piemonteserin… Auch die Signora lächelte. Da, sehen Sie…! Sie wandte sich um und wies auf die beiden Porträts: Familienbesitz, es sind sehr alte Kopien. Hertzberg erklärte, daß er – leider – in italienischer Geschichte nicht bewandert sei. Cavour und Vittorio Emanuele… Er war – glaube ich – Ihr erster König? Siehst du, sagte sie zu ihrem Sohn. Alfredo nickte. Er wird uns wenig helfen… Es klang trocken; eher beiläufig als spitzPercchoni rümpfte die Nase. Die jungen Leute sehen heute alles durch eine rote Brille! Besser die als einen Klotz vor der Stirn, bemerkte Alfredo, immer noch ruhig. Percchoni warf die Serviette auf den Tisch. Alfredo, ich bitte dich, sagte die Signora. Ich bitte dich wirk lich… Schon gut, Mama! Ich kann diesen Unfug nun einmal nicht hören. Alfredo! – Percchoni zerknüllte die Serviette. Der Sohn hob beide Hände und neigte demütig den Kopf. Es tut mir leid… Percchoni schnaufte. Die Kommunisten machen dieses Land 138
kaputt. Und nicht nur das! Sie nehmen uns das Teuerste, die Hoffnung jeder Nation – sie ruinieren unsere Jugend. Alfredo stand auf und rückte seinen Stuhl mit Akkuratesse zu rück an den Tisch. Er hatte etwas abstehende Ohren und eine hohe, nicht ganz glatte Stirn. Robert, dachte Hertzberg. Sie entschuldigen mich bitte, Mister Simmons. Wohlerzogen deutete er eine Verbeugung an. Die Signora errötete, Alfredo verließ das Zimmer. Anschließend sprachen sie über den Unfall, die Landwirtschaft und die Zukunft der ENI. Nichtige Dinge im Grunde, aber es war ihm angenehm, die Zeit so zu verplaudern. Er war sogar dankbar: in Mailand hätte er sich in seinem Hotel gelangweilt. Oder den Dom besichtigt… Es wurde spät. Alfredo wird Sie zurückfahren, sagte Percchoni. Ich habe meine Eltern sehr gern, sagte der Junge im Wagen. Aber es ist hoffnungslos – mein Vater sieht nur das, was er sehen will. Mit dieser gräßlichen Geschichte hat er nichts zu tun, sagte Hertzberg schnell. Es war ein technisches Debakel. Alfredo ging darauf nicht ein. Menschen werden sterben, viel leicht wird die ganze Gegend unbewohnbar sein, für viele Jahre. Natürlich ist keiner schuld, keiner zuständig, niemand ist ver antwortlich. In diesem Land wird alles geregelt – von der Kirche und den sieben Heiligen. Den Rest erledigt die Democrazia Cristiana. Die – sieben Heiligen? Bei uns heißen sie so: Pirelli, Montecatini, Fiat und so weiter – die sieben Großen. Hertzberg schwieg. Dieser Unfall – Vater kennt die Schuldigen sehr genau. Die bei ICMESA und die, die dahinterstehen. Er ist sogar – mitschuldig. 139
Er gibt seinen Namen, er unterschreibt. Protokolle, Zertifikate, irgendwelche Sicherheitsgarantien – alles für das Giftzeug. Wie seine Kollegen tut er getreu die Schmutzarbeit. Selbstverständ lich weiß er das – und schämt sich. Und duckt sich. Er wird sich so lange ducken, bis es eines Tages zu spät ist. Wissen Sie, Doc, was das ist? Wir nennen es: die Verkrüppelung des Menschen durch den Menschen… Hertzberg fühlte sich, als sei er geohrfeigt worden. Alfredo verstummte; auch er schwieg, aber der Junge hielt es offenbar nicht aus. Ich habe ihn wirklich gern – er tut das alles für uns. Vielleicht ist er auch im Grunde gar nicht schuldig. Die Verhältnisse sind so! – Darf ich Sie etwas fragen, Doc? Fragen Sie, sagte er. Er hörte seine Stimme wie die eines Fremden. Muß man nicht etwas dagegen tun? Irgendwann einmal damit anfangen? Ich bin kein Kommunist, habe aber bei ihnen viele Freunde, auch im Seminar. Wir kommen wunderbar miteinander aus, obwohl ich nicht dazugehöre. Ich meine, nicht zum harten Kern. Ich bin nur Sympathisant. Aber acht von zehn ihrer For derungen halte ich für machbar, jedenfalls in Italien. Sie würden auch Pa nicht verurteilen. Nicht endgültig, nicht für immer. Aber – er müßte sich durchringen. Er dürfte das, was jetzt kommen wird, nicht mitmachen. Er wird es aber tun! Ich werde weggehen – ich will, daß er nicht mehr sagen kann, er brauche diesen Job in erster Linie wegen meiner Zukunft! Sie – müssen sich das gut überlegen, sagte er langsam, und Alfredo warf ihm einen raschen Blick zu. Was ist, Doc! Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen blaß aus… Er beherrschte sich. Übermüdet vielleicht, sagte er. Es wird vorbeigehen. 140
Alfredo stellte den Wagen auf einem Parkplatz in der Nähe ab und sagte, daß er ihn bis zum Hotel begleiten werde. Ein Weg von zwei-, dreihundert Metern, nicht mehr. Das Gefühl, mit jedem Schritt unwiderruflich die letzte, aller letzte Chance zu vertun. Alfredo – warum mußte ihn dieser Junge an seinen Sohn Robert erinnern? Von sich aus hatte er mit Robert so gut wie nie über den Dienst in Dugway gesprochen, und Ro bert ließ erst in letzter Zeit – hin und wieder und ohne erkenn baren Anlaß, wie ihm schien – einmal eine Bemerkung über den Job seines Vaters fallen; Robert war immerhin einige Jahre jün ger als Percchonis Sohn. Ein paar Jahre – wieder ein Aufschub, dachte er. Robert mußte es anders sehen als dieser Junge hier. Anders? Und Ruth? Sprach sie nicht heute schon so? Nein – nicht erst seit heute. Hertzberg wälzte sich herum; ihm war, als müsse er ersticken. Nicht nur wegen der Klarheit und Schärfe der Erinnerung; die Einsicht, wie sehr er von Aufschüben, Beschwichtigungen und Selbstbetrug gelebt hatte, Entscheidungen unter dem stets glei chen Vorwand vorgeblicher Ohnmacht ausgewichen war, hatte ihn noch nie so hart und mit solcher Unwiderruflichkeit getrof fen. Denn auch diese – letzte – Chance war ihm entglitten… Noch hundert Meter. Sie liefen wortlos nebeneinanderher. Vor drei oder vier Stunden hatte er diesen jungen Italiener zum ers tenmal gesehen. Ich habe meinen Vater gern, aber… Ich werde weggehen. Er soll nicht mehr sagen müssen, daß er wegen mir… Eine Bordkante. Grell aufzuckend das Licht der Leuchtrekla men. Geblendet stolperte er. Alfredo griff besorgt nach seinem Arm. Es geht Ihnen doch nicht gut, Doc! Sie müssen schlafen… Er nickte. Noch fünfzig Meter, noch dreißig. 141
Er wird wieder alles unterschreiben und seinen Namen hergeben. ES WIRD IMMER SO WEITERGEHEN… DIOXIN. Er blieb stehen, packte den Jungen hart an der Schulter. Hören Sie, Al… Ich kenne Ihre Freunde nicht und will sie nicht kennenlernen. Aber – sie müssen zuverlässig sein, und Sie müssen mich heraushalten! Anders geht es nicht. Der Junge starrte ihn verständnislos an. Er fühlte seinen Herzschlag im Hals, einen Moment wurde ihm schwindlig. Können Sie zu Hause anrufen und sagen, Sie kämen später? Ihre Eltern dürfen sich keine Gedanken machen… Sagen Sie, Sie wären noch auf einem Trip zu Freunden. Oder irgend so etwas… Ich schreibe Ihnen einige Dinge auf, das, was ich weiß. Es wird genügen. Geben Sie es Ihren Bekannten, sie werden Wege fin den, wie man es richtig herausbringt. Dioxin ist – es ist ein Ver brechen. Alfredo schien zu begreifen. Dennoch starrte er ihn immer noch ungläubig an. Leise sagte Hertzberg: Ich bin ein Mann wie – wie Ihr Vater. Und nach einer Weile: Der Brunnen da drüben, wo die Mädchen sitzen… Neunzig Minuten, mehr brauche ich nicht. Geben Sie mir bitte die Hand – es kann sein, daß wir beobachtet werden. Sie Schüttelten sich die Hände, Alfredo verbeugte sich und lief ohne Eile zum Parkplatz zurück. Hertzberg ging ins Hotel, fuhr hinauf in sein Zimmer, goß sich ein Glas Whisky ein und schrieb. Er schrieb alles, was er wußte. Es war, als hätte sein Gedächtnis auf diesen Augenblick gewartet. Er schrieb, so schnell er konnte. Dennoch, wie gewohnt, sauber, leserlich, sogar gegliedert. Die französischen und japanischen Zeitschriften, die die ersten Beiträge gebracht hatten… 142
Der Artikel des deutschen Biologen… Alle Angaben zur Toxizität, die er im Kopf hatte… Er schrieb die Institute in Europa auf, die für sie schnell er reichbar waren und wo sie sich in ein oder zwei Tagen autori sierte Aussagen verschaffen konnten. Er zitierte alles, was er gelesen hatte und was aus der Feder des Hanoier Leberchirurgen stammte. Er unterstrich das Wort: autorisiert. Er unterstrich, daß sie nur dann etwas erreichen würden, wenn hinter jeder Angabe, hinter jeder These der Name einer Fachautorität stand. Solche Leute gibt es bereits, schrieb er, die Arbeiten häufen sich. Treibt sie auf! Fahrt nach Paris! Wartet besser ein paar Tage, es muß stichhal tig sein. Die Medien machen euch sonst kaputt! Sechs Bogen Briefpapier. Er steckte sie in einen Umschlag und klebte ihn zu. Seine Lippen waren trocken, er hatte das Glas nicht angerührt. Er hatte nicht einmal geraucht. Jetzt trank er das Glas aus, zog sein Jackett an und fuhr hinunter. Alfredo saß mit einem anderen jungen Mann auf dem Rand des Brunnens. Er sah sich um. Wieder spürte er den Schlag seines Herzens. Er setzte sich neben die beiden, brannte sich eine Zigarette an. Er rauchte einige Züge, dann stand er auf und ging. Schräg über den Platz. Einmal wandte er sich um – der Umschlag war ver schwunden. Er blieb noch vier Tage. Percchoni machte ihn mit weiteren Herren der Firma bekannt; die Sprachbarriere war weniger ge wichtig, als er befürchtet hatte. Die meisten von ihnen sprachen erträgliches, teilweise gutes Schulenglisch. Wie üblich gab es einige, die »die Staaten kannten«. Auf diese Feststellung legten sie Wert. 143
Insgesamt erfuhr er genug. Die Mehrzahl seiner Gesprächspart ner gestand ihm unumwunden, wie wenig sie der Vorfall be rührte. Denn: Man konnte nichts dagegen tun. Havarien bei so einer Produktion wie unserer – oh, ich bitte Sie, Mister Simmons! Das wissen Sie genauso gut wie wir. Wahrscheinlich besser… Überhaupt war er der Mann, der sowieso alles besser wußte. Er kam von Du Pont, man erwartete das von ihm. Tatsächlich interessierte sie seine Meinung wenig. Wichtig war lediglich, daß sie ihren Job, ihre Verträge, ihr Einkommen behielten. Sie waren unschuldig. Ein Mann vom Projektierungsbüro lud ihn ein für einen Abend in Turin. Es wird Ihnen gefallen, Doc! Torino é una cittá americana… Er schrieb auf, was er hörte, und brachte es jeden Abend pünk tlich zum Bahnhof. Auch das schien tadellos zu funktionieren, das Schließfach war am nächsten Tag immer geleert. Am fünften Tag fand er ein Tramticket mit der vereinbarten Zahlenfolge. Erleichtert kehrte er ins Hotel zurück – die letzte Nacht. Er bat die Hosteß, seinen Rückflug zu buchen. Von Alfredo hatte er nichts wieder gehört, das beruhigte ihn. Sie sollten, mußten sich einige Zeit lassen. Es durfte nicht mehr als ein Schlag werden, und der mußte treffen. Gleichgültig, wo sie es unterbrachten, auf jeden Fall würde es eine Sensation werden. Dann würden sich auch die Großen darauf stürzen: der Corriere, II Giorno, La Stampa. Das würde genügen, die Leute auf der Straße waren hellhörig. Er duschte, ging danach in eine Trattoria. Nun, da er wußte, er würde zurückkehren und diese Stadt nie wiedersehen, begann sie ihm zu gefallen. Er bestellte Zuppa di Pavese, Lasagne, probierte die berühmte Polenta e Osei. Das Jackett des Kellners sah aus, als hätte es in einer mit Tomaten ausgetragenen Schuljungenschlacht als Zielscheibe gedient; der Mann war jedoch flink und überdies 144
höflich. Auf dem Tisch brannten Kerzen; er trank einen halben Krug Sassela. In zwei Tagen war er wieder zu Hause. Bei Ruth… Und Rob würde kommen, sie könnten draußen sitzen, Ruth würde Limonade machen, und er würde sehen, wie das eiskalte Glas schnell beschlug, die Tropfen wuchsen und schließlich an der Wand herunterflossen. Vielleicht würden sie pokern oder ver suchen, in der Nacht ein paar Aufnahmen von den Fledermäusen zu schießen. Rob wußte immer noch nicht, wie er sich entscheiden sollte. Biologie oder Geschichte. Oder Jus… Für den Job sei Jus besser, hatte ihm sein Sohn erklärt. Und hinzugefügt: Eine Menge Sauereien – überall. Du mußt dich nur umsehen, Pa! Und die Leute sind hilflos… Aber davon ahnst du natürlich nichts, du brütest über deinen Giften. Die auch ein Fall für den Staatsanwalt wären – weißt du das eigentlich? Ruth preßte dann die Lippen zusammen und ging ins Haus. Egal… Der Sassela war gut; wenn er sein Glas anhob, funkelte der Wein. In Rom empfing ihn Speeder. Okay, Colonel… Ich habe Ihre Tickets – für Washington. Breadlaw erwartet Sie… Zu Breadlaw, nach Washington. Kein Gedanke mehr an Ruth, an Rob – in Sekundenschnelle wurde ihm klar, daß er nur aus Angst bestand. Hatten sie seinen Kontakt registriert? Er mühte sich vergeblich, in Speeders Gesicht irgendeine Re gung zu erkennen. Er sprach und benahm sich nicht anders als am ersten Tag. Er trug auch das gleiche Jackett, und die beiden Goldzähne schimmerten im gleichen kalten Glanz. Keine An 145
zeichen einer Veränderung, mit einer Ausnahme vielleicht: ir gendeine schwer definierbare, jedoch unverkennbar anzügliche Art von Respekt. Die ersten Sekunden… Bitter bereute er, daß er die Möglichkeit, ständig beobachtet worden zu sein, nicht mit letzter Konsequenz bedacht hatte. Jetzt war es zu spät – und geradezu lächerlich die Hoffnung, Speeder würde preisgeben, wieviel er wußte. Die Pein des Rückfluges… Er schlief ein, träumte, wachte auf, schweißgebadet. Sie waren noch nicht einmal über dem Atlantik. Natürlich war es Geheimnisverrat. Er versuchte, sich so exakt wie möglich ins Gedächtnis zu rufen, was er für Alfredo und dessen Freunde aufgeschrieben hatte. Da war von Dugway keine Rede, aber – noch dem mittelmäßigsten Provinzanwalt würde es nicht schwerfallen, ihm nachzuweisen, daß Kenntnis von den genannten Fakten – und ihrem inneren Zusammenhang! – nur ein Insider haben konnte. Ganz abgesehen von seinem dringenden Rat, alles ausfindig zu machen, was dieser kommunistische Le berspezialist aus Nordvietnam in Orsay und anderswo auf den Tisch gelegt hatte. Er setzte die Kopfhörer auf und wählte die Kanäle durch. Jazz, das Wetter, Jazz, die Übertragung eines Baseballmatches aus Los Angeles, dann die Stimme einer Stewardeß, wahrscheinlich die der Negerin. Sie überflogen den Nullmeridian. Er sah auf seine Uhr, rechnete die Stunden aus, schloß die Augen… Vom Flugplatz aus fuhr er sofort ins Pentagon. Es dauerte eine Ewigkeit, bis man seinen Namen auf einer der Listen fand. End lich nickte der Lieutenant. Einen Augenblick noch, Sir… Er sagte etwas zu den beiden Sergeanten; der größere, ein glattrasierter hünenhafter Kerl, schaute auf und musterte ihn 146
träge. Der Sergeant begleitet Sie, Sir! Der Lieutenant legte den Finger an die Mütze. Der Sergeant überragte ihn um Kopflänge. Er fühlte, wie ihm der Schweiß über die Rippen lief. Nach ei nigen Schritten hielt er den Sergeanten zurück. Der grinste, ‘tschuldigung, Sir! Der Wagen steht da drüben… Für Sie mag es schön sein – unsereiner holt sich hier Plattfüße. Es gelang ihm nicht, seine Gedanken unter Kontrolle zu brin gen. Sie wissen alles… Das Pentagon war offenbar noch sehr viel größer, als er es sich vorgestellt hatte. Flure, Korridore, Gänge… Wieder hatte er Mühe, den Schritten des Sergeanten zu folgen. Er mußte in Breadlaws Vorzimmer warten. Vor dem Fenster befand sich blauer Himmel, sonst nichts. Dann tauchte ein Flugzeug auf, weit weg, sicher über dem Potomac. An der Mündung, dachte er. Dann ein zweites Flugzeug… Sie wissen nichts. Wenn sie etwas wüßten, hätten sie dich nach der Landung verhaftet. Das heißt – Breadlaw hatte ihn bestellt. Er konnte es hier tun. Tun lassen – unauffälliger sogar, als… Wenn du reinkommst, bevor das nächste Flugzeug vor dem Fenster erscheint, geht es gut. Sein Hemd klebte. Die dritte Maschine war eine Boeing, ganz nah. Er konnte sogar die Kennzeichen entziffern. Dave, mein Lieber! Er fuhr herum. Breadlaw stand hinter ihm, mit ausgestreckten Händen. Er war durch die andere Tür gekommen. Wie ein Geist – er hatte nichts gehört. Dave – entschuldige! Es ist – bitte! Komm! Es ist wirklich, nein – aber du wirst das verstehen! Etwas kommt dir hier immer ins 147
Getriebe – mehr als zwei Minuten haben wir nicht für uns… Eine elegante Handbewegung, ein Lächeln, gleich darauf wie weggewischt. Ich muß ‘rüber… Breadlaw ging mit schnellen Schritten auf und ab. Ein riesiges Zimmer. Der Republikaner – grau, smart, anständig – er sah immer zu still aus, auf allen Fotos. Zu still, zu anständig und – zu intelligent. Vielleicht war er es – helfen mochte es ihm wenig. Amerika hatte immer tüchtige Präsidenten gebraucht – keine intelligenten. Gedankenkonfusionen einer halben Sekunde. Er fühlte die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Breadlaw verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. Je denfalls – du hast das großartig gemacht. Nein – bitte! Dabei kannst du so naiv tun… Na gut! Wir sind hier sehr froh, Dave – dein Trick hat uns eine Menge Ärger erspart. Sehr geschickt, das muß ich sagen… Ein Gefühl, als ob das Zimmer beginne, sich langsam um ihn zu drehen. Sie haben ihre Kräfte ganz auf den Köder konzentriert, den du ihnen zugeschoben hast. Dadurch hatten unsere Freunde Zeit und konnten sich vorbereiten. Gestern abend haben sie die ganze Bande festgesetzt und die Ware kassiert. Eine Menge, was sie zusammengetragen hatten. Eine ungute Menge. Ja… Der Rest ist eine Angelegenheit der Behörde, zumal die meisten dieser jungen Leute keine unbeschriebenen Blätter sind. – Laß dich beglück wünschen, Dave! Er lachte. Es klang herzlich. Dieser Speeder – du hast ihn ken nengelernt – es hat ihn offenbar gewurmt, daß du ihn nicht ein geweiht hast. Ich, Dave – das muß ich dir gestehen – , fand deine Variante besser. Immerhin warst du auf dich gestellt, und – um der Wahrheit Genüge zu tun – unseren anderen beiden Männern 148
ist nichts Vergleichbares eingefallen. Also – ein rascher Blick auf die Uhr – Dave, alter Junge, grüß die Crew unten! Breadlaws Lachen – er hatte es nicht vergessen, nicht vergessen können. Es war nicht mehr wichtig, wieviel Breadlaw wirklich wußte oder ahnte und ob er erwogen hatte, ihn zu bestrafen, oder nicht. Die Möglichkeiten dazu lagen in seiner Hand, es war Auslegungssache. Wozu? Der Vorgang war erledigt, die Ware kassiert. David Hertzberg – der Wurm. Wenn er sich schon – womöglich – tatsächlich einmal als nicht loyal erwiesen hatte – so doch auf jeden Fall als nützlich. Als benutzbar. Nein – diese Minuten waren aus einem anderen Grunde nicht zu vergessen: zum ersten Mal hatte er damals jenes Gefühl verspürt, daß sich zu seiner Angst gesellte und mit dem er fortan leben würde: Haß. Auch wenn er, in den Tagen und Wochen danach, noch nicht begriff, noch nicht begreifen wollte, daß auch Haß nicht das letzte sein konnte und schon gar nicht: eine Entscheidung. Breadlaw drückte auf eine Taste. Die Papiere für den Colonel, Spesenausgleich und so weiter. Sie erledigen das, Elizabeth, ja! Händeschütteln. Gerald F.s dünnes, reserviertes Lächeln aus dem schweren Rahmen heraus. Die lautlose Tür. Er dankte Elizabeth. Allein im Flur, in den Korridoren, im Fahrstuhl. Den Ausweis geben Sie vorn ab, Sir… Die nicht vorstellbare Erleichterung. Er lebte, war frei. Der blaue Himmel über dem Potomac war nur für ihn. Ich bin ein feiger Hund, dachte er. DIOXIN: ES WIRD IMMER SO BLEIBEN.
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14 Das schnell näherkommende Geräusch mehrerer Hubschrauber schreckte Hertzberg auf. Er kroch aus dem Schlafsack. Auch Carter erwachte. Das Feuer, Dave! Sie müssen uns se hen… Der Colonel arbeitete fieberhaft. Seine Hände zitterten. Endlich fing der Würfel Feuer, das Holz begann zu qualmen. Carter legte sich neben das Feuer und versuchte, es durch kräf tiges Blasen anzufachen. Wir müßten Benzin haben… Er keuchte. Hertzberg wandte sich hilflos um. Die Maschinen flogen über sie hinweg, drei Stück. Carter richtete sich auf. Sie sind zu schnell… Trotzdem müßten sie uns gesehen haben! Sie blickten sich an, und nach einer Weile ließ Hertzberg den Kopf sinken. Sei nicht niedergeschlagen, Dave! Wenn sie uns nicht bemerkt haben – es werden andere kommen. Ganz und gar die einzigen sind wir hier nicht – es sind immer einige Leute unterwegs. Wenn es sich um Geologen handelt, Angestellte von der Behörde oder um einen Arzt – in Fairbanks weiß man das und in Yukon erst recht. Hertzberg nickte. Du hast ruhig geschlafen – es geht dir besser. Ja… Und Hunger habe ich. Bloß jämmerlich schlapp alles – das fühle ich schon. Zeig mal, was deine Augen machen! Die Lider waren verkrustet, und die Bindehaut war immer noch gerötet. Nicht so schlimm, wie ich zuerst befürchtete. Wir hatten wirklich Glück, Junge. Aber das habe ich wohl gestern schon gesagt – weg müssen wir trotzdem. Glaubst du, daß du laufen kannst? Der Guide stand auf, streckte sich und lächelte. Ich bin ein 150
Halbblut, und meine Mutter ist eine Indianerin. Hast du das vergessen? Dann versuche dich zu waschen, du – Halbblut! Carter grinste. Werde ich, Dave… Er griff nach dem leeren Kanister, der zweite war noch halbvoll. Hertzberg kochte Kaffee, putzte dann die Pfanne, und als er dabei war, Speck zu schneiden, kam Carter zurück. Der Colonel sah auf und schluckte. Das Gesicht des Guides war schweißüberströmt, er stolperte und ging neben dem Feuer regelrecht in die Knie. Mein Gott, Dave – ich kann kaum den Arm heben. Wir haben auch nichts im Bauch, knurrte Hertzberg. Leg dich auf deinen Sack, ich mache das schon. Den Kaffee tranken sie mit Appetit, als Hertzberg jedoch nach dem ersten Pfannkuchen griff, empfand er einen plötzlichen und starken Widerwillen. Er wollte sich nichts anmerken lassen, biß ab, kaute, biß ab – wie eine Maschine. Es scheint dazuzugehören, Dave… Gib dir keine Mühe, ich sehe, was los ist. Ich kriege auch nichts hinter, einfach kein Speichel. Lieber ein leerer Magen als noch mal diese Kotzerei! Wir müssen, widersprach Hertzberg. Wir müssen… Wir schaffen sonst keine einzige Meile. Ich habe noch Büchsen im Sack. Pfirsiche, glaube ich. Hertzberg öffnete eine Dose; sie aßen die Früchte aus ihren Kaffeebechern. Besser? Ja. – Danach bezwangen sie den Widerwillen, würgten jeder noch zwei Pfannkuchen hinunter und besprachen die Route, die sie gehen wollten. Es ist der längere Weg, sagte Carter, jedoch der leichtere. Ziemlich öde – nasse plains. Erstens aber fallen wir da eher auf, und zweitens – das Coleental wäre jetzt für uns eine Strapaze. 151
Er bestand darauf, beide Gestelle zu packen. Es war ohnehin nicht viel, was sie zurücklassen konnten: einen Topf, einen Ka nister, etwas Wäsche. Was ist mit den Decken? Carter schüttelte ablehnend den Kopf. Die bleiben dabei – sie wiegen ohnehin so gut wie nichts. Das Schwerste war Carters Stutzen; Hertzberg hängte ihn sich um. Drei Tage, sagst du? Ich hoffe es. Normalerweise brauchte ich nicht mehr als zwei. Am ersten Tag legten sie nicht ganz fünf Meilen zurück. Carter fiel zweimal um. Er lief drei Schritte vor Hertzberg, als er stehen blieb, wäre der Colonel beinahe auf ihn geprallt. Er wich zur Seite aus, drehte sich um, im gleichen Moment sackte der Guide zusammen. Er fiel aufs Gesicht, streckte die Beine aus und rührte sich nicht. Hertzberg drehte ihn auf die Seite und wischte die Erde von seiner Stirn ab. Carter schlug die Augen auf und schloß sie gleich wieder. Der Colonel griff nach seinem Handgelenk, fühlte den Puls. Er wartete noch eine Weile, bevor er ihm zu trinken gab. Einen Schluck Wasser, einen Löffel Saft. Der Guide erholte sich schnell. Es ist nichts, Dave… Plötzlich war es schwarz, und dann kam mir der Hang entgegen. Dein Puls ist dünn… Zwei Stunden später ereignete sich das gleiche, mit dem Un terschied, daß es Hertzberg noch gelang, zuzugreifen und ihn aufzufangen. Keinen Schritt mehr heute… Carter fügte sich ohne Widerspruch. Da unten, hinter den Fichten, ist ein Strudelloch im Hang. Jetzt ist es trocken… Sie stellten die Zelte gar nicht erst auf und schliefen sofort ein. Keiner von beiden hatte die Kraft, sich um ein Feuer zu küm 152
mern. Morgen… Zweimal wachten sie auf, jedesmal, als sie von Hubschraubern überflogen wurden. Carter fühlte sich früh so, daß sie gemeinsam Holz für das Feuer zusammentrugen. Noch eine Nacht ohne Feuer können wir uns nicht leisten, sagte Hertzberg. Es muß einfach sein – sie hätten uns bestimmt gesehen. Carters Erythem bildete sich zurück. Er trank zwei Becher Kaffee, schaffte aber wieder nicht mehr als zwei Pfannkuchen. Hertzberg steckte das halbe Dutzend der übriggebliebenen in einen Beutel. Das Packen nahm nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch. Carter hockte neben dem Feuer, Hertzberg bemerkte den Aus druck von Apathie in seinem Gesicht. Verbleibende allgemeine Schwäche, schnelle Ermüdbarkeit, Beeinträchtigung der Motorik – dadurch insgesamt bedingt Fehlleistungen vor allem im Bereich der Koordination… Typi sche Kennzeichen für den Zeitraum zwischen Ende der Primär und Entwicklung der Latenzperiode. Wie stark war die Bestrah lung des Kopfes gewesen? Er erinnerte sich auch, daß – vom Erbrechen abgesehen – irgend etwas mit dem Magen-Darm-Trakt passierte. Vielleicht später… Sie mußten weiter. Komm, Gerry… Sie durften von Glück reden, daß sie sich für diese Route ent schieden hatten. Die Gefahr, den Pfad zu verlieren, bestand praktisch nicht. Er führte nur sehr allmählich tiefer, und die Hänge zu beiden Seiten waren meistens so flach, daß sie weit genug sehen konnten. Der Wald war dünn und brüchig, und die Höhe der Bäume war so gering, daß er aus einiger Entfernung eher wie Buschwerk aussah. An feuchteren Standorten stockten 153
Schwarzfichten, einige Birken, manchmal eine Balsampappel. An trockenen Stellen wuchsen hin und wieder ein paar Espen, Zwergwacholder und dürre Lodgepole Pines. Gegen Mittag kreuzte ein einzelner Hubschrauber ihren Weg; er flog, zwei oder drei Minuten, nachdem sie eine flache Wasser scheide überquert hatten, über den gleichen Kamm nach Osten. Hertzberg schaute ihm mit dem Glas nach, solange er ihn sehen konnte. Carter stöhnte. Ich habe ihn nicht gehört! Erst, als er schon vorbei war… Hertzberg winkte resigniert ab. War gar nicht möglich, der Kamm hat das Fluggeräusch bis zuletzt aufgefangen. Außerdem – das war ein Scout. Sie sind relativ leise, weil sie einen Fünf-Blatt-Rotor haben. Der da hatte auch Radar drauf. He ckenspringer… Vietnam? Ich weiß nicht, ob die Army sie da schon hatte. Diese Ausfüh rung wahrscheinlich nicht. An einem Wasserloch fanden sie eine tote Gans. Sie lag auf dem Bauch, mit ausgebreiteten Flügeln. Weit ist sie nicht gekommen, sagte Carter. Später fanden sie drei Enten, einen Brachvogel und einen Gichtläufer. Sie waren alle tot. Das Gefieder des Gichtläufers sah aus, als wäre er durch eine Rußwolke geflogen. Carter hob ihn auf, wog ihn in der Hand. Kleiner Vogel – so leicht! Er war bereits steif. Carter legte ihn wieder ins Gras. – Wieviel werden wir geschafft haben? Vier Meilen, vielleicht fünf. Höchstens… Carter wollte nichts essen, der Colonel redete ihm zu, schließ lich aßen sie jeder eine halbe Tafel Schokolade. 154
Danach kamen sie ein ganzes Stück besser voran; obwohl es ständig abwärts ging, wurde es merkwürdigerweise trockener. Eisenhut blühte noch, auch an den meisten Rosenbüschen sahen sie noch Blüten. Es regnet, sagte Carter. Auch Hertzberg hatte es bemerkt. Große, warme Tropfen fielen. Der Himmel hatte sich verfärbt, er sah weißlich aus, mit mal venfarbenen Rändern. Wir müssen uns beeilen, sagte Carter. Es klang so, als könne er sich selbst nicht vorstellen, wie sie das anstellen sollten. Sie versuchten es auch gar nicht erst. Wenig später frischte es auf; der Wind kam aus Norden und blies ihnen in den Rücken. Falscher Wind! meinte Carter. Um diese Jahreszeit gibt es keinen Wind, der von der Küste kommt. Kennst du hier in der Nähe einen Platz für die Nacht? Nein! Jetzt kommt ein Quertal, dann eine halbe Meile Gehölz, dann verläuft der Trail lange in einem Tal, das aussieht wie ein V. Erst am Ende dieses Tales gibt es wieder ein paar gute Flecke. Das heißt – hier können wir nicht kampieren? Nein. – Laß mich vornweg gehen, bitte… Lauft, Füße, lauft… Nach einiger Zeit verbreiterte sich der Pfad, so daß sie nebe neinander gehen konnten. Zuerst stockend, allmählich jedoch fließender begann Carter zu erzählen, sich nur unterbrechend, wenn ihn Ermattung und Luftknappheit dazu zwangen – oder die Bodenverhältnisse größere Aufmerksamkeit verlangten. In der Zeit, als er in die Schule ging, hatte seine Mutter nur selten mit ihm über ihre Familie gesprochen. Damals hatte er nur gewußt, daß es eine kleine Familie gewesen war, sieben Men schen. 155
In dem Jahr, das vor dem Jahr kam, in dem sie alle – außer ihr – verhungerten, hatten sie sehr viel Lachs gefangen. Guten Chum – dog salmon nannten ihn die Weißen. Dann fiel im Winter sehr viel Schnee, und an zwei der angelegten Vorratslager kamen sie nicht mehr heran. Ihr Vater fand auch kein Wild mehr. Nicht einmal Spuren von Wild. Nur einmal brachte er zwei Hühner. Dann hatten sie auch keine Beeren mehr und zuletzt nur noch Mehl, etwas Zucker und ganz wenig Salz. Ihr Vater sagte, auch die Tiere würden sterben, wo sie zu Hause waren, sie würden da nicht weggehen, und deshalb könne er sie nicht finden. Deshalb müßten sie nun weggehen. Der Wind wehte immer aus der gleichen Richtung, und es war so kalt, daß man nicht denken konnte. Nur laufen. Zuerst blieben ihre Tanten zurück, weil sie schon zuvor immer nur sehr wenig gegessen hatten. Dann starben ihre Brüder, und sie blieben eine Nacht bei ihnen. Dann starb ihre Mutter. Das war, als sie schon den großen Fluß erreicht hatten. Zuletzt schlief sie nur noch; ihr Vater zog den Tobbogan über das Eis des großen weißen Flusses. Einmal wachte sie auf, da lag er neben ihr und wärmte sie. Vielleicht war er da auch schon tot… Später, als er aufs College kam, erklärte ihm die Mutter, warum sie geglaubt hatte, daß es nicht gut sei, wenn sie ihm mehr von der Geschichte ihrer Familie und der Geschichte der Indianer überhaupt erzähle. Es ist nicht gut, den Blick zurückzurichten, sagte sie. Die Ver gangenheit – das ist ein Totenreich. So tot wie unsere Familie. Die Zeit der Indianer ist abgelaufen; es gibt keine Stämme mehr und keine Gesetze, und es gibt nichts, was den wenigen, die noch leben, wirklich gehört. Amerika gehört den Yankees, und es ist allein ihre Angelegenheit, damit umzugehen. Wenn du sie nicht störst, lassen sie dich in Ruhe. Und nicht 156
stören tust du sie nur, wenn du so lebst wie sie. Das ist ihr Gesetz: Sei Amerikaner. Ich habe bald dreißig Jahre für sie gearbeitet, ich habe sie kennengelernt – es sind Menschen. Sie sind nicht schlechter als wir, sie sind anders. Auch ihre Götter sind anders. Sie glauben an die Technik und daran, daß die Zeit dem Men schen gegeben ist, damit er Geld aus ihr schlägt. Dafür beten sie in ihren Kirchen, dafür haben sie ihre sehr komplizierten und sehr verdrehten Sätze, die man nicht versteht. Ich habe sie verstanden – nicht in der Kirche, aber im Krankenhaus. Wenn du für sie arbeitest, verstehst du sie. Sie verschenken nichts, und sie sind sehr tüchtig. Ich meine nicht den oder den; natürlich gibt es auch faule Yankees und solche, die einfach böse sind oder dumm. Oder Trinker oder Mörder. Einen Mörder zum Beispiel bestrafen sie, weil sie glauben, daß er ihre wichtigen Gebete beschmutzt und ihren Erfolg gefährdet. Sie sind sehr abergläubig. Aber in sgesamt, als Volk, sind sie sehr tüchtig. Diese Zeit jetzt ist ihre Zeit, und vielleicht ist sie es für immer. Ich glaube, daß sie das letzte Volk sein werden, das in Amerika lebt. Sie werden alles aufbrauchen, was es gibt: die Erde, den Stein und das Wasser und den letzten Grashalm. Auch das gehört zu ihrem Gesetz, und sie können nicht anders. Sie haben keine Ehrfurcht. Was danach sein wird: Ich weiß es nicht. Ob sie dann zu dem Gott kommen, zu dem sie beten? Ich bezweifle es, weil – daran sind sie in Wahrheit gar nicht interessiert. Wenn dieser Gott so beschaffen ist, wie es in ihren Büchern steht, wird es ihnen bei ihm nicht gefallen. Ein Job ohne Geld ist keiner, und eine Zeit, in der nichts geschieht, ist keine Zeit. Nein, sie werden einfach tot sein, ganz Amerika wird tot sein. Keiner weiß, wieviel Zeit bis dahin noch vergeht… Doktor Barney sagte kürzlich zu mir: Jane, Sie sind eine unbe scholtene Frau – beten Sie für mich. Dieses Land steht vor dem Abgrund und ahnt es nicht einmal! – Sie dürfen so was nicht 157
denken, Doc! sagte ich zu ihm, und er erwiderte: Ach, Scheiße! und spuckte in den Papierkorb. Und dann sagte er noch: Ent schuldigen Sie, Jane! Im letzten halben Jahr hat er sich dreimal bei mir entschuldigt. Er weiß genau, daß er das nicht tun muß. Er fährt mit Mistress Hemslow, der neuen Anästhesistin, zum An geln. Er war auch mit ihr in Vancouver. Sie soll kommunistisch sein; Oberarzt kann sie jedenfalls nie werden. Doktor Barney hat gesagt, ihm sei das gleich. Aber solche Leute gibt es sehr wenige, und ob es einmal so viele sein werden, daß es ihnen gelingt, neue Gesetze für die Amerikaner zu machen – ich weiß es nicht. Sicher ist nur, daß wir unter ihnen leben, in ihrem Strom schwimmen. Ihr Schicksal wird unseres sein, wir sind keine Indianer mehr. Das mußt du begreifen, so, wie ich es begriffen habe… Ihr Schicksal wird unseres sein! Diese Bombe hatte ihn genauso erwischt wie den Colonel, und sie wird auch keine Rücksicht auf alle die genommen haben, die sich außer ihnen noch in dieser wunderbaren Ecke befanden. Da mußte die Mutter wohl recht haben: Auch für den Effekt war es verdammt noch eins höchst gleichgültig, ob er sich auf einem Zweiertrip mit dem Colonel oder sonst jemandem befand oder die Zeit allein verbummelte. Eine Bombe in Amerika und, wie man nun mit Sicherheit annehmen durfte, eine ganz und gar amerikanische noch dazu – da spielte die Hautfarbe der Betrof fenen keine Rolle. Für die Bombe, meinte Gerald Carter, war ich tatsächlich ein Amerikaner. Wie alle anderen auch und sonst – nichts. Vielleicht war diese Bombe etwas, was zu den Dingen gehörte, die Doc Barney den Abgrund der Nation genannt hatte. Obwohl so was keiner wissen konnte. Nicht einmal der Colonel hatte immer gewußt, woran oder wofür er arbeitete. Jedenfalls nicht genau und nicht, was man damit anstellen konnte. Oder – daß sie 158
es tatsächlich auch machten. Wenn es aber so war, dann hatte die Mutter auch damit recht: Irgendwann würde alles tot sein. Carter hörte, wie der Colonel hinter ihm keuchte, fand aber nicht die Kraft, sich umzuwenden. Seine Füße liefen von allein, er spürte sie ebensowenig wie seine Schultern oder seine Arme. Er hatte keine Schmerzen, und sein Kopf war ganz leicht. So, als ob er gar nicht mehr mit seinem Körper verbunden sei… Mein Körper ist schon tot, dachte er, ich lebe nur noch mit meinen Gedanken. Wenn ich aufhöre zu denken, ist alles vorbei. Meine Füße gehören mir nicht mehr, auch die Beine nicht, nicht einmal das Herz… Nur der Kopf, so leicht, und vor ihm ist alles hell, und die Erde über ihm ist dunkel und schwer und… Als er die Augen aufschlug, sah er in das Gesicht des Colonels. Er lag auf dem Rücken, und der Colonel beugte sich über ihn. Der Regen war stärker geworden, Hertzbergs Haare waren naß; Carter sah, wie ein großer Tropfen am Ohr vorbei über die Wange zum Kinn lief und da hängenblieb. Das Kinn war schwarz. Gerry! sagte der Colonel. Alter Junge… ein bißchen bekam ich dich noch zu fassen. Carter bewegte die Lippen. Hinter seiner Stirn schlug ein Hammer. Hertzberg gab ihm etwas Wasser zu trinken, nach einer Weile richtete sich der Guide auf. Der Hammer in seinem Kopf schlug langsamer und nicht mehr so heftig. Es geht, murmelte er und versuchte zu lächeln. – Das V-förmige Tal, das Carter erwähnt hatte, erreichten sie nicht mehr. Am Rande einer schmalen Felsrippe fand der Colonel einen Platz, der für die Nacht zumindest einigen Schutz gegen den Regen versprach. Der Guide nickte apathisch. Normalerweise wäre das gar nichts, 159
aber so, wie der Wind heute steht – es ist alles durcheinander… Im Kanister befand sich nur noch ein kümmerlicher Rest Was ser, zwei Schlucke für jeden. Wir hätten unterwegs darauf achten sollen, sagte Carter. Es ist meine Schuld. Hertzberg winkte ab. Morgen früh… Es war die zweite Nacht, sie verlief ohne Zwischenfälle. Der Regen strömte gleichmäßig; sie brachen auf, ohne etwas geges sen zu haben. Nach drei Stunden kamen sie in die Gegend, von der Carter gemeint hatte, daß es in ihr wieder gute Lagerplätze gäbe. Das Gehölz wurde allmählich dichter. Sie fanden Wasser, kochten Kaffee und Grütze. Sie aßen die Grütze mit Appetit. Carters Erythem war verschwunden. Der Regen war immer noch ziemlich warm, er drang in ihre Kleidung ein, die Parkas hatten sich vollgesaugt, und auch die Schlafsäcke waren feucht. Sie blieben trotzdem liegen. Der Himmel sah aus wie die Haut auf frisch geschmolzenem Blei. Die Flugzeuge sahen sie nicht, sie hörten sie aber. Einmal richteten sie sich auf, als zwei Hubschrauber einige hundert Meter hinter ihnen quer zu ihrer Marschrichtung vorüberflogen. Aber sehen konnten sie sie, wie gesagt, nicht. Die Anzahl der toten Vögel in Sichtweite ihres Weges hatte sich verringert. Jedenfalls die Anzahl derjenigen, die ihnen aufgefal len waren. Sie hatten darauf nicht mehr geachtet. Sie haben uns längst entdeckt, sagte Carter. Die Hubschrauber? Ja… Sie wissen, wo wir sind und was wir tun, das scheint ihnen zu genügen. Warum? Haben sie immer noch keine Klarheit über das, was passiert ist? Sie sollten sie haben, sagte Hertzberg. Warum holen sie uns dann nicht heraus? Der Colonel stand auf. Komm, Gerry – wir versuchen es. Es 160
kann nicht mehr weit sein. Am Ende dieses dritten Tages erreichten sie den Coleen. Sie unterschieden sich nicht mehr von dem Land ringsum: Sie sahen braun aus und grau. Ihre Stiefel waren schlammverkrustet, sie hatten Schlamm im Gesicht, er klebte in ihren Haaren; der Regen weichte ihn immer wieder auf. Das Wasser, das aus ihren Parkas tropfte, sah braun aus. Es war nicht mehr so warm wie am Abend zuvor, dennoch schwitzten sie viel stärker als an den beiden ersten Tagen. Dem ständigen Durstgefühl zu widerstehen kostete sie nicht weniger Kraft als der Kampf gegen die Schwäche in ihren Gliedern. Der Abstieg zum Coleen begann unverfänglich, aber das Tal, dem sie zunächst folgten, löste sich bald in ein unübersichtliches Gewirr von Schluchten und Abbrüchen auf. Wir befinden uns ungefähr sechs Meilen oberhalb der Hütte, sagte Carter. Bleib hinter mir… Schon vor einigen Stunden hatte der Guide zum erstenmal darüber gesprochen, daß er sich nicht mehr so schwindlig fühle. Schwach und müde schon – aber der Kopf ist wieder gut. Er schwebt nicht mehr, er ist wieder wie früher. Auf der ersten, obersten Terrasse mußten sie durch steinwurf weite, knietiefe Pfützen waten. Hertzberg glitt aus und fiel, er blieb liegen, mit dem Gesicht im Wasser, er hob den Kopf erst, als er keine Luft mehr bekam. Ich kann nicht mehr, Gerry… Der Guide half ihm heraus. Du denkst an die sechs Meilen bis zur Hütte? Hertzberg nickte. Carter schüttelte ablehnend den Kopf. Die schaffe ich auch nicht. Nicht mehr heute… Wir brauchen aber ein Feuer und warmes Essen! Ja. Ein Stück weiter unten ist ein kleines Camp, ich habe es vor 161
zwei Jahren eingerichtet. Für diese Nacht genügt es. Sie brauchten noch eine halbe Stunde. Hertzberg überstand sie nur dank der Gewißheit, an diesem Tage nicht mehr bis zur Cabin zu müssen. Zwischen dem rohen Geviert einiger gut mannshoher Stein blöcke hatte Carter einen Windschirm mit einem Schleppdach errichtet und die Fugen zwischen den Stämmen mit Lehm und Moos abgedichtet. Unter dem Schleppdach befand sich eine Feuerstelle; der Flecken war trocken. Zieh die Stiefel aus und häng die Parka auf, sagte Carter. Und leg dich hin! Ich hole Holz. Als er zurückkehrte, war Hertzberg eingeschlafen. Der Guide kochte Kaffee und dieselbe Art von Grütze, die sie am Vormittag gegessen hatten und die ihrem Magen offenbar gut bekommen war. Danach breitete er die Schlafsäcke aus, wusch sich das Ge sicht und weckte den Colonel. Sie aßen die Grütze und kochten danach einen zweiten Topf voll davon. Ein Hubschrauber kam über dem Fluß herauf, schwenkte, als er ihre Position erreicht hatte, auf die andere Seite des Tales und kreiste zweimal. Mit dem Glas erkannten sie sogar die Um risse des Piloten in der Kanzel. Der Colonel stieg auf einen der Blöcke und winkte. Die Maschine drehte ab und flog zurück. Es war nicht vorstellbar, daß die Männer im Hubschrauber sie nicht bemerkt haben sollten. Sie wollen nicht, sagte Carter. Nein, murmelte Hertzberg. Sie wollen nicht. Verstehst du es? Ich glaube ja, antwortete der Colonel. Ich glaube, daß ich es jetzt verstehe. Ich versuche morgen, es dir zu erklären. Morgen, sagte der Guide, morgen sind wir in der Hütte. Wir haben es geschafft, Dave… Ich habe nicht daran geglaubt, am 162
Anfang. Sie sahen sich an und schwiegen. Dann schliefen sie, ohne Unterbrechung, dreizehn Stunden. Im Laufe der Nacht nahm der Regen an Stärke zu, und der Fluß begann, schnell zu steigen. Die Sandbänke und der Schwemm streifen entlang dem Ufer verschwanden, Bruchholz und die ersten Stämme trieben ab, später brachen die ersten Erdinseln aus den Kolken und versanken. Auch die Kadaver der Vögel trieben nun im Fluß, sie drehten sich langsam, mit verklebtem Gefieder, gingen unter und tauchten an den Wirbeln wieder auf. Hertzberg träumte, ein Hubschrauber sei gekommen und ge landet und seine Frau Ruth sei ausgestiegen und habe mit ihm gesprochen. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten und wie sie die Hände hob, als wollte sie ihn bitten; aber er verstand nicht, was sie sagte. Als würde sie hinter einer Scheibe stehen… Er versuchte, sich zu erheben – seine Beine gehorchten ihm nicht. Sein ganzer Körper war ihm fremd, wie Stein. Sie begann zu weinen und ging weg, ganz langsam, rückwärts Schritt für Schritt, ihr Gesicht wurde immer kleiner. Als er früh erwachte, erinnerte er sich nur vage, daß er überhaupt geträumt hatte. Carter schätzte, daß der Spiegel des Coleen um mindestens zwei Meter gestiegen sei. Er entwässert alle Täler da oben, bis zu dem Sumpf, von dem wir kommen. Kein Wunder bei diesem Regen. Der Colonel nickte. Und als die sieben Tage vergangen waren, kamen die Wasser der Sintflut auf Erden… Der Guide verzog das Gesicht. Das steht in der Bibel – ich habe es so oft gehört, daß ich es gar nicht vergessen kann. Und die Wasser wuchsen und hoben die Arche auf und trugen sie empor über die Erde, fuhr Hertzberg unbewegt fort. Carter hob den Kopf. Meinst du – das Boot? 163
Ja, sagte der Colonel. Dein Boot… Den Uferpfad konnten sie gerade noch benutzen; zweimal mußten sie dem Wasser hangaufwärts ausweichen. Eine Stunde nach Mittag kamen sie am Blockhaus an; es war unversehrt. Auch das Boot befand sich in dem Zustand, in dem sie es verlassen hatten, auf den letzten beiden Rollen, festgezurrt an den Pfählen und hoch genug über dem Wasser. Nachdem sie sich gewaschen und ihre Kleidung gewechselt hatten, legten sie sich auf die Pritschen und rauchten. Hunger habe ich nicht, schlafen jedoch könnte ich schon wieder, sagte Carter. Hertzberg starrte an die Decke. Der fünfte Tag… Carters Erythem war abgeklungen, auch von der Bindehaut entzündung war nichts mehr zu sehen. Blieben nur noch die Schwäche und die schnelle Ermüdbarkeit – es fiel so schwer, etwas zu Ende zu denken. Trotzdem erinnerte er sich, daß der diffuse Haarausfall erst spät in der Latenzperiode auftrat. Wie lange dauerte sie? Vierzehn Tage? Dann kam das Fieber… Carter stützte sich auf den Ellbogen und sah fragend zu dem Colonel hinüber. Du rechnest? Hertzberg schreckte auf. Entschuldige, Gerry… Habe ich ge sprochen? Du sagtest: vierzehn Tage. Das andere habe ich nicht verstan den. Der Colonel stand auf. Gib mir noch eine Zigarette! – Ja, es stimmt. Vierzehn Tage – ich glaube, so war es. Es ist die Frist, die wir noch haben. Dann… Dann? Dann müßten wir in ein Hospital oder wenigstens in die Hände eines Arztes. Oder – wir schaffen auch das allein. Allein? Ich versteh’ dich nicht, Dave. Wenn wir morgen früh 164
losfahren, können wir abends in Yukon sein, selbst bei diesem Wasser! Du glaubst doch nicht… Hertzberg reagierte nicht darauf. Ich habe Penicillin im Koffer, für uns würde es reichen. Es geht weniger um das Fieber, weißt du. Es ist eine Vergiftung von innen, eine Weile hast du zu wenig weiße Blutkörperchen. Weil – die Strahlung hat das Knochen mark geschädigt. Es dauert aber zwei oder drei Wochen, bis sich das auswirkt, und danach vergeht einige Zeit, bis der Spiegel wieder normal ist. Das ist die gefährliche Phase… Ja doch, Dave! Ja doch… Carter sprang ungeduldig auf. Aber ich sage dir, daß wir mit dem Boot nicht mehr als einen Tag brauchen. In Yukon ist die Klinik, gibt es Ärzte, Flugzeuge – nun spielt es wirklich keine Rolle mehr, ob sie noch nach uns suchen, ob sie uns rausholen oder nicht – wir haben es allein geschafft. Ohne die Army und ihre komplizierten Programme. Gestern sagtest du, du wolltest es mir erklären – denn sie müssen uns gesehen haben. Und nicht erst gestern! Ich habe es nicht vergessen, erwiderte Hertzberg. Ich werde mich auch nicht drücken, Gerry. Nur – ich kann es immer noch nicht. Laß mir noch ein bißchen Luft, bitte… Er wich dem Blick des Guides aus und griff nach den Zigaret ten. Du mußt es ja nicht, sagte Carter. Der Colonel ging zur Tür und öffnete sie. Der Regen fiel bei nahe senkrecht, ein Vorhang aus grauen Schnüren, das Tal hi nauf, so weit er blicken konnte. Der Wind hatte sich gelegt, vom Himmel war nichts zu sehen. Es gibt keinen Himmel mehr, dachte er. Von nun an wird es so bleiben. Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde…. denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe. Er hörte, wie Carter die Pritsche verließ, er hörte seinen Schritt, 165
und dann fühlte er die Hand des Guides auf seiner Schulter. Er wandte sich um. Wir werden fahren, Gerry! Eine Nacht noch, vielleicht ist es die letzte. – Sie schliefen, erwachten am späten Abend und besprachen, was sie mitnehmen mußten. Eigentlich, sagte Hertzberg, ist es ohne Belang. Wenn alles gut geht… Du mußt dir keine Gedanken machen! Mit dem Fluß komme ich zurecht, und das Boot ist fit. Es regnete nach wie vor, mit nun unveränderter Stärke, wie am Nachmittag. Carter hatte die Leselampe eingeschaltet; wenn sie sich bewegten, richteten sich ihre Schatten an der Hüttenwand auf. Er kramte in der einzigen, halbmetertiefen Schublade des Schrankes herum, da lagen Mackinaws, Wollsocken, Bündel von Lederstreifen, -riemen und -schnüren. Er zog ein längliches Se geltuchfutteral heraus und gab es dem Colonel. Schau es dir mal an! Hertzberg wog es in den Händen und runzelte die Stirn. Durch das steife Tuch hindurch ertasteten seine Finger die harten Konturen des Gegenstandes. Langsam öffnete er den Reißver schluß. Carter hatte das Gewehr zusätzlich mit dünnen ölge tränkten Lappen umwickelt. Der Colonel legte es auf den Tisch und wischte sich die Hände ab. Ein Sturmgewehr – woher hast du es? Vor fünf oder sechs Jahren, am Chandalar, sagte der Guide. »Helpme« Huster brachte eines Tages einen Typ angeschleppt, der war ganz versessen auf Gold. Huster war mit ihm vier Wo chen unterwegs gewesen, erst ein Stück am Tanana und dann den ganzen Koyukuk hinauf, bis Evansville. Von da sind sie zu rückgeflogen – ohne ein einziges Gramm Gold. Nicht ein Stäubchen…! Es muß wie verhext gewesen sein. Der Typ war ganz verzweifelt; ansonsten sah er eigentlich gutartig aus. Ein 166
richtiger Yankee, er stank geradezu nach Geld. Das Gold wollte er für seine Sammlung. Er hatte sich vorgestellt, er findet einen Klumpen wie eine Kokosnuß, mit viel Kristall und Adern und allem, was dazugehört. Wie sie in den Museen herumliegen… Das ließ ihn nicht los. Und Huster hatte die Nase voll und brachte ihn mit und sagte: Versuch du es! – und zu dem Typ sagte er: Das ist Carter – wenn der nichts auf die Beine bringt, gibt’s keine Nuggets mehr in Alaska. Huster war sauer, und es war zum Totlachen – in manchen Ecken findest du jeden Tag ein paar Krümel, vor allem nach dem Frühjahrshochwasser und wenn du einen Blick hast für die Sandfarbe. Huster hatte den Blick, aber es fehlte ihnen eben einfach das bißchen Glück. Eine Woche, habe ich gesagt, mehr nicht… Und nur »Helpme« zuliebe. Wir sind den Chandalar hinauf; am dritten Tag fanden wir zwei Nuggets, nicht ganz so groß wie Kirschkerne. Der Typ war nicht zu halten, und am nächsten Tag wusch er selbst ein Stück aus, das war tatsächlich schön – ungefähr so viel wie eine kalifornische Walnuß, drei Viertel Gold und etwas Quarz an der einen Seite. Ich erklärte ihm, daß er einen »Griff« gemacht hätte und daß einem im Jahr nie mehr als einer gelingt. Das hat er eingesehen; wir kehrten um, ich half ihm noch beim Packen, und dann drückte er mir das Ding da in die Hand. Eine Kleinigkeit, Sohn – als Andenken. Nimm es, du schläfst damit ruhiger! – So war das… Natürlich habe ich die Spritze genommen; erst wollte ich sie verkaufen, aber du weißt nie, was einer damit anstellt, und so habe ich sie behalten. Und Munition? fragte Hertzberg. Ist das da das einzige Maga zin? Nein, es sind drei. Die hat er mir alle mitgegeben; beinahe zweitausend Schuß. Er setzte das Magazin ein und warf Hertz berg einen forschenden Blick zu. Wenn du es probieren möch 167
test? Der Colonel schüttelte den Kopf. Carter ging hinaus, schoß, die kurze Salve hörte sich wie ein einziger Schuß an. Der Regen verschluckte das Echo. Verglichen mit meiner Büchse hat es so gut wie keinen Rück stoß… Er steckte das Gewehr ins Futteral zurück. Die Lappen! sagte Hertzberg. Wickle es wieder ein, es ist bes ser.
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15 Es war kurz vor Mitternacht, als sie endlich fertig waren. Aller dings hatten sie sich nicht beeilt. Wie fühlst du dich? Kein Vergleich, sagte Carter. Ich meine – mit vorgestern. Es wurde gestern schon besser. Und dein Magen? Scheint in Ordnung zu sein… Ein komisches Gefühl manchmal – als müßtest du plötzlich. Wie Durchfall. Es geht aber gleich wieder weg… Essen wir noch etwas? Wegen mir nicht, lieber morgen früh. Morgen früh richtig – bevor es losgeht. Ohne daß sie es bemerkt hatten, hatte der Regen aufgehört. Sie traten vor die Hütte. Könnte ein Sternhimmel sein, sagte der Guide. Und nach einer Weile: Müssen wir lange in der Klinik bleiben? Drei Wochen, sagte Hertzberg. Oder vier. Und dann? Du mußt immer wieder zu Kontrolluntersuchungen… Aber es ist dann vorbei? Meistens, sagte der Colonel. Es hängt von der Menge der Strahlung ab, die du aufgenommen hast. Ich glaube aber, daß wir wirklich Glück hatten… Wind kam auf, aus den Lärchen tropfte es. Vor dreizehn Tagen sind wir hier gestartet, sagte der Colonel. Dreizehn? Zwölf, glaub’ ich. Oder zwölf… Wir konnten das nicht wissen, meinte Carter. Es war nicht un sere Schuld. Nein, sagte Hertzberg. Der Wind war kühl, plötzlich fror er. Zwölf Tage… Ich habe ihm alles erzählt. Fast alles, dachte er. Bleibt nur noch Robert… Und es war so sinnlos wie nur irgendwas. Alles ist sinnlos, so 169
sinnlos wie Roberts Tod. So sinnlos wie dein wertvolles Leben. Zehn oder fünfzehn Meilen weiter nördlich, und es wäre alles erledigt gewesen – zwei versengte oder verkohlte oder ge schrumpfte Körper: David Hertzberg, Colonel a. D. und Gerald Carter, Guide. Vielleicht hätten sie uns dann längst weggebracht. Man weiß das nicht. Vielleicht sind wir, wenn wir es wirklich und endgültig überleben, nicht halb so ergiebig und wertvoll, wie es unsere Leichen gewesen wären. Wenngleich es sich Vince Breadlaw einmal ganz anders vorgestellt hatte: Das Risiko ist stets kalkuliert, und im Grunde leben wir vom Unvorhersehba ren. Wir müssen nur lernen, es besser zu nutzen. Was in den Hirnen vorgeht, was sich mit der Psyche ereignet… Vernichtung ist nicht effektiv. Effektiv ist die Gewinnung eines willfährigen, manipulierbaren Potentials. In dieser Hinsicht ist jede Erkenntnis wichtig… Warum, dachte er, kann ich es mir nicht eingestehen, daß ich schon die ganze Zeit daran denke? Daran und an nichts anderes? Weil ich ein feiger Hund bin! Sie gingen wieder hinein, legten sich hin – obwohl sie müde waren, gelang es ihnen nicht, einzuschlafen. Der Guide gab es als erster auf. Es geht einfach nicht… Ich trinke einen Schluck! Du auch? Ja, sagte Hertzberg. Sie tranken, rauchten, und schließlich sagte der Colonel: Wenn es sowieso nichts wird – drei Jahre schulde ich dir noch. Dein Sohn? Ja… Robert. Eines Tages, im Herbst einundachtzig, überraschte er uns mit dem Entschluß, nach Israel zu gehen. Für ein paar Jahre, sagte er. Ich habe ein Angebot bekommen, aus Beersheva, vom Nege vinstitut. Ich versuchte zu spötteln. Immer noch die Wüste? 170
System research – Zitrus und Avocato und neue Bewässerungs verfahren und so etwas? Und was man mit dem Kalk anstellen kann und dem Sand? Du scheinst ja informiert zu sein, erwiderte er trocken. Ich sah, daß er enttäuscht war. Was willst du da, Rob? fragte ich ihn. Du, ein Jurist… Ach Pa, sagte er, es ist wirklich system research. Es gibt genug Probleme, Jus hat auch eine soziologische Komponente. Er er zählte mir etwas über die Kibbuzim, das neue Prinzip der Freiwilligkeit, über Notwendigkeit und Freiheit… Zuletzt stritten wir über Kant und die Propheten. Ich wollte aber nicht, daß er da hinfährt. Israel gefiel mir nicht und schon gar nicht die Ecke da unten in der Wüste, wo es ihn hinzog. Ab und zu hatte ich im Dienst ein paar Brocken aufge schnappt – da waren schon genug Leute aus den Staaten unter wegs, vor allem solche, die irgendwie mit der Army zu tun hat ten. Es existierten Gerüchte von geheimen Camps, in denen an geblich auch für uns – für den Warfare Service – gearbeitet wurde. Tests mit Drogen – wenn die Rede darauf kam, versuchte ich wegzuhören. Ich wollte das nicht wissen. Und nun trieb es ihn ausgerechnet in dieses Land. Ganz zu schweigen davon, daß es jederzeit wieder im großen Stil losgehen konnte. Mit der Schie ßerei, meine ich. Selbst bei uns in Dugway glaubte kein ver nünftiger Mensch, daß Camp David ewigen Bestand haben würde. Für die Araber jedenfalls war das keine Lösung, sogar die Scheichs maulten ja. Ich sprach deswegen mit Ruth und bat sie: Auf dich wird er eher hören! Sie fiel mir in den Rücken, es war das erstemal in unserer Ehe. Sie sagte nicht nur das, was wahrscheinlich einige Mütter in dieser Situation gesagt hätten: Der Junge ist alt genug und weiß selbst, was er tut! und so weiter, nein, sie hielt mir noch etwas 171
ganz anderes vor. Wenn du fürchtest, daß er da drüben mit Dreck in Berührung kommt – laß ihn doch darauf stoßen. Er kann so oder so reagieren. Du – und dann korrigierte sie sich und sagte: wir! – haben uns daran gewöhnt. Wir leben damit! Danach habe ich nichts mehr unternommen, zwei Monate später flog er. Er schickte uns ziemlich lange Briefe, die er nachts in die Ma schine tippte; er hatte wenig Zeit. Die Arbeit fresse ihn auf, er sei viel unterwegs mit seinem Team, schrieb er. Mit jungen Leuten aus Deutschland und Frankreich und mit Israelis natürlich. Ihr Professor war ein Österreicher. Sie machten Befragungen und Analysen, es gab viel Statistik und einen Haufen komplizierte Rechnerei. Ich kenne mich da nicht aus, ich konnte mir nicht vorstellen, wieso er als Jurist sich da wirklich nützlich machen wollte. Es schien ihm aber zu gefallen, und die Wüste faszinierte ihn offenbar. Später tauchte immer häufiger ein Name auf in seinen Briefen: Esther! Ruth war traurig; Frauen sind da viel hellhö riger. Da werden wir ihn wohl bald besuchen müssen… Sie be hielt recht. Er und Esther wollten heiraten, im Oktober. Zum Sukkot, zum Laubhüttenfest, wenn der Herbst beginnt und die späten Ernten reifen. Ruth kümmerte sich um alles. Sie buchte unseren Flug, kaufte die Geschenke, packte die Koffer. Von Esther kannten wir nichts als ein paar Fotos, die Rob uns geschickt hatte. Sie waren bei irgendeiner Feier entstanden, sie stand auf einer Bühne, mit dem Mikrophon in der Hand – da begrüßt sie unsere Gäste, schrieb Rob. Sie schien eher klein zu sein, mittelgroß höchstens; ihr Haar fiel über die Schultern, und eine dicke Strähne reichte vorn bis zur Brust. Ich fand, sie sehe sehr selbstbewußt aus; Ruth fand das nicht, sie weinte nur und schloß die Bilder weg. 172
Wir flogen bis Tel Aviv und blieben da eine Nacht und bekamen natürlich kein Auge zu. Ruth hatte Prospekte gekauft und zwei Reiseführer, in ihnen schauten wir uns Beersheva an. Die Stadt wuchs mit jedem Jahr um eine Meile: grauer Beton, Schach brettstraßen und graugrüne Pappeln. Davon sah man selbstver ständlich nichts auf den Bildern, diese Dinge sieht man da ja nie, man konnte sie aber ahnen, wenn man nur ein bißchen Phantasie besaß. Außerdem stand es zwischen den Zeilen: Zementfabriken, Pipeline, Chemie selbstverständlich und großzügige Kreditbe dingungen für jeden, der in Beersheva bleiben wollte. Meine Frau versuchte zu telefonieren, sie gab es auch nicht auf, früh meldete sich dann endlich jemand, ein junger Mann aus Robs Team, er beruhigte uns: Rob würde auf dem Flugplatz sein. Sie holten uns ab mit einem Jeep des Instituts – Rob, Esther und einer ihrer Brüder. Rob küßte seine Mutter, und dann umarmte er mich: Fein, Doc… Wir mußten schon genau hinsehen, um ihn wiederzuerkennen. Seine Schultern waren breiter geworden und sein Gesicht schmaler. Er hatte dieselbe Nase wie ich… Und seine Stirn war braun und sogar seine Hände. Das ist Esther, sagte er. Vielleicht stimmt es, daß Frauen in so einer Situation besser dran sind. Sie sehen, was geschehen ist, und begreifen es und brauchen nur ein paar Sekunden und ein paar Blicke und wissen, daß sie sich abfinden müssen. Ruth war sehr tapfer und sehr anständig, geweint hat sie erst in der Nacht, als wir allein in unserem Zimmer saßen. Unser Sohn, sagte sie. Und dann: Sie ist ein gutes Mädchen, und sie wird ihm auch eine gute Frau sein. Der Colonel stand auf, lief zum Herd und zurück zum Tisch und setzte sich und stützte den Kopf in die Hände, und dann stand er wieder auf. Carter schwieg, und nach einer Weile sagte Hertz 173
berg: Entschuldige, Gerry… Ich komme schon wieder in Gang. Carter holte die Flasche, goß ihm einen Schluck nach und ließ die Flasche auf dem Tisch stehen. Esthers Familie war aus Griechenland gekommen, gleich nach dem Krieg. Ihr Vater war Ingenieur in einer der Zementfabriken; Esther hatte noch drei Brüder. Es war eine schöne Hochzeit, nicht so streng wie bei den Orthodoxen, jedoch mit einer Hütte im Garten und einem großen Lulaw; das ist ein Strauß, den man aus einem Palmenzweig, Myrtenästen und Weidensprossen bindet, eine Zitrone kommt noch daran; er wird beim Gottesdienst hin und her geschwenkt, in die vier Himmelsrichtungen: Gott ist überall. Esther studierte Pädagogik in Beersheva, trug aber schon das Material für ihre Diplomarbeit zusammen. Einer ihrer Brüder diente bei der Armee, er war im Libanon und hatte Urlaub be kommen. Der zweite war Dozent am Weizmann-Institut, der dritte Journalist, er arbeitete für eine Gewerkschaftszeitung… Wir – Ruth und ich – hätten mehr wissen müssen; genauer hin hören sollen – aber davon konnte keine Rede sein. Ruth saß mit ihrer Schwiegertochter zusammen, fuhr einkaufen mit ihr, fuhr mit ihr nach Sodom. Und ich – ich bewunderte meinen Sohn. Von Politik wollte ich nichts hören, die Saudis interessierten mich nicht und die Palästinenser erst recht nicht. Außerdem ver stand ich weder Hebräisch noch Jiddisch, und ihre Brüder waren sehr höflich und sehr rücksichtsvoll; wenn wir dabei waren, wurde Englisch gesprochen. Nicht einmal hatte ich das Gefühl, daß sie das, was in ihrem Land geschah, ernsthaft in Frage stell ten. Die großen Dinge, meine ich. Daß sie vom Libanonfeldzug und der Inflation nicht begeistert waren – mein Gott, darüber zu sprechen lohnte nicht und schon gar nicht, wenn man einer 174
Hochzeit wegen zusammensaß. Dazu das Haus voller Gäste, die Verpflichtungen und der Trubel und erst spät in der Nacht ein paar Stunden Schlaf… Rob war einmal mit mir in Hebron, un terwegs im Auto lachte er und sagte: Schließlich ist es deine Stadt, Doc – du mußt sie wenigstens gesehen haben. Davids Stadt – aber das war Geschichte. Er fragte nach meinem Job und wie es ginge und ob ich mich nicht endlich aufraffen und da loseisen könnte. Geh mit Ma nach Boston, da habt ihr ein Haus – mein Schwiegervater hatte die Firma verkauft, sie waren jetzt viel unterwegs, reisten – such dir was Ruhiges bei Havard, die neh men dich doch sofort. Du bist Spezialist und immer noch auf dem laufenden… Ich sagte nicht viel dazu, und er kam nicht wieder darauf zu rück. Die Wahrheit war, daß ich mit ihm nicht über Dugway sprechen wollte, nicht einmal daran denken wollte ich – ich wollte einfach ein paar Tage meine Ruhe haben. Im Flugzeug, nach dem Start in Tel Aviv, sagte Ruth: Leicht wird er es nicht haben… Er hat wohl deinen Kopf, unser Sohn, und er hat sich eine Menge vorgenommen. Es ist gut, daß er so eine Frau ge funden hat! Sie ergriff meine Hand und lehnte ihren Kopf an meine Schul ter, und ich dachte, sie wolle schlafen, und hielt ihre Hand fest, aber sie schlief nicht. Sie starrte durch das Fenster. Danach bekamen wir wieder Briefe, nun schrieb Esther, und Rob legte eine halbe Seite dazu, hastig gekritzelte Zeilen; er rief lieber an. In Esthers Briefen gab es manchmal Passagen, die ich nicht verstand; Ruth allerdings schien zu wissen, wovon da die Rede war – im März überraschte sie mich: Sie kommen! Rob nimmt an einer Konferenz teil, in New York – anschließend bleiben sie drei Wochen bei uns. 175
An einer Konferenz? – Ich war verdattert. Ja, sagte sie. Schweden haben sie vorbereitet oder Dänen – aber das ist nicht so wichtig, sie steht unter UNO-Patronat. Es geht um Menschenrechte. Bitte – möchtest du nicht… Ich mußte mich setzen. Da sind die Lager, fuhr sie ruhig fort. Vor allem die Lager im Negev. Und jetzt haben sie genug Unterlagen – es ist wie Holo caust. Man muß das den Leuten zeigen! Sie hatte kein Mitleid. Sie erklärte mir, daß dieses Thema Rob schon beschäftigt hatte, als wir zur Hochzeit drüben waren. Aber da hatte er noch zu wenig in den Händen. Und die Liga – die Israelische Liga für Menschenrechte – war mißtrauisch, weil sie ihn nicht kannte, und vielleicht auch deshalb, weil er Amerikaner war. Wahrscheinlich hat ihn das erst recht gereizt. Zwei von Esthers Brüdern unterstützten die Liga – mit ihren Möglichkei ten. Und in aller Stille; hätten die Behörden Wind davon be kommen, hätte es den Job ihres Vaters gekostet. Mindestens. Und nun? fragte ich meine Frau. Sie wollen von Beersheva weggehen. Vielleicht an die Küste oder hinauf in den Norden. Esther sagte, es gäbe Dinge, die ein fach nicht zu verschweigen sind. Mit denen man nicht leben könne… Mit ihren Eltern hat sie gesprochen – sie haben sich damit abgefunden, und ihr Vater hat ihr seinen Segen gegeben. Außerdem, Dave – sie werden ein Kind haben: Esther ist schwanger. Mein Sohn Robert… Ja, sagte Ruth, wir haben keine Ahnung. Es scheint da genug Menschen zu geben, die sich von ihrem Israel anderes erhofften als das, was jetzt geschieht. Und einige von ihnen riskieren Kopf und Kragen… Wir saßen, bis der Morgen graute. Ruth wußte mehr, als ich mir 176
überhaupt hätte vorstellen können. Esther hatte von Anfang an mit ihr gesprochen, über ihre und Roberts Probleme – mich hat ten sie ausgeklammert. Nun fragte mich Ruth, wie es bei uns weitergehen würde. Ich weiß es nicht, sagte ich. Das Telegramm kam drei Wochen später; Robert war tot, es war ein Unfall. Bei einer Fahrt von Oron zurück nach Beersheva, mit dem Jeep. Er war allein im Wagen; in einer Kurve ist der Jeep in eine Schlucht gestürzt, hundertachtzig Meter tief, und ausgeb rannt. Serge, Esthers älterer Bruder, ist hingefahren mit mir; ich habe die Stelle, wo es passierte, gesehen. Es war eine sehr scharfe. Kurve, etwas spitzer als ein rechter Winkel, und man konnte sie auch erst in den letzten zwei Sekunden richtig ein schätzen. Die Straße kam von einem ziemlich flachen Sattel, aber das Gefälle reichte. Mehr als vierzig durfte man sicher nicht ris kieren – wenn man hinausgetragen wurde, blieben einem noch sechs oder sieben Meter Rollschotter, dann kam ein kleiner Wall, aus Bruchstei nen aufgeschichtet, und hinter dem Wall ging es ab, zehn Meter ungefähr, bis zu einer Kante. Unter der Kante war schon die Schlucht. Robert ist diese Strecke mindestens zweihundertmal gefahren, sagte Serge. Wir sprachen kürzlich darüber, und er lachte und meinte, er könnte sie nun auch mit verbundenen Augen ma chen… Rob fuhr gern Auto, und ich glaube, daß er auch ein guter Fahrer war. Ich hatte ihn zeitig ans Steuer gelassen, und damals, als wir noch zum Canyon fuhren, von Salt Lake aus, hatte er genug ge lernt. Alles, was gut war für das Fahren auf solchen Pisten im Gebirge, wo einer fast immer zuwenig Sicht hat und wo man schneller, als man denkt, mit zwei Beinen auf den Schotter 177
kommt. Serge nannte mir nur die Fakten. Soweit wir sie kennen, sagte er. Er und Esthers Vater waren dabei, als sie ihn heraufholten, sie sollten ihn auch identifizieren. Da lief mindestens doppelt soviel Polizei herum wie sonst, und kurz nach dem Unfall war auch noch ein Militärkonvoi vorbei gekommen, der war an der Unfallstelle stehengeblieben. Sieben Fahrzeuge waren es, sagte Serge. Zwei Jeeps, vier Transporter und ein Tankwagen. Der Tankwagen hatte irgen deinen Defekt; jedenfalls verlor er literweise Öl, es lief über die Piste und weit in den Schotterstreifen hinein. Es lief exakt in Richtung der Bresche, die Roberts Wagen in den Wall gerissen hatte. Wir waren ungefähr zehn Minuten dort, da gelang es ihnen, das Leck oder was es war zu schließen, Vater und ich achteten nicht darauf, wir sprachen erst später darüber. Sie fuhren dann auch bald weg, und dann kam ein Wagen vom Straßendienst mit ein paar Männern, die kümmerten sich um das Öl… Der Colonel brannte sich eine Zigarette an; Carter sah, wie seine Hände zitterten. Hör auf, Dave! bat er ihn. Es klingt nicht schlecht – es klingt scheußlich. Ja, sagte Hertzberg. Es war scheußlich – aber wie sollten sie es beweisen? Es ist der einfachste Trick der Welt: Ein paar Liter Öl an der richtigen Stelle in der richtigen Kurve – und hinterher läßt du so viel auslaufen, daß kein Mensch mehr erkennt, was ei gentlich war. They did kill him! sagte Serge zu mir. Natürlich hatten sie längst herausbekommen, wo er sich he rumtrieb und mit wem er Kontakte hatte und welcherart diese waren. Und wahrscheinlich auch, was er inzwischen wußte. Aber er war Bürger der Staaten – ihn von der Straße weg zu verhaften 178
hätte Ärger gegeben. Unnötigen Ärger. Da haben sie sich diese Geschichte ausgedacht. Hatten sie – ich meine deinen Sohn und seine Freunde – denn wirklich etwas in den Händen? Danach fragte ich Serge nicht, und mit Ruth konnte ich nicht sprechen. Ich konnte es einfach nicht; ich konnte sie auch nicht ansehen. Es war, als sei ich schuld an Robs Tod. Als wir ihn be gruben, waren ungefähr zweihundert Menschen auf dem Fried hof. Auch Polizei war da, Serge zeigte sie mir. Mir war das alles egal, mir half auch keiner. Wir blieben noch eine Woche, der Brauch fordert es so, sieben Tage, solange die Lampe brennt. Auch Ruth sprach kaum mit mir – was hätten wir uns auch sagen sollen? Sie erinnerte mich daran, mich zu rasieren; sie gab mir frische Wäsche, brachte mir einen Schirm, einmal, als es regnete. Es war ja Frühling. Ich lief durch die Stadt – für mich war es eine Totenstadt. Kinder spielten, Leute schwatzten. Ich versuchte, sie zu hassen, weil er hierhergefahren war, in ihr Land, aber ich brachte die Kraft nicht auf. Ich zählte die Stunden… Ich hätte mich um Esther kümmern müssen, meine Schwiegertochter. Man sah ihr an, daß sie ein Kind bekommen würde, ihr Leib wölbte sich. Sie saß und starrte in die Lampe, die Hände unter der Brust gefaltet. Sie weinte nicht, jede Nacht saß sie da, auf einem schmalen, harten Stuhl. Ihre beiden Brüder bewegten sich lautlos im Haus; der dritte, der, der bei der Armee war, hatte nur für zwei Tage Urlaub erhalten. Seine Einheit stand immer noch im Liba non. Serge unterhielt sich einige Male mit Ruth, worüber sie spra chen, wußte ich nicht. Serge brachte uns auch nach Tel Aviv; er war sehr nervös, ich hatte das Gefühl, daß er mir etwas sagen wollte und daß Ruth ihn daran hinderte. Ich kam ihm wohl auch nicht entgegen… Wir flogen mit einer Maschine der Israelis, das 179
fiel mir erst auf, als wir uns anschnallten. Ich fragte Ruth des wegen, und sie sagte: Wir haben es umbuchen lassen. Es ist doch nicht wichtig, nicht wahr? Nein, sagte ich. Natürlich nicht. Ich konnte nichts essen; Ruth trank Tee, ein Glas nach dem anderen. Sie rauchte auch. Einmal brachte ihr die Stewardeß ein Sandwich, es war eingewickelt, Ruth steckte es in ihre Tasche. Jedenfalls dachte ich, daß es sich um ein Sandwich handelte, weil die Stewardeß sagte: Bitte, Miss… Mit Käse und Oliven… Wir flogen bis Washington, und als wir auf die Koffer warteten, wurden wir angesprochen. Von zwei Typen in Zivil – sie taten es sehr höflich und sehr leise, und sie sahen genau so aus, wie man es erwarten darf; sauber und sehr glatt, auch glatt rasiert, und angezogen waren sie nicht ganz wie die Jungs aus den vorletzten Etagen unserer guten Banken. Zwei stille, fröhliche Gentlemen… Es handele sich nur um eine Kleinigkeit, und sie wären dankbar, wenn Miss Hertzberg uns gleich begleiten würde. Bis heute kann ich nicht erklären, was in diesen vier oder fünf Sekunden in mir vorging. Jedenfalls nichts Geordnetes… Es brach einfach etwas. Ruth preßte ihre Tasche mit beiden Händen an sich – später, zu Hause, kam ich darauf, daß dies vielleicht wichtiger war als alles, was ich tat, und daß ihre – sicher in stinktive – Reaktion überhaupt den Ausschlag gegeben hatte. Ich sagte ihnen, sie sollten sich zum Teufel scheren und sie könnten mich… Ich brüllte. Nichts werden Sie bekommen, nichts – weder heute noch morgen, und Sie brauchen sich auch nicht wieder blicken lassen… Ich brüllte noch, als sie sich eilig, aber aufrecht zurückzogen. Sehr wahrscheinlich ist, daß die Leute um uns herum gar nicht verstanden hatten, was ich den beiden nachschrie. Sie schauten vor allem auf Ruth, die wie versteinert ihre Tasche umklammerte. Vermutlich nahmen sie an, daß die 180
beiden versucht hatten, uns zu berauben oder zu erpressen oder irgend etwas anderes in der Art. Es war wie bei einer guten Broadway-Inszenierung: Ich brüllte, die Leute machten Front, und die Typen verschwanden. Ich brachte Ruth zu einer Bank, wir setzten uns, die Leute ver liefen sich. Ruth zitterte. Sie drückte meine Hände: Dave, nun mußt du es durchhalten. Ich komme in zwei oder drei Tagen, ich weiß es noch nicht… Sie ließ mich auf der Bank sitzen, und als ich aufstand und ihr nacheilen wollte, war sie schon verschwunden. – Es war so: Ausgedacht hatten sie sich das alles schon in Beersheva – sie, das heißt Serge und einige seiner Freunde von der Liga. Es ging um einen Teil des Materials, für das Rob… es durfte nicht umsonst gewesen sein. Ruth bekam die Filme und die Bänder im Flugzeug von der Stewardeß, mit dem Sandwich. Das war ihnen aber nicht sicher genug. Sie dachten an die Staaten, und sie rechneten damit, daß wir – Ruth und ich – observiert wurden. Wie sich zeigte, hatten sie das richtig kalkuliert. Deshalb hatte einer ihrer Leute in Tel Aviv einen Tag vor unserer Abreise ein Zusatzticket für Ruth gebucht: Washington – Boston. Ich wußte davon nichts, und wahrscheinlich hatten auch die Jungs von der Überwachung der Army damit nicht mehr gerechnet: Für sie flogen wir gemeinsam weiter, von Washington nach Denver und dann nach Salt Lake. Die Zeitspanne zwischen unserer Landung in Washington und dem Start der Maschine nach Boston betrug nur vierzig Minuten. Das war riskant – aber sie hatten keine andere Wahl. Und es klappte: Als sie Ruth in Boston »zu einer Aussprache« baten, befand sich das Material schon im Safe des Rechtsanwaltes, der beinahe drei Jahrzehnte nicht nur die Firma ihres Vaters betreut hatte, sondern auch mit ihm befreundet war. Sie kamen genau anderthalb Stunden zu spät. Außerdem – auch das wurde mir erst 181
viel später klar – hatten sie nicht mit meiner Reaktion gerechnet – sie mußten zurückfragen. Das kostete zwar nicht besonders viel Zeit, jedoch genug, um mindestens Ruth für einige Stunden aus den Augen zu verlieren. Ja, sagte der Guide. Ich hab’s begriffen. Und du? Ich flog nach Denver und wartete, daß sie wieder auftauchten. Es ließ sich aber niemand blicken. Ich nahm mir ein Zimmer in einem Hotel und schrieb mein Gesuch: Ausscheiden aus dem Dienst. Ich führte nur gesundheitliche Gründe an… Am nächsten Tag flog ich nach Hause und ging zu meinem Anwalt und besp rach mich mit ihm. Alles erzählte ich ihm nicht, aber das, was er wissen mußte. Nichts für mich, Doc, sagte er. Das wissen Sie auch – da ist nichts zu holen. Seien Sie zufrieden, wenn Sie glatt rauskommen. Er riet mir, auf jeden Fall keine Aussagen zu ma chen und mich zu eventuellen Vorwürfen nicht zu äußern. Am Abend kamen sie, und ich erklärte ihnen, daß ich mich nicht mehr gebunden fühle. Ich zeigte ihnen die Kopie meines Gesuches. Sie gaben mir ein Papier. Werden Sie das unterschreiben, Sir? Es war die übliche Stillschweigeverpflichtung; mit der Ma schine hatten sie einen Passus hinzugefügt, der alles einschloß, was mit Roberts Tod und den mir im Zusammenhang damit be kannt gewordenen Tatsachen zusammenhing. Allerdings hatten sie nicht »Tatsachen« geschrieben, sondern »Gerüchte und Ver leumdungen«. Ich unterschrieb es trotzdem. Danach wollten sie wissen, ob ich bereit wäre, meine Frau im Sinne der gerade vollzogenen Verpflichtung zu beeinflussen. Ich sagte ihnen, daß das nicht möglich sei, und dann gingen sie. Ich hatte noch zwei Tage Urlaub, ich fuhr nicht nach Dugway, ich saß und wartete auf Ruth. Telefonisch hatte ich sie nicht er reicht; zu diesem Zeitpunkt wußte ich ja definitiv nicht einmal, ob sie überhaupt in Boston war. Aber ich vermutete es. 182
Am nächsten Tag rief mich meine Sekretärin an und teilte mir mit, daß die Army mein Gesuch angenommen hatte. Die Bestä tigung wird Ihnen noch zugestellt, Sir, sagte sie. Ob ich wünsche, daß mir meine Sachen gebracht würden. Sachen? fragte ich. Sie war verlegen. Es sind noch zwei Anzüge, Sir, und… verschie dene Dinge. Ich glaube, sie weinte. Ruth kam erst nach einer Woche; am gleichen Tag brachte die »Washington Post« einige der Fotos und Auszüge aus den Bän dern. Der größte Teil davon stammte aus einem Lager in Nafha. Es diente ausschließlich der Eliminierung von Angehörigen der PLO, vor allem von jungen Leuten. Die Häftlinge wurden mit Strom gefoltert, in Bottiche mit Salzwasser gesteckt und tagelang der Sonne ausgesetzt. Im Negev bei vierzig Grad im Schatten. Drogen wurden an ihnen ausprobiert, und es gab Beweise, daß diese Drogen aus den Staaten stammten. Es existierte ein Liaison Officer des Israelischen Geheimdienstes, der für die Kontakte mit unseren Leuten vom Warfare Service zuständig war. Es gab von zwei Begegnungen Fotos. Ruth wollte, daß ich reinen Tisch mache. Du mußt aufschreiben, was du weißt – es gibt noch Redaktionen, die es wagen, solche Dinge auch zu drucken. Ich sagte ihr, daß ich die Verpflichtung unterschrieben hatte. Sie hielt mir vor, ich lasse mich erpressen. Ich kann nicht, sagte ich. Zwei Tage später hat sie ihre Koffer gepackt, seitdem bin ich allein.
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16 Am nächsten Morgen war es wieder bewölkt, aber nach Regen sah es nicht aus. Um Mittag herum wird die Sonne durchkom men, sagte Carter. Wenn die Regeln noch gelten… Er schloß das Blockhaus ab; Hertzberg trug lediglich den klei nen Koffer, alles andere hatten sie bereits im Boot verstaut. Der Coleen stieg immer noch, jedoch nicht mehr so schnell wie am vergangenen Abend. Das Wasser war kalt; der Colonel hatte es durch die Gummistiefel gespürt, obwohl er jedesmal nicht viel mehr als zwei Schritte brauchte vom Hang bis zur Bordwand; die erste Terrasse hatte der Fluß bereits überflutet. Das Boot schaukelte, als sich der Guide am Heck hinein schwang, Hertzberg hielt das Ruder etwas gegen die Strömung, sie trieben schnell ab. Dann sprang der Motor an, und Carter übernahm das Steuer. Hertzberg setzte sich – wie auf der Herfahrt vor zwei Wochen – auf die Bugbank und legte das Fernglas in Griffnähe neben sich. Es war immer der gleiche Hubschrauber; eine kleine, blaue, ziemlich leise Maschine. Das erstemal war er erschienen, als sie begannen, ihre Sachen aus dem Haus zu schaffen. Dann, als sie das Boot fertigmachten, und zum drittenmal, als sie den letzten Becher Kaffee tranken. Sie hatten gewinkt, aber er hatte keine Notiz von ihnen genommen. Er tauchte auf, überflog sie und verschwand. Er wird uns wohl begleiten, sagte Carter, nach dem drittenmal. Der Colonel hatte genickt und geschwiegen. Erst als Carter die Hütte verschloß, kam er darauf zurück. Wir haben alles so gemacht, als ob es ihn nicht gäbe. Wir haben die Tage zuvor alles gut gemacht und haben es bis hierher ge schafft. Und bei dieser Linie bleiben wir. Du hast aber kein gutes Gefühl, Dave! 184
Doch, Gerry, das hab’ ich. Es war nie besser als gerade jetzt – es sind noch höchstens zwanzig Stunden… Vor drei Tagen hätte ich mich noch gewundert, dachte er. Wo ich die Kraft hernehmen würde, so zu lügen. Ich weiß jetzt aber, daß es sich lohnt. Es lohnt sich mindestens für ihn. Und vielleicht – vielleicht sogar für mich. Sie haben uns im Visier – das ist nun klar. Endgültig klar. Das reicht aber noch nicht. Holz trieb im Wasser; dünne, zersplitterte, auch bereits völlig entrindete Stämme. Die kamen von weiter oben. Zwischen ihnen Birken und Schwarzfichten, die sich der Fluß gerade erst von einer unterspülten Uferbank geholt hatte. Carter schien Hinder nisse vorauszuahnen; manchmal änderte er unvermittelt den Kurs und zog das Boot ans Ufer heran. Er ließ keinen Blick vom Fluß. Warum hast du den Koffer nicht in die Kajüte gestellt? rief er Hertzberg zu. Wenn wir was abbekommen, wird er klitschnaß da vorn! Der Colonel winkte ab. Laß ihn hier… er stört mich nicht. – Es dauerte länger als eine Stunde, bis sich der kleine Hub schrauber blicken ließ. Diesmal konnten sie ihn einige Sekunden früher ausmachen; er kam das Flußtal herauf und hielt direkt auf sie zu. Hertzberg verfolgte seinen Flug mit dem Glas, ungefähr eine halbe Minute lang. Zwei Mann, sagte er. Mehr als vier wird er auch nicht tragen… Es ist ein Cayuse, aber ein neuer. Den Typ habe ich noch nie gesehen. – Wie weit ist es noch bis zum Knick? Carter machte eine Kopfbewegung. Da vorn kommt er doch! Hertzberg hob das Glas wieder an die Augen. Der Knick – die letzte scharfe Richtungsänderung des Flusses, bevor er in den Porcupine mündete. Das Tal besaß an dieser Stelle höchstens noch ein Viertel seiner normalen Breite. 185
Er legte das Glas weg. Es sieht schlimm aus! Carter schüttelte den Kopf. Wir müssen da hindurch, wo es schäumt. Die alte Rinne ist zu tief, die steckt jetzt voller Stämme, und die kreiseln gegen den Strom! Er steuerte das Boot weit zum rechten, flacheren Ufer hinüber. Der Colonel stand auf und hielt sich fest. Täuschst du dich nicht, Gerry? Carter lächelte. Ein paar Eimer voll, wirst sehen! Mehr nicht… Die Durchfahrt währte kaum zwei Minuten. Das Boot steckte ein Dutzend harter Schläge ein, und einmal sah es so aus, als würden sie im Wipfelgewirr mehrerer ineinander verknäuelter Fichten steckenbleiben, in letzter Sekunde jedoch kamen gleichzeitig die Bäume und auch das Boot frei. Hertzberg schüttelte sich, aber unter dem Overall war er trok ken. Er griff nach dem Schöpfeimer. Carter hob die Schultern. Dein Koffer…! Das habe ich dir gleich gesagt. Er ist wasserdicht, erwiderte der Colonel. Hinter dem Knick öffnete sich das Tal wieder, und die Strö mung beruhigte sich etwas. Nur noch »Cariboo Head«, rief Carter. Da wird es noch einmal knapp, und – da geht es umgekehrt. Wir müssen an der schmalen Seite vorbei! Inseln und Inselchen gab es unzählige im Bett des Coleen – es war eine Frage, was man darunter verstehen wollte, vor allem im Sommer. Eine Sandbank war auch eine Insel. Das »Cariboo Head« genannte, nicht einmal besonders große Eiland verdankte seinen Namen der Gestalt eines riesigen Felsblockes, der – wenn man von Norden kam – gleich an der Spitze einer langgestreck ten, nur in der Mitte spärlich mit Weidengestrüpp bewachsenen Schotterbank lag. Seit undenklichen Zeiten wohl; die Indianer 186
hatten ihn so getauft, weil er sie an das traurige, geweihlose Ge sicht einer alten Cariboo-Kuh erinnerte. Der mittlere Teil der Schotterbank lag sehr viel höher als der Felsblock; bei schlim mem Frühjahrshochwasser war »Cariboo Head« überflutet – wehe dem, der sich dann nicht auskannte. Der Hubschrauber kam zurück und überholte sie; er flog ziem lich hoch stromabwärts. Carter brannte sich eine Zigarette an und winkte dem Colonel zu. Hertzberg schüttelte den Kopf. Ich nicht… »Cariboo Head« kam ungefähr eine Stunde später in Sicht; etwa zur gleichen Zeit brach die Sonne durch die Wolken. Carter drosselte den Motor. Bringst du mir mal das Glas? Hertzberg verließ seinen Platz auf der Bank, balancierte nach hinten und trat mit dem Glas in die Kajüte. Bevor er es jedoch dem Guide reichte, schaute er selbst nach »Cariboo Head«. Die Insel hob und senkte sich im schlingernden Rhythmus des Bootes. Der Colonel erkannte den Felsblock, sah die Bran düngsfront vor ihm und den hellen Gischt darüber und einen Schwarm Möwen über dem Gischt – die Flügel der Möwen sahen aus wie mit flüssigem Silber Übergossen. Oder mit etwas noch Hellerem. Dann sah er, aber schon viel weniger deutlich, den ansteigenden Kiesstreifen im Licht, hundert oder zweihundert Meter, und hinter ihm schütteres, helles Grün und dann ein ziemlich dunkles Stück Land, bitteres Grün im Schatten einer Wolke: Und dahinter – aber nun wieder im Licht, denn der Schattenstreifen war schmal, und außerdem schrumpfte er vielleicht gerade, weil es nur der Zipfel einer Wolke war, die den Strahlen der Sonne für Sekunden den Weg verlegte – dahinter… Es sind zwei, nicht wahr? fragte Carter.
Der Colonel gab ihm das Glas. Ja… Unser blauer und noch ein
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anderer. Der Guide nahm das Gas ganz weg und trat aus der Kajüte he raus. Nimm mal das Steuer… Leg es quer und laß das Boot treiben. Er stellte sich breitbeinig auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Kajütenwand. Er hielt das Glas nur mit den Fingerspitzen und preßte die Ellbogen in die Rippen. Als er es absetzte, sagte er: Es sind fünf Männer – vier Uniformierte und einer in Zivil. Sieht wie ein Mantel aus, was er anhat. Zwei halten Gläser in den Händen, wie wir. Die in Uniform sind alles junge Kerle – der mit dem Mantel könnte in deinem Alter sein. Ungefähr… Er übernahm wieder das Steuer und gab Gas. Das Boot schwojte herum. Carter sah ihn über die Schulter an. Der Colonel preßte die Lippen zusammen; nach einer Weile senkte er den Kopf. Bis »Cariboo Head« war es noch ungefähr eine halbe Meile – zwei Minuten bei ihrem Tempo. Die Leute da vorn, sagte Carter, die sind wohl nicht unsere Freunde. Wären sie es, dann hätten sie sich früher um uns ge kümmert. Vor drei Tagen oder vier… als uns nichts gelang, als zu kotzen. Ich habe sie nie gemocht, Dave, und ich habe dir das auch gesagt. Und dir – Glück haben sie dir nicht gebracht. Das hast du mir gesagt. Reicht das nicht? Ich gehe wieder vor, sagte Hertzberg. Bleib hier, bitte! Nein, Gerry – es ist schon in Ordnung so. Noch eine Viertelmeile. Die Männer auf »Cariboo Head« schienen nun sicher zu sein, welchen Kurs das Boot nehmen würde. Paß auf! rief Carter. Sie schießen ein Signal! Drei grüne Kugeln, sie sahen sie, bevor sie den Knall hörten. 188
Carter verzog das Gesicht und schnitt eine Grimasse. Thanks boys! Many thanks… Gestoppt hätten wir hier auch ohne euch nicht! Die Durchfahrt an der kritischen Stelle verlief noch schneller als zuvor am Knick. Das Boot tanzte, Hertzberg mußte alle Kraft aufbieten, um nicht von der Bank geschleudert zu werden. Als sie die Position der Hubschrauber passierten, liefen die Männer zu den Maschinen. Es konnten nicht mehr als hundert Meter sein, die die Männer im Boot und die auf der Insel trennten. Hertzberg sah, wie sie die Maschinen erreichten; vier von ihnen trugen eine Uniform, einer einen hellen, sportlich geschnittenen Mantel. Es war genau so, wie Carter gesagt hatte. Der im Mantel blieb vor dem größeren der beiden Hubschrauber stehen und schaute dem Boot nach, das sich schnell entfernte. Zwei Minuten später, als sich das Boot schon in ruhigerem Wasser befand, wurde es von den Maschinen überholt. Hertzberg saß wieder auf der Bank; von der Kajüte her sah es so aus, als krümmte er sich. Ist dir schlecht? Der Colonel hob den Kopf und wandte sich um. Er war weiß im Gesicht. Gleich vorbei, sagte er; viel zu leise, als daß Carter ihn hätte verstehen können. Der Guide drosselte den Motor. Ich hab’ dich nicht verstanden! Hertzberg stand auf. Schwindlig… Es ist gleich vorbei. Konntest du einen Blick auf die Männer werfen? Ja… Ja, das konnte ich. Seine Lippen zitterten. Und? Was werden sie tun? Sie werden uns auflesen – bei der nächsten günstigen Gele genheit… Und dann? Dann, sagte Hertzberg, dann werden sie uns wegbringen. 189
Gestoppt wurden sie aber doch erst kurz vor der Mündung. Die Hubschrauber standen wiederum auf einer der Inseln – das Fahrwasser war hier ruhig. Sie sahen drei rote Kugeln über dem Fluß und wenig später noch einmal drei. Da waren sie noch etwa eine Meile entfernt, aber die Kugeln waren nicht zu übersehen. Hertzberg kam in die Kajüte. Du fährst heran bis auf zwanzig oder dreißig Meter – näher nicht. So, daß du in gutem Wasser bleibst. Leg es mit der Nase gegen die Strömung und laß den Motor laufen. Ich bleibe an der Bank… Ranghöchster der Uniformierten schien ein Captain zu sein; die drei anderen, die einige Schritte hinter ihm standen, trugen keine Rangabzeichen. Sie sind David Hertzberg und Gerald Carter… Es war ein Un fall, Colonel. Legen Sie bei, wir haben Order, Sie aufzunehmen. Carter hielt das Boot ohne besondere Mühe auf gleicher Höhe. Und Sie sind fünf Mann, Captain! Ich sehe aber nur vier – sagen Sie dem fünften, daß ich ihn zu sprechen wünsche! Der Captain stutzte einen Moment und machte dann eine är gerliche Handbewegung. Seien Sie vernünftig, Colonel. Sie ha ben Strahlung abbekommen – wir müssen Sie ins Hospital bringen. Hertzberg gab ein Geräusch von sich, das sich anhörte, als hätte er versucht zu lachen. Mag sein, Captain! Mag alles sein… Ge ben Sie Ihrem fünften Mann eine Chance – er soll mir das er klären! Der Captain wandte sich unschlüssig nach seinen Begleitern um. Hertzberg konnte nicht hören, was sie sagten, aber auf jeden Fall war es nicht mehr besonders wichtig, denn der fünfte Mann kam von selbst. Er war ohne Kopfbedeckung; die ziemlich blassen Wangen waren glatt rasiert, die Brille setzte er ab, als er zwei Schritte vor 190
der Wasserlinie stehenblieb, schon im Feinkies. Sein Mantel, eine Art Raglan, wie man nun sah, stammte offenkundig nicht von irgendeinem Provinzschneider. Mit einiger Umständlichkeit bemühte er sich um ein Taschentuch und begann, die Brille zu putzen. Mit abgemessenen, sparsamen Bewegungen. Du beschmutzt deine Schuhe, Vince! sagte Hertzberg. Breadlaw senkte den Kopf und schaute auf seine Füße. Dann lächelte er. Tatsächlich, Dave…! Du warst immer ein genauer Mann – das weißt du doch? Ja, sagte Hertzberg. Und, fuhr Breadlaw fort, du warst – beinahe! – unser bester Analytiker. Auch das solltest du doch wissen, Dave – du bist ein Verlust für uns. Wenngleich wir das, wie du begreifen wirst, nicht zugeben konnten. Hertzberg schwieg. Breadlaw setzte die Brille auf und steckte das Taschentuch weg, nachdem er es sorgfältig zusammengefaltet hatte. Du weißt dann auch, Dave, warum ich hier bin, nicht wahr? Über diese Art von Chancen haben wir doch gesprochen, erin nerst du dich? Das Entsetzen, das Fortschritt gebiert – um diese Koinzidenz ging es. Du wirst dich erinnern, ich bezweifle es nicht. Es ist eine einmalige Chance, und ich kam sofort, als ich… von dieser Sache hörte. Und dann entdeckte ich deinen Namen auf den Listen, die sie in Fairbanks oder weiß der Teufel wo zusammengebastelt hatten – der Zufall im Zufall. Ein Geschenk – und du wirst es genau beschreiben, Dave. Deine Gedanken, Ge fühle, die Schwäche und – wie du weiterleben wolltest, um jeden Preis. Alles… Breadlaw sprach ruhig und langsam, gerade so laut, daß seine Stimme trug über die zwanzig, fünfundzwanzig Meter hinweg, die ihn trennten von seinem – ehemaligen, leider! – tüchtigen Mitarbeiter, in den er so große Erwartungen gesetzt hatte. 191
Ich hielt dich stets für einen guten Mann, Dave, dessen kannst du gewiß sein. Du hattest Pech – wollen wir das nicht vergessen? Nein, sagte Hertzberg. Gut… Breadlaw lenkte ein, sofort, seine Stimme – die nicht die beste war und deren Timbre zu kultivieren er sich jahrelang und, wie man ihm zugestehen mußte, nicht ohne Erfolg bemüht hatte – blieb weich, träumerisch fast. Es war das auch keine Sache zwischen uns, Dave. Das muß uns nicht trennen… Komm jetzt! Die beiden Ärzte warten, du sollst Zeit haben. Du kannst dich ausruhen, nun. Du wirst kein Wort schreiben müssen, nur – erzählen. Viele Meter Band, Dave, alles, was war und was kam nach dem Blitz – bis zu diesen Minuten hier. Ihr habt ihn umgebracht, sagte Hertzberg. Breadlaw runzelte die Stirn. Sprichst du von deinem Sohn Ro bert? Das war – ein Unfall. Es war, wie man mir berichtet hat, sehr sauber. Tragisch – aber sauber. Da war nichts, Dave! Hertzberg fühlte, wie seine Knie gegeneinanderschlugen. Die Beine, dachte er. Sie zittern genauso wie damals, als du aus Se veso zurückkamst und er dich bestellt hatte. AGENT ORANGE DIOXIN ES WIRD IMMER SO BLEIBEN Ein Unfall? sagte er. Auch seine Lippen zitterten wieder. Einen Unfall nennst du es? Sind nicht Leute deines Schlages, Vince Breadlaw, zuständig für solche Unfälle? Wo deine Hände im Spiel sind, bleiben Leichen zurück – wußtest du das nicht, Vince, und bist nicht vielleicht du derjenige, der in ein Hospital gehört – für immer? Keine Regung zeigte sich auf Breadlaws Gesicht, als er einige Schritte zurücktrat. 192
Genug, Dave! Philosophie – eine Schwäche von dir! Ich kenne sie, und ich habe dich vor ihr gewarnt. Wir haben auch dafür Ärzte, gute – vertrau ihnen. Er gab dem Captain ein Zeichen, und der fingerte an seiner Revolvertasche herum. David Hertzberg und Gerald Carter: Im Namen des Gesetzes – ich fordere Sie auf… Gas, Gerry! schrie Hertzberg und trat gleichzeitig gegen seinen Koffer. Der Koffer fiel um und klappte auf. Als das Boot herumschwenkte, begannen der Captain und Breadlaw zu feuern. Auf den Motor – nur auf den Motor! brüllte Breadlaw. Wie immer, wenn er erregt war, überschlug sich seine Stimme. Hertzberg kniete nieder, riß das Sturmgewehr aus dem Koffer und schoß. Der blaue Hubschrauber explodierte nach der ersten Salve, der zweite stand ein paar Sekunden später in Flammen. Die Uniformierten warfen sich nieder und versuchten, sich aus Hertzbergs Schußfeld herauszurollen. Obwohl er nach ihnen gar nicht schoß, sah es nicht besonders gut aus, eher, als hätten sie Fertigkeiten dieser Art seit geraumer Zeit verlernt. Die letzte Salve aus dem Sturmgewehr traf Breadlaw in den Rücken. Er stolperte, warf die Arme hoch und brach dann auf der Stelle zusammen. Das Boot entfernte sich mit hoher Geschwindigkeit. Hertzberg gelang es nicht, sich auf die Bank hinaufzuziehen; das Sturmgewehr fiel aus seinen Händen, und er kippte zurück. Gerry, ich… Er stöhnte. Der Guide schaute sich um – niemand folgte ihnen. Dann waren es nicht mehr als diese zwei… Er nahm etwas Gas weg, blok kierte das Steuer und schleppte Hertzberg in die Kajüte. Drei 193
Einschüsse entdeckte er im Overall des Colonels, sie lagen alle sehr hoch. Der Captain, flüsterte Hertzberg. Ein schwacher Schütze, Breadlaw hätte ihn… Er hustete Blut. Carter schnitt den Overall auf und wandte sich für Sekunden ab. Er hatte genug Binden im Boot – aber für diese Löcher… Der Colonel versuchte, die Hand zu heben, und der Guide kauerte sich neben ihn. Zwei Minuten noch, Gerry… wir haben wenig Zeit. Du mußt tun, was ich dir sage! Lauf in den Wald, finde Indianer und bleibe bei ihnen. Du darfst nicht zu deiner Mutter, hörst du? Du wirst Fieber bekommen, sehr hohes Fieber – es geht wieder weg. Sie sollen dir… Carter nickte und beugte sich über den Mund des Colonels. Nimm meine Papiere, das Geld… später… zu Ruth, sie soll… Auch aus seinen Mundwinkeln lief jetzt immer mehr Blut. Carter hob den Kopf des Colonels an und hielt ihn fest. Hertzberg be kam noch einmal etwas Luft, sein Blick war klar. Sie soll sich… um dich… kümmern. Sag ihr… Dave, ich… Dave! Wenig später verließ der Guide das Boot, etwa eine halbe Meile vor der Mündung des Coleen in den Porcupine. Er nahm nicht mehr mit als auch sonst bei einem kleinen Trip, wenn er ihn für sich allein machte. Den Leichnam Hertzbergs wickelte er in zwei Decken und verschnürte sie. Er ließ den Motor laufen und stellte das Steuer so ein, daß das Boot auf die Mitte des Flusses zu halten mußte. Dann sprang er ans Ufer. Das Boot trudelte ab, und Carter verschoß alle Patronen, die sich noch im Magazin befanden. Er verschoß sie alle auf die gleiche Stelle des Rumpfes – in der hinteren Hälfte des Bootes, 194
dicht unterhalb der Wasserlinie. Das Boot neigte sich etwas und versank, als es die Mitte des Flusses erreicht hatte. In ihn warf er auch das Sturmgewehr.
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Notate, betreffend »Victory is possible«
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Der Mann David Hertzberg ist eine Fiktion; gleiches gilt für die ihm zugeschriebene Biographie. Für mich, befindlich in Halle-Kröllwitz, gibt es wohl kaum eine andere Möglichkeit, mich dem Gegenstand zu nähern, als eben David Hertzberg. Ich will das zugeben; auch, daß ich begonnen habe, mich an ihn zu gewöhnen. Er ist mir jetzt vertrauter. Entwurf also einer Biographie vor statistischem, das ist: ano nymem Hintergrund. Zu dem zunächst die in den drei während des zweiten Welt krieges erbauten Arsenalen tätigen zivilen Mitarbeiter gehören: 6000 im Huntsville Arsenal 8000 in Pine Bluff 2670 im Rocky Mountain Arsenal. In Edgewood (gegründet 1918) waren es zwei Jahre vor Kriegsende 8800. Das sind auch fünfundzwanzigtaugend Biographien. Hertzberg kommt knapp fünfzehn Jahre später dazu – da gibt es längst eine Tradition; geordnete, jedoch keineswegs unflexible Strukturen; ein einsatzfähiges, straff organisiertes und klug dis loziertes Produktions- und Erprobungspotential; in Dateien ge speicherte Fehler und Unzulänglichkeiten der Vergangenheit. Und es gibt große, anspruchsvolle Ziele, die nicht auf Kartei karten geschrieben werden. Überhaupt neigt sich die Ära von Holleriths Maschinen ihrem Ende zu; Hertzbergs Start erfolgt in einer Zeit des großen Geldes, der ersten Rechner, der großen, neuen Forschung – die Firma Du Pont de Nemours & Co. erhält 1962 allein ein Achtel aller vergebenen Rüstungsaufträge und Zuwendungen demgemäß in Höhe von anderthalb Milliarden Dollar. Dafür bietet die Firma weit über tausend nur in der Rüstungs- und militärchemischen Forschung beschäftigte Mitarbei ter auf – was für mich die gleiche Anzahl weiterer Biographien 197
bedeutet. Und so geht es fort: In Dugway waren es 1976 eintausend zivile Angestellte und eine ebenso große Zahl Angehörige der Army; in Edgewood (schon Mitte der sechziger Jahre) knapp viertausend Zivile und wiederum eintausend in Uniform. Wieviel Zehntausende sind es heute, im Mai 1984? Die wenigen, die es wissen, schweigen; mir genügt: David Hertzberg ist (war) einer von ihnen. Begonnen allerdings hat das, was später zuerst unter der Be zeichnung Gaskrieg in die Geschichte eingehen sollte, nicht eine, sondern mindestens zwei Generationen vor David Hertzberg. Und nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika begann es, sondern in einigen Ländern der Alten Welt. Die Herrschenden und ihre stillen Partner in Deutschland, Frankreich und England sahen sich zu diesem Zwecke nicht nur mit einer geradezu herausfordernden – und im übrigen sorgfältig vorbereiteten – Gelegenheit konfrontiert: sie waren auch zivili siert genug, es zu tun. Denn es bedarf einer bemerkenswerten – um nicht zu sagen blühenden – Zivilisation, wenn Wissenschaft und Technik jene Ausstrahlung und Innovationskraft erlangen sollen, mit deren Hilfe allein sich epochal Neues hervorbringen läßt. Dafür aber hatten sie, den Gesetzen ihres Systems gehor chend, gesorgt. Eberhard Kroysing erinnert sich: »Im Frühling 15 an der Flandernfront lagen wir den Engländern gegenüber, ganz dicht, und bauten unsere Gasflaschen ein; wir waren die erste Gaskompanie – eine ehrenvolle Sache. Mit gro ßen Eisenflaschen schliefen wir von Februar bis April in niedli cher Nachbarschaft; einmal wurde eine undicht, und da besah ich 198
mir am anderen Morgen den Schaden in Gestalt von fünfund vierzig blauen toten Pionieren. Und als wir auf dem Übungsplatz die Dinger mit dem Dreck das erstemal probeweise sprengten und die Bruchstücke nach Hause schleppten, nahmen sie auch jeden einzelnen ins Jenseits mit, der sich daran vergriffen hatte… Ja, also warteten wir in unseren Gräben voller Wasser auf den günstigen Wind. Immer wieder mußten wir die Flaschen um bauen, denn sie rutschten in dem Lehm. Gasmasken gab es da mals noch nicht, wir sollten uns gegen das Sauzeug mit etwas Putzwolle vor der Nase schützen. Die Tommys warfen uns muntere Zettel herüber, wann wir denn endlich mit unserer Stänkerei anfingen. Sie platzten schon vor Neugierde nach dem Bluff, schrieben sie. Und dann kam endlich Ostwind, und wir bliesen unser Gas ab, und die Tommys waren nicht mehr neugierig, sondern lagen schön blau und schwarz umher, als wir dann in ihre Stellungen spazierten. Blau und schwarz. Tommys und Franzmänner einträchtiglich nebeneinander. In der Radrennbahn von Poelkapelle waren ge wiß fünftausend Tote einquartiert, und die Glücklichen, die nur ein bißchen von dem Mist abbekommen hatten und noch japsten und spuckten, die gingen auch in Jülich drauf, ohne alle Förm lichkeiten, aber langsam, stückchenweise…« (Arnold Zweig, Erziehung vor Verdun) Die historischen Fakten sind: Die sechs Kilometer lange Frontlinie zwischen Bixschoote und Langemark; Einbau von 1600 Flaschen mit je 40 kg und 4130 Flaschen mit je 20 kg flüssigem Chlor. Abblasbeginn am 22. April 1915 um 18.00 Uhr bei leichtem Ostwind, Geschwindigkeit 2 bis 3 m/sec. Bilanz nach französischen Angaben: 5000 bis 6000 Tote; 199
15.000 Gasvergiftete.* In der alliierten Kriegsgeschichte vermerkt als: der »schwarze Tag von Ypern«. BUNTSCHIESSEN wurde genannt eine taktische Variante, die so aussah: Der Gegner wird zunächst mit BLAUKREUZ-Kampfstoffen (z.B. Diphenylchlorarsin, »Clark I«; erste Anwendung am 10. Juli 1917) beschossen. Ein Teil des Kampf stoffes verdampft bei der Detonation (Brisanzgranaten!), schei det sich in der Atmosphäre als Aerosol aus, dringt dann durch die (seinerzeit nur!) mit Aktivkohle gefüllten Atemschutzfilter und ruft bei den Betroffenen unerträgliche Reizungen im Nasen- und Rachenraum hervor. Atemnot, Schmerz, Erstickungsangst etc. sind so groß, daß die Opfer die Maske herunterreißen. Nun folgt – beinahe gleichzeitig bzw. mit geringer zeitlicher Verzögerung – der Beschuß mit lungenschädigenden Kampfstoffen, die den Gegner töten. (GRÜN-KREUZ: Phosgen; auch PERSTOFF: Diphosgen).† Des geschilderten Effektes wegen wurden Blaukreuzkampf stoffe als MASKENBRECHER bezeichnet. Das Konzept des Buntschießens entwickelte der deutsche Chemiker Fritz Haber (1868 – 1934); die Menschheit verdankt ihm die Ammoniaksynthese auf der Basis von Luftstickstoff. Für die Erarbeitung der thermodynamischen Grundlagen dieser Synthese erhielt er den Nobelpreis. 1911 Berufung zum Leiter des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Physikalische Chemie und Elektrochemie, im ersten Weltkrieg Leiter der chemischen Ab teilung im preußischen Kriegsministerium und verantwortlich für * Die Angaben über Tote und Geschädigte sind bis heute widersprüchlich (vgl. Groehler, O. Der lautlose Tod, Berlin 1978, S.39ff.).
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die Einführung der Grün- und Blaukreuzgeschosse. Er leitete auch den ersten Kampfstoff-Masseneinsatz am 22. April 1915 bei Ypern und gilt deswegen als »Vater des Gaskrieges«. Nach dem Krieg verlangten die Ententemächte seine Auslieferung als Kriegsverbrecher. Einbezogen in die deutsche militärchemische Forschung war zunächst auch der weltberühmte Organiker, Zucker- und Ei weißforscher Emil Fischer (1852-1919), Nobelpreis 1902. Als ihm Art und Charakter des Gaskrieges bekannt wurden, ver weigerte er aus Protest seine weitere Mitarbeit. Haber und Fischer – zwei Chemiker, zwei Nobelpreisträger – zwei Möglichkeiten, sich zu entscheiden. So einfach sei das doch nicht, wird man einwenden und zu bedenken geben: die histori sche Situation, die Lage der bürgerlichen Intelligenz, der chau vinistische Taumel und die Sinnentleerung der Begriffe: Patrio tismus und Vaterland, die innere Qual und die Kämpfe, Irrungen und Wirrungen… Aber Haber hat sich so entschieden und Fischer so. Für oder gegen, mitmachen oder nicht. An der (bedrückenden, sicher!) Klarheit und Eindeutigkeit dieser Konstellation hat sich bis heute in der bürgerlichen Welt nichts geändert. Um es noch anzuführen: Das wesentliche Ereignis, das den mit Grünkreuz-Kampfstoffen Beschossenen widerfährt, wird von den Medizinern als toxisches Lungenödem bezeichnet. Nach einer Latenzzeit von einigen Stunden kommt es zu stärkerem Hustenreiz, zur Kurzatmigkeit, zu zyanotischem Aussehen des Gesichts und der Lippen. Später steigt die Atemfrequenz auf 30 bis 50, im Maximum auf 60 bis 70 Atemzüge je Minute. Der Atem jagt. Der Vergiftete hustet ei weißhaltige, schaumig-viskose Ödemflüssigkeit aus; sie ist mit 201
Blut vermischt. Die durch Plasmaverlust und Sauerstoffmangel erhöhte Viskosität des Blutes führt zur Verlangsamung des Blutkreislaufs und schließlich einer Überbelastung der Herz muskel… Häufig verlaufen Versagen des Blutkreislaufs und Lungenödem parallel. Allerdings gilt dies nur für mittlere Inhalationsgrade. Bei sehr hohen Konzentrationen entwickelt sich kein Lungenödem. Der Vergiftete macht in diesem Fall tiefe Atemzüge, fällt zu Boden, krümmt sich und kämpft, seine Gesichtshaut verfärbt sich Veilchen- bis schwarzblau. Er stirbt sehr schnell. »Die ersten Minuten mit der Maske entscheiden über Leben und Tod; ist sie dicht? Ich kenne die furchtbaren Bilder aus dem La zarett: Gaskranke, die in tagelangem Würgen die verbrannten Lungen stückweise auskotzen. Vorsichtig, den Mund auf die Patrone gedrückt, atme ich…« (Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues) Aufrechterhaltung von Ordnung und Lauterkeit sind – wie sollte es anders sein – unveräußerliche Bestandteile des oben bereits bemühten Begriffs bürgerlicher Zivilisation. Es soll – jederzeit – gesittet zugehen unter den Völkern. Deshalb wurde die »Haager Landkriegsordnung« vom 18. Oktober 1907 auch von beinahe allen europäischen Staaten unterschrieben und ratifiziert. Ihr Artikel 23 untersagte die Verwendung von Giften oder vergifte ten Waffen (a); die Verwendung von Waffen, Geschossen und Stoffen, die geeignet sind, unnötige Leiden zu verursachen (b); Buchstabe (c) gebot, daß die Splitterwirkung von Geschossen stets deren Giftwirkung übertreffen müsse. (Hervorhebung C. N.) So hat man sich Kriege konzediert – aber bitte: ohne unnötige 202
Leiden. Nach Möglichkeit. Bayer, Hoechst, BASF sahen wie ihre Konkurrenten außerhalb Deutschlands eine solche Möglichkeit nicht. Von der Gesamtzahl der im ersten Weltkrieg Geschädigten, die etwa 35 Millionen betrug, entfielen nach Schätzungen ca. 1,3 Millionen auf Kampfstoffvergiftungen. Getötet wurden knapp hunderttausend, genaue Zahlen gibt es bis heute nicht. Fest steht lediglich: Unter den Opfern befand sich nicht ein einziger Kaiser, kein Erzherzog Earl Lord, kein Gerichtspräsi dent Bischof Bankier, nicht einmal ein Minister oder Ministeri aldirigent. Dieser Umstand hat im Kontext mit anderen, zuge gebenermaßen wichtigeren Ereignissen erhebliche Unruhe unter den sogenannten eben nicht werktätigen, sondern: kriegführen den Massen erzeugt. Um die Aktien für Glaube und Dankbarkeit stand es schlecht an den großen Börsen – in Europa fanden Re volutionen statt. Eine gelungene und nicht gelungene. Ihre Ergebnisse sollten künftige Zielsetzungen und Perspekti ven chemischer Kriegführung in einem Maße bestimmen, das sich die unter der Sonne der Golden Twenties aufatmende Menschheit nicht einmal hätte träumen lassen. Vorerst jedoch – im Juni 1918 – schuf sich das Kriegsministe rium der Vereinigten Staaten den »Chemical Warfare Service« als gesonderte Abteilung innerhalb der Armee; Edgewood Ar senal wurde sein Hauptquartier. Die Aufbaukosten der ersten Stufe wurden mit 35,5 Millionen Dollar veranschlagt. So billig ging das damals zu; und David Hertzbergs Zeit ist es noch nicht. Das Genfer Protokoll vom 17. Juni 1925 verbot die Anwendung chemischer und bakteriologischer Mittel im Krieg – aber der Widerstand des Kapitals gegen diese Abmachung hatte interna tionale Dimension. Die USA und Japan ratifizierten das Papier 203
gar nicht erst; die deutsche Reichswehr errichtete schon 1926 sogenannte Gasschutzlager, und wenig später liefen in der Zita delle Berlin-Spandau die Arbeiten im neuen Kampfstofflabora torium an. Der Jahreskongreß der American Chemical Society vertrat im August 1925 die Auffassung, daß »die Durchführung des (Gen fer) Verbots gleichbedeutend damit wäre, daß man eine humane Kriegführung zugunsten früherer barbarischer Kampfmethoden aufgäbe«. (Hervorhebung C. N.) Industrielle, Militärs und Che miker gründeten die National League for Chemical Defence, deren Nachfolgeorganisation wurde später die Chemical Warfare Association. In den zuständigen Labors wurde nicht mehr gesucht und pro biert, sondern systematisch geforscht. In den USA ließ man das nach dem ersten Weltkrieg zur Produktionsreife entwickelte LEWISIT (eine englische Schöpfung) fallen – die Technologie war nicht profitabel genug. Dafür wurden seit 1934 die Arbeiten mit Fluorverbindungen forciert. In Deutschland fand man 1928 ei nige halogenierte Oxime als Nesselgifte sehr geeignet; in Frankreich wurden insbesondere kohlenmonoxidabspaltende Verbindungen und Metallorganika getestet. Bleitetraäthyl zum Beispiel. Dennoch schien bis in die Mitte der dreißiger Jahre eine For mulierung Gültigkeit zu behalten, die nicht viel älter als zehn Jahre war und die besagte, daß es wohl kaum gelingen würde, wirksamere Kampfstoffe als die des ersten Weltkrieges zu fin den. Die Fortschritte in der Technik im Allgemeinen und die der Militärtechnik, speziell der Luftfahrt, im besonderen stützten ganz und gar noch diese – voreilige! – Meinung. Mussolinis Generalstab befahl im Dezember 1935 den Einsatz 204
von YPERIT gegen das äthiopische Volk – aus modernen Flug zeugen abgeworfene moderne Kampfstoffbomben töteten viel effektiver, als es die – nun als archaisch belächelten – Werfer des Grabenkrieges vermocht hatten. Auch Flugzeugabsprühgeräte wurden erstmalig verwendet und vielversprechende Erkenntnisse mit ihnen gesammelt. Experten schätzten, daß etwa eine viertel Million Äthiopier nur durch Kampfstoffeinsätze umgekommen ist – das Genfer Protokoll war von der italienischen Regierung 1928 in vollem Umfang anerkannt worden. Die japanische Kwantungarmee setzte ab 1938 herkömmliche Kampfstoffe in China ein – ein Jahr zuvor war eine vorbeu gendmahnende Note des Völkerbundes zur Kenntnis genommen worden. Et cetera… Daß es dann doch nicht bei der Generation der Kampfstoffe des ersten Weltkrieges blieb, dafür sorgte in erster Linie eine deutsche Dreieinigkeit von Kapital, Politik und Militär – sprich: der Konzern IG Farben. Er richtete – als erster unter seinesglei chen – die Vermittlungsstelle »W« (Wehrmacht) ein, 1934 in Berlin. »W« stimmte die Pläne des Oberkommandos mit denen des Konzerns ab; im Oktober 1936 legte IG Farben eine endgültige Fassung der Mobilisierungspläne vor. Yperit, Lost, Adamsit, Diphenylchlorarsin… für eine Kriegs dauer von fünf Monaten. Weiter Arsinöl zur wahlweisen Herstellung taktischer Yperit gemische. Weiter die neuen Stickstoffyperite… Weiter – Oxol lost… Und… Drei Viertel aller Produktion lag in den Händen von IG Farben, die für den Bau und die Errichtung der Anlagen die »LURANIL 205
Baugesellschaft« und für den Betrieb der Anlagen die »ANORGANA GmbH« gründete. (Insgesamt wurden es dann nicht we niger als zwanzig neue Produktionskapazitäten – in Ludwigsha fen, Wolfen, Uerdingen, Ammendorf, Falkenhagen, Hüls, Seel ze, Dyhernfurth…) Den Durchbruch schaffte die Arbeitsgruppe Schrader in Wuppertal-Elberfeld mit der Substanzklasse der Phosphororganika. Aus dem Pool von mehr als zweitausend synthetisierten Ver bindungen wurden drei ausgewählt: TABUN (Trilon 83; auch »Stoff 100«, Gelan, Grünring 3, D 7, Z-Stoff, »Produkt Oder« genannt) – ab 1942 wurde es großtechnisch produziert SARIN (Trilon 46 etc.) – ab Mitte 1944 in Produktion SOMAN – bei Kriegsende noch in der Laborbearbeitung. Als nervenschädigend werden diese (und weitere) phosphor organischen Kampfstoffe klassifiziert; ihr Wirkungsmechanis mus beruht vornehmlich auf der Hemmung der Acetylcholines terase, eines Enzyms, das in vielen Bereichen des Organismus ausschlaggebende Bedeutung für die Übertragung nervaler Im pulse hat. Die A Ch E ist die wichtigste Reizüberträgersubstanz (Transmitter) für die Übermittlung der nervalen Impulse von einer motorischen Endplatte auf den in Ruhe befindlichen Nerv. Tabun wurde auf dem Betriebsgelände der »Luranil- und Anorgana GmbH Dyhernfurth« (heute VR Polen, ca. 30 km nordwestlich von Wroclaw) produziert, die Synthese erfolgte in gasdicht konstruierten Werkhallen und wurde von außen ge steuert. Häftlinge des betriebseigenen IG-Konzentrationslagers (Ne benlager I des KZ Groß-Rosen) füllten das flüssige Tabun in Artilleriegeschosse und Bombenkörper ab – am Fließband, ge 206
kleidet in Taucheranzüge und versehen mit Kopfmasken mit angeschlossener Frischluftzufuhr. Es gibt so gut wie keine Überlebenden aus diesem Nebenlager; die Leichen der an Unte rernährung, Überanstrengung, Mißhandlungen und an den Fol gen der ständigen subletalen Vergiftungen Gestorbenen wogen im Durchschnitt dreißig Kilogramm. Häftlinge dienten auch dazu, als »menschliche Spürhunde« längere Zeit in Eisenbahnwaggons oder Depots zuzubringen, in denen das abgefüllte Tabun gelagert wurde. Selbstverständlich ohne Schutzmaske. Von zwanzig Häftlingen starben in der Regel fünf oder sechs, nachdem sie alle Stadien des Tabuntodes durchlitten hatten: Übelkeit, Erbrechen, Verengung der Bronchien und der Pupil len, vermehrte Speichel- und Schweißabsonderung, Verlust des Sehvermögens (bis zur Erblindung), Unterleibskrämpfe, Durch fall, Halluzinationen, Atemnot, Verlangsamung der Atmung und der Herztätigkeit – Exitus. Tabun – ein A Ch E-Blocker also… Die Produktionskapazität betrug 1944 rund tausend Tonnen im Monat, die des vier- bis fünfmal giftigeren Sarins hundert Ton nen. Über nicht ganz dreizehntausend Tonnen Nervengifte verfügte Deutschland vor der Kapitulation; Kampfstoffe insgesamt waren es an die siebzigtausend Tonnen. Daß es nicht zu einem offenen chemischen Krieg kam, hat viele Ursachen. Im ersten Weltkrieg hatten des letzten Zaren Soldaten auf so verzweifelte wie drastische Weise versucht, sich der kaiserlich deutschen Chlorschwaden zu erwehren: mittels Tüchern, die sie mit ihrem eigenen Urin tränkten. Knapp dreißig Jahre später gab 207
es für Hitlers OKW genug Gründe, auf die Wiederholung solcher Konstellation gar nicht erst zu spekulieren. Bekannt war seit 1940 außerdem, daß die westlichen Alliierten über Mittel ver fügten, mit denen sie auf dem Gefechtsfeld Konzentrationen von Blausäure, Diphosgen, Chlorzyan und anderen Kampfstoffen in einer Größenordnung erzeugen konnten, gegen die die Heeres filtereinsätze FE 39 keinen Schutz mehr boten. Schließlich – und das mag einer der entscheidenden Gründe gewesen sein – schalteten und walteten die Alliierten sehr bald im deutschen Luftraum beinahe nach Gutdünken. Und zumindest die Fein geister im Hauptquartier wußten, daß die reichsdeutsche Volks gasmaske in erster Linie für die Hebung der Moral bestimmt war – ein Gegenschlag mit chemischen Waffen aus der Luft hätte das gesamte – produzierende! – Hinterland paralysiert. Dennoch – in Nürnberg bestätigte Hitlers Ökonom Speer, daß das Genfer Protokoll für Deutschland 1945 annuliert werden sollte; und die Produktionsentwicklung von Tabun und Sarin im Jahre 1944 einerseits wie die Existenz diverser Dokumente – beispielsweise eines noch im März 1945 fertiggestellten, aber nicht mehr gedruckten Merkblattes für den »Kampfstoffeinsatz durch die Luftwaffe« – andererseits legen den Schluß zwingend nahe, daß die von der Endlösung besessenen Strategen den Ge danken an eine Wende des Kriegsgeschehens – und wäre sie um den Preis noch so vieler weiterer Opfermillionen erkauft worden – bis zum Schluß nicht aufgaben. Die Erwartung, die westlichen Verbündeten würden dabei einen auf die Ostfront beschränkten Gaskrieg ohne Gegenreaktion hinnehmen, spielte dabei wohl eine nicht unerhebliche Rolle. Insgesamt übertraf die faschistische Kampfstoffproduktion die Deutschlands im ersten Weltkrieg um das Doppelte; die USA, 208
Japan, Großbritannien und Deutschland zusammen erzeugten in Vorbereitung und während des Krieges ziemlich genau eine viertel Million Tonnen. SCHLIESSLICH WAR KRIEG… Der Brite Churchill beispielsweise, ein Pferdeliebhaber, aus gezeichneter Reiter und im hohen Alter gefeierter Laienmaler, ersuchte in seiner Eigenschaft als Premierminister seinen Gene ralstab im Juli 1944 um dringendste Prüfung, ob man die Heimsuchung Londons durch deutsche Ferngeschosse nicht we nigstens mit dem Einsatz bakteriologischer Waffen vergelten sollte. Wenig bekannt ist auch, daß sich im Sommer 1945 die ersten Schiffsladungen mit 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D) auf dem Weg nach Asien befanden. Mit 2,4-D, die während des Krieges in Camp Detrick bis zur Anwendungsreife entwickelt wurde und deren Produktion inzwischen bei Du Pont auf Hoch touren lief, sollte die japanische Reisernte vernichtet werden. Statt dessen entschloß man sich wenig später endgültig für den Einsatz von Kernwaffen – zum größten Bedauern der C-Waffen-Produzenten. Die sich nach Kräften eingerichtet hatten: 85.000 Tonnen Lost, mehr als 18.000 Tonnen Phosgen, 20.000 Tonnen Lewisit – dies nur ein Auszug aus der Bilanz des Auf kommens bis 1945. Depotkompanien des Chemical Warfare Service befanden sich bei Kriegsschluß in Deutschland, Italien, Okinawa, Guam, Hawaii – zwanzig insgesamt. Es existierten 33 »Chemical Mortar Battalions« und 14 entsprechende selbstän dige Kompanien, von denen 8 allein in Deutschland standen. Wie nun weiter damit, da der Krieg – dieser Krieg – ja erst einmal zu Ende war? Es ging weiter – mit kleinen Schritten, könnte man schnell ge 209
neigt sein zu sagen; mit kleinen, auch sehr leisen Schritten. Ge rhard Schrader, der Schöpfer des Tabuns und Sarins, schrieb seine Memoiren – vorsichtshalber unter Aufsicht des CWS und gleich in den Staaten und vorsichtshalber in aller Ruhe. Er sollte möglichst wenig vergessen und sich so intensiv wie möglich erinnern an die Tätigkeit in den Wuppertaler Labors. (Nach der Internierung, wie man die zweijährige Episode des Memoiren schreibens – ebenfalls vorsichtshalber – nannte, begab er sich zurück in den Schoß der vertrauten IG-Heimat und übernahm bald die Leitung des Forschungslabors der Bayer AG – er war schließlich Chemiker.) Schraders Kenntnisse und Erfahrungen – wichtige, unersetzli che Impulse. Oder das Botulinustoxin – das hatte man, während des Krieges noch, daheim in Camp Detrick untersucht, wobei es gelungen war, eine Variante in kristalliner Form zu gewinnen. Ein Gramm davon würde – toxikologisch-rechnerisch zumindest – tödliche Dosen für mehrere Millionen Menschen liefern. (Sie haben sich soeben nicht verlesen: ein Gramm – für oder: gegen – Sprache ist zuweilen sehr träge! – mehrere Millionen Menschen!) Auf die sem interessanten Arbeitsgebiet halfen nun japanische Spezia listen weiter. Und die Engländer setzten – zum erstenmal in generösem Maßstab – immerhin schon zu Beginn der fünfziger Jahre phy totoxische Kampfstoffe in Malaya ein – wobei man ihnen zwar unter die Arme greifen mußte, aber es lohnte sich einfach. Dschungelwälder ließen sich mühelos entlauben, Ernten ver nichten, Kulturflächen überhaupt für lange Zeit blockieren… Agent Orange wirft seinen ersten Schatten – just über die Schwelle, vor der David Hertzberg ein wenig unschlüssig ver harrt. Wohin soll er sich wenden? Im Institut bleiben? Aber da ist 210
das Angebot von Du Pont… Als sich Du Pont Anfang der fünfziger Jahre entschloß, in Newark, Delaware, ein völlig neues toxikologisches For schungsinstitut aufzubauen, folgte der Trust damals zunächst nur einem Gebot der Zeit. Chemische Erzeugnisse begannen in ei nem kaum noch vorausschaubaren Umfang in alle Bereiche der produzierenden Wirtschaft wie der Konsumtionssphäre einzud ringen. Das Tempo der Erschließung neuer Anwendungsmög lichkeiten eskalierte; die Prozesse der Substitution herkömmli cher Rohstoffe, Werkstoffe und Verbrauchsgüter überschlugen sich. Es ging um Human- und Veterinärpharmaka, Synthesefa sern, Hochpolymere, Lacke, Insektizide, technische Öle, Treibstoffe – deren Einführung in den weitaus meisten Fällen eine leider sehr forschungs- und kapitalintensive toxikologische Absicherung verlangte. Darauf sahen solche weitgehend unab hängigen Einrichtungen wie beispielsweise die Food and Drug Administration, die sich, einem tradierten Selbstverständnis folgend, gerade in kritischen Fällen höchst unnachsichtig zeigte und die amtliche Zulassung mit Konsequenz verweigerte, so lange die toxikologische Unbedenklichkeit für Anwender und Nutzer nicht nachgewiesen war. An dieser Verfahrensweise ließ sich nur sehr selten etwas ändern – ein nicht unerheblicher Teil der Presse und stets die Konkurrenz gefielen sich darin, bekannt gewordene Umgehungen der Gesetze in einer Weise zu publi zieren, die den Markt nicht nur beunruhigte, sondern mitunter empfindlich schädigte. Aus dieser Sicht war die Schaffung einer eigenen, dem jeweils letzten Stand medizinischer, biologischer etc. Forschung genü genden Toxikologiekapazität nur ein logischer, notwendiger Schritt. Und nur dem Anschein nach der erste. 211
Der vorlaufende, weitaus wichtigere bestand ganz einfach darin, sich langfristig eines Partners zu versichern, der bereit war, zu mindest einen Teil der immensen Kosten – selbstverständlich produktgebunden – zu übernehmen. Dieser Partner existierte – es war der Chemical Warfare Service, der sich nicht nur verbürgte, für sein Interesse an toxikologischen Untersuchungen aller Art finanziell einzustehen, sondern der auch neue »Produkte« in – wie üblich – kürzesten Fristen und, was viel wichtiger war, ren diteträchtigen Tonnagen verlangte. (Hätte es diesen Partner nicht gegeben – Du Pont und die anderen Großen hätten ihn sich ge schaffen). So entstand in jener Zeit ein als solches weder deklariertes noch paraphiertes Joint venture, das der Effektivität der faschistischen Allianz Wehrmacht – IG Farben in nichts nachstand und sie – dem höheren Niveau von Planung, Forschung und Produktion entsprechend – weit übertreffen sollte. Die Struktur einer Substanz ist wertfrei, ist »ein Ding an sich«. Aber schon ihre »Eigenschaften« erscheinen nicht mehr lediglich als Konsequenz einer definiten Struktur, sondern nur im Kontext der Wirkung dieser Substanz auf einen Partner, ein wie auch immer geartetes Objekt. Mit der Auswahl dieser Objekte weist dann auch folgerichtig der Forscher als erster einer Substanz gesellschaftliche Dimen sion zu. Die zunächst ganz und gar konjunktivischen Charakter hat – er jedoch ist und bleibt der erste, der an diesem Charakter formt. Er tut dies im Geist seines Auftraggebers, der später wiederum im Sinne seiner politischen und ökonomischen Ziel setzungen über Realisierung oder Nichtrealisierung der gesell schaftlichen Dimension dieser Substanz entscheidet. Alle Testergebnisse, die auf eine – im weitesten Sinne – mili 212
tärische Brauchbarkeit bestimmter Substanzen hinwiesen, wur den dem CWS zugeleitet, vornehmlich dem Edgewood Arsenal. Dessen nachgeordnete Einrichtung (eine von vielen): Dugway Proving Ground, ein Versuchsgelände mit einer Fläche von 3 850 km2 (die Größe des Bezirkes Leipzig beträgt knapp 5000 km2). Dugway besitzt einen eigenen Flugplatz, eine Tierfarm; es verfügt vor allem über eine ausgewogene innere Struktur, die sich auf die Zusammenarbeit einer biologischen, chemischen, meterologischen und waffentechnischen Abteilung mit der Testdivision stützt. Für Großerprobungen können der For schungsstätte zeitweilig chemische Einheiten der Army überstellt werden. Wurde die Anwendungsreife eines Kampfstoffes mit genü gender Sicherheit und genügend oft reproduziert, konnte mit seiner Großproduktion begonnen werden; so in Anlagen des Rocky Mountain Arsenals, wo zwischen 1950 und 1960 Sarin hergestellt wurde, oder im US Army Newport Chemical Plant, wo 1961 die Erzeugung des VX begann. Oder in den Kapazitäten der »Chemagro Corporation«, einer 1951 (!) in Kansas City ge gründeten Tochter der Farbenfabriken Bayer AG. Vor allem aber – in Du Ponts eigenen Anlagen. Der Kreis ist geschlossen – von der Erstsynthese einer Substanz in irgendeinem anonymen Du-Pont-Labor durch irgendein na menloses Chemikerteam über die Stationen Newark, Edgewood, Dugway bis zur Produktion in den schönen, modernen Anlagen in Wilmington (oder in einem der ca. 80 anderen Werke Du Ponts). So viele Kampfstoffe – so viele Kreise. Sie ähneln sich alle. Wieso auch nicht? So beständig wie die Partnerschaft von Kapital und Militär, so reproduzierbar ist das 213
Potential der Namenlosen, die den Charakter der Substanz for men, in angespanntester, kompliziertester, häufig auch gefähr lichster Arbeit, die ihr Dimension geben, Perspektive, ein Schicksal. Nach Angaben der südvietnamesischen Befreiungsbewegung wurden während der US-Aggression u. a. folgende Flächen ver giftet: 1961: 560 ha 1965: 700.000 ha 1970: mehr als 3 Millionen Hektar. Das Pentagon schätzt, daß insgesamt 20.000 km2 Wald und Ernten, die zwei Millionen Menschen hätten ernähren können, vernichtet wurden. Zu dieser Fläche gehören auch knapp zwei Millionen Hektar Reis- und andere Pflanzungen. Mehr als eine Million Menschen erlitten gesundheitliche Schädigungen. Müt ter, die in den betroffenen Gebieten lebten, gebaren später (und gebären heute noch) Kinder mit Mißbildungen: Anencephalus, Hydrocephalus, Polydaktylie, Anophthalmie, Mikrencephalie, Anotie. (Die Aufzählung dieser Termini fällt leichter als die Benennung der Schäden in der gewohnten Sprache; in der Zeit schrift »Wissenschaft und Fortschritt«, Heft 4, 1983, findet man, wenn man will, einen Aufsatz zweier japanischer Autoren – »Agent Orange und die Kinder von Vietnam« – , er enthält auch Fotos. Versuchen Sie, sich diese Bilder anzusehen – beschreiben kann ich sie nicht.) Heute weiß man nicht nur, daß das in den Kampfstoffmi schungen enthaltene Dioxin Verursacher dieser Schäden ist; man weiß auch, daß sein Anteil bewußt in die Höhe getrieben wurde. Harte Arbeit für Techniker und – Analytiker. Wie David Hertzberg zum Beispiel… Oder die VX-Kampfstoffe: O-Alkyl-S-(N,N - dialkylaminoal 214
kyl)-alkylthiolphosphonate. Die Großproduktion des eigentli chen VX – einer Verbindung nur aus einer ganzen Gruppe – wurde im April 1961 aufgenommen; erst 1972/73 wurde seine Konstitution in der zugänglichen Literatur bekannt, nachdem sich die Vertreter der USA im Ständigen Abrüstungsausschuß der UNO in Genf zur Offenlegung entschlossen hatten (Druck schrift CCD/365 vom 26. Juni 1972). VX-Kampfstoffe sind Nervengifte; als Inhalationsgift ist VX zehnmal, perkutan als Flüssigkeit mehr als hundertmal giftiger als Sarin. Einschlägige Felddienstvorschriften der Army geben für VX eine mittlere außergefechtsetzende Konzentration von fünf Milligramm pro Kubikmeter und Minute an, bei dieser Konzentration tritt die Wirkung nach vier bis zehn Minuten ein. Ohne sofortige medizinische Hilfe und sanitäre Betreuung ster ben bis zu 50 % und mehr der Betroffenen. In Genf offengelegt? Weil es längst andere, effektivere Kampfstoffe und Waffen und deren Kombinationen gibt. Der Pool synthetisierbarer Verbin dungen ist prinzipiell unerschöpflich. Die Anwendungs technik übernimmt immer wieder neue Wirkprinzipien, Flugapparate fliegen immer höher und schneller, Geschosse aller Art tragen ihre ausgeklügelte Fracht immer weiter und mit immer größerer Genauigkeit ins Ziel. Eine Stadt, ein Küstenstreifen, eine ganze Bucht, ein Ballungszentrum… ein ganzes Land. Dies festzulegen ist ein Vorrecht der Strategen und nicht An gelegenheit der – um bei David Hertzberg zu bleiben – Analyti ker. Auch nicht die der Biologen, Laboranten, Werkstoffexperten, Ärzte, Hydrologen, Wetterbeobachter, Schmierstoff-Fachleute, Betriebsabrechner. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen – ein schmerzlicher Weg, 215
ein aufhaltsamer, ein bitterer. David Hertzberg ist ihn gegangen. Eine jüngere Übersicht von Massenvernichtungswaffen erläu tert unter anderem das sogenannte Binärprinzip. Dabei erfolgt die Bildung toxischer Stoffe erst im Zielgebiet aus getrennt dorthin beförderten mindertoxischen Komponenten. Diese bemerkens werte Strategie erschließt die Anwendung wenig stabiler, jedoch hochtoxischer Substanzen als Kampfstoffe. Auch die Weiterentwicklung der FAE-Waffen (fuel air explo sive) scheint »erfolgsträchtig« zu sein. Aerosole werden mit Luftsauerstoff zu explosionsartiger Entzündung gebracht; die erzielbare Hitzewirkung ist sinnlich-anschaulich nicht mehr vorstellbar. Die bereits 1970 vom US-Marinekorps im Naval Weapons Center China Lake erprobte FAE-Bündelbombe CBU-55 B erreichte Flächenwirkungen über mehrere Hektar. Ein »schöner« Erfolg der beteiligten Chemiker, Physiker und Inge nieure! Inzwischen ist man bei Druckwellenfronten angelangt, die sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als 2000 m/sec ausbreiten. Wozu? Unter dem Titel »Victory is possible« veröffentlichte eine der beiden größten und angesehensten politischen Zeitschriften der USA, »Foreign Policy«, im Sommer 1980 in ihrem Heft Nr. 39 einen Artikel, in dem die Autoren Colin S. Grey und Keith Payne folgendes postulierten: »Ein Atomkrieg ist möglich. (…) Wenn die atomare Macht der USA dazu dienen soll, den au ßenpolitischen Zielen der USA zu dienen, dann müssen die Vereinigten Staaten in der Lage sein, rational Atomkrieg zu führen. Dies Erfordernis ist bedingt durch die Geographie der Ost-West-Beziehungen, durch den andauernden Rückstand des 216
Westens an konventionellen und taktischen Atomstreitkräften und durch den Unterschied zwischen den Zielen einer auf Ver änderung oder auf die. Erhaltung des Status quo ausgerichteten Macht. Die Strategieplanung der USA sollte die sowjetischen Ängste soweit wie möglich ausnutzen. (…) Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu be siegen, und dies zu einem Preis, der eine Erholung der USA er lauben würde. Washington sollte Kriegsziele festlegen, die letz tendlich die Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die den westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht ziehen.« Der Artikel wurde kommentarlos abgedruckt. Andere in der Welt – andere! nicht nur die der »anderen Seite« Zugehörigen – haben vorgeschlagen, die Rüstung einzufrieren, chemische (und biologische) Waffen zu verbieten, kernwaffen freie Zonen zu schaffen. Mögen sich die Fälle, wo im Soge drohender Konfrontationen Vernunft und menschliches Maß letztlich die Oberhand behiel ten, und jene, in denen sich die Option auf die blanke, unverhüllte Gewalt durchsetzte, die Waage halten oder auch nicht – jüngste Nachkriegsgeschichte beweist, daß die Kräfte, die sich der Idee des friedlichen Zusammenlebens der Völker verpflichtet fühlen, nie anderes als eben Maß und Vernunft ins Feld führten – bis zur letzten, bitteren Minute. Ihnen gehört auch heute unsere Hoffnung. In die Sonderdrucke einer höchst bedeutsamen und außeror dentlich begehrten Arbeit, die eine Chromosomenkarte des Bakteriophagen T 4 enthielt (Stahl, F. W. und N. E. Murray, Genetics, 53, 1966, 569), druckte der amerikanische Wissen 217
schaftler Prof. STAHL, ein weltbekannter Molekulargenetiker, die Losung U. S. GET OUT OF VIETNAM mit einem roten Gummistempel hinein. Er tat dies, wie er seinem Kollegen E. Geissler aus der DDR im Herbst 1966 in Neapel erklärte, um wenigstens auf diese be scheidene Weise seinen Protest gegen die US-Aggression aus zudrükken und um sich eindeutig von der Politik der Regierung seines Landes zu distanzieren. Heute, knapp zwanzig Jahre später und angesichts einer noch nie so deutlich gewordenen Bedrohung der Existenz der Menschheit, obliegt Geistesschaffenden in fünf Erdteilen uner bittlicher denn je zuvor die Pflicht, die Politik der Regierungen ihrer Länder vornehmlich daran zu messen, was sie tun: für die Erhaltung des Friedens. Die Bemühungen und Initiativen der Staaten des sozialistischen Lagers um Rüstungsstopp, um Abrüstung, um die weltweite Ächtung von Kern- wie konventionellen, von chemischen wie biologischen Waffen aller Kategorien sind zahllos. Allein ein Fachhistoriker ist noch in der Lage, eine vollständige, sachkun dig geordnete Übersicht aller Vorschläge zu erarbeiten. Die Ge schichte, insbesondere die unseres Jahrhunderts, beweist: der Krieg ist kein Gesetz der Natur, und der Frieden ist kein Ge schenk. Frieden für unsere Gesellschaft, Frieden für die Welt muß erkämpft, jeden Tag neu errungen werden. Solange die Kräfte des Imperialismus nicht ablassen, den Hort entsetzlicher, die Existenz der Menschheit, ja unserer Erde be drohender Waffen weiter zu mehren, kann nur ein gewappneter Friede ein guter Friede sein. So leisten denn in der sozialistischen Gesellschaft Wissenschaft und Technik ihren Beitrag zur Auf rechterhaltung der Verteidigungsbereitschaft in der Gewißheit, nicht nur das so friedlich wie opferreich Errungene zu schützen, 218
sondern auch in Erfüllung der historischen Aufgabe, kommenden Generationen den Weg in eine friedliche Zukunft frei zu halten. Halle, im Mai 1984
Der Autor
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Vom Autor benutzte Literatur Börner, H. Pflanzenkrankheiten und Pflanzenschutz, Stuttgart 1971 Bredthauer, K. D. u. K. Mannhardt (Hrsg.) Es geht ums Überleben, Köln 1981 Charisius, A. u.a. Weltgendarm USA, Berlin 1983 Franke, S. Lehrbuch der Militärchemie, Berlin 1977 Geissler, E. u. H. Ley (Hrsg.) Philosophische und ethische Probleme der modernen Genetik (II. Kühlungsborner Kolloquium), Berlin 1972 Groehler, O. Der lautlose Tod, Berlin 1978 Hoffmann, M. Kernwaffen und Kernwaffenschutz, Berlin 1975 Jungk, R. Heller als tausend Sonnen, Bern und Stuttgart 1963 Löhs, K. u. D. Martinetz Entgiftung und Vernichtung chemischer Kampf stoffe, Berlin 1983 Masters, D. Der Zwischenfall von Los Alamos, Berlin und Weimar 1964 Pauling, L. Leben oder Tod im Atomzeitalter, Berlin und Weimar 1964 Sjöström, H. u. R. Nilsson Contergan oder die Macht der Arzneimittelkon zerne, Berlin 1975 Stöhr, R: u. a. Chemische Kampfstoffe und Schutz vor chemischen Kampfstoffen, Berlin 1977 Wegler, R. (Hrsg.) Chemie der Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämp fungsmittel, Berlin, Heidelberg, New York 1970 Dazu gesellen sich ein Reihe von Arbeiten in Periodika (insbesondere »Naturwissenschaften«, »Naturwissenschaftliche Rundschau«, »Wissen schaft und Fortschritt«) sowie Mitteilungen in der Tagespresse, die im einzelnen nachzuweisen vor allem deshalb unterlassen wurde, um beim unbefangenen Leser nicht einem wo möglichen Eindruck ausgewogener oder gar erschöpfender Darstellung Vorschub zu leisten.
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Worterklärungen acre – engl. u. nordamerik. Feldmaß; 1 acre = 40,5 a Agent Blue, Agent Orange, Agent Purple usw. – Codeworte für von den US-Streitkräften in Vietnam eingesetzte pflanzenschädigende (phytotoxische) Kampfstoffe. Die Wirkstoffe sind: A.Orange: 50% n-Butylester der 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D) 50 % n-Butylester der 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure (2,4,5-T) A. Blue: Dimethylarsinsäure (allein) A. Purple: 50 % n-Butylester der 2,4-D 30 % n-Butylester der 2,4,5-T 20 % i-Butylester der 2,4,5-T A. White: 80 % Triisopropanolaminsalz der 2,4-D 20 % Picloram Wirkung u. Anwendung: Orange/Purple: Keine wesentlichen Unterschiede in den phytotoxischen Eigenschaften; insbesondere breitblättrige Pflanzen (Gemüse, Bäume, Sträucher) resorbieren den Kampfstoff, der auf das wachstumsregulierende System wirkt. Sie sterben (in Abh. von Art, Alter, Wirkstoffmenge) innerhalb von 1 – 4 Wochen ab (Höhepunkt der Entlau bung nach 3 – 4 Wochen). Die Entlaubung wirkt für eine Wachstumsperiode. Orange wird hauptsächlich eingesetzt zur Entlaubung großer Waldgebiete; Purple zur Entlaubung längs wichtiger Transportwege (1 Woche nach Versprühen Laubabfall 90 bis 95 %). Blue: Blätter trocknen durch Wasserentzug rasch aus und rollen sich ein. Reis: visuell keine Schäden feststellbar (!), jedoch wird die Körnerbildung verhindert. White: schädigt nahezu alle Pflanzenarten, wirkt als Totalherbizid. Einmalige Sprühung genügt; gegenüber holzigen Pflanzen wirksamer als Orange. Dauerwirkung! Durch Einspülen der Picloram-Komponente in den Boden jahrelange Nachwirkungen; White besonders für die großflächigen Waldvernichtungsaktionen Anfang der 70er Jahre eingesetzt. Alcan – Kurzwort für Alcan Military Highway; im Zeitraum April bis Nov. 1942 gebaute Allwetter-Rollkies-Autostraße von Dawson Creek (Kanada) nach Fairbanks (Alaska); 1 527 Meilen; seit 1948 frei für Zivilverkehr A WA CS – Abkürzung für Airborne Warning and Control System (luftgestütztes Frühwarn und Einsatzführungssystem); in den USA Ende der 70er Jahre entwickeltes flugzeug gebundenes elektronisches Spionagesystem. Die Flugzeuge besitzen u. a. Radargeräte großer Reichweite, elektronischen Selbstschutz u. elektronische Aufklärung, Daten verarbeitungsanlagen zur Auswertung von »Ziel«bewegungen. Trägertypen: insbe sondere Boeing E 3 A (entwickelt aus Boeing 707); auch Grumman E 2 C Hawkeye und Hawker Siddeley Nimrod (modifizierte Comet, GB). 1982 Auslieferung der ersten AWACS an eine Reihe NATO-Staaten; Hauptbasis Geilenkirchen (BRD). bluetop grass – taxonomisch nicht eindeutige Bezeichnung für eine bestandsbildende Gesellschaft schütterer Gräser, insbes. Straußgräser (Agrostis spec.) booklet – kleines Buch, Broschüre Bush-baby – Trivialname, i. e. Sinne für Galago senegalensis (Moholi); i. w. Sinne für
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Galagos (Ohrenmakis), insgesamt Halbaffen (Fam. Lorisidae) cabin – Hütte; Blockhaus Cariboo Head – Rentierkopf Catowl – ein Trivialname (»Katzeneule«) für die Sumpfohreule (Asio flammeus) Chemical Warfare Service – selbständiger Bereich der US-Streitkräfte für chemische Kriegführung; Abk. CWS (»Chemisches Korps«) Chinook – amerikanische Lachsart; Königslachs, Oncorhynchus tschawytscha Chum – amerikanische Lachsart; Hundelachs (dog salmon), Oncorhynchus Keta crazy – Verrückter; »Spinner« crew – Mannschaft colonel – Oberst dead wood – toter Wald, totes Gehölz deer – Hirsch; Rothirsch; jedoch taxonomisch nicht eindeutig Deputy – Stellvertreter disaster – Unglück, Unfall divide – Wasserscheide Division – Abteilung; relativ selbständige, größere Organisationseinheit kapit. Unterneh men, meist produktionsbezogen (an Hauptproduktgruppen gebunden) Feten – Plural von Fetus oder Fötus; Leibesfrucht des Menschen vom 3. Monat an Fireweed – Trivialname für mehrere Weidenröschen-Arten (Epilobium spec.) Flush – 4. Rangordnungsstufe der Pokerhand: fünf nicht aufeinanderfolgende Karten gleicher Farbe Food and Drug Administration – US-Regierungsbehörde für die Zulassung, Registrierung und Überwachung von Nahrungsund Arzneimitteln; Abk. FDA Früherythem – Symptom der Primärreaktion der akuten Strahlenkrankheit: durch ver mehrte Durchblutung (Hyperämie) bedingte starke Rötung der Haut, eine Folge der lokalen Hautbestrahlung; verbunden mit Bindehautentzündung des Auges (Konjunkti vitis) Galaxy – modernes US-amerikanisches Transportflugzeug der C-Reihe (C-5 A) für weit reichende Luftbrückenoperationen (Marschgeschwindigkeit 860 km/h, Reichweite 13.400 km); gehört zum Bestand der Lufttransportorganisation der US-Luftstreitkräfte (Military Airlift Command, Abk. MAC) Golden Twenties – »die goldenen zwanziger Jahre«; insbes. von bürgerlicher Seite häufig gebrauchte Bezeichnung für die Zeitspanne vom Beginn der zwanziger Jahre bis zur Weltwirtschaftskrise Guide – Führer; insbes. Führer von Jagd- oder Reisegesellschaften, auch im kommerziellen Tourismus Hämangiom – Blutgefäßgeschwulst headline – Schlagzeile Headquarter – Hauptquartier joint venture – eine Form kapitalistischer Gemeinschaftsunternehmen; insbes. für Part nerschaften auf Basis in- und ausländischer Anteilseigner Kibbuzim – Einzahl Kibbuz; kollektive, ländliche Siedlung in Israel, zusammengefaßt in vier (parteiabhängigen) Dachverbänden; wesentliches Instrument und Organisations form der Annexion und Besiedlung arabischen Territoriums Lodgepole Pine – eine Kiefernart
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Meza – Bezeichnung in Spanien und im spanischsprachigen Amerika für Tafelberge, auch für ebene Landstriche im Gebirge Muskeg – Sumpf; nicht scharf abgegrenzt gegen Hochmoor Nanogrammbereich – 1 Nanogramm – 10-9g National Security Council – Nationaler Sicherheitsrat; Organ zur Planung, Leitung, Koor dinierung der Außen- und Militärpolitik der USA, geschaffen durch den National Se curity Act 1947; Vorsitzender ist der Präsident der USA. Nigger-head-Tundra – besondere Form der sog. nassen (wet) Tundra, auch im Bereich der Waldgrenze sowie noch in moorigen Tälern, Senken etc. innerhalb der Nadelwaldzone; gekennzeichnet durch ein ziemlich regelmäßiges Mosaik von kleineren Erhebungen (Bulten) und dazwischen liegenden nassen Einsenkungen (Schienken). Bulten und Schienken weisen eine differenzierte Vegetation, insbes. von Torfmoosen, Preisel- und Moosbeeren und Wollgräsern, auf. nothing – nichts of course – natürlich Panhandle – Pfannengriff; volkstümliche Bezeichnung für das schmale alaskische Küs tenland von der Insel Prince of Wales bis etwa Valdez pitcher – Werfer beim Baseball pork and beans – Schweinefleisch und Bohnen Ptarmigan – hier: willow ptarmigan, das in Alaska lebende Schneehuhn (Lagopus mutus) report – Bericht Research center – Forschungszentrum rush hour – Stunde mit dem höchsten Verkehrsaufkommen rush: auch: Andrang, Gedränge Sap’s runnin – Der Saft läuft (rein)! Der Saft kommt! Traditioneller Ruf zu Beginn der Zapfung des Zuckerahorns (Acer saccharum) Seismic research point – Erdbebenforschungs-Beobachtungs- (Meß-)-Punkt shot – Schuß softy petting – Petting: Liebesspiel ohne Koitus; soft: weich, mild staff – Stab; Leitungsgremium; häufig auch Beamten-, Managerteam für Entscheidungs vorbereitung, Strategiebildung ohne eigene Entscheidungskompetenz subfebril – noch nicht fieberhaft, jedoch erhöhte Temperatur System research – Systemforschung The Compelling Need for Nuclear Tests – Die zwingende Notwendigkeit (zur Durchfüh rung) von Kerntests They did kill him! – Sie haben ihn getötet! Tobbogan – kufenloser Schlitten kanadischer u. alaskischer Indianer Torino è una – città americana… Turin ist eine amerikanische Stadt… touch – Berührung; Anflug, Anstrich; im Text: ein schneller, gewagter Versuch; Hand streich trail – Spur, Fährte; auch: Route, Weg walkie-talkie – Funksprechgerät Whiskey Jack – eine Häherart; taxon. nicht eindeutig, gebraucht sowohl für den Meisen häher (Perisoreus canadensis) als auch für den Schwarzkopfhäher (Cyanocitta stellen).
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Wildlife Fund – im Text: verkürzte Form von: The World Wildlife Fund – Der Weltna turfonds. 1961 gegründete internationale Stiftung zur Koordinierung aller Bestrebungen zur Erhaltung von Natur und Tierwelt; Sitz Zürich Wildlife Range – Gebirgsregion im Quellgebiet von Sheenjek u. Coleen River, südl. der Romanzof Mountains
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© Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig 1985 2. Auflage Lizenz-Nr. 444-300/110/86 • 7004 Printed in the German Democratic Republic Typografie: Bernd-Michael Dehnert Einband: Stefan Duda Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V15/30 Best.-Nr. 639.174 8
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