Alles Glück dieser Welt
VIOLET WINSPEAR
Ein bißchen zu ruhig findet Mary Lester das Leben auf dem Lande bei ihren Ver...
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Alles Glück dieser Welt
VIOLET WINSPEAR
Ein bißchen zu ruhig findet Mary Lester das Leben auf dem Lande bei ihren Verwandten und ergreift deshalb mit Freuden die Chance, als Sekretärin bei dem bekannten Londoner Arzt Paul Stillman zu arbeiten. Mary versteht sich mit ihrem Chef auf Anhieb, beide verbindet sogar von Anfang an eine tiefe Sympathie. Doch mehr darf es auch nie werden, nimmt sich die junge Sekretärin fest vor, denn Paul Stillman ist bereits mit der schönen Französin llena verlobt…
RomanaRomane erscheinen in der KORALLE VERLAG GmbH Berlin – Hamburg. Redaktion und Verlag: 2 Hamburg 36, KaiserWilhelmStraße 6,
Telefon:(0 40) 3 47(1).
FS212009korad
Verantwortlich für den Inhalt:Thea Tauentzien, Hildegard Matthes.
Anzeigenleitung: Eckard Dems – Vertriebsleitung:Gerhard Bergmann.
Anzeigen nach jeweils gültiger Anzeigenpreisliste.
© by Violet Winspear
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Mills & Boon Limited, London Deutsche Übersetzung 1974 by KORALLE VERLAG Berlin – Hamburg.
Alle Rechte vorbehalten. RomanaRomane dürfen nicht verliehen oder zum erwerbsmäßigen Umtausch verwendet werden.
Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
Für unangefordert eingesandtes Manuskript übernimmt der Verlag keine Haftung.
Satz: Axel Springer Verlag AG, Hamburg.
Druck: Ernst Klett Druckerei, Stuttgart.
Printed in Western Germany
1. KAPITEL Am Abend vor Marys Abreise nach London, wo sie ihren neuen Job in der StillmanKlinik antreten wollte, gaben ihre Tante und ihr Onkel eine Abschiedsfeier. Es war nur eine kleine Feier. Obwohl Mary lange bei ihnen gelebt hatte, verabscheute sie leeres Gerede und erzwungene Höflichkeiten. Alle, die hier um den großen Tisch versammelt waren, dachten eigentlich, daß sie noch viel zu jung sei, um sich allein in der großen, fremden Stadt ein Leben auf zubauen. Aber Mary hatte ihren Kopf durchgesetzt. Das konnte sie sehr gut, wenn sie wollte. Sie liebte die Grafschaft Norfolk. Mehr noch aber interessierte sie das aufregende Leben Londons. Das war auch der Grund, weshalb sie gleich nach dem Schulabschluß einen Sekretärinnenkursus absolviert hatte. Onkel Richard meinte zwar, sie hätte es gar nicht nötig zu arbeiten. Doch was wäre das für ein Leben, den ganzen Tag mit ihrer Tante zu verbringen? Die Nase in alle Angelegenheiten der Gemeinde zu stecken und nichts weiter zu tun, als Feste und Wohltätigkeitsbasare zu arrangieren? Energisch hatte sie ihrem Onkel ihren Standpunkt klargemacht: „Altkleidersammlungen zu organisieren, das reicht mir eben nicht. Ich brauche ebenso die Bestätigung in einem richtigen Beruf wie ein Mann.“ „Du scheinst dir ein bißchen falsche Vorstellungen über den Beruf einer Sekretärin zu machen, meine Liebe.“ Onkel Richard war ein Familienoberhaupt von altem Schrot und Korn. „Ich wette, du kommst in spätestens zwei Monaten nach Hause gelaufen und beklagst dich, daß du dich zu Tode langweilst bei deinem großen Abenteuer. Ich kenne dich, Mary. Du bist ebenso ruhelos, wie dein Vater es war. Er hat es auch nie länger als einen oder zwei Monate bei einer Tätigkeit ausgehalten.“ „Aber ich will es wenigstens versuchen! Meine Lehrerin Miss Grinham hat mich persönlich an den Leiter dieser Klinik in London empfohlen. Bestimmt ist es viel abwechslungsreicher, für einen bedeutenden Arzt zu arbeiten als für einen Geschäftsmann – oder auch für einen Rechtsanwalt.“ Ihre grünen Augen blitzten. Aber Richard Lester, auf den diese letzte Bemerkung gemünzt war, hatte wenig Sinn für Humor. Überhaupt konnte er die einzige Tochter seines verstorbenen Bruders niemals richtig verstehen. Er hielt sie für aufsässig und war im Grunde sogar erleichtert über ihre Abreise nach London. Sein Sohn Derek war nämlich ziemlich vernarrt in Mary. Mit ihren neunzehn Jahren sah sie allmählich aufreizend weiblich aus. Da für Richard Lester eine Ehe zwischen so nahen Verwandten überhaupt nicht in Frage kam, fand er es besser, wenn die beiden jungen Leute sich nicht mehr so oft sahen. Marys Mutter war eine gefeierte Konzertpianistin gewesen und hatte ihrer Tochter eine hübsche Summe Geldes vermacht. Aber nach Richard Lesters Überzeugung konnte selbst das Geld keinen heilsamen Einfluß auf seine Nichte ausüben. Mary schien ihre Hände nach etwas auszustrecken, das außerhalb der Reichweite seines ziemlich engen Lebenskreises lag. Sie geriet eben nach ihrem Vater. Auch er war ruhelos durch die Welt gezogen, und selbst seine Heirat und Marys Geburt hatten ihn nicht seßhaft werden lassen. Ganz anders Bruder Richard, der Mary dann später bei sich aufnahm. Er hielt es stets für die Pflicht eines anständigen Engländers, ansässig und ein treusorgender Familienvater zu werden. In diesem Sinne hatte er auch seinen Sohn Derek erzogen. Und jetzt, wo er ihn in seine Firma aufgenommen hatte, würde Mary nur einen unheilvollen Einfluß auf Derek ausüben.
Diese Gedanken gingen Richard Lester wieder durch den Kopf, als sie nun alle gemeinsam am Tisch saßen und miteinander plauderten. Marys feingeschnittenes, dennoch willensstarkes Gesicht und die Haltung ihres schlanken Körpers zeugten von der Unabhängigkeit ihres Denkens. Sie verrieten aber auch, daß sie sich der Reize, die sie auf Männer ausübte, noch nicht voll bewußt war. Männer! Mary verdammte sie alle in Bausch und Bogen als Haustyrannen, die nur darauf aus waren, aus Mädchen Frauen und Mütter zu machen und ihnen die Freiheit zu stehlen. Selbst Derek kam in dieser Hinsicht bei ihr kaum besser weg. Als er sie über den Rand seines Sherryglases anstrahlte und sagte: „Du mußt öfter Grün tragen, Mary! Das steht dir so gut!“ schnitt sie ihm nur eine Grimasse. „Ich nehme an, Paul Stillman ist Kanadier?“ fragte der Vikar in einer Gesprächspause. „Ganz recht, Herr Vikar“, antwortete Mary artig. Sie hatte eine klare, beinahe jungenhafte Stimme. „Miss Grinham hat mir schon so viel über ihn erzählt. Er ist Facharzt für Knochenleiden, ein Osteopath, und er beschäftigt eine ganze Menge Personal in seiner Klinik. Seine bisherige Sekretärin mußte nach Kanada zurück. Miss Grinham hörte, daß er eine neue Sekretärin braucht und schlug mich als Nachfolgerin vor. Sie ist überzeugt, es wird mir gefallen, für ihn zu arbeiten.“ „Von diesem gefeierten Knochendoktor habe ich auch schon gehört“, warf Miss Courtfield ein. Mary mochte diese Frau nicht, weil sie grausame Sportarten liebte. Besonders die Fuchsjagd hatte es ihr angetan. „Hoffentlich haben Sie auch Gutes über ihn gehört“, versetzte sie und schaute Miss Courtfield mit ihren grünen Augen kühl, fast herausfordernd, an. „Na ja, wenig! Man sagt, daß er eine Art Sklaventreiber ist und sehr unhöflich sein kann. Meine Freundin ist letztes Jahr bei der Fuchsjagd böse gestürzt und« hat sich die Schulter ausgerenkt. Jemand gab ihr den Rat, sich von Dr. Stillman behandeln zu lassen. Er hat sie gefragt, wie es geschehen ist. Als sie es erzählte, stand er wortlos auf und öffnete die Tür. Wissen Sie, welche Frechheit er ihr an den Kopf geworfen hat?“ Miss Courtfields Blick wanderte um den Tisch, von einem zum andern. Nach der Kunstpause sprach sie weiter: „Er sagte, lieber würde er einen armen gejagten Fuchs behandeln als ihr helfen, damit sie gleich wieder an einer Fuchsjagd teilnehmen könnte.“ Tante Marjorie zeigte sich angemessen schockiert, als Mary lachend herausplatzte: „Bravo, Dr. Stillman!“ Ihre Augen blitzten vor Vergnügen. „Miss. Grinham hat mich vorgewarnt, daß er eine äußerst scharfe Zunge hat. Ich bin ganz auf seiner Seite, wenn er sie an Menschen erprobt, die hilflose Tiere hetzen, bis sie blind vor lauter Angst werden. Das ist doch kein Sport! Das ist Perversion.“ „Mary!“ Onkel Richard deutete verstohlen auf den Vikar. Derek hatte sich an seinem Sherry verschluckt, und Mary klopfte ihm auf die Schulter. Unbekümmert fuhr sie fort: „Stimmen Sie mir nicht zu, Herr Vikar? Ich meine, Sie predigen doch gegen die Sünden des Fleisches…“ Tante Marjorie erhob sich eilig. „Ich glaube, meine Damen, wir sollten uns zu einem Täßchen Kaffee zurückziehen, während die Männer sich unterhalten und eine Zigarre rauchen. Mary“, setzte sie mit Nachdruck hinzu, „wenn ich mich richtig erinnere, hast du vorhin vorgeschlagen, uns etwas auf dem Flügel vorzuspielen. Vielleicht kannst du das jetzt tun.“ Mary spielte ein paar leichte Stücke. Doch mit ihren Gedanken war sie schon in
London, und sie hielt es nicht lange am Flügel aus. Nach einer Viertelstunde stand sie auf, entschuldigte sich und schlenderte in den Garten hinaus. Die Luft war rein und frisch nach einem kurzen Sommerschauer. Mary strich beim Gehen mit den Fingerspitzen über die feuchten Blätter der Hecke und sog tief den schweren Duft der Rosenblüten ein. Auf dem federnden Rasen hatte sie keine Schritte gehört. Sie fuhr erschrocken zusammen, als sich warme Hände auf ihre Schultern legten und sie sanft herumdrehten. Derek stand vor ihr. Im fahlen Mondlicht sah sein Gesicht blaß aus. „Mondschein und Rosen“, murmelte er. „Diese Gelegenheit dürfen wir nicht versäumen.“ Als er sie jedoch an sich ziehen wollte, machte sie sich frei und eilte den Pfad zurück, vorbei an den gestutzten Hecken. Sie war zwar flink, aber Derek war heute abend schneller. Unter den rauschenden Blättern einer uralten Linde holte er sie ein und umarmte sie stürmisch. „Du bist ein Scheusal, Derek Lester“, keuchte sie. „Und ich glaube, du hast heute abend viel zuviel getrunken.“ Sie holte mit ihrem zierlichen Fuß aus und trat ihm heftig gegen sein Schienbein. „Laß mich endlich los! Betatsch doch Daisy Courtfield – sie ist schließlich ganz wild darauf!“ „Ich bin nicht betrunken, du kleine Tigerin!“ Er lachte, als hätte er ihren Tritt gar nicht gespürt, ja ihr Widerstand schien ihn nur noch mehr anzuregen. „Dazu gehören mehr als zwei Glas Sherry. Du bist es, die mich betrunken macht, Mary! Du bist kein kleines Mädchen mehr, ganz im Gegenteil. Du siehst verdammt verführerisch aus in diesem seidenen Nichts, das du trägst.“ Er beugte sich über sie. „Laß dich küssen. Ein Kuß ist doch nichts Schlimmes!“ Seine Lippen strichen verlangend über ihren Hals. Da trat sie ihm kräftig auf die Zehen. „Wenn du mich nicht sofort losläßt, schreie ich das ganze Haus zusammen“, drohte sie. Aber Derek ließ sich davon nicht beeindrucken. „Geh nicht fort, bitte! Bleib hier bei mir und heirate mich“, flüsterte er. „Derek! Ich werde schreien. Aber heiraten werde ich dich nicht. Und wenn du der letzte Mann auf der Welt wärst.“ Ihr weiblicher Instinkt kam ihr jetzt zur Hilfe. Sie begann laut zu lachen, mit der ganzen Grausamkeit, zu der Mädchen fähig sind, wenn sie sich anders eines Mannes nicht erwehren können. Da endlich lockerte er den Griff seiner Arme. Nervös strich er sich das zerwühlte, sandfarbene Haar aus der Stirn. „Hör endlich auf, so albern zu lachen“, sagte er unsicher. „Sobald du aufhörst, dich wie ein alberner Idiot aufzuführen“, gab sie kampfeslustig zurück. Sie spürte, daß sie die Oberhand gewonnen hatte und lehnte sich an den dicken Stamm der Linde. „Erstens sind wir beide nahe miteinander verwandt, zweitens hält dein Vater überhaupt nichts von mir. Und abgesehen davon, ich verspüre nicht den leisesten Wunsch, mich jetzt schon zu binden.“ So zart und zerbrechlich sie auch wirkte, wie sie da vor ihm stand – sie war doch schon eine junge, aufblühende Frau. „Du bist kalt wie ein Fisch!“ stieß er zornig hervor. „Wahrscheinlich hast du recht. Mit Daisy Courtfield würde ich sicher besser zurechtkommen als mit dir.“ „Ganz bestimmt“, kicherte Mary. „Sie liebt deine Sommersprossen doch so.“ „Weißt du, was ich mir wünsche, Mary?“ fragte er böse. „Daß du in Lohdon einem Mann begegnest, der dir deinen Panzer vom Leib reißt. Einen Kerl, nach dem du verrückt bist, und der sich nichts aus dir macht.“ „Du herzloser Teufel!“ Einen Augenblick war sie unsagbar wütend über seine
Bosheit. Aber dann fiel ihr ein, wie gut sie sich eigentlich verstanden, wenn er nicht gerade den Verliebten spielte. Sie packte ihn an den Armen. „Hör auf mit diesem albernen Gerede über Liebe und Heiraten. Bitte, versteh mich doch! Ich will erst etwas aus mir machen. Du weißt so gut wie ich, daß ich niemals die brave Frau eines Anwalts werden könnte. Ich muß erst einmal die Welt kennenlernen. Wenn ich einundzwanzig bin und Onkel Richard mir mein Erbe auszahlt, kann ich herumreisen. Danach werde ich mich vielleicht eines Tages sogar ernsthaft mit dem Klavierspiel befassen und Konzertpianistin werden wie meine Mutter.“ „Ich weiß, wie gut du spielst, Mary.“ Perek legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schulter. Als sie spürte, daß er dabei keine Hintergedanken mehr hatte, entspannte sie sich. Eine Weile standen sie beide an den Baum gelehnt und hingen ihren Gedanken nach. Mary hatte fast acht Jahre in Dereks Familie gelebt. Ihre Eltern waren ertrunken, als die Fähre nach Irland im eisigen Wintersturm gekentert und wie ein Stein untergegangen war. Sie erinnerte sich noch an ihren strahlenden Vater und an ihre zierliche irische Mutter, die so wunderbar Klavier spielte. Sie wirkten wie die glücklichsten Menschen auf dieser Welt. Irgendwie schien es richtig gewesen zu sein, daß auch der Tod sie nicht trennte. Als hätte Derek. ihre Gedanken erraten, fragte er plötzlich: „Fühlst du dich nicht manchmal sehr einsam, Mary? Sehnst du dich nicht bisweilen nach einem Menschen, der ganz allein dir gehört und die Schatten der Nacht vertreibt? Der dir Wärme gibt und all deine Sehnsüchte und Freuden mit dir teilt?“ Mary ließ seine Worte eine Weile in sich nachklingen. Sie wußte, daß ihre Eltern die Liebe gefunden hatten, von der Derek sprach. Jene seltene Liebe, die die geheimnisvollste Verbindung zweier Menschen ist, das instinktive Wissen um alles, was den anderen schmerzt, erfreut oder ärgert. Solch eine Liebe ist großzügig und dauerhaft genug, selbst Augenblicke des Kummers zu überstehen. Wie selten aber ist sie! Ihr Onkel und ihre Tante zum Beispiel waren zwei Menschen, die gemeinsam unter einem Dach lebten und sich einigermaßen nett zueinander verhielten. Doch Mary spürte, daß sie sich kaum jemals ihre geheimsten Gedanken anvertrauten. Die Art, wie ihre Tante sich in die Sozialarbeit stürzte, bewies zur Genüge, daß sie gebraucht werden wollte und dieses Gefühl nicht bei ihrem Mann fand. „Findest du mich wirklich in keiner Weise heiratenswert, Mary?“ fragte Derek vorsichtig. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Derry!“ „Du bist schrecklich offen.“ „Nur deinetwegen bin ich so aufrichtig. Du sollst glücklich werden mit dem richtigen Mädchen. Wenn du sie eines Tages gefunden hast, wirst du mir dankbar sein. Aber versprich mir, Derek, daß du Daisy Courtfield nicht aus purem Trotz heiratest, ja?“ Wieder lachte sie, aber diesmal verletzte ihn ihre Reaktion nicht mehr. Er spürte, daß sie es ehrlich mit ihm meinte. Und wenn er in sich hineinhorchte, mußte er sich eingestehen, daß er Mary vielleicht doch nicht stark genug liebte, um sie gleich zu heiraten. Das machte alles nur der Wein und der Gedanke an ihren zierlichen Körper unter diesem verführerischen Seidenkleid. Auch die allgemeine Abschiedsstimmung, hatte ihm wahrscheinlich heute zu schaffen gemacht… Er lächelte und drückte ihr einen freundschaftlichen Kuß aufs Haar, dessen Weichheit seine Lippen kitzelte. „Tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, du komisches, kleines Biest!“ sagte er leise. „Komisch, aber nicht dumm. Bleib so klug, auch in London!“
„Damit nicht einer kommt und mir den Panzer vom Leib reißt, nicht wahr?“ Sie lachte hell auf. „Soll er es ruhig mal versuchen.“ Dr. Paul Stillman hatte ihr geschrieben, daß er sie vom Bahnhof würde abholen lassen, da sie sicher fremd in London sei. Obwohl Mary sicher war, daß sie die Klinik am Regent’s Park mitten in der Stadt gar nicht verfehlen könnte, schrieb sie ihm zurück und bedankte sich für sein freundliches Angebot. Sie begrüßte sogar die Gelegenheit, einen seiner Angestellten sprechen zu können, ehe sie ihm selbst gegenübertrat. Wahrscheinlich hatte Miss Grinham diesen Dr. Stillman in freundlicheren Farben geschildert, als er es verdiente. „Wenn du zur Sekretärin untauglich bist, wird er dir das schon beizeiten beibringen“, hatte sie gesagt. „Hält er dich aber für geeignet, dann wird es dir bestimmt großen Spaß machen, für diesen interessanten Mann zu arbeiten.“ Mary hoffte aufrichtig, daß Miss Grinham recht behalten möge. Der Zug hielt, und sie sprang auf den Bahnsteig. Sie war froh darüber, daß ihr der nette alte Farmer, mit dem sie die meiste Zeit ihrer Heise verbracht hatte, half, den Koffer aus dem Zug zu bugsieren. „Wenn Sie jemals einen Job auf einer Farm suchen, denken Sie an mich“, sagte er zum Abschied. „Jake Warner aus Attleborough – alle kennen mich dort. Ich und meine Frau könnten so ein nettes, frisches, junges Ding wie Sie ganz gut brauchen.“ „Ich werde über Ihr Angebot nachdenken, Mr. Warner“, erwiderte Mary lächelnd und mischte sich unter die vorbeihastende Menge, die zur Sperre drängte. Ich habe dunkles Haar und werde eine schwarzgrün karierte Kappe tragen, hatte sie Dr. Stillman geschrieben, so daß man mich sicher gleich auf dem Bahnsteig erkennen wird. Ihre Kappe saß keck über einem Auge, doch Mary verschwand in der Menschenmenge. Sie kam sich hilflos vor. Als sie dann mit ihrem viel zu schweren Koffer versuchte, zur Seite auszuweichen, rutschte ihr die Kappe vom Kopf und landete auf dem Bahnsteig. Sie wollte sich gerade nach ihr bücken, als ihr eine schlanke Männerhand zuvorkam und sie aufhob. „Eine schwarzgrün karierte Kappe und dunkles Haar!“ Mary hörte die Stimme und starrte verdutzt in zwei graue Augen, die sie belustigt musterten. Es waren helle, fast silberfarbene Augen in einem Gesicht, das ihr streng und zugleich humorvoll vorkam, ein Gesicht von anziehender Häßlichkeit. In der Mitte des Kinns entdeckte sie das tiefste Grübchen, das sie jemals gesehen hatte. Dichte dunkle Brauen und volles, dunkles Haar stellten einen angenehmen Kontrast zu diesen leuchtenden Augen dar. „Sie sind Mary Lester, nicht wahr?“ sagte der Mann, drückte ihr die Kappe auf den Kopf und wollte ihr den schweren Koffer abnehmen. „Einen Augenblick bitte“, protestierte Mary freundlich aber bestimmt, und hielt den Koffergriff fest. „Sind Sie von der StillmanKlinik?“ „Ja, sicher.“ Seine Lippen zuckten belustigt. „Ich bin Paul Stillman.“ „Oh“, machte sie und zog verdutzt die Luft ein. „Oh?“ wiederholte er. „Was haben Sie denn erwartet? Einen würdevolleren, schon ergrauten Mann vielleicht?“ Mary schüttelte den Kopf und mußte unwillkürlich an die Fuchsjagdgeschichte von Miss Courtfield denken. Dieser Dr. Stillman sah ganz so aus wie sie ihn beschrieben hatte. Aber Mary konnte wirklich nicht erwarten, von dem Klinikboß persönlich abgeholt zu werden. „Ich mußte in diese Gegend und dachte mir, daß ich bei der Gelegenheit gleich meine Sekretärin selbst abholen könnte“, unterbrach er ihre Gedanken. Sein Blick glitt zu ihrer kessen Kappe, und er fügte hinzu: „Bitte setzen Sie diese
seltsame Kopfbedeckung gerade auf. Sonst läßt man uns nicht ins Dorchester. Dort werden wir nämlich essen.“ Im Laufen rückte sich Mary ihre Kappe zurecht. Im Dorchester essen! Das fing ja toll an. Auf der Straße schimmerte ein schwarzer Bentley, in den Paul Stillman ihre Koffer verstaute. Marys Herz klopfte vor Aufregung schneller. Ihr, die sie frisch vom Land kam, gefiel das quirlige Leben, das sie umströmte. Paul Stillman wartete neben dem Wagen, daß sie einstieg. Nachdenklich sah er Mary an. Miss Grinham hatte ihm eine erstklassige Arbeitskraft angekündigt – nicht ein Mädchen, das zum Flirten aufgelegt war und nur mal eine Klinik von innen kennenlernen wollte, um dann den erstbesten Mann zu heiraten. Aber dieses Mädchen hier war ungewöhnlich attraktiv. Und es gab da in seiner Klinik jemand, der hübsche Mädchen zu schätzen wußte, besonders wenn sie jung waren, vom Land kamen, naiv und unschuldig wirkten. Er runzelte die Stirn. Mary merkte plötzlich, daß er auf ihr Einsteigen wartete. Sie lächelte ihn entschuldigend an und rutschte auf den Beifahrersitz. Dr. Stillman stieg ebenfalls ein, doch er sprach sie erst an, als sie den dicksten Verkehr hinter sich hatten. Dann schien es für ihn ganz normal zu sein, sie beim Vornamen zu nennen. Er tat es mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes, der sich sein Leben lang nicht um Konventionen gekümmert hatte. „Es wird also Ihre erste Stellung sein, Mary“, begann er die Unterhaltung. „Miss Grinham erzählte mir, daß Sie lieber in meine Klinik kämen, als einen gewöhnlich geregelten SekretärinnenJob anzunehmen. Na ja, sehr geregelt wird bei uns für Sie wirklich nicht alles verlaufen.“ Er schwieg ein paar Augenblicke, weil er sich wohl etwas intensiver um den Verkehr kümmern mußte. „Sie werden sich schon eingewöhnen“, fuhr er fort. „Tagsüber bin ich oft außer Haus oder habe mich um meine Patienten zu kümmern, so daß es fast zur Regel für mich geworden ist, abends Briefe zu diktieren.“ Er grinste sie jungenhaft an. „Das bedeutet also für Sie, daß Sie dafür tagsüber genügend Zeit haben, Einkäufe zu machen oder im Regent’s Park ein Sonnenbad zu nehmen. Ich wiederhole aber, daß Sie abends für mich dasein müssen. Deshalb hoffe ich, daß Sie in London nicht ein junger Mann erwartet, der Sie ausführen möchte.“ „Nein, es gibt keinen jungen Mann“, erklärte sie etwas steif. „Miss Grinham meinte, daß Ihre ungewöhnliche Arbeitsweise mit Ihren Aufgaben in der Klinik zusammenhängt. Erproben Sie in Ihrer Klinik nicht neue Heilmethoden, Dr. Stillman?“ „So kann man es vielleicht nennen.“ Er runzelte ein wenig die Stirn. „Ich befasse mich ganz besonders mit Rückenleiden. Ich habe da zum Beispiel eine junge ehemalige Tänzerin, Nadia Justine, an der sich schon vor mir viele Ärzte versucht haben. Sie ist die Tochter eines Attaches in der französischen Botschaft und verunglückte vor zwei Jahren während des Balletts ,Die silberne Taube’. Seitdem ist sie von der Taille abwärts vollständig gelähmt. Ihr Vater brachte sie nach unzähligen Versuchen bei allen möglichen Kapazitäten jetzt zu mir.“ Er schwieg, schien jäh in Gedanken versunken. Gleich darauf lenkte er den Wagen auf den Parkplatz vor dem DorchesterHotel. Sogleich stürzte der Portier heran und riß den Wagenschlag auf. Paul Stillman lächelte Mary kurz zu, wartete, bis sie ausgestiegen war und ging dann mit langen Schritten voraus in die Hotelhalle. Dort blieb er stehen und sah sich um. Auf einmal entdeckte Mary ein hochgewachsenes junges Mädchen, das anmutig von einem hohen Barstuhl glitt und auf sie beide zukam. Lässig zog sie eine Nerzstola hinter sich her wie ein Schoßhündchen. Ihr cremefarbenes Wollkleid
ließ die prachtvollsten Körperformen ahnen. Sie strahlte einen eigentümlich exotischen Reiz aus mit ihrer Haut wie Blütenblätter und feuchtschimmernden, flaschengrünen Augen. Dichtes dunkles Haar unterstrich diese Ausstrahlung. Da sie ziemlich hochhackige Schuhe trug, wirkte es, als ob sie auf Zehenspitzen über den Teppichboden trippelte. „Paul! Darling!“ Das Mädchen schlang einen Arm um seinen Hals und küßte ihn zärtlich auf den Mund unter totaler Mißachtung aller Hotelgäste und Pauls Begleitung. „Du bist mir einer, zehn Minuten hast du mich warten lassen“, murrte sie schmeichelnd. „Auf keinen anderen Mann würde ich auch nur eine Minute warten, weißt du das?“ „Du hast es mir oft genug versichert.“ Er grinste und schob Mary näher. „Dieses Mädchen hier trägt die Schuld an den zehn Minuten, Liebling. Ihr Zug hatte sich verspätet. Mary, dies ist Ilena Justine. Ich erzählte Ihnen im Wagen von ihrer Schwester.“ Mary streckte der jungen Französin die Hand entgegen, aber Ilena übersah die Geste. „Deine neue Sekretärin, Paul?“ Der Blick ihrer mandelförmigen Augen glitt musternd über Marys Gesicht. Dann ergriff Ilena Pauls Arm und sagte: „Darling, ich komme um vor Hunger…“ Schmollend verzog sie die Lippen. „Ich möchte Trüffel, zarte Hühnerbrüstchen und gedünsteten Sellerie.“ „Ilena, ich glaube, Essen erweckt das einzige wirkliche Interesse in dir“, bemerkte er betont langsam. „Das ist nicht wahr, Paul.“ Sie berührte mit einem ihrer zarten Finger sein Grübchen im Kinn und ließ blendendweiße Zähne zwischen ihren korallenroten Lippen aufblitzen. „Ich habe noch das Einkaufengehen, das mich interessiert, Nadia und, ja natürlich dich, Cherie.“ „Was für ein aufregendes Leben“, neckte er sie. „Kein Wunder, daß du zur Erholung Trüffel und Huhn brauchst.“ Während ihres exquisiten Mahls sorgte Paul Stillman höflich dafür, daß Mary an der Unterhaltung teilnehmen konnte, obwohl es offensichtlich war, daß Ilena ihr kaum Beachtung schenkte. Beim Kaffee sagte sie dann plötzlich zusammenhanglos: „Ihr Haar muß Ihnen aber wirklich Schwierigkeiten bereiten, es ist wohl sehr schwer zu bändigen, nicht? Und, übrigens, ma petite, Ihre Kappe, das ist nicht mehr der letzte Schrei…“ Paul unterbrach ihren Redeschwall: „Ilena, einmal werde ich dich übers Knie legen und alles das nachholen, was deine Eltern versäumt haben…“ „Wirklich, Liebling?“ Aufmerksam blickte Ilena ihn an. „Hättest du nicht Furcht, daß ich nach einer derartig brutalen Handlung aufhören könnte, dich zu lieben?“ „Ich glaube, du würdest es genießen“, lachte er. „Deshalb gefalle ich dir nämlich – weil ich dich anders als die vielen Männer vor mir behandle.“ Während er sie neckte, bemerkte Mary, wie er den Verlobungsring an Ilenas Finger berührte. Natürlich hatte sie den Ring gesehen, jedoch nicht gewußt, daß Paul und Ilena miteinander verlobt waren. Jetzt aber war sie sicher, daß es dieser attraktive, hochgewachsene Mann war, der Ilena den wertvollen Diamant an den Finger gesteckt hatte. Paul zog eine Zigarre heraus und blickte fragend zu Mary hinüber, ob sie wohl rauche, doch sie schüttelte den Kopf. „Sie sind neunzehn, nicht wahr, Mary?“ „Ja“, erwiderte sie kurz. Was war dabei, daß sie nicht rauchte? Außerdem wünschte sie, sie hätte diese verdammte Kappe nicht aufgesetzt. Sie mußte
neben dieser Ilena wie ein unreifes Kind wirken!
„Nadia ist genauso alt“, sagte Paul und blickte sie mit seinen grauen Augen
forschend an. „Sicher ist es gut für Nadia, sich mal mit jemandem in ihrem Alter
zu unterhalten. Ich werde sie Ihnen morgen vorstellen, Mary. Vielleicht
entdecken Sie ein paar gemeinsame Interessen.“
„Wenn Nadia Tänzerin war, liebt sie wahrscheinlich auch Musik wie ich.“
Mary sprach plötzlich ganz aufgeregt, denn sie war fasziniert von dem Gedanken,
daß sie ihm womöglich helfen könnte bei einer seiner schwierigsten Patientinnen.
Sie hatte sofort aufgehorcht, als sie erfuhr, daß Nadia sich beim Ballett der
„Silbernen Taube“ verletzt hatte. Wie seltsam, dachte sie. Dieses Ballett handelte
doch von einer Taube, die sich den Flügel brach und einsam zurückblieb,
während sich die anderen einen Partner suchten!
Bald nach dem Essen brachen sie auf. Paul setzte seine Verlobte vor dem
piekfeinen Schuhgeschäft in der Burton Street ab und fuhr mit Mary sofort in die
Klinik weiter.
2. KAPITEL Das weiße Gebäude mit den griechischen Säulen am Portal lag an einem Platz direkt gegenüber dem vornehmen Regent’s Park. Paul Stillman und Mary Lester traten in die große, kühle Eingangshalle. Erschrocken fuhr Mary zusammen, als sich eine große, buschige Katze auf Dr. Stillman stürzte und wie ein Blitz auf seine Schulter sprang. „Das ist nur Tiger“, stellte er das Tier vor und grinste Mary an. „Wir werden gleich mal in mein Büro gehen. Eine Schwester kann Ihnen dann das Schwesternhaus zeigen, wo Sie auch wohnen werden. Es ist im kanadischen Landhausstil gebaut, und sicher ist es für die Schwestern hübscher, nicht ständig mit den Patienten leben zu müssen.“ Der Raum, den er als sein Büro bezeichnete, war eher eine Art Wohnhohle. Mit einer bequemen Ledergarnitur ausgestattet, vielen Büchern und einem ziemlich unordentlich wirkenden Schreibtisch. Der charakteristische Geruch nach Zigarren hing in der Luft. Dr. Stillman schob einige Papiere auf dem Tisch zur Seite, griff nach dem Telefonhörer und fragte nach Schwester Truscott. Während er auf Antwort wartete, lächelte er zu Mary hinüber. Da faßte sie sich Mut und fragte ihn: „Hier arbeiten wir also, Dr. Stillman?“ „Ja, sicher. Ich hoffe, Sie hatten nicht gerade Stahlmöbel und Gummibäume erwartet?“ „Nein, nein! Es ist sehr schön hier“, versicherte sie schnell. „Ach, da sind Sie ja, Scotty“, sagte Stillman jetzt in den Hörer. „Miss Lester ist hier. Können Sie ihr das Schwesternhaus zeigen? Gut. Was ist übrigens auf Nr. 10? Hat die neue Injektion angeschlagen – nein? Das ist nicht gut. Wenn Sie Dennis sehen, sagen Sie ihm doch, er möchte mal zu mir kommen, ja?“ Mary war an die breite Glastür getreten. Sie blickte über das Klinikgelände, als Paul Stillman hinter sie trat. „Mary, sehen Sie dort drüben die Baumgruppe? Genau dahinter liegt das Schwesternhaus.“ „Es sieht wie ein kleines Schloß aus“, murmelte sie und blickte zu ihm auf. Wie groß er doch war! Seine hellen grauen Augen wirkten beunruhigend klar unter den vollen, dunklen Brauen. Sie stellte verwirrt fest, daß in seinem Blick so etwas wie ein Zwinkern lag. „Hoffentlich bringen Sie mir hier nicht meine Mitarbeiter durcheinander“, sagte er plötzlich. „Miss Grinham hat mir nicht berichtet, daß meine neue Sekretärin so schöne Haare und grüne Augen hat.“ „Miss Grinham glaubte eben, daß nur meine Kenntnisse in Kurzschrift und Maschineschreiben gefragt seien.“ Mary reckte ihr Kinn. „Außerdem habe ich wirklich nicht die Absicht, hier die Männer durcheinanderzubringen. Mich interessieren Männer gar nicht.“ „Tatsächlich?“ Um seine Lippen zuckte es verdächtig. „Wie angenehm, das von einer Sekretärin zu hören – wenn es stimmt. Und wofür interessieren Sie sich außer für Musik? Davon jedenfalls sprachen Sie im Dorchester.“ „Ich gehe gern spazieren. Segeln kann ich auch.“ „Ein Sportsmädel also?“ Er lachte. „Vielleicht“ .Aber wie kommt es dann, daß Sie in London arbeiten und hinter einem Schreibtisch sitzen wollen? „Man kann ja nicht immer auf dem Land leben“, gab sie zurück. „Ich habe mich auf die Arbeit hier gefreut.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. Er blickte in ihre.
Junge klare Augen, dachte er, wie Edelsteine.
„Nadia wird sich gut mit Ihnen verstehen“, sagte er, „vielleicht können Sie ihr
helfen. Sie ist oft so deprimiert, das arme Mädchen…“
Er hielt inne, als es an der Tür klopfte. Gleich darauf trat eine Schwester ein,
gefolgt von einem jungen Mann im weißen Kittel.
„Scotty, das ging aber schnell. Das hier ist also nun unsere neue Sekretärin“,
stellte er Mary vor.
Schwester Truscott schien etwas überrascht. Aber mit warmer Freundlichkeit
streckte sie Mary die Hand entgegen.
„Guten Tag, Miss Lester“, sagte sie mit kanadischem Akzent. „Ich hoffe, es wird
Ihnen hier bei uns gefallen.“
„Das wollen wir doch hoffen“, mischte sich der junge Mann in Weiß ein. Er hatte
die ganze Zeit kein Auge von Mary gelassen. Sie stellte fest daß er ein mageres,
gebräuntes Gesicht hatte und auffallend gut aussah. Die Augen blickten amüsiert
die dunklen Brauen waren ein wenig hochgezogen.
„Mary, das ist Errol Dennis, der Leiter unserer Röntgenabteilung.“
Paul Stillmans Stimme klang nicht übermäßig freundlich, als er bemerkte, wie
der gutaussehende Ire Marys Hand gleich mit beiden Händen umfaßte.
„Mit den Augen so leuchtend grün wie unsere Felder müssen Sie eine
Landsmännin von mir sein, stimmt’s?“ Errol lachte ihr direkt in die Augen.
„Wenn Sie damit sagen wollen, daß Sie Ire sind, zum Teil“, stimmte Mary
lachend zu. „Meine Mutter war Irin.“
„Ja, ja, das ist ganz unverkennbar das Grün unserer guten alten Smaragdinsel,
Gott schütze sie!“ Seine sehnigen Finger drückten ihre Hand so kräftig, daß sie
seinen schweren Ring spürte. „Willkommen in unserer berüchtigten
Knochenfabrik!“
Plötzlich spürte Mary die feindselige Kälte, die von Pauls Haltung ausging. Hastig
zog sie ihre Hand zurück. Errol Dennis schien sich darüber zu amüsieren.
Im gleichen Augenblick wurde die Tür geräuschvoll aufgerissen. Eine junge
Krankenschwester stürzte in den Raum.
Sie war kreideweiß und völlig verschreckt. In ihren Augen stand das blanke
Entsetzen, Blutspritzer glänzten auf ihrer blauen Schwesterntracht.
„Dr. Stillman – oh, mein Gott“, rief sie, „bitte kommen Sie schnell zu Nadia
Justine! Sie…sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten!“
Sekundenlang herrschte lähmendes Schweigen. Dann stürzte Paul Stillman an
Mary vorbei zur Tür hinaus, dicht gefolgt von Schwester Truscott. Die andere
Schwester mit der blutbefleckten Tracht stand noch immer fassungslos mitten im
Zimmer. Ihr Blick heftete sich hilfesuchend auf Errol Dennis, als könnte er sie
trösten. Aber auch er schien wie betäubt.
Mary wollte ihr gerade beruhigend die Hand auf den Arm legen, als sich die
Schwester plötzlich umwandte, um den beiden anderen nachzueilen.
Neben Nadias Bett auf dem Boden lag eine französische Zeitung. Aber Paul war
viel zu beschäftigt, der Patientin Aderpressen anzulegen, um einen Blick darauf
zu werfen. Die junge Schwester raffte die losen Seiten zusammen und stopfte sie
in Nadias Nachtschrank.
„Dummes kleines Ding!“ schimpfte Paul mit Nadia, die sich trotz ihrer Schwäche
aus seinem festen Griff befreien wollte. „Du irrst dich, wenn du glaubst, du
könntest deine Probleme mit einem Selbstmordversuch lösen. Du wirst leben,
mein Mädchen! Und wieder gehen! Hörst du?“
Sein Gesichtsausdruck war hart, seine Augen blitzten vor Ärger.
„Paul, laß mich in Frieden!“ keuchte Nadia schwach. „Laß mich doch sterben!“ Sie
riß ihr blutendes Handgelenk los und schlug die klaffende Wunde gegen die
Bettkante. „Schwester Brelson – halten Sie sie fest.“ Die junge Krankenschwester gehorchte sofort und drückte Nadia mit aller Kraft in die Kissen, während Paul die Bandage wieder in Ordnung brachte. Er griff nach Schwester Truscotts Spritze und drückte die Nadel in Nadias Vene. „Sie braucht eine Bluttransfusion.“ Er zog die Nadel wieder aus dem Arm. Die Injektion wirkte so schnell, daß Nadia sofort wie ohnmächtig in die Kissen sank. „Lassen Sie etwa einen Liter Blut kommen, das müßte reichen. Dann brauche ich Sie im Operationssaal. Wir müssen die Wunde nähen.“ Schwester Truscott sah beunruhigt aus, als sie in Paul Stillmans Büro zurückkam und nach dem Telefonhörer griff. „Errol, suchen Sie bitte Miss Justines Blutgruppe heraus“, rief sie. „Sieht es so schlimm aus, Scotty?“ fragte Errol und blätterte rasch in den Krankenkarten. Er rief ihr die Blutgruppe zu. Dann hörten er und Mary, wie Schwester Truscott die Blutbank anwies, die gewünschte Menge Blut umgehend zur Klinik zu schicken. Sie legte auf. „Es ist ihr linkes Handgelenk“, erklärte sie. „Nadia ist in schlechter Verfassung, zuviel Blut verloren. Der Chef tobt.“ Errol Dennis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Kann ich mir vorstellen. Der wird doch wahnsinnig, wenn sich dieses Mädchen ausgerechnet in seiner Klinik etwas antut. Stellen Sie sich mal die Schlagzeilen in der Presse vor. Dann ist unser guter Ruf im Eimer.“ Schwester Truscott warf Errol einen bösen Blick zu. „Unser guter Ruf?“ wiederholte sie ironisch. „Welch eine Überraschung, daß Sie sich die Angelegenheiten der Klinik so zu Herzen nehmen. Abgesehen natürlich von dem guten Gehalt, das Sie hier verdienen. Aber die Arbeit? Ich frage mich, weshalb Sie überhaupt noch hier sind. Schließlich weiß doch jeder, wie zuwider es Ihnen ist, von Dr. Stillman Anweisungen entgegenzunehmen.“ „Dr. Stillman?“ Spöttisch hoben sich Errols Brauen. „Wir wissen doch alle, daß Sie sich längst mit ihm duzen und ihn Paul nennen, rein privat versteht sich. Schließlich sind Sie doch sehr, sehr gute Freunde.“ Die Schwester errötete über diese Bemerkung und wandte sich verärgert von ihm ab. Sie sagte zu Mary: „Tut mir leid, Miss Lester, ich muß in den Operationssaal. Dr. Stillman muß diesem Kindskopf die Handgelenke nähen. Ich werde jemand anders bitten, Ihnen Ihr Zimmer zu zeigen.“ Sie wollte schon gehen, als sie Marys verwunderten Blick bemerkte. „Ist noch etwas?“ fragte sie. „Ja, ich bin erstaunt“, meinte Mary. „Sie haben eben gesagt, Dr. Stillman würde Nadias Wunde nähen. Ich dachte, Osteopathen hätten mit Chirurgie nichts zu tun? Oder doch?“ „Dr. Stillman ist zwar kein praktizierender Chirurg“, erklärte Schwester Truscott, „aber er hat natürlich seinen Facharzt abgeschlossen. Wußten Sie das nicht? Er hat sogar als Chirurg begonnen – in Kanada. Dort haben wir uns auch kennengelernt, ich arbeitete im selben Krankenhaus. Damals erkrankte sein älterer Bruder an einem heimtückischen Wirbelsäulenleiden, und das brachte Paul Stillman auf die Idee, es einmal mit der Osteopathie zu versuchen, verstehen Sie?“ Mary hörte gespannt zu, ohne zu unterbrechen. „Die übliche Schulmedizin hatte in diesem Fall kläglich versagt. Aber sein Bruder wurde geheilt, und das war für Dr. Stillman die Entscheidung. Er ging nach England zu dem bekannten Sir Austin Orde in die Lehre. Der war zu seiner Zeit ein Avantgardist auf dem Gebiet, eine medizinische Kapazität. Dr. Stillman kam von da an nicht mehr von England los. Als Sir Austin starb und ihm in seinem
Testament einen Geldbetrag aussetzte, hielt er es für seine Pflicht, diese Klinik zu gründen. Paul… Dr. Stillman ist unerhört stolz auf seine Arbeit hier. Ich möchte um nichts in der Welt, daß Nadia Justine durch ihre Dummheit diese Arbeit stört.“ „Na, na, Scotty“, mischte sich Errol Dennis ein, „wozu ist denn ein zukünftiger, einflußreicher Schwiegervater gut? Ich bin ziemlich sicher, daß Stillman mit Hilfe des Attaches Nadias Selbstmordversuch schön vertuschen wird.“ „Wer könnte ihm das verdenken?“ erwiderte Schwester Truscott streitlustig. „Sie nicht, meine Liebe, das weiß ich.“ Errol lachte sarkastisch. „Was hat dieser Stillman eigentlich an sich, daß ihr Frauen wie ein Haufen Haremsdamen vor ihm auf den Knien liegt? Es muß doch etwas Dämonisches an ihm sein, dem Frauen nicht widerstehen können.“ „Na, Sie haben wohl eher diesen Schuß Dämonie, Dennis“, fauchte sie. Ihr gestärkter Kittel schien vor Empörung zu knistern, als sie hocherhobenen Hauptes aus dem Zimmer marschierte. Am nächsten Morgen aber schien es festzustehen, daß Errol mit seiner Vermutung, Dr. Stillman würde seinen Schwiegervater einschalten, recht behalten hatte. In den Morgenzeitungen jedenfalls entdeckte Mary kein Wort über den Selbstmordversuch. Und wenn nicht einmal der „Daily Wire“ Nadia Justines Geschichte groß herausbrachte, dann mußte einfach jemand mit sehr viel Einfluß daran gedreht haben. Für diese Zeitung nämlich wäre das ein ideales Fressen gewesen. Doch Mary war froh darüber, denn innerlich fühlte sie sich schon zugehörig zur Klinik. Sie las den „Daily Wire“ in dem gemütlichen, aber sehr modern eingerichteten Frühstücksraum des Schwesternhauses. Sonnenstrahlen fielen durch die breiten Fenster und schimmerten auf ihrem Haar. Sie wirkte frisch und adrett in ihrem weißen Leinenkittel mit dem bronzefarbenen Gürtel. „Haben Sie gut geschlafen, Miss Lester?“ fragte plötzlich hinter ihr jemand. Mary schaute auf und erkannte die Krankenschwester, die am Tag zuvor voller Entsetzen in das Büro Dr. Stillmans gestürzt war. Gestern war sie ihr ziemlich hilflos vorgekommen. Jetzt aber wirkte sie unpassend aufgedonnert. Ihr knallroter Lippenstift und die hochtoupierten blonden Haare ließen sie billig erscheinen. Sie sieht fast so aus wie die Karikatur einer Krankenschwester im Film, dachte Mary. Doch offensichtlich hatte das Mädchen den Wunsch, freundlich zu sein, so daß Mary sie warm anlächelte. „Danke, ich habe gut geschlafen“, sagte sie. „Aber ich mußte immer wieder an die arme Miss Justine denken. Wie geht es ihr heute morgen?“ „Oh, sie ist über den Berg. Dr. Stillman hat fast die ganze Nacht an ihrem Bett verbracht. Sie können sich also auf einen geruhsamen Vormittag einrichten, denn sicher wird er sich jetzt ausschlafen wollen.“ Sie hatte ihren Satz kaum beendet, da hörten sie das Haustelefon läuten. Gleich darauf steckte eine Schwester den Kopf zur Tür herein und rief Mary zu, sie solle sofort nach dem Frühstück ins Büro kommen. Als Mary sich zögernd erhob, fügte die Schwester gutmütig hinzu: „Der Chef klang übrigens alles andere als gutgelaunt. Seien Sie lieber vorsichtig.“ Marys Tischnachbarin schnitt eine Grimasse und zog sich den Rock ihrer Schwesterntracht übers Knie, um eine Laufmasche in ihren dunklen Strümpfen zu untersuchen. „Wahrscheinlich hat er wieder auf nüchternen Magen mit seiner hochwohlgeborenen Prinzessin telefoniert“, meinte sie ironisch. Als sie Marys verdutzten Blick sah, fuhr sie lachend fort: „Ich dachte, Sie kennen sie schon. Waren Sie denn nicht mit ihr und dem Chef gestern im Dorchester essen?“
„Ach, Sie sprechen von Ilena Justine, seiner Verlobten!“ Mary mußte unwillkürlich lächeln. „Na, ich muß zugeben, der Titel trifft ausgezeichnet. Sie führt sich wie eine Prinzessin auf.“ Die Schwester streifte sich den Rock wieder über die Knie. „Aber im Ernst, in ihren Adern soll blaues Blut fließen.“ Plötzlich wurde . sie sich ihrer Unhöflichkeit bewußt und schaute Mary fast erschrocken an. „Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Julie Brelson… Ja, wo waren wir stehengeblieben? Ach so, Ilena! Ihre Großmutter war eine entfernte Verwandte des letzten russischen Zaren. Während der Revolution floh die Familie nach Paris, und später heiratete die Großmutter einen Franzosen. Ilenas jüngere Schwester, diese Nadia, war Ballettänzerin.“ „Nadia tut mir leid, obwohl ich sie noch gar nicht kenne“, sagte Mary nachdenklich. „Ähnelt sie ihrer Schwester sehr?“ Julie schüttelte den Kopf. „Nein, gegen Ilenas Aussehen kommt sie nicht an.“ „Ich meinte eigentlich eher ihren Charakter…“ „Nun“, überlegte Julie, „sie kann sehr hochnäsig sein, aber sie ist nicht hinterhältig. Ilena dagegen ist ein richtig boshaftes kleines Biest. Sie bemerkt nicht nur anderer Leute Laufmaschen, nein, sie posaunt es gleich so laut hinaus, daß es alle hören. Bloß beim Chef kommt sie damit nicht durch.“ Julie kicherte vergnügt in sich hinein. „In Dr. Stillman hat sie endlich ihren Meister gefunden.“ „Sind die beiden schon lange verlobt?“ „Vielleicht einen oder zwei Monate. Aber sie kennen sich schon viel länger. Stellen Sie sich nur vor, wie romantisch das war: Sein Bruder verbrachte mit Frau und Kind den Urlaub hier in London, und eines Abends gingen sie alle gemeinsam zu einer Galavorstellung ins Covent Garden. Victoria de los Angeles sang, wenn ich mich nicht irre, für die Stillman ohnehin eine Schwäche hat. Na, während der Pause schlenderte er mit seinem Bruder ins Foyer, und da lag Ilena Justine mitten auf dem Boden. Sie war gestürzt, hatte sich den Fuß verstaucht und krümmte sich vor Schmerzen. Der Chef hat sie selbstverständlich gleich an Ort und Stelle verarztet. Ist doch klar, nicht?“ Julie kicherte wieder und fuhr dann fort: „Noch während er ihren Fuß verband, verabredete er sich mit ihr, und seitdem geht ihr Verhältnis. Sie hat ihn auch dazu überredet, ihre Schwester Nadia in seiner Klinik zu behandeln. Aber wahrscheinlich wird er wenig für sie tun können. Das haben schon viele große Spezialisten versucht… Ihre Beine sind tot wie zwei abgeschlagene Baumstämme. Sie kann einem wahrhaftig leid tun.“ „Was für ein Schicksal!“ murmelte Mary. „Dich wird auch gleich dein Schicksal ereilen, wenn du jetzt nicht bald im Büro erscheinst“, sagte Julie lachend und fügte schnell hinzu: „Ich glaube, es ist bequemer, wenn wir uns duzen, was?“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, redete sie weiter: „Unser Boß kann ein heftiges Temperament haben. Dann solltest du mal seine Augen sehen – graues Eis, sage ich dir!“ Mary sprang also hastig auf und lief zum Büro hinüber. Die Tür zu Dr. Stillmans Zimmer stand offen. Sie konnte seine Stimme und die eines fremden Mannes mit französischem Akzent hören. „Nein, ich hatte keine Ahnung“, sagte der Fremde, „daß Nadia noch mit Rene Blanchard korrespondierte. Ich hatte es verboten, aus politischen Gründen. Sie hatte mich bestürmt, einer Verlobung zuzustimmen – was für ein Einfall! So krank wie sie ist, und dann dieser unzuverlässige, grüne Junge.“ Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: „Wie ist sie nur an die französische Zeitung gekommen? Die muß ihr doch eine deiner Krankenschwestern zugesteckt haben.“ „Das ist gut möglich“, gab Dr. Stillman zu. „Ich kann ja nicht überall dabeisein.
Die Folgen konnte sich aber diese Schwester bestimmt nicht ausrechnen. Wahrscheinlich wußte sie nicht einmal, was in dem bewußten Artikel stand.“ „Mein Gott, meine arme Nadia“, stöhnte der fremde Mann. „Ja“, meinte Dr. Stillman nach einer Pause, „diese Geschichte mit Blanchard erschwert uns unsere Aufgabe gewaltig, wenn wir neuen Lebensgeist in ihr wecken wollen.“ Mary war in die Unterhaltung der beiden Männer so vertieft, daß sie gar nicht bemerkte, wie Tiger zu ihr geschlichen kam. Erst als er sich an ihre Beine drückte, fuhr sie zusammen und zog scharf die Luft ein. Das mußte Dr. Stillman wohl gehört haben. Er kam an die Tür, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sah sie erstaunt an. „Sie… Sie haben mich rufen lassen“, erklärte Mary. Dabei errötete sie leicht, weil sie sich beim Lauschen ertappt fühlte. Der Fremde bei Dr. Stillman mußte Ilenas und Nadias Vater sein, überlegte sie. Und so war es auch. „Ja, ich brauche Sie“, sagte Dr. Stillman. Er sah müde aus und schien außerdem von Kopfschmerzen geplagt zu sein. Er blinzelte gegen das Sonnenlicht, das durch die breiten Fenster fiel, und fuhr sich über die Stirn. „Ich möchte Ihnen ein paar Briefe diktieren, es ist ja gestern alles liegengeblieben.“ Mary folgte ihm in den angrenzenden Raum. Er stellte sie Mr. Justine vor, der ihr wie abwesend die Hand reichte und sich gleich wieder an Paul Stillman wandte: „Wirst du Nadia wieder hinkriegen, Paul?“ „O ja, sie stirbt nicht, wenn du das meinst“, erwiderte Dr. Stillman. „Ihr seelischer Zustand macht mir allerdings Sorgen.“ „Kann ich zu ihr?“ „Nein.“ „Na, hör mal“, brauste Nadias Vater auf. „Was willst du damit sagen?“ „Ist das so schwer zu verstehen?. Du hast sie doch gestern gesehen.“ „Aber ich möchte jetzt zu ihr. Ich bestehe darauf.“ „Henri…“ Dr. Stillman versuchte es mit Geduld. „Die Kleine schläft, und ich möchte nicht, daß sie gestört wird. Laß sie jetzt in Ruhe! Fahr in die Botschaft zurück oder geh zu Ilena. Ich hab’ noch zu arbeiten. Über ein Dutzend Briefe müssen raus, und um ein Uhr muß ich ins St. Patrick. Ich soll mir dort einen Jungen ansehen, einen komplizierten Fall.“ „Aber hör mal, Nadia ist meine Tochter“, beharrte Mr. Justine. „Ich will mich nur selbst überzeugen, daß mit ihr alles in Ordnung ist.“ Paul wirkte sehr erschöpft, er lächelte gequält. „Jetzt weiß ich, wo Ilena ihre Hartnäckigkeit her hat! Also gut, gehen wir zu Nadia! Aber, Henri, das sage ich dir, wenn sie aufwacht, zerr ich dich an den Ohren aus der Klinik…“ Zu Mary gewandt setzte er hinzu: „Es wird nicht lange dauern. Sagen Sie doch bitte in der Küche Bescheid, sie möchten Kaffee heraufschicken. Stark und heiß, ja?“ Dann verschwand er mit Nadias Vater. Mary bestellte den Kaffee, setzte sich in einen der Armsessel und überdachte das soeben Gehörte. Nadia hatte den Selbstmordversuch anscheinend unternommen, weil ein Student, den sie liebte, bei Demonstrationen verhaftet worden war. Das hatte sie wohl aus der bewußten Zeitung erfahren. Nadia mußte also die Krankenschwester bestochen haben, um an die Information heranzukommen. Ach, es war alles so schwierig! Obwohl Mary kaum vierundzwanzig Stunden hier war, fühlte sie sich schon tief verstrickt in die Schicksale all dieser Menschen. Ein paar Minuten später kam Dr. Stillman zurück. Der Kaffee wartete schon auf ihn. Er sank in seinen Sessel hinter dem Schreibtisch, warf mehrere Zuckerstückchen in die Tasse und schlürfte den dampfenden Kaffee mit
sichtlichem Behagen. „Das tut gut, Mary! So – aber jetzt wollen wir etwas tun.“ Mary war doch einigermaßen erstaunt über die Menge von Büroarbeit, die in einem Haus wie diesem anfiel. Außer der Verwaltungskorrespondenz mußten Rechnungen geprüft, Materialien bestellt und auch die persönlichen Briefe Dr. Stillmans beantwortet werden. Sie arbeiteten ununterbrochen, bis die Uhr auf dem Kamin zwölf schlug. Dr. Stillman sah irritiert auf. „Zum Teufel, so spät ist es schon?“ Er war gerade mitten im Diktieren eines Briefes, unterbrach sich aber und stand auf. „Ich muß noch zu mehreren Patienten. Sie haben sicher auch gehört, daß ich um ein Uhr im StPatrickWaisenhaus verabredet bin.“ Mary nickte und schlug ihren Stenogrammblock zu. „Wegen eines kleinen Jungen, nicht?“ „Ja.“ Dr. Stillman holte aus seiner Jackentasche ein elegantes Zigarrenetui, wählte sorgfältig eine Zigarre, biß an einem Ende die Spitze ab und setzte die Zigarre mit einem Streichholz in Brand. Zum erstenmal an diesem Morgen schien er sich für ein paar Minuten zu entspannen. „Ein armer, kleiner Kerl“, fuhr er fort. „Der Vater war ein ständig betrunkener Hafenarbeiter und ist kürzlich bei einem Unfall umgekommen. Seine Frau lief ihm davon. Darauf richtete sich seine ganze Wut auf den Sohn. Er hat ihn so schwer mißhandelt, daß dem Jungen eine verkrüppelte Schulter blieb. Ich will versuchen, ihn wieder hinzubekommen. Er ist ein lieber Kerl und verdient es, daß man ihm hilft. Die Leiterin des Heims übrigens, in dem er sich befindet, war vor Jahren mal Patientin bei mir und bat mich, Ringo in meiner Klinik zu behandeln.“ Paul sah Mary nachdenklich an und fragte sie: „Können Sie gut mit Kindern umgehen, Mary?“ „Ja, ich glaube schon – mit Tieren jedenfalls komme ich gut aus.“ Ihr Lächeln erlosch rasch wieder. „Da ist doch wohl kein großer Unterschied, oder? Ich meine, sie haben das gleiche Bedürfnis nach Verständnis und Schutz.“ Aufmerksam musterte Paul Stillman sie. „Sie wirken für Ihr Alter reifer, Mary. Glauben Sie, daß Sie hier gern arbeiten werden?“ „Bestimmt.“ Sie sagte zwar nur das eine Wort, aber mit einer Wärme und Überzeugung, daß Dr. Stillman lächeln mußte. Mary sah ihn an und verstand plötzlich, warum eine Ilena Justine, der die Welt zu Füßen lag, sich gerade in diesen Mann verliebt hatte. Seine Persönlichkeit fesselte, die strahlende Lebenskraft, die von ihm ausging, ebenso der Hauch männlicher Erfahrung, den man spürte. Er hat vermutlich schon etliche Frauen gekannt, überlegte Mary, sie aber sicher nicht gedankenlos vernascht, wie das heutzutage üblich war. Paul Stillman schien ein Mann, der noch das Wesen einer Frau ergründete, nicht nur ihren Körper. Mary hatte den Eindruck, daß man seine Sorgen bei ihm abladen, aber auch mit ihm lustig sein konnte. Miss Grinham hatte ihr gesagt, daß er 36 Jahre alt sei. Doch wenn er so lächelte wie jetzt, sah er verdammt jungenhaft aus. Vielleicht lag das aber auch an seinem ungebärdigen dunklen Haar, das ihm ständig in die Stirn fiel. Dr. Stillman blickte auf seine Armbanduhr und meinte: „So, jetzt werde ich erstmal hinaufgehen. Wenn Sie diese Briefe geschrieben haben, Mary, machen Sie sie postfertig. Danach unternehmen Sie am besten einen kleinen Spaziergang, denn heute abend brauche ich Sie noch für ein oder zwei Stunden. In Ordnung?“ „Gut, Dr. Stillman.“
Er stand schon an der Tür, als er sich noch einmal umwandte, ihr einen kurzen Blick zuwarf und plötzlich fragte: „Hat Errol Dennis eigentlich schon versucht, sich mit Ihnen zu verabreden?“ Sie blickte verwundert auf. „Nein.“ „Er wird es aber höchstwahrscheinlich versuchen, und wenn Sie klug sind, geben Sie ihm einen Korb.“ „Genau das werde ich wohl auch tun.“ Sie blickte direkt in seine forschenden, grauen Augen. „Ich habe Ihnen doch gestern schon gesagt, daß ich kein Interesse an Männerbekanntschaften habe.“ „Na ja, vielleicht ändern Sie Ihren Sinn, wenn unser attraktiver Errol es einmal darauf anlegt.“ Pauls Blick glitt über Marys rötliches Haar, die grünen Augen, ihre kleine Nase und den vollen Mund. Er bemerkte auch ihre schmale Taille, die durch den braunen Gürtel betont wurde, ihre zarten Brüste unter dem weißen Leinenkleid und die langen, schlanken Beine. Sie ist schon ein verdammt hübsches Mädchen, dachte er, so jung und verletzbar. Dann öffnete er die Tür und verabschiedete sich: „Also bis später, Mary. Genießen Sie ein bißchen die Sonne, ja?“ Es war ein strahlender, goldfarbener Nachmittag mit dem Duft von Klee in der Luft. Mary entdeckte im Park ein Fleckchen Rasen, das die Sonne beschien. Sie ließ sich darauf nieder und beobachtete Fußgänger, die mit ihren Hunden durch den Park schlenderten und eine Gruppe von umhertollenden Schulkindern, die Drachen steigen ließen. Plötzlich machte sich einer davon selbständig. Mary sprang hoch, lief mit den Kindern dem davonschwebenden Drachen nach und erhaschte auch wirklich die herunterbaumelnde Schnur. Laut jubelte sie auf und tollte weiter mit den Kindern herum. Sie hatte natürlich keine Ahnung, daß sie schon längst beobachtet wurde. Es war Errol Dennis, der sich auf dem warmen Rasen ausgestreckt hatte und eine Zigarette qualmte. Schmunzelnd schaute er Mary zu, sein offenes Hemd zeigte die gebräunte Brust. Er sah blendend aus und wußte, daß mehrere Mädchen ihm einladende Blicke zuwarfen. Errols Interesse aber galt ausschließlich Mary. Der wehende Rock ihres weißen Kleides entblößte die Oberschenkel, als sie wieder einmal die Schnur vom Drachen verlor und lachend über den Rasen stürmte. Errols Blick wurde dunkel. Er warf die Zigarette weg, sprang auf und schloß sich der Jagd an. Sein Gesicht hatte jetzt etwas Faunisches. Mary erkannte das voll Verwirrung, als er an ihr vorbeirannte und die Drachenschnur fing, bevor sie sich in einer Gruppe hoher Eichen verloren hätte. „Vielen Dank, Mister!“ rief einer der Jungen außer Atem. Erwartungsvoll blickte er Errol an, dem es gelang, den Drachen freizubekommen, der sich gleich darauf wieder in die Lüfte schwang. „Wo sind Sie denn so plötzlich hergekommen?“ fragte Mary ihn verwundert. „Von da unten“, lachte er und deutete mit der Hand zum Rasen hinunter. Er schien selbst davon überzeugt, daß nur ein Mädchen aus Stein diesem Bild von Mann, das er bot, hätte widerstehen können. „Kann ich mitspielen?“ fragte er. „Fürs Drachensteigen habe ich eine besondere Schwäche.“ „Da müssen Sie wohl die Kinder fragen“, meinte sie, „es ist ja ihr Drache.“ „Och, Ihr Freund kann mitmachen, Miss“, mischte sich einer der Jungen ein. Errol grinste ihn verschwörerisch an, der Bengel hatte das schmutzigste Gesicht, das man sich vorstellen konnte. So tobten sie beide mit den Kindern und dem Drachen herum, bis es langsam Zeit wurde, zum Tee in die Klinik zurückzugehen. Marys Haar war zerwühlt, ihre grünen Augen sprühten vor Lebenslust, während sie den Kindern zum Abschied
zuwinkte. „War das ein Spaß!“ schnaufte sie und warf sich erschöpft auf den Rasen. Errol ließ sich neben ihr nieder. „Möchten Sie eine Zigarette?“ Er hielt ihr sein Zigarettenetui hin. „Ausnahmsweise… Ich fürchte, ich werde wohl nie erwachsen“, meinte sie lachend und beugte sich zu dem Feuerzeug herunter. „Das ist gut – bleiben Sie so.“ Der Zigarettenrauch strich an seinen Augen vorbei, während er sie mit Vergnügen betrachtete. „Bleiben Sie ein Naturkind, es paßt zu Ihnen.“ Wohlig faul streckte sich Mary auf dem Rasen aus, zog zufrieden an ihrer Zigarette und spürte die angenehme Wärme der Sonnenstrahlen auf ihren nackten Armen und Beinen. Sie blinzelte den davonschwebenden Wolken nach und war sich klar darüber, daß sie für Errol Dennis allenfalls die gleichen brüderlichen Gefühle haben könnte wie für ihren Cousin Derek. Mehr nicht. Auf einmal bemerkte sie den Druck von Errols Hand. Sanft aber bestimmt schob sie sie zur Seite und sagte: „Bitte, wir wollen doch nicht flirten, sondern gute Freunde bleiben, ja?“ „Kann man nicht flirten und trotzdem miteinander befreundet sein?“ fragte er leise. „Nein.“ Mary schüttelte entschieden den Kopf, so daß ihr Haar im Sonnenschein aufleuchtete. „Männer beginnen immer mit dem Flirten, und dann…“ „Na, was dann?“ Er grinste durch die Wolke seines Zigarettenrauchs. „Dann möchten sie das Mädchen küssen und zärtlich sein, nicht? Daran ist doch nichts Böses! Das ist doch ganz hübsch – für das Mädchen und den Mann.“ „Ach Sie…“ Mary sprang auf, warf die Zigarette fort und lief ihm davon. Er hatte Mühe, sie einzuholen. Als er schließlich neben ihr war, fuhr er völlig ungerührt fort: „Aber ehrlich, Mary Lester, Sie interessieren mich. Unter dieser schönen Haut und hinter den aufregend grünen Augen kann doch unmöglich eine essigsaure alte Jungfer verborgen sein.“ Sie standen jetzt am Straßenübergang und ließen ein Auto vorbei. Drüben lag die Klinik. Mary hörte Errol neben sich lachen und hatte gerade ihre Anwandlung von trister Stimmung überwunden. Sie lachte fröhlich und ausgelassen mit.
3. KAPITEL In diesem Augenblick glitt der schwarze Bentley an ihnen vorbei. Der Fahrer hörte das Gelächter und wandte den Kopf. Mary sah die gerunzelte Stirn über den hellen grauen Augen. Sie wußte, wie Dr. Paul Stillman sie jetzt sah: mit zerzaustem Haar, erhitztem Gesicht und Rasenspuren auf ihrem weißen Rock. Nur ahnte er nicht, daß sie mit einer Bande wilder Kinder herumgetollt war. Für ihn mußte es so aussehen, als hätte sie mit dem jungen Mann an ihrer Seite im Gras gelegen, und er mochte diesen Errol nicht sehr. Wenn Errol Dennis mit den Schwestern sein Vergnügen suchte, dachte Paul Stillman erbittert, konnte er es natürlich außerhalb der Klinik tun. Und wenn diese Schwestern den Kopf verloren, so war das ihre Sache. Sie waren alle über einundzwanzig. Doch was Mary Lester betraf, so war das etwas anderes. Immerhin war sie elternlos und kam aus der Provinz. Außerdem war sie weitaus anziehender, als ihr wohl selbst bewußt war. Paul fühlte sich für sie verantwortlich. Während er den Bentley in eine Parklücke vor der Klinik lenkte, verfinsterte sich seine Miene und er preßte die Lippen aufeinander. Ja, er fühlte sich verantwortlich! Aber außerdem war er sehr enttäuscht von ihr. „Das ist doch nicht etwa das Krankenhaus, Dr. Stillman? Es sieht ja aus wie ‘n Schloß im Film“, rief eine Stimme im schlimmsten Cockney. Im gleichen Augenblick mußte Stillman lächeln und blickte auf den Jungen, der neben ihm auf dem Beifahrersitz hockte. „Ich habe dir doch gesagt, daß meine Klinik kein übliches Krankenhaus ist, Ringo. Gefällt es dir hier nicht besser?“ fragte er. Der Junge nickte und blickte starr auf die eindrucksvolle Steintreppe, flankiert von gewaltigen Säulen, die zur Klinik hinaufführte. Er hatte ein kleines, mageres Gesicht, das ihn jünger als seine sieben Jahre aussehen ließ. Eine Mähne brandroten Haars unterstrich die Blässe seines Gesichts. Die rechte Schulter war verkrüppelt und hochgezogen, es wirkte fast, als sei er bucklig. Sie stiegen aus. Gerade wollte Stillman die wenigen Sachen des Jungen, die er aus dem Heim mitgenommen hatte, aus dem Wagen nehmen, da hörte er Schritte. Er blickte auf und sah Mary und Errol Dennis herankommen. Ringo lief unterdessen die Kliniktreppe hinauf. Mary blickte ihm voller Anteilnahme nach, wandte sich zu Dr. Stillman und rief impulsiv: „Oh, Dr. Stillman, Sie durften den Jungen gleich mitnehmen. Das freut mich.“ Doch ihr Chef stand nur schweigend vor ihr. Er wirkte ziemlich unfreundlich, wie er sie mit kühlen Blicken maß. Mary spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Heute morgen in seinem Büro war er ganz anders, fast väterlich zu ihr gewesen. Sie biß sich verstimmt auf die Unterlippe und blickte zu Ringo hoch, der sich oben auf der Treppe umgedreht hatte. „Guten Tag, Ringo!“ rief sie. „Guten Tag, Miss“, grinste Ringo. „Sind Sie eine Krankenschwester?“ „Nein, ich bin Dr. Stillmans Sekretärin“, erklärte sie. „Ich heiße Mary.“ „Ach so.“ Er verzog den Mund und blickte etwas verlegen auf seine Schuhe. „Ich dachte, Sie sind Krankenschwester, weil Sie ‘n weißes Kleid tragen.“ Die langen Wimpern seiner Augen warfen Schatten auf die mageren Wangen. Unwillkürlich verglich Mary ihn mit den gesunden Kindern im Park, die voller Übermut umhergetollt waren. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Dieser arme, kleine Bursche mit der verkrüppelten Schulter ließ sie Mitleid empfinden. Sie suchte Dr. Stillmans Blick. „Darf ich Ringo in sein Zimmer bringen und ihm
helfen, sich einzurichten?“ Paul merkte, daß Ringo sich sofort zu Mary hingezogen fühlte. Trotz seiner Enttäuschung brachte er es deshalb nicht über sich, ihr die Bitte abzuschlagen. „Na gut, Mary, bringen Sie ihn auf Zimmer 12 im 3. Stock, neben Ada Barrington. Sie haben zwar die alte Dame noch nicht kennengelernt, aber sie ist eine ausgesprochen liebenswerte Patientin. Sie war mal eine berühmte Sängerin.“ Ada Barrington? Irgendwie kam ihr der Name schon bekannt vor. Ihr fiel ein Lied ein, das ihr Vater ihr beigebracht hatte. Sie verkniff sich jedoch eine Bemerkung, nahm wortlos Ringos Koffer und folgte dem Jungen die Stufen hinauf. Paul Stillman und Errol Dennis blickten ihnen nach. Mary hatte Ringos Hand genommen, und beide verschwanden in der Klinik. Errol wandte sich an Dr. Stillman: „Das ist also der Kleine aus dem Heim? Wann wünschen Sie die Röntgenaufnahmen?“ „Nicht sofort. Er muß sich erst etwas eingewöhnen. Sie haben ihn ganz schön in die Mangel genommen, er ist mit seinen Nerven am Ende.“ Darauf blickte er Errol fest in die Augen und sagte in entschlossenem Ton: „Sie gehen scharf ran, Dennis, was? Ich habe Sie mit Mary aus dem Park kommen sehen.“ „Ach ja?“ Errol fiel Marys zerzaustes Haar ein, und es belustigte ihn aus ganz speziellen privaten Gründen, daß Dr. Stillman zu dem Schluß gekommen war, er sei im Begriff, dieses Unschuldslamm zu verführen. Schon recht heiter, dachte er träge, wie lächerlich sich manchmal kluge Männer machen können. „Sie ist ein niedliches, kleines Ding“, sagte er langsam, „verspielt wie ein Kätzchen.“ Dann schnippte er seine Zigarettenkippe weg und stieg die Stufen zur Klinik hinauf. Er hätte fast gelacht, als er hörte, wie Paul heftig die Wagentür zuwarf und damit seine innere Verfassung verriet. Ringos Zimmer war hell und luftig, vom Fenster aus konnte man das ganze Klinikgelände übersehen. Für den Jungen gab es eine Menge zu erforschen, draußen und drinnen. Mary packte erst einmal seinen Koffer aus und sortierte seine Sachen in den Kleiderschrank und in die Schubladen der Kommode. Als sie damit fertig war, setzte sie sich zu ihm aufs Bett und begann ein Gespräch. Kinder fühlen sehr deutlich, ob die Sympathie der Erwachsenen ehrlich ist oder nicht. Ringo wußte vom ersteh Augenblick an, daß Mary ihn wirklich mochte. „Ich werde operiert“, erzählte er voller Stolz, „an meiner Schulter.“ Er berührte Marys Schulter, als ob er sagen wollte, daß seine eines Tages genauso sein würde wie ihre. Dann grinste er breit. „Sie haben ja grüne Augen, Miss, wie Pfefferminzbonbons.“ Über diese Beschreibung mußte Mary lachen. „Du kannst mich Mary nennen, ja?“ forderte sie ihn auf. Er war verwirrt. Unter gerunzelten Brauen blickte er sie von der Seite an. Ein junges, frisches Mädchen wie Mary war etwas völlig Neues in seinem Leben, in dem es lange Zeit nur Straßenschmutz und Brutalität gegeben hatte, später die Einfachheit des Heims. Er war viereinhalb Jahre alt gewesen, als seine Mutter ihn verließ. Ihm waren nur verschwommene Erinnerungen an sie geblieben – Erinnerungen jedoch, die gänzlich verschieden waren von dem Bild, das Mary bot mit ihrem weichen schimmernden Haar, ihrem Lächeln, ihrem Blick. Er hatte noch niemals zuvor eine so klangvolle Stimme gehört. Ringo suchte nach Worten, um seine Empfindungen auszudrücken. Aber ihm fielen nur Filme ein, zu denen ihn manchmal ein Nachbar mitgenommen hatte,
wenn sein Vater betrunken mit Frauen nach Hause gekommen war.
„Du siehst aus wie die eine aus dem Film mit Henry Fonda, Mary.“
„Findest du, Ringo?“ Mary beging nicht den Fehler, darüber zu lachen. Sie blieb
ganz ernst. „Nett von dir, mir das zu sagen.“
„Die Leute im Film leben so oft in Schlössern. Komisch, nicht?“ Grübelnd blickte
er sie an. „Hast du einen Mann?“
„Nein, Ringo, ich bin nicht verheiratet.“
„Möchtest du’s gern sein?“
„Nur mit einem sehr netten Mann, den ich sehr mag und der mich sehr mag.“
„Magst du ihn, Mary?“
„Wen, Ringo?“ Sie sah ihn verdutzt an.
„Den Mann, der so lachte.“
„Der lachte? Ach so, den…“
Sie umarmte den Jungen, als sie den Sinn seiner Worte begriff. „Das ist nur Mr.
Dennis, weißt du. Erarbeitet hier. Aber ich glaube nicht, daß er jemand sehr gern
haben könnte – außer sich selbst.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „So, jetzt
bekommst du gleich deinen Tee. Hast du schon Hunger?“
„Och, ja. Bleibst du noch ein bißchen bei mir?“
„Natürlich, Ringo.“
Als der Tee dann gebracht wurde, setzten sie sich ans Fenster, und Mary leistete
dem Jungen Gesellschaft.
Plötzlich stand Dr. Stillman in der Tür. Er betrachtete die beiden, die Bananen
und Marmeladenbrote aßen. Ein warmes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
Ringo drehte sich um und grinste Paul mit seinem marmeladenverschmierten
Mund an. „He, Dr. Stillman, wir trinken gerade Tee. Ich habe nichts dagegen,
wenn Sie sich zu uns setzen.“
Paul trat an den Tisch, griff ebenfalls nach einer Banane und sagte:
„Das freut mich aber, Ringo, daß du dich bei uns wohl fühlst. Ich glaube, du hast
ein Auge auf meine hübsche Sekretärin geworfen, was?“
Ringo nickte begeistert. Mary errötete leicht, als Paul Stillman mit ironischem
Lächeln bemerkte: „Sie sind offenbar bei jungen Männern sehr erfolgreich,
Mary.“
Mary wurde von ihrer Arbeit voll in Anspruch genommen und entwickelte ein
starkes Interesse an allem Neuen.
In ihrer freien Zeit las sie Ringo im sonnenbeschienenen Krankenhauspark
Geschichten vor. Sie erzählte ihm von wilden Tieren und seltenen Vogelarten, die
in den einsamen Gebieten von Norfolk zu Hause waren. Er machte große
Kulleraugen, wenn sie vom Meer erzählte. Das hatte er noch niemals gesehen,
noch nie hatte er mit. Eimer und Spaten im Strandsand gespielt.
Mary beschrieb ihm Yarmouth bis in alle Einzelheiten; erzählte ihm, wie der feine
Sand vom Wind verweht wurde und die großen Wellen ans Ufer schlugen. Mary
hatte viel Phantasie und Ringo eine rasche Auffassungsgabe. Er freute sich
köstlich über Marys farbige Beschreibungen.
Eines Nachmittags unterhielt sich Dr. Stillman eine ganze Weile mit ihnen. Als er
dann von einer Krankenschwester gerufen wurde, drückte Ringo seinen
Zeigefinger fest in sein Kinn. Warum Dr. Stillman so ein großes Loch dort habe,
fragte er.
„Das ist ein Grübchen“, antwortete Mary.
„Hm“, machte Ringo. ’n Grübchen. Und was bedeutet das?
Mary lächelte. „Man sagt, solche Männer haben die Frauen gerne. Aber das ist
sicher nur Gerede.“
„Sicher“, fand auch Ringo. „Jedenfalls wird’s schwierig sein, sich da drinnen zu
rasieren, nicht?“ Das Grübchen faszinierte Ringo. Sooft Paul Stillman den Jungen untersuchte, merkte er, wie der ihm aufs Kinn starrte. Ringo vertraute das, was Mary ihm erzählt hatte, Ada Barrington an. Und die gab es eines Morgens zum besten, als Stillman zu ihr kam. Er massierte ihr den Rücken. „Sie haben also die Frauen gerne“, prustete sie los, „Ihr Grübchen beweist es. Da wohnt der Teufel drin, Paul.“ Er gab ihr einen Klaps. „Ich bin jetzt abgeklärter, Ada“, sagte er. „Im Oktober heirate ich.“ „Oktober? Höre ich richtig? Da muß unsere schöne Ilena ja schon den ganzen Staat beisammen haben, Brautjungfern, Chorknaben, eimerweise Champagner…“ „Ja, ja! Ich wäre allerdings dafür gewesen, daß es schneller und mit weniger Aufwand vor sich geht. Aber Ilena wird aussehen wie ein Traum, so daß ich mich wohl oder übel in den Cut quälen muß.“ „Wie geht’s denn eigentlich Renas Schwester?“ „Ihre Handgelenke sind geheilt. Doch ich vermute, sie hat ein gebrochenes Herz, Ada. Und das zu flicken, reicht mein Diplom nicht aus.“ „So etwas wird niemals gänzlich zu flicken sein, Paul.“ Auf einmal klang Ada Barringtons Stimme dunkler. „Gesprungene Vasen kann man nur kleben. Falls man ihnen nicht allzu nahe kommt und ihnen nicht mehr zuviel zumutet, machen sie’s schon noch eine Weile.“ „Das klingt ja, als ob Sie aus Erfahrung sprechen, Ada.“ Sie nickte. „Ich habe vor 40 Jahren in Johannesburg meine erste Liebe verloren und bin niemals wirklich darüber hinweggkommen. Oh, Paul, so ist es besser – etwas leichter“, setzte sie seufzend hinzu, als Stillmans sehnige Hände den Druck verringerten. Sie war eine etwas füllige Erscheinung. Doch Paul hob sie hoch und bettete sie zurück ohne jegliche Anstrengung. Als Ada die Bänder ihres Nachthemds wieder zusammenzog, zwinkerten ihm ihre lustigen Augen übermütig zu. Eine ungebärdige Haarlocke war ihm in die Stirn gefallen, und die weißen Ärmelaufschläge, die er über die Ellbogen hochgerollt hatte, gaben seine kräftigen, dunkelbehaarten Unterarme frei. Wie männlich er doch ist, ging es ihr durch den Sinn. Ein ganzer Mann und ein gutherziger Bursche. Ada blickte zum Nebenraum hinüber. „Der Kleine ist heute morgen geröntgt worden, nicht wahr, Paul?“ Er nickte und strich sich sein widerspenstiges Haar aus der Stirn. „Das Blut kann einem in den Adern gerinnen, wenn man sieht, wie manche Eltern ihre Kinder mißhandeln. Das Gesetz geht viel zu mild mit ihnen um. Obgleich Leute wie ich, zum Beispiel, die physischen Schäden solcher Unmenschlichkeiten manchmal heilen können, ist es doch fast unmöglich, etwas gegen die bleibenden seelischen Gefährdungen zu tun. Ich hoffe, daß ich Ringos Körper wieder hinbekomme. Aber er wird wahrscheinlich sein ganzes Leben lang die Angst nicht verlieren.“ „Armes, kleines Schäfchen!“ Adas Brillantohrringe schaukelten, als sie den Kopf schüttelte. Sie trug ständig ihre Ohrringe, auch im Bett, und ihr energisches, noch immer anziehendes Gesicht war stets gepudert und mit Rouge verschönt. Sie sah aus wie eine bejahrte Soubrette. Mit ihren 76 Jahren hatte sie immer noch eine klingende Stimme und ein kokettes Zwinkern im Blick. Paul mochte sie echt. Die meisten ihrer Freunde waren aus ihrem Leben verschwunden und hatten sie ziemlich einsam zurückgelassen. Er vermutete, daß sie im Krankenhaus mehr die menschliche Gemeinschaft suchte als die Linderung ihres Leidens. Sie litt an Arthritis und kam regelmäßig zweimal im Jahr in seine
Klinik. Er hielt immer ein Bett für sie frei, obwohl er wußte, daß er nicht allzuviel gegen ihre besonderen Beschwerden tun konnte. Ada beobachtete ihn, wie er die Ärmel wieder herunterrollte. „Haben Sie jemals daran gedacht, wieder nach Kanada zurückzugehen?“ fragte sie ihn plötzlich. „Mein Bruder würde es ganz gerne sehen, aber ich habe vor, für immer hierzubleiben. Außerdem glaube ich nicht, daß Ilena gerne dort leben würde.“ Er lächelte Ada an, während er in sein Jackett schlüpfte. „Für sie gibt es überhaupt nur drei zivilisierte Orte auf der Welt – London, Paris und Rom. Ich möchte sie nicht allzuweit entfernen von ihren geliebten Pariser Modeschauen, Ada.“ Seine Stimme hatte einen ironischen Unterton, dessen Eindruck jedoch durch den sanften Schwung seines Mundes gemildert wurde. Ada dachte bei sich, daß man einem so reizenden Geschöpf wie Ilena Justine die Vorliebe für Gesellschaften, schicke Kleider und ein zwar gedankenloses, aber abwechslungsreiches Leben weit mehr nachsehen mußte, als ihr zukünftiger Ehemann das anscheinend tat. Dr. Stillman war ein verantwortungsvoller Typ. Er verfügte zugleich über körperliche und seelische Kräfte, die selbst durch einen langen Arbeitstag nicht zu erschöpfen waren. Ada wunderte sich nicht, daß er eine aufregende Partnerin gesucht hatte und nicht etwa eine häusliche. Aufregend war Ilena Justine auf jeden Fall mit ihrem prachtvollen Körper und ihrem üppigen Mund, der ständig zu wilden Küssen herauszufordern schien. „So, Ada, jetzt muß ich leider aufbrechen! Heute geht’s hier mal wieder rund. Mary wartet schon auf mich, um mit mir die neuen Gehaltslisten durchzugehen.“ Paul lachte strahlend und fuhr sich über sein Grübchen im Kinn. „Das ist mal ein tüchtiges Mädchen, was?“ setzte er noch hinzu. Damit war er auch schon aus dem Zimmer und eilte die Treppe hinunter. Da Ilena und er zum Abendessen in die französische Botschaft eingeladen waren, mußte er so schnell wie möglich den Papierkrieg für den heutigen Tag hinter sich bringen. Dieses Essen in der Botschaft war eine wichtige Angelegenheit. Ilena war es sogar gelungen, Nadias Interesse an ihrem neuen Kleid zu wecken. Sie wollte heute abend noch vor dem Dinner kurz in der Klinik vorbeikommen und es bewundern lassen. Das Schwesternhaus war so gebaut, daß die herrliche Veranda gerade noch die letzten Abendsonnenstrahlen abbekam. Sie vergoldeten das Verandageländer, überschütteten Mary, die die Gegend betrachtete, und ließen selbst Julie Brelsons gebleichtes Haar wie Gold erscheinen. Julie aalte sich in einem Korbstuhl und manikürte sich die Fingernägel. „Die Reichen haben’s doch gut, stimmt’s?“ sagte sie leise, mit einem verdrossenen Unterton. „Das kannst du laut sagen, Julie! Aber ich wette, du würdest mit Nadia Justine nicht tauschen“, erwiderte Mary. „All das viele Geld bringt ihr die Gesundheit nicht zurück. Du kannst immerhin tanzen gehen und ein Dutzend anderer Dinge tun, die ihr für immer verwehrt sein werden.“ Julie zirkelte mit einer winzigen Feile an einem Halbmond herum. „Ich frage mich nur, was mit ihrem französischen Freund wird. Wenn sie ihn für schuldig befinden, wandert er für Jahre hinter Gitter.“ „Ich wußte gar nicht, daß du französische Zeitungen lesen kannst“, meinte Mary etwas kühler. „Oh, ich war immerhin mit einer französischen Krankenschwester befreundet während meiner Anstellung bei Barts“, versetzte Julie. Aber als sie aufsah und Marys Blick begegnete, wurde sie verlegen. „Du hast erraten, daß ich es war, die
Nadia die Zeitung brachte, stimmt’s?“ „Warum um alles in der Welt mußtest du denn das tun, Julie?“ „Na ja, sie fragte mich, und ich hatte Mitleid mit ihr. Sie ahnte schon so etwas, denn er hatte in seinen Briefen Andeutungen gemacht. Trotzdem konnte ich doch nicht vermuten, daß sie sich etwas antun würde, nachdem sie von seiner Verurteilung gelesen hatte. Mein Gott, ich starb fast vor Schreck, als ich ihr an dem Nachmittag den Tee brachte und sie mit aufgeschnittenen Pulsadern fand. Ich war ganz krank, wirklich!“ „Hast du auch ihre Briefe an ihn weitergeschickt?“ „Warum nicht? Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht, Mary! Ich glaubte, daß der alte Justine etwas gegen die Freundschaft mit Rene Blanchard hat, weil sie eben behindert ist.“ Julie zuckte die Achseln. „Manche Väter denken so darüber, obwohl das Mädchen sonst völlig in Ordnung ist. Nur gehen kann sie nicht. Heiraten könnte sie aber allemal, wenn sie wollte.“ Julie spielte mit ihrer Feile herum und setzte noch hinzu: „Du solltest Dr. Stillman besser nichts davon sagen, daß ich für die beiden den Briefträger gespielt habe. Versprichst du mir das, Mary?“ „Selbstverständlich sage ich nichts“, versprach Mary sofort. „Wie kannst du denn so etwas von mir denken.“ Der süßliche Nagellackgeruch hing in der Luft, als Julie ihre Nägel zu lackieren begann. „Der Boß würde mich umgehend hinauswerfen, wenn er dahinterkäme. Na, und du stehst ihm ja ziemlich nah.“ Julie sah auf, in ihren blauen Augen war ein forschender Ausdruck. „Nadia steckte mir einen schönen Batzen Geld zu, muß ich gestehen. Aber hier ist es eine feststehende Regel, niemals Geld von Patienten anzunehmen. Du mußt mir also wirklich in die Hand versprechen, alles für dich zu behalten, Mary. Ich möchte meinen Job nicht verlieren.“ „Ich verspreche das. Aber ein bißchen mehr Verstand hättest du wohl haben können.“ Mary wandte sich ab und blickte über das Klinikgelände. Die Bäume rauschten sanft in der Abendluft. „Ilena kommt heute abend in die Klinik, um ihr Kleid von Nadia bewundern zu lassen. Ich bin selber gespannt, wie es aussieht“, meinte sie leichthin. „Ich wette, großartig“, erwiderte Julie lebhaft. „Die Justines schwimmen in Geld. Ich dachte eigentlich immer, daß sie jemanden von den oberen Zehntausend heiraten würde“, setzte sie ironisch hinzu und fuhr fort: „Dr. Stillman sieht ja verdammt gut aus. Aber man erzählt sich, daß er sein ganzes Geld in diesen Schuppen gesteckt hat. Wenn das hier mal pleite geht, dann ist’s um ihn geschehen.“ Sie wedelte mit den Fingern in der Luft herum, um den Lack trocknen zu lassen. „Mein Gott, so gut der Boß ausschaut, Errol Dennis wäre eher mein Typ.“ „Also, ich finde, Errol Dennis sieht schon ein bißchen zu gut aus. Vor allen Dingen weiß er das auch“, sagte Mary lachend. Julie runzelte die Stirn. Mit schmalen Augen betrachtete sie Mary, die so frisch und strahlend aussah in ihrem schwarzen Rock mit der adretten weißen Bluse. „Hat dir Errol eigentlich noch keine schönen Augen gemacht, Mary?“ wollte Julie plötzlich wissen. „Natürlich, schon viele Male“, gab Mary zurück. „Er hat mich gebeten, mit ihm am 24. August zu diesem Tanzabend zu gehen.“ „Zu dem Wohltätigkeitsball?“ fragte Julie rasch. „Die Chardmores veranstalten jedes Jahr so ein Fest, zugunsten der medizinischen Forschung.“ „Richtig, das ist es.“ Mary drehte sich zu Julie um. In dem Licht, das aus dem
Haus fiel, erkannte sie auf einmal die Eifersucht auf Julies Gesicht. Abrupt stand Julie auf. Der Nagellack und die Wattebäuschchen fielen von ihrem Schoß zu Boden. „Na und?“ bohrte sie. „Gehst du mit?“ „Ich hatte es eigentlich vor.“ Mary wunderte sich über Julie. „Ich tanze sehr gern, weißt du. Aber falls er dir versprochen haben sollte, dich mitzunehmen…“ „Nein, er hat nichts versprochen“, erklärte Julie mürrisch. „Er hat nur ein paarmal angedeutet, daß er es vorhatte, und ich hätte viel darum gegeben. Es ist eine der größten Veranstaltungen im Jahr, sie findet in Teddington auf dem Landsitz von Lord Chardmore statt. Alle sind in tollen Kostümen und maskiert.“ In Julies Augen war die Andeutung von Tränen zu sehen. „Du kannst dir doch deine Eintrittskarte selbst kaufen. Alle wissen hier, daß du nur zum Spaß arbeitest.“ Das stimmt, gab Mary ihr im stillen recht, während sie daran dachte, daß Errol Dennis ziemlich sorglos mit den Gefühlen anderer umsprang. Es war doch schofel, einem Mädchen halbe Versprechungen zu machen, und dann letztlich eine andere zu diesem Ball mitzunehmen. Kein Wunder, daß Julie kurz vor einem Tränenausbruch war. Mary ging zu ihr und umarmte sie. „Keine Sorge“, sagte sie, „ich werde mir die Karte selbst kaufen, und dieser Teufelskerl muß uns alle beide mitnehmen. Ich wußte gar nicht, daß es ein Kostümfest ist. Wir werden viel Spaß haben und uns ein paar originelle Kostüme ausdenken, ja?“ Marys echter Herzlichkeit war nicht zu widerstehen. Julie lächelte. „Du würdest dir bestimmt eine Karte kaufen?“ fragte sie unsicher. „Aber ja! Errol spielt doch ganz gern den tollen Hecht. Also kann er ruhig in Chardmore mit zwei Mädchen aufkreuzen.“ Julie riß erstaunt die Augen auf. „Die meisten Mädchen hier sind wie verrückt hinter Errol her. Nur du bist so kühl zu ihm, Mary. Magst du ihn denn nicht?“ „Ach, er ist schon in Ordnung“, erwiderte Mary unbeteiligt. „Wenn er will, kann er ganz nett sein.“ „Ich mag ihn sehr!“ rief Julie temperamentvoll. „Ein paarmal bin ich mit ihm aus gewesen. Er geht immer in solche vornehmen Lokale im West End. Mir ist es ja schleierhaft, wie er sich das leisten kann. Er verdient hier zwar ganz gut, aber das fließt auch wirklich alles gleich in den CarltonGrill, nachdem er Miete, Kleidung und das Notwendige bezahlt hat. Weißt du was, Mary, ich glaube, er spielt.“ „Glücksspiele?“ Mary sah etwas verdutzt aus. „Na ja, wenn man Glück hat, kann man dabei doch eine Menge Geld gewinnen.“ „Wie kommst du darauf, daß er spielt?“ fragte Mary interessiert, doch kaum mehr überrascht. Sie glaubte nicht, daß es bei Errol Dennis noch irgend etwas geben könnte, das sie in Erstaunen versetzte. „Als ich einmal mit ihm zum Tanzen war“, erzählte Julie, „in einem Klub, in dem er verkehrt, legte irgend so ein langer Bursche ihm die Hand auf die Schulter und meinte, Errol sollte doch mal sein Glück versuchen. Errol lachte, aber ich habe sehr gut verstanden, daß der andere Mann über Glücksspiele sprach. Das sah man dem sofort an. Na, und irgendwo muß Errol ja sein Geld her haben.“ Julie bückte sich und sammelte die herabgefallenen Gegenstände wieder auf. Ruhiger fuhr sie fort: „Außerdem sagte dieser Mann noch etwas, Mary! Erst sah er mich an und dann fragte er Errol, wo seine andere Freundin sei. Dabei zwinkerte er so komisch – du weißt schon, wie das Männer tun, wenn sie über ein aufregendes Mädchen sprechen. Errol war sehr verärgert. Er lachte nicht mehr und tanzte mit mir ziemlich schnell von dem anderen Mann weg. Na ja, ich weiß schon, daß er ein ziemlicher Windhund ist, aber ich mag ihn trotzdem. Manchmal kann er eben so
verdammt nett sein“, setzte sie träumerisch hinzu. Ja, das wußte Mary auch. Da war zum Beispiel der Vormittag neulich mit Ringo. Der kleine Bursche war schrecklich kribbelig gewesen, bevor er geröntgt werden sollte. Aber Errol hatte das vorausgesehen und ihm einen Cowboyhut mit in den Röntgenraum gebracht. Ringo geriet vor Freude ganz aus dem Häuschen. Er war abgelenkt, und dadurch konnten die Aufnahmen ohne jegliches Theater gemacht werden. Errol Dennis war ein Rätsel, überlegte Mary. Man konnte nicht alles gutheißen, was er tat, aber auch nicht alles verwerfen. Jedes Mädchen, das sich in ihn verliebte, bekam früher oder später unweigerlich Liebeskummer. Julie war jetzt endlich mit ihren Nägeln fertig und stopfte alle Utensilien, die sie für die Maniküre gebraucht hatte, in den kleinen Kasten zurück. Danach gingen sie beide in den Wohnraum des Schwesternhauses. Eine der Schwestern blickte von ihrer Strickarbeit auf und verkündete, daß der Fernsehapparat streike. „Mary, unterhalt uns ein wenig“, bat sie, „spiel Klavier! Der alte Green von Nr. 10 hat mir mit seinem Knie einen prächtigen blauen Fleck verschafft. Er tut mit ja leid, der alte Knabe. Als Mr. Gordon ihn versorgte, trat er mir auch noch in den Bauch. Wir sollten wirklich Gefahrenzulage bekommen.“ „Hat Alec Gordon sich denn nicht erboten, den prächtigen blauen Fleck einzureiben?“ fragte Julie lachend und half Mary, Wäsche und ein paar gestärkte Hauben vom Klavier wegzuräumen. Als Mary bei ihrer Ankunft entdeckt hatte, daß es in diesem Haus ein Klavier gab, war sie fast gerührt. Sie spielte öfter, wenn sie Zeit hatte. Auch jetzt setzte sie sich gleich ans Klavier und klimperte sanft vor sich hin. „Oh, das ist hübsch, Mary“, sagte Schwester Dora. „Wie heißt das?“ „Das ist ein irisches Volkslied, das mir meine Mutter beibrachte.“ Mary war so in ihre Musik versunken, daß sie Julies bohrenden, eifersüchtigen Blick gar nicht bemerkte. Die liebliche irische Melodie erstand unter ihren flinken Fingern und klang in die abendliche Stille des Klinikparks hinaus. Ilena verspätete sich wieder einmal. Paul Stillman wartete auf sie in Nadias Zimmer. Er wirkte sehr groß und elegant in seinem Abendanzug. Sogar sein ungebärdiges Haar hatte er in eine makellose Frisur gezwängt. „Heute abend siehst du endlich mal wie ein wundervoller Arzt aus, Paul“, bemerkte Nadia. Dann wandte sie sich ab und blickte durch das halbgeöffnete Fenster hinaus. Die Vorhänge blähten sich sanft in der warmen Luft. „Wer spielt da eigentlich Klavier?“ fragte sie. „Ich hab’ das hier schon ein paarmal gehört.“ „Stört dich die Musik, Nadia?“ fragte Paul sofort. Sie schüttelte den Kopf. Paul trat ans Fenster. Der sommerliche Himmel hielt noch das letzte Tageslicht fest. Aus dem Park wehte ihm der Duft der schweren Blüten entgegen. Die Melodie, die Mary da spielte, war ihm unbekannt, aber daß sie aus Irland stammte, war klar. „Das ist meine neue Sekretärin“, erklärte er. „Sie spielt sehr gut, Nadia, nicht? Ihre Mutter war die bekannte Konzertpianistin Mary Farrel.“ „Was, die Farrel? Ist ja interessant.“ Aber es klang nicht übermäßig interessiert und Paul seufzte, als er wieder an Nadias Bett trat. Er musterte ihr bleiches Gesicht mit den fremdartig schrägen Augen, aus denen soviel Leid sprach. Ihm fiel wieder ein, was sie ihm an dem Nachmittag für Sorgen gemacht hatte, als sie sterben wollte. Ihr Blick war immer noch voller Resignation. Sie sah ein Leben ohne Rene Blanchard vor sich, ohne Hoffnung.
„Nadia…“
„Bitte, Paul! Bitte erzähl mit nicht wieder, was man alles für mich tun könnte,
wenn ich, nur Vertrauen hätte. Ich komme mir wie ausgebrannt vor. Mit
neunzehn bin ich schon leer, ohne jegliche Illusion, verdammt, wie ein Klotz
dazuliegen und nur die verrinnenden Minuten zu zählen. Ich muß damit eben
fertig werden. Laß es bitte so, wie es ist.“
Paul hielt ihre Hände und drückte sie sanft. Sie waren eiskalt, ohne Leben.
Unwillkürlich dachte er an die warme Lebendigkeit von Marys Händen, die mit
soviel angeborener Musikalität über die Klaviertasten glitten.
Er warf abermals einen Blick zum Fenster hinaus, der Nadias dunklen Augen
nicht entging.
„Dir gefällt deine neue Sekretärin, Paul?“
„Sie ist ein sehr tüchtiges Mädchen. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, was
ich ohne sie im Büro anfangen sollte.“
„Sie soll sehr hübsch sein, habe ich gehört.“
Paul nickte. Dann fragte er vorsichtig: „Möchtest du sie nicht gern kennenlernen,
Nadia? Du weißt ja, sie ist in deinem Alter.“
„Was, sie ist schon hundert Jahre alt?“ Nadia brach in ein böses Gelächter aus,
das schlimm anzuhören war. Es hatte keinen Schimmer von Jugend. „Oh, Paul,
was würde deine hübsche Sekretärin mir wohl erzählen? Von ihren fröhlichen
Verabredungen? Von ihren Freunden? Von ihrer wunderschönen, sorglosen
Zukunft in den Armen eines geliebten Mannes?“
„Das glaube ich nicht, Nadia.“
„Was glaubst du nicht? Daß sie mir das erzählt, oder daß sie einen Freund hat?“
„Doch, das ist schon möglich.“ Er runzelte die Stirn, als er an Errol Dennis
dachte. „Ich mische mich nicht in ihre Privatangelegenheiten. Aber ich glaube,
daß ihr beide ein gemeinsames Interesse an Musik haben könntet. Du hörst ja,
daß sie eine wirklich talentierte Pianistin ist.“
Doch Nadia wandte nur ungeduldig das Gesicht ab. „Ich bin keine geeignete
Gesellschafterin für sie, Paul, für niemand. Ich bin der Schatten eines Menschen
und würde sie nur erschrecken.“
Er lachte leise. „Ich glaube nicht, daß man Mary Lester erschrecken kann, meine
Liebe. Unterhalte dich doch morgen mal mit ihr. Ihre Gesellschaft wird dich
ablenken.“
4. KAPITEL Aber noch bevor ihm Nadia antworten konnte, wurde die Tür auf gerissen. Ilena Justine rauschte herein. Sie war von oben bis unten in weiße Seide gehüllt, wie eine Beduinin. Diamanten schimmerten an ihren winzigen Ohren. Sie liebte ihre dramatischen Auftritte. Ihre flaschengrünen Augen glitzerten Paul Stillfnan voll überschäumender Lebenslust an. „Cherie, wie elegant du aussiehst!“ rief sie theatralisch, stürzte auf ihn zu und hielt ihm ihr Gesicht entgegen. Er küßte sie flüchtig. Dann drehte sich Ilena zum Bett um. „Hallo, Nadia! Wie geht es meinem Schwesterchen heute abend?“ Sie beugte sich vorsichtig herab. „Ganz gut, Ilena. Du siehst sehr schick aus.“ „Der Umhang ist toll, was?“ Ilena lachte vergnügt und strich mit ihrer juwelenbestückten Hand über die Seide. „Ilena, um Gottes willen, sei einen Augenblick mal still und zeig uns, was du unter diesem Traumgebilde trägst“, sagte Paul. Raschelnd fiel der Mantel vorne auseinander. Der Anblick verschlug Paul den Atem: Ilena war ganz in Rot gekleidet, nur die bloßen Arme und Schultern schimmerten sonnenbraun. Nadias Blicke glänzten vor Bewunderung. „Du siehst bezaubernd aus, Ilena“, sagte sie. „Für meinen Geschmack zeigst du nur ein bißchen zuviel Busen.“ „Das finde ich eigentlich auch, Liebling.“ Paul zog etwas skeptisch die Brauen hoch, während er seine Verlobte betrachtete. „Kannst du das Kleid nicht ein bißchen höher ziehen? Stell dir vor, es rutscht dir runter, wenn der Botschafter seinen Toast ausbringt. Hast du keine Angst davor?“ Ilena bedachte ihn mit einem koketten Augenaufschlag. „Das muß so sein und kann auch nicht herunterfallen. Es wird mit winzigen Stäbchen gehalten. Hier, fühl mal!“ Sie nahm seine Hand und drückte sie gegen die kühle Seide. „Na, spürst du sie? Mir kann nichts geschehen.“ Der intensive Duft ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Die weibliche Wärme ihres Körpers strömte in seine Finger und ließ sein Blut aufwallen. Plötzlich wünschte er nichts sehnlicher, als mit ihr allein zu sein. Immer mußten sie ihre Abende mit so vielen Menschen verbringen! Wenn sie ins Theater gingen, waren sie «stets von Freunden umgeben. Sie konnten kein Restaurant betreten, ohne daß Ilena irgendwelche Bekannte entdeckte, die sie an ihren Tisch bat. Auch heute abend würden sie in der Botschaft nicht einmal nebeneinander sitzen und wahrscheinlich nur ein paarmal miteinander tanzen können. „Liebling, müssen wir heute wirklich zu diesem feierlichen Dinner?“ fragte Paul. „Ich würde viel lieber mit dir nach Surrey hinausfahren. Wir könnten dort wundervoll in der alten Mühle essen und…“ „Nein, das geht nicht“, unterbrach Ilena ihn schnell, „wir müssen in die Botschaft, Paul.“ Sie sah ihn fast erschrocken an. „Ich habe mir dieses Ensemble extra dafür anfertigen lassen. Außerdem werden eine ganze Menge Freunde aus Paris da sein. Line Cabot hat bestimmt viele Neuigkeiten für mich auf Lager…“ „Frag sie“, warf Nadia ein, „sie wird dir vielleicht sagen können, ob man Rene nun erschießt oder ob er in einer Gefängniszelle verfaulen wird.“ Paul zuckte zusammen, und Ilena lief zu Nadias Bett. Sie drückte ihre Schwester an die raschelnde Seide und ihre duftende Haut. Für einen Augenblick duldete Nadia die Umarmung. Dann schob sie ihre
Schwester müde zur Seite und meinte leise: „Nun macht schon, ihr kommt sonst zu spät.“ „Cherie…“ Zärtlich fuhr Ilena durch das dunkle Haar ihrer Schwester. „Glaubst du denn immer noch, daß Rene all diesen Kummer wert ist?“ „Ach, laß mich jetzt in Ruhe!“ Nadia vergrub ihr Gesicht in den Kissen. „Geht zu eurem Fest – bitte!“ „Ja, komm Ilena!“ Paul ergriff Ilenas Arm und zog sie zur Tür. „Aber wir können sie doch so nicht zurücklassen!“ protestierte Ilena. „Sie wird einen neuen Selbstmordversuch unternehmen.“ „Ich verlasse sie so auch nicht“, gab Paul zurück. „Ich werde jemanden bitten, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen, so daß sie bald schlafen wird.“ Sie gingen in sein Büro, und Paul telefonierte in den Schwesterntrakt hinüber. Scotty hatte heute abend zwar frei, aber die wäre sicher sofort bereit, eine halbe Stunde bei Nadia zu sitzen. Paul glaubte eigentlich nicht, daß Nadia einen zweiten Selbstmordversuch wagen würde, doch er wollte sich darauf nicht verlassen. Endlich nahm jemand den Hörer ab. Er fragte nach Scotty. „Oh, das tut mir leid, Dr. Stillman, aber Schwester Truscott und auch die andern sind ins Kino gegangen.“ Paul erkannte Marys Stimme. Er zögerte einen Moment und fragte sie dann doch, ob sie vielleicht eine halbe Stunde bei Nadia sitzen wollte. „Ja gern, ich komme gleich hinüber“, erwiderte sie. Erleichtert legte er den Hörer auf. „Deine Sekretärin ist aber ungewöhnlich gefällig, Paul.“ Ilena holte ihre Puderdose heraus und musterte ihre Lippen: „Willst du sie zur Schwester ausbilden?“ setzte sie noch hinzu. Es klang etwas angriffslustig, und Paul runzelte die Stirn. „Ich finde es tatsächlich nett von Mary, gleich so einzuspringen und einen Teil ihrer Freizeit bei Nadia zu verbringen“, sagte er schärfer, als er vorgehabt hatte. „Sie hämmert schließlich den ganzen Nachmittag auf ihrer Schreibmaschine. Das ermüdet mehr, als in einem Schönheitssalon herumzusitzen und sich das Gesicht massieren zu lassen, was du zweifellos heute hinter dir hast.“ „Sei nicht ironisch.“ Ilena blitzte ihn an. „Du benimmst dich wie ein gescholtener kleiner Junge, nur weil ich mit dir nicht zu dieser spießigen Mühle will, die dir so gefällt. Ich mag es nun mal nicht, wenn mir Spinnen in den Ausschnitt fallen, während ich unter Bäumen esse. Ich habe das noch nicht vergessen. Vielleicht erinnerst du dich, wie komisch du es fandest, als sich dieses schreckliche Ungeheuer auf meine Schulter herunterließ.“ Paul mußte lächeln, als ihm das Erlebnis wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wurde. „Ilena, es war wirklich komisch! Du hast dich benommen, als ob es sich um eine Tarantel handelte. Dabei war es nur ein harmloser Weberknecht.“ Er trat einen Schritt auf sie zu und wollte sie umarmen. Aber sie wandte sich brüsk ab. Paul warf ärgerlich den Kopf zurück. „Sag mal, ist es so unrecht, daß ich dich ab und zu für mich haben möchte?“ fragte er. „Ich bin ein Mann, Ilena, kein Schoßhündchen. Neuerdings scheinst du diese Tatsache zu vergessen.“ Angestachelt durch ihre schlechte Laune und den verführerischen Anblick des scharlachroten Traumgebildes, das die Kurven ihres Körpers so aufreizend zur Geltung brachte, riß er Ilena in seine Arme. Hart und fordernd küßte er sie. Als er sie endlich freigab und ihr Lippenrot restlos verschmiert war, stand Mary in der
halbgeöffneten Tür. Paul zog verlegen ein Taschentuch hervor und wischte sich die Lippenstiftspuren vom Mund. „Es dauert nicht lange, Ilena“, sagte er. „Ich begleite Mary nur schnell zu Nadia.“ Ilena kochte vor Wut. Er hatte ihr Kleid zerdrückt, die Frisur zerwühlt, sie mußte sich kunstvoll die Lippen neu malen. „Du bist ein Flegel!“ schrie sie unbeherrscht. Es war ihr ganz gleichgültig, daß Mary anwesend war. „Ich lasse mich nicht wie ein Flittchen behandeln.“ „Dann zieh dich auch nicht an wie ein solches“, konterte er kühl. Sein Blick funkelte schmal und gefährlich, auch noch, als er Marys begegnete. Wie die Silberschneide eines Rapiers, dachte sie. „Kommen Sie bitte.“ Er marschierte vor Mary her den Flur entlang und dann die Treppe hinauf. Dabei erklärte er ihr, wie depressiv Nadia sei und wie wichtig es wäre, daß jemand bei ihr sitze. „Bis sie eingeschlafen ist.“ Mary nickte. „Es macht Sie doch nicht nervös, bei ihr zu sitzen, oder?“ Er musterte sie in dem halbdunklen Flur. Sie schüttelte den Kopf. Paul legte unwillkürlich die Hand auf ihre Schulter und spürte ihren feingliedrigen Körper unter der weißen Bluse. „Sie sind wirklich ein nettes Mädchen, Mary“, sagte er leise. „Langsam mache ich mich ziemlich abhängig von Ihnen.“ „Es ist schön zu wissen, daß man gebraucht wird, Dr. Stillman.“ Zögernd lächelte sie. Die Szene unten hatte einen häßlichen Ausklang gehabt. Jetzt empfand Mary sehr bewußt seine Hand auf ihrer Schulter. Sie spürte, daß er auf irgendeine Art Trost suchte. Aber er war ja nicht ¦ – nein, er war nicht Ringo. Sie konnte ihm schließlich nicht den Arm um den Hals legen und ihm ein Märchen erzählen. „Sie werden sehr gebraucht, Mary, im Büro zum Beispiel und vor allen Dingen von Ringo.“ Er setzte hinzu: „Ich muß mich wohl etwas für meine Zweifel entschuldigen, die ich anfangs hatte.“ „Ja, ich wußte, daß Sie Ihre Zweifel hatten, Dr. Stillman!“ Mary zögerte einen Augenblick. Paul bemerkte in dem Halbdunkel einen Ausdruck von Unsicherheit in ihren grünen Augen. „Womit hatte ich Sie eigentlich schon an meinem zweiten Tag hier so verärgert? Ich weiß bis heute nicht, was ich getan habe“, setzte sie noch hinzu. Wieder empfand sie seine Hand auf ihrer Schulter. Ein winziges, ironisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Um die Wahrheit zu sagen, Mary, ich habe Sie mit Errol Dennis aus dem Regent’s Park kommen sehen. Natürlich geht es mich nichts an, was meine Angestellten außerhalb ihrer Dienstzeit tun. Aber Sie sollten wenigstens wissen, daß dieser Bursche ein Luftikus ist.“ Er schob die Unterlippe vor und sah sie aus halbgeschlossenen Augen an. „Ein Blick genügte, Mary, und ich wußte, daß Sie im Park mit Errol nicht gerade über das Wetter gesprochen hatten.“ Mary verstand nun. Aber sie war verstimmt. „Ich weiß, ich sah etwas aufgelöst aus. Deshalb glaubten Sie wohl, daß er mich geküßt hat, nicht wahr? Aber davon kann überhaupt nicht die Rede sein! Ich hatte mit Schulkindern und ihrem Drachen gespielt. Er hatte sich verfangen, und als Errol vorbeikam, machte er ihn wieder frei. Die Kinder wollten ihm noch zeigen, wie gut er fliegen konnte…“ Sie schwieg, denn Paul brach völlig unerwartet in ein jungenhaftes Gelächter aus und drückte sie impulsiv an sich. „Verzeihen Sie mir meine niederträchtigen Gedanken!“ sagte er herzlich. „Ich hätte sehen sollen, daß Sie Niveau haben und nicht so einfach von Typen wie Dennis herumzukriegen sind.“
Jetzt lachte auch Mary, froh darüber, daß das Mißverständnis ausgeräumt war.
Sie hatte sich zwar von Errol nach Chardmore einladen lassen, aber nur weil fast
alle Angestellten der Klinik dorthin gingen.
„Sind Sie mir noch böse?“ Sie spürte, wie Pauls Hand ihren nackten Arm
hinunterglitt.
„Nein, natürlich nicht“, antwortete sie.
„Schön.“ Er öffnete die Tür zu> Nadias Zimmer. „Ich bin es noch mal, Nadia“,
verkündete er. „Mary Lester wird dir eine Weile Gesellschaft leisten.“ Immer noch
hielt er eine Hand von Mary und zog sie an das Krankenbett.
Nadia musterte Mary von Kopf bis Fuß. „Ja, Sie sind wirklich sehr hübsch“,
meinte sie dann und betrachtete Marys schönes Haar. Wie lebendig sie doch
aussieht, dachte sie versonnen.
„Oh, vielen Dank, Nadia“, sagte Mary und setzte sich auf den Stuhl neben dem
Bett, während Paul einen hastigen Blick auf seine Uhr warf.
„So, ich muß jetzt aber los!“ Er lächelte die beiden an und verabschiedete sich:
„Ich seh euch ja morgen früh. “ Damit schloß sich die Tür hinter ihm.
„Sollen Sie mich hier bewachen, damit ich es nicht noch einmal versuche?“ fragte
Nadia. Sie zeigte Mary ihre geschundenen Handgelenke. „Der Versuch zu
sterben, hat zu sehr geschmerzt. Der Mann, der eben durch die Tür verschwand,
ist ein Dämon. Doch, doch“, fuhr sie eilig fort, als Mary sie erstaunt ansah. „Mit
einem schnellen Griff holte er mich aus der Ruhe zurück und beschimpfte mich,
als ich ihn bat, mich gehen zu lassen. Dann saß er die ganze Nacht an meinem
Bett, damit ich ihm nicht doch noch entwischen konnte – wie ein Racheengel. Er
hinderte mich daran, ihn und alles andere zu verlassen.“
Mary berührte sanft Nadias Narben. „Eines Tages sind die ganz verschwunden“,
versuchte sie zu trösten.
„Ich vermute, Sie kennen die Geschichte mit Rene?“ fragte Nadia mit schläfriger
Stimme.
„Ja.“
„Sie werden ihn einsperren. Aber Rene einzusperren, das ist, als wolle man einen
wilden Vogel zähmen. Er hatte seine Unterstützung jungen Feuerköpfen
zugesagt, die mit Gewalt die Welt in Ordnung bringen wollten. Er hat Unrecht
begangen. Doch man liebt jemand ja nur wirklich, wenn man auch seine
schlechten Eigenschaften akzeptiert. Ich kann ihn nicht aus meinem Herzen
verbannen. Ich habe es versucht. Ich versuchte es auch mit dem Sterben, denn
wenn ich lebe, muß ich ihn lieben.“
„Nadia, Sie sind doch noch so jung…“
„Wollen Sie damit sagen, daß man mit neunzehn nicht so intensiv lieben kann?“
entgegnete Nadia. „Ich liebte Rene schon, als ich noch ein Kind war: damals in
der Provence.“
Sie schwieg einen Augenblick, als müsse sie sich alles ins Gedächtnis
zurückholen. Dann fuhr sie fort:
„Es war mir gleichgültig, daß er es nicht zur Kenntnis nahm. Er wußte nichts von
meinen Gefühlen. Für mich aber war er ein Gott und außerhalb meiner
Reichweite. Eines Tages geschah dieser Unfall. Die Ärzte sagten, daß ich niemals
wieder tanzen könnte. Da kam Rene zu mir und sagte, daß er mich liebe. Voriges
Jahr fragte er Papa, ob wir uns verloben dürften. Papa sagte nein und erklärte,
daß er niemals seine Einwilligung geben würde – niemals!“
Nadia seufzte. Tiefe Schatten lagen unter ihren hohen Wangenknochen.
„Ich weiß jetzt, warum mein Vater Rene nicht mag, und ich verzeihe es ihm. Aber
ich – ich kann meine sinnlose Sehnsucht nach Rene nicht aufgeben. Vielleicht
wäre es anders, wenn ich kein Krüppel wäre.“
„Ist es wirklich hoffnungslos, Nadia?“ „Sehen Sie!“ Nadia schlug sich gegen die bewegungslosen Beine. „Hier, sehen Sie! Früher schwebte ich auf ihnen wie ein Vogel über die Bühne, jetzt sind sie völlig nutzlos. Ich wußte es sofort, gleich in der Nacht nach dem Unfall. Ich hörte die anderen darüber sprechen, als sie mich in den Umkleideraum trugen…“ Die letzten Worte hatte Nadia nur noch geflüstert. Auf einmal schlief sie. Noch lange klangen diese schrecklichen Sätze in Mary nach. Sie erkannte bedrückt, daß hier die Grenze von Pauls Möglichkeiten lag. Nadia vermochte einfach die Gewißheit nicht zu ertragen, daß man ihr vielleicht einmal das Gehen aber nie wieder das Tanzen ermöglichen könnte. Nur durch den Tanz jedoch hätte sie den Mann vergessen können, den sie liebte. Mary und Nadia wurden schnell gute Freunde. Das Wetter blieb schön, und Mary machte es sich zur Gewohnheit, Nadia im Rollstuhl in den Sommer hinauszufahren, während Ringo sein Nachmittagsschläfchen hielt. Es war überraschend, wieviel Freude Nadia diese Spaziergänge machten. Sie taute sichtlich auf Mary hatte soviel zu erzählen, um Nadia von ihrem Kummer abzulenken. Sie erkannte selber, daß sie ihr half, wenigstens einmal am Tag eine Stunde lang nicht an Rene Blanchard zu denken. An einem schönen Mittwochnachmittag, als Mary sie wieder einmal durch den Park rollte, erzählte sie Nadia von dem Kostümfest in Chardmore und fragte sie, ob sie nicht eine Idee für ein Kostüm hatte. Lady Chardmore hatte darum gebeten, daß alle Ballbesucher als Waldwesen oder Pflanzen kostümiert kämen. „Ich weiß was“, platzte Nadia sofort heraus, „du gehst als Libelle!“ Sie strahlte Mary an. „Cherie, mit deinem langen Haar und den grünen Augen wirst du bestimmt eine wunderschöne Libelle abgeben.“ „Hm – das ist eine Idee.“ Mary war sofort Feuer und Flamme. „Wo, um Gottes willen, aber soll ich das Kostüm herbekommen?“ setzte sie leicht bedrückt hinzu. „Ich habe ein Kostüm für dich“, rief Nadia. „Das werde ich dir leihen.“ „Wirklich?“ Mary strahlte. „Wie sieht es aus, Nadia?“ Nadia beschrieb ihr das Kostüm: Es bestand aus einem smaragdgrünen, engen Trikot mit glitzernden Flügeln und einer Kappe mit kleinen Kugeln, die bisweilen mit Hilfe einer Batterie aufleuchteten wie Augen. „Du mußt die Batterie wahrscheinlich erneuern“, erklärte Nadia eifrig. „Das Kostüm schmort immerhin schon zwei Jahre in meinem Koffer.“ „Aber es klingt phantastisch. Du, ich finde es riesig nett von dir, es mir zu leihen.“ Mary beugte sich zu Nadia herunter und umarmte sie herzlich. „Ich verspreche, ganz vorsichtig damit umzugehen. Schade nur, daß ich bis Montag warten muß, um es zu holen. Deine Schwester kommt doch nicht vorher aus Paris zurück.“ Paul hatte ihr erzählt, daß Ilena nach Paris gefahren war, sich um ihr Brautkleid zu kümmern. „Ach was, ich habe doch den Wohnungsschlüssel“, erklärte Nadia sofort. „Du kannst schon vor Montag hin und dir das Kostüm holen. Meine Kostüme sind alle in einem Koffer im Dielenschrank. Du wirst es gleich finden. Der Schlüssel zum Schrank steckt immer in der Tür.“ Mary war voller Zweifel. „Ich weiß nicht“, meinte sie. „Es ist mir gar nicht recht, in Ilenas Wohnung einzudringen, während sie weg ist, Nadia.“ „Ach, sei nicht albern, Mary. Es ist ja auch meine Wohnung. Wir müssen doch feststellen, ob es noch etwas zu ändern gibt. Ich war siebzehn, als ich es das letztemal trug. Wahrscheinlich muß man es etwas auslassen.“ Sie musterte Marys Figur. „Ich war sehr schlank damals. Du hast, glaube ich, etwas mehr Busen.“
„Na ja, wenn du glaubst, daß Ilena nicht verärgert ist, wenn sie es erfährt, werde ich am Wochenende mal hingehen. Vorher wird’s wohl nichts.“ Sie pflückten sich ein paar Margeriten, und Nadia zupfte an einer weißen Blüte herum. „Arbeitest du eigentlich gern für Dr. Stillman?“ fragte sie ziemlich unvermittelt. „Ja, sehr gern.“ Marys Stimme klang wärmer, als es ihr bewußt war. Nadia drehte sich zu ihr um und blickte sie an. Wieder fiel ihr auf, wie attraktiv Mary war und wie verführerisch ihr Lächeln wirkte. „Du sprichst eigentlich niemals von einem Freund, Mary“, sagte sie. „Interessieren dich Männer gar nicht?“ „Ach, Nadia, ich mache mir darüber herzlich wenig Gedanken.“ Mary grinste. „Vielleicht bin ich der Typ der alten Jungfer.“ Nadia schüttelte ungläubig den Kopf. „Allezvousen! Du wartest einfach noch auf den Richtigen.“ Zärtlich fuhr sie ihr mit der Blume über die Wange. Da fiel ihr Rene ein, und um sich abzulenken, sagte sie: „Paul ist sehr nett, wenn er nicht gerade meine Beine behandelt. Er weiß doch, daß ich vermutlich nie wieder auf eigenen Füßen stehen werde.“ „Das kann er gar nicht wissen, Nadia“, protestierte Mary sanft. „Im Gegenteil: Er ist zutiefst davon überzeugt, daß du nicht nur wieder wirst stehen können sondern auch gehen. Ich glaube, du solltest es ihm zuliebe versuchen.“ Ein Anflug von Gereiztheit glitt über Nadias Züge, so daß sie einen Moment Ilena ähnlich sah. „Ach so? Ich sehe, er debattiert über meinen Fall wie über den irgendeines Versuchskaninchens!“ „Gewiß spricht er von dir, Nadia“, gab Mary ruhig zu. „Er will dir so gern helfen. Er glaubt, daß es nicht deine Beine sind, die streiken, sondern daß es deine Seele ist. Er meint, weil du niemals mehr laufen willst, wirst du auch nicht laufen.“ „Er denkt, ich spiele meine Hilflosigkeit?“ Tränen standen plötzlich in Nadias Augen. „Ma cherie, glaubst du das etwa auch?“ „Nein, ich glaube nicht, daß dir das bewußt ist, Nadia. Aber es könnte doch sein, daß du nicht mehr laufen willst, weil du dir bewußt bist, daß deine Karriere als Tänzerin zu Ende ist.“ „Alles ist zu Ende.“ Nadia blinzelte durch den Tränenschleier in den Sonnenschein. Sie sah die Kinder, die neben ihren Müttern herhüpften, und sie sah die kleinen, drallen Vögel in ihren Nestern auf den Bäumen. Dann zerfloß vor ihrem Blick alles, und sie glaubte, in tausend Erinnerungen zu ertrinken: in Erinnerungen an die Zeit, in der ihre Zukunft noch vielversprechend war, in der es einen großen sonnengebräunten Mann gab, der sie in die Arme schloß… „Bring mich in die Klinik zurück!“ rief sie heiser. Sie drehte den Rollstuhl so heftig herum, daß sie Mary fast umstieß. „Bring mich zurück! Schnell! Bitte! Ich kann es hier keinen Augenblick länger aushalten!“ Schweigend schob Mary den Rollstuhl zur Klinik zurück. Nadia starrte blicklos und erbittert vor sich hin. Mary war verzweifelt, den Tränen nahe. Sie hatte Nadia nicht verletzen wollen. Aber schon Onkel Richard hatte sie immer gescholten, eine vorschnelle Zunge zu haben. Wie konnte sie Nadia nur darin bestärken, daß ihre Karriere als Tänzerin vorbei sei? Sie hatten den Park gerade verlassen und mußten die Straße zur Klinik überqueren. Und dann geschah alles sehr schnell: Mary hatte mit dem Rollstuhl die Fahrbahnmitte erreicht, als plötzlich ein knallroter Zweisitzer, von der Klinik herkommend, um die Ecke schoß. Mary sah den Wagen direkt auf sich zurasen. Instinktiv gab sie dem Rollstuhl einen heftigen Stoß in Richtung Bordstein.
Im nächsten Augenblick hörte sie schon Bremsen kreischen. Ein Scheinwerfer des
Wagens traf sie wie eine mächtige Faust und schleuderte sie zu Boden. Sie schrie
auf vor Schmerz und spürte noch die scharfen Steine, die ihr die Beine aufrissen.
Sie wurde nicht bewußtlos, sondern hörte wie von weither Errol, Dennis’ Stimme.
Er hob sie hoch, sie spürte seinen Arm und lag an seiner Schulter. Verwirrt
bemerkte sie, wie bleich sein Gesicht war.
„Was ist mit Nadia?“ fragte sie. Das mußte sie wissen.
„Ich lege Sie erst mal in meinen Wagen, und dann sehe ich nach ihr“, kam Errols
tröstende Antwort.
Er ließ Mary auf den Beifahrersitz gleiten.
Plötzlich begann sich alles zu drehen, es wurde dunkel um sie. Sie kämpfte
dagegen an, weil sie sicher sein wollte, daß Nadia heil davongekommen war. Sie
trug die Verantwortung für Nadia. Dr. Stillman würde ihr niemals verzeihen,
wenn Nadia etwas zugestoßen sein sollte…
Mary flüsterte Nadias Namen, als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte und
feststellte, daß sie in einem Untersuchungszimmer in der Klinik lag. Dr. Stillman
beugte sich über sie und behandelte eines ihrer Beine, das ihr sehr weh tat.
„Lieg still, Kleines“, murmelte er. „Nadia geht es gut.“
„Sie ist nicht verletzt? Würden Sie es mir sagen?“
„Natürlich würde es Dr. Stillman sagen, du Schaf!“
Mary bemerkte jetzt erst Schwester Truscotts schlichtes, beruhigendes Gesicht.
Sie assistierte Stillman.
„Nadia war aus dem Rollstuhl gefallen, als er gegen die Bordsteinkante stieß. Es
machte ihr aber nichts. Sie hat es sogar fertiggebracht, aus eigenen Kräften in
den Stuhl zurückzuklettern. Sie war so entsetzt darüber, wie du vor dem Auto am
Boden lagst, sie hatte sich selbst völlig vergessen.“
Mary hätte weinen können vor Erleichterung. „Mein Gott, ich hatte solche Angst
um sie.“
„Dabei hast du viel mehr abbekommen“, erwiderte die Schwester. „Dr. Stillmann
mußte eine ganze Handvoll Steine aus dem Fleisch an deinen Beinen entfernen.“
Mary spürte jetzt Pauls Hände an ihrem rechten Oberschenkel. Sie zuckte
zusammen, weil es ihr wieder wehtat. „Das ist nur Jod“, sagte er, „brennt’s?“
„Ja, ein bißchen.“ Sie hob den Kopf, weil sie sehen wollte, was er da machte. Sie
lag auf einem der Untersuchungsbetten – das Kleid aufgerissen bis zur Taille, auf
ihrem weißen Slip waren Blutflecken. Mary seufzte angewidert und ließ sich
zurückfallen.
„Dr. Stillman, es war nicht Errols Schuld“, sagte sie. „Ich bin gewöhnlich sehr
vorsichtig an diesem Straßenübergang, besonders wenn ich Nadia dabeihabe,
aber heute… Ich glaube, ich habe mich einfach nicht vorgesehen.“ Sie schluckte.
„Scotty, kann ich ein Glas Wasser bekommen?“ fragte sie.
„Gib ihr einen Brandy, Scotty“, lachte Dr. Stillman. „In meinem Zimmer steht
eine Flasche.“
Schwester Truscott eilte hinaus, und Paul drehte Mary auf die Seite, um ihre
Hüfte zu untersuchen. Sie wies kräftige Schrammen auf, doch eine Verletzung
des Knochens konnte er nicht feststellen.
„Sie sind schon ganz schön angeschlagen. Aber die Knochen sind alle heil
geblieben. In zwei Tagen ist alles vergessen.“
Er untersuchte sie noch ein paar Minuten, trat dann zum Kopfende und richtete
Mary auf, so daß sie sitzen konnte. Sie spürte seinen Arm, warm und kräftig.
Sein Gesicht war dem ihren so nah, ein klares, männliches Gesicht mit dem
Grübchen im Kinn und den breiten Brauen über den strahlend grauen Augen.
„Stellen Sie sich immer so schützend vor andere?“ fragte er.
Sie sah ihn groß an. Fast zärtlich strich er ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. „Sie hätten tot sein können, und das wissen Sie auch. Nadia erzählte mir, daß Sie ihren Rollstuhl in Sicherheit stießen und selbst von Dennis’ verdammten Wagen erwischt wurden.“ „Ich hatte doch die Verantwortung für sie…“ Die Worte blieben ihr im Halse stecken, als Paul lachte und ihr einen raschen Kuß auf die Nasenspitze drückte. „So, das war ein Dankeschön von Nadia und mir“, sagte er weich. „Jetzt gehe ich aber und erzähle Dennis, daß Sie keinen gebrochenen Knochen haben. Ich ließ ihn in der Halle zurück, wo er wahrscheinlich immer noch unruhig auf und ab marschiert.“ Schwester Truscott erschien gleich, nachdem Paul gegangen war mit der Brandyflasche und einem Glas. Der Alkohol ließ sanftes Rot auf Marys bleichen Wangen erscheinen. „Oh, Scotty, du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich bin.“ Mary lächelte. „Sag mal, ist Nadia wirklich ohne jede Hilfe in ihren Rollstuhl zurückgeklettert?“ „Ja sicher. Das ist doch ein gutes Zeichen, nicht? Sieht aus, als ob ihre Beine nicht völlig bewegungslos sind. Aber das hat Dr. Stillman ja immer gesagt.“ Sie sprachen noch über Nadia, als Paul zurückkehrte. Er wirkte gelassen, nur seine Augen schimmerten wie Stahl. Ein eindeutiges Anzeichen, daß er sich mit jemandem auseinandergesetzt hatte. Mary wollte gerade etwas sagen, da kam er ihr zuvor: „Es ist ja sehr nett von Ihnen, Mary, diesen Unfall als eine Folge Ihrer eigenen Unachtsamkeit hinzustellen. Aber ich habe Dennis um die Ecke jagen sehen, als ob er an der Rallye Monte Carlo teilnimmt. Na ja, jedenfalls hat es ihm einen gehörigen Schreck versetzt, und er ist mit hängenden Ohren nach Hause gegangen.“ Mary empfand trotzdem Mitleid für Errol, auch wenn Paul Stillman sie in diesem Punkt nicht verstehen konnte. Er hatte es sich nun mal in den Kopf gesetzt, daß Errol den Hauptteil der Schuld trug. Am nächsten Morgen kletterte Mary schwerfällig aus dem Bett und bestand darauf, an die Arbeit zu gehen. Als sie gegen 11 Uhr Dr. Stillman den Kaffee bereitete, bat er sie zu sich. Er griff nach dem Tablett und trug es selbst in sein Privatzimmer. „Kommen Sie“, sagte er, „Sie sehen heute vormittag etwas durchsichtig aus, Mary.“ Sie lächelte ihn dankbar an und gehorchte. Er holte eine Flasche Whisky aus dem Schrank, goß davon einen gehörigen Schuß in jede Tasse und krönte das Ganze mit einem Teelöffel Sahne. „Irish Coffee“, meinte er und reichte ihr eine Tasse. „Der wird Ihnen wieder auf die Beine helfen.“ „Vielen Dank.“ Sie nippte an dem Kaffee, der wahrhaftig ausgezeichnet schmeckte, und blickte sich neugierig in seinem Zimmer um. Ein ausgesprochen männlicher Raum fand sie, alles war aufeinander abgestimmt. Die Farben eines faszinierenden Van Gogh über dem Kamin kehrten in dem geknüpften Teppich wieder, der den Boden völlig bedeckte. Die bequemen Sessel waren mit Rohleder bezogen. Aber besonders machte auf Mary das breite Bord über der Couch Eindruck, das für Bücher, Zeitschriften, Aschenbecher und Gläser bestimmt war. „Gefällt Ihnen mein Zimmer, Mary?“ fragte Paul, der auf einer Sessellehne hockte. Tiger, der buntgescheckte Kater, schrak aus seinem Dösen auf und kletterte auf Pauls Knie. „Ja, es ist sehr hübsch“, stimmte Mary zu. „Das ist ein Van Gogh, nicht? Seine
lebendigen Farben sind unverkennbar. Man kann die Sommerhitze förmlich spüren.“ Paul Stillman blickte zu dem Bild. „Farben bedeuteten für Van Gogh Leidenschaft, und die Sonne war das lebenspendende Element seiner Leidenschaft“, sagte er. „Diese beiden Momente waren für ihn untrennbar.“ Dr. Stillmans graue Augen blickten nachdenklich. „Ich glaube, Sie können das nachempfinden, Mary. So etwas ist allerdings heute selten bei jungen Mädchen. Liebe und Leidenschaft sind für sie zu einem sorglosen Spiel geworden.“ Seine Bemerkung beunruhigte sie, denn sie erinnerte sie an die Szene zwischen Ilena und ihm vor ein paar Wochen. Seine Art hatte sie damals erschreckt. Er war zornig gewesen, weil man ihn verletzt hatte. Damals mußten Zweifel an Ilena in ihm aufgestiegen sein. Mary begriff jetzt, daß er an seine Verlobte dachte, wenn er von Mädchen sprach, die mit der Liebe spielten. Mary nahm sich einen Keks vom Tablett und knabberte daran. Paul Stillman hatte etwas Sahne in die Untertasse gegeben und sie Tiger hingestellt, der die Sahne gierig auf schleckte. Darüber lächelte Paul verständnisvoll, und Mary dachte, daß er im Moment wie ein großer Junge aussah. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie ihn sehr mochte, und ein seltsam schmerzhaftes Bedauern regte sich in ihr darüber, daß diese Ilena ihn vielleicht unglücklich machte.
5. KAPITEL Ihr Gespräch drehte sich schon sehr bald um die Patienten. Schließlich kam die Rede auf Ringo. Die Röntgenaufnahme zeigte das ganze Ausmaß der Schulterverletzung, und Dr. Stillman erklärte, daß er sobald wie möglich operieren wolle. Einen Haken allerdings hatte die Sache noch. Vorher mußte Ringos Mutter auf getrieben werden. Sie hatte sich zwar schon drei Jahre nicht um ihr Kind gekümmert, aber trotzdem war ihr schriftliches Einverständnis nötig, ehe Paul dem von ihr ungewünschten Kind helfen konnte. „Das ist doch grotesk, was?“ Er bot Mary eine Zigarette an. „Die Mutter hat damals Ringos Vater verlassen, den alten Farning. Sie ging nach Norden, um mit einem anderen Mann zu leben. Aber kurz darauf brach sie wieder mit ihm, und von da an scheint es mit ihr bergab gegangen zu sein. Ich hoffe, die Polizei hat bald eine Spur von ihr, falls sie nicht schon wieder anders heißt.“ „Wird es Ihnen wirklich gelingen, Ringo wieder ganz… ganz gerade zu bekommen?“ fragte Mary voller Respekt. „Ihn vollkommen zu heilen?“ „Jedenfalls will ich es versuchen“, meinte er lächelnd. „Dank Ihrer Fürsorge geht es ihm schon viel besser, vor allem ißt er wieder. Übrigens habe ich bemerkt, daß Sie viel von Ihrer Freizeit bei ihm verbringen. Ab und zu könnten Sie aber auch mal eine andere Umgebung brauchen, als immer nur die Klinik.“ „Ich bin gern bei Ringo“, erwiderte sie. „Er tut mir so leid.“ Ihre Blicke begegneten sich, als sie weitersprach: „Wissen Sie, als ich ein Kind war, habe ich so gern an der See gespielt und im Wasser herumgeplanscht. Wenn mein Vater mich auf seinen Schultern hinaus ins Meer trug, hatte ich keine Angst, sondern schwamm ihm wie ein Fisch davon.“ Sie umklammerte ihre Knie, und ihr Blick wanderte versonnen zum Fenster. „Ich verehrte meinen Vater. Er hatte ein wundervolles Lächeln, und sein Herz war so groß wie ein Haus. Jedenfalls stellte ich es mir damals so vor.“ Sie lachte leise. „Er war so hoch gewachsen wie Sie, Dr. Stillman, meine Mutter sah neben ihm immer schrecklich klein aus.“ „Es ist schön, wenn man eine glückliche Kindheit gehabt hat“, gab Paul zurück. „Meine Eltern waren Farmer. Sie mußten schwer arbeiten und konnten längst nicht jedesmal die Früchte ihrer Arbeit ernten. Trotzdem wurde auch in mageren Zeiten in unserer Küche gelacht. Vater starb, als ich sechzehn war. Kurz darauf holte mein Bruder Drew mich und Mutter von der Farm weg. Er hatte ein Jahr vorher das College abgeschlossen und war Eishockeyspieler geworden. Ihm verdanke ich mein Medizinstudium.“ „Hat er sich beim Eishockey die Rückenverletzung zugezogen?“ fragte Mary. „Scotty hat mir erzählt, daß Sie durch die Rückenverletzung Ihres Bruders Facharzt für Knochenleiden wurden.“ „Ja, das stimmt. Er hat sich monatelang mit einer schweren Verletzung gequält, und niemand konnte ihm helfen.“ Paul mußte unwillkürlich lächeln über die Aufmerksamkeit, mit der Mary seinen Worten lauschte. „Mit dem Körper ist das eine merkwürdige Sache“, fuhr er fort. „Da braucht nur eine Kleinigkeit nicht mehr zu stimmen, besonders im Bereich des Rückgrats, und schon funktioniert alles nicht mehr. Jedenfalls wurde Drew dann von einem tüchtigen Facharzt für Rückenleiden wiederhergestellt. Er spielte aber nicht länger Hockey, sondern hat ein Restaurant eröffnet. Meine Mutter starb bald danach, und ich bin hierhergekommen, um Facharzt für Knochen und Haltungsschäden zu werden.“ Dr. Stillman blickte auf seine Hände herab. Mary beobachtete die
Lockerungsübungen seiner sehnigen Finger. „Es klingt vielleicht wie eine Phrase, aber trotzdem ist es wahr, Mary: Ich liebe meine Arbeit!“ „Das weiß ich“, sagte sie herzlich. „Es ist einer der Gründe, weshalb ich so gern für Sie arbeite.“ „Dennoch möchte ich nicht, daß Sie sich überarbeiten“, mahnte er und betrachtete ihr Gesicht, auf dem die ruhelose Nacht ihre Spuren hinterlassen hatte. „Sie müssen sich einmal von der Klinik erholen. Wir alle brauchen das bisweilen.“ Er wurde eifriger und versuchte, sie zu überzeugen. Dann hatte er eine Idee: „Wie wäre es, wenn wir Samstag mit Ringo mal an die See führen? Alec Gordon kann mich hier in der Klinik vertreten, und Ilena ist ohnehin in Paris. Es gibt also keine Hinderungsgründe. Das Wetter ist gerade richtig für solch einen Tag.“ Ein Tag an der See mit Ringo und Paul Stillman! Mary konnte im ersten Augenblick gar nicht fassen, wie schön das zu werden versprach. Aber sie schlug sofort eifrig Knighton Sands vor. „Da gibt es eine wunderschöne Bucht“, erzählte sie und beugte sich zu Tiger, der ihr gerade auf den Schoß gesprungen war. „Der Sand schimmert wie Silber. Als Kind war ich dort ein paarmal und habe mich immer riesig darauf gefreut. Auch die Fahrt dorthin ist schön, am Wald vorbei. Ringo kann dort Ponys und das Wildgehege sehen.“ „Sie selbst sind wohl auch ganz erpicht darauf, die Ponys und das Wild zu sehen, was?“ lachte Paul. Der Kater schnurrte vor Vergnügen und genoß es sichtlich, von jemandem liebkost zuwerden, der keine Zigarren paffte. Auch für Paul war es etwas Neues ein Mädchen wie Mary in seinem Zimmer sitzen zu sehen. Sie hatte die schlanken Beine hochgezogen, und ihre fast noch ein wenig kindlichen Arme berührten Tigers dichtes, weiches Fell. Ihr dunkles Haar betonte die Feinknochigkeit ihres Gesichts. „Ich glaube, Kinderwünsche vergißt man nicht“, sagte sie nach einer Pause. Lächelnd blickte sie auf. „Neulich habe ich übrigens gesehen, wie Sie mit Ringo Murmeln spielten.“ „Ich muß gestehen, daß ich sogar manchmal in seinen Comics schmökere“, lachte Paul Stillman. Dann wurde er wieder ernst und meinte, er würde dafür sorgen, daß man ihnen für den Ausflug ein ordentliches Lunchpaket zurechtmachte. Mary sollte doch am nächsten Tag für Ringo in der Stadt eine Badehose besorgen, vielleicht auch einen bunten Eimer und einen Spaten. „So“, meinte er schließlich, „jetzt müssen wir uns wohl wieder an unsere Arbeit machen.“ Damit stand er auf und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. Am nächsten Tag hatte sich Marys Hüfte pflaumenblau verfärbt, und Dr. Stillman verbot ihr schlankweg zu arbeiten. So blieb sie etwas länger im Bett und zog nach dem Frühstück los, um für sich und die Schwestern ein paar Besorgungen zu machen. Als sie völlig erschöpft und mit ihren Einkäufen zufrieden in die Klinik zurückkehrte, entschloß sie sich, im Garten ihren Tee zu trinken. Sie war gerade dabei, das Tablett mit dem Teegeschirr hinauszutragen, als Errol Dennis ihr entgegenkam. „Sie können mir Gesellschaft leisten“, schlug sie ihm herzlich vor. Nichts war ihm lieber. Er hatte ohnehin vorgehabt, sich nach Marys Befinden zu erkundigen. Er holte sich also eine Tasse aus dem Schwesternhaus und fing dann sofort schuldbewußt an: „Ich war entsetzlich erschrocken, als ich merkte, wie der Wagen Sie erfaßte.“
Seine hellbraunen Augen musterten sie, während er seinen Tee trank. Er hatte
sich an einen Baum gelehnt. „Geht’s denn jetzt wieder?“
„Na ja, ich schaue schon schlimm aus, aber ich lebe. Möchten Sie ein paar Keks?“
Sie reichte ihm lächelnd den Teller, und er griff nach einer Schokoladenwaffel.
„Außerdem war der Unfall nicht allein Ihre Schuld.“
„Aber Dr. Stillman glaubt das! Er hat mich ganz schön zusammengestaucht.“
Errol kaute an seiner Waffel, sah jedoch nicht allzu mißgestimmt aus, als er von
Paul Stillman sprach. Mary betrachtete ihn und wunderte sich über seine
ungetrübte Selbstsicherheit. Gewiß, nach dem Unfall war er kreideweiß gewesen,
sie erinnerte sich. Aber sie hatte doch den Eindruck, daß ihm das alles nicht sehr
naheging.
Es machte ihr nichts aus. Einen Moment dachte sie an Paul und Ringo. Es war
sehr schwül, das bereitete ihr Kummer. Sie hoffte, daß das Wetter sich noch eine
Weile hielt und nicht alle ihre schönen Pläne zunichte machte.
Ringo freute sich natürlich schon unbändig auf den Ausflug. Nicht auszudenken,
wie groß seine Enttäuschung wäre, wenn alles ins Wasser fiele.
„Sieht aus, als ob ein Gewitter heraufzieht“, bemerkte Errol in ihre Gedanken.
Die Sonne leuchtete glutrot hinter dickem Dunst. Die blaugrünen Zweige der
Zedern im Park raschelten und bewegten sich, als ob eine Hand sie schüttele.
Errol trank seinen Tee aus und auf seiner Oberlippe standen kleine
Schweißperlen. Der Hitze wegen hatte Mary ihr Haar zu einem Pferdeschwanz
gebunden. Aber immer noch empfand sie die Hitze als unerträglich.
„Dr. Stillman muß Nerven wie Stricke haben“, sagte Errol. „Mir fiele es
grauenhaft schwer, jeden Freitag zu diesen armseligen Wesen nach Stepney
hinauszufahren.“
Paul machte freitags regelmäßig seine Krankenbesuche in dem Hospital dort. In
Stepney lagen fast nur hoffnungslose Fälle. Doch einigen wenigen konnte er mit
Massagen und gezielten Bädern Erleichterung verschaffen. Er arbeitete dort mit
Martin Stein, einem Kollegen, zusammen.
„Sie mögen Dr. Stillman nicht sehr, was, Errol?“ Diese Frage konnte sich Mary
nicht verkneifen.
Errol zuckte die Schultern und gab ihr Feuer für ihre Zigarette.
„Na, sagen wir mal, wir bekriegen uns etwas. Das wissen wir zwar alle beide,
können es aber nicht abstellen. Atavismus vielleicht, Gesetz der Wildnis. Ich
bewundere seine Fähigkeiten und er meine. Soweit es die Arbeit betrifft, läuft
alles prächtig. Aber in allem anderen stimmen wir nicht überein.“
Er blies Zigarettenrauch von sich. Sein Gesicht zeigte eine merkwürdige
Mischung von Belustigung und Ungeduld.
„Dieser Bursche verurteilt mich wegen meiner Vorliebe für das weibliche
Geschlecht, aber er ist auch kein Heiliger.“ Errol schnippte die Asche weg und
fuhr fort: „Bekehrte Wüstlinge ergeben verdammt langweilige Ehemänner.
Hoffentlich wird sich die heißblütige Ilena damit abfinden.“
„Ich glaube nicht, daß Dr. Stillman jemals ein Wüstling gewesen ist“, protestierte
Mary schnell. „Natürlich wirkt er auf Frauen, aber…“
„Ach, Sie finden ihn auch anziehend?“ Errol musterte sie aus schmalen, schrägen
Augen, wie ein Kater. „Wenn Sie bei ihm im Büro sind, versucht er da nicht
manchmal, an Sie heranzukommen?“
„Nein, er versucht es nicht!“ Das klang so entrüstet, daß es sie selbst
überraschte.
Sie stand auf und ging in den Schatten einer weitverzweigten Buche. Es sah aus,
als habe sie das Bedürfnis, für ein paar Augenblicke aus Errols Nähe zu kommen.
„Dr. Stillman ist verlobt“, setzte sie ruhig hinzu, „und Ilena ist das schönste
Mädchen, das ich je gesehen habe.“
„Dein Weib soll wie ein fruchtbarer Weinstock sein neben deinem Haus“, zitierte
Errol mit ironischem Lächeln. „Ich bin zwar verdorben, aber bibelfest, wie Sie
sehen.“
Mary fuhr herum und blitzte ihn mit ihren grünen Augen wütend an. „Was hat
das Zitat mit Ilena zu tun?“ fragte sie.
Er kam zu ihr. „Ich glaube, das wissen Sie genau, wenn Sie es vielleicht auch
nicht wissen wollen. Ilena wird neben Paul eher ein tödliches
Nachtschattengewächs, nicht aber ein fruchtbarer Weinstock sein.“
Mary starrte Errol bestürzt an. Warum haßte er Paul, als ob er sein Rivale wäre?
Vor ein paar Minuten hatte sie noch geglaubt, daß Errol nichts aus der Fassung
bringen könnte. Jetzt aber sah sie, daß sein Gesicht vor Erregung ganz
angespannt war. Machte es die Hitze? Oder stand seine Erregung in irgendeiner
Beziehung zu Ilena?
Etwas unüberlegt platzte sie heraus: „Kennen Sie Ilena so gut?“
Errol blickte zum wie in Feuer getauchten Himmel empor und meinte nur:
„Jedenfalls habe ich Augen im Kopf.“ Dann lachte er und begann ziemlich abrupt,
von dem ChardmoreBall zu sprechen.
Mary hörte seine Stimme wie von weit her. Wie war seine Bemerkung über Ilena
zu verstehen? Was konnte er überhaupt von dem Mädchen wissen, das Dr.
Stillman liebte? Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Doch plötzlich wurde
es dunkler, in der Ferne war schwaches Donnergrollen zu hören. Regentropfen
klatschten auf die Zweige der Zeder.
Auf einmal faßte Errol nach ihren Schultern und preßte sie heftig an sich. „Wollen
Sie morgen abend mit mir ausgehen, Mary?“ fragte er.
„Oh, Errol, es tut mir leid. Aber Dr. Stillman bringt morgen Ringo an die See, und
ich werde ihn begleiten.“
„Aha, ich verstehe.“ Errol sah sie ironisch an, und sie errötete, weil sie ahnte,
was er dachte: Daß nämlich Paul Ilenas Abwesenheit zu einem handfesten Flirt
nutzen wollte.
Sie wich zurück und sagte kühl: „Ich gehe jetzt wohl besser hinein – es beginnt
zu regnen.“
„Verdammt noch mal!“ Er hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest und küßte sie so
heftig, daß Mary den Kuß noch spürte, als sie zur Klinik hinüberlief.
Zu ihrer großen Erleichterung und Freude war der Himmel am Samstagmorgen
strahlend blau. Das Gewitter vom vorhergehenden Abend schien die Erde
erneuert und den Pflanzen neue Lebenskraft gespendet zu haben.
Mrs. Piper, die Köchin, hatte ihnen einen großen PicknickKorb zurechtgemacht.
Paul Stillman verstaute den Korb und Ringos Eimer mit Spaten im Kofferraum,
während Mary und der Junge bereits in den Wagen stiegen.
Ringo lachte über das ganze Gesicht. Er trug die verkleinerte Ausgabe von Pauls
lustigem Freizeithemd.
Mary hatte sich ihre Bermudashorts angezogen und eine ärmellose Bluse.
Während der Wagen mit seiner fröhlichen Fracht das Klinikgelände verließ,
wirkten die drei wie eine kleine Familie beim WochenendAusflug.
Mrs. Piper winkte ihnen noch lange nach und lächelte vor sich hin. Seit Eröffnung
der Klinik arbeitete sie für Dr. Stillman, sein Wohlergehen lag ihr am Herzen.
Er wollte nun diese Ilena Justine heiraten, überlegte sie. Sie war ja sehr schön,
aber in Gesellschaft von Mary Lester und dem verkrüppelten Jungen wirkte er so
ganz anders. Sicher wünschte er sich sehnlichst eine Familie. Mrs. Piper fragte
sich nur, ob er wohl jemals über diesen Punkt mit seiner Verlobten gesprochen
hatte.
Der schwarze Bentley glitt durch die morgendlichen Straßen der Stadt. Die Tauben gurrten auf den Dächern, bunte Blumenkästen schmückten die Fensterbretter der hohen Bürohäuser. „Wir können Gott danken, daß sich das Wetter trotz des gestrigen Sturms gehalten hat“, meinte Paul. „Ja, das stimmt“, nickte Ringo und zerteilte sorgfältig eine Tafel Milchschokolade. Der leichte Windzug im Wagen spielte mit Marys Haaren. Mit ihren lachenden, grünen Augen wirkte sie wie der personifizierte Sommer – warm und von den Sonnenstrahlen in goldenes Licht getaucht. „Wie hübsch Sie aussehen, Mary!“ sagte Paul. „Wie eine fröhliche Urlaubsreklame.“ Dieses Kompliment verwirrte sie nicht einmal, denn sie erkannte, daß es von Paul nicht als Flirtversuch gemeint war. Sie gab sein Lächeln offen zurück und ließ sich von Ringo ein Stück Schokolade aufnötigen: Der kleine Bursche war richtig glücklich, während er hier zwischen diesen beiden Menschen saß, die seine schrecklichen Erinnerungen auslöschten und ihm zeigten, daß sie ihn trotz seiner verkrüppelten Schulter gern mochten. Ringo hatte im Waisenhaus lernen müssen, daß die Erwachsenen, sehr wohl zwischen körperlich gesunden Kindern und behinderten unterschieden. Er wußte auch, daß nur die gesunden Adoptiveltern fanden. Die kamen dann in ein schönes Haus mit einem Garten und konnten vielleicht mit einem Bruder oder einer Schwester spielen. Manchmal gab es da sogar einen Hund. Für Ringo jedoch lag eine Adoption in weiter Ferne. Tief in seinem Herzen, ganz für sich allein, hatte er von sich aus Mary und Dr. Stillman als Eltern adoptiert. Er klammerte sich an diesen Tagtraum. Sie würden beide sicher überrascht sein, wenn sie davon erführen, dachte er, und betrachtete sie mit heimlichem Besitzerstolz. Bei den Ponys hielten sie sich nur eine halbe Stunde auf, um nur ja keine Zeit zu verlieren. Endlich war es soweit! Die See lag wie ein Silberband vor ihnen, geschmückt mit kremigem Schaum, wenn die Wellen auf den weiten Strand rollten. Dieser Küstenstrich war noch nicht das Ziel des Massentourismus geworden. Nur vereinzelt sonnten sich ein paar Ausflügler im Sand. Sie genossen die Stille und Einsamkeit. Seeschwalben huschten niedrig über die Wasseroberfläche dahin. Auf den Klippen hockten die Möwen eng gedrängt und blickten hinunter auf die Vorhänge aus Tang und Seegras, die über den Klippenrand hingen. Mary schlüpfte aus ihren Schuhen und lief barfuß durch den Sand, Ringo machte es ihr sofort nach. Sie stürmten am Ufer entlang. Paul hörte lange ihr helles Lachen. Als sie atemlos zurückkamen mit Händen voller Muscheln, war Paul Stillman schon dabei, den Picknickkorb auszupacken. Gemeinsam holten sie kaltes Hühnchen, Salate und hartgekochte Eier heraus. Satt und zufrieden streckte sich Mary nach ihrer üppigen Mahlzeit im heißen Sand aus. Sie horchte auf das gleichmäßige Rauschen der See. Möwen kreischten. Ringos kindliches Geplauder vermischte sich mit dem warmen Bariton von Paul Stillman. Wie vertraut ihr seine Stimme war! Verstohlen lächelte sie in sich hinein, als sie Ringo flüstern hörte: „Mary ist eingeschlafen, Onkel Paul. Ich werde sie eingraben.“ Ein Eimer warmen Sandes rieselte über ihre Beine. Es kitzelte, und Mary mußte sich zusammennehmen, um nicht loszulachen. Sie hörte Paul träge sagen: „Du wirst was Schönes zu hören kriegen, wenn sie aufwacht und die Bescherung sieht.“
„Och, das macht ihr nichts“, erwiderte Ringo selbstbewußt und kippte einen weiteren Eimer Sand über ihre Beine. „Mary ist nicht so zickig wie die anderen Mädchen. Sie ist was ganz Besonderes. Stell dir vor, sie hat schon Ottern beobachtet und kann draußen auf dem Meer segeln. Ich wette, das können nur wenige Mädchen.“ „Da gebe ich dir recht“, stimmte Paul zu und grinste über Ringos Eifer, mit dem er Mary mit Sand bedeckte. Er spürte aus Ringos Worten, welch großen Einfluß Mary auf ihn hatte. Paul Stillman qualmte gedankenverloren seine Zigarre und dachte an die erste Begegnung mit Mary auf dem Bahnhof. Er erinnerte sich, daß ihn ihre Jugend überrascht und er daran gezweifelt hatte, ob sie ihren Posten in der Klinik wohl ausfüllen könnte. Aber das schaffte sie besser als erwartet. Mit ihren neunzehn Jahren verstand sie es, das Vertrauen aller zu gewinnen. Schon ein paarmal hatte sie ihm bei besonders nervösen Patienten geholfen. Der Sandberg wuchs über Marys Beinen, und sie hörte Paul mahnen: „Ich glaube, jetzt reicht’s, Ringo. Mary ist ein zartes Mädchen. Ihre Hüfte tut ihr auch noch weh!“ „Na gut“, gab Ringo sofort nach. „Ich gehe mit dem Hund da oben spielen.“ Er stülpte sich den Eimer auf seinen Kopf und überließ es großmütig Paul, Mary aus den Sandmassen zu graben. „Hallo, aufstehen!“ rief Paul, ergriff Mary an den Armen und zog sie raus. „Wir sollten schnell noch schwimmen gehen, bevor die Flut kommt. Badezeug haben Sie ja mit, oder?“ „Klar. Ich gehe mich schnell da oben in der Höhle umziehen – und Sie?“ „Ich habe meine Badehose unter dieser hier!“ lachte er. Sie griff nach ihren Badesachen und lief zu Ringo hoch. Er stöberte zwischen den Felsen herum und suchte nach glänzenden Steinen. Ein streunender Hund half ihm dabei. „Er heißt Blackie“, verkündete Ringo und tätschelte dem Tier den Kopf. „Bist ein braver alter Bursche, nicht wahr, Blackie?“ Der Hund bellte, als habe er verstanden, und Mary mußte lachen. „Ringo, wir gehen schwimmen“, sagte sie. „Komm, zieh deine Badehose an.“ „Schwimmen?“ Er sah sie groß an. „Ich?“ „Natürlich, du auch.“ Übermütig wirbelte sie ihn herum. „Onkel Paul wird dich auf seinen Schultern tragen. Du hast doch nicht etwa Angst?“ „Nein, keine Spur. Kommt Blackie mit schwimmen?“ setzte er noch hinzu. „Ja, vielleicht.“ Sie schob ihn in die Höhle und half ihm in die nagelneue Badehose. „So, du kannst schon zu Onkel Paul vorweglaufen, während ich mich umziehe.“ Ringo zögerte. Auf einmal schlang er seine mageren Ärmchen um ihr Taille und stieß rasch hervor: „Werden sie nicht alle auf meine Schulter starren?“ „Aber nein, du Schaf“, beruhigte sie ihn. „Willst du hier lieber auf mich warten?“ „Ja, ich warte.“ Mary betrachtete seinen entstellten Rücken, während sie sich umkleidete. Mitleid schnürte ihr die Kehle ein. Mein Gott, wie hatte es nur ein Mensch fertiggebracht, das Kind so zu mißhandeln? Noch dazu der eigene Vater! Ringo war ein ausgesprochen gutartiges Kind. Er verfügte schon über so viel Einfühlungsvermögen in die Welt der Erwachsenen, daß er sich nicht einmal zu Mary umwandte, während sie in ihre Badesachen schlüpfte. Hand in Hand gingen die beiden dann zum Strand, wo Paul mit sichtlichem Erfolg Steine über die Wasseroberfläche springen ließ. Blackie trottete neben ihnen her.
„Onkel Paul,“ rief Ringo. Paul fuhr herum. Er sah in seiner Badehose stark und männlich aus. Wie eine Feder setzte er sich Ringo auf die eine Schulter und grinste Mary an. „Ich habe noch für ein Leichtgewicht Platz.“ Er wollte schon nach ihr greifen. Aber sie zog es vor, ins Wasser zu flüchten und verspürte fast eine Art von Schreck. Wie im Fluge vergingen die fröhlichen, sorglosen Stunden an der See. Später auf der Heimfahrt schlief Ringo vor wohliger Erschöpfung ein. Auch Mary träumte, an Pauls Schulter gelehnt, vor sich hin. Seine Haut roch noch nach Meerwasser. Sie atmete tief. Er ist so nett, dachte sie, und konnte nicht begreifen, daß sie vorhin an der See einen Augenblick lang fast Angst vor ihm gehabt hatte. Wieso Angst? Am Nachmittag des folgenden Tages wollte Mary in Ilenas Wohnung gehen, um sich das Libellenkostüm zu holen, das Nadia ihr zu > leihen versprochen hatte. Gegen zwei Uhr ließ sie sich von Nadia den Wohnungsschlüssel geben. Danach fuhr sie mit dem Bus nach Knightsbridge. Ohne Mühe fand sie die kleine Seitenstraße und das hübsche ziegelrote Haus. Doch verblüfft bemerkte sie vor dem Haus einen schnittigen feuerroten Zweisitzer, der ihr bekannt vorkam. War das nicht Errol Dennis’ Wagen? Sie erinnerte sich nicht mehr an die Autonummer. Ob Errol vielleicht vergessen hatte, daß Ilena in Paris war und sie jetzt besuchen wollte? Aber das war doch eigentlich kaum anzunehmen. Sie wußte ja, daß Paul Stillman nicht viel von Errol hielt. Sicher würde er es gar nicht gern sehen, wenn Errol und Ilena näher miteinander befreundet wären. Immerhin hielt er seinen Röntgenarzt für einen Luftikus und Frauenhelden. Sie schüttelte die Überlegungen ab und betrat das Haus. Schließlich mußte es ja noch mehr solcher Sportwagen geben. Ilenas und Nadias Wohnung lag im 5. Stock. Mary drückte den Fahrstuhlknopf und wartete, bis der Lift unten war. Und dann stand sie vor dem Appartement Nr. 19. Sie schloß auf und betrat die mit Teppichen ausgelegte Diele. Der große Kleiderschrank war nicht zu übersehen. Mary fand auch sofort den Kostümkoffer, in dem das Libellenkostüm sein sollte. Nachdenklich betrachtete sie die hübschen Sachen. Wie furchtbar, daß Nadia niemals wieder darin würde tanzen können… Plötzlich fuhr sie herum. Sie glaubte, ein Geräusch hinter der Tür zum Zimmer gehört zu haben. Lauschend stand sie still. In der Tat, aus dem Raum drangen Stimmen. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen, und Mary ließ vor Schreck ein weißes Ballettkostüm fallen. Als erstes sah sie einen königsblauen Mantel, unter dem braune schlanke Beine hervorsahen. Sie blickte auf – direkt in Ilena Justines kalte Augen. Mary war sprachlos vor Verwirrung. Doch im nächsten Moment packte sie so etwas wie Furcht und Beschämung. Sie zuckte zusammen, als Ilena sie scharf anfuhr: „Was machen Sie denn hier?“ Dabei warf Ilena die Hände mit den langen, blutrot gelackten Nägeln in die Luft. „Wie können Sie es wagen, in meine Wohnung einzudringen?“ „Ich habe…“ stotterte Mary und wich Ilenas wütendem Blick aus. „Ich suchte nach einem Kostüm, das mir Nadia leihen wollte. Ich wußte ja nicht, daß Sie hier sind, Miss Justine. Sonst hätte ich selbstverständlich geläutet und nicht Nadias Schlüssel benutzt. Es tut mir furchtbar leid, Sie so erschreckt zu haben.“ „Wie kommt Nadia dazu, jedem Hergelaufenen den Wohnungsschlüssel zu geben!“ rief Ilena gereizt und hielt sich mit einer Hand rasch den Mantel zusammen. Offenbar war sie sich bewußt geworden, wie wenig sie darunter
anhatte. „Ich habe mich gerade nach einem Bad ausgeruht“, erklärte sie fahrig,
„und dachte natürlich an Einbrecher, als ich Geräusche in der Diele hörte.“
„Ich bitte nochmals um Entschuldigung“, murmelte Mary und merkte gar nicht,
daß sie Ilena anstarrte, bis diese sie wütend fragte:
„Warum sehen Sie mich so an? Was ist los?“
„Dr. Stillman sagte, daß Sie erst morgen aus Paris zurückkommen…“
„Na und? Ich habe es mir eben anders überlegt!“ Ihre Stimme überschlug sich
fast. „Was ist daran so verwunderlich?“
„Nichts…nichtseigentlich.“
„Ich hatte Ärger in Paris – und wollte fort.“ Ilena blickte in den großen Koffer
neben Mary. Sie trat näher und wurde etwas ruhiger. „Welches Kostüm wollte
meine Schwester Ihnen denn leihen? Soll es für den ChardmoreBall sein?“
Mary nickte und war erleichtert, daß Ilenas Ärger nachließ. Sie erzählte, daß es
sich um das Libellenkostüm handele.
Skeptisch musterte Ilena sie. Während ihrer Arbeit in der Klinik trug Mary nur
Blusen und Röcke, manchmal auch ein einfaches Kleid. Heute aber hatte sie ein
leuchtend grünes Wildseidenkleid an. Ihre grünen Sandalen paßten
ausgezeichnet dazu. Sie wirkte erstaunlich elegant.
Ilena kniff die Augen zusammen. Angenehm war es ihr durchaus nicht, daß Pauls
Sekretärin so verdammt gut aussehen konnte, wenn sie wollte.
Mit hastigen Handgriffen begann sie in Nadias Kostümen zu wühlen.
„So, Sie gehen also als Libelle zu diesem Ball. Ich finde es ja ein bißchen
kindisch, aber bitte.“ Sie lächelte dünn. „Und wer begleitet Sie?“
„Mr. Dennis hat mich darum gebeten“, antwortete Mary arglos.
„Wer?“
„Mr. Dennis, der Leiter unserer Röntgenabteilung.“ Im gleichen Augenblick
erblickte Mary das Kostüm, das sie suchte. Deshalb bemerkte sie nicht, wie sich
Ilena mit bebenden Fingern eine Zigarette ansteckte und sie vom Fenster aus
beobachtete.
Mary nahm das Kostüm aus dem Koffer.
„Ich finde es sehr hübsch, Miss Justine“, sagte sie. „Es hat genau diesen
metallischen Schimmer von Libellenflügeln.“
Ilena blies den Zigarettenrauch in weinrote Vorhänge. Durch das Seitenfenster
fiel Sonne auf elfenbeinfarbene Wände. Der große Diamant an ihrer Hand
flammte auf.
„Ist Errol Dennis Ihr Liebhaber?“ fragte sie brüsk.
„Aber nein!“ Mary lachte laut auf.
„Wenn Sie mit ihm zu diesem Ball gehen, muß Ihnen doch an seiner Gesellschaft
etwas liegen“, beharrte Ilena.
„Na ja, manchmal kann er auch ganz nett sein“, stimmte Mary zu. „Aber er ist ein
schrecklicher Windhund.“ Mit einem Male fiel ihr wieder der kleine rote Wagen
ein, der vor dem Haus geparkt war. Verwirrt sah sie sich in der Diele um und
spürte, daß sie Herzklopfen bekam.
„Mr. Dennis flirtet mit Ihnen, wie?“ Ilena kniff die Augen noch mehr zusammen.
Es entging ihr nicht, daß Mary errötete. „So ist das also! Nun, er sieht ja
großartig aus, nicht wahr? Ich bin sicher, daß Sie seine Aufmerksamkeiten
schmeichelhaft finden.“
Mary wurde das Gespräch langsam peinlich. Sie mochte Ilena längst nicht so wie
Nadia. Ilena war wie eine Tigerin, besaß die gleiche wilde Schönheit und hatte
gewiß auch den Wunsch, ihre Krallen zu gebrauchen. Vielleicht wurden Männer
von ihr gefesselt, dachte Mary, aber warme, herzliche Zuneigung erweckte sie
nicht.
„Wissen Sie schon, was Sie zu dem Ball anziehen, Miss Justine?“ fragte sie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. „Ich werde ein Wassergeist sein. Das Kostüm ist noch beim Schneider, sonst würde ich es Ihnen zeigen.“ Eigenartig freundlich klang ihre Stimme auf einmal. Dabei ging Ilena nervös auf und ab. Mary konnte die schwarze Spitzenunterwäsche unter dem Mantel sehen. „Paul geht als Holzfäller. Mir wäre es ja lieber, wenn er ein Kostüm trüge, das mehr zu meinem paßt. Aber manchmal kann er furchtbar starrköpfig sein.“ Mary unterdrückte ein Lächeln. Keinen Augenblick zweifelte sie daran, daß Paul Stillman sich geweigert hatte, irgend etwas Glitzerndes anzuziehen. Er schien sich stets am wohlsten in Tweedhosen und Sporthemden zu fühlen. Sicher störte Ilena, die so versessen auf schicke Kleider war, Pauls Desinteresse an modischen Dingen. Ärgerlich drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus und erklärte: „Meine Kleine, ich möchte Sie nun nicht länger aufhalten. Ich bin ziemlich müde.“ „Sie haben sicher eine schwere Woche hinter sich“, stimmte ihr Mary zu. „Das kann man wohl sagen. Line Cabot entwirft mein Brautkleid. Sie hat meine Nerven ganz schön strapaziert, weil sie auf so gräßlich vielen Anproben besteht.“ Ilena gähnte zurückhaltend – und warf einen verstohlenen Blick auf die leicht angelehnte Tür zum Wohnraum. Mary erspähte einen weißen Teppich und Kristallgläser auf einem kleinen Tisch. „Seien Sie so nett und räumen Sie Nadias Kostüme alle wieder in den Koffer“, sagte Ilena noch. „Ja, gewiß, Miss Justine.“ Mary rollte die zarten Gebilde wieder in Seidenpapier, stopfte Mottenkugeln dazwischen und sortierte alles in den großen Koffer. Dann nahm sie vorsichtig das Libellenkostüm auf und legte es in ihre Tasche. „So, Miss Justine, ich gehe jetzt!“ rief sie. Sofort tauchte Ilena in der Tür zum angrenzenden Zimmer auf. „Bitte, Mary“, sagte sie mit Nachdruck, „ich wünsche nicht, daß Nadia etwas von meinem Ärger in Paris erfährt. Sie würde sich nur beunruhigen. Es geht da auch um Rene Blanchard, deshalb seien Sie diskret, und sagen Sie niemandem, daß ich heute schon wieder zurück bin.“ Mary blickte die Verlobte ihres Chefs an. Sie dachte nur an Nadia, und deshalb entging ihr die besondere Bedeutung des letzten Satzes. „Darf ich wissen, was passiert ist?“ fragte sie. „Ich verspreche Ihnen, ich werde Nadia nichts sagen.“ „Gestern morgen hat es vor dem Gefängnis einen Bombenanschlag gegeben. Rene wurde gerade dorthin zurückgebracht, nachdem er vor Gericht hatte aussägen müssen. Es heißt, daß eine gewisse Gruppe von Studenten ihm nach dem Leben trachtet. Allerdings ist ihm nichts geschehen, nur ein Wärter wurde verletzt.“ „Aber er war doch selbst Studentenführer, nicht?“ Achselzuckend erwiderte Ilena: „Diese Studentengruppe hat wohl geglaubt, er hätte sie fallenlassen. Er steht jetzt zwischen zwei Feuern, und obwohl er ein Narr ist, muß man fast Mitleid mit ihm haben. Jedenfalls war die Sache gestern schrecklich aufregend. Wenn Nadia wüßte, daß ich schon wieder da bin, würde sie in mich dringen, daß ich alles erzähle. Deshalb vergessen Sie bitte, daß Sie mich hier gesehen haben, ja?“ Ilena lächelte und streckte Mary sogar mit übertriebener Herzlichkeit die Hand hin, die diese jedoch nicht ergriff. „Schon gut, Miss Justine“, sagte sie nur trocken. „Auf Wiedersehen.“
Während Mary an der Haltestelle auf den Bus wartete, überdachte sie noch einmal die Ereignisse der letzten Stunde. Sie hatte sich in Ilenas Wohnung gefühlt wie in einem parfümierten Käfig, bedrängt von Luxus und der verwegenen Schönheit der jungen Französin. Sie wollte die in ihr aufsteigende Abneigung gegen Ilena nicht groß werden lassen und versuchte sich einzureden, daß sie kein Stimmengemurmel gehört hatte, bevor Ilena die Tür aufriß. Aber es gelang ihr nicht. Impulsiv änderte sie ihre Pläne und fuhr zum Hydepark, um dort eine Weile spazierenzugehen und auf andere Gedanken zu kommen. Doch plötzlich erinnerte sie sich, daß sie zum Tee mit Ringo verabredet war. Um ihn nicht zu enttäuschen, fuhr sie eilends zurück.
6. KAPITEL Wenige Wochen später hielt Dr. Stillman endlich die Anschrift von Ringos Mutter in Händen und machte sich sofort auf den Weg, um sie im Osten von London aufzusuchen. Sie war eine schlampige, rotblonde Frau mit den letzten Spuren einer früh verblühten Schönheit. Braune Augen mit langen Wimpern, die ihn an Ringos Augen erinnerten, musterten ihn mit abschätzender Neugier. Der Mann hatte Klasse, ging es Neil Farning durch den Sinn, und sie verglich ihn mit den Typen, die sie sonst besuchten. Aber so schnell verblüffte Neil Farning nichts. „Wollen Sie heraufkommen?“ fragte sie und deutete auf die Treppe. Der Geruch nach ranzigem Fett und billigem Parfüm stieg Paul in die Nase, als er der Frau in ihre Wohnung folgte. Die offenen Sandalen zeigten schwielige Füße und bläuliche, rissige Beine. Dabei konnte die Frau kaum älter als dreißig sein. „Na, dann mal rein in die gute Stube“, forderte sie ihn auf und schloß die Tür hinter ihm. Paul blickte sich um. Schmuddelige Tüllgardinen hingen vor staubigen Fenstern, ein Stapel amerikanischer Illustrierten lag auf einem Tisch neben dem Bett. Über der Messingstange des Bettes hing ein schwarzer BH, mehrere andere Kleidungsstücke waren auf die Kommode neben dem eisernen Ofen geworfen. Neil Farning stand schweigend an der Tür und musterte ihren Besucher. Sie kannte die Männer gut. Sie wußte instinktiv, daß dieser Mann nicht die üblichen Wünsche hatte, an die sie sonst gewöhnt war. Rasch bückte sie sich, nahm einen Nylonstrumpf vom Fußboden auf und schob ihn unter die Bettdecke. „Sind Sie ein Polyp?“ fragte sie kühl. Paul verzog leicht sarkastisch die Lippen und schüttelte den Kopf. „Ich wollte mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen, Mrs. Farning.“ „Ach…“ Sie schien nun doch überrascht. Nervös griff sie in die Tasche ihres schäbigen Morgenmantels und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. „Haben Sie Feuer?“ Paul hielt ihr sein Feuerzeug hin. Als sie sich über die Flamme beugte und ihr Mantel aufschlug, sah er zarte, mit Adern durchzogene Haut, wie sie Rothaarigen oft eigen ist. Sie muß einmal schön gewesen sein, dachte er und verspürte Mitleid mit ihr. „Wegen Ringo sind Sie hier?“ wiederholte sie. „Was ist mit ihm? Kommen Sie von der Fürsorge und wollen Sie mir vielleicht helfen, für ihn zu sorgen?“ Sie lachte gereizt auf. „Ich kann mich manchmal kaum selbst über Wasser halten. Um heutzutage Geld zu verdienen, muß man strippen können… Glauben Sie vielleicht, das geht mit diesen Beinen?“ Sie hob den Mantel und zeigte ihm ihre bläulichen Krampfadern. „Mein Sohn sollte schneller erwachsen werden, damit er seine arme Mutter unterstützen kann!“ „Ich bin Arzt. Facharzt für Knochenleiden, Mrs. Farning“, informierte Paul Stillman sie kalt. „Ihr Sohn ist Patient in meiner Klinik. Sie wissen ja wohl, daß Ihr Mann den Jungen schwer mißhandelt hat. Sein rechtes Schulterblatt ist gebrochen, und weil das nicht gleich behandelt wurde, ist der Bruch nicht richtig verheilt. Ich will versuchen, es nun durch eine Operation in Ordnung zu bringen. Dazu brauche ich Ihr Einverständnis. Sie müßten das hier unterschreiben.“ Damit zog er ein Formular aus der Brusttasche. „Sind Sie damit einverstanden, Mrs. Farning?“
„Ja, warum nicht? Der Bengel wird dann später wenigstens einen besseren Job bekommen, wenn er gesund ist.“ Sie griff nach dem Formular und nahm den Füllfederhalter, den Paul ihr hinhielt. Sein Blick war ausdruckslos, alles Mitleid mit dieser. Frau war in ihm erloschen. Ihr Kind bedeutete ihr nichts, außer der Tatsache, daß Ringo ihr später vielleicht mal nützlich sein konnte, wenn ihr Körper für Männer keinen Reiz mehr hatte. Mrs. Farning reichte ihm das Formular zurück. Achtlos hatte sie ihre Unterschrift darauf gesetzt: Helen Maud Farning. Paul steckte das Formular ein, ging zur Tür und öffnete sie. „Wollen Sie Ringo mal besuchen?“ fragte er kühl. „Sie müssen doch irgend etwas für ihn empfinden.“ „Glauben Sie?“ Sie war ihm zur Tür gefolgt, lehnte sich jetzt gegen die Wand und stieß den Zigarettenrauch durch die Nase. Ihr Blick wanderte von Pauls gutsitzendem Anzug zu seinen makellosen Schuhen. „Sie haben ja keine Ahnung, Mister“, sagte sie. „Wenn man irgendwo am Hafen in einem Slum geboren wird und als einigermaßen hübsches Mädchen aufwächst, dann wird man eines Nachts in einer Toreinfahrt von einem Kerl wie Mike Farning vergewaltigt. Das war meine ganze Romantik. Mein Vater zwang Mike Farning, mich zu heiraten, wofür ich ihm niemals dankbar war. Ich hätte den Jungen auch zur Adoption freigeben können, bevor Mike Farning die Hand gegen ihn erhob. Na ja…“ Sie zuckte die Achseln und starrte auf ihre Zigarette. „Was würde es schon nützen, wenn ich ihn besuche? Ich kann ja doch nichts für ihn tun. Er wird sich nicht einmal mehr an mich erinnern.“ „Er erinnert sich an vieles, Mrs. Farning“, gab Paul scharf zurück. „Er erinnert sich an Dinge, an die sich ein Kind besser nicht erinnern sollte. Also haben Sie wahrscheinlich recht, ihn nicht zu besuchen.“ Sie biß sich auf die Lippen und flüchtete sich dann in Unverschämtheiten, als Paul Stillman die Treppe hinunterging. „Vergessen Sie nicht so schnell, wo ich wohne“, rief sie ihm hinterher. „Kommen Sie mal wieder, wenn Sie nichts Geschäftliches im Sinn haben.“ Er drehte sich kurz um, maß sie von Kopf bis Fuß und eilte aus dem Haus. Während er zur Klinik zurückfuhr, dachte er an den schönen Tag, den er mit Mary und Ringo in Knighton Sands verbracht hatte. Mary hatte dem Jungen schon so vieles beigebracht. Sie versuchte, ihm die Ängste zu nehmen und ihm Liebe zu geben, die seine Mutter nie für ihn übrig gehabt hatte. Seine Mutter! Das Wort paßte nun wirklich nicht auf Neil Farning. Dr. Stillman dachte voller Ärger daran, daß eine solche Frau ihr Kind einmal zurückverlangen konnte, um es wieder in eine solche Umgebung zu stoßen, wie er sie eben erlebt hatte. Mary tippte fleißig an ihrer Schreibmaschine. Sie blickte auf, als Paul ins Büro kam. Er sah deprimiert aus, und im ersten Moment fürchtete sie, daß Ringos Mutter nicht in die Operation eingewilligt hatte. „Hat sie nicht unterschrieben, Dr. Stillman?“ Mary stand auf und ging auf ihn zu. Als sie vor ihm stand, legte er ihr sanft die Hände auf die Schultern. „Doch, sie hat unterschrieben, sogar ohne den Wisch überhaupt zu lesen“, sagte er bitter. Mary atmete erleichtert auf. „Dann ist ja alles gut. Sie wollten doch sofort operieren, nicht?“ Paul spürte Marys Eifer und ihren Wunsch, Ringo sofort zu helfen. So hätte Neil Farning reagieren müssen, dachte er. Aber da war kein Funke von Gefühl für den Jungen gewesen.
„Ja, Mary, alles wird gut“, sagte er leise. „Ringo soll seine Chance bekommen, so zu werden wie alle Jungs. Das wollen wir beide, nicht?“ Sie nickte und spürte fast körperlich Pauls Sympathie für sie. Einen kurzen Augenblick lang waren beide wie eins, beide von dem gemeinsamen Wunsch beseelt, dieses Kind glücklich zu machen. Schon auf der Rückfahrt war Dr. Stillman ein Gedanke gekommen, und in diesem Augenblick nahm er feste Gestalt an. Er sprach ihn aber noch nicht aus, sondern sagte nur: „Mary, seien Sie lieb und brühen Sie uns Kaffee, ja? Ich brauche jetzt dringend eine Tasse.“ Als der Kaffee fertig war, begann Paul, mit der Tasse des dampfenden Getränks in der Hand, alle näheren Umstände seines Besuchs bei Neil Farning zu erzählen. Mary hörte, wie bitter seine Worte klangen… „Ich sehe eigentlich nur einen Weg, diesem Jungen eine anständige Zukunft zu sichern. Ich muß ihn adoptieren“, schloß er seine Überlegungen. Er wandte sich zu Mary um. „Ich habe ihn auch sehr gern, Mary.“ Behutsam setzte Mary ihre Tasse auf der Untertasse ab. Ihre Hände zitterten plötzlich. Atemlos stieß sie hervor: „Sie – sie wollen Ringo adoptieren?“ Paul senkte nachdenklich den Kopf. „Ich muß das natürlich noch alles mit Ilena besprechen. Aber ich glaube nicht, daß sie etwas dagegen hat. Ringo ist ein intelligentes und ausgesprochen gutartiges Kind.“ Er trat an den Schreibtisch und blickte auf Mary herunter. „Glauben Sie, daß der Junge mich als Vater annehmen wird?“ fragte er. „Ja, Dr. Stillman, das glaube ich.“ Daran zweifelte sie auch wahrhaftig keine Sekunde. Paul mußte man einfach mögen. Mary empfand tiefe Freude, so tief, wie von einer Liebkosung. Seine Augen blitzten sie jungenhaft an. „Ich habe keine Erfahrungen mit Kindern, Mary. Aber glauben Sie auch, daß ich Ringos Zuneigung erringen könnte?“ „Die haben Sie schon.“ Ihre Stimme klang sanft. „Wissen Sie das nicht?“ Paul hob die Schultern. „Der Zuneigung anderer Menschen darf man nicht so schnell sicher sein, Mary. Jedenfalls möchte ich nicht den Fehler begehen, Ringos Dankbarkeit schon für Zuneigung zu nehmen.“ „Sie werden keinen Fehler machen, Dr. Stillman.“ Mary hätte Paul am liebsten umarmt. Er spürte diese Stimmung auch, als sie nach seiner Hand griff und sie drückte. „Wann sagen Sie es Ringo?“ wollte sie noch wissen. „Vielleicht schon morgen.“ Er lächelte in Marys grüne, leuchtende Augen. „Heute abend esse ich bei Ilena. Da kann ich mit ihr alles besprechen.“ „Denken Sie wirklich, daß sie damit einverstanden ist?“ Mary zog ihre Hand zurück. Paul ließ sich in den breiten Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen. Er zündete sich eine Zigarre an und legte bequem die Beine über eine Tischecke. „Ilenas Reaktionen kann man niemals voraussehen“, gab er zu. „Aber ich werde von ihr auch nicht verlangen, die Mutter des Jungen zu spielen. Mrs. Piper wird zu uns nach Henley ziehen, wo ich ein Haus kaufen will. Sie ist eine warmherzige Frau. Ich glaube, so ist es eine gute Lösung.“ Der aromatische Geruch seiner Zigarre hüllte Mary ein. Sie versuchte, die in ihr aufsteigende Abneigung gegen Ilena zu bekämpfen. Diese Ilena würde Ringo für immer haben, sich aber bestimmt nicht als seine Mutter fühlen. Sicher, sie war eine sehr schöne Frau. Mary konnte einen Mann gut verstehen, der ihren aufregenden Körper besitzen wollte. Doch was hatte Ilena außerdem zu bieten? War sie so stolz auf Paul, wie sie sein sollte? Hatte sie den Wunsch, ein ganzes Leben lang für ihn dazusein? „Ich möchte dem Jungen Geborgenheit und eine gute Erziehung geben, Mary“, fuhr Dr. Stillman fort. „Er hat eine rasche Auffassungsgabe, das haben Sie auch
bemerkt. Er hat Phantasie, Sinn für Farben und Formen, Begabungen, die… die diese Frau wenigstens nicht ersticken konnte.“ Paul kaute auf seiner Zigarre. „Es erstaunt einen immer wieder, daß Menschen wie diese Farnings ein solches Kind zeugen können, noch dazu unter derartig miserablen Umständen.“ „Vielleicht brechen da Charakterzüge von den Vorfahren durch“, gab Mary zu bedenken. „Bei Nadia und Ihrer Verlobten ist ja auch das russische Element stark durchgekommen, obwohl sie französische Eltern haben.“ „Ja, das ist richtig.“ Paul lächelte vor sich hin bei dem Gedanken an Ilenas exotische Schönheit und ihr heftiges Temperament. Vererbung ist etwas Seltsames und Geheimnisvolles, dachte er. Wie das ganze Leben, das Wunder des Atmens und der Bewegung, der Trieb des Wünschens und Gewünschtwerdens. Der Blick seiner grauen Augen glitt verstohlen über Mary hin. Und plötzlich durchfuhr ihn blitzartig der Gedanke, wie wohl ein Kind von ihr sein würde. Kein Zweifel, ein lebhafter, kleiner Teufel mit klugen Augen. Ein Kind, das sich geliebt wüßte und Gefühlsreichtum ausstrahlte. Paul schnippte die Asche von seiner Zigarre. Sein Blick wanderte zu dem Foto auf seinem Schreibtisch. Es zeigte Ilena mit einer Kosakenmütze auf dem Haar und ihrem rätselhaften, herausfordernden Lächeln. Das Bild war an ihrem Verlobungstag aufgenommen. Ein Satz war ihm besonders im Gedächtnis haften geblieben, ein spanisches Sprichwort, das Ilena zitiert hatte: Nur der liebt dich, der dich weinen macht. Sie hatte noch hinzugesetzt: ‚Vielleicht, Paul, wirst du meinetwegen einmal weinen, aber vergiß nie, daß ich dich liebe.’ Eine Weile ruhte sein Blick auf der Fotografie. Rätselhafte Ilena… Er schüttelte die Stimmung ab und schwang die Beine vom Schreibtisch. „So, ich sollte jetzt wohl besser die Briefe unterschreiben“, sagte er. „Dann sind Sie noch ein liebes Mädchen, Mary, und bringen die Briefe zur Post, ja?“ „Sicher, Dr. Stillman.“ Sie reichte ihm die Briefe über den Tisch, und für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich ihre Finger. Paul lächelte sie an. Er bemerkte jetzt erst, daß sie heute ihre Haare mit einem grünen Samtband hochgebunden hatte, das ihre Augenfarbe unterstrich. Sie sieht eigentlich hinreißend aus, dachte er. Lange würde er sie nicht in der Klinik halten können. Irgendein Mann würde sie ihm bestimmt bald wegschnappen. Obwohl sich Paul fest vorgenommen hatte, an diesem Abend mit Ilena über die Adoption von Ringo zu sprechen, erhielt er doch keine Gelegenheit dazu. Als er zu Ilena kam, waren ihr Vater und mehrere Botschaftsangestellte anwesend. Erst glaubte er, daß sie nur auf einen Drink vorbeigekommen seien, aber dann erfuhr er zu seinem Ärger, daß Ilena sie zum Essen eingeladen hatte. Dabei wollte er endlich einmal einen ruhigen Abend mit ihr allein verbringen. Darauf hatte er sich gefreut. Als Ilena sich kurz in ihr Schlafzimmer zurückzog, ergriff er die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Paul schloß die Tür hinter sich und legte ihr den Arm um die Hüfte. „Ilena, warum diese Party? Wir wollten doch einmal den Abend für uns allein haben.“ Er suchte in ihrem Blick zu lesen und stellte plötzlich fest, daß sie nervös und abgespannt aussah. „Du schaust auch so aus, als ob du mal einen ruhigen Abend brauchen könntest. Schläfst du eigentlich gut?“ „Leider nicht allzugut.“ Sie lehnte ihre Stirn an seine Schulter. „Oh, Cherie, ich wünschte, es wäre Oktober.“ „Wieso Oktober?“ Er drückte sie fester an sich. „Aber Liebling, wir müssen ja nicht bis dahin warten! Diese große, prächtige Hochzeit war dein Einfall. Du weißt genau, daß mir auch eine stillere und deshalb schnellere reichen würde.“
Er spürte ihre Unruhe. „Paul, das mußt du doch verstehen. Vater ist ein Mann vom alten Schlag – er will nur das Beste für mich. Er hat mir gesagt, daß Mutter sehr stolz gewesen wäre, mich in einem weißen Brautkleid zu sehen, umgeben von Freunden an meinem Hochzeitstag. Sie starb, als ich noch ganz klein war…“ Ilena seufzte leise und legte den Kopf in den Nacken. Ihre schweren Wimpern hoben sich von den tiefgrünen Augen. Sie blickte Paul an und verzog den Mund wie ein unglückliches Kind. „Ich… ich versuche manchmal, anderen Menschen einen Gefallen zu tun, ich versuche es wirklich, Paul“, sagte sie leise. Sie standen nahe voreinander. Er spürte ihren drängenden Körper in dem goldfarbenen Kleid, das sie eng umhüllte. Auf einmal schlang Ilena ihm die Arme um den Hals und zog seinen Kopf zu sich herunter. „Küß mich“, hauchte sie direkt an seinem Mund. Ihre Lippen berührten sich. Eine heiße Flamme von Leidenschaft schlug Paul entgegen. Er preßte Ilena an sich. Sie küßten sich wie Ertrinkende, als ob es Gedanken gäbe, die sie auslöschen müßten. Aber von einem Moment zum andern machte Ilena sich frei. „Wir sollten jetzt besser wieder zu den Gästen zurückgehen“, sagte sie. Paul sah sie an und wischte sich gereizt den Lippenstift vom Mund. „Warum zum Teufel mußtest du die Leute einladen, Ilena?“ „Sie werden sicher früh aufbrechen.“ Sie lächelte mit weißen Zähnen, „Na geh schon und mix mir einen Drink, Liebling! Du hast mir mein Makeup so durcheinander gebracht, daß ich mich erst mal restaurieren muß.“ Sie setzte sich an den Frisiertisch, und für einen Augenblick begegneten strich ihre Blicke in dem großen Spiegel. „Okay“, nickte Paul, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und verließ den Raum. Die Gäste brachen in der Tat bald auf. Als Paul und Ilena dann endlich allein waren, kniete sie sich neben ihm an der Couch nieder und sah ihn verwirrend an. „Bleib über Nacht bei mir, cheri! Ich will nicht allein sein. Ich möchte, daß du bei mir bist!“ Ihr Duft war betörend, und Paul konnte der Lockung ihrer Worte kaum widerstehen. Aber dann blickte er fest in Ilenas Augen. Der fiebrige Glanz darin bestürzte ihn. „Nein, Ilena“, sagte er entschieden. „Dich hat deine ParisReise zu sehr mitgenommen. Ich käme mir wie ein Schuft vor, wenn ich daran nicht dachte.“ „Mon dieu, wie widerspruchsvoll Männer sein können!“ Mit der Elastizität einer Tigerin sprang sie hoch. „Soll ich dich jetzt vielleicht erinnern, daß du ein Mann bist und kein Schoßhündchen?“ „Liebling“, sagte er sanft, stand auf und ergriff ihre beiden Hände, „du bist ein bißchen fiebrig. Dein Puls geht viel zu schnell, und du brauchst offensichtlich Schlaf.“ „Du selbstzufriedener Teufel!“ fuhr sie ihn an. Sie riß sich los und Paul sah einen ihrer jähen Wutanfälle kommen. Sie stampfte mit dem Fuß auf, ihr Gesicht wurde blutleer, nur die Augen funkelten wild. „Die Gerüchte sind wohl wahr!“ schrie sie. „Dir scheint deine kleine Sekretärin den Kopf verdreht zu haben – und außerdem ist die wohl sehr bequem.“ Ihr hysterischer Ausbruch ließ ihn erstarren. „Von welchen verdammten Gerüchten sprichst du?“ fragte er kalt. „Wer verbreitet hier Lügen über Mary und mich?“ „Nadia natürlich! Sie hat so einiges gehört. Ihr wart doch zusammen an der See. Aber das verkrüppelte Kind hat dir wohl den Tag verdorben, was?“ Einen Augenblick konnte er gar nicht fassen, daß Ilena diese Worte sagte. Doch dann stieg Zorn in ihm auf. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie so
heftig, daß ihr das schwarze Haar um den Kopf flog. Seide riß ein, ihr linker Träger glitt von der Schulter. „Du bist nicht sehr wählerisch im Gebrauch der Waffen, um Menschen zu verletzen, wenn du anders deinen Kopf nicht durchsetzen kannst, Ilena!“ Pauls Augen hatten die Farbe von Eisschollen. „Doch nur zu: Sag über mich, was du willst. Aber Mary laß aus dem Spiel! Hörst du? Mary ist anständig, ich werde sie vor deiner bösen Zunge schützen.“ „So viel Worte und so viel Wut für ein kleines Mädchen!“ tobte Ilena, während ihr teures Kleid bedenklich tiefer rutschte. „Zum Lachen!“ Sie lachte krampfhaft. „Aber wenn man dich so ansieht, Paul, möchte man annehmen, du hättest etwas mit ihr.“ Einen Moment schien es Ilena, als werde Paul sie schlagen. „Du weißt sehr gut, daß ich nach keiner anderen Frau geschaut habe, seit wir verlobt sind“, stieß er rauh hervor. „Bisher bestimmt nicht. Aber du treibst mich noch soweit mit deinen verdammten Launen. Ich beginne mich langsam zu fragen, ob ich nicht… Ach, zum Teufel mit allem!“ Er stieß sie von sich, stürzte aus der Wohnung und schmetterte die Tür hinter sich ins Schloß. Er wartete nicht einmal auf den Fahrstuhl, sondern stürmte die Treppe hinunter. Schnurstracks fuhr er zu einer kleinen Bar, wo er mehrere Drinks in sich hineingoß, um die scheußliche Szene mit Ilena zu vergessen. Was für ein Spiel trieb sie mit ihm? Erst war sie die verführerische Frau, in der nächsten Minute die Sphinx und gleich darauf eine Tigerin, die ihn am liebsten zerfetzt hätte. Es war ziemlich spät, als Dr. Stillman wieder an der Klinik ankam. Er schlenderte über das Gelände und genoß die nächtliche Stille, das Rauschen der Bäume und das gelegentliche Rufen eines Käuzchens. Noch einmal dachte er an die Szene mit Ilena. Daß sie schlecht schlief, konnte man sehen. Außerdem hatte sie den Kummer mit Nadia und die anstrengenden Hochzeitsvorbereitungen. Trotzdem konnte er ihr die häßliche Anspielung auf die Gerüchte um ihn und Mary nicht verzeihen. Auf einmal dachte er an Mary, wie sie ihm am Nachmittag wegen seines Vorhabens, Ringo zu adoptieren, am liebsten um den Hals gefallen wäre. Sie wirkte ja beinahe selbst noch wie ein Kind. Um so schwerer wogen Ilenas böse Worte. Übrigens war er ziemlich sicher, daß Nadia nicht hinter Marys Rücken über sie gesprochen hatte. Nadia mochte seine neue Sekretärin gern, das hatte sie ihm erst vor kurzem versichert. Paul vergrub die Hände in den Taschen des Abendjacketts und schlenderte zur Klinik in sein Büro zurück. Er fuhr leicht zusammen, als das Telefon schrillte und griff nach dem Hörer. Schwester Dora bat ihn, zu Nr. 13 zu kommen. Mrs. Barrinton ginge es schlechter, sie hätte Schmerzen in der Brust und bekäme keine Luft. Paul machte sich seit einigen Tagen Sorgen um Ada Barrington. Sie hatte sich verändert, ihre alte Lebensfreude schien gebrochen. Schon öfter hatte sie über Schmerzen in der Brust geklagt, sich jedoch hartnäckig geweigert, den Herzspezialisten kommen zu lassen, den Paul ihr empfahl. „Wenn die Uhr abgelaufen ist, laß sie in Frieden ihren letzten Schlag tun“, hatte sie gesagt. „Ich möchte hier bei Ihnen in der Klinik bleiben, Paul, und Sie haben ja wohl auch nichts dagegen.“ Jetzt hastete Dr. Stillman die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, wo er die ehemalige Königin der Operette mit einem Herzkollaps vorfand. Gemeinsam mit einer Schwester bemühte er sich, Ada Barrington wieder ins Bewußtsein zurückzurufen.
Plötzlich wurde die Tür zum Nebenraum aufgerissen. Ringo war aus dem Schlaf geschreckt und stand mit brennenden Augen da – eine kleine rothaarige Gestalt im Schlafanzug. Verstört blickte er auf die Szene: das gleißende Licht, das in Pauls angespannte Züge fiel und das Atmungsgerät über Adas Gesicht. Ringo begann zu schluchzen, denn Ada Barrington sah genauso aus wie die Großmutter von Billy Bennet, als sie auf der Barrow Street umgefallen war und man sie nach Hause gebracht und in einen Sarg gelegt hatte. Billy hatte ihm erlaubt, sie sich anzusehen. Ringo heulte laut auf bei der Vorstellung, daß man Mrs. Barrington in solch einen Sarg legen würde… Da endlich bemerkte Paul den Jungen und bat eine der Schwestern, ihn hinauszubringen. „Rufen Sie Miss Lester“, setzte er hinzu, „sie möchte sich um Ringo kümmern.“ Die Schwester ergriff Ringos Hand und brachte ihn in Pauls Büro. Aber erst als Mary auftauchte, wurde der Junge etwas ruhiger. Die Schwester berichtete Mary, was mit Mrs. Barrington geschehen war und daß kaum Hoffnung bestünde. Danach ließ sie die beiden allein. Ringo erzählte, daß ihm Ada Barrington noch am Nachmittag aus der „Schatzinsel“ vorgelesen habe. Jetzt müsse er ständig an Billys Großmutter denken. Er flog am ganzen Körper. Eng drückte er sich an Mary, bestürzt und traurig darüber, daß Menschen, die man liebt, plötzlich aufhören zu leben. „Es ist so schrecklich, wenn Menschen sterben – sie sehen dann nicht mehr wie Menschen aus.“ Mary strich ihm über sein zerzaustes Haar, sprach beruhigend auf ihn ein und versuchte, ihm zu erklären, daß alte Menschen müde werden und einschlafen möchten. Deshalb sollte er keine Angst haben. Ringo hielt sie immer noch umklammert. Schließlich war er wohl eingeschlafen. Aber Mary wagte nicht, sich zu rühren. Sie hörte die Uhr ticken und konnte vom Büro aus durch die geöffnete Tür in Pauls Zimmer hinübersehen. Tiger döste auf dem Schreibtisch seines Herrn und beobachtete sie von Zeit zu Zeit mit den klugen Katzenaugen. Langsam schliefen Mary die Füße ein, ihre Arme verkrampften sich um den warmen Körper des Kindes. Es war wohl gegen drei Uhr morgens, als Paul erschöpft und deprimiert ins Büro herunterkam. Er hatte Ada Barrington nicht retten können. Sie war noch einmal zu Bewußtsein gelangt, hatte dann aber einen zweiten tödlichen Herzanfall bekommen. Sanft und vorsichtig nahm er Mary den Jungen aus dem Arm. „Schwester Dora hat ihm ein anderes Zimmer hergerichtet“, sagte er. „Ich werde ihn hinauftragen.“ Mary stand auf und rieb sich ihre eingeschlafenen Arme. „Ich werde uns eine Tasse Kaffee machen, Dr. Stillman. Ich glaube, den haben Sie jetzt nötig.“ „Oh, das ist gut, ja.“ Als sie beim Kaffee saßen, sprachen sie noch lange über Ada Barrington und holten sich all die netten Stunden mit ihr ins Gedächtnis zurück. Schließlich stand Mary auf, um in ihr Zimmer hinüberzugehen. Paul begleitete sie bis zur Glastür. Die Morgendämmerung lag über dem Klinikgelände. Tau glitzerte auf dem Rasen. „Es hat mir sehr geholfen, mit Ihnen zu sprechen, Mary“, sagte Paul leise und legte sacht den Arm um ihre Taille. Sie war so zierlich neben ihm, so rührend. Ihre Stirn reichte gerade bis zu seinem Kinn. „Versuchen Sie, noch etwas zu schlafen, ja?“ Er lächelte auf sie herunter. Sie blickte ihn schweigend an. Es kam wohl keinem von beiden so recht zu Bewußtsein, was jetzt geschah. Aber auf einmal hätte Dr. Stillman seine Arme
um sie geschlungen, seine Lippen fanden ihren Mund. Mein Gott, wie war er zart… so unendlich zart! All seine aufgestauten Empfindungen drängten sich in diesen Kuß – der Ärger mit Ilena und der tiefe Schmerz um den Verlust einer alten, bewährten Freundin. Mary lag in seinen Armen, fortgetragen von der Macht des Augenblicks. Sie verspürte keine Angst, sie ließ Paul die Ruhe wiederfinden, die er so notwendig brauchte. Er küßte sie selbstvergessen. Sie spürte seine hämmernden Herzschläge… und danach die Ruhe, als er wieder zur Wirklichkeit zurückfand, und ihm bewußt wurde, was geschehen war. Seine Arme sanken herab. Mary bemerkte, daß ihm die Hitze ins Gesicht gestiegen war. „Ich kann dazu nichts sagen, Mary“, murmelte er. „Entschuldigungen erklären nicht alles, sie machen manches nur noch schlimmer. Ich kann Sie nur bitten, mein Verhalten zu vergessen.“ Mary schwieg und drückte nur seinen Arm. Dann wandte sie sich um, lief über den Rasen und verschwand in der Morgendämmerung. An Ada Barringtons Beerdigung nahm Mary nicht teil. Sie fand an einem Freitag statt. Dr. Stillman erlaubte Erroll Dennis, mit Mary und Ringo nach Norfolk zu fahren und Marys Verwandte zu besuchen. Es ging hauptsächlich darum, Ringo an dem Tag von der Klinik fernzuhalten. Adas Angehörige lebten in Südafrika. Paul hatte deshalb beschlossen, daß die Beerdigung von der Klinik aus stattfinden sollte, da Ada ja hier ihre zweite Heimat gehabt hatte. Erroll lieh sich den Austin von Alec Gordon für die Fahrt nach Norfolk. Die drei trafen am frühen Nachmittag dort ein. Tante Marjorie freute sich aufrichtig, Mary wiederzusehen, obgleich sie sofort feststellte, daß ihre Nichte noch schlanker geworden war. Sie tranken später ihren Tee im Garten unter der großen Linde. Mary amüsierte sich köstlich, mit welch neugierigen und nachdenklichen Blicken ihre Tante den überaus höflichen Erroll bedachte. Er trug einen eleganten, dunkelblauen Anzug und sah darin blendend aus. Auch verstand er es, Tante Marjorie charmant und aufmerksam zuzuhören, während sie von einer Regatta an der Küste erzählte. Nach dem Tee zeigte er echtes Interesse für ihre Kakteenzucht. Damit hatte er vollends ihre Zuneigung gewonnen. Als Onkel Richard und Derek nach Hause kamen, belegte Derek Mary natürlich sofort mit Beschlag. Er wollte herausfinden, wie wichtig ihr dieser smarte Ire in dem erstklassigen Anzug war. Er verschwand mit Mary in ihre alte Rumpelkammer unter dem Dach, wo sie sich schon als Kinder alles mögliche anvertraut hatten. Mary setzte sich rittlings auf ihr einst geliebtes Schaukelpferd und erzählte Derek von der Klinik, den Patienten und allem, was sie interessierte. „Was ist nun mit diesem Iren?“ fragte Derek geradezu. Er zog an seiner Zigarette. Als so naher Verwandter, der einmal bei ihr abgeblitzt war, glaubte er bei dem Manne ihrer Wahl ein Wörtchen mitreden zu dürfen. Übrigens war er ziemlich angetan von Errol. Der Bursche hatte sicher schon einiges hinter sich, das war klar. Aber Mary gegenüber war er verdammt nett. Sie nahm zwar herzlich wenig Notiz von ihm, doch moderne Mädchen zeigten wohl nicht mehr, was sie für jemand empfanden. „Errol?“ Mary schaukelte lachend auf dem Pferd hin und her. „Glaubst du wirklich, er ist der Mann, der mir meinen Panzer runterreißen könnte?“ Derek musterte seine Cousine. Auch er sah, daß sie noch schlanker geworden war. Galt das nicht als Zeichen, daß ein Mädchen sich verliebt hatte? „Dein Panzer scheint mir bei weitem nicht mehr so intakt, wie er war“, bemerkte
er trocken. Sie blickte ihn einen Moment groß an. Dann stieg sie vom Schaukelpferd und ging zum Schrank, wo ihr Spielzeug aufbewahrt wurde. Sie wollte etwas davon für Ringo heraussuchen, Murmeln, die Spiele und ihre Kinderbücher. „Derek, hilf mir mal“, bat sie ihren Cousin. Er nahm ihr einen Stapel Bücher aus der Hand. „Wie kommst du eigentlich mit Dr. Stillman zurecht?“ fragte er. „Ach, das geht gut.“ „Ist er nun so ein strenger Chef?“ Mary blies den Staub von einem Malkasten und packte ihn auf den Bücherstapel, den Derek immer noch hielt. „Ich glaube, manche Leute werden von ihm eingeschüchtert“, sagte sie, „er wirkt manchmal schroff. Aber unter dieser Schale ist er sehr nett.“ „Die meisten Männer sind wohl nett zu dir, meine liebe Cousine“, lachte Derek. „Du bist noch viel hübscher geworden. Weißt du das?“ „Und du bist noch ganz der alte, Derek. Du solltest dir endlich ein nettes Mädchen suchen. Sonst fängst du am Ende wieder an, mit mir zu flirten.“ „Wie dein Errol Dennis, nicht?“ Sie wurde puterrot, ohne zu wissen weshalb. „Er ist nicht mein Errol Dennis – wie kommst du bloß darauf?“ „Ich könnte mir vorstellen, daß er auf Mädchen wirkt.“ Damit drehte sich Derek um. Er wollte wieder zu den anderen. „Derry, du bist unverbesserlich!“ Mary nahm noch einen Teddybären auf den Arm und spürte förmlich, wie ihr Cousin in sich hineinlachte, während sie die Treppe hinuntergingen. Als sie sich später wieder auf die Heimfahrt machten, drängte ihnen Tante Marjorie noch einen mächtigen Blumenstrauß und einen selbstgebackenen Nußkuchen auf. Errol schwang sich hinter das Lenkrad des Austin. Ringo saß neben ihm, Mary auf dem Beifahrersitz. Unter vielen Versprechungen, bald wiederzukommen, fuhren sie ab. „Ihre Verwandten sind sehr nett“, sagte Errol und lenkte vorsichtig an einer Entenfamilie vorbei, die im Nachmittagsonnenschein spazierenging. „Besonders Ihre Tante.“ Mary lächelte. „Tante Marjorie fand Sie auch recht charmant. Jedenfalls sagte sie mir das.“ Errol warf ihr einen Blick zu und wollte noch etwas äußern, unterließ es aber dann. Als sie in der Klinik angekommen waren, bat er sie herzlich, am morgigen Abend mit ihm essen und tanzen zu gehen. Das konnte sie ihm nun unmöglich abschlagen, fand sie, es hätte undankbar ausgesehen. Also lächelte sie und stimmte zu.
7. KAPITEL Mary war am nächsten Tag, ihrem eigentlichen freien Samstag, voll mit Arbeit eingedeckt. Zuviel war seit Ada Barringtons Beerdigung liegengeblieben. So entschlossen sich Dr. Stillman und sie ein wenig lustlos, am Vormittag den Papierwust aufzuarbeiten. Bis gegen Mittag diktierte er ihr Briefe und wollte sich dann um Nadia kümmern. Seit seinem häßlichen Auftritt mit Ilena hatte er ihre Schwester nicht mehr gesprochen. Jetzt wollte er von ihr erfahren, ob es etwas Neues gäbe. „Nadia, ich muß gestehen, daß ich mir Ilenas wegen Sorgen mache, sie wirkt so nervös“, begann er. „Ich weiß ja, sie hat einiges um die Ohren, aber das erklärt doch nicht alles.“ „Paul“, Nadia griff nach seiner Hand und sah ihn an, „Ilena ist einfach verzogen. Schon als Kind haben ihr alle zum Munde geredet, das ist ihr nicht bekommen. Es hat sie ungeduldig und überheblich werden lassen. Sie muß ständig im Mittelpunkt eines neuen Dramas stehen.“ Paul lächelte gequält. Nadia war zwar fünf Jahre jünger als Ilena, ihr aber an Reife weit überlegen. „Sie ist schon verdammt kompliziert“, gab er zu. „Trotzdem wurmt mich eine Bemerkung von ihr besonders. Sie behauptete, daß hier in der Klinik Gerüchte über Mary und mich verbreitet würden. Hast du davon etwas gehört?“ „Über Mary und dich?“ wiederholte Nadia fast erschrocken. „Aber das ist doch Unsinn! Mary gehört nicht zu den Mädchen, die Männer ermutigen, noch dazu gebundene. Unverständlich von Ilena, so etwas zu behaupten. Ich find’s nicht nur unverständlich, sondern einfach gemein. Manchmal verdient sie dich gar nicht, Paul!“ Wieder erschien dieses gequälte Lächeln auf seinem Gesicht. „Ach, Nadia, ich bin ja auch kein Engel. Aber als ich mich nun entschlossen habe, mich zu binden und Ilena einen Ring an den Finger steckte, betrachtete ich mein Junggesellendasein als beendet. Das tut ja wohl jeder Mann, wenn er die Frau respektiert, die er heiraten möchte. Es hat mich verletzt, daß Ilena an mir zweifelt und glaubt, ich hätte sie mit Mary betrogen.“ Plötzlich fiel ihm siedendheiß ein, daß er Mary neulich in der Nacht in den Armen gehalten hatte. Er dachte an den selbstvergessenen Kuß. Aber Mary verstand ja, daß er nur menschliche Wärme gebraucht und gesucht hatte… Klar war jedenfalls, daß Ilena das angebliche Gerücht nicht von Nadia hatte. Vermutlich kam es aus ihrem eigenen Kopf. Paul Stillman wechselte das Thema: „Wir haben jetzt genug von meinen Sorgen gesprochen. Ich hörte ein paar aufmunternde Neuigkeiten über Rene Blanchard.“ „Rene?“ Nadias Augen weiteten sich. Es war sichtbar, daß es in ihrem Bewußtsein nur noch diesen einen Namen gab: Rene – ausgelöscht war ihre ganze vorherige Unterhaltung. „Schnell, erzähl!“ sagte sie atemlos. „Neulich abend bei Ilena war auch Professor Dubois, bei dem Rene an der Sorbonne gehört hat. Er versprach, sich bei Gericht für Rene einzusetzen, damit sie ihm ein mildes Urteil geben.“ „Willst du damit sagen, daß er auf alle Fälle bestraft wird, Paul?“ „Ja, mein Kleines. Das war doch vorauszusehen.“ „Mein Gott!“ rief Nadia erschüttert. „Rene ist ein so temperamentvoller Mann. Wie soll er das ertragen? Er wird leiden wie ein gefangener Adler.“ „Nadia…“ Paul nahm ihre Hände. Mit dem intensiven Blick seiner hellen Augen versuchte er, ihr Mut zu machen, sie anzufeuern. „Wenn Rene weiß, daß du auf ihn wartest, wird er die Qual der Gefangenschaft ertragen, glaube mir. Und wenn
er sicher sein könnte, daß du mit deinen eigenen Schwierigkeiten fertig wirst, gibt ihm das noch mehr Kraft.“ „Du willst, daß ich kämpfe, Paul.“ Sie lächelte traurig, Tränen standen in ihren Augen. „Ich liebe Rene… ich liebe ihn so sehr.“ „Dann beweise es, Nadia!“ verlangte Paul. „Hab doch mehr Selbstvertrauen und auch Vertrauen zu meinem Urteil. Wenn deine Beine wirklich für immer bewegungslos blieben, würde ich es dir sagen. Sieh mich mal an.“ Er hob ihr Kinn und spürte, wie ihre Tränen über seine Finger rannen. „Hast du vergessen, daß du neulich bei Marys Unfall ganz aus eigener Kraft in den Rollstuhl zurückgeklettert bist, um zu ihr zu gelangen? Du hast einfach nicht an dich gedacht, sondern nur an Mary. Du hattest einen Grund, verstehst du? Aber jetzt hast du einen noch viel wichtigeren Grund: Rene.“ „Was muß ich tun?“ fragte sie leise. „Komm in den Gymnastikraum, und überzeug dich, daß du auf stehen kannst.“ „Aufstehen?“ wiederholte sie ungläubig. Er strahlte sie an, seine Patienten liebten das an ihm. „Natürlich hilft dir jemand. Aber wenigstens spürst du mal wieder Boden unter den Füßen. Das wird dir Mut geben, es allein zu versuchen. Sicher wird es dir auch wehtun, Nadia, deine Muskeln sind so lange nicht beansprucht worden. Doch dieser Schmerz ist die Sache wert.“ „Leiden, um zu erfahren, sich plagen, um zu erringen“, zitierte sie lächelnd. „Ich glaube, ich habe schon immer gewußt, daß du deinen Kopf durchsetzt.“ Sie streckte ihm die Arme entgegen. Paul hob sie aus dem Bett, knöpfte ihr den Bademantel zu und trug sie in den Gymnastikraum. Beide wünschten, daß Mary an diesem Augenblick des Triumphes teilnehmen könnte. Paul bat sie telefonisch herüber. Sie kam auch sofort, erregt und glücklich, daß Paul es erreicht hatte, Nadia zu einem Gehversuch zu überreden. Er hielt Nadia, während sie sich bemühte, mit dem Stützgerät fertigzuwerden, das sie dunkel an ihre Ballettstange erinnerte. „Sei vorsichtig“, sagte er. „So, jetzt sind deine Füße auf dem Boden.“ Sehr, sehr langsam zog er seine Arme zurück, so daß sie aus eigener Kraft in dem Stützgerät stand: ein schmächtiges, vor Angst bebendes Geschöpf, doch mit einem tapferen Lächeln auf den Lippen. Als Dr. Stillman zu einem Patienten gerufen wurde, ermahnte er sie noch, höchstens 15 Minuten zu üben – auf keinen Fall länger, denn dafür seien ihre Muskeln nicht gerüstet. Verbissen übte Nadia in ihrem Gestänge – jede Bewegung tat sie für Rene. Sie quälte sich, bis ihr der Schweiß den Rücken hinunterrann und es ihr nur mit zusammengepreßten Zähnen gelang, nicht aufzuschreien. Als die 15 Minuten um waren, half ihr Mary zurück in einen Rollstuhl und schob sie ins Badezimmer. Aufatmend ließ sich Nadia in das warme Wannenbad sinken. Mary hockte sich auf einen Wäschekorb und erzählte von ihrem Ausflug nach Norfolk mit Ringo und Errol. „Er sieht gut aus“, meinte Nadia träge und betrachtete ihre Zehen in dem Seifenwasser. Sie fühlte sich angenehm erschöpft und freute sich über den Schmerz in ihren Muskeln, das Zeichen des Sieges über ihre Hilflosigkeit. „Ich kann mir auch vorstellen“, fügte sie nach einer Pause hinzu und sah Mary direkt in die Augen, „daß er verdammt gut küßt. Er hat Routine.“ „Nadia – bitte…“ wehrte Mary lachend ab. „Er hat sich gestern ausgesprochen artig benommen. Er weiß ganz genau, daß bei mir nichts zu machen ist, auch wenn ich mit ihm ausgehe.“
„Der Ärmste!“ spottete Nadia. „Dann wird Errol Dennis also heute abend mit einem Eiszapfen im Arm tanzen.“ „Ach, sei still, Nadia.“ Mary griff übermütig nach dem nassen Schwamm und drückte ihn über Nadias Haaren aus. Nadia prustete zwar, setzte sich jedoch so heftig zur Wehr, daß Mary selber pudelnaß wurde. Sie eilte in ihr Zimmer und zog sich rasch um, um gleich darauf wieder in ihr Büro zurückzugehen. Zu ihrer Überraschung wurde sie dort von Ilena erwartet, die an der Glastür lehnte und eine Zigarette rauchte. Sie sah umwerfend aus in einem schwarzen Wollkleid und einem riesigen roten Hut. „Guten Tag, Miss Justine“, begrüßte Mary sie munter und setzte sich hinter ihre Schreibmaschine. „Ich habe eine freudige Mitteilung für Sie: Nadia hat heute im Gymnastikraum versucht, ihre Beine zu bewegen. Dr. Stillman ist sehr zufrieden mit ihr.“ Ilena musterte Mary kurz. Der Blick ihrer aparten Augen glitt über die weiße Bluse und den dunkelgrünen Rock, in dem Mary so zerbrechlichschlank aussah. Ihr leuchtendes Haar schimmerte im Sonnenschein. „Wie lange sind Sie eigentlich schon hier in der Klinik?“ fragte sie. Mary warf einen raschen Blick auf den Kalender und antwortete: „Genau drei Monate.“ „Und – gefällt es Ihnen?“ „Es ist eine sehr befriedigende Arbeit, Miss Justine.“ „Befriedigend?“ wiederholte Ilena gedehnt. Sie blies blauen Zigarettenrauch durch ihre winzigen, wie gemeißelt wirkenden Nasenlöcher. Im Augenblick dachte sie nicht daran, daß zwischen Paul und diesem Mädchen etwas sein könnte. Aber das Ausmaß seiner Verstimmung an dem bewußten Abend war doch aufschlußreich gewesen. Er hatte immerhin gezeigt, daß er gegenüber der Anmut dieses Mädchens nicht blind war. Ilena wußte zu gut, daß weibliche Reize einem Mann gefährlich wurden, wenn sie mit einem netten Wesen gepaart waren. Es schien, sie mußte mit dieser Mary Lester rechnen. Aber sie würde ihr schon klarmachen, daß ihr von Pauls Tisch nicht einmal Brosamen erlaubt waren. Paul gehörte ihr, Ilena, ganz allein. „Cherie“, begann sie sanft, „darf ich Ihnen mal einen Rat geben?“ Sie stützte sich mit einer Hand auf den Schreibmaschinentisch, und ihr aufregendes, teures Parfüm stieg Mary in die Nase. Mary starrte sie an und empfand plötzlich Feindschaft ihr gegenüber. Ilena war mit ihrer fremdartigen Ausstrahlung unglaublich attraktiv. Doch sie fühlte sich von ihr abgestoßen und mußte sich zusammennehmen, um nicht aufzuspringen. Sie konnte den bohrenden Blick dieser schillernden Augen nicht ertragen. „Einen Rat?“ wiederholte sie irritiert. „Was für einen Rat?“ „Paul ist sicherlich mit Ihrer Arbeit hier im Büro sehr zufrieden. Aber er wünscht nicht, daß Sie sich in sein Privatleben einmischen. Er zieht eine klare Arbeitsatmosphäre vor – Sie verstehen, was ich meine? Das kann er Ihnen natürlich nicht selbst sagen, weil er Ihre Gefühle nicht verletzen will. Aber ich glaube, es ist besser, Sie wissen es.“ Mary sah sie verdutzt an. „Nein, ich habe keine Ahnung, was Sie damit sagen wollen, Miss Justine.“ „Na, hören Sie mal!“ Ilena lachte exaltiert auf. „Mein Verlobter war doch vor kurzem leichtsinnig genug, Ihnen ein gewisses Interesse zu zeigen, wie es über das normale Maß eines Chefs hinausgeht. Das tut ihm jetzt leid, und er fürchtet, daß Sie es mißverstanden haben könnten.“ Aus Marys Gesicht wich alle Farbe. Sie erinnerte sich an Pauls selbstvergessenen Kuß an jenem Morgen hier im Büro, und der Abscheu darüber, daß er das Ilena
erzählt haben könnte, ließ sie erstarren. Wie hatte er das nur sagen können?
Ungerührt fuhr Ilena fort: „Wie alle warmherzigen Männer ist Paul manchmal das
Opfer seiner impulsiven Gefühle. Er empfindet Mitleid mit Ihnen, weil Sie so
allein in London sind. Aber ich rate Ihnen, sich nicht zuviel darauf einzubilden.“
Mit ihren flaschengrünen Augen musterte sie Mary scharf und entdeckte den
verwundeten Stolz in dem jungen, blassen Gesicht. Sie wußte, daß Mary
begriffen hatte.
Mit wohlüberlegter Absicht vertiefte sie noch die Wunde: „Sie sind ja kaum mehr
als ein Kind, aber Kinder strecken nun mal gern ihre Hände nach Dingen aus, die
anderen gehören. Deshalb muß man ihnen beizeiten auf die Finger klopfen:
bevor ihre Wünsche zu heftig werden, und sie zu stehlen beginnen. Paul ist zu
sanftmütig, wissen Sie. Ich bin da weniger rücksichtsvoll.“
Mit katzenhafter Geschmeidigkeit zog sich Ilena vom Tisch zurück, weil sich auf
einmal Schritte der Tür näherten. Gleich darauf stand Paul Stillman im Raum.
Überrascht sah er seine Verlobte an.
„Hallo, Darling“, begrüßte sie ihn und drückte ihre Zigarette in Marys
Aschenbecher aus.
Mit ausgestreckten Armen ging sie auf ihn zu. Sie blinzelte ihn unter ihren
pechschwarzen Wimpern hervor an. Paul bemerkte sofort, daß sie die Perlen
trug, die er ihr vor kurzem geschenkt hatte. Das Zeichen der Ergebenheit, mußte
er unwillkürlich denken. Sie sollten ausdrücken: Verzeih mir – und laß uns wieder
Freunde sein!
Er nahm sie in die Arme, denn irgendwann hätten sie ja ohnehin ihre
Verstimmung beigelegt. Ihm entging jedoch nicht die ostentative Bewegung, mit
der Mary sich abwandte und über ihre Briefe beugte.
„Paul, geh mit mir essen“, bat Ilena. Verführerisch und anschmiegsam lag sie in
seinen Armen. „Du siehst angegriffen aus, du arbeitest zuviel. Komm, laß einmal
alles stehen und liegen!“
Sie hatte ja recht, er fühlte sich wirklich abgespannt. Der Gedanke, aus der Klinik
rauszukommen und mit ihr in der Umgebung eines schicken WestEnd
Restaurants zu essen, sich ihre Plauderei anzuhören, war in der Tat verlockend.
So würden sie am schnellsten ihren kleinen Streit vergessen.
Paul warf Mary einen Blick zu und sagte: „Sie können auch essen gehen, Mary.
Heute brauche ich Sie nicht mehr.“
„Ja, gut, Dr. Stillman.“
Sie sah nicht auf, bis sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte. Ihr war
fast übel vor Anspannung. Blicklos starrte sie auf Pauls Schreibtisch und hätte am
liebsten geheult.
Wenn sie doch nur die Erinnerung an ihre Nachgiebigkeit Paul Stillman
gegenüber auslöschen könnte! Sie hatte geglaubt, daß er sie brauchte.
Übernächtigt und im trüben Morgenlicht war es ihr richtig erschienen, daß er sie
küßte.
Jetzt fühlte sie sich gedemütigt bei dem Gedanken, daß sie seinen Kuß erwidert
hatte. Ja, auch sie hatte ihn mit heißen Lippen geküßt, sich an ihn geklammert.
Einen gefährlichen Augenblick lang hatten sie beide die Welt um sich vergessen.
Endlich stand Mary auf, ordnete wie gewohnt die Bürosachen und ging mit
hängenden Schultern über den Rasen zum Schwesternhaus. Jetzt haßte sie alles,
was mit der Klinik zusammenhing. Sie konnte kaum die Vorstellung ertragen,
noch bis zu Ringos Operation am kommenden Mittwoch durchhalten zu müssen.
Errol erwartete Mary schon unten in der Klinikhalle, als sie im Schwesterneingang
auftauchte.
Sie hatte sich ihr Haar zu einem eleganten Knoten gebunden, der sie jung und
ernst erscheinen ließ. Topasklipse steckten an ihren Ohren, passend zu ihrem champagnerfarbenen Abendkleid. Sie trug darüber ein schmales Pelzjäckchen und strahlte an diesem Abend eine kühle Frische aus, die von ihren jadegrünen Augen nur noch unterstrichen wurde. „Sie sind ja ein seltenes Exemplar von Mädchen“, neckte Errol sie. Er war in mitternachtsblauem Abendanzug. „Es ist genau acht Uhr, und Sie stehen schon fix und fertig angezogen vor mir.“ Damit überreichte er ihr einen Strauß honiggelber Rosen. „Ich hoffe, Sie mögen Rosen.“ Mary ergriff die Blumen etwas verlegen und hielt sie an ihre Nase. „Wie schön sie sind!“ Das Geschenk verwirrte sie ein wenig. Errol Dennis steckte ihr eine der Rosen an die Jacke. Er nahm ihren Arm und führte sie zu dem wartenden Taxi. Sie wollten zum OrchideenKlub. Da es dort stets Parkprobleme gab, hatte Errol es vorgezogen, diesen Abend ohne seinen Wagen auszukommen. Er rief dem Fahrer die Adresse zu. Dann wandte er sich lächelnd an Mary. „Sie schauen heute abend zum Anbeißen aus, Mary. Ich habe Sie noch nie hübscher gesehen.“ Mary errötete leicht, und ihr Blick begegnete seinem. Verwundert hielt sie einen Moment den Atem an. Errols Augen waren nicht feurig wie sonst. Er spielte heute nicht den Playboy. Er war sanft und richtig nett. „Sie sind ein liebes Mädchen, Mary“, sagte er. Seit dem schrecklichen Gespräch heute mit Ilena fühlte sich Mary verletzt und wie wund. Jetzt blickte Errol sie so herzlich an, daß es ihr wohltat. Sie duldete, daß sich seine warmen Finger um ihre schlossen. Der OrchideenKlub war wegen seiner Ausstattung, seines aufregenden Orchesters und der exzellenten Küche berühmt. Ganz offensichtlich, daß Errol hier häufiger Gast war, denn der Ober begrüßte ihn mit seinem Namen, und sie erhielten einen Tisch neben der Tanzfläche. Das Schild mit der Aufschrift „Reserviert“ verschwand. Errol nahm Mary beflissen die Jacke ab und bewunderte die topasfarbenen Träger des Kleides, die die Zartheit ihrer Haut betonten. „Was empfehlen Sie heute, Nino?“ fragte er den Ober, nachdem Mary ihn gebeten hatte, für sie mit auszuwählen. Gemeinsam mit dem Ober stellte er ein prächtiges Menü zusammen. Dazu tranken sie einen funkelnden Weißherbst, von dem Mary bald angenehm beschwipst wurde. Während sie tanzten, unterhielt Errol sie mit fröhlichen irischen Geschichten. Als sie dann nach einigen Stunden den OrchideenKlub verließen, fühlte sie sich wohlig entspannt. Sie ließ zu, daß Errol ihren Arm ergriff, und sie schlenderten noch eine Weile am Wasser entlang. Das Spiegelbild des Vollmonds lag wie Silber auf dem Wasser. Errol entdeckte belustigt auch in Marys grünen Augen kleine Monde. „Na, hat es Ihnen heute gefallen?“ fragte er. „Rundum. Sie sind ein ausgezeichneter Tänzer, Errol“, antwortete sie ehrlich. „Ich hoffe, daß Sie damit nicht auf meine vielseitigen Erfahrungen anspielen wollen“, versetzte er. „Ach nein…“ „Nicht?“ Er lachte, lehnte sich an das Geländer und blickte auf das silbrige fließende Wasser unter ihnen. „Ich glaube, ich bin ein Spieler“, sagte er unvermittelt. „Ich spiele sowohl um Geld, als auch mit Schicksalen. Oh, Mary, warum sind Sie in mein Leben getreten? Sie haben mein Gewissen geweckt, und jetzt bereiten die unrechten Dinge mir kein Vergnügen mehr. Ich…. ich fühle mich in eine Leere gestoßen. Ich möchte mich bessern – nur, warum sollte ich das für nichts versuchen?“
Mary starrte ihn erschrocken an. War das ein Geständnis? Aber sie begriff nur vage, was er meinte. Sie konnte jedoch nicht einfach davonlaufen, denn sie spürte, daß er seine Fühler nach ihr ausstreckte und an ihre Barmherzigkeit appellierte. Sie fragte offen: „Was wollen Sie von mir, Errol?“ Er drehte sich zu ihr um, und sie bemerkte die Unsicherheit in seinem Blick. „Ich möchte Sie, Mary.“ Mary trat einen Schritt zurück. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und schluckte. „Ich verstehe“, sagte sie ruhig, obwohl ihr Herz wie rasend klopfte. „Aber ich… ich fürchte, daß ich keine Partnerin für unstete Liebesabenteuer bin. Für solche Spiele passe ich nicht, Errol.“ Sie spürte, wie er Luft holte. „Du glaubst, daß ich das von dir erwarte?“ „War es so nicht zu verstehen?“ „Nein, mein Kleines.“ Seine sehnigen Finger ergriffen ihre. „Du mußt ja einen schönen Eindruck von mir haben, wenn du glaubst, daß ich bei dir nichts anderes suchte als ein flüchtiges Abenteuer. Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich mich für deine Liebe wandeln könnte?“ Sie blickte ihn hilflos an. Errol hob ihre Fingerspitzen an seine Lippen, und einen Augenblick später lag sie in seinen Armen. „Liebe kleine Mary…“ flüsterte er in ihr Haar. „Ich komme mir wieder anständig vor, so nah bei dir. Mein Gott, wie sehr wünsche ich mir das, wieder neu zu sein, so frisch und unverdorben wie der Wind über den grünen Hügeln von Irland…“ Die Flut seiner gestammelten Worte überrieselte sie. Mary hatte nicht die Kraft, ihn zurückzuweisen, sie wollte ihn nicht verletzen. Nach dem heutigen Tag war es ein tröstliches Gefühl, so sehr begehrt zu werden. Später auf der Heimfahrt im Taxi begann er, von Ringen zu reden. Er sprach sehr schnell, als ob er ihr keine Zeit zum Überlegen lassen wollte. Vor der Klinik angekommen, nahm er sie fest in die Arme und bat: „Heirate mich bald, Mary, ich bin ein einsamer Mensch. Viel einsamer, als du glaubst.“ Mary war tief berührt. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie selbst die Qualen der Einsamkeit kennengelernt. „Ich weiß, was es heißt, einsam zu sein“, murmelte sie. „Das kann einen Teufel aus einem machen.“ Sie hob die Hand und zeichnete mit den Fingerspitzen die Linien seiner Gesichtszüge nach. Er genoß die Berührung, denn er wußte aus Erfahrung, daß Frauen gern über sein Gesicht strichen. Diesmal jedoch war es etwas anderes. Das sanfte Streicheln von Marys kühlen Fingern erregte ihn. „Nun?“ fragte er leise. „Was hast du entdeckt?“ „Du hast das Gesicht eines klassischen Griechen. Du siehst geradezu unanständig gut aus, Errol.“ Er drückte sein Gesicht in ihr Haar. „Schön, dann werden wir eben das bestaussehende Paar sein, das je auf einem Standesamt erschien.“ „Nein, ich bin bloß Mittelmaß“, protestierte sie. „Die einzige Frau, die zu dir passen würde, wäre Ilena Justine.“ Er erstarrte einen Moment, als habe ihn ein Schlag getroffen. Dann schlossen sich seine Arme noch fester um Marys Schultern. „Reden wir nicht von fremden Leuten“, stieß er rauh hervor. „Nicht einmal denken wollen wir an sie.“ „Errol…“ Seine Heftigkeit verstörte sie. Sie versuchte, sich von ihm zu befreien. Plötzlich schwirrte ein Nachtvogel aus einem Gebüsch hoch, und Mary schien es fast, als ob sein langer Flügel sie gestreift hätte. Erschrocken drückte sie sich gegen Errol, der sofort die Gelegenheit nutzte und sie gierig küßte. Als er sie freigab, floh sie wie betäubt ins Klinikgebäude. Am nächsten Tag hatte Julie Brelson Geburtstag. Am Abend veranstalteten die
Schwestern in ihrem Haus eine kleine Party. „Na, euch konnte man ja meilenweit feiern hören“, sagte Paul am Montagmorgen zu Mary. „Wir haben Sie doch hoffentlich nicht gestört?“ fragte Mary höflich. „Nein, nein. Ich mag es, wenn Sie Klavier spielen, Mary.“ Er begann, die Morgenpost durchzublättern. Auf einmal stieß er einen kleinen Überraschungslaut aus. Mary schaute von ihrer Schreibmaschine auf. „Stellen Sie sich vor, hier ist ein Brief von Ada Barringtons Anwalt“, sagte er. „Hören Sie sich das an: Sie hat Ringo 5000 Pfund hinterlassen, und ich soll das Geld für ihn verwalten.“ „Mein Gott, wie großherzig von ihr!“ Mary vergaß ihre Mißstimmung, eilte zum Schreibtisch und las den Brief. Ada Barrington hatte außerdem noch verfügt, daß Ringo eine gute Schulausbildung haben und später, wenn das Geld noch ausreichte, ein Studium abschließen sollte. „Wenn Neil Farning davon erfährt, wird sie alles dransetzen, den Jungen zurückzubekommen“, meinte Paul nachdenklich. „Aber das werde ich verhindern.“ Er tippte auf den Brief. „Mary, Sie müssen mir versprechen, daß wir das bis nach der Operation für uns behalten, ja? Wenn ich die Operation erst mal hinter mir habe, werde ich besser für einen Kampf gerüstet sein. Mein Gott, wer hätte das von der guten alten Ada Barrington gedacht…“ „Ja, so viel Menschenfreundlichkeit ist selten“, stimmte Mary zu. Sie stand dicht neben ihm, und er hatte gedankenlos einen Arm um ihre Taille gelegt. Plötzlich sah er auf. „Wieviel wiegen Sie eigentlich, Mary?“ „Ungefähr 48 Kilo.“ „Sie sind mager, mein Kind.“ Paul musterte mit berufsmäßigem Interesse ihre Figur. „Essen Sie denn ordentlich?“ „Natürlich.“ Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, aber er hielt sie fest. „Mary, Sie sehen nicht sehr gut aus. Haben Sie Kummer? Vielleicht wegen Ringo?“ „Ja.“ Sie griff nach dieser Ausrede. „Ja, wegen Ringo.“ „Na ja, das geht vorbei. In ein paar Tagen ist alles überstanden. Sie gehen doch heute auf den ChardmoreBall, nicht? Das wird für eine Weile helfen, die Operation zu vergessen.“ Er gab sie jetzt frei, und Mary ging zu ihrer Schreibmaschine zurück. Nach einigen Minuten blickte er noch einmal von seinen Briefen auf und fragte: „Ach übrigens – als was gehen Sie denn? Ich möchte doch auch mal mit Ihnen tanzen, Sie werden bestimmt reizend aussehen.“ Mary errötete vor Ärger bis unter die Haarwurzeln. Sie haßte seine Komplimente und wollte jetzt auch nichts weiter, als eine sachliche Arbeitsatmosphäre. Genau das, wovon Ilena gesprochen hatte. „Soll ich auf die Bestelliste hier auch noch Kodein schreiben, Dr. Stillman?“ fragte sie steif. „Wie – Kodein? Ja, tun Sie das. Die übliche Menge.“ Er musterte sie schärfer und stellte fest, daß sie heute morgen befremdend nervös und unzugänglich war. Er glaubte, den Grund zu kennen und wollte ihr beweisen, daß zwischen ihnen wieder alles in Ordnung war und er nicht daran dachte, ihr noch einmal zunahezutreten. „Na, Mary, erzählen Sie schon! Als welches Waldwesen werden Sie bei Lady Chardmore erscheinen?“ „Ich gehe als Libelle“, antwortete sie. „Nadia hat mir das Kostüm geliehen.“ „Wie nett von ihr. Ihr beiden kommt gut miteinander aus, nicht?“
„Ich mag sie. Sie ist ausgesprochen nett und verdient es, daß es ihr mal wieder besser geht.“ „Es steht nicht schlecht. Blanchard wird vielleicht nur eine kurze Haftstrafe bekommen.“ Mary blickte unwillkürlich auf. „Und was wird aus der anderen Gruppe? Sie versuchten doch schon vor ein paar Wochen, Rene Blanchard vor dem Gefängnis zu töten! Wenn sie das nun noch einmal versuchen?“ Paul strich sich nachdenklich über die Stirn. „Wenn man den Berichten in den Zeitungen trauen kann, dann lassen die Unruhen jetzt nach.“ Er stutzte. „Aber woher wissen Sie von dem Anschlag vor dem Gefängnis? Nadia hat doch hoffentlich nichts davon gehört, oder?“ Mary schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Mir erzählte es Miss Justine, als ich am Sonntag bei ihr in der Wohnung war, um mir das Kostüm zu holen.“ „Ich wußte gar nicht, daß Sie jemals in Ilenas Wohnung waren.“ Dr. Stillmans Stimme klang sehr verwundert. Auch Mary sah ihn erstaunt an. „Am Sonntag war ich dort, als Miss Justine aus Paris zurückkehrte“, erklärte sie und hielt es für ganz selbstverständlich, daß er von Ilenas verfrühter Rückkehr wußte. „Mary, Sie bringen die Tage durcheinander“, sagte er lachend. „Ilena traf erst am Montag aus Paris ein. Ich erinnere mich deshalb so genau, weil ich am Abend mit Martin Stein im Stepney Hospital verabredet war und sie von dort aus anrief.“ Einen Augenblick war Mary ganz konfus. Sie wollte schon widersprechen, doch ein sechster Sinn ließ sie schweigen. „Ach, wie dumm von mir“, murmelte sie. „Natürlich war es am Montag – jetzt fällt es mir wieder ein.“ Aber im weiteren Verlauf des Gesprächs bedrängten Mary die Erinnerungen an Ilenas merkwürdiges Verhalten an jenem Sonntagnachmittag. Nur unaufmerksam folgte sie Pauls Bericht über die Verlegung eines Patienten in ein anderes Zimmer. Mary erinnerte sich auf einmal ganz genau an Ilenas Ermahnung, diskret zu sein und niemandem gegenüber zu erwähnen, daß sie schon zu Hause sei. Jetzt verstand sie, daß Ilena dabei in erster Linie an Paul gedacht hatte. Er war es, der nichts von ihrer verfrühten Rückkehr erfahren sollte. Mary preßte ihren Handrücken gegen den Mund und spürte kaum, daß sie sich auf die Knöchel biß. Nun fiel ihr auch wieder der rote Wagen ein, der vor Ilenas Haus geparkt hatte. Ein roter Sportwagen mit grauen Ledersitzen, haargenau wie Errols Wagen. „… Martin stimmt mit mir überein, daß wir berechtigte Hoffnung haben, Saschas Hände wieder hinzukriegen“, sagte Paul gerade und holte Marys Gedanken in die Gegenwart zurück. Ihr Blick wanderte zu Dr. Stillman. „Sascha?“ fragte sie. „Ist das der Geigenbauer?“ Paul nickte. „Er wird zwar nie mehr in der Lage sein, Geigen zu bauen. Aber für weniger komplizierte Arbeiten wird er seine Hände wieder gebrauchen können. Jedenfalls ist es einen Versuch wert.“ Paul legte den Briefbeschwerer hin, mit dem er gedankenlos gespielt hatte, und stand auf. Er reckte die Arme und streckte sich. Aber er war nicht müde, sondern ruhelos. Dann trat er zur Glastür und blickte zu Mary hinüber. Sie spürte seinen Blick, Sie spürte ihn fast körperlich und vertippte sich sofort. Deshalb war sie froh, als er erklärte, jetzt Visite machen zu wollen, und den Raum verließ.
8. KAPITEL Dr. Stillman hielt sich einige Zeit bei Ringo auf, der sich vereinsamt fühlte und nichts Rechtes mit sich anzufangen wußte. Deshalb nahm er ihn mit zu Nadia, die ihm Geschichten erzählte. Danach ging Dr. Stillman weiter zum Röntgenraum, wo er mit Errol Dennis einige Aufnahmen besprechen wollte. Doch plötzlich wurde ihm bewußt, daß ihn die Barriere bedrückte, die Mary ganz offensichtlich zwischen ihnen errichtete. Er war gebunden und im übrigen ihr Chef, er hätte ihr nie zunahetreten sollen, er wußte es. Nun war ihre reine Freundschaft getrübt. War sie nicht vor ihm zurückgewichen, als er hinter ihrem Stuhl stand? In niedergeschlagener Stimmung betrat er den Röntgenraum, wo Errol fröhlich pfeifend seinen Aufgaben nachging. Als erstes entdeckte Paul Stillman eine brennende Zigarette auf einem Aschenbecher. Ärgerlich drückte er sie aus und sagte scharf: „Sie wissen doch genau, daß Rauchen hier in der Nähe von diesem leicht entzündlichen Material verboten ist.“ „Tut mir leid“, entschuldigte sich Errol und zog eine Grimasse. Er hatte noch nicht mit Pauls Auftauchen gerechnet. Eine Weile sprachen sie über technische Einzelheiten und Diagnosen, bis sie zu einer gemeinsamen Auffassung gelangten. Dann fragte Errol: „Sie operieren doch diesen Ringo Farning am Mittwoch, nicht wahr? Mary hat mir Samstag abend beim Essen erzählt, daß Sie das Einverständnis der Mutter haben. War wohl ‘n ziemlich harter Brocken, was?“ „Na, wie immer. Übrigens möchte ich Ihnen noch etwas sagen.“ Pauls Blick glitt über Errols scharfgeschnittenes Profil. „Mary ist ein außerordentlich nettes Mädchen. Wenn Sie sich mit ihr verabreden, möchte ich Ihnen raten, das nie zu vergessen.“ „Hören Sie mal, Sie sind Ihr Arbeitgeber, aber sie gehört Ihnen nicht“, erwiderte Errol aufsässig und zog sich ungeduldig die Gummihandschuhe an. „Übrigens können Sie ganz beruhigt sein, meine Absichten sind absolut ehrenhaft.“ „Wie meinen Sie das?“ Paul fuhr herum. Seine Pupillen erschienen schwarz im Kontrast zu seiner hellgrauen Iris. „Ich will damit sagen, daß ich Mary heiraten möchte.“ „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!“ entgegnete Paul. „Mary ist ein Mädchen, das einen Mann für ihr ganzes Leben sucht. Nicht nur für ein paar wilde Monate.“ „Sie scheinen sie ja sehr gut zu kennen“, meinte Errol. „Aber ich weiß auch, wie ich sie halten und behandeln muß.“ Er spürte plötzlich echte Sehnsucht nach Mary, nach ihrer Haut und ihrem schimmernden Haar, nach ihren blassen, unerfahrenen Lippen. Paul las diese Sehnsucht in seinem Gesicht. Alles in ihm lehnte sich dagegen auf. Er konnte sich einfach nicht mit der Vorstellung abfinden, daß Mary diesen Mann gern hatte und ihn für sich haben wollte. Natürlich war nicht, zu leugnen, daß Errol Dennis bestechend aussah. Aber er war so verdammt sprunghaft, wechselte von einer Frau zur nächsten, nahm sich, was er brauchte und zog fröhlich weiter. Mary war sehr jung, aber sie war nicht dumm. Sie mußte das von Errol wissen. „Sie glauben, ich bin nicht gut genug für Mary, nicht wahr, Dr. Stillman?“ Errol blickte Paul prüfend an. „Viele Männer taugen nichts, bis sie heiraten. Aber können Sie sich nicht vorstellen, daß ich mein Bestes versuchen werde, um Mary glücklich zu machen? Sie ist das süßeste Mädchen weit und breit. Ich muß mich manchmal selbst kneifen, um mir klarzumachen, daß ich nicht träume, daß sie wirklich mir gehört – mir ganz allein.“
Paul wandte sich wieder den Röntgenaufnahmen zu. Mit zusammengekniffenen Augen und gezwungenem Interesse betrachtete er sie. Bevor er ging, sagte er noch mit schwerer Stimme: „Es freut mich, daß sie wenigstens wissen, was Sie an Mary bekommen. Sie ist ein großartiges Mädchen.“ „Ein Schatz!“ stimmte Errol lachend zu. Er wirkte wieder jung und sorglos. Pfeifend machte er sich daran, die Aufnahmen vom vorherigen Tag zu entwickeln. Der weitläufige Park des ChardmoreAnwesens, das etwas erhöht über der Themse lag, sah an diesem Abend wie ein Märchenwald aus. Bunte Lampions schaukelten an den Ästen der Bäume, Lichterketten erstreckten sich bis hinunter zum Ufer der Themse. Der von Säulen getragene Tanzpavillon füllte sich langsam mit Masken. Eine schien immer phantasievoller als die andere. Unter der Decke hing eine Facettenkugel und warf ihre Regenbogenfarben auf die lustige Menge, in der sich Fledermäuse mit Hexen im Tanz drehten, Elfen mit Schmetterlingen flirteten und Trauerweiden gemeinsam mit Wiesenblumen Punsch tranken. Paul Stillman unterhielt sich bei einem Drink mit Martin Steins Frau, während Ilena mit Martin Stein tanzte. Ruth Stein war Frauenärztin. Paul mochte sie besonders gern, weil sie sich schon seit Jahren kannten und er sich immer auf sie verlassen konnte. Auch wenn er mal andere als nur geschäftliche Sorgen hatte. „Sie sieht ja zauberhaft aus!“ Ruth blickte Ilena nach, die ein Kostüm trug, das wie Wasser an ihrem aufregend schönen Körper herunterzufließen schien. „Eine Sylphe, in Poseidons Wagen’ aus den Tiefen des Ozeans aufgestiegen, um sich für eine Nacht unter die Sterblichen zu mischen…“ Paul schwieg und Ruth bemerkte, daß er gar nicht zu Ilena hinsah, sondern ein Mädchen beobachtete, das als Libelle verkleidet gerade mit Alec Gordon den Gang entlang kam. Die beiden lachten, drängten zum Büffet und Alec entschuldigte sich: „Ich muß Ihnen gestehen, daß ich entsetzlich schlecht tanze, Mary. Wenn ich Sie dabei verletzt haben sollte, werde ich Sie gratis behandeln.“ „Na, so schlecht waren Sie auch wieder nicht“, protestierte sie lachend. „Bei der Fülle auf dem Parkett…“ Sie standen jetzt am Büffet, und Mary entdeckte sofort Dr. Stillman. Ihre Blicke begegneten sich unter ihren Masken. Paul sah, daß Mary lächelte, und er machte sie mit Ruth Stein bekannt. Alec kannte Ruth Stein bereits. Er besorgte Erdbeereis für Mary. Die beiden Paare blieben zusammen und unterhielten sich. Ruth wurde es zu heiß unter der lästigen Maske, sie nahm sie ab. Mit ihren offenen, lustigen Augen lächelte sie Mary an. „Sehr hübsch für Sie, dieses Libellenkostüm.“ Es hatte übrigens nur weniger Änderungen bedurft, bis es paßte, als ob Mary darin geboren wäre. Es glänzte und schimmerte, wenn sie sich bewegte. „Äußerst apart“, nickte auch Paul. Halb verborgen hinter seiner dunklen Maske betrachtete er Mary. „Und was ist mit Ihnen? Zu dieser Gelegenheit hätten Sie sich doch auch ein bißchen schmücken können“, schalt Ruth Stein. Paul Stillman lachte und biß herzhaft in ein dänisches Sandwich. Er trug ganz normale Kniehosen und ein schreiend buntes Sporthemd, der Hauch der weiten kanadischen Wälder hing um ihn. „Ach Ruth, ich habe euch dekorativeren Geschöpfen eben nicht ins Gehege kommen wollen. Wir machen’s uns bequem, was, Alec?“
Alec Gordon wünschte, er hätte es sich noch etwas bequemer gemacht. In seinem weißen Druidenkostüm war ihm heiß und unbehaglich. „Wo ist eigentlich Errol?“ fragte Paul. Mary zeigte ihn ihm, er tanzte mit Julie. Sie spürte, wie Paul im Schutz seiner Maske spöttisch grinste, als er Errols Teufelskostüm sah. Errol war ganz in Schwarz, mit Hörnern, Schweif und Hinkefuß. „Er ist schon ein schlimmer Bursche, sieht aber verdammt gut aus“, sagte Ruth Stein. Nur Paul sah die Röte, die Marys Gesicht und Hals übergoß. Doch im selben Augenblick begann das Orchester einen Foxtrott zu spielen. Mary spürte einen Schlag auf ihr Herz, als Paul zu Ruth sagte: „Bitte entschuldigen Sie mich, Ruth, jetzt werde ich endlich einmal die Gelegenheit ergreifen, mit meiner Sekretärin zu tanzen.“ Er packte Mary am Handgelenk. Natürlich konnte sie vor Ruth Stein und Alec Gordon nicht dagegen protestieren. Ein wenig widerstrebend ließ sie sich aufs Parkett entführen, wo er sie schon wegen des geringen Platzes dicht an sie pressen mußte, damit sie nicht zu sehr von den anderen Tänzern gestoßen wurde. Wie ein Automat setzte sie ihre Füße. Paul merkte es, und es ärgerte ihn, daß sie sich so benahm. Er zog ihren Kopf an seine Schulter und spürte sofort ihren verkrampften Körper, die zarten Hügel ihrer Brüste, dann die plötzliche Nachgiebigkeit. Sie tanzten schweigend, bis die Musik geendet hatte. „Verdrücken wir uns von hier, man kommt sich ja wie eine Ölsardine in der Büchse vor“, sagte er. „Nein…“ Mary wollte sich zurückziehen. Aber er ergriff ihren Arm und ging mit ihr von der Terrasse in die Nacht hinaus. Es war angenehm frisch. Die vielen bunten Lichter wiesen ihnen den Weg zum Wasser hinunter. Paul bat sie, sich auf einen Baumstumpf zu setzen. „Möchten Sie eine Zigarette?“ Er holte sein Etui hervor, lächelte Mary an und amüsierte sich über die winzigen blinkenden „Augen“ an ihrer Kappe, die immer im gleichen Rhythmus aufflackerten und wieder erloschen. „Wirklich eine reizende Idee. Aber man muß auch so zierlich sein wie Sie, um so etwas tragen zu können.“ „Vielen Dank.“ Mary blickte den davonschwebenden Rauchwölkchen ihrer Zigarette nach und lauschte den nächtlichen Geräuschen. „Mary, sind wir keine Freunde mehr?“ fragte Paul leise. „Habe ich alles zwischen uns zerstört?“ Es tat ihr weh, doch sie schwieg. Sie wußte ihm nichts zu antworten. „Mary“, wiederholte er bittend und ergriff ihre Hand, „an dem bewußten Morgen war ich verzweifelt, über Adas Tod und noch vieles mehr. Und Sie… Sie waren so mitfühlend. Ich weiß, es war nicht richtig, was ich tat. Aber bitte, lassen Sie mich nicht dafür büßen. Es würde mich schmerzen.“ „Es ist alles so schrecklich durcheinander geraten“, murmelte sie und entzog ihm ihre Hand. Sie konnte einfach Ilenas Worte nicht verwinden. „Als ich in mein Zimmer ging, war die Sache schon vergessen“, setzte sie spröde hinzu. „Aber ich möchte doch sagen, daß ich mir ebenfalls eine rein sachliche Atmosphäre im Büro wünsche.“ „Und wann sind Sie zu dieser Erkenntnis gekommen?“ bohrte er. „Oder hat das jemand für Sie entschieden – vielleicht Errol Dennis?“ „Errol?“ Sie zuckte zurück, so daß Asche von ihrer Zigarette fiel. Dann musterte sie sein Gesicht, das trotz der Maske hart und finster wirkte. „Errol hat damit nichts zu tun.“
„Aber Sie wollen ihn doch heiraten!“ „Ja – haben Sie etwas dagegen einzuwenden?“ fragte sie leicht aggressiv. „Sollte es so sein, würde ich es als aufdringlich empfinden, als eine Einmischung in mein Privatleben.“ Paul betrachtete sie bestürzt. Er begriff nicht, warum sie sich auf einmal wie Fremde gegenüberstanden, jeder bemüht, den anderen mit harten Worten zu verletzen. „Sicher ist das Ihre Sache“, sagte er. „Ich habe auch gar nicht die Absicht, mich einzumischen oder Ihnen etwas vorzuschreiben. Aber im Gegensatz zu Ihnen kann ich nicht so schnell unsere Freundschaft vergessen. Mary, wir verstanden uns doch so gut! Noch nach dem bewußten Morgen haben wir über Ringo gesprochen, und Sie waren so froh über meinen Wunsch, ihn zu adoptieren. Was um alles auf der Welt ist geschehen, daß Sie sich so verändert haben?“ „Ich möchte nicht, daß Sie glauben, ich wünschte mir, wie ein guter Freund behandelt zu werden“, erwiderte sie. „Ich bin nur Ihre Sekretärin. Sie brauchen mir nichts anzuvertrauen und mich nicht in Ihre Privatangelegenheiten einzuweihen. Davon will ich in Zukunft nichts mehr hören. Ich möchte nur noch über geschäftliche Angelegenheiten mit Ihnen sprechen.“ „Mary!“ Er beugte sich zu ihr. Plötzlich fiel ihm Ilenas Gerede von den Gerüchten in der Klinik ein. Vielleicht war da ein Zusammenhang zu suchen. „Haben Sie etwas von Gerüchten über uns gehört?“ Sie warf ihm einen kühlen Blick aus ihren grünen Augen zu. „Nein, Dr. Stillman, ich weiß von keinen Gerüchten. Denken Sie vielleicht, ich war so erschüttert darüber, von meinem Chef geküßt zu werden, daß ich es sofort überall ausposaunte?“ „Mary“, rief er und fühlte sich echt verletzt. „Was für häßliche Worte.“ „Vielleicht.“ Sie wich seinem Blick aus. „Aber können Sie mir einen Vorwurf machen? Ich bin ja nur ein kleines Mädchen aus der Provinz… ich könnte ja denken, daß Männer aus dem gleichen Grund küssen wie Frauen. Doch seien Sie beruhigt, ich habe gelernt. Ich bin zwar vom Land, Dr. Stillman, aber deshalb nicht dumm. Ich glaube schon, die Männer ein wenig zu kennen. Außerdem respektiere ich die Tatsache, daß Sie verlobt sind.“ Jetzt fuhr sie herum und blickte ihn fest an. „Sie haben keine Veranlassung zu fürchten, ich könnte Ihren Kuß mißverstanden haben.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie sind ja völlig durcheinander, Mary. Denken Sie denn, ich hätte Sie wie ein hergelaufener Bursche geküßt, ohne an Ihre Gefühle zu denken? Glauben Sie, ich vernasche meine Sekretärinnen in irgendeiner Ecke?“ Er blickte bedrückt ins Dunkel. „Natürlich bin ich verlobt. Ich muß an dem Morgen völlig außer mir gewesen sein. Aber ich wollte auf keinen Fall, daß Sie mich dafür hassen.“ Traurig musterte sie ihn von der Seite. Dann stand sie auf und ging ans Themseufer. Es schien in den nächtlichen Büschen zu flüstern. Die Weiden warfen den vom Mondlicht gesprenkelten Schatten ihrer Zweige ins Wasser. Einige Wasserlilien schwammen träge auf ihren tellergroßen Blättern. Ihre Blüten sahen wie geschlossene, blasse Augenlider aus. Mary hörte, daß Paul Stillman auf stand und den Weg zum Pavillon zurückging. Langsam folgte sie ihm. Sie mischten sich schweigend unter die tanzenden Waldgeister, Teufel und Eulen. In dieser Nacht war alles erlaubt. Die jüngste Lernschwester konnte unter dem Schutz ihrer Maske den mächtigsten Oberarzt zum Tanz auffordern. „Komm, schöner Mann, tanz mit mir!“ forderte eine Amsel Paul auf. „Ein andermal, mein Herzchen“, vertröstete er sie und drängte sich geradewegs
zudem Platz durch, wo er sich mit Ruth Stein unterhalten hatte. Er traf jetzt nur
ihren Mann mit einigen Kollegen an, die verbissen fachsimpelten. Paul gesellte
sich zu ihnen, bis Ilena ihn zum Tanz holte.
Ihre Augen glänzten unnatürlich, auf ihren hohen Wangenknochen brannten rote
Flecken.
„Ein verdammter, kleiner Medizinstudent hat mir aus seiner Taschenflasche
Wodka zu trinken gegeben. Mir schwirrt der Kopf, Paul – alles dreht sich!“
Sie zog ihn auf die von maskierten Tänzern verstopfte Tanzfläche. In ihrem
winzigen Silberkostüm fühlte sie sich fast nackt in seinem Arm.
Sie drückte sich eng an ihn und streichelte die kurzen Haare in seinem Nacken.
„Wo hast du denn die letzte halbe Stunde gesteckt?“ fragte sie.
„Ich habe unten am Fluß eine Zigarette geraucht.“
Sie drehten eine Runde, stießen mit anderen Tänzern zusammen und
verwickelten sich in Luftballons und Papierschlangen.
Errol Dennis tauchte in einiger Entfernung auf und preßte eine zierliche Libelle
fest gegen sein nachtschwarzes Teufelskostüm. Ilenas Blicke folgten dem Paar.
„Deine kleine Sekretärin scheint sich ja mit Errol Dennis glänzend zu amüsieren.“
„Warum nicht?“ erwiderte Paul und verzog hinter der Maske ironisch seine
Lippen. „Er hat mir heute morgen erzählt, daß er sie heiraten möchte.“
Die bunte Facettenkugel schien sich plötzlich über Ilenas Kopf zu drehen… immer
schneller… immer schneller… der Lärm um sie schwoll lauter und lauter an…
Plötzlich hing sie bewußtlos in Pauls Armen.
Ruth Stein kam aus dem Wohnraum des ChardmoreHauses, wohin man Ilena
nach ihrem Ohnmachtsanfall gebracht hatte.
Paul wartete in der Halle in einem Ohrensessel. Blicklos starrte er vor sich hin.
Der dicke Rauch seiner Zigarre strich an seinen Augen vorbei, die jetzt ohne die
verhüllende Maske müde wirkten. Ruth fand, daß er unglücklich aussah.
Eigentlich hatte sie diesen Eindruck schon den ganzen Abend über gehabt. Sie
trat auf ihn zu. Da erst hob er den Kopf und schaute sie an.
„Wie geht es ihr, Ruth?“
„Schon viel besser.“ Ruth drückte beruhigend seinen Arm. „Wenn ich Sie wäre,
würde ich Ilena nach Hause bringen. Sie hat heute genug Aufregungen hinter
sich.“
„Aber warum ist sie denn nun ohnmächtig geworden, Ruth?“ drängte er und
schob eine widerborstige Haarsträhne aus der Stirn. „Es ist doch nichts Ernstes
mit ihr, oder?“
„Nein, vermutlich nicht. Sie hat sich überanstrengt und schläft nicht genügend.
Ich schlug ihr vor, morgen vormittag in meine Praxis zu kommen, um sie einmal
gründlich zu untersuchen.“ Ruth zögerte einen Augenblick und fragte dann:
„Sagen Sie Paul, warum heiraten Sie nicht sofort und sorgen dafür, daß sie sich
mehr schont?“
„Ilena besteht auf dem Unsinn einer glanzvollen Hochzeit“, erklärte er kurz. „Wir
haben ja schon September, da können wir auch noch die restliche Zeit warten.“
„Hm…“ Ruths Finger zupften an der Manschette ihrer Bluse, sie überlegte, ob
Paul das Temperament Ilenas kannte. Schön, sie wollte eine große Hochzeit wie
die meisten Mädchen. Aber wahrscheinlich hätte Paul doch auf einer kurzen
Verlobungszeit bestehen sollen. Ilena brauchte ihn wohl mehr, als ihr bewußt
war. Ruth Stein, die soviel mit Frauen zu tun hatte, verstand auch eine Menge
von Frauen. „Ihnen ist es also recht, bis Oktober zu warten, Paul?“ fragte sie
noch einmal.
„Ja, durchaus“, erklärte er schärfer, als er wollte. „Wir sind zur Zeit sehr
eingespannt in der Klinik. Ich muß mich außerdem mit einem Architekten
zusammentun, weil ich anbauen möchte. Einen neuen Kliniktrakt für eine Kinderstation. Bis jetzt waren die Kinder immer zwischen den Erwachsenen untergebracht. Aber als Ada Barrington starb, war das für den kleinen Ringo doch ein böser Schock.“ Ruth blickte ihn interessiert an. „Martin hat mir schon einiges von Ihrem Vorhaben erzählt. Schade, daß wir uns jetzt nicht länger unterhalten können, aber Ilena muß nach Hause in ihr Bett.“ Wieder drückte sie freundschaftlich seinen Arm. „Kommen Sie doch mal zu uns zum Essen, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Ich möchte mehr über Ihre Kinderstation erfahren. Und bestehen Sie bitte darauf, daß Ilena morgen zu mir kommt, ja? Sie möchte nämlich lieber zu einer Modenschau. Doch selbst wenn es sich nur um Eisenmangel handelt, sie soll das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“ Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander, und Dr. Stillman brachte Ilena nach Hause. „Bitte leg dich gleich ins Bett“, ordnete er an, als sie in die Wohnung kamen. „Ich brüh uns einen Kaffee und werde noch eine halbe Stunde Krankenschwester bei dir spielen.“ Als er mit dem Tablett in Ilenas Schlafzimmer erschien, rührte es ihn, wie sie so brav in dem großen Bett lag. Sie trug ein ‘molliges Bettjäckchen und hatte einen Berg von Kissen hinter sich gestopft. Er setzte sich zu ihr und füllte die beiden Tassen mit dampfendem Kaffee. Ilena blickte ihn groß an. „Du wirst bestimmt einmal ein idealer Ehemann, Paul.“ „Glaubst du?“ Er schlürfte seinen Kaffee und betrachtete sie mehr als Arzt, denn als Liebhaber. „Jedenfalls sieht du schon etwas erholter aus“, meinte er. „Wie dumm von mir, in Ohnmacht zu fallen. So was ist mir noch nie passiert.“ „Ruth erzählte mir, daß sie dich morgen in der Praxis erwartet. Gleich am Vormittag.“ „Ach, Unsinn“, wehrte Ilena ab. „Ich glaube nicht, daß das nötig ist.“ Paul war anderer Ansicht. „Nun sei mal vernünftig“, redete er auf sie ein. „Ruth findet, du solltest mal gründlich untersucht werden und das meine ich auch. Du muß doch selbst zugeben, daß es dir in letzter Zeit nicht besonders gut ging.“ „Ja… das schon.“ Sie setzte die Tasse ab und spielte nervös mit dem Diamantring an ihrer Hand. „Die Reisen nach Paris haben mich geschafft, die Hochzeitsvorbereitungen. Manchmal macht es mich auch ganz krank, daß du soviel zu tun hast. Ich glaube, die Arbeit bedeutet dir mehr als ich.“ „Selbstverständlich ist mir meine Arbeit wichtig“, gab er zu. Stirnrunzelnd sah er sie an. „Das hast du doch von Anfang an gewußt. Aber wenn ich erstmal den kleinen Ringo operiert habe…“ „Ringo! Ringo!“ Sie fuhr so heftig auf, daß sie beinahe das Tablett umgestoßen hätte. „Ich kann diesen Namen nicht mehr hören! Ständig dringen deine Patienten in unser Privatleben. Ist das mir gegenüber gerecht?“ „Ilena, du regst dich schon wieder auf…“ „Ich habe ja auch Grund dazu! Du wirfst mir Gleichgültigkeit vor. Kannst du dir nicht vorstellen, daß es mich ärgert, wenn du immer erst an den verkrüppelten Jungen und dann erst an mich denkst?“ Gekränkt, mit feuchten Augen sah sie ihn an. „Wenn du den Jungen nun operiert hast, wirst du dann mehr Zeit für mich haben?“ „Sicher, Ilena.“ Er tätschelte ihre Hand. „Die Vorbereitungen für die Operation sind schon getroffen, das weißt du ja. Ich habe den Anästhesisten vom Stepney Hospital, am Mittwoch geht’s los. Ringo hat leider keine sehr kräftige Konstitution. Nur durch Marys Hilfe ist er überhaupt soweit gekommen, daß wir einen größeren Eingriff wagen können.“ Mary – der Name wirkte wie das rote Tuch in der Arena.
„Mon dieu“, stöhnte Ilena auf, „wenn ich nichts von diesem verkrüppelten Kind höre, redest du von deiner unentbehrlichen Sekretärin! Sekretärinnen sind immer nur dann unentbehrlich, wenn sie sich in ihren Chef verliebt haben“, setzte sie mit wütender Gereiztheit hinzu. „Hör auf, Ilena, ich bitte dich.“ Paul erhob sich. Das Blut war ihm ins Gesicht geschossen. „Ich habe dir doch schon erzählt, daß sie meinen Röntgenarzt heiratet.“ „ Das gefällt dir wohl nicht?“ „Jetzt habe ich genug!“ erklärte er entschieden. „Ich diskutiere heute nacht nicht weiter mit dir. Am wenigsten über Mary.“ Er stand hochaufgerichtet und verdeckte jetzt völlig die kleine Nachttischlampe, so daß Ilena im Schatten lag. Ihr Haar wirkte nachtschwarz gegen die weißen Kissen, auch ihre Augen schienen dunkel. Paul sah, wie sich ihre Brüste unter dem Bett Jäckchen erregt hoben und senkten. „Ilena, ich verstehe dich nicht. Warum müssen wir ständig über Mary streiten?“ sagte er müde. „Du kannst dir doch zumindest vorstellen, daß ich mir für ein flüchtiges Abenteuer bestimmt kein solches Kind aussuchen würde.“ „Ach, Ihr Männer mit euren frommen Sprüchen!“ Ilenas Gesicht zeigte den uralten, eifersüchtigen Zorn aller Frauen, die am liebsten ohne Männer leben würden, wenn nur ihr Körper sie nicht brauchte. „Für euch ist eine Frau doch nichts anderes als ein Mittel, um eure Eigenliebe auszudrücken. Ein krähender Hahn auf dem Scheunendach ist aufrichtiger als ihr. Er kräht wenigstens öffentlich und nicht hinter verschlossenen Türen.“ „Warum bin ich eigentlich die Zielscheibe deiner Philosophie über die Natur der Männer?“ knurrte Paul und sah spöttisch auf sie herunter. „Wenn ich so auf unser Verhältnis zurückblicke, gebe ich zu, daß ich dir nicht immer den ersten Rang vor meiner Arbeit eingeräumt habe. Aber als wir uns verlobten, warnte ich dich, daß du mit mir auch die Klinik heiraten wirst. Strikt muß ich dir widersprechen, 4aß alle Männer ihre Frauen aus dem gleichen Grund nehmen. Ich zum Beispiel suche Kameradschaft und Liebe. Liebe, Ilena, nicht nur Sex. Das wäre mir zu billig, denn den kann man kaufen. Nach Liebe hungert ein Mann oft mehr, als es eine Frau versteht. Ich weiß, man sagt, daß Frauen mehr Liebe geben können, weil sie mütterliche Gefühle haben…“ „Möchtest du etwa bemuttert werden?“ fragte Ilena. „Nein, aber geliebt“, antwortete er. Er beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Stirn. „Schlaf jetzt, du hast es nötig. Und vergiß nicht, morgen zu Ruth Stein zu gehen.“ „Paul…“ Sie hielt ihn an seinem Ärmel fest. Ihre Augen wirkten übergroß in dem verschatteten Gesicht. „Geh nicht so verärgert von mir fort!“ „Ruh dich jetzt aus“, sagte er leise. „Hör auf zu grübeln, sonst schlaf st du wieder nicht ein.“ „Bitte, ich möchte eine Schlaftablette.“ „Diese verdammten Dinger!“ schimpfte er. Aber er sah auch, daß sie ohne Mittel nicht einschlafen würde. Also holte er ein Glas mit kaltem Wasser aus dem Bad. Als er zurückkam, saß Ilena aufrecht im Bett und schüttete sich etwa ein Dutzend dieser kleinen weißen Tabletten in die Hand. Sie blickte ihn herausfordernd unter ihren glänzend schwärzen Wimpern an. „Ilena, gib mir bitte das Röhrchen und die Tabletten aus deiner Hand!“ Gewaltsam nahm er sie ihr weg. Er war kalkweiß im Gesicht, weil ihm in diesem Augenblick unwillkürlich Nadias Selbstmordversuch vor Augen stand.
9. KAPITEL Der Donnerstag war trübe und regnerisch, kein geruhsamer Tag in der Klinik.
Paul benötigte Mary nicht im Büro, deshalb half sie im Gymnastikraum aus.
Als sie ‘dann nach unten in die Halle kam, unterhielt sich Errol dort mit einer
Krankenschwester. Er entschuldigte sich gleich und begleitete Mary ins Büro.
„Kann ich dich heute abend nach der Arbeit sehen“, sagte er, „ich muß dir etwas
zeigen.“
„Ja gut, aber laß mich jetzt gehen, Errol, bitte!“ Doch er zog sie an sich und
blickte sie mit sehnsüchtigen Augen an. Sie standen noch in halber Umarmung,
als Dr. Stillman in der Halle auftauchte und sie erblickte.
Mary löste sich hastig von Errol und eilte ins Büro. Sie hörte noch, daß Errol ein
paar Worte mit dem Chef wechselte, dann schloß sie die Tür hinter sich.
Sie beschäftigte sich mit der Ablage, als Paul Stillman ihr ins Büro folgte.
Hoffentlich geht er gleich in sein Zimmer, dachte sie. Aber sie hörte, wie er sich
in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallenließ.
„Ich habe hier noch einen Brief, der vor fünf Uhr raus sollte“, sagte er kurz
angebunden. „Vielleicht können Sie die Ablage später erledigen.“
Sie errötete, setzte sich und schlug ihren Stenogrammblock auf. Dr. Stillman
diktierte den Brief und richtete dabei seinen Blick auf den Kamin hinter Mary. Er
war gerade mit dem Diktat fertig, als eine junge Lernschwester mit dem Tee
hereinkam.
„Stellen Sie bitte meine Tasse Tee drüben in mein Zimmer, Ivy“, sagte er. „Ich
trinke ihn drüben.“
„Ja, ist gut, Dr. Stillman.“ Die Schwester stellte Marys Tasse auf den Schreibtisch
und trug das Tablett hinüber in Dr. Stillmans Privatzimmer.
Nachdem sie wieder draußen war, stand Paul auf, ging in sein Zimmer und schloß
die Tür hinter sich.
Mary starrte auf ihre Tasse, hob sie zum Mund, und eine Träne tropfte in den
Tee. Hastig zog sie ein Taschentuch hervor. Sie war wütend auf sich selbst und
fürchtete, Dr. Stillman könnte ins Büro zurückkommen.
Aber er kam nicht zurück.
Als sie den Brief getippt hatte, war sie ruhiger, auch ihre Augen brannten nicht
mehr. Es war jetzt fast fünf Uhr. Sie wartete noch zwei Minuten. Als Dr. Stillman
sich nicht zeigte, raffte sie sich auf und klopfte an die Verbindungstür. Sie konnte
ja seinen Brief nicht ohne Unterschrift losschicken.
Sein „Herein“ klang müde. Als Mary in sein Zimmer trat, sah sie, daß er sich auf
die Couch gelegt hatte und Rauchringe gegen die Decke blies.
„Möchten Sie bitte unterschreiben, Dr. Stillman“, bat sie und hielt ihm den Brief
hin.
Er richtete sich auf, um den Brief zu nehmen. Dabei stieß er mit der brennenden
Zigarre unachtsam gegen Marys Daumen. Es brannte höllisch.
Mary steckte den Daumen in einer schnellen Reaktion in den Mund, vor Schmerz
schossen ihr die Tränen in die Augen.
„Mein Gott, das tut mir leid, Mary!“ Paul Stillman warf die Zigarre in einen
Aschenbecher. Dann ergriff er ihre Hand, beugte sich darüber und untersuchte
die kleine Verbrennung. Die Haut war zwar nicht schlimm verletzt, aber Paul
bestand darauf, ein schmales Pflaster aufzulegen.
„Ich bin ein Grobian“, sagte er. „So – tut es jetzt noch weh?“
„Nein, es ist ja nichts weiter. Ich werde es überleben.“
Als sie ihre grünen Augen zu ihm aufschlug, bat er: „Verflixt noch mal, Mary,
lassen Sie uns wieder Freunde sein! Ich merke, daß mir sehr viel an Ihrer
Freundschaft liegt.“ Doch sie schüttelte ablehnend den Kopf. „Ich werde sofort nach Ringos Operation kündigen.“ „Ist das Ihr Ernst?“ „Mein absoluter Ernst.“ „So?“ fragte er und packte sie, und diesmal war er keineswegs mehr zart. „Was hat das zu bedeuten, Sie Mimose? Fürchten Sie vielleicht, daß ich mich noch einmal vergessen könnte?“ Es schnitt ihr ins Herz, sie konnte ihn kaum ansehen. Aber sie kämpfte tapfer gegen die Versuchung an. „Ich habe nichts dagegen, in den Arm genommen zu werden, wenn Sie wirklich Anteilnahme brauchen“, erwiderte sie. „Daß Sie Ilena jedoch davon erzählt haben, das war nicht richtig. Sie hätten wissen müssen, daß Ilena mich zur Rede stellen würde. Sie hatte nämlich Sorge, daß mir als Mädchen aus der Provinz Ihre Sympathie zu Kopfe steigen könnte. Übrigens war das nicht der Fall“, schloß sie fest. „Was? Sie glauben tatsächlich, ich hätte Ilena von jenem Kuß erzählt?“ fragte er völlig verblüfft. „Haben Sie das etwa nicht getan?“ „Großer Gott, nein! Wofür halten Sie mich?“ Marys Unterlippe zuckte, und um das zu unterbinden, biß sie fest darauf. „Ich war sicher, Sie hätten es ihr erzählt. Sie schien es zu wissen, und ich fühlte mich beschämt, verraten, als ob ich irgend etwas Schmutziges getan hätte.“ „Aber mein liebes Mädchen…“ „Übrigens ändert es nichts, wenn Sie es ihr auch nicht erzählt haben“, fuhr Mary rasch fort und entzog ihm ihre Hände. „Ich gehe trotzdem. Jetzt sollten Sie lieber Ihren Brief unterschreiben, Dr. Stillman, obwohl es schon zu spät ist für die Fünfuhrpost.“ Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske, als er den Brief vom Boden aufhob und seine Unterschrift daraufsetzte. „Sie brauchen ihn heute nicht mehr zur Post zu geben.“ „Ich gehe ohnehin noch aus“, erwiderte sie. „Ich… ich bin mit Errol verabredet.“ „Dann nehmen Sie ihn eben mit“, sagte er müde. Ihre Blicke begegneten sich, als Mary nach dem Brief griff. Sie flüchtete damit aus dem Zimmer. Es hatte sich jetzt eingeregnet. Große Regentropfen klatschten auf die schon gelblichen Blätter der Büsche, während das tropf nasse Gras im Park aufdringlich nach Erde roch. Mary holte tief Luft und empfand plötzlich heftiges Heimweh nach Norfolk. Sogar nach dem bissigen Onkel Richard, aber besonders nach Tante Marjories gutmütigem Gesicht… Sie warf den Brief in den Kasten. Als sie sich umwandte, hielt Errols roter Sportflitzer neben ihr. Er stieß die Tür auf, und sie stieg ein. „Komm, fahren wir zu Clairmont in die Baker Street“, sagte er. „Mein Gott, du bist ja völlig durchnäßt“, setzte er hinzu, griff ins Handschuhfach und warf ihr ein seidenes Tuch zu. „Hier, bind dir das um.“ Sie nahm das Tuch und roch sofort das intensive, teure Parfüm. Unzweifelhaft Ilenas Parfüm! Mary erinnerte sich sofort daran. Blicklos starrte sie vor sich hin, während der rasche Wagen durch die Pfützen brauste. Ihr war mit einem Schlag klar, daß sie intuitiv immer schon von Errols und Ilenas Verhältnis gewußt hatte. Sie war eigentlich gar nicht so sehr überrascht, es war mehr Traurigkeit, was sie empfand. Im Clairmont, einem typischen Studentenlokal, war es brechend voll, trotzdem
entdeckte Errol noch zwei freie Plätze. Er bestellte etwas zu trinken, und Mary
ließ sich erschöpft auf ihren Stuhl fallen.
„Danke“, murmelte sie, als er ihr das Getränk reichte. Sie wich seinem Blick aus,
denn sie ahnte, daß er sie hierhergeführt hatte, um ihr den Verlobungsring
anzustecken.
Errol saß ihr gegenüber. Er betrachtete sie mit Zärtlichkeit und Besitzerstolz, die
langen Wimpern, die blaßrosa Lippen. Sie hatte das Tuch abgenommen, das Haar
fiel ihr in noch feuchten, glänzenden Locken in die Stirn. Sie sah so jung aus –
und doch schien heute schon der Schatten einer Erfahrung auf ihr zu liegen.
„Ich versprach, dir etwas zu zeigen. Sei doch bitte mal neugierig und frag mich,
was es ist“, scherzte er.
Sie versuchte, nett zu sein und mit ihrer niedergeschlagenen Stimmung
fertigzuwerden. „Nun, was ist es, Errol?“ Als ob ich es nicht wüßte, dachte sie.
Er zog grinsend eine kleine, herzförmige Schachtel aus seiner Jackentasche und
öffnete sie. Eine rosefarbene Perle schimmerte matt inmitten eines Kranzes
winziger feuriger Brillanten. Ein wunderschöner Ring!
Mary spürte, wie er nach ihrer linken Hand griff und den Ring an ihren Finger
steckte. „Jetzt gehörst du mir“, sagte er leise. „Jetzt bist du mein Mädchen,
Mary!“
Am nächsten Tag wurde Ringo operiert. Noch für mehrere Tage danach blieb er
in der sorgsamen Pflege der Schwestern.
Mary vermißte den kleinen, lebhaften Burschen. Aber erst am Samstagmorgen
nahm Paul sie mit zu einem kurzen Besuch.
Die Operation hatte Ringo sehr angestrengt, Paul war jedoch mit seiner Arbeit
zufrieden. Er tröstete Mary, daß der Junge bald wieder obenauf sein werde.
Gemeinsam gingen sie den Flur entlang. Ihre Hände berührten sich aus
Versehen, und Marys Herz klopfte bis zum Hals. Pauls Handrücken hatte den
Verlobungsring von Errol gestreift. Wie nebenbei fragte er: „Wann wollen Sie
mich nun verlassen, Mary?“
„So bald wie möglich“, antwortete sie. „Ich habe mich wegen einer neuen
Sekretärin für sie an eine Agentur gewandt und werde mich auch weiter darum
kümmern, wenn es Ihnen recht ist.“
„Verläßlich bis zuletzt“, bemerkte er sarkastisch.
„Ich möchte Ihnen keine Unordnung hinterlassen.“
Schon von weitem hörte Mary im Büro das Telefon läuten. Ruth Stein fragte nach
Paul. Mary gab ihm den Hörer und holte dann aus der Küche den Kaffee für ihren
Chef.
Als sie zurückkam, eröffnete ihr Paul, daß die Steins ein neues Haus bezogen
hätten und sie sowie ihren Verlobten für morgen zur Einweihung einladen
möchten.
„Gehen Sie auch hin?“ Sie platzte mit ihrer Frage heraus, ohne vorher zu
überlegen.
Paul sah sie spöttisch an. „Hätten Sie was dagegen? Ruth und ihr Mann sind alte
Freunde von mir.“
Sie hörten plötzlich Schritte und unterbrachen ihr Gespräch. Gleich darauf stand
Errol mit einigen Röntgenaufnahmen in der Tür.
„Sie wollten diese Aufnahmen sehen, Dr. Stillman“, sagte er.
Paul lächelte in einer Art, die Mary nicht an ihm mochte. „Ach, Denis, Sie sind
übrigens morgen mit Mary zu der Einweihungsparty bei Steins eingeladen.“
Errol zog die Brauen hoch, und Mary spürte, daß er einen Moment erstaunt war.
Er nahm jedoch ohne Umstände an.
Am nächsten Abend bereitete sich Mary mit recht gemischten Gefühlen auf die
Einweihungsparty vor. Um ihre Stimmung selbst etwas aufzumöbeln, zog sie ihr Lieblingskleid an. Es war bodenlang, mit schwingendem Rock, grün und rosefarben gemustert. Dazu trug sie einen Herzanhänger aus Weißgold. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fand sie, daß sie gehetzt aussah. Wie ein Tier in einer Falle, dachte sie. Hastig griff sie nach ihrem Pelzjäckchen und verließ das Zimmer. Die meisten Gäste auf der Party waren Mediziner. Paul Stillman und Ilena bildeten offensichtlich den Mittelpunkt, sie wurden mit allen Gästen bekannt gemacht. Mary empfand es als Erleichterung, daß ihr Chef sie kaum zu beachten schien. Ilena sah natürlich wie immer atemberaubend aus in einem kaffeebraunen Spitzenkleid mit tiefem Rückenausschnitt. Als sie Mary erblickte, quälte sie sich ein höfliches Lächeln ab. Gleich darauf wanderte ihr Blick zu Errol, und eine stumme Frage war in ihren Augen. Später am Abend bat Ruth Stein Mary, ein bißchen auf dem Klavier zu spielen, „Paul hat mir erzählt, wie gut Sie spielen, Mary – meisterhaft, sagte er.“ Dieses Lob machte Mary verlegen. Aber sie wollte ihrer Gastgeberin den Wunsch doch nicht abschlagen. So setzte sie sich ans Klavier und spielte einige Chopin Stücke, die in ihrer elegischen Art ihrer eigenen Gemütsverfassung am meisten entsprachen. Anschließend tauchte sie gleich in der Menge der Partygäste unter. Ihr war warm geworden, und sie suchte die Kühle in einem kleinen Wintergarten. Dort plätscherte ein Springbrunnen in einem Goldfischteich. Mary ließ sich auf eine Bank unter üppig wuchernden Kübelpflanzen fallen, unter denen sie fast verborgen war. Auf einmal erklangen die Schritte eines Mannes und einer Frau. Instinktiv verkroch sie sich noch weiter in den Schutz der Pflanzen. „Schau, das ist doch viel zu riskant“, hörte sie den Mann sagen und erkannte bestürzt die Stimme Errols mit dem typisch irischen Akzent. „Aber du liebst doch das Risiko, du elender Schuft. Jedenfalls hast du mir das immer gesagt.“ Es klang nicht böse, sondern eher verführerisch, und es war unverkennbar Ilenas Stimme. Mary zog so scharf die Luft ein, daß sie sich fast verraten hätte. Sie wollte keinesfalls ein Gespräch zwischen Ilena und ihrem eigenen Verlobten belauschen, doch da sprach Errol bereits weiter: „Wir haben doch Schluß gemacht, als du aus Paris zurückkamst. Wir waren uns einig, daß unser Verhältnis seinen Reiz verloren hat. Diese Begegnung heute abend hat meine Meinung keinesfalls geändert, Ilena, falls du das gehofft haben solltest.“ „Mein Gott, du bist doch der eingebildetste Kerl, den ich kenne! Glaubst du, ich kann nicht ohne deine Umarmungen leben?“ „Ich denke, du kannst keinesfalls lange ohne einen Mann leben“, erwiderte er lachend. Gleich darauf stieß er einen kleinen Schmerzenslaut aus. „Au, du verdammte Katze, du hast mir fast ein Auge ausgekratzt.“ „Errol, Liebling, hier ist mein Taschentuch.“ „Scher dich zum Teufel! Ich gehe zurück unter zivilisierte Menschen!“ Gleich darauf verklangen seine Schritte. Ilena stand etwa eine Minute lang regungslos und starrte vor sich hin. Sie wirkte so verloren, daß Mary beinahe Mitleid mit ihr hatte. Nachdem Ilena dann ebenfalls schon eine ganze Weile verschwunden war, spürte Mary plötzlich einen Luftzug auf ihren nackten Armen. Gerade wollte sie aus ihrem Versteck kriechen, als ihr Zigarrenrauch in die Nase stieg. Vorsichtig, fast angstvoll, wandte sie den Kopf. Sie begegnete dem Blick ihres
Chefs.
„Sie hier?“
Wie in Stein gehauen stand er und musterte sie mit seinem zwingenden Blick.
Dann griff er nach ihren Händen, und im nächsten Moment fühlte sie sich
hochgezogen.
Sie wollte einen Schrei ausstoßen, doch er fuhr sie leise an: „Still! Sei ruhig!“
Er riß sie an sich. In der kühlen Dämmerung des Wintergartens küßte er sie, wie
sie es sich noch nie erträumt hatte. Er küßte sie, bis ihr der Atem stockte und sie
glaubte, ihr Herz müsse zerspringen.
Sie umschlang ihn und wußte jetzt, daß sie diesen Augenblick von der allerersten
Stunde an herbeigesehnt hatte. „Oh, Paul“, stöhnte sie.
„Mein Geliebtes!“ Seine Stimme war dunkel vor Leidenschaft. „Wenn du nicht
hier gewesen wärst, hätte ich Ilena den Hals umgedreht.“
Sie ruhte in der festen, warmen Umklammerung seiner Arme, und ihren ganzen
Körper durchströmte die Liebe zu diesem Mann. Sie wußte, ihm gehörte sie, mit
Leib und Seele. Wieder spürte sie seine Lippen, die über ihre Augen, ihre Stirn,
ihre Schläfen strichen. Er küßte sie mit steigender Erregung.
Endlich gab er sie frei.
„Geh zurück zu den anderen“, bat er sie. „Ich bin jetzt kein guter Gesellschafter.“
Doch sie rührte sich nicht. Sie war erfüllt von dem Verlangen, ihn zu halten und
zu trösten. Er las den Wunsch in ihren Augen und sagte heftiger als er wollte:
„Na, geh schon! Begreifst du nicht, wann jemand allein sein will?“
Da lief sie von ihm weg, bebend im Aufruhr ihrer Gefühle.
Sie suchte Errol und ging auf ihn zu. „Bitte, bring mich nach Hause.“
Er widersprach nicht. Vielleicht war er selbst froh, die Gesellschaft verlassen zu
können.
Schweigend fuhren sie durch die Nacht. Mary begriff, sie hatte Errol nie geliebt.
Sie hatte ihn immer nur von der Frau fernhalten wollen, die Paul liebte.
Aus unruhigem Schlaf wurde Mary wachgerüttelt. „Mary“, flüsterte Schwester
Truscott, die sich im Schein der Nachttischlampe über sie beugte. „Dr. Stillman
läßt dich rufen. Ringo geht es nicht gut. Er fragt ständig nach dir.“
„Ringo?“ wiederholte Mary und fuhr erschrocken hoch.
Im nächsten Augenblick war sie schon aus dem Bett gesprungen und schlüpfte in
ihren Morgenrock. Mit Scotty eilte sie über das nächtliche Klinikgelände und
betrat wenig später das Zimmer, in dem Ringo lag.
Am Bett stand Paul und sah ihr entgegen. „Es tut mir leid, daß ich dich aus dem
Bett geholt habe“, sagte er leise. „Der Junge hat hohe Temperatur und ruft im
Fieber immer nach dir. Ich hoffe, daß er sich beruhigt, wenn du dich eine Weile
zu ihm setzt.“
„Natürlich werde ich das.“ Mary ging an Paul vorbei zum Bett.
Ringo lächelte schwach, als er sie sah.
Mary setzte sich neben den Jungen und ergriff seine kleine heiße Hand. „Hallo,
Kleiner“, grüßte sie ihn. „Weshalb schläfst du denn nicht, wie es sich für einen
guten Jungen gehört?“
„Ich wollte dich sehen“, murmelte er. „Ich dachte, du wärst weggegangen.“
„Ich war nur zu einer Party, Ringo.“
„War es eine schöne Party?“ wollte er wissen. Seine heißen, mageren Finger
krampften sich um Marys Hand:
„Och, sehr schön“, sagte sie. „Es gab gute Sachen zu essen und zu trinken.“
„Habt ihr auch getanzt und gesungen?“
„Von allem ein bißchen, du weißt ja, wie es auf einer Party ist.“
Während dieser Worte spürte Mary fast körperlich die Anwesenheit von Paul, der
hinter ihr stand und noch immer seinen Abendanzug trug.
Er war also noch nicht im Bett, dachte Mary.
„Sing mir etwas vor“, bat Ringo. „Sing mir das Lied von der Lilie und dem
Reiter.“ Verlegene Röte stieg in ihre Wangen. Doch sie sang leise das Lied, das
dem Jungen so gut gefiel. Noch bevor es zu Ende war, schlief Ringo wieder ein.
Trotzdem sang sie es bis zum Schluß. Dann saß sie nachdenklich und mit
gebeugtem Nacken am Bett des Jungen.
Paul zog sie sanft hoch. „Er schläft, jetzt mußt du auch schlafen gehen.“ Unter
seiner Berührung wurden ihr die Knie weich, und sie spürte, wie ihr das Blut aus
dem Gesicht wich. „Ich werde dir erst mal einen Schluck Kognak geben, bevor du
wieder in dein Zimmer gehst“, setzte Paul rauh hinzu.
„Nein, nein, mir geht es ganz gut…“
„Du schaust aber wie ein Geist aus.“ Dabei wandte er sich an Schwester Truscott,
die sie schon die ganze Zeit über mit freundlicher Neugier musterte. „Behalten
Sie bitte den Jungen im Auge, Scotty. Ich bin bald wieder zurück.“
„Schon gut, Doktor.“
Mary fühlte seine Nähe. Er legte ihr den Arm um die Schulter, sie ging stumm
und überwältigt neben ihm her.
In der Eingangshalle wollte sie sich von ihm lösen und wirklich hinüber in den
Schwesterntrakt. Doch als sie ihn ansah, brachte sie keinen Ton hervor. Sie
erkannte, Paul war ebenso überwältigt wie sie.
So folgte sie ihm schweigend in sein Zimmer. Er schenkte zwei Kognaks ein.
Mary nahm eines der Gläser und setzte sich damit auf einen Lederhocker.
Versonnen starrte sie in ihr Glas, als sei es die Kristallkugel einer Wahrsagerin.
„Was erblickst du in der Zukunft?“ fragte Paul.
„Alles ist verschwommen, nichts klar.“
„Das ist doch nicht wahr, Kleines…“
Sie hob den Blick zu seinem Gesicht. Im nächsten Moment sprang sie auf, setzte
das Glas ab, daß es klirrte, und wollte an ihm vorbei zur Tür.
Doch Paul war schneller. Er packte sie und umfing sie fest.
„Geliebtes… mein Geliebtes…“ Rauh war seine Stimme, aber Mary kämpfte wild
gegen den Druck seiner Arme an. Sie wußte, daß sie ihm unbedingt widerstehen,
daß sie kämpfen mußte – weil sie nur allzugern nachgegeben hätte.
„Nein Paul, bitte nicht…“ Ihre tränennassen Wimpern streiften sein Gesicht, als er
sie hochhob und zur Couch trug.
„Hör doch auf, so widerspenstig zu sein“, sagte er zärtlich und setzte sich neben
sie. „Das hat doch keinen Sinn, du geliebte kleine Närrin.“ Er streichelte ihr Haar
und ihre Arme. „Ich liebe alles an dir“, murmelte er.
Ihre Kraft und Willensstärke verebbte wie ablaufendes Wasser. Sie küßten sich,
und alles Denken war ausgeschaltet. Sie preßten sich aneinander, als ob sie
fürchteten, daß die Außenwelt sie wieder trennen könnte. Mary lauschte seinen
geflüsterten Liebesworten, die sie erregten und auch ein wenig erschreckten.
Auch er hatte schon lange auf diese Stunde gewartet. Sie spürte, wie ein Beben
durch seinen Körper rief, als sie leidenschaftlich ihre Arme um ihn schlang.
„Ich liebe dich, Paul“, sagte sie an seinem Hals, „ich liebe dich.“ Nach dem
Rausch der Ekstase überkam beide ein unaussprechlicher Friede. In stillem Glück
saßen sie eine Weile engumschlungen.
„Die letzten Tage waren furchtbar, diese schreckliche Kälte zwischen uns“,
bekannte Paul. Vorwurfsvoll fuhr er fort: „Wie konntest du nur annehmen, daß
ich Ilena etwas erzähle?“
„Es tut mir leid“, sagte sie.
Er küßte sie auf die Nasenspitze. Doch jetzt, nachdem Ilenas Name gefallen war,
erstarb der Zauber zwischen ihnen, und Mary wollte sich aus seiner Umarmung befreien. Aber er hielt sie so fest, daß es ihr fast weh tat. „Ich kann dich noch nicht loslassen, Mary. Ich habe dich eben erst gewonnen. Wenn ich dich zu schnell freigebe, wird etwas zerreißen.“ Seine Lippen berührten ihre Schläfe, sein heißer Atem streifte sie. Ihre Blicke trafen sich, doch Ilena stand zwischen ihnen – diese Ilena, wie sie beide sie zuletzt gesehen hatten: seltsam verloren und hilflos. „Ich fühle mich gefangen“, stöhnte Paul. „Ich liebe sie nicht. Und du liebst Errol nicht. Wie, zum Teufel, konntest du nur darauf kommen, dich diesem verdammten Schürzenjäger zu opfern?“ Mary mußte lächeln. Sie legte ihm die Hände in den Nacken. Seine Haut roch frisch nach einer Mischung von Teer seife und Zigarrenrauch. Paul spürte ihre Hände, und eine Flut von Zärtlichkeit stieg in ihm auf. Er wollte jetzt ganz nüchtern bleiben, ihr Problem klären. Aber ihr Morgenmantel öffnete sich ein wenig, sein Blick fiel auf hauchzarte Wäsche und ihre junge, weiche Haut. Seine Gedanken verwirrten sich. Mary hörte, wie er ihren Namen in einem neuen Tonfall flüsterte. Sein Atem ging schneller, und ihr wurde bewußt, daß sie nur dünn bekleidet auf seinem Schoß saß. Entschlossen stand sie auf. „Wir müssen vernünftig sein“, meinte sie und trat zum Kamin. Nachdenklich blickte sie auf das Bild, das dort hing. „Erinnerst du dich, Paul, wie du einmal sagtest, daß das lebenspendende Element im Leiden so wichtig sei? Es ist wirklich wichtig – weit wichtiger als unseren Wünschen nachzugeben und aus unserer Liebe ein Abenteuer zu machen.“ „Du hast recht“, knurrte er, „aber es tröstet mich nicht.“ Sie wandte sich um und sah ein bitteres Lächeln um seinen Mund. „Ich kann Ilena nicht im Stich lassen“, erklärte er. „Du hast sie doch heute abend gesehen und weißt genauso gut wie ich, daß sie fähig ist, sich etwas anzutun.“ Mary begriff, daß er an Nadia dachte. Impulsiv ging sie zu ihm, kniete sich an seine Seite und nahm seine Hände. „Wie typisch für dich, Paul! Du kannst niemandem in der Not den Rücken kehren. Deshalb liebe ich dich ja so“, sagte sie. „Es ist das beste, wenn ich fortgehe. Das erleichtert alles.“ Er entgegnete nichts. Mit wiedererwachender Leidenschaft riß er sie in seine Arme, und Mary überließ sich erneut ihren Gefühlen. Er preßte seine Lippen auf ihre. In diesem Kuß lag Liebe, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Mary spürte ihn noch, nachdem sie längst in ihr Zimmer zurückgekehrt war. Ringo ging es langsam besser und besser. Mary war dennoch bedrückt. Die Arbeit nahm sie voll in Anspruch. Sowohl sie als auch Paul vermieden jedes intime Gespräch, jede körperliche Berührung. Denn beide empfanden, daß Liebe unerträglich sein kann, wenn sie keine Erfüllung findet. Als Mary am folgenden Mittwoch nachmittag aus Ringos Zimmer kam und noch über irgendeine altkluge Bemerkung des Jungen lachte, lief sie auf dem Gang Paul direkt in die Arme. Im Moment der unbeabsichtigten Berührung flammte in seinen Augen sekundenlang eine wilde Sehnsucht auf. Doch gleich darauf standen sie einander wieder sittsam wie zwei fremde Menschen gegenüber. „Ringo geht es nun schon wesentlich besser“, stammelte sie, und er begriff sofort, was sie damit meinte. „Wo willst du denn hin, Mary? Etwa nach Hause, nach Norfolk?“ „Nein, nicht nach Hause. Vielleicht suche ich mir eine andere Stellung. Ich habe hier gern gearbeitet, Paul, aber…“
Sie verstummte, denn Alec Gordon kam direkt auf sie zu. „Dr. Stillman, ich wollte gerade zu Ihnen“, rief er schon von weitem. Mary sah, daß es Paul schwerfiel, jetzt Interesse für Alec Gordons Probleme zu zeigen. „Paßt es Ihnen, mit mir zu Mr. Holroyd zu kommen?“ drängte Alec. „Ich mache mir Sorgen um den alten Knaben.“ „Jetzt nicht – später“, sagte Paul und sah Mary an. Sie erkannte in seinem Blick den Wunsch, bei ihr zu bleiben und alles andere zu vergessen, selbst die Sorge um seine Patienten. Sie wußte, es lag jetzt an ihr, ihm zu helfen… „Bitte, gehen Sie mit, Dr. Stillman“, sagte sie leise. „Wir können ja später weitersprechen.“ In ihren Augen war die Bitte: „Laß dich nicht von deinem Verlangen hinreißen. Unsere Liebe soll doch nicht etwas sein, dessen wir uns schämen müßten.“ Und ehe er noch etwas erwidern konnte, ging sie davon. Paul blickte ihr nach. Er wußte, daß sie ihn seiner Arbeit wiedergeben wollte, und es rührte ihn. Trotzdem haßte er alles, was zwischen ihnen stand. Er wandte sich um. Alec Gordon wartete noch auf ihn. „Also schön, gehen wir zum alten Holroyd.“ Erst mehrere Stunden später entdeckte Paul, daß Mary die Klinik verlassen hatte. Auf dem Kaminsims in seinem Zimmer lag ihr Abschiedsbrief: „Lieber Paul, bitte verzeih mir, daß ich davonlaufe. Aber ich liebe Dich zu sehr, um bleiben zu können. Vielleicht ist es später möglich, daß wir uns wie gute alte Freunde begegnen. Das hoffe ich von ganzem Herzen, denn es würde mir schrecklich leid tun, Ringo, Dich und alle, die mir lieb geworden sind, nie mehr wiederzusehen. Bitte gib den beigelegten Ring Errol zurückwich vermuteter wird ihn mit weniger Überraschung und mehr Gelassenheit zurücknehmen, als Du glaubst. Wenn ich weniger von Liebe wüßte, als ich durch Dich nun weiß, hätte ich Errol vielleicht geheiratet. Danke für alles, Paul. Denk nur an Deine Arbeit, und sei zu Ilena so nett, wie Du es immer zu mir warst.“ Später, als der erste heftige Schmerz zu dumpfem Kopfweh geworden war, lief er ruhelos in seinem Büro auf und ab. Es erschien ihm jetzt eintönig und verlassen ohne Mary. Sogar noch an trüben Tagen hatte ihr leuchtendes Haar Sonnenschein in den Raum gebracht. Paul zog eine ihrer Schreibtischschubladen auf, berührte die Kugelschreiber, die Briefumschläge, alles, was sie in der Hand gehalten hatte. Ein vergessener Lippenstift lag in einer Ecke. Versonnen drehte er die Hülse zwischen seinen Fingern und berührte den Stift mit seinen Lippen. Er schloß die Augen und vermeinte den Duft ihres Körpers zu atmen. Erinnerungen fielen über ihn her wie ein Rudel wilder Wölfe… Er warf den Lippenstift in die Schublade zurück, stieß sie zu und ging wieder in sein Zimmer. Am Abend fuhr er ziellos durch die Straßen. Wohin, zum Teufel, konnte sich Mary gewandt haben? Er hatte beide Wagenfenster heruntergelassen, und in der kühlen Abendluft beruhigten sich seine Nerven. Auf einmal wurde ihm bewußt, daß der Herbst Einzug gehalten hatte. Herbst – die Zeit der fallenden Blätter, das Ende des Sommers. Während der nächsten Tage jagten sich die Gerüchte in der Klinik über Marys plötzliches Verschwinden. Schwester Truscott, die Paul Stillman am besten kannte und der nur wenig verborgen blieb, hatte Pauls Zuneigung zu seiner jungen Sekretärin sehr wohl bemerkt. Sie dachte sich jetzt ihr Teil. Aber sie verspürte keine Lust, darüber mit
ihren jüngeren Kolleginnen zu sprechen. Fest stand, daß alle Mary gemocht
hatten. Sie vermißten die gemütlichen Abende, an denen sie das eintönige
Einerlei von Fernsehen und Tratsch mit ihrem Klavierspiel unterbrochen hatte.
Paul stürzte sich Tag und Nacht in seine Arbeit. Die Agentur hatte ihm zwei
Sekretärinnen geschickt, aber er konnte sich für keine von beiden entschließen.
Die eine war ihm nicht ordentlich und gepflegt genug, die zweite stand mit der
Rechtschreibung auf Kriegsfuß. Das ständige Korrigieren zerrte an seinen
Nerven.
Manchmal glaubte er, alles nicht mehr ertragen zu können.
Am Morgen des zweiten oder dritten Tages kam Errol Dennis zu ihm. Wie Mary
voraussagte, hatte er den Verlobungsring gelassen zurückgenommen. Jetzt aber
suchte er ein Gespräch mit Paul. Er glaubte, Mary wäre vor ihm geflüchtet.
„Ich wollte mehr, als sie geben konnte“, sagte er zu Paul. „Ich habe ja gemerkt,
daß sie nicht soviel für mich empfand wie ich für sie – aber ich wollte sie für mich
haben. Das war vielleicht nicht richtig. Ich drängte sie zu etwas, wovor sie
schließlich davonlief.“
„Mary lief nicht vor Ihnen davon, Dennis“, warf Paul ein.
Er war damit herausgekommen, ohne lange nachzudenken. Einen Augenblick
starrten sich die beiden Männer wortlos an.
„Vor Ihnen etwa, Dr. Stillman?“
In Errols Augen blitzte Ärger auf – auch ein Anflug von Neid bei dem Gedanken,
daß Mary für Paul etwa mehr empfunden hatte als für ihn. Errol kannte die
Frauen, und er fragte sich, was in diesem Büro wohl geschehen sein mochte
zwischen Paul und Mary.
Er starrte Paul an und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Was ging hinter
dieser steinernen, undurchdringlichen Maske vor?
Liebte der Mann Ilena oder Mary? Es mußte Ilena sein, überlegte Errol, deshalb
hatte er Mary laufenlassen. Für ihn war es nämlich unvorstellbar, auf ein
Mädchen zu verzichten, das man begehrte, nur weil man einer anderen die Ehe
versprochen hatte.
„Mary war ein wundervolles Mädchen“, sagte Errol und beobachtete das
verschlossene Gesicht vor ihm. Er wollte Paul Stillman aus der Reserve locken.
„Ja “, nickte Paul.
„Ein schönes Gefühl, sie zu küssen, nicht?“ fuhr Errol wohlüberlegt fort.
Paul holte tief Luft: „Zum Teufel mit Ihnen, Dennis’.“
10. KAPITEL Am Abend telefonierte Errol mit Ilena. Er wußte, daß sie aus Paris zurück war.
„Ich möchte dich sehen“, sagte er. „Willst du zu mir kommen, oder soll ich dich
aufsuchen?“
„Wir haben uns nichts mehr zu sagen“, erklärte sie launisch.
„Du wirst erstaunt sein, was ich dir erzähle, chere amie“, versetzte er. „Komm zu
mir.“
„Du willst wirklich, daß ich komme?“
„Ich kann es kaum erwarten.“ Er grinste und legte den Hörer auf. Dann fuhr er
geradewegs nach Hause, ohne noch zum Abendessen in ein Restaurant
einzukehren.
Seine Wohnung befand sich im dritten Stockwerk eines weißgetünchten Hauses
im RegencyStil.
Er mixte gerade die Drinks, als die Türglocke schellte. Früher besaß Ilena einen
Wohnungsschlüssel, aber er hatte ihn nach ihrer Auseinandersetzung auf der
Party zurückverlangt.
Errol setzte den Shaker ab und ging öffnen. Wie immer sah Ilena phantastisch
aus. Sie trug ein mimosengelbes Kostüm. Der breitrandige, schwarze Hut
verschattete ihre Augen. Ihre Lippen glänzten tiefrot.
„Du bist schön“, sagte Errol lächelnd.
Wortlos ging sie ihm in den Wohnraum voraus, und Errol bemerkte wieder einmal
all die bekannten aufregenden Kleinigkeiten an ihr: Die hochhackigen Schuhe,
die ihren Gang so gefährlich träge erscheinen ließen, die glatten dunklen
Strümpfe, die sie immer trug; dann glitt sein Blick über die erregenden Kurven
ihrer Hüften…
Schweigend ließ sie sich auf das Stilsofa fallen. Errol reichte ihr ein Glas und
erhob seines. „Trinken wir auf die alten Zeiten, Ilena!“
„Die sind vorüber“, gab sie zurück. „Du wolltest es so, wenn du dich bitte
erinnern würdest“, setzte sie hinzu.
„Ich erinnere mich an vieles, Ilena, und ich frage mich, ob je einer von uns
beiden alles vergessen könnte.“
Ihre langen Wimpern und der schwarze Rand ihres Hutes tauchten ihr Gesicht in
geheimnisvolles Dunkel. Sie ist so fremdartig schön wie eine weiße Orchidee,
dachte Errol. Sein Blut pulste schneller durch die Adern.
„Ilena“, sagte er leise, „bleibt dein Gewissen völlig unberührt von deiner
bevorstehenden Heirat?“
„Was willst du damit sagen?“ Sie hielt ihr Glas und wippte aufreizend mit den
Füßen.
„Glaubst du nicht, daß Stillman mehr verdient als das, was ein anderer
übrigläßt?“ fragte er mit brutaler Offenheit.
„Das wagst du mir zu sagen?“ Temperamentvoll fuhr sie auf.
„Ist es etwa nicht so, chere amie?“ Er beugte sich vor und sah sie scharf an.
„Das, was ich übriglasse. Oder hast du Stillman noch etwas zu geben, was nicht
mir schon gehörte?“
„Mein Herz!“ sagte sie und wollte ihn verletzen.
„Herz?“ Errol lachte schallend, ging zur Anrichte und mixte sich einen zweiten
Drink. „Du hast alles, Ilena, aber Herz bestimmt nicht. Erinnere dich: Stillman
hatte ein einziges Mal keine Zeit für dich, weil er nach einem Patienten sehen
mußte. Schon hast du mich ermutigt, mit dir zu flirten.“
„Das ist nicht wahr!“ widersprach sie.
Und doch stimmte es. Eines Abends hatte Paul keine Zeit gehabt, mit ihr
auszugehen. Deshalb war sie mit einigen Bekannten zu einer Party gegangen, wo
sie Errol traf. Die von Kindheit an in sich selbst verliebte Ilena fand in Errol eines
der aufregendsten Spielzeuge, das sie je besessen hatte. Besonders die
Tatsache, daß er Pauls Angestellter war, reizte sie. Denn von Paul fühlte sie sich
ständig vernachlässigt, bei ihm kam die Klinik an erster Stelle.
Ihr Gefühl für Paul war von Anfang an eine Mischung aus Haß und Liebe.
Einerseits wünschte sie, daß er auf den Knien vor ihr läge und sie anbetete.
Andererseits wollte sie von ihm beherrscht werden wie eine Tigerin von ihrem
Dompteur. Paul kam weder das eine noch das andere in den Sinn.
Jetzt sah sie Errol fast verzweifelt an und rief: „Ich liebe Paul doch!“
„Aber das ist schon eine merkwürdige Liebe, meine Gute! Du warst noch nicht
mit Stillman verlobt, da hast du ihn schon mit mir betrogen.“
„Du – du irischer Bauer!“ Sie hob ihr Martiniglas und warf es Errol wütend ins
Gesicht. Es zerbrach und schnitt ihm in die Wange. Blut tropfte ihm auf die
Smokingjacke. Er zog ungerührt sein Taschentuch hervor und drückte es gegen
die Wunde.
„Mein Gott, habe ich dich verletzt?“ Entsetzt sprang Ilena auf und lief zu ihm. Sie
versuchte, das Taschentuch wegzuziehen, doch er wehrte sie ab. „Errol, habe ich
dein Gesicht zerschnitten?“
„Beruhige dich. Ich habe schon öfter Verletzungen von dir überstanden“,
erwiderte er und ging ins Bad. Er ließ kaltes Wasser über die Wunde fließen.
Ilena folgte ihm und sah ihm ratlos zu.
„Du kannst mir ein Pflaster geben, dort aus dem Schrank!“ forderte er.
Sie gehorchte. Mit nervösen Händen suchte sie nach der Schachtel mit den
Heftpflastern, die sie dann erst zu Boden fallen ließ.
„Du würdest eine verdammt miese Krankenschwester abgeben“, brummte Errol.
Er bückte sich, machte das Pflaster bereit und »betrachtete im Spiegel seine
Wunde.
„Verzeih mir!“ sagte Ilena. „Ich habe es nicht gewollt.“
Er wandte sich um und sah, daß Tränen in ihren großen Augen standen. Das
hatte er noch nie zuvor an ihr erlebt. Ihre Lippen zuckten. Aufschluchzend lief sie
ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf die Couch fallen.
Errol trat zu ihr und nahm ihr den Hut ab. „So, jetzt kannst du bequemer
weinen.“ Er setzte sich in einen Sessel und steckte sich eine Zigarette an. Beim
Rauchen beobachtete er kühl, wie ihr Körper vom krampfhaften Schluchzen
geschüttelt wurde.
„Kann ich – kann ich ein Taschentuch haben“, sagte sie schließlich weinerlich.
„Wenn du mir versprichst, mich nicht mehr irischer Bauer zu schimpfen.“
„Weshalb nicht?“ fragte sie aufsässig und wandte ihm ihr verschmiertes Gesicht
zu.
„Weil ich keiner bin, Liebling.“ Er warf ihr sein Taschentuch zu. „Ich glaube, wir
sind genau die Typen, die zusammengehören“, sagte er ruhig und nahm einen
langen Zug von seiner Zigarette.
Am nächsten Morgen telefonierte Ilena mit Paul und bat ihn, mit ihr zum Essen
zu gehen.
Als er gegen ein Uhr im SavoyGrill erschien, fiel ihr sofort auf, wie müde und
abgespannt er aussah.
Sie griff freundschaftlich nach seiner Hand. „Du arbeitest dich noch einmal zu
Tode! Hast du immer noch keine neue Sekretärin?“
„Nein, noch nicht. Wollen wir einen Drink nehmen?“
„Ja, bitte. Ich muß mit dir reden, Paul. Aber laß uns erst das Essen bestellen.“
Als die Gerichte gebracht wurden, aß Ilena mit gutem Appetit. Paul dagegen
rührte kaum etwas an.
„Mein Armer, bist du so unglücklich?“ fragte sie und blickte ihm in die Augen.
„Würde es dir helfen, wenn ich das hier vorschlage?“
Damit zog sie den Verlobungsring vom Finger und legte ihn auf den Tisch. Paul
wußte nicht, ob er träumte. Er starrte auf den Ring, dann auf Ilena.
„Jetzt siehst du mich an wie die Gans, wenn es donnert“, meinte sie lächelnd.
„Ja – also…“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und räusperte sich. „Was soll
ich davon halten, Ilena? Spielst du mir hier Theater vor? Oder ist es dir ernst?“
„Es ist mir ernst, Paul.“
Er legte den Zeigefinger auf den Ring, der noch warm war von ihrer Hand. „Willst
du unsere Verlobung lösen?“
„Das ist es doch, was du dir wünschst, oder nicht?“
„Nun hör mir mal genau zu, Ilena“, sagte er gepreßt. Schlaflose Nächte hatten
die Fältchen um seine Augen vertieft. „Wenn du nur mit mir spielst, werde ich dir
deinen hübschen Hals umdrehen – wie ich das schon vor ein paar Wochen
vorhatte.“
Erstaunt sah sie ihn an. „Wie bitte?“
„Ich habe zufällig so eine kleine Plauderei zwischen dir und Errol Dennis
mitangehört – bei Ruth Steins Party“, stieß er zwischen zusammengepreßten
Zähnen hervor. „Eigentlich wollte ich dich gleich zum Teufel jagen, aber
schließlich bin ich Arzt. Da lernt man Nachsicht.“ Er wandte keinen Blick von
ihrem aparten Gesicht. „Vor allem wollte ich verhindern, daß du dir etwas antust,
wie wir das mit Nadia erlebt haben. Und auch dir mußte ich einmal
Schlaftabletten wegnehmen.“
Er schwieg und erinnerte sich an jene Nacht.
Ilena aber lachte! Ein schallendes, fröhliches Gelächter. Ihre scharlachroten
Fingernägel blitzen, als sie das Weinglas ergriff.
„Du bist der netteste Mann der Welt, Paul. Und mit meinem besseren Ich liebe
ich dich auch. Aber Cherie, ich bin schließlich viel zu hübsch, um schon mit
vierundzwanzig zu sterben, nicht wahr?“
Sie hob das Weinglas an den Mund und fuhr mit den Lippen spielerisch über den
Rand. Paul starrte sie stumm, in kaltem Zorn an. In diesem Augenblick haßte er
sie. Sie fühlte es.
„Uns haben immer Welten getrennt“, sagte sie nach einer Pause. „Wir beide
wußten das auch schon lange. Aber so richtig ist es mir erst aufgefallen, als sich
Mary Lester in unsere Beziehung schlich. Sie spricht deine Sprache. Ihr
empfindet ähnlich. Du hast ja keine Ahnung, Paul, wie deine Augen dich jedesmal
verrieten, sobald nur ihr Name fiel. Ich hätte sie dir dann am liebsten
ausgekratzt.“
„Du kleine Barbarin!“ Er lachte trocken auf und leerte sein Weinglas. „Weshalb
wolltest du mich je heiraten, Ilena?“
Sie zuckte die Achseln. „Du bist eben anders als die meisten Männer. Ich dachte,
du könntest mich zähmen und eine bessere Frau aus mir machen. Lach nicht! Ich
wollte mich wahrhaftig bessern! Vielleicht wäre mir das sogar gelungen, hättest
du mich nicht an einem Abend im Stich gelassen, und wäre ich nicht zu einer
gewissen Party gegangen, wo mir Errol über den Weg lief. Er ist ein Schuft! O ja,
er ist ein ganz gemeiner Schuft!“
Sie lachte wieder, aber tief in ihrem Innern schien sie zu weinen. Sie sah Paul an.
„Ich habe dir weh getan, mon ami, habe dein Vertrauen mißbraucht. Ich verdiene
deinen Haß.“
Aber in Pauls Blick lag nichts als müde Verachtung. „Ach, Haß“, wehrte er ab.
„Wir waren uns immer fremd. Das ist alles. Mary – Mary war die Sonne,
verglichen mit dir. Du warst dunkle Nacht, sie heller Tag.“ Es gab weiter nichts mehr zu sagen. Sie standen auf und wollten gehen. Da griff Paul nach dem Diamantring, er gab ihn Ilena zurück. „Behalte ihn. Sollte ich Mary jemals wiederfinden, so werde ich sie nicht mit dem kalten Feuer eines Diamanten beschenken.“ „Hast du überhaupt keinen Anhaltspunkt, wo sie sein könnte?“ fragte Ilena. „Nicht den geringsten“, antwortete er. Sie reichten sich die Hände. Ilena wollte noch etwas sagen, unterließ es aber. Sie drehte sich um und ging fort aus seinem Leben. Am Sonnabend machte sich Paul so früh wie möglich auf den Weg nach Norfolk. Vielleicht wußte Marys Familie, wo sie steckte. Doch sein Besuch wurde ein einziger Reinfall: Zwar hatte Marys Tante mehrere Briefe von ihr erhalten, jeder versehen mit einem Londoner Poststempel. Aber keiner trug einen Absender. „Weshalb arbeitet sie denn nicht mehr bei Ihnen?“ Tante Marjorie schaute Dr. Stillman erschrocken und fassungslos an. „Sie war doch so glücklich in Ihrer Klinik. Das hat sie mir selbst gesagt.“ Paul war etwas verlegen. Schließlich erzählte er, was sich in London abgespielt hatte. Richard Lester hörte aufmerksam zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Als Paul seinen Bericht beendete, platzte er heraus: „Sie war schon immer ein äußerst schwieriges Mädchen. Lassen Sie sie gehen, Dr. Stillman. Vergessen Sie Mary. Sie würde Ihnen nur mehr Ärger machen, als sie wert ist.“ „Richard!“ rief seine Frau entrüstet. „Wie kannst du nur so herzlos sein.“ „Hör mir mal zu, Marjorie! Als das Mädchen nach London fuhr, war mir gleich klar, daß sie in Schwierigkeiten kommen würde. Sie hat sich alles selbst eingebrockt.“ „Nein, Mr. Lester“, widersprach Paul entschieden. „Mary ist nicht in Schwierigkeiten. Sie sind im Irrtum, wenn Sie glauben, sie hätte alles falsch gemacht. Sie…sie war wunderbar. In jeder Beziehung.“ „Ach ja?“ Spöttisch hob Richard Lester die Augenbrauen. „Sie halten es für richtig, wenn eine Sekretärin nichts unversucht läßt, damit ihr Arbeitgeber sich Hals über Kopf in sie verliebt?“ „Das hat sie nicht herausgefordert“, versetzte Paul aufgebracht. „Sie hat mich zu nichts ermutigt. Im Gegenteil, sie war bemüht, unser Verhältnis so unpersönlich wie möglich zu gestalten. Deshalb hat sie ja schließlich auch die Klinik verlassen. Und jetzt… jetzt, zum Teufel, weiß ich nicht einmal, wo sie steckt! Ich habe schon in der Musikhochschule nachgefragt, weil ich dachte, sie hätte sich dort vielleicht eingeschrieben. Jede Agentur, die Sekretärinnen vermittelt, habe ich bereits abgeklappert. Vergeblich! Keine Spur von Mary.“ Ratlos schaute Paul von einem zum andern. „Heute weiß ich, daß ich mir mein ganzes Leben lang ein Mädchen wie Mary wünschte“, gestand er. „Und nun habe ich sie verloren. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie mich dieser Gedanke quält. Aber ich will Sie nicht länger belästigen.“ Er wandte sich an Marys Tante. „Mrs. Lester, werden Sie mir Nachricht geben, falls Sie doch noch etwas von Mary hören?“ „Natürlich werde ich das, Dr. Stillman.“ Sie drückte impulsiv seinen Arm, gerührt, daß dieser gewandte, selbstbeherrschte Mann so verzweifelt war. Sie mußte immer wieder seine Augen ansehen. Die merkwürdige Silbergrautönung erinnerte an Eis, das jedem Druck standzuhalten scheint, bis es dann plötzlich und ohne Vorankündigung zerspringt. Es waren die Augen eines leidenschaftlich Liebenden, und für einen Augenblick ahnte Marjorie Lester, wieviel Kraft es Mary gekostet haben mußte, diesem Mann davonzulaufen.
„Dr. Stillman, unsere Nichte wird bestimmt bald wieder von sich hören lassen. Sie weiß immerhin, daß wir uns Sorgen machen.“ Tante Marjorie lächelte tröstend. „Wollen Sie nicht zum Abendessen bleiben? Unser Sohn Derek würde Sie bestimmt gern kennenlernen. Er spielt Kricket für die hiesige Mannschaft.“ Paul mochte diese warmherzige Frau auf Anhieb. Doch er mußte zurück in die Klinik. Ja, Gott sei Dank hatte er die Klinik und seine Arbeit! Das dachte er noch oft in den kommenden Tagen, die soviel Neues brachten: Ilena und Errol Dennis heirateten Hals über Kopf und machten sich gleich auf die Hochzeitsreise nach Südfrankreich. Nadia, die sich wieder erholt hatte, ging zu ihrem Vater und wartete auf den Tag, an dem Rene Blanchard frei sein würde. Paul hatte auch zu Neil Farning Verbindung aufgenommen und sie gebeten, Ringo zur Adoption freizugeben. Er wollte ihn adoptieren. Sie weigerte sich jedoch beharrlich. Als Paul seinen Rechtsanwalt mit der Angelegenheit betraute, kam die Sache prompt in die Zeitung. Aber selbst wenn Mary auf diese Weise davon erfuhr, so erwähnte sie nichts in ihren Briefen, die sie pünktlich alle 14 Tage an ihre Tante schrieb. Immer mit dem Londoner Poststempel und ohne Absender. Paul begann zu fürchten, daß sie für immer aus seinem Leben verschwunden war. Eines Tages sah er wie gewöhnlich die Post durch. Es war ein trüber, regnerischer Morgen. Seine neue Sekretärin, eine nette Witwe in mittleren Jahren, war noch nicht gekommen. Sie wohnte so dicht bei der Klinik, daß sie auf das ihr zustehende Zimmer im Schwesternhaus verzichten konnte. Bis auf das Ticken der Uhr und das Rascheln des Papiers in seiner Hand war es still. Tiger schubbte sich genüßlich das Fell am Stuhlbein und schaute erschrocken auf, als Paul leise durch die Zähne pfiff. Den Schwanz steil in die Höhe gereckt, kam das Tier neugierig näher. Es spürte instinktiv, daß etwas Aufregendes vorgefallen war. Mit einem Satz war es auf dem Schreibtisch und rieb sich das Fell nun an Pauls Schulter. Aber diesmal reagierte Paul nicht auf diese Zärtlichkeit. Wie gebannt starrte er auf einen Brief in seiner Hand. „Sehr geehrter Dr. Stillman, Sie werden bestimmt überrascht sein, einen Brief von einem Fremden zu erhalten. Meine Frau und ich machen uns große Sorgen um die junge Dame, die bei uns arbeitet. Sie war auch mal bei Ihnen angestellt. Ich glaube, sie hatte ein unglückliches Erlebnis mit einem jungen Mann. Sie ist aber auch hier nicht glücklich, und deshalb möchten wir helfen, das Mißverständnis aufzuklären. Wenn Sie diesen Mann zufällig kennen, könnten Sie ihm vielleicht sagen, daß sie bei uns arbeitet. Ich bin Jake Warner, meine Adresse steht oben auf dem Brief. Miss Mary hat keine Ahnung, daß ich Ihnen schreibe. Wenn sie davon erfährt, wird sie uns bestimmt verlassen. Aber sie ist so ein nettes Mädchen, und meine Frau und ich möchten sie so gern glücklich sehen…“ Der Brief fiel Paul aus der Hand, als er Scottys Telefonnummer wählte. Sie ließ sofort alles stehen und liegen, denn sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, wann ihm wirklich etwas eilig war. Als sie gleich darauf vor ihm stand, erklärte er in knappen Worten, daß er sofort nach Norfolk müsse und sie Alec Gordon bitten solle, sich einstweilen allein um die Klinik zu kümmern. Sie begriff und sah ihm nach, als er im Sturmschritt aus dem Büro eilte. In Attleborough angekommen, erkundigte er sich in der Dorfschänke nach Jake Warners Farm. Es war ein ziemlich großes, abgelegenes Anwesen, wie Paul gleich darauf feststellte. Genau der richtige Ort, um sich vor der Welt zu verbergen. Enten und Hühner flatterten auf, als Paul seinen Bentley auf den Hof vor das langgestreckte Farmhaus lenkte. In einer Ecke des Hofes hängte eine Frau Wäsche zum Trocknen auf. Als sie den
Wagen hörte, kam sie näher. „Guten Tag“, grüßte sie, als Paul ausstieg. Forschend wanderten ihre Blicke über seinen dunklen Mantel. Sie erkannte sofort, daß er nicht aus dieser Gegend kam, sondern ein Städter war. „Sie wollen bestimmt meinen Mann sprechen“, meinte sie bedächtig. „Ja, falls Ihr Mann Jake Warner ist“, nickte Paul. „Er schrieb mir diesen Brief.“ Er zog ihn aus seiner Brieftasche. „Herrjeh!“ Erschrocken schlug sie die Hände zusammen. „Dabei hab’ ich ihm gleich gesagt, er soll sich da raushalten. Es geht ihn doch, nichts an, wenn das Mädel von ihrem Freund nichts mehr wissen will.“ „Mrs. Warner“, sagte Paul mit mühsam unterdrückter Ungeduld, „wo ist sie?“ „Sie… Sie sind also der bewußte…?“ „Ich glaube schon“, gab Paul trocken zurück. „Du großer Gott!“ stieß die Frau hervor. „Ich hoffe bloß, sie wird uns das nicht übelnehmen. Wir stecken unsere Nase sonst bestimmt nicht in Dinge, die uns nichts angehen.“ Am liebsten hätte Paul die Frau gepackt und geschüttelt, damit sie endlich verriet, wo er Mary finden könnte. „Bitte, Mrs. Warner, ich komme von weither. Ich möchte Mary gern sehen…“ „Sie füttert die Schweine. Kommen Sie – ich bringe Sie hin.“ Die Frau führte ihn quer über den Hof, dann um das Haus herum, wo Birnbäume ihre letzten Früchte ins Gras abwarfen und der steife Wind den Geruch von Schweinen herübertrug. Überall liefert quiekende Ferkel und grunzende, schwerfällige Säue durcheinander. Von einer kleinen Hütte her drang das Schimpfen einer hellen Stimme. Sie hätte keine Lust, sich fressen zu lassen, rief Mary den Schweinen zu, Fressen gäbe es nur aus den Trögen. Paul verzog gequält das Gesicht. Aber dann eilte er mit langen Schritten zu den Ställen hinüber. Kopfschüttelnd schaute die Bäuerin ihm nach. Der kühle Herbstwind strich über ihre bloßen Arme. Jake und sein weiches Herz! Jetzt hatte er sie mit seiner Gutmütigkeit und diesem vermaledeiten Brief noch um ein Paar hilfreiche Hände gebracht… Vorsichtig ging Paul um den Stall herum. Er wollte Mary sehen, ehe sie ihn entdeckte. In den bis zu den Knien aufgerollten Hosen und der Hemdbluse, die lose auf ihre schmalen Hüften fiel, wirkte sie wie ein Junge. Sie hatte die Haare im Nacken zusammengebunden, zu ihren Füßen drängte sich eine ganze Schar grunzender Borstentiere. Sie leerte gerade einen großen Eimer in den Trog, und die herandrängenden Schweine warfen die zarte Mary beinahe um. Sie schienen tatsächlich gierig genug, über sie herzufallen! „Mary!“ rief Paul. Sie erstarrte, aber sie drehte sich nicht um. Sie glaubte zu träumen und fürchtete, die Phantasie hätte ihr einen Streich gespielt. „Mary!“ rief er noch einmal. Laut polternd fiel ihr der Eimer aus der Hand. Als sie herumfuhr, schien ihr Gesicht nur aus strahlenden grünen Augen zu bestehen. Weit öffnete Paul die Arme. Sie lief los und warf sich ihm entgegen. Nein, es war kein Traum… Sie spürte, wie seine Arme, sich leidenschaftlich um sie schlossen. Zum erstenmal seit vielen Wochen fühlte sie sich wieder richtig lebendig. Ihre Lippen waren ebenso hungrig wie seine. „Paul, Lieber! Ich… ich komme doch von den Schweinen“, protestierte sie dennoch. „Wenn du mich weiter so festhältst, wirst du ebenso abscheulich riechen wie ich.“
„Chanel Nr. 5 könnte nicht so aufregend duften wie du.“ Er verschlang sie mit Blicken und Küssen. Da wußte sie endgültig, daß ihr Traum Wahrheit geworden war. Er liebte sie, er begehrte sie! Er umarmte sie, daß es schmerzte – nach diesem Schmerz hatte sie sich so lange gesehnt! „Du kleiner Teufel“, flüsterte er. „Läufst mir einfach davon und machst mich zum unglücklichsten Mann der Welt. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, daß ich fast verrückt wurde!“ „Ich…. ich wollte doch nur das Beste für dich.“ Tränen zeichneten glänzende Spuren auf ihre Wangen, als sie erkannte, daß sie ihm Leid zugefügt hatte. „Wie hast du mich überhaupt gefunden?“ fragte sie und setzte zögernd hinzu: „Weshalb bist du gekommen, Paul – weshalb?“ „Ich habe dich gefunden, weil Jake Warner dachte, du könntest ohne deinen Freund nicht mehr leben. Deshalb hat er mir geschrieben – Gott segne ihn dafür!“ Er zwinkerte ihr frech zu. „Brauchst du einen Mann, Miss Lester, mein Geliebtes? Frei, mit leicht angegrauten Schläfen?“ „Paul, sag mir erst, was geschehen ist.“ Für einen Moment stieg die alte Verzweiflung in ihr auf. Sie erinnerte sich, weshalb sie ihn verlassen hatte. Zärtlich sagte er: „Es ist alles gut, Mary! Schau mich nicht so an, Ilena hat mich freigegeben und gleich darauf Errol geheiratet.“ Himmel und Erde schienen auf einmal zu verschmelzen. Mary sank glücklich an Pauls Schulter. „Ich liebe dich“, flüsterte sie. „Und jetzt, da ich dich lieben darf, kann ich kaum sprechen.“ Der Augenblick war so kostbar, so unerträglich schön, daß Paul versuchte, ihn mit einem kleinen Scherz erträglich zu machen. „Weißt du, Liebling“, sagte er grinsend, „du duftest wirklich ziemlich stark.“ Aber er strafte sich selbst Lügen, denn wieder schloß sich sein Mund um ihre Lippen, er zog sie dicht an sich. Nach einer Ewigkeit fragte er leise: „Willst du mich heiraten, du duftendes, kleines Etwas?“ „Hmm, ja!“ Ihre grünen Augen strahlten. „Kaum zu fassen – der gute alte Jake schrieb dir einen Brief! Weißt du, wir haben uns damals im Zug kennengelernt, als ich nach London fuhr. Da habe ich ihm auch erzählt, daß ich in deiner Klinik anfangen würde. Was hat er eigentlich in seinem Brief geschrieben?“ „Daß du unglücklich wärst, und das könnte er nicht mit ansehen. Ich sollte dem bewußten Freund von dir deine Adresse geben.“ Er küßte sie auf die Nasenspitze. „Dein junger Mann ist dem guten Jake Warner unendlich dankbar dafür. Aber eines mußt du mir noch verraten: Wieso trugen alle Briefe an deine Tante einen Londoner Poststempel?“ Mary lachte. „Jake besuchte alle vierzehn Tage seine Schwester im Krankenhaus in London. Ich habe ihn beschwatzt, dort meine Briefe in den Kasten zu werfen.“ „Du warst wirklich zu allem entschlossen, nur um mich abzuschütteln, nicht wahr?“ knurrte Paul mit einem lustigen Augenzwinkern. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. „Ich war so unglücklich, Paul. Manchmal mußte ich mich mit Gewalt davon abhalten, zu dir zu kommen. Ich brauchte dich doch so! Ach, hätte ich nur gewußt, daß zwischen dir und Ilena alles längst aus war!“ „Denk jetzt nicht mehr daran, Geliebtes.“ Er schmeckte das Salz ihrer Tränen auf seinen Lippen. „Wir haben noch so viele Jahre vor uns, um diese bösen Wochen zu vergessen. Versuch mal zu lächeln, damit wir zu den Warners gehen und ihnen sagen können, daß ich dich gleich mitnehme – nach Hause.“ „Sofort? So wie ich bin – in diesen alten, riechenden Sachen?“ „Genauso wie du bist. Ich werde dich keine Minute mehr aus den Augen lassen. Komm!“ Sein Arm lag fest um ihre Taille, als er sie von den grunzenden,
quiekenden Schweinen fortführte.
„Hat Ringo mich vermißt?“ wollte Mary wissen.
„Und wie! Ich habe eine kleine Rauferei mit Neil Farning gewonnen, und ich
glaube, ich werde Ringo bekommen. Sie läßt ihn bestimmt gehen, denn sie weiß,
daß sie ihm nichts bieten kann. Aber wir beide können ihm Liebe geben, nicht
wahr?“
Mary lächelte in Pauls Augen. Zwischen ihnen war Liebe im Überfluß. Während
der Wind an ihren Haaren zerrte, spürte sie, wie Paul seine Schritte
beschleunigte und sich der Druck seines Armes besitzergreifend verstärkte.