ARTHUR K. BARNES Almussens Komet
(Interplanetary Hunter) Aus dem Amerikanischen übersetzt von Edith und Helmut Bittner...
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ARTHUR K. BARNES Almussens Komet
(Interplanetary Hunter) Aus dem Amerikanischen übersetzt von Edith und Helmut Bittner
Das riesige Objekt des Fernrohres im Observatorium auf dem Mount Everest hatte die Belastungen des kältesten Klimas und der Plazierung auf der höchsten Erhebung der Erde ertragen. Niemand konnte voraussehen, daß Gerry Carlyle sich eines Tages dieses Fernrohres bedienen würde. Sie tat es nun. Der unheil schwangere Ausdruck in ihrem Blick wäre durchaus dazu ange tan gewesen, den Berylliumstahl der Teleskopfassung zum Schmelzen zu bringen. Gerry kannte sich selbst nicht mehr vor Wut. Sie hatte sich in rasenden Zorn hineingesteigert, um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen. Gerry Carlyle, die berühmteste Tierfängerin des ganzen Sonnensystems und wagemutige Erforscherin ferner Sterne, der auf diesem Gebiet niemand gleichkam, durfte es sich einfach nicht leisten, weibliche Schwäche zu zeigen. Noch immer hatte sie erreicht, was sie wünschte. Ihr stets wacher, durch nichts zu besiegender und allen Gefahren gewachsener Mut setzte sich überall durch. Hinzu kam eine umfangreiche Erfahrung in diesem seltsamen Beruf, der sie praktisch bereits auf alle Planeten unserer Sonne geführt hatte. 3
Gerry saß vor dem Bildschirm des riesigen Teleskops und beobachtete die glühenden Feuer von Almussens Komet. Dabei kam ihr immer stärker zu Bewußtsein, daß sie im Begriffe stand, das größte Unternehmen in ihrer unglaublichen Laufbahn zu verpassen. Die Sache wurde dadurch besonders schlimm, daß Gerry drin gend einen neuen Erfolg brauchte. Der Londoner Zoo bezahlte sie hauptsächlich nach Leistung. Ihr Mitarbeiterstab aber wollte re gelmäßig seine guten Bezüge ausgezahlt haben. Sparsam war Gerry niemals gewesen. Dauernd mußten neue Ausrüstungsge genstände angeschafft werden. Umfangreiche Forschungsarbei ten verschlangen viel Geld. Hinzu kamen die nicht geringen Unterhaltungskosten für die „Arche“. Seit Monaten hatte Gerry kein neues Untier mehr entdeckt. Die „Arche“ befand sich auf der Werft und wurde grundüberholt. Neue Apparate und Geräte letzter Konstruktion wurden eingebaut. Das Geld wurde knapp. Dieser letzte Umstand bereitete Gerry nicht besonders viel Sorgen. Natürlich, ihre Leute mußten bezahlt werden. Die wirk liche Gefahr aber lag darin, einen wichtigen Auftrag nicht aus führen zu können. Gerry war der Gedanke verhaßt, zum Müßig gang verurteilt zu sein, wo es doch sicherlich noch viele Untiere im Sonnensystem gab, die nicht von ihr gefangen und einge sperrt waren. Die tapfere, junge und weltberühmte Frau fühlte sich einfach nicht wohl, wenn sie nicht ihren überlegenen Geist gegen die Unwesen fremder Welten und gegen schier unglaub liche Geschöpfe einsetzen konnte. Ihr fehlte die Aufregung, bis an den Rand des sicheren Todes vorzustoßen und unverletzt zurückzukehren. Nun schickte sich eines der größten Rätsel des fernen Welt raumes an, sich ihrer Reichweite zu nähern. Aber Gerry war zur Bewegungslosigkeit verdammt. Das tollste wissenschaftliche Abenteuer ihres Lebens war in greifbare Nähe gerückt. Gerry aber sah sich an die alte Erde gefesselt. 4
Almussens Komet raste auf die Sonne zu. Gerry stand bewegungslos in der Mitte des Raumes, der nicht sonderlich an ein Observatorium erinnerte. Vielmehr han delte es sich um ein kleines, sehr gut ausgestattetes Zimmer, wie es deren hier ein Dutzend andere gab. Sie enthielten alle einen Sichtschirm, der mit dem gigantischen Teleskop verbun den war. Voll bitterer Gedanken betrachtete sie die zuckenden Feuer des Kometen. Am liebsten hätte Gerry vor sinnloser Wut auf den Fußboden gestampft. Das kleine Fernsehtelefon in der Ecke begann zu summen. „Anruf für Miß Carlyle … Fernruf aus London …“ Die junge Frau eilte zu dem Apparat hinüber und drehte an einem Schalter. Auf dem Sichtschirm erschien das bekümmerte Gesicht eines Mannes. „Nun?“ schnauzte Gerry ihn an. „Es tut mir schrecklich leid“, sprach das Gesicht voller Be dauern. „Jan Hallek kann nicht vor Ablauf eines Monats von seiner Expedition zum Merkur zurückkehren. Selbst dann würde sein Raumschiff noch nicht zur Verfügung stehen. Es muß zu vor einer Generalüberholung unterzogen und obendrein für Ihre besonderen Zwecke hergerichtet werden. Außerdem …“ Wütend schaltete Gerry das Gerät ab. Mit ungebärdigen Schritten lief sie in dem engen Käfig auf und ab. Dabei ver fluchte sie ihr Schicksal, das sie an der Erde festbinden wollte, während das größte Abenteuer ihres Lebens gleichsam an ihrer Nase vorüber durch den Weltenraum segelte, um niemals zu rückzukehren. Das Fernsehtelefon summte noch mehrere Male. Immer wie der erschienen Gesichter mit bedauernden Mienen auf dem Bildschirm. Von nirgendwoher erhielt Gerry erfreuliche Kunde. Die Tür sprang auf. Ein hochgewachsener, dunkelhaariger, junger Mann trat ein. Er sah erschöpft und erhitzt aus. Mit wü 5
tender Geste warf er seine Mütze quer durch das Zimmer und ließ sich in einen Sessel sinken. „Nun, Captain Strike?“ Gerrys messerscharfe Zunge und ihr Tonfall verrieten, was in ihr vorging. „Ehe du einschläfst, könn test du mir wenigstens berichten, was für Fortschritte du erzielt hast.“ Tommy Strike grinste verhalten. „Du weißt es im voraus, kleines Kätzchen.“ „Du sollst mich nicht Kätzchen nennen!“ „Also – Katze“, verbesserte sich Tommy. „Die ‚Arche’ kommt keinesfalls in Betracht. Sämtliche Triebwerke sind bis zur letzten Schraube auseinandergenommen worden. Das ganze Raumschiff wird von Grund auf überholt. Es wird noch lange, lange Zeit in Anspruch nehmen – und, übrigens, du bist In scheußlicher Laune.“ „Das ist nicht wahr!“ „Doch! Ich warne dich. Laß deine schlechte Laune nicht an mir aus. Ich bin selbst nicht gerade in bester Verfassung. Ein unrechtes Wort genügt und ich lege dich übers Knie, um dir den Hintern zu versohlen.“ Gerry warf dem sonst von Natur aus so gutmütigen Tommy einen schiefen Blick zu. Offenbar machte er Ernst. Sie lächelte um Entschuldigung bittend und wandte sich einem arideren Mann zu, der gerade eintrat. Der Ankömmling war von kleiner Statur und hatte ein Ge sicht, das einer blaßgelben Backpflaume glich. Eine riesige Hornbrille zierte sein runzeliges Antlitz. Professor Langley, Chef des Observatoriums auf dem Mount Everest, balancierte eine schlechtsitzende Perücke auf dem kahlen Schädel. „Hm, Miß Carlyle“, begann Langley in seiner krächzenden Sprechweise, „ich habe alle Daten zusammengetragen, die Sie haben wollten.“ Er warf einen Blick auf den zerknitterten Zettel in seiner Hand und begann mit raschen, monotonen Worten 6
vorzutragen: „Almussens Komet ist einer der größten, die je mals in das Sonnensystem eingedrungen sind. Sein Kern mißt im Querschnitt achttausend Meilen. Er ist damit beinahe so groß wie Donatis Komet, der 1858 beobachtet wurde. Aller dings erscheint die Masse dieses Kometen viel dichter. Wahr scheinlich ist er dicht genug, um das Gewicht eines Menschen zu tragen.“ „Tommy!“ Gerrys Augen leuchteten vor Erregung auf. „Hast du das gehört?“ Strike nickte langsam und zog die Augenbrauen zusammen. Er begriff, daß diese Informationen für Gerry einen neuen schweren Schlag bedeuteten, weil sie sich ihrer nicht bedienen konnte. „Hm – der Kern des Kometen ist nicht ganz so groß wie unser Mond. Es scheint sich dabei um einen Kometen zu handeln, der nur in sehr weiten Zeiträumen einmal auftaucht. Vielleicht ge hört er überhaupt nicht zu unserem System und kommt aus fernsten Räumen. Mit anderen Worten“, – selbst Langleys kühle Stimme verriet innerlichen Schmerz. „Wir werden ein erneutes Auftauchen dieses Kometen nicht mehr erleben.“ Gerry kaute an ihrer Unterlippe. Strike warf ihr einen raschen Blick zu und schaute dann in die fernste Ecke des Zimmers. „Cyanogen ist in großen Mengen vorhanden“, dozierte der Professor weiter. „Außerdem haben wir Natrium, verschiedene gewöhnliche Metalle wie Eisen und Bauxit festgestellt, ferner auch Hydrocarbonate.“ „Kohlenwasserstoffe!“ rief Gerry. „Das könnte – Leben be deuten.“ Langley runzelte die Stirn. „Auf einem Kometen? Ziemlich phantastische Annahme, Miß Carlyle.“ „Ich habe die unwahrscheinlichsten Lebensformen unter weitaus ungünstigeren Verhältnissen entdeckt“, beharrte die junge Frau störrisch auf ihrer Meinung. 7
„Aber, wie wollten Sie den Kometen erreichen?“ fragte Langley. „Wie denn?“ gab Gerry wütend zurück. „Meinen Sie viel leicht, ich krieche auf Händen und Knien dorthin?“ In ihrer Hilflosigkeit ließ sie ihrer Wut und Verbitterung freien Lauf. Langley leistete sich den Luxus eines schwachen Lächelns. „Sie brauchen dazu ein Raumschiff mit besonderer Ausrüstung. Kometen leuchten nicht nur deshalb, weil sie das Sonnenlicht reflektieren. Das Licht der Sonne und elektronische Ströme wirken erregend auf die zarte Gashülle. Wichtiger noch er scheint mir, daß solche Kometen elektrisch geladen sind. Sie müßten also einen Schutz haben gegen das elektronische Bom bardement des Koma – das viel größer ist, als der Kern des Kometen. Während der Kern eines Kometen nach unseren bis herigen Feststellungen einen Durchmesser von etwa vierhundert Metern bis achttausend Meilen haben kann, reichen die Hüllen dieser Himmelswanderer in ihren Ausmaßen von 18 000 bis zu 1 900 000 Millionen Meilen. Ein Flug dorthin wäre gleichbe deutend mit dem Versuch in die Chromosphäre einzutauchen.“ „Nicht ganz“, entgegnete Gerry gedankenvoll. „Es müßte zu schaffen sein. Meinen Sie nicht auch?“ Der Professor überlegte lange. „Ja“, gab er schließlich zu. „Es müßte sich erreichen lassen. Vielleicht gibt es auch Leben auf diesen Kometen. In diesem Fall aber müßte es sich um völ lig fremde Formen handeln, die in ihren Lebensäußerungen ei nem menschlichen Wesen völlig unverständlich bleiben müß ten.“ „Was für eine Gelegenheit!“ murmelte Gerry ekstatisch. Von dieser gänzlich unwissenschaftlichen Haltung abgesto ßen zog sich Professor Langley zurück. Mit deutlichem Ruck schloß er hinter sich die Tür. Die junge Frau drehte sich zu Strike um. „Ich weiß schon“, sagte er. „Es ist schlimm. Nicht ein einzi 8
ges Raumschiff im ganzen Sonnensystem …“ Er unterbrach sich plötzlich. „Nein“, seufzte Gerry niedergeschlagen. „Nichts. Und nicht einmal genügend Zeit, um einen Ausweg zu finden. Ich wäre bereit, mit dem ältesten Schlitten loszufahren, wenn sich damit nur der Komet erreichen ließe.“ „Ja, ja – hm, hm“, machte Strike nur. Er zog seine Pfeife aus der Tasche, zündete den darin befindlichen Tabakrest an und paffte schweigend vor sich hin. Ein entrückter Ausdruck trat in sein gebräuntes Gesicht. Einen Augenblick herrschte Stille im Zimmer. Gerry beugte sich ein wenig nach vorn, um ihren Verlobten genau zu betrach ten. „Du hältst doch noch mit etwas hinter dem Berge?“ fragte sie. „Well – ich habe mir sagen lassen, daß ein großes Raum schiff vorbereitet wird, um den Flug zum Kometen zu wagen. Das Gerücht wurde mir auf verschiedenen Umwegen zugetragen. Offenbar soll die Sache bis zum Start geheimgehalten werden. Erst im letzten Augenblick wird man gewaltig auf die Pauke hauen und die ganze Öffentlichkeit mobil machen …“ Gerry umklammerte Strikes Schultern. „He, du – warum hast du das nicht gleich gesagt? Wer bereitet das Unternehmen vor. Ich werde mich sofort mit ihm in Verbindung setzen…“ Sie schwieg plötzlich und holte tief Luft. Tommy hatte von der Öffentlichkeit gesprochen. Außerdem hatte er gezögert, die Angelegenheit überhaupt zu erwähnen. War es etwa – ein schrecklicher Verdacht keimte in Gerry. „Großer Himmel!“ rief sie. „Du willst hoffentlich nicht sagen, daß die Filmgesellschaft Nine Planets Pictures sich abermals anschickt, mein Lebenswerk zu untergraben.“ Tommy Strike stand auf. „Nun hör mal, Kätzchen – dein Temperament geht wieder einmal mit dir durch.“ 9
„Well, verdammt will ich sein …“, war alles, was Gerry dazu zu sagen hatte. Die Worte klangen aus ihrem Munde wie ein schrecklicher Fluch. „Dir wird in der Tat nichts anderes übrigbleiben, als deinen Stolz zu überwinden und dich mit diesen Leuten auf Verhand lungen einzulassen. Es wäre die einzige Möglichkeit.“ „Oh, ist es so?“ gab Gerry scharf zurück. „Hollywood auf dem Mond! Die Nine Planets Filmgesellschaft. Der größte Hau fen hinterhältiger Schwindler im ganzen Sonnensystem. Diese Kerle ahmen Ungeheuer nach, die ich unter Einsatz meines Le bens gefangen habe – das Peitschentier von der Venus, den Donnerdrachen vom Jupiter. Und wie machen sie es? Sie behel fen sich mit billigen Robotern. Durch Funk gelenkte Roboter ersetzen das wirkliche Leben. Das ist es, was mich so wütend macht, Tommy. Ich trage das ganze Risiko. Und die lieben Herren vom Film ernten Ruhm und Geld.“ „Immerhin werden ganz gute Filme daraus“, meinte Strike. Er begriff sofort, daß er damit einen taktischen Fehler begangen hatte. „Gut?“ schrie Gerry beinahe. „Fälschungen sind es, willst du wohl sagen. Mann kann echte Lebewesen nicht einmal durch biologisch geschaffene Roboter ersetzen, Aber die Leute laufen in die Filme und bleiben dem Londoner Zoo fern. Hältst du das vielleicht für anständig?“ „Ja, nun“, versuchte Strike seine Verlobte zu beruhigen, „dieser Quade, der das große Wort führt, ist dem Vernehmen nach gar kein schlechter Kerl. Sicherlich wird er uns mitneh men.“ „Quade? Ausgerechnet der! Quade war es doch, der mich einfach hinterging und Aufnahmen für die Wochenschau von mir machte, von denen ich keine Ahnung hatte.“ Gerry sah aus, als wolle sie gleich explodieren. Plötzlich und gänzlich uner wartet beruhigte sie sich. Ein Funkeln trat in ihren Blick. 10
„Ich begreife meine Lage“, fuhr sie nach einer Pause fort. „Vielleicht hast du recht. Quade wird uns sicherlich mitnehmen. Und wenn er es tut – wenn ich überhaupt jemals auf den Kome ten gelange …“ Gerrys Lächeln wirkte reichlich hintergründig. „Mister Quade wird bald herausfinden, was es bedeutet, hinter gangen zu werden.“ Strike ließ den Unterkiefer hängen. „Der Himmel helfe dem armen Quade“, flüsterte er. Einen Tag später landete Gerry auf dem Mond. Sie kam gänzlich unangemeldet und tauchte wie eine Nova am Horizont der Nine Planets Filmgesellschaft auf. Kein Mensch erwartete sie. Tony Quade saß mit seinem Chef, von Zorn, selbstzufrieden im türkischen Bad am Luna-Boulevard und ließ es sich wohler gehen. Hollywood auf dem Mond war das Ziel aller Vergnügungs reisenden im ganzen Sonnensystem. Es war die berühmteste, faszinierendste und unglaublichste Stadt, die jemals gebaut wurde. Sie lag auf der von der Erde abgewandten Seite des Mondes in einem tiefen Tal, das nach einer vulkanischen Erup tion zurückgeblieben war. Das leuchtende und funkelnde Holly wood auf dem Mond war dicht unter den Großen Wall ge schmiegt. Die Stadt bildete das Mekka aller Filmleute. Sie bot den Vorteil einer durchaus künstlich geschaffenen Atmosphäre und eines entsprechenden Klimas. Kein Wunder, daß sich hier das beliebteste Ferienparadies der Großen und Mächtigen be fand. Für die Filmleute selbst war es ein Ort hochinteressanter, aber nervenzerfetzender Arbeit. In Hollywood auf dem Mond lagen die Hauptbüros der Nine Planets Filmgesellschaft. Hier ersannen ideenreiche Autoren die Drehbücher für Filmdramen, die auf fernen Sternen spielten. Technische Experten schufen in riesigen Laboratorien künstli che Roboter-Lebensformen und stellten sie in die gleichfalls 11
künstlich geschaffene Umgebung, in die sie hineingehörten. Und hier herrschte von Zorn wie ein Zar. Er war der Präsident der Nine Planets Filmgesellschaft. Tony Quade fungierte als seine rechte Hand. Wenn von Zorn in Druck geriet, wenn seine Fachleute behaupteten, ein Film ließe sich nicht herstellen, dann schickte er nach Quade. Und Quade hatte bisher noch jedes Mal über die Experten triumphiert. Quade war der Mann, der den ersten vierdimensionalen Film schuf. Ihm gelang es in einem tollkühnen Wagnis die phantasti schen, lebensgefährlichen Wesen, die den Pluto bevölkern, auf Zelluloidstreifen zu bannen. Er brachte niegesehene Bilder vom Inferno auf dem Mars nach Hause, und machte daraus den größten Kassenschlager des Jahres. Gegen ihren Willen, und ohne daß sie es wußte, hatte er sogar einmal Gerry Carlyle ge filmt. Ein Mann, dem das gelungen war, schaffte auch den Sprung zu einem gefährlichen Kometen. Gewiß, Quade war nicht allzu zuversichtlich. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Es hatte keinen Zweck, von Zorn zu erklären, daß die Aus sichten, von diesem Kometen lebend zurückzukehren, gleich Null waren. Quade lauschte den Worten seines Chefs. Dabei starrte er in die ihn umgebenden Dampfwolken. Der scharfe Duft von MarsSauergras, mit dem der Wasserdampf geschwängert war, kitzelte seine Nase. Hin und wieder tauchten unheimliche, dunkle Ge stalten im Nebeldampf auf und verschwanden wieder. Man hörte seltsam gedämpfte Stimmen, schweres Atmen und das Ge räusch nackter Füße, die über den aus Glaskacheln gefügten Fußboden patschten. „Im Büro bin ich regelrecht von Spionen umgeben“, erklärte von Zorn aufgeregt. „Nicht das geringste Geheimnis läßt sich dort bewahren. Es wimmelt überall von Presseleuten, die sich wie Geier auf jede kleinste Information stürzen. Hinzu kommen 12
die Schnüffler von den anderen Filmgesellschaften, die uns haargenau auf die Finger sehen möchten. Nur im türkischen Bad fühle ich mich sicher. Tony, wir sind bereit. Das Schiff ist bald fertig. Die zusätzlichen Schutzschilde sind angebracht. Auf unserem streng abgesperrten Gelände werden die letzten Ein bauten vorgenommen. Das Raumschiff ‚Thunder Men’ steht in der Nähe des Großen Walles. Vorerst aber müssen wir noch damit hinter dem Berge halten.“ Quade drehte sich faul auf die andere Seite. Er war schlank, hochgewachsen und sehr muskulös. Sein schmales, gebräuntes Gesicht blieb ausdruckslos, als er die bemerkenswerte Gestalt seines Brotgebers betrachtete. Quade unterdrückte ein Lächeln. Von Zorn erinnerte an zwei verschieden große Eier, die mit den Spitzen aneinandergefügt sind. Seine kurzen, dicken Arme und Beine sahen aus, als hätte man sie dem unteren, größeren Ei, das sein fetter Leib bildete, künstlich angefügt. Die ganze Gestalt war seltsamer und lächerlicher, als alle fremdartigen Wesen, die Quade jemals gefilmt hatte. Niemand hätte vermutet, daß sich unter diesem Schädel mit dem kurzen Bürstenhaar schnitt eines der schlauesten Gehirne des ganzen Systems verbarg. Von Zorn beherrschte mit Meisterschaft die gigantische Firma vom höchstbezahlten Star bis zum kleinsten Statisten. „Wir müssen das Geheimnis noch eine Weile wahren“, wie derholte der Filmdirektor. „Wissenschaftler, Reporter und eine Menge anderer Menschen im ganzen Universum werden sich uns anschließen wollen, sobald herauskommt, daß wir den Flug zum Kometen wagen wollen. Wir müssen alle diese Leute ab weisen. Das könnte in der Öffentlichkeit böses Blut geben.“ Von Zorn kannte nur sein Büro und die öffentliche Meinung. In diesen beiden Kreisen bewegte sich sein Leben. „Die Öffentlichkeit darf von dem Unternehmen erst am Abend des Starts erfahren“, fuhr er fort. „Dann hat niemand Zeit, sich zurückgesetzt zu fühlen. Verstehen Sie? Außerdem 13
handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Expedition, sondern wir wollen einen Film drehen, Tony. Sie stehen vor dem größten Erfolg Ihres Lebens. Sensationeller Hindergrund für unser Superepos aus den fernsten Fernen des Kosmos …“ „Ja, ich weiß: ‚Der Komet ruft’. Hauptrolle Herr Sowieso. Regie Herr Sowieso. Und am untersten Rand erscheint viel leicht in winzigen Buchstaben: Kameramann Quade.“ „Nein, dieses Mal mache ich Sie zum Mitproduzenten!“ rief von Zorn von seiner eigenen Begeisterung hingerissen. „Viel leicht sogar zum Direktor. Wer kann es wissen? Ihr Name wird ganz groß hervortreten …“ Irgendwo öffnete sich eine Tür. Ein kühler Luftzug machte sich bemerkbar. „Mr. von Zorn!“ rief eine Stimme. „Mr. von Zorn!“ „Ja?“ von Zorn war dankbar für die Unterbrechung. „Draußen ist eine Dame. Sie möchte mit Ihnen sprechen. Angeblich ist es Gerry Carlyle. So hat sie sich jedenfalls vorge stellt. Auf Ehre!“ Quade schaute von Zorn an. Der Kameramann gab den glei chen bestürzten Blick zurück. „Sagen Sie ihr, ich bin nicht da“, keuchte der Filmmagnat. „Ich bin für niemanden zu sprechen. Sagen Sie ihr meinetwe gen, ich bin krank. Der Arzt hat es mir verboten, Besuche zu empfangen.“ „Die Dame sagte, wenn Sie nicht in fünf Minuten draußen sind, wird sie hereinkommen“, bemerkte der Badewärter unter würfig. „Das wird sie nicht wagen!“ polterte von Zorn. Plötzlich mischte sich Quade ein. „Machen Sie sich nichts vor, Chef. Gerry Carlyle bekommt es fertig, in die Männerabtei lung des türkischen Bades einzudringen genauso, wie sie blind lings einen Haufen wilder Tiere angehen würde. Wir wollen lieber eine Dusche nehmen und mit ihr sprechen. Also – in 14
fünfzehn Minuten in Mr. von Zorns Büro“, rief Quade dem Badewärter zu. „Über eins wollen wir uns aber gleich im klaren sein, Chef“, fuhr der Kameramann fort, als sie wieder allein waren, „diese Rakete in Röcken nimmt bestimmt an keiner Expedition teil, die ich leite.“ Gerry und Strike warteten im Büro, als von Zorn und Quade, frisch gekämmt und immer noch leise nach Sauergras duftend, eintraten. Von Zorn stiefelte um seinen riesigen Schreibtisch herum. Über die auf Hochglanz polierte Fläche hinweg schaute er Gerry an wie ein General, der quer über das Schlachtfeld hinweg den Feind studiert. „Ah, Strike“, sagte er. „Glaube, wir sind einander schon be gegnet. Schätze, wir kennen einander alle schon. Nur die Herren muß ich miteinander bekannt machen. Mr. Quade – Mr. Strike.“ Während die beiden jungen Männer aufeinander zugingen, um sich die Hände zu schütteln, betrachteten sie sich gegenseitig sehr aufmerksam. Sie waren beide von gleicher Statur, Quade vielleicht ein wenig größer. Ganz gegen seinen Willen mußte Strike sich eingestehen, daß dieser Mann ihm gefiel. Gerry ging gleich auf den Kernpunkt der Dinge los. „Sie ste hen noch tief in meiner Schuld, Mr. von Zorn. Sicherlich erin nern Sie sich der Affäre mit den Energiefressern. Es ist nicht gerade vornehm, Sie daran zu erinnern. Aber ich befinde mich in einer verzweifelten Lage. Jedes Mittel ist mir recht, wenn es mir nur gelingt, zu Almussens Komet zu gelangen, solange es noch möglich ist.“ Von Zorns Gesicht begann bei diesem Vorschlag zu strahlen. „So, so“, meinte er. „Nun, wir waren in der Vergangenheit nicht immer gerade einer Meinung, Miß Carlyle. Aber lassen wir Vergangenes vergangen sein. Wenn Sie nebst Strike und ein paar von Ihren bewährten Männern mitfliegen wollen, ließe es sich wohl einrichten.“ 15
Gerry fuhr buchstäblich zurück. Alles hatte sie erwartet, nur nicht diese Antwort. Es ging einfach zu glatt. „Sie meinen, wir könnten einen Handel abschließen?“ schnappte sie nach Luft. „Ich meine, daß ich einen Handel machen kann“, verbesserte von Zorn hinterlistig. „Chef!“ mischte sich Quade ein. „Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gerade gesagt habe.“ Niemand achtete im geringsten auf ihn. „In Ordnung“, murrte Gerry. „Lassen Sie uns die Bedingun gen hören.“ „Well, zunächst einmal handelt es sich um eine Filmexpedi tion. Wir wollen Bilder schießen. Wenn genügend Hintergrundaufnahmen gemacht sind, vor denen wir später die eigentliche Spielhandlung abrollen lassen, können Sie von mir aus auf die Jagd gehen. Ich glaube kaum, daß es auf dem Kometen Leben gibt. Falls doch, sind Sie gerade die Richtige, um einzufangen, was sich greifen läßt. Meine Bedingung: Sie bringen von jeder Lebensform und allen Lebewesen jeweils zwei Exemplare. Eins für ihren Zoo, eins für mich. Fangen Sie von einer Sorte nur eins, gehört es mir. Diese Regelung dient nur zu meinem Schutz. Durch ihre Ausstellungen haben Sie das Volk gegen die in meinen Filmen mitwirkenden synthetischen Ungeheuer auf gebracht. Wenn wir ein paar brauchbare Stücke fangen, benutze ich sie in dem Film ‚Der Komet ruft’. Damit trete ich dem öf fentlichen Vorurteil entgegen …“ „Chef!“ rief Quade dazwischen. „Einverstanden“, entgegnete Gerry. In ihren Augen saß ein kühnes Glitzern. „Tommy, ich und sechs meiner besten Jäger fliegen mit. Unsere Ausrüstung liegt innerhalb von vierund zwanzig Stunden zum Verladen bereit.“ Quades Mund bildete eine einzige gerade Linie. „Chef, ich habe mit Ihnen zu reden“, begann er drohend. 16
Von Zorn zögerte. Als ihn der Blick aus Tonys verkniffenen Lidern traf, nickte er. „Gut – wollen Sie uns nun entschuldigen, Miß Carlyle?“ Die junge Frau lächelte strahlend. Zusammen mit Strike ging sie hinaus. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, fuhr Quade auf seinen Arbeitgeber los. „Ich kündige“, tobte er. „Auf diese Weise lasse ich mich nicht hereinlegen!“ „Nun, nun“, machte von Zorn begütigend. Er hob beredt die Hände. „Sie müssen nicht gleich falsche Schlüsse ziehen, Tony. Ich handle durchaus zu Ihrem Besten. Das wissen Sie doch.“ „So? Ich habe von Anfang an gesagt, daß ich nicht mehr mitmache, wenn diese Dame zugelassen wird.“ „Aber warum? Sie wollen doch diesen Film drehen. Nicht wahr! Es ist die größte Aufgabe Ihres Lebens. Ihr Name er scheint ganz groß als Mitproduzent – nein, meinetwegen sogar als Alleinproduzent. Tony, ich werde Ihnen ein Geheimnis an vertrauen. Das alles ist von mir seit langem so geplant – um Gerry Carlyle zu interessieren.“ „Was?“ rief Quade voll echten Entsetzens. „Aber – natürlich. Denken Sie doch nach, Mann. Stellen Sie sich die Wirkung auf die Öffentlichkeit vor, wenn Gerry Carlyle an einer Expedition unserer Filmgesellschaft teilnimmt. Was für eine herrliche Kombination. Schon darum wird der Film ein Riesenerfolg werden und alle Kassenrekorde brechen. Und das Alleinverdienst nach außen hin geht auf Ihr Konto, Tony.“ „Ich verstehe“, entgegnete Quade langsam. Er fuhr sich mit der Hand über die hagere Wange und betrachtete von Zorn eingehend. „Vielleicht … nun, wir werden weitersehen. Vorerst traue ich Ih nen noch nicht, Chef. Sie würden Ihrer Oma die Kehle durch schneiden, wenn Sie damit in der Öffentlichkeit Eindruck schin den könnten. Aber ich werde nicht hier auf dem Mond hängen bleiben und Gerry Carlyle meine Arbeit überlassen.“ 17
„Ich würde nicht gerne einen anderen mit dem Auftrag be trauen“, murmelte von Zorn sanft. „Schon gut, schon gut. Okay, mit allem einverstanden. Das eine aber will ich Ihnen gleich sagen: Diese Dame Carlyle geht darauf aus, mich hereinzulegen. So etwas rieche ich zehn Mei len gegen den Wind.“ „Angst vor einer Frau?“ stichelte von Zorn. Quade lächelte verzerrt. „Angst? Nee, ich werde dieser Tier bändigerin schon zeigen, was es bedeutet, mich hintergehen zu wollen.“ Der Kameramann stürmte hinaus. Von Zorn schaute ihm nach und blinzelte. Ein schlaues Grinsen huschte über seine Züge. „Der Himmel helfe der armen Gerry Carlyle“, flüsterte er vor sich hin. Schon im Verlaufe der nächsten Stunden zeigte es sich, daß Gerry und Quade sich genauso gut vertrugen, wie Öl und Was ser. Schon bei den Vorbereitungen zum Kometenflug es gab es Reibereien. Trotz der riesigen Ausmaße des Superraumschiffes wurde jeder Quadratmeter für die Unterbringung von Ausrü stungsgegenständen benötigt. Was für Ausrüstung? Gerry hatte darüber durchaus ihre eigene Meinung. Als Ex peditionsleiterin von einiger Erfahrung wußte sie, wie lebens notwendig es ist, auf alles vorbereitet zu sein. Gasgewehre, komplizierte Schlingen und Fallen, besondere Köder, Waffen, Schutzgeräte, und viele andere unentbehrliche Stücke wurden aus der Londoner Zentrale in aller Eile nach Hollywood auf den Mond gebracht. Unterdessen überwachte Quade mit grimmi gem Gesicht den Einbau von Spezialkameras, komplizierten Beleuchtungsquellen und das Verladen von zahlreichen Kisten mit Objektiven, Teleskopen, Mikroskopen, Spektroskopen, Elektroskopen … 18
„Zum Teufel“, schnauzte Quade die junge Frau an, als sie heftig miteinander streitend im Eingang des Raumschiffes standen. „Was wollen Sie mit dem ganzen Kram? Wir fliegen zu Almussens Komet, um dort zu filmen. Meinen Sie vielleicht, Sie könnten einen Dinosaurier fangen?“ „Immerhin möglich“, gab Gerry böse zurück. „Sie würden Ihre liebe Mühe haben, einen Dinosaurier mit der Kamera zu erlegen, falls wir auf einen stoßen. In meinem Beruf gibt man es bald auf, etwas zu riskieren. Sie werden es auch noch lernen.“ „Oh, ich werde es lernen, so?“ ereiferte sich Quade. „Hören Sie, junge Dame, ich hatte schon Filme auf der Venus und auf dem Pluto gedreht, ehe Sie aus der Wiege gekrochen waren.“ Das war zwar eine Lüge, aber Gerry tat so, als glaubte sie es. Ihre blauen Augen weiteten sich zu einem unschuldsvollen Blick. „Davon müssen Sie mir erzählen“, bat sie. „Später viel leicht einmal. Ja? Zuerst muß ich einmal dieses Riesenspielzeug beiseite schaffen lassen, damit ich Platz finde für mein hypnoti sches Lockgerät.“ Mit verächtlicher Grimasse deutete sie auf Quades dreidi mensionale Kamera, die er wie seinen Augapfel hütete. „Hypnotisches Lockgerät“, gab Quade böse zurück. Dabei betrachtete er geringschätzig einen großen Apparat, der haupt sächlich aus drehbaren Spiegeln und verschiedenfarbigen Leuchtröhren bestand. In diesem Augenblick tauchte Tommy Strike auf. Rasch trat er vor das streitende Paar hin. „Hallo“, grüßte er mit gespielter Fröhlichkeit. „Ich will gerade hinunter zum ‚Silver Space Suit’, um einen Happen zu essen. Kommst du mit, Gerry? Wie ist es, Quade?“ „Geht nicht“, gab der Filmmann zurück. „Viel zuviel zu tun. Die Dinge wachsen mir allmählich über den Kopf.“ Er warf Gerry einen düsteren Blick zu, die ihrerseits strah lend lächelte und Strike zunickte. 19
„Komme sofort mit, Tommy. Will mich nur rasch ein wenig zurechtmachen.“ Sie verschwand auf der Suche nach einem Lippenstift. „Fühlen Sie sich wirklich wohl in der Nähe von giftigem Efeu?“ fragte Quade, als die junge Frau verschwunden war. „Am liebsten würde ich den ganzen Kram hinwerfen und angeln gehen.“ „So schlimm ist es nicht“, gab Strike zurück. „Man muß Gerry nur erst näher kennen.“ „Ach, so ist es also“, entgegnete Quade. „Ich machte mir nur meine Gedanken. Zum Teufel, warum muß sie das Raumschiff mit ihren Mausefallen überfüllen, wenn wir den meisten Platz für unsere Kameraausrüstungen brauchen? Wir wissen nicht, was für Bedingungen wir auf dem Kometen antreffen. Wir müs sen für jeden Fall vorbereitet sein. Eine Zyanogenatmosphäre macht besondere Objektive und Filme erforderlich.“ „Gewiß“, gab Strike zu. „Insofern haben Sie recht. Aber auch Gerrys Ansichten sind nicht ganz abwegig. Sie weiß nicht, was für Lebensformen man auf dem Kometen vorfinden mag, falls es überhaupt welche gibt. Auch wir müssen auf alles vor bereitet sein. Manche Lebewesen lassen sich nicht mit Ge schossen erlegen, anderen wiederum kann man nicht mit Gas beikommen. Torpedokäfer lassen sich mit Tabakrauch anlocken, aber man braucht infrarotes Licht, um beispielsweise einen Hy clops in die Falle zu bekommen. Ich habe schon erlebt, daß Gerry in weiser Voraussicht irgendein winziges Gerät mitnahm, das uns allen nutzlos erschien. Und dennoch rettete uns gerade dieser Umstand das Leben und verschaffte uns hohen Gewinn. Vielleicht drehen Sie den besten Film Ihres Lebens, Quade. Aber alle Mühe wäre vergebens, wenn Sie dabei zu Tode kom men, nur weil wir nicht die richtigen Waffen mitgenommen haben.“ Quade nickte. „Kann sein. Ich verstehe Ihren Standpunkt. 20
Nun, wenn dieser Tornado in Röcken mich nicht allzusehr be helligt, will ich es hinnehmen. Jedenfalls werde ich es versu chen.“ Hastig ging er davon, als Gerry zurückkehrte. Sie trug Jodhpurs und eine Bluse aus schimmerndem Metalumen. Darin sah sie einfach bezaubernd aus. „Wie kann eine so bildhübsche Frau nur eine solches Höllen temperament haben?“ murmelte der Mann, während er Gerry zu einem Taxi führte. „Eines Tages wirst du noch an einer Fehl zündung sterben.“ „Oh, du hast mit diesem Kamerafritzen gesprochen“, be merkte die junge Frau. „Nun, kannst du mir einen Vorwurf ma chen? Du weißt selbst, was von einer guten Ausrüstung ab hängt.“ Erst als sie über den Luna Boulevard fuhren, redete Gerry wieder mit Strike. „Nun? Mußt du mir nicht recht geben?“ „Mehr oder weniger.“ Strike zündete eine Zigarette an, in dem er einfach kräftig daran sog. Ein in den Tabak eingebette tes Fleckchen von Platinschwarz begann zu glühen und setzte den Tabak in Brand. „Weniger, wenn ich es ehrlich sagen soll. Du siehst immer nur deine Seite, Gerry. Schließlich soll Quade einen Film drehen, oder mindestens gute Hintergrundaufnah men nach Hause bringen. Versetze dich einmal in seine Lage.“ Gerry runzelte angewidert das zierliche Näschen. Sie sprach nicht mehr, bis sie im Dome Room des Silver Space Suit saßen. Hier entspannte sie sich endlich und lächelte Strike an. „Meinetwegen, du sollst recht haben“, sagte sie. „Ich werde vernünftig sein, aber nur, wenn du mit mir tanzt.“ Das Orchester spielte gerade die Eingangstakte des neuesten Schlagers „Swinging the Libration“. Gerry und Strike erhoben sich gleichzeitig und gaben sich diesem, gerade in Mode ge kommenen, Tanz hin. Gerry seufzte. 21
„Was hast du?“ fragte er. „Ach, diese Jodhpurs“, entgegnete die junge Frau unglück lich. „Ich wünschte nur, ich hätte ein hübsches Kleid da – Or gandy – blau …“ Woraus hervorzugehen schien, daß die Planetenjägerin Gerry Carlyle schließlich doch eine Frau war. Die Ereignisse überstürzten sich. Hollywood auf dem Mond raste dem donnernden Kometen entgegen, der sich rasch der Sonne näherte. Die Wissenschaftler der Nine Planets Filmge sellschaft arbeiteten fieberhaft. Die ganze komplizierte Maschi nerie einer bis ins kleinste ausgeklügelten Filmindustrie lief wie geschmiert. Alle Stunden fand Quade einen neuen Bericht über den Fortgang der Vorbereitungen auf seinem Schreibtisch vor. Da tauchte ein neuer und gefährlicher Faktor auf – die Zeit. Es ließ sich vorausberechnen, daß der Komet sich der Sonne bis auf einen gefährlichen Abstand nähern würde. Die ungebro chenen Sonnenstrahlen mußten für jedes Leben auf dem Kome ten tödlich werden. Auf dem Merkur, zum Beispiel, kann ein gut isoliertes Raumschiff sich für einige Zeit halten. Sogar Funkverbindung auf dem schmalen Band ist dort möglich. Almussens Komet aber schickte sich an, sehr dicht an den Orbit des Merkur heran zurücken. Auf diese kurze Entfernung mußten die ungeheuer starken Sonnenstrahlen in jedem menschlichen Gehirn einen Kurzschluß hervorrufen. Selbst Sonderausrüstungen halfen da nicht. Außerdem bestand die Gefahr, daß die Masse des Kometen auf der Sonne Erscheinungen von Flut und Ebbe hervorrufen würden. In diesem Falle mußte der fremde Wanderer aus fernen Weltenräumen in riesigen Feuerstürmen untergehen. Daher blieben Quade und Gerry nur ein paar Wochen Zeit, ihre Vorbereitungen zu treffen, die Reise zu machen und ihre Ziele zu erreichen. Ganz vorsichtige Rechner kalkulierten sogar eine weitere 22
Gefahr ein, die indessen nicht unbedingt Wirklichkeit zu wer den brauchte. Die geringe Masse eines durchschnittlichen Ko meten reichte nicht aus, das äußerst labile Gleichgewicht des Sonnensystems in Unordnung zu bringen. Almussens Komet hatte jedoch einen Kern von erheblicher Dichte, die unter Um ständen ausreichte, auf der Oberfläche der Sonne Energiestürme hervorzurufen. Die Masse genügte womöglich auch, einen grö ßeren Asteroiden und selbst einen kleinen Planeten aus seinem Wandelkreis zu reißen. Bei Jupiter könne das nicht geschehen. Auch nicht bei der Erde. Aber dem Merkur mochte diese Ge fahr wohl drohen. Zum Glück ließ sich vorausberechnen, daß der Komet keinem der inneren Planeten so nahe kommen würde, daß ernsthafte Gefahren heraufbeschworen wurden. Quade bestand darauf, daß das Raumschiff mehrere Male haargenau überprüft wurde. Er gab offen zu, daß er gewisse Befürchtungen hegte. Blieb das Raumschiff auf dem Kometen hilflos liegen, mußte die ganze Besatzung vom Tode ereilt wer den, wenn sich die Sonne dem kleineren Körper näherte. Gerry Carlyle und Tony Quade hatten zwischen Pluto und der heißen Seite des Merkur mancherlei Gefahren bestanden. Nun aber hatten sie ein Unternehmen vor sich, das in dieser Beziehung alles in den Schatten stellte. Die Möglichkeit eines Fehlschlages wurde nach allen Seiten hin untersucht und keineswegs gering bewertet. Das vom Koma des Kometen ausgehende elektronische Bombardement konnte gleich zu Beginn des Unternehmens den sicheren Untergang bringen. Deshalb wurde das Raumschiff mit einer besonderen Doppelhülle umgeben, womit die Masse des an sich schon schwerfälligen Körpers noch vergrößert wurde. Er war aber sowieso nicht dafür konstruiert worden, sonderlich wendig zu sein. Also machte es nicht viel aus. Mehr als einmal regte sich Gerry darüber auf, daß von Zorn 23
darauf beharrte, jede Einzelheit der Reisevorbereitungen filmen zu lassen. Ihr kam es so vor, als warteten die Kameraleute auf Quades Wink hin immer nur darauf, Gerry Carlye mit zerzaustem Haar und verschmiertem Lippenstift vor die Linse zu bekommen. Schließlich war trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse der Tag des Aufbruchs herangekommen. Der Start erweckte so viel öffentliches Interesse, daß selbst von Zorn zufrieden war. Gerry, die sich als außerordentlich fotogen erwies, mußte für mehrere Sonderaufnahmen posieren. Strike, Quade und die Mannschaft wurden nicht ausgenommen. Aber die menschlichen Hauptdarsteller dieses Dramas wurden beinahe bedeutungslos vor einem Hintergrund wie er ein drucksvoller in keiner Filmszenerie aufgebaut werden kann. In der Ferne sah man die ultramodernen Vergnügungs- und Geschäftsgebäude von Hollywood auf dem Mond: Das Silver Space Suit, die verschiedenen Studios, die große durchschei nende Kuppel des Sanatoriums. Alles überragte die gezackte Silhouette des Großen Randes, der den Krater umgibt. Hoch über der leicht dunstigen, künstlich geschaffenen Atmosphäre funkelten die Sterne. Die Erde war natürlich nicht zu sehen. Man befand sich auf der ihr abgekehrten Seite des Mondes. Und im Vordergrund – das Riesenraumschiff! Wie ein riesi ges, metallenes Juwel glitzerte es im Schein der Bogenlampen. Es war in der Tat ein Juwel der Wissenschaft, ausgerüstet mit den besten und neuzeitlichsten Geräten, die nur ein von Zorn mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln beschaffen konnte. Im letzten Augenblick hatte man in die Fanfare der Re klame gestoßen. Eine riesige Menschenmenge wohnte dem Start bei. Gerry war gelangweilt. Quade war wegen des Zeitverlustes wütend. Nur Tommy freute sich über das herrliche Durcheinan der. „Hübscher Platz hier“, rief Strike vergnügt. „Ich glaube, ich gebe einen prächtigen Filmstar ab.“ 24
„Als Double für eine Venusfledermaus vielleicht?“ stichelte Gerry ironisch. „Vergiß nicht, Captain Strike, daß du bei mir in Lohn und Brot stehst. Du könntest ruhig ein wenig mehr …“ „Okay, mein Butterfäßchen“, unterbrach Tommy sie lachend. Gerry errötete vor Verlegenheit, denn Quade befand sich in Hörweite. Der Filmmann sagte nichts dazu. Aber er lächelte vielsagend vor sich hin, als er sich auf den Weg zum Komman dostand machte. Raketen donnerten los. Musik dröhnte weithin über den Platz. Das Quartett vom Silver Space Suit intonierte das Lied der Raumfahrer. Die Anti-Schwerkraftscheiben begannen zu zittern, als ihnen von mächtigen Motoren riesige Energieströme zugeführt wurden. Im Kommandostand wurde Gerry geradewegs in Strikes Ar me geworfen, als das Schiff sich abhob. Quades Finger tanzten rasch über eine Reihe von Knöpfen dahin. Sein Grinsen war verschwunden. Er biß die Zähne zusammen. Seine Haltung ver riet plötzlich Spannung. Das mächtige Raumschiff neigte sich schwer nach links, dann nach rechts. Plötzlich begann es zu bocken wie ein Wild pferd. Endlich gewann es das Gleichgewicht und begann, sich langsam aufwärts in Bewegung zu setzen. „Uff“, stieß Quade die Luft aus. „Was für ein Dampfer. Das verdammte Ding läßt sich kaum manövrieren. Mit einem alt modischen Raketentriebwerk wären wir viel schneller hochge kommen.“ „Aber den Kometen erreichen wir doch, nicht wahr?“ fragte Gerry besorgt. „Ja. Wir erreichen genügend Geschwindigkeit. Wenn sich der Kasten nur leichter lenken ließe. Es ist und bleibt ein ver dammtes Risiko, diesen Kahn durch den Asteroidengürtel zu steuern.“ Quades schmales Gesicht blieb ernst und angespannt, wäh 25
rend er auf dem Sichtschirm den Kurs des Raumschiffes ver folgte. „Wir schießen weit in den Raum hinaus und fangen den Ko meten in der Zone der großen Planeten ab“, sagte Strike. „Da durch gewinnen wir ein wenig Zeit, ehe er zu dicht an die Son ne gerät.“ „Ich hole alles an Geschwindigkeit heraus, was wir zur Ver fügung haben“, nickte Quade. „Aber wir können dem Kometen nicht geradeaus entgegenfliegen. Wir würden daran vorüberrau schen, weil wir nicht rasch genug zu ihm hinunter könnten. Wir müssen einen Bogen um ihn schlagen, uns schräg durch seine Hülle, das Koma, schieben – und das ist der gefährlichste Teil des Unternehmens. Bei der Ausstattung des Raumschiffes konnten wir nur entweder auf erhöhten Schutz oder auf gute Manövrierfähigkeit achten. Die Schutzvorrichtungen sind zu ungunsten der leichten Lenkbarkeit verstärkt worden. Vielleicht reichen sie aber nicht aus, wenn wir schräg in das Koma eintau chen, anstatt senkrecht hindurchzuschießen. Ich habe keine Ah nung, welchem Ausmaß von elektrischem Bombardement die Hülle standhält.“ Er zuckte mit der Schulter. Quade hatte recht. Es war ein gefährliches Abenteuer. Die meisten Raumschiffe verfügten über so gut steuerbare Schwerkraftplatten, daß sie auf ein Mikron genau stoppen oder drehen konnten. Dieses schwerfällige Expeditionsraumschiff aber ließ sich kaum regieren. Es war eine schweres, dick gepanzertes Ungeheuer. Und dennoch konnte niemand sagen, ob es den ihm vom Kometen drohenden Gefahren gewachsen sein würde. Ohne Rücksicht auf etwaige Hindernisse raste das Raum schiff davon und ließ den Mond bald weit hinter sich. Der ge samte Verkehr war rechtzeitig gewarnt worden. Dem Expediti onsraumschiff war eine Flugschneise frei gemacht worden. Quade hatte eine sorgfältig aufgestellte Karte vor sich, aus der die Laufbahnen aller bekannten Asteroiden und Meteore im 26
Bereich seiner Route zu ersehen waren. Die Abweiser an der Außenhaut waren auf volle Kraft geschaltet. Jeder größere Kör per in der Nähe des Raumschiffes wurde von feinen Meßin strumenten rechtzeitig angezeigt. Andere Vorsichtsmaßnahmen waren nicht möglich, es sei denn, man wollte die Mannschaft Tag und Nacht Raumanzüge tragen lassen. Das größte Hindernis stellte der Asteroidengürtel dar. Bald wies die äußere Hülle Hunderte von kleinen Löchern auf. Ein kleineres Fahrzeug wäre ungehindert durch den Meteoriten schwarm geschossen. Quades gewaltigem Raumschiff war das nicht möglich, obwohl er es fertig bekam, dem Hauptschwarm auszuweichen, der die sichere Vernichtung bedeutet hätte. Ein wahres Trommelfeuer erschütterte die Außenhülle. Un zählige kleine, aber massive Körper trommelten darauf los. Die zweite Hülle, die aus Superstahl bestand, hielt die meisten die ser Interplanetarischen Geschosse auf, deren Geschwindigkeit bereits beim ersten Aufprall gebrochen war. Ein paar drangen trotzdem hindurch. Sofort wurden Notreparaturen eingeleitet. Zwei Schwerkraftscheiben wurden zerstört. Das Schiff donnerte inmitten der Sterne dahin. Im Komman dostand herrschte Totenstille. Quade, Gerry und Strike schauten einander entsetzt an. Quade faßte sich zuerst. Er schaltete sein Audiophon ein und schrie eine Reihe Kommandos ins Mikrophon. Die Not der Stunde machte aus ihm einen Dynamo von ungeheurer Energie. „Morgan! Mannschaft antreten lassen! Sofort Bericht über das Ausmaß der Schäden. Raumanzüge für Außenreparaturen bereithalten.“ „Jawohl, Sir.“ „Außenreparaturen?“ sagte Gerry. „Wir sind beinahe beim Kometen.“ „Na, und?“ gab Quade zurück. „Mit der beschädigten Außen haut kann ich das Schiff keinesfalls in das Koma des Kometen 27
hineinsteuern. Selbst nach einer Reparatur bleibt es noch ris kant.“ „Aber, wir können das Koma jeden Augenblick erreichen. Wenn die Mannschaft draußen ist, dann …“ Ihr Schweigen war bedeutungsvoll. „Wir nehmen nur Freiwillige für diese Aufgabe“, erklärte Quade grimmig. Er sprach wieder ins Audiophon. „Wie steht es?“ „Alle Leute haben sich freiwillig gemeldet, Tony“, berichtete Morgan kurz. Dann zählte er auf, was für Schäden unterdessen festgestellt worden waren. „Raumanzüge ausgeben. Die Innenwand wird mit einer aus reichenden Anzahl von Leuten besetzt. Freiwillige gehen nach draußen. Ich komme sofort mit. Schickt mir einen Aushilfspilo ten herauf, der das Schiff so lange steuert.“ „Oh – Sie gehen auch hinaus“, rief Gerry. „Ja, natürlich.“ „Und ich auch“, erklärte Tommy Strike. „Jede Hand wird gebraucht.“ Er ging auf die Tür zu. „Tommy!“ rief Gerry. „Nein! Du kannst nicht …“ Sie zöger te und schöpfte tief Atem. „Wenn du hinausgehst, komme ich mit.“ Quade mischte sich ein. „Wir brauchen jeden Mann, den wir kriegen können. Aber nur Freiwillige. Strike braucht nicht mit zugehen.“ „Hör zu, Gerry, ich gehe hinaus und du bleibst hier“, schnitt Tommy jeden Einwand ab. „Du kannst bei der Führung des Raumschiffes helfen. Der Hilfspilot wird auf diese Weise für Reparaturarbeiten frei. Tony hat vollkommen recht. Wir brau chen jede Hand.“ Gerry war im Begriff, zu widersprechen. Da gewahrte sie Quades Blick. Offener Hohn lag darin. Anscheinend erwartete 28
der Filmmann, daß Gerry nun weibliche Schwäche oder gar Hysterie zeigen werde. Die junge Frau preßte die Lippen zu sammen. „In Ordnung“, rief sie forsch. „Haut ab, Jungens.“ Quade und Strike gingen hinaus. Gerry setzte sich vor den Kontrolltisch. Ihr Blick schweifte über die Sichtscheibe. Der Komet glühte bereits gefährlich nahe. Ein roter Funken zwi schen den Sternen zeigte die Bahn des Raumschiffes an. Gerry blinzelte mehrere Male schnell. Unterdessen mobilisierte Quade seine Männer. Einige Besat zungsmitglieder schweißten bereits von innen Dichtungsplatten über die Lecks. Andere stiegen in die Raumanzüge und traten vor den Luken an. Wieder andere kletterten, durch besondere Rüstungen geschützt, zwischen der äußeren und inneren Hülle des Raumschiffes herum und brachten ihre Arbeitsgeräte in Stellung. Die meisten Schweißgeräte waren auf Dreifüße montiert, die sich auf Kugellagern leicht bewegen ließen. Jede Maschine hatte ein eigenes, kleines Schwerkraftgerät, mit dessen Hilfe sie sich während der Reparaturarbeiten an ihrem Platz festhalten ließ. Quade überwachte den Ausstieg in den leeren Raum. Draußen angekommen dirigierte er die erste Mannschaft zum Bug des Schiffes. Es wäre unmöglich gewesen, auf der riesigen Fläche der Außenhülle jedes mikroskopisch kleine Loch zu fin den. Das war die Aufgabe der ersten Mannschaft. Auf ihre Schutzanzüge geschnallt trugen die Männer jeder einen kleinen Tank. Von diesem führte ein Schlauch zu einer großen Scheibe, die gute sieben Fuß Durchmesser hatte. Nebeneinander stehend drückten die Männer die runden Scheiben gegen die Außenhaut des Schiffes, drehten an einem Ventil und setzten sich raschen Schrittes in Bewegung. Die Masse des Raumschiffes im Verein mit den in den Raumanzü gen eingebauten Schwerkraftgeräten machten diese Art der ein 29
fachsten Fortbewegung ohne weiteres möglich. Den Scheiben entquoll eine weiße, lackartige Flüssigkeit, die im luftleeren Raum sofort fest wurde. Bald war ein großer Teil der Außen haut mit diesem Stoff überzogen. Tony Quade rief einen Befehl in das Audiophon seines Raumanzuges. Im Inneren des Schiffes öffnete ein Mann ein Ventil, dem ein besonderes Gas entströmte. Es füllte die vorde ren Schotten und dehnte sich rasch aus. Überall dort, wo sich in der Außenhülle Löcher befanden, bildeten sich riesige Blasen in dem elastischen Überzug. Bald hoben sich die auf diese Weise gekennzeichneten Löcher dunkel von ihrer weißen Umgebung ab. Das war das Signal für ein paar Dutzend Männer, die sich eilig mit ihren Schweißgeräten an die Arbeit machten. Das Zusammenspiel der Kräfte klappte reibungslos. Strike, der unterdessen mit Schlauch und Scheibe bis zum Heck des Schiffes gelangt war, schaute Quade auf einmal mit neuem Re spekt an. Noch öfter aber blickte er voraus, wo der riesige Schweif des Kometen beinahe die Hälfte des sichtbaren Him melsfeldes einnahm. Ringsumher war schwarze Leere, nur belebt durch das Fun keln ferner Sterne. Die Männer arbeiteten im luftleeren Raum. Weit hinten schien die Sonne wie eine ferne Scheibe. Der blasse Schein von Almussens Komet warf unheimlich verlängerte Schatten über die Außenhülle des Raumschiffes. Die fehlende Luft machte den Kontrast zwischen Licht und Finsternis beson ders scharf. Die Helmbeleuchtungen der Raumanzüge warfen natürlich keine Lichtstrahlen, weil es keine Luftstäubchen gab, die einen Lichtschein hätten reflektieren können. Mit blutleerem, gespanntem Gesicht saß Gerry Carlyle im Inneren des Schiffes vor der Kontrolltafel. Ingrimmig trieb sie das Raumschiff mit voller Geschwindigkeit auf den Kometen zu. Unabwendbar kroch der rote Fleck auf der Sichtscheibe immer näher an die weiße Umgrenzung des Komas heran. So 30
bald das Raumschiff hier eintauchte, waren die noch draußen arbeitenden Männer unter dem entsetzlichen elektronischen Bombardement einem sofortigen Tod ausgesetzt. Und Tommy Strike war auch draußen? Das war der einzige Gedanke, der Gerry dauernd durch den Kopf ging. Selbstverständlich wußte jedes Besatzungsmitglied um die lauernde Gefahr. Tony Quade hatte damit nicht hinter dem Berge gehalten. Aber keiner dachte daran, seine Arbeit hinzuwerfen und sich in Sicherheit zu bringen. Trotzdem schauten alle im mer wieder und immer öfter zum Kometen hinüber. Schweiß maschinen saugten sich pneumatisch an der Außenhaut fest. Blasse Flammen sprühten und zischten. Ganz allmählich, Fleck um Fleck, wurde das Riesenraumschiff ausgebessert. Dabei raste es mit ungebrochener Geschwindigkeit weiter durch den Raum. Im Kontrollstand nagte Gerry Carlyle an ihren Lippen. Besorgt betrachtete sie den roten Punkt, der dem wei ßen Rand am Kopf des Kometen bedenklich nahe gekommen war. Zwei Zoll lagen auf dem Sichtschirm noch dazwischen. Bei dieser Geschwindigkeit würde sich die Lücke nur allzurasch schließen. Sekundenlang schwebte Gerrys Hand über einem bestimmten Knopf. Ihre Finger zuckten zurück. Nein! Noch durfte die Geschwindigkeit nicht herabgesetzt werden. Aber die Zeit wurde immer knapper. Das Audiophon summte und knackte. Quades heisere Stimme wurde hörbar. „Wie weit sind wir noch entfernt? Wieviel Zeit bleibt uns?“ Gerry stellte rasch ein paar Berechnungen an und gab das Ergebnis durch. Der Filmmann stieß einen Pfiff aus. „Ja – gut, Kurs halten. Wir sehen uns bald.“ „Quade …“, begann Gerry. „Was?“ „Ach, nichts“, flüsterte die junge Frau und drehte sich wieder zu den Kontrollinstrumenten um. Dunkle Schatten lagen unter 31
ihren Augen. Gefahr für das eigene Leben konnte Gerry Carlyle ohne Wimperzucken hinnehmen. Hier aber ging es um etwas ganz anderes. Wenn Strike unter dem Bombardement der Elek tronen zu Tode kam, war es genausogut, als hätte sie ihn mit eigener Hand getötet. Eine weithergeholte Vorstellung, viel leicht – aber Gerry liebte ihren Verlobten. Gebannt schaute sie auf die Sichtscheibe. Plötzlich gewahrte Gerry, daß sie unbewußt den Atem angehalten hatte. Sie atmete tief aus und versuchte, sich zu entspannen. Es hatte keinen Zweck. Der rote Fleck kroch auf den Kometen zu. Nun war er nur noch einen Zoll entfernt. Einen halben Zoll … Mit diesem roten Fleck kroch ihre ganze Zukunft. Gerry saß unbeweglich vor den Instrumenten. In ihren Augen brannten Höllenqualen. Von den Arbeitern an der Außenhülle war nichts zu hören. Niemand wußte, was draußen geschah. Das war viel leicht am allerschlimmsten. Gerry wußte nicht einmal, ob Strike noch am Leben war oder nicht. Sollte sie Quade über das Au diophon anrufen? Noch ein viertel Zoll. Die Lücke wurde immer schmaler. Da – der rote Fleck berührte den weißen Kreis. Gerrys eiserne Kontrolle brach zusammen. Sie legte einen Schalter herum und rief mit schriller Stimme: „Quade! Wir sind im …“ „Immer mit der Ruhe, Kleine“, sagte eine leise Stimme hinter ihr. Gerry fuhr herum. Tommy Strike, arg mitgenommen, aber lächelnd wie immer, stand auf der Schwelle. Mit unruhigen Fingern öffnete er die Reißverschlüsse seines Raumanzuges. Hinter ihm tauchte Quade mit verschwitztem Gesicht auf. Sofort setzte bei Gerry die Gegenreaktion ein. „Es wird allmählich Zeit!“ schnauzte sie. „Ich habe …“ In diesem Augenblick traf ein Tornado das Fahrzeug. 32
Nur ein Superraumschiff diesen Ausmaßes konnte ihm stand halten. Jedes gewöhnliche Transportschiff wäre unter dem Bom bardement der Elektronen sofort vernichtet worden. Gerry drehte sich zur Kontrolltafel um. Ihre schlanken Finger huschten über zahlreiche Tasten, als spiele sie Klavier. Das Raumschiff stampfte und stieß. Die festgefügten Verbände zitterten. Heulend und kreischend wie unter höllischen Qualen schoß es dahin. Das war kein Meteoritenhagel! Reine und ungebundene Energie zerrte an den Grundsubstanzen jeder Materie. Unge heure Kräfte versuchten, die Außenhülle des Raumschiffes zu zerstören. Die Kühlanlagen begannen zu pfeifen und zu jaulen. Sie liefen auf höchsten Touren. Trotzdem begann die Außenhaut rot zu glühen. Die schwa chen, soeben erst notdürftig reparierten Stellen zeigten weißlo dernde Ränder. Der ganze Innenbau des Schiffes reckte und dehnte sich wie auf einer Folterbank. Spanten und Verstrebungen aus härtestem Material kreischten unter entsetzlichem Zug und Druck. Gerry spürte ein warnendes Kribbeln in den Fingerspitzen. Quade sprang vor das Audiophon. „Spezialanzüge anlegen!“ schrie er. „Rasch, alle!“ Er riß drei schwarze Anzüge aus einem Wandschrank, warf einen davon Strike zu, zog den anderen an und schob Gerry mit rauher Hand vom Kontrollstand. „Los, anziehen“, rief er, während seine bereits in Handschu hen steckenden Finger verschiedene Knöpfe und Schalter be dienten. „Schnell!“ Die junge Frau gehorchte. Sie wußte nur zu gut, daß nicht einmal die Sonderausrüstung des Raumschiffes imstande war, die ungeheuerlichen, radioaktiven Kräfte fernzuhalten. Zu viel davon mußte zum Kurzschluß im menschlichen Gehirn führen. Nur ein besonderer Helm, wie Gerry ihn sich hastig aufsetzte, bot dagegen Schutz. 33
Für gewöhnlich herrscht innerhalb eines Raumschiffes völlige Stille. Jetzt aber brach die Hölle los. Die Motoren heulten in rhythmischen, stoßenden Intervallen. Die Sichtscheibe war bald hell, bald dunkel. Sie zeigte nichts als grelle Bündel vorüberhu schenden Lichtes. Alle Instrumente und Kontrollzeiger liefen wirr durcheinander. „Blindflug“, knurrte Quade. „Wenn wir auseinanderplatzen …“ Er lenkte das Schiff in eine immer enger werdende Spirale und begann Fahrt wegzunehmen. Eine Warnglocke klingelte. „Eine der Flickstellen ist aufgeplatzt“, sagte Strike. „Hört zu – ich werde zwischen die Außen- und Innenhülle steigen. Wahrscheinlich kann ich den Schaden mit einem Schweißag gregat reparieren.“ „Hat keinen Zweck“, gab Quade zurück. „Sie würden nicht drei Sekunden am Leben bleiben.“ „Mein Schutzanzug …“ Der Kameramann schüttelte nur stumm den Kopf und beugte sich über die Kontrollinstrumente. Das Raumschiff rüttelte und schüttelte. Es hatte gegen Kräfte anzukämpfen, denen bisher noch nie ein derartiges Fahrzeug ausgesetzt gewesen war. Sen gende, lodernde Feuer vor reiner Energie setzten der Außenhaut mächtig zu. Die Instrumente erwiesen sich als zwecklos. Me tallteile begannen schwach rot zu glühen und zu fluoreszieren. Am meisten fürchtete Quade für seine kostbaren Filme. Schon vor Minuten wäre gewöhnliches Zelluloid zu schwarzer Asche zusammengeschrumpft. Das hatte Quade im voraus gewußt. Viel leicht hielt der Spezialfilm aus Dünndraht dem Bombardement stand. Vielleicht auch nicht. Das ließ sich vorerst nicht sagen. Plötzlich, ohne Übergang, war alles vorbei. Der grollende Donner des Sturmes erstarb. Die Sichtplatte flammte noch ein mal auf und zeigte plötzlich das normale Bild. Man sah … Dort war der Kern des Kometen! Etwas, das nie zuvor menschliche Augen erblickt hatten. 34
Anfangs sah Quade nichts anderes als eine unklare, graue Masse, die sich mit riesiger Geschwindigkeit auszudehnen schien. Eine Kugel stürzte auf ihn zu wie ein Blitz. Zuerst war sie nur klein. Bald erreichte sie die Größe des Mondes, noch ehe er die Geschwindigkeit weiter herabsetzen konnte. Es war eine gefährliche Situation. Verlor das Raumschiff zu schnell an Fahrt, wurde die Lage noch schlimmer, als wenn man sich in weiten Kurven herabsenkte. Die riesigen Druckunterschiede mußten zu einem Platzen der Lungenbläschen führen. Eine Sturzlandung bedeutete den sicheren Tod. Quade lenkte das Schiff zur Seite und umflog den Kern des Kometen in einem weiten Bogen. Trotzdem ließ sich die Ober fläche des Kugelkörpers nicht genau ausmachen. Das Schiff war noch zu schnell. Quade drückte auf ein paar Knöpfe. Das Beharrungsvermögen des eigenen Körpers warf ihn ge gen den gepolsterten Instrumententisch. Zugleich spürte er star ken Druck auf dem Magen. Gerry und Strike segelten quer durch den Raum. Sie prallten von den gleichfalls gepolsterten Wänden ab. Mehr geschah nicht. Quade drückte weitere Knöpfe nieder. Das Raumschiff flog noch langsamer und näherte sich in großen Spiralen dem Ko metenkern. Es schwankte heftig hin und her. Weitere Schwerkraftscheiben waren ausgefallen. „Wir müssen landen und Reparaturen vornehmen“, erklärte er kurz. „Strike, überprüfen Sie die Schäden.“ Tommy nickte und ging hinaus. Gerry schaute über Quades Schulter hinweg auf die Sichtscheibe. „Es sieht – tot und verlassen aus“, meinte sie. „Weder Berge noch Wasser. Eine glatte Kugel, kleiner als der Mond und ohne jede Besonderheit.“ „Besonderheit?“ gab Quade zurück. „Schauen Sie dorthin!“ Auf der blaßgrauen Oberfläche unter ihnen hob sich ein schwarzes Gebäude ab. Es wirkte winzig in der riesigen Entfer 35
nung und erinnerte an einen Monolithen oder einen Turm. Es rauschte vorüber und war verschwunden. Das Raumschiff senkte sich immer tiefer. Eine Weile hing es bewegungslos und sackte schließlich schwerfällig durch. „Uff!“ Quade lehnte sich im Sessel zurück und entspannte sich für einige Sekunden. „Das war ein schweres Stück Arbeit.“ Er nahm den Helm ab und schälte sich aus dem Spezialan zug. „Nun sind wir da“, verkündete er mit einem Seufzer der Er leichterung. Gerry sah zu, wie Tony eine Coffein-Citrat-Tablette zwi schen den Zähnen zerkaute und hinunterschluckte. „Es gibt Leben auf dem Kometen, Quade. Dieser Turm …“ „Sieht ganz so aus. Also müssen wir uns darauf einrichten und unsere Vorsichtsmaßnahmen treffen.“ „Stimmt. Die Luft hier kann jedenfalls nicht atembar sein. Das müssen wir zuerst feststellen.“ Gerry beobachtete den automatisch arbeiteten Apparat, der die Atmosphäre analysierte. „Zyanogen“, meinte sie. „Das können wir auf keinen Fall einatmen. Wir werden außerhalb des Schiffes immer Rauman züge tragen müssen.“ Quade überlegte. „Was für Lebensformen können sich wohl in einer Atmosphäre von Zyanogen aufhalten?“ „Warum soll es nicht Zyanogen an Stelle von Oxygen sein? Selbstverständlich habe ich keine Ahnung, wie solche Lebens formen aussehen könnten. Aber auf jeden Fall gibt es hier Leben. Der Turm beweist es.“ „Zunächst brauchen wir einmal Ruhe und dann müssen wir an die Reparaturen gehen“, entschied Quade. „Wir dürfen hier nicht festliegen, wenn der Komet die Sonne erreicht.“ Er schrie ein paar Befehle ins Audiophon und stand auf, um die nun be ginnenden Arbeiten zu überwachen. „Von der Mannschaft ist 36
jedenfalls niemand verletzt. Das ist ein sehr glücklicher Um stand.“ Die Dinge nahmen ihren Lauf. Zum ersten Male fühlte Gerry sich beiseite geschoben. Das gefiel ihr nicht. Selbst Tommy Strike nahm kaum von ihr Notiz. Er hatte andauernd irgendwo in der Zwischenhülle des Raumschiffes zu tun, wo er mit dem Schweißgerät herumkletterte. Die junge Frau bummelte eine Weile ziellos umher. Ihr Ärger wuchs. Endlich beschloß sie, auf eigene Faust etwas zu unternehmen. Sie hatte zwar kleine, aber durchaus kräftige Hände. Außerdem war sie nicht nur als Pas sagier mitgeflogen. Von niemanden weiter beachtet legte sie ihren Raumanzug an. In die eine Tasche steckte sie eine Gaspistole, in die andere eine Waffe, mit der sich Sprengkörper verschießen ließen. Un gesehen trat sie in die Luftschleuse. Die äußere Tür glitt auf und schloß sich hinter ihr. Eine Art von losem, knirschendem Kies bedeckte die Ober fläche des Kometen. Gerry sah vor sich den scharfen Umriß eines gebogenen Horizontes voller niedriger, flachgeschwunge ner Dünen. Sie schienen alle aus der gleichen Substanz zu be stehen. Von Grünbewuchs war nirgends etwas zu erblicken. Nun, das konnte kaum anders sein, dachte Gerry. Ein Komet, der aus einer Menge loser Partikel bestand, die durch ihre ge genseitige Anziehungskraft zusammengehalten wurden, mußte einen ziemlich dichten Kern haben. Die Oberfläche hingegen konnte aus nichts anderem bestehen als aus tiefem, losen Kies. Die Steinchen erinnerten an Granit. Sie waren hart, grau und durch endlose Reibung abgerundet. Gerry schaute auf. Ein kleiner Schrecken durchzuckte sie. Über sich hatte sie keinen Himmel. Eine wabernde Lohe weißer Flammen war ihr Firmament. Man befand sich im Inne ren des Kometen – innerhalb seines Komas! Der Himmelsdom über ihr war nicht blau und er zeigte auch nicht das sternenfun 37
kelnde Schwarz des leeren Raumes. Dieser Himmel war weiß. Er wurde von ungeheuren Flammenbüscheln durchzuckt, die in seltsam gleichförmigen Wellen auf- und abebbten. Das war alles – diese blasse Glorie des Himmels, die Kies dünen ringsumher und, hinter Gerry, die riesige Masse des Raumschiffes. Die junge Frau hatte sich gut gemerkt, welche Richtung sie einschlagen wollte. Zuversichtlich marschierte sie dei Gegend zu, wo der schwarze Turm gestanden hatte. Sie war vielleicht allzu zuversichtlich. Aber schließlich war sie Gerry Carlyle, die berühmte interplanetarische Tierfängerin. Außerdem wußte sie, daß sie im Notfall über das Audiophon jederzeit mit dem Raumschiff Verbindung aufnehmen konnte. Gerry Carlyle, das erste menschliche Wesen, das auf der Oberfläche eines Kometen stand! Ein leises Lächeln umspielte ihre roten Lippen. Das bedeutet immerhin etwas. Mühselig stapfte die junge Frau dahin. Der lose Kies gab unter den schweren Stiefeln nach. Bald begannen die Wadenmuskeln zu schmerzen. Gerry schaute auf ihren magnetischen Kompaß. Er arbeitete hier nicht. Achselzuckend ging sie weiter. Sie ver fügte über einen ausgezeichneten Richtungssinn. Aber die Dünen sahen einander alle ähnlich. Das von oben strahlende grellweiße Licht warf keinen Schatten. Der Kometen kern war ein Land, über dem niemals das Tageslicht schwand. Weiter ging Gerry, immer weiter. Welche Strecke war bis zum Turm noch zurückzulegen? Eine warnende Vorahnung kommenden Unheils rührte sie an. Vielleicht hatte sie übereilt gehandelt. Schließlich befand man sich in einer neuen Welt mit unbekannten, wahrscheinlich sogar gefährlichen Lebensformen. Aber ein Blick auf ihre Waffen gab der Frau neuen Mut. Sie ging weiter. Auf einer Dünenkuppe erschien ein rundes Etwas, von der Größe eines Fußballes. Die durchscheinende Kugel war blau. Sie rollte auf Gerry zu. 38
Die Tierfängerin blieb sofort stehen. Ihre behandschuhten Finger schlossen sich um die Kolben der Schußwaffen. Wach sam und abwartend stand Gerry auf dem fremden Stern. Der blaue Fußball blieb zehn Fuß von ihr entfernt liegen. Sie hatte Zeit und Gelegenheit, das seltsame Wesen genauer zu be trachten. Die Außenhaut bestand aus einer durchscheinenden, beinahe durchsichtigen Hülle. Der bläuliche Schimmer bestand aus Licht. Im Inneren der Kugel schwebte ein schwarzes Objekt, anscheinend inmitten einer Flüssigkeit. Von Organen war nichts zu erkennen. Das Ding hatte weder Augen, noch Ohren, noch ein Verdauungssystem. Plötzlich begann es mit unheimlicher Geschwindigkeit zu wachsen. Es erreichte vier Fuß im Durchmesser, ehe Gerry zu reagieren vermochte. Das Vorgehen dieser Kreatur erschien ihr bedrohlich. Jedenfalls wollte Gerry nicht unvorbereitet sein. Sie riß die Gaspistole aus dem Gürtel. Sofort verschwand die Kugel. Sie war weg wie ein Traum bild. Die Stelle war leer. Gerry stand wie angewurzelt und überlegte, ob das Ding wohl explodiert oder mit ungeheurer Geschwindigkeit davonge schossen sei. Instinktiv ahnte sie, daß keine dieser beiden Schlußfolgerungen richtig sei. Ein unheimliches Gefühl veranlaßte sie, sich umzudrehen. Aus entgegengesetzter Richtung tollten zwei blaue Kugeln von etwa sechs Fuß Durchmesser auf sie zu. Gerry hob die Waffe. Sie erwartete, daß der Feind sofort ver schwinden würde. Das geschah auch prompt und völlig geräusch los. Die junge Frau fuhr wiederum herum. Jetzt waren die beiden blauen Kugeln auf der anderen Seite aufgetaucht. Sie maßen un terdessen zehn Fuß im Durchmesser und rollten rasch auf sie zu. Das schwarze Objekt im Inneren des Kugelkörpers hatte sich nicht ausgedehnt. Es maß nach wie vor etwa sechs Zoll. 39
Gerry feuerte Die Kugel traf das vorderste von den blauen Wesen. Betäubungsgas bildete eine deutlich sichtbare Wolke. Es blieb wirkungslos. Die blaue Kugel dehnte sich immer wei ter aus und rückte näher heran. Nun versuchte Gerry es mit der anderen Pistole. Auch diese erwies sich als nutzlos, wenngleich in einem ganz anderen Sin ne, als Gerry erwartet hatte. Der Schuß zerriß die blaue Kugel in kleine Fetzen. Aber als Gerry sich umdrehte sah sie sechs weitere Kugelwesen, groß und blau schillernd, geräuschlos her anrollen. „Das kann nicht wirklich sein“, sagte Gerry verzweifelt zu sich selbst. „Ich werde verrückt.“ Plötzlich erinnerte sie sich an das Audiophon. Als sie bereits im Begriff war, das Gerät einzuschalten, lenkte das vorderste der blauen Unwesen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Auf dem hellblauen Grunde bildete sich plötzlich ein Schat tenriß. Er nahm Gestalt, Farbe und Größe an. Gerry Carlyle sah sich ihrem eigenen dreidimensionalen Ab bild gegenüber. „Großer Himmel“, flüsterte die junge Frau. „Sind die Wesen etwa wirklich mit Intelligenz begabt?“ Vorsichtig betrachtete sie ihr Ebenbild. Die Reproduktion ih res eigenen Ich krümmte sich zusammen und begann auf dem blauen Hintergrund herumzukugeln. Dann erhob sich die Pseudo-Gerry. Sie begann steif und ruckhaft zu gehen. Gerry begriff, was dahintersteckte. Die blau en Lebewesen bewegten sich selbst rollend vorwärts. Offenbar wunderten sie sich darüber, daß der fremde Besucher sich nicht in der gleichen Weise fortbewegte. Gerry hatte eine Idee. Vielleicht war es möglich, sich mit diesen Kreaturen anzufreunden und sogar eine davon zum Schiff zu locken. Damit wäre man einen Schritt vorangekom men. 40
Sie hob einen Arm in der überall bekannten und verstande nen Friedensgeste. Hier aber verstand man sie völlig falsch. Die vorderste Kugel dehnte sich plötzlich auf zwanzig Fuß aus, rauschte heran und warf Gerry über den Haufen. Die junge Frau packte ihre Waffe, zerschoß den Angreifer und versuchte aufzustehen. Da erschien eine weitere Kugel in der Luft über ihr. Sie fiel mit großer Gewalt auf Gerrys Helm herab und schlug ihr die Waffe aus der Hand. Die Außenhülle faltete sich elastisch um den Schutzanzug der Frau. Gerry fühlte sich emporgehoben. Sie zappelte verzweifelt. Die Kugel begann, die Düne hinaufzurollen. Hell und Dun kel wechselten vor Gerrys Augen in rascher Folge. Trotzdem bekam sie es fertig, das Audiophon einzuschalten und um Hilfe zu rufen. Sie hörte nur einen schwachen Summton. Etwas an dem Gerät war zerbrochen. Anscheinend war der Mechanismus entzweigegangen, als Gerry von der blauen Kugel niederge walzt wurde. Gerry Carlyle, die alle Tiere von fernen Planeten lebendig zu fangen pflegte, war nun selbst gefangen – lebendig. Im Raumschiff wurde Gerry nicht sofort vermißt. Zuviel war zu tun. Nicht einmal Tommy Strike bemerkte das Fehlen seiner Braut. Erst nach geraumer Zeit begann er, nach ihr zu suchen. Da war es aber bereits zu spät. „Ich weiß aus bitterer Erfahrung, was es bedeutet, sich den Rückweg offenzuhalten“, sagte Quade inmitten der allgemeinen Betriebsamkeit zu Tommy. „Wenn wir wirklich in Schwierig keiten geraten, müssen wir jederzeit fliehen können. Es hat kei nen Zweck, vorzügliche Aufnahmen zu machen und fremde Ungeheuer zu fangen, wenn wir auf dem Planeten festsitzen und mit ihm zu dicht an die Sonne herangetragen werden.“ Strike nickte. „Damit haben Sie recht. Aber nun scheint es so weit zu sein, daß wir unser Raumschiff wieder flott haben. Wie?“ 41
„Alles in Ordnung. Wo ist übrigens Ihre Braut?“ wollte Quade wissen. „Ich gehe mal nachsehen.“ Tommy ging davon. Gleich dar auf kehrte er mit verwundertem und besorgten Gesichtsaus druck zurück. „Sie ist verschwunden. Einer von den Schutzan zügen fehlt.“ Quade fluchte vor sich hin. Er schaltete das Audiophon ein und gab QRZ an alle. „Wir rufen Gerry Carlyle! QRZ – QRZ – Wir rufen Gerry Carlyle.“ Er bekam keine Antwort. „Nun“, meinte Quade, „Wir wollen uns erst einmal verge wissern, ob sie irgendwo im Raumschiff ist. Es sieht aber beinahe so aus, als wäre die Dame heimlich nach draußen gegangen.“ „Sie antwortet nicht auf den Anruf“, bemerkte Strike. „Das bedeutet, daß sie nicht dazu in der Lage ist“ Nach einigem Hin und Her schälten sich ein halbes Dutzend Männer aus der Besatzung, die seltsame Rüstungen aus einem leichten, aber sehr festen Material anlegten. In diesen Anzügen war man luftdicht abgeschlossen, behielt aber seine Bewe gungsfreiheit. Quade und Tommy Strike führten die Gruppe an, die alsbald das Raumschiff verließ. „Wir können nicht fliegen“, meinte der Filmmann mehr zu sich selbst. „Die Reparaturarbeiten sind noch nicht ganz beendet. Außerdem ist der Kasten schwer zu manövrieren. Wir dürfen keine Bruchlandung riskieren. Verlassen wir uns lieber auf unsere Beine. Die kleinen Wagen, die wir an Bord haben, nutzen uns bei dem kiesigen Untergrund nichts.“ „Welche Richtung?“ fragte Strike. „Spuren sind nicht zu sehen.“ Quade nahm ein Periskop aus dem Werkzeugbeutel, zog es auseinander und blickte durch das Okular. „Es hat keinen Zweck. Dort drüben ist eine hohe Düne. Wir wollen einmal hinaufklettern und Umschau halten.“ 42
Das taten die Männer. Nirgendwo war eine Spur von Gerry zu sehen. „Lassen Sie mich …“, begann Strike. Er schwieg plötzlich. Der Unterkiefer klappte ihm herab. Er starrte in das Tal hinun ter, das sie gerade verlassen hatten. „Gerry!“ Die anderen blickten in die Richtung, in die er mit zitterndem Finger deutete. Dort unten war Gerry Carlyle. Ihr rotes Haar sah unter dem Helm zerzaust aus. In dem schwerfälligen Raumanzug versuchte sie in wilder Flucht den Abhang heraufzulaufen. Aber sie kam um keinen Schritt vom Fleck. Ihre Beine bewegten sich auf und nieder. Der Körper war nach vorn gebeugt, als renne sie um ihr Leben. Dabei trat sie auf der Stelle. Auf einmal war sie verschwunden. Strike und Quade schauten einander an, schnappten nach Luft und starrten ins Tal hinunter. Verlassen, einsam und leer lag es im weißen Flackerlicht, das von oben niederströmte. „Es war doch Gerry, nicht wahr?“ schluckte Tommy. „Wie Alice im Wunderland“, entgegnete Quade völlig ver wirrt. „Sie rannte, so schnell sie konnte und blieb doch auf dem gleichen Fleck. In was für eine unheimliche Umgebung sind wir geraten?“ „Meinen Sie, daß es eine Einbildung oder ein Spiegelbild gewesen sein könnte?“ fragte Strike hoffnungsvoll. Quade führte die Männer den Abhang hinunter. Er deutete auf klar erkennbare Fußspuren, die tief in den kiesigen Boden eingedrückt waren. „Spiegelbilder und Einbildungen hinterlassen keine Fußab drücke. Es war keine Sinnestäuschung. Gerry Carlyle ist hier gewesen und plötzlich verschwunden.“ Auf einmal, wie hingezaubert, stand der Turm vor ihnen. In kaum fünfzig Fuß Entfernung sprang er plötzlich ins Blickfeld. 43
Es war ein hoher, riesiger Monolith aus schwarzem Stein oder Metall. Das Gebäude hatte ganz glatte Außenwände. Unten be fand sich ein weites Tor. Oben war der Turm gekrönt von einer hellglänzenden Kuppel. Genauso unerwartet, wie er gekommen war, verschwand der Turm wieder. „Phantome“, sagte Quade hilflos. „Aber dreidimensional, solide und wirklich. Sollte es sich um eine Übertragung von fester Materie auf radio-physikalischem Wege handeln?“ „Dieser Turm!“ rief Strike. „So etwas Ähnliches haben wir doch schon von oben gesehen.“ „Er stand dort hinten, Chef“, mischte sich einer der Männer ein. „Gar nicht so weit entfernt von hier.“ „Okay“, bestimmte Quade, „wir wollen hinübergehen. Ver geßt nicht, daß wir in einer Atmosphäre von Zyanogen stehen. Die Helme bleiben fest geschlossen. Haltet eure Waffen bereit.“ Er rief das Schiff an und unterrichtete Morgan von seinen Plä nen. „Sie übernehmen das Kommando, bis wir zurückkehren. Sollten wir uns verspäten oder ganz ausbleiben, wird ohne uns gestartet, sobald die Zeit heranrückt.“ Dagegen hatte keiner von den anderen Männern etwas ein zuwenden. Grimmig schulterten sie ihre Packen. Sie folgten Quade und Strike ins Tal hinunter. Anfangs sah es so aus, als läge ein langweiliger, beschwerli cher Marsch vor ihnen. Aber das änderte sich bald. Strike ent deckte als erster eine blaue Kugel. Sie lag bewegungslos oben auf einer Düne und erinnerte irgendwie an eine seltsame Pflanze. Vorsichtig rückten die Männer näher heran. Hinter der blauen durchscheinenden Außenhaut der Kugel, die etwa zehn Fuß Durchmesser hatte, sah man deutlich einen schwarzen Kern, der in einer Art Flüssigkeit zu schwimmen schien. „Meinen Sie, daß das Ding lebt?“ fragte Strike. „Wenn ja, dann muß es Zyanogen atmen. Vorausgesetzt, daß es überhaupt atmet.“ 44
Quade streckte eine Hand aus, um das seltsame Wesen zu be rühren. Da verschwand es. Es blieb auch verschwunden. Fünf Minuten später gaben die Männer das Warten auf und setzten ihren Marsch fort. Gleich darauf trafen sie auf eine zweite Kugel. Diese aber zeigte rötli che Farbe. Quade ging auf wenige Schritte heran. Vorsichtig und ohne plötzliche Bewegung schaltete er seinen Audiophonsender ein. Mit murmelnder Stimme machte er ein paar beruhigende Ge räusche. Die Kugel erschauerte. Ein Bild formte sich auf der rötlichen Oberfläche. Es war Quade, wie er leibte und lebte. „Ein Spiegel also“, flüsterte Strike. „Nein, sehen Sie sich das an!“ Quades Spiegelbild bewegte sich. Es streckte die Arme aus und verbeugte sich, obwohl das Original reglos stand. Das Ab bild sprang hoch und nieder. Auf einmal war es verschwunden. Die schillernde Oberfläche blieb leer. Alle Männer hatten genau gesehen, daß Quades Abbild bis in alle Einzelheiten stimmte und dreidimensional gewesen war. Ein neues Bild formte sich. Dieses Mal zeigte es das Raum schiff. Auch dieses Abbild verschwand. Die rote Kugel nahm an Größe zu wie ein Ballon, der aufgepumpt wird. Erschreckt sprangen die Männer zurück. Das seltsame Ding machte kei nerlei feindliche Bewegungen, sondern verschwand gleich falls. An seinem Platz stand auf einmal ein Modell des Raumschif fes. Es war nicht höher als sechs Fuß, stimmte aber in allen Einzelheiten mit dem Original überein. Als auch dieses Wundergebilde sich in Nichts auflöste, war wieder die ursprüngliche rote Kugel oder ein Duplikat davon zu sehen. Die Kugel schrumpfte bis auf wenige Zoll zusammen und löste sich auf. 45
„Verdammt will ich sein“, entfuhr es Quade. „So etwas ist nicht möglich. Das Ding arbeitet wie ein Superfilmprojektor.“ „Intelligent?“ fragte Strike. „Weiß ich nicht. Diese Außenhaut – man könnte fast meinen, sie besteht aus hochentwickelten, stark anpassungsfähigen Zel len, die an Stelle unserer normalen Sinne wirken. Sie können zur Atmung, zum Sehen und zu allen möglichen anderen Dingen geeignet sein. Die Kugelwesen scheinen sich zu verständigen, indem sie ihre Gedanken in Form von Bildern auf ihre Außen haut projizieren.“ „Wie aber erklären Sie sich dies plötzliche Verschwinden? Und die verschiedenen Gestalten? Die rote Kugel nahm plötz lich die Form des Raumschiffes an. Vielleicht war auch Gerry nur so eine Erscheinung.“ Quade hob verzweifelt die Hände. „Das ist mir zu hoch, Strike. Ich schätze, der Schlüssel zu allen Geheimnissen liegt in dem schwarzen Turm, den wir vorhin gesehen haben. Wir wollen weitergehen.“ Der beschwerliche Weg dehnte sich endlos in die Länge. Über den Köpfen der Männer flackerte und wabberte ununter brochen, mal heller und dann wieder dunkler, die weiße Lohe. Die Umgebung war einsam und trostlos. Die Männer schwitzten in ihren unbequemen Rüstungen. Leise fluchten sie vor sich hin. Aus dem Nichts sprang plötzlich vor ihnen eine Kreatur, die wie ein prähistorischer Tyrannosaurus Rex aussah. Wie ein Känguruh stand er hoch aufgerichtet auf den Hinterbeinen auf der Spitze einer Düne, schaute sich mit starren Blicken um, wo bei der flache Schlangenkopf sich langsam drehte. Das Untier war mindestens fünfundzwanzig Fuß hoch. Aber es war nicht die einzige bestürzende Erscheinung. Strike packte Quades Arm. „Dort drüben ist ein Venus Peit schentier!“ schrie er. „Ein Monstrum von der Venus! Hier – auf dem Kometen!“ 46
„Sie sind verrückt“, rief Quade. Dann sah er es selbst. Die Augen quollen ihm fast aus den Höhlen. „Das – das kann nicht echt sein“, meinte Strike verzweifelt. „Es ist ausgeschlossen.“ Das Peitschentier löste das Problem in dem Augenblick, als es die Männer sah. Seine lange, biegsame Zunge vorschnellend raste es den Abhang herunter. Der Kiesboden bebte unter den schweren Hufen. Ganz bestimmt war es kein Phantom. Strike riß sein Gewehr an die Schulter und feuerte. Das riesige Reptil warf den Kopf zurück, stieß ein ohrenbetäubendes Zischen aus und setzte den Angriff fort. Die Männer waren an mancherlei Gefahren gewöhnt und verfielen nicht in Panik. Sie eilten auseinander und machten ihre Waffen schußbereit. Der Angriff des Riesentieres verpuffte. Aber die bewegliche Zunge zischte wie ein Blitz über die Gruppe dahin. Klatschend traf sie Quades Rüstung, als er bei seite sprang. Dann krachten von allen Seiten die Gewehre. Dem Untier wurde der Schädel vollkommen abgerissen. Es rannte in einem weiten Kreis ziellos herum. Erst nach einer ganzen Weile registrierte das Kleinhirn am Schwanzende des langen Rückgrates, daß der Tod bereits eingetreten war. Plötzlich brach es zusammen. Der furchtbare Schwanz zuckte noch hin und her, Muskeln bewegten sich zappelnd unter der rauhen Haut. „Ein Phantom?“ sagte Quade verbittert, „Das glaube ich nicht. Dieses Tier verschwindet nicht. Oder?“ „Mir ist das alles unbegreiflich“, überlegte Strike laut. „Eine Lebensform von der Venus auf diesem Kometen? Es wäre höchstens denkbar, daß uns jemand hier zuvorgekommen ist. Aber aus welchem Grunde sollte man ein Peitschentier mitbrin gen und aussetzen?“ Die Männer fanden keine Lösung für dieses Problem. Es war unmöglich, das erlegte Fabelwesen zu untersuchen. Die Mus keln reagierten immer noch auf den Befehl nur langsam erster 47
bender Nerven. Genausogut hätte man sich einer Kiste Dynamit mit brennender Lunte nähern können. Die Männer setzten ihren Marsch fort. Spürbare Nervosität bemächtigte sich der Gruppe. Quade konnte deshalb niemandem einen Vorwurf machen. Er sprang selbst ein Stück zur Seite, als Strike plötzlich rief: „He, da fällt mir gerade etwas ein. Wie kann ein Peitschentier, das Sauer stoff atmet, in dieser Atmosphäre aus Zyanogen leben?“ Auch darauf ließ sich keine stichhaltige Antwort geben. Gleich darauf tauchte die rote Kugel oder jedenfalls ein ihr gleichartiges Gebilde auf. Sie erschien plötzlich auf der näch sten Hügelkuppe, rollte den Erdenmenschen entgegen und ver hielt zögernd. Aus der leeren Luft tauchten etwa ein Dutzend bläuliche Kugeln auf, die sich um das rötliche Wesen scharten. Für eine Weile sah man nichts, als die umeinander wirbelnden runden Körper. Als sich das Durcheinander auflöste, war die rote Kugel verschwunden. Eine flache, zerfetzte Haut lag auf dem Kiesgrund. Farblose Flüssigkeit rann daraus hervor. Im, nächsten, Augenblick, materialisierte sich aus der leeren Luft eine ganze Schar roter Kugeln. Die blauen rollten rasch davon. Sie wurden von den roten Kugelwesen verfolgt. Beide Gruppen huschten über eine Anhöhe und verschwanden auf der anderen Seite. Dieser Vorgang war den Erdenmenschen schon besser verständlich. „Ich glaube, sie haben uns überhaupt nicht gesehen“, meinte Strike. „Nein … die blauen Kugeln scheinen etwas gegen die roten zu haben, und umgekehrt. Vielleicht handelt es sich um zwei verschiedene Stämme oder Arten. Die Farbe scheint indessen den einzigen Unterschied zu bilden.“ „Ich möchte nur wissen, ob die Wesen irgendwie mit Ver nunft begabt sind“, beharrte Strike auf der bereits einmal ge stellten Frage. 48
„Das ist schwer zu entscheiden“, erwiderte Quade nachdenk lich. Schritt um Schritt kämpften sich die Männer durch den lockeren Kies vorwärts. „Es sieht nicht so aus. Aber vielleicht ist der Denkprozeß dieser Wesen von dem unseren so verschie den, daß es keine Verständigungsbasis gibt. Schon unter den Lebensformen innerhalb unseres eigenen Sonnensystems gibt es auf den verschiedenen Planeten große und unüberbrückbare Unterschiede. Es mag sein, daß die Arhennius-Sporen die durch das Weltall schweben, das Leben erschaffen haben. Anpassung und Umgebung spielten eine große Rolle bei der Weiterent wicklung. Immerhin möchte ich bezweifeln, daß überhaupt ir gendwelche Sporen durch das Koma dieses Kometen eindrin gen konnten. Mikroskopisch kleine Körperchen, die auf Licht wellen schweben, würden von der Elektronenbarriere abge wiesen worden sein. Ich sagte schon vor unserem Start, daß wir uns hier auf allerlei Überraschungen gefaßt machen müß ten. Wir befinden uns weit jenseits aller Grenzen des Norma len. Hier stehen wir sogar außerhalb des bisher bekannten Uni versums.“ „Wem sagen Sie das?“ gab Strike zurück. „Sehen Sie! Ein Peitschentier ließe ich mir noch gefallen, aber – das ist einfach zu viel!“ Auch Quade vermochte kaum zu glauben, was er sah. Die anderen Männer blieben vor Verwunderung starr stehen. Man hatte den Gipfel einer Düne erreicht. Unten im Tal hockte ein höchst seltsames Lebewesen. Es lebte, aber es bestand aus Ein zelteilen, die nicht zueinander paßten. Es war ein Zerrbild, wie die Ausgeburt eines wahnsinnigen Gehirns. Das Untier hatte den Körper eines Elefanten, der gestreift war, wie der eines Zebras. Der unheimlich in die Länge gezogene Hals schien von einem Strauß zu stammen. Die dünnen, staksi gen Beine erinnerten an die einer Giraffe. Und oben auf dem langen, schlauchartigen Hals saß – der Kopf von Tommy Strike! 49
Das Abbild war unverkennbar. Es stimmte bis auf die letzte Sommersprosse und zeigte sogar die ungebärdige Locke, die in die sonnengebräunte Stirn fiel. Das Untier starrte völlig aus druckslos in die leere Luft, dann wandte es sich den Erdenmen schen zu. Der ungeheuerliche Körper richtete sich zappelnd und schwankend auf. Für eine Sekunde stand er still. Dann gaben die gebrechlichen Beine splitternd nach. Der Rumpf krachte zu Boden. Er zuckte noch ein paarmal im Todeskampf. Unverzüglich setzte die Auflösung bis zum völligen Ver schwinden ein. „Also“, sagte Quade zu dem völlig niedergeschlagenen Strike, „nun wird alles klar. Das Peitschentier war immerhin eine uns bekannte Lebensform. Dieses Wesen nicht.“ „Aber die einzelnen Teile stammten von uns bekannten Tie ren, beziehungsweise Menschen.“ Quade gab sich damit nicht zufrieden. „Ja. Aber im ganzen gesehen existiert ein solches Wesen im Universum nirgendwo. Es ist irgendwie erschaffen worden und löste sich in Luft auf. Die Frage ist – wie?“ „Keine Ahnung. Ich meine eher, die Frage lautet – warum?“ Quade ging weiter. „Die Antwort auf beide Fragen dürfte in dem schwarzen Turm zu finden sein. Dessen bin ich gewiß. Weit kann es nicht mehr sein.“ Sie erblickten das Bauwerk schon von weitem. Es erhob sich vom kiesigen Untergrund zu beträchtlicher Höhe. Anscheinend war der Turm völlig leer und verlassen. Man stand vor dem Ur bild des Phantommonolithen, der schon früher einmal erschienen war. Das große Tor sah wenig einladend aus. Eine schimmernde, metallene Kugel krönte die Spitze. Eine unbekannte, aber starke Kraft ließ die Oberfläche dieser Kugel flimmern und irisieren. „Die roten und blauen Kugeln haben diesen Turm niemals gebaut“, behauptete Strike. „Zur Errichtung dieses Gebäudes brauchte man Hände oder ähnliche Werkzeuge.“ 50
„Vielleicht haben es die Vorfahren unserer kleinen Freunde errichtet“, meinte Quade dazu. „Vermutlich steht der Turm schon seit langer, langer Zeit. Außerdem könnte man sich bei der Errichtung des Bauwerkes der Hilfe von Maschinen bedient haben.“ „Maschinen? Warum sollten die Kugelwesen einen solchen Umweg nehmen? Ihre Außenhülle dient offensichtlich allen möglichen Zwecken. Wahrscheinlich absorbieren sie ihre Le bensmittel damit, vorausgesetzt, daß die Bewohner des Kome ten sich in dieser seltsamen Atmosphäre nicht einfach durch Atmung ernähren.“ „Das wäre natürlich denkbar. Nun, wir wollen einmal hinun tergehen und uns umschauen.“ Vorsichtig näherten sie sich dem Turm, traten über die Tor schwelle und schauten hinein. Ein riesiger, kahler Saal tat sich vor ihnen auf. Blasses, flackerndes Licht erhellte ihn. Der Raum schien sich nach oben hin in die Unendlichkeit auszudehnen. Das ganze Innere des Turmes war hohl. Sehr hoch oben erkannte Quade das Glitzern von Metall. „Dort oben ist eine Maschine …“ Strikes Schrei unterbrach ihn. „Gerry!“ Die junge Frau lag am jenseitigen Rande des Riesenraumes ohnmächtig auf dem Fußboden. Strike rannte auf sie zu. Die anderen folgten ihm auf dem Fuß. Der Captain kniete neben Gerry nieder und untersuchte ihr Sauerstoffgerät. Rasch drehte er an einem Ventil. Gerrys Gesicht war gerötet. Ihre Lippen bewegten sich. Mit starren, blicklosen Augen schaute sie geradeaus. Für eine Sekun de fürchtete Strike, daß die auf dam Kometen hausenden Lebe wesen seine Braut mit einem unheimlichen Übel geschlagen hät ten. Dann aber erkannte er, daß sie nur einfach im Delirium lag. „Zurück zum Raumschiff“, kommandierte Quade. „Zwei von euch tragen die Frau.“ 51
„Es ist zu spät“, murrte Tommy Strike. „Hier kommen unsere kleinen Freunde.“ Dutzende von blauen Kugeln rollten über die Schwelle in den riesigen Saal. Immer mehr fluteten herein. Unaufhaltsam drangen sie auf in die Enge getriebenen Erdenmenschen ein. Strike ließ Gerry vorsichtig zu Boden sinken und riß seine Waffe heraus. Die anderen standen schon zur Abwehr bereit. Aber niemand feuerte, ehe nicht die Absichten der Eindringlinge unmißverständlich klar waren. Quades Explosionsgeschoß riß eine der blauen Kugeln in Fetzen. Sofort dröhnten zahlreiche Schüsse im Echo durch die Zyanogenatmosphäre innerhalb des Turmes. Die Männer dran gen gegen die Reihen der Kugelwesen vor. Ein Dutzend von ihnen war rasch erledigt. Wie zerrissene Luftballonhüllen lagen sie auf dem Boden. Merkwürdigerweise verschwanden andere blaue Kugeln ganz von selbst. Sie vergingen wie Geister. Andere blieben zurück. Immer neue Verstärkungen trafen ein. Quade und seine Begleiter wurden gegen die innere Wand zurückgetrieben. Sie hatten zwar ausreichend Munition bei sich, aber der un widerstehliche Ansturm der Kugelwesen ließ sich nicht auf halten. „Wo kommen die Dinger alle her, zum Teufel?“ schrie Strike. Immer mehr und mehr blaue Bälle hüpften und wirbelten durcheinander bis der Fußboden von ihnen buchstäblich be deckt war. Sie reichten in ihrer Größe von zwei bis zehn Fuß. Quade schaltete sein Audiophon ein und rief Morgan im Raumschiff an. „Was ist los, Chef?“ fragte Morgan zurück, der in seinem Lautsprecher deutlich den Lärm und das Durcheinander hörte. „Kommt uns zu Hilfe, schnell“, sagte der Kameramann mit aller Ruhe. In ein paar raschen, aber glasklaren Sätzen erklärte er die Situation. Dazwischen hielt er dann und wann inne, um 52
mit raschen Schüssen ein paar der zudringlichsten Angreifer abzuwehren. „Tut mir leid, es geht nicht!“ rief Morgan zurück. „Eine der Maschinen ist gerade ausgefallen. Wir brauchen ein paar Stun den, um den Schaden zu reparieren. Wir werden zu Fuß hinüber kommen und euch heraushauen.“ „Kommt nicht in Frage!“ befahl Quade mit aller Bestimmt heit. „Ihr bleibt im Schiff. Bringt die Maschine in Ordnung. Ich erwarte, daß meine Befehle befolgt werden!“ Es blieb ihm keine Zeit, noch mehr zu sagen. Ein paar von seinen Männern waren bereits überwältigt. Die Kugelwesen rollten über sie dahin. Strike stand breitbeinig über Gerrys hin gestrecktem Körper, eine Pistole in jeder Hand. Die übrigblei benden Männer bildeten eine Art Igelstellung. Hilflos gegen die Wand gepreßt sahen sie sich alsbald von den andrängenden Horden umgeben. Auf einmal bot sich ihnen völlig unerwartet eine Atempause. Der Grund dafür ließ sich zuerst nicht erkennen. Quade spürte lediglich, daß der Druck des Angriffes nachließ. Bisher war es so gewesen, daß für jedes vernichtete Kugelwesen sofort ein anderes einsprang. Nun aber wurden die Reihen der Angreifer immer dünner. Dieser Vorgang war anfangs kaum wahrzuneh men; wurde aber rasch deutlicher. Nach kurzer Zeit wurde der Durchblick zur Tür frei. Quade sah etwas gänzlich Unerwartetes. Durch das Haupttor drängte eine Armee von roten Kugelwe sen herein. Rote und blaue Bälle wirbelten in wildem Kampf herum. Der ganze Saal war ein Durcheinander von farbigen Bällen, die um einander und übereinander tanzten. Trotz aller Wildheit war es ein hübscher Anblick für die Erdenmenschen. In tödlicher Stille und ohne sichtbare Waffen vollzog sich ein harter Kampf. Die feindlichen Gruppen setzten alle Kräfte ein. Blaue und rote Ku geln sanken eine nach der anderen flach in sich zusammen. 53
„Sie hatten recht!“ keuchte Strike, der sich kaum noch auf den Füßen halten konnte. „Es handelt sich um zwei verschiedene Stämme, die im richtigen Augenblick übereinander herfielen. Junge, Junge – was für ein Glück für uns!“ „Ja, hoffentlich ziehen sie nicht gleich gemeinsam über uns her!“ Die Erdenmenschen fanden ein wenig Zeit, die eigenen Verluste zu überprüfen. Keiner von den Männern war verletzt. Einige hatten Quetschungen davongetragen. Die starken, bieg samen Helme hatten allen Stößen widerstanden. „Keine Waffen“, bemerkte Strike. „Offenbar benötigten sie dergleichen Dinge nicht. Trotzdem richten sie allerlei Schaden an.“ Quade hob seine Pistole und ließ sie wieder sinken. „Keine sichtbaren Waffen, Strike“, verbesserte er. „Verges sen Sie nicht, daß uns diese Wesen völlig unbekannt sind. Viel leicht verfügen sie über rein geistige Waffen. Es kann sein, daß sie nur mit Hilfe ihrer Gedankenkraft zu töten vermögen.“ „Warum fallen wir dann nicht tot um?“ „Weil wir nicht von der gleichen Art sind. Allein unsere chemische Zusammensetzung ist völlig verschieden von der ihren“, erläuterte Quade seinen Gedankengang. „He, dieser Kampf scheint nicht enden zu wollen. Auf einmal sind mehr Kugeltiere hier, als zu Beginn der Schlacht. Anscheinend schweben die Dinger aus der leeren Luft.“ „Das ist mir auch schon aufgefallen. Sollten wir nicht einen Ausbruch versuchen?“ „Das halte ich auch für besser.“ Der Filmmann erteilte ein paar Befehle. Gerry zwischen sich tragend, schoben sich die Männer in geschlossener Gruppe mit erhobenen Waffen auf das Tor zu. Die Kugelwesen achteten kaum auf die Erdenmenschen, die unangefochten fast zur Tür gelangten. Jetzt erst entdeckten die bizarren Kometenkreaturen, daß ihre Gefangenen zu fliehen versuchten. Blaue und rote Ku 54
gelwesen vereinten sich im Angriff auf Quade und seine Be gleiter. Dieser Ansturm hatte schwerere Folgen als der erste, Unter der Übermacht der Angreifer sanken die Erdenmenschen zu Boden. Sie kämpften bis zuletzt, setzten sich aber nicht durch. Quade wurde flach neben Gerry zu Boden geworfen. Er drehte den Kopf, versuchte aufzustehen und sah, daß die junge Frau ihre Augen öffnete. Sie kam zu Bewußtsein und erkannte Quade. Gerrys Lippen bewegten sich. Aber ihr Audiophon arbeitete nicht. Trotzdem gelang es dem Kameramann, ihr einige Worte vom Munde abzulesen: „Fort von hier … schnell … andere spä ter retten … letzte Möglichkeit …“ Gerry hatte immer noch eine Pistole in der Hand. Ein Schuß knallte. Unter den andrängenden Kugelwesen hindurch rollte sich die junge Frau über den Fußboden. Quade zögerte ein paar Sekunden und folgte ihr dann. Ganz einfach war es nicht. Der Gedanke daran, die Kamera den im Stich zu lassen, quälte ihn. Aber er faßte mehr Vertrauen als ihm einfiel, daß Gerry offensichtlich auch Strike im Stich ließ. Das hätte sie ohne guten Grund niemals getan. Außerdem war es sicherlich für zwei Personen leichter zu entkommen, als für sieben. Der Hauptangriff der Kugelwesen richtete sich gegen Strike und die anderen Männer, die immer noch auf ihren Füßen standen. Glück, Geschicklichkeit und große Treffsicherheit taten das ihre. Gerry und Quade gelangten bis an den Rand des Kampf feldes. Hier erhoben sie sich. Gerry packte Quades Hand. Sie rannten beide den nächsten Dünenhang hinauf, so schnell sie konnten. Ein paar Kugelwesen setzen zur Verfolgung an. Inner halb der nächsten zehn Minuten mußten sie sich gegen die ih nen nachsetzenden roten und blauen Kugeln heftig zur Wehr setzen. Als keine weiteren mehr erschienen, sank Gerry in den Kies nieder und zog Quade neben sich. 55
„Mein Audiophon“, formten ihre Lippen unhörbare Worte. „Können Sie es in Ordnung bringen?“ Quade hatte ein Notreparaturgerät bei sich. Hastig machte er sich an die Arbeit. Es dauerte nicht lange, und er vernahm Ger rys Stimme. „Halten Sie die Augen offen“, keuchte sie atemlos. „Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns bleibt. Wir haben jedenfalls keine Minute zu verlieren. Vorläufig haben wir es nur mit den Proteanen zu tun. Bald wird die Hölle los sein.“ „Proteanen?“ „So habe ich die Kugelwesen getauft. Sie werden es bald be greifen, wenn ich Ihnen berichte, was geschehen ist. Halten Sie unterdessen Ihre Waffen bereit.“ In kurzen Sätzen schilderte Gerry, was sich bis zu ihrer Ge fangennahme ereignet hatte. „Diese Kreaturen sind mit Ver nunft begabt. Sie verständigen sich untereinander, indem sie ihre Gedankenbilder auf die Außenhaut projizieren. Sie verstän digten sich auch mit mir. Ich habe eine ganze Menge über sie in Erfahrung gebracht. Quade, was ich Ihnen zu sagen habe, klingt unglaublich. Können Sie schätzen, wie viel Proteanen es gibt?“ „Ein paar Tausend?“ riet Tony. „Nein – sieben Stück“, betonte Gerry. „Sieben Proteanen, keinen mehr und keinen weniger. Sieben – Schläfer.“ Quade runzelte die Stirn. „Ich begreife nicht …“ „Wir haben es hier mit einer dekadenten Rasse zu tun. Vor unendlichen Zeitaltern hatten diese Wesen eine ganz andere äußere Form. Ich weiß nicht, wie sie ausgesehen haben mögen. Sie leben seit undenklichen Zeiten auf diesem Kometen. Sie haben sich in einer uns ganz fremden Art entwickelt, erreichten den Gipfelpunkt ihrer Kultur und glitten zurück. Auf diesem kahlen Kometen gedeiht nicht viel Leben. Mit der Zeit waren nur noch sieben Proteanen übrig. Sie sind zwar hochintelligent, haben aber den Raum nicht gemeistert, so daß sie an diesen 56
Kometen gefesselt sind. Wissen Sie, was die Proteanen darauf hin taten?“ Ein rotes Kugelwesen materialisierte sich in etwa zwölf Fuß Entfernung. Es rollte langsam heran und dehnte sich dabei aus. Quade zerfetzte es mit einem Schuß. Die Bruchstücke ver schwanden im Nichts. „Die Proteanen bauten den schwarzen Turm“, fuhr Gerry fort. „Es ist eine hochkomplizierte Maschine, Quade. Mit ihrer Hilfe vollbringen die Proteanen das beinahe Unmögliche. Sie materialisieren – Träume!“ Der Mann lachte nicht. „Im ersten Augenblick klingt es ver rückt“, meinte er nachdenklich. „Das weiß ich. Aber wir wissen auch, daß jede lebende Ma terie eine Art von elektrischem Heiligenschein, ein Energiefeld um sich herum hat. Stimmt es nicht?“ „Ja. Vor langer Zeit, es muß um 1930 gewesen sein, haben zwei Wissenschaftler namens Nims und Lane ein Gerät ent wickelt, das empfindlich genug war, dieses elektrische Feld aufzuspüren und seine Formen aufzuzeichnen. Aber was hat das mit einem Traum zu tun?“ „Träume entstehen durch elektrische Energie, genauso wie der bewußte Gedanke“, erklärte Gerry. „Das habe ich, so gut es gehen wollte, in meinem Gedankenaustausch mit den Proteanen herausbekommen. Haben Sie jemals einen Angsttraum erlebt, in dem Sie rennen und rennen, aber nicht vom Fleck kommen? Sind Sie jemals in Schweiß gebadet und völlig erschöpft auf gewacht? Das bedeutet und beweist, daß Träume Energie ver brauchen. Hören Sie, wenn das in einem Körper eingeschlosse ne Leben ein meßbares elektrisches Feld besitzt, führt es nur einen Schritt weiter zu glauben, daß man auch das Energiefeld eines Traumes aufzeichnen kann.“ Sie schwiegen ein paar Minuten. Quade mußte das Gehörte erst einmal verdauen. 57
„Das Bild wird mir allmählich klar,“ sagte er. „Ich glaube, ich vermag Ihrem Gedankengang zu folgen. Ist so ein elektri sches Feld erst einmal aufgezeichnet, kann man es in die elek trischen Wellen zurückverwandeln, aus denen es ursprünglich bestand. Dadurch wird der lebende Körper neu geschaffen, oder auch der Traum, den er selbst hervorgebracht hat. Stimmt es? Lange vor Edison war es möglich, die menschliche Stimme durch Aufzeichnung sichtbar zu machen. Aber erst Edisons Phonograph ermöglichte es, diese sichtbaren Aufzeichnungen mit Hilfe einer Nadel und einer Membrane in Klang zurückzu verwandeln. Richtig! Wir sind unterdessen so weit gekommen, daß selbst Gedankenbilder auf Band geschnitten werden kön nen. Man hört zwar nur Knurren und Pfeifen, wenn man diese Bänder abspielt. Aber ein erfahrener Filmingenieur vermag wohl, sie zu lesen. Ich habe es schon selbst probiert. Es kann kein unmögliches Unterfangen sein, diese auf Band genomme nen Gedankenbilder als dreidimensionale Erscheinungen zu rückzuspielen.“ „Mehr als Erscheinungen“, warf Gerry ein. „Der Turm voll bringt es ohne die Zwischenschaltung einer Bandaufnahme. Hier wird überhaupt nichts aufgenommen. Der Turm über nimmt einfach die Energiestöße, die von den Träumen der sie ben Proteanen ausgehen, setzt sie in Materie um und sendet sie in die Ferne. Die so geschaffenen dreidimensionalen Erschei nungen vollbringen genau, was die Träumer wünschen.“ „Wollen Sie damit sagen, daß alle diese Kugelwesen nur Träume sind?“ fragte Quade. „Träume, die sich materialisiert haben?“ „Ja. Sie existieren wirklich und sind doch nicht wirklich. Zu einem Zehntel jedenfalls existieren sie. Sie sind wirklich genug, um zu kämpfen, zu sterben – und ich konnte mich mit ihnen verständigen.“ „Aber warum das alles?“ fragte Quade. „Wissenschaftlich 58
gesehen ist es möglich, wenngleich der ganze Vorgang außer ordentlich kompliziert ist. Ein logischer Grund dafür ist mir noch nicht aufgegangen.“ „Doch, es ist logisch“, erklärte die junge Frau. Sie rückte auf dem harten Kiesboden unruhig hin und her. „Ich sagte Ihnen zu Anfang, daß sieben hochintelligente Wesen auf diesem Kome ten übrig blieben. Sie langweilten sich. Wir sahen die Farben Blau und Rot. Es gibt vier von der einen und drei von der ande ren Sorte. Sie konnten diese ihre Welt nicht verlassen. Ein Da sein von unendlicher Monotonie lag vor ihnen. Was hätten Sie an Ihrer Stelle getan?“ „Ich wäre verrückt geworden“, gab Quade freimütig zu. „Es gab einen anderen Ausweg. Die sieben Proteanen muß ten versuchen, dieses Leben irgendwie interessant zu gestalten. Es gelang ihnen auf ihre Weise. Sie entwickelten eine Art von tödlichem Schachspiel, drei auf der einen, vier auf der anderen Seite. Alles ganz logisch. Unser irdisches Schachspiel ist ein Zeitvertreib, der hohe Intelligenz verlangt. Hier wird ein über wissenschaftliches Schach gespielt. Folgendes haben die Pro teanen getan: Sie bauten diesen Turm, um ihre Träume zu mate rialisieren. Wahrscheinlich haben sie auch ihre Gestalt verän dert. Das weiß ich aber nicht genau. Sie materialisierten ihre Gedankenbilder und schufen Wesen nach ihrem Ebenbild. Die Hälfte ihres Gehirns schläft und träumt. Die andere Hälfte ist wach und dirigiert alle Vorgänge dieses Spiels. Wie Sie wissen, benutzen wir Menschen ebenfalls nur die eine Hälfte unseres Gehirns.“ Quade nickte kurz. „Richtig. Sie wollen also bei der Behaup tung bleiben, daß es auf diesem Kometen nur sieben wirkliche Proteanen gibt?“ „Ja, mehr nicht. Alle die anderen Kugelwesen sind Traum bilder. Wenngleich sie uns wirklich genug erscheinen. Sie er halten Energie und die Materie, aus der sie bestehen, durch die 59
Kraft des schwarzen Turmes. Dieses mörderische Schachspiel geht nun schon seit vielen Jahrhunderten. Wahrscheinlich hätte es sich in alle Ewigkeit fortgesetzt, wenn wir nicht als ein neuer Faktor aufgetaucht wären.“ „Moment mal“, unterbrach Quade. Rasch erzählte er der jun gen Frau von den bizarren Kreaturen, die der Mannschaft auf dem Wege zum Turm begegnet waren – von dem VenusPeitschentier und dem seltsamen Wesen mit Strikes Kopf auf einem langen Hals. „Durchaus möglich“, lächelte Gerry. „Ich befand mich in einem Zustand des halben Deliriums und habe sicher auch gefiebert. Man schleppte mich in den Turm hinein. Ich hatte Halluzinationen und die Maschinerie im schwarzen Turm materialisierte sie prompt. Damit sind wir beim Kernpunkt der Sache. Die Proteanen erkannten nämlich, daß ich für sie von Wert sein könnte.“ Bei dieser Eröffnung wurde Quade auf einmal sehr schweig sam und nachdenklich. Sein schmales, gebräuntes Gesicht nahm einen grimmigen und besorgten Zug an. Er erkannte die drohende Gefahr. „Denken Sie an unsere Erinnerungen!“ flüsterte Gerry voller Entsetzen. „Denken Sie an alle die Untiere, die wir auf den ver schiedensten Planeten gesehen haben, denken Sie an die Waf fen, die wir benutzt haben. Die Proteanen wollten mich ein schläfern, Gewalt über mein Gehirn gewinnen und mich von den Dingen träumen lassen, die ich hinter mir und erlebt habe. Ein Peitschentier von der Venus! Was für eine Waffe wäre das in den Händen der blauen Kugelwesen im Kampf gegen die roten. Körperlich sind wir nicht gefährdet. Die Proteanen können uns nicht fressen. Aber unsere Gehirne sind für sie die reinsten Lagerhäuser voller Träume. Und die Proteanen sind imstande, Träume zu materialisieren!“ „Himmel, o Himmel!“ stöhnte Quade. „Was für eine Situation. 60
Das ist die scheußlichste Sache, in die ich jemals hineingeraten bin. Wie, zum Teufel, soll ich Träume fotografieren? Sie sind nicht wirklich.“ „Doch, die materialisierten Träume lassen sich filmen“, be hauptete Gerry. „Und ein Protean – ein wirklicher Protean, nicht ein Traumbild – kann eingefangen werden! Aber es gibt noch eine Schwierigkeit. Diese Kometenbewohner stehen hoch über der untersten Grenze der Intelligenz. Das Interpla netarische Recht erlaubt es nicht, ein intelligentes Wesen ge gen dessen Willen aus seiner heimatlichen Umwelt zu entfüh ren.“ „Nun, das kann warten“, entschied Quade. „Unser Hauptpro blem ist es, Strike und meine Leute zu retten. Ob das Raum schiff wohl einsatzfähig ist?“ Morgan meldetet sich mit besorgter Stimme am Audiophon. Die Maschine war noch nicht repariert. Aber die Arbeit machte gute Fortschritte. „Hier können wir nicht bleiben“, meinte Tony. „Wir können auch nicht zum Turm zurückkehren. Also wollen wir zum Raumschiff gehen.“ „Eile tut not“, bemerkte Gerry. „Sobald Tommy und die an deren eingeschläfert sind, werden ihre Träume sogleich wahr. Tommy hat eine lebhafte Einbildungskraft.“ Quade erhob sich mühselig und half Gerry auf die Füße. Die junge Frau war immer noch schwach. Dennoch wollte sie sich nichts anmerken lassen. Sie schüttelte den Arm des Mannes los und stapfte durch den losen Kies davon. „Halten Sie Ihre Waffe schußbereit“, sagte sie nur. Die Proteanen schienen ihnen nicht mehr zu folgen. Einmal erblickten sie ein Peitschentier, das etwas links voraus über ei nen Dünenkamm sprang. Es nahm von den beiden Menschenwesen keine Notiz und kam bald außer Sicht. „Unser Hauptproblem is es, die sieben wirklichen Proteanen 61
aufzuwecken“, überlegte Gerry laut. „Es hat keinen Zweck, die anderen zu töten. Immer nette Kugelwesen materialisieren sich – schneller als wir schießen können.“ „Wo aber sind die wirklichen?“ fragte Quade. Gerry lachte voller Erbitterung. „Oh, sie sind nicht etwa in einem besonderen Schlafraum eingeschlossen. Hier fängt die Sache an, ausgesprochen spaßig zu werden. Die echten sind mit den erträumten Kugelwesen vermischt. Ich sagte schon, daß die Proteanen nur halb schlafen. Die andere Hälfte ihrer Gehirne ist bei Bewußtsein. Es erscheint mir einfach unmöglich, einen ech ten Proteanen von einem erträumten und materialisierten Ab bild zu unterscheiden.“ „Können wir nicht einfach schießen und schießen, bis wir nach und nach die wirklichen Proteanen getroffen haben?“ „Genausogut könnten wir den Gürtel der Asteroiden mit ei nem Wassereimer ausschöpfen“, gab Gerry hoffnungslos zu rück. „Wir müssen irgendwie ausfindig machen, welches die echten Proteanen sind. Well, im übrigen habe ich nicht die Ab sicht, die Kugelwesen zu töten, wenn es nicht unbedingt nötig wird. Wenn sie tot sind, nutzen sie weder Ihnen für den Film, noch uns für die Jagd. Ja, wenn wir sie aufwecken könnten …“ „Wir können die echten Proteanen nicht wecken, solange wir sie nicht identifiziert haben. Und wir können sie nicht identifi zieren, ohne sie zu wecken. Oh, Himmel!“ „Well, aber ganz bestimmt ist das hier kein echter Protean“, rief Gerry, als eine zottige, affenartige Gestalt über dem dünnen Kamm vor ihnen auftauchte „Es ist ein Hyclops! Wo ist Ihr Gewehr?“ Der Hyclops, der auf dem Ganymed beheimatet ist, erreicht mehr als zwölf Fuß Höhe, hat vier Arme und ist mit einem scheußlichen, zottigen Fell bedeckt. Er hat drei Köpfe mit ei nem Auge und riesigen Fangzähnen hinter schlaff hängenden Lippen. „Zielen Sie auf die Augen“, schrie Gerry und sprang 62
zur Seite. „Wir haben keine Superexplosivgeschosse bei uns, aber – in die Augen schießen!“ „Das brauchen Sie mir nicht zu sagen“, knurrte Quade und stürzte in der anderen Richtung davon. Er fuhr herum, ließ sich auf ein Knie nieder und schoß in rascher Folge mehrere Kugeln auf das Untier ab. Der Hyclops stapfte weiter heran. Geifer troff ihm aus den Mäulern. Die riesigen, zottigen Arme wirbelten durch die Luft. Ein Geschoß fand sein Ziel. Der rechte Schädel verlor sein Auge und baumelte plötzlich nutzlos auf dem dicken, stämmi gen Nacken. Die Kreatur stieß einen wütendes Bellen aus, das in dieser Atmosphäre nicht zu hören war und wirbelte herum. Quade war das Ziel seiner Wut. Wenn das ein Traum war, dann bestimmt ein höllischer Alptraum! Quade hastete ein paar Schritte zur Seite. Über sich gewahrte er den riesigen Schatten des scheußlichen Tieres. Mächtige Arme streckten sich nach ihm aus. Quade sprang zwischen den säulenartigen Beinen hindurch. Mit Schaudern dachte er an sein Schicksal, falls es dem Hyclops gelang, ihn mit einer seiner krallenbewehrten Pranken zu treffen. Ein aufgerissener Raum anzug bedeutete in dieser Atmosphäre voller Zyanogen den so fortigen Tod. Gerrys Kugel traf das Auge im Mittelkopf. Das Monstrum schrie geräuschlos und richtete sich steil auf. Es hob den dritten und letzten Kopf. Gerry feuerte abermals. Der Hyclops brach zusammen. Wie ein leerer Sack sank er um und fiel über Quade. Dem Mann blieb nur noch Zeit zu ei nem letzten Gedanken an einen entsetzlichen Tod ehe er nie dergepreßt wurde. Mit letzter Kraft versuchte Quade, sich zur Seite zu rollen … Und der Hyclops verschwand. Er löste sich einfach in Luft auf. Er verflog wie ein Traum – was er ja auch wirklich war. „Das nutzt mir nichts“, meinte Quade, auf unsicheren Beinen 63
stehend und verzerrt lächelnd. „Angenommen, ich hätte mir gewünscht, einen Kopf oder alle drei mitzunehmen – um sie über meinem Kamin anzubringen …“ Gerrys Lachen klang einigermaßen hysterisch. „Nun können Sie sich einmal vorstellen, wie einem wirklichen Großwildjäger zumute ist. Kommen Sie weiter. Wir müssen uns beeilen, sonst läßt Tommy abermals seine Vorstellungskraft spielen.“ Eine neue Phase des irren Spieles begann. Undeutliche Traumgesichter umtanzten die beiden Menschen von allen Sei ten. Es waren unklare, nur halb materialisierte Gedankenbilder, die in der Ferne auftauchten und blitzartig wieder verschwan den. Die meisten erinnerten an fremde Welten, die Tommy Strike bereits besucht hatte. Seltsame Gesichter, verzerrte Un wesen, die nicht zu deuten waren. Die ganze Szenerie war unheimlich und ließ sich einfach nicht beschreiben. Über den beiden einsamen Menschen hing der seltsam weiße Himmel des Kometen. Riesige Flammenbö gen zuckten über ihnen hin und her. Die beiden einsamen Wan derer kamen sich vor wie die letzten Menschenwesen im gan zen Universum. Umspült von den kosmischen Feuern der Schöpfung zogen sie über das kahle Land. Einmal sahen sie – oder glaubten sie zu sehen, wie Gerry in der Ferne eilig rannte, ohne vom Fleck zu kommen. Auch die ses Traumbild verlor sich alsbald. „Wenn ich mir selbst begegne“, meinte . die junge Frau düster, „werde ich wahnsinnig. Wie weit ist es noch?“ „Nicht mehr sehr weit“, tröstete Quade. „He, was ist das jetzt?“ Offensichtlich lag Tommy Strike schon wieder in delirium tremens. Jedenfalls sah das Fabelwesen, das sich jetzt näherte, keiner bisher bekannten Gestalt ähnlich. Es war eine Art See schlange von zwanzig Fuß Länge, die sich rasch mit weit ge öffnetem Maul heranwälzte. Zum Glück für Gerry und Quade verschwand sie wieder, ehe die Waffen sprechen konnten. 64
Ohne weiteren Zwischenfall erreichten sie das Raumschiff. Morgan begrüßte sie herzlich und half ihnen aus den beengen den Anzügen. „Die Maschine ist immer noch nicht ganz in Ordnung“, be richtete er. „Wir haben die Motoren beim Flug durch das Ko metenkoma überfordert. Unterdessen hat sich herausgestellt, daß eine weitere Maschine dringend überholt werden muß.“ „Muß eben gemacht werden.“ erklärte Quade grimmig. „Wir wollen den Kometen auf alle Fälle lebendig verlassen. Jetzt muß ich zunächst einen Schluck trinken.“ Er führte Gerry in den Kommandoraum. Nachdenklich füll ten sie ihre Gläser und überdachten die scheußliche Situation. Immerhin gelang es ihnen, ihre von vielerlei Geschichten über reizten Gemüter zu beruhigen. „Das Schiff können wir vorerst nicht bewegen“, meinte Quade schließlich. „Das steht fest. Haben Sie irgendwelche Fallen oder andere Vorrichtungen bei sich, mit denen man den Proteanen beikommen könnte?“ „Ein schlafendes Wesen kann man nicht hypnotisieren“, gab die junge Frau zurück. „Also nützt uns unsere Hypnosefalle nichts. Das ist besonders schlimm. Meine Fallen sind alle für lebende Wesen entworfen, nicht für Träume und Träumer. Viel leicht kämen wir mit den schweren Waffen zum Zuge. Aber die Kanonen sind so plump, daß wir sie nicht zum Turm transpor tieren können. Außerdem“, sie warf einen Blick auf das Chro nometer, „unsere Zeit wird knapp. Wir nähern uns der Sonne. Der Komet schießt mit ungeheurer Geschwindigkeit dahin.“ Quade zündete eine Zigarre aus grünlichem, aromatischen Mondtabak an. „Wir wollen einmal alles genau durchdenken. Irgendwie müssen wir es erreichen, daß die sieben Schläfer aufwachen. Ihre Phantomlegionen müßten dann verschwinden. Hm – was ist übrigens Schlaf?“ 65
„Darüber gibt es verschiedene Theorien. Das Gehirn schwingt zwischen Zuständen der Aufregung und der Entspan nung hin und her. Je größer die Erregung, desto früher tritt die Entspannung oder der Schlaf ein. Die sieben Proteanen aber schlafen nur halb und sind andererseits halb wach. Eine Über entwicklung des Gehirns führt zu diesem Zustand.“ Quade nickte. „Es müßte möglich sein, diese Kugelwesen so stark zu reizen, daß sie aufwachen. Wollen mal sehen – diese Kreaturen sind hoch entwickelt. Ihre Außenhüllen bestehen aus hochspezialisierten Zellen. Das bedeutet, daß ihre Nervenenden außerordentlich empfindlich sind. Und – sie leben in einer At mospäre aus Zyanogen.“ Gerry ordnete ihr rotes Haar und begann, mit einem Lippen stift zu hantieren. „Zyanogen – man müßte also versuchen, mit Hilfe eines Gases oder einer flüssigen Chemikalie das Zyano gen in einen anderen Stoff umzuwandeln, der die sieben Schlä fer reizt und aufweckt …“ „Das Schiff können wir nicht einsetzen“, unterstrich Quade noch einmal. „Also müßten wir etwas Tragbares benutzen. Hm …“, er griff nach einem Blatt Papier und einem Stift, Hastig machte er ein paar Notizen: „(CN)2 plus O2 – Nitrogen und Kohlendioxyd“, lauteten die Formeln. Er zeigte sie Gerry. „Die Proteanen sind an eine Zyanogenatmosphäre gewöhnt. Kohlendioxyd müßte vergiftend oder erstickend auf sie wirken. Vielleicht. Es würde alles Leben auf diesem Kometen töten – außer uns. Gerry starrte die chemischen Formeln an. Plötzlich riß sie dem Mann das Blatt aus den Fingern und begann selbst zu schreiben. „Moment – ich glaube, ich hab’s. Ammoniumoxalat. Ja! Schauen Sie her.“ Sie reichte Quade ihre Notizen. Sie lauteten: „(CN)2 plus H2O = Ammoniumoxalat.“ 66
„Wasser?“ fragte Quade verblüfft. „Zyanogen plus Wasser aus einem einfachen Schlauch mit Düse bilden Ammoniumoxalat. Dieses Salz ist kein Zyanid. Es müßte auf Kreaturen, die in Zyanogen und vornehmlich daraus bestehenden Gasen leben, einen starken Reiz ausüben. Und der Effekt wäre eng lokalisiert. Das ist die Lösung. Wir schaffen es.“ Quade nickte langsam. „Ich glaube, Sie haben recht, Gerry. Gewiß! Wir nehmen tragbare Tanks und Sprühgeräte. Ich hole Morgan.“ Der Chefingenieur war bald zur Stelle. Quade erteilte hastig seine Befehle. Gleich darauf war eine ganze Gruppe von Män nern mit eiligen Hantierungen beschäftigt. Tragbare Wasserbe hälter wurden gefüllt. Schläuche und Spritzen mußten vorberei tet werden. Es dauerte nicht lange und eine kleine Mannschaft stand marschbereit. Gerry und Quade setzten sich an die Spitze. Morgan blieb mit dem Rest dei Besatzung zurück, um die Re paraturarbeiten fortzusetzen. „Wir kehren so bald wie möglich zurück“, verabschiedete sich Quade. „In der Zwischenzeit gelten die vorhin erteilten Befehle. Wenn wir nicht zurück sind, ehe der Komet in gefähr liche Sonnennähe gerät, wird ohne uns gestartet.“ Morgan schüttelte den Struwwelkopf. „Wir kommen der Sonne jetzt schon verdammt nahe, Chef.“ „Das ist mir bekannt“, zuckte Quade mit der Schulter. „Ich nehme ein paar Kameras mit. Das große Gerät können wir jetzt nicht schleppen. Wir wären damit zu unbeweglich. Sieht ganz so aus, als bringen wir von Zorn verdammt wenig mit nach Hause. Und Sie kriegen keine Riesenviecher“, nickte er zu Gerry hinüber. Die junge Frau gab darauf keine Antwort. Raschen Schrittes setzte sich der Stoßtrupp in Marsch. „Wenn wir noch lange hin und her laufen, machen wir einen Trampelpfad zum Turm hinüber,“ meinte Gerry. „Hm, hm. Ich frage mich nur, ob alles klappen wird?“ über 67
legte Quade laut. „Einfaches Wasser scheint mir nicht gerade eine erfolgversprechende Waffe zu sein.“ Zehn Minuten später schien sich sein zurückhaltendes Urteil zu bestätigen. Eine Kreatur vom Aussehen einer riesigen Spinne, sechs Fuß hoch und doppelt so breit, hastete auf dürren Beinen den Abhang einer Düne herunter. Das Tier öffnete und schloß gierig seine Kinnbacken. „Die Wassertanks!“ schrie Gerry schrill. „Versucht es mit einer kalten Dusche.“ „Nein, nehmt die Gewehre“, übertönte Quades tiefere Stim me den Befehl der Frau. „Alle Mann – Feuer!“ Schüsse krachten von allen Seiten. Die Riesenspinne wurde sofort getötet. Dennoch raste der Körper weiter voran und stieß einen Mann zu Boden. Obwohl die Augen des unheimlichen Wesens ausgeschossen waren und es blindlings voranstürmte, schnappten die Kiefer immer noch wütend um sich. Auf einmal war es verschwunden. „Dieses Mal hatten wir gerade noch Zeit zum Schießen“, er klärte Quade. „Aber dort – die erste Gelegenheit, es mit dem Wasser zu versuchen. Da kommt eine blaue Kugel.“ Ein blauer Protean von nur fünf Fuß Durchmesser rollte ge mächlich heran. Auf seiner schillernden Außenhaut bildete sich eine Erscheinung – es war die Spinne, die soeben getötet wor den war. Niemand sprach ein Wort. Der Protean zögerte. Er wurde größer und rollte schließlich mit deutlicher Absicht auf die Gruppe los. „Jetzt!“ rief Gerry. Quade zielte mit dem Spritzenschlauch. Er drehte das Ventil auf. Die Sprühvorrichtung zischte schrill. Gespannt und hoff nungsvoll sahen die Männer zu. Gerry machte einen Schritt nach vorn. Es begann zu schneien. Ammoiumoxalat stiebte aus der Zya 68
nogenatmosphäre hernieder. Die Flocken wirbelten auf den Pro tean herab, der sich dadurch nicht im geringsten stören ließ. „Es geht nicht“, stöhnte Quade und griff nach seiner Pistole. Das blaue Monstrum zerplatzte und die leere Haut sank in sich zusammen. Sogleich erschienen weitere Kugelwesen. Abermals versuchte es Quade mit dem Wassertank, ohne Er gebnis. Der Angriff der Kometenwesen mußte mit den Schuß waffen aufgehalten werden. „Well“, sagte Gerry, als das letzte Kugelgebilde zerstört war, „ich weiß nicht recht – entweder irre ich mich vollständig, oder Ammoniumoxalat wirkt nur auf die richtigen Proteanen, nicht auf ihre Traumgebilde. In diesem Fall müssen wir suchen, bis wir die wirklichen Schläfer finden.“ „In Ordnung“, stimmte Quade zu. „Wir rücken weiter gegen den Turm vor. Wir wollen aber die Wassertanks erst wieder einsetzten, wenn wir zum letzten Angriff antreten. Vielleicht sind die Schläfer noch nicht gewarnt. Wir dürfen unser Vorha ben nicht zu früh verraten. Wenn Sie recht haben, geht alles in Ordnung. Wenn nicht – sind wir erledigt.“ Gerry entgegnete nichts. Sie erkannte nur zu gut die Wahr heit in Quades Worten. Unermüdlich marschierte seine Gruppe vorwärts durch den losen, grauen Kies. Mehrere Male erblick ten sie weitere Proteanen. Einmal kam ihnen ein Hyclops ins Blickfeld, der eine Gruppe fliehender roter Kugelwesen ver folgte. „Es sieht so aus, als ob die blauen Proteanen Tommy Strike gefangengenommen hätten“, bemerkte Gerry. „Sie benutzen seine Traumvisionen in ihrem verrückten Spiel. Ich möchte nur wissen, was mit den anderen Männern geschehen ist?“ Auch Quade machte sich darüber Gedanken. Die Aussichten waren mehr als schlecht. Gerry machte sich große Sorgen. Tommy Strike befand sich in einer scheußlichen Lage. Die junge Frau mußte sich einge 69
stehen, daß sie mit ihrer Voreiligkeit das ganze Unglück he raufbeschworen hatte. Andauernd sah sie im Geiste das Gesicht ihres Verlobten. Plötzlich murmelte Gerry etwas vor sich hin. das mit einem Fluch verdächtige Ähnlichkeit hatte. Zugleich zielte sie auf ei nen Proteanen, der sich in der Nähe materialisiert hatte. Das Kugelwesen zerflog in Fetzen. Gerry fühlte sich etwas erleich tert. Hoch oben flammten und wallten die Feuer des Kometen koma. Jenseits davon, hinter dem weißglühenden Schleier zo gen die Sterne des Sonnensystems ihre gewohnten Bahnen. Weit, weit entfernt wurden die Arbeiten an der „Arche“ fortge setzt. Menschen wanderten durch den Londoner Zoo und be staunten Gerrys Ausstellungen. Hollywood auf dem Mond war wie gewöhnlich erfüllt von Getriebe und Aufregung. An allen Fernsehschirmen diskutierte man das Erscheinen des Kometen und das mögliche Schicksal der Forscher, die hin ter seinem Feuervorhang verschwunden waren. Eine undurchdringliche Wand fremder Materie sperrte die auf dem Kometen gelandeten Menschen von allen diesen Din gen, die ihnen lieb und vertraut waren, vollkommen ab. Sie wa ren nah, und doch so fern. Lichtjahre entfernt! Gerry, Quade und die Besatzung waren die Gefangenen des Kometen, wäh rend der fremde Wanderer im Weltenraum immer näher an die Todeszone der Sonne herankam. Allmählich, ganz allmählich rückte der Nullpunkt näher. Von Anfang an war alles schiefgegangen. Vielleicht war es Gerrys Schuld. Andererseits konnte niemand vorausahnen, wel che Umgebung und was für Lebensbedingungen man auf dem Kometen zu erwarten hatte. Er gehörte einer fremden Welt an, die sich menschlicher Erkenntnis entzog. Gerry empfand einen Anflug von Ehrfurcht, als sie zu dem unheimlich flackernden Himmel emporblickte. Die Erkenntnis von den unendlichen, 70
kosmischen Räumen dämmerte ihr, die unser Sonnensystem umgeben. Wieviel lag jenseits davon und konnte nie erforscht werden! Was gab es nicht alles, das der menschliche Geist nie mals begreifen würde! Mit einem Achselzucken tat Gerry diese Gedanken ab und stapfte weiter. Im Augenblick war ihr alles gleichgültig. Die vor ihr liegende Aufgabe nahm sie gefangen. Hier gab es etwas zu tun, das ihr nicht neu war. Gerry Carlyle, die große Tierfängerin im Interplanetarischen Raum, schickte sich an, ihre Waffen, ihre Erfahrung und ihre Intelligenz gegen unbekannte Feinde einzusetzen. Quades Gedanken bewegten sich in ganz ähnlichen Bahnen, wenngleich sie weniger gefühlsbetont waren. Sein scharfer Verstand arbeitete lebhaft. Er beschäftigte sich mit verschiede nen Möglichkeiten und Theorien. Er entwarf Angriffspläne und schob sie wieder beiseite. Die Spannung in der kleinen Gruppe stieg auf das höchste, als der Turm in Sicht kam. Quade blieb stehen. „Bisher wissen wir noch nicht, über welche Kräfte und Mög lichkeiten die Proteanen überhaupt verfügen“, erklärte er ruhig. „Also paßt gut auf. Vielleicht bedienen sich die Kometenwesen rein geistiger Waffen. Seid wachsam und haltet Verbindung mit mir. Laßt es mich sofort wissen, wenn etwas Unvorhergesehe nes geschieht.“ In einer Art Schützenlinie marschierten die Erdenmenschen auf den Monolithen zu. Dieses Mal lag er nicht einsam und ver lassen vor ihnen. Die Basis des Turmes war verdeckt von vielen tausend Kugelwesen. Rote und blaue Proteanen hatten sich ge gen den gemeinsamen Feind vereinigt. Sie warteten still, wach sam und drohend … Die Spannung erreichte den Siedepunkt. Schritt um Schritt gingen die Angreifer durch den knirschenden Kies voran. Der 71
Feind rührte sich nicht. Unbeweglich verharrten die Proteanen am Fuße des schwarzen Monolithen, unter dem weißen, flam menden Himmel. Stille – unheimliche, quälende Stille. Quades Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Bis in die feinsten Fasern spürte er die drohende Gefahr. Seine Hände schwangen lose an den Hüften. Die Finger blieben immer in Griffweite von den Waffen. Bei jedem Schritt stieß ihn der Kolben des über den Rücken gehängten Gewehres gegen die Hüfte. Gerry schritt vorsichtig hinter ihm drein. Die Männer wirkten wie bizarre Fabelwesen. Die großen Wasserbehälter ragten hoch über ihre behelmten Köpfe. Die vorderste Linie der Kugelwesen war vierzig Fuß entfernt – dreißig – fünfundzwanzig … Der Abhang war hier nicht mehr steil. Kies knirschte unter schweren Stiefeln. Keuchender Atem pfiff in den Audiophonen. „Chef!“ flüsterte irgendwer. „Ruhig“, sagte Quade, „ruhig, Männer!“ Zwanzig Fuß trennten die Gruppe noch von den Proteanen. Fünfzehn … Zuversichtlich schritt Quade auf die dichten Reihen der roten und blauen Kugeln zu. Unaufhaltsam drängte er sich in einen Spalt zwischen zwei der unheimlichen Ungeheuer. Sie machten ihm Platz. Wahrhaftig, die Kugelwesen zogen sich offensichtlich ver blüfft zurück. Jedes Zögern wäre von Übel gewesen. Quade ging weiter. Eine Gasse tat sich vor ihm auf. Immer weiter wichen die Pro teanen zurück. Gerry folgte Quade auf dem Fuß. Die Männer hielten sich dicht zusammen. Die Spannung war kaum noch zu ertragen. „Chef“, meldete sich eine Stimme, „die Kugelwesen schlie ßen sich hinter uns!“ 72
„Laßt sie“, gab Quade kurz zurück und marschierte weiter. Die schwarze Wand des Turmes tauchte vor ihm auf. Quade überschritt die Schwelle. Ein paar Sekunden blieb er unter der Tür stehen. Ein seltsames, fahles Licht drang aus dem hohlen Inneren des Turmes. Der Boden war mit Proteanen bedeckt. Einige von ihnen waren winzig, andere erreichten sechs Fuß und mehr im Durchmesser. Von Tommy Strike und den ande ren war nichts zu sehen. Abermals wichen die Proteanen zu beiden Seiten aus. Ein Gang quer durch den riesigen Raum öffnete sich. Grimmig und in tödlicher Stille ging Quade weiter. In der Mitte des Saales blieb er stehen. Zu seinen Füßen la gen fünf bewegungslose Gestalten. Es waren Erdenmenschen. Alle waren bewußtlos. Sie regten sich nicht in ihren Rauman zügen und Helmen. Auf den ersten Blick erkannte Quade, daß die Männer atmeten. Sie sahen aus, wie von einem schweren Schlaf übermannt. „Tommy!“ Gerry sprang vorwärts und kniete neben Strike nieder. Beide Handflächen legte sie gegen den durchsichtigen Helm, als könne sie so das erhitzte Gesicht des Mannes spüren. Wie auf ein verabredetes Signal hin wurden die Proteanen bei dieser Geste lebendig. Eine Bewegung erfaßte sie alle gleichzeitig. Sie schwankten und ruckten. Plötzlich drangen sie von allen Seiten auf die Erdenmenschen ein. Sofort eröffnete Quade das Feuer. Die Männer folgten sei nem Beispiel. Es war hoffnungslos von Anfang an. Wie die sagenhaften Legionen des Cadmus, schienen die Proteanen in unzählbaren Scharen aus der leeren Luft zu springen. Seltsame Traumwesen, denen die Attribute der Materie und Energie durch die Macht des schwarzen Monolithen vermittelt wurden. Zur Wirklichkeit gewordene Träume – lebendig, gefährlich und nun zu wildem 73
Tatendrang aufgestachelt. Quade sah, wie zwei seiner Männer unter dem massierten Angriff zu Boden gingen. Er schoß ein blaues Kugelwesen in Fetzen, zerstörte gleich hinterher ein rotes. Dann fiel er gleichfalls unter dem Angriff eines riesigen Kugel gebildes zu Boden. Es rollte über ihn hinweg – und war ver schwunden. Weiße Flocken schneiten auf Quades Helm hernieder. Er sprang auf. Von dem Sturz noch benommen schaute er sich um. Die Traum-Legionen waren im Schwinden begriffen. Die feindliche Streitmacht war auf die Hälfte des ursprüngli chen Bestandes zusammengeschmolzen. Aber immer neue Ku gelwesen materialisierten sich aus der Luft. Breitbeinig über Strikes hingestrecktem Körper stehend, ließ Gerry Carlyle ihr Sprühgerät arbeiten. H2O – gewöhnliches, einfaches Wasser – schoß hoch in die Zyanogenatmosphäre. Sofort bildete sich Ammoniumoxalat, das wie Schnee herunter rieselte. „Öffnet die Spritzdüsen!“ schrillte Gerrys Stimme. „Hört auf zu schießen!“ Quade ging seinen Männern mit gutem Beispiel voran. Er drehte am Ventil und schickte einen feinen Wasserstrahl hoch empor. Sofort taten die anderen das gleiche. Die Einwirkung des Salzes blieb bei den meisten Proteanen wirkungslos. Aber plötzlich – ohne alle vorherigen Anzeichen, verpufften einige von ihnen und verschwanden. Gleich darauf waren meh rere hundert Kugelwesen ausgelöscht. „Sie wachen auf!“ schrie Gerry. „Die sieben Schläfer …“ Die sieben schlafenden Proteanen waren unter ihren materia lisierten Traumgebilden gut und sicher versteckt gewesen. Niemand vermochte die Originale von den geträumten Kugelwesen zu unterscheiden. Nun kam das Erwachen über sie. Emp findliche Nervenenden reagierten auf den Reiz des fremden Salzes. Kein echter Protean konnte unter diesen Umständen 74
weiterschlafen. So oft einer von ihnen aufwachte, verschwan den seine Träume. Die Horden der Angreifer wurden immer dünner. Man sah deutlich, wie die Reihen sich lichteten. Fünfhundert – zweihun dert, ein paar Dutzend – Schließlich lagen nur noch sieben Kugelwesen, vier blaue und drei rote, im Turm. Sie zitterten leise unter dem Angriff des scharfen Salzes und rollten langsam auf den Ausgang zu. Quade versperrte ihnen den Weg, wobei er drohend den Sprühschlauch hob. Die Proteanen zögerten. Offenbar wußten sie nicht, wie sie sich verhalten sollten. „Das Wasser abstellen“, kommandierte Gerry. „Sie werden nicht wieder einschlafen. Ich will versuchen, mich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Es ist mir gleich zu Anfang unserer Be kanntschaft schon einmal gelungen.“ Sie drehte das Ventil ihres Wassertanks zu und näherte sich dem vordersten blauen Protean. Das Kugelwesen wartete hilf los. Es maß etwa fünf Fuß im Durchmesser und erinnerte an einen riesengroßen Christbaumschmuck. Quade mußte bei dem Gedanken daran beinahe lächeln. Gerry sagte überhaupt nichts. Trotzdem reagierte das Ku gelwesen. Auf seiner schimmernden Hülle formten sich Bilder. Die junge Frau drehte sich zu Quade um. „Die Proteanen sind Telepathen, müssen Sie wissen. Sie vermögen intensiv ge dachte Gedanken zu lesen. Ich kann meinerseits, mehr oder we niger, aus den Bildern, die sie projizieren, erraten, was gemeint ist.“ Eine weitere Pause intensiven Schweigens folgte. Seltsame, dreidimensionale, bunte Gedankenbilder huschten über die bläulich schimmernde Oberfläche der Kugel. „Es ist alles geregelt“, bemerkte Gerry schließlich. „Tommy und die anderen sind nicht verletzt worden. Sie werden bald 75
von selbst aufwachen. Gebt ihnen Coffein und einen Schluck Schnaps. Dann werden sie bald in der Lage sein, den Rück marsch anzutreten.“ „Die Kugelbiester sind jetzt harmlos?“ wollte Quade wissen. „Ja. Ich habe die feste Zusage, daß alle feindseligen Hand lungen unterbleiben, solange wir nicht mit Wasser spritzen. Das Ammoniumoxalat fügt den Proteanen scheußliche Qualen zu.“ Der Filmmann schaute auf sein Chronometer. Über das Au diophon rief er das Raumschiff an und besprach sich kurz mit Morgan. Dann drehte er sich zu Gerry um. „Ja“, verkündete er ohne Umschweife, „wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Wenn ich alle Männer unter Hochdruck an den Maschinen ar beiten lasse, werden wir vielleicht im letzen Augenblick fertig. Für Filmaufnahmen kann ich keinen einzigen Helfer entbehren. Well, ich werde auf dem Rückweg ein paar Hintergrundaufnahmen machen, die mir gerade in den Weg kommen.“ Gerry stand bereits wieder in Gedankenverbindung mit dem Protean. „Die unmittelbare Nähe der Sonne wird den lieben Viechern nichts ausmachen“, sagte sie. „Offenbar vertragen sie viel mehr elektrische Energie als wir.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. „Vielleicht können wir noch einmal hierher zurückkehren, nachdem der Komet um die Sonne herumgeflogen ist“ „Kommt nicht in Frage“, schüttelte Quade hoffnungslos den Kopf. „Wir haben kein Raumschiff verfügbar. Ihre ‚Arche’ wird nicht rechtzeitig fertig sein. Ein anderes Fahrzeug kommt nicht in Betracht. Wenn wir noch einmal durch das Koma sto ßen und uns aus dem Anziehungsbereich der Sonne entfernen – falls es uns gelingt! – muß unser Schiff sofort in die Werkstatt. Das heißt, wenn wir uns von Almussens Komet verabschieden, dann für immer.“ Er dachte nach. 76
„Es sei denn, wir können ein paar Proteanen mitnehmen“, fügte er hinzu. „Wie steht es damit?“ Abermals nahm die junge Frau Verbindung mit dem fremden Wesen auf. Schließlich schüttelte Gerry den Kopf. „Sie wollen ihre Heimat nicht verlassen. Aber ich gebe es noch nicht auf. Kehren Sie mit Tommy und den anderen Männern zum Schiff zurück. Beim Start holt mich hier ab. Vielleicht gelingt es mir unterdessen, einige Proteanen zum Mitflug zu überreden.“ „Hoffentlich kriegen Sie mehr als einen an Bord“, meinte Quade. „Vergessen Sie nicht unsere Abmachungen.“ Die junge Frau kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zu sammen. „Das lassen Sie meine Sorge sein“, machte sie eine wegwerfende Handbewegung. „Haut ab.“ Quade zögerte immer noch. „Kann Ihnen hier auch nichts geschehen?“ Gerry beklopfte vielsagend ihren Wassertank. „Ich bin absolut sicher. Außerdem arbeitet mein Audiophon wieder. Immerhin – es wäre vielleicht besser, Tommy Strike bliebe hier bei mir.“ Quade und seine Männer machten sich auf den Rückweg. Sie mußten die immer noch ohnmächtigen Kameraden tragen. Zum Glück war die Schwerkraft auf dem Kometen so gering, daß sie den Marsch ohne allzu großen Zeitverlust hinter sich brachten. Einmal an Bord des Raumschiffes angekommen, setzte rege Betriebsamkeit ein. Die Männer bohrten, hämmerten und schwitzten über den Motoren. Selbst die soeben erst aufge wachten Schläfer setzten ihre neugewonnenen Kräfte rück sichtslos ein. Trotzdem schaute Quade immer öfter und immer besorgter auf das Chronometer. Endlose Stunden schienen zu vergehen bis es möglich war, die letzten Proben und Versuche abzuschließen. Hundertpro zentig konnte man sich noch immer nicht auf das Raumschiff verlassen. Aber nun durfte wirklich keine Minute mehr ver streichen. Der allerletzte Moment war bereits überschritten! 77
Quade ließ das Schiff starten. Es erhob sich zitternd und glitt in dreißig Fuß Höhe über den unebenen Boden. Bald kam der Turm in Sicht. Quade landete dicht daneben. Aus dem Monolit hen tauchten Gerry, Strike und zwei blaue Proteanen auf. Die junge Frau rief Quade über das Audiophon an. „Zwei wollen mit uns kommen. Einer für Sie, einer für mich. Laßt uns in das Schiff hinein, ja?“ „Großartig!“ erwiderte Quade. Er drückte auf einen Hebel und öffnete die für Gerry am leichtesten erreichbare Luke. „Immer hereinspaziert …“ Strike und die junge Frau stiegen ein. Im Raumschiff ange kommen rissen sie Helme und Schutzanzüge herunter, um sogleich zur Kommandobrücke zu eilen. „Öffnen Sie die Luke noch einmal“, keuchte Gerry. „Wir müssen Zyanogen einströmen lassen. Die Proteanen können im Sauerstoff nicht leben. Wir müssen sie in der Einstiegschleuse lassen, bis wir einen luftdichten Raum für sie hergerichtet haben.“ „In Ordnung.“ Quade öffnete die Lüftkammer noch einmal. Die beiden Proteanen rollten hastig hinein. Die Luke schloß sich hinter ihnen. Gerry war bereits davongehastet, um für ihre Gäste von ei nem fremden Kometen ein Quartier herzurichten. Strike blieb bei Quade. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Eine tolle Sache! Schlimmer, als wenn man unter Äther ge setzt wird. Tony. Himmel, was habe ich für Kopfschmerzen.“ Er suchte in einem Medizinschränkchen nach Tabletten. „Sie werden noch schlimmere Kopfschmerzen kriegen, wenn wir nicht sehr viel Glück haben“, erklärte Quade grimmig. „Wir haben den Abflug zu lange hinausgezögert, Strike. Ich werde das größte Risiko eingehen müssen, das ich je in meinem Leben auf mich genommen habe.“ Der andere Mann fuhr herum. „He, was heißt das?“ fragte er bestürzt. 78
Quade drückte auf ein paar Knöpfe. Das Schiff schoß senk recht in die Höhe. „Wir sind der Sonne viel näher, als wir eigentlich wagen dürften. Unser Schiff ist bereits auf dem Anflug stark mitge nommen worden. Lange erträgt es das elektronische Bombar dement des Koma nicht. Auf keinen Fall dürfen wir uns so lan ge darin aufhalten, wie beim ersten Mal. Unsere einzige Chance liegt darin, so schnell wie möglich aufzusteigen und direkt durch die dünnste Stelle zu fliegen.“ Strike ließ den Unterkiefer hängen. „Die dünnste Stelle! Sie meinen …“ „Ja – der Schweif eines Kometen zeigt bekanntlich immer von der Sonne weg. Die Sonnenenergie bläst gleichsam das Koma und den Schweif des Kometen von sich. Das bedeutet, daß die dünnste Stelle des Koma der Sonne am nächsten ist.“ „Beim Jupiter“, meinte Tommy Strike mit deutlicher Er schütterung. „Wir brechen mit höchster Geschwindigkeit durch und schießen direkt auf die Sonne los. Wir befinden uns inner halb der Bahn des Merkur?“ „Weit innerhalb. Sagen Sie Ihrer Verlobten, sie soll schnell die Proteanen aus der Luftschleuse holen. Sonst braten unsere Freun de lebendig. Es sei denn, sie vertragen viel Energieeinfluß.“ Strike stürzte davon. Quade beugte sich tief über die Kontrolltafeln im Leitstand. Sein hageres Gesicht blieb grimmig und ausdruckslos. Ein kal tes Feuer brannte in seinen Augen. Er kannte das Risiko, das vor ihm lag. Aber es war die einzige Möglichkeit; auch nur eine Stunde länger auf dem Kometen zu bleiben, bedeutete die si chere Vernichtung. Er beschleunigte das Raumschiff. Es schoß empor wie ein Blitz, mitten hinein in den flammenden Himmel. Schneller … schneller … Er rief Morgan herbei und sprach in abgehackten Sätzen über 79
seine Schulter, „Bindet mich fest und bandagiert mich. Ich gehe auf Höchstgeschwindigkeit.“ Der Chefingenieur gehorchte. Bald sah Quade wie eine Mu mie aus. Der nächste Befehl folgte. „Kümmern Sie sich um die anderen Leute. Alle Vorbereitungen für höchste Beschleuni gung treffen.“ Morgan nickte schweigend und ging hinaus. Die Raumteufel begannen bereits, an dem Schiff zu zerren. Die Spanten dröhnten und kreischten unter der Überbeanspru chung. Aber das war erst der Anfang. Quade wußte, was ihnen allen noch bevorstand. Das Spiel auf Leben und Tod sollte erst beginnen. Und nun befanden sie sich im Koma! Schneller, schneller! Zu der ungeheuren Geschwindigkeit des Raumschiffes traten die Kräfte des elektronischen Bombarde ments, die dem bereits arg geschwächten Material des Raum schiffkörpers sehr zusetzten. Abermals begannen die metalle nen Außenhüllen schwach zu glühen. Das ganze Schiff schrillte wie in Todesangst. Die Sichtplatte spiegelte eine Hölle voller lodernder Flam men wider. Plötzlich wurde sie ganz klar. An Stelle der Flam menbündel erschien eine runde, strahlende Scheibe. Die Sonne! Und das Raumschiff schoß mit Höchstgeschwindigkeit dar auf zu! Quade holte tief Luft. Er schloß die Augen und drückte in ra scher Folge drei Knöpfe nieder. Sofort wurde er zur Seite ge schleudert, als habe ihn die Hand eines Riesen gepackt. Glas zerklirrte überall im Schiff. Leichtmetall verbog sich wie Gummi. Männer schrien vor Schmerzen auf, als ihnen Rippen und kleine Knochen gebrochen wurden. Sie alle waren in Si cherheitskabinen festgeschnallt und lagen auf dicken Polstern. Aber diese Schutzmaßnahmen reichten bei weitem nicht aus. Das Schiff zog in weitem Bogen dahin. Mit höchster Ge 80
schwindigkeit entfernte es sich von der Sonne. Quade wagte nicht, den Schwung herabzumindern. Die mächtige Masse der Sonne konnte auf diese kurze Entfernung immer noch alle Schwerkraftscheiben überwinden. Die Außenhülle glühte hellrot. Die überanstrengten Motoren summten, ratterten und zischten. Ein Zeiger dicht vor Quades Augen zitterte über einer roten Linie, ging darüber hinaus, zögerte und kroch langsam zurück. Abermals holte der Mann tief Luft. Keuchend legte er ein paar Schalthebel um. Die Geschwindigkeit des Raumschiffes nahm rasch ab. Es war vorbei. Sie befanden sich in Sicherheit. Der Kampf gegen die Sonne und den Kometen war siegreich bestanden. Genau einen Monat später saßen Gerry Carlyle und Tommy Strike im Privatbüro des Londoner Zoos. Sie nippten an Cock tails und lasen begeisterte Presseartikel. „Eine tolle Sache“, strahlte Strike. „Unser blauer Protean lockt Besucher in ganzen Scharen an.“ „Hm“, machte die junge Frau mit glücklichem Lächeln. „Und das ist noch nicht alles. Das Beste soll noch kommen. Ich warte von einer Minute zur anderen auf einen Fernruf.“ Strike legte einen Zeitungsausschnitt beiseite. „Seit einem Monat ziehst du mich nun mit deinem Geheimnis auf. Was, zum Teufel, ist es?“ Ehe Gerry antworten konnte, summte das Fernsehtelefon. Sie sprang auf und meldete sich. Auf dem Bildschirm erschien das verzerrte Affengesicht von Zorns. „Ihr Betrüger“, japste er. „Ihr verdammten, hinterhältigen Heuchler! Ich werde euch einen Prozeß anhängen, der vom Merkur bis zum Pluto reicht!“ Tommy Strike trat vor den Schirm. „Hören Sie, Sie Groß maul. Vergessen Sie nicht, daß eine Dame vor Ihnen steht.“ Von Zorns Gesicht nahm eine krankhaft grüne Farbe an. „Ha, eine Dame! Sieht es vielleicht einer Dame ähnlich, mir ein 81
Traumgebilde in die Hand zu drücken? Einen Protean? Daß ich nicht lache! Einen ganzen Monat lang hat sich das Ding ver nünftig benommen. Und nun, gerade als ich mich anschickte, im Rotary Club einen epochemachenden Vortag zu halten, ver schwindet das Ding auf dem Tisch neben mir. Einfach weg. Futsch, wie weggeblasen!“ Strike drehte sich zu seiner Verlobten um. Gerry konnte sich vor Lachen nicht halten. Mit kraftlosen Fingern schaltete sie das Fernsehtelefon aus. „Du hast von Zorn mit einem falschen Proteanen hereinge legt!“ ging Tommy auf Gerry los. „Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich von diesem Kerl nicht für dumm verkaufen lasse“, schnappte Gerry nach Luft, nur um gleich einen weiteren Lachkrampf zu bekommen. „Bei mir geht es Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Filmleute haben mich mit einem Trick dazu gebracht, meinen Namen für ihre billige Reklame herzugeben. Jetzt habe ich zurückgeschlagen.“ Das Fernsehtelefon summte abermals. Dieses Mal griff Strike nach dem Schalter. Es war nicht von Zorns Gesicht, das jetzt auf dem Bildschirm erschien. Tony Quade meldete sich. Er sah überraschend freundlich, beinahe glücklich aus. „Hallo“, grüßte er herzlich und nahm die zerkaute Pfeife aus dem Mund. „Alle sehr lustig, wie ich sehe. Das ist fein.“ Gerry wurde plötzlich ernst. „Well?“ „Oh, nichts weiter. Von Zorn hat euch wohl bereits berichtet, daß sein kleines Schoßtier verschwunden ist, nicht wahr?“ „Ja.“ „Ich wollte mich nur noch einmal davon überzeugen. Sie sind also mit Ihrem Protean dahin übereingekommen, für mich ein Traumgebilde zu erschaffen. Dabei wurde alles so einge richtet, daß das angebliche zweite Exemplar, das mir zuge schanzt wurde, nach einiger Zeit verschwinden sollte. Stimmt es?“ 82
„Jawohl, das stimmt“, rief Gerry. „Und ich sehe keinerlei Grund, mich dafür zu entschuldigen.“ „Oh, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, lachte Quade. „Alles ist in Ordnung. Ich wollte euch nur etwas zeigen.“ Er hob ein riesiges Plakat, auf dem zu lesen war: Die Nine Planets Filmgesellschaft zeigt „Der Komet ruft“ Manuskript und Regie Anthony Quade In den Hauptrollen Die Proteanen und Gerry Carlyle Die junge Frau schnappte nach Luft „Das ist Vorspiegelung falscher Tatsachen“, schrie sie schließlich. „Auf dem Kometen haben Sie nur ein paar Landschaftsaufnahmen für den Hinter grund gemacht!“ „Ja“, gab Quade zu. „Aber es gelang mir, mit meinem Traum-Proteanen gute Bekanntschaft zu schließen. Wie Sie wissen, war er genauso intelligent, wie das Original. Er verriet mir bald, daß er nur ein Traumgebilde sei, das nach einiger Zeit verschwinden müßte. Ich wußte also, was mir bevorstand und richtete mich danach.“ „Es ist trotzdem kein echter Film“, behauptete Gerry stör risch. „Meinen Sie? Haben Sie vergessen, wie die Proteanen unter einander in Verbindung traten? Nämlich, indem sie farbige, dreidimensionale Gedankenbilder auf ihrer Haut projizierten. Diese Gedankenbilder kann man fotografieren, Miß Carlyle. Ich brachte meinen Proteanen dazu, eine vollständige Geschichte zu denken und zu projizieren, in der Sie die Hauptrolle spielten. Wir filmten die dreidimensionalen Gedankenbilder direkt auf der Haut des Proteanen. Ich sagte Ihnen doch, daß diese Kreatu 83
ren von hoher Intelligenz sind. Das hat die Welt noch nicht ge sehen. Einen echten Film, dessen Szenerie und Spielablauf geträumt war. Die Reproduktion ist ausgezeichnet gelungen. Gegenüber Originalaufnahmen besteht nicht der geringste Unterschied. Mein Film zeigt die Lebensgeschichte der Proteanen, unsere An kunft, Ihre Gefangennahme – kurzum alles, was geschehen ist.“ „Aber es verstößt gegen die Gesetze, wenn Sie ankündigen, daß ich in dem Film mitwirke“ schrie Gerry wütend. „Ich weiß jedenfalls, daß ich nicht mitgespielt habe.“ „Aber Sie haben in von Zorns Büro einen Kontrakt unter schrieben“, betonte Quade jede Silbe. „Wir haben volles Recht, Sie als den Star eines unserer Filme vorzustellen.“ Er grinste. „Eine großartige Reklame für sie, meine Dame. Soviel verdie nen Sie nicht einmal.“ Gerry holte tief Luft. Viele Jahre eisernen Trainings halfen ihr jetzt. Sie gewann ihre Selbstbeherrschung wieder. „Jeden falls besitze ich den einzigen echten Protean, der im ganzen Sonnensystem existiert“, meinte sie nur. „Dagegen kommen Sie nicht an.“ Quade kicherte bösartig. „So? Woher wollen Sie wissen, daß Ihr Protean nicht auch nur ein Traumgebilde ist? Ein Traum, der bald verschwindet. Ist Ihr Protean noch da?“ Mit einer Verwünschung schaltete Gerry das Gerät ab. Im gleichen Augenblick rief sie in das Audiophon: „Peters! Peters! Ist mein Protean noch da?“ „Aber sicher“, ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher. „Wieso denn nicht? Er kugelt sich in seinem Zyanogentank herum und ist richtig vergnügt“ „Mache dir keine Sorgen“, sagte Strike, während er seiner Verlobten den starken Arm um die Schulter legte. „Dein Pro tean ist echt.“ Die junge Frau ließ ein leises Stöhnen hören. „Wirklich? Es 84
gibt nur eine Möglichkeit, es mit Sicherheit festzustellen. Wenn er verschwindet, ist er nicht echt.“ „Well“, meinte Tommy Strike, nachdem er seine Verlobte ausgiebig geküßt hatte. „Bei mir besteht jedenfalls nicht die Gefahr, daß ich verschwinde. Was ist dagegen schließlich ein Protean – oder meinetwegen zwei?“ Diese Worte waren entschieden unglücklich gewählt. Gerry verfiel auf einmal wieder in ihre übliche Laune. In ihrer Stimme knisterte es elektronisch. „Ja, in der Tat“, gab sie kühl zurück. „Übrigens – wovon hast du denn geträumt, als du bewußtlos auf dem Kometen lagst?“ Strike ließ die junge Frau los und eilte zur Tür. „Wir sehen uns später noch, meine Süße“, rief er über die Schulter zurück. „Ich habe Eile, zum Mars zu fliegen. Wie ich höre, hat sich die Angelsaison gut angelassen …“ Aus irgendeinem Grunde hastete Gerry Carlyle, die größte Tierfängerin ihrer Zeit, eiligst hinter ihrem Verlobten her. – Ende –
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UTOPIA-Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Erich Pabel Verlag Rastatt (Baden) Pabel-Haus – Mitglied des Remagener Kreises e. V.) Einzelpreis 50 Pf Anzeigenpreis laut Preisliste Nr. 6. – Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden), Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. Nachdruck, auch auszugs weise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorhe riger Zustimmung des Verlegers gestattet, Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskripteinsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany 1958. Scan by Brrazo 06/2009
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