Dan Lindholm
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Dan Lindholm
scanned by pk corrected by ab In grauer Vorzeit, als Indien noch nicht von der heiligen Ganga durchströmt war, lebte der sagenhafte König Bagirati. Um die Gunst der Götter zu gewinnen, übte er strenge Selbstzucht und Versenkung. Er stand in fünf Feuern, die Arme emporgestreckt, und genoß nur wenig Speise. Winters stellte er sich in das kalte Wasser, und auch beim stärksten Regen blieb er unter freiem Himmel. Bei solcher Übung war schon manches Jahr dahingegangen. Da erbarmte sich endlich seiner der Weltenvater Brahma. Und also sprach die mächtige Stimme: »Bagirata, du Ruhmvoller, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden! Es sei dir ein Wunsch bewilligt!« ISBN-3-436-02482-1 Mit Illustrationen von Walther Roggenkamp Fischer Taschenbuch Verlag Juni 1977 Umschlagentwurf: Jan Buchholz/Reni Hinsch
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Über dieses Buch Diese Sagen wurden von Dan Lindholm aus altindischer Literatur ausgewählt und neu erzählt. Sie stammen aus Zeiten, in denen Denken und Erleben der Menschen noch sehr von mythischen Bildern geprägt waren. Hier wird die alte Sintflutsage erzählt, wird von Manu, dem Denkenden, und von der Entstehung der Kasten, von Brahma, dem Vater aller Wesen, und von den Göttern, wie auch von der Schar der Geister und Gewalten berichtet, die Themen reichen von der Entstehung der Sternbilder bis zur Buddhalegende. Die Menschen dieses Kulturkreises finden ihren Weg zu den helfenden, segensreichen Mächten durch die besondere Kultur des Atmens, durch Selbstzucht und Entsagung und schließlich durch Opferhandlungen. In diesem Band werden religiöse und moralische Vorstellungen deutlich, wie sie bis heute in Indien lebendig geblieben sind und wie sie ja gerade jetzt auch zunehmend Einfluß in der westlichen Welt finden.
Der Autor Dan Lindholm, 1908 in Oslo geboren, begann zunächst ein Kunststudium am Goetheanum, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach/Schweiz. Er ging später an die Universität in Oslo, studierte Naturwissenschaften und wurde Lehrer an den Rudolf-Steiner-Schulen in Bergen und Oslo. Im Zusammenhang mit seiner pädagogischen Arbeit entstanden einige Jugendbücher, in denen er besonders die Sagen und Legenden seiner norwegischen Heimat aufgreift: ›Wie die Sterne entstanden (auch in holländischer und englischer Übersetzung), ›Die Stimme der Felswand‹, ›Götterschicksal Menschenwerden‹ (die Göttersagen der Edda). Ein erster größerer Bild-Text-Band über die norwegischen Stabkirchen erschien 1968 in deutscher und englischer Sprache. Dan Lindholm wirkt heute als Dozent an den Seminaren für Waldorfpädagogik in Järna (Schweden), Stuttgart und Dornach.
Inhalt Das Weltenei .................................................................................5 Manu, aus der Sintflut gerettet ......................................................6 Die Herabkunft der Ganga ..........................................................10 Wie die Sternbilder des Wagens und der Schlange entstanden...12 Usinaras Mitleid ..........................................................................18 Der Mond und seine Gemahlinnen..............................................21 Nal und Damajanti ......................................................................25 Die treue Sawitri..........................................................................38 Sakuntala .....................................................................................48 Rama und seine Brüder ...............................................................59 Aus der Buddhalegende ..............................................................77 Die Weltseele ............................................................................105 Nachwort ...................................................................................106
Das Weltenei Einst war alles unenthüllt, Nicht gesehen, nicht gehört, Ungewußt und unerkannt, War in zeitenlosen Schlaf versenkt. Da erwachte - Wunder aller Wunder! Aus des Nichtseins tiefem Schweigen, Aus der namenlosen, unbewegten Nacht Er - der selige Entstehende, Er - der nimmer zu Ergründende, Er - der schaffend Unvergängliche. Einem gold'nen Eie glich es, Tausendstrahlend sonnig war es, Göttlich sinnend lebte in ihm Brahma, aller Wesen Vater. Nichts tat Brahma, lebte Licht, So verlief ein volles Jahr. Doch dann teilte er das Ei, Aus den beiden Hälften bildete Er den Himmel und die Erde. In die Mitte hauchte er die Luft, Schuf des Wassers Haus, das heilige.
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Manu, aus der Sintflut gerettet Brahma, der Vater aller Wesen, Urzeuger allen Seins, hatte sich zur Ruhe begeben. Noch in tiefem Schlaf aber entströmten seinen Lippen die heiligen Zauberworte der Weda. Diese sich anzueignen, schlichen lauschend Dämonen heran, und mit so Gestohlenem stifteten sie bald großes Unheil an. Der Erwachende beschloß darum, eine gewaltige Flut über die Welt zu ergießen, um sie von den Übeln zu reinigen. Auf der Erde aber lebte der weise und fromme Manu, ein König und Lenker der Menschen. Zur Läuterung seiner Seele übte er strenge Entsagung: er stand am Gestade des Meeres auf einem Fuß, mit emporgehobenen Armen und den Blick unentwegt nach einem fernen Punkt gerichtet. Dabei verging Jahr um Jahr. Als er so stand, schwamm eines Tages ein kleiner Fisch an das Ufer heran. Und wie ein Wunder war es - Manu vernahm, was der Fisch sprach: »Großer König«, begann er, »siehe, ich bin verfolgt. Denn im Meere frißt der Fisch den Fisch, und nirgends sind die Kleinen vor den Großen sicher. Rette mich, du Gerechter, damit ich dereinst dich retten kann.« Manu sagte: »Wie könnte ich dich retten?« Der Fisch antwortete: »Hebe mich aus diesem Wasser.« Manu empfand Mitleid mit dem Fischlein, er hob ihn behutsam aus dem Meer auf den muschelbesäten Strand. Dann tat er ihn in eine mit Wasser gefüllte Schale, und diese begann sogleich einen milden Schein zu verbreiten, als sei sie auf einmal voller Mondlicht. Der Fisch fing an zu wachsen, und bald wurde ihm die Schale zu eng. Manu gab ihm ein größeres Gefäß, doch nach kurzer Zeit war der Fisch auch diesem entwachsen. Immer größere Gefäße waren nötig, um den Fisch zu bergen, und zuletzt mußte er in einen Teich versetzt werden. Auch da wuchs er immer -6-
weiter und wurde Tag für Tag schöner. Seine Augen glichen Lotosblumen, und dem Leib, der wie Perlmutter schimmerte, entströmte Wohlgeruch. Es dauerte nicht lange, da reichte auch der Teich dem Fisch nicht aus, und Manu mußte ihn zum breit dahinziehenden Flusse tragen. So groß der Fisch jetzt schien, so federleicht war sein Gewicht. Des Fisches Wachsen hörte aber im Fluß nicht auf, und am Ende mußte Manu ihn zum Meere zurückbringen. In all dieser Zeit war der Fisch stumm geblieben. Doch jetzt, als die salzigen Wellen ihn umspülten, hob er zu reden an. Und dies waren seine Worte: »Gefunden hast du, frommer Mann, wonach du deinen Blick gerichtet, und bestanden ist deine lange Prüfung. Dafür soll dir Belohnung werden. So höre denn: es naht eine schlimme Zeit. Bald soll das ganze Erdenrund bewegt werden, und eine gewaltige Überschwemmung wird Tiefen und Höhen heimsuchen. Keine Mauer, kein Damm wird die Flut hemmen. Die Wolken werden vom Himmel stürzen, und alles, was auf Erden ist, was sich regt und was sich nicht regt, wird untergehen. Du aber baue dir ein festes Schiff und versieh es für eine lange Fahrt mit allem Notwendigen. Fülle es mit Samen und Körnern aller Art, und wenn der Tag der großen Flut kommt, dann steige ein in die Wasserfestung, du und die Deinigen, die sieben heiligen Weisheitslehrer. Ich aber werde zur Stunde vor der Küste sein, an einem großen Horn sollst du mich erkennen. Dann säume nicht, sondern schlinge ein starkes Tau um das Horn, damit ich euch über die Meere zu einem fernen Land führen kann!« Das war die Rede des Fisches. Manu lauschte aufmerksam und sprach dann, in Demut sich neigend: »Wundertätiger Wogenbeherrscher, was du befohlen hast, will ich gehorsam tun.« Danach ging er hin, baute nach des Fisches Anweisung das große Schiff und bereitete alles vor. Als nun der Tag des großen Regens, der Donner und Blitze anbrach, schiffte er sich ein, er und sein kleines Volk. Die Flut hob an, und Manu spähte auf der weiten Wasserfläche nach dem Wunderfisch. -7-
Und siehe, wie ein Berg stieg er aus dem Meer, leicht erkennbar an dem Horn. Um dieses schlang Manu sein Tau, und wie ein Pfeil schwamm der Fisch von dannen. Ihm folgte das Schiff, über Wasserberge und durch Wellentäler. Weiße Nebel wechselten mit schwarzen Wolken, Sturmgetöse mit peitschendem Regen, während ringsum Ungeheuer aus der Tiefe auftauchten. Doch all das konnte dem Schiff nichts antun. Manu stand da im Wogengetümmel und spritzenden Schaum und richtete sein Auge unbeirrt auf die goldhelle Spur des Fisches. Wohl Jahre dauerte die Fahrt, bis sich die Welt zu lichten begann und der Gipfel eines Berges in Sicht kam. An diesem -8-
befestigte Manu sein Schiff. Bald verliefen sich die Wasser, und alle konnten wohlbehalten aussteigen. Der Berg wird noch heute Naubandhanan genannt, das heißt »Schiffsbindung«. Jetzt erkannten sie, wer sich der Gestalt des Fisches bedient hatte. Es war Brahma, des Daseins ewiger Grund. Und Brahma sprach: »Von Manu sind alle Geschöpfe neu zu gestalten, jedes nach seiner Art, wie von mir bestimmt. Bei strenger Selbstzucht und demütigem Sinn wird ihm das große Werk gelingen.« Und so geschah es. Wiederum belebte sich die Welt und nahm farbige Gestalt an. Duftende Blumen entsprossen den mitgebrachten Samen, ungezählte Kräuter der grünenden Erde. Ein klarer Himmel umfing den neuen Tag.
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Die Herabkunft der Ganga In grauer Vorzeit, als Indien noch nicht von der heiligen Ganga durchströmt war, lebte der sagenhafte König Bagirata. Um die Gunst der Götter zu gewinnen, übte er strenge Selbstzucht und Versenkung. Er stand in fünf Feuern, die Arme emporgestreckt, und genoß nur wenig Speise. Winters stellte er sich in das kalte Wasser, und auch beim stärksten Regen blieb er unter freiem Himmel. Bei solcher Übung war schon manches Jahr dahingegangen. Da erbarmte sich endlich seiner der Weltenvater Brahma. Und also sprach die mächtige Stimme: »Bagirata, du Ruhmvoller, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden! Es sei dir ein Wunsch bewilligt!« Der Fromme faltete in Demut seine Hände und sagte: »Allerhöchster, habe ich Gnade gefunden und ist mein entsagungsvolles Hinwenden zu dir nicht fruchtlos gewesen, so bitte ich, daß die Erde besprengt werde mit dem heiligen Wasser des Himmelstromes, der Ganga.« Darauf antwortete der Weltenvater: »Ich will deinen Wunsch erfüllen. Nimm meine herrliche Tochter entgegen. Doch erbitte dir nun auch die Gunst Schiwas, denn nur mit seiner, des Blitzeschleuderers Hilfe vermagst du sie auf die Erde herabzuführen. Sonst könnte der plötzliche Fall der starken Ganga die Erde in ihren Grundfesten erschüttern!« Um die Hilfe Schiwas, des furchterregenden Gottes, zu erhalten, versenkte sich der König in strenge Übungen, den Erdboden kaum mit den Fußspitzen berührend, die Arme unbeweglich emporhaltend. So stand er Tag bei Nacht ein ganzes Jahr. Da erschien ihm Gott Schiwa, und dies war seine Rede: »Ich will dir deine Treue vergelten. Auf meinem Haupte werde ich die Göttin Ganga heruntertragen.« Darauf erstieg der mächtige Gott den höchsten Gipfel der schneebedeckten Himmelsgebirge und rief der Göttertochter zu: -10-
»Falle nieder, o Ganga!« Doch Ganga, als sie dieses Wort vernahm, wurde von einer gewaltigen Erregung erfaßt. Schäumend schwoll sie auf und stürzte auf Schiwas Haupt herab. Der starke Gott aber empfing den Strom mit der Stirn, wie der Sieger den Kranz. Bis nun Ganga das Haargeflecht des dreiäugigen Götterhauptes durchlaufen hatte, brauchte es eine geraume Zeit, und auf diesem Wege besänftigte sich ihr Mutwillen. Götter und Göttinnen sahen von ihren himmlischen Sitzen dem Schauspiel zu und kamen herbei, die Geburt des Flusses zu feiern. »Nun weise mir den Weg, Bagirata!« rief die Himmelstochter. Und in festlichem Zug ging es durch Indiens Lande: Voran Bagirata im Büßerkleide, ihm folgend der Strom mit seiner Tausendfalt von Fischen, Schildkröten, Lurchen und springenden Delphinen - alles, was im Wasser lebt. Die herrliche Ganga segnete das Land in weitem Umkreis, Götter und Göttinnen schritten an ihrer Seite, und alles jubelte über das Glück der Erde.
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Wie die Sternbilder des Wagens und der Schlange entstanden Wenn die Inder der Vorzeit nachts zum gestirnten Himmel hinaufblickten und da oben die Bilder des großen Wagens und der Schlange sahen, konnten sie sich einer Sage erinnern, die davon spricht, wie diese Sternbilder entstanden waren. In der Urvergangenheit, als der Fisch noch lange nicht zu Manu gekommen war, da entbrannte ein gewaltiger Streit zwischen den Göttern der Höhe und den Mächten der Tiefe. Als Folge dieses Streites geriet die Welt in jenes heftige Schwanken, von dem die Sintflutsage berichtet. Fast wären damals die oberen Götter, Indra und seine Brüder, von Writra und seinen Scharen besiegt worden. Mut und Kraft schwanden den Göttern immer mehr, so daß sie sich zuletzt nicht anders als mit einem Friedensangebot helfen konnten. »Vielleicht kommt uns später einmal Hilfe«, sagten sich die Göttersöhne, »jetzt aber gilt es, Zeit zu gewinnen.« Die sieben heiligen Weisheitslehrer, die Rischis, wurden zu Writra abgesandt, um ihn mit klugen Worten zu überreden, daß er den Antrag der Götter annehme. Als dieser die Rede der Rischis vernommen hatte, sprach er: »Ihr heiligen Weisen, wie denkt ihr, daß ein Bund zwischen mir und Indra beständig sein könne? Wie sollten zwei so entgegengesetzte Wesen in Gemeinschaft herrschen?« Die Rischis aber schmeichelten Writra und priesen dazu mit gewählten Worten die Zuverlässigkeit Indras. Und schließlich ließ sich Writra zu einem Friedensvertrag herbei. Er sagte: »Wenn gelobt wird, daß nicht mit Trockenem, nicht mit Nassem, mit Steinen nicht und nicht mit Holz, weder mit Waffen noch mit Würfen, weder bei Tag noch bei Nacht Indra oder ein anderer Gott mich angreifen will, dann bin ich bereit, mit Indra und den Seinen ein ewiges -12-
Bündnis zu schließen.« »So sei es!« riefen die Rischis, und so wurde der Friedensbund geschlossen. Eine Zeitlang herrschten die beiden Wesen gemeinsam. Doch Indra war auf die Zukunft bedacht, wie er zum Wohl der Welt die Alleinherrschaft gewinnen könnte. Da standen die beiden einmal in der Dämmerung am Ufer des Meeres. Vor ihnen hatten die Wellen einen großen Wall von Schaum aufgeworfen. Diesen sehend sprach Indra bei sich selbst: »Die Dämmerung ist weder Tag noch Nacht. Der Schaum ist nicht trocken, aber auch nicht naß, ist weder Stein noch Holz, ist keine Waffe, kein Wurf. Damit kann ich Writra, meinen Feind, vernichten.« Und dieses denkend stieß er ihn in den Schaum, so daß er erstickte. Als Writra nun versank, klärte sich der Himmel. Sonne, Mond und Sterne schauten in Freude auf die Erde herab, ein kühler Wind erfrischte die Welt, und die Götter und Götterfreunde erschienen, um ihren Fürsten Indra zu preisen. Doch Indra, obwohl von allen Wesen der Oberwelt wegen dieser Tat gelobt, wurde vom Schuldgefühl überwältigt und verlor all seine Kraft und Macht. Er floh an das Ende der Welt, wo er sich im Stengel einer auf dem Wasser schwimmenden Lotosblume verbarg. Niemand wußte den Ort seines Aufenthaltes. Als nun Indra, der Götterkönig und Beherrscher des Luftraumes, verschwunden war, erlahmten alle Winde, so daß keine Wolken über das Land hinzogen und so auch kein Regen mehr über Wald und Flur sich ergoß. Bäche und Flüsse versiegten. Gräser und Bäume verwelkten, überall zogen Not und Elend ein. Da traten die Götter und Göttersöhne zu den Rischis, um mit ihnen zu beraten, wie dem Unheil abzuhelfen sei. Sie berieten drei Tage lang, bis sie sich einigten, einen neuen König zu wählen, dem alle Welt Untertan sein sollte. »Doch damit unter -13-
uns kein Neid aufkommt«, sprachen sie, »nehmen wir einen Menschen zum König!« Auf Erden herrschte zu dieser Zeit der hochedle König Nahuscha, dessen Taten und Tugenden im ganzen Land gerühmt wurden. Zu ihm gingen die Rischis und forderten ihn im Namen der Götter auf, die Herrschaft über alle Welt zu übernehmen. Zunächst weigerte sich Nahuscha, da er meinte, ein Mensch sei doch für eine solche Fülle der Pflichten und der Macht viel zu schwach. Die Rischis aber versprachen ihm Hilfe durch die Kraft ihrer strengen Bußübungen. So gab er nach, und der Mensch Nahuscha wurde zum Regenten der Welt erhoben. Kaum aber saß er auf dem Thron des Himmels, da schmolzen alle seine Tugenden hinweg wie Schnee an der Sonne. Er gab sich jeder Lust hin und vergaß seine Pflichten. Mit leichtfertigem Spiel vergeudete er die Zeit. Immer sah man ihn von einer Schar reizender Himmelsmädchen und von bocksfüßigen Gauklern umgeben. Ihm genügte es nun, umhaucht von süßen Düften auf weichem Pfühl zu sitzen und erlogene Geschichten anzuhören. Eines Tages kam ihm Indras herrliches Eheweib Satschi unter die Augen. Da rief Nahuscha: »Ich bin jetzt Indra, bin Gebieter der Götter und Gewalten! Komm nun, Satschi, mir zu dienen!« Als die Göttin diesen Ruf hörte, erschrak sie sehr und flüchtete sich zu den heiligen Weisen, den Rischis, damit sie bei ihnen Schutz fände. Darüber geriet Nahuscha in wilden Zorn, so daß die ganze Welt zu zittern begann. Die Götter aus dem Himmel sprachen zu ihm: »O König der Welt, höre doch auf mit diesem schrecklichen Zorn, der sich für dich nicht ziemt! Satschi ist die Gemahlin des Indra. Wende deine Lust ab von ihr und sinne fortan nicht auf Ehebruch.« - Nahuscha blieb ihnen aber keine Antwort schuldig, sondern begann über Indra zu lästern, daß auch jener einst einem fremden Weibe nachgestiegen sei. - »Warum habt ihr nicht damals Einspruch erhoben, ihr Hüter der Welt?« rief er. Da waren die Götter betroffen, und mit bangen Worten -14-
wandten sie sich an die Rischis: »Ein viel gewaltsamerer Herrscher, als Indra es war, ist dieser Nahuscha«, sagten sie. »Die Himmelskönigin, die schöne Satschi, soll ihm doch um des Friedens Willen nach seinem Wunsch dienen.« Die Rischis aber sagten: »Geduldet euch, ihr hohen Götter, auch du, Satschi, sei unbesorgt! Bald wird der Frevler Nahuscha aus Gier sich selbst verderben. Dann wird Indra, der Writratöter, wieder Götterkönig sein.« Denn sie hatten nun ersonnen, wie vorzugehen sei. Die Himmelskönigin solle so tun, als wäre sie gewillt, zu Nahuscha ins Haus zu ziehen. Nur müsse sie sich dabei den Wunsch ausbitten, daß er selbst sie heimzuführen komme. Indra- so solle sie sagen - habe sie in einem von Rossen gezogenen Wagen geholt. »Du aber, Nahuscha«, werde sie zu ihm sprechen, »spanne die sieben heiligen Rischis davor, damit ich erkenne, daß du mächtiger bist als Indra!« So wurde es verabredet. Als Nahuscha den Wunsch der Himmelskönigin erfuhr, rief er laut vor Lust und Freude: »Zu fahren wie noch niemand gefahren ist, das gefällt mir! Der ist fürwahr ein gewaltiger Herrscher, dem statt Tieren die heiligen Rischis den Wagen ziehen!« Sofort ließ er alle sieben Weisen zum Vorspann holen, zwei an jeder Seite und drei an der Stange. Doch die sieben heiligen Weisen hatten alles vorhergesehen und dem Gott Agni ein Opfer gebracht. Als dieser sich durch die Flamme des Altars offenbarte, sprach ihr Ältester: »Gott des Feuers, fahre hinaus, suche uns Indra!« Und im Nu durchflog Agni die ganze Welt. Er fand ihn weder auf der festen Erde noch in der blauen Luft, ins Wasser aber scheute er sich zu tauchen. Mit kräftigen Zaubersprüchen stärkten ihn dann die Rischis, daß er in das gefürchtete Element fuhr, und da fand er Indra im Stengel der Lotosblume. Rasch rief nun Agni alle Götter herbei, damit sie Indra wieder zu Kraft und Größe verhalfen. Und als sie seine kühnen Taten und seine gerechte Herrschaft lange gepriesen hatten, da begann der in der Reue entkräftete Gott wieder etwas Mut zu fassen. »Von dir verlassen, o König des -15-
Himmels, haben wir uns verirrt und haben Nahuscha, einen Menschen, zum Herrn der Welt erkoren«, sprachen sie. »Und jetzt verlangt er, daß deine treue Satschi seine Buhle wird. Darum erhebe dich, den Frevler zu besiegen!« Doch Indra, der Writratöter, gab zur Antwort: »Wie wäre ich imstande, Nahuscha zu besiegen, der ich unter der Last der Sünde klein und kraftlos wurde - ihn, dem die heiligen Weisen den Wagen ziehen?« Denn schon hatte Nahuscha den Wagen bestiegen, um die heiß begehrte Satschi zu holen.
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Die heiligen Weisen zogen indessen dem übermütigen Herrscher den Wagen nicht schnell genug. Voller Ungeduld schrie er: »Ihr Faultiere, schleicht nicht so!« Und mit einem Fußtritt spornte er ihren Ältesten an. Mit diesem Fußtritt war aber das Maß des Frevels voll. Die sieben Heiligen hielten an und riefen: »Zur Schlange werde und schleiche nun du!« Kraft dieses Fluches stürzte Nahuscha vom Wagen. Seiner Herrschaft zum Gedächtnis blieb er am Himmelsrund haften und ist dort noch heute als Sternbild der Schlange zu finden. Auch der Wagen hat so sein Denkmal am gestirnten Himmel bekommen. Die heiligen Weisen aber eilten zu den Göttern und berichteten vom Sturz Nahuschas. Um die Schuld Indras zu tilgen, wurde nun ein großes Sühneopfer veranstaltet. Die Berge nahmen ein Drittel auf sich und sind davon grau und voller Risse geworden. Das zweite Drittel wurde auf die Bäume verteilt, die seither ihr morsches Holz und verdorrtes Geäst haben. Das letzte Drittel büßen die Frauen in ihrer stets wiederkehrenden Schwäche. Doch Indra ward rein und stieg mit Satschi vereint über die Wolken empor in den Saal der Götter. Da thront er zum Segen der Welt.
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Usinaras Mitleid Am Ufer des Flusses Jamuna brachte einst der fromme König Usinara den Göttern ein Opfer dar. Als das Feuer brannte, siehe, da kam eine Taube, von einem Habicht scharf verfolgt, und suchte an der Brust des Königs Zuflucht. Da sprach der Habicht: »Großer König, aller Orten rühmt man deine Pflichttreue. Warum tust du jetzt, was jeder Pflicht zuwider ist? Mich plagt der Hunger, du aber entziehst mir die Speise, auf die ich angewiesen bin.« Der König gab zur Antwort: »Stolzer Vogel, diese liebliche Taube kam zu mir, um sich vor deinen grausamen Klauen zu retten. Wie kannst du meinen, daß es mir Pflicht sei, meinen Schützling, diesen unschuldigen Vogel, an seinen Todfeind auszuliefern? Hast du denn vergessen, daß, wer die heilige Kuh tötet oder einen Brahmanen erschlägt oder wer seinen Schützling ausliefert, alle gleich schwer gesündigt haben?« Der Habicht entgegnete: »Auf Nahrung sind alle lebenden Wesen angewiesen. Andere Schätze kann ein Tier entbehren, nur die Speise nicht, denn von Speise nährt sich alles, was Odem hat. Wenn mir jetzt durch deine Verweigerung meine Speise entzogen wird, dann muß der Hauch meines Lebens in des Todes Reich hinübergehen. Sterbe aber ich, werden mir mein Weib und meine hungernde Brut bald nachfolgen. Indem du eine einzige Taube erhalten willst, übergibst du uns alle dem Tod. Kann dir nun das eine Pflicht sein, was mit anderen Pflichten in Widerspruch steht? Und soll man nicht, wo Pflicht gegen Pflicht streitet, stets der größeren folgen?« Usinara antwortete: »Du redest weise und bist der Pflichtenlehre wohl kundig. Vielleicht bist du der König der Vögel, der alle Dinge weiß? Wie aber denkst du zu begründen, daß es gerecht sei, einen Schützling auszuliefern? Das gebietet -18-
wahrlich keine Pflicht! Doch gern gebe ich dir, hochweiser Vogel, aus dem Vorrat meines Hauses. Nimm, soviel du begehrst, vom Fleisch des Stieres, des Ebers oder Hirsches oder was sonst du möchtest. Sag an, es soll herbeigeschafft werden.« Der Habicht aber versetzte: »Weder Stiere noch Hirsche oder Eber sind meine Speise. Der Wesensschöpfer hat mich auf die Taube verwiesen, und in alle Ewigkeit wird der Habicht nach keiner anderen Nahrung verlangen. Darum, o König, säume nicht länger, sondern lasse mir, was mit Recht mein ist.« Darauf sprach der König: »Ich lasse dir mein ganzes Reich mit allen Schätzen und allem, was du begehrst. Nur meinen Schützling, diese Taube, gebe ich niemals her!« Da sprach der Habicht: »Wohlan denn, wenn dir diese Taube so am Herzen liegt, dann gib mir von deinem eigenen Fleisch soviel, wie die Taube wiegt.« Usinara besann sich nicht lange und sprach: »Billig und recht scheint mir, was du da verlangst. Hier auf der Waage will ich dir Fleisch von meinem Leibe zumessen.« Und alsbald schnitt der König vom eigenen Leib ein Stück ab, legte es in die eine Waagschale, die Taube aber in die andere. Doch die Taube war schwerer als das Fleisch des Königs. Abermals schnitt sich der König ein Stück ab und legte es zu dem ersten hinzu. Doch die Taube war immer noch schwerer. Usinara ließ nicht nach, Stück um Stück schnitt er vom eigenen Leibe ab, aber die Schale mit der Taube ging nicht hoch. Endlich sprang der König, der sich allen Fleisches beraubt hatte, selbst in die Waagschale. Jetzt erst ward die Taube aufgewogen. - Da verschwanden sowohl Habicht als auch Taube, und an ihrer Stelle erschienen zwei Götter vor dem König. Indra, welcher der Habicht gewesen war, sprach: »Ich bin Indra, Herr des Luftraumes, die Taube war Agni, Gott des Feuers. Um deine Tugend zu prüfen, du frommer Fürst, sind wir zu dir herabgestiegen, und du hast die Prüfung herrlich bestanden. Daß du aus deinem eigenen Leibe das Fleisch geschnitten hast, soll dir in aller Welt zum unvergänglichen Lob gereichen. Und -19-
solange es auf Erden Menschen gibt, die sich von deiner Tat erzählen, so lange sollst du im Himmel bei den Göttern sein und nicht zu einer neuen Geburt auf die Erde herabsteigen.« Und als die mächtigen Götter sich emporschwangen zu ihrer himmlischen Wohnung, da folgte ihnen Usinara in leuchtendem Glanz.
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Der Mond und seine Gemahlinnen Mit inniger Liebe blickten die alten Inder zum Monde hinauf. Seinen milden Schein empfanden sie wie einen Labetrank der Seele. Und wenn sie Nacht für Nacht sein Zu- oder Abnehmen betrachteten, erinnerten sie sich gern einer Sage, die ihren Vorfahren erzählt worden war: Damit der Mond auf seiner Wanderung über den Himmel nicht im Dunkeln herumtappe, schenkte ihm der Sonnengott siebenundzwanzig seiner schönen Töchter. Die wurden nun seine Gemahlinnen, lieblich anzusehen, mit lichtspendenden Augen. Sie verstanden es, die Zeiten zu zählen bei ihrem Gang über den gestirnten Himmel. Doch überstrahlte mit ihren vollen Wangen die herrliche Rohini alle ihre Schwestern. Und so hatte der Herr der Nacht das größte Gefallen an ihr und wollte immer nur bei ihr sein. Da zürnten ihm seine anderen Frauen und eilten zu ihrem mächtigen Vater, um sich zu beklagen: »Unser Gemahl liebt nur die Rohini und will immerfort nur bei ihr wohnen. Uns alle hat er ganz vergessen. Darum möchten wir zurück zu dir ins Vaterhaus.« Als der Sonnengott diese Klage vernahm, rief er den Mond zu sich und sprach: »Vernachlässige nicht wegen der Vollwangigen deine anderen Frauen; so du das tust, begehst du eine große Sünde!« Dann aber wandte er sich zu seinen Töchtern: »Geht wieder zu eurem Gemahl. Hinfort wird er der Reihe nach bei euch allen einkehren!« Da gingen seine Töchter in das Haus des Mondes zurück. Er aber, der Kühlstrahlende, vergaß sie sogleich und wohnte wie zuvor nur bei Rohini, die er immer lieber gewann. Das gefiel den Schwestern nicht, und sie eilten aufs neue zu ihrem mächtigen Vater. »Erlaube uns doch, ins Vaterhaus zurückzukommen«, jammerten sie, »denn an uns denkt der Gemahl so wenig wie zuvor; was du ihm befohlen hast, war ganz vergeblich.« -21-
Wiederum rief ihr Vater, der Sonnengott, den Herrn der Nacht zu sich und ließ seine gewaltige Stimme hören: »Bei allen deinen Gemahlinnen wohne, du nächtlich Leuchtender, sonst trifft dich mein Fluch!« Der Mond aber achtete auch dieser Drohung nicht, sondern in seinem Wahn befangen hielt er sich immer nur bei Rohini auf. Geneigten Hauptes begaben sich die enttäuschten Schwestern zu ihrem Vater und erhoben weinend die alte Klage: »Von uns will er nichts wissen, nur der Rohini steigt er ständig nach. Nimm uns, o Vater, in deinen Schutz. Bei dir wollen wir wohnen und ein Leben der demütigen Entsagung führen.« Jetzt ergrimmte der Sonnengott, der Herr des Tages, und schickte im Zorn die Schwindsucht über den Mond. Von dieser erfaßt, begann er zu verblassen und wurde mit jeder Nacht schwächer und kleiner. So sehr er sich auch mit Opferspenden bemühte, die zehrende Krankheit zu überwinden, es war umsonst. Nicht einmal Rohini vermochte ihn zu erheitern. Wie aber der Mond am Himmel schwand, da begannen alle Pflanzen zu welken. Die Kräuter verloren ihren Geschmack, dahin war alle Kraft. Als nun die Kräuter verdarben, siechten auch die Tiere dahin, ja sogar die Menschen wurden schwach, und ihr Untergang nahte. In dieser Not versammelten sich die Götter und sprachen zu dem Herrn der Nacht: »Wie kommt es, daß dein Gesicht verblaßt ist? Sage uns, was bedeutet dieses Dunkel? Wenn wir es wissen, wollen wir bedenken, wie dir zu helfen ist.« Da gestand der Mond, wie er von dem Vater seiner Gemahlinnen verflucht worden war und wie die Schwindsucht ihn ergriffen habe. Die Götter aber wandten sich an den Sonnengott und sprachen zu dem Erhabenen: »Erbarme dich, o Herr des Tages, und nimm den Fluch zurück. Denn bis auf einen blassen Schimmer ist nun der Mond verzehrt. Verschwindet aber der Mond, dann verdirbt ja alles Kraut und Gras, alle Pflanzen insgesamt. Somit kommen aber alle Tiere an ihr Ende, letztlich -22-
auch die Menschen und alles Leben. Selbst die Götter werden nicht verschont. Was wird dann von der Welt noch bleiben?«
Der Vater des Tages und des Lebens antwortete: »Ein von mir gesprochenes Wort kann nicht zurückgenommen werden. Doch unter einer Bedingung will ich die Kraft meines Fluches beschränken. Falls der Mond künftig, ohne zu fehlen, bei allen seinen Gemahlinnen Einkehr halten will, soll ihn nur in der einen Hälfte des Monats die Schwindsucht befallen. Dann soll er in die heilige Flut untertauchen und neue Kraft gewinnen, damit er wieder wachsen kann.« -23-
So sprechend entließ Brahmas strahlender Sohn die Götter. Der Mond aber eilte an das Ufer des heiligen Meeres, um neues Wachstum zu gewinnen. Und wirklich, nach dem Bad tauchte der Kühlstrahlende mit verjüngtem Glanz hervor. Wieder grünte nun das Gras, und die Kräuter erhielten ihren guten Geschmack. Tiere und Menschen genasen und wuchsen kräftig wie zuvor. Seither ist der Mond allen seinen siebenundzwanzig Gemahlinnen treu geblieben. Er weilt bei jeder eine Nacht und zieht dann zu der nächsten weiter. Und immer nimmt er den halben Monat ab, verschwindet für eine Nacht in dem heiligen Bad und steigt alsdann mit neuer Kraft hervor.
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Nal und Damajanti Einst herrschte ein mächtiger König, mit Namen Bima. Sein Reich lag im sanft umhügelten Widarbatal. Diesem König wurde durch die Gnade der Götter eine himmlisch schöne Tochter geboren. Sie erhielt den Namen Damajanti und wuchs heran, von allen Herrlichkeiten dieser Welt umgeben. Unermüdlich waren Hunderte von Dienern und Dienerinnen bestrebt, all ihre Wünsche zu erfüllen, ehe sie noch ausgesprochen waren. Und so verlief das Leben der Prinzessin fast wie in einem Traum. Eines Nachts hatte Damajanti aber wirklich einen Traum: Sie sah sich im großen Garten des Palastes wandeln. Da kam durch die Lüfte ein Zug goldgeflügelter Vögel und ließ sich auf dem grünen Rasen vor ihr nieder. Sie lief hin, um einen der wunderbaren Vögel zu fangen. Doch als sie ihm ganz nahe war, begann der Vogel mit menschlicher Stimme zu sprechen: »O Damajanti, ich bringe dir eine Botschaft von Nal, dem Königin Nischada. Er ist unter anderen Männern wie der Blitz, der aus der Wolke zuckt! Du aber bist die Perle unter den Frauen. Und wärest du die Gattin dieses Mannes, du wärest wahrlich nicht umsonst geboren! Denn wir, die wir durch die Welten der Götter, Halbgötter, Feen, Geister und Irrlichter hinfliegen, haben seinesgleichen nie geschaut. Die Beste sollte mit dem Besten, die Einzige mit dem Einzigen im Glück verbunden werden.« Das waren die Worte des goldgeflügelten Vogels. Und alsdann schwang sich der ganze Zug in die Lüfte hinauf und verschwand. Nach diesem Traum kam der schönen Damajanti kein anderer Gedanke in die Seele als der an König Nal, den Unvergleichlichen. Sie, die früher die Fröhlichste unter Fröhlichen gewesen, aß nun wenig, seufzte viel und blickte schweigend in die Ferne. Als das ihrem Vater gemeldet wurde, sagte er: »Es ist an der Zeit, meiner geliebten Tochter einen -25-
Gatten zu suchen!« Nun bereitete König Bima ein großes Fest vor. In alle Nachbarreiche sandte er Boten aus und lud die jungen Fürsten und Königssöhne ein, zu kommen und um seine schöne Tochter zu werben. Das ließen sich die Fürsten und Prinzen nicht zweimal sagen. In prächtigen Wagen mit schnellfüßigen Pferden oder auf reich geschmückten Elefanten kamen sie an den Hof des Königs Bima. Sogar von den hohen Göttern hegten einige den Wunsch, um die holde Damajanti zu werben, denn sie hatten diese Prinzessin ob ihrer reinen Seele zur Priesterin eines Tempels ausersehen. Das waren Agni, der Gott des Feuers, Indra, der mächtige Luftgott, Waruna, der Wassergott, und Jama, der Richter in der Unterwelt. Diese vier hielten nun Umschau unter den Menschen, um einen Boten zu finden, der ihren Antrag bei der Prinzessin vorbringen könnte. Da sahen sie König Nal auf der Straße heranziehen. Er eilte in seinem goldbeschlagenen Wagen freudig zum Fest. Herrlich stand er da, dem Liebesgotte gleich. Und als die Götter ihn so erblickten, entschlossen sie sich, diesen königlichen Jüngling zu ihrem Fürsprecher zu wählen. »Nal, du Fürstensohn«, riefen sie ihm zu, »der du treu und zuverlässig bist, sei uns jetzt zum Dienste bereit! Wir brauchen einen Boten.« - »Ich will es sein. Nur sagt mir, wie heißt der Mann, zu dem ihr mich schicken wollt? Denn wenn ich recht sehe, seid ihr Unsterbliche.« - »Wir sind's«, antwortete Indra, »hier der Gott des Feuers, Agni, da Waruna, jener ist Jama und ich Indra. Du sollst zur Königstochter Damajanti gehen, um ihr zu sagen, daß ihr die Weltenhüter nahn!« Bei dieser Rede erschrak Nal und sagte: »Ihr hohen Götter, schickt nicht mich! Bin ich doch selber unterwegs, um zu werben. Wie könnte ich da für euch die rechten Worte finden?« Die Götter aber sprachen: »Du hast gesagt, du wolltest unser Bote sein! Jetzt willst du nicht? Also läßt sich nicht mit Göttern reden. Geh, zaudere nicht!« Da war König Nal in großer Not. -26-
Kaum wußte er, wie er sich helfen sollte. Doch schließlich faßte er Mut, und es gelang ihm, schon am Vortage des Festes, einen geheimen Weg in das Gemach Damajantis zu finden. Als er vor der Schönen stand, fand er keine Worte, weder für sich noch um den Wunsch der Götter vorzubringen. Das Gesicht der Damajanti aber, als sie den ersehnten Helden vor sich sah, rötete sich wie vor Sonnenaufgang der Morgenhimmel. Sie lächelte vertrauensvoll. Und wie Nal der lieblich Lächelnden ins Auge blickte, wuchs in ihm die Macht der Liebe. Doch um den Göttern ein gehorsamer Bote zu sein, hielt er den Drang seines Herzens zurück.
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Aus diesem Zwiespalt suchte Damajanti ihm mit folgenden Worten zu helfen: »Mein Freund, sprich mit Zuversicht! Warum bist du gekommen? Wohl nicht, um, was schon dein ist, zu verschmähen? Der Schicksalsvogel kündete mir, daß König Nal mein Gatte werden sollte. Und seit dieser Offenbarung gehöre ich und gehört alles, was mein ist, ihm!« Nun faßte sich König Nal und sprach: »O Damajanti, erst sollst du wissen, daß du unter Göttern wählen kannst. Die Unsterblichen, mit deren Fußstaub ich mich nicht einmal vergleichen darf, werben durch mich um dich. Drum wende auf diese deinen Sinn.« Doch Damajanti antwortete: »Den Göttern gelte alle Zeit und ohne Unterlaß meine Verehrung. Dich aber, Nal, erwähle ich mir zum Gatten.« - Nal wiederum sprach: »Als Bote der Götter bin ich gekommen und kann nicht für mich selbst sprechen. Bedenke, daß jeder verdirbt, der Göttern widerstrebt.« - »Ich weiß einen Ausweg«, versetzte Damajanti. »Von den Fürsten, die zum Feste eingeladen sind, wird keiner werben, sondern ich werde unter ihnen wählen. Wenn ich dich dann erwähle, bist du also ohne Schuld!« Da waren sie beide voller Hoffnung. Die Götter aber hatten insgeheim dieses Gespräch belauscht und ersannen eine List. Als tags darauf die Gattenwahl stattfinden sollte und die hohen Gäste im goldprangenden Saal Platz genommen hatten - da waren auf einmal fünf Männer von genau gleicher Gestalt da! Wen auch von diesen Fünfen Damajanti anschaute, jeden konnte sie für König Nal halten. Denn die vier Gottheiten waren in einer Gestalt erschienen, die sich nicht von der Erscheinung des jungen Königs unterscheiden ließ. Das Herz der schönen Damajanti bebte, doch nach kurzem Bedenken entschloß sie sich, die Götter selbst um Hilfe anzuflehen: »Das Schicksal sprach durch den goldgeflügelten Vogel; dem gehorchte mein Herz, als ich König Nal zu meinem Gatten erkor. Soll ich ihm nun untreu werden? O ihr Unsterblichen, zeigt euch in eurer wahren Gestalt, daß ich hier -28-
zu unterscheiden vermag!« Gerührt durch diese inständige Bitte erbarmten sich die Götter der Damajanti. Und da konnte sie auf einmal sehen, daß vier von den Gestalten keinen Schatten warfen, daß sie unbewegten Blickes und schwerelos, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren, dastanden. Fest auf der Erde, einen Schatten werfend und mit bewegten Augen stand aber Nal vor ihr. Dankend blickte Damajanti zu den Göttern, darauf trat sie zu Nal und legte ihm den Siegeskranz um die Schultern. Und während der große Saal vom neidlosen Beifall der versammelten Fürsten erscholl, neigten sich Nal und Damajanti vor den Göttern und baten sie um ihren Schutz. Gnadenvoll wurde den beiden Glück und Hilfe verheißen; darauf machten sich die Götter unsichtbar. Fröhlich war die Hochzeit, die nun folgte. Und als die Fürsten und Gäste davonzogen, hatten sie alle viel zu erzählen. Auf dem Heimweg von der Gattenwahl begegneten den hohen Göttern zwei tückische Geister, Kali und dessen Gesell, der üble Dwapara. »Sprich, Kali«, sagte Indra, »wohin wollt ihr beiden?« - »Halte uns nicht auf, wir wollen schnell zu Damajantis Gattenwahl - mich soll sie nehmen!« rief Kali. - »Kehr um«, sprach Indra, »die Wahl ist beendet, die Schöne hat den König Nal erkoren!« - »Das soll die Törin büßen, daß sie statt aus der Götter Mitte einen Menschen wählte!« rief Kali. Und schnell machten sich die beiden davon. Sieben volle Jahre verlebten Nal und Damajanti im goldenen Glück ihrer Liebe. Zwei blühende Kinder wurden ihnen geschenkt, in Land und Stadt herrschten Fleiß und Friede, und jede Unternehmung des Königs gelang aufs beste. Der böse Kali lauerte aber die ganze Zeit auf eine Gelegenheit, damit er sich in die Seele des Königs einschleichen könne, um ihn und seine Geliebte ins Verderben zu stürzen. Noch standen sie aber unter dem Schutz der Götter, und bislang hatte der Böse vergebens gelauert. Da geschah es einmal, daß der König sehr erschöpft von der Jagd zurückkehrte, und müde -29-
wie er war, vernachlässigte er die vorgeschriebene Reinigung. Das eröffnete Kali, dem Bösen, Eingang in Nals Seele. Denn wo sich ein Mensch nicht um die hütenden Mächte kümmert, können auch diese nicht helfen. Schon am folgenden Tag erschien bei Nal sein Halbbruder Puschkara, der ein kleineres Reich besaß. Er brachte Würfel mit und forderte Nal zum Spiel auf. Dieser Versuchung vermochte Nal jetzt nicht zu widerstehen - in Puschkaras Würfel war jedoch des Kali übler Gesell gefahren. Das verhängnisvolle Spiel begann. Immer und immer wieder fielen die Würfel zugunsten des Bruders. Doch mit jedem Wurf wuchs dem spielbesessenen Nal die Leidenschaft. Er verspielte sein Gold, seine Kleider, Rosse, Wagen, Waffen - alles. Vergebens suchten seine Freunde ihn anzusprechen, er lieh ihnen kein Gehör, und je mehr er verlor, um so ungestümer setzte er das Spiel fort. Weinend und bittend trat Damajanti hinzu, Nal aber, vom Wahnsinn des Spieles ganz besessen, wollte nicht aufhören. Um wenigstens das Liebste zu retten, eilte Damajanti zu dem Wagenlenker ihres Gemahls und befahl ihm, sofort die beiden Königskinder zu ihrem Großvater, dem König Bima zu bringen. Indessen hatte der Verblendete sein ganzes Land und all sein Gut verloren. Da sprach der schadenfrohe Halbbruder: »Nun laß uns auch noch um die schöne Damajanti würfeln!« Bei diesem Wort erschrak Nal. Seine Besinnung kehrte zurück, gramerfüllt stand er auf und ergriff der Geliebten Hand. Sie besaßen nichts mehr als die Kleider, die sie trugen. Wortlos verließen die vom Glück Verlassenen das Schloß. Drei Tage und Nächte irrten sie umher, keiner von den ehemaligen Untertanen durfte ihnen helfen - das hatte der Halbbruder bei Todesstrafe verboten. Beeren des Feldes waren ihre einzige Nahrung. Da erblickte Nal ganz in der Nähe zwei Vögel und rief: »Die hat uns der Himmel als Nahrung beschert!« Hurtig zog er sein Gewand aus und warf es wie ein Netz über sie. Die Vögel aber flogen mit dem Kleide davon, -30-
denn in Wirklichkeit waren sie die Boten des zaubermächtigen Kali, mit denen er den unglücklichen König um seine allerletzte Habe bringen wollte. Schweigend legte Damajanti einen Teil ihres Gewandes um Nal. Und so wanderten sie von einem Kleid umhüllt weiter. Doch immer mehr bedrückte ihn sein Gewissen. Und als sie an einer Wegscheide standen, sprach er zu Damajanti: »Du Holde, du sollst nimmer das Los eines Mannes teilen, der sein eigenes Glück zerstört hat und den die bösen Geister verfolgen. Siehe, hier scheiden sich die Wege. Ich gehe in den Wald, vielleicht finde ich bei frommen Einsiedlern eine Zuflucht. Du aber ziehe in deine Heimat, wo dein edler Vater und deine liebe Mutter dich aufnehmen werden.« Darauf antwortete Damajanti: »Für mich gibt es kein Scheiden. Lieber will ich den kummervollen Weg mit dir gehen, als im Hause meiner Eltern schwelgen. Wenn du aber deine Zuflucht bei meinem Vater nehmen willst, würde uns beiden geholfen sein.« Doch davon mochte Nal nichts hören: »Besser ziemt es sich für mich, in der Einöde umherzuirren, als nackt und bloß in deine Vaterstadt zu kommen, wo ich einst so reich und mächtig erschien.« Wie nun die Nacht hereinbrach, da war die nackte Erde ihr Bett. Nal konnte nicht lange seines Schlafes froh werden, er wachte auf und sprach bei sich selbst: »Grausam ist es, daß ich die treue Geliebte ins Elend führe. Wenn ich sie jetzt verließe, würde sie gezwungen sein, sich nach ihrer Heimat zu wenden, noch ist ja diese nicht fern.« Damit war sein Entschluß gefaßt, traurig blickte er die schlafende Damajanti an, und also verließ er seine ahnungslose Geliebte. Am anderen Morgen konnte Damajanti nicht glauben, daß sie verlassen sei. Sie rief in den Wald, erhielt aber keine Antwort, sah niemanden. Endlich wurde ihr die schmerzliche Wahrheit gewiß, doch sie klagte nicht um ihr eigenes Unglück, sondern um das ihres Gatten. Sein besseres Selbst war von einem trüben Geist umnebelt worden. Dennoch verlor Damajanti den Glauben nicht, daß der böse Zauber sich einmal lösen werde. -31-
Eine lange Zeit irrte sie auf verschlungenen Wegen umher, immer ihren Gatten suchend, doch überall vergebens. Schließlich fand sie in das Land und die Stadt ihrer Eltern zurück. Sie wurde mit viel Freude im königlichen Haus aufgenommen, wo sie auch ihre beiden Kinder wiederfand. Unterdessen war Nal in unwegsame Wälder geraten, wo es kaum eine Spur von Menschen gab. Noch mehr als der Verlust all seiner Habe peinigte seine Seele, daß er die treue Gattin verlassen hatte. Seine Verzweiflung war so groß, daß immer, wenn er sein Bild im Spiegel einer Quelle sah, er ausrief: »Wollten doch die Götter diese Gestalt von mir nehmen, daß mich niemand mehr erkennen möge.« In solcher Verzweiflung gelangte er an eine Stelle des Waldes, wo ein mächtiges Feuer zu brennen schien. Als er näher trat, hörte er mitten aus den Flammen eine leise Stimme, die ihn beim Namen rief: »O Nal, eile herzu und erlöse mich!« Verwundert sah er sich um, da vernahm er die Stimme zum zweiten Mal: »Nal, du starker Held, zaudere nicht, biete den Flammen Trotz!« Nal nahm sich keine Zeit zu fragen, wer ihn hier beim Namen rufe. »Ich habe nichts mehr zu verlieren!« rief er und drang mitten ins Feuer. Die Flammen züngelten um ihn, konnten dem Tapferen aber nicht schaden. Denn im Augenblick, als er ins Feuer sprang, entwich der böse Geist Kali, und Agni, der Feuergott, konnte ihn vor den Flammen schützen. Doch inmitten des Feuers ringelte sich eine große Schlange. Das Haupt der Schlange war mit einer Krone geziert, es war der Schlangenkönig Karkotaka, halb Mensch, halb Wurm. Er sprach: »O Held, höre mich: Den großen Rischi Narda, den Heiligen, betrog ich einst. Dafür traf mich sein mächtiger Fluch: Liege du unbeweglich im Feuer, bis sich König Nal deiner erbarmt! - waren seine Worte. Trage mich, o Held, aus dieser Glut, immer will ich dir dankbar sein.« Nal zögerte nicht, sondern ergriff die Schlange und hob sie aus der Glut ins Freie. Sie biß ihn, und dadurch wurden seine Gestalt und sein Gesicht völlig verändert. Der Schlangenkönig -32-
aber tröstete ihn: »Wie du gewünscht, habe ich deine Gestalt verändert, damit du unkenntlich bist. Sobald du wieder deine wahre Gestalt haben willst, denke an mich und ziehe dieses Hemd an, das ich dir gebe. Gehe jetzt zu dem zahlenkundigen König Rituparna, denn er besitzt die Würfel, die du brauchst. Verdinge dich bei ihm als Wagenlenker. Als solcher wirst du ihm einmal einen großen Dienst leisten, dein Lohn seien dann die Würfel.« So sprach Karkotaka, gab ihm ein unscheinbares Hemd und verschwand im Dickicht des Waldes.
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Als König Nal aus dem Wald trat und wieder in bewohnte Gegenden kam, konnte ihn niemand erkennen. Seine Gestalt war mißgebildet, sein Gesicht entstellt. Er gab sich einen fremden Namen, und so vermummt wanderte er den weiten Weg zu König Rituparna, um seinen Dienst anzubieten. Denn in der hohen Kunst, ein starkes Pferdegespann schnell und sicher zu lenken, war Nal ein Meister, dem niemand gleichkam. Darum war der zahlenkundige Rituparna sehr erfreut, einen Wagenlenker wie diesen Unbekannten zu bekommen. Und Nal führte nun seinen Herrn in mancher schnellen Fahrt durchs Land. Indessen herrschte im Widarbaland große Freude ob der heimgekehrten Königstochter. Auch Damajanti war froh, wieder bei ihren Kindern zu sein. Doch blieb ihre Freude getrübt, so lang sie nichts von ihrem Gemahl wußte. Und die erste Bitte, die sie an ihren königlichen Vater richtete, war: »Lasset Boten herumschicken, den vertriebenen König Nal zu suchen. Als Erkennungsspruch sollen sie überall, wo sie hinkommen, die Worte sagen: Spieler, wo bist du hingegangen, Im Leid, vom halben Kleid umhangen?« Diese Bitte gewährte König Bima gern. Nun zogen die Boten aus und suchten überall in Städten und Dörfern, in Wäldern und Einsiedeleien. Doch wo sie auch hinkamen niemand achtete auf den Spruch. Da gelangte ein Bote an den Hof des Königs Rituparna. Auch der kluge Würfelbesitzer verstand den Spruch nicht und keiner vom Gesinde des Königs. Schon machte sich der enttäuschte Bote auf den Heimweg, da folgte ihm der Wagenlenker des Königs nach und wollte den Spruch hören. Und als er ihn vernahm, seufzte er: »Wird sie dem Verblendeten je verzeihen, daß er sie einsam im Walde verließ?« Diese Worte überbrachte der Bote treulich der Fürstin Damajanti. »Das kann nur Nal sein!« rief sie. »Mag seine Verkleidung ihn noch so sehr entstellt haben!« Doch wie sollte sie es anfangen, um Nal zur Heimkehr in das Land ihres Vaters zu bewegen? Da ersann Damajanti eine List. Sie ging zu ihrer -34-
Mutter und gab vor, es sei ihr in den Sinn gekommen, einen neuen Gatten zu suchen - und besonders sei ihr daran gelegen, bei dieser Gattenwahl den König Rituparna zu sehen. Die Mutter wunderte sich nicht wenig, aber Damajanti vertraute ihr den Plan an: ein Bote möge an Rituparnas Hof abgesandt werden und wie von ungefähr melden: Morgen wird ein großes Fest im Widarbalande stattfinden, denn die Prinzessin Damajanti hat vor, sich einen Gatten zu wählen. Wenn du rechtzeitig erscheinst, wird sich die Prinzessin freuen. Der Bote wurde abgesandt, und die Worte ließ er genauso fallen, wie ihm befohlen war. Das schmeichelte dem König sehr, und er rief alsbald seinen Wagenlenker. »Nun zeige deine Kunst«, sprach er, »morgen schon muß ich im Widarbalande sein. Es gilt die neue Gattenwahl der Fürstin Damajanti!« Bei dieser Rede ward Nal voll Kummer und sprach in seinem Herzen: Ist mir Damajanti untreu geworden? Laut sagte er: »Und welchen Lohn gedenkst du dem Wagenlenker zu geben?« - »Zwei Würfel, die immer nach deinem Wunsch fallen, sofern du die geheime Rechenkunst kennst«, sprach der König. Nun ging Nal, die Pferde vorzuspannen. Mager und sehnig waren sie, nicht schön anzusehen, aber ausdauernd und stark. Rituparna, der nicht wußte, wie gute und schlechte Pferde zu unterscheiden sind, rief zornig: »Was, treibst du Spaß mit mir, daß du diese schmächtigen Tiere vorgespannt hast?« Nal antwortete darauf: »Ein Wirbel auf der Stirn, zwei an den Wangen, auf jeder Seite zwei, zwei an der Brust und einer auf dem Kreuz - der du die Zahlenkunst verstehst, o König, solltest du diese Zeichen zu deuten wissen.« - »Ich lasse dir die Zahlenkunst, so du mir deine Pferdewissenschaft gibst«, versprach der König. »Jetzt aber drängt die Zeit, wir müssen uns beeilen!« Damit bestiegen sie den Wagen, und in Windeseile ging es dahin. Der Luftzug raubte dem König das Obergewand, doch vergebens rief er dem Fuhrmann zu, er möge anhalten, denn während er sprach, waren schon drei Meilen zurückgelegt. -35-
Noch war die Sonne nicht zur Ruhe gegangen, da fuhren sie mit Donnerschall durch die Tore des Schlosses von Widarba. Freilich wunderte sich Rituparna, daß er keine Anstalten zu einem Fest sah, doch ließ er sich nichts merken. Und während er mit gebührender Gastfreundschaft empfangen wurde, ging der Wagenlenker in den Stall, die Pferde zu striegeln und mit Futter gut zu versorgen. Darauf, als er sich unbeobachtet glaubte, zog er das Wunderhemd vom Schlangenkönig an und setzte sich wartend auf den Wagen. Denn er war noch im Ungewissen, wie es sich mit der Gattenwahl verhalte. Damajanti hatte aber ihre Zofe in den Hof gesandt, um nach dem Wagenlenker Ausschau zu halten. Als diese nun an dessen Stelle die herrliche Erscheinung König Nals erblickte, lief sie schnell hinauf zu Damajanti und rief: »O Fürstin, er ist es, das kann keine Täuschung sein.« Vor Freude schrie Damajanti laut auf, warf das Kleid, das sie im Walde getragen hatte, um und ließ dem im Hofe Harrenden melden, er möge alsbald zur Gattenwahl heraufkommen. An Nals Ohr ertönte in diesem Augenblick aus der Luft eine Stimme: »Damajanti hat die Treue gehalten, die Schuldlose, Reine!« Die holde Damajanti zitterte, und auch dem König Nal klopfte das Herz heftiger als damals, als er durchs Feuer zum Schlangenkönig drang. Er faßte sich aber und sprach: »Daß dein Gemahl sein Reich verspielte und dich treulos im Walde verließ, war die Tücke des bösen Kali. Jener finstere Geist beherrscht ihn nun nicht mehr.« Bei dieser Rede begann ein Blumenregen auf die beiden Schwergeprüften zu fallen. Staunend gewahrte der versammelte Hofstaat das Wunder, und alle verstanden, welchen Gatten die Fürstin sich neu wählen wollte. Während hohe Freude das Schloß erfüllte, drückte König Nal seine Gattin und seine beiden Kinder ans Herz. Der gute König Rituparna freute sich mit ihnen und meinte, er habe nicht umsonst den weiten Weg gemacht. »Dem edlen König Nal überlasse ich gern meine Würfel«, sprach er. -36-
Nach vier Wochen zog Nal aus, um sein verlorenes Reich wiederzugewinnen. Als er vor seinen Bruder trat, sprach er: »Die Götter haben mir wieder Reichtum beschert, wollen wir nochmals würfeln?« Darob freute sich Puschkara, denn er glaubte sich seines Glückes sicher. Prahlend setzte er sich zum Spiel - doch diesmal fielen die Würfel immer nur zugunsten von König Nal, bis Puschkara ganz überwunden war. Doch Nal wollte nicht Böses mit Bösem vergelten und gab dem Bruder seinen alten Besitz zurück. »Du warst es nicht, es war Kali, der böse Geist, der mich des Reiches beraubte«, sprach er. Gerührt von diesem Edelmut sank Puschkara dem König Nal zu Füßen und sprach mit bewegter Stimme: »Unvergänglich sei dein Ruhm und gesegnet dein Haus! Dir und deiner Gemahlin gelobe ich fortan ewige Treue.« Er hielt sein Wort, und die Götter erfüllten seinen Wunsch.
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Die treue Sawitri Zu Madras lebte vor langer Zeit ein frommer König und Weiser, namens Aswapati. Nie brach er sein Wort, nie sagte er eine Lüge. Von allem Bösen wandte er sich ebenso entschieden ab, wie er sich dem Unglück helfend zuwandte. Darum ward er überall im blühenden Lande von seinem Volk geliebt, von den weisen Brahmanen gelobt. Doch mit der Zeit meldete sich eine große Sorge: er war kinderlos. Da legte er ein strenges Gelübde ab, er aß nur jeden sechsten Tag geringe Kost und opferte mit andachtsvoller Hingabe der Göttin Sawitri. Als der König achtzehn volle Jahre in ernster Selbstzucht und Versenkung gelebt hatte, offenbarte sich ihm die Göttin und sprach durch das Flammentor des Opfers: »Du hast, Aswapati, dir die Gunst der Götter erworben. Sage, was dein Herz begehrt, und so wahr es deinen Pflichten nicht widerspricht, soll es in Erfüllung gehen.« Von der Macht der Offenbarung erschüttert, sprach der König: »O Göttin, um Nachkommenschaft zu gewinnen, habe ich die langen Jahre in Entsagung verlebt. Nur einen Wunsch hegt mein Herz: Es werde mir ein Kind geboren. Denn die Brahmanen lehren uns: Den Stamm zu erhalten ist des Mannes Pflicht.« Die Göttin antwortete: »Da ich den Wunsch deines Herzens kannte, habe ich mich an Brahma, den Wesensschöpfer, gewandt. Durch seine Gnade soll dir eine Tochter geboren werden. Nichts sage weiter. Dies Wort genüge dir!« Hierauf verschwand die Göttin. Aber nach einem Jahr gebar die Gemahlin des Königs ein lieblich holdes Töchterlein. Und weil es Sawitri, die Göttin, verheißen hatte, wurde es nach ihr benannt. Sawitri, die Königstochter, wuchs heran zu der schönsten Jungfrau, welche Menschenaugen je gesehen. Alle, die sie erblickten, waren von der Anmut der wunderbaren -38-
Prinzessin entzückt und riefen: »Seht, die Göttertochter!« Und wenn sie von den heiligen Opferhandlungen kam, das Haupt mit Blumen geschmückt, dann war es auch dem Vater, als schreite eine Göttin daher, und sein Herz freute sich. Doch eines machte ihm Sorge: niemand wagte ihr mit Zuneigung zu nahen; ihre Schönheit war so hehr und über alle menschlichen Maße erhaben, daß sich kein Ebenbürtiger fand, um die junge Fürstin zu werben. Da faßte der Vater auf Rat eines weisen Brahmanen den Entschluß: Seine Tochter solle selber in die Welt hinausziehen und sich einen Gatten erwählen. Als Sawitri das erfuhr, neigte sie verschämt errötend ihr Gesicht. Doch gehorsam bestieg sie den goldenen Wagen, den man ihr vorgefahren hatte, und in standesgemäßer Begleitung begab sie sich auf die Suche. Wochen und Monate verstrichen. Die Prinzessin zog von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort und wurde überall aufs vornehmste empfangen. Indessen saß Tag für Tag ihr alter Vater mit einem heiligen Rischi, einem der Weisesten der Brahmanen, in geistige Gespräche vertieft. So auch, als ihnen gemeldet wurde, Sawitri sei zurückgekehrt. Die Schöne wurde mit viel Freude empfangen, und gleich wollte nun der Fürst hören, wen sie erwählt hatte. Frohen Sinns begann Sawitri zu erzählen: »Im Walde bei den Büßern und Brahmanen fand ich ihn. Dort lebt er mit seinem blinden Vater, dem seit vielen Jahren vertriebenen König Djumatsena und seiner frommen Mutter. Arm an Schätzen dieser Welt sind seine Eltern. Ihr einziger Reichtum ist der Sohn Satjawat. Geboren ist er in der Stadt, doch aufgewachsen dort im Walde. Satjawat habe ich gewählt, er sei mein Gemahl!« Dies hörend seufzte der Rischi schwer und wandte sein Gesicht ab. Der König ward darüber betroffen und wollte wissen, was an dem Erwählten auszusetzen sei. Da sprach der Rischi: »Wehe, König, daß deine Tochter sich den Satjawat erkor.« Weiter wollte er nichts sagen. Aswapati aber drängte auf -39-
eine Auskunft. »Mein Freund, sag an«, begann er, »ist Satjawat leichtfertig, fehlt es ihm an Geduld oder an Demut? Ist er nicht tapfer und treu?« Der Rischi gab zur Antwort: »Nichts dergleichen fehlt dem edlen Königssohne. Er ist so reich an Tugenden wie arm an Gütern dieser Welt, ja, reicher noch. Hochgesinnt wie der Himmel, geduldig wie die Erde, fromm und verständig, schön und herrlich, ja wie gebadet im Glanz der Sonne.« -»Und doch bedauerst du die Wahl meiner Tochter?« versetzte der König, »bitte verschweige uns nicht die Mängel, die an ihm haften.« - »Nur ein Mangel besteht«, sagte der Rischi, »er ist für diese Welt zu rein und gut. Darum ist von den schicksalsbestimmenden Mächten beschlossen, daß die Seele Satjawats nach einem Jahr, vom heutigen Tag an gerechnet, in jene Welt zurückkehren soll, woher sie kam.« Als Aswapati das hörte, wandte er sich mit Ernst seiner Tochter zu. »Ziehe wieder in die Welt hinaus«, sagte er, »und suche dir einen anderen Gemahl. Denn als Witwe möchte dein Vater dich nicht sehen. Gar traurig ist das Los der Witwen.« Dazu war aber Sawitri nicht zu bewegen. »Ob lang er lebt oder kurz«, sagte sie, »ob reich an Tugenden oder arm: mein Gatte ist gewählt! Hat einmal das Herz entschieden und ist das Wort gesprochen, dann gibt es für gute Menschen kein Zurück mehr. Und meinen Sinn zum Guten zu wenden, das war doch, o Vater, immer dein Bestreben.« Gegen diesen festen Willen konnten weder der König noch der Rischi Einspruch erheben. Und so wurden alle Vorbereitungen für eine Hochzeit im Walde getroffen. Während nun der Rischi Abschied nahm, zogen Aswapati und seine Gemahlin mit Sawitri in königlicher Begleitung zum Walde, wo der vertriebene Djumatsena als frommer Büßer lebte - er, seine Gattin und sein Sohn Satjawat. Ehrerbietig grüßte König Aswapati den blinden Greis und sagte ihm seinen Namen. Den Gruß erwidernd, lud dieser die Fremdlinge ein, sich unter einen schattigen Baum zu setzen. Danach fragte er ruhig: »Was führt -40-
so hohe Gäste her zu eines Armen Hütte?« Aswapati antwortete: »Ein Herzenswunsch der Jungfrau hier, meiner Tochter Sawitri. Sie läßt durch mich fragen, ob du, frommer König, sie als Gattin deines Sohnes, des edlen Satjawat, begrüßen willst?« Djumatsena sagte: »Gewiß ist dir bekannt, mein hoher Gast, daß wir vertrieben sind. Hier leben wir in Armut, Zucht und Versenkung. Wie würde wohl eine Königstochter, die alle Tage von Dienern und Dienerinnen umgeben war, das strenge Leben und die vielen Mühen in diesem Büßerhain ertragen?« Sprach darauf Aswapati: »Das ist alles von uns erwogen. Entschlossenen Sinns kommen wir und neigen uns vor dir in der Hoffnung, du mögest uns den Wunsch nicht abschlagen. Ebenbürtig dürfen sich unsere Kinder nennen. Da sollte doch nicht der Schein, Glück oder Unglück des Besitzes trennen.« Djumatsena antwortete: »Einst habe ich mich gesehnt, mit dir verwandt zu werden. Da ich aber Land und Thron verlor, konnte ich es nimmer erhoffen. Nun kommst du selber meinem Wunsche entgegen. Wohlan denn, wir wollen Brüder sein!« So fand nach der herkömmlichen, von den Brahmanen festgelegten Sitte die Vermählung statt. Danach zogen Aswapati und die Seinen in ihre eigene Stadt zurück. Sawitri entsagte willig allem fürstlichen Prunk. Gold und Edelsteine legte sie ab und zog ein einfaches, aus Bast geflochtenes Kleid an, denn sie wollte nicht anders leben als die Entsagenden. Satjawat war überglücklich, eine so wunderbare und tugendreiche Gemahlin zu haben, und hätte nicht Sawitri das schicksalsschwere Won des heiligen Rischi im Herzen getragen, sie wäre genauso glücklich gewesen. Doch immer näher rückte der Tag, da Satjawat sterben sollte, und immer schwerer war es der Sawitri, ihren Kummer zu verbergen. Als nur noch vier Tage blieben, legte sie das Gelübde ab, drei Tage zu fasten und regungslos auf einem Fleck zu verharren. Der alte Djumatsena war sehr besorgt und warnte sie. -41-
»Einer zarten Königstochter ist ein solches Unterfangen nicht ratsam«, meinte er. Doch Sawitri ließ sich nicht abhalten. »Ehrwürdiger Vater«, sagte sie, »ich erhoffe eine große Gnade, doch bitte, frage nicht weiter.« In Herzensangst stand sie drei Tage und Nächte unbeweglich in ihr Gebet vertieft; als der vierte graute, seufzte sie: »Dies also ist der Tag.« Danach opferte sie nach gewohntem Brauch und verrichtete ihre Andacht. Sie ging die frommen Brahmanen mit ehrfürchtig gefalteten Händen zu begrüßen, und diese erwiderten ihren Gruß mit dem Segensspruch: »Mögest du nie der Witwe Los erfahren!« Dabei mußte jedesmal Sawitri der Worte ihres Vaters gedenken. Währenddessen bereitete sich Satjawat vor, in den Wald zu gehen, um Holz zu schlagen. Wie nun Sawitri voll Bangigkeit das sah, rief sie: »Geliebter Freund, gehe nicht allein in den Wald. Laß mich mitkommen, ich kann heute nicht ohne dich sein.« - »Meine Liebliche«, antwortete der ahnungslose Gatte, »du warst noch nie in der Wildnis. Auch bist du vom Fasten geschwächt, bleibe heute lieber daheim.« - »Das Fasten hat mich nicht geschwächt«, sagte Sawitri, »schlage mir diese Bitte nicht ab, es ist die erste, seit ich deine Gattin bin!« Da gab Satjawat nach. »Nur hüte dich«, ermahnte er sie mit sanfter Stimme, »daß du dich im Dickicht nicht verirrst.« Lächelnden Gesichtes, obwohl im Herzen gramerfüllt, folgte nun Sawitri, während Satjawat im Gehen unbekümmert von den vielen Wundern des Waldes erzählte: »Siehe dort die Pfauenherde, da die frische Fährte eines Elefanten, hier die Blütenpracht der Bäume.« - Sawitri aber wanderte hinter ihm und sah überall nur ihren Gatten. Bald war der mitgebrachte Korb mit Früchten gefüllt, und Satjawat ergriff das Beil und begann Holz zu hauen. Sawitri half dabei, die Scheite zusammenzulegen. Da ließ auf einmal Satjawat das Beil sinken und sagte: »Ich weiß nicht, wie mir ist.« Er setzte sich auf einen Baumstamm und neigte den Kopf, -42-
als wollte er sich ein Weilchen ausruhen. Sogleich setzte sich Sawitri zu ihm und ließ des teuren Gatten Kopf auf ihrem Schöße ruhen. In diesem Augenblick überkam es auch Sawitri. Es erschien ihr eine mächtige Gestalt, schrecklich schön, rotäugig und von dunkler Haut. Auf dem Haupt trug er ein Diadem, in der Hand hielt er einen Strick. Rot und Schwarz waren seine Farben. Sanft legte Sawitri das Haupt ihres Gatten auf den grünen Rasen, stand mit gefalteten Händen auf und sprach zitternden Herzens: »Als einen Gott erkenne ich dich. Sage mir, Unsterblicher, wer du bist, und was suchst du?« - »Sawitri, du Schöne«, gab die Gestalt zur Antwort, »du bist deinem Gatten treu. Wisse, ich bin Jama. Mein Auftrag ist, die Seele dieses Schlafenden zu holen.« So sprechend neigte er sich über Satjawat, dieser aber hauchte ihm die Seele in die Hände. Sogleich erblaßte Satjawats Leib und lag tot am Boden. Jama aber mit Satjawats Seele nahm die Richtung nach Süden, der Sonne zu. Schmerzerfüllt folgte ihm Sawitri. Da sprach Jama, der Gott des Todes, aber auch der Gerechtigkeit, zu ihr: »Kehre um, Sawitri, und halte die Totenfeier. Du hast deinen Gatten jetzt weit genug begleitet.« Sawitri antwortete: »So wahr du der Gott der Gerechtigkeit bist, so wahr halte ich mein Gelübde. Wohin du meinen Gatten führst, da muß ich folgen. Es heißt: mit wem du sieben Schritte gehst, der ist dein Freund. Die sieben Schritte sind gegangen, drum höre meinen Spruch: Durch einer Gottheit Gnade fanden wir zum Weg des Heiles und des Guten hin. So wurden wir zu wandern bewegt den Pfad, der uns zum Rechten führt.« Jama antwortete: »Dein schöner Spruch entzückt mich, Sawitri! Ich gewähre dir einen Wunsch, wähle, was du willst, nur nicht die Seele Satjawats.« Sawitri bat: »Sein blinder Vater -43-
möge durch deine Gnade sehend werden.« - Jama: »Es sei, du Fromme. Jetzt aber kehre um, denn du bist müde.« Sawitri antwortete aber: »Wie soll ich müde sein, wo mein Gatte tot ist? O nein! Nun höre weiter, du gerechter Gott, meinen Spruch: Dem Schicksal folgen wir als gute Menschen getrost und finden so die Freude, die vom Schicksal uns beschert. Vertraue stets dem Stern, der dich zu deinen Freunden führt.«
Jama sprach: »Ein Labsal sind mir deine Worte, Sawitri, und zur Belohnung wähle frei, was du begehrst, nur nicht die Seele Satjawats.« Diesmal bat Sawitri: »Dann möge sein alter Vater sein Reich und Königtum wiedergewinnen.« - Jama: »Es sei. -44-
Doch jetzt, du Gute, kehre eilends um!« - Sawitri entgegnete: »Höre, du Gerechter, noch diesen Spruch: Hilfreich sein und immer schenkend, das ist der guten Menschen höchste Freude. Nicht fragen sie, ob Freund, ob Feind, ihr sonnig' Herz nur spendet Güte.« Da sprach Jama: »Wie Wasser einem Durstigen fließt deine Rede mir. Noch einen Wunsch gewähre ich dir, nur bitte nicht um die Seele Satjawats.« - Sawitri bat: »So schenke meinem Vater einen Sohn.« Und wiederum sprach Jama: »Es sei, doch nun kehre um, sehr weit gegangen bist du schon.« - Sawitri entgegnete: »Noch weiter folge ich dir, o Herr des Rechtes, so höre mich: Vertrauen heißt des Lebens Wanderstab, drum stütze auf Vertrauen deinen Gang. Wer mit Vertrauen geht, darf hoffen, daß er zuletzt zum Ziele kommt.« Jama sprach: »Nie habe ich solche Sprüche gehört, wie du sie sprichst, o Sawitri. Eine vierte Gnade wähle dir, nur nicht das Leben Satjawats.« Sawitri: »Es sei dem edlen Satjawat und mir Nachkommenschaft gegeben.« Jama wiederum sprach: »Auch diese Gnade sei dir gewährt. Jetzt aber kehre um.« Doch Sawitri gab nicht nach, und sprach: »Für andere wirksam sind die Guten immer, nicht um sich Gegendienste zu verschaffen. Durch gutes Wirken helfen wir der Sonne scheinen und den Kräutern blühn.« Da sprach Jama: »Nicht länger kann ich dir widerstehen, du Fromme, Schöne. Wünsche dir jetzt, was du haben willst!« - Da jauchzte Sawitri: »Gib mir die Seele Satjawats zurück, gib ihm den Atem seines Lebens wieder. Schon als du Satjawat und mir Nachkommenschaft versprachst, gabst du mir meinen Gemahl zurück. Zum Überflusse nur wünsche ich also, was du mir schon gewährtest!« Hierauf öffnete Jama, der Gott des Todes und der Gerechtigkeit, seine Hand und sprach: »Du Glückspenderin, frei ist er. Gehe hin, Gesegnete, wo dein Geliebter eingeschlafen am -45-
Boden liegt. Gesund und kräftig wirst du ihn finden, und bis ins höchste Alter soll er mit dir leben. Dieses Wunder erfahre!« Mit diesen Worten entschwand Jama ihren Augen. Sawitri aber eilte zurück, wo Satjawat lag. Sie setzte sich neben ihn und nahm sein Haupt auf ihren Schoß. Und das Wunder geschah: Seele und Atem kehrten ihm in den Leib zurück. Verwundert schlug Satjawat die Augen auf und begann langsam zu reden: »Sawitri, wie lange schlief ich schon? Warum hast du mich nicht geweckt? Die Nacht ist nahe, bald hüllt sich der Wald in Finsternis. Wir müssen eilends heimwärts gehen.« Nun stand Satjawat auf, entzündete einen dürren Ast, und mit diesem als Fackel begaben sich die beiden auf den Heimweg durch den nächtlichen Wald. Zur Wehr gegen wilde Tiere hielt Satjawat die Axt in der rechten Hand, die linke legte er Sawitri schützend um die Schulter, während sie die Fackel trug. In der Siedlung aber, wo der alte König Djumatsena und seine Gemahlin warteten, waren derweilen etliche Wunder geschehen: Das Augenlicht erleuchtete den König wieder. Staunend blickte er um sich und konnte alle Dinge genau unterscheiden. Überdies trat plötzlich eine Gesandtschaft in die Hütte und meldete dem König, daß er zurückberufen würde, um die Macht und königliche Herrschaft wieder anzutreten. Die Freude über diese Geschehnisse wurde aber sehr durch die Abwesenheit des Sohnes und dessen Gattin getrübt. Schon klagte der Greis: »Bin ich sehend geworden, um nicht zu finden, was mein Auge sucht? Und was soll mir mein Reich, wenn der Nachfolgerfehlt?« In diesem Augenblick stiegen nun die beiden Gatten zur Klause ein, und die Brahmanen sprachen: »Das Augenlicht wurde dir zuerst verliehen, dann dein Königtum zurückgegeben, und nun wird dir der teure Sohn und dessen wunderbare Gattin, die treffliche Sawitri, neu geschenkt! Das ist ein dreifaches Glück, und auf Erden fehlt dir nichts mehr.« Darauf zündeten sie ein Feuer an, und im Kreise setzten sich -46-
alle frohgesinnt, während Sawitri zu erzählen begann, was Wunderbares geschehen war. Als sie am nächsten Tag Abschied von den frommen und weisen Brahmanen nahmen, segnete ihr Ältester Sawitri und sprach: »Durch deine Treue ist die Trauer, die das Haus bedrückte, zu Glück und Herrlichkeit geworden. Glückselig werden Menschen immerdar dich preisen, und wo man Frauentugend rühmt, sei Sawitri zuerst genannt!«
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Sakuntala Wer anhaltend strenge Entsagung übt, dem wachsen Flügel der inneren Kraft. Doch braucht es eine lange Zeit, bis einer sich hinaufschwingt zu jenen Gipfeln, wo er teilhat am Leben der Götter. Wenige nur besitzen die Ausdauer, viele aber fallen in die Welt der Wünsche und Täuschungen zurück. Der alte Kauschika hatte sehr lange durchgehalten. Jahr für Jahr war er auf dem entsagungsvollen Weg der Übung fortgeschritten, sein Wesen erfüllte sich mit gewaltiger Kraft. Zuletzt gab das den Göttern zu denken. Sie sagten: »Bäume dürfen nicht in den Himmel wachsen, Menschen keine göttliche Macht erreichen.« Um solches bei Kauschika zu verhindern, rief Gott Indra aus dem Gefolge seiner Gemahlin die liebliche Menaka zu sich und befahl ihr, den gewaltigen Asketen von seinem übermenschlichen Vorhaben abzulenken. Von Morgenwolken getragen, begab sich die Holde zum Haine des Kauschika. Dieser war eben vor seine Klause getreten, um die aufgehende Sonne zu grüßen, als sein Ohr eine süß bittende Stimme vernahm: »Darf eine, die sich im Walde verirrte, den Heiligen um Hilfe bitten?« Verwundert ließ Kauschika die gehobenen Arme sinken. »Mein Kind«, sprach er, »was suchst du in diesem Walde?« - »Ich suche Blumen für einen Kranz«, antwortete das holde Göttermädchen. »Sage mir, für wen bindest du hier einen Kranz?« Sanft errötend sprach die Schöne: »Die Götter schickten mich hierher, um dem mächtigen Kauschika einen Kranz der Liebe zu schenken.« Da wandte Kauschika sich vom Wege der übenden Entsagung ab. Aus dem Schatz seiner erworbenen Macht wählte er sich männliche Jugend und nahm die liebreiche Menaka als sein Weib zu sich. Über alle Maßen erwuchs ihm da sein Glück. Doch endlich, als abends sich die Sonne neigte, trat er unter -48-
die Tür seiner Hütte und sprach: »Heil dem Sonnengotte, er läßt mich meine tägliche Übung nicht versäumen.« Da lachte Menaka silberhell: »O du, mein lieber Büßer, wohl kam ich eines Morgens, und jetzt ist es Abend. Doch liegen hundert Jahre dazwischen, so schnell ist uns die Zeit im Glück davongeeilt.« - »Weh mir!« rief Kauschika bestürzt, »wie konnte ich mich so lange vergessen. Verloren sind nun die Früchte meiner Übung. Hinweg, Verführerin, daß mein Fluch dich nicht treffe!« Weinend begab sich Menaka in den Wald. Dort gebar sie bald darauf ein wunderschönes Töchterlein. Gleich danach wurde sie aber von Indra in die Welt der Götter zurückgerufen, und so konnte sie ihr Kind nicht selber aufziehen. Sie mußte es den Waldvöglein übergeben mit der Bitte, für das hilflose Wesen zu sorgen. Ganz in der Nähe befand sich eine Brahmanensiedlung. Das Oberhaupt der kleinen Gemeinde war der gütige Vater Kanwa. Ein gutes Geschick wollte, daß er sich am Tag nach diesem Ereignis in den Wald begab, um Brennholz zu sammeln. Da wurde er von dem lebhaften Zwitschern einer Schar Vögel herangezogen und fand das Kind heil und unversehrt in weichen Vogelflaum gebettet. Vater Kanwa brachte es in seine Hütte, und nach seinen gefiederten Beschützern, den Sakuntas, gab er ihm den Namen Sakuntala. Die Siedlung des Vaters Kanwa war eine Insel des Friedens, fernab vom Getriebe der Welt. Im Schatten uralter Bäume standen die Hütten der frommen Einwohner. Hier, wo alles Leben dem Ewigen zugewandt war, wuchs nun Sakuntala heran. Sanft klangen die Stimmen der alten Weisen, heiter das unschuldige Lachen der Jugend. Sakuntala war das von allen geliebte Götterkind. An Schönheit und Anmut wie an Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft übertraf sie bei weitem ihre Gespielinnen. So verflossen die Jahre, Sakuntala stand in der Blüte ihrer Jugend. Da geschah es, daß der junge König Dusjanta aus dem berühmten Geschlecht der -49-
Puru sich einmal auf einer Jagd verirrte. Er hetzte hinter einer Hirschkuh her und verlor dabei sein Gefolge aus der Sicht. Unweit auf der Höhe lag die Siedelei Vater Kanwas, und nach dieser floh die Hindin. Doch als sie unter die ersten Bäume des befriedeten Haines gelangte, beruhigte sie ihren Lauf, denn sie fühlte die Nähe ihrer frommen Beschützer. Dusjanta, einen Bogenschuß hinter ihr, spannte schon die Sehne, da rief eine Stimme: »Halt, junger Mann, hüte dich vor Mord! Die Hindin befindet sich im Haine Vater Kanwas. Sie vertraut seinem und unserem Schutz.«
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Der König senkte den Bogen, drei ernste Büßer traten zu ihm. »Edler Fremdling«, fuhr der Sprecher fort, »stecke deinen Pfeil in den Köcher. Hier darf, wie du weißt, kein Leben getötet werden.« Der junge Herrscher dankte für die Belehrung, worauf die drei sich mit einem Segensspruch zurückzogen. Dusjanta setzte sich auf einen Stein nieder, um nach seinem schnellen Lauf Atem zu holen. Da schlugen fröhliche Stimmen an sein Ohr, und durch ein Gebüsch sah er drei liebliche Jungfrauen, die Wasser aus einem kleinen Weiher schöpften und über die Wurzeln der Bäume gossen. Der König hielt sich eine Weile verborgen und lauschte ihrem unschuldigen Plaudern. Bewundernswert schön waren die drei, doch überstrahlte die eine die beiden andern wie der Schwan die Gänse. »Sakuntala«, riefen die beiden, »siehe, die Vöglein scheuen sich nichtvor dir!« Und wahrlich schien es, als ob die kleinen Bewohner der Baumkronen die Holde zu begrüßen herunterflatterten. Jetzt ließ sich Dusjanta sehen und begrüßte die Mädchen freundlich. Diese stammelten verwirrt: »Wer bist du, Herr? Was führte dich zu uns?« »Ein gutes Schicksal führte mich«, antwortete Dusjanta, »die Mär von Sakuntala sprach sich herum in der Welt. Ich bin gekommen, die Schöne zu sehen.« »Dann bist du an den rechten Ort gelangt«, riefen lachend die beiden Freundinnen und schoben ihm die sanft errötende Sakuntala entgegen. Schnell faßte der junge König ihre Hand, und ehe sie sich recht versah, hatte er ihr einen wunderbaren Ring auf den Finger geschoben. »Der Ring trägt des Königs Namenszug«, flüsterten die Freundinnen. Ehrerbietig verneigten sie sich vor Dusjanta und entfernten sich. Sakuntala und Dusjanta blieben allein - in ihren Herzen feierte der Liebesgott sein freudiges Fest. Bald erklangen aber aus der Ferne die Hörner und Muscheln des königlichen Jagdzuges. »Mein Gefolge«, rief Dusjanta, »ich muß zu meinen Leuten. Sie dürfen -51-
den Frieden dieses Haines nicht stören. Leb wohl!« Einen Augenblick noch ruhte sein Blick auf Sakuntalas Gesicht dann war er verschwunden. War es nur ein Traum? Sakuntala sank auf eine Rasenbank nieder. Die ersten Tränen der Liebe perlten über ihre Wangen. Doch kaum hatte sie sich die Tränen aus den Augen gewischt, da war Dusjanta zurückgekehrt. »Sakuntala, du Holde«, sprach er, »das Schicksal hat uns zusammengeführt. Laß uns nach Vätersitte den Bund unserer Liebe am Ort unserer Begegnung schließen. Er ist so heilig, als hätten ihn die Priester geweiht. Gandharwaehe heißt er in der Sprache unseres Volkes.« Dusjanta schloß sie in seine Arme, und also wurde Sakuntala sein Weib. Es wurde Abend, da erschollen aufs neue die Hörner des Jagdzuges. Sakuntala bangte das Herz, eine dunkle Vorahnung überkam sie. Doch Dusjanta beschwor sie, keine Zweifel zu hegen. »Ich komme dich holen, mein holdes Weib!« sprach er. »Vertraue mir und vergiß mich nicht.« Das waren seine Worte beim Abschied. Noch lange stand Sakuntala zwischen den Bäumen und schaute dem Geliebten nach. In Gedanken versunken bemerkte sie nicht, daß ein alter Brahmane aus dem Walde trat. Er war lange gewandert und hatte Hunger, er bat um Gastfreundschaft. Er sprach leise, und so überhörte Sakuntala seine Bitte. Mit einem entsetzlichen Fluch wandte sich der Fremde dem Walde wieder zu: »Möge das Bild dieser Verliebten der Erinnerung ihres Freundes entschwinden…« Doch sofort bereute er sein jähzorniges Wort, dem die Macht langen Übens eine furchtbare Wirkung verlieh. Er konnte aber das Gesprochene nicht zurücknehmen, nur mildern. So fügte er hinzu: »Bis er das Unterpfand seiner Liebe wiedersieht.« Denn er hatte den Ring an Sakuntalas Finger bemerkt. Im Augenblicke, als Dusjanta auf sein Gefolge stieß, traf ihn der Fluch des alten Brahmanen. Fröhlich wurde er da empfangen, froh war der junge König, seine Gefährten wiederzufinden. Ohne nur einen Gedanken an diejenige, der er -52-
kurz vorher ewige Treue geschworen hatte, kehrte er in seine Hauptstadt zurück. Dort übernahm er seine Herrscherpflichten und übte sie so gut wie eh und je aus. Von seiner Sakuntala war ihm nicht einmal ein blasser Traum geblieben, geschweige denn, daß er sich an das Versprechen, sie zu holen, erinnerte. Wochen verstrichen, nicht einmal ein Bote des Königs erschien, um nach Sakuntala zu fragen. Ihr ehedem so blühendes Gesicht verblaßte, ihr heiterer Gang wurde schwer. Vater Kanwa sah ihren stillen Kummer und beschloß, die Götter zu befragen. Er brachte Agni ein Opfer dar, und durch die Flamme am Altar wurde ihm geoffenbart, daß seine Tochter die Gattin des Königs geworden sei und einen Prinzen, den künftigen Herrscher des Reiches, zur Welt bringen würde. Als der fromme Vater dessen gewiß war, beschloß er, Sakuntala zum König zu schicken und bestellte zwei ehrwürdige Männer der Siedlung, sie zu geleiten. Alles wurde jetzt für Sakuntalas Abschied vorbereitet. Freilich war ihre Ausstattung einfach. Doch mit den Blumen des Waldes geschmückt, die ihre Freundinnen ihr ins Haar geflochten hatten, war Sakuntala schöner als irgendeine Frau des vornehmen Hofstaates. Dusjanta auf seinem Thron war nicht wenig erstaunt, als ihm eines Tages gemeldet wurde, daß Boten aus der Einsiedelei Vater Kanwas angekommen seien. Er ließ sagen, er sei bereit, sie zu empfangen, und vor ihm erschienen die beiden Brahmanen, zwischen ihnen eine Verschleierte. Nachdem sie die gebührenden Grüße und Segenssprüche gewechselt hatten, sprach der König: »Ich neige mich ehrerbietig vor dem heiligen Vater, der euch zu mir gesandt hat. Sagt an, womit ich ihm und euch dienen kann?« »Wir kommen nicht als Bittende - als Gewährende stehen wir vor dir«, antworteten die Boten. »Wir bringen dir die Gattin, der du dich nach Gandharwasitte bei deinem Weilen in unserer Siedlung vermähltest.« -53-
»Eine Gattin - mir?« lachte der König. »Das kann nicht sein!« »Die Gattin dir, o König - bald auch die Mutter deines Sohnes, des künftigen Herrn der Erde.« Und mit den Worten: »Da siehe deine Gemahlin«, zogen sie ihren Schleier zurück.
Völlig befremdet erhob sich der König von seinem Sitz. Langsam verfärbte Zornesröte sein Gesicht. Beherrscht, aber entschieden sprach er: »Ich bitte euch, diesen Spaß nicht weiter zu treiben. Diese Frau, so schön sie sein mag, ist mir völlig unbekannt. Führt sie hinweg, ihr Anblick ist mir unerträglich.« -54-
Mit zitternder Stimme rief Sakuntala: »Und den Ring, den du mir beim Abschied schenktest!« »Welchen Ring?« fragte Dusjanta. Sakuntalahob die Hand, um dem König den Ring zu zeigen. Sie stieß einen Schrei aus: »Wo ist er-? Ich hatte ihn doch heute morgen. O, ich muß ihn verloren haben, als ich mich vor der Stadt im heiligen Weiher wusch!« Und in der Tat, so war es. Als sie sich, wie es die Vorschrift gebot, in dem gottgeweihten Wasser Hände und Füße wusch, war der Ring ihr unversehens vom Finger geglitten. Bleich und beschämt stand sie vor aller Augen da. Die beiden Brahmanen wandten sich gramerfüllt von der Unglücklichen weg. »Du Betrügerin«, riefen sie, »wir haben nichts mehr mit dir zu tun. Ohne dich kehren wir zu Vater Kanwa zurück.« Schnellen Schrittes verließen sie den Saal. Dusjantas Zorn war vorbei. Voll Mitleid schaute er die verzweifelt Weinende an. Dann schüttelte er den Kopf und sprach: »Diese Arme scheint ihres Verstandes beraubt zu sein. Ich kenne sie nicht. Und eines anderen Weib darf ich nicht in mein Haus aufnehmen. Gebt ihr, was sie braucht, und führt sie hinaus.« Die unglückliche Sakuntala wurde vor die Stadt hinausgeleitet. Doch da geschah ein Wunder, das die begleitenden Diener in höchstes Staunen versetzte. Aus dem Luftraum erschien eine göttlich schöne Frau, schloß die bebende Sakuntala in ihre Arme und entführte sie ins Unsichtbare. Als dieser Vorfall dem König berichtet wurde, saß er noch lange da, von dumpfen Fragen bedrückt. Nicht viele Tage darauf ereignete es sich, daß ein armer Fischer einen ungewöhnlich schönen Ring mit einem kostbaren Edelstein auf dem Markt feilhielt. Als des Königs Namenszug an dem Ring erkannt wurde, schöpfte man Verdacht, ob der Ring des Königs auf rechtem Wege in den Besitz des Fischers gekommen sei. Der Mann wurde vor den König geführt, um Bericht abzulegen, wie ein solches Kleinod in seine Hände geraten. Da erzählte er, daß er den Ring beim -55-
Ausweiden eines Fisches gefunden habe, den er in dem Weiher vor der Stadt gefangen hatte. Die Richter schenkten ihm keinen Glauben und meinten, man könne ihn gleich ins Gefängnis werfen. Der König aber sprach: »Laß erst den Ring sehen!« Wie der Blitz die Wolken zerreißt, so riß beim Anblick des Ringes der Fluch, der das Gedächtnis Dusjantas verhangen hatte. Tief erschüttert sprach er: »Gebt dem Fischer einen großen Beutel Gold. Er hat wahr gesprochen.« - Sakuntalas Gesicht sah er wieder vor sich, ihre strahlenden Augen bei der ersten Begegnung, wie sie ihm lange nachgeschaut hatte bei seinem Abschied im Walde, ihre unendliche Trauer, als er sie nicht mehr erkannte. Von Stund an war der früher so lebensfrohe König wie verwandelt. Der Ring, den er nun selber trug, hatte eine geheime Zauberkraft: so oft er ihn anblickte, dünkte es ihm, als schauten ihn Sakuntalas Augen aus einer fernen Welt an und als wäre mit ihr ein Stück seiner eigenen Seele entschwunden. Seine Pflichten als König übte er still und gütig aus. Doch wenn es galt, die Grenzen seines Reiches vor eindringenden Feinden zu schützen, focht er wie ein grimmiger Löwe. Auf diese Weise flossen sieben Jahre dahin. Inzwischen war Indra in einen unseligen Kampf mit einem finsteren Dämonenvolk verwickelt worden, der kein gutes Ende versprach. Denn Brahma selbst hatte vor der Erdenzeit diesem Volk versprochen, daß es nie von Indra besiegt werden solle. In solcher Not rief Gott Indra den Menschensohn Dusjanta zu Hilfe, und dieser ließ sich nicht zweimal bitten. An der Seite der Götter drang der Purusohn siegreich vor. Furcht bemächtigte sich der Schar der Dämonen, sie flohen vor seinem blitzenden Schwert in ihr frostig-dunkles Reich zurück. Nach diesem ruhmreichen Zuge geschah es, daß Dusjanta auf dem Heimweg sich wiederum in einem Walde verirrte und nicht so recht wußte, wohin er gelangt war. Dies geschah aber unter göttlicher Führung, denn es sollte ihm der Lohn für seine Treue -56-
und sein tapferes Aushalten beschert werden. Der Wald lichtete sich, die Gegend wurde auf einmal lieblich und besiedelt. Wie ehedem setzte sich Dusjanta auf einen Stein nieder, um sich ein wenig auszuruhen. Da sah er durch ein Gebüsch einen wunderschönen Knaben, der mit einem jungen Löwen auf der Wiese spielte. Das Kind bändigte den Löwen, öffnete ihm das Maul, um nach seinen Zähnen zu sehen, und strich ihm über das goldglänzende Vlies. Bewegten Herzens stand Dusjanta auf, denn das Gesicht des Kindes sprach ihn so bekannt und lieb an. Eine Magd kam schnell hinter dem Knaben her und rief: »Du kleiner Wildling, laß doch von dem Löwen ab, er könnte dir böse werden!« »Dir könnte er böse werden, mir nicht«, lachte der Knabe. Jetzt erblickte die Magd Dusjanta. »Guter Fremder«, rief sie ihm zu, »helft mir doch den Jungen von seinem gefährlichen Spiele abzuhalten!« Doch plötzlich hielt sie inne. »Welche Ähnlichkeit«, fuhr sie fort, »zwischen dir, Herr, und dem Kleinen da!« Dusjanta zog den Knaben sanft von dem Tier weg. Noch mehr erstaunt sprach die Magd: »Und wie er sich dir fügt, Herr! Das ist sonst nicht die Art des Purusprosses.« »Ein Purusproß?« rief der König. »So sind wir von demselben Geschlecht. Auch ich stamme von Puru ab.« Während die Magd fortlief, um die Mutter zu holen, setzte Dusjanta das Kind auf sein Knie. Sinnend sprach er: »Das kann keine Täuschung sein. Mein Sohn, laß dich von deinem Vater herzen.« »Mein Vater«, sagte der Kleine, »der ist König und heißt Dusjanta.« Kaum war dies gesprochen, da riß sich der Knabe los. »Die Mutter!« rief er. Und wahrlich- Sakuntala stand vor ihnen. »Geliebte Seele«, stammelte der König, »kannst du mir je verzeihen? Mein Gedächtnis war umnachtet, ich selbst von meinen Sinnen.« -57-
Unter Tränen lächelnd blickte ihn Sakuntala an. »Und wodurch bist du wieder zu dir selbst gekommen?« fragte sie. »Als ich den Ring sah - deinen Ring, den mir ein Fischer brachte.« »Ja, der Ring«, flüsterte Sakuntala. »Komm, laß uns zu dem Heiligen dieses Haines gehen. Er kennt die drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihn wollen wir um des Rätsels Lösung bitten.« Und Dusjanta folgte gern zu dem Heilig-Erhabenen hin, unter dessen Schutz Sakuntala und ihr kleiner Sohn gelebt hatten. Da wurden sie über den Fluch des jähzornigen Büßers aufgeklärt, und wie der Ring unverschuldet Sakuntala vom Finger geglitten war - »denn nicht um unverdientes Glück zu genießen, sind wir da, sondern damit die Seele geprüft werde und durch die Prüfung erstarke«. Sakuntala, die Schwergeprüfte, war selig, daß keine Schuld ihren edlen Gatten traf. Glücklich war er, der Treue, mit der Geliebten und seinem verheißungsvollen Sohne vereint zu sein. In warmer Dankbarkeit nahmen sie von dem Heiligen Abschied und begaben sich auf Gott Indras Wagen nach der Hauptstadt ihres Reiches. Dort lebte das edle Königspaar viele Jahre in Glück und Frieden. Ihr Sohn erhielt den Namen Bharata und ward mit der Zeit der mächtigste König in ganz Indien. Noch viele Jahrhunderte bestand das Geschlecht der lieblichen Sakuntala und des tapferen Dusjanta und herrschte über alle indischen Völker.
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Rama und seine Brüder Einst lebte ein mächtiger König namens Dascharat. Sein Reich lag am Fuße des himmelanstrebenden Himalaya, jener Berge, deren Gipfel von ewigem Schnee bedeckt sind. Ruhig fließende Ströme durchzogen das üppige Land, während dichte Wälder die fernen Höhen säumten. Die gedehnten Täler und weiten Ebenen waren von einem glücklichen Volk, den Kosalern, besiedelt. Denn Dascharat hatte gelernt seine Macht zu mäßigen, und so herrschte er mit unbestechlicher Gerechtigkeit, aber ohne unnötige Strenge. Doch mit der Zeit entstand dem altgewordenen König der Wunsch, sich von seiner Königswürde zu entbinden, um in Demut seine Seele für den Abschied aus dieser Welt des Scheins vorzubereiten. Dem König Dascharat standen drei Gemahlinnen zur Seite, wie es damals unter Fürsten vorkam. Von jeder dieser Frauen war ihm ein prächtiger Sohn geschenkt worden. Die drei Söhne waren über das erste Jünglingsalter hinaus. Der Älteste, Rama, hatte eine Braut gefunden, die wunderschöne gute Sita. Rama war der Augenstern sowohl seines Vaters wie des ganzen Volkes. In Wahrheit überflügelte er nicht nur seine jüngeren Brüder, sondern in jeder Hinsicht auch alle anderen Jünglinge im Kosalerlande. Ihn, den Ältesten, hatte der greise König nach bewährter Sitte für den Thron ausersehen. Doch wollte er in dieser ernsten Sache nicht eigenmächtig vorgehen, darum hatte er die vornehmsten Fürsten und weisesten Brahmanen des Reiches zu einer Beratung einberufen, um in ihrem Kreise seinen Wunsch vorzubringen. Und so hob mit seiner tiefen Stimme der König zu sprechen an: »Ihr, weise Brahmanen und edle Fürsten, die ihr hier versammelt seid, ihr wisset, wie meine Ahnen, dem hohen -59-
Gesetz von Manu folgend, dieses Land und Volk gelenkt. Auch ich habe nach Vermögen für des Reiches Wohl gesorgt. Der Götter Segen durften wir durch viele Jahre dankbar genießen. Nun kann es euch wohl kein Geheimnis sein, daß ich im Schatten des gelben Sonnenschirms gealtert bin. Müde bin ich jener Bürde, die stets auf eines Königs Schultern lastet. Es dürstet mich nun nach einem anderen Leben, nach Ruhe des Gemüts, nach kühlen Quellen und nach dem Schatten jenes Baumes, der Weisheitsfrüchte trägt. Laßt mich vernehmen, ihr meine Ratgeber, was euch zu sagen drängt!« Da saß die erlauchte Versammlung beklommen auf ihren Stühlen, denn keiner wollte das Wort ergreifen, um die Abdankung des mächtigen Gebieters entgegenzunehmen. Fragend schauten sie sich gegenseitig an, bis endlich des Königs Wagenlenker, der treue Sumantra, mit vor der Brust gekreuzten Händen aufstand: »Göttergleicher König, Schützer des Rechtes und des Friedens!« begann er, »wenn du uns mit deinem Abschied betrüben willst, hast du gewiß auch an das weitere Schicksal deines Volkes gedacht. Drei Söhne hast du, großer König, alle herrlich. Jeder von ihnen könnte würdig seines Vaters Thron besteigen.« Prüfend sprach darauf Dascharat: »Lakschmana ist der Jüngste von den dreien. Zwar stark und mutvoll dünkt er mir. Doch fehlt ihm wohl die Besonnenheit, deren ein guter König nicht entraten kann.« Da stand ein Brahmane auf: »Kikejis Sohn, der edle Prinz Barata, ist beiderseits von königlichem Blute. Ihm fehlt's an nichts. Ein gnädiger und guter Fürst würde er dem Volke sein.« Ruhig sinnend antwortete der König: »Barata, der leutselige Harfenspieler, würde gewiß keine unangemessene Strenge ausüben. Doch warum nennt mir keiner Rama, den Ältesten der drei?« Bei diesem Wort des Königs wurden viele Stimmen laut: -60-
»Weil du, o König, ihn selber nennen sollst! Wie die Sonne unter matten Sternen, wie die Zeder über dem Gestrüpp des Waldes, wie ein Elefant unter gescheuchten Maultieren, so ragt Prinz Rama über andere Männer!« Tief befriedigt war das Herz Dascharats, als er den Jubel von allen Seiten des Saales vernahm. Um sich schauend sagte er: »So glaubt ihr also, daß wir getrost die königliche Macht und Würde auf Ramas Haupt, in Ramas Hände legen können?« - Da brauchte er nicht lange auf Zustimmung warten. »Ja, Rama!« rief die Versammlung, »Rama werde König, wenn du nicht unser König bist!«
Durch diese Wahl war für das Reich aufs beste gesorgt und dem König die Last seiner Pflichten genommen. Sofort befahl er -61-
seinem Wagenlenker, Prinz Rama von seinem Landsitz zu holen. Denn schon am folgenden Tag sollte der neue König festlich und in aller Form den Platz im Schatten des gelben Sonnenschirms einnehmen. Zufällig befand sich unter den vielen Dienern und Sklaven, die vor den Türen standen, ein kleines buckliges Weib. Es war die Amme des Prinzen Barata, die noch immer im Dienste seiner Mutter stand. Mit Verwunderung gewahrte sie die frohe Erregung, die sich überall verbreitete. Doch als sie erfuhr, was diese Fröhlichkeit zu bedeuten habe, da wurde sie von einem maßlosen Grimm ergriffen. Wie ein vergifteter Pfeil vom Bogen flog sie davon, um ihrer Gebieterin vom Entschluß des Königs zu erzählen. Sie fand Kikeji auf seidenem Kissen ruhend. Sie hatte sich von ihren Sklavinnen pflegen lassen, denn die Königin erwartete den Besuch des Königs am selben Abend. Blütenduft durchwehte ihre Gemächer, und leise Musik ergötzte ihr Ohr. Da ließ sich die Dienerin melden. Eintretend grüßte sie die Königin mit vor der Brust gefalteten Händen: »Edle Königin, die Hülle deiner stolzen Seele ist frisch und schön wie damals, als du, einer betauten Lotosblume gleich, Gnade fandest vor den Augen Dascharats.« Die Königin bemerkte sofort den schnellen Atem ihrer Dienerin und wollte nun gleich wissen, was sie bewegt hatte, ungerufen vor ihr zu erscheinen. »Sprich, Manthara, was ist geschehen, du flößt mir Entsetzen ein.« Bebend vor Zorn begann Manthara: »O Königin, schreckliches Verderben droht dir und deinem Sohn. Und du Betörte merkst es nicht! Scheinbar begünstigt, in Wahrheit aber verschmäht, rühmst du dich, die Gunst deines Gemahls zu besitzen. Hin ist nun alle Gunst, wie Wasser in der Wüste! Hast du gehört, was Dascharat verkünden läßt?« »Was Dascharat verkünden läßt, wird zweifellos zum Besten unser aller sein«, erwiderte die Königin, »doch laß hören das Wort, das dir so große Sorge macht.« Die Dienerin versetzte: »Ich hörte es mit diesen meinen eigenen Ohren. O Kikeji, vergib -62-
deiner Sklavin, was sie dir jetzt berichten muß. Unendliches Leid soll dir, Königin, zugefügt werden. Morgen schon soll es geschehen, da weiht Dascharat Rama, den Sohn eines geizigen Weibes aus hinkendem Geschlecht, zum neuen König. Von königlichem Haus bist einzig du, darum auch die erste seiner Frauen, doch jetzt schändlich betrogen und verstoßen, du und dein Sohn, der herrliche Barata!« Noch ähnlich gehässig redete sie weiter. Doch Kikeji stand auf, nahm von ihrem Finger einen goldenen Ring und reichte ihn der Magd: » Eine große Freude kündest du mir«, sagte sie, »da, nimm für diese gute Botschaft diesen Ring. Denn zwischen Rama und Barata macht mein Herz keinen Unterschied. Mich freut es, daß Rama den Thron besteigt und unser König wird.« Die Magd aber warf den Ring zu Boden und rief in ungebändigtem Zorn: »O Königin, wie kannst du so töricht sein? Merkst du denn nicht, daß du im Sumpf des Unglücks liegst? Fast müßte ich deiner lachen, wie du, statt zu jammern, jubelst. Rama, dieser schnöde Wichtigtuer, mit Schmeicheleien ohne Maß aufgezogen, der soll nun den hehren Thron des Kosalervolkes besteigen! Barata hingegen, dein Sohn, der edle schlichte Held, er soll mit unwürdigem Frondienst abgeschoben werden.« Kikeji sprach: »Ich untersage dir, von Rama schlecht zu reden. Ich verehre ihn, als wäre er mein eigener Sohn.« Doch Manthara fuhr fort: »Jawohl, als wäre er von deinem königlichen Blute, und dabei soll dein eigener Sohn zugrunde gehen!« Da zögerte die Königin mit der Antwort, langsam sprach sie: »Wie wäre Barata zu helfen? Du weißt doch, Rama ist der Älteste.« Schnell kam die Antwort der Dienerin: »Nicht älter heute, als dein Sohn in einem Jahr! Hurtig vergeht die Zeit. Auf alten Dächern wächst das Moos. Was einst versprochen, scheint vergessen.« Bei diesem Wort durchzuckte es die Königin. Sie fragte: »Woran denkst du? Was habe ich dir versprochen und nicht -63-
gehalten?« Mit süßer Stimme antwortete die Dienerin: »Was du, meine Königin, versprichst, hast du immer gehalten. Wie aber steht's mit Versprechungen des Königs?« Zögernd sprach die Königin: »Versprechungen Dascharats? - Es dämmert mir, woran du denkst.« Wiederum Manthara: »Eben ja! Wo waren wohl die beiden andern, die linkischen Weiber, die Rama und Lakschmana zur Welt brachten, wo waren sie damals, als König Dascharat schwer verwundet auf dem Kampfwagen lag, nachdem er in der Schlacht seine Feinde, wie der mutige Panther die heulenden Schakale, in die Flucht geschlagen hatte? Da warst du es, Kikeji, die mit heilender Hand den König pflegte. Ja, mehr als pflegte, das Leben hast du ihm gerettet.« »Wahr ist es«, sprach nun die Königin, »zwei Wünsche gab mir damals der König. Ich durfte wählen, was ich wollte. Doch ich besaß ja alles, was mein Herz ersehnen konnte.« »So wähle jetzt«, rief die Dienerin, »wenn nicht für dich selbst, so doch für deinen Sohn, den herrlichen Barata!« Die Königin seufzte schwer: »Was soll ich wählen?« »Verblendete, du siehst nicht, was dir frommt!« holte die Dienerin aus. »Als eines Königs Tochter bist du geboren! Eine Königstochter sollte Königsmutter werden. Wähle also, daß Barata König werde und den ihm gebührenden Platz im Schatten des gelben Sonnenschirms einnehme. Das sei dein erster Wunsch. Der zweite sei, daß Rama auf vierzehn Jahre verbannt werde und fortziehen soll.« »Wenn nicht für mich, so für Barata«, sprach Kikeji, die Königin. »Dein Rat ist klug, Manthara, du bist mir die beste Dienerin. Ja, also sei es! Rama soll zum Walde hin, damit Barata König werde. Wahrlich, Manthara, du bist von allen Buckligen die klügste auf der ganzen Welt. Meistens sind die Buckligen häßlich, du aber bist lieblich anzusehen. -64-
Goldschmuck will ich dir umhängen, die schönsten Kleider schenke ich dir, und dein Gesicht will ich bemalen, daß es selbst den hellen Mond an Glanz übertrifft. Dann kannst du stolz herumgehen, Manthara, von allen bewundert und beneidet.« So aufgemuntert begab sich Kikeji in die Zorneskammer. Dort schmiß sie ihre Schmucksachen und schönen Kleidungsstücke auf den Boden, löste ihre Perlenschnur, daß die Perlen herumflogen, und warf sich schreiend hin: »Hier möchte ich sterben, wenn Rama nicht verbannt und Barata zum neuen König geweiht wird.« Kaum eine Stunde verging, da betrat der würdige König die Gemächer seiner Geliebten Kikeji, um ihr die Freude zu melden, die ihn und das ganze Volk bewegte. Doch schon in der Vorhalle hörte er die Wehrufe, die aus der Zorneskammer drangen. Einzig eine kleine Dienerin war zu sehen, die auf des Königs bange Frage nach seiner Gemahlin scheu auf die Tür zur Zorneskammer zeigte. Eintretend fand der König die sonst so schöne Gemahlin auf dem Boden liegend mit zerrissenen Kleidern und zerzausten Haaren, ganz in Tränen aufgelöst. Tief erschüttert fragte der Fürst: »Was ist dir, Geliebte? Warum weinst du? Womit kann ich deinen Gram verscheuchen?« Listig erwiderte darauf Kikeji: »O, du König über Not und Jammer, du Herr über Pein und Qual, Höchster des Kosalervolkes - sage: Was gilt eines Königs Wort? Welchen Wert hat eines Fürsten Gelöbnis?« Mit Eifer sprach da der edle Dascharat: »Laß Tage kommen, Tage gehen! Laß Winde blasen und Wolken ziehen, laß verdunsten der Nächte Tau! Felsenfest steht immerdar das Wort des Königs!« »So ist dir wohl bewußt«, versetzte die Königin, »daß du mir einst ein Gelöbnis gabst?« Nichtsahnend ging der König in die Schlinge und sprach die Worte: »Und wäre es hundertmal vergessen, bei meinem geliebten Sohn Rama schwöre ich dir alles zu gewähren, was du begehrst!« Schnell erhob sich da die -65-
Königin und rief: »Ihr himmlisehen Götter, habt das Wort des Königs vernommen! Diener und Dienerinnen meines Hauses, versammelt euch, seid alle Zeugen dessen, was mein Gemahl versprochen hat! Mond, Sonne, Sterne, Nacht und Tag, Meer und Felsen, ihr Geister in Feuer, Luft, Erde und Wasser, ihr Hausgottheiten des Palastes, hört alle, was der König mir verspricht!« Benommen stand der König da, während die Königin weiter redete: »Damals, als du tödlich verwundet auf deinem Kampfwagen lagst, gabst du mir zwei Wünsche, einen für meine rechte, einen für meine linke Hand, dieweil du durch meiner Hände Pflege Heilung fandest. Tilge jetzt deine Schuld, mein König, und halte dein Versprechen. Mein Begehren ist, daß Rama auf vierzehn Jahre in die Wälder verbannt wird, und das Fest, das morgen für ihn gedacht ward, das gelte meinem und deinem Sohn Barata.« Als hätte er statt seiner geliebten Gemahlin eine Giftschlange vor sich, stand der alte König da, seiner Sinne kaum mächtig. »Bin ich im Traum, oder ist es Wirklichkeit«, so rief er, »hat dich ein Dämon des Verstandes beraubt? Es kann nicht dein Ernst sein, die du so oft Rama gelobt und beteuert hast, er sei dir ebenso lieb wie Barata. Kannst du den jetzt hassen, der dich stets wie seine eigene Mutter ehrte?« - »Im vollsten Ernst habe ich meine Wünsche gestellt«, entgegnete darauf Kikeji, »lieber sterbe ich, als daß ich Rama auf dem Thron und Barata erniedrigt sehe!« Zornentbrannt, mit schrecklicher Stimme rief da der König: »Fluch der Schlange, die ich an meinem Busen gewärmt! Mein Herz zerbricht dabei, doch kann ich mein gegebenes Wort nicht brechen. Das Volk aber wird meinen, der alte König sei schwachsinnig geworden!« Barata aber wußte zunächst von diesen Unterredungen nichts, denn er weilte seit einiger Zeit fern bei den Eltern seiner Mutter. Früh am anderen Morgen hatten sich die Räte des Königs Dascharat, die vornehmsten Bürger und die Befehlshaber des -66-
Hofstaats und der Kriegerkaste in dem Krönungssaal versammelt. Dascharat aber lag vom Schmerz übermannt auf seinem Lager bei Kikeji. Während dessen zog der herrliche Rama durch die blumengeschmückte Stadt, leuchtend wie die aufgehende Sonne, gesegnet von allen, die ihn sahen. Auch sein jüngster Bruder Lakschmana hatte sich auf den Weg begeben, um an den Festlichkeiten teilzunehmen. So stiegen sie zu zweit die Stufen des Königshauses hinan. Doch im großen Saal war noch alles still, mit Verwunderung erfuhren die Brüder, daß ihr Vater in den Räumen der Kikeji sei und sie dort zu sprechen wünsche. Rama voran traten sie in das Gemach der Königin. Mit Schrecken sahen sie da ihren Vater liegen, nicht einmal imstande, den Gruß seiner Söhne zu erwidern. Zu Kikeji sich wendend sprach Rama: »Hab' ich vielleicht unwissend meinen Vater betrübt?« Sie aber entgegnete: »Der König zürnt weder dir noch deinen Brüdern. Aber er scheut sich, die Wahrheit zu sagen. Denn er hat bei den Göttern des Himmels und dieses Hauses mir gelobt, deinen Bruder Barata zum König wählen zu lassen. Doch du, Rama, sollst vierzehn Jahre lang verbannt sein!« Mühsam erhob sich jetzt Dascharat von seinem Lager, auf dem er zusammengesunken war. Er bat Lakschmana, ihn zu stützen; darauf wandte er sich zur Königin. »O Kikeji«, begann er, »die du mein Trost einst warst, die Lotosblume meines Lebens. Gib mir mein Gelöbnis zurück. Lasse Rama von deiner Hand entgegennehmen, was ich ihm nicht mehr reichen kann. Ein König bittet dich, ja fleht zu deinen Füßen. Nein, nicht mehr König, ein gebrochener Mann, eine arme, nackte Seele.« Kikeji aber blieb fest und sprach: »Das kann und will ich nicht. Eine Mutter und Königin wünscht nichts für sich, alles wünscht sie für ihren Sohn.« Bei diesen Worten verbeugte sich Rama, ohne mit einer Miene den Schmerz zu verraten, den sein Herz empfand. Lakschmana aber konnte seinen aufbrausenden Zorn nicht im -67-
Zaume halten. Mit donnernder Stimme fuhr er die Königin an und warf ihr in schroffen Worten die Unangemessenheit ihres Benehmens vor. Doch Rama wies ihn zurecht, denn er sah ein, daß hier nicht nur menschliche Willkür waltete, sondern das Schicksal sich auswirken wollte. »Laß alles bittere Reden«, sprach er. »Das Netz, in dem wir verfangen, stammt nicht nur vom Neide dieser Frau. Was in lang vergangenen Zeiten im Dunkel unserer Seelen sich eingeschrieben hat - heute wird es zum hörbaren Wort. Uns kommt es zu, diese Sprache des Schicksals zu verstehen, nicht darüber zu streiten.« Ihren alten Vater stützend, verließen die beiden Brüder das Haus der Kikeji. Vor der Tür fanden sie Sumantra, den treuen Wagenlenker. Er und Lakschmana übernahmen die Pflicht, die im großen Krönungssaal wartende Versammlung zu unterrichten, während Rama den alten König in die Wohnung seiner Mutter Kausalia brachte. Danach eilte er zu seiner geliebten Gemahlin Sita. Diese bereitete eben ein Dankopfer zum Krönungsfest vor. Wie erschrak sie nun, als sie Ramas Antlitz sah. »Warum die betrübten Augen und die bleichen Wangen?« rief sie. »Warum begleiten dich nicht die Sänger und zieht kein Herold vor dir her? Und warum kommst du nicht in dem blumengeschmückten Viergespann?« Der ängstlich Fragenden antwortete Rama, der Held: »Sita, das Gebot meines Vaters verbannt mich auf vierzehn Jahre in die Wildnis. Barata, mein Bruder, soll König in diesem Lande sein. So du ihm nichts Mißfälliges unternimmst, wird er dir nichts zuleide tun. Darum bleibe du ruhig hier und laß mich allein in die Verbannung gehen.« Schnell gefaßt erwiderte die edle Sita: »Nicht also, mein Gemahl! Wo du hingehst, da gehöre ich auch hin. Und was du leidest, das leide ich mit. Der Wald wird mir lieber sein als hier die Pracht des Palastes. In deiner Nähe fürchte ich nicht die Geschehnisse der Wildnis.« Dankend schloß Rama seine treue Gemahlin in die Arme. Und gemeinsam rüsteten sie sich, in die Verbannung zu ziehen. Ihre schönen Kleider und -68-
Schmucksachen verteilte Sita unter der Dienerschaft, den Armen und den Brahmanen wurden Gold und sonstige Kostbarkeiten geschenkt. Jedoch Lakschmana war keineswegs von seinem Groll befreit. Als er nach verrichtetem Auftrag schwer atmend zu Rama zurückkehrte, glich sein Gesicht dem eines gereizten Löwen. Seine Rechte ballte sich krampfhaft um den Griff seines Schwertes, und er rief: »Wie kannst du dich so demütigen lassen! Seit wann ist es Sitte eines Raghawer«, – so nannte sich das königliche Geschlecht -, »sich ohnmächtig dem Verhängnis zu fügen? Ziemt es sich nicht für unsereinen, für Wahrheit und Recht zu kämpfen? Nimm doch Rache an dieser Eselstute und dem Maultier, das sie geworfen hat!« Ruhig antwortete Rama dem heftigen Bruder: »Ich weiß wohl, wie treu du mir ergeben bist. Doch sprich kein böses Wort über unseren Bruder Barata, er trägt keine Schuld an diesem Verhängnis. Wenn ich hier Wünsche befolgen würde, dann müßte ich unseren Vater zum Meineidigen machen. Dazu wirst du mich nimmer bereit finden. Halte darum ein mit deinem Grimm!« - »Mein edler Bruder, ich ziehe mit dir in die Verbannung. Denn noch größer wäre für mich die Verbannung, ohne dich hier zu bleiben.« Als nun Rama mit Sita und Lakschmana Abschied genommen hatte, befahl er Sumantra, ohne Zögern den Wagen vorzuspannen. Und während alles Volk wehklagte, fuhren sie ab. Der königliche Greis schaute ihnen lange nach. Als aber in weiter Ferne die vom Wagen aufgewirbelte Staubwolke geschwunden war, da brach der alte Mann zusammen. Noch einmal wandte sich Rama nach seiner Vaterstadt um, und die Hände faltend sprach er: »Lebe wohl, mein geliebtes Vaterland! Lebt wohl, ihr schützenden Götter, die es bewohnen! Einst werde ich zurückkommen, wenn die Schuld meines Vaters gesühnt ist.« Der Weg führte durch grüne Triften und schattige Haine. -69-
Endlich kamen sie an das Ufer der breiten Ganga. Da sagte Rama zu Sumantra: »Hier halte an, wir wollen die Nacht am Ufer des hochheiligen Stromes verbringen.« Am anderen Morgen, als der schrille Ruf der Pfauen vom Walde herübertönte, ging Lakschmana, ein kleines Schiff für die Überfahrt zu suchen. Der Wagenlenker bat, man möchte ihm gestatten, sie auch weiterhin zu begleiten. Doch Rama meinte, der alte König würde seines Wagenlenkers bedürfen, und bat ihn wieder heimzuziehen. Zu dritt nahmen sie in dem gefundenen Schifflein Platz. Da sprach Sita: »Himmlische Ganga, du trägst jetzt den Sohn des unglücklichen Dascharat! Bewahre ihn, o Göttin, daß er mit seinem Bruder und mir nach vierzehn Jahren zurückkehren darf, dann wollen wir dir, dem Himmelsstrome, Opfer bringen.« Am anderen Ufer betraten sie die Wildnis, in welcher es weder Weg noch Steg gab, wo keine gastlichen Feuer brannten und wo nur die Zweige der Bäume ein kümmerliches Obdach gaben. Alles war unbekannt. Den Hunger mußten sie mit wilden Früchten stillen, den Durst mit Quellwasser löschen. In der Nacht hielten sie abwechselnd Wache. So wanderten sie noch manchen Tag, bis sie an einen Berg kamen, dessen mächtiger Gipfel aus dem Grün des üppigen Waldes hoch herausragte. Schäumend stürzte ein Bach von den Felsen in ein freundliches Tal. Hier beschlossen die Wanderer, eine Hütte für längeren Aufenthalt zu bauen. In der sechsten Nacht nach dem Abschied Ramas wollte den König Dascharat kein Schlummer überkommen. Eine Jugendsünde, die er in seinem früheren Leben begangen hatte, tauchte vor seinem inneren Auge auf. »Es empfängt doch jeder«, so sprach er zu Kausalia, die an seinem Lager wachte, »was er durch seine Taten verdient hat.« Und seufzend fuhr er fort: »Mein gegenwärtiges Leid ist nicht unverschuldet, denn höre: Damals war mir der Bogen über alles lieb, und schon als Knabe schoß ich, wohin ich nur konnte, meine Pfeile. So zog ich eines -70-
Tages in den Wald, um ein Stück Wild zu erlegen. Lange streifte ich umher, ohne auf ein lohnendes Ziel zu treffen. Doch als es dunkelte, vernahm ich vom Flusse her ein plätscherndes Geräusch. Ohne nachzuforschen, schoß ich einen Pfeil nach dem Ort, von dem mir das Geräusch zu kommen schien. Da hörte ich den Ruf eines Menschen: ›Wehe, wehe! Wer richtet seinen Pfeil nach eines Unschuldigen Leib? Wasser für meinen blinden Vater zu holen kam ich her.‹
Mit Entsetzen drangen diese Klagetöne an mein Ohr. Der Bogen entfiel meiner Hand; kaum noch meiner Sinne mächtig, ging ich der Stimme nach und fand am Ufer einen -71-
schwerverwundeten Knaben. Ernst blickte er mich an, seine Worte schnitten mir wie scharfe Messer ins Herz. ›Was habe ich dir zuleide getan? Mit diesem Pfeile sind drei Leben getötet, mein blinder Vater und meine ergraute Mutter werden den Tod ihres einzigen Sohnes nicht Überleben.‹ Die schwere Schuld drückte mich fast zu Boden, doch füllte ich den Krug mit Wasser und tastete mich hin zu der Hütte des Klausners. Da sprach mit leichtem Vorwurf eine Stimme: ›Wo bleibst du heute so lange, mein Sohn? Reiche deinen Eltern den Trank.‹ Mit zitternder Stimme begann ich die schreckliche Erzählung von dem, was geschehen war. « Unter Tränen vollendete der greise König seinen Bericht. Dann reichte er der Gemahlin seine zitternde Hand. »Ich fühle, daß mein Leben zu Ende geht«, sprach er, »übel tat ich, auf Kikeji zu bauen. Raghawer, mein geliebter Sohn, wo weilst du jetzt? Ach Kausalia, du meine Treue, das Licht meines Auges erlischt. Ach Sumitra, du schenktest mir den tapferen Lakschmana, wie fromm bist du! Schreckliche Kikeji, meines Hauses Unglück!« So klagte König Dascharat der Mutter Ramas sein Leid und starb in derselben Nacht. Barata weilte noch immer bei seinen Großeltern, denn die an ihn abgesandten Boten waren noch nicht angekommen. Doch in der Nacht, als der Vater verschied, hatte der Königssohn einen schweren Traum. Der König Dascharat erschien ihm mit wirren Haaren, herabgefallen vom Gipfel eines hohen Berges, wie er, auf der Erde liegend, Öl aus hohler Hand trank. Als der Prinz aufwachte, ahnte ihm nichts Gutes. Denn er wußte, daß man nach altem Brauch den Leichnam, ehe man ihn der Verbrennung übergab, mit Öl einsalbte. Doch erschienen am Tag darauf die Boten mit der frohen Nachricht, es stehe alles gut im königlichen Hause. Seine Mutter lasse ihn grüßen und wünsche ihn bald zu sehen, er solle sogleich seine Rosse schirren und heimkehren. -72-
Sechs Tage brauchte es, bis Barata in die von Manu begründete Hauptstadt des Kosalervolkes einzog. Er wunderte sich gar sehr, das Volk so still und schweigsam zu finden. Er befragte seinen Wagenlenker: »Wo sind denn die Elefanten, wo die Wagen und Rosse, und wo ist das freudvolle Treiben, das hier sonst erschallt?« Doch dieser wußte keine Antwort zu geben. Von düsteren Ahnungen beschlichen stieg der Prinz die Stufen zum Palaste hinauf. Kikeji aber, die ihn mit Sehnsucht erwartete, lief ihm freudig entgegen. Als er die Fragen der Königin beantwortet hatte, wollte der junge Held wissen, wie es dem greisen Vater gehe. Da sprach die herrschsüchtige Frau so, als ob sie Angenehmes zu berichten hätte: »Dein Vater ist nicht mehr unter den Lebenden.« - »Und meine Brüder, wo sind sie?« fragte er. »Die sind für lange Zeit verreist«, gab die Königin zur Antwort. Bei diesen Worten sank Barata in die Knie und verhüllte sein Gesicht. Kikeji, die sich über seinen Schmerz ärgerte, sprach: »Wisse, daß du zum König ausersehen bist, drum steh auf! Es ziemt sich nicht für einen Herrscher, auf den Knien zu liegen!« Doch als Kikeji gestehen mußte, was und wie alles zugegangen war, da wich der Schmerz dem Zorne. »Törichtes Weib!« rief er. »Du hast dich von der Eifersucht einer Nichtswürdigen verführen lassen und bist ganz von Recht und Wahrheit abgekommen. Meinem Vater brachtest du den Tod, Rama schicktest du in die Verbannung, mich aber hast du mit Schande bedeckt. Wie konntest du nur glauben, daß ich den hehren Thron besteigen will, der mit Recht dem edlen Rama zukommt? Ich will dich nie mehr Mutter nennen, du wirst kein Glück finden, weder in dieser noch in einer anderen Welt!« Da war es die Königin, die ihr Gesicht bedeckte und jammernd in ihre Gemächer floh. Unterdessen hatte sich das Volk versammelt. Denn es sollte ja, nach der Bestimmung Dascharats, Barata als König gehuldigt -73-
werden. Zu dieser Angelegenheit traten die Räte und die Ältesten der vier Stände hervor. Barata aber trat vor den Palast, wo sonst die Herolde die Kundgebungen des Herrschers ausriefen. Und also sprach er mit lauter Stimme: »In unserem Reich ist es altbewährter Brauch, daß der Erstgeborene dem Vater in der königlichen Herrschaft folgt. So will es das heilige Gesetz, das uns von Manu gegeben wurde. Verlangt darum nichts Unrechtes von mir. Rama, mein ältester Bruder, der auch der Würdigste ist, soll König sein. Was meine Mutter angestiftet hat, ist wider meinen Willen geschehen. Ich falte hier meine Hände vor Rama. Rüsten wir uns und ziehen hinaus in den fernen Wald, um Rama zu suchen. Heilige Geräte wollen wir mitnehmen, damit die Priester ihn sogleich zum König weihen.« So sprach Barata, und alles Volk stimmte seiner Rede mit lautem Beifall zu und lobte den edlen Bruder. Eines Tages, die Sonne neigte sich schon dem Horizonte zu, saßen Rama und Sita mit Lakschmana um das Feuer vor ihrer kleinen Hütte. Lakschmana hatte einen Frischling erlegt, und nachdem sie den Göttern einen Teil geopfert, bereiteten sie sich ihr einfaches Mahl. Da hörten sie in der Ferne ein dumpfes Getöse, das langsam näher kam. Furchtsam flatterten die Vögel auf, Rudel von Hirschen und Büffeln flohen vorüber, sogar der dröhnende Lauf von Elefanten war zu hören. »Bruder, schau doch nach, was dies zu bedeuten hat«, sprach Rama. Lakschmana stieg auf einen Baum und spähte nach allen Seiten. Dann rief er: »Lösche das Feuer aus! Sita verberge sich in der Hütte, wir beide müssen uns schnell wappnen, denn dort naht ein großes Heer!« - »Siehst du an den Fahnen, wessen Heer es ist?« fragte Rama. »Kikejis Sohn!« rief zornentbrannt Lakschmana. »Gewiß kommt er im Auftrag seiner bösen Mutter, uns zu vernichten. Doch soll mein Pfeil ihn nicht verfehlen!« Rama antwortete darauf: »Laß ab von deinem Zorn, Lakschmana. Noch hat Barata weder dir noch mir Böses zugefügt.« Da schwieg der jüngere Bruder, stieg vom Baume -74-
herab und stellte sich neben Rama, um die Begegnung mit Barata abzuwarten. Dieser aber befahl seinem Heer, ein Lager aufzuschlagen. »Nur Sumantra soll mich begleiten, ich fühle die Nähe meiner Brüder.« Zu Fuß gingen die beiden nun das letzte Stück, bis der Wald lichter wurde - und plötzlich standen sich Barata mit dem trefflichen Wagenlenker und die Helden Rama und Lakschmana gegenüber. Barata neigte sich zu Ramas Füßen. Dieser aber hob ihn auf und umarmte ihn. Dann fragte er mit Bangigkeit: »Bringst du gute Nachricht von unserem Vater?« Barata faltete die Hände und sprach: »Unser Vater ist zum Himmel heimgegangen. Er starb voll Kummer; die Reue, dich verbannt zu haben, nahm ihm das Leben.« Auf diese Worte wandte sich Rama von Schmerz ergriffen zu Lakschmana und Sita: »Gestorben ist unser Vater.« Da fingen sie zu klagen an, und Barata trauerte mit ihnen. Der Held Rama aber fand bald Worte des Trostes: »Laßt uns nicht um Verstorbene klagen, denn sterben muß alles, was Leben hat. Unsere Tage eilen dahin, wie der Strom, der im Meere zur Ruhe kommt. Wohl aber dem, der das Heil seiner Seele bedacht hat. Das tat unser Vater. Er hat den Leib abgestreift und des Himmels Seligkeit erlangt! Nun wollen wir Wasser aussprengen, wie es heiliger Brauch ist.« Und mit der hohlen Hand versprühten sie frisches Quellwasser nach allen Seiten, indem sie sprachen: »Siehe, Vater, dieses Wasser sprengen wir für dich!« Das Volk aber, das mit Barata gekommen war, wollte nun Rama sehen. Ehrerbietig kam es heran und berührte seine Füße. Darauf nahmen alle auf dem freien Felde vor der Hütte Platz, und Barata ergriff das Wort: »Du, Held Rama, übertriffst uns alle an erhabenem Sinn. Denn wie keine Freude dich berauscht, so kann dich auch kein Unglück beugen. Du lebst, als lebtest du nicht in einem vergänglichen Leibe. Sein und Nichtsein auf Erden gilt dir gleich. So hast du geduldig das Unrecht ertragen, -75-
in welches du verstoßen wurdest. Hätte mich nicht die Pflicht des Sohnes gehindert, wäre die Verbrecherin sofort bestraft. Auch unser Vater hat in seiner Schwäche gefehlt. An uns ist es nun, diesen Fehler gut zu machen. Hier sind wir gekommen, dich zum König zu weihen. Ich und alle diese Freunde, wir neigen unser Haupt vor dir!« So sprach der edle Barata. Doch Rama, seinen Bruder umarmend, antwortete: »Was ich gelobt und was unser Vater versprochen hat, das bleibt bestehen. Vierzehn Jahre lang will ich im Walde verharren. Dann kehre ich heim und werde mit meinen Brüdern vereint die hohen Pflichten des Königtums übernehmen. Barata aber soll schon jetzt König sein, während ich in diesem Walde bin. Hier will ich immer mehr lernen, mein Herz vom äußeren Glanz der Welt abzuwenden.« Alle staunten sie über diese Rede. Sie waren betrübt, ohne Rama heimkehren zu müssen, doch mußten sie den hohen Sinn bewundern, der eine Königskrone zurückwies und unvergängliches Heil höher achtete als vergänglichen Schein. Keine Bitte und keine Überredung konnten Rama bewegen, seinen Vorsatz zu ändern. »Wohlan, so bleibe du hier, edler Raghawer«, sprach Barata, »und reiche mir deine Schuhe zum Zeichen, daß ich in deiner Abwesenheit die Herrschaft übernehmen soll.« Das tat Rama, und Barata zog, von dem wahren König gesegnet, in die Stadt des Kosalervolkes zurück. Also ward die Schuld Dascharats gesühnt und sein Versprechen durch den hohen Sinn seiner Söhne erfüllt.
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Aus der Buddhalegende Jahrhunderte und Jahrtausende vergingen. Die Zeiten und Sitten änderten sich. Auch im alten Indien konnte die ursprüngliche Weisheit nicht frisch und lebendig wie im Anfang erhalten bleiben. Die Menschen bedurften sehr einer Erneuerung der hohen Lehre und des rechten Lebens. Darauf war die göttliche Vorsehung schon lange bedacht. Und im sechsten vorchristlichen Jahrhundert erhielt die indische Menschheit den bis dahin größten Wegbereiter oder, wie es in der Überlieferung heißt, den Pfadvollender. Sein ihm vom Elternhaus gegebener Name war Gautama. Die Nachwelt kennt ihn zumeist unter der Bezeichnung Buddha. Mit diesem Wort benennen die Inder eine Seele, die so unermeßlich weit gereift ist, daß sie nicht mehr in das Erdendasein zurückzukehren braucht. Wer sich so weit entwickelt hat, daß ihm dieser Zustand bevorsteht, den bezeichnet man als Bodhisattva. Die Würde eines Bodhisattva oder gar eines Buddha zu erreichen, stand vor dem indischen Bewußtsein als das höchste Ziel des menschlichen Strebens. Bilder dieses Strebens sind uns in der Legende von Buddha gegeben. Aus dieser soll hier einiges erzählt werden. Als die erhabene Seele des Bodhisattva noch nicht zur letzten Geburt auf Erden herabgestiegen war, sondern in himmlischen Welten weilte, da wirkte sich die Tausendfalt seiner guten Taten in früheren Erdenleben aus. Die Augen ungezählter Götter spendeten ihm Licht, und vor seinen geistigen Ohren ertönte der Gesang der Sterne. Längst war jede unreine Lust zum Schweigen gebracht. Selbstsucht und Zorn waren getilgt, jede Eitelkeit und Überhebung gelöscht. Friede und Weisheit erfüllten ihn. In seliger Ruhe sitzend vernahm der Erhabene den Ruf der -77-
Götter: »Gedenke, o Sohn der Ewigkeit, deines Gelübdes und entzünde deinen Willen. Die Zeit ist gekommen, nun säume nicht länger! Steige hinab zur Erde, um Sünde, Krankheit und Tod zu besiegen. Du weißt, wie es geschehen soll, und kennst deinen Weg. Durch viele Geburten und Wiedergeburten jagten die Seelen nach sinnlicher Lust, ohne Sättigung zu finden gleich Durstenden am Gestade des salzigen Meeres. Schenke, o Erbarmungsvoller, den Gequälten den labenden Trank aus heilender Quelle.« Also forderte der große Chor ihn auf, seinen himmlischen Wohnsitz zu verlassen. Denn gekommen war seine Zeit. So säumte er nicht länger. Um diese Zeit lebte in Indien ein Königspaar von edelstem Geschlecht. Der König Schuddodana zeichnete sich in jeder Hinsicht vor allen weltlichen Fürsten aus. Stattlich war seine Gestalt, würdig die Züge seines Gesichtes. Sein Reichtum war kaum zu ermessen, seine Macht uneingeschränkt. Gerecht und gnädig war seine Herrschaft, fromm und gottesfürchtig sein Sinn. Ihm zur Seite stand die junge Königin Maya, die Blume aller Frauen, ein Wunder an Schönheit wie an Tugend. Von den üblichen Fehlern des weiblichen Geschlechts war sie frei. Nie schwatzte sie, nie log sie. Hochmut, Groll und Eitelkeit kannte sie nicht. Immer war sie entsagungsvoll und zufrieden, fromm und sittsam. Ihre Gedanken waren rein, ihr Herz unbefleckt. Stets umspielte ein liebevolles Lächeln ihre Lippen. Ihre Augen glänzten hell wie der Kelch einer blauen Lotosblume, ohne Falten war ihre Stirn. Sanft geschwungen wie ein Bogen war der zarte Leib, weiß wie Schnee der Hals. Sie schmähte niemanden, besaß keine Spur von Neid und Verblendung, war immer geduldig und wohlgefällig. Kaum konnte man den Blick von ihr wenden, so liebreich erschien sie. Und so trug sie nicht umsonst den Namen Maya, das heißt soviel wie »Zauber«. Wie nun die hohen Götter Ausschau hielten, wo ein dem Bodhisattva gebührendes Elternpaar zu finden sei, da fielen ihre Augen auf -78-
den König Schuddodana und seine Gemahlin. Von diesen beiden, so glaubten sie, könnte der Bodhisattva den irdischen Leib empfangen. Da fragte dieser, indem er sich anschickte, zum letztenmal in den Schoß einer Mutter niederzusteigen: »In welcher Gestalt soll ich aus den Reihen der Göttersöhne scheiden?« Einige erwiderten: »In der Gestalt des mächtigen Gottes Indra.« Andere aber meinten: »In der Gestalt der Sonne« oder »in der Gestalt des Mondes« - »in der Gestalt eines Schlangenkönigs« - »in der Gestalt des Gottes Schiva«. Unter den himmlischen Ratgebern befand sich aber ein Göttersohn, der unbeirrt in der Erkenntnis feststand. Der sprach nun: »Ein Bodhisattva soll nach erhabener Sitte in der Traumgestalt eines schneeweißen Elefanten mit sechs goldenen Stoßzähnen in den Leib seiner Mutter eintreten. Denn so wurde dieses Ereignis in den heiligen Büchern der Veda vorgesehen.« Zu dieser hohen Stunde hatte die Königin Maya eben gebadet. Ihre Dienerinnen hatten ihr die Glieder gesalbt. Sie hatte weiche, golddurchwirkte Gewänder angelegt, denn sie wollte alsbald vor den Augen ihres Gemahls erscheinen. Dieser empfing sie in dem herrlichen Saal, wo er inmitten seines Hofstaates auf einem Thron von Gold und Elfenbein saß. Ihm zur Rechten, ebenfalls auf einem goldgeschmückten Thron, nahm sie Platz. Und mit lächelnden Augen wandte sie sich an den König: »Herr und Gebieter der Erde, gewähre mir heute eine Bitte. Ich hege den Wunsch, mir Fasten und Enthaltsamkeit aufzuerlegen. Keinem lebenden Wesen möchte ich die geringste Verletzung zufügen. Meine Liebe soll allen Geschöpfen zukommen, denn ich bin ohne Begierde und ohne Wünsche für mich. Keinen nichtswürdigen Umgang will ich pflegen, keine leere Plauderei. Nahe auch du, mein König, mir nicht in der Zeit meiner Zurückgezogenheit, sondern billige meine Bitte, bis meine Hoffnung erfüllt ist!« -79-
Als der König diese reinen Worte hörte, sagte er: »Alles geschehe nach deinem Herzen, meine Königin. Gewiß bin ich, daß dein Wunsch wohlerwogen ist.« Und er befahl seinen Dienern, in den höchsten Gemächern des Palastes alle Vorbereitungen zu treffen, damit Königin Maya sich dorthin zurückziehen könne. Mit Blumen wurde ihr Lager geschmückt, Weihrauch wurde geopfert und ein großer Baldachin zum Schutz gegen die brennende Sonne aufgestellt. Es war Frühling, die Bäume verbreiteten den Duft ihrer Blüten, und aus den Nestern der Vögel frohlockte junges Leben. Das war die Zeit, zu welcher der Bodhisattva von seinem Sitz im Himmel der Seligen herabstieg. Eine ungezählt große Götterschar begleitete ihn auf dem Weg und schaute, wie er in der Gestalt eines silberhellen Elefanten in den Leib seiner werdenden Mutter niederstieg. Die Königin lag in einem sanften Schlummer und erlebte alles in einem wunderbaren Traum! Nie zuvor, weder bei wachen Sinnen noch im Traum, hatte sie Schöneres oder Größeres erfahren. Hoch erfreut wachte die Königin auf und ließ sogleich nach König Schuddodana schicken. Dieser ließ nicht lange auf sich warten. Die Hände ehrerbietig vor die Brust gelegt, trat er vor seine Gemahlin hin. Als Königin Maya ihren Traum erzählt hatte, sprach sie weiter: »Verschwunden ist die Finsternis, in hellem Glänze sehe ich die Welten, wo unzählige Götter den Erhabenen preisen, dessen Vater du werden sollst.« Obwohl nun der Bodhisattva in den Mutterschoß der Königin eingekehrt war, empfand diese keine Beschwerden, sondern fühlte sich leicht und frohgemut. Es quälten sie keine bösen Träume. Mit Gleichmut verrichtete sie, was ihr oblag, fromm und gottergeben. Sieben Monate verblieb die Königin in dem hohen Gemach des Palastes. Dann aber war die Stunde der Geburt nahe, denn nicht länger wollte der Erhabene im Schoße seiner Mutter -80-
weilen. Viele wunderbare Zeichen bekundeten, daß ein großes Geschehen bevorstand: Junge Löwen kamen vom Himalaya herunter und ließen sich, ohne jemandem Leid zu tun, im Garten des Palastes nieder. Ein weißer Elefant trat aus dem Walde und betastete die Füße des wandelnden Königs mit seinem Rüssel. Das Geschrei der Krähen, Eulen und Geier verstummte, und nur angenehm klingende Laute waren zu hören. Alle Flüsse und Rinnsale dufteten, als wäre ihnen Rosenöl beigemischt. In den Wolken zeigten sich Göttermädchen mit halbem Leib, auch ließen sich unsichtbare Musikanten hören. Alle Menschen unterbrachen ihre Arbeit und hielten Feiertag, denn keiner war so stumpf, daß er nicht die heilige Stunde empfand. Noch könnten viele Wunder aufgezählt werden, die sich zutrugen, als der Erhabene zum letztenmal in das Erdendasein eintrat. Inzwischen hatte sich die junge Königin in Gesellschaft ihrer dienenden Frauen zu einem heiligen Raum inmitten des großen Parks begeben. Dort, auf blumenreichem Rasen, erwartete sie, was geschehen werde. Auf einmal bog der Baum seine schönsten Zweige wie zum Gruße hernieder. Schnell streckte die Königin ihre Hand aus und hielt ihn fest. Und in diesem Augenblick trat der Bodhisattva zur rechten Seite aus dem Leibe seiner Mutter in das Licht des Tages. Und wenn es bis zu diesem Augenblick schien, als hätten alle irdischen Geschöpfe den Atem angehalten, so jauchzten jetzt alle Wesen vor Freude. Am Himmel lösten sich die morgenroten Wolken, die Sonne ging auf. Der Wald rauschte, und die fröhlichen Stimmen der Vögel ergossen sich in die Luft. Bäche und Flüsse beschleunigten ihren Lauf, die Knospen öffneten sich, und die Blumen verbreiteten einen süßen Duft. Die Bienen fanden reichlicher Honig als sonst, die Kühe auf der Weide fetteres Gras. Ihre Milch gab mehr Rahm, der Rahm bessere Butter, und die Menschenkinder bekamen rosigere Wangen. Der Bodhisattva aber hatte sich das göttliche Auge, das ihm -81-
aus seinen Tugenden in früheren Erdenleben entstanden war, durch die Geburt ungetrübt bewahrt. So konnte ihm nichts den Blick verdecken, er schaute hinein in alle Welten, in die des Sinnenseins und in die der übersinnlichen Wesen. Furchtlos wie ein Löwe richtete er sich auf und tat sieben Schritte in alle Richtungen des Himmels, nach Osten, Westen, Süden und Norden, und sprach: »Ich will ein Beispiel der guten Eigenschaften geben, die zur Überwindung des Leidens am irdischen Dasein führen.« Am steilen Hang des Himalaya lebte damals ein alter Seher namens Asita. Lange Jahre der Übung und Entsagung hatten ihm die Seele gereinigt und den Geist gestärkt. Eines Tages sagte Asita zu seinen Schülern: »Mein geistiges Auge hat ein Wunder geschaut. Im Lande des Rosenapfelbaumes ist ein großer Edelstein vom Himmel gefallen. Im Hause des Königs Schuddodana wurde ein Knabe geboren, der mit allen Merkmalen des größten Eingeweihten gezeichnet ist. Wenn er sein Haus und die Herrlichkeiten dieser Welt verläßt und in die Heimatlosigkeit zieht, dann wird er ein Pfadvollender sein, ein vollkommen Erleuchteter. Wenn er aber das Leben in der Welt nicht verschmäht, kann er der mächtigste, siegreichste Weltherrscher werden. Ich gehe, diesen Knaben zu grüßen.« Mit diesen Worten erhob sich der Seher und begab sich auf den Weg. Als er in das Reich des Königs Schuddodana kam und vor dem Tore des Palastes stand, da gewahrte er eine große Schar von guten Geistern, die um das königliche Haus zusammengekommen waren. Zum Türhüter sagte er aber nur: »Geh und melde deinem Herrn, daß ein alter Seher vor seiner Türe steht.« Sofort ließ Schuddodana einen Sitz bereitstellen und befahl, den Fremden einzulassen. Asita trat ein und begrüßte den König mit den Worten: »Sieg wünsche ich dir, edler Herrscher, der Götter Gnade, und daß du immer gerecht walten mögest.« Der König ließ dem Gast Wasser für die Füße bringen und lud -82-
ihn ein, Platz zu nehmen. Dann redete er ihn voll Ehrerbietung an: »Ich erinnere mich nicht, o Seher, dich je früher gesehen zu haben. Weshalb bist du zu uns gekommen?« Asita antwortete: »Ein Sohn ist dir geboren worden, o Großkönig. In dem Wunsche, ihm zu huldigen, bin ich gekommen.« - »Der Knabe schläft noch, darum gedulde dich eine Weile, bis er aufwacht.« Hierauf sprach Asita: »Ein solches Wesen schläft nicht lange. Wach zu sein, ist das Kennzeichen der erleuchteten Geister.« Kaum hatte Asita ausgesprochen, da schlug der Bodhisattva die Augen auf und bezeugte somit die Wahrheit des Gesagten. Der König aber hob den Knaben aus der Wiege und gab ihn vorsichtig in die Hände des alten Sehers. Asita betrachtete den Leib des Bodhisattva, der mit den zweiunddreißig Malen des in alle Weltentiefen und Höhen Eingeweihten versehen war. Und er tat den beglückten Ausspruch: »Fürwahr, hier ist ein unvergleichliches Wesen auf der Welt erschienen.« Danach stand er von seinem Sitz auf und kniete vor dem Kinde nieder. In Nachdenken versunken sprach er: »Nur zwei Wege sehe ich dem Kinde vorgezeichnet. Der eine führt in die Welt hinaus, und so er den einschlägt, kann er ein weltbeherrschender König ohnegleichen werden. Wenn er aber in die Heimatlosigkeit zieht, wird er ein Pfadvollender und vollkommen Erleuchteter sein. Doch ich bin alt«, fügte der Seher seufzend hinzu, »und werde diesen Edelstein im vollen Glänze seines Aufstiegs nicht mehr erleben. Denn ein Höheres gibt es nicht als die Erleuchtung, die das Dasein eines Bodhisattva beschließt und in ihm den Buddha erscheinen läßt! Weinen muß ich, daß mir seine Vollendung zu schauen nicht vergönnt ist.« Und Tränen liefen dem Seher über die Wangen hinab. Sieben Tage nach der Geburt starb die Königin Maya. Zwar für das schauende Auge des Bodhisattva verschied sie nicht, wohl aber für Augen, die nur irdisch sehen. Der Knabe brauchte aber die liebevolle Fürsorge einer Frau, und für diesen Dienst bestellte der König die Schwester seiner Mutter. So wurde diese -83-
seine Pflegemutter. Nach altbewährter Sitte sollte nun der Prinz in den Tempel der Götter geführt werden. Da sprach König Schuddodana: »Laßt die Glückspauken und Freudeglocken ertönen, laßt die Straßen mit Blumen bestreuen und Kränze um Tore und Türen aufhängen. Schickt nach Brahmanen, daß sie uns heilige Sprüche hören lassen. Bereitet alles vor für ein herrliches Fest.« Alles geschah nun, wie es der König befahl. Der Wagen, in welchem der Prinz fahren sollte, wurde prächtig mit Gold und Silber geschmückt und von weißen Pferden gezogen. An der Spitze des großen Aufzuges gingen mit farbigen Teppichen behangene Elefanten, dann folgten die Ratsherren der Stadt, Bürger, Handwerker und allerlei Volk. Aus den Häusern erscholl Musik, die Fahnen flatterten fröhlich im Winde, das lustige Gedränge in den Straßen schien kein Ende zu nehmen. Und so betrat der König, gefolgt von seinem Hofstaat, in größter Pracht und Würde mit dem Knaben den Tempel. Da geschah ein Wunder, das wiederum vielleicht nur Geistesaugen schauen konnten: Die unbeseelten Götterbilder erhoben sich von ihren Plätzen und fielen dem Bodhisattva zu Füßen. Dabei erzitterte der Tempel, und die ganze königliche Stadt wurde wie von einem Erdbeben erschüttert. Tausende Musikinstrumente erklangen, ohne gezupft oder angeschlagen zu werden. Und die Gottheiten, deren Standbilder in dem Tempel aufgestellt waren, zeigten sich in ihrer Wirklichkeit und sprachen: »Der Himalaya würde sich nicht vor einem Sandhäuflein verbeugen, das Weltenmeer nicht vor einer Pfütze, Sonne, Mond und Sterne nicht vor einem Glühwurm, und so auch wir nicht vor einem Wesen, das nicht göttergleich wäre!« Der Prinz wuchs zum Jüngling heran. Kaum verging ein Tag, da nicht ein Wunder sich an ihm offenbarte. Wo immer er stand und wohin er schritt, immer versetzte er seine Umgebung in höchstes Staunen. So auch, als er mit einer großen Anzahl Gleichaltriger die Schule besuchen sollte. Da nahm der -84-
Bodhisattva eine Schreibtafel und einen Griffel und fragte den Lehrer: »Welche von den vierundsechzig Schriftarten willst du mich lehren, o Meister?« Und alsbald stellte sich heraus, daß er aller dieser Schriften kundig war, während der Lehrer nur wenige davon kannte. Und als die Schüler das Alphabet aufsagten, fügte der Bodhisattva bei jedem Buchstaben einen frommen Spruch hinzu. Im Denken und Fühlen war er der Edelste, im Tun und Helfen der Willigste. Doch allmählich befiel seinen Vater, den alten König, große Sorge: Wer sollte nach ihm den Thron besteigen und die hohen Pflichten des Herrschers übernehmen? Denn außer dem Bodhisattva waren ihm keine weiteren Kinder geschenkt worden. Wenn aber der Bodhisattva in die Heimatlosigkeit entfliehen würde - was dann mit seinem Thron und Reich? In der Not und dem Zweifel über die Zukunft seines Reiches besprach sich König Schuddodana mit seinen weisen Ratgebern. Und sie ersannen ein Mittel, den Prinzen an Haus und Habe des Königtums zu binden. »Laß ihn jeden Tag das volle Glück des Daseins genießen«, sagten die Ratgeber, »nichts Häßliches, Krankes oder Gemeines darf ihm vor die Augen kommen. Nur Schönheit, Jugend und blühende Gesundheit sollen ihn umgeben. Die liebreichste, anmutigste Braut, die zu finden ist, soll er haben. Mit ihr und einer Tausendzahl von Tänzerinnen, Sängerinnen und Dienerinnen soll er in einem wunderbaren Palaste leben. Dann wird er nicht mehr daran denken, in die Heimatlosigkeit zu ziehen. Jeder Tag wird so genußreich sein, daß er im Schwelgen die Not der Welt vergißt.« Diese Vorschläge schienen dem König gut, und er gab zur Antwort: »Dem Prinzen ist zwar nicht leicht mit solchen Dingen beizukommen. Aber wenn ihr so meint, dann haltet Umschau, welches Mädchen dem Bodhisattva zur Braut gegeben werden kann.« Als nun dem Bodhisattva der Wunsch des Vaters, er möge heiraten, angetragen wurde, sagte er: »In sieben Tagen sollt ihr -85-
meine Antwort hören.« Inzwischen überlegte er sich: »Ich kenne die schlechten Folgen der Sinneslust. Sie kettet die Menschen an Vergänglichkeit, Krankheit und Tod. Mich zieht es viel mehr in die Einsamkeit des Waldes, um das Glück in stiller Versenkung zu suchen.« Dann aber sagte er sich: »Nicht nur seinem eigenen Glück darf ein Bodhisattva nachstreben. Wie die Lotosblume im Teiche unter den vielen anderen Pflanzen wächst, so ein Bodhisattva unter Menschen.« Auch erinnerte er sich daran, daß die Bodhisattvas der Vorzeit eine Gattin erwählt hatten, ehe sie den Weg zur Buddhawürde betraten. So willigte er ein, dem Wunsch seines Vaters zu folgen. »Suche mir eine Braut, die nach meinem Herzen ist«, sagte er, »schön und voll Liebreiz, doch ohne Einbildung, freigebig und freundlich zu allen, ohne Falsch und Eifersucht, treu und wahrhaftig, rein in Gedanken, Worten und Taten, fleißig, klug und geschickt, eine Frühaufsteherin!« Diese Antwort wurde dem König gebracht. Der war sehr glücklich darüber und sprach zu seinen Hofräten: »Geht hinaus und sucht im ganzen Land nach einem Mädchen, das die erwünschten Eigenschaften besitzt.« Nach langem Suchen fand sich ein überaus schönes, liebreizendes Mädchen namens Gopa. Sie war - wie man dem König berichtete - nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu dick, nicht zu mager, nicht zu hell und nicht zu dunkel. Sie stand in der Blüte ihrer Jugend und entsprach in jeder Hinsicht den Wünschen des Bodhisattva. Der König ordnete an, daß eine Reihe schöner Jungfrauen dem Prinzen vorgeführt würde. Einer jeden möge er ein kostbares Schmuckstück schenken. Dabei, so befahl der König, sollten seine Diener genau aufpassen, ob die Augen des Erhabenen auf einem der Mädchen haften blieben. Als sie nun der Reihe nach vor den Prinzen traten, wurden sie alle sehr befangen, denn sie vermochten nicht, dem Glanz und der Kraft des Bodhisattva standzuhalten. Sie bedankten sich alle schnell und zogen sich eiligst mit ihren Gaben zurück, ohne daß die Blicke des Prinzen auf ihnen geruht hatten. -86-
Zuletzt kam Gopa. Sie schaute den Bodhisattva mit großen Augen unverwandt an. Aber der Prinz hatte alle Schmucksachen verschenkt, und so sprach Gopa mit einem sanften Lächeln: »Prinz, wodurch habe ich dich beleidigt, dieweil du mir nichts schenken willst?« Der Prinz zog einen kostbaren Ring vom Finger und reichte ihn Gopa mit den Worten: »Nimm diesen meinen Ring.« Und seine Augen ruhten mit großem Gefallen auf der schönen Jungfrau. Gopa wurde nun seine Gattin und zog mit ihm in den wunderbaren Palast, den der König ihnen gab. Da lebte er, umjubelt von einer großen Schar Jungfrauen, die ihm mit Spiel und Tanz die Zeit zu vertreiben suchten. Doch nur oberflächlich gab sich der Bodhisattva diesem Treiben hin. Er vergnügte sich und pflegte mit allen Freundschaft, sein Gemüt aber blieb rein und unerschüttert. So verlebte der Bodhisattva eine Zeit in dem wundervollen, von herrlichen Gärten umgebenen Palaste. Der alte König hatte befohlen, daß nichts Häßliches, Altes oder Gebrechliches dem Prinzen vor Augen kommen dürfe. Und dafür wurde strengstens gesorgt. Wachen waren vor den Toren aufgestellt, und allen Menschen, die nicht jung, schön und fröhlich aussahen, wurde der Eingang verwehrt. Fast schien es, als habe der Bodhisattva seinen großen Entschluß beim Abstieg zur Geburt vergessen und als wolle er alle seine Tage mit vergänglichen Freuden ausfüllen. Schon schauten die ewigen Götter mit fragenden Blicken auf den Prinzen herab, der da auf weichen Kissen ruhte. Und während die Schar der Frauen ihn mit Saitenspiel und Tanz zu ergötzen suchte, begann es wie von ferne vor seinem inneren Ohr zu tönen: »Die Zeit ist für dich gekommen, daß du dich an die Wahrheit erinnerst. Rasch dahineilend sind die Freuden der Jugend - schwindend wie Wolken vor dem Winde, wie Schaumblasen im reißenden Strome, wesenlos wie Luftspiegelungen in der Wüste.« In der darauffolgenden Nacht hatte sein Vater einen Traum, in -87-
welchem er den Prinzen zu sehen glaubte, wie er alle Herrlichkeiten des Palastes verließ. Vom Pfeil des Schmerzes getroffen, schreckte der König auf. Doch hoffte er noch immer, den Prinzen von der Weltflucht zurückhalten zu können. Drei weitere Paläste sollten ihm und seiner Gemahlin, der liebreichen Gopa, erbaut werden: ein kühler für die heiße Zeit, ein warmer für die kalte und ein gemäßigter für die Regenzeit. Und an allen Toren und Ausgängen ließ der König die Wachen verstärken und mächtige Riegel anbringen. Auch sollten die Frauen ihm ohne Unterlaß mit Spiel und Tanz und fröhlichen Liedern die Zeit vertreiben. Doch immer stärker tönte dem Prinzen die innere Stimme: »Allzu lange weilst du im Palaste. Bald könnte es geschehen, daß die ungezählt vielen Seelen, die nach Labung dürsten, die ihnen nur ein Buddha reichen kann, vergebens deiner harren!« Keine Ruhe mehr fand der Prinz auf seinem weichen Polster, keinen Genuß an den Liedern und dem Liebreiz der ihm dienenden Frauen. Da sagte er eines Tages zu seinem vertrauten Wagenlenker: »Gehe und melde meinem Vater, daß ich auszufahren wünsche.« Als der Vater diesen Wunsch erfuhr, wurde er sehr besorgt. Da er aber stets bemüht war, seinem lieben Sohn jede Bitte zu gewähren, ließ er ihn grüßen, er müsse sich sieben Tage gedulden, dann werde die Ausfahrt stattfinden können. Inzwischen erließ der König einen Befehl, daß alle Straßen gereinigt und mit frischen Blumen übersät würden. Die Häuser sollte man mit Kränzen behängen, und alle Menschen, die des Weges kamen, wurden angehalten, ein fröhliches Gesicht zu zeigen. Krüppel und Kranke durften sich auf der Straße nicht sehen lassen. So wurde nun die Ausfahrt sorgfältig vorbereitet, und der Prinz bestieg einen prächtigen, von seinem treuen Wagenlenker geführten Wagen. Durch das östliche Tor verließen sie die Stadt. - Eine Gottheit bewirkte aber, daß sie nach einer kurzen Strecke Wegs einem Greis begegneten, der abgezehrt und gebeugt am -88-
Rande der Straße stand. Seine zitternden Hände waren von hervortretenden Adern überdeckt, tiefe Furchen durchzogen das eingefallene Gesicht. Mit offenem Mund und tränenden Augen, schief gestützt auf einen Stock stand er da. Dem Prinzen war bis dahin jeder Anblick der Altersschwäche ferngehalten worden, denn so hatte der König befohlen. Erschrocken bat er den Lenker anzuhalten und fragte: »Was ist diesem erbärmlichen Menschen geschehen? Es scheint, als habe ihn alle Kraft verlassen.« Der Wagenlenker antwortete: »Dies, o Herr, ist ein vom Alter überwältigter Mann. Hilflos und verlassen steht er hier, denn seine Verwandten haben ihn aufgegeben. Keine Seele kümmert sich mehr um ihn.« Da fragte der Bodhisattva: »Sage mir, befällt dieser Zustand nur Menschen seiner Art, oder überkommt Ähnliches auch andere?« Der Wagenlenker antwortete: »O Herr, das Altwerden ist keine besondere Eigenschaft der Menschen seiner Art. Alle Geschöpfe überkommt dieser Zustand. Auch dich und die schönen Frauen, die dir dienen, wird dereinst das Alter einholen.« - »Kehre um«, sprach der Bodhisattva, »ich habe für heute genug gesehen. Was soll uns Spiel und Tanz, wenn wir alle alt werden?« Keine lange Zeit verging, da wollte der Prinz wieder in Begleitung seines Wagenlenkers ausfahren, diesmal ging es durch das südliche Tor. Kaum waren sie außerhalb der Stadt, da begegnete ihnen ein schwerkranker Mensch. Hilflos lag er im Schmutz, der Leib aufgedunsen, das Gesicht schmerzverzerrt, die Glieder zitternd. Nur mit größter Mühe konnte er Atem holen. Tief erschrocken fragte der Bodhisattva seinen Wagenlenker: »Was ist mit diesem Gepeinigten? Warum liegt er stöhnend in seinem Unrat?« Der Wagenlenker antwortete: »Das, o Herr, ist ein Siecher. Seine Kraft und Gesundheit sind dahin, und niemand will von ihm wissen, denn er ist nimmer zu retten.« Da sagte der Bodhisattva: »Jammer, Jammer, so sind Kraft und Gesundheit -89-
nichts Bleibendes, sondern gleichen einem täuschenden Traum! Wer könnte, wenn er die Täuschung durchschaut, noch Freude an Spielen haben? Kehre um, für heute ist mir genug vor die Augen gekommen!«
Der Prinz aber fand in seinem Palaste keine Ruhe mehr, und bald trieb es ihn wieder, eine Ausfahrt zu machen. In Begleitung des treuen Wagenlenkers zog er durch das westliche Tor aus. Doch der Prinz war nur ein kleines Stück gefahren, als er eine Bahre erblickte, auf welcher ein Toter getragen wurde. Laut weinend und mit staubbedeckten Häuptern folgten ihm die -90-
Hinterbliebenen. Und wieder fragte der Bodhisattva: »Sage mir, Wagenlenker, was geschieht hier? Warum liegt dieser Mensch regungslos auf einer Bahre, während jene Staub über ihre Häupter streuen und laut weinen?« Der Wagenlenker gab zur Antwort: »Dieser Mensch, o Herr, wurde vom Tode eingeholt, denn seine Zeit war abgelaufen. Mutter und Vater, Frau und Kinder mußte er verlassen, hinüber in eine andere Welt ist er gegangen.« Bei dieser Antwort brach der Prinz in Wehklagen aus: »Vergänglich sind Jugend, Gesundheit und letztlich auch das Leben!« Und er befahl dem Wagenlenker umzukehren. Die vierte und letzte Ausfahrt des Prinzen geschah durch das nördliche Tor. Diesmal führten die Götter, durch die höhere Lenkung des Bodhisattva selber angetrieben, den Wagen hin, wo sie einem Bettelmönch begegneten. In sanfter Ruhe stand dieser am Wege, würdevoll trug er sein Büßerkleid. Seine Augen und seine Bewegungen zeigten Selbstbeherrschung. Wiederum fragte der Prinz: »Was will dieser Mann und was ist mit ihm? Besonnen scheinen mir die Züge seines Gesichtes, ohne Hochmut und Einbildung seiner Haltung.« Der Wagenlenker antwortete: »Dieser Mann, o Herr, ist ein Mönch. Er hat die Sinneslust bezwungen, seine Seele ist von Leidenschaft und Gehässigkeit befreit. In die Heimatlosigkeit ist er gegangen. Da sucht er ein höheres Glück als die kurzlebigen Freuden der Scheinwelt.« Durch diese Antwort wurde das Herz des Bodhisattva bewegt und befriedigt. Er pries die Entsagung, die nicht nur dem eigenen Glücke fromme, sondern dem Heil aller Wesen diene. Er gab dem Wagenlenker ein Zeichen, daß sie ruhigen Schrittes heimfahren sollten. Wie das Aufwachen aus einem Traum wurden dem Bodhisattva die vier Begegnungen. Er fand zu sich selbst und hatte fortan kein Vergnügen an dem Leben in dem reichen Palast. Der süße Duft dünkte ihm schwül, die Spiele der Frauen konnten ihn nicht mehr ergötzen, ihre Lieder fand er langweilig, -91-
ihre Tänze unerträglich. Als er eines Nachts einmal aufwachte und zu den Frauen hinübersah, wurde er von tiefem Mitleid erfaßt, denn die ganze Schar sah erbärmlich aus. Einigen waren die Haare zerzaust, einigen die Lippen verzogen, einige knirschten mit den Zähnen, einigen floß Speichel aus dem Munde, einige schnarchten, einige krümmten sich, kratzten sich und röchelten, einige rollten die Augen. Alle waren mehr oder weniger entstellt. Und indem der Bodhisattva sie mit einem durchdringenden Blick betrachtete, sprach er: »Sie gleichen bunt bemalten Töpfen, die innen mit Fäulnis gefüllt sind. Wer sie nicht durchschaut und zu ihnen in Lust und Leidenschaft entbrennt, ist ein Tor, denn sie richten ihn zugrunde. Wahrlich, er versinkt wie ein Elefant im Sumpf. Wer mit ihnen lebt, gleicht einem Eber, der im Morast wühlt. Wie ein Schiffbrüchiger im Sturm geht er unter. Wer sich ihren Fangarmen nicht entreißt, ist ein Schwächling und ein Tor.« Bewegten Herzens und entschlossenen Sinnes erhob sich der Bodhisattva. Er wußte, daß die Stunde seines Abschieds gekommen war. Es dünkte ihm aber unrecht zu scheiden, ohne erst vor den Augen seines Vaters zu erscheinen. Und noch ehe der Tag graute, trat er in dessen Schlafgemach. Der alte König, aus unruhigen Träumen aufgeschreckt, schaute seinen Sohn verwundert an, denn das Gesicht des Bodhisattva erstrahlte durch den Entschluß wie vom göttlichen Glanz. Doch als er seinen Entschluß vernahm, brach er in Tränen aus und versuchte mit flehentlichen Bitten ihn zurückzuhalten. Jeden Wunsch wolle er ihm erfüllen, wenn er bliebe. Der Bodhisattva antwortete: »Drei Wünsche nenne ich dir. Kannst du mir sie erfüllen, bleibe ich, um Würde und Pflichten des Königtums zu übernehmen. Der erste ist die ewige Jugend, ohne jemals von den Gebrechen des Alters befallen zu werden. Der zweite ist ewige Gesundheit, ohne jemals einer Krankheit zu erliegen. Der dritte ist ewiges Leben, ohne jemals dem Tod anheimzufallen.« -92-
Da mußte der alte Schuddodana bekennen, daß solche Wünsche zu erfüllen ihm nicht gegeben sei. Der Bodhisattva aber sprach: »Dann mögest du mir wenigstens eine Bitte gewähren: Laß mich handeln, wie ich handeln muß, daß ich dereinst, wenn mein gegenwärtiges Erdenleben beendet ist, nicht wieder geboren werden soll, sondern als Buddha und Pfadvollender zum Heile der Welt wirken kann.« Diese Bitte konnte der König ihm nicht verweigern. Doch war sein Herz schwer. Und als der Tag des Abschieds anbrach, kamen ihm andere Gedanken. Er befahl, die Tore der Stadt zu verriegeln und die Bewachung des Palastes zu verdoppeln. So hoffte er dennoch die Flucht des Prinzen zu verhindern. Die Götter aber standen dem Bodhisattva in seinem Entschlüsse bei. Sie waren es ja, die dem Wagenlenker eingegeben hatten, jenen Wegen zuzusteuern, auf denen es zu den vier Begegnungen kam. Jetzt, als die Nacht wieder einbrach, versenkten sie die ganze Stadt in einen tiefen Schlaf. Und als jeder Lärm und alle Geräusche schwiegen, stieg Indra selbst, der Götterfürst, in die Stille hinab, öffnete dem Bodhisattva die Tore, während andere Gottheiten seinen Weg mit frischen Blüten bestreuten und himmlische Musik ertönen ließen. Bei diesem Klang stand der Bodhisattva auf, rief seinen Wagenlenker und bat ihn, unverzüglich sein prächtiges Roß Kanthaka zu satteln. Da war der treue Wagenlenker sehr bestürzt, denn er kannte den Befehl des Königs, und er hoffte, wie alles Volk, daß es gelinge, die Flucht zu vereiteln. Er begann auf den Prinzen einzureden: »Der Jugend«, sagte er, »kommt es zu, das Leben zu genießen, große Taten zu vollführen und sich Ruhm zu erwerben.« Doch solche Vorstellungen wies der Bodhisattva zurück. »Genug, mein Treuer«, sprach er, »vergänglich sind die Genüsse, nichtig der Ruhm. In früheren Erdenleben lernte ich zur Genüge die trügerischen Gebilde des Ruhmes und die täuschenden Schaumblasen der sinnlichen Genüsse kennen. -93-
Hunger und Durst bereiten sie, bringen aber keine Sättigung. Gefährlich wie das Gift einer Schlange sind sie. Darum säume nicht, sondern hole mir mein Pferd!« Da mußte der Wagenlenker gehorchen und brachte das Pferd. Der Bodhisattva bestieg es, die Erde dröhnte, und während Gottheiten aus allen Himmelsrichtungen ein Loblied anstimmten, verließ der Königssohn Schloß und Stadt und alles, was ihn an weltlichen Glanz gekettet hatte. Jubel erklang in Götterwelten, Jammertöne erfüllten die Säle des Palastes, den er verlassen hatte. Den tiefsten Schmerz empfand Gopa, als die Flucht des Prinzen offenbar wurde: besinnungslos stürzte sie zur Erde. Inzwischen war das edle Roß mit leerem Sattel zurückgekehrt. Wieder zu sich gekommen, brach Gopa in lautes Weinen aus, umklammerte den Hals des Pferdes und rief: »Wehe, Kanthaka, wohin hast du meinen Gatten entführt!« - Das gute Pferd aber, so wird berichtet, nahm fortan kein Futter zu sich und starb binnen kurzer Zeit. Tröstend trat der Wagenlenker zu Gopa und sprach: »Prinzessin, höre mein Wort! Heimlich war die Nacht, alle lagen wir in tiefem Schlaf. Da rief mich der Erhabene und befahl mir, Kanthaka zu satteln. Ich schaute nach dir und wollte dich wecken. Doch hemmte eine Gottheit den Schall meiner Stimme, und du erwachtest nicht. So geschah wohl alles nach einer höheren Bestimmung. Drum laß es gut sein und weine nicht mehr. Denn bald wirst du den Helden als unsterblichen Pfadvollender sehen. Einen Mann, der zur vollen Erleuchtung aufsteigt, soll man nicht beweinen, Gopa. Auch du sollst dich über diesen Quell tausend guter Taten freuen!« Mit solchen Worten gelang es dem treuen Wagenlenker, den Kummer der Prinzessin zu mildern. Auch der alte König sah ein, daß ein Bodhisattva nicht um Macht und königliche Herrschaft zur Welt kommt, sondern für das Wohl der ganzen Menschheit. Der Weg des Bodhisattva war immer schwer zu begehen und von tiefen Geheimnissen umweht. In Wahrheit ist es ein innerer -94-
Weg, denn der Berg der Erleuchtung ragt in Welten hinauf, die jenseits dessen liegen, was wir als sinnenfällig kennen. Vorerst stand der Prinz allein in der Fremde. Seine königliche Kleidung legte er ab, nur ein einfaches Bastgewand, das er sich von einem Jäger eingetauscht hatte, diente ihm fortan als Schutz gegen die Witterung. Sein einziger Besitz war die Reinheit seiner Seele. Früchte des Waldes nährten ihn. So wandernd fand er zu einer Einsiedelei, in der ein Weisheitslehrer namens Arada eine Schar von Schülern um sich versammelt hatte. Von weitem sah Arada den Bodhisattva auf sich zukommen und sprach zu seinen Schülern: »Seht, welch eine Erscheinung!« Mit ehrerbietigem Gruß trat der Bodhisattva heran und bat in den Kreis der Schüler Aradas aufgenommen zu werden. Dieser antwortete: »Sei uns willkommen; hier lerne, die Seele zu erheben in den Zustand des Nichts.« Dieser Zustand, wo der nach Wahrheit Strebende alle der Sinneswelt entnommenen Bilder aus seiner Seele tilgt, war für den Bodhisattva bald erreicht. Als er dann Arada fragte: »Was nun weiter?« konnte ihm dieser nichts sagen. Der Bodhisattva wußte, daß das Sicherheben in den Zustand des Nichts keineswegs ein letztes Ziel sein könne. Darum nahm er von Arada Abschied, um anderswo das Weitere zu suchen. Er kam nun zu einem Meister, der hieß Rudraka. Auch Rudraka hatte eine große Anzahl Schüler, die er unterrichtete. Er lehrte sie das Sicherheben in den Zustand »jenseits von bewußt und unbewußt«. Dank seiner tugendreichen Vorbereitung in früheren Erdenleben erhob sich der Bodhisattva nach kurzer Anweisung in diesen Zustand. Darauf fragte er den Lehrer, was weiter zu tun wäre. Da bot ihm Rudraka an, die Unterweisung der Hälfte seiner Schüler zu übernehmen. Doch danach hatte der Bodhisattva nicht gefragt. Und so schied er in Frieden auch von diesem Lehrer. Nun besann sich der Erhabene: »Nur wer seinen Körper vollkommen und bis zum letzten Hauch überwunden hat, kann -95-
Krankheit, Alter und Tod besiegen. Denn gesund, jung und unsterblich ist der Geist. Wo dieser den Körper besiegt, da besiegt er sogleich Grund und Ursache von Siechtum, Alter und Tod, weil diese nur im Körper hausen. Darum will ich mit jedem Atemzug meinen Körper bis zur letzten Neigung und Regung besiegen.« Und für lange Zeit legte er sich eine strenge Askese auf, mit jedem Tag schwerer. Mit untergeschlagenen Beinen setzte er sich auf einen Haufen spitzer Steine, und wie ein stärkerer Ringkämpfer den schwächeren am Halse packt und niederzwingt, so zerdrückte und quälte er seinen Körper, bis ihm der Schweiß von der Stirn troff, der in den frostigen Winternächten zu Reif gefror. Danach schloß er Mund und Nase, so daß ihm der Atem völlig stockte. Heftige Geräusche wurden dadurch laut, wie wenn der Schmied den Blasebalg zieht. Und als er auch die Ohren schloß, pochte ihm der Wind gegen die Schädeldecke, wie wenn jemand mit einer stumpfen Lanze daran stieß. So war der Bodhisattva an die Grenze des Todes gelangt. Bis hinauf zum Himmel, wo die Seele der Königin Maya weilte, drang die Nachricht davon. Eilends stieg sie in Begleitung unsichtbarer Musikanten herab, um ihren geliebten Sohn Labung zu reichen. Doch als sie ihn wie tot mit völlig ausgezehrten Gliedern, geschlossenen Sinnen und ohne Atmung fand, wehklagte sie laut: »Wie ein Löwe warst du an Kraft, da du geboren wurdest, tatest ohne Hilfe sieben Schritte in die vier Himmelsrichtungen und sprachst: Dies sei meine letzte Geburt! Doch eitel sind nun diese Worte geworden, und eitel auch die Weissagung des Sehers. Denn weder hast du das Glück der Weltherrschaft gewonnen, noch bist du der Erleuchtung eines Buddha teilhaftig geworden!« Durch diese Wehklage wachte der Bodhisattva aus seiner Todesstarre auf und sprach: »Wer bist du, die also klagt?« Maya antwortete: »Wahrlich, im Gleichnis eines weißen Elefanten sah ich dich in meinen Leib einziehen, wie ein Blitz warst du in -96-
meinem Schoß - deine Mutter bin ich.« Da sprach der Bodhisattva zu ihr: »Bange nicht um deinen Sohn. Vergebens habe ich mich nicht von dieser Welt befreit. Des Sehers Worte werden sich erfüllen. Eher möchte der Berg Meru, der edelsteingekrönte, ins Meer stürzen, als daß ich den begonnenen Pfad nicht vollende. Gedulde dich, und du wirst die Erleuchtung des Buddha schauen.« Durch diese Antwort war die Königin Maya beruhigt. Sie bestreute das Haupt des Bodhisattva mit himmlischen Blüten und kehrte unter Klängen göttlicher Musik zu ihrer überirdischen Wohnung zurück. Der Bodhisattva erwog, daß er durch sein strenges Fasten noch nicht zum Ziel gekommen war. Um die Bedürfnisse des Körpers endgültig zu bezwingen, beschloß er, täglich nur eine Kolabeere zu sich zu nehmen, dann ein einziges Reiskorn, danach ein winziges Sesamkorn, zuletzt aber gar nichts mehr. Dabei wurde sein Leib so mager, daß seine Rippen den Beinen von Krebsen glichen. Sein abgezehrtes Gesicht sah aus wie eine schwarze eingetrocknete Gurke, völlig dahin war seine ehemalige Schönheit. Die tief eingefallenen Augen waren kaum mehr sichtbar, sein Rückgrat glich einer über holprige Steine laufenden Radspur. Doch blieb er fest in seiner Stellung mit untergeschlagenen Beinen sitzen, der Hitze des Sommers, der Kälte des Winters, dem Wind, Regen und Hagel trotzend. Die Dorfbuben, die vorbeikamen, bewarfen ihn mit Lehm und trieben allerlei Spott und Unfug. Sechs Jahre vergingen auf diese Weise, bis alle Begierden und Wünsche des Körpers besiegt waren. Doch erkannte der Bodhisattva, daß damit sein Ziel noch nicht erreicht sei: »Mara, dem Bösen, bin ich noch nicht begegnet.« Indessen hatte dieser, der Götterfeind, lange heimlich auf den Bodhisattva gelauert, doch keine Gelegenheit gefunden, sich ihm zu nahen. Jetzt schien ihm diese auf einmal gekommen. Mit süßer Rede schlich er heran und sprach: »Edler, stolzer Prinz, warum quälst du immerfort deinen armen, gottgeschaffenen Körper? Für -97-
lebendige Wesen ist dein Leib da. Nur wer lebt, kann verdienstvolle Taten verrichten. Darum lasse von der Entsagung ab! Stärke deinen Körper mit Speise und Trank! Und dann stehe auf, um Taten zu verrichten, die du nicht zu bereuen brauchst!« Auf diese listigen Worte erwiderte der Bodhisattva: »Was trieb dich her zu mir, leichtfertiger Blender? Von verdienstvollen Taten magst du zu Leuten sprechen, die noch keine solchen verrichtet haben. Taten, die uns nicht von Krankheit, Alter und Tod befreien, sind mir wertlos. Doch andere kennst du, Verführer, nicht. Ich weiß, was du willst, und kenne deine Scharen. Die erste kommt mit der Sehnsucht, die zweite bringt Begierde, die dritte Hunger und Durst, die vierte brennendes Verlangen. Dann folgen Gleichgültigkeit und geistige Trägheit. Dann kommt die sechste, die Furcht. Die siebte Schar zündet Zweifel und die achte facht Zorn an. Alle tragen sie Heuchelei und Lüge als Schild, spornen ihre Rosse mit Ehrgeiz und schwingen das Schwert der Habsucht. Das sind deine Scharen, böser Geist Mara. Mein Schwert aber ist die Erkenntnis, mein Roß die Demut und mein Schild die Wahrheit. So gewappnet will ich deine Heerscharen in die Flucht schlagen.« Als Mara diese Antwort vernahm, verdunkelte sich sein Sinn, und er machte sich davon. Doch von seinem Ziele wissend, erkannte der Erhabene, daß die Zeit seines Fastens überstanden sei, und er entschloß sich, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Ein göttliche Vorsehung wollte, daß zehn liebreiche Jungfrauen auf diesen Augenblick bedacht waren. Sie glichen den Engeln mehr als Menschen und standen bereit, dem Erhabenen die erste Speise und den ersten Trank zu reichen. Denn beides mußte sehr sorgfältig zubereitet werden. Jede von ihnen brachte ihm eine Schale, deren Inhalt er zu sich nahm. Und als die letzte Schale ihm gereicht war, da erstrahlte der Leib des Bodhisattva im höchsten Glanz seiner ursprünglichen Schönheit und Kraft. Ja, noch mehr: Die Lotosblumen seiner -98-
Seele öffneten sich wie Augen des Geistes und ließen ihn bei geschlossenen Sinnen des Leibes in die höheren Welten hineinschauen. Dann wiederum, wenn er die Sinnesaugen auftat, blickte er um sich und spendete allen Mitgeschöpfen eine wunderwirkende Liebe. Diese Wunder waren die Frucht seiner ausdauernden Selbstüberwindung und Versenkung. So hatte sich für den Bodhisattva der Baum der Erkenntnis in einen Baum der Erleuchtung und des Segens gewandelt. So sitzend bedachte er: »In der sinnlichen Welt ist Mara Herr. Es würde eine unvollkommene Erleuchtung werden, wollte ich ohne sein Wissen zum Buddha-Dasein erwachen. Mara, den Bösen, will ich herausfordern!« Und von einem Punkt zwischen seinen Augenbrauen entsandte er einen Lichtstrahl, der über die ganze Welt hin bis zu Maras Behausung reichte. Gereizt zuckte dieser zusammen, denn es tönte eine Stimme in seinen Ohren, die ihn mit Furcht erfüllte. Er rief seine Scharen herbei und sprach: »Auf, mein ganzes Heer! Gegen den Asketen wollen wir kämpfen! Einsam sitzt er am Fuße eines riesigen Baumes. Kommt, folget eurem Fürsten!« Und wahrlich, groß und furchtbar anzusehen war sein Heer. Es zeigte millionenfach verzerrte schauerliche Gesichter. Die Leiber, Hände und Füße wurden von Schlangen umwunden. Ihre Waffen waren Schwert, Axt, Spieß, Speer, Keule, Stock, Schlegel, Bogen, Schlinge, Pfeil und Donnerkeil. Einige spien Schlangengift, einige spritzten Blut, einige spuckten Feuer. Köpfe, Augen, Hände und Füße saßen an verkehrten Stellen. Einige kamen auf Bergen reitend und trugen feuerspeiende Felsen in den Fäusten, einige rissen Bäume aus der Erde und stürzten damit gegen den Bodhisattva. Einige hatten Ohren wie Ziegenböcke, Ohren wie Elefanten, hängende Ohren, spitze Ohren. Einige waren ohne Ohren. Einige schrieen, einige heulten, andere fletschten die Zähne, fauchten, fluchten, schnaubten und wieherten: »Schlagt, stecht, beißt, kratzt, -99-
schneidet, packt, prügelt, zerspaltet, vernichtet!« Doch als das gewaltige Heer den in sich versenkten Ruhig-Erhabenen umstellt hatte, zögerten viele und ließen von ihrem Geschrei ab. Und es überkam sie, als seien ihre Waffen auf einmal stumpf geworden. Es entstand ein Streit zwischen dem rechten und linken Flügel des Heeres, so daß die ganze Schlachtordnung in Auflösung geriet. Ein Teil des Heeres wurde beim Anblick des Bodhisattva so benommen, daß er abfiel. Denn der Erhabene erschien seinen Feinden so groß, als rage er über alle Berge und Wolken in den Himmel hinauf.
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Zähneknirschend vor Wut trieb Mara den gewaltigen Rest seines Heeres zum Angriff. Und wirklich wurde der Tag stockfinster, denn die geschleuderten Geschosse verdunkelten die Sonne. Aber nur für einen Augenblick, denn vom Herzen des Heiligen verbreitete sich eine solche Milde und Liebe, daß alle Geschosse, ja selbst die geworfenen Berge sich in Blüten und Blumenkränze verwandelten. Zuletzt schien die ganze Erde von verstreuten Blumen bedeckt, er selbst aber saß unter einem herrlichen, ihn gegen weitere Angriffe schützenden Baldachin. Seine Machtlosigkeit erkennend, zog sich Mara, der Böse, zurück, um durch andere Mittel den Erhabenen zu besiegen. Da kam er auf den Gedanken, seine Töchter herbeizurufen, damit sie durch ihre Verführungskünste den Erhabenen zu Fall brächten. Tänzelnd, spielend, lachend und singend nahten sie dem in sonnenhafter Versenkung ruhenden Bodhisattva. »Schau her«, riefen sie ihm zu, »der Frühling ist da, die schönste Zeit des Jahres. Umsummt von Bienen prangen die Bäume. Auch wir wollen die Süße des Lebens genießen, wollen Freude aneinander haben! Dein Leib ist noch jung und wohlgestaltet, wir alle sind mit Liebreiz begabt. Wende nun endlich deinen Sinn ab vom Licht der Erleuchtung, das so schwer zu gewahren ist. Deinetwegen sind wir gekommen, deine Wünsche zu erfüllen sind wir da!« Danach begannen sie das verführerische Spiel. Sie drehten und schwenkten sich, neigten und zeigten sich von allen Seiten. Einige blinzelten, einige lächelten mit halb verschlossenen Augen, einige verhüllten halb ihr Gesicht und lachten versteckt, einige ließen ihre Haare fallen, einige hoben ihre Arme, einige atmeten heftig und einige stellten sich an, als wollten sie seine Gedanken ergründen. Tausend Künste entfalteten sie, um den Bodhisattva aus dem Gleichmut zu bringen, immer aufdringlicher gebärdeten sie sich. Doch des Bodhisattvas Gesicht blieb kühl und regungslos gleich der Mondscheibe. Sein Herz kannte nur Mitleid mit den -101-
törichten Töchtern Maras. Mit sanfter Stimme sprach er sie an: »Die Lüste, denen ihr frönt, sind in Wahrheit Schalen des Leidens und des Unglücks. Wer sich an euren Reizen sättigen will, dem mehrt sich der Durst, als würde er Salzwasser trinken. Unter brennenden Qualen verdürbe er. Wie Schaumblasen sind eure Leiber, wie verschwebende Träume eure Schönheit. Einen Erleuchteten könnt ihr damit nicht verführen, denn er sucht das Heil und ewige Gedeihen aller Geschöpfe.« Als Mara diese Worte hörte, wurde er von maßloser Wut gepackt. Er trieb seine Töchter an, daß sie ihre Scheußlichkeiten bis zur Raserei entfalteten. Da streifte der Bodhisattva sie mit einem Blick. Das genügte, und ihre falsche Schönheit verging wie das Naß im Gras unter der Sonne. Und wie schwüle Luft, vom Winter verjagt, zogen sich die Töchter Maras zurück, um sich bei ihrem Vater zu beklagen: »Die Verführungskünste, die wir vor ihm entfachten, hätten jede andere Seele in Feuer versetzt«, jammerten sie, »doch bei ihm war alles vergeblich. Unerschütterlich wie der König der Berge sitzt er da.« Also besiegte der Bodhisattva seinen Widersacher Mara mitsamt seinem ganzen Heer und seinen verworfenen Töchtern. Nach seinem Sieg über Mara stieg der Bodhisattva bis zu jener Höhe des überirdischen Lichtes, wo der Geist über Dünken und Denken, Wünschen und Wähnen, Lust und Leid vollkommen erhaben ist. Die Kraft, in dieser göttlichen Höhe wach zu bleiben, wo alle Stützen der Sinnenwelt abgestreift sind, hatte er sich durch sein ausdauerndes geistiges Üben errungen. Jetzt richtete er sein inneres Auge auf die Wesen, die sich im Kreislauf der Geburten befanden. Er sah, wie sie nach dem Tode durch ihre schlimmen Taten in trübe, sumpfige Abgründe versanken oder durch gute Taten, Worte und Gedanken zu lichten Himmelsregionen emporstiegen, um da ihre weiteren Schicksale vorzubereiten. Und er schaute in seine vergangenen Lebensläufe zurück. Er erkannte seine eigenen früheren Lebenswege und die der anderen Seelen, der guten und die der -102-
bösen. Endlich richtete er sein schauendes Auge auf die Entstehung des Leides und auf des Leides Wende. In Schmerz versunken sah er die Welt, in der die Seelen an Geburt, Tod und Wiedergeburt gekettet sind. Und er erkannte: die Ursache von Alter und Tod ist die Geburt. Die Ursache der Geburt sind die Begierden, welche im irdischen Dasein ihre Befriedigung suchen. Begierde entsteht durch die Lust, diese wiederum durch die Sinnesempfindung und so weiter durch eine lange Verkettung. Wo aber die Welt keinen Reiz auf die Sinne ausübt, da entsteht keine Empfindung, und wo die Empfindung ausbleibt, kann keine Lust entstehen, wo aber diese fehlt, wird keine Begierde mehr aufkommen und somit auch kein Verlangen nach Geborenwerden. Nur wer sich von seinen Sinnen nicht mehr betören läßt, kann hoffen, das Rad von Geburt und Tod aufzuhalten. Als der Heilige drei Nächte lang dies alles erwogen hatte und die aufgehende Sonne des dritten Morgens den Himmel rötete, da ward ihm die vollkommene, höchste Erleuchtung zuteil, zugleich auch die höchste vollkommene Seligkeit. Der Pfad war vollendet, der Gipfel erklommen und die dreifache Weisheit eines Buddha erlangt. Aus allen Welten ertönte das Lob der Götter: »Lasset uns Blumen streuen, der Erhabene ist zum Buddha erwacht! Erstanden ist der Wissende unter den Wesen! Aufgegangen ist die Lotosblume im Meer der Erkenntnis! Aus Mitleid mit allen Leidenden vollendete er den Pfad, ohne Gewalt besiegte er alle Götterfeinde!« Auf stand der vollendet Erleuchtete und begab sich zu den ungezählt vielen Menschen, die seiner bedurften. Wir sehen Buddha als den großen Lehrer des Friedens und der Menschenliebe. Für die Menschheit als ganze war jedoch ein anderer Weg vorgezeichnet als die Rückkehr in die »ewige Ungeborenheit«. Durch eine Folge von Erdenleben hindurch, in immer neuen Begegnungen mit dem Erdenschicksal Kräfte für -103-
die Ewigkeit zu gewinnen - das ist der Weg, der jedem Menschen gezeigt wurde. Diesen Weg zu erschließen mußte ein noch Größerer erscheinen. Doch Buddhas Leben und Wirken hat der Menschheit sehr geholfen. Nicht viele haben so wie er dazu beigetragen, die Seelen zu läutern, die Gemüter zu festigen, damit sie stark für den Glauben, tätig für die Liebe, empfänglich für die Hoffnung wurden.
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Die Weltseele Ich bin des Weltendaseins Quell, Vernichtung bin ich auch des Alls, Denn außer mir, o Freund, gibt's Höh'res nicht, Noch anderes, noch mehr. Wie Perlen an der unsichtbaren Schnur Hängt alles hier an mir. Ich bin der Sonne und des Mondes Licht, Ich bin der Schall, der durch die Luft ertönt, Der frische Duft, der von der Erde steigt, Der reine Saft in allem, was da strömt, Die Keimkraft, ich in jedem Sproß. Ja, Freund, der Weisen Weisheit und des Starken Kraft, Vom Stolz befreit wie von Begier, Die Andacht des Gebetes, das du sprichst, Die Liebe auch in deines Herzens Grund Durch kein Gesetz beengt, Bin ich in aller Ewigkeit!
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Nachwort Die in diesem kleinen Band erzählten Sagen sind alle dem altindischen Schrifttum entnommen, mit Ausnahme der Buddhalegende vorwiegend dem Mahabarata und dem Ramajana. Sie sind älteren, nur in Bibliotheken oder Antiquariaten zu findenden Übersetzungen nacherzählt, in erster Linie der klassischpoetischen von Adolf Holtzmann. Meine Aufgabe war es, eine repräsentative Auswahl zu treffen und eine sprachliche Form zu suchen, die diese Sagenwelt dem heutigen Leser erschließen können. Form und Inhalt dieser Sagen führen uns in Zeiten zurück, wo Denken und Erleben der Menschen noch sehr von mythischen Bildern durchwoben waren. Da wurde die Welt nicht in scharf konturierten Begriffen erfaßt, sondern in Bildvorstellungen, die sich vielleicht eher einer Art Wachträumen als dem sinnenfälligen Vorstellen ergaben. Gewiß, am Denken wacht die Seele auf, sie wird durchlichtet. Wo sie nicht deutlich denkt, bleibt das Bewußtsein dämmerhaft, verträumt. Wie die Sonne den Tag erhellt, so begreifen wir mit Hilfe des Denkens die Welt. Doch wie uns am hellen Tag jeder Anblick der Sterne entschwindet, so verblassen beim hellwachen Denken die gefühlsverwandten Traumbilder. Damit entschwindet uns auch allzuleicht das Verständnis für die Bildersprache des Traumes wie auch für die Sprache der mythischen Bilder. Dieser Unterschied zwischen dem Seelenerlebnissen entsprechenden mythischen Bild und dem scharf geformten, die äußere Sinneswelt erfassenden Begriff wird zum Beispiel in der altindischen Sintflutsage spürbar. Manu steht am Meeresgestade wie auf der Grenze zwischen zwei Welten - der des festen Grundes, der umrissenen Gegenstände, und einer zunächst »jenseitigen«, noch fließenden, unbestimmten Welt. Sein Blick geht, der Sinneswelt vollkommen abgewandt, über das Meer in ein Unbekanntes, -106-
Werdendes. Da erscheint ihm aus dem Meer des Unwahrnehmbaren ein Wesen, das er nicht durchschaut. Darin liegt ein Charakterzug, der uns aus vielen Märchen und Sagen bekannt ist: es braucht eine Zeit des Reifens, ehe die Bedeutung einer bildhaften Offenbarung der Seele klar wird. Erst nach und nach kann sich das Wesen in seiner wahren Gestalt zeigen. Manu muß in Geduld mit seinem »Fisch« leben, während dieser, obzwar nicht schwerer, doch immer größer und wunderlicher wird. In all dieser Zeit bleibt der Fisch stumm. Erst als er in sein ursprüngliches Element zurückkommt, kann er wieder sprechen, und es kommt zu jener Unterweisung, die Manu befähigt, sein Menschheitswerk zu vollführen: die Rettung aus einer untergehenden Welt und die Begründung einer neuen Kultur. In welchem Sinne diese Sage auf Geschichtliches zurückgeht, mag eine umstrittene Frage sein. Bemerkenswert immerhin ist die Tatsache, daß Sintflutsagen verschiedener Art sich bei fast allen Kulturvölkern der Vorzeit finden. Die nordische Edda weiß von Nivlheim zu erzählen, zu deutsch »Nebelheim«. Ursprünglich bestand die ganze Welt, so wird berichtet, aus einem riesenhaften Lebewesen, Ymir. Damit die heutige Welt mit ihren Naturreichen entstehen konnte, mußte Ymir sterben. Sein herausströmendes Blut wurde zum Meer, in welchem alle bisherigen Geschöpfe bis auf einen Riesen und sein Weib ertranken. Diese beiden retteten sich in einem Trog. Hier also haben wir die Sintflutsage nur als Teilstück eines viel umfassenderen Mythos. Wichtig ist doch der Hinweis auf »Nebelheim« - eine Welt, die noch nicht den blauen Himmel und die klaren Konturen des heutigen Sehens kannte. Platon, der griechische Philosoph, bringt in seinem Dialog »Timaios« die Sage von einem im westlichen Meer versunkenen Land. Er läßt erzählen, daß Solon, der weise Gesetzgeber Athens, einstmals Sais in Ägypten besucht und dort von einem alten Priester erfahren hätte, was in ägyptischen Schriften aufgezeichnet worden sei: Im großen Meer westlich der »Säulen des Herkules« -107-
(Gibraltar) habe einst ein mächtiges Reich gelegen, größer noch als Afrika und Asien. Von dort aus hätte man nach vielen Ländern und Inseln segeln können. Weiter wird berichtet, daß ein großes Heer von diesem Land »Atlantis« nach Europa herübergekommen sei, die Athener hätten aber dieses Heer besiegt und so Europa gerettet. Der Priester wußte sogar die ungefähre Zeit für diese Begebenheit, etwa 9000 Jahre vor dem erwähnten Gespräch zu Sais. Dann aber wäre in einer furchtbaren Nacht durch gewaltige Erdbeben, Stürme und Gewitter das besagte Land »Atlantis« in die Tiefe versunken. Was auf diese oder jene Weise den Völkern als sagenhafte, oft auch entstellte Erinnerung geblieben war, das rückt Rudolf Steiner in den Raum der Geschichte. Da zeigt sich zunächst, daß diese Sagen nicht alle auf ein und dasselbe Ereignis zurückgeführt werden dürfen. Doch ein Ereignis steht im Lichte der Geisteswissenschaft historisch fest, eben der Untergang jenes alten Kontinents, der viel besungenen Atlantis. Für diesen Bezug seien einige Sätze aus seiner »Geheimwissenschaft im Umriß« angeführt: Durch den Mißbrauch bestimmter Naturkräfte, der Wachstums- und Fortpflanzungskräfte, die »in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit gewissen Kräften standen, die in Luft und Wasser wirken, wurden durch die menschlichen Taten gewaltige verderbliche Naturmächte entfesselt. Das führte zur allmählichen Zerstörung des atlantischen Gebietes durch Luft- und Wasserkatastrophen der Erde. Die atlantische Menschheit mußte auswandern, insofern sie in den Stürmen nicht zugrunde ging. Damals erhielt die Erde durch diese Stürme ein neues Antlitz. Auf der einen Seite kamen Europa, Asien und Afrika allmählich zu den Gestalten, die sie gegenwärtig haben, auf der anderen Seite Amerika. Nach diesen Ländern gingen große Wanderzüge. Für unsere Gegenwart sind besonders diejenigen Züge wichtig, welche von der Atlantis ostwärts gingen. Europa, Asien und Afrika wurden nach und nach von den Nachkommen der Atlantier besiedelt.« An anderen -108-
Stellen wird nun von Rudolf Steiner dargelegt, daß diese Auswanderung der Führung hoher Eingeweihter unterstand Individualitäten, die durch Schicksal und eine besondere Schulung in strenger Selbstzucht und Entsagung der normalen menschlichen Entwicklung weit vorausgeeilt waren und so der göttlich-geistigen Vorsehung dienstbar wurden. In der Bibel wird in diesem Sinne von Noah berichtet, bei den Indern eben von Manu. Der Name »Manu« würde in der heutigen Sprache etwa »der Denkende« heißen. Und als »Manuscha«, »die Denkenden«, bezeichnete sich sein kleines Volk, eine Bezeichnung, die wir in unserem Wort »Mensch« wiederfinden. Denken zu können war somit eine Fähigkeit, wodurch die von Manu geführten Menschen sich von anderen Menschengruppen unterschieden. Die Frage mag sich erheben: Was war mit den anderen? Waren sie des Denkens nicht kundig? War das Denken-Können in jenen Zeiten eine so ausgezeichnete Fähigkeit? – Nach den Erkenntnissen der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners war in jenen urvergangenen Zeiten, auf welche die Sintflutsage zurückgeht, das Denken-Können in der Tat eine Ausnahme. Der Großteil der Menschheit erlebte sich noch in dem eingangs erwähnten mythischtraumhaften Daseinsgefühl eingebettet. Von Bildern und Zeichen war dieses Gefühl durchwoben - Rudolf Steiner beschreibt es als ein dämmerhaftes Hellsehen -, es war ein Bewußtsein, das die Umgebung nicht so sehr in scharf umrissenen Gegenständen als in seelischlebendigen Bildoffenbarungen wahrnahm. Dem Volke Manus kam es nun zu, die erste nachatlantische, die urindische Kultur zu begründen (um 7000 v. Chr.). Von dieser Kultur besitzen wir keine schriftlichen Urkunden, auch archäologische Befunde sind wohl kaum erhalten. Somit gibt es für diese Zeit keine Belege im Sinne üblicher Wissenschaft. Auch die Sagen und Mythen, die hier erzählt werden, sind alle in viel späterer Zeit aufgezeichnet und haben vielfach dadurch -109-
eine spätere Ausgestaltung erfahren. Trotzdem klingen manche Töne nach, die ihnen unverkennbar die besondere altindische Stimmung verleihen. Vor allem zeigen diese Sagen, wie das Sinnen und Denken des altindischen Volkes noch lange dem traumhaften Schauen und Vernehmen sehr verwandt blieb. Nur flüchtig berührte dieses Denken die Außenwelt, es richtete sich vielmehr mit tiefer Sehnsucht nach einer Welt, die sich hinter den Schleier der sinnenfälligen Wahrnehmung zurückgezogen hatte. Für die so ersehnte Welt hatten die alten Inder einen besonderen Namen - »Schamballa«. In Schamballa, dem Land des Traumes und des Wähnens, gab es kein Verwelken, kein Versiegen der Quellen, kein Verstummen des heiligen Wortes. »Unwahr sind die Berge, die Täler, unwahr die Wolken, der Sternenhimmel«, sagte sich der alte Inder. - »Das ist nur wie eine Hülle, wie eine Physiognomie des Wesens. Und das Wahre, was dahinter ist, die Götter und die wahre Gestalt des Menschen - wir können sie nicht mehr sehen. Das, was wir sehen, ist Maya, ist eine Täuschung.« (Rudolf Steiner in »Ägyptische Mythen und Mysterien«) So fühlte sich der altindische Mensch in ein hartes Dasein versetzt, das ihm dennoch keine volle Wirklichkeit sein konnte. Darum kam er mit der Welt, die mit Händen zu greifen ist, nur schwer zurecht. Denn in dieser Welt war seine Seele heimatlos. Alles bloß sinnlich Wahrgenommene prägte sich dem Gemüt nur schwach ein. Aus diesem Grunde brauchte der Mensch damals allerlei Vorrichtungen, um sich an die Dinge zu erinnern, die er da oder dort zu tun hatte - in den Erdboden eingerammte Hölzer, kleine Steinsetzungen und dergleichen. Die ganze spätere Denkmalkultur geht nach den Ausführungen Rudolf Steiners auf diesen altindischen Brauch zurück. Von Manu stammte das große Gesetz, welches bis in viel spätere Zeiten bestehen blieb. Nach diesem wurde die indische Menschheit in streng geschiedene Kasten eingeteilt. Ursprünglich gab es deren vier, doch alle vier waren Ausdruck -110-
und Offenbarung des göttlichen Wesens, des Brahma. Manu und seine Gehilfen, die sieben altehrwürdigen Weisheitslehrer - auch Rischis genannt - sagten etwa: Schauet auf die Gestalt des Menschen, auf seinen Kopf, seine Hände, seinen Rumpf und seine Füße! In alledem lebt Brahma, die allumfassende Gottheit. Doch anders lebte er im Kopf als in den Händen, wiederum anders in dem Rumpf als im tragenden Fuß. Und wie Brahma in der Menschengestalt offenbar wird, so auch in der menschlichen Gemeinschaft. Der Kopf ist zum Beraten da, und so gibt es auch unter den Menschen einige, die vornehmlich zum Beraten taugen. Die sollen »Brahmas Antlitz« heißen. Andere taugen dazu, Brahmas Willen zu verwirklichen. Die werden sein starker Arm sein. Dann gibt es die, welche für das tägliche Leben zu sorgen haben. Die dürfen sich Brahmas Hüfte nennen. Schließlich gibt es die Arbeiter, die durch ihren Fleiß die ganze Gemeinschaft tragen. Die stellen Brahmas Füße dar. Wie nun Kopf und Füße, Hände und Hüften aufeinander angewiesen sind und nicht gegenseitig stören - indem jedes Glied an seinem bestimmten Platz und für seine vorgeschriebenen Aufgaben wirksam ist -, so ist es auch mit den vier Gliedern der Gemeinschaft. Diese bildeten in der altindischen Zeit die vier heiligen Kasten. Streng wurde nach Manus Gesetz darauf geachtet, daß die Kasten sich nicht vermischten, sondern jede Kaste rein für sich erhalten blieb. Die erste Kaste, die Brahmanen, sollten keinen weltlichen Besitz und keine äußere Macht anstreben. Anspruchslos und einfach lebten sie in befriedeten Hainen und Wäldern. Ihre Nahrung bekamen die Brahmanen zum Teil von den anderen Kasten geschenkt, oder sie holten sich, was sie brauchten, aus der in Indien reichlich spendenden Natur. Zu den Brahmanen pilgerten die anderen Menschen hin, wenn sie einer Unterweisung bedurften oder Trost und Hilfe für ihr Leben suchten. Denn die Brahmanen bewahrten treu die ihnen von den Rischis gegebenen heiligen Weisheitslehren. So hatten sie -111-
ursprünglich die geistige Führung des altindischen Volkes inne. Darum stand auch ihre Kaste unter einem besonderen Schutz. Einen Brahmanen zu schädigen oder gar ums Leben zu bringen, galt als Todsünde. Der zweiten Kaste oblag es, die äußere Ordnung aufrecht zu halten. Dazu brauchte sie Macht und Kraft. Aus dieser Kaste gingen Könige, Fürsten, Verwalter und Waffenträger hervor. Daß die Gesetze befolgt wurden, der Friede Bestand hatte - alle Pflichten nach dieser Richtung lagen in der Hand dieser Kaste, in »Brahmas Arm«. Die dritte Kaste sorgte für den Austausch von Lebensmitteln, den Verkehr und was sonst dem allgemeinen Wohl und Gedeihen dienlich war. Sie wurde »Brahmas Hüfte« genannt und entsprach dem, was man in späteren Zeiten als Bürgerschaft bezeichnete. Die vierte Kaste, »Brahmas Fuß«, bildete das große Volk. Alle vier Kasten durften sich als wirkliche Glieder der Gottheit wissen und wurden als »rein und heilig« angesprochen. Durch diese Ordnung fühlte sich die altindische Menschheit richtig in die Gottheit eingegliedert, und die, welche sich dagegen auflehnten, fielen heraus und wurden als unrein, als »Paria« angesehen. In der urindischen Zeit war diese von Manu bestimmte Ordnung allen Menschen selbstverständlich, und die Kaste, in die man hineingeboren war, nahm jeder Mensch als gerechtes Schicksal, als sein Karma hin. Darüber konnten keine Zweifel aufkommen, denn immerfort unterrichteten die heiligen Rischis und die weisen Brahmanen die Menschen über die wahren Zusammenhänge des Lebens. Sie sagten ihnen: Nicht nur einmal lebt eure Seele in seinem Leib auf Erden. Die Seele kommt, solange sie vom Durst nach Dasein auf Erden getrieben wird, immer und immer wieder zurück. Sie kommt, um zu lernen oder um das in verflossenen Leben Begangene auszugleichen. Wie Tag und Nacht sich wechselnd ergänzen, so auch die Atemzüge des Lebens. Eingeatmet ist die Seele in einem Leibe tätig. -112-
Ausgeatmet weitet sie sich in Götterwelten aus. Für die frühindische Seele bestand eine innige Beziehung zum Elemente der Luft, und das gab dem damaligen Lebensgefühl sowie der ganzen Kultur ihre besondere Färbung. Und so war Indra, der Gott des Luftraumes, der Erhabenste der waltenden Mächte. Brahma, Wischnu und Schiwa - die urschöpferische, die erhaltende und die zu Ende führende und erneuernde Gottheit standen dem menschlichen Dasein ferner. Als dem Herrn und König des Himmels wurde Indra geopfert. Neben ihm stand Agni, der im Feuer lebende und durch das Feuer sich offenbarende Gott. Dann wurde der im Wasser waltende Waruna verehrt. Der Gott des Todes, zugleich auch der Gerechtigkeit, war der mächtige Jama. Außerdem gab es eine fast unüberschaubare Schar Geister und Gewalten, Halbgötter, Dämonen, »Schlangenwesen« - jedes Ding in der Natur barg Seelisches in sich. Wie fanden nun die Menschen jener Zeit den Weg zu den helfenden, segensreichen Mächten? Da gab es zunächst die besondere Kultur des Atmens, die geübt wurde. Dann aber wurde eine seelische Reinigung durch anhaltende, strenge Übungen in Selbstzucht und Entsagung erstrebt. Davon ist in den alten Sagen oft die Rede. Als letztes kamen die Opferhandlungen. Das alles bedeutete für die Seele eine Abkehr von den irdischen Bindungen, zugleich auch die volle Hingabe an die höheren Mächte. In diesem Sinne sprachen die sieben Weisheitslehrer und die Brahmanen zu ihren jüngeren Menschenbrüdern: Lasset euch nicht vom Schein der Welt verleiten, sondern richtet die Augen zu den ewigen Göttern und öffnet die Ohren für die Wahrheit. Bringet Opfer als Zeichen, daß ihr nicht der Maya unterliegt. Dann wird euch durch die Flamme am Altar das Wort der Götter vernehmbar. So war es im alten Indien selbstverständlich, daß nur hochbetagte Menschen in die Weisheit einzukehren vermochten. Deshalb wurde denen, die auf einen langen Lebensweg in -113-
Übung zurückblicken konnten, tiefe Verehrung entgegengebracht. Die so gereiften Menschen faßten ihre Ratschläge oft in Sprüchen zusammen, wie etwa dem folgenden: Unstet sind der Sinne Freuden, Wie ein Blitz im Schoß der Wolken. Einem Tropfen gleichet unser Leben, Zieht auf Sturmesfittichen dahin. Traue nicht Gelüsten deiner Jugend, Halme sind sie, alsbald geknickt. Alles, was hienieden, muß vergehn -Gottesweisheit kann allein bestehn.
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