Rasco Hartig-Perschke Anschluss und Emergenz
Rasco Hartig-Perschke
Anschluss und Emergenz Betrachtungen zur Irreduzi...
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Rasco Hartig-Perschke Anschluss und Emergenz
Rasco Hartig-Perschke
Anschluss und Emergenz Betrachtungen zur Irreduzibilität des Sozialen und zum Nachtragsmanagement der Kommunikation
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Universitätsdiss.: Technische Universität Hamburg-Harburg 2008
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Tilmann Ziegenhain VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16692-6
Inhalt
Vorwort und Danksagungen ........................................................................... 9 1
Zur Einführung – Soziale Emergenz, soziologische Theorie und die Strukturbildungskraft der Kommunikation .......................... 11 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
2
Die Soziologie und das Emergenzproblem ..................................... Forschungsinteresse, Zielsetzungen und Fragestellungen ............... Vorgehensweise .............................................................................. Inhalte .............................................................................................. Abschließende Hinweise .................................................................
11 26 35 36 40
Emergenz – Zu Phänomen und Begriff ................................................ 43 2.1 „Generalformel“ und „Heuristik“ .................................................... 44 2.1.1 Ebenen, Eigenschaften und Prozesse .................................. 44 2.1.2 Konzept und Nutzen ........................................................... 46 2.2 Grundzüge des Emergentismus ....................................................... 48 2.2.1 Über die „Emergenz“ der Emergenz .................................. 48 2.2.2 Voraussetzungen der Beobachtung von Emergenz ............. 50 2.2.2.1 Emergenzkriterien .............................................................. 51 2.2.2.2 Typen emergenter Phänomene .......................................... 56 2.2.2.3 Hierarchie der Existenzstufen ............................................. 58 2.3 Das Verhältnis von Emergenz und Konstitution als gemeinsames Bezugsproblem universaltheoretischer Ansätze – Strukturindividualismus und Systemtheorie .................................... 59 2.3.1 Emergenz und Konstitution in strukturindividualistischer Perspektive ......................................................................... 60 2.3.1.1 Grundzüge des Modells der soziologischen Erklärung ...... 62 2.3.1.2 Mikrodetermination und Reduzierbarkeit ........................... 64 2.3.1.3 Soziale Interaktion und Kommunikation ............................ 78 2.3.2 „Doppelte Emergenz“ – Selektionen, Kommunikationsereignisse und Sozialstrukturen in der Perspektive der Systemtheorie ............................................ 81
Inhalt
6
2.3.2.1 Von der Mikro-Makro-Differenz zur Autopoiesis psychischer und sozialer Systeme ...................................... 81 2.3.2.2 Soziale Ordnung in systemtheoretischer Perspektive ......... 84 2.3.2.3 Ein Problem und seine Lösung ........................................... 87 2.3.2.4 Kommunikation als soziales Ereignis ................................. 90 2.3.2.5 Zur Beobachtung von Kommunikation .............................. 93 2.3.2.6 Kommunikative Dynamik und soziale Strukturen .............. 94 2.3.2.7 Kommunikativer Monismus und Rotation ....................... 100 2.3.2.8 Kontextur und Semantik ................................................... 106 2.4 Zusammenfassung ......................................................................... 113 3
Theoretische Betrachtungen zum Nachtragsmanagement der Kommunikation ............................................................................ 119 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Vorbemerkungen ........................................................................... 119 Sozialer Sinn und Intersubjektivität .............................................. 121 Die Strukturbildungskraft der Ablehnung ..................................... 128 Die Konditionierung von Freiheitsgraden ..................................... 133 Die Koevolution von Kommunikation, Sprache und Bewusstsein ............................................................................ 137 3.5.1 Soziale Emergenz und Steuerungsprobleme ..................... 137 3.5.2 Symbolische Systeme ....................................................... 138 3.5.3 Dynamische Eigenwerte ................................................... 143 3.6 Kommunikationsanschlüsse und Ordnungsmuster – Die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung ............................. 148 3.6.1 Vom systemtheoretischen Kommunikationsmodell zum „Communication-Oriented Modelling“ .................... 148 3.6.2 Das Zwei-Ebenen-Modell kommunikativer Dynamik ..... 152 3.6.3 Strukturdynamiken, Reproduktionsmuster und soziale Sichtbarkeit ........................................................... 160 3.7 Zusammenfassung – Über die Möglichkeiten einer kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Emergenz ..... 166 4
Zur Modellierung sozialer Mechanismen .......................................... 173 4.1 Einführende Bemerkungen zur Bedeutung von Anschlussmustern .......................................................................... 173 4.2 Definitionen und Prinzipien .......................................................... 174 4.3 Anmerkungen zum Stand der Forschung ...................................... 179
Inhalt
7 4.3.1
4.4
4.5
4.6
4.7 5
Exkurs zur frühen soziologischen Mechanismenforschung .................................................... 4.3.2 Neuere Debatte ................................................................. 4.3.3 Soziale Mechanismen und soziologische Systemtheorie ................................................................... Kommunikation und Kausalität ..................................................... 4.4.1 Prozess und „Mechanik“ .................................................. 4.4.2 Funktionale Analyse und Kausalität ................................. Beispiele kommunikativer Mechanismen ..................................... 4.5.1 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien und Beobachtungsschemata .............................................. 4.5.2 Intersubjektivität, Sichtbarkeit und Reflexionskommunikation ................................................ Die kommunikationsorientierte Modellierung sozialer Mechanismen – Ansatz- und Bezugspunkte .................................. 4.6.1 Sequentialität und Parallelität ........................................... 4.6.2 Rekursivität/Reflexivität ................................................... Zusammenfassung .........................................................................
179 182 185 187 187 189 194 194 197 202 203 205 209
Nachtragsmanagement und Strukturdynamik – Beobachtungen zur kommunikativen Emergenz von Anschlussmustern und sozialen Eigenwerten ........................................................................... 215 5.1 Kommunikationsanschlüsse und Sinnverhältnisse ........................ 215 5.2 Kommunikative Vernetzungsdynamik und diskursive Realität .... 218 5.2.1 Fallbeispiel (1) – Modellierungsperspektiven .................. 218 5.2.2 Der Fall „Trent Lott“ ........................................................ 225 5.2.2.1 Nachtragsmanagement und Skandalemergenz ................. 225 5.2.2.2 Bestätigte Relevanzsetzungen .......................................... 241 5.2.2.3 Zum Ende eines Skandals – Der Rücktritt Lotts ............... 256 5.2.2.4 Widerspiegelung von Deutungsmustern und Markierung von Intersubjektivität in hochskalierten Kommunikationsprozessen – Abschließende Bemerkungen .................................................................... 261 5.3 Soziale Sichtbarkeit und positives Feedback – Einfluss und Wirkmächtigkeit als Effekt der Referenzierung und als Attribut von Mitteilungen .............................................................. 265 5.3.1 Fallbeispiel (2) – Modellierungsperspektiven .................. 265 5.3.2 Initialisierung in der Wahlblogosphäre ............................ 269
8
Inhalt
5.3.2.1 Kommunikation im reflexiven Modus .............................. 269 5.3.2.2 Verteilung von Sichtbarkeit .............................................. 275 5.3.2.3 Einfluss durch Initialisierung – Abschließende Bemerkungen .................................................................... 278 6
Schlussbetrachtung – Zu den Möglichkeiten und zur Zukunft einer kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Emergenz .............................................................................................. 283 6.1 Soziale Emergenz – Arbeit am Begriff und Begriffsklärung ....... 289 6.2 Anschluss und Emergenz in erweiterter Perspektive ..................... 298 6.3 Kommunikative Mechanismen sozialer Emergenz ....................... 303 6.4 Zur Modellierung der Strukturdynamik von Kommunikationsprozessen ........................................................... 304 6.4.1 Widerspiegelung von Deutungsmustern und Markierung von Intersubjektivität .................................... 304 6.4.2 Sichtbarkeit und Einfluss – Über die Markierung von Erstkommunikation und die Notwendigkeit zur Initialisierung .................................................................... 306 6.5 Ausblick ....................................................................................... 309
7
Literaturverzeichnis ............................................................................ 315
Zusatzmaterialien zu diesem Buch stehen als OnlinePLUS-Angebot unter www.vs-verlag.de zur Verfügung.
Vorwort und Danksagungen
Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogrammes 1077 „Sozionik – Erforschung und Modellierung künstlicher Sozialität“ (1999 – 2006) und ist ein Ergebnis des am Institut für Technik und Gesellschaft (ITG) der Technischen Universität Hamburg-Harburg (TUHH) verantworteten Teilprojektes „Communication-Oriented Modelling (COM) – Modellierung und Simulation gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse“. Sie wurde im Februar 2008 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der TUHH eingereicht und im Dezember 2008 erfolgreich verteidigt. Gegenstände der Arbeit sind die Auseinandersetzung mit dem soziologischen Emergenzbegriff und die Erklärung sozialer Emergenzphänomene auf Basis kommunikationssoziologischer Konzepte bzw. mit Hilfe kommunikativer Mechanismen. Es ist die von Kollegialität und Zusammenhalt geprägte Atmosphäre am ITG, die die Entstehung dieser Arbeit erst möglich gemacht hat. Besonders danken möchte ich Prof. Dr. Thomas Malsch, der ihre Entstehung mit Freude begleitet, und mir mit seinen Hinweisen und seiner Kritik immer wieder geholfen hat, im Forschungsprozess auftretende Probleme zu lösen und die Arbeit „in sich“ zu schließen. Ebenso möchte ich ganz herzlich Frau Prof. Dr. Marianne Pieper für ihre Unterstützung auf dem Weg zu meiner Promotion danken. Dank gilt ferner meinen ehemaligen und heutigen Kolleginnen und Kollegen am ITG für die zuteil gewordene Unterstützung; zu nennen sind: Marco Schmitt, Steffen Albrecht, Maren Lübcke, Michael Florian, Frank Hillebrandt, Bettina Fley, Miriam Barnat, Jan Fleck, Katrin Billerbeck, Jan Hildebrandt, Judith Muster, Christoph Juhl, Björn Greve, Lars Reißmann, Brigitte Freidel und Gabi Geringer. Schließlich möchte ich meinen Eltern Helmut und Theresa Perschke danken, die den langen Weg meiner Ausbildung erst ermöglicht haben; und ohne meine Frau Marsha Hartig wäre ohnehin alles nichts: Ich liebe Dich! Danken möchte ich auch Torsten Lüchau, mit dem mich seit langer Zeit eine intensive Freundschaft verbindet. Und ein herzliches Dankeschön gilt am Ende auch Tyson und Dolf, die mein Leben manches Mal in herrlicher Weise entschleunigt haben, auch wenn Sie das selbst gar nicht wissen können. Deinste, im Februar 2009
Rasco Hartig-Perschke
1 Zur Einführung – Soziale Emergenz, soziologische Theorie und die Strukturbildungskraft der Kommunikation
„(…) So wie sich Theoretiker der rationalen Wahl der Verfügbarkeit, so unterstellen sich Theoretiker des sozialen Netzes der Unverfügbarkeit des Sozialen. Im ersten Fall sind die Dinge trotz nichtintendierter und perverser Effekte letzten Endes auf einen menschlichen Willen zurechenbar, im Zweiten löst sich trotz der notwendigen Inrechnungstellung von Akteuren, die Schaltpunkte bedienen und Weichen stellen, im Endeffekt alles in Beziehungen, Verweisungen und Vermittlungen auf. Wir haben hier die beiden Träume der Moderne vor Augen, die entgegengesetzte Antworten auf das Problem der Selbstbestimmung bereitstellen: Der Eine führt die Erfahrung der Selbstbestimmung auf das Gefühl der Bewirkung einer Wirkung zurück, der Andere gründet die Erfahrung der Selbstbestimmung im Gefühl einer Resonanz im Ganzen. Die Sache ist als methodologische Differenz zwischen Individualisten und Holisten nicht in ihrer fundamentalen Bedeutung erfasst: Es geht um die Klärung des Weltbegriffs selbst. Während der Akteursbegriff beim Problem naher Wirkungen ansetzt, zielt der Netzbegriff auf das Problem entfernter Wechselwirkungen. So steht eine Welt der Zuständigkeiten und Erreichbarkeiten einer Welt der Überschreitbarkeit und der Rückbezüglichkeit gegenüber“ (Bude 2001: 68 f., sic!).
1.1 Die Soziologie und das Emergenzproblem In seinem 2001 veröffentlichten Aufsatz „Wo steht die Soziologische Theorie heute?“ identifiziert Heinz Bude den methodologischen Individualismus und die soziologische Systemtheorie als jene beiden Paradigmen, die in den neunziger Jahren den Umgang der soziologischen Theorie mit dem Phänomen sozialer Emergenz maßgeblich geprägt haben. Während der mittlerweile durch den ökonomischen Funktionalismus informierte methodologische Individualismus letztlich den „theoretischen Ort“ des Individuums wiederentdeckt habe, so Bude, sei es der Systemtheorie mit der Orientierung am Sinnbild des „Netzes“1 hingegen 1
Bude bemerkt zur soziologischen Orientierung am Sinnbild des „Netzes“: „Der Weg von Parsons zu Luhmann demonstriert andererseits den Wandel vom normativen zum systemischen Paradigma. Danach wird das Ganze nicht oder nicht mehr durch sozialisatorisch eingeprägte
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Zur Einführung
um eine Ablösung des soziologischen Denkens in „hypotaktischer Über- und Unterordnung“ durch das Denken von „parataktischer Verknüpfung und Verflüssigung“ gegangen (Bude 2001: 68). Richtet man den Blick auf die jüngere Vergangenheit, so lässt sich feststellen, dass methodologischer Individualismus und soziologische Systemtheorie weiterhin „in der Mitte“ der theoretischen Diskussion präsent sind (vgl. zusammenschauend u.a. Beiträge in Schimank und Greshoff 2005, Greshoff und Schimank 2006 sowie Schmitt, Florian und Hillebrandt 2006). Dass methodologischer Individualismus und Systemtheorie Theoriediskussionen weiterhin prägen, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass beide Ansätze nicht nur einen expliziten universaltheoretischen Anspruch formulieren, sondern diesen auch unter allen Umständen zu wahren versuchen, indem sie andere Theorien in ihren eigenen Begrifflichkeiten rekonstruieren und in ihren eigenen Begriffen zeigen, warum gegen sie opponiert wird (vgl. Sutter 2006: 64). Reibungen und Konflikte zwischen den beiden Paradigmen waren vor allem aufgrund ihres entgegengesetzten Umgangs mit den soziologischen Grundbegriffen der Kommunikation und des Handelns immer vorprogrammiert und bleiben es auch weiterhin. Die grundlegenden Annahmen beider Paradigmen sind zuletzt im Rahmen der soziologischen Emergenzdebatte (vgl. Heintz 2004, Sawyer 2005, Albert 2005, Bütterlin 2006 und Greve 2006) erneut diskutiert, kritisiert, reformuliert und ergänzt worden. Das Hauptaugenmerk dieser Debatte gilt ganz unmittelbar der Frage, wie sich die Eigenständigkeit sozialer Phänomene bzw. sozialer Ordnung grundsätzlich denken, belegen und erklären lässt. In seiner „Standortbestimmung“ nennt Heinz Bude eine Reihe typischer Wendungen und Begriffe, die in individualistischer bzw. systemtheoretischer Perspektive die Eigenständigkeit des Sozialen, d.h. seinen Charakter als emergentes Phänomen, umschreiben helfen sollen. In der Perspektive des methodologischen Individualismus sind es die „nichtintendierten“ oder manchmal vielleicht auch „pervers“ erscheinenden Effekte des menschlichen Handelns, die relevant sind und sich im Rückbezug auf individuelle Entscheidungen erklären lassen sollen. In systemtheoretischer Perspektive zählen hingegen kommunikative „Beziehungen“, „Verweisungen“ und „Vermittlungen“, deren sozialkonstitutives Potential unabhängig von den Intentionen der Akteure gedacht wird (Bude 2001: 69). Beide Paradigmen gehen im Detail nicht nur unterschiedlich vor, wenn es Leitwerte und normativ hochgehaltene Letztbegründungen gestützt, sondern durch die Transversalität eines sozialen Bandes in Bewegung und Verbindung gehalten. Nicht der innengeleitete Mechanismus der Wertgeneralisierung, sondern der außengeleitete des kommunikativen Abtastens erlaubt den Umgang mit normativer Unsicherheit und kognitiver Ungewissheit. Dafür steht der Begriff des Netzes zur Verfügung, der Vorstellungen von Übersetzung (Bhabha 1994), loser Koppelung (Weick 1985), unwahrscheinlicher Anschlüsse (Luhmann 1984) und anfangs- und endloser Weiterführung (Mead 1968) zusammenbringt“ (Bude 2001: 68).
Die Soziologie und das Emergenzproblem
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darum geht, soziale Emergenz zu beschreiben und zu erklären; in beiden Paradigmen wird unter sozialer Emergenz vielmehr auch Anderes verstanden. Die grobe Stoßrichtung ist indes aber dieselbe: Methodologischer Individualismus und soziologische Systemtheorie wollen (kausal bzw. funktional) erklären, wie soziale Makrophänomene auf der Basis von Mikroprozessen instanziiert werden, und sie wollen erklären, wie diese Makrophänomene – eingedenk der ihnen innewohnenden Eigenschaften – auf Mikroprozesse (zurück)wirken. Ausgehend vom Zusammenspiel einer Mikro- und einer Makroebene des Sozialen bzw. vom Ineinandergreifen unterschiedlicher Systemebenen suchen sie tragfähige Antworten auf die Frage zu finden, wie Formen und Zustände sozialer Ordnung (re)produziert oder von anderen Formen und Zuständen sozialer Ordnung abgelöst werden. Sowohl methodologisch-individualistische Ansätze, die die Gesellschaft als eine „den konkreten Individuen tatsächlich vorgängige und ihr Handeln stark prägende Kraft“ (Esser 1996: 404) verstehen, wie auch systemtheoretische Ansätze sind immer „zweiseitig“ orientiert. Sie interessieren sich gleichzeitig für jene Relationen, die zwischen verschiedenen Ordnungszuständen auf der Ebene des Sozialen bestehen und für jene Beziehungen, die zwischen Akteur und Gesellschaft, zwischen Handeln und Struktur, zwischen individueller Selektion, sozialem Ereignis und Sozialstruktur, kurz: zwischen der Ebene des Sozialen und des Psychischen gegeben sind. Was sie mit Blick hierauf allerdings voneinander unterscheidet, sind (1) jener Punkt, an dem sie die Erklärung sozialer Phänomene beginnen lassen und (2) die in jeweiligen Analysen Verwendung findenden Begrifflichkeiten und Konzepte. Wenn einerseits immer klar sein muss, dass das Soziale ein Effekt der Verschränkung individueller Selektionen unterschiedlicher Akteure ist, andererseits aber auch offensichtlich ist, dass die Gesellschaft ein „Eigenleben“ bzw. „Eigensinn“ (Ellrich und Funken 1998: 346) entwickelt, so stellt sich immer das Problem, wie dieser „Eigensinn“, wie diese Eigenständigkeit des Sozialen angemessen erfasst, auf den Begriff gebracht und erklärt werden kann. Während moderate individualistische Ansätze von einer ontologischen Irreduzibilität des Sozialen ausgehen wollen, gleichzeitig aber soziale Phänomene grundsätzlich unter Rekurs auf das psychische Moment der Handlungswahl zu erklären suchen (epistemologische Reduzibilität), haben kollektivistische Ansätze hingegen immer wieder die ontologische wie epistemologische Irreduzibilität des Sozialen betont. Und dennoch geht es im Rahmen beider Perspektiven gleichermaßen um soziale Emergenz (vgl. zu einer Gegenüberstellung von „individualist“ und „collectivist theories of emergence“ Sawyer 2005: 73 ff. sowie 78 ff.). Der Begriff der „Emergenz“ wird in der Soziologie zumeist also recht vage und allgemein in den verschiedensten Kontexten genutzt, um Prozesse der Entstehung, Reproduktion
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Zur Einführung
und Transformation sozialer Ordnung zu bezeichnen (Heintz 2004: 4 f.). Tatsächlich aber sind – wissenschaftsphilosophisch und -historisch betrachtet – auch mit dem Begriff der Emergenz „engere“ Bedeutungen verbunden, die es streng genommen unmöglich machen, diesen umstandslos in allen möglichen Theoriekontexten zu verwenden. Auch soziologische Theorien lassen sich vor dem Hintergrund dieser Bedeutungen bzw. vor dem Hintergrund bekannter Kriterien für Emergenz gegenlesen, um zu ergründen, was unter dem Begriff der „sozialen Emergenz“ überhaupt verstanden werden kann. In Anbetracht der bislang vage bleibenden Begriffsverwendung in der Soziologie und der unübersichtlichen Bedeutungslage ist es dementsprechend an der Zeit, sich noch einmal dezidiert mit dem Problem sozialer Emergenz, dem emergentistischen Denken und dem Verhältnis von Emergenz und Konstitution in der soziologischen Theoriebildung zu beschäftigen. An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an. Ihr Ziel ist es, weiterführend zu untersuchen, was unter dem neuerlich wieder intensiver diskutierten Begriff „sozialer Emergenz“ tatsächlich verstanden, und wie seine „Trennschärfe“ erhöht werden kann. Ihr Ziel ist es ebenso, zu ergründen, wie sich Prozesse sozialer Emergenz beschreiben und modellieren2 lassen. Auch die vorliegende Arbeit reiht sich somit in die Tradition der Behandlung des Emergenzproblems ein. Mit ihr wird die Hoffnung verbunden, neue Einsichten ermöglichen zu können, die insbesondere helfen, die soziologische Emergenzdebatte voran zu bringen. Dies ist die übergeordnete, allgemeine Zielsetzung der Arbeit. Der Begriff der „sozialen Emergenz“ weist zunächst ganz allgemein darauf hin, dass Gesellschaft und Sozialität mehr und anderes sind als der „bloße“ Verbund von Individuen bzw. noch mehr und anderes sind, als die zwischen sozialen Akteuren bestehenden Beziehungen und jene Vorstellungen, die sich Individuen hiervon machen. Sozialität wird, sofern von Emergenz die Rede ist, als ein in bestimmter Hinsicht irreduzibles Phänomen erfahren, das auf „(...) Abstraktionsleistungen beruht, die den Zusammenhalt des Ganzen ebenso garantieren wie gefährden“ (Ellrich und Funken 1998: 351). Und die Erklärung der Entstehung, der Reproduktion und der Veränderung dieser „Abstraktionsleistungen“, der Erscheinungs- bzw. Ausdrucksformen von sozialer Ordnung, ist die zentrale 2
Mit dem Begriff der „Modellierung“ soll hier jede Form reflexiver Theoriearbeit bezeichnet sein, deren Ansinnen es ist, alle sozialen Phänomene auf der Basis eines einzigen, wohldefinierten und begrenzten Sets von Konzepten und Grundbegriffen zu beschreiben und zu erklären. Der Begriff der „Modellierung“ wird erst seit einigen Jahren auch in der Soziologie mehr und mehr als Synonym für die nach Abstraktionsgewinn und Präzision strebende, anspruchsvolle Theoriearbeit verwendet. Er ist vor allem im Kontext der Sozionik, eines Forschungsfeldes zwischen Soziologie und Informatik bzw. genauer zwischen Soziologie und Verteilter Künstlicher Intelligenz (VKI), popularisiert worden (vgl. u.a. die Beiträge in Malsch 1998 und in Kron 2002 sowie von Lüde, Moldt und Valk 2003). Wir werden auf den Begriff der Modellierung im Folgenden immer wieder zurückkommen.
Die Soziologie und das Emergenzproblem
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Aufgabe der Soziologie. Sie ist indes keine leichte, sind die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Stabilität und sozialen Wandels doch immer zahlreich und komplex. Was soziale Emergenz – verstanden als Prozess – und was Sozialität – verstanden als (vorübergehend „definiertes“ und mit sich selbst identisch bleibendes) eigenständiges Prozessresultat3 – genau ist, wie Emergenz beschrieben und erklärt werden kann, gilt folglich immer wieder als umstritten. Kaum umstritten sein dürfte allerdings, dass ein gehaltvoller Begriff „sozialer Emergenz“ immer „(…) sowohl den Vorgang, in dem und durch den etwas Neues hervortritt, als auch die neuartige Qualität des Hervorgetretenen bezeichnet“ (ebd.: 354). Die vordergründige Aufmerksamkeit der Soziologie gebührt üblicherweise der Frage, inwiefern ein jedes zu erklärendes soziales Ereignis, ein jeder zu erklärender sozialer Prozess und eine jede zu erklärende soziale Struktur in seiner bzw. ihrer Existenz durch andere, vorgängige Ereignisse, Prozesse und Strukturen bedingt ist und/oder durch sich parallel vollziehende Ereignisse und Prozesse (mit) beeinflusst und geformt wird. In akteurstheoretischer Perspektive wird vor diesem Hintergrund danach gefragt, warum bestimmte Handlungen, verstanden als „Bausteine“ des Sozialen bzw. soziale Ereignisse, vom Akteur ausgewählt und vollzogen werden und welche Wirkungen diese auf das Verhalten/Handeln anderer Akteure haben bzw. welche strukturellen Wirkungen infolge von Handlungsverknüpfungen eintreten (vgl. allgemein zu den akteurstheoretischen Grundlagen der Soziologie Schimank 2000). Soziale Strukturen werden in dieser Perspektive vornehmlich als „Rahmenbedingungen“ des intentionalen Handels und der Transformation seiner „lokalen“ Effekte in „globale“, strukturelle Wirkungen betrachtet und thematisiert (vgl. exemplarisch Esser 1996: 83 ff. sowie 91 ff.). „Motor“ der Emergenz sind aber immer nur die individuellen Handlungsentscheidungen und die auf ihrer Basis vollzogenen individuellen Handlungen. Diese Beobachtungsperspektive bzw. Vorgehensweise führt die Erfahrung der individuellen wie gesellschaftlichen Selbstbestimmung in erster Linie auf das „(...) Gefühl der Bewirkung einer Wirkung (...)“ (Bude 2001: 69) zurück. Methodologisch-individualistische Ansätze gehen davon aus, dass vor allem eine 3
Man vergleiche hierzu nur die unterschiedlichen Vorstellungen von „sozialer Struktur“, die in der Soziologie nebeneinander existieren (vgl. für einen Überblick Reckwitz 1997). Andreas Balog hat zuletzt kritisiert, dass sich die Soziologie zu wenig Gedanken über die Verfasstheit ihres Gegenstandes gemacht habe und mache: „Betrachtet man die Geschichte der Soziologie, erkennt man, dass die zentralen theoretischen Dispute entweder durch spezifische methodische Standpunkte bestimmt sind oder durch inhaltliche Aussagen, die zumeist aus theoretischen Überlegungen entstanden sind. Diese inhaltlichen Aussagen beziehen sich vor allem auf die Voraussetzungen für das Bestehen geordneter sozialer Zustände beziehungsweise der ‘Gesellschaft‘. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass dem Gegenstandsbereich wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde und sein Aufbau und seine Eigenschaften kaum explizit diskutiert wurden“ (Balog 2006: 9).
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Zur Einführung
abstrakte Rekonstruktion der dem individuellen Handeln zugrunde liegenden Entscheidungslogiken mit Hilfe von Handlungsgesetzen und Akteursmodellen nötig ist, um Prozesse sozialer Emergenz reduktiv erklären zu können. Psychische Dispositionen bzw. Intentionen erscheinen so als Letztelemente, die die Emergenz von Sozialität bestimmen. Häufig wird unterstellt, dass Handlungsentscheidungen vornehmlich rational geprägt und ein Ergebnis der Abwägung von Bedürfnissen, Wahrscheinlichkeiten der Zielerreichung und möglicher Alternativen sind. Und vor eben diesem Hintergrund wird es schließlich weiterführend interessant zu untersuchen, welche Transformationsmechanismen dafür Sorge tragen, dass eine soziale Situation, ein soziales Gebilde oder ein sozialer Prozess auf der Basis vieler individueller Entscheidungen emergiert, in einem Zustand „verharrt“ oder von einem Zustand in den nächsten überführt wird. Die Eigenständigkeit sozialer Phänomene bzw. der Emergenzcharakter ihrer Eigenschaften wird hier also parallel geführt zur Möglichkeit einer die Ebene des Sozialen nach unten hin „überschreitenden“ oder „übergreifenden“, punktgenauen epistemologischen Reduktion, die allerdings unglücklicherweise auch wieder fraglich werden lässt, in welcher Hinsicht genau das Soziale (noch) als „eigenständig“ und „unabhängig“ definiert werden kann (vgl. zu dieser Kritik allgemein Heintz 2004 sowie Albert 2005). Im Gegensatz hierzu geht die Theorie sozialer Systeme nach Niklas Luhmann davon aus, dass keine Entscheidung, keine Selektion eines Akteurs „für sich“ genommen soziale wie soziologische Relevanz beanspruchen kann (vgl. Luhmann 2002: 247 ff.). Unter Bezugnahme auf die Logik individueller Selektionen lässt sich soziale Emergenz in dieser Perspektive nicht erklären. Luhmann plädiert dafür, die soziologische Modellbildung nicht auf die Entscheidungen bzw. Intentionen sozialer Akteure hin auszurichten, sondern vor dem Hintergrund der Annahme eines strikt getrennten und überschneidungsfreien Operierens psychischer und sozialer Systeme danach zu fragen, was aus der punktuellen Verschränkung unterschiedlicher Selektionen verschiedener Akteure zu einem bzw. zu mehreren sozialen Ereignis(en) folgt. Die soziologische Systemtheorie proklamiert die ontologische und epistemologische Irreduzibilität der Eigenschaften sozialer Systeme. Die Annahme: In jener Verschränkung von Selektionen, die von der Systemtheorie als die „dreistellige Einheit“ der Kommunikation (vgl. Luhmann 1984: 196) bezeichnet wird (sie ergibt sich immer, sobald Akteure sich in ihrem Verhalten wechselseitig voneinander bestimmen lassen wollen und Bezugnahmen unter dem Eindruck „doppelter Kontingenz“ versuchen), und mit neuen Kommunikationsanschlüssen, im Moment des „Verweises“ und der „Vermittlung“ (Bude 2001: 69), wird der Sinn individueller Intentionen fortlaufend und unmittelbar sozial „überformt“ und „verformt“. Soziale Ordnung stellt somit das emergente und nicht mehr auf die ursprünglichen Intentionen der Indi-
Die Soziologie und das Emergenzproblem
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viduen zurückführ- und reduzierbare Ergebnis dieser (fortwährenden) Überformung und Verformung dar. Erst die Synthese der Selektionen mindestens zweier Akteure ist in dieser Perspektive ein genuin soziales, die Emergenz sozialer Ordnung tragendes und prägendes Ereignis, und worauf es ankommt, damit soziale Ordnung bzw. die Bedingungen ihrer Möglichkeit nicht aufhören zu existieren, ist die Verknüpfung von solchen Ereignissen zu sozial sinnhaften Kommunikationsepisoden. Der soziologischen Systemtheorie geht es um die „(...) Resonanz im Ganzen“, und das Problem, welches es in dieser Perspektive zu bearbeiten gilt, ist dementsprechend das „(...) Problem [mehr oder weniger, RHP] entfernter Wechselwirkungen“ (ebd.: 69) kommunikativer Ereignisse. Nicht die reduktionistische Rekonstruktion von Intentionen erklärt in dieser Perspektive die Emergenz von Sozialität, sondern die Rekonstruktion von Kommunikationsanschlüssen und des Ablaufs von Kommunikationsprozessen bzw. genauer: die Aufdeckung der strukturellen Effekte und Funktionen von Kommunikation(en). Kurz zusammengefasst: Mit Blick auf das Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen zueinander bedeutet der Begriff der Emergenz in systemtheoretischem Sinne nicht mehr als „Unerklärbarkeit“, mit Blick auf die Kommunikation, d.h. im Hinblick auf jenen Vorgang, durch den psychische Systeme erst gegenseitig aufeinander Bezug nehmen können und mit dem soziale Systeme unterschiedlicher Art infolge der Synthese von „objektivem sozialen Sinn“ entstehen und reproduziert werden, bedeutet Emergenz jedoch (auch und stattdessen) die Möglichkeit der „Reduktion“ auf einen „Mikroprozess“, nämlich auf die Art und Weise des „Anschließens“, d.h. die Möglichkeit einer soziologischen Erklärung im Sinne eines „bottom up-approachs“ (vgl. zur methodologischen Bedeutung dieser Möglichkeit der „Reduktion“ auf Kommunikationsanschlüsse bzw. Kommunikationsprozesse insbesondere Sawyer 2005: 176 ff. sowie für eine Diskussion der mit einem entsprechenden „bottom up-approach“ einhergehenden Möglichkeiten soziologischen Erklärens Malsch 2005). Der kommunikationsorientierten Systemtheorie nach Luhmann ist nun allerdings vor allem aus der Perspektive des methodologischen Individualismus bzw. der strukturindividualistischen Soziologie – so wie sie in Deutschland insbesondere von Hartmut Esser vertreten wird – immer wieder vorgeworfen worden, sie würde keineswegs die Emergenz sozialer Phänomene „von unten“ erklären können, sondern sie liefere lediglich abstrakte Beschreibungen sozialer Zusammenhänge (vgl. für eine aktuelle Kritik Esser 2007). Die kausale Erklärung der Entstehung, der Reproduktion und des Wandels sozialer Strukturen setze aber voraus, bei den Situationsdefinitionen und Handlungswahlen der Akteure, beim „psychischen Moment“ anzusetzen, und nur in eben diesem Sinne ließe sich schließlich auch von der – selbstverständlich immer Ebenen übergreifend reduktionistisch erklär-
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baren – Emergenz des Sozialen sprechen (vgl. ebd.: 351 ff. sowie allgemein Esser 1996: 94 ff.). Tatsächlich wird die soziologische Systemtheorie oft ungerechtfertigt als eine reine Makrotheorie oder als ein reiner „top down-approach“ wahrgenommen, weil sie eine ausschließlich strukturalistische und globale Perspektive auf das Soziale, verstanden als ein Netz von unterschiedlichen Typen sozialer Systeme, nahe zu legen scheint. Der Strukturindividualismus hingegen wird eingedenk seiner vordergründigen Orientierung am sozialen Handeln zumeist als ein mikrosoziologischer „bottom up-approach“ wahrgenommen, der es vermag, Prozesse sozialer Emergenz auf der Basis weniger, miteinander in Beziehung stehender und sich vor allem auf den Vorgang der Handlungsentscheidung beziehender Grundbegriffe zu erklären. Im Rahmen aktueller soziologischer Forschungen zur Emergenztheorie ist solchen Charakterisierungen vehement widersprochen worden (vgl. Heintz 2004, Sutter 2006 sowie für eine dezidierte Kritik an der Emergenzvorstellung des methodologischen Individualismus Albert 2005). Zum einen fokussiert die Systemtheorie nach Luhmann – wie schon angedeutet – keineswegs ausschließlich auf Makroebenen des Sozialen: Ihre Annahmen gelten für alle Typen sozialer Systeme, angefangen bei der Interaktionsdyade über Interaktionszusammenhänge, über Organisationen, über Funktionssysteme bis hin zum System der Weltgesellschaft, und Kommunikationsanschlüsse sind die Grundlage der Autopoiesis eines jeden Systemtyps. Zum anderen ist von verschiedenen AutorInnen erneut bezweifelt worden, dass es sich im Falle des Strukturindividualismus um eine Theorie handelt, die die Eigenständigkeit des Sozialen tatsächlich ausreichend anerkennt bzw. ausreichend zu verstehen und zu berücksichtigen vermag. Gerd Albert hat so z.B. argumentiert, dass der Strukturindividualismus bzw. der moderate methodologische Individualismus höchstens „schwach emergente“ soziale Phänomene kenne (die sich dafür aber problemlos reduktionistisch erklären lassen) und generell immer wieder in die Nähe eines starken methodologischen Individualismus rücke, der letztlich die Vorstellung aufgeben muss, dass soziale Phänomene mehr und anderes sind als Beziehungen zwischen Akteuren und die Vorstellungen, die sich diese hiervon machen (vgl. Albert 2005: 392 ff. sowie ergänzend Heintz 2004: 19). Auch Bettina Heintz hat bezweifelt, dass sich die reduktionistische Grundauffassung des Strukturindividualismus mit der Annahme einer „vorgängigen“, „prägenden Kraft“ der Gesellschaft (so formuliert von Hartmut Esser in den „Allgemeinen Grundlagen“ seiner Soziologie; Esser 1996: 404) vereinbaren lässt (vgl. Heintz 2004: 19). Während Albert dem Modell soziologischer Erklärung nach Esser ein alternatives, durch die Soziologie Webers inspiriertes, emergenztheoretisches Modell („moderater methodologischer Holismus“) entgegensetzen möchte (vgl. Albert 2005: 398 ff.), identifiziert Bettina Heintz sowohl die Soziologie Emile Durkheims als auch die Systemtheorie Nik-
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las Luhmanns als emergenztheoretische Ansätze, die (1) die Abhängigkeit sozialer Phänomene von individuellen Selektionen zweifelsfrei in Rechnung stellen würden; die (2) in der Lage seien, Prozesse der Emergenz auf der Basis von allgemeinen Grundbegriffen und unter Berücksichtigung der sich zwischen individuellen Selektionen ergebenden Wechselwirkungen sowie der prägenden Kraft von sozialen Institutionen zu modellieren4; und die es darüber hinaus (3) vermögen, die emergenten, irreduziblen Eigenschaften des Sozialen in angemessener Weise zu beschreiben (vgl. Heintz 2004: 19 ff.). Gerade Luhmanns Systemtheorie scheint für Heintz alle Facetten des Phänomens und Begriffs sozialer Emergenz abzudecken. Luhmann definiert Kommunikationen als emergente soziale Ereignisse und ihre selektive Verknüpfung als einen sozialen Prozess, dessen Sinnhaftigkeit und Effekte sich nicht umstandslos auf die Selektionen einzelner Akteure zurückführen lassen. In Anbetracht des überschneidungsfreien und getrennten Umgangs von psychischen und sozialen Systemen mit der Differenz von Aktualität und Potentialität, mit dem Universalmedium Sinn (vgl. zur Universalität von Sinn Luhmann 1984: 92 ff.), bezeichnet und beschreibt der Begriff der sozialen Emergenz die epistemologische Irreduzibilität und die unhintergehbare, (sinn)formbedingte Eigenständigkeit („objektiver sozialer Sinn“) des Sozialen. Die grundlegende systemtheoretische Annahme des getrennten und überschneidungsfreien Prozessierens von psychischen und sozialen Systemen auf Basis struktureller Kopplung bedeutet, dass die Autopoiesis letzterer zwar immer von der Aktivität ersterer abhängt, dass eine kommunikative Verschränkung der Selektionen verschiedener Akteure aber zur Genese bzw. Emergenz von sinnhaften Eigen- und Strukturwerten führt, deren Eigenschaften nicht ohne Weiteres von Einzelnen manipuliert, und deren „Realität“ und Wirkmächtigkeit (Prägekraft) individuell nie vollständig „begriffen“ werden können, auch wenn einzelne Akteure vom Gegenteil überzeugt sein mögen. Eigen- und Strukturwerte wie Erwartungen, kollektiv geteilte Interpretationen, Deutungsmuster, Subjektbilder, Wirklichkeitsmodelle, soziale und politische Rationalitäten, personale und soziale Identitäten etc. werden in und mit der Kommunikation immer wieder aufgerufen und können nur in und mit der Kommunikation Modifikation erfahren. Wie diese Modifikation ausfällt, hängt allerdings davon ab, welche Wechselwirkungen oder Beziehungen sich zwischen Kommunikationsereignissen einstellen.
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Bettina Heintz sieht hier Luhmann klar im Vorteil. Durkheim würde zwar die sozialen Tatsachen aus den Wechselwirkungen zwischen Individuen entstehen lassen, habe sich letztlich aber nie systematisch mit ihnen und ihren unmittelbaren Effekten auseinandergesetzt. Luhmann hingegen habe die für Emergenzprozesse charakteristischen Wechselwirkungen im Rahmen seiner Kommunikationstheorie als Selektionsverschränkungen und Kommunikationsanschlüsse in den Blick genommen (vgl. Heintz 2004: 21 ff.).
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Die Entstehung, die Reproduktion oder auch die Transformation sozialer Eigenund Strukturwerte lassen sich in der Perspektive einer/eines externen Beobachterin/Beobachters als Effekte von Kommunikationsanschlüssen erklären (vgl. hierzu in methodischer Hinsicht auch Vogd 2005: 65 ff.). Herauszufinden ist, wie Akteure mit jeweils neuen Sinnofferten auf die Sinnofferten anderer „reagieren“ und wie wiederum auch mit diesen „Reaktionen“ umgegangen wird. Herauszufinden ist, welche „Gesamthandlungen“ (vgl. Schneider 1994: 177) entstehen, und in welchem sozialen Ko- und Kontext sie stehen.5 Die entscheidende Frage ist somit, wie Kommunikationsprozesse als Mikroprozesse oder Mikromechanismen der „Sinnverkettung“ (Bormann 2005: 60 f.) oder der Sinn/Informationssynthese (vgl. Flusser 2003: 16 ff.) wirken. Die Auswirkungen von Kommunikationsanschlüssen sind immer nur vorläufig und werden mit neuen Kommunikationsanschlüssen entweder in ihrer sozialen Bedeutung verstärkt oder wieder abgeschwächt. Wichtig ist hier zunächst festzuhalten, dass es in systemtheoretischer Perspektive die Wechselwirkungen von Kommunikationsereignissen sind, die soziale Emergenz ausmachen und erklären: „Da sich alle sozialen Systeme über Kommunikation reproduzieren, sind es letztlich die Kommunikationen und deren selektive Verknüpfungen, die die jeweils spezifischen Systemmerkmale erzeugen. Ändert sich der kommunikative Zusammenhang, müssten sich auch die Systemmerkmale ändern. In diesem Sinne könnte man von einer Supervenienzrelation bzw. von einer kommunikativen ‚Mikrodeterminiertheit‘ der Systemeigenschaften sprechen“ (Heintz 2004: 24). Wird der Blick unmittelbar auf Kommunikationsanschlüsse bzw. Kommunikationsprozesse und ihre jeweiligen Effekte gerichtet, so sind auch systemtheoretisch orientierte Ansätze in der Lage, soziale Emergenz zu erklären. Was in einer solchen Perspektive nicht interessiert ist, warum Akteure bestimmte Sinnofferten in den Kommunikationsprozess einbringen, sondern wie im Zusammenspiel von Sinnofferten soziale, kollektiv mehr oder weniger weitgehend geteilte Bedeutungen und Deutungsmuster konstituiert, und auf diesem Wege soziale Eigen- und Strukturwerte erschaffen, reproduziert oder verändert werden (vgl. für Beispiele u.a. Schneider 1994, 2001 und 2004, Messmer 2003a und 2003b, Malsch 2005 sowie Hartig-Perschke 2006). Kommunikation – verstanden als die Verknüpfung von Sinnofferten zu übergeordneten Sinnzusammenhängen bzw. als Synthese sozialen Sinns – ist jener Prozess, der in kommunikationssoziologischer und systemtheoretischer Perspektive Erklärungslast übernehmen kann und 5
SemiotikerInnen und LinguistInnen verstehen heute unter dem Begriff des „Kontextes“ vor allem den Handlungs- und Situationsaspekt sprachlicher Ausdrücke, „(…) während der Bezug eines Textes auf sein textliches Umfeld mit dem Kotextbegriff abgedeckt wird“ (Mill 1998: 89). Zu unterscheiden ist also zwischen den nichttextuellen und textuellen Voraussetzungen für kommunikatives oder interpretatives Handeln.
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muss: Kommunikation ist generativer und erklärender Mechanismus, Kommunikation ist die Autopoiesis sozialer Systeme. Die Autopoiesis sozialer Systeme wird durch Strukturen in der Form von Erwartungen (vgl. Luhmann 1984: 396 ff.) orientiert und stabilisiert. Erwartungen sind – anders als der Begriff zunächst vermuten lässt – systemtheoretisch als soziale Sinnformen, nicht aber vordergründig als individuelle Dispositionen definiert. Ein anschauliches Beispiel für generalisierte und stabile Sinnformen sind u.a. Preise. Sie stellen sicher, dass im Wirtschaftssystem immer neue Zahlungen an bereits geleistete Zahlungen anschließen können (vgl. zur Funktion von Preisen Luhmann 1988: 110 ff.). Erwartungsstrukturen lassen sich allgemein als Formen (mehr oder weniger stark) generalisierten sozialen Sinns definieren, die Kommunikationsanschlüsse verlässlich einschränken und konditionieren helfen. Sie reichen von sozialen Semantiken, Themenpräferenzen, sozialen Adressen, Personen, Rollen über Rationalitäten und Programme bis hin zu symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (SGKM). Luhmann selbst hat auf hochabstraktem Niveau beschrieben, wie hochgeneralisierte Erwartungen durch „Aufruf“ und „Erfüllung“ im Kommunikationsereignis die Autopoiesis von sozialen Systemen sowie ihren eigenen Fortbestand sichern. Zwar wird anhand von Luhmanns Beschreibungen deutlich, wie man sich die Autopoiesis unterschiedlicher Systemtypen „grob“ vorzustellen hat; fraglich bleibt zunächst allerdings, ob und wie sich von ihm entwickelte Konzepte und Begrifflichkeiten auch für die empirische Analyse von Kommunikationsprozessen nutzen lassen. Das Problem: In der Kommunikation werden in der Regel mit einem jeden Ereignis mehrere unterschiedliche Selektionsbeschränkungen aufgerufen, und jedes anschließende Ereignis wirkt in verschiedener Hinsicht strukturstabilisierend und/oder strukturdestabilisierend. In der Kommunikation werden Themen gesetzt, aufgegriffen und angenommen oder abgelehnt; in der Kommunikation wird auf der Basis von Zurechnungen „personalisiert“ und auf Annahmen und Unterstellungen (sie tragen immer auch zur Konstitution von Identität bei) positiv oder negativ reagiert; in der Kommunikation werden Deutungsmuster präsentiert, diskutiert, verworfen oder verfestigt. In Analysen ist also nicht nur herauszufinden, wie einzelne und hochgeneralisierte Erwartungen (zu nennen wären hier z.B. symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien) Anschlussfähigkeit „im Vornherein“ sichern helfen. In empirischen Analysen ist ebenso danach zu fragen, welche weiteren Strukturwerte „lokal“ für das Zustandekommen von Kommunikationsanschlüssen eine Rolle gespielt haben, und wie diese „nachträglich“ bekräftigt oder auch unterlaufen, d.h. stabilisiert oder destabilisiert wurden. Luhmann hat darauf hingewiesen, dass Annahmen von Sinnofferten Strukturen prinzipiell stabilisieren, während Ablehnungen die Wahrscheinlichkeit von Metakommunikation und Revision erhöhen können (vgl. ganz allgemein Luhmann 1984: 377
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ff. und 488 ff.). Um verstehen zu können, wie unterschiedliche soziale Strukturen „mit der Zeit“ Ausdifferenzierung, Stabilisierung oder auch Veränderung erfahren, muss allerdings im Detail analysiert werden, wie sich das Zusammenspiel von nacheinander und/oder parallel kommunizierten „Erfüllungen“ und „Enttäuschungen“ gestaltet, d.h. wie bestimmte Anschlussformen und Anschlussfolgen bzw. Anschlussmuster den Prozess der Sinnverkettung bzw. Sinnsynthese tragen. Alfons Bora zufolge lassen sich die oben bereits angesprochenen sozialen Eigenwerte6 wie z.B. Themen, Semantiken, Deutungsmuster, Rollen, Rationalitäten, Identitäten etc. unmittelbar als „differenzierte Strukturen von sozialen Systemen“ definieren, die sich miteinander zu Diskursformationen verbinden (können) (Bora 2000/2005: 1, Hervorheb. im Original). Auch Luhmann ist sich der sozialen Relevanz „differenzierter Strukturen“ bewusst, diskutiert aber nicht exemplarisch, wie diese auf der Basis bestimmter Kombinationen von Kommunikationsanschlüssen entstehen und verfestigt oder verändert werden. Für ihn ist vor dem Hintergrund des Autopoiesis-Problems in erster Linie zu klären, wie die Anschlussfähigkeit eines Kommunikationsereignisses von vornherein gewährleistet und gesichert wird. Andreas Göbel hat davon gesprochen, dass die wesentliche Frage Luhmanns „(…) die nach dem ‚Anschlußwert‘ (…) eines Ereignisses“ sei, „nach dem Moment an ihm, das wie wenig definitiv auch immer auf folgende Ereignisse verweist“ (Göbel 2000: 194). Luhmann interessiert also vordergründig, wie Kommunikation prokursiv auf den Fortbestand sozialer Ordnung wirkt. Auch wenn er sieht, dass ein jedes Kommunikationsereignis zugleich „Reaktionserwartung“ und „Erwartungsreaktion“ (vgl. Luhmann 1984: 601) ist, wird mit Blick auf die Autopoiesis sozialer Systeme immer wieder der Aspekt der vorgängigen Sicherung von Anschlussfähigkeit betont, wie u.a. an der intensiven Diskussion der systemstabilisierenden Funktion von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien deutlich wird 6
Der Begriff des „Eigen- und Strukturwertes“ wird im Kontext der vorliegenden Arbeit genutzt, um Anschlussmuster und semantische Formen zu bezeichnen, die sich in und mit der Kommunikation herausbilden und stabilisieren. Als emergente Eigen- und Strukturwerte des Sozialen sind so z.B. Themen der Kommunikation, Aussageformen in Diskursen, Kategorien, Kausalverknüpfungen, Urteile, „sozial festgelegte Lokalitäten“ (vgl. hierzu direkt auch Bohn 1999: 42), Rollen- und Subjektbilder, Verfahren, Prozeduren, Werte, Normen und Regeln etc. zu nennen. Cornelia Bohn erläutert zum Begriff des „Eigenwertes“: „Die Frage nach der Reproduktion von Sozialität ist immer auch eine Frage nach der Stabilität von Sinnsystemen. (…) Wir hatten erwähnt, daß rekursiv geschlossene Systeme ihre Elemente nur aufgrund einer Vernetzung eben dieser Elemente erzeugen können. Rekursion meint aber auch die Prozedur, daß Operationen immer wieder auf das Resultat von Operationen angewendet werden. Heinz von Foerster hat auf dieser Grundlage den Zusammenhang von Rekursion und Eigenwert herausgearbeitet. Wird die Rekursion hinreichend lange wiederholt, so seine These, kann sich eine Form herausbilden, die unter den gegebenen Bedingungen stabil sein wird. Der Eigenwert reagiert auf das Problem, daß ein System Stabilität erzeugt, obgleich es geschlossen operiert, also vollkommen von der Umwelt entkoppelt und abgeschlossen ist (…)“ (ebd.: 150).
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(vgl. bereits Luhmann 1975b sowie Luhmann 1998b: 316 ff.). Ein gutes Stück weit aus dem Blick gerät somit, wie Kommunikationsanschlüsse im Sinne von „Erwartungsreaktionen“ die Realität der Kommunikation prägen und soziale Strukturen konstituieren, indem sie „nachträglich“ den Stellenwert bzw. die soziale Relevanz von Sinnofferten und Erwartungen bestimmen.7 Es sind Anschlüsse bzw. „Anschlusshandlungen“, neuerliche Synthesen von Information und Mitteilung, die vorhergehenden Synthesen erst ihre kommunikative und damit soziale Bedeutung zuweisen, und erst auf der Grundlage solcher Zuweisungen lässt sich für die (nahe) Zukunft einschätzen, welchen Stellenwert bestimmte Strukturen in der und für die Orientierung der Kommunikation haben können. Immer gilt: „Die Kommunikation organisiert sich (…) vom kommunikativen Verstehen her, wie es mit den Anschlussäußerungen anderer Sprecher zustande kommt. Die Simultaneität der Selektionstriade findet darin ihre Begründung. Verstehen, so können wir präzisieren, ist die für Kommunikation konstitutive Beobachtungsoperation, die darin besteht, daß ein Ereignis durch ein Folgeereignis mit Hilfe der Unterscheidung von Information und Mitteilung beobachtet wird“ (Scheider 2004: 324, Hervorheb. im Original). Noch einmal anders formuliert: Kommunikationsereignisse werden (1) durch Komplexe von mehr oder weniger stark generalisierten Erwartungen mit unterschiedlichen Anschlusswerten aufgeladen, mit dem Kommunikationsanschluss zeigt sich (2), welche Strukturwerte bestätigt oder welche in Frage gestellt werden, und erst mit weiteren, „zusätzlichen“ Anschlüssen wird (3) mehr oder weniger deutlich, in welchem Ausmaß einzelne Anschlüsse ordnungsstabilisierend oder ordnungstransformierend wirken konnten. Kommunikationsanschlüsse informieren darüber, welche soziale Bedeutung vergangenen Ereignissen zukommt, und an Anschlüssen kann abgelesen werden, welche Typen von „differenzierten Strukturen“ letztlich in der Kommunikation eine Rolle gespielt haben und Anschluss „provozieren“ konnten. Erst wenn die Effekte von aufeinander aufbauenden oder auch parallel erfolgenden Kommunikationsanschlüssen für einen bestimmten sozialen Kontext zusammenschauend betrachtet werden, lässt sich in kommunikationstheoretischer Perspektive (vorübergehend abschließend) verstehen, wie soziale Ordnung prozessual emergiert und Kommunikation Strukturbildungskraft entfaltet. Sofern die systemtheoretisch informierte Soziologie nicht bei der Beschreibung emergenter Eigenschaften von sozialen Systemen stehen bleiben, sondern ebenso gehaltvolle Erklärungen sozialer Emergenz bieten will, muss sie an diesem Punkt ansetzen. Sie muss zeigen können, welche unmittelbaren, lokalen Effekte sich in und mit Kommunikationsanschlüssen ausprägen, d.h. welche Folgen es hat, dass die soziale Bedeutung von Kommunikationsereignissen im7
Ein jeder Kommunikationsanschluss ist natürlich zugleich auch wieder ein neues Kommunikationsereignis, das Erwartungen aufruft und auf ihre Erfüllung „zielt“.
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mer erst im Nachhinein, oft auch auf der Grundlage von verteilt erfolgenden, multiplen Kommunikationsanschlüssen und somit im Zuge eines akteursübergreifenden, prozessualen „Nachtragsmanagements“ bestimmt wird. Wolfgang Ludwig Schneider hat allen voran in besonderem Maße auf die Bedeutung der „Nachträglichkeit“ für die kommunikative Emergenz sozialer Ordnung aufmerksam gemacht (vgl. Schneider 1994, 2002 und 2004); sie ist ebenso aber auch von Urs Stäheli (1998), Heinz Messmer (2003a und 2003b), Peter Bormann (2005) und Thomas Malsch (2005) eingehend thematisiert worden. Wie sich auf der Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem „Nachtragsmanagement“ der Kommunikation die Strukturdynamiken von Kommunikationsprozessen und ihre Emergenzeffekte übergreifend und generalisierend modellieren und erklären lassen, bleibt jedoch weiterhin zu diskutieren. Zuletzt ist überlegt worden, ob und inwiefern sich auf einer Verknüpfung von basalen Ordnungsformen beruhende Kommunikationssequenzen/-netze in Abhängigkeit von jeweils interessierenden Erklärungsproblemen als „Ursache-Wirkungs-Ablauf-Muster“ (vgl. zum Begriff u.a. Schimank 2002: 155 sowie in kommunikationstheoretischer Perspektive Schmitt 2006: 204), d.h. als „kommunikative Mechanismen“ modellieren lassen, die zum einen für die Emergenz von differenzierten Sozialstrukturen in der Form von Semantiken, Subjektbildern, Rationalitäten, Identitäten, Programmen etc. „verantwortlich“ sind, und deren Rekonstruktion es zum anderen auch ermöglicht, diese Emergenz verstehend zu erklären (vgl. insbesondere Schmitt 2006 sowie Hartig-Perschke 2006). Bezugspunkt dieser Überlegungen ist damit das in der akteurstheoretischen Soziologie entwickelte Konzept „generativer“ und „erklärender“ Mechanismen (vgl. u.a. die Beiträge in Hedström und Swedberg 1998a). Ein sozialer Mechanismus lässt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Mechanismendebatte in der Soziologie als ein sozialer Prozess verstehen, (…) der an der Erzeugung eines sozialen Phänomens aktiv beteiligt ist („generativer Mechanismus“, Erzeugungsmechanismus) und sich deshalb für die kausale Erklärung dieses Phänomens eignet (Erklärungsmechanismus)“ (Florian 2006: 165). Während in systemtheoretischer Perspektive vor allem die emergenten Eigenschaften sozialer Systeme ausführlich beschrieben und diskutiert werden, sind „Ablauflogiken“ von Kommunikationsprozessen und ihre strukturgenerierenden Effekte bislang eher selten analysiert und modelliert worden, und die oben erwähnten Ausnahmen bestätigen hier die Regel. Dies ist jedoch nötig, sofern man herausfinden und zeigen will, inwiefern sich mit Hilfe des kommunikationssoziologischen Basisvokabulars der Systemtheorie auch Prozesse sozialer Emergenz erklären lassen. Um nachvollziehen zu können, wie soziale Wirklichkeit kollektiv (mehr oder weniger) verbindlich definiert wird, ist zu analysieren, wie soziale Bedeutungen in Kommunikationsprozessen auf der Basis von mehr-
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fach ähnlich gelagerten Annahmen und/oder Ablehnungen (vorübergehend abschließend) „Form“ annehmen. Ob und inwiefern sich die Systemtheorie bereits umstandslos als Emergenztheorie bezeichnen lässt, scheint somit noch einmal eingehend zu prüfen, und hierin liegt das besondere Interesse der vorliegenden Arbeit. Ziel ist es, einen neuen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten, wie die Emergenz von differenzierten Sozialstrukturen auf der Basis einer Analyse von Kommunikationsanschlüssen bzw. in der Orientierung am Kommunikationsprozess, d.h. an empirisch beobachtbaren Mitteilungszeichen und den zwischen ihnen bestehenden sinnhaften Beziehungen, erklärt werden kann: Was bedeutet die Entstehung von bestimmten Anschlussmustern in der Kommunikation? Was bedeutet die prozessuale Emergenz von Semantiken, Deutungsmustern, Kontexturen, Rahmungen und Subjektpositionen für die Emergenz sozialer Ordnung bzw. wie wird diese hierdurch „getragen“? Ausgangspunkt nachfolgender Betrachtungen und Analysen ist die gegenwärtig in der deutschen Soziologie geführte Emergenzdebatte, die im Hinblick auf das Verhältnis von Reduktion und Emergenz in Strukturindividualismus und Systemtheorie reflektiert werden soll, um klären zu können, welcher Art emergente soziale Phänomene sind bzw. was der Begriff der „Emergenz“ in kommunikationstheoretischer Perspektive bezeichnen und somit leisten kann. Beide Ansätze thematisieren zum einen die Frage, wie Makrophänomene in ihrer Erscheinungsform vom Verlauf von Mikroprozessen abhängen. Tillmann Sutter hat auch davon gesprochen, dass Strukturindividualismus und Systemtheorie durch das gemeinsame Bezugsproblem des Verhältnisses der „Emergenz von unten“ und der „Konstitution von oben“ geeint würden (Sutter 2006: 66). Zum anderen widmen sich beide Ansätze in erkenntnistheoretischer Perspektive ausführlich der Frage nach der epistemologischen Reduzibilität/Irreduzibilität des Sozialen. Die Kontrastierung beider Ansätze eröffnet die Möglichkeit, besser zu verstehen, was es mit der Emergenz des Sozialen auf sich hat, und genau hierin soll für uns ihr Wert liegen. Sowohl Strukturindividualismus wie auch Systemtheorie gehen davon aus, dass die Gesellschaft eine Realitätsebene darstellt, die über die Beziehungen und die Eigenschaften der sozialen Akteure hinausgeht, und aufgrund ihres universaltheoretischen Anspruchs und ihrer gegensätzlichen Anlage eignen sich beide Theorien hervorragend für eine Skizzierung und Erläuterung wesentlicher Merkmale emergenztheoretischen Denkens. Den Ausgangspunkt der Diskussion bilden zunächst allgemeine Kriterien für Emergenz, so wie sie in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts u.a. in der Biologie und Philosophie und in den sechziger und siebziger Jahren in der Philosophie des Geistes entwickelt wurden (vgl. Stephan 1999 sowie 2000). In der Diskussion wird es nicht darum gehen, (ab) zu werten oder zu qualifizieren. Viel-
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mehr soll es darum gehen, zu ergründen, wie beide Theorieansätze mit dem Problem und der Denkfigur sozialer Emergenz umgehen, und welche Folgen aus dem jeweiligen Umgang resultieren. Vorausgesetzt wird dabei, dass starke soziologische Ansätze immer durch die Annahme geeint werden, dass die Gesellschaft eine „eigene Ebene“ bildet, „(…) die über die Eigenschaften der individuellen Akteure deutlich hinaus geht (…)“ (Esser 1996: 404). Besondere Aufmerksamkeit verdient schließlich der Umgang der Systemtheorie mit dem Phänomen und Problem sozialer Emergenz. Sofern sich der oben geäußerte Verdacht eines tatsächlich noch zu engen Blickwinkels bestätigt, darf sich die Arbeit nicht in der Diskussion von „Für“ und „Wider“ erschöpfen, sondern muss jener Verantwortung gerecht werden, der sich eine jede Kritik zu stellen hat: Sie darf nicht einfach verwerfen, sondern muss Antworten suchen, verknüpfen, synthetisieren, erweitern und reformulieren, um erkennen und zeigen zu können, was doch (noch) möglich ist. Der Autor ist hierzu im Besonderen angehalten, da er selbst in der kommunikationstheoretischen Tradition der Soziologie steht (vgl. Perschke und Lübcke 2005, Malsch, Perschke und Schmidt 2006 sowie HartigPerschke 2006) und sich somit einem Forschungsprogramm verpflichtet hat, das den Handlungsbezug der Sozialtheorie keineswegs gering schätzt, vor allem aber eine eigenständige Referenz des Sozialen behauptet und somit den grundbegrifflichen Vorrang der Kommunikation postuliert. Dies ist allerdings auch die einzige Vorentscheidung, die hier getroffen werden soll. Die nachfolgenden Ausführungen zum Forschungsinteresse, zu den mit der vorliegenden Arbeit verbundenen Zielsetzungen und zu den im Folgenden zu behandelnden Fragestellungen sind dementsprechend durch die Verwendung einer kommunikationssoziologischen Terminologie gekennzeichnet.
1.2 Forschungsinteresse, Zielsetzungen und Fragestellungen Emergenz ist immer in gleichem Maße faszinierend wie irritierend, und auch der Umgang der soziologischen Theorie mit dem Phänomen führt dies vor Augen. Die entscheidende Frage lautet immer wieder: Wie kann es sein, dass Sozialität eine ganz eigentümliche, unabhängige Realitätsebene darstellt und „Eigensinn“ entwickelt, wenn es sich im Falle der Gesellschaft zunächst doch um nichts anderes handelt, als um eine durch unterschiedliche Merkmale gekennzeichnete bzw. zusammengefasste Gesamtheit von Individuen, die allesamt immer eigene Vorstellungen über ihr Zusammenleben entwickeln und hegen und nur auf Grundlage eben dieser Vorstellungen handeln können? Anders gefragt: Wie kann es sein, dass Gesellschaft letztlich mehr ist als die Summe ihrer Teile? Wie kann es sein, dass sich die Entstehung und die Reproduktion von Sozialität nicht ex-
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klusiv im Rekurs auf individuelle Eigenschaften und individuelle, aber sozial orientierte Entscheidungen von Akteuren erklären lassen, obwohl sie letztlich genau hiervon abhängen? Eine Antwort muss lauten, dass es das Universalmedium des Sinns und der Vorgang der symbolvermittelten Kommunikation sind, die dafür sorgen, dass in der sozialen Interaktion Tatsachen entstehen (können), über deren Erscheinungsformen und Wirkungen einzelne Akteure grundsätzlich nicht unabhängig disponieren können. Kommunikation stellt die wohl bedeutendste Form der wechselseitigen Bezugnahme dar, und Kommunikation kann letztlich auch als „(…) der bedeutendste Typus oder zumindest als einer der bedeutsamsten Typen sozialen Handelns aufgefasst“ werden (Schmitt 2006: 212). Indem Individuen fortwährend versuchen, kommunikativ vermittelt die Aufmerksamkeit anderer zu erregen und zu binden, entstehen immer wieder neue soziale Situationen und Beziehungsstrukturen, die zwar durch die jeweiligen Verhaltenswahlen bedingt und geprägt sind, deren Form, soziale Relevanz und Effekte sich aber keineswegs ausschließlich im wie auch immer angelegten Rekurs auf die Motive oder Intentionen von Akteuren erklären lassen. Individuen interpretieren Bezugnahmen zwar „für sich“ und versuchen, diesen individuell Sinn „abzuringen“, indem sie soziale Situationen und Beziehungsstrukturen im Hinblick auf die möglichen Ursachen ihrer Entstehung, mit Blick auf ihre Stabilität oder Vergänglichkeit und/oder im Hinblick auf ihre Folgen zu erklären suchen. Diese Deutungen prallen im Prozess der Kommunikation, im Zuge von Kommunikationsanschlüssen allerdings als „Deutungsvorschläge“ aufeinander und werden kommunikativ „(weiter-)bearbeitet“ bzw. „geformt“, und es sind die Medien Sprache und Schrift, welche es schließlich ermöglichen, die Effekte von Kommunikationsanschlüssen abstrahierend zu bezeichnen, zu beschreiben, zu erinnern und „festzuhalten“, d.h. Bedeutung zu synthetisieren und zu generalisieren. Auf diesem Wege werden in und mit der Kommunikation soziale Tatsachen im Sinne Durkheims geschaffen, die sich als komplexe, sozial-sinnhafte Phänomene verstehen lassen. „In Gesellschaft“ wird immer wieder versucht, „für die Gesellschaft“ kommunikativ festzuhalten, was Sozialität ausmacht. Es wird versucht, übereinstimmende Interpretationen zu markieren und ihre Wichtigkeit, Verständlichkeit, Bedeutsamkeit, Wahrheit oder normative Richtigkeit herauszustellen, um so die Ähnlichkeit von Wirklichkeitsmodellen (vgl. zur Differenz von individuellen und kollektiven Wirklichkeitsmodellen sowie zum Zusammenspiel von Geschichten und Diskursen Schmidt 2003) prüfen zu können und festzustellen. Es wird ebenso versucht, Abweichungen aufzuspüren und in ihrer Bedeutung zu erfassen. Es wird versucht, Wiederholungen von Sinnofferten und Sinngehalten zu identifizieren, und die Wirkungen und die Relevanz dieser Wiederholungen abzuschätzen (vgl. zur sozialkonstitutiven Bedeutung von Wiederholungen ins-
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besondere Ortmann 2003: 33 ff.) usw. usf. Und auf eben diese Weise emergieren mehrfach „gefiltert“ Regelmäßigkeiten der Bezugnahme, soziale Kontexte, Erwartungen, Identitäten sowie Regeln, Werte und Normen bis hin zu komplexen Sozialsystemen, die nicht nur in der und mit der Kommunikation reproduziert, sondern auch reflektiert und unter Umständen eben transformiert werden. Die soziale Bedeutung von Beziehungsmustern, der materiellen Produktion und Ressourcenverteilung, von Erwartungssicherheit und konsistenter Weltinterpretation führt vor Augen, dass und inwiefern die Gesellschaft mehr ist als ein bloßes Gesamt von Individuen und Beziehungen. Sie ist ermergent. Emile Durkheim hat diese Eigenständigkeit in seinen „Regeln der soziologischen Methode“ bekanntlich folgendermaßen umschrieben: „Wenn, wie man uns einräumt, die Synthese sui generis, welche jede Gesellschaft darstellt, neue Erscheinungen auslöst, welche von denen, die im Bewußtsein der Einzelnen vor sich gehen, verschieden sind, so muß auch zugegeben werden, daß diese spezifischen Erscheinungen in der Gesellschaft selbst ihren Sitz haben und nicht in ihren Teilen, d.h. ihren Gliedern. Sie stehen also, für sich betrachtet, außerhalb des individuellen Bewusstseins, ebenso wie die charakteristischen Eigenschaften des Lebens außerhalb der mineralischen Stoffe stehen, aus welchen das Lebewesen zusammengesetzt ist. Man kann sie nicht in die Elemente verlegen, ohne sich zu widersprechen, da sie der Definition nach etwas anderes, als in den Elementen enthalten ist, voraussetzen. (...) Die sozialen Phänomene weichen nicht bloß in der Qualität von den psychischen Phänomenen ab; sie haben ein anderes Substrat, sie entfalten sich nicht in derselben Umgebung, sie hängen nicht von denselben Bedingungen ab“ (Emile Durkheim 1895/1984: 94, Hervorheb. im Original). Durkheim hat zugegebenermaßen versucht, die Eigenständigkeit und Irreduzibilität des Sozialen bis ins Letzte überspitzt auf den Punkt zu bringen, was zu unangenehmen Konsequenzen geführt hat. Vor allem ist Durkheim im Rahmen der Rezeption der „Regeln der soziologischen Methode“ von verschiedenen Generationen von Soziologinnen und Soziologen vorgeworfen worden, er vertrete die methodologische Position eines „radikalen“ Holismus oder Kollektivismus (vgl. zur Bedeutung und Persistenz dieser Kritik Heintz 2004 sowie Sawyer 2003 und 2005: 100 ff.). Seine Rede von der Gesellschaft als „Synthese sui generis“, die es scheinbar vermag, selbsttätig neue soziale Erscheinungen hervorzurufen, hat Kritikerinnen und Kritiker zu der Einschätzung gebracht, dass er nicht nur von einem Einfluss sozialer Phänomene auf die Individuen (der berühmte „Zwang“), sondern gar von „Makrokausalität“ ausgehen wolle. Auch irritiert der im Hinblick auf das Soziale unsinnig anmutende Ausdruck „Substrat“, legt dieser doch immer die Konnotation des Materiellen nahe. Worin aber sollte ein solches Substrat des Sozialen bestehen? Psychische und soziale Systeme unterscheiden sich von Organismen und Maschinen dadurch, dass sie auf der Basis von Wahrneh-
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mung bzw. Kommunikation Sinn zu generieren vermögen. Sinn ist aber kein Substrat. Wenn es vor diesem Hintergrund tatsächlich eigene und eigenständige Elementareinheiten des Sozialen gibt, so sind dies wohl am ehesten Kommunikationsereignisse oder soziale Situationen im Sinne eines methodologischen Situationalismus, auf die sich die Soziologie damit zu konzentrieren hätte. Individuelle Selektionen, egal ob hierunter nun Handlungswahlen oder in systemtheoretisch-kommunikationssoziologischer Perspektive die kognitiv-kommunikativen Selektionen der Information, der Mitteilung und des Verstehens (vgl. Luhmann 1984: 191 ff.) gefasst werden sollen, müssten Durkheims Definition zufolge als Elementareinheiten ausscheiden, da es sich bei ihnen um kognitiv vollzogene und sozial zunächst immer nur teilrelevante Phänomene handelt, die erst mit weiteren Selektionen anderer Akteure an sozialer Bedeutung gewinnen. Durkheim hat in den „Regeln der soziologischen Methode“, einem äußerst programmatischen Text, sowohl die ontologische wie auch die epistemologische Irreduzibilität des Sozialen betont. Verbunden mit dem Ziel, die Soziologie endgültig als eigenständige Disziplin etablieren zu wollen, hat er versucht zu zeigen, dass sich soziale Phänomene aufgrund ihrer Unabhängigkeit und Eigenständigkeit nur mit Hilfe ganz eigener Konzepte erfassen, und nur auf der Basis ganz eigener Begriffe beschreiben und erklären lassen. Zwar hat auch Durkheim gesehen, dass es die Art und Weise ist, in der sich Wechselwirkungen zwischen Individuen einstellen und organisieren, welche die jeweiligen Erscheinungsformen von Sozialität bedingt und bestimmt. Er hat sich aber, wie Bettina Heintz es formuliert, „(…) nie systematisch mit dieser Ebene auseinandergesetzt“ (Heintz 2004: 21). Im Falle Durkheims gehen ontologische und epistemologische Irreduzibilität eine so starke Verbindung ein, dass Emergenz schließlich bedeuten mag, nur noch mit Hilfe von Makrogesetzen erklären zu können. Man mag auf den ersten Blick tatsächlich vermuten, dass (soziale) „Emergenz“ und „Reduktion“ nicht zusammengehen können und emergentistisches Denken immer in einem radikalen methodologischen Holismus münden muss. Letztlich ist aber immer entscheidend, ob und inwiefern Emergenz in ontologischem und/oder epistemologischem Sinne definiert wird bzw. worauf und wie weit in letzter Konsequenz reduziert werden kann, soll oder muss.8 Auch vor diesem Hintergrund macht
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Bettina Heintz hat darauf aufmerksam gemacht, dass die „intertheoretische“, „explanative“ und „ontologische“ Dimension von Reduktion innerhalb einer Perspektive bis zu einem gewissen Grade gegeneinander variieren können. Heintz erläutert so z.B.: „Wer für eine intertheoretische Reduktion plädiert, muss nicht gleichzeitig einen explanativen Reduktionismus vertreten, sondern kann – z.B. aus pragmatischen Gründen – Erklärungen auf der Makroebene als legitim erachten (…). Und umgekehrt kann jemand, der auf der Erklärungsebene eine antireduktionistische Position vertritt, der Ansicht sein, dass der Makroebene keine eigenständige ontologische Qualität zukommt (…)“ (Heintz 2004: 4).
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Zur Einführung
eine Auseinandersetzung mit den Arbeitsprämissen und Annahmen von Strukturindividualismus und soziologischer Systemtheorie noch einmal Sinn. Emergenz liegt vor, sofern die Existenz „höherstufiger“ (Makro-)Phänomene von Prozessen abhängt, die sich auf einer „tieferen“ Seinsebene („Mikroebene“) vollziehen, dennoch aber nicht auf Basis einer reduktionistischen Rekonstruktion der „Verlaufslogik“ eben dieser Prozesse erklärt werden kann, warum die erwähnten „höherstufigen“ (Makro-)Phänomene bestimmte Erscheinungsformen und Eigenschaften annehmen. Emergenz bedeutet, dass sich aufgrund von Geschehnissen auf einer „tieferen“ Seinsebene neue „Formen von Einheitlichkeit“, neue Ereignisse, „Elemente“ oder Wechselwirkungen auf einer „nächsthöheren“ Realitätsebene einstellen, die im Weiteren schließlich die Eigenständigkeit von noch komplexeren, „zusammengesetzten“ Phänomenen auf eben dieser Ebene zu begründen vermögen. Im Falle sozialer Phänomene ließen sich diese Wechselwirkungen oder „Elemente“ mit Kommunikationsereignissen und -anschlüssen gleichsetzen, die entstehen, sobald Akteure versuchen, individuelle Selektionen auf der Basis der Medien Sinn, Sprache und Schrift (fortlaufend) miteinander zu verknüpfen. Akteure erbringen permanent Interpretationsleistungen, deren Resultate sie anderen Akteuren mit Hilfe von Gesten und/oder Symbolen „anzuzeigen“ versuchen. Diese wiederum reagieren eigensinnig, sodass es zur Synthese von Sinngehalten und zu einer Verschiebung von Sinngrenzen kommt, die (a) vorübergehend ist und sich (b) von keinem Akteur abschließend kontrollieren oder vorhersagen lässt. Für das soziale Ereignis bzw. den sozialen Prozess der Kommunikation gilt: „Wer etwas mitteilt setzt Kommunikation in die Welt, die sich im weiteren Verlauf seiner Kontrolle entzieht. Die Mitteilung kann so rezipiert werden, wie er es sich vorgestellt hat, aber auch ganz anders. Kommunikation schafft eigene Bezüge, die wiederum auf Kommunikation verweisen, weil Sprache kein fixes Regelsystem ist im Sinne eines Codes (wie in der mathematischen Theorie der Kommunikation impliziert), sondern durch jede Nutzung modifiziert und weiterentwickelt wird. Neben die durch die Kommunikation verbundenen Akteure tritt als weitere Ebene die durch Bedeutungsverweise und symbolische Beziehungen verbundene Kommunikation selbst“ (Albrecht 2007: 4, Hervorheb. RHP). Entscheidend ist in gleichermaßen kommunikations- wie emergenztheoretisch gelagerter Perspektive also, Selektionsverschränkungen im Sinne eines „generativen“ kommunikativen Ereignisses bzw. zeitlich aufeinander folgende, mehrfache Selektionsverschränkungen im Sinne eines „generativen“ Kommunikationsprozesses sowie die unmittelbaren Resultate dieser Ereignisse und Prozesse in der Form von Sinnbeständen, sozialen Bedeutungen, Situationen (Handlungen) etc. zu analysieren, zu beschreiben und zu erklären. Eine emergenztheo-
Forschungsinteresse, Zielsetzungen und Fragestellungen
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retische soziologische Position muss sich somit also darin von einer stark reduktionistischen wie auch von einer holistischen Position unterscheiden, dass sie vor allem auf das „Moment“ der Wechselwirkung zwischen kommunikativ angezeigten individuellen Selektionen, d.h. auf Kommunikationsanschlüsse oder Anschlusshandlungen fokussiert und auf dieser Basis zu ergründen versucht, welcher Art jener „objektive soziale Sinn“ ist, der die Eigenständigkeit des Sozialen ausmacht. Soll vor diesem Hintergrund erklärt werden, wie soziale Phänomene kommunikativ emergieren, so ist – wie weiter oben schon kurz angesprochen – zu prüfen, auf welche Art und Weise sich Kommunikationsprozesse als generative bzw. generische und erklärende Mechanismen innersozialer Emergenz modellieren lassen. Die vorliegende Arbeit wird sich sowohl in theoretischer wie auch in empirisch-rekonstruktiver Hinsicht (am Beispiel zweier ausgewählter Szenarien) mit der Synthese sozialen Sinns auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen beschäftigen und der Frage nachgehen, wie Pfadabhängigkeit in Kommunikationsprozessen entsteht und sozial sichtbar wird. Akzeptiert man mit Luhmann, dass das Letztelement des Sozialen kommunikative Ereignisse sind, dass Struktur immer „Strukturdynamik“ ist und die „Identität von Bewegung und stabiler Gestalt“ die Identität/Einheitlichkeit eines sozialen Phänomens verbürgt (vgl. Ellrich und Funken 1998: 356), so bedeutet dies, soziales Erklären nicht anders versuchen zu können als in der Form einer Modellierung der Strukturdynamik bzw. (möglichen) Pfadabhängigkeit von Kommunikationsprozessen. Dies setzt allerdings voraus, auf ein geeignetes Vokabular zurückgreifen zu können, das es ermöglicht, die Eigenschaften und Effekte von Kommunikationsanschlüssen und somit die Eigenschaften und Effekte von Kommunikationsprozessen zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lassen sich die allgemeine Zielsetzung und die spezielleren Forschungsziele der vorliegenden Arbeit noch einmal wie folgt zusammenfassen bzw. auf beobachtungsleitende Fragestellungen hin verdichten: 1.
Allgemeine Zielsetzung: „Emergenz“ – Arbeit am Begriff und Begriffsklärung.
Der Begriff der „Emergenz“ wird in der Soziologie weiterhin „unscharf“ verwendet, und ebenso wird das Verhältnis von Emergenz und Reduktion auf unterschiedliche Art und Weise bestimmt. Im Kontext der neueren soziologischen Emergenzdebatte werden aus diesem Grund die im amerikanischen und britischen Emergentismus der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und die in den sechziger und siebziger Jahren in der Philosophie des Geistes entwickel-
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ten Kriterien für (starke) Emergenz als Heuristik genutzt, um den Umgang unterschiedlicher soziologischer Theorien mit der für das Fach bedeutenden MikroMakro-Orientierung noch einmal systematisch reflektieren zu können. Bettina Heintz zufolge hilft eine solche Vorgehensweise, „(…) Missverständnisse, argumentative Inkonsistenzen und Lücken zu identifizieren, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass der von Alexander und Giesen (1987) konstatierte ‚shift toward linkage‘ nicht zu einer Überwindung der theoretischen Polarisierungen geführt hat“ (Heintz 2004: 2).9 Erste Diskussionsbeiträge liegen zum einen für die Soziologie Durkheims (vgl. Sawyer 2003 und 2005: 100 ff. sowie partiell Heintz 2004) und die Soziologie Webers (vgl. Albert 2005 und Greve 2006) vor. Zum anderen haben Heintz (2004) und Bütterlin (2006) den Umgang von Strukturindividualismus und Systemtheorie mit dem Emergenzproblem untersucht. Während Heintz die jeweilige Vorgehensweise im Rahmen ihrer allgemeinen Betrachtung zum Verhältnis von „Emergenz und Reduktion“ in der Soziologie kurz abhandelt, interessiert sich Bütterlin vor allem dafür, den reduktionistischen methodologischen Individualismus gegen jene „Gefahren“ zu verteidigen, die seiner Ansicht nach aus emergentistischem Denken erwachsen würden (vgl. ebd.: I).10 Im Kontext der vorliegenden Arbeit hingegen soll vor allem auf die Systemtheorie bzw. auf ihren kommunikationstheoretischen Kern fokussiert werden. Beobachtungsleitende Fragen lauten: Was lässt sich in system- und kommunikationstheoretisch orientierter Perspektive unter sozialer Emergenz verstehen, und ist die soziologische Systemtheorie eine Emergenztheorie? Wie auch schon zuvor angedeutet, vermuten wir, dass weiterhin Modifikationen in kommunikationssoziologischer Hinsicht angezeigt sind, bevor sich die Systemtheorie endgültig und umstandslos als Emergenztheorie bezeichnen lässt; als Emergenztheorie, die es vermag, den beiden wesentlichen, mit dem Begriff „sozialer Emergenz“ verbundenen Bedeutungen („emergente Eigenschaften“ sozialer Phänomene/Prozesse ihrer Genese, Reproduktion oder Transformation) gleichermaßen gerecht zu werden.
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Gemeint ist der von Jeffrey C. Alexander und Bernhard Giesen gemeinsam verfasste Aufsatz „From Reduction to Linkage: The Long View of the Micro-Macro-Debate“, veröffentlicht 1987 im von Jeffrey C. Alexander herausgegebenen und schon nahezu als „klassisch“ zu bezeichnenden Sammelband „The Micro-Macro-Link“ (Berkeley. University of California Press). Bei Bütterlin heißt es: „Der Emergentismus ist ein Andenken, das sich die Sozialwissenschaften, besonders aber die Soziologie, durch eine philosophische Anleihe eingehandelt haben. Als solches spricht er sich aber überdies gegen die akademische Praxis des reduktionistischen methodologischen Individualismus aus. Daher markiert der Emergentismus eine wissenschaftliche Herausforderung, die bewältigt werden muss“ (Bütterlin 2006: I, Hervorheb. RHP). Man beachte Argumentation und Fokussierung/Zentrierung: „gegen die akademische Praxis des …“ und „daher …“.
Forschungsinteresse, Zielsetzungen und Fragestellungen
2.
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Spezielle Zielsetzung: Modellierung innersozialer Emergenz.
Die „kommunikative Mikrodeterminiertheit“ sozialer Phänomene zum Ausgangspunkt nehmend soll in systemtheoretisch orientierter Perspektive untersucht werden, welche Möglichkeiten es gibt, die Emergenz sozialer Ordnung als Prozess zu modellieren. Werden soziale Eigen- und Strukturwerte als kommunikativ emergente Phänomene verstanden, so ist nach geeigneten Instrumentarien und Konzepten zu suchen, die es erlauben, Strukturdynamiken, d.h. die strukturellen Eigenschaften von Kommunikationsanschlüssen und die „Ablauflogik“ von Kommunikationsprozessen abzubilden und ihre Effekte konkret zu benennen. Strukturdynamiken der Kommunikation sind als Realisierung und Markierung von Anschlussmöglichkeiten in Mitteilungen beobachtbar. Mit dem Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen werden differenzierte soziale Strukturen aufgebaut, aufgerufen, „erinnert“ und stabilisiert oder transformiert; in und mit Kommunikationsprozessen prägen sich Formen der Kommunikation aus, die als „Ablauf-“ oder „Ordnungsmuster“ Generalisierung erfahren und immer wieder für die Stabilisierung oder Destabilisierung von sozialen Strukturen und Institutionen sorgen (können). Luhmann hat zwar auf die systemkonstitutive Relevanz von Kommunikationsanschlüssen und -prozessen bzw. auf die Folgen von Annahmen und Ablehnungen, von punktueller Erwartungsbestätigung und -enttäuschung, abgehoben und sich diesen auf abstrakte Art und Weise angenommen, nicht aber ausführlich diskutiert, was es konkret bedeutet, wenn sich Annahmen und Ablehnungen strukturdifferenzierend z.B. nur auf bestimmte Aspekte eines vorgängigen Kommunikationsereignisses (Sach-, Sozial- oder Zeitdimension) beziehen, ob, inwiefern und in welchen Fällen Annahmen und Ablehnungen gleichermaßen strukturdifferenzierend wie systemreproduzierend wirken, oder welche sozialen Folgen bestimmte Kombinationen von Annahmen und Ablehnungen nach sich ziehen können. Im Rahmen seiner systemtheoretischen Betrachtungen diskutiert er nicht, wie verschiedene Anschlüsse zusammen soziale Wirkungen entfalten und zur Entstehung, Reproduktion, Veränderung bzw. Differenzierung von sozialen Strukturen führen, die sich u.a. weiterführend als Elemente diskursspezifischer Kommunikation qualifizieren lassen. Luhmann hat – und dies ist vor dem Hintergrund seines Zieles, eine allgemeine Theorie der Gesellschaft schreiben zu wollen, auch durchaus verständlich – die empirische Anschlussfähigkeit seiner Begriffe zunächst vernachlässigt (vgl. zu diesem Problem ausführlicher Vogd 2005) und somit die Emergenz sozialer Systeme zwar „im Kern pragmatisch hypostasiert“ (Messmer 2003b: 99), empirisch aber uneingelöst gelassen. Die Sicherstellung einer verbesserten Anschlussfähigkeit systemtheoretischer Begriffe für die kommunikationssoziologische Forschung ist allerdings unabdingbar,
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soll in Zukunft stärker als bisher die Emergenz sozialer Ordnung in systemtheoretischer Perspektive nicht nur beschrieben, sondern auch erklärt werden können. Wie schon angedeutet, weisen verschiedene Arbeiten hier den Weg. Sie reichen von der konversationsanalytisch „geerdeten“ systemtheoretischen Begriffsbildung (Schneider 1994, 2001 und 2004, Messmer 2003a und 2003b) über beobachtungs- (Baecker 2005) und symboltheoretische (Willke 2005) Ansätze bis hin zur semiotisch und bedeutungspragmatisch informierten Weiterentwicklung des Luhmannschen Kommunikationsbegriffs (Malsch 2005). Überführen wir die angesprochene Problematik in konkrete Fragestellungen: Wie lässt sich die Emergenz sozialer Eigen- und Strukturwerte auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen auf den Begriff bringen und erklären? Welche Folgen haben unterschiedliche Typen von Kommunikationsanschlüssen für die Reproduktion und/oder Differenzierung von Strukturen unterschiedlichen Generalisierungsniveaus? Wie lassen sich empirisch beobachtbare Anschlussfolgen system- und kommunikationstheoretisch gehaltvoll analysieren und modellieren? Wir wollen hier die These vertreten, dass man an diesem Punkt und mit Blick auf diese Fragestellungen nur weiterkommt, sofern man eine doppelte Strategie fährt. Zum einen gilt es zu schauen, welche Weiterentwicklungen des kommunikationstheoretischen Fundaments der Systemtheorie es bereits gibt, die es möglich machen, Strukturdynamiken weiterführend zu beschreiben und schließlich auch zu erklären. Zum anderen gilt es, selbst anhand von Fallbeispielen zu eruieren, wie weit jeweilige Konzepte und Begriffe tragen und zu fragen, inwiefern sie sinnvoll zusammengebracht oder auch ergänzt werden können. Im Rahmen dieser Analysen wird im weiteren Fortgang der Arbeit vor allem die Frage im Mittelpunkt stehen, inwiefern sich (wiederholt auftretende) Anschlussmuster als „kommunikative Mechanismen“ sozialer Emergenz verstehen lassen, die gleichermaßen strukturkonstituierend wie strukturdifferenzierend wirken und gleichermaßen „Erzeugungsprinzip“ wie „Erklärung“ sind.
Vorgehensweise
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1.3 Vorgehensweise Die in Abschnitt 1.2 präsentierten Fragestellungen sollen einerseits im Zuge einer intensiven Auseinandersetzung mit der soziologischen Theoriediskussion (dies betrifft vor allem die Frage nach dem Emergenzproblem, vgl. Kapitel 2) sowie im Rahmen einer Rezeption und Diskussion verschiedener system- und kommunikationstheoretischer Arbeiten (Modellierung innersozialer Emergenz) beantwortet werden (Kapitel 3 und 4). Im zweiten Teil der Arbeit wird andererseits anhand zweier konkreter Fallbeispiele (Kapitel 5) gezeigt werden, wie sich system- und kommunikationstheoretische Begrifflichkeiten für kommunikationssoziologische Analysen nutzen lassen, denen daran gelegen ist, die strukturbildende und –differenzierende Kraft von Kommunikationsanschlüssen zu erklären. Die Fallbeispiele dienen zu Zwecken der Illustration; Ziel ist es zunächst vor allem, das erklärende Potential von Konzepten und Begriffen näher zu bestimmen, nicht aber, „klassische“ empirische Forschung zu betreiben. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein weiterführender Beitrag zum Ansatz der kommunikationsorientierten Modellierung (vgl. Malsch und Schlieder 2004 sowie Malsch 2005), so wie er im Kontext der Sozionik11 (vgl. die Beiträge in Malsch 1998 sowie in Malsch und Schulz-Schaeffer 2007) entwickelt worden ist. Im Zentrum dieses Ansatzes steht der Versuch der Entwicklung einer allgemeinen, genuin soziologischen Kommunikationstheorie, „(…) die es erlaubt, gesellschaftliche Verhältnisse als Kommunikationsverhältnisse zu dechiffrieren; die allgemein genug ist, um mikrosoziale und makrosoziale Strukturen, einfache Interaktionen und Massenkommunikation abzudecken; die abstrakt genug gefasst ist, um menschliche und technische, reale und artifizielle Kommunikation zu beschreiben und trotzdem die Grenzen zwischen Technik und Gesellschaft zu markieren; und die Sozialstrukturen generisch zu erklären versucht, indem sie höherstufige Ordnungsmuster aus einfachen Kommunikationsereignissen ableitet“ (Malsch 2005: 8 f., Hervorheb. RHP). Vor dem Hintergrund dieser Anforderungen und den oben formulierten Fragestellungen geht es im Folgenden letztlich um zweierlei. Zum einen soll mit Blick auf den Eigensinn, die Eigendynamik 11
Die Sozionik ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld zwischen Soziologie und Verteilter Künstlicher Intelligenz. Im Mittelpunkt sozionischer Vorhaben stehen in der Regel zwei Fragen. Die erste Frage lautet: „Wie kann Technik von der Gesellschaft lernen?“ (Malsch et al. 1998: 9) bzw. wie lassen sich soziologische Erkenntnisse für die Modellierung und Implementation von sogenannten Multiagentensystemen (MAS) nutzen (vgl. zu MAS die Beiträge in Weiss 1999), in denen autonome Software-Einheiten („Agenten“) miteinander in Kontakt und in Austauschbeziehungen zueinander treten. Die zweite Frage hingegen ist, inwiefern die Soziologie von der Informatik lernen kann, Begriffe und Konzepte „schärfer“ und „präziser“ zu formulieren und besser zu formalisieren und zu modellieren (vgl. Malsch und Schmitt 2005: 288).
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und die Widerständigkeit des Sozialen der epistemologische „Ort“ bzw. Stellenwert einer soziologischen Beobachtungsperspektive ausgeleuchtet werden, die sich vordergründig für die Modellierung des „Wie“ der kommunikativ vermittelten Selektionsverschränkung und für ihre unmittelbaren sinnkonstitutiven Effekte interessiert. Zum anderen soll auf der Basis von empirischen Referenzbeispielen weiterführend eruiert und diskutiert werden, wie eine mehrere und unterschiedlich gelagerte Kommunikationsanschlüsse umfassende Rekonstruktion der kommunikativen Emergenz von differenzierten Selektionsbeschränkungen bzw. sozialen Eigen- und Strukturwerten in der kommunikationssoziologischen Praxis aussehen kann. Selbstverständlich lassen sich kommunikative Phänomene auch mit Hilfe anderer Begriffe erfassen und analysieren, als mit jenen, die im Folgenden Verwendung finden werden. Und auch muss das hier gezeigte Interesse an soziologischer Begriffsarbeit und an der Plausibilisierung abstrakter theoretischer Konzepte selbstverständlich nicht geteilt werden. Wer allerdings daran interessiert ist, zu erfahren, wie sich die Genese, die Reproduktion und die Veränderung von Formen sozialer Ordnung in kommunikationstheoretischer Perspektive erklären lassen, dem sei eine Lektüre der nachfolgenden Kapitel empfohlen.
1.4 Inhalte Aufmerksamkeit gilt in Kapitel (2) zunächst der Beantwortung der Frage, was der Begriff der „Emergenz“ bedeutet bzw. unter welchen Umständen überhaupt von einem Vorliegen von Emergenz gesprochen werden kann. Das Kapitel beginnt mit einem kurzen Abriss zur Entwicklung des Emergenzbegriffs im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, und es wird erläutert, welche Kriterien ein Phänomen erfüllen muss, damit es als emergent gelten kann. Achim Stephan hat diese zentralen Kriterien in einmaliger Weise in seinem Buch „Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation“ (1999) zusammengetragen und diskutiert. Hieran anschließend geht der Text auf soziologische Vorstellungen von Emergenz ein. Wie schon angekündigt und begründet, werden dabei jene Emergenzvorstellungen im Mittelpunkt des Interesses stehen, die kennzeichnend sind für die beiden „großen“, mit den unterschiedlichen „Träumen“ von der Moderne (vgl. Bude 2001: 69) korrespondierenden soziologischen Paradigmen: den methodologischen Individualismus, vertreten durch den deutschen Strukturindividualismus, und die soziologische Systemtheorie. Während das im Kontext des methodologischen Individualismus zu Zwecken der Erklärung Verwendung findende „Modell des soziologischen Erklärens“ (MSE) als
Inhalte
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ein „Transformationsmodell“ bezeichnet werden kann, lässt sich das Autopoiesis-Konzept der Systemtheorie als eine spezifische Form von „Rotationsmodell“ definieren (vgl. Ellrich und Funken 1998: 358). Das erste der beiden genannten Modelle soll der Soziologie helfen, erklären zu können, aus welchen Gründen soziale Akteure wie handeln und welche emergenten aber immer erklärbaren strukturellen Effekte infolge eines Zusammenwirkens von Handlungen (im Zuge von „Transformation“) eintreten. Im Rahmen des zweiten Modells wird hingegen davon ausgegangen, dass es für die Soziologie in erklärender Absicht nicht sinnvoll sein kann, bei den handlungsbegründenden Intentionen, Zielen, Absichten etc. eines einzelnen sozialen Akteurs anzusetzen, da letztlich nur auf der Basis von Anschlusshandlungen deutlich und nachvollziehbar wird, welche sozialen Effekte eine vorgängige Handlung zu zeitigen vermochte und worin ihre soziale Relevanz besteht. Entscheidend für soziale Emergenz ist in dieser Perspektive nicht nur bzw. weniger, welche Intentionen, Ziele, Absichten etc. einer Selektion tatsächlich zugrunde gelegen haben, sondern vielmehr, welche Intentionen, Ziele, Absichten etc. mit kommunikativen Anschlüssen sichtbar zugerechnet bzw. unterstellt werden (vgl. hierzu auch Vogd 2005: 43 ff.). Luhmann interessiert sich aus eben diesem Grunde für das aus den Selektionen mindestens zweier unterschiedlicher Akteure zusammengesetzte „Kompakt-“ oder „Gesamtereignis“ der Kommunikation, dessen Zustandekommen immer erst mit einem erneuten Kommunikationsanschluss „offenbar“ bzw. sozial sichtbar wird.12 Soziale Systeme existieren Luhmann zufolge nur im bzw. mit dem Anschluss von neuen Kommunikationsereignissen an vorausgehende Kommunikationsereignisse, und die Erscheinungsformen von Kommunikationsereignissen bzw. -anschlüssen werden durch soziale Strukturen in der Form von Erwartungen konditioniert. Eben dies meint – noch vereinfachend formuliert – der Begriff der „Autopoiesis“. Kommunikationsereignisse werden mit Erwartungen aufgeladen, und sofern Anschlussereignisse Erwartungen erfüllen, bleiben diese in weitestgehend unveränderter Form als konditionierende Sozialstrukturen für die Zukunft erhalten. Struktur existiert in dieser Perspektive nur in und aufgrund von Dynamik, und Dynamik ist immer strukturell bedingt, sodass es wenig Sinn macht, „(...) Strukturen einfach als zeitlos und Prozesse als zeitlich aufzufassen“ (Luhmann 1984: 73). Sozialität ist „Strukturdynamik“, und soziale Systeme werden als strukturiert-emergente Gebilde „(…) durch den Bezug der Elemente auf sich [Kommunikationsanschlüsse, RHP] hervorgebracht und durch die beständige Wiederho12
Anders als Luhmann gehen wir hier davon aus, dass Kommunikation als soziales Ereignis nicht bereits mit dem kognitiven Verstehen eines Rezipienten abgeschlossen sein kann, sondern dies erst ist, wenn Verstehen auch im Zusammenhang einer neuerlichen Synthese von Information und Mitteilung angezeigt wird. Wird folgen hier Malsch (vgl. Malsch 2005: 227 ff.) und Schneider (vgl. Schneider 2002: 227).
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lung dieses Geschehens [Strukturdynamik, RHP] in Gang gehalten. Zugleich gilt, daß alle Elemente, aus denen das emergente Gebilde sich zusammensetzt, durch das Gebilde selbst produziert werden [Autopoiesis, RHP]“ (Ellrich und Funken 1998: 356 f.). Wie bereits erörtert, werden soziale Ereignisse auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Kommunikationsereignisse definiert, an deren Zustandekommen immer mindestens zwei Akteure beteiligt sind. Es wird davon ausgegangen, dass Sozialität nur existiert, sobald und sofern Selektionen verschiedener Akteure zu einem sozialen Ereignis, einem Moment des Gemeinsamen, miteinander verschränkt werden. In und mit der Kommunikation werden die individuellen Intentionen der Individuen dabei immer durch anderen, neuen Sinn „überformt“, bekommen also eine neue oder „zusätzliche“ Bedeutung beigemessen, lassen sich somit nur noch mehr oder weniger uneingeschränkt verfolgen, werden „anders“ unterstellt oder missverstanden, und eben dies ist typisch für Sozialtät, eben hierin kommt ihre „unabhängige“ Eigentümlichkeit zum Ausdruck. Die soziale Wirklichkeit wird durch den Kommunikationsanschluss „bestimmt“, und im Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen werden soziale Bedeutungen, Wirklichkeitsmodelle, Wissensbestände, Subjektbilder etc. „erschaffen“, fortlaufend reproduziert, als gemeinsam geteilt markiert oder auch transformiert. Im Mittelpunkt von Kapitel (3) stehen Theorien, die ganz unmittelbar die bedeutungs- und beziehungskonstitutive Funktion von Kommunikationsanschlüssen und -prozessen berücksichtigen und somit versuchen, stärker als Luhmann dieses selbst getan hat, die Prozessualität bzw. Strukturdynamik der Kommunikation in ihr eigenes Recht zu setzen. Diskutiert werden Ansätze von Wolfgang Ludwig Schneider, Heinz Messmer, Dirk Baecker, Helmut Willke und Thomas Malsch. Ansätze, die sich allesamt mit der Frage beschäftigen, wie es in Kommunikationsprozessen zur Entstehung spezifischer Strukturdynamiken bzw. Ordnungsmuster und vermittelt über diese Ordnungsmuster zur Emergenz höherstufiger, sozial-sinnhafter Phänomene kommt. Jeweilige Antworten fallen zwar mehr oder weniger unterschiedlich aus, fügen sich aber zu einem einheitlichen Gesamtbild, das offenbar werden lässt, was innersoziale Emergenz ist und wie sie sich kommunikationstheoretisch modellieren und erklären lässt, d.h. wie sich Strukturdynamiken abbilden lassen. In Kapitel (4) soll geprüft werden, inwiefern das (nicht nur) im Rahmen akteurstheoretischer Ansätze entwickelte, auf Pfadabhängigkeiten rekurrierende und sich insbesondere an den pragmatischen Dimensionen von „Präzision“, „Abstrahierung“ und „Generalsierung“ orientierende Konzept sozialer Mechanismen geeignet ist, auch die „Ablauflogik“ von Kommunikationsprozessen zu erfassen.
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Soziale Mechanismen erklären, wie sich der Übergang von einem oder mehreren sozialen Ereignissen hin zu einem anderen oder mehreren anderen sozialen Ereignissen vollzieht, sofern der zwischen diesen Ereignissen bestehende Zusammenhang als „Ursache-Wirkungs-Verhältnis“ (Schmitt 2006: 204) definiert wird. Die Möglichkeit der Übernahme dieses Konzepts in den „Werkzeugkasten“ der soziologischen Kommunikationstheorie und/oder der Kommunikationssoziologie hängt allerdings davon ab, ob und inwiefern es gelingt, die für kommunikative Verhältnisse typische Reflexivität mit Vorstellungen von Kausalität zu verbinden. Eine mögliche Lösung wird am Ende von Kapitel (4) diskutiert. In Kapitel (5) wird anhand der bereits erwähnten Fallbeispiele gezeigt werden, wie sich einfache kommunikative Mechanismen modellieren lassen. Kommunikationsanschlüsse werden mit Blick auf die ihnen zugrunde liegende „Eigenlogik“ hin untersucht und es wird gezeigt, wie bereits wenige Kommunikationsanschlüsse zur Emergenz von ganz bestimmten sozialen Eigenwerten und Deutungsrahmen führen können; ein Vorgang, der sich der Kontrolle einzelner Kommunikatoren entzieht. Verhandelt werden (a) die kommunikative, u.a. auf der Widerspiegelung von Deutungsmustern und der Markierung von Intersubjektivität beruhende Emergenz der diskursiven Realität des Skandals sowie (b) die nicht kontrollierbare Emergenz der Wirkmächtigkeit von Mitteilungen infolge rekursiver Initialisierung. Die ausgewählten Referenzbeispiele entstammen vorwiegend dem Empiriefeld der Online-Kommunikation mit Websites und Weblogs, die zu Zwecken der Informationsverbreitung und zu Zwecken der Diskussion genutzt werden. Im Falle von Weblogs handelt es sich um Websites, auf denen Beiträge in umgekehrt chronologischer Reihenfolge veröffentlicht werden. Diese Beiträge können typischerweise auf vielfältige Art und Weise mit anderen Inhalten im Netz verlinkt werden, und dies ist das besondere Merkmal dieser technischen Anwendung. Das Internet bietet sich nicht zuletzt aufgrund der relativ hohen materiellen Persistenz von Mitteilungen als Raum für kommunikationssoziologische Studien an. Zwar kommt es auch im Netz immer wieder zu Löschungen; zum einen wird in Online-Diskussionen aber häufig mit Zitaten gearbeitet, um nicht den Überblick zu verlieren und es auch „NeueinsteigerInnen“ zu ermöglichen, sich schnell zurecht zu finden, und zum anderen werden in der Regel Hyperlinks genutzt, um Bezugnahmen oder den Rahmen von Bezugnahmen explizit zu markieren. Selbst wenn Mitteilungen irgendwann gelöscht werden sollten, lassen sich später oft noch Hinweise auf ihre Existenz in der Form von Hyperlinks und ebenso Kommentare zu den gelöschten Mitteilungen finden, die es teilweise sogar erlauben, Inhalte und vorgenommene Zurechnungen nahezu vollständig zu rekonstruieren. Peter Fuchs hat vorgeschlagen, auf Websites enthaltene Beiträge ebenso wie in gedruckter Form vorliegende Texte
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als „gesellschaftliche Dokumente“ oder „Dokumente erster Ordnung“ zu verstehen, die Sinn zuschreiben und denen Sinn zugeschrieben wird. Hyperlinks hingegen können Fuchs zufolge als „minimal sinnhaltige Operationen“ verstanden werden. Sie sind „(…) operative Verweise (in der Form von Mitteilungen), die zu weiteren Dokumenten führen, die weitere operative Verweise enthalten. Man könnte auch von minimal sinnhaften Operationen sprechen, die zu weiteren Angeboten von minimal sinnhaltigen Operationen führen“ (Fuchs 1999: 5). Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung und Diskussion der in den einzelnen Kapiteln präsentierten Ergebnisse (Kapitel 6). In dieser Zusammenfassung wird es noch einmal darum gehen herauszuarbeiten, welche Chancen eine kommunikations- und emergenztheoretisch orientierte Modellierung bzw. Erklärung der (Re)Produktion oder Transformation von sozialer Ordnung bietet. Ebenso sollen offene Forschungsfragen angesprochen werden.
1.5 Abschließende Hinweise Bleibt zum Schluss dieser Einleitung – um Missverständnissen vorzubeugen – kurz zu erläutern, was die vorliegende Arbeit nicht leisten kann bzw. soll. Dem Autor geht es in ihrem Rahmen nicht um die Entwicklung einer neuen Emergenztheorie, sondern vielmehr um die Verbindung emergentistischer und kommunikationstheoretischer Denkfiguren und Konzepte mit dem Ziel, neue Möglichkeiten der Erklärung der Entstehung, der Reproduktion und/oder der Transformation sozialer Ordnung aufzuzeigen. Auch sind die in Kapitel (5) modellierten kommunikativen Mechanismen nicht als „Erklärungen für alle Zwecke“ zu verstehen. Die modellierten Mechanismen haben – ganz so wie Robert K. Merton das Konzept des sozialen Mechanismus einst verstand (vgl. Merton 1968: 39 ff.) – nur eine begrenzte Reichweite. Soziale Mechanismen besitzen soziologische Relevanz im Hinblick auf ein bestimmtes oder einige, sich ähnelnde, Erklärungsproblem(e) (vgl. Langer 2006: 71 ff.) und gelten für eine mehr oder weniger große Klasse an sozialen Phänomenen, erklären aber nicht alles. Nur so kann die Komplexität des Sozialen theoretisch durch Abstraktion reduziert werden, ohne vollends den Kontakt zur Empirie und somit an Bodenhaftung zu verlieren. Wie immer gilt, dass auch die vorliegende Arbeit ein Diskussionsvorschlag ist. Aufgeworfene Fragstellungen lassen sich auch in anderer Perspektive und in anderer Form bearbeiten, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird man bezüglich des einen oder anderen Punktes ebenso zu anderen Einschätzungen und Antworten gelangen. Sofern die Arbeit dazu herausfordert, die von ihr aufgeworfenen Fragen auch aus anderer theoretischer Perspektive noch einmal gründlich zu
Abschließende Hinweise
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durchdenken und durchzuarbeiten, so hat sie einen Großteil ihrer Schuldigkeit bereits getan – nämlich dafür Sorge getragen, dass es mit der wissenschaftlichen Kommunikation, mit ihrer Autopoiesis, weiter geht.
2 Emergenz – Zu Phänomen und Begriff
Die Annahme, dass die Gesellschaft letztlich noch mehr und anderes ist als ein Konglomerat von individuellen und kollektiven Akteuren, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen, kann als konstitutiv für die Disziplin der Soziologie angesehen werden. Bleibt somit nur die Frage, was unter diesem „mehr“ und „anders als“, was unter dem Stichwort „sozialer Emergenz“ (vgl. zum Begriff auch Sawyer 2005) konkret zu verstehen ist, und wie sich Emergenzprozesse soziologisch gehaltvoll modellieren lassen. Dass soziale Phänomene eine eigene Identität aufweisen, die sich nicht abschließend auf der Basis einer Betrachtung von Intentionen, Handlungsentscheidungen, typischen Handlungslogiken, Handlungstypen, Beziehungsstrukturen, individuellen Vorstellungen über Sozialität etc. erschließen und rekonstruieren lässt, dass das Soziale ganz eigene, „unabhängige“ und somit emergente Qualitäten aufweist, scheint einerseits außer Frage zu stehen. Andererseits lässt sich die Existenz sozialer Phänomene aber nicht unabhängig von den individuellen Vorstellungen, Annahmen, Entscheidungen und Handlungen sozialer Akteure denken. In der Soziologie ist dieses (Spannungs-)Verhältnis von Eigenständigkeit und Abhängigkeit u.a. als die „MikroMakro-Frage“ oder das „Mikro-Makro-Problem“ bekannt (vgl. zur Bedeutung der Mikro-Makro-Unterscheidung vor allem die Beiträge in Alexander et al. 1987). Je nachdem, welche Ebene als die bedeutsamere angesehen wird, tendieren soziologische Theorien zu einer mehr oder weniger „reduktionistisch“ bzw. „holistisch“ ausgerichteten Erklärung sozialer Emergenz. Während sich reduktionistisch verfahrende Theoretikerinnen und Theoretiker immer wieder die Frage gefallen lassen müssen, ob Sozialität bzw. Gesellschaft überhaupt mehr sein kann, als die zwischen Individuen bestehenden Beziehungen oder die von diesen ausgeführten Handlungen, stehen „holistisch“ oder „kollektivistisch“ argumentierende Soziologinnen und Soziologen hingegen im Verdacht, der widersinnigen Vorstellung Vorschub leisten zu wollen, die Entstehung, die Reproduktion oder der Wandel sozialer Phänomene ließen sich erklären, ohne überhaupt auf irgend eine Art und Weise auf die Selektionen sozialer Akteure eingehen zu müssen.
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Emergenz – Zu Phänomen und Begriff
2.1 „Generalformel“ und „Heuristik“ 2.1.1 Ebenen, Eigenschaften und Prozesse Mit dem Terminus „Emergenz“ wird üblicher Weise das Auftreten neuer Eigenschaften auf einer „höheren“ Ordnungs- oder Systemebene bezeichnet.13 Basis jener „klassischen“ Emergenztheorien, die in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wurden und sich mit der Entstehung von neuen Eigenschaften auf unterschiedlichen Realitätsebenen beschäftigen, ist zunächst die Annahme eines physischen oder materiellen Monismus, welche besagt, dass unbelebte wie belebte Objekte der Natur dieselben materialen Grundlagen besitzen (vgl. Stephan 2000: 36 sowie Bora 2003: 120). Emergenzkonzepte ruhen schließlich auf der weiterführenden Annahme auf, dass sich systemische Eigenschaften (Stephan 2000: 37) nicht direkt auf die Charakteristika einzelner, die Entstehung oder Reproduktion der höheren Ordnungs- bzw. Systemebene ermöglichender, aber auf einer „tieferen“ Ebene angesiedelter Elemente oder auf deren (bloße) Anordnung in Raum und Zeit zurückführen lassen („nichtreduktiver physischer Monismus“). Emergenz bedeutet Irreduzibilität (vgl. ebd.: 38 ff.). Obwohl im Rahmen von Emergenztheorien von der Irreduzibilität höherstufiger Phänomene ausgegangen wird, bedeutet dies keineswegs, dass geleugnet werden soll, dass das Zustandekommen und die fortwährende Existenz systemischer oder kollektiver Eigenschaften eines wie auch immer zu definierenden „Gesamt“ oder „Systems“ grundsätzlich von dessen „(...) Mikrostruktur, d.h. den Eigenschaften seiner Bestandteile und deren Anordnung (..)“ (ebd.: 37) mit abhängen („synchrone Determiniertheit“). Emergenztheorien scheinen damit durch ein vermeintliches Paradox gekennzeichnet: Die These des materiellen Monismus schließt die Annahme eines Substanzdualismus14 konsequent aus, und emergente 13
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Der Begriff „System“ wird hier zunächst in einem allgemeinen Sinne verwendet und meint ein Gesamt von miteinander in einer bestimmten Beziehung stehenden, auch dynamischen Elementen, welches sich aufgrund seiner Charakteristika bzw. Eigenschaften für eine Beobachterin/einen Beobachter als different darstellt bzw. von dieser/diesem von anderen Systemen unterschieden werden kann. Die Emergenztheoretiker der ersten Stunde suchten zu Beginn des 20. Jahrhunderts danach, eine dritte Perspektive auf die Entstehung und den Wandel der unterschiedlichen Formen des Lebens zu entwickeln. Während in mechanizistischer Perspektive galt, dass sich alle Erscheinungsformen des Lebens mit Hilfe der Gesetze der Physik erklären lassen müssten, waren „Vitalisten“ bzw. „Substanzdualisten“ davon überzeugt, dass die Natur keineswegs kausal geschlossen sei, sondern dass das Naturgeschehen ein Resultat des Wirkens übernatürlicher Kräfte darstelle (vgl. hierzu ausführlich Stephan 1999: 6 ff.). Die frühen Emergenztheoretiker suchten ebenso wie die Mechanizisten danach, ein rationales Weltbild zu befördern, bezweifelten allerdings, dass sich alle beobachtbaren Phänomene auch reduktionistisch erklären lassen würden. Und diese Skepsis bezog sich nicht nur auf chemische und organische, sondern im Besonderen auch auf psychische und soziale Phänomene.
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Eigenschaften eines Systems ruhen zwangsläufig auf dessen Mikrostruktur bzw. auf den Eigenschaften seiner (auf einer „tieferen“ Ebene angesiedelten) Elemente (mit) auf. Gleichzeitig wird aber davon ausgegangen, dass eine vollständige Ableitung emergenter Eigenschaften aus den Eigenschaften der Elemente oder deren Anordnung zueinander nicht möglich sei. Etwas anderes muss also noch mit im Spiel sein, etwas, das nicht von außen hinzukommt, sondern das im Verhalten der Elemente in Beziehung zueinander gründet. Tatsächlich gilt – und hierauf wurde auch schon in Kapitel (1) aufmerksam gemacht –, dass der Emergenzbegriff so angelegt ist, „(…) daß er sowohl den Vorgang, in dem und durch den etwas Neues hervortritt, als auch die neuartige Qualität des Hervorgetretenen bezeichnet“ (Ellrich und Funken 1998: 354). Emergenz ist also Irreduzibilität und permanente Dynamik. Sie bedeutet, dass systemische oder kollektive Eigenschaften (ganz gleich welcher Art) nicht identisch sind mit den Eigenschaften jener Elemente, die ihre Entstehung bedingen, und dass sie nicht direkt auf diese zurückgeführt werden können. Emergenz heißt, dass sich neue Eigenschaften auf einer höheren Ordnungs- oder Systemebene immer dann einstellen, wenn es zu Wechselwirkungen zwischen einzelnen Elementen, zwischen Ereignissen und Operationen kommt, die sich nicht „im Voraus“ bestimmen, d.h. vorhersagen lassen. Nur auf diese Wechselwirkungen bzw. die Effekte dieser Wechselwirkungen lassen sich emergente Eigenschaften oder Phänomene maximal „reduzieren“; nur sie „begründen“ und „instanziieren“ eine jeweils „höhere“ Ebene von Ordnung. Höherstufige, emergente Phänomene sind damit das Ergebnis von Prozessdynamiken bzw. sie existieren nur in, mit und aufgrund von Wechselwirkungen. Die Irreduzibilitätsthese redet damit der Möglichkeit einer Ebenen übergreifenden erklärenden Reduktion das Wort. Am Beispiel des Sozialen formuliert: Wer davon ausgeht, dass es sich im Falle konkreter Erscheinungsformen von Sozialität um irreduzible Phänomene handelt, leugnet nicht, dass diese auf den Selektionen und Handlungen sozialer Akteure aufruhen, nimmt aber an, dass die Rekonstruktion von Selektions- und Handlungslogiken kaum etwas erklärt. Wichtiger erscheint es vor diesem Hintergrund, verstehen und erklären zu können, auf welche Art und Weise bzw. auf welchen Wege Selektionen miteinander verschränkt werden und welche Effekte hieraus resultieren – ganz gleich, auf welchen Logiken Selektionen im Einzelnen nun beruhen mögen. Anders erläutert: Eine einzelne, sozial verstandene Handlung ist nur wenig ohne die auf sie folgende Reaktion bzw. Anschlusshandlung, eine kommunikative Mitteilung nichts ohne eine weitere, an ihren Sinngehalt anschließende Mitteilung. Eine soziologische Theorie, die davon ausgeht, dass das Soziale ganz im Sinne Durkheims mehr ist als die Summe seiner Teile, müsste dann also sinnvoller Weise zunächst an diesem Punkt ansetzen. Sie muss vor allem dem Umstand Rechnung tragen, dass individuelle Selektionen nur in ihrer sozialen Form – und dies heißt:
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in sinnhafter Verschränkung mit anderen Selektionen – Einfluss auf die Entstehung, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung haben können. Tatsächlich rekurrieren alle soziologisch gehaltvollen Theorien – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise und in unterschiedlichem Maße – auf die Effekte von Wechselwirkungen. Während einige Ansätze die für die emergenztheoretische Position charakteristische Annahme der Irreduzibilität äußerst ernst nehmen und zuvorderst nach den Erscheinungsbildern basaler Formen der Selektionsverschränkung fragen, tendieren andere Theorien hingegen wieder in die Richtung eines epistemologischen wie auch ontologischen Reduktionismus, der allerdings fraglich werden lässt, wie noch davon ausgegangen werden kann und soll, dass Sozialität eigenständige Eigenschaften besitzt. Umgekehrt gilt natürlich auch, dass überzogen holistische oder kollektivistische Ansätze die Denkfigur der Emergenz völlig ad absurdum führen.
2.1.2 Konzept und Nutzen Wohin führt uns nun aber die Auseinandersetzung mit emergenztheoretischen Annahmen und inwiefern hilft sie der soziologischen Theoriebildung? Welchen Nutzen bieten die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im britischen und amerikanischen Emergentismus sowie in den sechziger und siebziger Jahren in der Philosophie des Geistes entwickelten Emergenzkriterien für die soziologische Theoriediskussion? Bettina Heintz hat u.a. darauf hingewiesen, dass eine Anwendung der erwähnten Kriterien auf grundlegende Annahmen etablierter soziologischer Theorien helfen kann, neue Perspektiven auf das soziologische Mikro-Makro-Problem zu entwickeln und die „Mikro-Makro-Frage“ der Soziologie gar zu „entfundamentalisieren“ (Heintz 2004: 2). Emergenztheoretische Annahmen ließen sich als „eine Art Heuristik“ (ebd.: 2) nutzen, die es erlaubt, populäre soziologische Perspektiven und Positionen systematisch miteinander zu vergleichen. Ähnlich argumentiert auch Jens Greve, der davon spricht, dass „emergenztheoretische Erwägungen“ eine „Klärung“ der Mikro-Makro-Differenz sowie des Verhältnisses von Handlungs- und Systemtheorie versprechen würden (Greve 2006: 19). Die Mikro-Makro-Diskussion in der Soziologie ist Heintz zufolge durch drei Defizite gekennzeichnet (vgl. für die folgenden Ausführungen Heintz 2004: 2 ff.). Zunächst sei festzuhalten (1), dass die einfache Unterscheidung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene des Sozialen bedeute, trotz hinlänglich bekannter Kritik weiterhin zu übersehen bzw. zu leugnen, dass nicht nur zwei, sondern mindestens drei Ebenen des Sozialen auseinander zu halten sind. Gerade
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jene Theorien, die in den sechziger und siebziger Jahren die „’mikrosoziologische Revolution’“ begründet haben, so Heintz, würden in besonderem Maße auf diesen Umstand aufmerksam machen, indem sie nicht das Individuum, sondern die soziale Beziehung oder Interaktion als Ansatzpunkt des Erklärens wählen. Was damit in den Blick gerät, sind Prozessualität, Dynamik und Synthesen: „Die Beziehungen zwischen den Akteuren – die Wechselwirkungen (Simmel), Assoziationen (Durkheim), Interaktionen (Goffman) und Kommunikationen (Luhmann) – werden als ein emergentes Phänomen betrachtet, das nicht auf die Intentionen der beteiligten Individuen reduziert werden kann“ (ebd.: 3). Des Weiteren geht Heintz davon aus, dass emergenztheoretische Basisannahmen helfen könnten (2), das soziologische Verständnis des „Gegenbegriffs“ der Reduktion zu verbessern. Drei Dimensionen von Reduktion seien immer voneinander zu unterscheiden: die „intertheoretische“, die „epistemologische“ und die „ontologische“ Dimension. Alle diese Dimensionen können Heintz zufolge bis zu einem gewissen Grad auch innerhalb eines Ansatzes gegeneinander variiert werden. Oft aber sei nicht klar, ob und inwiefern von der Möglichkeit einer „intertheoretischen“, „epistemologischen“ oder einer „ontologischen“ Reduktion Gebrauch gemacht wird. Schließlich (3) können die im britischen und amerikanischen Emergentismus sowie in der Philosophie des Geistes entwickelten Emergenzkriterien auch ganz direkt genutzt werden, um bestehende soziologische Emergenzvorstellungen zu präzisieren oder eigenständige Spielarten eines soziologischen Emergentismus zu entwickeln. Interessant ist vor allem, ob und wie sich ein „starker“ Begriff sozialer Emergenz halten lässt und worauf sich dieser beziehen müsste – auf „Eigenschaften“, „Gesetze“, „Ereignisse“ oder „Entitäten“ (ebd.: 5)? Die Tragweite und Relevanz emergenztheoretischer Vorstellungen soll im Folgenden am Beispiel von Strukturindividualismus und Systemtheorie diskutiert werden. Obwohl beide Theorien im Hinblick auf ihre grundbegriffliche Anlage unterschiedlicher kaum sein könnten, werden sie durch ein starkes gemeinsames Bezugsproblem geeint. Esser versucht, in handlungstheoretischer Perspektive synchrone Determiniertheit, Irreduzibilität des Sozialen und die Prägekraft sozialer Strukturen gleichzeitig zu denken, Luhmann hingegen interessieren die Eigenständigkeit und die strukturelle Kopplung psychischer und sozialer Systeme, die Autopoiesis sozialer Systeme auf der Basis von Kommunikationsereignissen und mehr oder weniger stark generalisierte Erwartungen bzw. Erwartungsstrukturen, die dafür sorgen, dass bestimmte Kommunikationsanschlüsse wahrscheinlicher sind und bleiben als andere, egal was Akteure hiervon nun halten mögen oder nicht. Sowohl Esser wie auch Luhmann versuchen auf jeweils eigene Weise, Emergenz „von unten“ und Konstitution „von oben“ zusammen zu denken.
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Bevor wir das Phänomen und Problem sozialer Emergenz im Folgenden weiter diskutieren können, ist zunächst allerdings noch ein wenig ausführlicher auf die Geschichte des Emergenzkonzeptes und die inhaltlichen Dimensionen des Emergenzbegriffs einzugehen. Im Vorwege sei bereits darauf hingewiesen, dass es hier kaum möglich ist, Phänomen und Begriff erschöpfend zu behandeln. Verweise auf Monographien und Artikel mögen der interessierten Leserin und dem interessierten Leser als Leitfaden einer weiterführenden Lektüre dienen. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf die umfangreichen, gehaltvollen und präzisen Darstellungen Achim Stephans (1999 und 2000) und Paul Hoyningen-Huenes (1994).
2.2 Grundzüge des Emergentismus 2.2.1 Über die „Emergenz“ der Emergenz Der Engländer George Henry Lewes (1817-1878) gilt als der erste Philosoph, der den Ausdruck „emergent“ in fachterminologischer Absicht zu verwenden suchte. In den „Problems of Life and Mind“ (1875) beschäftigt sich Lewes mit der Differenz von resultierenden und emergenten Wirkungen (vgl. Stephan 2000: 31). Eine Differenz, die zuvor bereits von John Stuart Mill (1806-1873) beobachtet worden war. Dieser befasste sich im Rahmen seines Werkes „A System of Logic. Ratiocinative and Inductive“ (1843) u.a. mit der Frage, auf welche Art und Weise voneinander unterscheidbare Ursachen gemeinsam bestimmte Wirkungen hervorbringen. Mill interessierte, wie sich die „Gesamtwirkung“ gleichzeitig wirkender Ursachen zu den jeweiligen „singulären“ Wirkungen der an ihrem Entstehen beteiligten „Einzelursachen“ verhält (vgl. Hoyningen-Huene 1994: 166). Aufgrund der Tatsache, dass sich Wirkungen und Größen im Bereich der Mechanik vektoriell oder auch skalar addieren, entschied sich Mill dafür, ihr „Zusammenspiel“ als „homogen“ zu bezeichnen (vgl. Stephan 1999: 78 f.). Anders hingegen argumentierte er im Hinblick auf chemische Verbindungen. Mill hielt fest, dass die Eigenschaften jener Elemente, mit denen es die Chemie zu tun hat, nicht kombinatorischer Art seien, sondern die Folge von Fusionen (vgl. ebd.: 78 f.). Chemische Verbindungen weisen neue, emergente Eigenschaften auf, die aus dem Zusammenwirken ihrer einzelnen Bestandteile hervorgehen, nicht aber schon selbst Eigenschaften eben dieser Bestandteile sind.15 Ähnlich argumentierte Mill auch im Hinblick auf psychische Phänomene. Gefühle und Gedanken 15
Als ein typisches Beispiel ließe sich der Geruch von Ammoniak nennen, „(…) der sich drastisch von der Geruchslosigkeit seiner Komponenten Stickstoff und Wasserstoff unterscheidet“ (Hoyningen-Huene 1994: 180, sic!).
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setzen sich demnach zwar aus unterschiedlichen Erlebnissen, Impressionen, Motiven, Intentionen zusammen; sie nehmen im Laufe des Prozesses ihrer Verfertigung und Verfestigung allerdings ganz eigene Formen an. Vor dem Hintergrund des Auftretens solcher emergenter Eigenschaften spricht Mill schließlich von einem Vorliegen „heterogen“ wirkender Ursachen (vgl. auch ebd.: 80). Philosophische Überlegungen dieser Art wurden in der zweiten Hälfte des neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vorangetrieben, um den Ansprüchen einer metaphysischen Kosmologie gerecht werden zu können, „stellte“ sie die Wissenschaften doch vor die Aufgabe, alle Formen natürlichen Geschehens so gut es geht zu erfassen und alle mögliche Veränderungen nachzuzeichnen. In diesem Zusammenhang interessierte insbesondere die Frage, ob die erstmalige Beobachtung von Phänomenen gleichzeitig bedeutete, dass in der Natur tatsächlich von Zeit zu Zeit genuin neue Entitäten mit neuen Eigenschaften entstehen würden. Nahm man an, solche neuen Entitäten und/oder Eigenschaften entdeckt zu haben, so galt es zu ergründen, ob sich diese – relativ zu den bereits in anderen Zusammenhängen gewonnenen Erkenntnissen – doch noch reduktionistisch erklären ließen oder nicht. „Physikalische Reduktionisten“ oder „Mechanizisten“/„Mechanisten“ gingen davon aus, dass es in der Natur ausschließlich resultierende Wirkungen geben würde. Sie stellten keineswegs in Abrede, dass Leben gedanklich und sprachlich als ein eigenständiges Phänomen behandelt werden kann und sich immer wieder neue Erscheinungsformen von Leben beobachten lassen. Was sie allerdings in Abrede stellten, war die Annahme, dass es sich hierbei um irreduzible Erscheinungsformen handeln würde. Ihre These lautete also: Auch die organische und psychische Organisation von Lebewesen und ihr Verhalten lassen sich in einem physikalisch-reduktionistischen Sinne erklären. Zu den frühen Mechanisten lassen sich den Angaben Stephans zufolge u.a. Descartes, Hobbes und Huygens zählen (vgl. ebd.: 7). Widerspruch gegen den reduktionistischen Physikalismus wurde zur damaligen Zeit von „vitalistisch“ orientierten Theoretikern eingelegt. Diese nahmen an, dass die Existenz von Leben eine Folge der Beeinflussung physiko-chemischer Prozesse durch übernatürliche Kräfte (Entelechien) sei (Hans Driesch) oder auch, dass das Naturgeschehen ein Prozess sei, der durch einen „élan vital“ getragen werde (Henri Bergson; vgl. Stephan 2000: 34). Mills und Lewes in ihren Absichten folgend bemühten sich Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts schließlich eine Reihe von Autoren darum, diesen Widerstreit zwischen Mechanizisten und Vitalisten zu überwinden und eine neue, dritte Position zu entwickeln. Zu ihnen zählten Samuel Alexander (1859-1938), Conwy Lloyd Morgan (1852-1936), Roy Wood Sellars (1880-1971) und Charles Dunbar Broads (1887-1971). Die von Alexander, Morgan, Sellars und Broads entwickelten Emergenztheorien stellen Ansätze
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dar, die zwischen radikalem Reduktionismus und vermeintlichem Holismus angesiedelt zu erörtern versuchen, wie bestimmte vitale und vor allem mentale Eigenschaften eines Organismus irreduzibel sein können, wenn sowohl die unbelebten Dinge der Natur wie auch belebte Wesen letztlich immer nur auf Basis ein- und derselben Materie existieren. In emergenztheoretischer Perspektive konnte nun von der völligen Irreduzibilität der Eigenschaften auf einer jeweils höheren Ebene, ebenso aber auch von einer Koexistenz reduzibler und irreduzibler Eigenschaften ausgegangen werden. Gerade letztere Möglichkeit brachte Emergenztheorien schnell den Ruf von Ansätzen ein, die weder „Fleisch noch Fisch“ sind und lediglich zusätzliche Möglichkeiten der Beschreibung bieten. Eine Kritik, mit der sich EmergenztheoretikerInnen auch heute noch auseinandersetzen müssen (vgl. zu dieser Problematik ergänzend Heintz 2004: 6). Vor dem Hintergrund dieser Kritik wird die Leistung von Emergenztheorien oft maximal darin gesehen, dass sie helfen, auf „Leerstellen“ in der bisherigen, kausaldeterministisch und reduktionistisch orientierten Theoriebildung hinzuweisen. Emergent ist und bleibt in einer solchen Perspektive nur das, was noch nicht erklärbar ist oder es nie sein wird. Infolge dieser Kritik nahm das Interesse an Emergenztheorien zunächst wieder ab (vgl. zu entsprechenden Verläufen der Diskussion Hoyningen-Huene 1994: 165 ff. sowie direkt 168). Erst in den sechziger und siebziger Jahren begann das emergenztheoretische Denken erneut eine Rolle in der modernen Philosophie zu spielen. Zum damaligen Zeitpunkt wurden in der Philosophie des Geistes Argumentationsfiguren entwickelt, die begründen sollten, warum sich mentale Zustände nicht ohne Weiteres auf die ihnen zugrunde liegenden physiko-chemischen Prozesse reduzieren lassen bzw. warum diese nicht mit ihnen identisch sind. Wir werden im Folgenden noch auf diese Argumentationsfiguren zu sprechen kommen.
2.2.2 Voraussetzungen der Beobachtung von Emergenz In der Geschichte des emergentistischen Denkens sind eine Reihe von Kriterien entwickelt worden, die es ermöglichen sollen, emergente und nicht-emergente Eigenschaften (mehr oder weniger) trennscharf voneinander zu unterscheiden. Je nachdem, ob nur einige oder alle dieser Kriterien Beachtung finden, lassen sich im Wesentlichen drei unterschiedliche „Spielarten“ des Emergentismus unterscheiden (vgl. hierzu auch Stephan 1999: 35). Dies sind: (1) der schwache Emergentismus, (2) der synchrone Emergentismus und (3) der diachrone Emergentismus (vgl. ebd.: 35 ff.).
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2.2.2.1 Emergenzkriterien Physischer/materialistischer Monismus – Schwache Emergenz Mechanisten und frühe Emergentisten teilten miteinander die Vorstellung, dass alle „(…) in der Natur vorkommenden Systeme aus den gleichen basalen Bausteinen zusammengesetzt sind. (…) Die im Universum vorhandenen und entstehenden Entitäten bestehen ausschließlich aus natürlichen, d.h. materiellen Bestandteilen; alle Eigenschaften werden ausschließlich von solchen Systemen instantiiert, die aus natürlichen Bestandteilen zusammengesetzt sind“ (ebd.: 15). Die These des „physischen“ (vgl. Stephan 2000: 36) bzw. „materialistischen Monismus“ (vgl. Hoyningen-Huene 1994: 169) richtete sich – wie schon erwähnt – gegen die Annahme, dass das Wesen des Lebendigen nicht ohne die Akzeptanz von Entelechien oder gar ohne einen übernatürlichen „élan vital“ verstanden werden könne. Sowohl Hoyningen-Huene als auch Stephan weisen allerdings ausdrücklich darauf hin, dass diese emergenztheoretisch-naturalistische Position nicht gleichzusetzen ist mit einem „mechanischen Materialismus“ (ebd.: 170) oder einem „reduktiven Physikalismus (oder Materialismus)“ (Stephan 1999: 16). Mit Blick auf den Verlauf und die Ergebnisse der in den sechziger und siebziger Jahren sowie auch später noch in der Philosophie des Geistes geführten Irreduzibilitätsdiskussion schreibt Achim Stephan schließlich: „Vor dem Hintergrund der gegenwärtig geführten Naturalismus-Debatte, bei der es in der Philosophie des Geistes vor allem um die Möglichkeit der Naturalisierung mentaler Eigenschaften (wie des Habens von qualitativen oder intentionalen Zuständen) geht, erweist sich die naturalistische Position der frühen Emergentisten als eine eher schwache Form des Naturalismus. Starke Varianten behaupten nämlich, daß alle mentalen Eigenschaften >naturalisiert<, d.h. restlos auf physische Eigenschaften und Vorgänge zurückgeführt werden können. (...) Eine schwächere Variante, der der >emergentistische Naturalismus< eher entspricht, behauptet nicht die Reduzierbarkeit der mentalen Eigenschaften, sondern lediglich deren Supervenienz über physischen Eigenschaften“ (ebd.: 15 f., Hervorheb. im Original).
Neuheit und systemische Eigenschaften – Zweites und drittes Merkmal schwacher Emergenz In der „Blütezeit“ (ebd.: 3) des Emergentismus ist der Begriff der „Emergenz“ zunächst auch mit Assoziationen von Neuheit verbunden.16 Stephan erläutert, 16
Im emergenztheoretischen Kontext wird „Neuheit“ durchaus auf unterschiedliche Art und Weise verstanden. Zum einen kann der Begriff „neu“ genutzt werden, um auszudrücken, dass etwas tatsächlich das erste Mal in der Geschichte auftritt. Zum anderen wird der Begriff häufig
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dass weder das Auftreten numerisch neuer Entitäten noch das Auftreten von Konstellationen, die eine Folge der veränderten Anordnung von Elementen sind, im Sinne des frühen amerikanischen und britischen Emergentismus als Zeichen von Emergenz und Neuheit gelten können (ebd.: 17 f.). Neuigkeit meint im Kontext des frühen Emergentismus vielmehr, dass neue Konstellationen bzw. Wechselwirkungen von Elementen, d.h. neue physikalisch-chemische Prozesse zur Entstehung neuer Strukturen und damit zur Emergenz von Entitäten mit neuen Eigenschaften führen (vgl. ebd.: 20). Eigenschaften stellen dabei das am Häufigsten bemühte Beispiel für emergente Phänomene dar (vgl. Hoyningen-Huene 1994: 179).17 Wird von Eigenschaftsemergenz gesprochen, so ist hiermit gemeint, dass auf Wechselwirkungen zwischen einzelnen Elementen aufruhende „Ganzheiten“ oder Systeme Eigenschaften aufweisen, die nicht mit den Eigenschaften jeweiliger Einzelelemente identisch sind. Auf den Systembegriff rekurrierend unterscheidet Achim Stephan emergente von nicht-emergenten Eigenschaften, indem er definiert: „Eine Systemeigenschaft heißt genau dann systemisch, wenn kein Bestandteil des Systems eine Eigenschaft dieses Typs hat“ (Stephan 1999: 21, Hervorheb. im Original). Systemische Eigenschaften wurden ursprünglich nur von Charles D. Broads (1887-1971) ausdrücklich erwähnt und diskutiert. Die Annahme der Entstehung von systemischen Eigenschaften in Emergenzprozessen lässt sich allerdings logisch aus der zur damaligen Zeit üblicherweise vertretenen Neuartigkeitshypothese ableiten (vgl. hierzu auch ebd.: 67). Die These des „materiellen Monismus“ und die Annahme „systemischer Eigenschaften“ stellen die ersten beiden konstitutiven Merkmale schwacher Emergenztheorien dar. Beide Annahmen schließen eine reduktionistische Erklärung emergenter Phänomene bzw. Eigenschaften noch keineswegs aus (vgl. zur Vereinbarkeit von Emergenz und Reduktion ebd.: 67). Als drittes und letztes Merkmal wird schließlich synchrone Determiniertheit hinzugefügt. EmergenztheoretikerInnen gehen von der Abhängigkeit systemischer Eigenschaften von der Mikrostruktur eines Systems (vgl. ebd.: 26 sowie Stephan 2000: 37 und Heintz 2004: 7) aus. Diese Eigenschaften lassen sich ihrer Ansicht nach nun aber nicht auf die Eigenschaften einzelner Elemente des Systems und/oder auf deren
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verwendet, um anzuzeigen, dass Eigenschaften eines Gesamt im Hinblick auf die Eigenschaften seiner Bestandteile, also einheits- oder auch systemrelativ als neu zu verstehen sind. Eine systemrelativ neue aber nicht neuartige natürliche Eigenschaft ist im Jura so z.B. der Vogelflug gewesen: „So ist die im Jura erstmals von Vögeln realisierte Eigenschaft, fliegen zu können, eine systemische Eigenschaft, da kein Bestandteil eines Vogels für sich fliegen kann. Sie ist aber keine neuartige Eigenschaft, da die Eigenschaft fliegen zu können, bereits für mehr als 100 Millionen Jahre von unzähligen Insekten realisiert wurde, bevor der >erste< Vogel die Lüfte der Erde eroberte“ (Stephan 1999: 21). Weitere Beispiele für emergente Phänomene sind: Kräfte, die Eigenschaften von Elementen oder Ereignissen, Gesetze und/oder Makrobedingungen (vgl. Hoyningen-Huene 1994: 179 ff.). Sie werden in Abschnitt 2.2.2.2 kurz vorgestellt.
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bloße Anordnung zurückführen, sondern basieren auf komplexen Wechselwirkungen zwischen den Elementen. In der Annahme der synchronen Determiniertheit wurzelt auch das später vor allem in der Philosophie des Geistes popularisierte Konzept der „Supervenienz“: „Supervenience is a relation between two levels of analysis, and this relation is such that if two events are identical with respect to their descriptions at the lower level, then they cannot differ at the higher level. (…) The supervenience relation is asymmetric; an entity cannot change at a higher level without also changing at the lower levels, but an entity could change at the lower levels and retain the same description at the higher level“ (Sawyer 2005: 66). Verändern sich systemische Eigenschaften, so ist dies immer auf eine Veränderung der Eigenschaften konstitutiver Elemente und auf neue Formen von Wechselwirkung zurückzuführen. Veränderungen der Elemente und/oder ihrer Eigenschaften müssen allerdings nicht grundsätzlich Folgen auf der Systemebene haben. Ein Zustandekommen von neuen Folgen hängt immer von den gegebenen Rahmenbedingungen und den sich zwischen den Elementen eines Systems einstellenden Wechselwirkungen ab (vgl. hierzu auch noch einmal Albert 2005: 390). Emergenz ist also immer ein Ausdruck und ein Resultat von Wechselwirkungen zwischen Elementen bzw. eine Folge des „SichÜberkreuzens“ ihrer Effekte. Irreduzibilität – Das erste Merkmal starker Emergenz Als nicht-emergent müssen nicht nur jene Eigenschaften eines Systems angesehen werden, die identisch sind mit den Eigenschaften einzelner Elemente. Nichtemergent sind auch Eigenschaften, die sich zwar von den Eigenschaften einzelner Elemente unterscheiden, allerdings mühelos über ein „Aggregations-“ oder ein „Kompositionsgesetz“ erschlossen werden können. In solchen Fällen wird – wie schon beschrieben – von „resultierenden“ oder „ableitbaren“ Eigenschaften gesprochen (vgl. zur von George Henry Lewes eingeführten Unterscheidung zwischen „resultants“ und „emergents“ noch einmal Stephan 1999: 85 ff.). Sofern Eigenschaften eines Phänomens nicht identisch sind mit den Eigenschaften der es bedingenden Elemente oder der es bedingenden Ereignisse und sofern keine Kompositionsgesetze zur Verfügung stehen, um vermeintlich emergente Eigenschaften letztlich als „resultant“ zu entlarven, kann von starker Emergenz gesprochen werden. Ein erstes Kriterium für starke Emergenz ist also Irreduzibilität. Stephan zufolge ist „(...) eine systemische Eigenschaft, von der vorausgesetzt wird, daß sie gemäß der These der synchronen Determiniertheit von der Mikrostruktur des Systems S, das sie hat, abhängt, dann irreduzibel und damit emergent, wenn sie nicht aus der Anordnung, die die Bestandteile in S haben, und den Eigenschaften, die diese isoliert oder in von S verschiedenen Systemen haben, deduziert werden kann“ (Stephan 2000: 39, Hervorheb. im Original). Als
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Beispiele für emergente Eigenschaften werden häufig sekundäre Qualitäten angeführt. So können z.B. Empfindungen mehr oder weniger eindeutig auf bestimmte neurobiologische Zustände zurückgeführt werden; dennoch ist und bleibt allerdings zu berücksichtigen, dass eine Modellierung neurobiologischer Prozesse nie helfen kann zu beschreiben und zu verstehen, wie sich z.B. Freude, Schmerzen, Trauer oder Angst anfühlen. Bettina Heintz erläutert am Beispiel des Gefühls der Angst: „Auch wenn es gelingen würde, die neurobiologischen Zustände zu identifizieren, die einen Angstzustand auslösen, ist damit genau das, was Angst ausmacht, nicht erfasst, nämlich wie es sich anfühlt, Angst zu haben. Subjektive Empfindungen und von außen beschreibbare neurobiologische Prozesse gehören zwei grundlegend verschiedenen Welten an (…), zwischen denen ein ‚explanatory gap‘ besteht: es gibt keine Brückenprinzipien, die neuronale Prozesse mit Empfindungen verbinden (…). Die ‚Erklärungslücke‘ besteht somit darin, dass auch bei einer erfolgreichen explanativen Reduktion eines mentalen Zustands die phänomenale Qualität dieses Zustands unerklärt bleibt“ (Heintz 2004: 10). Bleibt noch zu klären, wie sich die „kontraintuitive Annahme“ (ebd.: 8) einer Irreduzibilität trotz synchroner Determiniertheit bzw. Abhängigkeit (Supervenienz) emergenztheoretisch begründen und halten lässt. Gearbeitet wird im Wesentlichen mit zwei miteinander korrespondierenden Argumenten. Zunächst wird angenommen, dass eine bestimmte, immer wieder identisch erscheinende Makroeigenschaft auf unterschiedliche Art und Weise realisiert sein kann. Auch das sogenannte Argument der „multiplen Realisierung“ wurde vor allem in der Philosophie des Geistes popularisiert und diskutiert. Es speist sich aus der Überlegung, dass bestimmte, miteinander identische mentale Zustände durchaus auf der Basis unterschiedlicher neurophysiologischer Prozesse instantiiert sein können. Was interessiert, ist die „(…) observation that although each mental state must be supervenient on some physical state, each token instance of that mental state might be implemented, grounded, or realized by a different physical state. For example, the psychological term ‚pain‘ could be realized by a wide range of different neurobiological terms and concepts, and each token instance of ‚pain‘ might be realized by a different supervenience base. Multiple realizability is thus an account of how one could accept token identity and yet reject type identity (…)“ (Sawyer 2005: 67). Kommt es zu multipler Realisierung bzw. wird von multipler Realisierung ausgegangen, so bedeutet dies also, dass eine eindeutige Relationierung zweier Zustände auf den jeweils im Blickpunkt stehenden „niedrigeren“ und „höheren“ Ebenen von Ordnung nicht gegeben bzw. nicht möglich ist. Was möglich bleibt, sind dann nur noch Aussagen in der Form eines „Immer wenn auf der Mikroebene P1 ODER P2 … ODER Pn, tritt auf der Makroebene M auf“ (Heintz 2004: 9). Je mehr Variationen gegeben, denkbar und möglich sind,
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desto vertrackter wird die Situation. Starke Emergenz liegt schließlich vor, wenn eine bestimmte Makroeigenschaft realisierende Prozesse „wild disjunkt“ sind. Im Falle einer „wildwuchernden Disjunktion“ lassen sich ein- und dasselbe Makrophänomen bedingende Zustände oder Prozesse nicht erschöpfend erfassen und begrifflich auf einen Nenner bringen. Mit Blick auf diesen Umstand schreibt R. Keith Sawyer: „When supervenience is supplemented with wildly disjunctive multiple realizability – the observation that a single higher-level property might be realized by many different lower-level supervenience bases and that these different supervenience bases may have no lawful relations with one another – we have an account of emergence that shows why certain social properties and laws may be irreducible“ (Sawyer 2005: 68). Sawyer weist darauf hin, dass multiple Realisierung und wildwuchernde Disjunktion gerade für soziale Phänomene typisch seien. Er führt u.a. das Beispiel von Gruppeneigenschaften oder -identitäten an, die immer wieder in ähnlicher Form zu beobachten sind, dennoch aber auf von Gruppe zu Gruppe unterschiedlichen individuellen Ansichten, Absichten, Intentionen, Wünschen, Zielen und Aktivitäten einzelner Gruppenmitglieder basieren. Ähnliches gelte auch für kommunikative Phänomene wie Bedeutungen oder Diskurse (vgl. für diese Beispiele ebd.: 68). Das Problem der „downward causation“ Das Kriterium der Irreduzibilität ist noch in einer weiteren Hinsicht von Bedeutung. Synchrone Determiniertheit und Irreduzibilität implizieren (vgl. Stephan 1999: 68), dass es zu einer von der spezifischen Struktur des emergenten Ordnungsniveaus, zu einer von systemischen Eigenschaften ausgehenden abwärtsgerichteten Beeinflussung oder „abwärts gerichteten Verursachung“ (ebd.: 68) bzw. zu einer „Makrodetermination“ (vgl. Hoyningen-Huene 1994: 175; Greve 2006: 30 ff.) kommt („downward causation“). Abwärtsgerichtete Kausalität oder abwärtsgerichteten Einfluss anzunehmen bedeutet, von einem Wechselspiel emergenter Eigenschaften mit den Formen der Relationierung von Elementen oder Ereignissen auf der subvenienten Ebene auszugehen. Die Annahme solcher Effekte führt zu einer äußerst dynamischen Perspektive auf Emergenz, ist allerdings auch nicht unproblematisch. Sofern „downward causation“ bzw. abwärtsgerichteter Einfluss unterstellt wird, besteht erneut eine gewisse Gefahr, von einer emergenztheoretischen in eine substanzdualistische Betrachtungsweise einzumünden (vgl. hierzu Heintz 2004: 11). Hier ist allerdings ebenso noch einmal relativierend darauf hinzuweisen, dass der physische Monismus emergenztheoretischer Provenienz nicht mit einem absoluten, mechanischen Materialismus oder Mechanizismus gleichgesetzt werden kann. Emergenztheorien sind durch eine gewisse Offenheit gekennzeichnet, die auch dazu einlädt nachzufra-
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gen, wie weit das emergentistische Denken an dualistisches Denken angenähert werden kann, ohne dass es seinen eigenständigen Charakter als Alternative (als „dritter Weg“) verliert. Emergenztheorien, die das Kriterium der Irreduzibilität mit einschließen, werden auch als Theorien synchroner Emergenz bezeichnet (vgl. zum Begriff Stephan 2000: 38 ff.). Prinzipielle Unvorhersagbarkeit und Strukturemergentismus Emergenztheorien werden noch stärker, sobald von einer prinzipiellen Unvorhersagbarkeit neuartiger Entitäten oder Eigenschaften ausgegangen wird. Prinzipielle Unvorhersagbarkeit mit einschließende diachrone bzw. diachronische Emergenztheorien lassen sich auch als evolutionäre Emergenztheorien bezeichnen. Damit aus einer schwachen eine evolutionäre Emergenztheorie werden kann, sind sowohl die Unvorhersagbarkeitsannahme wie auch die Irreduzibilitätsthese hinzuzufügen. Die alleinige Miteinbeziehung der Neuartigkeitshypothese macht aus einer schwachen noch keine starke Emergenztheorie (vgl. ebd.: 43). Die letzte Steigerungsform ist schließlich der stark diachrone Strukturemergentismus (vgl. Stephan 1999: 70 ff. sowie Stephan 2000: 42 ff.). Das entscheidende Kriterium für diese Erscheinungsform von Emergenz ist, wie der Begriff „Strukturemergentismus“ bereits vermuten lässt, Strukturunvorhersagbarkeit: „Das Entstehen neuer Strukturen ist dann unvorhersagbar, wenn die Bildung der Strukturen den Gesetzen des deterministischen Chaos folgt. Ebenso sind die eventuell neuartigen Eigenschaften, die durch jene Strukturen instantiiert werden, nicht vorhersagbar“ (Stephan 2000: 44). Der schwache, der synchrone und der diachrone Emergentismus stellen die derzeit wichtigsten philosophischen Spielarten des Emergenzkonzeptes dar. Weitere Untergliederungen sind bekannt und möglich. Da sie für den weiteren Fortgang der Argumentation ohne Belang sind, wird an dieser Stelle auf eine ausführliche Diskussion verzichtet. Stattdessen sei hier noch einmal auf die Arbeiten Achim Stephans (1999 und 2000) und Paul Hoyningen-Huenes (1994) verwiesen.
2.2.2.2 Typen emergenter Phänomene In den letzten Abschnitten ist nahezu ausschließlich von den emergenten Eigenschaften eines (im konkreten Fall wie auch immer zu definierenden) Systems, eines „Gesamt“ oder einer Ordnung gesprochen worden. Neben systemischen Eigenschaften können aber auch noch eine Reihe anderer Phänomene emergent
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sein. Die in der Literatur zusätzlich am häufigsten genannten sollen im Folgenden der Vollständigkeit halber kurz vorgestellt werden. Eigenschaften von Elementen In Emergenzprozessen kommt es nicht nur zur Ausprägung systemischer Eigenschaften. Ebenso können auch die ein System konstituierenden Elemente oder Ereignisse ganz bestimmte, neue Eigenschaften annehmen. In einem solchen Fall ließe sich auch von „doppelter Emergenz“ sprechen. Makrobedingungen Makrobedingungen werden als ein weiterer Typus emergenter Phänomene diskutiert. Paul Hoyningen-Huene nennt sowohl (1) „constraints“, wie auch (2) „boundary conditions“, (3) „Kräfte“ und (4) „neue ‚Arten des AufeinanderBezogenseins‘“ als distinkte Formen von Makrobedingungen (ebd.: 181 f.). Beginnen wir mit den „neuen Arten des Aufeinander-Bezogenseins“: „Gemeint ist, daß die Elemente oder Prozesse oder Ereignisse der unteren Ebene untereinander in einer neuen Art von Beziehungen stehen, die auf der oberen Ebene eine neue Art von Einheitsbildung bewirken, indem sie das entsprechende Emergenzphänomen hervorbringen, etwa die emergenten Qualitäten“ (ebd.: 182). Inwiefern diese „neuen Arten des Aufeinander-Bezogenseins“ als emergente Phänomene gelten können, hängt – wie auch im Fall der Eigenschaften von Systemen, Ordnungsniveaus und/oder Elementen – immer davon ab, welche Merkmale von Emergenz beobachtet bzw. welche Kriterien für Emergenz herangezogen werden (können). Als emergent lassen sich Hoyningen-Huene zufolge Kräfte bezeichnen, die von der jeweils „höheren“ Ordnungsebene aus auf die Erscheinungsformen system- und eigenschaftskonstitutiver Mikroprozesse (zurück)wirken (vgl. ebd.: 182). Inwiefern Hoyningen-Huenes Verständnis von Kräften es erlaubt, diese noch trennscharf von „contraints“ zu unterscheiden, muss allerdings dahingestellt bleiben. Auch „constraints“ würden „(...) vom oberen Niveau her einen gewissen Zwang zu Ordnung und Vereinheitlichung des unteren Niveaus ausüben“ (ebd.: 181). Im Falle von „boundary conditions“ geht es HoyningenHuene hingegen um Randbedingungen, die Prozesse auf dem jeweils niedrigeren Niveau von vornherein in ihren Verläufen begrenzen.
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Nomologische Emergenz Nomologische Emergenz lässt sich nach Hoyningen-Huene als eine „direkte Folge“ von deskriptiver Emergenz18 bestimmen. Liegt diese vor, „(…) so lassen sich die Gesetze der höheren Ebene, die (mindestens) eine emergente Eigenschaft enthalten, trivialerweise grundsätzlich nicht von der tieferen Ebene her verstehen“ (ebd.: 181). Nomologische Emergenz ist auch gegeben, sofern sich das Beschreibungsvokabular für ein höheres Ordnungsniveau zwar auf das Beschreibungsvokabular für ein niedrigeres Ordnungsniveau reduzieren lässt, sich das Emergenzgeschehen dennoch aber einem Verständnis „von unten“ her entzieht („explanatorische Emergenz“; vgl. ebd.: 181).
2.2.2.3 Hierarchie der Existenzstufen Ein weiterer Punkt, der es verdient, hier noch einmal kurz erwähnt zu werden, ist die den britischen und amerikanischen Emergentismus auszeichnende Annahme eines hierarchischen Verhältnisses von Seinsebenen oder Existenzstufen. Die Differenzierung zwischen Emergenzbereichen oder Emergenzebenen beruhte in der Blütezeit des Emergentismus u.a. auf der Vorstellung, dass Emergenz eine sukzessive Zunahme von Komplexität bedeute (vgl. Stephan 1999: 23). Als Seinsstufen wurden auf unterschiedliche Art und Weise das Physikalische, des Chemische, das Organische/Biologische, das Psychische und das Soziale (vgl. Hoyningen-Huene 1994: 185) oder auch die Bereiche des „Materiellen“, des „Biologischen“ und des „Geistigen“ (vgl. Stephan 1999: 23) voneinander unterschieden. Stephan schreibt: „Die Hierarchiethese bündelt die von vielen Emergentisten geteilte Ansicht, daß die Mannigfaltigkeit des Universums in eine bestimmte Anzahl an hierarchisch angeordneten >Existenzstufen< einzuteilen sei. Dabei wird angenommen, daß die >höheren< Schichten aus den >niederen< durch einen Zuwachs an Komplexität hervorgehen, der zu Systemen mit völlig neuen Eigenschaften führen kann (...)“ (ebd.: 23). Dass zwischen den einzelnen Stufen Bedingungszusammenhänge existieren und sich von Stufe zu Stufe neue Phänomene ergeben, ist Fakt; einzelne Emergenzstufen im Gegensatz zu anderen aber auch heute noch als komplexer oder weniger komplex definieren zu wollen, wäre jedoch Unsinn. Die Komplexitätsprobleme der Physik, der Chemie, der 18
Der Begriff bezieht sich auf die Emergenz von Eigenschaften: „(..) Sie sind [die, RHP] wohl weitestverbreiteten Kandidaten für Emergenz. Gemeint ist, daß auf dem höheren Niveau unvorhersehbare Eigenschaften auftreten, die relativ zum tieferen Niveau nicht oder zumindest nicht unmittelbar verständlich sind. Diese Variante von Emergenz kann ‚deskriptive Emergenz‘ heißen, weil diese Art der Emergenz schon bei der Beschreibung des Systems relevant wird“ (Hoyningen-Huene 1994: 179).
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Psychologie und der Soziologie sind immer eigene. Auch Achim Stephan plädiert dafür, nicht von einer Hierarchie der Existenzstufen auszugehen, sondern besser unterschiedliche explanatorische Ebenen und verschiedene Erklärungsstrategien voneinander zu unterscheiden (vgl. ebd.: 69).
2.3 Das Verhältnis von Emergenz und Konstitution als gemeinsames Bezugsproblem universaltheoretischer Ansätze – Strukturindividualismus und Systemtheorie In Anbetracht ihrer gemeinsamen Orientierung am Bezugsproblem des Verhältnisses von Emergenz und Konstitution (vgl. Sutter 2006: 66) ist eine Diskussion der grundlegenden Annahmen des Strukturindividualismus Hartmut Essers und der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns in besonderer Weise geeignet, Aufschluss darüber zu gewinnen, wie sich das emergenztheoretisch bedeutsame Zusammenspiel von „synchroner Determiniertheit“ und „downward causation“ bzw. „abwärtsgerichtetem Einfluss“ im Falle des Sozialen gestaltet. Sowohl Esser als auch Luhmann setzen sich ausführlich mit der Frage auseinander, wie soziale Strukturen und/oder Systeme auf der Basis der Selektionen unabhängiger Akteure emergieren (können), und wie die distinkten Eigenschaften des Sozialen auf Selektionsprozesse (zurück)wirken. Beide gelangen im Rahmen ihrer Suche nach einer angemessenen Antwort jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der wichtigste Grund hierfür liegt darin, dass beide Soziologen die Bedeutung der soziologischen Kategorie der Selektion und damit auch den „Ort“ und den Stellenwert des Begriffs des Handelns jeweils anders bestimmen. Während Esser davon ausgeht, dass es sich im Falle von entscheidungsbasierten Handlungen und Gesellschaftsstrukturen um soziale Phänomene handelt, die auf unterschiedlichen Realitätsebenen (nämlich der Ebene des IndividuellPsychischen, aber sozial Geprägten, und der Ebene sozialer Systeme) angesiedelt sind (Stufentheorie; vgl. Esser 1996: 83 ff.), lässt Luhmann soziale Strukturen und soziale Handlungen gar ein Stück weit miteinander konvergieren, indem er letztere als Resultate der Zurechnung von kommunikativen Selektionen auf soziale Akteure versteht und sie schließlich auch als „semantische Artefakte“ in der Form von sozialen (Selbst-)Beschreibungen definiert (vgl. dezidiert Luhmann 1984: 225 ff. sowie 236 ff.). Für Esser ist zu klären, wie sich die Effekte individueller Selektionsentscheidungen bzw. intentionaler Handlungen einer Vielzahl von Akteuren in Makrophänomene „übersetzen“ bzw. wie es zu einer „Aggregation“ (Esser 1996: 96 ff.) dieser Effekte kommt. Luhmann hingegen bezweifelt, dass es sinnvoll sein kann, bei der Intention der Handelnden zu beginnen (vgl. Luhmann 2002: 247 ff.). Im Sinne eines methodologischen Situationalismus
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stellt Luhmann Kommunikationen bzw. Kommunikationsereignisse, verstanden als Verschränkungen der Selektionen mindestens zweier psychischer Systeme, in den Mittelpunkt seiner Analyse. Diese Selektionen sind die der Information („Prozessor“ 1), der Mitteilung (ebenso „Prozessor“ 1) und des Verstehens („Prozessor“ 2 bis …. „Prozessor n“; vgl. zu den einzelnen Selektionen im Besonderen Luhmann 1984: 193 ff. sowie Luhmann 1995a: 115). Luhmann bezweifelt vor allem, dass sich die den individuellen Selektionen der Akteure zugrunde liegenden Intentionen überhaupt angemessen und treffsicher zu Zwecken der Erklärung modellieren lassen, und er geht stattdessen davon aus, dass es geboten ist zu klären, wie Kommunikationsereignisse miteinander relationiert sind. Die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen wird durch generalisierte Erwartungen und die „prozessbegleitende“ Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung eines Kommunikationsprozesses als Handlungsprozess sichergestellt. Damit stellt sich also (jeweils) die Frage, ob und in welcher Form Emergenz ein Problem der „Aggregation“ oder ein Problem des „Anschlusses“ ist. In Anbetracht der Tatsache, dass der Begriff der „Emergenz“ nicht zuletzt ein Prozessbegriff ist, steht also vor allem zu fragen, wie Strukturindividualismus und Systemtheorie mit der Dynamik des Sozialen umgehen und versuchen, diese im Modell „einzufangen“: Welches Verständnis basaler sozialer Prozesse liegt den beiden Ansätzen zugrunde, und inwiefern wirken sich die jeweiligen Konzeptionen auf die methodologische Orientierung und das jeweilige Verständnis von sozialer Emergenz aus? Ziel der nachfolgenden Betrachtungen ist, es Antworten auf diese Fragen zu finden und zu eruieren, auf welche Art und Weise beide Ansätze in ihrer Eigenschaft als Universaltheorien versuchen, dem Phänomen sozialer Emergenz „Herr zu werden“.
2.3.1 Emergenz und Konstitution in strukturindividualistischer Perspektive Ausgangspunkt des strukturindividualistischen Ansatzes bildet die vor allem von James S. Coleman popularisierte Unterscheidung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene des Sozialen sowie zwischen drei erklärenden „Logiken“, d.h. jene allseits bekannte „Badewanne“, die u.a. auf Max Webers Modell des „Verstehenden Erklärens“ zurückgeht (vgl. hierzu Esser 1996: 98). Während die Mikroebene des Sozialen durch die Handlungswahlen der Akteure konstituiert wird, erschöpft sich die Makroebene in unterschiedlichen sozialen Situationen, die jeweils durch ganz bestimmte strukturelle Merkmale bzw. Bedingungen gekennzeichnet sind. In diesen strukturellen Bedingungen, die in den bereits mehrfach erwähnten sozialen Eigen- und Strukturwerten zum Vorschein kommen, wurzeln alle höherstufigen sozialen Phänomene bzw. alle sozialen Instituti-
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onen. Soll die Entstehung, Reproduktion oder Transformation ausgewählter sozialer Phänomene erklärt werden, so ist zunächst zu eruieren, auf welchen vorgängigen Ordnungszuständen diese aufruht. Sind Ausgangspunkte und Ausgangsbedingungen identifiziert, gilt es schließlich zu erklären, wie soziale Akteure diese wahrnehmen (Makro-Mikro-Transition), wie sie auf der Basis ihrer Vorstellungen zwischen bestehenden Handlungsalternativen wählen (Mikroebene der Handlungswahl) und wie sich die Effekte der unterschiedlichen Handlungswahlen einer Vielzahl von Akteuren wiederum in neuen sozialen Situationen bzw. neuen sozialen Zusammenhängen mit bestimmten strukturellen Merkmalen niederschlagen (Mikro-Makro-Transition). Hartmut Esser spricht vom „Grundmodell der soziologischen Erklärung“ (ebd.: 91 ff.) bzw., da es um die Rekonstruktion dynamischer sozialer Prozesse geht, vom „genetischen Modell der soziologischen Erklärung“ (vgl. ebd.: 103). Das Modell informiert darüber, wie die soziale Welt in soziologischer Perspektive am „Haken der Beobachtung“ aufzuhängen ist bzw. aufgehängt werden kann19 und weist unmittelbar auf jene Aspekte und Sachverhalte hin, die die Soziologie unbedingt beschreiben und erklären können muss, wenn sie nachvollziehen und verstehen möchte, warum sich Individuen auf ganz bestimmte Arten und Weisen im Kontext eines „sozialen Gebildes“ verhalten, wie die „Ablauflogik“ bestimmter sozialer Prozesse
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Die Erscheinungsformen des Sozialen sind immer beobachterabhängig, und dennoch folgt hieraus unter keinen Umständen, dass Sozialität nicht existieren würde oder keinen ontologischen Status für sich beanspruchen könnte. Sozialität ist „polykontextural“ und „(…) das heißt, wir nehmen an, dass die zweiwertige Logik im Sinne eines Ursache-Wirkungsverhältnisses zwar lokal seine Gültigkeit hat, und entsprechend zu einem analytisch beschreibbaren Typus führen kann, jedoch von einem anderen Horizont aus gesehen andere Ursache-WirkungsVerhältnisse erscheinen“ (Vogd 2005: 24, sic!). Es gilt somit das Wort Peter Fuchs‘: „Fungierende Ontologien haben (…) nicht weniger Dignität als Ontologien, wie sie die Metaphysik entwickelt hat. Man sagt ja nicht, daß im Augenblick, in dem die Welt am Haken der Beobachtung aufgehängt wird, von nun an Sterne, Blumen und Menschen nur noch als Chimären begriffen werden können. (…) Fungierende Ontologien können einen hohen Grad an sozialer und psychischer Verbindlichkeit erreichen“ (Fuchs 2004: 11). Versucht die Soziologie also, die Emergenz des Sozialen unter Berücksichtigung der Situationsdefinitionen und Handlungswahlen von Akteuren zu erklären, so ist ihr daran gelegen, die in den Resultaten von Beobachtungen erster Ordnung zum Vorschein und zum Ausdruck kommende „fungierende Sozialontologie“ zu erfassen. Sie tut dies im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung, die ebenso zwangsläufig wiederum eine Beobachtung erster Ordnung auf der Basis spezifischer Leitunterscheidungen (hier die Mikro-Makro-Unterscheidung) darstellt. Beobachten wir diese Beobachtung zweiter Ordnung auf ihre emergenztheoretischen Implikationen hin, so sind wir im Rahmen der Theoriediskussion bei einer Beobachtung dritter Ordnung angelangt, die wiederum eine neue Form der Beobachtung erster Ordnung mit Hilfe eigenständiger Leitunterscheidungen (den im amerikanischen und britischen Emergentismus und in der Philosophie des Geistes entwickelten Kriterien für das Vorliegen von Emergenz) darstellt. Und so weiter und so fort, und so weiter und so fort … frei nach Niklas Luhmann (vgl. zur sozialen Operation der Beobachtung einführend Luhmann 2002: 141 ff. sowie weiterführend Ellrich 1997).
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„beschaffen“ ist und warum es zur Entstehung „allgemeiner Regelmäßigkeiten“ kommt (vgl. grundlegend ebd.: 85 ff.). Esser hat das Modell der genetischen Erlklärung immer wieder verfeinert, sich darum bemüht, seine Basisannahmen zu präzisieren und versucht zu zeigen, dass das Modell geeignet ist, ausnahmslos jedes soziale Phänomen in deduktivnomologischem Sinne zu erklären. Unterstellt wird, dass sich die Logik der Handlungswahl mit Hilfe von Akteursmodellen bzw. auf der Basis von allgemeinen Handlungsgesetzen erklären lässt (vgl. ebd.: 94 ff. sowie auch Schmid 2006: 38 f.). Im Rahmen der beiden anderen Logiken wird hingegen versucht, Hypothesen darüber zu entwickeln, wie individuelle Akteure die soziale Welt wahrnehmen („Logik der Situation“ – „Brückenhypothesen“) und anzugeben, welche Rahmenbedingungen die „Übersetzung“ der Effekte des individuellen Handelns in Makrophänomene beeinflussen und prägen („Logik der Transformation“ – Transformationsregeln und Prozessmodelle). Nur der Vorgang der Handlungswahl wird also tatsächlich deduktiv-nomologisch erklärt bzw. zu erklären versucht. Im Folgenden soll diskutiert werden, wie in strukturindividualistischer Perspektive bzw. auf Basis des Modells der soziologischen Erklärung mit dem Phänomen und Problem der Emergenz umgegangen wird. Interessant ist vor allem, welche Aspekte der Entstehung sozialer Ordnung die strukturindividualistische Perspektive in besonderem Maße zu fokussieren erlaubt. Ebenso interessant ist aber auch zu analysieren, wo die „blinden Flecken“ dieser Beobachtungsperspektive liegen. Wie für jede Theorie gilt auch für den Strukturindividualismus bzw. den methodologischen Individualismus in seiner Funktion als wissenschaftliche Beobachtungsperspektive, dass gewählte Leitbegriffe und -unterscheidungen es erlauben, bestimmte Dinge zu sehen, andere aber nicht.
2.3.1.1 Grundzüge des Modells der soziologischen Erklärung Das Modell der soziologischen Erklärung leitet dazu an, sowohl die Mikro- und die Makroebene des Sozialen wie auch die zwischen diesen beiden Ebenen bestehenden Verbindungen auf eine spezifische Art und Weise zu interpretieren. Die Mikroebene gilt grundsätzlich als durch die Handlungswahlen der Individuen konstituiert, die Makroebene hingegen ist das Gesamt „übergeordneter“ sozialer Situationen, Strukturen und Institutionen, welche als mehr oder weniger intendierte Folgen des individuellen Handelns (vgl. zur Transintentionalität des Sozialen u.a. Beiträge in Greshoff, Kneer und Schimank 2003) erfahren und beschrieben werden können. Die Begriffe „Mikro“ und „Makro“ dienen im Fall
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des MSE also dazu, die Realitätsebene des Individuellen, Kleinen, Kontrollierbaren und Lokalen von der Realitätsebene des Überindividuellen, Unkontrollierbaren, Größeren und Globaleren zu unterscheiden (vgl. hierzu auch Heintz 2004: 3). Das MSE kann genutzt werden, um die Entstehung sozialer Phänomene unterschiedlicher Größe und Komplexität zu modellieren. Mit seiner Hilfe lässt sich z.B. beschreiben und erklären, wie individuelle Handlungswahlen die sozialen Bedingungen weiteren Handelns in Face-to-face-Situationen verändern (vgl. zur genetischen Modellierung von Situationsketten Esser 2000: 287 ff.). Ebenso kann das Modell aber auch genutzt werden, um auf hohem Abstraktionsniveau die Ablösung eines sozialen Makrophänomens (Differenzierungsformen, veränderte Verteilungen von Ressourcen, soziale Institutionen etc.) durch ein anderes Makrophänomen zu erklären.20 Die Entstehung von Ordnungszuständen ist auf der Basis des Modells als ein Effekt des Zusammenspiels von verschiedenen Prozeduren oder Vorgängen zu verstehen, die sich auf bzw. zwischen den beiden Ebenen vollziehen bzw. abspielen. Mit Blick auf diese Vorgänge wird von unterschiedlichen „Logiken“ gesprochen. Gehaltvolle soziologische Erklärungen der Entstehung, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung sind Esser zufolge nur dann möglich, wenn alle drei Logiken eingehend untersucht und erklärt bzw. erläutert werden (vgl. Esser 1996: 93 ff.). Die erste erklärende Logik ist die „Logik der Situation“. Soziale Akteure fertigen fortlaufend individuelle Definitionen jener sozialen Situationen an, mit denen sie sich alltäglich konfrontiert sehen. Diese Definitionen stellen den Hintergrund dar, vor dem Alternativen des Handelns durchgespielt werden können und vor dem letztlich auch die Entscheidung für eine dieser Alternativen getroffen werden muss. Die Logik der Situation setzt die Erwartungen und Bewertungen der Akteure mit den gegebenen Handlungsalternativen und den gegebenen sozialen Bedingungen in Beziehung (vgl. ebd.: 94). Sogenannte „Brückenhypothesen“ werden genutzt, um Situationsdefinitionen sozialtheoretisch modellieren und typisieren, und somit die Komplexität der Beschreibung in Grenzen halten zu können. Mit Hilfe der zweiten, im Mittelpunkt des Modells stehenden Logik, der „Logik der Selektion“, wird anschließend versucht zu rekonstruieren, wie sich die Handlungswahlen der Akteure auf der Mikroebene des Sozialen gestalten. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass es Theorien bzw. Gesetze gibt, die die Handlungswahlen von Akteuren bzw. die Logik der Selektion allgemein beschreiben und erklären. Für Hartmut Esser stellt die sogenannte „Wert20
Die nachfolgenden Betrachtungen beziehen sich zunächst in allgemeiner Perspektive auf die Möglichkeiten einer Erklärung sozialer Phänomene mit Hilfe des Modells.
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Erwartungstheorie“ das bevorzugte Erklärungsinstrument dar. Sie basiert auf der Annahme auf, dass Akteure unter allen Umständen versuchen, ihren eigenen Nutzen zu maximieren (vgl. ebd.: 95).21 Die Handlungswahl ist damit der „Motor“ der Entstehung sozialer Ordnung (vgl. in kritischer Perspektive hierzu auch Schmitt 2006: 207 f.). Die Entscheidung für eine und gegen andere Alternativen des Handeln ist das, was zählt und die Entstehung von Sozialität ausmacht. Das Zusammenwirken der individuellen Effekte des Handelns wird schließlich mit Hilfe von „Aggregations-“ bzw. „Transformationsregeln“ erklärt. Sie „(...) beinhalten sowohl spezielle und inhaltliche Informationen über den jeweiligen Fall als auch allgemeine und formale Regeln und Ableitungen. Das Problem der Aggregation ist meist der komplizierteste der drei Schritte. Dafür können noch am allerwenigsten einfache und allgemeine Regeln angegeben werden. (…) Oft müssen die speziellen und die allgemeinen Elemente der Transformation zu einer ganz besonderen und ‘einmaligen‘ Kombination zusammengefasst werden“ (Esser 1996: 97, Hervorheb. im Original). Transformationsregeln oder Transformationsargumente können Esser zufolge von einfachen analytischen Sätzen über komplexe und formale (Prozess)Modelle wie Diffusionsmodelle, Marktmechanismen und –gleichgewichte, spieltheoretische Modelle etc. bis hin zu historisch emergenten (institutionellen) Regelmäßigkeiten reichen. Mit Blick auf letztere gilt allerdings, dass sie zu Zwecken der soziologischen Erklärung wieder in die Form eines logisch-analytischen Arguments überführt werden müssen (vgl. ebd.: 97 sowie zu historisch gewachsenen Regelmäßigkeiten als „erklärendes Moment“ insbesondere Esser 2006: 361).
2.3.1.2 Mikrodetermination und Reduzierbarkeit Kennzeichnend für das Modell soziologischer Erklärung ist u.a. ein ganz besonderes Verständnis von synchroner Determiniertheit. Die Eigenschaften sozialer 21
Die Wert-Erwartungstheorie geht „(…) davon aus, daß ein Akteur genau die Alternative wählt, bei der die sog. Nutzenerwartung maximiert wird. Die Nutzenerwartung ist das Produkt des Wertes U bestimmter Folgen des Handelns mit der Erwartung p, daß diese Konsequenz mit dem Handeln auch eintritt; also p U. Gewählt wird danach immer die Handlung mit der im Vergleich höchsten Nutzenerwartung“ (Esser 1996: 95). Das (angeblich) allgegenwärtige und grundsätzliche Streben nach maximalem individuellem Nutzen wird von Esser als ein Ergebnis bzw. als eine Folge der bisherigen biogenetischen Evolution des Menschen verstanden: „Die Organismen, die dieser Regel [der Maximierungsregel, RHP] – zwar unbewußt, aber faktisch bzw. so, ‘als ob‘ sie sie kennen würden – folgten, waren bei der differentiellen Reproduktion erfolgreicher als die Organismen, die diese Strategie nicht anwandten. Und andere Strategien waren langfristig weniger erfolgreich. Die Folge: Die Maximierungsregel ist in dem Sinne eine evolutionär stabile Strategie (…) gewesen, als jede Abweichung von der Regel – langfristig – dazu führt, daß sie durch differentielle Reproduktion wieder eliminiert wurde“ (ebd.: 227).
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Makrophänomene hängen im Modell unmittelbar von der mikrostrukturellen „Verfasstheit“ der Handlungswahl der Akteure ab. Ist erst bekannt, auf Grundlage welcher Art von Situationsdefinitionen und unter welcher Maßgabe Handlungswahlen erfolgen, d.h. unter welcher Maßgabe Akteure zwischen verschiedenen denkbaren Handlungsalternativen wählen – so eine wesentliche Annahme des Strukturindividualismus – lassen sich die Entstehung, die Reproduktion und der Wandel sozialer Phänomene problemlos aus der bzw. mit Hilfe der „Logik der Selektion“ ableiten und erklären. Zu Zwecken der Erklärung ausgewählte Handlungstheorien, wie z.B. die Wert-Erwartungstheorie, sollen im Sinne einer „funktionierenden Unterstellung“ (Schmitt 2006: 209) helfen, die mikrosoziale Realität der Handlungswahl so adäquat wie möglich abzubilden. Entscheidend für die Erklärung sozialer Ordnung ist damit also, möglichst „realitätsnah“ zu modellieren, wie soziale Akteure Handlungssituationen deuten, diese Deutungen zu den ihnen offen stehenden Handlungsmöglichkeiten in Beziehung setzen und wie sie sich schließlich für eine bestimmte Handlung und gegen andere Handlungen entscheiden.22 Soziologisch zu erklären bedeutet im Sinne des strukturindividualistischen Programms, reduktionistisch zu verfahren und (vermeintlich) emergente soziale Phänomene weitestgehend aus der Logik des individuellen Handelns heraus abzuleiten. Das Soziale ist in dieser Perspektive zunächst epistemologisch reduzibel. Esser möchte also von einer Ebenen übergreifenden epistemologischen Reduzibilität des Sozialen ausgehen, keineswegs aber von einer ontologischen Reduzibilität, wie im Besonderen mit Blick auf die „Logik der Aggregation“ deutlich wird: „Das MSE geht (..) ganz selbstverständlich davon aus, dass es makrosoziale Entitäten wie soziale Systeme oder Institutionen real in der Tat gibt und dass sie auf die Akteure, die damit (irgendwie) zu tun haben, einen eigenständigen, das heißt: von ihnen selbst durch Beschluss nicht einfach zu übergehenden, Einfluss ausüben können“ (Esser 2006: 356, Hervorheb. im Original). Die Logik der Aggregation soll die „ungefilterte“, „strukturelle“ Wirkung von sozialen Institutionen unterschiedlicher Art auf den Prozess des „Sich-wechselseitigDurchdringens“ von Handlungen/Handlungseffekten erfassen und dessen Resultate mit erläutern. Mit Hoyningen-Huene könnte man auch davon sprechen, dass soziale Strukturen im Rahmen der Logik der Aggregation als vorgängig emergente „constraints“ definiert werden, „(..) die vom oberen Niveau her einen ge22
Es sind im Wesentlichen zwei Arten von Fragen, mit denen sich die akteurstheoretische Soziologie auseinandersetzt: „Das eine sind Fragen danach, warum Handelnde in einer bestimmten Situation so und nicht anders handeln? Die andere Art von Fragen richtet sich darauf, welche strukturellen Wirkungen ein ganz bestimmtes Handeln im Zusammenwirken mit anderem Handeln hat“ (Schimank 2000: 16, Hervorheb. im Original). Esser deckt diese Fragen mit Hilfe der „Logik der Selektion“ (vorbereitet durch die „Logik der Situation“) und der „Logik der Aggregation“ ab.
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wissen Zwang zu Ordnung und Vereinheitlichung des unteren Niveaus ausüben“ (Hoyningen-Huene 1994: 181, Hervorheb. RHP). Im Hinblick auf den zweiten Transitionspunkt, die Logik der Selektion, interessiert hingegen vor allem, wie soziale Strukturen individuell interpretiert werden, und wie diese Interpretationen den Prozess der Handlungswahl beeinflussen. Zu beschreiben ist sowohl, wie sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen aus soziologischer Perspektive darstellen, als auch, wie Akteure diese Rahmenbedingungen wahrnehmen und interpretieren. Esser zufolge definieren soziale Akteure Situationen mit Hilfe von „Frames“, die als abstrahierende gedankliche Modelle von typischen sozialen Situationen verstanden werden können. Mit diesen „Frames“ sind wiederum sogenannte „Skripte“ verbunden, die den Akteuren verdeutlichen, welche Handlungen es ermöglichen, sich in gegebenen Situationen „passend“ einzubringen und dabei auch den eigenen Nutzen zu befördern (vgl. weiterführend zur Funktion von „Frame“ und „Skript“ Esser 2001: 259 ff.). Soziale Tatsachen bzw. Strukturen interessieren im MSE also in zweierlei Hinsicht. Zum einen sucht der Strukturindividualismus soziale Strukturen oder Institutionen in ihrer Eigenschaft als ontologisch irreduzible, unabhängige Phänomene zu beobachten (Beobachtung erster Ordnung), die beeinflussen, welche Wirkungen ein bestimmtes Handeln im Zusammenwirken mit anderem Handeln haben kann (Logik der Aggregation). Zum anderen ist dem Strukturindividualismus daran gelegen zu ergründen, wie sich soziale Strukturen und Institutionen für soziale Akteure darstellen (Beobachtung zweiter Ordnung), d.h. wie soziale Akteure Strukturen und Institutionen mit Hilfe von „Frames“ wahrnehmen und wie sie vor dem Hintergrund dieser Frames Handlungsmöglichkeiten in der Form von Skript-Modellen denken. Offenkundig wird das Soziale in strukturindividualistischer Perspektive vor dem Hintergrund der Annahme ontologischer Irreduzibilität sowohl als epistemologisch reduzibel wie auch epistemologisch irreduzibel verstanden und definiert. Die (partielle) epistemologische Irreduzibilität des Sozialen besitzt im Modell allerdings nur eine begrenzte Bedeutung. In strukturindividualistischer Perspektive reichen eine Beschreibung der Charakteristika sozialer Tatsachen und/oder eine eigenständig-unabhängige Beschreibung der Ablauflogik von Prozessen der Wechselwirkung, d.h. der Strukturdynamik von Situationen oder Kommunikationen nicht aus, um Einblick in die Genese, die Reproduktion und die Transformation sozialer Ordnung, d.h. in ihre „Verfasstheit“ nehmen, und diese auch verstehen und erklären zu können. In strukturindividualistischer Perspektive erscheint es als nicht weitreichend genug, ausschließlich den Verlauf sozialer Prozesse (Kommunikations- resp. Handlungsprozesse) ohne Berücksichtigung von Entscheidungslogiken zu Zwecken der Erklärung von Makrophänomenen modellieren zu wollen. Funktionale Erklärungen, die helfen können zu verstehen, welche Leistungen bestimmte soziale Prozesse
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und/oder bestehende Strukturen bzw. Institutionen für den Erhalt oder auch für die Transformation von sozialer Ordnung erbringen, erscheinen somit in strukturindividualistischer Perspektive als unnütz. Diese Sichtweise muss nicht unmittelbar einleuchtend erscheinen, sofern man annimmt, dass Handlungsgesetze oder Akteursmodelle letztlich auch immer nur als mehr oder weniger funktionierende Unterstellungen dienen können. Gerade hochgeneralisierte Modelle und Gesetze, die es ermöglichen sollen, die Handlungswahlen einer Vielzahl von Akteuren simultan zu erfassen, wirken oft eigentümlich „inhaltsleer“, und es stellt sich die Frage, worin ihr tatsächlicher Beitrag zur Erklärung noch liegt. Mit Blick auf die Erklärung sozialer Prozesse, an denen eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist, schreibt so z.B. Marco Schmitt in mechanismentheoretischer Perspektive: „Es ist sehr fraglich, ob akteursorientierte soziale Mechanismen hier der richtige Weg sind, denn sie unterliegen doch gewissen Komplexitätsbeschränkungen was die Masse der beteiligten Akteure angeht. Dann kann nur noch mit äußerst simplen Akteursmodellen gearbeitet werden und es stellt sich die Frage, ob diese einfachsten Akteursfiktionen überhaupt Eingang in die sozialen Mechanismen finden müssen, um substantielle Erklärungen zu erzeugen“ (Schmitt 2006: 212). Da sich in methodologisch-individualistischer Perspektive nur die Handlungswahl der Akteure mit Hilfe von Gesetzen deduktiv-nomologisch erklären lässt, erklären Brückenhypothesen und Transformationsregeln bzw. Transformationsmodelle streng genommen auch nichts, sondern stellen lediglich abstrakte Beschreibungen der Rahmenbedingungen des individuellen Handelns sowie der Rahmenbedingungen der Entstehung von kollektiven Phänomenen aus diesem Handeln heraus dar. Die Makroebene sozialer Strukturen und die Mikroebene der Handlungswahl werden im Modell der soziologischen Erklärung mit Hilfe der Logik der Situation in ein „vertikal-inklusives“ Verhältnis zueinander gesetzt (vgl. Heintz 2004: 22). Und auch das Verhältnis von Psychischem und Körperlichem ist in strukturindividualistischer Perspektive als „vertikal-inklusiv“ zu denken (vgl. u.a. Esser 1996: 219 ff. sowie kritisch Heintz 2004: 22). Diese für methodologischindividualistische Ansätze charakteristische Konzeption des Verhältnisses von Sozialem und Psychischem ist vor allem von R. Keith Sawyer kritisiert worden (vgl. Sawyer 2005: 73 ff.). Wenn es schon niemals ausreicht, Prozesse der sozialen Interaktion23 bzw. ihre Effekte ohne den Rekurs auf Intentionen zu analysieren, um die Entstehung, Reproduktion oder Transformation sozialer Phänomene erklären zu können, so stellt sich die Frage, inwiefern es aber ausreichend sein 23
Der Begriff der „Interaktion“ wird an dieser Stelle unspezifisch als Bezeichnung für das Zusammenhandeln von Akteuren verwendet.
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sollte, bei der Modellierung von sozial geprägten intentionalen Handlungswahlen, verstanden als unabhängiger Kausalfaktor, stehen zu bleiben: Müsste im Rahmen einer jeden soziologischen Erklärung nicht weiterführend danach gefragt werden, wie kulturelle (Institutionen), situative (individuelles Handeln in sozialen Prozessen vor dem Hintergrund von Situationsdefinitionen) und genetische Einflüsse gleichermaßen als kausal unabhängige Faktoren zusammenwirken? Klaus Gilgenmann und Berthold Schweitzer haben erst kürzlich kritisiert, dass Soziologen und Kulturanthropologen einseitig kulturell tradierte Strukturen zu Zwecken der Erklärung in den Vordergrund stellen, Soziobiologen und Psychologen einseitig auf die Steuerungswirkung phylogenetischer Anlagen abheben und Ökonomen und Rational-Choice-Theoretiker Anreizwirkungen der Umwelt überbetonen würden (Gilgenmann und Schweitzer 2006: 350). Ihre Empfehlung an die Soziologie lautet, disziplinäre Grenzen zu überschreiten und im Rahmen von kausalen Erklärungen weitläufig integrativ zu verfahren, d.h. nicht nur situativ-soziale und kulturelle, sondern auch genetische Faktoren fortlaufend als Kausalfaktoren mit zu berücksichtigen. Im Hinblick auf den methodologischen Individualismus begründen sie diese Notwendigkeit wie folgt: „In der Perspektive methodologisch individualistischer Ansätze sind die verschiedenen Menschenmodelle nur Ausdruck für verschiedene Entscheidungsregeln, die dem Verhalten von Menschen zugrundegelegt werden. Will man jedoch die Wahl der zugrundezulegenden Entscheidungsregeln selbst empirisch gehaltvoll und überprüfbar gestalten, dann führt kein Weg an der Einbeziehung von Erkenntnissen der Evolutionsbiologie vorbei – und auch Erkenntnisse evolutionärer Kulturtheorie können nicht mehr nur als Brückenhypothesen an ein überhistorisch-allgemeines Grundmodell angeschlossen werden“ (vgl. ebd.: 351). Im Hinblick auf die bislang diskutierte Ausgestaltung des Makro-Mikro-MakroModells soziologischen Erklärens erscheint eine solche Kritik zunächst als nicht stichhaltig. Esser versucht im Rahmen seines strukturindividualistischen Ansatzes deutlich zu machen, dass es nicht verschiedene Entscheidungsregeln, sondern letztlich nur eine Entscheidungsregel gibt, die alles menschliche Handeln orientiert: die Nutzenmaximierungsregel. Sie ist als „evolutionär stabile Strategie“ (Esser 1996: 227) zu verstehen. Das Ansinnen, vor diesem Hintergrund auch (vermeintlich) unreflektierte Formen des Handelns, wie z.B. Routinen und Automatismen, nachträglich als rationales Handeln rekonstruieren zu wollen, mag immer wieder Unverständnis hervorgerufen haben und hervorrufen, zeugt jedoch von Konsequenz und führt den Strukturindividualismus zu einem „differenzlosen Begriff“ von Rationalität, „(…) der auch noch sein ‚scheinbares‘ Gegenteil einschließen soll. Die Unterscheidung rational/nicht-rational muss dazu als Unterfall von Rationalität rekonstruiert werden. Das Prinzip der Nutzenmaximierung soll seine eigene Anwendung regeln, d.h. der Akteur soll rational gesteuert sele-
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gieren, ob er in einen Prozess der rationalen Abwägung zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten eintritt oder nicht“ (Schneider 2006: 450 f.). Das MSE zielt darauf ab, deutlich zu machen, dass die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Sozialität durchaus als irreduzible Phänomene wahrgenommen werden können, Sozialität aber immer monokausal bedingt ist und der „Grundform“ des reflektierten, sozial geprägten und sozial intendierten Handelns entspringt. Mit dem Modell der genetischen Erklärung werden die „multiple Realisierbarkeit“ von sozialen Strukturen sowie die Möglichkeit einer „wildwuchernden Disjunktion“ ausgeschlossen. Soweit zunächst so gut. Das Problem ist nun allerdings, dass die Nutzenmaximierungsregel – entgegen den Behauptungen Essers – keineswegs als einzige stabile Strategie, und die WertErwartungstheorie somit auch nicht als alleingültiges Gesetz oder Modell menschlichen Handelns gelten kann. Georg Kneer hat hervorgehoben, dass auch der Maximierungsgrundsatz weniger ein Kausalgesetz, sondern vielmehr ein „heuristisches Prinzip“ sei, „(…) das spezifische Strukturierungsleistungen bei der Suche nach kompatiblen Nutzenmotiven und damit für die Übergänge zwischen Mikro- und Makroebene erbringt“ (vgl. für die entsprechende Kritik Kneer 2006: 252). Im weiten Feld des methodologischen Individualismus kommen tatsächlich eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungstheorien und Akteursmodelle zum Einsatz, um Handlungswahlen erklären zu können. Diese reichen von einfachen Theorien der rationalen Wahl bis hin zu „integrierten Handlungsmodellen“ (Maurer 2006: 151). Soziologische Handlungstheorien und Akteursmodelle sind immer Konstruktionen einer/eines Beobachterin/Beobachters zweiter Ordnung, der von ihm gewonnene „Daten“ über soziales Handeln auf der Basis eigener Leitunterscheidungen als relevante Informationen zu interpretieren versucht. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als funktionierende Unterstellungen, und dies gilt auch für die Wert-Erwartungstheorie. Hier „(…) trifft man wieder auf das Kontingenzproblem, das nach Beckert auch nicht endgültig behebbar ist (Beckert 1996). Die Entscheidungskalküle sind nicht erhebbar, sie funktionieren nur als Unterstellung oder eben nicht. Und wenn sie in einem Fall funktionieren, müssen sie noch nicht für einen anderen Fall gelten. Kontingenz bedeutet hier aber auch, dass die Entscheidungskalküle empirischer Akteure offene Stellen und Inkonsistenzen aufweisen, sie verfügen weder über klar geordnete Präferenzen, noch durchleuchten sie ihre Opportunitäten und Restriktionen weitgehend. Solche Kalküle der Handlungswahl scheinen nicht nur schwer erhebbar, sondern noch schwerer konstruierbar“ (Schmitt 2006: 209). Was folgt nun hieraus? Zunächst einmal dürfte deutlich geworden sein, dass die im Kontext des Modells der soziologischen Erklärung favorisierte Art und Weise der Betrachtung von Handlungswahlen keineswegs die einzig denkbare ist. Esser geht zwar davon aus, dass die Wert-Erwartungstheorie (bzw. allgemei-
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ner, dass Theorien der rationalen Wahl) die einzige Handlungstheorie ist (die einzigen Handlungstheorien sind), die durch die evolutionär stabile, alles Handeln dominierende Maximierungsregel empirisch „gedeckt“ wird (werden). Dass es theoretisch möglich ist, den Begriff der „Rationalität“ als Einheit der Differenz von rational/irrational zu definieren, steht außer Frage. Fraglich ist nur, was hiermit gewonnen wird. Tatsächlich finden im methodologischen Individualismus unterschiedliche Theorien und Modelle Anwendung, die vor allem der Tatsache Rechnung tragen, dass soziales Handeln unterschiedlich fundiert und orientiert ist. Und für komplexe soziale Phänomene dürfte immer gelten, dass ihre Emergenz auf individuell-psychischer Ebene in den unterschiedlichsten Logiken wurzelt, die sich weder auf eine einzige Selektionsregel hin verdichten lassen, noch umstandslos so weit wie irgend möglich erheb- und modellierbar sind. Soziale Emergenz ist also – die Abhängigkeit der Erscheinungsform sozialer Phänomene von den Selektionsentscheidungen der Akteure reflektierend – durch das Phänomen „multipler Realisierung“ gekennzeichnet. Damit ergeben sich für die erklärende Soziologie letztlich zwei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit wäre es, Makro-Mikro-Makro-Erklärungen im Sinne der Forderung Gilgenmanns und Schweitzers immer integrativ zu gestalten und in Abhängigkeit von jeweils gewählten Erklärungsproblemen und Handlungsgesetzen bzw. Handlungstheorien situative, kulturelle und genetische Einflüsse „gleichberechtig“ als unabhängige Kausalfaktoren nebeneinander zu stellen, nicht aber abschließend-exklusiv auf die dem individuellen Handeln zugrunde liegende Logik der Selektion als „verursachende“ Kraft abzuheben. Da Menschen nicht nur nutzenmaximierend, sondern z.B. auch normorientiert oder emotional handeln (ohne dass dieses Handeln in letzter Konsequenz wieder unmittelbar durch die evolutionär stabile Strategie der Nutzenmaximierung begründet wäre), ließe sich nur im Rahmen einer solchen integrativen Perspektive – wie von Gilgenmann und Schweitzer erörtert – erklären, warum und vor welchem Hintergrund wie gehandelt wurde, d.h. warum bestimmte Akteure zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation auf Grundlage dieser oder jener, nicht aber auf Grundlage anderer Entscheidungslogiken gehandelt haben. Und eine solche Perspektive hätte im Hinblick auf absichtsvolles, rationalnutzenmaximierendes Handeln eben nicht nur evolutionsbiologische Erkenntnisse mit zu reflektieren, sondern immer auch zu berücksichtigen, dass sich die jeweilige soziale Bedeutung des individuellen Handelns, seine Logik, seine Reichweite und seine Folgen nur angemessen und abschließend verstehen lassen, sofern zusätzlich beachtet wird, dass auch die „(…) Verknüpfung von Handlung und Reflexion eine gesellschaftliche Konvention und Erwartung ist, für die es besondere Ressourcen braucht: eine protestantische Ethik, eine disziplinierende Philosophie der Vernunft, soziale, zeitliche und sachliche Differenzierung von
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Kontexten, Diskurse und vielleicht noch eine entsprechende Habermassche Soziologie“ (Saake und Nassehi 2007: 234). Mit anderen Worten: Auch Kultur müsste dann als Kausalfaktor gesehen werden. Im Vorschlag Gilgenmanns und Schweitzers spiegelt sich schließlich noch einmal in besonderer Weise das Problem des „drainage“ wider (vgl. auch Greve 2006: 35). Die entscheidende Frage lautet immer, worauf und in welchem Maße epistemologisch reduziert werden darf, wenn man die Emergenz von Sozialität kausal erklären will. Reicht es aus, allgemeine Annahmen über die psychischen Dispositionen von Akteuren zu entwickeln und auf ihrer Basis monokausal, d.h. mit Blick auf die Handlungsentscheidung als verursachenden Faktor zu erklären? Wie soll man mit dem Umstand umgehen, dass eine weiterführende epistemologische Reduktion letztlich auch immer möglich sein müsste bzw. ist. Mit Blick auf die Entwicklung des methodologischen Individualismus in den USA und George Caspar Homans „spätere“ Ausführungen zu den Möglichkeiten einer Erklärung sozialer Emergenz, zur Unangemessenheit von Kausalgesetzen des Sozialen und zur Notwendigkeit einer Erklärung von vermeintlich emergenten Eigenschaften des Sozialen mit Hilfe von psychologischen Annahmen schreibt R. Keith Sawyer so z.B.: „Homans believed that emergent properties were the same as the ‘composition effects‘ noted in the physical sciences and were not qualitatively different from aggregate or additive properties. (…) Homan’s claim that a social causal law is not an explanation is questionable; under such a conception, psychological laws are not explanations either, because their true explanation can only be found in terms of neurobiology (...)“ (Sawyer 2005: 75). Jens Greve hat davon gesprochen, dass es auf jene Herausforderung, die der Reduktionismus letztlich darstellt, „(…) zumindest eine Antwort gibt. Sie besteht darin, darauf zu verweisen, dass Reduzierbarkeit nicht dazu führt, dass höherstufige Beschreibungen ihren Sinn verlieren“ (Greve 2006: 35). Bettina Heintz hat ferner davon gesprochen, dass die „Identität der Sache“ einen „Dualismus der Beschreibungen“ und somit auch einen Dualismus von Erklärungen nicht ausschließen würde (Heintz 2004: 9). Es ist also mehr als zweckmäßig, nachvollziehbar und sinnig, dass im Modell der soziologischen Erklärung nur bis zu einem gewissen Punkt reduziert, und nicht, wie z.B. von Gilgenmann und Schweitzer allgemein für die erklärende Soziologie gefordert, permanent auf soziobiologische Aspekte des individuellen Handelns abgehoben wird. Problematisch erscheint nur, dass Esser versucht, die Form der von ihm als notwendig erachteten reduktionistischen Erklärung mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie abschließend ontologisch zu begründen: und zwar im Rekurs auf die evolutionär stabile und damit unhintergehbare Strategie der Nutzenmaximierung. Hieraus leitet Esser letztlich auch die „Unmöglichkeit“ und „Unsinnigkeit“ anderer Formen der Erklärung, wie etwa der systemtheoretisch-funktionalen Erklärung ab (vgl. Esser 1996: 56 ff.), die z.B. viel direkter
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dem Phänomen der multiplen Realisierung Rechnung tragen kann. Im Gegensatz zur Makro-Mikro-Makro-Erklärung wird im Rahmen der funktional-strukturellen Erklärung nicht auf Intentionen rekurriert und nicht nach dem Erklärungsvermögen von Akteursmodellen und Handlungsgesetzen gefragt, sondern es wird versucht zu ergründen, welche übergeordnete Bedeutung individuellen Selektionen in Verbindung mit anderen Selektionen (soziales Ereignis) in einem sozialen Kontext oder System zukommt. Kommen wir nun auf die zweite Möglichkeit zu sprechen, die sich vor dem Hintergrund der „reduktionistischen Herausforderung“ ergibt. Sie besteht darin, die soziologische Analyse noch einmal ganz direkt auf den Kern des Sozialen, die soziale Beziehung, hin auszurichten und nicht in erster Linie danach zu fragen, aus welchen Gründen wie individuell gehandelt wird. Im Sinne eines konsequenten methodologischen Situationalismus wäre in erster Linie zu analysieren, zu beschreiben und zu erklären, inwiefern die kommunikative Verschränkung der Selektionen von Akteuren zur Genese, Aktualisierung oder Modifikation sozialer Bedeutungen und somit zur Prägung und Strukturierung von Interaktionen, Interaktionszusammenhängen, Organisationssystemen und gesellschaftlichen Funktionskontexten beiträgt. Sozialität ist zuallererst Wechselwirkung, Interaktion, Assoziation und/oder Kommunikation, und Wechselwirkungen, Interaktionen, Assoziationen und/oder Kommunikationen machen die Eigenständigkeit des Sozialen aus. In der Kommunikation bzw. mit dem sprachlichen Handeln der Individuen kommt es zum Ausdruck und zur Prägung von Akteursbewusstsein (und damit auch zum Ausdruck und zur Zuschreibung von Intentionalität), zur Emergenz von Interaktionszusammenhängen, zur Selbstorganisation sozialer Kontexte und zur Emergenz, Aktivierung, (Re-)Konstruktion oder Transformation sozialer Semantiken (vgl. Vogd 2005: 16). Gesellschaftliche Semantiken weisen die soziale Relevanz und Funktion von Beziehungen aus und helfen ebenso, den Stellenwert bestehender Ressourcenverteilungen (handele es sich hierbei nun um ökonomisches, kulturelles oder soziales Kapitel) zu definieren. Insofern wäre hier ganz direkt danach zu fragen, ob man der ontologischen Irreduzibilität des Sozialen erklärend nicht besser gerecht werden könnte, indem man versucht zu ergründen, wie Akteursbewusstsein kommunikativ zum Ausdruck gebracht oder „ausgeblendet“ wird, wie auf der Basis von Anschlusshandeln subjektiv gemeinter Sinn in „objektiven sozialen Sinn“ transformiert wird und wie auf dieser Basis soziale Eigen- und Strukturwerte emergieren. Wenn davon ausgegangen werden muss, dass soziales Handeln individuell vielfältig konnotiert, in unterschiedlichem Maße reflektiert und durch unterschiedliche Logiken orientiert (d.h. multipel realisiert) ist, und dass sich seine soziale Relevanz erst in und mit Anschlusshandlungen ergibt, so bedeutet dies, dass der Sinn
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einer epistemologischen Reduktion des Sozialen auf den psychischen Vorgang der Handlungswahl begrenzt ist. Zwar werden individuelle Selektionen durch individuelle Interpretationen, Ziele, Intentionen etc. bedingt; sie definieren allerdings nicht abschließend die soziale Relevanz der individuellen Selektion. Sie wird vielmehr erst offenbar, sobald im Anschluss an eine Selektion erneut gehandelt, und eine soziale Gesamtsituation weiter definiert wird. Und dieser Prozess sozialer Definition muss als Keimzelle aller Typen sozialer Systeme angesehen werden. Als Analyseeinheit bedeutend ist somit nicht die individuelle Selektion. Vielmehr erklären Verschränkungen der Selektionen mindestens zweier sozialer Akteure, vielmehr erklären „soziale Ereignisse“ (und nicht „psychische Ereignisse“ der Handlungswahl), warum ein sozialer Prozess bestimmte Eigenschaften annimmt, warum ein sozialer Kontext in unveränderter Form reproduziert wird, warum es zur Veränderung von systemischen Kontexturen und zur Veränderung von Erwartungsstrukturen kommt usw. usf. Wird versucht, höherstufige soziale Phänomene im Rekurs auf Kommunikationsanschlüsse zu erklären, so handelt es sich selbstverständlich auch hierbei um eine Reduktion. Sie ist allerdings nicht Ebenen übergreifend gelagert, sondern stellt eine mögliche Form des Versuchs dar, Soziales ganz im Sinne Durkheims nur durch Soziales zu erklären. Auch Intentionalität ist vor einem solchen Hintergrund letztlich nicht als „unabhängige“ Eigenschaft eines Akteurs, sondern vielmehr als soziales Konstrukt zu verstehen. Sie ist zu gleichen Teilen Produkt des subjektiven, von Akteur zu Akteur unterschiedlich gelagerten „eigenen Meinens und Wollens“ und des „Unterstellens“ durch andere Akteure, d.h. ein Effekt von Zuschreibungen. Wie schon angesprochen, lässt sich Rationalität nicht als eine unabhängige Größe verstehen, und auch Intentionalität und Reflexionsvermögen sind keineswegs individuell-unabhängige Eigenschaften, die sozial genau so zum Tragen gebracht werden können, wie sie subjektiv sinnhaft verstanden werden. Was vor allem zählt ist, wie Handlungsgründe gleichermaßen sozial eingefordert, präsentiert und unterstellt werden, und wie Handlungssinn kommunikativ definiert und relevanziert wird. Längst geht es nicht ausschließlich um die subjektiv-sinnhafte, bewusste Maximierung des eigenen Nutzens oder um eine maximal mögliche, individuell-unabhängige Reflexion. Zum einen ist Handeln oft viel weniger voraussetzungsreich als angenommen24; zum anderen sind einzelne Handlungen und Entscheidungen in komplexen sozialen Zusammenhängen nicht ausschließlich bzw. abschließend aus sich selbst heraus verständlich. Auch die Handelnden selbst erfahren „im Anschluss“ immer wieder, dass dem eigenen Handeln unter24
Als Soziologinnen und Soziologen können wir uns oft nicht vorstellen, dass „(…) man Praxen der Nicht-Reflexion ernst nehmen kann – wohlgemerkt Praxen, die sich nicht explizit als Nicht-Reflexion authentisch darstellen wollen, sondern in deren Horizont nicht einmal die Nicht-Reflexion vorkommt“ (Saake und Nassehi 2007: 243).
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schiedlichste Gründe zugerechnet werden können. Gründe, die nicht zuletzt von jenen abweichen, die sie selbst ursprünglich mit ihrer Handlung verbunden hatten. Für Handelnde ergibt sich hieraus unter Umständen die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal „umzuschwenken“ und neue Intentionen mit vergangenem Handeln zu verbinden, ohne sich dem Vorwurf der Inkonsistenz aussetzen zu müssen. Werner Vogd folgert vor diesem Hintergrund: „Das intentionale Selbst würde aus dieser Perspektive nichts anderes darstellen als ein Sprachspiel. Auch die so genannte freie Entscheidung würde dann aus diesem Blickwinkel nur eine weitere Runde innerhalb eines komplexen sozialen Spiels darstellen. Entsprechend den Regeln dieses Tanzes attribuiert man auf sich selbst und hat entsprechend einen Grund zu nennen, warum man eben so und nicht anders handelt. Und schließlich glaubt man dann selbst – sozial bestätigt –, dass der Grund in einem selber liege und fühlt sich nun im Einklang mit den üblichen Mustern der Zurechnung. (…) Man verwechselt nun das Selbstmodell mit dem Selbst“ (ebd.: 46).25 Was sich nun empfiehlt ist, vom Anschlusshandeln ausgehend Versuche einer Rekonstruktion der Polykontexturalität des Sozialen zu unternehmen, um emergenztheoretisch angemessen erklären zu können – und zwar ohne das Phänomen der multiplen Realisierung von Anschlusshandlungen „vereinheitlichend“ bzw. „vereinheitlichend-rationalistisch“ wegdefinieren zu wollen (vgl. zu diesem Problem noch einmal Saake und Nassehi 2007). Auch der Strukturindividualismus interessiert sich für die Effekte der Verkettung und der Vernetzung von Selektionen und Kommunikationen, für die Abläufe von Interaktionen, die Entstehung von Interaktionszusammenhängen oder allgemein: für die Entstehung von sozialen Systemen. Soziale Systeme werden – anders als bei Luhmann – allerdings nicht als „Konglomerat“ von „Ereigniszusammenhängen“ und mitlaufenden, mehr oder weniger persistenten und relevanten sozialen Beschreibungen (Semantiken und „Kontexturen“) verstanden. Sie werden stattdessen als ein Gesamt von miteinander in einer bestimmten Hinsicht verbundenen sozialen Akteu25
Dass sich eine solche soziologisch-konstruktivistische Perspektive auf soziales Handeln, Intentionalität und phänomenales Bewusstsein bis zum heutigen Tage nicht richtig durchgesetzt hat, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass die Soziologie als „Kind des 19. Jahrhunderts“ Intentionalität immer im unwandelbaren, mit sich selbst identisch bleibenden Subjekt lokalisiert hat, und sich gerade die gegenwärtige erklärende Soziologie eben für Handlungen interessiert, „(…) die modern in dem Sinne sind, dass sie mit Gründen ausgestattet sind, mit einem dann bei Bedarf kommunizierbaren subjektiv gemeinten Sinn (…)“ (Saake und Nassehi 2007: 235, Hervorheb. RHP). Und eben diese Vorstellung von Handeln ist für das Modell des soziologischen Erklärens konstitutiv. Eine Definition von Handlungssinn und Intentionalität von der Seite des Kommunikationsprozesses aus, d.h. vom Phänomen der sozialen Zurechnung her, würde hingegen bedeuten, das Subjekt „dezentrieren“ (vgl. zu Fragen der Dezentrierung des Subjekts im Besonderen Hall 1994: 66 ff.) und den Akteur als alleinigen „Erklärer“ aufgeben zu müssen.
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ren definiert (vgl. Esser 2000: 287 ff.). Auch Esser weist im Rahmen seiner „Allgemeinen Grundlagen“ und seiner „Speziellen Grundlagen“ der Soziologie darauf hin, wie wichtig es ist, Prozesse der Selektionsverschränkung eingehend zu analysieren, um in Erfahrung bringen zu können, wie sich soziale, psychische und kulturelle Systeme wechselseitig konstituieren. Esser interessiert sich nun aber – anders als Luhmann oder die durch seine Systemtheorie beeinflusste Kommunikationssoziologie – nicht dafür, Anschlüsse übergeordnet als sozial verursachende Ereignisse zu analysieren und zu beschreiben, in welcher Form sie Spuren auf der Ebene von „Bedeutungsverweisen und symbolischen Beziehungen“ (vgl. Albrecht 2007: 4) hinterlassen. Für Esser ist auch mit Blick auf die Kommunikation in erster Linie interessant, die Logik von Selektionen „richtig“ zu erklären (vgl. Esser 2001: 496). Während system- und kommunikationstheoretisch orientierte SoziologInnen so z.B. danach fragen, in welchem Verhältnis Mitteilungen zueinander stehen und inwiefern Annahmen und Ablehnungen von Sinnofferten soziale Situationen verändern (vgl. Schneider 1994, 2001 und 2004, Messmer 2003a und 2003b, Malsch 2005 sowie Vogd 2005 und 2007), interessiert sich Esser vordergründig dafür, wie sich die Logik kommunikativer Selektionen mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie erklären lässt. Esser versucht den sinngenerierenden und –verändernden Effekten der Kommunikation beizukommen, indem er erklärt, warum soziale Akteure im Rahmen von sogenannten „Framingprozessen“, d.h. im Rahmen von Prozessen der wechselseitigen Interpretation und Definition von sozialer Realität, gehandelt haben, wie sie eben gehandelt haben. Für ihn wäre es aber nicht denkbar, nur aufgrund der Resultate solcher Prozesse, nur aufgrund von Anschlusseffekten und kommunikativen Artefakten erklären zu wollen, wie höherstufige soziale Phänomene verfasst sind, d.h. worauf ihre Autopoiesis beruht. In strukturindividualistischer Perspektive erscheint die Ebene übergreifende Reduktion als schlichte Notwendigkeit, in systemtheoretischer Perspektive wird hingegen gefragt, welche soziale Bedeutung ein Kommunikationsanschluss, welche Bedeutung ein Kommunikationsereignis vor dem Hintergrund bestehender systemischer Kontexturen hat, d.h. welche sozialen Funktionen ein solches Ereignis erfüllt. Wir werden weiter unten noch einmal auf das Kommunikationsmodell Essers zu sprechen kommen. Während die Logik der Situation und die Logik der Selektion soziale Emergenz reduktionistisch erklären, nimmt die „Logik der Aggregation“ hingegen auf unmittelbare, „ungefilterte“ Einflüsse und Wirkungen sozialer Strukturen Bezug. Mit Hilfe der Logik der Aggregation wird danach gefragt, wie soziale Handlungen in typischen Interaktionszusammenhängen und unter dem Eindruck weitestgehend stabiler sozialer Institutionen eben so miteinander verknüpft werden, dass bestimmte soziale Zusammenhänge oder Gesamtsituationen bzw. Makro-
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phänomene entstehen, reproduziert oder transformiert werden. Die Emergenz von Sozialität gilt im Modell der soziologischen Erklärung einerseits als aus der Logik des Handelns ableitbar, andererseits werden Beschreibungen bestehender, mehr oder weniger stabiler Strukturen und Institutionen herangezogen, um erörtern zu können, in welchem Rahmen Handlungen zusammen Effekte zeitigen (Mikro-Makro-Transition). An diesem Punkt scheint die ontologische Irreduzibilität des Sozialen also auch zu epistemologischen Zwecken stark gemacht zu werden. Gemäß der Definition Essers lassen sich in Abhängigkeit von den jeweils zu erklärenden sozialen Phänomenen eine Vielzahl an unterschiedlichen Beschreibungen, Regeln und Modellen einsetzen, um die Logik der Aggregation zu modellieren (vgl. Esser 1996: 97 sowie für eine neuerliche Bestätigung Esser 2006). Auch typisierende, empirisch-synthetische Aussagen über soziale Phänomene können an diesem Punkt zum Einsatz kommen, sofern sie „(…) für die Ableitung als analytische Aussagen behandelt werden, obwohl ihr Inhalt stets synthetisch-empirisch-historisch ist (…)“ (Esser 2006: 361). Gerd Albert zufolge lassen sich „formale Modelle“ und „formal analytische Regeln“ als wichtigste Erklärungskonzepte bzw. -größen voneinander unterscheiden (Albert 2005: 392 ff.). Zur Kategorie der formalen Modelle zählen Situations- (wie z.B. die Akteurs- und Präferenzkonstellationen und „Dilemmata“ der Spieltheorie) sowie Prozessmodelle (z.B. Schwellenwertmodelle). Werden die (nichtintendierten) Effekte individueller Handlungen mit Hilfe solcher Modelle erklärt, so handelt es sich Albert zufolge um starke Erklärungen schwacher Emergenz (ontologischer Irreduzibilität). Kommen hingegen formal analytische Regeln (sie sind wahr aufgrund logischer Beziehungen oder definitorischer Vereinbarungen) zum Einsatz, so deute dies immer auf eine identitätstheoretisch verstandene und gelagerte Erklärung sozialer Emergenz bzw. von Aggregation hin. Eine solche Erklärung des Verhältnisses von Handeln und sozialer Struktur bzw. Individuum und Gesellschaft lege letztlich nahe, davon ausgehen zu müssen, dass Sozialität vordergründig nichts anderes ist, als ein Gesamt von Akteuren und Beziehungen. Albert führt aus: „Die Lösung des Mikro-Makro-Problems mittels analytischer Sätze involviert immer eine ontologische und epistemologische Reduktion der Makro- und Mikrophänomene, d.h. eine Elimination der Makro-Ebene oder identitätsmäßige Gleichsetzung von Mikro- und Makro-Ebene“ (ebd.: 394 f., Hervorheb. RHP). Das MSE macht es also möglich, mit der Eigenständigkeit des Sozialen unterschiedlich umzugehen. Sofern formal analytische Regeln die Logik der Aggregation erklären, erscheint das Soziale bzw. die Gesellschaft vor allem als eine Ansammlung von Individuen und eine Summe von individuell unterschiedlich interpretierten Beziehungen. Entscheidend ist dann in erster Linie, wie Individuen soziale Verhältnisse interpretieren und wie sie auf der Basis ihrer Interpretati-
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onen handeln; die Folgen des Zusammenwirkens lassen sich anschließend über einfache Regeln bestimmen. Wird sozialen Strukturen und Institutionen in der Form von Möglichkeiten, Ressourcen, Erreichbarkeiten, Regelmäßigkeiten, Regeln, Werten, Normen etc. hingegen Erklärungspotential im Anschluss an jeweilige Handlungswahlen zugestanden, so bedeutet dies, dass die eigenständige Referenz des Sozialen als „erklärender“ Faktor Berücksichtigung erfährt. In einem solchen Fall wird bedeutend, genau zu beschreiben, wie Handeln durch soziale Strukturen „kanalisiert“ und orientiert wird. Beschreibungen dieser Art können allerdings nie vollwertige Erklärungen sein. Auch wenn eine eigenständige Referenz des Sozialen anerkannt wird, lässt sich in strukturindividualistischer Perspektive immer nur die Handlungswahl der Individuen analytischnomologisch erklären. Soziale Phänomene, die erklärt werden sollen, sind in letzter Konsequenz immer epistemologisch reduzibel. Jene sozialen Phänomene, die von der soziologischen Beobachterin/vom soziologischen Beobachter als „kanalisierend“ und „bündelnd“, d.h. als „aggregierend“ beschrieben werden, stellen nur „für den Moment“ miterklärende Rand- oder Rahmenbedingungen dar, deren Existenz sich ebenso mit Hilfe des Modell der soziologischen Erklärung reduktionistisch und prozessual erfassen ließe, sofern dies denn nötig sein sollte. Zwar wird einerseits die ontologische Irreduzibilität des Sozialen betont, um deutlich zu machen, dass soziale Phänomene unabhängig von den Individuen existieren, andererseits wird diese Eigenständigkeit aber auch flexibel gehandhabt. In strukturindividualistischer Perspektive ist das Soziale einerseits anderes bzw. mehr als die Eigenschaften, Handlungen und Beziehungen der Akteure, andererseits aber auch nicht, und so wird zwischen den Polen eines starken (reduktionistischen bzw. „radikalen“) und eines schwachen („moderaten“) methodologischen Individualismus (vgl. zur Unterscheidung Greve 2006: 29 sowie zur hier vorgenommenen Einschätzung Albert 2005: 392 ff. sowie 394 f.) gependelt. Bettina Heintz hat bezweifelt, dass sich die „reduktionistische Grundauffassung“ des Modells überhaupt widerspruchsfrei mit einer starken Vorstellung von ontologischer Irreduzibilität verbinden lässt. Im Mittelpunkt ihrer Kritik steht die Inkonsequenz der strukturindividualistischen Perspektive. Mit dem Festhalten an einer ontologischen Irreduzibilität des Sozialen nähere sich der Strukturindividualismus trotz reduktionistischer Grundhaltung immer wieder „(…) jener Auffassung an, die den Reduktionisten als Kardinalfehler der ‚Kollektivisten‘ gilt. Dieser Widerspruch lässt sich nur dann auflösen, wenn mit dem reduktionistischen Programm tatsächlich ernst gemacht wird und Makrogebilde konsequent über ihre Einheiten und deren Interrelationen definiert werden (…). ‚Gesellschaft‘ oder Organisationen oder Familien sind dann nicht ‚mehr‘ sondern ‚nichts anderes‘ als die Beziehungen ihrer Mitglieder. Dies schließt nicht aus, weiterhin von Organisationen, Staaten oder sozialen Bewegungen zu sprechen, ähnlich wie
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auch die Identitätstheorie oder der Funktionalismus weiterhin mentalistische Begriffe verwenden: die Identität der Sache schließt einen Dualismus der Beschreibungen nicht aus. Im Rahmen eines reduktionistischen Erklärungsprogramms müsste jedoch explizit gemacht werden, dass solche Begriffe, wie Weber es nennt, bloße ‚Vorstellungen‘ sind und kein empirisches Korrelat haben“ (Heintz 2004: 19).
2.3.1.3 Soziale Interaktion und Kommunikation Im Folgenden soll – wie im letzten Abschnitt bereits angekündigt – kurz ein wenig genauer auf das strukturindividualistische Verständnis von Interaktion bzw. Kommunikation eingegangen werden, um ergänzende Einsichten zur Frage sozialer Emergenz nehmen zu können. Hartmut Esser unterscheidet drei Formen der Interaktion: (1) Koorientierung, (2) symbolische Interaktion und (3) Kommunikation (vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen im Besonderen Esser 2000: 243 ff.). Koorientierung bedeutet, dass Akteure versuchen, die eigenen Handlungen gedanklich auf die Handlungen bestimmter anderer Akteure abzustimmen. Sie orientieren sich dabei an Wissensbeständen, die sie als kollektiv geteilt vermuten. Im Falle symbolischer Interaktion nutzen Akteure hingegen „typische Zeichen“ (Gesten), um anderen „typische Absichten und Reaktionsbereitschaften“ anzuzeigen (ebd.: 244, Hervorheb. im Original). Menschliche Kommunikation ist schließlich soziale Interaktion auf der Basis von Zeichen, die einen systematischen, kulturell oder institutionell festgelegten Sinn aufweisen. Sofern solche Zeichen Situationen „(…) in besonderer Weise zu ‚definieren vermögen (…)“, lassen sich sie sich auch als „Medien“ bezeichnen (ebd.: 248). Diese drei unterschiedlichen Typen der sozialen Interaktion bauen nach Esser logisch aufeinander auf. Ähnlich wie für Luhmann setzen sich Kommunikationen – verstanden als soziale Ereignisse, die das Sprechen eines „Senders“ und das Hören eines „Empfängers“ umfassen – auch für Esser aus verschiedenen Selektionen zusammen. Diese Selektionen werden allerdings unmittelbar als Handlungsentscheidungen bzw. kommunikative Akte definiert: „Die Selektionen von Sender und Empfänger seien zusammenfassend auch als kommunikative Akte bezeichnet. Es sind Handlungen wie alle anderen auch, nur daß sie jetzt der Kommunikation dienen. Und sie gehorchen deshalb, so wollen wir annehmen, den üblichen Regeln der Logik der Selektion des Handels“ (ebd.: 254).26 Kommunikationsprozesse stellen 26
Auf eine ausführliche Darstellung des Kommunikationsbegriffs- und modells Essers soll an dieser Stelle verzichtet werden, da es uns hier in erster Linie darum geht zu erörtern, ob und inwiefern das MSE emergenztheoretische Züge aufweist bzw. wie das MSE mit dem Phäno-
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also einen bestimmten Typus der Verknüpfung von Handlungen dar. Esser unterscheidet insgesamt fünf kommunikative Selektionen zweier Kommunikatoren, die sich selbstverständlich wiederum mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie erklären lassen. Während ein(e) kommunizierende(r) Sender(in) auf Basis ihrer/seiner eigenen Situationsdefinition Selektionsalternativen abwägt und schließlich eine Information und ein bestimmtes Mitteilungsverhalten auswählt, „versteht“ ein(e) kommunizierende(r) Empfänger(in) zunächst, indem sie/er die ankommende Mitteilung dekodiert und ihre Bedeutung zu rekonstruieren versucht (indem sie/er über sie entscheidet), „rezipiert“ dann, indem sie/er entscheidet, ob die mitgeteilte Information für sie/ihn relevant ist oder nicht, und entscheidet sich schließlich auf der Basis von Verstehen und Rezeption, d.h. auf der Basis ihrer/seiner eigenen Situationsdefinition dafür, ob und inwiefern sie/er selbst als Sprecher(in) in Erscheinung treten will. Auch Kommunikation wird in strukturindividualistischer Perspektive unter Maßgabe der Maximierungsregel betrachtet. Sich in totalisierender Absicht an Luhmann orientierend unternimmt Esser nun auch den Versuch, wesentliche Aspekte des systemtheoretischen Kommunikationsmodells in das Modell der soziologischen Erklärung einzuarbeiten. Von besonderem Interesse ist vor allem die Funktion symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, die Esser als Situationsdefinitionen maßgeblich beeinflussende strukturelle Makrobedingungen bzw. Pressionselemente zu identifizieren und zu bestimmen sucht. Esser spricht schließlich davon, dass symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (ebenso wie andere Medien auch) Handelnde zu spezifischen sozialen Systemen koppeln würden (vgl. zu diesem Punkt im Wesentlichen ebd.: 287 ff.). Kommunikationsprozesse und -systeme tragen die Entstehung, Reproduktion und/oder Transformation von höherstufigen sozialen Phänomenen wie z.B. von typischen sozialen Organisationsformen, gesellschaftlichen Funktionskontexten oder sozialen Institutionen. Esser hat darauf aufmerksam gemacht, dass gehaltvolle soziologische Erklärungen solch höherstufiger Phänomene eine vertikale Differenzierung des Grundmodells der genetischen Erklärung verlangen. Dieses wird so zu einem Mehr-Ebenen-Modell (vgl. Esser 1996: 112). Interaktionssysteme bzw. Kommunikationsprozesse müssen in ihrer Eigenschaft als „Meso-Ebenen“ des Sozialen zunächst allerdings auch als Explananda behandelt werden, und die Erklärung von Kommunikationsprozessen ist für Esser letztlich „nichts weiter“ als „(…) die Erklärung eines sozialen Prozesses nach dem Muster der genetischen Erklärung. Es ist ein Spezialfall des Modells der soziologimen sozialer Emergenz umgeht. Esser erörtert seinen Kommunikationsbegriff und sein Kommunikationsmodell ausführlich in den „Speziellen Grundlagen“, Bd. 3, „Soziales Handeln“ (vgl. Esser 2000: 247 ff.).
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schen Erklärung. ‚Schon wieder‘, wäre man fast geneigt, zu seufzen“ (Esser 2000: 253, sic!). Sobald ihre Eigenschaften (gemeint sind hier die „Meso-Ebenen“ des Sozialen), ihre sozialen Effekte und ihr „Verhalten“ allerdings reduktionistisch erklärt worden sind, kann auf jeweilige Erklärungsergebnisse verallgemeinernd Bezug genommen werden, um weiterführend Phänomene auf der nächsthöheren Aggregationsebene deuten und modellieren zu können. Esser hält fest: „Es gibt eine Meso-Ebene der soziologischen Analyse zwischen den übergreifenden MakroStrukturen der Gesellschaft und den Mikro-Aktionen der individuellen Akteure. Die Berücksichtigung der Einbettung sozialer Gebilde [hier sind Interaktionszusammenhänge und Kommunikationsprozesse gemeint; RHP] in einen weiteren Kontext ist im Modell der soziologischen Erklärung formal nicht schwer, wenngleich inhaltlich oft sehr kompliziert“ (Esser 1996: 112, Hervorheb. im Original). Esser widmet sich schließlich auch nicht weiter der theoretischen Modellierung von (Verlaufs-)Formen, Anschlusslogiken, Eigenschaften, Eigenheiten und Effekten der Kommunikation, obwohl auf einer solchen Basis zusätzliche Möglichkeiten der soziologischen Bearbeitung der Mikro-Makro-Transition hätten ausgelotet und aufgezeigt werden können (vgl. hierzu auch Schmitt 2006: 210 f.). In den „Speziellen Grundlagen“ der Soziologie, Band 3 (2000), werden zu Zwecken einer inhaltlichen Unterfütterung sowie zu Zwecken einer Verdeutlichung der Erklärungskraft von „erklärten“, kommunikativ-emergenten Mesogebilden vor allem Versatzstücke des systemtheoretischen Kommunikationsmodells in das Modell der genetischen Erklärung eingearbeitet. Marco Schmitt hat argumentiert, dass gerade eine kommunikationsorientierte, auf Anschlüsse und ihre transintentionalen bzw. sozial-sinnhaften Effekte fokussierende Modellierung sozialer Emergenz helfen könnte, die Mikro-MakroTransition (noch) besser in den Begriff zu bekommen und das Phänomen der Aggregation eingehender zu erklären (vgl. Schmitt 2006: 210 ff. sowie 222 ff.). Schmitt kritisiert, dass „bis auf den Marktmechanismus der Ökonomie“ Transformationsregeln bzw. „Transformationsmechanismen“ bislang nur „sehr schwach entwickelt“ seien: „Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass dieses Problem mit der strikten Orientierung am methodologischen Individualismus zusammenhängt. Wenn die entscheidenden Fragen auf dieser Ebene, also der Ebene transintentionaler Effekte beantwortet werden müssen, ist eine akteurstheoretische Formulierung von Modellen vielleicht nicht der beste Weg, vor allem dann nicht, wenn die Zahl der beteiligten Akteure unüberschaubar wird“ (ebd.: 211). Im Anschluss an die Modellierung verschiedener kommunikativer Beispielmechanismen (sie werden in Kapitel 4 dieser Arbeit ausführlich vorgestellt und diskutiert) empfiehlt Schmitt der erklärenden Soziologie in Anlehnung an Schimank (2000) schließlich, einen gut sortierten Werkzeugkasten aufzubauen
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(vgl. Schmitt 2006: 222 ff.), der verschiedene, aus unterschiedlichen theoretischen Richtungen stammende Konzepte und Mechanismen bereit hält, um interessierende soziale Phänomene so adäquat wie möglich abbilden und erklären zu können. Im Rahmen eines solchen Werkzeugkastens könnten Modelle typischer Strukturdynamiken von Kommunikationsprozessen vor allem helfen, Transformationsvorgänge und Aggregationsphänomene neu und anders zu erklären. Dabei würde es vor allem darauf ankommen, typische Anschlusslogiken generalisierend zu beschreiben, d.h. Effekte der mehrfach parallel erfolgenden Annahme und Ablehnung von Sinnofferten zu untersuchen und auf allgemeine Begriffe zu bringen (vgl. hierzu sowohl ebd. wie auch Hartig-Perschke 2006). Das Modell der soziologischen Erklärung stellt zweifelsohne ein starkes und vor allem auch tragkräftiges Programm dar. Was aber bleibt, ist die Frage, ob und inwiefern das Soziale im strukturindividualistischen Paradigma tatsächlich mehr sein kann als ein Konglomerat von Akteuren, von individuellen Vorstellungen und Beziehungen, d.h. „(…) wie viel und welche Form von Eigenständigkeit (…)“ (vgl. Heintz 2004: 17 sowie 19) ihm in dieser Perspektive letztlich zugestanden wird. Zwar geht das Modell im Prinzip von der Annahme „schwacher Emergenz“, von der ontologischen Irreduzibilität sozial-sinnhafter Makrophänomene aus; die Betonung einer prinzipiellen identitätsmäßigen „Übersetzbarkeit“ der Realität des Sozialen in die Realität von individuellen Deutungen und Handlungsentscheidungen legt allerdings den Verdacht nahe, dass soziale Phänomene auch in strukturindividualistischer Perspektive (so wie es für einen starken methodologischen Individualismus kennzeichnend ist) in erster Linie als „Epiphänomene“ betrachtet werden müssen. Hierbei handelt es sich um einen Eindruck, der vor allem immer wieder dann Bestätigung findet, wenn (zusätzlich) argumentiert wird, dass formal analytische Regeln ausreichen würden, um die Mikro-Makro-Transition zu erklären.
2.3.2 „Doppelte Emergenz“ – Selektionen, Kommunikationsereignisse und Sozialstrukturen in der Perspektive der Systemtheorie 2.3.2.1 Von der Mikro-Makro-Differenz zur Autopoiesis psychischer und sozialer Systeme Anders als der methodologische Individualismus akzeptiert und proklamiert die Systemtheorie Luhmanns sowohl die (polykontextural bedingte) ontologische wie auch epistemologische Irreduzibilität des Sozialen. Luhmann ist im Rahmen seiner „allgemeinen Theorie“ sozialer Systeme (1984) ebenso wie ehemals
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Durkheim daran gelegen, deutlich zu machen, dass und warum sich Soziales soziologisch gehaltvoll nur durch Soziales erklären lässt. Für Luhmann besitzt die Unterscheidung zwischen einer Mikroebene des Sozialen, die durch die Selektionsentscheidungen sozialer Akteure konstituiert wird, und einer Makroebene des Sozialen, welche die unterschiedlichen Formen der Vergesellschaftung umfasst, keine vordergründige Bedeutung. In der Systemtheorie wird die Unterscheidung zwischen einer Mikro- und einer Makroebene des Sozialen über- und umgeformt durch die Unterscheidung zwischen getrennt und überschneidungsfrei operierenden psychischen und sozialen Systemen. Systeme, die diesen beiden Typen zugerechnet werden können, vollziehen ihre Reproduktion, ihre Autopoiesis, auf der Basis eigener Operationen, die generell nicht im jeweils anderen Systemkontext anschlussfähig sind (Luhmann 2002: 257 ff. und 267 ff.). Im Falle von Bewusstseinssystemen ist der Modus der Autopoiesis das Denken, im Falle sozialer Systeme ist der Modus der Autopoiesis die Kommunikation. Auch wenn Bewusstsein und Kommunikation strukturell miteinander gekoppelt sind (vgl. ebd.: 122 ff.) und sich wechselseitig die jeweils eigene Komplexität zu Zwecken des Aufbaus von Eigen- und Strukturwerten zur Verfügung stellen (vgl. Luhmann 1984: 289 ff.), resultiert hieraus nicht, dass die Selektionen psychischer Systeme bereits an sich „Elemente“ von Sozialität sind. Selektionen besitzen nur eine soziale Relevanz, sofern und soweit sie sich direkt mit anderen Selektionen zu einer neuen, emergenten Erscheinungsform bzw. Realität verbinden: der Realität der Kommunikation bzw. genauer des Kommunikationsereignisses. Nur Kommunikationsereignisse vermögen soziale Systeme zu begründen. Je nachdem, auf welche Art und Weise Kommunikationsanschlüsse organisiert sind, lassen sich wiederum unterschiedliche Ausprägungen sozialer Systeme unterscheiden. Luhmann nennt Interaktions-, Organisations- und Funktionssysteme und versucht ihre simultane Existenz auf den Begriff des Gesellschaftssystems bzw. der „Weltgesellschaft“ zu bringen (vgl. ebd.: 585). Die Konturen einzelner Systemtypen kommen in jeweils spezifischen Logiken des Anschlusses von Kommunikationen an Kommunikationen zum Ausdruck und können schließlich auch in der Form von systemischen Selbstbeschreibungen beobachtet werden (vgl. ebd.: 227 ff. sowie 618 ff.). Hierzu jedoch später mehr. Soziale Operationen in der Form von Kommunikationsereignissen sind immer sozial-sinnhafte Verknüpfungen der kommunikativen Selektionen mindestens zweier Bewusstseinssysteme. Und nur diese Einheiten der sinnhaften Verknüpfung stellen Elemente dar, auf deren Basis unterschiedliche Erscheinungsformen von Sozialität, auf deren Basis komplexe soziale Systeme weiterführend emergieren können. Sozialität ist somit in gewisser Weise ein „doppelt“ emergentes Phänomen (wobei die „doppelte“ Emergenz gleichsam wieder in „einer Emergenz“ aufgeht). Nicht nur komplexe und stabile soziale Systeme sind emer-
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gent, weil sie auf der sequentiellen (und ebenso auf der mehrfach parallelen), nicht individuell-abschließend kontrollierbaren Verknüpfung von unterschiedlichen Kommunikationsereignissen (Anschlüsse) aufruhen. Auch Kommunikationsereignisse (sie schließen mit dem kognitiven Verstehen) sind in ihrer Eigenschaft als „Bausteine“ des Sozialen schon immer emergent (vgl. Heintz 2004: 22). Das Soziale ist mit Blick auf das Psychische emergent und ontologisch wie epistemologisch irreduzibel. Bleibt also die Frage, was und wie die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft in Anbetracht dieser Sachlage beschreiben und erklären kann. Die systemtheoretische Antwort lautet: Die Soziologie kann versuchen, Prozesse der diachronen Emergenz von sozialen Eigen- und Strukturwerten, der Genese von sozialem Sinn und von sozialen Systemen, in kommunikationsorientierter Perspektive zu beschreiben und zu erklären. Sie kann versuchen zu erklären, wie soziale Strukturen, wie soziale Systeme auf der Verknüpfung von unterschiedlichen Kommunikationsereignissen miteinander aufruhen und versuchen zu ergründen, welche soziale Relevanz Kommunikationsereignissen im Zuge ihrer Verknüpfung mit anderen Kommunikationsereignissen (vorübergehend) zugewiesen wird. Nur in diesem Sinne kann die Soziologie in systemtheoretischer Perspektive Emergenz „reduktionistisch“ erklären: indem sie Kommunikationsanschlüsse beobachtet und analysiert, wie sozialer Sinn kommunikativ konstituiert wird, d.h. wie mehr oder weniger stabile semantische Formen im Medium der (Schrift-)Sprache ausgeprägt werden. Vogd erörtert: „Im Sinne einer funktionalen Analyse kann und darf also nach der Sinngenese gefragt werden, also nach der Art und Weise, wie die Sinnselektionen getroffen werden und wie diese Prozesse soziale Realität konstituieren. Ein solches Vorgehen braucht nicht mehr auf verborgene Tiefenstrukturen zu rekurrieren, sondern kann das Sinngeschehen in seiner Prozesshaftigkeit und Fluidität in den Blick nehmen. Regelmäßige Muster können dann unter gewissen Voraussetzungen als Eigenwerte der Sinnselektion erscheinen, möglicherweise gar als Operator einer systemischen Kontextur (…)“ (Vogd 2005: 26). Die systemtheoretische Soziologie kann mit unterschiedlichen Fragen an Kommunikationsanschlüsse und -prozesse herangehen. Sie kann z.B. danach fragen, wie Sozialität in Kommunikationsprozessen inhaltlich spezifiziert wird, d.h. wie gesellschaftliche Semantiken kommunikativ neu ausgehandelt oder reaktiviert werden. Sie kann danach fragen, inwiefern sich die Realität gesellschaftlicher Funktionssysteme in Kommunikationsanschlüssen wiederspiegelt. Und sie kann ebenso danach fragen, inwiefern Kommunikationsereignisse auch als individuelle „Ausdrucksformen“ (vgl. zum Begriff ebd.: 24) beteiligter Akteure erscheinen. Der Logik des Kommunikationsanschlusses, seinen zeitlichen, sozialen sowie sachlichen Bezügen, muss somit die Aufmerksamkeit einer
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Emergenz – Zu Phänomen und Begriff
kommunikations- wie systemtheoretisch orientierten, erklärenden Soziologie gelten.
2.3.2.2 Soziale Ordnung in systemtheoretischer Perspektive Die Stabilität sozialer Ordnung ist in systemtheoretischer Perspektive das Ergebnis einer sich unverändert fortsetzenden Autopoiesis von sozialen Systemen.27 Systeme lassen sich – verkürzt und vereinfachend – als Sinnzusammenhänge definieren, die auf einer strukturbasiert stabil verlaufenden, selektiven Relationierung von (immer neuen) Kommunikationsereignissen „(be)ruhen“. Autopoiesis bedeutet, dass ein System es zu leisten vermag, jene Elemente, aus denen es selbst besteht, immer wieder selbsttätig als „Funktionseinheiten“ (Luhmann 1984: 59) „herzustellen“. Sofern in den zwischen diesen Elementen bestehenden Relationen Verweise auf den Prozess der Selbstkonstituierung mit enthalten sind, lässt sich von weitgehender Stabilisierung sprechen. Das jeweilige Sozialsystem „rotiert“ in sich selbst und hält seine Autopoiesis aufrecht. Soziale Systeme sind keine raum- und zeitgebundenen, festen Entitäten oder Gebilde. Während Luhmann zunächst – der soziologischen Tradition seine Referenz erweisend – noch davon spricht, dass es aneinander anschließende soziale Handlungen28 und/oder Kommunikationen sind (vgl. Luhmann 1975a: 9 ff.), die die Autopoiesis sozialer Systeme tragen, stellt er später konsequent auf Kommunikation als „Letztelement“ des Sozialen um (vgl. hierzu im Besonderen Luhmann 1984). Kommunikationen werden von Luhmann als „Temporalatome“ definiert, die im Moment ihres Entstehens sofort wieder vergehen (ebd.: 389). Die Stabili27
28
Soziale Systeme emergieren im Zuge des Anschlusses von immer neuen Kommunikationsereignissen an bereits vergehende Kommunikationsereignisse. Wie andere Systeme auch (Maschinen, Organismen, psychische Systeme) ziehen soziale Systeme Grenzen zu ihrer Umwelt. Als selbstreferentiell-geschlossene Kommunikationszusammenhänge sind soziale Systeme strikt von psychischen Systemen bzw. von Bewusstseinssystemen geschieden. Das Bewusstsein kann nicht kommunizieren, und ebenso handelt es sich im Falle von Kommunikation nicht um Prozesse des wechselseitigen Austauschs von Gedanken (vgl. Luhmann 1995a: 113 f.). Indem das Bewusstsein ausschließlich Gedanken prozessiert und soziale Systeme aus nichts anderem bestehen als aus Kommunikationsereignissen und deren Verknüpfungen, stabilisieren beide Systemtypen ihre Außengrenze zur Umwelt und konstituieren sich so als autopoietische Systeme. Luhmanns früher Handlungsbegriff lässt sich kaum mit „starken“ Begriffen von sozialem Handeln vergleichen, wie z.B. mit dem Max Webers oder mit jenen, die heute z.B. im methodologischen Individualismus gebräuchlich sind. Andreas Göbel spricht von einem „(...) nicht näher ausgewiesenen“ und „auf Diffusverständnis mit der soziologischen Tradition beruhenden (...)“ Handlungsbegriff (Göbel 2000: 201). Vor allem aber verzichtet Luhmann von vornherein auf eine unmittelbare, intentionalistische Aufladung des Begriffes der „Handlung“, auf eine detaillierte Definition im Lichte von Motiven, Absichten, Zielen, Wünschen, Bedürfnissen etc.
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tät eines systemischen Kommunikationszusammenhangs bzw. einer bestimmten systemischen Prozessdynamik setzt voraus, dass bestimmte, typengleiche Kommunikationen immer wieder auf ähnliche Art und Weise aneinander anschließen. Anschlüsse müssen „konditioniert“ werden, sofern Komplexität mehr oder weniger dauerhaft (und) verlässlich reduziert werden soll. Diese Verlässlichkeit lässt sich systemtheoretisch als ein Effekt der Ausrichtung (nicht der Bestimmung!) von Kommunikationsanschlüssen durch soziale Strukturen interpretieren. Prinzipiell ließe sich an eine jede Kommunikation eine jede weitere beliebige Kommunikation anschließen, tatsächlich aber lässt sich täglich beobachten, dass in der Regel nur bestimmte Kommunikationen an bestimmte andere Kommunikationen anschließen. Der Grund hierfür liegt darin, dass sich – sobald Kommunikation einmal in Gang gekommen ist – mit dem Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen Erwartungen auszuprägen und zu stabilisieren beginnen. Sie werden von Luhmann als soziale Strukturen definiert (vgl. ebd.: 382 ff.). Luhmanns Erwartungsbegriff zielt in erster Linie nicht auf die psychische Systemreferenz. Erwartungen werden – systemtheoretisch-allgemein – zuallererst als soziale, mehr oder weniger stark generalisierte „Sinnformen“ verstanden (vgl. Göbel 2000: 200). Typische Beispiele für stärker generalisierte Erwartungen stellen z.B. Theorien (Wissenschaftssystem), Werte (Politik) oder Preise (Wirtschaftssystem) dar. Die Ausrichtung auf die Eigenständigkeit sozialer Systeme sowie die Annahme einer Nicht-Rückführbarkeit der Entstehung, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung auf subjektiv-sinnhafte, intentional geprägte Handlungen bzw. Kommunikationsakte (epistemologische Irreduzibilität/Unmöglichkeit einer Ebenen übergreifenden Reduktion) haben der Systemtheorie den Vorwurf eingetragen, es handele sich bei ihr keineswegs um eine die Entstehung sozialer Phänomene auf irgendeine Art und Weise erklärende Theorie, sondern ausschließlich um eine soziale Verhältnisse auf der Basis eigener Begriffe beschreibende Makrotheorie bzw. eine Spielart des Kollektivismus (vgl. zu dieser Kritik z.B. Esser 1996: 614 f. sowie 2000: 298). Selbstverständlich ist auch Luhmann nicht daran gelegen, in Abrede zu stellen, dass die emergenten Eigenschaften sozialer Systeme von den Selektionen psychischer Systeme und der Art und Weise ihrer Verknüpfung miteinander abhängen (Luhmann hätte sich andernfalls kaum in jenem Ausmaß Gedanken über das Verhältnis von Bewusstseins- und Sozialsystemen zueinander gemacht, wie es für seine Systemtheorie kennzeichnend ist). Was Luhmann allerdings in Abrede stellt ist, dass sich die soziale Relevanz und die Strukturbildungskraft von Selektionen erschöpfend und abschließend unter Bezugnahme auf jenen Sinn erklären lassen, den individuelle Akteure mit ihren Selektionen verbinden.
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Luhmann nennt verschiedene Gründe dafür, warum er eine Erklärung sozialer Emergenz auf der Basis des modernen Handlungsbegriffs für verfehlt hält. Mit Blick auf den methodologischen Individualismus rationalistischer Prägung kritisiert Luhmann, dass selbstverständlich nicht alles soziale Handeln vom Streben nach maximalem Nutzen motiviert werde, auch wenn man dieses erfolgreich unterstellen möchte. Eben deshalb, weil es immer Abweichungen von der rationalistischen Maxime gibt, so Luhmann, habe Max Weber auch auf „Idealtypen“ des Handelns abgestellt und nicht versucht, eine „komplette Deskription der Realität“ unter dem Eindruck der Zweck-Mittel-Relation vorzunehmen, wie sie z.B. für den Strukturindividualismus Essers typisch ist (Luhmann 2002: 252). Ein weiteres Problem sieht Luhmann in der „Außenabgrenzung“ des Handelns. Luhmann zufolge ist es in Anbetracht der Polykontexturalität des Sozialen kaum möglich, hinreichend präzise zu bestimmen, welche Folgen tatsächlich zu bestimmten Handlungen gehören und welche nicht: „Beim Außenabgrenzen ist mir unklar, welche Folgen zum Handeln gehören und welche nicht. Wo reißt die Kette der Folgen ab, sodass man sagen kann, bis hier ist es Handeln und dann kommt die Wirkung, die aber nicht selbst zum Handeln gehört? (…) Wenn man anfängt, zuzurechnen und Verantwortung zu markieren, hat man die Tendenz, möglichst viele Folgen einzubeziehen. Wenn man andererseits die Bewegungsfreiheit der anderen Handelnden oder die Bewegungsfreiheit der Umwelt respektieren will, müsste man das Handeln zurückschneiden auf die unmittelbare Intention, die sich formt und gleichsam einen Körper anstößt, etwas zu tun, aber mehr auch wieder nicht. Diese Front ist unklar“ (ebd.: 253). In ähnlicher Weise verhält es sich Luhmann zufolge auch mit der „Innengrenze“ des Handelns. Akteure handeln häufig, ohne Alternativen im Vorfeld weitläufig abgewogen und den individuellen Nutzen genau kalkuliert zu haben. Die moderne Kultur des Rationalen macht es jedoch oft nötig, nachträglich klare Gründe für das eigene Handeln anzugeben, d.h. Systemrationalitäten zu entsprechen. Die spannende Frage in diesem Zusammenhang ist für Luhmann, ob und inwiefern auch Motive soziale Konstrukte sind. Ganz gleich, ob Akteure nun aus einem bestimmten Grund oder unüberlegt gehandelt haben: Mit der Bezugnahme auf ihr Verhalten, mit der Frage nach seinen Folgen und dem Warum des Handelns, mit der Unterstellung von Handlungsintentionen im kommunikativen Anschluss bekommen sie die Chance, Intentionen nachträglich zu formulieren bzw. ebenso zu reformulieren (vgl. zur Frage der „Innenabgrenzung“ ebd.: 254). Subjektiver Sinn motiviert und orientiert zwar die Bezugnahme auf andere Bewusstseinssysteme; worin Versuche der Bezugnahme allerdings resultieren, hängt immer davon ab, wie andere Bewusstseinssysteme interpretieren und reagieren. Erst mit der Reaktion wird der Versuch einer Bezugnahme zu einer tat-
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sächlichen Bezugnahme. Erst jetzt lässt sich für zwei aufeinander treffende psychische Systeme weiter definieren, womit sie es zu tun haben, und es sind die Eigenarten der jetzt gegebenen Situation, die weitere individuelle Interpretationen und Selektionen orientieren. Und nur der vollzogene Anschluss, der gleichzeitig den neuen Versuch einer Bezugnahme darstellt, ist das, was auch von externen Beobachterinnen und Beobachtern wahrgenommen werden kann. Mit der kognitiven (Fremd-)Interpretation des Versuches einer Bezugnahme beginnt Sozialität erst zu existieren, mit der kommunikativen Reaktion wird ihre Existenz schließlich sozial sichtbar „verbürgt“. Mitteilungen und Anschlüsse, kommunikativ generierter Sinn und soziale Situationen lassen sich individuell immer unterschiedlich interpretieren. Für Kommunikation auf Basis von kulturell- oder institutionell sinnhaften Zeichen ist allerdings typisch, dass ähnliche Interpretationen immer wieder als miteinander kongruent markiert werden und sich somit sozial „geteilter“ Sinn beobachten lässt (vgl. zur Markierung von Intersubjektivität im Besonderen Schneider 2001 und 2004). Diese Markierungen dienen nicht zuletzt dazu, den an der Kommunikation beteiligten Akteuren ein „Mehr“ an Orientierung zu ermöglichen und kollektive Wissensbestände zu generieren. Es sind die Annahme einer synchronen Abhängigkeit der Entstehung sozialer Phänomene von psychischen Selektionen, das Fokussieren auf die strukturbildende (und auch auf die strukturauflösende) Kraft von nicht völlig beliebigen Wechselwirkungen in der Form von Kommunikationsanschlüssen sowie die Ablehnung der Möglichkeit einer Ebenen übergreifenden, reduktionistischen Erklärung der Entstehung, Reproduktion und Transformation von sozialen Eigen- und Strukturwerte bzw. von sozialen Systemen, die es sinnvoll erscheinen lassen, die Systemtheorie, wie von Bettina Heintz vorgeschlagen, als eine Theorie sozialer Emergenz zu interpretieren. Im Folgenden soll ergründet werden, in welcher Hinsicht und inwieweit sich die Luhmannsche Systemtheorie in ihrer bestehenden Form tatsächlich problemlos als Emergenztheorie interpretieren lässt. Eine gründliche Diskussion setzt voraus, sich mit verschiedenen Schlüsselbegriffen der Theorie noch einmal im Detail auseinander zu setzen.
2.3.2.3
Ein Problem und seine Lösung
Luhmanns Systemtheorie hat die soziologische Theoriediskussion in mancherlei Hinsicht herausgefordert und provoziert. Besonders schwer wog und wiegt nach wie vor, dass Luhmann es gewagt hat, ganz unmittelbar mit der handlungstheoretischen Tradition der Soziologie zu brechen. Nicht Handlung sondern Kommunikation ist für Luhmann der soziologische Grundbegriff. In der Kommunikation
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sieht Luhmann jenen zentralen Vorgang, der Sozialität erst möglich werden lässt: Kommunikation sorgt für die Absorption von Verhaltensunsicherheit, und erst in und mit der Kommunikation wird ein Erkennen und Verstehen von Handlungen und Handlungsintentionen möglich. Soziale Systeme bestehen aus nichts anderem als aus Kommunikation(en). Dementsprechend muss der Versuch einer emergenztheoretischen Interpretation (zunächst also) hier ansetzen. Kommunikation ist – wie der „frühe“ Luhmann noch ganz allgemein und abstrakt formuliert – eine „gemeinsame Aktualisierung von Sinn, die mindestens einen Teilnehmer informiert“ (Luhmann 1971: 42). Sinn wird systemtheoretisch als Universalmedium definiert, welches sowohl Bewusstseins- wie auch sozialen Systemen als Grundlage des eigenen Operierens dient.29 Im Falle von Sinn geht es immer um die Differenz von Aktualität und Potentialität, um den Unterschied zwischen soeben Realisiertem und noch bzw. weiterhin Möglichem: „Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und des Handelns. Alles, was intendiert wird, hält in dieser Form die Welt im Ganzen sich offen, garantiert also immer auch die Aktualität der Welt in der Form der Zugänglichkeit“ (Luhmann 1984: 93). Soziale Akteure sind – so lautet eine wesentliche, dem systemtheoretischen Kommunikationsmodell zugrunde liegende Annahme – fortwährend auf die kommunikativ vermittelte Aktualisierung von Sinn angewiesen, um sich „im Angesicht“ ihrer Umwelt zurechtfinden zu können. Treffen zwei Akteure in einer sozialen Situation aufeinander, so können sie nie wissen, ob und inwiefern die von ihnen jeweils individuell gehegten Erwartungen ähnlich sind, ob sie in Konflikt miteinander stehen, sich ergänzen etc. Als operativ-geschlossene Systeme sind Akteure „black boxes“ füreinander. Ohne Kommunikation können sie nichts über andere, ihnen gegenüber tretende psychische Systeme erfahren. Treffen Individuen aufeinander, so besteht eine Schwierigkeit zunächst darin, Kommunikation überhaupt in Gang zu bringen. Soziale Situationen sind durch das Phänomen „doppelter Kontingenz“ gekennzeichnet.30 Luhmann nutzt die feder29
30
Unterscheiden lassen sich die Sach-, Zeit- und Sozialdimension von Sinn. Die Sachdimension kommt im Falle von psychischen Systemen in den „Gegenständen sinnhafter Intentionen“ zum Ausdruck. Im Falle der Kommunikation sind es Themen, die Sachlichkeit begründen. Die zeitliche Dimension verweist auf den Umstand, dass Sinn es möglich macht, gedanklich und kommunikativ vor- und zurückzugreifen. Was einmal war, kann wieder vergegenwärtigt werden, was noch nicht ist, kann zumindest (wenn auch in unterschiedlicher Weise) antizipiert werden. Die Sozialdimension von Sinn betrifft schließlich die Wahrnehmung anderer psychischer Systeme als AlterEgo (vgl. zu den drei Dimensionen von Sinn Luhmann 1984: 114 ff.). Die Denkfigur der „doppelten Kontingenz“ liefert auf besonders anschauliche Art und Weise eine Begründung dafür, warum psychische Systeme gezwungen sind, Kommunikation in Gang zu setzen, und warum soziale Systeme zwangsläufig emergieren müssen. Mit ihrer Hilfe ge-
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führend von Talcott Parsons in die Soziologie eingeführte Figur der doppelten Kontingenz, um zeigen zu können, auf welche Art und Weise Kommunikation zum Aufbau sozialer Systeme führt. Kommunikation ist nämlich die (letzten Endes immer nur vorübergehende) Lösung des Problems doppelter Kontingenz (vgl. ebd.: 148 ff.). Kommunikation verheißt erfolgreiche Komplexitätsreduktion im Sinne einer sozial sinnvollen Bearbeitung der irritierenden und verunsichernden Undurchschaubarkeit von Interaktionspartnern; Kommunikation bedeutet die Möglichkeit der Emergenz von (stabilen) Erwartungen. Was aber heißt nun doppelte Kontingenz? Der Begriff weist auf den denk- und merkwürdigen Umstand hin, dass sich Akteure, die bereit sind, das eigene Verhalten am Verhalten eines jeweils anderen Akteurs zu orientieren, in einer Art „Lauerstellung“ zueinander befinden. Beide wissen, dass sie füreinander sowohl „agierender“ Alter wie auch „reagierender“ Ego31 sein können bzw. sind. Das eigene Verhalten (partiell) vom Verhalten des jeweils anderen Akteurs abhängig machen zu wollen bedeutet letztlich, nur das zu tun, was der andere will, sofern dieser auch tut, was man selbst will. Luhmann hat davon gesprochen, dass eine solche soziale Situation „leer“, „geschlossen“ und „unbestimmbar“ selbstreferent sei (ebd.: 151). Der Zufall führe schließlich dazu, dass sich einer der beiden Akteure als Alter offenbare. Hierzu heißt es: „Alter bestimmt in einer noch unklaren Situation sein Verhalten versuchsweise zuerst. Er beginnt mit einem freundlichen Blick, einer Geste, einem Geschenk – und wartet ab, ob und wie Ego die vorgeschlagene Situationsdefinition annimmt. Jeder darauf folgende Schritt ist dann im Lichte dieses Anfangs eine Handlung mit kontingenzreduzierendem, bestimmendem Effekt – sei es nun positiv oder negativ“ (ebd.: 150 f.). Mit eben dieser „versuchsweisen Bestimmung“ von Verhalten beginnt also Kommunikation, beginnt
31
lingt es Luhmann, die Funktion von Kommunikation zu bestimmen. Hier sei allerdings noch einmal ausdrücklich davor gewarnt, doppelte Kontingenz nur als „Denkfigur“ verstehen zu wollen, eben weil man meint, sie nirgends in „Reinform“ oder im „Extrem“ erblicken zu können. Tatsächlich sind wir im Alltag mit einer Vielzahl von doppelt kontingenten Situationen konfrontiert. Und auch wenn wir schon wissen, wie man sich in welchen Situationen am Besten verhalten kann/sollte/muss, so sind wir doch immer wieder gefordert, auf der Basis tastender Versuche zu eruieren, in welchem Verhältnis unsere eigenen Erwartungen und die Erwartungen unseres Gegenübers zueinander stehen. Doppelte Kontingenz verschwindet nie völlig. Hier ist noch einmal daran zu erinnern, dass Komplexitätsreduktion in systemtheoretischem Sinne keineswegs bedeutet, dass alles simpel und überschaubar wird. Ganz im Gegenteil: Die Reduktion von Komplexität in einer bestimmten Hinsicht bedeutet immer, nun neue Möglichkeiten zu haben, Komplexität in einer anderen Hinsicht zu steigern. Luhmann vertauscht die Begriffe „Alter“ und „Ego“ miteinander und bezeichnet den „agierenden“ Akteur als „Alter“, während er den „reagierenden“ Akteur als „Ego“ bezeichnet. Dies ist im Weiteren immer zu beachten. Die Vertauschung erlaubt es ihm, die sozialkonstitutive Funktion der Selektion des Verstehens im Rahmen seines Kommunikationsmodells in besonderem Maße heraus zu stellen. Wir werden auf die Selektionen der Information, der Mitteilung und des Verstehens später noch ausführlich zu sprechen kommen.
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die Emergenz von Sozialität. Und genau hierin liegt die Bedeutung, liegt die Funktion von Kommunikation. Kommunikation hilft psychischen Systemen, mit der Intransparenz anderer psychischer Systeme zurecht zu kommen. Sie hilft Individuen, Erwartungen aufzubauen, miteinander abzugleichen, zu stabilisieren oder auch zu verwerfen. Sie schafft Bezugsgrößen für die Selektion von „Gegenständen sinnhafter Intention“ (ebd.: 114), und sie hilft, die Wahrnehmung von Individualität und Verhalten auszugestalten. Auf der Basis von Anschlüssen an die jeweils eigenen Mitteilungen können Akteure schließlich (versuchen zu) ergründen, welche Intentionen andere leiten und wie diese das eigene, persönliche Wirken verstanden haben. In jenem Maße aber, in dem Kommunikation den Akteuren hilft, besser mit der Eigensinnigkeit anderer Akteure zurecht zu kommen, emergieren neue Realitätsebenen, deren Erscheinungsformen nicht mehr von einzelnen Akteuren zu kontrollieren oder zu bestimmen sind: soziale Systeme.
2.3.2.4 Kommunikation als soziales Ereignis Kommunikation ist die einzige Operation, die die Autopoiesis sozialer Systeme „durchführen“ kann und ein soziales System gegen seine Umwelt abgrenzt: „Kommunikation hat alle dafür erforderlichen Eigenschaften: Sie ist eine genuin soziale (und die einzige genuin soziale Operation). Sie ist genuin insofern, als sie zwar eine Mehrheit von mitwirkenden Bewusstseinssystemen voraussetzt, aber (eben deshalb) als Einheit keinem Einzelbewusstsein zugerechnet werden kann. (...) Sie ist die kleinstmögliche Einheit eines sozialen Systems, nämlich jene Einheit, auf die Kommunikation noch durch Kommunikation reagieren kann“ (Luhmann 1998b: 81 f.). Während vorläufig geklärt ist, welche Funktion Kommunikation für psychische Systeme erfüllt, gilt es jedoch weiterhin zu erörtern, was Kommunikation, verstanden als Operation und Ereignis ist und warum sie als emergent verstanden werden muss, d.h. wie eine „Mehrheit“ von Bewusstseinssystemen an ihrem Zustandekommen mitwirkt. Während es bei Kommunikation (bzw. Kommunikationsprozessen) für die einen um die Übertragung von Informationen zwischen einem Sender und einem Empfänger (vgl. Shannon und Weaver 1949/1971), für die anderen um die Ausführung von Sprechakten (vgl. Austin 1962) oder um einen „Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode“ (Flusser 2003: 13), und für wiederum andere ganz einfach um jenen alltäglichen, „menschenbezogenen Vorgang“ geht, „in dessen Verlauf Verständigung organisiert und hergestellt werden soll“ (Faßler 1997: 47), setzt die Luhmannsche Systemtheorie anders, und vor allem auch tiefer an. Im Mittelpunkt der systemtheoretischen Betrachtungen zur Kommunikation steht, wie bei anderen Autoren
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auch (vgl. orientierend Lindemann 2006: 84), zunächst die Interaktionsdyade. Während wir üblicherweise davon ausgehen, dass die Kommunikation mit und bei Ego beginnt und Alter zuhört, bezeichnet Luhmann beide Positionen genau anders herum: Ego versteht und vollendet die Kommunikation als Einheit, und die Selektionen Alters stellen Anlässe für eben dieses Verstehen dar (vgl. Luhmann 1984: 195). Kommunikation beginnt, sobald Alter Informationen aus einem ihr/ihm bekannten Verweisungshorizont „herauszieht“ bzw. diese konstruiert und zur Mitteilung bringt, indem sie/er neben der Information auch ein ihr/ihm geeignet erscheinendes Mitteilungsverhalten (Mimik, Sprache, Schrift)32 auswählt. Die Selektion einer Information definiert und markiert die Differenz von Aktualität und Potenzialität in sachlicher Hinsicht. Durch die Auswahl einer Information wird nicht nur der Raum weiterhin möglicher (Informations)Selektionen (mit-)reproduziert, sondern er bewegt und verändert sich auch. Kommunikation wird als sozialitätskonstituierende Einheit abschließend realisiert, sobald die Synthese von Information und Mitteilung von einem Ego verstanden wird. Die Selektion des Verstehens ist die von Ego vollzogene Differenzierung zwischen Information und Mitteilung. Mit der Selektion des Verstehens kommt das Ereignis der Kommunikation zum (vorläufigen) Abschluss. Entscheidend ist nun, dass Ego im Rahmen dieser Differenzierung durchaus anders verstehen kann, als von Alter intendiert bzw. erhofft. Alter mag sich bei ihrer/seiner Mitteilung etwas ganz Bestimmtes denken, eine ganz bestimmte Absicht verfolgen, etwas bewirken wollen; was mit der Information und ebenso in Anbetracht des gewählten Mitteilungsverhaltens weiter geschieht, darüber disponiert zunächst Ego im Rahmen ihres/seines Verstehens. Ego kann direkt auf die Sachdimension des mitgeteilten Sinns eingehen, ebenso aber auch die Sozialund Zeitdimension in den Blick nehmen. Ego kann die mitgeteilte Information annehmen und bestätigen, dass sie/er die mitgeteilte Information als Prämisse des eigenen Verhalten zu übernehmen gedenkt; sie/er kann sie ebenso gut aber auch ablehnen. Und Ego kann ferner z.B. auch die mitgeteilte Information ignorieren und stattdessen das Mitteilungsverhalten Alters zum Thema der weiteren Kommunikation machen. Kommt es zur Mitteilung der Annahme/Ablehnung einer Kommunikation, so lässt sich mit Luhmann schließlich auch von der „vierten Selektion“ (vgl. ebd.: 203 ff.) sprechen. Werden Annahme oder Ablehnung mitgeteilt, so setzt sich die Kommunikation und somit auch die Autopoiesis sozialer Systeme fort. Luhmanns Konzeption der Kommunikation als Einheit der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen und des Kommunikationsanschlusses als verstehensbasierte Folgeselektion neuer Informationen und Mitteilungen ist mehr 32
Die Auswahl des entsprechenden Mitteilungsverhaltens kann sowohl bewusst wie auch zufällig geschehen (vgl. Luhmann 1984: 195).
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als offensichtlich durch die Überlegungen Meads zum „social act“, zur Kommunikation mit Gesten und zur kommunikativen Konstruktion von sozialen Bedeutungen (vgl. Mead 1934/1995) inspiriert. Aus diesem Grunde sei an dieser Stelle ein kurzer Exkurs erlaubt, der es ermöglicht, die Anlage des Luhmannschen Kommunikationsmodells noch ein Stück weiter und besser nachzuvollziehen. Mead hat im Rahmen seiner sozialphilosophischen Überlegungen zur Entstehung von Sozialität, Bewusstsein und Identität versucht zu zeigen, dass die Bedeutung individuellen Verhaltens oder Handelns letztlich aus jenem Kontext resultiert, in den dieses Verhalten oder Handeln eingebettet ist (vgl. zu den folgenden Ausführungen ebd.: 81 ff.). Ein bekanntes und plastisches Beispiel Meads zur Emergenz der kollektiven Bedeutung eines individuellen Verhaltens ist der Hundekampf. Das anfeindende Knurren eines aggressiven Hundes stimuliert den jeweiligen Kontrahenten dazu, sich in einer gewissen Art und Weise zu verhalten, zeigt diesem aber auch an, dass sein Artgenosse zum Angriff übergehen wird, sofern er selbst nicht ein bestimmtes, von ihm gefordertes Verhalten, nämlich die Geste der Unterwerfung, zeigt. Ob es tatsächlich zum Kampf kommt, hängt weitestgehend von der Reaktion des angefeindeten Hundes ab. Die übergeordnete, kollektive oder situationale Bedeutung der Geste des Knurrens ergibt sich endgültig also erst aus der Geste selbst, der Reaktion des zweiten Hundes auf die Geste und der Reaktion des ersten Hundes auf die Reaktion des zweiten. Die menschliche Kommunikation ist im Gegensatz zu dieser tierischen Gestenkommunikation durch den Umstand gekennzeichnet, dass Menschen nicht nur einfach wechselseitig aufeinander reagieren, sondern Verhalten auch interpretierend nachzuvollziehen und vorweg zu nehmen versuchen. Menschen entwickeln auf diesem Wege schließlich ein individuelles Verständnis der durch die Situation des Handelns abschließend definierten sozialen Bedeutung von signifikanten Symbolen (vgl. hierzu auch Schützeichel 2004: 93 f.). Kommen wir zu Luhmann und zur „vierten Selektion“ zurück. Ausdrücklich festzuhalten ist, dass die „vierte Selektion“, welche mit der Auswahl einer Information durch Ego (jetzt Alter) eingeleitet wird, unverzichtbar für die Fortsetzung der Autopoiesis sozialer Systeme ist. Die Emergenz eines „einzelnen“33 33
Zwar wird ein „einzelnes“ Kommunikationsereignis durch die Selektion des Verstehens abgeschlossen; sofern es beim kognitiven Verstehen bleibt, kann jedoch keine externe Beobachterin/kein externer Beobachter „orientiert“ über Effekte der Kommunikation befinden, sondern immer nur vermuten. Weiterführende Beobachtungen und Einschätzungen sind eigentlich erst möglich, sobald Anschlussmitteilungen sichtbar werden. Auch Beobachtungen und Einschätzungen Dritter müssen natürlich kommuniziert werden, sollen sie für andere einen Unterschied machen (können) und die Autopoiesis des Sozialen stützen. Eben hierin liegt aber nicht zuletzt die „Zwangsläufigkeit“ der Autopoiesis sozialer Systeme. Es muss mit der Selektion neuer Informationen und ihrer Mitteilung weitergehen, damit psychische Systeme mehr Orientierung „bekommen“ oder „erreichen“ können.
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Kommunikationsereignisses als Letztelement des Sozialen ist aber bereits mit der Selektion des Verstehens abgeschlossen; unabhängig davon, ob eine Reaktion noch erfolgen wird oder nicht: „Wenn wir sagen, daß Kommunikation eine Zustandsänderung des Adressaten bezweckt und bewirkt, so ist damit nur das Verstehen ihres Sinnes gemeint. Das Verstehen ist jene dritte Selektion, die den Kommunikationsakt abschließt. Man liest: Tabak, Alkohol, Butter, Gefrierfleisch usw. gefährde die Gesundheit, und man ist (als jemand, der es hätte wissen und beachten können) ein anderer – ob man’s glaubt oder nicht! Man kann nicht mehr ignorieren, sondern nur noch glauben oder nicht glauben. Wie immer man entscheidet: die Kommunikation legt einen Zustand des Empfängers fest, der ohne sie nicht bestehen würde, aber nur durch ihn selbst bestimmt werden kann. Auf Annahme oder Ablehnung und auf weitere Reaktion kommt es daher beim Kommunikationsbegriff nicht an“ (Luhmann 1984: 204, Hervorheb. im Original). Verstehen ist nicht zuletzt auch im Plural zu denken. In höher skalierten Kommunikationsprozessen mit einer Vielzahl von TeilnehmerInnen wird ein Kommunikationsereignis immer mehrfach durch individuelles Verstehen abgeschlossen.
2.3.2.5 Zur Beobachtung von Kommunikation Auch wenn Luhmann ausschließlich Kommunikationen im oben skizzierten Sinne als Elemente sozialer Systeme gelten, bedeutet dies nicht, dass die Systemtheorie völlig auf den Begriff des „Handelns“ verzichten will bzw. kann. Luhmann hat davon gesprochen, dass sich Kommunikationen nicht „direkt beobachten“, sondern immer nur „erschließen“ lassen würden. Soziale Systeme müssten sich als Handlungssysteme „ausflaggen“, um sich selbst beobachten und beschreiben zu können (vgl. ebd.: 226). Für die Systemtheorie sind sowohl der Begriff der Kommunikation wie auch der Begriff der Handlung von Bedeutung, auch wenn das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander auf ungewöhnliche Art und Weise konzipiert wird: „Auf die Frage, woraus soziale Systeme bestehen, geben wir mithin die Doppelantwort: aus Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung. Kein Moment wäre ohne das andere evolutionsfähig gewesen“ (ebd.: 240). Die Zurechnung von Kommunikation als Handlung bedeutet, dass die in einem Symmetrieverhältnis zueinander stehenden Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen in ein asymmetrisches Verhältnis zueinander überführt werden (können). Hiermit ist letztlich nichts anderes gemeint, als dass die an der Emergenz von sozialen Systemen beteiligten psychischen Systeme nicht umhin können, die Selektion von Information und Mitteilungsverhalten, aber auch die Selektion des Verstehens als „gerichtete“ Handlungen zu interpre-
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tieren und weiterführend zu beschreiben. Welche Semantiken zum Einsatz kommen, um sich selbstreferentiell über das soziale Geschehen ins Bild zu setzen und um dieses in der weiteren Kommunikation auch fortlaufend beschreiben zu können, hängt allerdings immer davon ab, welche Absichten einzelne Akteure verfolgen und vor allem davon, welche Deutungsmuster und Wissensbestände ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Kontext zugänglich waren.
2.3.2.6 Kommunikative Dynamik und soziale Strukturen Kommunikationsereignisse kommen mit dem kognitiven Verstehen zum Abschluss und dieses Verstehen bedeutet, dass der von Alter aktualisierte Sinn in irgendeiner Weise eine Zustandsänderung bei der Adressatin/beim Adressaten Ego ausgelöst hat. Diese Zustandsänderung wird jedoch nur dann zu einer endgültig sozial relevanten Zustandsänderung, sofern sich Ego dazu entscheidet, selbst in der Rolle des Alters eine Information auszuwählen und mitzuteilen. Von Kommunikationsereignissen bleibt maximal das materielle Substrat der Mitteilung erhalten, und damit soziale Systeme nicht aufhören zu existieren, müssen immer wieder neue Kommunikationsereignisse emergieren. Luhmann hat sich die Autopoiesis sozialer Systeme als den beständigen und schnellen Austausch von Kommunikationsereignissen durch neue Kommunikationsereignisse vorgestellt, und er weist darauf hin, dass Kommunikationen „(...) nur in einem für ihr Entstehen nötigen Kleinstzeitraum (specious present) (..)“ vorkommen würden: „Sie sind durch dies zeitliche Vorkommen identifiziert, sind also unwiederholbar. Eben dadurch eignen sie sich als Elementareinheit von Prozessen“ (ebd.: 102). Die simultane Definition von Kommunikation als Einheit, die durch die auf zwei Zeitstellen verteilt stattfindenden Selektionen zweier oder mehrerer Prozessoren begründet wird, und als momenthaftes „Temporalatom“ (ebd.: 389) ist keineswegs unproblematisch, und hierauf hat zuletzt Thomas Malsch (Malsch 2005: 96 ff.) hingewiesen. Gerade in massenmedialen Kommunikationsprozessen erfolgt das Verstehen in der Regel mit einer (starken) zeitlichen Verzögerung, sodass mit Blick auf die tatsächliche Dauer des Vorgangs der Selektionsverschränkung wohl kaum mehr von einem „flüchtigen“ Gesamtereignis der Kommunikation gesprochen werden. Den Charakter der „Flüchtigkeit“ würde es vor diesem „realzeitlichen“ Hintergrund wohl nur behalten, wenn man bereit wäre zu akzeptieren, dass Kommunikation immer nur und ausschließlich im Moment des Verstehens (mit der Differenzierung von Information und Mitteilung) realisiert wird. Das Problem wäre dann allerdings, dass sich auch jede
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Wahrnehmung mehr oder weniger problemlos als (eine Art oder ein Effekt von) Kommunikation definieren ließe, was natürlich keinen Sinn macht (vgl. zu diesem Problem ausführlich ebd.: 87 ff. sowie 96 ff.). Luhmann selbst hat den Widerspruch, der zwischen der Annahme der „Flüchtigkeit“ und einem vor allem in der schriftlichen Kommunikation immer nur deutlich zeitversetzt erfolgenden Verstehen besteht, nicht weiter thematisieren müssen. Die Systemtheorie interessiert sich weniger für die „Realzeit“ als für die „Sinnzeit“ sozialer Systeme, und diese können selbstbestimmt definieren, was innerhalb des Systemkontextes als „flüchtig“ gelten soll oder nicht (vgl. zur Differenz von „Naturzeit“ und „Sinnzeit“ Bormann 2005: 56 sowie zur Zeitdimension von sozialem Sinn noch einmal Luhmann 1984: 116). Wir werden auf dieses Problem später noch in einem anderen Zusammenhang zu sprechen kommen (vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3.6.2 dieser Arbeit). Infolge des Verstehens einer Mitteilung ist interessant, wie Ego mit der ihr/ihm angetragenen Sinnreduktion umgeht und wie sie ihr/sein eigenes Selektionsverhalten beansprucht. Prinzipiell hat Ego in ihrer/seiner Anschlussrolle als Alter immer die Möglichkeit, an eine vorhergehende Mitteilung in völlig beliebiger und auch unpassender Weise anzuschließen. Tatsächlich wird ein solches Selektionsverhalten bei anderen, an der Kommunikation beteiligten psychischen Systemen aber zu einem mehr oder weniger großen Unverständnis führen und (vor allen Dingen dann, wenn es wiederholt auftritt) im schlimmsten Fall dazu gereichen, dass darauf verzichtet wird, einen „querulanten“ (Ego)Alter überhaupt noch weiter kommunikativ zu inkludieren. Im „Normalfall“ wirkt Kommunikation einerseits Beliebigkeiten einschränkend und andererseits Möglichkeiten eröffnend: „Als Veränderung des Zustandes des Empfängers wirkt Kommunikation wie eine Einschränkung: Sie schließt unbestimmte Beliebigkeit des jetzt noch Möglichen (Entropie) aus. In anderer Hinsicht weitet sie, und zwar gerade dadurch, Möglichkeiten aber auch aus. Sie provoziert (darf man sagen: co-provoziert?) die Möglichkeit der Ablehnung“ (ebd.: 204). Luhmann spricht schließlich davon, dass die Kommunikation die Differenz von Information und Mitteilung infolge des Verstehens letztlich in die Differenz von Annahme und Ablehnung überführen würde (vgl. ebd.: 205). Kommunikationsanschlüsse machen damit ersichtlich, ob Sinnreduktionen (partiell bis vollständig) als Prämissen des eigenen Verhaltens übernommen, oder (partiell bis vollständig) als Prämissen des eigenen Verhaltens abgelehnt worden sind. Wir wollen hier zunächst darauf verzichten, eingehend und weiterführend die Folgen von Annahmen und Ablehnungen für die Autopoiesis einzelner Systemtypen zu diskutieren. Stattdessen soll für einen Moment noch weiter der Frage nachgegangen werden, auf welche Art und Weise die „Funktionslogik“ des Anschlusses in systemtheoretischer Perspektive auf den Punkt gebracht wird.
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Andreas Göbel schreibt mit Blick hierauf: „Man muß an dieser Stelle nicht aus Gründen der mikrosoziologisch-kommunikationstheoretischen Feinarbeit ein derartiges Gewicht in diese Diskussion legen, sondern vielmehr deshalb, weil hier ganz offensichtlich die entscheidende Gelenkstelle zwischen Kommunikationsbegriff und gesellschaftstheoretischem Strang der Theorie auf der kommunikationstheoretischen Seite gelegt werden soll“ (Göbel 2000: 193). Zunächst einmal muss im systemtheoretischen Kontext eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie es überhaupt zum Kommunikationsanschluss kommt. Dass nicht auf subjektive Intentionen, Motive oder Absichten sozialer Akteure rekurriert werden kann, dürfte sich mittlerweile von selbst verstehen. Vielmehr muss es darum gehen herauszuarbeiten, welche im Kontext eines Systems wirkenden Eigen- und Strukturwerte Selektionen verlässlich ausrichten, sodass sich die Autopoiesis zum einen in ähnlicher Weise wiederholen kann und sich zum anderen Abweichungen hiervon auch schnell erkennen lassen. Der „Anschlusswert“ eines Kommunikationsereignisses liegt nun darin begründet, dass es in seiner Anlage (eingedenk der ausgewählten Information und der Art und Weise der Mitteilung) bereits darauf hinzudeuten vermag, welche Anschlüsse mehr als nahe liegen, und welche Anschlüsse wohl kaum vertretbar sein können. Exemplarisch lassen sich in diesem Zusammenhang zum einen ausgewählte bzw. transportierte Themen34 als „wertbestimmend“ anführen. Sie „definieren“, worum die Kommunikation kreist und was sie „verlangt“ (Luhmann 1984: 212 ff.). Zum anderen weist Luhmann auf die Anschlüsse „provozierende“ Funktion von „Sinnzeichen“ (Existenzaussagen, logische Operationen) und symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien hin (vgl. ebd.: 205). Man kann auch sagen, dass das Kommunikationsereignis bereits im Moment der Mitteilung von Informationen mit Erwartungen aufgeladen wird. Und diese Erwartungen sind jene sozialen Strukturen, die der Autopoiesis sozialer Systeme ihre Richtung verleihen. Soziale Strukturen in der Form von Erwartungen schränken die in einem System zugelassenen Relationen zwischen vergänglichen Kommunikati34
Der Begriff des „Themas“ bezeichnet in der Luhmannschen Systemtheorie eine soziale Struktur. Als spezifische Erscheinungsformen sozialen Sinns sind Themen nicht nur durch eine sachliche, sondern immer auch durch eine zeitliche und eine soziale Dimension gekennzeichnet: „Themen dienen also als sachlich-zeitlich-soziale Strukturen des Kommunikationsprozesses, und sie fungieren dabei als Generalisierungen insofern, als sie nicht festlegen, welche Beiträge wann, in welcher Reihenfolge und durch wen erbracht werden. Auf der Ebene von Themen lassen sich deshalb Sinnbezüge aktualisieren, die an der Einzelkommunikation kaum sichtbar zu machen wären. Deshalb ist Kommunikation schließlich typisch, wenngleich nicht notwendig, ein durch Themen gesteuerter Prozess. (...) Erst an Hand von Themen kann man die Richtigkeit eigenen und fremden kommunikativen Verhaltens im Sinne eines Zum-ThemaPassens kontrollieren. Insofern sind Themen gleichsam die Handlungsprogramme der Sprache“ (Luhmann 1984: 216).
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onsereignissen ein (vgl. ebd.: 382 ff.). Erwartungen nehmen unterschiedliche Formen an, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können. Typische Erwartungszusammenhänge sind Luhmann zufolge Personen, Rollen(erwartungen), aber auch Erwartungen, die in (Handlungs-)Programme gefasst werden sowie Werte (vgl. hierzu ebd.: 396 ff. sowie 429 ff.). Die Anlage des Luhmannschen Strukturbegriffs unterscheidet sich von der Anlage anderer soziologischer Strukturbegriffe. Während der Begriff üblicherweise benutzt wird, um mehr oder weniger stabile Erscheinungsformen von Sozialität zu bezeichnen35, verbindet Luhmann keineswegs ausschließlich die Vorstellung von Stabilität mit diesem Begriff. Auch Strukturen, auch Erwartungen bedürfen der fortwährenden „Darstellung“ in der Kommunikation, der fortlaufenden Aktualisierung: Sie müssen prozessiert werden. Andreas Göbel hat davon gesprochen, dass Strukturen nie „(...) Strukturen vor allen Ereignissen, sondern – wenn man so sagen darf – lediglich Strukturen in Ereignissen“ seien: „Ihre Existenzform gewinnen sie damit nur in und durch die Ereignisse, deren Relationierungsmöglichkeiten sie relationieren. (...) Auch Strukturen finden nur statt als die Ereignisse, die sich auf sie beziehen, um sich zu verknüpfen“ (Göbel 2000: 198 f.). Wird den mit der Selektion von Information und Mitteilung kommunikativ auf den Weg gebrachten Erwartungen im Rahmen eines Kommunikationsanschlusses entsprochen, so stabilisieren sich auch die Erwartungen selbst als soziale Strukturen. Sie können auf diesem Wege schließlich eine mehr oder weniger weit gehende „Generalisierung“ als Sinnformen erfahren (vgl. Luhmann 1984: 444 ff.). Für jedes Kommunikationsereignis gilt damit, dass es sowohl mehr oder weniger adäquat auf die von einem vorhergehenden Ereignis projizierten Erwartungen „reagiert“, d.h. diese erfüllt oder enttäuscht, wie auch selbst den Kommunikationsprozess mit weiteren Erwartungen ausstattet oder auflädt. In eben diesem Sinne verschränken sich Emergenz und Konstitution bzw. anders formuliert: „kommunikativ-kausale Verursachung“ und „Makrodetermination“/„abwärtsgerichteter Einfluss“ in der soziologischen Systemtheorie miteinander. Soziale Systeme können nur „von unten“, durch immer neue (Ebenen übergreifend emergente und epistemologisch irreduzible) Kommunikationsereignisse reproduziert werden. Gleichzeitig werden diese Ereignisse aber auch sozial, und zwar durch sprachlich bzw. schriftsprachlich codierte und codierbare Erwartungen konditioniert. Werden diese weitestgehend erfüllt, kann ein System mehr oder weniger mit sich selbst identisch bleiben; werden sie hingegen enttäuscht, 35
„In einem generellen Sinne bilden Strukturen die Ebene des ‘Allgemeinen‘ der sozialen Welt. Strukturen bezeichnen diejenigen Phänomene, die einerseits nicht singulär, sondern zeitresistent und die andererseits nicht individuell, sondern ein soziales Kollektiv betreffend existieren“ (Reckwitz 1997: 32).
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kommt es zu Irritationen, die Transformationen zur Folge haben können, aber nicht müssen (vgl. zu den Effekten von Ablehnungen und Enttäuschungen z.B. ebd.: 488 ff.). Kommunikation wird durch die Selektion von Information und Mitteilungsverhalten eingeleitet, aber erst retrospektiv durch Verstehen realisiert. Immer werden kommunikative Selektionen von Erwartungen begleitet. Mit der erneuten Auswahl von Information und Mitteilungsverhalten, mit dem kommunikativen Anschluss, wird schließlich sichtbar, wie mit Erwartungen umgegangen, was aus ihnen geworden ist. „Nachtragsmanagement“ (vgl. Bormann 2005: 57) ist kennzeichnend für die menschliche Kommunikation.36 Soziale Systeme stellen „doppelt emergente“ Phänomene dar, die ihre Existenz zwar einzelnen kommunikativen Selektionen verdanken; ihre Autopoiesis bzw. Existenz „über die Zeit hinweg“ ist aber ein komplexer Effekt der Wechselwirkung von unterschiedlichen Kommunikationsereignissen miteinander, die zur „Erfüllung“ und „Enttäuschung“ von Erwartungen beitragen, und die die Produktion bzw. „Aktualisierung“ von sozialem Sinn bedeuten. Das Soziale ist in systemtheoretischer Perspektive epistemologisch irreduzibel, weil sich die soziale, d.h. die systemkonstitutive Bedeutung einzelner Selektionen psychischer Systeme erst aus ihrer Einbettung in einen Zusammenhang mit den Selektionen anderer psychischer Systeme ergibt. Der „Wille zu sprechen“ (de Saussure1967/1916) stellt ebenso wie die Existenz von Kommunikationsmedien eine unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit von Sozialität dar. Eine Zusammenschau von Handlungsintentionen unter Berücksichtigung institutioneller Rahmenbedingungen kann in systemtheoretischer Perspektive aber nicht soziale Emergenz erklären. Stattdessen gilt es aufgrund der operativen Geschlossenheit psychischer Systeme auf die an empirisch sichtbaren Mitteilungszeichen ablesbaren, als mehr oder weniger geteilt markierten sozialen Bedeutungen abzuheben, um die Emergenz bzw. die Selbstreproduktion sozialer Systeme erklären zu können. Und es sind eben diese sozialen Bedeutung in der Form von Handlungszurechnungen und Ereignis- und Systembeschreibungen, die neben dem Prozess der Autopoiesis selbst die ontologische Irreduzibilität des Sozialen begründen: „Die Theorie sozialer Systeme beruht auf einer ‚monistischen Sozialontologie‘. Alles Soziale besteht letztlich aus Kommunikationen, andere Elemente gibt es nicht. Im Gegensatz zu Durkheim, der einen „individualistischen Monismus“ vertreten hat (…) vertritt Luhmann eine Art ‚kommunikativen Monismus‘“ 36
Bormann zufolge stellt Verstehen „(…) nun seinerseits als Unterschied ‚Mitteilung – Information‘ einen Anlaß für einen weiteren ereigniserzeugenden Nachtrag dar, für den dasselbe gilt, usf. ‚Nachtragsmanagement‘ ist dann das Kürzel für diese eigentümliche kommunikative Ereignis-Verknüpfung“ (Bormann 2005: 57, Hervorheb. im Original).
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(Heintz 2004: 24). Was damit soziologisch nachvollzogen und erklärt werden kann und muss ist also, wie sich kommunikative Wechselwirkungen zwischen emergenten Kommunikationsereignissen gestalten und welche (vorübergehenden) sozialen Folgen sie haben. Wie soziale Systeme in ihrer Eigenschaft als emergente Phänomene einzelne Bewusstseinssysteme tatsächlich irritieren, darüber ließe sich hingegen nur mehr oder weniger gut im Rahmen einer ausgearbeiteten Theorie der Interpenetration, der strukturellen Kopplung oder der Sozialisation spekulieren. Eine solche systemtheoretisch ausgearbeitete Theorie liegt bzw. solche systemtheoretisch ausgefeilten Theorien liegen bislang jedoch nicht vor (vgl. hierzu auch direkt Bora 2003 und Sutter 2006). Wer die Emergenz sozialer Ordnung als Autopoiesis sozialer Systeme inhaltlichkonkret unter Rückgriff auf empirische Beispiele modellieren und damit erklären, und nicht nur abstrakt beschreiben möchte, muss somit also zweierlei leisten: (1) Sie/er muss einerseits erörtern, wie sich Kommunikationsanschlüsse konkret gestalten und welche (allgemeinen) Merkmale von Anschlüssen sich identifizieren lassen. Zwar ist ein jedes Kommunikationsereignis immer neu und überraschend, da sich Kommunikationsereignisse nie auf identische Art und Weise wiederholen. Dennoch weisen Ereignisse aber immer wieder ähnliche, typische Eigenschaften auf. Geklärt werden muss vor allem, unter welchen Bedingungen es wie zur Erfüllung und Stabilisierung von Erwartungen, und unter welchen Bedingungen es wie zur Enttäuschung und zum Aufgeben von Erwartungen kommt. Andererseits ist (2) auf eben dieser Basis zu analysieren, wie Kommunikationen als Handlungen beobachtet und beschrieben werden, und wie sozialer Sinn synthetisiert wird: Welche Beschreibungen fertigen soziale Systeme von sich selbst an bzw. welche Selbst- und Fremdbeschreibungen entstehen in Kommunikationsprozessen? Welche Semantiken werden neu generiert oder aktualisiert und nehmen so Einfluss darauf, wie Prozessoren, wie psychische Systeme, einen jeweils gegebenen „Überschuss von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns“ (Luhmann 1984: 93) überhaupt wahrnehmen (können). Insofern stellt sich hier unweigerlich die Frage nach der systemkonstitutiven Funktion von sozialen Bedeutungen bzw. Semantiken (vgl. hierzu auch Stäheli 1998, Bublitz 2001, Borch 2005 und Vogd 2005). Luhmann selbst hat so abstrakt wie möglich erörtert, dass es Strukturwerte in der Form von diffusen bis hochgradig generalisierten Erwartungen sind, die die Autopoiesis sozialer Systeme orientieren und somit – emergenztheoretisch formuliert – das Moment der „downward causation“ im Sozialen zu Tage fördern und zum Tragen bringen. Auch hier gilt allerdings: Sofern die Perspektive der Systemtheorie genutzt werden sollen, um die Autopoiesis sozialer Systeme auch in bestimmter Hinsicht zu erklären, so ist weiterführend zu spezifizieren und empirisch orien-
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tiert zu untersuchen, welcher Art Erwartungen sind bzw. welche konkreten Erscheinungsformen sie in der Kommunikation annehmen (können). Zu untersuchen und zu erklären ist, wie „(…) Selektionsbeschränkungen, (…) seien dies besondere Semantiken, Themenpräferenzen, daraus sich ergebende Rollenmuster oder auch Besonderheiten der zeitlichen Sequenzierung“ (Bora 2000/2005: 1), die Kommunikation orientieren und wie sie gegebenenfalls Pfadabhängigkeiten entstehen lassen, verstärken oder wieder auflösen, d.h. wie sie zur Emergenz von übergeordneten, systemtypischen und hochgradig generalisierten Erwartungskomplexen beitragen. Die Notwendigkeit einer solchen Spezifizierung systemtheoretischer Annahmen und die Notwendigkeit einer Erprobung der Möglichkeiten rekonstruktiver Sozialforschung mit Hilfe des systemtheoretischen Vokabulars lassen sich in zweierlei Hinsicht begründen: „Zum einen verlangt ihr Überleben [das Überleben der Systemtheorie, RHP] als pragmatische, d.h. nützliche Theorie nach Anschlussmöglichkeiten für empirische Forschungsvorhaben. Zum anderen wird über kurz oder lang auch ihr theoretisches Programm verlangen, den eigenen Bezug zur Empirie zu explizieren. Denn anders als eine reine Formalwissenschaft, wie sie die Mathematik darstellt, setzt sie sich als soziologische Subdisziplin schon immer in Bezug zu empirischen Gegenständen“ (Vogd 2005: 21). Wir wollen es hinsichtlich der Diskussion wesentlicher Aspekte der Luhmannschen System- und Kommunikationstheorie hierbei nun bewenden lassen und eine weiterführende und konkrete Antwort auf jene Frage versuchen, welche die vorstehenden Erörterungen eingeleitet hatte: Inwiefern lässt sich die EreignisStruktur-Theorie Luhmanns (Bora 2003) schon umstandslos als ein emergentistisches Theoriegebäude verstehen?
2.3.2.7 Kommunikativer Monismus und Rotation Es ist die radikale Annahme des „(...) getrennten, überschneidungsfreien Prozessierens psychischer und sozialer Systeme (..)“ (Sutter 2006: 66), die es letztlich möglich macht, das Emergenzproblem, das Phänomen der Irreduzibilität des Sozialen, in all seinen „theoretischen Konsequenzen“ (Bora 2003: 127) ernst zu nehmen. Die Systemtheorie geht davon aus, dass sich die (Re)Produktion und Transformation sozialer Systeme nicht als Effekte von (aggregierten) Handlungsentscheidungen erklären lassen, eben weil die jeweiligen Selektionen individueller Akteure selbst und an sich – trotz ihrer Ausrichtung auf die Selektionen anderer Akteure hin – noch keine sozialen Ereignisse sind. Das soziale Ereignis der Kommunikation setzt stattdessen die Verschränkung der Selektionen ver-
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schiedener Prozessoren voraus. Werner Vogd erläutert mit Blick auf den Systemtypus der Interaktion, dass sich eine Interaktion „(…) nur als überindividuelles Phänomen (..) verstehen lässt, „denn das, was geschieht, und wie die Interaktion sich in ihrem Verlauf entfaltet und organisiert, liegt nicht mehr in der Kontrolle eines einzelnen Akteurs. Erst Anschlüsse der Kommunikation entscheiden, was in ihr geschieht, in welcher Form sich das System der Kommunikation also entfaltet. Das, was in der Interaktion passiert, ist also nicht mehr auf die Absichten der beteiligten ‚Bewusstseinssysteme‘ zurückzuführen. So können hier Dinge geschehen, etwa Streit, der von den beteiligten Einzelakteuren zuvor nicht intendiert war, von der Kommunikation heraus gesehen jedoch eine nachvollziehbare Eigenlogik zeigen kann“ (Vogd 2005: 67). Da Handlungen und Intentionen in systemtheoretischer Perspektive immer nur infolge von kommunikativen Zurechnungen endgültig Form annehmen, ist für die Systemtheorie klar, dass nur Systeme, „(...) die sich durch die Verkettung zahlreicher Beobachtungen bilden und dadurch sukzessive zuvor abgedunkelte Entscheidungsmöglichkeiten ans Licht bringen (...)“, eine Rationalität ermöglichen, „(...) die den Anspruch erheben darf, ‚als einzig denkbare Rationalitätsform’ zu gelten“ (Ellrich und Funken 1998: 373). Soziale Systeme sind Identität(en) ausprägende Prozesse der kommunikativ vermittelten Selbstorganisation. Soziale Emergenz ist die Folge des „Sich-wechselseitig-Irritierens“ psychischer und sozialer Systeme und die Folge der Konstitution, Bestätigung oder Transformation von sozialen Erwartungen und Bedeutungen auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen. Kommunikativ-emergente Erwartungen und Semantiken, die immer wieder in der Kommunikation als intakt bzw. als sozial geteilt definiert und markiert werden, sind jene sozialen Tatsachen oder Eigenwerte (vgl. entsprechend Vogd 2005: 70), die weithin sichtbar definieren, was ein System ist, und die es schließlich auch möglich machen, die Identität eines solchen Systems (fremd) zu beobachten und (versuchsweise) zu bestimmen. Die Systemtheorie lässt sich mit Blick auf ihr Kommunikationsmodell und mit Blick auf das Autopoiesis-Konzept als „monistische Theorie“37 sozialer Emergenz bezeichnen. Monistische Sozialtheorien sind „(…) Erklärungsmodelle, die zwar Bewusstseins- und Sozialsysteme unterscheiden, die Erklärung emergenter sozialer Phänomene jedoch ausschließlich auf der Seite der Sozialsysteme suchen. Zu diesen zählt die systemtheoretische Ereignis-Struktur-Theorie, da sie die Erklärung für emergente Phänomene nicht in einem stufen- oder vermittlungsartig gedachten Verhältnis zweier Komponenten sucht, sondern einzig in der Auto-
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Eine monistische Orientierung ist, wie schon weiter oben erörtert, charakteristisch für eine jede Art von Emergenztheorie. Der soziale Monismus kann hier analog zum physikalischen Monismus gedacht werden.
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poiesis des emergenten Systems die Bedingungen der Emergenz identifiziert“ (Bora 2003: 124, Hervorheb. RHP). Die „Daueremergenz“ (Wägenbaur 2000: 123)38 bzw. Autopoiesis sozialer Systeme beschreiben und empirisch orientiert erklären zu wollen setzt voraus, angeben zu können, welche Eigenwerte, Prozeduren oder Mechanismen den Anschluss von Kommunikationsereignissen aneinander konditionieren. Anschlusswert sowie Anschlüsse werden Luhmann zufolge – wie schon weiter oben erörtert – durch soziale Strukturen in der Form von Erwartungen konditioniert. Je nachdem, welche Erwartungen mit einem Kommunikationsereignis verbunden werden/verbunden zu sein scheinen, je nachdem, welche Erwartungen es „anzusprechen“ vermag und selbst „bedient“, kommt es zur Realisierung weiterer und „bestimmter“ Kommunikationsanschlüsse, wird erneut Beliebigkeit eingeschränkt. Sich in der Sach-, Zeit- und Sozialdimension ausprägende Erwartungen sind auf Basis der Beschreibung von Kommunikation als Handlung beobachtbar. Sofern in Erfahrung gebracht werden soll, welche Erwartungen einen Kommunikationsprozess/einen Systemzusammenhang strukturieren, ist zu prüfen, welche Themen, welche Semantiken, welche Formen von Adressierung und Ansprache, welche Rationalitäten in Mitteilungen aktiviert und aktualisiert bzw. im Rahmen von Kommunikationsanschlüssen als sozial relevant definiert und markiert werden. Und diese sichtbare Produktion und Markierung von sozialer Relevanz braucht vor allem eines: Zeit. Die Ausbildung von sozialen Strukturen beginnt zwangsläufig, sobald doppelte Kontingenz kommunikativ bearbeitet wird. Wie schon erwähnt, stellen Erwartungen keine ereignisunabhängigen Phänomene dar. In ihrer Eigenschaft als spezifische Formen sozialen Sinns sind Erwartungsstrukturen dynamische Eigenwerte sozialer Systeme. Soziale Systeme unterscheiden sich hinsichtlich jener Erwartungen, die Kommunikationsanschlüsse im Systemzusammenhang konditionieren. Kommunikationsanschlüsse können nicht erwartungsunabhängig gedacht werden, und so schreiben sich vermittelt über soziale Strukturen Systeme in Kommunikationsereignisse und Kommunikationsereignisse in Systeme ein. Systemeigene Strukturen in der Form von Erwartungen entstehen also einerseits aus dem Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen, konditionieren andererseits aber auch zukünftige Anschlüsse. Wird der Blick der/des systemund kommunikationstheoretisch orientierten Beobachterin/Beobachters auf die sozialen Bedingungen der Realisierung von Kommunikationsanschlüssen gelenkt, so rückt die Frage nach der innersozialen Emergenz in den Mittelpunkt des 38
„Ein autopoietisches System ist aber nicht nur etwa im Moment seiner Entstehung emergent, sondern dauerhaft emergent, da es sich in keinem statischen, sondern in einem dynamischen Zustand befindet. Seine Dauer besteht darin, daß es sich rekursiv und dissipativ fortwährend neu konstituiert“ (Wägenbaur 2000: 123).
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Interesses. Wir hatten weiter oben bereits gesehen, dass alle stärkeren Spielarten von Emergenz von einer monistischen Grundannahme, synchroner Determiniertheit, Unvorhersagbarkeit und Irreduzibilität ausgehen. Die Annahme der Irreduzibilität schließt logisch mit ein, auch von einem partiellen „>abwärts gerichteten< kausalen Einfluß“ der Struktur eines Systems auf das Verhalten seiner Teile ausgehen zu wollen (Stephan 2000: 41). Luhmann „nimmt“ eine solche Vorstellung „auf“, indem er von der (erwartungsbasierten) Konstitution der Kommunikation bzw. von der (erwartungsbasierten) Konstitution kommunikativer Selektionen ausgeht und davon spricht, dass bestimmte kommunikative Elemente nur Elemente für Systeme sein können, die diese auch „als Einheit“ verwenden (Luhmann 1984: 43). Der kommunikativ-anschlussvermittelte „Abgleich“ von „Reaktionserwartung und Erwartungsreaktion“ (ebd.: 601) sorgt somit dafür, dass Kommunikationsereignisse autopoietische Effekte entfalten können. Sofern es zu einem Anschluss kommt, der „Reaktionserwartungskonform“ ausfällt und der mit früheren systemkonstitutiven Formen des Anschlusses korrespondiert, lässt sich davon sprechen, dass sich soziale Systeme auf ähnliche Art und Weise („identisch“) reproduzieren. Kommt es hingegen zu einem nicht reaktionserwartungskonformen Anschluss, so können hieraus Gefahren für den unveränderten Fortbestand eines Systems erwachsen. Inwiefern vierte Selektionen in der Form von Ablehnungen tatsächlich systemtransformierend wirken, hängt allerdings immer auch davon ab, ob sie wiederholt in ähnlicher Form auftreten und wie mit ihnen (meta-)kommunikativ umgegangen wird. Wie dem auch sei, grundsätzlich gilt: Erst im und mit dem erwartungsvermittelten Anschluss werden vorgängige Kommunikationsereignisse als sozial relevante Ereignisse konstituiert, erst mit Anschlüssen zeigt sich, welche Wirkungen sie entfalten können. Luhmann mag dem Begriff der „Konstitution“ Vorzug vor dem Begriff der (innersozialen) „Emergenz“ gegeben haben; dies bedeutet allerdings nicht, dass der Begriff der Emergenz in kommunikations- und systemtheoretischer Sicht obsolet wäre.39 Luhmann unterstellt zunächst lediglich, dass sich soziale Ordnung (emergenztheoretisch) nicht als „Makro-Mikro-Makro-Transition, sondern nur als Prozess des Anschlusses von Kommunikationen an Kommunikationen modellieren lässt. Wie zu Beginn des Kapitels erörtert, verweist der Begriff der „Emergenz“ sowohl auf die qualitative Neuheit von systemischen Eigenschaften wie auch auf jene Vorgänge (Emergenzprozesse), die die Entstehung systemi39
In „Soziale Systeme“ heißt es vollständig zum Verhältnis von Emergenz und Konstitution: „Theoretisch umstritten scheint zu sein, ob die Einheit eines Elements als >>Emergenz von unten<< oder durch >>Konstitution von oben<< zu erklären sei. Wir optieren entschieden für die zuletzt genannte Auffassung. Elemente sind Elemente nur für die Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme. Das ist mit dem Konzept der Autopoiesis formuliert“ (Luhmann 1984: 43).
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scher Eigenschaften tragen. Auch Luhmann argumentiert selbstverständlich typisch emergenztheoretisch, wenn er von der nur durch Kommunikation (d.h. nur „von unten“) möglichen Autopoiesis sozialer Systeme spricht. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass alle „harten“ Spielarten von Emergenz immer das Phänomen der „downward causation“ mit einschließen. Der Begriff der Autopoiesis bezeichnet ständige Selbstorganisation, ständige Ereignishaftigkeit und ständigen abwärtsgerichteten Einfluss. Insofern ist es letztlich wenig sinnvoll, die Begriffe „Emergenz“ und „Konstitution“ in Opposition zueinander bringen und zwingen zu wollen. Im Prinzip gibt es nun zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins bestünde darin, wie von Lutz Ellrich und Christiane Funken vorgeschlagen, auf den Begriff der „Rotation“ zu rekurrieren, um den Zusammenhang bzw. die Einheit der Differenz von „Emergenz“ und „Konstitution“ bezeichnen zu können (vgl. Ellrich und Funken 1998: 356 ff. sowie direkt 358). Möglichkeit zwei bestünde nun hingegen darin, den Begriff der „Emergenz“ an Stelle des Begriffs der „Rotation“ grundsätzlich als Bezeichnung für alle Arten von Prozessen zu verwenden, in denen höherstufige Phänomene und/oder Eigenschaften auf der Basis eines „Sich-wechselseitig-in-ihren-Wirkungen-Durchringens“ von Ereignissen eines bestimmten, vorstrukturierten Typs realisiert werden. Tatsächlich stehen sich der Begriff der „Autopoiesis“ und der Begriff der „Emergenz“ also recht nahe. Während sich der Begriff der „Autopoiesis“ allerdings nur dort trennscharf verwenden lässt, wo die System/Umwelt-Differenz das Beobachtungsfeld konstituiert, kann der Begriff der „Emergenz“ auch außerhalb dieses Kontextes Verwendung finden. Hierin liegt sein Vorteil. Die Systemtheorie lässt sich zunächst zumindest in dreierlei Hinsicht als ein emergenztheoretischer Ansatz verstehen. Sie geht (1) von der „kommunikativen Mikrodeterminiertheit“ („Supervenienz“) aller sozialen Systeme aus, vertritt einen „kommunikativen Monismus“. Die Systemtheorie konzipiert (2) die Beziehung zwischen den unterschiedlichen sozialen Systemtypen (Interaktionssysteme, Organisationssysteme, Funktionssysteme und das System der Weltgesellschaft) als hierarchisch und inklusiv: „Im Gegensatz zur Beziehung von Bewusstsein und Kommunikation, die zueinander in einem gleichberechtigten, aber exklusiven Verhältnis stehen, bilden die drei Systemebenen [Heintz berücksichtigt Funktionssysteme nicht gesondert, RHP] einen inklusiven Zusammenhang (…). Die Systemebenen schließen sich gegenseitig nicht aus, vielmehr können die tiefer liegenden Systeme auch in den jeweils höheren Systemen enthalten sein. Auch in Organisationen wird interagiert, und Organisationen und Interaktionen sind Teil der Gesellschaft, d.h. alles, was auf den beiden tieferen Systemebenen geschieht, findet immer auch in der Gesellschaft statt (…)“ (Heintz 2004: 23). Trotz dieses Verhältnisses der Inklusion ist eine vollständige Reduktion
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allerdings niemals möglich. Weder erschöpfen sich Organisationen in Interaktionen, noch lässt sich die Gesellschaft als ein Aggregat von Funktionssystemen denken. Last but not least (3) versteht die Systemtheorie soziale Systeme als „Gebilde mit realen Wirkungen“, geht also selbstverständlich von einer die unterschiedlichen Systemtypen übergreifenden „downward causation“ bzw. von einem abwärtsgerichteten Einfluss aus (vgl. ebd.: 24). Zwar hat Luhmann die emergenten Eigenschaften sozialer Systeme abstrakt beschrieben und ebenso abstrakt erläutert, was soziale Autopoiesis ist; er hat allerdings wenig Aufwand darauf verwendet, an konkreten Beispielen zu zeigen und zu diskutieren, wie sich soziale Emergenz tatsächlich kommunikativmikroprozessual auf der Basis mehrfach gleichgerichteter und/oder gegensinnig ausgerichteter Kommunikationsanschlüsse vollzieht. Luhmann hat verhältnismäßig wenig zum unmittelbaren Verständnis kommunikativer Wechselwirkungen und zum unmittelbaren Verständnis der Ablauflogik von Kommunikationsprozessen beigetragen. Im Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen emergieren Sinnkontexturen. Sie stellen immer sowohl „Ursachen“, wie auch „Lösungen“, „Ausgangspunkte“ und „Probleme“ kommunikativer Prozesse dar: „Sie erscheinen als selbstreferentieller Eigenwert kommunikativer Prozesse, gleichzeitig als Einsatz wie auch als Gewinn“ (Vogd 2005: 71). Die abstrakte Beschreibung der Autopoiesis sozialer Systeme kommt sicher ohne eine Rekonstruktion und Modellierung der Strukturdynamiken von Kommunikationsprozessen, ohne eine vertiefte Beschreibung der Produktion und Funktion von Sinnkontexturen aus; sollen die Entstehung, die Reproduktion und die Transformation sozialer Ordnung in Zukunft aber auch stärker als bislang auf system- und kommunikationstheoretischer Grundlage empirisch orientiert erklärt werden, so wird man entsprechende Modellierungen versuchen und entsprechende Diskussionen führen müssen. Eben dies ist nicht zuletzt auch Aufgabe einer Theorie kommunikativer Emergenz. Sie muss zeigen können, wie im Prozess, wie im Zuge des Anschlusses von Kommunikationsereignissen an Kommunikationsereignisse unterschiedliche Systemtypen „lokal“ instanziiert werden. In ihrem Rahmen muss dezidiert erörtert werden, wie sich Erwartungen als Selektionsbeschränkungen in Kommunikationsprozessen ausdifferenzieren. Eine empirisch anschlussfähige Systemtheorie muss nicht zuletzt Modelle kommunikativer Strukturdynamiken bereithalten, die es erlauben, den Verlauf und die Effekte von Kommunikationsprozessen allgemein zu erfassen. Sie muss zeigen können, welche Anschlüsse bzw. Anschlussfolgen, -netze und -muster die Autopoiesis von sozialen Systemen strukturieren. Erst damit wird sie zu einer Theorie bzw. zu einer erklärenden Soziologie, die der doppelten Bedeutung des Begriffs der „Emergenz“ auch vollständig gerecht werden kann.
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Bevor in den folgenden Kapiteln Möglichkeiten einer Modellierung kommunikativer Strukturdynamiken diskutiert werden sollen, ist noch einmal genauer zu begründen, warum hier überhaupt von der Notwendigkeit einer dezidierten Auseinandersetzung mit Anschlussformen, Anschluss- bzw. Strukturdynamiken, Semantiken und Sinnkontexturen ausgegangen wird.
2.3.2.8 Kontextur und Semantik Welche Erwartungen eine Rolle in einem Kommunikationsprozess spielen, lässt sich an den Inhalten der Kommunikation, an Zurechnungen und Deutungen „ablesen“. Erwartungen werden in Mitteilungen mehr oder weniger explizit mit Hilfe unterschiedlicher semantischer Formen aktiviert oder können gar eindeutig und unmittelbar prägend – wie im Falle der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien – symbolisiert werden. In emergenztheoretisch-erklärender Absicht erscheint es nun sinnvoll, das Wechselspiel von Erwartungsreaktion und Reaktionserwartung eingehend zu untersuchen und zu beschreiben, um mehr über dessen (kausale) Logik in Erfahrung bringen zu können. An diesem Punkt ergeben sich schließlich Möglichkeiten, Kommunikationsprozesse zu modellieren und zu spezifizieren. Warum aber sollte eine solche Modellierung nun versucht werden? Luhmann zufolge existieren soziale Strukturen und soziale Systeme nur in und mit dem Ereignis. Erwartungsreaktion und Reaktionserwartung sorgen dafür, dass Kommunikation nicht aufhört, und die Autopoiesis von Funktionssystemen auf der Basis von Interaktion und Organisation lässt sich, wie es scheint, weitgehend unter Bezugnahme auf die Funktion von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien erklären. Die entscheidende Frage ist also, warum man sich im Anschluss an die Systemtheorie noch Gedanken über die Strukturdynamik von Kommunikationsprozessen, über die Folgen der Entstehung von typischen, immer wiederkehrenden Anschlussmustern und über die prozessuale Emergenz von Semantiken und Sinnkontexturen machen sollte, wenn es der Systemtheorie anscheinend gelingt, sogar Funktionssysteme mit Hilfe eines bestimmten Typs von Medium komplett auf das „flüchtige“ Kommunikationsereignis herunter zu brechen, ohne den Umweg über einen dezidiert ausgearbeiteten Begriff des Kommunikationsprozesses nehmen zu müssen? Notwendig wäre eine Modellierung von Strukturdynamiken und ihren Effekten tatsächlich nur, wenn sich herausstellen würde, dass es Luhmann nicht abschließend gelungen ist, innersoziale Emergenz erschöpfend zu behandeln, dass es also durchaus noch Leerstellen gibt, die genauer beleuchtet werden müssen. Tatsächlich besteht ein nicht unerheblicher Verdacht, dass Luhmann in bestimmter Hinsicht gehaltvoller und präziser hätte modellieren können, was Au-
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topoiesis ist und worauf sie letztlich „aufruht“. Er betrifft das Verhältnis von Kommunikation und Handlung oder Systemreproduktion und Selbstbeschreibung, von Sozialstruktur und Semantik. Luhmann definiert sowohl mit Blick auf den Zusammenhang von Kommunikation und Handlung (Kommunikationstheorie) wie auch mit Blick auf den Zusammenhang von gesellschaftlicher Differenzierung und gesellschaftlicher Selbstbeschreibung (Differenzierungstheorie) Semantiken in erster Linie als nachträglich-deskriptive, nonkonstitutive Elemente der Sozialstruktur (vgl. Luhmann 1984: 225 ff. sowie Luhmann 1998a: 35 ff.).40 Neuere soziologische Forschungen haben gezeigt, dass die These einer nonkonstitutiven Nachträglichkeit gerade im Hinblick auf das systemtheoretische Kommunikationsmodell nur schlecht haltbar ist, und es ist vor allem das Verdienst Urs Stähelis, auf die konstitutive Funktion von Beschreibungen und Semantiken aufmerksam gemacht zu haben (vgl. im Besonderen Stäheli 1998). Gerade die Berücksichtigung einer sozialkonstitutiven Funktion von Semantiken bietet zusätzliche Möglichkeiten, von der „Seite des Sozialen“ aus erfassen und beschreiben zu können, wie sich soziale Emergenz vollzieht, und worauf strukturelle Kopplung beruht. Sehen wir uns im Folgenden das Verhältnis von Kommunikation und Handlung bzw. Sozialstruktur und Semantik also genauer an. Während Erwartungen gemäß Luhmann die Verknüpfung von Kommunikationsereignissen in geordnete Bahnen lenken (strukturierte Prozessualität = Autopoiesis operativ geschlossener Systeme), dienen Semantiken hingegen ausschließlich dazu, Erscheinungsformen der Autopoiesis nachträglich beschreiben zu können. Urs Stäheli hat davon gesprochen, dass Semantiken für die Systemtheorie nur mit Blick auf ihren „Ausdruckswert“ hin interessant seien (ebd.: 320). Sie würden in systemtheoretischer Lesart damit nur einem einzigen Zweck dienen: der nachträglichen Visibilisierung von Sozialstrukturen. Ebenso wie der Aufbau und die Stabilisierung von Erwartungen bedeuten solche Visibilisierungen die Reduktion von Komplexität (vgl. hierzu auch Luhmann 1998a: 21 ff.). Luhmann geht insbesondere davon aus, dass sich jene Semantiken, die es möglich machen, ein jeweils dominierendes Prinzip gesellschaftlicher Differenzierung adäquat zu beschreiben, immer nur langsam im Anschluss an den Wandel der Differenzierungsformen selbst, d.h. im Anschluss an den Wandel der Operationsweise des 40
Luhmann differenziert zwischen „alltäglicher“ und „gepflegter“ Semantik. Im Falle der gepflegten Semantik handelt es sich im Prinzip um kollektive Wissensbestände, die mit jeweils aktuellen Formen sozialer Differenzierung korrespondieren, allerdings auch durch die alltägliche Semantik (mit) gestützt werden. Alltagssemantiken wiederum ermöglichen es den am Zustandekommen von Kommunikation beteiligten Akteuren, Sinn gezielt zu aktualisieren und sie sorgen somit dafür, dass es nicht fortlaufend zu einer „Überraschungsgenese von Sinn“ (Luhmann 1998a: 18) kommt.
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Gesellschaftssystems herausbilden. Neue Semantiken tragen also selbst nicht zum von ihnen auf den Begriff gebrachten Wandel bei (vgl. u.a. ebd.: 39). Was im Großen gilt, muss nun in gewisser Weise auch im Kleinen gelten. Die Zurechnung und Beschreibung von Kommunikation als Handlung dient der „Sichtbarmachung“ von Anschlusseffekten und –möglichkeiten, dient der Sichtbarmachung von sozialen Strukturen. Das „Ausflaggen“ von Kommunikation als Handlung bietet „Orientierungshilfen“ für die am Zustandekommen von Kommunikation beteiligten Bewusstseinssysteme und „asymmetriert“ das ursprünglich symmetrische Verhältnis der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen, indem zwischen Handeln und Erleben differenziert wird (vgl. hierzu Luhmann 1984: 225 ff.).41 Diese Differenzierung bedeutet, dass Alter und Ego auch damit beginnen, sich über die Gründe für und die Folgen von Selektionen zu vergewissern und so eine Vorstellung davon gewinnen, wie neue Anschlüsse individuell sinnvoll gelagert werden können. Gerade an diesem Punkt fällt bereits schwer einzusehen, warum Semantiken – verstanden als genuin sozial emergente Phänomene – nicht grundsätzlich eine sozialkonstitutive Funktion zukommen sollte. Denn nur auf der Basis von gut eingeführten Semantiken ist es sozialen Akteuren möglich, Be- und Zuschreibungen vorzunehmen. Solche Semantiken werden im Rahmen von Kommunikationsanschlüssen neuerlich aktiviert, und in bestimmten Ko- und Kontexten auftauchende Semantiken „verraten“ der externen Beobachterin/dem externen Beobachter durchaus, in welche Richtung sich die Kommunikation „bewegt“, d.h. welche Dynamik sie zu entfalten vermag. Zwar mag man an dieser Stelle für Luhmann einwenden, dass er die konstitutive Funktion von Semantiken im Wesentlichen gesehen hat, hat er den Handlungsbegriff doch nicht komplett verworfen. Dass Luhmann nicht weiter im Detail auf soziale Deutungen, Deutungsmuster, Wirklichkeitsmodelle etc. eingegangen ist, müsste – so ließe sich dann argumentieren – letztlich darin begründet liegen, dass der Begriff des „Sinns“ universeller ist und ausreicht, um die Autopoiesis bzw. das Zusammenspiel von psychischen und sozialen Systemen zu modellieren. Semantiken gehören in die Welt der Sprache und sorgen für die strukturelle Kopplung von psychischen und sozialen Systemen. Aber warum 41
In der semantischen Form von Handlungen beschreiben sich soziale Systeme selbst, und Handlungen dienen Bewusstseinssystemen zu Zwecken der (gleichgerichteten) Orientierung. So schreibt Luhmann u.a. mit Blick auf die Sozialdimension des „Ausflaggens“ von Kommunikation als Handlung: „Wenn eine Kommunikation als Mitteilungshandlung erscheint, ist sie im Moment für alle Beteiligten dieselbe und zwar gleichzeitig dieselbe. Dadurch wird die soziale Situation synchronisiert. Auch der Handelnde selbst ist in diese Synchronisation einbezogen; er kann zum Beispiel nicht mehr bestreiten, daß er gesagt hat, was er gesagt hat. Alle haben es im Moment mit dem gleichen Objekt zu tun, und daraus ergibt sich eine Multiplikation der Anschlußmöglichkeiten für den nächsten Moment“ (Luhmann 1984: 231, Hervorheb. im Original).
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wurden hier Möglichkeiten verschenkt, strukturelle Kopplung dezidierter denken und beschreiben zu können? Kommen wir zur „gepflegten“ Semantik (vgl. Luhmann 1998a: 19), die das dominierende Grundprinzip sozialer Differenzierung auf den Begriff bringen soll. Verhält es sich mit ihr denn nicht grundsätzlich anders? Mitnichten: Alle Formen von Semantik stehen letztlich immer in mehr oder weniger engen Beziehungen zueinander. Alltagssemantiken tragen Prozesse der Differenzierung und werden später möglicherweise zu semantischen Komplexen integriert, die es erlauben, die Funktionsweise bestimmter Systemtypen nachträglich immer wieder auf identische Art und Weise zu beschreiben. Aber auch vermeintlich gepflegte Semantiken spielen natürlich in alltäglichen Kommunikationsprozessen, in der massenmedialen, der politischen oder auch der wissenschaftlichen Kommunikation eine Rolle. Sie werden genutzt, aktualisiert, gewendet, ergänzt, verlagert etc. und werden so möglicherweise auch zu einem Faktor, der sozialen Wandel mit bedingt und trägt. Die Frage ist nun, ob die Systemtheorie aufgrund der Annahme einer ausschließlich beschreibenden Funktion von Semantik nicht vielleicht voreilig Möglichkeiten verschenkt, die Formel der Autopoiesis mit zusätzlichem Gehalt auffüllen, und ebenso die Beteiligung von psychischen Systemen an Kommunikation noch einmal auf eine neue Art und Weise denken zu können. Möglichkeiten, die dem Umstand der ontologischen wie epistemologischen Irreduzibilität des Sozialen weiterhin gerecht werden, darüber hinaus allerdings neue Versatzstücke für den Ausbau einer Theorie der strukturellen Kopplung versprechen. Was also wäre, wenn die Systemtheorie auf die konstitutive Funktion von Semantiken fokussieren würde; was wäre, wenn die Systemtheorie eine „(...) konstitutive Rolle von Beschreibungen für das durch sie Beschriebene (...)“ (Stäheli 1998: 315) annehmen würde? Anlass zu dieser Frage gibt für Stäheli die auch bei Luhmann durchaus ambivalent ausfallende Einschätzung des Potentials symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien (verstanden als soziale „Superstrukturen“), die endgültige Schließung von Funktionssystemen gegenüber ihrer Umwelt tatsächlich alleine bewerkstelligen und gewährleisten zu können. So hat sich Luhmann z.B. im Hinblick auf das politische System Gedanken über eine mögliche sozialkonstitutive Funktion von Semantiken gemacht (vgl. Luhmann 1984: 626). In „Soziale Systeme“ (1984) deutet er an, dass die Geschlossenheit des politischen Systems längst nicht ohne Weiteres durch das Kommunikationsmedium der Macht gesichert wird. Hinzu kommen müsse immer auch die „Orientierung am Staat“: „Er [der Staat, RHP] ist ein semantisches Artefakt, mit dem es möglich ist, die Selbstreferenz des politischen Systems zu konzentrieren, sie von der Beurteilung konkreter Machtlagen unabhängig zu machen und sie, ähnlich wie im Falle von
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Geld, zur mitlaufenden Sinnverweisung aller Operationen zu machen, die Anspruch darauf erheben, als Elemente des politischen Systems zu fungieren. (...) In jedem Falle ermöglicht die Orientierung am Staat jene Geschlossenheit der Selbstreferenz, die im Wirtschaftssystem schon durch das Medium Geld gesichert ist, und koppelt sie zugleich an Entscheidungsanliegen, Interessen und Strukturveränderungen in der Umwelt des politischen Systems“ (ebd.: 627, Hervorheb. RHP). Die Staatssemantik „bewegt“ also etwas, „leistet“ etwas, ist systemkonstitutiv. Vor dem Hintergrund dieser Sachlage hat Urs Stäheli vehement dafür votiert, im Rahmen einer an Luhmann anschließenden systemtheoretischen und poststrukturalen Theoriearbeit grundsätzlich von einer sozialkonstitutiven Funktion von Semantiken ausgehen zu wollen. Stäheli weist darauf hin, dass sich ein solches Vorgehen gerade auch in Anbetracht der Anlage des Luhmannschen Kommunikationsmodells mehr als anbieten würde (vgl. Stäheli 1998: 329 ff.). Luhmann selbst macht auf das konstitutive Potential der Nachträglichkeit aufmerksam, indem er der Selektion des Verstehens besondere Bedeutung beimisst, und mit Luhmann lässt sich von einem „Nachtragsmanagement“ der Kommunikation sprechen (vgl. noch einmal Bormann 2005: 55). Die Einheit des Kommunikationsereignisses wird erst durch die rückwärtsgerichtete Selektion des Verstehens realisiert, und dieses Verstehen ist wiederum Anlass für neue Synthesen von Information und Mitteilung, die soziale Referenz markieren. Der entscheidende Punkt ist Stäheli zufolge nun der, dass die Anschlussfähigkeit eines Kommunikationsereignisses immer auch Effekt der Zurechnung von Kommunikation als Handlung, immer auch Effekt der Beschreibung des kommunikativen Geschehens ist (vgl. Stäheli 1998: 329 ff.). Im Rahmen von Zuschreibungen geht es längst nicht nur darum zu markieren, wer handelt und erlebt, sondern es geht vor allem auch darum, Handeln und Erleben mit weiterem Sinn anzureichern und somit darum, das „Wie“ des Handelns und Erlebens zu qualifizieren. Und wir können hier ergänzen, dass auch solche Zurechnungen, solche Handlungs- und Situationsbeschreibungen natürlich im Kommunikationsprozess mit weiteren Anschlüssen „zum Ausdruck“ gebracht werden und somit den Anschlusswert eines vorgängigen Kommunikationsereignisses bzw. einer Mitteilung für Dritte sichtbar (mit) definieren helfen. Mit Kommunikationsanschlüssen wird mehr oder weniger deutlich, welche Intentionen anderen Kommunikatoren unterstellt wurden, und mit dem Kommunikationsanschluss zeigt sich, welche Semantiken die Interpretation von Mitteilungen angeleitet haben und somit auch für weitere Anschlüsse von Nutzen sein können. Die Anschlussfähigkeit eines Ereignisses, einer Operation ergibt sich also nicht nur prokursiv aus der Aufladung einer Mitteilung mit bestimmten „Reaktionserwartungen“. Ebenso definieren Kommunikationsanschlüsse den An-
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schlusswert dessen, worauf sie sich beziehen, immer wieder mit und immer wieder neu. Erfüllung oder Enttäuschung informieren über die Wertigkeit von Sinnzumutungen. Auch wenn sich letztlich nie richtig nachvollziehen und korrekt erklären lässt, wie die Selektionsentscheidungen psychischer Systeme auf der Grundlage des Anschließens von Gedanken an andere Gedanken zustande kommen, muss in empirisch orientierter, system- und emergenztheoretischer Perspektive immer angegeben werden können, durch was diese Autopoiesis mit ausgelöst wird bzw. wodurch psychische Systeme „irritiert“ werden (können): durch jeweils Verwendung findende Semantiken, durch zwischen Mitteilungen bestehende Sinnverhältnisse. Indem Zurechnungspunkte geschaffen und schließlich kommunikativ markiert werden, gewinnt das Kommunikationsereignis erst seine endgültige Form, und erst diese Form lässt erkennen, dass das Kommunikationsereignis selbst ein emergentes Phänomen ist. Ereignisse, so Stäheli, würden ihre Operativität immer erst durch ihre „Plazierung innerhalb einer geeigneten Semantik“ voll entfalten (ebd.: 331). Welche Semantiken in einem Kommunikationsprozess letztlich weiterführend relevant werden, lässt sich immer erst an nachfolgenden Kommunikationsanschlüssen ablesen, die wiederum vorbereitet sind durch das rekursiv die Einheit der Kommunikation begründende, an bereits bekannten sozialen Semantiken orientierte Verstehen. Kommunikativ konstruierte Semantiken stellen die Grundlage für kollektive Wissensbestände, Deutungsschemata und Interpretationsrahmen dar, die zum einen zum Ausdruck bringen, wie sich die Autopoiesis sozialer Systeme inhaltlich gestaltet und es zum anderen den an der Kommunikation beteiligten psychischen Systemen möglich machen, die Anschlussfähigkeit oder den Anschlusswert von Selektionen einzuschätzen. Eben hierauf beruht nicht zuletzt auch das Vermögen der Kommunikation, Beliebigkeit einschränken und Möglichkeiten eröffnen zu können. Auch Semantiken sind soziale Strukturen. Semantiken strukturieren Sinn. So heißt es bei Luhmann selbst mit Blick auf kommunikative Selektionen: „Um diese Selektionen im Rahmen des sozial Erwartbaren und Anschlussfähigen zu halten, wird Sinn typisiert, nämlich je nach Bedarf zeitlich, sachlich und sozial generalisiert. Ohne jeden Bezug auf Typen wäre Sinn, wo er auftaucht, zunächst unterbestimmt, unverständlich, inkommunikabel (...)“. Und Selektionen richten sich nun einmal, „(...) zunächst jedenfalls, weitgehend nach dem vorhandenen Typenschatz und nach dem, was durch Bezug auf bekannte und vertraute Muster stabilisierbar ist. Die Gesamtheit der für diese Funktion benutzbaren Formen einer Gesellschaft (im Unterschied zur Gesamtheit der Sinn aktualisierenden Ereignisse des Erlebens und Handelns) wollen wir die Semantik einer Gesellschaft nennen, ihren semantischen Apparat ihren Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln“ (Luhmann 1998a: 18 f., Hervorheb. im Original, sic!).
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Um ergründen zu können, welche Semantiken den Anschlusswert von Kommunikationen und somit auch die Autopoiesis sozialer Systeme (mit) beeinflussen, sind vor allem Mitteilungen bzw. Kommunikationsanschlüsse einer detaillierten Betrachtung zu unterziehen. Im Zuge von Kommunikationsanschlüssen werden Begriffe und Bedeutungen in die Kommunikation eingeführt; in der Folge von Kommunikationsanschlüssen kommt es zu einer Veränderung von Bedeutungen; auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen verbinden sich Semantiken zu neuen Beständen sozialen Sinns, die übergreifende soziale Relevanz beanspruchen können, sofern die entsprechenden Bedeutungen in der Kommunikation als gemeinsam geteilte markiert werden. Was also analysiert werden muss, sind die dynamische Vernetzung von Kommunikationen und ihre unmittelbaren Resultate, denn: „Welche Zufälle immer Ereignisse auslösen, die in der Gesellschaft als Handlungen erlebt und behandelt werden; welche organischen und psychischen System/Umwelt-Prozesse auch immer dabei aktiviert werden: im sozialen System der Gesellschaft entsteht durch Behandlung als Handlung, das heißt durch selektive Beziehung von Handlung auf Handlung, emergenter Sinn, der keiner Einzelhandlung ganz zugerechnet werden kann, umgekehrt aber Zurechenbarkeit des Handelns voraussetzt. Dabei ist Emergenz nur als Zeitverhältnis möglich, als besondere Form der Vergegenwärtigung von Zukunft und Vergangenheit, als differenzielle Nutzung der Inaktualität dieser Zeithorizonte für gegenwärtige Zwecke. Das wiederum kann nicht spontan in jedem Moment wieder von neuem begonnen werden. Deshalb entwickeln sich (...) semantische Strukturen, die bestimmte Selektionslinien wahrscheinlicher machen als andere, Sensibilitäten in bestimmten Richtungen verfeinern und in anderen abstumpfen“ (ebd.: 23 f., Hervorheb. RHP). Forschungsleitende Fragen können vor diesem Hintergrund lauten: Welche Semantiken und Sinnverhältnisse zwischen Mitteilungen spielen in bestimmten Kommunikationszusammenhängen immer wieder eine Rolle und weisen so Kommunikationen als zu einem ganz bestimmten System zugehörig aus? Welche Arten und Weisen der Zurechnung von Kommunikationen auf soziale Adressen und im Weiteren auf Personen (vgl. zur Differenz von „Adresse“ und „Person“ Fuchs 2003: 18 ff. sowie 30 ff.) sind für welche Kommunikationsprozesse und –systeme charakteristisch? Welche Deutungsmuster und Interpretationsschemata werden in der Kommunikation sichtbar gemacht und leiten Kommunikationsanschlüsse dementsprechend mit einer hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft an, d.h. beeinflussen die soziale Relevanz, den sozialen Anschlusswert von Mitteilungen? Wie werden Ketten von Kommunikationsanschlüssen oder Kommunikationsnetze über solche Semantiken integriert und wie strukturieren diese – zusammen mit symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien – die Autopoiesis von Interaktions-, Organisations- und Funktions-
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systemen? Wie entfalten Kommunikationsereignisse nachträglich ihre Operativität, indem sie innerhalb einer bestimmten Semantik platziert werden? Es ist die rekursive Konstitution, Verschiebung und Veränderung von Bedeutungen, die in kommunikations- und emergenztheoretischer Perspektive interessieren muss und die es erlaubt, die Frage nach dem Anschlusswert von Kommunikationsereignissen neu und anders zu stellen. Luhmann hat den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien im Rahmen seiner Erklärung der „Daueremergenz“ von sozialen Systemen eine besondere Rolle zukommen lassen. Übersehen werden darf allerdings nicht, dass soziale Systeme nicht ausschließlich durch die Logik von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, sondern auch durch eine Vielzahl anderer Selektionsbeschränkungen integriert werden. Im Rahmen von Kommunikationsanschlüssen werden verschiedene Selektionsbeschränkungen aktiviert, die die Realität der Kommunikation prägen und die die Autopoiesis der unterschiedlichen Systemtypen stützen und orientieren. Nicht jede Kommunikation im politischen System ist zugleich auch eine Machtkommunikation, nicht jede Kommunikation in der Wissenschaft dient immer auch der Wahrheitsfindung, nicht jede Kommunikation in einer Organisation ist auch eine Entscheidung. Die Autopoiesis sozialer Systeme vollzieht sich vielmehr auf einer breiten Basis unterschiedlichster Interaktionen und medienübergreifender Kommunikationsprozesse, in deren Rahmen Beliebigkeit eingeschränkt und neue Infrastrukturen für zukünftige Autopoiesis geschaffen werden. Nur weil eine Kommunikation nicht unmittelbar durch ein funktionssystemspezifisches Kommunikationsmedium orientiert wird, muss dieses noch lange nicht heißen, dass sie überhaupt keine Bedeutung für die Autopoiesis des entsprechenden Systems besitzt.
2.4 Zusammenfassung Die alltäglich gemachte Erfahrung, dass Sozialität über einen „Eigensinn“ verfügt, begründet seit Durkheim den Status der Soziologie als eigenständige Disziplin. Auch wenn soziale Phänomene eine eigene Realität „sui generis“ darstellen, ist ihre Existenz die Folge von individuellen Selektionen. Ob und inwiefern sich die Emergenz sozialer Phänomene allerdings angemessen erklären lässt, indem zuvorderst auf die Intentionen und die Handlungsentscheidungen von sozialen Akteuren rekurriert wird, ist umstritten. Während der Strukturindividualismus für eine solche Reduktion plädiert, stellt die soziologische Systemtheorie ihren Sinn in Frage. Sie versucht stattdessen vor dem Hintergrund der Annahme eines strikt getrennten und überschneidungsfreien Operierens von psychischen und sozialen Systemen zu zeigen, dass die Bedeutung individueller Selektionen
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in und mit der Kommunikation fortlaufend verschoben und verlagert wird, sodass nie von vornherein klar sein kann, wozu eine Selektion sozial überhaupt taugt. Individuelle Selektionen entfalten nur in und mit der Kommunikation Wirkung, diese wird aber grundsätzlich durch die Selektionen anderer Akteure mit beeinflusst bzw. mit bestimmt. Ausgehend von der Situation doppelter Kontingenz versteht die Systemtheorie Kommunikationsereignisse ganz unmittelbar als die „Letztelemente“ des Sozialen, und so muss die soziologische Analyse aufgrund der ontologischen wie epistemologischen Irreduzibilität des Sozialen die Effekte von Kommunikationsanschlüssen in dem Blick nehmen. Der Strukturindividualismus Essers ruht auf der Annahme auf, dass soziale Phänomene zwar eine eigene Ebene von Realität darstellen, dennoch aber reduktionistisch erklärt werden können. Die emergenztheoretisch typischen Annahmen eines physischen Monismus, einer synchroner Determiniertheit sowie der Entstehung von systemischen Eigenschaften sind – in einer dem Gegenstand des Sozialen angepassten Form – zunächst auch für den Strukturindividualismus kennzeichnend. Ausgangspunkte der Analyse bilden die Annahme eines individuellen Monismus, die Interpretation von Handlungsentscheidungen als „Motor“ sozialer Emergenz sowie die Überlegung, dass soziale Phänomene aus dem Zusammenwirken von Handlungen heraus entstehen und sich im Zuge einer „Zusammenschau“ oder „Aggregation“ von Handlungseffekten erklären lassen. Soziales und Psychisches werden in ein vertikal-inklusives Verhältnis zueinander gesetzt. Basis einer jeden Handlung bildet zunächst die individuelle Definition sozialer Situationen, im Anschluss hieran erfolgt die Auswahl eines Verhaltens zu Zwecken der Maximierung des individuellen Nutzens. Sie ist Esser zufolge das, was Individuen ausschließlich interessiert, sodass soziale Emergenz immer ein Effekt des Versuchs der Nutzenmaximierung ist. Esser schließt eine „multiple Realisierung“ von Handlungen und eine „wildwuchernde Disjunktion“ im Rahmen seines strukturindividualistischen Ansatzes aus. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass selbstverständlich auch im methodologischen Individualismus unterschiedliche Gesetze und Modelle zum Einsatz kommen, um Handlungswahlen erklären zu können, Essers Standpunkt also nur einer unter vielen ist. Keiner dieser Ansätze entbehrt an soziologischer Relevanz und ihre Vielfalt muss letztlich als ein gemeinschaftlicher Versuch gelesen werden, dem Problem der multiplen Realisierung von Handlungen Herr werden zu wollen. Vor dem Hintergrund dieses Problems stellt sich allerdings die Frage, ob es in genuin soziologischer Perspektive nicht sinnvoller wäre, alle Kraft darauf zu verwenden zu erklären, welche strukturellen Wirkungen das Zusammenspiel von Handlungen hat, ganz gleich, worauf die Entscheidung zum Handeln im Einzelfall nun beruht oder auch nicht.
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Die Irreduzibilität sozialer Phänomene und Eigenschaften besitzt im Modell der soziologischen Erklärung ihre größte Bedeutung im Zusammenhang mit der Mikro-Makro-Transition. Auch im Strukturindividualismus wird davon ausgegangen, dass die Effekte des Zusammenwirkens von Handlungen davon abhängen, wie dieses Zusammenwirken gesellschaftlich vorstrukturiert ist bzw. strukturiert wird. Sofern in strukturindividualistischer Perspektive versucht wird, die Prägekraft der vorgängigen Strukturiertheit des Sozialen mit Hilfe von Modellen der Ablauflogik sozialer Prozesse zu erfassen, wird anerkannt, dass das Soziale eine ontologisch wie epistemologisch eigenständige Dimension ist, und dass soziale Emergenz gleichzeitig ein Effekt synchroner Determiniertheit wie abwärtsgerichteten Einflusses ist. Aus der Sicht des Strukturindividualismus erklären diese Ablauflogiken selbst allerdings nichts, sondern stellen lediglich Rahmenbedingungen dar. Kausale Wirkung kommt immer nur den auf der Basis von individuellen Situationsdefinitionen vorbereiteten Handlungsentscheidungen der Akteure zu. Kommen im Rahmen des MSE anstelle von Prozessmodellen ausschließlich analytische Sätze zur Erklärung der Mikro-Makro-Transition zum Einsatz, so würden soziale Makrophänomene Gerd Albert zufolge wieder auf Mikrophänomene reduziert werden. Im Falle einer solchen „identitätsmäßigen Gleichsetzung“ von Mikro- und Makroebene ließe sich nur noch die Existenz einer „(…) Verursachung über die Interaktion der Akteure miteinander, also eine same-level-causation auf der Mikro-Ebene“ (Albert 2005: 395) konstatieren und analysieren. Soziale Gebilde, Einheiten oder Systeme wären in einem solchen Fall in erster Linie wieder von jenen Vorstellungen her zu verstehen, die sich Individuen von ihnen machen, und Sozialität wäre letztlich nichts anderes als ein Gesamt von individuell unterschiedlich interpretierten Beziehungen. Kollektivgebilde wären damit also bloß – wie Weber es formuliert hat – Vorstellungen von „etwas teils Seiendem, teils Geltensollendem“ (vgl. zur Haltung Webers sowie zur hier referierten Kritik wiederum Heintz 2004: 16 und 19). Anders hingegen arbeitet die soziologische Systemtheorie. Sie geht ganz unmittelbar von der epistemologischen und (polykontextural-perspektivisch bedingten) ontologischen Irreduzibilität des Sozialen aus und macht sich daran, systemische Eigenschaften zu beschreiben. Aufgrund ihrer kommunikationstheoretischoperativen Basis ist die Systemtheorie jedoch weniger als ein holistischer oder kollektivistischer Ansatz (Makrokausalität wird für den Bereich des Sozialen ausgeschlossen), sondern vielmehr als ein emergenztheoretischer Ansatz zu verstehen. An die Stelle des „individuellen Monismus“ tritt hier der „kommunikative Monismus“, der die Abhängigkeit der Autopoiesis höherstufiger sozialer
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Emergenz – Zu Phänomen und Begriff
Phänomene (Interaktionen, Interaktionszusammenhänge42, Organisationen, Funktionssysteme und Gesellschaftssystem) vom Kommunikationsanschluss reflektiert. Während es Luhmann hervorragend gelungen ist, die typischen Eigenschaften sozialer Systeme zu beschreiben, ist er eine empirisch gehaltvolle Aufarbeitung des Autopoiesis-Theorems schuldig geblieben. So durchdacht das Theoriegebäude der Systemtheorie auch wirkt: Versäumt wurde es, die systemtheoretischen Konzepte weiterführend zu plausibilisieren und am konkreten Fall zu diskutieren, wie sich unterschiedliche systemische Kontexturen auf der Basis einer Einführung und Stabilisierung von bestimmten Semantiken bzw. Selbstbeschreibungen herausbilden und reproduzieren. Die Systemtheorie beschreibt auf abstrakter Ebene emergente Eigenschaften, erklärt aber nicht ausführlich, wie sich Prozesse sozialer Emergenz Schritt für Schritt vollziehen, obwohl sie hierfür das Rüstzeug bietet. An diesem Punkt sind vor allem von Luhmann selbst und von vielen seiner Schülerinnen und Schüler Chancen vertan worden, die Systemtheorie unmittelbar zu einer für empirische Forschungen nützlichen Perspektive und Theorie werden zu lassen. Ein Defizit, das erst in der jüngeren Vergangenheit langsam aber stetig wieder wettgemacht wurde und unter dem anhaltenden Druck der schärfsten Kritiker der Theorie auch weiterhin wettgemacht wird (vgl. Vogd 2005 sowie aktuell Lee und Brosziewski 2007, Kühl 2007, Vogd 2007 und Mayr 2007). Werden die ontologische und epistemologische Irreduzibilität des Sozialen ernst genommen, d.h. wird mit Durkheim akzeptiert, dass die Soziologie Soziales nur durch Soziales erklären kann, so ist der analytische Blick folglich exklusiv auf die sich mit und zwischen den Selektionen individueller Akteure einstellenden sozialen „Wechselwirkungen“ zu richten. Kriterien starker Emergenz legen der Soziologie eine methodologisch-situationalistische Perspektive nahe, und die soziologische Systemtheorie vermag es im Besonderen, einer solchen 42
Interaktionszusammenhänge gehen aus den wiederholten Interaktionen einer begrenzten Anzahl von bestimmten Akteuren hervor. Freundschaften und Bekanntschaften können u.a. als Interaktionszusammenhänge bzw. semantische Kontexturen verstanden werden, die Probleme der Einheitsbildung und Identitätsfindung lösen. Interaktionszusammenhänge „(..) überleben als Struktur viele Interaktionsepisoden und strukturieren diese. In diesem Sinne mag man Freundschaften, Bekanntschaften und die aus ihnen aufgebauten Netzwerke als >>Interaktionszusammenhang<< begreifen (…)“ (Fuhse 2003: 5). Fuhse erörtert weiter: „Diese Strukturen müssen in einzelnen Episoden (in Interaktion) immer wieder reproduziert werden. Dadurch kommt es zur Evolution von Strukturen der sozialen Beziehung. Themen und Handlungsmuster werden eingeführt, getestet und verworfen oder ins Repertoire einer Freundschaft oder Bekanntschaft aufgenommen. Ego weiß vorher nicht, ob er mit Alter über X reden kann, ob er besser die Hand zur Begrüßung gibt oder ob eine Umarmung herzlich erwidert wird (…). Alles dies wird im Kommunikationsprozess variiert, seligiert und re-stabilisiert. Und diese Strukturformen können und müssen dann in neuen Episoden wieder aufgenommen und reproduziert werden – sonst werden sie vergessen. So reproduziert sich eine soziale Beziehung als System immer wieder von neuem – sie ist autopoietisch“ (ebd.: 5 f.).
Zusammenfassung
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Perspektive mit ihrem Kommunikationsmodell zu entsprechen. Kommunikation ist jenes soziale Ereignis, welches als „Letztelement“ soziale Emergenz trägt. Kommunikationsprozesse führen zur Entstehung höherstufiger sozialer Phänomene mit neuen, irreduziblen Eigenschaften, und diese Phänomene existieren nur solange, wie sich auch jene Prozesse wiederholen, die ursprünglich zu ihrer Entstehung geführt haben. Auf die besondere Bedeutung der Kommunikation für die emergenztheoretisch orientierte Soziologie hat zuletzt R. Keith Sawyer hingewiesen: „A theory of social emergence requires an explicit theorization of symbolic communication and dynamic processes“ (Sawyer 2005: 187). Die symbolisch vermittelte Emergenz sozialer Strukturen vollzieht sich Sawyer zufolge auf unterschiedlichen Stufen (vgl. zu den folgenden Ausführungen ebd.: 220). Alltägliche Interaktionen befördern zunächst die Entstehung von Kommunikationsmustern, machen Kooperationen möglich oder dienen der Verhandlung von Sachverhalten. Auf dieser Basis emergieren schließlich Themen, Kontexte, Interaktionsrahmen sowie Rollen- und Statuszuschreibungen. Das Vorliegen solcher „ephemeral emergents“ ist wiederum Bedingung der Möglichkeit einer Genese von sogenannten „stable emergents“ wie z.B. von Gruppenkulturen, geteilten sozialen Praktiken oder geteiltem Wissen. Auf der höchsten Stufe der Generalisierung erfahren „ephemeral“ und „stable emergents“ schließlich eine Verknüpfung oder Verdichtung zu sozialen Strukturen in der Form von Regulierungen, Regeln, Normen, Systemen der Produktion etc. Die weiteren Kapitel der hier vorliegenden Arbeit werden sich ebenso der Frage nach den sozialkonstitutiven Effekten von Kommunikationsanschlüssen widmen. Erörtert werden soll im Besonderen, welchen Anteil strukturelle Merkmale der Kommunikation an der Emergenz sinnhafter Phänomene haben. Zu berücksichtigen ist dabei: x Soziale Emergenz ist ein kommunikativ vermitteltes Phänomen. Die Erklärung der Entstehung, Reproduktion oder Veränderung von höherstufigen sozialen Phänomenen setzt voraus, die Logik von Kommunikationsanschlüssen und ihre Effekte zu untersuchen (Prozesshaftigkeit). x Höherstufige soziale Phänomene wie Werte, Normen, personale und soziale Identitäten, soziale und politische Rationalitäten, Interaktionszusammenhänge, Organisationen, gesellschaftliche Funktionskontexte usw. emergieren auf der Basis der Einführung und Stabilisierung von bestimmten Semantiken und Kontexturen. Dieses gilt es im Besonderen zu berücksichtigen. x Bereits konsolidierte systemische Kontexturen „nehmen“ aktuell emergierende neue Semantiken und Eigen- und Strukturwerte in sich „auf“ oder verbinden sich mit diesen zu alternativen sozialen Sinn- und Wissensbeständen.
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x Etablierte Semantiken werden in der Kommunikation immer wieder auf neue Situationen angewendet und strukturieren diese entsprechend mit. Um die Strukturdynamik(en) von Kommunikationsprozessen angemessen erschließen zu können, ist immer zu untersuchen, mit Hilfe welcher Bedeutungen und Deutungsmuster Sinnverhältnisse zwischen Mitteilungen definiert werden. x In der Kommunikation bilden sich immer wieder Anschlussmuster heraus, die fortlaufend wiederholt und somit rekursiv bestätigt werden. Sie erklären mit, wie höherstufige soziale Phänomene auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen emergieren. Solche Anschlussmuster oder Mechanismen lassen sich auch als kommunikative Formen sozialer Ordnung bezeichnen.
3 Theoretische Betrachtungen zum Nachtragsmanagement der Kommunikation
3.1 Vorbemerkungen Soziologische Theoretikerinnen und Theoretiker haben sich seit jeher – mehr oder weniger explizit – mit den Erscheinungsformen und Effekten der Kommunikation beschäftigt. Charles Horton Cooley (1864-1929) gilt mithin als der erste Soziologe, der den anspruchsvollen Versuch unternahm, die Soziologie ganz unmittelbar als eine Wissenschaft (von) der menschlichen Kommunikation zu begründen (vgl. Schützeichel 2004: 87). Im Rahmen des Nachdenkens über die Bedeutung von Kommunikation für die Entstehung sozialer Ordnung hat vor allem immer wieder das Verhältnis von Kommunikation und Handeln Kopfzerbrechen bereitet. Bis heute gibt es keine Lesart, die in der soziologischen Community übergreifend Geltung beanspruchen könnte. Einerseits wird Handeln als Basiskomponente des Sozialen definiert und der Begriff des „Handelns“ dem der „Kommunikation“ als Grundbegriff vorgezogen (vgl. historisch Weber 1922/1972, in anderer Perspektive Parsons 1949/1963 und gegenwärtig Esser 1996), andererseits wird ebenso davon ausgegangen, dass Kommunikationen die Letztelemente des Sozialen, und Handlungen lediglich das Resultat kommunikativer Zuschreibungen, d.h. soziale Konstruktionen sind (vgl. Luhmann 1984, Schneider 1994 sowie Bormann 2005 und Vogd 2005). Darüber hinaus werden nicht selten auch integrative Perspektiven eingenommen, die helfen sollen zu verstehen, wie soziale Ordnung mit der kommunikativen Koordination sozialer Handlungen emergiert (vgl. u.a. Habermas 1985a und 1985b). In der Soziologie ist bis heute nicht nur das Verhältnis von Kommunikation und Handlung umstritten. Auch die Definitionen dessen, was unter dem Begriff der Kommunikation verstanden werden soll, sind zahlreich. Dirk Baecker hat die Geschichte des Phänomens und des Begriffs der Kommunikation zuletzt in detaillierter Weise aufgearbeitet (Baecker 2005b). Auch wenn wir uns hier im Besonderen der Auseinandersetzung der Soziologie mit dem Phänomen der Kommunikation widmen wollen, ist noch einmal zu erwähnen, dass Kommunikation selbstverständlich nie ein exklusiver Forschungsgegenstand der Soziologie gewesen ist, und dies auch nie sein wird. Wer sich für Kommunikation, für Phänomen und Begriff, für For-
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men und Folgen interessiert, wird schnell und Vielerorts fündig. Kommunikative Phänomene werden in einer Vielzahl von Disziplinen untersucht, und unterschiedliche Forschungsrichtungen bemühen sich um die theoretische Erfassung kommunikativer Phänomene. Exemplarisch seien hier genannt: die Sprachphilosophie, die Medienwissenschaften, die Sprachwissenschaft bzw. Linguistik, die Semiotik aber auch die Psychologie, Geschichts- sowie Kulturwissenschaften. Eine Aufzählung, die keine Vollständigkeit für sich beanspruchen kann. Auch für diese Arbeit stellt sich die Frage: Wie in Begriff und Theorien der Kommunikation einführen, wo beginnen und die Leserin/den Leser abholen? Welche Konzepte, Ansätze und Modelle sollen im Kontext der vorliegenden Arbeit erinnert werden? Da eine Überblicksdarstellung nicht das Ziel ist, sondern vor allem die Strukturbildungskraft und die Dynamik von Kommunikationsprozessen interessieren, sind im Folgenden ausschließlich Ansätze zu diskutieren, die sich im Anschluss an Luhmann darum bemüht haben, mehr über die konkreten Erscheinungsformen und die sinngenerierenden Effekte von „vierten Selektionen“ in Erfahrung zu bringen. Niklas Luhmann hat sich wie kein Zweiter nach Charles Horton Cooley (1864-1929; vgl. u.a. Cooley 1909) und insbesondere nach George Herbert Mead (1863-1931; vgl. im Besonderen Mead 1934/1995) um eine kommunikationstheoretische Fundierung der Gesellschaftstheorie bemüht und er hat – begriffliche und konzeptionelle Anleihen in den Naturwissenschaften (insbesondere in der Biologie) suchend – der Soziologie mit Nachdruck empfohlen, den Blick auf die Formen und Effekte der Kommunikation zu lenken. Vorzustellen und kritisch zu würdigen sind hier nun Ansätze, die untersuchen und modellieren, wie im Zuge von Kommunikationsanschlüssen sozialer Sinn generiert wird bzw. wie soziale Bedeutungen eingeführt, aktualisiert, bestätigt oder auch transformiert werden. Wie schon in Kapitel (2) erläutert, können soziale Semantiken unmittelbar als Eigen- und Strukturwerte verstanden werden, die systemische Kontexturen bedingen und visibilisieren und somit die Emergenz aller höherstufigen sozialen Phänomene tragen. Für einen Literaturüberblick in diesem Sinne bieten sich vor allem verschiedene neuere Ansätze und Theorien an, die sich dem Phänomen der kommunikativ vermittelten sozialen Emergenz auf der Grundlage ganz eigener Zielsetzungen nähern. Zu nennen sind folgende Autoren: Wolfgang Ludwig Schneider, Heinz Messmer, Dirk Baecker, Helmut Willke und Thomas Malsch. Ihre theoretischen Ansätze sollen in den folgenden Abschnitten im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.43 Während sich Wolfgang Ludwig Schneider (Schneider 1994, 2001 und 2004) und Heinz Messmer (Messmer 2003a und 2003b) ganz grundlegend 43
Da an dieser Stelle nicht erneut eine Geschichte des Phänomens und des Begriffs der Kommunikation geschrieben werden kann, empfehlen sich zur weiteren Lektüre: Faßler (1997), Schützeichel (2004), Bormann (2005) und Baecker (2005b).
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mit den Effekten der Annahme und Ablehnung von Sinnofferten, vor allem in Interaktionen, auseinandersetzen und danach fragen, welche basalen Ordnungsformen Kommunikationsprozesse orientieren und strukturieren (wichtige Stichworte in diesem Zusammenhang lauten „Intersubjektivität“ und „Konflikt“), interessiert sich Baecker vor allem für die „Überraschungsoffenheit“ von Kommunikation und ihre Folgen (Baecker 2005a). Willke und Malsch versuchen schließlich in jeweils unterschiedlicher Perspektive zu ergründen, wie sich die prozesstheoretische Orientierung der Systemtheorie noch verstärken, und wie sich die prozessuale Emergenz von höherstufigen Phänomenen allgemein modellieren lässt (vgl. Willke 2005 sowie Malsch 2005).
3.2 Sozialer Sinn und Intersubjektivität Obwohl die Frage nach der kommunikativen Emergenz sozialer Systeme von Luhmann selbst in den achtziger Jahren erneut in den Mittelpunkt der soziologischen Aufmerksamkeit gerückt worden ist (vgl. Göbel 2000: 179 ff.), finden sich bei ihm keine Modellierungen der Strukturdynamik von länger andauernden und/oder weit verzweigten Kommunikationsprozessen bzw. -episoden. Luhmann hat sich vor allem dem Verhältnis der kommunikativen Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen zueinander gewidmet und sich darüber hinaus im Rahmen seines Gesamtwerkes konsequent mit der Frage beschäftigt, wie soziale Systeme die Grenze zu ihrer Umwelt kommunikativ markieren, und welche (sozialen) Einrichtungen (Medien, strukturelle Kopplungen usw.) ihnen „helfen“, ihre Autopoiesis „auf Kurs“ zu halten. Nur vereinzelt finden sich bei Luhmann Hinweise darauf, wie die Konstitution sozialer Systeme in emergenztheoretischer Perspektive, d.h. im Sinne eines „bottom up“-approaches prozessual zu denken wäre, der sich vor allem für die ordnungsstiftende Funktion von basalen und komplexeren, sich wiederholenden Anschlussmustern sowie für die ordnungsstiftende Funktion von typischen Semantiken interessiert. Wir hatten weiter oben bereits darauf hingewiesen, dass Heinz Messmer in einem ähnlichen Sinne davon gesprochen hat, dass Luhmann die Frage nach der Emergenz sozialer Systeme zwar in anwendungs- und sachbezogener Weise hypostasieren, sich nicht aber um eine angemessen empirisch fundierte Antwort hierauf bemühen würde (vgl. noch einmal Messmer 2003b: 99). Messmer zeigt im Rahmen seiner eigenen Studien zur kommunikativen Emergenz sozialer Konflikte schließlich, wie bedeutend die Analyse von basalen Anschlussmustern und Anschlusslogiken ist, um erfassen zu können, welchen Strukturbedingungen ihres Aufbaus soziale Phänomene unterliegen (vgl. Messmer 2003a und 2003b).
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In ähnlicher Perspektive hat sich auch Wolfgang Ludwig Schneider bereits früh im Anschluss an Luhmann mit der Frage beschäftigt, wie in Kommunikationsprozessen auf der Basis von individuellen Sinnselektionen mikroprozessual soziale Ordnung emergiert. Schneider geht dieser Frage u.a. in „Die Beobachtung von Kommunikation“ (1994) nach. Das Kommunikationsmodell Luhmanns wird hier auf der Basis konversationsanalytischer Forschungsergebnisse geprüft und weiterentwickelt. Im Folgenden soll es nicht darum gehen, im Detail nachzuvollziehen, wie Schneider die kommunikative Konstruktion von Handlungen und die Beobachtung von Kommunikation abschließend erklärt, sondern es soll vielmehr herausgearbeitet werden, wie Schneider die „basale Logik“ von Kommunikationsanschlüssen und ihre unmittelbaren Effekte beschreibt, d.h. wie prozessuale Bedingungen des Aufbaus sozialer Ordnung von ihm beschrieben und modelliert werden. Schneider rezipiert das Kommunikationsmodell Luhmanns zunächst eingehend und interessiert sich im Besonderen für die sogenannte „vierte Selektion“ (vgl. Schneider 1994: 163 ff. sowie 176 ff.). Wie schon erörtert, kommt jede Kommunikation mit der Differenzierung von Information und Mitteilung, mit der Selektion des Verstehens als soziale Operation zu ihrem Abschluss. Damit die Autopoiesis sozialer Systeme nicht ins Stocken gerät, ist jedoch entscheidend, dass Ego auf der Basis ihres/seines Verstehens an die Mitteilung Alters anschließt, ist entscheidend, dass es mit der Kommunikation weiter geht. Hierbei stehen ihr/ihm mehrere Möglichkeiten offen. Ego kann zum einen die Sinnofferte bzw. -reduktion Alters als Prämisse des eigenen kommunikativen Handelns (der Selektion von Information und Mitteilung) übernehmen und die mitgeteilte Information weiter verarbeiten. Ihr/Ihm steht es jedoch ebenso frei, den Informationsgehalt einer Mitteilung abzulehnen.44 Und zu guter Letzt kann sich Egos Reaktion (sie/er wechselt jetzt in die Position Alters) auch auf das „Wie“ des Mitteilens beziehen. Wann immer zwischen Information und Mitteilung differenziert, und die Mitteilung als Beobachtetes bezeichnet wird, stehen nicht mehr die möglicherweise aus dem Sinngehalt einer Mitteilung zu gewinnenden Informationen im Mittelpunkt des Verstehens und des Kommunikationsprozesses, sondern die Modalitäten der Übermittlung. Sobald das „Wie“ der Mitteilung in den Mittelpunkt rückt, nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Umstellung von Normal- auf Metakommunikation zu. Egal ob nun Annahme, Ablehnung oder metakommunikative Thematisierung der Mitteilungsmodalitäten – was in der Kommunikation tatsächlich sozial-sinnhaft zustande gekommen ist, lässt sich für Alter sowie für an der Kommunikation möglicherweise auch noch teilhabende Dritte immer nur an der Reaktion Egos (erst Verstehender, jetzt mitteilende/r 44
Auch eine Annahme/Ablehnung aufschiebende Reaktion wäre für einen ersten Moment denkbar.
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Alter) ablesen. Sofern Alter(Ego) (ehemals 1. Sequenzposition) sich individuell richtig verstanden fühlt, kann sie/er die Kommunikation fortsetzen, indem sie/er jene Sinnofferte, die als Reaktion auf das eigene kommunikative Verhalten zustande gekommen ist, selbst wieder „unkritisch“ als Prämisse des weiteren kommunikativen Selektierens übernimmt. Luhmann hat im Anschluss an Charles K. Warriner (1970) auch von der „Konfirmation“ des richtigen Sinnverstehens gesprochen. Wird das Verstehen (Alter)Egos (2. Sequenzposition) hingegen ausdrücklich als „falsch“ markiert und thematisiert, so ließe sich umgekehrt von „Diskonfirmation“ sprechen (vgl. auch Luhmann 1984: 193 ff.). Schneider interessiert sich vor diesem Hintergrund nun für die Frage, ob nicht generell davon ausgegangen werden müsste, dass die kleinste sozial bedeutsame Kommunikationssequenz, -episode oder auch -einheit immer eine (zumindest „virtuell“45) dreizügige und keine zweizügige ist (Schneider 1994: 168 ff. sowie 179), sozialer Sinn also noch nicht vollständig mit der Reaktion (Alter)Egos (2. Sequenzposition) auf (Ego)Alters (1. Sequenzposition) ursprüngliche Sinnofferte emergiert, sondern einer zusätzlichen Stabilisierung bedarf. Er kritisiert, dass Luhmanns Verständnis des Zusammenhangs von Kommunikation und Handlung, der handlungskonstitutiven Folgen von Kommunikationsanschlüssen, „(...) konsequent innerhalb der kommunikativen Minimaleinheit von Mitteilung und Reaktion“ verbleibe: „Sie [Luhmanns Darstellung des Zusammenhangs von Kommunikation und Handlung, RHP] nimmt Handlungen damit nur aus der Perspektive der Fremdzurechnung durch die Reaktion in den Blick“ (ebd.: 172). Warum aber ist die dritte Sequenzposition nun überhaupt wichtig? Laut Schneider kommt es, sofern die Kommunikation ohne die Problematisierung von Verstehensselektionen weiterläuft, an der dritten Sequenzposition zur ersten Markierung eines störungsfreien Ablaufs der sich vollziehenden Kommunikation. Die Kommunikation „attestiert“ sich selbst und externen Beobachtern, dass 45
Schneider versteht jede basale Kommunikationssequenz in der Interaktion als üblicherweise dreizügige, da er davon ausgeht, dass auch nonverbales Verhalten explizit konfirmierend/diskonfirmierend wirkt: „Gegen unsere Argumentation kann man einwenden, daß sie abweichende Beispiele ignoriert. Zu nennen sind hier vor allem die Eröffnungs- und die Abschlußsequenz eines Gesprächs. Bei regulärem Verlauf finden sich hier jeweils adjacency pairs (Gruß-Rückgruß; Verabschiedung-Gegenverabschiedung), die ohne dritten Zug auszukommen scheinen. Wir vermuten jedoch, daß die Einbeziehung extraverbaler Komponenten in die Analyse auch hier ein dreizügiges Muster aufdeckt. Durch die Fixierung auf die sprachlichen Äußerungsanteile ausgeblendet wird nämlich die Herstellung wechselseitigen Blickkontaktes, die dem Austausch von Grüßen vorangeht und die Auflösung des Blickkontaktes, die auf die Verabschiedung folgt. Wechselseitiger Blickkontakt erzeugt eine soziale Situation, ego nimmt wahr, daß er von alter wahrgenommen wird und alter sich von ego wahrgenommen sieht; gleiches gilt auch aus alters Perspektive. Jeder weiß sich als beobachteter Beobachter und weiß, daß auch der andere dies weiß. Die Ausgangsbedingungen doppelter Kontingenz sind damit erfüllt. Nicht-Kommunizieren ist jetzt unmöglich“ (Schneider 1994: 183, Fußnote 499, Hervorheb. im Original).
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sie von übereinstimmendem Sinnverstehen getragen, und durch den sozialen Eigenwert der „Intersubjektivität“ gekennzeichnet wird: „’Intersubjektivität’ fungiert hier als Kategorie der Selbstbeschreibung von Kommunikation, die nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden darf mit der Kongruenz der psychisch prozessierten Bedeutungsselektionen“ (ebd.: 177, Hervorheb. im Original; vgl. zusätzlich auch Schneider 2004: 318 ff.). In der Kommunikation wird also Übereinstimmung markiert, was jedoch nicht bedeutet, dass sich die an der Kommunikation beteiligten Akteure hierüber nicht auch täuschen könnten. Die Markierung von (wenn auch vermeintlicher) Übereinstimmung prägt allerdings die weitere Kommunikation, indem sie aktiv Partizipierenden wie auch Beobachtern den Eindruck vermittelt, dass Sinn gleichgerichtet prozessiert wurde bzw. wird, „doppelt“ verbürgt ist und somit Einfluss und soziale Gültigkeit besitzt.46 Die dritte Sequenzposition bedeutet damit die abschließende Konsolidierung des sozialen Sinns der Handlung Alters oder: Mit der dritten Sequenzposition wird für alle an der Kommunikation beteiligten sozialen Akteure ablesbar, welche „kooperative Gesamthandlung“ zustande gekommen ist (Schneider 1994: 177). Erst an diesem Punkt, so die Überlegungen Schneiders, lassen sich Erwartungen einigermaßen verlässlich aufbauen. Sofern Ego als (Alter)Ego an zweiter Sequenzposition auf eine ursprüngliche Sinnreduktion reagiert, und die „Urheberin“/der „Urheber“ dieser Reduktion die Reaktion an dritter Sequenzposition explizit oder implizit/virtuell (durch einen erneuten und unverzüglich erfolgenden sachlich-reflexiven Anschluss) als „richtig“ bestätigt, können beide Kommunikatoren davon ausgehen, dass auch in Zukunft ähnliche Anschlüsse des jeweils Verstehenden auf eine ähnliche Ursprungsmitteilung als „richtig“ aufgefasst werden und für einen weitgehend störungsfreien Ablauf der Kommunikation sorgen können. Hiermit ist Folgendes gemeint: Man weiß dann z.B., was man in bestimmten Situationen sagen sollte, um den anderen nicht zu verärgern, oder welche Themen man sich lieber sparen sollte. 46
Schneider erörtert den Unterschied zwischen kommunikativem und kognitivem Verstehen bzw. den Zusammenhang zwischen der Markierung eines gleichgerichteten Prozessierens von Sinn und trotzdem entstehenden kognitiven Missverständnissen anhand des Beispiels einer Antwort auf eine Bitte/Informationsfrage: „Jede Anschlußäußerung impliziert ein bestimmtes Verstehen der vorausgegangenen Äußerung, weist ihr eine bestimmte Bedeutung kommunikativ zu. Der Sprecher mag sich vielleicht mißverstanden fühlen. So z.B. wenn der Adressat die als Bitte intendierte Äußerung ‚Kannst Du mir das Salz reichen?‘ (vielleicht in scherzhafter Absicht) einfach nur mit ‚Ja‘, d.h. als Informationsfrage beantwortet. Belassen es beide dabei, dann ist das in der Kommunikation durch die Antwort erreichte Verstehen das Verstehen einer Informationsfrage, auch wenn beide Psychen etwas anderes verstanden haben. Und insofern gilt: Verstehen in der Kommunikation ‚schließt ... mehr oder weniger weitgehende Mißverständnisse als normal ein‘. In der Kommunikation aber zählt, was durch Anschlußäußerungen zustande kommt solange als Verstehen, wie kein Einspruch erhoben und etwas als Mißverständnis deklariert wird“. (Schneider 1994: 165, Hervorheb. im Original).
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An der dritten Sequenzposition kommt es zur Synthese von selbst- und fremdreferentiell zugeschriebenem Handlungssinn, zur wechselseitigen Vergewisserung darüber, welchen sozialen Stellenwert die eigenen kommunikativen Selektionen gehabt haben und welchen sozialen Stellenwert ähnliche Selektionen auch in Zukunft haben könnten. Am Beispiel der aus der Konversationsanalyse bekannten „adjacency pairs“ erörtert Schneider die Relevanz der dritten Sequenzposition, der kommunikativen Weiterbehandlung einer Paarsequenz, für die Emergenz von Sozialität. Ein typisches Beispiel für eine erst mit dem dritten Zug abgeschlossene Definition einer sozialen Situation bzw. für eine kooperative Gesamthandlung sind erfolgreich beantwortete Informationsfragen. Mit einer Informationsfrage zeigt Alter in der Regel (d.h. sofern sich Meinen und Sagen nicht voneinander unterscheiden) an erster Sequenzposition an, dass ihr/ihm daran gelegen ist, die eigene Unwissenheit mit Blick auf einen bestimmten Sachverhalt hin zu überwinden bzw. zu reduzieren. Antwortet (Alter)Ego, so zeigt diese(r) zunächst an zweiter Sequenzposition an, dass sie/er verstanden hat und über Wissen verfügt, welches die entsprechende Unwissenheit (möglicherweise) zu „bearbeiten“ hilft. Ob die ursprüngliche Informationsfrage jedoch tatsächlich erfolgreich beantwortet werden konnte und ob (Alter)Egos Wissen in der konkreten Situation „etwas wert“ war, lässt sich jedoch erst an der abschließenden Reaktion der/des Fragenden (3. Sequenzposition) ablesen: Sie/er lässt mit dieser Reaktion erkennen, ob durch die Antwort die Ausgangssituation tatsächlich so verändert wurde, dass die Beantwortung der Frage dem Anforderungsniveau einer Informationsfrage „gerecht“ werden konnte (vgl. hierzu ebd.: 185). Entsprechend markierte Intersubjektivität sagt zunächst also vor allem etwas über den Kommunikationsprozess aus, kommunikativ markierte Intersubjektivität muss aber nicht bedeuten, dass Alter und Ego eine Situation kognitiv tatsächlich identisch verstanden haben (sie können dies streng systemtheoretisch betrachtet auch gar nicht) bzw. Bedeutungen miteinander teilen. Interessanter ist vielmehr, dass die Kommunikation in solchen Momenten nicht nur gegenüber Alter und Ego, sondern vor allen Dingen auch gegenüber bislang noch nicht aktiv beteiligten Dritten anzeigt, dass sie integratives Potential zu entfalten und damit Orientierung zu bieten vermag. Tatsächlich kommt es in der alltäglichen Kommunikation häufig zu einem reibungslosen Übergang von der zweiten zur dritten Sequenzposition, obwohl vielleicht durchaus Nachfragen angebracht wären. Würden wir allerdings permanent nachfragen, so würde die Kommunikation schnell zum Erliegen kommen (vgl. hierzu auch Schneider 2001: 90). Oftmals verstehen wir psychisch de facto Unterschiedliches, in der Kommunikation aber sind wir uns häufig „einig“, wo Uneinigkeit angebracht wäre und umgekehrt. Dass dies im späteren Verlauf einer Kommunikation noch zum Problem werden kann, versteht sich fast von selbst: Man wird „plötzlich“ als ein anderer wahrgenommen, als der, der
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man nach eigenem Dafürhalten eigentlich ist, und dies gilt nicht nur mit Blick auf direkte InteraktionspartnerInnen sondern auch mit Blick auf jene, die nur teilnehmend beobachtet haben. Während die Herstellung einer kooperativen Gesamthandlung zwischen zwei Akteuren und die kommunikative Markierung von Intersubjektivität in Interaktionsdyaden noch zwei Seiten einer Medaille darstellen, sind hochskalierte (von einer Vielzahl an TeilnehmerInnen und durch eine Vielzahl von Mitteilungen/Nachrichten getragene), sich unter Umständen auch medienübergreifend vollziehende Kommunikationsprozesse ähnlich wie größere Interaktionssysteme wie z.B. ein Seminar oder eine Podiumsdiskussion hingegen durch eine lockerere „Bindung“ gekennzeichnet. „Richtigkeit“ oder „Kongruenz“ des Verstehens muss in solchen Zusammenhängen nicht zwangsläufig von jenen Akteuren angezeigt werden, welche an der jeweils ersten Sequenzposition eine Sinnreduktion vorgenommen bzw. eine Sinnofferte in die Kommunikation eingeführt haben. Intersubjektivität kann in hochskalierten Kommunikationsprozessen auch von mehreren Zweiten und von Dritten markiert werden; und zwar durchaus auch zum „Leidwesen“ jenes Akteurs, der ursprünglich einen Vorschlag, ein Thema, eine Meinung etc. in die Kommunikation eingeführt hatte. So können verschiedene Kommunikatoren ein Ausgangsereignis mehrfach kongruent beschreiben und bereits auf diesem Wege Intersubjektivität markieren oder sich wechselseitig über die angemessene Rezeption der Mitteilung eines anderen Kommunikators verständigen. (vgl. ebd.: 93 ff. sowie Schneider 2004: 433 ff.). Auf diese Form der Markierung von Intersubjektivität wird noch ausführlich in Kapitel (5) eingegangen werden. In hochskalierten Kommunikationsprozessen sorgen ferner stärker als in der Interaktion Themen für die Sicherstellung von Sinneinheitlichkeit. Hier geht es oft weniger darum, an den direkt vorhergehenden Beitrag anzuschließen, sondern vielmehr darum, darauf zu achten, dass der eigene Beitrag dicht am (wie auch immer individuell verstandenen) Thema bleibt, sofern intendiert ist, kommunikativ Erfolg zu haben (vgl. Schneider 1994: 187, Schneider 2001: 88 f. und Schneider 2004: 430). Für die in Kapitel (5) folgenden Betrachtungen zur kommunikativen Emergenz sozialer Eigen- und Strukturwerte anhand zweier konkreter Beispiele ist hier zunächst festzuhalten, dass eine kommunikationsorientierte Modellierung und Erklärung immer voraussetzt danach zu fragen und zu schauen, an welchen Punkten im Kommunikationsprozess Intersubjektivität markiert wird und soziale Geltung beanspruchende Deutungen und Beschreibungen somit strukturierend wirken (können). Schneiders Überlegungen zur kommunikativen Emergenz sozialer Situationsdefinitionen und zur Konstitution von sozialen Bedeutungen auf der Basis dreizügiger Gesamthandlungen gelten aufgrund ihrer konversationsanalytischen Fundierung in erster Linie für Interaktionssysteme. Schneider selbst weist darauf hin, dass in hochskalierten
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Kommunikationsprozessen die mehrfach kongruente Beschreibung von „Ursprungsmitteilungen“ ausreichen kann, um Intersubjektivität unabhängig zu markieren und/oder einen weiterführenden Prozess der Markierung von Intersubjektivität in Gang zu setzen (vgl. Schneider 2001: 93 ff. und 107 sowie Schneider 2004: 434). Festzuhalten ist hier somit zunächst, dass der Markierung von Intersubjektivität für die Produktion von Deutungen, Interpretationen, Deutungsmustern und Wissensbeständen, kurz für die Emergenz von Kontexturen und sozialer Ordnung eine besondere Bedeutung zukommt. Wolfgang Ludwig Schneider hat die Bedeutung der dritten Sequenzposition für die Emergenz von „Gesamthandlungen“ allerdings nicht nur mit Blick auf das Phänomen der kommunikativ markierten „Kooperation“, sondern auch mit Blick auf das Phänomen der Entstehung von Konflikten und der Markierung von Unvereinbarkeiten hin untersucht. Schneider gebührt das Verdienst, mit darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass Luhmanns Vorstellungen einer kommunikativen Emergenz sozialer Konflikte die Realität des Phänomens nur verkürzt zu erfassen erlauben. Tatsächlich ist der Konflikt jenes soziale Phänomen, an dem Luhmann zumindest im Ansatz versucht hat zu zeigen (vgl. Luhmann 1984: 488 ff.), wie Sozialität bzw. soziale Realität prozessual auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen (genauer: der Ablehnung von Sinnofferten) emergiert. Widersprüche sind jene Form der Kommunikation, mit deren Hilfe sich Systeme vor einer „(...) Erstarrung in eingefahrenen, aber nicht mehr umweltadäquaten Verhaltensmustern“ (ebd.: 507) schützen, und mit deren Hilfe sie ihre Autopoiesis auch „im Notfall“ sichern. Luhmann war allerdings davon ausgegangen, dass schon eine „einfache“ Widerspruchskommunikation, eine „einfache“ Ablehnung einer Sinnofferte ausreichend sei, um die soziale/diskursive Realität des Konfliktes als „parasitäres System“ zu begründen: „Es genügt, wenn auf eine wie immer vage Erwartungsannahmezumutung mit einem wie immer vorsichtigen Nein reagiert wird“ (ebd.: 532). Schneider kritisiert vor diesem Hintergrund – man sieht es kommen – dass ein einfaches „Nein“ keineswegs den Konflikt als soziale Realität trägt, sondern lediglich die Möglichkeit seiner Entstehung „projeziere“ (Schneider 1994: 203, Hervorheb. im Original). Schneider zufolge emergiert der Konflikt als soziale Realität erst vollständig mit der Zurückweisung der Ablehnung einer Sinnofferte; erst mit der Zurückweisung eines Widerspruchs wird der Konflikt zur „Zurechnungsalternative“, die ausschließt, dass noch weiterhin auf ein einfaches Missverständnis geschlossen werden könnte (vgl. ebd.: 202). Dieses dreizügige Modell der sozialen Emergenz des Konfliktes ist schließlich von Heinz Messmer – die Systemtheorie und die Konversationsanalyse erneut zusammenbringend – ausführlich diskutiert, konkretisiert und erweitert worden (Messmer 2003a und 2003b). Aus diesem Grunde sollen seine Erörterungen und nicht jene Schneiders im nächsten Abschnitt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
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stehen. Ihre Diskussion ist wichtig, lassen sich am Beispiel des Konfliktes doch weitere Einsichten in die kommunikative Emergenz von basalen Ordnungsformen gewinnen.
3.3 Die Strukturbildungskraft der Ablehnung Luhmanns Kommunikationstheorie ist eine Theorie konstitutiver Nachträglichkeit. Erst das Verstehen begründet die Einheit der sozialen Operation „Kommunikation“, erst mit Kommunikationsanschlüssen wird in der Kommunikation sichtbar, welche Sinnfacetten die Emergenz des Sozialen zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeinhin tragen. Soweit, so theoretisch plausibel. Spannend ist und bleibt allerdings, ob und wie sich die kommunikative Emergenz sozialer Tatsachen auf der Basis des Luhmannschen Kommunikationsvokabulars anhand konkreter empirischer Beispiele ausbuchstabieren und erklären lässt. Was „erlaubt“ das Kommunikationsmodell Luhmanns, was erlaubt das systemtheoretische Kommunikationsvokabular – verstanden als ein beobachtungsleitendes System von Unterscheidungen – zu entdecken? Die entscheidende Frage ist, wie die Verknüpfung von Selektionen auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen, wie die Verknüpfung von selbstreferentiellem und fremdreferentiellem Sinn zur Emergenz von sozialen Bedeutungen und Deutungsmustern führt, die den an der Kommunikation beteiligten Kommunikatoren als Ansatzpunkte für weitere Selektionen dienen (müssen), über deren Erscheinungsformen aber kein Akteur unabhängig disponieren kann. Ein bereits ausführlich erforschtes Beispiel für ein ausschließlich in, mit und aufgrund von Kommunikation emergierendes und existierendes Phänomen stellt der schon erwähnte soziale Konflikt dar, dessen kommunikative Ablauflogik aus systemtheoretischer Perspektive zuletzt in besonderer Ausführlichkeit von Heinz Messmer diskutiert worden ist. Dem Beispiel Schneiders folgend nutzt auch Messmer ausgewählte Gesprächsprotokolle der Konversationsanalyse als Grundlage für die Analyse des Konflikts als eine „eigenständige, identische und empirisch abgrenzbare Form sozial emergenter Prozesse“ (Messmer 2003a). Messmer geht es im Rahmen der Entwicklung eines eigenständigen Modells der kommunikativen Ausdifferenzierung des Konfliktes als sozialer Realität47 zunächst nicht primär darum zu erörtern, warum sich Menschen auf Konflikte einlassen bzw. ob und inwiefern diese ein Interesse an ihrer Entstehung, Fortführung oder auch Beendigung haben. Er 47
Mit Blick auf die diskursive Konstruktion sozialer Realität durch Kommunikation heißt es bei Messmer, dass „(...) alles, was in der Sozialwelt geschieht und empirisch Tatsachenwert beansprucht, ein durch Kommunikation bezeichnetes ‚Hier und Jetzt’ (..)“ benötige (Messmer 2003b: 99, Hervorheb. RHP).
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sucht vielmehr zu ergründen, wie und warum bestimmte Typen von Kommunikationsanschlüssen und die diesen zugrunde liegenden kommunikativen Selektionen in ihrem Wechselspiel den Konflikt zu einer unvermeidlichen Realität werden lassen – und zwar unabhängig davon, auf welchen individuellen Überlegungen, Vorstellungen, Kalkulationen, Wünschen etc. diese Selektionen/Anschlüsse nun im Einzelnen beruhen mögen. Der Konflikt wird dementsprechend in erster Linie im Hinblick auf die „Strukturbedingungen seines Ordnungsaufbaus“ (Messmer 2003b: 98) untersucht. Ausgehend von der Annahme, dass der Ausdruck von Zustimmung als die allgemein sozial präferierte Reaktion auf eine unterbreitete Sinnofferte gelten kann (vgl. ebd.: 102 f.), erörtert Messmer, dass es sich im Falle des Konfliktes um eine höchst voraussetzungsvolle Form von Sozialität handele. Sofern sich Kommunikatoren veranlasst sehen, einer Sinnofferte widersprechen zu müssen, versuchen sie, diesen Widerspruch zuerst noch so lange es geht zu vermeiden bzw. schließlich in seiner Härte abzumildern. Indem Akteure, die aus ihrer Sicht mit einer zu rigiden Sinnreduktion konfrontiert sind, eine Ablehnung zunächst z.B. über die Bekundung von NichtVerstehen (bzw. möglicherweise „nicht richtigem“ Verstehen) zu vermeiden versuchen, geben sie ihrem Gegenüber die Zeit und die Möglichkeit, den Grad der Rigidität der ursprünglichen Sinnofferte zu verringern. Mit Widersprüchen wird sich soviel Zeit wie möglich gelassen, und ein „(..) Sprecher bringt damit zum Ausdruck, dass er die Ablehnung nur ungern kommuniziert bzw. die Zustimmungserwartung nur notgedrungen enttäuscht“ (ebd.: 104). Sobald es allerdings zu einem Kommunikationsanschluss in Form einer Ablehnung, einer gegensätzlichen Relevanzierung und d.h. in der Form eines Widerspruchs kommt, beginnt sich der Charakter der autopoietischen Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation zu verändern. Mit dem Kommunikationsanschluss wird auch für die/den an „erster“ Zugposition kommunizierende(n) Alter wie für mögliche dritte BeobachterInnen des kommunikativen Geschehens offenbar, dass Erwartungen in einem Verhältnis der Unvereinbarkeit zueinander stehen bzw. sich Sinnperspektiven (deutlich) voneinander unterscheiden. Das Interessante am Widerspruch ist, dass er in besonderem Maße verdeutlicht, welche strukturgenerierende Kraft dem Nachtragsmanagement der Kommunikation, der „retrospektiv gerichteten Rekursivität“ (Schneider 1994: 170, Hervorheb. im Original) bzw. der Reflexivität (vgl. hierzu auch Merten 1976) zukommt. Mit der Ablehnung ihres Sinngehaltes wird eine Mitteilung zum Ausgangspunkt einer Kommunikation stilisiert, deren Thema nicht zuletzt die Unvereinbarkeit von Sinnperspektiven ist. Das Entscheidende ist dabei, dass die Widerspruchskommunikation die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz nachträglich selbst markiert und somit die Möglichkeit der Ausdifferenzierung eines Konflikts als eigenständiges Kommunikationssystem erst „begründet“: „Im Vollzug des selbst-
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referenziellen Sinnverstehens verschafft sich die Widerspruchskommunikation damit auf eigenmächtige Weise die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz. Sie konstituiert einen Konfliktanfang, der ohne sie nicht bestehen würde, den sie formal zwar produziert, als solchen aber selbst nicht zu verantworten hat“ (Messmer 2003b: 113, Hervorheb. im Original). Die Widerspruchskommunikation verweist selbstreferentiell zunächst auf (Alter)Egos Erleben der Sinnreduktion (Ego)Alters als unzumutbar. Mit der Ablehnung wird die ursprüngliche, jetzt zum (möglichen) Anfang eines Konfliktes „stilisierte“ Äußerung des an erster Zugposition selektierenden (Ego)Alters um ihren Gegensinn ergänzt bzw. es wird direkt auf den Sachverhalt verwiesen, dass alles, was als Information mitgeteilt wird, kontingent ist, somit immer auch anders hätte ausgewählt werden können: Warum also wurde dies eigentlich nicht getan? Die Beobachtung des ablehnenden Kommunikationsanschlusses legt dem am handelnden Subjekt orientierten Alltagsverständnis sozialer Situationen nahe, davon auszugehen, dass (Ego)Alter die Unvereinbarkeit der Sinnperspektiven letztlich in gewisser Weise selbst im Vornherein provoziert hat und somit auch Verantwortung trägt. Obwohl soziale Tatsachen erst auf der Basis von rekursiven Anschlüssen (vorübergehend abschließend) emergieren, gerät dieser Umstand für an Kommunikation beteiligte Akteure oft aufgrund der Orientierung am eigenen „passiven Erleben“ und am „aktiven Handeln“ des jeweils Anderen, am Kausalschema von Handlungsursache und Handlungswirkung (wir werden auch hierauf noch zurückkommen), nicht unmittelbar in den Blick. Die im Rahmen der Selektion des Verstehens vorgenommenen Zurechnungen wirken weiterhin nach (vgl. zu dieser Nachwirkung auch ebd.: 108 ff.). Die besondere Bedeutung und die besonderen Effekte des Nachtragsmanagements von Kommunikation erschließen sich letztlich erst, sobald über die Logik von Kommunikationsanschlüssen weiterführend reflektiert wird. Bislang ist noch nicht von der vollständigen Ausdifferenzierung einer Konfliktkommunikation, sondern lediglich von einem kommunizierten Widerspruch die Rede gewesen. Unter Rückgriff auf verschiedene Beispiele weist Messmer nach, dass es mindestens zweier Kommunikationsanschlüsse bedarf, damit sich der Konflikt endgültig als soziale Form etablieren kann. Erst wenn ein(e) Sprecher(in), die/der an „erster“ Zugposition die mittlerweile abgelehnte Sinnofferte in die Kommunikation eingeführt hat, weiterhin auf ihrer/seiner ursprünglichen Sinnzumutung beharrt, kommt es zur endgültigen Markierung des laufenden Kommunikationsprozesses als Konfliktprozess; als Prozess, in dessen thematischem Mittelpunkt schließlich die Unvereinbarkeit zweier Sinnperspektiven steht. Die Zurückweisung eines Widerspruchs wird von Messmer dementsprechend als „Konflikt“ (ebd.: 115) bezeichnet. Wird schließlich auch am Widerspruch festgehalten, wird „oppositioniert“, so verdichtet sich das Ordnungsgefü-
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ge des Konflikts weiter: „Widerspruch, Konflikt und Opposition bezeichnen demnach ein sinnlogisch aufeinander aufbauendes, zugleich aber asymmetrisch strukturiertes Ordnungsgefüge wechselseitiger Negationen, in dem sichergestellt werden muss, dass Sinn auf Gegensinn, Widerspruch auf Gegenwiderspruch bzw. Unnachgiebigkeit auf Unnachgiebigkeit stößt. Wann immer dies geschieht, kann eine Struktur die Führung übernehmen, in der eine Ablehnung wahrscheinlicher als eine Zustimmung ist“ (ebd.: 115). Mit dieser Struktur ist schließlich die schon von Luhmann diskutierte Negativversion doppelter Kontingenz gemeint: „Ich tue nicht, was Du möchtest, wenn Du nicht tust, was ich möchte“ (Luhmann 1984: 531). Ihre Aktivierung lässt sich als ein emergenter Effekt der Kommunikation bezeichnen: Erst der Prozess der wechselseitigen Ablehnung von Sinnofferten sorgt dafür, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Orientierung der eigenen Selektionen an einer als allgemein gültig anerkannten Präferenzorganisation für Zustimmung aufgegeben wird zugunsten einer Orientierung an der Negativversion doppelter Kontingenz. Sofern Selektionen nur noch an dieser Definition des Sozialen orientiert werden, entwickelt sich ein jeder Konflikt schließlich zu einem sozialen System der Gegnerschaft, welches sich scharf von anderen sozialen Systemen abgrenzt, in denen die Orientierung an einer Präferenz für Zustimmung noch die Autopoiesis zu tragen vermag. Für den Konflikt gilt also auch, dass erst drei Mitteilungen und zwei Kommunikationsanschlüsse für alle an der Kommunikation Beteiligten erkennen lassen, welche Gesamthandlung entstanden ist. Letztlich ist aber auch hier noch längst nicht Schluss. Messmer weist darauf hin, dass mit der Artikulation der Bereitschaft zum Festhalten an ursprünglichen Sinnofferten (Konflikthaftigkeit bzw. „Konflikt“) Gegnerschaft als kommunikatives Phänomen noch längst nicht abschließend begründet (worden) ist. Hierzu bedarf es einer weiteren Mitteilung an „vierter“ Zugposition, die deutlich macht, dass am an „zweiter“ Zugposition geäußerten Widerspruch ebenso tatsächlich festgehalten wird. Analog zur Markierung von Intersubjektivität in hochskalierten Kommunikationsprozessen dürften sich auch überindividuelle (gesellschaftliche) Konfliktlinien über mehrfach ähnlich kommunizierte Widersprüche und über mehrfach ähnliche Wiederholungen und Bestätigungen der sozialen Relevanz ursprünglicher Sinnofferten im Anschluss an Widerspruchskommunikationen identifizieren lassen. Wir werden hierauf noch in Kapitel (5) zu sprechen kommen. Jeder Kommunikationsanschluss ist also zugleich ein diskursive Konstruktionen bestätigender wie auch projizierender Anschluss. „Zweizügigkeit“ bedeutet vorübergehenden Abschluss und Projektion, „Dreizügigkeit“ vorübergehenden Abschluss durch Konfirmation oder Diskonfirmation und erneute Projektion usw. usf. Tatsache ist, dass jeder Kommunikationsanschluss, ob er nun als an der „zweiten“ oder „dritten“ Sequenzposition stehend, als überwiegend projizierend
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oder konfirmierend/diskonfirmierend beschrieben wird, eine eigene, besondere Bedeutung für die Emergenz diskursiver sozialer Realität besitzt. Über jenen Charakter, den ein Kommunikationsprozess im Zuge seines Verlaufes annimmt, kann kein Kommunikator selbsttätig disponieren. Das Beispiel des Konflikts macht dies auf besonders anschauliche Art und Weise deutlich: Eine sich durch ihn möglicherweise ergebende Gegnerschaft zwischen Menschen ist oft nicht gewollt, wird in Anbetracht des Festhaltens einzelner Akteure an der Identität einmal getroffener Sinnselektionen sowie aufgrund jener sozialen Relevanz, die diese Offerten im Rahmen des kommunikativ organisierten Aufeinandertreffens mit anderen Selektionen zugewiesen bekommen, aber unvermeidlich. Eine grundsätzliche Diskussion darüber führen zu wollen, ob kommunikationstheoretische Analysen „zweizügig“, „virtuell dreizügig“, „dreizügig“, „vierzügig“ usw. verfahren und argumentieren sollten, dürfte indes nicht von Nutzen sein. Vielmehr ist in Abhängigkeit von jeweiligen Empiriefeldern und Fällen zu prüfen, was die retrospektiv-theoretische Diskussion eines Anschlusses, zweier, dreier, vierer (auch simultaner) usw. Anschlüsse an sozialer Emergenz, d.h. an sozialer Strukturdynamik und Strukturbildung zu erklären vermag. Kommunikationstheoretische Analysen sind immer mit dem Problem konfrontiert, dass es streng genommen eben keine „Erstkommunikation“ geben kann, sondern jede Kommunikation immer schon „Zweitkommunikation“ ist, weil sie aus in der Vergangenheit kommunikativ prozessiertem Sinn auswählt (vgl. Malsch 2005: 223). Das Beispiel der kommunikativen Emergenz des sozialen Konflikts macht in besonderer Weise verständlich, warum die Realität des Sozialen, warum soziale Tatsachen irreduzible Phänomene sind. Zwar stellen auch im Falle des sozialen Konflikts individuelle Selektionen die Bedingungen der Möglichkeit seiner Emergenz dar, gilt doch auch für den Konflikt, dass er ohne real existierende und handelnde Menschen, ohne kommunikative Selektionen nicht möglich wäre. Der ewige Hinweis der erklärenden Soziologie darauf, dass es doch das handelnde Subjekt sei, von dem alles soziale Werden ausgeht, ist eigentlich aber nicht mehr als eine Binsenweisheit. Entscheidend ist eher und vielmehr, welche Wechselwirkungen sich zwischen den individuell wie auch immer orientierten und verstandenen Selektionen unterschiedlicher Akteure ergeben und wohin sie führen. Und diese Wechselwirkungen werden erst in und mit der Kommunikation durch eigenlogisch operierende Medien wie die Sprache, die Schrift, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien etc. möglich. Interessant wird es also erst, wenn berücksichtigt wird, dass es kommunikative Wechselwirkungen sind, die letztlich (mit) darüber bestimmen, welche Erscheinungsform ein soziales Phänomen annimmt und welche Bedeutung einer individuellen Selektion zukommt, d.h. was sie „wirklich“, in ihrer Eigenschaft als sozialkonstitutives Element ist. Aus eben diesem Grunde sind prozessuale Bedingungen der Kommunikation,
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sind die Verlaufslogiken von Kommunikationsprozessen zu untersuchen, bevor versucht wird, die Effekte von Selektionsentscheidungen durch Aggregation „hochzurechnen“. Zu bedenken ist, dass jeder Anschluss, jedes Kommunikationsereignis gesellschaftliche Sinnstrukturen stabilisiert oder verändert. Und diese Strukturen unterscheiden sich in ihrer Form maßgeblich von jenem Sinn, den Akteure einer Situation, einem Kommunikationsakt, einem Kommunikationsprozess, gesellschaftlichen Verhältnissen etc. beimessen bzw. von jenen „Sinnstrukturen“, die Akteure individuell ausprägen. Die kommunikative Realität sozialer Situationen ist eine andere als die individuell definierte Realität sozialer Situationen. Und das Fokussieren auf Kommunikationsanschlüsse ermöglicht es, die diskursive Realität des Sozialen in der soziologischen Analyse zumindest partiell „abzupassen“. Die Analyse von Kommunikationsanschlüssen bedeutet, Einsicht in soziale Prozesse der Sinnsynthese nehmen zu können.
3.4 Die Konditionierung von Freiheitsgraden Luhmanns Diktum, nur die Kommunikation könne kommunizieren (vgl. Luhmann 1995a: 113), ist gleichermaßen faszinierend wie verstörend. Bewusstsein und Kommunikation stellen in systemtheoretischer Lesart voneinander getrennt operierende, autopoietische Systeme dar; beide Systemtypen sind aber strukturell miteinander gekoppelt und stellen dem jeweils anderen System ihre Eigenkomplexität zum Aufbau von Strukturen (Interpenetration) zur Verfügung (vgl. Luhmann 1984: 289 ff.). Dass Kommunikation weiter geht und nicht aufhört, liegt u.a. daran, dass Alter und Ego Selektionen als Einschränkungen und Eröffnungen von Möglichkeitsspielräumen gestalten und erleben und auf eben dieser Basis damit beginnen, nicht nur ein bestimmtes Verhalten von ihrem Gegenüber zu erwarten, sondern auch zu erwarten, dass sich ihr Gegenüber ebenso wie sie selbst bestimmte Verhaltensweisen in Bezug auf ihre/seine Person und ihre/seine Selektionen erhofft. Vor diesem Hintergrund ist es nun interessant, darüber nachzudenken, was der für die Entstehung, Festigung und Veränderung von Erwartungen entscheidende Vorgang der Einschränkung und/oder Eröffnung von Spielräumen über die „innere Verfasstheit“ bzw. die Strukturdynamik von Kommunikation verrät. Eine Frage, der sich zuletzt Dirk Baecker in seinem Buch „Form und Formen der Kommunikation“ (2005a)48 aus beobachtungstheoretischer Perspektive ange48
„Form und Formen der Kommunikation“ (2005) stellt den Versuch dar, eine eigenständige, systemtheoretisch orientierte und alle sozialen Verhältnisse übergreifende Kommunikationstheorie vorzulegen. Baecker kritisiert, dass sowohl Serres, Habermas wie auch Luhmann es versäumt hätten, jene Theorie der Kommunikation zu schreiben, „(...) die man erwarten könn-
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nommen hat. Baecker zufolge erlaubt der Begriff der Kommunikation soziale Verhältnisse zu erfassen, „(...) in denen Überraschungen die Regel sind“ (Baecker 2005a: 8). Das Besondere an Kommunikation – so lässt sich im Anschluss an den Systemtheoretiker Baecker formulieren – ist, dass mit jeder Selektion Sinn zugleich immer wieder neu aktualisiert und potentialisiert wird. Optionen werden realisiert, ebenso wird deutlich, dass Anderes ausgeschlossen wurde aber prinzipiell immer noch einholbar bleibt. Grundsätzlich bedeutet Kommunikation also, „(...) es mit mehr Möglichkeiten zu tun zu haben, als man bewältigen kann, und es von überraschenden Seiten her mit Einschränkungen zu tun zu bekommen“ (ebd.: 8). Bereits bei Luhmann ist zu lesen, dass Sinn in der Form eines „ (...) Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns“ erscheine und die mit diesem Überschuss einhergehende Komplexität Alter und Ego dazu zwinge, Selektionen vorzunehmen, die für beide eine sicherere Orientierung ermöglichen können (vgl. Luhmann 1984: 92 ff.). Die Selektion von Information und Mitteilung auf der Basis eines vorangegangenen Verstehens darf dabei nicht nur als restriktiv verstanden werden: Kommunikation bedeutet zwar, dass Möglichkeiten immer eingeschränkt werden; dennoch bleiben aber immer auch genügend (bedingt konditionierte) Freiräume bestehen, um auf eben diese Einschränkungen eigenlogisch reagieren zu können. Die Bestimmtheit, mit der wir im Falle der Kommunikation konfrontiert sind, ist eine relative. Kommunikation ist immer beides: die Einführung und die Konditionierung von Freiheitsgraden (vgl. Baecker 2005a: 8). Und das Ergebnis dieser permanenten Einführung und Konditionierung sowie der (Aus-)Nutzung von Freiheitsgraden sind Muster kommunikativen Anschlusses, die die Strukturdynamik des Sozialen ausmachen und die Identität sozialer Phänomene begründen und prägen. Im Anschluss von Kommunikationen aneinander werden Sinngehalte einerseits expliziert und als Inhalte der Kommunikation sichtbar, andererseits wird aber immer auch das, was nicht bezeichnet und nicht in die Kommunikation eingebracht wird, als „unmarked space“ mitgeführt, aus dem weiterhin ausgewählt werden kann. Kommunikativ Ausgeschlossenes kann in unterschiedlicher Weise wieder eingeholt werden. Zum einen können die an der Kommunikation te, wenn man sieht, welche Grundlagenstellung der Begriff der Kommunikation in ihren Theorien bekommt“ (Baecker 2005a: 10). Im unmittelbaren Anschluss an Luhmann und Spencer Brown ist Baecker daran gelegen, diesen Mangel im Hinblick auf die Systemtheorie zu beseitigen und ihre kommunikationstheoretische Fundierung zu erweitern und zu verbessern. Auf eine ausführliche Diskussion aller Aussagen und Annahmen dieser Theorie muss hier allerdings verzichtet werden. Uns interessiert hier zunächst – ähnlich wie auch mit Blick auf die Ansätze von Schneider und Messmer – die Frage, welche grundlegende (soziale) Funktion der Mitteilung/dem Kommunikationsanschluss zukommt, wodurch Mitteilung und Kommunikationsanschluss generell gekennzeichnet sind und was Mitteilungen im Kommunikationsprozess allgemein leisten.
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beteiligten Akteure Vermutungen darüber anstellen, worauf eine Information noch verweist, was also ihr „Auswahlbereich“ ist; zum anderen kann zu einem späteren Zeitpunkt ganz direkt versucht werden, bislang Ausgeschlossenes in die Kommunikation zu integrieren. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass mit jeder kommunikativen Markierung neuer Sinngehalte auch das Ausgeschlossene als Nicht-Realisiertes verändert wird, nicht mehr mit dem einst NichtRealisierten identisch ist. Baecker zufolge bezieht die Kommunikation ihren „Drive“ aus dem Umstand, dass das Unbestimmte potenziell bestimmbar bleibt (vgl. ebd.: 12). Soziale Ordnung lässt sich im Sinne Baeckers somit als vorübergehende Aktualisierung/sichtbare Bestimmung von sozialem Sinn verstehen, die vielleicht noch durch Folgeanschlüsse gestützt wird (Aktualisierung ähnlichen Sinns), mit der es aber jederzeit vorbei sein kann, sobald sich die Kommunikation anderen Inhalten, anderen Themen, anderen Meinungen etc. zuwendet. In Baeckers eigenen Worten: „Mit dem Unbestimmten, aber Bestimmbaren zu rechnen, kommt jedoch einer soziologischen Theorie entgegen, die in der Lage sein will, die Ordnung des Sozialen nicht voraussetzen zu müssen, sondern für ein laufend neu auszuhandelndes, erstrittenes und verteidigtes Produkt der Auseinandersetzung um diese Ordnung halten zu dürfen. Eine soziale Ordnung ist so sehr der Inbegriff von Grenzsetzungen, in denen die Außenseite der Grenze mit bedingt, was sich auf der Innenseite der Grenze abspielt, dass man fast vermuten kann, dass der Formkalkül [gemeint ist hier der Formkalkül Spencer Browns, RHP] erfunden wurde, um davon einen angemessenen Begriff zu haben. Aber so zu denken setzt voraus, gleichsam mit offenen Flanken denken zu können. Und das scheint nicht jedermanns Sache zu sein“ (ebd.: 13).49 Die besondere Bedeutung einer jeden Mitteilung und Information für die Strukturdynamik der Kommunikation und die Emergenz sozialer Ordnung besteht nun darin, dass die Mitteilung und Information im „Spiegel“ des Verstehens dazu anregen, über das Unbestimmte nachzudenken bzw. Ordnung zu ergründen und im Sinne dieser vorgestellten Ordnung erneut weitere Informationen zur Mitteilung auszuwählen. Die (individuelle) Bedeutung einer Information lässt sich nur bestimmen, sofern mit ihrer Hilfe versucht wird, auf jenes zu schließen, was nicht in ihr enthalten ist. Ihre soziale Bedeutung wird weiterführend begründet sowie „konsolidiert“, sobald über das auf ihrer Basis Erschlossene eine neue Mitteilung erfolgt und dieses somit auch sozial sichtbar wird. Informationen machen auf mögliche Verhältnisse von Gegenständen und Zuständen zueinander aufmerksam. Sinnverhältnisse, die in und mit dem Verstehen einer Mitteilung (re-)konstruiert werden, und so49
Baecker nutzt den Formkalkül Spencer Browns, um Kommunikation als Effekt und Phänomen fortlaufender Beobachtung und ständig neuer Grenzziehungen modellieren zu können (vgl. Baecker 2005a).
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mit schließlich nicht nur Alter, sondern auch Ego eben soviel Orientierung ermöglichen, dass es mit der Kommunikation weitergehen, dass neuer Sinn aktualisiert und kommuniziert werden kann. Ein etwas längeres Zitat mag an dieser Stelle verdeutlichen, was gemeint ist, wenn Dirk Baecker davon spricht, dass eine Information nicht nur auf sich selbst verweist und aus sich selbst heraus zu verstehen sei, sondern nur infolge von Rückschlüssen auf das noch/nur noch teilweise Unbestimmte. Baecker erläutert: „Denn eine Information gilt nicht bestimmten Gegenständen oder Zuständen, sondern sie gilt der Ordnung dieser Gegenstände und Zustände im Verhältnis zu anderen Gegenständen und Zuständen. Deswegen hat es sich eingebürgert zu sagen, dass man eine Information daran erkennt, dass sie überrascht, beziehungsweise daran, dass sie einen AhaEffekt auslöst. Der Informationsgehalt einer Auskunft darüber, wo ich in einer Küche die Löffel finde, liegt nicht darin, dass ich dann endlich weiß, wo die Löffel zu finden sind, sondern er liegt in der Reichweite dieser einen Information für die Einschätzung benötigter anderer Informationen über die Ordnung der Gegenstände in dieser Küche. Wenn die Unordnung groß ist, überrascht es mich nicht, die Löffel ausgerechnet hier zu finden. Wenn die Unordnung gering ist, nehme ich mit Überraschung und entsprechendem Aha-Effekt zur Kenntnis, dass offensichtlich in dieser Schublade das Besteck und deswegen in anderen Schubladen etwas anderes zu finden ist“ (ebd.: 19 f., Hervorheb. RHP). Baecker geht also davon aus, dass an einer Information entscheidend ist, inwiefern sie Vorstellungen von Ordnung zu motivieren und zu stützen vermag. Information überrascht, sofern sie das Erkennen (die Konstruktion) von Ordnungszuständen erlaubt und dazu anregt, auf Basis des Erkannten weitere Informationen zu Zwecken der Mitteilung (Kommunikation) zu selektieren, um auf diesem Wege noch mehr über die angenommene Ordnung in Erfahrung bringen zu können. Was überrascht ist im Sinne Baeckers also das, was auf Zusammenhänge schließen lässt und nicht das, was irritiert und lähmt, weil es sich überhaupt nicht „fügen“, „einordnen“ und somit „verstehen“ lassen will (vgl. ebd.: 19). Für die Modellierung von kommunikativen Strukturdynamiken ist mit Blick auf Baeckers Verständnis von Informativität wesentlich, dass Kommunikation immer dann bevorzugt weiter geht, wenn eine Information zum einen Möglichkeiten klar einschränkt, es zum anderem Rezipientinnen/Rezipienten aber auch problemlos ermöglicht, sie (individuell) in (bestimmte) Zusammenhänge zu integrieren – und zwar so, dass sich (Frei-)Räume ergeben, selbst zu (re)agieren. Durch Informationen ausgelöste Überraschungen leiten auf diese Art und Weise die erneute Selektion von Information und Mitteilung an, bedeuten aber auch, dass Dinge immer wieder anders als bisher behandelt werden und sich Bedeutungen und Deutungen in ihrem Sinngehalt und ihrer Relevanz verschieben
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(können). Wie diese „Verschiebungen“ aufgenommen werden und welche Folgen sie möglicherweise wieder haben, hängt dann wiederum von kommunikativen Reaktionen, von Folgeanschlüssen ab. Auch hier wird noch einmal deutlich, dass sich Sachverhalte zwar in der Kommunikation wiederholen mögen, sie dies aber nie in identischer Weise tun. Mitteilungen „überraschen“, d.h. sie lassen sich in Ko- und Kontexte einordnen; diese Ko- und Kontexte der Informationsverarbeitung werden durch den Sinngehalt der Mitteilung selbst aber modifiziert, und erneute Mitteilungen und die Reaktionen hierauf bedeuten schließlich ebenso eine Modifikation des sozial „geteilten“ Wissens um Ko- und Kontexte der Informationsverarbeitung (akzeptierte Deutungsmuster, Bedeutungen, von Gruppen geteilte Ansichten, Meinungen, Interpretationen etc.). Es ist in diesem Sinne also Überraschung, die als „Motor“ der Emergenz des Sozialen fungiert, indem sie BeobachterInnen vor dem neuerlichen Anschluss dazu bringt, über (soziale) Zusammenhänge nachzudenken und auch die eigene Beobachtungsperspektive vor dem und für den neuerlichen Anschluss mit zu reflektieren.
3.5 Die Koevolution von Kommunikation, Sprache und Bewusstsein 3.5.1 Soziale Emergenz und Steuerungsprobleme In jüngster Zeit hat sich auch Helmut Willke mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die Entstehung, (Re-)Produktion und Transformation sozialer Ordnung bzw. sozialer Systeme kommunikationstheoretisch-prozessual und damit auch in emergenztheoretischer Perspektive modellieren lässt (Willke 2005). Soziale Systeme stellen für Willke „symbolische Systeme“ dar, die, verstanden als irreduzible Phänomene, im komplexen und durch strukturelle Kopplungen ermöglichten Zusammenspiel von Denken, Sprache und Kommunikation emergieren. Im Gegensatz zu Luhmann definiert Willke nicht nur Bewusstseins- und Kommunikationssysteme, sondern auch die Sprache als ein eigenständiges, autopoietisches Symbolsystem (vgl. ebd.: 8). Ziel seiner im Untertitel als „Grundriss“ einer neuen soziologischen Theorie ausgewiesenen Abhandlung über symbolische Systeme ist es darzulegen, wie soziale Systeme prozessual im Zuge des bereits erwähnten Zusammenspiels von Denken, Sprache und Kommunikation emergieren und ebenso zu ergründen, ob und inwiefern sich die Autopoiesis sozialer Systeme steuern lässt. Willke schließt also auch mit seinen neueren kommunikationstheoretischen Arbeiten an die Theorie „dezentraler Kontextsteuerung“ an (vgl. hierzu im Besonderen Willke 1997).
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Willke erörtert, dass der Begriff der „Emergenz“ „(...) im Rahmen eines systemtheoretischen Paradigmas den Übergang von einer Systemebene zu einer nächsten Ebene organisierter Komplexität“ bedeute. Dabei gelte, dass sich die Eigenschaften dieser nächsten Ebene organisierter Komplexität nicht aus den Eigenschaften der sie bedingenden oder konstituierenden Elemente ableiten lassen (Willke 2005: 47). Der Begriff der Emergenz ist für Willke nicht ausschließlich mit Vorstellungen von momentaner Neuheit verknüpft, sondern nach seinem Dafürhalten ein Begriff, der es auch erlaubt, Prozesse der Systemkonstitution und -stabilisierung zu bezeichnen. Er deutet Willke zufolge konkret auf jenen Prozess hin, in dessen Verlauf es einem „zufällig-evolutionär entstandenen Kontext“ gelingt, sich selbst als System strukturell zu verfestigen (vgl. ebd.: 47). Aus system- bzw. symboltheoretisch orientierter Perspektive ist damit also vornehmlich zu klären, wie ein „daueremergentes“ System seine Autopoiesis ausrichtet und es dazu kommt, dass zunächst zufällig entstandene Eigenschaften eines Zusammenhangs von Elementen auf einer höheren Ebene organisierter Komplexität kontinuierlich reproduziert werden.
3.5.2 Symbolische Systeme Bevor wir uns im Folgenden weiter mit den emergenz- und interferenztheoretischen Überlegungen Willkes auseinandersetzen wollen, ist an dieser Stelle kurz zu skizzieren, in welcher Perspektive Willke den Zusammenhang von Bewusstsein, Sprache und Kommunikation thematisiert und welche entsprechenden Definitionen er seiner Theorie symbolischer Systeme zugrunde legt. Schauen wir uns zunächst das der Theorie symbolischer Systeme zugrunde liegende Sprachkonzept näher an und kommen wir noch einmal kurz auf Luhmann zurück. Wie schon erwähnt, hat sich Luhmann im Rahmen seiner allgemeinen Theorie sozialer Systeme dagegen entschieden, Sprache als ein eigenständiges System zu definieren. Die Gründe hierfür liegen zum einen darin, dass Luhmann zufolge bislang nicht hinreichend deutlich geworden ist, worin die genuine, systemdeterminierte Operation des Systems Sprache bestehen könnte, und zum anderen darin, dass Luhmann vor allem daran gelegen ist, die soziale Bedeutung und die sozialen Funktionen von Sprache so allgemein und so abstrakt wie möglich zu erfassen. Luhmann ist nicht interessiert an einer Erforschung der grammatikalischen und syntaktischen Strukturen und Regeln der (Schrift-)Sprache; er fragt vielmehr nach den grundlegenden sozialen Leistungen oder Eigenschaften von Sprache, um herausfinden zu können, wie diese die Autopoiesis sozialer Systeme ermöglichen und beeinflussen. Luhmann identifiziert schließlich drei wesentliche strukturelle Eigenschaften der Sprache, die es ihm erlauben, Sprache als Medium
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der strukturellen Kopplung von Bewusstseins- und Kommunikationssystemen zu konzipieren. Hierzu zählen: (1) Sequentialität, (2) die Differenz von Medium und Form und (3) das Vermögen binärer Codierung (vgl. hierzu auch Luhmann 1998b: 205 ff.). Die Sequentialität des Sprach- bzw. Kommunikationsgeschehens führt dazu, dass Kommunikation als eine Kette von „ereignishaften Beiträgen“ (Srubar 2005: 610) individueller SprecherInnen beobachtet wird und Sprache die Autopoiesis des Bewusstsein und der Kommunikation auf eine ganz bestimmte Art und Weise miteinander synchronisiert und prägt: „Sprache ist an den Hörsinn gebunden, und das erzwingt, anders als das Sehen, zeitliche Sequenzierung der Kommunikation, also Herstellung einer Ordnung im Nacheinander. Die jeweils anklingenden Unterscheidungen müssen einander im Nacheinander Sinn geben; ihre Rekursionen benötigen Zeit und können sich nicht aus der gleichzeitig gesehenen Welt ergeben – und dies auch dann nicht, wenn man jemanden sprechen sieht“ (Luhmann 1984: 213). Als Medium, das in der Kommunikation auf der Basis kontinuierlicher Formbildungen immer wieder aktualisiert wird, leistet Sprache die strukturelle Kopplung der autopoietischen Systeme Bewusstsein und Kommunikation. Und die Binärcodierung der Sprache sorgt schließlich dafür, dass es möglich wird, Sinnofferten abzulehnen und Realitätskonstruktionen zu prüfen, d.h. diese in der Kommunikation zu diskutieren und durch alternative Deutungen herauszufordern. Willke behauptet im Gegensatz zu Luhmann nun, dass sehr wohl hinreichend genau angegeben werden könne, worin die Operation der Sprache als System bestehe. Er kritisiert, dass sich Luhmanns Ausführungen zur Sprache einseitig auf ihre Funktion als gesprochene Sprache, als „langage“, konzentrieren würden, während dieser es versäume, nach der sozialen Bedeutung der inneren Form von Sprache als Zeichensystem zu fragen. Willke zufolge lassen sich im Rahmen einer Analyse dieser inneren Form der Sprache wichtige Erkenntnisse gewinnen, die es erlauben, mehr über die Kommunikation und damit auch über die Autopoiesis sozialer bzw. allgemein über die Autopoiesis symbolischer Systeme in Erfahrung zu bringen: „Die basale Operation der Sprache (langue) ist daher der Vollzug semantischer Relationierung im Kontext eines systemspezifischen Beziehungsgefüges. Da jeder Vollzug als basale Operation zugleich das Sprachsystem reproduziert, handelt es sich um ein operativ geschlossenes, selbstreferentielles System“ (Willke 2005: 17). In ihrem durch den „Willen zum Sprechen“ (vgl. ebd.: 17) angestoßenen Prozessieren als Symbolsystem wirkt Sprache zwangsläufig und unmittelbar irritierend auf die Autopoiesis von Bewusstsein und sozialen Systemen ein. Für Willke lässt sich soziale Emergenz daher nicht im Rahmen eines ausschließlich auf die Operationslogik der Kommunikation fokussierenden Ansatzes erklären, sondern er ist überzeugt davon, dass der Schlüssel zum Verstehen und zur Erklärung der (Re-)Produktion und Transfor-
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mation von sozialen Strukturen in der Analyse des Zusammenspiels der Sprache (verstanden als Symbole miteinander verknüpfendes und Bedeutungen in der Form von Begriffen „repräsentierendes“ System) mit den Prozessen des Bewusstseins und der Kommunikation liegt. Setzt sich Willkes Sprachkonzeption noch deutlich von der Sprachkonzeption Luhmanns ab, so sind Differenzen mit Blick auf die jeweiligen Vorstellungen von Bewusstsein und Kommunikation kaum zu erkennen. Auch Willke definiert das menschliche Bewusstsein als ein operativ geschlossenes, selbstreferentielles System, das seine Reproduktion ausschließlich auf der Basis von aneinander anschließenden Gedanken organisiert (vgl. ebd.: 33) und sich selbst als kognitives und reflexives System, „(...) sowohl in der prozessualen Ordnung einzelner Gedanken wie auch in der strukturellen Kopplung sozialisierter >>interiorisierter<< (..) Gedankenmuster oder mentaler Konstrukte (...)“, erfährt und beschreibt und auf diese Weise schließlich eine eigene Identität ausbildet (vgl. ebd.: 86). Wie schon erwähnt, lassen sich auch mit Blick auf die jeweiligen Vorstellungen von Kommunikation kaum Unterschiede zwischen Luhmann und Willke feststellen, sodass hier lediglich kurz erläutert werden soll, auf welche Aspekte von Kommunikation Willke im Besonderen mit Blick auf das Zusammenspiel von Bewusstsein, Sprache und Kommunikation abhebt. Interessant ist, dass Willke den Sinn und Zweck des Verstehens ausdrücklich thematisiert. Ego trennt im Verstehen den Zusammenhang von Information und Mitteilung wieder auf und begründet so die Einheit der Kommunikation. Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass die Information für Alter und Ego immer eine andere ist und ihr Sinngehalt letztlich von den Ergebnissen des selbstreferentiellen Prozessierens des jeweiligen Bewusstseinssystems abhängt. Kognitiv wird unterschiedlich synthetisiert und differenziert. Helmut Willke schlägt deshalb vor, mit Blick auf den Inhalt von Mitteilungen nicht von Informationen, sondern von „Daten“ zu sprechen; diese würden erst wieder zu Informationen, sobald Ego erreicht wird und sie/er die beiden Selektionen Information und Mitteilung voneinander unterscheidet und den Inhalt der Mitteilung mit Relevanzen versieht, d.h. die neue Information in einen bereits bestehenden Erfahrungskontext einzuordnen versucht (vgl. zum Verhältnis von überraschender Information und individuell konstruierter Ordnung auch noch einmal Baecker 2005a: 19 f.). Nicht anders verhält es sich mit der Informationsselektion Alters. Auch auf ihrer/seiner Seite bedeutet die Auswahl einer Information als Bestandteil des Kommunikationsprozesses, dass sie/er Wahrgenommenes (Daten) auf der Basis von individuellen Selektionskriterien und Präferenzen so aufbereitet, dass die entsprechenden Sachverhalte vor dem Hintergrund des persönlichen Erlebens- und Erfahrungshorizontes Sinn machen und „informieren“ (vgl. hierzu Willke 2005: 106). Als Differenzieren auf der Basis selbstreferentieller Rekonstruktionen ist Verstehen jener Vor-
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gang, welcher die Produktion von Wissen bzw. von Wissensbeständen vorbereitet und anregt: „Die Höhe des Verstehens entpuppt sich als Zwischenstufe auf dem Weg, mit Hilfe von Verstehen etwas zu produzieren, was sinnhaft konstituierte Systeme brauchen und nutzen wie ein Fisch das Wasser: Es ist die Ressource Wissen“ (ebd.: 111). Die Entstehung und Veränderung von Wissensbeständen sind Ergebnisse der Einordnung von verstandenen Informationen in bestehende Erfahrungskontexte. Die Praxis der Verdichtung von Informationen zu Wissensbeständen oder der Einordnung von Informationen in solche Bestände lässt sich als Lernen bezeichnen (vgl. ebd.: 113). Und sobald Bewusstseinssysteme lernen, lernen auch soziale Systeme. Jedes vorgängig durch Verstehen teilkonditionierte („Pfadabhängigkeit“) und durch individuelle Selektionsleistungen („Freiheitsgrade“) neu auf den Weg gebrachte Mitteilen eines (Ego)Alters bedeutet immer auch, dass bereits in die Kommunikation eingeführter Sinn erneut „überformt“ bzw. (durch die Kommunikation selbst) in weitere Kotexte eingeordnet wird und somit die Dynamik der Autopoiesis eines sozialen Systems beeinflusst. Miteinander in Beziehung gesetzte Informationen können seit der Einführung und Verbreitung der Schrift und insbesondere seit der Erfindung des Buchdrucks auch als Wissensbestände „sichtbar“50 gemacht werden. Dokumentiertes Wissen stellt „explizites“ Wissen (ebd.: 117) dar, dass Einblicke in jene Abläufe, Regelmäßigkeiten und Regeln zulässt, die die Identität eines Systems definieren. Dokumentiertes Wissen macht die Eigenständigkeit des Sozialen sichtbar. Gesellschaftliches Wissen ist somit ein Resultat von Emergenzprozessen, die im Kontext der Theorie symbolischer Systeme als komplexes Zusammenspiel der Autopoiesis von Bewusstsein, Sprache und Kommunikation, d.h. als komplexe Netzwerke von ganz unterschiedlichen, parallel ablaufenden Prozeduren definiert werden. Soziale Emergenz ist die durch und in der (Schrift-) Sprache mögliche, die durch Symbole ermöglichte Generierung von Wissensbeständen im Bewusstsein und in der Kommunikation (Sprachformen, Semantiken, Deutungsschemata etc.): „Das generierte Wissen ist auf beiden Seiten ein unterschiedliches, weil die in der Praxis erzeugten Erfahrungen nach unterschiedlichen Regeln in unterschiedliche Praxiskontexte eingefügt werden und damit zu unterschiedlich ausgeprägten Selbstveränderungen der beiden Symbolsysteme führen. Kommunikative Praxis erzeugt deshalb gleichzeitig personales Wissen (Wissen der Personen) und kollektives Wissen (Wissen der sozialen Systeme). Eine sich in der 50
Mit dem Wissen verhält es sich wie mit der Kommunikation. Es lässt sich nicht direkt beobachten, sondern nur auf Umwegen erschließen: „Das in einem Praxiskontext durch Lernen gebildete Wissen lässt sich als implizites Wissen nicht beobachten. Auch auf der Seite der Personen kann niemand in den Kopf des anderen hineinsehen und feststellen, welches Wissen sich darin befindet. Erst explizites Wissen, also Wissen das expliziert, ausgesprochen, praktiziert, dokumentiert etc. ist, lässt sich beobachten. Streng genommen gilt auch hier, dass Wissen wie Verstehen nicht direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden kann“ (Willke 2005: 117).
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Operation des Verstehens vollendende Kommunikation hat Wirkungen auf der Seite der sprechenden Personen, deren mentale Symbolik die neuen Erfahrungen als individuelles Wissen speichert, und sie hat Wirkungen auf der Seite des involvierten Sozialsystems, dessen kommunikative Symbolik die neuen Erfahrungen – das, was dem Symbolsystem als differenzielle Aktivierung, Relationierung, Konfirmierung etc. bestimmter Komponenten widerfährt – als systemisches Wissen speichert“ (ebd.: 116). Emergenz lässt sich mit der Theorie symbolischer Systeme als ein komplexer Prozess fassen, der vor allem durch die Parallelität von unterschiedlichen Dynamiken gekennzeichnet ist. Da sich personales Wissen und codifizierte soziale Wissensbestände voneinander unterscheiden, kommt es immer wieder zu neuen Anlässen für Kommunikation, zur Genese neuen Wissens und zu Anpassungen. Helmut Willke spricht davon, dass Symbolisierungen an sich immer doppelt kontingent seien (vgl. ebd.: 118). Symbolverarbeitende mentale Systeme überführen diese doppelte Kontingenz schließlich in die Form von individuellen Erwartungen, welche wiederum die soziale Praxis von Alter und Ego anleiten und diesen helfen, soziale Situationen zu definieren. Die Folge des beständigen Aufbaus, der beständigen Stabilisierung und Veränderung von Erwartungsstrukturen sowie des sich immer wieder neu vollziehenden Zusammenspiels von Bewusstsein, Sprache und Kommunikation, der Produktion von Wissen, ist schließlich die Entstehung von höherstufigen sozialen Systemen wie z.B. von Organisationen und Funktionssystemen. Welcher Zugewinn mit der Modellierung von Sprache als selbstreferentielles System und nicht als Medium struktureller Kopplung für die Systemtheorie verbunden sein könnte, dies lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abschließend einschätzen. Während Willkes Überlegungen zur sozialen Emergenz in der Form von Stilen, Figuren, Semantiken, Regeln, Deutungsmustern etc. die Systemtheorie vor allem für Diskursanalysen und somit für empirische Forschungen anschlussfähig machen, stellt die Berücksichtigung der Sprache als autopoietisches System die systemtheoretische Forschung allerdings vor die nicht unerhebliche Frage, wie eine ausgewiesene und analytisch durchdachte Theorie struktureller Kopplung – nun jedoch von Bewusstsein, Kommunikation und Sprache – aussehen könnte. Wenn es sich bei der Sprache selbst um ein autopoietisches System handeln soll, muss nämlich geklärt werden, wie sich Bewusstsein, Sprache und Kommunikation jetzt wechselseitig irritieren, d.h. wie die Operationen des Bewusstseins, der Kommunikation und der Sprache miteinander zusammenhängen und vermittelt bzw. „gekoppelt“ sind. Die Vor- und Nachteile dieser Konzeption sind somit noch eingehend zu prüfen. In diesem Zusammenhang könnten auch neuere semiotische Studien von Bedeutung und Nutzen sein, denen daran gelegen ist, die Perspektive der modernen Zeichentheo-
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rie (insbesondere der Peirceschen Zeichentheorie) mit der Perspektive der soziologischen Systemtheorie nach Luhmann zu verbinden (vgl. Scheibmayr 2001 und 2004, Jahraus und Ort 2001 sowie Jahraus 2001).
3.5.3 Dynamische Eigenwerte Wir hatten in Kapitel (2) festgehalten, dass vor allem Eigenschaften sozialer Zusammenhänge, Entitäten, Gesamtheiten, Situationen, Prozesse oder Systeme als irreduzibel und somit als emergent verstanden werden können. Worin also schlagen sich gemäß der Theorie symbolischer Systeme die emergenten Eigenschaften sozialer Systeme nieder bzw. worin kommen sie zum Ausdruck? Willke geht davon aus, dass die emergenten Eigenschaften eines Systems in den „(...) systemspezifischen Mustern der Relationierung von Elementen“ (Willke 2005: 50) zum Ausdruck kommen bzw. auf diesen aufruhen würden. Diese Muster und Formen der Relationierung werden von ihm auch als „dynamische Eigenwerte“ bezeichnet. Empirisch beobachtbar seien sie als „Regeln (Brauch, Konvention, Norm, Wert, Gesetz etc.)“, in der Form von „Erwartungen, Rollen und Prozessen“ sowie in den „unterschiedlichsten Ausprägungen von Strukturen eines Systems“, in den „(..) Eigenwerten des Systems insgesamt, wie etwa Selbstbilder, Selbstbeschreibungen oder Selbstthematisierungen in Mythen, Ideologien etc. (..)“ (ebd.: 62). Systemkonstituierende und systemerhaltende Eigenwerte sind Akteuren zugänglich als „Muster und Formen der Syntaktik und der Semantik der Sprache“; Muster, die es Sprechern ermöglichen, Mitteilungen zu verstehen und Mitteilungen in anschlussfähiger Form zu produzieren (vgl. ähnlich auch Srubar 2005). Hieraus folgt für Willke, dass sich soziale Systeme vor allem dann als „Mit-sich-selbst-identisch-bleibende“-Systeme reproduzieren, sofern bestimmte Eigenwerte hinreichend stabil sind bzw. unterschiedlichen Kommunikatoren die für einen bestimmten Bereich des Sozialen typischen Verfahren, Prozeduren, Erwartungen, Deutungsmuster usw. hinlänglich bekannt sind. Kommunikative Verfahren und Prozeduren müssen ebenso wie Interpretationsrahmen und Deutungsmuster beständig aktualisiert (wiederholt) werden, damit die Wahrscheinlichkeit einer weitgehend unverändert erfolgenden Reproduktion eines Systemzusammenhanges hoch bleibt.51 Willke konzipiert die (Schrift-)Sprache 51
Was sich wiederholen muss, sind Typen bestimmter Anschlüsse bzw. Typen bestimmter Kommunikationsprozesse (vgl. ähnlich auch Göbel 2000: 186). Selbstredend ist jeder neue Kommunikationsanschluss immer anders gelagert als ihm ähnliche Anschlüsse, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt realisiert wurden. Günther Ortmann schreibt allgemein mit Blick auf die Bedeutung von Wiederholungen für die Emergenz sozialer Ordnung: „Paradox indes ist nur die Idee reiner Wiederholung, identischer Reproduktion. Von Heraklit bis Kierkegaard, von Deleuze bis Derrida, von Lacan bis Legendre und Agamben (...) reicht die Gemeinsamkeit in der
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als das autopoietische Symbolsystem, welches sowohl für die Autopoiesis des Bewusstseins wie auch für die Autopoiesis sozialer Systeme die unhintergehbare Basis bildet und als wesentliche Bedingung ihrer Möglichkeit fungiert. Auch wenn er davon spricht, dass Sprache die Basis für die Emergenz aller anderen symbolischen Systeme ist, so darf hieraus nicht geschlossen werden, dass Sprache stabil und unwandelbar ist bzw. sein muss oder im Zusammenspiel der symbolischen Systeme den Ton angibt. Veränderungen sind immer möglich, mit Variation ist zu rechnen. Variation bedeutet, dass alternative Semantiken in die Kommunikation eingeführt werden, erfolgreiche Variation, dass sich diese in und mit der Kommunikation durchsetzen können. Soziale Emergenz ist für Willke somit der unmittelbare Effekt der beständigen Koevolution von Bewusstsein, Sprache und Kommunikation. Als in „Mustern und Formen der Syntax und Semantik der Sprache“ (Willke 2005: 62) zur „Anzeige“ gebrachte Erwartungen, Rollen, Prozesse, Regeln, Normen, Werte etc. können dynamische Eigenwerte des Sozialen nur Wirkung entfalten, sofern Sprache in Bewegung gebracht und in Bewegung gehalten wird. Indem psychische Systeme Informationen auswählen und mitteilen und versuchen, Mitgeteiltes zu verstehen und hieran anzuschließen, werden Semantiken und Deutungsmuster nicht nur mit Hilfe von Sprache transportiert, sondern ebenso auch miteinander relationiert und weiterentwickelt. Die Relationierung von Sinnbeständen kann unterschiedlich verlaufen, je nachdem, welche Kommunikationsformen und -strategien psychische Systeme nutzen, und die Ergebnisse der Verkettung von Sinnbeständen hängen insbesondere davon ab, welche Semantiken den an der Kommunikation beteiligten Kommunikatoren zu bestimmten Zeitpunkten zugänglich waren bzw. sind. Hierin liegt nicht zuletzt das „Überraschungsmoment“ von Kommunikation begründet. Bewusstsein, Sprache und Kommunikation werden als autopoietische Systeme gleichermaßen durch das Universalmedium Sinn begründet. Willke interessiert sich nicht dafür, den Zusammenhang von Bewusstsein, Sprache und Kommunikation im Sinne des „Henne-Ei-Problems“ zu diskutieren; für ihn ist es wichtiger, deutlich zu machen, dass die konkreten Erscheinungsformen sowohl des Bewusstseins als auch von Sprache und Kommunikation in der immer gegebenen Differenz von Aktualität und Potentialität des Sinns, in der immer gegebenen Differenz von Realisiertem und Möglichem, in der immer gegebenen Differenz von tatsächlichem und auch (noch) möglichem Handeln und Erleben, in der immer gegebenen Differenz von Ereignis und (noch) Nicht-Ereignis wurzeln. Soziale Emergenz ist damit – so könnte man hier weiterführend formulieren – der Effekt einer kontinuierlichen Produktion und Verschiebung von SinnFrage, was die Wiederholung nicht ist und, genaugenommen, niemals sein kann: gleichförmiger Gang identischer Reproduktion“ (Ortmann 2003: 48, Hervorheb. im Original).
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grenzen in Anbetracht der unvermeidbaren Gleichzeitigkeit der Autopoiesis von Bewusstsein, Kommunikation und Sprachmustern/-bedeutungen (Semantik). Soziale Systeme lassen sich mit Willke als kommunikativ-symbolisch konstituierte soziale Zusammenhänge bestimmen, deren Identität durch symbolisierte Handlungen, sprachlich verfestigte Bedeutungen, miteinander verschränkte Erwartungen, verschriftlichte Verfahrensweisen etc. begründet wird: „Das Wissen eines Systems als Summe seiner Erfahrung sedimentiert in den Strukturen, Prozessen und Regeln dieses Systems. Diese Komponenten bewirken insgesamt eine bestimmte Ordnung und Organisierung der Operationsweise des Systems und legen in diesem Sinne seine innere Form fest“ (ebd.: 119 f., Hervorheb. im Original). Willke kritisiert vor dem Hintergrund seines Verständnisses von sozialer Emergenz, dass sich die soziologische System- und Kommunikationstheorie bislang nur ungenügend darum gekümmert habe zu erforschen, wie sich die innere Form sozialer Systeme als Wechselspiel von Bewusstsein, Sprach/Bedeutungsstrukturen und Kommunikation erklären lässt. Ähnlich wie Thomas Malsch, der die Emergenz höherstufiger sozialer Phänomene auf die Stabilisierung von Anschlussmustern zurückzuführen sucht (vgl. Malsch 2005: 223 ff.), betont auch Willke die Bedeutung der Ausprägung und Wiederholung von Kommunikationsmustern für die Emergenz sozialer Ordnung und die „Organisierung der Operationsweise“ von sozialen Systemen (Willke 2005: 119 f.). Die thematische Ordnung von Kommunikationsprozessen ist zunächst eine wesentliche Grundlage dafür, dass sich erste Anschlussmuster und semantische Bezüge ausprägen können (vgl. ebd.: 120), welche u.a. im Rahmen von Wiederholung und Bestätigung aber auch auf der Basis von Revision und Konflikt schließlich eine Verfestigung (in ihrer ursprünglichen oder auch in einer modifizierten Form) erfahren. Als wichtigste Archetypen der Systembildung und somit von der kommunikationstheoretischen Analyse zu berücksichtigende Grundtatbestände sozialer Emergenz nennt Willke Erscheinungsformen der Identität und der Differenz, Komplexität und Selektivität, Kontingenz und Negation sowie Reflexion und Selbstreferenz (ebd.: 121). Sich in der Kommunikation ausprägende Anschlussmuster können sowohl von psychischen wie auch von sozialen Systemen beobachtet werden und Selektionsentscheidungen beeinflussen. Die thematische Integration der Kommunikation, die beständige Wiederholung bestimmter Typen von Selektionen und die Stabilisierung von Anschlussmustern sind wesentliche Momente jener sozialen Mechanismen, die die Autopoiesis eines sozialen Systems sichern helfen. Sich allgemein auf symbolische Systeme sowie auf organische und anorganische Systeme beziehend erläutert Willke zu Mechanismen der Strukturbildung: „Bei allen symbolischen Systemen, wie im übrigen sogar in anorganischen und organischen Systemen, geht es um (unterschiedliche) Mecha-
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nismen für den Aufbau interner Strukturen, für die Selbstorganisation der systemischen Prozesse und die Gestaltung der Regelsysteme, welche die Identität des spezifischen Systems schaffen. Mit Strukturaufbau, Prozessorganisation und Regelbildung schafft sich ein System eine bestimmte, idiosynkratische Identität“ (ebd.: 121). Soll soziale Emergenz erklärt werden, so sind zunächst also insbesondere Prozesse der Musterbildung näher zu untersuchen, und es ist danach zu fragen, inwiefern Anschlussmuster das Erscheinungsbild sozialer Systeme prägen und somit auch ihre Grenzen und ihre Identität(en) sichtbar machen. Obwohl Willke dezidiert auf die Bedeutung der Entstehung von Kommunikationsmustern hinweist und soziale Mechanismen als „Movens“ sozialer Emergenz thematisiert, sind konkrete Beispiele für Mechanismen jedoch rar gesät. Zwar wird der Zusammenhang von Wissensgenerierung und Systememergenz thematisiert, Mechanismen des (systemischen) Lernens und der (systemischen) Wissensproduktion werden von Willke aber nicht in aussagekräftiger Form modelliert. Stattdessen wird immer wieder auf die sozialkonstitutiven Effekte von Prozessen der „Selbstverstärkung“, von „Widerspruch“ und „Indifferenz“, auf den „Umgang mit Fehlern, Risiken und Abweichung“ im Kontext von Organisationssystemen oder auch unspezifisch auf das „Zusammenspiel zwischen dem Lernen/Wissen von Personen und dem Lernen/Wissen der Sozialsysteme“ hingewiesen (vgl. ebd.: 134). Abschließend auf das Problem der symbolischen Steuerung eingehend definiert Willke vier Formenprinzipien, die den Zusammenhang von Reflexion und Selbstreferenz, verstanden als lokales wie globales Strukturbildungsprinzip bzw. lokalen wie globalen Strukturbildungsmechanismus, ausmachen: (1) Phänomene der Identitätsentstehung und Differenzierung als „archetypische Formen der Variation“, (2) das Verhältnis von Komplexität und Selektivität als „das Dual der Form der Selektion“, (3) das Verhältnis von Kontingenz und Negation „als archetypische generative Form der Retention“ sowie (4) allgemein den Zusammenhang von Reflexion und Selbstreferenz (vgl. ebd. 141). Diese Formenprinzipien legen nahe, dass soziale/kommunikative Mechanismen im Sinne einer symbolischen Theorie sozialer Systeme als spezifische Ausprägungen von Variations-, Selektions- und Retentionsprozessen konzipiert werden müssen. Was trotz der ausführlichen Bestimmung eines mechanismenaffinen kommunikationstheoretischen Rahmens fehlt, sind aber konkrete Beispiele zur Modellierung von systemkonstitutiven Mechanismen der Variation, Selektion und Retention. Obwohl Willke sich intensiv mit dem Problem der Steuerung sozialer Systeme auseinandersetzt und danach sucht, symbolische Steuerung als einen spezifischen sozialen Mechanismus zu konzipieren, bleibt offen, wie sich die „Ablauflogik“ symbolischer Steuerung auf der Ebene kommunikativer Anschlüsse fassen lässt
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und welche spezifischen Strukturdynamiken Ausdruck und Folge von Versuchen symbolischer Steuerung sind. Hier zeigt sich, dass Willke seinen Überlegungen keinen dezidierten Mechanismenbegriff zugrunde legt, wie er z.B. für zum „mechanisms-based approach to social theory“ (Hedström und Swedberg 1998b: 2) zählende Ansätze typisch ist, sondern dass er den Begriff stattdessen eher unspezifisch verwendet, um das Phänomen der Ordnungsentstehung und Ordnungsstabilisierung theoretisch „einfangen“, und jene Prozesse bezeichnen zu können, die als „Triebfeder“ der Emergenz sozialer Systeme wirken. An diesem Punkt besteht also Forschungsbedarf. Interessant und gewinnbringend dürfte es im Sinne einer kommunikationstheoretisch-erklärend verfahrenden Soziologie vor allem sein, empirische Prozesse der Musterbildung, -stabilisierung und -zerstörung (in unterschiedlichen Systemzusammenhängen) zu analysieren und ihre Ablauflogik unter Berücksichtigung des sich jeweils ergebenden Zusammenspiels von Bewusstseinsprozessen, Kommunikationsanschlüssen und der Evolution von Semantiken zu modellieren (vgl. für einen entsprechenden Ansatz Vogd 2005). Zweifelsohne vermag die systemtheoretisch orientierte Kommunikationssoziologie diese drei Bereiche unterschiedlich gut abzudecken. Während das begriffliche Instrumentarium der systemtheoretisch fundierten Kommunikationstheorie scheinbar immer stärker darauf hin ausgerichtet wird, die Dynamik von Kommunikation besser erfassen und die Emergenz sozialer Strukturen ganzheitlich erklären zu können, und z.B. die „dokumentarische Methode“ (vgl. u.a. ebd.: 30 ff.) oder auch die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse es möglich machen, die soziale Konstitution von Semantiken sowie ihre Veränderung nachzuvollziehen (vgl. u.a. Schwab-Trapp 2001 sowie Knoblauch 2001), sind Aussagen über Beobachtungsoperationen psychischer Systeme in systemtheoretischer bzw. systemtheoretisch informierter Perspektive nur begrenzt möglich. Hier muss sich die Analyse streng genommen auf die kommunikativ beobachtbaren Effekte des Zusammenspiels von Bewusstsein und Kommunikation beschränken.
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3.6 Kommunikationsanschlüsse und Ordnungsmuster – Die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung 3.6.1 Vom systemtheoretischen Kommunikationsmodell zum „CommunicationOriented Modelling“ Eine weitere Theorie, die in den letzten Jahren im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kommunikationsmodell Luhmanns entwickelt wurde, ist die Kommunikationstheorie des „Communication-Oriented Modelling“ (vgl. Malsch und Schlieder 2004, Malsch 2005 sowie Malsch et al. 2007). Die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung greift einerseits grundlegende Prämissen der Systemtheorie Luhmanns auf, geht im Hinblick auf die Erklärung der kommunikativen Emergenz sozialer Ordnung aber eigene Wege. Ergebnis der theoretischen Arbeit ist ein „Zwei-Ebenen-Modell“ (Perschke und Lübcke 2005: 7; vgl. zur Anlage dieses Modells ausführlich Malsch 2005) der Kommunikation, welches es in besonderem Maße erlaubt, den Blick auf soziale Strukturdynamiken zu lenken. Mit der Entwicklung der COM-Theorie wurde das Ziel verbunden, der kommunikationssoziologischen Forschung ein begriffliches Instrumentarium bereitzustellen, das es erlaubt, die Entstehung, die (Re-)Produktion und die Transformation sozialer Strukturen „bottom up“52, unter Rekurs auf Ketten und Netze von Kommunikationsanschlüssen, zu erklären (vgl. Malsch 2005: 9 sowie 22). Anliegen der Theorie ist es, soziale Phänomene als kommunikativ verfasste Phänomene zu dechiffrieren. Vor diesem Hintergrund koppelt die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung systemtheoretische Argumente, semiotische Grundlagen und wesentliche Annahmen des symbolischen Interaktionismus über den soziologischen Grundbegriff der Kommunikation aneinander. Während Niklas Luhmann das Problem der Emergenz sozialer Ordnung als Problem der Systemdifferenzierung formuliert hat, interessiert sich die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung nicht unmittelbar für die Ausdifferenzierung von Systemtypen und System/Umwelt-Differenzen sowie die damit verbundenen Fragen nach der Be52
Ebenso wenig, wie die Luhmannsche Systemtheorie „Emergenz von unten“ leugnet, vernachlässigt die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung das Moment der „Konstitution von oben“. Anders als der Systemtheorie Luhmanns ist ihr jedoch mehr an den „unmittelbaren“, prozessual-strukturellen Effekten (Strukturdynamik) der Kommunikation gelegen bzw. an der Frage, wie neue Kommunikationsanschlüsse die Bedeutung zurückliegender Anschlüsse verändern und so die Wahrscheinlichkeit von zukünftigen Kommunikationsanschlüssen beeinflussen können. Die mit der Theorie eingenommene „bottom up“-Perspektive zeugt keineswegs von „theoretischer Rigidität“, sondern weist vielmehr darauf hin, wie wichtig es für gehaltvolle, prozess- und mechanismenorientierte Erklärungen sozialer Strukturbildung ist, zunächst so weit als möglich die unmittelbaren Effekte der Relationierung von Kommunikationsereignissen zu ergründen, bevor eine Zuflucht in makrotheoretischen Begriffen gesucht wird.
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deutung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, struktureller Kopplungen und Interpenetrationen, sondern für die operative Kopplung von Kommunikationsereignissen und die Effekte beobachtbarer Kommunikationsanschlüsse. Kurz: Sie interessiert sich für den Kommunikationsprozess an sich. Den Ausgangspunkt theoretischer Erörterungen und empirischer Analysen bildet die Frage, wie Kommunikationsanschlüsse zustande kommen und was sie für die Entstehung und Reproduktion von Sozialität bedeuten. Bevor ausgesuchte Konzepte der Theorie im Mittelpunkt der Betrachtung stehen werden, soll hier zunächst geklärt werden, was gemeint ist, wenn im Kontext der Theorie davon gesprochen wird, dass soziale Ordnung auf Kommunikationsanschlüssen aufruht. Soziale Ordnung lässt sich in der Perspektive des COM als vorübergehend „gebändigte“ Dynamik der Kommunikation verstehen. Sie spiegelt sich gemäß der Theorie in mehr oder weniger stabilen Kommunikationsmustern, in wiederkehrenden Kommunikationsprozeduren und –verfahren sowie in mehr oder weniger ausdrücklich bestätigten Signifikanzen und Relevanzen53 wider und kann anhand der erwähnten Muster beobachtet werden. Musterbildung steht u.a. im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Theorie: „Zunächst ist festzuhalten, dass grundsätzlich jeder Kommunikationsprozess basale Muster entstehen lässt, denn er basiert immer auf den selektiven Anschlüssen von Kommunikationen an bestimmte vorangegangene Kommunikationen. Diese selektive Verknüpfung bildet immer schon ein Muster aus, das prinzipiell auch von einem Beobachter als solches wahrgenommen werden kann. Musterbildung kann in Kommunikationsprozessen also primär als selektiver Anschluss von Nachrichten an Nachrichten beobachtet werden. Es entsteht so ein ganz spezifisches Kommunikationsnetzwerk mit einer jeweils eigenen Vernetzungsdynamik“ (Malsch, Perschke und Schmitt 2006: 51). „Bändigung“ bzw. Formung und Gestaltung (wohlgemerkt nicht das „Ausschalten“) kommunikativer Dynamik bedeutet vor allem die Einschränkung von Freiheitsgraden und die Eröffnung bestimmter Anschlussmöglichkeiten im Rahmen eines Kommunikationsprozesses. „Bändigung“ heißt schließlich auch, dass sich mit der Zeit typische Formen des Anschlusses von Kommunikationsereignissen an Kommunikationsereignisse bzw. -prozesse einschleifen, dass Pfadabhängigkeit entsteht: Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens bestimmter Referenzen bzw. bestimmter Formen operativer Kopplungen zwischen Mitteilungen erhöht sich, die Wahrscheinlichkeit des Eintretens anderer nimmt hingegen ab. Referenztypen und Referenzierungsmuster, so eine der wesentlichen Annahmen der Theorie, können in der Kommunikation nur dann (wei53
Der Begriff der Signifikanz weist im Kontext der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung auf die Sachdimension des sozialen Sinns hin, der Begriff der Relevanz bezeichnet die handlungspragmatische Bedeutung von Inhalten der Kommunikation (vgl. Malsch 2005: 170 ff.). Wir werden auf beide Begriffe noch ausführlich zu sprechen kommen.
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terhin) Wirkung entfalten, sofern und solange neue Ereignisse dafür sorgen, dass sie als spezifische Arten und Weisen der Kopplung von Kommunikationsereignissen bzw. der Kopplung von kommunikativen Operationen zweier oder mehrerer Prozessoren nicht in „Vergessenheit“ geraten und sichtbar bleiben, d.h. sofern und solange sie in und mit der Kommunikation „erinnert“ werden. Mit dem Moment ihres Eintretens „bekommen“ Kommunikationsereignisse die Chance, prokursiv auf die Sinngehalte und den Anschluss zukünftiger Mitteilungen zu wirken. Anschlüsse bedeuten in der Perspektive der COM-Theorie zum einen, dass Sinngehalte verarbeitet werden und sozialer Sinn konsolidiert wird, zum anderen aber auch, dass die Sichtbarkeit referenzierter Mitteilungen ummittelbar erhöht wird, sofern der zwischen einer „predecessor“ und einer „successor message“ bestehende Zusammenhang denn (mehr oder weniger deutlich) kenntlich gemacht wird und nicht implizit oder vage bleibt (vgl. Malsch und Schlieder 2004: 117 ff.). Bleiben Bezugnahmen aus, so steigt die Gefahr, dass eine Mitteilung und ihre Inhalte mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Im Rahmen der Theorie wird auch vom sozialen „ageing“ einer Mitteilung gesprochen (vgl. Malsch et al. 2007: 3.7). Anschlüsse in der Form von neuen Mitteilungen und explizite Referenzen bedeuten hingegen, dass eine vergangene Mitteilung bzw. ihre Inhalte sichtbar erinnert werden und weiterhin Relevanz für eine sich entfaltende Kommunikationsepisode „beanspruchen“ können.54 Am Beispiel des Verhältnisses von „älteren“ und neuen Mitteilungen in einem Kommunikationsprozess erläutert Malsch die soziale Bedeutung des Referenzierens wie folgt: „Erinnern heißt Referenzieren (...): auf einen schon länger zurück liegenden, früheren Beitrag einzugehen anstatt auf die direkt vorausgehende Mitteilung, dadurch die soziale Visibilität jenes früheren Beitrags zu erhöhen und dessen Anschlusswert im Fortgang einer laufenden Diskussion zu steigern – und, das ist die Kehrseite allen Visibilisierens, dadurch die direkt vorausgehende Mitteilung absichtlich oder unabsichtlich zu devisibilisieren. Vergessen heißt: eine Mitteilung nicht mehr wiederverwenden, nicht wiederholen, nicht rezipieren, nicht referenzieren“. Kommunikation prägt somit Strukturmuster aus, indem sie zwischen Erinnern und Vergessen „laviert“ (Malsch 2005: 247). Je nachdem, welchen Verlauf die Kommunikation nimmt, können sich basale Muster der Kommunikation schließlich zu komplexeren „Reproduktionsmustern“ (ebd.: 160) weiterentwickeln. „Reproduktionsmuster“ oder kommuni54
Voraussetzung für eine solche „Erinnerungsarbeit“ ist natürlich, dass der Inhalt vergangener Mitteilungen verfügbar ist und bleibt. Zugänglichkeit sichert zum einen das menschliche Gedächtnis, wichtiger sind in entwickelten Gesellschaften aber Speichermedien. Sie halten die Ereignisresultate vergangener Kommunikationen vor, wobei allerdings auch hier nie völlig ausgeschlossen werden kann, dass es zu Verlusten kommt. Papier zerfällt und die Formate elektronischer Speicherung verändern sich, ohne dass eine jede Information konvertiert wird. Mögliche Datenverluste sind ein ernstes Problem.
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kative Ordnungsmuster sind bestimmte Abfolgen oder Formen des Anschlusses von Kommunikationsereignissen an Kommunikationsereignisse, die trotz wechselnder Inhalte immer wieder auftreten; Formen, die sich „mit der Zeit gegen die Zeit“ etablieren. Beispiele für solche kommunikativen Ordnungsmuster sind typische Verfahrensweisen oder Prozeduren; nennen lassen sich u.a. Verhandlungen, Auktionen, Prüfungsgespräche aber auch typisch alltägliche, basale Kommunikationsepisoden (Begrüßungsrituale, der Kauf von Waren etc.). Ordnungsmuster stellen typische Verlaufsformen von Kommunikationsprozessen dar, und es sind diese Verlaufsformen, für die sich die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung in emergenztheoretischer Hinsicht in besonderem Maße interessiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass Anschlussmustern nur solange Bedeutung für die Emergenz des Sozialen zukommen kann, wie diese auch tatsächlich (immer wieder) aktualisiert werden. Kommunikationsepisoden und Verfahren müssen formgleich wiederholt werden, Referenzen müssen immer wieder auf ähnliche Art und Weise den Zusammenhang zwischen Kommunikationen vermitteln, und nur auf diese Weise bleiben sie als typische Referenzen und in ihrer Kombination als typische Referenzierungsmuster sozial relevant.55 Stabile soziale Strukturen oder ordnungserhaltende Sinnstrukturen werden im Kontext des Communication-Oriented Modelling somit als „dauerhafte Reproduktionsmuster“ der Kommunikation definiert, welche das Erscheinungsbild von dynamischen Kommunikationsnetzwerken prägen. Bleibt noch zu klären, wie die Theorie Wandel versteht bzw. wie im Rahmen der Theorie die Emergenz neuer Reproduktionsmuster verstanden und konzipiert wird. Thomas Malsch erörtert hierzu: „Wenn aber die Zeitstabilität von Strukturen auf der Instabilität ihrer Elemente beruht und die Diskontinuität ihrer elementaren Ereignisse zur Bedingung struktureller Kontinuität wird, dann ist damit zugleich mitgesagt, was gesellschaftlicher Wandel ist und wie er sich als Strukturwandel vollzieht: als zunächst zufällige Abweichung von einem routinemäßig etablierten Reproduktionsmuster nebst subsequenter, und dann gar nicht mehr zufälliger Restabilisierung der Abweichung in Form eines neuen Reproduktionsmusters“ (ebd.: 160). Dem Vorbild der Systemtheorie Luhmanns folgend versucht somit auch die Theorie kommunikationsorientierter Modellierung unmittelbar einzulösen, was Gudmund Hernes einst ganz allgemein von der Soziologie forderte: das sie in der Lage sein sollte, sowohl Stabilität als auch Wandel auf ähnliche Art und Weise 55
„Und wenn sie [Stabilisierung, RHP] denn gelingt und Strukturbildung und -reproduktion tatsächlich stattfindet, so ist der Stabilisierungserfolg allein daran ablesbar, dass sich Kommunikationen mit bestimmten Kommunikationsanschlüssen ein um das andere Mal wiederholen, dass sie regelmäßig und immer wieder benutzt, und im Regelmaß kontinuierlich reproduziert werden, während andere Anschlüsse sich zufallsbedingt, jedenfalls irregulär wiederholen oder bereits nach einmaligem Auftritt sich endgültig verabschieden und von der Bildschirmoberfläche verschwinden“ (Malsch 2005: 160).
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Theoretische Betrachtungen zum Nachtragsmanagement der Kommunikation
erklären zu können, und zwar als Resultate der unterschiedlichen „inneren Ordnung“ und unterschiedlichen Dynamik sozialer Prozesse (Hernes 1976: 514). Dass sie den dynamischen Charakter sozialer Ordnung erneut bewusst werden lässt, ist ein besonderes Verdienst der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung. Die Theorie plädiert dafür, soziologische Analysen immer als Analysen der Dynamik sozialer Prozesse, und dies heißt konkret, als Analysen des Verlaufs von Kommunikationsprozessen (von Anschlüssen und Referenzstrukturen) anzulegen – egal, ob sich Ordnungsmuster in der Kommunikation nun reproduzieren und damit stabilisieren, oder ob sie eine Transformation erfahren. Anschluss- und Reproduktionsmuster (wiederkehrende Strukturdynamiken) sind also jene sozialen Phänomene, die der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung primär als unmittelbarer Ausdruck sozialer Ordnung und somit als basale soziale Strukturen gelten. Damit bleibt jedoch weiterhin zu klären, worauf die Emergenz dieser kommunikativen Ordnungsmuster beruht: Wie werden Kommunikationsanschlüsse im Rahmen der Theorie beobachtet und erklärt? Mit welchen Grundbegriffen wird im Rahmen der Theorie gearbeitet? Fragen, die im nächsten Abschnitt erörtert werden sollen.
3.6.2 Das Zwei-Ebenen-Modell kommunikativer Dynamik Die COM-Theorie fokussiert in besonderem Maße auf die zwischen verschiedenen Mitteilungen bestehenden Referenzstrukturen und fragt danach, was es für die Entstehung, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung bedeutet, wenn bestimmte Mitteilungen immer wieder neu referenziert und bestimmte Typen von Anschlüssen in Kommunikationsprozessen wiederholt realisiert werden, andere hingegen jedoch nicht. Mitteilungen, so die Theorie, unterscheiden sich immer in ihrer sozialen Sichtbarkeit und Anschlussfähigkeit (vgl. Malsch und Schlieder 2004: 117 ff. sowie 121 ff.). Dieser Fokus auf Referenzstrukturen, Anschlussfähigkeit und Sichtbarkeit wird im Rahmen des CommunicationOriented Modelling zusätzlich mit einem besonderen Interesse für die Auswirkungen unterschiedlicher „Zerfallsresistenzen“ (materielle Persistenz56) von Mitteilungen gekoppelt.57 56
Der Begriff der „Persistenz“ ist im Kontext der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung mit einem doppelten Sinn belegt. Persistenz meint zum einen Dauerhaftigkeit mit Blick auf den jeweiligen „Zeichenträger“ (Schallwellen, Steintafeln, Papier, Magnetbänder, Mikrofilme, Festplatten etc.). Persistent werden Mitteilungen bzw. ihre Inhalte zum anderen aber auch, sofern in der Kommunikation immer wieder auf sie verwiesen wird. Sie bleiben so-
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Das im Rahmen des Communication-Oriented Modelling entwickelte Elementarmodell der Kommunikation (Prozessmodell) lässt sich als ein „Zwei-EbenenModell“ (vgl. Perschke und Lübcke 2005: 7) beschreiben. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht das empirisch beobachtbare Mitteilungszeichen. Einem jeden Kommunikationsereignis liegen kognitiv-kommunikative Operationen zugrunde; was sich jedoch einzig und allein im ersten Moment in und mit der Kommunikation empirisch beobachten lässt, sind Mitteilungen. Mitteilungen sowie die mit ihnen auftretenden Referenzstrukturen sind immer ein Koprodukt von wechselseitig aufeinander bezogenem kommunikativem Verhalten. Strukturbildend werden in und mit der Kommunikation schließlich vor allem jene Sinngehalte, die in Folgemitteilungen auch als sozial relevant markiert, d.h. aus der „Masse des Möglichen“ herausgehoben werden. Mitteilungen werden im Kontext des Communication-Oriented Modelling auch als „Mitteilungszeichen“ bezeichnet (vgl. Malsch 2005: 17 ff.). Das Mitteilungszeichen wird wie folgt definiert: „In line with Peirce’s semiotics and Mead’s concept of symbolic interactions, a message sign is a perceivable, empirically observable object. Being meaningful and empirically observable, messages point out to communicative operations, which, in turn, are empirically unobservable” (Albrecht et al. 2005: 246). Erst vor dem Hintergrund der sinnhaften Verfasstheit von Mitteilungszeichen und vor dem Hintergrund der zwischen Mitteilungszeichen bestehenden Referenzen interessiert sich die Theorie für die „Beschaffenheit“ von kommunikativen Operationen. Annahmen über diese Operationen werden so begrenzt; was sich nur noch psychologisch erschließen ließe, bleibt in der Theorie des COM außen vor. Die Theorie behandelt soziale Akteure in erster Linie als „black boxes“, die sich weder gegenseitig durchschauen können, noch von der Kommunikationstheoretikerin/vom Kommunikationstheoretiker jederzeit vollständig durchschaut werden können (vgl. zum „black boxing“ Malsch 2005: 131 und 152 sowie zum Akteursbegriff der COM-Theorie 256 ff.). Die entscheidende Frage ist also, inwiefern empirisch beobachtbare Mitteilungszeichen und die Analyse von koproduzierten Sinnbeständen helfen können, die „Anlage“ kommunikativer Operationen zu verstehen, zu modellieren und zu qualifizieren.
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mit sichtbar und anschlussfähig (vgl. Malsch und Schlieder 2004, Albrecht et al. 2005 sowie Malsch et al. 2007). Solange Mitteilungszeichen bzw. ihre Inhalte, egal ob es sich hierbei um Briefe, Artikel, Dokumente oder Bücher handelt, immer wieder erwähnt werden, geraten sie (noch) nicht in Vergessenheit und können weiterhin soziale Relevanz entfalten. In Simulationsstudien ist so z.B. mit Hilfe des sogenannten „COM-Test Environments“ (COM/TE) untersucht worden, wie sich unterschiedliche Zerfallsresistenzen im Zusammenhang mit der jeweiligen Sichtbarkeit von einzelnen Mitteilungen auf allgemein beobachtbare, prototypische Verläufe von Kommunikationsprozessen auswirken (vgl. zu diesen Simulationen und den entsprechenden Ergebnissen Malsch et al. 2007).
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Bevor wir ausführlich auf kommunikative Operationen zu sprechen kommen, ist noch kurz ein weiterer Grund dafür anzusprechen, warum die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung am empirisch beobachtbaren Mitteilungszeichen ansetzt. Die COM-Theorie ist eine Theorie, die vor allem eines sein soll: universell genug, um alle Erscheinungsformen von Kommunikation erfassen, modellieren und erklären zu können. Die Theorie will gar dem selbst auferlegten Anspruch gerecht werden, nicht nur Kommunikationsprozesse, an denen menschliche Akteure kognitiv beteiligt sind, sondern auch die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine und – mehr noch – zwischen Maschine und Maschine beschreiben und erklären zu können (vgl. ebd.: 8). Unmittelbar zu beobachten ist eine jede Form von Kommunikation zunächst immer nur anhand von Mitteilungszeichen bzw. anhand der zwischen Mitteilungen bestehenden Referenzbeziehungen. Während in der Interaktion unter Anwesenden die Wahrnehmung der Leibhaftigkeit des Gegenübers Kommunikation noch zusätzlich orientiert, ruht Distanzkommunikation zunächst ausschließlich auf der Sinnlichkeit und Materialität des Mitteilungszeichens auf: „Die mit der Verschriftlichung der Kommunikation einhergehende Entkopplung vom gemeinsamen Wahrnehmungskontext – darin eingeschlossen ist immer die wechselseitige Wahrnehmbarkeit von alter und ego – hat eine doppelte Konsequenz. Zum einen zeigt diese Ablösung eine Veränderung der Glaubwürdigkeitsgarantien der Kommunikation. Zum anderen entsteht mit der Unabhängigkeit von der Wahrnehmung, mit der eben auch die Möglichkeit der direkten Nachfrage und des interaktiven Nachbesserns entfällt, ein gesteigerter Anspruch auf Mitteilungs- und Verstehenspräzisierung“ (Bohn 1999: 138). Sobald sich die Kommunikation vom Wahrnehmungskontext abkoppelt, bekommt man (bekommen psychische Systeme) es mit „Zurechnungsproblemen“ zu tun, die wiederum nach kommunikationseigenen Lösungen verlangen. Cornelia Bohn nennt als Beispiele für solche sozialen Errungenschaften die Gewährleistungsfunktion des Autors, die Präzisionsgestalt der Schrift oder autoritative Texte, die wiederum das Verstehen anderer Texte anleiten sollen und somit immer auch helfen, Zurechnungen von Kommunikationen auf Personen „korrekt“ vornehmen zu können (vgl. zu den erwähnten Einrichtungen ebd.: 138 ff., 154 ff. sowie 161 ff.). Was zunächst in der Distanzkommunikation allein präsent ist, ist das Mitteilungszeichen, und wer rezipiert, muss hiermit eben – so gut es geht – „umgehen“. Die Kommunikation selbst hat ohnehin kein Zurechnungsproblem, dieses haben nur die an der Kommunikation beteiligten Akteure. Und diese müssen Zurechnungen in der Distanzkommunikation mit Hilfe kommunikativ basierter „Glaubwürdigkeitsgarantien“ (ebd.: 138) vornehmen; die Gefahr von Problemen und Irrtümern immer eingeschlossen. In der Distanzkommunikation übernehmen Ereignisresultate der Kommunikation u.a. die Orientierung bzw. „Führung“ sozialer Emergenz: Das Soziale entsteht
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nur vermittelt über den Anschluss von Kommunikationsereignissen an Kommunikationsereignisse, und kommunikativ geschaffene „Glaubwürdigkeitsgarantien“ orientieren und „unterfüttern“ hier zuvorderst die für Inzipienten und Rezipienten ach so wichtigen (soweit wie möglich zu spezifizierenden) Zurechnungen und Deutungen von Handeln und Erleben, die es ihnen erlauben, die Übersicht zu behalten, zu wissen, an wen sie sich wenden/zu wenden haben, mit wem sie es zu tun haben etc. Mitteilungszeichen und Referenzen sind Ereignisresultate der Kommunikation, die entstehen, sobald sinnverarbeitende Systeme damit beginnen, Sinn zu selektieren, mitzuteilen und zu verarbeiten. Wird an Mitteilungen mit weiteren Selektionen und weiteren Mitteilungszeichen angeschlossen, so werden Bedeutungen generiert, und die Kommunikation beginnt ein sinnhaftes Eigenleben zu entwickeln. In und mit der Kommunikation emergiert auf diesem Wege Sozialität. Luhmann hat bekanntlich dafür votiert, dass vom Zustandekommen eines Kommunikationsereignisses dann gesprochen werden kann, wenn Alter Informationen auswählt, diese mitteilt, und ein Ego auch (system)zeitnah versteht, in dem sie/er zwischen Information und Mitteilung unterscheidet. Die „Einheitsformel“ der Kommunikation lautet bei Luhmann: eine Information, eine Mitteilung (Mitteilungszeichen), ein Verstehen = ein Ereignis. Thomas Malsch hat im Kontext seiner Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung am Kommunikationsmodell Luhmanns kritisiert, dass in jenen Fällen, in denen das Verstehen erst mit einiger zeitlicher Verzögerung erfolgt, wohl kaum noch davon gesprochen werden könne, dass die Kommunikation, verstanden als Einheit der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen, ein flüchtiges und zeitpunktfixiertes Ereignis sei – Sinnzeit sozialer Systeme hin oder her (vgl. Malsch 2005: 87 ff. sowie 96 ff.). Je mehr Zeit zwischen dem Mitteilen und dem Verstehen vergeht, desto schwerer fällt es einzusehen, warum das Kommunikationsereignis als solches noch flüchtig sein sollte. Verbreitungsmedien „schieben“ das Verstehen auf bzw. machen es möglich, mit einem erneuten Anschluss zu warten. Auf einen Brief oder eine E-Mail muss niemand zwingend direkt reagieren; man kann sich Zeit lassen und im Notfall immer noch argumentieren, die Post hätte geschlampt oder der Spamfilter seine Arbeit nur allzu gut verrichtet. Thomas Malsch zufolge offenbart der von der Systemtheorie postulierte, „auffällige Tatbestand der ungleichzeitigen Gleichzeitigkeit von Mitteilung und Verstehen“ eine „theoriebautechnische Konstruktionsschwäche“. Sie zwinge den Kommunikationsbegriff vor die Alternative, „(...) entweder die Sinneinheit der drei Selektionen aufgeben zu müssen um dafür am Begriff des Ereignisses festhalten zu können; oder die Temporaleinheit des Ereignisbegriffs aufzugeben um dafür die elementare Sinneinheit der Dreifachselektion retten zu können“ (ebd.: 98). Nach eingehender Prüfung verschiedener systemtheorienaher Rezeptionsweisen, die es
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erlauben würden, die Ereignishaftigkeit einer jeden Kommunikation und ihre sich nicht selten erst langsam entfaltende Einheit auch weiterhin zusammen zu denken (vgl. ebd.: 96 ff. und 108 ff.), kommt Malsch zu dem Schluss, dass der Ereignisbegriff tatsächlich nur dann zur Charakterisierung von Kommunikation taugen kann, wenn er nicht auf den Gesamtzusammenhang von Information, Mitteilung und Verstehen, sondern ausschließlich auf die momenthaften kommunikativen Operationen Alters und Egos bezogen wird (vgl. ebd.: 121). Sowohl die Auswahl einer Information und ihre Mitteilung, die Inzeption, wie auch das Verstehen, das Rezipieren, eines wahrnehmbaren Mitteilungszeichens stellen Malsch zufolge distinkte Kommunikationsereignisse dar, die durch das Mitteilungszeichen, das „Ereignisresultat“ der Inzeption, miteinander gekoppelt sind. Es ergibt sich folgender Zusammenhang: ein Mitteilungsereignis/eine Inzeption (Produktion einer Mitteilung) – eine (empirisch wahrnehmbare) Mitteilung – eine (oder mehrere) Rezeption(en). Damit werden für die kommunikationstheoretische Modellierung zwei Ebenen relevant, die gleichermaßen Beachtung verdienen: (1) die Ebene der immer nur indirekt erschließbaren kommunikativen Operationen58 „Inzeption“ und „Rezeption“, und (2) die Ebene der empirisch wahrnehmbaren Mitteilungszeichen. Inzeptions- und Rezeptionsereignisse werden im Kontext der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung als „homolog gebaute Ereignisarten“ definiert (ebd.: 121). Während ein Prozessor X (handele es sich hierbei nun um einen menschlichen Akteur, einen Computer, einen Software-Agenten59 etc.) auf einer ersten Zeitstelle eine Mitteilung inzipiert, indem sie/er Sinngehalte auswählt und diese in ein Medium „eingibt“, rezipiert ein Prozessor Y (für ihn gilt das gleiche wie für X) zu einem späteren Zeitpunkt, indem sie/er diese Sinngehalte nach Maßgabe eigener Relevanzen zu identifizieren und zu (re)konstruieren (ver)sucht. „Homolog gebaut“ bedeutet in der Terminologie der COM-Theorie, dass sowohl Alter wie auch Ego Mitteilungen mit sogenannten Signifikanz- und 58
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Entgegen alltäglicher Vorstellungen lassen sich psychische Dispositionen nicht unverfälscht abfragen. Sobald hierüber kommuniziert wird, handelt es sich nicht mehr um Inhalte des Denkens oder des Bewusstseins, sondern um für die Kommunikation selektierte und mitgeteilte Informationen, die einen anderen Charakter und andere Eigenschaften haben als Bewusstseinsinhalte oder Gedanken. Grundsätzlich existiert eine „Übersetzungs-“ oder „Transformationsproblematik“, die fortlaufend zu reflektieren ist: Bestehen bleibt immer die Schwierigkeit, „(...) Kommunikation zu denken und Denken zu beschreiben. Beide Seiten des koevolutionären Zusammenhangs gehören zu unterschiedlichen Welten, die füreinander nicht direkt zugänglich sind. So sind beide Seiten auf Ableitungen, Unterstellungen, Vermutungen und auf mehr oder weniger intelligente innere Modelle der Außenwelt verwiesen, an denen sich in der jeweils eigenen Systemlogik die fremde Logik eines fremden Systems durchspielen lässt“ (Willke 2005: 95). Ein Software-Agent ist ein Computerprogramm, welches partiell zu eigenständigem Verhalten fähig ist (vgl. ausführlich Ferber 2001: 29).
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Relevanzmarkern versehen bzw. Signifikanzen und Relevanzen miteinander verschränken (vgl. ebd.: 170 ff.). Während ein(e) sich mitteilende(r) Kommunikator(in) im Rahmen der Inzeption ein Kommunikationsthema oder mehrere Themen zur Mitteilung auswählt und implizit oder explizit Stellung zu der Frage nimmt, welche Relevanz das Thema oder die Themen für sie/ihn besitzen, entscheidet die/der Rezipient(in) ebenso autark darüber, welches Thema/welche Themen sie/er „tatsächlich“ in einer Mitteilung zu identifizieren vermag und welche Bedeutung einzelne Themen vor der Hintergrundfolie des eigenen Weltwissens, d.h. vor dem Hintergrund eigener Wirklichkeitsmodelle besitzen. „Themen“ und „Wichtigkeiten“ werden im Begriffsnetz der COM-Theorie als „Signifikanzen“ und „Relevanzen“ bezeichnet. Zu ihrem Verhältnis, ihrem jeweiligen Status und zu ihrer Funktion heißt es: „Signifikanzen und Relevanzen verhalten sich zueinander wie eine Thematik und deren Wichtigkeit. Signifikanz und Relevanz sind als Selektoren bestimmt. Sie dienen der Berechnung von Anschlusswerten. Ob und wie die Kommunikation fortgesetzt wird, ob sie auf strukturierte Weise fortgesetzt wird, hängt ganz davon ab, wie Inzeptionen und Rezeptionen signifiziert und relevanziert werden. Signifikanz und Relevanz sind als Abstraktoren bestimmt. Sie abstrahieren vom je konkreten Mitteilungszeichen. Als Abstraktoren sind sie nicht identisch mit dem, was man sieht oder hört“ (ebd.: 172). Signifikanzen und Relevanzen bestimmen also über das „Erscheinungsbild“ von Mitteilungen. Eine Mitteilung mit Signifikanz zu versehen bedeutet für die/den Inzipientin/Inzipienten, diese mit Sinngehalten auszustatten, die ihrer/seiner Ansicht nach möglicherweise zu jenen Sinngehalten passen könnten, die bereits Gegenstand vorhergehender Mitteilungen waren. Zu relevanzieren bedeutet gleichzeitig – mehr oder weniger explizit – kenntlich zu machen, welche Wichtigkeit man der eigenen Mitteilung, den selbsttätig (aus)gewählten Signifikanzen im Kontext des bisherigen kommunikativen Geschehens beimisst. Auch mit dem Begriff der Signifikanz ist zunächst nichts anderes gemeint als die Auswahl eines Inhaltes oder einer Information aus bekannten Verweisungszusammenhängen, während der Begriff der Relevanz auf den „pragmatischen Stellenwert“ einer Mitteilung hindeutet (ebd.: 172). Dass in der Theorie des COM dennoch nicht von Informationsselektion, sondern komplexer gefasst von Signifikanz und Relevanz gesprochen wird, liegt in ihrer Ausrichtung auf das Problem kommunikativer Anschlüsse hin begründet. Wir erinnern uns: Die (Möglichkeit der) Existenz von Gegensinn wird den an der Kommunikation beteiligten Akteuren mit der Ja-/Nein-Codierung der Sprache bewusst. Ja und Nein sind zunächst eigentlich gleich wahrscheinlich. Gemäß den Annahmen der COM-Theorie beeinflusst die jeweils akteursabhängig realisierte Kombination von Signifikanzen und Relevanzen nun die Wahrscheinlichkeit von Kommunikationsanschlüssen. Was aber ist hiermit genau gemeint? Ein kurzes
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Beispiel mag uns weiterhelfen. Stellen wir uns vor, ein Kunde wird bei einem Besuch seiner Bank von seinem Kundenberater im Rahmen eines Gespräches über Anlagestrategien darauf hingewiesen, dass auch er sich Gedanken über die private Altersvorsorge machen sollte und jetzt die Gelegenheit wäre, sich über die entsprechenden, von der Bank selbst angebotenen Produkte zu informieren. Das Thema einer solchen Mitteilung scheint relativ klar: „Altersvorsorge“, „Möglichkeiten staatlicher Förderung“ und „finanzielle Unabhängigkeit im Alter“ lauten jene Schlagworte, die das Thema der privaten Altersvorsorge umreißen bzw. mit diesem Thema assoziiert werden (können).60 Wie aber sieht es mit der jeweiligen Relevanz aus. Für die Bank ist das Thema wichtig, soviel steht fest, wenn auch aus primär anderen Gründen als aus Sorge um das Wohlergehen ihrer Kunden. Sieht der Kunde das Thema nun als ebenso relevant an, so scheint bestimmtes Wissen um die Notwendigkeit einer privaten Altersvorsorge und die entsprechenden Möglichkeiten geteilt, und das Problem gleichermaßen als dringlich eingeschätzt zu werden. Sowohl Bank als auch Kunde sind sich – in den Termini der COM-Theorie ausgedrückt – entsprechender Signifikanzen und der Relevanz der Angelegenheit „sinnhaft-gleichgerichtet“ bewusst. Sofern der Kunde sich noch nicht um eine ausreichende Vorsorge gekümmert hat und über entsprechende finanzielle Möglichkeiten verfügt, wird er, so die Annahme der Theorie, aller Wahrscheinlichkeit nach das Gespräch mit dem Berater suchen und Vorsorge treffen. Das positive „Matching“ individueller Relevanzen (unabhängig davon, welche Intentionen der Relevanzierung bzw. der Relevanzwahrnehmung zugrunde liegen) führt dann schließlich zu einem sinnhaft passenden und gleichgerichteten, d.h. zu einem annehmenden Kommunikationsanschluss. Lösen hingegen sowohl das Thema als auch die bekundete Relevanz beim Kunden nicht mehr als ein Achselzucken aus, so steht zu vermuten, dass Signifikanzen und Relevanzen völlig unterschiedlich konstruiert werden. Vielleicht ist der Kunde jung, und die Probleme, die das Alter mit sich bringt, scheinen in weiter Ferne; vielleicht verfügt er nicht über ausreichende finanzielle Möglichkeiten, um vorzusorgen, oder er versteht eben nicht, worum es eigentlich genau geht. In diesem Falle ist zumindest die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der „Mismatch“ einen sinnhaft-gleichgerichteten, uneingeschränkt annehmenden Kommunikationsanschluss verhindert. Vielleicht ist die Signifikanz richtig erfasst worden, die Relevanz wird aber gering eingeschätzt; vielleicht wurde die Signifikanzsetzung gar nicht erst „nachvollzogen“ und (re-)konstruiert, sodass eine Relevanzsetzung überflüssig wurde. Wie dem auch sei: Ein fehlender Match verringert zunächst 60
Auch hier steht schon zu berücksichtigen: je mehr Sinngehalte sich in einer Mitteilung überschneiden, desto problematischer. Was tatsächlich Aufmerksamkeit ziehen kann und neue Kommunikationsanschlüsse zu bedingen vermag, hängt immer davon ab, wie ein(e) jeweilige(r) Rezipient(in) Signifikanz und Relevanz miteinander kombiniert.
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die Wahrscheinlichkeit eines sinnkongruenten Kommunikationsanschlusses auf Basis der Übernahme von ausgewählten Informationen als Grundlage des eigenen kommunikativen Handelns. Thomas Malsch beschreibt das Zusammenspiel von inzeptions- und rezeptionsseitigen Signifikanz- und Relevanzsetzungen wie folgt: „Man wird sich unschwer vorstellen können, dass eine gewissermaßen doppelt positiv aufgeladene Kommunikation, die vom Rezipienten als thematisch zugehörig, vertraut, erwartbar signifiziert wird und der zugleich eine hohe Relevanz bescheinigt wird, höchst wahrscheinlich fortgesetzt wird, während eine Kommunikation, die doppelt negativ belegt ist, wohl nur sehr geringe Fortsetzungschancen haben dürfte. (...) Signifikanz und Relevanz sind überdies allgemein genug gefasst, um mehrere und verschiedenartige Anschlussoptionen zu eröffnen. (...) Anhand eines einfachen Selektionsschemas lässt sich nun der Anschlusswert von Mitteilungen per Kontingenztafel errechnen: hohen Anschlusswert haben Mitteilungen der Kombination (1) signifikant und relevant, im mittleren Wertebereich liegen die beiden Kombinationen (2) signifikant und irrelevant sowie (3) insignifikant und relevant, im unteren Wertebereich rangiert die Kombination (4) insignifikant und irrelevant. Es ist die suggestive Schlichtheit und operationelle Griffigkeit der Unterscheidung, die sie als Beobachtungsheuristik und Analyseinstrument kontingenter Anschlussmöglichkeiten und Anschlussverzweigungen von komplexen Kommunikationsprozessen prädisponiert“ (ebd.: 177). Auch wenn die Signifikanz- und Relevanzsetzung ein kognitiver Vorgang ist, lassen sich Signifikanzen und Relevanzen doch häufig an Mitteilungen und Kommunikationsanschlüssen ablesen. Mitteilungen beinhalten Themen und „informieren“ über die von InzipientInnen vollzogenen Signifikanzsetzungen. Ebenso lassen sich im Zuge der Konfirmierung von Sinngehalten oder im Zuge ihrer Ablehnung individuell rezipierte Wichtigkeiten und Dringlichkeiten rekonstruieren, sofern diese nicht gar explizit zum Ausdruck gebracht werden. In eben diesem Sinne sind Signifikanz- und Relevanzsetzungen kognitiv-kommunikative Selektionen.61 Selbstverständlich soll die hier zitierte Kontingenztafel keineswegs bedeuten, dass sich Kommunikationsanschlüsse vorhersagen ließen: „Fortsetzungen oder Abbrüche des Kommunikationsprozesses sind durch einzelne Anschlusswerte unterbestimmt. Ein Anschlusswert sagt allenfalls etwas darüber aus, ob eine Kommunikation mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ignoriert wird oder nicht. Er sagt aber noch nichts darüber aus, ob eine Kommunikationsofferte angenommen oder abgelehnt wird und ob sie sich im weiteren Verlauf des Kommunikationsprozesses bewährt und durchsetzt“ (ebd.: 178). Auch wenn dem so ist, scheint es jedoch keineswegs angemessen, den heuristischen und explanatorischen Wert der Abstraktoren bzw. Selektoren Signifikanz und Rele61
Kommunikative Operationen sind „(...) stets auch als kognitive Operationen bestimmt, aber nicht umgekehrt“ (Malsch 2005: 223).
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vanz gering zu schätzen. Prognosemöglichkeiten mögen eingeschränkt sein; für die idealtypische Beschreibung des Verlaufs von Kommunikationsprozessen scheinen aus Mitteilungen und Kommunikationsanschlüssen rekonstruierte Kombinationen von Signifikanzen und Relevanzen allerdings von Nutzen. Sie erlauben es, das Ausmaß der Verschiedenheit und Ähnlichkeit von Mitteilungen oder den sozialen Stellenwert von Themen und Meinungen zu ergründen. Die Rekonstruktion von Signifikanz- und Relevanzsetzungen bzw. ihrer Kombinationen kann so eine verdichtete und vom einzelnen Ereignis sowie von einzelnen Mitteilungszeichen abstrahierende Beschreibung eines Kommunikationsprozesses vorbereiten helfen. Vielleicht ließe sich das Konzept der sich aus Signifikanzen und Relevanzen ergebenden „Anschlusswerte“ auch für die sozialwissenschaftliche Methode der Diskursanalyse fruchtbar machen. Die Selektoren Signifikanz und Relevanz und die (kognitiv-)kommunikativen Operationen Inzeption und Rezeption ließen sich durchaus noch weiter im Detail diskutieren. Aus Platzgründen wird hierauf jedoch verzichtet. Wir wollen im Folgenden stattdessen der Frage nachgehen, wie sich die Entstehung von distinkten Strukturdynamiken der Kommunikation weiter in der Terminologie der kommunikationsorientierten Modellierung fassen lässt.
3.6.3 Strukturdynamiken, Reproduktionsmuster und soziale Sichtbarkeit „Sozialität konstituiert sich dadurch, dass Kommunikationen aneinander anschließen und im Anschließen bestimmte Ordnungsmuster ausbilden, die ihrerseits weitere Anschlüsse nicht bloß ermöglichen, sondern wahrscheinlicher machen“ (ebd.: 233).
Die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung sucht nicht danach, soziale Strukturen ähnlich wie die Systemtheorie primär als Erwartungsstrukturen zu modellieren, und sie ist ebenso wenig daran interessiert, soziale Ordnung in erster Linie über zwischen sozialen Akteuren bestehende Verhältnisse oder Beziehungen zu definieren. Auch sieht sie gesellschaftliche Strukturen nicht unmittelbar in der und durch die Praxis sozialer Akteure verwirklicht. Sie legt ihren RezipientInnen vielmehr ein ganz eigenes Verständnis von sozialen Strukturen, von sozialer Ordnung und von ihrer (Re-)Produktion sowie ihrem Wandel nahe. Wie die Luhmannsche Systemtheorie geht auch die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung davon aus, dass sich Sozialität in einem permanenten Fluss befindet. Mit jedem Kommunikationsanschluss wird das Erscheinungsbild sozialer Ordnung beeinflusst: Entweder bestätigen Kommunikationsanschlüsse in Anbetracht der mit ihnen einhergehenden Signifikanz- und Relevanzsetzungen die soziale Bedeutung von sich bereits in der Kommunikation
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manifestierenden sozialen Regelmäßigkeiten wie z.B. von Bedeutungen, Deutungsmustern, Themen, Ordnungsmustern etc., oder sie setzen diese der Gefahr einer Transformation aus. Die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung vertritt den Anspruch, sowohl Strukturbildung als auch -transformation beschreiben und erklären zu wollen. Im Mittelpunkt des Ansatzes stehen Sequenzen und Netze (Netzwerke) von Mitteilungen bzw. Referenzstrukturen, die zu Zwecken der Erklärung sozialer Ordnung mit Hilfe der Grundbegriffe der Theorie modellhaft rekonstruiert werden sollen. In solchen Kommunikationssequenzen und –netzen kommt es zur Emergenz von sozialen Eigen- und Strukturwerten in der Form von Ordnungsmustern, sofern Kommunikationen bestimmten Typs in einer bestimmten Reihenfolge aneinander anschließen und sich Kommunikationsanschlüsse in ähnlicher Form und in ähnlicher Reihenfolge zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen „Orten“ (d.h. unter Beteiligung unterschiedlicher Kommunikatoren) wiederholen. Je häufiger dies geschieht, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass entsprechende Anschlussmuster weithin als Modelle des erfolgreichen kommunikativen Anschlusses wahrgenommen werden und sich zu „eigenständigen“ und stabilen Ordnungsmustern weiterentwickeln; zu Mustern, welche also in gewisser Weise selbst die Wahrscheinlichkeit des Eintretens jener Kommunikationsanschlüsse mit zu steigern helfen vermögen, die ihre eigene Existenz letztendlich sichern helfen. Ordnungs- oder Strukturmuster „(..) sind typisierte, beständig wiederholte Ereignisketten. Auf eine Mitteilung M1 folgt M2 folgt M3 folgt M4 und später wiederholt sich der Vorgang, indem auf M1 wieder M2, M3, M4 folgt und so weiter. In der gleichförmigen Wiederholung prägen Anschlussketten sich aus zu Mustern, so wie an einer Stromschnelle immer wieder dieselben Strudel erzeugt werden, obwohl das Wasser immer ein anderes ist“ (ebd.: 234). Was interessiert, ist die Kohärenz und Beständigkeit der Form. Und es ist genau dieser Prozess der Emergenz von Anschluss- und Ordnungsmustern, der es erlaubt, Strukturdynamik zu beobachten. Ordnungsmuster lassen sich somit als kommunikative „Mikrostrukturen“ bezeichnen, die die Emergenz höherstufiger sozialer Phänomene tragen. Kommunikative Ordnungsmuster können sich bereits mit der kleinsten aller denkbaren Kommunikationssequenzen, mit dem auf vier kommunikativen Operationen basierenden Zusammenhang zweier Mitteilungen, ausprägen. Wird eine Mitteilung nicht nur rezipiert bzw. verstanden, sondern wird hieran ebenso angeschlossen, kommt es zur Definition eines Sinnverhältnisses bzw. zur Genese sozialen Sinns. Und je mehr Kommunikatoren das soziale Ereignis des Anschlusses beobachten, desto wahrscheinlicher wird es, dass die über den Anschluss miteinander gekoppelten Mitteilungen auch über ihren unmittelbaren Kontext hinaus (sofern sie denn in ausreichendem Maße zugänglich sind und
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bleiben) Wirkung entfalten, und die weitere Kommunikation auf die eine oder andere Art und Weise beeinflussen können. Würde z.B. fortwährend in ähnlicher Art und Weise auf die erste der beiden Mitteilungen Bezug genommen und ihr Inhalt als relevant bekräftigt werden, käme es zur kommunikativen Markierung von Intersubjektivität, so wie bereits in Abschnitt 3.2 dieses Kapitels diskutiert. Das Beispiel der Frage nach der Uhrzeit aufgreifend erörtert Malsch den Begriff des Kommunikationsmusters selbst wie folgt: „Nachdem die Hürde vom Mitteilen zum Verstehen genommen worden ist, gleichgültig, ob nun zeitlich versetzt oder zeitgleich verstanden wurde, bedarf es einer dritten Anschlussoperation, nämlich eines nochmaligen Mitteilens, damit sich ausprägen kann zunächst ein zwar noch sehr einfaches, aber immerhin schon ein Kommunikationsmuster. Denn selbst wenn Rezeption und Inzeption auf immer gleichartige Weise ineinander greifen und die erste Hürde auf stets dieselbe Weise übersprungen wird, selbst wenn die Frage nach der Uhrzeit immer wieder und stets unverändert als dieselbe Aufforderung verstanden wird (nämlich die Uhrzeit mitzuteilen), konstituiert sich damit noch kein Kommunikationsprozess, geschweige denn ein Kommunikationsmuster. Solange die Frage nach der Uhrzeit andauernd wiederholt und verstanden aber nicht beantwortet wird, kann sich kein kommunikativer Sinn anreichern oder kondensieren. (...) Nur wenn eine Frage auch beantwortet wird, nur wenn ein zweites Mitteilungszeichen an ein Mitteilungszeichen anschließt, nur dann findet Kommunikation als prozessierende Sozialität statt. Und nur wenn diese zweite Hürde nicht nur genommen, sondern regelmäßig und stets auf die gleiche Weise genommen wird, kann man von Musterbildung sprechen“ (ebd.: 235). Kommt ein solches, basales Ordnungsmuster zustande und wiederholt es sich fortlaufend, so bedeutet dies, dass vier Elementaroperationen (zwei Rezeptions- und Inzeptionsereignisse) und zwei Mitteilungszeichen immer wieder eine weitestgehend ähnliche Form annehmen und somit ein bestimmter Typ von Anschluss die Emergenz sozialer Ordnung zu prägen beginnt. Weiterhin zu klären bleibt damit allerdings, wie es dazu kommt, dass in der Kommunikation bestimmten Anschlussfolgen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird und diese sich reproduzieren können bzw. reproduziert werden. Nicht nur basale, auf der Basis von zwei Mitteilungen realisierte Anschlussmuster reproduzieren sich immer wieder, sondern auch komplexe, aus vielen Anschlüssen bestehende Ordnungsmuster stellen sich in und mit der Kommunikation immer wieder ein. An diesem Punkt hilft in der Perspektive der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung wieder das heuristische Konzept bzw. die Denkfigur sozialer Sichtbarkeit weiter, welche es erlaubt, die Strukturdynamiken von Kommunikationsprozessen ein gutes Stück weit abgelöst von den individuellen Signifikanzund Relevanzsetzungen der Akteure zu betrachten und zu beschreiben. Diese
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Signifikanz- und Relevanzsetzungen liegen Kommunikationsanschlüssen zwar immer zugrunde; wird der Kommunikationsprozess selbst aber direkt zum Ausgangspunkt der soziologischen Analyse gewählt, so ist vor allem zu überlegen, welche allgemeinen Effekte signifikanz- und relevanzbasierte Kommunikationsanschlüsse zunächst nach sich ziehen. Wie schon erläutert, wird in der prozessorientierten Perspektive der kommunikationsorientierten Modellierung davon ausgegangen, dass ein jeder Kommunikationsanschluss grundsätzlich Sichtbarkeitsverhältnisse, d.h. das Potential einzelner, bereits veröffentlichter Mitteilungen verändert, erneut wahrgenommen werden zu können (Anschlussfähigkeit): „Communicative events (...) do not persist over time although they leave a persistent trace in form of the messages they generate. A more closer look reveals that the distinction is rather one of degree than principle: publishing does not occur instantaneously and messages do not exist forever in the sense that they do not remain eternally accessible for references from other messages. (…) Even with technically persistent messages, decrease in accessibility will occur over time because the access to a message is linked to its social visibility in the communication process. The tendency of messages to become less visible is counterbalanced by the tendency of references to increase the visibility of the message that is referred” (Malsch und Schlieder 2004: 124). In hochskalierten Kommunikationsprozessen führt das „message referencing“, führen Kommunikationsanschlüsse dazu, dass bestimmte (miteinander verkettete) Mitteilungen (ihre Inhalte) in besonderem Maße präsent bleiben, während andere hingegen maximal noch zufällig ins Auge fallen, eben weil sie im Vergleich mit den übrigen Ereignisresultaten der Kommunikation im Laufe der Zeit (und) aufgrund ausbleibender Referenzen nur noch wenig soziale Sichtbarkeit für sich verbuchen können. Soziale Sichtbarkeit ist somit ein theoretisches Konzept, welches es erlaubt, sich begründet darüber Gedanken machen zu können, inwiefern bestimmte Mitteilungen die Aufmerksamkeit von Kommunikatoren in hochskalierten Kommunikationsprozessen zu lenken vermögen. Mit mehreren, aneinander gekoppelten, hochsichtbaren Nachrichten zusammen werden auch jene Referenzstrukturen wahrgenommen, die die soziale Relevanz62 der entsprechenden Mitteilungen erst begründen. BeobachterInnen können auf der Basis von sichtbaren Mitteilungen und den zwischen ihnen bestehenden Referenzstrukturen Anschlussmuster oder Anschlusslogiken rekon62
Malsch, Perschke und Schmitt erläutern: „Anschluss ist in COM immer auch eine Frage der Rekrutierung von Aufmerksamkeit, also eine Frage der Sichtbarkeit von Mitteilungszeichen. Soziale Sichtbarkeit wird dabei als ein Aggregationsphänomen gedeutet. Man könnte die soziale Sichtbarkeit eines Mitteilungszeichens auch als aggregierten Relevanzwert bezeichnen, der sich aus der Summe der vielfältigen Relevanzzuweisungen ergibt“ (Malsch, Perschke und Schmitt 2006: 51).
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struieren. Kommen sie im Rahmen der Beobachtung von unterschiedlichen Kommunikationsprozessen zu dem Schluss, dass sich bestimmte Referenzstrukturen fortwährend wiederholen und diese auch dazu führen, dass Mitteilungen ganz bestimmten Inhalts oder ganz bestimmter Form immer wieder zu hochsichtbaren Mitteilungen werden (dass sich „Regelmäßigkeiten“ in Prozessverläufen ergeben), so können sie Anschlusslogiken und -muster schließlich zu „Prozesstypen“ generalisieren (Verdichtung von „Regelmäßigkeiten“ zu „Regeln“): „Prozesstypen fassen also hinreichend ähnliche Prozessmuster so zusammen, dass sich mit dem Erkennen eines solchen Typus bestimmte Erwartungen verbinden lassen. Aus der Perspektive der kommunikationsorientierten Modellierung lassen sich Ordnungsbildung und Erkenntnisprozesse somit spezifizieren als Bildung von Anschlussmustern auf der Basis der Sichtbarkeit von Mitteilungszeichen und als Generalisierung von Prozesstypen der Kommunikation, die bestimmte Kommunikationsverläufe und zukünftiges Anschlussverhalten erwartbar machen“ (Malsch, Perschke und Schmitt 2006: 53). Steigt die Sichtbarkeit von Mitteilungen (bestimmten Inhalten) und Anschlüssen bestimmter Form, und werden letztere wiederholt in ähnlicher Form realisiert, so nimmt parallel hierzu auch die Wahrscheinlichkeit zu, dass ähnliche Argumentationsmuster, Kotextualisierungen, Denkfiguren, Semantiken etc. erneut in der Kommunikation zum Tragen kommen. Ebenso dürfte die Sichtbarkeit einzelner Mitteilungen auch dafür sorgen, dass ihre UrheberInnen als einflussreich(er) wahrgenommen werden, und somit an Reputation und Deutungsmacht dazugewinnen können. Was in sichtbaren Mitteilungen und Kommunikationsprozessen diskutiert wurde, dürfte eben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als das, was nur am Rande eine Rolle gespielt hat, auch zukünftige Kommunikationen auf die eine oder andere Art und Weise beeinflussen. Selbst wenn versucht wird, soziale Sichtbarkeit auf der Basis erfolgter Referenzierungen zu „berechnen“, ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass es sich hierbei nur um ein heuristisches Maß bzw. Werkzeug handelt, und dass Sichtbarkeitswerte es keineswegs erlauben, Anschlüsse vorherzusagen. Die soziale Sichtbarkeit von Mitteilungen (verstanden als Begriff für die Häufigkeit und Stärke bisheriger Referenzierungen) hilft lediglich, begründet zu vermuten, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft an die entsprechenden Mitteilungen (Inhalte) angeschlossen wird oder nicht. Soziale Sichtbarkeit ist in erster Linie ein heuristisches Konzept bzw. eine Denkfigur, welche es erlaubt, die Dynamik von Kommunikationsprozessen (von Kommunikationsanschlüssen) auf den Begriff zu bringen und theoretisch-argumentativ einzufassen. Das Konzept sozialer Sichtbarkeit erlaubt in kommunikations- und prozesstheoretischer Perspektive zunächst, eine „globale“, allgemeine Vorstellung davon zu entwickeln, warum Kommunikation pfadabhängig wird bzw. Verlaufs-
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strukturen auszubilden vermag. Hier lassen sich weiterführende Überlegungen zur Konditionierung von Kommunikationsanschlüssen auf inhaltlicher Ebene anschließen, die es erlauben, die Emergenz von Pfadabhängigkeit zu modellieren. Thomas Malsch hat so z.B. die „Terminierung“ der Kommunikation und ihre Ausrichtung auf Ziele als typische Formen der Anschlusskonditionierung eingehend thematisiert. Beide Formen mögen auch in gewisser Weise mit erklären, wie es zur Wiederholung von Ordnungsmustern, zur Wiederholung von Anschlussfolgen, Strukturdynamiken und/oder kommunikativen Prozeduren kommt. Malsch erörtert, dass die Kommunikation durch „Verfallsdaten“ „gerafft“ und „beschleunigt“ wird (Malsch 2005: 249). Viel spricht dafür, dass fortwährende Terminierungen und permanenter Termindruck nicht zuletzt auch dazu führen, dass in und mit der Kommunikation jene Kommunikationsanschlüsse bzw. Muster von Anschlüssen in besonderer Weise „erinnert“ werden, die bereits zu früheren Zeitpunkten den sozialen Umgang mit den Chancen und Risiken der Terminierung in mehr oder weniger geregelte Bahnen zu lenken vermocht haben. Auch hier ist kommunikative Kennzeichnung jedoch nicht alles; wieder hängt die Reproduktion entsprechender Kommunikationsmuster von den kognitivkommunikativen Signifikanz- und Relevanzsetzungen der am Prozess der Kommunikation beteiligten Akteure ab. Malsch weist ferner darauf hin, dass auch das aktive „Löschen“ oder Devisibilisieren von Nachrichten, die bewusste Nichtbeachtung eine Form der Konditionierung von Anschlüssen darstelle, die die Kommunikation in besonderer Art und Weise ausrichte (vgl. ebd.: 249). Auch hier steht zu vermuten, dass entsprechende Vorgänge als Prozeduren erinnert werden. Wenn die Terminierung von Kommunikation die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass stabile Ordnungsmuster entstehen, dann kann auch ein mögliches (aber nicht unbedingt von vornherein terminiertes) Telos der Kommunikation auf eine ähnliche Art und Weise strukturbildend (strukturdynamisch) wirken. Konnten bestimmte Ergebnisse in der Kommunikation auf dem Wege einer bestimmten Verkettungen von Mitteilungen, d.h. mit Hilfe bestimmter Inhalte und Anschlussfolgen erreicht werden und wird dies in der Kommunikation ausdrücklich thematisiert, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass solche Anschlussfolgen auch zu einem späteren Zeitpunkt in ähnlichen Situationen erneut realisiert werden, sofern sich die sonstigen Bedingungen nicht von denen früherer Situationen unterscheiden. Terminierung, Devisibilisierung und Zielorientierung stellen soziale Konditionierungsvarianten dar, die im Rahmen der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung bislang nur am Rande thematisiert worden sind und einer weiterführenden Diskussion bedürfen.
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3.7 Zusammenfassung – Über die Möglichkeiten einer kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Emergenz An dieser Stelle gilt es zusammenfassend zu erörtern, welche Möglichkeiten sich in Anbetracht des bisher Zusammengetragenen bieten, die Emergenz sozialer Eigen- und Strukturwerte sowie von auf ihnen aufruhenden, höherstufigen sozialen Phänomenen zu modellieren und zu erklären. Kommen wir zu Beginn dieses Fazits noch einmal kurz auf die Arbeitsergebnisse des zweiten Kapitels zu sprechen. Soziale Tatsachen im Sinne Durkheims sind in Kapitel (2) in kommunikationstheoretischer Perspektive als diachron emergente, als eigenständige, irreduzible und unvorhersagbare Phänomene bestimmt worden. In Kommunikationsprozessen emergierende Tatsachen wie Deutungsmuster, Rationalitäten, Identitäten, Konflikte, Gegnerschaften, Verfahrensweisen zur Generierung von Wissen, Wissensbestände, Machteffekte etc. sind das Resultat des komplexen Wechselspiels von Sinnofferten, von Annahmen und Ablehnungen, von Wechselwirkungen zwischen neuen Kommunikationsereignissen und sich bereits seit längerem sinnhaft entfaltenden Kommunikationsprozessen. Sozial geprägte Selektionsentscheidungen setzen Kommunikation wieder neu „in Gang“; parallel hierzu entwickelt die Kommunikation aber ein Eigenleben, dass sich als „eigenständige Referenz des Sozialen“ bezeichnen lässt. Kommunikationsanschlüsse lassen die in Mitteilungen enthaltenen Signifikanzen und Relevanzen immer wieder in einem neuen, anderen Licht erscheinen (sie bedeuten neue Ko- und Kontextualisierungen). Kommunikationsanschlüsse bedeuten die Markierung der sozialen Relevanz von Inhalten, die Synthese von sozialem Sinn, d.h. die Produktion von Deutungsmustern und sozialen Semantiken. Soll die Emergenz von Sozialität erklärt werden, so sind aus nicht-reduktionistischer, kommunikationstheoretischer Perspektive – dieses legen die wesentlichen Annahmen der hier diskutierten Ansätze und Theorien nahe – die Formen und Effekte von Kommunikationsanschlüssen zu untersuchen. Anschlüsse bedeuten nicht nur, dass die Intentionen und Absichten sozialer Akteure immer wieder neu interpretiert und sichtbar „überformt“, und diese selbst so zu Modifikationen angeregt werden (vgl. hierzu auch Vogd 2005: 43 ff.); Anschlüsse bedeuten ebenso, dass sich die Dynamik der Kommunikation und die Bedeutungsstrukturen der (Schrift-)Sprache, d.h. Semantiken, fortlaufend verändern. Dementsprechend ist es an der kommunikationstheoretischen Soziologie, Kommunikationsanschlüsse bzw. Kommunikationsprozesse auf ihre strukturellen Eigenschaften und sinngenerierenden Effekte hin zu untersuchen. Die kommunikations- und emergenztheoretische Modellierung setzt zunächst voraus, zu analysieren und zu beschreiben, wie Kommunikationsanschlüsse die Emergenz von sozialem Sinn in der Form von mehr oder weniger
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„geteilten“ oder auch mehr oder weniger stark umkämpften und umstrittenen Deutungen, Bedeutungen, Interpretationen, Vorstellungen, Konzeptionen etc. bedingen und welche basalen Anschlussmuster sich im Rahmen ihres wiederholten Vorkommens zu stabilen Ordnungsmustern weiterentwickeln bzw. aufgrund der Häufigkeit ihres Auftretens als solche bezeichnet werden können. Soziale Relevanz kommt vor allem jenen Mitteilungen, Informationen und Wissensbeständen, jenen Signifikanzen zu, die nicht bloß mitgeteilt, sondern die in der Kommunikation (vielfach) erneut aufgegriffen werden und für die angezeigt wird, dass sie als Prämisse kommunikativen Handelns, als Prämisse neuer Selektionen übernommen worden sind. Von der (vorübergehend) bestätigten sozialen Relevanz eines generativen wie erklärenden Ordnungsmusters lässt sich immer dann sprechen, wenn typengleiche Anschlüsse wiederholt vorkommen und wiederholt zu ähnlichen Strukturdynamiken führen. Einfachste Kommunikationsmuster emergieren auf der Basis von vier kommunikativen Operationen (zwei Mitteilungen) und nehmen die Form einer Paarsequenz an. Von besonderer Bedeutung ist die zwischen ihnen bestehende Relation, die Referenz. Sie zeigt an, welcher Art der realisierte Anschluss ist (als unterschiedliche Arten von Referenzen lassen sich u.a. die Annahme von Sinnofferten, ihre Ablehnung/der Widerspruch, der Aufschub einer Ablehnung, die Wiederholung, unterschiedliche Kotextualisierungen usw. nennen). Wiederkehrende Typen von Referenzen bilden somit den Ausgangspunkt für die kommunikationsorientierte Modellierung und Erklärung der Emergenz von Eigen- und Strukturwerten und von auf ihnen basierenden höherstufigen sozialen Phänomenen. Auch Wolfgang Ludwig Schneider (Schneider 1994 und 2001) und Heinz Messmer (Messmer 2003a und 2003b) machen in ihren Forschungen auf die Bedeutung der Musterbildung aufmerksam. Schneider untersucht und erklärt, wie Intersubjektivität kommunikativ markiert, und so der Eindruck gleichgerichteten Sinnverstehens erzeugt wird. Die Kommunikation zeigt BeobachterInnen mit einer mehr oder weniger ausdrücklich vorgenommenen Bestätigung von Verstehensleistungen an, dass bestimmte Sinnfacetten einvernehmlich für die an der Kommunikation beteiligten Akteure Relevanz zu besitzen scheinen und diesen somit mit einer gewissen Sicherheit als von ihnen akzeptierte, „gewollte“, relevant erachtete Informationen oder Signifikanzen zugerechnet werden können. Bedeutungen oder Deutungsmuster, die als „intersubjektiv geteilt“ markiert worden sind, stellen (vordergründig) sichtbare Sinnbestände dar, die die Kommunikation aller Wahrscheinlichkeit nach stärker beeinflussen werden als nicht konfirmierte, individuelle Signifikanzen und Relevanzen. Sofern Intersubjektivität in der Kommunikation markiert wurde, die an der Kommunikation beteiligten Akteure tatsächlich aber missverstanden haben, ist immer damit zu rechnen, dass die „falsche“ Markierung später noch in der Kommunikation aufgedeckt und möglicherweise zu
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Problemen führen wird. Dessen ungeachtet sorgt aber auch eine jede „falsche“ Markierung zunächst dafür, dass sich die Kommunikation ordnet und sich Pfadabhängigkeit einstellt. Mit der Markierung von Intersubjektivität wird die Kommunikation „ausgerichtet“, werden „Freiräume“ eingeschränkt, ebenso aber auch Anschlussmöglichkeiten und -bereiche vorgezeichnet. Der soziale Konflikt ist von Heinz Messmer als dreizügig emergentes Strukturphänomen und basales kommunikatives Ordnungsmuster analysiert worden. Sinnzumutung, Widerspruch und das Festhalten an der ursprünglichen Sinnzumutung bedingen die Entstehung der sozialen Realität des Konflikts. Auch wenn noch zu prüfen ist, inwiefern sich mit Hilfe der basalen Ordnungsmuster der Intersubjektivitätsmarkierung (soziale Definition des semantischen Gehalts einer Sinnzumutung) und des Konfliktes die Strukturdynamiken hochskalierter Kommunikationsprozesse beschreiben lassen und welche Phänomene auf ihrer Basis erschlossen werden können, machen sowohl Schneider und Messmer wie auch Malsch mit ihren Forschungen deutlich, dass wiederkehrende, ähnliche Anschlüsse und Anschlussmuster die Ausgangspunkte einer an den Artefakten der Kommunikation, einer am Kommunikationsprozess selbst ansetzenden kommunikationstheoretischen Modellierung sozialer Emergenz darstellen müssen. Was es zu ergründen gilt, ist wie Kommunikation „(…) lokal Sinn im Medium der Gesellschaft, als Gesellschaft“ aktualisiert (Vogd 2005: 76, Hervorheb. im Original), und wie basale Ordnungsmuster Prozesse der Aktualisierung prägen. Auf die Bedeutung von kommunikativen Anschluss- und Ordnungsmustern weist auch Willke (2005) hin. Willke erörtert, dass soziale Eigenwerte Akteuren zugänglich sind als „Muster und Formen der Syntaktik und der Semantik der Sprache“ (Willke 2005: 62). Ähnlich wie Urs Stäheli (1998) oder auch Christian Borch (2005)63 macht er auf diese Weise noch einmal deutlich, dass Semantik keineswegs ausschließlich ein „nachträgliches“ Element von Sozialität darstellt, sondern sozialkonstitutiv ist. Um Prozesse der kommunikativen Emergenz richtig modellieren zu können, ist es somit nicht nur wichtig, nach der Logik von Kommunikationsanschlüssen, nach ihren Formen zu fragen, sondern ebenso nach jenen Bedeutungen, Deutungsmustern, Interpretationen, Begrifflichkeiten und Konzepten, welche in ihrem Rahmen produziert und konsolidiert werden (Inhalt). Individuelle Signifikanz- und Relevanzsetzungen orientieren die kommunikativen Operationen der Inzeption und der Rezeption, Themen und Meinungen prägen die Kommunikation. Um etwas darüber in Erfahrung bringen zu können, wie sich die Kommunikation selbst ordnet, sind Referenzen auf ihren 63
Christian Borch hat im Rahmen neuerer Forschungen zur systemtheoretischen Konzeption von Macht z.B. herausgearbeitet, wie wichtig Subjektbilder und Subjektsemantiken für das „reibungslose“ Funktionieren des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Macht sein können (vgl. Borch 2005: 162).
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Typ hin zu untersuchen und die jeweiligen Inhalte von Kommunikation einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Erst die Betrachtung dieser Inhalte erlaubt es zu verstehen, wie Kommunikation soziale Wirklichkeit (re)produziert. Nicht nur Anschlüsse, Muster und Semantiken müssen uns im Rahmen emergenztheoretischer Analysen und Erklärungen interessieren, sondern auch das „Überraschungsmoment“ der Kommunikation, wie Dirk Baecker herausgestellt hat. Baecker versteht Kommunikation vordergründig als beständige Eröffnung und Einschränkung von Spielräumen (Baecker 2005a: 8 ff.). Sofern mitgeteilte Informationen (Signifikanzen und Relevanzen) RezipientInnen „überraschen“ und ihnen damit mehr oder weniger wertvolle Rückschlüsse auf die Ordnung der Dinge erlauben, befördert dies die Entstehung von persönlichem Weltwissen bzw. ein Verständnis dafür, wie weiter an der Kommunikation teilzunehmen ist, um selbst dringend benötigte Informationen erhalten zu können. Kommunikation ist also dort besonders dynamisch, wo Akteure von Informationen so „überrascht“ werden, dass sich ihnen Ordnung erschließt. Baeckers Verständnis des Überraschenden mag seltsam anmuten; hier genügt indes jedoch festzuhalten, dass die kommunikationsorientierte Modellierung und Erklärung von Emergenz also dort ansetzen muss, wo eine Mitteilung dazu führt, dass nicht nur unmittelbar und knapp an ihre Signifikanzen angeschlossen wird, sondern auch dazu, dass Akteure meinen, aus den mitgeteilten Signifikanzen auf (diskursive) Zusammenhänge schließen zu können, die somit als Kontexte der Informationsverarbeitung aufgerufen und schließlich in und mit weiterer Kommunikation (re)aktiviert werden. In der Perspektive der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung stellt sich die Emergenz sozialer Ordnung als „massenhafter Anschluss von Anschlüssen an Anschlüsse“, als Effekt „komplex vernetzter, dynamisch strukturierter Kommunikationsverhältnisse“ (Malsch 2005: 233) dar. Die Theorie geht davon aus, dass jede Kommunikation zur Ausprägung von (basalen) Prozessmustern führt (vgl. Malsch, Perschke und Schmitt 2006: 51). Mit jedem Anschluss wird in der Kommunikation sozialer Sinn synthetisiert, mit jedem Anschluss wird die Kommunikation „in sich“ ausgerichtet. Ansatzpunkte der Erklärung sind in Abhängigkeit vom jeweils zu erklärenden Phänomen zu wählen, da Kommunikation alles andere als „uniform“ und vor allem überraschend und überraschungsoffen ist. Während es mit Blick auf das eine oder andere Erklärungsproblem schon ausreicht, wenige, typische Kommunikationsanschlüsse zu betrachten und zu modellieren, lässt sich die Emergenz anderer Phänomene möglicherweise nur auf der Basis einer Beobachtung und Analyse längerer Kommunikationsketten und komplexer Vernetzungen „dechiffrieren“ (vgl. zum Begriff Malsch 2005: 8). Als Beispiele für solche besonders komplexen Phänomene lassen sich u.a. unterschiedliche Formen sozialer Differenzierung oder auch
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soziale Identitäten (soziale Milieus, Subkulturen, Nationalität, Ethnizität usw.) nennen. Kommunikationsanschlüsse führen – so eine wesentliche Annahme der Theorie – dazu, dass bestimmte Mitteilungen und bestimmte Arten des Anschlusses (bestimmte Typen von Referenzen) in besonderem Maße sichtbar werden und besondere Aufmerksamkeit erfahren, und andere, weniger sichtbare, hingegen in Vergessenheit geraten (vgl. Malsch und Schlieder 2004 sowie Malsch, Perschke und Schmitt 2006): „Erinnern heißt Referenzieren“ – „Referenzieren heißt Erinnern“. Was nicht referenziert wird, fällt aus dem Prozess der Kommunikation heraus, verliert für den Prozess an sozialer Relevanz. Die Stabilisierung von Prozessen der (Re-)Produktion sozialer Ordnung hängt maßgeblich davon ab, ob sich Kommunikationsanschlüsse in (selbst-)ähnlicher Form wiederholen und auch davon, ob sich bestimmte Inhalte, bestimmte Themen und Semantiken, in bestimmten Zusammenhängen immer wieder neu und mit gleichbleibender Relevanz in die Kommunikation einschreiben. Voraussetzung für die Stabilisierung von Anschlussmustern ist, dass diese von Beobachtern als sozial relevant wahrgenommen werden. Im Rahmen der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung bedeutet die Erklärung der Emergenz von Struktur und Ordnung also „(...) immer zweierlei: 1. Erklärungen müssen ‚ereignissensitiv’ verfahren, und alles, was beobachtet wird, muss 2. in Begriffen kommunikativer Operationen und ihrer Resultate erfasst und beschrieben werden. Es geht um Konzepte, die in erster Linie auf den Prozess der Kommunikation und weniger auf jene Intentionen und Ziele hin ausgerichtet sind, welche Akteure möglicherweise in und mit der Kommunikation zu verfolgen beabsichtigen“ (Malsch, Perschke und Schmitt 2006: 59). Wir werden Möglichkeiten einer solchen ereignis- und prozesssensitiven Modellierung sozialer Emergenz in Kapitel (5) eruieren. Folgende Ansatzpunkte bieten sich hierfür: x Die Emergenz und Reproduktion von irreduziblen sozialen Phänomenen ruht auf Eigen- und Strukturwerten auf, welche sich bereits mit basalen Kommunikationsanschlüssen einstellen. Soziale Stabilität ist eine Folge der Stabilität von Anschlussmustern und Semantiken. Typische Verknüpfungen von Kommunikationsereignissen miteinander stabilisieren die Strukturdynamik der Kommunikation, und die soziale Sichtbarkeit bestimmter Signifikanzen und Relevanzen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es auch inhaltlich zu einer Integration und Verdichtung der Kommunikation kommt. Ergebnis ist die Absorption von Unsicherheit. x Richtet sich der Blick auf den Prozess der Kommunikation, so sind Kommunikationsanschlüsse in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen und die Effekte kommunikativer Selektionen „vom Prozess aus“ zu erklären. Eine ent-
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sprechende Modellierung setzt ein hinreichend präzises, heuristisch effektives kommunikationstheoretisches Grundvokabular voraus. x In und mit der Kommunikation werden Semantiken aufgerufen und verändert. Sie definieren die Konturen bzw. das Erscheinungsbild sozialer Phänomene. Aus diesem Grunde ist der Umgang mit Signifikanz- und Relevanzsetzungen in Kommunikationsprozessen zu untersuchen. x Kommunikation geht und führt dort weiter, wo Informationen bzw. Signifikanzen es Akteuren erlauben, Ordnung zu erschließen. Akteure nehmen eine bestimmte Ordnung der Dinge an und wählen Informationen auf ihrer Basis aus. Über diese Auswahlen werden auch die Kotexte der Informationsverarbeitung erneut in der Kommunikation sichtbar und zum Gegenstand von rekursiven Bezugnahmen. Diese gilt es in die Betrachtung mit einzubeziehen, sollen die „Konturen“ kommunikativ emergenter Phänomene bestimmt werden.
4 Zur Modellierung sozialer Mechanismen
4.1 Einführende Bemerkungen zur Bedeutung von Anschlussmustern Die kommunikationstheoretische Modellierung sozialer Emergenz setzt voraus, zwischen Kommunikationsereignissen eintretende Wechselwirkungen, d.h. die Ablauflogiken von Kommunikationsprozessen zu analysieren. Werner Vogd formuliert so z.B. mit Blick auf die Autopoiesis sozialer Systeme als zu erklärendes Phänomen: „Denn im Prozess des Anschließens, das dann weiteres Anschließen provoziert, konstituieren sich die Muster, welche als System, d.h. selbstreproduzierende, selbstähnliche Figuren erkannt und bestimmt werden können“ (Vogd 2005: 122). Sowohl die (Re)Produktion wie auch die erfolgreiche Transformation (Variation, Selektion und Retention) sozialer Eigenwerte und sozialer Systeme hängen davon ab, dass sich bestimmte Formen des Anschlusses von Kommunikationsereignissen an Kommunikationsereignisse zu bestimmten Zeitpunkten einstellen bzw. sich zu gegebener Zeit wiederholen. Nur so bleibt die routinemäßige Reproduktion bestehender Ordnung gesichert, und nur so gewinnt struktureller Wandel an Kontur, indem sich schließlich veränderte Verfahren als neue Verfahren etablieren können. Sofern Kommunikationsprozesse in ihrem Ablauf (immer wieder) einem bestimmten Muster „folgen“ und immer wieder ähnliche Leistungen erbringen (wie z.B. die Autopoiesis eines Systems in bestimmter Weise zu stützen), kann davon gesprochen werden, dass ihre Strukturdynamik einem „übergeordneten“ oder „generalisierbaren“, einem „generativen“ wie „erklärenden“ kommunikativen Mechanismus gleicht. In den Strukturdynamiken sozialer Prozesse kommt Selektivität zum Ausdruck. Als emergente Eigenschaften des Sozialen können Strukturdynamiken und Eigen- und Strukturwerte nicht unmittelbar oder nur höchst unsicher auf die Intentionen einzelner Akteure zurückgeführt bzw. nicht auf ihrer Basis reduktionistisch erklärt werden. Strukturdynamiken und Strukturwerte wirken – individuell beobachtet und individuell-sinnhaft erschlossen – schließlich wieder auf die Selektionsmöglichkeiten und -entscheidungen von Akteuren zurück. In kommunikationstheoretischer Perspektive ist vor allem auf die zwischen Mitteilungen bestehenden Referenzstrukturen bzw. Sinnverhältnisse abzuheben. Verändern sich beobachtete Strukturdynamiken bzw. Verknüpfungsmodi im Laufe der Zeit nicht oder nur geringfügig und werden bestimmte
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Eigen- und Strukturwerte auf ihrer Basis immer wieder auf ähnliche Art und Weise aktualisiert, so kann (vorsichtig) davon ausgegangen werden, dass sich stabile Mechanismen der Verkettung bzw. der Synthese von sozialem Sinn herausgebildet haben, die wiederum auch die Stabilität höherstufiger Phänomene (mit) bedingen. Dass der Begriff des „Mechanismus“ im Rahmen der vorliegenden Arbeit in einem anderen Sinne Verwendung findet, als in der akteurstheoretischen Soziologie üblich, darauf ist bereits hingewiesen worden. Die Konturen dieses alternativen Begriffs sollen in den nächsten Abschnitten hergeleitet, dargestellt und erläutert werden.
4.2 Definitionen und Prinzipien Während der Begriff „Mechanismus“ in der Soziologie einerseits in einem allgemeinen Sinne verwendet wird, um einfache Kausalverhältnisse oder auch das zumeist nicht näher spezifizierte Zusammenwirken verschiedener Ursachen im Hinblick auf bestimmte Wirkungen oder Probleme zu bezeichnen, so lassen sich andererseits aber auch äußerst strikte Definitionen finden. Gerade in den letzten zehn Jahren haben sich SoziologInnen verstärkt um begriffliche Präzision bemüht. Genauer müsste es eigentlich aber heißen: erneut bemüht. Als Konzept und Modell soziologischen Erklärens finden soziale Mechanismen gegenwärtig besondere Beachtung im Kontext der methodologischindividualistischen Theoriebildung. Versucht wird, so genau wie möglich zu bestimmen, was ein generativer sozialer Mechanismus ist, und wie er zu Zwecken des sozialwissenschaftlichen Erklärens allgemein nachvollziehbar rekonstruiert bzw. modelliert werden kann. Peter Hedström und Richard Swedberg beschreiben soziale Mechanismen als Konzepte, die durch vier „Kernprinzipien“ (wir werden im Weiteren noch auf sie zu sprechen kommen) gekennzeichnet sind: „action“, „precision“, „abstraction“ und „reduction“ (Hedström und Swedberg 1998b: 24). Mechanismen erklären, wie unter dem Eindruck bestimmter Verhältnisse und Gegebenheiten ausgewählte und vollzogene Handlungen zur Reproduktion eben dieser Verhältnisse oder aber zu ihrer Transformation beitragen. Soziale Mechanismen können, dem Aufbau des Makro-Mikro-MakroModells soziologischen Erklärens folgend, als Mechanismen der Situationsdefinition, der Handlungswahl und der Kopplung von Handlungsergebnissen zu aggregierten Handlungsfolgen modelliert werden (vgl. ebd.: 21 ff. sowie Esser 2002). Sie „überführen“ einen bestimmten „Input“ in einen bestimmten „Output“, einen bestimmten „Ausgangszustand“ in einen neuen Zustand (Hedström und Swedberg 1998b: 7). Der Begriff „Mechanismus“ hat eine doppelte Bedeutung. Er referiert sowohl auf empirisch beobachtbare, (wiederkehrende) soziale
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Prozesse, die die Entstehung, Reproduktion oder die Transformation sozialer Strukturen bedingen, bezeichnet gleichzeitig aber auch das diese Prozesse beschreibende Erklärungskonzept. So heißt es schon zu Beginn von Peter Hedströms und Richard Swedbergs einleitendem Aufsatz für den mittlerweile gar als „paradigmatisch” (Schmitt 2006: 203) wahrgenommenen Sammelband „Social Mechanisms” (1998a): „The main message of this book is that the advancement of social theory calls for an analytical approach that systematically seeks to explicate the social mechanisms that generate and explain observed associations between events” (Hedström und Swedberg 1998b: 1, Hervorheb. RHP). Als tatsächlich ablaufende Prozesse, als Strukturdynamiken, sind Mechanismen vor allem durch eines gekennzeichnet: durch Komplexität. Sie lässt sich in der soziologischen Arbeit reduzieren, sofern es gelingt, soziale Prozesse bzw. Strukturdynamiken als abstrakte und schließlich auch generalisierbare erklärende Mechanismen zu modellieren. Für soziale Mechanismen gilt damit, was für eine jede Erklärung gilt bzw. gelten muss: Sie ist immer „(…) prinzipiell sowohl rekonstruierender Nachvollzug einer bestehenden Relation (‚Entdeckung‘) als auch konstruktiver Erzeugungsakt (‚Erfindung‘). Keine Rekonstruktion kann ohne ein Mindestmaß an ‚konstruktivem‘ Zutun des Rekonstruierenden stattfinden, und sei es nur, dass er der Relation das ‚durch-den-Rekonstrukteur-rekonstruiertSein‘ hinzufügt; und kein Konstrukteur kann ohne ein ‚etwas‘, das er konstruiert [rekonstruiert, RHP] – also irgendeinen nicht mit ihm identischen Sachverhalt – etwas konstruieren“ (Langer 2006: 76). Vor einer möglichen Generalisierung stehen „Abstraktion“ und „Reduktion“. Ein Mechanismus muss zunächst mit Blick auf konkrete empirische Prozesse „versuchend“ rekonstruiert bzw. modelliert werden. Bereits im Falle dieser Modellierung handelt es sich in der Regel um einen aufwändigen Arbeitsschritt. Im Anschluss an eine solche Modellierung ist dann zu prüfen, ob und inwiefern sich auch die Strukturdynamiken anderer Prozesse mit Hilfe des entsprechend definierten Mechanismus erfassen und erklären lassen (Möglichkeit der Generalisierung). In ihrer Eigenschaft als erklärende Modelle lassen Mechanismen all jene Aspekte der Strukturdynamik eines sozialen Prozesses unberücksichtigt, die nur wenig zu einem tieferen Verständnis eines zuvor spezifizierten Erklärungsproblems bzw. zu seiner Lösung beitragen können (Abstraktion). Soziale Mechanismen erklären idealtypisch bzw. (zulässig) vereinfachend, wie sich der Übergang von einem oder mehreren sozialen Ereignis(sen) (Handlungen und Handlungssituationen) hin zu einem anderen oder mehreren anderen sozialen Ereignis(sen) vollzieht. Dabei wird die zwischen diesen Ereignissen bestehende Beziehung als „Ursache-Wirkungs-Verhältnis“ (vgl. zum Begriff Schmitt 2006: 204) spezifiziert. Als soziologisches Konzept informieren soziale Mechanismen also darüber, wie ein bestimmter Zustand oder ein bestimmtes
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Ereignis andere Zustände oder Ereignisse kausal bedingt. Soziale Mechanismen sollen – und hierauf wurde schon hingedeutet – nach Möglichkeit so angelegt werden, dass sie nicht nur für Einzelfälle gelten. Ein Mechanismus ist: „eine plausible und hinreichend generalisierbare Theorie über den Zusammenhang zwischen einem sozialen Ereignis/Zustand A und einem sozialen Effekt X, wobei die Theorie schlüssig darlegen muss, wie X durch A produziert wurde. Der soziale Mechanismus soll also vor allem zwei Bedingungen genügen: Zum einen soll er generativ sein, da er zeigt wie der Effekt X aus dem Ereignis oder Zustand A hervorgeht; zum anderen soll er hinreichend generalisierbar sein, um als Modell auch bei anderen Fällen wiederverwendbar zu sein“ (ebd.: 204, Hervorheb. im Original). Soziale Mechanismen werden im „mechanisms-based approach to social theory“ also als kausale Ablauflogik sozialer Prozesse und als Rekonstruktionen dieser Ablauflogik verstanden. Sich an den Prämissen des methodologischen Individualismus orientierend bedeutet dies, im Zuge ihrer Rekonstruktion („Abstraktion“ und „Reduktion“) unmittelbar auf das Entscheiden und Handeln von Individuen („Action“ = „Handlungsorientierung“) Bezug nehmen zu müssen. Es sind ausschließlich die sozialen Akteure, die hier als „kausales Agens“ sozialer Prozesse gelten (vgl. Hedström und Swedberg 1998b: 11 f.).64 Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Kausalität in soziologischer Perspektive allerdings auch anders gedacht werden kann (vgl. hierzu exemplarisch Luhmann 1991a und 1991c sowie Schneider 2005). Wir werden hierauf noch ausführlich zu sprechen kommen. Das Konzept der (handlungstheoretisch fundierten) sozialen Erklärungsmechanismen richtet sich nicht zuletzt gegen die Annahme bzw. den Anspruch der „klassischen“ empirischen Sozialforschung, soziale Phänomene auf der Basis statistischer Korrelationen erklären zu können bzw. erklären zu wollen (vgl. Hedström und Swedberg 1998b: 15 ff. sowie Schmitt 2006: 9). Kritisiert wird, dass die empirische Soziologie zu wenig nach den Ursachen für Strukturdynamiken frage und stattdessen ihre Zuflucht in der Analyse von Korrelationen suche, die zwar helfen, bestehende Zusammenhänge zu erkennen, es aber nicht auch erlauben (würden), die Existenz eben dieser Zusammenhänge kausal, d.h. als Abfolge von Ereignissen zu erklären. Wird von sozialen Mechanismen gespro64
Bei Hedström und Swedberg heißt es: „Mechanism-based explanations usually invoke some form of ‘causal agent’ (…) that is assumed to have generated the relationship between the entities being observed. It is by explicitly referring to these causal agents that the relationship is made intelligible. In the natural sciences, causal agents come in a variety of forms such as organic reactions in chemistry and natural selection in biology. In the social sciences, however, the elementary ‘causal agents’ are always individual actors, and intelligible social science explanations should always include explicit references to the causes and consequences of their actions” (Hedström und Swedberg 1998b: 12).
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chen, so sind im Sinne des „mechanisms-based approach“ immer Rekonstruktionen von Kausalzusammenhängen bzw. Ereignisfolgen oder -ketten gemeint, die es möglich machen zu erklären, wie die Stärke einer statistisch feststellbaren Korrelation zustande gekommen ist. Kausalität als einen unhintergehbaren Zusammenhang von ursächlichen Handlung(en) bzw. Handlungswahlen und sich in veränderten sozialen Situationen niederschlagenden Effekten bzw. Effekten auf der Ebene der Sozialstruktur denken zu wollen, ist jedoch nur eine Möglichkeit. Wir werden sehen, dass Kausalität letztlich ein unterschiedlich ausfallendes Resultat der beobachterrelativen Zurechnung von Freiheit und Verantwortung (Schneider 2005: 267 ff.) ist. Es geht somit nicht um die Kausalität, sondern um beobachterabhängige Erscheinungsformen von Kausalität. Hier besteht eine wesentliche Differenz zwischen Transformationstheorien, die Gesellschaft als ein Gefüge von unterschiedlichen Strukturebenen verstehen, und Rotationstheorien, die das Soziale als eine Verkettung oder Vernetzung von Kommunikationsereignissen und Kommunikationsprozessen konzipieren. Ein weiteres Prinzip, die Forderung nach „Präzision“, weist darauf hin, dass es sich bei sozialen Mechanismen nicht um makrosoziale Gesetze („universal social laws“; Hedström und Swedberg 1998b: 24), sondern um Erklärungen handelt, die noch relativ nahe an den unmittelbar zu beobachtenden sozialen Phänomenen dran bleiben. Soziale Mechanismen sind weder dichte Beschreibungen noch handelt es sich bei ihnen um abstrakte, unter bestimmten Umständen immer Gültigkeit besitzende Gesetzmäßigkeiten. Sie stellen Modelle dar, die noch „aus sich selbst heraus erklären“, auf welche Anwendungsszenarien und Fälle sie sich beziehen bzw. direkt applizieren lassen. Soziale Mechanismen sind somit ein unverzichtbares Element einer jeden soziologischen Theorie „mittlerer Reichweite“ (vgl. für eine ausführliche Diskussion des theoretischen Stellenwerts sozialer Mechanismen Mackert 2005: 149 ff.). Die aktuelle Diskussion schließt hier unmittelbar an die sozialtheoretischen Überlegungen Robert K. Mertons an, der sich als einer der Ersten darum bemühte, das Mechanismenkonzept auch für die empirische Sozialforschung und die soziologische Theoriebildung fruchtbar zu machen. Die Modellierung sozialer Mechanismen bedeutet zweierlei. Zum einen geht es zunächst darum, mit Blick auf ein bestimmtes Phänomen die Ablauflogiken jener Prozesse abstrahierend zu modellieren, die seiner Emergenz zugrunde liegen. Zum anderen gilt es im Anschluss an Modellierungen zu prüfen, ob einzelne Mechanismen bereits allgemein genug sind, um auf ihrer Basis auch andere, dem untersuchten Phänomen ähnelnde Sachverhalte erklären zu können, ob sich die modellierten Strukturdynamiken also auch „am anderen Ort“ entdecken lassen. Erst wenn dies der Fall ist, lässt sich ein bestimmter Mechanismus als genereller
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bzw. generalisierbarer sozialer Mechanismus bezeichnen, der übergreifend zu Zwecken der Erklärung taugt und helfen kann, eine unnötige Steigerung der Komplexität von soziologischen Erklärungen zu vermeiden. Mit Hilfe eines generalisierten sozialen Mechanismus können sich ähnelnde Strukturdynamiken vereinfachend beschrieben werden. Wie bereits erwähnt, stellen Mechanismen keine Gesetze des Sozialen dar. Es geht in ihrem Fall – ganz gleich in welcher Form sie letztlich modelliert werden – eigentlich nicht darum, die Anforderungen einer deduktiv-nomologischen Erklärung vollständig zu erfüllen. In der handlungstheoretisch ausgerichteten, auf der Basis von Mechanismen erklärenden Soziologie kommen „gestaffelte Mehrebenenerklärungen“ (Schmid 2006: 46, Hervorheb. im Original) zum Einsatz, die auf die Logik der Situation, die Logik der Selektion und die Logik der Aggregation Bezug nehmen. Dabei wird die erklärende Soziologie allerdings von der Annahme geleitet, dass auch Mehrebenenerklärungen nicht gänzlich ohne die Berücksichtigung allgemeiner Gesetze des Handelns möglich seien. Ob einzelnen Erklärungen jeweils zugrunde liegende Selektionsregeln tatsächlich zutreffen, und ob es überhaupt möglich ist, solche Regeln zu formulieren, darüber lässt sich – wie auch wir in Kapitel (2) gesehen haben – ohne Frage vortrefflich streiten (vgl. hierzu auch Schmitt 2006: 207 ff.). Letztendlich besteht „zwischen“ den einzelnen Logiken immer „Spiel“: Auch zu Ende geführte Mehrebenenerklärungen werden immer wieder durch soziale Kontingenz herausgefordert. Auf der Ebene sozialer Realität gibt es keine Determination (vgl. Luhmann 1991a: 12). Als Konzepte mittlerer Reichweite beschreiben und erklären soziale Mechanismen, unter welchen Umständen es auf der Basis welcher Ursachen zu welchen Wirkungen gekommen ist bzw. welche Wirkungen vor dem Hintergrund identifizierter Bedingungen und Ursachen immer wieder im Bereich des Möglichen liegen. Dass es sich manchmal eben auch anders verhält, dass ähnliche Ausgangsbedingungen schließlich doch zu unterschiedlichen Wirkungen und unterschiedliche Ausgangsbedingungen doch zu ähnlichen Wirkungen führen, bleibt damit nie ausgeschlossen. Im Anschluss an Jon Elster formuliert Wolfgang Ludwig Schneider so z.B.: „Mit kausalen Erklärungen durch soziale Mechanismen wird ausdrücklich nicht der Anspruch verknüpft, die Anforderungen einer deduktiv-nomologischen Erklärung zu erfüllen. Dies deshalb nicht, weil die Antezedenzbedingungen, durch die ein bestimmter Mechanismus aktiviert wird, häufig nicht vollständig angegeben werden können, sodass an die Stelle von Aussagen des Typs ‚Gegeben die Bedingungen B1, B2 ... Bn, dann geschieht immer ein Ereignis vom Typ E’, oft Aussagen der Form ‚Gegeben B1, B2 ... Bn, dann manchmal E’ treten (...). Vorhersagen von E, aus denen zu entnehmen wäre, unter welchen Voraussetzungen E notwendig eintritt, sind so offensichtlich nicht zu erreichen, wohl aber ex post actu-Erklärungen, die
Definitionen und Prinzipien
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einsichtig machen, wie es möglich war, dass E unter den gegebenen Bedingungen ausgelöst worden ist“ (Schneider 2005: 252 f., Hervorheb. im Original).
4.3 Anmerkungen zum Stand der Forschung 4.3.1 Exkurs zur frühen soziologischen Mechanismenforschung Robert K. Merton hat in den fünfziger Jahren versucht, den Mechanismenbegriff sozialtheoretisch zu wenden und für soziologische Erklärungen fruchtbar zu machen.65 Merton interessierte sich weder ausschließlich für die empirische Forschung und das Testen von Arbeitshypothesen, noch ausschließlich für die Entwicklung einer „grand unified theory“, sondern er war auf eine enge Verknüpfung von Theorie und Empirie bedacht. Sein Ziel war es, vor allem zu verhindern, dass sich eine bereits zum damaligen Zeitpunkt zunehmend theorieferne soziologische Empirie und eine empirieferne soziologische Theorie immer weiter voneinander entfernen. Und eben diese Kluft sollte durch „sociological theories of the middle range“ überwunden werden. In „Social Theory and Social Structure“ (1949/1968) heißt es: „Throughout this book, the term sociological theory refers to logically interconnected sets of propositions from which empirical uniformities can be derived. Throughout we focus on what I have called theories of the middle range: theories that lie between the minor but necessary working hypotheses that evolve in abundance during day-to-day research and the allinclusive systematic efforts to develop a unified theory that will explain all the observed uniformities of social behavior, social organization and social change” (Merton 1949/1968: 39). Theorien mittlerer Reichweite müssen damit aus Konzepten bestehen, die einerseits mit den Ergebnissen empirischer Forschungen und Betrachtungen korrespondieren und es erlauben, diese unmittelbar zu erklären, die andererseits aber auch allgemein genug sind, um eine gewisse Zahl ähnlicher Phänomene zusammenfassend beschreiben und erklären zu können. Soziale Mechanismen sind eben dieses tragende Konzept. Sich mit unterschiedlichen Rollenerwartungen, der alltäglichen, meist als „unproblematisch“ empfundenen 65
Peter Hedström und Richard Swedberg haben darauf hingewiesen, dass soziale Mechanismen schon von Albion Small, dem Begründer des ersten „Department of Sociology“ in den USA (University of Chicago, 1892), zu den wichtigsten soziologischen Konzepten gezählt wurden. Small verzichtete in seiner „General Sociology: An Exposition of the Main Development in Sociological Theory from Spencer to Ratzenhofer“ (1905) allerdings darauf, näher zu erläutern, was unter dem Begriff „social mechanism“ zu verstehen ist, und welche Erscheinungen mit Hilfe des Mechanismenkonzeptes erklärt werden können (vgl. hierzu direkt Hedström und Swedberg 1998b: 5). Der erste gründliche Definitionsversuch wurde dementsprechend von Robert K. Merton unternommen.
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Erfüllung dieser unterschiedlichen Erwartungen und dem soziologischen Konzept des „role-sets“ sowie seiner Erklärungskraft auseinandersetzend definiert Merton soziale Mechanismen schließlich als: „(...) social processes having designated consequences for designated parts of the social structure (...)“ (ebd.: 43). Soziale Mechanismen werden von Merton also ausdrücklich als soziale Prozesse definiert, die bestimmte Struktureffekte auslösen.66 Die Aufdeckung und Modellierung sozialer Mechanismen bedeutet dementsprechend zu erläutern, wie das Zusammenwirken von bestimmten Ereignissen bzw. Phänomenen (Ursachen) zur (Re)Produktion oder Transformation sozialer Strukturen führt. Zu untersuchen ist ferner, warum ganz bestimmte soziale Prozesse ablaufen, wie sie ablaufen, und warum sie möglicherweise nur in ganz bestimmten Kontexten ihre Wirkung zu entfalten vermögen. Neben Robert K. Merton interessierte sich in den 1950er Jahren auch der schwedische Soziologe Georg Karlsson für soziale Mechanismen. Karlsson veröffentlichte 1958 eine Studie mit dem Titel „Social Mechanisms. Studies in sociological theory“, deren Schwerpunkt die formal-mathematische Modellierung verschiedener Mechanismen darstellt. Zu den grundlegenden Mechanismen sozialer Ordnungsbildung zählt Karlsson u.a. Mechanismen der Diffusion, Mechanismen der Gruppenbildung sowie Interaktionsmechanismen (vgl. Karlsson 1958). Karlsson modelliert diese Mechanismen schließlich auf der Basis ausgewählter mathematischer Modelle, soziologischer Forschungsergebnisse und theoretischer Annahmen.67 Wie Merton betont auch Karlsson, dass es sich im Falle von sozialen Mechanismen um Prozesse handelt, und er weist sogar noch einmal explizit auf jene besondere Bedeutung hin, welche Zeit für die Entstehung von sozialer Ordnung besitzt. Die Dauer von Prozessen stellt für ihn eine eigenständige Variable dar, die in formal-soziologischen, mathematischen Modellen der (Re)produktion von sozialer Ordnung gesondert mit berücksichtigt werden muss: „One of the most important characteristics of nature is that everything happens in time. Nothing occurs, nothing functions without time being involved. If we are interested not only in the state of things at a particular time but in the functioning and development of social groups, then we must introduce 66
67
Vergleiche für eine aktuelle, durch die Idee der Selbstorganisation beeinflusste, ähnliche Formulierung desselben Gedankens Langer (2006): „Impliziert ist des Weiteren, dass jeder Mechanismus eine strukturierende Wirkung auf angebbare soziale Phänomene erzeugt. Insofern ist ein sozialer Mechanismus zu verstehen als aktiv organisierender oder strukturierender Part einer selbstorganisierenden sozialen Struktur; er bezieht sich auf spezifische rezeptive Strukturkomponenten, die genau durch ihn strukturiert werden“ (Langer 2006: 72). Karlsson setzt sich so z.B. ausführlich mit dem „imitation model“ des Mathematikers Nicolas Rashevsky, mit Anatol Rapoports „Random Net Models“ und mit den Innovationsmodellen von Torsten Hägerstrand auseinander, und er bezieht sich auch auf Studien Theodor Geigers und George Caspar Homans (vgl. Karlsson 1958: 19 ff., 67 und 100 ff.).
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the time variable into our model, and we must give the values of the other variables in relation to time. Correspondingly, we must give the values of the operational variables in relation to time, i.e. we must make our observations at several different times” (ebd.: 9 f.). Die Dynamik sozialer Prozesse ist für Karlsson eine unmittelbare Folge der individuellen Entscheidungen von Akteuren. Soziale Mechanismen lassen sich seiner Ansicht nach nur verlässlich identifizieren und rekonstruieren, sofern die psychologischen Grundlagen des sozialen Handelns als Ausgangspunkt der Analyse gesetzt werden. Auch wenn es unter Umständen möglich ist und angemessen erscheinen mag, Gruppen als „kollektive Akteure“ zu verstehen und ihnen Eigenschaften zuzuschreiben, die ansonsten nur Individuen zukommen, so bleibt das Entscheidungshandeln der individuellen sozialen Akteure für Karlsson doch die unhintergehbare, „letzte“ Ursache für die Dynamik sozialer Prozesse. Soziale Mechanismen sind für ihn nur auf der Basis psychologischer Annahmen zu rekonstruieren: „The starting point for sociology is the behavior of individuals. Unless we understand the ways in which individuals behave we cannot hope to understand social processes and the functioning of groups. (...) The sociologist must therefore make some initial socialpsychological assumptions about the behavior of individuals“ (ebd.: 11, Hervorheb. RHP). Die Formulierung „social-psychological assumptions” deutet bereits darauf hin, dass es hierbei nicht um einen direkten Rekurs auf für die jeweils interessierende soziologische Fragestellung relevante Erkenntnisse psychologischer Forschungen geht, sondern um die Übersetzung von grundlegenden Annahmen über menschliches Verhalten in ein allgemein-soziologisches Modell (vgl. ausdrücklich ebd.: 11). Dieses Modell stellt sich im Falle Karlssons als ein äußerst simples dar, welches lediglich zwischen irrationalem (emotionalem) und rationalem Verhalten zu diskriminieren erlaubt. Eine Kombination beider Momente ist zugelassen. Entscheidend ist mit Blick auf diese beiden Arten des SichVerhaltens, dass sie das Ergebnis individueller „(Aus)Wahlen“ darstellen. Die Handlungswahl wird entweder auf der Basis von individuellen Situationsdefinitionen oder aber auf der Basis von individuellen Situationsdefinitionen und rationaler Abwägung möglicher Handlungsfolgen getroffen (vgl. ebd.: 12 ff.). Das von Karlsson verfolgte Forschungsprogramm ist das methodologischindividualistische. Die in seinem Akteursmodell enthaltenen Annahmen und die von ihm postulierten Zusammenhänge besitzen – wenn auch in veränderter Form – noch heute Bedeutung für die handlungstheoretisch fundierte Erklärung der (Re)Produktion sozialer Ordnung mit Hilfe von sozialen Mechanismen, wie die aktuelle Debatte des „mechanisms-based approach“ zeigt (vgl. hierzu die Beiträge im bereits mehrfach erwähnten Sammelband von Hedström und Swedberg 1998a).
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4.3.2 Neuere Debatte Peter Hedström und Richard Swedberg haben, ebenso wie z.B. Peter C. Schelling, Jon Elster und Raymond Boudon, im Anschluss an die Arbeiten Colemans, Mertons und Karlssons dafür plädiert, die erklärende Soziologie erneut mechanismenbasiert zu fundieren. Die Notwendigkeit und der Nutzen mechanismischer Erklärungen liegen vor allem darin begründet, dass sich soziale Phänomene nicht ohne Weiteres mit Hilfe von (Makro-)Gesetzen erklären lassen. Vielmehr ist kleinschrittiger zu verfahren, um soziologisch gehaltvoll erklären zu können. Hierbei ist allerdings immer zu berücksichtigen, dass alles Soziale kontingent ist. Soziale Mechanismen ermöglichen es, einen starken Erklärungsanspruch beizubehalten und auf elegante und angemessene Art und Weise mit dem Problem der Kontingenz umzugehen. Soziale Mechanismen erklären nicht auf der Basis eines „Wenn A unter diesen und jenen Umständen, dann immer B“, sondern – eben weil sich Antezedenzbedingungen kaum erschöpfend angeben lassen – immer mit Hilfe eines „If A, then sometimes B“ oder gar mit Hilfe eines „If A, then sometimes C, D, and B“ (Elster 1998: 49, Hervorheb. im Original). Der Sinn von solchen „sometimes true-theories“ (Coleman 1964: 516) in der Form von sozialen Mechanismen liegt darin, zu verhindern, dass die Soziologie letzten Endes wieder auf „simple“ Beschreibungen und Erzählungen zurückkommen muss. Soziale Mechanismen machen stattdessen Abläufe sozialer Prozesse plausibel und geben Einblick in die „Logik“ und „Eigensinnigkeit“ des Sozialen bzw. machen ihre/seine Erklärung möglich. Ein weiteres Problem ist in diesem Zusammenhang, dass die statistischen Korrelationen der empirischen Sozialforschung Zusammenhänge zwar beschreiben helfen, selbst aber eigentlich nichts erklären können. Soziale Mechanismen können hier helfen zu verstehen und zu erklären, welche Prozesse wie zur Entstehung jener Sachverhalte geführt haben, die der empirischen Forschung als ihre statistisch zu beschreibenden Explananda gelten (vgl. für ein ausführliches Beispiel Esser 2002). Erst Mechanismen erklären, wie bestimmte Ausgangsbedingungen durch soziale Prozesse in bestimmte Zielzustände überführt werden, wie bestimmte Ereignisse und Prozesse aneinander anschließen. Mit Blick auf die bereits weiter oben erörterten Kernprinzipien der Modellierung definieren Hedström und Swedberg den Begriff „sozialer Mechanismus“ schließlich wie folgt: „A social mechanism is an integral part of an explanation which (1) adheres to the four core principles stated previously, and (2) is such that on the occurrence of the cause or input, I, it generates the effect or outcome, O“ (Hedström und Swedberg 1998b: 25, Hervorheb. im Original). Mit Hilfe eines Mechanismus lassen sich soziale Strukturdynamiken abbilden und erklären. Eben deshalb ist es gerechtfertigt, von gleichsam generischen wie erklärenden Mechanismen zu
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sprechen. Die beobachtete komplexe Strukturdynamik existiert, sie ist im Modell aber vereinfachend erfasst und abgebildet. Ein sozialer Mechanismus lässt sich erst dann als (bedingt) allgemein bezeichnen, wenn die seiner Modellierung zugrunde liegenden Strukturdynamiken immer wieder bzw. in voneinander verschiedenen sozialen Settings beobachtet werden können. Die Modellierung von Mechanismen bedeutet zunächst, sich zu beschränken und tastend zu eruieren. Nur selten können unterschiedliche Empiriefelder simultan im Hinblick auf die Frage untersucht werden, ob in ihnen oder in wie vielen von ihnen identische Strukturdynamiken entstehen, d.h. ob ähnliche Mechanismen wirken. In der Praxis wird man zunächst mit einem ausgewählten Beispiel beginnen und eine Modellierung versuchen; also für einen bestimmten Fall probieren, wie sich die zwischen einzelnen Ereignissen bestehenden Relationen kausal erklären und somit modellieren lassen. Im Anschluss hieran ist dann zu prüfen, ob sich Strukturdynamiken wiederholen und in welchen Empiriefeldern ein identifizierter Mechanismus noch „in Anschlag“ gebracht werden kann. Werden soziale Mechanismen entlang der Dimensionen des Modells soziologischer Erklärung entwickelt, so lassen sich (1) „situational mechanisms“, (2) „action-formation mechanisms“ und (3) „transformation mechanisms“ (vgl. ebd.: 21) voneinander unterscheiden. Mechanismen der Situationsdefinition erlauben es nachzuvollziehen, wie soziale Akteure Beschreibungen sozialer Situationen anfertigen. Hedström und Swedberg zufolge wird so z.B. die Handlungsentscheidung und -wahl in vielen sozialen Situationen auf der Basis des sogenannten „belief-formation mechanism“ der Situationsdefinition vorbereitet (vgl. ebd.: 17 ff.). Der „belief-formation mechanism“ weist auf den Umstand hin, dass die individuelle Wahrscheinlichkeit der Wahl einer ganz bestimmten Handlungsalternative steigt, wenn die große Zahl derer, die die entsprechende Handlung bereits ausgeführt haben, als Beleg für ihre Nützlichkeit gelesen wird. Die beiden Autoren sprechen sogar davon, dass der „belief-formation mechanism“ nicht nur die Wirkungsweise von Mechanismen der Diffusion erkläre, sondern auch das generische Prinzip der „Self-fulfilling prophecy“ darstelle (vgl. ebd.: 18). Mechanismen der Handlungswahl hingegen erfassen, auf welcher Basis sich Akteure für eine bestimmte Handlung entscheiden und Transformationsmechanismen, wie z.B. Tipping-Point-Modelle oder neoklassische Modelle des Marktes, erlauben es zu erklären, wie die (aggregierten) Handlungen Einzelner in die Emergenz bestimmter struktureller Phänomene münden (vgl. ebd.: 23).68 68
Für zusätzliche Beispiele sozialer Mechanismen sei hier auf weitere, im von Hedström und Swedberg (1998a) herausgegebenen Sammelband veröffentlichte Beiträge, und zwar insbesondere auf die Beiträge von Jon Elster, Thomas C. Schelling und Peter Hedström verweisen. Ebenso ist der deutschsprachige Sammelband „Reflexive soziale Mechanismen“ (2006) von Schmitt, Florian und Hillebrandt zu erwähnen. Hier lassen sich neben Beispielen für hand-
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Die Inhalte der aktuellen Diskussion um den Nutzen und die Möglichkeiten einer Modellierung von sozialen Mechanismen ließen sich noch weiter skizzieren. Wir wollen hier jedoch nicht ins Detail gehen und im Folgenden stattdessen ausloten, welche Möglichkeiten es gibt, soziale Mechanismen auch kommunikationstheoretisch zu modellieren und Kausalität und Kommunikation somit zusammen zu denken. Vor allem Letzteres bereitet der kommunikationstheoretischen Forschung Probleme. So schreibt z.B. Dirk Baecker in „Form und Formen der Kommunikation“: „Grundsätzlich jedoch glaube ich, dass Kommunikation etwas anderes ist als eine Handlung, und es daher auch wenig Sinn macht, nach Absichten, Regeln, und Normen zu fragen, Ursachen und Wirkungen zu unterstellen und an deren besserer Abstimmung zu arbeiten. Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass es weiter führt, den Begriff der Kommunikation in eine gewisse Opposition zum Begriff der Kausalität zu bringen und ihn dementsprechend für die Beschreibung von Verhältnissen zu reservieren, in denen Überraschungen die Regel sind“ (Baecker 2005a: 8). Wir hatten bereits festgehalten, dass auch Beacker darauf hinweist, dass Kommunikation keineswegs (nur) Unbestimmtheit bedeutet. Die Bestimmtheit, mit der man es im Falle der Kommunikation zu tun bekomme, so Baecker, sei allerdings nicht die von Ursache und Wirkung, sondern jene, die aus der Einschränkung und Öffnung von Freiheitsgraden resultiere (vgl. ebd.: 8). Ob sich die von Beacker thematisierte „Art“ von Bestimmtheit vielleicht doch mit dem Konzept sozialer Mechanismen vermitteln lässt, wird im Folgenden noch zu prüfen sein. Die entscheidende Frage ist hier letztlich, ob eine kommunikationstheoretische Reformulierung des Konzeptes sozialer Mechanismen neue Möglichkeiten eröffnet, erklären zu können, warum, wann und wie welche Kommunikationsanschlüsse zur Emergenz bestimmter sozialer Formen und Strukturen führen. Lässt sich die Öffnung und Schließung von Spielräumen in der Kommunikation als „Ursache-Wirkungs-Verhältnis“ bzw. lassen sich Kommunikationsanschlüsse als eine „Reihe von Faktoren“ beobachten und verstehen, und sich Anschlussmuster somit als kommunikative Mechanismen modellieren? Wie genau „beeinflussen“ retrospektiv-rekursiv orientierte Kommunikationsanschlüsse (Inzeptionen und Mitteilungen) den Fortgang der Kommunikation, wie bedingt die durch den Kommunikationsanschluss zustande kommende Eröffnung und Einschränkung von Möglichkeitsräumen neue Kommunikationsanschlüsse? Roman Langer hat darauf aufmerksam gemacht, dass Kausalität einem Ereignis nicht einfach innewohnen muss, sondern selbst auch ein Effekt des Zusammenspiels von Ereignissen, d.h. ein Resultat von „Faktorenkombinationen“ und „Wechselwirkung“ sein kann. Er erörtert zur Modellierung sozialer Mechanislungstheoretisch (re-)konstruierte Mechanismen auch Beispiele zur praxis- (Florian 2006) und kommunikationstheoretischen (Schmitt 2006, Hartig-Perschke 2006) Modellierung finden.
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men: „Meines Erachtens sind substanzielle Eigenschaften der Komponenten eines Mechanismus oder ihrer Beziehungen zueinander überhaupt nicht vorauszusetzen. Kette, Netz, Regelsatz, Wirkprinzip, Wechselwirkung, Faktorenkombination, einseitige Wirkungsbeziehung, Zusammenwirken, komplex oder einfach – alles ist ‚möglich‘ beziehungsweise in vielen Hinsichten eine Frage der Perspektive“ (Langer 2006: 83). Bevor wir weiter diskutieren wollen, wie Kommunikation und Kausalität zusammenkommen können, ist zunächst allerdings zu fragen, welches Verständnis sozialer Mechanismen jene soziologische Theorie entwickelt hat und nahe legt, die bislang am konsequentesten für die Umstellung von Handlung auf Kommunikation plädiert hat – die soziologische Systemtheorie Luhmanns.
4.3.3 Soziale Mechanismen und soziologische Systemtheorie Auch wenn der Begriff selbst eine untergeordnete Rolle in Niklas Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme spielt, so hat sich der Bielefelder Soziologe zumindest zu Beginn seiner Karriere für die ordnungskonstitutive Bedeutung sozialer Mechanismen interessiert. 1966 veröffentlichte Luhmann einen Artikel mit dem Titel „Reflexive Mechanismen“.69 In diesem Artikel definiert er soziale Mechanismen – davon ausgehend, dass der Begriff „Mechanismus“ seinen „Uhrmachersinn“ verloren habe und in den Status einer „allgemeinen systemtheoretischen Funktionsbezeichnung“ erhoben werden könne – wie folgt: „Unter Mechanismus soll demgemäß eine funktional spezifizierte Leistung verstanden werden, deren bei Bedarf wiederholte Erbringung in einem System erwartet werden kann, so daß andere Einrichtungen sich darauf einstellen können. Mechanismen lösen Systemprobleme“ (Luhmann 1991b: 92). Als Beispiele für soziale Mechanismen nennt Luhmann: das Lernen, die Normbildung, den Einfluss auf andere (Macht), das Entscheiden und die Selbstdarstellung (vgl. ebd.: 94). Luhmann interessiert sich dabei weniger für das individuelle Lernen, die individuelle Entscheidungsfindung usw. usf., d.h. für Bewusstseinsprozesse, sondern vielmehr für soziale Prozesse des Lernens, des Entscheidens etc. sowie für die Frage, wie diese Prozesse reflexiv werden (können), und welche gesellschaftlichen Folgen dieses Reflexivwerden hat.70 Am Beispiel des Lernens lässt 69 70
Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift „Soziale Welt“ veröffentlicht und 1970 im ersten Band der Reihe „Soziologische Aufklärung“ erneut abgedruckt. In dieser Arbeit wird auf der Basis der sechsten Auflage von 1991 zitiert. Luhmann erörtert: „(..) Der Prozess des Lernens interessiert in diesem Zusammenhang nicht in seiner Funktion für die individuelle Persönlichkeit, für die Strukturierung eines persönlichen Systems der Erlebnisverarbeitung, sondern als sozialer Mechanismus“ (Luhmann 1991b: 94). Obwohl Luhmann individuelles und soziales Lernen soweit als möglich voneinander unter-
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sich gut verdeutlichen, was Luhmann unter einem sozialen Mechanismus versteht und was es bedeutet, dass soziale Mechanismen als reflexive Mechanismen auf sich selbst Anwendung finden (können). Die Emergenz sozialer Ordnung setzt Lernkapazitäten und die Lernfähigkeit sozialer und psychischer Systeme voraus, d.h. die Fähigkeit zur „Umstrukturierung und laufenden Anpassung der Erwartungsstrukturen“ (ebd.: 94). Als alltägliche Vorgänge, als unhinterfragte Prozesse, vollziehen sich individuelles und soziales Lernen im vorreflexiven Modus „unabsichtlich“ auf der Basis von Erfahrungen. Sobald Lernen allerdings zum „zielbewußt betriebenen Erwerb von Kenntnissen“ und somit rationalisiert und organisiert wird, führt der Prozess selbst „(...) zur Ausbildung von Merkregeln, Begriffen und Begriffssystemen, die nicht nur der Erlebnisverarbeitung, sondern auch dem Lernen und Behalten dienen, ferner zur sozialen Kooperation am Lernvorgang durch Trennung von Lehren und Lernen“ (ebd.: 94). Diese Rationalisierung und Ausdifferenzierung des Lernprozesses bedeutet, dass in der Gesellschaft Kapazitäten für das „Lernen des Lernens“ und das „Lernen des Lehrens“ frei werden. Und eben diese Anwendung von „Lernprozessen auf weitere Lernprozesse“ bzw. der Resultate von Lernprozessen auf weitere Lernprozesse erlaube es schließlich, von einem reflexiven sozialen Mechanismus des Lernens zu sprechen (vgl. erneut ebd.: 94). Lernen wird also reflexiv, sobald Erkenntnisse über das Lernen den Ablauf von Lernprozessen beeinflussen. Reflexiv gewordenes Lernen bedeutet somit, systemisches Beobachten an Leitunterscheidungen auszurichten, die sich schon in früheren Fällen als für Problemlösungen nützlich erwiesen haben. Reflexive Mechanismen wie das Lernen stabilisieren also vor allem die Form/den Ablauf der Autopoiesis psychischer und sozialer Systeme. Soziale Reflexivität, d.h. die Anwendung eines Prozesses auf sich selbst, sorgt dafür, dass soziale Emergenz in bestimmte Richtungen gelenkt wird und es zu Formgewinn und Stabilisierung kommt. Haben sich im Falle des Lernens Leitunterscheidungen, also „Merkregeln, Begriffe und Begriffssysteme“ als hilfreich erwiesen und werden sie weiterhin genutzt, so vollziehen sich Lernproscheiden, und Lernen vor allem als einen genuin sozialen Mechanismus thematisieren möchte, nimmt er dennoch häufig auf das individuelle Lernen und das individuelle Lernen des Lernens Bezug. Unter anderem zeugt das folgende Zitat hiervon: „In hochgradig mobilen Gesellschaften beginnt sich nämlich auch ein Lernen des Kennenlernens, des Sich-vertraut-Machens mit immer wieder neuen Umständen zu lohnen: die Art der Annäherung an eine neue Stadt, in die man für einige Zeit verschlagen wird, das Sich-Einfühlen in eine neue Arbeitsorganisation und der Erwerb des notwendigen Arbeitsplatzwissens, die Einleitung neuer Liebschaften oder Zweckfreundschaften, das Reisen mit dem Baedeker will und kann gelernt werden“ (ebd.: 94). Lernen und reflexives Lernen sind insofern gleichermaßen typisch für psychische und für soziale Systeme wie z.B. Organisationen (vgl. für ein Beispiel organisationalen Lernens z.B. Epskamp, Buchholz und Stappenbeck 2001). Dieses ändert jedoch nichts daran, dass es sich immer um Prozesse, um Vorgänge handelt.
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zesse letzten Endes immer wieder auf ähnliche Art und Weise. Reflexivität bedeutet dementsprechend die Möglichkeit der Stabilisierung von Strukturdynamiken, die Bewahrung spezifischer Formen und Ablauflogiken sozialer Prozesse. Im Falle von (reflexiven) sozialen Mechanismen handelt es sich also um komplexe Prozesse oder Prozeduren der sinnhaften Vernetzung von Ereignissen, die durch die Abläufe und die Ergebnisse vorangegangener sozialer Prozesse mit bestimmt sind. Und im Falle des reflexiven Mechanismus des sozialen Lernens sind die von Luhmann erwähnten Begriffe, Merkregeln und Begriffssysteme als soziale Eigen- und Strukturwerte bzw. Semantiken zu verstehen, die nicht nur die Form bzw. typische Formen des Mechanismus selbst stabilisieren helfen, sondern ebenso die Autopoiesis unterschiedlicher sozialer Systeme tragen, indem sie Erwartungsbildung und -reproduktion orientieren. Mit anderen Worten ausgedrückt: Sie sind generative Sinnmuster (vgl. zur Funktion und Bedeutung von Sinnmustern auch Vogd 2005: 25 ff., 70 f. sowie 122 ff.).
4.4 Kommunikation und Kausalität 4.4.1 Prozess und „Mechanik“ Soziale Mechanismen informieren darüber, wie bestimmte „set-up“ bzw. „start conditions“ mit bestimmten „termination conditions“ (vgl. zu diesen Begriffen Machamer, Darden und Craver 2000: 11 f.) relationiert sind, d.h. sie informieren über eine Reihe struktureller Faktoren, über Kausalketten, über eine Reihe von Wechselwirkungen usw. Ein Mechanismus muss nicht unbedingt eine strikt lineare Abfolge von einzelnen Schritten darstellen; eine Abfolge, in der eine Ursache exakt eine Wirkung hervorbringt, die wiederum zur Ursache für exakt eine weitere Wirkung wird – und so weiter und so fort.71 „Set-up conditions“ und „termination conditions“ 72 sind selbst oft komplex, und für die Mechanik eines Prozesses gilt: „Obviously, mechanisms are made up of more than their set-up and termination conditions. In addition, complete descriptions of mechanisms characterize the intervening entities and activities that produce the end from the 71
72
„Der Ausdruck ‚Ablaufmechanik’ ist aus diesem Grund auch nicht ganz wörtlich zu nehmen. Die einzelnen Schritte innerhalb der Ablaufmuster sind niemals vollständig festgelegt, sondern enthalten immer auch Potentiale, die andere Verlaufsmöglichkeiten eröffnen, wenn sie aktiviert werden. Der tatsächliche Prozess bleibt also in einem gewissen Maße kontingent. Kontingenz ist ein zentraler Bestandteil des sozialen Phänomenbereichs, den man nie außer acht lassen sollte“ (Schmitt 2006: 206). Was alles zu den „set-up“ und „termination conditions“ eines einzelnen Mechanismus gehören bzw. zu diesen gezählt werden kann, darüber informieren aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive Peter Machamer, Lindley Darden und Carl F. Craver (2000).
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beginning. A description of a mechanism describes the relevant entities, properties, and activities that link them together, showing how the actions at one stage affect and effect those at successive stages. (...) In the simplest case, the stages of a mechanism are organized lineary, but they also may be forks, joins, or cycles. Often, mechanisms are continuous processes that may be treated for convenience as a series of discrete stages or steps” (ebd.: 12, Hervorheb. RHP). Mechanismen sind zwar Erklärungen begrenzter Reichweite; aufgrund der Unmöglichkeit, universelle Gesetze des Sozialen formulieren zu können, sind sie aber immer noch besser als bloße Beschreibungen. Wie erörtert gilt im Falle von Mechanismen immer: Ausnahmen bestätigen die Regel. Identisch bleibende Ausgangsbedingungen müssen nicht in allen Fällen bedeuten, dass sich erneut bereits bekannte Resultate einstellen. Und ebenso mögen unterschiedliche Ausgangsbedingungen – eben aufgrund der oben erwähnten, dynamischen „activities“ und „properties“ – „plötzlich“ zu ähnlichen Resultaten führen. Ein generalisierter Mechanismus informiert zunächst darüber, wie bestimmte Prozesse in der Regel ablaufen, wie bestimmte Ereignisse aneinander anschließen, und welche Zustände, Eigenwerte, Strukturen etc. in der Regel das Ergebnis dieser Anschlüsse sind. Hinzuzufügen ist, dass Mechanismen nicht für immer stabil bleibende soziale Prozesse sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine spezifische Strukturdynamik stabil bleibt, mag zu einem bestimmten Zeitpunkt hoch sein. Dennoch kann sich die Ablauflogik eines sozialen Mechanismus, die „Mechanik“ (vgl. Mayntz 2002: 25) eines bislang immer wiederkehrenden Prozesses verändern, sodass eine bestimmte Form von Kausalität, bestimmte Ursachenkonstellationen oder Reihen von Faktoren, Wechselwirkungen etc. aufhören, Einfluss zu nehmen. Sie werden dann in neue Formen überführt. Bereits hier wird deutlich, dass es sich mit der Kausalität, dass es sich mit ursächlichen Faktoren alles andere als einfach verhält. Der Begriff der Kausalität bezeichnet den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, und strukturindividualistische Ansätze weisen ganz direkt auf die gestaltende Kraft der (rationalen) Handlungsentscheidung individueller Akteure hin. Was aber ist für die Systemtheorie nun anders, muss doch auch sie berücksichtigen, dass es die individuellen Selektionen sind, die die Emergenz des Sozialen auf der „nächsttieferen“ Ebene, der Systemebene des Psychischen, bedingen? Wie sollte oder muss denn in system- und kommunikationstheoretischem Sinne anders beschrieben werden, was die Kommunikation „antreibt“; wie sollte bzw. muss Kausalität, wie sollten bzw. müssen generative Faktoren kommunikationstheoretisch anders gefasst werden? Die Systemtheorie wählt als Ansatzpunkt immer das kommunikative Ereignis, welches sich bereits aus den Selektionen mindestens zweier Akteure zusammensetzt, und fragt danach, wie Kommunikationsanschlüsse sozialen, gesellschaftlichen Sinn aktualisieren und generalisie-
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ren. In ihrer Perspektive ist interessant, wie Kommunikationsanschlüsse die weiteren Bedingungen des Kommunizierens beeinflussen und Möglichkeiten eröffnen und begrenzen. Was wird als sozial relevant festgehalten oder markiert, welche Sinnbestände werden zu Schemata und Rahmen/Kontexturen, die in bestimmten Kommunikationen nicht mehr bzw. nur noch schlecht umgangen werden können und dementsprechend mit beeinflussen, in welche Richtung sich die Kommunikation im Weiteren entwickelt? Relevante, erklärende Faktoren sind Anschlüsse und Semantiken, letztere verstanden als mehr oder weniger „(…) eingefahrene Gleise, auf die als generalisierte Schemata bei Bedarf rekurriert werden kann, die von der Interaktion [und selbstverständlich nicht nur von dieser, RHP] als gebahnte Lösungswege angelaufen werden können“ (Vogd 2005: 70). Wesentlich sind das Zusammenspiel von Prokursivität und Rekursivität und seine Effekte in der/für die Kommunikation, und mit eben diesem Zusammenspiel entwickelt die Kommunikation „Schub“, wird die Kommunikation ausgerichtet. Wie aber kommen wir zu dieser Einschätzung, wie aber ist es möglich, Kausalität im Sinne eines Effektes oder einer Eigenschaft von wechselwirkenden Elementen/Ereignissen zu denken? Zwecks Beantwortung dieser Frage wollen wir den systemtheoretischen Umgang mit Kausalität im Folgenden weiter beleuchten.
4.4.2 Funktionale Analyse und Kausalität Auch Luhmann setzt sich auf seine ganz eigene Art und Weise mit den Möglichkeiten kausalen Erklärens auseinander. In Rahmen seiner Betrachtungen zur funktionalanalytischen Methode argumentiert Luhmann, dass sich Kausalität nicht beobachterunabhängig verstehen lasse (vgl. Luhmann 1991a: 9 ff. sowie Luhmann 1995b). Die kausalanalytische Methode wird von ihm auf Basis dieser Hintergrundannahme schließlich als ein „Anwendungsfall funktionaler Ordnung“73 definiert (Luhmann 1991a: 16, Hervorheb. im Original), und der Kausalität wird der Status eines „regulativen Sinnschemas“ zugewiesen, „das einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert“ (ebd.: 14). Kausalschemata sind von Kausalgesetzen zu unterscheiden. Kausalgesetze lassen sich streng genommen nur für deterministische Systeme angeben, es sei denn, man formuliert sie unter Zuhilfenahme von ceteris-paribus-Klauseln oder wandelt sie in 73
In systemtheoretisch-funktionaler Perspektive wird danach gefragt, welche Einrichtungen, Strukturvorkehrungen, Kopplungen etc. dafür sorgen, dass ein System seinen Bestand/seine Autopoiesis sichern kann. Der Begriff des „Funktionalismus“ und funktionalanalytische Methoden können an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden (vgl. für einen ersten Einblick Luhmann 1991a und 1991c).
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weniger starke Wahrscheinlichkeitsaussagen um und nähert sie somit auch ein Stück weit den erklärenden Mechanismen an. Soziale Systeme sind keine deterministischen Systeme (vgl. ebd.: 12). In Abhängigkeit von jeweils eingenommenen Perspektiven können verschiedene BeobachterInnen Ursachen und Wirkungen auf unterschiedliche Art und Weise zurechnen bzw. miteinander kombinieren. In diesem Sinne stellt also auch die Definition von Handlungsentscheidungen bzw. die Definition von sozialen Akteuren als „kausales Agens“ der Emergenz von Sozialität nur ein mögliches Resultat theorierelativer Zurechnung dar. Luhmann ist des Weiteren der Überzeugung, dass keine einzelne Ursache eingedenk der immer nur schwer reduzierbaren Komplexität des Sozialen exakt eine bestimmte Wirkung, exakt einen bestimmten sozialen Effekt exklusiv erklären könnte. Vielmehr müsse die Soziologie immer davon ausgehen, dass es (massenhaft) funktionale Äquivalente, d.h. massenhaft alternative Möglichkeiten der Kombination von Ursachen und Wirkungen miteinander gibt, die es wert sind, modelliert und miteinander verglichen zu werden. Egal auf welcher theoretischen Basis ein(e) Beobachter(in) operiert: Die Anfertigung einer funktionalen Erklärung setzt immer voraus, mit einer klaren Entscheidung zu beginnen. Entweder soll es darum gehen, eine bestimmte Wirkung zu erklären und es können somit verschiedene, auch miteinander korrespondierende Ursachen „entdeckt“ und untersucht werden, oder es gilt, von einer bestimmten Ursache auszugehen und im Weiteren auszuloten, welche verschiedenen Wirkungen diese nach sich zieht/ziehen kann: „Die Analyse selbst konzentriert sich entweder auf die Erforschung möglicher Ursachen unter dem Leitgesichtspunkt einer Wirkung oder auf die Erforschung von Wirkungen unter dem Leitgesichtspunkt einer Ursache. Beides zugleich durchzuführen, ist unmöglich, weil jede funktionalistische Analyse einen gewählten Bezugsgesichtspunkt voraussetzt, der nicht geändert werden kann, ohne daß die Ergebnisse sich verschieben“ (ebd.: 17). Luhmann versteht Kausalität somit als ein Beobachtungsschema, das es erlaubt, „Einheitsformeln“ für die Differenz von Ursache und Wirkung zu entwickeln. In diesem Sinne lässt sich nun auch das bereits mehrfach angesprochene und für Kommunikation entscheidende Verhältnis von Prokursivität und Rekursivität behandeln. In kommunikations- und emergenztheoretischer Perspektive übernimmt allerdings weder die Inzeption noch die Rezeption, übernimmt weder das Mitteilen noch das Verstehen exklusiv die Führung. Im Kommunikationsanschluss offenbart sich bzw. liegt situationsdefinierende und somit „verursachende“ Kraft. Nicht die individuelle Selektion ist in system- und kommunikationstheoretischer Perspektive bereits das „bewegende Moment“, das zu Zwecken der Erklärung zu rekonstruieren ist. Zu modellieren ist, wie Kommunikationsan-
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schlüsse die soziale Wertigkeit jener Sinnfacetten „definieren“ helfen, die in einer „ersten“ Mitteilung enthalten waren bzw. jetzt Gegenstand der sozialen Situation und somit prägend für die weitere Kommunikation sind. Der Kommunikationsanschluss richtet die Kommunikation „ursächlich“, d.h. als entscheidender Faktor aus, indem in und mit ihm deutlich wird, wie Sinnofferten zueinander stehen bzw. wie die in einer vorhergehenden Mitteilung enthaltenen Sinnofferten verstanden werden können oder müssen. Jede Mitteilung in einem Kommunikationsprozess zeugt davon, dass im Rückblick auf vergangene Kommunikationen Sinngehalte aufgegriffen und neue synthetisiert, dass Möglichkeiten und Freiräume genutzt worden sind. Indem eine Mitteilung Signifikanzen und Relevanzen auf eigene Art und Weise koppelt, definiert sie nachträglich die soziale Relevanz vergangener Sinnofferten und eröffnet und begrenzt gleichermaßen Möglichkeiten des Weitermachens, d.h. sie projiziert einen Raum von Möglichkeiten für zukünftige Kommunikationen.74 Die Koproduktion von sozialem Sinn ist also der entscheidende Punkt: „Im interaktiven Aushandlungsprozess [mit und infolge von Kommunikationsanschlüssen, RHP] werden bestimmte sprachliche Unterscheidungen selektiert, die dann als sozial hergestellte Semantiken und Wirklichkeitssichten erscheinen“ (Vogd 2005: 48). Und sie stellen Artefakte dar, die die Kommunikation (mit) orientieren und ihren weiteren Verlauf (mit) beeinflussen. Anschluss und sozialer Sinn wirken ausrichtend und prägend. Auch unmittelbar an Kommunikationsprozessen beteiligte soziale Akteure nutzen das Beobachtungsschema der Kausalität, um zu definieren, welche kommunikativen Akte (inzipierte Mitteilungen) ihr Erleben und ihr Handeln auf welche Art und Weise beeinflusst haben oder auch nicht, um zu definieren, welche Mitteilungen sich in ihrer Wirkung wechselseitig durchdrungen haben, welche Mitteilungen ähnliche Anschlüsse provoziert haben etc. (teilnehmerrelative Zuschreibung). Luhmann definiert das „Sinnschema“ der Kausalität schließlich ganz allgemein und abstrakt als „(...) Medium lose gekoppelter Möglichkeiten“, „(...) dessen Verwendung eine Bildung von relationalen Formen, also eine feste Kopplung bestimmter Ursachen und bestimmter Wirkungen erfordert“ (Luhmann 1995b). Relationen von Ursachen und Wirkungen sind für Luhmann keine „objektiv“ gegebenen Sachverhalte (vgl. ebd.). Für das Medium der Kausalität gelte, wie für jedes andere Medium auch, dass es nur weiterexistiert, solange 74
Mit Luhmann lassen sich zwei Arten von Rekursivität unterscheiden: „antezipierende“ und „retrospektiv gerichtete Rekursivität“. Luhmann unterscheidet an jeder Mitteilung „(...) zwei Richtungen der Rekursion: Nach rückwärts gerichtet trifft sie eine Auswahl aus den Anschlussmöglichkeiten, die von vorausgegangenen Mitteilungen eröffnet wurden. Nach vorne gerichtet eröffnet sie neue Möglichkeiten des Weitermachens. Jede Mitteilungshandlung ist daher ‚als Synthese von Reduktion und Öffnung für Anschlussmöglichkeiten’ zu begreifen“ (Schneider 1994: 169).
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Formen gebildet werden. Wie aber kann man sich die Verfasstheit des Mediums der Kausalität konkret vorstellen? Als Medium stellt Kausalität eine überwiegend ungeordnete „Menge“ von bekannten Ursachen und Wirkungen, von mehr oder weniger problemlos zu formulierenden und in (individuelle) Beschreibungen und Erklärungen einzubauenden Kausalfaktoren dar. Wolfgang Ludwig Schneider erläutert, in den eigenen Forschungen selbst auf die funktionalanalytische Methode rekurrierend, anhand eines Beispiels, was es mit dieser Möglichkeit der Kombination auf sich hat, die vor dem Hintergrund der funktionalanalytischen Perspektive sogar als Notwendigkeit erscheinen muss: „Wenn von Kausalität die Rede ist, dann ist damit die Unterscheidung von Ursache und Wirkung als Instrument der Beobachtung und Bezeichnung von Situationen und Ereignissen aufgerufen (...). Der Brand in einer Bibliothek, dem wertvolle historische Dokumente zum Opfer gefallen sind, wird etwa als Wirkung registriert, die durch einen Kurzschluss verursacht worden ist. Eine solche Kausalitätsfeststellung ist jedoch äußerst selektiv, weil sie eine unbestimmte Menge anderer kausal relevanter Faktoren unerwähnt lässt. Der Kurzschluss war vielleicht durch eine Überlastung der Leitungen bedingt, die ihre Ursache in neu installierten elektrischen Einrichtungen hatte; die alten elektrischen Leitungen wurden nicht rechtzeitig erneuert, weil das Geld knapp war bzw. für andere Dinge ausgegeben worden ist; ein Brand hätte nicht entstehen können, wenn eine funktionierende Sprinkleranlage im Gebäude vorhanden gewesen wäre; hätte der Wachdienst seine Kontrollgänge in vorschriftsmäßigem Abstand durchgeführt, hätte er den beginnenden Schwelbrand noch rechtzeitig bemerken und die Feuerwehr alarmieren können, sodass der Ausbruch des Feuers vielleicht noch verhindert worden wäre; (...)“ (Schneider 2005: 267 f.). Das Zitat mag einen Eindruck von der Vielfalt der Möglichkeiten zur Zurechnung geben, so wie sie für eine Vielzahl von sozialen Situationen und Prozessen charakteristisch ist.75 Das Kausalschema kann Akteuren in Kommunikationsprozessen dazu dienen, Zurechnungen zu präzisieren und mit zusätzlichem Sinngehalt anzureichern. Kommunikatoren nutzen Kausalschemata so z.B., um Verantwortlichkeiten bestimmen und auf diesem Wege die Zurechnung von Handeln und Erleben inhaltlich weiter spezifizieren zu können (vgl. hierzu u.a. das Beispiel des Rechtssys75
Schwierigkeiten bereitet die von Luhmann vorgelegte beobachtungstheoretische Definition von Kausalität vor allem mit Blick auf physikalische Gegebenheiten. Was lässt sich hier kontingent zurechnen? Der Konstruktivist Luhmann erkennt die allgemein erfahrene Realität entsprechender Kopplungen an, versucht aber auch in diesem Zusammenhang anzudeuten, dass andere Zurechnungen dennoch denkbar sind und bleiben und auch nötig werden mögen, eben weil sich Bedingungen der Beobachtung ändern bzw. auch andere sein könnten: „Kausale Formen ergeben sich dagegen bei festen oder doch im Normalfalle erwartbaren Kopplungen – so wie man weiß, dass ein Ei zerschellt, wenn man es auf den Boden fallen läßt, und es nicht davonschwebt (wie es im Weltraum geschehen würde)“ (Luhmann 1995b, Hervorheb. RHP).
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tems). Ziel ist es nicht zuletzt, Erwartungen zu konsolidieren und stabile Annahmen über das Verhalten eines Gegenübers auszubilden, die es möglich machen, dieses auch auf längere Sicht richtig einschätzen zu können: „Verankert auf der Ebene sozial generalisierter Erwartungserwartungen können Kausalannahmen auch eingesetzt werden, um zu antizipieren, wie andere Beobachter das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit schematisieren. Sie definieren deshalb zugleich einen Auswahlbereich für die Zuschreibung möglicher Handlungsintentionen und Verantwortlichkeiten“ (ebd.: 270). Die verschärfte Zurechnung von Verantwortung orientiert so z.B. insbesondere im Falle von sozialen Konflikten die Selektionen einzelner Akteure. Indem ein(e) Akteur(in) den in einer Mitteilung enthaltenen Sinnzumutungen widerspricht und auf diese Weise die Unvereinbarkeit von Sinnperspektiven markiert bzw. andeutet, rechnet sie/er die Verantwortung für die nun mögliche Entstehung eines sozialen Konfliktes subjektiv auf eine andere Akteurin/einen anderen Akteur zu. Sollte diese(r) mit einer Folgemitteilung an ihrer/seiner ursprünglichen Sinnzumutung festhalten, so würde dieses Verhalten aus der Perspektive der/des Widersprechenden nur die Gültigkeit der von ihr/ihm vorgenommenen Kopplung von Ursache und Wirkung bestätigen. Ebenso dürfte das Gegenüber in einer solchen Situation danach suchen, dass Kausalschema in umgekehrter Richtung anzuwenden und es als vermessen empfinden, dass sich die/der Widersprechende nur als erlebend erfahren will. Eine direkte Ablehnung des Widerspruchs bedeutet dann, dieser/m wiederum die Schuld daran (ab) zu geben, dass die Gefahr der Entstehung einer durch die Negativversion von doppelter Kontingenz gekennzeichneten sozialen Situation gestiegen ist. Das Kausalschema lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Beobachtungsprinzip definieren, das für eine „Übersetzung“ der sozialen Effekte von Kommunikationsanschlüssen oder –sequenzen, von basalen Anschlüssen und Anschlussmustern, in individuelle Relevanz(en) sorgt. Aus Kommunikationsverläufen schließen Akteure unter Verwendung des Kausalschemas auf den Umgang anderer mit sozialen Freiheiten und Notwendigkeiten, und auf der Basis so erschlossener Profile orientieren sie zukünftige Handlungen gegenüber den selben oder auch gegenüber anderen Personen (Generalisierung). Das Ergebnis sind im günstigsten Fall die Wiederholung von Kommunikationsepisoden eines bestimmten Typs, die Etablierung von stabilen Interaktionszusammenhängen und die Emergenz stabiler sozialer Beziehungsstrukturen. Ordnungsmuster kommunikativer Anschlüsse und ihre Effekte werden auf diese Weise zu Schemata bzw. Eigenwerten verdichtet, die zukünftige Selektionen anleiten (können). Wenn wir im Rahmen dieser Arbeit Kommunikationsanschlüsse und -prozesse in den Blick nehmen und versuchen, die zwischen Kommunikationsereignissen
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bzw. Mitteilungen bestehenden Verhältnisse zu definieren, so beobachten auch wir in Anbetracht unserer theoretischen Orientierung nur auf eine bestimmte Art und Weise. Was wir als Kausalität verstehen mögen, die Beziehungen, die wir zwischen bestimmten kommunikativen Operationen auf der Basis von Mitteilungen zu entdecken meinen, mögen sich aus einer anderen theoretischen Perspektive anders darstellen, mögen anders zu erklären sein. Äquivalente dürften existieren. Entscheidend ist im Kontext der funktionalanalytischen Methode jedoch nicht, alternative Erklärungen nach Möglichkeit auszuschließen. Vielmehr ist die Idee, alternative Kausalerklärungen zu mehren, um so Möglichkeiten des Vergleichs schaffen zu können. Auf diesem Wege kann das eigene Beobachtungsinstrumentarium, das eigene theoretische Vokabular geprüft, geschärft und letztlich verbessert werden. Wie wir hier im Weiteren mit Kommunikation und Kausalität umgehen wollen, wird Thema des letzten Abschnitts dieses Kapitels sein. Vorher gilt es jedoch zu rezipieren, wie soziale Mechanismen bislang in kommunikationsorientierter Perspektive modelliert worden sind.
4.5 Beispiele kommunikativer Mechanismen Eine systemtheoretisch inspirierte, kommunikationsorientierte Modellierung sozialer Mechanismen ist unter dem Eindruck der neueren Mechanismusdebatte bislang nur vereinzelt versucht worden. Diskutiert wurde u.a., ob und inwiefern systemtheoretische Analysen helfen können, soziale Mechanismen aufzudecken (vgl. Schneider 2005), auf welchen unterschiedlichen Ebenen sich welche kommunikativen Mechanismen möglicherweise rekonstruieren lassen (vgl. Schmitt 2006) und wie basale Anschlussmuster zu kommunikativen Mechanismen „verdichtet“ werden (Hartig-Perschke 2006). An ausgewählten Aspekten und Beispielen soll gezeigt werden, worauf die kommunikationsorientierte Modellierung sozialer Mechanismen Bezug nimmt und welche Absichten mit ihr verbunden sind.
4.5.1 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien und Beobachtungsschemata Möglichkeiten einer systemtheoretisch orientierten Rekonstruktion sozialer Mechanismen sind von Wolfgang Ludwig Schneider (2005) diskutiert worden. Schneider definiert sowohl symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie auch sich in der alltäglichen Kommunikation bewährende, beobachterabhängige Muster der Kausalzurechnung als soziale Mechanismen (Schneider 2005:
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261 ff. und 267 ff.). Systemtheoretisch betrachtet stellen Ursache und Wirkung – wie bereits erläutert – „füreinander funktionale Bezugsgesichtspunkte“ (Luhmann 1977: 29 f.) dar, die von einer Beobachterin/einem Beobachter selektiv gehandhabt werden können. Die Unterscheidung von Ursache und Wirkung wird ferner von einer weiteren Differenz überformt, die für die epistemologische Perspektive der Systemtheorie kennzeichnend ist: der Unterscheidung von Problemen und Problemlösungen (Luhmann 1991a: 9 ff.). Die Fixierung einer Wirkung im Prozess des Beobachtens bedeutet, sie als ein „Bezugsproblem“ der systemtheoretischen Analyse zu definieren, für das (möglicherweise) funktional äquivalente Ursachen als „Lösungen“ bereit stehen. Umgekehrt bedeutet die Fixierung einer Ursache, sie als einen (allgemeinen) Grund für das Verschwinden (die Lösung) oder die Zunahme der Intensität von bestimmten Systemproblemen wahr- bzw. anzunehmen. Hierin besteht der Unterschied der funktionalen Erklärung mit Hilfe des Kausalschemas zur Erklärung mit Hilfe von Kausalgesetzen, in deren Rahmen immer eine Ursache oder ganz bestimmte zusammen wirkende Ursachen auf einen bestimmten Effekt/ein bestimmtes Bündel von Effekten zugerechnet wird/werden – Variationen in der Betrachtung ausgeschlossen (vgl. erneut Schneider 2005: 256).76 Kausalschemata erlauben als sozialwissenschaftliche Beobachtungsschemata Schneider zufolge (und dies ist kennzeichnend für soziale Mechanismen) die Beantwortung von Fragen nach dem „Wie“ des Verlaufs von sozialen Prozessen und nach dem „Wie“ der Emergenz von sozialen Phänomenen. Die Autopoiesis sozialer Systeme ist gemäß den theoretischen Grundannahmen der Systemtheorie davon abhängig, dass Kommunikation ohne lange Unterbrechungen fortgesetzt wird. Dies ist das grundlegende Problem, welches alle sozialen Systeme lösen müssen. Problematisch ist, wie schon erörtert, dass jede Kommunikation an sich immer auch auf ihren Gegensinn verweist (vgl. Luhmann 1984: 204 sowie Luhmann 1998b: 226) und die Annahme und Ablehnung einer Sinnofferte im ersten Moment gleichberechtigt als Möglichkeiten der Fortsetzung von Kommunikation nebeneinander stehen. Sind an der Kommunikation partizipierende Akteure allerdings nicht bereit, ihre „Eigenzustände“ aufgrund von mitgeteilten Informationen festzulegen, so ergeben sich hieraus mögliche Gefährdungen für den Fortbestand systemischer Kommunikationszusammenhänge. Tatsächlich kennen (post-)moderne Gesellschaften Einrichtungen, die sicherstellen, dass Sinnofferten trotz drohender Ablehnung dennoch mit einiger 76
„Die Suche nach Kausalgesetzen nutzt das Kausalschema auf andere Weise. Sie strebt nach dem idealisierten Grenzfall einer beidseitig fixierten Kausalbeziehung, in dem eine genau bestimmte Ursache bzw. eine Konjunktion von ursächlich relevanten Faktoren (die Antezedenzbedingungen) eine ebenso genau bestimmte Wirkung erzeugt“ (Schneider 2005: 256, Hervorheb. im Original).
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Wahrscheinlichkeit angenommen, dass Selektionen doch miteinander abgestimmt werden und es so zu einem reibungslosen, nicht auf Metakommunikation angewiesenen Fortgang der Kommunikation kommt. Gemeint sind hier in erster Linie symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Funktionalanalytisch gewendet lassen sich symbolische generalisierte Kommunikationsmedien Schneider zufolge als soziale Mechanismen definieren, die basale Kommunikationsanschlüsse koordinieren (vgl. Schneider 2005: 261 ff.). Da sie Aufmerksamkeit für Kommunikation sicherstellen helfen und die Annahme von mitgeteilten Informationen wahrscheinlicher machen, können unterschiedliche Erfolgsmedien wie Wahrheit, Macht, Liebe usw. als funktionale Äquivalente betrachtet werden, die das Problem der Reproduktion von Kommunikationszusammenhängen lösen helfen und somit Systememergenz erklären (vgl. ebd.: 265 f.). Im letzten Abschnitt ist bereits darauf aufmerksam gemacht worden, dass Schneider Kausalität ferner noch in einem allgemeineren Sinne als bedeutend für die (Re)Produktion und die Transformation sozialer Zusammenhänge versteht. „Akteure“ (ob nun psychische oder soziale Systeme) nutzen das Kausalschema, die Möglichkeit der Beobachtung mit Hilfe der Unterscheidung von Ursache und Wirkung, um Kommunikationen ordnen zu können. Im Rahmen der Zurechnung von Handeln und Erleben dient das Kausalschema dazu, Verantwortlichkeiten zu definieren und zu reflektieren. Kausalschemata fungieren auf diese Weise als Selektionshilfen. Indem auf der Basis von bereits vorgenommenen Kausalzurechnungen zukünftige Selektionen von Sinnofferten und auf diese möglicherweise folgende Annahmen und Ablehnungen „durchgespielt“ werden, strukturieren Kausalzurechnungen Kommunikationszusammenhänge vor. Die Möglichkeit der Kausalzurechnung nutzend „(...) kann ein Beobachter unterscheiden zwischen dem, was er nur erlebend hinnehmen, und dem, was er durch eigene Tätigkeit beeinflussen kann, zwischen Spielräumen und Grenzen für eigene Interventionen“ (ebd.: 270). Sofern sich bestimmte Muster der Kausalzurechnung sozial etablieren, sofern sie von verschiedenen Akteuren aufgrund ähnlicher Erfahrungen geteilt werden, fungieren sie schließlich als generalisierte, kognitiv-kommunikative Mechanismen der Selektion/Systembildung. Schneider weist in diesem Zusammenhang auf Luhmanns Überlegungen zu den Gründen für die Fortexistenz klientelistischer Beziehungsmuster in Süditalien hin (vgl. ebd.: 270).77 Obwohl auch dort der Zugang zu organisationalen Leistungen formal-rechtlich geregelt ist, lässt sich deren Erbringung auch heute noch, anstatt den Dienstweg zu nehmen, besser über die Ausnutzung persönlicher Kontakte und Beziehungen motivieren. Während auf der einen Seite erwartet wird, dass die persönliche Anspra77
Von Luhmann 1995 diskutiert in „Kausalität im Süden“ (1995b), veröffentlicht als erster Aufsatz in der damals neuen Zeitschrift „Soziale Systeme“.
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che der richtigen FunktionsträgerInnen und die darin zum Ausdruck kommende persönliche Wertschätzung ebenso wie auch die Erinnerung an den Austausch von Gefälligkeiten in der Vergangenheit helfen werden, das eigene Anliegen voranzutreiben, erwächst auf der anderen Seite – nicht zuletzt aufgrund der Häufigkeit des Vorkommens dieser altbekannten Art und Weise der Leistungsanforderung – das Bewusstsein, dass erwartungskonformes Verhalten bedeutet, informelle Beziehungen, Bekanntschaften, Freundschaften und Abhängigkeiten innerhalb der Organisation zu nutzen, um einer Bitte schnell und effektiv nachkommen zu können. Die Folge dieser Situation ist, dass jene Schemata der Kausalzurechnung, die seit je her erfolgreiche Kommunikationen anleiten, auf beiden Seiten weiterhin Verstärkung erfahren und sozial etablierte „Kommunikationsmechanismen“ bleiben (vgl. ebd.: 271 ff. sowie Luhmann 1995b). Und erst sie sichern den Fortbestand klientelistischer Beziehungsstrukturen. Schneiders Überlegungen zur systemtheoretischen Modellierung sozialer Mechanismen reichern die aktuelle Mechanismendebatte an, indem sie den Fokus der soziologischen Beobachtung weg vom Handeln hin zur Kommunikation verschieben, weg von „einfacher“, hin zu „komplexer“, beobachtungsabhängiger Kausalität und ihren Effekten. Die Debatte wird so für neue Einflüsse und Argumente geöffnet. Während seine Ausführungen zur Beobachtung von Kommunikationsprozessen mit Hilfe des Kausalschemas verstehen helfen, wie Erwartungen konsolidiert werden, stellen seine Überlegungen zu symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien als soziale Mechanismen in erster Linie einen „klassischen“ Beitrag zur Diskussion der Wirkungsweise selbiger dar.
4.5.2 Intersubjektivität, Sichtbarkeit und Reflexionskommunikation Im Rahmen sozionischer Forschungen hat sich Marco Schmitt mit den Möglichkeiten einer kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Mechanismen auseinandergesetzt (vgl. Schmitt 2006). Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stehen schließlich drei basale Mechanismen: (1) der kommunikative Mechanismus der Intersubjektivitätsproduktion, (2) das Ordnungsprinzip sozialer Sichtbarkeit und (3) der Mechanismus des „Umschaltens“ von Normal- auf Reflexionskommunikation (vgl. ebd.: 214 ff.). Eine kommunikationsorientierte Betrachtung und Modellierung sozialer Mechanismen ist für Schmitt naheliegend, weil sich Kommunikationen bzw. Kommunikationsprozesse ganz direkt und ohne Umwege beobachten lassen: „Äußerungen können aufgenommen werden, schriftliche Kommunikation ist ohnehin an ein mehr oder weniger langlebiges Substrat gebunden. Auf diesen
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Vorteil stützt sich beispielsweise auch die Konversationsanalyse (...). Es ist also möglich, Pfadabhängigkeiten und Kausalmuster unmittelbar am empirischen Material abzulesen“ (ebd.: 213). Hinzu komme, dass eine kommunikationsorientierte Modellierung die Erfassung von Mechanismen ermögliche, die grundsätzlich akteursunabhängig, z.B. aufgrund der Eigenheiten der menschlichen Kommunikation oder aufgrund der Eigenschaften von materiellen Substraten der Kommunikation, dafür sorgen, dass bestimmte soziale Ausgangsbedingungen in der Regel in bestimmte soziale Wirkungen überführt werden (vgl. ebd.: 213). Intersubjektivitätsproduktion Ausgangspunkt der Arbeiten Schmitts ist die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung. Kommen wir zunächst auf den Mechanismus der Intersubjektivitätsproduktion zu sprechen. Auf die Ergebnisse der systemtheoretischkonversationsanalytischen Studien Schneiders Bezug nehmend bekräftigt Schmitt noch einmal, dass an jeder dritten Sequenzstelle eines Kommunikationszusammenhanges immer eine folgenreiche Verstehenskontrolle auf der Basis der Unterscheidung von „richtig verstehen/falsch verstehen“ durchgeführt wird. Sofern Alter(Ego) das Sinnverstehen von Ego(Alter) ausdrücklich bekräftigt oder die neue Sinnofferte Ego(Alters) ohne weitere Nachfragen als Prämisse des eigenen Verhaltens übernimmt, werden Bedeutungen, Definitionen, Interpretationen etc. im Kommunikationsprozess als miteinander geteilt bzw. als sozial relevant markiert – unabhängig davon, ob nicht vielleicht doch deutliche Differenzen hinsichtlich des jeweiligen kognitiven Verstehens existieren. Die Kommunikation „erarbeitet“ sich so ein eigenes, „kommunikatives Verstehen“ (vgl. hierzu Luhmann 1995a: 116). Kommt es hingegen zur Kritik an den Verstehensleistungen Ego(Alters) und werden diese problematisiert, schaltet der Kommunikationszusammenhang um auf Metakommunikation. Wesentlich ist für Schmitt, dass sich das Aufrufen der beobachtungsleitenden Unterscheidung „richtig verstehen/falsch verstehen“ an der dritten Sequenzposition als ein kommunikativer Mechanismus fassen lässt, eben „(...) weil die Erklärung der Produktion von Intersubjektivität hier ohne den Rückgriff auf spezifische Intentionen, die in der Interaktion verhandelt werden oder eine Rolle spielen, auskommen kann“ (Schmitt 2006: 216). Bedeutungen werden in der Kommunikation erst im Nachhinein bestätigt und gefestigt, können aber nie unmittelbar und fest von vornherein gesetzt werden. Intersubjektiv geteilte Bedeutungen bzw. sich von den Ansichten einzelner Akteure entkoppelnde soziale Bedeutungen fungieren in sich entfaltenden Kommunikationszusammenhängen als Grundlagen und Voraussetzungen zukünftig erfolgreicher Kommunikation(en) (vgl. abschließend ebd.: 217). Sie sorgen für die thematische Ordnung und Integration von Kommunikationsprozessen. Der Mechanismus der Produktion von Intersubjektivität ist
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Schmitt zufolge ein „reflexiver Mechanismus“: „Der reflexive Charakter dieses Mechanismus wird schon daran deutlich, dass hier eine Bedeutungszuschreibung eines vergangenen Ereignisses innerhalb des Prozesses für den Prozess stabilisiert werden soll. So schafft Kommunikation immer im Nachtrag eine Ebene unterstellter Grundlagen und Voraussetzungen ihrer selbst, also von unterstellbaren Erwartungen (Erwartungserwartungen), die den Prozess führen können“ (ebd.: 217, Hervorheb. RHP). Soziale Sichtbarkeit als Ordnungsmechanismus Kommunikative Mechanismen lassen sich auf verschiedenen Ebenen identifizieren. Sie stellen nicht nur Ordnung in Interaktionen her, sondern organisieren kommunikative Geflechte unterschiedlicher Größe. Auch die Strukturdynamik von Massenkommunikationsprozessen lässt sich mit Hilfe sozialer Mechanismen beschreiben und erklären, so die Annahme Schmitts. Damit Beiträge und Informationen in hochskalierten Kommunikationsprozessen trotz hoher Beitragskonkurrenz überhaupt Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, müssen sie vor allem eines sein: (hoch)sichtbar. Welche Beiträge sichtbar sind und bleiben können, hängt vor allem von der Historie des Kommunikationszusammenhanges ab. Genauer: von jeweils gesetzten Referenzen, die die soziale Sichtbarkeit einer Mitteilung erhöhen. Das Setzen von Referenzen bedeutet, bereits existierenden Mitteilungen Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, ihnen bzw. ihren Inhalten Relevanz zuzuschreiben und sie somit eben sichtbarer zu machen. Schmitt erklärt am Beispiel unterschiedlicher Zitationspraxen in der Wissenschaft ausführlich, wie der „Mechanismus der sozialen Sichtbarkeit“ funktioniert. Für alle Wissenschaften ist zunächst kennzeichnend, dass ihr Fortbestand als Kommunikationszusammenhang davon abhängt, dass ständig neue Forschungsergebnisse veröffentlicht, sowie neue Theorien entwickelt und zur Diskussion gestellt werden. Neben dem „Neuigkeitswert“ (vgl. ebd.: 219) einer Publikation sorgt in den Naturwissenschaften vor allem die Bezugnahme auf jüngste Forschungsergebnisse dafür, dass aktuelle Publikationen überhaupt richtig wahrgenommen und eingeschätzt, und „noch“ aktuelle Publikationen wieder deutlich sichtbarer werden können. Gezeigt werden muss, dass die eigene Forschung nahe an den aktuellen Themen dran ist. In den Geisteswissenschaften gilt es hingegen als gute wissenschaftliche Praxis, die eigenen Forschungsergebnisse und Theorieansätze möglichst in den größeren Kotext der Geschichte der eigenen Disziplin zu stellen und sie häufig genug an die Überlegungen der „Klassiker“ des Faches anzuschließen. Eine Praxis, die nicht zuletzt auch für die Soziologie kennzeichnend ist. Effekt einer solchen Zitationspraxis ist, dass vor allem einige wenige Arbeiten als „bereits bestätigte Klassiker“ hochsichtbar bleiben. Sichtbar sind zunächst aber auch viele neue Publikationen. Ob sie es lange bleiben werden, ist jedoch
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eine andere Frage. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, ob auch sie in Zukunft oft genug im Spiegel aktueller Forschungen diskutiert werden und somit als forschungsrelevante Beiträge im fachöffentlichen Gespräch (sichtbar) bleiben. Zur Bedeutung des Sichtbarkeitsmechanismus für die soziologische Analyse schreibt Schmitt: „Kommunikative Bezugnahme und Nachrichtenalter bilden so das Grundgerüst des kommunikativen Mechanismus, den ich als soziale Sichtbarkeit bezeichne (...). In vielen Fällen sind diese beiden Variablen schon gute Indikatoren für eine Prognose von Anschlusswahrscheinlichkeiten in Kommunikationszusammenhängen“ (ebd.: 219 f.). Hier geht es also nicht nur darum, mit Hilfe des identifizierten sozialen Mechanismus retrospektiv zu erklären, sondern ebenso darum, auf seiner Basis Vorhersagen zu treffen. Normal- und Reflexionskommunikation Der dritte von Schmitt diskutierte kommunikative Mechanismus ist das „Umblenden von Normal- auf Reflexionskommunikation“ in sozialen Systemen. Reflexion ist – systemtheoretisch formuliert – eine spezifische Form der Selbstreferenz. Während „basale Selbstreferenz“ heißt, dass Kommunikationsereignisse sich selbst als Kommunikationsereignisse konstituieren und ausweisen (indem sie aneinander anschließen) und der Begriff der Reflexivität die „prozessuale Selbstreferenz“ (die Differenz von Vorher und Nachher) bezeichnet, bedeutet Reflexion, dass mit Hilfe der Differenz von System und Umwelt beobachtet, und auf diese Weise die Zusammengehörigkeit verschiedener, an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten stattfindender Kommunikationen begründet wird (vgl. Luhmann 1984: 599 ff.). Die Unterscheidung zwischen dem System und seiner Umwelt wird so z.B. für Interaktionssysteme immer dann bedeutend, wenn einzelne Handlungen als das System, d.h. die Anwesenden bindend ausgezeichnet, oder wenn Auflösung und späteres Wiederzusammentreffen organisiert werden müssen (vgl. Schmitt 2006: 221). Das Umschalten von Normalauf Reflexionskommunikation kann damit als ein Mechanismus beschrieben werden, der immer dann greift, wenn die Einheit eines Systems zum (systemeigenen) Problem wird. Die Lösung dieses Problems erfolgt in der Regel durch die „systematische Erzeugung“ von Einheitssemantiken oder durch das „Umschalten“ auf bereits bestehende Semantiken dieser Art (vgl. erneut ebd.: 221). Schmitt gibt zwar Hinweise darauf, wie die von ihm modellierten und diskutierten Mechanismen die Emergenz höherstufiger sozialer Phänomene bedingen (können), verzichtet selbst aber darauf, ihr Erklärungspotential in kommunikationssoziologischer Hinsicht, d.h. empirisch, weiter zu explizieren und zu analysieren. Schmitt ist stattdessen einerseits daran interessiert, die Erklärungspotentiale von handlungstheoretisch und kommunikationstheoretisch formulierten sozi-
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alen Mechanismen vergleichend zu diskutieren, um Möglichkeiten der Kombination ausloten zu können (vgl. ebd.: 240 ff.). Andererseits widmet er sich der Frage, wie Erkenntnisse über soziale Mechanismen dazu dienen könnten, Multiagentensysteme und offene Netzplattformen78 zu verbessern, die ihre von der Softwareentwicklerin/vom Softwareentwickler vorab definierten Funktionen auch dann noch erfolgreich erfüllen können sollten, wenn auf ihnen eine Vielzahl von Agenten mit unterschiedlichen Motiven und Interessen aufeinander trifft (vgl. ebd.: 206 f.).
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Agenten sind „physische oder virtuelle Entitäten“, die selbständig in einer Umwelt agieren, mit anderen Agenten kommunizieren können, durch eigene Absichten angetrieben werden und über bestimmte Fähigkeiten verfügen. Zur Erreichung ihrer Ziele müssen sie in der Regel Beziehungen zu anderen Agenten eingehen (vgl. Ferber 2001: 28 ff.). Um das Verhalten von Agenten in unterschiedlichen Umwelten modellieren und erforschen zu können, kommen in der VKI (Verteilte Künstliche Intelligenz-Forschung), aber auch in anderen Wissenschaften wie z.B. der Soziologie, sogenannte „agent based models“, d.h. Computersimulationen zum Einsatz (vgl. für Beispiele u.a. die Beiträge in Kron 2002 sowie das „Journal of Artificial Societies and Social Simulation“, http://jasss.soc.surrey.ac.uk). Von „offenen Netzplattformen“ spricht man, sobald Agenten mit den unterschiedlichsten Eigenschaften, Absichten, Zielen usw. in einem nur partiell regulierten Raum zusammentreffen und in Aushandlungsprozesse und Kooperationsbeziehungen eintreten, ebenso aber auch miteinander in Konflikt geraten. Vorstellbar ist, dass das Internet als die größte denkbare offene Netzplattform eines Tages von Millionen unterschiedlichster Softwareagenten bevölkert wird, die die verschiedensten Aufgaben für menschliche Nutzer erfüllen und hierbei auch teilweise autonom entscheiden können. Damit stellt sich dann die Frage, wie viel des Verhaltens von Softwareagenten von der Programmiererin/vom Programmierer vorgegeben werden soll oder muss bzw. was Agenten im Rahmen der Verfolgung ihrer Ziele autonom bestimmen können sollten und was nicht (vgl. zu entsprechenden Szenarien Braun-Thürmann 2004: 70 ff. sowie Malsch 2004: 97 ff.).
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4.6 Die kommunikationsorientierte Modellierung sozialer Mechanismen – Ansatz- und Bezugspunkte Aus den bisherigen Überlegungen und Darstellungen lassen sich verschiedene Schlussfolgerungen für die Modellierung kommunikativer Mechanismen ziehen. Im Folgenden wird u.a. davon ausgegangen, dass sich die Emergenz von Sozialität kommunikationstheoretisch angemessen erklären lässt, indem kommunikative Strukturdynamiken als soziale Mechanismen modelliert werden. Kommunikation wird dabei dem sozialen Handeln als soziologischer Grundbegriff vorgezogen. Intentionen, Absichten, Motive, Interessen und Ziele prägen die Inzeption von Mitteilungszeichen und das Verstehen, die Rezeption. Welche Charakteristika oder Sinngehalte einer Kommunikation, eines genuin sozialen Mikroereignisses, als prozessrelevant und somit als sozial relevant gelten dürfen und können, hängt allerdings immer vom Anschluss weiterer Mitteilungen ab. Emergente kommunikative Phänomene sind spezifische Erscheinungsformen sozialen Sinns. Ihre Emergenz ist in kommunikationstheoretischer Perspektive nicht in erster Linie auf Mitteilen und Verstehen individuell anleitende Intentionen zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass die Relationierung von Mitteilungen durch Kommunikationsanschlüsse zur Genese einer ungeplanten Sinn- und Verweisungsstruktur führt, die die Strukturdynamik von sozialen Prozessen ausmacht bzw. prägt. Die kommunikationstheoretisch orientierte Beobachtung und Erklärung des Phänomens sozialer Emergenz bedeutet, einerseits untersuchen zu müssen, wie kognitiv vorbereitete Kommunikationsereignisse und Kommunikationsresultate (Mitteilungen) durch bereits existierende Verknüpfungsregeln in soziale Zusammenhänge integriert werden, andererseits aber auch danach fragen zu müssen, ob und inwieweit neue Ereignisse und Resultate bereits bestehende soziale Sinnbestände konfirmieren oder auch nicht. Sollen die Entstehung und die Reproduktion sozialer Ordnung kommunikativ-emergenztheoretisch modelliert werden, so steht zu fragen, wie es im Laufe von Kommunikationsprozessen zur Ausbildung von bestimmten Eigen- und Strukturwerten auf der Basis von basalen Ordnungsmustern kommt; von Prozesseigenschaften, die die Wahrscheinlichkeit bestimmter Kommunikationsanschlüsse steigern helfen. Im Rahmen weiterer Analyseschritte ist dann, sofern die erwähnten Ordnungsmuster bzw. Eigen- und Strukturwerte immer wieder beobachtet werden können und sich spezifische Strukturdynamiken einstellen, danach zu fragen, ob und inwieweit sich letztere auch als allgemein erklärende, kommunikative Mechanismen sozialer Emergenz verstehen und beschreiben lassen.
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4.6.1 Sequentialität und Parallelität Niklas Luhmann hat davon gesprochen, dass es in Anbetracht der „Ordnungsvorgaben der makrophysikalischen Welt“ für uns nicht anders möglich sei, als auf „Metaphern der Irreversibilität“ zurück zu kommen (vgl. Luhmann 1984: 71), um Geschehen kognitiv wie kommunikativ erfassen und beschreiben zu können. Die Vorstellung von Irreversibilität ermöglicht es, die sich vollziehende Gegenwart als „zwischen“ der Vergangenheit und der Zukunft liegend zu erfahren bzw. die „laufende Gegenwart auf eine Differenz von Zukunft und Vergangenheit“ hin auslegen zu können (ebd.: 72). Kommunikative Operationen bzw. kommunikative Ereignisse sind als flüchtige Ereignisse zu verstehen, die Zeit verbrauchen. Was von ihnen auch über den Moment oder die Zeitspanne ihrer Realisierung hinaus mehr oder weniger lange übrig bleibt, ist ihr materielles Substrat, sind die produzierten Mitteilungszeichen (vgl. Malsch und Schlieder 2004: 118 sowie Malsch 2005: 17 f.). Dass Kommunikation in erster Linie durch die Differenz von Vorher und Nachher gekennzeichnet ist, wird uns vor allem in Interaktionen bewusst. Als spezifischer Typ von Sozialsystem sind Interaktionen durch das Merkmal der Anwesenheit bzw. die wechselseitige Wahrnehmung von Anwesenheit gekennzeichnet (vgl. Luhmann 1975a: 10). Die Autopoiesis eines Interaktionssystems verlangt, dass Redebeiträge nacheinander eingebracht werden und möglichst immer nur ein(e) Teilnehmer(in) das Wort hat. Die Zauberformel für erfolgreiche Interaktion lautet „Turn Taking“. Harvey Sacks und seine KollegInnen haben bereits in den siebziger Jahren im Rahmen von konversationsanalytischen Studien zeigen können, dass das sich scheinbar immer wieder problemlos vollziehende Turn-Taking ein äußerst voraussetzungsvolles soziales Phänomen darstellt, welches durch ineinandergreifende Regeln orientiert wird (vgl. Sacks, Schegloff und Jefferson 1978). Geordnetes Turn-Taking stellt für Interaktionen eine schlichte Notwendigkeit dar. Wird durcheinander geredet, so ist es kaum noch möglich, einem Gespräch folgen und einigermaßen verlässlich erschließen zu können, in welche Richtung es sich entwickeln wird. Geordnetes Turn-Taking ist aber nicht nur für Interaktionen wichtig. Die Aufrechterhaltung der sequentiellen Ordnung von Kommunikation ist auch in anderen Bereichen eine pure Notwendigkeit. In Online-Chats sichern so z.B. oft nur die Tatsachen des „Weiterhin-Sichtbar-Bleibens“ und des nicht-beliebigen Nacheinanders von Postings den Fortgang der Kommunikation. Selbst, wenn in Online-Interaktionen gleichzeitig gepostet wird, eben weil man nicht beobachten kann, dass ein(e) andere(r) auch gerade schreibt, sorgt das System noch dafür, dass die Beiträge in Abhängigkeit vom Zeitpunkt ihrer Fertigstellung/des Sendens nacheinander dargestellt werden. Probleme treten erst auf, sobald besonders viele Kommunikatoren an einer Online-Kommunikation teilhaben und Mittei-
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lungen so schnell vom Bildschirm verschwinden, dass man nicht mehr zeitnah rekonstruieren kann, wer sich wann worauf bezogen hat. In solchen Momenten müssen die virtuell Anwesenden ihre Beobachtung der Kommunikation anders gestalten. Dies gilt im Übrigen auch für Interaktionen bei einer großen Zahl von Anwesenden. Hier mag zwar auf ein geordnet verlaufendes Turn-Taking geachtet werden, doch die schiere Anzahl der TeilnehmerInnen verhindert es, dass jede(r) zu jenen Redebeiträgen Stellung nehmen kann, zu denen sie/er auch gerne Stellung bezogen hätte. Sobald ein Kommunikationsprozess von vielen Beteiligten getragen wird, dient in der Regel mehr und mehr die Differenz von Themen und Beiträgen dazu, seinen Verlauf zu ordnen (vgl. zu dieser Bedingung der Möglichkeit erfolgreicher Kommunikation primär Luhmann 1984: 212 ff. sowie Schneider 1994: 88 ff.). Im Rahmen einer kommunikationsorientierten Modellierung sind ferner unter Umständen auch die Parallelität von Kommunikationsanschlüssen und die zwischen unterschiedlichen Kommunikationsprozessen bestehenden Verhältnisse der Erreichbarkeit mit zu berücksichtigen. So kommt es in Interaktionen mit mehr als drei Beteiligten nicht selten dazu, dass sich das Interaktionssystem in unterschiedliche Interaktionssysteme verzweigt (vgl. Sacks, Schegloff und Jefferson 1978: 23 ff.). Ein solches Verzweigen bedeutet allerdings auch, dass sich die im System gegebenen Beobachtungsverhältnisse verändern. Die Beteiligten konzentrieren ihre Aufmerksamkeit nur noch auf ganz bestimmte Beiträge und sind mehr oder weniger dazu gezwungen, paralleles Geschehen auszublenden. Medienkonstellationen übergreifende und thematische geordnete und integrierte Kommunikationsprozesse sind ohnehin durch die Parallelität von Anschlüssen und Diskussionen gekennzeichnet. Interessant sind aus kommunikationssoziologischer Perspektive vor allem die Auswirkungen von „Fremdreflexionen“ und „Fremdbeobachtungen“ (vgl. Malsch 2005: 284 ff., 292 ff. und 299 ff.). Was bedeutet es für soziale Ordnung, wenn am anderen Ort über die Ergebnisse gerade vergangener bzw. noch parallel verlaufender Kommunikationsprozesse diskutiert wird, ohne dass diese Diskussion wieder von den am Primärprozess beteiligten Kommunikatoren unmittelbar eingeholt werden kann? Welche Folgen kann verdeckte teilnehmende Beobachtung in welchen Fällen haben? Und welche Effekte stellen sich hingegen im Vollzug wechselseitiger Beobachtung ein? Die Analyse hochskalierter Kommunikationsprozesse verlangt also, den Blick nicht nur auf die „lineare“ Verkettung von Sinngehalten an bestimmten Orten zu richten, sondern ebenso nach der sozialen Bedeutung des parallelen Vollzugs von thematisch ähnlich gelagerten Kommunikationsprozessen zu fragen. Und dies heißt vor allem auch, die Effekte von unterschiedlich verteilten Möglichkeiten der Beobachtung und Erreichbarkeit mit berücksichtigen zu müssen.
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4.6.2 Rekursivität/Reflexivität Das Strukturierungsprinzip kommunikativer Reflexivität ruht unmittelbar auf Sequentialität (und Parallelität) auf. Erst die „anspruchsvolle Strukturvorkehrung“ (Merten 1976: 173) der Reflexivität ermöglicht die vorübergehend abschließende, psychisch und sozial sinnhafte Ordnung von Kommunikationen als „soziale Welt“. Ihr gilt im Folgenden unsere Aufmerksamkeit. Der Begriff der „Reflexivität“ weist auf das Auftreten von Rück- und Selbstbezüglichkeiten hin. Rück- und Selbstbezüglichkeiten und ihre Bedeutung für soziale Zusammenhänge und Entwicklungen sind in der soziologischen Theoriebildung in unterschiedlichster Perspektive, in unterschiedlichsten Kontexten und mit unterschiedlichsten Absichten eingehend diskutiert worden (vgl. u.a. Luhmann 1984, Habermas 1994, Beck, Giddens und Lash 1996 sowie Bourdieu 1996). Wir referieren hier ausschließlich auf für uns relevante Aspekte des Phänomens. Niklas Luhmann hat Selbstreferenz bekanntlich zu einem grundlegenden Merkmal der Kommunikation/des Sozialen erklärt (vgl. Luhmann 1984: 593 ff.). Referenz wird in der Systemtheorie Luhmanns als eine Operation konzipiert, „(...) die aus den Elementen der Unterscheidung und der Bezeichnung (distinction, indication im Sinne von Spencer Brown) besteht“ (ebd.: 596). Beobachten bedeutet bekanntlich, dass eine Unterscheidung getroffen und eine Seite der Unterscheidung zu Zwecken der Informationsgewinnung bezeichnet wird. Soziale Systeme emergieren als Kommunikationszusammenhänge, die durch drei verschiedene Formen der Selbstreferenz gekennzeichnet sind: durch basale Selbstreferenz, durch Reflexivität und durch Reflexion (vgl. ebd.: 599 ff.). Basale Selbstreferenz bedeutet, dass ein Kommunikationsereignis selbst auf seine Identität als Ereignis referiert, sich selbst als Kommunikation ausweist. Basale Selbstreferenz ist somit als eine erste Form von Rück- bzw. Selbstbezüglichkeit für die Emergenz sozialer Strukturen von Bedeutung. Reflexivität bedeutet, dass Kommunikation mit Hilfe der Unterscheidung von „Vorher/Nachher“ beobachtet wird und sich Kommunikationsereignisse auf den laufenden Kommunikationsprozess beziehen, d.h. diesen erst als solchen kenntlich machen. Last but not least lässt sich in systemtheoretischem Sinne von Reflexion sprechen, sobald sich selbstreferentielle Operationen oder Ereignisse einem System zurechnen. Im Falle von Reflexion wird also auf der Basis der Unterscheidung von System und Umwelt operiert (vgl. ebd.: 600 f.). Nicht nur theoretisch sondern auch empirisch orientierte Ausführungen zum Zusammenspiel von Prokursivität und Reflexivität als „Motor“ der Emergenz sozialer Wirklichkeit finden sich u.a. bei Klaus Merten in seinen frühen Arbeiten zu den Grundlagen der Kommunikationswissenschaft. Merten hat sich in besonderem Maße darum bemüht, die vor allem empirisch orientierten Kommunikati-
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onswissenschaften für die Bedeutung der Theoriearbeit zu sensibilisieren.79 Bereits Ende der siebziger Jahre kritisierte Merten die Kommunikationsforschung dafür, dass es ihr bis zum damaligen Zeitpunkt nicht gelungen sei, die Dynamik von Kommunikation auf angemessene Art und Weise theoretisch zu erfassen. Bei Merten heißt es: „Stellt man jedoch die Dynamik aller Kommunikation in Rechnung, so impliziert dies, daß man sich nicht mehr mit positionalen Vorstellungen (etwa: Kommunikator, Rezipient, Aussage) oder kategorialen Aufteilungen (etwa: Information, Kommentation, Delektation) begnügen kann, sondern nach Beziehungen zwischen den Positionen, also nach den relationalen Strukturen suchen muss“ (Merten 1976: 171). Kommunikation ist dynamisch, Kommunikationsereignisse sind vergänglich und werden durch neue Ereignisse ersetzt. Was aber Halt verleiht, ist die Sinnhaftigkeit der zwischen Positionen und Kategorien bestehenden Relationen, ist die individuelle wie soziale Bedeutung kommunikativer Referenzen, ist die Stabilisierung von Relationen bzw. bestimmter Formen von Relationen. Welcher Art jene Relationen sind, die in und mit der Kommunikation emergieren, hängt davon ab, wie das Verhältnis des „Vorher und Nachher“ der Kommunikation in konkreten Fällen eingerichtet, d.h. mit welcher Bedeutung das „Vorher“ im Nachhinein zusätzlich belegt wird. Reflexivität wird für Merten somit zu einer allgemeinen, grundsätzlichen Strukturvorkehrung, die dafür sorgt, dass sich in und mit der Kommunikation Eigen- und Strukturwerte des Sozialen herausbilden können. Merten unterscheidet – sich auf die zentralen Dimensionen des sozialen Sinns beziehend (vgl. hierzu auch Luhmann 1984: 111 ff.) – zwischen (1) sachlicher, (2) sozialer und (3) zeitlicher Reflexivität (Merten 1976: 172 f.). Der Begriff der sachlichen Reflexivität weist zunächst auf den Umstand hin, dass sich in Kommunikationsprozessen „Aussagen über Aussagen“ generieren lassen, „(...) und dies sogar simultan, wobei die Meta-Aussage dann zur Bewertung der eigentlichen Aussage herangezogen werden kann“ (ebd.: 173).80 Wie sich eine Mitteilung letztlich in einen Kommunikationsprozess einfügt, so die dahinter stehende Annahme, hängt maßgeblich davon ab, auf welche Art und Weise sie in Folgemitteilungen aufgegriffen und 79
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Dieses Engagement für die Kommunikationstheorie hat mit der erst kürzlich erschienenen Festschrift „Kommunikation über Kommunikation“ (2005) eine besondere Würdigung erfahren. Lutz Goertz spricht in seinem Beitrag davon, dass „Begriffserörterung“ NachwuchswissenschaftlerInnen als Arbeitsprogramm nur empfohlen werden könne: „Salopp gesagt, könnte man dem wissenschaftlichen Nachwuchs (wieder mit einem Werbespruch) auf den Weg geben: ‚Es gibt viel zu definieren – packt es an’“ (Goertz 2005: 39). Auf diese Simultaneität weist auch Thomas Malsch in seiner Definition von kommunikativer Reflexivität hin: „Kommunikation wird reflexiv, sobald sie sich selbst als Kommunikation zum Thema der Kommunikation macht. Kommunikation, die sich selbst thematisiert, ist Metakommunikation. Dies ist der Fall, wenn ein Mitteilungszeichen explizit auf die ihm eingeschriebene Differenz zwischen Signifikanz und Relevanz hinweist oder wenn es explizit zwischen Inzeption und Rezeption unterscheidet“ (Malsch 2005: 284).
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kommentiert wird. Sachliche Reflexivität bedeutet in erster Linie Bewertung und/oder Kotextualisierung (ebd.: 173 ff.). Meta-Aussagen können z.B. explizite Bewertungen des Inhaltes einer Nachricht sein: Eine Mitteilung, die im Wesentlichen informierenden Charakter hat, wird durch zusätzlichen Sinn angereichert, indem eine Folgemitteilung dazu genutzt wird, zu kommentieren, einzuordnen und/oder zu bewerten. Sachliche Reflexivität spiegelt sich als soziales Phänomen in der Realität der Massenmedien zuallererst im Verhältnis von „Kommentar“ und „Nachricht“ zueinander wider. Sachliche Reflexivität prägt den Vorgang der Informationsverarbeitung. Kommentare führen Bewertungen, Einschätzungen, Interpretationen und/oder Lesarten in den Kommunikationsprozess ein, und erst mit dem Kommentar wird es möglich, dass massenmediale Kommunikation abschließend Funktionen der Vermittlung erfüllt, indem sie Inhalte und Aussagen in zusätzlicher Weise „rezeptabel und akzeptabel“ macht (ebd.: 174). Siegfried J. Schmidt erörtert in Anlehnung an Merten: „Reflexivität in der Sachdimension erlaubt es, eingeholte Selektionsleistungen (Information) reflexiv zu selegieren und dadurch an Sinnstrukturen anzuschließen“ (Schmidt 2005: 15). Kommen wir zur sozialen Reflexivität. Hiermit ist üblicher Weise gemeint, dass die Anwesenheit von sozialen Akteuren in einer Interaktion wechselseitige Wahrnehmung bedeutet bzw. erzwingt. Der Begriff weist also auf das Phänomen hin, dass in Interaktionen wahrgenommen werden kann, dass auch von anderen wahrgenommen wird und referiert noch einmal auf wesentliche Grundeinsichten zum Aufbau (doppelt kontingenter) sozialer Situationen. Auf Basis der wechselseitigen Wahrnehmung werden im Laufe eines Kommunikationsprozesses beobachtungsabhängig Zuschreibungen produziert, die darüber informieren, wer gerade wie handelt und wer gerade wie erlebt (vgl. Luhmann 1984: 225 ff.). Soziale Reflexivität ist in ihrem Wirken als Strukturvorkehrung allerdings nicht nur auf das soziale System der Interaktion unter Anwesenden beschränkt. Sobald Kommunikationsprozesse über Interaktionen hinausreichen, übernehmen Merten zufolge nicht mehr „einfache“ Erwartungen und Erwartungserwartungen Orientierungsfunktion, sondern komplexere Vorstellungen über das mögliche Wissen und Meinen der Anderen. Soziale Reflexivität gestaltet sich unter den Bedingungen der Massenkommunikation also neu und anders. Unterschiedliche Vorstellungen über Meinen und Wissen fungieren dabei als Bedingung der Möglichkeit, dass sich Kommunikationsprozesse, getragen durch Verbreitungsmedien, überlagern und in Abhängigkeit von gegebenen Erreichbarkeiten durchkreuzen können. Indem im Hinblick auf das Meinen und die Vorstellungen Anderer kommentiert wird und diese hierauf wiederum kommentierend reagieren, kommt es in (massen)medialen Kommunikationsprozessen schließlich zur sozialen Interpretation, zur Stabilisierung oder aber auch zur Veränderung von Vorstellungen und Meinungen. Reflexivität dient so als Vorkehrung der „Strukturvermaschung“
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(Merten 1976: 177). Eine Gesamtheit von Vorstellungen über das Wissen und Meinen anderer lässt sich mit Klaus Merten schließlich als „virtuelles Kommunikationssystem“ bezeichnen (vgl. ebd.: 173). Der Begriff der zeitlichen Reflexivität weist zunächst nur darauf hin, dass alle Kommunikation dazu geeignet ist, Unsicherheit zu absorbieren. Kommunikation schränkt immer den Bereich dessen ein, was in Zukunft noch möglich ist. Dabei wirkt Kommunikation jedoch nicht deterministisch. Merten geht es im Falle des Begriffs der „zeitlichen Reflexivität“ darum, deutlich zu machen, dass sich mit jeder Kommunikation, dass sich mit jedem Kommunikationsereignis, mit jeder ausgebrachten Mitteilung das Verhältnis von „weiter(hin) Möglichem“ und „nicht mehr Möglichem“ verändert (ebd.: 173). Zeitliche Reflexivität bedeutet, dass Kommunikationsprozesse auf sich selbst wirken, indem mit jeder kommunikativen Operation, mit jedem Anschluss Pfadabhängigkeit verstärkt wird und Erwartungen/Erwartungserwartungen Stabilisierung oder Modifikation erfahren. Der Begriff der „zeitlichen Reflexivität“ bringt damit zum Ausdruck, was auch Luhmann mit seinem Begriff der „Reflexivität“ (in Abgrenzung zu „basaler Selbstreferenz“ und „Reflexion“) beschreiben will: Kommunikation ist immer ein selbstreferentieller, Pfadabhängigkeit(en) ausbildender Prozess. Je nachdem, wie ein auf zwei Rezeptionen und zwei Inzeptionen aufruhender Kommunikationsanschluss gestaltet wird, je nachdem, wie das von Merten erwähnte Verhältnis von Nachricht und Kommentar eingerichtet wird, ergeben sich unterschiedliche Effekte auf die Nachrichtenrezeption.81 Der Prozess der Nachrichtenvermittlung erfährt Strukturierung. Nachrichten werden in Kommentaren einerseits auf der Basis von Vorstellungen darüber bewertet, wie sich Sachverhalte für Dritte darstellen könnten. Strukturierend wirkt in diesem Fall der Modus der sozialen Reflexivität oder – in der Terminologie des COM ausgedrückt – die Antizipation von Assoziierungen und Dissoziierungen von Signifikanzen und Relevanzen durch bestimmte InzipientInnen oder Gruppen von InzipientInnen. In Kommentaren kann andererseits aber auch über Aussagen „nachgedacht“ werden. Mit „Nachdenken“ ist hier gemeint, dass Informationen durch Kommentare in verschiedene Kontexte eingeordnet werden können und Kommentare somit geeignet sind, das gesellschaftliche „Wissen um etwas“ zu begründen oder zu verändern. Ebenso können Aussagen in Kommentaren wiederholt oder durch ähnliche Aussagen verstärkt werden, wodurch sich die Bedeu81
Je nachdem, wie Mitteilungen aufgenommen und vor allem kommentiert werden bzw. je nachdem, wie Kommunikationen infolge von Be- und Zuschreibungsprozessen als Handlungen „behandelt“ werden (vgl. Merten 1976 sowie Schmidt 2005), eruieren BeobachterInnen den Stellenwert sowie den möglichen Zusammenhang von Ereignissen, d.h. die Formen der Vernetzung von Kommunikation unterschiedlich und gewinnen auf diese Weise Informationen über den jeweiligen Prozessverlauf. Aus diesen Informationen speisen sich schließlich wieder neue kommunikative Operationen.
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tung einer Nachricht noch einmal besonders herausstellen lässt. Kommentare tragen somit zur Konstituierung von Diskursen bei. Merten spricht davon, dass der Vorgang des Kommentierens zur „Mobilisierung einer Meta-Ebene“ führen würde, ohne allerdings weiter zu erklären, was hiermit genau gemeint sein soll. Schließlich spricht er auch davon, dass Nachrichten und Aussagen in Kommentaren diskutiert und somit an ein Kommunikationssystem „angeschlossen“ werden (vgl. ebd.: 175). Charakteristisch sei in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die (Möglichkeit der) Negation einer Aussage (vgl. hierzu noch einmal ausführlich ebd.: 173). Abschließend lässt sich festhalten, dass das Strukturierungsprinzip der Reflexivität geeignet ist, in kommunikationstheoretischer Perspektive zu erfassen und zu beschreiben, wie sich basale Relationen zwischen Mitteilungen, wie sich Anschlüsse gestalten und worauf die Emergenz ihrer Form beruht. Relationen zwischen Mitteilungen stellen die „innere, dynamische Struktur/Ordnung“ eines jeden Kommunikationsprozesses dar. Kommunikative Mechanismen lassen sich aus kommunikations- und emergenztheoretisch informierter Perspektive nur modellieren, sofern dieser „inneren Strukturiertheit“ kommunikativer Prozesse Rechnung getragen wird. In Abhängigkeit von Mitteilungstypus und Form des kommunikativen Anschlusses ergeben sich spezifische Sinnverhältnisse zwischen Inhalten und Personen dadurch, dass Aussagen zugerechnet, als zugehörig zu einem Thema oder zu einem Diskurs qualifiziert, bewertet und/oder in weitere Zusammenhänge eingeordnet werden. Kommunikative oder innersoziale Emergenz ist damit ein Effekt des Zusammenwirkens von Prokursivität der Sinnofferte und jeweiliger/n Form(en) der Rekursivität des sinnhaften Anschlusses. Und in eben diesem Sinne lässt sich auch davon sprechen, dass Kommunikationsanschlüsse die Emergenz von sozialem Sinn (soziale Bedeutungen, kollektiv geteilte Interpretationen, Deutungsmuster etc.) und von sozialen Beziehungen (Freundschafts-, Bekanntschafts-, Liebes-, Feindschaftsbeziehungen etc.), d.h. den Prozess sozialer Strukturierung tragen, orientieren und „verursachen“.
4.7 Zusammenfassung Rückblickend sind hier noch einmal verschiedene Aspekte gesondert hervorzuheben, die es verdienen, im Rahmen des Versuchs einer kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Mechanismen besondere Beachtung zu finden. Beginnen wir mit der Antwort auf die Frage, was unter einem kommunikativen Mechanismus zu verstehen ist. Kommunikative Mechanismen lassen sich als vom „kleinsten Detail“ abstrahierende Modelle der Strukturdynamik von Kommunikationsprozessen definieren. Als solche erlauben sie es zu verstehen und zu
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erklären, wie bestimmte Kommunikationsanschlüsse die Pfadabhängigkeit der Kommunikation verstärken (helfen) und wie sie es vermögen, die Kommunikation zu ordnen und zu integrieren. Basale oder typische Strukturdynamiken der Kommunikation bzw. kommunikative Mechanismen sorgen dafür, dass sich (bestimmte) Eigen- und Strukturwerte des Sozialen, bestimmte Rahmungen und Kontexturen, bestimmte Sinnverhältnisse einstellen. Wie wir gesehen haben, führt so z.B. die kommunikative Konfirmierung von Verstehensleistungen dazu, dass Deutungen und Interpretationsweisen sichtbar als sozial relevant markiert, und somit zu einer nur noch schlecht hintergehbaren Grundlage weiterer Kommunikation(en) werden. Ebenso führen Ablehnungen von Sinnofferten und die Ablehnung solcher Ablehnungen zur Emergenz eines ganz bestimmten kommunikativen Musters und zur Emergenz/Aktualisierung ganz bestimmter sozialer Eigen- und Strukturwerte, die sich als Kontroversität und Konflikthaftigkeit bezeichnen lassen. Auch kommunikative Mechanismen sind gleichermaßen generische wie erklärende Mechanismen. Soll eine identifizierte Ablauflogik, ein Zusammenhang von Pfadabhängigkeit verstärkenden Anschlüssen in den Status eines „generalisierten kommunikativen Mechanismus“ erhoben werden, so gilt auch in diesem Fall, dass beobachtete Verknüpfungen von Anschlüssen bestimmten Typs nicht nur sporadisch auftreten dürfen. Bei generalisierten kommunikativen Mechanismen muss es sich um Anschluss- oder Ordnungsmuster handeln, die immer wieder in Kommunikationsprozessen zu beobachten sind. Die system- und kommunikationstheoretisch orientierte Erforschung und Modellierung von sozialen Mechanismen befindet sich weiterhin am Anfang. Erste Versuche zeigen Perspektiven und Beispielmechanismen auf; die systemtheoretisch orientierte Kommunikationstheorie ist jedoch noch weit von einem wohldefinierten Set an verschiedenen generischen und erklärenden Kommunikationsmechanismen entfernt. Insofern ist es geboten, zunächst vor allen Dingen Versuche einer Modellierung in unterschiedlichen Bereichen zu unternehmen und Vorschläge für (möglicherweise generalisierungsfähige) kommunikative Mechanismen zu unterbreiten. Wie wir gesehen haben, ist die Inzeption nichts ohne die Rezeption, sind Information und Mitteilung nichts ohne das Verstehen, ist das Verstehen nichts ohne die erneute Auswahl einer Information und einer Mitteilung auf seiner Basis, ist die einzelne Mitteilung nichts ohne anschließende Mitteilung. Kommunikation mag bedeuten, dass es einzelnen AkteurInnen gelingt, Ziele zu erreichen; ebenso werden die Ziele und Absichten von AkteurInnen in der Kommunikation jedoch beständig rekonstruiert, mit neuem Sinn angereichert und durchkreuzt. Dies kann nicht zuletzt auch dazu führen, dass die/der einzelne Akteur(in) selbst ihre/seine eigenen Ziele mehr oder weniger plötzlich in einem
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anderen Licht sieht, sie somit nicht nur ihre/seine eigenen, sondern schließlich und vor allem auch ein Koprodukt der Kommunikation sind. In der hier entwickelten kommunikations- und emergenztheoretischen Perspektive lässt sich das Spannungsverhältnis von Prokursivität und Rekursivität als „Ursache“ sozialer Emergenz beobachten und deuten. Das Zusammenspiel von Prokursivität und Rekursivität, von „antezipierender“ und „retrospektiv gerichteter“ Rekursivität (vgl. Schneider 1994: 169 f.), „treibt“ den Prozess der sozialsinnhaften Ordnung und Strukturierung von Kommunikation vorwärts und lässt sich als ihr „Motor“ verstehen. Der Fokus der Analyse muss damit auf den Kommunikationsanschlüssen und ihren sozialen Effekten liegen. Zum einen schränken in Mitteilungen enthaltene Informationen die Möglichkeiten der Fortsetzung von Kommunikation ein und eröffnen gleichzeitig einen Raum von Perspektiven (Einschränkung/Konditionierung von Freiheitsgraden), zum anderen verrät erst der (durch unterschiedliche Arten von Reflexivität gekennzeichnete/getragene) Kommunikationsanschluss den an der Kommunikation Beteiligten (wie auch nur beobachtenden Dritten), wie sich Informationen in die soziale Wirklichkeit „einführen“ bzw. ob und wie sie diese mit zu prägen vermögen. Kommunikationsanschlüsse sind sowohl durch sachliche, wie auch durch soziale und zeitliche Reflexivität gekennzeichnet. Im Modus sachlicher und sozialer Reflexivität erfolgende Kommunikationsanschlüsse bedeuten die Weiterverarbeitung von Informationen, bedeuten, dass diese rezeptabel und (in-)akzeptabel (gemacht), ebenso aber auch mehr oder weniger stark modifiziert werden. Sachliche und soziale Reflexivität prägen Kommunikationsanschlüsse und können als jene Dimensionen gelten, die es neben der Ja/Nein-Codierung der Sprache möglich machen, die Typik bzw. die „Art“ von Kommunikationsanschlüssen auf kommunikationstheoretisch-grundbegrifflicher Ebene zu bestimmen. Die zeitliche Reflexivität der Kommunikation soll im Folgenden vor allem als übergreifende Dimension verstanden werden. Der Begriff der „zeitlichen Reflexivität“ weist auf den Umstand hin, dass jede Sinnofferte, jede in den Kommunikationsprozess eingeführte Signifikanz und jede Relevanz strukturierend wirkt, in dem sie danach sucht bzw. mit ihr danach gesucht wird, den Raum des noch/nicht mehr Möglichen zu definieren (vgl. noch einmal Merten 1976: 175). Mertens Begriff der „zeitlichen Reflexivität“ lässt sich somit auch in den Begriff der „Prokursivität“ (Malsch 2005: 146) oder den der „antezipierenden Rekursivität“ (Luhmann 1984: 605 sowie Schneider 1994: 170) übersetzen. Richtet sich der Blick, von den sozialen Akteuren und ihren Befindlichkeiten abstrahierend, zunächst ausschließlich auf den Kommunikationsprozess, so sind Kommunikationsanschlüsse als „Ursachen“ zu definieren, die die Emergenz von sozialen Tatsachen und somit von höherstufigen sozialen Phänomenen erklären. Als Baustei-
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ne des Sozialen sind Anschlüsse emergente Resultate des Zusammenwirkens von Prokursivität und Rekursivität, des Zusammenwirkens von Inzeptions- und Rezeptions- und neuerlichem Inzeptionsverhalten. Insofern macht es also nicht generell Sinn, den Begriff der Kommunikation, wie von Dirk Baecker vorgeschlagen (vgl. Baecker 2005a: 8), in eine Opposition zum Begriff der Kausalität bringen zu wollen. Selbstverständlich bleibt Kommunikation – trotz der Möglichkeit, sie als ein durch Kausalität getragenes Phänomen verstehen zu können – überraschungsoffen. Deterministische Vorstellungen von Kausalität sind im Hinblick auf das Soziale ohnehin unangebracht. Im Falle sozialer Verhältnisse geht es nicht um Determination, es geht um „bedingte Kausalität“, wie nicht zuletzt auch der „mechanisms-based approach to social theory“ deutlich macht: Aus A folgt häufig B, C oder D, aber eben auch nicht immer. Soziale Mechanismen helfen zu ergründen, wie sich Sozialität ausbildet, wie sie Stück für Stück emergiert, was sie ist und wohin sie führt, ohne dass man aufgrund der Unmöglichkeit von deterministischen Erklärungen im Bereich des Sozialen erneut auf dichte Beschreibungen und Erzählungen zurückfallen müsste. Folgende Merkposten mögen die Modellierung von kommunikativen Mechanismen anleiten: x Basale Anschlussmuster können als generalisierte kommunikative Mechanismen bestimmt werden, sofern sie auf Anschlusslogiken aufruhen, die übergreifend beobachtbar sind (Abstraktion vom Einzelfall). x Die Modellierung von Mechanismen setzt voraus, sich so genau wie möglich über die in einem Empiriefeld herrschenden/über die für ein Anwendungsszenario charakteristischen Bedingungen zu informieren, um hinlänglich präzise angeben zu können, mit Blick auf welche „set-up conditions“ sich Gedanken über die zwischen einzelnen Ereignissen wirkenden „activities“ und die sich zwischen diesen einstellenden „properties“ (vgl. auch noch einmal Machamer, Darden und Craver 2000: 11 f.) gemacht werden sollten. Ebenso ist zu verdeutlichen, zu welchen sozialen Effekten das Wirken eines modellierten Mechanismus führt, in welche „termination conditions“ seine Strukturdynamik mündet. Soziale Mechanismen lassen sich nie „(...) substanziell bestimmen, sondern immer nur relativ (..) zum Erklärungsproblem, das durch die Rekonstruktion eines Mechanismus bearbeitet werden soll (...)“ (Langer 2006: 78). x Übergreifend beobachtbare Anschlusslogiken bzw. Logiken der Verkettung von Sinnbeständen/basale Anschlussmuster und die sich mit ihnen einstellenden sozialen Beschreibungen, Bedeutungen, Deutungsmuster, Sinnverhältnisse, Wirklichkeitsmodelle, Wissensbestände usw. (Eigen- und Struk-
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turwerte der Kommunikation) führen zur Emergenz höherstufiger sozialer Phänomene (Rationalitäten, Diskurse, soziale Identitäten etc.). Es ist davon auszugehen, dass sich wesentliche Merkmale der Entstehung, der Reproduktion und der Transformation solcher kommunikativ-emergenten Phänomene auf der Basis einer Modellierung von kommunikativen Mechanismen besser erklären lassen als bisher. Im Idealfall präzisiert die Modellierung von Anschlussmechanismen bereits bestehende Beschreibungen und macht (partielle) Erklärungen (Mechanismen sozialer Emergenz) möglich. x Die Modellierung von Anschlussfolgen, von Strukturdynamiken als kommunikative Mechanismen setzt voraus zu ergründen, auf welche Art und Weise das Strukturierungsprinzip der Reflexivität das Erscheinungsbild von Kommunikationsanschlüssen prägt. Zu untersuchen ist, wie sich Folgemitteilungen zu den ihnen zeitlich vorausgehenden Mitteilungen in Beziehung setzen (Anschluss statt Selektion, Kommunikation statt Handlung). Kommt es zur Wiederholung von Inhalten oder zur Produktion ähnlicher Äußerungen und somit zur Spezifizierung von Äußerungstypen als sozial relevant? Werden Sinnofferten negiert? Kommt es zur Markierung von Unvereinbarkeit und somit, zunächst ausgehend von sachlicher Reflexivität, zur Definition einer sozialen Beziehung als Konflikt, als Streit, als Disput etc.? Kommt es auf dieser Basis zu einer Einbettung von Sinnofferten in bestimmte Diskurszusammenhänge? Wird eine Aussage um neue Sinngehalte angereichert und somit weiterführend rezeptabel und (in)akzeptabel gemacht? Werden Sinnofferten auf der Basis von Vorstellungen über das Wissen und Meinen Anderer kommentiert (soziale Reflexivität)? x Sofern Akteure Kommunikationsprozesse mit Blick auf die Frage hin beobachten, welche Anschlussmöglichkeiten sich ihnen bieten, beobachten auch sie in der Regel mit Hilfe des Sinnschemas der Kausalität, indem sie Handeln und Erleben spezifizieren und den Umgang mit Verantwortung und Freiheit näher zu bestimmen versuchen. Diese Zurechnungen wirken sich wiederum auf das Nachtragsmanagement der Kommunikation aus, und ihre Resultate lassen sich (mal mehr und mal weniger deutlich) an bestehenden Referenzstrukturen bzw. an den zwischen Mitteilungen bestehenden Beziehungen ablesen. x Einzelne Mechanismen sollten auf ihre Generalisierungsfähigkeit hin geprüft werden. In Anbetracht der Komplexität kommunikativer Verhältnisse und begrenzter Ressourcen ist allerdings davon auszugehen, dass kommunikative Mechanismen zunächst überwiegend auf der Basis einzelner ausgewählter Beispiele modelliert werden müssen. Diese Aufgabe zu bewältigen, dürfte nicht ohne vereinte Kräfte möglich sein.
5 Nachtragsmanagement und Strukturdynamik – Beobachtungen zur kommunikativen Emergenz von Anschlussmustern und sozialen Eigenwerten
5.1 Kommunikationsanschlüsse und Sinnverhältnisse Wie bereits diskutiert, bedeutet eine system- und kommunikationstheoretisch inspirierte Beantwortung der Frage „Wie ist soziale Emergenz möglich?“, Abstand von der Vorstellung nehmen zu müssen, soziale Ereignisse, Prozesse und Strukturen ließen sich unabhängig voneinander in ihren Eigenschaften erfassen. Die Systemtheorie und die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung empfehlen, den analytischen Blick unmittelbar und ganzheitlich auf den Prozess der Verknüpfung von Selektionen und Kommunikationsereignissen zu Kommunikationsepisoden zu richten. In und mit der Kommunikation emergieren soziale Eigen- und Strukturwerte, in und mit der Kommunikation verändert sich fortlaufend die soziale Bedeutung von zurückliegenden Kommunikationsereignissen und -anschlüssen. Vor diesem Hintergrund sei hier noch einmal an die Ausführungen Ellrichs und Funkens (1998) erinnert: In systemtheoretischemergentistischer Perspektive bestehen soziale Strukturen aus nichts anderem als aus sich aufeinander beziehenden Einzelereignissen, und soziale Ordnung kommt in der sozialen Logik der Verknüpfung von (bestimmten) Ereignissen miteinander zum Ausdruck (ebd.: 356). Schließen bestimmte Typen von Ereignissen immer wieder an bestimmte andere Typen von Ereignissen an, werden bestimmte Referenzen immer wieder neu und auf ähnliche Art und Weise in ähnlichen Kontexten realisiert, so kommt es zur Stabilisierung von distinkten Strukturdynamiken der Kommunikation, die die Geordnetheit sozialer Verhältnisse bedingen. Ihnen sowie sozial emergenten und relevanten Semantiken gilt es in emergenztheoretischer Perspektive nachzuspüren. Kommunikation ist – so haben wir in den Kapiteln (3) und (4) festgehalten – zuallererst Ereignis und Prozess, ist ständige Bewegung. Mit einem jeden Kommunikationsanschluss kommt es aber auch zur Entstehung eines vorübergehenden Ordnungszustandes, der in jenen Sinnverhältnissen zum Ausdruck kommt, die zwischen einzelnen Mitteilungen bestehen. Referenzen definieren Zusammenhänge, und indem sich immer wieder formal und inhaltlich ähnliche
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Nachtragsmanagement und Strukturdynamik
Anschlussmuster der Kommunikation ausprägen, emergiert stabile soziale Ordnung, emergieren soziale Phänomene sinnhaft-kultureller Form auf der Basis von sozialen Eigen- und Strukturwerten. Was Strukturdynamik ist, was soziale Eigen- und Strukturwerte sind, lässt sich in kommunikationstheoretischer Perspektive nur erfassen, sofern der Blick auf die unmittelbaren Effekte von Kommunikationsanschlüssen gelenkt wird: Was bedeutet es z.B., wenn in einem bestimmten Kontext zu einem bestimmten Zeitpunkt Sinnofferten angenommen oder abgelehnt werden? Was bedeutet es, wenn Sinnverstehen kommunikativ als kongruent markiert wird? Was bedeutet es, wenn Sinneinheiten explizit gegeneinander abgegrenzt werden? Was, wenn Signifikanz- und Relevanzsetzungen auf ähnliche Art und Weise wiederholt werden? Diesen Fragen soll im Folgenden an zwei ausgewählten Fallbeispielen nachgegangen werden. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei weniger die erschöpfende Erforschung der ausgewählten Kommunikationsprozesse. Geprüft werden soll vielmehr, welche Möglichkeiten die in den Kapiteln (3) und (4) als wesentlich für die Modellierung von Strukturdynamiken erachteten und diskutierten Begriffe und Konzepte bieten, die eigen- und strukturwertvermittelte Emergenz von diskursiv-sozialen Realitäten zu beschreiben und ebenso zu erklären. Als Basis weiterführender Analysen wurden zwei öffentliche Kommunikationsprozesse ausgewählt, die sich insbesondere in der sogenannten „Blogosphäre“ entfaltet haben. Der Begriff der „Blogosphäre“ bezeichnet die Gesamtheit von im World Wide Web (WWW) zu findenden „Weblogs“82, von häufig aktua82
Weblogs sind ein noch junges Genre der Online-Kommunikation. Verschiedene Websites wurden erstmals in den Jahren 1997 und 1998 als „(B)logs“ bezeichnet (vgl. Blood 2002: 7). Der Begriff (er setzt sich aus den Wörtern „web“ und „log“ zusammen und meint soviel wie „Internet-Kursbuch“) geht wahrscheinlich auf den amerikanischen Programmierer Jørn Barger zurück, den Autor des „Robot Wisdom“-Weblogs, heute Teil des „Robot Wisdom Auxillary“ (http://robotwisdom2.blogspot.com/, Stand: 03. Februar 2009). Weblogs dienen den unterschiedlichsten Zwecken: Sie werden genutzt, um Links zu sammeln und zu kommentieren („Filter“) oder um über das eigene Leben zu schreiben und zu reflektieren („OnlineTagebücher“). JournalistInnen nutzen Weblogs, um auf ihnen Ideen für Themen festzuhalten und hoffen auf das Feedback ihrer Leserinnen und Leser („Notebooks“). Firmen versuchen, mit Hilfe von Weblogs den Kontakt zu ihren KundInnen zu intensivieren oder das Knowledge Management innerhalb des Unternehmens zu organisieren und zu verbessern („Corporate Blogging“; vgl. zu den hier erwähnten Zwecken und Verwendungsweisen auch Schmidt, Schönberger und Stegbauer 2005). In Abhängigkeit von ihrer inhaltlichen Ausrichtung, von ihrer/ihrem Betreiber(in) und von ihrer Einbettung in Hyperlinknetzwerke konstituieren Weblogs unterschiedliche Teilöffentlichkeiten. Von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung sind mittlerweile durch Weblogs geschaffene politische Teilöffentlichkeiten (vgl. für die USA u.a. Drezner und Farrell 2004, Cornfield et al. 2005 sowie Adamic und Glance 2005; für Deutschland Albrecht und Hartig-Perschke 2007). Gerade in den USA bloggt eine Vielzahl von mehr und weniger prominenten JournalistInnen, freien AutorInnen, WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen zu Themen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Soziales und erfreut sich einer großen Leserschaft.
Kommunikationsanschlüsse und Sinnverhältnisse
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lisierten Webseiten, auf denen Beiträge in umgekehrt chronologischer Reihenfolge veröffentlicht werden, und auf welchen die jeweils neuesten Beiträge an oberster Stelle stehen (vgl. Schönberger 2005: 281). Charakteristisch ist ferner, dass sich auf Weblogs, sofern sie nicht ausschließlich als ganz private OnlineTagebücher geführt werden, eine Vielzahl von expliziten Referenzen in der Form von Hyperlinks finden lassen. Dies gilt im Besonderen für Weblogs, die mit dem Ziel aufgebaut wurden, öffentlich im Modus des „To Whom It May Concern“ kommunizieren zu können. Im Falle der Kommunikation mit Weblogs lässt sich auf der Basis der jeweils gesetzten Hyperlinks ganz unmittelbar nachvollziehen, wie Kommunikationsanschlüsse gelagert sind. In der Blogosphäre gehört es zum guten Stil, Bezugnahmen so deutlich wie möglich zu dokumentieren. Weblogs werden so nicht nur in ihrer Eigenschaft als Website miteinander verlinkt („Blogroll“)83, sondern Hyperlinks werden auch zahlreich in einzelne Beiträge integriert; und zwar so, dass es den Rezipientinnen und Rezipienten möglich wird, Argumentationen nachvollziehen bzw. selbst Zugang zu jenen „Quellen“ finden zu können, die eine aktuelle Diskussion speisen.84 Auf Weblogs veröffentlichte Postings bleiben ferner aufgrund einer häufig erfolgenden Speicherung in weblogeigenen Archiven über längere Zeiträume hinweg erhalten und zugänglich, sodass Weblogs der kommunikationssoziologischen Forschung interessante Möglichkeiten bieten, verschiedenste Aspekte von Kommunikationsprozessen und -episoden nachträglich rekonstruktiv zu untersuchen. Um direkten Zugang zur Referenzstruktur von Diskussionen finden, und diese auch überblicken zu können, ohne sich zu verlieren, wurde bei der Auswahl der Fallbeispiele auf thematische Homogenität (einen eindeutigen Fokus) und einen überschaubaren Zeithorizont geachtet. Mit Blick auf das erste Beispiel – einer auf hochsichtbaren Weblogs im Jahre 2002 in der US-amerikanischen Blogosphäre geführten Diskussion über eine rassistische Äußerung eines republikanischen Senators – interessiert die Frage, welche basalen Anschlussmuster für die Entstehung von Pfadabhängigkeit und eine inhaltliche Verdichtung der Kommunikation zu einem Skandal sorgten. Ergebnis dieser Verdichtung war die erneute Stabilisierung einer bereits seit 83 84
Blogrolls sind Hyperlinks, die zwei Weblogs in ihrer Eigenschaft als Website, in ihrer Eigenschaft als „Plattformen“ bzw. „Container“ für Mitteilungen (Postings und Kommentare), miteinander verbinden. An Diskussionen in der Blogosphäre kann Jede/r teilnehmen, die/der über einen Internetzugang verfügt. Je mehr AkteurInnen partizipieren können, desto größer wird jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass immer mehr auf unterschiedlicher Basis und unter unterschiedlichen Voraussetzungen diskutiert wird. Um Voraussetzungen zumindest in gewissem Maße angleichen und thematische Integration sicher stellen zu können, werden Hyperlinks gesetzt, die es Rezipientinnen und Rezipienten ermöglichen, jene Inhalte zum Ausgangspunkt des eigenen Erlebens und Handelns zu machen, die der Verfasserin/dem Verfasser eines Beitrages selbst bereits Anlass zur Kommunikation waren.
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langem bestehenden Diskursformation bzw. die Stabilisierung bestimmter politischer Werte. Untersucht wird, inwiefern sich basale Anschlussmuster als kommunikative Mechanismen der Skandalemergenz (als kommunikative Mechanismen der Emergenz der diskursiven Realität eines Skandals) modellieren lassen. Mit Blick auf das zweite Beispiel – die Diskussion der sogenannten „BruttoNetto-Verwechslung“ der Kanzlerkandidatin Angela Merkel in der deutschen Wahlblogosphäre im Frühherbst 2005 – soll untersucht werden, wie Ereignisresultate kommunikativer Operationen in Kommunikationsprozessen zu bedeutsamen Mitteilungen stilisiert werden bzw. wie die verteilte Zuschreibung sozialer Relevanz dafür sorgt, dass eine referenzierte Mitteilung entgegen aller Absicht Einfluss zu entwickeln vermag. Das Beispiel zeigt, dass sich gegen den Einfluss der eigenen Mitteilung, verstanden als überraschend positive oder überraschend negative Erscheinungsform von kommunikativer Wirkmächtigkeit, niemand wehren kann. In abstrakter, direkt auf die Strukturdynamik eines Kommunikationsprozesses abhebender Form lässt sich diese Wirkmächtigkeit auch als ein Resultat der Verteilung von sozialer Sichtbarkeit deuten und modellieren. Basis eines solchen Modellierungsansatzes stellt die Annahme dar, dass Kommunikation immer ein „(...) Verteilungsprozess von Aufmerksamkeit und Sinnofferten“ (Faßler 1997: 79, Hervorheb. im Original) ist.
5.2 Kommunikative Vernetzungsdynamik und diskursive Realität 5.2.1 Fallbeispiel (1) – Modellierungsperspektiven Kommunikationsanschlüsse dokumentieren die kognitive Verarbeitung von Sinnofferten, die Verarbeitung von Informationen. Obwohl (Alter)Ego, obwohl die/der an zweiter Zugposition inzipierende Akteur/in die Kommunikation erst zum beobachtbaren sozialen Ereignis werden lässt, liegt die Verantwortung für die mit der ersten Inzeption eingeleitete und mit dem Anschluss (zweite Inzeption) partiell abgeschlossene Synthese sozialen Sinns immer bei beiden Kommunikatoren. Je nachdem, welcher Art der zu beobachtende Anschluss ist, je nachdem, ob eine Referenz Annahme oder Ablehnung oder aber auch Aufschub von Annahme oder Ablehnung bedeutet, ob sie neue Kotextualisierung, Kommentierung, Diskussion etc. darstellt, werden unterschiedliche Voraussetzungen für den Fortgang der Kommunikation geschaffen. Diese Voraussetzungen lassen sich mit dem bereits vielfach bemühten Begriff des Eigen- oder Strukturwertes erfassen. Annahmen von Sinnofferten und sie konfirmierende Anschlüsse führen in Kommunikationsprozessen u.a. zum Auftreten des sozialen Eigenwertes der Intersubjektivität (vgl. Schneider 1994 und 2001 sowie Schmitt 2006). Die Mar-
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kierung von Intersubjektivität zeigt die mehrfach gleichgerichtete Integration von Kommunikation an. Intersubjektivität stellt eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Koordination von Handlungen, eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit zukünftig gleichgerichteten Handelns dar. Die Markierung von Intersubjektivität orientiert kommunikative Selektionen, da auf ihrer Grundlage sicherere Annahmen über das zukünftige Verhalten von anderen AkteurInnen (Erwartungen), über Ko- und Kontexte der Kommunikation oder auch über die möglichen Inhalte zukünftiger Kommunikationen gebildet werden können. Dasselbe gilt für die Ablehnung von Sinnofferten. Widersprüche stellen Einschätzung und Relevanzsetzungen in Frage und begründen so die Kontroversität individuell vorgenommener Assoziationen von Signifikanz und Relevanz bzw. von Themen und Meinungen (beginnende Ausdifferenzierung/Emergenz eines Konfliktes). Kommt es im Weiteren zum Anschluss weiterer Ablehnungen, bedeutet dies, dass Kontroversität reproduziert wird und auch die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Gegnerschaften unter KommunikationspartnerInnen zunimmt. Die wiederholte Markierung von Intersubjektivität, der wiederholte Widerspruch und seine wiederholte Ablehnung sind Voraussetzungen für die diskursive Entstehung sozial relevanter Bedeutungen, Deutungsmuster oder Interpretationsrahmen. Deutungsmuster85 unterscheiden sich hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Verbreitung und ihrer Akzeptanz und emergieren in komplexen Kommunikationsprozessen, in denen bestimmte Sinnofferten immer wieder abgelehnt, andere aber auf (mehr oder weniger) breiter Basis angenommen werden. Solche Kommunikationsprozesse, die gleichermaßen durch das intensive Zusammenspiel der Annahme und Ablehnung von Sinnofferten, durch die Emergenz von Intersubjektivität und die Emergenz von Kontroversität, durch die Koordination von Handlungen und die Ausdifferenzierung von Gegnerschaften gekennzeichnet sind, werden in den Sozial- und Geisteswissenschaften als „Diskurse“ bezeichnet. Der Begriff des „Diskurses“ ist vor allem von Michel Foucault geprägt worden (vgl. Foucault 1973 sowie 1991) und bezeichnet „(...) die Eigendynamik semantischer und kultureller Prozesse, die, auf materielle Anordnungen des diskursiv Konstruierten bezogen, ‚mit einem komplexen System von materiellen Institutionen verbunden sind und nicht losgelöst davon betrachtet werden kön85
Soziale (kommunikativ generierte) Deutungsmuster lassen sich als Interpretationsschemata definieren, „(...) durch die sich die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit vollzieht. Diese Schemata sind aber keine individuellen, sondern vielmehr kollektive Typisierungen. (...) Bedeutungen liegen im Diskurs nicht als einzelne Zeichen- oder Aussagenpartikel vor, sondern in Form von Deutungsmustern. Die Konstitution eines diskursiven Gegenstandes beruht auf der diskursspezifischen Erzeugung neuer oder Verknüpfung bestehender Deutungsmuster, die im allgemeinen Wissensvorrat zur Verfügung stehen. Ein Diskurs lässt sich demnach auch über die diskursspezifische Konstellation von Deutungsmustern beschreiben, die sich zu einer typischen Deutungsfigur zusammensetzen“ (Truschkat 2005: 4).
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nen’“ (Bublitz 2003: 7, Hervorheb. im Original). Diskurse stellen Kommunikationsprozesse dar, die nicht nur thematisch organisiert und integriert sind (Foucault spricht von der „Formation der Gegenstände“ wie auch von der „Formation der Begriffe“; vgl. Foucault 1973: 61 ff. sowie 83 ff.); in ihnen ist immer auch geregelt (und damit auch umkämpft), wer auf der Basis welcher Formen von Aussagen („Formation der Äußerungsmodalitäten“, vgl. ebd. 1973: 75 ff.) am Diskurs teilhaben kann oder nicht. Auf der Grundlage unterschiedlicher Strategien („Formation der Strategien“, vgl. ebd. 1973: 94 ff.) versuchen die bereits an einem Diskurs teilhabenden Kommunikatoren bzw. jene, die wünschen, in den Diskurs einzutreten, die Verteilung der Chance auf Äußerung zu ihren Gunsten bzw. zu Gunsten jener Gruppe von Individuen zu beeinflussen, der sie sich selbst zugehörig fühlen. Mit dem Verlauf der Kommunikation bilden sich so immer wieder vorübergehend stabile Ordnungen des Sprechens bzw. stabile Ordnungen der Aussagenproduktion (vgl. Bublitz 2003: 5 ff.) aus. Als Beispiele für emergente Resultate gesellschaftlicher Diskurse lassen sich allgemein u.a. Subjektbilder, (soziale und politische) Rationalitäten, Praktiken und Verfahrensweisen aber auch Werte und Normen nennen. Werden sie fortlaufend kommunikativ reproduziert, so lässt sich von der Emergenz sozialer Institutionen sprechen. Diskurse ordnen soziale Verhältnisse, und indem sie diese Ordnungsleistung erbringen, führen sie zur Emergenz irreduzibler sozialer Tatsachen, deren Erscheinungsformen und Folgen nicht unabhängig, d.h. nicht individuellexklusiv, kontrolliert werden können, und die unterschiedliche Zwänge auf die sozialen Akteure ausüben. Im Diskurs trifft die Intentionalität des Sprechens auf die „Verfahrensregeln“, die prozessualen Bedingungen der Kommunikation, und im Diskurs wird subjektiver Sinn in „objektiven sozialen Sinn“ transformiert. Die sinnbasierte ordnungs- und formbildende Kraft von Kommunikation liegt darin begründet, dass Sprache es ermöglicht, über das zu kommunizieren, „(...) was abwesend, was fiktiv oder nur möglich ist. Mit ihr kann über nichtwahrnehmbare, abstrakte Objekte kommuniziert werden (...). Außerdem bereichert die Sprache durch die Unterscheidung von Wort und Sache, von wirklicher und semiotischer Realität, schließlich schafft und stabilisiert sie einen imaginären Raum von Bedeutungen“ (Krämer 2001: 162). Beispiele für soziale Phänomene, die in der Form eines „imaginären Raums von Bedeutungen“ emergieren, sind Subkulturen und Gemeinschaften, Lebensstile, Szenen, Trends, politische Strömungen oder Skandale, wissenschaftliche Schulen, soziale Grenzregimes. Dass es sich hierbei um ausschließlich kommunikativ emergente soziale Phänomene handelt, bedeutet nicht, dass sie nicht auch „außerhalb“ der Kommunikation Effekte zeitigen (können). Ganz im Gegenteil: Lebensstile und Denkweisen schreiben sich so z.B. als Habitus mit in den Körper ein (vgl. Bourdieu 1987
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sowie in systemtheoretischer Perspektive Vogd 2005: 101 ff.86); wer im Wissenschaftsbetrieb keiner prominenten Schule zugerechnet werden kann, hat aufgrund seiner Nonkonformität oft weniger Chancen auf gute Positionen; wer einen Skandal zu verantworten hat, muss nicht nur um seine Ehre, sondern ebenso um seinen Posten/seine Stelle fürchten etc. Anhand des ersten ausgewählten Beispiels soll im Folgenden untersucht werden, ob und inwiefern sich die Emergenz von ausschließlich in und mit der Kommunikation existierenden sozialen Phänomenen auf der Basis einer Typisierung von Kommunikationsanschlüssen sowie einer Rekonstruktion von kommunikativen Strukturdynamiken in der Form sozialer Mechanismen erklären lässt. Ziel der Analyse ist es, Skandale auf der Grundlage der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung sowie auf der Grundlage systemtheoretischer Annahmen als diskursive Realitäten zu dechiffrieren, die in Anbetracht der parallelen Ablehnung von Sinnofferten sowie im Zuge der Aktualisierung und Verdichtung von bereits bestehenden gesellschaftlichen Konfliktlinien im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung emergieren. Kommunikative Mechanismen der Relevanzverstärkung von Ablehnungen sollen vor dem Hintergrund des gewählten Beispiels auf der Basis kommunikationstheoretischer Begrifflichkeiten modelliert, und ihre realitätsstiftenden und -strukturierenden Effekte sollen beschrieben und erklärt werden. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen steht die Diskussion rassistisch geprägter Äußerungen des republikanischen USSenators Trent Lott in der massenmedialen und der netzweiten amerikanischen Öffentlichkeit im Dezember 2002. Der vorübergehende Fall des Senators87 gilt vor allem in der sozialwissenschaftlichen Online-Forschung als herausragendes Beispiel für die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von politischen Teilöffentlichkeiten, die im World Wide Web mit der Hilfe von Weblogs etabliert werden (vgl. hierzu auch Schmidt 2006: 128 ff.). Am Anfang der Kontroverse um eine moralisch verwerfliche Äußerung Lotts stehen Versuche der Absorption von Unsicherheit sowie der Generierung und Etablierung eines öffentlichkeitswirksamen Themas; an ihrem Ende steht ein ausdifferenzierter und wirkmächtiger Diskurs, der Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener Anschlussdynamiken ist. Die Analyse der Logik von Kommunikationsanschlüssen anhand des Beispiels und unter expliziter Berücksichtigung des Strukturierungsprinzips sozialer Reflexivität ermöglicht interessante Einsichten in die Emergenz diskur86
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Systemtheoretisch reformuliert beschreibt der Habitus „(…) das Produkt der Koproduktion von Körper, Bewusstsein und sozialer Selektion als einen einheitlichen Komplex, der nicht mehr weiter in Einzelsysteme (Psyche, Interaktionssysteme, Organisationen) und Einzelfaktoren (Charakter, Gene, Rollen etc.) dekomponiert wird“ (Vogd 2005: 102). Lott war aufgrund der Aufregung um seine Äußerungen und seine Person gezwungen, noch im Dezember 2002 auf den Posten des Mehrheitsführers im US-Senat zu verzichten, welchen er erst im Januar 2003 hätte antreten sollen.
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siver Realität(en) und die (Re-)Stabilisierung sozialer Ordnung. Moralisch zweifelhafte Äußerungen von Politikerinnen und Politikern werden von den Massenmedien in der Regel als besondere, „punktuelle“, außergewöhnliche und einschneidende soziale Ereignisse inszeniert und, sofern eine Skandalisierung gelingt, schließlich auch vom Publikum als außergewöhnlich und verurteilenswert wahrgenommen. Sowohl in den Medienwissenschaften wie auch in der Politikwissenschaft werden Skandale immer wieder neu untersucht. Von Interesse sind der Status des Skandals als Medienereignis und sein typischer Verlauf (vgl. Burkhardt 2006), die allgemeinen Merkmale von Skandalen, die „Macht der Medien“ und die „Möglichkeiten der Betroffenen“ (Kepplinger 2005) oder auch die Bedeutung von Skandalen für die Restabilisierung gefährdeter Werte und Normen (vgl. Hondrich 2002). Als kommunikatives Phänomen ist der Skandal aber noch mehr, und dieses „Mehr“ lässt sich erst in der Perspektive einer Soziologie erkennen und erforschen, die „ihre begrifflichen und methodischen Instrumente umstellt auf Kommunikation“ (Malsch 2005) und danach fragt, wie der Skandal – verstanden als diskursiv-soziale Wirklichkeit – auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen und Anschlussmustern emergiert. Die zweite Auflage von Hans Mathias Kepplingers „Die Kunst der Skandalierung und die Illusion der Wahrheit“ (2001) ist 2005 im Münchener Olzog Verlag unter dem Titel „Die Mechanismen der Skandalierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen“ erschienen. Ähnlich wie Steffen Burkhardt (2006) zeichnet auch Hans Mathias Kepplinger typische Phasen des Verlaufs von Skandalen nach, verzichtet aber anders als Burkhardt auf eine kommunikations- und/oder diskurstheoretische Fundierung seiner Analysen und stützt sich stattdessen vor allem auf Ergebnisse von Befragungen und auf Ergebnisse kommunikationspsychologischer Forschungen. Kepplinger zeichnet nach, wie die einzelnen Phasen eines Skandals ausgestaltet werden und aneinander anschließen: Der Begriff des „Mechanismus“ bezieht sich bei ihm auf diese einzelnen Phasen. Wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit von Mechanismen gesprochen, so gilt das Hauptaugenmerk im Wesentlichen der Logik einzelner Kommunikationsanschlüsse, ihren Formen und ihrem Zusammenwirken als Prozess bzw. ihren Interdependenzeffekten. Ziel ist es nicht, die Phasen eines Skandals eingehend zu beschreiben, sondern zu untersuchen, wie die Strukturvorkehrung der Reflexivität, das Verhältnis von in der Kommunikation Bestimmtem und unbestimmt Bleibendem (aber Bestimmbarem; vgl. noch einmal Baecker 2005a), sowie beobachtungsleitende Unterscheidungen dafür sorgen, dass Kommunikationsprozesse geordnet werden. Das ausgewählte Beispiel einer Skandalkommunikation zeigt exemplarisch, welche Arten von Kommunikations-
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anschlüssen dazu führen, dass eine Mitteilung weitreichende Folgen nach sich ziehen und die Strukturdynamik der Kommunikation beeinflussen kann. Das Wort „Skandal“ fungiert im Folgenden also vor allem als Bezeichnung für einen Diskurs, für seine Identität. Wir wollen davon ausgehen, dass sich am Verhältnis von unterschiedlichen Mitteilungen zueinander (Annahmen, Ablehnungen, identische/unterschiedliche Signifikanz- und Relevanzsetzungen etc.) erkennen lässt, wie Diskursräume konfiguriert und soziale Realitäten geschaffen werden. Kommunikationsanschlüsse bestimmen darüber, welche Effekte eine Sinnofferte zeitigen kann. Zwar werden Mitteilungen auf ein bestimmtes, von der Mitteilenden/vom Mitteilenden intendiertes Verstehen einer Rezipientin/eines Rezipienten hin inzipiert (Prokursion); ob eine Sinnofferte letztlich aber als Prämisse des eigenen Verhaltens von RezipientInnen übernommen wird, ist immer offen. Für hochskalierte Kommunikationsprozesse ist typisch, dass eine Vielzahl von Annahmen und Ablehnungen simultan erfolgen bzw. parallel an einer Mitteilung kondensieren. Welche Bedeutungen schließlich andere mögliche Bedeutungen überlagern, welche Interpretations- und Deutungsmuster sich durchsetzen und häufiger als andere zu beobachten sind, darüber können einzelne Kommunikatoren nicht disponieren. Diskursive soziale Realitäten sind diachron emergente Phänomene. Ihr operativer Aufbau und ihre dynamische Identität lassen sich nie erklären, indem ausschließlich auf einzelne Selektionen bzw. einzelne Kommunikationsereignisse Bezug genommen wird (Irreduzibilität). Sie sind vielmehr das sozial-sinnhafte Resultat des Zusammenspiels der ordnungsgenerierenden Kräfte von verschiedenen, eigenlogisch ausgerichteten Kommunikationsanschlüssen.88 Und eben dies bedeutet Emergenz von Sozialität im rotationstheoretischen Sinne: Die strukturgenerierende Kraft von Kommunikationsanschlüssen entfaltet sich nur auf der Basis bereits existierender Ordnung und geht wiederum in Strukturdynamik auf. Mit jedem Kommunikationsanschluss werden in einem Diskurs Deutungsmuster, Verhältnisse von Themen und Beiträgen zueinander, Begriffe und Kotexte etc. aufgerufen (in Erinnerung gerufen); ebenso werden sie aber auch durch den neuen Kontext selbst modifiziert. Eine vielversprechende Möglichkeit der Erklärung kommunikativer Emergenz besteht – wie in Kapitel (4) erörtert – darin, sich der Strukturdynamik von Kommunikationsprozessen mit Hilfe kommunikativer (generativer wie erklärender) Mechanismen zu nähern. Mechanismen sind in ihrer Eigenschaft als Modelle generati88
Michael Schwab-Trapp formuliert diesen Umstand im Rahmen seiner Überlegungen zu den Eckpfeilern einer soziologischen Diskursanalyse im Anschluss an Michel Foucault wie folgt: „Es ist das große Verdienst Foucaults, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß die Bedeutung eines Diskursbeitrags nicht in diesem Beitrag selbst liegt – sie erwächst vielmehr aus spezifischen Beziehungen der Konkurrenz, des Widerspruchs oder auch der Koalition, die Diskursbeiträge und ihre Träger innerhalb eines spezifischen Diskurses oder aber diskursübergreifend mit und gegeneinander eingehen“ (Schwab-Trapp 2001: 263).
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ver Prozesse geeignet, Abläufe nachvollzieh- und damit verstehbar zu machen. Je nach Komplexität des untersuchten Phänomens müssen möglicherweise auch mehrere Mechanismen miteinander kombiniert werden, um zu gehaltvollen und befriedigenden Beschreibungen und Erklärungen von sozialer Emergenz gelangen zu können (vgl. Langer 2006: 88 ff. und 96 ff. sowie allgemein zur Kombination und Integration von Mechanismen Schimank 2005). Kommen wir in diesem Zusammenhang noch einmal kurz auf den Kommunikationsanschluss zu sprechen. Mit Blick auf einzelne Mitteilungen und die dazugehörigen Referenzen interessiert im Rahmen der Modellierung vor allem, welchem Typ von Anschluss Mitteilungen zuzurechnen sind. Handelt es sich um Sinnofferten annehmende oder ablehnende Anschlüsse? Geht es in ihnen um Kotextualisierung und Einordnung bestimmter Signifikanzen und Relevanzen? Kommt es zur Aktualisierung von Sinnbeständen, zu Verkürzungen, Verdichtungen oder Verschiebungen? Während sich die an einem Kommunikationsprozess beteiligten Kommunikatoren überwiegend dafür interessieren müssen, wie von anderen Kommunikatoren an die eigenen Sinnofferten angeschlossen wird und sie meist nur wenig Kapazitäten zur Verfügung haben, um sich Gedanken über die entstehende Strukturdynamik zu machen, kann ein(e) unbeteiligte(r) Beobachter(in) hingegen – sofern es ihr/ihm möglich ist, einen Kommunikationsprozess über Anschlüsse und Sequenzen hinweg zu überblicken und ihr/ihm die Inhalte von Mitteilungen beständig zugänglich sind – ihre/seine Beobachtung ganz unmittelbar auf diese Strukturdynamik „scharf“ stellen. In Abgrenzung von auf wechselnden Leitunterscheidungen aufruhenden Beobachtungen lässt in einem solchen Fall von scharf gestellter „Fremdbeobachtung“ (Malsch 2005: 284 ff.) sprechen. Die Fremdbeobachtung aus emergenztheoretischer Perspektive muss sich mit Fragen beschäftigen, die das Zusammenwirken von Diskursverlauf und neuerlichem Kommunikationsanschluss zum Inhalt haben: Wie verändert sich die Dynamik eines Kommunikationsprozesses mit neuen Kommunikationsanschlüssen? Inwiefern beeinflussen massenhaft sichtbare Annahmen und/oder Ablehnungen von Sinnofferten das Erscheinungsbild eines Diskurses? Verschwinden mit der beständigen Ablehnung bestimmter Sinnofferten bestimmte Signifikanzen oder Relevanzen (zunächst) aus dem Kommunikationsprozess? Provoziert eine Wiedereinführung solcher Signifikanzen und Relevanzen erneut bereits zuvor beobachtete Wechselspiele von Annahme und Ablehnung? Dass auch eine auf die Strukturdynamik von Kommunikation scharf gestellte Beobachtungsperspektive ihren eigenen „blinden Fleck“ (vgl. zum „blinden Fleck“ einer jeden Beobachterin/eines jeden Beobachters allgemein Luhmann 2002: 141 ff.) hat, versteht sich hier von selbst. Auch sie ist damit nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern – wie eine jede soziologische Perspektive – gleichermaßen ergänzend wie heraus-
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fordernd. Für die hier zugrunde gelegte Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung gilt wie für jede andere Kommunikationstheorie auch, dass sie das bestehende Wissen über Kommunikation erweitert und ergänzt und gleichzeitig dazu herausfordert, ihre Annahmen und Modelle aus der Perspektive anderer Theorien kritisch zu hinterfragen. Und genau hierin liegt die Bedeutung einer jeden wissenschaftlichen Theorie für den Erkenntnisfortschritt der Disziplinen: Sie muss das bisherige Nachdenken über die Dinge (immer wieder) neu anregen und herausfordern. 5.2.2 Der Fall „Trent Lott“ 5.2.2.1 Nachtragsmanagement und Skandalemergenz Anders als in Deutschland werden Weblogs in den USA bereits seit mehreren Jahren intensiv zu Zwecken der öffentlich-politischen Diskussion genutzt. JournalistInnen, freie AutorInnen, WissenschaftlerInnen und auch PolitikerInnen nutzen Weblogs, um Informationen verbreiten und recherchieren, um politische und gesellschaftliche Entwicklungen kommentieren oder um sich selbst im Netz präsentieren und produzieren zu können. Im Dezember 2002 wurde in der USamerikanischen Blogosphäre auch intensiv über den republikanischen Senator des US-Bundesstaates Mississippi, Trent Lott, diskutiert. In diesen Diskussionen ging es allerdings nicht um Sachfragen, sondern es interessierte vielmehr der Inhalt einer Ansprache, die Lott am 05. Dezember im Dirksen Senate Office Building in Washington D.C. anlässlich des einhundertsten Geburtstags des USSenators Strom Thurmond (South Carolina) gehalten hatte. In dieser Rede ging Lott für einen kurzen Moment auch auf Thurmonds Vergangenheit als Präsidentschaftskandidat für die „Dixiecrat Party“ im Jahre 1948 ein. Thurmond war zum damaligen Zeitpunkt vehement für eine strikte Rassentrennung eingetreten, hatte seine Position im Laufe seiner Karriere aber geändert und sich schließlich für eine Ausweitung und Stärkung der Bürgerrechte eingesetzt. Lott jedoch bemerkte zum lange zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampf des Jubilars: „I want to say this about my state. When Strom Thurmond ran for president, we voted for him. We’re proud of it. And if the rest of the country had followed our lead, we would’nt have had all these problems over all these years either” (Lott, zitiert nach Scott 2004: 2 sowie Duncan B. Black, www.atrios.blogspot.com, 06. Dezember 200289). Obwohl Lott offen ließ, was genau sich Zuhörerinnen und Zuhörer nun unter „all diesen Problemen“ vorstellen sollten, die sich hätten vermeiden 89
Das entsprechende Posting ist unter der folgenden URL einzusehen: http://atrios.blogspot.com/ 2002_12_01_archive.html (Stand: 03. Februar 2009).
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lassen können, war vielen der anwesenden Gäste klar, worauf Lott anzuspielen versuchte. Der ABC News Reporter Ed O’Keefe sprach später davon, dass die Äußerungen Lotts in einer allgemeinen Stille resultiert hätten, von der sich Lott allerdings nicht weiter irritieren ließ (vgl. Scott 2004: 7). Das Interessante an der Äußerung Lotts ist, dass in den Massenmedien zunächst kaum über sie berichtet wurde, obwohl sie bei anwesenden Gästen wohl doch sichtlich für Irritation und Unbehagen gesorgt hatte (Wir werden auf den Grund hierfür noch zu sprechen kommen). Über die Feier wurde in vielen Zeitungen berichtet (ReporterInnen großer US-amerikanischer Tageszeitungen waren anwesend und C-Span übertrug live im Fernsehen). Für die Bemerkung Lotts zur politischen Vergangenheit Strom Thurmonds als Präsidentschaftskandidat der Dixiecrat Party interessierte sich jedoch kaum eine Journalistin bzw. kaum ein Journalist. Den Angaben Esther Scotts zufolge berichteten die meisten Zeitungen ohnehin nur kurz und knapp an weniger prominenter Stelle über die Feier (vgl. ebd.: 2), und keine der wichtigen und großen amerikanischen Zeitungen informierte ihre Leserinnen und Leser über die Bemerkung Lotts. Sie fand schließlich kurz Erwähnung im Fernsehen. Am 06. Dezember strahlte ABC News einen kurzen Beitrag in seinem Programm „World News this Morning“ aus. Sprecher John Bearman informierte seine Zuschauerinnen und Zuschauer darüber, dass Wade Henderson von der „Leadership Conference on Civil Rights“ (LCCR)90 die Äußerung Lotts scharf kritisiert hatte. Ebenso veröffentlichte ABC auf der Website „abc News“ am selben Morgen einen Beitrag in der Rubrik „The Note“, welcher die Äußerung Lotts und die Reaktion Hendersons aufgriff. Des Weiteren wurde Lotts Bemerkung am 06. Dezember kurz in der Sendung „Crossfire“ auf CNN und in der PBS-Sendung „Washington Week“ thematisiert (vgl. ebd.: 9 f.). Nichts lag zu diesem Zeitpunkt ferner, als die Entstehung eines Skandaldiskurses. Karl Otto Hondrich (2002) und Hans Mathias Kepplinger (2005) haben im Rahmen verschiedener Betrachtungen und Untersuchungen festgehalten, dass am Anfang des Skandals die moralische „Sprengkraft“ einer Äußerung, der „moralische Fehltritt“ (Hondrich 2002: 15) und die Empörung über diese Äußerung/diesen Fehltritt stehen. Die moralische Sprengkraft stellt das sogenannte „skandalthron“ dar; dieses ist jener Interpretationsrahmen, der es erlaubt, sich auch für Dritte verständlich über eine Äußerung zu empören und diese als unangemessen oder unpassend abzulehnen. Das griechische Wort „skandalthron“ bezeichnete ursprünglich das Stellhölzchen an der Falle, wel90
Die „Leadership Conference on Civil Rights“ (LCCR) wurde im Jahre 1950 als gemeinsamer Interessenverband der Bürgerrechtsbewegung gegründet. Der LCCR gehören heute mehr als 190 unterschiedliche Organisationen an, die sich u.a. für die Rechte von aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminierten Menschen, für die Rechte von Frauen, von Kindern, von Behinderten und von Homosexuellen einsetzen (vgl. http://www.civilrights.org/, Stand: 03. Februar 2009).
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ches bei einer Berührung durch das zu fangende Tier umklappt oder bricht und die Falle hoffentlich so zuschnappen lässt, dass sich das Opfer in ihrem Inneren befindet. Steffen Burkhardt hat in seiner Untersuchung zu den Charakteristika moderner Medienskandale (2006) darauf hingewiesen, dass das „Stellhölzchen in der Falle“ schon im alten Griechenland als zugkräftige Metapher diente, um Kommunikationssituationen beschreiben zu können, in denen die Worte anderer Menschen dazu verleiten, sich selbst in eine heikle Situation „hineinzureden“ (vgl. ebd.: 60).91 Heute verstehen wir unter dem Begriff des „Skandals“ hingegen oft weniger das erwähnte Stellhölzchen, als vielmehr direkt jene Äußerungen eines Menschen, die für uns nahezu selbstverständlich, auf den (ach so) „gesunden Menschenverstand“ rekurrierend und diesem folgend, als „unhaltbar“, moralisch zweifelhaft und somit als „Auslöser“ eines Skandaldiskurses erscheinen. Eines Diskurses, der wiederum dazu dienen kann, sich erneut über das zu verständigen, was moralisch gut und richtig ist. Der Skandal scheint sich somit gleichsam selbsttätig in die sozialen Verhältnisse einzuschreiben und ursächlich mit einem bestimmten Verhalten zu beginnen. Zwar mögen wir glauben, dass sich Sinnofferten „selbsttätig“ erklären; tatsächlich aber ist – selbst wenn alle bereits meinen zu wissen, worum es geht – in der Kommunikation immer entscheidend, wie eine bestimmte Äußerung nachträglich auf eine bestimmte Art und Weise kotextualisiert wird. Nur auf diesem Wege vermag sie diskursive Wirkung(en) zu entfalten, und dies gilt so nicht zuletzt auch mit Blick auf den Skandal. Ohne nachträglich für die Öffentlichkeit sichtbar expliziertes Skandalon keine sozial relevante, moralisch verwerfliche Äußerung, kein sozial relevantes, moralisch verwerfliches Verhalten, kein neuer, gleichsam „aus sich selbst“ heraus verständlicher Skandal. Die kommunikative Realität des Skandals ist immer die kommunikative Konstruktion des „skandalthrons“, zumindest aber die weitläufige Bestätigung oder Reaktivierung eines schon bekannten Stellhölzchens. Erst in und mit der Konstruktion und Ausführung dieses Interpretationsrahmens macht der Skandal Sinn, erst hierin lebt der Skandal sein kommunikatives Eigenleben. Er ist aufgrund dieses Skandalons, er ist, weil die im Mittelpunkt des Interesses stehende verwerfliche Äußerung das Stellhölzchen funktionieren lässt, weil das Stellhölzchen weithin sichtbar ist, verdichtet wird, und die Kommunikation dem Zwecke dieser Konstruktion und Sichtbarmachung unterstellt wird. Die Äußerung Lotts zumindest scheint, so lassen die ausbleibenden Reaktionen vermuten, im ersten Moment nicht als moralisch verwerflich wahrgenom91
Steffen Burkhardt zufolge nutzte der griechische Dichter Aristophanes die Metapher des „Skandals“, um das kommunikative Handeln eines rhetorisch versierten Klägers vor Gericht zu beschreiben, der dem Angeklagten geschickt eine Falle stellt und diesen dazu bringt, sich selbst in diese Falle hinein zu begeben (Burkhardt 2006: 60).
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men worden zu sein – Stellhölzchen: Fehlanzeige. Mit Blick auf die Äußerungen Lotts herrscht, ihren Sinngehalt betreffend, zunächst vielmehr Unsicherheit: Ist es angemessen, davon ausgehen zu wollen, dass die Äußerung rassistisch konnotiert war (Lott hatte in der Vergangenheit bereits Ähnliches geäußert)? Oder handelte es sich hierbei nur um eine Art und Weise, zugespitzt zu sprechen und zu formulieren; eine Art und Weise, die sich noch ganz innerhalb jenes Rahmens des Sagbaren bewegte, der den politischen Diskurs, den Raum des politisch Korrekten „umreißt“ und „begrenzt“ (Wenn Lott schon früher Ähnliches folgenlos geäußert hatte, warum sollte es jetzt unbedingt Folgen nach sich ziehen)? Dass die Äußerung Lotts trotz dieser Unsicherheit nur kurze Zeit später als eine Mitteilung angesehen wurde, die einen Skandaldiskurs zu begründen vermochte, lässt darauf schließen, dass es im Nachhinein doch noch zur (Re)Konstruktion/Explikation des benötigten Stellhölzchens gekommen war. Das „skandalthron“ selbst ist also ein emergenter Eigenwert eines wirkmächtigen Diskurses, eine nachträglich geschaffene soziale Tatsache im Sinne Durkheims. Zwar gibt es immer einen „Auslöser“ eines Skandals; wie weitreichend, wie aufregend und abstoßend dieser Auslöser ist, hängt jedoch davon ab, wie das Skandalon (re)konstruiert, (re)aktiviert, zurechtgeschnitten wird – kurz: wie es kommunikativ emergiert. Auch der Skandal verschafft sich also einen Teil der Voraussetzungen seiner Existenz nachträglich selbst, existiert nur als Prozess der nachträglichen Interpretation von Äußerungen, der nachträglichen Diskussion und Bestätigung von Interpretationsrahmen. Warum das „skandelthron“ nachträglich geschaffen, nachträglich explizitkommunikativ erarbeitet werden muss, erscheint zunächst nicht als unmittelbar einsichtig. Wie bereits gesagt: Ist das, was moralisch verwerflich ist, dies nicht schon an sich? Reicht der gesunde Menschenverstand nicht aus? Für vielfach differenzierte, d.h. sowohl segmentär wie auch stratifikatorisch und funktional differenzierte Gesellschaften muss die direkte Antwort nein lauten.92 Je weiter Gesellschaftssysteme funktional differenziert sind, je mehr unterschiedliche Logiken, Beschreibungsmöglichkeiten, Lebensstile oder Wirklichkeits- und Handlungsmodelle mehr oder weniger friedvoll nebeneinander koexistieren, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sich noch unmittelbar von selbst erklärt, was skandalös ist und somit öffentliche Empörung anstoßen sollte und was nicht. 92
Klassisch ist in diesem Zusammenhang Emile Durkheims Studie „Über soziale Arbeitsteilung“ von 1893. In seiner „Studie über die Organisation höherer Gesellschaften“ dokumentiert Durkheim, wie die der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft zugrunde liegende Arbeitsteilung den Übergang von einer auf Ähnlichkeiten basierenden „mechanischen Sozialität“ hin zu einer „organischen Solidarität“ befördert, die juridisch ihren Ausdruck in einem umfangreichen Vertragsrecht findet (vgl. Durkheim 1893/1996). Auch Durkheims Studie dokumentiert letztlich, wie es mit der Ausdifferenzierung von Rollen zur Ausdifferenzierung von Erwartungshaltungen bzw. zur Emergenz neuer Erwartungen kommt.
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Die Moral ist in der funktional differenzierten Gesellschaft zu einer „multifunktionalen Einrichtung“ geworden, die Möglichkeiten funktionaler Spezifikation limitiert; sie ist eine „symbolische Generalisierung“, die es erlaubt, die Komplexität doppelt kontingenter Situationen in den Begriffen von Achtung und Missachtung zu fassen, und die es erlaubt, auf eben dieser Basis Möglichkeiten des Weitermachens zu konditionieren (vgl. Luhmann 1984: 317 f. sowie 320). In Anbetracht der differenzierungsbedingten Heterogenität von Erwartungen in der (post-)modernen Gesellschaft gilt: Was in einem Kontext noch als eine vollkommen unverfängliche, erwartungskonforme Äußerung erscheinen mag, kann in anderen Kontexten gar schnell und unmittelbar Ablehnung hervorrufen. In funktional differenzierten Gesellschaften nimmt somit auch die Unsicherheit über jenes zu, was unmittelbar als „skandalös“ zu gelten hat bzw. sich noch im Rahmen des moralisch Vertretbaren bewegt. Auch Hans Mathias Kepplinger hat darauf hingewiesen, dass sich keineswegs mit Bestimmtheit sagen lässt, wann und wo sich Kommunikation auf der Basis bestimmter öffentlicher Äußerungen oder Ereignisse so selbst organisiert, dass es zur Entstehung von Kommunikationsprozessen kommt, die die diskursive Realität eines Skandals zu begründen vermögen (vgl. Kepplinger 2005: 45 ff. sowie 63 ff.).93 Wir mögen zwar meinen, dass wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Erwartungen und Erfahrungen, vor dem Hintergrund unserer Moralvorstellungen und Werte selbst relativ eindeutig und schnell bestimmen können, was eine skandalträchtige Verfehlung ist und was nicht. Aber können wir mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass andere ebenso urteilen wie wir? Und was ist mit den eigentümlichen Ambivalenzen, die uns in unserem eigenen Denken begegnen? „Ein Skandal! – Ja, ..., natürlich ... einerseits. Aber wer würde es andererseits in ähnlicher Situation nicht genau so machen?“.94 In solch unübersichtlichen Situationen helfen in funktional differenzierten Gesellschaften die Massenmedien. Ihnen kommt die Aufgabe und Funktion zu, sich in der Gesellschaft, in den unterschiedlichen Kommunikationssystemen zutragende Ereignisse in ihrer eigenen Logik weithin sichtbar als soziale Wirklichkeit zu beschreiben. Massenmedien „dirigieren“ die Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems, sie „spalten“ die Welt in Gesellschaft und Umwelt (Luhmann 2004: 173). Dass die Massenmedien ihre Beobachtung dabei an einer ih93
94
Auch Kepplinger erörtert: „Die Medien decken keine Skandale auf. Skandale sind keine vorgegebenen Sachverhalte, die man aufdecken und berichten kann, sondern die Folge der öffentlichen Kommunikation über Missstände. Zwischen beiden – den Missständen und den Skandalen – besteht ein kategorialer Unterschied. Zum Skandal wird ein Missstand erst durch die Perspektive, aus der man ihn betrachtet“ (Kepplinger 2005: 63). Eine Ambivalenz des Denkens, die sich immer wieder an drastischen und weniger drastischen, öffentlich diskutierten Beispielen ablesen lässt. Sie reichen von der moralischen Bewertung des Steuerhinterzugs bis hin zur moralischen Ächtung von Selbstjustiz.
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nen eigenen Leitunterscheidung und nicht an den binären Codes der Funktionssysteme orientieren (ja, gar nicht orientieren können), dürfte sich in systemtheoretischer Perspektive von selbst verstehen. Was in den Massenmedien letztlich dargestellt wird, ist das, was sich aufgrund seiner Informativität vom Nichtinformativen unterscheidet. Massenmedien publizieren Überraschendes, publizieren Informationen und mit der Publikation werden auch diese Informationen schließlich zu „Nichtinformationen“ (vgl. ebd.: 174). Die vereinzelten Reaktionen auf die Äußerung Lotts zeigen, dass die Gatekeeper der traditionellen Massenmedien, JournalistInnen und RedakteurInnen, dieser zunächst nur einen geringen Informationswert beimaßen und sie als nicht kommentierungswürdig, d.h. als „Nichtinformation“ einstuften. Auch jene Anschlüsse, die tatsächlich erfolgten, sind eher als verhalten zu bezeichnen und zeugen im konkreten Fall von der Unsicherheit der Nachrichtenschaffenden, ob ein Kommentar oder Bericht tatsächlich genügend Aufmerksamkeit generieren helfen könnte bzw. helfen könnte, ein zugkräftiges Thema zu produzieren, weitere Reaktionen zu provozieren, positives Feedback zu erzeugen und dementsprechend „erfolgreich“ zu kommunizieren, d.h. die LeserInnen und/oder ZuschauerInnen zu erreichen und bei der Stange zu halten.95 Und dies, obwohl die Äußerung Lotts durchaus auch die Informationsarbeiterinnen und -arbeiter im Sinne Baeckers hätte „überraschen“ können (vgl. Baecker 2005a: 19 ff.). Lott war, wie schon erwähnt, bereits früher durch ähnliche Äußerungen aufgefallen, sodass eine weiterführende Kotextualisierung problemlos möglich gewesen wäre. Allerdings hatte Lott solche Äußerungen bislang weitestgehend unbeschadet überstanden. In der Perspektive der Massenmedien schien seine Äußerung so zum einen wohl als nicht informativ, weil vermutet wurde, dass eine Definition der Äußerung als (erneut) überraschend sowie eine Aktualisierung bereits bekannter Kotextualisierungen auch dieses Mal keine weiteren Effekte nach sich ziehen, und somit keine fortlaufende, länger andauernde Berichterstattung über das Thema ermöglichen würden. Zum anderen hatte Lott zwar von „all diesen Problemen über all diese Jahre hinweg“ gesprochen, die sich seiner Ansicht nach hätten vermeiden lassen kön95
Lorenz Engell erläutert im Hinblick auf das Verbreitungsmedium Fernsehen: „Nichts ist bekanntlich im System der Massenmedien so erfolgreich wie der Erfolg. Massenmedialer Erfolg ist selbstreferenziell; er erzeugt alles, was er benötigt, selbst. Er wird so, das sei spekulativ angefügt, vermutlich zum Muster jeglicher sozialer Autopoiesis überhaupt. Auch darin kommt die Ausnahmestellung des Fernsehens als Gesellschaftssystem zum Tragen. Erfolg wird fernsehtypisch messbar gemacht in der Einschaltquote; und durch sie auch zurückgebunden an den basalen Code Ein/Aus (Schalten/Nichtschalten). Die alles überragende Wichtigkeit der Einschaltquote markiert den äußersten Horizont des Fernsehens, so wie das bloße Einschalten seinen unhintergehbaren Einsatzpunkt markiert. Letztlich kennt das Fernsehen Gesellschaft nur unter diesem Aspekt der Quote; und sobald wir fernsehen, hat das Fernsehen diesen seinen Aspekt auch schon durchgesetzt als allgemeines Medium wie die Wissenschaft die Wahrheit und die Wirtschaft das Geld und hat insofern bereits Erfolg“ (Engell 2006: 227 f.).
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nen, wäre Strom Thurmond tatsächlich Präsident geworden; ein sofortiges Brandmarken der Äußerung als rassistisch motiviert und konnotiert hätte jedoch bedeutet, sich zu Zwecken der Provokation eines zugkräftigen Themas auf dünnes Eis zu begeben. In Anbetracht ihrer eigenen ethischen Grundsätze (die heutzutage allerdings nicht selten auch zu Zwecken einer Steigerung der LeserInnen-, ZuschauerInnen und HörerInnenzahlen verletzt werden) sind die Medien typischerweise gehalten, objektiv, d.h. sachlich und unabhängig, über Ereignisse zu berichten. Auch eine Zugrundelegung/Zuschreibung des entsprechenden (sozialen) Sinns im Rahmen der journalistischen Form des Kommentars hätte wohl zunächst wenig Nutzen gehabt, wäre doch kaum sicher gewesen, ob die entsprechende Deutung an anderer Stelle Bestätigung erfahren würde. Die Äußerung legt eine Interpretation als rassistisch motiviert vielleicht nahe, sie provoziert diese aber nicht eingedenk der auch sie in ihrer Eigenschaft als Mitteilung kennzeichnenden Prokursivität. Lotts Äußerung war eben alles andere als eindeutig. Die Moderatorin der „Washington Week“ nahm letztlich – wenn auch ironisch – auf diesen Umstand Bezug, als sie ihre Sendung am 06. Dezember mit den folgenden Worten schloß: „(...) tonight’s little history quiz, something what we call ‘What was he thinking?’ (...) tell us what you think Senator Lott meant“ (Ifill, zitiert bei Scott 2004: 9 f.). Weiterhin bleibt damit zu klären, wie und warum die Äußerung Lotts trotz anfänglicher Nichtbeachtung doch noch zum Ausgangspunkt eines öffentlichen Kommunikationsprozesses werden konnte, dessen diskursive Einheit sich mit dem Begriff des „Skandals“ bezeichnen lässt und welcher sein vorläufiges Ende am 20. Dezember 2002 fand – jenem Tag, an dem Trent Lott erklärte, auf den ihm angetragenen Posten als Mehrheitsführer im US-Senat verzichten zu wollen. Wie und wo kam es also zur nachträglichen (Re)Konstruktion jenes Skandalons, das es im Weiteren erlaubte, die Äußerung Lotts „in guter Gesellschaft“ als Auslöser eines Skandals und somit als moralisch verwerflich zu qualifizieren? Verbleiben wir für einen kurzen Moment noch bei den Massenmedien und der ersten Berichterstattung über die Äußerung Lotts. Mit der Thematisierung in den „World News“ am 06. Dezember lässt sich ein erster Anschluss bzw. ein erstes basales Anschlussmuster erkennen, der/das die Emergenz des sich später stark ausdifferenzierenden Skandals bereits zu tragen vermochte, da hier das fehlende Skandalon in einer ersten Version zugeschnitten wird. Die Äußerung Lotts zur Präsidentschaftskandidatur Thurmonds enthält sowohl eindeutige wie auch vage bleibende Referenzen auf soziale Ereignisse und diskursive Formationen. Soll an die Mitteilung Lotts angeschlossen werden, so ist für eine jede Rezipientin/einen jeden Rezipienten zunächst zu überlegen, wie mit den von Lott erwähnten „Problemen“ umgegangen bzw. wie mit seiner Einschätzung verfahren werden soll,
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dass nicht näher spezifizierte Probleme hätten verhindert werden können, wäre Strom Thurmond im Jahre 1948 tatsächlich Präsident geworden. Eine entsprechende Entscheidung setzt voraus, dass die Mitteilung selbsttätig kotextualisiert wird. Informationen über einen möglichen Kotext müssen aus der Kommunikation heraus gewonnen werden, und dieser Kotext muss im Anschluss an die Äußerung weiterführend plausibel verdichtet werden. Bei Baecker heißt es: „Eine Information wird nicht daran gemessen, was man weiß, sobald man eine Nachricht erhält, sondern daran, was man außerdem herausfindet“ (Baecker 2005a: 19). In der Kommunikation ist es an jeder Rezipientin/an jedem Rezipienten, Signifikanz- und Relevanzsetzungen zu „entdecken“, sie aber gleichermaßen auch selbst neu zu ordnen und/oder (neu) zu erfinden. Wollen RezipientInnen mit einer neuen Mitteilung an eine vorgängige Mitteilung anschließen, so müssen sie eruieren, inwiefern die in einer rezipierten Mitteilung enthaltenen Sinnofferten genutzt werden können, um einen Teil dessen näher zu bestimmen, was die Mitteilung selbst (bislang) noch unbestimmt lässt. Erst auf dieser Basis lässt sich eine neue, anschlussfähige Mitteilung produzieren, die einerseits auf die Sinngehalte der vorhergehenden Mitteilung Bezug nimmt und somit deren Sichtbarkeit erhöht, andererseits aber auch neue Anschlussmöglichkeiten innerhalb eines bestimmten Interpretations- und Referenzrahmens, innerhalb eines bestimmten Ko- und Kontextes aufzeigt. Die Äußerung Lotts kann, wie jede andere Mitteilung auch, vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kotexte gegengelesen werden. Sie kann u.a. im Hinblick auf ihre Stellung innerhalb der gesamten Rede Lotts zum einhundertsten Geburtstag Thurmonds gegengelesen werden. Sie informiert über den US-Präsidentschaftswahlkampf im Jahre 1948 sowie über das politische Klima im Bundesstaat Mississippi zum damaligen Zeitpunkt und hat somit historischen Charakter. Sie könnte aber auch mit Blick auf die in anderen Geburtstagsreden enthaltenen Äußerungen rezipiert werden, und sie kann nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die Ausweitung von Bürgerrechten für die schwarze Bevölkerung seit dem Ende der Sklaverei interpretiert werden. Thurmond war zu Beginn seiner Karriere als ein vehementer Befürworter der strikten Rassentrennung aufgetreten. Weiß die Rezipientin/der Rezipient um diesen Sachverhalt und bringt sie/er ihn mit den von Lott erwähnten „Problemen“ in Beziehung, so lässt sich die Äußerung als ein Diskursbeitrag lesen, der bezweifelt, dass die Ausweitung der Bürgerrechte als eine sinnvolle historische Entwicklung anzusehen ist. Die Äußerung stellt sich politischen Überzeugungen entgegen, die die Ausweitung von Bürgerrechten und die Realisierung der Gleichheit aller als unumgängliche Notwendigkeiten, als Selbstverständlichkeiten mit in sich aufnehmen. Wie schon erwähnt, erscheint eine Interpretation der Äußerung Lotts vor eben diesem Hintergrund tatsächlich mehr als naheliegend; die Frage ist und bleibt nur, wo und von wem eine solche
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Interpretation letztlich realisiert werden sollte bzw. wird. Trent Lott mag seine Formulierungen bewusst gewählt haben und darauf abgezielt haben, Kritik an einem zu liberalen Amerika zu üben; ihm mag seine Bemerkung spontan herausgerutscht sein und sie mag „unfreiwillig“ offenbaren, was er wirklich denkt und wessen Geistes Kind er tatsächlich ist96. Die Tatsache, dass er Signifikanzen unterbestimmt und somit vage lässt, macht es schwierig, ihn direkt für eine rassistisch motivierte Äußerung verantwortlich machen zu wollen, ebenso wie es unverzeihlich scheint, nicht auf den offensichtlich diskriminierenden Sinngehalt der Mitteilung eingehen zu wollen. Die Äußerung Lotts lädt den Kommunikationsprozess mit Unsicherheit auf und bringt RezipientInnen damit in eine Zwickmühle: Ist es vertretbar, nicht auf das zu reagieren, was offensichtlich ist? Ist es andererseits zu rechtfertigen, jemanden für etwas anzugreifen, was er nicht (explizit) gesagt hat? Die seriösen Massenmedien können dieser Zwickmühle – wie schon erörtert – nicht abschließend aus eigener Kraft begegnen. In Anbetracht früherer Ausrutscher Lotts und seiner politischen Einstellung ist allerdings anzunehmen, dass der oben zuletzt skizzierte Kotext jener ist, der es erlaubt, den maximalen Informationswert aus der Äußerung selbst „heraus“ zu holen. An einem solchen Punkt ist eine jede vermeintlich kontroverse Mitteilung weit davon entfernt, einen öffentlichkeitswirksamen Skandal zu begründen. Da gerade in der politischen Kommunikation unterbestimmt bleibende Signifikanzen und Relevanzen beileibe keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel sind, haben die modernen Massenmedien früh einen kommunikativen Mechanismus entwickelt, der es erlaubt, diffuse Sinngehalte ohne allzu große Selbstbeteiligung und ohne ein Ausweichen auf die Form des Kommentars in bestimmtere Inhalte zu überführen. Sie können damit zum einen investigativen Idealen gerecht werden, müssen andererseits (zunächst) aber nicht fürchten, selbst in einen Konflikt verwickelt zu werden bzw. dafür verantwortlich gemacht zu werden, dass das eigene Nachtragsmanagement die soziale Realität in unhaltbarer Weise formt. Dieser Mechanismus lässt sich als „Widerspiegelung von Deutungsmustern“ bezeichnen. Die Äußerung Lotts wurde im Anschluss an die Feier im Dirksen Senate Office Building in das politische System zurückgespiegelt und ausgewählte Personen wurden um eine Einschätzung gebeten. Wie schon erwähnt, informierten ein Beitrag in den ABC „World News This Morning“ (vgl. Scott 2004: 9) und
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So vermutete z.B. der ABC News-Reporter Ed O’Keefe, dass die Bemerkungen zur Präsidentschaftskandidatur Thurmonds dem Senator eher beiläufig in den Sinn gekommen waren. Esther Scott zitiert den Reporter wie folgt: „’When I heard it,’ he remembers, ‘I thought, that didn’t sound right; that couldn’t have been in his prepared remarks” (Ed O’Keefe, zitiert bei Scott 2004: 7).
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der auf abcnews.com in der Rubrik „The Note“ veröffentlichte Artikel97 das massenmediale Publikum nicht nur über den Wortlaut der Äußerung, sondern ebenso über die Reaktion Wade Hendersons, des Präsidenten des LCCR. Dieser war von der ABC Korrespondentin Linda Douglass über das Statement des Senators informiert worden (vgl. ebd.: 7). Henderson verurteilte die Äußerung Lotts als einen „Angriff“ und einen „unverhohlenen“ Versuch, die amerikanische Geschichte der letzten fünfzig Jahre „umschreiben“ zu wollen, wies auf die Vergangenheit Thurmonds als Befürworter einer strikten Rassentrennung hin und erläuterte, dass Lott seiner zukünftigen Rolle als „Majority Leader of all Americans“ vor dem Hintergrund seiner Äußerung wohl kaum mehr gerecht werden könne (vgl. abcnews.com, 06. Dezember 200298). Die gleichzeitige Wiedergabe der Äußerung Lotts und der Reaktion Hendersons bewirkt Verschiedenes. Die Berichterstattung macht beide Mitteilungen aufgrund der Eigensichtbarkeit der Medienformate schlagartig zu hochsichtbaren Artefakten der Kommunikation. Mit der Wiedergabe der Reaktion Hendersons steigt im Besonderen die Wahrscheinlichkeit, dass die Äußerung Lotts Aufmerksamkeit zu binden und Anschlüsse zu provozieren vermag. In seiner Kritik qualifiziert Henderson die Äußerung des Senators als politisch unhaltbar, als rassistisch konnotiert, und markiert ihren Inhalt somit als relevantes Thema für die öffentliche Kommunikation. Henderson übernimmt, was die Massenmedien außerhalb des Kommentars selbst nicht leisten können. Er kotextualisiert und legt Rezipientinnen und Rezipienten ausdrücklich eine bestimmte Deutung nahe, die darauf abzielt, die Unsicherheit über den Sinngehalt der Äußerung Lotts weithin sichtbar zu beseitigen. Henderson macht mit seiner Interpretation der Äußerung deutlich, dass es nichts zu deuten gibt. Ein erstes Deutungsmuster, welches die thematische Integration des Kommunikationsprozesses voranzutreiben vermag, ist somit präsentiert. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Kommunikationsanschlüsse wird aber noch auf eine weitere Art und Weise erhöht. Die soziale Relevanz der Äußerung wird zusätzlich durch die persönliche Sichtbarkeit/Prominenz ihres Urhebers sowie seines ersten Kritikers unterstrichen. Sowohl der Konservative Lott wie auch der liberale Bürgerrechtler Henderson werden in der US-amerikanischen Öffentlichkeit als Angehörige diskursiver 97 98
Der Artikel ist unter der folgenden URL abzurufen: http://www.abcnews.go.com/sections/ politics/DailyNews/TheNote_Dec6.html (03. Februar 2009). Wade Henderson wurde in der abcnews.com-Rubrik „The Note“ mit den folgenden Worten zitiert: „’This was an offensive and blatant attempt to rewrite the history of the last 50 years’ … ‘Thurmond ran for president as a Dixiecrat, a segregationist. He gave the longest filibuster in history to try to stop passage of the Civil Rights Act. In his statement today, Lott also embraced those dubious achievements.’ ... ’Lott betrayed his role as the Majority Leader of all Americans’” (http://www.abcnews.go.com/sections/politics/DailyNews/TheNote_Dec6.html, Stand: 03. Februar 2009).
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Eliten, als Wortführer diskursiver Gemeinschaften wahrgenommen (vgl. zum Begriff Schwab-Trapp 2001: 271 ff.), die im Hinblick auf wichtige politische Themen in der Regel gegenläufige Standpunkte einnehmen. Mit der Berichterstattung über die Kritik Hendersons wird die zwischen Altkonservativen und Bürgerrechtsbewegung bestehende politische Konfliktlinie erneut in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerufen, und es wird eine neue Runde im Kampf um Deutungsmacht und -hoheit eröffnet. Mit anderen Worten formuliert: Es kommt zu einer Aktualisierung von „Gesellschaft“, zu einer Reifizierung systemischer Kontexturen des politischen Systems in einem aktuellen massenmedialen Kommunikationsprozess und somit zu einer Aktivierung von ganz bestimmten Mustern und Formen der Semantik des Politischen, d.h. zu einer Bestätigung bestimmter Eigen- und Strukturwerte (vgl. zur Aktualisierung systemischer Kontexturen in „lokaler“ Kommunikation Vogd 2005: 70 f. sowie zu den Eigenwerten sozialer Systeme Willke 2005: 62). Sowohl Lott wie auch Henderson verfügen als Angehörige spezifischer diskursiver Gemeinschaften über symbolisches Kapital, welches ihren Aussagen und Deutungsangeboten Relevanz und Nachdruck verleiht, und auch hieraus speisen sich nicht zuletzt die gesellschaftliche Bedeutung der Äußerung Lotts und der Reaktion Hendersons.99 Im Verhältnis der beiden Kommunikationsereignisse/Mitteilungen zueinander schreibt sich somit ein bereits existierender Diskurs erneut in die aktuelle Kommunikation ein. Henderson lehnt den (vermeintlich offensichtlichen) Sinngehalt der Äußerung Lotts ab und erweitert auf der Basis dieser Widerspruchskommunikation, die sich nicht zuletzt selbst die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz schafft (die vorgenommene Kotextualisierung „buchstabiert“ die von Lott gesetzte Signifikanz in 99
Mit Blick auf die Entstehung der Autorität diskursiver Eliten erörtert Michael Schwab-Trapp: „Diskursteilnehmer werden zu diskursiven Eliten in einem politischen Sinne, wenn ihnen aufgrund ihrer Tätigkeit in spezifischen Diskursfeldern Autorität zugeschrieben und diese spezifische Autorität auf politische Fragestellungen verallgemeinert wird; wenn sie als Repräsentanten spezifischer Diskursgemeinschaften auftreten können oder wahrgenommen werden; wenn sie ihr symbolisches Kapital in politischen Auseinandersetzungen um die Deutung politischer Ereignisse einsetzen. (...) Diskursive Eliten können erstens Öffentlichkeit herstellen, Themen forcieren und der öffentlichen Diskussion die Richtung weisen. (...) Zweitens repräsentieren diskursive Eliten i.d.R. spezifische Diskursgemeinschaften oder werden in der öffentlichen Wahrnehmung solchen Gemeinschaften zugeordnet. Ihre Beiträge sind deshalb Indikatoren für die politischen Positionen und den kulturellen Wandel dieser Gemeinschaften. Weil diskursive Eliten diskursive Gemeinschaften repräsentieren, sind ihre Beiträge drittens ein Bezugpunkt für die Beiträge anderer Diskursteilnehmer. Sie werden von anderen Akteuren benutzt, um Konfliktlinien zu aktualisieren, zu symbolisieren, zu ordnen oder zu kapitalisieren. Schließlich besitzen diskursive Eliten viertens ein symbolisches Kapital, das auch von anderen Diskursteilnehmern in Anspruch genommnen werden kann. Ihre Beiträge sind ‚wertvoll’, weil sie mit der Autorität ihrer Urheber aufgeladen sind und von anderen Diskursteilnehmern aufgegriffen und weiterverarbeitet werden können, um eigene Deutungsangebote zu befördern“ (SchwabTrapp 2001: 272 f.).
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nur einer möglichen Form aus), das kommunikative Wirkungsfeld der Auseinandersetzung zwischen Altkonservativen und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Der Widerspruch Hendersons und das durch ihn in die Kommunikation eingeführte Deutungsmuster erweitern den Diskurs (vgl. zur Erweiterung von Diskursen auf der Basis von Widersprüchen auch Foucault 1973: 213 ff.) und laden dazu ein, weiter über die Äußerung Lotts nachzudenken und auch die Reaktion Hendersons zu kommentieren. Die Kommunikation wird auf diese Weise unter Spannung gesetzt. Die zunächst vage und uneindeutig, mehr oder weniger harmlos/mehr oder weniger gravierend erscheinende Äußerung Lotts wird sozial (weithin sichtbar) als Provokation und Angriff relevanziert. Für Henderson sind sowohl Signifikanz als auch Relevanz der Äußerung Lotts hoch. Lott selbst wird später darauf hinweisen, dass es ihm lediglich darum gegangen sei, das Leben und Wirken Thurmonds ohne Hintergedanken zu würdigen, sowohl die Signifikanz wie auch die Relevanz seiner Äußerung also als „gering“ einzuschätzen gewesen seien (vgl. www.foxnews.com, 12./13. Dezember 2002)100. Ob dies uneingeschränkt zutrifft, darf natürlich auch bezweifelt und kann letztlich nicht mehr geprüft werden. Beide Deutungen lassen sich zumindest plausibel auf Basis der ursprünglichen Äußerung Lotts entwickeln und stellen (von vornherein denkbare) alternative Deutungsmöglichkeiten dar. Festzuhalten ist hier zunächst im Besonderen, dass durch die von Henderson vorgenommene Kotextualisierung der Äußerung Lotts die öffentliche Kommunikation diskursiv gerahmt und ausgerichtet wird, dass ein bereits existierender Diskurs aktuell an Präsenz gewinnt. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass zukünftige Äußerungen erneut an den Strukturen und Regelmäßigkeiten dieses Diskurses, an bereits bekannten Signifikanzen, Äußerungsmodalitäten, Begriffen und Semantiken sowie Strategien101 orientiert werden. Die „Reaktivie100 101
Die entsprechende Meldung ist unter http://www.foxnews.com/story/0,2933,72598,00.html abrufbar (Stand: 03. Februar 2009). Diskurse stellen für Foucault „Aussagesysteme“ dar, die kommunikativ-dynamisch durch immer neue Ereignisse reproduziert wie auch erweitert und verändert werden und gleichzeitig ihre eigene Ordnung begründen. Diskurse sind Texte und Kotexte, Diskurse existieren in und mit der Kommunikation und sie definieren, worauf sich der Blick/die Beobachtung richten soll, was gedacht und gesagt werden kann bzw. darf und was nicht. Diskurse regeln das Sprechen, sie definieren, was Sinn macht und was nicht und liegen der Produktion von „kollektiv verbindlichem“ Wissen zugrunde. Die Emergenz und die Selbstorganisation von Diskursen sind typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass das Sprechen auf der Basis von Formationsregeln Form gewinnt. Hierbei handelt es sich um vier Dimensionen. Diskurse werden (1) durch jene Inhalte bzw. Gegenstände gekennzeichnet, auf die sie sich beziehen. Die Äußerungsmodalitäten eines Diskurses bestimmen (2), wie eine Aussage beschaffen sein muss, damit sie sich in legitimer Weise dem Diskurs zurechnen darf bzw. damit sie in legitimer Weise zugerechnet werden kann. Im Diskurs wird durch die Verknüpfung von Aussagen und Texten (3) dafür gesorgt, dass der Diskurs selbst Begriffe bzw. Semantiken hervorbringt, die geeignet sind, die beobachteten Gegenstände zu beschreiben; als legitim „im Sinne des Diskurses“ sind jene Se-
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rung“ von Diskursen lässt sich auch als eine typische Form kommunikativer „downward causation“ bezeichnen. Über die Verwendung bestimmter Semantiken und Begriffe schreiben sich Wirklichkeitsmodelle und Deutungsmuster erneut sichtbar in die soziale Realität ein, werden zwischen bestimmten Personen bestehende Beziehungen erinnert und bestätigt. Für die modernen Massenmedien ist es indes lohnend, über Widersprüche, Kontroversen, Unvereinbarkeiten, Kritiken und Auseinandersetzungen zu berichten – eben weil erwartet wird, dass miteinander um Deutungshoheit kämpfende Gruppen alles daran setzen werden, keine Behauptung ihrer Gegenüber unkommentiert stehen zu lassen. Kritik lässt sich damit als handfester Konflikt andeuten und „verkaufen“, wenn nur die richtigen Personen, d.h. Sprecher diskursiver Gemeinschaften, betroffen und beteiligt sind. Die Darstellung von Widerspruch und Kritik sorgt schließlich dafür, dass ursprünglich uninteressante Inhalte doch noch zu „echten“ Informationen werden, doch noch eine erfolgreiche Berichterstattung verheißen. Wolfgang Ludwig Schneider hat explizit auf jene „selbstevidente Informativität“ medialer Konfliktdarstellungen hingewiesen, welche den Konflikt auch für das unbeteiligte Publikum interessant macht: „Konfliktdarstellungen erscheinen deshalb [aufgrund ihrer „selbstevidenten Informativität“, RHP] auch für den Unkundigen sofort informativ. Sie liefern einen Unterschied und projezieren zugleich einen klar konturierten Horizont alternativer Möglichkeiten, zwischen denen zu unterscheiden und zu entscheiden ist. Jeder Rezipient sieht sich sofort mit der Frage danach konfrontiert, was denn nun richtig ist, wer Recht hat, wer sich wann durchsetzen wird. Die Zukunft (...) wird es zeigen. Konflikte imponieren so als selbstevidente Unterschiede, die offensichtlich weitere Unterschiede machen“ (Schneider 2001: 99, Hervorheb. im Original). Schneider zufolge resultiert die „selbstevidente Informativität“ von Konfliktdarstellungen aus jener sozialen Sichtbarkeit, aus jener Deutungsmacht bzw. Reputation, die die WortführerInnen mantiken zu verstehen, die bestätigend wiederholt werden. Die letzte Dimension (4) ist schließlich die „Formation der Strategien“. Der Begriff der „Strategie“ bezeichnet jene Wege, die DiskursteilnehmerInnen beschreiten können, ohne sich der Gefahr einer „Exkommunizierung“ der eigenen Beiträge sowie der eigenen Person auszusetzen (vgl. hierzu Foucault 1973: 48 ff., 61 ff., 75 ff., 83 ff. und 94 ff. sowie auch Schwab-Trapp 2001: 262). Diskurse sind immer der Gegenstand von Konflikten und Diskursbeiträge können nur dort Wirkung entfalten, wo der Diskurs öffentlich geführt wird. Michael Schwab-Trapp erläutert: „Der Begriff des Diskurses setzt die Öffentlichkeit und Konflikthaftigkeit diskursiver Prozesse voraus. Er setzt Öffentlichkeit voraus, weil Diskurse per definitionem nicht aus einem Text bestehen, sondern aus einem Ensemble von Texten, die in Beziehung untereinander stehen und sich zu spezifischen Diskursen verschränken“. Und, so Schwab-Trapp: Die Bedeutung von Diskursbeiträgen resultiere ausschließlich aus den „(...) spezifischen Beziehungen der Konkurrenz, des Widerspruchs oder auch der Koalition, die Diskursbeiträge und ihre Träger innerhalb eines spezifischen Diskurses oder aber diskursübergreifend miteinander eingehen“ (Schwab-Trapp 2001: 263).
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von Gruppen in vergangenen Kommunikationsprozessen aufgebaut haben bzw. die diesen zuerkannt worden ist: „Prominente Personen gelten und fungieren als Stifter von Intersubjektivität unter denen, die sich zu ihnen als ‚Ratsuchende’, als ‚Fans’, als ‚Gefolgschaft’ oder ‚Gemeinde’ verhalten. Sowohl von ihren Anhängern wie auch von ihren Gegnern oder von neutralen Beobachtern werden ihre Äußerungen deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit registriert. Diese Äußerungen haben den Status von Exempla, deren Replikationswahrscheinlichkeit überdurchschnittlich hoch zu veranschlagen ist“ (ebd.: 99 f., Hervorheb. im Original). Mit der Rückspiegelung der Äußerung Lotts in das politische System bereiteten die Massenmedien eine neue Runde in der Auseinandersetzung zwischen liberalem und konservativem Denken vor, mit der Veröffentlichung der Reaktion Hendersons wird diese Auseinandersetzung erneut als kommunikative Realität erfahrbar. Es ist die Reaktion Hendersons, die hier letztlich die Pfadabhängigkeit der Kommunikation begründet, indem dieser die Unsicherheit darüber beseitigt, wie die Äußerung Lotts zu verstehen ist. Henderson lehnt ihren Sinngehalt ab und zeigt sich entsetzt; sein Widerspruch bedeutet die Aktualisierung einer bestehenden Konfliktlinie, und mit der Aktualisierung dieser Konfliktlinie wird auch das Skandalon, das Stellhölzchen an der Falle, für das Publikum sichtbar. Der Anschluss Henderson macht deutlich, auf welche Art und Weise die Äußerung Lotts zuallererst zu interpretieren ist. Dass andere Interpretationen möglich sind, wird damit nicht ausgeschlossen; prominent sichtbar ist zunächst aber ausschließlich Hendersons Reaktion, und mit seiner Relevanzsetzung sorgt er dafür, dass sich die Skandalkommunikation im Nachhinein in der Form eines Widerspruchs die Voraussetzungen ihrer selbst schafft. Damit differenziert sich der Skandal selbstverständlich noch nicht als kommunikative Realität aus. Die Widerspiegelung eines ersten Deutungsmusters stellt lediglich einen Auftakt dar. Lott war daran gelegen, die Verdienste Thurmonds zu würdigen, den Medien daran, den Informationswert seiner Äußerung zu ergründen, und Henderson interpretierte die Äußerung schließlich als Provokation, worüber die Medien das Publikum wiederum in Kenntnis setzten. Erst das Zusammenspiel dieser Anschlüsse erklärt, worin der Informationswert der Äußerung liegt. Sie ist zunächst zumindest in jenem Sinne überraschend, als dass sie dazu einlädt, ihre Bedeutung (kritisch) zu hinterfragen. Sie lädt dazu ein, sich Gedanken über den passenden Kotext zu machen. Darüber hinaus resultiert ihr Informationswert aber auch daraus, dass sie als Aussage in einem Widerstreit, einem wirkmächtigen Diskurs gelesen werden kann – und auf eben diesen Umstand macht Henderson aufmerksam. Die Strukturdynamik der Widerspiegelung bringt die Kommunikation auf Kurs und bedeutet die Emergenz von Pfadabhängigkeit. Soll der Tendenz einer einseitigen Interpretation entgegen gewirkt werden, so müssen alter-
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native Deutungsmuster in die Kommunikation eingeführt werden. Dies geschieht tatsächlich nur einen Tag später, am 07. Dezember 2002, als der konservative Journalist Robert Novak die Äußerung Lotts in der CNN Talkshow „The Capital Gang“ als einen Witz zu qualifizieren suchte. Auf Nachfrage des Talkmasters Mark Shields erörtert Novak: „I think Trent Lott was kidding, Mark“ (http://transcripts.cnn.com, 07. Dezember 2008)102. Bereits hier ist darauf hinzuweisen, dass dieser Einschätzung in der Blogosphäre massiv widersprochen, und der Interpretation Hendersons auf der Basis einer mehrfach kongruenten Beschreibung der Äußerung Lotts schließlich Halt gegeben worden ist. Medienübergreifend wurde so Intersubjektivität markiert.103 Wir werden auf die Markierung von Intersubjektivität in der Blogosphäre noch ausführlich zu sprechen kommen. Die Widerspiegelung von Aussagen und Deutungsmustern in verschiedene Richtungen kann als ein basaler Mechanismus der massenmedialen Kommunikation verstanden werden. Hendersons Reaktion präpariert den Informationsgehalt der Äußerung Lotts heraus, die Rückspiegelung in den öffentlichen Raum verheißt in Anbetracht der sich mit der Reaktion einstellenden Konflikthaftigkeit der Kommunikation weitere Anschlüsse und die Möglichkeit des Entstehens neuer Auseinandersetzungen, über die dann wiederum berichtet werden könnte. Die Interpretation Henderson ist zunächst jene Interpretation, die vor allen anderen sichtbar ist. Lott selbst reagierte verzögert und darüber hinaus mit einer Stellungnahme, die als eine teilweise Entschuldigung gelesen werden kann. Und eben diese Entschuldigung gab im Weiteren Grund zu der Annahme, dass die Bedeutung der Worte Lotts von Henderson tatsächlich korrekt erfasst worden war. Somit lässt sich für die hier diskutierte Widerspieglung annehmen, dass sie es tatsächlich vermochte, die Kommunikation auf Kurs zu bringen. Wir werden im nächsten Abschnitt auf weitere Kommunikationsanschlüsse zu sprechen kommen, die den Strukturierungswert der Interpretation Hendersons bestätigen. Hendersons Reaktion ist zuerst weithin sichtbar, seine Reaktion „vollendet“ in gewisser Weise das Statement Lotts, seine Reaktion verlangt, sich auch an anderen Orten mit dem Statement auseinander zu setzen. Die Emergenz diskursiver Realitäten beruht auf der Pfadabhängigkeit von Kommunikation. Ob sich ein Skandal als diskursive Realität ausdifferenzieren kann, hängt nicht zu letzt davon ab, ob es im Anschluss an eine beliebige Sinnof102 Eine Mitschrift der Show kann unter http://transcripts.cnn.com/TRANSCRIPTS/0212/ 07/cg.00.html (Stand: 03. Februar 2009) abgerufen werden. 103 Anders als üblich koppeln wir den Begriff der „Intersubjektivität“ hier im Einklang mit Wolfgang Ludwig Schneider (vgl. Schneider 2001) nicht ausschließlich an die Interaktion unter Anwesenden. Dies gilt es im Folgenden zu berücksichtigen. Intersubjektivität kann vielmehr in einem jeden Kommunikationsprozess markiert werden und erfüllt in einem jeden Kommunikationsprozess wichtige Orientierungsfunktionen.
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ferte zur Konstruktion eines Stellhölzchens an der Falle kommt; zur Bezeichnung eines Kotextes der Kommunikation, der es BeobachterInnen erlaubt, die referenzierte Sinnofferte als „Erstkommunikation“, als „Auslöser“ eines sich möglicherweise zu einem handfesten Skandal weiterentwickelnden und verdichtenden Kommunikationsprozesses wahrzunehmen. Im Falle des oben diskutierten Beispiels stilisiert Henderson die Äußerung Lotts zum Beginn einer (möglichen) Kommunikationsepisode und rückt das (möglicherweise zugkräftige) Skandalon in den Blick. Lott und Henderson interessieren in der massenmedialen Berichterstattung als Vertreter zweier sich wechselseitig herausfordernder Diskursgemeinschaften, und in ihrer Eigenschaft als Wortführer kommt ihnen aufgrund von in vergangenen öffentlichen Auseinandersetzungen erworbener Reputation Deutungsmacht zu, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich weitere AkteurInnen mit der Äußerung Lotts und möglichen Deutungen auseinandersetzen werden. Die sozialwissenschaftliche Skandalforschung spricht mit Blick auf erste Bezugnahmen üblicherweise von der „Enthüllung“ des moralischen Fehltritts. Die Enthüllung gilt als der „notwendige zweite Schritt“ auf dem Weg zur Ausdifferenzierung des Skandals. So heißt es z.B. in der „Phänomenologie des politischen Skandals“ (2002) von Karl Otto Hondrich: „Eine moralische Verfehlung, mag sie wirklich oder bloß angenommen sein, ist somit der erste Schritt zum Skandal. Vom Skandal selbst aber ist er noch weit entfernt. Denn die meisten Verfehlungen bleiben im sozialen Leben verborgen; nur ein Bruchteil kommt ans Licht. Enthüllung ist deshalb der notwendige zweite Schritt. Sie zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie verheißt eine Entdeckung. Sie entfaltet somit eine Anziehungskraft an sich. Skandale ziehen an durch Enthüllung und stoßen ab durch das, was sich enthüllt“ (Hondrich 2002: 15). Die hier auf den Weg gebrachten Betrachtungen zeigen, dass es im Falle der Enthüllung nicht zuletzt auch um eine Vergewisserung darüber geht, welcher Art jenes Skandalon ist, dass eine mögliche Empörung unmittelbar und selbstevident zu tragen vermag. Dieses Skandalon muss in der Kommunikation sichtbar gemacht werden. Enthüllung ist somit nicht nur Entdeckung, sondern immer auch Konstruktion. Am Anfang steht die Sinnofferte. Ohne die Rezeption, das Verstehen, und den Kommunikationsanschluss, ohne die vierte Selektion und ihre Signifikanzen und Relevanzen ist sie jedoch nichts. Sie wirken zurück und formen sozialen Sinn, sie eröffnen neue Anschlussmöglichkeiten, und auch sie werden später mit zusätzlichen und anderen Bedeutungen angereichert oder kontrastiert. Durch die mediale Darstellung der Äußerung Lotts und der Referenz Hendersons werden Anschlussmöglichkeiten eingeschränkt und zugleich aufgezeigt, und die Kommunikation oszilliert zwischen Restriktion und Freiheit. Das von Henderson präsentierte Deutungsmuster legt nahe, die Äußerung Lotts trotz der sie kennzeichnenden Unbestimmtheit als rassistisch konnotiert zu rezipieren, und damit
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ist ein Beispiel für weitere Bezugnahmen auf das Statement Lotts geschaffen. Ebenso könnte in weiteren Mitteilungen das Verhältnis der beiden medial repräsentierten Äußerungen zueinander thematisiert werden. Und auch das von Henderson offerierte Deutungsmuster ließe sich diskutieren und zurückweisen. Was sich vor diesem Hintergrund jedoch unweigerlich schwieriger gestaltet ist, noch über andere Aspekte der Rede Lotts, über andere in ihr enthaltene Signifikanzen reden zu wollen. Entsprechende Anschlüsse müssten nämlich begründen können, warum diesen Signifikanzen eine weitgehendere soziale Bedeutung zukommen sollte als jenen, die bereits in einem ersten Schritt kotextualisiert und somit mit zusätzlichem Sinngehalt angereichert worden sind. Die hier diskutierte Widerspieglung von Deutungsmustern ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Emergenz eines öffentlichen Skandals. Wie bereits angedeutet, muss ein Skandalon nicht nur in die Kommunikation eingeführt, sondern ebenso konsolidiert werden. Eine solche Konsolidierung ruht u.a. auf der Markierung von Intersubjektivität auf. Die Markierung von Intersubjektivität ist ein weiterer, wichtiger kommunikativer Mechanismus, der Pfadabhängigkeit begründet und verstärkt (vgl. auch Kapitel 3 und 4 dieser Arbeit). Dies zeigt auch die Diskussion der Äußerung Lotts auf bekannten und gut sichtbaren Weblogs in der amerikanischen Blogosphäre.
5.2.2.2 Bestätigte Relevanzsetzungen Zwar mag der Ursprung oder Auslöser eines öffentlichen Skandals mit ersten Deutungen bzw. mit der Widerspiegelung ablehnender Reaktionen als markiert gelten können; damit sich ein Skandal aber als distinkte soziale Realität gegenüber anderen kommunikativ-emergenten Phänomenen ausdifferenzieren und schließen kann, muss es zu einer Verstärkung der Pfadabhängigkeit der Kommunikation kommen. Das Skandalöse muss immer wieder erinnert, ablehnende Deutungen müssen immer wieder bestätigt, neu gefasst und erweitert werden, damit die Skandalkommunikation nicht an Zugkraft verliert. Immer weitere Folgeanschlüsse müssen nun dafür sorgen, dass selbst dem jetzt schon Bekannten noch neue Facetten abgewonnen werden können, damit keine Langeweile aufkommt. Geschieht dies nicht, so läuft das die Skandalkommunikation begründende Thema – wie jedes andere Thema in hochskalierten, durch massive Themenkonkurrenz gekennzeichneten Kommunikationsprozessen auch – Gefahr, aus dem Bereich sozial sichtbarer Signifikanzen herauszufallen. Niklas Luhmann hat mit Blick auf die modernen Massenmedien davon gesprochen, dass diese Information „so breit“ streuen würden, „daß man im nächsten Moment unterstellen muß, daß sie allen bekannt ist (oder daß es mit Ansehensverlust verbunden wäre
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und daher nicht zugegeben wird, wenn sie nicht bekannt war). (...) Insofern bewirken Massenmedien gesellschaftsweite soziale Redundanz, also den unmittelbar anschließenden Bedarf für neue Information. So wie die auf der Basis von Geldzahlungen ausdifferenzierte Wirtschaft den unaufhörlichen Bedarf erzeugt, ausgegebenes Geld zu ersetzen, so erzeugen die Massenmedien den Bedarf, redundierte Information durch neue Information zu ersetzen: fresh money und new information sind zentrale Motive der modernen Gesellschaftsdynamik“ (Luhmann 2004: 43 f.). Während die Massenmedien im Fall „Trent Lott“ auch im Anschluss an die ersten, hier bereits betrachteten Medienberichte weiter zögerten, das Thema endgültig an prominenter Stelle auf die Agenda zu setzen, stellte sich die Situation in der US-amerikanischen Blogosphäre anders dar. Hier wurde die Äußerung Lotts unmittelbar im Anschluss an ihr Bekanntwerden heftig diskutiert, und zwar mit Folgen: Von Anschluss zu Anschluss kam es zu einer Verstärkung der Pfadabhängigkeit der Kommunikation, indem das Stellhölzchen an der Falle immer weiter auf- und ausgebaut wurde – ganz in dem Bewusstsein, dass „new information“ ein „zentrales Motiv“ der „modernen Gesellschaftsdynamik“ ist. Weblogs begannen in diesem Fall, eine Funktion zu übernehmen, die in der Vergangenheit den „traditionellen“ Massenmedien vorbehalten war: ein Publikum mit immer neuen Informationen zu einem Thema zu versorgen. Auf der Basis der kommunikativen Markierung von Intersubjektivität kam es im Fall „Lott“ schließlich zur Verdichtung von Einschätzungen und Meinungen. Neue Informationen und die (wechselseitige) Bestätigung des bereits erwähnten Deutungsmusters sorgten schließlich dafür, dass sich der Skandal um die Äußerung Lotts als distinkte kommunikative Realität weiter ausdifferenzieren konnte. Auch in diesem Zusammenhang steht erneut zu fragen: Lässt sich die Ausdifferenzierung in emergenz- und kommunikationstheoretischer Perspektive mechanismisch beschreiben? Intersubjektivität als kommunikatives Konstrukt – Konfirmierung von Deutungsmustern Die kommunikationswissenschaftliche Skandalforschung hat darauf hingewiesen, dass eine weithin sichtbar kommunizierte Empörung über vermeintliches Fehlverhalten den Skandal erst zu voller Blüte kommen lässt (vgl. Hondrich 2002: 15 f. und 40 sowie ausführlich Burkhardt 2006). Der Skandal wird zu einer unhintergehbaren sozialen Realität, sobald es zur kommunikativen Entladung über seinen Auslöser kommt: „Mit lustvollem Entsetzen nähern wir uns dem Skandal. Aber auch das moralisch Verwerfliche, das uns abstößt, entwickelt eine Anziehung eigener Art. Es zieht unsere Gefühle an. Es verlangt ihnen die uralte Unterscheidung ab zwischen Böse und Gut. Es entrüstet. In der Entrüstung ver-
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werfen wir das Böse und vergewissern uns des Guten. Beides geht Hand in Hand. (...) Entrüstung ist also der dritte Schritt, der schon mitten in den Skandal hineinführt“ (Hondrich 2002: 15 f.). Die Entrüstung über den vermeintlichen Auslöser eines Skandals geht Hand in Hand mit der Konfirmierung und inhaltlichen Verdichtung des Stellhölzchens an der Falle, wie verschiedene Beispiele zeigen. So bezog die im Jahre 1995 von unterschiedlichen Seiten öffentlich geäußerte Empörung über die Absicht Shells, die Ölbohrplattform „Brent Spar“ in der Nordsee versenken zu wollen, vor allem ihren „Drive“ aus der medialen Darstellung jener vermeintlichen Fakten, welche die Umweltschutzorganisation Greenpeace zum Skandalon beisteuerte (vgl. Kepplinger 2005: 15 f.)104. Und in der Affäre um den Drogenkonsum des Rechtsanwalts und TV-Moderators Michel Friedman und seine Schäferstündchen mit Prostituierten gewann die Skandalierung nicht zuletzt dadurch an Fahrt, dass der Fehltritt immer wieder mit Bezug auf Friedmans eigene moralische Maßstäbe (das eigentliche Skandalon) thematisiert und diskutiert wurde: Der einstige Moralist, Mahner und Kritiker war selbst in die Schusslinie eines moralisch aufgeladenen Diskurses geraten (vgl. Burkhardt 2006: 191 ff.). Kommen wir wieder auf die Kotextualisierung der Äußerungen Lotts zu sprechen, dieses Mal mit Blick auf die amerikanische Blogosphäre. Liberale WebloggerInnen suchten die Äußerung Lotts als rassistisch motiviert zu demaskieren, indem sie sie im Lichte der früheren politischen Ideale Thurmonds diskutierten. Ebenso wurde die aktuelle massenmediale Berichterstattung aufmerksam verfolgt. Hier galt das Interesse der BloggerInnen vor allem dem ihrer Ansicht nach viel zu geringen Umfang der Berichterstattung und den Reaktionen konservativer PolitikerInnen und JournalistInnen, sofern diese auf das Thema angesprochen worden waren (vgl. exemplarisch den Weblogger „Atrios“, Duncan B. Black, am 07. Dezember 2002105). Zwei typische Formen der Kotextualisierung lassen sich grob unterscheiden. Zum einen wurden die Äußerungen Lotts immer wieder um weitere Signifikanzen ergänzt, um Informationen im umgangssprachlichen Sin104
105
Hans Mathias Kepplinger zufolge blieben die Angaben Shells zu den Gefahren sowie den Vorund Nachteilen einer Versenkung/Entsorgung der Plattform näher bei der Wahrheit, als die von Greenpeace präsentierten vermeintlichen Fakten. Die Plattform enthielt so z.B. nicht – wie von Greenpeace immer wieder behauptet – 5.500 Tonnen Ölrückstände, sondern lediglich 200. Hinzu kommt, dass die Entsorgung nicht nur teurer wurde als eine Versenkung auf See, sondern vielmehr auch die Umwelt in einem höheren Maße belastete (vgl. Kepplinger 2005: 15 f.). Mit dem Protest und dem Eintreten für einen Rückbau war paradoxerweise tatsächlich das erreicht worden, was im Zeichen des Umweltschutzes hatte verhindert werden sollen: eine weitere Belastung der Umwelt. Black thematisiert – wie bereits erörtert – Robert Novaks Reaktion in der Talkshow „The Capital Gang“, nachzulesen unter: http://atrios.blogspot.com/2002_12_01_archive.html (Stand: 03. Februar 2009).
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ne, die der Rezipientin/dem Rezipienten helfen sollten, die Brisanz und Inakzeptabilität der Äußerung Lotts direkt nachvollziehen zu können. Die Äußerung wurde so mit Hilfe von Kommentaren weiterführend rezeptabel gemacht (vgl. zum Begriff Merten 1976: 174). Typische Beispiele für solche zusätzlichen Informationen sind u.a. das von Blogger Atrios mit den Worten „Here is what Senator Lott was proud of in 1948 Mississippi“ veröffentlichte, offizielle „Democratic Party sample ballot“ (vgl. www.atrios.blogspot.com, 06. Dezember 2002106), das von Sam Heldman am 06. Dezember 2002 auf seinem Weblog „(The Return of) Ignatz“ veröffentlichte Statement zur möglichen Bedeutung der Worte Lotts (vgl.www.sheldman.blogspot.com, 06. Dezember 2002107) sowie Joshua Mica Marshalls erstes Posting zum Thema (vgl. www.talkingpointsmemo.com, 06. Dezember 2002108). Zum anderen fällt auf, dass neue Signifikanzen und damit verbunden auch (Be-)Wertungen nicht nur mehr oder weniger spontan und eigensinnig in den Kommunikationsprozess eingeführt, sondern dass bestimmte Sinnfacetten im Rahmen expliziter, durch Hyperlinks dokumentierter Bezugnahmen ebenso als „intersubjektiv geteilte“ markiert wurden. Der direkte Verweis auf Quellen mit Hilfe von Hyperlinks gilt in der Blogosphäre als gute Praxis (vgl. Schmidt und Wilbers 2006: 23 sowie Marlow 2004: 3 ff.), wird es den RezipientInnen auf diese Weise doch ermöglicht, eine im Netz verteilt geführte Diskussion ohne größeren Suchaufwand verfolgen und Zugang zu denselben Inhalten finden zu können, die der Bloggerin/dem Blogger bereits Anlass zur Generierung einer Mitteilung waren.109 Werden Sinnfacetten als „intersubjektiv geteilt“ markiert, so bedeutet dies, dass Übereinstimmung als emergenter Eigenwert der Kommunikation sichtbar wird. Ich spreche hier bewusst davon, dass Übereinstimmung in der Kommunikation markiert und sichtbar wird, nicht aber davon, dass zwei oder mehrere KommunikationsteilnehmerInnen Kommunikationsereignissen eine identische Bedeutung beimessen. Die nachfolgenden Betrachtungen schließen an den kommunikationstheoretischen Versuch Wolfgang Ludwig Schneiders an, den von Luhmann als „Verlegenheitsformel“ (vgl. Luhmann 1995c: 169 ff.) gebrandmarkten Begriff der „Intersubjektivität“ doch noch als erklärendes Konzept für kommunikations- und systemtheoretische 106
107 108 109
Das Posting ist unter der folgenden URL abzurufen: http://atrios.blogspot.com/2002_12_01_ archive.html (Stand: 03. Februar 2009). Das „Democratic Party sample ballot“ kann leider nicht mehr eingesehen werden. Eine Kopie findet sich auf „Mississippi History Now“: http://mshistory.k12.ms.us/images/213.gif (Stand: 03. Februar 2009). Das Posting ist unter der folgenden URL abzurufen: http://sheldman.blogspot.com/ 2002_12_01_sheldman_archive.html#85636200 (Stand: 03. Februar 2009). Das Posting ist unter der folgenden URL abzurufen: http://www.talkingpointsmemo.com/ archives/week_2002_12_01.php (Stand: 03. Februar 2009). Die Ergebnisse einer 2005 von Jan Schmidt und Martin Wilbers in der deutschsprachigen Blogosphäre durchgeführten Umfrage zeigen, dass über ein Drittel aller befragten WeblogLeserInnen möglichst viele Hyperlinks auf Quellen erwartet (Schmidt und Wilbers 2006: 23).
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Zwecke fruchtbar machen zu wollen. Zunächst sollen kurz wesentliche Annahmen Schneiders erörtert werden. Während der Begriff der „Intersubjektivität“ im Allgemeinen auf die Vorstellung verweist, dass Akteure mit Hilfe von Kommunikation Bedeutungen austauschen und abgleichen und auf dieser Basis identische Vorstellungen entwickeln (können), meint Intersubjektivität im Kontext des konversationsanalytisch fundierten systemtheoretischen Ansatzes Schneiders ein „Beobachtungsschema“, (...) das in der Kommunikation fungiert und immer dann aufgerufen ist, wenn richtiges und falsches Verstehen voneinander unterschieden wird“ (Schneider 2001: 84, Hervorheb. im Original). Diese Perspektive übernehmend wollen auch wir mit Blick auf das hier im Mittelpunkt stehende Fallbeispiel danach fragen, „(...) unter welchen Voraussetzungen, auf welche Weise und mit welcher Funktion Sinnattributionen in der Kommunikation als ‚gemeinsam geteilt’ markiert werden“ (ebd.: 85, Hervorheb. im Original). Wohlgemerkt: Die Markierung von Sinnattributionen als gemeinsam geteilt bedeutet nicht, dass die an der Markierung beteiligten Kommunikatoren identisch verstehen und identische Bedeutungen miteinander teilen. Operativ geschlossene Systeme werden durch das Geschehen in ihrer Umwelt lediglich irritiert; was immer sie als Information mit Bedeutung anreichern und weiterverarbeiten, ist bereits eine Konstruktion (eine Verarbeitung von „Daten“, vgl. Willke 2005: 106). Die Markierung von Sinneinheiten als intersubjektiv geteilt bedeutet lediglich, dass kommunikativ die Zusammengehörigkeit bzw. „Passung“ von bestimmten Sinnfacetten ausgewiesen wird und sich hieran die Zusammengehörigkeit von Deutungsmustern, Konzepten, Ideen etc. oder auch kommunikative Allianzen von Personen ablesen lassen. Basis einer solchen sichtbaren Markierung ist die kommunikative Bestätigung von Rezeptionsweisen bzw. Verstehensselektionen. In Interaktionssystemen (wir verstehen hierunter zunächst vereinfachend die Interaktionsdyade) kommt es immer dann zur Emergenz von sozial bedeutenden Sinneinheiten, zur Verkettung und Integration von Sinnbeständen und somit zur Entstehung von Intersubjektivität, sofern und solange weder Alter noch Ego Anlass zur Ablehnung einer Sinnofferte oder Anlass zur Metakommunikation sehen. Wird von (Alter)Ego im Rahmen eines Kommunikationsanschlusses (Mitteilung 2) auf eine Sinnofferte (Ego)Alters (Mitteilung 1) reagiert, so hat (Ego)Alter (die/der „Autor/in“ der ersten Sequenzstelle) – eingedenk der in der Interaktion üblicher Weise geltenden Regeln des Turn-Takings (vgl. zu diesen Regeln direkt Sacks, Schegloff und Jefferson 1978) – an dritter Sequenzposition die Möglichkeit, die von (Alter)Ego (an zweiter Sequenzstelle) kommunizierte Form des Verstehens entweder abzulehnen oder anzunehmen. Marco Schmitt erläutert, dass an der dritten Stelle einer sich entwickelnden Kommunikationssequenz „routinemäßig“ die Möglichkeit zur Korrektur des Verstehens aufgerufen werde: „Die dritte Sequenzposition einer Kommunikation operiert implizit im-
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mer mit der Unterscheidung von ‚richtig verstanden/falsch verstanden’ aus der Sicht des Autors der ersten Sequenzstelle. Es gibt dann entweder eine bestätigende Reaktion für die Anschlussreaktion des Gegenübers, bei der die Reaktion implizit als korrektes Verstehen gewertet wird, oder es wird kommunikativ Korrekturbedarf eines Missverstehens angemeldet“ (Schmitt 2006: 216). Dass kommunizierte Sinnfacetten als passend erachtet werden, zeigt sich für eine Beobachterin/einen Beobachter der Kommunikation zum einen, sobald (Ego)Alter an dritter Sequenzposition explizit die Reaktion (Alter)Egos auf seine erste Äußerung bekräftigt; fehlt eine solche Bekräftigung, so kann zum anderen auch der Verzicht auf eine metakommunikative Thematisierung/Kritik des Verstehens (Alter)Egos als Markierung der sozialen Relevanz von Sinnbeständen gelten. Was es heißt, dass die kommunikative Markierung von Sinnofferten als passend, die kommunikative Markierung von Intersubjektivität nicht gleichbedeutend sein muss mit einer Übereinstimmung des individuellen, kognitiven Sinnverstehens von Alter und Ego, ist bereits in Kapitel (3) ausführlich erörtert worden (vgl. im Besonderen Abschnitt 3.2). Während AkteurInnen in einfachen Interaktionssystemen (im „Gespräch unter vier Augen“, in Diskussionsrunden, Sitzungen, Meetings mit wenigen TeilnehmerInnen etc.) zumeist die Chance haben, unmittelbar auf die Fremdinterpretation eigener Sinnofferten zu reagieren, sieht es im Falle von hochskalierten Kommunikationsprozessen (massenmediale Kommunikation und computervermittelte Massenkommunikation im Modus des „To Whom It May Concern“) anders aus. Ist die Zahl der Reaktionen auf eine Mitteilung hoch und erfolgen diese an unterschiedlichen Orten (wie z.B. im Falle der (teil-)öffentlichen Kommunikation), so ist es InzipientInnen kaum möglich, hierüber zeitnah und abschließend auf dem Laufenden zu bleiben. Werden Mitteilungen gespeichert und archiviert, können auch lange nach einer Inzeption immer noch neue Beiträge anschließen. Auch in solchen Fällen bekommen InzipientInnen einen Großteil der Bezugnahmen nicht mehr mit, da sich eigene Interessen und der Fokus der Aufmerksamkeit meist schon (wieder) verschoben haben.110 Dennoch hängt eine über thematische Ordnung und Integration verbürgte „Verlässlichkeit“ oder Stabilität der Kommunikation auch in hochskalierten Prozessen in nicht unerheblichem Maße von der Markierung bestimmter Sinneinheiten und Deutungsmuster als intersubjektiv geteilt ab. Wie aber kommt es noch zu einer für die themati110
Verschiedene technische und soziale Einrichtungen gleichen begrenzte Wahrnehmungskapazitäten zumindest teilweise aus. In der öffentlichen Kommunikation fügen Massenmedien Statements zusammen, sodass prominente Akteure aus Wirtschaft, Politik, Sport usw. die wichtigsten Reaktionen anderer prominenter Personen auf eigene Äußerungen überblicken können. Im Rahmen der Online-Kommunikation helfen Suchmaschinen, Suchdienste, automatisch generierte Hyperlinks etc., Bezugnahmen zu recherchieren/zu erfassen.
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sche Integration eines Kommunikationsprozesses wichtigen, die mögliche Identität einer Kommunikationsepisode mit begründenden Markierung von Intersubjektivität, wenn nicht einmal mehr sichergestellt ist, dass eine von Ego(Alter) mitgeteilte Rezeptionsweise bzw. Verstehensleistung die ursprünglich an erster Zugposition Inzipierende/den ursprünglich an erster Zugposition Inzipierenden auch erreicht? Wolfgang Ludwig Schneider erörtert (und dies gilt im Prinzip auch schon für alle über die Interaktionsdyade hinausgehenden Interaktionssysteme), dass die Richtigkeit des Verstehens einer Äußerung, die als passend empfundene Informationsverarbeitung bzw. Signifizierung und Relevanzierung, in der Massenkommunikation nicht mehr von der/von dem ursprünglich an erster Zugposition stehenden Autor/in selbst bestätigt bzw. vermeldet werden muss. In der Massenkommunikation ist zunächst die mehrfach kongruente Beschreibung von Mitteilungsinhalten entscheidend, um die Markierung von Intersubjektivität voranzutreiben. Und im Anschluss hieran ist dann entscheidend, dass diese mehrfach kongruente Beschreibung wiederum bemerkt und kommunikativ registriert wird. Die ursprüngliche Inzipientin/der ursprüngliche Inzipient muss hieran nicht beteiligt sein bzw. ist in vielen Fällen hieran auch gar nicht beteiligt. Obwohl gerade Verbreitungsmedien die Erreichbarkeit von Kommunikationen füreinander verbessern, sorgt das von ihnen möglich gemachte Überangebot an Kommunikationsbeiträgen auch dafür, dass es zu einer Überlastung von Kommunikatoren und zu einer neuen Unübersichtlichkeit kommt. Diese Unübersichtlichkeit bedeutet letztlich aber für andere Kommunikatoren die Chance, Mitteilungen sozial auf eine Art und Weise relevanzieren und Sinngehalte auf eine Art und Weise als intersubjektiv geteilte markieren zu können, die dem Ansinnen und Verständnis jener Akteurin/jenes Akteurs entgegen steht, der Signifikanzund Relevanzsetzungen ursprünglich in die Kommunikation eingeführt hatte. Bei Schneider heißt es: „Konstitutiv für die kommunikative Produktion von Intersubjektivität ist also die doppelte bzw. mehrfach kongruente Beschreibung eines Ausgangsereignisses. Der Autor einer Mitteilung, die auf diese Weise in der Folgekommunikation beschrieben wird, muß die Richtigkeit des Verstehens seiner Äußerung nicht selbst bestätigen. Auch andere können untereinander Übereinstimmung darüber herstellen, wie eine Mitteilung zu verstehen ist. Zur Produktion von Intersubjektivität genügt es, wenn ein kommunikatives (oder auch ein nichtkommunikatives Ereignis) in den Anschlußbeiträgen verschiedener Autoren auf übereinstimmende Weise verstanden und diese Übereinstimmung in der Kommunikation registriert wird. (...) Dabei ist keineswegs einhellige Übereinstimmung über die Bedeutung einer Äußerung erforderlich. Personengruppen und Organisationen können jeweils zu einer kollektiv geteilten (...) Interpretation kommen, die den Interpretationen anderer Gruppen bzw. Organisationen widersprechen“ (Schneider 2001: 94 f., Hervorheb. im Original, sic!).
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Eine Durchsicht von auf Weblogs veröffentlichten Beiträgen zur Äußerung Lotts zeigt, dass gerade für die Verfestigung des Skandalons und die Emergenz des Skandals typisch ist, dass Skandalisierte einer solchen „Wand“ der verteilt und zeitnah erfolgenden gleichgerichteten Markierung von Intersubjektivität gegenüber stehen und oft keine realistische Chance mehr haben, das Sinnverstehen anderer an dritter (vierter, fünfter, sechster ...) Zugposition zu ihren Gunsten erfolgreich zu korrigieren bzw. einen Metadiskurs über „richtiges“ Sinnverstehen einzuleiten. Sie selbst sind in einer solchen Situation, auch dann wenn sie in den Medien präsent sind und beim Publikum Gehör finden, auf die Hilfe anderer angewiesen, die bereit sein müssen, gegen eine sich als „vorherrschend“ manifestierende Meinung zu argumentieren – und zwar mit genügend Nachdruck, um die Sichtbarkeit und soziale Relevanz der dominanten Meinung tatsächlich schwächen zu können. Im Falle der Äußerung Lotts finden sich bereits unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden kongruente Beschreibungen und Einschätzungen an verschiedenen „Orten“ im Netz. Zu jenen prominenten Webloggern, die die Äußerung kommentierten, gehörten u.a. der Ökonom und Medienanalyst Duncan Bowen Black („Atrios“) und der Journalist Joshua Mica Marshall, aber auch der konservative Juraprofessor Glenn Reynolds und der gemäßigt konservative Journalist Andrew Sullivan. Black und Marshall erhöhen zunächst unabhängig voneinander die Sichtbarkeit der Äußerung Lotts im Netz, indem sie diese wörtlich zitieren (vgl. http://atrios.blogspot.com sowie http://talkingpointsmemo.com, 06. Dezember 2002111). Beide Autoren interpretieren das Statement als rassistisch konnotiert und kommen zu einer ähnlichen Einschätzung wie Henderson. Die Äußerung wird auf beiden Weblogs darüber hinaus auf ähnliche Art und Weise kotextualisiert. Atrios geht in seinem Beitrag davon aus, dass sich die Formulierung „(...) all these problems over all these years (...)“ auf den „Civil Rights Act“ von 1964 und den „Voting Rights Act“ von 1965 bezieht.112 Ähnlich erinnert auch Marshall an die strikte Ablehnung von Bürger- und Wahlrechten für die schwarze Bevölkerung durch „States-Rights“-Politiker.113 Im Gegensatz zu Henderson und dem konservativen Weblogger Glenn Reynolds (vgl. http://instapundit.com, 06. De111 112 113
Die entsprechenden Postings können unter den folgenden Adressen eingesehen werden: http://atrios.blogspot.com/2002_12_01_archive.html sowie http://www.talkingpointsmemo. com/archives/week_2002_12_01.php (Stand: 03. Februar 2009). Der Civil Rights Act von 1964 hob endgültig die Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen auf, der Voting Rights Act von 1965 beendete die Diskriminierung schwarzer WählerInnen. „States’ rights“ war der offizielle Name der „Dixiecrat-Party“ und der Begriff diente ebenso als zusammenfassende Bezeichnung für Politiken, die eine Aufrechterhaltung der Rassentrennung zum Ziel hatten. Der Begriff findet heute hingegen vor allem Verwendung, sobald es darum geht, das Gesetzgebungsrecht der Bundesstaaten hervorzuheben und gegen Washington zu verteidigen.
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zember 2002114) fordern weder Atrios noch Joshua Mica Marshall in ihren ersten Postings den Verzicht Lotts auf seinen Posten als Mehrheitsführer im Senat. Reynolds stützt auf seinem Weblog „Instapundit“ die Interpretationen Atrios und Marshalls und fordert seine Leserinnen und Leser darüber hinaus auf, sich das schon erwähnte, auf Atrios Weblog „Eschaton“ veröffentlichte „sample ballot“ anzusehen.115 Ein von Reynolds gesetzter Hyperlink ermöglicht es, das entsprechende Posting mit nur einem Klick auf den eigenen Bildschirm zu holen. Reynolds qualifiziert die Signifikanz- und Relevanzsetzungen Atrios und Joshua Mica Marshalls im Rahmen seines Beitrages als miteinander kongruent und stimmig und bestätigt ferner die Richtigkeit ihrer Interpretation der Äußerung Lotts als rassistisch motiviert. Reynolds beginnt sein Posting mit den Worten: „TRENT LOTT DESERVES THE SHIT he's getting from Atrios and Josh Marshall” (vgl. ebd.). Indem Reynolds beide Beiträge verlinkt, die Interpretationen Blacks und Marshalls als ähnlich und richtig qualifiziert und den Versuch unternimmt, mit seinen eigenen Signifikanz- und Relevanzsetzungen hieran passend anzuschließen, wird kommunikativ ein weblogübergreifender Kontext markiert und begründet, der eine ganz bestimmte Interpretation des referenzierten Ausgangsereignisses (einen ganz bestimmten Kotext) nahelegt.116 Reynolds Äußerung steht hier an „dritter“ Sequenzposition und bestätigt die Richtigkeit des Sinnverstehens Atrios’ und Joshua Mica Marshalls’. Das Ergebnis dieser Bestätigung ist eine vorübergehend stabile, kommunikativ markierte Übereinstimmung darüber, wie die Äußerung Lotts „richtig“ zu verstehen ist bzw. was die Äußerung Lotts ist. Lott selbst hat – hierauf wurde schon hingewiesen – einerseits zwar versucht, diese Art von Interpretation zurückzuweisen; andererseits ließ er aber schon mit seiner (wenn auch noch zurückhaltend ausfallenden) Entschuldigung vom 09. Dezember erkennen, dass er sich selbst der Tragweite seiner Äußerung im Nachhinein wohl immer mehr bewusst geworden war. Die vom Büro Lotts am 09. Dezember veröffentlichte Entschuldigung117 dürfte zwar in der 114 115 116
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Das entsprechende Posting kann unter der folgenden URL eingesehen werden: http://instapundit.com/archives/week_2002_12_01.php (Stand: 03. Februar 2009). „The official 1948 Democratic Party sample ballot on Atrios' page, by the way, is a must-read. It's easy to forget how things once were. Lott has, apparently. At least, it would be worse if he hasn't“ (http://instapundit.com/archives/week_2002_12_01.php, Stand: 03. Februar 2009). In gewisser Weise nimmt auch Reynolds die Widerspiegelung eines Deutungsmusters vor, überformt diese aber unmittelbar mit eigenen Relevanzsetzungen. Für das weiter oben diskutierte Beispiel einer Widerspiegelung im Sinne des bekannten „he said/she said“-Musters gilt hingegen, dass gemäß den journalistischen Standards auf eine direkte Wertung verzichtet wird. Der Begriff der Widerspiegelung soll somit zu Zwecken der Bezeichnung massenmedialer Berichterstattung im Modus des „he said/she said“ vorgehalten werden. Unter http://www.cbsnews.com/stories/2002/12/10/politics/main532540.shtml (Stand: 03. Februar 2009) findet sich folgende Meldung, die den Wortlaut der Entschuldigung Lotts wiedergibt. Sie wird auch von Joshua Mica Marshall verlinkt. Hierzu ein Auszug: „GOP Chief
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Absicht erfolgt sein, sich möglicherweise noch verstärkende Wogen bereits im Vorfeld ein wenig glätten zu wollen; in der Blogosphäre wurde ihre Bedeutung jedoch gering geschätzt. Glenn Reynolds kommentiert: „LOTT HAS APOLOGIZED, though I'm not sure this will end the matter” (www.instapundit.com, 09. Dezember 2002118), und Marshall kritisiert: „ (...) frankly this strikes me as a pretty feeble apology. He won't say what 'policies' he's talking about. He won't say they're wrong, just that they were 'discarded'. It's probably too much to ask for him to get down on his knees and confess his sins. But given Lott's history of flirtation119 with neo-segregationist politics and the seriousness of the original statement, something a bit more explicit and specific was and is in order” (www.talkinpointsmemo.com, 09. Dezember 2002120). Mit seiner Entschuldigung vom 12./13. Dezember121 stützte Lott schließlich erneut indirekt jene Interpretati-
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Burned By 'Choice Of Words'. Trent Lott Said Strom Thurmond Should Have Been President. (CBS) Senate Republican leader Trent Lott, battered by a sharp backlash from a comment at a birthday party, has apologized for implying the country would have been better off had Strom Thurmond won the presidency when he ran in 1948 on a segregationist ticket. ‘A poor choice of words conveyed to some the impression that I embraced the discarded policies of the past,’ Lott said in a statement issued Monday night. ‘Nothing could be further from the truth, and I apologize to anyone who was offended by my statement.’ Lott's statement came ‘out of personal concern for the misunderstanding,’ his spokesman, Ron Bonjean, said. (…) ‘This was a lighthearted celebration of the 100th birthday of legendary Sen. Strom Thurmond,’ Lott said in his first statement. ‘My comments were not an endorsement of his positions of over 50 years ago, but of the man and his life. (…)’”. Das Posting kann unter folgender URL abgerufen werden: http://instapundit. com/archives/week_ 2002_12_08.php (Stand: 03. Februar 2009). Das Wort „APOLOGIZED“ markierte ursprünglich einen Hyperlink auf eine Website unter www.washingtonpost.com. Diese war zum Zeitpunkt der Betrachtung des Fallbeispiels nicht mehr zugänglich. Auf einen anderen Eintrag im selben Blog verweisende URL, zum Zeitpunkt der Betrachtung nicht mehr funktionstüchtig. Das Posting kann unter folgender URL abgerufen werden: http://www.talkingpointsmemo. com/archives/week_2002_12_08.php (Stand: 03. Februar 2009). Unter http://www.foxnews.com/story/0,2933,72598,00.html (Stand: 03. Februar 2009) findet sich folgende Meldung, die den Wortlaut der Entschuldigung Lotts wiedergibt. Hierzu ein Auszug: „Lott Apologizes for Remark. WASHINGTON — Trent Lott wanted to honor his friend, retiring Sen. Strom Thurmond, and he never meant to imply that he supported Thurmond's segregationist policies of the past, the incoming Senate majority leader said Thursday. "I wanted to honor Strom Thurmond, the man, who was turning 100 years old. He certainly has been a legend in the Senate both in terms of his service and the length of his service. It was certainly not intended to endorse his segregationist policies that he might have been advocating or was advocating 54 years ago. But obviously, I am sorry for my words, they were poorly chosen and insensitive and I regret the way it has been interpreted," he told radio host Sean Hannity. Lott gave the interview just hours before an Associated Press report surfaced, saying that Lott tried to help Bob Jones University keep its federal tax-exempt status despite the school's policy prohibiting interracial dating two decades before his recent comments stirred a race controversy. "Racial discrimination does not always violate public policy," Lott, then a congressman from Mississippi, wrote in a 1981 friend of the court brief that cited prior court rulings upholding affirmative action programs at colleges (…)”.
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onen, die davon ausgingen, dass es sich nicht wirklich um eine „schlechte Wortwahl“ gehandelt hatte, sondern hier eine ernste Angelegenheit vorlag, die nicht nur nach Entschuldigung, sondern auch nach Ächtung verlangte, sprach Lott selbst jetzt doch gar von einer „schrecklichen“, „unsensiblen“ Bemerkung (vgl. zum Wortlaut dieser Entschuldigung auch Scott 2004: 21). Für weitere Kommunikationen in der Blogosphäre stellte die zwischen Atrios, Marshall und Reynolds produzierte und markierte Übereinstimmung zunächst ein unhintergehbares Moment kommunikativer/diskursiver Realität dar: „An jeder dritten Sequenzstelle in Kommunikationsprozessen der Face-to-faceInteraktion [und nicht nur in ihnen, RHP] kommt durch den Korrekturmechanismus, der mittels der Unterscheidung ‚richtig verstehen/falsch verstehen’ arbeitet, die Produktion von intersubjektiven Bedeutungen in Gang, die im weiteren Verlauf der Kommunikation dann erfolgreich als gültig unterstellt werden können“ (Schmitt 2006: 216). Auch hier gilt: Mit den entsprechenden Bezugnahmen der Webblogger wurde die Äußerung Lotts weiter zum „Skandal“ stilisiert, eben weil es zu einer Verfestigung und expliziten Bezeichnung des Skandalons, zur Verfestigung eines bestimmten Interpretationsrahmens und vor diesem Hintergrund auch zu einer Ächtung der Person Lotts kam. Das Beobachtungsschema „Achtung/Missachtung“122 begann die Kommunikation mit zu überformen. Hiervon zeugt insbesondere Marshalls Kritik an der ersten Entschuldigung Lotts, die deutlich macht, dass dieser, mit den Worten Luhmanns formuliert, nicht jenen (...) Erwartungen entspricht, die man für eine Fortsetzung der sozialen Beziehungen [und seien es nur kommunikative Bezugnahmen aus der „Ferne“, RHP] voraussetzen zu müssen scheint“ (Luhmann 1984: 318). Die soziale Relevanz der von Reynolds als kongruent und zusammengehörig qualifizierten Postings und Sinngehalte (sein eigener Beitrag eingeschlossen) speist sich ferner aus einer weiteren Quelle: Alle drei Blogger sind in besonderem Maße in der politischen Blogosphäre der USA sichtbar. Sie können im Sinne Mertens und Schneiders auch als „virtuelle Meinungsführer“ (Merten 1994: 371 sowie Schneider 2001: 104 ff.) bezeichnet werden, die eine Filterfunktion für ihre Leserinnen und Leser übernehmen und somit Informationskomplexität reduzieren.123 Während Black und Marshall gleichermaßen als politisch liberale 122
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Luhmann erläutert: “Alle Moral bezieht sich auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Menschen einander achten bzw. mißachten. Mit Achtung (estime, esteem) soll eine generalisierte Anerkennung und Wertschätzung gemeint sein, mit der honoriert wird, daß ein anderer den Erwartungen entspricht, die man für eine Fortsetzung der sozialen Beziehungen voraussetzen zu müssen scheint. Achtung wird personenbezogen zugeteilt; jeder kann sie für sich gewinnen und verlieren (...)“ (Luhmann 1984: 318 f.). Die Weblogs von Duncan B. Black, Joshua Mica Marshall und Glenn Reynolds gehören seit eh und je zu den hochsichtbaren politischen Weblogs in den USA. Sowohl das „Talkingpointsmemo“-Blog (Marshall) wie auch der „Eschaton“-Blog zählten 2007 gar zu den „Top 100 Li-
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Blogger wahrgenommen werden, gilt Reynolds als konservativ. Tatsächlich geraten liberale Blogger immer wieder mit Reynolds aneinander. Nichts desto trotz: Mit seinem das von Atrios und Joshua Mica Marshall entwickelte Deutungsmuster als sozial relevant markierenden Kommentar suspendiert Reynolds diese Konfliktlinie für einen Moment. Die somit in der Kommunikation markierte Einigkeit über die Grenzen zweier Diskursgemeinschaften hinweg unterstreicht noch einmal zusätzlich die soziale Relevanz des von Black und Marshall (sowie Reynolds) entwickelten Deutungsmusters. Wenn selbst konservative Wortführer in der Blogosphäre die Äußerung Lotts als rassistisch konnotiert interpretieren und liberalen Bloggern in ihren Interpretationen zustimmen, was spricht dann noch dafür, annehmen zu wollen, dass Lott in Wirklichkeit vielleicht etwas anderes gemeint, und sich nur unglücklich ausgedrückt hat? Interessant ist, dass liberale Blogger die Suspendierung der zwischen ihnen und Reynolds bzw. der zwischen liberalen und konservativen BloggerInnen im Allgemeinen bestehenden Konfliktlinie jedoch als unangemessen empfinden. So kritisierte der Weblogger Sam Heldman Reynolds z.B. am 07. Dezember 2002 öffentlich dafür, dass dieser in seinem ersten Posting davon sprach, Lott hätte möglicherweise „vergessen“, wofür Thurmond im Jahre 1948 eingetreten war und deshalb seine Worte unbedacht gewählt: „And by the way, Prof. Reynolds (Instapundit) is way too generous in suggesting that Senator Lott has apparently forgotten what Thurmond stood for in 1948; no one who pays attention to politics in the Deep South and is over 30 years old could possibly not know. Just call Senator Lott's comment what it is: the most unchanging, severe, extreme, overt, intentional racism” (http://sheldman.blogspot.com, 07. Dezember 2002124). Im direkten (durch einen Hyperlink dokumentierten) Anschluss hieran wird Atrios noch deutlicher: „I've never quite understood why every time Glenn Reynolds says something half way reasonable all the lefty bloggers feel the need to point it out and praise him. It reminds of the pathological behavior some victims of spouse abuse display – "Isn't he wonderful! He didn't hit me today!" But, in any case, this time Reynolds hasn't said something half way reasonable, he's said something quite offensive and Sam Heldman so far is the only one to call him on it (that I've seen, anyway)” (http://atrios.blogspot.com, 07. Dezember 2002125).
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beral Political Websites“ (vgl. http://www.intellectualconservative.com/2007/08/06/top-100liberal-political-websites/, Stand: 03. Februar 2009). Der Blogsuchdienst „Technorati“ zählte Glenn Reynolds Weblog „Instapundit“ wie auch den Blog von Josh Marshall zu den „biggest blogs in the blogosphere“ (vgl. http://www.technorati.com/pop/blogs/, Stand: 13. August 2007). Das Posting ist unter der folgenden URL abzurufen: http://sheldman.blogspot.com/ 2002_12_01_sheldman_archive.html#85636200 (Stand: 03. Februar 2009). Das Posting ist unter der folgenden URL abzurufen: http://atrios.blogspot.com/2002_ 12_01_archive.html (Stand: 03. Februar 2009).
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Atrios und Heldman kommen also zu einer übereinstimmenden Interpretation des Beitrags Reynolds, dem damit zum einen das Recht aberkannt wird, Einigkeit und diskursive Allianz mit Atrios und Marshall zu demonstrieren, und dem damit zum anderen ebenso das Recht „entzogen“ wird, über den Sinn seiner eigenen Äußerung uneingeschränkt zu disponieren. Soweit sich im Nachhinein rekonstruieren lässt, hat Reynolds diese Kommentare Heldmans und Atrios nicht mehr wahrgenommen bzw. in den folgenden Tagen nicht mehr kommentiert. Mehr Gewicht beanspruchen für den Moment somit die beiden Äußerungen Heldmans und Blacks. Beide Mitteilungen erhöhen zunächst die Sichtbarkeit des Beitrages von Glenn Reynolds. Viel wichtiger ist aber, dass auch Atrios mit der Konfirmierung des Sinnverstehens Heldmans dazu beiträgt, die von Reynolds versuchte „Allianz“ als unangemessen zurückzuweisen und auf diese Weise hilft, die Grenzen der beiden Diskursgemeinschaften wieder deutlicher hervortreten zu lassen. Atrios interpretiert den Kommentar Reynolds (obwohl sich dieser ihm gegenüber zustimmend gibt und dieser gar den Rücktritt Lotts fordert) als „anstößig“ und „unangemessen“. Dabei lässt sich durchaus darüber streiten, ob Reynolds wirklich nicht hart genug mit Lott ins Gericht geht. Atrios und Heldman sind sich in dieser Hinsicht jedoch einig: Für sie ist allein ausreichend, dass Reynolds das „Vergessen“ oder „Verdrängen“ der Vergangenheit (wie immer er seinen Kommentar tatsächlich gemeint haben mag)126 überhaupt als eine denkbare „Entschuldigung“ für Lotts Bemerkungen mit ins Spiel gebracht hat: „Not reasonable at all“ (vgl. ebd.). Bereits mit diesen kurzen Kommunikationsepisoden beginnt sich die Kommunikation in der Blogosphäre „einzuschwingen“.127 Indem die von Atrios und Joshua Mica Marshall in den Kommunikationsprozess eingebrachten Signifikanzen und Relevanzen im Zuge von Kommunikationsanschlüssen als „intersubjektiv geteilt“ und sozial relevant markiert werden, organisiert sich die Kommunikation („von hinten“ her) selbst und treibt die Konstitution eines wirksamen Skandalons (thematische Integration) voran. Dieses Skandalon nimmt die Form von kommunikativ miteinander verketteten und bestätigten Deutungen an. Das Beispiel der bloggestützten Kommunikation über die Äußerung Lotts zeigt, wie 126
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Bei Reynolds heißt es – wie schon an anderer Stelle erörtert – wörtlich: „It's easy to forget how things once were. Lott has, apparently. At least, it would be worse if he hasn't” (http://instapundit.com/archives/week_2002_12_01.php, Stand: 03. Februar 2009). Und Atrios kommentiert: „It isn't that Lott is a bigot who remembers exactly how things used to be and misses it, it's that he's forgotten! Not reasonable at all” (http://atrios.blogspot.com/2002_12_01_archive.html, Stand: 03. Februar 2009). Duncan B. Black („Atrios“, Eschaton), Joshua Mica Marshall („Talkingpointsmemo“), Glenn Reynolds („Instapundit”), Andrew Sullivan („The Daily Dish“) und David Frum („david frum’s diary“) waren jene Weblogger, die die in der Blogosphäre geführte Diskussion über die Äußerung Lotts mit ihren Postings begründeten (vgl. auch Scott 2004: 12 ff.). Sie stehen aus diesem Grunde hier im Mittelpunkt der Betrachtungen.
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positives Feedback Kommunikation tragen kann (vgl. zur Emergenzfunktion von positivem Feedback auch Johnson 2001: 130 ff.). Den Bewertungen Atrios und Marshalls kommt im Laufe des sich entwickelnden Kommunikationsprozesses immer mehr soziale Relevanz zu. Reynolds bestätigt die Angemessenheit der Meta-Aussagen Atrios und Marshalls und lässt so den Eindruck entstehen, dass in der Sache „Lott“ selbst über die Grenzen unterschiedlicher Diskursgemeinschaften hinweg Einigkeit herrscht.128 Weitere Kritik an der Äußerung Lotts kann sich in der Blogosphäre somit problemlos auf liberale und konservative Quellen berufen: Niemand muss Gefahr laufen, auf der falschen Seite zu stehen. Heldman und Atrios verwehrten sich allerdings gegen diese partielle Aufhebung der zwischen liberalen und konservativen WebloggerInnen typischerweise bestehenden Konfliktlinie. Indem sie Reynolds kurze Anmerkungen zum Thema „Vergessen und Verdrängen“ diskreditierten, ließen sie den Eindruck entstehen, als würde es auch Reynolds in seiner Funktion als „virtueller Meinungsführer“ der konservativen Diskursgemeinschaft nur darum gehen, den Fehltritt Lotts herunter zu spielen. Angesichts solcher „Tendenzen“ erscheint es für jede/jeden, die/der verhindern möchte, dass die brisante Äußerung Lotts allzu schnell in Vergessenheit gerät geboten, diese noch einmal selbst auf ähnliche Art und Weise, wie Atrios, Marshall und Heldman es getan haben, zu thematisieren. Die Markierung von Intersubjektivität und der Einheitlichkeit/Ähnlichkeit von Deutungsmustern wird also auf zwei unterschiedlichen, allerdings eng miteinander in Verbindung stehenden Wegen vorangetrieben. Zwei kommunikative Mechanismen sind hier „am Werk“, und beide bringen die Emergenz des Skandalons auf der Basis reflexiver Kommunikation voran. Zum einen sorgt die unmittelbare, mehrfach kongruente Beschreibung der Äußerung Lotts in den Postings von Atrios, Marshall und Reynolds dafür, dass sich der Skandaldiskurs in der Blogosphäre weiter entwickeln kann. Aufgrund ihrer Stellungnahmen erscheint es sowohl in liberaler wie konservativer diskursgemeinschaftlicher Perspektive geboten, Lotts Äußerung als rassistisch intendiert zu demaskieren. Zum anderen machen die ablehnenden Reaktionen Atrios und Heldmans, welche auf das von Glenn Reynolds am 06. Dezember 2002 veröffentlichte Posting folgen deutlich, dass es aus der Sicht liberal gesinnter WebloggerInnen bzw. BürgerInnen noch dringlicher erscheinen muss, die Äußerung Lotts vehement zu verurteilen und ihre Verwerflichkeit hervorzuheben, lassen sich doch bereits erste konservative Tendenzen zur „Verharmlosung“ erkennen. Auch hier wird erneut Intersubjektivität markiert: Indem Atrios Heldmans Sinnverstehen der Äußerung Reynolds bestätigt und letzterer nicht widerspricht, wird die Tendenz zur Verharmlosung 128
Wie für einen Diskurs üblich, lässt sich auch das umgekehrte Phänomen entdecken: Der Demokrat Tom Daschle nahm Lott so z.B. in Schutz (vgl. www.instapundit.com, 09. Dezember 2002; http://instapundit.com/archives/week_2002_12_08.php, Stand: 03. Februar 2009).
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zu einem Aspekt der kommunikativen Realität des sich beständig weiter entwickelnden Skandals. Im Falle des sich im Anschluss an die Äußerung Lotts in den Massenmedien und in der Blogosphäre entwickelnden Skandaldiskurses ist die „Produktion“ von Intersubjektivität bzw. die Markierung von kommunikativer Übereinstimmung unmittelbar mit der Aktualisierung von Konfliktlinien verbunden. Mehr noch: Die Strukturdynamik der Kommunikation wird aus dieser Aktualisierung geradezu gespeist. Die Existenz von latenten Konflikten ist eine Bedingung der Möglichkeit der Ausdifferenzierung von Skandalen durch Empörung. Bestehende Konfliktlinien werden in der Skandalkommunikation so aktualisiert, dass sich hieraus ein geeignetes Stellhölzchen an der Falle ergibt, welches deutlich macht, warum eine bestimmte Äußerung oder ein bestimmtes Verhalten als empörend empfunden werden muss. Letztlich gilt: „Der Skandal ist in unserer Gesellschaft eines der letzten Wettspiele mit hohem Einsatz, in dem Hochgestiegene und Hochgeschwemmte nicht nur für alle Übrigen stellvertretend soziale Konflikte austragen und wechselnde Identifikationsmöglichkeiten anbieten, sondern auch bisher Unbeteiligte kompromittieren können“ (Hondrich 2002: 27). Die Konstituierung des Skandalons und die fortwährende Emergenz des Skandaldiskurses in der „Empörung“ sind, so lässt sich hier abschließend festhalten, eine Folge der Aktualisierung von Konfliktlinien. Sie ist ein weiterer Mechanismus der Emergenz des Skandals. Die Markierung von kommunikativer Übereinstimmung ist für einen jeden Kommunikationsprozess typisch, doch nur im Skandal ist sie untrennbar mit der Aktualisierung bereits bestehender oder mit der Herstellung neuer Konfliktlinien verbunden. Ob und inwiefern die Aktualisierung oder Herstellung von Konfliktlinien gelingt, hängt dabei immer davon ab, wie sich die Kommunikation von Kommunikationsanschluss zu Kommunikationsanschluss weiter entwickelt. Wie wir gesehen haben, bestimmen und verändern Kommunikationsanschlüsse die Bedeutung von vorangegangenen Mitteilungen. Mit jedem Anschluss wird Sozialität neu geformt und verändert. Die Kommunikation geht weiter und „bewegt“ sich in sich selbst, eben weil jede Kommunikation nichts anderes als „Zweitkommunikation“ (vgl. Malsch 2005: 223 ff.) sein kann, sich auf Vergangenes beziehen und Neues möglich machen muss. Kommunikationsanschlüsse verändern die Bedeutung früherer Mitteilungen und Anschlüsse, und dies bedeutet, dass keine Autorin/kein Autor unabhängig und vorab über die soziale Relevanz ihrer/seiner Mitteilung disponieren kann. Genau in diesem Sinne muss Sozialität als kommunikativ emergent verstanden werden.
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5.2.2.3 Zum Ende eines Skandals – Der Rücktritt Lotts Auch mit der zunächst vornehmlich in der Blogosphäre vorangetriebenen Entwicklung und Bestätigung erster Deutungsmuster und der Aktualisierung von Konfliktlinien steht der Skandal um die Äußerungen Lotts immer noch an seinem Anfang. Bis Mitte Dezember 2002 wurden die Äußerungen Lotts in der Blogosphäre immer kontroverser diskutiert. Von Anfang an stand dabei nicht nur die Entwicklung angemessener Deutungsmuster im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern ebenso wurde beobachtet, ob und inwiefern die Massenmedien auf den Fehltritt des Senators reagierten (vgl. auch Scott 2004: 13 f.). So kommentierte Atrios bereits am 06. Dezember 2002 vorausschauend-zynisch: „I’m sure Lotts frightening comments will get at least much coverage as John Kerry’s hair” (http://atrios.blogspot.com, 06. Dezember 2002129). Ebenso lassen sich jedoch auch ernsthaftere Spekulationen darüber finden, warum die Presse das Thema nicht stärker aufgreift, wie z.B. ein Blogeintrag des konservativen Kommentators David Frum zeigt (vgl. http://frum.nationalreview.com, 09. Dezember 2002130). Mit der Kritik der WebloggerInnen an der vermeintlichen Ignoranz der Massenmedien wird eine weitere Konfliktlinie aufgerufen, deren erneute Aktualisierung und Sichtbarmachung möglicherweise auch mit dazu beigetragen hat, dass die Äußerung Lotts doch noch zu einem die massenmediale Agenda mit prägenden Thema werden konnte. Viele Bloggerinnen und Blogger verstehen sich selbst als „Partisanen“, als „Muckracker“, die frei und unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Zwängen Themen recherchieren und Missstände offen legen können und die somit ihrer Ansicht nach dem Ideal einer freien und unabhängigen Berichterstattung näher kommen, als die meisten professionellen Journalistinnen und Journalisten. Einen hervorragenden Einblick in dieses Selbstverständnis gibt Dan Gillmor in seinem 2004 erschienenen Buch „We the Media. Grassroots Journalism by the People, for the People“. Esther Scott hat darauf aufmerksam gemacht, dass die massenmediale Berichterstattung über die Äußerung Lotts erst um den 10. Dezember 2002 herum an Fahrt gewann. Die 129
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John Kerry hatte sich einen Haarschnitt angeblich 150$ kosten lassen; das Thema wurde entsprechend von den Medien aufgegriffen (vgl. Scott 2004: 14). Das hier zitierte Posting von Atrios ist unter http://atrios.blogspot.com/2002_12_01_archive.html abzurufen (Stand: 03. Februar 2009). Frum erläuterte: „Lott’s birthday remark drew scant attention at first. It was broadcast live on C-Span, but the only media source to take note of it on Friday morning was ABC.com’s “The Note.” On another day, the Note’s report might have triggered a media stampede, but the announcement of the firing of Paul O’Neill and Larry Lindsey at 10:05 am on Friday obliterated all other Washington news” (http://frum.nationalreview.com/post/?q=YTk2ZGNkODc4NmYy NWE1NWRhZTFiM2U3Y jE1MjI5MDc=, Stand: 03. Februar 2009).
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Äußerung Lotts wurde so z.B. am 08. Dezember 2002 in der Fernsehsendung „Meet the Press“ thematisiert. Erneut wurde sich dabei des „he said/she said“Schemas massenmedialer Berichterstattung bedient und die ZuschauerInnen erfuhren, dass der Bürgerrechtler Jesse Jackson die Äußerung Lotts in einem Telefonat mit NBC aufs Schärfste kritisiert hatte (vgl. Scott 2004: 17). Die in der Sendung von Tim Russert, David Broder und Robert Novak geführte Diskussion um die Äußerung Lotts wurde am 09. Dezember auch von Joshua Mica Marshall auf seinem Weblog aufgegriffen (vgl. www.talkingpointsmemo.com, 09. Dezember 2002)131. Robert Novak verteidigte Lott erneut und maß dessen Äußerung keine ernste Bedeutung bei (vgl. Scott 2004: 17). Die Kritik Jacksons und dessen Forderung, Lott solle auf seinen Posten als Mehrheitsführer im Senat verzichten, waren schließlich Gegenstand verschiedener Artikel, die am 09. Dezember 2002 u.a. in der „Chicago Tribune“ und den „New York Daily News“ veröffentlicht wurden (vgl. ebd.: 17). Mit der Widerspiegelung der Reaktion Jacksons wird ebenso wie mit der früheren Widerspiegelung der Reaktion Henderson erneut jener Interpretationsrahmen bestätigt, der es nahe legt, die Äußerung Lotts als rassistisch intendiert und nicht als (wie auch immer gemeinten) Scherz132 oder als allzu unbedacht zu verstehen. Zwei kommunikative Strukturdynamiken treffen hier aufeinander, die letztlich gleichermaßen die Markierung von Intersubjektivität fortlaufend befördern. Bürgerrechtler bewerten die Äußerung Lotts auf der einen Seite im Rahmen von Interaktionen mit RepräsentantInnen des Systems der Massenmedien; sie ächten sein Verhalten, und die Massenmedien leiten diese Interpretationen an ihr Publikum weiter. Auf der anderen Seite nehmen Weblogger im Netz ähnliche Signifikanz- und Relevanzsetzungen vor und bestätigen sich gegenseitig in ihren Einschätzungen. Auch sie suchen die Äußerung Lotts weiterführend rezeptabel zu machen, und ihre Weblogs bieten ihnen den nötig Raum, dies in aller Ausführlichkeit tun zu können. Anders als die Massenmedien sind sie nicht auf knappe Darstellungen infolge von Zeit- und Platzmangel festgelegt. Sie wiederholen die Äußerung Lotts, machen sie somit weiterführend sichtbar und diskutieren sie ausführlich. Auch die Blogger übernehmen damit die Funktion von Vermittlern. Merten erläutert zur Funktion der medialen Ver131 132
Das hier referenzierte Posting kann unter der folgenden URL eingesehen werden: http://www.talkingpointsmemo.com/archives/week_2002_12_08.php (Stand: 03. Februar 2009). So charakterisierte David Frum die Äußerung Lotts in seinem „diary“ am 09. Dezember 2002 z.B. als „intended to be nothing more than a big squiert of greasy flattery“ (http://frum.nationalreview.com/post/?q=YTk2ZGNkODc4NmYyNWE1NWRhZTFiM2U3Yj E1MjI5MDc=, Stand: 03. Februar 2009), und Kevin L. Martin, der „government and political affairs director” des „African American Republican Leadership Council”, beschrieb die Bemerkung als „lighthearted” und „humourous” (vgl. hierzu ein Posting Joshua Mica Marshalls vom 10. Dezember 2002; www.talkingpointsmemo.com/archives/week_2002_12_08.php, Stand: 03. Februar 2009).
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mittlung: „Die simultan [zur Wiedergabe/Aktualisierung einer Aussage, RHP] zu erfüllende weitere Funktion des Vermittlers – die eigentliche Vermittlungsfunktion – liegt nun darin, daß er die auf ihren Informationskern reduzierte Aussage mit weiteren aussagefremden Elementen anreichert, die die eigentliche Aussage kommentieren, also bewerten können. Vermittlung heißt demnach Aussagen zu machen, die bestimmte Informationen angemessen wiedergeben und zugleich deren Kommentation leisten, also eine Anbindung der Aussage an vorherrschende Relevanzkontexte erbringen können. (...) Oder noch schärfer: Aussagen >>an sich<< bleiben solange unverständlich, solange sie nicht einer weiteren Selektion unterworfen werden, die notwendig reflexive Strukturierung erfordert“ (Merten 1976: 175, Hervorheb. im Original). Merten weist darauf hin, dass die reflexive Bezugnahme, dass „reflexive Strukturierung“, Zugewinn an Einfluss bedeuten kann. Reflexive Kommunikation in der Form von Kommentaren bedeutet, über die Bearbeitung von Äußerungen und ihre Einordnung in Kotexte, über die Ergänzung und Anreicherung von vorgängigen Signifikanzen und Relevanzen, Einfluss auf das nehmen zu können, was in der Zukunft rezipiert und Einfluss darauf nehmen zu können, wie es rezipiert werden wird (vgl. ebd.: 175 ff.). Mit Hilfe von sachlich und sozial reflexiven Anschlüssen können Aspekte einer Äußerung hervorgehoben, andere hingegen abgedunkelt werden; Relevanzsetzungen können gestützt oder mit Nachdruck (auf der Basis additionaler Informationen) abgelehnt werden usw. Je häufiger ähnliche Deutungsmuster in hochskalierten Kommunikationsprozessen (handele es sich hierbei nun um die Berichterstattung in den Massenmedien oder um die massenhafte Kommunikation mit Weblogs) unabhängig voneinander produziert und begründet, und je häufiger diese in Folgekommunikationen Bestätigung finden, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie verstärkt Einfluss auf jenes abstrakte Phänomen nehmen (können), das gemeinhin unspezifisch als die öffentliche (geteilte) Meinung bezeichnet wird. Werden solche Deutungsmuster von prominenten Personen (wie z.B. den WortführerInnen von Diskursgemeinschaften) und/oder BetreiberInnen sichtbarer Verbreitungsinstrumente/Kommunikationsplattformen (wie z.B. Weblogs) in die Kommunikation eingeführt, so verbinden sich unterschiedliche Sichtbarkeitsregimes bzw. „horizontale Aussagenstrukturen“ und „vertikale Einflußstrukturen“ miteinander (vgl. ebd.: 176). Wie schon erwähnt, ist die „Übermacht“ oder Dominanz einer bestimmten Interpretation eines Ausgangsereignisses charakteristisch für die Skandalkommunikation und die Emergenz des Skandalons. Schneider hält mit Blick auf den Zusammenhang von Intersubjektivitätsproduktion und Skandalkommunikation fest: „Ein Blick in die Zeitung genügt, um festzustellen, daß Intersubjektivität in diesem Sinne [gemeint ist die doppelt oder mehrfach kongruente Beschreibung eines Kommunikationsereignisses/einer Mitteilung, RHP] ein
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häufiges Begleiterzeugnis massenmedialer Kommunikation ist. Skandale entzünden sich oft daran, daß Äußerungen von Politikern oder anderen prominenten Personen publiziert und in einer Reihe von öffentlichen Reaktionen darauf übereinstimmend auf eine Weise interpretiert werden, gegen die kein Dementi mehr hilft, das diese Deutungen als Fehlinterpretation deklariert“ (Schneider 2001: 95). Dies gilt, wie bereits weitgehend ausgeführt, auch unmittelbar für das diskutierte Fallbeispiel. Die Äußerungen Lotts wurden insbesondere in der Blogosphäre so gerahmt, dass es weitgehend „sinnlos“ erscheinen musste, diese nicht als rassistisch motiviert wahrnehmen zu wollen. In der Blogosphäre wurde Lott intersubjektiv erfolgreich unterstellt, er habe seine Äußerungen rassistisch intendiert. Erste entsprechende, von Atrios und Joshua Mica Marshall veröffentlichte Deutungen/Markierungen wurden von anderen Bloggern wie z.B. Glenn Reynolds, Sam Heldman oder auch Andrew Sullivan (vgl. www.time-blogcom/daily_dish, 10. Dezember 2002133) im Rahmen von zeitlich unmittelbar folgenden Kommunikationsanschlüssen bestätigt. Durch die Interpretation der Bemerkung Lotts als rassistisch intendiert (durch die Zurechnung von Verantwortlichkeit) kam es zu wirkungsvollen und weithin sichtbaren Interpunktionen und Rahmungen, die neue Anschlussmöglichkeiten aufzeigten. Die „Initialmitteilung“ Lotts war „Auslöser“ diskursiver Kommunikation und wurde gleichermaßen nachträglich zum „Auslöser“ des Skandals erklärt. Und hieraus gewann die Dynamik des Kommunikationsprozesses ihre eigentümliche Form oder Struktur, die es schließlich erlaubt, von der Produktion eines Skandalon/eines Skandals auf der Basis der Widerspiegelung bestimmter Deutungsmuster und auf der Basis der Markierung von Intersubjektivität zu sprechen. Kritiker Lotts mögen ausschließlich davon ausgegangen sein, dass dieser den Skandal selbst zu verantworten habe; Lott selbst mag sich missverstanden gefühlt, und das nachträgliche Herbeireden des Skandals bedauert haben (vgl. hierzu auch seine Entschuldigungen vom 09. und 12./13. Dezember 2002). Zugkraft gewinnt Kommunikation aber immer nur aus dem Zusammenspiel der Einschränkung und Eröffnung von Freiräumen. Sobald erste Anschlüsse realisiert sind, wird deutlich, welcher Art jener soziale Sinn ist, der die Realität der Kommunikation prägt und die Basis alles Weiteren darstellt. Das Zusammenspiel von Prokursivität und Rekursivität (seine Folgen kommen im Kommunikationsanschluss zum Ausdruck) ist das, was die Emergenz von kommunikativen sozialen Phänomenen 133
Andrew Sullivan fand bislang kaum Erwähnung. Ein entsprechendes Posting war zunächst unter http://time-blog.com/daily_dish/index.php?dish_inc=archives/2002_12_01_dish_archive. html (Stand: 15. Januar 2008) zu finden. Es findet sich heute unter: http://sullivanarchives. theatlantic.com/index.php?dish_inc=archives/2002_12_01_dish_archive.html (Stand: 03. Februar 2009). Für die anderen Weblogs sei auf die bereits weiter oben in Klammern und Fußnoten angegebenen URL verwiesen.
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kausal bedingt. Kennzeichnend für kommunikative Emergenz ist dabei immer, dass sich Anschlüsse überschneiden und sich so auch wechselseitig in ihrem Sinn und in ihren Wirkungen durchdringen. Die Folge ist eine Entstehung kommunikativer Dynamiken, die sich nicht mehr kontrollieren lassen. Und eben hierin kommt jenes Moment von sozialer Emergenz zum Ausdruck, das es unmöglich macht, verlässliche Vorhersagen über den Verlauf von Kommunikationsprozessen zu treffen. Kommen wir noch einmal kurz auf die Blogosphäre zurück. Die Markierung der Äußerung Lotts als bewusst rassistisch intendiert gelingt zum einen mit der permanenten Erinnerung an jene politischen Ziele, für die Strom Thurmond Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eingetreten war. Beispiel hierfür ist im Wesentlichen die kommunikative Praxis Atrios‘. Atrios veröffentlichte auf seinem Weblog das schon erwähnte „sample ballot“ (vgl. atrios.blogspot.com, 06. Dezember 2002134), zitierte eine Äußerung Thurmonds, in deren Kontext dieser darauf hingewiesen hatte, dass es nicht genügend Truppen in der US-Army geben würde, um die Südstaatler dazu zwingen zu können, der „Negerrasse“ Zugang zu ihren Theatern, Swimming Pools oder Häusern zu gewähren (vgl. ebd. sowie Tim Noah auf www.slate.com, 06. Dezember 2002135), und er erinnerte daran, dass im US-Bundesstaat Mississippi in der Zeit von 18821930 die meisten Lynchmorde an Schwarzen verübt worden waren (vgl. www.atrios.blogpot.com, 07. Dezember 2002136). Damit jedoch nicht genug. Von verschiedener Seite wurde auf frühere rassistische Äußerungen Lotts hingewiesen (vgl. Scott 2004: 20). Die Entdeckung dieser Äußerungen rechtfertigte es noch einmal in besonderem Maße, Lott absichtsvolles Handeln zu unterstellen, und mehr und mehr verdichtete sich im Zuge solcher und ähnlicher, durch Empörung getragener Kommunikationsanschlüsse das Skandalon. Obwohl es noch weitere interessante Anschlüsse zu entdecken gibt und sich der Prozess der Kotextualisierung noch weiter untersuchen lässt, wollen wir es hierbei belassen. Mit der Markierung von Deutungsmustern als intersubjektiv geteilt hatte die Kommunikation schließlich eine Form angenommen, die den Skandal zu einer unhintergehbaren sozialen Realität werden ließ. Kommunikationsanschlüsse nahmen zu diesem Zeitpunkt typische Formen an: entweder wurden neue, mit bereits veröffentlichten Deutungsmustern korrespondierende Interpre134 135 136
Das entsprechende Posting kann unter http://atrios.blogspot.com/2002_12_01_archive.html eingesehen werden (Stand: 03. Februar 2009). Der Kommentar Tim Noahs kann unter folgender URL abgerufen werden: http://www.slate. com/id/ 2075151/ (Stand: 03. Februar 2009). Das Posting ist unter der folgenden URL einzusehen: http://atrios.blogspot.com/2002_12_ 01_archive.html (Stand: 03. Februar 2009).
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tationen veröffentlicht, bestehende Deutungsmuster hiervon unabhängig bestätigt oder diese wurden in unterschiedlichen Kontexten widergespiegelt. Wie schon erwähnt, hat Trent Lott versucht, dem Trend zur Skandalierung mit einer Erklärung seiner Selbst entgegen zu wirken. Ebenso erhielt Lott „Schützenhilfe“ von Robert Novak aber auch von Politikern wie dem Demokraten Tom Daschle (vgl. www.instapundit.com, 09. Dezember 2002137). Dies alles konnte jedoch nichts an der Tatsache ändern, dass sich mit dem 10. Dezember 2002 (jenem Tag, an dem die Massenmedien wieder auf den immer stärker an Fahrt gewinnenden Zug aufsprangen) endgültig eine Pfadabhängigkeit der Kommunikation entwickelt hatte, die zu ändern nicht mehr in der Hand einzelner Personen lag. Am 20. Dezember 2002 erklärte Lott öffentlich, dass er auf das Amt des Mehrheitsführers im Senat verzichten werde. Sogar Präsident Bush hatte sich in der Zwischenzeit zu Lott geäußert und diesen für seine Worte scharf kritisiert (vgl. Scott 2004: 21).
5.2.2.4 Widerspiegelung von Deutungsmustern und Markierung von Intersubjektivität in hochskalierten Kommunikationsprozessen – Abschließende Bemerkungen Am Beispiel der „Skandalierung“ (vgl. zum Begriff Kepplinger 2005) einer politischen Kommunikation ist in den letzten Abschnitten untersucht worden, inwiefern sich die Emergenz von Pfadabhängigkeit in Kommunikationsprozessen als ein Effekt des Nachtragsmanagements modellieren lässt. Die Widerspiegelung von Deutungsmustern bedeutete im Kontext des hier diskutierten Fallbeispiels zunächst, dass der Sinngehalt der Äußerung Lotts weithin sichtbar als „doppelt“ relevant markiert wurde. Zum einen bedeutete die Problematisierung und Ablehnung des Inhaltes der Mitteilung, bedeutete die Kritik an der Haltung des US-Senators, dass Komplexität reduziert wurde. Indem von den Medien angefragte Kommentatoren (Wade Henderson und Jesse Jackson) erläuterten, wie jene Signifikanzen zu rezipieren bzw. interpretieren seien, die in der Äußerung selbst zunächst unterbestimmt geblieben waren, wurde Unsicherheit auf der Basis von Informationsverarbeitung absorbiert. Die Widerspiegelung dieser Deutungen zeigte dem Publikum zum anderen an, dass die Äußerung Lotts vor eben diesem Hintergrund Informationswert besaß. Und die mit der Ablehnung verbundene Aktualisierung von Konfliktlinien erhöhte schließlich auch noch einmal sowohl die soziale Relevanz der ursprünglichen „Initialmitteilung“ wie 137
Der von Glenn Reynolds gegebene Hinweis auf die Unterstützung Lotts durch Daschle ist unter der folgenden URL einzusehen: http://instapundit.com/archives/week_2002_12_08.php (Stand: 03. Februar 2009).
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auch die Relevanz der ablehnenden Bezugnahme(n). Indem sie die Widerspiegelung von Deutungsmustern leisteten, übernahmen die Medien eine vermittelnde Funktion zwischen politischen Diskursgemeinschaften bzw. zwischen den Diskursgemeinschaften und „ihrem“ Publikum. Mit den ersten Reaktionen wurde weithin sichtbar ein möglicher Deutungsrahmen expliziert und aktualisiert, der nicht nur dafür sorgte, dass der Fehltritt selbst in der Kommunikation erinnert wurde und präsent blieb, sondern der ebenso erklärte, warum es sich überhaupt um einen Fehltritt handelte. Die soziale Relevanz des Statements sowie der ersten Reaktionen hierauf speiste sich ferner aus dem Umstand, dass Lott und seine Kritiker als Angehörige einflussreicher Diskursgemeinschaften wahrgenommen wurden. Mit den Reaktionen Henderson und Jacksons wurde der in den USA zwischen BürgerrechtlerInnen und konservativen HardlinerInnen bestehende Beziehungskonflikt aktualisiert und erneut als Beobachtungsschema (in) der Kommunikation aufgerufen. In Anbetracht der Tatsache, dass dieser Konflikt bereits seit langer Zeit andauert, lässt sich mit Wolfgang Ludwig Schneider auch hier davon sprechen, dass die „selbstevidente Informativität“ der medialen Konfliktdarstellung (Schneider 2001: 99) die Relevanz der Äußerung Lotts sowie der Gegenreaktionen unmittelbar steigerte. Ausgangspunkt der Skandalkommunikation ist die Ablehnung der von Lott in die Kommunikation eingeführten Sinnofferten; ausgerichtet wird die Kommunikation auf der Basis der diese Ablehnung begründenden und erklärenden Interpretationen. Zwar wurden mit der ersten Widerspiegelung von Deutungsmustern die Pfadabhängigkeit der Kommunikation und die soziale Relevanz der Äußerung Lotts begründet; erst mit der Thematisierung der Äußerung Lotts in der Blogosphäre, mit ihrer mehrfach kongruenten Beschreibung als rassistisch motiviert, nahm die laufende Kommunikation jedoch weithin sichtbar die Identität eines Skandaldiskurses an. Auch für die Interpretation der Äußerung Lotts als moralisch verwerflich galt, dass sie sichtbar werden und bleiben musste, damit sie Wirkung entfalten konnte. In der Blogosphäre kam es zu kongruenten Beschreibungen der Aussage Lotts auf der Basis der Ablehnung ihres Sinngehaltes. Hier wurde Lott in aller Deutlichkeit die Kompetenz zur Bestimmung des Sinns seiner eigenen Aussage entzogen. Sogar prominente konservative Blogger wie Andrew Sullivan oder Glenn Reynolds stimmten in die zuerst aus liberaler Perspektive geäußerte Kritik an der Rede und der Person Lotts mit ein, und auch die erste Entschuldigung Lotts wurde als bedeutungslos eingestuft. Auf der Basis mehrfach kongruenter Beschreibungen wurde Intersubjektivität dokumentiert, und die Äußerung wurde so zum Anlass eines Skandals bzw. selbst zum „Skandal“ stilisiert. Die Aktualisierung und Markierung immer weiterer Kotexte zu Zwecken der Absicherung der vorgenommenen, mehrfach kongruenten Interpretationen (Diskussion der politischen Haltung Thurmonds Ende der vierziger Jahre, Veröf-
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fentlichung von Äußerungen Thurmonds, Diskussion früherer politisch inkorrekter Kommentare Lotts etc.) bedeutete ferner, dass RezipientInnen fortlaufend aufgezeigt bekamen, an welche Aspekte im Zusammenhang mit der Rede Lotts noch angeschlossen werden könnte. Interessant ist, dass es in der Blogosphäre nicht nur zu mehrfach kongruenten Beschreibungen des Statements Lotts als moralisch verwerflich oder moralisch zweifelhaft kam, sondern dass diese mehrfach kongruenten Interpretationen auch explizit als richtig bestätigt wurden. Ein Beispiel hierfür stellt der von Glenn Reynolds am 06. Dezember 2002 auf seinem Weblog veröffentlichte Beitrag dar.138 Indem dieser nicht nur selbst die Sinnofferte Lotts ablehnte, sondern auch noch einmal auf andere Ablehnungen hinwies, kam es zu einer lokalen Verdichtung des Skandaldiskurses, zu einer verstärkten Konsolidierung des Skandalons. Dass Reynolds seine eigene sowie die Kritik von Duncan B. Black und Joshua Mica Marshall als gleichgerichtet oder gleichsinnig markierte/qualifizierte, stieß bei den liberalen Bloggern Heldman und Black allerdings auf Unverständnis und führte zu entsprechenden Kommentaren. Ihre Kritiken an Reynolds lassen noch einmal deutlich werden, warum es aus ihrer Sicht für liberale Bloggerinnen und Blogger geboten war, die Äußerung Lotts aufs Schärfste zu verurteilen: Auch in ihrer Kritik an Lott, so der Tenor Heldmans und Atrios, würden Konservative noch versuchen, die soziale Relevanz und Tragweite, die Verachtenswürdigkeit des Statements herunter zu spielen. Dieser Umgang mit dem entsprechenden Posting Reynolds lässt sich vor allem als Versuch kommunikativ-diskursiver Grenzziehung interpretieren. Black und Heldmann suchen danach, die kollektive Identität der kommunikativen Gemeinschaft liberaler Bloggerinnen und Blogger in Abgrenzung zu ihrem größten Gegner, der Gemeinschaft konservativer Bloggerinnen und Blogger, zu festigen bzw. sich selbst ihrer eigenen Identität als liberale Blogger zu vergewissern (Die entscheidende Frage lautet: Welche Interpretationen, welche Sicht- und Denkweisen sind einer liberalen Bloggerin/einem liberalen Blogger genehm/eigen/angemessen?). Black und Heldmann versuchen, auf der Grundlage ihrer Kritik an Reynolds einen Beitrag zur Konstruktion jenes „sozialen Epigramms“ (vgl. zum Begriff Markowitz 1986) zu leisten, das mehr oder weniger genau Auskunft darüber geben kann bzw. darüber zu geben vermag, was die Identität einer liberalen Bloggerin/eines liberalen Bloggers bzw. die Identität der Gemeinschaft liberaler BloggerInnen ausmacht. Soziale Epigramme sind „Selbstbilder der Kommunikation“, semantische Komplexe, die über die Eigenschaften eines Kommunikationszusammenhanges bzw. die Grenzen einer kommunikativen Gemeinschaft Auskunft geben. Jan A. Fuhse erörtert zum von Jürgen Markowitz geprägten Begriff des sozialen Epigramms in system- und netz138
Der Beitrag ist unter http://instapundit.com/archives/week_2002_12_01.php abzurufen (Stand: 03. Februar 2009).
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werktheoretischer Perspektive: „Mit Hilfe der Identität von Knoten gewinnt das Netzwerk [ein Netzwerk von Personen, eine Gruppe oder Gemeinschaft, RHP] ein Bild von sich selbst – als Verweisungszusammenhang von Knoten. Dieses Selbstbild der Kommunikation nannte Jürgen Markowitz das soziale Epigramm (...). Soziale Epigramme bilden die Interrelationalität von Knoten ab und ermöglichen so die Orientierung von Kommunikation an diesen Strukturen. (...) Da soziale Epigramme meist aber keine Außengrenze haben, sind sie nicht mit der reflexiven Selbstbeobachtung von Systemen gleichzusetzen. Sie dienen der rekursiven Operativität der Netzwerkkommunikation, können aber selbst keine selbstreferentielle Schließung der eigenen sozialen Welt realisieren – wenn nicht noch weitere Elemente einer kollektiven Identität hinzukommen“ (Fuhse 2003: 10 f.). Wir stoßen somit auf ein weiteres kommunikativ emergentes Phänomen, das den Fortgang von Kommunikation sichert, nicht aber allein über Systemgrenzen zu disponieren vermag: das soziale Epigramm. Kommunikativ emergente soziale Epigramme dürften ein spannendes Feld für weitere kommunikationstheoretische Forschungen sein. Da es hier im Wesentlichen um die Emergenz von Pfadabhängigkeit bzw. um die Emergenz der kommunikativen Realität des Skandals und weniger um soziale Identität(en) ging, sollen hierzu jedoch keine zusätzlichen Überlegungen mehr angestellt werden. Kommen wir stattdessen wieder auf die Verstärkung der Pfadabhängigkeit der Skandalkommunikation in der Blogosphäre zurück. Die Verdichtung des Skandaldiskurses im Fall Lott ist nicht zuletzt die Folge der mehrfachen Ablehnung von in der Äußerung Lotts enthaltenen Signifikanzen und Relevanzen (Markierung von Intersubjektivität). Vor allem in der Blogosphäre (schließlich aber nicht nur hier) wurde die Äußerung Lotts mehrfach kongruent als „moralisch verwerflich“ disqualifiziert, und diese Disqualifizierung wurde als korrekt bestätigt. Es kam somit zur weithin sichtbaren Markierung von Intersubjektivität, verstanden als emergenter Eigenwert der Kommunikation. Auch an dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen: Die hier modellierten und zu Erklärungszwecken genutzten kommunikativen Mechanismen der Widerspiegelung von Deutungsmustern und der Begründung von Pfadabhängigkeit auf der Basis der Markierung von Intersubjektivität sind zunächst auf das interessierende Forschungsproblem, die Emergenz der diskursiven Realität des Skandals im Fall „Lott“, bezogen und gemünzt. Beide Mechanismen ermöglichten es hier, die Emergenz des Skandaldiskurses kommunikationstheoretisch und prozessorientiert zu modellieren. Ebenso konnte auf ihrer Grundlage nachvollzogen werden, wie politische Werte im Konflikt aktualisiert und verteidigt werden. Beide Mechanismen wurden in der Auseinandersetzung mit empirischem Material sowie in der Auseinandersetzung mit bereits existierenden begrifflichen Möglichkeiten der kommunikationsorientierten Modellierung „in Anschlag“
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gebracht. Die Widerspiegelung von Deutungsmustern kann als gut eingeführter Mechanismus der massenmedialen Kommunikation gelten, und die Markierung von Intersubjektivität ist grundsätzlich von entscheidender Bedeutung für die Schaffung von Möglichkeiten der Koorientierung und Kooperation. Sicher lassen sich auch die Strukturdynamiken anderer hochskalierter Kommunikationsprozesse mit Hilfe der beiden Mechanismen erfassen und beschreiben; allerdings dürften sie zu diesem Zwecke immer wieder anders zu lagern und anders mit Gehalt zu füllen sein.
5.3 Soziale Sichtbarkeit und positives Feedback – Einfluss und Wirkmächtigkeit als Effekt der Referenzierung und als Attribut von Mitteilungen 5.3.1 Fallbeispiel (2) – Modellierungsperspektiven In der prozesssoziologischen Perspektive der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung sind Einfluss und Wirkmächtigkeit einer Mitteilung auf die Art und Weise ihrer Eingliederung in einen Verweisungszusammenhang mit anderen Mitteilungen zurückzuführen. Entscheidend ist, wie viel kommunikative Aufmerksamkeit (sie ist „ablesbar“ an den auf eine Mitteilung verweisenden Referenzen) einer Mitteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits zugekommen ist, d.h. wie hoch ihre soziale Sichtbarkeit ausfällt, und wie hoch damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass es ihr auch in Zukunft „gelingen“ wird, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Gerade für hochskalierte Kommunikationsprozesse gilt, dass Akteure mit ihrer Aufmerksamkeit haushalten müssen. Sie können sich nicht auf alles konzentrieren und sind immer auch darauf angewiesen, sich leiten zu lassen. Die Kommunikation selbst hilft ihnen hier bereits weiter, indem die parallelen Selektionsentscheidungen anderer Akteure dazu führen, dass längst nicht alles, was in die Kommunikation eingebracht wird, auch zuvorderst verhandelt wird. Nur eine wie auch immer begrenzte Anzahl an Mitteilungen, Themen und AutorInnen ist vordergründig präsent. Ob diese es auch bleiben werden, hängt von Folgeanschlüssen ab: „There are always messages that are drawn on again and again by more and more subsequent messages. The more a given message is referenced by subsequent messages, the higher its social visibility and the longer its life-span or social persistence. Unless a message is permanently drawn on again and again by successor messages, it will gradually lose its social visibility, although in a physical sense it may still exist. Thus, social persistence and visibility of messages are fostered by referencing while decay and disappearance are induced by
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constant non-referencing” (Albrecht et al. 2005: 246 f.). Die Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung geht im Weiteren davon aus, dass nicht allein die Häufigkeit der Relevanzierung über die soziale Sichtbarkeit einer Mitteilung bestimmt. Ebenso sei zu berücksichtigen, dass gerade Mitteilungen, die selbst über eine hohe Sichtbarkeit verfügen, die soziale Relevanz der von ihnen referenzierten Nachrichten in besonderem Maße zu steigern helfen vermögen (Malsch et al. 2007: 4, Abschnitt 3.5). Der potentielle Einfluss bzw. die potentielle Wirkmächtigkeit von Mitteilungen und ihren Inhalten stellt sich somit als ein komplexes relatives Phänomen dar. Eine neue Mitteilung, die in einem Kommunikationsprozess an vorausgehende Mitteilungen anschließt, verfügt zunächst über eine gewisse Eigensichtbarkeit, über ein gewisses „Grundvermögen“, die Aufmerksamkeit von RezipientInnen auf sich lenken zu können. Dieses Grundvermögen kann z.B. aus der Prominenz ihrer Urheberin/ihres Urhebers, aus der Sichtbarkeit eines von ihr transportierten Themas oder auch aus der Sichtbarkeit jenes „Ursprungskontextes“ herrühren, in den sie eingebunden ist (hier ließen sich z.B. der Bekanntheitsgrad und die Auflagenstärke von bestimmten Zeitungen und Zeitschriften, das Ausmaß der Erfassung von Weblogs in Blogsuchmaschinen oder auch der Google-PageRank® einer Website nennen). Darüber hinaus ist eine jede Mitteilung im Hinblick auf ihre Folgesichtbarkeit aber darauf angewiesen, dass erneut auf sie Bezug genommen wird. Die Wirkmächtigkeit einer Mitteilung (verstanden als ihr Potential, die Aufmerksamkeit von Kommunikatoren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf sich ziehen zu können) ist somit sowohl ein Attribut der Mitteilung selbst wie auch ein Effekt des fortwährenden Prozessierens der Kommunikation. Kommunikative Wirkmächtigkeit bedeutet, dass sich „Einfluss“ bzw. Sichtbarkeit in der Kommunikation unterschiedlich verteilt, dass Mitteilungen unterschiedliche Chancen haben, die Dynamik eines Kommunikationsprozesses zu beeinflussen oder gar zu prägen. Ähnlich wie Stephan Fuchs allgemein für das Phänomen sozialer Macht formuliert, handelt es sich auch im Falle von kommunikativer Wirkmächtigkeit um eine dynamische Eigenschaft bzw. um ein „Spannungsverhältnis“ der Kommunikation. Auch kommunikative Wirkmächtigkeit ist eine Form von sozialem Einfluss oder von sozialer Macht, und Macht „(...) is much like electricity, which is also not ‘in’ any of the components of a circuit. If it were possible to listen to it, one would hear power as the steady hum, sometimes hiss, of a network as it goes about its business” (St. Fuchs 2001: 260). Wirkmächtigkeit konzentriert sich als Einfluss einer Mitteilung, eines Themas, einer Interpretation etc. immer nur vorübergehend an einem Punkt in einem Kommunikationsprozess. Neuerliche Anschlüsse können (anderer Einfluss kann) dazu führen, dass das Potential, Aufmerksamkeit zu binden, auf dem selben Niveau gehalten oder aber auch verstärkt wird; ebenso ist es aber auch möglich, dass es schwindet, denn An-
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schlüsse bedeuten immer Neuordnung. Wirkmächtigkeit ist beides: Attribut der Mitteilung und Effekt der kommunikativen Vernetzung. So gut das Konzept sozialer Sichtbarkeit zunächst auch zu verdeutlichen mag, warum eine bereits häufiger referenzierte Mitteilung die Dynamik der Kommunikation stärker beeinflussen kann als andere, weniger häufig referenzierte Mitteilungen, so wenig beantwortet es doch die Frage, wie sich dieser Einfluss (diese Einflusssteigerung) weiterführend auf den Begriff bringen lässt, d.h. mit welchen Begriffen sich Effekte der (häufigen) Referenzierung weiterführend beschreiben lassen. In der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung fehlen bislang solche Begriffe und Konzepte, die es erlauben, Anschlüsse und ihre Wirkungen vor dem Hintergrund der Idee eines permanenten Zusammenspiels von „Visibilisierung“ und „Devisibilisierung“ weiterführend zu beschreiben. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, zumindest ein solches Konzept neu in das Vokabular der kommunikationsorientierten Modellierung einzuführen. Dieses geschieht im Anschluss an die Problematisierung und Diskussion einer ganz bestimmten theorieeigenen Annahme. Das Problem der „Erstkommunikation“ Im Rahmen der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung wird explizit darauf hingewiesen, dass es in der Perspektive eines Ansatzes, dessen Ziel es ist, soziale Emergenz ausschließlich als einen Effekt von Kommunikationsanschlüssen zu erklären, keine „Erstkommunikation“ geben könne: „Es gibt keine Erstkommunikation. Jede Kommunikation ist Zweitkommunikation. Jedem Mitteilen geht ein Verstehen voraus, jedem Verstehen ein Mitteilen. Kommunikation beginnt nicht damit, dass jemand aus der Fülle greifbarer Weltsachverhalte eine kognitive Auswahl trifft und das Ausgewählte irgendjemand anderem mitteilt. Sie beginnt vielmehr damit, dass aus einer Fülle von immer schon als Mitteilungszeichen verfügbaren Sinnofferten ausgewählt wird“ (Malsch 2005: 223). Kommunikationsprozesse, die ihre Identität aufgrund der Differenz von Themen und Beiträgen gewinnen, sind also immer schon „in vollem Gange“, und das Konzept der sozialen Sichtbarkeit erlaubt es, in allgemeiner Form festzuhalten, dass sich mit jedem neuen Anschluss die Wahrscheinlichkeit verändert, dass eine bestimmte zurückliegende Mitteilung (weiter) kommunikativ erinnert wird. Je länger Referenzen ausbleiben, desto wahrscheinlich wird es, dass eine Mitteilung abschließend in Vergessenheit gerät. Nur die Referenz holt vergangene Mitteilungen und ihre Sinngehalte wieder ins „pralle Leben“ der Kommunikation zurück. Dass Kommunikation im eigentlichen Sinne immer schon „Zweitkommunikation“ ist, daran haben auch wir keinen Zweifel. Das Problem ist nur, dass kein Kommunikationsprozess ohne eine Markierung von Anfängen, ohne eine
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wie auch immer angelegte Markierung von „Erstkommunikation“ auskommen kann. Kommunikationsprozesse gewinnen nur dann Struktur, lassen sich nur dann als distinkte, thematisch organisierte und integrierte Kommunikationsepisoden beobachten, wenn der Beginn eines Kommunikationszusammenhanges (mehr oder weniger explizit) ausgewiesen wird. Auf eine solche Markierung und Begrenzung sind nicht zuletzt die an der Kommunikation beteiligten AkteurInnen angewiesen, um nicht den Überblick zu verlieren und Sinn weiter prozessieren zu können. Sofern aber Anfänge markiert sind, sofern wiederholt und an unterschiedlichen Orten Bezug auf einen bestimmten Punkt, auf eine oder mehrere bestimmte Mitteilung(en) genommen wird, kommt es zur Reduktion von Komplexität. Diese Form der Komplexitätsreduktion ist nicht zuletzt wichtig, weil die thematische Ordnung und Integration einer Kommunikationsepisode, weil eine Kommunikationsepisode selbst ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer „überleben“ kann. Und wer auch immer neu einsteigt, muss zumindest eine minimale Chance haben, sich vergewissern zu können, auf welcher Basis eine Kommunikationsepisode aufruht bzw. wo die „Ursprünge“ ihrer Identität liegen. Nur so ist sichergestellt, dass eine zunehmende Komplexität, hervorgerufen durch immer neue Mitteilungen und immer neue Bezugnahmen, nicht früher oder später zu einem „Versiegen“ der Kommunikation oder gar zu ihrem vollständigen Abbruch führt. Mit der Markierung von Anfängen oder „Erstkommunikation“, mit der „nachträglichen Initialisierung“ (vgl. hierzu auch Hartig-Perschke 2006: 244 ff.), konzentriert sich schließlich auch wieder soziale Sichtbarkeit an einem „Ort“ oder einem „Punkt“, auf einen Mitteilungssinn hin, und sie wird auf diskriminierende Art und Weise umverteilt. Die Inhalte bzw. Sinngehalte von hochsichtbaren, häufig referenzierten Mitteilungen können als (wie auch immer individuell zu interpretierende) „Assoziationen von Signifikanzen und Relevanzen“ angesehen werden, die von vorübergehend stabiler sozialer Bedeutung für die laufende Kommunikation sind. Immer wieder kommt es in der Kommunikation zur Bestimmung von Anfängen und Auslösern; überall werden Mitteilungen aus der Masse herausgehoben, werden ihre Inhalte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und somit „Eckpfeiler“, „Schaltstellen“, „Knotenpunkte“ usw. geschaffen. Sie stellen in gewisser Weise Kommunikationen dar, die anderen „vorausgehen“, die „vorgehen“ und die immer auch den Beginn von etwas darstellen.139 Keine Religion ohne fundierende und sie explizierende Texte, die schließ139
Aller Anfang ist in prozesstheoretischer Perspektive relativ. Auch Mitteilungen, die in besonderem Maße initialisierend wirken, können selbst wiederum einen Anfang von etwas darstellen und somit auch nachträglich als Beginn markiert werden. Ob sie (aller Wahrscheinlichkeit nach) auch als solcher wahrgenommen werden, hängt dann jedoch wiederum vom Ausmaß nachträglicher Referenzierungen ab.
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lich den Ausgangspunkt eines jeden religiösen Diskurses markieren und den Kern dessen definieren, was der Glaube ist. Keine Soziologie ohne „Klassiker“, auf die man sich verlassen kann, wenn man selbst schon nicht mehr weiter weiß. Keine verteilt geführte Online-Diskussion ohne Links auf Quellen, und dies heißt – je nach Diskussionsform – ohne Links auf ein Thema begründende Forumsbeiträge, ohne Links auf Postings in Weblogs, ohne Links auf Websites etc. Mit Initialisierung ist nicht gemeint, dass jeder Kommunikationsanschluss, dass jede neue Mitteilung die ihm/ihr zugrunde liegende(n) bzw. vorausgehende(n) Mitteilung(en) in gewisser Weise zu Erstkommunikation(en) macht. Initialisierung ist erst dann sozial bedeutend, wenn sie ausdrücklich vorgenommen wird und mit einer gewissen Regelmäßigkeit (an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten) auftritt. Kraft und Richtung gewinnt dieser Prozess der Markierung durch das Strukturbildungsprinzip der Reflexivität. Auch ihm wird im Folgenden noch einmal besondere Aufmerksamkeit zukommen. Initialisierung lässt sich als ein Effekt von in ihren Signifikanzen und/oder Relevanzen gleichgerichteten Anschlüssen sowie als ein Effekt der Umverteilung von sozialer Sichtbarkeit beschreiben. 5.3.2 Initialisierung in der Wahlblogosphäre 5.3.2.1 Kommunikation im reflexiven Modus Die Wahlblogosphäre zur Bundestagswahl 2005 lässt sich ebenso wie andere Kommunikationsräume als eine „Teilöffentlichkeit“ (vgl. zur Ausdifferenzierung von Teilöffentlichkeiten in Weblogs Schmidt 2006: 128 ff.) beschreiben, die von einem begrenzten Personenkreis geschaffen und beobachtet wurde. Analysen der Forschungsgruppe Wahlen zufolge ließen sich 2005 zwar 64% aller Wählerinnen und Wähler in Deutschland über das Internet erreichen (Forschungsgruppe Wahlen Online 2005), die Nutzung von Weblogs ist jedoch weiterhin vergleichsweise gering verbreitet. Im Rahmen der von ARD und ZDF durchgeführten OnlineStudie 2006 gaben lediglich 7% aller Befragten an, Weblogs schon einmal gelesen zu haben (Fisch und Gscheidle 2006: 435). Dennoch markiert gerade die Wahlblogosphäre eine wichtige Zäsur in der Entwicklung des deutschsprachigen Internets. Im Rahmen des Bundestagswahlkampfs 2005 wurden Weblogs auch in Deutschland das erste Mal in größerem Umfang zu Zwecken der politischen Kommunikation genutzt (vgl. Albrecht und Hartig-Perschke 2007).
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Kommen wir zum Fallbeispiel der Brutto-Netto-Verwechslung.140 Am 31. Juli 2005 hatte die heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel im „Sommerinterview“ des ARD-Magazins „Bericht aus Berlin“ ihren Interviewpartnern (den Journalisten Thomas Roth und Thomas Baumann) erläutert, dass eine Absenkung der Lohnzusatzkosten zu einem Absinken der Bruttolöhne führen, und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so neue Spielräume für die private Altersvorsorge eröffnen würde. Korrekt hätte es allerdings heißen müssen, dass bei einer Senkung der Lohnnebenkosten die Nettolöhne steigen würden. Der Versprecher der damaligen Kanzlerkandidatin blieb für den Fortgang des Interviews ohne Bedeutung. Ihren Interviewpartnern war die Verwechslung entweder nicht aufgefallen, oder beide hielten eine Nachfrage und Korrektur für verfehlt, um den Rahmen des Interviews nicht zu verlassen. Der Originalwortlaut des Interviews wurde schließlich auf der Homepage des „Bericht aus Berlins“ veröffentlicht.141 Aufmerksamen Zuschauerinnen und Zuschauern – politischen GegnerInnen wie auch mehr oder weniger neutral bleibenden BeobachterInnen – war die Verwechslung Merkels jedoch aufgefallen. Bereits am Abend der Ausstrahlung des Interviews wurde auf einem Weblog des politischen Gegners SPD ein Posting veröffentlicht, welches auf die Brutto-Netto-Verwechslung hinwies (vgl. Albrecht, Hartig-Perschke und Lübcke 2007: 107). In der Blogosphäre erschienen schließlich am 01. und am 02. August weitere Blogbeiträge zur Verwechslung, noch bevor sie erstmals am 03. August in den Massenmedien (Artikel erschienen zuerst in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem Tagesspiegel; vgl. ebd.: 107) erwähnt wurde.142 An diesem Tag erreichte die 140
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An dieser Stelle sei eine einschränkende Bemerkung gestattet: Im Folgenden kann und soll es nicht darum gehen, die Strukturdynamik der weblogbasierten Diskussion um die Brutto-NettoVerwechslung Angela Merkels (CDU) im deutschen Bundestagswahlkampf 2005 vollständig zu erklären oder Sichtbarkeiten zu bestimmen. Im Sinne einer Erweiterung des begrifflichen Instrumentariums der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung soll vielmehr darüber nachgedacht werden, wie die Emergenz der Wirkmächtigkeit von Mitteilungen (Inhalten) auf reflexivitätstheoretischer und mechanismischer Basis beschrieben und modelliert werden kann. Im Interview heißt es: „Ich glaube, dass die Riester-Rente entbürokratisiert werden kann, einfacher gemacht werden kann und der interessante Effekt, den wir jetzt haben ist ja, dass für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - und für die gilt ja die Riester-Rente - die Bruttolöhne um ein Prozent sinken, wenn wir die Lohnzusatzkosten senken. Und das gibt auch wieder Spielraum um zum Beispiel für die eigene Altersvorsorge etwas zu tun und das ist ja genau das, was wir wollen“ (http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID4580426_ TYP6_THE_NAV_REF1_BAB4580400,00.html, Stand: 03. Februar 2009). Nachfolgend aufgeführte Untersuchungsergebnisse (vgl. Albrecht, Hartig-Perschke und Lübcke 2007) entstammen einer vom Autor selbst vorgenommenen Analyse im Rahmen eines von Steffen Albrecht, Rasco Hartig-Perschke und Maren Lübcke an der Technischen Universität Hamburg-Harburg durchgeführten Forschungsprojektes zur Nutzung von Weblogs im Bundestagswahlkampf 2005 (vgl. http://www.tu-harburg.de/tbg/Deutsch/Projekte/Weblogs/index. html, Stand: 03. Februar 2009). Das einzelnen Analysen zugrunde liegende Sample umfasste
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Thematisierung in der Blogosphäre ihren Höhepunkt (vgl. ebd.: 108). Dort wurde intensiv über die Brutto-Netto-Verwechslung diskutiert. Sie blieb bis zum Wahltag ein Thema, auch wenn die Intensität der Diskussion mit der Zeit abnahm. Eine Durchsicht jener 70 Weblogs, die in insgesamt 142 Einzelbeiträgen143 das Thema aufgriffen zeigt, dass das Zusammenspiel der Prokursivität des Sinngehaltes der Äußerung und des kommunikativen Strukturierungsprinzips sachlicher Reflexivität die Verwechslung auf unterschiedliche Art und Weise zum Beginn von Kommunikationsepisoden, zur Erstkommunikation, gerieten ließ. Die Hoffnung der CDU, dass die Äußerung Merkels bald vergessen sein könnte, wurde somit zerschlagen. Da halfen auch kurzfristige Bemühungen nicht, den Originalwortlaut ungeschehen machen zu wollen, indem eine eigene, „korrigierte“ Mitschrift veröffentlicht wurde (vgl. ebd.: 107).144 Gemäß der dem Genre seit seinen Anfängen zugedachten Funktion, eigene Ansichten im (teil-)öffentlichen Raum mit anderen teilen zu können (vgl. hierzu Beiträge in Perseus Publishing/Blood 2002), nutzten Wahlbloggerinnen und Wahlblogger ihre Weblogs, um jene Vermittlungsfunktion zu erfüllen, die üblicherweise den Massenmedien im Rahmen der journalistischen Gattung des Kommentars zukommt: Sie machten den Sinngehalt der Äußerung weiterführend rezeptabel. Informationen und Kommentar stehen Klaus Merten zufolge „(...) in einem Reflexiv-Verhältnis sachlicher Art [zueinander, RHP], weil alle Kommunikation als Meta-Aussage die Interpretation – und das heißt: Bewertung – von Information zu leisten hat.
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insgesamt 317 systematisch erhobene Wahlblogs. Sie wurden nicht nur von den Parteien, von Politikerinnen und Politikern oder von Parteimitgliedern, sondern auch von JournalistInnen sowie von Bürgerinnen und Bürgern ohne Parteibindung geführt. Erste Forschungsergebnisse aus diesem Projekt wurden bereits veröffentlicht (vgl. Albrecht und Hartig-Perschke 2007, Albrecht, Hartig-Perschke und Lübcke 2007 sowie Albrecht, Lübcke und Hartig-Perschke 2007). Die Berichterstattung verteilte sich recht gleichmäßig auf die erwähnten siebzig Weblogs, eine Konzentration blieb aus. Die Diskussion wurde aber typischerweise von Weblogs des rotgrünen Lagers dominiert. Die CDU war insgesamt nur mit wenigen Weblogs in der Wahlblogosphäre vertreten (das Gesamtsample von 317 Weblogs enthält 81 eindeutig der SPD sowie 16 eindeutig der CDU/CSU zurechenbare Weblogs; sie wurden entweder von Parteimitgliedern oder engagierten SympathisantInnen geführt). Allerdings wäre es verfehlt, aus der Dominanz von „roten“ und „grünen“ Weblogs schließen zu wollen, dass das Thema einseitig diskutiert wurde. Die Verwechslung spielte ebenso auf insgesamt 30 neutralen Weblogs oder parteiübergreifend argumentierenden „Richtungsblogs“ eine Rolle und wurde hier unterschiedlich bewertet (vgl. für Details Albrecht, Hartig-Perschke und Lübcke 2007: 109). Die CDU veröffentlichte im Anschluss an das Interview eine veränderte Mitschrift auf ihrer Homepage. Über den Eingriff in den Wortlaut wurden die Leserinnen und Leser jedoch nicht informiert. Unglücklicherweise wurde zunächst auch noch falsch verbessert. Erst die zweite auf der Homepage der CDU veröffentlichte Version wies korrekt aus, worum es auch Merkel im Interview wohl eigentlich gegangen war: sinkende Nebenkosten – steigende Nettolöhne – mehr Spielraum für die private Altersvorsorge (vgl. hierzu auch Albrecht, Hartig-Perschke und Lübcke 2007: 107).
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Kommentation hat demnach eine selektive Funktion, entscheidet also über Umfang und Richtung der Apperzeption von Informationen und gewinnt dadurch strategische Bedeutung“ (Merten 1976: 174, Hervorheb. im Original). In der Mehrheit von Beiträgen kam es unter direkter Bezugnahme auf die Verwechslung und das Interview zu einer Bewertung. Während die Verwechslung in 56 Beiträgen als „simpler“ Versprecher interpretiert wurde, deuteten weitere 56 Beiträge darauf hin, dass sie besser als Ausdruck mangelnder Kompetenz der Kanzlerkandidatin und heutigen Bundeskanzlerin zu lesen sei.145 Für die CDU stellte dieser im Netz gepflegte Umgang mit der Äußerung Merkels ein „Worst case“-Szenario dar, bestand mit diesen ersten eindeutigen Bezugnahmen doch die Gefahr, dass die Gesamtwahrnehmung des Interviews unter dem „faux pas“ zu leiden beginnen könnte. Mit Blick auf die ihr vorangehende Mitteilung ist die Äußerung Merkels zunächst nichts weiter als ein Teilaspekt der Antwort auf die von ihren Interviewpartnern gestellte Frage, ob die von der CDU angestrebte, mögliche Entlastung der gesetzlichen Rentenkassen nicht bedeuten würde, die sogenannte „Riester-Rente“ zur Pflicht machen zu müssen (vgl. hierzu die Mitschrift des Interviews auf der Seite der Tagesschau/des Berichts aus Berlin146). Die Äußerung selbst stellt zunächst eine Verwechslung, die falsche Beschreibung eines Verhältnisses, nicht aber einen „simplen Versprecher“ oder eine „folgenschwere Verwechslung“ dar. Zu beidem wird die Äußerung erst mit jener Neuorganisation von Ko- und Kontext, die durch die in der Blogosphäre veröffentlichten Kommentare geleistet wird. In den Weblog-Beiträgen zum Sommerinterview spielen die Rentenkassen und die Riester-Rente keine Rolle mehr. Interessant ist stattdessen vielmehr, welche Anschlüsse die Äußerung vor dem Hintergrund der kommunikativen Kotexte „Kandidatenimage“ und „Legitimität von Führungsansprüchen“ erlaubt. Im Fall jener Weblog-Postings, die die Äußerung Merkels als Versprecher oder folgenschwere Verwechslung thematisieren, sorgt sachliche Reflexivität, sorgt die weiterführende Relevanzierung dafür, dass sich neue Möglichkeiten eröffnen, die Kommunikation auf anderen Ebenen weiter prozessieren zu lassen. Die Äußerung Merkels wird vor dem Hintergrund der erwähnten Ko145
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Zu allem Überfluss hatte Merkel wenige Tage nach dem Fernsehinterview Brutto und Netto erneut in einem Interview mit der „Bunten“ verwechselt (vgl. Albrecht, Hartig-Perschke und Lübcke 2007: 107). Für 22 Beiträge konnte inhaltsanalytisch nicht geklärt werden, welche Bedeutung ihre AutorInnen der Verwechslung beimaßen bzw. wie diese die Verwechslung bewerteten. Im Falle von 7 weiteren Beiträgen handelte es sich um fiktive Einträge Angela Merkels in ihr persönliches Online-Tagebuch („Angelas Tagebuch“), ein satirisches Angebot der SPD. In einem Fall wurde die Verwechslung nicht als Fehler angesehen (vgl. Albrecht, HartigPerschke und Lübcke 2007: 109, Fußnote 11). Das Interview ist im Netz unter http://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/meldungen/ meldung170376.html nachzulesen (Stand: 03. Februar 2009).
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texte neu mit Relevanz aufgeladen (ihre Sichtbarkeit wird erhöht) und ihr Sinngehalt wird „aktualisiert“: „Aktualisierung bedeutet zunächst die Ausstattung von Aussagen mit Aufmerksamkeitsfängern, die die Aussagen konkurrenzfähig mit anderen Aussagen machen. Typisch geschieht dies, indem entweder die Dimension der Überraschung oder die der Relevanz bemüht wird, die Aussage also mit Neuigkeit und/oder Relevanz angereichert wird“ (ebd.: 174). Die Einschätzung der Verwechslung als Versprecher oder Ausdruck wirtschaftspolitischer Inkompetenz verändert ihre Bedeutung, macht die Äußerung in neuer Form rezeptabel. Sie wird den Leserinnen und Lesern von Weblogs in überarbeiteter Form präsentiert (Aktualisierung) und angeboten; sie wird zusätzlich mit „Aufmerksamkeitsfängern“ ausgestattet. Mit den ersten, verteilt und parallel erfolgenden Anschlüssen, die darauf abzielen, eine bestimmte Interpretation in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, wird die politische Kommunikation wieder von der Sachebene auf die Ebene des Kampfes um Wählerstimmen verlagert, wird die Wahlkampfkommunikation wieder auf Kampagnenkommunikation reduziert. Vor allem jene Beiträge, die die Verwechslung als einen Beleg für die mangelnde wirtschaftspolitische Kompetenz der Kanzlerkandidatin verstanden wissen möchten, sorgen für diese Verlagerung. Sie erheben die Äußerung Merkels im Vergleich zu den sie lediglich als Versprecher relevanzierenden Postings noch stärker in den Rang einer weiter zu diskutierenden Mitteilung, eben weil sie bereits explizit den Rahmen für weitere Kommunikationsanschlüsse bzw. das mögliche Thema vorgeben, unter dessen „Dach“ diskutiert werden kann. Auch die Einordnung als simpler Versprecher ist letztlich aber keineswegs unerheblich oder ungefährlich, bedeutet doch auch sie zumindest eine Erhöhung der Sichtbarkeit der Äußerung. Mit der Bewertung der Verwechslung als Ausdruck von Inkompetenz wird auf die Konfliktfähigkeit der Aussage Merkels gezielt. Sie wird nicht als Verwechslung gesehen, die man lediglich zu berichtigen und zu korrigieren hätte, sondern als Punkt markiert, an dem sich Kontrahenten der CDU erneut von ihrem politischen Gegner abgrenzen können. Dass der eigentliche Sinngehalt der Äußerung nur eine untergeordnete Rolle für die Informationsverarbeitung spielt, macht auch der Umstand deutlich, dass die Darstellung Merkels letztlich in nur 19 von insgesamt 142 Beiträgen korrigiert, und der Rezipientin/dem Rezipienten erklärt wird, wie es richtig hätte heißen müssen. Die Aussage taugt also vor allem dazu, die in Fragen der Wirtschaftspolitik zwischen den beiden großen Volksparteien bestehende Konfliktlinie wieder in das soziale Gedächtnis zurückzurufen und zu zeigen, dass es mit der Wirtschaftskompetenz der Kanzlerkandidatin nicht allzu weit her ist.147
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Die Wählerinnen und Wähler trauen der CDU in diesem Punkt traditionell mehr zu als der SPD (vgl. Kellermann und Rattinger 2007: 369).
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Wie die Äußerung im Einzelnen nun auch verstanden worden sein mag: Sowohl die häufige Qualifizierung der Verwechslung als Versprecher wie auch die häufige Qualifizierung der Verwechslung als Ausdruck von Inkompetenz laden die Beobachterin/den Beobachter dazu ein, selbst zu prüfen, wie sie/er entschieden und relevanziert hätte. Wer immer die jeweilige metakommunikative Einordnung der Äußerung Merkels als „Versprecher“ oder „Ausdruck von Inkompetenz“ liest, ist gehalten, sich hierzu wiederum seine eigene Meinung zu bilden. Mit dem Anbieten erster Interpretationen wird die Kommunikation auf Kurs gebracht. Die Aussage Merkels wird retrospektiv-rekursiv (re)konstruiert und rezeptabel gemacht, und antezipativ-rekursiv werden neue Anschlussmöglichkeiten aufgezeigt. Denkbar wären der Anschluss an die ursprüngliche Äußerung Merkels, der simultane Anschluss an Äußerung und Bewertung, die überwiegende Beschäftigung mit einem Kommentar/der Person der/des Kommentierenden/ihrer bzw. seiner Art, die eigene Meinung kundzutun etc. Die Bewertung und Einordnung der Verwechslung führt nicht zuletzt auch zur Reduktion von Komplexität. Wer immer sich gezwungen sieht oder berufen fühlt, Stellung nehmen zu müssen, findet nun Beispiele dafür, in welcher Form „passender Anschluss“ möglich ist. Tatsächlich wurde in den Kommentarsektionen vieler Weblogs und auch über Weblogs hinweg über die Verwechslung und einzelne Meinungen hierzu diskutiert (vgl. Albrecht, Hartig-Perschke und Lübcke 2007: 112). Mit Blick auf das Beispiel lässt sich davon sprechen, dass die von Angela Merkel getätigte Äußerung nachträglich zu einer sozial bedeutsamen Erstkommunikation stilisiert wurde. Sie nimmt so Einfluss auf den weiteren Verlauf der Kommunikation, wobei der Begriff des „Einflusses“ auf das ihr nachträglich „zugeschriebene“ Vermögen hinweist, die thematische/inhaltliche Ausrichtung der Kommunikation begründet zu haben. Die (hohe) soziale Sichtbarkeit und Relevanz der eigenen Nachricht ist längst nicht immer gewollt und war es auch in diesem Fall nicht. Im Zusammenspiel von Prokursivität und Rekursivität verlieren Kommunikatoren jedoch immer zwangsläufig an Kontrolle, und sie müssen loslassen (können). Dies gilt im Übrigen auch für die Kommentare zur Brutto-Netto-Verwechslung. Sicher wäre es lohnend, die Diskussionen zur Verwechslung darauf hin zu untersuchen, wie in ihnen mit einzelnen Meinungen und Kotextualisierungen umgegangen wurde, welcher Stellenwert diesen Meinungen und Kotextualisierungen zugewiesen wurde, ob und inwiefern sie Kritik „auszulösen“ vermochten etc. Wir wollen hierauf jedoch verzichten, da wir bereits erste Einsichten zur nachträglichen Initialisierung gewonnen haben. Das verteilt und zahlreich gleichgerichtet erfolgende Bewerten oder Einschätzen kann als kommunikativer Mechanismus der Initialisierung beschrieben werden.
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5.3.2.2 Verteilung von Sichtbarkeit Inwiefern eine neue Mitteilung Aufmerksamkeit auf eine von ihr referenzierte Mitteilung/auf von ihr referenzierte Mitteilungen zu lenken vermag, hängt nicht zuletzt von ihrer Eigen- oder Ursprungssichtbarkeit ab. In der Blogosphäre sind vor allem jene Referenzen „wertvoll“, die von hochsichtbaren, prominenten Weblogs ausgesendet werden. Weblogs sind Kommunikationsplattformen oder „Kommunikationssysteme“, die eine Anhäufung, Verbreitung, Registrierung und Verlagerung von Wissensbeständen ermöglichen (Franz 2005: 6). Auch ihnen kommt in ihrer Funktion als „Container“148 für Mitteilungen und Inhalte Eigensichtbarkeit zu. In der weltweiten Blogosphäre vermögen vor allem sogenannte „A-List-Blogs“149 in besonderem Maße Aufmerksamkeit zu lenken. Für solche A-List-Blogs ist kennzeichnend, dass sie besonders gut über Blogrolls in unterschiedliche WeblogNetze eingebunden sind. Blogrolls informieren Leserinnen und Leser darüber, welche Weblogs eine Weblogbetreiberin/ein Weblogbetreiber selbst für lesenswert hält.150 Je mehr Blogrolls auf ein Weblog gesetzt werden, desto einfacher ist dieses in den Weiten der Netzwelt zu finden. 148
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Weblogs fungieren als „Container“ (vgl. zur Container-Metapher in den Kommunikationswissenschaften Krippendorff 1994: 86 f.) für Mitteilungen und Referenzen. Die Startseite eines Weblogs, auf der die jeweils neuesten Postings direkt in umgekehrt chronologischer Reihenfolge veröffentlicht werden, verfügt über eine bestimmte eigene URL. Dieselben Postings werden zusätzlich aber auch in einem Archiv gespeichert und besitzen ferner eine eigene URL (der sogenannte „Permalink“), die es erlaubt, sie auch zukünftig jederzeit weiter verlinken zu können. Als Technik stellen Weblogs somit Plattformen oder Systeme dar, die Kommunikation lokal organisieren. „Most discussions of the ‘blogosphere’–the universe of all weblogs–to date focus on an elite minority of blogs (…), the most popular of which are sometimes referred to as “A-list”. “Alist” blogs–those that are most widely read, cited in the mass media, and receive the most inbound links from other blogs–are predominantely filter-type blogs, often with a political focus. The A-list appears at the core of most characterizations of the blogosphere (…)” (Herring et al. 2005: 1). Blogrolls leisten die (Um-)Lenkung von Aufmerksamkeit. Sie werden von Weblogbetreiberinnen und Weblogbetreibern gesetzt, sofern diese ein anderes Weblog regelmäßig lesen und ihre eigenen Leserinnen und Leser auf dieses Blog hinweisen wollen, und/oder sofern eine Bekanntschafts- oder Freundschaftsbeziehung zu der Betreiberin/dem Betreiber des verlinkten Weblogs unterhalten wird. Ebenso können auch organisationale Beziehungsgeflechte zum Ausdruck gebracht werden (so verlinkten Weblogs einer Partei in der deutschsprachigen Wahlblogosphäre typischerweise vor allem auf andere Blogs der eigenen Partei; vgl. Albrecht und Hartig-Perschke 2007: 16). Cameron Marlow, Research Scientist bei “Yahoo! Research” und Entwickler von „blogdex“ (www.blogdex.net) erläutert zum Thema Blogrolls: „Nearly every weblog contains a list of other weblogs that the author reads regularly, termed the blogroll. This form evolved early in the development of the medium both as a type of social acknowledgement and as a navigational tool for readers to find other authors with similar interests. While the term pays homage to the practice of logrolling (the exchange of political fa-
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Referenzen, die von einem gut verlinkten Weblog aus gesetzt werden, vermögen es mit höherer Wahrscheinlichkeit, die Sichtbarkeit eines Postings auf einem anderen Weblog zu steigern, als Referenzen, die von schlecht eingebundenen Weblogs ausgehen. Selbstredend bleibt die Rezipientin/bleibt der Rezipient aber immer eine unberechenbare Größe: Welche Blogrolls tatsächlich erfolgreich Aufmerksamkeit zu lenken vermögen, lässt sich selbstverständlich nicht voraussagen. Je häufiger ein Weblog allerdings in den Blogrolls anderer Blogs genannt wird, desto sichtbarer ist es und desto mehr Sichtbarkeit kann es auch „vererben“, sobald von ihm ausgehend Referenzen gesetzt werden. Für die Lenkung von Aufmerksamkeit sind ferner auch Offline-Bekanntschaften von BlogbetreiberInnen und die „Zugkraft“ von Themen von Bedeutung. Ebenso wichtig ist schließlich, ob und inwiefern Suchmaschinen151 es ermöglichen, Weblogs aufzufinden. Mit Blick auf das Beispiel der Brutto-Netto-Verwechslung soll es uns zunächst nur darum gehen, einen Eindruck davon zu bekommen, wie gut es in der Wahlblogosphäre um die Chance stand, innerhalb ihrer Grenzen durch Blogrolls auf die sich entwickelnde Diskussion aufmerksam zu werden. Die Eigensichtbarkeit eines Weblogs lässt sich partiell auf Basis des Blogroll-Indegrees modellieren, welcher über die Zentralität des Weblogs in einem gegebenen Blog(roll)Netzwerk informiert. Je mehr Verweise existieren, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Weblog gefunden wird. Von jenen 311 Weblogs, die sich in Anbetracht der Datenlage auf ihre Blogroll-Vernetzung hin untersuchen ließen, erhielten 127 (40,8%) keine Blogrolls. In 152 Fällen wurden 1-10 Links auf das entsprechende Weblog gesetzt (48,9%). In 32 Fällen konnten 11-30 Verweise (10,3%) gezählt werden (vgl. Albrecht und Hartig-Perschke 2007: 110 f.). Von den fünf Weblogs, die zwischen dem 31. Juli und dem 02. August 2005 die Verwechslung in ihren Postings thematisierten, gehörte ein Weblog zur Spitzengruppe. Die vier anderen wiesen zwischen 2 und 10 Blogroll-Links auf. Tatsächlich ist die Zahl jener Weblogs, die die Verwechslung thematisierten und nicht in das BlogrollNetzwerk eingebunden waren, recht gering. Eine Nichteinbindung lässt sich für 12 Fälle (17,1%) feststellen. Das Weblog, auf dem die Verwechslung zuerst aufgegriffen wurde, war mäßig gut in die Wahlblogosphäre eingebunden. Im Rahmen der Diskussion um die Verwechslung wurde schließlich zwei Mal mit
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vours and influence), a link within a blogroll indicates a general social awareness on behalf of the author. In some hosted services, such as LiveJournal and Xanga, the blogroll is a core part of the interaction, allowing users to be notified when their friends make a post or even to create a group dialogue represented by the sum of the group’s individual weblogs” (Marlow 2004: 3, Hervorheb. im Original). Es gibt mittlerweile verschiedene Suchmaschinen für Weblogs. Bekannte Suchmaschinen sind u.a. www.technorati.com, www.blogscope.net oder auch die „Google Blogsearch“.
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Hilfe von Hyperlinks in Beiträgen152 auf dieses Blog verwiesen. Zahlreicher waren hingegen die Blogroll-Verweise auf das ungleich prominentere Weblog eines SPD-Landesverbandes (11 Blogrolls) und auf ein unabhängig und neutral geführtes, wahlbegleitendes Weblog (10 Blogrolls). Inwiefern eine Referenz die Sichtbarkeit einer referenzierten Mitteilung steigern kann, hängt in hochskalierten Kommunikationsprozessen nicht zuletzt davon ab, wie sichtbar und sozial bedeutend die referenzierende Mitteilung selbst ist. In der Blogosphäre ergibt sich die Eigensichtbarkeit eines neuen, Beiträge auf anderen Weblogs referenzierenden (und bislang selbst noch nicht referenzierten) Postings unter anderem aus der Sichtbarkeit/Auffindbarkeit des jeweiligen Träger-Weblogs. Ebenso vermag auch die (online wie offline erworbene) Prominenz der Betreiberin oder des Betreibers Aufmerksamkeit zu lenken. Dass es immer schwierig sein dürfte, soziale Sichtbarkeiten verlässlich zu bestimmen, versteht sich von selbst. Soziale Visibilität kann meist nur eingeschätzt werden, und soziale Relevanz speist sich aus vielen Quellen. Eine Operationalisierung trennscharf durchführen zu können, ist dementsprechend schwer denkbar. Das Konzept sozialer Sichtbarkeit stellt daher in erster Linie ein heuristisches Werkzeug, eine „Realabstraktion“ dar, mit der sich das kommunikationssoziologische Denken prozesstheoretisch orientieren lässt, und mit deren Hilfe in geordneter Form darüber nachgedacht werden kann, welche Effekte Kommunikationsanschlüsse nach sich ziehen.153 Das unterschiedliche Ausmaß der Eingebundenheit von Wahlblogs in die Wahlblogosphäre bedeutet mit Blick auf die Brutto-Netto-Verwechslung, dass die einzelnen Kommentare in unterschiedlichem Maße sichtbar waren und somit auch netzöffentlich in unterschiedlichem Ausmaß als mögliche Modelle der Anschlussgenerierung wahrgenommen werden konnten. Je besser die Einbindung eines Weblogs, je größer seine Sichtbarkeit innerhalb eines bestimmten Blognetzes ist, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass auf eben diesem Weblog veröffentlichte Relevanzsetzungen und Sinngehalte im Weiteren 152
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Referenzen in einem Weblog-Beitrag besitzen dieselbe Funktion wie in den Textkörper von schriftlichen Veröffentlichungen eingestreute Quellennachweise. Hyperlinks führen direkt zu zitierten Quellen, sofern diese weiterhin verfügbar sind. Cameron Marlow erläutert zum Permalink (Weblog-Postings werden von anderen Blog-Einträgen in der Regel mit ihrer ArchivURL verlinkt; daneben kommen in Postings aber auch „normale” Hyperlinks auf Websites vor): „(…) this feature allowed authors to have a sort of distributed conversation, where one post can respond to another on an entirely different weblog. These entry reference points are called permalinks and they are a core element of nearly every weblog today” (Marlow 2004: 3, Hervorheb. im Original). Mit den Worten Foucaults lässt sich hier auch davon sprechen, dass soziale Sichtbarkeit ein theoretisches Konzept ist, welches der kommunikations- und prozesstheoretischen Wendung des soziologischen Blicks Haltung und Systematik verleiht (vgl. zu dieser Wendung Foucault 1973: 161).
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eine Rolle in der Kommunikation spielen werden. Eben hierin liegt ein weiterer „Machteffekt“ von Kommunikation, ein weiterer „Machteffekt“ des Referenzierens und der Verteilung von sozialer Sichtbarkeit begründet. Einschätzungen, Bewertungen und Meinungen, die uns in hochsichtbaren Kontexten begegnen, haben immer eine größere Chance, zu sozial dominierenden Deutungen zu werden. In Kommunikationsprozessen – so lässt sich in abstraktem Sinne formulieren – verschränken sich immer unterschiedliche „Sichtbarkeitsregimes“ miteinander, wird Aufmerksamkeit auf komplexe Weise gelenkt. Was wir beobachten können, sind die Ergebnisse dieses Zusammenwirkens – sind Kommunikationsanschlüsse, Kommunikationsepisoden, Deutungsmuster, Interpretationen, Themen der Kommunikation etc. Und in eben diesem Sinne ist Kommunikation nicht zuletzt auch ein „Verteilungsprozess von Aufmerksamkeit und Sinnofferten“, wie es bei Manfred Faßler heißt (Faßler 1997: 79, Hervorheb. im Original). Hyperlinks, Blogrolls und Blogsuchdienste bieten im Falle der Blogosphäre vielfältige Anhaltspunkte, um einen Eindruck von der netzöffentlichen Sichtbarkeit einzelner Weblogs gewinnen zu können. Inwiefern Weblogs tatsächlich Diskussionen zu prägen oder gar zu dominieren vermögen, ist letztlich allerdings immer im Einzelfall genau zu prüfen. Um zu aussagekräftigen Ergebnissen kommen zu können, müssen netzwerkanalytische Studien mit Inhaltsanalysen verknüpft werden. Erst sie machen es möglich, im Detail nachzuvollziehen, auf welchem Wege und auf welche Art und Weise Deutungsmuster, Interpretationen, Ansichten, Meinungen etc. verbreitet worden sind, und erst sie ermöglichen es, Meinungsverschiedenheiten und Allianzen zwischen Webloggerinnen und Webloggern aufzudecken und näher zu beleuchten.
5.3.2.3 Einfluss durch Initialisierung – Abschließende Bemerkungen In den letzten Abschnitten ging es darum, Antworten auf die Frage zu finden, wie sich kommunikative Wirkmächtigkeit (kommunikativer Einfluss) anschlussorientiert, d.h. als Effekt konstitutiver Nachträglichkeit beschreiben und modellieren lässt. Die hier zur Diskussion gestellte Antwort lautet, dass eine Beschreibung der Strukturdynamik von Kommunikationsprozessen mit Hilfe des Konzeptes der sozialen Sichtbarkeit eine Möglichkeit darstellt, die Genese von kommunikativem Einfluss zu erfassen. Das mit den charakteristischen Merkmalen einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck 1998) korrespondierende Konzept sozialer Visibilität ermöglicht es – sofern es um Überlegungen zur sinnhaftreflexiven Strukturierung von Kommunikationsprozessen ergänzt wird – zu ergründen, warum bestimmte Mitteilungen zu integrierenden und zentrierenden Mitteilungen werden (können). Gesellschaftliche Kommunikation ist durch den
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Umstand gekennzeichnet, dass es streng genommen keine Erstkommunikation gibt.154 Vor allem hochskalierte Kommunikationsprozesse erscheinen auf den ersten Blick ungeordnet und komplex. An der Kommunikation beteiligte AkteurInnen sind jedoch darauf angewiesen, dass Anhaltspunkte geschaffen bzw. von der Kommunikation „angeboten“ werden, sodass sie eigene Selektionen orientieren können. Mit Blick auf das hier diskutierte Beispiel der weblogbasierten Kommunikation zur Brutto-Netto-Verwechslung lässt sich festhalten, dass Kommentierung die Beobachtung von „Erstkommunikation“ möglich macht. Indem an verschiedenen Orten auf ähnliche Art und Weise auf „Ausgangsereignisse“ Bezug genommen wird, macht die Kommunikation bestimmte Mitteilungen und Inhalte vordergründig sichtbar. In der Blogosphäre sorgten Bewertungen in Kommentaren dafür, dass die Brutto-Netto-Verwechslung tatsächlich zu einem sozial relevanten Thema werden konnte. Auf unterschiedlichen Weblogs wurde immer wieder direkt auf die Verwechslung Bezug genommen, sodass diese nicht aus dem Blickfeld der Bloggerinnen und Blogger sowie der Weblogleserinnen und Weblogleser geraten konnte. Ihre Sichtbarkeit erhöhte sich. Anschlüsse bedeuteten, dass der Sinngehalt der Mitteilung in neue handlungspragmatische Kontexte und kommunikative Kotexte integriert wurde. Die Verwechslung wurde als Versprecher wie auch als Ausdruck mangelnder wirtschaftspolitischer Kompetenz interpretiert, sie wurde mit den Äußerungen eines anderen Kandidaten zu einem früheren Zeitpunkt verglichen155 und ebenso wurde ihr Stellenwert im und für den Wahlkampf beleuchtet. Alle diese Interpretationen erschienen in Anbetracht der offensichtlichen Fehlerhaftigkeit der Ursprungsmitteilung erlaubt (wenngleich sie natürlich durchaus diskutabel waren und auch diskutiert wurden). Mit ihrer Diskussion wurde die Verwechslung aus dem Gros 154
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Mit Blick auf das Schachspiel schreibt Thomas Malsch: „Gesellschaft geht vor Kommunikation. Das Ensemble aus Schachbrett, Figuren, Gegenspieler, Schachuhr präsentiert sich als ein generalisiertes Mitteilungszeichen mit Aufforderungscharakter. Es enthält eine generalisierte Kommunikationsofferte, noch bevor der erste Zug überhaupt getan ist. Die rituelle Eröffnungsformel ‚Weiß zieht und gewinnt’ besagt ja nicht, dass Weiß tatsächlich gewinnen wird, sondern dass die beiden Kontrahenten, noch bevor sie die Figuren aufstellen, nach dem Zufallsprinzip entscheiden, wer die weißen und wer die schwarzen Figuren führen soll. Wenn es überhaupt einen Anfang gibt, so ist es genau diese Zufallsentscheidung. Dies ist die ‚Erstkommunikation’ einer Schachbegegnung. In diesem Sinne könnte nun ‚Weiß’, der sich einer abwehrenden Phalanx aus schwarzen Figuren gegenüber sieht, diese als ‚Zweitkommunikation’ mit Aufforderungscharakter betrachten. Das Ensemble aus Schachfiguren, Schachbrett, Spielern fungiert hier als Anschlusswert eines Mitteilungszeichens, welches die Führerin der weißen Figuren nunmehr unmissverständlich dazu auffordert, den ersten Zug zu tun und damit die Partie zu eröffnen. Und so gesehen wäre der Eröffnungszug nur eine, mit Verlaub, ‚Drittkommunikation’“ (Malsch 2005: 226). Im Bundestagswahlkampf 1994 verwechselte auch der damalige SPD-Kanzlerkandidat Rudolf Scharping brutto und netto miteinander (vgl. Albrecht, Hartig-Perschke und Lübcke 2007: 110).
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der in der Wahlblogosphäre selektierten und kommentierten Informationen herausgehoben. Die Häufigkeit der Erwähnung, der Bekanntheitsgrad jener Plattformen, auf denen die Verwechslung kommentiert wurde und die Prominenz von KommentatorInnen dürften nicht zuletzt dafür gesorgt haben, dass die Aufmerksamkeit von (Wahlblog-)RezipientInnen verstärkt auf das Thema hin gelenkt wurde. In hochskalierten Kommunikationsprozessen konkurriert eine Vielzahl von Mitteilungen um Aufmerksamkeit. Erst rekursive Bezugnahmen sorgen dafür, dass Mitteilungen als sozial relevant markiert und somit aus der Masse der Mitteilungen herausgehoben werden. Die Denkfiguren der Initialisierung und der sozialen Sichtbarkeit ermöglichen es, in kommunikations- und prozesstheoretischer Perspektive zu erfassen, wie es zur Ausrichtung von Kommunikationsprozessen, zur Emergenz von Ordnung kommt. Wirkmächtigkeit bzw. Einfluss ist ein abgeleitetes Potential, ein kommunikativer Eigenwert. Durch das Setzen von Referenzen werden Mitteilungen sichtbarer, und diese Sichtbarkeitssteigerung fällt umso höher aus, je größer die Eigensichtbarkeit der referenzierenden Folgemitteilung ist. Das Vermögen, Aufmerksamkeit zu lenken, wird auf diese Weise immer wieder zwischen Mitteilungen umverteilt. Je häufiger eine Mitteilung referenziert wird, desto größer wird ihr Vermögen, Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können. Werden Anschlüsse massenhaft in der Form von inhaltlich gleichgerichteten Kommentaren angelegt, so kommt es zu einer sozial relevanten Initialisierung. Initialisierung in hochskalierten Kommunikationsprozessen setzt damit zweierlei voraus. Sichtbarkeiten müssen sich (1) so miteinander verschränken, dass es zu einem positiven Feedback kommt. Vor allem eine hohe Sichtbarkeit der referenzierenden Mitteilung, zunächst bedingt durch die Prominenz ihrer Autorin/ihres Autors oder die soziale Sichtbarkeit ihres Veröffentlichungskontextes, sorgt dafür, dass der referenzierten Mitteilung die Chance zukommt, in besonderem Maße Aufmerksamkeit ziehen und binden zu können. Erste, zeitnah (er)folgende Referenzen müssen (2) die Form eines Kommentars annehmen, der darauf abzielt, die referenzierte Mitteilung in einem bestimmten Sinne weiterführend rezeptabel zu machen. Kommentare beeinflussen „Umfang und Richtung“ der Apperzeption von in Initialmitteilungen enthaltenen Informationen (vgl. hierzu noch einmal Merten 1976: 174). Auf der Basis von Kommentaren werden Mitteilungen sinnhaft in den Gesamtzusammenhang einer Kommunikation eingeordnet. Und durch diese Hervorhebung und Markierung werden für die an der Kommunikation beteiligten AkteurInnen Anhaltspunkte der Beund Zuschreibung geschaffen. Ihnen wird angezeigt, was auch andere Kommunikatoren beschäftigt und aktuell sowie diskussionswürdig ist. Mit den einzelnen Kommentaren kommen auch neue Anschlussmöglichkeiten in den Blick, und dies bedeutet, dass sich eine nachträglich bestimmte Erstkommunikation prokursiv als (nicht mehr weiter zu hinterfragender) Ursprung einer neuen Kommunika-
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tionsepisode (neuer Kommunikationsepisoden) deuten lässt. Anschlussmöglichkeiten beinhalten nun das erneute Referenzieren der Initialmitteilung, das Kommentieren eines Kommentars oder die Bezugnahme auf ein zwischen einem bestimmten Kommentar und der Initialmitteilung bestehendes Sinnverhältnis. Sachlich und sozial reflexive Kommunikation in der Form des Kommentars lässt „(...) basale Kommunikations- bzw. Anschlussmuster entstehen, die im rekursiv/prokursiv oszillierenden Blick eines sich von wo aus auch immer Kommunikation erschließenden Beobachters möglicherweise als Ursache-WirkungsMuster (...) erscheinen können, und sie verstärkt die Pfadabhängigkeit der Kommunikation (..), das heißt, sie sorgt dafür, dass die soziale Relevanz einer zum Anlass der Metakommunikation stilisierten Mitteilung gesteigert wird; eben so, dass diese ‚initiale’ Mitteilung aller Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin ein möglicher Bezugspunkt der Kommunikation bleibt (...)“ (Hartig-Perschke 2006: 248).
6 Schlussbetrachtung – Zu den Möglichkeiten und zur Zukunft einer kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Emergenz
Von Emergenz kann immer dann gesprochen werden, wenn Entitäten, Strukturen oder auch Prozesse charakteristische, „ganzheitliche“ Eigenschaften aufweisen, die sich nicht auf die Eigenschaften der an ihrem Entstehen/an ihrer Reproduktion beteiligten Elemente oder auf Aggregations- bzw. Kompositionseffekte zurückführen lassen. Emergenz bedeutet, dass Phänomene, die auf einer bestimmten Ordnungsebene auftreten, zwar durch Prozesse auf einer nächsttieferen Ebene (mit) bedingt bzw. verursacht sind („synchrone Determiniertheit“), sich aber nicht unmittelbar aus diesen Mikroprozessen heraus ableiten bzw. sich nicht abschließend auf ihrer Basis verstehen und erklären lassen. Auch soziale Prozesse, Strukturen und Systeme sind emergent, und der Grund hierfür liegt darin, dass soziale Realität kommunikativ geschaffen wird. Soziale AkteurInnen verbinden mit ihren Handlungen bestimmte Absichten und Bedeutungen, und ihnen gegenüber tretende AkteurInnen versuchen, diese Intentionen und Bedeutungen vor dem Hintergrund eigener Relevanzsysteme zu rekonstruieren, um auf diesem Wege Selektionsmöglichkeiten ausloten zu können. Akteure rekonstruieren soziale Situationen mit Hilfe ihnen zur Verfügung stehender, gesellschaftlich eingeführter Semantiken; sie prüfen, wie andere Akteure auf zurückliegende eigene Sinnofferten reagiert haben, und sie geben mit ihren kommunikativen Äußerungen Einblick in die Ergebnisse dieses Rekonstruktions- bzw. Prüfprozesses. Mit dem Anschluss von Kommunikationsereignissen an Kommunikationsereignisse wird schließlich deutlich, in welchem Verhältnis individuelle Selektionen, Sinnofferten bzw. -reduktionen, geäußerte und unterstellte Intentionen, Interpretationen etc. zueinander stehen, und diese Sinnverhältnisse müssen als emergente soziale Phänomene verstanden werden. Sobald erwartet wird, dass sich immer wieder ganz bestimmte Kommunikationssituationen und Sinnverhältnisse einstellen und versucht wird, dieser Erwartung zu entsprechen, beginnen soziale Systeme sich zu stabilisieren. Was Sozialität genau ist, lässt sich also weder mit Blick auf individuelle Selektionen/individuelles Handeln, noch mit Blick auf stabile soziale Strukturen endgültig erfassen. Was Sozialität tatsächlich ist, wird erst verständlich, wenn man sich genauer ansieht, wie sich Selektionen in der
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Schlussbetrachtung
Kommunikation unmittelbar miteinander verschränken, wie soziale Eigenwerte in der Form von gesellschaftlichen Semantiken und Kommunikationsmustern in der Kommunikation geschaffen bzw. aktualisiert werden und wie sich soziale Semantiken, Selektionsbeschränkungen, typische Rahmungen und Anschlussmuster zu systemischen Kontexturen miteinander verbinden. In erster Linie ist damit also aus kommunikationssoziologischer Perspektive zu erklären, zu welchen sozialen Effekten die Verschränkung von individuellen Selektionen in der Kommunikation führt, gleichwohl, auf welchen Entscheidungen, gleichwohl, auf welchen Entscheidungslogiken diese Selektionen im Einzelnen nun beruhen mögen oder auch nicht. Sinnverhältnisse lassen sich zuallererst anhand von Mitteilungen und Dokumenten sowie anhand der zwischen ihnen bestehenden Referenzstrukturen erschließen. System- und kommunikationssoziologisch interessant ist also, wie Sozialität, wie soziale Systeme auf der Basis von Diskursen bzw. differenzierten sozialen Selektionsbeschränkungen emergiert/emergieren. Sozialität offenbart sich also nicht nur in gegebenen Verteilungs-, Interdependenz- oder Beziehungsstrukturen, sondern vor allem in kollektiv geteilten Deutungen, Interpretationen, Semantiken, Rahmungen, Prozessmodellen, Regeln, Werten, Normen etc. Sie kommt in Wissensbeständen zum Ausdruck, die es erst ermöglichen zu verstehen, was die Kontextur sozialer Systeme ausmacht. Kommunikation trägt und ist soziale Emergenz. Werden bestimmte Formen der Kommunikation als Lösungen für Probleme erfahren und Wissensbestände kommunikativ gesichert, so kommt es schließlich zur Entstehung und Reproduktion von sozialen Institutionen (Werte, Normen, Rationalitäten etc.). Zweifelsohne ist es alles andere als leicht, die kommunikative Emergenz von sozialen Eigen- und Strukturwerten, die kommunikative Entstehung, Reproduktion und Transformation von Semantiken, Ko- und Kontexturen, Rahmungen, Prozessablaufmustern, Netzwerken, Diskursen und systemischen Kontexturen zu modellieren, d.h. zu beschreiben und zu erklären, denn: x Soziale Systeme, d.h. Interaktionen, Interaktionszusammenhänge, Organisationen und Funktionssysteme, sind mehr oder weniger offene Systeme (vgl. zur Offenheit und Komplexität sozialer Systeme auch Sawyer 2005: 26), die in einem hierarchischen wie auch inklusiven Verhältnis zueinander stehen. Zwar werden die für eine funktional-differenzierte Gesellschaft charakteristischen Systemtypen durch mehr oder weniger dominante Grenzziehungsprinzipien (vgl. Luhmann 1975a) voneinander getrennt, doch mit der abstrakten Bestimmung von Grenzen ist noch nicht viel gewonnen. In emergenztheoretischer Perspektive gilt es Aufschluss darüber zu gewinnen, was ein System inhaltlich ausmacht, und welchen Ablauflogiken systemtypische Kommunikationen folgen. Hochgradig integrierte und wirkmächtige Funktionssysteme,
Schlussbetrachtung
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die im kommunikativen Zusammenhang der Weltgesellschaft die materielle Produktion organisieren (Wirtschaftssystem), Erwartungssicherheit gewährleisten (nationales und internationales Recht) und das Problem der „Weltinterpretation“ (Wissenschaft, Religion; vgl. zum Problem und Begriff der „Weltinterpretation“ Giesen 1980: 52 f.) lösen, werden durch eine unüberschaubare Zahl von Interaktions- und Organisationskommunikationen bedingt, kombinieren eine Vielzahl von mehr oder weniger weitgehend generalisierten Selektionsbeschränkungen bzw. Erwartungsstrukturen miteinander und ruhen auf einer breit gefächerten Basis von typischen Kommunikationsund Problemlösungsroutinen sowie Wissensbeständen und Semantiken auf. Ihre „Daueremergenz“, ihre Autopoiesis, ist ein komplexer Prozess, der sich immer nur teilweise detailliert erfassen lässt. Was ein Funktionssystem ausmacht, lässt sich noch am ehesten auf Basis einer eingehenden Beschreibung seiner Leistungen, auf Basis der Modellierung wesentlicher, seiner Autopoiesis zugrunde liegender Mechanismen und auf der Basis einer Analyse der Emergenz typischer Semantiken/Selbstbeschreibungen ergründen. x Um die sich zwischen Kommunikationsereignissen und -prozessen einstellenden Effekte angemessen erklären zu können, wird ein integratives, gehaltvolles und präzises kommunikationstheoretisches Vokabular benötigt. Zwar sind in der Soziologie verschiedene Kommunikations- und Diskurstheorien entwickelt worden; weiterhin gilt es aber, ihr explanatives Potential zu erschließen und zu evaluieren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist diskutiert worden, welche Möglichkeiten der Erklärung sozialer Emergenz sich im Anschluss an das Kommunikationsverständnis und -modell der Systemtheorie ergeben (vgl. weiterführend für ähnliche Versuche u.a. Vogd 2005 und 2007, Schmitt 2006, Hartig-Perschke 2006 und Schneider 2005 sowie zum Potential der wissenssoziologischen Diskursanalyse Schwab-Trapp 2001 und Knoblauch 2001). In Zukunft wird allerdings weiterführend zu eruieren sein, wie sich unterschiedliche Modelle, Konzepte und Theorien miteinander ins Gespräch bringen und kombinieren lassen, um die Erklärungskraft kommunikationsorientierter Ansätze steigern zu können. (vgl. zu möglichen Perspektiven Bora 2000/2005 sowie Sawyer 2005). x Sozialität bzw. soziale Realität ist immer polykontextural. Kommunikationsprozesse, handele es sich hierbei nun um Interaktionen unter Anwesenden oder um verbreitungsmedial vermittelte Kommunikationen, erfüllen immer unterschiedliche Ausdrucksfunktionen. Werner Vogd hat davon gesprochen, dass soziale Realitäten bzw. Kommunikationsprozesse als simultaner Ausdruck von Akteursbewusstsein, von Interaktion und/oder Organisation und als Ausdruck von entwickelten Semantiken gesellschaftlicher Funktionssysteme zu verstehen seien (vgl. Vogd 2005: 16). In Abhängigkeit vom jeweils
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Schlussbetrachtung
fokussierten Kontext bzw. in Abhängigkeit von der jeweils fokussierten Ausdrucksfunktion lassen sich am empirischen Material schließlich unterschiedliche Ursache-Wirkungs-Verhältnisse (re)konstruieren (vgl. ebd.: 65). Eine kommunikationstheoretische Erklärung sozialer Emergenz muss somit immer angeben und reflektieren, auf welche Sinnverhältnisse sie sich konzentriert und welche konkreten operativen Logiken sie zu ergründen sucht. In emergenztheoretisch orientierter soziologischer Perspektive sind es kommunikative „Wechselwirkungen“, die analysiert werden müssen, um erklären zu können, was soziale Emergenz – verstanden als prozessuales Phänomen – ist, und um erklären zu können, in welcher Form und mit welchen Folgen sie sich vollzieht. Auf Basis einer analytischen Rekonstruktion von zwischen Mitteilungen sozial sichtbar realisierten Relationen kann erklärt werden, wie Sinnbestände in konkreten empirischen Fällen generiert und als sozial relevant markiert wurden. Eine jede gehaltvolle soziologische Theorie muss, selbst wenn sie nur von einer schwachen Emergenz, d.h. von einer partiellen Irreduzibilität sozialer Phänomene ausgehen will, auf Wechselwirkungen zwischen Selektionen bzw. Kommunikationen rekurrieren und deren strukturelle Effekte so gut es geht erklären. Emergenztheoretischen Ansätzen gemein ist, dass sie – wie bereits erläutert – immer von einer nicht hintergehbaren Differenz zwischen Seinsebenen oder Seinsformen ausgehen. Emergenztheorien interessieren sich für die Frage, wie die auf einer bestimmten Emergenzstufe einmal erreichten Zustände/Eigenschaften reproduziert oder durch neue Zustände/Eigenschaften abgelöst werden. Sie stellen dabei in Rechnung, dass diese Prozesse der Reproduktion oder Transformation („Neuentstehung“) zwar von Ereignissen und Prozessen abhängen, die sich auf der „nächsttieferen“ Ebene einstellen bzw. vollziehen, lassen aber zwischen den beiden Ebenen keine deterministische Kausalrelation zu (vgl. hierzu auch Bora 2000/2005: 19). Theorien oder Ansätze sind „schwach“ emergentistisch, sofern maximal davon ausgegangen wird, dass eine „höhere Ebene Eigenschaften aufweist, die ihre Einheiten nicht besitzen“ (Heintz 2004: 4). In der Emergenzphilosophie wird in diesem Fall vom Emergenzkriterium „systemischer Eigenschaften“ gesprochen (vgl. Stephan 1999: 21 sowie Stephan 2000: 37). Schwache Emergenztheorien sind durch die Kriterien eines „materiellen Monismus“, „synchroner Determiniertheit“/„synchroner Abhängigkeit“ und der „Existenz systemischer Eigenschaften“ bestimmt (vgl. hierzu auch Kapitel 2, Abschnitt 2.2.2.1). Zu einer starken Emergenztheorie avancieren entsprechende Ansätze erst, wenn sie von einer epistemologischen Irreduzibilität ausgehen. Bettina Heintz schreibt: „Aus der Perspektive der neueren philosophischen Emergenztheorie sollte erst dann von Emergenz gesprochen werden, wenn Makrogebilde Eigenschaften aufweisen, die nicht auf die Mikroebene zurück-
Schlussbetrachtung
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führbar sind, d.h. das entscheidende Kriterium ist das Kriterium der epistemologischen Irreduzibilität“ (Heintz 2004: 5, Hervorheb. im Original). Stark emergenztheoretisch orientierte Ansätze gehen zwar davon aus, dass zwischen den beiden jeweils im Fokus der Aufmerksamkeit stehenden Ebenen eine Supervenienzbeziehung existiert, unterstellen aber gleichzeitig, dass es Umstände gibt, die eine epistemologische Reduktion unmöglich machen bzw. sinnlos werden lassen. In der aktuellen soziologischen Emergenzdebatte ist an diesem Punkt immer wieder auf das Phänomen bzw. Problem der „multiplen Realisierung“ hingewiesen worden. Sowohl Sawyer (2005) als auch Schmitt (2006) heben hervor, dass sich die Entstehung, Reproduktion und Transformation sozialer Phänomene streng genommen nur schlecht im Rekurs auf eine oder verschiedene, ausgewählte Logiken des Handelns bzw. der Selektion erklären lassen würden. Das Problem: Individuen selektieren und handeln auf der Basis einer Vielzahl unterschiedlicher Beweggründe, Absichten, Ziele, Wünsche, Motive etc. (vgl. auch Kapitel 2, Abschnitt 2.3.1.2). Der methodologische Individualismus bzw. Strukturindividualismus reagiert auf dieses Problem auf unterschiedliche Art und Weise. Entweder wird versucht, erfolgreich zu unterstellen, dass alles Handeln letztlich von einer „Universallogik“, wie z.B. dem Ziel der unbedingten „Nutzenmaximierung“ (Rational Choice), getragen wird (vgl. Esser 1996), oder es wird mit unterschiedlichen Idealtypen, mit einfachen Akteursmodellen gearbeitet (vgl. Schimank 2000), die erklären sollen, warum sich Akteure in bestimmten Situationen wie verhalten. Gerade Handlungsgesetze wie z.B. die in Kapitel (2) diskutierte Wert-Erwartungstheorie wirken oft „inhaltsleer“, und ihre Abstraktheit veranlasst zu der Frage, welchen Erklärungsgewinn sie in konkreten Fällen realisieren helfen. Vor allem irritiert im Fall der Wert-Erwartungstheorie aber, dass sie die Vielfalt individuellen Handelns „hart“ auf gerade eine Logik herunter zu brechen sucht. Auch die Wert-Erwartungstheorie ist nämlich letztlich nichts anderes als ein – wie George Kneer es formuliert hat – „heuristisches Prinzip“ (Kneer 2006: 252). Sie ist kein Kausalgesetz, und individuelle Handlungsentscheidungen sind und bleiben multipel realisiert. Sawyer erläutert das Problem multipler Realisierung wie folgt: „There may be a social property that in each token instance is supervenient on a combination of individual properties, but each token instance of that property may be realized by a different combination of individual properties. Many social properties seem to work this way. A token instance of a collective entity that has the social property ‘being a church’ also has a collection of individual properties associated with each of its component members; for example, each individual In may hold properties ‘believing in Xn’ or ‘intending Yn’ where the sum total of such beliefs and intentions are (in some sense) constitutive of the social property ‘being a church.’ Yet the property ‘being a church’ can be realized by a wide range of individual beliefs and dispo-
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Schlussbetrachtung
sitions. The same is true of properties such as ‘being a family’ and ‘being a collective movement’. Microsocial properties are no less multiply realizable; examples include ‘being an argument’, ‘being a conversation,’ and ‘being an act of discrimination.’” (Sawyer 2005: 68). Eben weil soziale Phänomene auf der Ebene des Individuellen multipel realisiert sind und sich Realisierungsformen nie erschöpfend erfassen und behandeln lassen (das Stichwort lautet hier „wildwuchernde Disjunktion“, vgl. Heintz 2004: 25), wird in soziologisch-emergentistischer Perspektive davon ausgegangen, dass das Soziale epistemologisch irreduzibel ist: „Supervenienz: ja – eine Ebenen übergreifende Reduktion: nein“, lautet also der emergenztheoretische Schluss. In emergenztheoretischer Perspektive müssen nun jene „Ereignisse“, „Einheiten“ oder „Elemente“ die Last der Erklärung übernehmen, die als verbindende Momente individueller Selektionen die Realität und Eigenständigkeit des Sozialen begründen, und die die gemeinschaftliche Synthese von Sinn bzw. die gemeinschaftliche Definition von Sinngrenzen tragen. Solche „Ereignisse“, „Einheiten“ oder „Elemente“ können nun abstrakt als „Wechselwirkungen“ bzw. konkreter als „Assoziationen“, „Interaktionen“ oder „Kommunikationen“ bestimmt werden (vgl. noch einmal ebd.: 3). Wird konsequent auf Wechselwirkungen und ihre Effekte fokussiert, so lassen sich auch holistische Verirrungen vermeiden. Und in eben diesem Sinne lässt sich auch soziale Emergenz „reduktionistisch“ erklären. Hierbei geht es allerdings nicht um eine Ebenen übergreifende Reduktion, die Soziales und Psychisches in ein vertikal-inklusives Verhältnis zueinander fügt, sondern um eine „Reduktion“ auf den Anschluss, die Bezugnahme, die Wechselwirkung oder die Realität der sozialen Situation.
Soziale Emergenz – Arbeit am Begriff und Begriffsklärung
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6.1 Soziale Emergenz – Arbeit am Begriff und Begriffsklärung In Kapitel (2) ist diskutiert worden, was unter dem Begriff sozialer Emergenz verstanden werden kann. Auf Basis der bereits mehrfach erwähnten zentralen Kriterien für Emergenz wurde analysiert, auf welche Art und Weise Strukturindividualismus und Systemtheorie mit dem „Eigensinn“ und der „Intelligenz“ des Sozialen umgehen. Strukturindividualismus und soziologische Systemtheorie stellen dominante universaltheoretische Ansätze dar, die in einem nahezu unlösbaren Konflikt miteinander stehen (vgl. zu Versuchen einer Versöhnung u.a. Beiträge in Greshoff und Schimank 2006). Beide Theorien stellen sich als Theorien dar, die davon ausgehen wollen, dass die Gesellschaft „mehr ist als die Summe ihrer Teile“, dass sie eine Realitätsebene ist, die über die Beziehungen und die Eigenschaften der sozialen AkteurInnen hinausgeht. Aufgrund ihrer gegensätzlichen Anlage – hier die strukturindividualistische Theorie Essers, die Handeln, Rationalität, synchrone Determiniertheit und kausale Erklärungen betont; dort die Systemtheorie Luhmanns, die auf Kommunikation, Zuschreibung von Intentionen, Anschluss statt Aggregation und Autopoiesis setzt – und aufgrund ihres universaltheoretischen Anspruchs eignen sich beide Theorien hervorragend, um zu ergründen, was es mit der Diskussion um soziale Emergenz auf sich hat, und um zu erörtern, wie sich der Begriff sozialer Emergenz trennschärfer als bisher fassen lässt. Ziel des zweiten Kapitels war es insbesondere herauszuarbeiten, ob, und wenn ja, inwiefern die beiden Ansätze als emergenztheoretische Angebote verstanden werden können. Im Mittelpunkt des kommunikationstheoretisch orientierten Blicks stand schließlich die Frage, ob und inwiefern gerade die Systemtheorie eine starke emergenztheoretisch-erklärende Position darstellt, hebt Luhmann doch in besonderem Maße die epistemologische Irreduzibilität des Sozialen hervor. Luhmanns Vorstellungen von Sozialität, von der Autopoiesis sozialer Systeme und die Besonderheiten und Feinheiten seines Ansatzes lassen sich letzten Endes erst vor dem Hintergrund der wesentlichen Annahmen des methodologisch-individualistischen bzw. transformationstheoretischen Paradigmas vollständig durchdringen und verstehen. Nur in der parallelen Diskussion bzw. in der Gegenüberstellung lassen sich die besonderen Züge des rotationstheoretischen Denkens sichtbar machen. Und spannend wird damit die Frage, welche Denkweise dem Emergentismus näher steht. Im Kontext beider Theoriegebäude wird einerseits davon ausgegangen, dass die Erscheinungsformen und die Eigenschaften sozialer Phänomene von Mikroprozessen der Handlungswahl bzw. der Verschränkung von individuellen Selektionen in kommunikativen Ereignissen abhängen, und andererseits wird angenommen, dass soziale Strukturen einen deutlichen „abwärtsgerichteten Einfluss“ auf
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Schlussbetrachtung
die Situationsdefinitionen/Handlungsentscheidungen bzw. die Emergenz neuer Kommunikationsereignisse ausüben. Strukturindividualismus und Systemtheorie weisen im ersten Moment gleichermaßen emergenztheoretische Merkmale auf. Sie sind monistisch (Selektionsereignis vs. Kommunikationsereignis) orientiert, versuchen eingehend, das Verhältnis von Individualität und Sozialität, von Bewusstsein und Sozialität zu klären und fokussieren auf die Eigenständigkeit des Sozialen sowie auf Formen der „downward causation“ bzw. des abwärtsgerichteten Einflusses. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass der Strukturindividualismus maximal schwache Emergenz kennt, die Systemtheorie hingegen aber eine starke Emergenz des Sozialen proklamiert. Im Strukturindividualismus werden die Ebenen des Sozialen und des Psychischen in ein vertikal-inklusives Verhältnis zueinander gesetzt. Soziale AkteurInnen fertigen auf der Basis ihnen bekannter Interpretations- und Kulturmuster Situationsdefinitionen an, die sie schließlich zu den sich ihrer Einschätzung nach bietenden Alternativen des Handelns in Beziehung setzen. Indem sie versuchen, den eigenen Nutzen zu maximieren, entscheidend sich die sozialen AkteurInnen gemäß den Grundannahmen des Strukturindividualismus schließlich für eine bestimmte Alternative. Welche strukturellen Wirkungen einzelne Handlungen tatsächlich hervorrufen können, hängt wiederum davon ab, wie ihr Zusammenwirken gesellschaftlich organisiert wird. Institutionelle Regelungen, Akteurskonstellationen, Prozessverläufe etc. sorgen für diese Transformation, deren Resultate sich nicht ohne Weiteres vorhersagen lassen. Zum einen ist zunächst festzuhalten, dass der Strukturindividualismus, anders als für emergenztheoretische Ansätze üblich, von einer deterministischen Kausalrelation ausgeht und nicht bloß von Supervenienz bzw. von einer „nichtdeterministischen ‚Zuordnungsrelation‘“ (Bora 2000/2005: 19).156 Nur die Handlungsentscheidungen der AkteurInnen konstituieren Sozialität. Verteilungsstrukturen, Interdependenzen, Beziehungsmuster und institutionelle Strukturen stellen lediglich soziale Rahmenbedingungen dar, die so, wie sie in sozialen Situationen zum Ausdruck kommen, von den sozialen AkteurInnen in ihrer Bedeutung eingeschätzt werden, und die andererseits auch die Wirkungen des individuellen Handelns (miteinander) „vermitteln“. Obwohl im Modell der soziologischen Erklärung klar auf die Bedeutung sozialer Strukturen hingewiesen wird, ist für die Erklärung sozialer Phänomene immer die Logik der Selektion vordergründig entscheidend, und soziale Emergenz muss sich mit Bezug auf eben diese Logik kausal erklären lassen: „Sie ist der analytisch-nomologische Kern des gesamten 156
Zur Erinnerung: Auch der von den frühen Emergentisten vertretene „physische Monismus“ war bereits, wie Hoyningen-Huene und Stephan übereinstimmend betonen, nicht als ein „mechanischer Materialismus“ (Hoyningen-Huene 1994: 170) oder ein „reduktiver Physikalismus (oder Materialismus)“ (Stephan 1999: 16) zu verstehen.
Soziale Emergenz – Arbeit am Begriff und Begriffsklärung
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Modells. Nur mit diesem Kern wird das Ganze eine richtige Erklärung“ (Esser 1996: 95, Hervorheb. im Original). Da die Logik der Selektion in strukturindividualistischer Perspektive immer durch den Versuch einer Maximierung individuellen Nutzens gekennzeichnet ist, gibt es auch kein Problem mit einer „multiplen Realisierung“ und mit einer „wildwuchernden Disjunktion“. Wechselwirkungen zwischen den Handlungen bestimmter Individuen lassen sich im Modell im Rahmen der Mikro-Makro-Transition erfassen. Um die Logik der Aggregation zu erklären, können unterschiedlichste Argumente herangezogen werden (vgl. ebd.: 97). Zu berücksichtigen bleibt allerdings, dass solche, sich auf der Ebene des Sozialen einstellenden Wechselwirkungen nicht die kleinstmöglichen sozialen Ereignisse oder die „Letztelemente“ des Sozialen sein können. Das kausalgenerative Moment ist und bleibt das Ereignis der Handlungswahl. Im Strukturindividualismus wird die Bedeutung der „dritten Ebene“ des Sozialen, der Ebene der Wechselwirkungen (vgl. Heintz 2004: 3), insofern in gewisser Weise herab gesetzt. Zwar beansprucht auch der Strukturindividualismus, die Bedeutung der Mesoebene des Sozialen zu sehen und entsprechende Wechselwirkungen auch unmittelbar erfassen und erklären zu können, indem z.B. Kommunikationsprozesse als Prozesse der Verknüpfung von Akteuren zu sozialen Systemen auf der Grundlage von Handlungsentscheidungen modelliert werden. Was allerdings immer wieder gegenüber den Handlungswahlen in den Hintergrund rückt, sind die jeweils eigene „Logik“ und die sinnkonstitutiven Effekte solcher Wechselwirkungen. Um die Eigenschaften von Kommunikationsanschlüssen, um Verlaufsformen, Muster und Eigenheiten der Kommunikation beschreiben zu können, integriert Esser schließlich vor allem systemtheoretische Konzepte in sein auf dem MSE basierendes Prozessmodell der Kommunikation (vgl. Esser 2000: 275 ff.). Entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass Esser „soziale Verursachung“ klar an das kausale Agens der Akteurin/des Akteurs koppelt. Anders als bei Luhmann, der Kausalität zuallererst in beobachtungstheoretischer Perspektive als Schema der Zurechnung von Ursachen auf Wirkungen bzw. von Wirkungen auf Ursachen (vgl. Luhmann 1995b) verstanden wissen will und der somit das Denken von multiplen Kausalverhältnissen und unterschiedlichen verursachenden Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen des Sozialen möglich macht, bedarf eine jede Erklärung in strukturindividualistischer Perspektive immer der Rekonstruktion der Handlungswahl von AkteurInnen. In strukturindividualistischer Perspektive würde es so z.B. nicht ausreichen, typische, wiederkehrende Verlaufsformen der Kommunikation als Erklärung für die Autopoiesis bestimmter sozialer Systeme zu bemühen und im Wechselspiel von Prokursivität und Rekursivität der Kommunikation einen verursachenden Faktor erblicken zu wollen. Das Problem ist nun allerdings, dass eine solche Vorgehensweise vor dem Hintergrund des Problems der multiplen Realisierung durchaus ihre Berech-
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Schlussbetrachtung
tigung hat. Zwar mag eine funktionale Erklärung nicht dem Ideal der deduktivnomologischen Erklärung gerecht werden können. Fraglich ist aber in Anbetracht des von Esser übergangenen bzw. „wegdefinierten“ Problems der multiplen Realisierung, ob eine kausale Erklärung, die auf die Handlungsentscheidungen der AkteurInnen zurückgeht, immer auch jene Erklärung ist, die tatsächlich zu einem besseren Verständnis der Entstehung, Reproduktion oder Transformation von sozialer Ordnung führt (vgl. zur Frage der Nützlichkeit unterschiedlicher Typen von Erklärungen auch Heintz 2004: 11 ff.). In der Perspektive des Strukturindividualismus ist eine epistemologische Irreduzibilität des Sozialen ausgeschlossen. Auch ist längst nicht sicher, inwiefern sich das strukturindividualistische Modell der soziologischen Erklärung von Ansätzen unterscheidet, die soziale Phänomene in erster Linie als Fiktionen verstanden wissen wollen; als Fiktionen, deren Realitätscharakter sich soziale AkteurInnen immer wieder wechselseitig bestätigen. So hat z.B. Gerd Albert versucht zu zeigen, dass eine Erklärung der Mikro-Makro-Transition mit Hilfe analytischer Sätze das MSE zu einem Modell geraten lässt, welches die Möglichkeit einer epistemologischen wie ontologischen Reduktion von Makrophänomenen auf Mikrophänomene bzw. die Möglichkeit einer „identitätsmäßigen“ Gleichsetzung von Mikro- und Makroebene postuliert (vgl. Albert 2005: 395). Bettina Heintz hat schließlich argumentiert, dass der strukturindividualistische Ansatz bzw. das emergenztheoretische Denken Essers von Inkonsequenz gekennzeichnet sei (vgl. Heintz 2004: 17 ff.). Esser spricht davon, dass die Gesellschaft, dass das Soziale eine den Individuen „vorgängige Kraft“ sei und eigenständige, reale Eigenschaften aufweise (Esser 1996: 404). Die Annahme einer ontologischen Irreduzibilität des Sozialen sei, so Heintz, allerdings nicht umstandslos mit der reduktionistischen Grundauffassung des Strukturindividualismus zu vereinbaren. Ihrer Ansicht nach würde sich der Strukturindividualismus mit der Annahme einer ontologischen Irreduzibilität des Sozialen letztlich nur jener Auffassung annähern, die „(…) die den Reduktionisten als der Kardinalfehler der ‚Kollektivisten‘ gilt“. Heintz empfiehlt dem Strukturindividualismus schließlich, das reduktionistische Programm konsequent zu verfolgen und Makrogebilde nur noch über die zwischen sozialen AkteurInnen bestehenden Beziehungen zu definieren (Heintz 2004: 19). Wie ebenso in Kapitel (2) herausgearbeitet, gestaltet sich die Sachlage mit Blick auf die Systemtheorie anders, und dennoch lässt auch sie sich nicht völlig umstandslos als emergenztheoretischer Ansatz bezeichnen bzw. interpretieren. Und dies, obwohl sie soziale Phänomene unmittelbar auf „genuin“ soziale Einheiten oder Elemente – nämlich auf Kommunikationsereignisse – zurückzuführen sucht. Luhmann schließt im Rahmen seiner Theorie zunächst die Möglichkeit
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aus, die Emergenz sozialer Strukturen bzw. Systeme in Handlungsbegriffen erklären zu können (vgl. ausführlicher Luhmann 2002: 247 ff.). Er vertritt stattdessen konsequent einen kommunikationstheoretisch und symbolisch-interaktionistisch gefassten methodologischen Situationalismus. Für Luhmann ist ein SichVerhalten noch kein soziales Faktum, und er kennt – anders als Esser – auch keine gedankliche Koorientierung als Form sozialer Interaktion (vgl. Esser 2002: 229 ff. sowie 295). Auch Versuche der kommunikativen Bezugnahme auf Andere stellen für Luhmann keine erfolgreichen Kommunikationen dar. Anders formuliert: Die Selektion einer Information und die Selektion eines Mitteilungsverhaltens sind per se noch keine sozial relevanten Selektionen. Erst wenn verstanden wird, sind Information und Mitteilung zu Unterscheidungen geworden, die einen weiteren Unterschied gemacht haben. Wesentlich ist ferner, dass Kommunikation im Anschluss an das kognitive Verstehen weiter geht. Erst wenn auf eine Mitteilung sichtbar mit einer neuen Mitteilung reagiert wird, ist für am Kommunikationsprozess beteiligte Akteure erkennbar, welche soziale Situation oder Gesamthandlung entstanden ist, d.h. welche soziale Bedeutung den jeweiligen Selektionen zukommt. Luhmann bemüht sich nun, vor diesem Hintergrund die Daueremergenz sozialer Systeme, ihre Autopoiesis, in funktionalistischem Sinne zu erklären, und er fragt danach, wie soziale Systeme auf der Basis von systemtypischen Strukturen die Reproduktion jener flüchtigen Kommunikationen sicher stellen, aus denen sie selbst bestehen. Luhmann entwickelt schließlich ein rotationstheoretisches Modell sozialer Emergenz, indem er beschreibt, wie Systemstrukturen die Reproduktion systemtypischer Kommunikationsereignisse sicher stellen, und wie Systemstrukturen sich selbst auf der Basis von erwartungskonformen Kommunikationsanschlüssen reproduzieren. Auch bleiben Veränderungen denkbar. Sie werden wahrscheinlich, sobald Erwartungen mehr oder weniger stark enttäuscht werden. Hier sei noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass der Erwartungsbegriff Luhmanns ein abstrakter ist. Erwartungen stellen soziale Sinnformen dar, die von Rollenbildern und Programmen bis hin zu symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien reichen. Anders als der Strukturindividualismus betont die Systemtheorie grundsätzlich die ontologische und epistemologische Irreduzibilität des Sozialen. Auch Luhmann geht mit Blick auf das Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen von einem Eigenschaftsdualismus aus. Anders als Durkheim vertritt er, auch wenn seine Position oft fälschlicherweise als kollektivistische oder holistische interpretiert wird, keine dualistische Sozialontologie. Zwar geht die Systemtheorie von einem strikt überschneidungsfreien Operieren psychischer und sozialer Systeme aus; die Emergenz sozialer Systeme ist aber immer nur als ein Effekt des „Sich-wechselseitig-Irritierens“ von psychischen und sozialen Systemen auf
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Schlussbetrachtung
der Basis medial vermittelter struktureller Kopplungen zu verstehen. Soziale wie psychische Systeme organisieren ihre Autopoiesis auf der Grundlage ein und desselben Universalmediums, auf der Basis von Sinn. Auch wenn Bewusstsein und Kommunikation unterschiedliche Realitätsebenen darstellen, ist die Grundlage ihres selbstreferentiell-geschlossenen Operierens also immer identisch. Die Emergenz sozialer Systeme ruht auf den Selektionsentscheidungen sozialer Akteure auf, dennoch lassen sich aber keine deterministischen Zuordnungsrelationen bestimmen. Kommunikation ist „Ausdruck“ von Intentionalität, und ebenso werden Intentionen in der Kommunikation („intentional“) zugerechnet und unterstellt. In der Kommunikation beschäftigt immer die Frage, in welchem Verhältnis Sagen und Meinen zueinander stehen, in der Kommunikation beschäftigt immer die Frage, welche Motive, Intentionen, Ziele etc. Mitteilungs- und Verstehensselektionen zugrunde liegen. Zuschreibungen und Unterstellungen prägen die Dynamik der Kommunikation. In der Kommunikation entstehen nun fortwährend neue soziale Situationen und Gesamthandlungen, die vielfältig konnotiert sind und unterschiedliche systemische Kontexturen aktivieren. Da sich bereits im Kommunikationsereignis die Selektionen verschiedener Akteure verschränken und Kommunikation immer nachträglich sinnhafte Über- und Verformung bedeutet, ist mit Blick auf das Sozialität ausschließlich definierende Moment der Kommunikation kaum verlässlich einzuschätzen, welche Folgen einzelne Selektionen tatsächlich haben werden oder nicht. Aus diesem Grunde plädiert Luhmann schließlich für einen – wie Heintz es formuliert hat – „kommunikativen Monismus“ (Heintz 2004: 24), der es erst erlaubt zu erschließen, wie sich die Autopoiesis sozialer Systeme vollzieht. In ontologischer Hinsicht versucht sich die Systemtheorie damit zunächst aber nicht anders zu verhalten als der methodologische Individualismus, auch wenn Luhmann das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation konzipiert. In Kapitel (2) ist ausführlich herausgearbeitet worden, dass sowohl der „kommunikative Monismus“ wie auch die Annahme der „kommunikativen Mikrodeterminiertheit“ von Interaktionssystemen, Organisationssystemen, Funktionssystemen und Weltgesellschaft die Systemtheorie als einen emergenztheoretischen Ansatz ausweisen. Kommunikative Mikrodeterminiertheit bedeutet, dass es die Inhalte der Kommunikation und ihre selektiven Verknüpfungen sind, die über jeweilige Systemmerkmale disponieren. Systemmerkmale ändern sich nur, sofern sich auch die Strukturdynamik systemrelevanter Kommunikationsprozesse ändert, d.h. „höherstufige“ Systemtypen supervenieren über jenen Kommunikationsprozessen, die „tieferliegende“ Kommunikationssysteme begründen. Auch die Konzeption des Verhältnisses der unterschiedlichen Systemtypen als inklusiv ist in emergenztheoretischem Sinne plausibel gelungen. Die Autopoiesis
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jeweils „höherstufiger“ Systemtypen organisiert sich immer auf der Basis von Kommunikationsprozessen, die sich auf „nächsttieferen“ Systemebenen vollziehen, „höherstufige“ Systemtypen erschöpfen sich hierin aber nicht. Funktionssysteme konstituieren sich so z.B. auf der Grundlage von ganz spezifischen Interaktions- und Organisationskommunikationen, erschöpfen sich aber nie vollständig in diesen Prozessen. Das, was ein Funktionssystem ausmacht, erklärt sich vielmehr erst mit Blick auf die seiner Autopoiesis zugrunde liegenden Kommunikationsprozesse, mit Blick auf Anschlusslogiken und Strukturdynamiken, mit Blick auf das Kommunikationsanschlüsse jeweils prägende, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium, mit Blick auf weitere Formen generalisierter Erwartungen und mit Blick auf die jeweilige systemische Kontextur, d.h. im Hinblick auf das jeweils bewährte Reservoir an Semantiken, welches die funktionssystemtypische Kommunikation „rahmt“. Vor allem die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und die entsprechenden Reservoirs an bewährten Semantiken sorgen dafür, dass sich Funktionssysteme in der Organisationsund Interaktionskommunikation reproduzieren können. Anders als Luhmann gehen wir davon aus, dass nicht nur symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien die Autopoiesis eines Funktionssystems tragen, sondern dass alle Kommunikationsprozesse für die Systememergenz entscheidend sind, in denen funktionssystemspezifische Semantiken zum Tragen kommen. Dies gilt auch im Hinblick auf Fremdbeobachtungen und Fremdbeschreibungen, sofern diese wiederum im Kontext des fremdbeobachteten Funktionssystems registriert werden. Kommunikationen, die beschreiben, wie ein System funktioniert, stellen „Infrastrukturleistungen“ für den Prozess der Autopoiesis bereit und rahmen diesen, und ebenso wird die Aktivierung eines symbolischen Kommunikationsmediums – wir haben dies in Kapitel (2) am Beispiel des politischen Systems gesehen (vgl. Kapitel 2, Abschnitt 2.3.2.8) – immer durch die Verwendung systemadäquater Semantiken gestützt. Das Verhältnis der Systemtypen Interaktion, Organisation, Funktionssystem und Weltgesellschaft „umfasst“ also zugleich „Emergenz von unten“ und „Konstitution von oben“ bzw. – besser und systemtheoretisch adäquat formuliert – Sozialität „rotiert“ über unterschiedliche Systemebenen hinweg „in sich selbst“. Soziale Systeme lassen sich also nur als emergente Phänomene verstehen, deren Identität in der „Ablauflogik“ von Kommunikationsprozessen, in der Verschränkung von unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven miteinander und in semantischen Kontexturen zum Ausdruck kommt. Soll die Emergenz sozialer Systeme in kommunikationstheoretischer Perspektive erklärt werden, so muss am Phänomen des Kommunikationsanschlusses, am selbstreferentiellen Operieren eines Systems angesetzt werden. Luhmann hat auf Basis des Theorems doppelter Kontingenz, auf der Basis unterschiedlicher Grenzziehungsprinzipien, mit
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Schlussbetrachtung
Hilfe der Medium/Form-Unterscheidung sowie mit Hilfe des Konzeptes generalisierter Erwartungen versucht, ganz grundsätzlich zu beschreiben, wie Sozialität emergiert. Die Abstraktheit der Begriffe wird allerdings zu einem nicht unerheblichen Problem, sobald es darum gehen soll, die Emergenz von sozialen Eigenund Strukturwerten oder die Autopoiesis von Systemen am konkreten Beispiel zu erläutern. Entscheidend ist dann, möglichst genau zu analysieren und zu erklären, wie Kommunikationsereignisse Möglichkeiten tatsächlich eröffnen und einschränken, d.h. welche Selektionsbeschränkungen sie in sich tragen, und wie in Folgemitteilungen mit eben diesen Selektionsbeschränkungen umgegangen wird. Um also nachvollziehen zu können, welche Ablauflogiken Prozesse sozialer Emergenz kennzeichnen und wie soziale Strukturen bzw. systemische Kontexturen aufgerufen, reproduziert und transformiert werden, sind zuallererst zwischen Mitteilungen bestehende Referenzstrukturen bzw. Sinnverhältnisse zu analysieren, und es ist zu untersuchen, welche konkreten (semantischen) Erscheinungsformen generalisierte Erwartungen annehmen und wie einzelne Selektionsbeschränkungen zusammenwirken. Wie eine system- und kommunikationstheoretisch fundierte Analyse der Genese sozialen Sinns allerdings aussehen könnte, darüber schweigt sich die soziologische Systemtheorie aus. Die Systemtheorie bleibt – und dies ist ein wesentliches Ergebnis der in Kapitel (2) präsentierten Betrachtungen – merkwürdig indifferent gegenüber der Frage, was Kommunikationsprozesse, verstanden als Emergenzprozesse, ausmacht, wie sie sich charakterisieren lassen, welche Ablauflogiken Kommunikationsprozesse kennzeichnen können etc. Mit anderen Worten: Der Systemtheorie ist es äußerst gut gelungen zu erfassen, was emergente Eigenschaften des Sozialen sind und diese mit Hilfe abstrakter Begriffe zu beschreiben. Was allerdings fehlt, ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Dynamiken der Kommunikation; was fehlt, ist eine ausführliche Theoretisierung der Formen und Effekte von Kommunikationsanschlüssen bzw. der Effekte des Nachtragsmanagements der Kommunikation; eine Theoretisierung, die über die Bemerkungen Luhmanns zur „vierten Selektion“ hinausgeht. Luhmann hat sich vor allem für die „prokursiven Effekte“ von Kommunikationsereignissen interessiert, also dafür, inwiefern ein bestimmtes Kommunikationsereignis selbst bis zu einem gewissen Grade darüber zu disponieren vermag, welche Anschlüsse ihm nachfolgen werden. Diese Perspektive führt bei Luhmann schließlich zu einer strukturtheoretisch konservativen Haltung; was vor allem interessiert, ist die unveränderte, durch generalisierte Erwartungen gesicherte Systemreproduktion. Zwar mag es richtig sein, dass sich mit Blick auf die funktionale Differenzierung eines etablierten Gesellschaftssystems üblicher Weise nicht viel verändert. Unterhalb der Grenzen der einzelnen Funktionssysteme passiert jedoch viel; hier werden Mikrostrukturen bzw. Selektionsbeschränkungen in der Form von Semantiken, Themen, Rollen,
Soziale Emergenz – Arbeit am Begriff und Begriffsklärung
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kommunikativen Prozeduren und Verfahren usw. permanent reproduziert, differenziert, ausgetauscht und verändert. Um erklären zu können, wie solche soziale Eigen- und Strukturwerte entstehen und Wirkmächtigkeit entfalten, muss die gleichermaßen system- wie kommunikationsorientierte Theorie und Forschung vor allem ein Verständnis dafür entwickeln, wie es infolge von (parallelen) Kommunikationsanschlüssen bzw. im Verlauf von Kommunikationsprozessen zur Ausbildung von wiederkehrenden Anschlussmustern und zur Emergenz von sozialer Bedeutung kommt. An diesem Punkt muss vor allem das „Nachtragsmanagement“ der Kommunikation interessieren. Während ein Kommunikationsereignis in systemtheoretischer Perspektive mit dem Verstehen schließt, werden seine soziale Bedeutung und sein strukturreproduzierendes oder strukturdifferenzierendes Potential erst infolge von Kommunikationsanschlüssen definiert und sichtbar. Sofern die Emergenz von Eigen- und Strukturwerten erklärt werden soll, müssen vor allem die Effekte von Kommunikationsanschlüssen eingehend untersucht und thematisiert werden. Nur so lässt sich die Systemtheorie zu einem emergenztheoretischen Ansatz weiterentwickeln, der nicht nur die Irreduzibilität der Eigenschaften sozialer Systeme proklamiert und diese Eigenschaften beschreibt, sondern der ebenso in die Lage versetzt, den Ablauf von Kommunikationsprozessen modellieren, und damit auch erklären zu können, wie soziale Eigen- und Strukturwerte emergieren und in der Kommunikation aktualisiert und aktiviert werden. Urs Stäheli (1998) hat in besonderem Maße herausgearbeitet, dass Luhmann das systemkonstitutive Potential sozialer Strukturen in eigentümlicher Weise auf die abstrakte Sinnform der Erwartung verkürzt hat, obwohl in prozesstheoretischer Sicht auch Struktur in der Form von Semantik und Selbstbeschreibung die Autopoiesis sozialer Systeme organisiert. Eigenwerte wie Semantiken, Deutungen, Deutungsmuster und Beschreibungen sind also nicht nur im Hinblick auf ihren „Ausdruckswert“, sondern auch im Hinblick auf ihre systemkonstitutive Funktion interessant (vgl. Stäheli 1998: 320 sowie 329 ff.). Aus der in Kapitel (2) geführten Diskussion ergeben sich im Prinzip zwei Schlussfolgerungen bzw. Forderungen: 1.
Um Prozesse der Emergenz von sozialen Eigen- und Strukturwerten in der Form von sozialen Semantiken/systemischen Kontexturen und kommunikativen Prozeduren/Mechanismen in der Zukunft auch am konkreten Beispiel system- und kommunikationstheoretisch fundiert modellieren zu können, muss das „Nachtragsmanagement des Anschlusses“ weiterführend thematisiert und theoretisiert werden. Hierzu liegen bislang nur wenige Überlegungen vor, und ebenso rar gesät sind Versuche, auf der Basis der Beobachtung von Kommunikationsanschlüssen erklären zu wollen.
298 2.
Schlussbetrachtung
Mit Blick auf 1. ist in systemtheoretischer Perspektive die Bedeutung von Semantiken in Zukunft anders zu fassen. Soziale Bedeutungen müssen als systemkonstitutive Eigenwerte des Sozialen verstanden werden, die die Kommunikation rahmen und orientieren. Über eine ausführliche Beschäftigung mit unterschiedlichen „bewährten“ Semantiken (Vogd 2005: 70) dürften sich auch neue Argumente zur strukturellen Kopplung gewinnen lassen.
Obwohl die Systemtheorie eine genaue Vorstellung davon entwickelt, wodurch kommunikationsbasierte Prozesse sozialer Emergenz gekennzeichnet sind und zu welchen Folgen sie führen, reichen die Begriffe der Systemtheorie nicht vollständig aus, um auch das wie sozialer Emergenz, um die lokalen Effekte und Folgen und die Ablaufdynamiken und Wirkungen von Kommunikationsprozessen zu beschreiben und zu erklären. An genau diesem Punkt bedarf das Kommunikationsmodell der Systemtheorie bzw. die kommunikationstheoretische Fundierung des systemischen Denkens der Erweiterung. Soziale Emergenz wäre dann als die anschlussbasierte, „synergetische“ Entstehung, Reproduktion und Transformation von sozialen Eigen- und Strukturwerten in der Form von differenzierten Selektionsbeschränkungen und kommunikativen Verfahren, Prozeduren oder Mechanismen zu verstehen. Und sie orientieren, stützen und organisieren die Autopoiesis sozialer Systeme. Hier soll nicht behauptet werden, dass es der Systemtheorie nicht möglich wäre, soziale Emergenz abstrakt zu beschreiben. Offen ist allerdings, inwiefern systemtheoretische Konzepte in der von Luhmann präsentierten Form bereits genutzt werden können, um Prozesse innersozialer Emergenz zu modellieren. Die entscheidende Frage betrifft also die Anschlussfähigkeit systemtheoretischer Begriffe für die kommunikationssoziologische Forschung. Sollen Prozesse sozialer Emergenz nicht nur abstrakt auf den Begriff gebracht, sondern soll innersoziale Emergenz mit Blick auf empirische Fallbeispiele auch modelliert und erklärt werden, so ist danach zu fragen, wie zentrale Begrifflichkeiten der Systemtheorie so ausgebaut werden können, dass es möglich wird, die Effekte von verteilt und parallel erfolgenden Kommunikationsanschlüssen angemessen zu erfassen und zu erklären.
6.2 Anschluss und Emergenz in erweiterter Perspektive Um Möglichkeiten der angezeigten Erweiterung ausloten zu können, ist in Kapitel (3) diskutiert worden, welche Vorschläge den engen Bezug zur Systemtheorie suchende Ansätze hierzu bislang machen. Als relevant wurden vor allem solche Arbeiten angesehen, die in besonderem Maße auf die Bedeutung der „vierten Selektion“ eingehen und zu ergründen versuchen, was die Kommunikation „be-
Anschluss und Emergenz in erweiterter Perspektive
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wegt“ und vorantreibt. Sowohl Wolfgang Ludwig Schneider (vgl. Schneider 1994, 2001 und 2004) wie auch Heinz Messmer (2003a und 2003b) zeigen in ihren Arbeiten zur Emergenz von „Gesamthandlungen“ bzw. zur Emergenz des sozialen Konfliktes, dass Anschlussfähigkeit nicht einfach eine „vorgängige“ Eigenschaft eines Kommunikationsereignisses oder einer Mitteilung ist, sondern dass sie immer auch rückwirkend auf der Basis von Kommunikationsanschlüssen sozial sichtbar definiert und expliziert wird (vgl. im Besonderen Schneider 1994 und 2001 sowie Messmer 2003a und 2003b). Mit Kommunikationsanschlüssen zeigt sich erst, worin die soziale Bedeutung eines vorgängigen Kommunikationsereignisses liegt, und an welche Sinnfacetten dieses Ereignisses es sich anzuschließen lohnt. Während Schneider zeigt, wie Kommunikationsanschlüsse den Handlungssinn einer Synthese von Information und Mitteilung sozial definieren (Schneider 1994) und ebenso erörtert, wie die mehrfach kongruente Beschreibung von bestimmten Kommunikationsereignissen bzw. Mitteilungen (Markierung von „Intersubjektivität“) Deutungen zu tragfähigen Bestandteilen gemeinschaftlich erarbeiteter Wirklichkeitsdefinitionen werden lässt (vgl. Schneider 2001: 93 ff.), gelingt es Messmer nachzuweisen, dass Kommunikation streng genommen keinen Anfang kennt, und dass Kommunikationsprozesse immer nur auf der Basis „nachträglicher Initialisierung“ an Identität gewinnen, d.h. zu distinkten Kommunikationsepisoden werden. Im Rahmen seiner durch die Begrifflichkeiten der Systemtheorie angeleiteten konversationsanalytischen Studien zur Entstehung von Konflikten arbeitet Messmer anschaulich heraus, dass es die Widerspruchskommunikation ist, die ein Kommunikationsereignis als „konflikthaft“ definiert, und dass es der Widerspruch gegen den Widerspruch, die tatsächliche „Bestätigung“ der Unvereinbarkeit zweier Sinnperspektiven ist, der/die den Widerspruch erst zu einer sozial relevanten Selektion werden lässt (vgl. detailliert Messmer 2003a). Schneider und Messmer entwickeln ihre eigenen kommunikationstheoretischen Konzepte insbesondere am Beispiel von Interaktionssystemen. Da diese Konzepte vor allem aber auf die zwischen Mitteilungen bestehenden Sinnverhältnisse fokussieren und nicht im Besonderen auf die Bedeutung der (körperlichen) Anwesenheit bzw. des symbiotischen Mechanismus der wechselseitigen Wahrnehmung abheben, liegt eine Übertragung auch auf massenmedial ermöglichte Kommunikationsprozesse nahe. Schneider selbst macht hierzu gar entsprechende Vorschläge (vgl. noch einmal Schneider 2001: 93 ff. sowie Schneider 2002: 297 ff.). Dirk Baecker hingegen definiert Kommunikation im Rahmen des Nachdenkens über ihre „Form und Formen“ (2005a) als einen Prozess, der nicht nur Bestimmtes in den Mittelpunkt sozialer Aufmerksamkeit rückt und anderes einfach ausschließt, sondern der dem Ausgeschlossenen in ganz besonderer Weise auch die Chance auf seinen „Wiedereintritt“ gewährt. Baecker zufolge sind selektierte
300
Schlussbetrachtung
Informationen immer dann „überraschend“, wenn sie Rückschlüsse auf noch nicht Thematisiertes motivieren. Überraschung regt die Suche nach Versatzstücken an, die zu bereits selektierten Informationen passen, sodass die Kommunikation zum einen sowohl im Hinblick auf ihre Signifikanzen und Relevanzen begrenzt und stabilisiert wird, und zum anderen neue Mitteilungen aber auch dafür sorgen können, dass jener kommunikative Raum, der bereits markiert ist, eine weiterführende „Auffächerung“ und Verschiebung in bestimmter Hinsicht erfährt. Eben hierin liegt Baecker zufolge die wohl wichtigste Funktion und Eigenschaft von Kommunikation begründet: Sie begrenzt, und sie fordert Neues, das zum bereits Bestehenden passt. Die von Baecker in den kommunikationstheoretischen Blickpunkt gerückte Suche nach passenden Informationen unter dem Eindruck des überraschenden Potentials von Mitteilungen lässt sich als ein wichtiges Moment verstehen, das die kommunikative Emergenz von sozialen Eigenund Strukturwerten vorantreibt. Obwohl Baecker das Wissen über die Effekte von Kommunikationsereignissen und -anschlüssen zu mehren sucht, bleibt allerdings offen, welche neuen Beobachtungs-, Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten seine Erkenntnisse bieten. Im Wesentlichen bleibt Baecker noch viel zu abstrakt, um tatsächlich etwas über die Charakteristika von Kommunikationsprozessen oder über Anschlusslogiken aussagen zu können. Insofern gilt es weiterhin zu eruieren, welche Betrachtungen Baeckers Vorstellungen und Begriffe möglich machen. Ein Vorschlag hierzu ist in Kapitel (5) im Rahmen der beispielhaften Modellierung von kommunikativen Mechanismen unterbreitet worden. „Überraschung“ ist in diesem Zusammenhang zunächst weiterführend als „Unterbestimmtheit“ einer Mitteilung definiert worden. Unterbestimmte Mitteilungen lassen selbst weitestgehend offen, in welchen Kotexten sie stehen, und diese Offenheit „zwingt“ RezipientInnen dazu, Kotexte selbsttätig zu (re)konstruieren und sich wechselseitig über die Angemessenheit von Rekonstruktionen zu verständigen, wodurch die Kommunikation an Bewegung gewinnt. Andere Kommunikationstheoretiker werden an diesem Punkt konkreter. Helmut Willke (2005) und Thomas Malsch (2005) versuchen im Rahmen ihrer kommunikationstheoretischen Betrachtungen, typische formale Merkmale von Kommunikationsprozessen zu bestimmen und ebenso zu erklären, wie in der Kommunikation mit Inhalten, mit „Daten“ und mit „dynamischen Eigenwerten“ (Willke) bzw. mit „Signifikanzen“ und „Relevanzen“ (Malsch) umgegangen wird. Ziel ist es, weiterführend zu beschreiben und zu ergründen, wie die Effekte von Kommunikation in emergenztheoretischer Perspektive erklärt werden können. Willke definiert Kommunikationsprozesse als Prozesse der Generierung systemischer Wissensbestände bzw. als Prozesse der Koproduktion sozialer Eigenwerte (er nennt als Beispiele für Eigenwerte „Regeln“, „Normen“, Bräu-
Anschluss und Emergenz in erweiterter Perspektive
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che“, „Erwartungen“, „Rollen“ und „Prozesse“; vgl. Willke 2005: 62), die durch die Autopoiesis psychischer und symbolischer Systeme gestützt werden und ebenso auf diese zurückwirken. In Kapitel (3) ist bereits darauf hingewiesen worden, dass eine systemtheoretisch informierte Konzeption von Sprache bzw. Schriftsprache als autopoietisches System alles andere als unproblematisch ist. Sofern auch symbolische Systeme als autopoietische Systeme verstanden werden sollen, müsste (neu) erklärt werden, wie sich die strukturellen Kopplungen zwischen Bewusstsein, Kommunikation und (Schrift-)Sprache gestalten. Ebenso ist problematisch, dass Willke zwar die „Emergenzfunktion“ von Kommunikationsprozessen postuliert, nicht aber am Beispiel zeigt, wie Eigen- und Strukturwerte im Verlauf von Kommunikationsprozessen entstehen und reproduziert werden. Obwohl sich Willke ganz unmittelbar für die Emergenzeffekte von Kommunikationsanschlüssen bzw. -prozessen interessiert, bemüht er sich nicht, seine systemtheoretischen Konzepte für die Wissens- oder die Kommunikationssoziologie anschlussfähig zu machen. Anders hingegen verhält es sich im Falle der Theorie der kommunikationsorientierten Modellierung von Thomas Malsch (Malsch 2005). Malsch interessiert sich nicht nur dafür, theoretisch präzise zu durchdringen, was Kommunikationsanschlüsse sind, sondern er interessiert sich ebenso für die Frage, wie sich distinkte Anschlussmuster in Kommunikationsprozessen ausprägen und wie es zu einer Stabilisierung bzw. Reproduktion dieser Muster kommt. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen dabei die empirisch sichtbare Mitteilung bzw. das Mitteilungszeichen und seine Eigenschaften. Sofern Mitteilungszeichen für einen längeren Zeitraum verfügbar bleiben (Speicherung und Zugänglichkeit), kann geprüft werden, welche Verbindungen, welche sozial sinnhaften Referenzen zwischen ihnen auf der Basis von Signifikanz- und Relevanzsetzungen realisiert worden sind. Um die Emergenz von sozialen Eigen- und Strukturwerten beschreiben und modellieren zu können, ist in der Perspektive der COM-Theorie nun insbesondere zu analysieren, welche (basalen) Referenzierungs-, Anschlussoder Ordnungsmuster diese tragen. Von Interesse ist, ob bestimmte Referenzierungsmuster immer im Hinblick auf bestimmte Eigen- und Strukturwerte zum Tragen kommen, und ob es Mechanismen gibt, die einen jeden Emergenzprozess kennzeichnen. Hervorzuheben ist, dass sich Thomas Malsch ähnlich wie Wolfgang Ludwig Schneider und Heinz Messmer darum bemüht, sein systemtheoretisch fundiertes Basisvokabular kommunikationssoziologisch und damit empirisch anschlussfähig zu machen. Das wohl wichtigste Resultat der in Kapitel (3) durchgeführten Theoriediskussion ist, dass eine kommunikationsorientierte Modellierung sozialer Emergenz nur dann erfolgreich möglich ist, wenn das Nachtragsmanagement der Kommunikation ausführlich analysiert wird. Auf der Basis von Kommunikati-
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Schlussbetrachtung
onsanschlüssen werden nicht nur Handeln und Erleben sozial sichtbar voneinander geschieden, sondern in und mit Kommunikationsprozessen emergieren soziale Eigenwerte wie Semantiken, Anschlussmuster, Subjektbilder etc. Als differenzierte Selektionsbeschränkungen bzw. Sozialstrukturen prägen sie das Erscheinungsbild von Interaktionszusammenhängen, Gruppenkommunikationen, Organisationskommunikationen etc.157 Sie „leiten“ zukünftige Selektionen an bzw. orientieren diese und prägen somit die Eigenschaften von kommunikativen Folgeereignissen. Soziale Ordnung ist in einer solchen Perspektive vor allem dann als besonders stabil anzusehen, wenn bestimmte, wiederkehrende Anschlussmuster („Verfahren“) auch verlässlich zu einer weitestgehend ähnlichen Wiederholung bestimmter semantischer Strukturen und somit zu einer Reproduktion von Kotexten führen. Sobald semantische Strukturen im Gegensatz zur Systemtheorie nicht mehr ausschließlich als „bewahrenswerter Sinn und Reflexionswissen“, sondern als „(…) konstituierende Kraft in der Reproduktion der autopoietischen Operationen“ (vgl. Stäheli 1998: 335) verstanden werden, dürften sich auch neue Möglichkeiten ergeben, strukturelle Kopplung weiter zu denken. Wie dem auch sein: Die Annahme einer Emergenzfunktion semantischer Strukturen bedeutet eine Weiterentwicklung systemtheoretischer Grundlagen und eine Überwindung von Engführungen. Festzuhalten ist: 1.
Am empirischen Beispiel ist zu untersuchen, welche formalen Merkmale Kommunikationsanschlüsse aufweisen und wie sie zur Stabilisierung und Verdichtung oder zur Devisibilisierung von Signifikanzen und Relevanzen führen.
2.
Ebenso steht zu untersuchen, ob bestimmte Anschlussfolgen Ordnungsmuster darstellen, die zusammen einen ganz bestimmten Effekt hervorrufen. Sofern sich bestimmte Kombinationen typischer Anschlüsse und basaler Anschlussmuster immer wieder in einem systemischen Zusammenhang beobachten lassen, so kann davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um „erfolgreiche“ Prozeduren oder Verfahren handelt, die auch von den an der Kommunikation beteiligten AkteurInnen als relevant wahrgenommen werden. Solche festen Kopplungen von basalen Anschlussformen oder -mustern können, so wurde in Kapitel (4) argumentiert, als „Mechanismen sozialer Emergenz“ bezeichnet werden. Da das Mechanismenkonzept bislang vor allem in der akteurstheoretischen Soziologie Verwendung gefunden hat, war zu prüfen, inwiefern und auf welche Art und Weise eine emergenz- und kommunikationstheoretische Reformulierung möglich ist. Diese in der So-
157
Sie werden hier als dynamische, über soziale Deutungsmuster und Wirklichkeitsmodelle integrierte Netzwerke der Kommunikation verstanden.
Anschluss und Emergenz in erweiterter Perspektive
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ziologie bislang kaum geführte Diskussion wurde in Kapitel (4) vorangetrieben.
6.3 Kommunikative Mechanismen sozialer Emergenz Im Mittelpunkt von Kapitel (4) stand somit die Frage, wie sich die Strukturbildungskraft von Kommunikationsanschlüssen „auf den Begriff“ bringen, und sich die Emergenz sozialer Eigen- und Strukturwerte in Abhängigkeit von jeweiligen Forschungsproblemen gehaltvoll modellieren und somit auch erklären lässt. Vorgeschlagen wurde, das in der akteurstheoretischen Soziologie wiederentdeckte Konzept generativer und erklärender sozialer Mechanismen auf das Phänomen der Kommunikation zu übertragen. Soziale Mechanismen dienen in der Soziologie dazu, Übergänge von einem/mehreren Ereignis(sen) hin zu einem weiteren/mehreren weiteren Ereignis(sen) als Ursache-Wirkungs-Beziehungen definieren zu können. Problematisch erscheint an einer solchen Übertragung zunächst jedoch, dass sich Kommunikationsverhältnisse nicht umstandslos als Kausalverhältnisse dechiffrieren lassen. Als Resultate der Inzeption zeigen Mitteilungen einerseits an, dass sie einem Verstehen oder Rezipieren folgen, das auf Erwartungen oder Signifikanz- und Relevanzvorgaben selbstreferentiellangemessen zu reagieren versucht hat, und sie zeigen andererseits an, dass mit ihnen selbst erwartet wird, dass bestimmte Anschlüsse folgen werden. Diese können aber nicht im Vornherein determiniert werden. Da einer Inzeption oder einer Mitteilung nie allein „Sinnurheberschaft“ zukommt, wurde vorgeschlagen, kommunikative Kausalität im Anschluss, im Zusammenspiel von Prokursivität und Rekursivität der Kommunikation zu verorten. Soziale Akteure müssen auf kommunikativ geschaffene Bedeutungen Bezug nehmen und hierauf reagieren; in welchem „Licht“ ihre eigenen Selektionen schließlich stehen werden, hängt jedoch nicht nur vom bisherigen Verlauf der Kommunikation, sondern immer auch von unmittelbar folgenden Anschlüssen ab. Das Zusammenspiel von Prokursivität und Rekursivität ist in kommunikationstheoretischer Perspektive das „kausal“ bestimmende Moment sozialer Emergenz. Eine solche Definition mag überraschend anmuten. Sie wird durch die epistemologische Annahme getragen, dass auch Kausalität letztlich immer nur ein Beobachtungsschema ist, das es erlaubt, Ursachen und Wirkungen auf unterschiedliche Art und Weise miteinander zu koppeln (vgl. Kapitel 4, Abschnitt 4.4.2).
304
Schlussbetrachtung
6.4 Zur Modellierung der Strukturdynamik von Kommunikationsprozessen Sofern sich beobachten lässt, dass bestimmte Kommunikationsereignisse immer wieder an bestimmter Stelle von Kommunikationsprozessen stehen und auf eine bestimmte Art und Weise mit vorgängigen Kommunikationsereignissen umgehen, lässt sich auch von der Existenz eines allgemeinen kommunikativen Mechanismus („generalisierter Mechanismus“) sprechen. Solche Mechanismen können in der Kommunikation immer wieder in unterschiedlicher Form Spezifizierung erfahren und sich mit anderen Mechanismen zu generativen Makrologiken verknüpfen. In Kapitel (5) ist untersucht worden, inwiefern sich die in Kapitel (3) diskutierten Modelle basaler Ordnungsmuster bzw. Begriffe und Konzepte nutzen lassen, um die Strukturdynamik von Kommunikationsprozessen beispielhaft in mechanismentheoretischem Sinne zu modellieren. Dabei ging es noch nicht um die Aufdeckung allgemein gültiger und komplexer Mechanismen. Vorsichtig formuliert wurden Beispielmechanismen, die selbstverständlich einer weiteren Spezifizierung und Prüfung bedürfen. Im Rahmen von in Kapitel (5) präsentierten Analysen wurde gezeigt, wie sich die Modellierung kommunikativer Mechanismen anlegen lässt, und worauf im Besonderen zu fokussieren bzw. zu achten ist. 6.4.1 Widerspiegelung von Deutungsmustern und Markierung von Intersubjektivität Mit Blick auf das erste ausgewählte Beispiel – die im Jahre 2002 in den USA vor allem netzöffentlich geführte Diskussion über politisch inkorrekte Äußerungen des republikanischen Senators Trent Lott – interessierte vordergründig die Frage, welche basalen kommunikativen Mechanismen für die Emergenz eines handfesten Skandals sorgten, indem sie die Pfadabhängigkeit der Kommunikation auf eine ganz bestimmte Art und Weise begründen, sichern und verstärken halfen. Ziel war es, kommunikative Strukturdynamiken mit Hilfe der in den Kapiteln (3) und (4) diskutierten Begriffe zu beschreiben, Kommunikationsanschlüsse zu charakterisieren und ihre Effekte kommunikationsorientiert-kausal zu erklären. Zunächst war in der Öffentlichkeit vor allem unklar, inwiefern die von Lott getätigte Äußerung tatsächlich als ein kontroverses oder gar moralisch verwerfliches Statement aufgefasst werden konnte. Die Massenmedien zögerten, den Fehltritt Lotts direkt zu thematisieren und holten dementsprechend Stellungnahmen aus dem politischen System ein, welche sie schließlich an das massenmediale Publikum widerspiegelten. Im Rahmen dieser sachlich-reflexiv angelegten kommen-
Zur Modellierung der Strukturdynamik von Kommunikationsprozessen
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tierenden Stellungnahmen wurde das Statements Lotts als eine revisionistische Aussage innerhalb des historisch gewachsenen Diskurses zur Gewährung und Ausweitung von Bürgerrechten in den USA identifiziert. Die Aussage wurde weiterführend rezeptabel gemacht, in dem sie (1) um neue, zum Thema „passende“ Informationen ergänzt, und (2) explizit als rassistisch konnotiert gebrandmarkt und somit als unhaltbar abgelehnt wurde. Mit der Verortung im oben genannten Diskurs wurde zunächst deutlich gemacht, vor welchem Hintergrund die Äußerung Lotts exklusiv interpretiert werden sollte. Der Diskurs wurde im Anschluss an diese ersten Diskussionsbeiträge vor allem im Netz immer weiter expliziert: Immer wieder wurde neu Entrüstung kommuniziert, und immer wieder wurden zusätzliche Informationen zum Kampf um die Ausweitung der Bürgerrechte und zu den politischen Ansichten des Senators in den Kommunikationsprozess eingespeist. Zusätzlich wurde die Interpretation der Äußerung Lotts als rassistisch konnotiert fortlaufend bestätigt. Zum einen ließen sich an verschiedenen „Orten“ in der Blogosphäre kongruente Beschreibungen des Ausgangsereignisses finden, zum anderen wurde die Angemessenheit dieser Beschreibungen kommunikativ eruiert und bestätigt. Entscheidend für die Verstärkung von Pfadabhängigkeit und die nachträgliche Konstitution eines Skandalons wurden somit: (a) die massenmediale Widerspieglung von ersten Deutungsmustern, (b) die permanente Aufladung der Kommunikation mit neuen Informationen, die eine Relevanzierung der Äußerung Lotts als rassistisch konnotiert stützten, (c) der massive Widerspruch (Konfliktkommunikation), der die Kontroversität und Unhaltbarkeit der Äußerung Lotts immer offenkundiger werden ließ sowie (d) die Tatsache, dass Kommunikatoren untereinander Verständigung über die richtige Interpretation der Äußerung Lotts als rassistisch konnotiert herzustellen vermochten. Die Emergenz von Pfadabhängigkeit und Skandalon lässt sich vor diesem Hintergrund schließlich als ein Ergebnis des Zusammenwirkens der basalen Mechanismen der „Widerspiegelung von Deutungsmustern“ und der „Markierung von Intersubjektivität“ erklären (vgl. Abschnitt 5.2.2.1 bis Abschnitt 5.2.2.4). Auf ihrer Basis wurden in der Diskussion um die Äußerung Lotts nicht nur passende Deutungsmuster für den konkreten Fall eingeführt und relevanziert, sondern es kam ebenso zur Bekräftigung bestehender Vorstellungen von Moral, Anstand und Gerechtigkeit, d.h. zur Bekräftigung von Wertmaßstäben. Die Äußerung Lotts geriet somit zu einem Anlass, der es erlaubte, erneut daran zu erinnern, wie in politischer korrekter Weise über Bürgerrechte geredet werden kann und soll, welche sozialen Semantiken angemessen sind, wie Kound Kontextualisiert werden darf, wer das erste Wort hat, wer sich unversöhnlich gegenübersteht etc. Das Beispiel zeigt also auch, wie sich historisch gewachsene Ordnungen des „Über-Etwas-Sprechens“ wieder in gegenwärtige kommunikative Prozesse einschreiben (können). Diskurse liefern passende Semantiken für die
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Schlussbetrachtung
Deutung sozialer Realität, und sofern diese Semantiken von Kommunikatoren in aktuellen Kommunikationsprozessen in unveränderter Weise verwendet werden, kommt es immer auch zu einer Bestätigung der „Ordnung des Diskurses“ selbst. Diskurse sind „semantische Ordnungsmuster“, und ihre Regelmäßigkeiten und Regeln „(…) ergeben sich aus dem Zusammenhang von verstreuten Aussagen, deren Ähnlichkeiten, Differenzen und Verschiebungen untersucht werden und deren Wiederholbarkeit beschrieben wird. Sie variieren je nach Ort und Zeit ihres Auftretens, was ihre analytische Rekonstruktion so aufwändig und schwierig macht“ (Bublitz 2003: 39 und 7). In Zukunft ist somit also nicht zuletzt zu prüfen, inwiefern sich systemtheoretische Begrifflichkeiten, das Konzept der kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Emergenz und Diskurstheorie und -analyse miteinander verbinden lassen. Auf einer solchen Basis dürfte sich noch genauer und dezidierter untersuchen lassen, wie es zur Entstehung von Pfadabhängigkeiten kommt, und es dürften sich neue Möglichkeiten bieten, die sozialkonstitutiven Effekte von Kommunikationsepisoden zu analysieren. Die Integration von Kommunikation auf der Basis einer „Widerspiegelung von Deutungsmustern“, auf der Basis einer fortlaufenden Produktion von Widersprüchen gegen eine hochsichtbare „Initialmitteilung“ und auf der Basis der „Markierung von Intersubjektivität“ ist sicher nicht ausschließlich typisch für den Skandal, sondern lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auch in anderen Kontexten beobachten. Auch bleibt denkbar, dass sich (basale) kommunikative Mechanismen noch gänzlich anders modellieren, und sich Prozesse der Skandalemergenz auch auf ganz andere Art und Weise erklären lassen. In den Kapiteln (4) und (5) ging es zunächst darum, Möglichkeiten einer kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Emergenz aufzuzeigen und Anregungen zu geben, nicht aber darum, bereits fertige Modelle abzuliefern, die nur noch auf die Bedingungen jeweils konkreter Fälle herunter gebrochen werden müssten. Inwiefern die kommunikationsorientierte Modellierung sozialer Mechanismen neue Möglichkeiten bietet, soziale Emergenz in nichtreduktionistischer Perspektive zu erklären, bleibt also auch weiterhin ausführlich zu prüfen und zu diskutieren. 6.4.2 Sichtbarkeit und Einfluss – Über die Markierung von Erstkommunikation und die Notwendigkeit zur Initialisierung Anhand des Beispiels einer weblogbasierten Online-Diskussion zum Bundestagswahlkampf 2005 ist in Kapitel (5) ferner zusätzlich analysiert worden, wie reflexive Bezugnahmen die soziale Sichtbarkeit von Mitteilungen in hochskalierten Kommunikationsprozessen so zu steigern helfen, dass es zur Konstitution von Ursprüngen und zur Markierung von einflussreicher Erstkommunikation
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bzw. zur Begründung von Kommunikationsepisoden kommt. Die soziale Sichtbarkeit einer Mittteilung lässt sich als ihr Potential definieren, Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können und hängt maßgeblich davon ab, wie häufig und von welchen „Ort“ aus auf die entsprechende Mitteilung referenziert wird. Im Falle von sozialer Sichtbarkeit handelt es sich also um eine dynamische Eigenschaft einer Mitteilung, die Effekt des fortwährenden Prozessierens der Kommunikation ist. Solange in Folgekommunikationen immer wieder auf eine vorgängige Mitteilung Bezug genommen wird, kann davon gesprochen werden, dass sie in der Kommunikation erinnert wird und aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch weitere Anschlüsse zu „provozieren“ vermag. Je länger Referenzen ausbleiben, desto größer wird allerdings die Gefahr, dass es zu einer dauerhaften kommunikativen Devisibilisierung kommt. Auch die materielle Verfügbarkeit eines Kommunikationsbeitrages schützt hiervor nicht ohne Weiteres. Bücher stehen ungelesen in Bibliotheken herum, und in den Weiten des Netzes verfügbare Informationen werden nicht mehr abgerufen – ihre jeweilige soziale Sichtbarkeit wird also geringer. Michael H. Goldhaber (1997) und Georg Franck (1998) haben darauf hingewiesen, dass der Gewinn von Aufmerksamkeit (verstanden als knappe Ressource, um die konkurriert wird) in postmodernen Gesellschaften vor allem mit Blick auf den ökonomischen Erfolg eine immer größere Bedeutung besitzt. Ob und inwiefern Mitteilungen und den hinter ihnen stehenden Urheberinnen und Urhebern allerdings Aufmerksamkeit zukommen kann, hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut sie bereits in jeweils relevante soziale Kontexte eingebunden, d.h. wie sichtbar sie sind. Und manchmal mag soziale Sichtbarkeit natürlich auch alles andere als willkommen sein. Sie ist eine emergente Eigenschaft von Mitteilungen. Der Begriff der sozialen Sichtbarkeit, verstanden als heuristisch wertvolle „Realabstraktion“, kann zunächst dafür genutzt werden, das kommunikationssoziologische Denken (stärker) prozesstheoretisch zu orientieren. Mit Hilfe des Konzeptes lässt sich auf einem hohen Generalisierungsniveau über die Bedeutung von Referenzen und über die Emergenz von kommunikativem Einfluss nachdenken. Zurück zum Beispiel: Ausgewählt wurde die 2005 in der Wahlblogosphäre vielbeachtete und -diskutierte Brutto-Netto-Verwechslung der damaligen Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU). Im Falle der Verwechslung waren es zunächst Postings auf den Weblogs politischer GegnerInnen wie auch auf den Weblogs von mehr oder weniger neutralen BeobachterInnen, die dafür sorgten, dass sie nicht aus dem Bereich sichtbarer Signifikanzen herausfiel. Dieser Umstand konnte Angela Merkel und der CDU nur missfallen; ändern konnten sie daran aber wenig. Kommentare auf Weblogs, die gut in die Blogosphäre eingebunden waren, sorgten nicht nur dafür, dass die Verwechslung selbst sichtbar blieb. Ebenso wurden auf ihrer Basis Interpretationen in den Kommunikations-
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Schlussbetrachtung
prozess eingeführt, die Anregungen für eine weiterführende Relevanzierung gaben. Vor allem wurde die Verwechslung nicht mehr im Hinblick auf ihren ursprünglichen Ko- und Kontext gegengelesen. Auch das Beispiel der BruttoNetto-Verwechslung zeigt einmal mehr, wie die Logik des Campaigning alle politische Kommunikation zu Zeiten des Wahlkampfes überformt. Entscheidend für die Sichtbarkeit einer Mitteilung oder eines Mitteilungsinhaltes ist nun jedoch nicht nur die Referenz als solche, sondern auch deren Quelle. Für die postmoderne „Aufmerksamkeitsökonomie“158 gilt, dass von hochsichtbaren Nachrichten, von populären Kommunikationsplattformen oder von prominenten AutorInnen ausgehende Referenzen die Sichtbarkeit einer Mitteilung stärker zu erhöhen vermögen, als jene Referenzen, die von „unsichtbaren“ Mitteilungen und/oder unbekannten Medien und AkteurInnen gesetzt werden. Dies bedeutet, dass der soziale Einfluss bzw. die soziale Sichtbarkeit einer Mitteilung und ihrer Inhalte einer komplexen Vernetzungsdynamik geschuldet ist. Indem Kommunikationen aneinander anschließen, werden die Sichtbarkeiten von Mitteilungen, Signifikanzen/Themen und Relevanzen sowie die Prominenz von AutorInnen rekursiv erzeugt und immer wieder neu bestimmt. Sowohl die Referenz als solche wie auch der Transfer von Sichtbarkeit spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Ein Effekt der Erzeugung und Übertragung von Sichtbarkeit, des nachträglichen Bestimmens von Einfluss, ist „Initialisierung“ (vgl. den gesamten Abschnitt 5.3.2 dieser Arbeit). Initialisierung bedeutet, dass eine Mitteilung als Beginn einer distinkten, sich von anderen Kommunikationsprozessen unterscheidenden Kommunikationsepisode markiert wird. Dazu bedarf es nicht nur einer häufigen Erwähnung der vermeintlichen Ursprungsmitteilung in unterschiedlichen Kontexten, sondern vor allem Bezugnahmen in der Form des ergänzenden Kommentars. Häufige, thematisch ähnlich gelagerte Kommentare zu einer bestimmten Mitteilung bedeuten, dass sich ein Kommunikationsprozess die Voraussetzungen seiner Existenz als Episode selbst (mit) verschafft. Kommunikationsanschlüsse sorgen für die thematische Integration eines Kommunikationsprozesses und bedeuten das Anbieten von Aussageinterpretationen. Die Sich158
Georg Franck schreibt dem modernen Wissenschaftssystem den Status einer „Aufmerksamkeitsökonomie“ par excellence zu. Für das moderne Wissenschaftssystem gilt, dass nur erfolgreich ist, dass nur Karriere macht, wer auch massenhaft publiziert: „publish or perish“. Dabei kommt es jedoch nicht allein auf die Publikationshäufigkeit an. Ebenso entscheidend ist, dass an (hoch-)sichtbarer Stelle veröffentlicht wird: „Nur wer gut publiziert, macht Karriere. Die Publikation ist die Art und Weise, an ihre Aufmerksamkeit [die Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen, RHP] zu kommen. Darum genügt es nicht, überhaupt zu publizieren. Man muss in Zeitschriften und Schriftenreihen publizieren, die Renommee haben. Wer an renommierter Stelle publiziert, wird erstens gelesen und partizipiert zweitens an der Reputation derer, die dem Organ zu seinem Renommee verholfen haben“ (Franck 1998: 38). Artikel profitieren dann von der Eigensichtbarkeit der Fachzeitschrift, der Prominenz ihrer HerausgeberInnen etc.
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tbarkeit von Kommentaren speist sich zunächst allerdings ausschließlich aus abgeleiteter „Eigensichtbarkeit“. Zu nennen wären hier u.a. die Prominenz einer Autorin/eines Autors oder auch die soziale Sichtbarkeit jener Kontexte, in denen Kommentare produziert werden. Für die Emergenz einer Kommunikationsepisode, die sich im Nachhinein vom sonstigen Kommunikationsgeschehen abhebt, ist (nicht nur in hochskalierten Kommunikationsprozessen) immer entscheidend, dass „massenhaft“ ähnlich gelagerte Kommunikationsanschlüsse einen oder mehrere Ursprünge markieren. Dieses Geschehen lässt sich als Vorgang der Initialisierung beschreiben. Die Folge von Initialisierung ist, dass eine Mitteilung und ihr Inhalt zu einem vordergründig sichtbaren Gegenstand der Kommunikation werden, dass sie „Raum“ einnehmen, und dass ihnen „Einfluss“ zukommt – ganz egal, ob dieser nun positiv oder negativ eingeschätzt wird. Einfluss oder Wirkmächtigkeit sind in diesem Sinne wertfrei als kommunikativ-emergente, dynamische Eigenschaften bzw. Potentiale einer Mitteilung zu definieren. Im Fall der Brutto-Netto-Verwechslung war einerseits entscheidend, dass diese immer wieder neu signifiziert und relevanziert wurde (Kommentierung) und dem Publikum so Anschlussmöglichkeiten für eine weiterführende Diskussion aufgezeigt wurden. Andererseits kam es ebenso zur „Übertragung“ bzw. „Vererbung“ von Sichtbarkeit bzw. zu einer Verbesserung von Erreichbarkeit. Und auf diese Weise wurde die Kommunikation über die Brutto-Netto-Verwechslung in der Wahlblogosphäre immer weiter integriert. Durch die Aktivierung verschiedener Ko- und Kontexte war aus der Verwechslung ein kommunikativ bedeutendes Thema geworden, das bis zum Ende des Wahlkampfs in der Blogosphäre präsent blieb. Die „Markierung von Erstkommunikation“ ist jener Vorgang, der einem Kommunikationsprozess zur Identität der Kommunikationsepisode verhilft.
6.5 Ausblick Was schließlich noch bleibt ist, vor dem Hintergrund der hier zusammengetragenen Beobachtungen, Überlegungen, Argumente und Analysen einen kurzen Ausblick auf offene Forschungsfragen zu geben. Wie schon im Rahmen von Kapitel (2) erläutert, versprechen „emergenztheoretische Erwägungen“ (Greve 2006: 19) neue Möglichkeiten einer weiterführenden Bearbeitung bzw. Klärung des Mikro-Makro-Problems der Soziologie. Auf der Basis eingeführter Emergenzkriterien lässt sich systematisch untersuchen, wie Sozialtheorien mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Handlung und Struktur, von Kommunikation und System, von sozialem Ereignis, sozialem Prozess und sozialer Struktur im Detail umgehen. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist untersucht worden, inwiefern sich Struktur-
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Schlussbetrachtung
individualismus und Systemtheorie mit Blick auf ihre Vorstellungen von Emergenz voneinander unterscheiden. Auch wenn am Ende von Kapitel (2) der Schluss steht, dass der Strukturindividualismus – trotz anders lautender Versicherungen – einer Irreduzibilität des Sozialen weitestgehend das Wort redet bzw. diese widersinniger Weise ausschließt, heißt dies nicht, dass damit das letzte Wort gesprochen wäre. Vielmehr ist in Zukunft weiterführend zu untersuchen, welche Vorstellungen von Emergenz durch unterschiedliche Spielarten des methodologischen Individualismus und der Systemtheorie befördert werden, um so besser einschätzen zu können, was der Begriff der Emergenz für die Soziologie leisten kann. Ferner sollten in diesem Sinne auch andere sozialtheoretische Ansätze diskutiert werden (vgl. für erste Beispiele Albert 2005 und Greve 2006). Auch in Zukunft wird weiterhin zu eruieren sein, welche bereits existierenden soziologischen Begriffe und Konzepte sich im Besonderen für eine Modellierung und Erklärung kommunikativer Strukturdynamiken eignen, und ebenso werden in Abhängigkeit von jeweils interessierenden Forschungsfragen und -problemen neue Begriffe und Konzepte zu entwickeln sein. In Kapitel (4) ist dafür plädiert worden, das in der akteurstheoretischen Soziologie mittlerweile breit diskutierte Konzept sozialer Mechanismen auch für die system- und kommunikationstheoretische Soziologie in größerem Umfang zu erschließen. Schon Luhmann hatte sich – wenn auch nur kurz – im Kontext seiner frühen Arbeiten (und somit vor der „autopoietischen Wende“) für generative und erklärende soziale Mechanismen interessiert (vgl. Luhmann 1991b). Die Sichtbarkeit seiner Überlegungen ist jedoch erst vor Kurzem wieder erfolgreich erhöht worden (vgl. exemplarisch Schneider 2005, Schmitt 2006, Langer 2006, Hartig-Perschke 2006, Timm und Hillebrandt 2006). Zu bearbeiten sind in Zukunft im Wesentlichen die folgenden Fragen: Wie kann man die Komplexität der Kommunikation zu Zwecken der Erklärung auf mehr oder weniger „einfache“ und präzise definierte Mechanismen, verstanden als Modelle aufeinander aufbauender Anschlusslogiken bzw. als Modelle kommunikativer Strukturdynamiken, herunter brechen? Welche Mechanismen lassen sich im Hinblick auf welche Anwendungsfelder spezifizieren? Wie abstrakt dürfen Mechanismen im Einzelfall formuliert werden, ohne die „Bodenhaftung“ zur Empirie zu verlieren? An diesem Punkt greift wieder das soziologische „Modellierungs-Dilemma“: „Versucht man, die Wirklichkeit möglichst ‚getreu‘ und differenziert wiederzugeben (wenig zu vernachlässigen) erzeugt man hoch detaillierte Abbildungen, deren Nachteil darin besteht, dass sie so unübersichtlich wie der modellierte Wirklichkeitsabschnitt sind und zwischen wesentlichen (erklärenden) und unwesentlichen (nicht erklärenden) Zügen dieser Wirklichkeit nicht zu unterscheiden vermögen. Das andere Extrem bestünde darin, möglichst allgemeine Züge der Wirklichkeit in eleganten, einfachen, „sau-
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beren“ Modellen zu erfassen. Deren Nachteil aber besteht darin, dass ihr Informationsgehalt ebenso gegen null tendiert: Modelle höchster Abstraktionsstufen reduzieren die konkrete Komplexität des Gegenstandes bis zur karikierenden Einseitigkeit“ (Langer 2006: 77). Da es für dieses Dilemma keine Pauschallösung gibt, hat Roman Langer dafür plädiert, einen sozialen Mechanismus immer dann als hinreichend elaboriert anzusehen, wenn er (1) ein Phänomen, ein Sachverhalt, ein Problem etc. gemessen am Erkenntnisinteresse der/des Forschenden hinreichend erklärt, (2) wenn geklärt ist, wie er sich zu anderen Mechanismen verhält und worin sein Zugewinn besteht, und wenn (3) er empirisch valide ist und zugleich das Potential zur Generalisierung in sich trägt (vgl. ebd.: 78). Sofern Modellierungsarbeiten in Zukunft voranschreiten sollten, wird auch zu prüfen sein, wie sich verschiedene Mechanismen zu komplexen kommunikationssoziologischen Erklärungsmodellen verdichten lassen. Im Rahmen solcher Versuche wäre dann vor allem zu beachten, auf Basis welcher Annahmen die Modellierung einzelner Mechanismen ursprünglich erfolgte. Unwahrscheinlich ist nämlich, dass sich verschiedenste erklärende Mechanismen und komplexe Modelle ohne Probleme im Alleingang entwickeln lassen werden: Die Modellierung von Mechanismen verlangt zugleich empirische Forschung und intensive Theoriearbeit sowie das Erproben unterschiedlicher Modellierungsansätze (vgl. zu dieser Problematik auch ebd.: 74). Im Rahmen des Versuchs einer Kopplung von Mechanismen zu Modellen wird also immer genauestens zu berücksichtigen und zu analysieren sein, welche theoretischen Annahmen der Modellierung jeweils ausgewählter Mechanismen ursprünglich zugrunde gelegen haben, und es wird zu eruieren sein, ob und inwiefern sich diese Annahmen miteinander vereinbaren lassen. Die Erklärungskraft von entsprechenden Modellen dürfte nicht zuletzt davon abhängen, ob und inwiefern sich zwischen einzelnen Mechanismen (möglicherweise) bestehende Inkonsistenzen beheben lassen. Um die kommunikationsorientierte Modellierung in Zukunft zu einer gehaltvollen Methode ausbauen zu können, sollte eruiert werden, welche soziologischen Theorien und Ansätze Input für das Nachdenken über die Dynamik und die Emergenzfunktionen der Kommunikation liefern. Die in Kapitel (5) vorgestellten Analysen zeigen u.a., dass sich die diskurstheoretische und –analytische Soziologie im Anschluss an Michel Foucault als ein starker Partner anbietet. Alfons Bora hat dafür plädiert, Selektionsbeschränkungen in der Form von differenzierten Erwartungsstrukturen als „Bausteine“ diskursiver Ordnungen zu verstehen und darüber nachzudenken, wie ein systemtheoretischer Diskursbegriff aussehen könnte (Bora 2000/2005). Die sich hier eröffnenden Möglichkeiten können meines Erachtens kaum unterschätzt werden. Michel Foucault hat sich im Rahmen seiner Diskurstheorie ausführlich mit dem strukturbildenden Potential der Kom-
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Schlussbetrachtung
munikation auseinander gesetzt. Als besonders bedeutend und anschlussfähig sind u.a. seine Überlegungen zu diskursiven Formationen, Diskursfeldern und Diskursgemeinschaften im Rahmen der „Archäologie des Wissens“ (Foucault 1973) anzusehen. Foucault thematisiert u.a. ausführlich die sozialkonstitutive Funktion von Wiederholungen, von Widersprüchen, von Konflikten sowie die Ausschließung und/oder Institutionalisierung von Deutungen (vgl. u.a. Foucault 1991, Schwab-Trapp 2001 sowie Knoblauch 2001). Auf Basis der Verknüpfung von system-, kommunikations- und diskurstheoretischen Annahmen miteinander dürften sich in kommunikationsorientiert-emergentistischer Perspektive besser als bisher (1) die Genese sozialer Bedeutungen und die Institutionalisierung von Deutungsvorgaben, (2) die Ausdifferenzierung sozialer Topik, (3) Subjektkonstitution und -positionierung (Inklusion/Exklusion), (4) die sozialkonstitutive Funktion von Widersprüchen und Konflikten sowie (5) die Folgen von Wiederholung und Parallelisierung erklären lassen. Last but not least kann eine sich für strukturbildende, strukturreproduzierende sowie strukturdifferenzierende Effekte von Kommunikationsprozessen interessierende Soziologie auch von der neueren soziologischen Netzwerktheorie lernen. Kommunikationsprozesse „durchdringen“ sich heutzutage auf ganz andere Art und Weise als früher, und dies liegt vor allem daran, dass die Technologie des Internets zu einer Veränderung von Erreichbarkeiten bzw. zu einer Erhöhung der Konnektivität geführt hat. Die Vernetzungsdynamiken der modernen Kommunikation sind komplex, und ihre Effekte können sich nur dann verlässlich erklären lassen, wenn ein begrifflich und methodisch angemessener Umgang mit ihnen gepflegt wird. Bisher scheint sich die Soziologie an diesem Punkt vor allem mit populären Kommunikationsmetaphern (Reziprozität, Übertragung, Koordination), mit populärwissenschaftlichen Epochalsignaturen (Informationsgesellschaft, Mediengesellschaft, Netzwerkgesellschaft) und mit den Begriffsangeboten zeitdiagnostischer Netzphilosophien (Beschleunigung, Informationsüberflutung, kultureller Gedächtnisverlust) zufrieden zu geben. Im Anschluss an die Prämissen der soziologischen Netzwerkanalyse ist in den letzten zehn Jahren allerdings das Arbeitsfeld der „relationalen Netzwerktheorie“ entstanden. Die Konzepte der relationalen Netzwerktheorie können viel besser als vereinzelte Begriffe und Signaturen helfen, die Dynamik komplexer Kommunikationsprozesse bzw. komplexe Vernetzungsdynamiken der Kommunikation zu erfassen. Im Mittelpunkt des Interesses einzelner Theorieangebote stehen so z.B. Fragen der sozialen Differenzierung, der Schließung, der Grenzziehung und der Identitätsbildung (vgl. u.a. White 1992 sowie Abbott 2001), und einige Ansätze zeichnen sich gar durch eine Verbindung von relationaler Netzwerk- und soziologischer Systemtheorie aus (vgl. u.a. die Arbeiten von St. Fuchs 2001 und Fuhse 2003). Nach
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wie vor fokussieren die meisten Ansätze allerdings auf soziale Akteure und die zwischen ihnen bestehenden dynamischen Beziehungen (vgl. Albrecht 2007). Um dynamische Kommunikationsnetzwerke modellieren zu können, müsste umgestellt werden (1) von AkteurInnen auf Kommunikationsknoten (die als Mitteilungen, Kommunikationsereignisse oder narrative Quer- und Rückwärtsverweise im Zeitfluss modelliert werden können) und (2) von Permanenz (Verfügbarkeit von Prozessen und Netzwerken) auf Transienz (Fortgang). Zu vermuten steht, dass ein solcher, auf die Dynamik von Kommunikationsprozessen und -netzwerken fokussierender Ansatz ein geeigneter Nährboden für die Entwicklung neuer kommunikationstheoretischer Konzepte wäre, die es erlauben, noch mehr Komplexität als bisher zu verarbeiten.
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