Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 734
Asche der Zeit Kreuzfahrt durch Manam-Turu
von H.G. Ewers
Auf Terra schrei...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 734
Asche der Zeit Kreuzfahrt durch Manam-Turu
von H.G. Ewers
Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide unvermutet in die Galaxis Manam-Turu gelangt. Das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit der Fortbewegung im All bietet, ist die STERNSCHNUPPE. Und der neue Begleiter des Arkoniden ist Chipol, der junge Daila. In den sieben Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die beiden schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums verheerend wirkten. In dieser Zeit hat Atlan neben schmerzlichen Niederlagen auch Erfolge für sich verbuchen können. So sind zum Beispiel die Weichen für eine Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gestellt worden – was sich auf den Freiheitskampf der Daila gegen das Neue Konzil positiv auswirken dürfte. Doch Atlan ist längst nicht zufrieden mit dem bisher Erreichten. Das gilt auch für Mrothyr, und so haben die beiden mit der »Mission Zyrph« einen neuen Anlauf genommen. Indessen setzen Anima, Goman-Largo und Neithadl-Off, die drei so ungleichen Persönlichkeiten, die ein seltsames Schicksal zusammengeführt hat, Ihre Suche nach Atlan fort. Bei ihrer Kreuzfahrt durch Manam-Turu durchstöbern sie gewissermaßen die ASCHE DER ZEIT…
Die Hauptpersonen des Romans: Anima, Goman-Largo und Neithadl-Off – Die Raum-Zeit-Reisenden bei den Piraten der KOKAHU. Eltaso – Ein Gesandter Gurays. Halchiss – Kapitän der KOKAHU. Sukiss – Stellvertreter des Kapitäns. Qumpoh – Eine Kämpferin von Pechel.
1. Die Piraten in der Steuerzentrale der KOKAHU schrien, grunzten, gackelten und quietschten erschrocken auf, je nachdem, wie ihre Organe zur Lauterzeugung beschaffen waren. Goman-Largo blieb still, obwohl auch er beunruhigt war, denn vor einer Sekunde hatten sämtliche positronischen Systeme des Schiffes angefangen verrückt zu spielen. Die Ortung zeigte mindestens dreißig Massekonzentrationen im Umkreis von wenigen Lichtjahren an, dazu sieben Strahlungsquellen, die nur große und hochaktive Sonnen sein konnten. Das alles wäre an sich noch kein Grund zu besonderer Beunruhigung gewesen. Beunruhigend oder beängstigend wurde die Sache nur dadurch, daß sich das alles ereignete, während das Piratenschiff sich auf einer Linearraumetappe befand, wo das alles gar nicht passieren konnte. Jedenfalls nicht dann, wenn die bekannten Naturgesetze ihre Gültigkeit behielten. »Sofort stoppen!« schrie Eltaso, der Kontakter. Er überschritt damit eindeutig seine Kompetenzen, wie Goman-Largo sogleich an den Reaktionen der übrigen Piraten in der Steuerzentrale erkannte. »Das wäre das Verkehrteste, was wir tun könnten«, erklärte Lubmo Ti Sukom, der Astrogator und Stellvertreter des Kapitäns, der einem rasierten Ursinen mit holzgeschnitzter, grell bemalter Clownsmaske glich und ein Nescharer wie der Kapitän war. »Wir müssen im Gegenteil mit aller Kraft beschleunigen, sonst kommen wir aus der 5-D-Mulde niemals hinaus.« »Eine 5-D-Mulde?« grunzte Tscha-Nom, der Funker, der ein Tukar war und einem ondulierten Langhaarschwein ähnelte. »Unmöglich!« begehrte Eltaso auf, während er sich unter dem lautlosen Feuerwerk duckte, das aus den Ortungsschirmen brach und über die Datensichtschirme tobte. »Wenn Sukiss es sagt, stimmt es auch!« gackerte der »Feuerorgelmann« Furror, ein Savatse, dessen Anblick die Vorstellung einer Kreuzung zwischen Riesenkröte und Huhn weckte, wenn man über die betreffenden Erinnerungsgehalte verfügte. »Aber dann…!« brach es aus Tscha-Nom heraus. »Es ist die Lithragische Synklinale«, stellte Kapitän Hurgiss Fa Hatcher, genannt Hatchiss, mit unbezweifelbarer Autorität fest und nahm einige Schaltungen vor. Neithadl-Off trippelte auf ihren sechs stabförmigen Gliedmaßen zu ihrem Variosessel, der sich für sie zu einer Art Wanne verformt hatte, rutschte hinein und hielt sich mit den Vordergliedmaßen am Geländer fest, während aus ihrer vorderen Schmalseite die feuerrot gewordenen Sensorstäbchen herauszufallen drohten. »Und was ist die Lithragische Synklinale, wenn ich fragen darf?« pfiff sie aufgebracht. Sie brauchte ihr Universalgerät nicht zur Verständigung zu benutzen, da sie und ihre beiden Gefährten inzwischen die von den Piraten verwendete Sprache beherrschten. »Eine Schwerkraftmulde, in die ein geheimnisvolles Sonnensystem eingebettet ist«, antwortete. Sukiss, wie Lubmo Ti Sukom sich nennen ließ. »Es handelt sich um eine Legende«, wandte Eltaso ein. »Niemand hat bisher die grüne Sonne Xachel und ihren Planeten Nubal gesehen.« Hatchiss lachte tief und dröhnend. »Woher wissen wir dann, daß es sich um eine grüne Sonne handelt und daß sie nur einen einzigen
Planeten hat?« entgegnete er. »Es ist nur schon sehr lange her, daß jemand, der die Welt der Eloranischen Schätze sah, aus der Lithragischen Synklinale ins normale Raum-Zeit-Kontinuum zurückkehrte.« »Eloranische Schätze!« pfiff Neithadl-Off erregt. »Das klingt verlockend. Fast so verlockend wie damals ›Zeitgruft von Xissas‹. Können wir nicht einen kleinen Abstecher nach Nubal machen, Kapitän?« »Wir müssen Atlan finden und nicht eine Welt, die vielleicht gar nicht wirklich existiert«, erklärte Anima. Goman-Largo stemmte seinen Körper, der nur aus Knochen, Muskeln und Sehnen zu bestehen schien, hoch und bewegte sich zielstrebig über den schwankenden Boden der Zentrale zum Platz des Kapitäns. Dort hielt er sich an der Rückenlehne von Hatchiss’ Sessel fest und blickte auf die Orterschirme, die schon wieder etwas anderes zeigten. Sieben ringförmige Massekonzentrationen schienen die KOKAHU in weitem Abstand zu umgeben. Zwischen ihnen pulsierten blutrote gezackte Linien, die schlecht verheilten Schnittwunden glichen: Raumbrüche, wenn Gomans Deutung zutraf. »Haben wir eine Chance, aus der Synklinale hinauszukommen, Hatchiss?« wandte sich der Tigganoi an den Piraten. »Eine sehr geringe«, antwortete Hatchiss und brummte ungehalten, als eine Computerauswertung der Ortungsdaten sich als pure Makulatur erwies. »Wahrscheinlich verschwinden in jedem Jahr mindestens dreißig Raumschiffe in der Lithragischen Synklinale – spurlos und ohne Chance auf Wiederkehr. Die Berichte über die Welt der Eloranischen Schätze sind weit über tausend Jahre alt.« »Und wahrscheinlich entsprechend entstellt«, meinte Neithadl-Off. Die Parazeit-Historikerin zeigte einen bemerkenswerten Eifer, seit sie etwas von Schätzen gehört hatte. »Ich möchte wetten, daß es im Grunde genommen ganz einfach ist, nach Nubal zu kommen.« »Wenn ich alle Systeme desaktiviere, dürfte das geschehen«, erwiderte der Kapitän. »Nur würden wir bei der Ankunft nicht mehr leben.« »Mein Großonkel, der berühmte Hyperultrahochfrequenz-Ingenieur, hat mir einmal berichtet, wie er mit seinem Schiff eine Raum-Zeit-Synklinale tangierte«, erzählte Neithadl-Off. »Er erklärte, daß er dazu einen Winkel von fünfzehn Grad wählte. Das Resultat war, daß er mit seinem Forschungsschiff Kurven beschrieb, die ihn exakt zum tiefsten Punkt der Synklinale führten. Von dort kommt man relativ leicht wieder fort, sagte er mir.« »Unsinn!« schimpfte Eltaso. »Wenn der Großonkel darüber berichten konnte, ist es kein Unsinn«, erklärte Hatchiss. »Deshalb ist es auch ganz ungefährlich für uns, den Planeten Nubal aufzusuchen«, hieb die Parazeit-Historikerin in die gleiche Kerbe. »Das denke ich auch«, sagte der Kapitän und wandte sich an seine Mannschaft. »Was meint ihr dazu, ihr Gesindel?« »Fliegen wir nach Nubal!« rief Sukiss mit dröhnender Stimme. Aber seine Zustimmung erfolgte schon fast aufgrund eines Naturgesetzes. Da er und Hatchiss Nescharer waren, hielten sie stets wie Pech und Schwefel zusammen. »Bist du sicher, daß du einen Großonkel hattest, der ein solches Wagnis lebend überstand?« erkundigte sich Goman-Largo skeptisch bei Neithadl-Off, denn er wußte wie kaum jemand anderer, wie dicht Wahrheit und Unwahrheit bei der Vigpanderin beisammenlagen. »Natürlich bin ich sicher«, entrüstete sich Neithadl-Off. Jedenfalls beinahe sicher! fügte sie in Gedanken hinzu.
Der Tigganoi musterte sie argwöhnisch. Aber da die Vigpanderinnen (und wahrscheinlich auch Vigpander) kein Gesicht hatten, ließen sich ihre Gedanken auch nicht an Gesichtern ablesen. »Ich hoffe, du weißt, was du riskierst«, sagte er auf Interkosmo, das die Piraten nicht beherrschten. »Wer ist dafür?« brummte der Kapitän. Zustimmend rissen alle in der Zentrale Anwesenden ihre Laserwaffen aus den Halftern und hielten sie mit den Mündungen nach oben – sogar Eltaso. »Dadurch verpassen wir zwar möglicherweise diesen Arkoniden«, meinte Eltaso. »Aber wenn wir dadurch reich werden, ist das ein geringer Preis.« »Und Atlan treffen wir eben woanders«, gackerte Furror. Goman-Largo sah Anima fragend an. »Du sagst gar nichts mehr dazu?« erkundigte er sich. Anima lächelte in einer Art, als schwebten ihre Gedanken in »höheren« Regionen. »Wenn wir die Lithragische Synklinale erforschen, könnte das später meinem Ritter ganz bestimmt nützen«, erklärte sie sanft. »Das rechtfertigt eine Verzögerung unseres Zusammentreffens mit ihm.« Der Tigganoi sagte nichts mehr. Außerdem waren ihre und seine Argumente sowieso unwesentlich. Die Barquass-Piraten hatten ihre Entscheidung bereits getroffen, und niemand würde sie dazu bewegen können, sie noch einmal zu überdenken. Hatchiss und Sukiss stellten gemeinsam einige Berechnungen an, dann veränderte der Kapitän die Geschwindigkeit des Schiffes. Auf den Bildschirmen der Außenbeobachtung wallten schleierartige Leuchterscheinungen. Die KOKAHU wurde von hyperenergetischen Zentrifugalkräften erfaßt und auf eine Zwischenraumbahn gezwungen, die sie entweder ins Verderben führte oder einer glänzenden Verheißung entgegen. * Goman-Largo lehnte sich entspannt in seinem Variosessel zurück und ließ die Ereignisse vor seinem geistigen Auge Revue passieren, die ihn hierher in die Galaxis Manam-Turu und auf das Piratenschiff KOKAHU geführt hatten. Er war ein Tigganoi, der vor unbekannter Zeit – wahrscheinlich vor Hunderttausenden von Jahren – auf der Zeitschule von Rhuf zum Spezialisten der Zeit ausgebildet worden war. Irgendwann danach war er von Agenten des Ordens der Zeitchirurgen gefangengenommen und in den Stasiskerker der Zeitgruft von Xissas verbannt worden. Während der Stasis hatte er viele seiner Erinnerungen verloren, darunter auch die Erinnerung an seinen ursprünglichen Auftrag. Er wußte nur noch, daß dieser Auftrag mit dem Orden der Zeitchirurgen zu tun hatte und daß seine Ausbildung ihn dazu befähigte, den Orden und seine Machenschaften zu bekämpfen. Dazu war er unter anderem auf Rhuf zum Modulmann gemacht worden, d. h. ihm waren sogenannte Module in seinen ursprünglichen Körper gepfropft worden, winzige Funktionseinheiten, denen spezielle Fähigkeiten genotronisch aufgeprägt waren, Fähigkeiten, die er größtenteils nicht kannte, die ihm aber bei Bedarf zur Verfügung standen. Vor kurzem erst hatte Neithadl-Off ihn aus der Zeitgruft von Xissas befreit, und obwohl die Wächter dieser Zeitgruft uralte und verheerende Waffensysteme gegen sie einsetzten, war ihnen die Flucht gelungen.
Doch es war eine Odyssee durch Raum und Zeit gewesen. Irgendwann und irgendwo war dann ihr entmaterialisiertes Raumschiff mit dem entmaterialisierten Raumschiff Animas kollidiert. Beide Schiffe wurden dadurch materiell stabil und stürzten in den Normalraum zurück. In einen Normalraum allerdings, der sich als kosmische Absonderlichkeit entpuppte, denn es gab dort nur eine Ansammlung von fünf Sonnen – und alle Sterneninseln und andere Phänomene des Universums waren so weit von dort entfernt, daß sie mit dem bloßen Auge gar nicht und mit hochempfindlichen Radioteleskopen nur als verwaschene Lichtflecken zu sehen waren. Dennoch existierte dort ein Sternenreich, wenn auch ein nur kleines und unbedeutendes: das Reich der Phyloser. Der Modulmann und Neithadl-Off merkten es jedoch zu spät, denn nach ihrem Rücksturz in den Normalraum hatten sie sich der Angriffe Animas zu erwehren, die sie für Beauftragte des Erleuchteten von Alkordoom hielt und die Kollision als Angriff eingestuft hatte. Bei dem Kampf im Weltraum wurden beide Schiffe so schwer beschädigt, daß sie unbrauchbar waren. Die Kontrahenten wären verloren gewesen, wenn nicht wenig später eine Forschungsexpedition der Phyloser aufgetaucht wäre. Die Phyloser nahmen sie allerdings erst einmal gefangen und handelten sich damit eine Revolution ein, weil das Auftauchen anderer Intelligenzen das Weltbild dieses bis dato total isolierten Volkes zerstörte. Glücklicherweise und nicht ohne tätige Mithilfe der ehemaligen Kontrahenten siegten die fortschrittlichen Kräfte. Anima, Neithadl-Off und Goman-Largo wurden nicht klammheimlich beseitigt, sondern ins Reich der Phyloser gebracht. Freilich immer noch als Gefangene. Den Grund dafür erfuhren sie, als sie dem neuen Imperator des kleinen Sternenreichs gegenüberstanden. Krell-Nepethet sah zwar infolge einer perfekten Maskierung aus wie ein Phyloser, aber er war keiner, sondern ein Hepather – und er hatte sich mit einer Zeit-Transfer-Kapsel vor dem Orden der Zeitchirurgen ins Reich der Phyloser geflüchtet und sich dort sicher geglaubt. Das merkten unsere ehemaligen Feinde und jetzigen Freunde allerdings erst später. Es gelang ihnen jedoch, dem ihnen zugedachten Ende zu entgehen. Krell-Nepethet kam dabei um. Unsere Freunde aber wurden von der neuen Regierung des phylosischen Imperiums dafür »eingespannt«, so schnell wie möglich einen Überlichtantrieb zu entwickeln. Bei den experimentellen Versuchsarbeiten daran explodierte eine Anlage – und die drei Freunde gerieten erneut in Ungnade. Als sie sich dem Urteil auf Preet, einem der beiden Monde des Planeten Phylos, stellen sollten, kam ein Angriffaufständischer Kolonisten dazwischen. Preet wurde schwer erschüttert. Als Folge davon lösten die geheimen Einrichtungen des toten Hepathers eine Reihe von Ereignissen aus, durch die unsere Freunde gezwungen worden waren, sich dem Transmitter Krell-Nepethets anzuvertrauen. Sie landeten in seiner uralten Zeit-Transfer-Kapsel, in der eine Sicherheitsschaltung angesprochen hatte, durch deren Wirken sie zwischen den Zeiten hin und her pendelten, bis sie auf dem Planeten Mohenn strandeten. Auf Mohenn gerieten sie in einen Konflikt zwischen zwei Eingeborenenvölkern. Sie konnten ihn auflösen und entlarvten dabei einen Zeitreisenden, der auf Mohenn gestrandet war und sich ihre Zeit-Transfer-Kapsel anzueignen versuchte. Dabei entdeckten sie, daß es auch auf Mohenn eine Zeitgruft gab. Bei ihren Versuchen damit wären sie beinahe für immer zwischen den Zeiten verlorengegangen, denn sie gerieten in den Sog eines Black Holes, durch das vor unbekannter Zeit ein Planet gestürzt war, auf dem eine weitere Zeitgruft existierte. Kaum gerettet, setzten sie ihre Versuche fort. Ein Einhorn von Mohenn, auf dem diese Wesen existierten, die wahre Sprachgenies waren und über eine besondere Art von Intelligenz verfügten,
begleitete sie. Es war männlich und hieß Nussel. Das nächste Experiment verschlug sie zu der Zeitgruft, die in einer Weltraumstadt verborgen war. Kamintze, wie die Stadt hieß, die einen Gasriesen vom Jupiter-Typ umkreiste, drohte infolge der Zunahme ihrer Masse durch die Zeitkapsel auf den Planeten zu stürzen. Der Modulmann konnte es im letzten Moment mit Hilfe der komplizierten Positronik Kamintzes verhindern. Doch den Zeitreisenden drohte neue Gefahr. In der Zeitgruft von Kamintze lebte noch ein Wächter. Er stufte die Zeitreisenden als Feinde des Ordens der Zeitchirurgen ein und versuchte, sie zu vernichten. Als ihm das mißlang, strahlte er ein Signal ab, um Hilfe herbeizurufen. Daraufhin näherte sich etwas aus der Vergangenheit der Zeitgruft auf Kamintze. Die Zeitreisenden warteten seine Ankunft nicht ab, denn sie konnten sich denken, daß es ihnen feindlich gesinnt sein würde. Sie entkamen gerade noch rechtzeitig. Nach weiteren Versuchen gelang es ihnen endlich, die Zeitkapsel zwischen den Zeiten anzuhalten und in eine Galaxis zu gelangen, in der Anima fühlte, daß ihr Ritter sich dort aufhielt. Doch bei der Ankunft auf dem Planeten Nasindra mußten sie erkennen, daß sie zwar in der richtigen Galaxis, aber in der falschen Zeit gelandet waren – genauer gesagt, in einer fernen, noch verschwommenen Zukunft. Dort herrschten Diktatoren, gigantische Plasmaungeheuer, die durch ihre riesige Körpermasse und ihr schnelles Regenerationsvermögen unbesiegbar waren. Die Zeitreisenden retteten einen hominiden Raumfahrer vor einem solchen Monstrum und erfuhren von ihm, der sich Raman nannte, daß es bei mehreren Völkern eine Legende gab, nach der in grauer Vorzeit der König der Strahlenden Heerscharen namens Atlan die Entscheidungsschlacht gegen die Diktatoren verloren hatte. Diese Diktatoren waren möglicherweise die Werkzeuge des Erleuchteten. Aber die Zeitreisenden ließen den Mut nicht sinken. Sie unternahmen den Versuch, den Schaltfehler, der dazu geführt hatte, daß es sie in die Zukunft verschlug, zu korrigieren. Das gelang. Und diesmal gelangten sie nicht nur in die richtige Galaxis, sondern auch in die richtige Zeit, wie sie durch ihren ersten Kontakt mit den Piraten von Barquass erkannten. Von ihnen erfuhren sie auch den Namen dieser Galaxis: Manam-Turu. Da die Piraten unter der Führung von Hurgiss Fa Hatcher von Atlan gehört hatten und planten, ihm bei einer seiner Aktionen aufzulauern und so in Kontakt mit ihm zu kommen, um durch ihn eine Spur zu dem sogenannten Erleuchteten zu finden, schlossen sich die Zeitreisenden ihnen an. Das Einhorn Nussel und den Widerstandskämpfer Raman allerdings ließen sie auf dem Planeten Barquass zurück. Sie sollten dort auf das Time-Shuttle warten, das Goman-Largo noch vor dem ersten Kontakt mit den Piraten zu der Zeitgruft zurückgeschickt hatte, die sie zuletzt tangiert hatten. Normalerweise konnte die Kapsel nicht von allein nach Barquass zurückkehren, aber Goman-Largo hatte schon zuviel »Unmögliches« erlebt, als daß er noch etwas für unmöglich hielte. Darum der Auftrag an Nussel und Raman – und darum hatte er dem Einhorn eines seiner Module übergeben, damit es sich dem Time-Shuttle gegenüber als autorisiert ausweisen und es gegenüber Unbefugten schützen konnte. Dann waren seine Gefährtinnen und er zusammen mit Hatchiss und sechsundzwanzig weiteren Piraten mit der KOKAHU gestartet – und nun befanden sie sich entweder vor der Auflösung eines der großen kosmischen Rätsel oder vor ihrem Ende.
2. Durch die Schiffszelle ging ein herzzerreißendes Stöhnen. Auf den Bildschirmen war nur noch ein hartes Flimmern zu sehen, das schmerzhaft in die Augen stach. Goman-Largo hatte das Gefühl, seitlich verschoben zu schrumpfen, während sich gleichzeitig die Inneneinrichtung der Zentrale und die darin befindlichen Personen verzerrten. Der Modulmann konnte sich die Ursache dieser erschreckend wirkenden Effekte zusammenreimen. Sie bestand mit größter Wahrscheinlichkeit in der hyperzentrifugalen Kraft, die sich in der Außenwandung der Raum-Zeit-Synklinale auswirkte. Selbstverständlich war diese Kraft nicht mit den Zentrifugalkräften zu vergleichen, wie sie im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum vorkamen. Hier im Linearraum galten ganz andere Gesetze. Dementsprechend waren die Wirkungen. »Bei Guray!« entfuhr es Hatchiss. Goman-Largo kniff die Augen zusammen und versuchte, den Kapitän zu erkennen. Nach einer Weile sah er im Variosessel des Nescharers eine unförmige grellbunte Masse, aus der fingerlange blasse Flämmchen züngelten. Der Tigganoi versuchte, sich hochzustemmen. Es gelang ihm nicht, weil sein Sessel sich plötzlich an der linken Seitenwand der KOKAHU befand. Er kam sich hilflos und lächerlich vor. »Du bist der Modulmann!« hörte er wie aus weiter Ferne die pfeifende Stimme Neithadl-Offs. Ja, natürlich bin ich der Modulmann! wollte er ungehalten entgegnen, als ihm klar wurde, was die Parazeit-Historikerin wirklich gemeint hatte. Er sollte seine Module einsetzen! »Hilfe!« jammerte jemand. Goman-Largo wandte den Kopf und entdeckte eine Art faßgroßen Gallertklumpen, der über den Boden der Zentrale floß. Unwillkürlich schüttelte der Tigganoi den Kopf. Er konnte sich nur eingebildet haben, daß dieser Gallertklumpen um Hilfe gerufen hatte. Wahrscheinlich existierte diese formlose Masse überhaupt nicht. Dennoch, die Stimme hätte die von Eltaso gewesen sein können. Aber der Kamota war ein annähernd menschengroßer Hominide mit verschiedenen katzenhaften Zügen und kein Gallertklumpen. Goman-Largo kam nicht dazu, sich eingehender mit diesen Überlegungen zu befassen, denn die Zentrale wurde in grellweißes Licht getaucht, das ihn blendete und ihm rasende Kopfschmerzen verursachte. Und ihn gleichzeitig an die verklausulierte Aufforderung Neithadl-Offs erinnerte! Er schaltete geistig ab, konzentrierte sich nur noch auf seine gentechnisch-positronisch geprägten Module und versuchte, das oder die herauszufinden, die ihm helfen konnten, sich unter den Extrembedingungen der Raum-Zeit-Synklinale zu orientieren. Er fand insgesamt drei! Sie besaßen unterschiedliche Fähigkeiten, die sich aber gegenseitig verblüffend perfekt ergänzten. Goman-Largo steuerte ein Modul in die Positronik des Schiffes, eines unter die Kopfschwarte des Kapitäns – und das dritte benutzte er, um die beiden anderen Module zu kontrollieren. Es dauerte nur Sekunden, bis sich erste Erfolge einstellten. Das harte Flimmern der Bildschirme mäßigte sich, dann machte es einer Dunkelheit Platz, die der
von weich und silbrig angestrahltem schwarzen Samt glich – und dann bildeten sich Objekte auf ihnen ab. Es handelte sich allerdings ausnahmslos um undefinierbare Objekte, eher Schemen ohne feste Konturen. Andere Effekte waren weitaus positiver. Der Boden der Zentrale wurde wieder zum Boden, die Wände wurden zu Wänden und die Decke war wieder die Decke. Auch die insgesamt acht Personen, die sich in der Zentrale aufhielten, bekamen wieder ihr normales Aussehen. Und die Positronik druckte wieder verwertbare Daten auf den entsprechenden Sichtschirmen aus. »Gut!« pfiff Neithadl-Off. »Und jetzt zurück, wenn du kannst!« Der Tigganoi verstand auch das. Abermals konzentrierte er sich auf die drei Module – und auch diesmal stellte sich der Erfolg schon nach wenigen Sekunden ein. Ein Ton wie von einer zerreißenden Instrumentensaite tobte gleich einem akustischen Blizzard durch die Zentrale. Alle Bildschirme wurden dunkel. Alle Personen schienen sich in Nichts aufzulösen. Im nächsten Moment war alles wieder normal. Die KOKAHU bewegte sich mit geringer Geschwindigkeit durch ein relativ normales vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum, das sich auf den ersten Blick nur dadurch von dem ganz normalen Normalraum unterschied, daß das schwarze All nur über dem Schiff von Sternen erfüllt war – von besonders grell strahlenden Sternen allerdings. Unter dem Schiff war es dunkel. Und voraus leuchtete gleich einem grünen Feuerball eine einzelne Sonne. »Xachel!« kommentierte Sukiss diesen Anblick. Schnell und doch behutsam zog Goman-Largo seine Module aus der Bordpositronik und aus der Kopfschwarte des Kapitäns zurück und nahm sie wieder in den entsprechenden Fugen seines Körpers auf. »Und wo ist Nubal?« fragte Hatchiss mit einer Stimme, als wäre er eben aus tiefem Schlaf erwacht. Sukiss deutete auf einen kleinen Orterschirm links von der Frontwand der Panorama-Galerie. »Dort ist er«, antwortete er. »An Backbord. Knapp anderthalb Lichtstunden von uns entfernt.« »Der Schatzplanet!« entfuhr es Neithadl-Off. Goman-Largo lächelte nachsichtig. Sollte die Vigpanderin ruhig in den Eloranischen Schätzen wühlen! Sollten die Piraten gemeinsam mit Anima ruhig nach Atlan suchen und ihn finden! Eines Tages würden diese Nebensächlichkeiten erledigt sein. Dann konnte er, der Spezialist der Zeit, die Ziele verfolgen, die er sich unmittelbar nach dem Erwachen aus der Stasis gesetzt hatte: festzustellen, ob es sein Volk und die Zeitschule von Rhuf noch gab (was er bezweifelte) sowie zu ermitteln, was aus dem Orden der Zeitchirurgen geworden war und ob und in welcher Form er noch existierte – und falls er noch existierte, ihn zu bekämpfen. Denn ein Tigganoi mochte seine Ziele zurückstellen, aber er gab sie niemals auf, sondern verfolgte sie unbeirrbar weiter… *
Nubal war der einzige Planet der grünen Sonne Xachel, die ihre Position am tiefsten Punkt der Lithragischen Synklinale hatte. Die KOKAHU näherte sich ihm unter Beachtung aller üblichen Vorsichtsmaßnahmen. Kapitän Hatchiss hatte das Schiff in Alarmzustand versetzt. Alle Stationen wurden von den dafür vorgesehenen Besatzungsmitgliedern besetzt, auch die Geschützkuppeln im halbeiförmig hochgezogenen Bug, obwohl die Laserkanonen zentral von Furror bedient wurden. Aber Furror oder seine Feuerorgel konnten während eines Gefechts ausfallen, dann mußte jede Kanone individuell bedient werden. Bis auf eine Distanz von drei Lichtminuten jagte die KOKAHU mit dreißig Prozent LG auf den Planeten zu, nachdem Hatchiss nach dem Rücksturz in den Normalraum etwa eine halbe Stunde lang beschleunigt hatte. Dann gab der Kapitän Gegenschub – und eine Million Kilometer vor Nubal glitt das Schiff mit nur noch zehntausend Kilometer pro Sekunde über die abgrundtiefe Finsternis am Boden der Synklinale, die nur durch Xachel erhellt wurde – und durch den Baldachin der Sterne darüber. Goman-Largo, Neithadl-Off und Anima hielt es nicht länger in ihren Sesseln. Sie standen auf und bildeten gemeinsam mit der übrigen Zentralebesatzung einen Halbkreis hinter dem Platz des Kapitäns, obwohl sie von dort die Abbildung Nubals auf dem Frontsektor der Panorama-Galerie auch nicht besser sahen als von ihren eigenen Plätzen aus. Die Spannung stieg. Das war allerdings kein Wunder, denn es gab an Bord niemanden, auch nicht die Positronik, der etwas über Nubal wußte – außer daß dieser Planet den Beinamen »Welt der Eloranischen Schätze« trug. Der Modulmann lächelte, als er sah, daß Neithadl-Offs graugrüner Lederhautkörper, der sich zwischen ihrem sechsgliedrigen Knochenrahmen wie zwischen einem Rahmen aus Metallrohren spannte, sich mit dampfender Flüssigkeit bedeckte, ein Anzeichen für ihre hochgradige Erregung. Nach und nach erfaßten die Ortungssysteme immer mehr Daten über den Planeten und die dort herrschenden Verhältnisse. Die Bordpositronik analysierte sie und gab die Ergebnisse akustisch und optisch bekannt. Enttäuschung machte sie breit. Nubal war eine vollkommene Kugel mit rund 14.000 Kilometern Durchmesser, aber er war infolge seiner großen Entfernung zu Xachel eine Eiswelt. Keine atmosphärelose Eiswelt, aber eine, deren Oberfläche mit einer zwischen hundert und dreitausend Meter dicken Schicht gefrorenen Wassers bedeckt war. Es gab keine Anzeichen für Leben irgendwelcher Art – und bei Temperaturen um minus sechzig Grad Celsius war das auch kein Wunder. Die von Xachel beschienene Tagseite des Planeten reflektierte das grüne Licht gleich einer Glaskugel. Die Abstrahlung wurde nur durch wenige hauchdünne Schleier stratosphärischer Eiskristallwolken gemindert. Niederschläge schien es ebensowenig zu geben wie Ansiedlungen intelligenter Lebewesen. »Das sieht aus wie auf Thronamal«, sagte Eltaso leise und von einem kaum hörbaren Schnurren begleitet. »Thronamal?« echote Neithadl-Off und musterte die großen graugrünen »Katzenaugen« des Kamotas. »Es ist der Name des vierten Planeten der irisierenden Sonne Muluch im Neunten Blaustrahlsektor der Nordseite von Manam-Turu«, erläuterte der Kontakter des Piratenschiffs. »Ich war vor vielen Jahren einmal dort, als ich Gefangener des Herzogs von Sugaram war und in den Vithkristall-Minen auf Thronamal arbeitete. Auch Thronamal war mit einer Eisschicht bedeckt – und nachts, wenn die Oberfläche des Ewigen Eises abkühlte, sang sie.«
»Sie sang?« erkundigte sich Goman-Largo amüsiert. »Natürlich nicht wie ein Lebewesen«, stellte Eltaso ironisch fest. »Aber sie sang – und wer den Gesang hörte, der sah vor seinem geistigen Auge wirklichkeitstreue Szenen aus den vergangen Zeiten des Planeten.« Die Katzenaugen flammten. »Es war faszinierend.« Eltaso senkte die Stimme. »Aber es war auch gefährlich, denn es machte auf eine subtile Art und Weise süchtig.« Er brach ab und bedeckte die Augen mit den Händen. »Das klingt ungeheuer interessant«, meinte Neithadl-Off. »Ein Gesang, der wirklichkeitsgetreue Szenen aus vergangenen Zeiten heraufbeschwört!« Sie bemerkte nicht, daß die außer Eltaso in der Zentrale weilenden vier Piraten grinsten, und fuhr fort: »Als Parazeit-Historikerin interessiert mich das ganz besonders. Sag einmal, Eltaso: Wäre es möglich, mit diesem Schiff nach dem Abschluß unserer Mission nach Thronamal zu fliegen? Ich könnte dort wissenschaftlich forschen und eventuell die wahre Ursache dieses Phänomens herausfinden.« »Vielleicht, Prinzessin«, gab Eltaso zurück, wobei er sich zum Ärger Goman-Largos der Anrede bediente, die der Modulmann erfunden hatte und auf die er das Ausschließlichkeitsrecht zu besitzen glaubte. »Aber ich denke, darüber sollten wir nachdenken, wenn wir unter vier Augen sind – äh, beziehungsweise unter uns, denn deine Sensorstäbchen kann man ja schlecht Augen nennen.« »Dagegen würde ich mich auch verwahren«, erwiderte die Vigpanderin. »Ich bin mit deinem Vorschlag einverstanden. Du verstehst es ausgezeichnet, Geschichten zu erzählen.« »So, wie du, Prinzessin«, konnte sich Goman-Largo nicht verkneifen einzuwerfen. Er sagte es allerdings so leise, daß niemand es verstand – außer der Vigpanderin. »Wir gehen in einen Orbit um Nubal«, brummelte Hatchiss energisch und beendete damit das Geplauder von Neithadl-Off mit Eltaso. »Ich habe vor, die Oberfläche des Planeten systematisch abzutasten und, falls wir etwas Auffälliges entdecken, ein Landungskommando hinabzuschicken. Möchte jemand von unseren Gästen sich daran beteiligen?« »Selbstverständlich!« pfiff Neithadl-Off. »Immerhin ist es meinen Vorschlägen zu verdanken, daß wir Nubal überhaupt gefunden haben.« »Ich komme auch mit«, erklärte Goman-Largo. Er blickte Eltaso auffordernd an. »Du beteiligst dich sicher auch«, stellte er fest. »Ich glaube, ich werde auf dem Schiff dringender gebraucht«, behauptete der Kamota. »Du kommst mit!« entschied der Kapitän. »Schließlich hast du ja selbst erklärt, daß du dich mit Eiswelten wie dieser auskennst.« »Aber Thronamal war etwas ganz anderes«, versuchte Eltaso sich zu drücken. »Bei Guray!« grollte Sukiss. »Mir scheint, du fürchtest dich!« »Ha!« machte Eltaso entrüstet. »Ich und mich fürchten! Weißt du nicht, daß ich dabei war, als das Handelskontor auf Garfrie erobert wurde?« »Nein!« gab Sukiss erstaunt und respektvoll zu. »Das wußte ich nicht.« Der Modulmann lächelte in sich hinein. Er hätte ein Modul darauf verwettet, daß es weder einen Planeten namens Garfrie noch ein Handelskontor gab, bei dessen Eroberung Eltaso entscheidend mitgewirkt hatte. Er verzichtete jedoch darauf, ’den Kamota bloßzustellen. Außerdem interessierte ihn etwas anderes.
Er hatte jetzt schon mehrmals gehört, daß ein Pirat »Guray« anrief, und war natürlich neugierig geworden, ob es sich dabei wohl um eine Art Gottheit handelte. »Das nicht gerade«, antwortete Furror auf seine entsprechende Frage. »Guray ist eine Figur aus den Mythen von Manam-Turu.« »Von Manam-Turu?« wiederholte Goman-Largo. »Aber hat nicht jedes Volk dieser Galaxis seine eigenen Mythen?« »Guray kommt in allen Mythen vor«, erklärte der Savatse und blähte den Federkranz an seinem Hals auf. »Vielleicht wurde er von uns Piraten übernommen, denn für uns ist er unser Schutzheiliger.« »Guray soll dich verschlingen!« brummte der Kapitän zornig. »Wir haben soeben eine unter dem Eis verborgene Pyramide überflogen, und du hast die Geschütze nicht darauf ausgerichtet. Wenn es sich um ein Raumfort gehandelt hätte, wärst du nicht einmal mehr dazu gekommen, das Feuer zu erwidern.« Furror gackerte erschrocken und schaltete fieberhaft. Auf den Zielabbildungsschirmen der vier Laserkanonen an der Unterseite des Schiffes tauchten die verschwommenen Konturen einer riesigen pyramidenförmigen Konstruktion auf, die in das grünlich schimmernde Eis von Nubal eingebettet war. »Du wirst ohne meinen Befehl nicht schießen!« rief Hatchiss erschrocken, als die Krallenfinger Furrors sich auf die Feuerknöpfe senkten. Der Savatse zog seine Hände vom Feuerleitpult zurück. »Selbstverständlich nicht, Kapitän«, versicherte er und warf dem Modulmann aus dem rechten Auge einen giftigen Blick zu. »Warum hast du nicht angehalten, Kapitän?« erkundigte sich Tscha-Nom, als er sah, daß die KOKAHU ihre Umkreisung des Planeten fortsetzte und die Pyramide außer Sicht kam. »Vielleicht gibt es noch mehr Besonderheiten«, erklärte Hatchiss. »Wir müssen schließlich erst einmal eine Bestandsaufnahme des ganzen Planeten vornehmen«, sekundierte ihm Sukiss. Tscha-Nom war zufriedengestellt und grunzte vernehmlich. Wenig später erfaßten die Sicht- und Ortungssysteme eine zweite Pyramide unter dem Eis. Sie glich der ersten wie ein Ei dem anderen. Diesmal hatte Goman-Largo Muße, sie sich genau anzusehen, soweit die Ortung sie wiedergab, denn auch dabei kamen nicht alle Konturen scharf heraus. Sie mochte eine Höhe von vierhundert Metern haben und eine quadratische Grundfläche mit zirka sechshundert Metern Seitenlänge. Das Material schien – zumindest an der Oberfläche – farblos zu sein. Jedenfalls spiegelte sich in ihm das grünlich schimmernde Eis, in das sie eingebettet war. Es war nicht zu erkennen, ob es sich um ein natürliches Phänomen oder um eine künstliche Konstruktion handelte. Auch die Energie-Ortung gab darüber keinen Aufschluß. Sie sprach nicht an. Zwischen den Piraten in der Zentrale wurde natürlich spekuliert, ob die Pyramiden die Aufbewahrungsorte für die Eloranischen Schätze seien. Diese Spekulationen nahmen an Heftigkeit zu, als weitere sieben Pyramiden entdeckt wurden, so daß sich die Gesamtzahl auf neun erhöhte. »Neun Pyramiden – und alle sehen gleich aus«, meinte Neithadl-Off. »Für mich ist die Sache damit klar. Jemand hat sie gebaut. Es sind Schatztruhen.« »Oder Fallen«, wandte der Modulmann ein. »Auf jeden Fall sollten wir auch mit dieser Möglichkeit rechnen.« Er wandte sich an den Kapitän. »Gibt es Berichte über die Entdeckung der Eloranischen
Schätze?« »Eine ganze Menge«, erwiderte Hatchiss brummig. »Jeder besagt etwas anderes – und keiner enthält exakte Beschreibungen. Wahrscheinlich hatten die, die die Schätze entdeckten, verhindern wollen, daß eventuellen Nachfolgern die Suche zu sehr erleichtert wird.« »Das hätten wir auch gemacht«, erklärte Sukiss. »Wir werden es so machen, wenn wir je wieder aus dieser Synklinale herausfinden«, meinte Hatchiss. »Ich bringe das Schiff in einen stationären Orbit über einer der Pyramiden. Danach werden wir mit einem Beiboot hinuntergehen: Tscha-Nom, Eltaso, Neithadl-Off, Goman-Largo und ich.« »Gut«, sagte Goman-Largo und sah Anima verwundert an, weil sie sich nicht für das Landeunternehmen gemeldet hatte. »Ich fühle mich nicht wohl«, erklärte die Frau. Goman-Largo wußte, daß das gelogen war. Er tat jedoch so, als glaubte er die Ausrede. Allerdings fragte er sich, warum Anima gelogen hatte – und vor allem, warum sie diesmal die für sie typische Neugierde unterdrückte.
3. Das Beiboot fiel aus der »Bauchseite« des Piratenschiffs, spreizte die kurzen Tragflächen und Stabilisierungsflossen und trat den Abstieg zur Planetenoberfläche an. Hurgiss Fa Hatcher übernahm die Steuerung. Das hieß, eigentlich tat das der Autopilot, der vom Kapitän mit einem ausführlichen Landeprogramm »gefüttert« worden war, das Hatchiss noch auf der KOKAHU erstellt hatte. Hatchiss wachte nur darüber, daß alles programmgemäß ablief und hielt sich bereit, um notfalls selbst steuern zu können. Tscha-Nom hatte die Kopfhörer aufgesetzt und stand in permanenter Funkverbindung mit Furror und der Bordpositronik der KOKAHU – für den Fall, daß sich für das Beiboot eine Lage ergab, mit der sie allein nicht fertig wurden, so daß das Mutterschiff mit seinen erheblich stärkeren Waffen eingreifen mußte. Das Boot besaß nur eine kleinkalibrige Laserkanone in einer drehbaren Bugkuppel. Eltaso ähnelte einem wandelnden. Werkzeugladen. Hatchiss hatte ihn mit Werkzeugen bepackt, mit denen sich wahrscheinlich sogar der Hochsicherheitstresor eines reichen Handelskontors »knacken« ließ. Die Ausrüstung wog mindestens hundertfünfzig Kilogramm. Entsprechend sauer war der Kamota. Seine Schlitzpupillenaugen funkelten jedesmal wütend, wenn er den Kapitän ansah. Goman-Largo trug in seinem Gürtelhalfter noch den honigfarbenen Quintadimwerfer des Wächters der Zeitgruft von Kamintze. Die Piraten hatten ihm und seinen Gefährtinnen ihre Waffen gelassen. Er hoffte allerdings, daß er seine Waffe niemals würde benutzen müssen, denn wenn die Piraten erst die Wirkung der Waffe beobachtet hatten, würden sie immer daran denken, wie sie sie ihm abnehmen könnten. Neithadl-Off barg in dem Ausrüstungsbeutel unter ihrem, in den transparenten Raumschutzanzug gehüllten, mattenförmigen Körperrumpf ihr Messer und eine einfache Laserpistole, die ihr von den Piraten überlassen worden war. Sie hatte außerdem einen flach zusammengefalteten Raummüllsack mitgenommen, um einen Behälter zu haben, in dem sie etwas von den Eloranischen Schätzen zu verstauen gedachte. In dieser Beziehung war sie von einer beinahe kindlichen Zuversicht. Der Abstieg verlief ziemlich schnell. Trotz der Tragflächen bremste das Beiboot nicht mit Hilfe der Atmosphäre ab, sondern ging unter Benutzung von Impulstriebwerken und Antigravprojektoren in einer Spirale relativ steil hinunter. Als es in die obersten Schichten der Atmosphäre eintauchte, schaltete sich automatisch der Prallfeldschirm ein. Hinter dem Boot blieb ein schwach und kurzlebig leuchtender Schleier ionisierter Luftmoleküle zurück. Nachdem das Boot eine Eisnadelschleierwolke durchstoßen hatte, schaltete Goman-Largo das Elektronen-Teleskop ein und suchte das Gebiet der Planetenoberfläche, in dem sie landen würden, systematisch ab. Der Sichtschirm des Teleskops gab die Landschaft dreidimensional und farbig wieder. Das nützte allerdings nicht viel, denn das Eis war glatt und eben – und es gab nichts Besonderes, außer der Pyramide im Innern des Eises. Von pflanzlichem oder tierischem Leben war nichts zu sehen. Es gab auch keine Städte, Wege oder andere Anzeichen intelligenten Lebens – abgesehen von der rätselhaften Pyramide. Während der letzten Phase des Abstiegs nahm Neithadl-Off wieder einmal ihr Aufzeichnungsgerät aus dem Futteral, hielt es zwischen ihren Vordergliedmaßen und blies einen Bericht hinein, während sie das Gerat vor ihrer schmalen Mundleiste hin und her bewegte. Sie hörte erst auf damit, als das Beiboot gelandet war. Sie warteten ein paar Minuten, aber nichts Verdächtiges regte sich. Draußen stand die eiskalte Luft
förmlich. Vom Himmel schien die grüne Scheibe von Xachel handflächengroß herab. Ihr Licht spiegelte sich im klaren und glatten Eis. »Wann steigen wir endlich aus?« wollte Neithadl-Off wissen. »Jetzt«, antwortete Hatchiss und schnallte sich los. Sie schlossen alle ihre Druckhelme. Das hieß, Neithadl-Off schloß anstelle eines Druckhelms die Vorderseite ihrer transparenten Überlebensfolie, die bisher fast unsichtbar an ihrem, Körper angelegen hatte. Danach pumpte sie die Folie auf. In der Schleusenkammer des Beiboots war es eng. Die Vigpanderin behalf sich, indem sie sich senkrecht aufstellte und die Gliedmaßen anlegte. Als das Außenschott sich öffnete und die Rampe ausgefahren war, stieg Hatchiss als erster aus, wie es sich für einen Piratenkapitän gehörte. Die Außenmikrophone übertrugen das Knirschen der Profilsohlen seiner Stiefel auf dem Eis. Hinter ihm ging Goman-Largo hinaus, gefolgt von dem schwerbepackten Eltaso, hinter dem Neithadl-Off ins Freie trippelte. Als letzter verließ Tscha-Nom das Boot. Er trug einen schweren Desintegrator über der Schulter. Draußen drehte er sich einmal um sich selbst, las die Helmanzeigen der Außensensoren ab und klappte danach seinen Helm zurück. »Die frische Luft tut gut«, kommentierte er die rund sechzig Grad minus. »Wie kommen wir an die Pyramide heran?« erkundigte sich Neithadl-Off. »Dafür ist Tscha-Nom zuständig«, erklärte der Kapitän. Der Tukar grunzte und ging mit weiten Schritten über das Eis. Die Kälte ließ seine Atemluft gefrieren. Das gelockte Haar um Mund und Nase war bereits von Eiskristallen durchsetzt. Es schien ihm nichts auszumachen. Zielstrebig ging Tscha-Nom zu der Stelle der Pyramide, die am höchsten aufragte. Das war nicht die Spitze, denn das Gebilde lag auf der Seite und war gleichzeitig etwas verkantet, sondern eine Ecke der Grundfläche. Genau darüber blieb der Tukar stehen, nahm den Desintegrator von der Schulter, setzte die in einem Distanzrahmen befindliche Mündung aufs Eis und schaltete das Gerät ein. Seine Bewegungen erfolgten mit einer Selbstverständlichkeit und Sicherheit, als würde er Tag für Tag dieser Tätigkeit nachgehen. Goman-Largo stellte erstaunt fest, daß der Desintegrator sehr viel leistungsfähiger war, als er es sich vorgestellt hatte. Anscheinend arbeitete er effektiver als die Desintegratoren, die er bisher kennengelernt hatte. Innerhalb einer knappen Stunde hatte Tscha-Nom einen rund zwei Meter durchmessenden Schacht von der Oberfläche bis in zirka siebzig Meter Tiefe getrieben. Er schaltete den Desintegrator aus, als zwischen seinen Füßen und der Ecke der Grundfläche nur noch wenige Zentimeter Eis waren. Die dünne Eisschicht zerbrach unter seinem Gewicht und dem des Geräts in Stücke, so daß TschaNom auf der Oberfläche der Pyramide zu stehen kam. Er blickte nach oben, dann winkte er. »Du!« sagte Hatchiss und deutete auf Eltaso. Der Kamota funkelte ihn grimmig an, dann schaltete er sein Flugaggregat ein, schwebte über den Schacht und ließ sich langsam hinabsinken. Unten trat Tscha-Nom zur Seite. Als Eltaso landete, schaltete er versehentlich den Antigrav seines Flugaggregats auf null. Prompt bekam seine Werkzeugladung das »Übergewicht« und drückte ihn zu Boden. Der Kamota stieß einen Wutschrei aus. Es klang wie der Kampfschrei einer Wildkatze. »Wir warten!« rügte und drängte Hatchiss zugleich.
Eltaso raunzte noch eine Weile herum, sortierte aber dabei sein Werkzeug. Danach ging er an die Arbeit. Goman-Largo probierte mit verschiedenen Modulen herum, weil er feststellen wollte, wie Eltaso der Pyramide zu Leibe ging, da er offensichtlich keine Brachialgewalt anwandte. Schließlich fand er ein Modul, das auf die subtile Arbeit des Kamotas ansprach und es Goman-Largo erlaubte, die von ihm eingesetzten Mittel zu analysieren. Es handelte sich um ganze Serien von Schaltkodegebern und Struktur-Resonatoren, mit denen der Kamota versuchte, die innere Gliederung der Pyramide zu erkennen und Möglichkeiten zu finden, vorhandene Öffnungsschaltungen zu aktivieren. »Das ist hypertemporal!« sagte er anerkennend und wandte sich an den Kapitän. »Wo hat Eltaso die Spezialausbildung genossen, die ihn dazu befähigt, derart komplizierte Arbeiten durchzuführen?« »Ich weiß es nicht«, erklärte Hatchiss. »Er tauchte eines Tages bei uns auf und führte vor, was er konnte. Da habe ich ihn natürlich übernommen. Früher will er selbständig gearbeitet haben. Guray steh uns bei!« Dem Ausruf war ein flackernder Lichtausbruch unten auf der Schachtsohle vorangegangen, in dem Eltaso und Tscha-Nom verschwunden waren. Es hatte ausgesehen, als seien sie von ungeheurer Hitze verdampft worden. Der Tigganoi wußte allerdings, daß es sich um eine optische Täuschung gehandelt hatte. Sein aktiviertes Modul zeigte ihm an, daß der Lichtausbruch kalt gewesen war und daß Eltaso und Tscha-Nom ihn unbeschadet überstanden hatten. Sekunden später ließ sich das auch optisch erkennen. Aber nicht nur das. Genau in der Mitte zwischen dem Kamota und dem Tukar war die Ecke der Pyramide verschwunden. An ihrer Stelle klaffte ein etwa quadratmetergroßes Loch – und dahinter schimmerte farblose Helligkeit. »Meine Hochachtung!« rief Hatchiss über Helmfunk. »Du hast gute Arbeit geleistet, Eltaso!« »Auf deine Hochachtung kann ich verzichten, Kapitän!« raunzte der Kamota. »Gib mir lieber eine Prämie für meine Leistung. Ich hab schon viel zu lange keine mehr gesehen.« Darauf ging Hatchiss jedoch nicht ein; statt dessen winkte er dem Tigganoi und der Vigpanderin und rief: »Folgt mir zu den Schätzen in der Tiefe!« * Die Öffnung war viel zu klein für Neithadl-Off, deren Breite immerhin 1,60 Meter betrug. GomanLargo war schon gespannt darauf, wann sie es merken und wie sie darauf reagieren würden. Aber die Parazeit-Historikerin klappte sich einfach so zusammen, daß ihre Breite um die Hälfte reduziert war. Auf diese Weise paßte sie mühelos durch die Öffnung. Hinter der Öffnung erstreckte sich ein gerader, schräg nach unten führender Korridor mit quadratischem Querschnitt. Er war von der farblosen Helligkeit erfüllt, die Goman-Largo schon von draußen gesehen hatte. Leicht irritiert folgte der Tigganoi den drei Piraten und Neithadl-Off. Es störte ihn, daß es in den Korridorwänden keine Türen oder Schotte gab und daß der Korridor ohne Abzweigungen war. Es schien, als wäre die Pyramide massiv.
Wieder probierte er einige seiner Module aus. Doch diesmal scheiterte er damit. Die Wandungen des Korridors erwiesen sich als Grenze für die Möglichkeiten seiner Funktionseinheiten. Noch schlimmer: Seine Module vermochten nicht einmal zu analysieren, woraus die Wandungen des Korridors bestanden. Es schien sich um ein Material zu handeln, das in der Natur nicht vorkam und dessen Synthese wahrscheinlich noch nicht existiert hatte, als seine Module genotronisch geprägt worden waren. Oder die Synthese war zu diesem Zeitpunkt schon wieder in Vergessenheit geraten! fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. Je länger er darüber nachdachte, um so wahrscheinlicher erschien ihm diese Möglichkeit. Was er bisher über die Eloranischen Schätze gehört hatte, deutete darauf hin, daß sie schon seit undenklichen Zeiten in der Lithragischen Synklinale lagen. Seine Überlegungen fanden ein Ende, als er einen sechseckigen Hohlraum erreichte. In jeder der Wände befand sich die Mündung eines Korridors, und überall herrschte die farblose Helligkeit, die auch den ersten Korridor erfüllte. Eltaso hatte schon wieder einen Teil seiner Geräte montiert und nahm verschiedene Resonatortastungen und Messungen vor. »Wir befinden uns im exakten Mittelpunkt der Pyramide«, stellte er fest. »Die übrigen fünf Korridore gleichen dem Korridor, durch den wir gekommen sind. Es gibt keinen Hinweis auf irgendwelche Schätze.« Hatchiss brummte zornig, dann erwiderte er: »Natürlich liegen die Schätze hinter den Korridoren, du Dummkopf! Oder dachtest du, die Pyramiden wären aus massivem Material?« »Ich weiß nicht, was ich denken soll, Kapitän«, erklärte Eltaso gekränkt. »Die Instrumente zeigen nicht einmal an, woraus die Wände der Korridore bestehen, geschweige denn, was darunterliegt.« Beinahe hätte Goman-Largo ihm beigepflichtet. Er hielt sich im letzten Moment zurück. Schließlich wollte er gegenüber den Piraten seinen besten Trumpf nicht verraten. »Ich kann ja mal versuchen, mit dem Desintegrator durchzukommen«, schlug Tscha-Nom vor. »Warte noch!« mahnte der Kapitän. »Eltaso, woraus besteht die Außenwandung der Pyramide? Das wirst du doch festgestellt haben, denn sonst hättest du sie nicht öffnen können.« »Die Außenwandung besteht aus einem hochpolymeren, amorph erstarrten Metallplastik in nichtkristallinem Zustand«, antwortete der Kamota. Goman-Largo nickte beifällig, denn genau das hatte er mit Hilfe eines Moduls auch festgestellt. »Dann sollte Tscha-Nom vielleicht lieber, ein Loch von außen bohren«, warf Neithadl-Off ein. Der Tukar verzog das behaarte, rosige Gesicht mit den Hängebacken, als er das Wort »bohren« hörte. Es verstieß anscheinend gegen seine Ehre als Desintegrator-Bediener. »Ich bezweifle, daß ein gewaltsamer Durchbruch von außen gelingen würde«, erklärte Eltaso. »Ich habe die Öffnung geschaltet und nicht hineingebrochen.« »Vielleicht können wir beide gemeinsam mit deiner Ausrüstung etwas erreichen«, sagte GomanLargo, an den Kamota gewandt. »Ich kenne mich damit auch recht gut aus.« Er dachte dabei natürlich an seine Module und hoffte, daß er ein paar von ihnen erfolgreich zur Verstärkung der Wirkungen einzusetzen vermochte, die Eltaso mit seinen Geräten erzielte. »Das bezweifle ich«, entgegnete der Kamota steif und legte streitlustig die spitzen Ohren an. Der Modulmann verstand ihn. Eltaso fürchtete die Konkurrenz, durch die seine bisher »einmalig« erscheinenden Fähigkeiten an Glorienschein verlieren konnten. »Versucht es!« entschied der Kapitän energisch.
Goman-Largo trat zu den von Eltaso montierten Geräten und setzte verstohlen das Modul ein, mit dem er zuvor die Arbeit des Kamotas analysiert hatte. Schon bald konnte er den schwachen Punkt erkennen. Die Funktionen der einzelnen Elemente waren zwar zusammengeschaltet, aber nur unzureichend koordiniert. Den Kamota traf jedoch keine Schuld. Mit Schaltungen von außen war eine bessere Effizienz der Anordnung nicht zu erreichen. Erst mit Hilfe des Moduls gelang es Goman-Largo, die Funktionen der Einzelelemente so aufeinander abzustimmen, daß ihre Wirkung potenziert wurde. Abermals kam es zu einem Lichtausbruch, aber diesmal noch viel stärker als bei der Öffnung der Pyramide von außen. Gleichzeitig erschien auf der Wandung des sechseckigen Hohlraums eine schwarze Kreisfläche zwischen zwei Korridormündungen. Es sah jedenfalls aus wie eine schwarze Kreisfläche. Doch es war keine, sondern eine finstere Öffnung, die jegliches Licht abzuweisen schien, denn der Blick drang nicht einmal einen Millimeter tief hinein. Daß es sich um eine Öffnung handelte, war überhaupt nur für Goman-Largo zu erkennen, der noch einen schwachen Rückkopplungskontakt mit seinem in den Gerätekomplex integrierten Modul hatte. Die Geräte selbst waren unzugänglich geworden. Ihre Kontrollen ließen sich nicht einmal mehr ablesen, denn der ganze Komplex hatte sich in einen silbrig glänzenden, kalten Energieschirm gehüllt. »Was ist das?« pfiff Neithadl-Off und deutete mit einem Vordergliedmaß auf den schwarzen Kreis, der auf den ersten Blick wie ein Schatten wirkte. »Eine Öffnung«, antwortete der Modulmann. »Aber ich warne davor, sie zu benutzen. Dahinter gibt es irgend etwas, gegen das die Geräte Eltasos nichts als Spielzeug sind.« »Aber wahrscheinlich auch die Eloranischen Schätze!« pfiff die Vigpanderin und trippelte risikofreudig auf die schwarze Fläche zu. Im nächsten Moment war sie hinter ihr verschwunden. Die drei Piraten erstarrten förmlich vor Schreck. Goman-Largo aber hatte etwas Ähnliches erwartet. Außerdem hätte er die Vigpanderin sowieso niemals im Stich gelassen. Er holte tief Luft, dann sprang er in die Dunkelheit hinein… * Von einem Moment zum anderen verschwand die Finsternis. Es war dem Tigganoi, als wiche das Dunkel rings um ihn nach allen Seiten blitzschnell auseinander. Praktisch im selben Augenblick sah er sich in einer seltsamen dunkelvioletten Dämmerung stehen – und Neithadl-Off stand nur einen Schritt vor ihm, wie zu einem Denkmal erstarrt. Goman-Largo überlegte, wo er war und wie er an diesen unheimlichen Ort gekommen sein mochte. Er kam zu keinem Resultat, denn er konnte keinerlei Beziehungen zu anderen Realitäten erkennen. Nur ein merkwürdiges Ziehen in einem Winkel seines Bewußtseins ließ ihn vermuten, daß es außer der violetten Dämmerung noch andere Orte gab. »Wo sind wir?« pfiff die Vigpanderin. »Ich denke selbst darüber nach«, erwiderte Goman-Largo. »Es muß zumindest einen anderen Ort außer diesem geben.« »Bist du sicher?« fragte Neithadl-Off skeptisch.
»Ich denke schon«, sagte Goman-Largo. »Es existiert eine Art von biotronischer Verbindung zwischen mir und etwas an diesem anderen Ort. Wenn es mir gelingt, mich stärker darauf zu konzentrieren, komme ich vielleicht dahinter.« »Wann?« pfiff die Vigpanderin. »In einer Stunde – oder in zwei oder drei Stunden.« »Oder in drei Tagen«, spottete Neithadl-Off. »Soviel Zeit können wir nicht verschenken, Goman. Siehst du denn nicht, was hier herumsteht?« Für den Tigganoi war es eben erst sichtbar geworden: mannsgroße, metallisch schimmernde glockenförmige Gebilde, die an silbrigen Drähten aufgehängt waren, von denen sie unbeweglich herabhingen. »Was ist das?« fragte er – und erinnerte sich im selben Moment daran, wonach Neithadl-Off und er hier suchten. »Die Eloranischen Schätze!« »Genau!« pfiff Neithadl-Off. »Aber wie willst du die Dinger transportieren?« wandte der Modulmann ein. »Das sind doch nur die Behälter«, entgegnete Neithadl-Off. »Jedenfalls denke ich das. Darunter oder darin müssen sich die eigentlichen Schätze befinden. Goman, du hast den Quintadimwerfer des toten Zeitwächters. Mit ihm kannst du die Behälter bestimmt öffnen.« Der Tigganoi zog die Waffe, fröstelte und schob sie wieder ins Gürtelhalfter zurück. »Sei nicht feige!« ermahnte Neithadl-Off ihn. »Das bin ich nicht«, verteidigte Goman-Largo sich. »Aber ich spüre, daß wir uns nicht im normalen Raum-Zeit-Kontinuum befinden. Folglich ist das, was wir sehen, auch nicht das, als was wir es sehen, sondern etwas ganz anderes. Die optischen Eindrücke werden von unseren Bewußtseinen nur in gewohnte Vorstellungen transformiert. Wer weiß, was geschähe, wenn ich eine Waffe benutzte, deren Wirkung hier völlig unvorhersehbare Folgen haben könnte!« »Aber ich bin doch bei dir!« erwiderte die Parazeit-Historikerin mit bestechender Unlogik. Goman-Largo begriff die Unlogik und konnte dennoch nicht widerstehen. Er zog den Quintadimwerfer, schloß die Hand um das zylindrische Griffstück und preßte es zusammen, nachdem er im Reflexvisier eines der glockenförmigen Gebilde gesehen hatte. Er lockerte seinen Griff zwar sofort wieder, denn er wollte das Ziel schließlich nur beschädigen und nicht irreversibel im Hyperraum verschwinden lassen. Dennoch bildete sich über dem Objekt ein schwarzes Kugelfeld, das allerdings diesmal nicht scheinbar implodierte, sondern nach einem Sekundenbruchteil wieder erlosch. Die Wirkung allerdings reichte aus, um die glockenförmige Hülle spurlos verschwinden zu lassen. Darunter kamen goldfarben leuchtende Bälle zum Vorschein, die im nächsten Augenblick explodierten und lautlose Lichtkaskaden nach allen Richtungen jagten. Sie veränderten die Umgebung. Goman-Largo sah sich und Neithadl-Off plötzlich in einem unendlichen Meer von Dunkelheit stehen, durch die sich ein weitmaschiges Netz hauchdünner silbriger Fäden oder Drähte spannte – und über die Fäden des Netzes jagten schlittenförmige Gestelle mit Masten und riesigen Segeln, die auf einer Seite schwarz und auf der anderen goldbedampft waren: Weltraumschlitten mit Sonnenwindsegeln. Auf den Schlitten aber standen in leicht vorgeneigter Haltung kleine, kurzbeinige Hominide in Raumanzügen, durch deren transparente Ovalhelme schwarz und weiß gestreift behaarte Gesichter mit runden Ohren, feuchtglänzenden Ledernasen und himmelblauen Augen zu sehen waren.
»Es ist Einbildung«, sagte der Tigganoi. »Nein!« widersprach die Vigpanderin heftig. »Es sind die Hüter der Eloranischen Schätze, die mit ultrahochfrequenten Tönen psionische Weisen absingen. Ich kenne das aus dem Reich der dreißig Pashkoten im Raumsektor Dirfuhs.« Goman-Largo schüttelte den Kopf und dachte angestrengt nach. Irgendwie wußte er, daß NeithadlOff Produkte ihrer eigenen Phantasie zum Besten gab. Doch er wußte auch, daß dieses silbrige Faden- oder Drahtgespinst real war und daß das auch für die Sonnenwindsegler galt. Er wußte nur noch nicht, wie das alles zustande kam. Bis ihm die Ursache der biotronischen Verbindung einfiel, die zwischen ihm und einem Etwas an einem anderen Orte bestand. Das in Eltasos Gerätekomplex integrierte Modul! In dem Moment, in dem ihm das klar wurde, gewann er die Verfügbarkeit über seine Fähigkeiten als Modulmann zurück – und er »knüpfte« eine Verbindung zwischen einem der Module in seinem Körper und dem »jenseitigen« Modul in Eltasos Gerätekomplex. Ein unwirklicher Ton erklang. Doch so unwirklich der Ton geklungen hatte, so real war das, was durch ihn erkennbar wurde: ein Netz semiorganischer, 5-D-sensibler Fäden, die das Eis und die Pyramiden von Nubal durchzogen und von nichts und niemandem wahrgenommen werden konnten. Es sei denn, der Inhalt eines der glockenförmigen Behälter wurde freigesetzt und produzierte eine Art ultrahochfrequentes Absingen, das die im Netz gespeicherten Informationen aus früheren Zeiten teilweise manifest werden ließ. Das bedeutete, daß die Intelligenzen und die Sonnenwindsegler einmal Wirklichkeit gewesen waren und daß sie wahrscheinlich in der Vergangenheit das 5-D-sensible Netz installiert hatten, damit es nach ihrem Aussterben als Wächter über die Eloranischen Schätze fungierte. Goman-Largo begriff aber nicht nur das, er begriff auch, daß dieser rätselhafte Wächter eben erst erwacht war und sie vernichten würde, sobald er festgestellt hatte, daß sie die Schätze, die er bewachte, rauben wollten. Dagegen half nur eines: die Flucht. * Der Tigganoi konzentrierte sich so Stark auf die Verbindung zwischen dem aktivierten Modul in seinem Körper und dem in Eltasos Gerätekomplex integrierten Modul, daß er außer dieser Verbindung nichts mehr wahrnahm. Aber wenigstens erkannte er mit ihrer Hilfe die Richtung, in die er sich bewegen mußte – und das Zusammenwirken der beiden Module öffnete ihm die Wandung der Schatzkammer von innen nach außen. Goman-Largo stolperte nach wenigen Schritten über ein Hindernis, das er infolge seiner ausschließlichen Konzentration auf die Module nicht gesehen hatte. Aber er konnte sich denken, was das für ein Hindernis war – und er tastete im Liegen um sich, weil er den körperlichen Kontakt mit Neithadl-Off brauchte, um sie mitnehmen zu können. »Warte!« pfiff die Vigpanderin protestierend, als er sie vehement mitzog. Er ließ locker, spürte, wie Neithadl-Off sich von ihm löste, und merkte kurz darauf, daß sie den Körperkontakt wiederherstellte.
»Weiter!« pfiff sie. Er ließ es sich nicht zweimal sagen. Der Sog der modularen Verbindung war inzwischen so stark geworden, daß er ihm nur nachzugeben brauchte. Im nächsten Moment schossen Neithadl-Off und er förmlich aus der Schatzkammer hinaus und in den sechseckigen Hohlraum hinein. Grelles Licht brandete gegen ihre Wahrnehmungsorgane und drohte ihre Nervensysteme auszubrennen. Goman-Largo und Neithadl-Off gingen zu Boden und legten die Vordergliedmaßen beziehungsweise Arme über die Sensorstäbchen beziehungsweise Augen. Das half. Noch mehr aber half die Tatsache, daß das grelle Leuchten sich rapide abschwächte. Als der Modulmann einen Blick zwischen seinen Armen hindurch riskierte, sah er, daß es fast ganz erloschen war – und er sah außerdem, daß es von dem Gerätekomplex Eltasos gekommen war, der sich in einem jähen Aufglühen fast völlig verzehrt hatte. Er rappelte sich auf und bemerkte danach die drei Gestalten, die auf der anderen Seite des Schlackenhäufchens lagen: Hatchiss, Tscha-Nom und Eltaso. »Das hat sich gelohnt!« kommentierte er. »Jawohl, das hat sich gelohnt, Goman!« frohlockte Neithadl-Off und hielt ihm einen winzigen Plastikbeutel unter die Nase. »Was hast du da?« fragte er verblüfft. Die Parazeit-Historikerin kicherte und schwenkte den Beutel hin und her. »Du erinnerst dich, daß ich dich zu warten bat, als du flüchten wolltest«, stellte Neithadl-Off fest. »Nun, während du wartetest, füllte ich etwas von dem goldfarbenen Staub, der sich nach der Explosion der goldenen Kugeln gebildet und auf den Glocken in der Schatzkammer abgesetzt hatte, in diesen Beutel.« »Goldstaub?« äußerte der Modulmann eine Vermutung. »Wie kann man nur so naiv sein!« spottete die Vigpanderin. »Was ich abgestaubt habe, ist Zeitasche, die unter bestimmten Umständen Halluzinationen aus der Vergangenheit wachruft und sie eventuell sogar materiell manifestieren läßt.« Goman-Largo unterdrückte eine abfällige Bemerkung. »Woran hast du das erkannt?« erkundigte er sich statt dessen betont sachlich. »Aber Goman!« pfiff Neithadl-Off. »Du scheinst immer wieder zu vergessen, daß ich als ParazeitHistorikerin sowohl reichhaltige Erfahrungen als auch Informationen über alles gesammelt habe, was mit dem Phänomen Zeit zu tun hat.« »Aha!« entfuhr es Goman-Largo. »Daher weißt du also, daß das, was du abgestaubt hast, Zeitasche ist.« »Selbstverständlich«, erklärte die Vigpanderin. Zumindest erscheint es mir logischer als jede echte Tatsache zu sein! fügte sie in Gedanken hinzu. Goman-Largo musterte seine Gefährtin aus schmalen Augen. Einerseits war er immer noch skeptisch, andererseits erschien ihm alles, was Neithadl-Off behauptete, in sich so logisch, daß es eigentlich der Realität entsprechen mußte. Er suchte nach einer Frage, die den Sachverhalt möglichst lückenlos zu klären vermochte. Er fand sie nie, denn sein Grübeln wurde unterbrochen, weil die drei Piraten sich wieder regten.
Eltaso maunzte kläglich. Tscha-Nom wälzte sich auf dem Boden, schniefte und wischte sich mit den Händen versengtes Lockenhaar aus dem Gesicht. Hatchiss rieb sich die Augen und grollte: »Was hast du mit deinen Geräten angestellt, Eltaso? Sind sie verbrannt?« »Ich kann nichts dafür«, verteidigte sich der Kamota. »Etwas hat sie dazu angeregt, sich in Energie umzuwandeln.« »In Licht«, korrigierte ihn Tscha-Nom. »Wenn thermische Energie freigeworden wäre, hätte sie uns zu Asche verbrannt.« »Jedenfalls mußt du etwas falsch gemacht haben, Eltaso«, behauptete der Kapitän. »Das ist nicht wahr!« begehrte der Kamota auf. »Er kann wirklich nichts dafür«, nahm Goman-Largo ihn in Schutz. »Es waren die Wächter über die Eloranischen Schätze. Bisher haben sie allerdings keine gezielten Maßnahmen gegen uns ergriffen. Das wird sich ändern. Ich kann nur dazu raten, die Pyramide so schnell wie möglich zu verlassen.« »Wir sollen fliehen, ohne auch nur einen Teil dieser Schätze erbeutet zu haben?« grollte Hatchiss. »Entweder wir fliehen – oder wir werden vernichtet«, stellte der Modulmann fest und integrierte das freigewordene Modul, das das Schicksal von Eltasos Geräten nicht geteilt hatte, wieder in seinen Körper. »Möglicherweise würden wir sogar ein noch schlimmeres Schicksal als den Tod erleiden.« »Woher weißt du das alles?« fragte der Kapitän und sah ihn argwöhnisch an. »Neithadl-Off und ich waren in der Schatzkammer«, erklärte Goman-Largo in aller Bescheidenheit. »Dort wurden wir von den Wächtern gewarnt und bedroht. Mit der Zerstörung von Eltasos Gerätekomplex haben sie nur eine kleine Probe ihres Könnens gegeben.« »Dann kommen wir sowieso nicht an die Schätze heran«, stellte Hatchiss fest. »Es wäre also sinnlos, länger hier auszuharren. Wenn wir auch keine Schätze mitbringen, so doch den Ruhm, in die Lithragische Synklinale eingedrungen und bis nahe an die Eloranischen Schätze herangekommen zu sein. Den kann uns niemand mehr nehmen. Wir kehren zur KOKAHU zurück!«
4. Tscha-Nom quiekte vor Angst, während der Kapitän ein Stoßgebet an den Schutzheiligen der Piraten richtete. Im nächsten Augenblick füllte sich der Beiboothangar mit der Düsenglut der auf Schubumkehr geschalteten Triebwerke. Doch das hob die viel zu hohe Geschwindigkeit auch nicht restlos auf. Krachend prallte die Nase des Beiboots gegen die Rückwand des Hangars. Die Sitze in der Steuerkanzel lösten sich aus ihren Verankerungen und flogen gegen Sichtschirme und Schaltkonsolen. Dumpfe Aufprallgeräusche mischten sich mit unheilverkündendem Splittern sowie mit Quieken, Brüllen, Kreischen und Pfeifen. Nur Goman-Largo schwieg. Im nächsten Moment trat Stille ein. Benommen befreite sich der Modulmann aus der Umarmung seiner Sicherheitsgurte, dann kroch er unter dem Kontursessel hervor, der ihn unter sich begraben hatte. Die Rückenlehne war verbogen, weil sie mit der Oberkante gegen das Steuerpult geprallt war. Hätte Goman-Largo seinen Kopf nicht rechtzeitig eingezogen, würde er kaum besser aussehen. Kaum war der Tigganoi frei, kümmerte er sich um Neithadl-Off. Ihr Sessel war leer; die Gurte hingen lose von ihm herab. Offenbar hatte sie es versäumt, sich anzuschnallen. Dafür »klebte« sie mit dem Rücken förmlich an der Vorderwand der Steuerkanzel zwischen zwei Ortungsschirmen. Goman-Largo befürchtete schon das Schlimmste, aber als er nach der Parazeit-Historikerin griff, löste sie sich von der Wand und glitt ihm in die Arme. Er ging nur vor Überraschung in die Knie, denn ihr Gewicht war unerheblich für ihn. »Was ist mit dir los?« pfiff Neithadl-Off. »Ich bin in Ordnung«, erwiderte Goman-Largo und stellte die Vigpanderin auf die Füße. »Bist du nicht verletzt?« »Das hättest du wohl gern!« entrüstete sie sich. »Hilfe!« jammerte Eltaso. »Ich sterbe!« »Ich komme!« sagte Goman-Largo. »Kümmere du dich um den Kapitän!« pfiff die Vigpanderin. »Ich sehe nach Eltaso.« Der Tigganoi sagte sich, daß seine Gefährtin ihre Gründe dafür haben müsse. Er wandte sich deshalb ohne Widerspruch dem Kapitän zu. Hatchiss befand sich im Sinne des Wortes in der Klemme. Er war ebenfalls nicht angeschnallt gewesen und deshalb aus seinem Sessel heraus »gestartet« und mit voller Wucht in den Frontschirm hineingedonnert. Dort steckte er nun in der Elektronik des Bildschirms, wurde von vorn langsam geröstet und war hinten mit Bildschirmsplittern gespickt. Jede Bewegung von ihm bereitete ihm neue Qualen, denn sie löste weitere Kürzschlüsse in der Elektronik aus – und die dadurch hervorgerufenen Zuckungen des Kapitäns trieben ihm neue Splitter in die Rückseite beziehungsweise die vorhandenen tiefer ins Fleisch. Als erstes schaltete Goman-Largo die Stromzufuhr aus. Hatchiss seufzte schwer und sackte bewußtlos in sich zusammen. Während der Tigganoi ihm die Splitter aus der Rückseite zog und die noch im Rahmen steckenden Bildschirmsplitter entfernte, dachte er daran, warum sie so überstürzt von Nubal gestartet und sich dem Mutterschiff viel zu schnell genähert hatten.
Zeitphänomene waren daran schuld gewesen. Neithadl-Off und er mußten in der Schatzkammer der Pyramide irgend etwas ausgelöst haben, das diese Zeitphänomene verursacht hatte. Jedenfalls veränderte sich nach und nach alles innerhalb der Pyramide und auch außerhalb. Es war, als liefe die Zeit rückwärts. Anfangs hatte das nicht besonders bedrohlich ausgesehen, denn da waren der Hohlraum im Mittelpunkt der Pyramide und der Korridor, durch den die Eindringlinge flüchteten, nur in immer besseren Zustand versetzt worden. Doch als sie die Pyramide verließen und den ins Eis gebrannten Schacht nicht mehr vorfanden, begannen sie zu ahnen, daß sie sich im Wettlauf mit dem Tod befanden. Tscha-Nom hatte mit seinem Desintegrator einen neuen Schacht nach oben getrieben. Es war mehr Zeit vergangen als beim erstenmal, denn die auf Nubal liegende Eisschicht hatte sich fast verdoppelt. Und noch während sie den neuen Schacht hinaufflogen, hatte sich der Himmel über Nubal mit jenem Netz gefüllt, das Neithadl-Off und Goman-Largo aus der Schatzkammer kannten. Glücklicherweise war es in dieser Phase des Rücksturzes in die Vergangenheit noch lückenhaft gewesen: zerfetzt, verbrannt und verweht von den Licht- und Gasdruckwellen heftiger Explosionen im Raum. Sie waren mit dem Beiboot gestartet und hatten sich durch die sich immer mehr schließenden Lücken im Netz gefädelt. Dann waren die kleinen kurzbeinigen Fremden auf ihren Sonnenwindseglern aufgetaucht, die gleich Weberschiffchen über die Fäden des Netzes sausten, als ob sie etwas webten. In gewisser Hinsicht webten sie tatsächlich etwas, während sie hin und her fuhren: nämlich Kraftfelder. Das kleine Beiboot drohte von diesen Kraftfeldern eingefangen zu werden, und das Schicksal, das seiner Besatzung dann bevorstand, konnte nur grauenhaft sein. Darum hatte der Kapitän auf volle Kraft geschaltet, als sich mehrere Kraftfelder um das Boot zu schließen begannen. Es war mit einem harten Ruck losgekommen und auf die KOKAHU zugeflogen, die sich unverändert im stationären Orbit befand. Die Distanz war zu knapp gewesen, um die Fahrt bis zur Ankunft beim Mutterschiff aufzuheben. Normalerweise hätte der Kapitän in einem solchen Fall ein Ausweichmanöver geflogen, um die Geschwindigkeit durch Abbremsen weiter herabzusetzen. Doch er war in Panik gewesen und hatte nur noch daran denken können, ins Schiff hineinzukommen. »Das hast du nun davon«, kommentierte der Tigganoi das Geschehen, während er Hurgiss Fa Hatcher endgültig aus den Bildschirmtrümmern befreite und behutsam umdrehte. Das einer hölzernen, grell bemalten Clownsmaske gleichende Gesicht des Nescharers verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Tief in der Kehle schien ein Vulkan zu brodeln. »Schon gut!« beschwichtigte Goman-Largo den Piraten. »Das war nur eine Feststellung. Du solltest die Lehre beherzigen, anstatt deine Frustrationen an mir auslassen zu wollen, nachdem ich dir geholfen habe.« »Warum mußtest du mich verspotten?« grollte Hatchiss und ließ sich aus dem zerschnittenen Raumanzug schälen. »Es war kein Spott dabei«, erklärte Goman-Largo. »Danach war mir gar nicht zumute.« Er musterte die wie rasiert wirkende helle Haut des ursinenhaften Wesens und die tiefen, teilweise noch blutenden Schnitte darin. »Du wirst das Schiff nicht so bald wieder steuern können«, meinte er. »Ich werde mal sehen, ob Anima dir helfen kann, denn ich möchte mich jetzt darum kümmern, daß wir von diesem verrückten Planeten weg- und aus der Lithragischen Synklinale hinauskommen.« Er wandte sich der Vigpanderin zu, die sich noch immer um Eltaso bemühte.
»Kommst du mit ihm klar?« erkundigte er sich. »Selbstverständlich«, versicherte sie. »Eltaso hat außer ein paar Prellungen nur einen Schock. Das biegen wir aber mit ein bißchen Zuspruch wieder hin. Kümmere du dich nur um die Schiffsführung!« »Wird gemacht, Prinzessin!« erwiderte Goman-Largo. Als er sich dem Schott des Beiboots zuwandte, wurde es gerade mit Hilfe eines Zugstrahls von außen geöffnet. Sukiss schwang sich herein. Hinter ihm kamen vier weitere Piraten. »Bringt den Kapitän auf die Krankenstation und versorgt Tscha-Nom!« rief Goman-Largo ihnen zu. Er hielt den Stellvertreter des Kapitäns am Ärmel fest. »Nicht du!« sagte er mit Bestimmtheit. »Das können die anderen erledigen. Wir zwei werden in der Zentrale gebraucht. Das Schiff muß schnellstens von diesem Planeten weggebracht werden.« * Als der Modulmann die Zentrale der KOKAHU betrat, blieb er überrascht stehen und starrte auf den Bildschirm, der rund ein Drittel der Oberfläche von Nubal zeigte – und natürlich den Weltraum zwischen dem Piratenschiff und dem einzigen Planeten der grünen Sonne Xachel. »Es ist alles unverändert!« entfuhr es Goman-Largo. »Was meinst du?« fragte Sukiss und trat neben ihn. »Der Planet!« erklärte Goman-Largo. »Er war so geworden, wie er vielleicht vor hunderttausend Jahren aussah – und zwischen ihm und dem Schiff befand sich das Netz mit den Sonnenwindseglern! Das war doch der Grund dafür, warum der Kapitän mit überhöhter Geschwindigkeit in den Hangar einschleuste und Bruch machte!« »Ich verstehe nicht«, gab der Nescharer zurück. »So wie jetzt hat Nubal die ganze Zeit über ausgesehen – und von einem Netz und Sonnenwindseglern haben wir hier auch nichts bemerkt.« Seine tiefliegenden Augen bekamen einen nachdenklichen Ausdruck. »Außerdem wäre jede Veränderung von der Ortung angezeigt worden. Vielleicht solltest du dich auch in die Krankenstation legen, Goman.« »Du denkst, ich hätte eine Gehirnerschütterung«, sagte der Tigganoi. »Unmöglich wäre das nicht. Aber nein, das ist es ganz sicher nicht. Schließlich haben wir es alle gesehen – und das Boot ist beinahe von den Kraftfeldern zerrissen worden, als wir uns losrissen. Das Autolog muß zudem alles aufgezeichnet haben.« »Ich werde nachsehen«, erklärte Sukiss eifrig. »Nein!« widersprach Goman-Largo. »Vorsichtshalber verschwinden wir schnellstens von hier, auch wenn wir nichts Bedrohliches zu erkennen vermögen. Wer weiß, ob es nicht plötzlich zuschlägt.« In Erinnerung an die durchgestandenen Ängste holte er tief Luft, dann fragte er: »Willst du pilotieren oder soll ich übernehmen?« Nach kurzem Zögern antwortete Sukiss: »Ich bin der Stellvertreter des Kapitäns. Also werde ich pilotieren. Da die Anflug- und Einflugmanöver in die Synklinale aufgezeichnet sind, brauche ich sie nur in umgekehrter Reihenfolge zu wiederholen.« Er ging auf den Platz des Kapitäns zu. Du würdest gar nichts erreichen, wenn ich diesmal meine Module nicht einsetzte! dachte der Tigganoi mit ausdruckslosem Gesicht, während er wieder auf seinem Sessel Platz nahm.
Als Sukiss saß und die Schaltungen anhand der abgespielten Aufzeichnungen vornahm, ließ Goman-Largo die beiden schon einmal verwendeten Module aus den Stecköffnungen gleiten und ihre alten Positionen in der Bordpositronik und unter der Kopfschwarte des Pilotierenden beziehen. Mit Hilfe des dritten Moduls, das in seinem Körper verblieb, kontrollierte und steuerte er sie. Die KOKAHU nahm Fahrt auf. Bald blieb Nubal hinter ihr zurück: eine kosmische Glasmurmel, die das grüne Licht Xachels matt reflektierte. Unter dem Schiff war es dunkel – und über ihm spannte sich ein von grell strahlenden Sternen bespannter schwarzer Samtteppich. Als Sukiss auf Linearantrieb umschaltete, mußte Goman-Largo sich mit äußerster Willenskraft auf das Modul-Trio konzentrieren, um dem Pilotierenden Schaltungen aufzuzwingen, die er niemals freiwillig vorgenommen hätte und um die Bordpositronik dazu zu konditionieren, daß sie diese Schaltungen zweckentsprechend verarbeitete. Wie beim Übergang vom Linear- und Normalflug vor vielen Stunden tobte auch beim umgekehrten Vorgang ein Ton wie von einer zerreißenden Instrumentensaite durch die Zentrale. Die Bildschirme zeigten eine Dunkelheit, die der von weich und silbrig abgestrahltem schwarzem Samt ähnelte. Erste hyperzentrifugale Kräfte zerrten und zupften an Goman-Largo – und natürlich auch an allen anderen Subjekten und Objekten. Der Modulmann konnte seine Konzentration dem Unterbewußtsein überlassen, da das Trio seiner Funktionseinheiten den derzeitigen Zustand nur aufrechterhalten mußte. Er lehnte sich erleichtert zurück und dachte darüber nach, warum von Bord der KOKAHU die Wirkungen der Zeitphänomene nicht beobachtet und registriert worden waren. Hatten sie nur auf Einbildung beruht? Er schloß diese Möglichkeit aus. Diese Wirkungen waren real gewesen, aber sie hatten sich innerhalb einer Art Zeitverlaufs-Umkehrfelds abgespielt, in dem das Beiboot und seine Besatzung für eine gewisse Zeit ebenfalls gefangen gewesen waren. Außerhalb dieses Umkehrfelds aber hatten seine Wirkungen nicht stattgefunden. Warum nicht? Goman-Largo vermochte es sich nur so zu erklären, daß die Eigenzeit-Beharrung des Beiboots und seiner Besatzung das verhindert hatte. Innerhalb des Umkehrfelds hatten sie alles so gesehen, wie es abgelaufen war, aber da ihre Materie nicht zu der von Nubal und seiner engeren Umgebung gehörte, waren sie selbst und das Boot Bestandteile ihrer eigenen Zeit geblieben. Andernfalls hätte sie im Verlauf der Zeitumkehr ja irgendwann spurlos verschwinden müssen, weil sie noch nicht existierten. So war es. Eine bessere Erklärung fand Goman-Largo nicht. Für die KOKAHU und ihre Besatzung hatte sich natürlich überhaupt nichts geändert oder verändert, denn sie war niemals in das Zeitverlaufs-Umkehrfeld geraten. Erleichtert darüber, daß die vermeintlichen Widersprüche sich in Wohlgefallen aufgelöst hatten, streckte sich der Tigganoi aus. Im nächsten Moment stutzte er. Er hatte Stimmen gehört – Stimmen, die er eigentlich nicht hätte hören dürfen, denn die Personen, die da sprachen, befanden sich in einer ganz anderen Schiffssektion. In der Krankenstation. Denn es waren Neithadl-Off und Eltaso, die da gesprochen hatten – und noch immer sprachen. »Oh!« flüsterte Goman-Largo, als er merkte, daß er es dem zur Zeit brachliegenden Teilpotential des Modul-Trios verdankte, daß er seine Gefährtin und den Piraten über eine Entfernung von mehr
als fünfzig Metern und durch stählerne Wände und Schotte zu hören und auch zu verstehen vermochte. Und wie unter einem inneren Zwang gab er sich der Lauschtätigkeit hin… * »Bist du Anima?« flüsterte Eltaso. »Nein«, erwiderte Neithadl-Off. »Ich bin Prinzessin Neithadl-Off aus dem Reich der Tausend Sonnen – und du hast einen ziemlichen Schock. Aber wir biegen dich schon wieder zurecht. Wer bist du eigentlich wirklich, alter Gauner?« »Was?« entfuhr es dem Kamota. »Wie? Was behauptest du da?« »Ich behaupte gar nichts«, stellte die Vigpanderin fest. »Ich möchte nur gern wissen, wer du wirklich bist. Du brauchst keine Angst zu haben; ich werde dein Geheimnis niemandem verraten.« »Ich wüßte nicht, warum du es niemanden verraten willst«, erklärte Eltaso. Kleine Gaunerin! dachte der lauschende Modulmann. Du hast ihn geschickt dazu gebracht, einzugestehen, daß er nicht das ist, was er zu sein vorgibt oder vortäuscht. »Weil du mir sympathisch bist«, verriet Neithadl-Off. »Ich habe ein paar deiner Gespräche mit den Piraten belauscht. Dabei ist mir klar geworden, daß du fast so logisch fundiert lügen kannst wie… äh, jemand, den ich auch recht gut kenne.« Wie du selbst! dachte Goman-Largo schmunzelnd. Er runzelte enttäuscht die Stirn, als Eltaso schwieg, wo es doch eben erst interessant zu werden begann. »Bei Guray!« pfiff die Vigpanderin ungeduldig, eine feststehende Redewendung der BarquassPiraten gebrauchend. »Wie bist du daraufgekommen, daß ich ein Gesandter Gurays bin?« fragte Eltaso erschrocken – und durch ein Mißverständnis überrumpelt, wie der Tigganoi zu sich selbst bemerkte. Neithadl-Off gab ein leises Blubbern von sich. Der Modulmann kannte das. Seine Gefährtin erzeugte diese und ähnliche Geräusche nicht mit ihren Sprechorganen, sondern sie entstanden, wenn ihre Körperoberfläche infolge hochgradiger Erregung heiße Flüssigkeit absonderte, die sich auf ihrer oberen Haut zu einem flachen Tümpel sammelte, wenn sie den Körper leicht durchhängen ließ. Diesmal war ihre Erregung wohl der Überraschung zuzuschreiben, die sie bei diesem versehentlichen Erfolg empfand. Doch sie hätte nicht Neithadl-Off sein müssen, wenn sie sich nicht umgehend wieder gefangen hätte. »Das ist doch ganz logisch!« pfiff sie unbekümmert. »Ich habe deine Reaktionen beobachtet, wenn die Piraten Guray erwähnten. Da war mir klar, daß dieser Guray nicht tatsächlich eine Figur aus den Mythen von Manam-Turu ist und auch kein Schutzheiliger der Piraten, sondern ein intelligentes Lebewesen. Mit welcher Mission hat er dich betraut, als er dich zu den Barquass-Piraten schickte?« »Ich soll dafür sorgen, daß die Piraten ernsthaft nach Atlan suchen, anstatt zu rauben, zu stehlen und zwielichtige Geschäfte zu machen«, gestand Eltaso. Er maunzte kläglich. »Aber ich habe versagt. Anstatt Hatchiss und seine Männer davon abzubringen, auf Nubal zu landen, habe ich ihnen noch zugeredet, weil ich hoffte, einige der Schätze für mich zu ergattern.« »Guray wird dir verzeihen«, meinte Neithadl-Off. »Es ist doch ganz natürlich, daß Schätze eine magische Anziehungskraft auf intelligente Wesen ausüben. Außerdem brauchst du deinem Herrn
doch nicht zu sagen, daß du die Landung auf Nubal befürwortet hast.« »Er wird es von Anima erfahren«, erwiderte Eltaso – und sog erschrocken die Luft ein. »Oh, jetzt habe ich mich verraten! Gegen deine Verschlagenheit war ich nicht gewappnet. Die Piraten werden mich ohne Raumanzug aus der Schleuse stoßen, wenn sie erfahren, wer ich wirklich bin.« »Aber sie werden es nicht erfahren – außer, du sagst es ihnen selbst!« beteuerte Neithadl-Off. »Ich schwöre dir, daß ich dein Geheimnis bewahren werde, wie es sich für eine Sternenprinzessin geziemt.« »Ich war leichtsinnig und pflichtvergessen!« jammerte Eltaso weiter, als hätte er Neithadl-Offs Versicherungen nicht gehört. »Wenn nur Anima nicht wäre! Sie ist die einzige von uns, die Atlan kennt und uns sagen könnte, ob wir tatsächlich ihn gefunden haben oder jemanden, der sich fälschlich als Atlan ausgibt. Wäre sie nicht bei uns, ich könnte das Unternehmen abbrechen und wieder in Guray einge…« Er schwieg abrupt. Goman-Largo runzelte die Stirn. »In Guray einge…?« wiederholte er grübelnd. Was hat er nur sagen wollen? »Du hast mich beleidigt!« hörte er die Vigpanderin pfeifen und stellte sich vor, wie sie sich entrüstet aufplusterte. »Das Wort einer Sternenprinzessin anzuzweifeln, ist schon schmählich genug, aber ihren Schwur zu ignorieren, ist eine Kränkung, die nur mit Blut abgewaschen werden kann!« Hoffentlich meint sie das nicht ernst! dachte Goman-Largo. Zuzutrauen wäre es ihr schon. Er atmete erleichtert auf, als er etwas plumpsen hörte (als wenn Eltaso vor der Vigpanderin auf die Knie gefallen wäre) und der Gesandte Gurays anschließend flehend bat: »Verzeih mir, Sternenprinzessin, herrlichste Sonne des Alls! Ich werde dein Schweigen mit purem Nukleonium aufwiegen. Nein, nicht dein Schweigen, denn dir dafür etwas Materielles anzubieten, wäre eine neue Beleidigung. Nein, es ist deine Vergebung, die ich mit purem Nukleonium aufwiegen will!« »Vergiß es!« erwiderte Neithadl-Off hoheitsvoll. »Im Reich der Tausend Sonnen warten so unermeßliche Schätze auf mich, daß selbst eine Million Gigatonnen pures Nukleonium nichts dagegen wäre. Wenn du mir etwas schenken möchtest, dann dein Vertrauen, mein Freund.« Goman-Largo grinste verstohlen. Er lauschte dabei weiter, denn er hoffte auf eine Fortsetzung des aufschlußreichen und amüsanten Dialogs. Statt dessen vernahm er nur das Trippeln von Neithadl-Offs Gliedmaßen und das Öffnen und Schließen eines Schottes. Offensichtlich hatte seine Gefährtin das Krankenzimmer Eltasos wieder verlassen. Der Modulmann seufzte, dann begann er das Gehörte gründlich zu überdenken. Zu seinem Bedauern mußte er diese Tätigkeit schon bald wieder unterbrechen, denn die KOKAHU geriet erneut innerhalb des Zwischenraums voll in die hyperzentrifugalen Kräfte, die die Außenwandung der Raum-Zeit-Synklinale beherrschten – und er benötigte seine ganze Geisteskraft, um das ModulTrio so einzusetzen, daß die Bemühungen von Sukiss und der Bordpositronik, aus der Lithragischen Synklinale auszubrechen, schlußendlich von Erfolg gekrönt wurden.
5. In die KOKAHU war die Normalität zurückgekehrt. Die relative Normalität, denn noch waren der Kapitän und Tscha-Nom nicht völlig wiederhergestellt. Hatchiss’ Schnittwunden hatten mit gewöhnlichen Mitteln nicht heilen wollen. Deshalb war er in ein Plasmabad verfrachtet worden. Allerdings hatte er sich in der – selbstverständlich zu zwei Dritteln abgedeckten – Plasmawanne in die Zentrale schieben lassen, um das Kommando wieder zu übernehmen. Anima hätte ihm natürlich leicht helfen können, aber sie wollte ihre besonderen Fähigkeiten nicht preisgeben. Tscha-Nom dagegen konnte wieder in seinem Variosessel sitzen. Er hatte bei dem Unfall lediglich beide Arme gebrochen, und die Brüche waren unkompliziert und heilten gut. Dennoch mußte er noch Schnittplastikverbände tragen, was ihm ein beinahe komisches Aussehen verlieh, weil diese steifen Verbände ihm die Arme vom Körper abspreizten. Aber er konnte seiner Aufgabe nachgehen, die in diesem Fall darin bestand, mit den Spezial-Richtantennen des Hyperfunkgeräts in das Helle Tor hineinzulauschen. Das Helle Tor! Die Piraten hatten es zuvor schon mehrmals erwähnt gehabt, aber Goman-Largo, Neithadl-Off und Anima hatten es sich ganz anders vorgestellt als das, als was es sich schließlich an Ort und Stelle entpuppte. Ein blauweißer Sternriese, der ein starkes, wechselndes Magnetfeld besaß, ein veränderlicher magnetischer Stern. Allerdings einer, der aus dem Rahmen des üblichen fiel, denn sein Magnetfeld wechselte mit einer Periode von 24 Tagen von minus 630.000 Gauß auf plus 630.000 Gauß. Niemand hatte dem Modulmann sagen müssen, was das bedeutete. Mit seinen Kenntnissen über den Aufbau des Universums und die in ihm wirkenden Kräfte in Raum und Zeit hatte er nicht lange nachzudenken brauchen, um zu wissen, daß dieses Magnetfeld auf dem Höhepunkt seines Umschwungs die Raum-Zeit-Struktur aufreißen würde – einmal alle 24 Tage. Das Helle Tor! Es war identisch mit dem Aufriß der Raum-Zeit-Struktur. Goman-Largo kannte diese Phänomene zumindest theoretisch. Ob er sie schon einmal am eigenen Leib erlebt hatte, wußte er nicht. Es konnte sein, daß die Erinnerungen daran zu denen gehörten, die ihm abhanden gekommen waren, als er in der Zeitgruft von Xissas in totaler Stasis gefangen war. Es gab solche Sterne mit kraß schwankenden starken Magnetfeldern in jeder Galaxis – und in jeder Galaxis wirkten sich diese Phänomene vielfach so aus, daß die Raum-Zeit-Struktur aufriß und eine Art hyperenergetisches Möbiussches Band erschuf, das zwischen zwei sehr weit voneinander entfernten Koordinatenpunkten eine Brücke schlug, über die ein materiell stabiles Objekt beinahe in Nullzeit »gehen« konnte. Ein Raumschiff beispielsweise. Die Barquass-Piraten schienen nur dieses eine Helle Tor zu kennen – und sie wußten anscheinend nicht, wie es funktionierte. Andernfalls hätten sie sich ihm anvertraut, obwohl es den Höhepunkt seiner diesmaligen Existenz bereits überschritten hatte. Sie hatten sich um fast einen ganzen Tag verspätet. Goman-Largo klärte die Piraten nicht darüber auf, daß sie das Helle Tor durchaus noch benutzen konnten. Das hatte seinen guten Grund. Wenn sie es jetzt benutzten, würde die hyperenergetische
Brücke sie nicht dorthin befördern, wo sie Atlan zu finden hofften, sondern in einen völlig anderen Raumsektor. Dadurch würde die Suche nach Atlan sich ganz erheblich in die Länge ziehen – und das Ende der Suche würde in weite Ferne rücken. Und der Anfang von Goman-Largos Verfolgung seiner eigentlichen Ziele! Da war es besser, vierundzwanzig Tage tatenlos zu warten, als sich in das Helle Tor zu stürzen und dadurch den Arkoniden vielleicht in einem ganzen Jahr noch nicht zu finden. »Du solltest mal in eine andere Richtung lauschen, Tscha-Nom!« wandte er sich an den Funker. »Warum?« wollte der Tukar wissen. Der Modulmann lachte humorlos. »Du hast Nerven, Mann! Seid ihr Piraten oder Traumtänzer? Warum? Weil ihr vielleicht den Notruf eines dicken Frachters auffangen würdet, der das Opfer einer Havarie geworden ist und nur darauf wartet, daß ihr ihn um den wertvollsten Teil seiner Ladung erleichtert.« »Das ist eine gute Idee«, pflichtete Eltaso ihm zu seinem Erstaunen bei. »Aber, aber!« pfiff Neithadl-Off vorwurfsvoll. Eltaso duckte sich und wich dem Blick der Vigpanderin aus. »Es wäre vielleicht besser, als untätig hier zu warten«, erklärte er. »Wir könnten doch wieder hier sein, wenn sich das Helle Tor erneut auf unser eigentliches Ziel hin öffnet.« Goman-Largo bekam schmale Augen. Er fragte sich, worauf der Gesandte Gurays wirklich hinauswollte. Seiner Überzeugung nach spielte er nicht mit offenen Karten. Er bezweckte etwas ganz Bestimmtes damit, die KOKAHU von hier fortzubringen. Es fragte sich nur, was. »Es muß ja kein Frachter sein«, warf Hatchiss ein. »Ein Planet mit einem gut bestückten Handelskontor tut es auch. Wir haben genug Nukleoniumbarren bei uns, um unsere Laderäume voll Tand stopfen zu können, die wir dann auf unterentwickelten Welten gegen wertvolle Rohstoffe eintauschen.« »Genau!« stimmte Sukiss ihm zu – wie von Goman-Largo nicht anders erwartet. »Aber ich dachte, ihr wäret Piraten!« meinte der Modulmann mit gespielter Enttäuschung. »Statt dessen wollt ihr für eine Ware bezahlen wie Händler.« »Wir sind echte Piraten!« verteidigte Hatchiss sich und seine Ehre. »Aber wir wollen über Atlan mit dem Erleuchteten in Kontakt kommen – und bis dahin müssen wir ›sauber‹ bleiben. Wir wissen zu wenig über ihn und können nicht sicher sein, daß er sich mit uns einläßt, wenn wir wegen Piraterie von den Raumpatrouillen aller Hochzivilisationen in Manam-Turu gesucht werden.« Das leuchtete dem Tigganoi natürlich ein. »In Ordnung«, erwiderte er. »Wenn ihr eine Welt mit einem gut bestückten Handelskontor kennt, dann laßt uns doch hinfliegen – und wenn nicht, dann sollte Tscha-Nom vielleicht den gesamten erreichbaren Hyperäther abgrasen und aus den Funksprüchen von Planeten und Raumschiffen herausfinden, wo sich gerade die Art von Waren stapeln, die auf unterentwickelten Planeten reißenden Absatz finden.« »Ich halte das für einen guten Vorschlag«, meinte Tscha-Nom. »Ich auch«, sagte Sukiss. »Es ist genau das, was ich schon lange vorschlagen wollte«, erklärte der Kapitän aus seinem Plasmatank heraus. »Fang endlich mit der Lauscherei an, Tscha-Nom!« »Ja, beeile dich ein bißchen!« hieb Sukiss in die gleiche Kerbe. »Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag, den der Kapitän gemacht hat.«
Tscha-Nom ließ sich das nicht zweimal sagen. Er entwickelte eine geradezu hektische Betriebsamkeit. Goman-Largo aber lächelte in sich hinein. Es machte ihm nichts aus, daß Hatchiss versuchte, den Vorschlag eines Außenseiters als seinen eigenen Vorschlag hinzustellen. Es amüsierte ihn nur. Und letzten Endes kam es nur darauf an, daß sein Vorschlag überhaupt verwirklicht wurde… * »Ich habe etwas gefunden«, sagte Tscha-Nom und drehte den Oberkörper mit den abgespreizten Armen, so daß er zum Kapitän blicken konnte. Die KOKAHU trieb im freien Fall durch den planetenlosen Raum vor dem blauweißen Sternriesen, weit genug von ihm entfernt, um nicht in den Sog seines Magnetfelds zu geraten und von dem unsichtbaren und ortungstechnisch nicht klar zu erfassenden Aufriß der Raum-Zeit-Struktur verschlungen zu werden. Hatchiss wälzte sich in seiner Plasmawanne auf die Seite, um den Tukar besser sehen zu können. »Was hast du gefunden?« erkundigte er sich. »Einen Planeten mit einem Handelskontor, dessen Lagerhallen vor Schund und Tand beinahe platzen«, verkündete Tscha-Nom triumphierend. »Es ist Gysal, der zweite Planet der gelben Sonne Myrr im Sektor Weifeith. Das Handelskontor dort gehört der Grandelin-Gesellschaft.« »Die Grandelin-Gesellschaft!« rief Furror und plusterte den Federkranz seines Halses auf. »Das ist eine der reichsten Handelsgesellschaften von Manam-Turu – und eine der geizigsten. Als ich noch mit den Lophtar-Piraten flog, überfielen und enterten wir ein Grandelin-Schiff. Daraufhin ließ der Kapitän die Ladung in Brand stecken – auf Anweisung seiner Gesellschaft, wie er bei der Befragung aussagte.« »Diese Anweisung ist allgemein bekannt«, erklärte Hatchiss geringschätzig. »Aber die LoptharPiraten waren schon immer schlecht informiert.« Er wandte sich wieder an den Funker. »Wie hast du das mit Gysal herausgefunden?« Tscha-Nom grunzte selbstgefällig. »Sie haben eine Ring-Ausschreibung in Marsch gesetzt«, antwortete er. »Anscheinend ist ein Transport-Unternehmen kontraktbrüchig geworden, so daß Hunderttausende Tonnen an Waren auf Gysal liegengeblieben sind. Jetzt suchen sie verzweifelt nach Frachtraum.« »Du wirst uns doch nicht als Frachtschiffer einsetzen wollen, Kapitän!« gackerte Furror ahnungsvoll. »Natürlich nicht«, erwiderte Hatchiss. »Ich weiß, was wir unserer Piratenehre schuldig sind, bei Guray!« Der Modulmann blickte zu Eltaso und bemerkte amüsiert, wie der Kamota bei der Nennung des Namens Guray zusammenfuhr und wie seine Schnurrhaare nervös zuckten. »Das Myrr-System ist dreiundneunzig Lichtjahre von unserer derzeitigen Position entfernt«, warf Sukiss ein, der inzwischen seinen Sternenkatalog befragt und einige Berechnungen angestellt hatte. Hatchiss brummte zufrieden. »Das ist günstig«, meinte er. »Sukiss, bring das Schiff auf dem schnellsten Weg nach Gysal!« *
Als die KOKAHU nach kurzem Wortwechsel zwischen Tscha-Nom und dem Kontrollturm des Handelskontors auf Gysal zur Landung auf dem Planeten ansetzte, musterte Goman-Largo erwartungsvoll die Bildschirme, die Ausschnitte der Oberfläche Gysals zeigten. Er wurde enttäuscht. Von einer Welt, auf der eine der reichsten Handelsgesellschaften von Manam-Turu ein Handelskontor unterhielt, hatte er erwartet, daß sie eine Perle mit leuchtenden, von Leben durchpulsten Städten, kulturellen Einrichtungen, großflächigen Erholungsgebieten und einer gepflegten Natur sein würde. Statt dessen fand er eine verwilderte Ödwelt vor: sterilisiert und vergiftet durch Herbizide, Fungizide und Pestizide, sowie durch gigantische Müllkippen, die zur Vernichtung tierischer »Schädlinge« regelmäßig mit konzentrierten Säuren beregnet wurden, und durch WeichplastikBodenverfestiger, mit denen das verödete Land daran gehindert wurde, die Atmosphäre mit aufgewirbeltem Staub zu verdunkeln. Gelb, Grau und Schwarz waren die vorherrschenden Farben. Das Handelskontor selbst bestand aus einem riesigen Komplex von eintönigen, langgestreckten Lagerhallen, Kraftwerksblöcken, dampfenden Kühlwasserkanälen und schmutzigen Transportbändern, der ein Gebiet von zirka 40.000 Quadratkilometern verunstaltete. Genau in der Mitte dieses Komplexes lag der Raumhafen. Er unterschied sich wohltuend von seiner Umgebung. Die rund fünfzig Kilometer durchmessende Kreisfläche mit den Lande- und Startfeldern bestand aus hellgrau schimmerndem Glasfaserbeton mit knallroten Markierungen und stahlblau glänzenden Robot-Verladeeinrichtungen. An seinem Rand erhoben sich die halbkugelförmigen gelben Startund Landefeldprojektoren sowie als massiver Stahlplastikklotz von zweihundert Metern Höhe und hundertfünfzig Metern Kantenlänge der Kontrollturm. »Nur sieben kleinere Schiffe stehen dort herum«, bemerkte Furror und gab leise, gackernde Laute von sich. »Kein Wunder, daß der Warenumschlag von Grandelin ins Stocken geraten ist.« Sukiss brummelte vor sich hin, während er die KOKAHU in das Landefeld steuerte, das von unten über dem Raumhafen projiziert wurde und danach die Impulstriebwerke ausschaltete. Die daraufhin eintretende Stille wirkte im ersten Augenblick beängstigend. Doch es gab keinen Grund zu irgendwelchen Befürchtungen. Das Schiff sank im Griff des Landefelds gleichmäßig und sanft und setzte auf dem zugewiesenen Landeplatz auf. »Ich kann nicht ein einziges Bodenfort erkennen«, sagte Neithadl-Off verwundert. »Was ist beispielsweise, wenn das Handelskontor von Piraten angegriffen wird?« »Nichts«, antwortete Hatchiss. »Man würde die Piraten landen und ihre Laderäume mit Raubgut füllen lassen. Aber wenn sie wieder starten wollten, kämen sie nicht vom Platz, denn dann würden überall ringsum getarnte Fesselfeldprojektoren aus dem Boden gleiten und ihre Schiffe festhalten.« »Aber Fesselfeldprojektoren lassen sich durch Beschuß zerstören«, wandte Goman-Largo ein. »Selbstverständlich«, gab der Kapitän zu. »Aber falls sie nicht alle auf einen Schlag zerstört werden, bricht die Gleichschaltung zusammen, die verbleibenden Fesselfelder greifen unregelmäßig an den Piratenschiffen an und zerreißen sie. Dieses Risiko ist der beste Schutz für Handelskontore, deren Besitzer sich genügend starke Fesselfeldprojektoren leisten können.« »Ich verstehe«, sagte der Modulmann. »Wirklich lohnende Objekte sind vor Raubüberfällen geschützt – und was nicht geschützt ist, lohnt die Kosten für Anflug, Landung und Start nicht. Kein Wunder, daß aus Piraten vielfach Händler geworden sind.« Er warf einen verstohlenen Blick auf Anima, die still und in sich gekehrt in ihrem Variosessel saß. Ihr Verhalten gefiel ihm nicht. Er ahnte, daß ihr psychisches Gleichgewicht erschüttert war,
entweder durch die relative Nähe ihres Ritters Atlan oder durch Erinnerungen an vergangene Zeiten, die in Manam-Turu aus unerfindlichen Gründen durchgebrochen waren. Der Tigganoi nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit dieses Thema ihr gegenüber behutsam anzuschneiden. In Gegenwart der Piraten wollte er es nicht tun. Als er den Blick von ihr wandte, bemerkte er, daß es noch jemanden gab, der sich für Anima interessierte: Eltaso. Der verkappte Gesandte Gurays hatte in katzenhafter Manier eine Hand über die Augen gelegt und schien zu schlafen. In Wirklichkeit beobachtete er die Frau jedoch aus verengten Augen, in denen es tückisch glitzerte. »Die Angebotspalette, Kapitän«, sagte Sukiss und deutete auf den großen Kom-Bildschirm. Der Tigganoi musterte den Schirm interessiert, denn er zeigte die Abbildungen der Waren, die das Handelskontor auf Gysal derzeit zum Verkauf anbot. Erläuternde Texte und Preise ergänzten die zahlreichen Angebote. Hatchiss brummte ärgerlich, als der Bildschirm unablässig billige chemische Grundsubstanzen zur Herstellung teurer Medikamente, gentechnisch programmierte Bakterienstämme zur Erzeugung von Hormonen und ähnliches anpries. »Sie sollen uns mit diesem Unsinn in Ruhe lassen!« wandte er sich an seinen Stellvertreter. »Wir brauchen Kunststoffperlen, Billigstuhren, Glasaugen, Blechmesser und -äxte, Alkoholika, Tabak, Haarfarbemittel, Schießpulver, Schmierseife, Tretminen und Sprengdrähte – eben alles, was man zum Segen der Zivilisation zählt.« »In Ordnung, Kapitän«, erwiderte Sukiss. Er schaltete das Funkgerät ein, rief die Angebotsleitstelle des Handelskontors und machte der betreffenden Positronik klar, wofür die Leute der KOKAHU sich interessierten. Postwendend änderten sich die Angebote auf dem Kom-Schirm. Goman-Largo staunte, was das Handelskontor auf Gysal alles bereithielt. Er beteiligte sich jedoch nicht an der Auswahl, da er im Tauschhandel mit Eingeborenen unterentwickelter Welten noch keine Erfahrungen gesammelt hatte. Hatchiss und Sukiss wählten fast allein aus. Sie forderten in erster Linie transparente Kunststoffperlen, Messer, Äxte und Alkoholika an, aber auch, allerdings in geringeren Mengen, Schießpulver und Tretminen. Dafür boten sie eine der beliebtesten »harten« Währungen von Manam-Turu: Nukleoniumbarren mit Präge- und Eichstempel sowie amtlich beglaubigte Begleitpapiere, mit denen der rechtmäßige Erwerb nachgewiesen wurde. Als der Handel abgeschlossen war, erlosch der Kom-Schirm – und über den Glasfaserbeton glitt eine Robot-Verladeeinrichtung von einer der runden Umschlaghallen zum Schiff. Nachdem sie sich an der KOKAHU verankert hatte, stiegen aus der Kontrollkabine ein Angestellter der Grandelin-Gesellschaft und ein untersetzter Roboter. »Sie wollen die Barren und die Begleitpapiere überprüfen«, teilte Hatchiss den Passagieren mit. »Das wird wie üblich länger dauern als die Verladung. Wer möchte, kann sich bei dem Angestellten für eine Rundfahrt durch das Kontorgelände anmelden. Er wird einen Gleiter zur Verfügung gestellt bekommen.« »O ja!« rief Anima unvermittelt. »Ich würde mich gern draußen umsehen!« »Allein?« fragte Goman-Largo. »Ich will mir nämlich die Waren in natura ansehen, die das Kontor uns andreht.« »Ich auch«, sagte Neithadl-Off. »Die Burschen versuchen bestimmt, uns zu übervorteilen. Ich möchte ihnen so gern die Suppe versalzen.« »Wenn es dir recht ist, werde ich dich begleiten und beschützen, Anima«, erklärte Eltaso mit leisem Schnurren.
Anima strahlte ihn an. »Gern! Ich würde mich sehr über deine Begleitung freuen, edler Freund.« »Das ist ja hypermonotisch!« murmelte der Tigganoi. »Wie bitte?« erkundigte sich Neithadl-Off konsterniert. »Hypermonotisch«, wiederholte Goman-Largo. »Aber dieses Wort gibt es doch gar nicht, Modulmann!« protestierte die Parazeit-Historikerin. »Es heißt entweder ultramonotisch oder hypertemporal.« »Und seit eben heißt es hypermonotisch als Mittelding«, beharrte Goman-Largo. »Ich weiß jetzt nur nicht mehr, worauf ich das neue Wort angewandt habe.« »Anima!« sagte Neithadl-Off. »O ja!« entfuhr es Goman-Largo. »Ist es nicht ultratemporal, daß sie Eltaso ihren edlen Freund genannt hat?« »Ultra… was?« echote Neithadl-Off unvollkommen. »Vergiß es!« gab der Tigganoi zurück, als er sah, daß der Angestellte von Grandelin und der Roboter die Zentrale betraten und daß Anima und Eltaso sofort mit ihm verhandelten. »Wir können sie immer noch fragen, wenn sie zurückgekommen ist.« »Ultramonohypertemporalisch!« pfiff die Vigpanderin, dann zwitscherte sie so schrill vor Lachen, daß die Piraten, der Angestellte und der Roboter sich erstaunt nach ihr umdrehten.
6. Anima fühlte sich der Wirklichkeit merkwürdig entrückt, während sie sich mit Eltaso von dem computergesteuerten Gleiter durch das riesige Areal des Handelskontors auf Gysal spazierenfahren ließ. Mit Eltaso? Sie blickte den schlanken Mann mit den katzenhaften Gesichtszügen und den Schlitzpupillenaugen verstohlen von der Seite an. Er war nicht echt! Die Frau lächelte still vor sich hin. Sie ahnte, wer sich hinter der Maske und dem falschen Namen Eltasos verbarg. Ihr Orbiterinneninstinkt verriet ihr, daß ihr Ritter sich ganz in ihrer Nähe aufhielt. Irgendwie hatte er mit dem Auftauchen Eltasos zu tun. Auf jeden Fall aber durfte sie dem vorgeblichen Kamota vertrauen. »Das hier ist das Depot für Kampfmittel, die auf Paranoikerwelten begehrt sind«, erklärte er Computer des Gleiters. Er benutzte die gleiche Sprache, wie sie von den Piraten verwendet wurde. Wahrscheinlich hatten die Piraten diese Sprache überhaupt erst über die Galaxis Manam-Turu verbreitet. »Auf Paranoikerwelten?« echote Anima. »Das würde mich interessieren. Kann ich diese Kampfmittel besichtigen?« »Selbstverständlich«, antwortete der Computer. »Du brauchst dazu den Gleiter nicht zu verlassen. Er wird von einem Transportsystem übernommen und durch die Hallen gesteuert.« »Einverstanden«, erklärte Anima. »Werde ich nicht gefragt?« maulte Eltaso. »Entschuldige, bitte!« sagte Anima. »Aber du hattest dich erboten, mich zu begleiten und zu beschützen. Von einem Mitspracherecht war nicht die Rede.« Betönt gleichgültig sah sie geradeaus. In Wirklichkeit fieberte sie der Erwiderung mit allen Sinnen entgegen, denn sie war davon überzeugt, daß sie daraus, wie diese Erwiderung ausfiel, auf die wahre Rolle Eltasos schließen konnte. Obwohl, eigentlich zweifelte sie gar nicht mehr daran, wie diese wahre Rolle beschaffen war. »Ich bitte vielmals um Vergebung«, erwiderte der Kamota. »Es war vermessen von mir zu denken, meine Meinung könnte erwünscht sein.« Anima verzog das Gesicht. Das war nicht das gewesen, was sie zu hören erwartet hatte: keine Spur von Ritterlichkeit, sondern Ironie oder sogar versteckter Spott. Sollte sie sich so getäuscht haben? Sie kapselte sich innerlich wieder ab, während der Gleiter von einer der Schwebeschneisen abbog und Kurs auf das Tor einer riesigen Halle nahm, das sich bei seiner Annäherung öffnete. Kurze Zeit darauf dachte sie kaum noch an das Problem, mit dem sie sich seit einiger Zeit herumschlug. Seit dem Abflug von Nubal oder seit der Ankunft auf Gysal? überlegte sie in einem Winkel ihres Bewußtseins noch, bevor sie ganz auf die Verarbeitung der neuen Eindrücke »umschaltete«. Links und rechts des Gleiters erstreckten sich nebeneinander großzügig angelegte Ausstellungsboxen, Hell angestrahlt standen dort auf sich langsam drehenden Plattformen die »Werkzeuge« der Paranoiker: Mit Kanonen und Maschinengewehren bestückte Panzerwagen auf
Gleisketten, ganze Paletten von Panzerbekämpfungswaffen, angefangen bei Panzerfäusten bis hin zu Artilleriegeschossen mit Neutronensprengköpfen, Sturmgewehre mit Explosivgeschossen, Handgranaten, Nebelwerfer, Holzkreuze mit Haken für Blechmarken, Kombinationskampfanzüge, die zu Bestattungsbeuteln gefaltet werden konnten, Tonnen mit ungelöschtem Kalk, Giftgasgranaten, Säurebomben, Kisten voller Tapferkeitsauszeichnungen und andere Scheußlichkeiten. Angewidert und tief betroffen wandte sich Anima ab: angewidert, weil ihre weibliche Natur sich gegen den Anblick solcher verbrecherischer Mittel für Mord und Selbstmord auflehnte – und tief betroffen, weil sie sich eingestehen mußte, daß sie selbst und die Personen, mit denen sie umgegangen und befreundet oder verfeindet gewesen war, oftmals genau solche Lebensvernichtungsmittel eingesetzt hatten, wie sie dort ausgestellt waren. Paranoiker! Waren alle intelligenten Lebewesen nichts anderes als Paranoiker, die das Universum verpesteten? Sie holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Nein, sie waren es nicht – und sie wußte es. Die meisten intelligenten Lebewesen, denen sie begegnet war, hatten sich – selbst wenn sie gerade andere intelligente Lebewesen umbrachten, beziehungsweise von ihnen umgebracht wurden – nach Frieden, Brüderlichkeit und Freiheit gesehnt. Sie alle waren im Grunde ihrer Seelen gut. Dennoch verübten sie unter äußeren und inneren Zwängen immer wieder Böses. Warum? Waren ihre tierhaften Urinstinkte noch so stark, daß sie sich aufhetzen und aufpeitschen ließen und in einen Blutrausch verfielen? Nein! Denn Tiere handelten vernünftiger. Folglich waren die tierhaften Instinkte nicht daran schuld. Also doch Paranoia? Hatte der Wahn, sich ihre Welten mitsamt allem anderen Leben Untertan machen zu wollen, die meisten intelligenten Lebewesen in einen Geisteszustand getrieben, der die natürliche Barriere niederriß, der bei ihren tierhaften Vorfahren Mord und Selbstmord verhindert hatte? Anima seufzte schwer. Auch das traf den Kern der Sache sicherlich nicht. So einfache Antworten gab es nicht. Das Problem lag tiefer. Man mußte danach forschen! Man mußte für das Gute eintreten! So wie Hartmann vom Silberstern es getan hatte. Und wie Atlan es tat. »Atlan!« hauchte die Frau. »Vergiß ihn!« schrie Eltaso. Erschrocken fuhr sie zu ihm herum. Der Kamota saß mit schrecklich verzerrtem Gesicht neben ihr, die Fäuste an die Schläfen gepreßt und das fellartige Haar an Kopf und Hals so aufgerichtet, daß es beinahe einer Mähne glich. »Was hast du gesagt?« fragte Anima. Eltasos Augen funkelten sie voll animalischer Wildheit an.
»Du sollst Atlan vergessen!« schrie er voller Wut und Verzweiflung. »Wir werden ihn sowieso niemals finden. Also vergiß ihn!« »Ich verstehe dich nicht«, gab Anima zurück. Eltaso zitterte am ganzen Körper und fauchte furchterregend. Er riß an seiner Kombination herum, als wollte er sie sich vom Leib zerren. Aber schließlich brachte er aus einer Tasche einen Gegenstand zum Vorschein, der einer handtellergroßen Silbermünze glich. Er klatschte ihn auf die Kontrollkonsole des Gleiters, hinter der der Computer verborgen war, und sprang dann mit einem weiten Satz auf das Transportband, auf dem der Gleiter durch die Halle befördert wurde. Bevor Anima wußte, was gespielt wurde, war der Kamota zu einer der Ausstellungsboxen gerannt. Die kaum sichtbare Energiebarriere, die die Boxen bisher gegen den Zutritt Ungefugter geschützt hatten, sank in sich zusammen. Ungläubig starrte Anima auf ihren Begleiter. Eltaso hatte eine Panzerfaust von einer Palette genommen und scharfgemacht. Er legte sie über seine rechte Schulter und visierte die Frau an. Erst da begriff Anima, daß ihr Gefahr drohte. Und sie handelte so reflexhaft, wie sie es in solchen Situationen gewohnt war. Sie setzte ihre »übernatürliche« Fähigkeit ein. Eltaso verwandelte sich in eine Art Schemen ohne feste Konturen. Die Panzerfaust entfiel den Händen, die keine mehr waren. Die ganze Gestalt zerfloß förmlich, wurde zu einem riesigen Gallertklumpen, der sich zitternd ausbreitete. Schockiert über das, was sie angerichtet hatte, sprang Anima aus dem Gleiter und eilte auf den Gallertklumpen zu. In den ersten Sekunden war sie unfähig, ihre besonderen Fähigkeiten einzusetzen. Erst der Impuls, daß sie vielleicht etwas zerstört hatte, was ihr von ihrem Ritter geschickt worden war, befähigte sie wieder zu planvollem Handeln. Sie kniete neben dem Gallertklumpen nieder. Allmählich nahm die amorphe Masse wieder Gestalt an, richtete sich auf – und dann stand der Kamota wieder in seiner vorherigen Gestalt vor der Frau, an allen Gliedern schlotternd vor Angst. »Es tut mir leid«, erklärte Anima reumütig. »Aber als du mich mit dieser Barbarenwaffe bedrohtest, schaltete sich mein Verstand aus, und ich reagierte rein reflexhaft.« »Du bist ein Monstrum!« maunzte der Kamota zähneklappernd. »Ein Werkzeug des Bösen! Wie konnte Guray mich nur damit beauftragen, mich an deine Fersen zu heften!« »Guray?« echote Anima. »Nennt er sich jetzt Guray?« »Vernichte mich!« flehte Eltaso. »Ich kann so nicht weiterleben. Ich habe versagt. Das wird mir Guray niemals verzeihen.« »Aber, aber!« machte die Frau. »Ich war pflichtvergessen«, klagte Eltaso sich weiter an. »Anstatt die Piraten dazu anzuhalten, intensiv nach Atlan zu suchen, habe ich ihre Eigenmächtigkeiten noch unterstützt. Ich gestehe, daß ich aus Abenteuerlust und Gewinnsucht handelte.« »Sei still!« ermahnte Anima ihn. »Du bist nicht verantwortlich für das, was du getan hast. Aber du brauchst keine Rache von mir zu fürchten. Ich setze meine besonderen Fähigkeiten niemals zum Schaden anderer Wesen ein – es sei denn, ich werde in eine aussichtslose Lage getrieben.« Eltaso schlotterte nicht mehr, aber seine Augen verrieten, daß die Furcht noch immer in ihm wohnte
und ihn jederzeit wieder fest in ihren Griff bekommen konnte. »Er hat dich schlecht konditioniert«, meinte die Hominidin betrübt. »Aber ich bin doch ein Teil von ihm!« begehrte Eltaso auf. »Oh!« machte Anima. »Also deshalb spüre ich seine Nähe!« Sie riß sich zusammen – und barsch, als schämte sie sich der Weichheit ihrer letzten Worte, sagte sie: »Steig wieder ein! Mir ist die Lust vergangen, die Werkzeuge des Wahnwitzes weiter zu besichtigen. Computer, wir kehren zu KOKAHU zurück!« Aber weder der Computer noch der Gleiter rührten sich. Beinahe verschämt entfernte der Kamota das münzenförmige Objekt von der Kontrollkonsole und warf es weg. Es prallte gegen eine Boxenwand und verging in einer grellen Leuchterscheinung. Im selben Augenblick bauten sich die Energiebarrieren wieder vor den Boxen auf, Lichter blinkten auf der Kontrollkonsole des Gleiters – und der Computer sagte: »Ich bitte, den vorübergehenden Ausfall zu entschuldigen.« Der Gleiter erzitterte leicht, dann setzte sich das Transportband mit ihm wieder in Bewegung, tiefer in die Halle mit den Waffen für Paranoikerwelten hinein. »Nein!« schrie Anima. »Kehr um! Ich ertrage diesen Anblick nicht länger!« Gehorsam hob der Gleiter ab und wendete. Das Transportband stoppte, danach bewegte es sich in die andere Richtung. Der Gleiter setzte sich wieder darauf. Anima lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ihr war schwindlig. Sie begriff, daß sie sich übernommen hatte. Die dramatischen Geschehnisse in der Galaxis Alkordoom, das Verschwinden Atlans, die verzweifelte Suche nach einer Spur von ihm, das Zusammentreffen mit Goman-Largo und Neithadl-Off, die Ereignisse im Reich der Phyloser, die Auseinandersetzung mit KrellNepethet, die Entführung durch seine Zeit-Transfer-Kapsel, die Abenteuer zwischen den Zeiten und schließlich die Ankunft in der übergroßen Galaxis, die von den Piraten Manam-Turu genannt wurde, das Spüren der – relativen – Nähe ihres Ritters, der gespenstische Flug in die Lithragische Synklinale und die psionische Schockwellenfront, die von etwas Unbekanntem ausging, das Neithadl-Off aus der Pyramide im Eis von Nubal mitgebracht hatte… Anima riß die Augen weit auf. Sie erkannte in einer Art Eingebung, daß das, was die Parazeit-Historikerin aus der Schatzkammer von Nubal mitgebracht hatte, verantwortlich war für die Verwirrungszustände, von denen sie befallen worden war – und sie vergaß es im nächsten Moment wieder. »Hartmann!« flüsterte sie, unhörbar für Eltaso. »Hartmann vom Silberstern! Warum mußtest du mich verlassen? Aber du bist dennoch nicht tot. Ich fühle es.« »Ist etwas?« erkundigte sich Eltaso. »Nein, es ist nichts«, gab die Frau zurück. »Nichts, was jemand außer mir selbst verstehen könnte.«
7. »Wohin fliegen wir?« erkundigte sich Goman-Largo beim Kapitän, nachdem die KOKAHU wieder von Gysal gestartet war. »Nach Pechel«, antwortete Hurgiss Fa Hatcher bereitwillig. »Das ist der sechste Planet des blauen Riesen Haira, siebenhundertelf Lichtjahre von hier in der H-Plus-Region Sergei. Pechel wird von Barbaren bewohnt, deren Zivilisation sich auf der Stufe der ausgehenden Eisenzeit befindet. Sie haben immer Bedarf für Artikel, wie wir sie auf Gysal erworben haben. Vor allem aber fördern sie aus ihren Sümpfen nukleinsäurehaltige Öle, die sich als Grundstoff für hochwertige Gentechnologien hervorragend eignen.« »Und sie ahnen nicht, wie wertvoll ihr Doranit tatsächlich ist«, warf Sukiss hämisch ein. »Ihr wollt sie betrügen?« fragte der Tigganoi. »So, wie wir die Grandelin-Gesellschaft betrogen haben«, gackerte Furror. »Wenn du doch nur deinen Schnabel halten könntest!« grollte Hatchiss verärgert. »Eines Tages drehe ich dir deinen dürren Hals um!« Goman-Largo schmunzelte. »Ihr habt die Grandelin-Gesellschaft betrogen? Das finde ich hypertemporal. Aber wie habt ihr das fertiggebracht? Euer Nukleonium war doch echt, sonst hätten die Barren keine Präge- und Eichstempel gehabt und wären nicht von amtlich beglaubigten Papieren begleitet gewesen.« »Echt waren nur die Präge- und Eichstempel sowie die Begleitpapiere«, erklärte Hatchiss. »Ein hoher Beamter des Galaktischen Nukleonium-Marktes hat das alles beschafft, weil er tief verschuldet gewesen war.« »Also Bestechung«, meinte Neithadl-Off. »War ihm das nicht zu riskant, Bestechungsgelder von Piraten anzunehmen?« »Nicht von uns«, sagte Sukiss. »Das hätte er nie gewagt. Nein, die ehrenwerte GrandelinGesellschaft war es, die ihn insgeheim in eine aussichtslose Verschuldung stürzte und ihn dann bestach, um unversteuertes Nukleonium in versteuertes zu verwandeln und offen auf den Markt werfen zu können.« »Wir kamen dahinter, als uns ein Händler auf Calbot die Barren für zehn Prozent des Marktpreises anbot«, warf Tscha-Nom ein. »Da war der Beamte nämlich aufgeflogen – und man fahndete nach dem unversteuerten Nukleonium. An den Seriennummern der Begleitpapiere ist es zu erkennen.« »Und jetzt habt ihr es der Grandelin-Gesellschaft untergejubelt!« frohlockte Neithadl-Off. »Das finde ich toll.« »Es könnte sich als Rohrkrepierer erweisen«, gab der Tigganoi zu bedenken. »Wenn die GrandelinGesellschaft merkt, was sie sich da eingehandelt hat, wird sie sauer auf euch sein.« »Das Direktorium der Gesellschaft wird es niemals erfahren«, versicherte Hatchiss. »Sobald ihr Vertreter auf Gysal merkt, was wir ihm untergeschoben haben, wird er alles tun, um die Sache zu vertuschen. Wenn sie nämlich herauskäme, würde der Galaktische Nukleonium-Markt erfahren, wer damals den Beamten bestochen hat. Er beging nämlich Selbstmord und konnte deshalb nichts mehr darüber aussagen. Der Grandelin-Vertreter auf Gysal wäre nicht nur beruflich erledigt, wenn er seiner Gesellschaft das einbrockte. Ich nehme an, daß er lieber sein halbes Privatvermögen dafür hergeben wird, um die Seriennummern fälschen zu lassen, so daß der Schwindel nicht herauskommen kann.« »Sein halbes Privatvermögen!« echote Neithadl-Off. »Irgendwie tut mir der Mann leid.«
»Das braucht er nicht«, sagte Furror. »Leute wie er verdienen mehr an dunklen Geschäften als wir.« »Dafür werden wir auf Pechel kräftig absahnen!« frohlockte Furror und gackerte voller Vorfreude. »Und überdies können wir uns dort wieder einmal richtig vollaufen lassen, denn auf Pechel gibt es die besten Alkoholika in ganz Manam-Turu.« »Und fressen können wir dort!« fiel Tscha-Nom ein und schmatzte lustvoll. »Gedämpfte PechelKnollen mit saurer Milch und Getreideschrot! Einen ganzen Kessel voll davon werde ich essen!« »Du bist eben ein Vielfraß«, bemerkte Eltaso. »Aber sollten wir mit unserem Besuch auf Pechel nicht warten, bis wir Atlan gefunden haben?« »Dreiundzwanzig Tage!« höhnte der Kapitän. »In dieser Zeit fliegen wir zweimal nach Pechel und zurück. Außerdem verbitte ich mir Einwände, wenn ich meine Entscheidung bereits getroffen habe!« »Schon gut!« steckte der Kamota zurück. »Ich wollte euch nur daran erinnern, daß wir eigentlich losgeflogen waren, um Atlan zu finden.« »Atlan!« flüsterte Anima und seufzte. »Ich werde ihn finden!« »Was redet sie da?« fragte Sukiss unwillig den Tigganoi. »Sie ist überhaupt so komisch in letzter Zeit.« »Sie sucht Atlan«, erklärte Neithadl-Off. »Für sie bedeutet es nämlich sehr viel, ihn zu finden. Ich fürchte um ihre geistige Gesundheit, wenn sich das Wiedersehen noch sehr lange hinauszögert.« Goman-Largo verzog das Gesicht. Es gefiel ihm nicht, daß die Parazeit-Historikerin die Piraten zu drängen versuchte – und noch weniger, daß sie im Gegensatz zu ihrem sonstigen Verhalten hinsichtlich Anima die Wahrheit sagte. Das konnte zu Differenzen mit den Piraten führen, was den Kontakt mit Atlan noch länger hinauszögerte – und damit auch die Hinwendung von ihm, Goman, zu seinen eigentlichen Zielen. »Wir fliegen nach Pechel!« beharrte der Kapitän auf seinem Vorsatz. »Zuerst kommt das Geschäft und dann dieser Atlan.« * »Noch rund dreißig Lichtjahre«, stellte Sukiss fest, als die KOKAHU zum zweiten Orientierungsmanöver in den Normalraum zurückgefallen war. Er deutete auf den Frontbildschirm. »Dort ist die H-Plus-Region Sergei 1.« Goman-Largo blickte in die angegebene Richtung und sah auf dem Frontschirm eine blaßblau leuchtende Gaswolke, in der punktförmige Lichtquellen hervorstachen: die in der Wolke befindlichen Sterne. »Ionisierter Wasserstoff«, bemerkte Goman-Largo mit der Sachlichkeit des Wissenschaftlers. »Normalerweise sind solche blauleuchtenden Gasmassen scheibenförmig um einen O-Stern versammelt. Hier ist die Gaswolke fast exakt kugelförmig. Das ist ein außerordentlich seltenes Phänomen.« »Nicht in Manam-Turu«, erwiderte Hatchiss. »In dieser Galaxis kommen kugelförmige H-PlusRegionen sehr häufig vor.« »Tatsächlich?« entfuhr es dem Modulmann, und er schien sehr nachdenklich zu werden. »Das muß etwas zu bedeuten haben.« Vielleicht hat der Orden der Zeitchirurgen einst in Manam-Turu korrigierend in die Evolution der Materie eingegriffen! setzte er seinen Gedankengang lautlos fort, denn er hatte nicht vor, die Piraten über seine wahre Herkunft, seine Ausbildung und seine
wirklichen Ziele zu informieren. »Abweichungen korrigiert«, wandte sich der Astrogator an den Kapitän, der noch immer in seinem Plasmatank lag und deshalb von Lubmo Ti Sukom alias Sukiss vertreten wurde. »Der Autopilot ist mit den Daten für die letzte Linearetappe gefüttert. Wir gehen in die Beschleunigungs- und Eintrittsphase!« »In Ordnung«, brummte Hatchiss mißmutig. »Hoffentlich kann ich bald aus diesem Tank hinaus, sonst werde ich noch wahnsinnig. Seit kurzem juckt es mich fürchterlich.« »Ein Beweis dafür, daß die Schnittwunden verheilen«, erklärte Goman-Largo. Er überlegte, ob er nicht noch Anima hätte bitten sollen, mit ihren besonderen Fähigkeiten die Verletzungen des Kapitäns zu heilen. Er wäre dann schon seit Tagen vollständig wiederhergestellt gewesen. Aber Anima hatte durch nichts zu erkennen gegeben, daß sie ihr Geheimnis den Piraten gegenüber preisgeben wollte, darum hatte auch er sich nicht gerührt. Vielleicht war es vorteilhaft, für unvorhergesehene Fälle einen Trumpf im Ärmel zu haben. Er schob diese Gedanken wieder beiseite, als die KOKAHU in den Zwischenraum ging. Da er pragmatisch dachte, beschloß er, ein wenig auf Vorrat zu schlafen. Er verstellte seinen Variosessel, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Als er durch Geräusche geweckt wurde, hatte er den Eindruck, als hätte er nur ein paar Minuten geschlafen. »Was ist denn los?« fragte er benommen. »Wir sind vor Pechel«, pfiff Neithadl-Offs Stimme dicht neben ihm. »Bei Guray, hast du vielleicht geschnarcht!« Bei der Nennung des Namens Guray zuckte der Modulmann unmerklich zusammen und blickte sich unwillkürlich nach Eltaso um. Aber der verkappte Gesandte Gurays war nirgends zu sehen – ebensowenig wie Anima. »Wo steckt er?« wandte er sich an die Vigpanderin. »Wer?« pfiff sie. »Etwa Guray?« Er beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte: »Nicht Guray selbst, sondern sein Gesandter, Prinzessin.« »Was?« pfiff die Vigpanderin erschrocken, und ihr Rücken wurde heiß und trocken. »Von wem sprichst du, Goman?« »Von Eltaso natürlich«, erwiderte der Modulmann. »Der von Guray beauftragt wurde, dafür zu sorgen, daß die Piraten ernsthaft nach Atlan suchen.« »Dieser Lump!« pfiff Neithadl-Off wütend. »Wieso Lump?« erkundigte sich der Tigganoi. »Weil er mir vormachen wollte, daß sein Geheimnis so wichtig sei, daß niemand es erfahren dürfte«, antwortete Neithadl-Off. »Und dann geht er hin und verplappert sich bei dir zum zweitenmal. Was hat er sich nur dabei gedacht?« »Ich weiß es nicht«, gab Goman-Largo zurück, ohne die falsche Vermutung Neithadl-Offs zu korrigieren. »Aber ich bin der Ansicht, daß wir uns mehr um Eltaso kümmern sollten. Er scheint mir einen verderblichen Einfluß auf Anima auszuüben. Sie hat sich völlig verändert, seit wir mit den Piraten und Eltaso unterwegs sind.« »Das stimmt«, pflichtete Neithadl-Off ihm bei. »Aber nicht ganz. So richtig verwandelt ist sie eigentlich erst seit dem Zwischenspiel auf Nubal. Ob es dort irgendwelche Einflüsse gab, die sich
auf ihre Psyche auswirkten? Was meinst du, Goman?« »Sie war nicht mit auf dem Planeten«, stellte der Tigganoi klar. »Wenn sie dort irgendwelchen Einflüssen erlag, dann solchen, die in der ganzen Synklinale herrschen.« Er runzelte die Stirn, dann seufzte er und sagte: »Eben war ich nahe an einem Gedanken, der mich vielleicht darauf gebracht hätte, warum sich Anima so verändert hat. Aber jetzt ist er wieder fort.« »Das kommt oft vor«, meinte Neithadl-Off. »Auf jeden Fall sollten wir Anima beobachten.« »Und Eltaso ebenfalls«, ergänzte der Modulmann. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Piraten und die Bildschirme, als er Stimmengewirr hörte. Er blickte auf den Frontschirm und entdeckte in seiner Mitte einen von blauem Licht angestrahlten Planeten mit grün und weiß gefleckter Oberfläche. Schräg darüber und einige Millionen Kilometer weiter hing der blaue Sonnenriese Haira im All. »Grün und weiß«, sagte er nachdenklich. »Das Weiße sind natürlich Wolkenfelder – und das Grüne ist sicher Vegetation. Aber ich vermisse das Blau von Ozeanen.« »Pechel ist eine Sumpfwelt«, erklärte Furror. »Es gibt kaum festes Land, aber dafür eben auch keine Ozeane. Alles Wasser ist in den Sümpfen und ihrer Vegetation gebunden.« »Das erschwert aber die Entwicklung einer Zivilisation«, stellte der Tigganoi fest. »Normalerweise schon«, sagte Hatchiss. »Aber Pechel wurde schon früh von Piraten entdeckt und anfänglich als geheime Stützpunktwelt auserkoren. Die damals noch primitiven Eingeborenen lernten sehr fleißig und sehr schnell. Ihre Zivilisation ist nur zu einem verschwindend geringen Teil ihr eigenes Werk. Sie wurde überwiegend aus den zahllosen Informationen und Sachgeschenken zusammengestückelt, die im Lauf von Jahrtausenden von außen kamen.« »Die Pecheles haben es überraschend gut verkraftet«, ergänzte Sukiss. »Sie leben in den Städten auf schwimmenden Plattformen, benutzen als Hauptverkehrsmittel Luftkissengleiter und leben in erster Linie vom Doranit, das sie aus den Sümpfen fördern und auf den Raumhäfen bei uns gegen alle Dinge des täglichen Bedarfs eintauschen, die sie nicht selber produzieren können oder wollen.« »Dinge des täglichen Bedarfs?« wiederholte Goman-Largo ironisch. »Gehören dazu wirklich auch Schießpulver und Tretminen?« »Frage sie selbst!« beschied ihm Hatchiss. »Sie huldigen der Auffassung, der Krieg sei der Vater aller Dinge, und ohne Krieg würden sie der Dekadenz anheimfallen. Auf Pechel führt jede Stadt gegen alle anderen Städte Krieg, solange wir zurückdenken können. Sie halten sich dabei allerdings an strenge Regeln, die ihren Kriegen einen sportlichen Charakter verleihen.« »Das ist ultramonotisch!« entfuhr es dem Modulmann. »Es ist ihr Leben«, erklärte Tscha-Nom gleichgültig. * Die KOKAHU landete auf einer relativ kleinen schwimmenden Plattform, die in Sichtweite einer anderen Plattform verankert war, auf der architektonisch kühne Bauten sich in den diesigen Himmel Pechels reckten. »Das ist Khoros«, erklärte Sukiss und deutete auf die Stadt. »Wir sind also Gäste der Einwohner von Khoros«, überlegte Neithadl-Off laut. »Das bedeutet aber auch, daß von unserem Besuch nur die Bewohner dieser einen Stadt profitieren. Weckt das nicht den Neid der anderen Städte und verleitet sie dazu, sich gegen Khoros zu verbünden, um sie einzunehmen oder zu zerstören?«
»Keineswegs«, antwortete Hatchiss. »Wie ich schon sagte, halten sich die Pecheles bei ihren Kriegen an strenge sportliche Regeln. Dazu gehört auch, daß jede Stadt für die Dauer des Besuchs von Raumfahrern eine freie Stadt ist, zu der Vertreter aller anderen Städte gleichberechtigt Zutritt haben. Dadurch sind jedesmal alle Städte am Handel mit uns beteiligt. Selbstverständlich werden die Kriege für diese Zeitdauer ausgesetzt.« »Zweifellos eine weise Regelung«, meinte Goman-Largo und musterte einige andere Bildschirme, auf denen Luftkissenfahrzeuge zu sehen waren, die sich der Raumhafenplattform von Khoros aus näherten. Plötzlich stutzte er, dann deutete er auf einen kleinen Bildschirm, auf dem ein Gleiter zu sehen war, der sich dicht über dem zugewachsenen Sumpf von der KOKAHU entfernte. »Wer ist das?« wandte er sich an den Kapitän. »Es ist Eltaso, der als unser Kontakter der Stadtkommandantin von Khoros einen Besuch abstattet.« Goman-Largo wollte sich mit dieser Antwort zufriedengeben, als er auf dem benachbarten Bildschirm einen zweiten Gleiter entdeckte, der dem ersten in großem Abstand zu folgen schien. »Und wer fliegt dort?« wollte er wissen. Weder der Kapitän noch die anderen Piraten der Zentralebesatzung konnten es ihm sagen. Aber als Hatchiss sich beim Hangarmeister erkundigte, bekam er zur Antwort, daß er den zweiten Gleiter Anima zur Verfügung gestellt hatte. Sie hatte ihn darum gebeten und erklärt, der Kapitän wäre grundsätzlich damit einverstanden. »Vielleicht wäre ich das gewesen, wenn sie mich danach gefragt hätte«, meinte Hatchiss. »So aber geht es nicht. Goman-Largo und Neithadl-Off, ihr werdet dafür sorgen, daß eure Freundin so schnell wie möglich an Bord zurückkehrt. Notfalls holt ihr sie gewaltsam zurück. Sie kennt die Mentalität und Bräuche der Pecheles nicht und kann unser gutes Verhältnis zu ihnen zunichte machen.« »Das sehe ich ein«, erwiderte der Tigganoi. »Bekomme ich einen Gleiter?« »Selbstverständlich«, antwortete Hatchiss. »Ich werde den Hangarmeister entsprechend anweisen.« »Nicht nötig, das regle ich«, erklärte Sukiss. »Ich werde auch den Gleiter steuern.« »Mißtraust du uns?« fragte Neithadl-Off. »Das auch«, antwortete der Astrogator freimütig. »Aber vor allem komme ich deshalb mit, weil ich die Pecheles genau kenne und vielleicht die Fehler wieder ausbügeln kann, die Anima anrichtet.«
8. Neithadl-Off stieß ein paar schrille Pfiffe der Empörung aus, als drei düsengetriebene Deltaflügler mit infernalischem Tosen über den Gleiter hinwegorgelten und dann dicht vor der Stadt Khoros scharf nach links schwenkten. »Düsenjäger«, kommentierte Sukiss brüllend, um den immer noch lauten Lärm zu übertönen. »Sie vollführen aber nur einen Demonstrationsflug, da die Kampfhandlungen eingefroren sind.« »Was, das sind Kriegsmaschinen?« pfiff die Vigpanderin. »Wie scheußlich! So sehen sie eigentlich gar nicht aus.« »Wie sehen sie dann aus?« fragte Goman-Largo. »Wie Kunstflugmaschinen«, antwortete seine Gefährtin. »Wenn auch ein bißchen sehr laut. Aber die Form gefällt mir, und ihre Flugmanöver sind nicht ohne Eleganz. Es ist ein schrecklicher Mißbrauch, sie für kriegerische Zwecke einzusetzen.« »Die Pecheles sind nun einmal so«, erklärte Sukiss und steuerte den Gleiter nach Backbord, weil unmittelbar vor ihm eine Baumgruppe aus dem Sumpf ragte, der ansonsten meist nur mit hohem Schilf und Gras bewachsen war. Der Tigganoi lächelte flüchtig. Er nahm sich vor, sich seine gute Laune durch nichts verderben zu lassen. Pechel war seit langer Zeit der erste Planet, auf dem er sich wohl fühlte – und er fragte sich insgeheim, woran das lag. Waren vielleicht die Verhältnisse auf seiner Heimatwelt ähnlich wie die auf diesem Planeten? Er genoß den Fahrtwind ebenso wie die heißen Strahlen der blauen Riesensonne Haira. Sein rotbraunes Lockenhaar wehte im Luftzug, und er schloß die Augen. Neithadl-Offs schriller Pfiff ließ ihn sie wieder öffnen. »Nervensäge!« kommentierte er verärgert. Ganz gegen ihre Gewohnheit ging die leicht erregbare Vigpanderin diesmal nicht in die Luft. Sie schien ihn nicht einmal gehört zu haben. Ihre knallroten Sensorstäbchen waren weit ausgestreckt und starr auf die Baumgruppe gerichtet, die zirka fünfzig Meter an Steuerbord lag. »Stoppen!« pfiff Neithadl-Off den Nescharer an. »Ich will mir die Tiere näher ansehen.« Interessiert richtete der Modulmann sich auf und blickte aus zusammengekniffenen Augen in das Blätterdickicht der Bäume. »Ich sehe keine Tiere«, sagte Sukiss, drosselte aber trotzdem die Geschwindigkeit des Gleiters und steuerte ihn näher an die Baumgruppe heran. Das könnte daran liegen, daß die ungefilterte Lichtfülle ihn blendet! überlegte Goman-Largo. Wahrscheinlich stammte seine Art von Tieren ab, die in dichten Wäldern gelebt hatten. Der Modulmann jedenfalls entdeckte die Tiere schon bald. Sie ähnelten auf den ersten Blick zirka anderthalb Meter langen, einen Viertelmeter durchmessenden, hellblau behaarten Raupen, die sich auf vielen Stummelfüßen über das Geäst bewegten. Ihre doppelt faustgroßen Köpfe waren rund, wurden vorn von zwei riesigen, ovalen, gelblich leuchtenden Augen beherrscht und waren bis auf diese Augen und die Freßwerkzeuge mit dichtem schwarzem Haar bedeckt, das an beiden Seiten in Form unterarmlanger Strähnenbündel herabhing. Als der Gleiter nur noch wenige Meter von den ersten Bäumen entfernt war, wurde er von den Raupen bemerkt. Sie stellten ihre Oberkörper aufrecht und verharrten so, während sie die Insassen des Fahrzeugs musterten.
»Sie sehen aus, als dächten sie nach«, bemerkte Neithadl-Off. »Das tun sie auch«, meinte Sukiss, der die Raupenwesen aus dieser Nähe nicht mehr übersehen konnte. »Es sind nämlich keine Tiere, sondern Pecheles. Wahrscheinlich Soldaten, die die Kampfpause zur Erholung nutzen.« »Soldaten?« echote die Vigpanderin verblüfft. »Diese lustig behaarten Viecher? Und ich hatte gerade überlegt, ob ich mir ein paar von ihnen als Spieltiere mitnehmen sollte. Sie sehen so kuschelig aus.« Der Nescharer brummte warnend. »Sei still!« fuhr er Neithadl-Off an. »Es handelt sich um intelligente Wesen – und sie sprechen unsere Sprache. Wenn sie dich verstanden haben, werden sie beleidigt sein.« Er hielt sich beide Augen mit den Händen zu, als die Pecheles sich blitzartig bewegten und wie auf ein geheimes Kommando iii den Tiefen der Baumkronen untertauchten. »Sie haben dich verstanden«, sagte er tonlos. »Ich sehe schlimme Verwicklungen voraus.« »Warum startest du nicht durch und verschwindest?« fragte Goman-Largo. »Wenn sie uns nicht mehr sehen, werden sie den Vorfall bald vergessen haben.« »O nein!« entgegnete Sukiss. »Dann würden sie ihn erst recht aufbauschen. Sie haben nämlich ein stark ausgeprägtes Ehrgefühl. Wir werden uns in aller Form entschuldigen müssen, sobald sie wieder auftauchen. Da sind sie schon!« Goman-Largo hielt unwillkürlich die Luft an, als die Pecheles wieder aus den Tiefen der Baumkronen auftauchten. Sie wirkten total verändert. Das lag allerdings nur an der Kleidung, die sie angezogen hatten. Es handelte sich um purpurrote Uniformen, die gleich Wursthäuten über die langen Körper gestreift waren. Aus Öffnungen der Unterseite ragten die kurzen Gliedmaßen: am Hinterleib vier Paar Beine, auf denen die Pecheles liefen und am aufgerichteten Vorderkörper drei nur handlange Armpaare mit vier Stummelfingern an jeder Hand. »Ich bin Qumpoh«, sagte ein Pechel, dessen Uniform besonders reichhaltig mit silbrigen und goldfarbenen Streifen und Winkeln verziert war. Die Stimme klang weich und breit. »Was haben Sie uns zu sagen?« »Sie siezen?« pfiff die Vigpanderin. »Allerdings«, erwiderte Sukiss. »Ich hatte vergessen, das zu erwähnen. Die Pecheles sind ein extrem stolzes Volk. Für sie wäre es undenkbar, jemanden zu duzen oder geduzt zu werden.« Goman-Largo schluckte, als er das hörte. Für ihn wirkten diese Intelligenzen lustig, allerdings nur ohne ihre Uniformen. In der militärischen Kluft sahen sie einfach dumm aus. Es war ungeheuer schwierig, sich vorzustellen, daß diese Wesen extrem stolz sein sollten. Sukiss wandte sich dem Pechel zu, der das Gespräch eröffnet hatte – und er stand auf dazu. »Ich grüße Sie, Qumpoh!« brummte er. »Und ich kann nur Ihre Vergebung für das absolut unpassende Verhalten meiner Begleiterin erflehen, die Neithadl-Off heißt, während mein Name Lubmo Ti Sukom ist.« Der Modulmann erhob sich ebenfalls und deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Goman-Largo«, erklärte er. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Qumpoh – und ich grüße auch Ihre Begleiter.« »Brich dir keinen ab, Modulmann!« pfiff Neithadl-Off, dann wandte sie sich den Pecheles zu. »Sukiss hat mich unvollständig vorgestellt, deshalb will ich ihn ergänzen, damit Sie nicht denken, jemand von niederem Stande hätte Sie beleidigt oder gekränkt oder was immer. Ich bin nämlich nicht irgendwer, sondern die Prinzessin aus dem Reich der Hunderttausend Sonnen, die
Siegelbewahrerin des Ordens der Zeitchirurgen und die beste Parazeit-Historikerin, die die Universen je gesehen haben. Sollte ich Sie, meine Herren Soldaten, irgendwie in Ihrem Stolz verletzt haben, dann machen Sie sich nichts daraus. Es ist Ihnen recht geschehen.« Sukiss schnappte nach Luft und fiel beinahe in Ohnmacht. »Irgendwie habe ich das Gefühl, als hättest du alles nur noch schlimmer gemacht, Prinzessin«, flüsterte Goman-Largo. »Sie hat sich unmöglich benommen!« keuchte Sukiss und rang die Hände. »Ganz abgesehen davon, daß sie die Damen als Herren bezeichnete. Es gibt bei den Pecheles nämlich nur weibliche Soldaten. Die männlichen Vertreter dieser Art sind sämtliche Unfreie und werden in Käfigen gehalten.« »Wie praktisch!« entfuhr es der Vigpanderin. Qumpoh raspelte hörbar mit den kräftigen Kauwerkzeugen und erklärte: »Stören Sie sich nicht an dem Unsinn, den dieser Mann redet, Prinzessin. Da Sie eine Dame sind wie wir und außerdem noch die Prinzessin eines Sternenreichs, hatten Sie das Recht, uns zurechtzuweisen. Wir alle freuen uns sehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Es wäre uns eine besondere Ehre, wenn Sie sich entschließen könnten, nicht wieder abzureisen. Dann könnten Sie an unserer Seite als Ehrenoffizier der Sturmbrigade von Khoros am Krieg teilnehmen.« »Jetzt sehe ich es erst«, brummelte Sukiss verlegen. »Das sind alles Offiziere der Sturmbrigade, einer Eliteeinheit der khorosischen Truppen. Du kannst ihr Angebot auf keinen Fall abschlagen, Neithadl-Off.« »Er hat Sie geduzt, Prinzessin!« rief Qumpoh. »Schlimm genug, aber das ist noch dazu ein Mann. Gestatten Sie, daß ich diese Schande für Sie tilge, indem ich dieses Subjekt zum Duell fordere und töte?« Sukiss ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen. Goman-Largo verbiß sich nur mühsam ein Grinsen, als er sich vorzustellen versuchte, wie der »rasierte Ursine« gegen einen weiblichen Raupenoffizier kämpfte. »Ich danke Ihnen, Qumpoh!« pfiff die Vigpanderin huldvoll. »Aber dieses Subjekt wird von mir an Bord meines Schiffes gezüchtigt werden, bevor ich es wieder in seinen Käfig sperre. Leider kann ich Ihr großherziges Angebot nicht annehmen, da meine Pflichten als Kommandantin der KOKAHU und als Wissenschaftlerin mir dazu nicht genügend Zeit lassen. Sie müssen Ihren Heldentod also schon allein sterben. Aber wechseln wir das Thema! Wir sind auf der Suche nach zwei Gleitern, in denen sich Besatzungsmitglieder meines Schiffes befinden. Haben Sie etwas von ihnen gesehen oder gehört?« »Die beiden Gleiter sind hier vorbeigekommen«, antwortete Qumpoh. »Aber in der für Sie fremden Stadt würden Sie sie allein kaum finden. Wenn Sie es erlauben, beteiligen wir uns an der Suche, Prinzessin. Wir sind mit drei Luftkissenpanzern hier.« »Nicht ablehnen!« flüsterte Sukiss. »Mehr als ein Angebot von Pecheles darfst du niemals zurückweisen!« »Ich nehme Ihr Angebot dankend an«, sagte Neithadl-Off zu der Eingeborenen. Wenig später kurvten drei olivgrüne Luftkissenwagen aus dem Dickicht und setzten sich vor den Gleiter. Sukiss schaltete den Antrieb hoch und folgte ihnen. »Elegant haben Sie den Kopf aus der Schlinge gezogen, Prinzessin«, brummte er und verriet durch das Siezen, wie verwirrt er war. »Aber Sie haben auch ganz schön dick aufgetragen: Reich der Hunderttausend Sonnen! Erst waren es nur tausend. Siegelbewahrerin des Ordens der
Zeitchirurgen! Kommandantin der KOKAHU! Das Schlimmste aber ist, daß Sie mich züchtigen wollen!« »Sie sind ein Narr!« flüsterte der Tigganoi erheitert. »Damit hat die Prinzessin Ihnen doch das Leben gerettet. Das war Diplomatie. Sie hätten die Lage jedenfalls nicht halb so elegant gemeistert.« »Er ist ja auch nur ein Mann«, meinte Neithadl-Off. »Deshalb hat er auch nicht gemerkt, daß er mich gesiezt hat.« Goman-Largo lachte, bis ihm ein Licht aufging. »Und ich habe nicht gemerkt, daß ich ihn siezte«, stellte er erschüttert fest. »Du bist eben auch nur ein Mann«, erwiderte Neithadl-Off. * Zu ihrer Enttäuschung mußten sie feststellen, daß Eltaso die Stadtkommandantin von Khoros nicht im Verwaltungshochhaus der Stadt angetroffen hatte, da sie während der Kampfpause Ferien auf einer Erholungsplattform machte. Das würde die Suche nach dem Kamota und Anima natürlich erschweren, noch dazu, da die Erholungsplattform sehr groß und von einem Naturpark bedeckt sein sollte. »Am besten kehren wir um«, schlug Neithadl-Off vor. »Ohne Anima können wir nicht zum Schiff zurückkehren«, entgegnete Sukiss. »Der Kapitän verläßt sich darauf, daß wir sie mitbringen. Es würde unnötigen Ärger geben, wenn wir ihn enttäuschten.« »Also suchen wir weiter!« erklärte Goman-Largo. Die Parazeit-Historikerin besprach sich kurz mit Qumpoh, mit der sie sich prächtig verstand, dann brachen die drei Leute von der KOKAHU unter der Führung der drei Luftkissenwagen voller Offiziere wieder auf. Diesmal ging es tief hinein in die mit hohem Schilf und Gras bewachsene Wildnis, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Ein schwacher Wind strich darüber hin. Er bewegte die Halme so, daß es aussah, als würde das Gras fließen. Bald war von den Plattformen des Raumhafens und der Stadt Khoros nichts mehr zu sehen. Nur hin und wieder tauchten scharf begrenzte Waldstücke gleich buckligen Inseln aus dem Schilf- und Grasmeer hervor. Der dampfige Dunst, der über allem brütete, verlieh dem Grün eine matte Tönung – und das Licht Hairas gab ihm einen Stich ins Bläuliche. Es kam dem Modulmann vor wie ein Paradies – bis er Spuren der letzten Kampfhandlungen entdeckte, die diesen Eindruck zerstörten: Wracks abgestürzter Düsenjäger und ausgebrannter Luftkissenfahrzeuge, zerfetzte Baumkronen – und vollgefressene große Reptilien. Angewidert verzog er das Gesicht. Zugleich empfand er Bedauern mit den Pecheles, die aus ihrem Paradies ein Schlachthaus gemacht hatten. Nach Stunden winkte Qumpoh von ihrem Luftkissenfahrzeug. Sie benutzte dazu eine Stange mit einem schwarz-goldenen Wimpel daran, denn ihre Armstummel wären ungeeignet dafür gewesen. Danach deutete sie schräg nach vorn. Als Goman-Largo seine Augen mit der Hand beschattete, entdeckte er am Horizont eine breite Kulisse aus hochgewachsener Vegetation. Er nahm an, daß es sich dabei um die Erholungsplattform handelte. »Na, endlich!« sagte er erleichtert. »Ich dachte schon, wir müßten bis zum Dunkelwerden fliegen.«
»Noch haben wir Anima nicht gefunden«, sagte Neithadl-Off. Die drei Luftkissenwagen schwenkten zur Erholungsplattform ab, und der Gleiter folgte ihnen. Ungefähr fünfzehn Minuten später glitten sie dicht hintereinander in einen Stichkanal, der in die Oberfläche der Plattform geschnitten worden war. Dicht bewachsener sumpfiger Boden säumte die Ufer. Fische sprangen aus dem Wasser, und zahllose Vögel bevölkerten die Bäume. »Wie sollen wir hier Anima finden?« meinte Neithadl-Off und richtete ihre Sensorstäbchen abwechselnd nach links und rechts. »Ja, das wird schwierig sein«, pflichtete der Tigganoi ihr bei. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Sie ist doch hinter Eltaso hergeflogen, nicht wahr?« »So hat es ausgesehen«, erklärte Sukiss. »Dann brauchen wir nur noch zu wissen, wo sich der Kamota aufhält«, sagte Goman-Largo. »Anima müßte nicht weit von ihm sein. Würdest du ihn bitte über Funk rufen, Sukiss?« »Warum rufst du nicht gleich nach eurer Anima?« fragte der Nescharer zurück. »Ich halte es für besser, wenn sie noch nicht merkt, daß wir ihr gefolgt sind«, antwortete GomanLargo. »Sie würde sich dann vielleicht vor uns verbergen, weil sie noch keine Lust hat, zum Schiff zurückzukehren.« In Wirklichkeit dachte er jedoch daran, wie sehr Anima in letzter Zeit auf ihn und die Vigpanderin den Eindruck gemacht hatte, als sei sie psychisch durcheinander und als hätte der verkappte Gesandte Gurays etwas damit zu tun. Er hoffte, daß sich auf der Erholungsinsel die Gelegenheit bot, etwas darüber herauszubekommen. Diese Chance hätten sie sich jedoch verdorben, wenn Anima zu früh davon erfahren hätte, daß sie ihr gefolgt waren. Sukiss schien seine Ausrede jedoch bedenkenlos geschluckt zu haben. Er schaltete sein ArmbandFunkgerät ein und rief nach Eltaso. Der Kamota meldete sich schon bald darauf. »Was gibt es, Sukiss?« fragte er erstaunt. »Anima ist dir gefolgt«, verriet der Astrogator, bevor Goman-Largo ihn warnen konnte. »Wir wollen sie zum Schiff zurückbringen, aber in dieser Wildnis werden wir lange nach ihr suchen können, wenn wir keinen Anhaltspunkt haben.« »Ich habe verstanden«, erwiderte Eltaso. »Anima muß in meiner Nähe sein. Kommt zum Tempel der Weißen Schlange. Dort will ich die Stadtkommandantin von Khoros treffen. Ich werde außerhalb des Tempels warten, bis ihr euch Anima geschnappt habt. Im Tempel selbst darf es keine Unruhe geben. Wir bekämen sonst Landeverbot für Pechel. Aber da fällt mir ein, daß du noch nie auf der Erholungsinsel von Khoros warst. Wie, willst du dann hinfinden? Wer ist eigentlich bei dir?« »Goman-Largo und Neithadl-Off«, antwortete der Astrogator. »Die kennen sich auch nicht aus«, meinte Eltaso. »Aber wir haben noch das halbe Offizierskorps der Sturmbrigade von Khoros bei uns«, erwiderte Sukiss. »Die Leute werden den Weg kennen.« »Das halbe Offizierskorps?« echote der Kamota erschrocken. »Weißt du auch, worauf ihr euch da eingelassen habt? Das sind alles fanatische Flintenweiber, die alle Männer als Freiwild betrachten.« »Aber wir sind doch keine Pecheles!« gab Sukiss erheitert zurück. »Was sollten sie uns also schon antun?« »Fressen«, antwortete Eltaso finster. »In den Sümpfen von Pechel sind schon viele Raumfahrer spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht.« »Sie werden sich verirrt haben und ertrunken sein«, meinte Sukiss wegwerfend.
»Es waren ausschließlich Männer«, gab der Kamota zu bedenken. »Frauen verschwanden noch nie. Ich habe jedenfalls schon von mehreren Leuten gehört, daß die Weiber hier männliche Besucher des Planeten nicht höher achten als Tiere und daß sie sie jagen und verspeisen.« »Solange ich dabei bin, werden sie sich hüten!« warf Neithadl-Off ein. »Wie lange werden wir vom Stichkanal an der Küste zum Tempel der Weißen Schlange mit dem Gleiter brauchen? Nein, warte! Wir müssen uns ja nach dem Tempo der Luftkissenfahrzeuge richten.« Sie hatte in das Armbandgerät des Astrogators hineingesprochen; dennoch antwortete Eltaso nicht. Er war auch nicht mehr auf der Bildscheibe zu sehen. »Er hat einfach Schluß gemacht!« entrüstete sich die Vigpanderin. Sie winkte mit einem Vorderglied zu den Pecheles, und Qumpoh eilte sofort zu ihr. »Fahrt uns zum Tempel der Weißen Schlange voraus!« befahl Neithadl-Off und vergaß das Siezen. Qumpoh schluckte es. »Jawohl!« bestätigte sie – und fügte hinzu: »Würden Sie uns die Ehre geben, im vorderen Luftkissenpanzer mitzufahren, Prinzessin Neithadl-Off?« »Da kann ich nicht nein sagen«, meinte die Parazeit-Historikerin zu Goman-Largo. Sie stieg aus und begab sich mit dem charmanten Raupenwesen ins vordere Luftkissenfahrzeug, dann setzte sich die kleine Kolonne wieder in Bewegung. Ungefähr eine halbe Stunde ging es dicht über dem Wasser des Stichkanals in die Erholungsinsel hinein, dann weitete sich der Ausblick. Vor den Fahrzeugen lag eine nur mit niedrigem Gras und vereinzelten halbhohen Sträuchern bewachsene Ebene – und in ihrer Mitte ragte ein kunstvoller Bau aus schneeweißem Marmor zirka hundertfünfzig Meter hoch in die hitzeflirrende Luft. Marmorne Schlangenleiber vereinigten sich zu einer Kuppel, von der ein Schlangenschwanz steil nach oben zeigte, während ein riesiger Schlangenkopf mit weit aufgerissenem Rachen das Tor am unteren Säulenrund des Tempels darstellte. »Von Ihrem Kontakter und der Dame ist nichts zu sehen, Prinzessin«, sagte Qumpoh. »Vielleicht verspäten sie sich. Darf ich mir erlauben, bis zu ihrer Ankunft meinen Damen die freie Jagd zu gestatten?« »Von mir aus«, erwiderte die Vigpanderin gedankenlos, dann zuckte sie zusammen, und über ihre Körperoberfläche jagten heiße Schauer. »Nein, das ist vielleicht doch keine gute Idee. Was, hatten Sie gedacht, sollen Ihre Damen denn jagen?« »Dumme Kreaturen, die zu nichts besser taugen, als dazu, verspeist zu werden«, antwortete die Pechel. »Sie sind natürlich zu dem Festmahl eingeladen.« Zu Neithadl-Offs Verwunderung weckten diese Worte bei ihr einen beinahe unwiderstehlichen Appetit. Sie hätte ihm womöglich nachgegeben, wenn der Nescharer mit seinem Aussehen wie ein rasierter Ursine mit grell bemalter, hölzerner Clownsmaske sie nicht angewidert hätte – und sich an Goman-Largo zu vergreifen, war für die Vigpanderin schlechterdings unvorstellbar, denn ihn liebte sie, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte. »Meine Begleiter ’werden leider beide noch anderweitig gebraucht«, lehnte sie höflich ab. »Ich bitte Sie also darum, sie von der Jagd zu verschonen.« »Das wird meinen Damen nicht gefallen«, meinte Qumpoh. »Aber da Sie mich darum bitten, sei es so. Wenigstens aber werde ich die Damen ausschwärmen und nach Eltaso und Anima suchen lassen.« »Einverstanden«, erwiderte die Vigpanderin. »Aber nicht essen, bitte!«
9. Die Zeit verging, ohne daß sich Eltaso oder Anima hätten blicken lassen. Zweimal schon hatten die Damen unter Qumpohs Führung das Gelände rings um den Tempel der Weißen Schlange erfolglos durchkämmt, dann waren sie in den Tempel gegangen. Was sie dort taten, konnten Sukiss und seine Begleiter nur raten. Qumpoh hatte nur angegeben, daß es Zeit dafür wäre, mehr nicht. Plötzlich streckte Neithadl-Off ihre Sensorstäbchen weit heraus, dann pfiff sie: »Ich habe sie entdeckt! Sie befinden sich allerdings ein ganzes Stück vom Tempel entfernt.« Sie deutete mit einem Vorderglied. »Wahrscheinlich in dem Wald dort hinten.« Goman-Largo blickte in die angegebene Richtung und sah ein Wäldchen aus zirka hundert dicht beieinanderstehenden Bäumen mit hohen kahlen Stämmen und breiten rostroten Wedelkronen. Zwischen den Bäumen wuchs hoher Farn. »Dort kommen wir mit dem Gleiter nicht durch«, meinte er. »Und von oben würden wir kaum etwas sehen. Ich schlage vor, wir gehen zu Fuß hinein und lassen den Gleiter hier stehen.« Seine Gefährten hatten keine Einwände. So gingen sie zu Fuß los, geführt von Neithadl-Off, die mit ihren Sensorstäbchen besser wahrzunehmen vermochte als andere organische Lebewesen mit ihren Augen und Ohren. Dennoch blieb die Parazeit-Historikerin mitten in dem Wäldchen plötzlich stehen und pfiff: »Sie sind verschwunden!« Sukiss brummte ärgerlich. »Das ist unmöglich!« grollte er. »Wenn Neithadl-Off sagt, sie wären verschwunden, dann sind sie es auch«, erklärte Goman-Largo, dann wandte er sich an sie. »Bringe uns zu der Stelle, wo sie zuletzt waren, bevor sie verschwanden, Prinzessin!« Wortlos setzte die Vigpanderin sich wieder in Bewegung. Für sie war es besonders schwierig, in dem Wäldchen eine einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten. Die Stämme standen oft nur einen halben Meter auseinander, so daß Neithadl-Off mit ihren 1,60 Metern Breite nicht einmal dann hindurchkam, wenn sie sich zusammenklappte. Sie mußte deshalb immer wieder Umwege machen. Aber schließlich waren sie doch am Ziel. »Hier ist es«, sagte sie. Goman-Largo blickte sich suchend um. Auf den ersten Blick unterschied sich diese Stelle des Wäldchens nicht von anderen Stellen – und auch ein Umhergehen brachte keine neuen Erkenntnisse. Erst als er ein dazu geeignetes Modul fand und zur multienergetischen Abtastung einsetzte, wurde er fündig. »Es muß sich um einen Lift handeln«, erklärte er. »Allerdings um einen hervorragend getarnten Lift. Mit ihm werden die Gesuchten in die Tiefe gefahren sein.« ENDE
Mit der KOKAHU, dem Raumschiff der sogenannten Piraten, haben Anima und ihre Gefährten einen Planeten erreicht, dessen Bewohnerinnen sich fast ständig befehden und weder Tod noch Teufel fürchten. Was die drei Raum-Zeit-Reisenden mit diesen Kämpferinnen erleben, das erzählt H. G. Ewers im nächsten Atlan-Band unter dem Titel: AMAZONEN IM ALL
ATLANS EXTRASINN Anima und ihr Ritterkomplex Die Geschichte Animas ist in wesentlichen Teilen bekannt. Was anfangs aber noch nicht so deutlich in den Vordergrund trat, gewinnt nun immer mehr an Bedeutung. Schlicht ausgedrückt ist das das Seelenleben der ehemaligen Schlummernden, ihre gefühlsmäßige Verfassung, ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte, wobei unter »geheim« sowohl das zu verstehen ist, was sie ihren Freunden nicht mitteilen will, als auch das, was sie nicht mitteilen kann – weil sie es selbst nicht weiß. Damit sind jene Kräfte des Unterbewußtseins gemeint, die bei ihr bisweilen mit solcher Vehemenz ans Tageslicht treten, daß sie Staunen erwecken, Staunen und Unverständnis. Die Ursprünge dieses von tiefen Emotionen getragenen Zustands sind klar. Sie liegen in der unglücklichen und unerfüllten Liebe Animas während ihrer Orbiterzeit zu ihrem Ritter Hartmann vom Silberstern. Alle ihre Bemühungen um seine Zuneigung verliefen damals im Sand. Es gab Irrtümer, als Hartmann anderen weiblichen Wesen begegnete, Irrtümer, die in Anima Eifersucht weckten. Und als sie ihm einmal das Leben rettete, war sein Dank so kühl, undihre Sehnsüchte fanden wieder keine Erfüllung. Diese Entwicklung prägte ihr Unterbewußtsein bereits vor, und das so nachhaltig, daß wohl für immer Fragmente davon bleiben würden. Damals kam es aber noch schlimmer. Hartmann vom Silberstern fand den Tod. Animas Schmerz steigerte sich ins Unendliche. In ihrer Verzweiflung setzte sie ihre Fähigkeit ungezielt ein und saugte viele ihrer Feinde in sich auf. Sie wurde zu der ANIMA, als der sie Allan in Alkordoom begegnete, zu einem lebenden Raumschiff. In dieser Zeit gab es von Anbeginn an Spannungen zwischen ihr und Atlan, denn Anima sah in dem Arkoniden etwas vom Wesen ihres Ritters, von dessen Tod ihr Verstand zwar wußte, den ihre Gefühle aber niemals wirklich hatten sterben lassen. Ihr Unterbewußtsein akzeptierte damals diesen Tod nicht, und es agiert noch heute in der gleichen Form. Praktisch äußert sich das darin, daß Anima in allem, was in irgendeiner Weise eine Affinität, eine Ähnlichkeit, eine innige Beziehung oder etwas Ähnliches zu dem darstellt, was in ihr vom Bild Hartmanns geblieben ist, Freude und Begeisterung entdeckt. Umgekehrt aber leidet sie unter regelrechten Entzugserscheinungen, wenn sie sich fern aller Merkmale ihres verflossenen Ritters fühlt. Dann wird sie schwermütig, sie kehrt in sich selbst zurück, kapselt sich ab und nimmt nicht mehr voll wahr, was um sie herum geschieht. Ein Trauma, so könnte man sagen. Oder ein Komplex. Derart tief verwurzelte Emotionen müssen aber logischerweise mehr bedeuten. Anima ist nicht seelisch krank im üblichen Sinn. Sie ist nur in einem Übermaß sensitiv für ganz bestimmte Erscheinungen. Für den Laien mag es wie Zufall aussehen, wenn sie auf der Piratenwelt Barquass Freuden erlebt, die eben diesem Laien unlogisch erscheinen müßten. Für den scharfen Verstand, der den Gefühlen den rechten Platz zuordnet, stellt sich dieses Bild anders dar. Anima hat etwas gefühlt oder gesehen oder erlebt. Sie kann dies nicht in Worte fassen, sie will das nicht einmal. Aber: Sie hat mehr gesehen als alle anderen, denn hier war etwas von dem, was sie kannte – von ihrem Ritter Hartmann vom Silberstern. Die Reise, die Anima in Begleitung Goman-Largos undNeithadl-Offs an Bord eines Piratenschiffs angetreten hat trägt für sie ähnliche Züge wie Barquass, wenn auch nicht so deutlich. Vielleicht ist
es auch nur Barquass, das in ihr nachwirkt? Jedenfalls fühlt sich Anima wohl, auch wenn sie sich nur wenig dazu äußert. Sie hat das unbestimmte Gefühl, »ihrem Ritter nah zu sein«. Logisch gesehen ist dieses Gefühl ein Irrtum, hart ausgedrückt purer Unsinn. Das Gefühl ist aber da! Und damit beweist es sich wieder, daß Anima etwas sieht oder spürt, was allen anderen verborgen bleibt. Nun tritt eine geheimnisvolle Gestalt auf, Eltaso. Ihm scheint auch etwas von dem anzuhaften, auf das Anima sensitiv reagiert. Ein weiteres Mosaiksteinchen der Vergangenheit spielt herein – die Jagd nach Schätzen. Und das ist ein Punkt, der einen logischen Verstand zu einer Schlußfolgerung zwingt. Da war doch noch jemand, der alle möglichen Kunstschätze sammelte! Eltaso nimmt einen wesentlichen Teil seines Geheimnisses mit sich, als er Hals über Kopf verschwindet. Der Grund ist klar, auch wenn er für Anima und ihre Begleiter nicht hörbar wird. Guray, der Sensible, hat seinen Gesandten zurückgerufen. Guray, der Sensible? Anima, die Sensible? Anima, die eine gefühlsmäßige Bindung, so lose sie auch gewesen sein mag, zu Eltaso besessen hat, zu Eltaso, dem Gesandten Gurays? Es wäre leicht, weitere Folgerungen zu ziehen, wenn bekannt wäre, was sich hinter Guray verbirgt. Ist er ein Wesen? Sicher irgendwie, ja. Aber welche Funktion hat er? Er muß – wie Anima – in einer Verbindung zum Erleuchteten stehen, und die Fäden dieser Verknüpfung müssen etwas mit den Geschehnissen der Vergangenheit zu tun haben, in denen Hartmann vom Silberstern eine entscheidende Rolle gespielt hat. Es liegt eigentlich auf der Hand, daß Anima nicht auf Fragmente Hartmanns reagiert, denn diese kann es nicht geben. Sie spricht auf all das aus der Vergangenheit an, was sie an ihren Ritter erinnert, und damit auch an alle Details aus dem Umfeld der Auseinandersetzungen. Ihr Ritterkomplex ist also doch logisch. Und er ist vielschichtig, so vielschichtig, daß er immer neue Rätsel erzeugt.