ALF TJÖRNSEN ATOMSTADT Plutonia
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ALF TJÖRNSEN ATOMSTADT Plutonia
„PV 17 von Pico – PV 17 von Pico – PV 17, bitte melden!“ Ein leises Räuspern seines Begleiters ließ Jack Conway auffahren. „Schätze, die meinen uns, Herr Leutnant.“ Wieder kam die Stimme – schwach und blechern verzerrt – aus dem Lautsprecher in der Kabine des Patrouillenfahrzeuges, das durch das Hügelland südlich des Mondkraters Plato mit Ostkurs dahinhumpelte. Jack Conway, der am Steuer des Kettenfahrzeugs saß, bremste scharf und schaltete den Motor ab. „Fragen Sie, was die Kerle von uns wollen, Sergeant.“ Sergeant Green bediente das Funkgerät. „Hier PV 17, Leutnant Conway und Sergeant Green, Planquadrat N 85 E. What’s the matter, Pico?“ Die Funkstation auf dem Gipfel des einsamen Mondbergs Pico, der schroff aus dem Randgebiet des Mare Imbrium * aufragt, antwortete sofort. „Gehen Sie auf Gegenkurs und laufen Sie Station Montblanc III an! Wir haben schwache Notrufe der Station aufgefangen.“ *
Mare Imbrium = „Regenmeer“
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„Was ist los in Montblanc III? Ist den Leuten die Luft ausgegangen?“ „Sorry – wir wissen auch nichts Näheres. Die SOS-Rufe sind seit einer Viertelstunde verstummt. Beeilen Sie sich! Ende.“ Jack Conway ließ das Triebwerk aufheulen. Schwerfällig kurvte das Kettenfahrzeug nach Westen herum. Jack suchte das befohlene Fahrtziel auf der Spezialkarte der nordwestlichen Randgebiete des „Regenmeeres“ auf und überlegte bereits fieberhaft die günstigste Fahrtroute. Montblanc III – das war eine der neuesten, weit vorgeschobenen Forschungsstationen in den Ausläufern der Mondalpen. Jack war noch nie in dieser Gegend gewesen. Es hieß, dort würden streng geheime Atomversuche im Auftrag der WeltEnergie-Kommission ausgeführt. Die Wissenschaftler, die in Montblanc arbeiteten, schätzten es nicht, wenn Unbefugte in die Nähe ihrer Arbeitsstätten kamen, und selbst die Patrouillen der Weltraumpolizei machten auf ihren Kontrollfahrten einen großen Bogen um die geheimnisvolle Forschungsstätte. Jack Conway ließ das Fahrzeug mit Höchstgeschwindigkeit über die öde, staubbedeckte Ebene rasen, die sich jetzt vor ihm aufgetan hatte. Neben ihm beobachtete der Sergeant das eintönige Gelände. Gar zu leicht kam es vor, daß die Fahrer in den Wüsten des Mondes plötzlich ermüdeten und eine der tückischen Bodenspalten übersahen, die schon so manchem Kettenwagen zum Verhängnis geworden waren. „Vorsicht, Sir – Rille in dreißig Meter Distanz.“ „Habe sie schon gesehen. Festhalten, Grenn!“ Jack Conway trat ein Pedal nieder und löste die federnden „Sprungbeine“ aus, Das schwere Fahrzeug hob sich vom Boden ab, setzte in schrägem Sprung über das Hindernis hinweg und landete erstaunlich sanft jenseits der Bodenspalte. Unwillkürlich mußte Jack lächeln. Eine tolle Konstruktion, 4
ohne die ein Fernverkehr auf der Mondoberfläche mit ihren unzähligen Unebenheiten gar nicht denkbar wäre. Ein großer Raketenforscher und Raumfahrtpionier hatte sie vor Jahrzehnten ersonnen – zu einer Zeit, als der alte Mond noch unerreichbar seine einsame Bahn um die Erde zog. „Pico meldet sich nicht mehr, Sir“, unterbrach Sergeant Green seinen Gedankengang. Mike Green war rothaarig und sommersprossig, und seine himmelblauen Augen waren in diesem Moment mit einem Ausdruck größter Wichtigkeit weit aufgerissen. „Das glaube ich gern, Green. Pico ist unter den Horizont getaucht, und wir erreichen ihn auf dem Funkwege nicht mehr. Versuchen Sie beizeiten, mit den Montblancstationen Verbindung aufzunehmen.“ Das Fahrzeug schaukelte weiter durch die Trostlosigkeit der Mondlandschaft, von jeder Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten. Die beiden Männer schienen die einzigen lebenden Wesen auf einem toten Himmelskörper zu sein. Jack Conway warf einen raschen Blick auf die Karte, änderte die Fahrtrichtung ein wenig und gab sich wieder seinen Gedanken hin … Tatsächlich – wer hätte es sich damals träumen lassen, daß der Sprung zum Mond so schnell Wirklichkeit werden würde?. Jack erinnerte sich noch deutlich an die Aufregung, die es gegeben hatte, als erstmals winzige, künstliche Meßsatelliten in den Raum entsandt wurden – damals, im Verlauf des „Internationalen Geophysikalischen Jahres“. Er drückte zu jener Zeit noch die Schulbank und hatte näherliegende Sorgen. Aber es hatte nicht lange gedauert, bis den Kleinsatelliten die erste künstliche Raumstation folgte. Abermals einige Jahre, und die erste Raumschiff-Flotte hatte die Station verlassen und war auf dem Mond gelandet. Kühne Raumfahrer hatten im Inneren der großen Wallebene Plato die Mondbasis errichtet, als Stützpunkt für die weitere Erforschung des Erdtrabanten. 5
Zu dieser Zeit gehörte Jack bereits dem Kadettenkorps der Weltraumpolizei-Akademie in Fort Worth an. Die Morgenröte der Weltraumfahrt zog auch ihn in ihren Bann. Kurz entschlossen meldete er sich zum Sonderlehrgang der Weltraumpolizei. Nach dreijähriger, harter Ausbildung im Institut für Raummedizin in Randolph Field, an Bord der Raketenschiffe im Zubringerdienst und auf den Raumstationen war er endlich als Leutnant dem Mondsicherheitsdienst zugeteilt worden. Wenn Jack Conway ganz nüchtern darüber nachdachte, mußte er zugeben, daß er sich seinen Dienst bei der Weltraumpolizei anders vorgestellt hatte. Sein Leben auf dem Mond spielte sich zwischen einer Art Maulwurfsdasein in der Mondbasis, in der Tiefe unter der Oberfläche des Plato gelegen, und Patrouillenfahrten nach vorgeschobenen Beobachtungsstationen, Funkstellen und Schachtanlagen zur Erzförderung ab. Alles verlief nach bestimmtem Dienstplan, und im Grunde hatte sich noch nichts Aufregendes ereignet. Hin und wieder galt es, einer der Stationen Hilfe zu bringen, wenn Sauerstoff und Wasser zur Neige gingen, oder ein Krankheitsfall unter der Belegschaft aufgetreten war. Vorposten außerhalb des Funknetzes mußten ständig kontrolliert werden, und gelegentlich kam es vor, daß ein Transportfahrzeug geborgen werden mußte, wenn es einen Maschinenschaden erlitten oder sich im Bergland verfahren hatte. Jack hatte von kühnen Entdeckungsreisen im interplanetarischen Raum, von Kämpfen mit Weltraumpiraten und anderen aufregenden Abenteuern geträumt, als er sich zur Weltraumpolizei meldete. Die Wirklichkeit war einigermaßen enttäuschend. Jack Conway ahnte in diesem Augenblick noch nichts davon, daß dieser Tag sein Leben von Grund auf verändern sollte … „Ich habe Verbindung mit Montblanc II, Sir“, meldete Sergeant Green aufgeregt. „Wollen Sie selbst sprechen?“ Ein Druck auf das Bremspedal – ein Griff in die Schaltung. 6
Das Fahrzeug hielt. Das Lärmen des Motors, das die Kabine erfüllt hatte, wich einer unwirklichen Stille. Jack langte nach dem Mikrophon. „Hallo, Montblanc II! Hier PV 17, Leutnant Conway. Haben Sie Neues von M III gehört?“ „Nicht das geringste, Leutnant. Die Station schweigt seit Stunden. Wir können uns überhaupt nicht vorstellen, was dort passiert sein könnte. Leider war es uns nicht möglich, Hilfe zu senden. Wir sind gegenwärtig nur zu zweit hier.“ „In Ordnung. Werden schon nach dem Rechten sehen. So long.“ So gut es das bergige Gelände zuließ, eilte das Kettenfahrzeug jetzt nordwärts um das Montblancmassiv mit Höchstgeschwindigkeit weiter. Mike Green erging sich in allerlei Vermutungen. „Ich wette, Sir, die Jungens haben wieder mal an ihrem Sonnenspiegel herumgebastelt, und nun ist das Kraftwerk kaputt. Oder ob sie am Ende die Tenerifagrippe haben?“ Jack Conway bekam eine Gänsehaut Mit dieser scheußlichen Infektionskrankheit war nicht zu spaßen. Sie hatte ihren Namen bekommen, weil sie erstmals unter der Mannschaft eines vorgeschobenen Postens in den Tenerifabergen aufgetreten war. Wer von ihr befallen wurde, konnte von Glück reden, wenn er mit dem Leben davonkam. „Reden Sie doch keinen Unsinn, Sie alte Unke. Legen Sie lieber den Strahlenschutz an. Die Geigerzähler ticken plötzlich wie verrückt. Die ganze Gegend scheint radioaktiv verseucht zu sein.“ Die Männer zwängten sich mühsam in die Strahlenpanzer. Sie gehörten zum Inventar jedes Kettenfahrzeugs und wurden überall auf dem Mond vorsorglich getragen, wo man sich außerhalb der schützenden Wände der Stationen bewegte. Mit der 7
kosmischen Strahlung, die hier, auf dem luftlosen Mond, von keiner Atmosphäre abgeschirmt wurde, war nicht zu spaßen. „Damned! Da stimmt doch etwas nicht Verstehen Sie, Green, woher diese verrückte Strahlung kommt?“ Der Sergeant machte ein ratloses Gesicht. „Sorry, Sir, ich weiß es auch nicht. Vielleicht können uns die Herren in Montblanc III darüber Auskunft geben …“ Jack Conway bremste so unvermittelt daß Greens Kopf gegen die Sichtscheibe knallte. „Ich fürchte“, sagte er langsam, „dazu werden die Herren nicht mehr in der Lage sein.“ * Der Platz, auf dem die Gebäude der Station Montblanc III gestanden hatten, bot einen Anblick völliger Verwüstung. Von den wild und zerklüftet aufragenden Mondbergen eingerahmt, standen vereinzelte Ruinen, die aussahen, als wäre eine Sprengbombe in ihrer Mitte detoniert. Jack dachte an das große Foto von Montblanc III, das in der Zentrale der Mondbasis hing. Der Anblick, der sich seinen Augen hier bot, hatte keine Ähnlichkeit damit. An der Stelle, an der das große kernphysikalische Labor gestanden hatte, gähnte ein riesiges Loch im Boden, umgeben von einem Trümmergürtel. „Der Atommeiler ist ihnen durchgegangen“, meinte Mike Green sachverständig. Jack war anderer Ansicht. „Der Reaktorbau scheint unversehrt zu sein. Sie sehen ihn da drüben, im Eingang zum Seitental. Nein, da muß etwas anderes passiert sein – der Teufel mag wissen, was. Kommen Sie, Green, wir wollen nachsehen, ob irgend jemand mit dem Leben davongekommen ist.“ Sie mußten den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen, da der ganze Talboden mit Trümmern und Felsblöcken übersät war. 8
Mit Spitzhacken gingen sie dem Chaos zu Leibe. Nach zweistündiger, pausenloser Arbeit stießen sie auf den ersten der Verunglückten: Unter den Resten einer zusammengebrochenen Mauer zogen sie die leblose Gestalt eines glatzköpfigen Mannes hervor, die in einem zerrissenen Strahlenschutzanzug steckte. Jack erkannte den Toten sofort. „Das ist – oder vielmehr: das war – Dr. Piscator, der Institutschef. Schade um den Mann – und ein großer Verlust für die Wissenschaft.“ „Wir müssen aufhören“, meinte der Sergeant. „Unser Sauerstoff geht zur Neige.“ „Donnerwetter, Green, Sie haben recht. Fassen Sie mal mit an – wir wollen den Toten mitnehmen. Die Bergung der übrigen Opfer muß von der Basis aus eingeleitet werden. Halt! Was liegt denn da?“ Jack bückte sich und hob einen zerfetzten Folianten aus dem Schutt auf. „Altpapier, Sir. Lassen Sie’s doch liegen.“ „Werde mich hüten, Green. In einem so geheimnisvollen Fall wie diesem ist jeder Hinweis wichtig. Sie werden nie ein erfolgreicher Polizeibeamter, wenn Sie den scheinbar belanglosen Indizien die erforderliche Beachtung versagen. Sehen Sie sich Ihr ‚Altpapier’ nur genauer an, Verehrtester.“ „Donnerwetter, Sir, Sie haben recht Schätze, es ist so eine Art Protokollbuch. Bin gespannt, was da drinsteht …“ „Geben Sie her, Green. Das verstehen Sie doch nicht –“ * Die Nachricht von dem Untergang der Forschungsstation Montblanc III löste in der Mondbasis größte Bestürzung aus. Chefingenieur Boston, der „Mondboß“, rannte in seinem Arbeitsraum wie ein gefangener Tiger umher und raufte sich die spärlichen Haare. 9
„Ich habe es ja kommen sehen. Wie oft habe ich Dr. Piscator geraten, seine höllischen Experimente einzustellen – aber er wollte ja partout nicht auf mich hören. ‚Das sind alles ganz harmlose Versuche – die tun keiner Fliege etwas zuleide’, hat er gesagt und mich dabei so mitleidig angelächelt, als hätte er’s mit einem armen Irren zu tun. Na, und? Nun haben wir die Schweinerei! Als ob man den Doc mit seinem verrückten Labor auf den Mond verpflanzt hätte, wenn die Geschichte tatsächlich so harmlos gewesen wäre.“ Wütend schleuderte er das zerrissene Protokollbuch auf den Tisch und rannte zur Tür. Jack Conway sprang von seinem Stuhl hoch, auf den er sich nach Beendigung seiner Meldung tödlich erschöpft hatte fallen lassen, und eilte ihm nach. „Wohin, Sir?“ „Warten Sie hier, Conway. Ich will nur eben den Bergungstrupp für M III auf den Weg bringen.“ „Ich fahre mit, Sir.“ „Sie fahren allerdings, Conway, aber nicht nach M III.“ Der „Mondboß“ machte auf dem Absatz kehrt und begann in den Papieren zu wühlen, die seinen Schreibtisch bedeckten. „Hier – das kam während Ihrer Abwesenheit an. Sie sind abkommandiert und sollen sich sofort bei Ihrem Chef in Plutonia melden. Ihr Nachfolger ist bereits avisiert.“ „Bei Oberst Spencer? Aber ich habe doch gar nichts verbrochen …“ „Hat auch niemand behauptet. Wahrscheinlich sollen Sie in die Verwaltung versetzt werden und den Rest Ihres Lebens als Tintenkuli verbringen. Warum soll es Ihnen auch besser gehen als mir?“ „Gut, Sir. Befehl ist Befehl. Wann soll ich fahren?“ „In anderthalb Stunden, mit der nächsten fahrplanmäßigen Zubringerrakete. Und dieses hier“ – Mister Boston warf ihm 10
das Protokollbuch zu – „geben Sie am besten persönlich bei der Energiekommission ab.“ * Plutonia! Jedesmal, wenn Jack Conway – von der Außenstation kommend – auf dem Raumflughafen der großen Forschungsstadt an der Ostküste Floridas eintraf, nahm ihn der hämmernde, berauschende Rhythmus dieser einzigartigen Metropole gefangen. Ihre Luft schien erfüllt von tausend belebenden Düften. Mit ihren Wolkenkratzern aus Glas und Beton, dem pulsenden Verkehr in den breiten, endlosen Straßenzügen, dem Donnern der Raketenflugzeuge am strahlendblauen Himmel erschien ihm die Stadt wie die Verkörperung des Geistes der neuen Zeit – des großen Zeitalters der Technik, das den Menschen zum Herrscher über alle Naturgewalten erhoben und ihm unerschöpfliche Energiequellen erschlossen hatte. Nirgends empfand er so deutlich den Anbruch der Atomära wie in Plutonia. Die Stadt war zum Zentrum des menschlichen Machtbereiches geworden, und dieser Bereich erstreckte sich bereits über den Erdkreis hinaus in den Weltraum. Es gab keine Grenzen mehr für den menschlichen Geist … Ein automatisch gesteuerter Einmannhelikopter trug Jack in Windeseile vom Raumflughafen nach der Landestelle im umfangreichen Gebäudekomplex der Welt-Energie-Kommission. Der junge Polizeioffizier war bereits auf dem Funkweg von der Mondbasis aus avisiert worden. Er wurde sofort vom Leiter der Kommission empfangen, der sich noch einmal über Montblanc III berichten ließ und kopfschüttelnd die traurigen Reste des Piscatorschen Protokollbuchs in Empfang nahm. Ehe Jack den Hubschrauber nach dem Präsidium der Weltpo11
lizei bestieg, fand er noch Zeit, im Zentralen Atomenergieinstitut anzurufen, das am Nordrand der City, unmittelbar an der Atlantikküste, gelegen war. Er schrak heftig zusammen, als auf dem Bildschirm der Kopf eines weißhaarigen Herrn im Labormantel, mit dicken Brillengläsern und einem würdigen Vollbart erschien. „Oh, Verzeihung – Sie selbst, Herr Professor? Ich wußte natürlich nicht …“ Der Gelehrte – es war kein Geringerer als Professor Zimmermann, der bedeutendste Atomforscher der Zeit – nickte geistesabwesend. „Schon gut, junger Mann. Ich rufe Fräulein Lindenberg.“ Sekunden später wechselte das Bild. Ein dunkelhaariges, junges Mädchen mit vergnügten, braunen Augen erschien an Stelle des greisen Wissenschaftlers. Als Ursula Lindenberg sah, wer am anderen Ende der Leitung auf sie wartete, wurden ihre Augen ganz groß. „Jack – du? Wie kommst du so plötzlich nach Plutonia? Und was fällt dir ein, meinem Chef so unangemeldet ins Haus zu fallen? Dich hat wohl ein Mondkalb gebissen, mein Lieber?“ „Das mit dem Mondkalb möchte ich lieber nicht gehört haben, Miß Ursula“, sagte Jack streng. „Im übrigen: Ist das etwa die richtige Begrüßung, du herzloses Geschöpf?“ „,Herzlos’ möchte ich nicht gehört haben. Erwartest du etwa, daß ich dir per Telefon um den Hals falle?“ „Das erwarte ich erst nachher von dir. Also, Ursel, Scherz beiseite: Sehen wir uns nachher? Ich muß mich nur eben noch im Hauptquartier melden …“ „So, so – im Hauptquartier? Was hast du denn diesmal ausgefressen?“ „Ausnahmsweise mal gar nichts, soviel ich weiß.“ „Das wäre wahrscheinlich das erste Mai. Aber, Jack“, – ein 12
Schatten huschte über das schöne Gesicht des Mädchens – „heute geht es beim besten Willen nicht. Wir bereiten einen Großversuch vor, und das kann bis in die Morgenstunden dauern.“ „Solch ein Pech, Ursel. Na. dann also bis morgen. Ein Großversuch? Sei um Himmels willen vorsichtig, Liebes. Die Atome sind ein teuflisches Zeug. Ich habe erst gestern auf dem Mond etwas Entsetzliches gesehen …“ „Weiß schon, Jacky. Es hat sich bereits herumgesprochen. Aber sei unbesorgt – so was kann bei uns nicht passieren. Wir passen bestimmt besser auf als der arme Dr. Piscator.“ „Ach, Ursel, ich habe immer ein verdammt ungutes Gefühl, wenn ich an deine Arbeit denke. Hundertmal geht es vielleicht gut, und beim hundertunderstenmal. Ich werde nicht eher ruhig sein, als bis du deine Tätigkeit im Institut aufgegeben hast … .“ „… um als Mrs. Conway die kümmerlichen Bezüge eines Leutnants der Weltraumpolizei durchzubringen? Oh, Jack, ich fürchte, wir würden beide am Hungertuch nagen. Sieh nur zu, daß du bald Captain wirst.“ Jack Conway schluckte. Ursula hatte manchmal eine abscheulich nüchterne Art, aber im Grunde mußte er ihr recht geben. Sein Leutnantsgehalt reichte nicht aus, um eine Familie zu gründen. „Will mein möglichstes versuchen, Ursel. Nochmals – sei vorsichtig! Good bye.“ Als Jack Conway eine halbe Stunde danach seinem Chef, Oberst Spencer, dem Kommandeur des Weltraumdepartements der Weltpolizei, in seinem Dienstraum im Präsidium gegenübersaß, mußte er die Geschichte von der Fahrt nach Montblanc III zum drittenmal erzählen. Der Oberst schien jedoch nur mit halbem Ohr hinzuhören. Jack hatte kaum geendet, als Spencer aufsprang und nachdenklich ans Fenster trat. Schließlich drehte er 13
sich auf dem Absatz um und schaute seinen Untergebenen prüfend an. Jack Conway fühlte sich unter seinem Blick alles andere als wohl. „Ich habe eine neue Aufgabe für Sie, Leutnant Conway – eine Aufgabe, die ein besonderes Maß an Mut und Umsicht verlangt Nähere Einzelheiten erfahren Sie später. Im Augenblick möchte ich nur wissen, ob Sie …“ Jack sprang auf. „Selbstverständlich, Sir. Ich übernehme die Aufgabe.“ Der Oberst schien sichtlich erleichtert. „Ich habe mich also nicht in Ihnen getäuscht, Conway. Hören Sie zu: Sie haben bis heute abend Zeit, Ihre Angelegenheiten in Plutonia zu regeln. Richten Sie alles für eine mehrmonatige Abwesenheit ein, und seien Sie pünktlich um 22.30 Uhr auf dem Raumflughafen. Sie werden dann mit dem fahrplanmäßigen Raumschiff nach Station A 21 fahren und dort Ihre weiteren Befehle abwarten. Glückliche Reise, Leutnant Conway!“ – Noch ganz benommen verließ Jack Conway das Gebäude des Weltpolizeipräsidiums. Es hätte nicht viel gefehlt – und seine neue Mission hätte vorzeitig unter den Rädern eines Schnellwagens geendet, der mit kreischenden Bremsen dicht neben ihm hielt. Das rundliche Gesicht des Fahrers, kupferrot vor Wut, erschien im heruntergelassenen Fenster der Seitentür. Ein Orkan saftiger Schimpfworte ergoß sich über den Verblüfften. Doch plötzlich verstummte der Wortschwall. Die Wagentür glitt zurück. Strahlend trat der noch eben so Erboste auf Jack Conway zu. „Jack, alter Knabe, bist du’s wirklich? Was tust du in Plutonia? Hatte schon geglaubt du hättest dich für alle Ewigkeit auf dem öden Mond vergraben.“ „Hallo, Fritz!“ Erfreut ergriff der junge Polizeioffizier die 14
entgegengestreckte Pranke. „Auch mal wieder auf der schönen Erde? In welcher Ecke des Weltraums hast du dich die ganze Zeit herumgedrückt?“ „Werde dir alles genau erzählen. Komm, steig ein! Das müssen wir unbedingt begießen.“ Jack ließ sich nicht lange nötigen. In rasender Fahrt ging es nach Süden, die schnurgerade Panama Avenue entlang. Jack Conway teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem überwältigenden Stadtbild und dem vergnügt schmunzelnden Mann am Steuer. Er hatte Fritz Westhofen wohl drei Jahre lang nicht mehr gesehen. Damals war er Wachoffizier an Bord jenes Raumschiffes gewesen, in dem Jack Conway, als angehender Offizier der Weltraumpolizei, seinen praktischen Drill erhielt. Der gutherzige Westhofen hatte alles menschenmögliche getan, um den Kadetten ihr hartes Los zu erleichtern. Allmählich war eine aufrichtige Kameradschaft zwischen den beiden jungen Männern herangereift. Später hatten sie sich dann aus den Augen verloren. Jack hatte lediglich gehört, daß Fritz Westhofen ein eigenes Kommando erhalten hätte und meist auf längeren Erprobungsfahrten im Weltraum eingesetzt würde. „Wohin fahren wir eigentlich, Fritz?“ „Zur ‚Fliegenden Untertasse’. Wohin denn sonst?“ Jack mußte lachen. „Also in dein altes Stammlokal. Ja, existiert die Budike denn überhaupt noch?“ „Na, erlaube mal, Jack. Die ‚Fliegende Unterlasse’ ist ein hochvornehmes Etablissement. Wirst dich wundern, wie sich der Laden herausgemacht hat.“ Jack Conway mußte dem Freund recht geben. Die kleine Kellerkneipe, weit draußen vor den letzten Ausläufern der Stadt, in der sie vor Jahren so manchen feuchtfröhlichen Abend zusammen verbracht hatten, hatte sich zu einem Amüsierbetrieb 15
von weltstädtischem Format entwickelt. Längst hatte die ständig wachsende Stadt die einstmals ländliche Umgebung aufgeschluckt. Trotz der frühen Stunde schien allerhand los zu sein. Auf dem nahen Parkplatz drängten sich an die hundert pompöse Schnellwagen – eine Sinfonie aus Blech, Glas und schreienden Farben. Fritz steuerte den Wagen geschickt an eine freie Stelle und schritt dem Freund voraus auf das im Neonlicht strahlende Portal zu. Zwei Portiers in Raumfahrertracht rissen dienstbeflissen die Flügeltüren auf. Eine Fülle von Licht, Geschrei und Jazzmusik schlug den beiden Freunden aus dem großen Saal entgegen. Jack starrte verwirrt auf die Tanzfläche, die langsam um ihre Achse rotierte. Sie war in ihrer Form einer „Untertasse“ nachgebildet, wie sie Anno dazumal in der Phantasie der Menschen gespukt hatte. Zwischen den Tischen eilten Kellner, als Marsbewohner verkleidet, mit Tabletten umher, auf denen Getränke in allen Farben des Spektrums funkelten. „Toller Rummel“, lachte der Raumschiffkapitän verächtlich. „Lauter dollarschwere Provinzonkel, die in Plutonia was erleben wollen. Komm, Jack – da, links, die Treppe hinunter und durch die Tür mit der Aufschrift ‚Privat’!“ Es war ein beinahe heimatliches Gefühl, das Jack Conway überkam, als er den behaglichen, engen Kellerraum betrat. Hier war alles unverändert geblieben, von den eigenhändig signierten Bildern der Raumfahrtpioniere an den verräucherten Wänden bis zum Modell des ersten Weltraumschiffs auf dem kleinen Ecktisch. Fritz Westhofen ließ sich krachend auf die Eckbank fallen und klatschte in die Hände. Ein Kellner brachte Whisky und Gläser. Die Freunde tranken sich zu. „Das war wirklich ein glücklicher Zufall“, sagte Jack. „Dies dürfte nämlich auf lange, unbestimmte Sicht mein letzter Tag in 16
Plutonia sein. Ich fahre noch heute nach Station A 21 und … – nanu, Fritz, warum guckst du denn so komisch?“ „Nach A 21? Hm – merkwürdig. Suchst du da etwas Bestimmtes?“ „Keine Ahnung, Fritz. Ich bin abkommandiert worden und soll an Ort und Stelle alles Nähere erfahren.“ „Hahaha! Dann scheint es dir ähnlich zu gehen wie mir. Auch ich soll in Kürze wieder auf Fernfahrt gehen.“ „Und wohin, Fritz?“ Der Raumschiffkapitän hob gleichmütig die Schultern. „Das wissen die Götter. Ich fahre mit versiegelter Order.“ * „Großversuch in Abteilung N II!“ Auf den Dächern der Hallen und Laboratorien des CIAE * heulten die Alarmsirenen. Farbige Lichtsignale leuchteten an den Wänden. Die Wissenschaftler, Techniker und Arbeiter in den verschiedenen Abteilungen des riesigen Gebäudekomplexes legten die Arbeit nieder, zogen sich die Strahlenschutzpanzer an und eilten nach den Liften, die sie in Sekundenschnelle in die sechzig Meter unter dem Erdboden liegenden, stark betonierten Bunker beförderten. Draußen, jenseits der hohen Umfassungsmauern, erklangen die Klingeln und Sirenen der Werkfeuerwehr, die ihre Bereitschaftsstellungen bezog. „Großversuch in Abteilung N II!“ Es klang wie ein Fanal. Jeder, der den Ruf vernahm, verspürte eine Ahnung von den geheimnisvollen Mächten, mit denen Professor Zimmermann, der Institutsleiter, in jener Abteilung operierte, zu der nur wenige Eingeweihte Zutritt hatten. Im engen Schalt- und Beobachtungsraum des großen Kos*
CIAE: das Zentrale Atomenergieinstitut in Plutonia
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motrons der Abteilung NII hantierte der weißhaarige Gelehrte mit seinen Assistenten vor den Schalttafeln. Ursula Lindenberg, die junge Laborantin, lehnte an der Tür – bereit, sofort zuzuspringen, falls der Professor einen Auftrag für sie hatte. „Alles klar, Sir“, meldete Dr. Burns, der Erste Assistent, mit völlig unbeteiligter Stimme. „Wir können anfangen.“ „Moment mal!“ Von einem Klappstuhl neben der Tür erhob sich ein schlanker, dunkelhaariger Mann in mittleren Jahren, dessen intelligente Züge sichtliches Unbehagen verrieten. Er räusperte sich nervös und wandte sich an Zimmermann. „Sollten wir nicht endlich den Strahlenschutz anlegen, Herr Professor?“ Professor Zimmermann wandte sich kurz um. „Einen Strahlenschutzanzug für Dr. Lacrosse, Fräulein Lindenberg.“ Ursula trat an den Wandschrank, um den Auftrag auszuführen. Lacrosse blickte sich unsicher um. Er nahm als Vertreter der Welt-Energie-Kommission an dem Versuch teil und hatte in seiner langjährigen Praxis so manches Atomkraftwerk mit aus der Taufe gehoben, hatte die Forschungsinstitute der ganzen Welt kennengelernt und traute sich im Umgang mit Atomen allerlei Erfahrung zu. Aber was hier geschah, war ihm unbegreiflich. Der Leichtsinn dieser Menschen grenzte an Selbstmord. „Ja, und Sie, meine Herren? Fast könnte man meinen, Sie hätten noch nichts von den Gefahren atomarer Strahlungen gehört.“ Der Professor lächelte nachsichtig. „Unter den üblichen Versuchsbedingungen würden wir uns natürlich hüten, ohne Strahlenschutz herumzulaufen, aber hier verhält es sich anders. Die Spezialfilter, die den Versuchsraum umgeben, schirmen jede Art von Wellen- und Partikelstrahlung ab. Einzig und allein die Neutrinostrahlung, auf die es uns bei dem Versuch ankommt, dringt durch.“ „Auch unser Kollege Piscator arbeitete mit Neutrinos – und wie ist es ihm ergangen?“ 18
Professor Zimmermann wandte sich wieder seinen Instrumenten zu. „Wie es letzten Endes zur Katastrophe tn Montblanc III kommen konnte, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Ich weiß nur soviel, daß Piscator es unterlassen hatte, bei seinen Versuchen die Neutrinostrahlung herauszublenden. Der Teufel mag wissen, was für verheerende Kernreaktionen da aufgetreten sind. – Achtung jetzt: Wir fangen an. Gehen Sie auf Stufe I, Burns. – Hallo, Burns – was ist denn mit Ihnen los?“ Erstaunt schaute Ursula zu dem Ersten Assistenten hinüber. Dr. Burns saß zusammengesunken auf seinem Stuhl und strich sich mit raschen Bewegungen über Gesicht und Handrücken. Jetzt hielt er inne und grinste verlegen. „Ich – oh, ich habe mich nur ein bißchen mit Strahlenschutzkrem eingerieben, Herr Professor. Immerhin – man kann nicht wissen …“ „Aha, der kluge Mann baut vor“, lachte Dr. Lacrosse. Professor Zimmermann winkte ungeduldig ab. „Fangen Sie jetzt endlich an, Burns. Stufe I – und dann alle dreißig Sekunden schrittweise weiter, bis auf XII.“ Die Assistenten bedienten Schalter und Knöpfe. Kontrolllämpchen glühten an den Schalttafeln auf. Von draußen herein klang ein Summen, das die starken Wände vibrieren ließ und mehr und mehr anschwoll. Ursula Lindenberg hatte plötzlich das Gefühl, als würde der Schaltraum enger und enger, als rückten die singenden Wände näher, um das kleine Häuflein Menschen zu erdrücken, das es wagte, sich die Mächte der Natur untertan zu machen. Das Summen war nervenzerreißend. Sie hätte am liebsten die Tür aufgerissen und wäre davongestürzt – irgendwohin, nur fort aus dieser Nachbarschaft eines namenlosen Grauens! Nur mühsam gelang es ihr, sich zu beherrschen. „Wir lassen die Neutrinostrahlung jetzt konzentriert auf spe19
zielle Brennstoffelemente fallen“, vernahm sie die erklärende Stimme des Professors durch das tosende Summen Dr. Lacrosse schien Bedenken zu haben. „Sind Sie fest davon überzeugt, Herr Professor, daß es sich um Neutrinos handelt?“ Zimmermann schmunzelte. „Sie dürfen sich darauf verlassen, Herr Kollege. Wären unsere Augen für diese Strahlenart empfindlich, dann könnten Sie die Strahlenquelle jetzt durch die Betonwand hindurch erkennen. Nach der Theorie …“ Ursula Lindenberg verstand nicht, was ihr Chef weiter sagte. Ihr Blick hing wie gebannt an der Gestalt des Ersten Assistenten. In ihren Zügen malte sich das Grauen … Dr. Geoffrey Burns saß noch immer auf seinem Platz vor dem Schaltbrett. Aber eine unheimliche Veränderung war mit ihm vorgegangen. An Stelle seines eckigen Kopfes mit den strohigen Stehhaaren hockte ein knöcherner Totenschädel auf den Schultern. Nur verschwommen und durchsichtig, in ein grünlich-fahles Licht getaucht, waren die gewohnten Züge zu erkennen. Langsam bewegte Burns die Hände. Ursula folgte der Bewegung und erschrak abermals. Es waren durchsichtige Knochenfinger, die gespenstisch über die Schalter glitten. Entsetzt betrachtete Ursula ihre eigenen Hände, die Gesichter und Hände des Professors und der anderen Assistenten – doch es fiel ihr nichts an ihnen auf. Die übrigen schienen den Vorfall nicht zu bemerken. Gerade vernahm sie wieder Zimmermanns Stimme: „Achtung, Doktor: Beachten Sie jetzt die Strahlungsmesser! Was sagen Sie zu dieser Temperaturausbeute?“ Der Vertreter der Welt-Energie-Kommission war aufgesprungen. „Das ist – einfach nicht zu glauben. Wenn sich Ihr Verfahren auch ins Große übertragen läßt, wird es auf der gan20
zen Erde keine Energiesorgen mehr geben. Die Auswertung der Neutrinostrahlung wird der Menschheit das Goldene Zeitalter bescheren …“ * „Die Lage der Menschheit ist hoffnungslos.“ Mit dieser vernichtenden Feststellung schloß das Referat, das der berühmte Bevölkerungsstatistiker Professor Casella anderntags im Palast der Weltregierung hielt. Van der Lucht, der greise Weltpräsident, hatte seine engsten Mitarbeiter und ein Dutzend Experten aus aller Welt zu einer Geheimsitzung geladen, deren einziges Thema das rapide Anwachsen der irdischen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten war. Alarmierende Nachrichten hatten den Anlaß zu dieser Konferenz gegeben. In Zentralasien war eine Hungersnot ausgebrochen, wie man sie seit Menschengedenken nicht mehr verzeichnet hatte. Indische Hafenstädte waren zu Schauplätzen wilder Plünderungen geworden, als Transportschiffe mit Lebensmitteln aus den Beständen des Welternährungsministeriums eintrafen. Luftflotten unbekannter Nationalität hatten Überfälle auf die Magazine der Weltregierung in der Antarktis verübt und große Mengen von Konserven entführt, die man vorsorglich in diesem riesigen, natürlichen „Kühlhaus“ für den Katastrophenfall eingelagert hatte. „Wenn nicht schleunigst ein Wandel geschaffen wird, kommt es zu einer weltweiten Katastrophe“, murmelte der Präsident der Weltpolizei dumpf. „Ich sehe da gar kein Problem“, warf Dr. Crosse erregt ein. „Die Energieversorgung der Erde ist für alle Zeiten gesichert.“ Und er berichtete in großen Zügen über Professor Zimmermanns erfolgreiche Versuche zur Auswertung der Neutrinostrahlung. 21
„Neutrinos kann man nicht essen“, wehrte Professor Casella ärgerlich ab. „Sie sehen das Problem völlig falsch, Herr Kollege. Tatsache ist nun mal, daß die Erde zu klein geworden ist, um die zwölf Milliarden Menschen, die sie trägt, zu ernähren. Wissenschaft und Technik haben getan, was sie konnten. Die Erträge der Landwirtschaft wurden verdoppelt, die Sahara und die Tundren Sibiriens konnten in fruchtbare Ländereien verwandelt werden. Und dennoch reicht es nicht mehr zum Leben …“ „Wozu haben wir die Weltraumstationen? Warum werden keine Sonnenspiegel errichtet, um vom Raum her das Eis der Antarktis abzutauen und den Sechsten Erdteil urbar zu machen?“ „Das Spiegelprojekt hat sich als Fehlschlag erwiesen“, erwiderte der Chef des Internationalen Wetterdienstes. „Wahrscheinlich wäre auch der Schaden größer als der Nutzen gewesen. Das ganze Klima unseres Planeten wäre durcheinandergeraten.“ „Man sollte die menschliche Ernährung ganz auf chemische Erzeugnisse umstellen“, beharrte Lacrosse. „Wünsche guten Appetit“, lachte der Leiter des Weltgesundheitsamtes. „Nein, Doktor, der Rat taugt nichts. Das käme darauf hinaus, die Menschheit langsam aber sicher auszurotten.“ Mit einer leichten Handbewegung bat der Präsident um Ruhe. „Die Berichte der Sachverständigen und die anschließende Diskussion werden Ihnen, meine Herren, gezeigt haben, wie verzweifelt ernst die Lage ist. Das darf selbstverständlich nicht heißen, daß wir vor der Gefahr kapitulieren sollen. Noch sind tatsächlich nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Ungewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Die Weltregierung hat bereits entsprechende Schritte eingeleitet …“ Atemlose Stille herrschte plötzlich in dem großen Konfe22
renzsaal, in dem noch kurz zuvor die Meinungen hart aufeinandergeprallt waren. Van der Lucht fuhr fort: „Es handelt sich um das Projekt ‚Venus’. Wie Ihnen bekannt sein wird, haben namhafte Astrophysiker in neuerer Zeit die Ansicht geäußert, daß unser Nachbarplanet Venus Lebensmöglichkeiten bieten müsse.“ Unruhe machte sich in der Versammlung bemerkbar. Wieder hob Van der Lucht die Hand. „Venus ist nahezu ebensogroß wie die Erde. Falls es auf diesem Planeten wirklich atembare Luft, Wasser und Vegetation gibt, dürfte er der ideale Boden sein, um den Bevölkerungsüberschuß der Erde aufzunehmen. Ich weiß – der Gedanke mutet phantastisch an, aber unsere fortschrittliche Zeit kennt das Wörtchen ‚unmöglich’ nicht mehr.“ Wieder prallten die Meinungen aufeinander, als der Präsident geendet hatte. „Das kann ja gar nicht gut gehen“, rief einer der Anwesenden erregt. „Selbst wenn es gelänge, genügend leistungsfähige Raumschiffe zu konstruieren – wer garantiert uns, daß die Kolonisten nicht einen öden, toten Himmelskörper anträfen, von einer erstickenden Atmosphäre umgeben?“ „Wir werden es schon in Kürze wissen, meine Herren. Die erste Expedition ist bereits unterwegs, um die Verhältnisse an Ort und Stelle zu prüfen. Inzwischen arbeiten die Raumfahrtwerke auf Hochtouren, um eine ganze, Flotte großer Weltraumtransporter zusammenzustellen.“ „Ich halte das Projekt ‚Venus’ für bedenklich“, wandte einer der Sachverständigen ein. „Ganz abgesehen davon, daß die Expedition kaum eine Chance haben dürfte, das Ziel zu erreichen, wird das Unternehmen nur Unruhe in die Bevölkerung bringen.“ Van der Lucht lächelte. „Diese Sorge teile ich nicht. Die Öffentlichkeit ahnt noch nichts davon. Außer Ihnen, meine Herren, weiß kein Mensch etwas vom Projekt ‚Venus’ – die Besatzung 23
des Expeditionsschiffes natürlich ausgenommen. Aber auch diese Männer erfuhren ihr Reiseziel erst, als sie schon unterwegs im Weltraum waren.“ * Jack Conway war nicht wenig erstaunt, als er bei seiner Ankunft auf Raumstation A 21 den mächtigen Rumpf eines übergroßen Raumschiffes gewahrte, das in geringem Abstand von der Station schwebte. „Explorer“ stand in glänzenden Buchstaben an seinem Bug. Jack bildete sich ein, sich in den verschiedenen Raumschifftypen recht gut auszukennen, aber ein Fahrzeug vom Format der „Explorer“ war ihm bisher nicht begegnet. Er hatte indessen nicht viel Zeit, den neuartigen Raumer zu betrachten. Anstatt vor den Schleusenkammern der Station haltzumachen, steuerte die Zubringerrakete direkt auf den „Explorer“ zu. Der Kommandant erschien im Passagierraum. „Bitte die Schutzanzüge anlegen, Gentlemen. Begeben Sie sich auf schnellstem Wege in die Backbordschleuse. Sie werden drüben schon erwartet.“ Jack Conway und das knappe Dutzend Männer, die zusammen mit ihm in Plutonia gestartet waren, tauschten ratlose Blicke aus. Jack wandte sich an den Kapitän: „Ich verstehe nicht ganz, Käpten. Was soll das heißen? Wohin soll die Reise überhaupt gehen?“ „Das werden Sie noch früh genug erfahren. Beeilen Sie sich bitte.“ „Ja, aber – ich muß unbedingt noch einen Funkspruch nach Plutonia durchgeben – an das Zentrale Atomenergieinstitut …“ „Tun Sie’s von drüben aus. Das Schiff hat ja auch eine Funkstation. Und nun – glückliche Reise, Gentlemen!“ Der Funkoffizier des „Explorer“ war zweifellos ein liebens24
würdiger, junger Mann, aber als Jack mit seinem Anliegen bei ihm erschien, wurde sein Gesicht eisig. „Sorry, Leutnant, das Schiff hat strengstes Funkverbot.“ „Zum Donnerwetter – was soll diese Geheimnistuerei bedeuten? Soll das noch lange so weitergehen?“ „Nur noch zwölf Tage“, ließ sich eine vertraute Stimme von der Tür her vernehmen. „Willkommen an Bord, old chap.“ Jack fuhr herum. „Fritz – du hier an Bord? Fast hatte ich es mir schon gedacht. Sag mal, kannst du nicht ein Machtwort sprechen und …“ „Kann ich, mein Lieber – also: Marsch, marsch in die Hängematte! Wir starten in fünfzehn Minuten. Bendixen, haben Sie die Fernsteuerung noch mal überprüft?“ „Alles in Ordnung, Käpten.“ „Prächtig. Also nochmals, Bendixen: Halten Sie den Bordsender unter Verschluß, solange Sie keinen gegenteiligen Befehl bekommen.“ Das Brausen des Raketentriebwerkes drang nur schwach bis in den großen Aufenthaltsraum im Mittelteil des „Explorer“, in dem die Passagiere und die Männer der Freiwache in den Hängematten festgeschnallt lagen. Jack Conway spürte beinahe schmerzhaft die Spannung dieser Minuten. Er blickte in bleiche Gesichter und vernahm die abgerissenen Worte, mit denen die Fahrtgenossen ihre Vermutungen austauschten. „Ist es wahr, daß wir ferngesteuert fahren?“ erkundigte sich jemand ängstlich. „Was nun, wenn das Schiff ausbricht? Warum steuern wir unseren Kurs nicht selbst?“ „Dazu müßten wir ihn zunächst mal kennen.“ „Aber der Käpten wird doch wenigstens wissen, wohin es gehen soll?“ „Der weiß es genausowenig, wie wir anderen. Es ist eben eine ‚Fahrt ins Blaue’.“ 25
„Danke für Backobst! Der Teufel hole diese lächerliche Geheimniskrämerei!“ Plötzlich verstummte das ferne Lärmen des Triebwerkes. Im gleichen Augenblick trat völlige Schwerelosigkeit an Bord ein. Aus dem Lautsprecher klang die Stimme Fritz Westhofens: „Startmanöver beendet. Die Hängematten dürfen jetzt verlassen werden.“ Die nächsten Tage vergingen in dumpfer Ungewißheit. Rasch hatte sich der Borddienst eingespielt, doch waren die Männer nicht recht bei der Sache. Immer wieder schauten sie aus den Fenstern auf den Heimatplaneten zurück, der mehr und mehr zu einem hellen Stern zusammenschrumpfte. Rings um den „Explorer“ gähnte der leere Raum. Ein Meer von Sternen leuchtete auf, einem Vorhang aus Schwärze – kalt, bewegungslos und unerreichbar. Ein Gefühl grauenvoller Verlassenheit schlich sich in die Herzen der Raumfahrer.. Am Morgen des zwölften Reisetages versammelte Kapitän Westhofen die Fahrtteilnehmer im großen Aufenthaltsraum. Ungeduldig schauten alle auf den länglichen, weißen Briefumschlag in seiner Hand. Feierlich erbrach er das Siegel und öffnete den Umschlag. Der Briefbogen enthielt nur wenige Worte. Fritz Westhofen atmete tief und blickte die Gefährten an … „Das Ziel heißt – Venus!“ Sekundenlang herrschte atemlose Stille. Dann brach ein triumphales Begeisterungsgeschrei aus. Alle Sorgen und Ängste der vergangenen Tage waren vergessen. Strahlend und lockend wuchs das ferne Ziel aus der Tiefe des Weltraums herauf … *
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Ursula Lindenberg war im Institut Professor Zimmermanns zwar offiziell als Meßtechnikerin angestellt, doch war sie im Verlauf ihrer Tätigkeit zu einer Art Faktotum des Gelehrten aufgerückt. Längst konnte der Professor auf die Mitarbeit des klugen und gewandten jungen Mädchens nicht mehr verzichten. Sie war für ihn Assistentin und Sekretärin in einer Person und verstand es, dem greisen Forscher jeden Wunsch im Gesicht abzulesen. Um so überraschender war es, daß Ursula seit einigen Tagen offensichtlich nicht mehr bei der Sache war. Wiederholt unterliefen ihr bei den Messungen im Labor Fehler, und Professor Zimmermann beobachtete es immer wieder, wie seine Assistentin gedankenverloren aus dem Fenster in die herbstlich gefärbten Grünanlagen hinunterstarrte und seine Fragen überhörte. „Sie sind überarbeitet, Fräulein Lindenberg“, sagte er eines Tages in seiner gütigen Art. „Sie sollten Urlaub nehmen. Fahren Sie zur Erholung nach Californien oder in eine andere schöne Gegend. Ruhe und Klimawechsel werden Wunder wirken.“ Doch Ursula hatte Ihn nur verwirrt angeschaut. „Ich danke Ihnen, Herr Professor, aber ich bin nicht überarbeitet – wirklich nicht. Es geht schon wieder besser.“ Im Grunde war Professor Zimmermann froh, daß Ursula ihn jetzt nicht im Stich ließ. Die Arbeit an der Weiterentwicklung des Neutrinoelementes drohte ihm über den Kopf zu wachsen. Seit Wochen schon arbeiteten Wissenschaftler und Techniker seines Instituts in drei Schichten. Dr. Lacrosse war zum ständigen Besucher im Zentralen Atomenergieinstitut von Plutonia geworden. Das Interesse der Welt-Energie-Kommission an den Ergebnissen der Neutrinoforschung wuchs von Tag zu Tag. Doch an diesem Tage war noch ein anderer Gast erschienen, um dem Institutsleiter auf die Nerven zu fallen. Es war kein 27
anderer als der lange, düster blickende Mister Coltsfoot, der Chef des Raumfahrtdepartements der Weltregierung, der Professor Zimmerman dringend um eine Unterredung bat. Ohne Umschweife steuerte er auf den Zweck seines Besuchs zu. „Darf ich fragen, Herr Professor, um wieviel größer die Energieausbeute Ihrer Neutrinoelemente gegenüber derjenigen normaler Kernreaktoren ist?“ Zimmermann wiegte den Kopf. „Theoretisch dürfen wir mit einem hundert-, wenn nicht gar tausendfachen Gewinn rechnen. In der Praxis haben wir bisher ungefähr das Zehnfache des bisherigen erreicht, aber die weiteren Verbesserungen unseres Brennstoffelements …“ „Hundertfach – tausendfach …“, staunte Coltsfoot. „Sagen Sie, Professor: Wäre es nicht denkbar, Neutrinos für den Antrieb von Raumschiffen zu verwenden?“ Professor Zimmermann lächelte. „Sie haben ja große Pläne, Mister Coltsfoot. Theoretisch wäre es wohl denkbar, aber wie stellen Sie sich die technische Ausführung vor? Ein Raumschiff enthält bekanntlich nicht allzuviel Platz. Es wird nie in der Lage sein, ein Kosmotron oder einen hinreichend großen Atommeiler mitzuschleppen, die als Strahlungsquellen unentbehrlich wären.“ „Um die Strahlungsquelle brauchen wir uns – meiner Ansicht nach – im interplanetarischen Raum keine Sorgen zu machen. Denken Sie doch an die Sonne, Professor. Besteht ihre Strahlung nicht zu zwanzig Prozent aus Neutrinos?“ Zimmermann kaute nachdenklich auf den Schnurrbartspitzen. Er zündete sich eine frische Zigarre an und blies mächtige Rauchringe in die Luft. „Vielleicht – wenn es gelänge, die Strahlung aus dem Sonnenlicht zu filtern und sie zu konzentrieren … Fräulein Lindenberg, holen Sie mir doch bitte mal Dr. Burns her.“ 28
Ursula sprang auf und stellte das Signal des Ersten Assistenten für die Personenrufanlage ein. Eine Kombination farbiger Lampen flammte in allen Abteilungen auf. Summer riefen in bestimmtem Rhythmus. Doch Dr. Burns meldete sich nicht. „Ich hole ihn selbst“, rief Ursula und eilte hinaus. Sie lief durch die langen, leeren Gänge der Abteilung N II, eilte von Tür zu Tür – doch Dr. Burns war seit Stunden nirgends gesehen worden. Schließlich blieb nur noch der große Röntgenraum im Dachgeschoß übrig, der – wie Ursula wußte, seit Monaten nicht mehr benutzt worden war. Nach kurzem Zögern drückte sie die Klinke nieder und trat ein. Der abgeblendete Schein einer Kugellampe beleuchtete die untersetzte Gestalt des Gesuchten, den eckigen Kopf mit den strohigen Stehhaaren und die unwahrscheinlich langen Arme mit den starkknochigen, behaarten Händen. Geoffry Burns schien Ursulas Eintritt nicht bemerkt zu haben. Gedankenverloren rührte er mit einem Glasstab in einem Kolben, der mit einer zähen, opalisierenden Masse gefüllt war. Jetzt strich er eine Probe der Masse auf ein Glasplättchen, klemmte es vorsichtig in einem Stativ fest und richtete die Öffnung eines Strahlers darauf. Die schimmernde Masse verschwamm, wurde durchsichtig und plötzlich unsichtbar. „Herr Dr. Burns?“ Der Assistent schrak so heftig zusammen, daß er den Kolben umstieß. Wie ein häßlicher, zäher Brei ergoß sich die Masse über den Experimentiertisch. Burns schaltete den Strahler ab und stand auf. „Sie haben mir einen schönen Schreck eingejagt, Miß Lindenberg.“ „Das tut mir leid, Doktor. Seit wann sind Sie so schreckhaft?“ Geoffry Burns wischte die verschüttete Masse mit einem 29
Handtuch in den Ausguß. Hastig steckte er seine Notizen ein. „Es sind die Nerven, Miß Lindenberg. Diese ewigen Nachtschichten …“ „O weh, Doktor – ich fürchte, es wird sogar noch schlimmer. Der Chef erwartet Sie drüben im Direktionszimmer. Mister Coltsfoot ist bei ihm. Er hat neue Pläne.“ „Mister Coltsfoot vom Raumfahrtdepartement?“ Ein aufmerksamer Zug trat in Burns’ blasses Antlitz. „Ja, schon gut, ich komme.“ Vom Fenster aus schaute Ursula ihm nach, wie er mit raschen Schritten über den Institutshof eilte. Plötzlich hatte sie wieder jene erschreckende Vision vor Augen, die sie während des bewußten Großversuches erlebt hatte: Die untersetzte Gestalt des Assistenten vor den Schalttafeln, mit dem Totenschädel zwischen den Schultern und den gespenstischen Knochenfingern … Ursula erschauerte. Was hatte das wohl zu bedeuten? War Burns ein vom Tode Gezeichneter, ohne es selbst zu ahnen? War es nicht ihre Pflicht, ihm von ihrem Erlebnis zu erzählen? Aber sie hatte sich bisher gescheut, davon anzufangen. Der kaltschnäuzige Assistent würde sie glattweg für verrückt erklärt haben. Wenn doch nur Jack da wäre! Ihm hätte sie sich ohne Scheu anvertrauen können. Aber Jack Conway war wie vom Erdboden verschwunden. Er hatte sich nicht mehr gemeldet – seit jenem Anruf am Tage des entscheidenden Großversuches. Ob sie ihn womöglich verstimmt hatte? Aber nein – er mußte doch noch einmal versucht haben, sie zu erreichen. Es war am Tage nach dem Versuch gewesen, als der Institutspförtner mit schuldbewußter Miene bei ihr erschienen war: „Übrigens, Miß, ich habe ganz vergessen, es Ihnen zu sagen: Da hat Sie gestern nachmittag jemand aus der ‚Untertasse’ angerufen.“ 30
„Aus der – Untertasse? Ja, wovon sprechen Sie denn überhaupt?“ „Von der ‚Fliegenden Untertasse’ natürlich. Kennen Sie das Lokal nicht? Ist ein toller Laden, Miß.“ Ursula erinnerte sich dunkel, den Namen schon gehört zu haben. „Ja, und – wer war es?“ „Keine Ahnung, Miß. Hat sich nicht vorgestellt, der Gentleman. Wahrscheinlich ein Betrunkener.“ Als Jack sich auch in den nächsten Tagen nicht eingefunden hatte, war Ursula unruhig geworden. Kurz entschlossen rief sie beim Kommando der Weltraumpolizei an. Die Auskunft war kurz und bündig: „Leutnant Conway? Unterwegs im Weltraum.“ * „Ist er nicht ein prächtiges Schiffchen, unser ‚Explorer’?“ Stolz wie ein Spanier betrat Kapitän Westhofen den Beobachtungsraum, in dem es von Wissenschaftlern und Radartechnikern wimmelte. Das Raumschiff hatte die fast fünf Monate dauernde Überfahrt zur Venus programmgemäß und ohne Zwischenfall bewältigt. Jetzt umschwebte es den Planeten in respektvollem Abstand in einer antriebslosen Kreisbahn. „Ich hätte nie geglaubt, daß alles so reibungslos ablaufen würde“, sagte Jack Conway von einem der Beobachtungsfenster her. „Allerdings verdanken wir es in erster Linie deiner Navigationskunst, alter Junge. Hätten wir dich nicht als Schiffsführer gehabt, Fritz, dann …“ „… dann wärt ihr genausogut ans Ziel gekommen“, vollendete der Käpten ärgerlich. „Was heißt hier ‚Navigationskunst’? Du vergißt, daß man uns beim Startmanöver in Fernsteuerung 31
genommen hat. Das bißchen, das für mich zu tun übrigblieb, ist kaum der Rede wert.“ „Was nun, Käpten?“ erkundigte sich einer der Schiffsoffiziere. „Wollen Sie wirklich in dieser Waschküche landen?“ Die Frage war immerhin verständlich. Von der Planetenoberfläche war auch nicht das geringste zu erkennen. Eine undurchdringliche Atmosphäre, die im Sonnenlicht blendend weiß gleißte, hüllte alles ein. Was mochte sie enthalten? Bestand sie aus erstickendem Kohlendioxyd, wie ziele Forscher annahmen? Oder war es eine geschlossene Wolkendecke aus Wasserdampf, die das Sonnenlicht reflektierte? Fritz Westhofen knurrte. „Ob Waschküche oder nicht – klar, daß wir landen. Wozu sind wir denn sonst hergekommen? Lassen Sie sämtliche Landungsraketen klarmachen, Wilkins, bis auf zwei, die für den Notfall zur Verfügung bleiben.“ Drei Stunden später durchstießen vier schlanke, geflügelte Landungsraketen die „Milchsuppe“, wie Fritz Westhofen die Venusatmosphäre geringschätzig nannte. Hochempfindliche Radargeräte tasteten unablässig den Planetenboden ab, den noch keines Menschen Auge je gesehen hatte. „Eine feste Oberfläche scheint wenigstens vorhanden zu sein“, stellte einer der Meßtechniker fest. Der Kapitän grunzte. „Ungemein beruhigend. Hoffentlich sind die Herren Venusbewohner so aufmerksam, uns die richtigen Landebahnen zu bezeichnen. Hallo – die Nebelhülle lichtet sich!“ Beinahe von einer Sekunde auf die andere war die Sicht nach unten frei geworden. Die Planetenoberfläche lag vor den Augen der Raumfahrer – eine wilde, grenzenlose Dschungellandschaft, in zwielichtiger Beleuchtung, unter dicht verhangenem Himmel. In der Ferne ragten Berge am Horizont auf. Ihre höchsten Gipfel verloren sich in den Wolken. 32
„Nur gut, daß wir nicht im Nebel dagegengerasselt sind“, meinte der Kapitän. „Bei der Affenfahrt, die wir drauf haben, hätten uns auch die Radarpeilungen nicht mehr rechtzeitig warnen können.“ „Wo sollen wir landen, Käpten?“ Westhofen musterte die heranrasende Landschaft eingehend. „Hinter dem breiten Flußlauf scheint die Gegend flacher zu werden. Bendixen, geben Sie an die anderen Boote durch: ‚Klar zur Landung! Bremsaggregate – voller Schub!’“ Nach kurzem Bremsmanöver setzten die vier Landungsraketen auf dem ebenen, felsigen Boden auf. Die Männer kletterten aus den Kabinen und schauten sich erwartungsvoll um. Fritz Westhofen strich ein Zündholz an. Es brannte mit heller Flamme, die leicht im Wind flackerte. „Luft! Die Venusatmosphäre hat Sauerstoff. Wir können sie gefahrlos atmen. Legt eure Schutzanzüge ab. Gentlemen!“ Die Raumfahrer zögerten keinen Augenblick. Luft und Wasser auf Venus! Das war mehr, als sie in ihren kühnsten Träumen erwartet hatten. So ähnlich wie hier mußte es vor undenklichen Zeiten auch auf der Erde ausgesehen haben. Kein Zweifel: Der Abendstern, der von den Planern des Raumfahrtdepartements bisher recht stiefmütterlich bedacht worden war, bot denkbar günstige Lebensmöglichkeiten. Den Männern brach bei der geringsten Anstrengung der Schweiß in Strömen aus. Es war drückend schwül. Die Luft hatte plötzlich einen stechenden Beigeschmack. Dr. Henrici, der Expeditionsarzt, deutete auf den steinigen Boden. Der Fels war porös und an vielen Stellen von Spalten durchzogen, aus denen träge Schwaden eines bläulichen Rauches stiegen. „Wir stehen auf vulkanischem Boden, Gentlemen. Sollten lieber sehen, daß wir weiterkommen.“ Der Kapitän mußte ihm zustimmen. „Die Stammbesatzungen 33
der Landungsboote bleiben hier bei den Fahrzeugen. Sie starten beim geringsten Anzeichen von Gefahr. Alle anderen schließen sich mir an. Wir wollen die Gegend flußabwärts ein wenig unter die Lupe nehmen.“ Die Raumfahrer nahmen nur das notwendigste Gepäck mit, sie vergaßen aber nicht, sich mit Buschmessern und Äxten, Waffen und Munition zu versehen. So schnell es bei der Hitze möglich war, marschierten sie hintereinander in langer Reihe am Flußufer voran. Bald wich die steinige Landschaft fetten Wiesen mit üppig sprießenden, orchideenähnlichen Blumen. Ein leichter Wald, der jedoch vor Unterholz kaum passierbar war, schloß sich an. Schritt für Schritt mußten sich die Männer mit den Buschmessern ihren Weg bahnen. Minuten später war die Lücke im Unterholz wieder zugewachsen. „Eine mächtig fruchtbare Gegend“, stellte Dr. Henrici fest. „Man wird sich auf der Erde freuen, wenn man davon erfährt. Wenn sich auf Venus nicht mindestens drei Ernten im Jahr erzielen lassen …“ Ein blendender Blitz, ein berstender Donnerschlag ließen ihn verstummen. Zehn Schritte vor der Spitze des Zuges stand ein Baumriese in hellen Flammen. Die Luft roch stark nach Ozon und brennendem Harz. „Teufel noch mal! Dieser Planet hat es in sich“, schimpfte Fritz Westhofen und sprang erschrocken zurück. „Wie leicht hätte das ins Augen gehen können.“ Wieder Blitz und Donner – unmittelbar nacheinander. Und nun rauschte es aus den Wolken hernieder, als sollten der Wald und die ganze Oberfläche des Planeten in einen einzigen See verwandelt werden. In ihr Schicksal ergeben, standen die Raumfahrer bis zu den Hüften im schäumenden Wasser. So unvermittelt, wie der Wolkenbruch eingesetzt hatte, hörte 34
er auch wieder auf. Das Wasser, auf dem Massen von abgerissenen Zweigen trieben, sank zusehends. Fritz Westhofen gab das Zeichen zum Weitermarsch. Der Wald lichtete sich allmählich und gab schließlich den Blick auf einen sanft ansteigenden Hügel frei. Mit letzter Kraft klommen die erschöpften Wanderer den Hang empor. Ein gewaltiges Panorama tat sich vor ihren Augen auf. Im Süden, am Fuß des Hügels, wälzte der mächtig angeschwollene Strom seine Fluten einem unbekannten Meer entgegen. Ostwärts, in der Richtung, aus der die Raumfahrer gekommen waren, überragten die Gipfel des Berglandes den vor kurzem durchquerten Waldstreifen. Ein mächtiger Felskegel im Hintergrund stieß Flammen und Rauch in den trüben Himmel. Nach Westen und Norden hin dehnten sich Dschungel, soweit der Blick reichte. Das Flattern mächtiger, unsichtbarer Schwingen im hohen Nebel, das Brüllen unbekannter Urwaldtiere lieferten die passende Begleitmusik zu dem großartigen Bild eines fremden, unberührten Planeten. Der rötlich Schimmer des Gewölks über dem Westhorizont deutete den Sonnenuntergang an. Fritz Westhofen nickte befriedigt. „Hier ist gut sein, hier laßt uns Hütten bauen“, sagte er. „Einen besseren Platz für die erste Venussiedlung können wir gar nicht finden.“ Jack Conway war ganz feierlich zumute. „Die erste menschliche Siedlung auf einem fremden Planeten! Wie wollen wir sie nennen?“ „Ich finde, ‚Metropolis’ wäre kein übler Name“, meinte Dr. Henrici. * Und wieder tagte im Palast der Weltregierung hinter verschlossenen Türen eine Geheimkonferenz. Es waren nur drei Männer, 35
die daran teilnahmen, doch auf den Schultern dieser drei lastete in diesem Augenblick die Sorge um den Fortbestand der gesamten Menschheit. Präsident Van der Lucht blätterte mit düsterer Mine in den Dokumenten, die ihm der Welternährungsminister vorgelegt hatte. Beim Lesen murmelte er leise vor sich hin. „Reis – Weizen – Kartoffeln. Überall sinkende Erträge. Wie erklären Sie sich diese bedenkliche Tendenz, Herr Minister?“ Der Gefragte lachte trocken. „Dafür gibt es verschiedene Gründe. Denken Sie nur an das Schwinden der Anbaugebiete infolge des ständigen Wachsens der Städte und die zunehmende Industrialisierung in den letzten hundert Jahren. Die entscheidende Ursache liegt jedoch auf anderem Gebiet: Weite und an sich fruchtbare Teile der Erdoberfläche liegen heute ungenutzt und von Unkraut überwuchert da. Die Pflanzen, die ihr Boden hervorbringt, sind nicht mehr genießbar. Sie sind Gift für Menschen und Tiere.“ „Ich verstehe“, nickte Van der Lucht. „Es ist die Kehrseite des technischen Fortschritts unserer Zeit – der dunkle Punkt des Atomzeitalters, Man hat den radioaktiven Abfallprodukten und dem Kühlwasser der großen Atommeiler nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, als es noch Zeit war.“ „Und man hat zu viele Atombombenversuche angestellt“, brummte der Welt-Polizeipräsident. „Wir dürfen heute ausbaden, was die Generation vor uns angerichtet hat.“ „So ist es. All diese ‚Atomabfälle’, die man leichtsinnig herumgestreut hat, bedrohen heute – auf dem Umweg über die Verseuchung der Vegetation – unsere Existenz.“ „Hinzu kommt natürlich noch das rasende Ansteigen der Weltbevölkerung“, warf der Minister ein. „Es ist immerhin gar nicht so einfach, von Tag zu Tag eine halbe Million Menschen mehr zu versorgen.“ 36
Der Polizeipräsident räusperte sich. „Mir scheint, der Ernst der Lage ist außer uns auch anderen klargeworden. Nach geheimen Informationen meiner Außenstellen wächst die Unzufriedenheit mit der Weltregierung an allen Ecken und Enden. Man verdächtigt uns, an den großen Weltproblemen gescheitert zu sein. Gewisse nationalistische Gruppen schüren das Feuer und hoffen, im trüben fischen zu können.“ Van der Lucht hörte nur halb hin. Sein Blick ruhte auf dem großen, kunstvoll gearbeiteten Globus, der in seiner durchsichtigen Aufhängung an der Stirnseite des Saales frei zu schweben schien. In seiner Phantasie sah er die Menschen wie einen riesigen, dauernd wachsenden Ameisenschwarm auf den Festländern herumwimmeln, bis es schließlich kein noch so kleines, freies Plätzchen mehr gab. Er seufzte unwillkürlich. Die vergangene Generation hatte unter Drohung des Atomkriegs gelebt. Nach dem Zusammenschluß aller irdischen Völker zu einer weltumspannenden Schicksalsgemeinschaft war diese Gefahr gebannt. Doch die Generation war nicht glücklicher zu nennen. Die Übervölkerung der Erde war schlimmer als alle Atomkriegsrüstungen der Vergangenheit. Mit einem Ruck richtete sich der Präsident auf. „Was schlagen Sie vor, Herr Minister?“ Der Welternährungsminister hob die Schultern. „Wir werden nicht um eine allgemeine Lebensmittelrationierung herumkommen. Ich setze zwar meine ganze Hoffnung auf das Projekt ‚Venus’, aber selbst wenn der ‚Explorer’ zurückkehrt und günstige Nachrichten mitbringt, wird es für uns nicht sofort zu einer Entspannung kommen. Wir können nicht von heute auf morgen den gesamten Bevölkerungsüberschuß der Erde zur Venus abtransportieren.“ „Das können wir natürlich nicht, aber eine spürbare Erleich37
terung würde doch eintreten. Sämtliche Werke der Raumfahrtindustrie arbeiten bereits mit Hochdruck. Transportschiffe entstehen in Fließbandproduktion. Im Zentralen Atomenergieinstitut arbeitet Professor Zimmermann mit seinen Assistenten pausenlos an der Entwicklung von Neutrinotriebwerken, die es den Schiffen ermöglichen sollen, die Fahrtzeit zur Venus von 146 auf 44 Tage herunterzudrücken. In rascher Folge können wir die Transporte mit Kolonisten zur Venus starten lassen – ohne allzusehr von der jeweiligen Planetenkonstellation abhängig zu sein. Auf ihrem Rückweg würden die riesigen Transporter mit den Früchten des Planeten, mit den Erträgnissen seiner Plantagen beladen sein.“ „Verzeihung, Herr Präsident“, sagte der Polizeichef nüchtern, „aber noch sind wir leider nicht so weit. Was nun, wenn der ‚Explorer’ mit leeren Händen zurückkehrt – wenn Venus nichts ist als ein öder Himmelskörper, auf dem Menschen nie und nimmer existieren können?“ Die Frage blieb ohne Antwort. Betroffen blickten sich Van der Lucht und der Minister an. * Ursula Lindenberg hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren. Die Arbeit im Institut war von Tag zu Tag angewachsen. Der Professor hatte Hilfskräfte aus aller Welt kommen lassen und den 12-Stunden-Arbeitstag eingeführt. Alle Abteilungen des CIAE waren nur noch für eine einzige Aufgabe eingespannt: die ständige Verbesserung des Neutrinotriebwerks. Wenn Ursula des Abends todmüde nach Hause kam und sich nach hastig bereitetem Imbiß erschöpft ins Bett fallen ließ, galt ihr letzter Gedanke Jack Conway, der noch immer nicht nach Plutonia zurückgekehrt war. Wo mochte er weilen? Er mußte 38
wohl weit, sehr weit, fort sein; denn sonst hätte er gewiß längst Gelegenheit gefunden, ihr eine Nachricht zu senden. Waren es zehn Monate, die seit seinem plötzlichen Verschwinden verstrichen waren, oder gar mehr als ein Jahr? Ursula hätte es nicht ohne weiteres zu sagen vermocht. Ein paarmal hatte sie in der Zwischenzeit beim Kommando der Weltraumpolizei angefragt. Die Antwort war stets die gleiche gewesen: „Leutnant Conway ist von der Unternehmung noch nicht zurück. Er ist jedoch wohlauf. Sobald er eintrifft, erhalten Sie Nachricht.“ Vor lauter Arbeit hatte Ursula nichts von den drohenden Gewitterwolken bemerkt, die sich über Plutonia und über der ganzen Welt zusammenballten. Sie hatte weder Zelt für Radionoch für Fernsehsendungen, und Zeitung lesen kam schon gar nicht mehr in Frage. Wohl hatte sie etwas von vorübergehenden Verknappungen und Lebensmittelkarten gehört, aber als Angehörige des CIAE, des lebenswichtigsten aller Institute der Erde, war sie davon in keiner Weise betroffen worden. Nach einem besonders anstrengenden Tag war Ursula schnell in einen unruhigen Schlummer gefallen. Wirre Träume verfolgten sie. Da trieb ein einsames Raumschiff durch das grenzenlose All – irgendeiner furchtbaren, namenlosen Gefahr entgegen, Sie wußte: Jack befand sich an Bord, aber er ahnte nichts davon, daß irgendwo in den Tiefen des Raumes der Tod auf ihn lauerte. Auf eine geheimnisvolle Art war sie selbst plötzlich im Weltall. Sie eilte dem Raumschiff nach – doch jedesmal, wenn sie nahe genug war, um sich an den Verstrebungen festzuklammern, entschlüpfte ihr das Schiff und enteilte in unerreichbare Fernen. Ein anderes Bild schob sich dazwischen – eine der breiten Avenuen von Plutonia, mit ihren weißen Hochhäusern aus Glas- und Beton. Die Straße lag verödet da, obwohl es heller 39
Mittag war. Plötzlich verwandelten sich die Häuser auf magische Weise. Sie gerieten von innen heraus in Glut und brachen – eins nach dem anderen – krachend zusammen. Dr. Burns war ganz unvermittelt da. Er geisterte zwischen den brennenden Gebäuden umher und hatte wieder den Totenschädel und die Knochenhände, die Ursula bei jenem Großversuch an ihm bemerkt hatte. Jetzt brach mit lautem Krachen die Fassade eines Hauses zusammen und begrub Burns unter ihren Trümmern. Ursula fuhr mit einem gellenden Schrei aus ihren Träumen. Schwer atmend tastete sie nach dem Druckknopf ihrer Nachttischlampe. Aber es blieb dunkel um sie her. Wahrscheinlich ist die Birne durchgebrannt, dachte sie und ließ sich ins Kissen zurückfallen. Das Krachen einstürzender Häuser klang in ihren Ohren fort. Jetzt merkte sie, daß die Geräusche Wirklichkeit waren. Unablässig knatterte es draußen in der Ferne, und hin und wieder mischte sich ein dumpfer Knall dazwischen, der die Fensterscheiben erzittern ließ. Das sind ja Schüsse, ging es Ursula durch den Sinn. Was mag das zu bedeuten haben? Nun, sie würde es morgen erfahren. Jetzt war sie zu müde und erschöpft von der harten Arbeit dieser Wochen und Monate. Sie brauchte jetzt nichts als Schlaf. Am Morgen bot Plutonia ein ungewohntes Bild. Als Ursula ihren Wagen in die Alabama Road steuerte, um auf schnellstem Wege ins Institut zu fahren, fand sie die Straße von einer unübersehbaren Menge von Fahrzeugen aller Art versperrt. Weit vorn ragten irgendwelche Trümmer auf, die den Weg versperrten. Ursula rief einen Verkehrspolizisten an, der schwitzend und erschöpft zwischen den Schnellwagen herumtorkelte. „Was ist denn eigentlich los, Mister Collins? Geht es nicht 40
bald weiter? Ich muß dringend ins Institut. Mein Chef erwartet mich sicher bereits.“ „Ah, Sie sind’s, Miß Lindenberg. Was los ist? Der Teufel ist los! Da vorn ist ein Helikopter abgestürzt und hat die Straße blockiert.“ „Warum wird denn der Verkehr nicht umgeleitet?“ Der Polizist winkte müde ab. „Es ist überall dasselbe. Das ganze Verkehrsnetz ist heute nacht zusammengebrochen. Eine unglaubliche Schweinerei.“ „Ich muß aber unbedingt ins Institut, Mister Collins.“ Der Verkehrspolizist machte eine ausholende Bewegung. „Die Leute, die Sie hier ringsum sehen, müssen alle irgendwohin. Ich kann ihnen aber leider nicht helfen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben kann: Fahren Sie Ihre Kutsche nach Hause und versuchen Sie, zu Fuß durchzukommen. Im übrigen glaube ich kaum, daß Sie in Ihrem Institut arbeiten können. Die ganze Stadt ist seit heute nacht ohne Strom.“ „Das wäre das wenigste. Wir haben im Institut unser eigenes Atomkraftwerk. Thank you, Mister Collins.“ Ursula brauchte zwar reichlich drei Stunden für einen Weg, den sie sonst im Schnellwagen in zehn Minuten zurückzulegen pflegte, aber sie schaffte es. Überall in den Straßen war es das gleiche Bild gewesen: ein hoffnungslos verfranstes Verkehrschaos, Wutausbrüche, Ratlosigkeit, tausend wilde Gerüchte. Mit Entsetzen wurde sich Ursula darüber klar, was alles entstehen konnte, wenn das gigantische Räderwerk der vollautomatisierten Atomstadt an einer einzigen Stelle aushakte. Das Institut Professor Zimmermanns wirkte wie ausgestorben. Nur wenigen Mitarbeitern war es gelungen, von den meist weit entfernten Wohnbezirken herzukommen,. Die Arbeit ruhte in allen Abteilungen. Auch hier war die Luft voll von wilden Gerüchten und Vermutungen. 41
„Gibt’s was Neues in der City, Miß Lindenberg? Stimmt es, daß noch immer geschossen wird?“ Ursula blieb stehen und starrte den jungen Laboranten an, der mit weit aufgerissenen Augen auf sie zueilte. „Geschossen? Dann habe ich es also doch nicht geträumt?“ „Na, Sie haben Nerven! War ein tolles Feuerwerk. Die Regierung soll sogar Artillerie eingesetzt haben.“ Ursula schüttelte ratlos den Kopf. „Aber gegen wen denn nur? Was soll denn das Ganze bedeuten?“ „Das kann ich Ihnen genau sagen“, mischte sich ein anderer in das Gespräch. „Eine Revolution ist in der Stadt ausgebrochen. Die Aufständischen haben die Weltregierung gestürzt und den Ernährungsminister erschossen.“ „Unsinn!“ rief ein dritter. „Nichts als Latrinenparolen. Die Marsbewohner sind gelandet und haben den Raumflughafen besetzt.“ „Das hat man Ihnen wohl in der ‚Fliegenden Untertasse’ erzählt, wie?“ „Irrtum, mein Lieber. Ich weiß es zufällig aus sicherster Quelle, und zwar direkt aus der Kanzlei des Weltpräsidiums. Die beste Freundin der Kusine meiner Frau …“ „Na, dann muß es wohl stimmen“, grinste der Kollege maliziös. Wieder trafen zwei Meßtechniker ein. Sie hatten sich vom entgegengesetzten Ende der Stadt durchgekämpft und steckten voller Neuigkeiten. „Wissen Sie es schon? In Plutonia ist der Belagerungszustand ausgerufen. Das ganze Versorgungssystem soll zusammengebrochen sein.“ „Na, wenn das stimmt, sollten wir lieber heimgehen. Vielleicht kann man unterwegs noch irgend etwas ohne Marken auftreiben. Im Institut werden wir scheinbar doch nicht gebraucht. Der Professor …“ 42
Als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet, stand plötzlich Professor Zimmermann in der Tür. Das Gespräch verstummte augenblicklich. „Die Stromversorgung ist wiederhergestellt, meine Damen und Herren. Kommen Sie jetzt bitte mit ins Kasino. In fünfzehn Minuten wird der Weltpräsident eine Ansprache im Fernsehfunk halten.“ Wohl nie im Leben würde Ursula Lindenberg den dramatischen Verlauf dieser Televisionübertragung vergessen, in der Präsident Van der Lucht von seinem Arbeitszimmer im Regierungspalast aus zu allen Bewohnern des Planeten Erde sprach. Der greise Politiker umriß in großen Zügen die bedrohliche Versorgungslage, in der sich die Welt befand, er schilderte kurz die Maßnahmen, die die Regierung zur Abwendung der größten Gefahr eingeleitet hatte, und endete mit dem Projekt „Venus“, das erstmals der breiten Öffentlichkeit verkündet wurde. „Wir setzen große Hoffnungen auf das Ergebnis, das die mutige Besatzung des ‚Explorer’ von unserem Nachbarplaneten mitbringen wird. Und wenn unsere Erwartungen sich erfüllen, kann die Aktion zur Besiedlung der Venus unverzüglich anlaufen. Eine ganze Flotte von Raumtransportern liegt bei den Außenstationen in Bereitschaft.“ Ursula vernahm die Stimme Van der Luchts nur noch wie aus weiter Ferne. Der Präsident hatte kein Wort darüber verloren, wer zur Besatzung des „Explorer“ gehörte, und doch wußte sie in diesem Augenblick mit unbedingter Gewißheit, daß Jack an Bord des Expeditionsschiffes sei. Der weißbärtige Mann auf dem Bildschirm hob die Stimme. „Es besteht also keinerlei Veranlassung zu irgendwelcher Panikstimmung. Unbeherrschte Elemente haben in der vergangenen Nacht den Versuch unternommen, die Regierungsgewalt in Plutonia an sich zu reißen. Unserem Sicherheitsdienst ist es in 43
letzter Minute gelungen, den Anschlag abzuwehren, dessen Gelingen unweigerlich ins Chaos geführt hätte. Im Namen der Weltregierung fordere ich die Bewohner aller Kontinente …“ Ein Uniformierter drängte sich ins Bild, ein Offizier der Weltpolizei. Aufgeregt drückte er dem Präsidenten eine Meldung in die Hand. Van der Lucht stutzte. Er überflog die Zeilen, einmal – ein zweites Mal – und bedeckte die Augen mit der linken Hand. Atemlos verfolgte Ursula den Zwischenfall auf dem Bildschirm, atemlos verharrten mit ihr die anderen im Kasinosaal des Instituts. Und überall in der Welt, wo in dieser Stunde die Menschen vor den Fernsehempfängern saßen, stockte der Herzschlag der Massen. Was war geschehen? War es eine neue, erschreckende Hiobsbotschaft, die jener unscheinbare Zettel in der Hand des Welt-Präsidenten enthielt? War das Chaos, das in Plutonia gebändigt werden konnte, an anderem Stellen der Erde zum Ausbruch gekommen? Langsam nahm Van der Lucht die Hand von den Augen, in denen es feucht schimmerte. Seine Lippen bewegten sich tonlos. Doch dann ging ein glückliches Lächeln über seine Züge. „Der ‚Explorer’ – er kehrt zurück. Raumstation C7 hat einen Funkspruch aufgefangen. Das Schiff bringt gute Nachricht mit. Venus ist bewohnbar, der Planet wartet auf uns. Es ist die Rettung.“ Ein einziges, befreiendes Aufatmen ging durch die gesamte Menschheit. * Auf dem Raumflughafen von Plutonia drängte sich eine unübersehbare Menschenmenge. Die Betriebe hatten zur Feier des 44
Tages geschlossen, und selbst das Zentrale Atomenergieinstitut hatte den meisten seiner Mitarbeiter freigegeben, damit sie den großen Augenblick miterleben konnten, in dem die Zubringerschiffe die Heimkehrer der Venus von Station A 21 nach Plutonia bringen würden. Oberst Spencer, der Chef der. Weltraumpolizei, hatte Wort gehalten. Unmittelbar nach der Ankündigung Van der Luchts war ein Anruf aus dem Weltpolizeipräsidium gekommen, der Ursula auf die bevorstehende Rückkehr Leutnant Conways vorbereitete. Jetzt, da der glückliche Ausgang der VenusExpedition außer Zweifel stand, gab es keinen Grund mehr, Jacks Teilnahme daran zu verheimlichen. Immerhin vergingen noch einige Tage, bis der „Explorer“ das letzte Teilstück seiner Fahrt beendet hatte und wohlbehalten vor A 21 ankern konnte. Für Ursula war es eine Zeit der Ungeduld und bangen Erwartung. Der Weltraum barg bekanntlich vielfältige Gefahren – wie leicht war es denkbar, daß dem Schiff kurz vor Erreichen der Ausgangsstation noch irgendein Unfall zustieß. Endlich war es so weit. Ein Dienstwagen des Polizeipräsidiums holte Ursula vom Institut ab und steuerte sie sicher durch die Menschenmassen, die in ekstatischer Begeisterung dem Flughafengelände zudrängten. Am Eingang der Tribüne, die in aller Eile für tausend Ehrengäste aus aller Welt errichtet worden war, empfing Oberst Spencer in eigener Person die Verlobte seines Leutnants und geleitete sie zu ihrem Platz. „In knapp zehn Minuten werden die Zubringerschiffe die Station verlassen“, erklärte er, mit einem raschen Blick auf die Armbanduhr. „Die Wartezeit ist also bald überstanden.“ „Ich bin sehr froh darüber, Herr Oberst, und ich danke Ihnen von Herzen.“ In Abständen von wenigen Minuten gaben die Lautsprecher, 45
die überall auf dem weiten Feld verteilt waren, Sondermeldungen von A 21 durch. Die Spannung der brodelnden Menschenmasse näherte sich ihrem Höhepunkt. Jetzt übernahmen die irdischen Beobachtungsstationen die weiteren Durchsagen. Die drei Zubringerraketen hatten die Raumstation verlassen. „Achtung, Achtung!“ – Wieder eine neue Meldung. – „Hier ist der Kontrollturm des Raumflughafens. Die Zubringerschiffe befinden sich im Anflug. Ich gebe die Landebahnen für die Fahrzeuge an: Rakete A D 12 auf Bahn 24 – ich wiederhole: Rakete Anton Dora 12.“ Zitternd vor Aufregung sprang Ursula auf, Ihre Blicke irrten über das milchige Blau des Himmels, ohne etwas zu erkennen. Ihr Nachbar, ein drahtiger Pressemann, lieh ihr sein Fernglas und deutete die Anflugrichtung an. Jetzt erkannte Ursula die drei glänzenden, in Feuerschein gehüllten Punkte. „Um Himmels willen – die Schiffe brennen ja!“ „Das sind nur die Bremsdüsen. Geben sie acht, Miß, es geht jetzt ganz schnell. Ein paar Sekunden noch, dann sind sie da.“ Der Reporter hatte recht. Schon kamen die silbernen Vögel – jetzt bereits mit bloßem Auge erkennbar – auf die Landebahnen herab und schossen mit allmählich geringer werdender Geschwindigkeit heran. Unmittelbar vor der Tribüne kamen sie zum Stillstand. Die Schiebetüren der Luftschleusen glitten zurück. „Willkommen den tapferen Venusfahrern!“ brüllten die Lautsprecher. „Willkommen auf der Erde!“ Die Menge jubelte. Sie brüllte. Hier und da wurden die Polizeiketten durchbrochen. Auf der Tribüne sprangen die Zuschauer auf die Bänke. Selbst die würdigsten und beleibtesten Industriekapitäne, Minister und Wissenschaftler von Weltruf schrien wie besessen und warfen die Hüte in die Luft. Ursula Lindenberg wußte nicht, wie sie über die Balustrade 46
gelangt war. Plötzlich merkte sie, wie sie inmitten Hunderter anderer über das Rollfeld rannte. „Jack – Jack!“ hallte ihr Ruf. Im nächsten Augenblick stand ihr Jack schon vor ihr. Ein wenig verändert sah er aus – blaß und hager war er geworden. Aber die übermütigen Augen waren noch die gleichen wie früher. Strahlend vor Glück schloß er Ursula in die Arme. „Jack – daß du endlich wieder da bist! ich kann es ja noch gar nicht fassen.“ Ein diskretes Hüsteln, das selbst in diesem tausendstimmigen Freudengeschrei nicht zu überhören war, ließ die beiden jungen Menschen aufblicken. Jacks Gesicht verdüsterte sich. „Was will denn dieser häßliche Vogel, Ursel?“ „Das ist Dr. Burns, der Erste Assistent meines Chefs. Er will dich gewiß zur gesunden Heimkehr beglückwünschen, Jack.“ Geoffrey Burns lächelte säuerlich. „Gewiß – das vor allen Dingen. Herzlich willkommen, Sir! Doch nun zu Ihnen, Miß Lindenberg: Kommen Sie bitte sofort mit ins Institut. Der Chef bereitet eine neue Testreihe vor. Er sucht Sie bereits verzweifelt.“ * In der „Fliegenden Untertasse“ ging es an diesem Abend hoch her. Die Besucher des großen Vergnügungslokals waren durch Zufall dem Geheimnis der Kellerkneipe auf die Spur gekommen und hatten die versammelten Venusfahrer im Triumphzug an die Oberwelt zurückgeholt. Kapitän Fritz Westhofen und seine Schiffsoffiziere konnten sich vor begeisterten Ovationen kaum noch retten, und den übrigen Expeditionsteilnehmern erging es nicht besser. „Die tapferen Eroberer der Venus – sie sollen leben! Hoch – hoch – dreimal hoch!“ 47
Der Sekt floß in Strömen. Fritz Westhofen fühlte sich glücklich. Es drängte ihn, seinen Bewunderern ein paar Worte zu sagen. Schwankend erklomm er einen Tisch und räusperte sich gewichtig. „Meine Lieben – wir alle sind gerührt von dem begeisterten Empfang, den ihr uns bereitet habt. Aber ‚Eroberer der Venus’ solltet ihr uns nicht nennen. Gewiß, wir waren auf Venus und haben uns dort ein wenig umgeschaut. Das ist allerdings auch alles, was wir tun konnten. Erobern werden den Planeten erst diejenigen, die nach uns kommen: die Kolonisten der Venus.“ „Bravo! Ein Hoch auf die Venuskolonien und auf die wackeren Siedler! Auf zur Venus! Wann geht es denn los, Käpten?“ Fritz Westhofen zwinkerte verschmitzt „Das ist im Augenblick noch großes Staatsgeheimnis. Aber wenn ich euch einen kleinen Tip geben darf: Fangt nur beizeiten an, eure Koffer zu packen.“ Ein ungeheurer Tumult brach aus. In wenigen Sekunden hatte sich der große Saal bis auf wenige Zurückgebliebene geleert. Ärgerlich wandte sich der Wirt an Westhofen: „Wie konntest du mir das antun, Fritz? Du hast mir das ganze Geschäft verdorben.“ Der Kapitän grinste. „Hast heute abend genug verdient, alter Halsabschneider. Habe im übrigen nur in purer Notwehr gehandelt. Wie hätte ich diesen verrückten Haufen sonst loswerden können? Nun sind wir wenigstens wieder unter uns.“ „So eine Unverfrorenheit! Dann war der Tip, den du diesen Leute gegeben hast, also nichts als Schwindel?“ „Ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Es geht tatsächlich bald los. Das Raumfahrtdepartement hat in unserer Abwesenheit gute Arbeit geleistet. An sämtlichen Außenstationen, die wir passierten, lagen massenhaft Planetenschiffe bereit, gegen die unser braver ‚Explorer’ nur ein kümmerlicher Waisenknabe ist.“ 48
„Stellt mal den Quasselkasten lauter“, rief einer der Raumfahrer. „Ich glaube, da kommt schon wieder ’ne Sondermeldung.“ Sie waren inzwischen in den Keller zurückgekehrt. Der Wirt machte sich am Empfänger zu schaffen. Die aufgeregte Stimme eines Rundfunksprechers erfüllte den Raum: „… wird soeben mitgeteilt, daß die ersten interplanetarischen Auswanderungsbüros heute in Plutonia eröffnet worden sind. Wegen des zu erwartenden starken Andrangs werden alle künftigen Venussiedler aufgefordert …“ „Na also“, rief Westhofen, „hatte ich etwa nicht recht? He, Wirt, wäre das nicht auch was für dich? Solltest ’ne Filiale deiner ulkigen Animierkneipe in Metropolis eröffnen. Möchte wetten, daß die wackeren Kolonisten in ihrem heißen Klima ständig einen Mordsdurst haben. Was ist dir der Tip wert, old chap?“ „Eine Lage – für alle!“ grinste der Wirt. Allgemeiner Jubel antwortete ihm. „Nun seid doch mal still!“ rief einer der Männer vom Rundfunkempfänger her. „Schon wieder eine Sondermeldung …“ „Achtung – eine wichtige Bekanntmachung des Welternährungsministeriums: Angesichts der günstigen Wendung der Dinge und der unmittelbar bevorstehenden Besiedlung des Planeten Venus hat die Weltregierung beschlossen, die Lebensmittelrationierung ab sofort in aller Welt aufzuheben. Zur Schließung der Versorgungslücke werden die Restbestände der Antarktismagazine freigegeben.“ „Hihihi!“ freute sich der Inhaber der „Fliegenden Untertasse“. „Da werden die Bonzen in den Ernährungsämtern aber enttäuscht sein. Sie hatten sich schon für unentbehrlich gehalten und taten verdammt von oben herab.“ „Ruhe doch, verdammt noch mal! Jetzt kommt was Interessantes.“ 49
Abermals die Stimme des Ansagers: „Die Weltregierung hat vor einer Viertelstunde ein umfassendes Besiedlungsprogramm für den Planeten Venus veröffentlicht. Jeder Erdbewohner, der sich auf Venus niederlassen will, erhält außer freier Überfahrt und kompletter Ausrüstung ein großzügiges, zinsloses Darlehen auf 20 Jahre. Auf ständige Anfragen hin teilt das Raumfahrtdepartement mit, daß der erste Auswanderungstransport bereits in fünf Tagen mit zwanzig Superraumschiffen zur Venus starten wird. Kommodore der Raumflotte ist Fritz Westhofen, der bereits den ersten Erkundungsvorstoß erfolgreich durchgeführt hat.“ „Bravo!“ schrie einer der Männer. „Kommodore Westhofen – er lebe hoch!“ Alles drängte sich heran, um dem tiefgerührten Fritz die Hände zu schütteln. Als letzter kam Jack Conway. „Fritz, alter Junge, meinen aufrichtigen Glückwunsch! Du hast die Beförderung ehrlich verdient.“ „Hallo, Jack! Sag mal, mein Lieber, warum drückst du dich den ganzen Abend im Hintergrund herum und machst ein Gesicht wie zehn Tage Regenwetter? Wer wird denn Trübsal blasen – besonders nach dem herzlichen Empfang, den man dir heute früh auf dem Raumflughafen bereitet hat? Warum hast du sie eigentlich nicht mitgebracht, deine Ursula?“ Jack Conway lächelte grämlich. „Ja, Fritz – Dienst ist Dienst. Nicht einmal zur Feier dieses Tages war Ursula im Institut abkömmlich.“ „Wirklich nicht zu glauben, Jack. Ihr beide seid ja ein ewig verhindertes Paar. Wenn ich an deiner Stelle wäre, wüßte ich, was ich zu tun hätte.“ „Da bin ich aber neugierig.“ „Ich würde auf schnellstem Wege mit dem Mädel zum Standesamt fahren, würde mir eine Parzelle auf Venus reservieren 50
lassen und mich dem Auswanderungstransport anschließen, der in fünf Tagen startet. Verlaß dich nur auf mich – ich sorge schon dafür, daß ihr beide noch einen Platz auf meinem Flaggschiff bekommt.“ „Ist Ihr Fräulein Braut etwa im Zentralen Atomenergieinstitut beschäftigt?“ fragte der Wirt der „Fliegenden Untertasse“’ interessiert. „Allerdings. Warum wollen Sie es wissen?“ Der Wirt machte ein ratloses Gesicht. „O weh! Ich fürchte, dann wird nichts aus diesem schönen Plan. Wer einmal im CIAE gelandet ist, den kann keine Macht der Welt dort wieder loseisen.“ * Das „erweiterte Venusprojekt“ lief auf vollen Touren. Plangemäß hatte die erste Raumflotte – bestehend aus zwanzig Schiffen, mit Umsiedlern vollgepfercht – unter Fritz Westhofens Kommando die Außenstation A 21 verlassen. In kurzen Abständen folgten weitere Transporte. Jeder davon beförderte Tausende von Kolonisten zum fernen Abendstern. Bald kehrten die ersten Venusschiffe zurück, entluden ihre Fracht an seltsamen, aber durchaus genießbaren Wildfrüchten der Venus und gingen mit frischen Treibstoffen und neuen Siedlern wieder auf große Fahrt. Plutonia glich einem Heerlager. Mit rückstoßgetriebenen Expreß-Passagierschiffen, mit Stratosphärentransportern aller Größen strömten die Auswanderungswilligen aus den entlegensten Gegenden der Erde pausenlos herbei. Die Weltregierung hatte sämtliche Zubringerraketen aufgekauft. Der ganze übrige Raumverkehr im Erde-Mond-Bereich ruhte, da man jeden Mann und jedes Fahrzeug für das neue, große Projekt benötigte. 51
In Eilkursen wurde laufend neues Personal herangebildet. Die gesamte Luft- und Raumfahrtindustrie hatte ihre Produktion kurzfristig auf den Bau von Zubringerschiffen und Venustransportern umgestellt. Und doch waren alle Bemühungen nur wie ein Tropfen auf heißem Stein. Die Menschenmassen, die in Plutonia eintrafen, konnten nicht schnell genug abgefertigt werden. Längst waren alle Unterkünfte der Millionenstadt am Atlantik überfüllt. Riesige Zelt- und Barackenlager wuchsen in der Nachbarschaft des Raumflughafens aus dem Boden. Die Einwohnerzahl der Stadt verzehnfachte sich innerhalb weniger Wochen. Das Präsidium der Weitpolizei hatte den letzten Mann mobilisiert, um Ruhe und Sicherheit in diesem wimmelnden Ameisenhaufen aufrechtzuhalten. Auch die Abteilung der „Weltraumpolizei“ war in die Abfertigung der Kolonisten eingespannt, soweit ihre Angehörigen nicht das Glück hatten, auf einer der Außenstationen oder in der neuen Venusmetropole Dienst zu tun. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund gehörte Jack Conway nicht zu diesen Glücklichen. Tag für Tag mußte der Junge Leutnant vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein in der Abfertigungsstelle des Raumflughafens Bürodienst tun. Der nie abreißende Strom der Auswanderer mußte registriert und mit Ausweisen versehen werden Hunderte von Fragen prasselten gleichzeitig auf die Männer der Weltraumpolizei hernieder, Auskünfte mußten erteilt, Streitigkeiten geschlichtet werden. Ein paarmal war es Jack gelungen, steckbrieflich gesuchte Verbrecher dingfest zu machen, die sich in der Maske ehrbarer Siedler unter die Auswanderungslustigen gemischt, hatten. Oberst Spencer – selbst nur noch ein Schatten seiner einstigen Persönlichkeit – hatte mit seinem Lob nicht gespart. „Das haben Sie brav gemacht, Conway. Passen Sie nur weiter so gut 52
auf – wir wollen ja schließlich keine Verbrecherkolonie auf Venus gründen. Es werden sich ohnedies genug zweifelhafte Elemente einschleichen, die der Bewährungsprobe im Dschungel des Planeten nicht gewachsen sind. Kann ich irgend was für Sie tun, Conway?“ „Wenn ich eine Bitte äußern darf, Herr Oberst: Ich möchte heute abend ausnahmsweise keine Überstunden machen.“ „Ich verstehe, Conway: Sie wollen mal wieder bummeln gehen, was? Vermutlich in die ‚Untertasse’?“ „No, Sir, ich möchte nichts als – schlafen …“ – Trotz aller Übermüdung nahm Jack die einmalige Gelegenheit doch noch wahr, um bei Ursula anzurufen. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, daß er vor Mitternacht den Raumflughafen verlassen konnte. Ursula meldete sich nicht in ihrer Wohnung. Enttäuscht legte Jack auf und wählte die Nummer des Instituts. Auf dem Bildschirm erschien das gleichgültige Gesicht einer Telefonistin. „Miß Lindenberg? Ja, gewiß, sie ist noch hier, aber ich kann Sie leider nicht verbinden. Professor Zimmermann hat strenge Anweisung gegeben, während der Versuche nicht zu stören. Kann ich etwas ausrichten?“ Jack zögerte. „Nein, danke.“ Langsam legte er den Hörer auf. Er war jetzt ehrlich verbittert. Was war das für ein sinnloses Dasein? Sie beide, Ursula und er, waren keine Menschen aus Fleisch und Blut mehr. Sie waren zu Maschinen, zu Robotern, geworden. Außer dem vermaledeiten Dienst gab es für sie rein gar nichts mehr. Zehn Minuten später lag er bereits in bleiernem Schlaf. Ursula Lindenberg war nicht in dieser glücklichen Lage. Im Meßraum XIII des CIAE wechselte sie gerade zum soundsovielten Male die strahlungsempfindliche Schicht des Brennstoffelements aus. Die Versuchsergebnisse hatten die Erwartungen des Professors 53
an diesem Abend nicht erfüllt. Irgendwo mußte ein Fehler stecken. Dr. Burns, der Erste Assistent, wog die ausgewechselte Zelle prüfend in der Hand. „Das Element ist völlig in Ordnung, Herr Professor“, wandte er sich an seinen Chef. Zimmermann fuhr auf dem Absatz herum. Er funkelte Burns gereizt an. „Wollen Sie damit sagen, ich hätte mich verrechnet?“ Der Assistent verkniff sich ein Grinsen. „Davon kann selbstverständlich gar keine Rede sein, Herr Professor. Aber, wenn mich nicht alles täuscht, ist die Strahlungsquelle zu schwach. Wir sollten einen weiteren Reaktor anschließen.“ Professor Zimmermann rang die Hände. „Das sagen Sie so, als gälte es nur, einen Lichtschalter umzudrehen. Wissen Sie denn nicht, daß sämtliche Strahlungsquellen des Instituts seit Monaten nur noch für unsere Testreihe arbeiten. Woher soll ich jetzt einen weiteren Reaktor nehmen, zum Donnerwetter …?“ „Sehr richtig“, klang eine Stimme von der Tür des Meßraums dazwischen. Überrascht fuhren die drei herum. Dr. Lacrosse war unbemerkt eingetreten. Er warf Hut und Mantel über einen Stuhl und begrüßte Professor Zimmermann mit ungewöhnlich ernstem Blick. „Verzeihen Sie die Störung, Sir, aber es ist sehr dringend.“ Lacrosse sah sich forschend um, „Kann uns hier niemand hören?“ „Sie können ruhig sprechen, Herr Kollege. Außer Dr. Burns und Miß Lindenberg hört niemand zu, und die beiden sind verschwiegen. Warum übrigens so geheimnisvoll? Ich fürchte fast, Sie bringen nichts Gutes.“ „Damit haben Sie leider recht, Herr Professor. Es ist so ziemlich das Schlimmste, das uns im Atomzeitalter passieren konnte: Die Uranvorkommen sind erschöpft.“ 54
„Es gibt – kein Uran mehr?“ Ungläubig schüttelte Zimmermann den Kopf. „Das kann ich mir nicht denken. Nach den letzten Statistiken der Weltenergiekommission sollten die Vorräte an Uranerz noch mindestens dreißig Jahre reichen.“ Lacrosse zuckte die Achseln. „So sah es auch tatsächlich aus. Aber die Schätzungen der Experten waren leider fehlerhaft. Vor allem haben die Erzlagerstätten in Alaska und in der Antarktis nicht gehalten, was sie versprachen. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, daß sich der Uranbedarf der Welt im letzten Jahr verzehnfacht hat.“ „Eine unmittelbare Folge des Projekts ‚Venus’?“ fragte Dr. Burns. „In der Hauptsache wohl, Doktor. Nun – um es kurz zu machen: Die Weltregierung hat ab heute nacht null Uhr die zentrale Uranzuteilung selbst übernommen und jeden freien Handel mit Kernbrennstoffen untersagt. Leider mußten auch die Zuteilungen für Ihr Institut empfindlich gekürzt werden, Herr Professor.“ Zimmermann raufte sich verzweifelt die Haare. „Aber das ist doch heller Wahnsinn, Herr Kollege! Auf der einen Seite drängt man mich tagtäglich, meine Arbeiten zu beschleunigen, immer neue, leistungsfähigere Antriebselemente für Venusschiffe zu entwickeln, und andererseits nimmt man mir die Möglichkeit dazu. Ich sehe unter diesen Umständen für das Venusprojekt schwarz.“ „Die Besiedlung der Venus bleibt natürlich unser wichtigstes Anliegen. Sie soll sogar weiter beschleunigt werden. Die Weltregierung erwartet von Ihnen und Ihren Mitarbeitern …“ „Zum Teufel!“ wütend stampfte der Professor auf. „Wir können schließlich nicht hexen.“ Lacrosse lächelte nachsichtig. „Das verlangt ja auch niemand. Theoretische Betrachtungen haben jedoch erwiesen, daß die Verwendung der Neutrinostrahlung noch nicht das Optimum 55
an Energieausbeute liefert. Die Rohstoffe sind knapp – wir müssen das. Letztmögliche an Energie aus ihnen herausholen.“ „Und wie stellen Sie sich das praktisch vor?“ „Lassen Sie die Verbesserung der Neutrinotriebwerke einstweilen ruhen und experimentieren Sie mit Photonen., Herr Professor. Nach bekannten, theoretischen Überlegungen müßte es möglich sein, mit Photonenraketen Lichtgeschwindigkeit zu erreichen.“ Zimmermann winkte resigniert ab. „Ich nahm an, Sie hätten mir ernsthafte Vorschläge machen wollen.“ „Es ist mir durchaus ernst damit, Herr Professor. Die Weltenergiekommission hat jene alten Pläne überprüft und sie auf den neuesten Stand der technischen Erfahrung bringen lassen. Sie stehen Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Mit Raumschiffen dieser Art könnte man leicht die mittlere Fahrtzeit zur Venus von 44 Tagen auf wenige Minuten herunterdrücken.“ „Unsinn“, brummte Zimmermann, „glatter Nonsens. Selbst wenn es uns jemals gelänge, solche Triebwerke zu bauen, könnte man sie nicht für das Venusprojekt verwenden. Die Entfernungen im Sonnensystem sind viel zu gering, um Raumfahrzeuge auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen.“ Der Vertreter der Weltenergiekommission ließ sich nicht entmutigen. „Das ist natürlich einleuchtend, Herr Professor, aber ein gewaltiger Gewinn an Fahrtgeschwindigkeit ließe sich doch erzielen. Die Besiedlung des Planeten könnte in ganz anderem Tempo vonstatten gehen.“ Professor Zimmermann schritt in tiefen Gedanken auf und ab. Totenstille herrschte im Meßraum. Endlich blieb der Gelehrte vor Lacrosse stehen. „Gut, Doktor, wie Sie wollen. Schicken Sie mir morgen früh die Unterlagen herüber. Ich will versuchen, die Theorie zu verwirklichen. Mit welchem Ergebnis – das wage ich allerdings noch nicht abzuschätzen.“ 56
* In seinem Arbeitsraum im „Regierungspalast“ der Venus, am Südhang des großen Hügels von Metropolis gelegen, stand Dr. Belmonte am Fenster und ließ den Blick nach dem mächtigen Strom hinüberwandern, der seine schäumenden Wasser dem fernen, unbekannten Meer entgegenwälzte. Die Flut war an diesem Morgen über die Ufer getreten und braunrot gefärbt. Im östlichen Vulkangebiet mußte es über Nacht schwere Wolkenbrüche gegeben haben. Jenseits des Flusses lag unbekanntes Gebiet. Ich hätte schon längst eine Expedition in jene Wälder entsenden sollen, dachte Belmonte. – Die Weltregierung drängte auf eine beschleunigte Erforschung und Vermessung der gesamten Planetenoberfläche, aber Belmonte, der „Venusboß“, der in ihrem Auftrag die Venuskolonien verwaltete, fand einfach keine Möglichkeit dazu. Sein Mitarbeiterstab war so klein, daß er kaum für den Innendienst in Metropolis ausreichte. Mit jedem Transport strömten Tausende von Siedlern herein, aber es gab nur wenige, die bereit waren, in den Dienst der planetarischen Verwaltung einzutreten. Dr. Belmonte ließ den Blick über die flachen Dächer der Hauptstadt schweifen. Metropolis war gewiß keine schöne Stadt Ihre Gebäude – Unterkunfts- und Lagerhäuser, Verwaltungsbaracken und die technischen Anlagen der Kraftwerke, des Raumflughafens und der Sendestation – waren in vorgefertigten Einzelteilen von der Erde hergeschafft und hastig zusammengefügt worden. Schachbrettähnlich in ihrer Anlage und völlig reizlos im Aussehen diente die Stadt ihrem Zweck als Einfalltor von der Erde, als Verwaltungszentrum und als Handelsplatz der aufblühenden Kolonien. 57
Weiter nach Norden zu, in den fruchtbaren Ebenen und den wilden Dschungeln waren zwei weitere, große Städte – Oberthville und Braun City – entstanden. Dazu Hunderte kleinerer Siedlungen, von unerschrockenen Pionieren inmitten der Wildnis errichtet. Von hier aus gingen die Siedler dem Urwald, dem Sumpf und der wildwuchernden Vegetation mit modernsten Maschinen zu Leibe, um wertvolles Kulturland zu gewinnen. Es klopfte. Ein Offizier der Weltraumpolizei mit den Rangabzeichen eines Captain trat ein. Er hatte eine markante Hakennase und ein winziges Bärtchen, die in merkwürdigem Kontrast zueinander standen. In der Linken trug er ein umfangreiches Aktenbündel. „Morning, Sir. Ich bringe die neuesten Berichte aus dem Bezirk Oberthville.“ „Danke, Mister Stillwood.“ Der „Venusboß“ forderte den Captain, der die Stellung seines Adjutanten einnahm, zum Sitzen auf. „Gibt’s was Besonderes?“ „Nur das übliche, Sir. Oberthville fordert Traktoren für 1400 neue Siedlerstellen an. In Hesperia sind wilde Tiere aus dem Dschungel eingebrochen und haben zwei Farmer getötet. Die Einwohner verlangen, daß wir eine Säuberungsaktion durchführen. In New Indianapolis ist die Buschseuche ausgebrochen. Bei einer großen Schießerei in Rocky Field … ” „Was soll das heißen, Captain? Werden die Siedler auf Kosten der Weltregierung hierher verfrachtet, damit sie sich gegenseitig Löcher ins Fell knallen? Ich erwarte, daß unsere Sicherheitsorgane dort schnellstens Ordnung schaffen.“ Der Captain hob besorgt die Schultern. „Ich fürchte, Sir, unsere Polizeiverbände sind zu schwach. Anfangs ging ja alles gut, aber seit einiger Zeit haben sich in die Siedlertransporte Elemente eingeschlichen, denen ich keine guten Absichten zu58
traue. Sie ziehen einzeln oder in Gruppen in den Wäldern und im Vulkangebiet herum und durchwühlen den Boden nach Gold.“ „Gold? Gold auf Venus? Na, Captain, das glauben Sie doch selbst nicht …“ – Volcano war einer den entlegensten Vorposten im Bezirk Braun City. Hier ging das feuchtheiße Vegetationsgebiet, in dem die Reispflanzungen der Venussiedler prächtig gediehen, unvermittelt in eine steinige Wüste aus Basalt und verwitterter Lava über. Steile Feuerberge strebten himmelwärts und verloren sich mit den Gipfeln in den stets tiefhängenden Wolken. Zuweilen lief ein Rollen durch den Boden. Dann flackerte es rötlich im Gewölk. Feurige Lava quoll an den Hängen herab und setzte die Kolonisten in Schrecken. Wiederholt waren sie schon von Regierungsvertretern aufgefordert worden, ihre Niederlassung aufzugeben, doch mit der Zähigkeit echter Pioniere blieben sie auf ihrem gefährlichen Posten. In einer Gewitternacht, die vom hemmungslosen Toben der Elemente erfüllt war, flog die Tür des Blockhauses auf, das der kleinen Siedlung als Gasthaus und Versammlungslokal diente. Ein grobschlächtiger Mann mit verwildertem Bart, dessen Kleidung man den Aufenthalt In der Wildnis ansah, stolperte herein und ließ sich schwer auf eine roh behauene Bank fallen. „Whisky!“ brüllte er heiser. „Aber etwas plötzlich, wenn ich bitten darf.“ Der Wirt pflanzte sich breitbeinig vor dem späten Gast auf und maß ihn mit unverhohlenem Mißtrauen. „Langsam, langsam. Herr Generaldirektor. Sie sollen Ihren Whisky schon haben – sofern Sie ihn bezahlen können.“ Der Neuankömmling lief vor Wut blaurot an. Einen Augenblick sah es aus, als wollte er dem Wirt an die Kehle springen. Doch als er die drohenden Mienen der anderen Gäste sah, 59
nahm er sich zusammen. Brummend nestelte er einen schweren Behälter los, den er am Schulterriemen trug, streifte einen dichten Handschuh über die Rechte und entnahm dem Behälter einen grauen Erzbrocken. Mit hartem Klang flog das unscheinbare Erzstück auf die Tischplatte und blieb da liegen. „He, Alter, genügt dir das?“ Triumphierend blickte sich der Gast in der Runde um. „Laßt die Pfoten davon, Jungens! Habt wohl noch nichts von radioaktiven Strahlen gehört, wie?“ Erschrocken fuhren die Männer zurück. Der Wirt trat schweigend an den schweren Schrank aus Venuseichenholz und kehrte gleich danach mit einem Zählrohr älterer Bauart an den Tisch zurück. Langsam näherte er die Sonde dem unscheinbaren, grauen Brocken. „All devils! Uran – und zwar in enormer Konzentration. Haben Sie noch mehr von dem Zeug, Sir?“ Der mit „Sir“ angeredete Vagabund grinste breit. Wortlos schüttete er den ganzen Inhalt des Behälters auf die Tischplatte. „Schätze, das dürfte genügen, he? Und jetzt her mit dem Whisky, Meister. Ihr seid alle eingeladen. Heute läßt Old Tom was springen.“ Der Wirt ließ die Erzstücke in einen Beutel verschwinden und eilte zur Theke. Mit einem großen Tablett voller Schnapsflaschen und Gläser kehrte er an den Tisch zurück. Old Tom entkorkte eine Flasche, goß sich ihren Inhalt gurgelnd in die Kehle und rülpste dröhnend. „Es lebe Old Tom!“ brüllte einer der Gäste. Der verwahrloste Prospektor führte die zweite Flasche an die Lippen. Als er mit unsicherer Hand zur dritten griff, rückte ihm der Wirt vertraulich näher. „Bist ein Glückspilz, Old Tom. Das graue Zeug, das du aus dem Boden gebuddelt hast, ist zehnmal mehr wert als sein Gewicht in Gold. Uran soll verdammt knapp sein auf der alten Erde. 60
Auf dem Schwarzen Markt in Plutonia ist es in den letzten vier Wochen auf das Zwanzigfache seines Wertes gestiegen.“ Old Tom brabbelte etwas Unverständliches in seinen Bart. Noch immer bemühte er sich, den Stopfen aus dem Flaschenhals zu bohren. Diensteifrig kam ihm der Wirt zu Hilfe. „Hast du noch mehr von dem kostbaren Stoff, Old Tom?“ „Noch – mehr? Haufenweise – hick …“ „Dann hast du dein Claim gewiß ganz in der Nähe?“ „Wieso Claim? Warum so feierlich? Ist ja alles gar nicht nötig. Das Zeug liegt da herum – massenhaft. Man braucht’s nur aufzuheben …“ „Wo – wo denn, zum Donnerwetter? So sprich doch, Mann!“ Alles war aufgesprungen und redete wild durcheinander. Old Tom konnte sich nur noch mühsam aufrechthalten. Mit glasigem Blick stierte er die aufgeregten Zechgenossen an, die ihn von allen Seiten mit Fragen bestürmten und ihn schüttelten. „Im Nordosten“, kam es endlich von seinen Lippen, „zwanzig Meilen von hier – hinter den drei Feuerbergen …“ Krachend fiel der Betrunkene unter den Tisch. Aus umgestürzten Flaschen rann der Fusel über Tisch und Bänke. Die Männer drängten sich brüllend zur Tür hinaus, ungeachtet aller Schrecken der Gewitternacht. „Uran – Uran!“ gellte es durch die nächtliche Siedlung. – Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht von reichen Uranfunden im Nordosten von Volcano durch die Venuskolonie verbreitet. Überall, wo die Kunde auftauchte, ließen die Männer ihre Arbeit liegen, packten Waffen und Proviant zusammen und schwangen sich auf die Traktoren. Sie rasten, solange der Treibstoff reichte oder bis sie die Schlepper zuschanden gefahren hatten, durch Sumpf und Urwald, ließen sie dann einfach stehen und rannten zu Fuß weiter. Manch einer verschwand in der Wildnis und wurde nie mehr gesehen. 61
Die Städte und Siedlungen auf Venus entvölkerten sich. Selbst ganze Raumschiffbesatzungen desertierten. Der Verkehr zwischen Erde und Venus drohte zusammenzubrechen. In Metropolis trommelte Belmonte seine Mitarbeiter zusammen. Mit gerunzelter Stirn hörte er den Berichten der Abteilungschefs zu. „Im Urangebiet herrschen bereits völlig gesetzlose Zustände“, schloß der Leiter des Venussicherheitsdienstes seine Mitteilungen. „Wenn wir nicht mit drakonischen Maßnahmen durchgreifen, haben wir bald auf dem ganzen Planeten die Anarchie.“ „Die Versorgungslieferungen für die Erde sind praktisch blockiert“, erklärte der Chef des Transportwesens. „An Stelle von Lebensmitteln treffen nur noch Kisten mit Uran in Metropolis ein.“ „Dann weigern Sie sich einfach, die Kisten nach der Erde zu verladen.“ „Versuchen Sie’s doch, wenn Sie Mut haben“, lachte der „Verkehrsminister“ böse. „Die Kerls würden Sie lynchen.“ „Und was raten Sie mir, Gentlemen?“ Betretenes Schweigen. Und endlich die Stimme des Polizeikommandeurs: „Fordern Sie Verstärkungen an, Sir. Das Weltpolizeipräsidium soll seine gesamten Streitkräfte mobilisieren und herüberschicken, ehe es zu spät ist.“ „Da sehe ich schwarz, mein Lieber. Soweit ich informiert bin, hat die Weltpolizei bereits ihren letzten Reservisten einberufen. Allerdings an der falschen Stelle, wie mir scheint: denn die ganze Weltpolizei hat nichts Besseres zu tun, als täglich neue Venuskolonisten auf die Reise zu bringen – die gleichen, die sofort nach ihrer Ankunft in die Urangebiete entwetzen und das Chaos noch vergrößern helfen.“ *
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Voller Enttäuschung hatte Professor Zimmermann seine Neutrinoversuche abgeblasen. Im C. I. A E. war es – im Vergleich zum Wirbel der vergangenen Monate – still geworden. Trotz strengen Verbots, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, war die Mehrzahl der Institutsmitglieder nach und nach verschwunden. Für Professor Zimmermann bestand kein Zweifel, daß es den meisten von ihnen gelungen sein mußte, unter falschem Namen in den Venustransporten unterzukommen. Seit das Gerücht aufgekommen war, man hätte Uran auf Venus gefunden, war der Ansturm der Auswanderungswilligen gigantisch gestiegen. Jeder hoffte, auf dem Nachbarplaneten noch schnell reich zu werden, bevor die Weltregierung die Erzvorkommen mit Beschlag belegen konnte. Einstweilen wirkte sich der Personalrückgang im zentralen Atomenergieinstitut von Plutonia noch nicht spürbar aus. Das sagenhafte Photonentriebwerk befand sich noch im Projektstadium und beschäftigte nur einen begrenzten Mitarbeiterkreis. Erst seit einigen Tagen war Dr. Burns damit beauftragt, in Abteilung N II die einleitenden Modellversuche vorzubereiten. Professor Zimmermann hatte an diesem Abend gegen 18 Uhr von der Konferenz im Gebäude der Weltenergiekommission zurück sein wollen, um den ersten Experimenten beizuwohnen. Als er um 20 Uhr noch nicht im Institut eingetroffen war, ging Ursula in den Versuchsraum, wo sie den ersten Assistenten vermutete. In dem langgestreckten, kahlen Raum lag – in einer Montierung verankert – das Modell eines seltsam geformten Triebwerks. Ein Gewirr von Kabeln führte nach dem benachbarten Schalt- und Meßraum hinüber, der durch eine starke Betonwand geschützt war. Suchend ging Ursula umher. Das konnte nett werden – der Chef war nicht da, Dr. Burns hatte sich verkrümelt, und die Uhr zeigte bereits 20.25. Ursula gähnte verhalten. 63
Kein Zweifel: Es würde wieder eine endlose Nachtschicht geben. „Welches Datum haben wir eigentlich, Miß Lindenberg?“ Erschrocken fuhr Ursula zusammen. Sie hätte schwören mögen, daß sie ganz allein in dem leeren Versuchsraum gewesen wäre, – und nun lehnte Dr. Burns plötzlich vor ihr an der Wand und rauchte lässig eine Zigarette. Er schien sich über ihre Verblüffung lustig zu machen. „Welches Datum?“ Ursula wurde rot vor Ärger und Verlegenheit „Immer noch den dreizehnten, Mister Burns, aber wenn der Chef nicht bald kommt, werden wir den vierzehnten haben, ehe wir beginnen können.“ Wieder lächelte Burns. Sein Gesicht hatte trotz des heiteren Ausdrucks etwas Gespenstisches. Ursula glaubte wieder zu sehen, wie es sich in ein Totenantlitz verwandelte – nur die Augen flackerten in unheimlichem Spott … Der Assistent schien ihr Erschrecken nicht zu bemerken. Nachdenklich blickte er auf die Uhr. „20.30 Uhr. Länger brauchen wir nicht zu warten. Der Chef hat mich beauftragt, den Versuch allein zu führen, falls er bis dahin nicht zurück sein sollte. Wollen Sie mir assistieren, Miß Lindenberg?“ „Ja, gewiß – selbstverständlich.“ Ursula war verwirrt. Es war doch sonst nicht Professor Zimmermanns Art, dem ersten Versuch einer neuen Testreihe fernzubleiben. „Legen Sie den Strahlenschutz an und kommen Sie mit hinüber in den Meßraum.“ Ohne sich weiter um Ursula zu kümmern, ging Burns durch die schmale Panzertür voraus. Fünf Minuten später hockten sie vor den Instrumenten hinter der Betonwand, in der nur schmale Sehschlitze einen Durchblick auf die Versuchsanordnung gewährten. „Behalten Sie vor allem die Oszillographen im Auge, Miß Lindenberg. Achtung, ich beginne.“ 64
Dr. Burns legte einige Hebel um und regulierte einen Drehknopf. Ein leises Summen wurde hörbar. Aber die Kontrolllampen leuchteten nicht auf. Die Meßinstrumente rührten sich nicht. „Fehlzündung“, rief Ursula. „Es klappt nicht. Der Chef hatte es ja vorausgesagt.“ „Ach was“, brummte Burns. „Da steht bloß irgendwer auf der Strippe. Das Zündaggregat springt nicht an.“ Er langte nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer. „Verdammt – im Kontrollbunker schläft mal wieder alles. Warten Sie hier – ich bin gleich wieder da.“ „Wollen Sie die Apparatur nicht wenigstens so lange abschalten?“ „Nicht nötig, Miß. Da kann gar nichts passieren. Also – bis gleich.“ Mit wachsender Unruhe wartete Ursula auf die Rückkehr des Assistenten. Geoffrey Burns war nun schon länger als eine Viertelstunde fort. Es mußte wohl doch ein größerer Fehler vorliegen. Nur gut, daß Professor Zimmermann das nicht miterleben mußte. Burns hätte ein gewaltiges Donnerwetter über sich ergehen lassen müssen. Eintönig summte das Gerät, das Burns eingeschaltet hatte, und dessen Bedeutung Ursula nicht kannte. Doch plötzlich wurde der Ton lauter und steigerte sich zu einem bösartigen, schrillen Kreischen. Besorgt schaute Ursula sich um. Wenn nur der Doktor endlich wiederkäme. Ein greller Lichtblitz schoß zu den Sehschlitzen herein. Funken sprühten an den Schalttafeln. Ein Poltern klang aus den Tiefen des Gebäudes herauf. Die Wände zitterten. Als das junge Mädchen entsetzt die Augen wieder aufriß, sah es gerade noch, wie das Triebwerksmodell im Versuchsraum – wie von un65
sichtbarer Hand bewegt – aus der Montierung sprang und am Boden zerschellte. Der Meßraum schwankte wie ein Schiff im Sturm. Kalk rieselte von Decke und Wänden. Das Licht erlosch. Mit einem Aufschrei taumelte Ursula hoch, tastete sich – weich in den Knien – zum Ausgang und eilte in den dunklen Gang hinaus. Sie stürzte zu Boden, raffte sich mühsam auf, torkelte weiter. Der Donner einer schweren Explosion hallte von irgendwoher. Vor den Fenstern leuchtete Flammenschein. Sirenen wimmerten durch den Höllenlärm. Halb von Sinnen ertastete Ursula den Türgriff zum Eingang des Notausstiegs und ließ sich in den Schacht fallen. Sie spürte nicht mehr, wie der stets einsatzbereite Rettungslift ihren Körper aufnahm und mit ihm in die dunkle Tiefe raste. * Jack Conway sah aus, als hätte er gerade eine erbitterte Rauferei überstanden. Die letzten Raumtaxi hatten soeben von der großen Luftschleuse der Raumstation A 21 abgelegt und steuerten – bis auf den letzten Platz mit Auswanderern vollgestopft – den großen Raumschiffen zu, die innerhalb der kommenden halben Stunde die Fahrt zur Venus aufnehmen sollten. Wieder war ein Transport abgefertigt. Jack wußte nicht, der wievielte es war, seit der unerforschliche Ratschluß seiner vorgesetzten Dienststelle ihn vor rund vier Wochen von Plutonia nach A 21 versetzt hatte. Erbittert sah er an seiner zerfetzten Uniform, an den zerschundenen Händen hinunter. Wie die Bestien kämpften die Auswanderer um die Plätze in den Raumtaxis, um nur ja als erste an Bord der Transporter zu kommen. Seit jene unklaren Gerüchte über phantastische Uranfunde auf Venus zur Erde 66
gelangt waren, gebärdeten sich die künftigen Kolonisten wie toll. Nur rücksichtsloses Durchgreifen der Weltraumpolizei konnte sie davon abhalten, sich bereits während des Einschiffens gegenseitig niederzuboxen. Lange konnte dieser Rummel freilich nicht mehr andauern. Früher oder später würde die Weltregierung die Erzvorkommen durch zuverlässige Sicherheitstruppen vor weiterer wilder Ausbeutung schützen lassen. Doch bis dahin hoffte jeder, sein Schäfchen im trockenen zu haben. Jack schaute auf die große Wanduhr, die über dem Schleuseneingang angebracht war. 23 Uhr Stationszeit. Er würde gerade eine halbe Stunde Zeit haben, um seinen äußeren Menschen ein wenig herzurichten und ein Auge voll Schlaf zu nehmen. Für 24 Uhr waren neue Transporter avisiert, die gegenwärtig noch auf einer der Nachbarstationen frisch betankt wurden. Dann hieß es, sich aufs neue in den Kampf zu stürzen. Rasch fuhr Jack mit dem Lift in den zentralen Teil der Station hinab und eilte seiner Kabine zu, die er in drangvoller Enge mit einem der Ingenieure teilte. Vor der Funkstation stieß er auf Oberingenieur Svendsen, den Stationskommandanten. „Hallo, Leutnant Conway! Wie, zum Teufel, sehen Sie denn aus? Na, nun ruhen Sie sich erst einmal gründlich aus und …“ „Ausruhen ist gut, Sir“, grinste Jack säuerlich. „Ich habe knapp eine Stunde zur Verfügung.“ Svendsen schüttelte den Kopf. „Zu ihrer Beruhigung: Die Abfahrt des nächsten Transportes ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Wir werden in den nächsten Stunden keine neuen Auswanderer mehr bekommen. Das Raumfahrtdepartement hat den gesamten Zubringerverkehr zwischen Plutonia und den Außenstationen stillgelegt.“ „Großartig! Dann hat man sich also doch entschlossen, dem Uranrummel einen Riegel vorzuschieben?“ 67
„Nein, darum handelt es sich vorläufig noch nicht. Die Herrschaften in Plutonia haben jetzt andere Sorgen. Die Stadt wird evakuiert.“ „Teufel noch mal! Was soll denn das heißen? Plutonia – evakuiert?“ „Die bisherigen Nachrichten sind noch recht spärlich. Es klappt mit der Funkverbindung nicht so ganz. Immerhin habe ich so viel erfahren, daß sich vor wenigen Minuten im Zentralen Atomenergieinstitut eine folgenschwere Katastrophe ereignet hat.“ Jack Conway wurde blaß. „Eine Katastrophe – im CIAE? Um Himmels willen! Sind – sind Menschenleben zu beklagen, Sir?“ Der Kommandant sah Jack aufmerksam an. „Scheint Ihnen ja verdammt nahe zu gehen, Conway. Haben wohl auch jemand dort im Institut? Nun – ahem – von Verlusten war bisher nicht die Rede. Aber die Stadt muß schnellstens geräumt werden. Offenbar sind ein paar von diesen Atommeilern durchgegangen, oder was weiß ich …“ Jack Conway gab sich einen Kuck. „Mister Svendsen, ich muß sofort nach Plutonia fahren!“ Oberingenieur Svendsen schüttelte den Kopf. „Unmöglich, Leutnant. Sie hörten doch eben, daß der gesamte Zubringerverkehr ruht.“ „Hölle und Teufel! Ich muß nach Plutonia. In diesem verdammten Institut arbeitet Miß Lindenberg, meine Verlobte. Sie ist in höchster Gefahr, und ich – ich soll hier die Hände in den Schoß legen und womöglich vom Observatorium aus zuschauen, wie sie da unten vor die Hunde geht.“ „Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, Conway. Aber – Befehl ist Befehl. Mir sind die Hände gebunden.“ „Ich pfeife auf solche Befehle. Mein ganzes Leben besteht 68
nur noch darin, mehr oder weniger sinnlose Befehle zu befolgen. Aber jetzt langt es mir. Mister Svendsen, ich flehe Sie an. Haben Sie denn gar kein Herz?“ Im Gesicht des Kommandanten zuckte es. Er kämpfte einen schweren Kampf mit sich selbst – den Kampf zwischen Gehorsam und Menschlichkeit. Doch endlich kam er zu einem Entschluß. „Gut, Conway, ich nehme es auf meine Kappe.“ Er trat einen Schritt zurück und riß die Tür zur Funkstation auf. „Fisher, rufen Sie den Raumflughafen von Plutonia und avisieren Sie Zubringerrakete Cäsar 20. Leutnant Conway startet – in besonderer Mission.“ – * Das mächtige Areal des Raumflughafens lag finster und ausgestorben da, als die Zubringerrakete C 20 zur Landung ansetzte. Der Pilot mußte auf gut Glück landen, da der Kontrollturm offenbar nicht besetzt war. Zu seiner eigenen Überraschung glückte das waghalsige Manöver. „Wir hätten uns Hals und Beine brechen können, Leutnant. Wenn mir Mister Svendsen nicht gesagt hätte, daß Sie in einer so wichtigen Mission unterwegs wären …“ „Ja, das bin ich allerdings. Haben Sie vielen Dank – und eine glückliche Rückkehr zur Station. Sie brauchen nicht auf mich zu warten.“ Ratlos schaute Jack sich auf dem weiten, öden Platz um. Die Nacht war voll brodelnder Geräusche. Aus dem großen Zeltlager in der Umgebung des Raumflughafens klang Geschrei herüber. Auf dem angrenzenden Flugplatz dröhnten die Triebwerke der Düsenflugzeuge. Im Norden, über der City, stand der Himmel in vielfarbigem Feuerschein, der alles in ein magisches Licht tauchte. 69
„Hallo, Conway! Was suchst du denn noch in Plutonia? Weißt du nicht daß die ganze Stadt im Aufbruch ist?“ Erschrocken fuhr Jack herum. Eine Gestalt unkenntlich im dicken Strahlenschutzanzug, stand da im Halbdunkel und streckte ihm die Hand entgegen. Zögernd trat Jack näher. „Ich weiß nicht …“ „Jim Robertson“, stellte sich der andere vor. „Kennst wohl vor lauter Aufregung deine alten Kameraden nicht mehr, wie?“ „Hallo Jim!“ Endlich begriff Jack, wer ihm da im wabernden Zwielicht gegenüberstand. Robertson gehörte vor Jahren dem gleichen Ausbildungslehrgang wie er selbst in Randolph Field an. Erfreut schüttelte Jack die dargebotene Hand. „Sag mal, Jim, um alles in der Welt: Ist das wirklich das Atominstitut, das dort brennt?“ „Worauf du dich fest verlassen kannst. Der ganze Stadtteil steht in hellen Flammen. Meilenweit ist alles strahlenverseucht. Eine tolle Schweinerei.“ „Wie konnte das nur passieren, Jim? Hat es Verluste gegeben?“ „Über Verluste weiß man noch nichts Näheres. Im übrigen ist es fast ein Wunder zu nennen, daß die Hexenküche nicht schon längst hochgegangen ist.“ „Ich muß sofort hin, Jim.“ Leutnant Robertson starrte den Kameraden an, als sähe er ein Gespenst. „Du bist verrückt, Jack, – total verrückt.“ „Ich bin genauso normal wie du. Und nun sag mir bitte, wie ich am besten nach dem CIAE komme.“ „Na, wenn du unbedingt in dein Unglück rennen willst … Also, hör zu: Drüben, am Hangar XII, stehen noch ein paar Schnellwagen. Nimm dir einen davon und fahre auf der Küstenstraße nach Norden. Der direkte Weg durch die Stadt dürfte kaum noch passierbar sein. Da ist alles hoffnungslos verstopft.“ 70
„Thank you, Jim.“ Mit langen Sätzen federte Jack bereits über den Platz, den großen Hallen entgegen. Sein Kamerad sah ihm kopfschüttelnd nach. Er glaubte nicht, daß er Jack jemals wiedersehen würde. Jack Conway dachte bereits nicht mehr an Jim. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die breite Fahrbahn der Küstenstraße, die Plutonia im Osten umrundete. Robertson hatte ihm keinen schlechten Tip gegeben. Der Verkehr war zwar auch hier dichter als gewöhnlich, doch gelangte Jack ohne nennenswerten Aufenthalt bis an die Grenzen des Vororts, in dem das Institut Professor Zimmermanns lag. Hier war alles taghell von den Flammen erleuchtet, die aus den brennenden Gebäudekomplexen in den Himmel schlugen. Ein Polizeiposten hielt Jack an. „Hier können Sie unmöglich durch, Herr Leutnant. Teufel noch mal – Sie haben ja nicht mal einen Schutzanzug an!“ Jack mußte durch die Strahlenschleuse in den Bereitschaftswagen kriechen und sich „atomsicher“ umkleiden. Wenige Minuten später war er wieder draußen. „Thank you, Sergeant. Wie komme ich nun am besten weiter?“ „Es geht nicht, Herr Leutnant, – ich sagte es Ihnen doch schon. Der ganze Stadtteil mußte aufgegeben werden. Die Feuerwehr beschränkt sich darauf, ein Übergreifen des Brandes auf die Nachbarbezirke zu verhüten. Außer einem SpezialBergungstrupp ist keine Menschenseele mehr innerhalb der Absperrung.“ „Wo arbeitet der Bergungstrupp?“ „Hundert Meter von der Südostecke der Institutsmauer entfernt. Er versucht von dort aus den Notausgang des Bunkers freizulegen.“ „Hallo, Leutnant, wohin …?“ 71
Jack Conway antwortete nicht. Er hetzte bereits in den leeren, vom Feuerschein erhellten Straßenzug hinein. Jetzt – die erste Querstraße zur Rechten … Jäh hielt Jack im Laufen inne. Eine Hauswand stürzt unmittelbar vor ihm zusammen, übersäte die Straße mit Mauerteilen und brennenden Trümmern. Es war wie ein Wunder, daß Jack nicht erschlagen wurde. Weiter! Mühsam kletterte er über das Hindernis hinweg, bog um die nächste Straßenecke und rannte auf die hohe Mauer zu, hinter der die Hölle brodelte. Hundert Schritte von der Mauer entfernt bearbeitete ein Trupp vermummter Gestalten den Boden mit Hacken, Spaten und Baggern. Feuerwehrmänner versprühten aus zwei Rohrleitungen Wasser über die wie irrsinnig Arbeitenden. „Aus“, sagte der Leiter des Bergungstrupps und richtete sich erschöpft auf. „Hier kommen wir nicht durch. Mit dieser Felsschicht hatte ich nicht gerechnet.“ „Nehmen Sie Dynamit“ rief Jack. „Wir müssen den Bunker freilegen – koste es, was es wolle.“ Der Ingenieur wiegte den Kopf. „Wenn die Sprengung mißlingt, können wir den Schaden noch größer machen, als er schon ist. Der Zugang wäre dann völlig verschüttet.“ „Das dürfte den Eingeschlossenen, sofern sie überhaupt noch leben, dann auch egal sein“, drängte Jack ungeduldig. „Man kann schließlich nur einen Tod sterben. Lassen Sie die Sprengung vorbereiten – beeilen Sie sich doch!“ Der Chef des Bergungstrupps gab nach. Im Handumdrehen wurden die Bagger zurückgezogen, Bohrer fraßen sich in das Gestein, der Sprengmeister legte die Zündkabel aus und baute seine Zündmaschine in der Ruine eines Nachbarhauses auf. Jetzt noch die Sprengpatronen … Ein lautes Kommando – eilends gingen die Männer in Deckung. Der Donner der Explosion mischte sich in das Prasseln der 72
Flammen und das Getöse einstürzender Häuser. Ein Hagel von Steinen stob über den Platz. „Schnell, Leute – die Bagger!“ Mit verbissener Wut kämpften sich die Männer tiefer und tiefer in den Boden hinein. Plötzlich fühlte Jack, wie das Gestein unter seinen Füßen nachgab. In eine Geröllmasse eingehüllt rutschte er in das Innere der Erde hinab, spürte im nächsten Moment wieder festen Boden unter den Füßen und sprang geduckt ein paar Schritte vor, um sich vor dem nachstürzenden Gestein in Sicherheit zu bringen. Der Schein seiner Taschenlampe glitt über Boden und Wände eines engen, gemauerten Ganges, der schräg nach unten führte und sich nach mehreren Metern in der Dunkelheit verlor. Jack überlegte noch, ob er auf eigene Faust weiter vordringen oder zunächst den Bergungstrupp verständigen sollte, als plötzlich Gestalten in Schutzanzügen aus der Tiefe herangekeucht kamen. Schreiend, offensichtlich einem Nervenzusammenbruch nahe, drängten sie sich in langer Reihe an Jack vorbei und strebten der Öffnung zu, durch die der rote Flammenschein fiel. Jack Conway leuchtete den einzelnen Gestalten ins Gesicht Seine Angst wuchs, je näher die letzten in der Reihe herankamen. Endlich hielt er einen der Männer fest und schüttelte ihn unsanft „Wo ist Miß Lindenberg?“ Doch der starrte ihn nur verständnislos an. Er riß sich los und eilte den anderen nach. Jack ließ ihn laufen. Er nahm die Taschenlampe und drang tiefer in den Gang ein. Ein dumpfes Rollen lief durch die Erde. Sekundenlang blieb Jack stehen und verfolgte entsetzt das Zittern der Wände. Dann stürmte er weiter. Nach fünfzig Schritten erreichte er einen Bunkerraum. Der Strahl seiner Lampe huschte über umgeworfene Bänke und herumliegende Gegenstände aller Art. Hier 73
schienen die Eingeschlossenen, die nun gerettet waren, die letzten Stunden verbracht zu haben. Plötzlich stutzte Jack. Unweit von ihm, von einem Tisch halb verborgen, lag eine menschliche Gestalt Jack beugte sich über sie, leuchtete ihr in das bleiche, regungslose Antlitz. „Ursel!“ Er schüttelte sie an den Schultern. „Um Himmels willen – sie ist tot!“ Doch das Mädchen war nicht tot. Ein Seufzer kam über seine Lippen. Langsam öffneten sich die schweren Lider. Ein Lächeln stahl sich in die starren Züge. „Jack – du? Oh, ich wußte es ja …“ Stürmisch riß er sie an sich und bedeckte ihr Geicht mit Küssen. Die beiden jungen Menschen merkten es nicht, wie die schwere Tür aufgerissen wurde, und der Chef des Bergungstrupps hereingepoltert kam. „Andere Sorgen habt ihr wohl nicht, ihr zwei – was? Raus mit euch, aber bitte etwas plötzlich! Draußen fängt schon der Boden an zu schmelzen.“ * Metropolis! Ursula Lindenberg spürte ein wenig Herzklopfen, als die Landungsrakete im Raumflughafen der Venushauptstadt in langgestrecktem Gleitflug zu Boden ging. Gewiß – Metropolis war ihr längst zum Begriff geworden. Sie hatte ungezählte Reportagen über die Stadt gelesen und einen abendfüllenden Film am Fernsehempfänger miterlebt. Aber doch war sie irgendwie noch nicht auf Venus angekommen. Zu stark beschäftigten sich ihre Gedanken noch mit den Erlebnissen der vergangenen Monate. Da war die schwere Katastrophe im Institut gewesen. Jack hatte sie im letzten Moment aus dem Bunker gerettet, als der 74
Atombrand bereits auf den Boden der Umgebung übergriff. Noch in derselben Nacht hatte er sie im Wagen fortgebracht, auf überfüllten Straßen, holperigen Feldwegen oder ganz einfach querfeldein. Im Morgengrauen hatten sie vor dem altehrwürdigen Herrenhaus einer Plantage gehalten. Eine freundliche, alte Dame war ihnen entgegengetreten. „Das ist Tante Fanny“, hatte Jack gesagt. „Sie wird dich aufnehmen wie ihre eigene Tochter, und du kannst bei ihr bleiben, bis der Rummel in Plutonia abgeklungen ist.“ „Und du, Jack? Bleibst du nicht hier?“ „Sorry, Liebes, ich muß auf schnellstem Wege nach A 21 zurück. Werde ohnehin ein Donnerwetter aufs Haupt kriegen. Good bye.“ Sie hatte Jack in den nächsten Wochen nicht mehr gesehen. Nach vierzehn Tagen, in denen sie von Jacks Tante gründlich verhätschelt wurde, meldete sich Ursula in Plutonia zum Dienst zurück. Sie kam gerade zur rechten Zeit, um vor der Untersuchungskommission der Weltregierung als Zeugin auszusagen. Die eigentliche Ursache der Katastrophe blieb schleierhaft. Weder die Aussagen der wenigen Institutsmitglieder, die an jenem Abend im Gebäude des CIAE geweilt hatten, noch der Lokaltermin am Schauplatz der Vernichtung brachten einen brauchbaren Hinweis. Der einzige, der wahrscheinlich eine Erklärung hätte geben können, war bei der Verhandlung nicht anwesend. Dr. Burns, der erste Assistent des Instituts, war der Katastrophe zum Opfer gefallen. „Hat man ihn gefunden?“ flüsterte Ursula dem Professor während der Verhandlung im Palast zu. Der Gelehrte, der seit dem Abend des Atombrandes um Jahre gealtert schien, zuckte die Achseln. „Gefunden? Ja – und auch wieder: nein …“ 75
„Sie sprechen in Rätseln, Herr Professor. Wie soll ich das verstehen?“ „Nun, von Burns selbst hat man nichts mehr gefunden. Aber der Atomblitz hat sein Bild – oder, wenn Sie wollen, seinen Schatten – unvergänglich in die Wand des Kontrollraums eingeprägt. Dort fanden wir es, als der Raum freigelegt wurde.“ Ursula war es plötzlich, als griff eine Hand nach ihrer Kehle. Sie sah im Geist wieder die gräßliche Vision – Dr. Burns, mit dem Totenkopf und den Knochenhänden … Dann gab es also doch so etwas wie Gesichte und Ahnungen? Sie selbst hatte es erlebt – sie hätte Burns warnen müssen, aber sie hatte es versäumt. Ihre Gedanken verwirrten sich. Es wurde ihr dunkel vor den Augen. Mit einem leisen Aufschrei glitt Ursula aus dem Sessel. Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich in einem anderen Raum auf einer Couch wieder. Ein hagerer, ernst blickender Mann fühlte ihr den Puls. Nahe der Tür hockte Professor Zimmermann ratlos auf einer Stuhlkante. „Wie steht es mit ihr, Doktor?“ Der Arzt ließ ihre Hand los und zwang sich zu einem grämlichen Lächeln. „Sie kommt allmählich wieder. Aber das Herz will mir gar nicht gefallen Ihre Mitarbeiterin braucht dringend Ruhe, Professor. Schicken Sie sie für ein Vierteljahr auf Urlaub. Ich glaube, sie hat es verdient!“ „Das kommt gar nicht in Frage, Doc“, protestierte Ursula schwach. „Ich kann den Chef jetzt nicht allein lassen, er hat Sorgen genug.“ Doch der Professor selbst war es, der das entscheidende Wort sprach. „Im Augenblick hätte ich gar nichts mehr für Sie zu tun, Fräulein Lindenberg. Das Institut muß erst wieder aufgebaut werden, und selbst wenn wir in einer anderen Forschungsstätte weiterarbeiten könnten, würde uns das nicht viel 76
nützen. Unsere gesamten Unterlagen über den Photonenantrieb sind beim Brand des Instituts vernichtet worden. Wir müssen die theoretischen Voraussetzungen erst neu errechnen, bevor wir die Versuche fortsetzen können. Machen Sie sich also deshalb keine Sorgen und spannen Sie gründlich aus. Ich fürchte allerdings“ – lächelte Zimmermann – „Ihr Pflichtgefühl wird Ihnen auch diesmal nicht lange Ruhe lassen. So, wie ich Sie kenne, sind Sie in spätestens vierzehn Tagen wieder hier.“ „Das muß verhindert werden“, erklärte der Arzt. „Ich habe eine Idee: Wir schicken unsere Patientin zur Venus. Ich habe einen älteren Bruder drüben, der mit seiner Familie als Siedler in Hesperia haust. Dort fände Miß Lindenberg alles, was sie zum baldigen Gesundwerden braucht –“ So war es gekommen, daß Ursula eines Tages auf Venusfahrt ging. Auf A 21 hatte sie noch kurz mit Jack sprechen können. Er war an diesem Tage zum Oberleutnant avanciert, und Ursula war seine erste Gratulantin. Nach kurzem Aufenthalt in der Station wurde Ursula – zusammen mit einer kleinen Gruppe Auswanderer – nach dem Transportschiff übergesetzt. Jack Conway begleitete sie bis an die Luftschleuse des Raumriesen. „Du scheinst nicht mehr so viel zu tun zu haben, Jack. Liegt das an deiner Beförderung?“ „Gewiß nicht, Ursel. Das hat andere Gründe.“ Er beugte sich dicht an ihr Ohr. „Es darf eigentlich nicht darüber gesprochen werden, aber – das Venusprojekt zeigt neuerdings eine stark rückläufige Tendenz. ‚Irgend etwas ist faul im Staate Dänemark’, wie es im ‚Hamlet’ heißt. Sogar die Uranfunde haben ihre Anziehungskraft verloren. Halte nur schön die Augen offen, Liebes, und komm mir wieder gesund zurück!“ „Ich werde mich schon vorsehen. Du weißt, Jack, ich bin von Natur ängstlich. Auf ein baldiges Wiedersehen! So long.“ Die Überfahrt verlief ohne nennenswerte Ereignisse. Ursula 77
bemühte sich redlich, den Schlaf vieler Monate nachzuholen. Zwischendurch versuchte sie, aus der Mannschaft und ihren Mitreisenden etwas über die geheimnisvollen Dinge herauszuholen, die man sich in letzter Zeit über Venus erzählte. Aber niemand konnte ihr etwas Genaueres sagen. Endlich trafen sie an der Venus-Außenstation ein und wurden in die Landungsraketen umgeladen. Und jetzt schoß bereits der Boden des fremden Planeten unter dem Fahrwerk der Flügelrakete dahin. Ursulas erste Eindrücke in Metropolis waren nicht gerade vertrauenerweckend. Kaum war die Landungsrakete vor der Empfangsbaracke zum Halten gekommen, als das Fahrzeug schon vom einem Dutzend schwerbewaffneter Raumpolizisten umringt wurde. Mißtrauisch prüften sie die Ausweise und das Gepäck der Fahrgäste. „Sehen Sie zu, daß Sie so schnell wie möglich aus der Hauptstadt verschwinden, Ladies und Gentlemen“, riet der Flugplatzkommandant „Ganz Metropolis wimmelt von Rückwanderern. Unmöglich, irgendwo Übernachtung oder Verpflegung zu finden.“ Ursula ließ sich nicht so leicht abspeisen. „Was ist denn eigentlich los, Sir? Können Sie mir nicht sagen …“ Die Miene des Kommandanten blieb verschlossen. „Lieber nicht, Miß. Sie werden es schon selbst merken. Geben Sie nur acht auf die ‚Weißen Schatten’ …“ „Aber Sie werden mir doch wenigstens sagen können, wie ich am besten nach Hesperia komme.“ „Gewiß – Sie haben Glück. Um 12 Uhr mittags geht ein Waffentransport nach Oberthville ab. Sie können sich ihm anschließen.“ Gründlich ernüchtert trabte Ursula davon. Sie quetschte sich durch die Straßen von Metropolis, in denen sich unübersehbare 78
Menschenmassen drängten. Sie wurde hin und her gestoßen, geriet in einen rauschenden Platzregen und erreichte endlich müde und durchnäßt den Platz vor dem Regierungspalast. „Fahren von hier die Autobusse nach Oberthville ab?“ Der Milizsoldat vor dem Hauptportal des „Palastes“ wieherte vor Vergnügen. „Sie kommen wohl vom Lande, Miß? ‚Autobusse’ ist gut! Die sind schon längst aus dem Verkehr gezogen. Wäre so ein gefundenes Fressen für die ‚Weißen Schatten’. Sehen Sie her, Miß, das ist Ihr Autobus.“ „Sie wollen mich wohl verkohlen? Das ist doch ein Panzerwagen.“ „Ja, ja, steigen Sie nur ein. Unsere Jungens werden sich freuen, eine so nette Begleitung auf ihrer langweiligen Dschungelfahrt zu haben.“ Widerstrebend folgte Ursula der Aufforderung. Obwohl es inzwischen Mittag geworden war, ließ sich noch niemand von der Besatzung des Panzers blicken. Erst nach weiteren drei Stunden erschienen vier Milizmänner in derbem Lederdreß und bis an die Zähne bewaffnet. Ihr Kommandeur war ein älterer, wortkarger Mensch. „Hallo, Miß, Sie haben ja Mut. Noch nichts von den ‚Weißen Schatten’ gehört, wie? Na, mir soll’s recht sein. He, Dan, ist der Anhänger klar?“ „Okay, Boß.“ „Dann los! Und denkt daran: Wir schießen ohne Vorwarnung.“ Langsam rumpelte der schwere Wagen über durchweichte Dschungelpfade. Scharen von Flüchtlingen, motorisiert oder zu Fuß, versperrten die Straße nach Norden. Die ganze Kolonie schien im Aufbruch zu sein und der Hauptstadt in panischem Entsetzen zuzustreben. Nur unwillig machte man dem Panzerauto Platz. 79
„Was soll das alles nur bedeuten?“ versuchte es Ursula von neuem. „Auf der Erde ahnt man nichts von diesen Zuständen.“ Der Milizoffizier knurrte unwirsch. „Man wird’s schon wissen, aber man versucht, es totzuschweigen. Achtung Dan: Da vorn sind zwei zusammengerasselt.“ Der Fahrer bremste scharf. Die Männer sprangen heraus. Auch Ursula nahm die Gelegenheit wahr, sich die Füße zu vertreten. Graues Zwielicht hüllte die turbulente Szene ein. Im strömenden Regen stolperten die Kolonisten schreiend und gestikulierend durcheinander. Mit ein paar unsanften Stößen verschaffte sich der Milizoffizier Platz. Kopfschüttelnd betrachtete er den ineinander geschobenen Schrotthaufen, der einstmals zwei hochmoderne Düsentransporter dargestellt hatte. „Wie ist das passiert?“ „Ich verstehe es selbst nicht, Sir“, jammerte der Fahrer des ersten Wagens und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. „Der Motor stand ganz plötzlich. Im nächsten Moment rannte mir der andere hinten drauf.“ In den Zügen des Milizoffiziers vollzog sich eine seltsame Veränderung. Witternd hob er die Nase. Dann ging ein Ruck durch seine Gestalt. In langen Sätzen hastete er nach dem Panzerwagen zurück, im Laufen seine Begleiter mitreißend. „Beeilen Sie sich, Miß. Marsch, in den Wagen!“ Ursula wußte selbst nicht, wie ihr geschah. Sie stolperte und fiel der Länge nach auf den harten Boden des Fahrzeuges. Links und rechts von ihr machten die MG-Schützen ihr Waffen schußfertig. Der Offizier musterte vom Turmluk aus mit dem Feldstecher die Dschungelwand zu beiden Seiten des Weges. Vorsichtig kroch Ursula an einen Sehschlitz und spähte hinaus. Noch immer rannten da vorn die Siedler durcheinander In 80
großer Hast bargen sie schwere Lasten aus den Trümmern der Transportfahrzeuge. Plötzlich hielt einer der Männer mitten in der Bewegung inne. Er drehte sich um sich selbst und stürzte wie ein gefällter Baum in den aufspritzenden Morast. Ein zweiter folgte, ein dritter. „Geht in Deckung!“ brüllte der Offizier und schlug die Luke zu. „Die ‚Schatten’ greifen an. Sie beharken uns mit ihren teuflischen Geheimwaffen. Schnellfeuer, Jungens!“ Die Maschinengewehre ratterten los. Leuchtspurgeschosse pfiffen links und rechts in das Buschwerk des Dschungels. Wie gebannt verfolgte Ursula von ihrem Platz aus das unheimliche Feuerwerk. Jetzt sah auch sie die geheimnisvollen Gegner … Zwischen den Büschen, an der Unfallstelle auf der Dschungelstraße, überall huschten sie herum. Weiße, durchscheinende Nebelstreifen, fast wie Menschen anzusehen und doch anscheinend materielos und in Nichts zerfließend … Schlagartig, wie er eingesetzt hatte, war der Spuk wieder verschwunden. Die Überfallenen durften aufatmen. Ohne länger zu warten, luden die Überlebenden des Siedlertransportes ihre Lasten auf und stapften in Richtung Metropolis davon. Der Milizoffizier sah ihnen grimmig nach, wie sie in der Dunkelheit verschwanden. „Hätten wenigstens ‚danke schön’ sagen können, diese traurigen Gestalten. Achtung, Jungens, wollen mal versuchen, uns an dem Schrotthaufen da vorn vorbeizuquetschen.“ * Zwei Tage später hatte Ursula ihr Reiseziel erreicht. Hesperia war eine schmucke, weit in den Urwald vorgeschobene, Siedlung. Auf den gerodeten Lichtungen gediehen die Früchte des Planeten in überreicher Fülle. Die Niederlassung machte einen 81
wohlhabenden und ruhigen Eindruck. Nichts war von dem hektischen Chaos zu spüren, das von Metropolis bis Oberthville den Reiseweg des jungen Mädchens gekennzeichnet hatte. Als Ursula am ersten Abend ihren Gastgebern am Kaminfeuer von ihren Erlebnissen erzählte, machte der Hausherr, der alte Hank Sailor, ein besorgtes Gesicht. Er stand auf und öffnete das Fenster. Aus dem fernen Urwald dröhnte das Brüllen unzähliger wilder Tiere herein. „So war es früher nicht bei uns“, sagte er. „Erst seitdem die ‚Weißen Schatten’ im Süden aufgetaucht sind, haben sich die Tiere der Wildnis in unsere ruhigeren Gegenden zurückgezogen und bevölkern jetzt Urwald und Dschungel.“ „Können Sie mir nun sagen, Mister Sailor, wer oder was diese ‚Schatten’ eigentlich sind?“ Der Alte kehrte an den Kamin zurück und paffte mächtige Wolken aromatisch duftenden Qualms aus seiner mit selbstgebautem Venustabak gefüllten Pfeife. „Nein, Miß Lindenberg, ich weiß es auch nicht. Man könnte sie ganz einfach für unbekannte Naturerscheinungen halten, aber die Tatsache, daß sie Überfälle auf Siedlertransporte verüben, läßt diese Erklärung nicht zu. Wahrscheinlich handelt es sich um die eigentlichen Herren dieses Planeten – um Venusmenschen, wenn ich so sagen darf. Leider verfügen wir nicht über die passenden Sinne, um sie erkennen zu können. Im Umkreis von Hesperia sind sie übrigens noch nie gesichtet worden.“ Von draußen klang der Lärm eiliger Schritte und lauter Rufe herein. Mrs. Sailor lief zur Tür und kam gleich darauf in die Diele zurück; in ihren Augen stand das Entsetzen. „Sie trugen Ben Silverman, den Jäger, draußen vorbei, Vater. Sie fanden ihn im Unterholz, am Eingang der Siedlung – von ‚Weißen Schatten’ ermordet.“
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* Mit reichlich schlechtem Gewissen war Jack Conway auf seinen Posten in der Raumstation A 21 zurückgekehrt. Die ersten Wochen nach der Katastrophe im Zentralen Atomenergieinstitut verliefen für ihn ohne wesentliche Ereignisse. Zwar hatten die Zeitungen und der Fernsehfunk Reporter geschickt, um ihn zu interviewen, und Professor Zimmermann hatte ihm ein herzlich gehaltenes Dankschreiben wegen seines unerschrockenen Verhaltens, das zur Rettung der eingeschlossenen Institutsmitglieder geführt hatte, gesandt. Doch das Kommando der Weltraumpolizei schien ihn vergessen zu haben. Es war zwei Wochen nach Ursula Lindenbergs Abreise zur Venus, als Jack unverhofft durch Funkspruch ins WP-Präsidium nach Plutonia beordert wurde. Mit gemischten Gefühlen meldete er sich bei Svendsen ab. „Jetzt geht’s mir an den Kragen, Mister Svendsen, weil ich damals auf eigene Faust meinen Posten verlassen habe – und das in einem Moment, da quasi Alarmzustand herrschte.“ „Glaube ich nicht, Conway. Kann mir nicht vorstellen, daß Ihre Herren Vorgesetzten derart mit Spätzündung reagieren. Wahrscheinlich hat man eine neue Aufgabe für Sie. Na, jedenfalls ‚Hals- und Beinbruch’!“ Svendsen sollte recht behalten. Oberst Spencer, dem Jack bereits eine halbe Stunde nach seiner Ankunft in Plutonia gegenübersaß, erwähnte sein dienstwidriges Verhalten mit keinem Wort. Statt dessen steuerte er unmittelbar auf sein eigentliches Ziel los: „Es handelt sich um Venus, Oberleutnant Conway. Sie werden gewiß auch von diesen rätselhaften ‚Schatten’ gehört haben, die seit einiger Zeit unsere Kolonisten terrorisieren. Überfälle aus dem Nichts, Morde, geheimnisvolle Sabotageakte werden 83
tagtäglich allerorten verübt. Eine Massenflucht hat aus den Siedlungen eingesetzt. Die Weltregierung legt größten Wert darauf, daß diese Entwicklung schleunigst gebremst wird. Was halten Sie, als Kenner des Planeten, von der Geschichte?“ „Meine Kenntnis der Venus ist nur recht oberflächlich“, gestand Jack. „Nach all den Gerüchten, die mir bisher zu Ohren kamen, kann ich mir keine klaren Vorstellungen machen.“ „Haben Sie nicht wenigstens irgendwelche Vermutungen?“ Jack hob die Schultern. „Vermutungen, die jeder konkreten Ansatzpunkte entbehren, würden Ihnen kaum nützen, Herr Oberst. Solange mir persönlich keiner dieser ‚Weißen Schatten’ begegnet ist, möchte ich mich lieber jeglicher Stellungnahme enthalten.“ Jack Conway hatte seine Antwort nicht ohne eigennützige Hintergedanken so vorsichtig formuliert. Eigentlich blieb seinem Chef jetzt gar nichts anderes übrig, als ihn nach Venus abzukommandieren. Venus – das bedeutet für ihn das Ende des stumpfsinnigen Stationsdienstes und – ein Wiedersehen mit Ursula, die während ihres Urlaubs bestimmt mehr Zeit für ihn haben würde als während der letzten Monate auf der Erde. „Also gut, Conway, fahren Sie so bald wie möglich. Ich stelle Ihnen den ‚Explorer II’ zur Verfügung, das schnellste Raumschiff, das uns die Regierung für besondere Anlässe überlassen hat. Stellen Sie sich eine Mannschaft aus zuverlässigen Leuten zusammen, die Sie begleiten soll, und machen Sie Ihre Sache gut. Ich hoffe, bald von Ihnen zu hören. So long.“ – * Der „Explorer II“ hatte mit dem ersten Expeditionsschiff tatsächlich nichts als den Namen gemeinsam. Es war ein großartiges Fahrzeug, mit dem leistungsfähigen Neutrino-Triebwerk 84
ausgestattet, das Professor Zimmermann noch kurz vor Abbruch der Entwicklung fertiggestellt hatte. Während das mächtige Schiff auf Station C 12 seinen letzten Schliff erhielt, fuhr Jack nach der Mondbasis, um geeignete Leute für sein Sonderkommando zusammenzustellen. Er wählte zwanzig Mann mit jahrelanger Weltraumerfahrung aus. Auch Mike Green, sein alter Sergeant, war mit von der Partie. Kommodore Fritz Westhofen befehligte den „Explorer II“ auf dieser Fahrt. Das Raumfahrzeug glich einem Kriegsschiff. Es nahm nicht nur keine Passagiere mit, sondern war auf Jacks Wunsch auch noch mit Maschinenwaffen bestückt worden, um allen Gefahren gegenüber gewappnet zu sein. Diese Vorsichtsmaßnahme sollte sich als richtig erweisen. In einem Bruchteil der normalen Fahrtzeit hatte der „Explorer II“ die Entfernung zur Venus bewältigt und stand gerade im Begriff, in die Kreisbahn der Venus-Außenstation einzulenken, als Mike Green aus dem Beobachtungsstand steuerbord voraus einen unbekannten Himmelskörper meldete. Jack und Fritz eilten sofort nach vorn und betrachteten das seltsame Objekt mit lichtstarken Instrumenten. „Scheint ein Komet zu sein“, meinte Green sachverständig. „Ausgeschlossen, Sergeant.“ Fritz Westhofen schüttelte nachdrücklich den Kopf „Kometenschweife sehen anders aus. Dies hier ist mehr als der Brennstrahl eines Raketenmotors – nur, daß das dazu gehörige Raumschiff nicht zu entdecken ist.“ „Jetzt dreht es auf uns zu, Kommodore.“ „Verdammt – was ist das nur für ein Spuk? Was sagen die Radarpeilungen?“ „Nichts, Kommodore. Das Gerät spricht nicht an.“ Irgend etwas trommelte von außen gegen die Wände. Man hörte Luft entweichen. Alarmlichter flammten auf. Der Sergeant taumelte schreckensbleich hoch. „Meteoriten, Sir …“ 85
„Quatsch!“ brüllte Westhofen. „Der Kerl da vorn bepflastert uns mit Knallerbsen. Stehen Sie nicht so dämlich herum, Mann, und machen Sie, daß Sie in Ihren Schutzanzug kommen. Alarm!“ Sekundenlang glich das Innere des „Explorer II“ einem wimmelnden Ameisenhaufen. Dann hatten die Männer ihre Gefechtsstationen eingenommen. Im Beobachtungsraum, der jetzt luftleer und von Geschossen zersiebt war, versuchte Jack, die Distanz zu schätzen. „Achtung – 3200 – Schnellfeuer!“ Der heranrasende Flammenstrahl bog seitwärts ab. Dicht an der Bordwand des „Explorer II“ huschte etwas vorüber. Für einen kurzen Augenblick nahmen die Männer die verwaschenen Umrisse einer großen, geflügelten Rakete wahr. Aber diese Rakete war durchsichtig. Irgend etwas regte sich in ihrem Inneren, doch konnte man keine Einzelheiten erkennen. Im nächsten Moment war alles wie ein Spuk vorbei. Mike Green starrte der Erscheinung mit weit aufgerissenen Augen nach. „Ein Gespensterschiff“, stotterte er. * Der Kommandant der Venus-Außenstation fluchte wie ein Bierkutscher, als er vom Abenteuer des „Explorer II“ erfuhr. „Diese Satansbrut, diese verdammte! Erst gestern haben die Schufte versucht, mir die ganze Station zusammenzuschießen. Zur Hölle mit dem Pack!“ „Was ist das eigentlich für eine Bande?“ erkundigte sich Jack interessiert. „Das wissen Sie nicht? Natürlich die ‚Weißen Schatten’. Alles, was diese Teufel anrühren, wird unsichtbar. Sogar ihre Raumschiffe …“ 86
Jack Conway und seine Männer sollten einstweilen nicht mehr in unmittelbare Berührung mit den unheimlichen „Schatten“ gelangen. Statt dessen bekamen sie bei ihrer Ankunft in Metropolis das unheilvolle Wirken der Unsichtbaren auf andere Weise zu spüren. Die seit langem zurückgedrängte Panikstimmung der Bevölkerung – ständig durch neue unerklärliche Erlebnisse und wilde Gerüchte genährt – machte sich in einer wilden Revolte Luft. Jack traf gerade im rechten Moment ein, um die schwachen Polizeistreitkräfte des „Venusbosses“ und die Miliz davor zu bewahren, von der tobenden Menge überrannt zu werden. Immer wieder waren der Regierungspalast, die Lebensmittelmagazine und der Raumflughafen Ziele ebenso desorganisierter wie sinnloser Angriffe. Es dauerte fast eine Woche, bis Ruhe und Ordnung in Metropolis wiederhergestellt waren. Voller Sorge dachte Jack an Ursula. In den Tagen der Revolte war jegliche Verbindung mit den Städten und Siedlungen im Norden abgerissen. Wie mochte es jetzt hinter jenen Wäldern aussehen, die düster und schweigend nördlich der Hauptstadt bis zum Horizont verliefen? Auch wurde es Zeit, am den offiziellen Zweck seines Hierseins zu denken. Oberst Spencer wartete auf seinen Bericht. Jack mußte die „Weißen Schatten“ aufstöbern und versuchen, ihr Geheimnis zu ergründen. An einem regenschweren Morgen brach er mit seiner Mannschaft, einem halben Dutzend Milizsoldaten, die ihm Belmonte als Pfadfinder zugeteilt hatte, und ebenso vielen Panzerfahrzeugen nach Norden auf. Die Dschungelstraße, die nur noch einem einzigen Morast glich, wimmelte wieder von Siedlern, die in großen Kolonnen südwärts strömten. Man kam nur schrittweise voran. Als das trübe Grau des Regentages in die Abenddämme87
rung überging, hatte Jacks Abteilung kaum die Hälfte der vorgesehenen Tagesleistung vollbracht. „Wir sollten umkehren und bis Middletown zurückfahren, um nicht im Freien kampieren zu müssen“, riet einer der Pfadfinder. „In der Nacht ist es im Dschungel nicht geheuer.“ Jack studierte die Karte. „Zurück? Kommt gar nicht in Frage. Wir haben nur noch vier Meilen bis Stapletons Karawanserei. Das werden wir schon schaffen.“ Der Milizsoldat zuckte die Achseln. „Wie Sie meinen, Herr Oberleutnant. Ich möchte Sie allerdings darauf aufmerksam machen, daß die Karawanserei schon vor Wochen aufgegeben und inzwischen verfallen ist. Dort sagen sich Schlangen und Saurier gute Nacht.“ Der Verkehr auf der Dschungelstraße war seit Anbruch der Dämmerung merklich zurückgegangen. Die Fahrzeuge kamen jetzt schneller voran und erreichten die Karawanserei im letzten Zwielicht des scheidenden Tages. Mit ihren verwahrlosten Baracken, den niedergerissenen Palisaden und dem sumpfigen Hof, auf dem schon wieder eine üppige Vegetation wucherte, machte die einstige Niederlassung einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck. Der Pfadfinder hatte sich jedoch getauscht. Stapletons Karawanserei war nicht verlassen. Sie wimmelte von Menschen – von Rückwanderern, die hier von der Dunkelheit überrascht worden waren und Unterschlupf für die Nacht gesucht hatten. Jack postierte vorsorglich an jeder Ecke der verwüsteten Umzäunung einen seiner Panzerwagen. Die restlichen beiden hielt er vor dem Eingang des Hauptgebäudes in Bereitschaft Langsam schritt er durch die einzelnen Räume, in denen sich die Flüchtlinge um die offenen Kamine gelagert hatten. In dichten Wolken zog der harzig duftende Rauch der prasselnden Holzscheite durch die Decke ab. 88
„Jack – bist du’s denn wirklich?“ Eine weibliche Gestalt schnellte vom Boden hoch und stürzte auf Jack Conway zu. Der wich überrascht einen Schritt zurück. „Ursel – du hier? Sei mir gegrüßt! Ich vermutete dich eigentlich in Hesperia.“ Ursula küßte ihn zärtlich. „Dir ist wohl jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen, Jack? Mein Urlaub geht zu Ende. Ich muß schleunigst nach Metropolis und versuchen, einen Schiffsplatz nach der Erde zu bekommen.“ Ein dumpfer Knall drang von draußen herein. Klirrend zersprang eine Fensterscheibe. Das Stimmengewirr verstummte. Die Siedler saßen wie gelähmt … Jack Conway stürzte in den Hof hinaus. Ursula ihm nach. Ein unerwartetes Schauspiel empfing sie. Aus dem Dschungel im Nordwesten stiegen Raketen empor, zogen ihre feurigen Bahnen über die Karawanserei hinweg und krepierten krachend jenseits der Straße. „Ein Feuerwerk – hier? Ob das womöglich Notsignale sind?“ Die erste Rakete traf jetzt das Dach eines Nebengebäudes und barst mit donnerndem Knall. Helle Flammen loderten aus dem Dachstuhl. In panischer Verwirrung drängten Menschen aus Fenstern und Türen. „Die ‚Weißen Schatten’! Rette sich, wer kann …“ „Halt!“ donnerte Jack mit Stentorstimme. „Ruhe bewahren! Rasch, in die Häuser zurück; da seid ihr am sichersten.“ Er wandte sich an seinen Sergeanten, der salutierend vor ihm stand. „Befehl an Wagen 1 bis 4: Schnellfeuer auf den Dschungel! Wagen 5 und 6 säubern die Straße, falls da draußen etwas zu sehen ist.“ Jack hastete zum Dach des Hauptgebäudes hinauf, das eine schmale Plattform trug. Im ungewissen Widerschein der Raketen und der immer zahlreicher werdenden Brände sah er geisterhafte 89
Nebelstreifen auf die Umzäunung zuschweben. Sie schienen schwerelos zu sein und nichts Irdisches an sich zu haben. Das Hämmern der Maschinengewehre, das Bellen der Schnellfeuerkanonen mischte sich in die unheimlichen Geräusche der Nacht. Wie auf Kommando kam die Front der „Schatten“ zum Stehen. In wilder Flucht hasteten sie in den schützenden Dschungel zurück. Der Raketenbeschuß hörte schlagartig auf. „Ihr habt uns gerettet, Jack“, vernahm er plötzlich Ursulas Stimme hinter sich. „Was wäre aus uns geworden, wenn du nicht mit deinen Männern gekommen wärst?“ Jack Conway schloß sie in die Arme. „Du siehst, Ursel, du kannst ohne mich gar nicht leben.“ „Ich will es ja auch gar nicht“, sagte sie ernsthaft und küßte ihn. Er trat an den Rand der Plattform und rief ein paar Befehle in die Nacht. „Wenn ich doch nur einen von diesen verdammten ‚Schatten’ sichtbar machen könnte! Das geistert überall herum, begeht Raubmord und Totschlag und ist doch nicht faßbar. Man könnte an Hexerei glauben.“ Ursula starrte lange schweigend in die Dunkelheit. In ihrem Kopf war ein Wirbel von abenteuerlichen Gedanken und verworrenen Erinnerungen. Endlich hatte sie die Sprache wiedergefunden. „Ich weiß nicht, ob meine Idee das Richtige trifft – aber vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit. Ich will sofort nach meiner Rückkehr in Plutonia mit Professor Zimmermann darüber sprechen. Vielleicht kann er uns weiterhelfen.“ * Weltpräsident Van der Lucht hatte es sich nicht nehmen lassen, sich in eigener Person vom Stand der Wiederaufbauarbeiten des Zentralen Atomenergieinstitutes zu überzeugen. In Begleitung 90
von Dr. Lacrosse ließ er sich von Professor Zimmermann auf dem weitläufigen Baugelände im Norden Plutonias herumführen. Etwa fünf Meilen von seinem früheren Standort entfernt entstand das Forschungsinstitut schöner und großzügiger denn je zuvor. Vor dem im Rohbau fertigen Gebäude eines großen Atommeilers blieb der Präsident stehen. „Hoffentlich werden wir Ihren Uranbrenner jemals in Tätigkeit sehen, Herr Professor.“ Zimmermann machte ein betretenes Gesicht. „Ich verstehe, Herr Präsident: Uran ist nach wie vor der große Engpaß.“ „Gewiß“, wandte Lacrosse lebhaft ein. „Es wird Sie jedoch interessieren, daß in den letzten Wochen ungeheure Mengen des kostbaren Metalls auf dem Schwarzen Markt aufgetaucht sind. Es handelt sich um Uran mit extrem hohem U235-Anteil …“ „Etwa von der gleichen Art, wie man es auf Venus gefunden hat? Dann dürfte die Herkunft ja klar erwiesen sein.“ „Eben nicht, Herr Kollege. Es ist erwiesen, daß die Uranvorräte, die von Venus-Prospektoren nach Metropolis gebracht wurden, durch die planetarische Regierung einstweilen beschlagnahmt wurden und noch immer auf ihren Abtransport nach der Erde warten. Die Schiffe wurden bisher ausschließlich für den Rücktransport von Siedlern benötigt. Die wirkliche Herkunft des Urans konnte tatsächlich noch nicht geklärt werden …“ Tief in Gedanken versunken ging der Professor nach diesem Gespräch in seinem provisorischen Arbeitsraum auf und ab. Auch das kräftige Klopfen an der einfachen Holztür konnte ihn nicht stören. Plötzlich stand ihm Ursula Lindenberg gegenüber. „Fräulein Lindenberg! Oh. schon von der Venus zurück? Ich hoffe doch, daß Sie sich gut erholen konnten. Sagen Sie, ist es dort wirklich so gefährlich, wie man neuerdings immer hört?“ „Alles halb so wild, Herr Professor. Im Panzerwagen läßt es sich auf Venus ganz gefahrlos reisen.“ Zimmermann mußte lachen. „Na, der Humor ist wenigstens 91
wieder da; ich nehme das als gutes Zeichen. Wollen Sie heute schon mit der Arbeit beginnen?“ Ursula wurde ernst. „Gern, Herr Professor, aber zuvor hätte ich noch etwas mit Ihnen zu besprechen. Bitte, lachen Sie mich nicht aus: Es handelt sich um die ‚Weißen Schatten’.“ Professor Zimmermann stieß einen leisen Pfiff aus. Er schob seiner jungen Assistentin einen Stuhl hin und setzte sich ihr gegenüber. Je länger sie sprach, desto nachdenklicher wurde der Gelehrte. * In Metropolis, der noch vor kurzem so hoffnungsvollen Venushauptstadt, herrschte Untergangsstimmung. Die letzten Wochen hatten neue Flüchtlingsströme gebracht. Seuchen waren in der übervölkerten Stadt ausgebrochen, die durch die schlechten Unterbringungsmöglichkeiten und den fast unablässig vom Himmel stürzenden Regen noch verschlimmert wurden. Starke Polizeiverbände mußten den Raumflughafen abriegeln, um eine halbwegs geregelte Rückführung der Kolonisten nach der Erde zu ermöglichen. Nur noch vereinzelt fanden Siedlertransporte aus dem Norden den Weg nach Metropolis. Sie berichteten von verlassenen Dörfern, von verwilderten Plantagen und von Straßen, die der Dschungel mit seiner Vegetation überwucherte. Niemand wußte zu sagen, wie viele in der Wildnis verschollen oder zugrunde gegangen waren. Nur wenige Pioniere hielten auf verlorenem Posten aus. Die „Weißen Schatten“ waren die wirklichen Beherrscher des Planeten. Metropolis war die letzte Bastion, die ihrem Zugriff noch entzogen war. Dr. Belmonte hatte den Belagerungszustand ausgerufen und die Stadt in eine Festung verwandeln lassen. Jack 92
Conway teilte sich mit dem Chef des Venussicherheitsdienstes in die aufreibenden Pflichten des Wachtdienstes. Doch die „Weißen Schatten“ spotteten aller Sicherheitsvorkehrungen. Eines Mittags, als Jack sich auf einer Kontrollfahrt durch die überfüllten Straßen der Stadt befand, heulten plötzlich die Alarmsirenen des Raumflughafens. Jack steuerte sein Fahrzeug auf schnellstem Wege nach dem Flughafengelände und über die Startbahnen auf eine Stelle zu, an der eine buntgewürfelte Menschenmenge sinnlos durcheinander rannte. Plötzlich setzte der Motor aus. Mit einem Fluch sprang Jack aus dem Wagen und rannte los. Er stürzte schwer über ein unsichtbares Hindernis, raffte sich wieder auf und hinkte weiter. Menschen schrien, Schüsse knallten, silberglänzende Landungsraketen starteten im Hintergrund in rascher Folge in den verhangenen Himmel. Sergeant Green kam diensteifrig herangeeilt, in der Rechten einen rauchenden Revolver. „Sind Sie ausgerutscht, Herr Oberleutnant?“ Jack mußte sich zusammenreißen, gar zu gern hätte er seine Hand im einfältigen Gesicht des Rothaarigen landen lassen. „Was soll diese alberne Knallerei, Green? Haben die Rückwanderer die Landungsboote stürmen wollen?“ „Wieso denn die Rückwanderer? Die ‚Weißen Schatten’ waren es, Herr Oberleutnant.“ Jack faßte sich an den Kopf. „Nun reden Sie mal kein Blech, Green. Der Platz war von einem doppelten Kordon schwerbewaffneter Posten umstellt. Undenkbar, daß ein Unberufener einsickern konnte.“ „Ich habe sie aber ganz deutlich bemerkt, Herr Oberleutnant. Sie feuerten mit ihren Geheimwaffen dazwischen, und ein halbes Dutzend Siedler mußte ins Gras beißen. Sie hatten es auf die Landungsraketen abgesehen, die Schufte.“ 93
Auf die Landungsraketen … Was hatte das zu bedeuten? Planten diese unheimlichen Erscheinungen am Ende sogar eine Invasion der Erde? Jack war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er die Landung einer Zubringerrakete völlig übersah, die auf einer der benachbarten Landebahnen niederging. Erst als er laut gerufen wurde, schreckte er auf. „Ja – what’s the matter?“ Der Mann, der in langen Sprüngen auf ihn zugeeilt kam, war kein Geringerer als Fritz Westhofen. „Hallo, old chap! Habe dir Grüße von deiner Braut auszurichten – und das schickt sie dir als kleines Liebesgabenpaket.“ Verständnislos blickte Jack auf die schwere Last aus geheimnisvollen Kästen, Radarantennen und Kabelrollen, die eine Gruppe von Raumschiffmatrosen angeschleppt brachte. * „Sie werden wiederkommen – und diesmal werden sie uns den Rest geben.“ Mit düsterem Gesicht stand Dr. Belmonte, der „Venusboß“, am Fenster seines Arbeitszimmers im „Regierungspalast“ zu Metropolis und schaute in die finstere Nacht hinaus, in der, die Regenfluten rauschten. Der Raum wurde nur notdürftig von zwei blakenden Petroleumlampen erhellt. Am Nachmittag war das Zentralkraftwerk der Stadt einem geheimnisvollen Attentat zum Opfer gefallen, und die Reserven an Batteriestrom hatte Jack Conway zum Betrieb der merkwürdigen Geräte beansprucht, die aus Plutonia eingetroffen waren. Auf dem Kontrollturm des Raumflughafens und an neun weiteren Stellen des Stadtgebietes hatte er die Apparate montieren lassen. Die Hauptstadt glich einer belagerten Festung. Bereits seit sechs Stunden ruhte der Zubringerverkehr mit der Außenstation. 94
Der Flüchtlingsstrom war abgerissen – ein Zeichen dafür, daß der unsichtbare Gegner alle Zugänge zur Stadt gesperrt haben mußte. Die Kolonisten hockten eng zusammengedrückt in Wohnhäusern und Massenquartieren. Am Stadtrand lauschten starke Patrouillen der Weltraumpolizei und der Miliz nervös in die Regennacht hinaus. Beim geringsten ungewöhnlichen Geräusch im Vorfeld feuerten sie wild auf unsichtbare Ziele. „Noch ist nicht alles verloren“, versuchte Jack den „Venusboß“ zu ermutigen. „Ich setze große Hoffnungen auf unsere Strahler. Darauf werden die ‚Schatten’ nicht vorbereitet sein.“ „Wie funktionieren diese komischen Dinger eigentlich?“ wollte Fritz Westhofen wissen. „Soweit aus den Bedienungsvorschriften hervorgeht, senden die Geräte eine unsichtbare Strahlung aus, die …“ Das Klingeln des Feldtelefons unterbrach ihn. Von draußen klangen Geschrei und das Knattern von Schüssen herein. Nichts Gutes ahnend, nahm Belmonte den Hörer ab. Eine aufgeregte Stimme meldete sich. Sie sprach so laut, daß man sie bis in die entfernteste Ecke des Raumes verstehen konnte. „Die ‚Weißen Schatten’! Sie greifen von allen Seiten an – sie sind schon in der Stadt …“ Die Stimme brach ab. Die Leitung war gestört. Draußen schwoll der Kampflärm an. In das Schreien und Schießen mischte sich das Wimmern handbetriebener Sirenen. Der Chef des Sicherheitsdienstes stülpte sich den Helm auf und rannte – gefolgt von den Offizieren seines Stabes – ins Freie. Jack Conway wartete keine weiteren Befehle ab. Er sprang durchs Fenster und hatte mit zwei, drei Sätzen den Schnellwagen erreicht, der – mit Sergeant Green am Steuer – bereits auf ihn wartete. Der dicke Fritz Westhofen sprang noch im Fahren auf. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit raste das Fahrzeug durch die nächtlichen Straßen, in denen die Panik tobte. Zwi95
schen schreienden Menschenmassen und Miliztruppen, die auf ihre Posten eilten, huschten hier und da weiße Nebelstreifen umher und zerflossen scheinbar in nichts … Mit kreischenden Bremsen hielt der Schnellwagen vor dem Kontrollturm des Raumflughafens. Geduckt eilten die drei Männer auf das Gebäude zu, vor dessen Eingang mehrere Angehörige des Flughafenpersonals lagen, von den furchtbaren Waffen der Unsichtbaren getötet. Ohne auf den Feind zu stoßen, gelangte Jack mit seinen Begleitern auf das Dach des Turmes. Eine Gruppe von Technikern hantierte an den Geräten, als ginge sie der ganze Tumult nichts an. Jack Conway trat hinzu. „Alles klar, Bendixen? Können wir anfangen?“ „Okay, Conway. Will nur vorsichtshalber noch einen Verstärker einschalten.“ „Reicht die Spannung?“ „Ich hoffe es. Achtung – es geht los.“ Ein feines Summen ertönte. Grüne und rote Lämpchen blinkten auf. Bendixen regulierte die Einstellung und trat dann erwartungsvoll zurück. „Hoffentlich sind die anderen Strahler auch so weit“, meinte Jack besorgt. „Wir haben leider keine Möglichkeit mehr, die einzelnen Trupps zu verständigen. Die Telefonleitung …“ Der Funkoffizier winkte ab. „Ist gar nicht nötig, Conway. Ich habe sämtliche Geräte synchron geschaltet. Da – sehen Sie nur: Die Sache klappt – bestens sogar …“ Zu Füßen des Turmes zeichneten sich deutlich nebelhafte Gebilde ab. Sie verdichteten sich zu festen Gestalten – zu Menschen aus Fleisch und Blut. Die Männer, die sich dort unten am Eingang des Kontrollturms zu schaffen machten, hatten nichts Geisterhaftes und Gespenstisches mehr an sich. „Das ist ja – Zauberei“, staunte Fritz Westhofen. „Wie ist so etwas nur möglich?“ 96
„Gezaubert haben die anderen“, lachte Bendixen. „Wir haben nur mit einem noch stärkeren Hokuspokus darauf reagiert.“ „Scheinen verdammte Galgenvögel zu sein, die da unten“, brummte Sergeant Green. „Mindestens jeder zweite muß mir schon irgendwann in einem Steckbrief begegnet sein. Vorsicht, Herr Oberleutnant. Ziehen Sie lieber den Kopf ein!“ Doch Jack beachtete die Warnung nicht. Er trat bis hart ans Geländer und legte die Hände trichterförmig an den Mund. „Werft die Waffen fort und ergebt euch! Euer Spiel ist aus. Ihr habt keine Chance mehr.“ Einer der „Schatten“, die so plötzlich sichtbar geworden waren, riß die Waffe hoch und legte an. Jack ließ sich platt auf den Bauch fallen. Über ihm glühte das Geländer bläulich auf. „Verdammt – sie haben Strahlenwaffen. Das erklärt vieles. Los, Jungens, gebt es ihnen!“ Die Wachtmannschaften des Kontrollturmes eröffneten das Feuer. Reihenweise fielen die „Schatten“, die sich noch immer auf ihre einstige Unsichtbarkeit verließen. Endlich begriffen die Überlebenden, daß ihr Spiel tatsächlich verloren war. Sie warfen die Waffen weg und hoben die Hände. Jack Conway hielt sich nicht länger auf. Er mußte wissen, wie es in der Stadt aussah. Rasch brachte ihn der Schnellwagen mit seinen Begleitern nach Metropolis zurück. Auch hier, im eigentlichen Stadtinneren, schien der Kampf beendet zu sein. Nur noch vereinzelt fielen in der Ferne Schüsse. An einer Straßenkreuzung mußte der Fahrer halten. Ein langer Zug Gefangener wurde vorbeigetrieben. Die Milizsoldaten hatten Mühe, die verhaßten „Schatten“ vor der Wut der Menge zu schützen, die sie am liebsten auf der Stelle gelyncht hätte. „Die ganze Unterwelt aller irdischen Kontinente hat sich hier ein Stelldichein gegeben“, sagte Fritz Westhofen kopfschüt97
telnd. „Und wir hatten uns eingebildet, die ‚Weißen Schatten’ wären Venusbewohner.“ „Habt ihr den Boß dieser Räuberbande erwischt?“ fragte Jack den Milizoffizier. Der zuckte die Achseln. „Ich glaube kaum. Er wird sich wahrscheinlich nicht weit genug herangetraut haben.“ Ein höhnisches Gelächter klang plötzlich auf. Überrascht schauten sich die Männer um. Ein Nebelstreif schwebte in einer Toreinfahrt, geriet plötzlich in den Wirkungsbereich eines Strahlers und verdichtete sich zu einer menschlichen Gestalt. Im nächsten Moment hatte sich die Gestalt ans Steuer eines im Schatten der Einfahrt parkenden Wagens geschwungen und den Motor aufheulen lassen. Mit quietschenden Pneus schoß das Fahrzeug um die Straßenecke und raste in nördlicher Richtung davon. „Hinterher!“ brüllte Jack. Ein untrüglicher Instinkt sagte ihm, daß er sich auf der richtigen Fährte befand. Der Verfolgte raste mit heulendem Signalhorn den langen, schnurgeraden Straßenzug entlang. Links und rechts flüchteten die Menschen in die Hauseingänge. Kein Zweifel – er wollte versuchen, aus dem Strahlenbereich zu entkommen und – wieder unsichtbar geworden – in den Dschungeln im Norden der Stadt unterzutauchen. „Drücken Sie doch auf die Tube, Green! Der Kerl entkommt uns. Hat er erst die Stadtgrenze passiert, entwischt er uns todsicher.“ Noch eine letzte Kreuzung galt es zu passieren, dann hatte es der rasende Fahrer geschafft. Doch plötzlich stießen die drei Männer einen einzigen, entsetzten Schrei aus: Von links her schob sich aus der Querstraße das massige Ungetüm eines schweren Panzerwagens hervor und blockierte die Kreuzung. Der Verfolgte bremste so scharf, daß sein Wagen sich drehte und sich mehrmals überschlug. Krachend prallte er auf den Panzer und stand im selben Augenblick lichterloh in Flammen. 98
Mike Green brachte sein Fahrzeug kurz vor der Kreuzung zum Stehen. Die Männer eilten an die Unfallstelle. Gerade zogen zwei Männer der Panzerbesatzung den Fahrer aus dem brennenden Wrack seines Schnellwagens. „Er muß sofort tot gewesen sein, Sir“, wandte sich einer von ihnen an Jack. „Teufel noch mal – hatte der ’ne Affenfahrt drauf.“ Jack Conway schaute in das Gesicht des Toten. Unwillkürlich prallte er zurück. Diese Züge kannte er. Wo waren sie ihm doch bereits begegnet? Plötzlich wußte er es: Der Mann, der dort tot vor ihm lag, der Bandenchef der gefürchteten „Weißen Schatten“, war kein anderer als – Dr. Geoffrey Burns, der einstige Assistent Professor Zimmermanns am Zentralen Atomenergieinstitut zu Plutonia. * In Plutonia herrschte Hochstimmung. Die Nachricht vom Sieg über die „Weißen Schatten“ hatte einen Alpdruck von der Stadt und der ganzen Welt genommen. Das Venusprojekt lief wieder auf vollen Touren. Auswanderer meldeten sich stündlich zu Tausenden und wurden über Raumstation A 21 nach den Venuskolonien weitertransportiert Der Planet hatte seine Schrecken verloren. Vor der Dienststelle der Weltraumpolizei staute sich eine unübersehbare Menschenmenge. In Sprechchören verlangte sie immer wieder, Jack Conway, den „Helden von Metropolis“, zu sehen. Vergeblich versuchte Oberst Spencer, den Begeisterten klarzumachen, daß Captain Conway nicht erscheinen könnte, da er sich auf der Hochzeitsreise befände. Das stimmte nur zum Teil; denn Jack befand sich in diesem Augenblick mit seiner jungen Frau in der Villa Professor Zim99
mermanns, die unweit der Stadt auf einem Hügel nahe der Meeresküste lag. „Ohne Ihre großartige Erfindung wären wir den ‚Schatten’ nie auf die Spur gekommen, Herr Professor“, sagte Jack. „Wahrscheinlich hätten uns diese unsichtbaren Verbrecher in jener Nacht samt und sonders umgebracht.“ Der Gelehrte wehrte bescheiden ab. „Bedanken Sie sich bei Ihrer jungen Frau, Captain Conway, die immer meine tüchtigste Mitarbeiterin gewesen ist und mir bei den kommenden Arbeiten sehr fehlen wird. Ihre gute Beobachtungsgabe hat mir alle möglichen Anhaltspunkte vermittelt, so daß ich auf Anhieb mit der richtigen Strahlung operieren konnte. Überrascht und entsetzt hat mich lediglich die Tatsache, daß mein ehemaliger Assistent – zum Verbrecher werden konnte …“ „Wir hatten doch alle geglaubt, er wäre damals – beim Brand Ihres Instituts – ums Leben gekommen.“ Professor Zimmermann’ schüttelte den Kopf. „Im Grunde ist Burns mir immer ein Rätsel gewesen. Er war ein verschlossener Mensch, und niemand ahnte, was in seinem Inneren tatsächlich vorging. Nachträglich wird mir manches verständlich, und die paar Aufzeichnungen, die man bei dem Toten fand, runden das Bild. Im Verlauf unserer Testreihen gelang Burns durch Zufall die Entdeckung einer Substanz, die beim Auftreffen von Neutrinos bestimmter Konzentration unsichtbar wurde, und – unsichtbar machte. Die Entdeckung faszinierte ihn und führte seine Gedankenwelt auf verworrene Pfade. Als dann die Uranvorräte der Erde knapp wurden, und Kolonisten ungeheure Vorkommen des lebenswichtigen Metalls auf Venus fanden, begriff Burns, daß seine Entdeckung zu recht gewinnbringenden Zwecken ausgenützt werden konnte. Mit einer Spielerei hatte es angefangen – und im Kriminellen endete es … 100
„Ich verstehe noch immer nicht ganz, Herr Professor: Burns verunglückte doch seinerzeit tödlich in Ihrem Institut. Kann ein Mensch denn zweimal sterben?“ „Sie vergessen, Captain, daß Burns damals nicht gefunden wurde. Wir fanden nur seinen Schatten – vom Blitz der Atomexplosion in ein Wandstück eingebrannt. Doch dieses ‚Beweisstück’ war von Burns selbst mit klugem Vorbedacht unterschoben worden. Er mußte verschwinden, um auf Venus in Aktion treten zu können, ohne daß jemals der geringste Verdacht auf ihn fallen konnte.“ „Und dieses Verschwinden besorgte er so gründlich, daß Ihr ganzes Institut dabei zum Teufel ging“, knurrte Jack grimmig. „Menschenleben waren ihm offenbar völlig gleichgültig.“ „Gewiß. Captain, das hat er nachher auf Venus mehr als deutlich bewiesen, als er mit Hilfe angeworbener Berufsverbrecher, die er mit seinen modernen ‚Tarnkappen’ ausstattete, die Kolonisten terrorisierte, um in den Besitz ihrer Ausbeute an Uran zu gelangen. Sie sehen an diesem unheimlichen Fall wieder einmal, wie erschreckend nahe Genie und Wahnsinn oft beieinander liegen.“ Eine Weile herrschte Schweigen. Jeder hing seinen eigenen Erinnerungen nach. Endlich erhob sich der Gelehrte und füllte die Gläser neu. „Aber das liegt nun hinter uns – für alle Ewigkeit, wie ich hoffe.“ Er trat ans Fenster und öffnete es weit. Vogelstimmen und ein herrlicher Duft nach Erde und blühenden Sträuchern kamen aus dem Garten herein. „Ein wunderbarer Tag. Möge das Leben für euch beide viele solcher Tage bereithalten!“ – Ende –
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UTOPIA-Zukunftsroman erscheint 14täglich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus. (Mitglied des Remagener Kreises e. v.). Einzelpreis 50 Pf. Anzeigenpreis laut Preisliste Nr. 5. Gesamtherstellung und Auslieferung; Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. – Scan by Brrazo 07/2011