Nr. 1247
Aufbruch zum Vagenda Es geschieht im Tiefenland - eine Großoffensive beginnt von H. G. Francis
Während sich ...
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Nr. 1247
Aufbruch zum Vagenda Es geschieht im Tiefenland - eine Großoffensive beginnt von H. G. Francis
Während sich im letzten Quartal des Jahres 428 NGZ die Auseinandersetzung zwischen den Kräften der Ordnung, vertreten durch Ordobans Endlose Armada und Perry Rhodan mit seinen Gefährten und Verbündeten, und den Mächten des Chaos, repräsentiert durch Kazzenkatt, den Lenker des Dekalogs der Elemente, immer mehr zuspitzt und sich in Richtung Erde verlagert, die als Chronofossil aktiviert werden soll, scheint sich auch im weit entfernten Tiefenland eine endgültige Entscheidung anzubahnen. Das gigantische Tiefenland, vor Äonen von den Raum-Zeit-Ingenieuren und ihren Hilfsvölkern erschaffen, ist seit längerem der Schauplatz der Aktivitäten von Atlan, Jen Salik und Lethos-Terakdschan, den Rittern der Tiefe. Nach einer gefahrvollen Odyssee haben sie zusammen mit ihren Orbitern und den Tiefenpolizisten, den sogenannten Exterminatoren, das Kyberland erreicht und einen Angriff der Grauen Lords zurückgeschlagen. Doch dieser Sieg besagt nicht viel, denn es wird immer deutlicher erkennbar, daß die Graugebiete weiterhin im Wachsen begriffen sind und daß die Heerscharen der Grauen Lords zur Großoffensive ansetzen, die auf das Vagenda zielt, die Quelle der Vitalkraft. Für die Ritter der Tiefe, die letztlich diese Quelle brauchen, um Kontakt mit den Raum-Zeit-Ingenieuren aufzunehmen, wird es höchste Zeit für den AUFBRUCH ZUM VAGENDA …
Aufbruch zum Vagenda
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan, Jen Salik und Lethos-Terakdschan - Die Ritter der Tiefe auf dem Weg zum Vagenda. Domo Sokrat, Clio und Twirl - Sie begleiten die Ritter als Orbiter. Caglamas Vlot und Fordergrin Calt - Zwei Jaschemen. Lordrichter Krart - Mitglied des Führungszirkels der Grauen Lords.
1. Lord Mhuthan hatte vor seinem Tod einen Verzweiflungsplan der RZI erwähnt. Von diesem erhofften sich die RaumZeit-Ingenieure die Rettung. Sie ahnten nicht, daß er in Wahrheit das Verderben für alle Tiefenvölker bedeutete. Unser Plan war es gewesen, auf dem schnellsten Weg in das zwei Lichtmonate entfernte Vagenda im Zentrum des Tiefenlands zu reisen. Wir hatten gehofft, dieses Ziel mit dem Transmitter zu erreichen. Doch dieses Vorhaben erwies sich als undurchführbar, da die Grauen Lords die Transmitterverbindungen des Kyberlands zum restlichen Tiefenland blockiert hatten. Doch dies war nicht die einzige Hiobsbotschaft. Vor wenigen Stunden erst war von den Aktivatorspeichern, wie die Vitalenergiespeicher auch genannt wurden, eine alarmierende Nachricht gekommen. Sie hatten einen verstümmelten Hilferuf des Vagendas empfangen, aus dessen Inhalt ersichtlich wurde, daß die Grauen Lords eine Großoffensive gegen das Vagenda gestartet hatten. Überall im Tiefenland marschierten die Grauen Heere, die Vitalenergieströme drohten zu versiegen und das Vagenda selbst befand sich in größter Gefahr. Wir mußten rasch handeln. Die Jaschemen erklärten sich bereit, uns aus ihren Arsenalen ein Tiefenfahrzeug zur Verfügung zu stellen – eine Gondel. Es handelte sich dabei um eine ähnliche Konstruktion, wie sie schon von Lord Mhuthan verwendet wurde. Daran mußte ich denken, als ich die Gondel sah. Es war nicht die gesamte, aus fünf Stufen bestehende Konstruktion, die uns von den Jaschemen zur Verfügung gestellt wur-
de, sondern nur eine einzelne Gondelstufe – aber für unsere Zwecke würde sie reichen. »Sieht nicht ganz neu aus«, kommentierte Jen Salik. »Das spielt keine Rolle«, erwiderte Lethos. »Hauptsache ist, daß wir so schnell wie nur irgend möglich zum Vagenda kommen.« »Richtig«, stimmte ich zu. »Und damit werden wir es schaffen. Wenn ich Fordergrin Calt richtig verstanden habe, dann erreicht diese Gondel Lichtgeschwindigkeit. Er hat es etwas kompliziert ausgedrückt.« »Zu schwierig für einen arkonidischen Protoplasmacomputer?« fragte das Tabernakel von Holt ironisch. »Wohl nicht ganz«, gab ich zurück. »Immerhin hat sich Calt herabgelassen, mit mir zu reden. Wir können das Vagenda also in etwa zwei Monaten erreichen.« »Zwei Monate mit Lichtgeschwindigkeit?« staunte Twirl. Er blickte mich zweifelnd an. Ihm war anzusehen, daß er zu rechnen begann, auf halber Strecke aufgab und sich dann vorzustellen versuchte, wie weit das Vagenda von uns entfernt war. Verwundert schüttelte er den Kopf. »Entweder hast du dich verrechnet, oder das Tiefenland ist wirklich riesig.« »Das ist es«, bestätigte Clio von dem Purpurnen Wasser. Sie trug genau wie Twirl eine Nachbildung der Exterminator-Schutzanzüge, war darin aber dennoch deutlich als Chyline zu erkennen. Sie hatte einen birnenförmigen Körper und war immerhin über 3,50m groß. Die Exterminatoren dagegen waren humanoid, hatten einen langen, kräftigen Hals mit einem faustgroßen Kopf und bewegten sich ganz anders als sie. »Zwei Monate mit Lichtgeschwindigkeit«, wiederholte der Abaker. »Es ist nicht
4 zu glauben. Hoffentlich sind wir früh genug beim Vagenda.« Diesen Wunsch konnte ich nur unterstreichen. Ich wäre gern sehr viel schneller an unserem Ziel gewesen, doch wir mußten schon mit dem zufrieden sein, was die Jaschemen uns boten. Die Gondel bot uns allen ausreichend Platz. Sie war etwa 500 Meter lang, fünfzig Meter hoch und ebenso breit. Die Exterminatoren gingen bereits an Bord. Sie schienen sich keine Gedanken über die Dauer des Fluges und über die ungeheure Ausdehnung des Tiefenlands zu machen. Die beiden Jaschemen Caglamas Vlot und Fordergrin Calt näherten sich uns erstaunlich schnell. Sie befanden sich in ihrer Aktivphase und hatten eine veränderliche Körperform angenommen. Auf zahllosen Pseudopodien eilten sie heran. Sie würden es übernehmen, die Gondel zu fliegen. »Wir haben uns entschlossen, Kyberland ohne Verzug zu verlassen«, erklärte Caglamas Vlot. Er hatte einen kleinen Mund an der Seite seines fünf Meter hohen Körpers gebildet. Darüber glänzte ein blaues Auge, mit dem er mich kühl und sehr distanziert musterte. Es war erstaunlich, daß er es überhaupt für nötig hielt, Erklärungen abzugeben. Offensichtlich waren ihm die Ereignisse der letzten Tage jedoch unter die Haut gegangen. In grauer Vorzeit war es zu einem Bruch zwischen den Jaschemen und den RaumZeit-Ingenieuren gekommen. Für diese hatten sie das Tiefenland gebaut und mit den noch jetzt bestehenden technischen Lebenserhaltungssystemen ausgerüstet. Nach jener Auseinandersetzung hatten die Jaschemen die Lichtebene verlassen und sich im Kyberland eingerichtet. Sie hatten die WAND zwischen sich und das übrige Tiefenland gelegt und für alle Zeiten jedem Kontakt mit den RZI und den übrigen Tiefenvölkern abgeschworen. Seitdem hatten sie in freiwilliger Isolation gelebt, die Fabriken überwacht und sich mit
H. G. Francis wissenschaftlich-technischen Forschungen befaßt. Interesse für das Leben jenseits der WAND hatte über Jahrzehntausende hinweg als unfein, sogar als abartig gegolten. Weder die Eroberungspläne der Grauen Lords, noch die Leiden der Tiefenvölker hatten die Jaschemen berührt. Sie hatten sich allen anderen Wesen stets turmhoch überlegen gefühlt und sich nie für deren Wünsche, Sorgen und Nöte interessiert, als ob die Wesen »draußen« nicht existent gewesen wären. Schließlich hatten die Jaschemen das Tiefenland, dieses unvorstellbar große Gebilde, konstruiert, auf dem alle anderen lebten. Sie mochten sich wie Götter fühlen. Die freiwillige Isolation der Jaschemen war einerseits eine Folge ihrer geradezu unerträglichen Arroganz, andererseits eine Auswirkung ihres Hasses auf die RZI, denen sie die Schuld an allem Übel zuschoben, was in der Tiefe geschah. Ich war sicher, daß sie die RZI gerade jetzt am meisten haßten, da sie das Kyberland verlassen mußten. Die WAND war brüchig geworden. Der Graueinfluß hatte das Kyberland erreicht und war nur mühsam zurückgedrängt worden. Darüber hinaus aber hatte Lord Mhuthan den Plan der RZI erwähnt, der sich so ganz anders auswirken würde, als die Raum-Zeit-Ingenieure dachten. Ich konnte verstehen, daß die Jaschemen verstört waren. Ich wußte nicht, wie alt Caglamas Vlot und Fordergrin Calt waren, hatte jedoch erfahren, daß Jaschemen bis zu 40.000 Tiefenjahre alt werden konnten. Ganz sicher hatten die beiden so lange im Kyberland gelebt, daß dieser Aufbruch ein Eintritt in ein völlig anderes Leben bedeutete. Im Grunde genommen war ich überrascht, daß sie sich dazu bereitgefunden hatten, uns zu begleiten. Ich hütete mich jedoch, eine diesbezügliche Frage zu stellen, da ich mir ausrechnen konnte, wie die Antwort sein würde. Ich war für die beiden Jaschemen lediglich eine sich selbst reproduzierende Maschine auf Protoplasmabasis, die von einem Eiweiß-Aminosäurecomputer mittels bio-
Aufbruch zum Vagenda chemischer und elektrochemischer Steuerungsimpulse gelenkt wird. Eine solche Maschine hatte keine Fragen zu stellen, schon gar nicht an Persönlichkeiten, die im Lauf der Jahrzehntausende zu eherner Festigkeit erstarrt waren und die sich selbst in die Nähe der Götter ansiedelten. Caglamas Vlot hätte ganz sicher an der Leistungsfähigkeit des EiweißAminosäurecomputers gezweifelt und deutlich gemacht, daß dieser nicht in der Lage sein könne, ein so hochkompliziertes Gerät wie die Gondel zu fliegen, geschweige denn, die Verantwortung für eine Expedition von so weittragender Bedeutung zu übernehmen. Mir sollte nur recht sein, wenn die beiden Jaschemen mitkamen und sich um die Gondel kümmerten. Für den Fall, daß es technische Schwierigkeiten geben sollte, konnte niemand uns besser und schneller helfen als sie. Jen Salik blickte mich von der Seite her an. Das Tabernakel von Holt, das vor kurzem wieder aufgetaucht war, schwebte an uns vorbei an Bord. Ihm folgten Twirl, Lethos, der Haluter Domo Sokrat und Clip vom Purpurnen Wasser. Jen und ich bildeten den Abschluß. Ein breiter Gang führte in die Gondel hinein. Von ihm zweigten zahlreiche weitere Gänge ab. Antigravschächte führen nach oben zu den höheren Decks. Aus allen Richtungen kam das Geraune der Exterminatorstimmen. Es klang eigentümlich hell. Wir betraten einen Raum, der nur wenige Schritte von der Pilotenkanzel entfernt war. Durch eine Panzerplastscheibe konnten wir die beiden Jaschemen sehen. Diese hatten mehrere tentakelartige Gebilde herausgeformt, mit denen sie die Schaltungen der Gondel bedienen konnten. Wir blickten nur flüchtig hin. Durch die Frontscheibe der Zentrale konnten wir die WAND sehen. Fordergrin Calt startete die Gondel. Sie stieg auf, ohne daß wir eine Beschleunigung spürten, raste mit hohen Werten los und glitt
5 über die Tiefenkonstante hinaus. Ich setzte mich in einen der bequemen Sessel und lehnte mich zurück. Ich spürte eine gewisse Müdigkeit. Zwei Monate lang würden wir in dieser Gondel bleiben, während diese mit 300.000 Kilometern in der Sekunde über das Tiefenland hinwegraste. Das Vagenda war zwei Lichtmonate von uns entfernt. Unwillkürlich fragte ich mich, über wie viele Völker wir wohl hinwegfliegen würden, von denen wir nie etwas erfahren würden. Ich wandte mich Jen Salik zu, doch dann sah ich, daß er eingeschlafen war. Zwei Monate. Zeit – ein wenig zu Ruhe zu kommen und geistig zu entspannen. Es war, als würden wir aussteigen aus dem Geschehen in der Tiefe. Zwei Monate. Ich erinnerte mich nicht daran, jemals soviel Zeit für mich gehabt zu haben. Ich würde in Ruhe über alles nachdenken können, was sich ereignet hatte. Genau eine Woche später ging plötzlich ein Ruck durch die Gondel. Zu dieser Zeit hielt ich mich in einem großen Raum auf, in dem etwa zweihundert Exterminatoren versammelt waren. Ich versuchte, einen Streit zu schlichten. Mitten im Gespräch stürzten mehrere Tiefenpolizisten zu Boden. Ich hörte ihre schrillen Schreie. Dann fuhr ich auch schon herum und raste in meinem TIRUN zur Zentrale hoch. »Wir sind gelandet«, teilte mir Jen Salik mit, als ich unseren Raum betrat. Er stand zusammen mit den anderen an der Panzerplastscheibe und beobachtete die beiden Jaschemen, die gerade in diesem Moment von der Passiv- in die Aktivphase überwechselten. Sie waren von der Landung der Gondel offensichtlich ebenso überrascht worden wie wir. »Gelandet? Wieso?« fragte ich, während ich mir vorzustellen versuchte, mit welchen wahnwitzigen Werten die Gondel verzögert
6 hatte. Jen Salik zuckte mit den Schultern. »Vermutlich die Lords«, erwiderte er. »Vielleicht ist es Lord Mhuthan während der Kämpfe im Kyberland gelungen, die technischen Einrichtungen der Tiefenfahrzeuge derart zu manipulieren, daß so etwas wie eine Sperre wirksam wurde, die uns zur Landung zwang.« Irgend etwas flog heulend über uns hinweg. Dann erschütterten mehrere Explosionen die Gondel. Durch die Frontscheibe konnten wir nicht erkennen, was am Boden geschah, weil sich die Kanzel wenigstens zwanzig Meter über diesem befand. Immerhin sahen wir es pausenlos aufblitzen. Rauchsäulen stiegen vor den Fenstern auf. »Ich weiß, von wo aus wir besser sehen können«, rief Twirl Er eilte uns voraus zu einem Raum, der mehrere Sichtluken zur Seite der Gondel hatte. »Da draußen wird gekämpft«, sagte der Abaker. »Die führen Krieg gegeneinander.« Er hatte recht. Die Gondel war mitten auf einem Schlachtfeld gelandet. Um uns herum explodierten nahezu pausenlos Granaten. Flugzeuge rasten heulend an uns vorbei Sie waren so nahe, daß wir die Piloten sehen konnten. Wir beobachteten, wie sie ihre Bombenlast auf das Schlachtfeld abwarfen. Panzer rollten schießend über das Gelände. Ihnen folgten Soldaten, die dem Abwehrfeuer ihrer Gegner relativ schutzlos ausgesetzt waren. Plötzlich explodierten eine Reihe von kleineren Geschossen an den Scheiben, hinter denen wir standen. Sie waren nicht stark genug, diese zu durchschlagen, trieben uns aber immerhin zurück. Jen und ich hasteten zur Zentrale. Wir wollten wissen, warum wir nicht wieder starteten. Als wir die beiden Jaschemen sahen, wurde uns augenblicklich klar, daß es sinnlos gewesen wäre, Fragen zu stellen. Die Gondel konnte nicht starten. Irgend etwas hatte
H. G. Francis sie beschädigt. Wir konnten nur darüber spekulieren, was es gewesen war. Vielleicht würden wir es nie erfahren. Ganz sicher aber war, daß es nicht die Geschosse der auf dem Schlachtfeld kämpf enden Wesen gewesen sein konnten. Sie waren viel zu langsam für die Gondel, und sie hätten sie schon Tausende von Kilometern vor dem Schlachtfeld treffen müssen. Es war nichts als ein purer Zufall, daß wir ausgerechnet hier gelandet waren. Die beiden Jaschemen wirkten nervös und fahrig. Sie hatten zahlreiche Extremitäten und Augen herausgebildet, und es schien, als ob sie Dutzende von Schaltungen gleichzeitig vornähmen. Situationen wie diese hatte ich Hunderte Male erlebt. Ich wußte sie zu beurteilen. »Die Lage ist ernst«, sagte ich. »Wir stehen mitten auf einem Schlachtfeld. Früher oder später wird eine der beiden Parteien auf den Gedanken kommen, daß wir zur Gegenpartei gehören. Und dann wird sie das Feuer auf uns eröffnen. Dadurch werden die Beschädigungen noch umfangreicher, und schließlich werden wir überhaupt nicht mehr in der Lage sein zu starten.« Wir hatten erst einen kleinen Bruchteil der gesamten Strecke zurückgelegt. Das Kyberland lag nur etwa 200 Milliarden Kilometer hinter uns. Unmittelbar vor den Scheiben der Kanzel explodierte eine Granate. Die Glut breitete sich flächenförmig vor uns aus. »Die Jaschemen haben einen Schutzschirm aufgebaut«, stellte Jen Salik fest. »Aber der ist nicht besonders leistungsfähig«, erwiderte ich. »Was tun wir?« »Die Kämpfe da draußen müssen sofort beendet werden«, antwortete Jen. »Sie sind völlig widersinnig. Der Graueinfluß drängt von allen Seiten heran. In wenigen Tagen ist dies wahrscheinlich schon alles Grauland, und dann ist dieser Krieg für beide Parteien sowieso unwichtig geworden. Gewinner und Verlierer werden sich nicht voneinander unterscheiden. Alle werden grau sein, ebenso wie ihre Umgebung. Und auch die Gründe,
Aufbruch zum Vagenda die zu diesem Krieg geführt haben, spielen dann keine Rolle mehr.« »Aber wie erreichen wir, daß sie aufhören zu schießen? Hast du eine Idee?« »Es gibt nur eine Möglichkeit«, erklärte er. »Wir müssen die beiden Hauptquartiere besetzen und ausschalten. Die Oberkommandierenden müssen die Einstellung der Kämpfe befehlen.« Fordergrin Calt drehte sich herum und kam zu uns. Eine der trennenden Scheiben sank herab, so daß er mit uns reden konnte. »Wir haben bereits mehrere Treffer hinnehmen müssen«, eröffnete er uns. »Ihr müßt eingreifen, oder die Gondel wird so stark beschädigt, daß ein Start auf Wochen hinaus unmöglich wird.« Calt hatte mir zu verstehen gegeben, daß Caglamas Vlot und er im höchsten Maß beunruhigt waren. Sie verlangten schnelles Handeln von uns. »Wir werden etwas unternehmen«, erwiderte ich. »Sehr schnell sogar.« Wir verständigten uns augenblicklich. Jen Salik und ich flogen zur einen Seite der Front, Twirl teleportierte mit Lethos zur anderen. In unseren TIRUNS waren wir ausreichend geschützt. Die Explosivgeschosse, deren Flugbahn wir vereinzelt kreuzten, vergingen mit hellen Leuchterscheinungen in unseren Schutzschirmen. Wir spürten noch nicht einmal Erschütterungen. Wir flogen in einer Höhe von nur etwa zwanzig Metern über das Schlachtfeld. Unter uns wütete das Grauen. Kleine Gestalten mit langgestrecktem Körper, vier langen, dünnen Beinen und unverhältnismäßig kräftigen Armen kämpften sich Schritt für Schritt voran. Sie feuerten aus Waffen, die uns altertümlich vorkamen, die aber gleichwohl Tod und Verderben verbreiteten. Immer wieder beobachteten wir, daß Soldaten im Feuer der Gegner zusammenbrachen und daß sofort andere ah ihrer Stelle vorzurücken versuchten, angetrieben von den unerbittlichen Befehlen ihrer Offiziere. Die Oberbefehlshaber hatten nicht, die geringsten Hemmungen, Leben zu opfern.
7 Sie trieben die Soldaten in den Geschoßhagel hinein. Wir beschleunigten. Jede Sekunde war wertvoll. Dabei dachten wir nicht nur an die Gondel, die es zu retten galt, sondern vor allem auch an die vielen Soldaten, die sinnlos starben. Je früher wir die Kämpfe unterbrachen, desto mehr Leben konnten wir bewahren. Doch das schien keiner der Soldaten zu begreifen. Immer wieder schossen sie auf uns. Einige schleuderten Explosivladungen zu uns herauf, ohne uns dabei allerdings gefährden zu können. Unsere Schutzschirme wurden mit derartigen Angriffen spielend leicht fertig. Wir landeten hinter den Linien bei einem Unterstand. In ihm hielten sich mehrere Offiziere auf. Sie waren leicht an den blauen Uniformen zu erkennen. Bevor wir irgend etwas sagen konnten, eröffneten sie das Feuer auf uns. Keiner von ihnen kam auf den Gedanken, mit uns zu verhandeln. »Hört auf«, rief ich ihnen zu und hob abwehrend beide Arme. Vor mir blitzte es pausenlos auf. In meinem Schutzschirm verwandelten sich die Geschosse in Wolken glühenden Gases. »Damit erreicht ihr überhaupt nichts. Wir müssen mit euch reden.« Von allen Seiten rückten Soldaten in unterschiedlichen Uniformen heran. Viele von ihnen schossen auf uns, obwohl sie erkennen mußten, daß die Geschosse unsere Schutzschirme nicht durchschlagen konnten. Mit großen, haßerfüllten Augen blickten sie uns an. »Wir haben nichts mit eurem Krieg zu tun«, fuhr ich fort. »Wir haben nur einen Wunsch. Wir wollen so schnell wie möglich von hier verschwinden.« Einer der Offiziere hob einen Arm, und endlich stellten die anderen das Feuer ein. Er hatte ein menschlich wirkendes Gesicht mit faustgroßen, tiefschwarzen Augen, die nicht nur von Haß, sondern auch von Leid gezeichnet waren. Welche Befehle dieser Mann auch immer gegeben hatte, er wußte von dem entsetzlichen Sterben auf
8 dem Schlachtfeld, und er litt mit jedem seiner Soldaten. Bisher hatte er auf seinen vier Beinen gestanden. Nun aber richtete er sich zu einer beachtlichen Höhe von etwa zweieinhalb Metern auf. Zwei seiner dünnen Beine allein aber schienen den Körper nicht tragen zu können. Er ließ sich aufs Hinterteil herabsinken, verschränkte die beiden vorderen Beine und die Arme vor der ordengeschmückten Brust und blickte mich durchdringend an. Zottige, braune Haare bedeckten seinen Kopf. Über seinen Augen wölbten sich zwei breite Stränge von grünen, warzenähnlichen Gebilden, und unter der gelblichen Haut seiner linken Wange bewegte sich ein sternförmiges Gebilde. Ich vermutete, daß es ein Symbiont war. »Warum verschwindet ihr nicht?« fragte er. »Wir halten euch nicht auf.« »Die Gondel ist beschädigt«, erklärte ich. »Sie muß repariert werden. Schießt nicht auf sie, denn damit macht ihr alles nur noch schlimmer.« Ich zuckte zusammen, als ich sah, daß eine Granate in die Flanke der Gondel schlug und ein großes Loch in die Außenhaut riß. »Hört endlich auf«, rief ich. »Stellt die Kämpfe ein, sie sind ohnehin sinnlos geworden, weil eine dritte Macht heranrückt, die euch beide überwältigen wird.« Er blickte mich an, als habe ich den Verstand verloren. »Die Kämpfe können nicht eingestellt werden«, entgegnete er. »Es sei denn, die Gegenseite beginnt damit.« »Einer von beiden muß der erste sein«, sagte ich verzweifelt. »Hört auf. Ihr könnt nichts mehr erreichen. Die Vitalenergieströme versiegen, die Armeen der Grauen Lords gehen zur Offensive über, und die Graugebiete dehnen sich aus. Noch sind sie nicht bis hierher vorgedrungen, aber das Ende zeichnet sich ab. Macht Schluß mit dem sinnlosen Sterben da draußen.« »Wenn ich die Einstellung der Kämpfe befehle, wird man mich liquidieren.«
H. G. Francis »Wer könnte das befehlen?« »Der Magister«, antwortete er. »Der Magister hat die Macht.« »Ich werde ihn davon überzeugen, daß der Krieg zu Ende ist«, versprach ich. »Notfalls werden wir dich in der Gondel mitnehmen, um dein Leben zu retten.« »Dein Blut darauf?« fragte er. »Mein Blut darauf«, erwiderte ich in der Annahme, meine Aussage auf diese Weise am besten bekräftigen zu können. »Also gut«, stimmte er zu. »Ich riskiere es.« Er erteilte seinen Offizieren einen Befehl. Diese griffen zu den Hörern ihrer Feldtelefone, und wenig später stiegen aus einigen Gräben vor uns grüne Raketen auf. Bruchteile von Sekunden später leuchteten einige Kilometer von uns entfernt auf der anderen Seite der Front blaue Raketen auf. Jetzt verstummten die Kanonen, das Krachen der explodierenden Granaten endete, und nur noch vereinzelt fielen einige Schüsse. Dann endlich wurde es still. Nun aber begannen die Rettungsarbeiten der Ärzte und Sanitäter. Die Auswirkungen der erbarmungslosen Kämpfe wurden deutlich, als man wenig später die Verwundeten an uns vorbeitrug. Ich machte mir Vorwürfe, weil es mir nicht früher gelungen war, die Schlacht zu beenden. »Wo finden wir den Magister?« fragte Jen Salik. »Einer meiner Offiziere wird euch zu ihm bringen«, versprach der Oberbefehlshaber. Er befahl, Späh- und Sondierungstrupps auf das Schlachtfeld hinauszuschicken, da er einen Überraschungsangriff der Gegenseite befürchtete. Bevor wir die Front verließen, blickte ich zur Gondel hinüber, die wie ein riesiges Stahlungeheuer auf dem Schlachtfeld ruhte. An ihren Flanken klafften zahlreiche Lücken, aus denen Rauchfahnen emporstiegen. Wir würden viel zu tun haben, um das Fluggerät wieder zu reparieren. In einigen Stunden waren diese Arbeiten ganz gewiß nicht zu bewältigen.
Aufbruch zum Vagenda Der Magister war ein schwergewichtiger Mann mit langer, zottiger Mähne und wenigstens vier Symbionten unter der Haut Mag sein, daß er noch mehr hatte. Ich sah jedenfalls nur diese vier. Sie bewegten sich fließend unter seiner Haut und riefen ein gewisses Übelkeitsgefühl bei mir hervor. Er empfing uns in seinem Palast, einem luxuriös eingerichteten Prunkbau, der erkennen ließ, daß die Machtstrukturen in diesem Bereich des Tiefenlands seit Jahrhunderten festgelegt waren – wenn nicht noch länger. Auf dem Weg zum Verhandlungssaal hatten Jen und ich eine Ahnengalerie durchschritten, die einige hundert Meter lang war. »Ich fühle mich an die Erde erinnert«, sagte der Terraner. »In einigen Herrscherhäusern soll es ähnlich gewesen sein.« Er wollte keine Parallele ziehen. Er wußte, daß dies ein äußerst gewagtes Unterfangen gewesen wäre. Dies war eine ganz andere Welt als jene, die er angesprochen hatte.
2. Wir standen in einer prunkvollen Halle und blickten zu einer Empore hinauf, die sich etwa drei Meter über uns befand. An einem kunstvoll verzierten Geländer stand der Magister im Kreis seiner Berater und Mitarbeiter und blickte hoheitsvoll auf uns herab. Ich hatte gedacht, die Arroganz der Jaschemen sei nicht mehr zu überbieten. Als ich jedoch die Gesichter der Männer und Frauen hinter dem Magister sah, erkannte ich, daß es doch noch eine Steigerung gab. »Man hat mir berichtet, daß ihr die Kämpfe unterbrochen habt«, eröffnete der Herrscher das Gespräch, und seine Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß er unser Eingreifen in höchstem Maß mißbilligte. »Genau das haben wir getan«, bestätigte ich. Zugleich stiegen Jen und ich mit Hufe unserer TIRUNS auf, bis wir uns in gleicher Augenhöhe befanden wie der Magister. Ein empörtes Raunen ging durch die Reihen der Männer und Frauen auf der Empore. »Die
9 Kämpfe sind sinnlos geworden, da dieses Reich und das deiner Feinde schon bald dem Graueinfluß erliegen wird.« Unwillig blickte der Magister uns an. Auch ihm gefiel nicht, daß wir seine Autorität in Frage stellten und uns nun auf gleicher Höhe mit ihm befanden. »Die Kämpfe müssen bis zu ihrem Ende ausgefochten werden«, erwiderte er energisch. Dabei schlug er seine rechte Faust zornig auf das Geländer. »Die Ausen haben immer wieder Spionagevorstöße gegen uns unternommen. Sie haben unser Staatsgebiet verletzt und ihre militärische Überlegenheit schamlos ausgenutzt. Schließlich ist es uns gelungen, ein Spionagefahrzeug mitsamt seiner Besatzung zu überwältigen, das sich auf unserem Territorium befand. Die Ausen haben darauf mit einer militärischen Operation reagiert. Das war der Beginn des Krieges. Wir können ihn nicht abbrechen, ohne unser Gesicht zu verlieren, und die Ausen können es ebenfalls nicht. Dieser Krieg wird erst enden, wenn eines von unseren beiden Reichen zerstört ist.« »Du scheinst nicht gehört zu haben, was ich gesagt habe«, entgegnete ich. »In einigen Tagen oder Wochen wird es weder dein Reich noch das der Ausen geben, denn beide werden von den Grauen Lords übernommen worden sein.« »Das wird meinem Bruder egal sein.« Ich blickte den Magister fragend an. »Deinem Bruder?« erkundigte sich Jen. »Was hat der damit zu tun?« »Er ist der Magister von Ausen.« »Dann sollte es erst recht kein Problem sein, den Krieg zu beenden. Warum schließt ihr keinen Waffenstillstand, der es beiden Seiten ermöglicht, das Gesicht zu wahren?« Jen mußte ihm erläutern, was ein Waffenstillstand war. So etwas gab es in der Vorstellungswelt des Magisters nicht, und er fand auch keinen Gefallen daran. »Ich muß kämpfen, und ich werde kämpfen«, rief er. »Nur so können wir Szesen vor uns selbst bestehen. Ich bin es mir selbst schuldig, den Kampf bis zum Ende durchzu-
10 führen.« »Das ist interessant«, erwiderte ich. »Bis jetzt habe ich dich noch nicht kämpfen sehen. Ich sehe nur, daß du hier in Luxus und in Ruhe lebst, während die Männer deines Volkes auf dem Schlachtfeld verbluten.« Diese Worte riefen bei seinen Mitarbeitern und Beratern eine heftige Reaktion hervor. Einige von ihnen protestierten laut. Doch er brachte sie rasch wieder zur Ruhe, indem er abwehrend eine Hand hob. »Es ist mein Blut, das die Männer auf dem Schlachtfeld vergießen«, behauptete er ebenso stolz wie abweisend. Ich spürte, daß sich mir das Blut in den Kopf drängte. Zugleich fragte ich mich, ob der Magister jemals in seinem Leben ein Schlachtfeld gesehen hatte. War er ein einziges Mal dabei gewesen, wenn die Verwundeten, Verstümmelten und Toten geborgen wurden? War ihm jemals eine Kugel um den Kopf geflogen? War jemals auch nur ein Tropfen seines Blutes geflossen? »Ich verstehe«, sagte ich mühsam beherrscht. Jen Salik blickte mich mahnend an, und ich dachte daran, daß es um die Gondel ging. Sie mußte für einige Tage auf dem Staatsgebiet des Magisters bleiben, damit sie repariert werden konnte. Ein Streit mit diesem hochnäsigen und starrsinnigen Mann wäre gefährlich gewesen. Er hätte dazu führen können, daß seine Truppen die Gondel angriffen, die über keinerlei Waffen verfügte und nur schwache Energieschirme hatte. Wahrscheinlich war es das beste, dieses Gebiet dem Graueinfluß zu überlassen. »Geht zu meinem Bruder«, empfahl der Magister uns. »Erzählt ihm, daß die Grauen Lords angreifen und uns besiegen werden. Fordert ihn dazu auf, sich bei mir zu entschuldigen und die Kämpfe einzustellen. Wenn er hier in diesem Saal erscheint und Abbitte tut, werde ich meinen Offizieren verbieten, auf unsere Feinde zu schießen.« Die Männer und Frauen hinter ihm klatschten eifrig Beifall. Mir kam es in erster Linie darauf an, Zeit
H. G. Francis zu gewinnen. »Einverstanden«, erwiderte ich daher. »Bis dahin bitten wir um die Genehmigung, uns mit der Gondel auf deinem Territorium aufhalten zu dürfen.« »Gewährt«, sagte er gnädig. »Ich werde einige Offiziere an Bord schicken. Sie sollen sich davon überzeugen, daß ihr tatsächlich notgelandet seid und nicht die Absicht habt, uns anzugreifen. Sollten sie zu der Überzeugung kommen, daß die Gondel eine Waffe meines Bruders ist, werden wir bedingungslos zuschlagen.« »Ich danke dir, Magister. Wir können die Reparaturen allerdings nur durchführen, wenn die Feuerpause noch für einige Zeit andauert.« Ich bot ihm die Lücke, nach der er gesucht hatte, und er begriff. »Das verstehe ich«, erwiderte er, wobei er einige Schritte an der Brüstung auf und ab ging. »Wir werden die Feuerpause für zwei Tage aufrechterhalten, damit ihr die Reparaturen ausführen könnt. Ich hoffe, mein Bruder hat ebensoviel Verstand, sich an diese Regelung zu halten. Wenn nicht, wird weitergeschossen.« Damit drehte er sich um und stolzierte davon. Krachend fiel die Tür hinter ihm zu. Jen und ich blickten uns an. Ein schweres Stück Arbeit lag hinter uns. Als wir zur Gondel zurückkehrten, erwarteten uns zehn blau uniformierte Offiziere. Sie trugen kurzläufige Maschinengewehre unter den Armen. Mit grimmig verschlossener Miene blickten sie uns an. »Der Magister hat uns befohlen, die Gondel zu inspizieren«, eröffnete mir einer von ihnen. Er trug vier flammenförmige Orden auf der Brust. »Mein Name ist Gorflon. Ich führe das Kommando.« »Nur zu«, forderte Jen ihn auf. »Das Schott ist offen. Tretet ein und seht euch um. Ihr werdet nirgendwo Waffen finden.« »Abgesehen von einigen Handfeuerwaffen«, fügte ich rasch hinzu. »Wir reden nur von Bordwaffen«, entgeg-
Aufbruch zum Vagenda nete der Offizier. »Alles andere interessiert uns nicht.« In diesem Moment ertönte ein schriller Pfiff. Als wir uns umdrehten, sahen wir zehn rot uniformierte Offiziere von der anderen Seite der Front herüberkommen. »Die Ausen«, sagte Gorflon haßerfüllt. Ein Ruck ging durch seine Gestalt. Er riß das Maschinengewehr hoch und richtete es auf die rot Uniformierten. »Geschossen wird nicht«, sagte Jen energisch. Er stellte sich zwischen die beiden Parteien. »Wir müssen die Gondel inspizieren«, erklärte einer der roten Offiziere. »Aber nicht mit uns zusammen«, protestierte Gorflon. »Das Problem ist leicht zu lösen«, sagte ich. »Jen, du gehst mit Gorflon und seinen Leuten, ich werde mit den Offizieren von Ausen um die Gondel herumgehen und sie auf der anderen Seite betreten. So werden wir beiden Parteien gerecht.« Die Blauen und die Roten waren einverstanden. Ich führte meine Gruppe um die Gondel herum, fand auf der anderen Seite ein Schott, öffnete es und bat sie herein. Voller Mißtrauen und mit schußbereiten Waffen gingen sie an mir vorbei. Jeder von ihnen hätte froh über die Feuerpause sein müssen, aber sie alle hatten zu lange gekämpft. Sie schienen nicht mehr zu wissen, was Vertrauen ist. Ich zeigte ihnen das Innere der Gondel. Dabei stellte ich fest, daß das Ausmaß der Zerstörungen erstaunlich groß war. Mehrere Granaten waren tief eingedrungen, bevor sie explodiert waren. Glücklicherweise war niemand von uns verletzt worden. Ich begann, unseren Zwangsaufenthalt mit anderen Augen zu sehen. Bisher hatte ich nicht geglaubt, daß wir viel Zeit verlieren könnten. Jetzt erkannte ich, daß unser Flug an dieser Stelle zu Ende sein würde, wenn man uns mit geballter Kriegsmacht angriff. Die Abwehrschirme waren zu schwach, um uns vor der Vernichtung bewahren zu können.
11 Die Gondel war weitgehend leer. Die wenigsten Räume waren belegt, obwohl sich über fünftausend Exterminatoren an Bord aufhielten. Ich führte die Offiziere mehrere Male durch die Räume, in denen sich die Tiefenpolizisten aufhielten, und ich sorgte dafür, daß sie einige der Waffen der Exterminatoren zu sehen bekamen. Damit wollte ich sie abschrecken und verhindern, daß sie auf dumme Gedanken kamen. Gorflon betrat den Verhandlungssaal des Palasts und blieb in demütiger Haltung unter der Empore stehen, bis der Magister über ihm erschien. Dann warf er sich vor ihm auf den Boden. Er verharrte in dieser Stellung, bis der Herrscher des Szesen-Landes ihn aufforderte, den Kopf zu erheben. »Nun? Was hast du zu berichten?« fragte sein Herrscher. »Die Gondel ist fast leer«, erklärte der Offizier und senkte den Kopf rasch wieder. »Und? Weiter, weiter. Worauf wartest du?« »Es befinden sich etwa fünftausend Exterminatoren an Bord«, fuhr der Offizier fort. »Wir haben noch nie mit Tiefenpolizisten zu tun gehabt, deshalb ist ihre Kampfkraft schwer zu beurteilen. Ich glaube jedoch, daß ihre Bewaffnung der unseren überlegen ist. Dennoch bin ich davon überzeugt, daß wir die Gondel erobern und damit vor den Grauen Lords fliehen können.« Der Magister lächelte. »Genau das werden wir tun«, erklärte er. »Diese Unwürdigen! Sie haben es gewagt, sich zu mir zu erheben. Dafür werden sie mit ihrem Leben bezahlen.« Gorflon berichtete, daß er mehrere Einstiegsmöglichkeiten in die Gondel gefunden habe, und er schlug vor, ein Einsatzkommando vorauszuschicken. »Darüber werde ich nachdenken«, erwiderte der Magister. Er schlug die Hände klatschend zusammen. »Zunächst müssen wir uns mit den Ausen verständigen. Ich werde dich zu meinem Bruder schicken. Du wirst ihm das Angebot für eine gemeinsame Aktion gegen die Fremden überbringen. Nie
12 haben wir eine bessere Gelegenheit gehabt, den Krieg zu beenden. Jetzt haben wir einen Feind, der uns beide bedroht. Unsere vereinigten Truppen werden ihn bekämpfen.« Gorflon zuckte zusammen, aber auch jetzt wagte er es nicht, den Kopf zu heben. Er glaubte, sich verhört zu haben. Vor wenigen Stunden hatte er an vorderster Front gegen die Ausen gekämpft. Immer wieder hatte er seine Männer in den Geschoßhagel der Feinde getrieben, dem Befehl gehorchend, den das Oberkommando ihm erteilt hatte. Immer wieder hatte er seinen Soldaten Haß und Vernichtungswillen gegen die rot Uniformierten eingehämmert. Und jetzt sollte er alles vergessen? Er sollte mit jenen gemeinsam kämpfen, die eben noch seine Todfeinde gewesen waren? Für einen kurzen Moment kamen Zweifel am Magister in ihm auf, aber dann verflogen sie wieder. Gorflon war ebenso wie alle anderen Bürger dieses Staates seit frühester Jugend konditioniert worden. Man hatte ihm beigebracht, daß der Magister immer recht hatte und sich niemals irren konnte. Der Magister war gottgleich, und was er anordnete, mußte richtig sein. Als die Zweifel überwunden waren, kam Empörung in Gorflon auf. Wie töricht die Fremden sind, dachte er. Sie beleidigen den Magister. Damit haben sie die Strafe herausgefordert. »Geh jetzt zu meinem Bruder«, befahl der Magister. Er griff nach einem Helm, der mit einer großen, weißen Feder verziert war, und warf ihn Gorflon herunter. Der Offizier fing ihn auf und stülpte sich ihn über den Kopf. »Der Helm weist dich als Unterhändler aus. Niemand wird es wagen, auf dich zu schießen«, schloß der Magister. »Geh jetzt und achte darauf, daß die Fremden dich nicht sehen.« Gorflon verließ den Saal mit einem Gefühl der Erleichterung. Der Magister hatte ihm eine klare Anweisung gegeben. Er brauchte nicht darüber nachzudenken, ob diese richtig war oder nicht. Er brauchte sie nur auszuführen.
H. G. Francis Während er aus dem Palast eilte, auf ein achtbeiniges Reittier stieg und damit zur feindlichen Seite der Front hinübertrabte, ließ er sich immer mehr von der Idee gefangen nehmen, die Fremden zu überwältigen. Wie viel Macht würden doch die Szesen gewinnen, wenn sie die Gondel in der Hand hatten! Damit würden sie über alle benachbarten Reiche triumphieren. Er dachte flüchtig daran, daß der Grauenfluß immer näher rückte, und daß die Vitalströme versiegten. Doch dann schob er diese Gedanken von sich. Noch waren die Heerscharen der Grauen Lords nicht in diesem Gebiet des Tiefenlands erschienen. Wer wußte denn schon, wie lange es noch dauern würde, bis sie kamen? Vielleicht vergehen Jahrhunderte, dachte er. So weit kann niemand vorausdenken. Wir müssen im Auge behalten, was jetzt geschieht Alles andere berührt uns nicht. Er schwenkte seinen Helm, um den Truppen von Ausen anzuzeigen, daß er als unbewaffneter Unterhändler kam. Clio vom Purpurnen Wasser verdrehte ihre drei übereinander liegenden Augen und blickte mich verzückt an. »Sieh nur mein Spiegelbild«, hauchte sie mit dunkler, rauchiger Stimme. »Ist es nicht schön?« Ich blickte sie verblüfft an. Im Moment hatte ich an alles mögliche gedacht, nur nicht an Clios Schönheit »Diese Nachahmung eines Exterminatoranzugs verunstaltet mich ein wenig. Zugegeben«, fuhr sie fort, wobei sie einen kirschroten Mund formte, der an Weiblichkeit nicht mehr zu überbieten war. »Er hat aber den Vorteil, daß das seidig matte Glänzen meiner Haut durch den Kontrast besonders gut zur Geltung kommt.« Sie wendete sich vor einer spiegelnden Metallwand hin und her, ohne die Blicke von ihrem Abbild zu nehmen. »Ich mußte zu dir kommen, Clio«, beteuerte ich. »Du weißt, daß ich eine Schwäche
Aufbruch zum Vagenda für Schönheit habe, so daß ich immer wieder die Begegnung mit dir suche.« »Ja, das weiß ich«, schmolz sie dahin. Ihr birnenförmiger Körper vibrierte vor Glück. Clio vom Purpurnen Wasser war eine Spielzeugmacherin vom Volk der Chylinen. Sie hatte die besondere Fähigkeit aus ihrer Körpersubstanz alle nur erdenklichen Geräte zu erschaffen. Die informativen Grundlagen dafür hatten die Jaschemen schon vor Jahrzehntausenden gelegt als sie die Chylinen entsprechend konditioniert hatten. Ohne die weit zurückliegende Programmierung der Chylinen wären diese ganz sicher nicht in der Lage gewesen, mehr zu konstruieren als die einfachsten Dinge – Spielzeuge für Kinder etwa. Gerade damit hatte sich Clio in ihrer Wasserburg über lange Jahre hinweg beschäftigt und damit große Beliebtheit erworben. Wie alle Spielzeugmacher war Clio unsterblich. Wie ich mittlerweile wußte, konnten sich ihre Körperzellen regenerieren, so daß sie in einer Art »Jungbrunnen« wieder zur Jugendlichen wurde. Gerade das war vor noch nicht allzu langer Zeit mit Clio geschehen. Sie war in einen scheintodähnlichen Zustand verfallen, hatte sich darin regeneriert und war seitdem wieder jung. Dabei hatte sie vieles von dem vergessen, was sie zuvor erlebt hatte. Ihre Erinnerung war weitgehend erloschen. Geblieben aber war ihre überspitzte Eitelkeit. Die Tür öffnete sich, und Fordergrin Calt kam herein. Er bildete ein faustgroßes Stielauge heraus und blickte Clio und mich an. »Er erwartet das protoplasmatische Konglomerat dort zu sehen, wo Reparaturen notwendig geworden sind, nicht aber vor einem Spiegel«, sagte er mit unnachahmlicher Herablassung und in der Er-Form. Ich glaubte, mich verhört zu haben. Er meinte mit »protoplasmatischem Konglomerat« ganz sicher nicht mich, sondern Clio, und er wollte, daß diese ihre besonderen Fähigkeiten dafür einsetzte, die für die Reparaturen benötigten Geräte zu produzieren. Forschend blickte Calt die Spielzeugma-
13 cherin an. Clio wiegte sich kokett vor der spiegelnden Wand. Sie hatte zwei Arme geformt, deren Enden sie an ihre Seiten drückte. Ihr Mund war noch ein wenig größer als zuvor, und er leuchtete wie ein rotes Neonlicht. Der Jascheme blickte mich an. »Hat es nicht gehört?« fragte er mich. »Dann sorge dafür, daß es begreift.« Damit drehte er sich um und eilte auf Dutzende von Pseudopodien hinaus. »Was wollte er denn?« fragte Clio. »Ach, weißt du«, erwiderte ich langsam. »Wir benötigen jemanden, der uns hilft, die Schäden zu beseitigen. Natürlich haben wir nicht alle Geräte an Bord, die erforderlich sind. Soweit ich weiß, sind elementare Teile der Computer ausgefallen. Nur du kannst für den benötigten Ersatz sorgen.« Clio vom Purpurnen Wasser sah sich im Raum um, als sei noch jemand außer uns vorhanden. »Aber wen meint er denn mit protoplasmatischem Konglomerat?« fragte sie. »Und wie kommt er darauf, daß dieses Konglomerat etwas für die Reparatur tun könne?« Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu und wiegte ihren Oberkörper verzückt hin und her. »Na, ja«, seufzte sie. »Mich geht das nichts an.« Ich verfluchte den Jaschemen. Wie konnte dieser in seiner unerträglichen Arroganz so unklug sein und Clio als einen »ungeordneten Haufen von Körperzellen« bezeichnen? Mit einer derartigen psychologischen Fehlleistung mußte er ja ihren Widerstand herausfordern. Dabei hatten die Jaschemen erst vor kurzem der Spielzeugmacherin große Verehrung entgegengebracht. Clio wird eher mit dir und allen hier zugrunde gehen, als nachzugeben, meldete sich mein Logiksektor. Schlimmer hätte man sie nicht kränken können. »Arroganz ist die Waffe der Dummen«, sinnierte ich und lehnte mich dabei an die Wand. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auf meine Stiefelspitzen.
14 »Sie wissen um ihre Unterlegenheit und können sich nur dadurch wehren, daß sie sich hinter Überheblichkeit und Unnahbarkeit verschanzen. Sie hoffen, daß man dann nicht bemerkt, wie geistig arm sie sind. Und tatsächlich ist es so, daß kaum jemand wagt, sie anzusprechen.« Clio blickte mich hoffnungsfroh an. »Du meinst, die Jaschemen sind gar nicht so intelligent, wie sie tun?« fragte sie. Ich lachte. »Aber Clio!« Sie hob einen Arm und formte einen langen Zeigefinger. Damit wedelte sie mir vor der Nase herum. »Nicht übertreiben«, ermahnte sie mich. »Die Jaschemen haben immerhin die Grundlagen für mein Wissen geschaffen. Ihnen verdanke ich es, wenn ich heute alle möglichen Geräte herstellen kann. Ich wäre umgekehrt nicht in der Lage, irgend jemanden so zu konditionieren und zu programmieren, daß er und seine Nachkommen diese gewünschten Fähigkeiten nach Jahrtausenden noch haben.« »Die Jaschemen können das heute auch nicht mehr«, behauptete ich, ohne mich um die Wahrheit zu scheren. »Wie kommst du darauf?« »Ihre Überheblichkeit beweist es mir.« »Wie könnte sie das?« »Habe ich dir nicht schon gesagt, daß Arroganz die Waffe der Dummen ist?« fragte ich. »Mir sind in meinem Leben viele Persönlichkeiten begegnet. Am bescheidensten waren die Genies, denn sie wußten, daß sie bei aller Vollkommenheit doch unzulänglich geblieben waren.« Diese Worte erzielten eine beträchtliche Wirkung auf die Spielzeugmacherin. Clio richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, und dann streckte sie ihren Oberkörper, um noch ein wenig größer zu erscheinen. »Das ist wahr«, rief sie begeistert »Die Beobachtung habe ich auch gemacht. Wahre Größe kennt keine Arroganz. Also sind die Jaschemen schwach. Sie versuchen nur, uns mit ihren Äußerungen zu verletzen, um uns
H. G. Francis herabzusetzen und sich selbst Größe zu beweisen. Ich danke dir, Atlan.« »Wofür?« fragte ich. Sei nicht so scheinheilig! schalt mich mein Extrahirn. »Du hast mir sehr geholfen. Jetzt bin ich bereit, die nötigen Reparaturen durchzuführen.« Sie lächelte mich an, und ich flüchtete aus dem Raum, weil ich fürchtete, daß sie mich auch noch küssen würde. Die Exterminatoren waren dabei, große Stahlplastikplatten aus dem Innern der Gondel herauszutrennen und damit die Löcher an der Außenhaut zu versiegeln. Wir schoben uns auf dem Weg zu den Triebwerksräumen an ihnen vorbei »Laßt es mich wissen, wenn ihr irgendwelches Material benötigt«, gurgelte Clio vom Purpurnen Wasser. Sie schien sich köstlich darüber zu amüsieren, daß die mächtigen Krieger das Schiff auf diese Weise reparieren mußten und nicht auf die Technik zurückgreifen konnten, die sie bis zur Perfektion entwickelt hatten. Wenig später kreuzte Twirl mit mehreren Ausen unseren Weg. Die Offiziere wirkten in ihren roten Uniformen wie Fremdkörper an Bord. »Ich kann ihre Gedanken nicht lesen«, wisperte der Abaker, als er neben mir stand. »Ich fürchte, sie führen etwas im Schilde.« Ich nickte nur, machte mir aber weiter keine Sorgen. Was konnten die Ausen mit ihren doch recht primitiven Waffen schon gegen uns ausrichten? Die fünftausend Exterminatoren stellten ihnen gegenüber eine geradezu unschlagbare Armee dar. Als wir den Triebwerksraum betraten, sah ich Caglamas Vlot und Fordergrin Calt an den positronischen Schaltungen der Gondel arbeiten. Hier waren offenbar die größten Schäden entstanden. Jen tauchte unversehens neben mir auf. »Bis jetzt wissen wir nicht, was unseren Zwangsaufenthalt tatsächlich verursacht hat«, bemerkte er. »Was ist mit der Positronik?« fragte ich. »Teile davon fehlen. Sie scheinen sich einfach in Luft aufgelöst zu haben.«
Aufbruch zum Vagenda »Vielleicht haben sie schon vor unserem Start gefehlt«, vermutete ich. »Ausgeschlossen«, widersprach der Terraner. »Wir haben alles untersucht. Es gibt keinerlei Hinweise auf derartige Eingriffe. Calt meint, daß Lord Mhuthan mit irgendeiner Langzeitfalle die Auflösung des Materials verursacht haben könnte. Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist nur, daß wir die fehlenden Teile ersetzen.« »Aus diesem Grund bin ich hier«, sagte Clio fröhlich. »Ich wußte, daß die Jaschemen es ohne mich nicht schaffen würden.« Sie blickte mit spöttisch funkelnden Augen zu den beiden riesigen Gestalten hinüber, die an den Schaltungen arbeiteten. Meine Erklärungen über die Überheblichkeit hatten offenbar einen nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht. Ich war sicher, daß sie sich nicht beleidigt fühlen würde, wenn die Jaschemen sich abermals herablassend äußern würden.
3. »Ich mache mich an die Arbeit«, kündigte sie an und tippelte auf wenigstens fünfzig Pseudopodien zu Calt und Vlot hinüber. »Wie ich sehe, schafft ihr es allein nicht«, rief sie den beiden Jaschemen zu. »Nun gut, jetzt bin ich ja da. Was kann ich tun?« Fordergrin Calt wandte sich ihr zu. Er bildete ein Stielauge am höchsten Punkt seines turmartigen Körpers und blickte auf sie herab. »Für die Lösung gewisser Probleme haben wir programmierbare organische Konglomerate geschaffen«, erwiderte er näselnd. »Warum sollten wir niedere Arbeiten erledigen, wenn unsere Genialität es erlaubt, Spezialeinrichtungen für derartige Dinge bereitzustellen?« Clio nahm keinen Anstoß daran, daß er sie eine »Spezialeinrichtung« genannt hatte. Sie lachte leise und machte sich an ihre Arbeit. Jen blickte mich erstaunt an. »Wie hast du das geschafft?« fragte er.
15 Ich wollte ihm ebenfalls einen Vertrag über den Zusammenhang zwischen Genialität und Bescheidenheit halten, als es unweit von mir plötzlich krachte. Ich spürte die Luftdruckwelle einer Explosion, die durch die verschlossenen Türen abgemildert wurde. Im nächsten Moment rannte ich schon zum nächsten Schott und öffnete es. Eine Geschoßgarbe flog mir jaulend um die Ohren. Ich sah fünf Ausen, die mit ihren Maschinenpistolen auf mich feuerten. Ich reagierte instinktiv – und die Schutzschirme meines TIRUNS bauten sich schneller auf, als ich denken konnte. Hinter mir schrie Clio auf. Ich fuhr herum und sah, daß mehrere Geschosse in ihren birnenförmigen Leib geschlagen waren. »Welch ein Verbrechen«, stammelte sie voller Entsetzen. Ich wurde mir siedendheiß dessen bewußt, daß unsere ganzen Hoffnungen auf der Spielzeugmacherin beruhten. Nur sie konnte uns die dringend benötigten Ersatzteile herbeischaffen. »Clio«, rief ich, während ich zu ihr hineilte, um sie zu schützen. »Bist du in Ordnung?« Ich blickte hilflos auf die blutenden Schußwunden, denn ich wußte nicht, welchen Schaden die Geschosse in ihrem Inneren angerichtet hatten. Waren lebenswichtige Organe verletzt? Wie sollten wir ihr helfen? Gab es überhaupt medizinische Einrichtungen an Bord, die auf ein so fremdartiges Lebewesen wie die Chyline eingestellt waren? Ihre Augen waren geweitet, und der Mund schmolz zu einem schmalen Strich zusammen. »Welch ein Frevel«, röchelte sie. »Clio«, drängte ich. »Antworte doch. Wie kann ich dir helfen? Was soll ich tun?« Sie sank auf den Boden, und der Unterkörper ihres birnenförmigen Leibes weitete sich aus. Ich fürchtete, er würde seine Form vollends verlieren.
16 Wie aus weiter Ferne hörte ich die Schüsse der Ausen. An mehreren Stellen der Gondel explodierten Sprengladungen. Sie vergrößerten die Schäden, die wir erlitten hatten. »Welch eine Schande«, seufzte sie. »Clio – was kann ich tun?« Endlich richteten sich ihre Augen auf mich. Sie blickte mich an, als nehme sie mich erst jetzt wirklich wahr. »Du kannst nichts tun«, klagte sie und richtete sich ein wenig auf. »Sie haben meine Schönheit zerstört. Du hast den seidigen Glanz meiner Haut gesehen, Atlan. Du warst der letzte, dem dieser unvergleichliche Genuß vergönnt war.« »Ich hole einen Cybermed«, versprach ich ihr. »Das ist nicht nötig«, wehrte sie ab. »Doch, doch«, drängte ich. »Du brauchst einen Arzt.« »Ich kann mich selber heilen«, erwiderte sie. »Doch darum geht es nicht. Meine Haut hat einen Schock erlitten. Sie wird nie mehr so glatt und seidig werden, wie sie war. Meine Schönheit, sie ist dahin.« Endlich begriff ich, und ich brauchte einige Zeit, zu mir zu kommen. Die liebe Clio war keineswegs tödlich verletzt. Sie litt lediglich darunter, daß ihre Haut durch die Kugeln aufgerissen worden war. Ihre Eitelkeit war nicht mehr zu übertreffen. »Aber Clio«, sagte ich endlich. »Der Schönheitsbegriff hat sich im Lauf der Zeit gewandelt. Gefragt ist nicht mehr die makellos reine Haut. Dazu gehören auch die Spuren des Lebens. Eine Narbe kann eine ganze Geschichte erzählen, und Persönlichkeiten ohne Narben gibt es nicht.« Ihre Augen leuchteten hoffnungsvoll auf. »Du meinst, diese Narben könnten meine Schönheit eher noch erhöhen?« »Genau das wollte ich damit sagen.« Mir pfiffen einige Kugeln um den Kopf, und ich stellte mich vor die Spielzeugmacherin, um die Geschosse mit meinem Schutzschirm abzufangen. Ich sah, daß ein blau uniformierter
H. G. Francis Szese schießend durch den Maschinenraum lief und einem gegenüberliegenden Ausgang zustrebte. Jen zielte mit einem Paralysestrahler auf ihn und lähmte ihn. »Wir lassen uns ungern durch solche Zwischenfälle stören«, erklärte Caglamas Vlot. »Sorgt endlich für Ruhe.« Er sprach von sich selbst und von Fordergrin Calt. »Wie lange braucht ihr für die Reparaturen?« fragte ich. »Wann kann die Gondel wieder starten?« »Wenn wir ungestört bleiben, noch etwa drei Tage«, erwiderte Caglamas Vlot. »Das ist unmöglich«, begehrte ich auf. »Es, muß schneller gehen. Clio ist bereit, alles zu tun, was in ihrer Macht steht.« »Es geht nur schneller, wenn wir auf unsere Passivpausen verzichten«, erläuterte Fordergrin Calt. Ich muß ihn wohl recht eigenartig angesehen haben, denn Jen stieß mich an. »Beruhige dich«, ermahnte er mich. »Du mußt Verständnis für sie haben.« »Was heißt das?« fuhr ich den Jaschemen dennoch an. »Wir alle arbeiten durch, damit wir so schnell wie möglich starten können. Und ihr wollt euch für Stunden in eure Passivphase zurückziehen? Das kann nicht euer Ernst sein.« »Wenn wir die Passivphase verkürzen und somit die Aktivphase verlängern, verringert sich automatisch unsere Lebenserwartung«, belehrte er mich. Das geschah zudem in einem Ton, der mir das Blut in den Kopf trieb. »Hast du eine so geringe Aufnahmekapazität, daß du diese Informationen nicht hochrechnen kannst?« »Das habe ich längst getan«, erwiderte ich. »Meine Hochrechnung hat ergeben, daß ein so kurzer Verzicht auf die Passivphase angesichts einer Lebenserwartung von etwa 40.000 Tiefenjahren keine relevante Verringerung der Lebensdauer beinhaltet.« Unwillkürlich suchte ich nach Worten, mit denen ich ihm die Herabsetzung heimzahlen konnte, doch dann dachte ich an Clio, der ich einen Vortrag über den Zusammen-
Aufbruch zum Vagenda hang zwischen Arroganz und Intelligenz gehalten hatte, und ich mäßigte mich. Ich atmete einige Male tief durch und hatte dann die außerordentliche Befriedigung, von Calt zu hören, daß er durcharbeiten wollte, bis die Gondel starten konnte. »Voraussetzung ist allerdings, daß die Störungen aufhören«, schloß er und deutete mit einem rasch herausgebildeten Tentakel auf den paralysierten Soldaten, der noch immer im Maschinenraum lag. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht«, versprach ich, packte den Gelähmten und trug ihn hinaus. Jen folgte mir. Er strich sich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über seine lange Nase. »Wir waren nicht besonders erfolgreich beim Magister«, sagte er, während ich den paralysierten Soldaten durch die Gänge trug. »Sie hätten nicht auf diesen verrückten Gedanken kommen dürfen.« Als wir ein Schott erreichten, sahen wir Offiziere in roten und in blauen Uniformen von der Gondel weg flüchten. Mehrere Exterminatoren folgten ihnen. In panischer Angst warfen die Ausen und die Szesen ihre Waffen weg, um schneller laufen zu können. »Ich glaube nicht, daß das eine gute Lösung ist«, kritisierte Jen. »Solange die Magister nicht begreifen, kommen wir keinen Schritt weiter. Und die Jaschemen müssen ungestört arbeiten. Bas haben sie mehrfach unterstrichen.« Er hatte seinen Satz kaum zu Ende gebracht, als die Kanonen krachten. Granaten heulten durch die Luft und schlugen über uns in die Flanken der Gondel. Auf beiden Seiten der Front stiegen Raketen auf. Panzer rollten schießend auf das Schlachtfeld, und aus den Schützengräben stürmten Soldaten hervor. Einige von ihnen schossen auf uns, einige auf die Soldaten, die sich ihnen von der anderen Seite der Front näherten. Ebenso verhielten sich die Kanoniere und die Panzerfahrer. Sie rückten nicht nur gegen die Gondel vor, sondern auch gegen den bisherigen Feind.
17 Die Schlacht tobte weiter. Entsetzt verfolgten Jen und ich, wie Dutzende von Soldaten im Geschoßhagel starben, während wir in unseren Schutzschirmen unbehelligt blieben. »Zurück in die Gondel«, rief ich dem Terraner zu. Wir flüchteten hinter die Stahlwände, hinter denen wir den Schlachtenlärm nur wie aus weiter Ferne hörten. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte ich. »Nein, ich glaube nicht, daß wir diese Wahnsinnigen noch aufhalten können.« Ich sagte ihm, auf welche Idee ich gekommen war. Zunächst blickte er mich sprachlos an, aber dann grinste er plötzlich und trieb mich zur Eile an. Die Palastwachen feuerten mit Maschinengewehren auf uns, als Jen und ich an der Spitze einer Gruppe von zweihundert Exterminatoren in den Palast stürmten. In unseren Schutzschirmen blitzte es pausenlos auf. Doch wir spürten kaum mehr als leichte Erschütterungen. Mit derartigen Primitivwaffen konnte man uns nicht gefährden. Unter dem Energiefeuer meiner Waffe platzte das hölzerne Portal des Palasts auseinander. Die Wachen stellten das Feuer ein. Sie begriffen, daß sie nichts damit ausrichteten. Furchtsam wichen sie vor uns zurück. Wir schwebten in unseren TIRUNS durch die Ahnengalerie. Mehrere Männer rannten schreiend vor uns her. Uns konnte das nur lieb sein, denn sie öffneten uns die Türen, so daß wir sie nicht aufschießen mußten. In dem großen Versammlungssaal fand gerade ein Essen statt. Der Magister saß ordengeschmückt und in kostbare Kleidungsstücke gehüllt auf der Empore an einer langen Tafel. Mit ihm nahmen etwa hundert Männer und Frauen an dem Essen teil. Tief unter ihnen speisten etwa fünfzig Offiziere an kleineren Tischen. Man hatte sich offenbar gut amüsiert. Jetzt verstummten die Gespräche. Der Magister und seine Gäste blickten uns betroffen an. Bevor einer der Berater und Mitarbeiter
18 des Magisters reagieren konnte, flogen Jen und ich zur Empore hinauf. Während ich den Magister von hinten an den Armen packte, pflanzte Jen sich vor der Tür auf, so daß niemand die Empore verlassen konnte. Die Offiziere wagten nicht zu schießen, um die hochgestellten Persönlichkeiten auf der Empore nicht zu verletzen. Zudem sahen sie sich der furchterregenden Gruppe der Exterminatoren gegenüber, deren Waffen tausendfach wirksamer waren als ihre eigenen. »Schnappt sie euch«, rief ich den Tiefenpolizisten zu. Die Exterminatoren schwebten, von ihren Flugaggregaten getragen, zur Empore herauf. Die Berater des Magisters schrieen in höchster Panik. Sie versuchten zu fliehen, kamen aber an Jen nicht vorbei. Ich umklammerte den Magister, hob ihn hoch und glitt mit ihm über die Brüstung hinweg in die Tiefe. Er schlug mit Armen und Beinen um sich und kreischte in den höchsten Tönen. Er befahl den Soldaten, auf mich zu schießen, doch keiner hob seine Waffe. Offenbar fürchteten alle, den Magister zu treffen. Ich blickte über die Schulter zurück, und ich sah, daß die Exterminatoren mir folgten. Etwa jeder zweite von ihnen hielt einen der Berater in den Armen. Wir glitten durch die Ahnengalerie, und allmählich wurde der Magister leiser. »Laß mich los«, bettelte er schließlich, wobei er nur noch flüsterte. »Ich gebe dir alle Schätze dafür, die in diesem Palast lagern. Damit hättest du mehr Reichtümer, als du je verbrauchen kannst.« »Sei still«, erwiderte ich. »Oder ich drehe dir den Hals um.« Selbstverständlich hatte ich nicht die Absicht, diese Drohung jemals zu verwirklichen. Doch das wußte der Magister nicht Er schwieg erschrocken. An der Spitze der Gruppe schwebte ich zum Palast hinaus. Vom Schlachtfeld her klang das Donnern und Krachen der explodierenden Granaten. Das ununterbrochene
H. G. Francis Knattern der Maschinengewehre verkündete vom hundertfachen Sterben. Der Magister und seine Mitarbeiter begannen zu schreien, als sie merkten, daß wir sie aufs Schlachtfeld hinaustragen wollten. Aber dann verstummten die meisten von ihnen. Sie erkannten, daß wir ernst machten, und als wir sie an der Flanke der Gondel absetzten, sagte keiner mehr etwas. Links und rechts von uns schlugen die Granaten ein. Pausenlos zischten die Geschosse aus den Maschinengewehren über uns hinweg. Explosionen rissen Krater auf Krater. Und von der anderen Seite der Front kamen Lethos und Twirl zusammen mit etwa hundertfünfzig Exterminatoren heran. Sie brachten den Bruder unseres wichtigsten Gefangenen, den Magister der Ausen. Er schrie in höchster Angst, und seine hochrangigen Mitgefangenen verhielten sich kaum anders. Die Führungselite der Ausen landete nur wenige Schritte von uns entfernt. Als in ihrer Nähe Granaten explodierten, warfen sich die meisten Männer und Frauen zitternd auf den Boden. »Feuer einstellen«, kreischte der Magister der Szesen. »Feuer einstellen«, brüllte sein Bruder, und beide wedelten mit den Armen, um die Offiziere in den Stellungen auf sich aufmerksam zu machen. Doch so schnell endete die Schlacht nicht. Die Magister und ihre höchsten Mitarbeiter mußten noch etwa eine Viertelstunde Todesängste ausstehen, bis das Feuer endlich verstummte. Dabei hatte ich den Eindruck, daß mancher Schuß noch abgefeuert wurde, obwohl die Offiziere in den Stellungen längst erfaßt hatten, was geschehen war. Als es endlich still geworden war, kauerten die meisten unserer Gefangenen wimmernd und schluchzend auf dem Boden des Schlachtfelds. Einige von ihnen schrieen nach dem Sanitäter, obwohl sie nur geringfügige Verletzungen davongetragen hatten. »Ihr kommt zuletzt«, entschied Jen gelas-
Aufbruch zum Vagenda sen. »Erst werden die verwundeten Soldaten versorgt.« Er blickte mich an. »Glaubst du, daß wir noch mehr Gefangene machen müssen?« fragte er mich. »Ich denke nicht«, antwortete ich. »Aber ich bin bereit, mit dir zu wetten, daß solange kein Schuß mehr fällt, wie sich die beiden Magister und ihre Freunde zwischen den Fronten befinden.« Ich behielt recht. Die Jaschemen konnten die Reparaturen in aller Ruhe beenden. Die Exterminatoren schlossen die Lücken, die durch die Granaten in die Außenhaut gerissen worden waren. Diese Arbeiten nahmen etwas mehr als zwei Tage in Anspruch. Danach gönnten wir den Jaschemen ihre Passivphase. Sie dauerte noch einmal zwei Tage. Während dieser Zeit blieben unsere Gefangenen zwischen den Fronten. Die beiden Magister mußten sich während der gesamten Zeit an einem Tisch gegenübersitzen. Ich ließ sie nicht belauschen, konnte mir jedoch denken, daß sie sich irgendwann darauf einigten, den Krieg zu beenden. Jedenfalls sahen sie recht friedlich aus, als die Gondel endlich startete, über die Tiefenkonstante hinausglitt und auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigte. Die Exterminatoren wirkten ohne ihre Energietornister geradezu schlank. Sie hatten sie abgelegt, um sich im freien Spiel der Körperkräfte miteinander zu messen. Dabei hatten sie sich niemand anderen als den Haluter Domo Sokrat als Schiedsrichter ausgesucht. Ich lehnte an der Wand ihres großen Aufenthaltsraums und sah zu. Drei Wochen flog die Gondel nun schon störungsfrei mit Lichtgeschwindigkeit über das Tiefenland. Drei Wochen, in denen nichts geschehen war. Allmählich wurde der Flug langweilig, und wir versuchten, uns durch sportliche Betätigungen die Zeit zu vertreiben. In schier endlosen Gesprächen hatten wir über die Probleme des Tiefenlands disku-
19 tiert. Ich hatte mir von den vielen Völkern berichten lassen, die hier existierten. Über alle möglichen Dinge hatten wir philosophiert. Jetzt aber sehnten wir uns danach, daß etwas geschah. Ungeduldig strebten wir dem Vagenda entgegen, und unsere Befürchtungen wurden immer größer, daß wir zu spät kamen.
4. Domo Sokrat gab das Startzeichen, und die Kämpfer stürzten sich aufeinander. Ich staunte über die gewaltigen Körperkräfte der Exterminatoren, und unwillkürlich spannte ich die Muskeln, so als ob ich an dem Kampf beteiligt sei. Ich fühlte, daß ich gegen die Wand gedrückt wurde, und in diesem Moment begriff ich, daß etwas mit der Gondel geschah. Ich sah, daß einige der Zuschauer zu Boden stürzten. Sie sprangen sofort wieder auf, um sich nichts von den Kämpfen entgehen zu lassen. Niemandem fiel auf, daß das Antigravitationssystem der Gondel gestört worden war. »Was ist los, Atlan?« fragte Twirl. Er wackelte mit dem Kopf und schien nicht besonders glücklich darüber zu sein, daß er vom Kampf abgelenkt wurde. »Irgend etwas stimmt nicht«, antwortete ich. »Die Antigravs funktionierten nicht einwandfrei. Ich muß zur Zentrale.« Er blickte mich zweifelnd an, überlegte, ob er mitkommen sollte, entschied sich dann jedoch dafür zu bleiben. Die Exterminatoren schrieen begeistert. Ihre hellen Stimmen klangen kreischend. Mehrere Kämpfer flogen in hohem Bogen durch die Luft, und Domo Sokrat vergaß seine Rolle als Schiedsrichter. Er feuerte die Kämpfer an. Ich verließ den Raum und eilte einen langen Gang entlang. Der Weg nach vorn war mir durch eine Gruppe von Zuschauern versperrt. Deshalb wandte ich mich dem Heck zu. Ich wollte in einem nahen Antigrav-
20 schacht nach unten sinken, um dann in einem der unteren Decks nach vorn zu laufen. Doch mit einem Mal war mir wie in einem Alptraum. Meine Füße schienen am Boden zu kleben, und die Beine wurden bleiern. Ich konnte sie nur noch mühsam nach vorn bringen, und ich schien nicht mehr von der Stelle zu kommen. Keuchend arbeitete ich mich weiter voran. Ich erreichte ein Schott und schloß es hinter mir. Dann lehnte ich schwer atmend dagegen. Der Schweiß lief mir in die Augen, und ich spürte, daß mein Zellaktivator ungewöhnlich intensiv arbeitete. Die Gondel verzögerte. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Aber warum glichen die Antigravaggregate den Beschleunigungsdruck nicht aus? Ich hatte die törichte Vision, daß die Gondel in einen zähen Brei hineinflog, der ihr gleichzeitig Energie entzog. Der Druck wurde stärker, und ich hatte nicht mehr das Gefühl, an einem Schott zu stehen, sondern mit dem Rücken darauf zu liegen. Der Gang, der zum Antigravschacht führte, verwandelte sich in einen senkrecht in die Höhe steigenden Schacht. Die Belastung wurde größer. Ich dachte an die Exterminatoren, die Kämpfer und die Zuschauer. Sie würden nun durcheinandergewürfelt und gegen die Wände gepreßt werden, und ich konnte nur hoffen, daß sie einen ebenso guten Halt gefunden hatten wie ich. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Kreischen. Die Gondel war mit irgend etwas in Berührung gekommen und glitt daran entlang. Ich spürte die Erschütterungen, als der gewaltige Körper gegen Hindernisse stieß und diese Kraft seiner Masse hinwegfegte. Die gesamte Schiffszelle schien zu dröhnen und zu vibrieren. Ich preßte mir die Hände gegen die Ohren, weil ich meinte, den Lärm nicht ertragen zu können. Gleichzeitig wurde ich hin und her geworfen. Es schien endlos zu dauern, bis die Gondel zur Ruhe kam.
H. G. Francis Jetzt kippte der Gang über mir. Ich lag nicht mehr auf dem Schott, sondern ich stand. Ich spürte festen Boden unter den Füßen. Die Gondel war zur Ruhe gekommen. Ich zögerte keine Sekunde und rannte bis zum Antigravschacht. Ich sprang hinein, ließ mich nach unten sinken, verließ ihn einige Decks tiefer wieder und eilte dann bis zur Zentrale nach vorn. Jen Salik kauerte auf dem Boden, als ich den Nebenraum der Zentrale betrat. Bei ihm waren Clio vom Purpurnen Wasser und das Tabernakel von Holt. Es schwebte einige Zentimeter über dem Boden und begrüßte mich mit einem telepathischen Impuls, mit dem es signalisierte, daß die größte Gefahr vorbei war. »Was ist geschehen?« fragte ich. »Die Gondel wurde wieder zur Landung gezwungen«, erwiderte Jen. »Mehr kann ich leider auch nicht sagen. Aber das ist dir natürlich längst klar geworden.« Ich blickte durch die Frontscheibe nach draußen, konnte jedoch kaum etwas erkennen. Deshalb eilte ich in einen der Räume, von dem aus ich seitlich hinaussehen konnte. Die Gondel war in einem flachen, dichtbewaldeten Gebiet gelandet. In der Ferne bemerkte ich eine Siedlung. Auf einem Hügel erhob sich eine Burg. Nirgendwo aber entdeckte ich etwas, was mit unserer Landung zu tun haben konnte. Ich kehrte zu Jen zurück. »Was ist los?« fragte ich die Jaschemen, als ich sah, daß eine der Panzerplastplatten herabgesunken war. Fordergrin Calt wandte sich mir zu. Er musterte mich mit zwei violetten Augen, die er im unteren Bereich seines säulenförmigen Körpers gebildet hatte. »Die Gondel ist mit einem Energielasso abgefangen worden«, erwiderte er herablassend. Sein Tonfall machte deutlich, daß ich eine dumme Frage gestellt hatte. Selbstverständlich hätte ich wissen müssen, daß wir mit einem »Energielasso« eingefangen wor-
Aufbruch zum Vagenda den waren. Wenn ich doch nur gewußt hätte, was ein »Energielasso« war! »Willst du damit sagen, daß jemand gezielt unseren Flug unterbrochen hat? Jemand hat uns geortet und angegriffen?« »Genau das.« Klang Furcht in der Stimme des Jaschemen mit? Mir kam es so vor. »Weißt du, wer uns eingefangen hat?« fragte ich. »Wie könnte er das?« erwiderte Calt, und ich hatte den Eindruck, daß er log. Leider gab es so etwas wie Mimik bei einem Jaschemen nicht. Sie hätte meinen Eindruck untermauern können. »Na schön«, sagte Jen. »Dann gehen wir nach draußen und sehen nach.« Jen und ich verließen die Gondel durch eine der oberen Schleusen. Wir schwebten in unseren TIRUNS in das Land hinaus, und wir stiegen noch ein wenig an, um eine bessere Übersicht zu haben. Die Gondel hatte eine bis zum Horizont reichende Bremsspur hinterlassen. Sie hatte eine schnurgerade Schneise in den Wald gerissen und dabei alles zermalmt, was ihr im Weg gestanden hatte. Wir konnten nur hoffen, daß dazu nicht auch eine Siedlung gehört hatte. »Wenn jemand uns eingefangen hat«, sagte Jen, »dann hat er das zu verantworten. Ohne seinen Angriff wären wir darüber hinweggeflogen und hätten nicht die geringste Spur hinterlassen.« Wir näherten uns der Burg, ohne irgendwo Anzeichen von Leben zu sehen. In diesem Bereich des Tiefenlands schien es noch nicht einmal Tiere zu geben. Im Wald unter uns bewegte sich nichts. »Seltsam«, sagte der Terraner. »Man sieht noch nicht einmal Vögel oder Insekten.« Unterhalb der Burg standen etwa zweihundert turmartige Bauten. Sie waren jeweils etwa zehn Meter hoch, und es standen immer zwei Türme nebeneinander. Sie erinnerten mich in Form und Struktur an die Geweihe von Antilopen, die ich weit von hier entfernt in einem anderen Bereich des Tie-
21 fenlands gesehen hatte. Es waren jedoch keine natürlich gewachsenen Gebilde, sondern künstlich errichtete Gebäude. Die Burg hatte keine Türme, sondern lediglich kuppelartige Erhöhungen, die mich an Zinnen denken ließ. Wir schwebten über eine Mauer hinweg und landeten im Hof der Burg. »Niemand zu sehen«, stellte Jen Salik fest. Er ging zu einer Metalltür und öffnete sie. Ich folgte ihm in eine düstere Halle. Durch farbige Fenster fiel nur wenig Licht herein, so daß wir die wenigen Gegenstände kaum erkennen konnten, die hier standen. »Ein paar Schränke, Truhen, Sitzbänke und ein langer Tisch«, sagte Jen. »Das ist alles. Das sieht nicht gerade einladend aus.« Auf dem Tisch lag ein Buch. Die Seiten waren mit einer mir unbekannten Schrift beschrieben. Die Positronik meines TIRUNS wurde jedoch leicht damit fertig, und wir erfuhren, daß die ursprünglichen Bewohner die Burg verlassen hatten. »Seltsam«, sagte Jen. »Sie sind aus Angst vor dem Graueinfluß geflüchtet, aber sie scheinen nicht allein gewesen zu sein. Das hört sich so an, als ob noch jemand hier sei, der sich vor der Grauwerdung nicht zu fürchten scheint.« Wir streiften durch die Burg und konnten uns allmählich ein besseres Bild von ihren ehemaligen Bewohnern machen. Es mußten vierbeinige Geschöpfe gewesen sein, die etwa anderthalb Meter groß waren und kleine Hände hatten. Es gab keine bildlichen Darstellungen von ihnen, die Möbel aber sprachen eine deutliche Sprache. Von den anderen Wesen, die wir in der Burg vermuteten, gab es jedoch nicht die geringste Spur, so daß wir schließlich zu der Überzeugung kamen, daß wir uns geirrt hatten. Wir schwebten über die Burgmauern hinweg zu den Gebäuden hinüber, die unterhalb der Burg errichtet worden waren. Ich dachte an die Jaschemen und ihr eigenartiges Verhalten. Irgend etwas hatte uns geortet, als wir uns unterhalb der Tiefenkon-
22 stante diesem Gebiet genähert hatten, und dann hatte dieser Unbekannte blitzschnell zugeschlagen. Er hatte uns mit etwas eingelangen, was Fordergrin Calt als »Energielasso« bezeichnet hatte. Verbarg sich dieser Unbekannte in diesen eigenartigen Türmen? Ich spürte, daß es mich kalt überlief, und ich schloß den Helm meines TIRUNS, ohne sagen zu können, warum ich dies tat. Als ich mich zu Jen umdrehte, stellte ich fest, daß auch er seinen TIRUN geschlossen hatte. Er blickte mich verwundert an und hob die Hand, um den Helm wieder zu öffnen. Plötzlich aber wimmelte es um uns herum von Insekten. Wir standen mitten in einem so dichten Schwarm von geflügelten Insekten, daß die Gebäude in der Nähe hinter einer sirrenden und flirrenden Wand verschwanden. Erschrocken erkannte ich, wie wichtig es gewesen war, daß wir die Helme unserer TIRUNS geschlossen hatten. Wir wären den Angriffen der Tiere hilflos ausgeliefert gewesen, wenn wir es nicht getan hätten. Die Insekten ließen sich auf uns nieder. Sie bedeckten meinen Helm so dicht, daß ich nichts mehr sehen konnte. Vorsichtshalber schwebte ich einige Meter in die Höhe, konnte die Insekten dadurch jedoch nicht abschütteln. Ich verhielt mich still, und ich versuchte gar nicht erst, die Tiere von meinem Helm abzustreifen. Tiere? Waren es wirklich Tiere? Ich hatte nicht den Eindruck. Ich meinte, ein Flüstern und Wispern wahrzunehmen. Täuschte ich mich? Oder war da wirklich eine Stimme in mir? »Hörst du es?« fragte Jen. »Jemand spricht zu uns.« Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß mir etwas über den Rücken kroch. Ich wußte, daß es nicht sein konnte, weil mein TIRUN mich hermetisch von der Außenwelt abschloß, und doch war dieses Gefühl da. Ich meinte, winzige Füße zu spüren, und unwillkürlich dachte ich an Ameisen, die unter meinen Tiefenanzug geraten wa-
H. G. Francis ren. Während ich noch versuchte, mir darüber klar zu werden, was ich tun konnte, falls da wirklich etwas war, setzte mein Bewußtsein aus. Von einer Sekunde zur anderen verlor ich den Kontakt zur Wirklichkeit. Als ich wenig später wieder klar denken konnte, zeigte mein Chronometer an, daß etwa fünfzehn Minuten vergangen waren. Hatte ich in dieser Zeit geschlafen? Die Scheibe meines Helms war so dicht mit Insekten bedeckt, daß ich Jen Salik nicht sehen konnte. In meinem ersten Schrecken glaubte ich, daß sie auf der Innenseite der Scheibe saßen, doch dann stellte ich erleichtert fest, daß ich mich geirrt hatte. Die Insekten waren draußen, und der Helm war vorschriftsmäßig geschlossen, so daß sie nicht eindringen konnten. »Jen, bist du noch da?« »Das wollte ich dich fragen«, antwortete er. An seiner Stimme merkte ich, daß er nicht weniger erschrocken war als ich. Die Insekten stoben auf, und ich erkannte, daß ich nach wie vor unterhalb der Burg schwebte. »Wir kehren zur Gondel zurück«, entschied ich, »Einverstanden«, erwiderte er. »Ich glaube nicht, daß es hier noch etwas gibt, was wir untersuchen sollten.« Wir stiegen bis in eine Höhe von etwa dreihundert Metern auf, beschleunigten und flogen zur Gondel hinüber. Wir achteten darauf, daß uns keine Insekten folgten, und wir untersuchten uns gegenseitig, bevor wir uns einschleusten. Ich sagte mir, daß diese Kontrolle eigentlich unwichtig war, da es eine positronisch gesteuerte Insektensperre am Außenschott gab. Ich hatte sie erst vor einigen Tagen entdeckt, als ich die Schleuse auf ihre technischen Einrichtungen hin untersucht hatte. Domo Sokrat kam uns wenig später entgegen. »Wo sind die beiden Jaschemen?« fragte ich ihn. »Im Maschinenraum«, antwortete er. »Sie versuchen, die Gondel wieder flottzuma-
Aufbruch zum Vagenda chen.« Mit dröhnenden Schritten ging er weiter. Caglamas Vlot und Fordergrin Calt arbeiteten an der positronischen Regelsteuerung des Antriebs. Sie hatten beide jeweils sechs Arme herausgebildet, so daß sie an mehreren Stellen gleichzeitig tätig sein konnten. »Hat sich irgend etwas ergeben?« fragte Vlot, als er uns bemerkte. »Allerdings«, antwortete ich. »Wir können sofort wieder starten, wenn wir eines der beiden Triebwerke ausgebaut haben.« Die beiden Jaschemen blickten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Was hatte ich da gesagt? Verblüfft horchte ich in mich hinein. Wie kam ich zu so einer Äußerung? »Wie war das?« fragte Vlot. »Das ist doch wirklich nicht schwer zu verstehen«, bemerkte Jen ungewöhnlich scharf. »Wir können starten, sobald wir eines der beiden Triebwerke ausgebaut und zur Burg gebracht haben.« »Wir werden kein Triebwerk ausbauen«, erklärte Fordergrin Calt. »Auf keinen Fall.« »Wie ihr wollt.« Jen Salik drehte sich um und ging zum Ausgangsschott. »Komm, Atlan.« Ich folgte ihm. Mir war, als ob ich von einem fremden Geist gesteuert werden würde. Meine Beine bewegten sich, obwohl ich eigentlich bei den beiden Jaschemen bleiben wollte. Ich hatte sie mit einer Bemerkung in einige Verwirrung gestürzt, und ich hätte ihnen wohl einiges erklären müssen. Doch was wußte ich denn schon? Ich wollte etwas sagen, aber meine Lippen blieben geschlossen. Was war mit mir geschehen? Wie kam ich dazu, so eine unsinnige Forderung zu stellen? Mir mußte doch klar sein, daß die Jaschemen nicht einfach ein Triebwerk herausrücken würden. Und wozu sollten wir diese Hochleistungsmaschine zur Burg bringen? Wir verließen den Triebwerksraum, und
23 die Jaschemen machten sich nicht die Mühe, uns aufzuhalten. Niemand stellte sich uns in den Weg, als wir zur Schleuse gingen und die beiden Schotte öffneten. Vor der Gondel tanzten Schwärme von Milliarden und Abermilliarden Insekten. Aus allen Turmbauten unterhalb der Burg waren sie herausgekommen und dicht über dem Boden hinter uns hergeflogen. In der Gondel waren sie unbemerkt geblieben. Wir beseitigten die tödlichen Insektensperren und traten dann zur Seite, um die Mückenschwärme in die Gondel zu lassen. Die Insekten flogen so dicht beieinander, daß es schien, als schiebe sich ein massiver Körper in die Gondel. Wir öffneten die nächsten Schotte und ließen die Insekten in alle Bereiche der Gondel vordringen. »Gut gemacht«, sagte ich zu Jen. »Das wird sie zwingen, das zu tun, was für das Volk der Wipfelmücken das beste ist.« »Was habt ihr getan?« fragte Clio vom Purpurnen Wasser. Mit entsetzten Augen blickte sie uns an. »Die Insekten sind überall in der Gondel«, sagte Lethos. Er schüttelte den Kopf. »Was ist denn in euch gefahren?« »Ich verstehe nicht«, erwiderte Jen Salik. »Wozu diese Vorwürfe? Es ist doch alles in Ordnung.« »Alles in Ordnung?« stammelte Twirl. »Überall in der Gondel sind diese Insekten. Und sie stechen, wenn man versucht, sie zu vertreiben. Unternimmt man etwas gegen sie, greifen zwanzig oder dreißig auf einmal an.« »Laßt sie doch in Ruhe«, empfahl ich. »Sie werden friedlich bleiben, solange ihr euch nicht an ihnen vergreift.« Domo Sokrats Augen funkelten. Der Haluter hatte sich auf den Boden gesetzt. Er beobachtete mich ständig. »Die Insekten haben wichtige Schaltungen lahmgelegt«, erläuterte er jetzt. »Sie haben die Reparaturarbeiten der beiden Jaschemen zunichte gemacht.«
24 »Die Gondel hat keine speziellen Schutzeinrichtungen gegen Insekten«, ergänzte Lethos. »Lediglich an den Schleusen gibt es Insektensperren. Die aber habt ihr ausgeschaltet und so die Invasion der Mücken ermöglicht.« Ich lehnte mich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust »Ich verstehe nicht, daß ihr uns Vorwürfe macht«, erwiderte ich. »Was ist mit euch passiert?« fragte das Tabernakel von Holt. »Was haben sie mit euch gemacht?« Wir befanden uns, wie schon seit Wochen, in dem Raum neben der Hauptleitzentrale. Die Jaschemen hatten eine Panzerplastplatte heruntergelassen, nachdem sie die Zentrale betreten hatten, so daß sie mit uns reden konnten. Ich glaube, mich verhört zu haben. Verwundert fragte ich mich, was das Tabernakel mit seiner Frage gemeint haben konnte. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wovon du redest«, erwiderte ich. »Das ist doch wohl klar«, bemerkte Lethos. Er wandte sich mir zu, und ich meinte, die telepathischen Fühler spüren zu können, die er nach mir ausstreckte. Er schien jedoch nichts feststellen zu können, was nicht zu mir paßte. Er fuhr fort: »Wir müssen die Gondel von den Insekten säubern. Die Frage ist nur, können wir überhaupt etwas tun?« Caglamas Vlot eilte plötzlich hinaus. »Wieso säubern?« fragte Jen. »Warum wollt ihr, daß die Insekten die Gondel verlassen?« »Das ist doch überhaupt keine Frage«, entgegnete Lethos. »Sie tun euch nichts«, erklärte der Terraner. »Sie stechen und beißen nicht, sofern ihr nicht versucht, sie zu töten. Sie belästigen euch doch nicht einmal, wenn ihr sie in Ruhe laßt. Sie sind einfach nur da. Warum kümmert ihr euch überhaupt um sie?« Twirl schlug nach einem Insekt, das sich auf seinem Arm niedergelassen hatte.
H. G. Francis »Sie sind einfach nur da«, wiederholte er. »Schlimm genug.« Er verscheuchte ein anderes Insekt von seinem Kopf. »Außerdem sind sie mir lästig«, fügte er hinzu. »Und sie beißen doch.« Caglamas Vlot kehrte zurück. Er baute sich vor der Lücke in der Panzerplastwand auf, bildete zwei Stielaugen und blickte Jen und mich damit an. »Die Insekten haben gerade die Isolierung von positronischen Computerverbindungen zerfressen«, meldete er. »Er hat neues Isoliermaterial aufgeschäumt, aber Er sieht voraus, daß damit so gut wie nichts erreicht wird.« »Das liegt nur daran, daß ihr euch falsch verhaltet«, betonte Jen Salik. »Ja, natürlich«, bekräftigte ich. »Warum gebt ihr ihnen nicht, was sie haben wollen?« Meine Freunde blickten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Er tickt nicht mehr richtig«, murmelte der Abaker. »Die Gondel hat zwei Triebwerke. Wenn wir den Insekten eines davon geben, kann die Gondel mit dem anderen immer noch an ihr Ziel kommen. Je schneller wir uns dazu entschließen, den Insekten nachzugeben, desto früher können wir wieder starten.« »Willst du damit sagen, daß die Insekten es waren, die das ›Energielasso‹ nach uns geschleudert und uns damit eingefangen haben?« fragte Lethos. »Ich dachte, das wäre längst geklärt?« entgegnete Jen Salik verwundert. Er kratzte sich den Hinterkopf. »Wir haben wohl für selbstverständlich gehalten, daß ihr das wißt.« »Jetzt aber raus mit der Sprache«, forderte der Hathor. »Ich meine, wenn ihr euch mit den Insekten verständigt habt, dann gibt es andere unter uns, die ein bißchen mehr Erfahrung mit dieser Methode und die besseren Möglichkeiten dazu haben.« »Du meinst dich, weil du Telepath bist«, entgegnete Jen Salik. »Dann rede doch mit
Aufbruch zum Vagenda den Insekten. Wir haben nichts dagegen.« Er setzte sich auf den Boden, zog die Beine hoch an und legte die Unterarme auf die Knie. »Ich würde es sogar begrüßen, wenn ihr Telepathen euch mit den Mücken befaßt, weil wir dann schneller zu einer Einigung kommen.« Lethos ging schweigend hinaus. Twirl und das Tabernakel von Holt schlossen sich ihm an. Nach wenigen Minuten schon kehrten sie zurück. Lethos und der Abaker ließen sich ebenfalls auf den Boden sinken, während das Tabernakel von Holt dicht darüber schwebte. »Es ist wahr«, sagte der Hathor. »Sie wollen ein Triebwerk.« »Obwohl das völlig verrückt ist«, fügte Twirl hinzu. »Was ist verrückt dabei?« fragten die Jaschemen wie aus einem Mund. »Daß ihr behauptet, mit diesen winzigen Insekten geredet zu haben?« »Die Einzelwesen zählen nicht«, erläuterte Lethos. »Sie sind nicht intelligent. Der Schwarm ist es. Wenn die Insekten einen Schwarm bilden, entsteht eine parapsychische Verbindung zwischen ihnen. Der Geist formt sich zu einem Intelligenzwesen von hohen Graden.« »Wir haben es also nicht einfach nur mit Insekten zu tun, sondern mit einer Kollektivintelligenz«, fügte der Abaker hinzu. »Genau das, was wir gesagt haben«, murmelte Jen Salik. Er blickte die beiden Telepathen spöttisch an. »Vielleicht hättet ihr versuchen sollen, uns zu glauben.« Die Jaschemen fragten nicht lange. Sie akzeptierten, was Lethos behauptet hatte. »Wozu benötigen sie das Triebwerk?« fragte Fordergrin Calt. »Ist das herauszufinden?« Lethos lächelte. In seinen bernsteingelben Augen leuchteten grüne Pünktchen auf. »Sie fürchten sich vor dem Graueinfluß«, erwiderte er. »Sie haben die letzte noch vor-
25 handene Vitalenergie einer Maschine zugeführt und mit dieser das ›Energielasso‹ ausgeworfen. Damit haben sie uns eingefangen. Jetzt wollen sie das Triebwerk, um damit eine Energiekuppel zu errichten. Mit dieser hoffen sie, der Grauwerdung entgehen zu können.« Ich nickte. Zugleich wunderte ich mich ein wenig, daß Lethos noch einmal auf diese Tatsache zu sprechen kam. Narr! schalt mich mein Extrahirn. Du stehst unter dem Einfluß der Insekten. Du weißt, um was es geht, aber du hast es noch niemandem gesagt. Verwundert blickte ich Jen Salik an. Dieser hatte beide Hände vor das Gesicht gelegt. Offenbar dämmerte auch ihm, daß er nicht mehr er selbst, sondern ein Werkzeug der Insekten war. Diese hatten uns geprägt, als wir unterhalb der Burg für einige Zeit ohne Bewußtsein gewesen waren. »Was für ein Unsinn«, erregte sich Caglamas Vlot. »Mit einem Triebwerk kann man keine Energiekuppel errichten. Dazu ist ein Energiefeldprojektor nötig. Selbst du aber solltest begriffen haben, daß auch eine Energiekuppel keine sichere Abwehr gegen die Grauwerdung ist. Der Graueinfluß kann sie durchdringen.« Womit er fraglos recht hatte. Die Insekten würden mit einer Energiekuppel keinen Erfolg haben. Wenn sie die Grauwerdung abwehren wollten, mußten sie sich schon etwas anderes einfallen lassen. Jen Salik erhob sich und kam zu mir. »Sie schaffen es nicht mit einer Kuppel«, sagte er und verriet damit, daß er die gleichen Gedanken gehabt hatte wie ich. »Aber sie wollen auch nicht mit der Gondel zum Vagenda fliegen, obwohl sie dort vielleicht die besten Chancen hätten, den Grauen Heerscharen zu entgehen.« Domo Sokrat knurrte ärgerlich. »Warum halten sie uns auf?« fragte er mit dröhnender Stimme. »Sie sollen mit uns fliegen. Eine andere Möglichkeit bleibt ihnen nicht.« Im gleichen Moment wußte ich es wieder.
26 »Das können sie nicht«, erläuterte ich. »Unterhalb der Burg gibt es große Kavernen. Irgendwo in ihnen leben die Königinnen mit den Larven. Um sie geht es. Ihretwegen sind wir aufgehalten worden. Nicht wegen des Schwarms.« »Dann nehmen wir die Königinnen eben auch mit«, erwiderte Domo Sokrat. »Geht nicht«, sagte Jen Salik. »Die Königinnen finden in den Kavernen bestimmte Pilzarten und Mikroorganismen, von denen sie leben und von denen ihre Fruchtbarkeit abhängt. Wenn sie mit uns kommen, sterben sie, und mit ihnen stirbt das Volk der Wipfelmücken aus. Das wäre schlimmer als die Grauwerdung.« »Richtig«, bestätigte Lethos. »Das ist genau das, was ich auch erfahren habe.« »Es gibt nur einen Ausweg«, stellte Twirl klar. »Wir müssen ihnen einen Energiefeldprojektor hinstellen.« »Mir ist kalt«, sagte Jen. Ich blickte überrascht auf, und dann fiel mir auf, daß die Temperaturen in der Gondel rapide abgefallen waren. Ich trat auf den Gang hinaus und sah, daß die Decke von einem dichten Insektenteppich überzogen wurde. Eine eisige Luft schlug mir entgegen. Ich fuhr herum und kehrte in unseren Aufenthaltsraum zurück. Die beiden Jaschemen befanden sich in ihrer Passivphase. Sie sahen aus wie zwei annähernd fünf Meter hohe Monolithe. Mit beiden Fäusten hämmerte ich gegen die Panzerplastscheibe, doch die beiden Jaschemen regten sich nicht. »Es hat keinen Sinn«, sagte der Abaker. »Sie haben sich zurückgezogen, und sie werden sich um nichts mehr kümmern.« Ich schloß den Helm meines TIRUNS, und auch die anderen schirmten sich gegen die Kälte ab. Die Feuchtigkeit schlug sich an den Wänden und Fenstern nieder, wo sich Eisblumen bildeten. »Die Jaschemen wollen die Insekten durch Kälte umbringen«, stellte Jen fest.
H. G. Francis »Was für eine verrückte Idee!« Die Temperaturen sanken rasch ab. Ich blickte auf den Gang hinaus. Viele Mücken waren von der Decke gefallen und lagen nun auf dem Boden. Ihre winzigen Leiber überzogen sich mit Eiskristallen. Ein Reinigungsroboter rollte über den Gang und saugte die Insekten zu Tausenden auf. Zwei weitere Maschinen folgten ihm. Sie entfernten die Mücken von der Decke und den Wänden des Ganges. »Damit schaffen sie es nicht«, sagte ich verärgert »Es werden genügend Insekten überleben.« »Calt und Vlot haben nichts begriffen«, bemerkte Jen. »In ihrer Überheblichkeit können sie sich nicht vorstellen, daß die Mücken ihnen eine Niederlage beibringen werden. Sie kämpfen, anstatt nachzugeben. Dabei können wir auf einen der Energiefeldprojektoren leicht verzichten.«
5. Die Roboter saugten sämtliche Mücken ab. Dann drangen sie in unseren Raum ein. Wir ließen sie gewähren. Es hätte keinen Sinn gehabt, sie aufzuhalten. Die Jaschemen hätten ganz sicher nicht nachgegeben und darauf bestanden, daß auch bei uns alles abgesaugt wurde. Durch die Panzerplastscheibe konnte ich ein Thermometer erkennen. Es zeigte an, daß die Temperaturen an Bord auf -123 Grad gefallen waren und noch weiter sanken. Wir konnten nichts tun. Wir konnten nur abwarten. Ich verließ den Raum abermals und wanderte dann kreuz und quer durch die Gondel. Diese war in Eis erstarrt. Insekten sah ich nirgendwo. Sie tauchten erst wieder auf, als die Temperaturen über Null Grad stiegen, und ich hatte nicht den Eindruck, daß es weniger geworden waren. Die Roboter fuhren erneut durch die Gän-
Aufbruch zum Vagenda ge und versuchten, die Mücken abzusaugen, aber diese wichen stets rechtzeitig aus oder verschwanden in den Luftschächten, bis die Gefahr vorüber war. Inzwischen erhöhten die beiden Jaschemen die Temperaturen immer weiter. Uns machte dies nichts aus, da wir in unseren Schutzanzügen unsere eigenen Klimasysteme hatten, die uns von unserer Umgebung unabhängig machten. Aber auch die Mücken zeigten sich nicht sonderlich beeindruckt. Sie flogen zwar aufgeregt hin und her, aber keine von ihnen starb in der Hitze. Schließlich mußten die Jaschemen den Hitzeangriff einstellen, weil viele Einrichtungen der Gondel nicht hitzebeständig genug waren. Ein Gefühl der Freude kam in mir auf. Allmählich schienen alle zu begreifen, daß wir mit den Mitteln der Gewalt keinen einzigen Schritt weiterkamen. Wir mußten nachgeben und uns dem Willen der Wipfelmücken beugen. »Warum bauen sie sich den Projektor nicht selbst?« fragte der Haluter. »Wenn sie ein ›Energielasso‹ konstruieren konnten, dann muß so ein Projektor doch ein Kinderspiel für sie sein. Er ist weitaus weniger kompliziert.« »Die Antwort ist einfach«, antwortete Twirl. »Sie haben bis vor wenigen Wochen mit einem Volk in Symbiose gelebt, das diese Arbeiten für sie erledigt habt Aber dieses Volk ist geflüchtet. Es ist mitten in der Nacht weggelaufen, als die Mücken schliefen. Jetzt können die Insekten nichts mehr tun, es sei denn, wir helfen ihnen.« Ich ging erneut auf den Gang hinaus, und plötzlich stand ich inmitten einer Wolke von Mücken. Die Insekten ließen sich auf meinem Helm nieder, und ich versuchte nicht, sie abzuwehren. Es hätte keinen Sinn gehabt. Warum kämpft ihr gegen uns? fragte eine Stimme in mir. Bisher haben wir euch nicht angegriffen. Ihr aber habt viele von uns getötet. Wir waren uns nicht einig, dachte ich und hoffte dabei, daß das Gemeinschaftswesen
27 mich verstehen würde. Unsere Geduld neigt sich ihrem Ende zu. Wir werden weitere Angriffe nicht tatenlos hinnehmen. Wir werden zurückschlagen, wenn ihr euch nicht dazu entschließen könnt, uns zu helfen, und das wird dann das Ende der Gondel sein. Ein Reinigungsroboter rollte auf der Gang heraus. Ich sah ihn nur schemenhaft. Jetzt werden wir dir zeigen, was wir können, sprach die Stimme weiter. Achte auf den Roboter. Die Wipfelmücken rücken auseinander, so daß zwei Lücken entstanden, durch die ich hinaussehen konnte. Ich beobachtete, daß einige Mücken in den Roboter eindrangen. Was habt ihr vor? fragte ich. Wir schalten den Roboter aus, antwortete das Kollektivwesen. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, was die Mücken im Innern des Roboters anstellten, mußte jedoch erleben, daß die Maschine plötzlich ihren Geist aufgab. Ein gelbes Licht an ihrer Seite zeigte an, daß Schäden vorlagen, die sie mit ihren eigenen Mitteln nicht mehr beheben konnte. Dies sollte nur eine kleine Demonstration sein, teilten mir die Mücken mit. Wenn ihr euch weiterhin feindlich uns gegenüber verhaltet, sehen wir uns gezwungen, die Gondel in der gleichen Weise zu behandeln. Der Schwarm stob auseinander, und die Stimme schwieg. Ich entschloß mich, zum Heck der Gondel zu gehen. Ich wußte nicht, wo ich einen Energiefeldprojektor finden würde, vermutete ihn jedoch in diesem Bereich der Gondel. Als ich einen Antigravschacht erreichte, kam mir der Große Exterminator entgegen, der Anführer der Tiefenpolizisten. »Wann werdet ihr endlich dafür sorgen, daß die Mücken die Gondel verlassen?« herrschte er mich mit heller, fast piepsiger Stimme an. »Was ist passiert?« fragte ich. »Einige meiner Männer sind angefallen worden«, eröffnete er mir.
28 »Hunderte von Mücken sind unter ihr Kettenhemd gekrochen und haben sie gestochen. Sie machen uns wahnsinnig.« Ich hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Ich konnte mir vorstellen, wie die Exterminatoren sich fühlten. Sie waren furchterregende Kämpfer, die über Desintegrator-, Spreng- und Paralysebomben verfügten. Die darüber hinaus ihre Zepter hatten, einen schwarzen, etwa einen Meter langen Stab mit einem Kugelknauf an einem Ende und einer Abstrahlmündung am anderen. Das Zepter konnte je nach Wunsch alle denkbaren Energiewaffen simulieren: Desintegratoren, Laser, Impulsstrahler, Vibrations- und Interwallwaffen, Paralysatoren oder kugelförmige, stabile Fesselfelder, die als transportable Zellen für Gefangene dienten. Ihr Waffenarsenal war wahrhaft beeindruckend. Doch was half das alles, wenn sie es mit winzigen Insekten zu tun hatten, gegen die sie sich nur schützen konnten, indem sie ihre Schutzschirme ständig eingeschaltet ließen? Dann aber mußten sie beträchtliche Nachteile hinsichtlich der Kommunikation mit anderen Exterminatoren und ihrer eigenen Beweglichkeit in Kauf nehmen. Sie waren zwar geschützt, konnten mit allen reden, mit denen sie sprechen wollten, aber sie mußten ihre sportlichen Wettkämpfe beenden. Im Grunde genommen konnten sie nur herumsitzen und darauf warten, daß die Gondel ihr Ziel erreichte. Gerade das aber wollten sie nicht. Exterminatoren waren aktive Wesen, die es haßten, untätig bleiben zu müssen. Und nun wurden diese überall im Tiefenland gefürchteten Kämpfer von kleinen Insekten in die Knie gezwungen. Kein Wunder, daß der Große Exterminator aus der Haut fuhr! »Wir werden etwas tun, um diese Situation so schnell wie möglich zu beenden«, versprach ich. »Es dauert nicht mehr lange, bis wir den Flug fortsetzen können.« Ich sagte ihm, daß ich einen Energiefeld-
H. G. Francis projektor suchte. Erstaunlicherweise wußte er Bescheid. Er führte mich einige Decks höher zu einem großen Maschinenraum. »Hier stehen verschiedene Aggregate«, erläuterte er. »Sie sind unter anderem für die Klimaanlage verantwortlich, versorgen die verschiedenen Stromkreise, beseitigen die Abfälle und regulieren die Gravitation an Bord. Darüber hinaus sind auch Energiefeldprojektoren vorhanden.« Ich sah, daß sich auch in dieser Halle mehrere Mückenschwärme aufhielten. Sie tanzten über den Maschinen. Wiederum mußte ich daran denken, daß die Abwehrsysteme der Gondel äußerst schwach waren. Damit hatten wir nicht einmal die Granaten der Ausen und Szesen abwehren können. Und jetzt hofften die Wipfelmücken, daß sie sich damit gegen den Graueinfluß schützen konnten? Irgend etwas stimmte nicht. War die Kollektivintelligenz wirklich so naiv, daß sie glaubte, ein so schwaches System sei ausreichend? Oder verfolgte es einen ganz anderen Plan? Wußte es womöglich gar nicht, wie stark die Schutzwände tatsächlich sein mußten, damit sie sich gegen die Heerscharen der Grauen Lords behaupten konnten? Jen kam durch eine andere Tür herein. »Ich ahnte, daß du hier sein würdest«, sagte er mit leiser Stimme. »Dir ist auch etwas aufgefallen?« »Ich wunderte mich gerade darüber, daß die Mücken mit so schwachen Energiefeldprojektoren einverstanden sind.« »Damit haben sie keine Chance. Vermutlich glauben sie, daß es nur um ein paar Tage geht. Sie haben unsere Gedanken gelesen und wissen daher, daß wir auf dem Weg zum Vagenda sind. Sie wissen, daß es dort zu einer Entscheidung kommen wird. Vielleicht stehen wir sogar vor der letzten, großen Auseinandersetzung mit den Grauen Lords. Sie wollen den Schutz nur für ein paar Tage oder Wochen. Solange glauben sie, sich halten zu können.« Ich blickte ihn verblüfft an.
Aufbruch zum Vagenda »Leben sie überhaupt länger?« fragte ich. »Wie lange leben diese Mücken?« Er griff sich an die Nasenspitze und rieb sie kräftig. »Das könnte es sein«, sinnierte er. »Sie wollen nur noch ein paar Tage überleben. Danach folgt die nächste Generation. Wahrscheinlich wachsen die Larven schon irgendwo heran. Unter der Burg. Wir sollten uns dort noch einmal umsehen.« Wir schlossen die Helme unserer TIRUNS und machten uns auf den Weg zu einer Schleuse. Wenig später schwebten wir von der Gondel weg. Die Burg und ihre Umgebung schienen unverändert zu sein. Nirgendwo regte sich etwas. Von Mücken oder anderen Insekten war hier nichts zu sehen. Wir landeten auf den Zinnen der Burg und blickten aus der Höhe auf die turmartigen Bauten der Wipfelmücken hinab. »Die Bauten sind leer«, sagte Jen. »Die Mücken sind alle in der Gondel.« »Wenn wir die Larven finden wollen oder die Königinnen, die es angeblich gibt, dann müssen wir unter der Burg suchen. Ich erinnere mich, daß das Kollektivwesen etwas von Kavernen gesagt hat. Sehen wir uns also danach um.« Wir ließen uns bis zum Hof der Burg absinken und betraten das Hauptgebäude. Schon bald stießen wir auf eine Wendeltreppe, die steil in die Tiefe führte. Wir schwebten über die Stufen nach unten bis in einen Keller, der mit allerlei Vorräten bis unter die Decke gefüllt war. Die Burgbewohner schienen rechte Feinschmecker gewesen zu sein. Wir sahen getrocknetes und rauchbehandeltes Fleisch und zahllose Krüge, die mit unterschiedlichen Getränken gefüllt waren. Wir verzichteten jedoch auf eine Probe. Jen entdeckte eine Holzluke, die einen senkrecht abfallenden Schacht bedeckte. Er entfernte sie und machte mich auf Sprossen aufmerksam, die in die Wand eingelassen waren. Dann ließ er sich in den Schacht sinken. Ich folgte ihm in ein düsteres Kavernensystem.
29 »Sieht nicht so aus, als daß es hier etwas Interessantes gäbe«, sagte er. Die Wände waren grau und porös. Auf dem Boden breiteten sich große Wasserlachen aus. Ich glitt darüber hinweg und leuchtete die Kavernen ab. Plötzlich blitzte etwas in der Dunkelheit auf. Ich schob mich näher heran und bemerkte, daß der Lichtstrahl meines Scheinwerfers eine Metallleiste getroffen hatte. Ich folgte ihr und stieß wenig später auf eine massive Stahltür. Diese ließ sich mühelos zu einem Gewölbe von beachtlicher Größe öffnen. »Also doch.« Jen pfiff leise durch die Zähne. »Das Kollektivwesen scheint die Wahrheit gesagt zu haben. Hier stehen immerhin einige Maschinen.« Hufeisenförmig faßten mehrere fremdartige Maschinen eine graue Säule ein. Sie war etwa anderthalb Meter hoch, hatte einen Durchmesser von weniger als einem Meter und sah aus, als sei sie grob und hastig aus schnell trocknendem Schlamm errichtet worden. Jen fand einen Lichtschalter, und Licht flammte auf, so daß wir auf unsere Scheinwerfer verzichten konnten. »Ich gehe jede Wette ein, daß die Königinnen in der Säule stecken«, sagte er, während ich bereits damit begann, die Maschinen zu untersuchen. »Kältemaschinen«, stellte ich fest. »Sie sind zweifellos in der Lage, Kälte zu produzieren und diese Säule in einen Eiszapfen zu verwandeln.« »Das kann nur einen Sinn haben.« »Nämlich?« »Die Königinnen wollen genau das, was wir bereits vermutet haben. Sie wollen in einer Art Tiefschlaf die kritische Zeit überleben.« »Und wollen wieder erwachen, wenn das Grauleben vorbei ist.« »Genau das meine ich«, betonte Jen. »Ganz schön optimistisch.« »Nicht mehr als wir.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Dabei haben sie nur eines vergessen. Es genügt nicht, im Tief
30 schlaf zu liegen, um die Grauwerdung zu überstehen.« »Sie haben es keineswegs übersehen, Jen«, widersprach ich. »Sie wissen genau, daß sie dazu einen Energiefeldprojektor benötigen, der diese Kaverne gegen die Grauen Heerscharen abschirmt.« Er lächelte plötzlich. »Genau«, sagte er. »Und wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben während der ganzen Zeit an ein Energiefeld gedacht, das wenigstens so groß ist wie die Gondel. Und das wäre natürlich nicht ausreichend gegen den Graueinfluß. So ein kleines Kugelfeld aber, bei dem die Kugeloberfläche sehr viel kleiner und die Leistung entsprechend höher ist, und das nicht mehr als diese Kavernen schützen soll, könnte sich einige Zeit gegen die Angriffe der Grauen behaupten.« »Lange genug jedenfalls, bis wir das Problem beim Vagenda gelöst haben.« »Eine Spekulation«, stellte er erstaunt fest. »Das Kollektivwesen hat erkannt, daß wir auf jeden Fall versuchen werden, die Grauen Lords zurückzuwerfen, und es nimmt die letzte Chance wahr, die ihm noch bleibt. Es scheint fest davon überzeugt zu sein, daß wir die Sieger sein werden.« »Aber wieso hat es zunächst ein Triebwerk verlangt?« fragte ich. Jen lachte. »Weil es von Technik überhaupt keine Ahnung hat. Die Techniker waren die Burgbewohner, aber auch sie haben nicht gerade überwältigendes geleistet. Das Kollektivwesen Rann sich die notwendigen Informationen nur auf telepathischem Weg von anderen geholt und es dann an die Burgbewohner weitergeleitet haben. Diese haben dann daraus gemacht, was ihnen möglich war, und den Mücken sind die Begriffe ein wenig durcheinandergeraten.« Ich ließ mich ein wenig weitergleiten und geriet in ein sich anschließendes Gewölbe. Darin sah ich die verbrannten Reste einer ehemals recht großen Maschine. »Das ›Energielasso‹, beziehungsweise das, was noch davon übrig geblieben ist«,
H. G. Francis bemerkte Jen. »Ja, du hast recht«, stimmte ich zu. »Es kann nur so gewesen sein, daß das Kollektivwesen uns telepathisch geortet hat. Es hat sofort auf unsere Annäherung reagiert und dieses ›Energielasso‹ eingesetzt, vermutlich das letzte Werk der Burgbewohner.« »Das Lasso hat uns eingefangen und zur Landung gezwungen. Dabei ist es selbst zum Teufel gegangen«, ergänzte Jen. »Nun hatte das Kollektivwesen uns, war aber noch lange nicht am Ziel, denn die Kommunikation mit uns erwies sich als schwierig.« »Wir sollten den Projektor hier installieren«, schlug ich vor. »Nur so können wir die Königinnen und die Larven, die möglicherweise in diesem Nest sind, vor dem Graueinfluß bewahren.« »Und das Kollektivwesen? Die Mücken?« »Gehen zugrunde, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Daran ist nichts zu ändern.« »Damit wäre das Kollektivwesen auch tot.« »Ich bin nicht sicher, daß sich das Kollektivwesen wirklich aus den einzelnen Mücken zusammensetzt. Ich vermute vielmehr, daß die Mückenschwärme nur so etwas sind wie ein verlängerter Arm der Königinnen«, erwiderte ich. »Wahrscheinlich verbirgt sich das Kollektivwesen in dieser Säule.« Im gleichen Moment hatte ich eine Vision. Ich glaubte das freundliche Gesicht einer jungen Frau zu sehen, die mich anblickte, und ich wußte, daß ich recht hatte. Das Intelligenzwesen lebte in der Säule zwischen den Kältemaschinen. Hilf mir! flüsterte es in mir. In der Kälte kann ich die Geburt des nächsten Volkes für einige Zeit hinauszögern. Ich werde es tun, um es vor dem Grauen zu bewahren. Es ist meine letzte Hoffnung. »Wir helfen dir«, versprach ich laut. »Wir werden dir den Projektor geben und das Schutzfeld errichten. Du wirst die Möglichkeit haben, es auszuschalten, wenn du willst. Doch bis dahin wirst du noch einige Zeit Geduld haben müssen.«
Aufbruch zum Vagenda Ich kann warten. Früher oder später werde ich merken, wer von euch gesiegt hat, und dann werde ich entscheiden, ob ich abschalte, oder ob ich mit meinem Volk untergehen werde. Wir verließen die Kavernen, um zur Gondel zurückzukehren. Mittlerweile waren die Mücken nicht untätig geblieben. Sie hatten weitere Zerstörungen an Bord angerichtet, so daß nun auch die beiden Jaschemen zu der Überzeugung gekommen waren, daß es besser war, den Projektor zu opfern, als weitere Nachteile in Kauf zu nehmen. Mit einigen bissigen und herabsetzenden Bemerkungen über uns und unsere Unfähigkeit, bösartige und zerstörerische Elemente von der Gondel fernzuhalten, machten sich Caglamas Vlot und Fordergrin Calt an die Arbeit. Sie bauten einen der Energiefeldprojektoren aus und ließen das Gerät von uns zu den Kavernen bringen. Dort wurde es installiert, und einige Tage später hüllte ein undurchdringlich erscheinendes Energiefeld die Säule mit der Königin der Mücken ein. Noch einmal hatte ich geistigen Kontakt mit ihr. Sie dankte mir für das, was wir für sie und ihr Volk getan hatten, und sie wünschte uns einen Sieg über die Grauen Lords. Danach arbeiteten die Jaschemen zwei Tage lang an der Positronik der Gondel, bis wir endlich wieder starten konnten.
6. »Werden wir noch rechtzeitig kommen?« fragte Domo Sokrat, als uns noch anderthalb Tage vom Vagenda trennten. Damit sprach er aus, was uns schon lange beschäftigte. Die Entwicklung war außerordentlich bedrohlich. Vor drei Tagen hatten wir den Flug kurz unterbrochen und einen Blick auf das unter uns liegende Tiefenland geworfen. Wir hatten nur graues, eintöniges Land gesehen. Nirgendwo hatte es eine andere Farbe als grau gegeben. Und wir fragten uns, wie weit der Einfluß
31 der Grauen bereits vorgedrungen war. Vielleicht war auch das Vagenda schon von ihnen erobert worden? »Was sagst du dazu?« wandte ich mich an das Tabernakel. Eigentlich überhaupt nichts, antwortete seine telepathische Stimme. Ich weiß nicht; ob das Vagenda schon erobert worden ist. »Und ihr?« fragte ich die beiden Jaschemen, die sich in der Zentrale neben uns aufhielten. Sie hatten zwei der trennenden Panzerplastwände heruntergelassen, so daß sie mich hören konnten. Seit ihrer Niederlage gegen die Mücken waren Caglamas Vlot und Fordergrin Calt etwas umgänglicher geworden. Ich war mir klar darüber, daß dieser Zustand jedoch nicht lange anhalten würde. »Wir haben ebenfalls keine Informationen über den aktuellen Stand«, eröffnete Calt mir. »Wir wissen lediglich, daß ein geheimnisvolles Volk – die Lla Ssann, die auch ›Tiefenschwimmer‹ genannt werden – von den RZI als Hüter des Vagendas eingesetzt wurden. Wie weit die Tiefenschwimmer sich gegen die Grauen Heerscharen behaupten konnten, entzieht sich unserer Kenntnis.« Das ist richtig, meldete sich das Tabernakel von Holt. Die Lla Ssann gebieten über die »Armee der Schatten«. Mit ihnen sollen sie Angriffe auf das Herz des Tiefenlands abwehren. Ob sie das erfolgreich getan haben? Keine Ahnung. Zu weiteren Äußerungen über das Vagenda und die dort herrschenden Bedingungen waren das Tabernakel und die Jaschemen nicht zu bewegen. Wahrscheinlich wußten sie nicht mehr. Ich blickte auf mein Chronometer. Der November des Jahres 428 NGZ neigte sich seinem Ende zu. »Warum unterbrechen wir unseren Flug nicht?« fragte Lethos. »Wir sind noch anderthalb Tage von unserem Ziel entfernt. Vielleicht treffen wir in diesem Gebiet schon irgend jemanden, der uns etwas über das Vagenda und die Grauen Heerscharen sagen kann.«
32 »Du scheinst nicht bedacht zu haben, wie weit es noch bis zum Vagenda ist, Lethos«, erwiderte ich. »Anderthalb Tage – das sind fast 40 Billionen Kilometer. Wenn wir den Flug unterbrechen wollen, um Informationen einzuholen, dann ist das nur sinnvoll, wenn wir bis einige Sekunden vor unserer Ankunft warten. Und dann sind wir immer noch Millionen von Kilometern vom Vagenda entfernt.« »Ja, natürlich«, entgegnete er, und ein Lächeln glitt über seine Lippen. »Fast hätte ich vergessen, daß wir mit Lichtgeschwindigkeit durch die Gegend rasen. Du hast recht. Es hätte keinen Sinn, jetzt schon zu unterbrechen.« »Aber auf die Sekunde genau läßt sich die Entfernung auch nicht festlegen«, warf Caglamas Vlot ein. »Wir werden später eine Standortbestimmung machen.« Die ungeheure Ausdehnung des Tiefenlands wurde uns wieder einmal bewußt. Es fiel uns schwer, uns vorzustellen, daß wir tatsächlich etwa 300.000 Kilometer in der Sekunde zurücklegten und uns dabei ständig über dem Tiefenland bewegten. Mit jeder Sekunde rückte uns das Vagenda näher, und die Gefahr, es um einige Hunderttausend oder gar Millionen Kilometer zu verfehlen, war groß. Wie mochte es jetzt um das Herz des Tiefenlands bestellt sein? Kamen wir noch rechtzeitig? Ich wagte kaum, darüber nachzudenken. Wie schnell rückten die Heere der Grauen gegen das Vagenda vor? Leistete man ihnen noch Widerstand? Wir versuchten, uns noch besser auf unsere Ankunft und den zu erwartenden Zusammenprall mit den Grauen vorzubereiten. Wir verstärkten unsere Abwehrmaßnahmen. Den Jaschemen gelang es, die Kapazität der Schutzschirme ein wenig zu erhöhen, doch blieben diese auch dann noch so schwach, daß sie einem ernsthaften Angriff kaum standhalten würden. Wir einigten uns darauf, daß es für uns darauf ankommen mußte, die Gondel nach unserer Ankunft so schnell
H. G. Francis wie möglich zu verlassen. Um unsere Chancen in dieser Hinsicht zu verbessern, präparierten wir einige Abschnitte im oberen Bereich der Gondel, so daß wir sie aufsprengen konnten. Dadurch erreichten wir, daß wir nicht alle durch die Schleusen hinaus mußten, was bei mehr als fünftausend Mann sicherlich problematisch gewesen wäre. Die letzte Stunde lief ab. »Wir haben uns entschlossen, den Flug kurz zu unterbrechen«, teilte uns Caglamas Vlot mit, als wir nur noch etwa eine Milliarde Kilometer vom Vagenda entfernt waren. »Von jetzt an fliegen wir in kurzen Etappen.« Unmittelbar darauf tauchte die Gondel durch die Tiefenkonstante. Geradezu gemächlich flogen wir über das Tiefenland hinweg, das sich als graue Wüste unter uns dehnte. Fordergrin Calt führte die Gondel sofort wieder über die Tiefenkonstante hinaus und beschleunigte für einige Sekunden auf Lichtgeschwindigkeit. Als wir danach abtauchten, hatte sich das Bild nicht geändert. Die Welt unter uns war grau in grau. Erst als wir den Flug das viertemal unterbrachen, sahen wir einige grünende Landstriche am Rand eines vielfach gezackten Graugebiets, das sich langsam, aber stetig wie eine heraufziehende Flut voranschob. Die Bevölkerung der Siedlungen floh in endlosen Gleiterkolonnen vor der Grauwerdung. Diejenigen, die mit bodengebundenen Fahrzeugen zu entkommen suchten, hatten keine Chance. Wir beobachteten, wie sie vom Grau überrollt wurden. Wir verzögerten weiter und landeten schließlich in einem Tal. Sofort schossen Gleiter von allen Seiten heran. Krachend riß der Boden auf, und eine grüne, langgestreckte Grasnarbe von wenigstens hundert Metern Länge hob sich aus dem Tal und stülpte sich über den Bug, und die Flanke der Gondel. Wir hörten, wie es knirschte, als das riesige Gebilde sich auf uns herabsenkte. Von diesem Angriff waren wir völlig überrascht worden. Wir hatten eher erwartet, daß die
Aufbruch zum Vagenda Siedler sich auf uns stürzen würden. »Was ist das?« stammelte Twirl. »Es denkt.« »Wovon sprichst du?« fragte Jen erschrocken. »Er meint diese Grasnarbe, die sich über uns gelegt hat«, erklärte Lethos. »Kommt. Wir sehen uns an, was das ist«, schlug ich vor. Wir eilten zur freien Seite der Gondel und schwebten durch eine Schleuse hinaus. Dann glitten wir langsam über die Gondel hinweg. Diese sah aus, als ob sie bei ihrer Landung mit ihrem Bug und ihrer rechten Flanke unter die Grasnarbe geraten sei. Eine grüne Zunge aus Erde, Steinen, Gras, Flechten, Büschen und Bäumen hatte sich wie ein riesiger Lappen über sie geklappt. Zahllose Gleiter waren in unserer Nähe gelandet. Wir sahen Wesen der unterschiedlichsten Art. Sie stiegen aus den Maschinen, näherten sich uns aber nicht. Sie blieben neben den Gleitern stehen, als wüßten sie nicht, was sie tun sollten. Die meisten von ihnen waren bewaffnet, und sie hielten ihre Waffen schußbereit in den Händen. Alle aber hatten etwas miteinander gemein. Sie sahen niedergeschlagen und mutlos aus, so als seien sie sich einer unabwendbaren Niederlage bewußt. Ich flog zu einigen Wesen hinüber, die aussahen wie große Pilze mit lederartigen, weit ausladenden Hüten. Aus ihren weißen Körpern ragten jeweils vier Stielaugen hervor, mit denen sie mich ängstlich anblickten. Sie hatten so dünne Arme, daß es mir wie ein Wunder erschien, daß sie damit Waffen halten konnten. »Keine Sorge«, sagte ich zu ihnen. »Ich bin auf eurer Seite. Wir sind auf dem Weg zum Vagenda.« »Wir auch«, antwortet einer von ihnen mit quietschender Stimme. Ich konnte ihn kaum verstehen. »Habt ihr irgendwelche Informationen über das Vagenda?« fragte ich. Sie wackelten mit ihren gewaltigen Hü-
33 ten. »Woher denn?« entgegneten sie. »Wir werden das Vagenda nie mit eigenen Augen sehen.« Ich schalt mich einen Narren. Wie hatte ich eine solche Frage stellen können? Natürlich waren wir noch viel zu weit vom Vagenda entfernt. Diese Wesen würden es niemals erreichen. Sie wären viele Jahre lang unterwegs gewesen, wenn sie ununterbrochen mit Höchstgeschwindigkeit über das Tiefenland hinweggeflogen wären, ohne jemals eine Pause zu machen. Soviel Zeit blieb ihnen jedoch nicht mehr. Die graue Flut kam und überschwemmte das Tiefenland. In vielen Bereichen hatte sie die Flüchtlinge wahrscheinlich sogar schon überholt. »Nehmt uns mit«, bat das Pilzwesen. Es war offenbar das älteste von ihnen. An einigen Stellen wuchs Moos auf seinem Hut. »Das wäre wenig sinnvoll«, erwiderte ich. »Wenn wir das Vagenda erreichen, wird es zum Kampf kommen. Ihr würdet es nicht überleben.« »Du könntest es wenigstens versuchen«, rief das Wesen verzweifelt. »Sieh dich doch um. Das Grau rückt von überall heran. Wir wissen nicht mehr, wohin wir uns wenden sollen.« »Es tut mir leid«, sagte ich und kehrte zur Gondel zurück. Ich wußte, wie sehr ich diese Wesen enttäuscht hatte, aber ich konnte es nicht ändern. Es war besser gewesen, wenn ich ganz auf dieses Gespräch verzichtet hätte. Jen, Twirl, Lethos, die beiden Jaschemen und einige der Exterminatoren schwebten über dem Gebilde, das sich über die Gondel geschoben hatte. Ich glitt zu Jen heran. »Es lebt«, berichtete er. »Twirl und Lethos haben es telepathisch sondiert. Sie sind sicher, daß es denkt.« Ich ließ mich bis auf die Oberfläche der Gondel sinken, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, daß sich uns keiner der
34 Gleiter näherte. Alle Maschinen waren im Abstand von etwa zweihundert Metern gelandet. »Wir werden nichts erfahren, Jen«, sagte ich. »Wir haben einfach nicht bedacht, wie groß die Entfernungen sind. Wir sind noch immer einige Lichtminuten vom Vagenda entfernt. Für uns bedeutet das nicht viel. Wir müssen sogar vorsichtig sein, damit wir nicht übers Ziel hinausschießen. Aber für die in den Gleitern sieht das ganz anders aus. Für sie ist das eine unüberwindliche Entfernung.« Er nickte nur. »Was machen wir mit dem Ding?« fragte Twirl und deutete auf die Masse aus Erde, Steinen, Gras, Flechten, Büschen und Bäumen. »Caglamas Vlot will wieder starten, aber das würde das Ding zerfetzen.« »Damit würden wir es töten«, fügte Lethos hinzu. Sein silbernes Haar wirkte eigenartig stumpf, so als ob das Grau auch schon nach ihm griffe. »Wie intelligent ist es?« fragte ich. »Ich habe nicht gesagt, daß es intelligent ist«, erwiderte der Abaker und streckte mir abwehrend die Hände entgegen. »Ich weiß nur, daß es lebt.« »Denkt es?« fragte Jen. »Und wenn ja, was denkt es?« »Es ist glücklich, daß es an uns klebt«, eröffnete uns Twirl. »Und es hat überhaupt keine Lust, sich wieder von uns zu trennen. Es hofft, daß wir es zum Vagenda mitnehmen.« »Aber das geht natürlich nicht«, stellte ich fest. »Wenn die Gondel startet und auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, wird dieses Ding weggerissen.« »Ich habe versucht, ihm das begreiflich zu machen«, sagte der Hathor, »aber es reagiert nicht.« »Ich glaube, es ist nicht intelligent genug, um uns verstehen zu können«, fügte Twirl hinzu. »Das sind ja hervorragende Aussichten«, stöhnte Jen. Wir waren ratlos. Keiner von uns wußte,
H. G. Francis was wir tun sollten. Ich entfernte mich einige Schritte von den anderen und blickte auf das Land hinaus. Mir fiel auf, daß viele der fremden Wesen ihre Gleiter verlassen hatten und zu anderen hinübergegangen waren. In großen Gruppen standen die vor dem Graueinfluß flüchtenden Wesen zusammen und diskutierten miteinander. Einige von ihnen blickten immer wieder zu uns herüber, und ich konnte mir denken, worüber sie sprachen. Ihnen war ebenso klar wie uns, daß sie das Vagenda mit den Gleitern nicht erreichen konnten. Sie hatten nur eine Chance, schnell voranzukommen – mit der Gondel. Wir aber konnten und durften sie nicht mitnehmen und sie mitten ins Kampfgebiet bringen. Da sie nicht über die entsprechende Ausrüstung verfügten, wäre es ihr sicheres Ende gewesen. So kann man sich herausreden! schalt mich mein Logiksektor. Ich zuckte zusammen. Hatte ich mich verhört? Wir konnten doch keine Flüchtlinge aufnehmen. Damit würden wir uns in unverantwortlicher Weise belasten. Wer sagt denn, daß ihr sie bis zum Vagenda fliegen müßt? Ich fluchte leise vor mich hin. Wir hätten nicht in diesem Gebiet landen dürfen. Damit hatten wir nur neue Probleme heraufbeschworen. Lethos kam zu mir. Er blickte mich seltsam an, und ich sah die grünen Pünktchen in seinen gelben Augen deutlicher denn je zuvor. »Wir müßten ihnen klarmachen, daß sie die Gondel weit vor dem Vagenda wieder verlassen müssen, und daß sie dann ohne ihre Gleiter sind«, sagte er. Ich schüttelte unsicher den Kopf. Er wußte, was ich dachte, doch er konnte meine Gedanken nicht lesen, »Das würde ihre Chancen nur noch verschlechtern«, erwiderte ich. »Was sollen sie denn ohne Gleiter und ihre letzten Habseligkeiten tun?« »Vielleicht ist ihnen das egal?« Er zeigte
Aufbruch zum Vagenda auf das Land hinaus. Von allen Seiten rückte das Grau heran. Die Flüchtenden waren eingeschlossen, und wir waren die einzigen, die mit der Gondel entkommen konnten. »Also gut«, stimmte ich zu. »Sagen wir es den anderen.« »Wir verlieren Zeit«, protestierte Fordergrin Calt, nachdem er gehört hatte, was wir vorhatten. »Selbst mit eurer beschränkten Speicherfähigkeit solltet ihr derartige Zusammenhänge erfassen können.« Eine erregte Diskussion begann. Die beiden Jaschemen und die Exterminatoren waren entschieden dagegen, daß wir jemanden in die Gondel aufnahmen, die anderen waren dafür. »Und was machen wir mit diesem Ding?« fragte Lethos schließlich. Er zeigte auf das Gebilde, das sich über die Gondel geschoben hatte. »Vielleicht sollten wir das erst klaren, bevor wir uns weitere Probleme aufhalsen.« »Wir paralysieren es«, schlug Jen Salik vor. »Es könnte doch sein, daß es dann von selbst abrutscht.« Er zog seinen Kombistrahler, und niemand erhob Einspruch, als er es auf das geheimnisvolle Gebilde richtete. Er löste die Waffe aus, und unsichtbare Energiestrahlen durchdrangen es. Plötzlich richtete es sich auf. Erde und Steine polterten auf die Gondel herab. Einige Büsche platzten explosionsartig aus dem Boden und flogen in hohem Bogen davon, und dann rutschte das riesige Gebilde langsam an der Flanke der Gondel herab. Es stürzte krachend in die Tiefe und brach weit unter uns zu einer Geröllhalde zusammen, in der Bäume und Büsche, Gras und Flechten und alles, was auf dem Gebilde gewachsen hatte, unter Erde und Steinen verschwanden. »Es denkt nicht mehr«, sagte Twirl leise, »aber es ist nicht tot.« »Und was ist es?« fragte ich, »Ich weiß nicht«, antwortete er und hob hilflos die vier Arme. »Vielleicht irgendein Ding, das unter der Grasnarbe war, ein Baum, ein Busch, die Flechten – ich weiß es nicht.«
35 Plötzlich schossen von allen Seiten Gleiter heran. Sie landeten in unserer Nähe bei der Gondel. Aus einer der Maschinen sprang ein insektoides Wesen. Es näherte sich uns auf langen, dünnen Beinen. Es streckte beide Arme in die Höhe, um uns anzuzeigen, daß es in friedlicher Mission kam. »Hört zu«, rief es uns mit schriller Stimme zu. »Wir müssen mit euch reden.« Ich blickte zu den anderen Gleitern hinüber. Mittlerweile hatten sich wenigstens dreihundert Maschinen angesammelt. Die Wesen darin sahen deprimiert aus. Sie schienen allen Mut verloren zu haben. Ich konnte sie verstehen, denn über den Hügeln am Rand des Tales schwebten graue Nebel. Sie rückten immer näher. »Was willst du?« fragte Jen. »Wir wollen, daß ihr uns mitnehmt«, erwiderte das insektoide Wesen. Es hatte riesige Facettenaugen, die jedoch eigenartig glanzlos waren, als wären sie von der Grauwerdung bereits erfaßt. »Ihr dürft uns nicht hier lassen. Von überall rückt das Grau heran.« Ich setzte mich über die Proteste der Jaschemen und der Exterminatoren hinweg und tat, als seien wir bereits zu einem Entschluß gekommen. »Wir werden euch mitnehmen«, erklärte ich, »aber wir werden euch weit vor dem Vagenda wieder absetzen.« Das insektoide Wesen hob klagend seine Krallen. »Warum?« fragte es. »Warum nehmt ihr uns nicht bis zum Vagenda mit?« »Wir diskutieren nicht«, erwiderte ich. »Dafür ist keine Zeit mehr. Entweder ihr akzeptiert, oder ihr bleibt hier.« Betroffen ließ das Wesen die Arme sinken. Es überlegte kurz und stimmte dann zu. »Uns bleibt keine andere Wahl«, lenkte es ein. »Ich werde es den anderen sagen.« Die beiden Jaschemen begriffen, daß eine Entscheidung gefallen war, die nicht mehr rückgängig zu machen war, und auch die Exterminatoren erhoben keinen Einspruch mehr. Schweigend kehrten sie in die Gondel
36 zurück, und dann öffneten sich die Schleusen. Etwa zweitausend Wesen der unterschiedlichsten Art flüchteten in die Gondel. Sie ließen ihre gesamte Habe zurück, nur um dem immer näher rückenden Grau zu entkommen. Als die Gondel startete, gingen Jen Salik und ich in einen der Räume, in dem die Flüchtlinge untergebracht waren. Ich hatte selten ein Bild solchen Elends gesehen. Ein Wesen, dessen Äußeres mich an einen Lampenschirm erinnerte, kam zu mir. Zuerst dachte ich, daß dieses schirmartige Gebilde dicht über dem Boden schwebte, aber dann sah ich, daß es sich auf drei unglaublich dünnen Beinen bewegte. Die Füße waren wie seidige Schleier, die raschelnd über den Boden glitten. »Ich bin Dougo«, stellte sich das Wesen vor. »Ich weiß, daß es zu einem Kampf mit den Grauen Heerscharen kommen wird, sobald wir das Vagenda erreichen. Ich weiß auch, daß diese Kämpfe hart und äußerst gefährlich sein werden. Ich möchte euch dabei helfen. Laßt mich also bei euch bleiben.« »Wer hat dir gesagt, daß wir mit den Grauen Heerscharen zusammenprallen werden?« fragte Jen. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen«, erwiderte Dougo. »Ein Bekannter von mir hat eine Funknachricht aus der Gegend des Vagendas erhalten. Er hat von den Grauen Heerscharen berichtet, die dort aufgezogen sein sollen.« »Und weiter?« fragte ich. »Kannst du uns noch mehr darüber sagen?« »Tut mir leid«, hallte es aus der Unterseite der Glocke hervor. »Mehr habe ich nicht erfahren.« »Wir danken dir, Dougo«, erwiderte ich. »Leider müssen wir dein Angebot ablehnen. Niemand von euch wird noch in der Gondel sein, wenn wir das Vagenda erreichen. Ihr steigt alle vorher aus.« Er seufzte enttäuscht, drehte sich um und tänzelte davon. Wir sprachen noch einige andere Flüchtlinge an. Mehrere boten uns an, mit uns ge-
H. G. Francis gen die Heerscharen der Grauen Lords zu kämpfen, doch darauf kam es uns nicht an. Wir wollten Informationen haben. Die aber konnte uns niemand geben. Inzwischen tasteten sich die beiden Jaschemen näher an das Herz des Tiefenlands heran, und wir bereiteten die Flüchtlinge darauf vor, daß sie die Gondel verlassen mußten. Bald war es soweit. Uns trennten nur noch wenige Lichtsekunden vom Vagenda, und unter uns lag eine weite, grüne Ebene, die bis zum Horizont reichte. Dort allerdings erhoben sich graue, drohende Wände. Wir konnten nicht feststellen, ob sie sich bewegten und näher kamen. Als wir sicher waren, daß alle Flüchtlinge die Gondel verlassen hatten, setzten wir den Flug fort. Jetzt liefen die letzten Vorbereitung gen an. Die Exterminatoren verteilten sich an den Schleusen und im Oberdeck. Jen Salik, Domo Sokrat und ich hielten uns in der Nähe der Zentrale auf. Eine ungeheure Spannung erfaßte uns. Wir waren etwa drei Monate lang unterwegs gewesen. Mein Chronometer zeigte den 1. Dezember des Jahres 428 NGZ an. Immer wieder fragten wir uns, welche Situation wir am Vagenda vorfinden würden. Wie weit waren die Grauen Lords gegen das Vagenda vorgerückt? Wie sah das Vagenda überhaupt aus? »Mir täte eine Drangwäsche gut«, polterte Domo Sokrat. Er lachte dumpf. »Ich habe mich zu lange nicht bewegt.« »Ein wenig wirst du es noch ertragen müssen, untätig zu bleiben«, erwiderte Jen. Das Tabernakel von Holt schwebte ruhig neben Clio vom Purpurnen Wasser, die aus ihrer Körpersubstanz eine Handfeuerwaffe produziert hatte. Eure Aussichten sind schlecht, stellte der Logiksektor teilnahmslos fest. Zuviel Zeit ist vergangen. Zu viele Vorteile liegen auf Seiten der Grauen Lords. Diese Bemerkung wäre nicht notwendig
Aufbruch zum Vagenda gewesen. Ich war mir dessen bewußt, daß die Uhr abgelaufen war. Jetzt mußte eine Entscheidung fallen. So oder so. Wir spürten, daß die Gondel verzögerte. Vor den Sichtscheiben wurde es hell. Wir blickten auf graues Land hinab, und der Atem stockte uns. Waren wir zu spät gekommen? Weit vor uns ragte ein 10.000 Kilometer durchmessendes Plateau mit senkrecht abfallenden Wänden in die Höhe. Ich schätzte, daß es etwa tausend Meter hoch war. Am Fuß wurde es von unzähligen, oberirdischen Aktivatorspeichern umsäumt. »Das Ist es«, sagte Jen erregt. »Das Vagenda. Und noch haben die Grauen es nicht erobert.« Über dem Plateau hing eine Art goldener Nebel aus freier Vitalenergie, der uns den Blick auf Einzelheiten verwehrte. Irgendwo dort mußte sich das Vagenda befinden. »Es ist noch nicht zu spät«, stellte Domo Sokrat mit dröhnender Stimme fest. »Aber es wird höchste Zeit, daß wir eingreifen.« »Das wird nicht so leicht sein«, entgegnete ich. »Wir sind wenigstens noch zehn Kilometer vom Vagenda entfernt, und überall stehen die Heere der Grauen Lords.« »Warum fliegen wir denn nicht weiter?« fragte Clio mit rauchiger Stimme. Die beiden Jaschemen wandten sich uns zu. Ich sah, daß sie ihre bisherigen Anzüge gegen schwarze Monturen eingetauscht hatten, die wesentlich leistungsstärker waren. Vlot und Calt hatten sich ganz auf Kampf eingestellt. »Ja, warum fliegen wir nicht weiter?« schloß sich Jen Salik an. »Weil es nicht geht«, antwortete Caglamas Vlot ohne jede Herablassung. »Der Antrieb funktioniert nicht mehr.«
7. Die Gondel war in einem noch vom Graueinfluß freien Areal gelandet, das sich wie ein mächtiger Trichter zum Vagenda hin er-
37 weiterte. »Überall sind die Heerscharen der Grauen Lords«, sagte Jen Salik erschrocken. Wir standen an einem der Seitenfenster und blickten hinaus. »Sie werden uns kassieren, wenn wir nicht weiterfliegen.« »Wir haben die Schutzschirme eingeschaltet«, erklärte Fordergrin Calt. »Das wird die Angreifer für einige Zeit von uns fernhalten. Danach aber muß etwas geschehen.« Auf zahllosen Pseudopodien eilten die beiden Jaschemen an uns vorbei. Wir sahen, daß sie mehrere Arme gebildet hatten, in denen sie Waffen trugen. Sie waren offenbar entschlossen, zum offenen Kampf überzugehen. Aber gegen wen? Narr! Die Triebwerke sind ausgefallen, erinnerte mich der Extrasinn. »Wie konnten wir einen derartigen Fehler machen, Jen«, rief ich und eilte hinter den beiden Jaschemen her. »Was ist los?« fragte er, während er mir folgte. »Das liegt doch auf der Hand«, antwortete ich. »Wir waren mit Blindheit geschlagen. Oder – nein. Wir haben uns durch einen ganz simplen Trick ablenken lassen. Hast du die Grasnarbe vergessen, die sich über uns gestülpt hat? Wir haben uns intensiv mit ihr beschäftigt und dabei einiges andere außer acht gelassen.« Er blickte mich bestürzt an. »Es war ein Ablenkungsmanöver«, stöhnte er. »Während wir mit diesem Ding beschäftigt waren, hat sich jemand an Bord geschlichen.« »Und selbst ich habe es nicht bemerkt«, rief Twirl, der neben mir materialisiert war. »Entweder können sie ihre Gedanken abschirmen, oder ich habe geschlafen.« Wir flogen durch die Gänge hinter den Jaschemen her, die sich nun ebenfalls mit Hilfe ihrer Antigravs bewegten. Noch konnten wir hoffen, daß wir den Schaden so schnell beheben würden, daß wir die letzten zehn
38 Kilometer doch noch in der Gondel zurücklegen konnten. Schafften wir es nicht, das Triebwerk wieder in Gang zu setzen, stand uns ein aussichtsloser Kampf bevor. Krachend flog das Schott zum Maschinenraum zur Seite. Graue Rauchschwaden wehten uns entgegen. Caglamas Vlot und Fordergrin Calt stürzten sich durch die Tür, und dann blitzten ihre Waffen auf. Ich sah gleißend helle Energiestrahlen zu einigen der haushohen Maschinen hinüberzucken. »Die Herrschaften lassen sich herab, selbst zu kämpfen«, staunte Twirl. »Wenn sie Hosen anhätten, würde ich sagen, daß diese voll sind.« »Ein völlig unpassender Vergleich«, kritisierte Jen. »Außerdem setzen sie sich entschlossen ein. Und das bei einem profanen Kampf gegen protoplasmatische Konglomerate. Los, wir helfen ihnen.« »Du hältst dich zurück«, befahl ich dem Abaker. Er blickte mich verwundert an. »Warum?« fragte er. »Weil ich davon ausgehe, daß wir deine Fähigkeiten bald in ganz anderer Weise nutzen müssen. Dies hier können wir erledigen, was danach kommt, kannst wahrscheinlich nur du.« Er begriff und glitt zur Seite, um Jen Salik und mir Platz zu machen. Die beiden Jaschemen hatten sich getrennt. Vlot war nach links gelaufen, Calt nach rechts. Von beiden war nun nichts mehr zu sehen. Sie bewegten sich zwischen den Maschinen. Aber auch die Agenten der Grauen Lords waren verschwunden. Sie versteckten sich irgendwo im Triebwerksbereich. Jen Salik rannte zu einer Schaltkonsole hinüber, ließ sich dahinter bis auf den Boden sinken und schoß dann mit Paralysestrahlen auf ein Ziel, das ich nicht erkennen konnte. »Da drüben hinter dem Regler«, rief der Terraner mir zu. Ich schob mich an einem Maschinenblock vorbei. Dabei entdeckte ich einen bizarr ge-
H. G. Francis formten Schatten. Er zeigte mir an, daß sich eines der eingedrungenen Wesen hinter einem Stützelement verbarg. In meinem TIRUN schwebte ich darauf zu. Plötzlich blitzte es neben mir auf. Ich fühlte einen leichten Schlag, und mein Schutzschirm glühte auf. Durch die automatisch abgedunkelte Scheibe meines Helms sah ich ein insektoides Wesen, das sich mir schießend näherte. Es war eines jener Geschöpfe, das uns bei unserer letzten Zwischenlandung gebeten hatte, es bis in sicheres Gebiet mitzunehmen. Mit großen, stumpfen Facettenaugen blickte es mich an, und jetzt begriff ich endlich. Mein erster Eindruck war richtig gewesen, aber ich hatte ihn falsch ausgelegt. Dieses Wesen hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, sondern es war längst zu einem grauen Geschöpf geworden. Es war ihm erstaunlicherweise gelungen, mich darüber hinwegzutäuschen. Ich löste meinen Paralysatorstrahler aus, erzielte jedoch nicht die geringste Wirkung damit. »Verschwindet hier«, rief mir das insektoide Geschöpf zu. »Geht sofort, oder wir schießen auf die Positronik.« Es richtete seinen Energiestrahler auf die unersetzlichen Regelelemente der Positronik, und in diesem Augenblick hatte ich keine andere Wahl mehr. Ich schoß. Der Energiestrahl traf die Waffe des Insektoiden und schleuderte sie hinweg. Gleichzeitig aber schlug ein Blitz von ihr zu dem anderen hinüber. Das Wesen stürzte sterbend zu Boden. Fordergrin Calt tauchte neben mir auf. Mit einem kopfgroßen Auge blickte er mich an. »Für den Fall, daß deine Rechenkapazität nicht ausreicht«, sagte er mit nicht mehr zu übertreffender Arroganz. »Es waren nur drei, und die sind tot.« Ich glitt zu den sterblichen Überresten von zwei Grau-Agenten hinüber, die von ihm getötet worden waren. Seine Überheblichkeit ließ mich unberührt.
Aufbruch zum Vagenda »Könnt ihr den Schaden reparieren, den sie angerichtet haben?« fragte ich. »Wir werden uns mit den technischen Elementen auseinandersetzen, und die notwendigen Reparaturen durchführen«, erwiderte Caglamas Vlot. Damit wandte er sich ab und eilte davon. Ich folgte ihm zögernd. Glaubte er wirklich, die Gondel innerhalb weniger Minuten wieder flott machen zu können? Ich hatte meine Zweifel, da ich zu große Zerstörungen befürchtete. »Unmöglich«, stellte Jen Salik wenig später fest, als ich mit ihm an der Stelle zusammentraf, an der die Grau-Agenten ihre Sabotageschläge gegen uns geführt hatten. Ein großer Teil der Positronik war verbrannt, und es schien, als sei auch ein Teil der Reservesysteme angeschlagen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß innerhalb von wenigen Minuten irgend etwas daran wieder hergestellt werden konnte. »Wir müssen die Gondel verlassen«, sagte ich. »Wir müssen uns so durchschlagen.« »Richtig«, stimmte Jen zu. »Je früher wir aufbrechen, desto besser unsere Aussichten. Mit jeder Minute, die wir zögern, verbessern sich die Chancen der Grauen.« »Wir werden die Gondel noch einmal starten«, eröffnete uns Fordergrin Calt. »Wie sollte das möglich sein?« fragte Jen. »Es ist müßig, das zu erläutern«, entgegnete Caglamas Vlot. »Das Fassungsvermögen euer protoplasmatischer Rechner reicht nicht aus, das Problem zu verarbeiten.« »Mit anderen Worten – wir sind zu blöd, um das zu begreifen«, kommentierte Twirl, der unbemerkt herangekommen war. »Das ist mir völlig egal«, sagte der Terraner. »Wenn sie es uns nicht erklären wollen, sollen sie es bleiben lassen. Hauptsache ist, daß wir noch einmal mit der Gondel starten und näher an das Vagenda heranrücken.« Er lächelte breit. »Das wäre die Ideallösung«, fuhr er fort. »Wir haben die Heere der Grauen angelockt. Sie glauben, daß die Gondel flügellahm ist. Aber während sie sich auf diese Stelle kon-
39 zentrieren, hüpfen wir ein paar Kilometer näher an das Vagenda heran und haben es dann vielleicht nicht mehr mit ganz so starken Gegenkräften zu tun.« Vier Reinigungsroboter rückten heran und nahmen die Toten auf. Wir hinderten sie daran, sie einfach zu beseitigen, sondern sorgten dafür, daß sie in einen Kühlraum gelegt wurden. Sie waren Opfer der Grauen Lords. Es wäre nicht zu verantworten gewesen, sie einfach aus dem Weg zu räumen. »Die Grauen setzen große Kampfmaschinen ein«, berichtete Twirl erregt. Er schreckte auf, als sei er tief in Gedanken versunken gewesen. »Lethos hat es mir gesagt. Telepathisch.« Wir verließen den Maschinenraum und stießen auf mehrere Exterminatoren, die der Peripherie der Gondel zustrebten. Die Tiefenpolizisten waren erstaunlich ruhig. Sie schienen nicht daran zu zweifeln, daß wir den Widerstand der Grauen überwinden und zum Vagenda vorstoßen würden. »Die Jaschemen haben eine kluge Lösung gefunden«, sagte einer von ihnen. Seine Stimme war selbst für einen Exterminator sehr hell. Sie wirkte angesichts des überaus kräftigen Körpers des Tiefenpolizisten geradezu grotesk. »Gut, daß sie in den letzten Tagen am Schutzschirmgenerator gearbeitet haben.« Wir blickten uns erstaunt an. Gewiß, uns war bekannt, daß sowohl Caglamas Vlot als auch Fordergrin Calt etwas für die Schutzschirme der Gondel getan hatten, aber wir wußten auch, daß die Jaschemen nicht in der Lage gewesen waren, die Leistung des uns verbliebenen Generators entscheidend zu verbessern. Ich dachte daran, daß sogar altertümliche Granaten den Schutzschirm durchschlagen hatten, und ich konnte mir danach überhaupt keinen Reim mehr aus der Bemerkung des Exterminators machen. Ich begriff erst, als ich durch ein Seitenfenster hinaussah und verfolgen konnte, was geschah. Von einer Gruppe kugelförmiger Felsen
40 her griffen uns Dutzende von grauen Gestalten an. Sie marschierten neben einer Art Kampfpanzer her, der mit mächtigen Greifklauen und einem Energiestrahlprojektor versehen war. »Der bricht durch«, sagte Jen. »Das ist doch überhaupt kein Problem für ihn.« Es sah tatsächlich so aus, als ob er recht behalten würde. Die Maschine erreichte den Schutzschirm, und dieser begann zu flimmern. Ein sonnenheller Energiestrahl zuckte aus dem Projektor und durchschlug den Schirm. Weit neben uns schlug der Strahl in die Seitenwand der Gondel. Eine deutlich sichtbare Strukturlücke bildete sich. Dann aber änderte sich die Situation. Wir sahen, daß der Kampfpanzer und die grauen Gestalten plötzlich in die Luft gewirbelt wurden. Sie stiegen bis zu einer Höhe von etwa hundert Metern auf – und stürzten dann zu Boden. Der Panzer fiel wie ein Stein in die Tiefe und zerschellte an den Felsen. Die Soldaten der Grauen Lords aber verfügten über Kleinst-Antigravs, mit denen sie ihren Sturz soweit abbremsen konnten, daß sie unverletzt landeten. Aus einer langgestreckten Lichtung schoß ein Metallkörper heran. Alles weitere geschah so schnell, daß wir es kaum mit den Augen verfolgen konnten. Das robotgesteuerte Geschoß näherte sich uns bis auf etwa fünfzig Meter, dann verlangsamte es seinen Flug, als habe es nicht mehr die Kraft, weiterzufliegen. Ein leichtes Flimmern in seiner Umgebung zeigte an, daß es in ein Kraftfeld gerast war und von diesem festgehalten wurde. »Jetzt geht mir ein Licht auf«, sagte Jen Salik bewundernd. »Die Jaschemen haben tatsächlich von den Mücken gelernt. Sie konzentrieren die Energie der Schutzschirme auf einen kleinen Raum und wehren damit die gefährlichsten Angriffe ab.« Er hatte recht. Die Jaschemen entblößten die Gondel von jeglichem Schutz, um Angriffe dort mit höchster Konzentration abzuwehren, wo sie
H. G. Francis wirklich bedrohlich waren. Das war nur mit der Unterstützung der Hochleistungscomputer möglich, die in der Zentrale standen. Treffer, die keine allzu großen Schäden anrichteten, nahmen die Jaschemen dagegen hin, als könnten wir es uns leisten, die Gondel in ein Wrack zu verwandeln. Mir wollte eine solche Lösung nicht behagen, da sie viele Opfer kosten konnte. Ich mußte jedoch zugeben, daß sie unter den gegebenen Umständen die aussichtsreichste war. Der Boden vibrierte unter unseren Füßen, und wir hörten das Krachen von Explosionen. Es zeigte uns an, daß die Gondel immer mehr Treffer hinnehmen mußte. Diese berührten aber offenbar nicht den Lebensnerv des Schiffes, denn die Jaschemen ignorierten sie. Dafür wehrten sie innerhalb weniger Sekunden wenigstens sieben Raketengeschosse ab, die zweifellos im Triebwerksbereich eingeschlagen hätten, wenn sie durchgekommen wären. »Das geht nicht lange gut«, sagte Jen. »Ganz sicher nicht«, stimmte ihm Twirl zu. »Wenn die mit mehreren gleichstarken Waffen angreifen, ist es aus«, pflichtete ich ihnen bei. Im nächsten Moment war es soweit. Vier Raketengeschosse rasten auf uns zu. Wir warfen uns herum, und dann krachte es auch schon. Glühende Trümmerstücke wirbelten um uns herum, und unsere Schutzschirme leuchteten grell auf. Für Sekunden schienen wir uns mitten in einem Feuerball zu befinden. Als die Flammen erloschen, sah ich glutflüssiges Material an einer Wand vor mir herabrinnen. Als ich mich umdrehte, gähnte an der Stelle, an der wir eben noch gestanden hatten, ein riesiges Loch. Trümmerstücke stürzten von oben herab. Aus dem Graugebiet lösten sich Hunderte von Gestalten und näherten sich uns. Sie waren schwer vor dem ebenfalls eintönig grauen Hintergrund zu erkennen.
Aufbruch zum Vagenda Die Heerscharen der Grauen Lords gingen zum Generalangriff über. Sie drangen in das bis jetzt noch grünende Land vor, und wir konnten verfolgen, wie ihnen das Graugebiet folgte. Fließend schob sich das Grau voran, schob lange Zungen in das bis dahin noch nicht erfaßte Gebiet vor und schloß dann mit wellenförmigen Bewegungen dazu auf. »Und nirgendwo weicht das Grau zurück«, sagte Jen. »Der Widerstand ist zusammengebrochen«, befürchtete der Abaker. »Wir sind die einzigen, die dem Grau noch nicht nachgegeben haben.« Ich war sicher, daß die Heerscharen die Schutzschirme durchstoßen würden. Verzweifelt blickte ich zum Vagenda hinüber. Sollten wir so kurz vor dem Ziel noch scheitern? Sollte es nicht doch noch eine Möglichkeit geben, die letzten zehn Kilometer bis dorthin zu überwinden? Es schien nicht so. Immer weiter rückten die Truppen der Grauen Lords gegen uns vor, ohne daß wir etwas tun konnten. Keiner von uns verfügte über eine Waffe mit einer Reichweite von mehreren hundert Metern. Wir mußten warten, bis die Grauen bis auf wenige Meter heran waren – und dann würde es zu spät sein. »Wir sollten die Gondel verlassen und in Einzelgruppen zum Vagenda durchstoßen«, schlug Twirl vor. Von seiner sonstigen Unbekümmertheit selbst angesichts großer Gefahren war nichts mehr zu spüren. Seine Stimme klang gepreßt. Er hat Angst, erkannte das Extrahirn. Er ist dem Grau immer wieder entkommen. Jetzt sieht er keinen Ausweg mehr, und er hat nicht vergessen, wie es seinem Volk ergangen ist, als es dem Graueinfluß unterlag. »Darauf warten die Grauen nur«, warnte Jen. »Sie könnten uns in viele kleine Gruppen aufsplittern und dann nach und nach erledigen.« Die Grauen schienen sich ihres Sieges sicher zu sein. Mit kleineren Kampfmaschinen
41 zu ihrer Unterstützung rückten sie schnell heran. Einige ritten auf vierbeinigen Kampfrobotern. Je näher sie kamen, desto deutlicher waren sie zu erkennen. Humanoide Gestalten entdeckte ich nicht unter ihnen. Ich sah, daß die meisten insektoid waren. Die Grauen Lords setzten sie offenbar wegen ihrer Unerbittlichkeit und ihrer hohen Kampfmoral ein. Doch plötzlich stockte der Angriff, und es wurde still. Das Graugebiet dehnte sich nicht mehr aus. »Was ist jetzt los?« fragte Twirl. »Die Ruhe vor dem Sturm«, vermutete Jen. »Nein – es sieht aus, als wollte uns jemand sprechen«, sagte ich überrascht. Auf einem Hügel stand eine graue Gestalt. Ich wußte nicht, woher sie gekommen war, ob sie sich schon vorher unter den Angreifern befunden hatte, oder ob sie aus einem Versteck aufgetaucht war. Sie hob beide Arme, um auf sich aufmerksam zu machen. »Ein Grauer Lord«, rief der Abaker. »Der glaubt doch nicht, daß er mit uns verhandeln kann?« Der Graue Lord war humanoid und unterschied sich schon aus diesem Grund deutlich von allen anderen heranrückenden Grauen. Er trug einen Kapuzenmantel. »Täusche ich mich, oder hat er ein Gesicht?« fragte Jen. »Du irrst dich nicht«, entgegnete ich. Der Graue Lord hatte tatsächlich ein Gesicht, ein graues Oval mit großen, schwarzen Augen, kleiner Nase und einem Mund mit schwarzen, schmalen Lippen. Das war trotz der großen Entfernung deutlich zu erkennen. »Was will er?« stammelte Twirl. »Ob er sich wirklich einbildet, daß wir uns kampflos ergeben?« »Ich habe keinen blassen Schimmer«, gestand der Terraner. »Aber das werden wir fraglos gleich erfahren.« »Du willst mit ihm verhandeln?« staunte
42 Twirl. »Das bringt doch nichts.« Jen Salik kam nicht mehr dazu, ihm darauf zu antworten, denn in diesem Moment ging ein so heftiger Ruck durch die Gondel, daß wir gegen eine Wand geschleudert wurden. In unseren Spezialanzügen konnte uns nicht viel geschehen. Immerhin verloren wir den Grauen Lord für einige Sekunden aus den Augen. Und als wir erfaßten, was geschah, hatte die Gondel bereits abgehoben und war einige Kilometer weiter an das Vagenda herangeflogen. Damit war jede Diskussion über Verhandlungen überflüssig geworden. Um uns herum explodierten Geschosse und rissen tiefe Wunden in die Gondel. Seltsamerweise dachte ich in diesen Sekunden darüber nach, ob die Bordroboter eigenständig Reparaturen durchführen würden, wenn wir das Schiff verlassen hatten. Ich kam mit meinen Gedanken nicht zu Ende. Die Gondel stürzte auf den Boden. Es lärmte, klirrte und krachte in allen Bereichen der Gondel. Dies ist das Ende, dachte ich. Die Jaschemen haben ihr den Rest gegeben. Ich löste mich aus einigen Trümmern und schwebte zu einem breiten Riß hinüber. Durch ihn konnte ich hinaussehen. Wir waren jetzt nur noch etwa drei Kilometer vom Vagenda entfernt. Sicherlich tausend Meter hoch wuchsen senkrecht aufsteigende Wände vor uns auf. In unserer Nähe standen einige Aktivatorspeicher, aber nur wenige von ihnen strahlten noch im Goldlicht der Vitalenergie. Das wurde mir in diesen Sekunden sehr viel mehr bewußt als vorher. Von allen Seiten drängte der Graueinfluß heran. Ich meinte, zahllose graue Schattengestalten zu sehen, die sich in unserer Nähe bewegten. Es schien vollkommen ausgeschlossen zu sein, daß Wir uns zum Vagenda durchschlagen konnten. Zwei Kampfgleiter rasten heulend an uns vorbei. Ich sah die Geschütze aufblitzen und hörte gleich darauf die Explosionen.
H. G. Francis »Unsere Situation hat sich um keinen Deut verbessert«, stellte Jen bestürzt fest. »Der Sprung hat uns näher an das Vagenda herangebracht«, widersprach ich. »Ist das nichts?« Plötzlich wurde es ruhig. »Was ist los?« fragte Jen. Aus dem Innern der Gondel schwebte Domo Sokrat heran. »Sie kämpfen nicht mehr«, sagte er verwundert. »Und der Graueinfluß weicht vor uns zurück«, fügte Twirl hinzu. Wir machten eine seltsame Beobachtung. Etwa zweihundert Meter von der Gondel entfernt warf sich ein Wall auf. Er war grau wie das Grauleben überall um uns herum, und in ihm schien es von Leben zu wimmeln. Wir meinten schemenhafte Wesen erkennen zu können, die sich darin bewegten. »Was haben sie vor?« fragte Jen Salik. Er sprach unwillkürlich leise, obwohl niemand in unserer Nähe war, der seine Worte nicht hätte hören dürfen. Ich spürte die Nähe meines Orbiters Domo Sokrat mit nie erlebter Intensität. Es war, als ob ein enger, körperlicher Kontakt zu ihm bestünde. Ich drehte mich zu ihm um, und sah, daß sein mittleres Auge wie ein von der Sonne bestrahlter Bernstein leuchtete, während die beiden anderen Augen nach wie vor rot waren, so wie es für Haluter normal war. Ich wußte, daß er diese Heterochromie seines dritten Auges dem Tiefeneinfluß zuschrieb, dem er sich während einer Drangwäsche ausgesetzt hatte. Erinnerte er sich an die damaligen Vorfälle? Oder spürte er den Graueinfluß mehr als wir? »Was ist los, Domo?« fragte ich. Er schloß die Augen für einige Sekunden, dann blickte er mich lange an. »Ich will nicht so werden wie diese Schemen da draußen«, antwortete er. Wer wollte das schon? Keiner von uns.
8.
Aufbruch zum Vagenda Wir waren bereit. Wir wollten die Kampfpause nutzen, um zum Vagenda durchzubrechen. Die beiden Jaschemen hatten die Zentrale verlassen. Sie hielten Dutzende von Waffen in ihren Händen. Auch Clio vom Purpurnen Wasser, das Tabernakel von Holt, Lethos und die Exterminatoren warteten nur noch darauf, daß ich das Zeichen gab. Da stöhnte Domo Sokrat plötzlich auf, und zugleich hatte ich das Gefühl, daß sich mir etwas ins Herz bohre. Er schien zu leiden, und auch ich spürte einen körperlichen Schmerz. Mein Aktivator reagierte sofort mit erhöhter Impulsfrequenz. »Er kommt wieder«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Er will mit uns reden.« »Wer kommt?« fragte ich. »Von wem redest du?« Er zeigte in das Grauleben hinaus. »Der Graue Lord«, sagte Twirl. »Da ist er wieder. Er winkt uns zu.« Aus den Reihen der schemenhaften, grauen Wesen löste sich eine einzelne Gestalt. Sie hob sich deutlich von allen anderen ab, schien Konturen zu haben. »Sie nähert sich uns«, flüsterte Twirl. Es war der gleiche Lord, der uns kurz nach der ersten Landung bereits signalisiert hatte, daß er das Gespräch mit uns suchte. Er war humanoid, trug einen grauen Kapuzenmantel und hatte – im Gegensatz zu den anderen Lords, die uns begegnet waren – ein Gesicht. Wir konnten das graue Oval mit den großen, schwarzen Augen, der kleinen Nase und den schwarzen, schmalen Lippen deutlich erkennen. Unwillkürlich blickte ich zu der steil aufsteigenden Wand des Vagendas hinüber. Sie war zwar noch weit von uns entfernt, aber davor erhob sich ein Aktivatorspeicher, der kräftig leuchtete und durch das Grauleben nicht beeinträchtigt zu sein schien. Wirkte dieser Aktivatorspeicher überhaupt nicht auf den Grauen Lord? »Was will er von uns?« fragte Domo Sokrat. Seine Stimme vibrierte jetzt vor Zorn. Ich hatte das Gefühl, daß er sich an mir vorbeidrängen und auf den Lord stürzen wollte.
43 Abwehrend hob ich eine Hand. »Warte«, wies ich ihn zurück. »Ich will hören, was er uns zu sagen hat.« Der Graue Lord war nun nur noch etwa dreißig Meter von uns entfernt. Er stieg auf einen Hügel, und danach trennten uns kaum noch zwanzig Meter voneinander. Wir verließen die Gondel und sanken auf den Boden hinab. Wir näherten uns dem Grauen bis auf etwa zehn Meter. Er hob beide Arme. »Hört mich an«, bat er mit schnarrender Stimme. »Versucht nicht wieder zu fliehen.« »Das hätten wir längst tun können«, erwiderte ich. »Und niemand wird uns daran hindern.« Er antwortete nicht. Seine Augen schienen noch dunkler zu werden. »Wer bist du?« fragte ich. »Lordrichter Krart«, erklärte er. »Einer von den sechs Lordrichtern der Grauen Kammer.« Die Graue Kammer ist der Führungszirkel der Lords, erinnerte mich mein Extrahirn. Krart widerstand nicht nur der Vitalenergie, er unterschied sich auch sonst erheblich von Lords wie Mhuthan oder dem Ältesten. Das merkten wir zu unserem Erstaunen, als er weitersprach. Er war kultiviert, liebenswürdig und ein kühler Denker, und er schien in uns nicht unbedingt Feinde zu sehen. »Was willst du von uns?« fragte ich. »Warum befiehlst du deinen Heerscharen nicht, uns Platz zu machen und uns durchzulassen?« Ich meinte, so etwas wie ein Lächeln auf den schwarzen Lippen erkennen zu können, aber sicherlich irrte ich mich. »Du scheinst zu glauben, daß ich dein Feind bin«, sagte er, »aber du irrst dich. Jedenfalls seid ihr für mich keine Feinde.« »Sondern?« fragte Jen Salik. »Ihr seid lediglich irregeleitet.« »Ach, tatsächlich?« zweifelte Lethos. Lordrichter Krart wandte sich nur an uns drei Ritter der Tiefe. Das wurde mit jedem Blick, mit jeder Geste deutlich. Die anderen
44 schienen für ihn nicht vorhanden zu sein. »Irregeleitet. Interessant«, entgegnete ich. »Es wird dich nicht überraschen, daß wir anderer Ansicht sind, und wir haben auch nicht die Absicht, uns umstimmen zu lassen.« Wieder hob der Lordrichter abwehrend die Arme. »Nicht so hitzig«, bat er. »Es gilt, viele Mißverständnisse auszuräumen. Das ist nicht mit einem Satz getan. Ich möchte mit euch Rittern der Tiefe verhandeln.« »Was gibt es da zu verhandeln?« fragte Jen Salik. »Ich glaube eher, daß du nur die Absicht hast, uns aufzuhalten. Du willst verhindern, daß wir das Vagenda erreichen, und wahrscheinlich baust du jetzt, während wir hier miteinander reden, eine Falle für uns auf.« »Nein, so ist das nicht. Ich möchte euch nur bitten, euren sinnlosen Feldzug aufzugeben.« »Sinnlos?« sagte Lethos. »Habe ich richtig gehört?« »Ja, ich habe sinnlos gesagt, weil es wirklich ein sinnloser Feldzug ist.« »Warum sollte er das sein?« forschte ich. Lächelte der Lordrichter im Gefühl seiner Überlegenheit? »Das Tiefenland ist so gut wie grau. Der Prozeß ist nicht mehr aufzuhalten.« »Das haben wir schon öfter gehört«, mischte Twirl sich erregt ein. »Jetzt ist ein Stadium erreicht, an dem eine Umkehr der Ereignisse nicht mehr denkbar ist«, fuhr Krart unbeirrt fort. »Wir sollten versuchen, unsere Emotionen hintanzustellen und nüchtern zu denken. Nur das führt uns weiter.« »Vielleicht haben wir gar nicht die Absicht, das zu tun«, rief der Abaker. Er hatte offenbar die Absicht, sich noch mehr an dem Gespräch zu beteiligen, doch Lethos gab ihm mit einer kleinen Geste zu verstehen, daß er schweigen sollte. Der Orbiter des Hathor verstummte und zog sich einige Schritte zurück. »Besinnt euch«, mahnte Krart uns. »Erkennt doch endlich, daß ihr auf der
H. G. Francis falschen Seite kämpft.« »Wir kämpfen auf der falschen Seite«, wiederholte ich. Natürlich! höhnte mein Extrasinn. Was hast du von einem Grauen Lordrichter erwartet? Hast du geglaubt, er würde dir applaudieren? »Nehmen wir also an, wir würden uns für die richtige Seite entscheiden«, fuhr ich fort. »Nennen wir sie die Graue Seite.« »Ja«, erwiderte er. »Das wäre die richtige Seite.« Er sprach ruhig und gelassen, und ich hatte nicht das Gefühl, daß er uns verspotten wollte. Er war allen Ernstes gekommen, um uns davon zu überzeugen, daß wir die Seite wechseln sollten. »Nehmen wir also weiter an, daß wir uns für die Graue Seite entscheiden. Was geschieht dann?« Lordrichter Krart schien etwas kräftiger zu atmen als zuvor, und ich meinte, in seinen Augen eine gewisse Genugtuung erkennen zu können. »Wir bieten euch Rittern der Tiefe einen Sitz in der Grauen Kammer an, wenn ihr euch uns anschließt«, eröffnete er uns. Das war allerdings ein Angebot, das uns überraschte. Jen, Lethos und ich blickten uns an. Weiter hätte Lordrichter Krart kaum gehen können. »Abgelehnt«, erwiderte Lethos barsch. In seinen bernsteingelben Augen leuchteten die grünen Pünktchen so intensiv wie nie zuvor. Sie schienen daraus hervorspringen zu wollen. »Eine Zusammenarbeit kommt auf keinen Fall in Frage. Und das weißt du auch.« Lordrichter Krart schien damit gerechnet zu haben, daß wir so ablehnend reagierten. Er richtete sich ein wenig höher auf, und jetzt verhärtete sich sein Gesicht. Seine Augen wurden schmal. Er blickte uns der Reihe nach an, als wolle er jeden einzelnen von uns genau taxieren. »Ihr werdet eure Meinung schon noch ändern«, rief er uns siegessicher zu. Seine Stimme klang nun rasselnd und hart.
Aufbruch zum Vagenda »Sobald ihr das eigentliche Vagenda erreicht habt, werdet ihr die Wahrheit erkennen.« »Das nun ganz sicher nicht«, widersprach Jen. »Du weißt ja nichts vom Vagenda«, rief der Lordrichter. »Und du weißt nichts von den Raum-Zeit-Ingenieuren.« »Das ist auch gar nicht notwendig.« Jen gab sich gelangweilt. Er strich mit den Fingerspitzen über den linken Arm seines TIRUNS, als ob sich dort irgend etwas befände, was er entfernen müsse. »Ihr werdet an meine Worte denken, wenn ihr an euch selbst erlebt, wie egoistisch und skrupellos die RaumZeit-Ingenieure sind.« »Ach, tatsächlich?« Jen Saliks Stimme troff vor Ironie. »Die Raum-Zeit-Ingenieure haben bisher jeden ihrer Helfer verraten«, behauptete der Lordrichter. »Sogar die Lla Ssann haben sie verraten. Und ihr? Ihr werdet früher oder später die gleiche Erfahrung machen wie die Hüter des Vagendas. Auch euch werden sie verraten.« »Das wird uns kaum davon abhalten, zum Vagenda zu gehen«, erklärte der Hathor mit einer für ihn ungewöhnlichen Härte. Klarer konnte die Ablehnung nicht sein. Doch das beeindruckte den Lordrichter nicht. Er deutete eine Verneigung vor uns an, wobei er die Arme zu den Seiten weg streckte. »Ich sehe, ihr wollt die Erfahrung machen, vor der ich euch bewahren wollte. Nun gut. Geht euren Weg, wenn ihr meint, ihn gehen zu müssen. Ich werde euch nicht daran hindern.« »Wie nett von dir«, spöttelte Twirl. »Ich wiederhole. Die RaumZeit-Ingenieure werden euch verraten. Ihr werdet erkennen müssen, daß dort oben auf dem Plateau nicht das Gelobte Land ist.« »Ist er nun bald fertig?« fragte Twirl leise. »Wir werden uns wiedersehen«, schloß Lordrichter Krart. »Und ihr werdet uns jederzeit im Land Ni willkommen sein.« Nach diesen Worten blickte er uns erneut der Reihe nach an, drehte sich dann um und
45 schritt würdevoll davon. Nachdenklich blickten wir ihm nach. Die Lage blieb unverändert. Die Gondel war nur noch ein Wrack. Sie konnte nicht mehr weiterfliegen. Grauleben umzingelte uns, griff aber nicht mehr an. Zwischen dem Vagenda und uns befand sich jedoch noch ein breiter Gürtel Graugebiet. Ihn mußten wir durchqueren, wenn wir das Plateau, auf dem sich das Vagenda befand, erreichen wollten. Lethos-Terakdschan blickte mich an. Er erriet meine Gedanken. »Nein«, sagte er. »Nicht überqueren. Wir müssen das Graugebiet verdrängen. Das wird Twirl übernehmen.« Der Abaker ließ sich seufzend auf den Boden sinken. Er verschränkte die Arme vor der Brust, und stützte sich mit den hinteren beiden Beinen ab. Er schloß die Augen und konzentrierte sich. Er sah aus, als ob er in Trance versänke. Unter Einsatz all seiner psionischen Kräfte zapfte er das Vagenda an – eine Arbeit, die ihm offensichtlich alles abverlangte. Plötzlich richtete er sich steil auf. Seine Arme fielen schlaff herab. »Was ist los?« fragte ich Lethos leise. Der Hathor wandte sich mir zu, schien mich aber nicht zu sehen. Seine Augen waren seltsam leer. »Ich muß ihm helfen«, antwortete er langsam und schleppend. »Er sieht sich mit einem eigenartigen Sog konfrontiert, der sein Bewußtsein davonzuwirbeln droht. Allein kann er ihm nicht widerstehen. Er braucht meine Hilfe, und ich werde sie ihm geben, weil er sonst verloren wäre.« Bonsins Kopf kippte nach vorn, und sein Gesicht verzerrte sich. Er stützte sich mit allen vier Armen ab, und seine Hände zitterten. Ich blickte zum Plateau hinüber, und ich sah, wie der Graueinfluß zurückgedrängt wurde. Er wich einer unsichtbaren Kraft, so wie Nebel, der vom Wind auseinandergetrieben wird.
46 Der Weg zum Plateau wurde frei. Twirl schüttelte sich und stand auf. »Mann«, stöhnte er und kratzte sich intensiv den Rücken. »Ich dachte, das haut mich um.« »Wir brechen auf«, sagte ich und stieß den rechten Arm in die Höhe, um den Exterminatoren anzuzeigen, daß wir zum Plateau durchstoßen wollten. Die Tiefenpolizisten verließen das Wrack der Gondel. Sie schwebten zu uns heran. Alle hielten ihre Schußwaffen in den Händen. Sie trauten dem Frieden nicht und fürchteten, daß die Armeen der Grauen Lords doch wieder angreifen würden. Doch Lordrichter Krart dachte nicht daran, uns zu attackieren. Er war offenbar entschlossen, uns zum Plateau durchzulassen. Wir bewegten uns in einer Höhe von etwa zehn Metern voran. Ständig blickten wir zu den Seiten, da wir einen Vorstoß des Graulebens gegen uns fürchteten. Doch nichts geschah. Wir erreichten den Fuß der senkrecht aufsteigenden Wand zum Vagenda. Hier verharrten wir für einige Sekunden, und ein seltsames Gefühl beschlich uns. Es kam uns vor, als würden wir uns von jeglicher Verteidigung entblößen, wenn wir an dieser rostroten und spiegelglatten Wand nach oben gleiten würden. Goldene Nebel aus freier Vitalenergie wallten tausend Meter über uns über die Kante der Wand. »Worauf warten wir?« fragte Jen. »Je eher wir oben sind, desto besser.« Das war das Startzeichen. Fünftausend Exterminatoren schwebten nach oben, Lethos, Twirl, Domo Sokrat, das Tabernakel von Holt und die Jaschemen Caglamas Vlot und Fordergrin Calt folgten ihnen. Clio vom Purpurnen Wasser, Jen Salik und ich bildeten den Abschluß. Immer wieder mußte ich an die Worte von Lordrichter Krart denken. Würden die Raum-Zeit-Ingenieure uns verraten? Oder wollte der Graue uns durch eine Falschinformation irritieren und auf eine für uns tödli-
H. G. Francis che Fährte locken? Wir hatten etwa die halbe Höhe erreicht, als ein Angriff aus einer Richtung kam, aus der wir ihn niemals erwartet hätten. Aus der rostroten Steilwand schoß etwas Blitzendes hervor. Ich fuhr herum, als ich es bemerkte, und blickte gleichzeitig nach oben. Irgend etwas Unsichtbares prallte gegen mich und schleuderte mich von der Wand weg. Ich prallte gegen die Spielzeugmacherin und riß sie mit mir. Neben uns wirbelte Jen durch die Luft. Und jetzt begriff ich. Es waren offensichtlich unsere TIRUNS, die uns retteten, und Clio hatte es wiederum uns zu verdanken, daß sie sich von der Wand entfernen konnte. Alle anderen wurden eingefangen. Vor der Steilwand hatten sich Tausende von halbkugelförmigen Formenergiefeldern gebildet, und in jeder Halbkugel steckte einer von uns. Die Exterminatoren, die Jaschemen, Twirl, Lethos, Domo Sokrat und das Tabernakel von Holt – alle waren gefangen. »Das gibt es doch nicht«, stöhnte der Terraner. Keiner von uns war auf einen solchen Schlag vorbereitet gewesen. Jetzt schwebten Jen, Clio und ich vor der Steilwand und wußten nicht, was wir tun konnten. Ich sah Domo Sokrat, der mit vier Fäusten gegen die Wand seines schimmernden Verlieses trommelte, ohne damit etwas ausrichten zu können. »Wir müssen doch irgend etwas tun«, sagte Clio. Sie blickte mich flehend an. »Du wirst dich vor allem von der Wand fernhalten«, erwiderte ich. »Jen und ich sind durch die TIRUNS geschützt. Ich glaube nicht, daß uns etwas passiert, aber du mußt vorsichtig sein.« »Ja, natürlich«, seufzte sie. »Aber am liebsten würde ich mich auf die Wand stürzen und sie alle herausholen.« »Wenn du das machst, landest du auch in so einem Energiekäfig«, warnte Jen sie. Ich versuchte, über Funk Verbindung mit einem der Eingeschlossenen zu bekommen,
Aufbruch zum Vagenda hatte dabei jedoch keinen Erfolg. Wir konnten uns nur durch Zeichen verständlich machen. Es waren vor allem Gesten der Hilflosigkeit. Wir entfernten uns etwa zwanzig Meter weiter von der Wand und glitten dann langsam nach oben. Dabei fiel mir auf, daß alle Energieblasen zusammen einen Stern mit sechs Zacken bildeten. »Es sieht aus wie ein Stern«, sagte Jen im gleichen Moment. Die Energieblasen waren jeweils etwa einen Meter voneinander entfernt. Traktorstrahlen mußten die Exterminatoren und die anderen zur Wand gerissen und sie so verteilt haben, daß alle Gefangenen gleichmäßig über die Fläche verstreut wurden. Die nach oben zeigende Zacke des Sterns reichte bis fast an die obere Kante der Steilwand hinauf, während die untere etwa in halber Höhe der Wand endete. »In der Mitte des Sterns ist ein freier Raum«, stellte Jen Salik fest. »Ob das was zu bedeuten hat?« fragte Clio. »Wir werden nachsehen«, erwiderte ich. »Wahrscheinlich ist der Angriff von dort aus gestartet worden.« Als wir uns dem Zentrum des Sterns näherten, bemerkten wir ein golden schimmerndes, nebelartiges Gebilde, das über einer der Energieblasen schwebte, in der ein Exterminator gefangen war. Der Tiefenpolizist schlug mit den Armen um sich. Er wehrte sich gegen etwas, was von oben in sein Verlies eindrang. Es sah aus wie ein Stachel. Jen und ich glitten näher an ihn heran. Verzweifelt versuchte der Exterminator das stabförmige Etwas zur Seite zu schlagen. Es gelang ihm nicht. Die Energieblase, in der er gefangen war, zog sich nun langsam zusammen und legte sich um seinen Körper. Es preßte ihn zusammen und hielt ihn so fest, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Entsetzt verfolgten wir, wie das stabförmige Energiefeld sich plötzlich in seinen Hals bohrte. Im gleichen Moment schien alles Leben aus dem Körper des Tie-
47 fenpolizisten zu weichen. Einige Sekunden verstrichen. Deutlich war zu erkennen, daß etwas durch den Energiestab glitt und in den Hals des Tiefenpolizisten gedrückt wurde. Dann zog sich das stabförmige Gebilde wieder zurück, und die Energieblase erweiterte sich wieder. Der Exterminator bewegte sich schwach. Er lebte noch, schien aber unter einem schweren Schock zu stehen. Der Nebel schwebte zur nächsten Energieblase hinüber. Der darin gefangene Exterminator hatte ebenso wie wir verfolgt, was geschehen war. Er war wie erstarrt. Das Entsetzen lahmte ihn. Er wußte, daß er das nächste Opfer werden würde, und ihm war klar, daß ihm seine Waffen und seine gewaltigen Körperkräfte nichts helfen würden. Der Nebel würde auch ihm etwas injizieren. Und nicht nur ihm – allen Gefangenen! Mir wurde übel bei dem Gedanken, daß alle Opfer dieses Nebels werden würden, und daß wir zusehen mußten, ohne helfen zu können. Jen feuerte seinen Blaster auf das golden schimmernde Gebilde ab. Der Energiestrahl durchschlug es und prallte gegen die rostrote Wand. Er beeindruckte den Nebel zunächst nicht, und er rief an der Wand nicht die geringste Veränderung hervor. »Damit erreichen wir überhaupt nichts«, sagte ich. »Irrtum«, rief Jen erschrocken. Der Nebel löste sich von der Wand und glitt auf uns zu. »Weg, Clip«, brüllte ich. »Schnell.« Sie reagierte augenblicklich und entfernte sich etwa hundert Meter weit von der Steilwand. Jen Salik und ich aber blieben. Wir fühlten uns sicher in unseren Schutzschirmen, und dann hüllte uns der Nebel auch schon ein, und ich meinte, etwas fühlen zu können, was sich tastend und suchend in meinen Kopf schob. Wahrscheinlich irrte ich mich. »Laß uns in Ruhe«, hörte ich Jen rufen. »Und gib unsere Freunde frei. Wir müssen zum Vagenda. Alle!«
48 Glaubte er wirklich, damit Eindruck auf den Nebel machen zu können? Verfügte dieses Gebilde überhaupt über Intelligenz? War es in der Lage, mit uns zu kommunizieren, oder handelte es rein instinktiv? Ich wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. Der Nebel zog sich zurück und schwebte wieder zur Wand hinüber. Gleichzeitig rückte Clio wieder zu uns heran. »Nichts«, sagte Jen enttäuscht. »Er hat nicht reagiert. Und was machen wir jetzt?« »Ich habe etwas gesehen«, sagte die Spielzeugmacherin. »Weiter oben ist eine Höhle. Ich glaube, da ist etwas.« Wir stiegen höher und ließen den Nebel hinter uns zurück, da wir nicht glaubten, irgend etwas gegen ihn tun zu können. Wenn wir unseren Freunden helfen wollten, dann mußten wir das an anderer Stelle tun. »Dort ist es«, rief Clio. »Es ist wirklich eine Höhle.« Die sonst spiegelglatte Wand hatte etwa fünfzig Meter unter der Oberkante eine Vertiefung. Es sah aus, als sei hier etwas mit großer Wucht gegen die Wand gerast und habe diese eingedrückt. Wir glitten an die Vertiefung heran, die etwa fünf Meter weit in die Wand reichte. An der tiefsten Stelle leuchtete ein sternförmiger Kristall, der einen Durchmesser von etwa anderthalb Metern hatte. Er glich in seiner äußeren Form dem Stern, den die Energieblasen an der Steilwand bildeten. »So etwas Ähnliches habe ich erwartet«, sagte der Terraner. »Es besteht also ein Zusammenhang zwischen der Falle an der Wand und diesem Ding hier.« »Aber welcher?« fragte Clio. Ich ließ meine Hand über den Kristall gleiten. Dabei entdeckte ich eine winzige Einkerbung. Ich stutzte und untersuchte sie. »Hier ist ein Spalt«, sagte ich. »Er reicht tief in den Kristall hinein. Weiter drinnen weitet er sich zu einer unregelmäßigen Form aus.« Wie ein Schlüsselloch, stellte mein Extrahirn spöttisch fest. Nicht gemerkt? »Wir brauchen einen Schlüssel«, sagte
H. G. Francis ich. »Du meinst, dies ist ein Schloß zu irgend etwas?« fragte Jen. »Laß mich machen«, bat Clio. Sie drängte sich an mir vorbei. Zugleich bildete sie einen Tentakel, der etwa einen Meter lang war und sich nach vorn hin immer mehr verjüngte, bis er schließlich in einem haarfeinen Ausläufer endete. »Was hast du vor?« fragte Jen. »Ich will wissen, wie es drinnen im Kristall aussieht«, erläuterte sie und schob das haarfeine Ende des Tentakels in den Spalt. Wir konnten sehen, wie der Tentakel sich weiter und weiter vortastete und den Hohlraum in dem Kristall dabei immer mehr ausfüllte. »Beeile dich«, drängte ich. »Jede Sekunde ist kostbar. Denk an den Nebel.« »Ich bin soweit«, erwiderte sie. »Paßt auf.« Offenbar verhärtete sie nun den Teil ihres Tentakels, den sie in den Kristall geschoben hatte. Es knackte vernehmlich, und dann drehte sich der Kristall plötzlich. Danach löste er sich in sechs Teile auf, die sich voneinander entfernten, und eine Öffnung entstand. Sie war etwa drei Meter hoch und zwei Meter breit, so daß wir mühelos in sie eindringen konnten. Ein Gang führte zu einem halbkugelförmigen Raum. Hier schwamm in einer bläulichen Flüssigkeit ein eiförmiges Gebilde. Von diesem gingen Gedankenimpulse aus, die wir zwar empfangen, aber nicht verstehen konnten. Jen Salik nahm seinen Kombistrahler in die Hand und richtete ihn auf das Ei. Es war weiß und hatte einen größten Durchmesser von etwa einem Meter. »Wir werden keine Sekunde zögern, dich zu töten«, erklärte er. »Wir verlangen, daß du unsere Freunde auf der Stelle freigibst.« Das kann ich nicht, klang es nunmehr klar verständlich in uns auf. Seit Hunderten von Jahren warte ich darauf, daß lebende Wesen kommen, in denen ich meine Brut ablegen kann. Wenn ich jetzt nicht tue, was ich tun
Aufbruch zum Vagenda muß, wird meine Existenz erlöschen. Ich bin der letzte meines Volkes, und ich habe die göttliche Verpflichtung, mich zu erhalten und für Nachkommen zu sorgen. Ich werde niemanden freigeben. »Du legst deine Brut in den Gefangenen ab?« stammelte Clio. Das haben wir Userfen seit Anbeginn unserer Existenz getan. »Damit ist Schluß«, sagte Jen. »Ich töte dich.« Wenn du mich tötest; wird keiner deiner Freunde frei sein, antwortete das Ei. Mein Bote, der goldene Nebel, wird die Brut in alle Gefangenen ablegen. Willst du das erreichen? Dann töte mich. Mein Leben ist unwichtig geworden. »Wir wollen erreichen, daß unsere Freunde frei werden«, erklärte ich. »Wenn wir dich dazu töten müssen, werden wir das tun.« Aber ihr werdet nichts damit erreichen, es sei denn, daß ihr die Maschine abstellen könnt, die die Energiefelder errichtet. »Wo ist diese Maschine?« fragte ich. Tief im Berg verborgen. Unerreichbar für alle, die nicht telekinetisch begabt sind. Niemand brauchte uns zu sagen, daß dies die Wahrheit war. Wir erfaßten aus diesen Gedanken, daß es wirklich so war, wie das eiförmige Wesen behauptete. Damit seid ihr am Ende, stellte mein Logiksektor nüchtern fest. Dem war nichts hinzuzufügen. »Es muß doch einen Ausweg geben«, sagte Clio verzweifelt. »Wir können nicht zulassen, daß unsere Freunde getötet werden.« Ich werde alle freigeben bis auf diejenigen, die bereits meine Brut in sich tragen, versprach das geheimnisvolle Wesen. »Wir können niemanden zurücklassen«, lehnte ich ab. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Entweder ihr nehmt die Lösung an, die ich euch vorschlage, oder ihr verliert alle Freunde. »Das kann und will ich nicht entscheiden«, erwiderte ich. »Es betrifft mehrere Exterminatoren. Deshalb soll der Große Exterminator dir antworten.«
49 Ich bin einverstanden, stimmte das Ei zu und gleichzeitig übermittelte es uns, daß es wußte, wer der Große Exterminator war. Es konnte seine Gedanken lesen. Etwa eine Minute verstrich. Dann schwebte der Große Exterminator in einer Energieblase herein. Erst als er neben uns war, löste sich die Energieblase auf und verschwand. Er weiß bereits, um was es geht, teilte uns das Ei mit. »Wir sind nicht damit einverstanden, irgend jemanden zurückzulassen«, sagte ich zu dem Tiefenpolizisten. »Schon gar nicht unter solchen Umständen. Wer bleibt, stirbt einen langsamen und grauenvollen Tod.« »Du irrst dich«, erwiderte er mit schriller Stimme. »Vier meiner Männer sind bereits tot. Sie sind vor wenigen Minuten gestorben.« »Auch dann können wir sie nicht zurücklassen«, sagte ich. »Sie werden hier bleiben«, beschloß der Große Exterminator. »Es geht nicht anders.« Ich wollte protestieren, aber er hob abwehrend die Hände. »Wir haben schon Zeit genug verloren«, erklärte er. »Wir müssen handeln.« In dem Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben, verließen wir die Höhle. Als wir durch die Öffnung hinausschwebten, glitten Tausende von Exterminatoren an uns vorbei, an der Steilwand hoch. Wir alle hatten geglaubt, daß die Probleme so gut wie aufgehoben waren, wenn wir erst einmal das Vagenda erreicht hatten. Doch dem war nicht so. Ihnen folgten Lethos, Twirl und die anderen. Das Ei hatte Wort gehalten, doch Jen und ich waren nicht sehr glücklich mit dieser Lösung. Nachdenklich schwebten wir zur Kante. Die Gedanken des Lordrichters gingen uns nicht aus dem Kopf. War diese Niederlage ein schlechtes Omen für den weiteren Verlauf unserer Expedition zum Vagenda?
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H. G. Francis ENDE